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German Pages [736]
Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
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Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte Herausgegeben von
Angelika Berlejung und Bernd Janowski in Zusammenarbeit mit
Jan Dietrich und Annette Krüger
Mohr Siebeck
Angelika Berlejung ist ordentl. Professorin für „Altes Testament: Geschichte und Religionsgeschichte Israels und seine Umwelt“ an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Bernd Janowski ist ordentl. Professor für Altes Testament an der Ev.-theol. Fakultät der Universität Tübingen.
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. e-ISBN PDF 978-3-16-151105-9 ISBN 978-3-16-149776-6 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort
„Der Tod oder, besser, das Wissen um unsere Sterblichkeit ist ein KulturGenerator ersten Ranges“ (Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt a.M. 2000, 14) und ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem zahlreiche historische, theologische, kulturwissenschaftliche und anthropologische Aspekte zu klären sind. Obwohl Sterben und Tod universell sind, weichen die Konzepte, mit denen sich die Menschen dem Unvermeidlichen stellen oder fügen, in den einzelnen Gesellschaften und Kulturen stark voneinander ab. In der vorderorientalischen Antike war der Tod ein stetiger Begleiter und integraler Bestandteil des Lebens. Man starb allerdings durchaus nicht beliebig: Die Weise, wie ein Mensch sein irdisches Dasein beendete, wurde von allen Mitgliedern einer Kultur auf der Grundlage der gesellschaftlich geltenden Normen als positiv oder negativ bzw. als erstrebenswert oder abscheulich beurteilt. So gab es Todesarten, die als würdiger Abschluss eines ehrenwerten Lebens galten, während andere ein ehrloses Leben schimpflich beendeten. Man unterschied den normalen, guten Tod in hohem Alter, den man herannahen fühlte und der ein erfülltes Leben zu einem runden Abschluss brachte (nach alttestamentlichem Verständnis: „alt und lebenssatt“), von dem vorzeitigen und hässlichen Ableben, das einen Menschen in Form eines Unfalls, Mordes oder gar durch eine Hinrichtung ereilen konnte. Letzteres wurde in der herrschaftlichen Ikonographie (z.B. neuassyrische Kriegsreliefs, ägyptische Reliefs, palästinische Siegel) drastisch in Szene gesetzt, um die Menschen davon zu überzeugen, dass systemdestabilisierendes Verhalten unweigerlich zu einem hässlichen und vorzeitigen Tod führen würde. In gewisser Hinsicht ging man davon aus, dass dem Charakter und der Lebensführung eines Menschen im Idealfall seine Todesart entspräche. Doch setzen sich verschiedene Texte aus Mesopotamien, Ägypten, Syrien wie dem Alten Testament mit dem Problem auseinander, dass auf diese Korrelation von Lebensführung und Todesart nicht wirklich Verlass ist, da der plötzliche, schlechte Tod durchaus einen gottesfürchtigen und ethisch vorbildlichen Menschen treffen konnte, während ein gottloser und unmoralischer Mensch im hohen Alter friedlich entschlafen durfte. Die Deutungsmuster, die im Angesicht dieses Dilemmas in Ägypten, Mesopotamien, Syrien und dem alten Israel entstanden, ähneln sich zwar strukturell, unter-
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Vorwort
scheiden sich aber auch in charakteristischer Weise. Dabei kristallisierte sich bei näherer Betrachtung heraus, dass die Art und Weise, wie man in vorchristlicher Zeit in den vorderorientalischen Kulturen mit dem Tod umging, von diversen Faktoren abhing, die auf der Grundlage einer möglichst umfassenden Quellenbasis und eines breiten Methodenspektrums zu untersuchen waren. Dieser Aufgabe haben sich siebenundzwanzig renommierte Forscherinnen und Forscher aus dem In- und Ausland auf dem Internationalen und Interdisziplinären Symposion gestellt, das vom 16. bis zu. 18. März 2007 an der Universität Leipzig stattfand und von der Gerda Henkel Stiftung finanziert wurde. Im Zentrum standen dabei die unterschiedlichen Entwicklungen in Bezug auf Todesvorstellungen und Grabsitten, die im 3.–1. Jt. v. Chr. Ägypten, Mesopotamien, Syrien und die Levante prägten. In diesen kulturgeschichtlichen Kontext konnten die verschiedenen literarischen Traditionen des Alten Testaments differenziert eingeordnet werden, da sie sich an verschiedenen zeitgenössischen Diskursen um Tod und Jenseits beteiligten. Das Symposion war darauf ausgerichtet, theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte des Themas aufzuarbeiten und es damit aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren. Dabei wurden die unterschiedlichen Quellen aus Palästina und seiner Umwelt aufgenommen, so dass Texte, Bilder und materiale Hinterlassenschaften bearbeitet und miteinander in Beziehung gesetzt werden konnten. In dieser thematischen und methodischen Vernetzung bestand auch das innovative Konzept des Symposions, das Fachvertreter mit unterschiedlichsten Kompetenzen – Geschichte, Theologie, Archäologie, Altorientalistik, Ägyptologie, Religions- und Kulturwissenschaften sowie Gender-Forschung – zusammenbrachte. Dadurch war gewährleistet, dass Quellen und Arbeitsformen zusammengeführt wurden, die in der Regel weitgehend nebeneinander existieren und unabhängig voneinander arbeiten. Der vorliegende Sammelband bündelt die Ergebnisse dieses Symposions unter den folgenden Perspektiven: I. II. III. IV. V. VI.
Der Mensch und sein Tod – übergreifende Aspekte Der gute und der schlechte Tod – zur Bewertung des Todes Bestattungs- und Trauerriten – zur rituellen Bewältigung des Todes I Postmortale Existenzformen – kosmologische und theologische Aspekte Das Band zwischen den Lebenden und den Toten – zur rituellen Bewältigung des Todes II Tod und Jenseits im antiken Mittelmeerraum – komparatistische Aspekte
Vorwort
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Der wissenschaftliche Ertrag der Tagung bestand darin, dass sich wichtige Impulse für die Neubewertung des Verhältnisses von Grabsitten, Jenseitsvorstellungen und ethnischer Identität sowie für die Bedeutung genderdifferenzierter Todeskonzepte ergeben haben. Die Arbeiten zu den alttestamentlichen und frühjüdischen Texten zeigten auch, wie vielfältig die Vorstellungen hinsichtlich der postmortalen Existenz am Ende des 1. Jt. v. Chr. und am Anfang des 1. Jt. n. Chr. waren. So muss als Fazit formuliert werden, dass die antike Welt vom 3. Jt. v. Chr. bis zum Frühjudentum keine Notwendigkeit darin sah, ein geschlossenes System an Todes-, Jenseitsund Auferstehungsvorstellungen zu entwerfen. Die Arbeit an den Texten, Bildern und archäologischen Hinterlassenschaften zeigte in Bezug auf Tod und Jenseits unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und synchrone wie auch diachrone Entwicklungen der „Geschichte des Todes im Vorderen Orient“, zu der der vorliegende Band wesentliche Impulse beitragen möchte. Die aufwändigen Layout- und Korrekturarbeiten hätten ohne die tatkräftige Hilfe von Herrn Jan Dietrich, Herrn Dr. Raik Heckl und Frau Kerstin Menzel (Teil I-III; Leipzig) sowie von Frau Dr. Annette Krüger, Herrn Achim Köhler und Frau Sara Misterek (Teil IV-VI; Tübingen) nicht bewerkstelligt werden können. Um die Register hat sich Herr Tobias Funke (Leipzig) verdient gemacht. Neben der Gerda Henkel Stiftung gebührt Ihnen allen unser ganz besonderer Dank. Danken möchten wir auch Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Tanja Mix vom Verlag Mohr Siebeck für alle Unterstützung während des Symposions und bei der Vorbereitung des Sammelbandes. So bleibt uns zu guter Letzt nur noch der Wunsch, dass der vorliegende Band das Verständnis der komplexen Todes- und Jenseitsvorstellungen der vorderorientalischen Antike zwischen dem 3. und 1. Jahrtausend v. Chr. fördern möge! Angelika Berlejung / Bernd Janowski Leipzig / Tübingen, im November 2008
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ...................................................................................................................... V
I. Der Mensch und sein Tod – übergreifende Aspekte JOHANNES SCHNOCKS Vergänglichkeit und Gottesferne ................................................................................ 3 CHRISTIAN FREVEL Dann wär’ ich nicht mehr da. Der Todeswunsch Ijobs als Element der Klagerhetorik ........................................... 25 RÜDIGER LUX Tod und Gerechtigkeit im Buch Kohelet ................................................................. 43 STEFANIE U. GULDE Der Tod als Figur im Alten Testament. Ein alttestamentlicher Motivkomplex und seine Wurzeln ......................................... 67 IRMTRAUD FISCHER Ist der Tod nicht für alle gleich? Sterben und Tod aus Genderperspektive ................................................................... 87
II. Der gute und der schlechte Tod – zur Bewertung des Todes UTE NEUMANN-GORSOLKE „Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit ................................................. 111 ANNETTE KRÜGER Auf dem Weg „zu den Vätern“. Zur Tradition der alttestamentlichen Sterbenotizen ................................................ 137 MARTIN LEUENBERGER Das Problem des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte ...................................... 151
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Inhaltsverzeichnis
JAN DIETRICH Der Tod von eigener Hand im Alten Testament und Alten Orient. Eskapistische, aggressive und oblative Selbsttötungen .......................................... 177 ANGELIKA BERLEJUNG Bilder von Toten – Bilder für die Lebenden. Sterben und Tod in der Ikonographie des Alten Orients, Ägyptens und Palästinas .......................... 199
III. Bestattungs- und Trauerriten – zur rituellen Bewältigung des Todes I JENS KAMLAH Grab und Begräbnis in Israel / Juda. Materielle Befunde, Jenseitsvorstellungen und die Frage des Totenkultes ............. 257 SILVIA SCHROER Trauerriten und Totenklage im Alten Israel. Frauenmacht und Machtkonflikte ............................................................................ 299 HERBERT NIEHR Die Königsbestattung im Palast von Ugarit. Ein Rekonstruktionsversuch der Übergangsriten aufgrund schriftlicher und archäologischer Daten ................................................... 323 REINHARD ACHENBACH Verunreinigung durch die Berührung Toter. Zum Ursprung einer altisraelitischen Vorstellung .................................................. 347
IV. Postmortale Existenzformen – kosmologische und theologische Aspekte GÖNKE D. EBERHARDT Die Gottesferne der Unterwelt in der JHWH-Religion ............................................ 373 KATHRIN LIESS „Hast du die Tore der Finsternis gesehen?“ (Ijob 38,17) Zur Lokalisierung des Totenreiches im Alten Testament ....................................... 397 KLAUS BIEBERSTEIN Jenseits der Todesschwelle. Die Entstehung der Auferweckungshoffnungen in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur ........................................................ 423
Inhaltsverzeichnis
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BERND JANOWSKI JHWH und die Toten. Zur Geschichte des Todes im Alten Israel .......................... 447
V. Das Band zwischen den Lebenden und den Toten – zur rituellen Bewältigung des Todes II DAGMAR KÜHN Totengedenken im Alten Testament ....................................................................... 481 RÜDIGER SCHMITT Totenversorgung, Totengedenken und Nekromantie. Biblische und archäologische Perspektiven ritueller Kommunikation mit den Toten .................... 501 RAIK HECKL Zur Rolle der Ahnen in der Grundkonzeption der Hexateuchüberlieferung .................................................................................... 525 JAN CHRISTIAN GERTZ Das Zerschneiden des Bandes zwischen den Lebenden und den Toten in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur ............................................ 547
VI. Tod und Jenseits im antiken Mittelmeerraum – komparatistische Aspekte ANNETTE ZGOLL Die Toten als Richter über die Lebenden. Einblicke in ein Himmel, Erde und Unterwelt umspannendes Verständnis von Leben im antiken Mesopotamien ............................................... 567 DANIEL SCHWEMER Tod, Geschick und Schicksalsgöttin. Übergänge zwischen Leben und Tod in babylonischen Abwehrzauber-Ritualen ...................................... 583 JOACHIM F. QUACK Grab und Grabausstattung im späten Ägypten ........................................................ 597 JOACHIM BRETSCHNEIDER Königsgrab und Herrscherlegitimation in Alt-Syrien im 3. Jahrtausend v. Chr. ................................................................... 631 JÜRGEN ZANGENBERG Trockene Knochen, himmlische Seligkeit. Todes- und Jenseitsvorstellungen im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit ........................................................................ 655
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Inhaltsverzeichnis
Stellenregister ........................................................................................................... 691 Sach- und Namensregister........................................................................................ 704 Wortregister.............................................................................................................. 719 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren ............................................................... 722
I. Der Mensch und sein Tod – übergreifende Aspekte
Vergänglichkeit und Gottesferne JOHANNES SCHNOCKS
Das Wissen des Menschen um seine Vergänglichkeit ist ein unabänderliches Schicksal. Es ist zudem ein unbequemer Gedanke, der nach einer Auseinandersetzung verlangt, wenn das Leben sich nicht in einer betäubten Uneigentlichkeit erschöpfen soll. Dabei begegnet dem Menschen diese ureigenste Problematik seiner Existenz in zwei Dimensionen, der Frage nach seinem Schicksal im bzw. nach dem Tod und der Frage nach dem Verständnis eines Lebens, das durch diesen Tod begrenzt wird. Das Schicksal im Tod ist dem Menschen ein unlösbares Rätsel. Und doch prägt diese Thematik sein Leben, weil er Erfahrungen macht wie die des Sterbens anderer Menschen, seiner eigenen Unterworfenheit unter das Verstreichen der Zeit und der Begrenztheit seiner Natur durch Krankheiten oder Verletzungen. Das Wissen um die Vergänglichkeit ist so zu allen Zeiten zum Stimulus für die Entstehung von Kulturen und Religionen geworden, die sich umgekehrt daran messen lassen müssen, wie sie sich dieser Herausforderung stellen. Im Alten Israel ist die Frage nach Gott in diesem Grenzgebiet der menschlichen Existenz mit Reibungen und Sperren verbunden. Zudem fällt auf, dass die Denkansätze und Antwortversuche im Alten Testament in diesem Bereich vielfältig sind und sich offensichtlich nicht in einem übergreifenden, linearen religions- oder theologiegeschichtlichen Modell abbilden lassen.1 So ist etwa die Vorstellung von einer strikten Trennung zwischen Gott und den Toten verbreitet und auch mit anderen Theologumena gut vereinbar. Es gibt aber ebenfalls genügend Beispiele, die ihre Gültigkeit bezweifeln lassen. Ebenso ist es durchaus fraglich, ob im Alten Testament die Erfahrung der menschlichen Vergänglichkeit mit einem Fernsein Gottes gleichgesetzt werden muss. Diesem Beitrag geht es nicht um alttestamentliche Vorstellungen über das Schicksal des Menschen nach dem leiblichen Tod, sondern um die theologische Deutung der menschlichen Vergänglichkeit. Wie können im Alten Testament Menschen ihr Leben als ein vom Tod begrenztes vor Gott 1
Vgl. zum Aspekt einer Verhältnisbestimmung von JHWH und den Toten EBERUnterwelt, und ihren Beitrag in diesem Band.
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reflektieren? Führt der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit in die Gottesferne, weil dieser Gott selbst nicht von ihr betroffen ist, aber den Tod der Menschen bewirkt? Oder gibt es gerade angesichts der conditio humana eine Möglichkeit der Nähe zwischen Mensch und Gott? Ich möchte diese Fragen in einem Textzusammenhang bearbeiten, der in der Forschung noch nicht lange überhaupt als ein solcher wahrgenommen wird. Es geht um die Psalmen des vierten (und fünften) Psalmenbuchs, insofern sie diese Thematik aufgreifen. Im Sinne der Psalterexegese können sie als Antwort auf die gewichtige Schlusskadenz des dritten Psalmenbuchs, nämlich die Psalmen 88 und 89, gelesen werden. Ich werde im Folgenden zunächst Ps 88 und den Schluss von Ps 89 als Ausgangspunkte kurz auf ihre Vorstellungen von der Vergänglichkeit des Menschen und der Frage nach der Ferne oder Nähe Gottes untersuchen und dann in der Leserichtung des Psalters die hier aufgeworfenen Themen weiter verfolgen. Dabei fließen Einsichten der jüngeren Psalmenforschung ein: die erste ist, dass der Psalter nicht mehr nur als Ansammlung von Einzelpsalmen wahrgenommen werden kann, sondern auch als Buch Gegenstand der Auslegung ist, die zweite, dass die Hauptzäsur dieses Buches zwischen Ps 88/89 und Ps 90 liegt und zwar sowohl für eine synchrone Lektüre als auch diachron im Sinne der Redaktionsgeschichte.2
I Psalm 88, der „düsterste und schwermütigste aller alttestamentlichen Psalmen“,3 kann an dieser Stelle nur skizzenhaft bearbeitet werden.4 Im 2 Vgl. etwa HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, bes. 35; HOSSFELD, Klage, 18; DERS., Ps 89, 173–175; BALLHORN, Telos, 31f und passim; LEUENBERGER, Konzeptionen, bes. 85– 92; SCHNOCKS, Vergänglichkeit; DERS., Mose; DERS., Bund. 3 HAAG, Psalm 88, 149. 4 Vgl. an neueren Beiträgen zu Ps 88 GROß, Schwerkranker; DERS., Feind; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 563–576 (Zenger); JANOWSKI, Toten; GILLMAYR-BUCHER, Lyrik, bes. 289–330; SCHLEGEL, Prüfstein; VOS, Klage, bes. 21–38 und zur speziellen Diskussion um die Fragen in V. 11–13 CRÜSEMANN, Fragen, und SCHILLER, Wunder. Meine Position in dieser Debatte habe ich an anderer Stelle (vgl. SCHNOCKS, Rettung und DERS., Metaphern) begründet: F. Crüsemann ist dahingehend recht zu geben, dass es unsachgemäß ist, die Fragen in V. 11–13 als rhetorische Fragen zu bestimmen, um sie in einem zweiten Schritt in negierte Aussagesätze umzuformen, wie dies in der älteren Forschung bisweilen geschehen ist. Ebenfalls unbefriedigend ist es, ihnen die Funktion von Bitten zuzuweisen, um so dieses sonst in Ps 88 fehlende Gattungselement eines Klageliedes auch hier vorzufinden. Dass allerdings der Beter sich selbst bereits in dem Sinne als tot begreift, dass hier kein Unterschied zum Tod am Lebensende bestehe, die V. 11– 13 also Informationsfragen wären, wie Crüsemann den Text verstehen möchte, nivelliert
Vergänglichkeit und Gottesferne
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Vergleich mit anderen individuellen Klagen fällt die Abwesenheit von Feinden und das völlige Fehlen von Rettungsbitten oder eines Stimmungsumschwungs auf, so dass der Psalm formen- und gattungskritisch schwer zu bewerten ist. Die Struktur des Psalms wird durch die dreifache Beteuerung des Ichs bestimmt, zu Gott gerufen zu haben. Gleichzeitig ist dieses Rufen der letzte Hinweis auf ein Festhalten an JHWH als dem Gott der Rettung (V. 2), während die Dynamik des Psalms diesen Gott in der Erfahrungswelt in immer größere Ferne rückt. Auf den ersten Blick beherrscht den Psalm das Thema der Vergänglichkeit als die Erfahrung des unmittelbar bevorstehenden und bereits die Lebenswirklichkeit völlig bestimmenden Todes.5 Der Tod wird durch Kraftlosigkeit, soziale Isolation, das Abgeschnittensein von der Hand JHWHs und das Gefangensein in der vielfältig benannten Unterwelt umschrieben, also zunächst als ein Zustand dargestellt. Daneben finden sich gegen Ende des Psalms aber auch Äußerungen, die die Vergänglichkeit offenbar als lebenslangen Prozess verstehen. 16 Elend bin ich und sterbend von Jugend an; ich habe getragen deine Schrecken;6 ich muss erstarren.7
die differenzierten Textsignale des Psalms. Die Sprachform der Fragen in V. 11–13 muss vielmehr auch unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten in die Interpretation einfließen, damit das poetische Potential des Psalms erfasst werden kann. 5 Vgl. zu dieser Vorstellung des „Todes mitten im Leben“ die klassisch gewordene Studie von BARTH, Errettung, bes. 87–94. 6 Zur mask. Pl.-Form vgl. Ijob 20,25; Jer 50,38; anders Ps 55,5. 7 Merkwürdig ist hier zunächst die Kohortativform. Nach GK § 108g soll sie so zu verstehen sein, dass sie „nach gänzlichem Verblassen ihrer Bedeutung lediglich um ihres volleren Klanges willen für das gewöhnliche Imperfekt eingetreten ist.“ Eine bessere Alternative bieten jetzt die eingehenden Untersuchungen E. Jennis zum Kohortativ. Er kann an einer Reihe von Stellen gerade die Modalität des Müssens belegen, wobei „der Kohortativ nur die widerstrebende, resignierte Zustimmung des Klagenden zum kommenden Geschehen bedeutet. Anstelle der Selbstermunterung tritt umständehalber die Ergebung in das Unvermeidliche.“ (JENNI, Kohortativ, 215) Die zugrunde liegende Wurzel ɒɈɗ ist Hapaxlegomenon. Als ernst zu nehmende antike Lesart kann lediglich auf 4QPst ɇɛɈɗɃ hingewiesen werden, was aber nicht weniger rätselhaft ist. Auch die alten Übersetzungen und Auslegungen helfen wenig bei der Deutung des Wortes. Oft wird zu ɇɅɈɗɃ „ich werde erschlaffen“ konjiziert. Eine interessante Alternative zu dieser Konjektur bietet EMERTON, Problems, 102, der nach ausführlicher Darstellung der textlichen Situation und der Forschung für eine Streichung des Ɉ, eine Umvokalisierung und die Ableitung von ɇɓɗ votiert, so dass er mit Verweis auf Ps 90,9 mit „pass away“ übersetzt. Sollte allerdings die Bedeutung von ɒɈɗ, wie in vielen jüngeren deutschsprachigen Arbeiten vermutet, mit „erstarren“ richtig bestimmt sein, so wäre jede Konjektur überflüssig, da sich diese Übersetzung gut mit der Thematik des Gottesschreckens im selben Vers vereinbaren lässt (vgl. KRAUS, Psalmen, 772f; GROß, Feind, 48; DERS., Schwerkranker, 102; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 564.566 [Zenger]; JANOWSKI, Toten, 5f; VOS, Klage, 23).
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17 Gegen mich sind vorbeigezogen deine Zornesgluten; deine Schrecknisse haben mich vernichtet.8
Hier betrachtet das Ich des Psalms sein ganzes Leben als von der Todeserfahrung gezeichnet. Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit ist zur unentrinnbaren Bedrohung geworden. Ps 88 ist zwar keine abstrakte, systematische Abhandlung über die Vergänglichkeit, der Text erschöpft sich aber bei aller individuellen Stilisierung auch nicht in der Festlegung auf eine ganz bestimmte Gebetssituation.9 Es ist also ernst zu nehmen, dass der Psalm „poetisch geformter, für viele zur Verfügung gestellter Gebetsausdruck einer theologischen Reflexion ist“.10 Diese Reflexion besteht im Kern darin, dass das Ich des Psalms – für es selbst offenbar unbegreiflich – den Gott seiner Rettung als Verursacher aller Erfahrungen benennt, in denen ihm die Wirklichkeit des Todes bereits mitten im Leben begegnet. Das theologische Grundproblem wird so auf den Punkt gebracht: Gott selbst verursacht das Sterben des Menschen und darüber hinaus schon jede Minderung der Vitalität im Leben. Zumindest im Duktus des Psalms sind auch die Fragen der V. 11–13 im Zentrum wohl so zu verstehen, dass eine heilvolle Perspektive nach dem Tod ausgeschlossen,11 umgekehrt aber auch die Perspektive JHWHs einbezogen wird: Das Sterben des Frommen kann auch für Gott keinen Gewinn bedeuten. 8 Bereits GK § 55d liest hier für die „ungeheuerliche“ Form des hebräischen Textes ɌɓɈɝɑə, was zudem als Schreibvariante belegt ist. 9 Forschungsgeschichtlich ist hier die Diskussion angeschnitten, ob Ps 88 als Krankenpsalm zu bezeichnen sei, wie das v.a. SEYBOLD, Gebet, 113–117 begründet hat. Insbesondere die formen- und gattungskritischen Konsequenzen eines solchen Verständnisses, den Sitz im Leben dieses Psalms in einem außerkultischen rituellen Bußakt zu sehen und die V. 11–13 in der Funktion eines Gnadenappells gepaart mit einer Confessio zu verstehen, haben sich nicht bewähren können. Unabhängig davon bleibt es denkbar, dass eine schwere Krankheit oder gar die Erwartung des bald bevorstehenden Todes einen Menschen in Reflexionen führt, wie sie in Ps 88 begegnen. Wichtig ist es aber, die poetische Form des Textes und die fehlende Festlegung auf eine spezielle Situation (Um welche Krankheit handelt es sich?) als ein grundsätzliches Angelegtsein auf Wiederverwendung zu begreifen. Diese Rezeption hat sowohl eine frömmigkeitsgeschichtliche Dimension im Blick auf das Nachsprechen des Psalms im Gebet als auch eine literarische im Zusammenhang des kanonischen Psalmenbuchs. 10 GROß, Schwerkranker, 111. 11 Die entscheidenden Beobachtungen sind die Vernetzungen der Verse mit V. 6, v.a. aber der mit Kontrastfokus (ɌɓɃɈ) einsetzende V. 14, so dass sich selbst bei „weicher“ Interpretation der Fragen in V. 11–13 die Gegenüberstellung ergibt: „Ob die Toten dich loben und von deiner Gerechtigkeit und Gnade erzählen, ist die Frage. Ich aber, ich schreie zu dir, JHWH!“ Daraus ergibt sich die vom betenden Ich festgehaltene Differenz zu den Toten, die gerade in der Möglichkeit zur Kommunikation und damit auch zum Gotteslob besteht. Auf diese Weise wird der Position von V. 6, JHWH werde der Toten nicht heilvoll gedenken, auf Textebene letztlich nicht widersprochen.
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Als Gebet transformiert Ps 88 die Problematik der menschlichen Vergänglichkeit, indem sie von der Ebene der Erfahrung auf die Ebene der Gottesbeziehung gehoben wird. Leiden und Vergänglichkeit werden so zur Erfahrungsseite der Gottesferne. Aus der Unvereinbarkeit des rettenden Gottes, den der Beter anruft (V. 2), mit dem feindlichen Gott, den er in seinen Leiden ohne jede Aussicht auf Besserung erfahren hat, ergibt sich eine theologische Krise. Die dreimalige Anrufung Gottes bestätigt dabei am Ende nur diese Krise. Wenn der Beter die Kommunikation aufrecht erhält, aber von Gott keinerlei positive Reaktion erfährt, so bleibt nur die Erfahrung unüberbrückbarer Gottesferne, die zudem von Gott selbst verursacht ist, also den Charakter einer Selbstauslöschung Gottes aus Sicht des Menschen trägt. Der Akt der Klage selbst bleibt der letzte Versuch auf menschlicher Seite, den feindlichen Gott der Erfahrung und den rettenden Gott des Glaubens gleichzusetzen und so den Relevanzverlust Gottes diesem selbst vor Augen zu stellen. „Es geht in Ps 88 also um das Leben des Beters und um das Gottsein Gottes – dieses nicht ohne jenes!“12 Liest man nun weiter im Psalmenbuch, trifft man mit Ps 89 auf einen Psalm, der vielfältig mit seinem Vorgänger verknüpft ist.13 Gegen Ende findet sich in V. 48f eine Vergänglichkeitsklage: 48 Gedenke meiner14 – was ist die Lebensdauer? Zu welcher Nichtigkeit hast du erschaffen alle Menschenkinder? 49 Wer ist der Mann, der leben und den Tod nicht sehen wird, der seine Lebendigkeit retten wird aus der Hand der Scheol? SELA
Neben einigen terminologischen Anklängen an Ps 88 ist v.a. festzuhalten: Fragt man nach der theologischen Dimension der menschlichen Vergänglichkeit, so besteht sie hier im Schöpfungsbezug. Der Mensch ist dem Tod, dem Zugriff der Scheol seit der Schöpfung machtlos ausgeliefert. Damit ist die Verallgemeinerung vom individuellen zum allgemein-menschlichen Schicksal, die in Ps 88 nur in den Fragen V. 11–13 begegnet war, hier nun durchgängig vollzogen. Gegenüber Ps 88 fällt der Aspekt der (begrenzten) 12
JANOWSKI, Toten, 10. Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 597 (Hossfeld). Zur Stellung von Ps 88 am Ende der Korachiterpsalmen vgl. ebd., 574f (Zenger) und GROß, Schwerkranker, 113f. 14 An dieser Stelle wird oft ɌɓɃ zu ɌɓɆɃ konjiziert (vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 580 [Hossfeld]), so dass das im Duktus des Psalms singuläre „Ich“ beseitigt wird und der Vers ebenso beginnt wie V. 51. Nimmt man allerdings die Verbindung zu Ps 88 wahr – oder rechnet man gar erst mit einer redaktionellen Eintragung der Verse von Ps 88 her (vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 583 [Hossfeld] mit weiterer Literatur) –, so ist es allerdings durchaus denkbar, dass hier auf ein betendes Ich zurückgelenkt wird und sich eine Konjektur erübrigt. 13
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Lebensdauer auf, der zuvor angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes nicht im Blick war. Auch wenn JHWH nach Ps 89,48f die Vergänglichkeit des Menschen bei der Schöpfung verfügt hat, so ist dadurch doch seine mögliche heilvolle Nähe zu jedem einzelnen Menschen nicht notwendig in Frage gestellt und kann in Ps 89,48aƝ erbeten werden. Die Verse sind also neutraler als Ps 88 in Bezug auf die Frage der Gottesferne, auch wenn der negative Grundtenor nicht zu überhören ist und sich gut in die Klage über die untergegangene Davididendynastie einfügt. Damit schließt das dritte Psalmenbuch im Blick auf das Thema der menschlichen Vergänglichkeit – und nicht nur hier! – mit offenen Fragen, indem Ps 88 und 89 in diesem Zusammenhang über das jeweils auf andere Weise problematisch gewordene Gottesverhältnis nachdenken: Ps 88, indem er an der erfahrenen persönlichen Gottesbeziehung fast zerbricht, und Ps 89 im Kontext des Vorwurfs, JHWH habe den Davidsbund verworfen. Was aber geschieht, wenn man den Psalter weiterbetet? Finden sich Ansätze, die die Problematik der Vergänglichkeit mit der Frage nach dem nahe oder ferne seienden Gott verbinden und so die conditio humana theologisch durchdenken?
II In Psalm 90, dem Eröffnungspsalm des vierten Buches, wird die Thematik der Vergänglichkeit in der Tat breit aufgegriffen. Ich möchte einige Aspekte herausstellen.15 In den einleitenden ersten Versen werden zwei Grundthesen formuliert. Die erste betrifft die Gottesnähe: Gott war für die Beter ein Unterschlupf. Die zweite These bringt nun einen Zeitindex ins Spiel und bindet diesen an die erste Aussage: Gott war dies von Generation zu Generation, und dieser umfassenden menschlichen Zeitdimension steht seine zeitlich völlig unabsehbare Existenz gegenüber.16 Damit ist ein Verständnisrahmen für den 15
Unter den neueren Arbeiten zu Ps 90 vgl. ZENGER, Werk; SCHMIDT, Menschen; KRÜGER, Vergänglichkeit; WAHL, Ps 90,12; SEYBOLD, Zeitvorstellungen; SCHNOCKS, Berge; FORSTER, Herausforderung, bes. 137–200; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen, 601–615 (Zenger); GILLMAYR-BUCHER, Lyrik, bes. 245–274; GZELLA, Lebenszeit; SCHNOCKS, Vergänglichkeit; BRANDSCHEID, Tage; LEUENBERGER, Konzeptionen, bes. 132–135; CLIFFORD, Psalm 90. 16 Die „Zeitdimension Gottes“ wird zunächst mit dem Stilmittel eines grammatischen Regelverstoßes ausgedrückt. Der ɐɛɋɄ-Satz zu Beginn von V. 2 ist wie sonst nur noch in der Parallele Spr 8,25 nicht wie üblich mit Präfixkonjugation, sondern mit Suffixkonjugation konstruiert. Die zeitliche Einordnung „vor aller Schöpfung“ wird so als
Vergänglichkeit und Gottesferne
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Psalm abgesteckt. Wenn im Folgenden über die menschliche Vergänglichkeit nachgedacht wird, so geschieht das im Gegenüber zur Seinsweise Gottes und in Auseinandersetzung mit ihm. Diese Vergänglichkeitsreflexion coram deo macht diesen Psalm für die hier bearbeitete Fragestellung so interessant. Zunächst lässt V. 3 keinen Zweifel daran, dass die Vergänglichkeit des Menschen das Werk Gottes ist: 3 Du ließest (den) Menschen zu Staub zurückkehren und sprachst: Kehrt zurück Adamskinder.
In V. 4 tritt nun aber ein anderer Aspekt hinzu: 4 Denn tausend Jahre in deinen Augen sind wie der Tag gestern, wenn er vorübergegangen ist, und (wie) eine Nachtwache in der Nacht.
Wie J. Assmann auch für entsprechende ägyptische Aussagen gezeigt hat, wird hier durch die Vergleiche und das Vor-Augen-Stellen der Jahre in Bezug auf Gott die Zeit so sehr verobjektiviert, dass sie faktisch negiert wird.17 Gegenüber V. 3 könnte der Kontrast größer nicht sein: Während der Mensch sterblich ist, ist Gott vom Verstreichen der Zeit nicht betroffen! In den folgenden Versen wird nun die Vergänglichkeit des Menschen in unterschiedlichen Aspekten ausgeleuchtet. Der textlich schwierige V. 518 stellt eine Verbindung zur biblisch ja nicht ungewöhnlichen Metapher des Grases her, die dann in V. 6 ausgeführt wird: 6 Am Morgen wird es blühen und sich regenerieren, am Abend wird es zusammensinken und vertrocknen
Ungewöhnlich ist hier, dass die Vergänglichkeitsmetapher in den Tagesablauf zwischen Morgen und Abend eingepasst wird. Damit wird ein deutlicher Akzent gesetzt. Es sind also nicht besondere Notlagen oder Ereignisse, die das Gras und so auch jeden Menschen vergehen lassen, sondern schon das bloße Verstreichen der Zeit. Die folgenden Verse kommen noch Grenzaussage markiert, als Ausgriff in eine „unvordenkliche“ Vergangenheit. Das Versende weist schließlich dem angesprochenen Gott die denkbar größte zeitliche Erstreckung zu: ɐɏɈɕȽɆɕ ɐɏɈɕɑ. 17 Vgl. ASSMANN, Doppelgesicht, 203f. 18 Zur Textkritik dieses Verses vgl. ausführlich SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 68–77. Denkbare Alternativen, die ohne Eingriffe in den Konsonantenbestand auskommen, sind die folgenden Übersetzungen: „Überschwemmst du sie mit Schlaf, werden sie, wie am Morgen das Gras sich regeneriert.“ Oder bei Umpunktierung des ɇɓɜ: „Hast du sie preisgegeben, sind sie ausgewechselt, wie Gras sich am Morgen regeneriert.“ Oder mit einer anderen etymologischen Entscheidung: „Du hast sie der Alterung preisgegeben, sie sind wie Gras, das sich am Morgen regeneriert.“
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einmal auf den bereits in V. 3 angesprochenen Umstand zurück, dass die Vergänglichkeit von Gott gewirkt wird. Das Verstreichen der Lebenszeit wird so als fortwährender Verlust von Lebensmöglichkeiten und als Ausgeliefertsein an die unkalkulierbare Macht des Gotteszorns verstanden. Der Subjektwechsel unterstreicht dabei, dass die zunächst allgemein formulierte menschliche Vergänglichkeit von den Betern als persönliches Schicksal erlebt wird: 7 Denn wir endeten in deinem Zorn, und in deiner Hitzigkeit wurden wir erschreckt. 8 Du stelltest unsere Sünden vor dich hin, unser Verborgenes in das Licht deines Gesichtes. 9 Denn alle unsere Tage wendeten sich in deiner Wut, wir vollendeten unsere Jahre wie ein Geseufze.
An der Interpretation dieser Klage entscheidet sich, ob man den Psalm insgesamt wie in der großen Mehrzahl der Auslegungen vom Thema der Vergänglichkeit bestimmt sieht oder ihn im gattungskritisch strengen Sinn als Klagelied des Volkes versteht, um dann in diesen Versen die eigentliche Notbeschreibung zu finden.19 Dazu ist zunächst festzuhalten, dass eine „spezifische geschichtliche Notlage“20 in diesen Versen kaum festzumachen ist. Ebenso wenig ist es klar, dass es sich beim Erlebnis des Gotteszorns um ein kollektives Ereignis handeln muss. Der Fokus liegt in V. 9 vielmehr explizit mit ɈɓɌɑɌȽɏɎ und ɈɓɌɓɜ auf Ausdrücken, die die Lebenszeit von Menschen bezeichnen. Damit ist es näherliegend, als Anlass der Klage nicht eine kollektive Notlage wie Krieg oder Seuchen zu vermuten,21 sondern den Text in seiner Deutungsoffenheit ernst zu nehmen: Eben weil das Leben begrenzt ist, ist jede Lebensminderung – sei sie nun kollektiver oder individueller Natur – ein ernstes Problem und die Erfahrungsseite einer Gottesferne, die hier als Zorn und das Beachten der Sünden interpretiert wird. Weiter verzichten die Verse auf eine Kausalkette, die die in V. 8 erwähnten Sünden als Grund für das Zorneshandeln JHWHs benennen würde. Ganz entsprechend ist V. 13 eine Bitte um Hinwendung und Erbarmen, aber keine ausdrückliche Vergebungsbitte. Diese Leerstelle, der Verzicht auf eine Begründungsstruktur, ist besonders deshalb be-
19 In diese Richtung votieren mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in letzter Zeit KRÜGER, Vergänglichkeit; BRANDSCHEIDT, Tage; LEUENBERGER, Konzeptionen, 133 mit Anm. 26; CLIFFORD, Psalm 90. 20 LEUENBERGER, Konzeptionen, 133. 21 BRANDSCHEIDT, Tage, 31 möchte hier die religionspolitischen Auseinandersetzungen „zur Zeit der Ptolemäer- und Seleukidenoberherrschaft in Palästina“ abgebildet finden.
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merkenswert, weil sie mit der Aussage von V. 11 übereinstimmt, dass der Gotteszorn menschlicher Erkenntnis radikal entzogen sei.22 Wichtiger als die Konkretisierung der Not – hier lässt der Text offenbar seinen Rezipienten alle Assoziationen offen – ist dem Psalm also offensichtlich der Effekt auf das Menschendasein unter seinem zeitlichen Aspekt. Der lange V. 10 bringt nun diese Reflexion auch formal signalisiert zu einem Abschluss: 10 Die Tage unserer Jahre für sich sind 70 Jahre und wenn durch kraftvolle Taten 80 Jahre, und ihr stolzes Treiben ist Mühe und Unheil. Denn es geht eilends vorbei und wir verfliegen.
Die Ansetzung der Lebenszeit mit 70–80 Jahren kann als eine realistische Maximalangabe verstanden werden. Der Vers gibt sich nun ganz entsprechend V. 7–9 skeptisch, wie dieser zeitliche Rahmen gefüllt ist. Man kann vielleicht paraphrasieren: Selbst ein Leben in maximaler Ausdehnung ist mühsam und trägt das Stigma der Vergänglichkeit. An dieser Stelle erscheint es lohnend, die bisher beobachteten Aussagen des Psalms unter den Aspekten der Vergänglichkeit und der Gottesferne mit Ps 88 zu vergleichen. Zunächst sind sich beide Texte einig, dass das vergängliche Leben eine negative Erfahrung ist, und dass Gott diese Vergänglichkeit verursacht. Beide Psalmen setzen ein, indem sie Gott als Rettergott bzw. als Unterschlupf anreden. In Ps 88 führt der Gebetsweg zu einer immer größeren Distanz zwischen Gott und Beter, weil die Kommunikation nicht hergestellt werden kann. In Ps 90 erscheint die Distanz, wenn man in V. 10 angekommen ist, ebenfalls unüberbrückbar, aber – und das ist der große Unterschied zu Ps 88 – nicht etwa, weil Gott die Antwort verweigert, sondern weil Geschöpf und Schöpfer in Bezug auf die Zeit so unterschiedlicher Natur sind. Die begrenzte menschliche Lebenszeit wird zudem durch das unberechenbare Zorneshandeln Gottes auch noch vergällt – ein Umstand, der problematisch bleibt, selbst wenn er durch die Sünden des Menschen (V. 8) theoretisch gerechtfertigt sein mag. Wenn auch die extreme Schärfe der individuellen Klagen von Ps 88 nicht erreicht wird, so ist doch 22 CLIFFORD, Psalm 90, 199f versteht V. 7–10 ähnlich wie M. Leuenberger und T. Krüger: „they describe a specific event rather than a general condition.“ Die dieser Sicht entsprechende Interpretation von V. 11a durch: „Who knows the full extent (= duration) of your anger?“ (ebd., 202) überzeugt mich nicht. Bezeichnenderweise muss Clifford im zweiten Halbvers Textverderbnis annehmen (vgl. ebd., 201f Anm. 28), weil eine Frage nach der Entsprechung von Gottesgrimm und Gottesfurcht – also wiederum nach der Möglichkeit einer angemessenen menschlichen Einschätzung des Gotteszorns – nicht in sein Konzept passt.
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die Bitterkeit, mit der die Beter von Ps 90,1–10 auf ihr Leben blicken, bemerkenswert. Damit ist Ps 90 schon bis zu diesem Punkt in seiner Grundsätzlichkeit eine in poetische Sprache gebrachte und für Beter in unterschiedlichen Situationen rezipierbare theologische und anthropologische Reflexion. Strukturell sind die folgenden Verse 11 und 12 das Zentrum und der Wendepunkt des Psalms. Hier werden die entscheidenden Weichen für den weiteren Gedankengang gestellt: 11 Wer erkennt die Macht deines Zorns und gemäß der Furcht vor dir deine Wut? 12 Unsere Tage zu zählen, so belehre (uns), und wir werden einbringen ein weises Herz.
Wie schon in Ps 88,11–13 bezieht auch in Ps 90,11 die Form der Frage die lesenden oder betenden Rezipienten an zentraler Stelle in den Gedankengang ein und fordert zu einer Antwort heraus. Die an dieser Stelle provozierte Antwort kommt dem Eingeständnis gleich, das göttliche Handeln und damit das menschliche Schicksal nicht kalkulieren zu können. Damit erkennt der Psalm die Unverfügbarkeit Gottes wie auch der menschlichen Existenz an. V. 12 zieht daraus die Konsequenz und erbittet nicht etwa das Nachlassen des Zornes oder eine Verlängerung der Lebenszeit, sondern die Unterweisung in einen weisen Umgang mit der begrenzten Lebenszeit. Das Verstreichen der Zeit und das Vergehen des Menschen werden gedanklich nicht verdrängt oder ausgeblendet. Das Zählen der Lebenstage bedeutet vielmehr einen Umgang mit der Zeit, der diese nicht lediglich passiv verrinnen lässt, sondern Raum zur Gestaltung schafft. An diese grundsätzliche Weichenstellung knüpfen nun die Bitten des zweiten Psalmteiles an. Sie erhoffen für die gestellte Aufgabe der Lebensgestaltung die Zuwendung Gottes. Die auch stilistisch eindrucksvolle Bitte in V. 13 enthält mit ɇɄɈɜ eine räumliche Dimension. Die Gottesferne soll durch eine Umkehr JHWHs aufgehoben werden. Die Zuwendung Gottes besteht nun aber nicht in einer Überwindung der Vergänglichkeit, sondern in der Ermöglichung eines gelungenen Lebens angesichts der Vergänglichkeit. Mit ɍɌɆɄɕ (V. 13.16) wird erstmals seit V. 1 eine Beziehung zwischen Gott und den Betern ausgedrückt. Die erbetene und auch erwartete Verhaltensweise Gottes gegenüber seinen Knechten ist zunächst das Erbarmen (V. 13) und dann die Zuwendung seiner Gnade (ɆɔɊ V. 14). Wie zuvor die Erfahrung des Gotteszornes das ganze Leben negativ geprägt hat, so führt nun die Gnadenerfahrung zur Freude ebenfalls an allen Lebenstagen. V. 15 bezieht sich insofern auf die Klage zurück, als er Freude in zeitlicher Entsprechung zum bereits erfahrenen Leid erbittet. V. 16 dehnt die Zuwendung Gottes auf die Kinder aus und erreicht damit wieder die zeitliche Perspektive der Generationenfolge.
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War am Ende des Klageteils in V. 10b die Wahrnehmung der Lebenszeit geradezu kurzatmig geworden, so bilden die Zeitausdrücke des Bittenteils eine Kette aus immer längeren Zeiteinheiten von „Morgen“ über „Tag“ und „Jahr“ zur Generationenfolge. V. 17 schlägt schließlich den Bogen zurück zur ersten Einheit des Psalms in V. 1f, so dass eine Rahmung um V. 3–16 entsteht.23 Mit der abschließenden Bitte an Gott, die eigenen Werke zu befestigen, ist am Ende immerhin eine Möglichkeit angedeutet, die Endlichkeit des Lebens in der Beständigkeit „der eigenen Hände Arbeit“ zu transzendieren. Damit wird die nach V. 10 konstatierte Gottesferne nun revidiert. Gott bleibt zwar der Unberechenbare und der „ganz Andere“, ebenso wird die Vergänglichkeit des Menschen weder geleugnet noch gemildert, aber die weise Anerkennung der Endlichkeit des Lebens wird zur Grundlage einer Art „Lebenskunst“, weil sie Raum zur Gestaltung der begrenzten Lebenszeit und so auch Raum für die Gestaltung der Gottesbeziehung findet. Diese Gottesbeziehung ist keineswegs einfach harmonisch. Der Gebetsruf in V. 13 hat seine engste Parallele in der Fürbitte des Mose in der prekären Situation nach der Herstellung des Goldenen Kalbes (Ex 32,12). Diese Beobachtung wird von der Überschrift verstärkt, die Mose zum Sprecher dieses Gebetes macht. Entsprechend sind die Bitten in einer Weise formuliert, die ein Vertrauen auf mögliche Erhörung erkennen lassen. Damit aber ist Gott gerade angesichts der Vergänglichkeit und der damit verbundenen Aufgabe des Menschen, sein Leben weise zu gestalten, nicht der ferne, sondern der anrufbare Gott, der Herr seiner Mägde und Knechte und derjenige, der einen Ausgleich für erlittenes Leid schaffen kann.24 Der Denkfortschritt des 90. Psalms innerhalb der hier besprochenen Psalmenkette besteht in seiner Kontrastierung der menschlichen und göttlichen Zeit und damit in einer scharfen Trennung zwischen den Naturen von Gott und Mensch. Im Ablauf des Psalms vollzieht V. 12 einen Perspektivwechsel, der für einen Klagepsalm ungewöhnlich ist: Es geht nicht als Erstes um eine Änderung der beklagten Situation etwa durch Vernichtung der Feinde oder auch ein Einlenken des feindlich erlebten Gottes. Die erste Bitte zielt vielmehr auf einen Lernprozess, also eine Änderung auf Seiten der Sprecher des Psalms. 23 Neben Stichwortaufnahmen findet sich hier die besonders kunstvolle palindromische Aufnahme des anfänglichen ɒɈɕɑ „Unterschlupf“ als Prädikat Adonais durch ɐɕɓ, die „Freundlichkeit“ Adonais. 24 Es ist bemerkenswert, dass mit Blick auf V. 8 die Frage nach den Sünden keine Rolle mehr spielt, insofern gerade nicht um Sündenvergebung gebeten wird, um ein Ende der Leiderfahrung zu erreichen. Auch diese Beobachtung stützt rückblickend die Interpretation, dass hier weniger ein Kausalzusammenhang mit der Vergänglichkeit, sondern eher das Moment der Unberechenbarkeit die Sinnspitze der Aussage darstellt.
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III Liest man im Psalmenbuch weiter, wird die im Bittenteil von Ps 90 erhoffte Gottesnähe in Ps 91 durch eine lange Gottesrede bestätigt, so dass der vielfach über Stichworte angebundene Ps 92 die Vernichtung nur noch in Bezug auf die Frevler erwähnt.25 Damit ist ein gewisser Zwischenstand erreicht, und der Zusammenhang von Ps 90–92 wird gerade unter diesem Aspekt in der Forschung breit anerkannt.26 Allerdings ist nach Ps 88 die Aussage, dass die Frevler zu Grunde gehen, aber der Gerechte wie eine Palme blühe (Ps 92,13), kaum als befriedigende Lösung der aufgeworfenen Fragen zu betrachten. Die Thematik wird jedoch in den folgenden Psalmen, insbesondere der Gruppe der JHWH-Königpsalmen, zunächst nicht fortgesetzt. In ganzer Breite kehrt die Vergänglichkeitsproblematik erst in Ps 102 wieder27 und spielt hier wiederum nur in den individuellen Teilen des Psalms (V. 2–12.24–28) eine Rolle.28 Dort fällt auf, dass die typische Vergänglichkeitsmetaphorik des verdorrenden Grases nun die Grundmetapher für die Zustandsbeschreibung des Beters wird (V. 5.12) und mit dem Entschwinden der Lebenszeit verbunden ist (V. 4.12). Zusammenfassend heißt es in V. 12: 12 Meine Tage sind wie ein ausgestreckter Schatten Und ich, wie Gras werde ich vertrocknen.
Auch wenn in der Klage die Feinde des Beters – wenn man so will ganz gattungstypisch – im Gegensatz zu Ps 88 und 90 wieder auftauchen (V. 9), so fehlt doch jede Bitte um ihre Vernichtung. Kern der Klage ist damit die Vergänglichkeit des Beters selbst, die Kürze seines Lebens, ohne dass über die Gründe für sein drohendes Sterben nachgedacht würde. Entsprechend bittet er in V. 25:
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Auch hier ist es bemerkenswert, dass diese Aussagen in V. 8.10 durch eine Ewigkeitsaussage JHWHs in V. 9 kontrastiert werden. 26 Vgl. hierzu den wichtigen Beitrag von REINDL, Bearbeitung. Zu einer Zusammenstellung der relevanten Textbeobachtungen vgl. SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 191–196. 27 Bereits die Überschrift schlägt eine Brücke durch die Bezeichnung des Psalms als ɇɏɗɝ, die im vierten Psalmenbuch nur noch in Ps 90 begegnet (vgl. sonst nur Ps 17; 86; 142). 28 Die Verse bilden die Grundschicht des Psalms (vgl. SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 234–239). Zu Ps 102 vgl. STECK, Eigenart; BRÜNING, Leben; SEDLMEIER, Nominalsätze; DERS., Psalm; BRUNERT, Kontext; LEUENBERGER, Konzeptionen, 177–179; KÖRTING, Zion, 32–48; MARTILLA, Reinterpretation, 118–135.
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25 Ich sage: Mein Gott führe mich nicht weg in der Mitte meiner Tage, in Generation um Generation29 sind deine Jahre.
Der vorzeitige Tod wird als unangemessen und damit als Sonderfall der menschlichen Vergänglichkeit beklagt. Die Kontrastaussage nimmt für Gott Maß an der Generationenfolge und damit am längsten Zeitraum, den der Mensch noch überblicken kann. Die hier angezielte Argumentation besteht damit in der Gegenüberstellung der „Störung aller Lebensvollzüge vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit als menschlichem Existential“30 und der hymnisch gepriesenen Beständigkeit Gottes. Die Gegenüberstellung kann nur das Ziel verfolgen, das Erbarmen dieses so unendlich überlegenen Gottes zu provozieren. Dabei gehen die folgenden Verse über die theologischen Aussagen von Ps 90 noch hinaus (V. 26–28): 26 Ehemals hast du die Erde gegründet, und das Werk deiner Hände ist der Himmel. 27 Sie werden vergehen, du aber wirst stehen, und sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, wie ein Gewand wirst du sie ersetzen und sie werden dahinfahren. 28 Aber du bist, und deine Jahre werden nicht enden.
Neu ist, dass nun auch für Himmel und Erde mit der Vergänglichkeit gerechnet wird. Gerade in der Tradition der vorangegangenen JHWH-Königpsalmen ist ja das Nicht-Wanken des Erdkreises Ausweis der Herrschaft JHWHs (vgl. Ps 93,1; 96,10; 104,5).31 Bereits in Ps 90,2 wurde die Schöpfung zur Darstellung der enormen Zeitdimensionen der Existenz Gottes herangezogen. Wenn nun aber mit der Verbwurzel ɖɏɊ „aufeinanderfolgen, dahinfahren“ nicht von der Vergänglichkeit des Menschen oder von Pflanzen, sondern vom Vergehen der Erde und des Himmels die Rede ist, so wird eine neue Dimension erreicht: Zeitlich transzendiert Gott den Kosmos. Der Schlussvers des Psalms wendet den Blick von der Ewigkeit Gottes zurück auf das menschliche Schicksal und öffnet hier die zeitliche Perspektive vom Einzelleben hin auf die Generationenfolge. Der Vers könnte redaktionell mit der kollektiven Erweiterung des Psalms in V. 14–23 angefügt worden sein. Die Dichte der Stichwortverbindungen macht es jedoch wahrscheinlicher, dass mit dem Vers bereits bei der Zusammenstellung dieser Psalmen von Ps 90 her eine entsprechende Heilsperspektive 29 Zur ungewöhnlichen Formulierung ɐɌɛɈɆ ɛɈɆɄ vgl. auch ɐɌɛɈɆ ɛɈɆɏ in Jes 51,8, wo ebenfalls das Vergänglichkeitsbild des Gewandes (vgl. Ps 102,27) begegnet. 30 BRUNERT, Kontext, 169. 31 Die Stichwortverbindung ɆɔɌ (Ps 102,26; 104,5) macht Ps 104,5 mit seinem theologischen Rückgriff auf die JHWH-Königpsalmen in der Leserichtung geradezu zur Antithese zu Ps 102.
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eingetragen wurde.32 Allerdings ist die Hoffnung, dass Kinder und Nachkommen in Beständigkeit wohnen dürfen, zwar ein Trost angesichts der eigenen, bedrängend empfundenen Vergänglichkeit. Sie ist aber noch keine Antwort auf die Frage, ob der unvergängliche Gott einem Menschen angesichts der verzweifelten Bitte um Rettung aus einem vorzeitigen Tod nahe sein kann oder ob er sich in den Fernen eines Weltenherrschers letztlich entzieht.
IV Zu Beginn von Ps 103 hat sich dann die Tonlage gründlich geändert:33 1 Segne, meine Seele, JHWH und all mein Inneres seinen heiligen Namen.
Auch in diesem Psalm finden sich Vergänglichkeitsmetaphern. Zu ihrer Bewertung ist es nötig, die Gedankenführung des Psalms immerhin skizzenhaft zu verfolgen. Nach der Selbstaufforderung zum Lob (V. 1f) und einer hymnischen Partizipialreihe (V. 3–5) gruppieren sich Aussagen über das Handeln und Nichthandeln JHWHs (V. 6–10) um die Beschreibung seines Wesens in der sog. Gnadenformel (V. 8). In den V. 11–13 wird nun die Größe der vergebenden Gnade JHWHs besungen. Das Gottesverhältnis dieser Verse trägt einerseits mit der Vater-Kind-Metaphorik (V. 13) noch die sehr persönlichen Züge des Psalms, der als individuelles Gebet begonnen hat, hier aber bereits zu einem „wir“ übergegangen ist. Andererseits kommt mit der Nennung von Mose und Israel in V. 7 das Bundesgeschehen am Sinai in den Blick. Adressaten der Gnade und des Erbarmens JHWHs sind die, die ihn fürchten (V. 11.13). Es folgen die V. 14–18:
32 Die Stichwortverbindungen sind: ɍɌɆɄɕȽɌɓɄ (Ps 102,29); vgl. ɍɌɆɄɕ + ɐɇɌɓɄ (Ps 90,16) und ɍɌɆɄɕ (Ps 90,13); ɍɌɓɗ (Ps 102,29; Ps 90,8); ɒɈɎ (Ps 102,29; Ps 90,17). 33 Zu Ps 103 vgl. DION, Psalm; SPIECKERMANN, Barmherzig; WILLIS, Love; HUBMANN, Gedanken; METZGER, Lobpreis; O’KENNEDY, Relationship; DOHMEN, Sinai; RENDTORFF, Sünden; SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 239–241; LEUENBERGER, Konzeptionen, 179–187.
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14 Ja er, er hat erkannt unser Gebilde, ist eingedenk, dass wir Staub sind. 15 Der Mensch, wie Gras sind seine Tage, wie die Blüte des Feldes, so blüht er. 16 Ja, ein Wind geht über sie hin und sie ist nicht, und nicht mehr weiß um sie ihr Ort. 17 Aber die Gnade JHWHs ist von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten und seine Gerechtigkeit gilt Kindeskindern, 18 denen, die seinen Bund bewahren und denen, die seiner Anweisungen gedenken, um sie zu tun.
Wenn hier wie schon im vorangehenden Abschnitt die Gnade denen gilt, die JHWH fürchten (V. 17) und V. 18 dieses Gottesverhältnis im Sinne der Bundesobservanz präzisiert, so kann diese Angabe doch im Duktus des Psalms kaum gegen die umfassende Vergebungsbereitschaft JHWHs ausgespielt werden.34 Es geht hier nicht um Vorbedingungen, die die Barmherzigkeit JHWHs überflüssig erscheinen lassen würden, sondern um Adressatenangaben.35 In diesem Abschnitt wird die menschliche Vergänglichkeit nochmals breit dargestellt und erstmals zum Gegenstand der göttlichen Fürsorge erklärt. Dabei greift V. 14 mit der Rede vom „Gebilde“ (ɛəɌ) und vom „Staub“ (ɛɗɕ) auf Gen 2,7 zurück, bindet implizit also über die Schöpfungstheologie die Natur des Menschen an Gott zurück.36 V. 15f wendet sich nun in dem bekannten Vergleich mit dem Gras ganz im Sinne der Ps 90; 102 nicht der hinfälligen Körperlichkeit, sondern der vergänglichen Lebenszeit des Menschen zu.37 Entscheidend – und für den Gedankengang der Psalmenfolge nach Ps 102 geradezu erlösend – ist dann aber, dass 34 Vgl. METZGER, Lobpreis, 130 Anm. 20: „Das Bewahren des Bundes und das Tun der Gebote schließen die Zusage von Barmherzigkeit und Vergebung nicht aus, sondern ein.“ Letztlich geht es hier auch um die Frage, ob V. 6f.15–18 als sekundäre Erweiterung anzusehen sind, wie das SPIECKERMANN, Barmherzig, 10f Anm. 29 begründen möchte (vgl. auch noch weiter gehend LEUENBERGER, Konzeptionen, 182–187). Die Argumente sind bereits durch METZGER, Lobpreis, 121 Anm. 2; 122 Anm. 3; 130 Anm. 20 überzeugend widerlegt worden. Wichtiger ist allerdings an dieser Stelle, dass, selbst wenn es sich hier um Erweiterungen handeln sollte, diese spätestens im Zuge des Einbaus des Psalms in die Teilsammlung Ps 90–92; 102f als Fortschreibung des dritten Psalmenbuchs geschehen sein müssen, während V. 19–22 redaktionell auf eine andere Stufe gehört, vgl. SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 239f. 35 Vgl. dazu auch O’KENNEDY, Relationship, 119 vor dem Hintergrund der Situation in Südafrika. 36 Vgl. ähnlich bereits Ps 89,48. 37 Das ist der wesentliche Unterschied v.a. auch gegenüber Jes 40,6–8, was bei SPIECKERMANN, Barmherzig, 11, Anm. 29 und LEUENBERGER, Konzeptionen, 184 m.E. zu wenig beachtet wird. Sachlich sind damit die Parallelen zu Ps 90 stärker.
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V. 17 als Kontrast hierzu nicht die „Lebenszeit“, sondern die Gnade JHWHs nennt und ihr nun die Zeitdimension ɐɏɈɕȽɆɕɈ ɐɏɈɕɑ zuschreibt. Dieser Schritt, statt von der Unendlichkeit Gottes von der Unendlichkeit seiner Gnade für den endlichen Menschen zu sprechen, ist vor dem Hintergrund der anderen besprochenen Psalmen theologisch durchaus kühn. Ps 103 bindet diese Aussage allerdings an höchste Autoritäten zurück, wenn er zuvor die sog. Gnadenformel als eine Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens zitiert. Stellt man auch hier die Frage nach der Vergänglichkeit und der Gottesferne, fällt die Antwort diesmal ganz anders aus: Gerade weil der Mensch vergänglich ist, ist Gott ihm nahe. Ps 90,12–17 ist zu einer ähnlichen Sicht noch im Modus der Bitte gelangt. Für Ps 103 handelt es sich dagegen um eine in der Sinaitradition zuverlässig verankerte Glaubensgewissheit Israels.
V Der Durchgang durch diese Psalmen zeichnet ein komplexes Bild zu den Themen von Vergänglichkeit und Gottesferne, das in knappen Thesen skizziert werden kann: – Die Vergänglichkeit des Menschen wird auch theologisch unerträglich, wenn ein (sozial, religiös und körperlich) intaktes Leben nicht mehr möglich ist, weil das individuelle Schicksal eines Menschen im Übermaß vom Tod mitten im Leben geprägt ist (Ps 88). Die theologische Interpretation ist folglich die Gottesferne bzw. – in Hinblick auf die erfahrene Not – der Gotteszorn. – Ähnlich problematisch ist die Vergänglichkeit im Blick auf ein Leben, das erheblich kürzer als die durchschnittliche Lebenserwartung ausfällt (Ps 102). – Als ambivalent für die theologische Akzeptanz der Vergänglichkeit erweisen sich dann Faktoren, die zunächst wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, aber von den Psalmen in diese Gedankengänge eingefügt werden: 1. Die Vergänglichkeit des Menschen gehört zu seiner Geschöpflichkeit, ist also mit dem (Schöpfungs-)Handeln Gottes verknüpft (Ps 89,48; 90,3; 103,14). 2. Selbst bei einem langen Leben ist die Lebenszeit des Menschen begrenzt und steht damit im Gegensatz zum Dasein Gottes, das nicht vom Verstreichen der Zeit affiziert ist (Ps 90; 102).
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Zwei Psalmen haben hier theologische Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt: – Indem Ps 90,12 um die gottgeschenkte Einsicht in die begrenzte und weise zu füllende Lebenszeit bittet, wird eine Lösung angestrebt, die auf eine Veränderung auf menschlicher Seite hinausläuft. Wenn sich ein Mensch in dieser Weise „belehren“ (ɕɆɌ Hifil) lässt und aus der Einsicht in die begrenzte Zahl der Lebenstage weise Entscheidungen trifft, so ist – zumindest im Duktus des Psalms – die Basis geschaffen, auf der auch eine Zuwendung und ein heilvolles Wirken JHWHs erhofft werden können. Damit weist der Text angesichts der menschlichen Vergänglichkeit auf eine Möglichkeit der Gottesnähe hin. – Ps 103 argumentiert umgekehrt und setzt auf göttlicher Seite bzw. bei der sog. Gnadenformel als göttlicher Wesensbeschreibung an. Nun „weiß“ (ɕɆɌ Qal, V. 14) JHWH um die Schöpfungswirklichkeit des Menschen und „begnadigt“ ihn. Auf menschlicher Seite ist freilich mit Gottesfurcht und Bundesgehorsam ebenfalls die Anerkennung der göttlichen Unverfügbarkeit und der menschlichen Vergänglichkeit impliziert. Auch hier ist das Ergebnis die Überwindung der Gottesferne. Im Gegensatz zum Modus der Bitten in Ps 90 spricht Ps 103 in Indikativen, so dass ihm zu Recht der Charakter eines Evangeliums zugesprochen worden ist.38 Ein solches theologisches Reflexionsniveau in Bezug auf die Frage nach Vergänglichkeit und Gottesferne wird in den folgenden Psalmen nicht mehr erreicht.39 Insofern stellt Ps 103 einen gewissen Höhepunkt und Abschluss innerhalb des Psalters dar. Redaktionsgeschichtlich lässt sich dieser rein thematisch erhobene Befund nach dem von mir vertretenen Modell mit der ersten Redaktionsstufe des vierten Psalmenbuchs verbinden, die aus den Ps 90–92; 102; 103 noch ohne einige Zusätze bestanden hat.40 Inhaltlich ist die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Menschen eines der Hauptthemen dieser ersten Teilgruppe, die auf die Schlusskadenz des dritten Psalmenbuchs in Ps 38 Vgl. den Untertitel bei RENDTORFF, Sünden, und die Charakterisierung des Psalms bei WILLIS, Love, 537. 39 Das heißt nicht, dass nicht durchaus anthropologische Aussagen begegnen (vgl. z.B. Ps 104,29f; 146,4). Sie verfolgen die hier behandelten Themen aber nicht mehr in vergleichbarer Geschlossenheit wie die besprochene Psalmenstrecke oder etwa auch Ps 39 (vgl. dazu FORSTER, Herausforderung, 9–59). 40 Zur Redaktionsgeschichte des vierten Psalmenbuchs vgl. SCHNOCKS, Vergänglichkeit, 179–276. Das abweichende redaktionsgeschichtliche Modell von LEUENBERGER, Konzeptionen, 221–264 hat mich nicht überzeugen können, weil es auf der Suche nach theokratischen Konzeptionen andere thematische Profile nivelliert. Vgl. dazu ausführlicher SCHNOCKS, Rezension M. Leuenberger.
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88; 89 antwortet. Damit gibt die Redaktion einer bestimmten Sicht im Umgang mit der Sterblichkeit des Menschen Ausdruck, die anthropologisch den Tod als absolute Begrenzung des Lebens anerkennt und sich auf eine Gestaltung des Lebens angesichts der Vergänglichkeit ausrichtet.41 Zentral ist dabei, dass das Leben als verstreichende Lebenszeit aufgefasst und reflektiert wird. Theologisch führen diese Reflexionen zu erstaunlich weitgehenden Aussagen über das Verhältnis Gottes zur Zeit. Die Metaphern von Ps 90,4 mit 1000 Jahren in Gottes Augen und von Ps 102,27f mit dem Stehen Gottes in der Zeit und seinen nicht endenden Jahren angesichts eines vergehenden Kosmos nähern sich philosophisch bereits deutlich einer Negation der Zeit in Bezug auf Gott. Die Art und Weise, wie hier Anthropologie getrieben wird, ist im Alten Testament nicht singulär. Manche Aspekte finden sich ähnlich auch an einigen Stellen des Ijobbuches42 oder haben später bei Kohelet43 Spuren hinterlassen. Gemeinsam ist diesen Denkversuchen eine sehr nüchterne Sicht der conditio humana, verbunden mit dem Ringen um die Nähe Gottes. Einzigartig ist allerdings, dass das Psalmenbuch diese Reflexionen in die Form einer Reihe von Gebeten gekleidet hat. Wie könnte man sich besser den Widersprüchen der Lebenswirklichkeit stellen als im Angesicht des eigenen Schöpfers?
Literaturverzeichnis ASSMANN, J., Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in: A. PEISL / A. MOHLER (Hrsg.), Die Zeit (Schriften der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 6), München 1983, 189–223 BALLHORN, E., Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150) (BBB 138), Berlin / Wien 2004 BARTH, C., Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments. Neu hrsg. von Bernd Janowski, Stuttgart u.a. 1997 BRANDSCHEIDT, R., „Unsere Tage zu zählen, so lehre du“ (Psalm 90,12), TTZ 112 (2004) 1–33 BRUNERT, G., Psalm 102 im Kontext des Vierten Psalmenbuches (SBB 30), Stuttgart 1996 BRÜNING, C., Mitten im Leben vom Tod umfangen. Ps 102 als Vergänglichkeitsklage und Vertrauenslied (BBB 84), Frankfurt a.M. 1992
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Psalterintern ist das ein beredtes Schweigen im Blick auf die Fragen in Ps 88,11– 13. Das gilt umso mehr, wenn man in Leserichtung des Psalters die Spitzenaussagen in Ps 49; 73 im Hintergrund wahrnimmt: Die Spur eines Heilshandeln JHWHs jenseits der Todesgrenze wird nicht weiter verfolgt. 42 Vgl. etwa Ijob 9,25f; 10,5f; 14,1f.5f und den Beitrag von C. Frevel in diesem Band. 43 Vgl. zum gottgeschenkten Lebensgenuss angesichts der Vergänglichkeit z.B. Koh 3,13; 5,17–19.
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Dann wär’ ich nicht mehr da. Der Todeswunsch Ijobs als Element der Klagerhetorik CHRISTIAN FREVEL
Es ist in der Ijob-Exegese weithin anerkannt, dass „der mehrfach variierte Todeswunsch … ein eigenständiges Motiv darstellt“,1 das von M. Köhlmoos sogar als „das stärkste narrative Element“2 in den Ijob-Klagen bezeichnet wird. Doch wie dieses Motiv textpragmatisch einzuordnen ist, bleibt umstritten und je von der Gesamtdeutung des Ijob-Buches abhängig. Die Spannbreite reicht dabei von der romantischen Verklärung des Todes über den Verzweiflungsakt eines verzagten Ijob, der nur noch im Tod Rettung vor dem willkürlichen und grausamen Gott finden kann und den zynischen Wunsch, jeder Tod sei besser als das unerträgliche Leiden bis hin zum Tod als letztem Mittel in der Argumentation gegen Gott. Am Beispiel der ersten Ijobrede im ersten Redegang soll die Pragmatik des Todeswunsches im Folgenden untersucht werden, wobei auf den Kontext der Argumentation und deren intratextuelle Verwobenheit im Buch Ijob ein besonderes Augenmerk gerichtet werden soll.3 Das Ziel ist eine exemplarische Einordnung des Todeswunsches in die rhetorische Pragmatik der Ijob-Reden.
Ijob 6,8–10 In seiner ersten Gegenrede durchkreuzt Ijob den fürsorglich gemeinten, aber falschen Rat des ersten Freundes unmittelbar zu Beginn seiner Rede.4 Dieser hatte ihm – noch etwas unsicher – in Ijob 5,8 nahe gelegt, sich an Gott zu wenden (ɏɃȽɏɃ ɜɛɆɃ ɌɓɃ ɐɏɈɃ), aber dabei den Abstand zwischen Gott und Mensch ins Unermessliche gesteigert (Ijob 4,17–20). Ijob solle die Zucht des Allmächtigen nicht verwerfen (ɔɃɑɝȽɏɃ ɌɆɜ ɛɔɈɑ), in Demut 1
KÖHLMOOS, Auge, 125. KÖHLMOOS, Auge, 125, vgl. HA, Frage, 108. 3 Der vorliegende Aufsatz steht in einem größeren Kontext einer Exegese der Todeswunschpassagen im Ijobbuch, die an anderer Stelle veröffentlicht werden wird. 4 Vgl. zum stärker intratextuellen Verständnis die anregenden Studien von BEUKEN, Imprecation; KÖHLMOOS, Auge; ENGLJÄHRINGER, Theologie u.a. 2
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die klagende Suche nach Gerechtigkeit in seinem Leben aufgeben und auf das heilende Handeln Gottes vertrauen. In Aufnahme von Hos 6,1 – und wegen des ɘɊɑ auch Dtn 32,39 – verweist Elifas auf die heilende Zuwendung Gottes: Er schlägt, aber seine Hände heilen auch (Ijob 5,18). Gegen die Unschuld Ijobs stellt er dessen vermutete Schuld. Unter der Voraussetzung von Schuldeingeständnis und Gottesfurcht (Ijob 4,6f) werde Gott ihm jedoch Rettung, Ruhe, Geborgenheit, Hoffnung, Kinderreichtum, langes Leben, Heilung und Heil schenken (Ijob 5,18–26). Am Schluss rahmt das adhortative Heilsversprechen noch einmal die Aufforderung an Ijob, seine Sicht der Dinge zu verändern (ɍɏȽɕɆ ɇɝɃɈ Ijob 5,27). Ijob nimmt den Faden in seiner ersten Gegenrede auf, wendet sich jedoch nicht wie vorgeschlagen an Gott, sondern an die Freunde und beteuert seine Unschuld. Sein Leid ist so schwer, dass er klagen muss, ohne dabei auf die Konsequenzen zu achten (Ijob 6,1–3). Die weisheitliche Beherrschung hält den Schwall seiner Worte nicht mehr zurück. ɕɕɏ in V. 3 qualifiziert seine Worte nicht als irre (so Luther und die Einheitsübersetzung), sondern bringt im assoziativen Spiel mit ɕɏ das Unbeherrschte zum Ausdruck (vgl. Spr 20,25; 23,2). Hatte Elifas den weisheitlichen Grundsatz zitiert, dass den Toren der Unmut (ɜɕɎ) umbringt (Ijob 5,2), so will Ijob genau diesen Unmut gewogen, d.h. genau wahrgenommen haben (Ijob 6,2). Die Warnung des Freundes, durch seine Klage erst recht in Sünde zu verfallen und dadurch umzukommen, schlägt Ijob gleich zu Beginn in den Wind. Er ist so vom Recht seiner Klage überzeugt, dass er die vermeintliche Konsequenz einschließt. Damit steht der Tod implizit über der ganzen Argumentation Ijobs wie ein Damoklesschwert, das das Zwingende wie Unvermeidliche der Klage unterstreicht. Dabei geht es nicht darum, dass Ijob sein Leben durch seine Rede leichtfertig aufs Spiel setzt, sondern darum, dass ihn selbst der Tod nicht ins Unrecht setzen würde. Wenn Gott ihn wegen seiner Klage tötet, setzt er sich selbst ins Unrecht. Schon zu Beginn der Argumentation ist zu erkennen, dass der Tod in den Ijobreden eine z.T. direkte, z.T. aber auch indirekte argumentative Funktion hat. Impliziter Adressat dieses „Spiels“ sind nicht die Freunde, sondern Gott. Seine Lage führt er auf das Handeln Gottes zurück, das er durch die Pfeile (ɐɌəɊ) und erst recht den Zorn (ɇɑɊ) negativ konnotiert (Ijob 6,4). Die beiden Gottesbezeichnungen ɌɆɜ und ɇɈɏɃ zeigen den Anschluss an Ijob 5,17. Die „Zucht“, die Ijob erfährt, ist pures Leid. Jedem Versuch einer Bonisierung ist durch den Gottesterror ɇɈɏɃ ɌɝɈɕɄ eine Absage erteilt. Der weisheitliche Rat des Freundes wird so zu „fadem Schleim“ (Ijob 6,6), den Ijob sich weigert anzunehmen (Ijob 6,7). Nach dieser Zurückweisung drückt Ijob die Hoffnung auf ein Handeln Gottes aus, die als Todeswunsch bezeichnet werden kann.
Der Todeswunsch Ijobs als Element der Klagerhetorik
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ɇɈɏɃ ɒɝɌ ɌɝɈɚɝɈ ɌɝɏɃɜ ɃɈɄɝ ɒɝɌȽɌɑ 8 ɌɓɕəɄɌɈ ɈɆɌ ɛɝɌ ɌɓɃɎɆɌɈ ɇɈɏɃ ɏɃɌɈ 9 ɇɏɌɊɄ ɇɆɏɔɃɈ ɌɝɑɊɓ ɆɈɕ ɌɇɝɈ 10 ɜɈɆɚ ɌɛɑɃ ɌɝɆɊɎ ɃɏȽɌɎ ɏɈɑɊɌ Ƀɏ 8 Wenn sich doch meine Bitte erfüllte, und Gott (Eloah) meine Hoffnung einlöste, 9 und sich Gott (Eloah) entschlösse, mich zu zermalmen, seine Hand abzöge und mich abschnitte, 10 dann gäbe es noch Trost für mich: Ich würde vor Freude hüpfen im Schmerz. Doch schont er mich nicht, obwohl ich die Worte des Heiligen nicht verleugnet habe.
Schon V. 8 beginnt mit einem subtilen Spiel. Mit dem in Ijob stilistisch auffallend häufigen ɒɝɌȽɌɑ (Ijob 6,8; 11,5; 13,5; 14,4.13; 19,23; 23,3; 31,31.35) setzt eine Bitte ein, die als Hoffnung bezeichnet wird. Mit ɇɈɚɝ greift Ijob 6,8 auf Ijob 4,6 konterkarierend zurück. Er setzt seine Hoffnung nicht auf seine eigene Gottesfurcht und Vollkommenheit, sondern auf Gott! Allerdings kaum so, wie es Elifas recht ist. Zwar reklamiert Ijob für sich Gottesfurcht und Vollkommenheit im Lebenswandel, doch führt dies nicht zur Verschonung im Leben, sondern zur Bestrafung im unermesslichen Leid, das das Leben zur Qual macht (Ijob 6,2f). Daher setzt Ijob seine Hoffnung auf Gott im vermeintlichen Todeswunsch. Schon das in Ijob nur hier verwandte ɇɏɃɜ spielt subtil mit dem Ziel seines Verlangens: der Scheol (ɏɃɜ), die jedoch erst im folgenden Kapitel erstmalig in Ijob benannt wird (Ijob 7,9). ɃɎɆ als Terminus der Vernichtung ist drastisch (vgl. Ijob 4,19) und lässt die Staubmetapher aus Ps 90,3 assoziieren. Das Abschneiden (ɕəɄ), das von Elifas in Ijob 22,3 und noch deutlicher von Ijob in 27,8 aufgenommen wird, drückt das Versterben metaphorisch aus und knüpft dabei vielleicht an die Durchtrennung des Lebensfadens bei den Moiren an.5 Ohne auf den unsicheren überlieferungsoder motivgeschichtlichen Bezug zurückgreifen zu müssen, verweist ɕəɄ als „Fachwort d. Webers“6 auf das auch in Ijob 7,6 verwandte Bild des „Lebensgeflechts“ (vgl. Ijob 10,11, vgl. ähnlich auch Jes 38,12). Singulär bleibt ɛɝɓ II mit ɆɌ als Objekt, doch zielt das fein gestaltete Staccato der vier verbalen Formulierungen in V. 9 ganz auf das Lebensende Ijobs. Durchgehend ist Gott (ɇɈɏɃ) Subjekt, Ijob im zweiten und vierten Verb durch enklitisches Personalpronomen Objekt der Handlungen Gottes, so dass trotz der Asyndese in der Mitte der Eindruck einer Gleichmäßigkeit entsteht. 5
Vgl. den Hinweis auf die Parzen bei FOHRER, Hiob, 170, auf Átropos bei GRADL, Ijob, 100. 6 HALAT 141.
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Für die Beurteilung des „Todeswunsches“ ist V. 10 von zentraler Bedeutung, da dort in syntaktischem Anschluss an V. 9 vom Trost Ijobs (ɇɑɊɓ) die Rede ist. Allerdings ist unklar, ob der Trost als Folge des Vernichtungshandelns begriffen werden soll und damit der Tod positiv besetzt wird, der Trost möglicherweise ironisch zu verstehen ist oder die im Folgenden genannte Freude bzw. die Integrität Ijobs seinen geradezu trotzigen Trost gegen die Dunkelheit des Todes reklamiert. Die Interpretation hängt an vielen Faktoren, unter anderem an der Versaufteilung von V. 10. Aus kolometrischen und inhaltlichen Gründen ist das ɏɈɑɊɌ Ƀɏ eher zu der zweiten Vershälfte in V. 10 zu ziehen. Um der masoretischen Trennung zu entsprechen, hat man sich in der Übersetzung auch eher mit Konstruktionen beholfen (z.B. F. Horst „bei schonungslosem Schmerz“, J. Ebach „im schonungslosen Schmerz“, G. Fohrer „trotz mitleidloser Schmerzen“, B. Duhm „in der schonungslosen Qual“), wobei das ɏɈɑɊɌ Ƀɏ relativisch verstanden werden muss. Ijob würde springen im Schmerz, der nicht schont. Der folgende ɌɎ-Satz hängt dementsprechend etwas in der Luft. Zur Lösung der Schwierigkeiten in V. 10 sind in der Forschung verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen worden, die den Bezug zum Kontext jeweils unterschiedlich bestimmen: F. Horst bezieht den Trost nicht auf das Vorhergehende, d.h. das Abgeschnitten-Werden in V. 7, sondern auf V. 10b, so dass Ijobs Trost seine Integrität ist.7 J. Ebach hingegen deutet den Trost als Hoffnung auf eine Zuwendung Gottes in Gerechtigkeit und damit als implizit verneint, was mit V. 10b begründet sein soll: „Und wäre noch ein Trost für mich, dann wollte ich hüpfen noch in schonungslosem Schmerz, denn ich verleugnete nicht die Worte des Heiligen“. G. Fohrer bezieht m.E. zu Recht den Trost auf den Tod und begründet das mit dem konsekutiven Anschluss des ɌɇɝɈ.8 Er liest Ijob 6,8–10 von Ijob 3 und der ersten Rede des Elifas in Ijob 4f her: „Hiob erbittet von Gott den Tod, den er erhofft. Er setzt seine Hoffnung nicht auf zukünftiges Glück, das Eliphas ihm unter Hinweis auf seinen lauteren Wandel (4,6) und Gottes Hilfe (5,16) ausmalte, sondern im Gegenteil auf den Tod. (…) Hiob möchte nicht infolge seiner Krankheit sterben, die ihm Gott als Feind zugefügt hat, sondern infolge eines barmherzigen Eingreifens Gottes aufgrund seiner Bitte. Daran könnte er erkennen, daß Gott in Wahrheit nicht sein Feind, sondern ihm zugeneigt ist“.9 Die Deutung G. Fohrers geht sicher in die richtige Richtung, doch ist die Frage, ob Ijob im gewährten Tod Gott als barmherzig erfahren will. Vielleicht lässt sich die Pragmatik des Todeswunsches noch präziser fassen. 7
So auch BUDDE, Hiob, 27. FOHRER, Hiob, 161. 9 FOHRER, Hiob, 170f. 8
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Es gibt für Ijob keinen Trost, weil Gott seinem Wunsch nach der Auflösung der so belastenden Lebensumstände nicht entspricht. Für Ijob klafft zwischen seinem Ergehen und Tun eine Gerechtigkeitslücke, die Gott nicht durch sein gerechtes Eingreifen schließt, sondern immer noch weiter aufreißen lässt. So bleibt für Ijob lediglich die Hoffnung auf den Tod, mit dem die ungerechte Situation quasi aufgesprengt würde. Geradezu ironisch weist Ijob darauf hin, dass er zumindest diesen Akt der Barmherzigkeit verdient habe. Wenn aber schon seine tadellose Gerechtigkeit Gott nicht zu einem gerechten Eingreifen bewegen kann, wie soll sie ihn dann zu seinem barmherzigen Eingreifen bewegen können? Deswegen gibt es keinen Trost, was die bittere Einsicht bestärkt, dass Gott anscheinend zur Schonung nicht bereit ist. Ist diese Deutung richtig, dann ist der konjunktivische Anschluss des dritten Stichos mit Ƀɏ ɌɎ konzessiv mit „obwohl nicht“ zu übersetzen10 und als Verweis auf Ijobs Unschuld zu deuten.11 Die damit verbundene Aussage ɜɈɆɚ ɌɛɑɃ ɌɝɆɊɎ bleibt trotz allem dunkel, nicht allein wegen des nur hier in Ijob verwandten ɜɈɆɚ, das den großen Abstand Ijobs zu Gott betont.12 Grundbedeutung des ɆɊɎ im DStamm ist „etwas verborgen halten“, d.h. im Kommunikationskontext eine verbale Mitteilung zurückhalten, worauf K.-T. Ha gegen die übliche Übersetzung „verleugnen“ zu Recht hingewiesen hat.13 Aber worauf soll sich das „denn ich habe des Heiligen Worte nicht verborgen gehalten“14 beziehen? Denkbar wäre, dass Ijob hier auf den impliziten Vorwurf des Elifas reagiert, einen Aufweis seiner Schuld durch Gott bzw. sein Gewissen zurückzuhalten (Ijob 4,12–19), doch macht das im Kontext weniger Sinn als das übliche Verständnis einer Unschuldsbeteuerung. ɜɈɆɚ ɌɛɑɃ kann sich dann nur auf nicht näher bestimmte göttliche Vorgaben zum Lebenswandel beziehen. Darauf deuten Ijob 22,22 und 23,12, die im dritten Redegang aufeinander bezogen sind. In Ijob 22,22 ist es erneut Elifas, der Ijob auffordert, Weisung aus Gottes Mund (ɇɛɈɝ ɈɌɗɑ ɃɓȽɊɚ) anzunehmen und seine Worte in sein Herz zu legen (ɍɄɄɏɄ ɈɌɛɑɃ ɐɌɜɈ). Das wird von Ijob in 23,12 aufgenommen, der reklamiert, das Gebot seiner Lippen nicht aufgegeben zu haben (ɜɌɑɃ ɃɏɈ ɈɌɝɗɜ ɝɈəɑ) und seine Worte als sein Gesetz bewahrt zu
10
So auch GRADL, Ijob, 100. Vgl. MATHEWSON, Death, 41.101; HA, Frage, 111. 12 Ob der Stichos deswegen und aus metrischen Gründen als Nachtrag beurteilt werden kann (so z.B. HÖLSCHER, Hiob, 20; FOHRER, Hiob, 161; KÖHLMOOS, Auge, 159: „aus inhaltlichen Gründen“), ist unsicher, zumal keine Angaben darüber gemacht werden, mit welchem Ziel der Versteil von wem wann nachgetragen worden sein soll. 13 Vgl. HA, Frage, 109. 14 So die Übersetzung von HA, Frage, 109. 11
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haben (ɈɌɗȽɌɛɑɃ Ɍɝɓɗə ɌɚɊɑ).15 G. Fohrer betont zu Recht, dass die Formulierungen zwischen konkreter Offenbarung und allgemeinen ethischen Handlungsanweisungen schwanken: „Mit Gebot und Worten sind die ethischen Weisungen gemeint; sie entsprechen dem Schritt und Weg Gottes (V. 11). Es handelt sich nicht um das Gesetz im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern allgemein um die dem Menschen bekannte Forderung Gottes. Die Hinzufügung ‚seiner Lippen‘ und ‚seines Mundes‘ beruht auf dem üblichen Sprachgebrauch (Jer 9,19; Ps 10,5; 119,13; 72,88) und weist darauf hin, daß an die geoffenbarte Forderung Gottes gedacht ist“.16 Die Kumulation der Termini für Gesetz (ɇɛɈɝ, ɇɈəɑ, ɚɊ) in Ijob 22,22; 23,12 lässt doch deutlicher an die Tora denken, auch wenn die Belege unspezifisch bleiben. Das bedeutet auch für das ɜɈɆɚ ɌɛɑɃ in Ijob 6,10, dass es sich nicht nur auf irgendwelche unspezifischen ethischen Leitsätze bezieht, sondern die Größe „Tora“ durchaus im Hintergrund steht. Die Unschuldsbeteuerung umgreift die Tora als den geoffenbarten Willen Gottes, auch wenn sie im gesamten Ijobbuch nicht explizit thematisiert wird. Ijob steht damit im Kontext eines weisheitlichen Bezugs auf die Tora. Ist in der Unschuldsbeteuerung Ijobs schon der appellative Subtext mit Händen zu greifen, so zeigen die verzweifelt fragenden V. 11–13 noch deutlicher, dass Ijob am Ende seiner Kraft ist. Die ironisch spottende Spitze, Ijob wäre aller Gebrochenheit zum Trotz noch zu Freudensprüngen fähig, wird nun durch die tatsächliche Schwäche seines ɛɜɄ konterkariert. Er hat eben keinen wie Stein unangreifbaren Leib und auch keinen eisernen Willen, immer weiter durchzuhalten. Solch unerschütterliche Disziplin im endlosen Dulden kann Ijob nicht aufbringen, denn er hat aus seiner Sicht (gegen Elifas; Ijob 5,16) keine Hoffnungsperspektive, solange Gott nicht handelt. Damit gibt er eine negative Antwort auf die Frage Elifas in Ijob 4,6, ob nicht seine Gottesfurcht (ɇɃɛɌ) und seine Vollkommenheit (ɐɝ) ihm Hoffnung (ɇɈɚɝ) sein können. Einzige Sicherheit scheint ihm zu sein, dass Gott seinem Todeswunsch nicht entspricht. Damit stellt sich die Frage, worauf der Todeswunsch tatsächlich zielt, wenn die Möglichkeit, dass Gott ihm entsprechen könnte, von Ijob ausgeschlossen wird. Der Todeswunsch scheint eher eine Form der „Anklage an Gott, denn dadurch erbittet und ersehnt er sich das Ende der Leiden, die Gott selbst verursacht hat“.17
15 Auf die Probleme von Ijob 23,12 kann hier nicht weiter eingegangen werden. Gegen die übliche Änderung des ɌɚɊɑ wendet sich zu Recht EBACH, Hiob 21–42, 34. 16 FOHRER, Hiob, 366. 17 HA, Frage, 110.
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Ijob 7,15f Dass Ijob bemüht ist, Gott zum Schließen der Gerechtigkeitslücke zu bewegen, zeigt die anschließende Vergänglichkeitsklage in Kap. 7, die in V. 6 das Stichwort der fehlenden Hoffnung (ɇɈɚɝ) aus Ijob 6,8 wieder aufgreift und appellativ fortfährt: ɌɌɊ ɊɈɛȽɌɎ ɛɎɉ „Gedenke, dass mein Leben nur ein Wind ist!“ (Ijob 7,7). ɊɈɛ unterstreicht einerseits die Vergänglichkeit und nimmt andererseits die Rede Elifas wieder auf. Hatte dieser Ijob durch das ɃɓȽɛɎɉ in Ijob 4,7–9 an Gottes Handeln an den Frevlern erinnert, die vom Windhauch seines Zorns ɈɗɃ ɊɈɛɑ umkommen, wendet sich Ijob – erneut die Stichworte aufnehmend und deren Aussage verändernd – an Gott in der Vergänglichkeitsklage. Wenn Gott sich nicht beeilt, ist Ijob nicht mehr da (ɌɓɓɌɃɈ V. 8). Hier kann Ijob mit dem Tod drohen, denn wer in die Scheol hinabsteigt, kehrt nicht wieder (ɇɏɕɌ Ƀɏ ɏɈɃɜ ɆɛɈɌ ɒɎ Ijob 7,9). Die Irreversibilität des Todes ist Ijob verstärkende Motivation zur Klage: Wenn nicht jetzt, wann dann? (Ijob 7,11) Die heilend eingreifende Gegenwart Gottes, die Ijob sich erhofft, ist an das irdische Leben gebunden. Geschickt verbindet der Text die Vergänglichkeitsklage mit der impliziten Handlungsaufforderung an Gott. Dabei vorausgesetzt ist ein Gottesbild, in dem Gott nach Ijob schaut, d.h. er sich ihm positiv zuwendet. Die dreimalige Verwendung des Lexems „Auge“ (ɒɌɕ) in Ijob 7,7f arbeitet dem zu. Es ist kein Zufall, dass gerade das Auge als Organ hier eine zentrale Rolle spielt. Das Auge ist nicht nur das Organ der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in der alttestamentlichen Anthropologie auch Beziehungsorgan. In ihm kommt ein soziales, kommunikatives und dialogisches Handeln zum Ausdruck. Die Beziehungsebene allerdings ist gestört, was in allen drei Belegen durch die Negation fassbar wird. Zunächst ist es in Ijob 7,7 Ijobs Auge, das nichts Gutes, Schönes oder kein Glück mehr schaut. Ijob ist seiner Welt entfremdet. Das nimmt Ijob 7,8 auf, wenn der erste Versteil das Subjekt des Sehens nicht näher bestimmt. Es bleibt offen, ob hier schon der suchende Blick Gottes gemeint ist oder die soziale Mitwelt Ijobs, von der er durch den Tod endgültig getrennt wird. Im zweiten Halbvers sind es Gottes Augen, die sich auf Ijob richten. Bestürzend knapp steht am Ende die Entzogenheit Ijobs in dem ɌɓɓɌɃɈ, was die drei negierten Blicke als verpasste Möglichkeiten in den Raum stellt. Nur wenn Gott das Gelingen des Lebens Ijobs zulässt, ist ein Schauen des Glücks, eine Beziehung zu seiner Mitwelt und eine Beziehung zu Gott zu verwirklichen. Mit dem Tod sind diese Möglichkeiten endgültig und irreversibel vergangen. Das ɛɎɓ in V. 10b greift daher folgerichtig das Thema des Sehens noch einmal assoziativ auf, wobei Ɉɑɚɑ die gesamte Lebenswelt einschließt. Die Litanei der Verunmöglichung gelingenden Lebens durch Gottes Handeln rechtfertigt und motiviert die Klage Ijobs, was Ijob 7,11 durch drei Verben
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(ɍɜɊ Ƀɏ, ɛɄɆ, ɊɌɜ) und die Konzentration auf das Subjekt Ijob (ɌɓɃ, ɌɊɈɛ, Ɍɜɗɓ) konstatiert. Die erneut anhebende Klage in Ijob 7,12–21 setzt mit der rhetorischen Frage an, ob Ijob wie eine chaotische Macht dauerhaft bekämpft werden muss. Die Rhetorik ist geschickt, weil sie Gott in seiner Rolle anfragt, ohne dabei seine Souveränität anzutasten. Ijob unterstellt positiv, dass Gott für die Zurückdrängung des Chaos und die Bewahrung einer gerechten Schöpfungsordnung zuständig ist. Damit nimmt er ein Moment der Gottesreden implizit vorweg und immunisiert sich gegen den Vorwurf, Gottes Verantwortung für „das Ganze“ nicht ernst zu nehmen. Aber gerade dieser spezifisch zum Gottsein Gottes gehörenden Aufgabe kommt Gott nicht nach, wenn er Ijob gegenüber ungerecht ist. Schon darin ist ein Aufbrechen oder Sistieren der (negativen) Beziehung zwischen Gott und Ijob, die als „bewachen“ umschrieben wird, angedeutet. Die Argumentation klingt wie eine „Parodie des Bittgebetes“,18 doch ist sie letztlich von der Überzeugung getragen, dass Gott mehr ist als der „Menschenwächter“, den Ijob als strafend, unbarmherzig und ungerecht erfährt. Ijob empfindet Gottes „Zuwendung“, die für ihn Schmerz und Leid bedeutet, als Last, weshalb er sich wünscht, Gott möge von ihm ablassen (Ɍɓɑɑ ɏɆɊ Ijob 7,16). Durch den Vergleich des Menschen mit den Chaosmächten macht Ijob die Unverhältnismäßigkeit des Handelns Gottes deutlich. Dazu bedient er sich in V. 17– 21 des textlichen Spiels mit zwei Spitzentexten des Alten Testaments: Für das Menschenbild Ps 8 und für das Gottesbild der Gnadenformel in Ex 34. An kaum einer anderen Stelle in den Ijobreden ist das intertextuelle Spiel mit theologischen Basistexten so deutlich wie hier. Der Appell an die im Wesen Gottes verankerte Vergebungsbereitschaft würde ins Leere laufen, wenn Ijob vollkommen oder prinzipiell ohne Schuld wäre. Zumindest potentiell muss auch Ijob sündigen können oder gesündigt haben. Daher ist Ijob hier (Ijob 7,21), anders als in den Rahmenteilen (Ijob 1,8; 2,3.10), nicht absolut sündlos, auch wenn nicht deutlich wird, worin die Schuld konkret besteht. Das deckt sich mit anderen Stellen des Dialogteils, in denen von Ijobs möglicher oder tatsächlicher Schuld mehrfach die Rede ist. Dabei geht es immer um das angemessene Verhältnis von Tun und Ergehen in Relation zur Zeit. Ijobs Situation steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu seinem Handeln in Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Missverhältnis wird umso krasser, je weiter entfernt in der Vergangenheit die bewusste oder unbewusste Schuld Ijobs liegt. Die Reflexion ist damit der auch im Psalter immer wieder gestellten Frage „Wie lange noch?“ (Ps 6,4; 13,2f; 35,17 u.ö.) verwandt, die in Ijob 7,19 geradezu parodiert wird. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von 18
SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Weg, 50.
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Gottes strafender Gerechtigkeit zu seiner Barmherzigkeit, die auch die sog. Gnadenformel thematisiert. Ijob ist geringfügig schuldig, wird aber im Übermaß von Gott bestraft, was dessen Vergebungsbereitschaft in Frage stellt. Die Schuld Ijobs liegt folgerichtig in ferner Vergangenheit. Wenn Ijob nach seiner Schuld sucht, findet er aktuell nichts (Ijob 33,9; 34,6; 35,3). Gott teilt ihm die Sünden seiner Jugend immer wieder neu zu (Ijob 13,26), spricht ihn nicht frei von seiner Schuld (Ijob 10,14), sondern hält die Vergehen dauerhaft präsent (Ijob 14,16). Ja, er sucht in Ijobs Wahrnehmung sogar permanent nach neuen Verfehlungen Ijobs, ohne allerdings solche zu finden (Ijob 10,6f). Daher fordert Ijob Gott auf, sein Sündenkonto offen zu legen (Ijob 13,23), was die Unverhältnismäßigkeit seines Handelns offensichtlich machen würde. Auch in Ijob 7,21f bleibt offen, ob es tatsächlich eine Schuld Ijobs gibt. Die beiden Sündenbegriffe ɒɈɕ und ɕɜɗ in V. 21 wie auch das verbale ɃɋɊ V. 20 bleiben ohne Konkretion. Für die Argumentation ist es auch unerheblich, weil es um Gott und nicht um Ijobs Schuld geht. Vorausgesetzt ist ein Gottesbild, in dem es zu Gottes Wesen gehört, Vergebungsbereitschaft zu zeigen und die strafende Gerechtigkeit hinter die rettende Barmherzigkeit zu stellen (Ex 34,6f). Wenn es also eine Schuld Ijobs gäbe, müsste diese Vergebungsbereitschaft als Gnade doch endlich gewährt werden. In Ijob 7,20 gipfelt der Vorwurf an Gott, eine überzogene Haltung gegenüber Ijob einzunehmen: „Habe ich gesündigt? Was habe ich dir getan, Menschenwächter (ɐɆɃɇ ɛəɓ)?“ Das überaus positiv konnotierte ɛəɓ (Ex 34,6; Dtn 32,10; Ps 12,8; 31,24; 32,7 u.ö.)19 kippt in sein Gegenteil und die in Ps 8 staunende Frage „Was ist der Mensch?“ wird zum ironischen Vorwurf.20 Gottes Zuwendung (Ɇɚɗ Ijob 7,21) ist zur Last oder Heimsuchung (Ex 34,7b) geworden und seine zugesagte Barmherzigkeit (ɆɔɊ ɛəɓ Ex 34,7) hat sich in den Augen Ijobs in Ungerechtigkeit verkehrt. Seine Verfolgung der Schuld ist „Überkompensation“. Denn wenn die früher begangenen Verfehlungen Ijobs den Grund für Gottes Handeln darstellen, reagiert Gott kleinlich, überzogen und unangemessen. „Warum hebst du nicht meine Schuld auf und lässt meine Schuld nicht vorüber gehen (ɌɓɈɕȽɝɃ ɛɌɄɕɝɈ Ɍɕɜɗ ɃɜɝȽɃɏ ɇɑɈ)?“ (Ijob 7,21aƝ) fragt Ijob daher ebenfalls mit Bezug auf die Gnadenformel Ex 34,6f (ɇɃɋɊɈ ɕɜɗɈ ɒɈɕ Ƀɜɓ). Diese im negativen Handeln an Ijob strafende Gegenwart Gottes ist ihm unerträglich, so dass Ijob scheinbar erneut den Tod als Alternative in die Argumentation einbringt.21 Dafür spielt er zunächst unter dem ɌɝɛɑɃ ɌɎ die 19
Zum sublimen Spiel zwischen ɛəɓ „Wächter“ und ɛəɌ „Schöpfer“, vgl. PINKER, Perspectives, 79. 20 Vgl. dazu FREVEL, Theologie, 257–262. 21 Es ist daher m.E. vollkommen richtig, wenn HA, Frage, 108.111f die Passage zum „Todeswunschmotiv“ hinzurechnet.
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Möglichkeit der innerweltlichen Tröstung in seiner realen Erfahrungswirklichkeit durch. Wenn er die Krankheit und das Leid akzeptierte, würde Gott ihn trotzdem mit Träumen erschrecken und mit Visionen terrorisieren (Ijob 7,14). Damit wird unterstrichen, dass nicht Ijob, sondern nur Gott die Situation ändern kann. Handelt er fortgesetzt feindlich gegenüber Ijob, so bliebe nur der Tod als vermeintlicher Ausweg. Insofern das Satzgefüge in V. 15f an das ɌɝɛɑɃ ɌɎ anschließt, ist es ebenfalls konjunktivisch zu übersetzen: Ɍɜɗɓ ɚɓɊɑ ɛɊɄɝɈ 15 ɌɝɈɑəɕɑ ɝɈɑ ɇɌɊɃ ɐɏɕɏȽɃɏ ɌɝɔɃɑ 16 ɌɑɌ ɏɄɇȽɌɎ Ɍɓɑɑ ɏɆɊ 15 Und meine Kehle würde das Strangulieren vorziehen, den Tod eher als meine Knochen. 16 Ich verwerfe [es]! Ich werde nicht ewig leben: Lass ab von mir, denn meine Tage sind ein Hauch!
Auch Ijob 7,15f ist nicht leicht zu übersetzen, vor allem das in V. 16 ohne Objekt geradezu hingeworfene ɌɝɔɃɑ, das meist „ich mag nicht mehr“, „ich bin es leid“ o.ä. wiedergegeben,22 gestrichen23 oder geändert wird. B. Duhm zieht es zu V. 15, konjiziert das ebenfalls ungewöhnliche ɌɝɈɑəɕɑ in ɌɝɈɄəɕɑ und verändert so den Sinn: „Den Tod verachte ich vor meinen Schmerzen“.24 Beides ist unnötig. In weisheitlichen Parallelismen steht ɐəɕ zusammen mit einem anderen Körperbegriff durchaus synonym für den ganzen Menschen (Spr 3,7f; 15,30; Ijob 2,5) und rückt seltener auch alleine in die Nähe eines Synonyms für den ganzen Menschen (z.B. Ijob 20,11).25 Im Ijobbuch wie überhaupt in der weisheitlichen Klageliteratur ist ɐəɕ als besonderer Ort der Schwäche gekennzeichnet, bis zu dem die Krankheit durchgedrungen ist (Ijob 4,14; 19,20; 30,17.30, vgl. 33,19.21), was als markantes Gegenbild zur strotzenden Lebenskraft starker Glieder (Ijob 20,11; 21,23f) verwendet wird.26 In der Zuspitzung der Metonymie „Knochen“, „Gebein“ tritt genau das an die Stelle des gesamten Körpers (ɛɜɄ), das das irdische Leben am längsten überdauert und im Tod nicht in die Scheol eingeht, sondern an seinen Rändern verbleibt (Ps 141,7). Den verbleibenden Knochen aber ist jegliche ɜɗɓ („Vitalität“ oder „Lebenskraft“) entzogen. In größere Nähe zum Tod kann Ijob seine geschundene 22
Vgl. EBACH, Hiob 1–20, 69; HA, Frage, 111. Vgl. FOHRER, Hiob, 164. 24 DUHM, Hiob, 44. 25 Vgl. BEYSE, ɐəɕ, 329f. 26 Vgl. SCHARBERT, Schmerz, 91–97. 23
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Existenz nicht mehr bringen. Dass die ɜɗɓ – ebenfalls zum einen mit der wörtlichen Bedeutung „Kehle“ im Vordergrund und zugleich der metonymischen „Vitalität“ oder „Person“ im Hintergrund – sich eher den Tod wünscht, kann nur als ironisches Paradox gefasst werden. An die Stelle seiner vom Leid durchtränkten Todesexistenz setzt Ijob die strangulierte Kehle,27 wodurch sich die Schwere der Hoffnungslosigkeit auf die Szene senkt, was die Vulgata durch die Wiedergabe des ɌɝɔɃɑ mit desperavi gut zum Ausdruck bringt. Doch ɔɃɑ bedeutet wörtlich „verachten, verwerfen“ (abicere), nicht „verzweifeln“. Da dem ɌɝɔɃɑ wie in Ijob 42,6 das Objekt fehlt, eignet ihm als Ellipse eine gewisse Deutungsoffenheit. Stimmt die vorangegangene Deutung von Ijob 7,15, schwingt sicher die Ablehnung seines ganzen Lebens mit (ich verwerfe [es]).28 Zugleich aber greift das ɌɝɔɃɑ – was bisher so onoch nicht gesehen wurde – erneut die Rede Elifas aus Ijob 5,17 auf. Dieser hatte Ijob das Leid als pädagogisches Mittel Gottes anempfohlen und ihm geraten, die Züchtigung des Allmächtigen nicht zurückzuweisen (ɇɏɃ ɈɓɊɎɈɌ ɜɈɓɃ ɌɛɜɃ ɇɓɇ ɔɃɑɝȽɏɃ ɌɆɜ ɛɔɈɑɈ). Begründet hatte Elifas das mit dem nach der gerechten Strafe erbarmenden Handeln Gottes: „Denn er verletzt, aber er verbindet auch; er verwundet, aber seine Hände heilen auch“ (Ijob 5,18). Genau gegen diesen bonisierenden und pädagogisierenden Umgang mit dem Leid wendet sich Ijob in scharfer Form (s.o.). Das ɌɝɔɃɑ weist gleichermaßen ein Dreifaches zurück: 1. seine derzeitige unerträgliche Situation, 2. das Handeln Gottes als Züchtigung, 3. den Rat Elifas, diese Züchtigung duldsam anzunehmen. Die im Maß seines Leidens manifeste Ungerechtigkeit akzeptiert er nicht und begründet das mit der in Kap. 7 dominanten anthropologischen Konstante der Vergänglichkeit. Das auf das ɌɝɔɃɑ folgende ɇɌɊɃ ɐɏɕɏȽɃɏ wird in vielen Übersetzungen voluntativ verstanden und als Begründung des Todeswunsches aufgefasst: „Ich will nicht ewig leben“ (Einheitsübersetzung) oder „Ich mag nicht auf Dauer leben“.29 Gleichermaßen möglich ist die auf die Vergänglichkeit verweisende kataphorische Deutung „ich werde nicht ewig leben“, so dass die Feststellung die Motivation für den folgenden Imperativ „lass ab von mir“ (Ɍɓɑɑ ɏɆɊ) unterstreicht. 27 ɚɓɊɑ wird üblicherweise mit „Erstickung“ wiedergegeben (HALAT 540). Das Verbum bezeichnet im N-Stamm in 2 Sam 17,23 das Strangulieren und in Nah 2,13 im D-Stamm das „Würgen“ eines Löwen von Speise für seine Jungen, so dass das Zuschnüren oder Zusammendrücken der Kehle gemeint sein dürfte. Aber „an Selbstmord denkt Hiob nicht“ (DUHM, Hiob, 44). 28 So HABEL, Job, 152, der übersetzt „I reject life“ oder CLINES, Job 1–20, 157 „I have rejected life“, vgl. auch unten zu 9,21, wo ɐɌɌɊ direktes Objekt von ɔɃɑ ist. 29 Vgl. EBACH, Hiob 1–20, 69; DOHMEN, Nicht ewig, 74 u.ö.
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Das Ablassen zielt nicht auf ein Sterben-Lassen Ijobs („Lass ab, damit ich sterben kann“), sondern auf das Sistieren oder Beenden des als Ausdruck einer Feindschaft verstandenen Handelns Gottes. Es zielt damit letzten Endes auf das Leben („Lass ab, damit ich leben kann“). Weil die Lebenszeit Ijobs begrenzt ist und der im Rahmen konnektiver Gerechtigkeit erwartbare gerechte Ausgleich für das erlittene Leid und die Lebensdauer in einer Relation zueinander stehen, muss Gott schnell handeln. Für diese Lösung spricht die Begründung des Imperativs „denn meine Tage sind ein Hauch“. Mit ɏɄɇ greift Ijob zurück auf V. 7. Dort war aber in der syntaktisch gleich gebauten Begründung des Imperativs ɊɈɛ verwendet worden (ɛɎɉ ɌɌɊ ɊɈɛȽɌɎ). Hier steht der Ausdruck der Lebenszeit im Vordergrund. Das „Ablassen“ (vielleicht sogar im subtilen Spiel mit Ijob 3, wo die Frevler in der Scheol vom ɉɅɛ „ablassen“) zielt auf die Situation Ijobs, die schlimmer als Strangulierung und Tod empfunden wird. Schon das bloße Abwenden Gottes von seinem strafenden Handeln würde Ijob als Zuwendung genügen. Wenn Gott sich jedoch nicht von Ijob abwendet und ihn fortgesetzt straft, dann ist erst im Tod Ruhe zu finden.30 Das „ewige“ Leben ist nicht im Sinne eines „Nicht-Sterbens“, sondern ɐɏɈɕ ist die hyperbolisch ausgedehnte Zeit. Es geht also nicht um ewiges Leben, sondern das Leben im Hier und Jetzt des Elends dauert schon zu lang, quasi eine Ewigkeit. Der begründende Schlusssatz argumentiert mit der Vergänglichkeit als conditio humana gegen die ausgedehnte Leidenszeit. Als Ziel steht das von Gottes Zorn unbehelligte (Rest-)Leben Ijobs im Hintergrund. Gott soll von Ijob ablassen, weil seine Tage ein Hauch sind. Wenn er von ihm bzw. seiner Ungerechtigkeit ablässt, kann Ijob Tage des Glücks ohne Krankheit erleben. Das Leben ist für Ungerechtigkeiten einfach zu kurz. Von einem tatsächlichen Todeswunsch kann also keine Rede sein. Das Spiel mit dem Tod hat argumentative Funktion und ordnet sich damit in die Pragmatik der Vergänglichkeitsklage ein: „Das ist auch ein Gebetsmotiv im Klagelied, daß man Jahwe die Kürze des menschlichen, des eigenen Lebens vorhält, um ihn zu rettender Hilfe zu bewegen“.31 Die Deutung kann mit einem letzten Blick auf den Schluss der ersten Rede Ijobs bekräftigt werden, der in Aufbau und Ziel dem vorhergehenden Abschnitt gleicht. Im Text folgt die kontrastierende Parodie auf Ps 8 in Ijob 7,17f, für die an anderer Stelle aufgewiesen wurde, dass es ihr um die Betonung des Kontrasts zwischen der existentiellen Not Ijobs und dem Anspruch seines Menschseins geht und gerade nicht um die Ablehnung der 30 31
Das hat HESSE, Hiob, 66f.86f richtig gesehen. HORST, Hiob, 123.
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hoheitlichen Anthropologie von Ps 8, die als positive Referenz im Hintergrund steht.32 Am Schluss fordert Ijob in V. 21 Gott zur Vergebung auf und appelliert – wie oben gezeigt in engem Bezug auf die Gnadenformel – an sein Erbarmen. Gott ist ohne Gnade und Barmherzigkeit letztlich nicht zu denken, denn der Mensch könnte vor der Gerechtigkeit Gottes nie bestehen. Das wird in V. 21 wie in V. 16 zusätzlich mit der Vergänglichkeit begründet. G. Fohrer und andere deuten den das Kapitel abschließenden Hinweis auf das Sterben Ijobs konsekutiv zum Vordersatz im Sinne einer Entlastung Ijobs: „Ja, dann könnte ich mich in den Staub hinlegen und suchtest du nach mir, so wäre ich nicht mehr“.33 Wenn Gott vergeben würde, „könnte Hiob beruhigt sterben. Er wüsste ja, daß er nicht einen strafweisen Tod erlitte, sondern ein natürliches Ende fände“.34 Diese Deutung lässt den Hinweis auf die Entzogenheit Ijobs in der Scheol außer Acht. Ijob hält Gott in den beiden knappen Schlussworten vor, dass dessen Einsicht zu spät kommen könnte: Du wirst mich suchen, aber ich bin nicht mehr da (ɌɓɓɌɃɈ ɌɓɝɛɊɜɈ)! Deswegen ist das ɄɎɜɃ ɛɗɕɏ ɇɝɕȽɌɎ wohl hyperbolisch auf den baldigen Tod Ijobs zu beziehen und unterstreicht die Eindringlichkeit der vorangegangenen Fragen.35 Paraphrasiert: „Bald könnte es zu spät sein, also vergib mir endlich!“ Ijob hat von seinem Tod zwar keinen Vorteil, aber Gott einen handfesten Nachteil, denn er hat – das ist hier wie im gesamten Ijobbuch die Voraussetzung – keinen Zugriff auf die Unterwelt. In den Augen Ijobs würde er mit dem Tod Ijobs die Ungerechtigkeit Gottes irreversibel festschreiben. Der Hinweis auf den natürlichen Tod am Ende des Kapitels ordnet die in Ijob 7,15f geäußerte Todessehnsucht noch einmal in den Kontext der Klage ein. Ijob hat nicht schon so mit seinem Leben und mit Gott abgeschlossen, dass ihm die irreversible Trennung von Gott lieber wäre. Auch über das Gottesbild Ijobs sagt das Ende von Kapitel 7 etwas sehr Wesentliches. In der Forschung scheiden sich an der Deutung des Suchens in V. 21 erneut die Geister. Sucht Gott nach seinem Opfer, um sich ihm in positiver oder negativer Weise zuzuwenden? Während die einen darin nur die Emphase der Entzogenheit in der Scheol sehen wollen36 oder gar den
32
Vgl. FREVEL, Theologie, 257–262. FOHRER, Hiob, 160 (Hervorhebung C.F.). 34 FOHRER, Hiob, 182. 35 So auch HARTLEY, Job, 151.153. 36 CLINES, Job 1–20, 195, der eine positive Konnotation des Suchens ablehnt. „It is rather an emphatic way of affirming that he will no longer be; even God cannot find that which does not exist.“ Das beantwortet jedoch nicht die Frage, warum Gott überhaupt Ijob suchen soll. 33
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sarkastisch spottenden Abschluss des Kapitels,37 sehen andere in dem intensiven Suchen Gottes ein Moment der Zuwendung und lesen es als Zeichen seines Grundvertrauens auf die Gnade Gottes, das noch nicht durch das Leiden vollständig korrumpiert ist. Es dürfte kein Zufall sein, dass nicht ɜɚɄ, sondern ɛɊɜ D-Stamm verwandt ist. Das Verb drückt eine von Verlangen getriebene intensive Suche aus (Spr 7,15; 11,27), häufiger gerade des Beters, der sich nach Gerechtigkeit Gottes sehnt (Jes 26,9; Ps 63,2). Nur hier ist Gott Subjekt dieser Suche und es liegt nahe, auch diese Suche mit der Gewährung erbarmender Gerechtigkeit zu verbinden. Ijob ist davon überzeugt, dass Gott ihn eines Tages (Morgens?)38 suchen, d.h. sich sein zur Gnade und Vergebung wendendes Wesen in den Vordergrund schieben wird. Der Gott Ijobs ist nicht der verletzende und hart handelnde Willkürgott, als den Ijob ihn auf der Textoberfläche anklagt. Im Hintergrund erkennbar bleibt das positive Gottesbild des Gottes, der den Schrei des Entrechteten erhört und sich im Suchen diesem zuwendet.39 In der Spannung zwischen Klage und Hoffnung ist Ijobs Gottesbild nicht das eines harmlosen, nur lieben und gnädigen Gottes, es bleibt ungeschönt hart und im Widerspruch zwischen Wesen und Handeln letztlich unverständlich.40 Ijobs Klage zielt auf Gerechtigkeit mit den radikalsten Mitteln der Argumentation. Dabei stellt der Text nicht billig Ijobs Leiden zurück, sondern dieses bleibt im Vordergrund. Nicht umsonst aber endet die Ijobrede wie die folgenden Reden bis in den zweiten Redegang auch mit der drohenden Nicht-Existenz Ijobs: ɌɓɓɌɃɈ – dann bin ich nicht mehr da (vgl. Ijob 10,22; 14,19–22; 17,11–16). Der drohende Tod Ijobs wird so zum Appell an Gott.
Ertrag Die Beschäftigung mit dem Todeswunsch in der ersten Rede Ijobs im ersten Redegang hat deutlich werden lassen, wie sehr das Buch Ijob als weisheitlicher Diskurs verstanden werden muss. Auffallend war die ausgesprochen enge Vernetzung der Argumentation in Ijob 6f mit der Rede des Elifas in Ijob 4f. Weisheitliche Grundsätze und Einzelaussagen werden durch 37 HABEL, Job, 166: „a taunt rather than a traditional affirmation of trust“ und „sarcastic closure“. 38 Das semantische Spiel des Verbums mit ɛɊɜ „Morgenröte“ ist vielleicht ebenfalls mehr als nur Zufall. Zum einen ist das Suchen Gottes nach all der Finsternis und Dunkelheit im Leben Ijobs wie ein Durchbruch des Lichts, und zum anderen ist „Gottes Hilfe am Morgen“ ja assoziativ eng verknüpft mit der Gerechtigkeit, auf die Ijob so dringend hofft. 39 Gegen CLINES, Job 1–20, 195; HABEL, Job, 164. 40 Vgl. zur Begründung der Hoffnungsperspektive Ijobs auch KUMMEROW, Job.
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Stichwortaufnahmen und Teilzitate aufgegriffen und argumentativ kontrastiert. Dabei wird deutlich, dass Ijob und Elifas je von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, beide aber gleichermaßen das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit thematisieren. Das diskursive Moment der Ijobrede konnte an vielen Stellen deutlicher herausgestellt werden. Ijob steht in Auseinandersetzung mit der Weisheitstradition und ihren Bezugstexten. Neben den Zitaten und Anspielungen auf Psalmstellen fiel insbesondere die Aufnahme der Gnadenformel auf. Der diskursive Stil bleibt der Auseinandersetzung mit Elifas vergleichbar. Jeweils setzt die Argumentation Ijobs ein bestimmtes Grundverständnis voraus, das nicht explizit erläutert wird. Er stellt seine ungerechte Situation kontrastiv dagegen und so das traditionsgebundene weisheitliche Grundverständnis in Gottes- und Menschenbild in Frage. Gott muss sich an den von der Tradition vorgegebenen Maßstäben messen lassen, weshalb Ijob ihn zur Rechenschaft zieht. Pragmatisch zielt die Argumentation auf die Entsprechung von Gottes Handeln zu dem von der Tradition vorgegebenen Muster, nicht auf eine generelle Infragestellung weisheitlichen Denkens. In diesen Kontext einer weisheitlichen Pragmatik ist auch der Todeswunsch Ijobs einzuordnen. Der Todeswunsch in der ersten Ijobrede hat sowohl in Kapitel 6 als auch in Kapitel 7 klar appellative und die Argumentation unterstreichende Funktion. Er ist weder von Resignation noch von zynischer Hoffnung auf den Tod als einer besseren Alternative gerichtet, sondern eher ein dramatisches Stilmittel in Ijobs Verteidigung seiner Klage. Der Wunsch nach dem Tod ist irreal und die Argumentation zielt gerade nicht auf eine dauerhafte Trennung Ijobs von Gott. Auch wenn Ijobs Welt die schlechteste aller möglichen Welten ist, sieht er im Tod keine Alternative oder einen Ausweg. Die dramatische Spannung zwischen Ijobs und Gottes Gerechtigkeit wird durch das Todeswunschmotiv nicht gelöst, sondern eher verschärft. Nur wenn Gott an Ijob seiner Gerechtigkeit entsprechend handelt, kann Gott seine Gerechtigkeit aufrechterhalten. So ist N.C. Habels Einschätzung richtig und falsch zugleich: „Though Job does not plan suicide, he prefers death to an endless life of oppression at the hands of an arbitrary God (7:11–16).“41 Richtig ist, dass Ijob weder ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben im Freitod in Erwägung zieht noch die Fortsetzung seines faktischen Lebens zu akzeptieren bereit ist. Insofern ist auch richtig, dass er den Tod diesem Leben vorzieht, aber seine Argumentation setzt gerade nicht die Willkür Gottes voraus und zielt deshalb auch nicht auf den Tod als Ausweg. Diese Position hält er sowohl gegenüber den Freunden als auch gegenüber Gott durch. Da es keine Möglichkeit des außerweltlichen Ausgleichs gibt, ist die faktische Situation des 41
HABEL, Job, 63.
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ungerecht(fertigt)en Leids Rechtfertigung für Ijobs Klage gegenüber Gott. Vorausgesetzt ist ein Weltbild, in dem die Unterwelt dem Gott Ijobs entzogen ist, was den Druck auf eine diesseitige Lösung verstärkt. Der „Todeswunsch“ ist so rhetorisches Mittel im Kampf um das Leben und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit.42 Der Todeswunsch ist Teil der Textstrategie – weniger gegenüber den Freunden als gegenüber Gott.
Literaturverzeichnis BEUKEN, W.A.M., Job’s Imprecation as the Cradle of a New Religious Discourse. The perplexing impact of the semantic correspondences between Job 3, Job 4–5 and Job 6–7, in: DERS. (Hrsg.), The Book of Job (BETL 114), Leuven 1994, 41–78 BEYSE, K.-M., Art. ɐəɕ, ThWAT 6 (1989) 326–332 BUDDE, K., Das Buch Hiob (HK 2,1), Göttingen 1913 CLINES, D., Job 1–20 (WBC 17), Dallas 1989 DOHMEN, C., Nicht ewig will ich leben. Der Todeswunsch als Zumutung Gottes, Anzeiger für die Seelsorge 110 (2001) 11–14, wiederabgedruckt in: T. HIEKE (Hrsg.), Tod – Ende oder Anfang? Was die Bibel sagt, Stuttgart 2005, 67–76 DUHM, B., Das Buch Hiob (Die poetischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments 1), Freiburg u.a. 1897 EBACH, J., Streiten mit Gott. Hiob. Teil I: Hiob 1–20, Neukirchen-Vluyn 32007 –, Streiten mit Gott. Hiob. Teil II: Hiob 21–42, Neukirchen-Vluyn 22005 ENGLJÄHRINGER, K., Theologie im Streitgespräch. Studien zur Dynamik der Dialoge des Buches Ijob (SBS 198), Stuttgart 2003 FOHRER, G., Hiob (KAT 16), Berlin 21988 FREVEL, C., „Eine kleine Theologie der Menschenwürde“. Ps 8 und seine Rezeption im Buch Ijob, in: F-L. HOSSFELD / L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER (Hrsg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments, FS E. Zenger (HBS 44), Freiburg 2004, 244–272 GRADL, F., Das Buch Ijob (NSK.AT 12), Stuttgart 2001 GRIMM, M., „Dies Leben ist der Tod“. Vergänglichkeit in den Reden Ijobs – Entwurf einer Textsemantik (ATSAT 62), St. Ottilien 1998 HA, K.-T., Frage und Antwort. Studien zu Hiob 3 im Kontext des Hiob-Buches (HBS 46), Freiburg 2005 HABEL, N.C., The Book of Job. A commentary, London 1985 HARTLEY, J.E., The Book of Job (NICOT 15), Grand Rapids 1991 HESSE, F., Hiob (ZBK.AT 14), Zürich 1978 HÖLSCHER, G., Das Buch Hiob (HAT 1,17), Tübingen 21952 HORST, F., Hiob. 1. Teilband 1–19 (BK.AT 16,1), Neukirchen-Vluyn 21969 KÖHLMOOS, M., Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch (FAT 25), Tübingen 1999 KUMMEROW, D., Job, Hopeful or Hopeless? The significance of ɐɅ in Job 16:19 and Job’s changing conception of death, JHS 5 (2004–2005) (http://www.jhsonline.org/, Zugriff 14.01.2008)
42 Zur rhetorischen Funktion des Todes auch MATHEWSON, Death, 15 und GRIMM, Leben, passim, dessen Untersuchung aber an der Isolierung der Einzelstimmen krankt.
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MATHEWSON, D., Death and Survival in the Book of Job. Desymbolization and traumatic experience (Library of Hebrew Bible / Old Testament Studies 450), New York 2006 PINKER, A., Job’s Perspectives on Death, JBQ 35 (2007) 73–84 SCHARBERT, J., Der Schmerz im Alten Testament (BBB 8), Bonn 1955 SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, L., Ein Weg durch das Leid, Freiburg 2007 ZUCKERMAN, B., Job the Silent: A study in historical counterpoint, New York 1991
Tod und Gerechtigkeit im Buch Kohelet RÜDIGER LUX
Franz Rosenzweig hat in seinem Systembuch „Der Stern der Erlösung“ von Kohelet gesagt, dass er stark angefressen gewesen sei „von dem Geist, der stets verneint“.1 Auf den ersten Blick trifft dieses Urteil zu. Es ist ja die litaneiartige Wiederholung der „Windhauch“-Aussage (ɏɄɇ), die das gesamte Buch rahmt und es als ein roter Faden der Vergänglichkeit durchzieht. Achtunddreißig mal wird der Leser in diesen roten Faden verwickelt,2 so dass es nahezu kein Entrinnen gibt aus dem fein gesponnenen Netz des flüchtigen Lebens. Erweist sich Kohelet damit nicht als der „Philosoph der Endlichkeit“, der seine Leser mit dem radikalen, absoluten Tod konfrontiert? In der Koheletexegese wurde und wird das – mit wenigen Ausnahmen – immer wieder so gesehen.3 Der Tod nimmt neben der Frage nach dem Glück den prominentesten Platz unter den Inhalten ein, mit denen sich Kohelet auseinandersetzt.4 Gleichzeitig hat man die Skepsis als Kohelets Methode angesehen.5 Leuchtet diese Korrelation zwischen Inhalt und Methode, zwischen Tod und Skepsis, nicht ein, wenn man sich vor Augen hält, dass die Einsicht in die unausweichliche eigene Endlichkeit geradezu zwangsläufig zur Skepsis gegenüber allen menschlichen Glücks-, Ewigkeits- und Jenseitshoffnungen 1
ROSENZWEIG, Stern, 225. Koh 1,2 (5x).14; 2,1.11.15.17.19.21.23.26; 3,19; 4,4.7f.16; 5,6.9; 6,2.4.9.11f; 7,6.15; 8,10.14 (2x); 9,9 (2x); 11,8.10; 12,8 (3x). 3 So zuletzt u.a. FISCHER, Tod, 165ff. Sein Fazit lautet: „In dieser Hinsicht [im Blick auf den Tod, R. L.] ist der Prediger Salomo das radikalste Buch des Alten Testaments. Im Tod ist der Mensch für immer abgeschieden. […] Man muß den Tod als diese absolute Grenze sehen und annehmen“ (172). 4 Siehe dazu bereits LOHFINK, Wiederkehr, 97: „Insgeheim wirft in allem ein einziges Thema seinen Schatten voraus und fügt hier am Anfang des Buches die verschiedenen, je neu ansetzenden Textkristalle zusammen: Das Thema ‚Tod‘.“ KUTSCHERA, Kohelet, 363f spricht von der „Koexistenz von Lebensfreude und Todesbewußtsein“ im Buch Kohelet, wobei der Tod „das definitive Ende personaler Existenz“ darstelle, „dieses Leben […] für uns das ganze Dasein“ ausmache. 5 So spricht u.a. MICHEL, Untersuchungen, 7 von Kohelet als einem „erkenntnistheoretischen Skeptiker“. 2
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anleitet? Ist demnach der absolute Tod nicht der Vater der Skepsis, eben jenes „Geistes, der stets verneint“?6 Definiert man allerdings mit Odo Marquard die Skepsis als „Abschied vom Prinzipiellen“,7 dann ist der Skeptiker gut beraten, wenn er selbst vor dem Todesprinzip mit seiner Methode nicht haltmacht. Weil der radikale Skeptiker Kohelet vor allem ein Suchender8 bleibt, begegnet er auch dem absoluten Tod noch mit einem Restposten an Skepsis, indem er das unausweichliche Nein des Todes durch ein verhaltenes, skeptisches Ja in Zweifel zieht.9 Diese These soll im Folgenden begründet werden.
1. Hinweise zur Struktur des Buches Es gibt eine Fülle von stark abweichenden Modellen zur Beschreibung der Struktur des Buches Kohelet.10 Darin allerdings besteht ein weitgehender Konsens in der Forschung, dass sich das Buch in zwei Hauptteile gliedert, einen „Traktat“ in Koh 1–3, der einen relativ stringenten Gedankengang verfolgt, und eine sich daran anschließende eher lose – allenfalls durch Stichworte verbundene – Sammlung von weisheitlichen Reflexionen in Kapitel 4–12.11 6 ALBRECHT, Skeptizismus, 38f führt eine Spur des mittelalterlichen Skeptizismus auf das Buch Kohelet zurück. Für die frühe Neuzeit haben WÖLFEL, Luther, und ROSIN, Reformers, das Thema „Luther und die Skepsis“ auf der Grundlage seiner Koheletauslegung behandelt. Kritisch dagegen BADER, Skepsis, 363f. 7 MARQUARD, Abschied, 11–29, bes. 24. 8 BAUM, Skepsis, 349f: „Nach Sextus Empiricus (2. Hälfte des 2. Jh. n.Chr.) sind die Skeptiker diejenigen Philosophen, die weder wie die Dogmatiker […] behaupten, das Wahre gefunden zu haben, noch wie die Akademiker […] es für unerkennbar erklärten, sondern es noch suchen. Daher wird die skeptische Schule auch ‚die suchende‘ (ƢƣưƣưƦВ), ‚die zurückhaltende‘ (βƲơƦưƥƦВ) oder ‚die zweifelnde‘ (ƬƫƭƣưƥƦВ) genannt, da die ihr zugehörigen Philosophen auf ihrer Wahrheitssuche zur Zurückhaltung (βƬƫƳВ) des Urteils gelangen, indem sie sich vor unauflösliche Schwierigkeiten (ƬƫƭƛƝƥ) gestellt und sich zu Zustimmung oder Verneinung nicht in der Lage sehen.“ 9 Dieses verhaltene „Ja“ bezieht sich – wie wir sehen werden – nicht auf eine leibliche Überwindung des Todes, sondern auf den postmortalen Ort der menschlichen ɊɈɛ. 10 Siehe die Darstellung der wichtigsten davon bei SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 48–53. 11 Umstritten ist dabei, ob der Abschnitt 3,16–22 noch zu dem einführenden Traktat gehört, oder bereits die Sammlung der weisheitlichen Reflexionen einleitet, die im zweiten Hauptteil des Buches folgen. Die Wiederaufnahme der Wendung ɘɗɊȽɏɎɏ ɝɕ aus 3,1 in 3,17b lässt es m.E. geraten erscheinen, den Abschnitt noch dem Einleitungstraktat des Koheletbuches zuzurechnen. Es geht nach wie vor um die rechte Zeit für jedes Vorhaben, das Thema, das in 3,1–8 entfaltet und in 3,10–15 und 16–22 in zwei anschließenden Reflexionen kritisch erörtert wird. Darüber hinaus enthält 3,22b (ɈɌɛɊɃ ɇɌɇɌɜ) einen deut-
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Der erste Hauptteil setzt mit der Frage nach dem ɒɈɛɝɌ ein, dem „Gewinn“ oder „Vorteil“, der dem Menschen von all seiner Mühe bleibt, mit dem er sich abmüht unter der Sonne (1,3). Das Nomen ist abgeleitet von ɛɝɌ „übrig sein“.12 Es geht dem Weisen also von Anfang an um die Frage nach dem, was dem Menschen eigentlich bleibt von seiner irdischen Mühe.13 Der sich anschließende Prolog (1,4–11) führt zu einem ambivalenten Ergebnis. Als Gattungswesen hat der Mensch Teil an dem bleibenden, immer währenden Kreislauf der Natur: ɃɄ ɛɈɆɈ ɍɏɇ ɛɈɆ „eine Generation geht, eine Generation kommt“ (1,4). Als Individuum geht er aber in diesem Kreislauf unwiederbringlich verloren.14 Ja, es wird keinerlei ɒɈɛɎɉ, keine „Erinnerung“ an die Individuen geben, weder an die Früheren, noch an diejenigen, die nach ihnen kommen werden (1,11).15 Der Versuch, dieser unausweichlichen Auslöschung der individuellen Existenz durch eine übersteigerte Form der Selbstverwirklichung in grandiosen Werken, durch lichen thematischen und lexematischen Rückbezug auf 1,11 (ɇɓɛɊɃɏ ɈɌɇɌɜ). KOH, Autobiography, 18 hat zuletzt in einer anregenden Studie gezeigt, „that the royal voice in Qoheleth plays a more important role in the work than has been previously recognized.“ Da die königliche Stimme das gesamte Buch durchziehe, lasse sich davon ausgehen, „that Qoheleth’s narrative is best described as having the form of a royal autobiography“ (ebd., 198). Auf dem Hintergrund altorientalischer Weisheitsschriften, die sich ebenfalls der Gattung der königlichen Autobiographie bedienen, leuchtet diese These unmittelbar ein. Sie trägt dazu bei, das Buch stärker als bisher als eine literarische Einheit zu verstehen, ohne die Differenz zwischen dem eher traktathaften Charakter der Kap. 1–3 und den in Kap 4ff anschließenden weisheitlichen Reflexionen, die thematisch breit gefächert sind, zu nivellieren. 12 KRONHOLM, ɛɝɌ, 1082. 13 Das Nomen durchzieht als Leitwort das gesamte Buch (1,3; 2,11.13; 3,9; 5,8.15; 7,12; 10,10f). 14 Es trifft zu, wie SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 161 annimmt, dass auch mit dem „Gehen“ (ɍɏɇ) der Generationen ein „Gehen ohne Wiederkehr“ in den Blick komme, das Verb also eine „euphemistische Umschreibung des Sterbens“ sei. Allerdings liegt der Akzent der Aussage von 1,4a nicht allein auf dem Hinweis des Geschicks der Endlichkeit jeder „individuellen“ Generation, sondern zugleich auf ihrer ununterbrochenen Abfolge, in der eine Generation die andere ablöst. Hier wird in allem Wechsel Kontinuität aufgezeigt, eine verlässliche, stabile Struktur, an der der Einzelne wie auch die jeweilige Generation immer nur begrenzt Anteil haben. Diese Kontinuität, die Dauer und Wechsel zugleich umfasst, wird in V. 4b mit der sich gleich bleibenden, unvergänglichen Erde konfrontiert, die ɐɏɈɕɏ besteht. V. 4 thematisiert damit zwei Arten der Dauer, die Kontinuität des Wechsels, der Veränderung, sowie die Kontinuität des Beständigen. So auch KRÜGER, Kohelet, 113: „Während die Menschheit im Wechsel der Generationen fortdauert, bleibt die Erde identisch bestehen.“ 15 Die Hoffnung, dass der Mensch wenigstens im Gedenken seiner Nachkommen auf dieser Erde fortleben möge (Koh 2,16; 9,5; vgl. Spr 10,7; Ps 34,17; 109,15; 112,6; Ijob 18,17), wird von Kohelet konsequent verworfen, da der Mensch „unter der Sonne“ dem Gesetz der Vergänglichkeit unterliegt.
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vollkommenes Lebensglück und Weisheit zu entgehen, den Kohelet in den sich anschließenden fiktiven Experimenten der Königstravestie (1,12– 2,26) unternimmt, ist ebenso zum Scheitern verurteilt, da der Weise wie der Tor letztlich einmal vergessen sein werden (2,16). Er schließt damit jede Form eines Weiterlebens des Individuums in der menschlichen Erinnerung sowie in und durch die eigenen Werke aus. Diese radikale Endlichkeit des Menschen konfrontiert ihn notwendigerweise mit dem Phänomen der Zeit, das daraufhin erörtert wird. Wem keine Ewigkeit beschieden ist, der sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die endliche Zeit, die ihm gewährt ist, klug auszukaufen, indem er sorgfältig auf die jeweils „rechte Zeit“ achtet (3,1–8). Doch mündet auch diese indirekte Empfehlung in die erneut gestellte Ausgangsfrage: ɇɜɈɕɇ ɒɈɛɝɌ ɇɑ – „Was für ein Gewinn bleibt dem, der schafft“ (3,9)?16 An das Gedicht von der rechten Zeit und die wiederholte Frage nach dem bleibenden Gewinn schließen sich zwei Betrachtungen an, die das Nomen ɝɕ wieder aufnehmen (3,11.17). Während in 3,10–15 (Betrachtung I) die Frage nach der rechten Zeit als erkenntnistheoretisches Problem erörtert wird, stellt sich in 3,16–22 (Betrachtung II) die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Gerechtigkeit im Angesicht des Todes. Beide Betrachtungen schließen mit einem deutlichen Rückbezug auf den Prolog in 1,10f,17 weswegen ich sie mit L. Schwienhorst-Schönberger noch dem ersten Hauptteil des Buches zurechne. Diesem Traktat folgt der zweite Hauptteil des Buches (Koh 4–12). Für ihn hat sich bisher weder ein durchgehend stringenter Gedankengang noch eine schlüssige Gliederung finden lassen, die in der Forschung allgemeine Zustimmung gefunden hätte. Daher hat A. Schoors bereits vor einigen Jahren die Empfehlung ausgesprochen, sich vorläufig damit zufrieden zu geben, nach thematischen und lexematischen Verknüpfungen zwischen den einzelnen, locker aneinander gereihten Perikopen zu suchen.18 Im Rahmen dieser Überlegungen soll lediglich auf einen markanten strukturellen Befund aufmerksam gemacht werden, der m.E. in der Koheletforschung bis 16
Die von 1,3 abweichende Formulierung in 3,9 (ɇɜɈɕɇ statt ɐɆɃɏ) unterstreicht den Aspekt der Machbarkeit eines dauerhaften Gewinns. Dem Optimismus solcher Bemühungen wird eine klare Absage erteilt. Trotz aller redlichen Anstrengungen und obwohl der fiktive König Kohelet alle Möglichkeiten des Lebensgewinns ausgeschöpft und ausgekostet hat, tritt er in seinem Streben nach einem bleibenden, den Augenblick übersteigenden Gewinn auf der Stelle. Dem Menschen bleibt ein wie auch immer gearteter ɐɏɈɕ versagt. 17 Vgl. Anm. 11 und die Wiederaufnahme der Wendung ɇɌɇ ɛɄɎ aus 1,10b in 3,15. 18 SCHOORS, Introduction, 13: „Perhaps we shall have to content ourselves with agreeing on the function of Qoh 1,3–3,9 as the basic exposition of Qohelet’s Weltanschauung and be happy to find our way in the logic of its more detailed elaboration in the delineation and the mutual connections of pericopes in the following chapters.“
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her nur unzureichende Beachtung gefunden hat, für die Gesamtaussage des Buches aber von eminenter Bedeutung ist. Der zweite Hauptteil schließt wie der Traktat mit einem Verweis auf das Todesgeschick des Menschen, indem er dessen Rückkehr zum Staub (ɛɗɕ) der Erde festhält (3,20b Ӑ 12,7a) und eine Aussage über seine ɊɈɛ macht (3,21a Ӑ 12,7b). Während sich die Aussagen über die Rückkehr des Menschen zum Staub inhaltlich voll entsprechen, ist dies bei der Aussage über die ɊɈɛ nicht der Fall, denn was in 3,21 radikal in Zweifel gezogen wurde, findet in 12,7b eine geradezu konfessorische Antwort. Die folgenden Überlegungen wollen die Bedeutung dieser beiden Schlusspassagen der Hauptteile des Koheletbuches für das Todesverständnis Kohelets deutlich machen.
2. Tod und Gerechtigkeit (3,16–22) 2.1. Struktursignale Der hier zu besprechende Abschnitt gliedert sich in zwei durch ɌɝɌɃɛ eingeleitete Beobachtungen (V. 16.22).19 Diese rahmen wiederum zwei durch die Formel ɌɄɏɄ ɌɓɃ ɌɝɛɑɃ eröffnete Reflexionen (V. 17.18–21).20 Die formale Argumentationsstruktur (A B B’ A’) ist wichtig. Kohelets Besinnung geht von der Empirie aus, dem genauen Hinsehen, und mündet wiederum in diese ein.21 Während sich die erste Reflexion mit dem 19
Zu ɇɃɛ in der 1. Sg. Pf. und Impf. siehe Koh 1,14; 2,3.13.24; 3,10.16.22; 4,1.4.7.15; 5,12.17; 6,1; 7,15; 8,9f.17; 9,13; 10,5.7. Es handelt sich um eines der Schlüsselworte Kohelets. Siehe SCHOORS, Words, 26–33. 20 Vgl. ɛɑɃ und ɛɄɆ in der 1. Sg. Pf. In Koh 1,16; 2,1f.15; 3,17f; 6,3; 7,23; 8,14; 9,16. Die metakommunikative Wendung ɌɄɏɄ ɌɓɃ ɌɝɛɄɆ/ɌɝɛɑɃ begegnet in 1,16; 2,1.15; 3,17f. 21 MICHEL, Untersuchungen, 28 ist in seinen Analysen zu ɇɃɛ bei Kohelet zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verb hier „nicht ein Terminus zur Bezeichnung der empirischen Tätigkeit des Weisen, sondern zur kritischen Prüfung der Weisheitstheorie, zur Meta-Empirie“ sei. Ihm ist darin zuzustimmen, dass sich ɇɃɛ bei Kohelet in der Tat nicht immer auf eine direkte sinnliche Wahrnehmung, ein Beobachten der sichtbaren Wirklichkeit bezieht, sondern darüber hinaus im übertragenen Sinn das „Betrachten, Erwägen, Bedenken“ eines Sachverhaltes zum Ausdruck bringen kann, also die geistige Durchdringung eines Problems. Insofern ist ɇɃɛ bei Kohelet polysem. Während die Wurzel in 3,16a eine optische Wahrnehmung des Geschehens am Ort der Rechtssprechung bezeichnet, hat sich ihre Semantik in 3,22a vom „sehen“ in Richtung „einsehen“ bzw. „erkennen“ verschoben, bezeichnet hier also eher einen noetischen Vorgang. Dabei ist die in V. 22a formulierte Einsicht allerdings keine von jeglicher Empirie abgelöste Aussage, sondern beruht auf dieser. Vgl. VAN HECKE, Verbs, 220: „Qohelet’s preference of the verb ɇɃɛ over the verb ɕɑɜ in the description of his intellectual inquiry, witnesses to the intentional and focused character of his inquiry, which is also expressed by a number of other verbs and expressions used to designate that same quest. The
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Geschick des „Gerechten“ (ɚɌɆə) und des „Frevlers“ (ɕɜɛ) beschäftigt und zu der Feststellung gelangt, dass sie beide von Gott gerichtet werden (V. 17), mündet die zweite Reflexion in eine generalisierende Betrachtung von „Mensch“ (ɐɆɃ) und „Vieh“ (ɇɑɇɄ), die gleichermaßen vom Todesgeschick betroffen sind (V. 18–21). Der Abschnitt endet mit einem Hinweis auf die Freude und einer die Postmortalität des Menschen betreffenden Frage (V. 22). 2.2. Der Ort der Gerechtigkeit (V. 16f) A 16 Darüber hinaus habe ich unter der Sonne gesehen: Am Ort des Gerichtes, da ist Unrecht und am Ort der Gerechtigkeit, da ist Frevel. B 17 Ich sprach in meinem Herzen: Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten, denn es gibt eine Zeit für jedes Vorhaben und für alles, was dort22 getan wird.
V. 16a setzt mit einer Beobachtung ɜɑɜɇ ɝɊɝ ein. Die Wendung, die nur bei Kohelet begegnet, verweist immer auf ein irdisches Geschehen, das der Empirie zugänglich ist. Sie umschreibt die dem Menschen sichtbare Welt. Mit der Häufung der Formel (28-mal)23 gibt sich der Weise als ein Denker zu erkennen, der sich ganz der Diesseitigkeit verpflichtet weiß.24 In dem folgenden Bikolon (V. 16b) wird diese Aufmerksamkeit für das Diesseits physical properties of light signals and of our visual perception allow for more intentional and focused observation, which is moreover relatively unmediated and possible over a long distance. For that reason, the verb ɇɃɛ is used preferentailly for conceptualising active and direct intellectual examination.“ Die Polysemie von ɇɃɛ ändert also nichts daran, dass Kohelet ein eminent empirischer Denker bleibt. Denn seine kritische Prüfung der „Weisheitstheorien“ wie z.B. des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, stützt sich immer wieder auf konkrete Erfahrungen und Beobachtungen in der sichtbaren Welt. Der Begriff der Empirie wäre zu eng gefasst, wenn er nur auf die optische, akustische oder auch haptische Wahrnehmung beschränkt bliebe. Vielmehr verbinden sich in der Empirie immer Wahrnehmungen, Reflexionen und entsprechende Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Die antiken Empiriker, die aus einer griechischen Ärzteschule hervorgingen und den Skeptikern nahe standen, misstrauten Theorien, „welche das Postulat von theoretischen Einheiten […] voraussetzten. Sie hielten sich lieber an das, was leicht zu beobachten war, und stützten sich auf die Urteile, die aus dem täglichen Leben kamen“ (NUTTON, Empiriker, 1017). 22 Das die erste Reflexion abschließende ɐɜ ist ein unübersehbarer Rückverweis auf das doppelte ɇɑɜ in V. 16b. 23 Koh 1,3.9.14; 2,11.17–20.22; 3,16; 4,1.3.7.15; 5,12.17; 6,1.12; 8,9.15 (2x); 9,3.6.9 (2x).11.13; 10,5. 24 Siehe dazu auch MICHEL, Sonne, 111: „In seinem gesamten Werk will Qohelet die Welt unter den Gesetzmäßigkeiten erforschen, die ‚unter der Sonne‘ = in der Immanenz gelten.“
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sofort auf einen besonderen Ort fokussiert. Der synonyme parallelismus membrorum besteht aus zwei Nominalsätzen, die jeweils mit dem betont voranstehenden Nomen ɐɈɚɑ einsetzen. Es geht um den Ort des Rechts und der Gerechtigkeit.25 Das nahezu gleichlautende, nur in der masoretischen Punktation leicht voneinander abweichende Prädikat der beiden Nominalsätze verweist mit dem ɇɑɜ auf die zuvor genannten Orte zurück und bringt zum Ausdruck, dass „dort“,26 wo man in der Regel ɋɗɜɑ und ɚɆə erwarten darf, das Gegenteil zu Hause ist, nämlich ɕɜɛ, der „Frevel“, das „Unrecht“.27 Das ist der empirische Befund (A), an den Kohelet seine erste Reflexion in V. 17 (B) anschließt. Diese Reflexion bringt zum Ausdruck, dass Gott den Gerechten und den Frevler richtet. Der Vers wird von einer Reihe von Auslegern als ein redaktioneller Zusatz betrachtet, der vom zweiten Epilogisten her (12,14) den Gedanken eines göttlichen Jenseitsgerichtes hier sowie in 11,9 eingetragen habe.28 A.A. Fischer hat zuletzt eine Reihe von bedenkenswerten Argumenten für diese Sicht der Dinge zusammengetragen.29 Für zwingend halte ich diese allerdings nicht, weil die durch ɌɎ-causalis eingeleitete Begründung in V. 17b unübersehbar deutlich macht, dass es in V. 17 nicht um ein postmortales Richten Gottes geht, sondern um sein Eingreifen in den irdischen Lauf der Dinge. Dabei ist zunächst die Wiederaufnahme der Wendung ɘɗɊȽɏɎɏ ɝɕ aus 3,1b in V. 17bƝ zu beachten. Es gibt eine bestimmte Frist für jedes Vorhaben und bei allem Tun. Da sich das Nomen ɝɕ in der Zeitlitanei in 3,2–8 durchweg auf das irdische Geschehen zwischen Geburt und Tod bezieht (V. 2), wird man das wohl auch hier annehmen müssen. Das abschließende ɐɜ in V. 17bƞ ist dann am ehesten anaphorisch auf den jeweiligen ɐɈɚɑ und dessen Wiederaufnahme durch das ɇɑɜ in V. 16 zu beziehen. Für das also, was dort, am Ort der Gerichtsbarkeit, 25
Die Septuaginta personalisiert V. 16bƞ, indem sie anstelle von ɚɆəɇ ưƫѼ ƠƥƦƝƛƫƱ und anstelle von ɕɜɛɇ ϣ ƯơƞƚƮ liest. Ebenso verfahren die Targumim. 26 Vgl. dazu MEYER, Grammatik, § 45,3c, 49. 27 Die These von MICHEL, Untersuchungen, 250f, dass mit dem „Ort des Gerichtes“ hier auf ein „Jenseitsgericht“ angespielt würde, scheitert an der einleitenden Ortsanweisung ɜɑɜɇ ɝɊɝ. Es geht hier um ein korrumpiertes Gerichtswesen, das nicht allein in der Weisheitsliteratur (vgl. Spr 3,30; 18,5; 22,22; 24,23; Ijob 36,17; Koh 5,7) immer wieder kritisch reflektiert wird. Dass der Leser V. 16 nicht nur als innerweltliche, sondern „auch als eine eschatologische Aussage über die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes“ gehört haben könnte (so SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 280f), lässt sich m.E. nur behaupten, wenn man V. 17 bereits in die Aussage von V. 16 hineininterpretiert. Gegen diese Sicht spricht m.E. die formale Struktur des Textes. Während V. 16 (A) eine rein innerweltliche Beobachtung mitteilt, folgt erst in V. 17 (B) die theologische Reflexion dieses Geschehens. Siehe dazu schon LUX, Mensch, 266. 28 So u.a. GALLING, Prediger, 96; LAUHA, Kohelet, 75; MICHEL, Untersuchungen, 249f. 29 FISCHER, Kohelet, 340–345.
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geschieht, gibt es wie für alles andere Geschehen auch einen ɝɕ, eine festgesetzte Frist, über die Gott selbst verfügt.30 Kohelet teilt offensichtlich die Auffassung von Gott als einem rettenden Richter, der die Gerechten gerecht spricht und den Frevlern das Handwerk legt.31 Dabei ist die Zeit ein Instrument des göttlichen Richters. Nach T. Krügers trefflicher Formulierung „ist der (jedenfalls für den Menschen) kontingente Wechsel der ‚Zeiten‘ Gottes ‚Gericht‘.“32 Aber Kohelet problematisiert zugleich diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Zeit. Zwar richtet Gott den Gerechten und den Frevler, indem er souverän über ihren jeweiligen ɝɕ verfügt und ihnen sowie ihrem Treiben Fristen setzt, aber immer wieder lässt sich die Beobachtung machen, dass er sich mit seinem strafenden Zorn zu viel Zeit lässt bzw. ihn ganz und gar verstreichen lässt (8,11f), so dass selbst Frevler noch ein ehrenvolles Begräbnis finden können (8,10).33 Dieser Befund provoziert geradezu die Frage nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit jenseits der Todesgrenze.34 Daraus ergibt sich ein plausibler thematischer Bezug zur zweiten Reflexion Kohelets in V. 18–21, die den Aspekt der Zeit auf den der Endlichkeit des menschlichen Lebens hin fokussiert, ein Zusammenhang, der bei einer Ausblendung des Themas „Zeit und Gericht“ in V. 17 weitestgehend verloren ginge.
30 Anders SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 281, der den Bezug auf den innerweltlich definierten ɝɕ vernachlässigt und an ein „Endgericht Gottes“ denkt. 31 Vgl. zu Gott als einem rettenden Richter JANOWSKI, JHWH, 115ff sowie ASSMANN/JANOWSKI/W ELKER, Richten. 32 KRÜGER, Kohelet, 180 Anm. 38. 33 SLOTERDIJK, Zorn, 120–124, hat diesen elementaren Zusammenhang von Zorn, Zeit und Gerechtigkeit in der Vorstellung Israels von JHWH als einem „Zornkönig“ klarer als viele anderen erkannt: „Die königlich-archivarischen und justitiellen Kompetenzen Gottes treten von nun an machtvoll ins Profil. Sie schließen die Fähigkeit ein, sich Recht und Unrecht zu merken, Verletzungen des Gesetzes zu protokollieren, vor allem aber die Bereitschaft, sich das Urteil über das gerechte Strafmaß, einschließlich des Begnadigungsrechts vorzubehalten und den Augenblick der Bestrafung offenzulassen. […] Durch die Verköniglichung Gottes gerät der Zeithorizont seiner Interventionen unter Spannung. Die göttlichen Unrechtsaufzeichnungen und Zornaufbewahrungsleistungen machen weite Bögen zwischen dem Moment des ‚Frevels‘ und dem Moment der ‚Rache‘ möglich, aber noch bedeuten sie nicht die Zurückstellung der strafenden Gewalt in die Endzeit oder gar ihre Auslagerung in die Ewigkeit“ (ebd., 123f). 34 Zur kulturellen und theologischen Leistungsfähigkeit der Vorstellung von einem Totengericht siehe vor allem die weiterführenden Bemerkungen von M. Welker in ASSMANN/JANOWSKI/W ELKER, Richten, 239ff.
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2.3. Der Ort des Todes B’ 18 Ich sprach in meinem Herzen: Wegen der Menschenkinder (ist das so), dass Gott sie prüft35, damit sie sehen36, dass sie Vieh sind, sie selbst. 19 Denn das Geschick der Menschenkinder und das Geschick des Viehs, ein (und dasselbe) Geschick haben sie. Wie diese sterben, so stirbt auch jenes. Und einen Atem haben alle beide. Und einen Vorzug des Menschen vor dem Vieh gibt es nicht, denn alles ist Windhauch.37 20 Alles geht an einen Ort. Alle sind aus dem Staub, und alle kehren zu dem Staub zurück. 21 Wer weiß, ob38 der Atem der Menschenkinder aufsteigt, er, zur Höhe, und der Atem des Viehs hinabsteigt, er, nach unten zur Erde?
V. 18 setzt wiederum mit der Reflexionsformel ɌɄɏɄ ɌɓɃ ɌɝɛɑɃ ein und weitet jetzt die Überlegungen des Weisen über die Antitypen des ɚɌɆə und ɕɜɛ hinaus auf alle ɐɆɃɇ ɌɓɄ aus. Leitworte dieser zweiten Reflexion sind die Nomina ɇɑɇɄ, ɐɆɃ (4x) sowie ɇɛɚɑ und das Zahlwort ɆɊɃ (3x). Es geht um das Geschick39 des Menschen im Vergleich mit dem Vieh und um die Feststellung, dass es ein und dasselbe sei. Über die Menschenkinder werden zunächst in V. 18 zwei durch einen Inf. cs. eingeleitete Aussagen gemacht. Der erste Infinitiv „dass Gott sie aussondert/unterscheidet“ (ɐɛɄɏ ɐɌɇɏɃɇ), nimmt den Gerichtsgedanken aus V. 17 mit seiner Aussage über 35
Der Inf. cs. ersetzt hier ein finites Verb. Vgl. MEYER, Grammatik, § 102. 5a, 60. Die Septuaginta liest ƦƝГ ưƫѼ ƠơѭƪƝƥ setzt also HifŦil (ɝɈɃɛɏɈ) „um zu zeigen“ voraus. 37 Die ɏɄɇ-Aussage nimmt in Verbindung mit dem Nomen ɛɝɈɑ (wie ɒɈɛɝɌ abgeleitet von ɛɝɌ und in der Bedeutung mit diesem identisch, vgl. Spr 14,23; 21,5) den Anfang des Koheletbuches wieder auf, in dem das ɏɄɇ-Urteil der Frage nach dem ɒɈɛɝɌ vorausging (1,2f). So, wie die Frage nach dem Gewinn oder Vorteil aus 1,3 in 2,11 eine erste negative Antwort findet, so auch ihre Wiederholung in 3,9, die dann in 3,19 ebenfalls negativ beantwortet wird (vgl. auch Koh 5,15 Ӑ 7,12; 10,10f). Weder durch außergewöhnliche Aktivitäten und Luxus (so die Königstravestie in 1,12–2,11) noch durch die Beachtung des rechten ɝɕ (3,1–22) vermag sich der Mensch einen bleibenden Gewinn unter der Sonne zu verschaffen. Damit stellen die ɛɝɈɑ/ɒɈɛɝɌ-Aussagen ein deutliches Struktursignal für den einleitenden Traktat des Koheletbuches dar, der mit einer negativen Feststellung endet. 38 Mit der Septuaginta, der Vulgata und der Syriaca ist statt des Artikels vor ɇɏɕɇ und ɝɆɛɌɇ jeweils He-interrogativum zu lesen. 39 Das Nomen ɇɛɚɑ begegnet neben 3,19 bei Kohelet noch in 2,14f; 9,2f; 10,18. Dabei wird es sowohl in 2,14 als auch in 9,2f mit dem Zahlwort ɆɊɃ verbunden. Auch das Geschick des Weisen und des Toren (2,14) und das des Frevlers und des Gerechten ist ein und dasselbe. 36
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den Frevler und den Gerechten noch einmal auf.40 Der zweite Infinitiv „damit sie sehen“ (ɝɈɃɛɏɈ) leitet die Aussage über das Gegensatzpaar „Mensch – Vieh“ ein, das eine Steigerung gegenüber dem Antonym „Gerechter – Frevler“ darstellt, und formuliert ein Paradoxon. Wenn Gott schon zu seiner Zeit zwischen dem Gerechten und dem Frevler zu unterscheiden weiß, die ein und derselben Gattung der Lebewesen angehören, um wie viel mehr müsste das dann nicht auch bei dem Gegensatzpaar „Mensch – Vieh“ der Fall sein? Jedoch weit gefehlt! Die Menschen müssen erkennen, „dass sie (wie das) Vieh sind, sie selbst“. Das ist in höchstem Maße paradox. Die V. 19–21 thematisieren dann, worin diese Gleichheit von Mensch und Vieh besteht, nämlich im gemeinsamen Todesgeschick.41 Die irdische, von Gott gegen alles Unrecht durchgesetzte Gerechtigkeit, über deren Zeitpunkt nur er verfügt, steht damit in einem konfligierenden Verhältnis zum Tod. Wenn es keinerlei Unterschied im Todesgeschick des „Gerechten und Frevlers, des Guten und Reinen sowie des Unreinen, dessen, der opfert, und dessen, der nicht opfert, des Guten und des Sünders, dessen, der schwört, und dessen, der sich fürchtet zu schwören“, gibt (9,2), ja noch nicht einmal einen Unterschied zwischen dem Menschen und dem Vieh, dann sieht sich der Mensch massiv mit der Frage konfrontiert, ob der Tod nicht die sich unter der Sonne ohnehin nur zögerlich einstellende Gerechtigkeit aufhebt und schließlich doch zu Fall bringt. Kohelet tastet nach einer Antwort auf diese Frage, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Erfahrung des Todes nicht unter der Überschrift einer distributiven Gerechtigkeit abzuhandeln ist, sondern ein Grunddatum der egalitären Geschöpflichkeit darstellt (Gen 3,22; 6,3).42 Gerechtigkeit und Unge 40 Zu ɛɛɄ als Akt der Auslese, des Aussonderns und Prüfens siehe HAMP, ɛɛɄ, 842. Das Verb wird in einem ganz vergleichbaren Kontext in Koh 9,1 wieder aufgenommen. Subjekt des Prüfens ist hier aber nicht Gott, sondern Kohelet. 41 Das Nomen ɇɛɚɑ bezieht sich bei Kohelet immer auf den Tod (vgl. 2,14ff; 9,2f). 42 Siehe dazu KRÜGER, Rezeption, 316f. Ob allerdings für Kohelet Bosheit und Gewalt die eigentliche Ursache für die Sterblichkeit des Menschen darstellen, scheint mir fraglich zu sein. Auch nach Gen 2,17 war der Mensch ursprünglich ja nicht als unsterbliches Wesen gedacht, das erst durch die Flut wie auch die Tiere sterblich geworden sei (vgl. JACOB, Genesis, 94; WESTERMANN, Genesis 1–11, 305f; SEEBASS, Genesis, 114). Vielmehr wird ihm dort die „Todesstrafe“ (ɝɈɑɝ ɝɈɑ) für den Verstoß gegen ein Gebot JHWHs angesagt. Sterben muss er ohnehin. Der Tod ist Teil seiner Geschöpflichkeit. Durch den Griff nach den Früchten des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen muss er aber den Tod als Strafe fürchten. So setzt Gen 3,22 folgerichtig voraus, dass der Mensch erst durch den Griff nach dem Baum des Lebens wirklich unsterblich würde. JACOB, Genesis, 127: „Dazu und auf solche Weise hat er eben den Menschen geschaffen, dass es ein Wesen gebe, das zwar auf Erden herrsche, aber nicht Gott und ewig sei. […] Dem utopischen Wunsche: wenn es doch einen Baum
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rechtigkeit einerseits und Leben und Tod andererseits berühren unterschiedliche Dimensionen des Menschseins. Letztere sind gegebene Voraussetzungen alles Lebendigen, erstere sind im Rahmen und in den Grenzen des Gegebenen, der Geschöpflichkeit, zu tun bzw. zu vermeiden (vgl. Koh 7,15–20).43 Der Tod des Menschen ist selbst Teil der geschaffenen Weltund Lebensordnung und stellt daher die irdische Rechtsordnung auch in all ihrer Unvollkommenheit nicht in Frage. Diese Sicht der Dinge wird in den folgenden Versen argumentativ untersetzt. Die Einheit von Mensch und Vieh wird in V. 19 mit einem dreifachen ɆɊɃ unterstrichen: V. 19aƝ V. 19aƞ V. 20a
ɆɊɃ ɇɛɚɑ ɆɊɃ ɊɈɛ ɆɊɃ ɐɈɚɑ
„ein Geschick“ „ein Atem“ „ein Ort“
Mensch und Tier gleichen sich also im Todesgeschick,44 im Lebensatem, sowie in ein und demselben Ort, an den sie letztlich zurückkehren, nämlich zum Staub (ɛɗɕ) der Erde (V. 20b). Dabei ist die erste ɆɊɃ-Aussage in V. 19aƝ den beiden folgenden ɆɊɃ-Aussagen in V. 19aƞ.20a nicht nur, was den Leseverlauf angeht, vorgeordnet, sondern auch sachlich übergeordnet. Das eine Geschick von Mensch und Vieh wird in zweifacher Weise entfaltet, nämlich hinsichtlich des Lebensprinzips (ɆɊɃ ɊɈɛ) und des Todesprinzips (ɆɊɃ ɐɈɚɑ), dem beide entgegengehen. Die Rede von der ɊɈɛ und vom ɛɗɕ als Ort (ɐɈɚɑ) des Todes stellt eine unübersehbare Anspielung auf die Anthropologie von Gen 2,7; 3,19 dar. Dort ist zwar nicht von der ɊɈɛ, sondern von der ɐɌɌɊ ɝɑɜɓ die Rede, die JHWH dem ɐɆɃ eingehaucht habe, aber beide Nomina, ɊɈɛ und, ɇɑɜɓ finden auch als Synonyma Verwendung (Gen 6,17; 7,22; 2 Sam 22,16; Jes 42,5; 57,16; Ps 18,16; Ijob 4,9; 27,3;
gäbe, der ewiges Leben verliehe! antwortet die göttliche Weisheit lächelnd: es gibt einen solchen Baum, aber – der Zugang zu ihm ist für immer verschlossen und durch himmlische Wächter bewacht, was praktisch bedeutet: es gibt ihn nicht. Der Mensch soll nicht ewig leben.“ Auch nach Koh 1,4 ist der Tod in diesem Sinne das eherne Gesetz der Menschheit, ohne bereits eine moralische Wertung zu erfahren. Krüger kommt zu seiner Sicht der Dinge durch die Übersetzung des schwierigen V. 18: „Ich dachte über die Menschen: Gott hob sie heraus (bzw. wollte sie herausheben) und sah (bzw. musste doch sehen), dass sie nur Tiere sind.“ Und weil das so sei, habe er ihnen in der Flut auch dasselbe Geschick bereitet wie „allem Fleisch“ (Gen 6,3). Aus keiner Stelle des Koheletbuches und der von ihm rezipierten Genesis geht allerdings hervor, dass der Mensch prädiluvial als unsterbliches Wesen geschaffen worden sei. 43 Vgl. dazu LUX, Lebenskompromiß, 268ff. 44 Koh 2,14f; 9,2f machen deutlich, dass die Rede vom ɆɊɃ ɇɛɚɑ hier aus dem zwischenmenschlichen Bereich auf das Verhältnis von Mensch und Tier übertragen wurde.
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32,8; 33,4; 34,14).45 Der Mensch ist demnach ebenso wie das Vieh ein „Zweikomponentenwesen“, geformt aus dem Staub der Erde und belebt durch die ɊɈɛ. Er wird vom Lebens- und vom Todesprinzip gleichermaßen definiert.46 Die mit dem Tod gegebene Rückkehr der leiblichen Hülle von Mensch und Vieh zum Staub der Erde ist unbestritten (Gen 3,19; Ps 90,3; 104,29; 146,4; Ijob 10,9; 34,14f). In dieser Hinsicht galt die menschlicherseits nicht aufhebbare empirische Evidenz von Grab und Verweslichkeit.47 Das wird von niemandem, auch nicht von dem Skeptiker Kohelet, der sich in seinen Betrachtungen durchweg der Empirie verpflichtet fühlte, in Frage gestellt. Problematisiert wird von ihm hingegen die ɊɈɛ, das Lebensprinzip. Was eigentlich wird aus ihr, wenn die leibliche Hülle von Mensch und Vieh im Staub zerfällt? Der Verbleib des unsichtbaren, flüchtigen Odems von Mensch und Vieh entzog sich jeder empirischen Evidenz. Daher läuft der zweite Argumentationsgang in 3,18–22 auf die Frage hinaus, welchen Weg die ɊɈɛ von Mensch und Vieh nimmt, wenn diese sterben. Mit A.A. Fischer ist davon auszugehen, dass es sich um „zwei koordinierte indirekte Satzfragen“ handelt, die in einem antithetischen Parallelismus zueinander stehen.48 In der Regel wird diese Frage als rhetorische Frage interpretiert, deren Antwort sich von selbst verstehe. Welches aber wäre dann die
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Vgl. TENGSTRÖM, ɊɈɛ, 398f. Es ist nicht auszuschließen, dass im Hintergrund von V. 21 Vorstellungen der religiösen Anthropologie aus Ägypten stehen. Dort wurde der Tod als Dissoziation der Konstituenten gedeutet, aus der die Person des Verstorbenen bestand. Zu den wichtigsten Konstituenten gehörten die leibliche Hülle, der Leichnam des Toten und sein Ba. ASSMANN, Ma’at, 114f: „Der Ba ist der Aspekt der Person, der nach dem Tode den Körper verlässt und nicht nur den Übergang ins Jenseits, sondern auch die periodische Rückkehr ins Diesseits und die Wiedervereinigung mit dem Leichnam bewerkstelligen kann.“ Er „ist als solcher unsterblich und von gesellschaftlichen Einbindungen unabhängig.“ Die Dissoziation von Leichnam und Ba wird immer wieder mit der formelhaften Wendung „Dein Ba gehe nach oben, dein Leichnam nach unten“ oder „Dein Ba zum Himmel, dein Leichnam zur Unterwelt“ zur Sprache gebracht. Anstelle des Ba kann auch vom Ach, dem „verklärten Ahnengeist“, die Rede sein: „Der Ach zum Himmel, der Leichnam zur Erde“. Vgl. dazu ausführlich mit zahlreichen Belegen ASSMANN, Tod, 120–125. 47 Dabei enthält die Rede von der „Rückkehr zum Staub“ eine Nähe zu Unterweltsvorstellungen, wenn etwa in Jes 26,19 von den „Bewohnern des Staubes“ (ɛɗɕ ɌɓɎɜ) die Rede ist, oder in Ijob 17,16 in einem parallelismus membrorum das Hinabsteigen in die Scheol neben dem Hinabsinken in den Staub steht. Und wenn Dan 12,2 davon redet, dass die Entschlafenen aus der ɛɗɕȽɝɑɆɃ erweckt werden, dann ist wohl auch hier an eine geminderte Existenz der Verstorbenen in der Scheol gedacht. Vgl. dazu WÄCHTER, Tod, 194; DERS., ɛɗɕ, 282f; FISCHER, Tod, 202. 48 FISCHER, Kohelet, 351. 46
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zutreffende, sich von selbst verstehende Antwort auf diese Frage? Theoretisch sind vier Antworten denkbar: Die ɊɈɛ von Mensch und Vieh steigt auf nach oben. Die ɊɈɛ von Mensch und Vieh steigt hinab zur Erde. Die ɊɈɛ des Menschen steigt auf und die des Viehs hinab. Keiner kann wissen, welchen Weg die ɊɈɛ von beiden nimmt.
Für die erste Lösung haben sich A.A. Fischer u.a. entschieden. Kohelet habe ganz selbstverständlich die in der Tradition vorausgesetzte Auffassung geteilt, dass der Odem von Mensch und Vieh gleichermaßen zu Gott aufsteige.49 Allerdings wurde gerade diese Auffassung in den dafür in Frage kommenden Belegtexten sehr viel zurückhaltender beantwortet. Lediglich Ps 104,29 setzt deutlich voraus, dass der Odem aller Lebewesen im Tode wieder zu Gott zurückkehrt. In Ps 146,4 ist nur vom Lebensatem des Menschen die Rede. Und Ijob 34,14 und Sir 40,11 sind von ihrem Kontext her ebenfalls auf den Menschen fokussiert, ließen sich allerdings auch in umfassenderem Sinne deuten. Für Lösung 2 gibt es in der Tradition keinen eindeutigen Beleg.50 Wenn Kohelet allerdings in 3,21b die theoretische Frage stellt, ob der Odem des Viehs hinabsteigt zur Erde, und gleichzeitig nach V. 19b die Auffassung vertritt, dass es keinerlei Vorzug (ɛɝɈɑ) des Menschen vor dem Vieh gibt, dann wird, so auch H.-P. Müller,51 allein durch die Frage nach dem Odem der Tiere Lösung 1 und mit ihr die Tradition massiv in Frage gestellt. Es könnte ja auch sein, dass im Tode alles ganz anders kommt, dass eben nicht nur die leibliche Hülle von Mensch und Vieh, sondern auch seine ɊɈɛ hinabsteigt zur Erde, bildhaft gesprochen „im Sande verläuft“. Da weder Lösung 1 noch Lösung 2 eine sichere Entscheidung zulassen, muss man wahrscheinlich annehmen, dass Kohelet auf eine Schuldiskussion zurückgreift (Lösung 3).52 Zur Debatte stand, ob es nicht doch einen Unterschied zwischen Mensch und Vieh geben könne, der zwar nicht ihre leibliche Hülle, wohl aber ihre ɊɈɛ betrifft, und dass sich dieser Unter 49
Vgl. FISCHER, Kohelet, 351; SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 284; KRÜGER, Kohelet, 183; DERS., Leben, 199. 50 Am ehesten spricht noch Ps 78,39 für diese Position. Allerdings bezieht sich die Aussage dort allein auf den Menschen und seine Vergänglichkeit. In einem Bikolon soll wohl die Hinfälligkeit von „Fleisch“ (ɛɜɄ) und „Odem“ (ɊɈɛ) in gleicher Weise zum Ausdruck gebracht werden. Auch die ɊɈɛ geht dahin (ɍɏɈɇ) und kehrt nicht zurück (ɄɈɜɌ ɏɃ). Damit enthält der Vers exakt die Gegenposition zu der Aussage über die ɊɈɛ, zu der sich Kohelet dann in 12,7 durchringt. Möglicherweise lässt sich auch Ijob 7,7 für diese Position in Anspruch nehmen. Dort bezeichnet Ijob sein gesamtes Leben als (vergängliche) ɊɈɛ und klagt darüber, dass sein Auge nie wieder Gutes sehen wird. 51 MÜLLER, Deutungen, 81f; Vgl. auch TENGSTRÖM, ɊɈɛ, 409f. 52 So u.a. LOHFINK, Kohelet, 35; MICHEL, Untersuchungen, 117.
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schied erst im Tode manifestiere, wenn nämlich die eine nach oben aufsteige und die andere nach unten zur Erde fahre. Eine solche Auffassung ergibt sich mit hinreichender Plausibilität aus der vorgegebenen Tradition. In dieser ist zwar auch von der ɊɈɛ des Viehs die Rede (Gen 6,17; 7,15.22), aber in der Regel wird von diesem nicht gesagt, dass ihm der Lebensatem wie dem Menschen von Gott selbst eingehaucht worden sei (Gen 2,7; Ijob 27,3; 32,8; 33,4; 34,14f).53 Das musste geradezu die Frage provozieren, ob es zwischen der ɊɈɛ des Menschen und der des Viehs nicht doch einen wie auch immer gearteten qualitativen Unterschied und damit eben auch einen Vorteil geben würde. Geht man zusätzlich davon aus, dass sich Kohelet auch in einem Diskurs mit dem hellenistischen Denken seiner Zeit befand, dann gewinnt eine derartige These von der Distinktion der ɊɈɛ von Mensch und Vieh weiter an Plausibilität.54 Mit der Aufnahme oder auch eigenständigen Einführung dieser Fragestellung bewegt sich der Skeptiker Kohelet gedanklich auf der Linie von Lösung 2, einer Problematisierung der vorgegebenen Tradition, was für sein Denken ja durchaus charakteristisch ist. Es muss – bei allem, was sich über den Lebensatem von Mensch und Vieh in Erfahrung bringen lässt – wenigstens mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass auch er wie der Leib einmal „in die Grube fahren“ wird.55 Eine wie auch immer geartete Hoffnung auf eine postmortale Existenz der ɊɈɛ als „Geist“ oder „Seele“56 wird in Zweifel gezogen.57 53
Die einzige Ausnahme bildet hier wieder Ps 104,29f. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 43f weist allerdings darauf hin, dass es sich dabei zwar um eine Aussage über alle Geschöpfe handelt, in der aber ebenfalls „in besonderer Weise der Mensch gemeint“ ist. Nach ihm „scheinen Geistentzug und Geistbegabung wie im […] Vorbild der Echnaton-Tradition allein auf den Menschen bezogen zu sein.“ 54 Dass im Hintergrund solch einer Unterscheidung eine Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Zeitgeist stehen könnte, hat SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 284 an einer Reihe von Belegen deutlich gemacht. 55 ZIMMER, Tod, 14: „Koh 3,21 betont das Unwissen des Menschen über das Ergehen nach dem Tod. Damit stellt Kohelet eine Differenzierung zwischen Mensch und Tier in dieser Hinsicht zumindest in Frage. Nach 3,19f darf man sogar vermuten, dass er mit dieser rhetorischen Frage den Unterschied zwischen Mensch und Tier weiter nivellieren will.“ 56 ZIMMER, Tod, 14 vertritt die Auffassung, dass ɊɈɛ in Koh 3,21 nicht mit „Lebensatem“, sondern mit „Geist“ übersetzt werden müsse. Dem ist nur eingeschränkt zuzustimmen, da das Nomen hier im Kontext der Todesproblematik steht und zunächst einmal im Gegensatz zu dem am Menschen, was sichtbar wieder zu Staub zerfällt, seine Vitalität ausmacht. Sie steht für das Lebensprinzip, das sich empirisch am ehesten in der Atmung der Lebewesen zeigt. Ob Kohelet und seine Zeitgenossen mit diesem als ɊɈɛ bezeichneten Lebensprinzip weitergehende Vorstellungen verbunden haben, bleibt eine offene Frage. Die Tatsache allerdings, dass er sich mit einer Auffassung auseinandersetzt, nach der es im Tod zu einer Dissoziation der ɊɈɛ vom Leib des Menschen kommt, der wieder zum Staub zurückkehrt, deutet an, dass er mit anthropologischen Konzepten vertraut ist, nach denen der Mensch ein „Zweikomponentenwesen“ ist, das aus vergänglichen und unver-
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Aber – und das ist für den Skeptiker Kohelet entscheidend – er gibt auf die von ihm gestellte Doppelfrage zunächst noch keine direkte und endgültige, sondern allenfalls eine indirekte und vorläufige Antwort. Und diese indirekte, vorläufige Antwort ergibt sich aus Lösung 4. Die Frage, was eigentlich mit der ɊɈɛ von Mensch und Vieh im Tode geschieht, ob sie ein und denselben Weg oder getrennte Wege gehen, kann niemand mit hinreichender Sicherheit beantworten, weil sie sich im Unterschied zur sterblichen Hülle des Menschen jeder empirischen Evidenz entzieht. Daher kann die Antwort auf die in 3,21aƝ gestellte Frage „Wer weiß (das)?“ – wenn man sie als rhetorische Frage interpretiert – eigentlich nur lauten: Keiner! Kein Mensch kann auf der Basis der Empirie wissen, was mit dem Odem von Mensch und Tier im Tod geschieht. Jede Aussage darüber bleibt Spekulation. Das ist der bleibende und schmerzliche Stachel der Ungewissheit im Fleisch des sterblichen Menschen. Hinter der rhetorischen Frage rumort das beunruhigende Problem vom Verbleib der menschlichen ɊɈɛ im Tode, das nicht zur Ruhe kommen will. 2.4. Freude als Anteil des Lebens A’ 22 Da sah ich ein, dass es nichts besseres gibt, als dass der Mensch sich freut an seinen Werken, denn das ist sein Anteil. Denn/Fürwahr, wer brächte ihn dazu zu sehen, was nach ihm sein wird?
Dafür, dass der erste Hauptteil des Koheletbuches mit einer indirekten Antwort schließt, die zugleich eine offene Frage enthält, sprechen m.E. zwei zusätzliche Erwägungen: 1. Wenn es zutrifft, dass sich die Frage nach dem Odem von Mensch und Vieh im Tod jeder Empirie entzieht, dann empfiehlt es sich, dass sich der Mensch dem zuwendet, was sich durchaus empirisch erschließen lässt, nämlich dem irdischen Leben. Daher in 3,22a die Empfehlung Kohelets an seine Leser, dass er gesehen habe, es sei besser für den Menschen, sich an seinen Werken58 zu freuen als derartig nutzlose Spekulationen über den gänglichen Anteilen besteht. Insofern liegt es nahe, dass hier nicht nur die Frage nach dem Verbleib des Atems als vitaler Lebenskraft ventiliert wird, sondern darüber hinaus auch die „Leib-Geist-“ oder „Leib-Seele-Problematik“ in Blick kommt. 57 KAISER, Judentum, 143: „Nur eine Befreiung der Seele aus der Unterwelt oder ihre sofortige Himmelsreise wäre in der Lage, dem Menschen eine über den Tod hinausgehende Hoffnung zu verleihen. Die Mär davon hat den Prediger erreicht, aber sie hat ihn nicht überzeugt.“ 58 Das Nomen ɇɜɕɑ gehört wiederum zu den Leitworten des gesamten Koheletbuches (1,14; 2,4.11.17; 3,11.17.22; 4,3f; 5,5; 7,13; 8,9.11.14.17; 9,7.10; 11,5; 12,14). Dabei sind es nicht die Werke selbst, die dem menschlichen Leben einen bleibenden Sinn und
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Tod und ein wie auch immer geartetes „Danach“ anzustellen.59 Darin, in der irdischen Freude, bestehe nun einmal sein ɚɏɊ, sein „Anteil“ am Leben.60 Der Ort des Glücks ist also im Diesseits zu suchen. 2. Diese Empfehlung versieht der Skeptiker in V. 22b mit einer durch ɌɎ-affirmativum oder auch ɌɎ-causalis eingeleiteten Begründung in Gestalt einer erneuten Frage. Sie greift deutlich auf den Prolog in 1,1161 sowie auf das in 3,18–21 erörterte Problem zurück. Darüber hinaus ist sie durch die Wiederaufnahme des Inf. cs. von ɇɃɛ auf V. 18b bezogen. Es geht um das Problem, dass der Mensch über das, was einmal nach ihm sein wird, nichts in Erfahrung bringen kann.62 Mensch und Vieh unterliegen dem gleichen Geschick. Sie sterben.63 Dabei interessiert den Weisen aber nicht wirklich, was im Todesgeschehen mit dem Vieh und seiner ɊɈɛ geschieht und ob es da nicht doch eine Differenz zum Menschen geben könne. Vielmehr geht es ihm letztlich allein um den Menschen und das, was mit ihm künftig sein wird. Diese anthropologische Fokussierung des Problems wird an der Wiederaufnahme der Thematik am Ende des Buches in 12,7 zur Gewissheit. Seine vorläufige Bilanz aber lautet: Kein Mensch kann einen anderen zu einer Einsicht in eine wie auch immer geartete Postmortalität, also in das, Gewinn zu geben vermögen, sondern die Freude an ihnen ist der Anteil (ɚɏɊ), auf den es zu achten gilt. Das wird bereits in der Königstravestie deutlich. Nachdem in 2,4–9 alle Großtaten des „Königs Kohelet“ aufgezählt wurden, kommt er in 2,10 zu der Feststellung, dass sich sein Herz an all den Mühen, denen er sich unterzogen hatte, freute, und dass diese Freude seinen ɚɏɊ an all diesem Schaffen ausmache. Unmittelbar darauf wird dann in 2,11 das ɏɄɇ-Urteil über eben diese Werke gefällt. D.h., dass sie selbst wie auch der Mensch endlich und vergänglich sind und keinen bleibenden Gewinn darstellen. Zu den Werken muss demnach etwas dazukommen, damit sie einen Sinn machen, die Kunst sich an ihnen zu freuen und sie zu genießen (Koh 4,8; 5,17f). 59 Die durch ɌɝɌɃɛɈ eingeleitete „Einsicht“ zieht einen Schluss aus der in V. 16 wiedergegebenen Beobachtung und den sich daran anschließenden Reflexionen. In diesem Schluss wird der Leser gleichsam von seinen Grübeleien über den Tod wieder ins Leben zurückgeführt. 60 Zur Freude als dem ɚɏɊ des Menschen am Leben vgl. Koh 2,10; 5,17; 9,9. Nach 5,17 ist der Anteil der Freude eine Gabe Gottes. 61 Am Ende des Prologes wird der Hoffnung eine Absage erteilt, dass sich der Mensch durch sein soziales Umfeld, in dem er lebt, einen ɒɈɛɎɉ über seinen individuellen Tod hinaus verschaffen kann. Letztlich werden unsere Vorfahren ebenso wie unsere Nachfahren dem allgemeinen Vergessen preisgegeben sein. 62 In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Werk (ɇɜɕɑ) Gottes von denen der Menschen. Die Werke der Menschen unter der Sonne sind von ihm überschaubar. Das Werk Gottes hingegen bleibt in seinen Dimensionen undurchschaubar und entzieht sich, was seinen Anfang und sein Ende, die Vergangenheit und die Zukunft angeht (vgl. Koh 3,11; 8,17). 63 ZIMMER, Tod, 130 weist allerdings völlig zutreffend darauf hin, dass es eben erst der Tod ist, der die Sonderstellung des Menschen vor dem Vieh aufhebt.
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was nach ihm sein wird, befähigen. Der Tod bildet eine Wahrnehmungsgrenze. Daher lässt sich auf der Basis der empirischen Evidenz jedenfalls keine Aussage über den Weg der menschlichen ɊɈɛ im Tode machen.
3. Gott als Ort des Lebens Wenn sich über den Weg der ɊɈɛ im Tode keine empirischen Aussagen machen lassen, dann stellt sich die Frage, ob es noch eine andere Basis des Redens über Leben und Tod gibt als die Empirie. Und diese Basis ist nach Kohelet – wie es scheint – tatsächlich in der späten Einsicht gegeben, dass es wichtig sei, die Freude am Leben nicht abzukoppeln von den Gedanken an Alter und Tod. Dem großen zweistrophigen Schlussgedicht in 11,9– 12,764 geht in 11,7f eine Feststellung und eine doppelte Empfehlung voraus: 7 Süß ist das Licht (ɛɈɃ), und gut ist es für die Augen, die Sonne zu sehen. 8 Ja, wenn der Mensch viele (ɇɄɛɇ) Jahre lebt, dann soll er sich in ihnen allen freuen (ɊɑɜɌ). Und er gedenke (ɛɎɉɌɈ) der Tage der Finsternis (ɍɜɊ), denn sie werden viele (ɇɄɛɇ) sein. Alles was kommt, ist Windhauch.
„Licht“ (ɛɈɃ) und „Finsternis“ (ɍɜɊ) stehen sich hier als Metaphern für Leben sowie Alter und Tod gegenüber.65 Kohelets Empfehlung lautet: „Freut euch des Lebens“ und denkt an Alter und Tod! Gerade weil der Mensch dessen eingedenk sein soll, dass alles, was kommt, „Windhauch“ (ɏɄɇ), vergänglich ist, gewinnt der Aufruf zur Freude am Leben an Dringlichkeit. Die Erinnerung an die Vergänglichkeit hat demnach die
64 KRUGER, Frailty, 399ff hat darauf aufmerksam gemacht, dass hinter 12,3f möglicherweise nicht nur „terms of an allegory on the frailty of the aging human body based on the image of a house“ stehen, „but an allegory which deals, albeit perhaps indirectly with the ‚old age‘ of the globe and the cosmos“. Wenn das zutrifft, dann ist der thematische Zusammenhang zwischen dem Prolog (1,2–12), der ja ebenfalls Kosmologie und Anthropologie miteinander verbindet, und dem abschließenden Epilog (11,9–12,7) viel höher zu veranschlagen als das bisher in den Auslegungen geschehen ist. Vgl. zu diesem Defizit auch ZIMMER, Tod, 137–139. 65 Der Text weist auf 2,13f zurück. Dort wird der Vorzug (ɒɈɛɝɌ) des Weisen vor dem Toren mit dem Vorzug des Lichtes vor der Finsternis verglichen. Während der Weise seine Augen im Kopf hat und sieht, tappt der Tor in der Finsternis. Das ändert allerdings nichts daran, dass beide ein und demselben Geschick (ɆɊɃ ɇɛɚɑ) unterworfen sind, der Vergänglichkeit und dem Tod.
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Funktion, den Wert des Lebens nicht zu schmälern, sondern zu steigern. Todesgewissheit wird zur Voraussetzung von Lebensfreude. Das sich daran anschließende Abschlussgedicht mit seiner komplexen Todespoesie nimmt die beiden Lexeme Ɋɑɜ und ɛɎɉ wieder auf und entfaltet sie in zwei Strophen, einem erneuten Aufruf zur Freude in 11,9f, in dem auch der Gerichtsgedanke aus 3,17 wieder begegnet,66 und einem Aufruf zum Gedenken in 12,1–7.67 Uns soll hier nur die zweite Strophe interessieren, die in 12,1 mit dem Imperativ ɛɎɉ einsetzt. „Gedenke deines Schöpfers (ɍɌɃɛɈɄ) in den Tagen deiner Jugend.“ (12,1a)
In den Kommentaren wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass das Wort ɍɌɃɛɈɄ nicht nur den „Schöpfer“ assoziieren lässt, sondern auch das graphisch und phonetisch ähnliche Nomen ɛɈɄ, „Grube/Grab“, das Kohelet dann ja auch in 12,6 expressis verbis aufgreift.68 Damit klingt im Aufruf, des Schöpfers zu gedenken, bereits das Gedenken an den Tod mit an. Ja, im Gedenken rücken Schöpfer und Tod nahe zusammen.69 So erfährt der Mensch im Gottesgedenken beides, einerseits seine eigene Endlichkeit und Sterblichkeit als Geschöpf und andererseits seinen souverän über den ɐɏɈɕ verfügenden ewigen Schöpfer (3,11). 12,2–6 umschreibt dann konsequenterweise zunächst in einer Abfolge hochpoetischer Bilder den Weg eines alternden Menschen in den Tod. Seinen Ausgang nimmt dieser Weg „unter der Sonne“ bei seinem Schöpfer, sein Ende findet er in der Grube.70 Ist das also das letzte Wort Ko 66 Auch in diesem Falle handelt es sich bei 11,9b wohl weniger um eine orthodoxe Glosse, die der Verfasser von 12,14 hier eingetragen habe (so ZIMMERLI, Prediger, 238; LOHFINK, Kohelet, 83 u.a.), sondern um einen bewussten Rückgriff auf 3,17. Damit wird entweder davor gewarnt, die Freude nicht durch Fehlverhalten zu missbrauchen, oder – der rabbinischen Tradition folgend (bNed 10a) – sich der Freude und den guten Gaben des Schöpfers zu verschließen. Auch dafür müsse der Mensch einmal Rechenschaft ablegen. Vgl. ausführlich zu den Deutungsmöglichkeiten KRÜGER, Kohelet, 347f und SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 527ff. 67 Siehe dazu die detaillierte Strukturanalyse bei SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 525f. Dieser weist darauf hin, dass der Epilog 11,9–12,7 den Beginn des vierten Buchteiles 9,1–10 spiegelbildlich wieder aufgreife. Die Abfolge Tod (9,1–6) Ӑ Freude (9,7–10) wird umgekehrt in Freude (11,9f) Ӑ Tod (12,1–7). Dieselbe Umkehrung findet sich allerdings auch im Blick auf 3,18–22 (V. 18–21 Tod Ӑ V. 22 Freude). D.h., dass 3,18–22 in 11,9–12,7 eine chiastische Wiederaufnahme findet. 68 Siehe GALLING, Prediger, 122; ZIMMERLI, Prediger, 245; LOHFINK, Kohelet, 83; KRÜGER, Kohelet, 348f. 69 Vgl. Anm. 42. 70 In 12,5 ist von dem „Ewigkeitshaus“ (ɈɑɏɈɕ ɝɌɄ) die Rede. Da nach 1,4 die Erde ɐɏɈɕɏ besteht, liegt mit dem Ewigkeitshaus wohl eine Anspielung auf die Rückkehr des Menschen zum Staub der Erde vor. Es dürfte sich also um eine Bezeichnung für das
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helets über das Ende, die Beschwörung des absoluten, radikalen Todes? Erst im allerletzten Vers dieses grandiosen Abschlussgedichtes gelangt seine Aussage zu ihrem eigentlichen Ziel: Und der Staub (ɛɗɕ) kehrt zurück zur Erde, als das, was er war. Der Odem (ɊɈɛ) aber kehrt zurück zu Gott, der ihn gegeben hat. (12,7)
Der Rückgriff auf 3,20b.21 ist unübersehbar.71 Dabei stimmen die Aussagen über die leibliche Hülle des Menschen und ihren Ort im Tode sachlich vollkommen überein. Eine theologisch hochbedeutsame Veränderung erfährt hingegen die Aussage über den Ort der ɊɈɛ, die in 3,21 in beunruhigender Weise offen blieb. Vergleicht man 3,21 mit 12,7b, dann lassen sich drei gravierende Veränderungen feststellen: Koh 3,21
ɇɏɕɑɏ ɃɌɇ ɇɏɕɇ ɐɆɃɇ ɌɓɄ ɊɈɛ ɂɘɛɃɏ ɇɋɑɏ ɃɌɇ ɝɆɛɌɇ ɇɑɇɄɇ ɊɈɛɈ
Koh 12,7b
ɂɇɓɝɓ ɛɜɃ ɐɌɇɏɃɇ ɏɃ ɄɈɜɝ ɊɈɛɇɈ
1. Von einer Distinktion zwischen Mensch und Vieh ist nicht mehr die Rede. Da sich das Schlussgedicht ausschließlich mit dem Weg des alternden und sterbenden Menschen befasst (vgl. ɐɆɃɇ in V. 5b), dürfte hier zunächst auch nur an seine ɊɈɛ gedacht sein. Die des Viehs interessiert nicht mehr. 2. Die ɊɈɛ steigt weder auf (ɇɏɕ), noch fährt sie hinab (ɆɛɌ), sie kehrt vielmehr wie auch der Staub (V. 7a) zurück (ɄɈɜ) zu ihrem Ursprung; dieser, die leibliche Hülle, zurück zur Erde, jene zurück zu Gott.72 3. Der Ort der ɊɈɛ ist für Kohelet primär kein wie auch immer geartetes Oben oder Unten, der Ort des Lebensatems ist Gott selbst, der Schöpfer, an den der Mensch bereits in seiner Jugend denken soll. Der Tod bedeutet demnach eine Auflösung des irdischen Zweikomponentenwesens Mensch. Das, was an ihm vergänglich, irdisch ist, was dem Todesprinzip verfällt, seine äußere sichtbare Hülle und Gestalt, kehrt zurück „zur Erde, wie es gewesen ist“. Diese hat im Gegensatz zum lebenden Menschen nach 1,4 auf Dauer Bestand. Der sterbliche Leib findet demnach Aufnahme in der „unsterblichen“, auf Dauer bestehenden Schöpfung, für die die Erde steht. Das aber, was am Menschen unvergänglich ist, Grab handeln, auf das dann in 12,6 auch das Nomen ɛɈɄ anspielt. Im Tod hat die leibliche Hülle des Menschen Anteil an der unvergänglichen Dauer der Erde. 71 ZIMMER, Tod, 138f versucht, einen Zusammenhang zwischen der ɊɈɛ in 1,6 und 12,7 zu postulieren. Viel näher allerdings liegt eine Verbindung mit 3,20f. 72 Dass hier ɄɈɜ und nicht mehr ɇɏɕ oder ɆɛɌ verwendet wird, zeigt eine Korrektur der Fragestellung in 3,21 an. Damit formuliert Kohelet eine exakte Gegenposition zu Ps 78,39.
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die ɊɈɛ, das Lebensprinzip, kehrt zurück zum Schöpfer. Er ist der bleibende Ort des Lebens.73 Der Gedanke liegt nahe, dass sich Kohelet in dieser Schlussaussage mit dem frühjüdischen und hellenistischen Seelenglauben auseinandersetzt.74 Denn hinter der auch in Ugarit und anderwärtig belegten Vorstellung von der Rückkehr des menschlichen Odems zu Gott verbirgt sich wohl doch mehr als nur eine „theologische Umschreibung des menschlichen Exitus“.75 Wie und welche Gestalt die ɊɈɛ aber annimmt, wenn sie zu Gott zurückkehrt, ob sie eine individuelle Prägung behält oder in einem transindividuellen Leben aufgeht, darüber zu spekulieren, das verbietet sich der Skeptiker Kohelet. Denn kein Mensch kann wissen, was künftig sein wird. Dass der Odem aber zu Gott zurückkehrt, das ist ihm auf dem langen Weg schmerzhaften Beobachtens und Bedenkens zur Gewissheit geworden. Hat er damit nicht doch die Absolutheit des Todes gebrochen? In diesem Zusammenhang verdient der Umstand Beachtung, dass mit der Aufforderung „gedenke (ɛɎɉ) an deinen Schöpfer“ (12,1a) über die Empirie (ɇɃɛ) und das Erkennen (ɕɆɌ) hinaus eine andere Kategorie der geistigen Wahrnehmung angesprochen wird, die Erinnerung (ɒɈɛɎɉ).76 In ihr geht es immer wieder um eine personal orientierte geistige Beziehungstätigkeit.77 Über das nüchterne Beobachten und Erkennen hinaus erschließen sich dem Menschen in der Erinnerung an den Schöpfer und an seine eigene Endlichkeit Einsichten, die weiter reichen als der Tod. Sie führen ihn über die Grenzen des Anfangs und des Endes hinaus hin zu dem lebendigen Gott, bei dem seine ɊɈɛ war, als er noch nicht gewesen ist, und bei dem sie einmal sein wird, wenn er nicht mehr ist. Solches kann der Mensch nicht 73
Wenn WILLMES, Schicksal, 239, zu der Schlussfolgerung gelangt, Kohelet drücke „auch hier nicht eindeutig aus, welche Vorstellung er über das Geschehen nach dem Tod vertritt“, ja er lasse „seine Position in der Schwebe – wie es für ironische Texte typisch ist“, dann ist dem nur teilweise zuzustimmen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Frage aus 3,21 eine klare, geradezu konfessorische Antwort erfährt. Hier bleibt nichts mehr in der Schwebe. Der Atem des Menschen kehrt zurück zu Gott, der dem antiken Weltbild entsprechend natürlich oben in der himmlischen Welt verortet wird. Nicht Ironie bildet den Schlussakkord des Epilogs und damit des Koheletbuches, sondern ein Bekenntnis zum Schöpfer als demjenigen, von dem alles Leben ausgeht und wieder zurückkehrt. Zu diesem Bekenntnis hat sich Kohelet auf einem mühsamen und schmerzlichen Weg der Erkenntnis durchgerungen. 74 FISCHER, Kohelet, 351ff setzt eine derartige individualisierte Vorstellung der „Totengeister“ (ɝɈɊɈɛ) erst für die Apokalyptik voraus. Davor seien die Verstorbenen als ɐɌɃɗ in die Scheol eingegangen. Da Kohelet hier nicht von der ɊɈɛ im Plural spreche, bleibe die Vorstellung, dass hier vom „Totengeist“ die Rede sei, eine „durch nichts zu beweisende Vermutung“. 75 So HOSSFELD, Relevanz, 384f. 76 Vgl. Koh 1,11; 2,16. 77 Siehe EISING, ɛɎɉ, 573.
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wissen und auch nicht beobachten, aber er kann es sich sagen und daran erinnern lassen. Die Erinnerung ist eine Kategorie von Überlieferung und Tradition, die die individuelle Lebensspanne eines Menschen transzendiert. Sie beschränkt sich nicht auf die Empirie, sondern wird dort, wo sich ein Mensch Tradition und Überlieferung erinnernd aneignet, zu einem konfessorischen Akt. Darf man daher vielleicht so weit gehen, dass Kohelet mit seinem verhaltenen Ja zum Leben selbst noch im Tode andeutet, dass der Mensch zwar als Geschöpf und in der Schöpfung stirbt, aber im unvergänglichen Leben des Schöpfers einen bleibenden Ort behält? Dann jedenfalls dürfte man ihn durchaus – wie T. Krüger das getan hat78 – mit der Areopagrede des Paulus in der Apostelgeschichte ins Gespräch bringen: „Denn in ihm leben, weben und sind wir …“ (Apg 17,28)
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Der Tod als Figur im Alten Testament Ein alttestamentlicher Motivkomplex und seine Wurzeln STEFANIE U. GULDE Wollte oder musste sich der Mensch mit dem Tod auseinandersetzen, so blieben ihm seit jeher lediglich die beiden Möglichkeiten, entweder tendenziell begrifflich-argumentativ oder aber eher bildlich-metaphorisch über das Phänomen von Tod, Sterben und Jenseits zu kommunizieren.1 Dies lässt sich auch an den Texten der alttestamentlichen Autoren beobachten. Angesichts der Tatsache, dass der Tod absolut außerhalb des Diesseitigen, dem Bereich des Lebens, liegt und daher von totaler Erfahrungslosigkeit des Menschen geprägt ist, muss es aber verwundern, wer im Diesseits aus welchem Wissen heraus überhaupt darüber berichten und erzählen kann. Hier ist es nun gerade die zweite obengenannte Möglichkeit von Kommunikation, jene über Bilder, die nach Ansicht vieler Exegeten und Sprachforscher ein „Mehr“ an solcher Verständigung bereithält.2 Wenn man sich dem Tod anhand besonderer Metaphern, insbesondere über Personifikationen, nähert, sind interessante Ergebnisse zu erwarten, bedenkt man die Möglichkeiten gerade dieses Mediums der Bildsprache: 1
Dieser Beitrag gibt in gekürzter Version die Hauptthesen meiner Dissertation „Der Tod als Herrscher in Ugarit und Israel“ wieder. Daher sind detaillierte Ausführungen zu Definitionen einzelner Begriffe, genaue exegetische Arbeit an den folgenden Textstellen und tiefer gehende Argumentationen und Darlegungen bestimmter Schlussfolgerungen und Behauptungen hier nicht wiederholt. Verweise auf die betreffenden Stellen der Dissertation sollen diesem Umstand gerecht werden. Auch die Übersetzungen sind in der obengenannten Arbeit gerechtfertigt und erläutert. Ich danke in diesem Zusammenhang ganz herzlich Bernd Janowski und Angelika Berlejung dafür, dass sie mir ermöglichten, meinen Artikel zu diesem Band beizusteuern. 2 Vgl. hierzu v.a. die Ausführungen bei KRIEG, Todesbilder, bes. 94.101f und 136 sowie BELTING, Schatten, 94: „Das Bild findet seinen wahren Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist und so allein im Bild da sein kann. Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann […]“. Dieses Verständnis von bildlich-metaphorischer Sprache übersteigt deutlich die Chancen der häufig dafür verwendeten Kategorisierung von („eigentlicher“ und) „uneigentlicher“ Sprache („mendacium et calumnia“): Bei GULDE, Herrscher, 46–57 findet sich die Ausführung zu den Vorteilen der Metapher, nämlich intersubjektive Kommunikation schaffen zu können, besser als es die begrifflich-argumentativ gefasste Sprache vermag.
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Aus der Mythen- (und Götter-)Forschung ist bekannt, wie das Fremde, Bedrohliche, absolut Andere, also gerade auch der Tod, dem sich jemand gegenübergestellt sieht, so zu etwas gemacht wird, mit dem man sich letztlich wenigstens auseinandersetzen kann.3 Dies geschieht, indem der Mensch durch Personifikationen, wie dies z.B. im Mythos geschieht, „das ihm selbst Entsprechende nun auch außerhalb seiner wiederfindet […]“4 – auf unseren Kontext bezogen vor allem über die Möglichkeit der Kreierung von Göttergestalten. H.P. Müller und O. Fuchs z.B. sehen den Grund für die Entstehung des Mythischen, vor allem der Dimension der personifizierten Mächte, bzw. der Gottheiten, darin, dass der Mensch sich der Wirklichkeit gegenüber fremd sieht: Mit ihren ganzen bedrohlichen und überwältigenden Phänomenen will man ihr entsprechen, will sie „empfangen, steigern, lenken oder abwehren“.5 Im Mythos kann aufgrund der Personifikationen für den Menschen ein „tiefster Grund“ der Welt geliefert werden. Durch solches Verstehen der Zusammenhänge können gerade auch bedrohliche Mächte in ihrer Existenz Rechtfertigung und dadurch Akzeptanz erfahren.6 Diese Zusammenhänge erklären auch, weshalb einige Forscher vom Mythos als „narrative Metapher“ sprechen können.7 Es geht also nie darum, dass der Mensch den Tod über solche Bilder überwinden lernt, sondern darum, sich mit demselben zu arrangieren anhand einer gewissen konstruierten Ordnung, Erklärung, Orientierung, Aussöhnung und Sinngabe über die Bilder und Personifizierungen um ihn. Wenn auch im Alten Testament der Mythosbegriff und der Gebrauch desselben konträr diskutiert werden muss,8 kann doch zumindest für solche Personifikationen, wie sie in Opposition oder Abhängigkeit zu JHWH im Alten Testament (dar)gestellt werden, das übernommen werden, was eben 3
Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang, wie gerade Elisabeth KüblerRoss nach einem Leben, das sich dem Erforschen und Erfassen der Sterbeprozesse und des Todes gewidmet hat, einen autobiographischen Film auf diese Weise benennt: „Dem Tod ins Gesicht sehen“ (Schweiz 2002, Regie: Stefan Haupt). Vgl. auch MÜLLER, Transzendenz, 98f: „Gestalt, Wille, Name und Schicksal machen aus den Mächten personhafte Götter, die als Mittelsinstanzen den Abgrund von Wirklichkeit und Selbst überbrücken. Die Götter verkörpern zugleich die Mächte der Wirklichkeit und das PersonSein des Selbst; in ihnen sind Objekt und Subjekt beieinander. An ihnen genießt der Mensch die Einheit seiner Möglichkeiten mit seiner Wirklichkeit in scheinbar unwiderruflicher Vollendung. Erst die Menschengestalt eines Gottes besiegelt den Wiedergewinn des Menschen von Heimat in Natur und Geschichte.“ 4 MÜLLER, Tradition, 16 (und 7). 5 MÜLLER, Mythos, 4f. 6 Vgl. hierzu auch FUCHS, Dimension, 22. 7 Zum Beispiel WYATT, Myths, 120: „My view is that when the network of metaphors is so extensive that it persistently evokes a whole narrative complex, and especially within ideological and theological contexts, then we have myth.“ 8 Bei GULDE, Herrscher, 38–46 findet sich eine Übersicht zu diesem Zusammenhang.
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zu den Personifikationen und Mythen festgehalten wurde. Einige Personifikationen im Alten Testament, eben und im Besonderen auch solche zum Tod, schillern dabei zwischen (göttergebundenem) Mythos und (freier) Metapher. Hier nun bietet der heutige Sprachgebrauch anhand des Begriffs „Figur“ eine besondere Möglichkeit. Ähnlich wie die alttestamentlichen Autoren, welche verschiedene Personifikationen so in den Text einfügten, dass bis heute offen bleiben kann, ob von einer mythischen Gottheit oder einer klar auf monolatrischem (oder gar monotheistischem) Hintergrund verwendeten Metapher ausgegangen werden muss, kann auch der heutige Exeget mittels des Begriffs „Figur“ unbefangener am Text arbeiten, ohne sich von vornherein auf eine Interpretation in eine bestimmte theologisch-ideologische Richtung festlegen zu müssen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang noch die Möglichkeit, dass es nicht nur durch die biblischen Autoren zu einem willentlichen „Schillernlassen“ solcher Personifikationen bzw. Figuren zwischen den genannten Verstehensmöglichkeiten kommen kann, sondern dass auch ein in der Geschichte häufig zu beobachtender, eigendynamischer Prozess einsetzen kann, dass sich nämlich mythische Personen und Götter in unabhängig verwendbare und daher frei metaphorisch verstandene Figuren (ver)wandeln.9 Betrachtet man nun Passagen aus dem masoretischen Text, so finden sich drei konkrete Stellen (Jer 9,20; Ps 49,15 und Jes 28,15.18) und ein in mehreren Passagen vorliegender Motivkomplex (besonders zu erwähnen sind hier Hab 2,5 und Jes 25,8) zur Todesfigur, welche zur Untersuchung obiger Beobachtungen und theologischer Strategien der Verfasser für das Alte Testament herangezogen werden können.10 Fragt man sich nun, woher diese Personifikationen stammen, so finden sich in benachbarten Kulturkreisen aufschlussreiche Hinweise, die wiederum Licht auf die biblischen Verfasser und ihre Texte werfen. Diese nichtbiblischen Texte werden im Folgenden im Kontext der jeweiligen alttestamentlichen Passage mit vorgestellt.
9 WYATT, Myths, 3. STROUMSA, Myth, 309–323, bes. 315: Mythische Sprache kann sich in mythisierende verwandeln. Dies zeigt er anhand der Figur des Prometheus durch die Geschichte. 10 Weitere alttestamentliche Metaphern, die so verstanden werden könnten, dass der Tod als Figur verwendet ist, werden hier aufgrund ihrer zum Thema unspezifischen Aussagen nicht diskutiert, vgl. zur Argumentation auch GULDE, Herrscher, 126−128. Bei EBERHARDT, JHWH, bes. 222ff aber auch 37ff und 103ff sind die zentralen Stellen thematisiert und profund bearbeitet.
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1. Die Passage um Jer 9,20: Der Tod als Eindringling und Dieb Der Verfasser dieser Passage wendet sich gegen diejenigen, die sich rühmen, Volk Gottes zu sein, und dieses Privileg als gott- und naturgegeben hinnehmen, anstatt zu versuchen, sich diesem Privileg durch das eigene Leben und Verhalten würdig zu erweisen.11 Der Autor spottet hier nun über die Jerusalemer, die bezüglich ihrer Unverwundbarkeit gerade von demjenigen eines Besseren belehrt werden, auf den sie sich in ihrer anstößigen Arroganz als „Volk Gottes“ zurückführen. Dies geschieht über einen kleinen, zunächst kaum auffallenden Kunstgriff: Der Sprecher betont in V. 19, dass ein Totenklagelied gelehrt werde. Ist daran also etwas Neues? Andere Stellen im Jeremiabuch haben eine ähnliche Thematik (Klage über das Volk oder einzelne Menschen bzw. deren Schicksal), aber nirgends wird ein Lied erst noch gelehrt.12 Auch die vorausgehenden vier Kola in V. 18 sind als Klagelied definiert, werden aber nicht speziell „gelehrt“. Wie die unten beschriebenen Texte aus Ägypten und Mesopotamien und die sehr ähnlich aufgebaute Passage Joël 2,9 zeigen, sind die Verse des Klagelieds kaum neu: Bis heute haben sich über die Grenzen Israels und Judas hinaus Textträger mit ähnlichen Liedern erhalten. Man kann daher entweder im Zusatz V. 21 das Neue des Liedes vermuten, wenn man ihn als noch zum eigentlichen Totenklagelied zugehörig interpretiert.13 Oder aber das Neue des Klagelieds liegt an den Besungenen. Dies sind nicht die Toten, die hier einem Überfall auf die Stadt zum Opfer gefallen wären. Nicht sie werden durch das beschriebene Totenlied beklagt, sondern die noch Lebenden, die nun fliehen müssen. Die für unseren Kontext der Todesfigur entscheidende Passage V. 20 kann so übersetzt werden: „Ja, es stieg herauf MƗwæt in unsere Fenster hinein; er kam herein in unsere Paläste, um auszurotten das Kind von der Gasse, die jungen Männer von den Plätzen.“
11 Ein Großteil des Jeremiabuches setzt sich mit diesem Problem auseinander. Gerade die Kapitel, die dem Sinnabschnitt Jer 9,16−21 vorausgehen, haben kaum ein anderes Thema. Spitzen finden sich beispielhaft auch in Jer 2,4−37; Jer 4,3f.7−12, besonders in 7,2−7.10−12.28 oder Jer 8,4−9; 11,2−8. 12 In Jer 4,8 oder 6,26; in 16,5 oder 22,10 und weiteren Stellen wird vom Klagen oder der Klage gesprochen, ohne dass Anzeichen gefunden werden, dass Ausnahmen zur Regel des Klagens oder zum Klageinhalt zu beachten wären. Auch hier wird der Vertreibungskontext zugrundegelegt. 13 Zu den exegetischen Schwierigkeiten und Diskussionen vgl. GULDE, Herrscher, 160f und 165−167 sowie 169.
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Wichtig an dem Bild ist zunächst, dass der Tod aus einem peripheren Bereich in die Mitte und das Zentrum des Alltagslebens und Privatbereichs der Menschen schleicht, über einen „nicht offiziellen“ Zugang: die Fenster. Die ersten beiden Kola beschreiben dabei das Geschehen in den Gebäuden der Menschen, in Häusern und Palästen. Die beiden anderen Kola zeigen das Treiben des Todes in der Mitte der Stadt, auf Gassen und Plätzen, an einem für die Stadtbewohner oder dort willkommenen Personen öffentlichen, aber dennoch durch die Stadtmauern als geschützt geltenden Ort. Man würde dort ansonsten auch keine Kinder alleine lassen. Diese Kinder, und damit das Thema der verlorenen Nachkommenschaft, sind ein weiteres zentrales Element dieses Bildes um diese Todesfigur. Dass das Thema des in die Privatbereiche eindringenden Todes nicht das Neue des Klageliedes aus Jer 9,16ff ist, zeigt sich auch daran, dass sich nun auch in Mesopotamien Texte finden, die eine Figur „Mutu“ beschreiben. Wie die Wurzel nahe legt, ist sie auch mit dem Tod gleichzusetzen und weist dazu noch motivliche Parallelen zu unserer eben beschriebenen Jeremia-Passage auf. Das Fehlen des Gottesdeterminativs zeigt, dass es sich um eine Personifikation handelt, die in der Lyrik jener Kultur anzusiedeln ist, also nicht um einen Gott oder eine andere divinisierte Dämonengestalt. Aus Gilgamesch XI 232−23314 stammt: „[… in] meinem Schlafgemach sitzt der Tod und wohin [ich meine Füße] setze, ist er, der Tod […]“
und in einem neuassyrischen Text aus Ninive (BA 2 634:20)15 findet sich: „In jenen Tagen, als ich noch mit meinem Ehemann zusammen war, als ich noch mit ich lebte, (mit) ihm, der mein Liebster war, schlich sich der Tod heimlich in mein Schlafgemach. Er brachte mich hinaus aus meinem Haus, er trennte mich von meinem Liebsten, und er setzte meinen Fuß in ein Land, aus dem ich nicht zurückkehren werde.“
Es handelt sich hier um ein Totenklagelied aus der Hofdichtung Sargons II. Möglicherweise wurde es für eine bestimmte Frau gedichtet, vielleicht auch für Frauen generell, die im Kindbett starben. Sowohl das Thema des (gesicherten) Zentrums des Hauses im Gegensatz zur ungeschützten Peripherie als auch das Thema des unabwendbaren
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Übersetzt nach STEINER, Bedeutungsfeld, 247. Diese deutsche Wiedergabe richtet sich nach der englischen Übersetzung bei LIVINGSTONE, Poetry, 37f. 15
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Eindringens des Todes und des Schutzlos-Ausgeliefert-Seins sind hier wie in Jer 9,20 zu finden.16 Interessant mit Bezug auf das zweite Thema der Jeremiapassage oben – die Nachkommenschaft bzw. die Kinder – und wichtig im Hinblick auf die ägyptischen Todesfiguren ist nun eine altbabylonische Passage aus den Textes Cunéiformes du Louvre (TCL) 17: 29,17: „Tod, der Herr der Menschen, hat seinen Sohn genommen.“
Auch für Ägypten sind einige wenige Texte um eine Figur mt auffallend, da sie ebenso eine Todesfigur beschreiben, die eine fast identische Motivik hinsichtlich dieses ostsemitischen Textauszugs aufweisen. Aus Anii 4, 2−4 (ca. 1300 v.Chr.) stammt: „[…] der Tod kommt, er raubt das Kind, das noch auf dem Schoß seiner Mutter ist, ebenso wie den Mann wenn er ein Greis geworden ist […]“
und auf dem Grabstein der Taimhotep (42 v.Chr.) findet sich die folgende Aussage:17 „Der Tod, dessen Name ‚Komme‘ ist […], er raubt den Sohn aus dem Arm seiner Mutter lieber als den Alten, der (schon) in der Nähe umhergeht.“
Zwar ist hier der Privatbereich des Menschen, in den der Tod einbricht, nicht durch Räume symbolisiert, sondern durch „Arm“ und „Schoß“ der Mutter. Aber vielleicht kommt hier gerade dadurch noch stärker als durch den alttestamentlichen Beleg oder die mesopotamischen Belege das Unwiderstehliche dieses Eindringlings zutage. Man kann trotz Detailunterschieden festhalten, dass sich die Motivik sehr ähnlich über mehrere Jahrhunderte und über mehrere große Kulturkreise hinweg erhalten hat. Sogar etymologisch sind Verbindungen zwischen Ägypten und Texten des Alten Testaments zu finden: Bereits erwähnt wurde die Ähnlichkeit der 16 Weitere Todesfiguren auf der Basis von m(w)t existieren im ostsemitischen Bereich. Darunter das in CAD M 316−319 bzw. 317f sowie bei STEINER, Bedeutungsfeld, 247 zu findende „Der Tod schleicht herum, wo die Zauberin gegangen ist“, ein Text mit ähnlicher, heimlich agierender Todesfigur wie in Jer 9,20, jedoch ohne das Thema von drinnen und draußen bzw. geschützt – ungeschützt. Auch in Gilgamesch X 304–306 „Niemand kann den Tod sehen, niemand kann des Todes Antlitz sehen, niemand des Todes Stimme hören.“ wird die Entzogenheit des Todes beschrieben, da er offensichtlich unerkennbar ist und doch als präsent wahrgenommen wird. 17 Beide Übersetzungen stammen aus GRAPOW, Tod, 76f.
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Passage Joël 2,9 zu Jer 9,20. Es wird dort nur die Richtung verändert. Statt von Innen nach Außen dringen bei Joël die Heuschrecken als Bild für die Bedrohungen am Tag JHWHs von Außen nach Innen:18 „Auf die Stadt stürzen sie sich, auf der Stadtmauer rennen sie, in die Häuser steigen sie hinauf, durch die Fenster kommen sie wie der Dieb.“
Diese Stelle liefert ein weiteres Bindeglied zu den ägyptischen Beispielen: Zwar fehlt der Bezug zu den Kindern, aber durch ɄɓɅ – „Dieb“ wird die Verwandtschaft zu den ägyptischen Textauszügen fassbar (vgl. hebräisch ɄɓɅ – zum ägyptischen ̴np vom Grabstein der Taimhotep und aus Anii 4, 2−4: „rauben“). Und wenn auch nicht etymologisch gleich, wird im altbabylonischen Text TCL 17: 29,17 das Eindringen des Todes zumindest thematisch auf dieselbe Art beschrieben.19 So lässt sich zu diesem Motiv festhalten, dass es sowohl über große geographische Bereiche als auch über viele Jahrhunderte populär geblieben war. Der Tod, der auch in die intimsten Bereiche des menschlichen Lebens unangekündigt und immer unwillkommen und unpassend eindringt, hatte in dem Bild des Räubers und Diebs eine perfekte Metapher erhalten. Man kann sich seiner nicht erwehren, selbst wenn man ihn erwartet. Daher ergibt sich auch die Tatsache, dass diese Todesfigur (nach heutigem Kenntnisstand) allein in der Gattung der Klage- und Leichenlieder bzw. -texte auf Grabsteinen anzusiedeln war. Auch heute wird das Bild ohne große Erklärungen verstanden, auch wenn es in unserer Zeit und unserem Kulturkreis nicht mehr oder nur noch schwach erkennbar (vgl. „Gevatter Tod“ oder „Goodman Bones“) überlebt zu haben scheint. Dabei scheint das Thema der (vom Schoß) gestohlenen Nachkommenschaft von Ägypten bis Mesopotamien bekannt und beliebt gewesen zu sein, während das Thema der nicht schützbaren häuslichen Räumlichkeiten vor allem in Mesopotamien seinen Schwerpunkt hatte. Auch wird der Tod nur dort explizit als „heimlich und schleichend“ beschrieben. Jer 9,20 vereint nun diese Motive. Fraglich bleibt zunächst, ob der Verfasser dieser Passage dies zum ersten Mal (und als Einziger) tat. Joël 2,9 kann vielleicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass dies nicht der Fall ist: Dieses Thema von 18
Hier sei verwiesen auf die Nähe der Heuschrecken zum chthonischen Bereich. Vgl. hierzu GULDE, Herrscher, 176, bes. Anm. 259. Weiterhin zeigt der Zusammenhang mit Joël 2,9, dass auch dieses Todesbild des heimlichen Eindringlings bzw. sogar Diebs das Giermotiv (vgl. unten) anklingen lässt. 19 Weitere wichtige Beobachtungen zu dieser Gemeinsamkeit bei GULDE, Herrscher, 177, bes. Anm. 263. Auch der mesopotamische Text spielt mit der Vorstellung über das Wort itbal von tabÁlu(m), wenn auch die Etymologie eine andere ist.
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„innen“ und „außen“ mit Bezug auf städtische Strukturen in Verbindung mit dem diebischen Charakter des Eindringlings lässt ein häufig oder gar sprichwörtlich benutztes Motiv oder einen solchen Motivkomplex vermuten.
2. Die Passage um Ps 49,15: Der Tod als Hirte Zur Struktur und zum Ziel bzw. zur Grundschicht dieses Psalms scheint es so viele Meinungen wie Exegeten zu geben. Es finden sich jedoch verschiedene Hinweise darauf, dass man von der Struktur des Textes her den Tod und das Sterben als Hauptthema des Psalms annehmen muss.20 Der Psalm teilt sich ein in einleitende Verse 2−5, wie sie typisch für ein weisheitliches Lehrgedicht sind, zwei thematisch parallel gestaltete Blöcke Verse 6−12 und 17−20, die als argumentative Ausführung des „Lehrers“ zum Thema dienen – je durch einen ähnlich lautenden „Kehrvers“ 13 und 21 beendet – und eine aus zwei Versen bestehende Zentralpassage (Verse 14 und 15). Diese enthält als einzige des Psalms keine begriffliche, sondern bildliche Sprache.21 Diese beiden Verse sind zwar an einigen Stellen sehr verderbt, doch bleibt in aller Klarheit das sie regierende Bild des Todes als Hirte erkennbar. Nun ist das Motiv des Hirten in der alttestamentlichen Exegese (und im Alten Orient) hinlänglich bekannt, wie auch die aktuelle Analyse von R. Hunziker-Rodewald deutlich macht: Der Hirte wird als Bild des Beschützers, Versorgers und Retters verwendet. Entweder ist im Alten Orient der König oder aber der Dynastiegott selber dieser Hirte. Das Motiv ist so beliebt gewesen, dass es in zahlreichen Texten aus den vorderorientalischen Kulturkreisen Ägyptens, Mesopotamiens, aber auch des übrigen westsemitischen Bereichs belegt ist und sich auch im neutestamentlichen Korpus zahlreiche Texte und Bibelstellen daran orientieren. 22 Es ist jedoch (bislang) nirgends sonst – weder im Alten Testament noch woanders – eine ähnliche Umkehrung des Bildes zu finden wie in Ps 49,15, wo der Todesherrscher im Jenseits als Hirt dargestellt wird. Im Einzelnen erklärt die Umkehrung der einzelnen Elemente des Bildes die Vorstellung des Verfassers über die Todesfigur und letztlich auch das Jenseitsdasein:
20 Die ausführliche Diskussion und die Ausführungen der wichtigsten Exegeten hierzu sind zusammengefasst bei GULDE, Herrscher, 181−204. 21 Vgl. zur exegetischen Argumentation und zu den Übersetzungsmöglichkeiten aufgrund der Verderbtheit der Verse GULDE, Herrscher, 184−186 und 195−197. 22 Vgl. die Zusammenfassung dazu bei HUNZIKER-RODEWALD, Hirt, bes. 33f sowie zum Neuen Testament ebd., 213ff oder 225f.
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Im Vordergrund steht die Sinnlosigkeit der Existenz im Jenseits: Wo keine sozialen Bindungen, kein Wissen, kein Streben, kein Besitz oder keine Individualität mehr existieren, nur Dasein ohne eigentliches Leben, (vgl. V. 12.15b23 und 18 – materieller Reichtum und standesgemäße „Pracht“ kann nicht mitgenommen werden), wird auch kein Anführer gebraucht, der einem zeigt, welchen Weg man gehen muss, um zum persönlichen Glück zu finden oder gar Rettung zu erfahren. Diese Ansammlung der vom Tod als Hirt „Gehüteten“ wird nur durch ihre große Anzahl von einzelnen, für sich existierenden Toten zu einer „Herde“. Es existieren aber keine sozialen Bindungen untereinander. Den Tod als das Schlimmste, was einem Individuum zustoßen kann, auch noch zum Hirten zu erklären, ist eine der absurdesten Ideen zur ganzen Thematik.24 Schließlich errettet der Hirte, wie er im traditionell gebräuchlichen Motiv (im Diesseits) zu finden ist, im weitesten Sinne gerade vom Tod und von Unheil: Hunger, Durst, Bedrohung, Vertreibung, Not oder Einsamkeit (Ps 23). In der Unterwelt ist so ein Hirte komplett überflüssig und sinnlos. Auch die Tatsache, dass die Unterwelt häufig als Gegenwelt zum diesseitigen Kosmos konstruiert wird, unterstreicht die bewusst verwendete Sinnlosigkeit des Bildes vom Tod als Hirten.25
3. Die Passage um Jes 28,15.18: Der Bundespartner Tod Kernstück dieser Stelle Jes 28,14−22 ist das Wort vom Eckstein, das sich bis in das Neue Testament als Metapher für Gottes Zuverlässigkeit und Stärke erhalten hat.26 Im Zusammenhang mit der politischen Situation des Verfassers ist diese Zuverlässigkeit Gottes auf dem Hintergrund der po23
Vgl. GULDE, Herrscher, 186, Anm. 292: Das min ist nur sinnvoll als min priva-
tivum zu übersetzen: „ohne Wohnstatt“. 24 Ein hethitischer Text zum Dasein in der Unterwelt zeigt in beeindruckenden Worten, was auch für die Vorstellungen im Alten Testament und für alle anderen Kulturen angenommen werden kann, welche eine Unterwelt für die „Schatten“ der verstorbenen Menschen voraussetzen, die keine eschatologische Hoffnung aufkommen lässt: Vgl. die Übersetzung von KBo 22.178 / KUB 48.109 bei ÜNAL, Szene, 859–860: „(4) Der eine kann den anderen nicht erkennen; (5) die Schwestern von der gleichen Mutter können (einander) nicht erkennen. (6) Brüder vom selben Vater können (einander) nicht erkennen. (7) Die Mutter kann ihren Sohn nicht erkennen. (8) Das Kind kann seine Mutter nicht erkennen […] recto: […] Gute Speisen können sie nicht essen, (5) gute Getränke können sie nicht trinken; (6) sie müssen Schmutzmassen essen (7) (und) Schmutzwasser trinken.“ 25 Zum Thema der Gegenwelt vgl. STOLZ, Grundzüge, 94–100; GULDE, Herrscher, 111 und DIES., Unterweltsvorstellungen, 418f oder ZANDEE, Death, 75. 26 Vgl. Röm 9,33 und 11,9f sowie 1 Petr 2,6, wo allerdings eher die Kostbarkeit des Steins die Metapher regiert.
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litischen Probleme Jerusalems bzw. Judas zu sehen. Wird zunächst in den Versen 7−13 die nach innen gewandte Kritik des Verfassers an den Anführern des Volkes laut, so fasst er in den Versen 14−22 die Gefährlichkeit des Spiels mit benachbarten Allianzmächten gegen Assyrien ins Auge.27 Gerahmt wird dieses Wort vom Eckstein nun durch die beiden Aussagen über den Bund mit dem Tod und der Scheol. Der Verfasser legt strategisch ausgefeilt denjenigen ein „Zitat“ (V. 15) in den Mund, die seiner Überzeugung nach den falschen Weg gehen. Er prangert an, dass sie nicht Gottes Schutz suchen, sondern den anderer – nicht zu diesem alten Schutzbündnis Gottes mit „seinem“ Volk gehörenden – Völker. Mit fast identischen Worten und paralleler Satzstruktur widerlegt er dieses „Zitat“ strategisch günstig direkt nach der Darstellung des Ecksteins:28 15 „Denn ihr sagtet: Wir schnitten eine berît mit MƗwæt, und bezüglich Scheol machten wir einen (sichtbaren) Vertrag. Die daherflutende Geißel, wenn sie vorüberkommt – nicht kommt sie (an) uns heran. Denn wir setzten Lüge als unsere Zuflucht, und im Trug haben wir uns versteckt. 16 Daher – so sprach der Herr JHWH: Siehe ich (bin es), der gegründet hat auf Zion einen Stein, einen Stein der Erprobung, […] 17 […] Und es wird wegfegen Hagel die Zuflucht der Lüge; und das Versteck: Wasser werden es wegspülen. 18 Und es wird bedeckt eure berît mit MƗwæt und euer (sichtbarer) Vertrag mit Scheol – er wird nicht bestehen. Die daherflutende Geißel, wenn sie vorüberkommt – so werdet ihr sein für sie zur Zertrampelung […]“
Dabei ist anzunehmen, dass nicht nur dem Verfasser der Passage, sondern auch seinen Hörern (und Lesern) die Motivik um die Todesfigur(en) bekannt war, da ansonsten ein solcher nicht weiter ausgemalter oder erklärter Bund mit dem Tod in dieser Kürze nicht hätte formuliert werden können. Prägnanter und kürzer kann man die Meinung der Kritisierten kaum widerlegen. Allein durch die Gegenüberstellung der parallel konstruierten Aussagen zum Bund mit Tod und Unterwelt tritt das Paradoxe des Plans in unübersehbarer Weise zu Tage. Der Verfasser kann so die Zitierten ohne 27 Zur überzeugenderen Interpretation in dieser politischen Hinsicht gegen eine kultisch-religiöse Auslegung dieser Passage vgl. GULDE, Herrscher, 227−230. 28 Die vollständige Übersetzung findet sich bei GULDE, Herrscher, 215−226 mit Behandlung aller einschlägigen exegetischen Schwierigkeiten. Hier soll nur die Struktur zum Ausdruck gebracht werden, daher sind einige der zentralen und schwierigen Stellen übergangen.
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detaillierte Ausführungen der Lächerlichkeit preisgeben, da auch hier die Sinnlosigkeit des Unterfangens im Mittelpunkt steht (wie dies auch schon Kennzeichen der Todesfigur in Ps 49,15 war). Die Allianz mit benachbarten Völkern gegen Assur ist laut Verfasser eine Allianz mit dem Tod gegen den Tod.29
4. Die Motivik um den Tod als Fresser: Gier als Kennzeichen des chthonischen Bereichs Vorauszuschicken ist zu diesem Thema, dass ohne die Kenntnis der ugaritischen Texte dieser Motivkomplex im Alten Testament nie hätte als solcher so eindeutig bestimmt werden können. Vor allem die Verbindung von Gier und chthonischem Bereich wäre eher Spekulation. Aus diesem Grund wird nicht wie oben zunächst der biblische Befund geklärt, sondern es werden die ugaritischen Textbelege aufgeführt.30 Nimmt man dann alle (bekannten) Belege aus Ugarit und dem Alten Testament zusammen, so zeigt sich deutlich eine geprägte Motivik um den chthonischen Fresser. Diese liegt in drei Themen- oder Motivkomplexen vor, deren ursprünglich enger Zusammenhang in den biblischen Texten nicht mehr erkennbar ist und vielleicht schon beim Verfassen der Texte verloren war oder aber wiederum so bekannt, dass die Verwendung von Teilen derselben alle weiteren Elemente mitassoziieren ließ. 29 Möglicherweise spielen in dieser Hinsicht auch die Bilder von der „daherflutenden Geißel“ eine Rolle: Sie könnten als Hinweis dafür interpretiert werden, dass hinter der Todesfigur, mit welcher der Bund geschlossen werden soll, die westsemitische Todesfigur, wie sie v.a. aus Ugarit bekannt ist, steht, deren Verwandtschaft oder Nähe zu Jammu, dem Meeresgott, bekannt ist. Vgl. hierzu auch DELITZSCH, Jesaja, 310; GESE, Geißel, 127−134 und IRWIN, Isaiah, 28. Auch das Spiel mit dem Mythem um die alttestamentliche Sintflut geht schließlich auf dieses Motiv zurück. 30 Es existieren auch phönizische Texte zu MȠȪș / MȫIJ / Motu, die jedoch nicht dieselbe Aussagekraft und denselben Umfang haben wie die aus Ugarit überlieferten. Die Texte sind kurz und müssen eher als Sekundärtexte angesehen werden, die wiederum nur auf dem Hintergrund der ugaritischen verstanden wurden. Zusammenfassend sei verwiesen auf GULDE, Herrscher, 118f. Von aramäischer Seite gibt es noch weniger und nur indirekte Hinweise auf mythische Inhalte. Die westsemitische Besonderheit dieses Todesgottes ist seine Wildheit, Monsterhaftigkeit und Gier. Diese Besonderheit wird auch dadurch unterstrichen, dass nur zwei bekannte Belege in den ägyptischen Raum (wohl durch die Hyksos) und in den assyrisch-babylonischen Raum (vielleicht durch die Mythen der Aramäer) eingewandert sind, wo Todesfiguren der Wurzel m(w)t zwar bekannt sind – vgl. oben Anm. 16 – aber nicht als Götter. Zu Schlussfolgerungen aus diesem überraschenden Sachverhalt siehe ebd., bes. 72f.75f.124f. Vgl. auch KEEL, Weltbilder, 32ff; ASSMANN, Kulturtheorie, 47f; STADELMANN, Gottheiten, 14−20 und VON SODEN, Unterweltsvision, 1−31.
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Die meisten Informationen zum westsemitischen Todesgott finden sich im Baalzyklus, der narrativen Ausführung zum Wohin und Woher der ugaritischen Gesellschaft und zur Erklärung ihrer Kosmologie, wie sie für eine multikulturelle Handels- und Hafenstadt notwendig ist, umgeben und abhängig von mächtigen Reichen und bestimmt vom Regen- und Trockenzeitwechsel in der Landwirtschaft sowie vom Handel auf dem Meer und von Produkten daraus. Motu, der Todesgott und Unterweltherrscher, wird als Antagonist des Lebens- und Fruchtbarkeitsgaranten und Wettergottes BaŦalu, der gleichzeitig Dynastiegott der Stadt ist, dargestellt. Bezeichnend ist auch seine Nähe zu einem weiteren Antagonisten BaŦalus, dem Meeresgott Jammu. Im Laufe des Zyklus kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen BaŦalu und Motu, die in einem Kampf kumulieren, der aber – nicht überraschend – für keinen von beiden zu gewinnen ist. Letztlich sorgt für dieses Unentschieden der Schöpfergott Ilu, dessen Interesse in der Erhaltung der Balance zwischen allen kosmischen Mächten und Bereichen liegt. Dennoch kann er nicht vermeiden, dass der Todesgott weit in den Bereich des Lebens hineinwirkt, wenn er darin auch nie ganz heimisch wird. Denjenigen Ugaritern, die diesen Mythos kannten, wurde so über die kosmologischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten gleichzeitig eine Möglichkeit in die Hand gegeben, sich mit den Gefahren und Problemen des Alltagslebens und der Situation Ugarits speziell auseinanderzusetzen und dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen. Weitere Texte, in denen Motu erscheint, finden sich in der Gattung Rituale. Dort wird er entweder kosmologisch als Herrscher der Sommerzeit, die gekennzeichnet ist durch Hitze und Dürre, beschrieben, oder aber er erscheint als Bedrohung in Form von Unfruchtbarkeit in den eher lebensweltlichen Bereichen der individuellen Menschheitsschicksale. Dass er in Opferlisten und in der bildenden Kunst nicht zu finden ist, anders als die meisten anderen wichtigen Gottheiten, verwundert ob seiner Eigenschaften und Funktionen nicht.31 Er ist schließlich auch der einzige chthonisch konnotierte Gott in der ugaritischen Mythologie, dem in den Texten keine apotropäischen Funktionen zugeschrieben werden. Anders sieht dies z.B. bei „oron oder Rašpu und den „lieblichen Göttern“ aus KTU 1.23 aus. Allgemein zeugen alle diese Texte von der Überzeugung der Autoren und Theologen, dass Motu seinen eigenen Bereich des Kosmos innehat bzw. widerspiegelt. Es werden keine moralischen Implikationen damit ver31 Der erste Ausgräber Ugarits, C.F.A. Schaeffer, vermutete in einem Relief die Darstellung Motus allein aufgrund der Tatsache, dass er so wichtig im Mythos sei, dass er auch dargestellt worden sein müsste. Die Darstellung, die heute im Nationalmuseum von Aleppo zu sehen und mit „Motu“ bezeichnet ist, lässt sich jedoch eher mit einem BaŦalu- oder Rašpu-Typ eines „Menacing God“ identifizieren – vgl. dazu SCHAEFFER, Porteurs, 99−106 und Pl. 22 oder CORNELIUS, Iconography, 255−264.
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bunden, wenn man von ihm heimgesucht wird oder – auf narrativer Ebene – wenn er in den Texten auftritt. Der Tod ist ein Schicksal, das jeden ereilt, egal wie er oder sie lebt. Auf Klima und Landwirtschaft bezogen wird möglicherweise in KTU 1.23 sogar seine Unerlässlichkeit betont, da in seiner Regierungszeit, dem Sommer, die Sonnenhitze die Früchte reifen lässt. Zusammenfassend kann für den westsemitischen Todesgott, wie er in ugaritischen Texten charakterisiert wird, festgehalten werden: – Neben seiner anthropomorphen Beschreibung im Mythos als Herrscher über sein Reich, die Unterwelt, ist er auch gekennzeichnet durch unermesslichen Appetit und Gier. Dadurch kann er selbst zur Unterwelt werden (KTU 1.4 VII 47−49 und VIII 17−20 sowie KTU 1.5 I 14ff u.a.). – Er ist durch Thronsitz, Regierungsstadt, Zepter und Berechtigung auf Ehrerweise als königlicher Gott dargestellt und somit gleichberechtigter Gott neben BaŦalu (KTU 1.4 VIII 7−14.26−30 sowie KTU 1.5 II 6ff). – Diese Königsinsignien werden als gegenweltliche, paradoxe dargestellt (vgl. oben: als „Schlammstadt“, „Throngrube“, „Zepter der Kinderlosigkeit und Witwenschaft“ in KTU 1.23:8f). – KTU 1.23 zeigt seine kosmologische Notwendigkeit im Kosmos: Auch im Mythos wird dies unterstrichen durch den Beistand von Šapšu, der Sonnengöttin, und Göttervater Ilu gegenüber Motu, um dessen Besiegung durch BaŦalu zu vermeiden. Seine Funktion als Gott, der die Früchte aufgrund der Sommerhitze reifen lässt, ist zentral (vgl. hierzu auch KTU 1.23:8−11 in Zusammenhang mit 25f sowie die stereotype „Dürreformel“ aus dem Baalzyklus).32 – Seine Nähe zum Meeresgott Jammu wird betont (KTU 1.5 I 1−8). – Dennoch ist er der einzige Gott Ugarits, der nirgends in Ritualen als Beistand angerufen wird. Seine Lebensfeindlichkeit ist so extrem, dass er keine apotropäischen Eigenschaften ausprägen oder als bildlich darstellbares Thema gedacht werden konnte. Es ist zu erwarten, dass all diese Konnotationen in den Passagen des Alten Testaments, welche im Folgenden zu besprechen sind, mitschwingen. Dass sich wörtliche Zitate über Jahrhunderte und über mehrere tausend Kilometer erhalten, setzt fast zwingend voraus, dass auch die mythischen Inhalte als deren Kontext erhalten geblieben sind.
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Eine andere Interpretationsmöglichkeit zum Verständnis der hierfür zentralen und dreimal im Baalmythos vorkommenden „Dürreformel“ („Die Lampe der Götter, Šapšu, brannte heiß; es waren geschwächt die Himmel durch die Hand des Sohnes (Lieblings) Ilus, Motu.“ – vgl. KTU 1.3 V 17f und 1.4 VIII 21–24 sowie KTU 1.6 II 24f) findet sich in der voraussichtlich 2008 erscheinenden Dissertation von KUTTER, nnjr ilƯ.
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Die Schwierigkeiten, den Motivkomplex um die Gier des chthonischen Bereichs am biblischen Befund allein zu fassen, ergeben sich aus verschiedenen Umständen: – Die Verderbtheit der Verse in Hab 2,4f – der einzigen alttestamentlichen Stelle, welche die Motivik um die eigentliche Todesfigur selbst und ihre Eigenschaften greifen lässt – führt zu Konjekturen, welche hier die Nähe zu den ugaritischen Texten zerstören. Nirgends sonst ist die enge Verbindung im Alten Testament zum ugaritischen Vorstellungskomplex um den Tod als gierigen Fresser größer und wörtlicher als an dieser Stelle. – Ein weiteres Problem stellt die in den biblischen Texten bereits vorhandene Tendenz zur Demythologisierung dieses eng um den chthonischen Bereich gewobenen Komplexes dar. Besonders die Texte zur Korachsippe (siehe unten) zeigen dies. – Zusätzlich weist die Textsituation darauf hin, dass im Alten Testament die Scheol als Personifizierung der Unterwelt in der Bildsprache größere Beliebtheit als die Personifizierung des Todes genossen zu haben scheint.33 Die meisten aus Ugarit bekannten Motive sind nicht um den Tod direkt zu finden, sondern die Scheol nimmt dessen Platz ein. – Eine besondere Rolle in diesem Themenkomplex spielt die Passage aus der „Jesaja-Apokalypse“ Jes 25,8, da sie auf der Umkehrung dieses Motivkomplexes basiert und ihre Aussage daher auch nur in aller umwerfenden Mächtigkeit und Eindrücklichkeit von diesem hier beschriebenen, ursprünglichen Motivthema her verstehbar ist. Zentral für den ersten Themenkomplex des Gesamtmotivs, der sich in den ugaritischen wie in den biblischen Texten vergleichbar darstellt, ist zunächst die Tatsache, dass man von Motu selbst verschlungen werden kann, so dass man davon ausgehen muss, dass er in manchen Bildern auch selber die Unterwelt darstellen kann. Im masoretischen Text überlebte diese Vorstellung in den Passagen, in denen das Verb „verschlingen“ – ɕɏɄ in Zusammenhang mit dem Gebrauch des Adjektivs „lebendig“ auftaucht:34 Spr 1,12; Num 16,30.33f sowie 26,10f (hier allerdings wird das Adjektiv „lebendig“ mit der Umschreibung „sie starben nicht“ ersetzt) zeigen dies deutlich in Zusammenhang mit einem chthonischen Umfeld, während Ps 124,3 diesen Unterwelts- und Todeszusammenhang nur noch indirekt über 33 Unklar ist, ob dies in der demythologisierenden Bestrebung der Autoren lag, um eben die Personifizierung eines Raumes als Gegenspieler zu JHWH zu verwenden (statt der Personifizierung einer Dynamik und einer in den Nachbarvölkern offensichtlich populären chthonischen Figur wie Motu) oder ob es eine genuin judäisch-israelitische Mythosausprägung war, Scheol so sehr für den chthonischen Bereich zu betonen. Fakt ist, dass außerhalb der Bibel der Begriff Scheol nirgends sicher nachgewiesen ist und die Etymologie daher bis heute unklar bleibt. 34 Auch Ps 55,16 zeigt ohne die Giermotivik die Wichtigkeit der Tatsache, dass die Frevler eben lebendig in die Unterwelt fahren sollen.
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die (menschlichen) Feindbilder vermittelt. Subjekt ist häufig die Scheol, die Erde oder selten auch der Ackerboden. So zeigt auch der Vergleich in Spr 1,12 zwar nicht den personifizierten Tod, sondern die Scheol, aber immer noch bleibt der aktive Part der chthonischen Macht im gesamten Vorgang deutlich: „Wir wollen sie verschlingen wie die Scheol lebendig – und am Stück wie die, die hinabgehen in die Grube.“
Demgegenüber zeigen die Stellen in Numeri Gott allein als aktiven Part, durch dessen Wille die (Unter-)Welt (als ɇɑɆɃɇ in Num 16,30f und ɘɛɃɇ in den Versen 32−34 und in Num 26,10f sowie „Scheol“ in Num 16,33 wiedergegeben) das lebendige Verschlingen der für die Gemeinschaft untragbaren Korachsippe durchführt. Der Ackerboden bzw. die Erde oder Unterwelt sind nicht selbständige Akteure, sondern werden zum Objekt oder gar Instrument Gottes, auch wenn semantisch ähnliche Motivelemente wie im ursprünglicheren, aus Ugarit bekannten Motiv zu finden sind. Auch Ps 106,17 und Dtn 11,6 erzählen von dieser Begebenheit mit der Korachsippe und verwenden dasselbe Motiv des Verschlungen-Werdens durch die Unterwelt. Allerdings beschränken sich die beiden Stellen auf ɘɛɃ und ɕɏɄ. Möglicherweise zeigen diese beiden Kurzversionen die ursprünglichere Terminologie zum Motiv. Auch die Formulierung in Jes 5,14 („Darum sperrt die Scheol ihren Schlund weit auf und reißt ihren Rachen auf ohne Maß.“) und in Hab 2,5 (aufgrund der expliziten Verwendung der Todesfigur und nicht der Unterwelt bzw. Scheol) müssen zu diesem ersten Motivelement gezählt werden: In Hab 2,5 werden Frevler und Scheol parallelisiert, so dass beide zum Subjekt des Folgenden („Kehle weit machen“ statt „verschlingen“) werden. Der Tod als Subjekt liefert in paralleler Zuordnung dazu das zweite Element zum Motiv des Fressens: „Er wird nicht satt.“: „Der weit macht wie die Scheol seine Kehle, und der ist wie der Tod, und nicht wird er satt.“
ɕɄɜɌ ɃɏɈ ist somit als zweites zentrales Element des Motivs um das Gefressenwerden durch chthonische Mächte festzuhalten. Denn es findet sich neben Hab 2,5 auch in Jes 9,19 („Und man wird nicht satt.“) sowie in Spr 30,15f („Und sie werden nicht satt.“). Während Jes 9,19 zunächst wie ein Sprichwort und Spr 30,15f auf den ersten Blick wie ein Rätsel ohne jeglichen chthonischen Bezug scheinen, wird durch Hab 2,5, v.a. aber durch die ugaritischen Texte deutlich, dass dieser unauffällige Satz ɕɄɜɌ ɃɏɈ eine zentrale Rolle in der Todesgiermotivik innehat. So findet sich in KTU 1.23:64 genau dieselbe Formulierung (auch auf etymologischer Ebene), obwohl mehrere Jahrhunderte und Tausende von
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Kilometern zwischen den beiden Textkorpora des masoretischen Urtextes und der ugaritischen Tafeln liegen. Im übrigen zeigt sich auch daran, dass der gesamte chthonische Bereich bereits in Ugarit, nicht erst im Alten Testament, durch die Gier gekennzeichnet ist, da auch andere chthonische Götter neben Motu, nämlich die „lieblichen und schönen“, mit dieser Eigenschaft charakterisiert werden. Jes 9,19 liefert dann einen Teil des dritten Elements: „Und man verschlingt (ɛɉɅ) zur Rechten (ɒɌɑɌȽɏɕ) und hungert, und man frisst (ɏɎɃ) zur Linken (ɏɈɃɑɜȽɏɕ) und wird nicht satt (ɕɄɜ ɃɏɈ).“
Zusammen mit Ps 73,9 „Sie setzen (Ɉɝɜ) in den Himmel (ɐɌɑɜɄ) ihren Mund (ɐɇɌɗ), und ihre Zunge (ɐɓɈɜɏɈ) ergeht sich auf der Erde (ɘɛɃɄ).“
ist dies Teil des dritten und letzten Giermotivelements um die chthonischen Mächte. Bei diesem dritten Teil des Motivkomplexes wird deutlich, dass er sich allein anhand der Bibeltexte kaum als solcher erkennen ließe. Ohne die eben genannte ugaritische Passage KTU 1.23:64, in der fast wörtlich der Satz mit beiden biblischen Aussagen aus Jes 9,19 und Ps 73,9 steht, bevor das hier als zweites Element bezeichnete „und werden nicht satt“ folgt, wäre zwischen diesen beiden Textpassagen kaum dieser enge Zusammenhang zu erkennen. KTU 1.23:61−64 lautet: „Sie setzen eine Lippe zur Erde, eine Lippe zum Himmel. Und es gehen in ihren Mund hinein die Vögel des Himmels und die Fische aus dem Meer.
Und sie streifen umher, [fressend, in der Fremde (?)], Sie stecken (sie) sich rechts und links in ihren Mund, aber sie werden nicht satt.“35
Dies beschreibt die „schönen und lieblichen Götter“, Fressergottheiten und Schädlinge im Kosmos. Eine weitere ugaritische Parallele zum dritten Element (allerdings ohne den Teil mit der Parallelisierung von rechts und links) findet sich in KTU 1.5 II 2−5 und ist auf Motu bezogen: „[Eine Lippe zur Er]de / Unterwelt, eine Lippe zum Himmel, [er setzt] die Zunge zu den Sternen. Es wird eintreten in sein Inneres.“
35 Vgl. weiter GULDE, Beschwörung, bes. 301 und 313−314 sowie 89 und 141ff.
DIES.,
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Fazit Zunächst sollte auf die kaum beachtete Tatsache verwiesen werden, dass der heutige Bibelleser und Übersetzer der ugaritischen Texte die Bildwahl um die Todesfigur fast unmittelbar in allen Aspekten und Ausrichtungen versteht. So zeigt sich die Berechtigung des zu Beginn genannten Anliegens, die Bedeutung und Unschlagbarkeit bildlicher Sprache in vielen Bereichen hervorzuheben. Selbst bei unserer heutigen, völlig anderen Kosmologie und dem zusätzlichen und weiterentwickelten Wissen, das unsere Generationen gegenüber den Verfassern und Lesern der hier behandelten alten Texte haben, bleiben die Bilder verständlich. Ein weiteres Ergebnis findet sich in der Besonderheit dieser Bildsprache: Sich der bedrohlichsten aller Mächte, dem Tod, zu stellen, war dadurch möglich, dass die biblischen (und altorientalischen) Verfasser der Texte dem Tod über Personifikationen ein Gesicht gaben: Die Möglichkeit zur Klage, aber auch die Hoffnung auf stärkere Mächte leben von den hier verwendeten Bildern. So kann der Tod als Herrscher angesprochen werden. Gleichzeitig wird jedoch jedem deutlich, dass es stärkere Mächte gibt, die den Tod besiegen können. Hinzu kommt, dass die Herrschaftsinsignien des Todes dergestalt sind, dass sie als Attribute der Gegenwelt erscheinen. Dies gilt aufgrund seiner Residenz im Schlamm und seines Thrones als Grube selbst für den Todesgott in Ugarit, der noch wertfrei und ohne moralische Implikationen als Teil des Kosmos mit eigener Berechtigung und Notwendigkeit zum Funktionieren desselben verhandelt und vorgestellt wurde. Festgehalten werden kann weiter für das Alte Testament als größter Unterschied zu den altorientalischen Texten, dass alle Menschen, die mit den personifizierten chthonischen Mächten Scheol oder Tod verglichen werden, in den Texten moralisch abwertend beschrieben sind: Entweder gelten sie als Feinde des Sprechers oder als Frevler in Bezug auf gesellschaftliche und religiöse Kategorien, z.B. als nicht rechtschaffen oder nicht bescheiden. Der Vergleich mit Unterwelt und Tod zeigt an, dass sie durch ihre Einstellung und ihr Handeln bereits im Diesseits zum lebensabgewandten, chthonischen Bereich gehören. Wie anhand von Num 16 und den Parallelpassagen im Alten Testament besonders deutlich wird, ist der Todesbereich aber nicht mehr bei allen Autoren der Herrschaft Gottes enthoben oder als Gegenspieler zu Gott skizziert, sondern JHWH kann als Schöpfer aller existierenden Dinge diese chthonischen Elemente als kosmische Komponenten für seine Zwecke frei benutzen und instrumentalisieren.36 36
Vgl. hierzu EBERHARDT, JHWH, und ihren Beitrag in diesem Band.
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Ein weiteres Kennzeichen des Todes im Alten Testament ist seine Nutzund Sinnlosigkeit: Zwar kann man ihm nicht entrinnen. Dennoch bleibt dadurch eine hoffnungsvolle und versöhnende Wirkung für die Menschen. Denn es kann konstatiert werden, dass es einen weitaus mächtigeren Herrscher gibt: JHWH, den Gott des Lebens, der den Tod irgendwann anhand dessen eigener Mittel und Charakteristika unterwerfen und besiegen wird. In diesem Zusammenhang soll nochmals auf Jes 25,8 verwiesen werden: In unserem Zusammenhang enthält dieser Satz die überwältigendste Aussage, besteht selber aber nur aus drei Elementen: Ɋəɓɏ ɝɈɑɇ ɕɏɄ! Hier wird die Freiheit und Souveränität Gottes bezüglich aller existierenden Dinge des Kosmos noch größer dargestellt als in den Numeri-Texten, und er ist so gleichzeitig als einziger Herr der Schöpfung charakterisiert. Mit minimalsten sprachlichen Mitteln wird hier eine der hoffnungsvollsten und zuversichtlichsten eschatologischen Visionen der Menschen beschrieben, die dadurch zeitlos ihre Gültigkeit behalten konnte. Alles was der Autor hier tut, ist lediglich, die Giermotivik um den Tod und den chthonischen Bereich umzukehren: Dessen zentraler Begriff ɕɏɄ erhält ein neues Subjekt: JHWH. Das bisherige Subjekt, der Tod, wird zum Objekt. Gott besiegt somit den Tod und seinen chthonischen Bereich, den Inbegriff der Bedrohung der Menschheit, mit seinen eigenen Waffen. Unterstützt wird das Bild durch die Gottkönigs-, Kriegs- und Wettergottattribute des gesamten Kapitels Jes 25 und durch das Motiv, dass JHWH zu einem Mahl lädt (V. 6). Diese Macht und Freiheit Gottes bleibt letztlich aber nicht nur ihm vorbehalten. Auch der Mensch profitiert davon, der so im Bild des Volks Gottes nicht mehr nur Objekt der kosmischen Elemente ist, sondern Anteil hat am Bereich des lebensspendenden und siegreichen Gottes, der ihn all seiner bisherigen Feinde und Bedrohungen enthebt.
Literaturverzeichnis ASSMANN, J., Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten (Vorträge über den Wissensstand der Epoche 7) (Edition Suhrkamp 2157), Frankfurt a.M. 2000 BELTING, H., Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen, in: C. VON BARLOEWEN (Hrsg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996, 92–136 CORNELIUS, I., The Iconography of the Canaanite Gods Reshef and BaŦal. Late Bronze and Iron Age I Periods (c 1500–1000 BCE) (OBO 140), Fribourg / Göttingen 1994 DELITZSCH, F., Jesaja, Gießen / Basel 51984 EBERHARDT, G.D., JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament (FAT II/23), Tübingen 2007
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Ist der Tod nicht für alle gleich? Sterben und Tod aus Genderperspektive IRMTRAUD FISCHER
Tod und Jenseits im Alten Israel und seiner Umwelt werden in diesem Symposiumsband unter verschiedensten Aspekten betrachtet. Dieser Beitrag widmet sich in einem großflächigen Überblick dem Genderaspekt des Themas. In den letzten Jahrzehnten sind einige Publikationen erschienen, die frauenspezifische Gesichtspunkte des Todesthemas bearbeitet haben.1 Da aber nicht nur Frauen ein Geschlecht haben,2 stellen Genderstudien nicht nur Fragen nach etwaigen weiblichen Spezifika, sondern „gendern“ die Thematik: Einerseits wird das Geschlecht als Analysekategorie in Bezug auf soziale Unterschiede und Auswirkungen ernst genommen, andererseits wird aber auch die binäre Festlegung von Geschlechtern reflektiert. Die in den letzten Jahrzehnten klassisch gewordene Unterscheidung von sozialem und biologischem Geschlecht, von „gender“ und „sex“, kann durchaus zur Erklärung antiker Texte und Phänomene herangezogen werden. Allerdings muss mitbedacht werden, dass das biologische vom sozialen Geschlecht nur bedingt getrennt werden kann. In Gesellschaften wie jener Alt-Israels, die die Geschlechtergrenzen sogar durch Bekleidungsvorschriften verfestigt, wird ein menschlicher Körper auch visuell auf eines der beiden Geschlechter festgelegt. Aufgrund der Breite des Themas, das in Einzelaspekten auch in anderen Beiträgen zur Sprache kommt, orientiert sich dieser Beitrag an biblischen Texten. Bei einem Genderthema müssen sozialgeschichtliche Rückfragen gestellt werden, aber der Fokus ist nicht auf die Rekonstruktion historischer oder sozialer Verhältnisse gerichtet, sondern auf die Präsentation der biblischen Sicht auf diese. So werden etwa religions- und sozialge1
Siehe etwa das Themenheft „Sterben und Tod“ der feministischen Zeitschrift Schlangenbrut 55 (1996), das leider keinen alttestamentlichen Artikel bietet, sowie den für breite Kreise geschriebenen Artikel von WUCKELT, Frauen. Einen guten Überblick über das Todesthema unter Genderaspekt in der Archäologie Israels bietet MÜLLERCLEMM, Genderforschung. 2 Zu den neueren Diskussionen der Geschlechterforschung in den theologischen Disziplinen siehe den informativen Band: LEICHT, Arbeitsbuch.
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schichtliche Entwicklungen oder auch spezifische Trauerriten nur insofern in den Blick genommen, als sich diese in den biblischen Texten widerspiegeln.3
I. Der Tod von Frauen – der Tod von Männern: Geschlechtsspezifische Aspekte des Sterbens Auch wenn der Tod alle Menschen gleich macht, sind doch die Umstände des Sterbens von jenen Kriterien beeinflusst, die die sozialhierarchische Gesellschaftsordnung des Alten Orients bestimmen und die bis heute noch weltweit mehr oder weniger wirksam sind: Ob man arm oder reich, frei oder unfrei, jung oder alt, fremd oder einheimisch, männlich oder weiblich ist, beeinflusst massiv sowohl die Lebenserwartung als auch die Art und Weise des Sterbens sowie die Gestaltung von Begräbnis und Grab.4 Wenn hier ausschließlich auf die geschlechtsspezifischen Aspekte unseres Themas eingegangen wird, so handelt es sich nur um einen Ausschnitt der Gesamtproblematik – allerdings um einen, der alle Menschen betrifft, da jedem ein Geschlecht zugeschrieben wird. Genderforschung hat sich wissenschaftsgeschichtlich zwar aus der Frauenforschung entwickelt, aber sie fragt nicht nur nach Aspekten, die das weibliche Geschlecht angehen, sondern sieht Geschlecht als Kategorie, die beiden Geschlechtern gleichermaßen zukommt. Der eigene Tod und die Betroffenheit durch den Tod von Angehörigen seien als zwei geschlechtsspezifische Aspekte des Sterbens näher aufgezeigt. 1. Geschlechtsspezifische Todesursachen
Todesursachen sind nach biblischen Texten zu einem guten Teil geschlechtsspezifisch. Während für Menschen beiderlei Geschlechts eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit vorauszusetzen ist, sterben 3
Zum Informationswert von Texten über die Todesthematik im Verhältnis zum entsprechenden archäologischen Material siehe den Artikel von LEWIS, Texts, und sein Plädoyer, das bei diesem Kongressband erfüllt wird: „We must cease referring to the Bible and the ancient Near East, as if the former were not part of the latter.“ (Ebd., 206) 4 Wie MÜLLER-CLEMM, Genderforschung, 29–31.42–56 anschaulich darlegt, sind die archäologischen Quellen, die über geschlechtsspezifische Lebenserwartung, Gestaltung von Gräbern und selbst Grabbeigaben in biblischen Zeiten Auskunft geben könnten, äußerst spärlich oder sogar mangel- und fehlerhaft ausgewertet. Sie sind nicht mit wissenschaftlichen Methoden bearbeitet wie etwa der Geschlechtsbestimmung anhand von Knochen, sondern nach geschlechterstereotypen Vorstellungen, wenn etwa Gräber mit Schmuck automatisch Frauen und solche mit Waffen Männern zugesprochen werden, auch wenn die Knochenfunde anderes besagen.
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Männer jung durch den nur von ihnen zu leistenden Kriegsdienst. Überleben die Männer diese Phase und entkommen den beide Geschlechter betreffenden Seuchen und Krankheiten, haben sie hohe Chancen, alt zu werden. Nach Ps 90,10 sind dies siebzig bis achtzig Jahre, eine Lebenserwartung, die unserer heutigen gleichkommt. Frauen hingegen sterben nicht nur im Krieg, etwa wenn Städte erobert werden, sondern fallen zusätzlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zum Opfer. Einer der erschütterndsten Hinweise darauf findet sich im Völkerspruch gegen Ammon in Am 1,13, in dem als einer der Kriegsgräuel das Aufschlitzen von Schwangeren angeprangert wird, eine „Kriegstechnik“, mit der offensichtlich der Nachwuchs eines Volkes ausgetilgt werden soll und für die wir wahrscheinlich auch ikonographische Hinweise in assyrischen Palastreliefs haben.5 Für Frauen sind zudem die reproduktiven Lebensjahre eine Zeit erhöhten Sterblichkeitsrisikos, da gravierende Schwangerschafts- oder Geburtsprobleme in einer Zeit ohne lebensrettenden Kaiserschnitt und ohne medizinische Versorgung nach schweren Geburten viel leichter zum Tod führen, als dies heute der Fall ist. Immer wieder erzählt die Bibel davon, dass Frauen vor allem bei Zwillingsgeburten gravierende Probleme in der Schwangerschaft und beim Gebären haben. So geht Rebekka nach Gen 25, 21–26 bei Schwangerschaftsbeschwerden zum Heiligtum, um ein Orakel einzuholen. Die Gebärnotizen der Zwillingsgeburten bei Rebekka (Gen 25, 24–26) und Tamar (Gen 38,29) zeigen das Risiko auf. Wenngleich beide die Geburt überleben, wird bei Tamar die Schwere der Verletzung hervorgehoben. Rahel und die Schwiegertochter Elis jedoch überleben die spontane Geburt, die am Weg (Gen 35,16–20) bzw. durch Schockerlebnis einsetzt, nicht (1 Sam 4,19–22). Diese Beispiele zeigen, dass die Lebenserwartung zumindest in Friedenszeiten vermutlich weitaus stärker geschlechtsspezifisch unterschiedlich war, als dies heute in Ländern mit höherem Lebensstandard der Fall ist. Es ist zudem anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit für Frauen, früher zu sterben als Männer, durch die patriarchale Gesellschaftsordnung, die das männliche Geschlecht bevorzugt, noch erhöht wurde (z.B. durch Mädchenaussetzung, vgl. Ez 16,5; Töchter gehen als Erste in die Sklaverei, dann erst die Söhne, vgl. Neh 5,5; bei Hunger wird Nahrung primär an erwachsene Männer verteilt).
5
Vgl. STAUBLI, Image, 93f.
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2. Geschlechtsspezifische Riten am Lebensende Die biblischen Texte lassen darauf schließen, dass man Ämter und Besitz nicht in einem angemessenen Alter an die jüngere Generation weitergegeben hat, sondern erst mit dem Sterben, dem Schwachwerden der Sinne und der Entscheidungsfähigkeit. Zwei Figuren, die dies veranschaulichen, sind der blinde Isaak in Gen 27, der von sich aus sagt, dass es an der Zeit ist zu sterben, und der körperlich wie geistig impotente alte König David. Ihm wird durch den eigenen Sohn Adonija, der sich noch zu Lebzeiten des Vaters als neuer König proklamieren lässt, das Gesetz des Handelns aus der Hand genommen (1 Kön 1). Viele biblische Texte verweisen auf einen Segen, den Sterbende den nächsten Generationen geben. Wir haben damit zu rechnen, dass dies kein geschlechtsspezifisches Phänomen ist, sondern Vater wie Mutter mit dem Ritus aus dem Leben scheiden. Darauf lassen etwa Sprüche schließen, die Segen und Fluch beider Elternteile parallelisieren (vgl. Sir 3,9). Der entscheidende geschlechtsspezifische Unterschied besteht offenkundig im Sterbesegen des Erblassers, des Patriarchen, der die Familienlegitimität und wohl auch das Erbe weitergibt. Da dies in patriarchaler Gesellschaft die Übergabe einer sozialen Funktion bedeutet, nämlich jener, die Familie zu leiten und nach außen hin zu vertreten, steht dieser Ritus nicht allen Männern zu, sondern nur jenen, die die Patriarchenrolle innehaben. Nach geschriebenem Recht steht sie dem Erstgeborenen des Mannes zu (Dtn 21,15–17). Die Erzeltern-Erzählungen konterkarieren die Erbfolge jedoch in allen drei Generationen, indem nicht die Erstgeborenen die Familienlegitimität und damit die Verheißungslinie weiterführen, sondern entweder die erstgeborenen bzw. bevorzugten Söhne der Lieblingsfrau oder die Zweitgeborenen. So tritt Jakob als Rebekkas Lieblingssohn gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters in die Verheißungslinie ein (Gen 27), Josef als Rahels Erstgeborener rettet Israel in Ägypten vor dem Hungertod. Efraim wird von seinem Großvater Jakob gegen den Willen seines Vaters Josef mit der rechten Hand gesegnet (Gen 48). Auch die Linie von Tamars und Judas Zweitgeborenem, Perez, wird durch die die Genesis weiterführende Genealogie des Rutbuches als die Hauptlinie gezeichnet (Gen 38,29f; Rut 4,18–22). Da auch die dynastische Erbfolge diesen Widerspruch zum sozial akzeptierten Brauch zeigt (man denke an Salomo, den Letztgeborenen Davids), ist das Übergehen des Erstgeborenen beinah zu einem literarischen Topos geworden. Die Wahl des irregulär die Fortsetzung der Familie antretenden Sohnes wird dabei immer göttlich legitimiert, geradezu die irreguläre Erbfolge kann als Kennzeichen göttlicher Erwählung gelten. Wie an der Geschichte um den Segensbetrug treffend zu sehen ist, können Frauen den legitimierenden Segen nicht geben, weil sie nicht die
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Position des Familienoberhauptes bekleiden können. Aber dennoch wird – wenngleich teils durch List und Betrug, die jedoch durch die Gottheit Israels nicht geahndet werden – die Entscheidung nach den Vorstellungen der Ahnfrau getroffen. So nimmt Rebekka einen etwaigen Fluch des Vaters über ihren Lieblingssohn in Kauf (vgl. Gen 27,1–17), und Batseba protegiert ihren Sohn Salomo als Thronnachfolger, indem sie sich auf einen (angeblichen?) Schwur des Königs bezieht. Sie erreicht damit, dass sie den bereits in Gang befindlichen Thronwechsel durch den ältesten der verbliebenen Söhne Davids sogar rückgängig machen kann (1 Kön 1). 3. Begräbnis und Gräber von Männern und Frauen Bei Begräbnis- und Grabnotizen lässt sich in der Bibel kein wesentlicher Geschlechterunterschied erheben – vor allem dann nicht, wenn erkannt wird, dass das hebräische ťÁbôt nicht nur mit „Väter“ wiedergegeben werden kann,6 sondern häufig als geschlechtsneutraler Ausdruck für „Eltern“ steht. Da im Deutschen tatsächlich ein geschlechtsneutrales Äquivalent vorhanden ist, ist die durchgängige Wiedergabe mit „Väter“ falsch. Aufgrund der sozialen Organisation in Großfamilien sind daher selbst Gräber, die als Grabstätten berühmter Männer vorgestellt werden, als Familiengräber zu deuten. So wird sich z.B. Schebna nicht alleine in seinem repräsentativen Grab begraben lassen (Jes 22,15–19), sondern mit ihm die ganze Verwandtschaft versammelt haben wollen. Das „Versammeltwerden zu den Eltern“ steht meist im Kontext eines friedlichen, geordneten Begräbnisses und verweist auf ein Familiengrab. Die Erzeltern-Erzählungen lassen darauf schließen, dass die Sorge um ein ordentliches Begräbnis jeweils bei den Patriarchen liegt: Sie begraben ihre Frauen (Abraham begräbt nach Gen 23 Sara, Jakob nach Gen 35,19f Rahel), aber auch ihre Väter, deren Rolle sie knapp vor deren Tod übernommen haben. Den Vater zu begraben erscheint allerdings als allgemeine Sohnespflicht: So begraben Isaak und Ismael ihren Vater Abraham (Gen 25,9), Jakob und Esau begraben ihren Vater Isaak (Gen 35,29) und die Söhne Jakobs begraben ihren Vater gemeinsam (Gen 50,12f). Bedenkt man, dass Männer über den in männlicher Linie weitergegebenen Erbbesitz verfügen, so ist dieser Brauch aus der Gesellschaftsordnung zu erklären und bedeutet keineswegs, dass Töchter beim Begräbnis des Vaters abwesend zu denken sind. Die wirkmächtigste Grabtradition der Bibel ist jene von Machpela, in dem alle Erzeltern mit Ausnahme Rahels bestattet werden und die bis heute ungebrochen ist. Die Gründungslegende dieses Begräbnisortes wird in Gen 23 erzählt: Abraham kauft für seine soeben verstorbene Frau Sara 6
So aber neuerlich wieder WENNING, Grab seines Vaters.
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von den Hethitern ein Stück Land mit einer Höhle. Dieses Grundstück ist nach den Vorstellungen der Genesis als Familiengrablege das einzige Stück Land, das den Erzeltern wirklich gehört. Sara wird in ihrem Tod damit zur ersten Erbin der Landverheißung,7 da ihr Grabmal den allerersten Anteil am verheißenen Land darstellt. Berühmte Grablegen von Frauen sind jene von Mirjam in Kadesch – wo immer dieser Ort zu lokalisieren ist (Num 20,1)8 – und vor allem das Rahelgrab in Efrata bei Betlehem (Gen 35,19f; 1 Sam 10,2), das bis zum heutigen Tag als Wallfahrtsort verehrt wird.9 Wenn insgesamt nicht sehr viel von konkreten Gräbern zu erfahren ist, die Bibel jedoch wesentlich mehr über männliche Protagonisten als über weibliche erzählt, sind mit Frauen verbundene Grabtraditionen dennoch relativ häufig zu finden. 4. Verweigerte Begräbnisse Ist die Bestattung im gemeinsamen Familiengrab die Form, wie man sich einen würdigen Tod vorstellt, so kommt die Verweigerung des Begräbnisses dem Gegenteil gleich. Dtn 28,26 führt die verweigerte Bestattung, die unweigerlich zur Überlassung des Leichnams an Raubvögel und Raubtiere führt, unter den Flüchen an. Männer wie Frauen trifft dieses Schicksal in Kriegszeiten (vgl. z.B. Jer 9,19–21). Als eine über den Tod hinausgehende Strafaktion verbietet David das Begräbnis der Nachkommen Sauls, die vom zu erwartenden Leichenfraß durch wilde Tiere nur durch die prolongierte Totenwache Rizpas bewahrt werden (2 Sam 21,10f). Jes 14,18– 21 droht die Verweigerung des Begräbnisses dem König von Babel und seinen Nachkommen an, um dadurch seine Verbrechen offenkundig zu machen und zu sühnen. Da in Alt-Israel vor allem Männer politische Verantwortung tragen, werden solche Strafen vor allem ihnen angedroht. Dort jedoch, wo auch Frauen politische Verbrechen begehen, werden sie ebenfalls auf diese öffentlich demütigende Weise post mortem noch zur Rechenschaft gezogen und geschändet: Isebels Leichnam wird von Pferden zertrampelt, ihr Blut von Hunden aufgeleckt und ihr Fleisch gefressen. Nur der kahle Totenschädel kann noch begraben werden, ihr Körper ist jedoch gänzlich vernichtet (2 Kön 9,33–37). Auf diese Weise wird sie ihrem königlichen 7 Siehe dazu bereits VON RAD, Genesis, 199, allerdings auf die „Väter“ und nicht auf Sara bezogen. 8 Zur Erzählung um den Tod Mirjams, auf den nicht nur eine Notiz verweist, siehe RAPP, Mirjam, 233–236. Sie zeigt durch das Leitwort „heiligen“ auf, dass Kadesch ein sprechender Ortsname ist (ebd., 243f.323). 9 Siehe die anschauliche Schilderung des Rahelgrabes als interreligiöses, vor allem von Frauen besuchtes Heiligtum bei SERED, Rachel’s Tomb; heutzutage ist daraus eine ultraorthodoxe Synagoge geworden.
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Gemahl Ahab gleich (1 Kön 22,34–38), nachdem Vorankündigungen keine bekehrende Wirkung hatten (1 Kön 21,23; 2 Kön 9,10).
II. Die Auswirkungen des Todes von Angehörigen auf das Leben von Frauen und Männern Ist das Sterben von Männern und Frauen zwar durch Faktoren wie Sterblichkeitsrate und Erbsterbesegen unterschiedlich, wenn auch insgesamt nicht völlig verschieden, so sind die geschlechtsspezifischen Auswirkungen auf die Angehörigen massiv. 1. Witwenschaft Die Auswirkungen des Todes einer Frau auf ihren Ehemann sind dort gravierend, wo zwischen beiden eine Liebesbeziehung bestand. Dies zeigt anschaulich Jakobs Trauer um Rahel, die sich in der lebenslangen Bevorzugung ihrer Söhne äußert (vgl. Gen 42,38). Insgesamt hat bei polygyner Eheform und patrilinearem Erbrecht der Tod einer Frau jedoch wesentlich geringere soziale Folgen als der Tod eines Mannes. Stirbt einer Frau der Mann, muss dies bei reichen Frauen kein Desaster sein. Witwen wie Judit oder Abigajil (1 Sam 25) leben offensichtlich als Witwen recht gut und unbehelligt. Ist jedoch der ökonomische Status der Familie prekär, so kommt der Tod des Mannes vor allem beim Hinterlassen minderjähriger Kinder einer Katastrophe gleich. Die zahlreichen Texte, die vom Bedrücken von Witwen und Waisen reden,10 sprechen eine deutliche Sprache von den Lebensumständen von Frauen, deren Mann gestorben ist und die damit aus einem Familienverband, der eine ordentliche Rechtsvertretung gewährleistet, herausgefallen sind. So sind Gesetze notwendig (Dtn 24,17; 27,19), die Witwen und Waisen unter den speziellen Schutz der Gottheit Israels stellen (vgl. Ex 22,21–23; Dtn 10,18; Ps 68,6; 146,9), und Propheten müssen gierige Menschen schelten, die Witwen um ihren Besitz bringen wollen (vgl. Mi 2,9f). Aber auch die Institution des Levirats, die nach dem Rechtstext von Dtn 25,5–10 zwar nicht den Zweck, aber zumindest den Nebeneffekt der Witwenversorgung hat, ist für die Hinterbliebene ihres Mannes durchaus zwiespältig. Die erzählenden biblischen Texte, die diese Institution widerspiegeln, Gen 38 und das Rutbuch, sprechen zwar davon, dass Frauen das Levirat explizit anstreben, da es eine reguläre Eingliederung in den Sippenverband gewährleistet. Die potentiell daraus entstehende Familienkonstellation eines Mannes mit einer Hauptfrau und einer später dazugekom10
Siehe dazu ausführlicher SCHOTTROFF, Witwen.
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menen zweiten Frau, deren Söhne mehr Erbansprüche haben als er selber, ist jedoch dazu angetan, Konflikte zu verursachen (vgl. das Verhalten Judas gegen Tamar und des ersten Lösers in Rut 4,6). Der Witwenstand wird durch spezielle Kleidertracht für die Gesellschaft visualisiert. Witwen tragen Witwenkleider, die nicht als zeitlich befristete Trauerkleider gedacht sind, sondern auf den Stand verweisen (vgl. Judit in Jdt 8,5; Tamar in Gen 38,14.19). Witwenkleider trägt eine Frau nach dem Tode ihres Mannes ihr Leben lang, es sei denn, sie geht eine neue Ehe ein. 2. Geschlechtsspezifische Trauerriten Die Bibel, die eine Einbalsamierung nur bei Jakob und beim ägyptischen Josef aus Gründen der Überführung des Katafalks kennt (Gen 50,2.24–26), rechnet wohl mit ähnlich kurzen Fristen zwischen dem Eintritt des Todes und dem Begräbnis, wie dies bis heute in Ländern mit heißem Klima noch Brauch ist. Sie beschreibt die sicher vielfältigen Gebräuche dieser Zeitspanne, in der man von den Verstorbenen Abschied nimmt, allerdings nicht im Detail. Mancherorts wird ein Trauerhaus erwähnt, was darauf schließen lässt, dass die Toten bis zum Begräbnis zu Hause aufgebahrt lagen. Von der Trauerkleidung, dem Sack, den beide Geschlechter tragen (Gen 37,34; Jes 3,24; Jer 6,26), dem Barfußgehen (2 Sam 15,30; Mi 1,8) und vom Kahlscheren, von Selbstverwundung durch Ritzen und sich im Staube Wälzen ist die Rede (Jes 22,12; Jer 6,26). Das Trauerbrot (Jer 16,7; Ez 24,17.22; Hos 9,4; vgl. Tob 4,17) verweist auf eine spezielle Mahlzeit vermutlich karger Natur. Wenn Totenmähler an Gräbern gehalten werden, sind diese wohl einem Totenkult11 zuzuordnen (z.B. Jes 65,4f; Dtn 26,14). Bei fast allen diesen Einzelheiten finden sich keine gender-relevanten Hinweise, sieht man von geschlechtsspezifischen Trauerriten wie dem Bart-Verhüllen, der fehlenden Kopfbedeckung (vgl. Ez 24,17) und dem permanenten Tragen der Witwenkleider ab.12 Was in der Zeit des Sterbens bis zum Begräbnis im Detail geschieht, wird nirgendwo dokumentiert. Bräuche, die man fraglos vollzieht, müssen nicht eigens erklärt werden, auf sie wird nur dann verwiesen, wenn ein Element daraus für eine Erzählung oder auch für die metaphorische Rede relevant wird.
11 Zur Wellenbewegung der Forschung in Bezug auf die Frage, ob es in Alt-Israel einen Totenkult gab oder nicht, siehe den kurzen, aber informativen Überblicksartikel von BLOCH-SMITH, Death. 12 Siehe dazu BIEBERSTEIN, Welt, 58. Eine Zusammenstellung aller Riten, die an Kleidung wie Körper manipulieren, haben auch JANOWSKI, Konfliktgespräche, 227 sowie HIEKE, Sichtweisen, 31–33 vorgenommen.
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Der Klageruf ɇɎɌɃ, der den Klageliedern13 ihren hebräischen Namen gab, begleitete wohl die gesamten Trauerfeierlichkeiten. Er steht für den „Aufschrei des Schreckens, dem Buchstaben zugewiesen werden, um ihn festzuhalten – in der ganzen Bedeutung des Wortes.“14 Er hilft, das Leid nach außen zu kommunizieren und signalisiert für die Umgebung der Trauernden die Tiefe der Erschütterung über Tod oder Todesnähe. „Doch gleichzeitig geht die Sprache nicht in der Zerstörung unter. Sie übersetzt das Grauen in den Sprachraum der qinot“, die als „die traditionellen Stimmen und Lieder der Totenklagefrauen“15 zu bezeichnen sind. 3. Trauerzeiten Über die Länge der Trauerzeit bei Männern und Frauen lässt sich nichts Eindeutiges sagen, da sie in den meisten Fällen nur bei außerordentlichen Gestalten oder Ereignissen erwähnt wird. So trauert das Volk über den Tod von Mose und Aaron je 30 Tage (vgl. Num 20,29; Dtn 34,8). Jakob wird nach Gen 50,3 von den Ägyptern siebzig Tage lang beweint. Als man seinen einbalsamierten Leichnam ins Land überführt, weint Josef noch einmal sieben Tage um ihn (Gen 50,10). Eine Kriegsgefangene trauert einen Monat um ihre Eltern, von denen sie mit Gewalt getrennt wurde (vgl. Dtn 21,10–14). Die übliche Trauerzeit ist vermutlich mit einer Woche anzugeben (Jdt 16,24), Sir 38,17 empfiehlt jedoch, bloß ein bis zwei Tage in der Klage zu verweilen und sich dann wieder dem Leben zuzuwenden (38,16–23). In patrilinearen Gesellschaften ist bei Witwen eine Trauerzeit von mindestens einem Monat vorauszusetzen, um die Vaterschaft eines Kindes bestimmen zu können. Nur bei Leviratsehen spielt diese Wartezeit keine Rolle, da das nachgeborene Kind als legitimes Kind des Verstorbenen gilt, auch wenn sein leiblicher Vater der lebende Bruder ist. Witwen haben die Möglichkeit, eine weitere Ehe einzugehen. Außer beim Hohenpriester, dem sie verboten ist (Lev 21,14), wird die Heirat mit einer Witwe nirgendwo negativ gesehen. Die Trauer wird von nahen Angehörigen, insbesondere von den Eltern (vgl. David in 2 Sam 12,15–23),16 vom Ehepartner (z.B. Batsebas Trauer um Urija in 2 Sam 11,26) oder bei Personen von allgemeinem Interesse vom ganzen Volk vollzogen (vgl. bei Mose Dtn 34,8). In Ri 11,37–40 sind 13
Zur Funktion der Trauerarbeit von Klageliedern, die „Sinnstiftung für die Zukunft ermöglichen“, siehe LABAHN, Trauern; Zitat ebd., 526. 14 BAIL, Wehe, 83. 15 BAIL, Wehe, 88. 16 Hier besteht der Sonderfall, dass David die Trauerriten als „Sterbebegleitung“ seines todgeweihten Sohnes gleichsam antizipiert, in der Hoffnung, das Kind dennoch am Leben zu erhalten. Siehe dazu HARDMEIER, Tod, 78–86.
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es die Freundinnen, die noch vor dem Sterben der Tochter Jiftachs die Klage anstimmen, die sodann als jährliches Trauergedenken von den Töchtern des Volkes nachvollzogen wird. Dieses geschlechts- und altersspezifische Fest, von dem die Bibel sonst nie mehr erzählt, hängt offensichtlich mit der Tragik eines unzeitigen und gewaltsamen Todes zusammen. 4. Der Tod des Erblassers Bringt das Sterben des erblassenden Vaters für den erstgeborenen Sohn den Eintritt in die Patriarchenrolle, so ist dieses Ereignis für Töchter – und für die nachgeborenen Söhne – keine Befreiung aus der patriarchalen Vormundschaft. Die Töchter des Verstorbenen haben sich auf den neuen Patriarchen einzustellen, falls sie – in virilokaler Eheform – das Haus noch nicht durch Heirat verlassen haben. Der Bruder entscheidet fortan über die Hochzeit der Schwester, wenngleich biblische Texte darauf schließen lassen, dass die Mütter mit dem Tod des Vaters an Autorität gewinnen. So wird z.B. die Mutter in der Rebekka-Geschichte Gen 24,28.53 neben dem Bruder Laban eigens erwähnt (falls Betuël überhaupt schon als verstorben gedacht ist – vgl. 24,29.50!). Vermutlich ist aus dieser Konstellation des Zugewinns an Macht für die verwitwete Frau mit erwachsenen Kindern auch die Position der gebîrÁh am Königshof zu erklären: Auch sie ist Witwe, ihr Sohn ist bereits König, und ihr Einfluss auf die Regierungsgeschäfte steigt offensichtlich mit dem Tod ihres königlichen Gemahls. Die Mutter des amtierenden Königs hat mehr politische Macht als die Königin.17 5. „Frauen in Schwarz“ Biblisch belegt sind auch Frauen, die sich weigern, die Trauerzeit abzuschließen, da ihre Verwandten verschollen sind oder im Tod noch entehrt werden und kein Begräbnis bekommen. Als Vorläuferin dieser „Frauen in Schwarz“ mag Rizpa, die Nebenfrau Sauls, gelten. Sie weigert sich, von den unbestatteten Leichen von Mitgliedern der königlichen Familie zu weichen, die mit Zustimmung Davids von den Gibeonitern hingerichtet wurden (2 Sam 21,10–14).18 Da die sieben Männer aus dem Hause Sauls, darunter zwei Söhne der Rizpa, als Vergeltung einer Blutschuld zu Tode gebracht werden, geht ihre Entehrung über den Tod hinaus. Der Witterung
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Vgl. zur ratgebenden Funktion der gebîrÁh FISCHER, Gotteslehrerinnen, 116–118. Siehe dazu ausführlich unter Berücksichtigung des Gender-Aspekts: WACKER, Rizpa, die auch die Forschungsgeschichte zum Text aufarbeitet. 18
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und den wilden Tieren ausgesetzt, bewacht Rizpa die Leichname und bewahrt sie im Widerstand gegen David19 vor weiterer Schändung. Die mit der Hinrichtung kinderlos gewordene Witwe Sauls gibt sich entgegen den Gepflogenheiten nicht der lauten Klage hin, sondern leistet stummen Widerstand20 gegen das siebenfache Todesurteil gegen ihre Familie. Mit der prolongierten Trauer erreicht Rizpa für ihre hingerichteten Angehörigen ein reguläres Begräbnis im Familiengrab und setzt zudem die Bestattung Sauls und Jonatans in derselben Gruft des Ahnvaters Kisch durch (V. 11–14).21 P. Bird22 stellt fest, dass mit der Sühnung der Blutschuld die kausal damit in Zusammenhang gebrachte Dürre nicht endet. Erst die Beisetzung bewirke die Versöhnung der Gottheit (V. 14). C. Exum,23 die auf das Skandalon verweist, wonach die Tötung ausdrücklich als Wunsch Gottes gezeichnet wird, zeigt auf, dass mit dem Eintreffen des Regens der Zorn Gottes als besänftigt anzusehen ist. Erst dann erlaubt David die Bestattung der Toten. M.-T. Wacker24 betont, dass am Ende der Geschichte jedoch das Ende der Trauer der Erde steht, als deren Ausdruck die Dürre im Alten Testament häufig gesehen wird (vgl. Gen 4,11f; Hos 4,1–3). „Rizpas Totenwache ist demnach zu der Zeit zu Ende, da auch die Trauer des Landes aufhört [durch den Regen, I.F.]; das Handeln und Ergehen dieser Frau steht in Analogie zum ‚Handeln‘ und ‚Ergehen‘ der Erde und nähert dabei diese Mutter von Söhnen der ‚Mutter Erde‘ an.“25 6. Der Tod der Kinder – auch metaphorisch Was es für eine Frau heißt, über den Tod von Kindern Trauer zu tragen, wird in biblischen Texten – wie etwa bei Rizpa – narrativ zwar selten vorgestellt, aber sehr häufig metaphorisch ins Bild gesetzt. Die trauernde Tochter Zion, die teils beschrieben wird, teils aber personifiziert auftritt und selber spricht, stellt in Sprachbildern vor Augen, was reale Frauen als Kriegsfolgen zu ertragen haben und was der Tod von Angehörigen für hinterbliebene weibliche Familienmitglieder bedeutet:26 Vom schutzlosen 19
Diesen Aspekt des Widerstands einer kinderlosen Witwe gegen den König betont BRANCH, Rizpah, 82. 20 Der befreiungstheologische Artikel von WEST, Reading, 530f betont vor allem den Aspekt des Verstummens in der Trauer. 21 CHAVEL, Compositry, 32f.47–52, arbeitet diese auf das gemeinsame Sippengrab zielende Facette der Geschichte eindrücklich heraus. 22 Vgl. BIRD, „Frauenarbeit“, 33. 23 Siehe EXUM, Rizpa, 267. 24 Vgl. WACKER, Rizpa, 551f. 25 WACKER, Rizpa, 559. 26 GUEST, Hiding Behind, zeigt die in den Klageliedern zu findende Problematik der weiblichen Personifikation für eine von Männern bestimmte Gemeinschaft auf, da sie
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Ausgesetztsein einer marodierenden Soldateska als unmittelbare Folge des Sieges des fremden Heeres (vgl. z.B. Jes 13,16; Jer 9,16–21; Klgl 2,8; 5,11) über Hunger, Durst und überhöhte Lebensmittelpreise (vgl. Klgl 2,11f.19; 4,4f.9f; 5,4f.9) bis hin zu Kannibalismus (vgl. Klgl 2,20; 4,10) sowie fürchterlichen hygienischen Zuständen (vgl. Klgl 4,7f) und zur Auflösung aller ziviler Strukturen, die Ordnung und Wiederaufbau ermöglichen, reicht das Spektrum der Totenklagen der Stadtfrauen in den Klageliedern, den Zionstexten des Dtjes (vgl. z.B. Jes 51,17–23) oder auch den Fremdvölkersprüchen (vgl. Jes 15,1–9). Da bei verlorener Schlacht die Männer nicht wiederkommen, ist Trauer und Aufarbeitung des Todes von Angehörigen samt allen Folgen in dieser Situation überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, geschlechtsspezifisch (Klgl 5,1–3). Es ist daher kein Zufall, wenn im Heilstext von Jer 31 in V. 8f die weinenden Frauen mit ihren Kindern, die die Zukunft des Volkes darstellen, als Schwangere und Wöchnerinnen ins Bild gesetzt werden und bei der Wende des Schicksals auch die positive Auswirkung auf Frauen betont wird (V. 4.13–15). Auch die um ihre Kinder weinende Rahel aus Jer 31,15, deren Wirkungsgeschichte bis in das Neue Testament reicht (vgl. Mt 2,18), steht als weibliche Symbolfigur für das seiner Kinder beraubte Volk, denn von den Erzähltexten um Rahel erfahren wir ja nicht vom Tod ihrer Kinder, sondern von ihrem eigenen Tod bei der Geburt des zweiten Sohnes (Gen 35,16–20). 7. Terafim – ein Hinweis auf einen Ahnenkult? Sollte es sich bei den Terafim um Ahnenstatuetten oder Hausgötter, die mit den Verstorbenen in Verbindung stehen,27 handeln, dann lässt sich auch hier ein geschlechtsspezifischer Umgang aus der Bibel erheben. So stiehlt Rahel die Terafim ihrer Eltern und nimmt damit die Legitimität der Familie28 mit ins Land. Die beiden Patriarchen, ihr Vater Laban und ihr Mann Jakob, sehen den Diebstahl dieser Figurinen offensichtlich als todeswürdiges Vergehen an (Gen 31,19–35). Dies lässt darauf schließen, dass die Verbindung mit den Ahnen nicht nur durch die gemeinsame Grablege gegeben war, sondern auch durch materielle Symbolisierungen, wie diese Statuetten sie wohl darstellen. Geschlechterstereotypen verstärke und geschlechtsspezifische sexualisierte Gewalt sanktioniere (siehe ebd., 422). 27 Siehe dazu bereits NIDITCH, Genesis, 21 sowie die weitere Ausführung der These bei VAN DER TOORN, Family Religion, 219–225. 28 So die Deutung von FISCHER, Gottesstreiterinnen, 119f, die die These von SPANIER, Theft, insofern abwandelt, dass damit nicht Rahels genealogische Linie den Vorrang bekommt, sondern der Familienzweig im Osten, von dem man sich bislang in der Verheißungslinie die Frauen holte, an Bedeutung verliert.
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Auch Michal, die Tochter Sauls, hat Zugang zu diesen Figurinen, die hier menschenähnlich zu denken sind, andernfalls ließen sich die Häscher ihres Vaters nicht mit ihnen täuschen, dass David krank im Bett liege (1 Sam 19,13.16). Diese Episode zeigt, dass man sich im Bedarfsfall der Hilfe der Ahnen bedient und dafür die Terafim gebraucht. Michas Terafim (Ri 17,5; 18,14–20) stehen auch indirekt mit einer Frau in Beziehung, da ihre Anfertigung durch das Geld seiner Mutter erst möglich wird. Dieser Mann und seine Mutter werden durch die Errichtung eines Gotteshauses und die Anfertigung von Kultgegenständen in die Nähe von Falschkult und falschen Praktiken für die Zukunftsergründung (Ephod und Terafim) gerückt. Die übrigen Belege stützen diese Zureihung, da die Terafim jeweils mit illegitimen Kult- und Prophetiepraktiken genannt werden, die nach dem Prophetiegesetz von Dtn 18,9–14 verboten sind (vgl. 1 Sam 15,23; 2 Kön 23,24; Ez 21,26f; Hos 3,4; Sach 10,2). 2 Kön 23,24 nennt die Terafim in einem Atemzug mit Totenbeschwörung, Hos 3,4 jedoch mit kultisch-priesterlichen Praktiken, die Nähe zur Gottheit herstellen sollen. Bei beiden Texten ist nicht auszuschließen, dass die Manipulation mit den Terafim auch durch Spezialisten vorgenommen wurde, was auf ein weiteres weibliches Berufsfeld schließen lassen könnte. Allerdings sind die biblischen Belege, in denen Frauen mit den Terafim hantieren, jeweils im Kontext der Familie zu sehen und nicht in jenem des Kultes.
III. Der Tod als „beruflicher“ Kontext Wie wir aus ikonographischem und schriftlichem Material der Umwelt Alt-Israels erfahren, wird die Sphäre des Todes von Frauen betreut. Der Tod macht unrein. Menschen, deren kultische Reinheit von der Gemeinschaft gefordert ist, müssen daher in höchstmöglichem Maße von der Todessphäre Abstand nehmen. So sollten sich Priester von Leichen fernhalten (vgl. Lev 21,1–6), der Hohepriester darf keinerlei Trauerriten vornehmen und nicht einmal Vater oder Mutter begraben (Lev 21,10–12). In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu fragen, ob die durch Menstruation und Geburt bedingte häufigere Unreinheit von Frauen diese für den Umgang mit den Toten als geeigneter erscheinen ließ.
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1. Klagefrauen Seit der Monographie H. Jahnows über das hebräische Leichenlied wird immer wieder betont, dass auch in Israel die Abhaltung der Totenklage nicht nur Aufgabe der Verwandten (vgl. Jer 22,18), sondern eine spezifisch weibliche Profession ist.29 Biblische Belege haben wir dafür streng genommen nur einen,30 aber in Anlehnung an die in der Umwelt Alt-Israels zu belegenden Zünfte kann man diesen wohl dahingehend deuten.31 Allerdings sind auch Männer in der Rolle der Klagenden belegt (2 Chr 35,25; Sach 12,11–14).32 Jer 9,16–21 beschreibt die Funktion der Klagefrauen. Wenn sie nach V. 16 gerufen werden, könnte dies nach T. Seidl33 auf einen Berufsstand schließen lassen. Sie beweinen die Toten, leiten die öffentliche Trauer und halten Menschen daher zur „Trauerarbeit“ an. Die Klagefrauen werden in V. 16 zusammen mit den weisen Frauen, wortwörtlich den „Weisinnen“, erwähnt. In V. 19 heißt es: „Denn hört, ihr Frauen, das Wort JHWHs, euer Ohr soll aufnehmen das Wort seines Mundes! Lehrt eure Töchter die Totenklage, eine der anderen das Klagelied!“ Klagefrauen haben vermutlich eine offizielle Funktion in der örtlichen Gesellschaft zu versehen. Es sind dies Frauen, die mit dem oder der Verstorbenen nicht verwandt sein müssen, sondern der Trauer professionell Ausdruck verleihen. Insofern sind sie von ihrer Aufgabe her am besten mit den Vorbetern bei den traditionellen katholischen Totenwachen vergleichbar. Die Existenz von Klagefrauen kommt dem urmenschlichen Befinden von Menschen entgegen, die durch den Verlust von geliebten Menschen oder nahen Verwandten unfähig sind, selbst Rituale zu leiten und Totenfeiern vorzustehen. Trauernde bekommen dafür entsprechende Hilfe von den Nachbarn und der örtlichen Gemeinschaft. Jer 9 verweist mit der Formulierung „Frauen und ihre Töchter“ darauf, dass die Funktion in einer Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. 29
Vgl. JAHNOW, Leichenlied, 71 Anm. 1; JOST, Himmelskönigin, 133. Die immer wieder als Beweis für Klagefrauen zitierten Belege (siehe etwa SEIDL, Tänzerinnen, 110) verweisen nicht eindeutig auf eine soziale Funktion von Frauen, sondern lassen nur darauf schließen, dass die Totenklage auch – oder vor allem – von Frauen vollzogen wurde: Nach 2 Sam 1,24 weinen Israels Töchter um Saul, in Jer 38,22 sind die noch im Palast verbliebenen königlichen Frauen gemeint, in Ez 32,16 sind es die Töchter der Völker, die über den Pharao die Totenklage anstimmen. In 2 Chr 35,25, einer Stelle, die JANOWSKI, Konfliktgespräche, 227 nennt, stimmen Sängerinnen und Sänger Klagelieder an. Hier ist eher an Sängergilden als an professionelle Klagefrauen zu denken. 31 Erst in talmudischer Zeit sind Klagefrauen literarisch nachweisbar, die man für die Trauerriten anheuert (Ketub. IV,4); vgl. JOST, Himmelskönigin, 132. 32 Auf diese Tatsache hat bereits WUCKELT, Frauen, 24 hingewiesen. 33 So SEIDL, Tänzerinnen, 111. 30
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I. Müllner hat aufgrund der Dreiheit von Klagefrauen, weisen Frauen, Frauen und deren Töchtern auf eine liturgische Abfolge beim Trauerritus geschlossen, der von Klagefrauen eingeleitet, von weisen Frauen weitergetragen und von der Allgemeinheit der Frauen beschlossen worden sei.34 Schlüssiger scheint mir allerdings die Deutung von T. Seidl35 zu sein, der „die Weisen“ als Frauen mit „Spezialkenntnisse[n] in der rituellen Klage“ deutet, die herbeieilen müssen, um die Gefahren des Todes professionell zu bannen. Wie immer der Text zu deuten ist, für die Genderfrage ist er insofern aufschlussreich, als die Trauerriten hier ausschließlich von Frauen getragen werden. Ob die in Ez 8,14 erwähnten Frauen, die den Tammuz beweinen,36 als Klagefrauen zu deuten sind oder hier nicht vielmehr von der kultischen Aktivität von Verehrerinnen des Gottes Tammuz berichtet wird, die am Nordtor des Tempels vollzogen wird, sei dahingestellt. Wahrscheinlich sind beide Deutungen insofern zusammenzusehen, als diesen Teil des Tammuzkultes Frauen vollziehen, denen in den Gesellschaften des Alten Orients die Totenklage zukommt.37 2. Totenbeschwörerinnen Noch ein weiterer Beruf – oder vielleicht sollte man besser sagen, eine soziale Funktion – ist im Zusammenhang mit dem Tod im Alten Testament für Frauen belegt: Es ist der der Totenbeschwörerin. Die Rechtstexte gehen mit dem Phänomen restriktiv um und verbieten diese Praktik der Schicksalsergründung (Ex 22,17; Dtn 18,11). Die einzige Geschichte, in der wir einer Frau begegnen, die solche nach dem Prophetiegesetz von Dtn 18,9– 14 in Israel verpönten Praktiken ausübt, finden wir im Rahmen der Saulerzählungen in 1 Sam 28. Die als „Hexe von En-Dor“ in die Exegese- und Kunstgeschichte eingegangene Totenbeschwörerin versucht Zukunftsergründung durch Befragung von Totengeistern zu erlangen. Ich halte diese Geschichte für keine archaische Erzählung, die noch vorisraelitische Praktiken in ihrer ältesten Überlieferungsform bewahrt hätte, sondern für eine dtr. Beispielserzählung zum dtn. Prophetiegesetz.38 Sie veranschaulicht die Sinnlosigkeit der illegalen Praktiken, indem sie die Ergründung des Gotteswillens und der Zukunft durch Nekromantie narrativ ad absurdum führt: Saul bekommt vom beschworenen toten Samuel nichts anderes zu hören, als dieser ihm bereits zu Lebzeiten gesagt hat. Im Gegensatz zum Hören 34
Vgl. MÜLLNER, Klagend, 309. Siehe auch zum Folgenden SEIDL, Tänzerinnen, 111. 36 SEIDL, Tänzerinnen, 113 verweist auf das interessante Detail, dass die sumerischen Klagelieder über Dumuzi „im sumerischen Frauensoziolekt Emesal abgefasst“ sind. 37 Dies hat bereits BIRD, „Frauenarbeit“, 31f festgestellt. 38 Siehe dazu ausführlich FISCHER, Gotteskünderinnen, 131–157. 35
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auf die wahre Prophetie ist Totenbeschwörung also nutzlos. Interessant an dieser Geschichte sind allerdings drei Aspekte: 1. Sauls Wunsch, Nekromantie zu betreiben, wird ohne Diskussion mit einer Frau, die diese Kompetenz besitzt, verbunden. Das heißt freilich nicht, dass nur Frauen Tote beschworen haben können, sondern, dass sie in dieser Funktion besonders geschätzt waren, denn für den König war das Beste wohl gerade gut genug. 2. Die Totenbeschwörerin beginnt ihr Geschäft erst in dem Augenblick, als Saul bei JHWH schwört, was nichts anderes bedeuten kann, als dass Nekromantie innerhalb des Kultes des Gottes Israels in vor-dtr. Zeit denkbar war, wofür auch mehrere biblische Zeugnisse sprechen (vgl. z.B. Jes 8,19f). 3. Obwohl die Totenbeschwörerin Falschprophetie im Sinne falscher Praktiken betreibt, ist sie in der Lage, den wahren Propheten Saul aus der Scheol heraufsteigen zu lassen. Totenbeschwörung und spezifische Formen der Kontaktaufnahme mit den Toten scheinen im Jahwismus keine Seltenheit gewesen zu sein (man denke nur an Jes 8,19f; 65,1–5).39 Biblische Hinweise auf eine weitere geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung fehlen jedoch. 3. Prophetinnen, die vom Leben zum Tod befördern In Ez 13 findet sich ein Diptychon der Falschprophetie. V. 1–16 skizzieren Praktiken, die offensichtlich von männlichen Propheten ausgeführt werden, wogegen V. 17–23 jene der weiblichen beschreiben. Der Text handelt beispielhaft sowohl an prophetischen Frauen als auch an Männern die Schädlichkeit von Falschprophetie ab, wie sie das Prophetiegesetz von Dtn 18,9– 14 definiert.40 Die prophetisch redenden Frauen werden wie die unmittelbar vorher gescholtenen männlichen Kollegen mit mantischen und magischen Phänomenen verbunden vorgestellt. Sie operieren zwar mit dem für die wahre Prophetie kennzeichnenden Wort (Dtn 18,18f), aber es ist ein frei erfundenes (Ez 13,2f.17) und nicht ein von JHWH gegebenes. Ist es die Aufgabe von prophetisch Begabten, mit ihrem Wort das Volk zur Umkehr anzuleiten und damit den Weg zum Leben zu weisen, so bewirken die prophezeienden Frauen mit ihrer selbsterfundenen Botschaft das Gegenteil. Sie kommen dem Auftrag des prophetischen Wächteramts, die Umkehrwilligen zum Leben und die Sünder zum Tod zu führen, nicht nach (vgl. Ez 3,16ff; 33,1ff sowie 20,10ff). Damit pervertieren sie die Bestimmung der Prophetie, zwischen Gott und Mensch zu vermitteln, und entscheiden 39
Zu Jes 8,19f siehe bereits FISCHER, Tora, 51–57. Weitere Begründungen auch zum Folgenden siehe bei FISCHER, Gotteskünderinnen, 221–234. 40
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eigenmächtig über Leben und Tod. Da das Volk jedoch schuldlos ist, weil es durch die Prophetie nicht gewarnt wurde, kündigt JHWH an, es aus der Gewalt dieser prophezeienden Menschen, seien es Propheten oder Prophetinnen, zu erretten und leben zu lassen. Da die Prophezeienden ihr Amt vernachlässigen, werden sie der gerechten Strafe zugeführt, die in der bleibenden Exilierung aus dem Land (V. 9), dem Verlust jeglicher prophetischer Fähigkeit (V. 20–23) oder gar dem Tod (V. 14) besteht. Wer sich prophetisches Wort anmaßt, spielt sich als Herr über Leben und Tod auf, da das Volk das wahre Wort Gottes nicht erfährt, und begeht nach Dtn 18,19f ein todeswürdiges Vergehen.
IV. Durch eine Frau kam der Tod in die Welt? Zum Motivzusammenhang von Frau und Tod „Gendert“ man das Thema Tod in der Bibel, so fällt Nicht-BiblikerInnen vermutlich als Erstes der – insbesondere im Christentum – fest verankerte Zusammenhang von Frau und Tod ein. Vor allem in der mittelalterlichen Rezeption der Paradiesgeschichte von Gen 2–4 wurde die Schuld am Tod in der Welt ausschließlich der „ersten“ Frau zugeteilt und damit die Frau an sich als anfällig für Sünde und den daraus resultierenden Tod dargestellt. Auch in der Ikonographie der abendländischen Kunst wird die Verbindung Eva – Schlange / Satan – Tod immer wieder neu ins Bild gesetzt. Kann dieser im Abendland als kulturgeschichtlich verankerte Zusammenhang von Frau und Tod als biblisch bezeichnet werden?41 1. „... ihretwegen müssen wir alle sterben“ versus „Mutter aller Lebendigen“ Der Referenztext solcher Auslegungen ist vor allem in Gen 3 zu suchen. Der meiner Meinung nach nachexilische Text42 ahndet die Übertretung des göttlichen Gebotes (Gen 2,16f) durch den Menschen, durch Mann und Frau, mit der Sterblichkeit der Menschen fern vom Gottesgarten. Aus den göttlichen Strafsprüchen der biblischen Sündenfallerzählung, die Mann wie Frau und sogar die Schlange gleichermaßen betreffen, ist nicht zu erschließen, dass die Frau etwa als schuldiger gesehen würde als der Mann. Der Strafspruch über die Frau sagt nichts über eine spezifische Nähe zum Tod aus. Falls jener über die Schlange, der von der gegenseitigen Feindschaft der Nachkommen von Schlange und Frau sowie vom Biss und vom Kopfzertreten redet, als Todesdrohung gesehen wird, ist zu betonen, dass 41
Vgl. zum Folgenden bereits FISCHER, Rut, 101–110. Siehe dazu ausführlich UNGER, Paradieserzählung, 260–265 sowie OTTO, Paradieserzählung. 42
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diese Feindschaft zwischen den Nachkommen – nicht nur den weiblichen – besteht. Gen 3 ist eine Ätiologie der widrigen menschlichen Lebensumstände, zu denen die Herrschaft des Mannes über die Frau und die Geburtswehen ebenso gehören wie die Mühe der Ackerarbeit und die Sterblichkeit. Der Text ist nicht als Zeuge für einen Motivzusammenhang von Frau und Tod heranzuziehen, sondern eher zum Erweis des Gegenteils: Eva, ̲awwÁh, wird zur Mutter aller Lebenden – nicht aller Toten (Gen 3,20). Obwohl der Text offen ist für eine positive – wie etwa im Hld – und eine negative Rezeption, lässt sich bereits im Sirachbuch die Dominanz des negativen Verständnisses nachweisen (Sir 25,24), das sodann ab dem Neuen Testament43 als einziges die weitere Wirkungsgeschichte bestimmt. Das Hld aber setzt sogar gegen den – im Vergleich zur späteren Rezeption wesentlich weniger misogynen – Text von Gen 3 einen Kontrapunkt, indem es das im Strafspruch über die Frau bezeugte Machtverhältnis des Mannes über die Frau (Gen 3,16) insofern revidiert, als das weibliche Begehren44 nicht mit männlicher Herrschaft, sondern durch das Begehren des Mannes beantwortet wird.45 So korrigiert die Hoheliedstelle die pessimistische Sichtweise des Geschlechterverhältnisses in Gen 3. Mann und Frau werden gleichermaßen mit dem sprießenden und genießenden Leben verbunden. Der Tod hat im Hohelied nur im Vergleich für die Stärke der Liebe und die Macht der sich ereifernden Leidenschaft Platz (8,6). Er kommt nicht verschuldet – und schon gar nicht im Zusammenhang mit irgendeiner Handlung der Frau – in die Welt, sondern ist eine Gegebenheit, der die Liebe stolz und trotzend entgegengesetzt werden kann. Der Tod ist zwar auch im Garten der gelingenden Beziehung zwischen den Geschlechtern unvermeidlich, aber er hat ein entsprechendes Gegengewicht.46
43 Exemplarisch seien hier die neutestamentlichen Stellen 1 Kor 11,2–12 und 1 Tim 2,11–15 genannt; die apokryphe Schrift der Vita Adams und Evas hat sodann die abendländische Rezeption mehr bestimmt als der biblische Text, wobei der Motivkomplex bis heute noch selbst in die Werbung hinein wirksam ist. Eine Wirkungsgeschichte des Textes hat SCHÜNGEL-STRAUMANN, Frau, zusammengestellt; die spezifisch christliche siehe bei LEISCH-KIESL, Eva. 44 „Begehren“, ɇɚɈɜɝ, kommt außer an diesen beiden Stellen nur noch in Gen 4,7 vor, wo vom Begehren der Sünde nach Kain gesprochen wird und damit offensichtlich ein übertragener Gebrauch vorliegt. 45 Dies haben bereits TRIBLE, Gott, 186 sowie HEINEVETTER, Liebster, 191–193 gesehen. 46 Siehe dazu FISCHER, Rut, 109.
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2. Femme fatale Das von „Eva“ abgeleitete Klischee, dass die Frau den Tod bringe, wurde durch die Auslegung weiterer Texte noch verstärkt. Allen voran sind die beiden biblischen „Kopfjägerinnen“47 Jaël (Ri 4,17ff) und Judit zu nennen, denen in der Auslegungsgeschichte mit schauderndem Misstrauen begegnet wurde. David, der Goliat den Kopf abschlägt (1 Sam 17,12ff) und damit nichts anderes tut als die beiden Frauen, wurde hingegen uneingeschränkt als Held gefeiert: Alle drei befreien Israel von unerträglicher Knechtschaft und Feindbedrohung, aber nur den Frauen wird das Adjektiv „fatale“ zugesprochen. Eine femme fatale ohne die Dimension der Rettung des Volkes wird im deuterokanonischen Tobitbuch vorgestellt: Die Figur der von einem Dämon besessenen Sara wird in Tob 3,7–17; 7,9–8,3 als eine – wenn auch schuldlos – den Tod bringende Frau gezeichnet, deren Ehemänner allesamt die Hochzeitsnacht nicht überleben. Während jedoch Judit, Jaël, die Frau aus Tebez (Ri 9,50–57) oder jene aus Abel Bet-Maacha (2 Sam 20,14–22) im Einsatz für ihr Volk und zu dessen Verteidigung gegen Krieger gewalttätig werden, fällt bei den Erzählfiguren Sara oder auch bei Judas Schwiegertochter Tamar der ausschließlich zivile Kontext ins Auge: Diese Frauen werden aufgrund ihrer Sexualität als für Männer tödlich denunziert (Gen 38,11; Tob 7,11; 8,10), beide jedoch werden im biblischen Text gerechtfertigt (vgl. Gen 38,26; Tob 7,16f–8,8). Ihren Todesschatten haben sie nämlich durch Männer – durch einen eifersüchtigen Dämon oder wie bei Tamar durch Ehemänner, die Unrecht tun. Der Motivzusammenhang von Frau und Tod ist in der Hebräischen Bibel nur bei der Ehebrecherin zu konstatieren. Vermutlich wohl aus der Tatsache zu verstehen, dass Ehebruch ein todeswürdiges Vergehen ist, wird die mit einem anderen Mann verheiratete Frau für Männer als todbringend vorgestellt (vgl. z.B. Spr 5,1–14). So warnt die elterliche Unterweisung die Söhne vor der fremden Frau, da sie einem das kostbare Leben abjagt, wenn man sich mit ihr einlässt (Spr 6,26). Aber selbst solche Passagen, die die Ehebrecherin in schwarzen Farben malen, werden unmittelbar von Aufforderungen zum Lebens- und Liebesgenuss mit der eigenen Frau gefolgt, wodurch sich der Motivzusammenhang von Frau und Tod nicht verfestigen kann. Erst in der Rezeptionsgeschichte dieser Texte wird das Gegengewicht nicht mehr gewahrt, die Frau mit dem Einbruch des Todes in die Welt in Verbindung gebracht und dem weiblichen Geschlecht allein die Schuld zugeteilt.
47 Dieser treffende Ausdruck stammt von BAL, Head Hunting, und wird von RAKEL, Judit, 235 weitergeführt.
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3. Einspruch gegen den Motivzusammenhang „Frau und Tod“ Berücksichtigt man Texte wie Ex 1f, so lässt sich eher ein Motivzusammenhang von Mann und Tod erheben: Alle weiblichen Figuren der Kindheitsgeschichte des Mose wirken über jegliche soziale und ethnische Schranken hinweg zusammen, um das Leben des Knaben zu retten. Dessen erste Tat ist allerdings – in Nachahmung aller männlichen Figuren dieser Erzählung – ein Totschlag.48 Würde man die Bibel unter dem Aspekt durchsuchen, wie oft von männlichen und wie oft von weiblichen Figuren im Kontext von Tod, Sterben und Töten die Rede ist, käme man bestimmt zum Ergebnis, dass es eher einen Zusammenhang von Mann und Tod gibt. Nicht nur, dass der Ur-Ort des Lebens bei den Frauen liegt, sie durch ihre biologische Fähigkeit, Leben zur Welt zu bringen, deutlich wahrnehmbarer mit dem Leben verbunden sind als die zeugenden Männer, sondern auch das sozialhistorische Faktum, dass Frauen nur in Ausnahmefällen kriegerisch eingreifen, unterstützt diese Annahme. Auch auf metaphorischer Ebene ließe sich dieses Gender-Resultat verfestigen und durch zahlreiche Beispiele weiterführen: So leitet etwa Frau Weisheit zum Leben an, nicht zum Sterben, und die Gottesrede von Jes 42,13f verwendet das männliche Bild des siegreichen – und daher tötenden – Kriegers und das weibliche der gebärenden, Leben spendenden Frau für das Handeln Gottes.
V. Resümee Ein allgemein menschliches Faktum, dass wir alle sterben müssen und der Tod von Menschen ein Skandalon im Leben ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als keineswegs geschlechtsneutral. Wenngleich männliche Lebensrealität wesentlich häufiger thematisiert wird als weibliche, gibt es doch zahlreiche Hinweise darauf, dass Frauen der Tod anders traf als Männer. Die Hebräische Bibel ist auch hierin überaus realistisch: Das Geschlecht als soziale Kategorie bestimmte nicht nur das Leben der Menschen in Alt-Israel zentral, sondern auch ihren Tod.
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Vgl. FISCHER, Gottesstreiterinnen, 166–175.
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II. Der gute und der schlechte Tod – zur Bewertung des Todes
„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit UTE NEUMANN-GORSOLKE
I. Einleitung (1) Wehe, o Tod, wie bitter ist der Gedanke an dich für einen Menschen, dem es wohl ergeht in seinem Besitz; für einen zufriedenen Menschen und für einen, der in allen Dingen Erfolg hat, und der bei sich noch Lebenskraft hat, Freuden zu genießen! (2) Ach, Tod, wahrlich, süß ist dein Gesetz für einen bedürftigen Menschen und für den, dem es an Kraft mangelt; für einen Menschen, der strauchelt und überall anstößt, der vergrämt ist und die Hoffnung verloren hat. (3) Nicht sollst du dich fürchten vor dem Tod, dem Gesetz, das dir bestimmt ist, denke daran, dass die Vorfahren und Nachkommen mit dir daran Anteil haben; dies ist das Los allen Lebens von Gott.1 (4) Warum verachtest du die Weisung des Höchsten? Ob tausend Jahre, hundert oder zehn, es gibt keine Beschwerde in der Unterwelt.2 (Sir 41,1–4)
Die Worte aus dem 41. Kapitel des Weisheitsbuches Jesus Sirach vom Beginn des 2. Jh. formulieren in den Versen 1f – zeitlos und aktuell – die Ambivalenz von Sterben und Tod: Gefürchtet wird der Tod von jenen, deren Leben gelingt und die am Leben hängen, weil sie es mit ihrer ganzen Lebenskraft genießen wollen, während diejenigen ihn herbeisehnen, deren Leben armselig und voller Leiden ist, so dass sie jede Hoffnung und jeden Lebensmut verloren haben. Aber der Sirazide weist gleichfalls die Angst vor dem Tod zurück (V. 3f) und betont die Schicksalsgemeinschaft aller Menschen: Dem Schicksal des Todes kann niemand entgehen, denn er ist von Gott gegeben (V. 3). Der Sterbende muss die Überlebenden nicht beneiden, denn er
1 Nach SCHRADER, Leiden, 235.249 ist ein ursprüngliches ɘɚ zu lesen (vgl. Gen 6,13, Am 8,2; Ez 7,2), das durch ɚɏɊ ersetzt wurde. Das griechische ưƸ ƦƭƛƨƝ lässt an das hebräische ɚɊ denken, vgl. SCHLATTER, Sirach, 24f. 2 Übersetzung SAUER, Jesus Sirach, 605f.
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weiß, dass er ihnen nur vorangeht.3 Und für die Bewohner der freudlosen Scheol4 ist es gleichgültig, wie lange sie gelebt hatten, denn in der Unterwelt gibt es keine Beschwerde über die Lebenslänge: Der Tod macht sie bedeutungslos.5 Ob der Verweis auf die Schicksalsgemeinschaft aller Menschen, die den von Gott zugeteilten Tod erleiden müssen, den Zeitgenossen die Angst vor dem Tod zu nehmen vermochte, ob der implizite Rat, sich in das Geschick zu fügen, die Haltung zum Sterben beeinflussen konnte, muss dahingestellt bleiben. Die Reflexion dieser Verse macht jedoch deutlich, dass der Sirazide sich genötigt sah, das Thema Tod in seiner Lebensunterweisung zu behandeln (vgl. auch Kap. 38) und gerade wegen der fehlenden Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod6 bzw. auf Auferstehung die richtige Haltung zum Tod vorzustellen. Damit rückt er einen Aspekt menschlichen Daseins ins Zentrum, der auf diese Weise in den kanonischen Schriften der hebräischen Bibel nicht behandelt wird.7 Zwar thematisieren einige Schriften, dass der Tod von Gott gegeben ist (vgl. Gen 3,19; Ps 90,3; 104,29 u.ö.) und die Formulierung „er wurde versammelt zu seinen Völkern / Vorfahren“8 impliziert eine familiäre Gemeinschaft aller Verstorbenen, doch eine Reflexion über den Tod an sich fehlt in der hebräischen Bibel. Wie also wird in der Hebräischen Bibel, deren Texte nicht von einer Hoffnung über die schattenhafte Existenz in der Scheol hinausgehen,9 der
3
Vgl. SCHRADER, Leiden, 249. Vgl. dazu Sir 14,12: „Denke daran, dass im Totenreich keine Wonne herrscht ...“ Zur alttestamentlichen Scheol-Vorstellung vgl. BERLEJUNG, Tod, 485–490. 5 Vgl. dazu auch SAUER, Jesus Sirach, 283. 6 Auch das Sirachbuch geht nicht von einem Leben nach dem Tod aus, vgl. SAUER, Jesus Sirach, 283, d.h. der Tote führte eine Schattenexistenz in der Scheol, die eine Trennung von Gott bedeutete. Zur „Kompetenzausweitung“ JHWHs bis in die Tiefen der Unterwelt vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 225ff und EBERHARDT, Unterwelt. 7 Vgl. SCHRADER, Leiden, 240–244. Anklänge an die bei Sirach gebotene Todesthematik findet sich alttestamentlich vornehmlich bei Ijob und im Buch Kohelet: Im Koheletbuch wird in 6,1–6; 7,1 der Tod einem üblen Leben vorgezogen; auch Ijob 3,6.9; 7,16; 10,1 formulieren eine Todessehnsucht angesichts des Leidens. In Koh 2,13; 3,20; 6,6; 9,2 und 11,8 steht die Nichtigkeit aller Dinge im Zentrum, in 9,2–6 explizit die gleichmachende Funktion des Todes, der jede Hoffnung zerstört (vgl. Sir 41,4). Diese Haltung ist nach Schrader ein Kennzeichen spätalttestamentlicher/frühjüdischer Weisheit (ebd., 241). 8 Vgl. dazu unten unter III.b) und den Beitrag von A. Krüger in diesem Band. 9 Nur wenige späte Texte deuten eine Auferstehungshoffung in der Hebräischen Bibel an, so z.B. Jes 25,8; Jes 26,19; Ps 22,28–32(?); Dan 12,2f, vgl. WASCHKE, Auferstehung, 915f mit Lit.; LIESS, Weg, bes. 313–322; 322ff. 4
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Tod thematisiert und wie wird – dies ist hier von besonderem Interesse – Sterben und Tod angenommen und bejaht?10 Nach einer kurzen einführenden Darstellung zu Thematisierungen des Todes im Alten Testament (II.), die den Horizont dieser Fragestellung erhellen soll, wird dieser Frage beispielhaft anhand der Vorstellung, „(er starb) alt und lebenssatt“ nachgegangen. Die vom Lutherdeutsch geprägte Wendung konstatiert den Tod als Abschluss eines gesättigten Lebens ohne Larmoyanz und Furcht und scheint damit Sir 41,3 zu entsprechen. Anhand der Semantik dieser Wendung und der Kontextualisierungen in den alttestamentlichen Texten soll die Bedeutung dieser Wendung ausgelotet und für das alttestamentliche Todesverständnis beschrieben werden (III.). Die Ergebnisse werden in einem Schlussteil (IV.) gebündelt.
II. Thematisierung des Todes im Alten Testament11 Während die Sehnsucht nach dem Tod aufgrund persönlichen Leidens (vgl. Sir 41,2) vor allem in den Büchern Kohelet und Ijob12 thematisiert wird, reflektieren die Schriften des hebräischen Kanons nicht die Angst vor dem bedrohlichen Tod an sich. Aus Erzählzusammenhängen ist dagegen die Furcht vor oder die Klage über einen unheilvollen Tod belegt. Dazu gehört einerseits die Angst, kinderlos13 oder ehrlos zu sterben – Letzteres besteht für Männer vor allem darin, von einer Frau getötet zu werden und nicht im Kampf Mann gegen Mann zu fallen, z.B. Ri 9,53, vgl. 5,24ff; 4,2114 –, zum anderen die Furcht vor einem gewaltsamen Tod, der nach 2 Sam 3,29 einen Fluch darstellt.15 Der gewaltsame Tod, den David für seinen Widersacher Joab wünscht, ist kein Weg „in Frieden“ (ɐɈɏɜɄ) in
10
Vgl. die Überschrift eines Kapitels bei WÄCHTER, Tod, 56. Hier kann nur kurz auf unterschiedliche Thematisierungen des Todes eingegangen werden, vgl. aber WÄCHTER, Tod; LIESS, Tod, mit Lit. 12 Vgl. dazu Anm. 8. Die Bedrohung durch die Todessphäre als Bereich der Gottesferne, wie sie in vielen Klageliedern des Einzelnen deutlich wird, wird hier ausgeklammert; sondern das Sterben als Ende der physischen Existenz steht im Vordergrund, vgl. dazu aber JANOWSKI, Konfliktgespräche, 225ff mit Lit. 13 Vgl. Gen 15,2; Kinderlosigkeit wird häufig als Gerichtsandrohung zusammen mit Gewaltaussagen gegen Israel thematisiert, vgl. u.a. Jes 15,7; 18,21; Ez 5,17; Hos 9,12. 14 Vgl. dazu DIETRICH, Tod, 69f. 15 Ein verfluchtes, gewaltsames Ende als Rache für die Propheten JHWHs ist von Königin Isebel überliefert, die aus dem Schaufenster des Palastes gestürzt und von den Hunden gefressen wurde, so dass nicht einmal ihre Gebeine begraben werden konnten (2 Kön 9,7.10.30–37); vgl. auch das Schicksal der Königin Atalja in 2 Kön 11,13–16.20. 11
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die Scheol (vgl. 1 Kön 2,9), wie er in Gen 15,15 für Abraham verheißen ist und die wünschenswerte Art des Sterbens darstellt. Es gilt daher, dem gewaltsamen Tod zu entkommen. Daher erklärt sich auch die Furcht u.a. des Propheten Elia vor den Nachstellungen Isebels (1 Kön 19,2f), des Propheten Urija vor Jojakim (Jer 26,21) wie auch Jeremias vor den königlichen Beamten, die ihm nach dem Leben trachten (Jer 37,20).16 Der gewaltsame Tod kürzt das Leben ab und verhindert bisweilen auch das wichtige Begräbnis,17 wie die Erzählung vom gewaltsamen Tod der Königin Isebel deutlich macht (2 Kön 9, 34–37).18 Aber auch außerhalb eines konkreten Gewaltkontextes zeigt sich im Alten Testament die Furcht, zu früh zu sterben, mehrfach, vor allem in reflektierenden Gebetstexten.19 Im Psalm 102,25a lautet die Bitte des Beters: (24) Er hat auf dem Weg meine Kraft gebrochen, verkürzt sind meine Tage. (25) Ich spreche: Mein Gott, führe mich nicht hinauf20 in der Mitte/Hälfte meiner Tage! (ɌɑɌ ɌəɊɄ)21
Die Verkürzung seiner Tage, seiner Lebenszeit, lastet der klagende Beter seinem Gott an, der ihm die Kraft zerbrochen hat (V. 24). Daher appelliert er in V. 25 an ihn, sein Leben nicht auch noch vorzeitig zu beenden. „Das ist keine Bitte um Bewahrung vor dem Sterben, sondern vor dem ‚Tod mitten im Leben‘ und vor einem jähen Tod, der ein Menschenleben zu einem Torso macht.“22 Eine ähnliche Klage erhebt König Hiskija in Jes 38,10, dem sog. Hiskijapsalm:23
16
Vgl. WÄCHTER, Tod, 10–14. Zur Bedeutung von Grab und körperlicher Integrität vgl. WENNING, Grab. 18 Vgl. Anm. 15. 19 Vgl. dazu auch den Beitrag von M. Leuenberger in diesem Band. 20 WÄCHTER, Tod, 35, übersetzt: „Nimm mich nicht hinweg in der Hälfte meiner Tage“ (so auch ZENGER, Psalmen, 59 und schon BAETHGEN, Psalmen, 310); allerdings ist hier die Verwendung des Verbums ɇɏɕ HifŦil auffällig, das in Psalmbitten sonst als Heraufführen aus der Scheol (= Errettung vom Tode) belegt ist (Ps 30,4; 71,20, vgl. 1 Sam 2,6; Jon 2,7). Diese Bedeutung liegt aufgrund der Verneinung hier nicht nahe (s. Ps 104,24b), sondern ɇɏɕ HifŦil rückt Ps 102,25a in die Nähe von 2 Kön 2,1, wo ebenfalls ɇɏɕ HifŦil mit Subjekt JHWH (vgl. 2 Kön 2,11 ɇɏɕ Qal) die bevorstehende Auffahrt Elias im Sturmwind zum Himmel bezeichnet. Ist ein ähnlicher Hintergrund auch für Ps 102,25a anzunehmen? 21 Zum Aufbau von Ps 102 und dem Rückbezug der Verse 24f auf V. 12f vgl. ZENGER, Psalmen, 58–69. 22 ZENGER, Psalmen, 66. 23 Zum Verhältnis von Hiskija-Psalm und Kontext vgl. WILDBERGER, Jesaja, 1454f. 17
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Ich dachte: In der Mitte meiner Tage24 (ɌɑɌ ɌɑɆɄ) muss ich gehen, zu den Toren des Totenreichs bin ich entboten für meiner Jahre Rest (ɌɝɈɓɜ ɛɝɌ).25
Auch der König glaubt ein vorzeitiges Ende zu finden, das ihn aus dem Leben „auf der Höhe menschlichen Daseins“26 reißt und ihm den „Rest seiner Jahre“, „über die sich zu Recht (s)eine Lebenserwartung noch erstreckt“,27 raubt.28 Die Vorstellung der „Hälfte resp. Mitte der Tage“ impliziert, dass das Leben eigentlich ein Ganzes, Abgeschlossenes, in seiner Länge Vorgegebenes ist, das dem Menschen – von Gott her – gegeben wird, ja zusteht.29 Ziel menschlichen Hoffens ist es, nicht vorzeitig zu sterben, sondern die gesamte Fülle der Lebenszeit erleben zu können. Daher warnt der Prediger seine Zeitgenossen, sich nicht schuldig zu machen oder sich töricht zu verhalten, denn: Wozu willst du sterben, wenn deine Zeit (noch) nicht da ist? (ɍɝɕ ɃɏɄ ɝɈɑɝ ɇɑɏ)
Diese Weisung in Koh 7,17 basiert auf der weisheitlichen Überzeugung, dass „Gerechtigkeit und Weisheit für ein langes und gutes Leben förderlich sind“30 und das menschliche Handeln selbst Einfluss auf die Lebenslänge hat. Dieser Aspekt tritt auch bei semantisch komplementären Zusagen von der Erfüllung langer Lebenszeit zutage: Denjenigen, die JHWH dienen, verheißt er, dass er auch „die Zahl deiner Tage erfüllen (Ƀɏɑ PiŦel)“ wird
24
Zu den textkritischen Problemen dieser Stelle vgl. WILDBERGER, Jesaja, 1442. Übersetzung nach WILDBERGER, Jesaja, 1440. 26 WILDBERGER, Jesaja, 1459. 27 WILDBERGER, Jesaja, 1460. 28 Vice versa kann der dringende Wunsch nach einem verkürzten Leben, nach dem „Tod mitten aus dem Leben heraus“ (WEBER, Werkbuch I, 248) sich gegen die Feinde richten, wie es Ps 55,24 formuliert (vgl. auch Ps 109,8): „Die Männer des Bluts und des Trugs werden nicht [einmal] die Hälfte ihrer Tage erreichen (ɐɇɌɑɌ ɈəɊɌȽɃɏ).“ (Ebd.) 29 Vgl. dazu einen Spruch aus der „Beschwörung für ein gutes Leben“ (pLeiden 347 iii,l–Xiii,3), in der es heißt: „Ich bin zu dir gekommen, damit du meinen Ruf hörst, meine Jahre im Leben dauerhaft machst, die Lebenszeit, die du für mich bestimmt hast, mich ernährst (...).“ (Übersetzung MÜLLER, Beschwörung IV, 231, IV, 10). 30 KRÜGER, Kohelet, 258; vgl. auch Spr 3,1f.16; 16,31. In der Lehre des Papyrus Insinger aber heißt es: „Weder der Gottlose noch der Gottesfürchtige kann die Lebenszeit, die ihm zugeteilt ist, ändern“ (BRUNNER, Weisheitsbücher, 325). 25
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(Ex 23,26).31 Auch in 2 Sam 7,12 wird der Zeitpunkt des Todes Davids mit „wenn deine Tage erfüllt sein werden“ (ɍɌɑɌ ɈɃɏɑɌ ɌɎ) beschrieben. Ein menschliches Leben ist idealerweise nach der ihm zugemessenen Anzahl der Tage (= Lebenszeit) „erfüllt“; wird es aber vorzeitig durch Gewalttat oder Krankheit beendet, fehlt ihm diese Fülle. Der Tod wird in dieser Perspektive vom Leben her gesehen, nämlich als dessen vorzeitiges bzw. unzeitiges Ende, das es zu fürchten gilt. Der Grund liegt wohl hauptsächlich in der fehlenden Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod bzw. im Verlust der Gottesbeziehung,32 wie es für das Alte Israel und auch die großen Nachbarkulturen Mesopotamiens33 und durchaus auch mit einigen Einschränkungen für Ägypten34 gilt. Die Bitte um ein langes Leben, ist daher nur zu verständlich, und gehört in Israel wie in den Nachbarkulturen zu einem verbreiteten Topos. So lässt sich neben Ps 102,25a ex negativo aus 1 Kön 3,11, der Antwort JHWHs an Salomo: weil (...) du nicht um viele Tage [lange Lebenszeit] für Dich gebeten hast,
erkennen, dass die Bitte um ein langes Leben zu dem Bittenkanon der Könige vor JHWH gehört. In 1 Kön 3,13f gesteht JHWH Salomo auch Reich-
31
Vgl. auch Ex 20,12: Wer Vater und Mutter „ehrt“, dessen Tage werden lang sein auf dem von JHWH gegebenen Land. 32 GESE, Tod, 39 spricht hier von Desakralisierung, da in Israel eine Vermischung des Jahwe-Israel-Bezuges mit der Welt der Todes nicht stattfinde; dennoch gelte, dass Jahwe auch die Unterwelt gehöre, er Macht auch über die Toten habe, „aber sie werden von seiner Offenbarung nicht betroffen; denn Jahwe ist kein Gott der Unterwelt, wo er ‚ist‘, ist Leben.“ Und daher gilt auch: „(...) nur in der Lebenssphäre, in der Offenbarungssphäre des Bewußtseins, gibt es Heil.“ (41). Vgl. auch LIESS, Tod, 299. 33 Unsterblichkeit war in Mesopotamien den Göttern vorbehalten, während die Menschen nach dem Tod in Gestalt von Schatten oder Geistern in einer freudlosen dunklen Unterwelt, die u.a. auch „Land ohne Wiederkehr“ genannt wurde, ihr Dasein fristeten; vgl. dazu BLACK/GREEN, Gods, 27f.58–62.180–182 und BERLEJUNG, Tod, bes. 466–485. 34 Obgleich die Vorbereitung des Grabes und die Konservierung des Toten einen hohen Stellenwert im Alten Ägypten einnahmen, sind die Vorstellungen von der Existenzform des Toten nicht zwingend positiv oder mit einer Auferstehungshoffnung zu vergleichen. Neben dem Glauben, dass das Leben im Jenseits eine Fortsetzung des Lebens im Diesseits – also durchaus mit Arbeit und Mühe verbunden – oder in den Gefilden der Seligen sei (Altes Reich), gehen das Zweiwegebuch im Mittleren Reich wie das Amduat und das Pfortenbuch des Neuen Reichs davon aus, dass „der Tote immer mehr in dem Dunkel seines unterweltlichen Reiches gefangen (ist). In ihm führt er ein düsteres, von Angst umschattetes Leben, das auch die Nachtfahrt der Sonne, (...) nur spärlich erhellt.“ (BONNET, Jenseitsglaube, 353, vgl. BRUNNER, Grundzüge, 122–148)
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tum und Ehre zu, um die er nicht gebeten hat; die Verlängerung der Lebenszeit wird in V. 14 an das Halten der göttlichen Gebote gebunden.35 Langes Leben für den König als Topos judäischer Königsideologie belegt neben Ps 61,7; 72,5 LXX auch Ps 21,5: Leben hat er von dir erbeten, gegeben hast du ihm Länge der Tage (ɐɌɑɌ ɍɛɃ) für immer.
Ein vergleichbares Bild zeigt sich auch in Inschriften des neuassyrischen Königs Assurbanipal (7. Jh. v.Chr.). Zwei Weihinschriften an die Götter Nabû und Ninlil enden jeweils mit Bitten um langes Leben. Angesichts der königlichen Bautätigkeiten an den Vorhöfen der Tempel der genannten Gottheiten erbittet sich Assurbanipal von Nabu: Durch die Kraft (?) deines treuen Schreibgriffels (?) möge ein Leben langer Tage (bal≠ûmê-meš-ia arkuti meš) von deiner Lippe herausgehen. Das Wandeln in Ê-zida möge vor
deiner Gottheit meine Füße altern lassen.36
Und mit ähnlichen Worten erbittet er auch von Ninlil: Mir, Assurbanipal, der deine (Var.: ihre) große Gottheit fürchtet, schenke ein Leben langer Tage (balat ûmê meš arkuti meš) (und) Wohlbefinden des Herzens und das Wandeln im Ê-mašmaš möge meine Füße altern lassen.37
Die Bitte um langes Leben ist hier gepaart mit dem Wunsch, im Tempel der jeweiligen Gottheit zu altern, d.h. der Gottheit im Leben ständig gegenwärtig zu sein.38 Auch in Ägypten ist die Bitte um ein langes Leben, resp. „schönes Alter“ (j3wt nfrt), das nach den Weisheitslehren 110 Jahre umspannt,39 seit dem Alten Reich ein feststehender Topos.40 Auf einem hölzernen Sitzbild aus dem Neuen Reich (nach Amarna) aus Theben (Deir-el-Medine) richtet sich die Bitte an Amun um ein „schönes Alter“ (Z. 4) resp. um ein „schönes Begräbnis nach dem Alter“ (Z. 24).41 Auch die Inschrift der Sitzfigur Kairo JE 37881 aus der Cachette von Karnak (wohl 4./3. Jh v.Chr.) bringt die Bitte um langes Leben zum Ausdruck:
35
Zu dem Verhältnis von Geboten und langem Leben vgl. MALAMAT, Longevity, 219. Weihinschrift an Nabû, in: STRECK, Assurbanipal, 274f, Nr. 11, 15–18. 37 Weihinschrift an Ninlil, in: STRECK, Assurbanipal, 276f, Nr. 11, 16–18. 38 Weitere Parallelen aus Mesopotamien bietet WÄCHTER, Tod, 59; MALAMAT, Longevity, 219f. S. auch Ahw III, 1207 balÁ‰a šÓbû(m) mit weiteren Verweisen. 39 Vgl. WÄCHTER, Tod, 61f mit Verweis u.a. auf die Lehre des Ptah-Hotep; vgl. auch STÖRK, schön, 93, und auch JANSSEN/JANSSEN, Getting Old, 60–69. 40 Beispiele auch bei WÄCHTER, Tod, 59–64. 41 Vgl. ASSMANN, Hymnen, 169. 36
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O Propheten und Gottesväter des Hauses des Amun: Wünscht ihr ein langes und gesundes (??) Leben, ohne dass es (vorzeitig) beseitigt wird? (Dann) sollt ihr meines Kas gedenken neben dem Herrn der [Gött]er als ihr [der Götter] wirklicher Begünstigter. Wünscht ihr ein dauerndes Alter und ein [ ]Ehrwürdigkeit? (Dann) [sollt ihr] Gott [preisen] für diesen Ehrwürdigen, und der Herr der Götter wird euch belohnen.42
Mit diesen rhetorischen Fragen will Ššnq, der Besitzer der Statue, die „Bediensteten“ im Tempel ermuntern, seiner in Gebeten und Preisungen zu gedenken, damit sein Name nicht dem Vergessen anheim fällt, ihnen durch diese gute Tat aber als Segen Amuns ein langes, nicht vorzeitig beendetes Leben geschenkt werde. Auch in den Texten der sog. Orakelamulette aus der 21. und 22. Dynastie, die als Schutzamulette für kleine Kinder, vorwiegend Mädchen, verwendet wurden, tritt neben die Zusage des Schutzes die Gabe des hohen Alters: Wir (= die Götter Mut, Chons-in-Theben und Amun-der-Throne-der-Länder) werden ihr Leben, Gesundheit und ein schönes, langes, hohes Alter geben.43
Wenn der Tod schon unausweichlich ist, so soll das Leben davor doch lang bzw. schön, und – von den neuassyrischen Texten ausgehend – auch in der Nähe und im Wohlwollen Gottes / der Götter, die für ein erfülltes Leben sorgen können, verlaufen. Hinter diesen Bitten steht immer die Furcht, das Leben könne vor der Zeit, die dem Menschen möglich ist (vgl. die Altersangaben in Ps 90), vom Tod beendet werden und die Beziehung zu Gott / den Göttern zerstören, der resp. die doch letztlich langes Leben schenken können. Kontrapunktisch zu diesen Ängsten kann die Aussage „alt und lebenssatt“ das Sterben und den Tod ohne Furcht beschreiben, weil das erhoffte Alter und Leben bis zur Sättigung vorausgesetzt sind. Der Tod erscheint zur rechten, vom Leben her gesehen angemessenen Zeit einzutreten. Welche Konnotationen mit „alt und lebenssatt“ verbunden werden, soll im Folgenden anhand der einschlägigen Belege näher untersucht werden.
42 43
Übersetzung JANSEN-WINKELN, Inschriften, 71f. Papyrus Turin 1983, übersetzt von PEUST, Orakelamulett, 290.
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III. „Alt und lebenssatt“ – Der Tod zur rechten Zeit Die sprichwörtliche Wendung vom Sterben ɐɌɑɌ ɕɄɜɈ ɒɚɉ „alt und lebenssatt“, wörtlich: satt an Tagen / Lebenszeit, ist alttestamentlich nur in Gen 25,844 (Abraham); Gen 35,29 (Isaak); 1 Chr 23,145 / 1 Chr 29,28 (David); 2 Chr 24,15 (Priester Jojada) und Ijob 42,17 (Ijob) belegt. Schon auf den ersten Blick zeigen diese Belege mehrere Auffälligkeiten: 1. Genannt werden nur Männer; Frauen werden nicht mit „alt und lebenssatt“ assoziiert.46 2. Zwar zählen die Männer in diesen Belegen zu den herausragenden Männern der hebräischen Bibel, aber die Auswahl wirkt eklektisch: So fehlt z.B. der dritte Erzvater Jakob,47 während der Priester Jojada über die Erwähnung in 2 Kön 11f und 2 Chr 23f im hebräischen Kanon keine große Rolle spielt. 3. Auffällig ist weiterhin, dass neben den Belegen aus der Genesis die Wendung nur in späten Büchern des hebräischen Kanons, dem Epilog des Ijobbuches und der Chronik, vorkommt, die Parallelerzählungen in den Königebüchern diese Wendung jedoch nicht kennen. Aus diesem Befund treten neben Überlegungen zur Bedeutung der Wendung „alt und lebenssatt“ die Fragen, ob es eine Erklärung für die „Auswahl“ der genannten Männer gibt und ob dieser Wendung eine spezifische Funktion in der exilisch-nachexilischen Zeit zugewiesen werden kann. Von den Belegen gehören Gen 25,8 und 35,29 nach Zimmerli,48 Seebass u.a. zur Priesterschrift aus exilisch-nachexilischer Zeit und sind somit die ältesten Texte, die die Wendung „alt und lebenssatt“ bieten. Da die Todes-
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Im MT fehlt hier nach dem ɕɄɜ die Angabe ɐɌɑɌ, die aber u.a. von einigen hebräischen Handschriften, dem Samaritanus, der Septuaginta und der Peschitta belegt ist. Aufgrund der großen äußeren Bezeugung ist wohl davon auszugehen, dass im MT das ɐɌɑɌ ausgefallen ist (vgl. WESTERMANN, Genesis, 482), vielleicht aufgrund einer aberratio oculi. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass von den Textzeugen eine bekannte Formulierung ergänzt wurde, die hier gemeint, aber nicht vollständig ausgedrückt ist. 45 Nur in 1 Chr 23,1 und 2 Chr 24,15 ist dieser Gedanke in Verbalformen ausgedrückt, was aber keine semantischen Differenzen zum adjektivischen Gebrauch erkennen lässt. 46 Die Todesnotizen bei Frauen, etwa bei den Erzmüttern Sara und Rahel, fallen kurz aus und werden jeweils mit ɝɈɑ ausgedrückt (Gen 23,1; 35,19); wichtiger als ihre Todesumstände sind ihre Grabtraditionen in Machpela bzw. das Rahelgrab am Weg von Efrata (Betlehem); vgl. die Notiz zum Tod Deboras, der Amme Rebekkas, in Gen 35,8. 47 In Hinblick auf Jakob ist das Fehlen der Notiz umso erstaunlicher, als die Todesnotizen der Erzväter eine weitgehend übereinstimmende Struktur haben, vgl. BLUM, Vätergeschichte, 436. 48 ZIMMERLI, 1. Mose, 138; WESTERMANN, Genesis, 482f und SEEBASS, Vätergeschichte, 458; nach BLUM, Vätergeschichte, gehört Gen 25,7 zur nachexilischen priesterlichen Bearbeitungsschicht, während 25,9b.10 spätere Erweiterungen sind (ebd., 445).
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notiz Abrahams in Gen 25,7–11, der die Isaaknotiz in Gen 35,29 parallel gestaltet ist, alle konstitutiven Gliederungselemente der zu untersuchenden Schlussnotizen enthält, bildet dieser Text den Ausgangspunkt der Exegese. Seitenblicke auf die weiteren Texte werden die Untersuchung ergänzen,49 der es neben der semantischen Analyse gerade auch um den Kontext der Wendung „alt und lebenssatt“ geht. Übersetzung Gen 25, 7–11: (7) Und dies ist die Lebenszeit Abrahams (ɌɊȽɌɓɜ ɌɑɌ), die er gelebt hat: 175 Jahre. (8) Und Abraham verschied (ɕɈɅɌɈ) und starb (ɝɑɌɈ) in gutem Alter (ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ), alt und satt (ɕɄɜ Ɉɒɚɉ) [an Tagen/Lebenszeit], und er wurde versammelt zu seinen Vorfahren (ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ). (9) Und Isaak und Ismael, seine Söhne, begruben (ɈɛɄɚɌɈ) ihn in der Höhle von Machpela, auf dem Feld Ephrons, des Sohnes Zohars, des Hetiters, welches Mamre gegenüber liegt. (10) Das Feld, das Abraham gekauft hatte von den „Söhnen des Chet“, dort wurde Abraham begraben und Sara, seine Frau. (11) Und es geschah nach dem Tod Abrahams, da segnete Gott den Isaak, seinen Sohn, und Isaak wohnte mit Beer Lachaj Roj.
Im jetzigen Kontext folgt nach der Erwähnung der zweiten „Ehe“ mit Ketura und der Nennung der gemeinsamen Söhne, die mit Geschenken abgefunden werden, damit Isaak Alleinerbe und unangefochten Nachfolger Abrahams werden kann (25,1–6), die Notiz zu Abrahams Sterben und Tod in den Versen 7–11.50 Diese Übersicht zeigt die Gliederungselemente der Schlussnotiz, die z.T. auch für die übrigen Belege signifikant sind (siehe die Tabelle auf der folgenden Seite). Sie werden im Folgenden einzeln betrachtet und auf ihre Bedeutung für das Verständnis von „alt und lebenssatt“ untersucht.
49
Anders geht WÄCHTER, Tod, 65 vor, der die Chronikbelege als „bloße Tugenderweise“ nicht berücksichtigt, aber Ijob 42,17 zur Grundlage seiner Untersuchung macht, „denn in ihm wird am deutlichsten, dass die Aussage, jemand sei ‚alt und satt an Tagen‘ gestorben, mehr meint als nur die Erreichung eines hohen Alters.“ 50 An diese Schlussnotiz zu Abraham sind die Ismael-Toledot (25,12–18) und die Isaak-Toledot (25,19) angehängt, die – ausgehend von V. 9 – die Familiengeschichte weiterführen.
„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit
V. 7
Altersangabe
–
175 Jahre
V. 8a
Sterben / Tod
–
zweifache Verben: ɕɈɅ /
ɝɈɑ V. 8b
V. 8b V. 9f
V. 11
Umstände des Todes
Erneute Sterbenotiz Begräbnis (durch die Söhne) Nachfolge
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Vgl. Gen 35,28f; 2 Chr 24,15; Ijob 42,17; (1 Chr 29,27 Regierungsjahre Davids) Vgl. Gen 35,29 Vgl. Gen 35,29; 1 Chr 29, 28; 2 Chr 24,15; Ijob 42,17 Vgl. Gen 35,29; 1 Chr 29,28
–
in gutem Alter: ɇɄɌɜɄ
–
ɇɄɈɋ ɐɌɑɌ ɕɄɜɈ ɒɚɉ
–
ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ
Vgl. Gen 35,29; 1 Chr 23,1 und 1 Chr 29,28; 2 Chr 24,15 (Verben!); Ijob 42,17 Vgl. Gen 35,29
–
ɛɄɚ
Vgl. Gen 35,29; 2 Chr 24,15
–
Isaak
Vgl. 1 Chr 23,1; 29,28 (vgl. Gen 36.37ff und auch die erwähnte Nachkommenschaft in Ijob 42,17)
a) Die Altersangaben Der priesterliche Schluss der Abrahamserzählung beginnt mit der Nennung seines hohen Alters. Wie Westermann betont,51 ist die Häufung der Nomina (Tage, Jahre, Leben, Jahre) wie auch der Relativsatz ɌɊȽɛɜɃ dazu angetan, die Erstreckung seines Lebens sprechend zu gestalten.52 Die genannten 175 Jahre – 100 Jahre nach der Einwanderung in das Land Kanaan (12,4) – entsprach allerdings kaum der realen Lebenserwartung in biblischer Zeit,53 die Ps 90,10 nach 70, höchstens 80 Jahre betrug,54 sondern folgt mythischen Maßstäben und sucht eine Entsprechung zwischen der
51
WESTERMANN, Genesis, 486. Vgl. dagegen die kurze Formulierung für Isaak in Gen 35,28. 53 Nach WOLFF, Anthropologie, 177 dürfte die durchschnittliche Lebenserwartung kaum mehr als 40 Jahre betragen haben; diese Einschätzung wird auch von Knochenfunden aus bronzezeitlichen Gräbern in Palästina bestätigt, vgl. SCHOTTROFF, Alter, 67f. 54 Vgl. dazu auch die Periodisierung der Lebensalter des Sultantepe Tablet (= STT) 400 aus dem 7. Jh. v.Chr., das 70 Jahre mit „long life“ (īmī arkûtu), 80 Jahre mit „old age“ (šëbītu), 90 Jahre mit „extreme old age“ (littītu) bezeichnet, vgl. dazu HARRIS, Gender, 28–31 und RADNER, Privatrechtsurkunden, 172. 52
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Urzeit Israels und „der erhofften Heilszeit, in der nach Jes 65,20 der Jüngste mit 100 Jahre sterben wird“,55 herzustellen.56 Auch die anderen erwähnten Texte weisen – mit Ausnahme von 1 Chr 23/29 – jeweils auf das hohe runde Alter des Genannten hin: Isaak 180 Jahre, Jojada 130 Jahre und Ijob noch 140 Jahre57 nach seiner Restitution. Allein für David wird in 1 Chr 29,27 statt des Lebensalters die lange, ebenfalls runde und symbolkräftige Regierungszeit von 40 Jahren angegeben, die der seines Sohnes Salomo entspricht, unter den judäischen Königen nur von Asa und Manasse überboten wird.58 Dass die runde Zahl der Regierungszeit historisch verlässlich ist, muss ebenso bezweifelt werden wie bei der Altersangabe in 2 Sam 5,7 von 70 Jahren, wobei bemerkenswert ist, dass diese Angabe noch unter der in Ps 90,10 genannten Lebensgrenze von 80 Jahren liegt, d.h. der Symbolgehalt ist bedeutsamer als die Überbietung der normalen Altersgrenze. Beide Angaben zu David gehören zu den in der hebräischen Bibel symbolträchtigen Zahlen, die als die Verzehnfachung der Vier (= Weltenden, der Paradiesströme etc.) und der Sieben (= Tage der Schöpfung, Ruhetag am Ende der Schöpfung etc.) schon in der Bibel an prägnanten Stellen vorkommen und Fülle und Vollkommenheit bedeuten.59 Die mythisch dimensionierte Lebenszeit wie die hohe Regierungszeit Davids mit ihrer symbolischen Dimension können als konstitutiv für das Motiv „alt und lebenssatt“ gelten. b) Die Verben ʲʥʢ und ʺʥʮ sowie die Wendung ʥʩʮʲ ʬʠ ʳʱʠ Das Sterben wird in Gen 25,8a mit dem allgemeinen Verb ɝɈɑ ausgedrückt, das hier wie in Gen 25,17 (Ismael); 35,29 (Isaak) und 49,33 (Jakob) von dem Verb „verscheiden“ ɕɈɅ gefolgt wird.
55
WOLFF, Anthropologie, 178. Abrahams Alter unterschreitet die Jahre der vorsintflutlichen Eponymen, liegt jedoch über der in Gen 6,3 festgesetzten Lebenszeit von 120 Jahren, vgl. ZIMMERLI, 1. Mose, 138. 57 Jojada und Ijob sind neben Josua die einzigen Menschen, die in nachmosaischer Zeit über 100 Jahre alt wurden, vgl. WOLFF, Anthropologie, 178f. Zur symbolischen Ausdeutung dieser Altersangaben vgl. HERRMANN, Zahl, 472f. 58 Die Angabe der Regierungszeit gehört zu den abschließenden Notizen über die Könige in der Chronik wie in den Königsbüchern, während die Altersangabe nicht immer erfolgt. 59 So dauern die Regenfälle der Sintflut 40 Tage, 40 Jahre die Wüstenwanderung, 40 Tage weilt Mose auf dem Gottesberg etc.; 70 Älteste sind um Mose, 70 Familienangehörige kommen mit Jakob nach Ägypten, das Exil wird in 70 Jahrwochen gedeutet usw.; vgl. HERRMANN, Zahl, 472f. 56
„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit
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Bei ɕɈɅ scheint es sich um ein priesterschriftlich geprägtes Wort zu handeln (vgl. Gen 6,17 und 7,21). Benno Jacob ist der Ansicht, dass mit ɕɈɅ das Sterben die Konnotation „sanft, ohne Krankheit und Schmerzen, an natürlicher Entkräftung“60 erhält. M.E. ist diese Vorstellung aber eher von den folgenden Umstandsbeschreibungen „in gutem Alter“ und „alt und lebenssatt“ erschlossen. Denn in Gen 6,17 und 7,21 bezeichnet ɕɈɅ das Sterben allen Fleisches in der Sintflut im Sinne von „umkommen“, und in Num 17,27 weist das Parallelverb ɆɄɃ nicht auf ein friedliches Sterben hin. Auch die zahlreichen Belege im Ijobbuch (Ijob 3,11par. ɝɈɑ; 10,18; 13,19; 14,10par. ɝɈɑ; 27,5; 29,18; 34,15; 36,12) tragen nicht diese Konnotation, sondern bezeichnen sogar den Todeswunsch (z.B. 3,11; 10,18).
In den übrigen Textstellen (Chr / Ijob) wird nur das einfache ɝɈɑ verwendet, was angesichts der 9 Belege von ɕɈɅ im Ijobbuch überrascht. Die Doppelung scheint für die Todesnotizen der Erzväter und Ismael charakteristisch,61 lässt sich aber m.E. nicht als signifikant für den Zusammenhang „alt und lebenssatt“ erheben. Dasselbe Urteil gilt auch für die Wendung ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ NifŦal „zu den Völkern / resp. Vorfahren versammelt werden“, die – wie die Reihung in Gen 35,29 (vgl. auch Gen 25,17) zeigt – wohl als weiterer Ausdruck für das Sterben anzusehen ist,62 der die Verbindung „mit seinen Vorvätern im Sinne einer ‚corporate personality‘“63 zum Ausdruck bringt. Vor allem im Bereich des Pentateuch tritt der Ausdruck auf und umschreibt das Sterben der Stammväter Abraham (Gen 25,8), Ismael (Gen 25,17), Isaak (Gen 35,29) und Jakob (Gen 49,33) sowie Aaron (Num 20,24; vgl. Dtn 32,50) und Mose (Num 27,13; Dtn 32,50).64 c) Umstände des Todes Ɲ) „in gutem Alter“ (ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ) Als erste Umstandsbeschreibung charakterisiert Gen 25,8 das Sterben „in gutem Alter“ (ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ). Wie die Wurzel ɒɚɉ65 leitet sich auch der Al-
60
Vgl. JACOB, Genesis, 538 und auch WESTERMANN, Genesis, 486. Vgl. BLUM, Vätergeschichte, 436. 62 Vgl. BLUM, Vätergeschichte, 436. So kann in Num 27,13 mit dieser Wendung ohne weiteres Verb das Sterben des Mose wie Aarons ausgedrückt werden. 63 KOCH, ɛɄɚ, 1155. Nach JACOB, Genesis, 536, kann der Ausdruck „hier nur die Vereinigung der Seele, d.i. der verklärten Persönlichkeit, mit den Seelen der Vorfahren bezeichnen, gleich denen er nunmehr zu den Verstorbenen gehörte und gezählt wurde.“ Vgl. dazu auch den Beitrag von A. Krüger in diesem Band. 64 ɖɔɃ Ni. ist auch mit den Objekten ɈɌɝɈɄɃ (Ri 2,10) und ɈɌɝɌɛɄɚ (2 Kön 22,20) belegt. 65 Vgl. unten unter ƞ). 61
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tersbegriff ɇɄɌɜ von physiologischen Gegebenheiten ab,66 nämlich von der Haarfarbe, und bezeichnet zunächst das graue Haar (Hos 7,9; Spr 16,31; 20,29; Ijob 41,24) und steht dann für das hohe Alter selbst (1 Kön 14,4; Jes 46,4; Ps 71,18; 92,15; Rut 4,15) bzw. den alten Menschen (Lev 19,32; Dtn 32,25), hat aber „deutlich das äußere Merkmal des Alters, die Grauhaarigkeit, semantisch bewahrt.“67 Im Gegensatz zu ɒɚɉ wird ɇɄɌɜ nicht für Frauen, sondern allein für Männer verwendet. Das zeitliche Gewicht liegt bei den 19 nominalen Belegen auf der exilisch-nachexilischen Zeit.68 In zweifacher Weise taucht ɇɄɌɜ im Zusammenhang mit dem Thema Sterben in negativ konnotierten Kontexten auf. Dabei wird ɇɄɌɜ mit Suffix bzw. in Konstruktusform als Personifikation des hohen Alters in Verbindung mit ɆɛɌ HifŦil und der Ortsangabe Scheol verwendet: Zum einen wird in der Josefserzählung dreifach erwähnt, dass der Tod des jüngsten Sohnes Benjamin das graue Haar Jakobs, d.h. den alten Jakob, „mit Qual“ (ɒɈɅɌɄ) in die Unterwelt führen würde (vgl. Gen 42,38; 44,31 und die Aufnahme dieser Rede in Gen 44,29 mit ɇɕɛɄ „mit Unglück/Bösem“). Das Leid um seinen geliebten jüngsten Sohn würde den Tod für Jakob trotz seines Alters zur Qual werden lassen. Zum anderen weist David in seinem „Testament“ in 1 Kön 2,6 und 9 Salomo an, seine Feinde, die er noch verschont hatte, zu beseitigen: Er solle Joabs „graues Haar“, d.h. den alten Joab, nicht „in Frieden“ (ɐɈɏɜɄ) in die Unterwelt hinabsteigen lassen, und auch das graue Haar Schimis, des Sohnes Gerars, soll Salomo „mit Blut (befleckt)“ (ɐɆɄ) in die Scheol hinunterfahren lassen. Die königliche Rache verfolgt also selbst alte Menschen, deren Tage gezählt sind und denen nach anderen Texten des Alten Testaments Ehre gebührt (vgl. u.a. Lev 19,32), und überantwortet sie der Grausamkeit eines gewaltsamen und unheilvollen, d.h. vorzeitigen Todes. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Rede vom Sterben „im guten Alter“, die neben Gen 25,8 nur noch in Gen 15,1569 (Abraham), Ri 8,32 (Gideon) und dem hier ebenfalls relevanten Text 1 Chr 29,28 (David) vorkommt, besondere Kontur. Denn nicht Sterben in Gram und Kummer oder ein gewaltsamer Tod stehen hier vor Augen, sondern ein Sterben nach
66 Zur gemeinsemitischen Wurzel (vgl. altbabylonisch šëbu „grau, grauhaarig, alt“) vgl. FABRY, ɇɄɌɜ, 752; MEINHOLD, Bewertung, 99; HARRIS, Perspectives, 119 Anm. 2. 67 FABRY, ɇɄɌɜ, 754. 68 FABRY, ɇɄɌɜ, 754. 69 Wie BLUM, Vätergeschichte, 379 deutlich gemacht hat, ist Gen 15,15 von Gen 25 her beeinflusst.
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langem Leben, weder von Gram gebeutelt noch gewaltsam beendet, in einem hohen Lebensalter, das der Tod erwartungsgemäß beendet.70 Eine vergleichbare Formulierung liegt in ägyptischen Texten mit der Rede vom „schönen Alter“ vor, das der Mensch von den Göttern erbittet. Als Beispiel sei über die oben schon erwähnten Texte71 hinaus nochmals auf einen Inschriftentext auf der Rückseite der Sitzfigur Kairo JE 37881 aus Karnak verwiesen (4. Jh. v.Chr.), wo es heißt: Ein Königsopfer der Mut, der Herrin des Himmels, des Auges des Re, des Chons in Theben, Neferhotep, des Month, des Herrn von Theben, indem sie geben ein schönes Alter in Frieden für den Ka des Propheten Š(š)nq.72 Insbesondere die Qualifizierung des schönen Alters „in Frieden“ (m htp) weist wie in den alttestamentlichen Texten darauf hin, dass ein hohes Lebensalter fern von Kummer und Sorgen und Gewalt intendiert ist.
Die Rede vom „guten Alter“ in den Abschlussnotizen impliziert, dass zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Lebensaufgaben erfüllt sind, genügend Nachkommenschaft gezeugt (Gen 25,1–6; Ri 8,30f; vgl. auch Ijob 42,16) und – im Falle Davids – die Organisation von Reich und Tempel sowie die Nachfolgerfrage geklärt ist (vgl. die erste Erwähnung ɒɚɉ und ɕɄɜ in 1 Chr 23,1 und die Aufnahme erst wieder in 1 Chr 29,28, ergänzt um „in gutem Alter“ und die dazwischen liegenden Auflistungen von Kult- und Heerespersonal in 1 Chr 23–27 sowie die Präsentation Salomos als Nachfolger in 1 Chr 28f). Die Stellung der Bestimmung „in gutem Alter“ direkt vor „(alt und) satt an Tagen“ kann in Gen 25,8 und 1 Chr 29,28 als sinnvolle und Sinn erschließende Hinführung zum Folgenden verstanden werden: Der Zeitpunkt des Sterbens ist als Ende eines sorgenfreien, erfüllten Alterslebens charakterisiert, eine Vorstellung, die den Verstehenshorizont für die Wendung „alt und lebenssatt“ (ɐɌɑɌ ɕɄɜɈ ɒɚɉ) bildet. ƞ) „alt und lebenssatt“ (ɐɌɑɌ ɕɄɜɈ ɒɚɉ) Mit ɒɚɉ, das sich von einer gemeinsemitischen Wurzel für Kinnbart ableitet,73 aber trotz der Herkunft von einem männlichen physiognomischen
70 JACOB, Genesis, 538 spricht hier von „frohem Greisentum“, „ohne daß sein Alter durch Unglück und Kummer verdüstert war“, vgl. auch CONRAD, ɒɚɉ, 642. 71 Vgl. dazu oben unter II. Nach JANSSEN/JANSSEN, Getting Old, 60, ist in OpferFormularen seit der 4. Dynastie bis in Ptolomäische Zeit der Wunsch nach einem gutem Begräbnis belegt, „after one has become very beautiful old.“ 72 JANSEN-WINKELN, Inschriften, 71. 73 Zur Ableitung vom Nominalstamm zÁqÓn „Kinnbart“ vgl. SCHARBERT, Alter, 339 und CONRAD, ɒɚɉ, 640.
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Merkmal auch für Frauen verwendet wird, liegt eine sehr verbreitete allgemeine Altersbezeichnung vor. Mit ihr „scheint immer ein relativ hohes Lebensalter gemeint zu sein.“74 Diese Einschätzung stimmt mit den Angaben der Belege hier überein, die als Alter 175 Jahre für Abraham, 180 für Isaak, 130 für Jojada und x+140 Jahre für Ijob nennen.75 Weiter qualifiziert wird diese Altersangabe durch (ɐɌɑɌ) ɕɄɜ.76 Die gemeinsemitische Wurzel ɕɄɜ mit der Bedeutung „sich sättigen / satt sein“, „Sättigung“ oder „satt / gesättigt“ (97mal verbal; 16mal substantivisch und 10mal adjektivisch im Alten Testament) bezeichnet in den überwiegenden Fällen das konkrete Stillen des Hungers, oft im Zusammenhang mit ɏɎɃ oder ɐɊɏ.77 Sättigung wird häufig als Gabe des Schöpfers JHWH (vgl. Ps 104,13.16.28 u.ö.) und Ausdruck seines Heilshandelns verstanden (Ex 16,8.12); das Nicht-Sattwerden dagegen als seine Strafe (Hos 4,10). Schon in dieser Verwendung deutet sich eine reichhaltige metaphorische Verwendung78 an, sowohl mit Bezug auf materielle Güter wie Geld (Koh 5,9) wie auch auf Abstrakta, die menschliche Erfahrungen wie Hohn (ɉɈɄ; Ps 123,3f) oder Leiden (ɝɈɕɛ Ps 88,4) beschreiben.79 Dabei bestimmt das Objekt zu ɕɄɜ die negative oder positive Bedeutung der Sättigung. Allerdings kann ɕɄɜ – wie im Deutschen – auch die Bedeutung „etwas satt haben / nicht mehr mögen / ablehnen“ annehmen (vgl. z.B. Spr 25,16f; Jes 1,11f) wie auch der Vorstellung, nicht genug bekommen zu können, Ausdruck verleihen (vgl. Spr 27,20; Koh 1,8). Die Frage stellt sich nun, in welchem Sinn die untersuchte Wendung ɐɌɑɌ ɕɄɜ zu verstehen ist. GesB17 unterscheidet bei dem Adjektiv ɕɄɜ zwischen „gesättigt in gutem oder bösen Sinn“ und ordnet „alt und lebenssatt“ Letzterem zu.80 Ist mit dem Objekt ɐɌɑɌ „Tage / Lebenszeit“, das in unterschiedlichen Wendungen lange Lebenszeit ausdrückt,81 also das Gefühl alter Menschen ausgedrückt, ihres Lebens überdrüssig zu sein? Gegen diese negative Sicht spricht die Vorschaltung von ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ in Gen 25,8 und 1 Chr 29,28. Außerdem bezeugt u.a. Ps 91 den Zusammenhang von Sättigung und Tagen / Lebenszeit, der für die positive Bewertung
74
SCHARBERT, Alter, 339. Davids Lebenszeit lässt sich aus 2 Sam 5,4 auf 70 Jahre berechnen, vgl. oben unter III.a). 76 In 1 Chr 23,1 und 2 Chr 24,15 wird dieser Gedanke verbal ausgedrückt, vgl. Anm. 45. 77 Vgl. WARMUTH, ɕɄɜ, 693 und GERLEMAN, ɕɄɜ, 819. 78 Nach WARMUTH, ɕɄɜ, 694, ist bei ɕɄɜ keine Bedeutungsentwicklung feststellbar, allerdings sei in späten Texten, insbesondere in Spr, Pss und Dtn, die Häufigkeit der Vorkommen und die Vielfalt der Verwendungsweisen besonders groß. 79 Vgl. WARMUTH, ɕɄɜ, 694.696. 80 GesB 778. 81 Vgl. die Beispiele bei LIESS, Sättigung, 333. 75
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der Wendung „alt und lebenssatt“ herangezogen werden kann. In der Gottesrede am Schluss von Ps 91 heißt es (V. 14–16): Mit Länge der Tage / langem Leben (ɐɌɑɌ ɍɛɃ) werde ich ihn sättigen, und ich werde ihn mein Heil (ɌɝɕɈɜɌɄ) sehen lassen (16).
Auf das Vertrauen in Gott, das die Verse 1–2.3–13 zum Ausdruck bringen, respondiert die Gottesrede in V. 14–16 und bringt den Heilswillen Gottes für den Beter zum Ausdruck: Von Rettung, Schutz und Beistand steigert sich die siebenfache Zusage Gottes82 in diesem Abschnitt zur Zusage von Ehre (15b), der Gewährung eines langen Lebens und Heil (16). Wie der Parallelismus in V. 16 zeigt, impliziert diese Sättigung nicht den Überdruss des Lebens, sondern zeigt das Heil Gottes für den Beter.83 Ein Leben bis zur Sättigung, bis zur Fülle der Tage ist heilvolle Gabe Gottes.84 Trägt das „Heil“ in Ps 91 aufgrund des Verbums ɇɃɛ HifŦil Tempeltheologische Implikationen,85 so weisen Texte wie Ijob 42,17 und 1 Chr 29,28 konkret darauf hin, wie heilvolle Fülle des Lebens zu verstehen ist: 16 Und Ijob lebte nach diesem 140 Jahre, und er sah seine Kinder und Kinder seiner Kinder – vier Generationen. 17 Und Ijob starb alt und lebenssatt.
Wie schon Wächter herausgestellt hat,86 gehört zur Lebenssattheit neben dem Erreichen eines hohen Alters (x + 140 Jahre) der göttliche Segen87 reicher Nachkommenschaft, derer Ijob in vier Generationen selbst noch ansichtig wird. Dabei fungiert die Vorstellung von vier Generationen nicht nur als Bild verzweigter Familie, sondern auch als Ausdruck der höchsten möglichen Lebensspanne.88 Auch außerhalb der Bibel sind die vier Generationen als Bild höchsten Alters und Lebensfülle belegt. Neben einer aramäischen Inschrift aus Ne 82
HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51-100, 624. LIESS, Weg, 266 betont zu Recht, dass innerhalb der Rahmenstruktur sich V. 14–16 auf V. 1–2 zurück beziehen und als Antwort auf die Vertrauensanrede zu verstehen sind: Die verheißende Rettung ist nicht nur punktuell gemeint, sondern Gott sättigt den Beter ‚mit der Länge der Tage‘, „d.h. er bewahrt ihn sein ganzes Leben hindurch.“ 84 Dass langes Leben ein Geschenk der Gottheit für gottgemäßes Leben ist, zeigen auch ägyptische Texte. Auf dem Würfelhocker Kairo JE 37149 aus der Cachette in Karnak heißt es: „Wie gedeihlich ist es, Amun zu dienen: er wird mich alt werden lassen, indem ich seine Reinigung vollziehe.“ (Übersetzung JANSEN-WINKELN, Inschriften, 240) 85 Vgl. LIESS, Sättigung, 332–337, bes. 336f. Vom hohen Alter in der Gottesnähe sprechen auch schon die Weihgebete Assurbanipals, vgl. oben unter II. 86 WÄCHTER, Tod, 65. 87 Vgl. WOLFF, Anthropologie, 259f. 88 Vgl. MALAMAT, Longevity, 216f. 83
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rab in Nordsyrien89 ist eine neubabylonischen Inschrift aus Harran zu nennen, in der Adad-guppi’, die hochbetagte Mutter Nabonids spricht: Meine Kindes-Kindes-Kindes-Kinder, bis zur (von) mir abstammenden vierten Generation, sah ich gesund und munter und sättigte mich an Alter (áš-ba-a lit-tu-tu). Sîn, König der Götter, zum Wohle hast du mich angeschaut und meine Tage lang gemacht (u4 -mi-iá
tu-ri-ki).90
Kinder und Kindeskinder aufwachsen zu sehen, bei guter Gesundheit und „munter“, hierin manifestiert sich der göttliche Segen für Adad-guppi’ wie für Ijob (vgl. V. 12); in Kindern und Kindeskindern lebt das Geschlecht des Stammvaters weiter.91 Die Bitte um hohes Alter und Nachkommenschaft in Zusammenhang mit dem Gedanken der Sättigung zeigt auch eine Inschrift Assarhaddons: Das Greisenalter (šibu-tu) möge ich erreichen. Nachkommenschaft erlangen und mich an reichem Leben (la-le-e balâ‰i lu-uš-bi) sättigen. (...) Möge ich (...) zahlreiche Nachkommenschaft bekommen (...).92
Was hier in der Inschrift Assarhaddons mit „reichem Leben“ anklingt, ist auch aus dem Ijobepilog deutlich: Die Fülle in Ijobs Leben zeigt sich im materiellen Reichtum, der Ijob in doppeltem Maße wie zu Beginn zuteil wird (vgl. Ijob 1,2f; 42,12): Lebenssatt sterben impliziert Abschied von einem materiell sorgenfrei gelebten Leben, das die Nachkommen in gesicherten Verhältnissen weiß.93 Den Aspekt der materiellen Fülle, der zu dem hohen Alter hinzutritt, unterstreicht auch 1 Chr 29,28. David wird nicht nur als „satt an Tagen“, sondern auch „satt an Reichtum und Ehre“ bezeichnet. Die Parallelisierung von Lebenszeit, Reichtum und Ehre zeigt die Fülle am Lebensende des Königs David an, die ihn sowohl mit den Erzvätern Abraham und Isaak wie auch mit seinem Sohn Salomo verbindet (vgl. 1 Kön 3,13f). Sein Leben war mit allem Wünschenswerten gesättigt, so dass es keine Steigerung
89 Zitiert bei MALAMAT, Longevity, 216: Der Priester Si’gabbar gibt an: „Because of my righteousness before him, he [the god] afforded me a good name, and prolonged my days (...). On the day I died, my mouth was not closed to words, and with my eyes I was beholding children of the fourth generation (bny rbŦ).“ 90 Zitiert bei LIESS, Sättigung, 335 nach H. SCHAUDIG, Inschriften, 352f. 91 Vgl. die Genealogien im Anschluss an die Todesnotiz in Gen 25,12ff.19ff und Gen 36. 92 BORGER, Inschriften, 26. 93 Zu der Frage des Erbrechts der Töchter in Ijob 42,13–15 vgl. STRAUSS, Hiob, 400–402.
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im Leben mehr geben konnte und der Tod als ein Tod zur rechten Zeit verstanden werden kann.94 Den diesseitigen, materiellen Aspekt der Sättigung betont besonders Koh 6,3 und profiliert ihn gegen das bloße Altwerden als besonderen Heilsaspekt: Wenn ein Mann hundert Kinder zeugte und viele Jahre lebte und zahlreich seine Lebensjahre wären, aber sein Verlangen / er (Ɉɜɗɓ) würde nicht gesättigt (ɕɄɜɝȽɃɏ) von dem Guten / Gütern, auch ein Begräbnis würde ihm nicht zuteil, (dann) sagte ich: Besser als er (hat es) eine Fehlgeburt.
Nicht die lange Lebenszeit allein, auch nicht reiche Nachkommenschaft bedeuten für den Prediger Fülle des Lebens, die einen Menschen zur Sättigung führt, sondern das Genießen der selbst erworbenen Güter gehört unabdingbar dazu.95 Wenngleich die Belege von „alt und lebenssatt“ diese Zuspitzung nicht teilen, so ist doch deutlich, dass „satt an Lebens(zeit)“ positiv konnotiert ist, „d.h., daß der sehr alte Mensch (bei sbŦ legt sich der Vergleich nahe: wie nach einem Mahl) ohne Überdruß, aber auch ohne weiteres Verlangen nach Leben (bzw. Speise) Abschied nimmt.“96 Dieses Verständnis unterstreicht auch ein Abschnitt aus einer Traumoffenbarung der Göttin Hathor: Du wirst mir ein Alter gewähren, und daß ich wohlbewahrt ruhe, indem ich satt bin vom Leben, meine Augen sehen und alle meine Glieder vollzählig sind.97
Die Grabesruhe, die der ägyptische Text zu „satt vom Leben“ einbringt, wird auch in Gen 25,9f wie auch Gen 35,29 und 1 Chr 24,15 durch den Aspekt der Grablegung thematisiert. Auch wenn nicht alle Belege ein Begräbnis erwähnen, ist dieser Gedanke eine sinnvolle Ergänzung, die die Gesamtvorstellung des Todes nach einem gesättigten Leben abschließt.
94 Nach JAPHET, 1 Chronik, 462 fungiert in der Chronik Zeitpunkt und Art des Todes als Indikator, ob ein König als gut oder böse gilt: „Die kunstvolle Gestaltung des Verses spricht sicherlich dafür, daß David weitaus besser war als jeder andere König.“ 95 Vgl. zum Textzusammenhang Koh 5,9–6,6 KRÜGER, Kohelet, z.St. – Mit seiner Position bezieht der Prediger Stellung zu konkurrierenden Konzepten der Sättigung im Alter, vgl. KRÜGER, Kohelet, 236. 96 WARMUTH, ɕɄɜ, 702. Vgl. auch GERLEMANN, ɕɄɜ, 821. 97 ASSMANN, Hymnen, 172, 25–28.
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d) Die Bestattung Wie schon aus Koh 6,3 (s.o.) hervorgeht, gilt eine fehlende Bestattung als schlimmes Übel oder Schmach (vgl. Jer 22,19) und konnte als göttliche Strafe verstanden werden (vgl. u.a. Jer 16,6).98 Dem gegenüber drückte eine Bestattung im Grab des Vaters / der Väter Hochachtung aus: „Im Alten Testament werden Gräber und Bestattung nur für ganz bestimmte Personen, durchweg Herrscher und Größen Israels, genannt. Dabei geht es nicht um die Gräber und den Bestattungsvorgang, sondern um die Personen. Die Angabe der Bestattung im Grab des Vaters beendete nicht nur einen Lebenslauf, sondern proklamierte eine verdiente Ehrung des Verstorbenen aufgrund seiner Gottestreue, die sich im würdevollen, ordnungsgemäßen Bestatten in Frieden (2 Kön 22,20) artikulierte.“99 Vor diesem Hintergrund verstärkt die Erwähnung der Bestattung in Gen 25,9f; Gen 35,29 und 2 Chr 24,15 den Eindruck, dass der Verstorbene ein ehrenvolles Leben hatte und unterstreicht die Intention der Aussage „alt und lebenssatt.“ In Gen 25 und 35 tritt noch der bedeutsame Aspekt hinzu, dass beide Väter in dem Erbgrab von Machpela100 jeweils von ihren beiden (Haupt-) Söhnen begraben werden, die so ihrer Sohnespflicht nachkommen. Insbesondere durch die überraschende Vereinigung von Isaak und Ismael101 am Grab des Vaters wird die hohe Dignität des Verstorbenen in der priesterlichen Sicht deutlich, ja, die Versöhnung der Söhne scheint geradezu noch eine Frucht des erfüllten, gottgefälligen Lebens zu sein. Eine vergleichbare Funktion zeigt auch die vom Chronisten102 erschaffene Todesnotiz über den Priester Jojada: Und Jojada wurde alt (ɒɚɉɌɈ) und war satt der Tage / Lebenszeit (ɐɌɑɌ ɕɄɜɌɈ), und er starb, 130 Jahre war er alt bei seinem Tod. Und man begrub ihn in der Stadt Davids bei den Königen, denn er hatte Gutes getan an Israel und mit dem Gott und seinem Haus (2 Chr 24,15).
Diese Schlussnotiz hebt Jojada durch sein ungewöhnlich hohes Alter in diesem Kontext hervor.103 Singulär ist gleichfalls die Aussage über sein
98 So WENNING, Bestattung, 1365 und DERS., Grab, 11f. Vgl. dazu auch 2 Sam 9,30– 37 und die Erzählung von Rizpa in 2 Sam 21,1–14 (vgl. dazu HARTENSTEIN, Solidarität). 99 WENNING, Grab, 10f. 100 Von Isaak wir dies erst in Gen 49,31 erwähnt. 101 So JACOB, Genesis, 536. Nach Gen 21,20f wohnt Ismael nach der Vertreibung Hagars in der Wüste Paran. 102 Zu den Unterschieden zur Darstellung in 2 Kön 12 vgl. JAPHET, 2 Chronik, 295–302. 103 Vgl. Anm. 57.
„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit
131
Begräbnis: Von keiner anderen nichtköniglichen Person wird – in der Terminologie der Königsnotizen – die Bestattung in einem Grab bei den Königen in der Davidstadt berichtet. Diese herausragende Stellung hat Jojada nach V. 16 aufgrund seiner guten Taten für Israel und Gott und sein Haus erworben,104 denn er hatte Joasch zum Königtum verholfen und die Rechtschaffenheit des Königs galt als sein Verdienst (vgl. V. 2.17f); bei der Tempelrenovierung105 war er zudem für die Anfertigung der Kultgeräte zuständig. In dieser Begründung für seine „exklusive“ Grablegung spiegelt sich sein gottgefälliges Leben wider, das mit hohem Alter bis zur Sättigung von Gott belohnt wurde. Insofern erhellt die Bestattung die Aussage von der „Lebenssattheit“ Jojadas. e) Die Nachfolge Obwohl die Thematik der Nachfolge ihren natürlichen Ort nach der Todesnotiz des Vaters hat,106 wirft die Erwähnung der Nachfolger in unserem Zusammenhang durchaus ein Licht auf das Leben des Vaters. Denn einerseits wird die Nachkommenschaft als Aspekt der Lebensfülle thematisch (vgl. Ijob 42,17), andererseits impliziert die Segnung Isaaks in Gen 25,11 (vgl. auch auf kanonischer Ebene den Anschluss der Esau-Toledot an Gen 35,29 und die Jakobtoledot in Gen 37,2ff) wie auch die Nachfolge Salomos (1 Chr 23,1 und 29,28), dass ein Leben gesättigt abgeschlossen werden kann, weil etwas von dem Geschlecht, dem „Lebenswerk“ des Vaters, weiter getragen wird. Erzählerisch wird dieser Gedanke auch in 2 Chr 24 entfaltet: Der Geist Gottes bekleidet Secharja, den Sohn Jojadas, der daraufhin zum Mahner gegen den König und seine Vertrauten wird, die JHWH verlassen haben. Sein Versuch, die Rechtschaffenheit des Königs im Sinne seines Vaters zurück zu gewinnen, scheitert jedoch: Er wird ermordet. Die Erwähnung seines Nachfolgers trägt dazu bei, dass das Leben des Vaters als erfüllt und abgeschlossen gelten kann und der Tod nicht als vorzeitig erlebt wird, sondern zum rechten Zeitpunkt und ohne Schrecken das Leben beschließt.
104
Jojada wird so zur Gegenfigur des Königs Joasch, der nach Jojadas Tod von JHWH abfällt, Jojadas Söhne tötet und dann selbst ermordet wird. Er wird zwar in der Davidstadt bestattet, nicht jedoch in den Gräbern der Könige (V. 25). 105 Allerdings wird er bei der Tempelrenovierung weniger berücksichtigt als in 2 Kön 12. 106 Vgl. dazu das Sukzessionsschema: König X legte sich zu seinen Vätern und wurde begraben zu Y. Und sein Sohn Z wurde König an seiner Statt.
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132
IV. Schluss 1. Mit „(und er starb) alt und lebenssatt / satt an Tagen“ formulieren wenige alttestamentliche Texte in einer Kurzformel die natürliche Hinnahme des Todes als Ende eines erfüllten Lebens. Der metaphorische Gebrauch von „satt an Lebenszeit“ zeigt im positiven Sinn die „Erfüllung dessen, was von Gott her in dem jeweiligen Leben angelegt war“,107 an und stellt den Kontrapunkt zur Furcht vor dem vorzeitigen Ende dar. Die „vollkommene Lebensausbeute“ lässt keine weitere Erwartung an das Leben mehr zu. Daher kann der Todeszeitpunkt derjenigen, die „alt und lebenssatt“ sterben, zu Recht als „Tod zur rechten Zeit“ bezeichnet werden. Wie das Motiv „satt an Tagen“ impliziert, verbindet sich mit diesem Motiv zunächst ein hohes Lebensalter (vgl. auch ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ), das in den Belegen sogar deutlich die normale Lebenszeit (vgl. Ps 90,10) überschreitet und dadurch den exzeptionellen Charakter der genannten Personen betont. Was in Ps 91,16 die göttliche Zusage ausdrückt, wird in den untersuchten Textstellen meist nur indirekt, vielleicht in 2 Chr 24,15 am deutlichsten, greifbar, ist doch aber immer vorausgesetzt: Die Sättigung mit langer Lebenszeit ist Gabe Gottes und Ausdruck seines Segens und Heils für die Menschen. Wie sich aus der Zusammenschau der alttestamentlichen Belege ergibt, ist die Sättigung auch inhaltlich gefüllt. Dazu gehört, einer zahlreichen Nachkommenschaft, nach Ijob 42,17 von vier Generationen, teilhaftig zu werden, aber auch materieller Wohlstand (Ijob 42; 1 Chr 29,28), der ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben ermöglicht und sogar den Nachkommen eine gesicherte Basis bietet (vgl. Ijob 42). Man kann aus dem Kontrast zu anderen alttestamentlichen Texten, vor allem Gen 42,38 u.ö.,108 schließen, dass das hohe Lebensalter nicht von lebensmindernden Erfahrungen oder Gewalt gekennzeichnet ist und daher das Sterben als ein Weg in „Frieden“ (ɐɈɏɜɄ) gelten darf. Über den Tod hinaus bekräftigt die Ehre des Begräbnisses für Abraham, Isaak und Jojada, dass mit „alt und lebenssatt“ angesehene, gottgefällige Männer beschrieben werden, deren Begräbnis die „Sättigung des Lebens“ geradezu komplettiert. Indem die Todesnotizen die Nachfolgerfrage selbst artikulieren (1 Chr 23,1; 29,28; vgl. Gen 25,11) oder von Toledotabschnitten (Gen 25,12ff; Gen 36; 37,2) oder Sohnesgeschichten (2 Chr 24,15) gefolgt werden, wird vom Kontext impliziert, dass das Geschlecht des Verstorbenen und „sein 107 108
VON RAD, Genesis, 210. Vgl. oben unter III.c).
„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit
133
Lebenswerk“ fortgeführt werden wird und die Söhne die Lücke schließen werden, die der Vater gerissen hat. Auch dieser ordnungsgemäße Ablauf des Lebens, die Nachfolge des Sohnes, rundet das Bild vom erfüllten Leben ab, das der Tod zur rechten Zeit beschließt. Vielleicht liegt hierin auch ein Grund, dass nur von Männern als „alt und lebenssatt“ gesprochen wird. 2. Der Vorzustellungszusammenhang „alt und lebenssatt“ ist wie die Rede vom „guten Alter“ nicht singulär alttestamentlich. Wie einige Beispiele aus Mesopotamien und Ägypten gezeigt haben, artikuliert sich auch in diesen Kulturen über einen großen Zeitraum hinweg mit diesen Motiven die menschliche Hoffnung auf ein langes Leben in Fülle, das von den Göttern erbeten wird. Wenn auch das freudlose Dasein in der Scheol als angstbesetztes Gegenbild im Hintergrund steht, wird dieses in den Texten, wie auch in den alttestamentlichen Belegen, nicht thematisiert: Angesichts der Dominanz der Vorstellung vom gesättigten Dasein wird kein Gedanke über die Schattenexistenz in der Unterwelt verloren, wie auch keine Reflexion über den Tod erfolgt oder sich ein Gedanke an Auferstehung andeutet: „Solange Israel noch keine klaren Vorstellungen von einer jenseitigen Vergeltung hatte, musste es ein langes, erfülltes und bis zum Tode relativ unbeschwertes Leben zu den höchsten Glück- und Segensgütern rechnen, die Jahwe dem Frommen schenkt.“109 3. Theologisch betrachtet weist das Motiv „alt und lebenssatt“ auf Gott, der allein langes Leben und Lebensgenuss verbürgt, wie Ps 91,16 explizit betont und was auch die Texte aus Ägypten und Mesopotamien stützen. Diese Ausrichtung entspricht m.E. priesterlicher Theologie, der die formelhafte Gestaltung wohl zu verdanken ist. Die Erzväter110 als Prototypen göttlicher Verheißungen wurden mit ihrem langen, erfüllten Leben als Hoffnungsträger für das Israel in exilisch-nachexilischer Zeit dargestellt. Innerhalb des alttestamentlichen Kanons fungieren sie wohl auch als Vorbilder für die Übernahme dieser Vorstellung bei Ijob, der auch sonst den Vätern nachgestaltet ist.111 Die Chronik nimmt diese Rede auf, um David, eine ihrer theologischen Zentralfiguren, am Ende seines Lebens als Weisen zu stilisieren, der langes Leben, Reichtum und Ehre hatte (vgl. 1 Kön 3,13), und um die Rechtschaffenheit des Priesters Jojada vor Gott zu betonen. Diese Verwendung
109
SCHARBERT, Alter, 350. Dass diese Charakterisierung bei Jakob fehlt, könnte damit zusammenhängen, dass sein Tod und das Begräbnis nicht in einer geschlossenen Erzählnotiz formuliert sind. In Gen 49,33 wird sein ‚aktiverҞ Anteil beim Sterben erzählt, zu dem das Urteil „alt und lebenssatt“ nicht zu passen scheint. 111 Vgl. MALAMAT, Longevity, 221. 110
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134
darf m.E. nicht „nur als Tugenderweise“112 abqualifiziert werden, denn diesem Motiv wohnt auch in der Chronik das Wissen inne, dass Gott „das Los allen Lebens“ (Sir 41,3) bestimmt und derjenige ist, der Leben und Fülle bis zur Sättigung gewährt.
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„Alt und lebenssatt ...“ – der Tod zur rechten Zeit
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136
Ute Neumann-Gorsolke
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Auf dem Weg „zu den Vätern“ Zur Tradition der alttestamentlichen Sterbenotizen ANNETTE KRÜGER
In der alttestamentlichen Rede vom „Versammeltwerden zu den Vorfahren“ und dem „sich zu den Vätern legen“ liegt ein Sprachgebrauch vor, der auf den ersten Blick bekannt und selbstverständlich wirkt, auf den zweiten Blick aber durchaus noch Fragen aufwirft: Was bedeutet der jeweilige Sprachgebrauch – was sind seine impliziten Vorstellungen? Lässt sich etwas über die jeweilige Herkunft sagen? Um diesem Vorstellungsbereich näher zu kommen, sollen zuerst die beiden Wendungen ɐɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ und ɝɈɄɃȽɐɕ NN ɄɎɜ in den Blick genommen und sodann nach verwandten Formulierungen in den Nachbarkulturen gefragt werden.
I. Palästina / Israel Das Alte Testament kennt mit ɐɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ und ɝɈɄɃȽɐɕ NN ɄɎɜ zwei Formulierungen, die das Sterben und sein Resultat, das Gestorbensein, ausdrücken. Ihre jeweilige Verwendungsweise scheint darauf hinzudeuten, dass ihre Verwendung nicht willkürlich geschah, sondern die jeweils gewählte Formulierung einen besonderen inhaltlichen Aspekt zum Ausdruck bringen will. Darüberhinaus ist mit ɝɈɄɃȽɏɃ ɖɔɃ eine nur zweimal belegte Mischform der beiden oben genannten häufigen Formulierungen gegeben. 1. Das „Versammeltwerden zu den Vorfahren“: ɐɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ Bei den in der folgenden Tabelle angeführten Belegen des Ausdrucks „Versammeltwerden zu den Vorfahren“ fällt auf, dass es sich bei den genannten Personen allesamt um zentrale Gestalten der Frühzeit des Volkes Israels handelt, die den Status von Ahnvätern besitzen.
Annette Krüger
138 Text
Person
Formel
Notiz des Sterbens
Gen 25,8
Abraham
ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ ... ɝɑɌɈ ɕɈɅɌɈ verschied und starb ... und wurde versammelt zu seinen Vorfahren
ja
Gen 25,17
Ismael
ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ ... ɝɑɌɈ ɕɈɅɌɈ verschied und starb ... und wurde versammelt zu seinen Vorfahren
ja
Gen 35,29
Isaak
ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ ... ɝɑɌɈ ɕɈɅɌɈ verschied und starb ... und wurde versammelt zu seinen Vorfahren
ja
Gen 49,29
Jakob
ɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɓ ɌɓɃ ɇɛɕɑɇȽɏɃ ɌɝɄɃȽɏɃ ɌɝɃ ɈɛɄɚ bin ich versammelt zu meinen Vorfahren, dann begrabt mich bei meinen Vätern in der Höhle
Gen 49,33
Jakob
ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ ɝɑɌɈ ɕɈɅɌɈ verschied und starb und wurde zu seinen Vorfahren versammelt
Num 20,24
Aaron
ɈɌɑɕȽɏɃ ɒɛɇɃ ɖɔɃɌ Aaron soll versammelt werden
Num 20,26
Aaron
ɐɜ ɝɑɈ ɖɔɃɌ ɒɛɇɃɈ und Aaron soll [zu seinen Vorfahren] versammelt werden und dort sterben
Num 27,13
Mose
ɖɔɃɓ ɛɜɃɎ ɇɝɃȽɐɅ ɍɌɑɕȽɏɃ ɝɗɔɃɓɈ ɍɌɊɃ ɒɛɇɃ dann wirst auch du zu deinen Vorfahren versammelt werden, wie dein Bruder Aaron versammelt worden ist
Num 31,2
Mose
ɍɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɝ ɛɊɃ danach sollst du zu deinen Vorfahren versammelt werden
Dtn 32,50
Mose
ɇɑɜ ɇɏɕ ɇɝɃ ɛɜɃ ɛɇɄ ɝɑɈ ɛɇɄ ɍɌɊɃ ɒɛɊɃ ɝɑȽɛɜɃɎ ɍɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɇɈ ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃɌɈ ɛɇɇ dann wirst du auf dem Berg sterben, auf den du steigst, und wirst zu deinen Vorfahren versammelt werden, ebenso wie dein Bruder Aaron auf dem Berg Hor gestorben ist und zu seinen Vorfahren versammelt wurde
ja
ja
ja
Auf dem Weg „zu den Vätern“
139
Die Rede vom „Versammeltwerden zu seinen Vorfahren“1 deutet darauf hin, dass hier der Gedanke vom Eintreten in eine Gemeinschaft, der Gemeinschaft mit den Vorfahren zugrunde liegt. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass vor der Aussage des Versammeltwerdens häufig das Verscheiden und Sterben zusätzlich genannt wird. Das „Versammeltwerden“ weist somit auf etwas über das reine Faktum des Sterbens Hinausgehende hin – sehr wahrscheinlich auf eine Vereinigung mit den Ahnen im Totenreich. Nach D. Kühn war es das erstrebte Ziel eines Israeliten, nach seinem Tod „in einen Verband der Vorfahren aufgenommen zu werden“.2 Es fällt auf, dass das ɖɔɃ im NifŦal konstruiert ist – das „Versammeltwerden“ also ein passivischer Vorgang ist: Jemand versammelt die gestorbene Person. In den in der Tabelle genannten Texten wird die Person, die versammelt, nicht genannt. Der einzige Beleg, in dem der hier Handelnde genannt wird, ist die unten angeführte Stelle 2 Kön 22,20. Hier spricht JHWH in der 1. Person „ich werde dich zu deinen Vätern versammeln“. Da die in der Tabelle genannten Texte einem monotheistischen Kontext entstammen, ist es möglich, dass auch dort JHWH als der über die Sterblichkeit Verfügender gedacht wurde.3 Doch kann man nicht ausschließen, dass mit der Leerstelle absichtlich eine Mehrdeutigkeit stehen gelassen wurde. Die Bedeutung der Nennung der „Vorfahren“ in den Sterbenotizen kann man mit K. van der Toorn durch ihre Funktion als „providers and symbols of identity“4 erklären: „Durch die Bestattung in Familienland war klar, dass die Ahnen das Land besaßen. Ihre Nachkommen hatten es von ihnen erhalten.“5 Die identitätsstiftende Funktion des Gedenkens der Ahnväter und der Anspruch auf das jeweilige Land der Familie/der Sippe ist auch der Grund, weshalb im Kontext der Begräbnisse der Ahnväter Abraham bis Jakob immer wieder auf die Höhle Machpela verwiesen wird, die im Land Kanaan, und somit im verheißenen Land liegt.6 Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die oben aufgeführten Belege der Formulierung ɐɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ „zu den Vorfahren versammelt werden“ Texten zugehören, die üblicherweise der Priesterschrift zugewiesen werden, für die die Landverheißung7 eine wichtige Rolle spielt (vgl. Gen 17,7.8; 35,11f). Diese Kontinuität der sozialen Gemeinschaft wird auch in dem Brauch, im Grab des Vaters, bzw. auf dem Erbbesitz beigesetzt zu werden, greif1
ɐɕ kann ebenso mit „Verwandten“ oder „Angehörigen“ wiedergegeben werden. KÜHN, Totengedenken, 293. 3 Als solcher auch in Ps 90,3.5.7.9, Ps 104,29 und Ijob 14,5. 4 VAN DER TOORN, Family Religion, 233. 5 VAN DER TOORN, Erbe, 108. 6 Vgl. Gen 23,9.17.19; 25,9; 49,30; 50,13. 7 Nach JANOWSKI, Sühne, 321, besitzt die Landverheißung bei P sogar den Status einer ɝɌɛɄ. Zur Landverheißung bei P vgl. u.a. SCHARBERT, Landverheißungen, sowie KÖCKERT, Land. 2
140
Annette Krüger
bar.8 Im Alten Testament wird dieses, neben der Grabtradition von Abraham bis Jakob (samt Frauen) in der Höhle Machpela, auch von anderen Personen berichtet: So bei den Richtern Gideon (Ri 8,32) und Simson (Ri 16,31), bei Asael (2 Sam 2,32), Ahitofel (2 Sam 17,23), Saul und Jonathan (2 Sam 21,14) und Joschija (2 Kön 23,30/2 Chr 35,24). Und Barsillai bittet David, beim Grab seines Vaters und seiner Mutter sterben zu dürfen (2 Sam 19,38). Umgekehrt gilt es als eine Strafe, nicht im Grab der Väter beerdigt zu werden (vgl. 1 Kön 13,22). Diese aus den alttestamentlichen Texten bekannte Sitte wird auch durch einen archäologischen Fund gestützt: Auf einer Grabinschrift aus dem Kidrontal (1. Jh. n.Chr.) wurde der Wortlaut „Dieses Schiebegrab wurde für die toten Knochen unserer Väter gemacht. Es ist zwei Ellen lang. Und man darf es nicht öffnen.“9 notiert. Noch im 1. Jh. n.Chr. wurden demnach hier die Knochen mehrerer Vorväter in einem gemeinsamen Grab bestattet. 2. Das „sich zu den Vätern Legen“: ʺʩɄʠȽɐɕ NN ɄɎɜ Neben dem „Versammelwerden zu den Vorfahren“ liegt mit ɈɌɝɄɃȽɐɕ NN ɄɎɜ „und NN legte sich zu seinen Vätern“ ein weiterer geprägter Ausdruck vor. Die unten angeführte Tabelle zeigt, dass mit diesem Ausdruck stereotyp der Tod eines Königs angezeigt wird.10 Unterschiede in den jeweiligen Sterbenotizen liegen dagegen nur in Bezug auf den Begräbnisort vor: Dieser wird nicht immer genannt – wenn er aber genannt wird, wird bei den Königen von Juda zumeist „die Stadt Davids“ als Begräbnisort angeführt – Ausnahmen sind Manasse („im Garten seines Hauses“) und Usija („bei seinen Vätern auf dem Feld [bei] dem Grab für die Könige“). Bei den Königen des Nordreichs werden meist die Städtenamen genannt: „in Tirza“ oder „in Samaria“. In 2 Kön 13,13/14,16 wird die Angabe in erweiterter Form wiedergegeben: „in Samaria begraben bei den Königen von Israel“. Ein weiterer fester Bestandteil der genannten Sterbenotizen der Könige ist die Nennung des Nachfolgers, zumeist in der Formulierung „Und sein Sohn NN wurde an seiner Stelle König.“
8 Vgl. auch WENNING, Bestattungen, 83: „Bestattet wird im Familiengrab, das meist über mehrere Generationen hinweg in Benutzung bleibt.“ 9 DELSMAN, Grabinschrift, 576. 10 Neben dieser formelartigen Formulierung wird der Ausdruck „sich zu den Vätern legen“ nur noch in Gen 47,30; Dtn 31,16; 1 Kön 1,21; 11,21 sowie 2 Kön 14,22/2 Chr 26,2 verwendet (s. dazu die Ausführungen unten).
Auf dem Weg „zu den Vätern“
141
Text
König
Formel
Begräbnisort
Nachfolger
1 Kön 2,10
David
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɆɈɆ ɄɎɜɌɈ und David legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 11,43/ 2 Chr 9,31
Salomo
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɇɑɏɜ ɄɎɜɌɈ und Salomo legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 14,20
Jerobeam I.
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɄɎɜɈ und er legte sich zu seinen Vätern
–
ja
1 Kön 14,3 / 2 Chr 12,16
Rehabeam
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɕɄɊɛ ɄɎɜɌɈ und Rehabeam legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 15,8 / 2 Chr 13,23
Abija
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɌɄɃ ɄɎɜɌɈ und Abija legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 15,24/ 2 Chr 16,13
Asa
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɃɔɃ ɄɎɜɌɈ und Asa legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 16,6
Bascha
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɃɜɕɄ ɄɎɜɌɈ und Bascha legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 16,28
Omri
ɈɌɝɄɃȽɐɕ Ɍɛɑɕ ɄɎɜɌɈ und Omri legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
1 Kön 22,40
Ahab
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɄɃɊɃ ɄɎɜɌɈ und Ahab legte sich zu seinen Vätern
–
ja
1 Kön 22,51/ 2 Chr 21,1
Joschafat
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɋɗɜɈɇɌ ɄɎɜɌɈ und Joschafat legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 8,24
Joram
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɛɈɌ ɄɎɜɌɈ und Joram legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 10,35
Jehu
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɃɈɇɌ ɄɎɜɌɈ und Jehu legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 13,9
Joahas
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɉɊɃɈɇɌ ɄɎɜɌɈ und Joahas legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 13,13/ 2 Kön 14,16
Joasch
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɜɃɈɌ ɄɎɜɌɈ und Joasch legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 14,29
Jerobeam II.
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɕɄɛɌ ɄɎɜɌɈ und Jerobeam legte sich zu seinen Vätern
–
ja
2 Kön 15,7
Asarja
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɇɌɛɉɕ ɄɎɜɌɈ und Asarja legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 15,22
Menahem
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɊɓɑ ɄɎɜɌɈ und Menahem legte sich zu seinen Vätern
–
ja
2 Kön 15,3 / 2 Chr 27,9
Jotam
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɝɈɌ ɄɎɜɌɈ und Jotam legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
Annette Krüger
142 2 Kön 16,20/ 2 Chr 28,27
Ahas
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɉɊɃ ɄɎɜɌɈ und Ahas legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 20,21/ 2 Chr 32,33
Hiskija
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɈɇɌɚɉɊ ɄɎɜɌɈ und Hiskija legte sich zu seinen Vätern
–
ja
2 Kön 21,18/ 2 Chr 33,20
Manasse
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɇɜɓɑ ɄɎɜɌɈ und Manasse legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
2 Kön 24,6
Jojakim
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɐɌɚɌɇɌ ɄɎɜɌɈ und Jojakim legte sich zu seinen Vätern
–
ja
2 Chr 26,23
Usija
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɈɇɌɉɕ ɄɎɜɌɈ und Usija legte sich zu seinen Vätern
ja
ja
Wen bezeichnet der Ausdruck „Väter“, zu denen sich der verstorbene König legt? Die Bezeichnungen des Begräbnisortes geben hierauf einen gewissen Hinweis: David wird begraben „in der Stadt Davids“, sein Sohn Salomo „in der Stadt seines Vaters David“ und dessen Sohn Rehabeam, sowie Asa, Asarja, Jotam, Ahas „bei seinen Vätern in der Stadt Davids“. Bei Joschafat heißt es in 1 Kön 22,51 ganz ähnlich: „bei seinen Vätern in der Stadt Davids, seines Vaters“. Die „Väter“ bezeichnen hier somit die Vorväter d.h. die väterlichen Vorfahren auf dem Thron. Im Gegensatz zu den Texten mit der Formulierung „wurde versammelt zu seinen Vorfahren“ wird bei diesen Texten das „Sterben“ nicht mehr gesondert genannt – der Ausdruck „legte sich zu seinen Vätern“ steht somit synonym für die Aussage „ist gestorben“. Die Nennung der „(Königs-)Väter“ anstelle der „Vorfahren“ ist zum einen damit zu erklären, dass es sich hier um die Sterbenotizen von Königen handelt, die üblicherweise in den Königsgräbern, bei den Vätern, begraben wurden und die Thematik des Erbbesitzes hier, anders als in der Priesterschrift, nicht in dieser besonderen Weise im Blick ist. Darüberhinaus ist anzunehmen, dass – falls die Texte, wie in der Forschung häufig angenommen, dtr Ursprungs sind – (rituelle) Verbindungen zu den Toten / Ahnen vermieden werden sollen, um JHWH ungeteilte Verehrung zu erweisen .11 Außerhalb der Königschroniken, in erzählenden Texten bezeichnet der Ausdruck „sich zu den Vätern legen“ den Tatbestand des Gestorbenseins: 1 Kön 1,21
ɌɓɃ ɌɝɌɌɇɈ ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɍɏɑɇȽɌɓɆɃ ɄɎɜɎ ɇɌɇɈ ɐɌɃɋɊ ɇɑɏɜ ɌɓɄɈ Und es wird geschehen, wenn mein Herr, der König (sc. David), bei seinen Vätern liegt [d.h. gestorben ist], dass ich und mein Sohn Salomo als Schuldige dastehen.
11 Zu den Beweggründen der dtn-dtr Polemik gegen die Ahnenverehrung vgl. den Beitrag von J.C. GERTZ in diesem Band.
Auf dem Weg „zu den Vätern“ 1 Kön 11,22
143
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɆɈɆ ɄɎɜȽɌɎ ɐɌɛəɑɄ ɕɑɜ ɆɆɇɈ ɇɕɛɗȽɏɃ ɆɆɇ ɛɑɃɌɈ ɃɄəɇȽɛɜ ɄɃɈɌ ɝɑȽɌɎɈ Als aber Hadad in Ägypten hörte, dass David sich zu seinen Vätern gelegt hatte [d.h. gestorben war] und dass der Heeroberste Joab tot war, sagte Hadad zum Pharao ...
2 Kön 14,22/ 2 Chr 26,2
ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɍɏɑɇȽɄɎɜ ɌɛɊɃ ɇɆɈɇɌɏ ɇɄɜɌɈ ɝɏɌɃȽɝɃ ɇɓɄ ɃɈɇ Er baute Elat wieder auf und brachte es an Juda zurück, nachdem der König (sc. Amazja) sich zu seinen Vätern gelegt hatte [d.h. gestorben war].
3. Das „Versammeltwerden zu den Vätern“: ɝɈɄɃȽɏɃ ɖɔɃ Neben den beiden geprägten Formulierungen „versammelt werden zu den Vorfahren“ und „sich zu den Vätern legen“ gibt es auch zwei Beispiele für eine Mischform „versammelt werden zu den Vätern“: Ri 2,10
ɈɝɈɄɃȽɏɃ ɈɗɔɃɓ ɃɈɇɇ ɛɈɆɇȽɏɎ ɐɅɈ Und auch jene ganze Generation wurde zu ihren Vätern versammelt.
2 Kön 22,20/ 2 Chr 34,28
ɐɈɏɜɄ ɍɌɝɛɄɚȽɏɃ ɝɗɔɃɓɈ ɍɌɝɄɃȽɏɕ ɍɗɔɃ ich werde dich (Joschia) zu deinen Vätern versammeln; und du wirst zu deinen Gräbern versammelt werden in Frieden
Hier wird die übliche Form durchbrochen – und das nicht nur sprachlich: In 2 Kön 22,20/2 Chr 34,28 wird JHWH als der Sammelnde genannt. Diese Stelle bleibt sonst unbestimmt (s.o.). Auch der Ausdruck „zu den Gräbern versammelt werden“ ist nur an dieser Stelle belegt. Warum hier das übliche Schema verlassen wird, ist schwer zu sagen. Es könnte sich um eine späte Mischvariante handeln. Dies würde zumindest von 2 Kön 22,20a her bestätigt werden, in welchem Würthwein einen späten Zusatz (zeitlich nach DtrN) erkennt.12 Ri 2,10 wird in der Forschung der dtr Redaktionsarbeit zugeschrieben.13 Die Rede vom „Versammeltwerden zu den Vätern“ findet sich dann auch in Apg 13,36 in Bezug auf David – vermutlich in Anlehnung an die alttestamentlichen Texte (s.o.) formuliert:
12
Vgl. WÜRTHWEIN, Könige, 449. Vgl. BECKER, Richterzeit, 72f, GÖRG, Richter, 6, sowie schon HERTZBERG, Josua, 158. Eine genauere Bestimmung wird aufgrund der Schwierigkeit der Rekonstruktion des literarischen Werdeganges des Buches meist nicht vorgenommen. 13
Annette Krüger
144
ƁƝƱГƠ ƨЏƩ ƟЍƭ ϒƠДю ƟơƩơѐ ϱƬƣƭơưВƯƝƮ ưѠ ưƫѼ ƤơƫѼ ƞƫƱƧѠ βƦƫƥƨВƤƣ ƦƝГ ƬƭƫƯơưАƤƣ ƬƭЕƮ ưƫЗƮ ƬƝưАƭƝƮ ƝϰưƫѼ ƦƝГ ơϘƠơƩ ƠƥƲƤƫƭЎƩ Denn David freilich entschlief, nachdem er seinem Geschlecht nach dem Willen Gottes gedient hatte, und wurde zu seinen Vätern versammelt und sah die Verwesung.
4. Die Inschrift von Tell Dan In Z. 3 der Inschrift des aramäischen Stelenfragments von Tell Dan (ca. 9. Jh. v.Chr.)14 wird der Tod des aramäischen Königs Hadad-ezer (Ben-Hadad II.) (?) berichtet. Die erhaltenen Zeichen werden in der Forschung übereinstimmend gelesen als: [ɜɌ·
·]ɏɃ·ɍɇɌ·ɌɄɃ·ɄɎɜɌɈ
und mein Vater legte sich nieder und ging zu[
Is]
Die Textlücke wird dagegen unterschiedlich, doch inhaltlich ähnlich ergänzt: Die Ausgräber A. Biran / J. Naveh lesen nach assyrischem Vorbild „and my father died, he went to [his fate ... Is-]“, H.-P. Müller vervollständigt im Anschluß an Koh 12,5 und des ägyptischen Ausdrucks „Haus der Ewigkeit“: „und ging zum Haus seiner Ewigkeit“.15 I. Kottsieper ergänzt wie A. Lemaire im Sinne der oben genannten alttestamentlichen Texte „Väter“: „And my father lay down; he went to his [fathers]“.16 Für die Lesung Lemaires und Kottsiepers spricht zum einen die Häufigkeit der alttestamentlichen Belege mit ɄɎɜ sowie die Tatsache, dass Koh 12,5 zeitlich sehr viel später und wahrscheinlich ägyptisch beeinflusst ist und deshalb hier weniger zu erwarten ist. Obwohl sich die Steleninschrift durch den Ausdruck „gehen zu“ vom üblichen alttestamentlichen Sprachgebrauch unterscheidet,17 liegt in der Stele von Tell Dan die früheste bekannte Bezeugung des Ausdrucks „sich niederlegen“ als Beschreibung des Gestorbenseins in diesem Kulturraum vor.
II. Mesopotamien Verbindungen wie „sich zu den Vätern legen“ oder „zu den Vorfahren versammelt werden“ sind für den Bereich des Zweistromlands m.W. nicht belegt. Doch gibt es einen inschriftlichen Beleg, der inhaltlich in eine ähn14
Vgl. KOTTSIEPER, Tell Dan, 176. BIRAN/NAVEH, Aramaic Stele Fragment, 90; MÜLLER, Inschrift, 123. 16 Vgl. LEMAIRE, Tel Dan Stela, 3f; KOTTSIEPER, Tell Dan, 178. 17 Der Ausdruck „gehen zu den Vätern“ ist für das Alte Testament m.W. nur in 1 Chr 17,11 belegt. 15
Auf dem Weg „zu den Vätern“
145
liche Richtung weist: Diese Ausnahme bildet eine Formulierung auf der Grabinschrift der Königin Jabâ, aus dem Palast des Aššurna̸irpal II. in Nimrud/Kal̴u. Der Beginn der Inschrift lautet: 1 2 3 4
nës dŠamaš dEreškigal dAnunnÁkë ilÁnë rabûti ša er̸eti fJabâ ša ekalli ina mīte šëmat napulti ikšudaššÓ-ma ur̴u abbÓšu tallik
1 2 3 4
Beim Leben des Šamaš, der Ereškigal, der Anunnaki, der großen Götter der Unterwelt. Das Lebensschicksal hat Jabâ, die Königin, durch den Tod ereilt und sie ist den Weg ihrer Väter gegangen.18
Mú.É.GAL/ša ekalli bezeichnet die assyrische Königin – möglicherweise handelt es sich um die Gattin Tiglath-pilesars III. Da sich auf der Inschrift neben der Väter-Formulierung aber auch andere, bislang für das Assyrische unbezeugte Ausdrücke finden, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei Jabâ um eine ausländische Prinzessin handelte – vielleicht aus dem syrischen Raum.
III. Ägypten Der Befund in Ägypten ist besonders interessant: Hier sind, vor allem in der demotischen Literatur,19 dem alttestamentlichen Wortlaut sehr nahe kommende Formulierungen überliefert. Der älteste aus Ägypten bekannte Beleg wird nicht vor die 2. Hälfte des 7. Jh. v.Chr. datiert und entstammt P. Brooklyn 37.1799E.20 In Z. 6 des kursivhieratischen Briefes heißt es: „Als Tnhm (?), Sohn des N̴̼=f-mw.t zu seinen Vätern ging, ...“.21 Unter den Überlieferungen in demotischer Sprache findet man dann mehrere Beispiele, die den alttestamentlichen Formulierungen besonders ähneln. So wird in dem frühdemotischen (6. Jh. v.Chr.) Papyrus Rylands IX, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen enthält, der Tod des Ahnherrn Petesis in X,1 wie folgt berichtet: Es geschah im Jahr 18 des Königs Psammetich, daß Petesis, Sohn des Chascheschonqi, der Schiffsmeister, zu seinen Vätern ging (šm i.ir nԹj=f it.w).22
18 Text und Übersetzung FADHIL, Grabinschrift, 464. Die Stele befindet sich heute unter der Inventarnummer IM 125000 im Irak-Museum in Bagdad. 19 Demotisch, eine spätägyptische Kursivschrift, war von ca. 650 v.Chr. an in Gebrauch. 20 Diesen Hinweis verdanke ich Joachim F. Quack. 21 Übersetzung im Anschluß an VITTMANN, Abnormal Hieratic Letter, 26. 22 Übersetzung HOFFMANN/QUACK, Anthologie, 34; Umschrift nach VITTMANN, TLA.
146
Annette Krüger
Es folgt der Bericht über die Bestätigung des Neffen, Petesis, Sohn des Ithoros, in seinem Amt eines Inspektors des Südlandes und die Einsetzung von Semtetefnachte in das Amt des Schiffsmeisters. Etwas später wird der Tod Udjasomtus, Sohn des Petesis (Sohn des Ithoros), erzählt (XIV,15): Udjasomtus, Sohn des Petesis, ging zu seinen Vätern (šm i.ir nԹj=f it.w), und Petesis, Sohn des Udjasomtus, sein Sohn, folgte ihm nach.23
Wieder – und wie in den alttestamentlichen königlichen Sterbenotizen – folgt auf die Sterbenotiz der Bericht über die Nachfolge. Und auch der Tod des Petesis, Sohn des Udjasomtus, wird mit dem Ausdruck šm i.ir nԹj=f it.w „zu seinen Vätern gehen“ berichtet (XVIII,10-11). Im nächsten Satz wird mit „Udjasomtus, sein Sohn, war am Leben“ der Erhalt der Familie mitgeteilt. Auch von zwei anderen, nicht zur Familie des Petesis gehörenden Personen wird der Tod mit der gleichen Formulierung ausgedrückt (vgl. XIX,16 und XXI,5). Das Verb šm kann sowohl das Bestattetwerden des Toten wie sein Gehen in die Unterwelt (Duat) ausdrücken. Da die Bestattung des Petesis in X,10 aber noch gesondert berichtet wird, bezieht sich der Ausdruck „er ging zu seinen Vätern“ wohl nicht auf das Begräbnis, sondern eher auf die Tatsache des Sterbens und dem damit verbundenen Eintritt in das Reich der Toten. Die Formulierung šm i.ir nԹj=f it.w wird auch in der Lehre des Anchscheschonki (ca. 1. Jh. v.Chr.) (p.BM 10508) verwendet. In Kol. I, 12–13 der in die ausgehende Ptolemäerzeit datierten Lehre heißt es: Wenige Tage später geschah es, daß der Chefarzt zu seinen Vätern ging (šm i.ir nԹj=f it.w). Man machte Horsiese, Sohn des Ramose, zum Chefarzt. 24
Auch hier folgt auf die Sterbenotiz die Mitteilung der Nachfolge. Aber auch ohne diese findet diese Sterbenotiz Verwendung. In einem demotischen Tempeleid (Ostrakon BM 12596) gehört zur Eidesformel die Aussage: Pa-Wsir ist zu seinen Vätern gegangen (šm iw-irj nԹj=f itjw), indem nicht der TԹ-šrt-PԹ-šj, der T. des ̳nsw-̯̲wtj, eine Ausstattung zu seinen Lasten gehört.25
Die gleiche Formulierung šm i.ir nԹj=f it.w wird auch in einem Belagstück einer Mumie aus Abusir el Melek (ptolemäische Zeit) rekonstruiert (pBerlin 13588).26 Die Wendung hält sich bis in die römische Zeit. So trägt ein Mumienschild aus Dendara die Aufschrift:
23
Übersetzung HOFFMANN/QUACK, Anthologie, 40. Übersetzung THISSEN, Lehre des Anchscheschonqi, 251f. 25 KAPLONY-HECKEL, Tempeleide I, 62 (Nr. 22). 26 Vgl. ERICHSEN, Erzählung, 59. 24
Auf dem Weg „zu den Vätern“
147
Anubis Imiut, an der Spitze der Gotteshalle. Gemacht werde dir ein Haus der Trunkenheit, Rinder, Geflügel, alle Guten Dinge, die schön, rein und süß sind für Osiris Panas, Sohn des Peteharsemtheus, Sohn des Panas, Sohn des Harnuphis, der zu seinen Vätern gegangen ist (šm iw nԹj=f it.̺w) Lebensjahre 27, 6 Monate, 21 Tage. Es lebe sein Ba auf immer und ewig.27
Der Befund der ägyptischen Texte lässt nachstehende Folgerungen zu: Im Kontext von Familienbestattungen lässt sich schon früh, wenn auch nur vereinzelt, die Vorstellung greifen, dass der Mensch nach seinem Tod im Grab „zu seinen Vätern“ kommt. Doch erst in der demotischen Literatur der Spätzeit findet sich der Ausdruck šm i.ir nԹj=f it.w „zu seinen Vätern gehen“ als geprägter Wortlaut. Besonders häufig tritt er von der ptolemäischen bis zur römischen Zeit auf. Es bleibt die Frage, an welche Traditionen der Ausdruck šm i.ir nԹj=f it.w „zu seinen Vätern gehen“ anknüpfen konnte. Hier sind vor allem zwei Möglichkeiten zu nennen: Eine alte Tradition, die vor allem in den Pyramidentexten belegt ist, ist die Vereinigung des Toten mit seinem Ka. Das „Gehen des Toten zu seinem Ka“ bedeutet die Vereinigung des Toten mit seinem alter ego.28 In den gleichen Zusammenhang gehört die Formulierung šm r tԹ p.t „zum Himmel gehen“, die das Sterben des Königs bezeichnet: Der König steigt zum Himmel empor und vereinigt sich mit der Sonne/dem Sonnengott. Eine solche Szene wird in §2 der Erzählung von Sinuhe beschrieben: Der König von Ober- und Unterägypten: Sehetep-ib-Re, er entfernte sich zum Himmel und verband sich mit der Sonne; der Gottesleib vereinigte sich mit dem, der ihn geschaffen hatte. Die Residenz war in Schweigen, die Herzen waren voll Kummer, das große Doppeltor war geschlossen, der Hofstaat hatte den Kopf auf dem Knie, das Volk war voll Klage.29
Auch in demotischen Texten wird vom „Gehen in den Himmel“ gesprochen: Im Totenpapyrus Rhind 1 II,d1 wird der Tod eines Königsbruders als „das Leid seines Schicksals, zum Himmel zu gehen (šm r tԹ p.t)“30 bezeichnet. Und in der Unterweltsschilderung der Zweiten Setnegeschichte wird über einen gerechten Menschen ausgesagt, dass „sein Ba mit den vornehmen Verklärten zum Himmel gehen wird (šm r p.t)“.31
27
VITTMANN, Mumienschilder, 160. Vgl. ASSMANN, Tod und Jenseits, 133. 29 Übersetzung BLUMENTHAL, Sinuhe, 88. 30 Vgl. Papyrus Rhind 1, VITTMANN, TLA (10/2007). 31 Übersetzung HOFFMANN/QUACK, Anthologie, 121. 28
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Annette Krüger
Neben dem „Gehen in den Himmel“ ist auch die Vorstellung, dass sich der Verstorbene in irgendeiner Weise zu den Vorvätern begibt, schon in der vierten Erzählung des Papyrus Westcar (15.–17. Dyn.) erwähnt. Das Ende eines langen Lebens32 wird in 7,23 wie folgt beschrieben: So dass er (sc. der König) dich (dann) geleitet nach einer schönen Lebenszeit zu deinen Vorvätern (jt.w=k), die in der Nekropole (̲rt-nƒr) befindlich (jmj) sind.
Die Aussage, dass die Väter in der Nekropole befindlich sind und jmj eine lokale Ausrichtung besitzt („befindlich in“), lässt darauf schließen, dass hier in erster Linie eine topographische Aussage vorliegt: Der Verstorbene wird in einem Familiengrab bei seinen Vorfahren bestattet. Obwohl in Ägypten die Vornehmen häufig Einzelgräber besaßen, hat G. Vittmann mehrere Belege dafür vorgelegt, dass ab dem späten Alten Reich auch eine Bestattung mit dem Vater gewünscht werden konnte.33 Hierzu passt der archäologische Befund, nach welchem sich bei hohen Würdenträgern die Gräber nach verwandtschaftlichen Beziehungen gruppieren konnten oder Gräber bewusst für mehrere Familienangehörige angelegt wurden.34 Im Hintergrund dieser Aussage steht vermutlich die starke Zugehörigkeit zur Familie bzw. zur Gemeinschaft in die sich der Ägypter eingebunden fühlte.35 Somit konnte das „Gehen zu den Vätern“ an das „Gehen des Toten zu seinem Ka“ und der Vorstellung des Eingehens des Ka in die Ahnenreihe36 anknüpfen. Beiden Formulierungen liegt das Prinzip der „transgenerationellen Konnektivität“37 zugrunde.
Ergebnisse Von der räumlichen und zeitlichen Verbreitung der Textbelege spricht einiges dafür, den Ursprung der Sterbenotizen „zu seinen Vorfahren Versammeltwerden“ bzw. „sich zu seinen Vätern Legen“ im palästinischen Raum zu suchen. Den ältesten in diese Richtung weisenden, leider nicht mehr vollständigen Beleg besitzen wir in der Inschrift von Tell Dan mit der Verbindung von „sich niederlegen“ und „gehen zu“. Das Sterben, durch die Bewegung 32
Zu diesem Thema vgl. den Aufsatz von U. NEUMANN-GORSOLKE in diesem Band. Vgl. VITTMANN, Papyrus Rylands II, 450. 34 Vgl. auch ARNOLD, Familiengrab, 103–104. 35 „Das Grab ist das Symbol jener transgenerationellen Konnektivität oder ‚Generationeneinbindung‘ (K. Seyfried), in der die Ägypter gelebt haben.“ (ASSMANN, Tod und Jenseits, 241). 36 Vgl. hierzu ASSMANN, Tod und Jenseits, 241. 37 ASSMANN, Tod und Jenseits, 241. 33
Auf dem Weg „zu den Vätern“
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des Sich-Niederlegens ausgedrückt, wird verbunden mit einem Ziel im Totenreich: „gehen zu ...“. Im Alten Testament haben sich dann vor allem zwei Formulierungen herauskristallisiert: das „Versammeltwerden zu den Vorfahren“ und das „sich zu den Vätern Legen“. Da das „Versammeltwerden zu den Vorfahren“ vor allem in Texten der Priesterschrift auftritt und das „sich zu den Vätern Legen“ in dtr Literatur, liegt in letzterem möglicherweise die ältere Version vor.38 Dafür könnte auch sprechen, dass sie wie die Inschrift von Tell Dan das Verb ɜɎɄ verwendet.39 Vermutlich sollte die Nennung der „Vorfahren“ im priesterschriftlichen Kontext den Anspruch auf das verheißene Land evozieren. Der schmale Befund aus Mesopotamien mit der Grabinschrift der Jabâ zeigt zumindest, dass der Ursprung der alttestamentlichen Sterbenotizen nicht im Zweistromland zu suchen ist. In Ägypten kann die ab dem 7. Jh. v.Chr., besonders aber ab der Spätzeit belegte Formel „zu den Vätern gehen“ an die frühe Vorstellung des „Gehens zu seinem Ka“ bzw. dem Eingehen des Ka in die Ahnenreihe anschließen. Doch die beachtliche Ähnlichkeit zu der (rekonstruierten) Formel der Tell Dan Inschrift und den alttestamentlichen Belegen, vor allem der Begriff der „Väter“, der sonst in Ägypten in dieser Weise kein Vorbild hat, könnte darauf hindeuten, dass sich dieser Wortlaut in Ägypten durch den Kontakt zu Palästina / Israel oder durch die im Land lebenden Juden entwickelt hat. Gerade in der griechisch-römischen Zeit hat die ägyptische Literatur in noch größerem Umfang als ihre Vorläufer Gedankengut der Nachbarländer rezipiert. Doch hier betreten wir sehr unsicheres Gelände.
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38 Interessant sind die beiden Doppelnotizen des Todes von Jakob und Mose – einmal in der priesterschriftlichen Form des „Versammeltwerdens zu den Vorfahren“ in Gen 49,29.33 (Jakob) und Dtn 32,50 (Mose) sowie in der Formulierung des „sich zu den Vätern Legens“ in Gen 47,30 (Jakob) und Dtn 31,16 (Mose; dtr). 39 Vielleicht ist aus der ehemaligen langen Form „er legte sich nieder und ging zu seinen Vätern“ die kürzere Form „er legte sich zu seinen Vätern“ geworden.
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Annette Krüger
FADHIL, A., Die in Nimrud/Kal̴u aufgefundene Grabinschrift der Jabâ, BaM 21 (1990) 461–470 GÖRG, M., Richter (NEB 31), Würzburg 1993 HERTZBERG, H.W., Die Bücher Josua, Richter, Ruth (ATD 9), Göttingen 1954 HOFFMANN, F. / QUACK, J.F., Anthologie der demotischen Literatur, Münster 2007 JANOWSKI, B., Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000 JASNOW, R. / VITTMANN, G., An Abnormal Hieratic Letter to the Dead (P. Brooklyn 37.1799 E), Enchoria 19/20 (1992–1993) 23-43 KAPLONY-HECKEL, U., Die demotischen Tempeleide I, Wiesbaden 1963 KÖCKERT, M., Das Land in der priesterlichen Komposition des Pentateuch, in: D. VIEWEGER / E.-J. W ASCHKE (Hrsg.), Von Gott reden: Beiträge zur Theologie und Exegese des Alten Testaments, FS S. Wagner, Neukirchen-Vluyn 1995, 147–162 KOTTSIEPER, I., Die Inschrift von Tell Dan, TUAT.Erg. (2001) 176–179 KÜHN, D., Totengedenken bei den Nabatäern und im Alten Testament: Eine religionsgeschichtliche und exegetische Studie (AOAT 311), Münster 2005 LEMAIRE, A., The Tel Dan Stela as a Piece of Royal Historiography, JSOT 81 (1998) 3–14 MÜLLER, H.-P., Die aramäische Inschrift von Tel Dan, ZAH 8 (1995) 121–139 SCHARBERT, J., Die Landverheißung an die Väter als einfache Zusage, als Eid und als „Bund“, in: R. BARTELMUS (Hrsg.), Konsequente Traditionsgeschichte, FS K. Baltzer (OBO 126), Fribourg / Göttingen 1993, 337–354 THISSEN, H.J., Die Lehre des Anchscheschonqi, TUAT III/2 (1991) 251–277 TOORN, K. VAN DER, Family Religion in Babylonia, Syria and Israel: Continuity and change in the forms of religious life (SHCANE 7) Leiden 1996 –, Ein verborgenes Erbe: Totenkult im frühen Israel, ThQ 177 (1997) 105–120 VITTMANN, G., Die Mumienschilder in Petries Dendereh, ZÄS 112 (1985) 153–168 –, Der demotische Papyrus Rylands 9, Teil II (ÄAT 38), Wiesbaden 1998 –, Papyrus Rhind 1, in: Thesaurus Linguae Aegyptiae (http://aaew.bbaw. de/tla) WENNING, R., Bestattungen im königszeitlichen Juda, ThQ 177 (1997) 82–93 WÜRTHWEIN, E., Die Bücher der Könige. 1. Kön. 17–2. Kön. 25 (ATD 11,2), Göttingen 1984
Das Problem des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte MARTIN LEUENBERGER Regula Rahn (31.05.1965–24.10.2001) zum Gedenken*
Die gängige Idealvorstellung eines ‚guten und gelungenen‘ Lebens besteht im Alten Israel ebenso wie im Alten Orient darin, ein gesegnetes Leben in Wohlstand und Prosperität zu führen; danach möchte man – mit der Priesterschrift, die ältere Traditionen rezipiert, gesprochen – ɕɄɜɈ ɒɚɉ: „alt und [lebens]satt“ sterben und „zu seinen Völkern / Vorfahren versammelt werden“,1 die in der Unterwelt eine schattenhafte Fortexistenz führen.2 Dieses Ideal besitzt einen quantitativen und einen qualitativen Aspekt: (1) Im Blick auf die Lebensdauer sei zunächst daran erinnert, dass die durchschnittliche Lebenserwartung aufgrund der vielfältigen Bedrohungen durch ‚natürliche‘ Faktoren wie Kindersterblichkeit, Kindbettfieber, Krankheiten, Unfälle, Katastrophen und durch ‚kulturelle‘ Gründe wie Gewaltherrschaft, Krieg oder Freitod in ‚ausweglosen‘ Situationen3 etc.
* Das Thema des vorzeitigen Todes, das mir von den Herausgebern vorgeschlagen wurde, besitzt für mich auch eine persönliche biographische Dimension, die ich mit dieser Widmung zum Ausdruck bringe: Mit diesem historischen Beitrag gedenke ich meiner allzu früh verstorbenen Lebenspartnerin Regula Rahn. 1 Beide Wendungen sind formelhaft geprägt und erst ab der Priesterschrift belegt, obgleich die inhaltlichen Vorstellungen seit der frühen Königszeit greifbar sind: Für „alt und lebenssatt“ in Gen 25,8; 35,29; 1 Chr 23,1; 2 Chr 24,15; Ijob 42,17 (s.a. Gen 15,15; Ri 8,32; 1 Chr 29,28) zeigen dies die Sachentsprechungen schon in sehr frühen Kernen der Vätergeschichte (Gen 27* im Jakobzyklus, s. dazu LEUENBERGER, Segen, 218ff), für ɖɔɃ NifŦal + ɈɌɑɕȽɏɃ: „zu seinen Völkern/Vorfahren versammelt werden“ Gen 25,8.17; 35,29; 49,33; Num 27,13; Dtn 32,50 (s.a. „zu seinen Vätern“ Ri 2,10) macht dies die stereotype Sterbe- und Bestattungsformel der Könige ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɛɄɚɌɈ NN ɄɎɜɌɈ: „und NN legte sich zu seinen Vätern und wurde begraben“ 1 Kön 2,10 usw. wahrscheinlich. 2 So die übliche Qualifizierung für den Alten Orient wie das eisenzeitliche Israel, vgl. DÜRR, Wertung, 36ff; WÄCHTER, Tod, 205 u.ö.; ZENGER, Toten, 139ff; PODELLA, Grundzüge, 73f; SCHROER, Liebe, 3; BERLEJUNG, Tod, 466ff, bes. 469.479.486ff; DIES., nach dem Tod, 2f; LIESS, Weg, 294f (Lit.); vorsichtiger blieb in der älteren Forschung etwa QUELL, Auffassung, 22f. 3 Siehe dazu den Beitrag von J. Dietrich in diesem Band.
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nicht einmal 30 Jahre4 betrug. Obwohl „es zu den fundamentalsten anthropologischen Bedürfnissen gehört, im Konsens mit den gängigen Normvorstellungen aus dem Leben zu scheiden“,5 konnte man also die menschliche Lebensspanne nur im Idealfall auf 70, 80 oder gar 100 Jahre beziffern: ɇɓɜ ɐɌɓɈɑɜ ɝɛɈɄɅɄ ɐɃɈ ɇɓɜ ɐɌɕɄɜ ɐɇɄ ɈɓɌɝɈɓɜȽɌɐɌ: „die Tage unserer Jahre siebzig Jahre und – (nur) wenn in Kraft – achtzig Jahre“ (Ps 90,10).6 (2) Im Blick auf die Lebensqualität verdeutlicht der Doppelausdruck „alt und lebenssatt“ – der für Personen unterschiedlichen Alters verwendet wird –, dass die Sättigung das Alter bestimmt und nicht umgekehrt. Salopp formuliert geht es nicht darum, dem Leben möglichst viele Jahre zu verschaffen, sondern den Jahren möglichst viel Leben zu geben. Lebensqualität, nicht absolute Lebensdauer steht zuoberst – ohne von einer gewissen Lebensdauer gelöst werden zu können. Das israelitische Lebensideal umfasst – in dieser Reihenfolge – Lebensqualität und Lebensdauer: Erstrebt wird durch keine Minderungen beeinträchtigtes Leben im Vollsinn – und zwar möglichst lange. Wie in den meisten Kulturen und Religionen ist dabei die asymmetrische Grundkonstellation von Leben und Tod im eisenzeitlichen Israel und darüber hinaus ein – wenn nicht das – anthropologische(s) Hauptthema. Das grob skizzierte Lebensideal wird somit durch allgegenwärtige und nur zu oft reale Gefährdungen und Minderungen bedroht und beeinträchtigt. Sie lassen – vor dem Hintergrund der (hier nicht eigens zu verhandelnden) dezidierten Diesseitsorientierung der israelitischen Religion(en)7 – das Problem des vorzeitigen Todes scharf und prominent hervortreten: „Nicht der Tod am Ende eines erfüllten Lebens, wohl aber der vorzeitige Tod bedeutet ein Problem“ im Alten Israel.8 Im Folgenden soll diesem Problem des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte anhand einiger charakteristischer Konstellationen und Transfor-
4 Vgl. DIETRICH/VOLLENWEIDER, Tod, 582; mit knapp 4 Dekaden etwas höher schätzt GERSTENBERGER, Lebenslauf, 254ff; s.a. kritisch BLENKINSOPP, Expectancy, 50ff. 5 BERNER, Begräbnis, 241. 6 So im Grundbestand von Ps 90 (s. LEUENBERGER, Konzeptionen, 132ff [Lit.], während nun BRANDSCHEIDT, Tage, 3 V. 10 für sekundär hält), wo dieses Motiv jedoch in eine die Vergänglichkeit beklagende Gesamtperspektive eingebettet ist. Auf das volle Jahrhundert dehnt Sir 18,9 die maximale Lebenserwartung aus (s.a. Gen 6,3: 120 Jahre), und Jes 65,20ff überbietet dies eschatologisch noch. 7 Vgl. dazu pointiert GRAF REVENTLOW, Tod, 136: „Durch die Auffassung des Menschen als einer vom Lebenshauch belebten körperlichen Einheit ergibt sich die für altisraelitische Sicht totale Diesseitigkeit aller Lebensvorgänge“ (s. ebenso FOHRER, Grundstrukturen, 171ff; HÜBNER, Leben, 56; DIETRICH/VOLLENWEIDER, Tod, 582ff). 8 DIETRICH/VOLLENWEIDER, Tod, 582.
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mationen9 nachgegangen werden. Zuvor sind jedoch zwei Bemerkungen zur Fragestellung angezeigt.
I. Bemerkungen zur Fragestellung Die Fragestellung nach dem Problem des vorzeitigen Todes lässt sich in zwei Stufen eingrenzen, indem eine erste Annäherung die Dimensionen der Vorzeitigkeit umreißt und eine zweite Überlegung den Problemcharakter des vorzeitigen Todes erläutert. 1. Vorzeitiger Tod als Begriff Was ist mit ‚vorzeitigem Tod‘ gemeint? Ohne hier textgestützt eine Phänomenologie des vorzeitigen Todes bieten zu können, 10 ist nach dem Gesagten deutlich, dass die Rede vom vorzeitigen, verfrühten oder unzeitigen Tod abgeleitet ist von der Vorstellung des Todes zur rechten Zeit, alttestamentlich gesprochen: „alt und lebenssatt“. Vorausgesetzt ist dabei, dass dem menschlichen Leben eine bestimmte Lebenszeit und -qualität zukommen sollte – wobei im Alten Israel selbstverständlich beides von Jhwh, dem Gott des Lebens,11 festgesetzt wird. Die Vorzeitigkeit umfasst nach den obigen Bemerkungen zur Wendung „alt und lebenssatt“ eine quantitative und eine qualitative Dimension: Der vorzeitige Tod manifestiert sich nicht nur (quantitativ) im verfrühten biologischen Tod, der irreversibel ist, sondern auch (qualitativ) in der unzeitigen und als metaphorischer Tod erfahrenen Lebensminderung, die reversibel ist und eine diesseitige Rückkehr ins Leben ermöglicht bzw. erhoffen und erbitten lässt.12 Dies kann durch drei knappe Präzisierungen schärfer profiliert werden: Erstens geht es im Alten Israel stets um den vorzeitigen Tod des Menschen, wogegen das nicht-menschliche Leben diesbezüglich kein Thema bildet. Zweitens betrifft der vorzeitige Tod nicht bzw. nur sehr eingeschränkt die generelle Sterblichkeit und Vergänglichkeit des Men9
Zum Verständnis der Begriffe ‚Konstellation‘ und ‚Transformation‘ vgl. LEUENSegen, 85ff (Lit.). 10 Sie ließe sich etwa thematisch oder – einfacher – biblisch-kanonisch zusammenstellen, beginnend bei Gen 2f.4 usw. 11 Jhwh ist als Gott des Lebens auch der lebendige, d.h. lebensschaffende Gott (vgl. dazu BARTH, Errettung, 30ff; STRAUß, Tod, 38 und umfassend KREUZER, Gott). 12 Anders als in Ägypten, wo häufig eine jenseitige ‚Lösung‘, d.h. eine Errettung aus dem Tod ins jenseitige Leben, erhofft wird, zielen die atl. Klagelieder des Einzelnen (KE) und Danklieder des Einzelnen (DE) etc. auf eine diesseitige Errettung ab (vgl. z.B. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 258ff [Lit.]). BERGER,
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schen. Diese ist im eisenzeitlichen Israel – wohl in gewisser Differenz zu Mesopotamien – in der Regel akzeptiert und nicht anstößig13 – sofern eben das befristete Leben gelingt. Die Vergänglichkeit als solche scheint erst später und in spezifischen historischen Situationen kritisch thematisiert und problematisiert worden zu sein (s.u. II.3). Drittens sei aus heutiger Perspektive ergänzt, dass im Alten Israel natürlich nur der vorzeitige Tod problematisiert wird. Dagegen stellt sich das Problem des zu späten Todes, das hierzulande in der gegenwärtigen Geriatrie und Gerontologie zunehmend virulent wird, noch nicht, was sich angesichts der veränderten, ungleich bedrohlicheren Lebensumstände damals von selbst versteht. 2. Vorzeitiger Tod als Problem In den einschlägigen Texten aus dem Alten Israel wird der vorzeitige Tod durchgehend nicht einfach nur neutral thematisiert, beschrieben oder berichtet, sondern stets als Problem präsentiert:14 Anders als die Sterblichkeit des Menschen erregt der vorzeitige Tod immer Anstoß. Denn wenn dem Menschen von Jhwh eine bestimmte Lebensfrist zugemessen ist, muss der vorzeitige (sei es der biologische, sei es der metaphorische) Tod erklärt und bewältigt werden. Wie sich an den Texten noch zeigen wird, stellt im Alten Israel daher das Problem des vorzeitigen Todes die schärfste Zuspitzung der Todesthematik dar: Hier schiebt sich die „Domäne des Todes“ am weitesten und unerhört „tief in den Bereich des Lebens“ vor.15 Der Problemcharakter des vorzeitigen Todes zeigt sich näherhin an den folgenden Befunden: Wie angedeutet wird im Alten Testament der biologische und der metaphorische Tod vor der Zeit nie nur als Selbstverständlichkeit erzählt oder mitgeteilt, sondern besitzt Erklärungsbedarf:16 Er wird stets beklagt oder es wird seine Abwendung erbittet bzw. dafür gedankt.17 Mit dem vorzeitigen Tod kann man sich nicht einfach arran-
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Vgl. zur Akzeptanz der menschlichen Sterblichkeit im eisenzeitlichen Israel WÄCHTER, Tod, 198ff u.ö.; KELLERMANN, Überwindung, 259.261f; STRAUß, Tod, 40; LEUENBERGER, Leben, 345f mit Anm. 8ff (Lit.). Ähnliches wird auch für den Alten Orient behauptet (vgl. KAISER/LOHSE, Tod, 23), doch muss auch hier zeitlich (und räumlich) differenziert werden. 14 So mit LIESS, Weg, 2; DIES., Tod, 430; s.a. KELLERMANN, Überwindung, 259f; RICHARDS, Death, 109; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 229; BERLEJUNG, nach dem Tod, 2. 15 VON RAD, Theologie, 400. 16 Das gilt ähnlich auch für den Alten Orient, wie etwa der Beitrag von D. Schwemer in diesem Band verdeutlicht. 17 Vgl. zu den KE/DE unten II.1 und II.2. Von den Primärtexten ist v.a. die Grabinschrift Eschmunazars von Sidon aus dem 5. Jh. v.Chr. zu erwähnen, die im Ich-Stil den vorzeitigen Tod beklagt, ohne aber eine Ursache anzuführen: k ťnk nhin ngzlt bl Ŧty bn ms/k jmm (ťzrm): „Ja, ich Bedauernswerter bin dahingerafft worden nicht zu (= vor)
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gieren, mit ihm wird vielmehr in unterschiedlichen Sprachmodi intensiv gerungen (wie sich an den unten in II. zu behandelnden Texten erhärten wird). Dementsprechend wird der vorzeitige Tod im Alten Israel fast ausnahmslos negativ bewertet,18 sodass man axiologisch angemessen vom bösen Tod sprechen kann. Das gilt auch für Ps 63,4, wo eine prinzipielle – allerdings indirekte – Relativierung in den Blick kommt (s.u. II.4). Und selbst bei der Entwicklung von (unterschiedlichen) Hoffnungen über den Tod hinaus spielt der vorzeitige Tod (Gerechter) eine treibende Rolle (s.u. II.5). Eine direkte und grundsätzliche Relativierung des vorzeitigen Todes – abermals von einer jenseitigen Unsterblichkeitsvorstellung her! – lässt sich im (spät)israelitischen Horizont erst nach der Zeitenwende greifen, insbesondere in der Weisheit Salomos.19 Dass die negative Bewertung des vorzeitigen Todes insgesamt so radikal ausfällt, hängt natürlich mit der erwähnten Diesseitigkeit der israelitischen Religion zusammen. Erst dort, wo sich das Gesamtgefüge des religiösen Symbolsystems verändert, kann – in seltenen Fällen – auch die Bewertung des vorzeitigen Todes wechseln. Zudem werden in allen einschlägigen Texten Ursachen angeführt, die den vorzeitigen Tod herbeiführen und ihn insofern erklären. Endogen, d.h. im Beter/Betroffenen gründend, spielen oft Schuld und Sünde die entscheidende Rolle;20 sie fungieren innerhalb des Tun-Ergehen-Zusammenhangs als hinreichende Erklärung, werden dann aber in späterer Zeit wiederholt strittig (s. z.B. Ijob 31; Koh 3,16ff; Ps 49; 73). Wichtiger sind meist exogene Faktoren; sie können mit endogenen Ursachen kombiniert werden oder selbständig auftreten. Die wichtigsten exogenen Faktoren für den vorzeitigen Tod stellen Krankheiten, kultische Verunreinigungen, Feinde im weitesten Sinn, Unfälle, Naturkatastrophen oder komplexe Notlagen dar. Zudem kann auch Jhwh selber als impliziter oder expliziter Verursacher des vorzeitigen Todes in den Blick kommen; dabei scheint sich eine theologiegeschichtliche Entwicklung abzuzeichnen, die den in Notlagen immer angerufenen Jhwh mit der Zeit auch als expliziten Verursacher des vorzeitigen Todes benennt.21 Hier ist „Jahwe selbst in die Funktion der Todesmacht eingetreten“,22 wie sich (s.u. II.2) noch genauer zeigen wird. meiner Zeit, ein Sohn einer Zahl von Tagen (…)“ (Z. 12f, s. Z. 2f, vgl. DONNER/RÖLLIG, Inschriften, Bd. 1, 3; Bd. 2, 19ff; JAROŠ, Inschriften, 139ff). 18 Vgl. WOLFF, Anthropologie, 170 mit Bezug auf QUELL, Auffassung, 37; s.o. Anm. 14. 19 Vgl. bes. Kap. 3–5 mit 4,7–9, s. dazu SCHMITT, Tod; WÄCHTER, Tod, 68f; ZENGER, Toten, 146f; LEUENBERGER, Leben, 352 Anm. 29; BERLEJUNG, nach dem Tod, 6f. 20 Vgl. dazu RINGGREN/ILLMAN/FABRY, ɝɈɑ, 775f (ILLMAN). 21 So wird gegenüber älteren Konzepten einer zerstörerischen Todesmacht o.ä. explizit Jhwh als Herr über Leben und Tod (Dtn 32,39; 1 Sam 2,6; 2 Kön 5,7; Jes 45,6f) verantwortlich gemacht, etwa in 1 Sam 2,31f; Jon 2,4ff; Klgl 3,6; Ps 22,16 und bes.
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Als kurze Zwischenbilanz lässt sich also festhalten, dass im Alten Israel der metaphorische und der biologische Tod des Menschen vor der Zeit durchgängig als Problem erscheint; es wird in verschiedenen Sprachmodi thematisiert, durchwegs negativ bewertet und auf verschiedene endogene und exogene Ursachen (inklusive Jhwh selber) zurückgeführt. Hier erfährt die Todesthematik – und zwar fast ausschließlich auf das Individuum und nicht das Kollektiv konzentriert – m.E. ihre schärfste Zuspitzung: Wenn mit Diedrich Westermann das „Leben zu erhalten, (…) das wirkliche Ziel allen religiösen Tuns“ ist,23 dann bedeutet der vorzeitige Tod das definitive religiöse Scheitern der menschlichen Existenz (des Individuums).
II. Das Problem des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte Mit dem gewonnen Problemverständnis sollen nun einige charakteristische Konstellationen und Transformationen des Problems des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte beschrieben werden. Der Einsatz erfolgt bei den ältesten erkennbaren eisenzeitlichen Problem-Konstellationen (II.1), um dann die problemgeschichtlich interessantesten Transformationen in spätvorexilischer und exilisch-nachexilischer Zeit zu beschreiben (II.2–4); abschließend wird knapp auf die nach-exilisch-hellenistischen Fortführungen im Alten Testament und darüber hinaus ausgeblickt werden (II.5). Dabei erfolgt die Auswahl der Beispiele exemplarisch und konzentriert sich auf die aufschlussreichsten KE / DE. 1. Eisenzeitliche Ausgangspunkte: Jhwhs Rettung aus dem chaotisch in die Lebenswelt einbrechenden vorzeitigen Tod (Ps 18; 13; 30) In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist eine Vielzahl religionsgeschichtlicher Untersuchungen zur Todesthematik im Alten Israel entstanden, die auch hier zu den am besten erforschbaren und erforschten Kultursegmenten zählt; dabei stehen die Fragen nach Bestattungskultur, Totenpflege/-kult und Unterweltsvorstellungen im Vordergrund.24 Trotz des vom Alten Testament vermittelten Gesamteindrucks hat sich dabei herausgestellt, dass im eisenzeitlichen Israel der frühen und mittleren 88,7ff (zu Letzterem JANOWSKI, Toten, 17f; DERS., Konfliktgespräche, 240ff, der unterstreicht, dass der Beter sich unschuldig weiß wie Ijob, z.B. Ijob 16,7ff; 19,8ff; s. stärker differenzierend ZENGER, Gott, 66 [Totenwelt und Gott als Verursacher]). 22 PODELLA, Grundzüge, 74. 23 Zitiert nach SUNDERMEIER, Leben, 515. 24 Vgl. die Bibliographie von B. Janowski bei BARTH, Errettung, 165ff; seither v.a. DIETRICH/VOLLENWEIDER, Tod, 582ff; LIESS, Weg, 293ff; BIEBERSTEIN, Umgang, 6ff.
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Königszeit der Welt der Toten eine wichtige religiöse Bedeutung zukommt: In faktischer Umkehrung der älteren Forschung, die von einem „sakralen Vakuum der Todessphäre“ in Israel sprach,25 hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass im eisenzeitlichen Israel nachgerade von „einer eigenen Sakralität des Totenreiches“ zu sprechen ist.26 Die Totenwelt gilt zwar – wie sich auch aus dem AT rekonstruieren lässt – zunächst und noch relativ lange als von Jhwh getrennt und mithin als Jhwh-fern, keineswegs jedoch – um in diesen Kategorien zu bleiben – als profan; vielmehr stellt sie eine schattenhafte Gegenwelt mit einer eigenen Herrschafts- / Organisationsstruktur und wohl einem göttlichen Unterweltsherrscher27 dar, die für die Welt der Lebenden von wichtiger (familien)religiöser Bedeutung ist.28 Dieser Befund lässt sich wahrscheinlich religionssoziologisch so erklären, dass die offizielle(n) Jhwh-Religion(en) der Königszeit (zunächst) relativ konfliktfrei mit familiären und lokalen Religionen koexistieren, die seit je für den Bereich des Todes und den Umgang damit zuständig sind.29 Das derart grob skizzierte neue Rahmenmodell führt im Blick auf den vorzeitigen Tod zu den ältesten Problem-Konstellationen des vorzeitigen Todes im Alten Testament (Ps 18; 13; 30). Denn in einigen in den Psalter eingegangenen KE / DE finden sich vergleichsweise alte Konstellationen, die sich exakt in das skizzierte religionsgeschichtliche Rahmenmodell einfügen: Indem sie sich im Rahmen der als Opposition von Leben und Tod exemplifizierten Kosmos-Chaos-Konstellation bewegen (a), sich in Klage / Bitte / Dank an Jhwh wenden (b) und diesseitige Restitution angesichts des eingetretenen metaphorischen und drohenden biologischen Todes zum Ziel haben (c), problematisieren sie den vorzeitigen Tod sowohl theologisch als auch lebenspraktisch.
25
GESE, Tod, 42; ebenso WOLFF, Tod, 65 („theologisches Vakuum“); DERS., Anthropologie, 155 („Entmythisierung des Todes“). S. dazu kritisch LIESS, Weg, 300ff. 26 So LIESS, Weg, 296; ebenso bereits JANOWSKI, Toten, 30. 27 Zu nennen ist natürlich v.a. Mot (ɝɈɑ), s. dazu LIESS, Weg, 297 Anm. 27 (Lit.); JANOWSKI, Toten, 29; LEUENBERGER, Leben, 351 Anm. 27; zurückhaltend hingegen GERLEMANN, ɝɈɑ, 896. Mit Recht betont ZENGER, Gott, 65, dass sich eine kultische Verehrung Mots bisher nicht nachweisen lässt. – Zum Machtcharakter der Scheol s. summarisch FISCHER, Tod, 137ff; HIEKE, Tod, 31ff. 28 Das belegen Bestattungswesen, Totenpflege/-kult, Nekromantie u.ä. in aller Deutlichkeit (vgl. dazu v.a. WENNING, Bestattungen; SPRONK, Afterlife; VAN DER TOORN, Erbe; TROPPER, Nekromantie; SCHMIDT, Dead; BERLEJUNG, Religionsgeschichte, 77ff). 29 So mit BERLEJUNG, Religionsgeschichte, 78; LIESS, Weg, 297 und anderen Autoren. Die These, dass „in Israels Glaubensvorstellungen, weil ja nur JHWH als Gott verehrt wird […], die Unterwelt ohne Gott (ist)“ (WÄCHTER, ɏɈɃɜ, 908), stellt eine systematisierende Rückprojektion aus späterer monotheistischer Zeit dar, die den religionsgeschichtlichen Befunden im eisenzeitlichen Israel nicht gerecht wird.
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(1) In das skizzierte religionsgeschichtliche Rahmenmodell fügen sich die Texte ein, die ein antagonistisches Gegenüber von Jhwh und Todeswelt exponieren. Bezeichnend ist etwa die chiastische Klage von Ps 18,5f: ɝɈɑȽɌɏɄɊ ɌɓɈɗɗɃ (18,5) Es umfingen mich die Fesseln des Todes, ɌɓɈɝɕɄɌ ɏɕɌɏɄ ɌɏɊɓɈ und die Bäche des Verderbens erschreckten mich. ɌɓɈɄɄɔ ɏɈɃɜ ɌɏɄɊ (6) Die Fesseln der Unterwelt umgaben mich, `ɝɈɑ ɌɜɚɈɑ ɌɓɈɑɆɚ es ereilten mich die Fallen des Todes.
Der königliche Beter beschreibt hier im rückblickenden Klageteil seine Notlage mit ausgesprochen starker und expliziter Todesmetaphorik. Die „mythischen Bilder“30 der „Fesseln“31 und „Fallen des Todes“ bringen die (sei es personale, sei es wirksphärenhafte) Macht des Todes zum Ausdruck, wie es auch in anderen profilierten Aussagen der „um die Errettung des Beters aus dem Tod“ kreisenden KE / DE geschieht.32 Der angefeindete Beter geriet lebendig in die Klauen von Tod und Chaos – er starb den vorzeitigen (metaphorischen) Tod, dessen Sphäre sich allzu früh dynamisch bis in die Lebenswelt ausdehnte. Dabei richtet sich der Beter in seiner hier retrospektiv33 berichteten Klage an Jhwh selber, wie die Rahmung in V. 4.7 belegt, und der jetzt in V. 8–16 folgende Theophaniehymnus erzählt von Jhwhs ‚Rettung von oben‘ (s. V. 17f),34 womit ein ähnliches vertikales Raumverständnis greifbar wird wie etwa in Ps 30. Die Kombination von Todes- und Wassermetaphorik in der Klage V. 5f und in der Theophanie V. 8ff spitzt also die Oppositionspaare von Leben und Tod, Jhwh und Mot, Kosmos und Chaos außerordentlich pointiert zu. Ps 18,5f35 fügt sich passgenau in die Kosmos-Chaos-Konstellation ein (a), die für die eisenzeitliche(n) Religion(en) Israels/Judas konstitutiv ist.36 Dabei sorgt Jhwh (b), der als Gott des Lebens der Todesmacht diametral entgegensteht, für diesseitige Restitution (c), obwohl er selber – im Unterschied zu späteren Zuspitzungen – in keiner Weise für die Notlage verantwortlich gemacht wird und sie offensichtlich nicht verursacht hat.
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So HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 126. Die insgesamt abhängige Parallele in 2 Sam 22 (s. dazu SEYBOLD, Psalmen, 80f; ADAM, Held, 48ff.191f) bietet alternativ ɝɈɑȽɌɛɄɜɑ: „Wellen des Todes“ (V. 5). 32 So im Blick auf altes Überlieferungsgut KRATZ, Theologie, 324. Vgl. weiter z.B. Ps 49,15; 116,3; Spr 13,14; Jer 9,20; Hos 13,14; Hab 2,5 und die Lit. oben Anm. 27. 33 Das indiziert der Einsatz in V. 5a; der iterative Charakter der yiqtol-Fügung V. 5b reicht aber kaum aus, um eine gegenwärtige Deutung zu begründen (so ADAM, Held, 49). 34 Die Tempelmetaphorik, die nur in V. 11–13 anklingt, bleibt dabei eher im Hintergrund (anders ADAM, Held, 58ff). 35 Vgl. ADAM, Held, 58ff und zur vorexilischen Datierung aufgrund von Sprache und Konzeption ebd., 36ff.124ff.229; HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 119 (HOSSFELD). 36 Vgl. dazu methodisch STOLZ, Monotheismus, 114ff und das Material bei KEEL/ UEHLINGER, Göttinnen, 123ff. 31
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Dieselbe, durch die genannten Charakteristika bestimmte Konstellation liegt in mehreren KE und DE vor, wie exemplarisch verdeutlicht sei: (2) Die Hinwendung des Beters zu Jhwh, die sich gattungsbedingt in den meisten KE / DE findet, akzentuiert der klassische Klage- und Bittpsalm 13, der „zu den ältesten dieser Psalmen [sc. der KE, M.L.] gehört“.37 Nach dem eindringlich repetierten, vierfachen ɇɓɃȽɆɕ: „wie lange noch?“ der sich im Dreieck ‚Jhwh – Beter – Feinde‘ bewegenden Klage38 bittet der Beter in V. 4: ɌɇɏɃ ɇɈɇɌ Ɍɓɓɕ ɇɋɌɄɇ (13,4) Blicke doch her, antworte mir, Jhwh, mein Gott! ɝɈɑɇ ɒɜɌɃȽɒɗ ɌɓɌɕ ɇɛɌɃɇ Erleuchte doch meine Augen, damit ich nicht entschlafe zum Tod!
Es wird offensichtlich mit der „Äquivalenz von ‚Licht‘ und ‚Leben‘ bzw. von ‚Finsternis‘ und ‚Tod‘“ gearbeitet,39 wobei Jhwh selbstverständlich auf der Seite des Lebens steht. (a) Bei ähnlicher Gesamtkonstellation wie in Ps 18,5f – unter anderem wird „das Auftreten des persönlichen Feindes als Manifestation des Chaotischen im Leben des Beters“ exponiert40 – stellt Ps 13 die Sprechrichtung zu Jhwh heraus (b): Abgesehen vom abschließenden Lobgelübde sich selber gegenüber (V. 6b),41 ist der gesamte Klage-, Bittund Vertrauensprozess konsequent als Anrede an Jhwh formuliert; dabei erfolgt mit der oben zitierten Bitte von V. 4 eine Steigerung der klagenden Fragen zum eindringlichen Adhortativ ɇɋɌɄɇ ... ɇɛɌɃɇ: „Blicke doch her … Erleuchte doch …“, der sich im Vokativ an Jhwh richtet (ɌɇɏɃ ɇɈɇɌ: „Jhwh, mein Gott“). (c) Die das Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis betreffenden Notlagen – und hierbei wäre auch der redaktionsgeschichtliche Kontext der Klagegruppe Ps 12–14 näher einzubeziehen42 – gipfeln im ‚Sein zum Tode‘: Es droht der definitive biologische Tod (über die gegenwärtige Befindlichkeit wird nichts gesagt, aber es ist evident, sie als metaphorisches Totsein zu beschreiben), und allein die Rettung aus der Todeswelt durch Jhwh, für die es höchste Zeit ist, vermag ihn abzuwenden. Interes37 HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 96 (ZENGER); ähnlich bereits KRAUS, Psalmen, 241. Dies erscheint aufgrund der Gesamtkonstellation nahe liegend, obwohl Eigenheiten fehlen, die sich historisch spezifischer verorten ließen. 38 Vgl. zur Gliederung neben STECK, Psalm 13 v.a. JANOWSKI, Angesicht, 26ff. 39 JANOWSKI, Angesicht, 35; s.a. IRSIGLER, Psalm-Rede, 85 Anm. 48. 40 JANOWSKI, Angesicht, 41. 41 Der Stimmungsumschwung, der wahrscheinlich textintern in der auf einen Vertrauensvorschuss mündenden ‚Gebetsdynamik‘ begründet ist, kann hier nicht erörtert werden (s. dazu JANOWSKI, Angesicht, 43ff; WEBER, Stimmungsumschwung, 126ff). 42 In thematischer Hinsicht genügt hier der Verweis auf die kontextuelle Entfaltung und Vertiefung der Aspekte der Feinderhebung (12,9/13,3), der Rettung (12,2.6/13,6) und des dringlichen Zeitpunkts (12,6/13,2f) am Schluss der Klagekomposition Ps 3–14. Vgl. dazu HOSSFELD/ZENGER, Armen; LEUENBERGER, Konzeptionen, 96f.
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sant ist dabei, dass Jhwh enger als in Ps 18,5f mit der Verursachung der Notlage in Verbindung gebracht wird: Er hat den Beter vergessen (ɊɎɜ) und sein Angesicht verborgen (ɛɝɔ, V. 2), während die Feinde bloß Nutznießer dieser Situation sind (V. 3b.5). Etwas zugespitzt formuliert: Der verstärkte Anredecharakter impliziert offenbar, dass Jhwh für den vorzeitigen Tod verschärft haftbar gemacht wird. Es gilt indes zu beachten, dass zwar der Selbstentzug Jhwhs herausgestellt wird – was den Eintritt des metaphorischen Todes unter anderem mithilfe der Feinde erst ermöglicht – dass Jhwh aber nicht explizit als Verursacher benannt wird. (3) Auf die Rettung des Beters vor bzw. aus dem vorzeitigen Tod und auf diesseitige Restitution blickt Ps 30 zurück. Der (vorexilische) „Grundpsalm“ in V. 2–643 ist kompositionell und wahrscheinlich auch diachron von der (exilisch-nachexilischen) „theologischen Vertiefung“ in V. 7–1344 abgehoben. Er zeigt ein idealtypisches Gattungsmuster, bei dem zwischen der Selbstaufforderung zum Gotteslob in V. 2 und der Fremdaufforderung (mit allgemeiner Begründung) in V. 5f eine Rettungserzählung steht (V. 3f), die in V. 4 dankend berichtet: Ɍɜɗɓ ɏɈɃɜȽɒɑ ɝɌɏɕɇ ɇɈɇɌ (30,4) Jhwh, du hast meine Seele aus der Unterwelt heraufgeholt, 45 ɛɈɄȽɌɆɛɈɌɑ ɌɓɝɌɌɊ du hast mich aus denen, die hinabgehen zur Grube, ins Leben (zurück) gebracht.
So wird vom Beter knapp der äußere46 Rettungsvorgang geschildert, wobei hier – im Unterschied zu Ps 18 und 13 – die Not durch eine tödliche Krankheit verursacht wird (vgl. Ƀɗɛ V. 3), die indes ohne Näherbestimmung bleibt. (a) Im Danklied wird die Erkrankung räumlich als vertikaler Abstieg des Kranken in die Scheol beschrieben, was gleichbedeutend ist mit dem dramatischen Einbruch der Todessphäre in die Lebenswelt des Beters; umgekehrt erfolgt die Heilung als rettendes Eingreifen Jhwhs von
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So HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 186 (ZENGER); pauschal hält KRAUS, Psalmen, 387 Ps 30 für „sehr alt“, doch muss auch aus konzeptionellen Gründen differenziert werden. Die kompositionelle Abgrenzung ist aufgrund des betonten ɌɓɃɈ V. 7 evident (anders z.B. SEYBOLD, Gebet, 128: V. 2–4 Dank, V. 5–11 Zeugnis, V. 12f Gelübde). 44 JANOWSKI, Konfliktgespräche, 270 (ohne diachrone Festlegung). Zu den Querbezügen von V. 7ff zum (kollektiven) Kontext von Ps 25–34 s. ZENGER/HOSSFELD, Psalm 150, 186 (ZENGER); BARBIERO, Einheit, 386ff; LEUENBERGER, Konzeptionen, 98f. 45 So das besser bezeugte Ketib gegenüber der ungewöhnlichen Qal-Infinitivbildung des Qere ɛɈɄȽɌɆɛɌɑ: „aus meinem Hinabfahren zur Grube“ (mit DUHM, Psalmen, 121 u.a.). 46 So in Abhebung gegenüber dem inneren Vorgang in V. 7–13 (s. aber auch V. 3) gemäß HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 186 (ZENGER); JANOWSKI, Konfliktgespräche, 269; DERS., Dankbarkeit, 113f.
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oben,47 das den (metaphorisch) vorzeitig Verstorbenen komplett restituiert und seinen Aufenthalt in der Todeswelt, die also durch Jhwhs Eingreifen zurückgedrängt wird, zeitlich begrenzt und beendet. (b) Dabei ist es für die Retrospektive des DE typisch, dass die Notlage mit dem starken Begriff der Scheol umschrieben wird, während er in den KE relativ selten begegnet (s. z.B. oben zu Ps 18,5f):48 Im – an Jhwh gewandten (V. 2–4) – Rückblick wird weniger die Erzählung übertrieben als die Not in ihrer ganzen Schärfe als proleptische Todeserfahrung erkannt und beim Namen genannt, während der Notleidende in seiner Klage verständlicherweise zögert, sich gleichsam selber im Todesbereich zu verorten (und damit implizit sich aufzugeben und den Wechsel vom metaphorischen zum biologischen Tod zu befördern). So wird in Ps 30,4 – ähnlich wie in Ps 18,5f, aber expliziter als dort – von Jhwhs machtvollem Eingreifen in die Scheol erzählt, während die Klage vom drohenden (biologischen) Tod sprach, wo dann offenbar nicht mehr mit Jhwhs Eingreifen zu rechnen ist (13,4). (c) Der Akzent liegt also auf dem dankend berichteten Rettungsereignis, durch das Jhwh den vorzeitig in die Unterwelt geratenen Beter wieder zurückbringt in die diesseitige Welt der Lebenden. Festzuhalten ist, dass in Ps 30 keine personale Ursache für das Notleiden genannt wird: weder Jhwh noch die Feinde des Beters; man kann allenfalls auf das Erschrecken als Folge von Jhwhs Verbergen des Angesichts in V. 8 und auf die Feinde als Nutznießer in V. 2 verweisen (s. 13,2). (4) Die ausgewählten Passagen zum Problem des vorzeitigen Todes in älteren KE / DE ergeben mit unterschiedlichen Nuancen folgende Synthese: (a) Jhwh und Leben stehen Mot/Todesmächten und Tod antagonistisch gegenüber und fügen sich in das eisenzeitliche Rahmenmodell der Kosmos-Chaos-Konstellation ein, wie insbesondere Ps 18,5f, aber auch der Gegensatz von Licht und Finsternis in 30,4 zeigen. (b) Entsprechend dem dynamischen Lebens- und Todesverständnis (s.o. I.1) werden massiv lebensmindernde Notlagen – wie immer sie zustande kommen49 – als vorzeitiger Einbruch der machtvollen Todessphäre ins Leben erfahren:50 Das durch Isolation gestörte Gottes-, Welt- und Selbstver47
Tempelbezüge klingen neben V. 1 in V. 5.12 an und es liegt konzeptionell nahe, Jhwh im Tempel zu lozieren (vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 274ff); dennoch scheint dies im konkreten DE nicht besonders betont zu werden. 48 Vgl. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche, 276 (Lit.). 49 Entscheidend sind exogene Ursachen (s.o. I.2 mit Anm. 20) wie Krankheit, Feinde oder – als passiver Zulasser – Jhwh (Ps 13,2; 30,8); hingegen spielen die endogenen Faktoren Schuld und Sünde zumindest in den erörterten Texten eine marginale Rolle (s. die Selbstsicherheit in 30,8), was vielleicht auch diachrone Tendenzen indiziert. 50 Vgl. von den sonst wenig austragenden althebräischen Primärtexten das LachischOstrakon 3,6f, wo der unverständliche Brief eines Vorgesetzten an seinen ‚Diener‘ zu
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hältnis (s. v.a. Ps 13) versetzt den keineswegs alt und lebenssatt gewordenen Leidenden vorzeitig in die Todeswelt, die sich räumlich und zeitlich in den Lebensbereich hinein vorschiebt. In den älteren KE / DE wird die Vorzeitigkeit dieses Todeseinbruchs in Klage, Bitte und Dank vor Jhwh thematisiert und damit implizit theologisch und lebenspraktisch problematisiert: Obwohl der Tod kein sakrales Vakuum bildet, führt er doch zur – per se negativen – Trennung von Jhwh, was theologisch das Hauptcharakteristikum des Todes darstellt.51 Situativ geht es in den KE / DE stets um den metaphorischen Tod, der sich biologisch zu verendgültigen droht. (c) Das Ziel der klagenden, bittenden und dankenden Thematisierung des vorzeitigen Todes ist immer die vollständige diesseitige Restitution des Notleidenden, der sich metaphorisch bereits tot weiß und dem ohne Jhwhs Eingreifen der irreversible biologische Tod bevorsteht. Ps 18 und 30 führen dies in einer profilierten religiösen Topologie vor, indem der Tod als Abstieg in die Scheol, Jhwhs Rettung von oben als Aufstieg (in den Tempel?) präsentiert wird. Dabei fasst die Retrospektive des DE die Notlage typischerweise (und schärfer als die meisten KE) als Aufenthalt in der Scheol. In der erfolgten Rettung aus dem vorzeitigen Tod durch Jhwh zeichnet sich erstmals ein punktuelles Eingreifen Jhwhs, des Gottes des Lebens, im – wenngleich vorerst ‚nur‘ metaphorisch in die Welt des Beters vorgerückten – Todesbereich ab. (Hier liegt aller Wahrscheinlichkeit nach der Ansatzpunkt für die folgende Kompetenzausweitung Jhwhs in die und in der Todeswelt.) Jhwh steht zwar in einem antagonistischen Verhältnis zum Tod(esbereich) und hat dort (noch) keine Macht; als Chaosbekämpfer und -besieger schützt er aber die Welt der Lebenden vor dem vorzeitigen Einbruch des Todes. In dieser Konstellation liegt es begründet, dass Jhwh zwar aus dem vorzeitigen (metaphorischen) Tod rettet, diesen jedoch in der Regel (noch) nicht selber aktiv verursacht (Ps 18,5f),52 sondern höchstens – durch Abwendung o.ä. – zulässt (s. Ps 13,2; 30,8). 2. Späteisenzeitliche Verschärfung: Jhwh allein als Verursacher des vorzeitigen Todes (Ps 88) Wurde der Tod und zumal der vorzeitige bisher negativ bewertet, weil er der Diesseitigkeit der israelitischen Religion(en) entgegenstand und zur dessen Krankheit führt – „denn das Herz deines Dieners ist krank“ –, die indes nicht als Tod bezeichnet wird (s. RENZ/RÖLLIG, Handbuch, Bd.1, 417; s.a. Lachisch 6,5–7: ebd., 426f). 51 Zur Bindung des Lebens an Jhwh und entsprechend zum Tod als beziehungslose Gottesferne s. LEUENBERGER, Leben, 348f (Belege und Lit.); LIESS, Weg, 293ff (Lit.). 52 So in verschiedenen Textbereichen aus unterschiedlichen Zeiten und auch in Kombination mit anders lautenden Aussagen; vgl. etwa Ps 9,14; 33,19; 56,14; 86,13; 103,4; 116,3ff; Klgl 3,55ff; Jona 2,7; Sir 51,9ff.
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Jhwh-Ferne in der Unterwelt führte, so bedeutete er doch kein sakrales Vakuum, sondern besaß einen eigenen Machtcharakter und vermutlich auch göttliche Herrscher. Das ändert sich nun, wenn in der Eisenzeit II C ab dem 8. Jh. v.Chr. Jhwh sukzessiv zum allein maßgeblichen Gott aufsteigt53 und sich damit eine Kompetenzausweitung Jhwhs auf die und in der Todeswelt vollzieht.54 Dieser Vorgang lässt sich aus einer Vielzahl konvergierender Indizien erschließen,55 so insbesondere aus den primärtextlichen Grabinschriften aus ̳irbet el-Kčm und Ketef Hinnom,56 aus dem königlichen Totenkult in spätvorexilischer Zeit57 und aus atl. Belegen zu Jhwhs (punktuellem oder dauerndem) Eingreifen in die Scheol.58 Dieser religionsgeschichtliche Transformationsprozess zeitigt auch für das Problem des vorzeitigen Todes Implikationen: Wenn Jhwh, der „ein Gott der Lebenden und des Staates“ ist,59 zunehmend allein verehrt wird, droht tatsächlich ein religiöses Vakuum in der Todeswelt; außerdem spitzt sich auch das Problem der Verursachung des vorzeitigen Todes zu und so intensivieren sich die daran aufbrechenden Klagen und Bitten. (1) Die angedeutete Problem-Konstellation lässt sich plastisch an Ps 88, dem „‚Todespsalm‘ par excellence“,60 beschreiben. Er weist – unter anderem durch den Redeeinsatz ‚Jhwh + Verb des Rufens im Perfekt‘ indiziert – eine klare Dreiteilung auf: Zwei Ich-Du-Klagen und Bitten des Beters an Jhwh (V. 2–10aƝ.14–19) rahmen rhetorische Fragen des Beters an Jhwh zu
53
Vgl. dazu die Bilanz von LANG, Bewegung, und die Beiträge im Sammelband von OEMING/SCHMID, Gott; s.a. ALBERTZ, Jahwe. 54 Mit BERLEJUNG, Tod, 489f; SEYBOLD, Segen, 81; SCHROER, Aktualisierung, 298; LEUENBERGER, Leben, 353ff; differenziert UEHLINGER, Kultreform, 67ff.82, der darauf hinweist, dass sich der Rollentransfer von Aschera zu Jhwh auch im analogen Fehlen von Aschera-Symbolik auf Siegeln nach 600 v.Chr. zeigt. 55 Vgl. zum Ganzen bes. LIESS, Weg, 313ff; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 229ff; DERS., Sehnsucht, 442ff; sowie den Beitrag von B. Janowski in diesem Band. Er verweist mit Vorbehalten auch auf die „relativ frühen“ Erweckungs- und Entrückungsaussagen (DERS., Toten, 32), die man indes m.E. kaum dafür auswerten kann. 56 Vgl. ausführlicher LEUENBERGER, Segen, 138ff.155ff (Lit.). 57 Vgl. dazu auch NIEHR, Aspekte, 11. 58 Vgl. sowohl die Rettungserfahrungen aus dem metaphorischen Tod in den KE/DE als auch Aussagen wie Am 9,2; Ps 139,7f; Spr 15,11 u.a. (s. dazu LIESS, Weg, 313ff). 59 So repräsentativ LANG, Leben, 599. 60 ZENGER, Gott, 65 (gegen SEYBOLD, Gebet, 113f u.a. zu Recht mit Ablehnung eines Krankenpsalms; so auch DE VOS, Klage, 24; vgl. auch den Beitrag von J. Schnocks in diesem Band).
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seinem Verhältnis zu den Toten (V. 10aƞ–13), welche die „kompositionelle Mitte“ und zugleich „Sinnachse“ des Psalms61 bilden. Im Blick auf das Problem des vorzeitigen Todes – der Beter ist „todkrank von Jugend an“ (ɛɕɓɑ ɕɈɅɈ, V. 16) – vollzieht die Psalmkomposition m.E. eine dreistufige Entwicklung: Zunächst beschreiben V. 4–6 – ähnlich wie etwa Ps 18,5f – die tödliche Notlage des Beters, dessen „Leben die Unterwelt erreicht hat“ (ɕɌɅɇ ɏɈɃɜɏ ɌɌɊɈ, V. 4) und der „unter den Toten“ wohnt (ɐɌɝɑɄ, V. 6). Zwar wird hier der Machtcharakter des Todes nicht betont, aber die Konstellation entspricht jener der erörterten älteren KE / DE, die das massive „Leiden“ (V. 4) als Tod deuten. Demgegenüber lässt sich in V. 7–10aƝ und parallel dazu in V. 15–19 eine Transformation beobachten, welche die Konstellation zuspitzt und einen Schritt weiter führt: Der Beter identifiziert hier den angesprochenen, ja geradezu angeklagten Jhwh direkt als Verursacher des Todes – und zwar als exklusiven Verursacher, der allein die Verantwortung trägt.62 Jhwh verbirgt hier nicht nur sein Angesicht wie in Ps 13; 30 usw. und lässt damit dem Tod passiv Raum, sondern der Beter klagt: ɝɈɌɝɊɝ ɛɈɄɄ Ɍɓɝɜ: „Du hast mich in die tiefste Grube gelegt“ (V. 7), und er fragt: Ɍɜɗɓ Ɋɓɉɝ ɇɈɇɌ ɇɑɏ: „Warum/wozu verwirfst du meine Seele?“ (V. 15). Dazu passt, dass nicht vom Machtcharakter des Todes gesprochen wird; dies und das Fehlen von Feinden sowie weiteren Ursachen führt dazu, dass sich das Problem des vorzeitigen Todes auf ein bipolares Geschehen zwischen Jhwh und Beter reduziert. Im Hintergrund steht wahrscheinlich die erwähnte Jhwh-alleinBewegung (s.o. Anm. 53), die Jhwh zunehmend als den einzig relevanten Gott versteht und propagiert. Damit spitzt sich die Frage nach Jhwhs Relation zum Tod und dessen Bereich derart zu, dass nun für den JhwhGlauben tatsächlich ein religiöses Vakuum in der Todessphäre droht. Mit diesem Problem ringt der Mittelteil (V. 10aƞ–13), der vom Ich des Beters zu den Toten generell und deren Verhältnis zu Jhwh überleitet: ɐɈɌȽɏɎɄ ɇɈɇɌ ɍɌɝɃɛɚ (88,10aƞ–b) Ich habe dich angerufen, Jhwh, jeden Tag, ɌɗɎ ɍɌɏɃ ɌɝɊɋɜ (11) ich habe meine Hände zu dir ausgebreitet. ɃɏɗȽɇɜɕɝ ɐɌɝɑɏɇ Tust du etwa für die Toten ein Wunder, ɇɏɔ ɍɈɆɈɌ ɈɑɈɚɌ ɐɌɃɗɛȽɐɃ (12) oder stehen Totengeister auf loben dich? ɍɆɔɊ ɛɄɚɄ ɛɗɔɌɇ Wird etwa im Grab deine Gnade erzählt, 61 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 568 (teils kursiv [ZENGER]); ebenso GROß, Feind, 164; JANOWSKI, Toten, 7f.21 (Gliederungs-Beobachtungen). DE VOS’ Kritik am Begriff der Sinnachse (Klage, 33) ist indes überscharf und bleibt (auch bei ihr) folgenlos. 62 Mit JANOWSKI, Toten, 17f (Elemente der ‚Tötung‘).26; GROß, Feind, 167f (Stellen) u.a. Die Belege zu Jhwhs (exklusiver) Verursachung des vorzeitigen Tods (Verstoßung, Verwerfung usw.) für Individuum (z.B. Ps 22,2.16; 27,9; 34,16f; 38,2.22; 43,2; 51,13; 71,9ff; 102,24; Klgl 3,6; Ijob 13,24ff; Jona 2,5) und Kollektiv (z.B. Ps 44,10ff; 60,3ff.12; 74,1; 79,5ff; 80,5ff.19ff; Klgl 3,42f) müssten form-, motiv- und theologiegeschichtlich genauer analysiert werden.
Das Problem des vorzeitigen Todes ɒɈɆɄɃɄ ɍɝɓɈɑɃ ɍɃɏɗ ɍɜɊɄ ɕɆɈɌɇ ɇɌɜɓ ɘɛɃɄ ɍɝɚɆəɈ
(13)
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deine Treue im Abgrund? Wird etwa in der Finsternis dein Wunder gewusst und deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens?
Die allesamt zu verneinenden rhetorischen Fragen in V. 11–13 bestimmen die Toten und ihre Welt in ihrem Verhältnis zu Jhwh durch drei Aussagen näher: (1) Erstens erweist Jhwh an den Toten kein Wunder (V. 11a), d.h. er vollbringt an ihnen keine „das Erwartbare übersteigenden Taten“,63 wie sie das Alte Testament von Jhwh sonst zu berichten weiß. Offen bleibt zunächst, ob Jhwh an den Toten denn überhaupt handelt bzw. handeln kann. (2) Ohne ein solches Wunder aber ist zweitens evident, dass die Toten Jhwh nicht loben können (V. 11b). Das Loben Jhwhs als vornehmster und zugleich fundamentalster Vollzug der Gottesbeziehung des Menschen bricht also mit dem Tod ab, wie es im Psalter mehrfach heißt.64 (3) Darüber hinaus fehlt drittens in der Todeswelt sogar jedwede Kunde und Kenntnis von Jhwh und dessen heilvollem Handeln (V. 12f). Die Abfolge ɇɆɌ Ӑ ɛɗɔ Ӑ ɕɆɌ besitzt deutlich ein Gefälle zum Grundsätzlichen hin, und der Übergang der Stammesmodifikation vom HifŦil (V. 11) zum NifŦal (V. 12f), der die menschlichen Kommunikationssubjekte gleichsam eliminiert, verstärkt dies noch. Wo aber Loben, Erzählen und Kenntnis bzw. Wissen fehlen, herrscht totale Verhältnislosigkeit: Während Jhwh zum Tod in einer streng antagonistischen Abgrenzungs-Relation steht,65 wird hier im Blick auf die Toten und ihre Welt die „Beziehungslosigkeit […] ins Grundsätzliche gewendet“.66 Wenn man sich zudem vergegenwärtigt, dass diese Relation durchaus gegenseitig ist und auch Jhwh „nicht mehr an sie denkt, da sie von deiner Hand abgeschnitten sind“ (ɈɛɉɅɓ ɍɆɌɑ ɇɑɇɈ ɆɈɕ ɐɝɛɎɉ Ƀɏ, V. 6), dann muss man von einer reziproken Verhältnislosigkeit von Jhwh und Toten sprechen. Die Totenwelt ist in Bezug auf Jhwh und auf die Toten ein „Land des Vergessens“ (V. 13). Von daher lässt sich dann unschwer folgern, dass Jhwh im Totenreich nicht nur keine Wunder tut, sondern gemäß Ps 88 überhaupt keinen Macht- oder Handlungseinfluss besitzt und schlichtweg abwesend ist.67 Diesbezüglich entspricht Ps 88 exakt den älteren KE / DE, sodass die oben beschriebene Kompetenzausweitung nicht im Geringsten spürbar ist (oder aber konsequent negiert wird [s.u.]). 63
So die Übersetzung von HARDMEIER, Tod, 304, s.a. 304f Anm. 55. So Ps 6,6; 30,10; 88,11; 115,17; s.a. Jes 38,18; Sir 17,27f; vgl. DÜRR, Wertung, 39; WOLFF, Anthropologie, 160ff; KELLERMANN, Gotteslob, 125ff und weiterführend HARDMEIER, Tod, 294ff; JANOWSKI, Toten, 24ff.35. 65 S. dazu LEUENBERGER, Leben, 351 Anm. 27. 66 JANOWSKI, Toten, 21. 67 Dies ändert sich später natürlich in unterschiedlicher Weise (s.u. II.5), wenn etwa in Ps 22,30 Jhwh auch über die Toten herrscht. 64
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Im Schlussteil bezieht nun der Beter diese generellen Aussagen über die Totenwelt zurück auf sich selber. Wenn Jhwh und die Toten derart beziehungslos sind und schlechterdings nichts miteinander zu schaffen haben, so bleibt das ɇɑɏ: „Warum / wozu?“ (V. 15) des von Jhwh verhängten vorzeitigen Todes völlig opak – zumal Schuld oder Sünde aufseiten des Beters keine Rolle spielen.68 Ja, Jhwhs Handeln erscheint geradezu unsinnig, da er sich grundlos seines Verehrers beraubt und sich damit selber schadet. Mit diesem argumentum ad deum führt der Beter Jhwh vor Augen, dass schon sein „Eigeninteresse es ihm verbieten müsste, den Beter vorzeitig in die Scheol zu verbannen“.69 Die durch die exklusive Fokussierung auf Jhwh inaugurierte reduktive Transformation der Todes-Konstellation führt somit insgesamt zu einer Intensivierung sowohl der Klage über
den grund- und sinnlosen vorzeitigen Tod als auch der Bitte um Rettung daraus. Denn obwohl der Psalm von der Klage beherrscht wird und Bitten nur eingeschränkt formuliert werden (s. V. 2f.10aƞ–b.14), zielt die Abzweckung darauf, „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln Jahwe zu einer Änderung seiner Haltung dem Beter gegenüber zu bewegen“. 70 In dieser Konzentration äußert Ps 88 vielleicht „die düstersten Worte über den Tod im Alten Testament“.71 Ihre Eindringlichkeit gewinnen sie wesentlich dadurch, dass die Rettung aus dem vorzeitigen Tod nach wie vor im Diesseits erfolgen muss: Wie in den älteren KE / DE gibt es ein zu spät für Jhwhs Handeln; ein rettendes Eingreifen ist nur möglich, solange sich der metaphorische Tod nicht biologisch verendgültigt hat! Insgesamt ist damit für den religions- und theologiegeschichtlichen Ort von Ps 88 ein Doppeltes bestimmend: Einerseits führt die Jhwh-alleinBewegung eine reduktive und dadurch sachlich zuspitzende Transformation der Todes-Konstellation herbei. Andererseits werden aber weitergehende Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung von Jhwh und Todeswelt (Stichwort: Kompetenzausweitung Jhwhs) noch nicht gezogen. Man könnte freilich erwägen, ob die rhetorischen Fragen in V. 11–13 positive Behauptungen zu Jhwhs Präsenz und Macht in der Scheol – wie sie ab dem 8. Jh. v.Chr. auftreten – voraussetzen und dazu ablehnend Stellung beziehen.72 Dagegen spricht m.E. zum einen, dass diese Annahme überflüssig ist, weil die suggestiven Fragen mindestens ebenso gut vor dem älteren 68 So etwa GROß, Feind, 166. Diese Thematik, über die ja die Ijobdichtung streitet, wird im Psalm nicht aufgegriffen – im Unterschied zum Horizont der Korachpsalmen. 69 GROß, Feind, 164; s.a. JANOWSKI, Toten, 23 Anm. 76; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 568 (ZENGER). 70 SEYBOLD, Gebet, 117; ähnlich JANOWSKI, Toten, 26. 71 VON RAD, Glaubensaussagen, 259. 72 So – allerdings mit Bezug auf ugaritische Texte – SPRONK, Afterlife, 272: Ps 88,11 „is intended as a polemic against the opposite view“ (ebenso LIWAK, ɐɌɃɗɛ, 633; inneralttestamentliche Erwägungen stellt KELLERMANN, Gotteslob, 114f an).
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Hintergrund einer Abwesenheit Jhwhs in der Totenwelt verständlich werden, ja in diesem Fall sogar an Schärfe gewinnen; zum anderen fehlen positive Indizien – wie Referate, Anspielungen oder Zitate – dafür, dass eine solche diskursive Bezugnahme vorliegt.73 Der beschriebene Übergangsort von Ps 88 scheint für die im Alten Testament herausragende Zuspitzung der Problematik des vorzeitigen Todes wesentlich verantwortlich zu sein. In der Folgezeit wird weiter mit diesem Problem gerungen; für Ps 88 wäre dabei in redaktionsgeschichtlicher Perspektive die Positionierung am Ende der Korachpsalmen (Ps 84ff*) bzw. eines ‚messianischen Psalters‘ (Ps 2–89*) auszuwerten und die damit stattfindende Kollektivierung und historisierende Deutung auf das Geschick des Volks ‚Israel‘ näher zu beschreiben.74 Daneben kommt es zu anderen Lösungsversuchen, wie jenseitigen Vermittlungen von Jhwh und Totenwelt in verschiedener Weise. Auf sie muss noch knapp ausgeblickt werden, doch sei zuvor ergänzt, dass ähnlich eindringliche Klagen über den vorzeitigen Tod wie in Ps 88 auch in exilischer und nachexilischer Zeit weiter auftreten, wie Jes 38 und Ps 102 profiliert dokumentieren. 3. Exilisch-nachexilische Radikalisierung des Problems des vorzeitigen Todes zur generellen Vergänglichkeitsklage (Ps 39; 90) Gegenüber der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Problem des
vorzeitigen Todes Einzelner bietet eine Reihe von (weisheitlichen) Psalmen – vorab Ps 39; 49 und 90 – generelle Klagen über die menschliche Sterblichkeit, Vergänglichkeit und Nichtigkeit: „Dass die Sterblichkeit des Menschen als solche zum Problem wird, ist neu“75 und radikalisiert das Problem des vorzeitigen Todes zur generellen Klage über die menschliche Vergänglichkeit: Es handelt sich pointiert um Vergänglichkeitsklagen. (1) Drastisch wird dies bekanntlich im weisheitlichen KE Ps 39 formuliert: ɌɑɌ ɇɝɝɓ ɝɈɊɗɋ ɇɓɇ (39,6) Siehe, handbreit (nur) hast du meine Tage gemacht ɍɆɅɓ ɒɌɃɎ ɌɆɏɊɈ und meine Lebenszeit ist wie nichts vor dir. ɇɏɔ Ʉəɓ ɐɆɃȽɏɎ ɏɄɇȽɏɎ ɍɃ Fürwahr, [gänzlich]76 (Wind-)Hauch ist jeder Mensch, der da steht. Sela.
Der Beter definiert seine Lebensspanne mit dem (neben dem Finger [s. Jer 52,21]) kleinsten Längenmaß der Handbreite; im Vergleich mit Gott ten73 Instruktiv als Vergleich sind die einschlägigen Befunde bei Koh (s. KRÜGER, Kohelet, 44–51; s.a. die Lit. bei LEUENBERGER, Konzeptionen, 29 Anm. 94). Im Blick auf das Folgende ist damit deutlich, dass im Vergleich mit Ijob oder Koh von „stark reflexivem Einschlag“ (E. Haag, zitiert nach SEYBOLD, Psalmen, 344) keine Rede sein kann. 74 S. die Ansätze bei ZENGER, Korachpsalmen; LEUENBERGER, Konzeptionen, 115ff. 75 FORSTER, Leben, 3; sie untersucht Ps 39; 49; 90 im Horizont der Weisheitsliteratur. 76 Die singuläre Fügung ɏɄɇȽɏɎ ist wahrscheinlich Dittographie, s. die Kommentare z.St.
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diert sie gegen null. Diese Vergänglichkeitsklage, die mit Vorliebe Gott und Mensch kontrastiert, begegnet häufiger im Psalter,77 und zwar an durchwegs exilisch-nachexilischen Stellen.78 Kann man überlegen, ob in Ps 39,6 wiederum der von Jhwh verursachte (V. 10f) vorzeitige Tod aufgrund der Schuld des Beters (V. 9.12; s.a. V. 2–4) im Blick steht, so geht spätestens V. 6b vollends zu einer (onomatopoetischen) Generalaussage über die hinfällige menschliche Existenz als ɏɄɇ: „(Wind-)Hauch“79 über. Dieser Übergang vom Ich (V. [2–]6a) zum Menschen allgemein (V. 6bf) wiederholt sich im Refrain V. 12 (gegenüber V. 8–11.13f)80 und ähnelt der Dynamik von Ps 88. Vor dem Hintergrund der älteren KE / DE ergibt sich somit eine radikalisierende und generalisierende Transformation, indem die Klage über den vorzeitigen Tod nun zum Paradigma für die menschliche Vergänglichkeit und Sterblichkeit wird: Das Problem des vorzeitigen Todes wird in einer anthropologischen Generalisierung zum Problem des Todes als solchem vergrundsätzlicht; „der absolute Tod färbt die begrenzte Existenz ein, wie es die späte, nachexilische Weisheit als Problem umtreibt“.81 Diese Transformation vollzieht demnach eine Fokussierung auf den biologischen Tod, während der metaphorische Tod und die Bitte um Rettung daraus ausgeblendet werden: „Tod bedeutet nicht mehr in erster Linie Trennung vom Leben der Gemeinschaft, sondern Grenze des unverwechselbar-eigenen Lebens, das als solches in den Blick zu kommen beginnt“.82 Dieser Verschiebung entspricht es, dass zwar über die menschliche Sterblichkeit geklagt wird, dass aber – im Unterschied zu den mit dem vorzeitigen metaphorischen Tod befassten KE / DE – Rettungsbitten an Jhwh fehlen: Die menschliche Sterblichkeit wird zwar bedauert und beklagt, gilt aber prinzipiell als unabänderliche condition humaine. (2) Aufschlussreich für die Exilserfahrung ist insbesondere Ps 90, der im Anschluss an die thematische Einleitung (V. 1f) eine zweistufige Vergänglichkeitsklage entfaltet: Zunächst bieten V. 3–6 die wohlbekannte Klage vor Jhwh: ɐɆɃȽɌɓɄ ɈɄɈɜ ɛɑɃɝɈ ɃɎɆȽɆɕ ɜɈɓɃ Ʉɜɝ: „Du lässt den Menschen zu77 Neben dem Refrain in Ps 39,12 s. 49,13.21; 62,10; 89,48f; 94,11; 103,15f; 144,4; sie findet sich auch in der übrigen Weisheit, z.B. Ijob 7,7.16; 14,1f.5.20; Koh 2,3 u.ö. 78 Das ließe sich im Detail nachweisen, wobei sich ergäbe, „dass in traditionellen Klageliedern Vergänglichkeitsaussagen nicht vorkommen“ (FORSTER, Leben, 20). 79 SEYBOLD, Psalmen, 164 deutet Hauch und Schatten onomatopoetisch, indem er die „Vokalschwäche beider Termini“ hervorhebt. 80 Trotz verschiedener Vorstöße lassen sich die Befunde kaum redaktionsgeschichtlich auswerten (vgl. das Referat von FORSTER, Leben, 25ff; s.a. KAISER, Psalm 39, 135f.137f. 141f, der in V. 5–7.12 eine ältere Vergänglichkeitsklage vermutet). 81 HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1-50, 247 (HOSSFELD); s. zur Datierung ins 5.–3. Jh. v.Chr. FORSTER, Leben, 23ff. Im Alten Orient sind solche Klagen seit alters belegt. 82 STOLZ, Psalmen, 41.
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rückkehren zu Staub und sprichst: ‚Kehrt zurück, Menschenkinder‘“ usw. Diese generelle Klage über die condition humaine bezieht nun das sprechende Wir-Kollektiv in V. 7–9 auf sich selber; so klagt V. 9: ɍɝɛɄɕɄ Ɉɓɗ ɈɓɌɑɌȽɏɎ ɌɎ (90,9) Ja, alle unsere Tage sind zur Neige gegangen durch deinen [Grimm, ɇɅɇȽɈɑɎ ɈɓɌɓɜ ɈɓɌɏɎ wir haben unsere Jahre vollendet wie einen Seufzer.
Das Tempusgefüge sowie die aktuellen Rettungsbitten in V. 13ff verdeutlichen, dass ein Bezug auf die spezifische geschichtliche Notlage des Beter-Kollektivs vorliegt:83 „Die durch ‚Vergänglichkeit‘ charakterisierte allgemeine conditio humana (V. 3–6) ist für die Sprechergruppe dadurch verschärft, daß sie – aufgrund eigener Verschuldung (V. 8) – durch Gottes Zorn zugrunde geht (hlk V. 7.9)“.84 Mit dem kollektiven Schuldbekenntnis (‚wir‘ bzw. Volk) und dem geschichtswirksamen göttlichen Zorn werden Gattungselemente der Klagepsalmen des Volks (KV) aufgenommen; es ist also eine Kombination von genereller Vergänglichkeitsklage und Elementen des KV, die zur Zuspitzung der Klage in der spezifischen geschichtlichen Situation – die sich als andauerndes Exilsgeschick (im 5.– 4. Jh. v.Chr.)85 präzisieren lässt – führt. Anders als bei der generellen Vergänglichkeitsklage wird denn auch in V. 13ff um Rettung aus bzw. Wendung dieser geschichtlichen Notlage gebeten: ɇɓɓɛɓɈ ɍɆɔɊ ɛɚɄɄ ɈɓɕɄɜ ɈɓɌɑɌȽɏɎɄ ɇɊɑɜɓɈ: „Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade, sodass wir jubeln (können) und uns freuen (können) in all unseren Tagen“ (V. 14). 4. Exilisch-nachexilische Relativierung des Todes (Ps 63) In exilisch-nachexilischer Zeit tritt neben die Weiterführung der klassischen Konstellation der KE / DE mit den Bitten um Rettung aus dem vorzeitigen metaphorischen Tod und neben die eben beschriebene generelle Vergänglichkeitsklage eine dritte, ebenso profilierte Position. Sie wird in Ps 63,4a knapp zum hymnischen Bekenntnis „Ja, deine Gnade ist besser als Leben“ verdichtet, das hier nicht weiter erörtert werden kann.86
83 Vgl. KRÜGER, Psalm 90, 75f.79; LEUENBERGER, Konzeptionen, 133 mit Anm. 26; s.a. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 610f (ZENGER); BRANDSCHEIDT, Tage, 5f.20ff. 84 KRÜGER, Psalm 90, 79. 85 Vgl. LEUENBERGER, Konzeptionen, 132ff.239ff; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51– 100, 608f (ZENGER). 86 Vgl. dazu ausführlicher LEUENBERGER, Leben, 358ff.
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5. Nachexilisch-hellenistische Überwindungen der Todesgrenze Das Problem des vorzeitigen Todes bleibt auch in persischer und hellenistischer Zeit virulent. In den sich neu entwickelnden ‚Lösungsmodellen‘ ist eine starke Fokussierung auf den vorzeitigen biologischen Tod zu erheben; man kann dies in gewisser Hinsicht als weitere Zuspitzung verstehen, wichtiger scheint aber, dass dadurch notgedrungen jenseitige ‚Lösungen‘ und damit Überwindungen der Todesgrenze in den Blick kommen:87 Hier stehen sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Problem des vorzeitigen Todes nebeneinander: Neben weiterlaufende (Jes 38; Ps 102) oder aktualisierte (Sir 41) Modelle treten Hoffnungen auf jenseitige Überwindungen der Todesgrenze, die in Apokalyptik, im Judentum und Neuen Testament weit verzweigte Fortführungen erfahren.
III. Schluss Das Problem des vorzeitigen Todes in der israelitischen Religions- und Theologiegeschichte des 1. Jt. v.Chr. lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die eisenzeitliche Ausgangs-Konstellation in den ältesten KE / DE (Ps 18*; 13; 30*), welche auf die Rettung aus dem vorzeitigen (metaphorischen) Tod mitten im Leben durch Jhwh abzielen, wird noch in vorexilischer Zeit so verschärft (Ps 88*; später Jes 38; Ps 102), dass Jhwh allein als Verursacher des Todes erscheint; in exilischer und nachexilischer Zeit lässt sich dann eine doppelte Transformation beobachten: einerseits eine Radikalisierung des Problems des vorzeitigen Todes zur generellen Vergänglichkeitsklage (Ps 90; 39), andererseits eine Relativierung des Todes durch das höher bewertete und von Leben und Tod unabhängige intakte Gottesverhältnis (Ps 63). Schließlich bilden sich in der hellenistischen Zeit jenseitige Überwindungen der Todesgrenze heraus durch die Entrückung / Aufnahme zu Jhwh (Ps 49; 73; 22), durch die Auferweckung der Toten (v.a. Dan 12; 1 Hen 22; 2 Makk 7) und durch die Eliminierung des Todes (Jes 25); sie sind – obwohl sie neben anderen Konzeptionen wie namentlich der der Akzeptanz der Sterblichkeit und des vorzeitigen Todes (Sir 41; Koh) stehen – wirkungsgeschichtlich in Apokalyptik, Judentum und Christentum außerordentlich einflussreich geworden. Im graphischen Überblick präsentieren sich diese Stationen folgendermaßen:
87 Vgl. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche, 336ff; DERS., Toten, 33ff; LIESS, Weg, 313ff; LEUENBERGER, Leben, 357f; HIEKE, Tod, 32f.
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Ps 18*; 13; 30*: Jhwhs Rettung aus vorzeitigem Tod im Leben (Kosmos/Chaos)
800
700 Ps 88*: Jhwh allein als Verursacher des Todes
600 KV
Ps 63: Relativierung des Todes durch Jhwh-Relation
500
400
Ps 90(*): Radikalisierung: generelle Vergänglichkeitsklage Jes 38 Ps 39 Ps 102
300
200 Sir 41
Ps 49; 73; 22: Aufnahme in ‚Himmel‘
Jenseitige Überwindung der Todesgrenze Dan 12 u.a.: Auferweckung der Toten
Jes 25: Eliminierung des Todes
Diese anhand der KE / DE rekonstruierte Geschichte des Problems des vorzeitigen Todes im Alten Israel des 1. Jt. v.Chr. hat sich auf Schritt und Tritt als Segment der altisraelitischen Lebens- und Todesthematik präsentiert: Die religions- und theologiegeschichtlichen Problem-Konstellationen und Transformationen sind – unterschiedlich eng und explizit – durchgängig auf die Todesthematik bezogen, die im quantitativ und qualitativ vorzeitigen Tod ihre schärfste Zuspitzung erreicht. Dabei führt das Problem des vorzeitigen Todes in wechselnden religions- und theologiegeschichtlichen Kontexten zu immer neuen Konstellationen und Transformationen, generiert also immer neue lebenspraktische und theologische ‚Lösungsstrategien‘; insofern zwingt es zur kontinuierlichen kulturellen und d.h. auch religiösen und theologischen Auseinandersetzung und Reflexion. Gerade die KE / DE, die vom vollwertigen Leben her kommen und aus dem vorzeitigen Todeseinbruch wieder dorthin zurückführen (wollen), demonstrieren, wie sehr das Pro-
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blem des vorzeitigen Todes auf das Leben bezogen ist und es prägt: Die eminent diesseitig ausgerichtete(n) Religion(en) Israels/Judas stellen sich ungeschminkt dem Anstoß des vorzeitigen Todes, und es gelingt ihnen, das
Problem des vorzeitigen Todes in unterschiedlicher Weise in umfassendere Lebens- und Todesverständnisse zu integrieren; derart verhilft die Problematik des (vorzeitigen) Todes auch zur schärferen Profilierung dessen, was das Leben ist und ausmacht. Das erweisen sowohl die (hier nicht behandelten) archäologischen Zeugnisse aus der Stein-, Bronze- und Eisenzeit als auch – und aufgrund der texthaften Quelleneigenart um Kategorien differenzierter – die alttestamentlichen KE / DE aus dem 1. Jt. v.Chr. In diesem Sinn überzeugt die für das Alte Ägypten formulierte kulturwissenschaftliche These von J. Assmann, dass „[d]er Tod“ – und dessen schärfste Zuspitzung als vorzeitiger Tod – „Ursprung und Mitte der Kultur“ – und mithin der Religion – ist,88 auch für das in vieler Hinsicht so andersartige Alte Israel. Das Problem des vorzeitigen Todes als Herzstück der Todesthematik vermittelt einen exemplarischen Einblick in die religions- und theologiegeschichtlich differenzierte Todes- und Sterbe-, damit aber eben auch Lebenskultur im Israel des 1. Jt. v.Chr.
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Der Tod von eigener Hand im Alten Testament und Alten Orient Eskapistische, aggressive und oblative Selbsttötungen∗ JAN DIETRICH Spielt der Tod von eigener Hand für die Anthropologie und Thanatologie des Alten Testaments und Alten Orients bisher nur eine marginale Rolle, so gilt dies nicht für die Medizin, die Psychologie, Soziologie und Moraltheologie. In den einschlägigen Arbeiten aus diesen Fachbereichen herrscht eine Ursachenforschung vor, die nach den Gründen für die suizidalen Handlungen fragt und diese in negativ zu bewertenden Zuständen des Individuums (Krankheit; Sünde) oder in pathologischen Zuständen der Gesellschaft erblickt. Im Unterschied zu einer solchen Vorgehensweise wird in dieser Abhandlung in Anlehnung an den französischen Soziologen Jean Baechler ein anderer Weg beschritten: Anstatt nach den Ursachen wird nach dem Sinn gefragt, den Individuum und Kultur den suizidalen Handlungen zusprechen. Indem suizidale Handlungen als „Sinngeschichten“1 gelesen werden, können sie aus der kulturellen und gesellschaftlichen Semantik, in die sie eingebettet sind, verstanden und in die kulturanthropologischen Forschungen zum Alten Testament und Alten Orient integriert werden. Obgleich die Frage nach den Ursachen nicht generell ausgeklammert werden soll, wird ihr nur dann ausführlicher nachgegangen, wenn die Texte selbst ein Interesse an einer ursächlichen Erklärung des beschriebenen Suizids erkennen lassen. In den übrigen Fällen scheint dagegen die Frage nach der Sinndeutung des Geschehens nicht nur dem Blick der suizidalen Subjekte, sondern auch dem der Schreiber ihrer Geschichten weit angemessener zu sein. Um die suizidale Handlung jedoch nicht ausschließlich als sinnbesetzte Handlung des Individuums zu deuten, werden ∗
Der erste Teil dieser Abhandlung, der im Frühjahr 2008 in BERLEJUNG/HECKL (Hrsg.), Mensch und König, erschien, widmet sich neben einleitenden Fragen speziell eskapistischen Selbsttötungen in militärisch aussichtsloser Lage. In diesem zweiten Teil der Abhandlung wird den weiteren Quellen über Selbsttötungen aus dem Alten Orient und Alten Testament nachgegangen. Die im ersten Teil ausführlich behandelten Einleitungsfragen können an dieser Stelle nur kurz erneut aufgegriffen werden. 1 Zur Sinnfrage in der Kulturgeschichte siehe ASSMANN, Ägypten, bes. 15–24.
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die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, in deren Sinnhorizont die Handlungen vollzogen werden, mit berücksichtigt. Die Frage lautet daher hinsichtlich des Suizidanten, ob und auf welche Weise der Mensch der Alten Welt seine suizidale Handlung mit Sinn belegt. Sie lautet hinsichtlich der Kultur und Gesellschaft, ob und auf welche Weise Sinnwelten bereitgestellt werden, in deren Horizont suizidale Handlungen bewertet werden und als Lösungen für lebensrelevante Probleme erscheinen. Unter Selbsttötung wird dementsprechend eine zielgerichtete und mit Sinn besetzte Handlung verstanden, mittels der sich eine Person durch eigenes oder fremdes Tun oder Unterlassen absichtlich den Tod gibt, um auf diese Weise ein lebensrelevantes Problem zu lösen.
1. Eskapistische Selbsttötungen In seiner Typologie der Bedeutungen suizidaler Handlungen als einer sinnbesetzten und zielgerichteten Tat unterscheidet Jean Baechler unterschiedliche Kategorien und Typen.2 Unter die eskapistische Kategorie fallen all die Selbsttötungen, „bei denen die allgemeine Bedeutung des Aktes in einer Fluchtbewegung liegt, wo also der Selbstmord als ein Mittel auftritt, um vor etwas davonzulaufen.“3 Hierzu zählen nach Baechler die Typen Flucht aus einer unerträglichen Situation, Trauer um den Verlust eines lebensrelevanten Objektes und Strafe als Sühne für einen Fehler. Während die beiden letzten Typen in den altorientalischen und biblischen Quellen nicht vorkommen,4 ist die Selbsttötung als Flucht aus einer unerträglichen Situation häufig belegt – so häufig, dass sich verschiedene Kontexte erkennen lassen, in denen die eskapistischen Suizide typischerweise auftreten. Von diesen ist die militärisch aussichtslose Lage des Feldherrn der in den biblischen und neuassyrischen Texten am häufigsten belegte Kontext eskapistischer Suizide.5 Darüber hinaus gibt es weitere, wie im Folgenden dargestellt werden soll.
2
BAECHLER, Tod, 59–162. BAECHLER, Tod, 61. 4 Der Suizid als Selbstbestrafung ist meines Wissens erst in rabbinischen Quellen belegt (vgl. zum Tod als Sühne für eigene Sünden AVEMARIE, Lebenshingabe, 171–174). Diese Fälle sind meines Erachtens nicht als eskapistische Suizide zu deuten, weil ihnen ein Sinn über das Fluchtmotiv hinaus zukommt. Sie werden daher mit zu den sogenannten aggressiven Suiziden gezählt (siehe unten), bei denen der Suizidant mittels seiner Handlung seine Mitmenschen oder sich selbst bestrafen will. Darüber hinaus geht mit der Selbstbestrafung zumeist die Hoffnung auf Eingang in eine zukünftige Welt einher, weshalb diese Selbsttötungen auch als Passage gedeutet werden können. 5 Siehe dazu den ersten Teil dieser Abhandlung. 3
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a) Selbsttötungen angesichts des Scheiterns fundamentaler Lebensziele (Bilanzsuizide) Anders als in den militärischen Situationen, in denen der Feldherr den letzten ehrenvollen Ausweg im frei gewählten, aber letztlich doch unentrinnbaren Tod sucht, stellen sich die eskapistischen Selbsttötungen dar, mittels derer ein Mensch sich in Situationen des Scheiterns fundamentaler Lebensentwürfe das Leben nimmt. Diese Lebensentwürfe entsprechen in den altorientalischen Gesellschaften kulturell bereitgestellten Lebensbildern und Vorgaben, die der Mensch in der sozialen Rolle, die ihm gegeben ist, für sich selbst übernommen hat. In den scheinbar privaten, gleichzeitig jedoch sozial und kulturell erfahrenen Lebensniederlagen zieht der Mensch Bilanz, ob der ihm vorgegebene und von ihm angenommene Lebensentwurf als gescheitert zu gelten hat. Während sich der Feldherr durch Schwert oder Feuer den Tod in aussichtsloser militärischer Lage gibt, bevorzugt der Mensch in Situationen privaten Scheiterns den Tod durch Erdrosseln. Zu diesen Selbsttötungen zählen biblisch 2 Sam 17,23; Tob 3,10; Mt 27,05. Darüber hinaus sind die Selbsttötungen UrsÁs von Urar̺u,6 des sagenhaften syrischen Provinzverwalters Onnes, des ägyptischen Weisen Amenophis und der Kleopatra zu erwähnen. Ahitofel verfügte über eine herausragende Stellung als Berater des Königs am Hofe Davids und Abschaloms, so dass es einem Gottesorakel gleich kam, wenn man seinen Rat einholte (2 Sam 16,23). Nun zeichnet jedoch 2 Sam 17 die Geschichte des Scheiterns dieses Mannes auf, dessen Ratschluss7 einen steten Statusverlust in der Öffentlichkeit („vor aller Augen“) hinnehmen muss: Gilt der Ratschluss Ahitofels zu Beginn der Beratung noch „in den Augen Abschaloms und in den Augen aller Ältesten Israels“ als „recht“ (ɛɜɌɌɈ V. 4), so wird ihm erstmals von Huschai angelastet, dass sein Rat „nicht gut“ sei (ɇəɕɇ ɇɄɈɋȽɃɏ V. 7). Den folgenden „Wettstreit“ (Budde) mit Huschai verliert Ahitofel, der sich selbst als Truppenanführer ins Spiel bringt (V. 1), so dass nicht nur Abschalom und – wie analog zu V. 4 zu erwarten wäre – die Ältesten, sondern Abschalom „und jeder Mann von Israel“ (ɏɃɛɜɌ ɜɌɃȽɏɎɈ V. 14aƝ) zu dem Schluss kommen: „Besser ist der Rat Huschais, des Arkiters, als der Rat Ahitofels.“ (V. 14aƞ) Gründlicher ist das Scheitern eines politischen Ratgebers, dessen Statusrolle im Ansehen seiner Person in den Augen des Beratenen wie der
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Zu diesem siehe den ersten Teil dieser Abhandlung. „Der Ratgeber und sein Rat sind so sehr eine Einheit, daß mit dessen Verwerfung jener selbst verworfen ist und keine Existenz mehr hat.“ (STOEBE, Samuelis, 389f) 7
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Öffentlichkeit zu messen ist, nicht zu denken.8 Daher kommt es auch nicht darauf an, ob der Ratschlag tatsächlich gut oder schlecht ist, entscheidend bleibt, wie er in den Augen der Öffentlichkeit erscheint. Ein späterer Schreiber setzt denn auch im Anschluss an Davids Bitte in 15,31 zur Erklärung hinzu, dass JHWH den eigentlich guten Rat Ahitofels (ɝəɕȽɝɃ ɇɄɈɋɇ ɏɗɝɌɊɃ 17,14b) von vornherein zum Scheitern (ɛɗɇɏ) verurteilt hat. Die endgültige Niederlage Ahitofels wird sodann in der konkreten Ausführung des Planes Huschais ersichtlich, die Ahitofel noch abwartet (V. 23aƝ). Daraufhin wird knapp und neutral berichtet, dass Ahitofel seine Stellung am Hofe verlässt, in sein Haus zurückkehrt, dieses bestellt, sich erhängt (ɚɓɊ NifŦal)9 und im Grab seines Vaters bestattet wird (V. 23). Diese Selbsttötung wird weder verurteilt noch heroisiert, der Sinn des Suizids als einsehbar und den kulturellen Vorgaben nicht widersprechend akzeptiert.10 Er lässt sich kaum als Flucht vor abzusehender Unehre und Hinrichtung angesichts eines bevorstehenden Sieges Davids deuten.11 Indem die Geschichte Ahitofels als eine Geschichte des stetigen Rollenund Statusverlustes erzählt wird (V. 1Ӑ4Ӑ7Ӑ14Ӑ23), wird seine Selbsttötung als konsequentes Ende seines Scheiterns angesichts eingetretener öffentlicher Erniedrigung und somit angesichts seines „sozialen Todes“ verständlich.12 Deshalb erfolgt sie abseits öffentlicher Plätze, und auch die räumliche Bewegung in V. 23 will beachtet sein: Ahitofels Abkehr von seinem öffentlichen Platz als Ratgeber des Königs hin zu seinem zu bestellenden Haus.13 Die Verlustgeschichte Ahitofels endet mit einem Bi-
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Vgl. auch DROGE/TABOR, Death, 56: „Later, when Ahitophel’s plan for attacking David’s forces was rejected in favor of an alternative strategy, he was humilated and crushed.“ 9 Bezeichnet ɚɓɊ im PiŦel den Tötungsakt des Erstickens, wenn der Löwe seinem Opfer in die Kehle beißt (Nah 2,13), so im NifŦal den suizidalen Akt durch Erwürgen, der kaum anders als durch Erhängen praktikabel ist. Daher richtig die Übersetzung der Septuaginta mit ƬƘƟƳƫƨƝƥ (vgl. auch Tob 3,10; Mt 27,5). 10 „Aus der Erwähnung der würdevollen Beisetzung im väterlichen Grab spricht Ehrerbietung für den Toten.“ (LENZEN, Bibel, 89) 11 So allerdings (im Anschluss an Flav.Jos.Ant. VII 228f) ein Großteil der Forschung, vgl. etwa DAUBE, Death, 87; HERZBERG, Samuelbücher, 285f; WÄCHTER, Tod, 92; ROSNER, Suicide, 28; SCHROER, Samuelbücher, 181; GALPAZ-FELLER, Soul, 323. 12 Zum sozialen Tod vgl. von soziologischer Seite WEBER, Der soziale Tod; FELDMANN, Tod und Gesellschaft, 146–161; aus ethnologischer Sicht HASENFRATZ, Die toten Lebenden; aus alttestamentlicher Perspektive JANOWSKI, Konfliktgespräche, 47. Zu beachten ist, dass der soziale Tod vor, aber auch nach dem physischen Tod eintreten kann. (Zu Letzterem siehe die Deutung der Schändung der Leichen Sauls und NabûbÓlšumÁtis im ersten Teil dieser Abhandlung.) 13 Das letzte Bestellen des Hauses beinhaltet nicht „the explanation why he anticipated the victorious enemy“ (DAUBE, Death, 87). Es handelt sich vielmehr um ein
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lanzsuizid und findet ihren Sinn in der Flucht aus einer unerträglichen Situation existentiellen Scheiterns. Bilanz zieht auch Sara im Buch Tobit, nachdem sie von einer der Mägde ihres Vaters „in allen drei Dimensionen ihres Daseins verspottet [wird]: Als Tochter ihres Vaters, als Ehefrau und als mögliche Mutter [...].“14 Als Ehefrau (hinsichtlich ihrer Vergangenheit) erfährt sie Schmähungen (ϢƩơƥƠƥƯƨƫЗƮ), dass sie für den Tod ihrer sieben Ehemänner in der Hochzeitsnacht verantwortlich und nach keinem ihrer Ehemänner benannt sei – und daher über keine soziale Identität verfüge (3,8), als Tochter ihres Vaters (hinsichtlich ihrer Gegenwart), indem sie jeglicher sozialen Integration beraubt wird, weil sie die Mägde mit ihren Problemen nicht quälen, sondern besser zusammen mit ihren Männern sterben solle (3,9), und schließlich als potentielle Mutter (hinsichtlich ihrer Zukunft), dass man weder Sohn noch Tochter von ihr zu Gesicht bekommen mag (3,9). In diesen Schmähungen kommt über alle Polemik hinaus eine existenzbedrohende „Wahrheit“ zum Ausdruck: das totale Scheitern Saras in ihren gesamten Daseinsbezügen als Tochter, Ehefrau und Mutter. Saras problematische Situation ist zwar allen bewusst, doch wird sie erst angesichts öffentlicher Schmähungen zum Ausdruck totalen Scheiterns, denn nun ist auch jeder soziale Halt verloren. Saras Reaktionen sind ähnlich wie im Falle Ahitofels, der sich in sein Haus zurückzieht, privater Natur: „Sie trauert in ihrer Seele und weint und steigt hinauf in das Obergemach ihres Vaters.“ (3,10 S). Diesem privaten Rückzug entspricht die Art der (überdachten) Selbsttötung durch Erhängen (jeweils formuliert mit ƬƘƟƳƫƨƝƥ 2 Sam 17,23LXX; Tob 3,10). Die Selbsttötung würde im Falle Saras wie im Falle Ahitofels aufgrund des Scheiterns des eigenen Lebensentwurfes („wegen ihres Unglücks“ 3,10) erfolgen und ihren Sinn in der Flucht aus einer unerträglichen Situation existentiellen Scheiterns haben. Der vorgegebene kulturelle Sinnhorizont ist hier jedoch ein anderer: Während im Fall Ahitofels keine Bewertung der Selbsttötung erfolgt, diese also als verständliche sinnvolle Handlung keines Kommentars, aber auch keiner Heroisierung bedarf, erfolgt im perserzeitlichen Tobitbuch eine negative Bewertung: Der Suizid würde nicht Sara selbst, wohl aber ihrem Vater Schmähungen, Vorwürfe, Beschämungen und Trauer bringen (3,10). Hier wird – durchaus in den Kategorien von Ehre und Schande – das Problem bedacht, dass auch die vermeintlich solipsistische Tat des Selbstmörders soziale Auswirkungen auf die nächsten Verwandten hat: Der Suizid erscheint als eine Tat, die man aufgrund der Beziehungen zu seinen Nächsten besser unterlassen sollte.15 Der Grund hierfür liegt zum einen in der Trauer der Verwandten, zum anderen in den zu erwartenden Schmähungen gegen die Verwandten. Doch eine Alternative tut sich auf: Der Fromme der Perserzeit soll zwar keinen Suizid verüben, er kann jedoch Gott bitten, ihn sterben zu lassen (3,10). Diese Bitte erweist sich aus der Perspektive perserzeitlicher Weisheitstexte als implizites argumentum ad deum, nicht das Leben, sondern die Not zu beenden – wie es denn der glücklichen Sara selbst widerfährt (3,11–17).
relativ typisches Verhalten des Suizendenten, letzte Ordnung in die Dinge zu bringen, die man verlässt. 14 SCHÜNGEL-STRAUMANN, Tobit, 85. 15 Vgl. DAUBE, Death, 100: „In the original, there is no rejection of suicide as such, it is rejected only because it would reflect on the father’s reputation – he could not look after his daughter, the people would say – and would pine away.“
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Auch die Selbsttötung Judas (Mt 27,3–5)16 ist als Flucht aus der unerträglichen Situation vollständigen Scheiterns verständlich: Die Tat, der Judas mit Reue (V. 3) und Sündenbewusstsein (V. 4) gegenübersteht, läuft seinem eigenen Welt- und Selbstverständnis so sehr zuwider, dass er sein Dasein als gescheitert betrachten muss. Er vollzieht ähnlich wie in 2 Sam 17,23 und Tob 3,10 eine Bewegung fort von der sozialen Mitwelt (ƬơƧƤЙƩ V. 5) und erhängt sich wie Ahitofel (ƬƘƟƳƫƨƝƥ V. 5; vgl. 2 Sam 17,23LXX; Tob 3,10).17 Von einer weiteren Selbsttötung durch Erhängen im syrisch-palästinischen Raum berichtet eine griechische Legende, die Ktesias von Knidos überliefert, nämlich die Selbsttötung des syrischen Provinzverwalters Onnes unter dem sagenhaften ersten König Ninos von Assyrien: Onnes hatte die überaus schöne Semiramis18 geheiratet und sollte sie unter Androhung von Blendung an Ninos abtreten. Aus Furcht vor der Strafe und aus Liebe zu Semiramis soll er daraufhin in Manie einen Strick um seinen Hals gebunden und sich erhängt haben (ƦƝГ ƨƝƩƛю ƞƭƸƳƫƩ γƝƱưҋ ƬơƭƥƤơГƮ ƩơƦƭƙƨƝƯơ Diodor II 6.10). Ein bevorstehendes kollektives Scheitern muss der weise Amenophis am Hofe des Pharao Amenophis III. für sich und seinen König vorhersehen, wie die Legende Manethos bei Josephus (Flav.Jos.Apion. I 26 §§ 232–236) berichtet.19 Angehalten, die Götter zu befragen, antwortet dieser, nur bei Reinigung des Landes von Aussätzigen die Götter schauen zu können. Nachdem der König die Aussätzigen in Steinbrüchen zusammengepfercht hat, schaut der weise Amenophis angsterfüllt (ϱƬƫƠơѭƯƝƥ) den Zorn (ƳЖƧƫƮ) der Götter gegen Wesir und König ob dieser Tat: Die Aussätzigen werden mit fremder Hilfe Ägypten für 13 Jahre besetzen.20 Die Reaktion des Amenophis ist ähnlich wie im Falle Ahitofels, Saras und Judas ein Rückzug aus der Öffentlichkeit und eine anschließende Selbsttötung: Angesichts des ausweglosen, von den Göttern erzwungenen Scheiterns von König, Wesir und Land vermeidet Amenophis die persönliche Überbringung der Botschaft an den Pharao, hinterlässt statt dessen das Orakel auf Papier und tötet sich selbst (γƝƱưЕƩ ƩơƧơѭƩ).21
16 Zwei rabbinische Beschreibungen von Selbsttötungen durch Erhängen finden sich in ŦAbod. Zar. 18b und Chullin 94a. 17 DAUBE, Death, 88 deutet die Selbsttötung darüber hinaus als Selbstbestrafung. Dies ist von der Hervorhebung der Reue und des Sündenbewusstseins Judas her möglich. In diesem Fall läge eine aggressive Selbsttötung (zu diesem Typus siehe unten) als Selbstbestrafung angesichts einer verschuldeten Situation existentiellen (und eschatologischen) Scheiterns vor. 18 Historisch wohl Sammuramât, die als Semiramis der Legende nach ebenfalls Selbstmord begangen haben soll, vgl. Hyg.Fab. CCXLIII.8. 19 Zu den zahlreichen von Josephus beschriebenen Selbsttötungen vgl. den Überblick bei HANKHOFF, Josephus; NEWELL, Suicide Accounts, 352–359. 20 Selbsttötungen aufgrund eines bevorstehenden kollektiven Scheiterns liegen auch nach Flav.Jos.Ant. XV 358f vor. Hier töten sich Einwohner von Gadara, weil sie die Rache des Herodes vorhersehen, sobald Caesar ihre Anzeige gegen Herodes ignoriert. In Bell. I 593 unternimmt die Frau des Pheroras einen Selbstmordversuch, indem sie sich vom Dach stürzt, um der Überführung ihres Komplotts zu entgehen. 21 Von Josephus wird diese Selbsttötung zum einen historisch hinterfragt, zum anderen als unvernünftig abgetan: Der Seher hätte dem Ansinnen des Königs widerstehen müssen.
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Die Selbsttötung Kleopatras schließlich lässt sich sowohl als eine solche in militärisch aussichtsloser Lage als auch angesichts des Scheiterns sämtlicher Lebensziele begreifen, denn nach der Niederlage gegen Oktavian wird ihr und ihren Kindern22 die Herrschaft über Ägypten verweigert – das endgültige Scheitern der Gründung einer neuen römisch-ptolemäischen Dynastie – und gedroht, sie im Triumphzug in Rom des sozialen Todes zu überführen.
b) Selbsttötungen in wirtschaftlichen und sozialen Krisenzeiten (anomische Suizide) Eskapistische Selbsttötungen erscheinen nicht nur als letzter Ausweg aus militärischen Notlagen oder aus Situationen privaten Scheiterns, sondern auch aus gesellschaftlichen Krisenzeiten. Schon Emile Durkheim hat die These aufgestellt, dass Selbstmorde in Krisenzeiten, zu denen nicht nur wirtschaftlicher Verfall, sondern alle Symptome gehören, die auf eine grundsätzliche Normlosigkeit in sozialen Fragen des Lebens hinweisen, zunehmen.23 In solchen Situationen kann der Suizid auch im Alten Orient als letzter Ausweg erscheinen. Hierbei sind die literarischen Aussagen im Alten Ägypten so konzipiert, dass die suizidale Absicht oder Handlung nicht als Passage in ein besseres Jenseits verstanden werden kann, sondern als Versuch, den endgültigen, sogenannten „zweiten“ Tod herbeizuführen, indem mit dem Suizid die Zerstörung des Leichnams durch Ertrinken, Gefressenwerden oder Verbrennen herbeigeführt werden soll. In den Admonitions, die wahrscheinlich am Übergang vom Alten Reich zur Ersten Zwischenzeit entstanden sind, ist angesichts der chaotischen Zustände im Land die Aussage zu lesen: „Wahrlich, die Krokodile ‚rülpsen‘ an dem, was sie erbeutet haben, denn die Menschen kommen von selbst zu ihnen. Verderben ist das für das Land.“24 Im Gespräch des Lebensmüden, das wahrscheinlich in die Erste Zwischenzeit zu datieren ist, klagt der Lebensmüde vor allem über Kommunikationsverlust und Gewalt.25 Der Ba weist zu Beginn der Auseinandersetzung auf einen endgültigen Ausweg: „Behold, my
22 Eine Petitesse ist mir im ersten Teil dieser Abhandlung zu Caesarion unterlaufen, denn dieser – nicht umsonst heißt Caesarion „Caesarchen“, „kleiner Caesar“ – war natürlich offiziell der Sohn von Kleopatra und Caesar. 23 Vgl. DURKHEIM, Selbstmord, 273–318. 24 Admonitions II 12. Übersetzung nach HELCK, Admonitions, 10. Vgl. auch die Erklärung von GARDINER, Admonitions, 29: „The crocodiles have more than enough to feed upon; men commit suicide by casting themselves into the river as their prey.“ Eher eine literarische Aussage über die bestehenden Leiden denn eine konkrete suizidale Absicht ist aus Admonitions IV 2 zu entnehmen (anders SCHLICHTING, Selbstmord, 829): „Forsooth, great and small ‹say›: I wish I might die.“ (Übersetzung nach GARDINER, Admonitions, 36) 25 Vgl. ASSMANN, MaŦat, 82–84.
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soul misleads me, but I do not listen to it; draws me towards death ere ‹I› have come to it and casts ‹me› on the fire to burn me […].“26 Dem in diesen Texten durchaus sinnbesetzten Ausweg aus einer sinnlos gewordenen Zeit tritt im Pessimistischen Dialog eine andere Bewertung entgegen: Mit der Sinnlosigkeit sämtlichen Treibens bleibt auch die Selbsttötung letztendlich absurd. Denn wenn sämtliches Treiben des Menschen sinnlos ist, kann man einem sinnlosen Treiben nur auf eine ebenso sinnlose Weise ein Ende bereiten. Und so sind sich Herr und Sklave auf ihre satirische Weise angesichts der Sinnlosigkeit der Welt auch über diesen letzten Aspekt wieder einmal einig – „ohne daß irgendeine Zukunftsperspektive sichtbar wird.“27 In diesem Text heißt es am Schluss: „Sklave, stimm mir zu!“ – „Jawohl, mein Herr, jawohl!“ – „Nun jetzt, was ist mir gut? Meinen Hals (und) deinen Hals brechen (und) in den Fluß werfen, (das) ist mir gut! Wer denn ist so lang, daß er zum Himmel aufsteigen könnte? Wer denn ist so breit, daß er die Erde hätte umfassen können? Nein, Sklave, ich töte dich und laß dich vor mir (in den Tod) gehen!“ – „Aber (für) meinen Herrn seien es nur noch drei Tage, die er nach mir zu leben hat!“28
c) Selbsttötungen im juristischen Kontext Aus dem ägyptischen Neuen Reich liegen mit den Quellen zur Harimsverschwörung gegen Ramses III. einige wenige Dokumente vor, die belegen, dass hochgestellten Verschwörern, die zum Tode verurteilt waren, die Gelegenheit zum Suizid gegeben wurde – ein insbesondere aus dem klassischen Griechenland, der makedonisch-alexandrinischen Epoche und aus der römischen Kaiserzeit bekanntes Verfahren,29 das im Alten Orient und Alten Testament ansonsten nicht weiter belegt ist.30 Es handelte sich bei dem Prozess gegen die Konspirateure möglicherweise um ein ordentliches Gerichtsverfahren,31 das der König32 zwar beeinflusste, dem er aber nicht direkt beiwohnte.33 Hand an sich legten allem Anschein nach nur solche Verschwörer, die zum Tode verurteilt waren.34 Die Selbsttötung scheint
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Gespräch des Lebensmüden 11–13. Übersetzung nach FAULKNER, Life, 21. SODEN, Weisheitstexte, 159. 28 Pessimistischer Dialog 79–86. Übersetzung nach VON SODEN, Weisheitstexte, 163. 29 Zahlreiche Beispiele bei HIRZEL, Selbstmord, 244–255. 30 Ein Bruder des Herodes, Phasael, tötet sich nach Flav.Jos.Bell. I 271f im Gefängnis, um der bevorstehenden Hinrichtung zu entgehen. Doch da man ihm Fußfesseln angelegt hat, erfolgt der Suizid augenscheinlich ohne dass er von Antigonus erlaubt, geschweige denn intendiert gewesen wäre. 31 Vgl. WEBER, Harimsverschwörung, 989. Anders beispielsweise ALLAM, Recht, 39. 32 Es ist nicht sicher, ob Ramses III. die Verschwörung über das Prozessverfahren hinaus überlebt hat. Die betreffenden Papyri jedenfalls scheinen erst unter Ramses IV. entstanden zu sein. 33 Vgl. Pap. Jur. Turin II 7f. Zum Pap. Jur. Turin siehe die Übersetzung von DE BUCK, Turin; zu Pap. Rollin und Pap. Lee siehe die Übersetzung von GOEDICKE, Harem Conspiracy. 34 Vgl. Pap. Jur. Turin II 6; Pap. Rollin X 5; Pap. Lee XI 2,4. Nach Pap. Jur. Turin VI 2 tötet sich auch einer der Richter, nachdem man ihm wegen eines Gelages mit den Verschwörerinnen Nase und Ohren als Schandstrafe abgeschnitten hat (ein Bilanzsuizid). 27
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keine Bestrafung im juristischen Sinne gewesen zu sein, denn sie erfolgte nicht vor den Richtern oder an einem offiziellen Ort als auferlegte oder offiziell anerkannte Strafe. Vielmehr wird stets betont, dass die Verurteilten (anscheinend absichtlich) allein gelassen wurden und diese Situation jeweils als Gelegenheit zum Suizid nutzten.35 Da es sich um hochgestellte Persönlichkeiten, in einem Fall gar um einen Prinzen handelte, scheint die Selbsttötung als ein ehrenvoller letzter Ausweg vor der Hinrichtung zugelassen worden zu sein.36 Auf diese Weise konnten soziale Spannungen unterbunden werden, die daraus resultierten, dass man hochrangige und gesellschaftlich anerkannte Persönlichkeiten – möglicherweise sogar durch niedergestellte Beamte37 – hinrichten ließ, weshalb man denn auch ausdrücklich betonte: „they took their own lives, no harm having been done to them.“38 Insgesamt zeigt sich diese Art der Selbsttötung als eine sehr „sinnvolle“ Art, denn auf diese Weise befriedigte man das Ehrgefühl des zum Tode Verurteilten, das Harmonie- und Reinheitsbedürfnis der Gesellschaft sowie das Repräsentationsbedürfnis eines mildtätigen39 Königs, der – sei es Ramses III. oder Ramses IV. – mit der Gewährung des Suizids seine Herrschaft von weiteren Konfliktpotentialen zu entlasten sucht.40 Auf die zahlreichen Selbsttötungen in der griechischen und römischen Antike kann in diesem Aufsatz nicht eingegangen werden.41 Weil jedoch der Suizid des Strategen Ptolemaios Makron in 2 Makk 10,13 berichtet wird, sei er kurz in diesem Zusammenhang erwähnt:42 Ptolemaios Makron war ursprünglich unter Ptolemaios VI. Philometor Statthalter von Zypern, lief jedoch zu Antiochos IV. Epiphanes über. In den Thronwirren nach dem Tod von Antiochos wird er als Verräter angeklagt und vergiftet sich selbst (ƲƝƭƨƝƦơƹƯƝƮ γƝƱưЕƩ βƪƙƧƥƬơƩ ưЕƩ ƞƛƫƩ). Die Formulierung ƦƝưƣƟƫƭƫƹƨơƩƫƮ ϱƬЕ ưҊƩ ƲƛƧƵƩ ƬƭЕƮ ưЕƩ ƂϰƬƘưƫƭƝ könnte auf eine juristische Anklage hindeuten, angesichts derer Ptolemaios Makron als Verräter (ƬƭƫƠƸưƣƮ) mit dem Tode zu rechnen hatte.43 Da er
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Vgl. Pap. Jur. Turin V 4.6–10; VI 2. Vgl. BEDELL, Law, 169: „We can assume that suicide was considered to be a more honorable death than execution, and that it was reserved for those of very high social standing.“ Vgl. auch REDFORD, Harem Conspiracy, 129f; MÜLLER-WOLLERMANN, Strafen, 58. 37 Vgl. BEDELL, Law, 168 hinsichtlich Pap. Jur. Turin II 8f. 38 Pap. Jur. Turin V 4. Übersetzung nach DE BUCK, Turin, 156. 39 Vgl. auch Pap. Jur. Turin II 8f. 40 „Wer in dieser Weise grausam war, gewann dabei für sich noch, daß er selbst für unschuldig, wenigstens für frei von Blutschuld gelten konnte, und diese Absicht, vom Morde rein zu bleiben, nicht Blutschuld auf Blutschuld zu häufen, ist so oft bei der Wahl der Strafe bestimmend gewesen [...].“ (HIRZEL, Selbstmord, 248f im Anschluss an Cassius Dio 58,15 über Kaiser Tiberius) 41 Vgl. zu diesen die schon klassische Darstellung von HIRZEL, Selbstmord. 42 Vgl. zu Ptolemaios Makron auch LENZEN, Selbsttötung, 88; DIES., Bibel, 90. 43 Andernfalls läge analog zu den unter 1.a) dargestellten Fällen ein Bilanzsuizid vor. 36
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eine eher judenfreundliche Politik betrieben hat, wird seine Selbsttötung in 2 Makk 10,13 wohlwollend bewertet: als letzter ehrenvoller Ausweg angesichts des Unvermögens, ein ehrenvolles Amt nicht mehr auf vornehme Weise führen zu können (ƨƚươ ơϰƟơƩџ ưБƩ βƪƫƱƯƛƝƩ ơϰƟơƩƛƯƝƮ).
2. Aggressive Selbsttötungen Neben den eskapistischen Selbsttötungen, die ihren Sinn in der Flucht aus einer unerträglichen Situation existentiellen Scheiterns haben, gibt es aggressive Typen, die ihren Sinn in der Auswirkung der suizidalen Absicht oder Handlung auf andere Menschen zur Erzwingung eines erwünschten Verhaltens finden.44 Während nach einigen ägyptischen45 und altbabylonischen46 Texten Selbstmorddrohungen belegt sind, die einen Appell oder eine Erpressung darstellen, liegen aus dem Alten Testament zwei Texte vor, die auf eine andere „aggressive“ Weise ihren suizidalen Handlungen einen Sinn verleihen: Selbstmord aus Rache (Ri 16,28–30) und Heldenmut (1 Makk 6,43–46), um den Feind mit in den Tod zu nehmen.47 Simson muss mehrere schmachvolle Handlungen über sich ergehen lassen: Ihm werden die Augen ausgestochen, und er muss im Gefängnis die Arbeit einer Frau übernehmen – die Handmühle betätigen (Ri 16,21). Eine Lösung tut sich auf, als er zur eigenen Schande, aber zur Belustigung der Philister als Tänzer und Spaßmacher auftreten soll (V. 25.27). Angesichts dieser schmachvollen Situation48 sinnt er auf einen Selbstmord, dem er explizit einen „aggressiven“ Sinn verleiht: Zum einen bittet er Gott: „Ich will ein für allemal Rache nehmen für meine beiden Augen an den Philistern!“
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Vgl. BAECHLER, Tod, 61f und 98–133. So sagt im Zwei-Brüder-Märchen (Pap. D’Orbiney 5,3) die treulose Frau zu ihrem Mann, er solle seinen Bruder töten, andernfalls: „Now if you let him live, I shall die!“ (Übersetzung nach LICHTHEIM, Brothers, 86) Die um ihren Geliebten fürchtende Prinzessin droht: „Bei Re-Harachte, nimmt man ihn von mir, so werde ich nicht mehr essen und nicht mehr trinken, sondern ich werde auf der Stunde sterben“ (Papyrus Harris 500, verso 6,12ff. Übersetzung nach SANDER-HANSEN, Begriff des Todes, 25 Anm. 5). 46 AbB XIV 149,34; ARM X 33,9. In beiden Fällen handelt es sich um Selbstmorddrohungen in Briefen, die als Hilfsgesuche zu verstehen sind: Um einem unerwünschten Ort zu entfliehen, den der Briefschreiber aus eigener Kraft nicht verlassen kann, wendet er sich mit einem Appell an seinen Auftraggeber bzw. an seinen Vater. Zu diesen Texten vgl. auch WORTHINGTON, Selbstmord. 47 BAECHLER, Tod, 62 und 98–106 bezeichnet diese Suizide als Verbrechen, was hier vermieden wird, weil es der Perspektive der Texte nicht entspricht. 48 DROGE/TABOR, Death, 55: „he is facing humilation“ (Hervorhebung im Original). Im Rahmen der nun schon häufiger aufgenommen Rede vom sozialen Tod müsste es präziser heißen: He is facing social death. 45
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(V. 28bƞ)49 Zum anderen kommentiert er seine eigene suizidale Handlung mit dem Ausruf: „Sterben möge meine næfæš mit den Philistern!“ (V. 30aƝ) Der erste Ausruf kann in diesem Fall nicht als Bitte um ein Rechtshandeln Gottes interpretiert werden, etwa weil Simson selbst aus Mangel an eigenen Kräften zu keiner selbständigen Handlung mehr fähig sei,50 sondern ist als Bitte um Gottes Unterstützung (vgl. 15,18) für das Gelingen des Suizids und seines intendierten Effektes zu verstehen. Der Erzähler rühmt denn auch den Selbstmord Simsons als heldenhafte Tat, die ihren Zweck erfüllt: „So waren die Toten, die er mit seinem Tod tötete, zahlreicher als die, die er in seinem Leben tötete.“ (V. 30b) Noch einmal wird hier deutlich, dass Simsons Selbsttötung als sinnvolle Handlung beschrieben wird: Dem sozialen Tod durch öffentliche Beschämung kann Simson durch die „Heldentat“ eines aggressiven Selbstmords entkommen. Die Schlussnotiz über das ehrenvolle Begräbnis (V. 31a)51 unterstützt das in Ri 13–16 insgesamt gezeichnete Bild Simsons, dessen Leben und selbstgewählter Tod ihm den Ruhm eines großen Helden und Richters (V. 31b) im kollektiven Gedächtnis sichert.52 Als ein weiterer aggressiver Selbstmord könnte das „Himmelfahrtskommando“ des Eleasar ausgelegt werden (1 Makk 6,43–46): Eleasar nimmt den sicheren Tod in Kauf, indem er sich unter einen königlichen Schmuck tragenden Kriegselefanten des Eupator stellt, den Elefanten durchbohrt und dabei selbst erdrückt wird. Diese Handlung erfährt zwei positive Sinngebungen: Zum einen wird sie als Opfer für Israel gedeutet,
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Aufgrund der ausdrucksstarken Redeweise in Ri 16,28, die ɐɚɓ dreifach betont (zweimal ɐɚɓ + verstärkendes ɝɊɃ) und aufgrund des Kontextes der Simsonerzählung (vgl. 15,7) ist es in diesem Fall plausibel, von einer außerrechtlichen – und aus der Sicht des Subjekts wie der Schreiber seiner Geschichte durchaus legitimen – Rache zu sprechen. 50 So EXUM/WHEDBEE, Isaac, 22f: „Strictly speaking, his death is not a suicide, for death is in Yhwh’s hand, not Samson’s. […] Yhwh’s power – not Samson’s own or some mysterious force which resides in his hair – enables Samson to bring about the destruction of the Philistines and his own death.“ Ähnlich auch JOST, Liebe, 109. Doch Simson gewinnt seine Kräfte im Gefängnis zurück (vgl. V. 22). 51 Vgl. DROGE/TABOR, Death, 55 (Hervorhebung im Orginal): „The positive evaluation of Samson’s act is further indicated by the report that he is given an honorable burial by his family (v. 31).“ 52 Dieser Held zeichnet sich durch zugleich tragische und komische Züge aus. Zu Simson als einer komischen Gestalt in der „Komödie“ Ri 13–16 vgl. EXUM/WHEDBEE, Isaac, 19–35, die Simson als „the typical rogue, a Hebrew Rob Roy, a Til Eulenspiegel in biblical dress“ (ebd., 32) deuten. Doch auch Exum und Whedbee müssen zugestehen, dass es neben den komischen Elementen tragische gibt, wozu ihrer Ansicht nach „the hero’s betrayal, blinding, and death“ (ebd., 20) gehören, weshalb sie die Simsongeschichte als eine Tragik-Komödie charakterisieren (vgl. ebd., 21).
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denn Eleasar „opferte sich selbst, um sein Volk zu retten“ (ζƠƵƦơƩ γƝƱưЕƩ ưƫѼ ƯҊƯƝƥ ưЕƩ ƧƝЕƩ ƝϰưƫѼ V. 44a). In diesem Fall wäre Eleasars Tod auch als oblative Selbsttötung im Sinne eines Selbstopfers zu werten und wird entsprechend im folgenden Kapitel kurz erwähnt. Zum anderen wird betont, dass Eleasar seine Tat vollbringt, „um sich selbst ewigen Ruhm zu erwerben“ (ƬơƭƥƬƫƥџƯƝƥ γƝƱưҋ ϦƩƫƨƝ ƝϒƺƩƥƫƩ V. 44b). Aus dieser Perspektive sind denn auch die Kampfhandlungen Eleasars beschrieben, der sich mutig (ƤƭƘƯơƥ) in die Schlachtreihen des Feindes wirft (V. 45f), um Eupator mit sich in den Tod zu nehmen: ein aggressiver Selbstmord, der trotz seines Misslingens (Eupator saß nicht auf dem Elefanten) positiv beschrieben wird. Ähnlich steht es mit dem Martyrium der sieben Söhne und der Mutter nach 4 Makk 5,1– 17,6. „Aus eigenem Antrieb“ etwa eilt der fünfte Sohn herbei (Ơ’ Ƭ’ βƨƝƱưƫѼ ƬƝƭџƧƤƫƩ) und fordert den „Tyrannen“ auf, ihn zu töten (11,3). Der siebte und jüngste stürzt sich gleich selbst in den Tiegel (γƝƱưЕƩ ζƭƭƥƴơ ƦƝưЍ ưҊƩ ưƣƟƘƩƵƩ 12,19), und die Mutter stürzt sich selbst auf den Scheiterhaufen (γƝƱưБƩ ζƭƭƥƴơ ƦƝưЍ ưџƮ ƬƱƭѐƮ), als man auch sie martern will (17,1).53 Diese Handlungen werden zumeist nicht als suizidale interpretiert.54 Unter der Voraussetzung jedoch, dass die Entscheidung der sieben Brüder und der Mutter wie die des Eleasar von 2 Makk 6,18–31 / 4 Makk 5,1–7,23 als eine freie Wahl zwischen einem heidnischen Leben und einem ehrenvollen Tod zu lesen ist,55 die den Juden in der Diaspora Ernst und Wert eines gesetzestreuen jüdischen Lebens gegenüber Assimilationstendenzen vor Augen führen soll,56 werden die Übergänge zur Selbsttötung nach der oben gegebenen Definition fließend. Nächst dem Ehrmotiv kommt hier das Rachemotiv zur Sprache: Das freiwillig gewählte Martyrium der sieben Söhne soll den Tyrannen der Rache Gottes aussetzen (vgl. etwa 9,9.24; 11,3; 12,18).57 Eine andere Form des aggressiven Suizids liegt dann vor, wenn der Sinn der Handlung nicht in der Aggression gegen andere, sondern in einer Autoaggression zur Selbstbestrafung oder zur Sühne für eigene Untaten zu finden ist.58 Eine solche Sinndeutung
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Zum Tod auf der ƬƱƭƘ siehe den ersten Teil dieser Abhandlung. Vgl. etwa KLAUCK, Makkabäerbuch, 736 zu 12,19: „Die Handlung des Jüngsten soll wohl nur verstärkte Martyriumsbereitschaft zum Ausdruck bringen, ohne daß damit schon eine Reflexion über Selbstmord gegeben wäre.“ Ebd., 749 zu 17,1: „Hier in 17,1 überdeckt die Sorge um die Bewahrung des Leibes vor Schändung (vgl. 18,7f.) das Problem.“ Doch genau aus diesem Grund kann sich der Mensch des Alten Testaments und Alten Orients (wie der griechischen und römischen Antike) das Leben nehmen, vgl. die Beispiele oben und im ersten Teil dieser Abhandlung. 55 Siehe dazu ausführlicher unten unter 3.a). 56 Dazu KLAUCK, Makkabäerbuch, 664. 57 Auch in AssMos folgt auf eine suizidale Absicht (AssMos 9,6) eine aggressive Sinndeutung: Die Selbsttötung erfolgt zur Vernichtung der Feinde (AssMos 9,7) und zur Aufrichtung des Gottesreiches (AssMos 10). 58 BAECHLER, Tod, 61 und 89–97 zählt die Selbstbestrafung zu den eskapistischen Typen. In der vorliegenden Abhandlung jedoch wird der Sinn einer suizidalen Handlung in einem aggressiven Verhalten des Subjekts gegen sich selbst gesehen und deshalb zu den aggressiven Typen gezählt: Mit einer aggressiven suizidalen Handlung kann das 54
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erfährt die suizidale Handlung allerdings erst im Palästina der römischen Kaiserzeit. Kann man schon die Selbsttötung Judas nach Mt 27,3–5 (außer als Bilanzsuizid, siehe dazu oben) als Selbstbestrafung deuten,59 so sicherlich auch die Selbsttötung Simons, die Josephus in Bell. II 469–476 beschreibt. Hier wird der Suizid von Simon als „gebührende Strafe für mein Verbrechen“ (ƬƫƥƩБ ưƫѼ ƨƥƘƯƨƝưƫƮ ƪƛƝ Bell. II 473) gedeutet. Auf ähnliche Weise kann Eleazar die Sikarier auf Massada zur Selbsttötung anhalten, um die Strafen für die eigenen Untaten nicht von den Feinden, „sondern die Strafen von Gott, (nämlich) durch uns selbst zu erleiden“ (ƠƛƦƝƮ ƧƧЍ ưҋ Ƥơҋ Ơƥ’ σƨҊƩ ƝϰưҊƩ ϱƬƸƯƳƵƨơƩ Bell. VII 333). Als Sühne für Sünde werden auch die Selbsttötungen in Pirqe REl 3360 sowie in Kiddushin 81b und Gen. Rab. 65,22 gedeutet.61 Handelt es sich dagegen um einen Suizid, bei dem der Suizidant den Sinn seiner Handlung nicht in einer Selbstbestrafung, sondern in einem freiwilligen Erleiden der Strafe für andere deutet (ϱƬЏƭ ƝϰưҊƩ ƠƛƦѝ 4 Makk 6,28), dann ist diese Selbsttötung als eine Form des Selbstopfers zu verstehen, welches im Folgenden darzustellen ist.
3. Oblative Selbsttötungen a) Selbsttötungen als Opfer (Selbstopfer) Eine Selbsttötung gilt als Opfer,62 „wenn ein Subjekt einen Anschlag auf sein Leben verübt, um ein Gut [für andere Menschen, J.D.] zu erhalten oder zu erreichen, das höher als das eigene Leben bewertet wird.“63 Auch
Subjekt sich selbst oder einen Mitmenschen treffen wollen. Daher geht der Sinn einer suizidalen Handlung als Selbstbestrafung über eine eskapistische Sinndimension hinaus und liegt auf einer Ebene mit suizidalen Handlungen, bei denen das Subjekt seine Mitmenschen bestrafen oder zu einem bestimmten Verhalten zwingen will. 59 Vgl. DAUBE, Death, 88. Dies ist von der Hervorhebung der Reue und des Sündenbewußtseins Judas möglich. In diesem Fall läge eine eskapistische Selbsttötung zur Selbstbestrafung angesichts einer verschuldeten Situation existentiellen (und eschatologischen) Scheiterns vor. 60 Vgl. Bill. 2, 264. 61 Vgl. DROGE/TABOR, Death, 104. 62 Der Begriff des Selbstopfers ist an dieser Stelle vom religiösen Opferbegriff zu unterscheiden. Meines Wissens existiert aus dem Alten Orient und Alten Testament kein Beleg für eine Selbsttötung, die ihren Sinn in einem Opfer für eine Gottheit finden würde. Aus römischer Zeit könnte von der Tötungsart her der Massensuizid von Massada angeführt werden, denn nach dem Zeugnis des Josephus (falls man diesem Glauben schenken will) scheint dieser kollektive Suizid als eine quasi rituelle Schächtung (durch freiwilliges Hinhalten der Kehle; vgl. die Verwendung des Opferbegriffs ƯƲƝƟƚ in Bell. VII 389.395) durchgeführt worden zu sein. Erst der letzte Kämpfer tötet sich auf übliche Weise, indem er sich in sein Schwert stürzt, nachdem er den Palast in Brand gesteckt hat. Zu Letzterem muss es im ersten Teil dieser Abhandlung auf Seite 79 statt „den Tod im Feuer (ƬѼȡ) zu finden“ exakterweise „ihre Körper im Feuer (ƬѼȡ) zu verbrennen“ lauten. 63 BAECHLER, Tod, 134. Die Ergänzung erfolgt, weil ansonsten auch die Selbsttötung zur Wahrung der eigenen Ehre als Opfer verstanden werden könnte. Das Selbstopfer
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Heidentum und einem selbstgewählten Tod freiwillig für letzteren entscheidet, kann durchaus von Selbsttötung nach der oben gegebenen Definition gesprochen werden. In diesem Fall wären der Tod des Eleasar (2 Makk 6,18–31 / 4 Makk 5,1–7,23), der sieben Söhne (2 Makk 7 / 4 Makk 8,1–14,10) und der Tod der Mutter (2 Makk 7,40 / 4 Makk 14,11–17,6) in diese Untersuchung einzubeziehen.69 Wie in vielen der bisher dargestellten Fälle durchzieht auch die Märtyrerberichte ein Denken in den Kategorien von Ehre und Schande. Dies gilt auch noch für die Deutung des Martyriums des Eleasar nach 2 Makk 6,18–31: Dieser sieht sich vor die Entscheidung gestellt, Schweinefleisch zu essen und zu leben oder den Martertod zu sterben. Seine Handlung wird in dieser Situation ausdrücklich als ein Entschluss (ƧƫƟƥƯƨЕƮ V. 23) angesichts der Alternative dargestellt, zwischen einem ehrenvollen Tod und einem Leben in Schande wählen zu müssen (V. 19).70 Sein Tod gilt noch nicht als Opfer für das Volk, sondern als ein Vorbild (ϱƬƸƠơƥƟƨƝ) für Tapferkeit (ƟơƩƩƝƥƸưƣƮ),71 Tugend (ƭơưƚ) und ein seliges Sterben (ƬơƱƤƝƩƝưƛƢơƥƩ V. 28.31). In 4 Makk 5,1–7,23 erhält das Martyrium Eleasars gegenüber der Darstellung in 2 Makk 6,18–31 eine neue Sinndeutung. Eleasar begründet hier seine Entscheidung für den Tod und gegen ein Schweinefleisch fressendes Leben in mehreren Reden gegen seinen heidnischen Peiniger und entspricht damit der Tendenz des ganzen Buches, durch einen „philosophischen Unterbau“ die „jüdische Lebensweise als rational vertretbar und begründbar erscheinen [zu] lassen.“72 So wird im Fall Eleasars sein Tod als stellvertretender Sühnetod gedeutet.73 Neben dem Argument, aufgrund von Gesetzestreue (vgl. bes. 5,16–38)74 den ehrenvollen Tod einem Leben in Schande vorzuziehen (6,20–22), sieht Eleasar seinen Martertod als Reinigungsopfer (ƦƝƤƘƭƯƥƫƮ) und Lösegeld (ƩưƛƴƱƳƫƩ) für sein Volk (6,29). Die Selbsttötung des Märtyrers erweist sich hier als „effective death“ zur Sühne des jüdischen Volkes.75
b) Selbsttötungen als Passage „Wir sprechen von Passage, wenn ein Subjekt durch einen Anschlag auf sein Leben in einen Zustand gelangen will, den es als unendlich viel angenehmer [als das Leben, J.D.] erachtet.“76 Hinsichtlich der uns interes-
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Zum Martyrium der sieben Söhne und der Mutter siehe oben unter 2. Die Entscheidung ist eine solche angesichts einer echten Alternative, denn die Möglichkeit, das Leben zu wählen, wird ausdrücklich herausgestellt (V. 22.26.30). 71 Zum Lob der Tapferkeit (ƬƭЕƮ ƩƠƭơƛƝƩ ζƬƝƥƩƫƮ) will auch ein gewisser Simon seine Selbsttötung nach Josephus (Bell. II 473) verstanden wissen. 72 KLAUCK, Makkabäerbuch, 664. 73 Vgl. GNILKA, Sühnetod, 236f. 74 Die Selbsttötung kann aus dieser Perspektive gar als eine Forderung des Gesetzes verstanden werden (vgl. Flav.Jos.Ant. VII 387). 75 Zum Terminus „effective death“ hinsichtlich der Märtyrer siehe VAN HENTEN, Martyrs, 140–156. Er interpretiert darüber hinaus die Selbsttötung Rasis als devotio, obgleich als Sinn- und Zielangabe von Rasis Selbstmordübungen ein militärischer Sieg der Juden über die Feinde nirgends zum Ausdruck kommt. 76 BAECHLER, Tod, 140. 70
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sierenden Kulturen lassen sich im Wesentlichen zwei Deutungsformen der Selbsttötung als Passage unterscheiden: Zum einen die Passage zur individuellen Unsterblichkeit, zum anderen die Passage zu einem gemeinschaftlichen Dasein im Jenseits durch einen Gefolgschaftstod. Während die erste Form erst in hellenistischer Zeit belegt ist, scheint die zweite sehr viel älter zu sein. Für den ersten Fall sind noch einmal die sieben Söhne aus 4 Makk 8,1– 14,10 heranzuziehen, denn sie eilen eifrig dem Foltertod entgegen, „als wenn sie auf dem Weg zur Unsterblichkeit liefen“ (ЂƯƬơƭ βƬ’ ƤƝƩƝƯƛƝƮ ϣƠЕƩ ưƭƙƳƫƩươƮ 14,5). Auch Eleasar beschwört auf Massada die Anwesenden, dass der Tod Freiheit (βƧơƱƤơƭƛƝ) schenkt und an einen heimatlichen und reinen Ort führt (ơϒƮ ưЕƩ ƫϒƦơѭƫƩ ƦƝГ ƦƝƤƝƭЕƩ ƲƛƣƯƥ ưƸƬƫƩ Flav.Jos.Bell. VII 344).77 Und in AssMos folgt auf eine suizidale Absicht (AssMos 9,6) eine aggressive Sinndeutung zur Vernichtung der Feinde (AssMos 9,7) und eine oblative Sinndeutung, indem die Errichtung des Gottesreichs an den Tod anschließt (AssMos 10). Für den zweiten Fall könnten schon die sogenannten Königsgräber von Ur78 herangezogen werden – obwohl letztendlich umstritten ist, ob hier tatsächlich Selbsttötungen79 oder nicht doch Zwangstötungen wie in Abydos,80 in beiden Fällen möglicherweise durch Gift, vorliegen. In diesen Gräbern aus der frühen Phase von Ur III fand man nicht nur kostbare Grabbeigaben, sondern auch Gefolgsleute, bei denen keine äußeren Gewaltanwendungen nachgewiesen werden konnten und die offenbar dem Grab-
77 Auch in der rabbinischen Tradition wird der Sinn der Selbsttötung gern in der Passage gefunden. Zu den rabbinischen Quellen vgl. AVEMARIE, Lebenshingabe, 174– 178 und 181f; DROGE/TABOR, Death, 97–112; HENGEL, Zeloten, 268–271. Die Meinung, dass der Suizid zum Ausschluss aus der zukünftigen Welt führt, ist erstmals im 14. Jahrhundert bei Netanel ben Isaiah belegt und wird erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer im Judentum geläufigen Vorstellung; siehe zu dieser Entwicklung SHAPIRO, Suicide. Vgl. jedoch schon Flav.Jos.Bell. III 375: Hier stellt Josephus den Selbstmördern den Hades und nicht den Himmel vor Augen. 78 Zu der umstrittenen Frage, wer in den sog. Königsgräbern der frühen Ur-III-Zeit Grabherr war, vgl. POLLOCK, Ur, 289 und 291 (Lit.). 79 Vgl. WOOLEY, Excavations, 41f und passim; DERS., Ur, 51–103, besonders 75f und 85–94. Vgl. auch MOOREY, Cemetery, 35 und 37–40, der betont, dass die Interpretation des Gefolgschaftstodes als Selbstopfer („self-immolation“) einerseits „probably a more exact description“ gegenüber dem Begriff des Menschenopfers („human sacrifice“; ebd., 37), aber andererseits auch nicht weiter zu belegen sei (vgl. ebd., 35 und 40). Zu einer neueren Auslegung vgl. COHEN, Death Rituals, 80–98. 80 Hinsichtlich der altägyptischen Gefolgschaftstode in den Pharaonengräbern der 1. Dynastie von Abydos und Saqqara scheint Gewaltanwendung vorzuliegen; vgl. etwa GRIFFITHS, Menschenopfer, 64.
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herrn durch einen Gefolgschaftstod in das Jenseits folgten.81 Dass es freiwillige Gefolgschaftstode im Alten Orient tatsächlich gab, zeigen die neuassyrischen und biblischen Gefolgschaftstode: Nachdem Assurbanipal Teumann am Ulaj besiegt und seinen abgeschlagen Kopf in Niniveh öffentlich zur Schau stellt, sticht sich der Botschafter Teumanns, Nabûdamiq, mit dem Schwert in den Bauch.82 NabûbÓlšumÁti lässt sich in auswegloser militärischer Lage nicht nur von seinem Knappen (kizû) töten, sondern beide durchbohren sich gegenseitig (a-̴a-meš).83 Die Gefolgschaft bis in den Tod wird in der Geschichte von der Selbsttötung Sauls und seines Waffenträgers noch ausführlicher berichtet. Hier geschieht der Gefolgschaftstod nicht gleichzeitig mit dem Tod des Herrn, sondern ähnlich wie im Falle des Nabûdamiq angesichts des Todes des Feldherrn: „Als aber der Waffenträger sah, dass Saul tot war, da stürzte auch er sich in sein Schwert, und er starb mit ihm.“ (1 Sam 31,5)84 Der Aspekt der Gefolgschaft wird in diesem Fall gleich auf viererlei Weise hervorgehoben: Zum ersten durch die Selbsttötung des Waffenträgers angesichts des Todes seines Herrn (ɏɈɃɜ ɝɑ ɌɎ ɈɌɏɎȽɃɜɓ ɃɛɌɈ), zum zweiten durch die gleiche Tötungsart (ɏɗɓ + ɏɕ + ɄɛɊ V. 4.5), die drittens durch das ɃɈɇȽɐɅ als tatsächlich gleichartig betont wird, zum vierten durch die ausdrückliche Hervorhebung des gemeinschaftlichen Sterbens85 nicht ɈɆɄɏ, sondern Ɉɑɕ.86
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Zu Gefolgschaftsbestattungen vgl. den universalhistorischen Überblick von HAIDER, Gefolgschaftsbestattungen, mit 104–107 zu Ur und Kisch, 108f zu Nubien und 110–113 zu Ägypten. 82 Asb. B VI 62–65 (BIWA 107 und 227). 83 Asb. A VII 28–37 (BIWA 59 und 243). Zu diesem Text siehe ausführlich den ersten Teil dieser Abhandlung. 84 In der jüdischen Tradition wird der Sinn der Selbsttötung Sauls im gemeinschaftlichen Tod mit Samuel gesehen: Samuel gibt nach Pirqe REl 33 Saul folgenden Ratschlag: „Wenn du auf meinen Rat hörst, daß du dich in das Schwert stürzest, dann wird dein Tod eine Sühne für dich sein, u. dein Los wird bei mir Ɍɑɕ an dem Orte sein, wo ich weile.“ (Bill. 2, 264) 85 Während in 1 Sam 31,5 der Tod des Waffenträgers mittels Ɉɑɕ bzw. ƨơư’ ƝϰưƫѼ (LXX) als Gemeinschaftstod mit Saul beschrieben wird, wird Ɉɑɕ in 1 Chr 10,5 MT (und LXX) gestrichen. ZALEWSKI, Purpose, 461 erklärt dies dahingehend, dass der Chronist die Selbsttötung des Waffenträgers von derjenigen Sauls trennen wollte, um das Gewicht der Darstellung auf Sauls Tod zu legen. Diese Tendenz zeigt sich auch in 1 Chr 10,6, wo die Selbsttötung des Waffenträgers und der Tod der Männer Sauls (aufgelistet in 1 Sam 31,6) durch ɈɝɌɄȽɏɎɈ ersetzt werden. 86 Auf dieser Ebene liegen schließlich auch die Selbsttötungsabsichten der Juden von Jotapa, denen Josephus in seiner großen Rede gegen den Selbstmord zu begegnen sucht (Bell. III 361–382): Die Juden von Jotapa fordern Josephus in aussichtsloser militärischer Lage nicht nur auf, den Freitod zu wählen (Bell. III 359f: „Wenn du freiwillig (γƦЙƩ) stirbst, dann als Feldherr der Juden, wenn aber unfreiwillig (ΤƦƵƩ), dann stirbst du als
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Während die bisherigen Selbsttötungen dem eigenen Leben (eskapistische Selbsttötungen) oder dem fremden Leben (aggressive Selbsttötungen und Selbstopfer) gegolten haben, geschieht der Gefolgschaftstod angesichts des Todes eines Anführers und zeigt ein Bild vom Tod als einem Dasein in der Unterwelt,87 wo der Tote nicht bloß matt und aller Lebenskräfte beraubt vor sich hinvegetiert, sondern wo es Gemeinschaft mit sozialen Aufgaben und Unterschieden gibt und wo es sich lohnt, seinem Herrn weiterhin zu dienen. Der Tod des Gilgamesch könnte ein Beispiel dafür sein, welche Vorstellungen von der Unterwelt hinter einem Gefolgschaftstod gestanden haben, denn nach diesem Text kann der tote König Gilgamesch auf seine mit ihm zusammen begrabenen Familienmitglieder und Besitztümer bauen, um den Göttern in der Unterwelt die rechten Geschenke zu präsentieren.88
4. Zusammenfassung In dieser Abhandlung wurden die Berichte über Selbsttötungen aus dem Alten Orient und Alten Testament als „Sinngeschichten“ gelesen, in denen die Selbsttötung als ein mit Sinn besetzter Akt zur Lösung eines lebensrelevanten Problems erscheint: Es gibt ein je unterschiedliches Telos der suizidalen Handlungen, das aus der Perspektive des Subjekts wie aus der kulturellen und gesellschaftlichen Semantik zu erschließen ist, innerhalb derer das Subjekt eine suizidale Handlung vornimmt. Die biblischen Berichte über Selbsttötungen unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von denen des Alten Orients und Alten Ägyptens. Die wesentlichen Unterschiede betreffen die Perspektive der biblischen und neuassyrischen Sinndeutungen suizidaler Handlungen in militärisch aussichtsloser Lage,89 die im Alten Ägypten meines Wissens – von Kleopatra einmal abgesehen – nicht vorkommen. Hier sind Selbsttötungen weit weniger häufig belegt und auf eskapistische und aggressive Formen (Selbstmorddrohungen) beschränkt. Gemeinsam ist den Kulturen des Alten Nahen Ostens, dass es keinen Text gibt, der das Phänomen an sich grundsätzlich reflektiert und in bestimmten Situationen den Suizid als beste oder schlechtest mögliche
Verräter.“), sondern suchen selbst den gemeinsamen Tod mit ihrem Feldherrn: „Für süßer nämlich als das Leben hielten sie den Tod mit Josephus.“ (ƢƵџƮ ƟЍƭ σƠƛƵ ưЕƩ ƨơưЍ ’IƵƯƚƬƫƱ ƤƘƩƝưƫƩ σƟƫѼƩưƫ Bell. III 390) 87 Die jüdisch-hellenistischen und römischen Texte beziehen dieses Dasein freilich nicht auf das Totenreich (Scheol und Äquivalente), sondern auf den ƬƝƭƘƠơƥƯƫƮ. 88 Zum Text siehe KRAMER, Death of Gilgamesh. Vgl. auch COHEN, Death Rituals, 95f. 89 Siehe dazu den ersten Teil dieser Abhandlung.
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Wahl vorschreibt. Statt dessen haben wir nur Fallbeschreibungen von
Ausnahmesituationen, in denen der Suizid gewählt wird: Es können in den eskapistischen Fällen unerträgliche Situationen sein (militärische Niederlagen, existentielles Scheitern, gesellschaftliche Krisenzeiten, bevorstehende Hinrichtung), aus denen der Suizidant mittels seiner Handlung zu fliehen sucht. Es können in den aggressiven Fällen Situationen extremer Hilflosigkeit sein (Gefangenschaft, Krieg, Verfolgung, Unterdrückung und allgemeine Hilflosigkeit im privaten Kontext), in denen der Mensch scheinbar nur noch durch einen Suizid oder eine Selbstmorddrohung die Mitmenschen bestrafen oder zu einem bestimmten Verhalten zwingen kann. Es können aber auch Ausnahmesituationen sein, in denen nicht der Suizidant selbst bedroht ist, sondern seine Überzeugungen und Werte (wie die Einhaltung der Tora) oder seine Mitmenschen, für die es zu sterben lohnt. Schließlich kann es – neben der Hoffnung auf ein Eingehen in die zukünftige Welt (beginnend mit der hellenistischen Zeit) – angesichts des Todes eines Anführers und Königs90 geschehen, dass der Gefolgsmann aus eigenem Entschluss das Schicksal seines Herrn teilt. Eine den Menschen auf den Suizid festlegende Regel ist aus der Analyse all dieser Situationen und der in ihnen erfolgten Selbsttötungen nicht abzuleiten, denn andere Personen ziehen in ähnlich gelagerten Situationen und in demselben kulturellen Umfeld eine andere Lösung vor: Es gibt (anders als in der japanischen Kultur und abgesehen von den Märtyreranforderungen aus späterer Zeit) keinen gesellschaftlichen Zwang, der von einem Menschen in bestimmten Ausnahmesituationen eine suizidale Handlung verlangen würde. Selbst im Kontext der Harimsverschwörung unter Ramses III. wird betont, dass die Suizidanten allein gelassen wurden und keinem Zwang zur Selbsttötung unterlagen. Umgekehrt wird sie auch nicht verboten oder für moralisch verwerflich erklärt. Selbst in Tobit 3,10 sind es keine allgemeinen, sondern situationsbedingte sozialmoralische Erwägungen, die Sara von ihrer Tat abhalten. So sind es durchweg Entscheidungen Einzelner, in bestimmten Ausnahmesituationen – auffälligerweise nicht bei körperlichem Leiden91 – den Tod dem Leben vorzuziehen. Dabei wird im höheren Sinne der Tod nicht um des Todes, sondern um des Lebens willen gewählt: Eskapistische Selbsttötungen erfolgen zumeist aus dem Ehrmotiv, um dem échec (Améry), der dem Leben seine Dignität
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In der griechisch-römischen Antike bevorzugt angesichts des Todes des Liebespartners. Wenn eine suizidale Handlung die Wahrung der leiblichen Integrität zum Ziel hat, dann nicht, um körperlichem Schmerz, sondern um der Schande durch öffentliche Leibesschändung zu entgehen (siehe dazu den ersten Teil dieser Abhandlung). Ein Suizidversuch bei körperlichem Leiden ist in Palästina erstmals in römischer Zeit durch den Selbstmordversuch des Herodes auf dem Krankenbett belegt (Flav.Jos.Bell. I 662). 91
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raubt, zu entfliehen. Aggressive Selbsttötungen bezwecken eine Wirkung im Leben der Anderen, das Selbstopfer geschieht um des Lebens oder Heils Dritter willen, und die Passage hat über den Tod hinaus schon ein neues – und ab der hellenistischen Zeit auch besseres – Leben im Visier. Sind es in den ersten Fällen vor allem „profane“ Sinndeutungen, die zum Selbstmord führen, können in den letzten beiden Fällen mit dem Eintauchen der jüdischen in die hellenistische Kultur religiöse Sinndeutungen (die Einhaltung der Gesetze, die Sühne für die Sünden des Volkes, der Eingang in die zukünftige Welt), die profanen ergänzen oder gar ersetzen. Nur der „anomische Selbstmord“ (Durkheim), der in den Admonitions, im Lebensmüden und im Pessimistischen Dialog thematisiert wird, wählt den Tod um des Todes willen: um den endgültigen, zweiten Tod definitiv herbeizuführen oder um die Sinnlosigkeit des Daseins auf eine ebenso sinnlose Weise zu beantworten. Allein im Pessimistischen Dialog kommt so etwas wie eine „Philosophie“ des Selbstmords zum Tragen – die einzige, die aus dem Alten Orient auf uns gekommen ist.
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wenn möglicherweise ein beabsichtigtes Selbstopfer in Jona 1,12 vorliegt,64 ist mit dem Selbstopfer vor allem der „religiöse Selbstmord als Sonderform des Martyriums“65 im Blick. Schon die dargestellte Selbsttötung des Eleasar in 1 Makk 6,43–46 kann nicht nur als aggressiver Selbstmord, der den Feind mit in den Tod nehmen will, sondern auch als Selbstopfer verstanden werden, denn sie wird explizit als Opferhandlung gedeutet, die dem eigenen Volk zugute kommen soll (ζƠƵƦơƩ γƝƱưЕƩ ưƫѼ ƯҊƯƝƥ ưЕƩ ƧƝЕƩ ƝϰưƫѼ V. 44). Die Sinndeutung der Selbsttötung als Opfer erfolgt auch in anderen Martyriumslegenden.66 Sicherlich kann nicht jeder Tod eines Märtyrers als Suizid gewertet werden, denn es gilt zu unterscheiden „zwischen dem Akt, den Tod nicht zu fliehen, und dem Akt, sich den Tod zu geben“.67 Daher gilt nicht kategorisch: „martyrdom is another form of suicide.“68 Doch an dem Punkt, an dem in der Darstellung ausdrücklich hervorgehoben wird, dass sich der Märtyrer im Augenblick der Wahl zwischen einem Leben in
erfolgt jedoch als „altruistischer Selbstmord“ (zu diesem Typus DURKHEIM, Selbstmord, 242–272), welcher einem anderen Menschen oder der Gemeinschaft zugute kommen soll. 64 Dass Jona mit dieser Aussage den Tod auf sich nimmt, um die Seeleute zu retten, wird aus der Bitte der Seefahrer an Gott um Abwendung der Blutschuld (Jona 1,14) und zum anderen aus der Todesmetaphorik des Dankpsalms deutlich (Jona 2,3f.6f). Daher richtig DROGE/TABOR, Death, 60: „Both he and the ship’s crew expected his certain death.“ Dagegen ist der Sinn von Jona 1,12 kaum als „self-inflicted capital punishment“ (ebd.) bzw. als „self-imposed death sentence“ (ebd., 61) zu verstehen. Dieser wird vielmehr ausdrücklich in dem Selbstopfer zum Schutz der Seeleute, „damit das Meer euch in Ruhe lässt“ (1,12aƞ) gefunden. Während daher der Sinn der suizidalen Aussage im Selbstopfer besteht, kann Jonas Schuld höchstens als Ursache für den Sturm und so indirekt auch für die suizidale Aussage in 1,12 betrachtet werden. Eine äußerst fragliche Ursache für Jonas suizidale Aussage gibt CLEMONS, Suicide, 23 an: „A final possibility is that he was mentally ill and therefore not responsible for his actions.“ Zu einigen analogen Versuchen über die Ursache von Sauls Selbsttötung siehe den ersten Teil dieser Abhandlung. 65 HENGEL, Zeloten, 268. 66 In diesem Aufsatz werden die Selbstmordlegenden des Rasi und Eleasar mit zu den Martyriumslegenden gezählt. Sie nehmen nach Ansicht von VAN HENTEN, Selbstverständnis, 128f, formkritisch betrachtet zwar literarische Motive aus den Märtyrerlegenden auf, doch könne man „diese Erzählungen nicht als Martyrien im engeren Sinn bezeichnen, weil darin nicht der Tod eines Märtyrers beschrieben wird.“ (ebd., 129) Ein Märtyrer nehme nämlich „in einer judenfeindlichen Situation aus bestimmten Gründen freiwillig einen grausamen Tod auf sich“ (ebd., 128). Van Henten ist wohl der Ansicht, dass diese „bestimmten Gründe“ – wozu „z.B. die Treue zum Gott der Juden oder zur jüdischen Lebensweise, oder der Wille, sich zum Besten des jüdischen Volkes zu opfern“ (ebd.) zu zählen sind – nicht auf Eleasar und Rasi zutreffen. 67 LANDSBERG, Problem, 104. Aus diesem Grund ist beispielsweise 1 Makk 2,37f nicht als Selbsttötung zu verstehen (gegen DROGE/TABOR, Death, 72f). 68 NEWELL, Suicide Accounts, 367.
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Bilder von Toten – Bilder für die Lebenden Sterben und Tod in der Ikonographie des Alten Orients, Ägyptens und Palästinas ANGELIKA BERLEJUNG
1. Einleitung Der spätmittelalterlichen ars moriendi-Literatur entsprach in der Kunst seit dem 14. Jh. n.Chr. der Totentanz.1 Diese Abbildungen zielten daraufhin ab, den Lebenden die Präsenz und Macht des Todes in allen Lebenslagen, Wachsamkeit vor der ebenso allgegenwärtigen wie ungewissen Todesstunde und die Erkenntnis der Hinfälligkeit alles Irdischen nahezubringen. Die Bilder sind eine Art Todesvisionen und Schreckbilder, die Vertreter aller Stände beiderlei Geschlechts als Sterbende zeigen.2 Betrachtet man diese mittelalterlichen Schreckbilder und legt altorientalische Darstellungen von Sterbenden und Toten daneben, so fällt auf, dass diese Bildwerke den Einbruch des Todes in den Alltag des Individuums nicht in gleicher Weise zeigen. Nach den altorientalischen Todesdarstellungen ereilt der Tod nicht den gut gekleideten Mann während eines Geschäftsabschlusses oder im Kreis seiner Familie. Sterbe- und Todesdarstellungen sind dort vielmehr eingebettet in Kriegs- und Konfliktszenen. Wenn man nur von den belegten Bildthemen ausgeht, um die Todesursachen zu bestimmen, die in der Ikonographie aufgenommen wurden, so ist festzustellen, dass sie mehrheitlich Menschen zeigen, die im Krieg oder auf dem freien Feld durch den Angriff von Menschen, Tieren, Mischwesen oder Göttern zu Tode kommen. Ginge man also nur von den Bildern aus, könnte man fast meinen, dass dies die einzigen Todesursachen seien.
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S. dazu RUDOLF, Art. Ars Moriendi I, 144. S. z.B. den Totentanz von 1455–1458 in der Universitätsbibliothek Heidelberg: HeidICON. Die Heidelberger Bilddatenbank http://HeidICON.uni–heidelberg.de; BildID.: 23278–23302 (Zugriff 15.5.08). Weitere berühmte Totentänze sind der Basler oder auch der Lübecker Totentanz von 1463 (aus der Lübecker Marienkirche; zerstört 1942) oder der Totentanz aus Talinn. 2
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Daraus könnte man als Betrachter simpel schließen: Wer zuhause in seinen vier Wänden bleibt, sich nicht auf Kriege einlässt, keine Reisen unternimmt, und den Herrschern wie den Göttern keinen Anlass zum Ärger bietet, dem passiere nichts. Und das könnte tatsächlich schon eine der Botschaften sein, die die Bilder vermitteln wollen. Doch gilt es, hier noch genauer hinzusehen. Bevor ich mich den Abbildungen aus dem Alten Orient, Ägypten und Palästina3 widme, die Sterbende und Verstorbene vor ihrer Bestattung zeigen (ausgenommen sind also Bilder von Toten nach ihrer Bestattung [also z.B. Sarkophagdarstellungen, steinzeitliche Schädelmodellierungen, Totenmasken] oder in ihrer postmortalen Existenz, wie z.B. Totengerichtsdarstellungen oder Totenmähler), ist es m.E. angeraten, den methodischen Ansatz der Bildinterpretation vorzustellen, dem ich verpflichtet bin. 1.1. Methoden der konstruktivistischen, historisch orientierten Bildinterpretation Im folgenden Beitrag geht es weniger um Bildquellen als „Anschauungsmaterial für die Lebenswelt des Alten Orients“4 oder um Bilder als visuelle Kopien oder Repräsentationen von vorhandenen Realitäten, sondern vielmehr um Bilder als Kommunikationsmittel5 und Faktoren der Wirklichkeitskonstruktion.6 „Als solches vermitteln sie vorhandene Vorstellungen und Konzepte eines kulturellen Systems, sind aber auch an deren Konstruktion mit beteiligt. Damit sind Bilder wie Texte Teil ihres jeweiligen kulturellen Systems, seiner Diskurse und seiner Symbole. Bilder und Texte sind Objekte der Interpretation, interpretieren zugleich aber auch immer selber. Sie sind also Rezeption und Produktion von kultur- und zeitbedingten Vorstellungskomplexen und kollektiven Mentalitäten in einem.“7
3 Ägypten, Alter Orient und Palästina werden als ein Kulturraum behandelt. Wegen der langen Laufzeit der Bildmotive und -themen war eine Beschränkung auf das 1. Jt. v.Chr. nicht sachgerecht und sinnvoll, wenn auch der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags auf dem 1. Jt. v.Chr. und der Rezeption altorientalisch-ägyptischer Motive in Palästina liegt. 4 HARTENSTEIN, Ikonographie, 173. 5 Dazu s. FREVEL, Medien, 1–29 und die Beiträge in UEHLINGER, Images. Zu altorientalischen Bildern als Bestandteilen sozialer Interaktion vgl. z.B. BONATZ, Agens Bild, 53–70; DERS., Sprache, 137–162; HEINZ, Bild und Macht, 71–94; PORTER, Trees, 59–79 (Bilder als Medien nonverbaler Kommunikation). 6 S. dazu WEISSENRIEDER/WENDT, Images, 38–52; VON DEN HOFF/SCHMIDT, Bilder, 11–26. 7 BERLEJUNG, Reduktion, 39f.
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Dabei sind Bilder und Texte im Rahmen einer semiotischen Betrachtung Zeichen und Träger von Bedeutungen.8 Im Rahmen einer diese ergänzenden konstruktivistischen Betrachtung sind sie kulturelle Konstrukte.9 Bilder und Texte „folgen allerdings als unterschiedliche Ausdrucksmodi und -medien jeweils der eigenen Logik, den eigenen Formen und ihren eigenen Gesetzen, wobei sie unmittelbar aufeinander bezogen sein können oder auch nicht.“10 Ihre Wahrnehmung ist immer ein selbstreferentieller Prozess: Wahrnehmung ist Bedeutungszuweisung und Interpretation, mit dem Ziel der Aneignung des Gesehenen/Gehörten und seiner Einpassung in bereits existierende Erfahrungskontexte. Letztere werden dadurch ausgeweitet und stabilisiert. Bilder erhalten ihren „Sinn“ durch ihren Kontext und die eingeübten Wahrnehmungs- und Interpretationsketten11 ihrer Produzenten und Rezipienten. Eine „Darstellung“ ist also an sich nichts anderes als ein Set bestehend aus Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata mittels visueller Formen. Sie ist eine spezielle Form der sozialen Verständigung, deren Ziel es ist, soziale Netzwerke zu konstruieren und zu stabilisieren, die geltenden kulturellen Leitfäden weiterzugeben und für die Konstruktion von Identität (von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften) zu sorgen. Darstellungen spielen folglich bei der Wissensbildung und -vermittlung, Propaganda und bei Normierungsprozessen und deren Kontrolle eine große Rolle. Auf diesem Hintergrund ist der alte Gegensatz von „Sehbild“ und „Denkbild“, von dem u.a. Walther Wolf12 im Zusammenhang mit der ägyptischen Kunst wiederholt gesprochen hat, obsolet. Altorientalische und ägyptische Bilder sind wie alle Bilder immer „Denkbilder“ oder besser vielleicht einfach „Sinn-bilder“, da sich die Bedeutung einer Darstellung sowohl im Kopf des Künstlers als auch in dem des jeweiligen Betrachters konstituiert. Dabei sind damalige Adressaten/Auftraggeber, Produzenten wie heutige Rezipienten jeweils ihren sozio-historischen Kontexten und ihrer gesellschaftlichen Sozialisation verpflichtet.13 P. Bourdieu spricht hier von der „soziale[n] Genese des Blicks“,14 sodass wir alle anscheinend zeitlebens ein Spiel miteinander spielen, das heißt: „Ich sehe was, was du nicht siehst“!
8
S. einleitend SONESSON, Semiotik des Bildes, 127–160 (Forschungsübersicht). HÖLSCHER, Bildwerke, 149f. Zu konstruktivistischen bildtheoretischen Ansätzen s. WEISSENRIEDER/WENDT, Images, 38–48. 10 BERLEJUNG, Reduktion, 40. Zum Unterschied von Bild- und Textquellen s. HÖLSCHER, Bildwerke, 148f.163f. 11 S. dazu JÄGER, Geschichtswissenschaft, 189. 12 WOLF, Kunst, 278–281. 13 BOURDIEU, Regeln, 463–472.490–493. 14 BOURDIEU, Regeln, 490. 9
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Als historisch orientierter Bildwissenschaftler steht man vor der Aufgabe, Wahrnehmungskonzepte, „Vorstellungen und Denkwerkzeuge (...) auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Produktion und Benutzung, das heißt die historische Struktur des Feldes, in dem sie hervorgebracht werden und funktionieren, zurückzuführen.“15 Für die historisch orientierte konstruktivistische Bildanalyse (= letztlich wieder eine Konstruktion) bedeutet dies, „dass Bilder in Relation zu den typischen kultur- und zeitbedingten Vorgaben, Wertesystemen, Verhaltensmustern und Mentalitäten der Gesellschaften, die sie hervorgebracht und gepflegt haben, sowie in Relation zu den Strukturen und Konflikten in den sozialen Gruppen und der Gesamtgesellschaft, in die sie gehören, zu befragen sind (es geht also um die impliziten Grundlagen der Produktion und Rezeption der Bilder).“16 1.2. Die Fragestellung Da sterbende und tote Menschen in der Ikonographie zumeist als sterbende und tote menschliche Körper dargestellt werden, ist das Thema eng mit dem Konstrukt des Körpers in den antiken Kulturen verbunden. Dass die Körperwahrnehmung und -bewertung (= Körperdarstellung) ein kulturelles Konstrukt ist, ist inzwischen ausführlich untersucht und dargestellt worden,17 wenn sich auch diese Untersuchungen bislang vorzugsweise mit dem lebenden Körper beschäftigt haben. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit betrifft jedoch auch die Körperwirklichkeit der Leiche („corporeality“) und den Tod in allen seinen Aspekten. Auch die Abbildungen von menschlichen Körpern als Zeichen von sterbenden/toten
15
BOURDIEU, Regeln, 467. In diesen Rahmen gehört auch die Klärung von Stil und Stilmitteln, Darstellungskonventionen, technischen Möglichkeiten und Grenzen. 16 BERLEJUNG, Reduktion, 41. Eine historisch ausgerichtete Bildinterpretation ist an sich nur zusammen mit anderen Bild- und Textquellen der jeweiligen Zeit zu leisten, die die zeitgenössischen sozial-, regional- und religionsgeschichtlichen Kontexte von Produzenten und Betrachtern/Auftraggebern mit erhellen können. Das Wissen um die kognitiven und die ihnen verbundenen wertenden Dispositionen (erarbeitet mit allen verfügbaren Quellen) gehört dazu, wenn man versucht, ein Bildwerk als Dokument einer historischen Welt- bzw. (im Rahmen der vorliegenden Themenstellung) Sterbe- und Todesanschauung zu verstehen. Dabei hat JÄGER, Geschichtswissenschaft, 189f darauf hingewiesen, dass Bilder „kein Königsweg in die Vergangenheit“ sind und hier Fragen der Darstellungskonvention, Bildpraxis und des Bildkontextes zu beachten sind. 17 THE ABERDEEN BODY GROUP, Body; ASHER-GREVE, Body, 8–37; FRASER/GRECO, Body; DASZKOWSKI, Körperbild; BERLEJUNG, Körperkonzepte. Zu Griechenland s. STÄHLI, Körper, 197–209.
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Personen werden kulturell generiert und vermittelt, ihnen sind kulturelle Interpretationen und kulturbedingte Bedeutungszuschreibungen eigen. Während der semiotische Ansatz der Bildinterpretation die Ebenen der Bildsyntax, Bildsemantik und Bildpragmatik abschreitet, um herauszuarbeiten, „was“ „wozu“ dargestellt und wahrgenommen wird,18 stehen innerhalb der konstruktivistischen Bildanalyse die Fragen nach dem „wie“ im Mittelpunkt. Grundlage ist dabei die Überzeugung, dass Bilder Quellen für antike Wirklichkeitskonstruktionen und Teil von Diskursen (im Sinne von M. Foucault)19 sind, mit denen Denk- und Wahrnehmungsmuster konstituiert wurden. So geht es einerseits darum zu klären, inwieweit und in welcher Weise Bilder historische und soziale Konstruktionen ihres Entstehungsumfelds sind („retrospektiv“), das sich in ihnen spiegelt. Andererseits ist herauszuarbeiten, inwieweit und in welcher Weise Bilder an der Konstruktion antiker Wirklichkeit und an den Veränderungen dieser Wirklichkeit beteiligt waren („prospektiv“),20 sodass hier die Wirkung, die Bilder in kulturellen Prozessen entfalten, in den Blick genommen werden. Zugespitzt auf die Körper- und Todeskonstrukte stehen damit die folgenden Fragen im Zentrum der vorliegenden Untersuchung: 1. Wie wird der sterbende bzw. tote menschliche Körper wahrgenommen und interpretiert (= dargestellt)? Zeigt die Darstellungsweise (= Wahrnehmungs- und Bewertungsweise) bestimmte Charakteristika wie medizinisches Vorwissen, detailgetreues Leiden oder folgt sie geltenden Konventionen? 2. Welche kollektiven Vorstellungen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata vom Tod liegen den Bildern zugrunde? Wie nehmen die Bilder diesen gesellschaftlichen „Habitus“ (im Sinne von P. Bourdieu) vom Körper und Tod auf und geben ihn weiter? 3. Welche sozialen und moralischen Bedeutungen werden den toten Körpern mittels (welcher) visueller Formen zugeschrieben? Inwieweit waren Bilder an der Herausbildung und Tradierung von Sterbevorstellungen und Rollenvorstellungen (= an der Konstruktion der Sterbewirklichkeit und
18 Genau diesen Ansatz in Bezug auf das Thema „Tod“ in altorientalischen Bildern und Texten verfolgt PEZZOLI-OLGIATI, Gegenwelt, wobei m.E. ihre Quellenauswahl unglücklich und unergiebig (ebd., 391f.396f) ist. Das Lamaštu-Amulett zeigt einen Kranken, keinen Toten, und so verwundert nicht, dass sie selber formulieren muss: „Im Bild kommt der Bereich der Toten nicht vor“ (ebd., 391). 19 FOUCAULT, Archäologie, 33ff.193ff; DERS., Ordnung, 9–49. 20 S. dazu VON DEN HOFF/SCHMIDT, Bilder, 18f. Retrospektive und prospektive Aspekte greifen im Bild ineinander. Grundsätzlich ähnliche Aspekte (wenn auch mit anderer Terminologie), unter denen man Bilder auswerten kann, differenziert auch RUSCH, Wirklichkeit, 168f.
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an entsprechenden Diskursen) im Kontext des Todes beteiligt (Stichwort: gutes vs. schlechtes Sterben)? Wie werden Mentalitäten in Bezug auf Ehre und Scham, Sozialstatus, Körper, Tod oder Genderfragen aufgenommen? Was davon ist für die Lebenden eine Motivation und damit verhaltensrelevant?
2. Die Bildthemen, in denen Sterbende und Tote dargestellt werden Zur Beantwortung der o.g. Fragen nach dem „wie“ soll ein kurzer Katalog der belegten Bildthemen („was“) vorangestellt werden, in denen Sterbende und Tote dargestellt werden. Vor dieser Bestandsaufnahme des einschlägigen Bilderrepertoires ist natürlich zu klären, wie man einen sterbenden oder toten Menschen auf einem Bildträger überhaupt erkennt. Die Frage ist also: Welche visuellen Formen von toten und sterbenden Körpern gibt es? Anders als z.B. in der spätmittelalterlichen Totentanzanordnung werden im Alten Orient keine Gerippe oder drastisch-realistisch verwesende und verwurmte Leiber vor Augen geführt. Kommuniziert wird durch die Anordnung der Bildelemente, die Körperhaltung oder die Körperdarstellung, dass der dargestellte Körper ein sterbender oder toter ist. Die genaue Grenze zwischen niedergeschlagen, sterbend und tot ist im Übrigen auch nicht immer klar zu ziehen. Dies ist m.E. schon ein Hinweis darauf, dass die Todesgrenze nicht mit dem Ende der körperlichen Funktionen identisch ist. Die Todessphäre beginnt deutlich früher und packt den Menschen im Moment eines Angriffs auf seine körperliche Integrität. Die folgenden visuellen Formen von sterbenden und toten menschlichen Körpern sind relativ deutlich unterscheidbar. Dabei ist auffällig, dass es jeweils so ist, dass die Darstellung des Toten/Sterbenden im Bildkontext in Relation zu (mindestens) einem optisch (durch Höhe, aufrechte Position) als lebendig gekennzeichneten Körper steht, sei es der eines Menschen, Tieres, Mischwesens oder Gottes. 1. Liegender, toter und sterbender Körper am Boden: Der Körper des Toten liegt auf dem Boden, ohne dass eine Bewegung erkennbar wäre.21 Eine Variante der Leichendarstellung sind am Boden liegende Körper, an
21 Für ein Beispiel aus Ägypten s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 128 (Schieferpalette aus Abydos [?]; s. Abb. 1); zu Mesopotamien s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 242 Rs. (Geierstele aus Girsu = BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 17; s. Abb. 2); ebd., Abb. 246 (Stele des Naram-Sin aus Susa = BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 26, s. Abb. 3).
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denen sich bereits Vögel oder Aasfresser zu schaffen machen22 oder die Akkumulation lebloser Körper auf einem Haufen.23 Der Körper des Sterbenden liegt auf dem Boden oder geht gerade zu Boden, eine Bewegung und Spannungshaltung des Körpers ist (oft undeutlich) noch erkennbar (Extremitäten oder Kopf).24 Der Körper, der noch zu einer Bewegung fähig ist, wird häufig im Fall, knieend oder in Rückenlage (dabei die zumeist unbewaffneten Hände/Arme in Richtung auf den Aggressor erhoben oder nach hinten zum Abstützen eingesetzt) dargestellt. 2. Liegender und toter Körper in Rückenlage auf einer Liegestatt: Der Körper des Toten liegt wohlsortiert auf einer Bahre, ohne dass eine Bewegung erkennbar ist.25 Auf ägyptischen oder ägyptisierenden Bildwerken können dabei die Einbalsamierungsprozedur an der Leiche und/oder auch die Totenklage26 dargestellt sein. Auch mesopotamische Bildwerke kennen
22
Beispiel aus Ägypten: Abb. 1. Beispiel aus Mesopotamien: BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 18e/c (Pfeilerstele aus Susa; Akkadzeit; Geier und Hunde an Leichenteilen); MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2, Raum B–11 und B–3 (Relief aus Kalhu; Assurnasirpal II.; Abb. 8). Mesopotamisch-ägyptischen Einfluss verrät die Schale aus Silber und Gold aus Praeneste (und im Mittelfeld unten; 7. Jh.), s. MOSCATI, Bowls, 444 = MARKOE, Bowls E2. 23 Zu Ägypten s. z.B. Abb. 4 Rs.; zu Mesopotamien s. Abb. 2 Rs. 24 So die meisten Feinde, die im Motiv des Herrschers, der den Feind erschlägt, vorkommen, so z.B. in ägyptischen Darstellungen, s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 130 (Felszeichnung Hierakonpolis; Naqade II); ebd., Abb. 137 (Elfenbeintäfelchen aus Abydos; 1. Dyn.); ebd., Abb. 139 (Felsrelief aus Magara im Sinai; 4. Dyn.) und Abb. 4. In Mesopotamien schlägt der Herrscher auf Feinde im Netz, s. Abb. 2 Vs. sowie BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 19b (Stele aus Susa; Akkadzeit). Oder aber er schlägt und tritt (bzw. tritt ohne zu schlagen) tote, erschlaffte Körper oder sterbende, noch unter Spannung stehende, nieder, s. z.B. Abb. 3, ähnlich BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 29 (Felsrelief aus Darband-i Gawr; Ur-III-Zeit); vgl. weiter BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 21 (Stelenfragment aus Girsu, Akkadzeit); Nr. 30–32 (Felsreliefs aus Sarpol-i Zohab; nach-akkadzeitlich); Nr. 33 (Felsrelief aus Darband-i Šeh-Han; 1. Dyn. von Babylon); Nr. 111 (Stele aus Mardin; altbabylonisch). In Palästina und Phönizien werden vor allem ägyptische Herrscherposen bzw. Unterlegenheitsdarstellungen rezipiert, s. z.B. EGGLER/KEEL, Corpus, Irbid 7 (Rollsiegel der SBZ); Gefallener unter Streitwagen: KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 302 (Skarabäus; SBZ). S. auch Abb. 5 (Szene im Zentrum [Pharao] und im inneren Ring [Menschen am Boden unter einem Greifen und einer menschenköpfigen Sphinx]; Photo in MOSCATI, Bowls, 442); phönizische Silberschale aus Praeneste (Mittelfeld), s. MOSCATI, Bowls, 446 = MARKOE, Bowls, E1. 25 VITTMANN, Ägypten, 112 Abb. 52 (Stele unbekannter Herkunft; Totenbahre mit Mumie); ebd., Tf. 11 (Stele evtl. 6. Jh.; nackte Verstorbene auf Mumienbrett). 26 S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 472 (Sarg der Mutirdis aus el-Hibe; hell.-röm. Zeit); 473 (Grab des Tjai in Theben-West; 19. Dyn.); VITTMANN, Ägypten, 107 Abb. 47 (Stele; 5. Jh.); 108 Abb. 48 (Stele von Carpentras; 4. Jh.); 109 Abb. 49 und Tf. 12 (Abb. 6); Tf. 13a (Stele); 148 Abb. 65 (Grabstele aus Memphis mit aufgebahrtem Perser); 149 Abb. 66 (Stele des Persers Djedherbes aus Sakkara); 170 Abb. 84 (Stele aus Abusir);
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die Darstellung eines auf einer Liegestatt ausgestreckten Körpers, doch zeigten ein erhobener Arm als Lebenszeichen und der Bildkontext an, dass es sich hier weniger um die Aufbahrungsszene eines Toten als vielmehr um die priesterlich/ärztliche Behandlung eines Kranken handelt. Dieser ist zwar noch am Leben, aber massiv von der durch die Dämonen repräsentierten Todessphäre bedroht.27 3. Verdrehter Körper: Der Körper des Toten/Sterbenden wird in einer unnatürlich verdrehten oder ausgestreckten28 Körperhaltung gezeigt, die ein lebender Körper nicht ohne Gewalteinwirkung einnimmt.29 Der Körper kann in Rücken- oder (im Verhältnis zur Bodenlinie) Bauchlage abgebildet sein,30 wobei herabhängende Glieder offenbar als Zeichen dafür galten, dass keine zielgerichtete Bewegungsfähigkeit mehr vorhanden war. Schlaff-
171 Abb. 85 (ägyptisierende Stele aus Sakkara; 6. Jh.); 172f Abb. 86a (ägyptisierende Stele aus Sakkara); 229 Abb. 114 (Abb. 7). 27 Zu einem berühmten Beispiel s. KEEL, Bildsymbolik, Abb. 91 mit Detailbild in KAELIN, Pazuzu, Abb. 10. Ein Bezug zwischen der ägyptischen Balsamierungsszene und der Komposition der Darstellung mesopotamischer Lamaštu-Amulette ist m.E. nicht gegeben. Die vordergründige Ähnlichkeit beruht auf den begrenzten Möglichkeiten, Liegende und sie umgebende Akteure auf einem Bildträger darzustellen. Zudem ist bei dem Kranken auf dem mesopotamischen Amulett durch seine erhobene Hand ganz deutlich angezeigt, dass er noch lebt, sodass er sich von den ägyptischen Verstorbenen kategorisch unterscheidet, gegen KAELIN, Pazuzu, 374f. 28 So die Folterszene der Gehäuteten auf dem Relief von Lachisch, slab 9 und 10 (Sanherib; 7. Jh.), zur Abbildung s. z.B. BERLEJUNG, Gewalt, 208 Abb. 1 [Quellenangabe zu korrigieren zu: UEHLINGER, Clio, fig. 9ab]; BARNETT/BLEIBTREU/TURNER, Sculptures, pl. 336–339. 29 Beispiel aus Syrien: s. K EEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 245 unten Mitte (Einlagenstücke aus dem Königspalast G in Ebla; ca. 2400–2300); außerdem vom selben Fundort s. MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 23–25. Zu einem Beispiel aus Mesopotamien s. Abb. 3 (verdrehte Körper unterhalb der Füße des Naram-Sin); auffallend ist u.a. eine Person mit langen Haaren, die mit dem Kopf nach hinten auf den Armen eines Soldaten (ohne Bodenkontakt) hängt, so zu sehen auf der Silberschale aus Idalion (Schalenmitte; Abb. 5) und einer phönizischen Silberschale aus Praeneste (7. Jh.), s. MOSCATI, Bowls, 446. Zu beiden Schalen s. MARKOE, Bowls, Cy2 und E1 30 Beispiel aus Ägypten: Abb. 1 und 4; KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 184 (Messergriff aus Gebel el-Arak; Naqade-II/III-Zeit [Wasserleichen]); SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (Truhe des Tutanch-Amun aus Theben-West; Tal der Könige; 18. Dyn.). Beispiel aus Mesopotamien: Abb. 2 Rs.; SCHACHNER, Bilder, 98 (Salmanassar III.). Beispiel aus Palästina: KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 222 (Skarabäus; SBZ); ebd., Tell el-ŦAŗul 492 (gravierte Platte; SBZ); ebd., Akko 55 (Feind mit gefesselten Armen und in Bauchlage; Skarabäus; SBZ); EGGLER/KEEL, Corpus, Irbid 3 (Skarabäus; EZ IIC[?]).
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heit und Nacktheit sind in diesem Kontext des Öfteren verbunden.31 Eine Variante ist, wenn Körper kopfüber dargestellt werden, sei es, dass sie mit dem Kopf voran aus der Höhe abstürzen oder auch sonst durch Gewalteinwirkung in diese Lage kommen.32 4. Verletzter Körper: Im Körper steckt ein deutlich erkennbarer Waffenteil33 oder ein Körper wird von einem Tier (Löwe, Stier, Pferd bzw. Streitwagen, Jagdhund) oder Mischwesen niedergestoßen, am Boden gehalten und/oder durch einen Biss oder Stoß verletzt.34
31
So in Ägypten s. Abb. 1 und 4; KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 184 (nur Phallustasche). Ähnlich in Mesopotamien s. Abb. 2 Rs. Zu Syrien s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 245 (unten Mitte); MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 23–25 (Einlagen; 2400–2300). 32 Zu Mesoptamien s. BRETSCHNEIDER/JANS, Wagon, pl. I Beydar-1 (Rollsiegelabdruck aus Tell Beydar; frühdynastische Zeit-IIIB [Fall verursacht durch Zugtier des Kriegswagens?]); Abb. 3; Abb. 8–10. Syrien: BEYER, Emar IV, 266 F23 (Rollsiegel aus Emar; 14./13. Jh.). Ägypten: KEEL, Bildsymbolik, Abb. 132a (Relief aus Beit el-Wali; Ramses II.); ähnlich ist zu deuten, wenn ein Feind kopfüber festgehalten wird, s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 130 rechts unten (Wandmalerei aus Hierakonpolis; Naqade II); MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 23 (ca. 2400–2300). Zu Palästina s. z.B. EGGLER/KEEL, Corpus, Tell Deir ŦAlla 19 (Platte mit Griff; EZ I–IIB). Das Stück zeigt zwei Männer, die einen dritten in ihrer Mitte kopfüber festhalten. Kopfüber stürzt ein Mensch im langen Kleid vor dem Wagen des Pharao zu Boden in KEEL, Corpus I, Akko 118 (Skarabäus; SBZ). 33 Zu Syrien s. z.B. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 245 oben Mitte (Einlagen aus Ebla; Ende 3. Jt.); ORTHMANN, Orient, Abb. 355 (Relief aus Karkemisch; 10./9. Jh.). Zu Ägypten vgl. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (18. Dyn.); VITTMANN, Ägypten, 25 Abb. 11 (Assyrer von Pfeilen und Speeren verletzt; Relief vom Gebel Barkal/Sudan; 1. Jt.). Zu Mesopotamien s. Abb. 3 und 9; KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 183 (Siegelabrollung aus Susa; Ende 4. Jt. v.Chr.); MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2, Raum B–9 und B–11 oberes Register mit einem von Pfeilen durchbohrten Mann unter dem Streitwagen bzw. Pferd (Relief aus Kalhu; Assurnasirpal II.); s. auch ebd., Tf. 2 Raum B–8 oberes Register. 34 Ägypten: Abb. 1 und 4; SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (Jagdhunde des Pharao; 18. Dyn.); KEEL, Bildsymbolik, Abb. 101 (Relief; 3. Jh.); ebd., Abb. 103 (Relief aus Theben-West; Ramses III.). Palästina: KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 158 (Skarabäus; MBZ IIB); ebd., Akko 121 (Platte; EZ I/IIA). Mesopotamien: MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2, Raum B–8–11 oberes Register und Tf. 3 B–27 (Relief Kalhu; Assurnasirpal II.); KEEL, Bildsymbolik, Abb. 102 (Basaltskulptur aus Babylon; 6. Jh.). Phönizische Kunst rezipiert ägyptische Vorbilder: Einen Nubier als Opfer eines Löwen zeigt die bekannte Elfenbeinpaneele aus dem Raum NN des Nordwestpalasts in Kalhu (Assurnasirpal II.), s. BARNETT, Ivories, pl. 49d. Sphingen oder Greifen treten den Feind nieder, s. z.B. HERRMANN/COFFEY/LAIDLAW, Ivories, SW Quadrant: Room SW37, S1029–1038; S2056– 2061 (Elfenbeinpaneelen aus dem „Fort Shalmaneser“ in Kalhu; 9./8. Jh.). Israelitischphönizische Elfenbeine nehmen das Motiv ebenfalls auf, s. KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 262a (Samaria Elfenbein; EZ IIB).
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5. Schlaffer Körper: Erhängte und gepfählte Körper hängen schlaff am Marterinstrument und werden dort den Blicken exponiert. 35 6. Verstümmelter Körper/Körperteile: Dem Körper des sterbenden/toten Menschen fehlt durch Gewalteinwirkung ein Körperteil,36 oder aber es werden lose Körperteile37 gezeigt, die den Gesamtkörper nur mehr erahnen lassen. Die Bildthemen, in denen menschliche Körper in den beschriebenen Haltungen vorkommen, sind die folgenden: 2.1. Tod durch einen Herrscher 2.1.1. Menschen sterben durch den Herrscher, der sie tötet oder unter seine Füße niedertritt (Ägypten/Mesopotamien/Syro-Palästina) Das konventionelle Motiv des Pharaos, der mit seinem erhobenen Arm den Feind (oder die Feinde) eigenhändig erschlägt, ist aus Ägypten gut bekannt. Es findet sich dort schon auf Bildwerken des 4. Jt. v.Chr.38 (Abb. 4)
35 Ägypten: KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 133 ([erhängte Kiebitze als Unterlegenheitsmotiv] Keulenkopf aus Hierakonpolis; Skorpion II.; prädynastisch). Mesopotamien: Abb. 9 und 10 (drei Gepfählte). Einen einzelnen Gepfählten, dem man die Füße und die Hände abgeschnitten hat, zeigt eine Reliefszene der Bronzetore von Balawat (Abb. 11); s. dazu auch KING, Reliefs, pl. LVI Band X.3; SCHACHNER, Bilder, 176 Abb. 120; 302 Tf. 10b 15–19 Band X (Niederlage der Einwohner von Kulisi). 36 Geköpfte Leiber in Ägypten: Abb. 4 Rs.; Geköpfte in Palästina: KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 136 (Ritzzeichnung aus dem Doppeltempel in Megiddo; FBZ I). Geköpfte in Mesopotamien: Abb. 8 und 9; SCHACHNER, Bilder, 98 II, III, VII (Salmanassar III.); BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 172 (Relief aus dem Königspalast in Chorsabad Saal 2; Sargon II.), zur Szenenabfolge und dem Stil s. MATTHIAE, Geschichte, 65. Zu Sargon II. s. weiter BOTTA/FLANDIN, Monument, pl. 63f. Ein Geköpfter unter dem Streitwagen in Syrien: BEYER, Emar IV, 264f F22 (Rollsiegel aus Emar; 14./13. Jh.). 37 Dissoziierte Köpfe in Syrien: KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 245 unten rechts (Einlagen aus Ebla; ca. 2400–2300) sowie vom selben Fundort MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 26–28; ein Kopf unter einem Streitwagengespann evoziert das Motiv des gefallenen Feindes in BEYER, Emar IV, 264 F21 (Rollsiegel aus Emar; 18./17. Jh.). Mesopotamien: Abb. 2 Rs.; MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2, Raum B–6 (Sammlung der Köpfe; Relief aus Kalhu; Assurnasirpal II.). Dissoziierte Köpfe, Hände und Füße auf einer Szene der Bronzetore von Balawat (Abb. 11). Abgeschlagene rechte Hände und Phalloi in Ägypten, s. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 368 (Relief in Theben-West, Medinet Habu; Ramses III.). 38 Das Erschlagen der Feinde ist eine ganz grundlegende Tendenz, vgl. etwa SCHOSKE, Erschlagen; HALL, Pharaoh. Im dekorierten Grab von Hierakonpolis aus der Naqade-IIZeit (s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 130) ist das Motiv bereits in der Mitte des 4. Jt. v.Chr. belegt. Zu weiteren Beispielen aus dem 3. Jt. s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 137.139. Zu Beispielen aus dem 2. Jt. s. KEEL, Bildsymbolik, Abb. 132a.404 (Relief aus
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und ist mit einer klaren Klimax im Neuen Reich bis in das 1. Jt. (Monumentalreliefs von Taharqa und Nektanebos I.)39 und in die römische Zeit hinein belegt. Nach gängiger Interpretation vergegenwärtigt das Motiv „das Ordnungswerk des Königs als Garant des intakten Kosmos und der Vernichtung der Feinde von Menschen und Göttern“.40 Distanziertere Varianten dieser Herrscherpose, bei der der Pharao den Feind/die Feinde am Haarschopf festhält und ihn/sie damit körperlich berührt,41 sind das Zielen des Herrschers mit dem Bogen auf seinen Feind (zumeist belegt unter Ramses II. und III.) oder aber, dass der Pharao mit dem Streitwagen auf den Feind Jagd macht oder ihn niederfährt (seit der 18. Dyn. belegt42). Er kann dabei von seinem Kriegslöwen43 oder von seinen Jagdhunden begleitet sein, die ihn darin unterstützen, die Feinde zu Fall zu bringen.44 In Mesopotamien sieht das Motiv des Niederschlagens der Feinde durch den Herrscher etwas anders als in Ägypten aus, da die Feinde dort selten am Schopf gepackt,45 sondern im Netz gefangen (Abb. 2 Vs.), mit den Füßen niedergetreten (Abb. 3),46 am Arm gerissen oder ohne direkten Kör-
Abu Simbel; Ramses II.); Abb. 103.399 (Ostrakon; Ramses III.); Tf. XXI (Relief aus Medinet Habu 1. Pylon; Ramses III.); Abb. 417a (Relief aus Theben-West; Ramses III.). 39 Zu Beispielen s. SCHOSKE, Erschlagen, 57–59. 40 SCHMITT, Herrschaftsrepräsentation, 12. 41 Deutlich seltener reißt der Pharao seinen Gegner am Arm hoch, um ihn aufzuspießen, so zu sehen in HALL, Pharaoh, fig. 49 (Seti I.), fig. 59 (Ramses II.), fig. 67 und 70f (Ramses III.) sowie fig. 84f (hellenistisch-römische Zeit; Dendera). 42 S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (18. Dyn.); KEEL, Bildsymbolik, Abb. 405 (Relief Theben-West Ramesseum; Ramses II.); Abb. 405a rechts unten (Relief aus dem Tempel von Medinet Habu; Ramses III.). Zu weiteren Belegen s. die Zusammenstellung in SCHOSKE, Erschlagen, 200–206 (Bogenjagd ohne Wagen), 206–208 (Bogenjagd mit Wagen) und 208–211 (Niederfahren mit dem Wagen). 43 Eine interessante Variante zeigt eine bemalte Platte aus dem Grab Ramses IV. in Theben (zur Abbildung s. VANDERSLEYEN, Ägypten, Abb. 330): Der König kehrt im Streitwagen aus einer zweifellos fiktiv-paradigmatischen Schlacht mit einem Nubier und einem Asiaten am Schopf zurück (= Feinde der Weltenden). Der Kriegslöwe des Pharao steht neben dem Wagen und beißt in den Arm eines gefesselten Asiaten, der fliehen will. 44 S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (Truhe des Tutanch-Amun; 18. Dyn.). 45 Eine Ausnahme scheint die Darstellung im Deckel einer Pyxis aus dem mittelassyrischen Assur zu sein. Ein (recht unvollständiger) Angreifer packt sein Opfer mit der Linken am Kopfhaar (führt in der Rechten einen Speer) und tritt es zugleich nieder, s. ORTHMANN, Orient, Abb. 255a. 46 S. auch VAN BUREN, Clay Figurines, 255f mit pl. LXIII, fig. 301 (Terrakottafragment eines Wagens mit dem Motiv des (Gott-)Königs über einem Gefangenen mit einem Seil um den Hals, das der Herrscher hält; ca. 2400 v.Chr.); weiter BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 19b (Akkadzeit); COLLON, First Impressions, Abb. 540 (Rollsiegel aus dem Zagros; ca. 2000 v.Chr.). S. weitere Belege in Anm. 24.
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perkontakt mit dem Einsatz von Waffen (Abb. 3; Abb. 8 B–4/5)47 erledigt werden. Die Pose des Herrschers im von Equiden gezogenen Kriegswagen, der Gefallene überrollt, ist in Syro-Mesopotamien deutlich früher als in Ägypten belegt.48 Eindeutig ein Pferdegespann ist zu sehen, wenn Assurnasirpal II. (in Handlungseinheit mit seinem Gott Assur und seinen Soldaten) mit dem Bogen auf die Feinde schießt, die z.T. unter seinem und seiner Soldaten Streitwagen liegen (Abb. 8 B–3).49 Syrische Kunst der MBZ II (um 1800 v.Chr.) zeigt in der Ištar-Stele aus Ebla eine Zusammenführung zweier Dominanzposen, wenn ein kleiner nackter Gefangener von zwei Seiten auf unterschiedliche Weisen angegriffen wird. Auf der einen Seite hält ihn der Herrscher (in syrisch-mesopotamischer Pose) am Arm und richtet den Dolch gegen ihn. Auf der anderen Seite hat der Herrscher (in traditioneller ägyptischer Pose) den Gefangenen am Haarschopf gepackt und erhebt seine Linke zum Schlag.50 Anders als auf klassischen ägyptischen Vorbildern packt der Herrscher sein Opfer auf syrischen und mesopotamischen Siegeln deutlich weniger am Schopf als vielmehr am Arm (Abb. 14). Diese Form des herrscherlichen Feindzugriffs lässt sich in der MBZ51 aber auch in der EZ IIC in Palästina nachweisen,52 wenngleich insgesamt seltener als der klassische Gestus, mit dem der Pharao den Feinden in die Haare greift. Die ägyptische Dominanzpose des Pharaos mit dem Niederschlagen des Feinds und dem klassischen Packen
47 S. auch KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 183 (späte Uruk-Zeit; 4. Jt.). Zu einem achämenidenzeitlichen Siegel aus dem Oxus-Fund, das den König beim Kampf mit einem Gegner zeigt, den er mit der Linken packt und mit der Rechten mit einer Lanze sticht, s. COLLON, First Impressions, Abb. 574. Die Gegner stehen bei ihrer Konfrontation beide (bzw. alle drei) auf einer Leiche, die die Bodenlinie abgibt. 48 Das Motiv des Streitwagens über Gefallenen ist nach MARTIN/MATTHEWS, Seals, 32 in der Glyptik seit der frühdynastischen Zeit-IIIa belegt. Zu entsprechenden Szenen aus dem Ugarit des 2. Jt. s. AMIET, Chars, Tf. 1 Nr. 1–4; zur Glyptik in Emar s. BEYER, Emar IV, 264 F21 (18./17. Jh.); 264f F22 (14./13. Jh.); 266 F23 (14./13. Jh.). 49 S. dazu MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–11; weiter s. BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 132c (weißer Obelisk aus Ninive; Assurnasirpal I. oder II.); SCHACHNER, Bilder, 81.98 (Salmanassar III.); COLLON, First Impressions, Abb. 733 (neuassyrisches Rollsiegel). Zu Beispielen aus Syrien s. VON LUSCHAN, Sendschirli III, Abb. 102 und Tf. 39 (Orthostat aus Sendschirli); ORTHMANN, Orient, Abb. 355 (Orthostat aus Karkemisch; 10./9. Jh.). 50 MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 236 D4 (Basalt-Stele aus Ebla; ca. 1800 v.Chr.). Auch ägyptisch beeinflusste altsyrische Siegel (s. z.B. WINTER, Frau, Abb. 378) übernehmen den traditionellen pharaonischen Feindzugriff. 51 KEEL, Corpus Einleitung, Abb. 487. 52 Griff am Arm: KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 279 (Skarabäus aus Megiddo; EZ IIC).
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am Haarschopf ist in Palästina seit der MBZ aufgenommen worden. Auf Roll- und Stempelsiegeln ist dieses Motiv zwar selten dargestellt, taucht aber in Palästina durchaus erstmals in der MBZ II auf53 und wurde in dieser Form auch in Syrien rezipiert.54 Der ägyptische Zugriff am Haarschopf des Feindes findet sich auch auf einem spätbronzezeitlichen Elfenbein aus Ugarit,55 wenn auch der Herrscher hier eher zum Stich denn zum Schlag auszuholen scheint.56 Der klassische Gestus des Pharao, der Feinde am Schopf packt und erschlägt, war es, der in Palästina doch am meisten rezipiert wurde: Populär war das Motiv auf Skarabäen und Siegeln der SBZ57 und der EZ I58, wobei in der EZ II eine abnehmende Tendenz zu beobachten ist.59 Klar am ägyptischen Vorbild orientiert ist ein israelitisch-phönizisches Elfenbein aus Samaria aus der EZ IIB.60 Phönizisches Kunsthandwerk hat das ägyptische Überlegenheitsmotiv aufgenommen und in seinem klassischen Feindzugriff am Haar auf der Schale aus Idalion (7. Jh.) in Silber verewigt (Abb. 5). Auffallend ist dort, dass hinter dem Pharao ein Soldat steht, der ihm eine an Armen gefesselte Person mit nach hinten hängenden langen Haaren (bewusstlos oder tot?) hinterher trägt.61 Es ist ungeklärt, ob man hier eine Geisel, eine Frau, ein Kind oder einen geschlagenen Prinzen/König der Gegenseite vor sich sehen soll. Relativ kurz nach seinem Auftauchen in Ägypten in der 18. Dyn. ist das ägyptische Motiv des Herrschers im Streitwagen, der mit dem Bogen auf den Feind Jagd macht und/oder ihn niederfährt, ab dem 13. Jh. v.Chr. auch
53
KEEL, Corpus Einleitung, 221f. Altsyrisches Rollsiegel s. KEEL, Corpus Einleitung, Abb. 488 (klassischer Griff des Herrschers). Zur altsyrischen Rezeption (zu Anfang des 2. Jt. v.Chr.) des ägyptischen Motivs des Niederschlagens der Feinde durch den Pharao s. EDER, Motive, 81–84. 55 KEEL, Bildsymbolik, Abb. 403. 56 Das Halten am Schopf und Zustechen mit einer Kurzwaffe ist in Ägypten selten, s. KEEL, Bildsymbolik, Abb. 402 (Axt; Ahmose). 57 KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 97a–c; ebd., Abb. 114a (Skarabäus; Bet-Schean); KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 1234 (Skarabäus; SBZ); ebd., Akko 81 (Skarabäus; SBZ); EGGLER/KEEL, Corpus, Pella 65 (Siegelabdruck auf Bulle; SBZ IIA); ebd., Irbid 7 (Rollsiegel; SBZ I–IIA). 58 S. KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 144a–c (Megiddo, Tel Masos und Tell el-FarŦa Süd; EZ I). 59 S. z.B. noch KEEL, Corpus I, Akko 226 (Skarabäus; EZ IIC [Babylonische Zeit]). 60 KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 262b. 61 Dasselbe Motiv zeigt sich auf einer phönizischen Silberschale aus Praeneste aus dem 7. Jh., s. MOSCATI, Bowls, 446 sowie auf den beiden Schalen in MARKOE, Bowls, Cy8 und E10. 54
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in Palästina in der Glyptik (Abb. 12)62 und in der Kleinkunst63 belegt. Mit dem Ende der ägyptischen Vorherrschaft verschwand das Motiv allerdings fast völlig. 2.1.2. Herrscher präsentiert Leichenberge vor einer Gottheit (Ägypten) Die bereits mehrfach erwähnte ägyptische Palette des Narmer (um 3000 v.Chr.; Abb. 4 Rs.) zeigt ein Motiv, das in Palästina und Mesopotamien m.W. nicht belegt ist: Der Pharao zieht mit Standartenträgern barfuß vor Horus, vor dem die nackten Leichen des Kampfs mit abgehauenem Kopf in Aufsicht in zwei Reihen zu je fünf Leichen angeordnet sind. 2.1.3. Anlage eines Massengrabes im Angesicht des thronenden Herrschers (Mesopotamien) Anders als auf der ägyptischen Narmerpalette sind die Leichen der Schlacht auf der Geierstele aus Girsu (Mitte 3. Jt.; Abb. 2 Rs.) nicht in Reih und Glied angeordnet, sondern liegen in ungeordneten Haufen auf dem Boden. Diese nackten Körper werden offenbar gerade in einem Massengrab beerdigt, das zugeschüttet wird. Da die Beerdigten (in beiden Registern) nackt sind, sind es wohl die geschlagenen Gegner und kaum die Opfer auf der eigenen Seite,64 die begraben werden. Das Schicksal der Unbegrabenen scheint im oberen Register durch, wenn die Vögel Leichenteile durch die Gegend tragen. 2.1.4. Der Herrscher thront auf dem niedergeschlagenen, evtl. toten Feind (Ägypten/Palästina) In Ägypten findet sich seit der 18. Dyn. (Grab des Rechmire) das Motiv des Pharaos (oder auch von Göttinnen wie Mut), der seinen Thron auf den gebundenen Feinden aufgebaut hat.65 Unter dem Thron sind als Merismus die äußersten Feinde Ägyptens geschlagen und gebunden dargestellt. Dieses Motiv wurde in einem singulären MBZ II Skarabäus aus Palästina aufgenommen, der einen thronenden Herrscher zeigt, unter dessen Thron eine Leiche in Bauchlage dargestellt ist.66
62 S. auch KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 60; KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 302 (Skarabäus; SBZ); ebd., Akko 118 (Skarabäus; SBZ). 63 Elfenbeinpaneele aus Megiddo: KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 64 (SBZ). 64 So der Diskussionsvorschlag von J. Bretschneider (mündlich). 65 QUACK, Menschenbild, 457f. 66 KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 36d.
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2.2. Menschen sterben durch gegnerische Soldaten (Ägypten/Syrien/ Mesopotamien) Nahkampfszenen mit Feinden finden sich bereits seit dem 4. Jt. in Ägypten:67 Die Krieger erheben ihre Keulen gegen Gefesselte, schlagen mit Keulen auf sich wehrende Gegner ein, denen sie an den Hals/Haarschopf greifen, packen sich im Ringkampf gegenseitig an den Armen, stehen sich mit erhobenen Waffen und Schildern gegenüber oder zeigen ihre Überlegenheit dadurch an, dass sie ihren Gegner auf den Kopf stellen. Kriegsdarstellungen mit Nahkampfszenen werden in Ägypten (unter sukzessiver Einbeziehung kriegstechnischer Neuerungen wie Streitwagen und Pferd) bis in das 1. Jt. weiter eingesetzt, wobei die Soldaten wie ihr Pharao den Streitwagenkampf betreiben oder aber als einzelne Reiter auf dem Pferd oder gar Mann gegen Mann antreten können.68 Die ägyptischen Soldaten können ihre Feinde am Arm reißen, mit der Lanze stechen, mit Pfeil und Bogen erledigen, am Haarschopf greifen und mit Kurzwaffen töten oder sie mit dem Pferd umreiten. Soldaten sind es auch, die maßgebliche Teile des Körpers ihrer besiegten Opfer (rechte Hand, Phallus) abschneiden und diese Leichenteile als Trophäen mit sich nehmen. Verschiedentlich wird davon ausgegangen, dass die Soldaten so den Nachweis der Anzahl der von ihnen getöteten Feinde erbrachten, die die Grundlage für ihre Prämien oder Beförderungen war;69 doch hatten diese Verstümmelungen der Besiegten auch symbolische Bedeutung (Entehrung; Entmachtung). Auch in Syrien (Marmoreinlagen aus Ebla)70 wurden Krieger in verschiedenen Szenen mit Sterbenden bzw. Getöteten gezeigt, die sie in verschiedenen Weisen massakrieren. Sie reißen sie an Beinen hoch, stellen sie auf den Kopf oder drücken sie auf den Boden, um sie mit einer Waffe zu töten oder ihnen gar den Kopf abzuschneiden.
67 KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 130 (Wandmalerei aus einem Häuptlingsgrab aus Hierakonpolis; Naqade II); ebd., Abb. 184 (Messergriff aus Gebel el-Arak, Naqade II/III). 68 S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (18. Dyn.); KEEL, Bildsymbolik, Abb. 405 (Relief Theben-West, Ramesseum; Ramses II.); YURCO, Merenptah, 36f (Relief aus Karnak; Merenptah[?]); KEEL, Bildsymbolik, Abb. 405a rechts unten (Relief aus dem Tempel von Medinet Habu; Ramses III.); VITTMANN, Ägypten, 25, Abb. 11 (Relief vom Gebel Barkal; 1. Jt.). Zu einem kuschitischen Beispiel s. VANDERSLEYEN, Ägypten, Abb. 406 (Relief aus Meroe-Stadt; 25. Dyn.). 69 S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 368 (Relief aus Theben-West, Medinet Habu; Ramses III.). Zum Thema s. GALAN, Mutilation, 441–451; ABDALLA, Hands, 25–34. In Mesopotamien sammelte man anscheinend zum selben Zweck die Köpfe der Gegner, s.u. 70 KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 245 (unten Mitte) mit MATTHIAE u.a., Ebla, Nr. 23f (alle Stücke aus dem Königspalast G; ca. 2400–2300).
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In Mesopotamien findet sich als früher Beleg der herrscherlichen Armee, die über Leichen geht, die Geierstele des Eannatum aus Girsu (Mitte 3. Jt.; Abb. 2 Rs.). Nackte Leichen mit dem Gesicht nach unten werden von äußerst geordneten und gewappneten Soldatenreihen überrollt. Die Feinde kommen hier als bereits geschlagene, passive tote Körper in den Blick, nicht etwa als ernst zu nehmende aktive oder gar aufrecht stehende, bewaffnete Gegner. Das gilt im Wesentlichen auch für Siegelabrollungen aus Uruk vom Ende des 4. Jt., die Prügelstrafen oder Folterungen an Gefangenen zeigen;71 die Soldaten schlagen auf gefesselte und am Boden liegende Menschen ein. Dynamischere Szenen von Nahkämpfen der Soldaten untereinander sind ausführlich auf den verschiedenen assyrischen Reliefs des 1. Jt. und verwandten Bildträgern dargestellt. Dort reißen assyrische Krieger ihre Gegner an den Armen oder am Kopf, um ihnen denselben abzuschneiden (Abb. 8 B– 3 oberes Register).72 Ergebnis dieses Vorgehens ist, dass geköpfte Leiber (Abb. 8 B–4f) und lose Köpfe dargestellt werden, wobei die abgeschnittenen Köpfe nicht etwa vom König, sondern von seinen Soldaten eingesammelt werden,73 die dafür wohl Kopfgeld erhielten. Die assyrischen Krieger können ihren Gegner von fern mit Pfeil und Bogen treffen und ihn dazu bringen (in Handlungseinheit mit ihrem König), getroffen zu Boden oder gar kopfüber von einer Stadtmauer zu stürzen (Abb. 8 B–4f). Ebenfalls parallel zum König erscheinen Soldaten, wenn sie im Streitwagen auf die Feinde Jagd machen und sie umreiten.74 Anders als der König können Soldaten auch als einzelne Reiter auf einem Pferd abgebildet werden, wobei sie von hier aus mit Pfeil und Bogen oder Lanzen auf Feinde losgehen und sie zu Boden reiten.75 Die Szene des Nahkampfes mit einem zu Boden ge-
71 COLLON, First Impressions, Abb. 746 (Rollsiegelabdruck; Uruk W.21660; späte Uruk-Zeit); vgl. auch KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 188 (Rekonstruierte Siegelabrollungen aus Uruk; späte Uruk-Zeit); BOEHMER, Uruk, 20–24 und Abb. 16–19 mit Tf. 8–27 (späte Uruk-Zeit). 72 S. auch MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–8 (Assurnasirpal II.); s. viele Details in BARNETT/BLEIBTREU/TURNER, Sculptures, pl. 44f, 34ab; pl. 84f, 103a–104a; pl. 93, 122a; pl. 174f, 243ab; pl. 288f, 381ab (Reliefs aus dem Südwestpalast in Ninive). 73 S. MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–6 (Assurnasirpal II.); s. weiter BARNETT/BLEIBTREU/TURNER, Sculptures, pl. 36, 28a; pl. 56, 51a; pl. 83, 102a; pl. 131, 193a; pl. 174–177, 243a–244c; pl. 193, 277a; pl. 195, 277b; pl. 210f, 284ab; pl. 244, 342a; pl. 252f, 346a–347c; pl. 275–281, 368a–370b; pl. 288f, 381ab; pl. 380, 487a u.ö. (Reliefs aus dem Südwestpalast in Ninive). 74 MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–8 und 10 (Assurnasirpal II.). 75 MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–9 (Assurnasirpal II.); SCHACHNER, Bilder, 84 (Salmanassar III.); BARNETT/BLEIBTREU/TURNER, Sculptures, pl. 44f, 34ab;
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henden bewaffneten Krieger76 ist ebenfalls dem gemeinen Soldaten vorbehalten.77 Ein König in derart engem Feindkontakt ist kaum Gegenstand der herrscherlichen Ikonographie. Dies gilt auch für die wenigen Szenen, die Folterungen zeigen. Diese werden (vom Prügeln von Gefesselten abgesehen) m.W. nur auf assyrischen Bildwerken abgebildet und haben sich in der Ikonographie Palästinas nicht niedergeschlagen: Auf den Bronzetoren von Balawat werden einzelnen Unterlegenen anscheinend zuerst die Füße und dann die Hände abgeschnitten (Abb. 11). Der so Gefolterte scheint abschließend dann auch noch nackt ausgezogen und gepfählt worden zu sein, sodass seine Folter in einer Hinrichtung mündete (s.u.). Ein anderer wurde offenbar am Schopf festgehalten, um ihn zu köpfen (Abb. 11). Auch Sargon II. hat einen gegnerischen Aufrührer durch seine Soldaten häuten78 und sich – dies ist ein sehr seltenes Motiv – im selben Kontext an prominenter Stelle darstellen lassen, wie er eine Folter (aus der eine Hinrichtung wurde) selber durchführte. Dieselbe war nach assyrischem Selbst- und Vertragsverständnis eine angemessene Strafe für vertragsrechtliches Fehlverhalten: Auf einem Relief aus Chorsabad wurde gezeigt, wie er (in Anwesenheit seines Wesirs) drei Gefangene am Leitseil hält, das an ihren Unterkiefern/-lippen befestigt ist und einen knieenden rebellischen Vasallen persönlich mit einem Speer blendet.79 Berühmt ist das Relief des Sanherib, das die Schlacht von Lachisch visuell interpretiert: Die assyrischen Soldaten foltern und häuten zwei ausgestreckt gefesselte Gefangene, die auf dem Boden fixiert sind.80 Das Zermahlen der Knochen der eigenen Vorfahren war auch eine Form der Folter und perfide Strafe, die nur einzelne Angehörige renitenter Herrscherhäuser traf. Unter Schlägen werden auf Assurbanipals Reliefs der Schlacht am Ulai zwei Elamer zu dieser Handlung gezwungen, die dafür sorgt, dass aus den aus ihren Gräbern auf-
pl. 84–86, 103a–104c; pl. 87, 108ab; pl. 88f, 110a–111a; pl. 92f, 121a–122a; pl. 94f, 129a und 132; pl. 130, 193a u.ö. (Reliefs aus dem Südwestpalast in Ninive). 76 S. z.B. das assyrische Relieffragment aus dem Zentralpalast in Kalhu (Tiglathpilesar III.), abgebildet in RIJKSMUSEUM VAN OUDHEDEN, Archeologie, 64. 77 Eine späte Rezeption des Motivs des Nahkampfes von Soldaten ist auf einem Skarabäus der phönizischen Gruppe aus Byblos belegt. Das Motiv zeigt einen Nahkampf zwischen einem knienden Bogenschützen und einem Krieger mit makedonischem Schild und Speer, s. dazu NUNN, Motivschatz, 94 Abb. 66 und Tf. 47. Zu achämenidenzeitlichen Beispielen des Nahkampfs (auch verschiedener Waffengattungen) s. COLLON, First Impressions, Abb. 744f (Rollsiegel). 78 BOTTA/FLANDIN, Monument, pl. 120 (Saal 8.25). 79 BOTTA/FLANDIN, Monument, pl. 118 (Saal 8.12) = ORTHMANN, Orient, Abb. 226 (Zeichnung nach einem Relief aus Chorsabad). 80 UEHLINGER, Clio, fig. 9ab (slab 9 und 10).
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gestörten elamischen Königen ruhelose Totengeister werden,81 die sich in aggressiver Weise gegen ihre noch lebenden Verwandten richten. Die Ahnen der Elamer werden so von den Assyrern dazu gebracht, an ihrem Zerstörungswerk am elamischen Königshaus und Volk mitzuwirken. Die beschriebenen Darstellungen lassen jeweils Soldaten als Folterer auftreten. Bei diesen Folterungen handelt es sich in allen angezeigten Fällen um das Vorgehen gegen Einzelpersonen, an denen ein Exempel statuiert wurde, nicht um eine Kollektivstrafe. Soldaten sind es auch, die gezeigt werden, wenn (was selten geschieht) Frauen Opfer kriegerischer Gewalt u.a. in Form von Vergewaltigung werden (Abb. 13; Assurbanipals Araberfeldzug)82 oder wenn ein geschlagener Feind am Boden um den Todesstoß bittet.83 Für derartige Grobheiten (Folter, Frauenmord, Vergewaltigung, Beihilfe zur Selbsttötung), die der herrscherlichen Ehre nicht zuträglich sind, ist ein König im allgemeinen (zur Ausnahme s.o.) nicht zuständig. 2.3. Menschen werden hingerichtet (Erhängen, Pfählen) (Ägypten/Mesopotamien) Ganz ähnlich wie Szenen von Folterungen werden auch Hinrichtungen auf Bildträgern nur sehr selten gezeigt und sind oftmals auch nur schwer voneinander zu trennen (Folterung mit Todesfolge = Hinrichtung). In der Ikonographie Palästinas sind m.W. bislang weder Folter- noch Hinrichtungsdarstellungen belegt, was mit dem Fehlen von autochthoner Monumentalkunst erklärt werden kann. Aus Ägypten sind hingegen Beispiele bekannt. Zu nennen ist das Fragment eines Keulenkopfs aus Hierakonpolis aus dem Ende des 4. Jt.,84 das Standarten mit erhängten Kiebitzen zeigt (das ägyptische Wort r̴jt, das mit dem Kiebitzzeichen geschrieben wird, bedeutet „Untertan“ und „Mensch“). Es handelt sich bei diesem Motiv um eine ägyptische Überlegenheitschiffre (bzw. Unterlegenheitschiffre der Untertanen), die mit mimetischem Realismus nichts zu tun hat.85
81 BARNETT/FORMAN, Palastreliefs, 130 (Ninive, Palast des Sanherib, Raum XXXIII) oder BARNETT/BLEIBTREU/TURNER, Sculptures, pl. 288f, 381ab. Zu literarischen Beispielen dieser Praxis s. MOFIDI NASRABADI, Untersuchungen, 23. 82 S. auch BARNETT/FORMAN, Palastreliefs, 114. 83 BARNETT/FORMAN, Palastreliefs, 123 (Ninive, Palast des Sanherib, Raum XXXIII; Assurbanipals Schlacht gegen die Elamer am Ulai). S. dazu DIETRICH, Tod, 73–79. 84 KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 133 (Skorpion II.; prädynastisch). 85 Die geläufigste Hinrichtungsart war bis in die Ptolemäerzeit zwar das Pfählen, doch ist dies m.W. bislang ausschließlich in Texten bezeugt, s. MÜLLER-WOLLERMANN, Vergehen, 197f.
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Dies könnte bei den folgenden Beispielen aus Mesopotamien insofern anders sein, als man dort die Praxis des Pfählens aktiv übte, wenn auch im Einzelnen doch zu hinterfragen ist, ob die Anzahl der dargestellten Gepfählten die realen Gegebenheiten spiegelt. Dagegen spricht, dass die Anzahl der Gepfählten entweder eine Person (Abb. 11), sechs oder (zumeist) drei Personen umfasst. Weniger als Abbildungen der tatsächlichen Gegebenheiten als vielmehr als paradigmatische Exempel sind die Darstellungen von sechs oder drei (halbe Zahl!) Gepfählten auf den Bronzereliefs von Salmanassar III.,86 jeweils drei Gepfählten auf den Reliefs von Tiglathpilesar III. (Abb. 9) und von Sanherib zu verstehen. In den Reliefs des Letzteren von der Schlacht um Lachisch (Abb. 10 slab 7) werden dem in den Palastraum eintretenden Betrachter an zentraler Stelle die Pfählungen von drei Judäern durch assyrische Soldaten vor Augen geführt. Diese spezielle Behandlungsweise von Unterlegenen, die sich deutlich von den die Bildszenen dominierenden Deportationen der Zivilisten unterscheidet, könnte auf das – aus assyrischer Sicht – besonders ehrlose und assyrerfeindliche Verhalten Einzelner zurückzuführen sein, die so als Verräter und Vertragsbrecher visualisiert sind. Darum ist es auch wichtig, dass man ihnen, selbst wenn man sie an Füßen und Händen amputiert (Abb. 11), keinesfalls den Kopf abschneidet, da es offenbar als wichtig für die Bildaussage betrachtet wurde, dass man die Gepfählten (deren Leiden realiter so natürlich auch verlängert wurde) erkennt. Die Gepfählten, die jeweils so im Bildkontext erscheinen, dass der Betrachter davon ausgehen kann, dass sie in Sichtweite ihrer Stadt aufgestellt waren, sind eine Abschreckungsikone für die Verantwortungsträger aller Städte, die assyrischer Aggression ausgesetzt waren. Ihre Einer-, Sechs- oder Dreizahl ist eine symbolische und exemplarische, keine realistische Zahl, die die Selektivität dieser Strafe an einzelnen Untätern (und keine Massenbestrafung) zum Ausdruck bringt. Auch dies ist im Übrigen kein Motiv, bei dem der Herrscher selber als unmittelbarer Akteur direkt in Erscheinung getreten wäre.
86 S. die Bronzebänder des Salmanassar III. aus Balawat, abgebildet in BARNETT/ FORMAN, Palastreliefs, 167a Band S (drei Gepfählte auf den Stadtzinnen einer eroberten Stadt in Urartu) = KING, Reliefs, pl. VII Band II.1 und pl. VIII Band II.2; SCHACHNER, Bilder, 294 Tf. 2 Band II von Tor C 50/51. Außerdem: BARNETT/FORMAN, Palastreliefs, 163b Band P (sechs nackte Gepfählte vor der Stadt; Angriff auf Dabigu) = KING, Reliefs, pl. XXI Band IV.3; SCHACHNER, Bilder, 296 Tf. 4 Band IV des Tores C 42–47.
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2.4. Menschen sterben durch eine angreifende Gottheit, die sie tötet (Ägypten/Mesopotamien/Syro-Palästina) Das Motiv der Gottheit, die den Feind durch ihre schlagende Hand, eine Lanze oder den Bogen tötet, stammt aus Ägypten. Ab dem Ende des Neuen Reiches zeichnet sich die Tendenz ab, dass Götter im Motiv des Niederschlagens der Feinde in die Rolle des Pharaos einrückten. Politischer Hintergrund dieses Wechsels in der ikonographischen Tradition war anscheinend die Präsenz der Fremdherrscher in Ägypten, die nicht einfach in das Motiv des siegreichen Pharaos eingesetzt wurden oder werden wollten.87 Bis in die hellenistische Zeit hinein konnte u.a. der falkenköpfige Königsgott als Vertreter des Pharao den Kampf gegen den Feind führen. Dabei konnte die Gottheit (ähnlich wie der Pharao) u.U. auch vom Königslöwen begleitet werden, der den Feind zusätzlich zu dessen Verletzung durch die göttliche Waffe anfiel.88 Auch in der syrischen Kunst gibt es Darstellungen von Göttern, die einen Feind am Haarschopf ergreifen und ihn mit der anderen Hand niederstechen.89 Auf der Zitadelle von Aleppo findet sich ein entsprechender Orthostat, der einen Kriegsgott, sei es Šuli(n)katte/Nergal oder auch Ninurta, in dieser aggressiven Herrschaftspose abbildet.90 Singulär scheint ein altsyrisches Rollsiegel, auf dem eine nackte, geflügelte Göttin zwei Menschen, wohl Feinde, nach der Art der „Herrin der Tiere“ kopfüber emporhält.91 Ob die beiden wirklich als tot zu gelten haben, ist diskutabel, in jedem Fall sind sie immobilisiert und ihrer Selbstbestimmung beraubt. In Mesopotamien können Götter, deren theologisches Profil Aggression und Krieg beinhaltet, beim Töten von Menschen dargestellt werden.92 Sie ergreifen allerdings ebenso wenig wie mesopotamische Herrscher ihre Opfer am Schopf, um sie zu töten, sondern treten sie bevorzugt mit den Füßen nieder.93 Auf Gefallenen steht die geflügelte, kriegerische Göttin, die dem
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SCHOSKE, Erschlagen, 476f. QUACK, Menschenbild, 455f Nr. 6 (Relief; Ptolemäerzeit). 89 S. z.B. den Siegelabdruck in COLLON, First Impressions, Abb. 828 (SBZ). 90 GONNELLA/KHAYYATA/KOHLMEYER, Zitadelle, Abb. 135 (sechster Reliefblock aus Aleppo; ca. 900 v.Chr.). Zur Geste vgl. KEEL, Bildsymbolik, Abb. 403. 91 WINTER, Frau, Abb. 379. 92 Unklar ist der leere Streitwagen auf dem urartäischen Stelenfragment aus Van, unter dem Gefallene liegen, s. BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 256 (Datierung unklar; 1. Jt.). Zur Diskussion steht, dass der leere Wagen für den Gott Haldi steht oder aber dass das Stück unvollendet ist. 93 S. die mesopotamisch beeinflusste Siegelabrollung aus Kültepe mit einem Kriegsgott über einem niedergetretenen Menschen, WINTER, Frau, Abb. 82 (Anfang 2. Jt.); ebenfalls einen Kriegsgott zeigen ebd., Abb. 166 (Rollsiegel; Mitte 2. Jt.); ebd., Abb. 266 88
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Herrscher zur Seite steht, der den aktiven Kampf (mit mesopotamischen Feindzugriff am Arm, s.o.) führt (Abb. 14). Im SBZ Palästina finden sich Stücke, die die kriegerische Anat auf einem Pferd zeigen, wobei Tote ihren Weg säumen können.94 2.5. Menschen sterben durch ein Tier, das sie anfällt Die Vielfalt der Darstellungstypen von Tieren, die in Ägypten für den König oder als Repräsentationen von Gottheiten auftreten können, ist verwirrend.95 In Syro-Mesopotamien ist die Situation strukturell nur wenig anders, daher wird im Folgenden nur eine kleine Auswahl vorgestellt. 2.5.1. Löwe über einem liegenden Körper (Ägypten/Mesopotamien/Palästina) Das Motiv eines Löwen, der einen Menschen anfällt, ist seit dem 4. Jt. aus Mesopotamien96 und aus Ägypten bekannt (Abb. 1). Der Kontext von abgeführten Gefangenen erweist die Szene auf dem ägyptischen Artefakt als Schlachtendarstellung, bei der der männliche Löwe für den Pharao steht.97 Dem gut belegten und traditionellen ikonographischen Motiv entspricht die ägyptische Formulierung des „Niedertrampelns der Fremdländer“.98 Das Motiv des Löwen über einem Menschen war besonders in der MBZ IIB99 und in der frühen Eisenzeit100 populär. Es war in Palästina gut (Rollsiegel aus Mari; 18. Jh.); COLLON, First Impressions, Abb. 794 (Siegel aus Larsa mit Abbildung des Nergal; 1. Hälfte des 2. Jt.). 94 S. z.B. KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 110; zum Thema s. WINTER, Frau, 227–230. 95 Zu Belegen im Kontext der Feindvernichtung s. SCHOSKE, Erschlagen, 404–417 (Götter in Tiergestalt) und 356–404 (König in Tiergestalt). 96 Zwei Löwinnen an den Ellbogen eines Mannes und ein Löwe über einem hingestreckten Mann, s. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 228 (Schlangenbecken aus Uruk; Mitte 4. Jt.). Zu weiteren vorderasiatischen Belegen s. VAN BUREN, Clay Figurines, 152 mit pl. XLII fig. 200 (Terrakottafragment aus Nippur mit einem stehenden (!) Menschen, der von einem übergroßen Löwen attackiert wird; ca. 2000 v.Chr.); MAYER-OPIFICIUS, Kampf, 129–134 (Elfenbein aus Syrien; 9./8. Jh.) und die folgende Anm. 97 Der Löwe ist im Vorderen Orient seit Alters her ein Symbol der Herrschaft und damit des Königs bzw. Pharaos. Sumerische, babylonische, hethitische, syrische, ugaritische und ägyptische Literatur und Ikonographie wie auch das Alte Testament bezeugen dies, s. STRAWN, Lion, 174–184. Zur archäologischen Bezeugung von Löwenikonographie in Palästina s. ebd., 77–128 (SBZ bis Perserzeit). 98 So mit GIVEON, Scarabs, 120; zum Motiv s. KEEL, Corpus Einleitung, 196f; MÜNGER, Stamp-Seal, 395. 99 KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 5ab (Skarabäen; MBZ IIB); KEEL, Corpus I, Tell elŦAŗul 158 (Skarabäus; MBZ IIB); weitere Belege, KEEL, Corpus Einleitung, 196f. 100 Z.B. KEEL, Corpus I, Akko 121 (Platte); EGGLER/KEEL, Corpus, Pella 69 (Skarabäus); ebd., Madaba 8 (Skarabäus); evtl. Löwe oder Stier s. ebd., Pella 68 (Konoid). Ein
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bekannt, da es in der Glyptik der EZ I durch die ramessidische Massenware aus Tanis verbreitet wurde.101 Es taucht dann wieder bei den in das 9./8. Jh. datierten Knochensiegeln auf (z.B. Megiddo, Lachisch). Und auch später hat man es in der Glyptik noch dargestellt.102 Eine Variation des beschriebenen Motivs liegt vor, wenn der angefallene Mensch noch Gegenwehr oder eine Bewegung erkennen lässt. Dies ist der Fall bei einer Ritzzeichnung auf einem Pflasterstein aus Megiddo aus dem Ende des 4. Jt.103 Zu sehen ist ein Löwe, der über einem am Boden liegenden Menschen in Rückenlage steht. Dieser hat noch einen Schild oder eine Waffe zur Abwehr erhoben. Noch Leben im Opfer scheint auch auf späteren Darstellungen möglich zu sein,104 wobei die Arme zur Abwehr oder zum Abstützen (so auf der phönizischen Elfenbeinpaneele aus Nimrud)105 eingesetzt werden können. 2.5.2. Stier streckt einen Mann nieder (Ägypten/Syro-Palästina) Das Motiv des stehenden Stieres, der einen Mann niederstreckt, ist aus dem Ägypten des 4. Jt. bekannt106 (Abb. 4 Rs.). Der aggressive Stier geht dabei gegen einen Feind vor, sodass er (wie der Löwe und die Sphinx) den siegreichen Pharao repräsentiert. Das Motiv wurde durch entsprechende SBZ Skarabäenmotive auch in Palästina reproduziert.107 Der aggressive Stier als Repräsentant kriegerischer Stärke kommt auch in der spätbronzezeitlichen Kunst Syriens vor.108 Das menschliche Opfer kann in den beschriebenen Beispielen unter dem Angreifer liegen und ihm Rücken oder Gesicht zuwenden, oder aber vor dem Tier im Fall aufgespießt werden.
singuläres Motiv mit einem Bogenschützen gegenüber einem Löwen, der auf einem Körper in Rückenlage steht, zeigt KEEL, Corpus I, Akko 233 (Skarabäus). 101 S. dazu MÜNGER, Stamp-Seal, 396f. 102 Evtl. eine Variante des Themas ist auf einem Ring der EZ IIA zu sehen, s. EGGLER/ KEEL, Corpus, Sahab 4; „klassischer“ sind EGGLER/KEEL, Corpus, Balua 1 (Siegelabdruck auf einer Bulle; EZ IIC); ebd., Irbid 3 (Skarabäus; EZ IIC; Löwe oder Greif). 103 KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 125 (Hof 4008 vor dem Doppeltempel; FBZ I). 104 KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 100 (Stempelsiegel aus Megiddo; SBZ); evtl. ebd., Abb. 99 (SBZ; Löwe oder Stier?). 105 BARNETT, Ivories, pl. 49d (9. Jh.). 106 KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 122 (Schieferpalette, evtl. aus Abydos; Naqade II). 107 Der Stier steht über einem Gefallenen, der mit dem Gesicht nach unten daliegt, s. KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 222 (Skarabäus; SBZ). Evtl. gehört hierher auch KEEL/ UEHLINGER, GGG, Abb. 99 (SBZ; möglich ist auch die Interpretation als Löwe, s.o.); der Mensch unter dem Tier wendet sein Gesicht dem Angreifer zu und hebt die Hände zur Abwehr. 108 KEEL, Bildsymbolik, Abb. 104 (Rollsiegel; SBZ).
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2.5.3. Equid/Pferd rennt einen Mann nieder (Ägypten/Mesopotamien/Syro-Palästina) Ein relativ rezentes Motiv in der ägyptischen Ikonographie sind Pferdedarstellungen.109 In Ägypten sind sie erst seit der Zeit des Thutmosis I. (1493– 1482) belegt, wobei die meisten Darstellungen ramessidisch sind. Das Pferd findet sich ab dem 13. Jh. v.Chr. in der Glyptik Palästinas als Zugpferd des Streitwagens der Ägypter, wobei es auch Menschen niedertrampeln kann (Abb. 12), sodass ihm ein kriegerischer und herrschaftsverbundener Aspekt eigen ist. So eignet es sich ganz besonders zum prestigeträchtigen Reittier von aggressiv-kriegerischen Personen. Dem entspricht, wenn die kriegerische Göttin Anat auf einem Pferd sitzt, unter dem ein Gefallener liegt.110 Das galoppierende Pferd ohne Reiter kann (als früheisenzeitliches Motiv in Palästina) aber auch als Einzelangreifer einen Menschen zu Tode bringen, der darunter zum Liegen kommt.111 Auch in dieser Konstellation liegt wohl ein herrschaftliches Überlegenheitsmotiv vor. In Mesopotamien ist der Gebrauch von Equiden als Zugtieren von Kriegswagen seit ca. 2700 v.Chr. belegt.112 Ein frühes Beispiel eines Gespanns (von Esel-Onager-Hybriden?), das im Kriegszusammenhang einen Menschen niedertrampelt, findet sich auf der sogenannten „Standarte von Ur“113 aus der Mitte des 3. Jt. v.Chr. Der nackte Tote liegt mit dem Gesicht nach unten und lässt keine Regung mehr erkennen. Unter dem Equiden mit dem Rücken am Boden und Gesicht nach oben liegt hingegen ein Gefallener in der Darstellung eines akkadzeitlichen Rollsiegels aus Tell Brak in Syrien.114 Bislang ist nicht ganz geklärt, ab wann Pferde in Syro-Mesopotamien als Zugtiere für Kriegswagen (evtl. ab dem Ende des 3. oder Anfang des 2. Jt.) und vor allem als Kriegsreittiere eingesetzt wurden.115 Einzelne Belege weisen darauf hin, dass bereits am Ende des 3. Jt. v.Chr. ein-
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S. dazu KEEL, Corpus Einleitung, 202. KEEL/UEHLINGER, GGG, Abb. 110 (Skarabäus; SBZ). 111 S. z.B. EGGLER/KEEL, Corpus, Umm Qeis 1 (Skaraboid; EZ IIA–C). 112 S. dazu HAMBLIN, Warfare, 129–153. 113 Zur Abbildung s. HAMBLIN, Warfare, fig. 4a (ca. 2550 v.Chr.). Zur Interpretation s. COHEN, Death Rituals, 142–146. Zu ähnlichen Beispielen s. die „Standarte von Mari“ sowie die Diskussion und Materialsammlung in BRETSCHNEIDER/JANS, Wagon, 160– 162.167–169 und pl. III, cat. no. 1; 5; 9; 11–13 (frühdynastische Zeit); Nr. 7; 10 (akkadzeitlich); DIES., Seal, 179 (Siegelabdruck Beydar-4; frühdynastisch). Für weitere Belegangaben aus späteren Zeiten s. HAMBLIN, Warfare, 142 (Nr. 13–15); 147f (Nr. 25; 27; 29–31). 114 Abbildung in: HAMBLIN, Warfare, fig. 4b oder BRETSCHNEIDER /JANS, Wagon, pl. III, cat. no. 8. 115 Zur Diskussion s. HAMBLIN, Warfare, 131f; OATES, Note, 117–124; LITTAUER / CROUWEL, Vehicles, 23–28.41–43.56–59. 110
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zelne Fürsten (?) auf Eseln oder Esel-Onager-Hybriden in die Schlacht ritten und in der Kunst das Motiv des Reiters, der einen Gefallenen niederreitet, seinen Anfang nahm,116 das dann zu Beginn des 2. Jt. v.Chr. mit Pferden als Reittieren weitergeführt wurde. Erst zu Anfang des 1. Jt. sind größere Reiterkontingente mit Kavalleriesoldaten belegt, deren tödliche Wirkung auf die Gegner dann vor allem in der neuassyrischen Reliefdarstellung117 optisch entfaltet wurde. Ob die Equiden und Pferde, die in den Darstellungen Menschen niedertrampeln, dies realiter tun, ist diskutabel. Wahrscheinlicher ist, dass auch dieses Motiv eine Siegesikone darstellt.118 2.6. Menschen sterben durch ein Mischwesen Mischwesen, die Menschen anfallen und zu Tode bringen, gehören nicht nur zum ägyptischen, sondern auch zum mesopotamisch-syrischen und palästinischen Symbolsystem. Während in Ägypten Sphingen und Greifen mit ihren Füßen Feinde niedertreten, werden die verschiedenen Mischwesen in mesopotamisch-syrischen Bildwerken eher mit ihrem Maul oder ihren Händen aktiv. In Palästina kreuzen sich einmal mehr auch hier die Einflusssphären. 2.6.1. Sphingen und Greifen treten Menschen nieder (Ägypten/Syro-Palästina) Menschenköpfige Sphingen119 stehen im ägyptischen Symbolsystem für den Pharao als Löwen. Als solchen können sie ihn seit dem Alten Reich (s. z.B. Sahure in Abusir; 5. Dyn. oder Pepi II.; 6. Dyn.) bis in das 1. Jt. v.Chr. hinein in der Geste des Niedertrampelns der Feinde faktisch ersetzen (Abb. 15).120 Ihre Opfer können dabei durchaus noch Zeichen der Gegenwehr äußern, doch werden sie von den übermächtigen Pranken mit ihrem Ansatz am Kopf oder Hals in effizienter Weise immobilisiert. Dieses Motiv hat sich auch in vereinfachter Form in Syrien121 und Palästina durchgesetzt, wenn es Stempelsiegel der SBZ122 (zumeist auf einen flach Niedergetrampelten reduziert) aufnehmen. Auffallend ist ein Skarabäus der 19.
116 OATES, Note, 118 fig. 9.4. (Reiter auf einem Esel oder Hybriden trampelt Gefallenen nieder; Siegel ca. 2300 v.Chr.). 117 S. dazu z.B. MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2 Raum B–9 (Relief; Assurnasirpal II.). 118 So mit LITTAUER/CROUWEL, Vehicles, 32f. 119 Zum Motiv s. KEEL, Corpus Einleitung, 198f. 120 Zur Abbildung s. VITTMANN, Ägypten, Abb. 5 (Reliefs von Abusir [Totentempel des Sahure] und von Kawa [Totentempel; 1. Jt. v.Chr.] im Vergleich). 121 Sphingen, die Feinde zertreten, sind in der altsyrischen und palästinischen Glyptik des frühen 2. Jt. eher selten rezipiert worden. Zu den Belegen s. EDER, Motive, 137–139. 122 KEEL, Corpus I, Tell el-ŦAŗul 492 (Platte; 18. Dyn.).
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Dyn.123 aus Akko, der seinen ägyptischen herrschaftlichen Hintergrund nicht verleugnen kann, wenn er einen gefesselten, liegenden Asiaten in Bauchlage unter (der Kartusche und) einem liegenden menschenköpfigen Sphinx mit Geißel zeigt. Auch im 1. Jt. erfreute sich diese ägyptische Triumphmotivik in Syro-Palästina großer Beliebtheit. Israelitisch-phönizische und phönizische Elfenbeinpaneelen des 9./8. Jh.124 oder auch die berühmte Silberschale aus Idalion (Abb. 5) aus dem 7. Jh. (erster Innenring) zeigen, dass sich (anders als in den o.g. ägyptischen Monumentalreliefs) auf den Medien der Kleinkunst weitgehend die Konstellation durchsetzte, dass jeder Sphinx nur je einen Feind zu Boden zu werfen hatte. Im übrigen können dort auch stehende (menschengesichtige) Sphingen mit stehenden Greifen125 alternieren. Der Greif, der die Feinde niedertritt, ist in dieser Rolle in Ägypten seit der 6. Dyn. (z.B. Grabanlage des Pepi II. in Sakkara126) belegt und kann seither mit der menschengestaltigen Sphinx in derselben Pose wechseln; das Motiv des die Feinde zertretenden Greifen lebt in seinem Heimatland selbst bis in die Römerzeit weiter.127 Ähnlich wie der Sphinx hat auch der Greif seinen Ursprung in der ägyptischen Königsikonographie (der siegreiche König als Horus), sodass eine Überlegenheitspose vorliegt. Levantinische Glyptik hat diese Motivvariante anscheinend nur selten rezipiert.128 2.6.2. Mischwesen schicken sich an, Menschen zu fressen oder greifen sie tätlich an (Mesopotamien/Syro-Palästina)
1. Mischwesen als Verlängerung herrscherlicher Macht: Darstellungen gefesselter Gefangener vom Ende des 4. Jt. aus Mesopotamien können mythische Anzu-Vögel/Löwendrachen zeigen, die die Gefangenen attackieren.129 Die aufgerissenen Mäuler der Mischwesen haben eine bedrohliche Nähe zum Kopf der unter ihnen knienden, gebundenen Menschen, sodass deren Leben in höchster Gefahr erscheint. O. Keel und S. Schroer interpretieren diese Szene so, dass die Kombination von Göttervögeln und Gefangenen
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KEEL, Corpus I, Akko 55. Zu Belegen s. Anm. 34. 125 Im Folgenden wird zwischen falkenköpfigen Sphingen und Greifen kein Unterschied gemacht. 126 JÉQUIER, Fouilles, 11f und pl. 15–18. 127 VANDERSLEYEN, Ägypten, Abb. 324 (Relief aus Dendera; Römerzeit). 128 S. EGGLER/KEEL, Corpus, Irbid 3 (Skarabäus; EZ IIC); GALLING, Bildsiegel, 129– 131, Tf. 5 Nr. 6 (phönizisch; 7. Jh.?). 129 Z.B. KEEL/SCHROER, IPIAO, Abb. 185 (Rekonstruktion nach Siegelabrollungen auf Krugverschlüssen aus Uruk; späte Urukzeit). 124
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mythische und reale Bildelemente einander zuordnet: „die reale Kriegswelt wird überhöht“.130 Die Gegner kommen als unterlegene, immobilisierte Wesen in den Blick, die vom Herrscher und den auf seiner Seite aktiven Göttern samt deren überirdischen Helfern unterworfen und kontrolliert werden. 2. Mischwesen als Ikonen der allgemeinen Lebensfeindlichkeit: Weniger in den politischen als vielmehr in den chthonischen Kontext gehören Abbildungen, die dämonenartige Wesen zeigen, die Einzelpersonen angreifen. Zu nennen wären hier altbabylonische Rollsiegel, die einen gehörnten Löwendrachen mit Flügeln und Vogelfüßen zeigen, der auf zwei Hinterläufen steht und im Maul den Kopf eines knienden Mannes hat.131 Ikonographisch lassen sich aus dem syro-mesopotamischen Bereich des 3. und 2. Jt. v.Chr. zahlreiche Beispiele nennen, in denen vogelgestaltige Mischwesen als Feinde des Lebens und der Menschen erscheinen.132 Es handelt sich dabei häufig um Unterweltsgestalten, die dem Nergal zugeordnet sind und für ihn als Sendboten des Todes und Menschenfänger agieren. So zeigt ein Rollsiegel aus Ur der späten Akkadzeit133 auf der einen Bildhälfte ein teilweise vogelgestaltiges Mischwesen mit seinen Opfern: Der im Profil abgebildete männliche Gott/Dämon mit erhobenen Flügeln, Bart, Hörnerkrone, Vogelunterleib und -beinen mit raubvogelartigen Krallen steht aufrecht auf einem nackten Menschen, der ihm als Postament dient. Seine beiden Arme sind ausgestreckt. Er drückt damit je einen knienden, nackten und bittenden Menschen zu Boden. Generelle Lebensfeindlichkeit bringen auch Darstellungen von Dämonen zum Ausdruck, die einzelne Menschen angreifen und u.U. einen göttlichen Gegenspieler haben, der sie in Schach hält: Ein gehörntes und geflügeltes Mischwesen mit Löwenschwanz (anscheinend menschengesichtig) in einer derartigen Konstellation ist aus einem SBZ Rollsiegel aus Tell elŦAŗul (Abb. 16) bekannt. Gezeigt wird ein Mischwesen, das aufrecht auf seinen Beinen (keine Vogelfüße) steht, während es einen am Boden liegenden Menschen von hinten bedrohlich am Hals zieht. Dieser wendet ihm den Rücken zu und wehrt zugleich (mit Hilfe eines Gottes) einen angreifenden Löwen ab.
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KEEL/SCHROER, IPIAO, 284 zu Abb. 185. WINTER, Frau, Abb. 100 = FRANKFORT, Cylinder Seals, 174 und pl. 29m; KEEL, Bildsymbolik, Abb. 81; FRANKFORT, Cylinder Seals, 174 und pl. 27g (altbabylonische Rollsiegel). 132 Zu Beispielen s. PORADA, Iconography, 265 mit Tf. XII; WIGGERMANN, Mischwesen, 235; GREEN, Mischwesen, 251. 133 Zur Abbildung s. FRANKFORT, Cylinder Seals, pl. 18d; Umzeichnung in KEEL, Bildsymbolik, Abb. 90a. 131
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Ein Zugriff mit der Hand, der optisch in Szene setzt, dass Menschen davon komplett immobilisiert und dem Zugreifer ausgeliefert werden, kann auch im Zusammenhang mit Dämonen dargestellt sein. Auf einem altsyrischen Rollsiegel steht Lamaštu auf einem Capriden und einem Wisent und hält in jeder Hand je einen Menschen am Haarschopf in die Luft empor.134 Beide Opfer scheinen die Hand zur Abwehr zu erheben, um den Angriff der Dämonin abzuhalten. Diese Szene der Lebensfeindlichkeit steht in gewissem Kontrast zum Rest des Siegels, das intakte Ordnungen vorführt, wenn eine sich enthüllende Göttin zusammen mit einem Fürsten vor einem thronenden Gott/-könig ihre Aufwartung macht. Dass es dämonischen Wesen letztlich darum geht, Menschen zu vernichten, wird in drastischer Weise visualisiert, wenn Mischwesen dabei sind, ihre Opfer buchstäblich zu verschlingen: Zwei Gipsamulette mit derartigen Motiven aus dem 7./6. Jh. v.Chr. wurden in Arslan Tasch gefunden. Das große Stück135 zeigt (neben der Abbildung eines schlagenden Gottes und einer liegenden geflügelten Sphinx) eine liegende, menschenfressende Wölfin(?) mit Skorpionschwanz, aus deren Maul noch zwei nackte Beine ragen. Das zweite Exemplar ist kleiner und trägt nur auf einer Seite ein ikonisches Element: Eine stehende, menschenfressende Figur mit Skorpionfüßen.136 Die Täfelchen enthalten zudem Zaubersprüche gegen Dämonen, deren verheerende Wirkung offenbar durch diese menschenvernichtenden Handlungen generalisiert und visualisiert wird. 2.7. Unklar: Verstümmelte Körper ohne weiteren Bildkontext (Ägypten/Palästina) Aus dem Hof des Doppeltempels von Megiddo (FBZ I; ca. 3300–3000) ist eine Ritzzeichnung bekannt, die vier geköpfte Menschen zeigt. Nach O. Keel und S. Schroer deutet die Anlage der Zeichnung mit Netzschraffur und Kreisen auf ihre magische Funktion im Kontext eines Rituals zur Vernichtung des Feindes hin.137 In diesen Zusammenhang gehören auch die er-
134 WINTER, Frau, Abb. 305 (altsyrisches Rollsiegel). Ein löwenköpfiger Dämon hält einen Menschen kopfüber in der Luft fest in FRANKFORT, Cylinder Seals, 174–177 und pl. 29i und g (Rollsiegel). 135 Zum „großen“ Stück s. DU MESNIL DU BUISSON, Tablette magique, 421–434 = DONNER/RÖLLIG, KAI Nr. 27 = CROSS/SALEY, Phoenician Incantations, 42–49; BÖRKERKLÄHN, Bildstelen, Nr. 304; FREY-ANTHES, Unheilsmächte, 59-61 mit Abb. 44 (Amulett in aramäischer Schrift und phönizischer Sprache). 136 S. CAQUOT/DU MESNIL DU BUISSON, Seconde tablette, 391–406 pl. XXI–XXII = GASTER, Hang-up, 18–26 (phönizisches Amulett). 137 KEEL/SCHROER, IPIAO, 240 mit Abb. 136.
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haltenen Terrakottafragmente aus Ägypten, die von Figuren stammen, die den Feind abbildeten, mit magischen Zaubertexten beschriftet, u.U. gemartert und dann rituell zerschlagen und/oder ins Feuer geworfen wurden.138 Die Feindstatuetten waren zumeist klein und aus Wachs oder anderen leicht bearbeitbaren und vergänglichen Materialien, sodass nur wenige bis heute erhalten sind. Ihre Zerstörung sollte die künftige Niederlage des Gegners auf dem Schlachtfeld bereits in der Gegenwart realisieren. Auch wenn sie auf den ersten Blick ähnlich aussehen, sind nicht alle magischen Figürchen, die Zeichen von Fesseln und Folter zeigen, dem Kontext der Vernichtung des Feindes zuzuordnen. Magische Rituale diverser Zielrichtungen von Privatpersonen konnten ebenfalls Statuetten dieses Typs herstellen, um sie zu manipulieren. Zu denken ist hier z.B. an Liebeszauber, wobei das Objekt der Begierde (Mann oder Frau) nackt und gefesselt abgebildet und massakriert werden konnte, um der Kontrolle bzw. den Interessen des Ritualherrn (= der Zahlmeister und Auftraggeber des Rituals) unterworfen zu werden.139 Es geht dabei also viel weniger um Sterben und Tod eines Menschen als vielmehr um sein Weiterleben in Erfüllung fremdbestimmter Wünsche. 2.8. Menschen werden als aufgebahrte Leiche oder Mumie dargestellt (Ägypten) Die Darstellung einer aufgebahrten Leiche ist m.W. nur aus Ägypten (und – hier unberücksichtigt – Griechenland) belegt. Wenn ihre Behandlung gezeigt oder nur die fertige Mumie vorgeführt wird, handelt es sich um ein eindeutig ägyptisches Motiv, das zu den Innovationen gehört, die nach dem Alten Reich in der Ikonographie erscheinen140 und das bis in das 1. Jt. belegt ist (Abb. 6 und 7).141 Die aufgebahrten Personen sind in Ruhe und Ordnung dargestellt, z.T. werden sie von Isis und Nephtys (in der Rolle von Klagefrauen), z.T. von Klagefrauen oder Familienangehörigen beweint. Der Bildaufbau und die Tatsache, dass für den oder die Verstorbene die Grabstele (= der Bildträger) angefertigt und aufgestellt bzw. ein Grab angelegt werden konnte, legen es nahe, dass hier Tote dargestellt sind, die im häuslichen Bereich – und nicht etwa auf Schlachtfeldern – zu Tode gekommen waren. Dies impliziert auch einen ehrenvollen Tod. Man konnte ihnen „die letzte Ehre erweisen“, indem man sie in Ehren bestattete und betrau-
138
KEEL, Bildsymbolik, Abb. 360 (Tonstatuette aus Sakkara; 12.–13. Dyn.). S. als Beispiel CLARYSSE, Sexualiteit, 89 mit Abb. 31 (Lehmfigur einer Frau aus Antinoopolis; 3. Jh. n.Chr.). 140 S. die Aufbahrung der Mumie im Grab des Djar (11. Dyn.), Wandmalerei aus Der el-Bahari, VANDERSLEYEN, Ägypten, Abb. 266. 141 Zu weiteren Belegen s. Anm. 25f. 139
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erte. Die Leiche wird jeweils so dargestellt, dass der Körper wohlgeordnet, gerade, ausgestreckt und komplett (ohne fehlende Glieder) auf der Bahre liegt. So kam ihm auch im Tod weiterhin ein gewisses Niveau an „Ordnung“ zu, das den als verrenkt oder amputiert dargestellten Verstorbenen im Kontext der o.g. Gewaltdarstellungen fehlte. Die visuelle Form des intakten Körpers zeigt einen geordnet aufgebahrten, gepflegten Toten. Er ist nach seinem Tod zwar nicht mehr Teil der irdischen, aber eben Teil einer anderen Ordnung.
3. Die Konstruktion der Wirklichkeit des Todes in der Ikonographie Wenn man die Bilder aus dem Alten Orient/Ägypten als historische und soziale Konstruktionen untersucht,142 und sich fragt, inwieweit und in welcher Weise sie an der Konstruktion antiker Wirklichkeit beteiligt waren, dann zeichnet sich ab, dass sich in den Artefakten komplexe Vorstellungen von bestimmten Sachverhalten niedergeschlagen haben, die implizit in den Köpfen der Menschen vorhanden waren. Die Bilder zeugen von ihrer Verortung und den vorherrschenden wirklichkeitsstrukturierenden Grundlagen innerhalb der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat (retrospektiv). Innerhalb dieser Gesellschaft entfalteten diese Bilder ihre Wirkung und Funktion und gehörten damit zu den kulturellen Praktiken, Medien und Kommunikationsmitteln ihrer Gesellschaft mit prospektivem Charakter.143 Die Bilder hatten Teil am Konstrukt sozialer Phänomene wie an der Etablierung von Autorität, Unterlegenheit, Ethnizität, Alterität, Identität, sozialen Rollen im Leben wie im Sterben. Beim ersten Hinsehen auf die in Frage kommenden Bilder von Sterbenden und Toten fällt auf, dass die Darstellungen (= Wahrnehmung und Interpretation) von sterbenden und toten Körpern in den o.g. Bildthemen mehr-
142 Zu bedenken ist dabei: Die Quellen stammen stets aus der Hand von Erwachsenen und Männern, sodass die Perspektive von Kindern und Frauen an sich niemals ungebrochen und vollständig vorkommen kann. Die Bilder sind aus der Perspektive von Männern verfasst und machen deutlich, welche Vorstellungen dieselben (laut dem geltenden gesellschaftlichen Konsens) mit dem Tod verbanden. 143 Implizite, für jedes Artefakt als selbstverständlich erachtete Vorstellungen und explizite, intendierte Funktion, also retro- und prospektiver Aspekt greifen im Bild ineinander. Dies ist bei der Rekonstruktion von Rezeptionszusammenhängen, der Beurteilung der Wirksamkeit von Bildern und der Entwicklung neuer Darstellungsformen zentral, so mit VON DEN HOFF/SCHMIDT, Bilder, 19.
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heitlich (2.1.–2.7.144) dem Kontext von Herrscherdarstellungen und Triumphmotiven zuzurechnen sind. In ihnen sedimentiert sich das Denk- und Wahrnehmungsmuster von Herrschaft, Unterlegenheit, Kontrolle, Macht und Gewalt. Da zwischen den Staats- und Dynastiegöttern und dem König ebenso wie zwischen dem König und seinen Soldaten eine Handlungseinheit besteht, trifft diese Kontextualisierung nicht nur die Motive, die den Herrscher selbst in Aktion darstellen, sondern auch die Motive, die Götter oder Soldaten beim Niederschlagen der Feinde zeigen. Auch Triumphtiere oder bestimmte Mischwesen wie Sphingen, Greifen und AnzuVögel/Löwendrachen können als Repräsentationen des Herrschers angesehen werden, sodass ihr Triumph über einen niedergestreckten Menschen zu den herrschaftlichen Überlegenheitsmotiven gehört. Das Sterben und der Tod von Menschen der Bildthemen 2.1.–2.7. ist damit von vorneherein in einen hierarchischen Diskurs eingebunden. Die Rollen sind auch klar verteilt: Der Überlegene lebt, der Unterlegene stirbt. So sind die toten Körper Symbole der Überlegenheit des Herrschers und der Unterlegenheit seiner Feinde. Um das Sterben der Menschen an sich, etwa im Sinne einer Leidensdarstellung, die Mitleid evozieren soll, geht es dabei nicht. Der Akzent der Darstellungen, ausgedrückt durch Umfang, Größe, Position oder Relation zwischen dem Bildelement des toten/sterbenden Menschen (klein, am Rand) und dem der Herrscherrepräsentation (groß, im Zentrum), liegt auf der Glorifikation des Letzteren. Der Tod ist in den altorientalischen und ägyptischen Bildthemen 2.1.– 2.7. jeweils die Folge von Gewalt, und als solcher tritt er vorzeitig ein – trifft aber nur denjenigen, der dem Herrscher (und seinem Gott) im Weg ist. Insofern konnten diese Darstellungen auch verhaltensrelevant wirken, wenn sie zur Loyalität aufriefen und von Illoyalität und Aufstand abschreckten. Denn Loyalität und Unterwerfung bedeuteten Leben. Die Präsenz des Todes im Krieg wurde von der politischen Autorität einseitig auf die Seite der Feinde gebannt. Der König war als Herr über Leben und Tod wahrzunehmen und zu bewerten. Die Bilder waren so auch an der Herausbildung von Rollen- und Sterbevorstellungen beteiligt, indem ausschließlich der „schlechte“, vorzeitige, gewalttätige Tod dargestellt wurde, dem man sich durch Fehlverhalten gegenüber einem Herrscher aussetzte. Dieses Bilder-
144 Dies gilt für 2.6.2. und 2.7. nur teilweise, s.o. Der dort erwähnte Aspekt der Dämonenbilder als Ikonen der allgemeinen Lebensfeindlichkeit (2.6.2.B) wie auch die magisch-manipulativen Statuetten, die nicht dem Ritual König-gegen-Feind zuzuordnen sind (2.7. letzter Absatz), werden im Folgenden ausgeblendet.
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repertoire repräsentiert einen Diskurs der Oberschicht145 (in den Reliefs der Großkunst), der in der Kleinkunst (Skarabäen, ramessidische Massenware) an Breitenwirkung gewann und gewinnen sollte.146 Die Beobachtung, dass der anthropomorphe Pharao zu bestimmten Zeiten ägyptischer und vorderasiatischer Geschichte auf den Darstellungen durch eine Gottheit, einen Löwen, eine Sphinx oder einen Greifen ersetzt wurde, könnte (ebenso wie der Rückzug des aktiv kämpfenden Königs aus assyrischen Kriegsreliefs) ein Hinweis darauf sein, dass dieser Oberschichtsdiskurs mehrfach neu organisiert wurde. Kein Thema der öffentlichen visuellen Wahrnehmung und Interpretation war hingegen der Tod als das natürliche Ende eines Lebens, das friedliche Entschlafen im hohen Alter mit Abschiedsszenen am Sterbebett. Dies sind allerdings Themen, die in Texten (vgl. z.B. Gen 25,8; 35,28f; 49,29–33; 28-Ijob 5,26; 21,13.23f; 36,11; 42,17) eine große Rolle spielen. Auch andere vorzeitige Todesarten wie Unfall, Naturkatastrophe (Blitzschlag oder Sturm Ijob 1,16f.18f), Krankheit, Hungertod, Opfer einer kriminellen Handlung (Gen 4,8; Ri 19,25ff) oder die kinder- und frauenspezifischen Todesarten147 bei der Geburt (Gen 35,16–19), durch Kindbettfieber, während oder durch eine Fehl- oder Totgeburt (Ijob 3,11) wurden visuell nicht umgesetzt.148 Die Bilder vom Tod und Sterben der Bildthemen 2.1.–2.7. rezipieren und vermitteln das Konstrukt der Unterlegenheit der Einen in Relation zur Überlegenheit eines Anderen. Darüber hinaus sind sie in diesem herrschaftsstabilisierenden Diskurs auch noch an weiteren kulturellen Konstrukten rezipierend wie produzierend beteiligt. Dabei fällt auf, dass die Bilder nicht nur einen einzigen Bestandteil kultureller Praxis, wie etwa die Herrschaftsdefinition, in den Blick nehmen, sondern dass unterschiedliche Konstrukte (Alterität, Ethnizität etc.) miteinander in Relation stehen.149
145
Ein Diskurs kann zusammenfallen mit einer Quellengattung, wobei und „wenn durch die Gattung der Ort des Diskurses festlegbar ist“, s. VON DEN HOFF/SCHMIDT, Bilder, 21. 146 Vielleicht ist die Veränderung hin zu Bildern, die aus Elementen mit einem besonders stark zeichenhaften Eigenwert zusammengesetzt wurden, so zu bewerten, dass Bilder zunehmend als intentionale Medien im Rahmen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit eingesetzt wurden. 147 S. dazu den Beitrag von I. Fischer in diesem Band. 148 Zu den wenigen Darstellungen aus Ägypten, die tote Kinder zeigen s. DUNAND, Enfants, 14f; FEUCHT, Kind, 123 Abb. 1 (aufgebahrte Prinzessin und trauernde Eltern). Zu Selbsttötungen s. den Beitrag von J. Dietrich in diesem Band. 149 Bilder können auch (zeit- und kontextabhängig) durch Referenzen aufeinander verschiedene Ebenen von Wirklichkeitsbezug eröffnen.
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Die folgenden kulturellen Konstrukte waren bei der Konzeption und Rezeption der Artefakte am Werk. 3.1. Das kulturelle Konstrukt der Welt (Weltbild) Die besprochenen Darstellungen setzen das kultur- und zeitgebundene Weltbild voraus, das in Bezug auf die Lebens- bzw. Todessphären gilt und die Differenz dieser Bereiche anzeigt. Diese Differenz ist in der Sache nicht weiter neu, geht es doch in den Bildthemen 2.1.–2.7. darum, dass der (überlegene) Lebendige „oben“, der (unterlegene) Sterbende buchstäblich „zu Boden“ geht, „unten“ oder „am Boden“ ist. „Oben“ heißt optisch und symbolisch „siegen“, „unten“ „verlieren“. Eine Schnittstelle zwischen Weltbild und Konstruktion von Herrschaft zeigt sich in den Schlachtendarstellungen seit dem 3. Jt., wenn in mesopotamischen (und ägyptischen150) Schlachtendarstellungen die Soldaten des Königs in Reih und Glied und in wohl koordinierten Bewegungen vor Augen geführt werden, wohingegen die Feinde in heillosem Durcheinander, als verdrehte und schlaffe Körper vorgestellt werden (Abb. 2 Rs.; Abb. 10). Das Leben, ganz auf der Seite des Herrschers, wird als geordneter und gesicherter Bereich wahrgenommen und interpretiert, in dem zielgerichtete Bewegungen und Kraft zu Hause sind. Der Tod ist hingegen der Bereich der Unordnung, in dem keine zielgerichtete Bewegung mehr möglich und Kraftlosigkeit und Schlaffheit angesiedelt sind. Leben und Tod, bzw. deren Wahrnehmung und Bewertung, sind ganz in die Binarität von Ordnung und Unordnung eingebunden (die wiederum herrschaftsideologisch besetzt ist). Diese Binarität in der Wahrnehmung und in der Konstruktion von Leben, Ordnung, Autorität und Identität auf der einen und Tod, Unordnung, Destabilisierung und Alterität auf der anderen Seite in den Triumphbildern prägt die Konstruktion des Todes als etwas, das den Anderen, den Herrschaftsgegner trifft. 3.2. Das kulturelle Konstrukt des Körpers (Körperbild)151 Das visuelle Bild artikuliert geltende Vorstellungen über den Körper. Die Darstellung der Physiognomie der Toten ist in der Großkunst aus praktischen Gründen deutlich „detailgetreuer“ als in der Glyptik. Letztere zeigt
150
S. z.B. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (18. Dyn.); ebd., 369 (Relief aus Abu Simbel; 19. Dyn.). 151 Zur Definition des Begriffs „Körperbild“ s. DASZKOWSKI, Körperbild, 9. Zum Körper als kulturell-gesellschaftliches Konstrukt s. ebd., 67ff; SYNNOTT, Body, 36f.73–102 (in Bezug auf Schönheitsideale).262ff; FREUND, Society, 135ff; BOURDIEU, Herrschaft, 17ff.
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tote Körper nur so, dass ihre Umrisse als Kopf-Leib-Extremitäten-Kombination grob zu erkennen und ihr Geschlecht oftmals nicht auszumachen sind. Kommuniziert wird hier nur, dass ein toter Mensch im Bild liegt – seine Identität, sein Geschlecht, Alter, Körpergewicht, Ausrüstung, seine ethnische Zugehörigkeit werden visuell nur selten expliziert. Ägyptische und assyrische Monumentalkunst oder auch phönizische Elfenbeine führen körperliche Details, Haartracht, Ausrüstung, Kleidungsstücke bzw. Nacktheit und das Geschlecht deutlicher aus, auch wenn es auch hier nicht um die genaue Reproduktion individueller physiognomischer Eigenheiten oder mimetischen Realismus, sondern um typisierte Physiognomien (s.u.) und Gesten geht. Die Bilder zeigen die Wahrnehmungsrichtung des menschlichen Körpers an, wie sie im Alten Orient verbreitet war.152 Schon seit langem ist bekannt, dass die binäre Struktur der Wahrnehmung und Bewertung, die mit den Zuordnungen von oben – unten oder rechts – links verbunden waren (rechts = aktiv/stark; links = inaktiv/schwach) auch gezielt bei Herrscherdarstellungen eingesetzt wurden, wenn der König die Feinde „mit links“ im Zaum hielt und mit rechts zuschlug. Die Pose des Niederschlagens der Feinde stellt ein Körperverhalten dar und die soziale Kontrolle dieses Verhaltens in der Öffentlichkeit her, die von männlichen Diskursen beherrscht ist. Männer agieren und üben durch ihr Verhalten und ihren Blick Kontrolle aus, sodass der Raum männlich und öffentlich ist. Die Kriegsdarstellungen zeigen und interpretieren nicht nur eine Angelegenheit der Männer, sondern sind – wenn man an den architektonischen Kontext der Reliefs, aber auch an Männer als Siegeleigentümer denkt – auch primär für den männlichen Blick berechnet. Sie entfalten ihre Wirkung innerhalb einer männlichen Öffentlichkeit, in der sie beurteilt, bewertet und damit der sozialen Kontrolle unterworfen werden. Die Männer, die diese Bilder betrachteten, betrachteten sich selbst als die Akteure in einem rein männlichen Kosmos. Die gesellschaftliche Konstruktion des lebendigen männlichen Körpers ist auf den Bildträgern der Bildthemen 2.1.–2.7. eine kraftgeladene, dynamisch-aggressive, mit weit ausladenden, zielgerichteten und klar koordinierten Bewegungen. Aggressivität wird positiv als männlicher Wert etabliert. Kriegerische Göttinnen müssen diese Posen übernehmen und werden damit zum „Mann ehrenhalber“. Männer, die als Sterbende und Tote wahrzunehmen und zu interpretieren sind, werden in defensiven oder passiven Posen abgebildet. Ihr Körper ist schlaff, verdreht, verrenkt, in Bauchlage, hilflos, fällt, liegt am Boden, ist bewegungslos oder nur noch zu unkoordinierten Bewegungen oder affektgeladenen Demutsgesten fähig. Z.T. wird auch visualisiert, dass ein 152
BERLEJUNG, Frau, 58–60.
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solcher Körper durch Verletzungen, Folter oder Gewalteinwirkung nicht mehr intakt ist. Damit zeigen die visuellen Formen an, dass der sterbende und tote Körper einer ist, dessen Integrität entweder durch Gewalteinwirkung, Waffen, Streitwagen, Hinrichtungs- und Folterinstrumente oder durch den Anfall eines Tieres oder Mischwesens zerstört wurde (2.1.–2.7.). Die Beschädigung und Destruktion der körperlichen Integrität aber kommt der Beschädigung und Destruktion der Identität eines Menschen gleich.153 Der lebendige menschliche Körper hatte laut ikonographischer Konvention auf der imaginären Bodenlinie aufrecht zu stehen oder zu sitzen. Damit wurde auch der o.g. Aufteilung der Lebensbereiche Rechnung getragen. Wenn auf einem Bild ein Körper die invertierte Stellung einnahm, also ein Mensch mit dem Kopf voran am Boden und den Beinen in der Luft dargestellt wurde, so brachte diese visuelle Form nicht einfach einen Sturz zum Ausdruck, sondern darüber hinaus, dass ein Mensch vom Bereich der Lebenden (kopfüber, unvorbereitet und vorzeitig) in den entgegengesetzten des Todes überging. Diese Bilder des Sterbens setzen die Binarität von Leben und Tod und den Tod als Wechsel vom einen Bereich in den anderen optisch um. Leben und Tod werden als einander gegenüberstehende Bereiche dargestellt. Ähnliches gilt, wenn menschliche Körper zur Bodenlinie (niedergetreten oder -gefahren) werden, auf der andere (so faktisch als lebend gekennzeichnete) Menschen, Götter, Tiere oder Mischwesen agieren oder stehen (Abb. 1; 5; 12; 14; 15). Körper, die zur Bodenlinie oder zum Postament instrumentalisiert werden, gehören der Todessphäre an. Wichtig ist auch die Beobachtung, dass tote menschliche Körper m.W. niemals als einziges Bildelement auf einem Bildträger dargestellt, sondern immer mit Körpern von lebenden Menschen, Göttern, Mischwesen oder Tieren vergesellschaftet wurden. Die Bewegungsmuster der Sterbenden/ Toten waren auf den Bildern häufig als Antithese zu denen der Lebenden gestaltet (Bewegungslosigkeit versus zielgerichtete Bewegung; Liegen versus Stehen; Passivität versus Dynamik, Schwäche versus Kraft etc.). Der Tod war damit nur im Gegenüber zum Leben erkennbar. Alle diese visuellen Formen der Bildmotive 2.1.–2.7., einen Körper als sterbend oder tot zu kennzeichnen, implizieren auch, dass der Dargestellte aus der Gemeinschaft der Lebenden und Aktiven herausfällt bzw. herausgefallen ist. Dies gilt an sich auch für das Bildmotiv 2.8., das in ägyptische oder ägyptisierende Grabkontexte gehört und aufgebahrte Leichen darstellt. Diese liegen nicht auf dem Boden, sondern auf einer Bahre oder Platte. Im Gegensatz zu den eben besprochenen Darstellungen von toten und sterbenden Körpern machen sie keinen verrenkten, verdrehten oder dissoziierten Ein 153
Zur Verbindung von Körper und Identität s. BERLEJUNG, Körperkonzepte.
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druck, sondern sind wohlgeordnet, in sich ruhend, z.T. von Priestern, Göttern oder Klagenden begleitet. Die körperliche Integrität scheint intakt – wodurch die soziale Person des Verstorbenen artikuliert wird, dessen Identität als Individuum, das von den Hinterbliebenen betrauert und von den Göttern aufgenommen wird, weiterbesteht. Die Bildmotive 2.1.–2.7. bewerten den Tod im Wesentlichen als Herausfallen aus der irdischen Ordnung. Der Tod der aufgebahrten Toten wird demgegenüber durch die visuelle Form und natürlich auch nicht zuletzt durch den Kontext des Bildträgers in einem Grab als Übergang in eine neue Ordnung interpretiert. 3.3. Das kulturelle Konstrukt des Fremden (Feindbild) und der eigenen Identität Schlachtendarstellungen in der Großkunst wie auch manche Siegel sind sehr daran interessiert, die unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten der sterbenden/getöteten Feinde kenntlich zu machen, die entsprechend der kulturbedingten Konventionen in einer Art „standardisierter Alterslosigkeit“ und im mittleren „Standardkörpergewicht“ typisiert werden.154 In der vom König oder Pharao beauftragten Monumentalkunst sind es auch ausschließlich die anderen, Fremden und Gegner des Königs, die sterben. Daran soll für den Betrachter kein Zweifel bestehen. In der Darstellung von Fremden wird vor allem der Abstand zum Idealund Standardtypus der eigenen Selbstdarstellung markiert.155 Bilder von Fremden sind daher eng mit dem Konstrukt der eigenen kollektiven Identität verbunden. Personengruppen, die als Fremdgruppen definiert werden, werden mit Elementen zur Stereotypisierung versehen, die ihre Alterität und Inferiorität optisch definieren. Kategorisierungen dieser Art gehören in den Bereich der kognitiven Ökonomie und erleichtern Zuordnungen. „Da Stereotype jedoch durch Abweichungen von den normierten Standards der Bezugsgruppe definiert werden, lassen sie sich leicht mit negativen Wertungen besetzen und in Feindbilder ummünzen.“156 Schlecht angesehene Personen werden mit einem bestimmten physiognomischen Merkmal versehen, das innerhalb eines kulturellen Systems als ausgrenzend wahrzunehmen war und wahrgenommen wurde.
154 Zum Konstrukt von Fremdheit in Ägypten s. ASSMANN, Konzept der Fremdheit, 77– 99; zu Assyrien s. CIFARELLI, Gesture, 210–228; zu Griechenland und dem Orient s. BICHLER, Wahrnehmung, 51–74. Zur ethnologischen Perspektive s. SCHUSTER, Ethnische Fremdheit, 207–221. S. weiter alle Beiträge im Sammelband COHEN, Not the Classical Ideal. 155 S. dazu z.B. MILES, Introduction, 1–15. 156 WANNAGAT, Eurymedon, 63.
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So kann z.B. der üppige Bartwuchs in Gesellschaften, die ihren Idealtypus als bartlos definieren (so tendenziell Ägypten mit Ausnahme des stilisierten Königsbarts), ein Kennzeichen von Defekt und Unterlegenheit sein, wohingegen in einem anderen kulturellen System, das den Bartträger zum Standardtypus hat (z.B. Athen, Phönizien, Persien, Mesopotamien, Palästina), gerade der schüttere Bartwuchs ein Kennzeichen der Alterität und Inferiorität ist. So ist es kaum Zufall, wenn z.B. auf den Reliefs des Sanherib zur Schlacht von Lachisch alle Assyrer einen längeren Bart tragen als die judäischen Verlierer, und von allen Bärten der des Königs und seines Vertreters der längste ist. Die visuelle Definition von Außenseitern ist ein Bestandteil der Konstruktion sozialer und ethnischer Differenz, die wiederum mit der sozialen Praxis der Ausgrenzung von Fremden rückgekoppelt ist. Haartracht und Kleidung (bzw. Nacktheit) werden in der Ikonographie kulturübergreifend als Fremdheitschiffren157 bzw. Identitätsmarker eingesetzt. Dabei wird ein zufälliges Merkmal aufgenommen und zum Stereotyp stilisiert,158 um Andersartigkeit zu konstruieren und auch oft zu marginalisieren und zu diffamieren. Im Zusammenhang mit dem Feindbild greifen häufig Kennzeichen ethnischer Differenz und subordinierter Stellung ineinander. Die Feinde werden optisch als Anthithese zum eigenen Ideal konzipiert, was auf Schlachtendarstellungen bedeutet, dass die Ordnung auf der eigenen Seite, die Unordnung auf der gegnerischen Seite zum Stehen kommt.159 Auch Kleidung bringt neben ethnischen Differenzen soziale Alterität zum Ausdruck: Bekleidung mit Fellen oder Nacktheit sind ebenso wie schlecht ausgestattete Leichtbewaffnung Zeichen niederer sozialer Stellung und peripherer Einfachheit. Professionelle Ausrüstung und technisches Equipment (z.B. Belagerungswaffen, Streitwagenbesitz; s. Abb. 2) sind Zeichen von Überlegenheit.160 Feinde sind für die Herrschaftsikonographie zudem per definitionem defiziente Personen in eher passiven oder unkoordinierten Haltungen ohne Affektkontrolle. In affektgeschüttelten Posen bejammern sie auf assyrischen (Abb. 9) und ägyptischen Monumentalreliefs ihre eigene Situation – in der Glyptik ist davon meist nur der Gestus der erhobenen Arme zu sehen. Ähnlich wie bei den Klagefrauen in Begräbnisszenen wird den Fein-
157 WANNAGAT, Eurymedon, 54–63 (Bart).63–71 (Kleidung). Zur Konstruktion von Alterität bei den Persern s. HACHMANN, Völkerschaften, 195ff. 158 Zur Entstehung von ethnischen Stereotypen s. GEWECKE, Welt, 273–296. 159 S. dazu BERLEJUNG, Gewalt, 207–209; zu einem eindrucksvollen Beispiel s. SCHULZ/SEIDEL, Ägypten, 240 (18. Dyn.). 160 S. grundsätzlich WANNAGAT, Eurymedon, 67 (in Griechenland).
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den in der Hand des Pharaos/Herrschers in dieser Unterlegenheitspose die Aufhebung der Affektkontrolle zugeordnet und dabei zum Ausdruck gebracht, dass die Feinde – gleichwie Frauen – eine hierfür besonders disponierte Gruppe sind. Die so visualisierten feindlichen Männer werden feminisiert.161 Ihre Gestik signalisiert ihren subordinierten Status, Ehrverlust, ihre Fremdheit und be-fremdet den (meist männlichen, s.o.) Betrachter. So erscheinen die Feinde im Typenrepertoire der Reliefs als Kontrastfigur für die überlegenen Ägypter oder Assyrer. In gewisser Weise könnten die Feinde in dieser Geste der Klage auch ihren eigenen Tod vorwegnehmen. Als Tote entfalten die Feinde ihre größte Wirkung als defiziente Kontrastfigur, die dem lebenden, dynamisch-aggressiven Sieger entgegensteht und seine Superiorität bestätigt.162 3.4. Das kulturelle Konstrukt der Rollenbilder Wenn die Bewegungsmuster der Toten in Antithese zu denen der Lebenden gestaltet werden, wie es auf den Überlegenheitsdarstellungen 2.1.–2.7. der Fall ist, dann konstruieren die Bilder die kulturelle Wirklichkeit insofern mit, als Rollenbilder aufgenommen, wiederholt, weitergegeben und damit stabilisiert werden, die ihrerseits wieder verhaltensrelevant werden können. In diesem Zusammenhang zeigt sich der prospektive Aspekt der Bilder, der auch oder vielleicht gerade Artefakte betrifft, die Tote und Sterbende darstellen. Die Binarität der Rollenverteilung von Sieger versus Verlierer, mannhaft aggressivem Herrscher versus weibisch passivem oder flehendem Feind, König versus Untertan, war bereits angesprochen worden. Diese Rollenverteilung wurde durch die einseitige Zuweisung der Bewegungsmuster der Dynamik, Kraft, Aggression, des Aufrecht-Seins und Lebens auf der einen, und der Passivität, Schwäche, Defensive, des Liegens/Fallens und Todes auf der anderen Seite visualisiert. Auch die Konstruktion von geschlechterspezifischen Verhaltensformen floss in die Feindkonstrukte (in Wort und Bild) mit ein, wenn sich die Gegner faktisch wie Frauen aufführten (s.o.). Für die Konstruktion des Todes bedeuten diese Bilder, dass Sterben als Folge von Aggression, Überlegenheit und Gewalt (eines Herrschers oder seiner menschlichen oder göttlichen Helfer) wahrgenommen wurde. Da auch die Götter, soweit sie auf diesen Artefakten optisch angezeigt sind, auf der Seite des Herrschers stehen, ist er der einzige, dem Gottgemeinschaft zu-
161
Zur Feminisierung des Feindes, die auch in Texten betrieben wird, s. BERLEJUNG, Erinnerungen, 338–340; CHAPMAN, Language, 48–58. 162 S. dazu VON DEN HOFF, Posen, 73–88.
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kommt (Abb. 8; 14f). Die Feinde und ihr Tod sind ohne göttlichen Schutz. Repräsentationen dieses Typs konstituierten Unterschiede zwischen den lebenden und toten Körpern, die auch eine religiöse und moralische Relevanz hatten: Der mächtige, gottbegleitete, lebendige und aufrechte „gute“ Herrscher gegenüber seinem gottlosen, dem Tode verfallenen und bereits fallenden „bösen“ Gegner. So dienten diese Bilder auch dazu, soziale Hierarchien aufrechtzuerhalten und kommentierten die moralische Beschaffenheit der Kontrahenten. Die Dichotomie zwischen Gottverlassenheit und Gottesschutz spielt im ägyptischen Bildmotiv 2.8., dem aufgebahrten Toten, keine Rolle. Im Gegenteil: Die Bilder lassen keinen Zweifel daran, dass der Verstorbene in Gottgemeinschaft steht, sei es dass Isis und Nephtys ihn beklagen, sei es dass Osiris oder eine andere Bereichsgottheit der ägyptischen Todesvorstellungen präsent ist. Diese Aufbahrungsszenen zielten auch darauf ab, moralisierende Botschaften an die Lebenden zu transferieren, die Ideale formulierten und weitergaben über die Tugenden, Pflichten und Arten des Verhaltens, die gefordert waren, um den sozialen Status und den Ehrstatus unter den Lebenden und später beim eigenen Tod (so wie der aufgebahrt Dargestellte) zu bewahren. Dabei war die soziale Evaluierung des Lebens einer Person (z.T. noch unterstrichen durch Inschriften mit Elementen aus dem sog. „negativen Sündenbekenntnis“) posthum an die Zurschaustellung ihres guten Todes und ihres rituell korrekten Begräbnisses gebunden. Die Grabbilder wurden dazu eingesetzt, die Lebenden zu instruieren, wie sie sich im Leben zu verhalten hatten, um über die Dauer ihrer irdischen Existenz hinaus ihren Status zu bewahren. 3.5. Das kulturelle Konstrukt des Sozialstatus und der sozialen Differenz Das kulturelle Konstrukt der sozialen Differenz ist auf den Herrschaftsrepräsentationen, wie bereits angedeutet, mit dem der ethnischen Differenz (Fremd- und Feindbild), aber auch dem Konstrukt diverser Rollenverhaltensmuster eng verknüpft. Ein kultureller Leitfaden, der im Alten Vorderen Orient/Ägypten immer wieder als verhaltensrelevant begegnet, ist die Dynamik zwischen Ehre und Schande, die den Sozialstatus eines jeden Mannes und einer jeden Frau bestimmt.163 In den Bildthemen 2.1.–2.7. spielt Ehre insofern auch eine Rolle, als z.B. durch die visuelle Form, die sterbenden und toten Feinden gegeben wird, deren Ehrstatus als minderwertig gekennzeichnet wird. Dies geschieht z.B. dadurch, dass die Feinde nackt und schlaff dargestellt werden.
163
S. dazu NEUMANN, Art. Kultur und Mentalität, 35–42; DERS., Art. Ehre, 138–140.
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Eine andere Möglichkeit ist auch, wenn die Körper der Feinde nackt, in unnatürliche Positionen gebracht und ihrer körperlichen Integrität beraubt den Blicken der Öffentlichkeit (sowohl innerhalb der Bildkonstellation als auch in Bezug auf die Betrachter des Artefakts wie z.B. in Abb. 2 Rs.; 3; 9–11164) dargeboten werden. Noch entehrender ist es, wenn in Szene gesetzt wird, dass Tiere die Verletzten und Toten anfressen, ihre Körper auseinanderreißen und damit ein Maximum an körperlicher Desintegration (z.B. Abb. 2) hervorrufen. Der agonale Habitus (= System verinnerlichter Muster in Bezug auf Ehre) des Alten Orients/Ägyptens im Umgang mit den Fremden war dadurch qualifiziert, dass den Unterlegenen kein Status der Ehre mehr blieb. Der tötende Herrscher nahm seinen Opfern jegliche Ehre und Identität, was durch die visuelle Feminisierung der Feinde und die Zerstörung der körperlichen Integrität optisch umgesetzt wurde. Die Konfliktdarstellungen zeigen im Übrigen auch keine regelhaften Agone, in denen die (grundsätzlich ehrhaften) Konfliktpartner ihre individuellen Qualitäten (auf Augenhöhe) erst unter Beweis stellen mussten, indem sie sich gegeneinander maßen. Die Rollen waren von vorneherein ungleich verteilt. Die Herrscherrepräsentationen 2.1.–2.7. stellen keine agonalen Kämpfe dar, sondern die Entehrung der Unterlegenen. Es ging also nicht etwa um die Ehre im Kampf von gleich zu gleich, sondern um die verhaltensrelevante Grundregel für alle Lebenden, dass man sich dem weitaus Stärkeren, der auch die Götter auf seiner Seite hat, nicht widersetzt. Die Würde der Verstorbenen und Sterbenden bzw. der würdevolle Umgang mit den Leichen der Gegner ist auf den Bildern keine Kategorie. Stattdessen findet sich die Präsentation uneingeschränkter Überlegenheit mit einem Maximum an Ehre für den Herrscher im Angesicht der erniedrigten und entehrten Unterlegenen. Die Art, wie der Tod von Menschen in den Bildthemen 2.1.–2.7. wahrgenommen und interpretiert wurde, zeigt an, dass ihr Ende als ein schandbarer Tod zu bewerten war, der ihrem unehrenhaften Status im Leben entsprach: Im Bild fallen sie kopfüber aus ihrem Lebensbereich, verlieren die affektive Contenance und sind oft als nackt, dissoziiert, unkoordiniert, kraftlos und desintegriert dargestellt. So kommen in der Ikonographie wie in den Texten Strukturen der agonistischen Kultur zum Tragen. Die Todesarten eines ehrenvollen und „guten“ Todes wurden – wie bereits festgestellt – nicht dargestellt. Obwohl über die Todesursache der
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S. weiter z.B. die Folter unter Zeugen in BOTTA/FLANDIN, Monument, pl. 118 = ORTHMANN, Orient, Abb. 226 (Relief des Sargon II.); UEHLINGER, Clio, fig. 9ab (Lachisch-Reliefs; slab 9f).
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Aufgebahrten im Bildthema 2.8. keine Aussage getroffen werden kann, ist schon allein die Tatsache, dass der Verstorbene als aufgebahrt visualisiert wird, ein Zeugnis dafür, dass ihm Gottgemeinschaft eigen war und ihm die menschliche Gemeinschaft die letzte Ehre gegeben hatte. Bilder von aufgebahrten Leichen kommunizieren dem Betrachter, dass der tote Körper koordiniert, ohne Einbußen der körperlichen Integrität durch evtl. fehlende Körperteile oder Tierfraß, rituell korrekt begraben werden konnte. Dadurch konnte der Verstorbene (anders als ein Unbestatteter) seinen agonalen Status im Leben über seine irdische Existenz hinaus erhalten.
4. Zusammenfassung In diesem Beitrag ging es darum herauszuarbeiten, in welcher Weise der sterbende, tote und zerfallende Körper in Bildwerken wahrgenommen und interpretiert worden ist und welche sozialen und moralischen Bedeutungen ihm mittels visueller Formen zugeschrieben wurden. Ziel war es, die Haltung und das Verhalten der Sterbenden und ihre Bewertung im Bild als Hinweis auf implizite Vorstellungen zu Identität begründenden Verhaltensformen und kulturellen Leitfäden zu verstehen. Es ging nicht primär darum, die explizite Aussage, also die Rezeption durch einen Betrachter zu rekonstruieren („Verhaltensrelevanz“), sondern ihre impliziten Grundlagen aufzuzeigen. Das Thema zeigte sich als eng verbunden mit der kulturellen Konstruktion der Körperwirklichkeit, sodass ein genauer Blick auf die visuellen Formen des toten Körpers notwendig war. Diese waren als am Boden liegender, fallender, kopfüber stürzender, verdrehter, häufig schlaffer, bewegungsloser, oft nackter, verletzter, verstümmelter, angefressener Körper oder als dissoziierte Körperteile zu bestimmen. Diesen Destruktionsbildern von körperlicher Integrität und Identität standen die Artefakte gegenüber, die einen wohlsortiert liegenden und aufgebahrten Körper zeigten, dessen Integrität und Identität intakt waren. Dies führte zur Frage, inwieweit die visuellen Repräsentationen der Toten in größere Diskurse und Praktiken gehörten, die ihre Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung formten und bestimmten, bzw. wie diese Bilder innerhalb der sozialen und kulturellen Prozesse und Diskurse eingesetzt wurden und funktionierten (inkl. Bestandsaufnahme der Bildthemen und ihrer Kontexte). Dabei zeigte sich, dass die Bilder, die die Zerstörung körperlicher Integrität und Identität vor Augen führen, seit dem 4. Jt. v.Chr. mehrheitlich in den Kontext von Herrschaftsdiskursen gehörten (Bildthe-
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men 2.1.–2.7.).165 Sie setzten das Sterben der Anderen, „Fremden“, „Feinde“ als Unterlegenheitschiffre ein und qualifizierten deren Tod als „vorzeitig“, „schlecht“, „ehrlos“ und „gottlos“. Diese Darstellungen waren an sich nicht wirklich als „Bilder von Toten oder von Tod und Sterben“ zu verstehen, sondern vielmehr Bilder des Herrschers, der in seiner unanfechtbaren Überlegenheit wahrgenommen und bewertet werden sollte. Seine Überlegenheit, Männlichkeit, Dynamik, Aggressivität, Gottverbundenheit und Ordnungsmacht waren aber nur dadurch darstellbar, dass seine Gegner in den antithetischen Posen von maximaler Unterlegenheit, „frauentypischen“ Gefühlsausbrüchen, Passivität, Schwäche, Gottlosigkeit und Chaotik vor Augen geführt wurden. In dergestaltigen, binär angelegten Bildern artikulierten sich nicht nur Welt- und Körperbilder, sondern auch die Konstrukte von Fremd- und Feindbildern, kollektiver Identitätsbildung, diversen Rollenbildern (Herrscher/Untertan; Mann/Frau; Gottesmann/Gottloser) und von agonalem Habitus. Die kulturelle Ausarbeitung des sterbenden und toten Körpers in visuelle Formen entwickelte sich folglich als ein Prozess, in dem Vorstellungen vom Weltbild sowie religiöse, soziale, politische und agonale Bedeutungen zum Tragen kamen. Verhaltenswirksam waren diese optischen Konstrukte insofern, als sie Aggressivität als männlichen Wert und Unterwerfung als angemessene Reaktion des Schwächeren etablierten. Alle diese visuellen Formen der Bildthemen 2.1.–2.7., einen Körper als sterbend oder tot zu kennzeichnen, bewerteten den Tod als Herausfallen aus der irdischen Ordnung, aus der Gemeinschaft wie aus dem Lebensbereich der aktiv-dynamischen Lebendigen, als Verlust aller Körperkraft, der Körperintegrität, Identität sowie des angeborenen Status und der angeborenen Ehre (paradigmatisch visualisiert durch Szenen des KopfüberFallens). Die Bilder artikulieren durch die Antithese der visuellen Formen, die den lebendigen Herrscher/Gott bzw. Sieger vom sterbenden Feind bzw. Verlierer unterscheiden, dass der Tod des Letzteren als Übergang in den entgegengesetzten Bereich zu bewerten ist. Dabei finden sich ikonographische Hinweise darauf, dass der Ehrstatus des Gegners noch im Tod herabgesetzt werden sollte (Nacktheit, Tiere fressen Leichenteile), und dass der würdevolle Umgang mit seiner Leiche keine Kategorie war.166
165
Damit erscheint die zeitliche Ansetzung der Politisierung von Leichendarstellungen in der frühdynastischen Zeit (Mesopotamien), die COHEN, Death Rituals, 67–69 annimmt, eindeutig als zu spät. 166 Eine Ausnahme könnte die Geierstele sein, da sie die Anlage eines Massengrabes zeigt. Doch zugleich erfreuen sich die Geier an den Leichenteilen der Gegner, was einer postmortalen Entehrung gleichkommt (Abb. 2 Rs.). Den Gipfel der postmortalen Entehrungshandlungen hat Assurbanipal erklommen, als er darstellen ließ, wie die geschla-
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Derartige „Entehrungsbilder“ erzielten durch ihre abschreckende Wirkung eine gewisse Verhaltensrelevanz. Anders stellte sich die Lage bei Aufbahrungsszenen (Bildmotiv 2.8.) dar, deren visuelle Form und natürlich auch nicht zuletzt deren Kontext in einem etablierten Grab den Toten so darstellte, dass er mit intakter körperlicher Integrität und Identität als Individuum, am Ende eines ehrenhaften, vor Göttern und Menschen erfolgreichen Lebens wahrzunehmen und zu bewerten war. Der aufgebahrte Leichnam kennzeichnete den Tod als tragische und unvermeidliche Manifestation der Diskontinuität eines Menschen, die ihn in eine neue postmortale Ordnung überführte. Dabei war der Tote nicht allein. Götter, Priester oder Trauernde wurden an seiner Seite mit dargestellt, die seinen Tod als das Ende seiner irdischen Existenz interpretierten, aber gleichzeitig signalisierten, dass sie den Toten weiterhin begleiteten. Die wohlgeordnete Körperlage samt Umfeld, z.T. mit Visualisierung der Mumifikationsrituale, unterstreichen, dass der Tod des so gezeigten Menschen ein „ehrenvoller“ und „guter“ war, und dass der Tote seinen sozialen Status und seine angeborene Ehre auch in seinem Tod erhalten konnte, da ihm von Göttern und Menschen die Ehren erwiesen wurden. In der Aufbahrungsszene wird die soziale Person des Verstorbenen durch Bilder des toten und ordentlich gepflegt ausgebreiteten Körpers artikuliert. Die thematische Kategorie hier ist, gerade auch wenn zusätzlich Inschriften auf den Bildträgern angebracht sind, Gedächtnisbewahrung und die auch als verhaltenswirksames Vorbild dienende Botschaft an die Lebenden (z.T. unterstützt durch Elemente aus dem negativen Sündenbekenntnis in der Beischrift), dass ein sozial und agonal erfolgreiches Leben hier zu Ende gegangen und seiner postmortalen Existenzform zugeführt worden war.
Fazit Bilder als Quelle antiker Wirklichkeitskonstruktion in Bezug auf das Thema Sterben sind für die heutige (Re-)konstruktion der antiken Wahrnehmung und Interpretation des Sterbens nur begrenzt aussagekräftig. Die Herkunft des Todes findet ebenso wie die meisten „alltäglichen“ Todesursachen außerhalb von herrschaftlichen Triumphmotiven, die den Herrscher/Pharao/Gott als Herrn über Leben und Tod, Ehre und Unehre inszenieren, in der stark konventionalisierten Ikonographie keinen Widerhall. Bei Bildern des herrschaftlichen Diskurses der Bildthemen 2.1.–2.7., die genen Elamer die Gebeine ihrer Vorväter zermörsern mussten, s. BARNETT/FORMAN, Palastreliefs, 130.
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Sterbende und Tote darstellten, ging es darum, herrschaftsstabilisierende Aussagen über die Sieger zu treffen, nicht darum, den Tod um seiner selbst willen zu zeigen. Dasselbe gilt für die Aufbahrungsszenen, die das Leben des Aufgebahrten positiv evaluierten und den Lebenden Vorbild waren. Sterben und Tod wurden in altorientalischen/ägyptischen Darstellungen nicht „bebildert“. Es ging ihnen nicht darum, die konkrete Erfahrung des individuellen Leidens oder Sterbens zu visualisieren. Das ist allerdings auch gar nicht möglich, denn was für den sterbenden Körper enorm real ist, ist für den Betrachter dieses sterbenden Körpers nicht real. Die konkrete Erfahrung des Sterbens ist weder betracht- noch darstellbar.167 Man kann das Sterben eines anderen beobachten, aber man kann nicht wirklich nachvollziehen, was sich vollzieht, und der Tod kann letztendlich nur konstatiert und mit dem Versuch einer Interpretation und Sinngebung versehen werden. Bilder von Tod und Sterben sind Konstrukte ihrer Zeit und führen ihren Betrachter nicht ins Jenseits, sondern geradewegs ins Diesseits!
Abbildungen
Abb. 1
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BRONFEN, Dead Body, 45.
Abb. 3
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Abb. 2 Vs.
Abb. 2 Rs.
Abb. 4 Vs.
Abb. 4 Rs.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Schieferpalette aus Abydos (?); spät-prädynastisch (vor 3150 v.Chr.). Quelle: KEEL / SCHROER, IPIAO 128 Abb. 2: Geierstele des Eannatum aus Girsu Vs. und Rs.; frühdynastisch IIIA (ca. 2470 v.Chr.). Quelle: KEEL / SCHROER, IPIAO 242 Abb. 3: Stele des Naram-Sin; Beutekunst aus Susa; Akkadzeit (ca. 2260 v.Chr.). Quelle: KEEL / SCHROER, IPIAO 246 Abb. 4: Palette des Narmer, Hierakonpolis, Vs. und Rs.; prädynastisch (3060–3000 v.Chr.). Quelle: KEEL / SCHROER, IPIAO 134 Abb. 5: Silberschale aus Idalion (7. Jh.). Quelle: MASPERO, History, 118 Abb. 6: Ägyptisch-aramäische Stele des Anchhapi. Herkunft unbekannt, heute Vatikan (5./4. Jh. v.Chr.). Quelle: VITTMANN, Ägypten, Abb. 49
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Abb. 7: Grabstele aus Sakkara mit griechischer Inschrift (7./6. Jh.). Quelle: VITTMANN, Ägypten, Abb. 114 Abb. 8: Reliefausschnitt aus dem Nordwestpalast in Kalhu; Assurnasirpal II. Quelle: MEUSZYNSKI, Rekonstruktion, Tf. 2, B–3–5 Abb. 9: Reliefausschnitt aus dem Zentralpalast in Kalhu; Tiglath-pilesar III. Quelle: KEEL, Bildsymbolik, Abb. 132 Abb. 10: Slab 7 aus dem Relief der Schlacht um Lachisch (701 v.Chr.); Raum XXXVI Palast des Sanherib in Ninive. Quelle: BARNETT / BLEIBTREU / TURNER, Sculptures, pl. 330 (Ausschnitt) Abb. 11: Reliefszene aus dem Bronzetor von Balawat; Salmanassar III. (858–824 v.Chr.). Quelle: MASPERO, History, 203 Abb. 12: Skarabäus aus Tell el-FarŦa Süd, SBZ. Quelle: KEEL / UEHLINGER, GGG, 61 Abb. 13: Reliefszene aus dem Palast des Assurbanipal in Ninive; Raum L, Araberfeldzug. Quelle: KEEL / KÜCHLER / UEHLINGER, OLB, 200 Abb. 105 Abb. 14: Altbabylonischer Rollsiegelabdruck aus Mari. Quelle: WINTER, Frau, Abb. 188 Abb. 15: Relief aus dem Grab (Nr. 48) des Surer in Theben (18. Dyn.). Quelle: WINTER, Frau, Abb. 517 Abb. 16: Rollsiegel aus Tell el-ŦAŗul (SBZ). Quelle: KEEL / UEHLINGER, GGG, Abb. 90a
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III. Bestattungs- und Trauerriten – zur rituellen Bewältigung des Todes I
Grab und Begräbnis in Israel / Juda Materielle Befunde, Jenseitsvorstellungen und die Frage des Totenkultes JENS KAMLAH
1. Einleitung Im Kontext der Fragestellung nach Tod und Jenseits im Alten Israel und in seiner Umwelt kommt der Analyse der Gräber eine wichtige Aufgabe zu. Was zeichnete die Gräber aus, in denen die Menschen im Alten Israel ihre Toten bestattet haben? Welche Vorstellungen über das Jenseits lassen sich aus den Begräbnissen ableiten? Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die archäologischen Befunde zum eisenzeitlichen Bestattungswesen in Palästina vermitteln.1 Im Zuge der Darstellung ist dabei eine These zu überprüfen, welche innerhalb der alttestamentlichen Forschung große Bedeutung erlangt hat. Dieser These zufolge beweise die Archäologie der Gräber, dass es im vorexilischen Israel/Juda allgemein üblich und weit verbreitet gewesen sei, Totenkult zu praktizieren. Stellvertretend für diese Position sei hier E. Bloch-Smith zitiert, die ihre oft rezipierte und einflussreiche Abhandlung zu den judäischen Gräbern und Glaubensvorstellungen über das Jenseits folgendermaßen zusammenfasst:
1 Der Beitrag enthält die überarbeitete Fassung meines Vortrages auf dem Symposion „Tod und Jenseits im Alten Israel und in seiner Umwelt“ in Leipzig (16.–18. März 2007). Ich danke den Organisatoren, Angelika Berlejung und Bernd Janowski, für die Einladung zum Symposion und für die Gelegenheit, den archäologischen Befund zu den Gräbern der Eisenzeit in Palästina im Rahmen der anregenden Tagung darstellen und erörtern zu können. Mein Dank gilt ferner den Studierenden zweier Lehrveranstaltungen, die ich zu dieser Thematik in Kiel und Tübingen durchgeführt habe, für die interessanten Diskussionen. Weiterhin danke ich Günter Müller für die Anfertigung der Zeichnungen sowie Agnes Henning, Christian Krause, Carolin Meier, Henrike Michelau und Tobias Schneider für die Hilfe bei der Erstellung des Manuskriptes.
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Jens Kamlah
„The cave or bench tomb was the dwelling for individuals who were thought to continue a form of existence and so were provided with the basic necessities of life.“2 „The functions of the tomb, in addition to the attributed powers of the deceased, made the cult of the dead an integral aspect of the Israelite and Judahite society.“3
Unsere Darstellung hat also danach zu fragen, ob die Gräber in Israel/Juda tatsächlich als Wohnungen für eine jenseitige Existenz verstanden wurden und ob sie tatsächlich beweisen, dass der Totenkult ein integraler Bestandteil der judäischen Gesellschaft in vorexilischer Zeit war.4 1.1 Begrifflichkeit Die Beantwortung dieser Fragen hängt entscheidend von der zugrunde liegenden Begrifflichkeit ab. Wissenschaftliche Abhandlungen verwenden den Begriff Totenkult häufig für ganz unterschiedliche Arten des Umganges antiker Gesellschaften mit Toten.5 Bevorzugt erscheint der Terminus bei der Erforschung solcher Kulturen, deren Bestattungsformen deutliche Hinweise darauf enthalten, dass die Hinterbliebenen ihre Toten als numinose oder göttliche Wesen verehrt haben.6 Der Aspekt der kultischen Verehrung Verstorbener entspricht den Anforderungen einer religionswissenschaftlichen Bestimmung des Begriffes: „‚Totenkult‘ meint (kultisches) Handeln, das gegenüber kosmischen (‚seeligen‘) Toten auf soziale Interaktion, gegenüber akosmischen (‚unseeligen‘) Toten auf Abwehr, Annihilation oder soziale Redintegration (‚Erlösung‘) ausgerichtet ist, einschließlich der mit solchem Handeln verknüpften Ideologie.“7
Der Wortbestandteil „-kult“ setzt voraus, dass Totenkult sich auf religiös verehrte Tote bezieht und sich in religiösen Kulthandlungen für diese niederschlägt. Dem Begriff liegt also die Vorstellung von der Divinität Verstorbener zugrunde, und damit trifft er nur auf eine ganz spezifische Art des Umganges mit Toten zu.
2
BLOCH-SMITH, Burial Practices, 148. BLOCH-SMITH, Burial Practices, 146. 4 Vgl. die Überlegungen zur möglichen Existenz eines Totenkultes in Israel/Juda z.B. bei JANOWSKI, Jenseitsvorstellungen, 406f; FISCHER, Tod, 113–126; BERLEJUNG, Religionsgeschichte, 77–79. 5 Vgl. die berechtigte Kritik bei KÜHN, Totengedenken, 7; zur Klärung der Begrifflichkeit für den Alten Orient vgl. LUNDSTRÖM, Kima̴̴u, 6f. 6 Vgl. die Darstellung des Totenkultes für Mesopotamien, Ägypten, Etrurien und andere Kulturen des Altertums bei LUNDSTRÖM u.a., Totenkult. Zum Totenkult in Etrurien vgl. auch PRAYON, Etrusker. 7 HASENFRATZ, Totenkult, 234. 3
Grab und Begräbnis in Israel / Juda
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Für den Ahnenkult gilt Ähnliches, denn auch dieser Begriff basiert auf einer kultischen Adoration der Verstorbenen. Er bezieht sich jedoch nicht auf Tote allgemein, sondern auf besonders hervorgehobene Mitglieder einer Gemeinschaft: „Unter Ahnenkult versteht man die regelmäßige Versorgung eines Verstorbenen durch einen sozialen Verband, in dem dieser zu Lebzeiten meistens eine hervorgehobene Stellung innehatte.“8
Zu den Voraussetzungen für die Erlangung des Ahnenstatus gehören meist ein natürlicher Tod und Nachkommenschaft. In familienbasierten Gesellschaften können Familienoberhäupter die Rolle von Ahnen einnehmen, in monarchischen Staatsformen bietet die dynastische Struktur des Königtums Anknüpfungspunkte für die Entwicklung eines Ahnenkultes.9 Der Begriff Grab bezeichnet jede von Menschen gestaltete Form eines Begräbnisses.10 Das Hebräische verwendet (neben mehreren bildhaften Metaphern) das Wort ɛɄɚ zur Benennung des Grabes, wobei einfache Gräber für die Angehörigen des Volkes (2 Kön 23,6; Jer 26,23) ebenso wie Familien- und Königsgräber eingeschlossen sind (Gen 23,1–20; 49,30ff; 50,13; sowie Neh 3,16; 2 Chr 16,14 u.ö.).11 Es fällt jedoch auf, dass in den formelhaften Bestattungsnotizen der Könige im deuteronomistischen Geschichtswerk (1 Kön 11,43; 14,31 u.ö.) das Substantiv ɛɄɚ nicht erscheint. Erst das chronistische Geschichtswerk kennt Wortbildungen mit ɛɄɚ für die Königsgräber (ɐɌɎɏɑɇ ɝɈɛɄɚɄ 2 Chr 21,20; 24,25; 28,27; ɆɌɈɆȽɌɓɄ ɌɛɄɚ 2 Chr 32,33; ɈɌɝɄɃ ɝɈɛɄɚɄ 2 Chr 35,24).12 Durch die althebräische Epigraphie sind die Bezeichnungen qbr / qbrt für Grab und ̲dr für Grabkammer innerhalb eines Grabes bezeugt.13 Als Trachtsitte bezeichnet man den Brauch, den Körper der Toten für das Begräbnis in bestimmter Weise auszustatten, vor allem mit Kleidung, 8
LUNDSTRÖM, Kima̴̴u, 6; zur Differenzierung zwischen Toten- und Ahnenkult siehe auch VEIT, Einführung, 23f. 9 Vgl. zur Sache: KRATZ, Ahnen (mit Literaturangaben). 10 Auf die Notwendigkeit der terminologischen Unterscheidung zwischen architektonischer Form (Grab) und Vorgang (Bestattung / Begräbnis) hat R. Wenning mehrmals hingewiesen; vgl. z.B. WENNING, Bestattungen im königszeitlichen Juda, 83; DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 74ff. 11 Vgl. z.B. KOCH, ɛɄɚ, und KUSCHKE, Grab, 122. Alttestamentliche Texte bieten jedoch keine detaillierten Beschreibungen der Grabformen und -ausstattungen; vgl. LEWIS, Texts, 172–176. Zu den akkadischen Bezeichnungen für Grab im Zusammenhang mit archäologisch feststellbaren Grabformen in Mesopotamien vgl. LUNDSTRÖM, Kima̴̴u; NOVÁK, Bestattungskonzepte, 68. 12 Zu den Königsgräbern siehe unten. 13 Siehe unten die Ausführungen zu den Inschriften in ̳irbet el-Kčm und Silwan.
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Jens Kamlah
Schmuck und Waffen.14 Die übrigen in das Grab mitgegebenen Gegenstände zählen dagegen zur Beigabensitte.15 Die Bezeichnung Bestattung umfasst alle Handlungen der Hinterbliebenen an den Toten vom Zeitpunkt des Todes bis zur Niederlegung im Grabe, also sowohl die Vorbereitungen außerhalb des Grabes (Leichenpflege, Trauerriten) als auch die eigentliche Grablegung. Der Begriff Begräbnis soll in dieser Darstellung ausschließlich für den Vorgang der Grablegung verwendet werden, das heißt für alle Handlungen, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Grab stehen.16 Begräbnisriten sind solche Handlungen einer Gemeinschaft, die sich bei den Begräbnissen als stets gleich bleibendes Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung regelmäßig wiederholen. Im Unterschied zu Totenkult setzen Begräbnisriten nicht den Glauben an die Divinität der Verstorbenen voraus. Begräbnisriten können aber unter anderem auch kultische Handlungen beinhalten. So ist beispielsweise für einige antike Kulturen bezeugt, dass Hinterbliebene im Vollzug von Begräbnisriten Opfer für Gottheiten darbrachten, zu deren Kompetenzbereich der Tod gehörte.17 Diese Form von Kulthandlungen für Gottheiten im Rahmen der Begräbnisriten ist strikt vom Toten- und vom Ahnenkult zu unterscheiden, die sich beide jeweils auf vergöttlichte Verstorbene beziehen. 1.2 Stand der Forschung und methodische Vorüberlegungen Der Forschungsstand zum eisenzeitlichen Bestattungswesen in Palästina ist durch erhebliche Diskrepanzen geprägt. So steht zum Beispiel der sehr großen Anzahl an ausgegrabenen Gräbern eine nur geringe Anzahl an Publikationen gegenüber, die eine systematische Auswertung des umfangreichen Materials vornehmen. Außerdem ist die Menge der archäologisch erforschten Gräber im Westjordanland um ein Beträchtliches höher als die östlich des Jordans. Innerhalb des Westjordanlandes ist der Süden weitaus besser er-
14
Vgl. MEYER, Möglichkeit, 24; zur Abgrenzung von Tracht- und Beigabensitte vgl. z.B. WENNING, Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 83f; DERS., Grab (WiBiLex). 15 Vgl. zur Analyse der Beigaben in eisenzeitlichen Gräbern Palästinas WENNING, Medien, 127–134; vgl. auch BLOCH-SMITH, Burial Practices, 72–103. 16 Die Vorbereitungen außerhalb des Grabes und die Trauerriten waren ausgesprochen wichtige Bestandteile der Bestattungen im antiken Palästina, liegen aber außerhalb dessen, was hier zu behandeln ist. Zu Trauer und Trauerriten vgl. KRATZ, Trauer sowie den Beitrag von S. Schroer in diesem Band. Zu ethnologischen Studien über Trauer in Palästina vgl. GRANQVIST, Death, 55ff. 17 Archäologische Spuren von Kulthandlungen im Vollzug von Begräbnisriten können z.B. aus Kultobjekten innerhalb der Gräber bestehen (siehe dazu unten) oder aus Kultbauten innerhalb von Nekropolen. In Palästina ist bislang nur ein einziges Gebäude freigelegt worden, für welches eine Deutung als Kultgebäude einer Nekropole in Frage kommt: der spätbronzezeitliche Grabentempel aus Lachisch; vgl. BIETAK, Temple.
Grab und Begräbnis in Israel / Juda
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forscht als der Norden, so dass die überwiegende Mehrzahl aller archäologisch dokumentierten eisenzeitlichen Gräber aus dem Gebiet des Staates Juda stammt. Signifikante Erkenntnisse sind somit nur für das judäische Bestattungswesen zu gewinnen. Im Jahr 1968 hat S. Loffreda eine typologische Studie zu den Felsgräbern aus Palästina vorgelegt.18 Die einzige derzeit publizierte Monographie, die systematisch schriftliche und archäologische Quellen zum Bestattungswesen der Eisenzeit miteinander verbindet, ist die bereits erwähnte Arbeit von E. Bloch-Smith.19 An dieser Arbeit ist zu kritisieren, dass sie die zum damaligen Zeitpunkt bekannten archäologischen Befunde nur lückenhaft aufnimmt und dass sie die Grenzen der Aussagekraft archäologischer Quellen nicht ausreichend berücksichtigt.20 I. Yezerski verfasste 1995 an der Universität von Tel Aviv eine Magisterarbeit zu den Felsgräbern der Eisenzeit in Palästina und publizierte später eine Zusammenfassung.21 Diese enthält einerseits interessante Beobachtungen zu lokalen Grabgruppen innerhalb Judas, gibt aber andererseits zu erkennen, dass das komplexe Verhältnis von Grabtypologie und Ethnizität der Bevölkerung methodisch nur unzureichend reflektiert worden ist.22 R. Wenning hat im Jahr 1994 eine Habilitationsschrift zur Thematik angefertigt und dabei einen Katalog von ca. 1500 Gräbern aus ca. 120 Orten erarbeitet, den er seinen Auswertungen zugrunde legt.23 Die Publikation dieser Arbeit steht noch aus, doch sind Wennings Einsichten in einer Vielzahl von Artikeln und Aufsätzen zum Thema nachzulesen.24 Die bevorstehende Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift wird die Bearbeitung des eisenzeitlichen Bestattungswesens in Palästina auf eine neue Grundlage stellen. In methodischer Hinsicht ist zu bedauern, dass ein Versuch zur Vereinheitlichung der Terminologie (wie er für den englischsprachigen Bereich vorliegt)25 im Deutschen fehlt. Stärkere Beachtung sollten in Zukunft ethnologische Studien zu Bestattungen in Palästina finden, vor allem die Pionierarbeiten der finnischen Anthropologin Hilmar Granqvist.26
18
LOFFREDA, Typological Sequence. BLOCH-SMITH, Burial Practices; vgl. auch BLOCH-SMITH, Death. 20 WENNING, Rezension, 177f; PITARD, Tombs, 145–151.163. 21 YEZERSKI, Burial-Cave. 22 Vgl. die berechtigte Kritik bei KLETTER, Proto-Israelite, 583f; Zur Problematik des Verhältnisses von Grabformen und Ethnizität vgl. auch: KLETTER, Peoples, 36f; vgl. für den Alten Orient allgemein: NOVÁK, Bestattungskonzepte. 23 WENNING, Eisenzeitliche Gräber. Im Unterschied dazu erfasste die Arbeit von E. Bloch-Smith nur ca. 800 Gräber aus 60 Orten. Ein vollständiger und aktueller Katalog eisenzeitlicher Gräber in Palästina ist nur im Rahmen einer langjährigen Forschungsarbeit zu erstellen. Für unsere Überblicksdarstellung war dies nicht zu leisten. Deshalb kann die Darstellung auch keinen fein-chronologischen Abriss der Entwicklung des Bestattungswesens während der Eisenzeit II umfassen, der nur auf der Grundlage eines vollständigen Kataloges möglich wäre. 24 WENNING, Grab (NBL); DERS., Bestattungen im königszeitlichen Juda; DERS., Bestattung (RGG4); DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda; DERS., Medien; DERS., Grab seines Vaters; DERS., Grab (WiBiLex). 25 SPRAGUE, Terminology. 26 GRANQVIST, Death. G. Dalman konnte seine Studien zu Tod und Begräbnis leider nur ansatzweise ausführen; vgl. DALMAN, Arbeit, 105f. 19
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Eine gravierende Forschungslücke besteht darin, dass das reichhaltige Material der archäologischen Grabfunde bislang nicht aus der Perspektive der Genderforschung zur Auswertung gelangt ist.27 Ebenso dringlich wäre es, die Rolle von Kinderbestattungen in den unterschiedlichen Regionalkulturen Syrien-Palästinas systematisch zu untersuchen. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich in Deutschland zwei wissenschaftliche Tagungen mit methodischen Fragestellungen für die Auswertung von Grabbefunden beschäftigt.28 Unter dem Titel „Totenritual und Jenseitskonzeptionen – Methodische Ansätze zur Analyse von Grabfunden“ fand im Jahr 1998 ein Workshop in Berlin statt, dessen Vorträge zwei Jahre später veröffentlicht wurden.29 Im Jahr 2004 befasste sich eine Fachtagung in Tübingen mit Totenritualen und Grabkulten in frühen Gesellschaften30 und setzte dabei drei Schwerpunkte: Der Aspekt der Körperinszenierung der Bestatteten hat die Handlungsweise der Hinterbliebenen im Blick, mit der diese auf den veränderten Status der Verstorbenen reagieren.31 Die Bezeichnung Objektsammlung bezieht sich auf den Umstand, dass bei Begräbnissen eine Reihe von Gegenständen gezielt als Grabbeigaben ausgewählt wird. Die nach den Kriterien einer Sammlung zusammengestellten Objekte erhalten im Vollzug des Begräbnisses eine neue Determination und wandeln sich von Gebrauchsgegenständen zu Symbolobjekten. „Der Begriff der Monumentalisierung schließlich steht für die bewusste Sichtbarmachung von Größe“, wie sie sich auch im Bereich der Grabarchitektur findet.32 Alle drei Gesichtspunkte nehmen zentrale Prozesse von Begräbnisriten auf und sind auch bei der Auswertung des eisenzeitlichen Bestattungswesens in Palästina zu berücksichtigen. Die bei der Sichtung des Forschungsstandes hervorgehobenen methodischen Aspekte sollen abschließend durch den Hinweis auf die Mehrdeutigkeit archäologischer Funde und Befunde ergänzt werden. Gerade im Hinblick auf die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt als kultisch oder nicht-kultisch einzustufen ist, sprechen die archäologischen Quellen leider oft keine eindeutige Sprache. Dies lässt sich anhand der häufigsten Beigabenart in den eisenzeitlichen Gräbern Palästinas gut verdeutlichen. Mit großem Abstand stellen Keramikgefäße die häufigste Grabbeigabe dar. Es besteht Einigkeit darüber, dass sie nicht als leere Gefäße beigegeben wurden, sondern zumeist als Behältnisse für Nahrungsmittel dienten.33 Auf den ersten
27
Vgl. die berechtigte Einforderung bei MÜLLER-CLEMM, Genderforschung. Die Autorin weist in einer umfangreichen Studie eindrücklich die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Genderforschung zu Grabfunden auf, vollzieht jedoch selbst keine systematische Auswertung der Befunde. 28 Vgl. neben den beiden betreffenden Tagungen auch den Sammelband LANERI, Death, der auf eine im Jahr 2006 in Chicago abgehaltene Tagung zurückgeht. 29 Vgl. BONATZ/NOVÁK/OETTEL, Totenritual, sowie die weiteren Beiträge in AoF 27 (2000). 30 KÜMMEL/SCHWEIZER/VEIT, Körperinszenierung. 31 Vgl. dazu und zum Folgenden VEIT, Einführung, 25. 32 VEIT, Einführung, 25 (Hervorhebung im Original). 33 Die Gefäße haben die betreffenden Nahrungsmittel entweder tatsächlich enthalten oder sie symbolisieren in gleichrangiger Weise ihren Inhalt. Da bei den klimatischen Verhältnissen in Palästina organische Substanzen innerhalb der Gräber in der Regel vergehen, kann meist nicht entschieden werden, welche der beiden genannten Möglichkeiten zutrifft.
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Blick scheinen die Gefäße Totenkult zu beweisen, denn sie können als kultische Opfer für die Verstorbenen gedeutet werden. Bei genauer Betrachtung ergeben sich jedoch mehrere, grundverschiedene Deutungsmöglichkeiten für keramische Grabbeigaben: 1. Ein Keramikgefäß kann der dauerhaften Versorgung eines Toten im Jenseits dienen. 2. Es kann der temporären Versorgung eines Verstorbenen dienen, der sich nach der Vorstellung der Hinterbliebenen in einer Übergangsphase zwischen Diesseits und Jenseits befindet (Stadium der Verwesung). 3. Das Gefäß kann eine Opfergabe sein: 3.1. Eine Opfergabe für eine (Totenwelts-)Gottheit zugunsten des Toten. 3.2. Eine Opfergabe für einen vergöttlichten Toten. 4. Keramikgefäße können Reste eines Totenmahles sein: 4.1. Reste eines nicht-religiösen Totenmahles. 4.2. Reste eines kultischen Totenmahles. 5. Keramikgefäße können als Wertgegenstände in das Grab gelangt sein, um den sozialen Status zu dokumentieren, den der Verstorbene zu Lebzeiten innehatte. 6. Keramikgefäße können aber auch – ebenso wie alle anderen Beigaben – ins Grab gelangt sein, weil sie persönliche Besitzstücke des Verstorbenen waren, die er besonders schätzte und die man ihm deshalb mit ins Grab gab. Es zeigt sich also, dass ein und derselbe Fund innerhalb eines Grabes ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, und diese Mehrdeutigkeit ist für die Untersuchung des Bestattungswesens in Palästina zu berücksichtigen.34 Bei der Auswertung der Befunde und Funde kommt es darauf an, stets den Gesamtkontext zu berücksichtigen sowie zwischen sicheren, wahrscheinlichen und spekulativen Schlussfolgerungen zu unterscheiden.
2. Formen der Gräber Der Form nach sind vor allem zwei Typen von Gräbern der Eisenzeit in Palästina zu unterscheiden: das Grubengrab35 und das Höhlengrab. Beide Typen haben sich aus den Grabformen der vorausgehenden Periode entwickelt, denn sowohl Gruben- als auch Höhlengräber waren bereits in der Bronzezeit in Palästina vorhanden. Das Verteilungsmuster beider Typen in der späten Bronzezeit verdeutlicht, dass es häufig (aber nicht durchgängig) von den geographischen Gegebenheiten abhängig war, ob der Friedhof
34 Dabei ist natürlich in Rechnung zu stellen, dass einige der genannten Optionen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besitzen. So ist in den Kulturen des Alten Orients ein nicht-religiöses Totenmahl, das allein auf profanem Brauchtum beruht, ebenso unwahrscheinlich wie die Vermutung, dass es sich bei den unzähligen Keramikgefäßen in den Gräbern jeweils um die Lieblingstöpfe der Verstorbenen gehandelt habe. 35 Die Bezeichnung „Erdgrab“, die häufig für diesen Typ verwendet wird, ist deshalb problematisch, weil sie impliziert, dass dieser Typ nur in Erdböden vorkommt. Grubengräber sind jedoch auch im Felsuntergrund möglich.
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einer Siedlung aus Gruben- oder aus Höhlengräbern bestand.36 Für die Eisenzeit in Palästina kann folgende vereinfachte Typologie der Gräber aufgestellt werden:37 I. Grubengrab I.a Einfaches Grubengrab I.b Grubengrab mit Gefäßabdeckung I.c Grubengrab mit Umrandung II. Höhlengrab II.a Einfaches Höhlengrab II.b Bankgrab II.c Nischenbankgrab III. Sonderformen III.a Besondere Ausstattung III.a.1. Bildnisse III.a.2. Inschriften III.b Besondere Grabformen III.b.1. Prunkgräber III.b.2. Königsgräber III.b.3. Sonstige
Die verschiedenen Grabtypen und Sonderformen sollen im Folgenden durch Beispiele einzelner Fundorte verdeutlicht werden. 2.1 Grubengräber Die unterschiedlichen Formen der Grubengräber lassen sich gut am Beispiel des Friedhofs von Tell es-SaŦidiye im mittleren Jordangraben darstellen. Auf einer ca. 150 x 90 m großen Terrasse unterhalb der Kuppe dieses Ruinenhügels haben Ausgrabungen insgesamt ca. 500 Gräber freilegen können.38 Davon stammen 78 Gräber aus der babylonisch-persischen Zeit;39 alle anderen wurden in der Zeit vom Ende des 13. bis in das erste Viertel des 10. Jh. v.Chr. angelegt.40
36
GONEN, Burial Patterns, 9–20. Höhlengräber treten vorrangig in den Gebirgsregionen, Grubengräber in den Ebenen auf. Zur geographischen Verteilung der Typen während der Eisenzeit vgl. BLOCH-SMITH, Burial Practices, 55–62. 37 Vgl. zur Typologie eisenzeitlicher Gräber in Palästina z.B. WENNING, Grab (NBL), 942ff; DERS., Bestattungen im königszeitlichen Juda, 76–87; DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 74f; DERS., Medien, 122–127. 38 J. Pritchard legte von 1964 bis 1965 45 Gräber frei (PRITCHARD, Cemetery), und die Grabungen von J. Tubb erfassten von 1985 bis 1992 ca. 460 weitere Gräber (vgl. die unter TUBB aufgeführten Vorberichte im Literaturverzeichnis). 39 TUBB, Sixth Century, 289. 40 Der Friedhof wurde in seiner ersten Phase wohl über eine Dauer von rund 250 Jahren genutzt. PRITCHARD, Cemetery, 28–30 datierte diese Phase in das 13.–12. Jh. v.Chr.,
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Das einfache Grubengrab besteht aus einer in den Boden eingetieften Grabgrube, in welche der Leichnam beim Begräbnis hineingelegt wurde (gegebenenfalls zusammen mit Beigaben). Als Beispiel kann das Grab 110 dienen (Abb. 1): Der Leichnam wurde (wie alle anderen der frühen Phase des Friedhofes) in Ost-West-Richtung bestattet.41 Seine Haltung zeigt, dass er beim Begräbnis eng umwickelt war.42 Als Beigaben fanden sich ausschließlich Keramikgefäße (zwei Schalen, zwei Flaschen, zwei Krüge und eine Lampe). Ein Grubengrab konnte durch die Verwendung von Gefäßbruchstücken auf verschiedene Weise zu einem Grubengrab mit Gefäßabdeckung gestaltet werden (Abb. 2). Dabei konnten die Verstorbenen entweder mit Gefäßbruchstücken bedeckt oder in offene Gefäßhälften großer Vorratskrüge hineingelegt werden. Bisweilen dienten vollständige oder nur geringfügig fragmentierte Tongefäße als Grabbehälter, wobei diese Form von Topfbestattungen zumeist für Kinder verwendet wurde.43 Weitere Varianten des Grubengrabes werden dadurch gebildet, dass die Grube ganz oder teilweise durch Steine (Abb. 3),44 durch Lehmmasse oder durch Lehmziegel umrandet wurde. Steine und Ziegel konnten dabei entweder den Grubenrand lose begrenzen oder als Mauerwerk zusammengefügt sein.45
TUBB, Sixth Century, 289 setzt sie vom 12.–11. Jh. v.Chr. an, wohingegen MÜNGER, Amulets, 400 nachweisen konnte, dass die Belegzeit des Friedhofs bis ca. 960 v.Chr. andauerte. 41 PRITCHARD, Cemetery, 19. 42 Eine Umwickelung der Toten haben die Ausgrabungen J. Tubbs vielfach nachgewiesen und dabei als Indiz neben der Skelettlage auch Gewebeabdrücke auf Metallobjekten dokumentiert, welche in die Umwickelung einbezogen waren. 43 So auch in Grab 120 von Tell es-SaŦidiye (Abb. 2), in welchem drei Kinder in einem Gefäß innerhalb einer Grube bestattet wurden; vgl. dazu PRITCHARD, Cemetery, 23. Altorientalische Kinderbestattungen in Töpfen symbolisierten möglicherweise die Geborgenheit der Kinder im Mutterbauch; vgl. dazu KULEMANN-OSSEN/NOVÁK, Kind. 44 Abb. 3 enthält die schematische Umzeichnung von Grab 122 aus Tell es-SaŦidiye, in dem sich keine Beigaben fanden; vgl. PRITCHARD, Cemetery, 23. 45 Im zuletzt genannten Fall spricht man von Stein- oder Lehmziegelkisten-Gräbern und vermutet, dass diese überdacht waren; vgl. z.B. PRITCHARD, Cemetery, 11.
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Abb. 1-3: Grubengräber: einfaches Grubengrab (1); mit Gefäßbestattung (2); mit Steinumrandung (3); Tell es-SaŦidiye Gräber 110, 120 und 122
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Abb. 4: Grubengrab mit Lehmziegelumrandung; Tell es-SaŦidiye Grab 101
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Als Beispiel eines Grubengrabes mit Lehmziegelumrandung kann Grab 101 dienen (Abb. 4): Es bestand aus einer 1,5 x 3,5 m großen und ca. 1 m tiefen Grube, deren Seitenwände mit Mauern aus Lehmziegeln verkleidet waren.46 Das Grab war für die Verhältnisse des Friedhofes von Tell esSaŦidiye überdurchschnittlich groß und reich ausgestattet. Die Beigaben wurden innerhalb des Grabes sorgfältig arrangiert. Größere Gegenstände, wie Vorratskrüge aus Ton und Bronzegefäße (ein Dreifuß, ein Kessel und ein Trinkset) säumten die Wände. Eine bronzene Lampe befand sich in der Mitte des Grabes, und kostbare Kleinobjekte aus Elfenbein lagen in einem Bogen um den Kopf herum (je zwei becherartige und zwei schalenartige Behälter sowie ein Kosmetikschälchen in Löffelform). In der Nähe der linken Schulter fanden sich Metallobjekte, die von der Bekleidung des Leichnams stammten: zwei verzierte Brustplatten und zwei Gewandnadeln. Die Person wurde mit Halsschmuck beigesetzt, von dem sich ca. 570 Perlen aus Karneol, Elfenbein und Elektrum erhalten haben.47 Insgesamt lassen sich in Tell es-SaŦidiye zwölf verschiedene Varianten unterscheiden, mit denen die Bewohner der kleinen Siedlung in der relativ kurzen Zeit von ca. 1220 bis ca. 960 v.Chr. ihre Toten in Gruben bestattet haben. Zum Teil haben wahrscheinlich soziale, ethnische oder religiöse Unterschiede der Bevölkerung die Wahl der verschiedenen Grabformen bedingt. Jedoch können solche Unterschiede die Breite des Variantenspektrums nicht hinreichend erklären. Insofern ist die Nekropole von Tell es-SaŦidiye auch ein Beispiel dafür, dass sich nicht alle Differenzen der Grabformen und -ausstattungen in eine sozial- und religionsgeschichtliche Rekonstruktion einbinden lassen. Eine Gemeinsamkeit fast aller Grubengräber besteht darin, dass sie Einzelgräber waren. Nur in sehr wenigen Fällen wurden zwei oder drei Personen in einem Grubengrab bestattet.
46
Vgl. dazu und zum folgenden PRITCHARD, Cemetery, 10–14. Die Nordwand, die Südostecke sowie die östliche Hälfte des Innenraumes von Grab 101 weisen Störungen auf, so dass die Unterschenkel und die Fußknochen nicht erhalten sind. Vermutlich sind auch einige Beigaben, die in der Osthälfte des Grabes platziert waren, verloren gegangen. 47 Da die Skelettreste der Grabungen J. Pritchards nicht untersucht worden sind, kann das Geschlecht der bestatteten Personen nicht bestimmt werden. Anthropologische Untersuchungen sind bei heutigen Ausgrabungen von Gräbern unabdingbar. Sie wurden auch für die rund 460 Gräber von Tell es-SaŦidiye durchgeführt, welche die Ausgrabungen von J. Tubb freigelegt haben. Die bevorstehende Endpublikation dieser Grabungen wird unsere Kenntnis der Bestattungssitten in Tell es-SaŦidiye und in Palästina zweifellos erheblich erweitern.
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Exkurs: Zur Symbolik der Tracht- und Beigabensitten und zu Kultobjekten in Gräbern Neben diesen, die Grabform betreffenden Aspekten kann die Nekropole von Tell esSaŦidiye auch im Hinblick auf Tracht- und Beigabensitten exemplarisch für das Bestattungswesen in Palästina betrachtet werden. An Trachtsitten lassen sich die Bekleidung der Toten (Gewandnadeln und -fibeln) sowie ihre Umwickelung nachweisen. Ferner zählen Schmuck, Siegel, Amulette und Waffen zu den Dingen, mit denen die Verstorbenen ausgestattet werden konnten. Als Grabbeigaben sind vor allem die Keramikgefäße zu nennen. Tracht- und Beigabensitte zielen also in erster Linie wohl auf die Versorgung und auf den Schutz der Toten.48 Die Symbolkraft der beigegebenen Gefäße als Mittel zur Versorgung der Toten mit Nahrung kommt durch eine spezifische Beigabensitte der babylonisch-persischen Nutzungsphase des Friedhofes in Tell es-SaŦidiye besonders anschaulich zum Ausdruck. In dieser Zeit hat man mitunter eine bronzene Schale mit ihrer Innenseite auf das Gesicht der Verstorbenen gelegt oder sogar den Schalenrand in den geöffneten Mund gesteckt.49 Auf der Seite der alttestamentlichen Texte kann Dtn 26,14 als Beleg für die Versorgung der Toten mit Nahrung angeführt werden. Die Regelungen über die Abgabe des Zehnten in Dtn 26,12–14 enthalten kein grundsätzliches Verbot der Sitte der Totenversorgung, sondern schließen nur aus, dass dafür etwas vom Zehnten verwendet werden darf.50 Es bleibt festzuhalten, dass weder hier noch an einer anderen Stelle des Alten Testaments die Versorgung der Toten im Grab, die archäologisch so breit bezeugt ist, mit einer spezifischen Opferterminologie verknüpft wird.51 Die bislang behandelten Objekte aus den Bereichen der Tracht- und Beigabensitten waren jedenfalls keine kultischen Gegenstände. Darüber hinaus ist nun zu fragen, ob die Grabinventare (in Tell es-SaŦidiye und in Palästina allgemein) auch spezielle Kultobjekte umfassten. Für die ältere Belegzeit des Friedhofes in Tell es-SaŦidiye lassen sich nur sehr wenige Funde anführen, für die eine kultische Nutzung in Erwägung gezogen werden könnte. J. Pritchard verweist auf zwei Gefäße, deren Boden ein Loch aufwies. Sie waren im Bereich zweier Gräber (104; 126) möglicherweise so aufgestellt, dass ihr Oberteil oberirdisch sichtbar war, und könnten nach Meinung des Ausgräbers dazu gedient haben, Libationen in den Boden zu gießen.52 Wenn diese (unsichere!) Rekonstruktion so zutreffen sollte, dann muss die Frage offen bleiben, ob die Libationen für die Verstorbenen oder für Gottheiten bestimmt waren.
48 Im Rahmen dieser Deutung stehen die Keramikgefäße für die Versorgung der Toten; Amulette und Waffen symbolisieren ihren Schutz. Methodisch ist allerdings zu beachten, dass die genannten Objekte auch andere Bedeutungen gehabt haben können. So könnte der Grund für die Beigabe einer Waffe z.B. auch darin bestanden haben, den sozialen Status des Verstorbenen auszudrücken. 49 TUBB, Sixth Century, 289–291. 50 Zur Stelle vgl. z.B. KÜHN, Totengedenken, 351–357 (mit Literaturangaben). 51 Zu der Frage, ob ɛɅɗ (Ez 43,7.9) möglicherweise ein (Toten-)Opfer im Zusammenhang mit königlichem Ahnenkult bezeichnet, siehe unten die Ausführungen zu den Königsbestattungen. 52 PRITCHARD, Cemetery, 7f.17.24. Es ist zu betonen, dass die fraglichen Befunde nur zwei der insgesamt 45 von J. Pritchard freigelegten Gräber aus der frühen Nutzungsphase des Friedhofes betreffen.
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Ein Grab der späten Nutzungsphase (Grab 27) enthielt unter anderem ein Gefäß, das üblicherweise als Kultgefäß für Libationen gedeutet wird:53 eine kleine Kanne in Tierform, bei der Flüssigkeiten über eine Öffnung auf dem Rücken des Tieres eingefüllt und durch die längliche Schnauze wieder ausgegossen werden konnten. Gefäße dieser Art hat man vereinzelt auch in anderen eisenzeitlichen Gräbern in Palästina gefunden.54 Es ist möglich, sie als ein Indiz für Totenkult zu werten, denn mit ihnen könnten Libationsopfer für Verstorbene dargebracht worden sein. Demnach würden diese Gefäße eine kultische Verehrung der Toten bezeugen. Ebenso gut ist es aber auch möglich, dass mit den Gefäßen Libationsopfer für Gottheiten während der Begräbnisse erfolgten. Für die Funktion des betreffenden Gefäßes aus Tell es-SaŦidiye hat J. Tubb eine interessante Alternativdeutung geäußert. Er hält es für „a type of a feeding bottle“.55 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das betreffende Gefäß im Grab eines sieben- bis neunjährigen Mädchens gefunden wurde, welches offensichtlich nach einer Krankheit früh verstorben ist. Dieser Umstand könnte darauf hinweisen, dass das Gefäß eventuell tatsächlich eine Art von Sauggefäß war und möglicherweise bei Kindern oder bei medizinischen Behandlungen verwendet wurde, um Flüssigkeiten zu verabreichen. Eine analoge Deutung käme dann auch für die oben erwähnten anderen vermeintlichen Libationsgefäße aus Gräbern in Frage. Aber selbst wenn die herkömmliche Deutung als Libationsgefäß zutreffen sollte, so bleibt doch festzuhalten, dass ein solches Kultgefäß auf dem Tell es-SaŦidiye nur in einem von 78 Gräbern der babylonisch-persischen Zeit gefunden wurde. Auch die anderen Funde eisenzeitlicher theriomorpher Kannen stellen Einzelfunde innerhalb der jeweiligen Grabinventare dar. Unweit von Tell es-SaŦidiye ist auf Tell el-Mazar eine weitere Nekropole der persischen Zeit ausgegraben worden. In einem der dortigen Grubengräber, die viele Ähnlichkeiten mit den Gräbern aus Tell es-SaŦidiye aufweisen, fand sich eine bronzene Situla, die entweder aus Ägypten stammte oder nach ägyptischen Vorbildern gefertigt worden war.56 In Ägypten wurden Situlen eindeutig für Libationen in funerärem Kontext verwendet, und es ist kaum zu bezweifeln, dass die Situla aus Tell el-Mazar eine Übernahme der ägyptischen Sitte bezeugt. Sie ist jedoch nicht nur im Hinblick auf Tell el-
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TUBB, Sixth Century, 291–293 mit Fig. 14–16. Ein anthropomorphes und drei theriomorphe Libationsgefäße stammen aus den Gräbern 7 und 1 aus Bet-Schemesch; vgl. MACKENZIE, Beth-Shemesh, Pl. 48 und Pl. 22: 7.8.12. WENNING, Aschera, 90 nennt die Anzahl von insgesamt 19 figürlichen Gefäßen in judäischen Gräbern. Die Bedeutung der Libationsgefäße sieht WENNING, Bestattungen im königszeitlichen Juda, 91 darin, dass Schutzgottheiten damit Spenden zur Versorgung der Toten dargebracht hätten. Eine Umkehrung des Opfergedankens ist jedoch gänzlich unwahrscheinlich. Vielmehr ist auch im Kontext der Gräber davon auszugehen, dass – falls es sich um Opfergefäße handelt – die Opfer von Menschen dargebracht wurden und für Götter bestimmt waren (persönlicher Hinweis durch C. Krause). 55 TUBB, Sixth Century, 293. Die Form der Ausgusstülle des Gefäßes aus Grab 27 von Tell es-SaŦidiye könnte die Vermutung bestätigen. Das Tier soll unverkennbar ein Rind darstellen. Die Schnauze entspricht jedoch nicht der eines Rindes, sondern hat die Form eines Röhrchens und ist eher zum Saugen geeignet als zum Ausgießen. 56 KAMLAH, Heiligtümer, 178 mit Anm. 96; siehe dort auch die Ausführungen zur Bedeutung der Situlen und zu ihrer Verbreitung im Mittelmeerraum. 54
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Mazar und Tell es-SaŦidiye ein Einzelfund, sondern überhaupt die einzige Situla, die jemals in einem Grab in Palästina gefunden wurde.57 Ein weiterer Gefäßtyp, der ebenfalls eindeutig als Kultgefäß für Libationen zu bestimmen ist, besteht aus einer Keramikschale, in deren Mitte ein aus Ton gefertigtes Abbild eines Granatapfels platziert war. Solche Schalen kamen einerseits in Kultbezirken zutage (Ekron; ähnlich auch in Tell Qasile) und fanden sich andererseits vereinzelt in Gräbern (Tell Halif; Tell en-Nasbe; ähnlich auch in Tell Etun).58 Das gut erhaltene Exemplar aus Tell Halif zeigt, dass bei diesen Libationsschalen Flüssigkeiten in den Granatapfel gegossen werden konnten, von dem aus sie in die Schale flossen. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Verschiedene Einzelfunde bezeugen, dass bei den Begräbnisriten in Palästina und in Juda gelegentlich Libationen durchgeführt wurden. Im Unterschied dazu fehlen jegliche Spuren von Räucheropfern oder Ähnlichem. Abschließend seien Tonobjekte genannt, die in den eisenzeitlichen Höhlengräbern Judas mit gewisser Regelmäßigkeit beigegeben wurden und deren kultische Konnotation sehr wahrscheinlich ist: anthropomorphe und theriomorphe Figuren, Rasseln und Möbelmodelle.59 Bei den anthropomorphen Tonfiguren überwiegt die Darstellung einer Göttin mit betonten Brüsten. Daneben finden sich auch männliche Figuren und Tierstatuetten, die entweder eine männliche oder eine weibliche Gottheit substituieren. Die plausibelste Deutung dieser Darstellungen besteht darin, dass sie Gottheiten verkörpern, von denen nach den Vorstellungen der Judäerinnen und Judäer Schutz und Segen für die Toten in den Gräbern ausging.60 In diesen Zusammenhang fügen sich auch die Möbelmodelle und die Rasseln: Möbel evozierten die Anwesenheit der Gottheiten im Grab und Rasseln dienten der rituellen Kommunikation mit den Gottheiten.61
2.2 Höhlengräber Bei den Höhlengräbern ist zunächst das aus der Spätbronzezeit übernommene, einfache Höhlengrab zu nennen, das meist aus einer natürlichen
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Auf das Ganze gesehen überschätzt J. TUBB, Sixth Century, 293 m.E. die ägyptischen Einflüsse sowohl für die frühe als auch für die späte Nutzungsphase erheblich. Die Funde bezeugen keineswegs zwingend die Anwesenheit von Ägyptern in den betreffenden Phasen. Zu den insgesamt nur spärlichen ägyptischen Einflüssen auf das Bestattungswesen in Palästina vgl. unten die Ausführungen zu den anthropoiden Ton-Sarkophagen; vgl. auch VON LIEVEN, Ägyptische Einflüsse. 58 BOROWSKI, Burial Customs, 75f. Zur regenerativen Symbolik von Granatäpfeln im sepulkralen Kontext vgl. BONATZ, Ikonographische Zeugnisse, 97. 59 WENNING, Aschera, 89f hat ermittelt, dass von 336 Gräbern insgesamt 23 Funde von Statuetten enthielten (Stand 1991). Cave I aus Jerusalem wird dabei zu Recht nicht zu den Gräbern gezählt. 60 WENNING, Aschera, 90 zählte im Jahr 1991 insgesamt 18 Göttinnen, 8 Götter, 21 Tiere, 12 Rasseln und 8 Sitzmöbel. Vgl. dazu und zum Folgenden z.B. auch WENNING, Bestattungen im königszeitlichen Juda, 91; DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 84. Zu Grabfunden von Terrakottastatuetten im Alten Orient allgemein vgl. PRUSS/NOVÁK, Terrakotten. 61 Zu der Frage der rituellen Kommunikation mit Toten vgl. den Beitrag von R. Schmitt in diesem Band.
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oder nur grob zugehauenen und mit einem Zugang versehenen Aushöhlung im Fels besteht. Der Entwicklungsbeginn einer eigenen eisenzeitlichen Grabarchitektur lässt sich in dem Bestreben erkennen, die Grabhöhle mit seitlichen Ausbuchtungen zu versehen, die als Grablegen dienten (Loculi).62 Die weitere Entwicklung zu den typisch judäischen Grabformen vollzog sich lokal und regional auf unterschiedliche Weise. In einem wichtigen Punkt entsprechen sich die Felsgräber der verschiedenen Orte und Regionen von Juda jedoch: Sie waren Familiengräber, die als Erbbesitz von einer Generation zur nächsten übergingen (Gen 23; 49,29–33; 50,13) und in denen die Familien gemeinschaftlich die Bestattungen durchführten (Ri 16,31).63 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Bedeutung der Redewendung „im Grab seines Vaters“ (Ri 8,32; 2 Sam 2,32; 17,23; 19,38 u.ö.). Die Nekropole von Bet-Schemesch ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus dem Vorbild des einfachen Höhlengrabes das Bankgrab entwickelt hat (Abb. 5). Dieser Typ wurde für die Grabarchitektur Judas im Verlaufe der Eisenzeit zur bestimmenden Form. Für das Bankgrab hat man aus dem Felsen eine zumeist rechteckig-quadratische Kammer geschlagen. Deren Mittelgang ist tiefer gestaltet als der hintere und die seitlichen Bereiche. Abb. 5 zeigt Grab 2 aus Bet-Schemesch, das zusammen mit mehr als 20 Gräbern zur Gruppe der örtlichen Grabstätten aus der Eisenzeit II gehört.64 Beim Bau des Grabes hat man eine ca. 2 m hohe senkrechte Kante in das Felsgestein des Abhanges geschlagen und somit eine Fassade für das Grab geschaffen. In die Fassade wurde dann eine 0,45 x 0,65 m große Öffnung gehauen, die es ermöglichte, in die 3,6 x 3,6 m große Kammer zu gelangen. Die Höhe der Kammer betrug über dem Mittelgang zwischen 1,6 und 1,8 m; der Mittelgang war 2,85 m lang und 1,65 m breit. Diese Abmessungen machen deutlich, dass innerhalb des Grabes keine Versammlungen der Hinterbliebenen stattfinden konnten, und auch die kleine Zugangsöffnung zeigt, dass das Grab nicht als ein Bauwerk geschaffen wurde, das zu betreten war. Es war vielmehr gerade ausreichend groß, um einen Leichnam beim Begräbnis in das Grab zu schaffen und um danach das Grab wieder mittels eines Verschlusssteines schließen zu können. Der Bereich vor dem Verschlussstein war nicht als Platz gestaltet; auch hier weist nichts darauf
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Als Beispiel dafür sei das 8,2 x 8,6 m große Grab 1 aus Bet-Schemesch genannt; vgl. MACKENZIE, Beth-Shemesh, 52f mit Pl. 4. 63 Vgl. dazu z.B. KOCH, ɛɄɚ, 1149–1153; KÜHN, Totengedenken, 293ff; WELTEN, Bestattung, 735f; WENNING, Grab seines Vaters, 8f. 64 Während man früher davon ausging, dass diese Gräber aus Bet-Schemesch der EZ IIC angehören, zeigen neuere Untersuchungen, dass sie bereits aus dem 8. Jh. v.Chr. stammen; vgl. z.B. WENNING, Medien, 126.
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Abb. 5: Bankgrab; Bet-Schemesch Grab 2
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hin, dass das Grab ein Ort für rituelle Handlungen oder Versammlungen der Hinterbliebenen gewesen wäre. Die Bänke des Grabes umgaben den Mittelgang an drei Seiten (vgl. Abb. 5). Sie waren ungefähr 1 m breit und ca. 0,7 m hoch und dienten als Grablegen. Jede Bank bot Platz für einen Leichnam und die dazugehörigen Beigaben. In der Südecke des Grabes befand sich auf Höhe der Bänke die Öffnung zu einer in den Felsen gehauenen Grube.65 Diese Grube war eine Knochengrube (Repositorium), in der die Knochen und die Beigaben derjenigen Bestattungen deponiert wurden, die man von den Grablegen abräumen musste, weil eine neue Bestattung erfolgen sollte. Viele der eisenzeitlichen Höhlengräber in Juda wiesen solche Knochengruben auf.66 Exkurs: Zur Bedeutung der Knochengruben Die Sitte, Gebeine und Beigaben der Altbestattungen abzuräumen und im Repositorium zu entsorgen, wird in der wissenschaftlichen Diskussion zum Anlass genommen, um konkrete Jenseitsvorstellungen zu rekonstruieren, die im Hintergrund dieser Sitte gestanden haben könnten. R. Wenning zufolge bezeugt dieser Brauch einen in Juda verbreiteten Glauben an eine temporäre postmortale Existenz während der Phase der Verwesung. Diese Phase sei als eine Übergangszeit zwischen Diesseits und Jenseits verstanden worden, in der es darauf ankam, die Toten zu versorgen und zu schützen, weil sie nach dem Tode einige Zeit lang eine geschwächte Existenz führten. Schlussendlich bezeuge jedoch das Abräumen der Gebeine und der Beigaben nach der Verwesung „die Vorstellung, dass nach dem Verwesungsprozess die Existenzfähigkeit des Toten im Grab beendet war.“67 Die These eines begrenzten Daseins in geschwächter Form während der Verwesungsphase, wie R. Wenning sie vertritt, ist ohne Zweifel eine stringente Auslegung des archäologischen Befundes: Die Körperinszenierung eines Begräbnisses in einem judäischen Bankgrab symbolisierte die Versorgung des aufgebahrten Leichnams; mit dem späteren Abräumen der verblichenen Gebeine wurde diese Inszenierung aufgelöst. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Symbolik der ursprünglichen Inszenierung damit auch außer Kraft gesetzt wurde. Gingen die Hinterbliebenen während des Begräbnisses tatsächlich davon aus, dass der Verstorbene nur solange der Versorgung bedurfte, bis die Verwesung abgeschlossen war? M.E. ist eine andere Deutung wahrscheinlicher: Die judäischen Begräbnisriten brachten die Versorgung der Verstorbenen symbolisch zwar nur mittels einer temporären Inszenierung zum Ausdruck, intendierten aber eine dauer-
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Ebenfalls in der Südecke des Grabes führte ein Luftschacht nach außen. Solche Schächte kamen in den Höhlengräbern nicht häufig vor. Sie dienten wohl der Luftzufuhr während des Prozesses der Verwesung. 66 Vgl. die unvollständige Liste bei BLOCH-SMITH, Burial Practices, 42f. YEZERSKI, Burial-Cave, 255 geht davon aus, dass weniger als 50% der judäischen Höhlengräber Repositorien aufwiesen. 67 WENNING, Grab (NBL), 944. Zur These der temporären postmortalen Existenz vgl. auch DERS., Rezension, 179; DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 82f; DERS., Grab seines Vaters, 14f.
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hafte Versorgung im Jenseits. Als ein einmalig zu vollziehender Handlungskomplex bestand das judäische Begräbnis aus Zeichenhandlungen, die mit Tracht- und Beigabensitten darauf abzielten, den Toten ordnungsgemäß beim Übergang vom Diesseits ins Jenseits zu begleiten.68 Die Wirkkraft der einzelnen Symbole hing nicht von den realen Veränderungen ab, welchen die Gebeine und Beigaben im Verlauf von Verwesung und Verwitterung ausgesetzt waren. Sie war vielmehr in den Handlungen des Begräbnisses begründet, also im gemeinschaftlich vollzogenen Vorgang der Grablegung. Deshalb wird m.E. das, was die Symbolhandlungen des Begräbnisses einmal wirksam ausgedrückt hatten, auch nicht durch ein Abräumen von Gebeinen und Beigaben ins Repositorium außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil, das Vorhandensein von Knochengruben innerhalb der judäischen Familiengräber weist darauf hin, dass es für die Angehörigen nicht belanglos war, was mit den Begräbnisresten ihrer Vorfahren nach der Verwesung geschah. Die Grablegen mussten notgedrungen freigeräumt werden, wenn eine Familie ein Höhlengrab über Generationen hinweg verwendete, denn die Gräber boten nur wenig Platz. Anstatt Altbestattungen achtlos wegzuwerfen (oder sich die Wertgegenstände wieder nutzbar zu machen), haben die Menschen in Juda deren Überreste innerhalb des Grabes gesammelt – und damit alten Begräbnissen gegenüber den unter den Umständen der Platznot größtmöglichen Respekt erwiesen.
Knochengruben fanden sich auch im Nischenbankgrab, dem nächsten hier zu besprechenden Grabtyp. Er hat sich in der judäischen Grabarchitektur neben dem Bankgrab aus spätbronzezeitlichen Vorgängertypen entwickelt. Im Nischenbankgrab sind die Grablegen aus der Grabkammer heraus in seitliche Nischen verlegt, wie das Beispiel von Grab 1 aus Tell Etun zeigt (Abb. 6).69 Vier Stufen führten vom Eingang in eine vordere Grabkammer hinab, die von zwei Nischen flankiert war. Jenseits einer Stufenschwelle lag eine hintere Grabkammer mit insgesamt drei nischenförmigen Grablegen, zwei seitlichen und einer rückwärtigen.70 Das Repositorium war in diesem Fall in den Felsboden der hinteren Grabkammer eingetieft und besaß eine große Platte als Verschlussstein. Exkurs: Das Grab als Haus / Wohnung für die Toten oder als Haus der Ewigkeit? Der Grundriss der Nischenbankgräber hat jüngst in einer archäologischen Publikation zu der abwegigen These geführt, man könne diesen Grabtyp (oder den des Bankgrabes?) aus der eisenzeitlichen Wohnhausarchitektur ableiten:
68
Vgl. BERLEJUNG, Tod, 2; DIES., Religionsgeschichte, 77–79. Vgl. dazu z.B. WEIPPERT, Palästina, 486–488. Die Bezeichnung „Arkosolgrab“ für diesen Typ wird wegen der oft rechteckigen Nischenbänke von R. Wenning kritisiert und durch „Quadrosolgrab“ ersetzt (vgl. z.B. WENNING, Medien, 123). Demgegenüber ist der Terminus Nischenbankgrab von der Form der Nischen unabhängig und bringt den Unterschied zum Bankgrab deutlich zum Ausdruck. 70 Andere Nischenbankgräber aus Tell Etun weisen zwar ebenfalls fünf Nischenbänke auf, sind jedoch nicht in zwei Grabkammern unterteilt (vgl. USSISHKIN, Tombs). 69
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Abb. 6: Nischenbankgrab; Tell Etun Grab 1
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„Notably, the basic plan of the four-room house was also used in the rock-cut family tombs prevalent in Judah during the later part of the Iron Age II […]. Going beyond the reasonable observation that the tombs imitate the houses of the deceased, we should bear in mind that the same four room plan was applied to simple tombs in peripheral towns, as well as to the luxurious and elaborate burial complexes of the monarchical elite in Jerusalem.“71 Die hier aufgestellten Behauptungen entbehren jeder Grundlage, denn sie ignorieren die Typologie der eisenzeitlichen Gräber in Juda. Weder Bankgräber noch Nischenbankgräber noch die Prunkgräber aus Jerusalem (Silwan) weisen irgendwelche Ähnlichkeiten mit dem Grundriss des sogenannten Vier-Raum-Hauses auf. Bis auf einige wenige Ausnahmen enthalten judäische Höhlengräber überhaupt keinerlei Elemente, die an Hausarchitektur erinnern. Auf die Ausnahmen in Silwan stützte E. Bloch-Smith ihre Deutung der Gräber als Wohnungen für die Toten.72 Für die judäischen Vorstellungen sind jedoch nicht die sepulkralen Sonderformen der Jerusalemer Eliten zugrunde zu legen, sondern die allgemein in Juda übliche Grabarchitektur der Bank- und der Nischenbankgräber.73 Diesem archäologischen Befund entspricht, dass in den Schriften des Alten Testaments das Grab üblicherweise nicht als Wohnung oder Haus für die Toten bezeichnet wird. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt die Wendung in Koh 12,5 dar, derzufolge der Mensch eingeht in „sein Haus der Ewigkeit“ (ɈɑɏɈɕ ɝɌɄȽɏɃ; vgl. auch Ps 49,12). Die für den alttestamentlichen Sprachgebrauch ungewöhnliche Bezeichnung ist an dieser Stelle durch die ägyptische Vorstellung vom Grab als Haus der Ewigkeit beeinflusst.74 Im Korpus der nordwestsemitischen Inschriften der Eisenzeit II erscheint die Bezeichnung (byt.Ŧwlmn) allein in der aramäischen Wandinschrift aus Tell Deir ŦAlla (Kombination II; Zeile 6.1*; 9. Jh. v.Chr.),75 also in einem Kontext, der nicht zum israelitischjudäischen Kulturkreis zu rechnen ist. Aus alledem geht hervor, dass die Vorstellung von Gräbern als Wohnungen oder Häuser für ein jenseitiges Leben zwar in Teilen der Umwelt des Alten Testaments fest verankert,76 aber in Juda offensichtlich nicht verbreitet war.
71
BUNIMOWITZ/FAUST, Identity, 414. Vgl. BLOCH-SMITH, Burial Practices, 43f.146–151. 73 Vgl. die berechtigte Kritik bei WENNING, Rezension, 179. 74 Vgl. z.B. KRÜGER, Kohelet, 355 mit Anm. 35. Aus dem Gesamtzusammenhang geht m.E. hervor, dass das Kohelet-Buch dieser aus Ägypten bekannten Vorstellung mit Skepsis begegnet. Zur Bezeichnung des Grabes als Wohnung in Jes 22,16 siehe unten die Ausführungen zu den Prunkgräbern von Silwan. 75 Vgl. dazu und zum Nachweis, dass Kombination II das Thema der menschlichen Vergänglichkeit mit funerären Sprachbildern behandelt: BLUM, Schreibkunst, 36.40f (mit Literaturangaben). Weitere epigraphische Belege für die Wendung „Haus der Ewigkeit“ stammen aus späteren punischen und palmyrenischen Inschriften. Zum Bestattungswesen in Palmyra vgl. HENNING, Turmgräber. 76 Zur Sepulkralsymbolik des Hauses in Mesopotamien vgl. NOVÁK, Totenpflege; DERS., Toten, 19f. Zu Familiengrüften als „Häusern der Familie“ vgl. NOVÁK, Bestattungskonzepte, 68. Zu neuassyrischen Bestattungen in Assur vgl. zuletzt HAUSER, Ahnen, 72
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Im Vergleich zu den Bankgräbern konnte bei den Nischenbankgräbern die Anzahl der Grablegen erhöht und die Fläche der Grabkammer etwas vergrößert werden. In einem Aspekt entsprachen die Grundkonzeptionen beider Grabtypen sich jedoch: Sie waren kleinräumige Begräbnisstätten, die sich architektonisch im Innen- und im Außenbereich nicht als ansehnliche Denkmäler öffentlich sichtbar präsentierten. Vielmehr waren sie ganz auf ihre Funktion als Familiengräber ausgerichtet, um verstorbenen Verwandten eine möglichst geschützte Stätte für die Totenruhe zu gewähren. Deshalb greifen für die gewöhnlichen eisenzeitlichen Höhlengräber in Palästina auch nicht die Kategorien des „Grabdenkmales“77 und der „Monumentalisierung“.78 Die Tendenz zur Vergrößerung des Platzes in den Höhlengräbern ist besonders für die Entwicklung der Jerusalemer Grabarchitektur zu beobachten.79 Hier wurden zum Teil mehrere Grabkammern des Bankgrab-Typs zu einer Grabanlage zusammengefasst, wofür die Rekonstruktion der Grabanlage 24 aus Ketef Hinnom als Beispiel stehen kann (Abb. 7).80 Die einzelnen Grabkammern waren von einem zentralen Raum aus zugänglich, der auch Platz für Versammlungen bot.81 Für die im 7. Jh. v.Chr. entstandene Grabanlage 24 lassen sich fünf Grabkammern rekonstruieren, von denen drei ein Repositorium aufwiesen. Die meisten Grablegen der Anlage besaßen omegaförmige Kopfstützen zur Stabilisierung des Hauptes der Bestatteten.82 Die Anzahl der Kopfstützen verdeutlicht, dass die südliche und die nordwestliche Grabkammer Bänke aufwiesen, die mehreren Bestattungen Platz boten (zwei bzw. sechs). Neben den Kopfstützen konnte die
125–150. Zu den Grabbauten als Ort der Toten im Alten Ägypten vgl. zuletzt FITZENREITER, Jenseits, 92ff. 77 BONATZ, Zeugnisse, 89. 78 VEIT, Einführung, 25; vgl. zum Grab als (monumentalem) Denkmal und zu den ikonographischen Grabdenkmälern des syro-hethitischen Bereiches auch die Darstellung bei KÜHN, Totengedenken, 8–12.15–17. 79 Zur eisenzeitlichen Grabarchitektur Jerusalems vgl. (jeweils mit Literaturangaben) zuletzt z.B.: WENNING, Medien, 112–119.126f; KÜCHLER, Jerusalem, passim (siehe Register); KLONER/ZELINGER, Evolution. 80 Vgl. BARKAY, Ketef Hinnom; BARKAY u.a., Amulets. Die Rekonstruktion der Grabanlagen von Ketef Hinnom wird dadurch erschwert, dass der Bereich in späterer Zeit als Steinbruch diente. Im Falle von Grabanlage 24 betrifft dies vor allem den schlecht erhaltenen östlichen Teil. 81 Diese Form der Grabanlagen findet sich z.B. auch in den Jerusalemer Gräbern von St. Etienne; vgl. z.B. WENNING, Medien, 117f mit Abb. 6. 82 Zu den (nicht weiter zu untermauernden) Mutmaßungen, die omegaförmigen Kopfstützen könnten eine Hathorfrisur oder einen Mutterschoß symbolisieren, vgl. WENNING, Medien, 118f (mit Literaturangaben).
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Abb. 7: Bankgräber in Jerusalem; Ketef Hinnom Grabanlage 24
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Innenausstattung größerer Grabanlagen in Jerusalem vereinzelt auch weitere architektonische Elemente aufweisen, wie versunkene Wandpaneele und doppelt gestufte Deckengesimse.83 Um die Herkunft dieser Elemente in den Grabstätten wohlhabender Jerusalemer Familien der Mittelschicht zu ermitteln, sind die elitären Prunkgräber der Ostnekropole von Jerusalem (Silwan) zu betrachten. 2.3 Sonderformen Eine Sonderform des eisenzeitlichen Bestattungswesens in Palästina besteht aus der Ausstattung der Gräber durch Bildnisse. Grab 1 von Tell Etun ist auf singuläre Weise mit figürlichen Darstellungen versehen, die aus dem Felsen herausgearbeitet wurden (Abb. 6). Dabei handelt es sich um grobe Gesichter an den Rück- und Seitenwänden der Grabkammer sowie um zwei mit Beinen versehene Gesichter, welche die Eingangsstufen flankierten und von dort ins Innere der Grabkammer blickten.84 Letztere lassen sich in den Proportionen am besten mit den frontalen Darstellungen von Sphingen auf eisenzeitlichen Kultständern vergleichen,85 ohne dass eindeutig entschieden werden könnte, ob es sich in Grab 1 von Tell Etun um die Darstellung von Menschen, Tieren oder Mischwesen handeln soll. Auf das Ganze gesehen bleibt festzuhalten, dass die eisenzeitlichen Höhlengräber in Palästina üblicherweise nicht mit Bildnissen ausgestaltet wurden.86 Grabinschriften an eisenzeitlichen Höhlengräbern kamen in Palästina ebenfalls nur sehr selten vor. Neben den Ritzinschriften aus ̳irbet Bet Layy87 sind vor allem die Inschriften aus ̳irbet el-Kčm und aus Silwan zu nennen (ab dem 8. Jh. v.Chr.). In Grab 1 von ̳irbet el-Kčm enthalten die Inschriften 1 und 2 jeweils den Namen der Person, die in der betreffenden Grabkammer (̲dr; Inschrift 1, Zeile 3) bestattet wurde.88 Unterhalb von In-
83
Vgl. WENNING, Medien, 117 (mit Literaturangaben). Vgl. USSISHKIN, Tombs, 109–114 mit Pl. 21; WEIPPERT, Palästina, 489 mit Abb. 4.36. 85 Vgl. dazu zuletzt KLETTER/ZIFFER, Philistines, 20f*.46–49 mit Abb. 40–42. 86 Auch die Einritzungen von drei anthropomorphen Figuren, zwei Schiffen und Kreisen an Grabwänden in ̳irbet Bet Layy (NAVEH, Inscriptions) stellen im Rahmen des Gesamtbefundes eine Ausnahme dar. 87 Vgl. dazu auch RENZ, Inschriften, 241–252. 88 DEVER, Epigraphic Material, 151–157; vgl. RENZ, Inschriften, 200–202. Die Kennzeichnung der Gräber mit den Namen der Bestatteten war in Juda und Israel also die Ausnahme; bei den nördlich benachbarten Phöniziern war sie zum Teil die Regel. Dies zeigt die Gruppe der beschrifteten eisenzeitlichen Grabsteine aus Phönizien, die sich erst in den letzten Jahren als eine eigene Gattung abgezeichnet hat; vgl. SADER, Funerary Stelae. Die hier greifbare phönizische Sitte bildet wohl den Hintergrund für die Erwähnung der Grabstele Abschaloms (2 Sam 18,18). 84
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schrift 3 aus Grab 2 befindet sich ein bildliches Symbol der Hand Gottes. Die Inschrift ist insofern bemerkenswert, als sie eine Segenszuschreibung enthält: brk ’ryhw lyhwh („Gesegnet sei Urijahu durch Jahwe“).89 Jahwe, der zusammen mit „seiner Aschera“ (Zeile 3) genannt und durch das Symbol der Hand repräsentiert wird, erscheint hier als schützender Gott, dessen Schutz auch jenseits der Grenze des Todes für den Judäer Urijahu wirksam ist.90 In dem großen Repositorium (ca. 3,7 x 2,0 m) der nordwestlichen Grabkammer aus Grabanlage 24 in Ketef Hinnom (Abb. 7) fanden sich inmitten vieler Gebeine und ehemaliger Grabbeigaben zwei beschriftete Silberamulette. Ihre Inschriften bestanden zum Teil aus Segensformeln, die sich im Priestersegen in Num 6,24–26 wiederfinden. Der aufgerollte Zustand der Amulette gibt zu erkennen, dass sie als Anhänger getragen wurden und dementsprechend zur Trachtsitte zu rechnen sind.91 Vermutlich haben ihre Besitzer sie bereits zu Lebzeiten getragen. Als die Amulettbesitzer dann verstarben, haben ihre Hinterbliebenen sie jeweils auf einer der Grablegen der nordwestlichen Kammer aufgebahrt. Später, als die Gebeine der Amulettbesitzer schließlich von den Grablegen abgeräumt werden mussten, um für neue Bestattungen Platz zu schaffen, gerieten die Silberamulette zusammen mit den Gebeinen und übrigen Beigaben ins Repositorium. Es handelt sich also nicht um Grabinschriften, sondern um sekundär ins Grab gelangte Schriftamulette. Dennoch liefert ihr Fundkontext Einblicke in Jenseitsvorstellungen, denn die Segensformeln wurden offensichtlich auch nach dem Tode für wirksam erachtet. Die in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Felsgräber von Silwan (Ostnekropole Jerusalems) zeigten zum Teil Inschriften an ihren Fassaden (Gräber 3; 34 und 35).92 Inschrift 34 überliefert für Grab die fem. Form qbrt und Inschrift B von Grab 35 für eine Grabkammer innerhalb des Grabes die Bezeichnung ̲dr. Die Grabinschriften 35A und 34 sind zwar nur
89
DEVER, Epigraphic Material, 158ff; vgl. RENZ, Inschriften, 202–211. Zum Text der Inschrift und zu ihrer Deutung im Kontext der Jenseitsvorstellungen vgl. zuletzt KÖCKERT, Wandlungen, 11–13; EBERHARDT, Unterwelt, 366ff; JANOWSKI, Gott Israels, 283f (mit Literaturangaben). 90 Vgl. WENNING, Medien, 115; JANOWSKI, Gott Israels, 283f mit den Literaturangaben in Anm. 76f. 91 BARKAY u.a., Amulets (Datierung der Amulette: Ende des 7. Jh. v.Chr.); vgl. RENZ, Inschriften, 447–456 (Datierung: 5. Jh. v.Chr.). Zum Text der Inschrift und zu ihrer Deutung im Kontext der Jenseitsvorstellungen vgl. zuletzt KÖCKERT, Wandlungen, 28– 30; EBERHARDT, Unterwelt, 375ff; JANOWSKI, Gott Israels, 284–286; BERLEJUNG, Mensch (mit Literaturangaben). 92 USSISHKIN, Silwan, 241–254; vgl. RENZ, Inschriften, 191f.261–266.
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fragmentarisch erhalten, bieten jedoch beide ausreichend Text, um ihre (teilweise optionalen) Gattungselemente zu bestimmen: die Namen der Grabbesitzer, ihre Stellung am Königshof (ťšr Ŧl hbyt [„Haushofmeister“]; Grab 35, Inschrift A) sowie Fluchsprüche zur Abwehr von Grabräubern. Diese Art von Grabinschriften, die im übrigen Juda sonst nirgends bezeugt ist, unterstreicht die herausragende Stellung der Ostnekropole Jerusalems. Vom Namen des Haushofmeisters aus Grab 35 haben sich leider nur die letzten drei Buchstaben erhalten (der theophore Bestandteil -yhw). Es ist daher nicht möglich, den Grabbesitzer zu identifizieren. Doch könnte es sich eventuell um den Haushofmeister Schebna (Schebanjahu) handeln, dem Jes 22,15f vorwirft, er habe sich „ein Grab (ɛɄɚ) auf der Höhe / eine Wohnung (ɒɎɜɑ) im Felsen“ aushauen lassen.93 Auch wenn offen bleiben muss, ob diese Textstelle konkret auf Grab 35 Bezug nimmt, so kann es doch als sehr wahrscheinlich gelten, dass sie sich auf eine Grabstätte der Ostnekropole bezieht. Jes 22,15ff drückt somit eine fundamentale Kritik an dem Geltungsbewusstsein aus, welches hinter den dortigen Prunkgräbern stand. Innerhalb des parallelismus membrorum von Vers 16b wäre im zweiten Teil der Aussage den epigraphischen Belegen zufolge eigentlich ɛɆɊ für Grabkammer zu erwarten. Stattdessen steht hier die Aussage, Schebna habe sich sein Grab als Wohnung (ɒɎɜɑ) errichten lassen.94 Diese Aussage kann – wie der Kontext zeigt – nur als polemischer Vorwurf verstanden werden. Sie bildet sogar die Spitze der insgesamt als Klimax formulierten Anklage gegen Schebna. Der Grund für die hier aufflammende Kritik dürfte vor allem darin gelegen haben, dass die Konzeption der Ostnekropole von Jerusalem einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Bestattungswesen in Juda vollzog. Die Prunkgräber der Jerusalemer Ostnekropole (Abb. 8–10) sind entstanden, weil sich hier – der Davidsstadt gegenüber – seit dem 8. Jh. v.Chr. Angehörige der Jerusalemer Elite und Mitglieder des judäischen Königshofes demonstrativ eindrucksvolle Grabmonumente haben errichten lassen.95 Diese Gräber sind wie die judäischen Bank- und Nischenbankgräber in den
93
Vgl. zur Stelle BEUKEN, Jesaja 13–27, 268–275 (mit Literaturangaben). Zu der für alttestamentliche Texte ungewöhnlichen Vorstellung des Grabes als Wohnung für das Jenseits siehe oben den betreffenden Exkurs. 95 Ca. 40 Gräber sind erhalten, doch ist ihr Erhaltungszustand in der Regel sehr schlecht und in keinem der Gräber wurden Grabfunde angetroffen. Die Felsengräber haben schwer unter Steinbrucharbeiten und ihrer späteren Nutzung als Wohnhöhlen gelitten. Vgl. KUSCHKE, Grab, 127f; USSISHKIN, Silwan; WEIPPERT, Palästina, 632–634; KÜCHLER, Jerusalem, 730ff. 94
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Abb. 8-10: Prunkgräber in Jerusalem: mit Flachdecke (8), mit abgerundeter Decke (9); mit Giebeldecke (10); Silwan, Gräber 1, 6 und 10
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Fels gehauen.96 Im scharfen Kontrast zu den übrigen Gräbern Judas stehen jedoch vor allem zwei Merkmale der Ostnekropole: Erstens waren die dortigen Grabstätten auf Sichtbarkeit bedacht und zweitens waren sie keine Familiengräber. Wie die Anzahl der Grablegen bezeugt, dienten sie meist nur einer Person, in seltenen Fällen auch einigen wenigen Personen als Ruhestätte. Da Knochengruben in den Gräbern fehlen, waren die Grablegen also für Individualbestattungen konzipiert, die (im Unterschied zu den judäischen Familiengräbern) nicht von den Grablegen entfernt werden sollten. Typologisch können in Silwan Gräber mit Flachdecken, Giebeldecken oder mit abgerundeten Decken unterschieden werden. In der Gruppe der Gräber mit giebelartigen oder abgerundeten Decken waren die Grabkammern durchschnittlich 2,4 x 1,3 m groß, besaßen eine ca. 0,55 x 0,55 m kleine Öffnung und waren von ein bis zwei bankartigen Grablegen gesäumt (Abb. 9f). Die Gräber mit Flachdecken wiesen zumeist etwas größere Eingänge auf und konnten bis zu drei Grabkammern umfassen (Abb. 8). Alle Gräber zeigen eine hohe Qualität in der Bearbeitung des Felsgesteins. Elemente der Grabarchitektur bestehen beispielsweise aus Profilrahmungen der Eingänge, abgestuften Deckengesimsen (Abb. 8) und verschiedenartigen Gestaltungen der Grablegen (z. B. Bank mit kissenartig erhöhtem Kopfbereich, teilweise mit Mulde für den Kopf; sarkophagartig vertiefte Nischen, vgl. jeweils Abb. 9f). R. Wenning hat aufgezeigt, dass die Gestaltungen anderer Gräber in Jerusalem und Juda teilweise Vorbildern aus der Ostnekropole folgen, indem sie einzelne Architekturelemente der Prunkgräber auch für Familiengräber der begüterten Mittelschicht übernahmen.97 Es zeigt sich also eine gewisse Traditionskette, in der die elitären Individualgräber der Ostnekropole auf Familiengräber der Mittelschicht einwirkten. Mit gutem Grund kann vermutet werden, dass der Ausgangspunkt für diese Traditionsbildung in den israelitisch/judäischen Königsbestattungen lag. Über die Königsgräber in Israel und Juda wissen wir leider nur sehr wenig. Dies ist umso bedauerlicher, da die hervorgehobene und normative Bedeutung von Königsbestattungen im Alten Orient und in der unmittel-
96
Eine Ausnahme bilden die sogenannten monolithischen Gräber, bei denen der Fels um die Grabkammer herum abgearbeitet wurde, so dass die Gräber als freistehende Bauten erschienen (USSISHKIN, Silwan, Gräber Nr. 3; 28; 34 und 35). Die Datierung dieser Baumaßnahmen ist jedoch umstritten; vgl. z.B. die Diskussion zur Datierung des „Grabes der Tochter des Pharao“ bei KÜCHLER, Jerusalem, 734–738. Zu der pyramidalen Form des gemauerten Daches dieses Grabes vgl. auch TRIEBEL, Jenseitshoffnung, 63ff; VON LIEVEN, Ägyptische Einflüsse, 107f. 97 WENNING, Medien, 116–118. Vgl. auch oben die Ausführungen zu den Architekturelementen in Jerusalemer Bankgräbern.
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baren Umwelt Palästinas vielfach bezeugt ist.98 Erste literarische Hinweise auf die Sonderrolle der Königsbestattungen in Israel und Juda können in der möglichen Bedeutung von ɛɅɗ als königlichem Totenopfer (Ez 43,7.9)99 und in den Leichenfeuern gesehen werden, die vereinzelt bezeugt sind (Jer 34,5; 2 Chr 16,14; 21,19).100 Ein weiteres literarisches Indiz ergibt sich aus der Redeweise ɈɌɝɄɃȽɐɕ ɄɎɜɌɈ („er legte sich zu seinen Vätern“).101 Diese Formel wird (mit den nachvollziehbaren Ausnahmen von Gen 47,30 [Jakob] und Dtn 31,16 [Mose]) ausschließlich für Könige verwendet. Sie ist nicht auf die Bestattung im Familiengrab zu beziehen,102 sondern stellt vielmehr eine spezifische Umschreibung für das der Grablegung vorausgehende friedliche (!) Versterben eines Königs dar.103 Aus zahlreichen Texten in 1/2 Kön und 2 Chr zu den Bestattungen der judäischen Könige von David bis Ahas (ca. 965–725 v.Chr.) geht hervor, dass ihre Grabstätten innerhalb der Davidsstadt gelegen haben.104 Wo genau sie dort zu lokalisieren sind, lässt sich beim derzeitigen Stand der Forschung allerdings nicht klären. Ez 43,7–9 deutet auf eine Nähe von Königsgräbern zum Tempel hin.105 In unmittelbarer Nähe des Jerusalemer Tempels stand der Palast der judäischen Herrscher, und deshalb könnte Ez 43,7ff darauf hinweisen, dass sich die Könige in Jerusalem innerhalb des Palastbereiches bestatten ließen. Diese Konstellation würde sich gut zu dem im Alten Orient weit verbreiteten Phänomen fügen, Königsgräber in Palästen anzulegen.106 Dagegen verknüpfen die detaillierten und gut lokali-
98
Vgl. z.B. NIEHR, Bestattung; DERS., König. Vgl. dazu z.B. KOCH, ɛɄɚ, 154; KÜHN, Totengedenken, 384–397; JANOWSKI, Gott Israels, 271 mit Anm. 22 und 275. Angesichts des für ɛɅɗ üblichen Sprachgebrauchs im Alten Testament bleibt die Deutung als Opfer an dieser Stelle aber fraglich. 100 Vgl. dazu ZWICKEL, Verbrennen. E. BLUM, Schreibkunst, 46 mit Anm. 75 erwägt mit Hinweis auf die spätbronzezeitlichen Befunde der Königsgruft im syrischen Qatna, ob die Leichenfeuer ursprünglich auch in Juda eine Methode zur Konservierung königlicher Leichname durch deren Erhitzung gewesen sein könnten. 101 Vgl. BEUKEN, ɄɎɜ, 1312ff. 102 Vgl. WENNING, Grab (NBL), 944; DERS., Bestattungen im königszeitlichen Juda, 89. 103 Vgl. auch die Formulierung wyškb.’by.yhk.’l[.’bhw]h. in der altaramäischen Inschrift König Hasaels von Damaskus (9. Jh. v.Chr.; Übersetzung und Literaturangaben bei KOTTSIEPER, Texte, 176–179). 104 1 Kön 2,10 (David); 11,43 (Salomo); 14,31 (Rehabeam); 15,8 (Abija); 15,24 (Asa); 22,51 (Joschafat); 2 Kön 8,24 (Joram); 9,28 (Ahasja); 12,22 (Joasch); 14,20 (Amazja); 15,7 (Asarja); 15,38 (Jotam); 16,20 (Ahas). 105 Zur Stelle vgl. z.B. KÜHN, Totengedenken, 384–397 (mit Literaturangaben). 106 Vgl. dazu z.B. NOVÁK, Totenpflege, 133f; DERS., Bestattungskonzepte, 69f und zuletzt ausgehend von der Königsgruft in Qatna DERS., Individuum. Im Hinblick auf die neuassyrischen Königsbestattungen in Palästen ist allerdings zu betonen, dass sie sich mit 99
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sierbaren Angaben des Nehemiabuches zum Mauerbau die Lage der Davidsgräber mit dem Südostviertel der Davidsstadt (Neh 3,16). Die hier von R. Weill ausgegrabenen Felsstrukturen können allerdings nicht als Königsgräber identifiziert werden.107 Ebenso wenig wie die bisher besprochen Mitteilungen können die Angaben zu den Gräbern der Könige Hiskija, Manasse, Amon und Joschija örtlich näher eingegrenzt werden (2 Chr 32,33; 2 Kön 21,18; 21,26; 23,30). Hinsichtlich der Königsbestattungen in Israel und Juda sind hier in aller Kürze zwei neuerdings vertretene Thesen anzuführen: Zum einen steht die Vermutung im Raum, die eisenzeitlichen Tumuli in der Umgebung von Jerusalem seien Gedenkstätten für verstorbene Könige gewesen.108 Zum anderen sieht N. Franklin in zwei Felsausschachtungen unterhalb des Palastes in Samaria die Reste zweier Grabstätten der Omriden.109 Beide Thesen sind angesichts des derzeitigen Forschungsstandes als hypothetische Spekulationen zu bewerten. Diesen Thesen möchte ich eine weitere hinzufügen, die m.E. begründete Anhaltspunkte für sich beanspruchen kann. Die Anhaltspunkte ergeben sich aus den Besonderheiten der Prunkgräber in der Ostnekropole von Jerusalem: Individualbestattungen; Sichtbarkeit der Grabfassaden; Inschriften mit Name, Titel und Fluchformel gegen Grabräuber. Diese Elemente stammen m.E. vermutlich aus der königlichen Grabarchitektur, denn sie sind aus dem sonstigen Bestattungswesen in Israel und Juda nicht ableitbar. Im Alten Orient ist bei Oberschicht-Gräbern häufig die Tendenz zu beobachten, dass sie Königsbestattungen imitieren.110 Es ist also legitim,
ihrer intramuralen Lage nicht kategorial von den Normalbestattungen unterschieden haben, denn auch in der Bevölkerung waren Hausbestattungen verbreitet (vgl. NOVÁK, Bestattungskonzepte, 68). Die geographisch und chronologisch nächstgelegenen Königsgräber aus der Umwelt Palästinas sind aus Phönizien bekannt. Dort finden sie sich sowohl intramural (Byblos) als auch extramural. Zu Byblos vgl. LEHMANN, Dynastensarkophage; REHM, Dynastensarkophage. Zu Sidon vgl. FREDE, Sarkophage; LEMBKE, Sarkophage. 107 Vgl. dazu zuletzt z.B. WENNING, Medien, 113f; KÜCHLER, Jerusalem, 78–84. Trotz der gewichtigen Gegenargumente hat J. ZORN, Burials, 801ff jüngst erneut eine Deutung der von Weill ausgegrabenen Strukturen als Königsgräber favorisiert. 108 Vgl. BARKAY, Mounds; SURIANO, Tumuli. 109 FRANKLIN, Tombs; DIES., Lost Tombs. Vgl. dazu die Entgegnung von USSISHKIN, Disappearance, und die Verteidigung durch FRANKLIN, Quick. 110 Ein besonders eindrückliches, räumlich und zeitlich naheliegendes Beispiel für diese Tendenz stammt aus Sidon. Dort haben die Könige Tabnit und Eschmunazar II. sich im ausgehenden 6. Jh. v.Chr. in ägyptischen Sarkophagen bestatten lassen und damit eine Sitte begründet, die von der sidonischen Oberschicht übernommen wurde. Zum Aufkommen und zur Verbreitung der sidonischen anthropoiden Sarkophage vgl. FREDE, Sarkophage; LEMBKE, Sarkophage. Zum normativen Charakter altorientalischer Königs-
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aus den Gräbern der Ostnekropole Rückschlüsse auf die Grabstätten der Regenten in Jerusalem zu ziehen. Diese dürften demnach Individualbestattungen (ggf. mit 1–2 Angehörigen) mit ostentativen Fassaden gewesen sein, welche Inschriften nach dem Muster der Grabinschrift 35A aus Silwan trugen. Resümiert man die bisherigen Ausführungen zu den Königsbestattungen in Israel und Juda, dann verbleibt vor allem die Annahme einer intramuralen Lage der königlichen Grabstätten in Jerusalem (und wahrscheinlich auch in Samaria) als verlässliche historiographische Schlussfolgerung. Diese Feststellung ist von erheblicher Relevanz, denn sie dokumentiert den einzigartigen Status der Königsgräber in Juda (und in Israel). Für alle übrigen Verstorbenen waren nämlich intramurale Bestattungen ganz und gar undenkbar.111 Wie ihr exklusiver Status zeigt, waren die Königsgräber also sehr wahrscheinlich als besondere Gedenkstätten für verstorbene Herrscher konzipiert. Darüber hinaus ist die Annahme möglich (aber nicht zwingend erforderlich), dass sich das Gedenken an verstorbene Könige in Form eines Ahnenkultes vollzog und demnach deren kultische Verehrung mit einschloss.112 Abschließend sind zwei weitere Sonderformen des eisenzeitlichen Bestattungswesens in Palästina in den Blick zu nehmen, die beide jeweils regional und chronologisch fest umrissene Partikularbereiche bilden. Zum einen geht es um die Bestattungen in anthropoiden Ton-Sarkophagen der ausgehenden Spätbronze- und der beginnenden Eisenzeit (Abb. 11). Solche Sarkophage traten in Gräbern einer nördlichen Gruppe (um Bet-Schean und Pella herum) und einer südlichen Gruppe (Lachisch, Deir el-Balah und Tell el-FarŦa [Süd]) auf. Sie waren ca. 2 m lang und hatten auf der Oberseite ihres Kopfteiles Deckel mit Gesichtern und über der Brust verschränkten Armen. Bis zu drei Leichen fanden in den Sarkophagen Platz. Als Beispiel zeigt Abb. 11 das Grab 114 aus Deir el-Balah.113 In ihm wurden eine Mann, eine Frau und ein Kind bestattet, zusammen mit typisch ägyptischen Grabbeigaben: verschiedene Bronzeobjekte (Spiegel, Schale, Sieb, Becher, drei Messer), ein ägyptisches Goldamulett, Perlen und Ohrringe sowie drei Skarabäen. Auf dem Deckel des Sarkophages war ein Alabasterbecher platziert und über der Grube drei Krüge am Fußende, ein Becher auf Brusthöhe sowie am Kopfende ein Krug, in dem ein
bestattungen vgl. z.B. HAAS, Bestattungsbräuche, 52f; MEYER, Möglichkeit, 31; NOVÁK, Bestattungskonzepte, 68. 111 In Palästina war die Sitte der intramuralen Bestattungen in der Mittleren Bronzezeit fest institutionalisiert, in der Eisenzeit fehlte sie gänzlich. Das lässt darauf schließen, dass diese Tradition bewusst aufgegeben und vermieden wurde. 112 Zum Gedenken an verstorbene Könige als Ansatzpunkt für Totenkult vgl. KRATZ, Ahnen; JANOWSKI, Gott Israels, 271.288–289.302. 113 Vgl. dazu und zum Folgenden DOTHAN, Cemetery, 5–27. Für die Sarkophagbestattungen aus Deir el-Balah ist die Neudatierung der dazugehörigen Siedlungsschichten zu berücksichtigen: 13.–12. Jh. v.Chr.; vgl. KILLEBREW/GOLDBERG/ROSEN, Deir el-Balah.
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Abb. 11-12: Sonstige Sonderformen der Bestattung: in anthropoidem Ton-Sarkophag (11); in Asche-Urnen (12); Deir el-Balah Grab 114 (11); Achsib (12)
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Schöpfkrüglein lag und dessen Öffnung durch eine umgekehrte Schale bedeckt wurde. Früher hat man diese Form der Bestattung mit den Philistern in Verbindung gebracht, doch Helga Weippert konnte überzeugend nachweisen, „dass die Sarkophagbestattungen ein ägyptisches und kein philistäisches Proprium darstellen.“114 Demnach handelt es sich um eine Bestattungsform, welche Ägypter (oder ein eng mit Ägypten verbundener Teil der Bevölkerung) vom 13. bis 11. Jh. v.Chr. in Palästina bevorzugten. Dass diese Form sich so deutlich von den einheimischen Bestattungssitten unterschied und dass sie räumlich und zeitlich so klar umrissen war, verdeutlicht den relativ geringen Einfluss, den die funeräre Kultur Ägyptens auf das Bestattungswesen der Eisenzeit in Palästina ausübte. Auch Bestattungen in Asche-Urnen (Abb. 12), die letzte hier zu behandelnde Begräbnisform der Eisenzeit aus Palästina, sind mit einer bestimmten ethnischen Gruppe in Verbindung zu bringen. Sie treten in Palästina an solchen Küstenorten auf, in denen Phönizier lebten (z.B. Atlit; Achsib).115 Im Rahmen des in sich keineswegs homogenen phönizischen Bestattungswesens stachen die Kremation und anschließende Bestattung der Asche in Urnen als eine typische und charakteristische Besonderheit der Phönizier hervor. Die damit verbundenen Begräbnisriten können derzeit am besten an den neuen Befunden der eisenzeitlichen Nekropole von Tyros abgelesen werden (ca. 850–600 v.Chr.).116 Die Ausgräberin, M.E. Aubet, vermochte aufgrund der Befunde einheitliche Begräbnisriten für Tyros zu rekonstruieren, die auf spezifische Jenseitsvorstellungen und auf kultische Handlungen schließen lassen. Demnach verbrannten die Tyrer ihre Toten in (nicht aufgefundenen) Verbrennungsplätzen innerhalb der (nach Erwachsenen und Kindern getrennten) Friedhöfe. Sie sammelten die menschlichen Asche-Überreste in eine erste und die übrigen Reste des Feuers in eine zweite Urne.117 Sodann hoben sie eine Grube aus, hielten ein Totenmahl und ordneten die Asche-Urnen sowie das Geschirr des Totenmahles (eine Kanne und eine Trinkschale)118 zusammen mit einem Ölkännchen sorgsam in der Grabgrube an (vgl. eine entsprechende Anordnung in Achsib: Abb. 12). In Tyros konnte nachgewiesen werden, dass die Grube dann mit Brennmaterial ausgefüllt wurde und in ihr ein zweiter Begräbnisbrand erfolgte. Noch während die Glut glomm hat man die Grube zugeschüttet, bedeckt und durch eine Grabstele markiert.119 Abschließend
114
WEIPPERT, Palästina, 371; vgl. auch VON LIEVEN, Ägyptische Einflüsse, 103f. Vgl. zu den unterschiedlichen Bestattungsformen der Nekropolen von Achsib PRAUSNITZ, Nekropolen; DAYAGI-MENDELS, Akhziv Cemeteries; MAZAR, Achziv; DIES., Family Tomb. 116 Vgl. zum Folgenden AUBET, Begräbnispraktiken (mit Literaturangaben). 117 Gegenstände der Trachtsitte (z.B. Schmuck aus Metall, Knochen oder Stein) hat man mit den Leichen verbrannt und die Reste zusammen mit der übrigen Asche dann in den Urnen deponiert. Eine Ausnahme bilden Skarabäen, die man unverbrannt oben auf die Asche in den Urnen mit den Knochenresten legte. Dies unterstreicht den Amulettcharakter der Skarabäen und findet seine Analogien in der Verwendung von Amuletten bei Begräbnissen in Ägypten. 118 Die von M.E. Aubet vorgenommene Deutung der (Wein-[?])Kanne und der Trinkschale als Geschirr des Totenmahles überzeugt. Aus der Art und Weise, wie das Geschirr in der Grube auf die Urnen bezogen war, lässt sich m.E. erkennen, dass damit die Teilnahme des Toten an dem Mahl symbolisiert wurde. 119 Nicht alle Gräber wiesen eine Stele auf. Die vorhandenen Grabstelen waren anikonisch gestaltet oder trugen ein (Götter-)Symbol und/oder kurze Inschriften mit den Na115
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wurde das restliche Geschirr des Totenmahles über der Grube zerschmissen. Durch die doppelte Verbrennung nahm das Feuer eine zentrale Stellung in den Begräbnisriten der Tyrer ein, mit denen diese beabsichtigten, ihre Toten ordnungsgemäß vom Diesseits ins Jenseits zu geleiteten. In Juda (und soweit ersichtlich auch in Israel) kamen keine Kremationen vor, da hier Körperbestattungen die Regel waren.120 Dem entspricht, dass im Alten Testament Totenverbrennungen nur in Sonderfällen erwähnt werden (1 Sam 31,12f) oder als Fremdkult erscheinen (Jes 30,33; 2 Kön 23,10; Jer 7,31; 19,5f; „Tofet“ in Jerusalem). Nach den neuen Erkenntnissen aus der Nekropole von Tyros könnte es sich bei diesem (archäologisch nicht nachgewiesenen) Jerusalemer „Tofet“ um einen Kremationsfriedhof handeln, in welchem Phönizier, die in Jerusalem lebten, ihre Toten in Asche-Urnen bestattet haben.
3. Resümee Im Rückblick auf die eingangs angeführten Definitionen von Toten- und Ahnenkult ist für Israel und Juda zunächst festzuhalten, dass die Archäologie weder für die eine noch für die andere Form der kultischen Adoration Verstorbener irgendwelche Beweise erbringt. Haftpunkte eines Ahnenkultes könnten die Königsgräber in Jerusalem und Samaria gewesen sein, doch weder archäologisch noch exegetisch gelingt ein entsprechender Nachweis. Deutlich tritt allerdings der singuläre Status hervor, den die Königsbestattungen eingenommen haben und durch den sie im Verlaufe der späteren judäischen Königszeit (8.–7. Jh. v.Chr.) vermutlich die Prunkgräber der Jerusalemer Oberschicht in der Ostnekropole beeinflusst haben. Überschaut man die verschiedenen Quellen, die der Rekonstruktion des Bestattungswesens in Palästina zur Verfügung stehen, dann kann es nicht als wahrscheinlich gelten, dass Totenkult im Sinne der Definition ein integraler Bestandteil der israelitisch/judäischen Kultur war. Die kleine Anzahl an kultischen Gefäßen innerhalb der judäischen Gräber, die geringe Größe der Gräber und das Fehlen von Kultinstallationen in ihren Innen- oder Außenbereichen sprechen gegen die These regelmäßiger Kulthandlungen und -feiern für die religiöse Verehrung von Verstorbenen.121 Ein Totenkult im Sinne der eingangs angeführten Definition ist in Juda also nicht nachweisbar, aber die verschiedenen Quellen bezeugen für den Bereich Judas spezifische Begräbnisriten, welche die dahinter stehenden
men der Verstorbenen; vgl. SADER, Funerary Stelae; siehe auch oben die Ausführungen zu den Inschriften aus ̳irbet el-Kčm. 120 Vgl. z. B. WENNING, Grab (WiBiLex). 121 Zu der Schlussfolgerung, dass der archäologische Befund gegen die These eines Totenkultes spricht, vgl. WENNING, Grab (NBL), DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, 82f; DERS., Medien, 129; DERS., Grab seines Vaters, 14; DERS., Grab (WiBiLex).
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Jenseitsvorstellungen und eine funeräre judäische Identität in Umrissen zu erkennen geben. Als erstes wesentliches Merkmal dieser Begräbnisriten ist die Rolle der Familie zu betonen: Es waren Gräber für Familien, und die Familiengemeinschaften führten die Begräbnisse durch. Das zweite wesentliche Merkmal bestand aus der Beigabe von Gefäßen, um die Toten zu versorgen. Die Symbolik der Beigaben bezog sich vermutlich nicht nur auf den begrenzten Zeitraum der Verwesung, sondern allgemein auf die Zeit nach der Grablegung. Ein drittes Merkmal der judäischen Begräbnisriten bildete die Hoffnung auf göttlichen Schutz und Segen für die Toten. Die Befunde, welche diese Hoffnung bezeugen,122 treten zwar seltener auf als Gefäßbeigaben, aber sie erscheinen mit signifikanter Regelmäßigkeit in den Gräbern. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass das Bitten um göttlichen Schutz und Segen ein konstitutiver Bestandteil der Begräbnisriten in Juda war. Diese Funktion fiel vermutlich vor allem solchen Bestandteilen der Begräbnisriten zu, die keine materiellen Spuren hinterlassen haben (Gebete, Trauergesänge etc.). Alle diese Befunde zeigen: „Durchweg herrscht die Überzeugung von einem gewissen Weiterleben des Toten in seinem Grabe.“123 Auf welche Arten und Weisen sich die Menschen in Juda dieses Weiterleben vorgestellt haben, lässt sich mit Hilfe der Archäologie aber nicht näher bestimmen. Ihre Vorstellungen haben jedenfalls nicht dazu geführt, die Gräber als Häuser oder Wohnungen zu gestalten, in denen die Toten ein jenseitiges Leben als vollwertiges Abbild des Lebens im Diesseits hätten führen können. Grab und Begräbnis in Israel/Juda waren nicht darauf gerichtet, mögliche Existenzformen im Jenseits systematisch zu explizieren, sondern ein „Band zwischen den Lebenden und den Toten“124 zu knüpfen. Dieses Band war in erster Linie auf die diesseitige Lebenswelt bezogen. Dabei verfügten die israelitisch-judäischen Begräbnissitten über eine beträchtliche Bandbreite, wie sowohl die archäologisch fassbaren Lokaltraditionen125 als auch der vielschichtige alttestamentliche Textbefund zeigen.126 Für den Bereich Judas kann trotz der Bandbreite mit einer eigenen funerären Identität gerechnet werden, welche sich durch die oben hervorgehobenen Merkmale auszeichnete. Vergleiche mit zwei markanten Bestat-
122
Zu diesen Befunden zählen Götterfiguren in Menschen- oder Tierform, Sitzmöbel, Amulette, Rasseln sowie die Schriftfunde von ̳irbet el-Kčm und Silwan. 123 KOCH, ɛɄɚ, 1155. 124 JANOWSKI, Gott Israels, 273f. 125 Auf die Bedeutung der unterschiedlichen lokalen Traditionen des Bestattungswesens in Juda hat R. Wenning vielfach hingewiesen; vgl. z.B. WENNING, Medien, 122ff. 126 Vgl. BERLEJUNG, Tod, 2.
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tungsformen aus der unmittelbaren Umwelt Palästinas lassen die spezifisch judäischen Eigenheiten deutlicher hervortreten. In Ägypten bildete die Mumifizierung den Mittelpunkt der Begräbnisriten. Sie zielte darauf, die Körper der Toten möglichst gut und lange zu konservieren. Eine gegenteilige Absicht verfolgte die in Phönizien praktizierte Kremation, bei welcher das Feuer feierlich und unwiederbringlich die Körper zerstörte, aus denen das Leben gewichen war. Die Judäerinnen und Judäern wussten sicherlich um diese Formen des Umgangs mit Verstorbenen, die bei ihren Nachbarn gepflegt wurden, doch es blieben für sie fremdartige Sitten, denen sie distanziert gegenüberstanden oder die sie ganz ablehnten. Für sie stand vielmehr auch nach dem Tode weiterhin das im Mittelpunkt, was sie schon zu Lebzeiten bestimmt hatte: das Eingebundensein in den Familienverband unter göttlichem Schutz und Segen.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1–4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8–10 Abb. 11 Abb. 12
Umzeichnungen nach PRITCHARD, Cemetery, 10.19.23 Umzeichnung nach MACKENZIE, Beth-Shemesh, Pl. 5 Umzeichnung nach USSISHKIN, Tombs, Fig. 2. Umzeichnung nach BARKAY u.a., Amulets, Fig. 2 Umzeichnungen nach USSISHKIN, Silwan, Fig. 23.46.62 Umzeichnung nach DOTHAN, Cemetery, Fig. 11 Umzeichnung nach PRAUSNITZ, Nekropolen, Abb. 2
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Trauerriten und Totenklage im Alten Israel Frauenmacht und Machtkonflikte SILVIA SCHROER
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit jenen Ritualen, die den Tod eines Menschen begleiten, aber anders als Rituale der Totenversorgung oder als der Totenkult weniger dem Verstorbenen als den Weiterlebenden gelten. Er geht von einigen Grundsätzen aus, die an dieser Stelle nicht weiter begründet und dargelegt werden können, für das Verständnis des Folgenden aber hilfreich sein dürften. 1. Kummer und Traurigkeit sind zwar individuelle und mehr oder weniger biologisch verwurzelte Affekte, der Umgang mit ihnen ist aber durch gesellschaftliche Konventionen geregelt, die bisweilen mit der auslösenden Emotion nur noch bedingt zu tun haben. Während das deutsche Wort Trauer sowohl das Gefühl als auch den konventionsgesteuerten Umgang mit ihm bezeichnet, wird im Englischen zwischen Traueremotionen (grief, sadness) und Trauerriten (mourning) etwas deutlicher unterschieden. Im Hebräischen bezeichnen beispielsweise verschiedene Stammformen von bkh das Weinen und laute Klagen sowie im umfassenderen Sinn den Vollzug der Trauer, das Beweinen und Beklagen eines Verstorbenen, einer Stadt usw.1 Es gilt, sich bewusst zu sein, dass sowohl Texte als auch Bilder, gleich welcher Kultur, nicht direkt wiedergeben, was Menschen bei Todesfällen empfanden, sondern wie die Kultur mit diesen Empfindungen umging, sie normierte, regulierte und inszenierte. Texte und Bilder stimmen bisweilen in ihren Aussagen überein, bisweilen verfolgen sie aber auch eine je verschiedene Agenda. 2. Im Bereich von Trauer und Klage bilden der gesamte Mittelmeerraum, das Alte Ägypten und Mesopotamien eine kulturelle Koine, die auch die Vorstellungen vom Weiterexistieren (nicht Weiterleben!) Verstorbener nach dem Tod in der Unterwelt umfasst.2 Die biblischen Hinweise auf 1
GRUBER, Nonverbal Communication, 401–479. Die Quellenlage ist allerdings nicht ganz homogen. Für Ägypten, dessen literarische und materielle Hinterlassenschaft sehr weitgehend um Tod und Weiterleben kreist, liegen neben Zeugnissen verschiedener Textgattungen auch zahlreiche Bilddokumente von Trauergesten und -ritualen vor (vgl. beispielsweise WERBROUCK, Les Pleureuses). Das2
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Trauerriten und Totenklage sind daher unbedingt auch in Beziehung zu den Nachbarkulturen zu betrachten und in diesem Fall besonders und vielleicht mehr als bisher üblich, zu den reichhaltigen Hinweisen aus Literatur und Ikonographie Griechenlands. Ich möchte nicht postulieren, dass es direkte Abhängigkeiten zwischen Bild- oder auch Texttraditionen Israels und Griechenlands gegeben hat oder dass solche nachweisbar wären, aber beide Kulturen schöpfen aus einem in diesem Fall sehr großen, gemeinsamen Pool von Motiven und Bräuchen. 3. Geburt und Tod rufen nach Formen religiösen Ausdrucks. Wahrscheinlich befinden wir uns hier in wichtigen Zentren praktizierter Religion aller antiken Kulturen. Von diesen in der Fachliteratur, zumal in der biblischen Fachliteratur, lange Zeit marginalisierten Zentren her müsste m.E. eine Religionsgeschichte geschrieben werden, die weibliche Subjekte sichtbar macht. Die biblischen Texte selbst erleichtern uns diese Aufgabe nicht, weil sie manche Lebens- und Erfahrungssphären nicht um ihrer selbst willen ausleuchten und darstellen wollen oder weil ihre Agenda tatsächlich androzentrisch ist. Besonders Frauen hatten aber, wo es um Geburt und Tod ging, Einfluss und Macht, wer immer in den Tempeln des Landes von wem und zu welchen Anlässen oder in welcher Form verehrt wurde. Vielleicht kann man es in Abwandlung eines geflügelten Wortes von Helga Weippert so sagen: Tempel, Götter und Priesterschaften kommen und gehen, aber die Hebammen und die Klagefrauen bleiben.3 Es liegt nahe, dass sich zwischen den verschiedenen Sphären (Alltagsreligion, Tempelkult usw.) unter Umständen Macht- und Interessenskonflikte aufbauen konnten.
selbe gilt für Griechenland (HOLST-WARHAFT, Dangerous Voices; HUBER, Ikonographie der Trauer; HURSCHMANN, Trauer). Hingegen wissen wir über den Vollzug der Totenklage in Mesopotamien fast ausschließlich aus literarischen Werken mit mythisch-sagenhaften Erzählstoffen (zu Gilgameschs Tod vgl. CAVIGNEAUX/AL-RAWI, Gilgameš; vgl. zu Enkidus Tod und Gilgameschs Trauer im Gilgamesch-Epos MAUL, Trauerriten; zu „Urnammas Tod“ [= Urnamma, Hymne A] vgl. FLÜCKIGER-HAWKER, Urnamma, 93–182; zu den Dumuzi- und Damu-Traditionen s. FRITZ, Tammuz, bes. 343–351; vgl. zum ganzen Komplex der Totenweltvorstellungen zuletzt KATZ, Netherworld), während die eher sozialgeschichtlichen oder realienkundlichen Aspekte in der Forschung noch sehr im Hintergrund stehen (vgl. aber SCURLOCK, Death, 1885f sowie besonders NASRABADI, Bestattungssitten; MAUL, Trauerriten). Die ugaritischen Bräuche sind aus Szenen im Baal-Zyklus bekannt (KTU 1.5 VI,11–18); vgl. dazu schon HVIDBERG, Weeping, 15–49. 3 WEIPPERT, Palästina, 352: „Könige kommen, Könige gehen, aber die Kochtöpfe bleiben“.
Trauerriten und Totenklage im Alten Israel
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Eine umfassende Darstellung der Trauerrituale im Alten Israel kann hier nicht vorgelegt werden.4 Stattdessen sollen zwei Besonderheiten genauer betrachtet werden, nämlich zum einen das auffällige Gendervorzeichen der Trauer, und zum anderen die Bemühungen um die Restriktion von sehr expressiven, im wörtlichen Sinn „einschneidenden“, Trauerriten. Diese Restriktionsversuche lassen sich im Ersten Testament vor allem an drei Gesetzesvorschriften festmachen, während sie im klassischen Griechenland sehr viel ausgeprägter nachweisbar sind.
1. Sinn und Zweck der Trauerriten und der Totenklage Zu den Trauerbräuchen, im Hebräischen oft generell mit Qal oder HitpaŦel von ťbl bezeichnet, zählt man Fasten (̸wm), Kleiderzerreißen, Tragen von speziellen Kleidern (ěaq), Verzicht auf Schmuck und Körperpflege, Barfüßig- und Barhäuptigkeit, Verhüllung von Bart und Gesicht, Haareraufen und Haareausreißen, das Schlagen des Kopfes und der Brust, Scheren von Kopf- und Barthaaren oder auch das Gegenteil (Verzicht auf Haarpflege), Aufkratzen oder Einschneiden der Haut, sich mit Erde beschmutzen und sich in den Dreck setzen. Diese Gesten werden traditionell als Selbstminderungsriten interpretiert, doch können sie auch noch weitere Bedeutungen aufnehmen, z.B. als Trennungsriten. Sie können mit der Ehre des Verstorbenen zu tun haben oder mit Opfervorrichtungen für ihn, z.B. wenn das abgeschnittene Haar auf die Leiche gelegt wird. Daneben gibt es Stärkungs- und Trostrituale, wie das Reichen von Trauerbrot und Trauerbecher oder das Leichenmahl. Beide Ritualgruppen stellen Verarbeitungen, Verschmerzungen des Schocks dar, den ein Todesfall beim einzelnen Menschen und der Gemeinschaft, der er zugehörig war und bleibt, auslöst. Der Sinn einzelner Selbstminderungsriten ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Ich möchte hier an der alten Interpretation festhalten: Keine Nahrung aufzunehmen, die gewöhnliche Kleidung zu verweigern, sich körperlich zu kennzeichnen oder sogar zu versehren und im Staub zu sitzen, das alles sind starke, kommunikative Zeichen. Der oder die Trauernde steigt vorübergehend aus dem Leben der Lebenden aus, nimmt sich selbst als schwer verletzt und todbedroht wahr und versucht dem Ausdruck zu verleihen, will aber auch das Zusammensein mit dem Verstorbenen durch diese äußeren Zeichen verlängern, sich der Trennung verweigern. Trauerriten wirken schmerzlindernd und helfen sicher in ihrer urtümlichen Weise, 4
Vgl. HARDMEIER, Totenklage; JAHNOW, Leichenlied; KUTSCH, „Trauerbräuche“; OLYAN, Biblical Mourning; PHAM, Mourning; QUELL, Auffassung des Todes; WÄCHTER, Tod.
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in einer extremen Situation des Verlustes nicht verrückt zu werden. Der heilsame Effekt der Trauerriten kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass es in Israel als Strafe empfunden wurde, nicht in dieser Weise expressiv und rituell trauern zu können (Jer 16,6; vgl. 41,5f). Die Stärkungs- und Trostrituale, die fast gleichzeitig einsetzen können, sind bereits eine Begleitung auf dem Weg ins Leben zurück. Auch die Totenklage, im Hebräischen mit Formen der Wurzel spd bezeichnet, ist ein Element der gemeinschaftlichen Bräuche, die sich um Tod und Bestattung eines Menschen gruppieren. Sie umfasst das Mark und Bein erschütternde Schreien, das hemmungslose Weinen,5 aber auch eigentliche Klagelitaneien, eingeleitet mit dem Weheruf (hôy), und das Leichenlied (qînÁh), das rhythmisch-musikalisch und literarisch feste Formen annahm.6 Die Totenklage war in der Antike stark ritualisiert, sie ist es bis ins letzte Jahrhundert im Mittelmeerraum geblieben (Griechenland7 und Italien) und ist es bei den muslimischen AraberInnen bis heute. Im Folgenden möchte ich, nicht zuletzt weil in den Texten des Ersten Testaments die verschiedenen Ausdrucksformen der Trauer und Klage oft im Verbund erwähnt werden, den Komplex Trauerriten und Totenklage als einen einzigen Gesamtkomplex von verschiedenen Riten angehen. Primär gehören diese zum Umfeld des Todes von Familienangehörigen, doch finden sie sich in den biblischen Schriften häufig übertragen in einen politischen Kontext, wenn es um kollektive Katastrophen wie den Untergang einer Stadt geht. Manche Riten, besonders das Fasten,8 können auch andere Lebenssituationen begleiten, z.B. präventiv zur Verhinderung von Unheil eingesetzt werden; sie sind nicht exklusiv mit Tod und Trauer verbunden. Dass dieselben Gesten, die den realen Tod eines Mitmenschen begleiten, auch beim sozialen Tod,9 also in Situationen völliger Verzweiflung eine Rolle spielen, ist, von der alttestamentlichen Anthropologie her gedacht, selbstverständlich. Tamar, die Tochter Davids, reagiert auf ihre Vergewaltigung durch den Halbbruder Amnon wie auf ihren eigenen Tod, indem sie schreit, sich schlägt, Asche auf den Kopf streut und ihre Kleider zerreißt (2 Sam 13,19).
5 Mi 1,8 vergleicht das Klagegeschrei mit dem Heulen und Jammern von Schakalen und Straußen. 6 JAHNOW, Leichenlied. 7 ALEXIOU, Ritual Lament. 8 PODELLA, Sôm. 9 Vgl. HASENFRATZ, Die toten Lebenden.
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2. Haarescheren und Hautritzen als drastische Trauerbräuche Die alttestamentlichen Texte zeichnen bezüglich der Klage ein buntes, aber im Blick auf „normale“ familiäre Trauerfälle keineswegs lückenloses Bild. Häufiger als von der eigentlichen, auf ein Individuum bezogenen Totenklage ist nämlich von der Klage über kollektive Katastrophen die Rede, die wiederum in einer alten literarischen Tradition von Stadt- und Untergangsklagen steht. Neben den Stadtklagen (hebr. nehî) kennen vor allem die Prophetenbücher eine ausgesprochene Trauer- und Klagemetaphorik, die oft drohend und warnend als rhetorisches Mittel eingesetzt werden.10 Trotz dieser literarischen Verwendung lassen die Texte erkennen, welche Bräuche normalerweise in Israel mit Klage und Trauer einhergingen. Gewöhnlich sind die Klageriten expressiv, man klagt in aller Öffentlichkeit laut und gestenreich: Sterben werden Große und Kleine in diesem Lande und nicht begraben werden, und man wird nicht um sie klagen (yispedû) und sich keine Schnittwunden zufügen (yitgodad) noch sich ihretwegen kahlscheren (yiqqÁrea̲). Man wird dem Trauernden kein Brot brechen, ihn zu trösten über einen Toten, keinen Trostbecher reichen wegen Vater und Mutter. (Jer 16,6f) Am zweiten Tage nach der Ermordung Gedaljas nun, als noch niemand etwas erfahren hatte, kamen Männer von Sichem, von Schilo und Samaria, achtzig Mann mit abgeschnittenem Bart und zerrissenen Kleidern und selbst beigefügten Schnittwunden (mitgodedîm); die hatten Weihrauch und Opfergaben in ihren Händen, um sie zum Hause JHWHs zu bringen. (Jer 41,4f)
Die Passagen aus dem Buch Jeremia legen nahe, dass das Abschneiden von Kopf- und Barthaaren, das Hautritzen bzw. die Zufügung von Schnittwunden zu den bekannten, vielleicht sogar üblichen Trauerbräuchen Israels gehörten, da von diesen Sitten en passant und ganz selbstverständlich berichtet wird. Es wird ebenso selbstverständlich angenommen, dass die MoabiterInnen und AmmoniterInnen oder die BewohnerInnen von Aschkelon in derselben Weise trauern: Alle Köpfe (Moabs) sind geschoren, alle Bärte abgeschnitten, an allen Händen sind Ritzwunden (gedudot), und um die Hüften hängt das Trauergewand. (Jer 48,37; vgl. 49,3)
Die zerstörte Stadt Aschkelon wird in Jer 47,5 gefragt: Wie lange willst du dich blutig ritzen (titgôdÁdî)?
10
Vgl. dazu ausführlich schon HARDMEIER, Texttheorie; zuletzt DERS., Totenklage.
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Auch in Ugarit scheint, wenn man in den mythischen Erzählungen eine wenigstens partielle Widerspiegelung alltäglicher Bräuche erkennen will, das Hautritzen im Trauerfall üblich gewesen zu sein. Sowohl El als auch Anat trauern um Baal, indem sie sich am ganzen Körper mit einem Stein und einem Schermesser in furchtbarer Weise zerkratzen und schneiden: Sodann stieg herab der Barmherzige, El der Gütige, von seinem Thron, setzte sich auf den Schemel, und vom Schemel setzte er sich auf die Erde. Er schüttete Trauerasche auf sein Haupt, Staub aus dem Dreck auf seinen Scheitel. Das Kleid zerschnitt er zu einem Schurz, die Haut zerkratzte er mit einem Stein zu einem Schnitzwerk, mit einem Messer zerschnitt er Wangen und Bart. Er zerfurchte dreifach seine Arme, pflügte wie einen Garten die Brust, wie ein Tal zerfurchte er dreifach die Rippengegend. (KTU 1.5 VI 11–22)11
3. Die Klage der Frauen Zur Totenklage bei Katastrophen werden alle aufgeboten, die der Totenklage kundig sind: Darum spricht JHWH, der Gott der Heerscharen, der Herr: Auf allen Plätzen erschallt die Totenklage (misped), auf allen Gassen schreit man: Weh, weh! Den Landmann ruft man zur Trauer (ťbl), die der Klage kundig sind (yôdŦê næhî), zur Trauer. Auch in allen Weinbergen erschallt die Totenklage (misped), denn ich werde durch dich hindurchschreiten, spricht JHWH. (Am 5,16f)
Auffällig oft sind es jedoch Frauen oder kollektive weibliche Größen wie die Töchter Jerusalems (2 Sam 1,24; vgl. Jer 6,26; Klgl 1; Ez 32,16) oder die Töchter Rabbas usw., die zur Klage aufgerufen werden: Ihr sorglosen Frauen, auf, hört meine Stimme! Vertrauensselige Töchter, vernehmt meine Rede! [...] Erbebt, ihr Sorglosen. Erzittert, ihr Vertrauensseligen! Zieht euch aus und entblößt euch und umgürtet die Lenden. Klagend schlagen sie sich auf die Brust (...). (Jes 32,9–12)
Einen wichtigen Hinweis auf die Existenz von professionellen Klagefrauen gibt Jer 9,16–20: 11
Übersetzung nach LORETZ, Ugarit, 112. Die Beschreibung der Trauer Anats in KTU 1.6 I 2–5 ist sehr ähnlich. Das Aqhat-Epos nennt unter Trauernden und Weinenden auch „Hautritzer“ (KTU 1.19 IV 10f.21f). Vgl. auch HVIDBERG, Weeping.
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So spricht JHWH Zebaot: Gebt acht, ruft die Klagesängerinnen (lamqônenôt), sie sollen kommen. Nach den weisen Frauen (ha̲akÁmôt) schickt, dass sie wehklagen. Sie sollen eilen und über uns anheben den Klagegesang, dass unsere Augen von Tränen überfließen, unsere Wimpern von Wasserströmen. Ja, Klagestimmen (qôl nehî) sind von Zion her zu hören: Wie sind wir verwüstet, wie sind wir mit Schmach bedeckt! Denn wir müssen das Land verlassen, unsere Wohnstätten sind zerstört! So hört, ihr Frauen, das Wort JHWHs, euer Ohr vernehme das Wort seines Mundes. Lehrt eure Töchter die Klage (næhî), eine jede die andere den Trauergesang (qînÁh): Der Tod ist uns durchs Fenster gestiegen, ist eingedrungen in unsere Paläste. Er schlägt das kleine Kind auf der Gasse und den jungen Mann auf dem Markt.
Die hier erwähnten Frauen konnten, vergleichbar vielleicht den Hebammen bei der Geburt, aus der Nachbarschaft zusammengerufen werden. Sie verfügten über ein Know-How, das nicht alle hatten, weshalb sie als „weise“ galten.12 Ob sie bezahlt wurden, wissen wir nicht. Es wird aber eine Frage von Einfluss und Status einer Trauerfamilie gewesen sein, wieviele Klagefrauen da kamen, wie laut sie waren und was sie schrien oder sangen. Deutlich wird, dass sie jedenfalls in Jer 9, wo es sozusagen um den größten anzunehmenden Trauerfall überhaupt geht, im Auftrag der Öffentlichkeit und als Repräsentantinnen der Öffentlichkeit klagen. Ihre Funktion ist katalysatorisch, sie sollen zum Weinen animieren. Sie lamentieren laut und als Sprecherinnen des Kollektivs: „Wir sind verwüstet!“ Die Ausbildung zur Klagefrau findet wiederum in der Familie statt, sodass die Bereiche Haus und Öffentlichkeit fest miteinander verbunden sind: Die Mutter lehrt die Tochter das Klagen, d.h. die richtigen Gesten, die rechte Kleidung, das richtige Verhalten im Umgang mit den Trauernden, bei der Bestattung, und sie lehrt sie die passenden Gesänge, das Deklamieren der Wehrufe und die qînÁh, das Leichenlied. Wir haben es also mit mündlicher Tradition zu tun, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.13 Die Verschriftlichung der Tradition hat jedoch deren Gendervorzeichen markant verändert, denn keines der überlieferten Leichenlieder auf einen bestimmten Toten14 des Ersten Testaments wird auf eine Frau als Sängerin oder gar Autorin zurückgeführt, vielmehr werden sie als Männertradition autorisiert, so Davids Lieder auf Saul und Jonatan (2 Sam 1,19–27) oder Abner (2 Sam 3,33f). Auf David werden auch manche Klagepsalmen (Pss 3; 7; 51; 54; 56f; 59; 63; 142) zurückgeführt, und nach 2 Chr 35,25 gab es Klagelieder Israels, die Jeremia auf Joschija gedichtet habe. Mit dem An 12
JOST, Himmelskönigin, 136 weist auf die Auffälligkeit hin, dass die ebenfalls als „weise“ (̲åkmÁh) bezeichnete Frau von Tekoa in 2 Sam 14,1–20 sich als trauernde Witwe verkleidet, um den König in das von Joab angeregte Gespräch zu verwickeln. 13 Vgl. die ausdrückliche Erwähnung der klagenden Frauen in Sach 12,11–14 und 2 Chr 35,25. 14 Vgl. zu den Leichenliedern schon JAHNOW, Leichenlied, und zu den Klageliedern BARTH, Errettung.
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satz von Athalya Brenner und Fokkelien van Dijk-Hemmes15 können wir nach den „female voices“ in den Toten- und anderen Klageliedern16 des Ersten Testaments suchen. Dass das Buch der Klagelieder als Klagegesang eines Frauenkollektivs komponiert ist, wird heute meistens angenommen.17 Die Klage von Frauen war unter Umständen eine brisante Angelegenheit. Totenklage hat von der Antike bis in die Gegenwart (Argentinien, Kurdistan, Palästina) eine politische Dimension, die in den biblischen Erzählungen ebenfalls zum Tragen kommt. David geht ostentativ an die Beerdigung Abners (2 Sam 3,31–39), um zu zeigen, dass er unschuldig an dessen Ermordung ist. Wie politisch auch die Totenklage von Frauen werden konnte, zeigt eindrücklich die Geschichte der Rizpa in 2 Sam 20,10– 14.18 Diese Frau hält wochenlang Totenwache bei den unbestatteten Leichen ihrer Söhne, die Opfer eines politischen Mordes wurden. Sie erreicht damit, dass der Mörder, kein geringerer als König David, eine anständige Bestattung anordnet und so den Toten wie auch ihren Familienangehörigen, ihrem Haus, wenigstens die menschliche Würde zurückgibt. Die Totenklage wird in den biblischen Texten häufig mit Frauen assoziiert (vgl. auch die Hervorhebungen in Sach 12,12ff). Sie verstärken die öffentliche Dimension eines Todesfalls durch besondere Klageriten und Gesänge. Während der Akt der Bestattung in der Verantwortung des nächsten männlichen Angehörigen bzw. des pater familias lag und sich alle Familienangehörigen den Trauerpflichten unterwarfen, haben Frauen einen besonderen Klageauftrag. Sie machen den Todesfall in der Nachbarschaft bekannt, sie gestalten den rite de passage, proklamieren die Befindlichkeit des Kollektivs und integrieren die Toten in das Gedächtnis der Gemeinschaft. Die meisten alttestamentlichen Texte verorten Klage und Trauer im 15 BRENNER/VAN DIJK, Gendering Texts, bes. 83–90 lenken die Aufmerksamkeit weg von der historischen Frage nach der weiblichen Autorinnenschaft von Texten und hin zur literaturgeschichtlich relevanten Frage nach männlichen oder weiblichen „Stimmen“ auf der Textebene. BAIL, Gegen das Schweigen, versucht, die alttestamentlichen Klagepsalmen als „female voices“ zu lesen. 16 Totenlieder beschrieben nach gebührender Anrufung der Verstorbenen (2 Sam 19,1.5; Jer 22,18; 34,5) rühmend ihre Bedeutung für die Lebenden, Klagelieder nach Katastrophen die vergangene Pracht einer Stadt usw. (Ez 19; 27). 17 Vgl. zuletzt ausführlich PHAM, Mourning. Israelitinnen wurden nicht nur im Unglück auf die öffentliche Bühne geholt. Man erwartete von ihnen gleichermaßen, dass sie mit Handtrommel und Siegesliedern die erfolgreich heimgekehrten Krieger feierten (Ex 15,19–21; Ri 5; 11,34; 1 Sam 18,7), also auch in diesem Fall die Befindlichkeit des Kollektivs proklamierten. Vgl. BRENNER/VAN DIJK, Gendering Texts, 32–48; SCHOTTROFF/SCHROER/WACKER, Feministische Exegese, 153. Der Inhalt der von Frauen gesungenen und später überlieferten Siegeslieder war nach 1 Sam 18,6f ebenfalls von höchster politischer Brisanz. 18 Vgl. ausführlich MIESCHER, Rizpa.
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öffentlichen Raum (auf den freien Plätzen, der Gasse vor dem Haus, am Grab, auf der Stadtmauer), nicht im Haus.
4. Das Gendervorzeichen der Totenklage in der Ikonographie Die Ikonographie bezeugt für die ägyptische, vorderorientalische und griechische Antike, dass Totenklage in hohem Maß, wenn auch nicht ausschließlich, als Aufgabe der Frauen angesehen war oder dargestellt wurde, und zwar sowohl der weiblichen Familienangehörigen als auch professioneller Klagefrauen.19 Während männliche Familienangehörige ebenfalls Trauer zeigen und in Ägypten wie Griechenland beim Bestattungszug präsent waren, gibt es kein männliches Pendant zu den wiederkehrenden Gruppen von Klagefrauen (Abb. 120 und Abb. 221).
Abb. 1
Abb. 2
19
In Ägypten scheint es schon seit dem Alten Reich auch Berufsklagefrauen gegeben zu haben, vgl. SEEBER, Klagefrau. Sie geleiten die Leiche vom Sterbehaus bis zum Grab, d.h. bei der Überfahrt ans Westufer und während des Zuges zur Nekropole. Vgl. zur ägyptischen Ikonographie der Klagefrauen WERBROUCK, Pleureuses. Einen hervorragenden Überblick über die griechische Ikonographie der Trauer gibt HUBER, Ikonographie der Trauer; vgl. auch KILLET, Ikonographie der Frau, 8–44; VAN WEES, History of Tears. 20 Klagefrauen in Prozession auf einer mykenischen Larnax des 13. Jh. v.Chr. aus der Nekropole von Tanagra, im Archäologischen Museum in Theben, Griechenland. 21 Darstellung von klagenden Frauen aus dem Grab des Amenemose, Zeit Sethos’ I.
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Außerdem klagen die Frauen sowohl in Ägypten als auch in Griechenland häufig mit dramatischeren Gesten als die Männer, deren Trauerverhalten insgesamt einen „gemäßigten“ Eindruck macht.22 Die Bildkunst setzt rein quantitativ vor die expressive Trauer ein weibliches Vorzeichen. Typische Gesten sind das Vornüberfallen, das Haareraufen, die über dem Kopf zusammengeschlagenen Hände, das Bewerfen mit Staub, die Entblößung und das Aufkratzen von Wangen und Brüsten.23 Neben der familiären Totenklage ist auch die Klage über die bevorstehende Kapitulation und den Untergang von Städten vorrangig Frauensache. Während ägyptische Reliefs des Neuen Reiches bei der Eroberung syrisch-palästinischer Stadtstaaten die ganze Bevölkerung flehend und klagend auf der Stadtmauer darstellen, zeigen neuassyrische Reliefs vornehmlich Frauen im typischen Klagegestus auf den Zinnen der Stadt.24 Die Bildzeugnisse aus Palästina/Israel bzw. der Levante sind nicht zahlreich und stammen alle aus der ausgehenden Spätbronze- bzw. Frühen Eisenzeit. Die Küstenstädte nahmen in dieser Zeit gleichermaßen ägyptische wie ägäische Einflüsse auf. Der Sarkophag des Königs Ahiram von Byblos, dessen Bildprogramm auf Vorgänger dieses Königs zurückgeht (ca. 1250–1150 v.Chr.), zeigt ägyptische Einflüsse. Klagefrauen mit entblößten Brüsten machen dem thronenden, vergöttlichten Toten neben anderen Prozessionsteilnehmern ihre Aufwartung (Abb. 3). Auf einem Tonsarkophag aus Lachisch (ca. 1200 v.Chr.) ist eine graffitiartige Ritzerei der beiden göttlichen Klagefrauen Isis und Nephtys nach ägyptischem Vorbild erkennbar.25 Vom philistäischen Tell ŦEtun, aus Hazor und vom Tell Jemmeh stammen mehrere früheisenzeitliche Tonfigurinen26 von Frauen, die klagend ihre Arme auf den Kopf legen (Abb. 4).27 Ursprünglich waren die 22 Vgl. für Ägypten KUCHAREK, Trauerphasen, bes. 352ff; für Griechenland STEARS, Death. Vorsichtige Beobachtungen dieser Art zu Mesopotamien finden sich bei FRITZ, Tammuz, 345.358. 23 Vgl. dazu Hdt. II 85: „Totenklage und Begräbnis begeht man bei ihnen in folgender Weise: Wenn in einem Haus ein angesehener Mann stirbt, bestreichen sich sämtliche weibliche Mitbewohner den Kopf und das Gesicht mit Lehm. Sie lassen die Leiche im Haus liegen und laufen aufgeschürzt und mit entblößter Brust durch die Stadt und schlagen sich. Alle weiblichen Verwandten schließen sich ihnen an. Auf der anderen Seite schlagen sich die Männer, ebenfalls aufgeschürzt. Dann bringt man die Leiche zur Einbalsamierung.“ 24 Vgl. dazu KEEL, Sühneriten; SCHROER, Gender und Ikonographie, 116–120. 25 DOTHAN, Philistines, 277 Abb. 15. Die beiden Weihen (drtj), die klagenden Priesterinnen, die den Toten zu Häupten und zu Füßen betrauern, wurden sekundär mit Isis und Nephtys identifiziert und so mythologisiert (SEEBER, Klagefrau). 26 Vgl. ausführlich SCHMITT, Philistäische Terrakottafigurinen (zu den Klagenden bes. 600–607). 27 DOTHAN, Philistines, 239f Abb. 10A und Pl. 23; vgl. die weiteren Figürchen Pl. 24–27.
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Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6
-se Terrakotten auf einem Gefäßrand angebracht, wie vollständig erhaltene, mykenische Parallelen nahelegen (Abb. 5).28 Ägyptische Malereien lassen, wenn sie gut erhalten sind, gelegentlich noch Farbspuren auf Gesichtern von klagenden Frauen erkennen,29 doch müsste im Einzelfall sehr genau geprüft werden, ob nur Tränen oder Blutstriemen aufgemalt waren. In der griechischen Kunst ist der spezielle Trauerritus der Selbstverletzung exklusiv Frauen zugeordnet. Auch Terrakottafigürchen sind im 7. Jh. v.Chr. noch gelegentlich mit blutenden Wangen dargestellt.30 Ein Figürchen dieser Zeit aus Kamiros (Rhodos) zeigt deutliche Kerben im Brustbereich, die das in Texten beschriebene Zerfurchen und Blutigkratzen der Haut andeuten (Abb. 6). Ingeborg Huber31 hat überzeugend nachgezeichnet, wie die drastischen Trauergesten 28
Vgl. dazu auch HUBER, Ikonographie der Trauer, 56f. Vgl. WERBROUCK, Pleureuses, 53 Abb. 33; 55 Abb. 36; 133 Abb. 70 u.ö. Die klagenden weiblichen Angehörigen, aber auch Gruppen von Klagefrauen sind u.a. in den Totenbüchern dargestellt; vgl. beispielsweise den Papyrus des Ani (farbige Abbildung bei ROSSITER, Totenbücher 32f unten). 30 Beispiele schalentragender Klagefrauen mit blutigen Wangen im Kerameikos Museum, Athen. 31 HUBER, Ikonographie der Trauer, passim. 29
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in der griechischen Kunst bereits ab dem 6. Jh. v.Chr. immer mehr der verhaltenen, stillen Trauer (Penelope-Pose, geneigter Kopf, gefaltete Hände) weichen. Sie sieht darin die Auswirkung der von Philosophen und Politikern geforderten Gefühlskontrolle und ihres Versuchs, die Totentrauer dem Einfluss der Familien zu entziehen und sie zur einer Staatsangelegenheit zu machen (vgl. dazu weiter unten).32 Die in die Mitte des 4. Jh. v.Chr. datierenden ausgemalten Kistengräber aus dem unteritalischen Paestum (Magna Graeca) stellen eine Ausnahme dar. Sie zeigen erstaunlich viele trauernde Frauen im Gestus des Haareraufens, Brustschlagens (Sternotypia), mit zerrissener Kleidung und oft mit – eindeutig – blutig gekratzten Gesichtern, Armen und Brüsten (Abb. 7–8).33 Die Gräber von Paestum sind nicht nur beeindruckende Zeugnisse der traditionellen Klagerituale, wie sie in der Vasenmalerei und auf anderen griechischen Bildgattungen dieser Zeit sonst nicht mehr gezeigt werden, sie dokumentieren auch ein neu erwachtes Interesse für die Emotionen, die ihnen zugrunde liegen. Das Bemühen dieser Bilder zielt auf die Anteilnahme der BetrachterInnen am Schmerz der dargestellten Klagenden, der sich nun auch in der Mimik spiegelt.
Abb. 7
Abb. 8
32
In dieser Tradition steht auch der berühmte Klagefrauensarkophag aus Sidon aus dem 4. Jh. v.Chr. (FLEISCHER, Klagefrauensarkophag). 33 Darstellungen aus Grab 53, Mitte 4. Jh. v.Chr.
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Wie ist das Gendervorzeichen der Totenklage in der Kunst der altorientalischen Kulturen zu deuten? Von heutigen Rollenverteilungen her legt sich nahe, die Zuordnung von Weiblichkeit und Emotionalität als das der antiken Frauentrauer zugrundeliegende Muster zu erkennen. „Männer lassen lieben“ fassen noch O. Keel / C. Uehlinger34 den Befund der philistäischen Klagefrauenfigurinen zusammen. Dahinter stehen mehrere Prämissen, die überprüft werden müssen, z.B. wie eng ritualisierte Klage mit Emotionen verbunden ist, oder ob der Ausdruck von Trauer und anderen Gefühlen in Israel überhaupt als weiblich angesehen war und daher als minderwertig, sodass er von Männern nach Möglichkeit delegiert wurde. Letzteres ist eher unwahrscheinlich. Während beispielsweise das hebräische Wort für Mitgefühl (ra̲amîm) ein gut erkennbares weibliches Vorzeichen hat,35 gilt Klagen und Weinen nicht a priori als Frauensache. Auch israelitische Männer zeigen Gefühle. Ein tieferer, in der Welt- und Menschensicht der altorientalischen Kulturen verwurzelter Grund könnte sein, dass Frauen die Rolle von Wächterinnen über den Eingang in das und den Ausgang aus dem Leben übernahmen, dass hier also das Prinzip der Symmetrie36 oder Spiegelbildlichkeit, das für altorientalisches Denken so bedeutend ist, zum Tragen kam. Frauen gelten als Schwellenwächterinnen des Lebens und als genügend stark, klagend dem Tod entgegenzutreten und ihm nicht das letzte Wort zu überlassen.37
5. Die Einschränkung von Trauerbräuchen im Alten Israel Im Ersten Testament finden sich nur selten Indizien für Einschränkungen von oder Kritik an Trauerritualen bzw. an deren falscher oder zu extensiver Praktizierung. Traditionell achtete man offenbar auf die zeitliche Begrenzung von Trauerriten. Noch Jesus Sirach bemisst die (gewöhnliche) Trauerzeit auf sieben Tage (Sir 22,12) und empfiehlt die Befristung der eigentlichen Klagerituale unmittelbar vor und nach der Bestattung auf nur zwei Tage (Sir 38,16–23). Er ermuntert dazu, sich ordentlich dem Schmerz, dem 34
KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, 141. In diesem Wort steckt die Wurzel ræ̲æm „Mutterschoß“, der als ra̲amîm bezeichnete Affekt wird in diesem weiblichen Organ verortet, kann aber auch auf Männer und auf den Gott Israels bezogen werden. Vgl. SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 79–89. 36 Vgl. WAGNER, Parallelismus membrorum. 37 KEEL (Erotik) hat auf die mythologische Bedeutung von Hld 8,6 hingewiesen. Hinter dem Bild von der Liebe(sgöttin), die stark ist wie der Tod, steht die Erinnerung an die machtvollen Göttinnen, die Götter dem Tod entrissen haben (Isis-Osiris, Anat-Baal), aber auch das Image israelitischer Frauen, sich mit allen Mitteln für das Leben zu wehren. Vgl. auch SCHROER, Liebe. 35
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Weinen und Klagen hinzugeben, auch die Trauerbräuche gebührend zu beachten, aber nach der Bestattung möglichst rasch wieder in die Normalität zurückzukehren und die Erinnerung an den Verstorbenen ruhen zu lassen.38 In vielen prophetischen Texten wird bekanntlich die Wirksamkeit des Fastens vor JHWH in Abrede gestellt, sofern die Fastenden sich nicht in ihrer Lebensführung an die göttlichen Gebote halten. Das Fasten kann in verschiedene Zusammenhänge eingebettet sein, wie die Vorbereitung auf einen Krieg, Bitt- und Bußliturgien etc. Es kann auch zu den Trauerbräuchen gehören, wobei wie in Mesopotamien häufig von einer siebentägigen Fasten- und Trauerzeit die Rede ist (vgl. Gen 50,10; 1 Sam 31,13; 1 Chr 10,12; Jud 16,24). In 2 Sam 12,15–23 wird von Krankheit und Tod des Kindes der Batseba und Davids erzählt. David fastet, um Gott zu bewegen, das Kind zu retten. Als es aber stirbt, beginnt er zu essen und verteidigt sein Verhalten gegenüber seinen entrüsteten oder zumindest erstaunten Hofbeamten damit, dass das Fasten das Kind auch nicht mehr zurückholen werde. Erwartet wurde also, dass man beim Tod eines Kindes die Zeit der Trauer auch mit Fasten verbringt. Die erzählte Episode ist im Kern aufklärerisch, d.h. sie stellt den Sinn eines Brauchs in Frage, indem sie ihm einerseits eine bestimmte Funktion zuweist (Fasten kann als Buße durchaus Gottes Zuwendung bewirken) und andererseits einen anderen traditionellen Sinn (Fasten als Minderungsritus) ganz ausblendet bzw. eine Deutung unterlegt, die widersinnig erscheinen muss. Das Fasten wird von David als unnötig abgetan, weil es an den Tatsachen nichts mehr ändern kann. Eine explizite Kritik an Trauerbräuchen findet sich im Ersten Testament vielleicht im Verbot von Hautritzungen39 und Haarescheren.40 Die entsprechenden Vorschriften im Buch Levitikus richten sich offensichtlich an israelitische Männer, deren Barthaar explizit erwähnt wird: Ihr sollt den Rand eures Haupthaars nicht rundum abscheren, auch sollst du den Rand deines Bartes nicht stutzen. Ihr sollt euch keine Schnittwunde (særæ̺) an eurem Fleisch machen für ein Lebewesen (næpæš), auch sollt ihr euch nicht Zeichen (ketobæt qaŦaqaŦ) einritzen, ich bin JHWH [...]. Ihr sollt euch nicht an die Totengeister und an die Wahrsagegeister wenden, ihr sollt sie nicht befragen und euch so an ihnen verunreinigen, ich bin JHWH, euer Gott. (Lev 19,27f.31)
Inkriminiert wird hier offenbar ein radikaler Haarschnitt „bis zum Rand“, bei dem der Haarwuchs an Schläfen und Backen rasiert wurde.41 Jer 9,26;
38
Vgl. BEENTJES, Tränen. Vgl. OLYAN, Biblical Prohibition; BAIL, Hautritzen; vgl. auch WINTER, Tattoo. 40 OLYAN, Shaving Rites. 41 Hebr. peťÁh wird in der jüdischen Auslegung mit „Schläfe“ übersetzt, worauf sich die Sitte der orthodoxen Schläfenlocken (jiddisch peijes) gründet (vgl. ausführlich 39
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25,23; 49,32 bezeugen, dass man solche Haarschnitte den arabischen Volksstämmen zuordnete.42 Es ist denkbar, dass das Gesetz eine Ähnlichkeit der Frisuren von Israeliten und Nichtisraeliten, eine Vermischung der Sitten, unterbinden wollte, vielleicht auch Haaropfer für die Verstorbenen zu verhindern suchte.43 Beweisen lassen sich diese Möglichkeiten aber nicht. Der Textzusammenhang bietet wenig Hilfen für die Frage nach der Motivation des Gesetzes, da offenbar sehr heterogenes Material kunstvoll komponiert wurde. Es ist nicht einmal ganz sicher, ob das Haarschneideverbot tatsächlich, wie das folgende Hautverletzungsverbot, dem Thema Trauer zugeordnet ist. Das Verbot, sich Ritz- oder Schnittwunden und Tattoos (Brandmale) lenæpæš zuzufügen, wird meistens aufgrund der Erwähnung solcher Praktiken im Zusammenhang von Trauerriten (siehe oben) übersetzt „für einen Toten“. Lev 21,5 wiederholt eine ähnliche Vorschrift im Blick auf die Priester: Sie (die Priester) sollen auf ihrem Kopf nicht eine Glatze kahlscheren (loť-yiqre̲uh qår̲Áh) noch den Rand des Bartes stutzen noch an ihrem Fleisch Einschnitte (yisre̺û sÁrÁ̺æt) schneiden.
In den vorausgehenden Versen 21,1–4 geht es um die sehr strengen Vorschriften, die für Priester im Umgang mit Toten gelten. Sie dürfen sich bei Todesfällen nur an bestimmten, nahen Verwandten verunreinigen. Es liegt nahe, dass die in Vers 5 folgenden drei Vorschriften betreffend Haupthaar, Barthaar und Körperverletzungen in den so eröffneten Zusammenhang des Umgangs mit Tod und Trauer gehören. Explizit wird dieser Zusammenhang aber nicht hergestellt. Ob israelitische Gesetze generell an männliche Adressaten gerichtet waren, oder ob die generische Sprachregelung allgemein Männer und Frauen einschloss, ist umstritten und in Einzelfällen nicht einfach zu klären. Dtn 14,1 spricht alle JHWH-Verehrer an, vielleicht aber sind die JHWHAnhängerinnen ‚mitgemeint‘: Ihr seid Söhne, zugehörig zu JHWH, eurem Gott, ihr sollt euch nicht Einschnitte (titgodedû) machen noch eine Kahlrasur (qÁre̲Áh) machen zwischen den Augen für einen Toten.
Der Zusammenhang ist auch hier nicht sehr erhellend, insofern vorher ausführlich die Notwendigkeit der Entlarvung und Denunziation von GötzendienerInnen behandelt wird und nachher Speisegebote folgen. Die Vorschrift, dass Priester bestimmte Haarschnitte und Körpermarkierungen ver MILGROM, Leviticus, 1689ff.1801ff). Die eigentliche Bedeutung des Wortes, im Blick auf Kopfhaar und Bart, ist aber „Rand“. 42 Ausführlicher dazu STAUBLI, Nomaden, 156. 43 Zu den Haaropfern bei den Arabern vgl. schon HENNINGER, Frage.
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meiden müssen, lässt sich als Reinheitsvorschrift verstehen und ist auch meistens so gedeutet worden. Es ist denkbar, dass die anderen beiden Gesetze eine Ausweitung auf die ganze Bevölkerung, eine Art „Demokratisierung“ darstellen. Es fragt sich dann allerdings, warum ausgerechnet diese und nicht andere Riten verboten wurden. Das Kahlscheren wird beispielsweise unter anderen Umständen, z.B. als Zeichen der Reinigung nach einer Hautkrankheit (Lev 14,9), zur Vorbereitung der Levitenweihe (Num 8,7), am Ende des befristeten Nasiräats (Num 6,18) oder wenn eine Kriegsgefangene in den Status einer rechtmässigen Ehefrau übergehen soll, sogar vorgeschrieben. In Dtn 21,12f ist nicht ganz deutlich, ob das Scheren eher die Statusveränderung44 zum Ausdruck bringen soll oder zur gewährten Trauerzeit gehört. Das Ritzen der Haut war in Israel nicht nur als Trauerritus bekannt. Offenbar gab es Tattoos, auf die Haut geritzte Namen oder Zeichnungen, sei es des Gottesnamens oder einer Person, einer Stadt, eines Landes, die nicht vergessen werden sollten (Gen 4,15; Ri 5,9; Jes 44,5; 49,15f).45 Diese Tattoos werden gewöhnlich kritiklos erwähnt. Warum aber ist das Haareschneiden und Hautritzen im Zusammenhang der Trauer und Klage bekämpft worden, während wiederum andere Trauerbräuche wie Fasten, lautes Klagen, Kleider zerreißen nicht eingeschränkt werden? Früher hat man, u.a. wegen der Hautritzungen der Baalspropheten beim Karmelopfer (1 Kön 18,28), angenommen, dass solche die Ekstase fördernde Praktiken als kanaanäisch oder „fremd“ gebrandmarkt und deshalb verboten werden sollten, doch gibt es zu viele Texte, die auf die Selbstverletzung in der Trauer als israelitische Tradition rekurrieren. Auch die Erklärung, dass es sich um alte Arten von Blutopfer handle,46 überzeugt nicht. Geht es, wie beispielsweise Olyan47 annimmt, nur darum, jene Rituale einzudämmen, die lang andauernde, sichtbare Folgen, z.B. Narben, haben und so die Grenzen der festgelegten Trauerzeiten sprengen, einen Zustand der Unreinheit zwischen Trauerzeit und Alltag oder Festzeit schaffen? Oder sollte das Hauteinschneiden, das die Menschen als heilsam und wohltuend empfanden, eingedämmt werden, weil es von den Gesetzgebern als eigenmächtig und als Angriff auf die Intaktheit des von Gott geschaffenen Körpers eingestuft wurde? Wunden am Körper und zerschnittene Frisuren entstellen einen Menschen. So scheint, zumal im Zusammenhang der Reinheitsvorstellungen des Buches Levitikus und besonders der Kapitel 13–14 über Veränderungen der Haut, diese Interpretation am bes 44
OLYAN, Shaving Rites, sieht den Sinn des Scherens durchgehend in der Anzeige von Statusänderungen im Leben eines Menschen. 45 WINTER, Tattoo, 231f. 46 So noch LORETZ, Ugarit, 112. 47 OLYAN, Biblical Prohibition.
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ten begründbar.48 Die Unversehrtheit, Ganzheit, Homogenität der Haut war ein zentrales Thema des altisraelitischen Gesundheitswesens und der kontrollierenden Maßnahmen der Priester, die den Zustand der Reinheit oder Unreinheit prüften und feststellten. In Lev 13,24–28 wird u.a. der Fall von Brandwunden erörtert, bei denen sichergestellt werden muss, dass sie wirklich vernarben und nicht etwa wildes Fleisch hinterlassen. Auf diesem Hintergrund können selbst zugefügte Hautverletzungen tatsächlich als Eingriffe oder Störungen erscheinen, die ein ganzes, von Priestern verwaltetes System, zumindest irritieren mussten.
6. Vergleichbare Einschränkungen von Trauerbräuchen in Griechenland Die interessantesten Parallelen zu den alttestamentlichen Gesetzesvorschriften, die eine Einschränkung von stark expressiven und längere Zeit sichtbaren Selbstminderungen anstreben, stellen griechische Gesetze dar. Nach Plutarch (Sol. 12,8; 21,6) heißt es über Solon (6. Jh. v.Chr.) und seine Gesetze für die Athener: Denn er macht die heiligen Handlungen schlichter und die Trauerriten milder, indem er gewisse Opfer unmittelbar an die Bestattungszeremonie knüpfte, und indem er die harten und barbarischen Praktiken abschaffte, an denen früher die meisten Frauen festhielten. [...] Kratzwunden der Trauernden (sich die Brust Schlagenden) und das Singen von Leichenliedern (das Beklagen der Taten) und das Klagen über jemanden bei Bestattungen anderer Leute schafft er ab. Er erlaubte nicht, ein Rind als Totenopfer zu bringen, mehr als drei Kleider aufzuwenden und fremde Grabmäler zu besuchen außer bei der Bestattungsfeier.
Im Zwölftafelgesetz (450a) werden in dieser Tradition dann ebenfalls Restriktionen in den Trauerbräuchen festgelegt, die jedoch in der römischen Gesellschaft später nicht zur Geltung kamen. In der (aus verschiedenen Zitaten rekonstruierten) Tafel 10,3–849 hieß es: Bei eingeschränktem Aufwand also, nämlich drei Kopftüchern, einem kleinen Unterkleid aus Purpurwolle und zehn Flötenspielern beseitigt (das Gesetz) auch die Leichenklage. Die Frauen sollen die Wangen nicht zerkratzen und beim Leichenbegängnis keine Totenklage anstimmen. Von einem Toten soll man nicht die Gebeine sammeln und danach eine besondere Leichenfeier veranstalten. Ausgenommen ist Tod im Krieg oder in der Fremde. (...) das von Sklaven ausgeführte Salben (der Toten) und jede Art von
48
So schon STAUBLI, Levitikus, 162. Übersetzung nach DÜLL, Zwölftafelgesetz, 59f. Die Originalzitate bei Cic.leg. 2,23f.59f; Plin.nat. 11,157; Eur.Hec. 655. 49
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Trinkgelagen beim Leichenmahl wird aufgehoben (...) Kein kostspieliges Besprengen (des Grabes), keine langen Kranzgewinde, keine Weihrauchkästchen. [Die Beigabe von Myrrhenessenz an einen Toten wird im Gesetz verboten.] Wer einen Kranz selbst oder innerhalb seiner Hausgemeinschaft ehrenhalber oder durch besondere Tüchtigkeit erlangt, dem darf er beigegeben werden (...) und er soll kein Gold beigeben, auch wenn jemandem Zähne mit Gold befestigt sind. Lässt man ihn aber mit diesem begraben oder verbrennen, soll dies ohne Nachteil sein.
Über die ursprüngliche Stoßrichtung und Bedeutung der Gesetze gibt es eine kontroverse Fachdiskussion. Unbestreitbar ist das beinahe ekstatische Blutigkratzen der Wangen in der Literatur wie auch in der darstellenden Kunst der einzige Trauergestus in Griechenland, der exklusiv Frauen zugeordnet wurde. Zweifellos verhinderten die Vorschriften in Zeiten zunehmenden Einflusses der Polis als Gemeinwesen, dass die adligen Familien sich, ihre Toten und ihren Reichtum allzu sehr selber in Szene setzten. Es ging einerseits um die Einschränkung von Aufwand und Kosten für Bestattung und Grabmal. Andererseits störten sich die Gesetzgeber an der (lauten) emotionalen Totenklage und den großen Ansammlungen von Klagenden. Die Zahl der Teilnehmenden an einem Bestattungszug sollte reduziert werden, wodurch die Frauen der Aristokratenfamilien, vielleicht auch die berufsmäßigen Klagefrauen und Witwen vermutlich besonders getroffen wurden.50 Expressive Trauerriten oder Rituale wie das Beweinen des Adonis könnten im orientalisierenden 7. Jh. v.Chr. in Griechenland aufgekommen sein. Sie scheinen dort von Anfang an genderspezifisch rezipiert worden zu sein, indem nur Frauen der freie Ausdruck von Emotionen zugestanden, den Männern zunehmend die Kontrolle von Emotionen zugewiesen wurden. Diese Rollenverteilung diente zugleich als Beweis für männliche Superiorität und als Herrschaftslegitimation von Männern über Frauen.51 Die drastische Einschränkung der Trauerriten im 6. Jh. v.Chr. wäre dann das Zeugnis für die Unkontrollierbarkeit der öffentlichen Frauenklage (aus patriarchaler Sicht). Noch Lukian (peri penthous 12ff) macht 50 Es scheint nicht vorrangig um die Eindämmung weiblicher Emotionalität, sondern um die Reglementierung der Macht von Aristokratenfamilien und die Beschneidung ihres Einflusses zugunsten der Polis zu gehen. Daraus resultierte jedoch eine Einschränkung der „Bewegungsfreiheit der athenischen Bürgerfrauen“ (ENGELS, Funerum, 89). Hingegen meint STEARS, Death, 117, dass die Solonischen Gesetze auf die soziale Kontrolle der Frauen gezielt und das Verbot berufsmäßiger Klagefrauen beinhaltet hätten. Vgl. mit weiteren Quellenangaben auch HUBER, Ikonographie der Trauer, bes. 32–45. 51 So VAN WEES, History of Tears. WAGNER-HASEL, Reglementierung, sieht in denselben Sachverhalten kein Genderkonstrukt, sondern eine Konvention über die Rollen von Bevölkerungsschichten. Sie hebt hervor, dass Trauer in der griechischen Antike nicht exklusiv Frauen zugestanden wurde. Auch Männer durften weinen und klagen, doch wird beiden Maßhaltung abverlangt, denn nur statusniedrige Menschen haben ihre Gefühle nicht unter Kontrolle.
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sich aber im 2. Jh. n.Chr. über die traditionellen, ekstatischen Trauerriten der Frauen lustig, die ihm das Schicksal des ruhig daliegenden Toten als vergleichsweise wundervoll erscheinen lassen.
7. Fazit Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Motivation für die israelitischen Gesetze der der solonischen Bestimmungen ähnlich ist. Offenbar war es nicht das Übermaß an Gefühlsausdruck, das die israelitischen Priester und Gesetzgeber störte. Sie versuchten wohl eher, über die Reinheitsgebote Zugriff auf einen Bereich von Religion zu erlangen, den sie nicht unter ihrer Kontrolle hatten. Man muss aber in Betracht ziehen, dass diese Verbote wie in Griechenland, so auch in Israel die von Frauen dominierten Bereiche alltäglicher Religion tangierten, selbst wenn sie nicht direkt und ausdrücklich an Frauen gerichtet waren. Einen Hinweis auf Machtkonflikte im Umfeld der Frauenklage gibt neben der oben erwähnten RizpaErzählung auch die – allerdings in ihrer Kürze sehr enigmatische – Notiz von den Frauen, die der Prophet Ezechiel in seiner Vision am vorexilischen Jerusalemer Tempel sieht (Ez 8,14): Und er führte mich an den Eingang des nördlichen Tores des JHWH-Tempels, und siehe da saßen Frauen, die den Tammuz beweinten.
Die mesopotamischen Quellen des 1. Jt. v.Chr. kennen die öffentliche, aber auch in den Familien gefeierte Bestattung des Dumuzi am Ende des heißesten Monats. Dabei wurde nicht nur der Gott rite beklagt, sondern auch das Sterben der Natur und der Tod von im Jahreslauf verstorbenen Angehörigen beweint.52 Es ist unsicher, was in Ezechiels Augen das eigentliche Skandalon ausmacht.53 Ist es nur die Verehrung einer Fremdgottheit? Oder vielleicht auch die Grenzüberschreitung, die darin bestand, dass Klagefrauen ihre Praxis auf dem Tempelareal ausübten? Sicher scheint jedenfalls, dass Trauer und Klage in Israel keine unumstrittenen Bereiche religiöser Praxis waren. Hier ging es um Einfluss, Macht, Eigenständigkeit, Tradition und Kritik an Tradition. 52
MAUL, Trauerriten, 368–371. Der Vers bleibt rätselhaft und verleitet in seiner Kürze zu Spekulationen. VAN DER TOORN, From her Cradle, 116–121 hat sehr weitreichende psychologische Deutungen an diesem Vers festgemacht. Zuletzt hat KEEL, Geschichte Jerusalems, 708f § 938 die Historizität der Tammuz-Verehrung in dieser Notiz wiederum in Abrede gestellt und vermutet, dass die Klage der Frauen dem auch sonst viel betrauerten König Joschija gegolten haben könnte. 53
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8
WERBROUCK, Pleureuses, 25 Abb. 10 DEMAKOPOULOU/KONSOLA, Theben, 43 Abb. 7 PARROT/CHÉHAB/MOSCATI, Phönizier, 77 Abb. 77 (bearbeitet von J. Müller-Clemm) Rekonstruktion nach DOTHAN, Philistines, 239 Abb. 11,1 DOTHAN, Philistines, 239 Abb. 11,2 DOTHAN, Philistines, 243 Abb. 12,7 Photo: Thomas Staubli Photo: Thomas Staubli
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Die Königsbestattung im Palast von Ugarit Ein Rekonstruktionsversuch der Übergangsriten aufgrund schriftlicher und archäologischer Daten HERBERT NIEHR1
1. Les rites de passage Nach dem Tode eines Menschen sind im Hinblick auf die Todesbewältigung die von den Hinterbliebenen vollzogenen Übergangsriten in gleicher Weise elementar für die Verstorbenen und die Lebenden. Seit A. van Genneps im Jahre 1909 erschienenem epochalen Werk „Les rites de passage“ werden für den Bereich der Bestattung drei Phasen unterschieden. So zunächst die Trennungsriten (rites de séparation). Diese beinhalten etwa die Waschung, Salbung und Aufbahrung des Verstorbenen bis hin zu seiner Beisetzung und werden mit der Schließung des Sarges oder der Gruft abgeschlossen. Es treten die Umwandlungs- und Schwellenriten (rites de marge) hinzu, die den Übergang des Toten vom Grab in das Jenseits begleiten und sich in Totenbesuchen, Opferhandlungen und Grabbeigaben manifestieren. Sodann folgen die Eingliederungsriten (rites d’agrégation), die im Diesseits in Form von Mählern der Hinterbliebenen (z.T. mit den Toten) gefeiert werden und im Jenseits die Vereinigung der Verstorbenen mit den Ahnen zum Ziel haben.2 Im folgenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die Königsbestattung im spätbronzezeitlichen Ugarit (Abb. 1) anhand von schriftlichen und archäologischen Quellen zu rekonstruieren. Dabei geht es nicht isoliert um die Bestattung als solche, vielmehr soll das Ensemble der Übergangsriten, von denen die Bestattung lediglich einen Teil ausmacht, vorgestellt werden. 1 Für Gespräche und Hinweise danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen Joachim Bretschneider (Leuven), Silvia Schroer (Bern) und Annette Zgoll (Leipzig). In Tübingen haben Angela Rohrmoser und Daniela Schilling bei der Vorbereitung des Artikels geholfen. 2 VAN GENNEP, Rites, 209–236. Zur Rezeption dieses Ansatzes in der vorderasiatischen Archäologie vgl. MOFIDI NASRABADI, Untersuchungen, 7–10.243–245.
Herbert Niehr
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Abb. 1: Plan der Stadt Ugarit
2. Quellen zur Königsbestattung im Palast von Ugarit Im Unterschied zum hethitischen königlichen Totenritual (CTH 450)3 liegt uns aus Ugarit kein einheitlicher Text vor, der ausgehend vom Tod eines Königs den gesamten Ablauf des Zeremoniells aufzeichnet. Aus diesem Grund muss ein Rekonstruktionsversuch auf verschiedene schriftliche und archäologische Quellen zurückgreifen, womit aufgrund deren Kombination ein gewisser Unsicherheitsfaktor bei der Ermittlung des religiösen und kultischen Geschehens nach dem Tode eines Königs von Ugarit zu veranschlagen ist. Im Hinblick auf den zeitlichen Horizont bewegen wir uns aufgrund der schriftlichen Quellen in der zweiten Hälfte des 13. Jh. v.Chr. 3 Bearbeitet von KASSIAN/KOROLËV/SIDEL’TSEV, Funerary Ritual; vgl. zu diesem Ritual vor allem VAN DEN HOUT, Death, und HAAS, Bestattungsbräuche.
Die Königsbestattung im Palast von Ugarit
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und am Beginn des 12. Jh. v.Chr., d.h. in der Zeit unmittelbar vor dem Untergang der Stadt im Jahre 1185 v.Chr. Schriftliche Quellen Die zum Thema der Königsbestattung im Palast von Ugarit heranzuziehenden schriftlichen Zeugnisse umfassen unterschiedliche literarische Genera. Unmittelbar einsichtig ist das Heranziehen der einschlägigen Ritualtexte zur königlichen Bestattung (KTU 1.161), zu Aspekten des königlichen Totenkultes (KTU 1.125) sowie weiterer Rituale (z.B. KTU 1.101; 1.108; 1.113 u.a.). Diese letztgenannten Texte schlagen eine Brücke zwischen Ritualen und Mythen. Darüber hinaus liefern aber auch die Mythen und Epen aus Ugarit wichtige Einsichten in den Komplex der Königsbestattung. Was den Baal-Mythos (KTU 1.1–6) angeht, so wurde in der jüngeren Forschung bereits mehrfach gezeigt, dass in ihm das Schicksal des Königs von Ugarit mit dem Schicksal des Gottes Baal parallelisiert wird. Dies gilt vor allem für die letzten beiden Tafeln des Mythos, die die Beisetzung des Gottes Baal nach seinem Tod auf dem Hintergrund der königlichen Bestattung ausmalen. Mark S. Smith hat deshalb zu Recht in Bezug auf den Baal-Zyklus hervorgehoben, „that the Baal cycle has received the imprint of royal funerary language and imagery current at ancient Ugarit.“4 Für die Gestalt des Gottes Baal bedeutet dies: „Baal is being modelled on the perceived fate of Ugaritic kings who descend to the Underworld; in their case, they may temporarily come to life. This picture is based on analogy with human existence, much as other mythological presentations of deities are modelled on human experience.“5 Eine derartige Einsicht überrascht umso weniger, wenn man berücksichtigt, dass der Baal-Mythos in der uns vorliegenden Form von Ilimilku, dem Oberpriester Ugarits, während der Zeit König Niqmaddus IV. (ca. 1250/ 25–1215 v.Chr.) abgefasst wurde. Dieser Oberpriester war auch verantwortlich für die Abhaltung des königlichen Kultes in den Tempeln der Stadt, so dass er der beste Kenner der diversen Rituale Ugarits war. Insofern liegt eine Übernahme von Elementen aus dem Bereich der Rituale in die erzählerische Ausgestaltung des Baal-Mythos auf der Hand. Weitere wichtige Informationen zum Thema der Königsbestattung ergeben sich aus den Epen über König Kirta (KTU 1.14–16) und den Kronprinzen Aqhatu (KTU 1.17–19). Auch in diesem Falle ist wieder Ilimilku, der Oberpriester von Ugarit, der Verfasser der Epen. Diese gemeinsame Verfasserschaft gestattet einen intertextuellen Zugriff auf diese Texte, der 4 5
SMITH, Death, 296. SMITH, Death, 296.
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ausgehend vom Kirta-Epos über den Baal-Zyklus bis zum Aqhatu-Epos aufschlussreiche Querbezüge aufdeckt.6 In letzter Zeit gab es einige Diskussionen darüber, ob es legitim sei, Daten dieser beiden Epen heranzuziehen, um einige Aspekte der Religion oder Gesellschaft im spätbronzezeitlichen Ugarit zu erklären. Diese Skepsis scheint jedoch unberechtigt zu sein, da die Epen vom Oberpriester der Stadt für ein zeitgenössisches Bildungspublikum geschrieben wurden, welches sowohl im Palast wie in den Häusern des quartier résidentiel bzw. im Haus des Urtenu angenommen werden kann. Insofern muss kein radikaler Bruch zwischen der literarischen Welt der Königsepen und der realen Welt der Königsstadt Ugarit angenommen werden. Eher ist von der Übereinstimmung der literarischen Welt eines Kirta oder eines Aqhatu mit der sozialen Welt Ugarits auszugehen.7 Archäologische Quellen Der vielräumige Palast von Ugarit (Abb. 2) weist in seinem Nordteil ein in der Forschung als zone funéraire bezeichnetes Ensemble auf (Abb. 3). Diese zone funéraire wird durch die Räume 27 und 28, 38 und 39 sowie durch den Hof II gebildet. Der Zugang liegt im Westen und die Blickrichtung des Kultes geht nach Osten. Dies ist zum einen am Hof II ersichtlich, der auf ein Becken und das erhöhte Podium (Raum 38) hin ausgerichtet ist. Zum andern wird dies an den Räumen 27 und 28 deutlich, da im Durchgang zwischen den beiden Räumen eine Libationsvorrichtung auf der Schwelle von Raum 28 erkennbar ist.8 Im Untergeschoß von Raum 28 befand sich die königliche Gruft, die über einen Dromos zugänglich war. Weitere archäologische Quellen zum Thema der Königsbestattung stellen die Abbildungen verstorbener Könige sowie Stelen aus dem Bereich der Totenopfer dar, die in verschiedenen Tempeln der Stadt Ugarit gefunden worden sind.
6
Dazu KORPEL, Exegesis. Zur Diskussion vgl. den bei NIEHR, Topography, 228 geschilderten Diskussionsstand. 8 Vgl. dazu CORNELIUS/NIEHR, Götter, 80–83; NIEHR, König, 48–52; DERS., Topography, 220–240. 7
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Abb. 2
Plan des Königspalastes: a) Hauptzugang, b) Durchgang zur Stadt, c) Wachtposten, 2–5 Westarchive (im Obergeschoss), I Warteraum vor dem Thronsaal, 72 Vorraum vor dem Thronsaal, 71 Thronsaal, II Hof für Zeremonien des königlichen Totenkults, 28 Königliche Grablege, III Garten, IV Hof mit Funden aus den Zentralarchiven, 31 Raum mit Funden aus den Zentralarchiven, V Hof mit Becken, 68–69 Südarchive (im Obergeschoss), 79–81 Südwestarchive (im Obergeschoss), VI Großer Hof mit Funden aus den Zentralarchiven (Empfangsraum oder Bankettsaal), 53–57 Ostarchive (im Obergeschoss).
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Abb. 3
Plan der „zone funéraire“ (Bestattungs- und Totenkultbereich; Räume 27, 28, 38, 39, Hof II) im Nordostteil des Königspalastes von Ugarit, in der die Kulthandlungen nach dem Tod des Königs stattfanden.
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3. Der Tod des Königs Ein Blick auf die schriftliche und archäologische Hinterlassenschaft der Stadt Ugarit lässt die besondere Stellung des Königs im Vergleich zu den anderen Menschen erkennen. Diese hat ihren Grund in der Mittlerposition des Königs zwischen Göttern und Menschen. Vor allem zeigt sie sich an der göttlichen Herkunft des Königs, an der Thronbesteigung und der Heiligen Hochzeit, an seiner Stellung im Kult und am Verhältnis des Königs zu Baal, dem Patron der Stadt Ugarit und des Königtums. Diese besondere Stellung des Königs lässt eine Königsideologie erkennen, die von der Konzeption „The King’s Two Bodies“ geprägt ist.9 Auch der Tod des Königs und die damit verbundenen Riten sind im Horizont dieser Königsideologie zu verstehen. Der Eintritt des Todes Trotz der herausgehobenen Stellung des Königs musste man im Königshaus von Ugarit die Erfahrung machen, dass das Todesschicksal auch den König nicht verschonte. So wird im Epos über König Kirta (KTU 1.14–16) berichtet, wie anlässlich einer schweren Krankheit des Königs seine Kinder an sein Lager treten und klagen: „Wirst denn auch du, Vater, wie die Menschen sterben? … Aber ist Kirta nicht ein Sohn des El, ein Nachkomme des Scharfsinnigen und Heiligen? … An deinem Leben unser Vater, freuten wir uns, deine Unsterblichkeit bejubelten wir.“ (KTU 1.16 I 3–15; vgl. 1.16 II 36–37.40)
Allerdings war der Tod des Königs unabwendbar, obwohl König Kirta als Sohn des höchsten Gottes El galt. Ebenso verhält es sich im Aqhatu-Epos, welches die Probleme um den Tod eines Kronprinzen zum Thema hat. Aus Neid auf dessen von Kotharu verfertigten Bogen lässt die Göttin Anat den Kronprinzen Aqhatu umbringen. Das Sterben des Aqhatu wird wie folgt beschrieben: „Es ging aus wie Wind [seine] Lebenskraft, [wie Schleim] sein Atem, wie Rauch aus [der Nase seine Kriegerkraft.10]“ (KTU 1.18 IV 36–37)11
9
Dazu grundlegend KANTOROWICZ, King’s Two Bodies. Zur Relevanz dieser Konzeption für das Verständnis der Königsideologie in Ugarit vgl. NIEHR, König, 47f und DERS., Konzeption. 10 Dazu DEL OLMO LETE/SANMARTÍN, Dictionary, 536 s.v. mhr (II). 11 Vgl. auch noch KTU 1.18 IV 25–26; 1.19 II 38–39.43–44.
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Aufgrund des Blutverlustes verlässt die mit Wind, Schleim und Rauch vergleichbare npš des Aqhatu ihn durch seine Nase. Dabei steht die npš für die Lebenskraft des Menschen.12 Im Anschluss hieran wird König Danilu, dem Vater des Aqhatu, von Boten folgende Nachricht überbracht: „Tot ist Aqhatu, der Held.“ (KTU 1.19 II 42)
Der Tod des Kronprinzen brachte einen gravierenden Einschnitt für das Wohlergehen des Landes mit sich. Dementsprechend weiß das Epos zu berichten, dass der ahnungslose Vater sich über die Trockenheit im Lande wundert, die er durch die Anwendung sympathetischer Magie überwinden will (KTU 1.19 II 12–25). Hierin ist eine Übereinstimmung mit weiteren Texten aus Ugarit zu sehen. So hatte im Baal-Zyklus der Tod des Gottes Baal ebenfalls Auswirkungen auf die Vegetation (KTU 1.6 I 66–67; II 3– 4.24–25; IV 1–16) und die Krankheit des Königs Kirta rief Dürre und Not im Lande hervor (KTU 1.16 III 1–17). Grundsätzlich lässt sich auch auf die zeitgenössische hethitische Kultur hinweisen, da hier Krankheit und Tod des Königs negative Konsequenzen für sein Land nach sich zogen.13 Die Trauerriten Die Trauer um den verstorbenen König bzw. um ein verstorbenes Mitglied des königlichen Hauses wird uns aus dem Baal-Zyklus sowie aus den Epen über Kirta und Aqhatu deutlich. In KTU 1.5 VI 9–25 werden der Tod des Gottes Baal und die Trauerriten, die der Gott El vornimmt, beschrieben. Es kommen Boten zu El, die ihm den Tod des Gottes Baal verkünden: „Tot ist Aliyan Baal, zugrunde gegangen der Fürst, der Herr der Erde.“ (KTU 1.5 VI 9–10)
Daraufhin reagiert der Göttervater El wie folgt: „Sodann stieg der scharfsinnige El, der Verständige, herab vom Thron, setzte sich auf den Schemel, vom Schemel setzte er sich auf die Erde. Er schüttete Asche der Trauer auf sein Haupt, Staub der Erniedrigung auf seinen Schädel. Als Kleid bedeckte er sich mit einem Lendenschurz. Die Haut zerkratzte er mit einem Stein, die beiden Zöpfe (?) zerschnitt er mit einem Schermesser, Wangen und Kinn zerschnitt er, seinen Oberarm zerpflügte er. Wie einen Garten zerpflügte er die Brust, wie ein Tal zerfurchte er den Rücken. Er erhob seine Stimme und rief: ‚Baal ist tot. Was wird aus der Sippe des Dagan-Sohnes? Was wird aus den Menschen, den Verehrern Baals? Ich will hinabsteigen in die Unterwelt!‘“ (KTU 1.5 VI 11–25)
12 13
Zu npš an dieser Stelle vgl. KÜHN, Totengedenken, 121f. Dazu HAAS, Geschichte, 206–216; DERS., Bestattungsbräuche, 56f.
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Die hier genannten Trauerriten weisen als einzelne Elemente das Herabsteigen vom Thron auf die Erde, das Bestreuen des Hauptes mit Staub, das Anziehen eines Schurzes anstatt des Kleides, Selbstverletzungen mit Stein und Messer, den Ausruf: „Baal ist tot“ und den Wunsch nach Herabsteigen in die Unterwelt auf. Dieser Abfolge von Trauerriten ist aus KTU 1.6 I 2– 10 die Schilderung der Trauer der Göttin Anat um den Gott Baal an die Seite zu stellen. Weitere Einblicke gewährt die Darstellung der Trauer um den ermordeten Königssohn Aqhatu. So wird erzählt, dass Aqhatus Schwester, Pughatu, weinte und das Gewand des Danilu, seines Vaters, zerrissen war (KTU 1.19 I 34–37.46–48). Ebenso weinen die Boten, die die Todesnachricht überbringen; des Weiteren vernachlässigen sie ihre Kleidung (KTU 1.19 II 27–34).
4. Vorbereitende Handlungen zur Bestattung Die Aufbahrung Innerhalb des königlichen Totenrituals sind die näheren Umstände der Aufbahrungssitte weder inschriftlich noch archäologisch für uns greifbar. Insofern kann in diesem Abschnitt nur sehr hypothetisch argumentiert werden. Die im Baal-Zyklus (KTU 1.1–6) bereits festgestellte Parallelisierung des Gottes Baal mit dem König von Ugarit im Tode und über den Tod hinaus findet sich auch auf der Tafel KTU 1.101. Es handelt sich hierbei um einen Text aus dem Haus des hurritischen Priesters. In der bisherigen Forschung wurden die ersten Zeilen als Hinweis auf eine Statue des Gottes Baal gedeutet, da diese unbeweglich wie der Berg Saphon thront. Angesichts der Parallelisierung der Schicksale des Gottes Baal und des Königs ist jedoch eher an ein Gleichnis für den verstorbenen König zu denken. Im Einzelnen gehören zu den Riten der Aufbahrung das Waschen des Leichnams, seine Salbung mit Kosmetika und das Bekleiden für die Bestattung. Im Hinblick auf KTU 1.101,5–7.13–14 spricht daher David M. Clemens von „last rites for a deity immobilized by death“.14 Diese Riten dürften wohl der königlichen Bestattung entnommen sein bzw. diese spiegeln.15 Ein weiterer Aspekt der Bestattungsvorbereitung wird im Baal-Mythos angesprochen. Es geht in diesem relativ zerstörten Text um die weißen Gewänder, in die der Leichnam eingehüllt wird sowie um den Ruf nach Motu (KTU 1.5 III 6–10). Auch bei dieser Passage des Baal-Mythos ist ein Element des königlichen Totenrituals durch den Oberpriester Ilimilku in 14 15
CLEMENS, KTU 1.45, 111. Vgl. CLEMENS, KTU 1.45, 105–113.
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die Schilderung des Todes Baals übernommen worden. Das Rufen nach Motu zieht das Verschlungenwerden des Baal nach sich, d.h. die Bestattung des verstorbenen Gottes. Was den Ort der Aufbahrung des verstorbenen Königs angeht, so lässt sich innerhalb der zone funéraire an den Hof II mit dem Podium (Raum 38) denken (Abb. 3). Allerdings ist diese Überlegung nicht direkt aus den Ritualtexten oder den Mythen aus Ugarit belegbar, da diese den Ort der Aufbahrung als bekannt voraussetzen. Insofern ist nach funktionalen Analogien in den Palästen des Alten Orients Ausschau zu halten. Als eine wichtige Analogie lässt sich auf die Halle A im Königspalast von Qatna verweisen. Von dieser Halle aus führte ein Korridor zur Gruft, die nur von Wenigen, z.B. der engeren Familie und den Priestern betreten werden konnte. Deshalb müssen die Aufbahrung des verstorbenen Königs von Qatna und weitere damit verbundene Riten in der Halle angesetzt werden. Aus diesem Grund hat Peter Pfälzner die Halle A als Ahnenkultraum bezeichnet.16 Übertragen auf den Palast von Ugarit heißt dies, dass dem neben der Grablege befindlichen Hof II mit seinem Podium (Raum 38) eine entsprechende kultische Rolle zugeschrieben werden kann. Auch hier bot sich der Platz für eine größere Teilnehmerschaft an den Riten der königlichen Bestattung. Raum 28 oberhalb der Gruft wäre hierfür zu klein, zumal man – wie wir später noch sehen – mit dem aufgedeckten Dromos in Raum 28 rechnen muss. Die Leichentracht Bei der Leichentracht geht es um die Frage, mit welchen Objekten seines Lebens der Verstorbene zur Hervorhebung seines besonderen Status ausgestattet wird. Die sachlich sinnvolle Unterscheidung von Tracht- und Beigabensitte ist bei den wenigen Funden in der Königsgruft von Ugarit allerdings nur in sehr eingeschränktem Maß möglich.17 Es gibt nur wenige Kleinfunde, die der Plünderung der königlichen Grabkammer entgingen und die grundsätzlich der Leichentracht zuzurechnen sind. Dabei handelt sich um folgende Objekte: Ein kleines Goldblatt, ein Splitter eines grau-blauen Halbedelsteins, drei Ringe aus Gold sowie ein kleines Bruchstück aus Blattgold.18
16
PFÄLZNER, Qatna, 58. Dazu MEYER, Möglichkeit, 24. 18 Vgl. SCHAEFFER, Premier Rapport, 9; MARCHEGAY, Tombes II, 383. 17
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5. Die Bestattung Das Ritual der Königsbestattung Durch einen glücklichen Fundumstand sind wir auch mittels eines schriftlichen Zeugnisses über das Ritual einer Königsbestattung in Ugarit informiert. Die Tontafel mit dem anlässlich des Todes Niqmaddus IV. (ca. 1225/ 20–1215 v.Chr.) konzipierten Beisetzungsritual KTU 1.161 wurde 1973 als Oberflächenfund in der Südstadt Ugarits aufgefunden, in einem Bereich, der später als Haus des Urtenu identifiziert wurde. Mit der heute im Nationalmuseum von Aleppo unter der Signatur M 849 aufbewahrten Tafel liegt das wichtigste Ritual für unsere Aussagen zur Königsbestattung in Ugarit und den damit verbundenen Ritualhandlungen vor. Es ist hier nicht möglich, auf die vielen mit KTU 1.161 verbundenen Detailprobleme einzugehen.19 Insofern soll nur über die Struktur des Textes, die Hauptakteure und über sein Ziel gesprochen werden. Der Inhalt von KTU 1.161 besteht im Wesentlichen in einer Einladung der vergöttlichten Vorfahren auf dem Königsthron von Ugarit zur Teilnahme an der Königsbestattung. Damit verbunden sind Wehklagen über den Thron, den Fußschemel und den Tisch des Verstorbenen, die Anrufung der Sonnengöttin, die Aufforderung an den Verstorbenen, in die Unterwelt hinab zu steigen, die Vorschrift eines siebentägigen Opfers, eines Vogelopfers und Heilswünsche für den neuen König und sein Haus, für die Königsmutter und ihr Haus, sowie für die Stadt Ugarit und ihre Tore. Mit den in den Zeilen 11 und 12 genannten Königen, Ammištamru und Niqmaddu, begegnen Königsgestalten, die aus der spätbronzezeitlichen Königsreihe Ugarits bekannt sind. Folgt man der Reihenfolge ihrer Nennung, so muss man aufgrund der Abfolge der Könige auf der Königsliste aus Ugarit an die Könige Ammištamru II. (ca. 1350 v.Chr.) und Niqmaddu III. (ca. 1350–1315 v.Chr.) denken. Der Grund für diese explizite Nennung dieser beiden und keiner anderen Könige aus der Geschichte der letzten 175 Jahre Ugarits ist unmittelbar einsichtig. War es doch Niqmaddu III., der in der zweiten Hälfte des 14. Jh. v.Chr. den Königspalast mit der Gruft erbaute. Mit Niqmaddu III. und vermutlich schon mit seinem Vater, Ammištamru II., setzt also die Reihe der Königsbestattungen und die Praxis des königlichen Totenkultes an der Gruft in Raum 28 des Königspalastes ein. Insofern wird bei den Vorfahren des Verstorbenen die Gruppe der „alten rapiťīma“, die auch „rapiťīma der Unterwelt“ oder „Versammlung des Didanu“ heißt, von den noch in der Erinnerung befindlichen Verstorbenen, für die Ammištamru II. und Niqmaddu III. stehen, unterschieden. 19 Zu den epigraphischen und philologischen Problemen von KTU 1.161 vgl. NIEHR, Beschwörungen.
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Der verstorbene König erreicht seinen privilegierten Status in der Unterwelt nicht von selbst beim Eintritt des Todes. Erst mittels des in KTU 1.161 beschriebenen Ritus des Herbeirufens der Ahnen und der Mitwirkung der Sonnengöttin sowie aufgrund des Verlassens seines Thrones und des Herabsteigens in die Erde kann der verstorbene König zu einem Mitglied der rapiťīma werden. Der Wortlaut des ugaritischen Keilschrifttextes besagt in Übersetzung: (1)
Verzeichnis des Opfers für die Statuen. Ihr seid gerufen, rapiťīma der Unter[welt]. (3) Ihr seid geladen, Versammlung des Di[danu]. (4) Gerufen ist Ulkn, der rapi[ťu]. (5) Gerufen ist Trmn, der rapi[ťu]. (6) Gerufen ist Sdnwrd[n]. (7) Gerufen ist ̻rŦllmn. (8) Es sind gerufen die alten rapiťīma. (9) Ihr seid gerufen, rapiťīma der Unterwelt. (10) Ihr seid geladen, Versammlung des Didanu. (11) Gerufen ist Ammištamru, der König. (12) Gerufen ist auch Niqmaddu, der König. (13) Der Thron des Niqmaddu werde beweint, (14) und betränt werde der Schemel seiner Füße. (15) Vor ihm werde der Tisch des Königs beweint. (16) Jeder schlucke seine Tränen herunter. (17) Klage und Klage der Klagen. (18) Werde heiß, Sonne, ja, werde heiß, (19) großes Licht. In der Höhe ruft die Sonne: (20) „Hinter deinem Herrn vom Thron, hinter (21) deinem Herrn steige in die Unterwelt hinab. In die Unterwelt (22) steige hinab und breite dich in den Staub. Unter (23) Sdnwrdn, unter ̻rŦ (24) llmn, unter die alten rapiťīma, (25) unter Ammištamru, den König, (26) und unter Niq[maddu], den König, ebenso.“ (27) (Tag) eins und ein ̼Ŧ-Opfer, (Tag) [zwei] und ein ̼Ŧ-Opfer, (28) (Tag) drei und ein ̼Ŧ-Opfer, (Tag) v[ier] und ein ̼Ŧ-Opfer, (29) (Tag) fünf und ein ̼Ŧ-Opfer, (Tag) sechs [und] ein ̼Ŧ-Opfer, (30) (Tag) sieben und ein ̼Ŧ-Opfer. Du sollst Vögel (31) des šlm-Opfers darbringen: Heil Ammura[pi] (32) und Heil seinem Haus, Heil Šarelli, (33) Heil ihrem Haus, Heil Ugarit, (34) Heil seinen Toren! (2)
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Archäologische Daten Unter diesem Punkt ist wieder auf die zone funéraire einzugehen (Abb. 3). Im Untergeschoss des Palastes befindet sich in dem nördlich von Hof II gelegenen Raum 28 die Gruft der Könige von Ugarit. Für die königliche Beisetzung wurde der östliche der beiden Dromoi geöffnet, was insofern kein Problem darstellte, als die ihn bedeckenden Platten leicht zu entfernen waren. Der Leichnam wurde dann in den Dromos hinabgelassen und in die Gruft verbracht. Bei dieser handelt es sich um ein Gewölbegrab, wie es auch sonst aus verschiedenen Wohnhäusern Ugarits bekannt ist. Vom Dromos war es durch eine heute nicht mehr vorhandene Tür abgeschlossen. Die Ausmaße der Grabkammer sind am Boden 2,85 m x 3,50 m; ihre lichte Höhe beträgt 2,55 m.20 Die gesamte Gruft ist bereits in der Antike ausgeplündert worden. Deshalb sind nur einige wenige Reste der Leichentracht und der Grabbeigaben erhalten. Diese Plünderung ist auch der Grund dafür, dass wir kaum etwas über die Bestattungssitten in diesem Grab wissen. Grundsätzlich geht man in der Bestattungskultur Ugarits davon aus, dass die in Tücher gehüllten Leichname auf den Boden der Gruft gelegt wurden.
6. Nach der Bestattung Der Eintritt in die Unterwelt Die Frage nach dem Eintritt des Verstorbenen in die Unterwelt muss deshalb eigens gestellt werden, da Bestattung und Eintritt in die Unterwelt nicht miteinander identisch sind. Der Eingang des verstorbenen Königs in die Unterwelt hat als Ziel, ihn mit seinen Vorfahren auf dem Königsthron in Ugarit zu vereinen. Das Thema der Unterweltsreise der Verstorbenen, welches vor allem aus mesopotamischen Quellen21 bekannt ist, lässt sich anhand der inschriftlichen und archäologischen Daten auch aus Ugarit belegen, auch wenn hier die Angaben sehr verstreut und zurückhaltend sind. Gehen wir zunächst auf die schriftlichen Quellen ein. Hier ist der BaalZyklus mit einigen topographischen Angaben von Interesse. Auf seinem Weg in die Unterwelt zum Todesgott Motu muss Baal zu den Bergen Trázz und ̻rmg, die am Rande der Erde gelegen sind, gehen. Unter den Bergen hindurch steigt er zur Stadt Hamraya in die Unterwelt hinab (KTU 1.4 VIII 1–14). Über dem Eintritt des verstorbenen Königs in die Unterwelt geben uns sodann zwei Ritualtexte Aufschluss. 20 21
Zu den Angaben vgl. Salles apud MARCHEGAY, Tombes II, 381. Dazu etwa LINDSTRÖM, Unterwelt, und KATZ, Image.
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Das in hurritischer Sprache um 1215 v.Chr. verfasste Totenritual für König Ammištamru III. (KTU 1.125) spricht insofern explizit vom Eintritt in die Unterwelt, als der als Geleiter des Toten fungierende Gott Nubadig in dem Wunsch „es geleite Nubadig zu den Königen, den Vätern“ (KTU 1.125,4–5) begegnet.22 Das schon besprochene Beisetzungsritual für König Niqmaddu IV. (KTU 1.161), lässt erkennen, dass der dynastische Vorfahr, Didanu, die Rolle des Begleiters für den Verstorbenen spielt. Didanu führt den Verstorbenen in die Gemeinschaft seiner verstorbenen Vorgänger hinein (KTU 1.161,20–26). Was die archäologischen Quellen angeht, so weist in der Königsgruft von Ugarit ein besonderer archäologischer Umstand auf den Eintritt des Verstorbenen in die Unterwelt hin.23 Es ist hierin eine räumliche Unterscheidung des Bereichs der Bestattung in der östlich gelegenen Gruft auf der einen Seite und des Eingangs in die Unterwelt auf der anderen Seite zu erkennen. Bleibt man zunächst auf der archäologischen Ebene (Abb. 3), dann ist deutlich, dass der Zugang zur Gruft über den östlichen, zum Zwecke der Bestattung zu öffnenden Dromos erfolgte. Nach der Bestattung war die Gruft zum Dromos hin mittels einer Tür verschlossen, ebenso wurde der Dromos wieder abgedeckt. Es gibt aber nun einen zweiten nach Westen führenden Dromos, der mit einer sich nach Westen öffnenden Tür mit dem ersten Dromos verbunden war. Am Ende dieses Dromos findet sich auf der rechten Seite eine Kammer, die nach Norden weist. Verschiedentlich wurde dieser Raum als eine zweite Grabkammmer interpretiert, was jedoch falsch sein dürfte. Bei der Bestimmung der Funktion dieses Raumes muss unbedingt die Öffnung in der linken Hälfte der unteren Rückwand berücksichtigt werden. Diese führt in einen kleinen Gang, der nach ca. 42 cm blind im Erdreich endet. Hier befand sich der Zugang zur Unterwelt, die im Ugaritischen wie auch sonst häufig in den nordwestsemitischen Sprachen einfach „Erde“ (ťr̸) heißt.
22 23
Vgl. den Text bei DIETRICH/MAYER, Totenritual. Zum Folgenden vgl. NIEHR, König, 50f mit Abb. 5–7; DERS., Topography, 221–225.
Die Königsbestattung im Palast von Ugarit
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Der Status des verstorbenen Königs in der Unterwelt In Bezug auf die hethitischen Unterweltsvorstellungen ist deutlich, dass man mit verschiedenen Existenzweisen der Verstorbenen im Jenseits rechnen muss: Einer privilegierten Existenzweise für den König und einer traurigen für die übrigen Menschen.24 Auf diesem Hintergrund ist es einleuchtend, dass T.P.J. van den Hout seine Diskussion des königlichen Totenrituals der Hethiter unter den Titel „Death as a Privilege“ stellen konnte.25 Auch für die Verhältnisse in Ugarit gilt: Ist der königliche Verstorbene in der Unterwelt angekommen, so kann er den ihm zukommenden Status erreichen, der jetzt sein Weiterleben in der Unterwelt determiniert, und der ihn auch ansprechbar macht für seine Nachkommen. Für dieses Thema sind zwei Texte aus dem Raum 10 des Hauses des hurritischen Priesters auf der südlichen Akropolis der Stadt von besonderem Interesse. Der erste dieser Texte, KTU 1.108, schildert ausführlich, wie Unterweltsgottheiten Musik und Gesänge aufführen und ein Gelage abgehalten wird. Den unmittelbaren Anlass für KTU 1.108 kann man in der Zusage an den König, die Macht der rapiťīma zu erhalten, erblicken. Vielleicht geht es hierbei um eine Zusage an den neuen König anlässlich seiner Thronbesteigung.26 Der zweite dieser beiden Texte, KTU 1.113, weist eine Besonderheit in seiner Publikationsgeschichte auf. So wurde im Jahre 1968 lediglich die Vorderseite publiziert,27 die Rückseite erst 1976 in der Erstauflage von KTU. Dieser Umstand führte zu einer isolierten Wahrnehmung beider Textteile in der Forschung, womit ein Gesamtverständnis des Textes lange Zeit erschwert wurde. Die Vorderseite von KTU 1.113 lässt trotz ihres sehr fragmentarischen Erhaltungszustands erkennen, dass es um eine Musikaufführung geht. Die Rückseite bietet eine Liste der divinisierten Könige Ugarits.28 Wichtig ist nun, dass beide Seiten der Tafel als zusammengehörig betrachtet werden. Bei aller Vorsicht der Interpretation angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustands der Tafel ist wohl deutlich, dass es in KTU 1.113 um die von Musik begleitete Evokation der Ahnen der Königsdynastie von Ugarit geht.29 Es ist denkbar, dass beide Texte, KTU 1.108 und 1.113, wie schon KTU 1.161 anlässlich des Todes Niqmaddus
24
Vgl. HAAS, Bestattungsbräuche, 53. VAN DEN HOUT, Death. 26 So CAQUOT, Textes religieux, 111f; PARDEE, Ritual, 192f. 27 Dazu VIROLLEAUD, Textes, 551–557. 28 Zu dieser Liste vgl. PARDEE, Ritual, 195–210. 29 Vgl. auch PARDEE, Ritual, 201. 25
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IV. und des Übergangs der Herrschaft auf König Ammurapi im Jahre 1215 v.Chr. verfasst wurden.30 Versucht man, den Status der verstorbenen Könige in der Unterwelt über einzelne Texte hinaus ins Auge zu fassen, so sind auf der Grundlage von Ritualtexten, Götterlisten, Mythen und Epen vier Termini, welche die besondere Existenz der Könige nach ihrem Tode benennen, relevant. Es handelt sich dabei um die Begriffe ilu, iluťibë, malakīma und rapiťīma. Zu diesen Termini ist bereits sehr viel gearbeitet worden, so dass hier nur kurz der aktuelle Diskussionsstand zu referieren ist. Ilu („Gott“): Die o.g. Tafel KTU 1.113 enthält auf ihrer Rückseite eine Liste der Könige von Ugarit, wobei den hier aufgenommenen Königsnamen das Wort ilu als Determinativ vorangesetzt ist. Hierdurch wird der göttliche Status der Könige gekennzeichnet.31 Dieser Befund gilt auch für die akkadischen Königslisten aus Ugarit, welche die verstorbenen Könige mit dem Gottesdeterminativ dingir auszeichnen.32 Die Listen dienten der Memoria und der Beopferung der verstorbenen und divinisierten Könige Ugarits. Iluťibë („Gott des Vaters“): Hiermit ist der Vorfahr bzw. der Ahn sowohl der Götter wie der Könige gemeint. Dieser wird an der Spitze einiger Götterlisten genannt (KTU 1.47,2; 1.118,2; RS 20.24,1; vgl. KTU 1.148,1 [erg.]). Ebenso tritt der Terminus iluťibë in einigen Ritualen, in denen von Opfern für den iluťibë die Rede ist (KTU 1.41,35; 1.46,17 [erg.]; 1.56,3.5; 1.87,38 [teilweise erg.] u.ö.), auf. Innerhalb des Aqhatu-Epos begegnet iluťibë im Katalog der Sohnespflichten in Parallele zum Vorfahren der Sippe (KTU 1.17 I 26 par.).33 Somit stoßen wir auf das für die Königsideologie von Ugarit bezeichnende Phänomen, dass „le théonyme ťIIuťibë fonctionnait comme la divinité primitive du clan aussi bien que comme la divinité primitive du clan de ťIIu.“34 Malakīma („Könige“): Diese stehen in den Götterlisten an vorletzter Stelle (KTU 1.47,33; 1.118,32; RS 20.24,32). Es handelt sich um die nach ihrem Tode divinisierten Könige, die ihren königlichen Status auch im Jenseits bewahrt haben. Dies zeigt auch KTU 1.161,13–15 mit der Nennung von Thron, Schemel und Tisch des verstorbenen Königs.35 30
Vgl. PARDEE, Ritual, 192. Dazu DEL OLMO LETE, Religion, 177.180; PARDEE, Ritual, 199f. 32 Zu den Listen RS 88.2012, 94.2501, 94.2518 und 94.2528 vgl. ARNAUD, Prolégomènes; PARDEE, Ritual, 203f. 33 Dazu VAN DER TOORN, Family Religion, 155–160; PARDEE, Textes rituels, 296– 299; DERS., Ritual, 280. 34 PARDEE, Textes rituels, 299 Anm. 40. 35 Dazu PARDEE, Ritual, 281. 31
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Rapiťīma („Heiler“): Mit dieser Bezeichnung der verstorbenen Könige wird ihre heilende Kraft angesprochen. In besonderer Weise wird dies deutlich für den mythischen Vorfahren der Königsdynastie von Ugarit, König Didanu, der im Falle der Krankheit eines Kronprinzen von Ugarit um ein Orakel angerufen wurde (KTU 1.124). Wichtig für unseren Wissensstand in Bezug auf die „Heiler“ sind auch die rapiťīma-Texte KTU 1.20– 22.36 Die Grabbeigaben Von wesentlicher Bedeutung für die Frage nach dem Weiterleben der verstorbenen Könige in der Unterwelt sind die Grabbeigaben.37 Da allerdings die Königsgruft von Ugarit bereits in der Antike ausgeplündert wurde, ist zu diesem Punkt leider nicht mehr sehr viel in Erfahrung zu bringen. Als eigentliche Grabbeigaben sind folgende Fundstücke zu nennen: Eine Alabaster-Vase, eine Steinaxt, Fragmente mykenischer Töpferware, ein Gewicht, eine Model für Schmuck und ein Bleiguss.38 Es dürfte klar sein, dass hiermit nur der kleine Rest einer ursprünglich sehr viel umfangreicheren Beigabensitte vorliegt. Diese einzelnen Fundstücke gestatten nun keinerlei Aussagen über die Reise des verstorbenen Königs in die Unterwelt und sein Weiterleben dort. Ebenso wenig ist klar, ob sich unter diesen Gaben Geschenke für die Unterweltsgötter befanden. Die Totenopfer Mit der Bestattung des verstorbenen Königs und seinem Eingang zu seinen Vorfahren in die Unterwelt rissen allerdings die Kontakte zwischen den Verstorbenen und den Nachlebenden nicht ab. Eine Reihe von inschriftlichen und archäologischen Indizien bezeugt die weiterdauernden Kontakte mit dem in der Unterwelt befindlichen verstorbenen König. Im nördlichen Teil von Raum 28 findet sich ein sog. Brunnen.39 Er ist aus Lehmziegeln gebaut, die mindestens eine Tiefe von 4 m erreichen. Allerdings wurde dieser Brunnen niemals bis zum Grunde erforscht. Er weist keine Verbindung mit der Grabhöhle der Könige im Osten, mit den Dromoi im Süden und mit dem Eingang in die Unterwelt im Westen auf. Zugänglich war der Brunnen über eine östlich gelegene Tür. Eine Interpretation der Funktion dieser Anlage kann nur unter Hinzuziehung schrift 36
Dazu PITARD, RPUM Texts. Zur Definition vgl. MEYER, Möglichkeit, 24, der zwischen Beigaben und Mitgaben unterscheidet. 38 S.o. die Angaben in Anm. 18. 39 Zum folgenden vgl. NIEHR, König, 49 Abb. 4; 51; DERS., Topography, 226–231; LORETZ, Ábi. 37
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licher Quellen aus Ugarit erfolgen. Hierfür ist ein Passus aus dem Epos über König Kirta von besonderem Interesse. Es wird hierin geschildert, wie die Kinder des Königs den unmittelbar bevorstehenden Tod ihres königlichen Vaters beklagen und folgendermaßen rufen: „Wie ein Hund heulen wir in deinem Palast, wie ein Welpe (in der) Grube deines ̴št.“ (KTU 1.16 I 2–3)
Überträgt man diese Angaben auf die archäologischen Befunde von Raum 28 in der Königsgruft, so hat man den Eindruck, dass das hethitische Lehnwort ̴št, welches man mit „Totentempel“ übersetzen muss, den über dem Erdboden gelegenen Teil von Raum 28 bezeichnet. Was die „Grube“ angeht, so handelt es sich um eine Vorrichtung, die Kontakte mit den Göttern der Unterwelt ermöglichte. Hier konnte man den Unterweltsgottheiten Opfer darbringen, die somit herbeigerufen und zur Teilnahme an der königlichen Bestattung oder einer anderen Feier eingeladen wurden. Im Zusammenhang mit den oben im Kirta-Text genannten Hunden und Welpen ist auf die hethitische Religion zu verweisen, in der Hunde und Welpen zusammen mit Schweinen und Ferkeln in einem engen Bezug zur Unterwelt standen. Der Raum oberhalb der Grablege hatte ebenfalls eine kultische Bedeutung. Dies kann man daran ersehen, dass auf der Schwelle von Raum 27 zu Raum 28 Napflöcher eingelassen waren. Diese Löcher dienten der Darbringung von Trankopfern.40 Darüber hinaus machen sie die sakrale Funktion des hinter der Schwelle liegenden Raumes deutlich. Es wurde im vorangehenden Abschnitt bereits vorgeschlagen, diesen Raum 28 als ̴št-Raum zu verstehen. Damit stimmt überein, dass in einem Ritualtext die „Götter des ̴št-Raumes“ genannt werden (KTU 1.123,30). Insofern ist davon auszugehen, dass Statuen der Unterweltsgottheiten wie auch der verstorbenen Könige im Erdgeschoß von Raum 28 aufgestellt waren. Der Aufstellungsort dieser Statuen dürfte im östlichen Teil von Raum 28 oberhalb der Königsgruft zu suchen sein. Für bestimmte Riten konnten die Statuen durch Raum 39 auf das Podium in Hof II gebracht werden, wo sie einer größeren Menge von Kultteilnehmern sichtbar waren. Insofern liegt es auch nahe, den Raum 38 als eine Art Kapelle für den Kult der königlichen Ahnen (̴mn) zu interpretieren. In diesem ̴mn wurden den Unterweltsgottheiten und den königlichen Ahnen Opfer dargebracht.41 Damit die verstorbenen und divinisierten sowie als ilu, iluťibë, malakīma und rapiťīma angerufenen Könige im Kult Ugarits präsent sein konn 40 41
Dazu CORNELIUS/NIEHR, Götter, 83 mit Abb. 131 und 132. Zur Diskussion vgl. NIEHR, Topography, 236–240.
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ten, mussten sie wie Götter in Kultbildern beziehungsweise Kultsymbolen anwesend sein. Der sog. Katalog der Sohnespflichten nennt deshalb das Errichten einer Stele für den Verstorbenen im Heiligtum und die Darbringung der Totenopfer (KTU 1.17 I 25–33.42–47; II 1–8.14–23). Des Weiteren beginnt das königliche Totenritual KTU 1.161,1–12 mit der Einladung der verstorbenen Könige zu einem Totenopfer und spricht deshalb in seiner Überschrift von einem „Opfer für die Statuen“. Beim derzeitigen Stand der Archäologie Ugarits lassen sich vier Darstellungen verstorbener Könige ausmachen. Auf der Akropolis westlich des Baal-Tempels wurde die Stele des Baal au foudre42 gefunden. Der auf dieser Stele unter dem Schutz des Wettergottes abgebildete König steht auf einem Podest und blickt in dieselbe Richtung wie sein göttlicher Beschützer. Deshalb hat Dominik Bonatz vorgeschlagen, in dieser Gestalt einen nach seinem Tode divinisierten König zu sehen.43 Der verstorbene König ist, wie das Relief zeigt, in die göttliche Sphäre aufgenommen. Man hat also den auf dem Podest stehenden König als einen Ahnen der Königsdynastie von Ugarit zu verstehen, der deshalb dem Betrachter zugewandt ist, weil er, wie der Gott Baal selbst, vom Beter um Segen angerufen wird. Aus dem Bereich südlich des Baal-Tempels stammt ein Statuentorso ohne Kopf, der einen mit einem Wulstsaummantel bekleideten Mann auf einer Sockelplatte darstellt.44 In der Nähe des sanctuaire aux rhytons lag die Kalksteinstatuette eines thronenden Königs, die in der Forschung als Abbildung des Gottes El ausgegeben wurde. Ein Indiz dafür, etwa in Form einer Hörnerkrone, dass es sich hier um einen Gott handeln könnte, fehlt im Unterschied zu den Metallfigurinen aus Ugarit bzw. zu der Stele des Baal au foudre und der sogenannten El-Stele, welche die Götter jeweils durch eine Hörnerkrone kenntlich machen. Eher liegt hiermit die Statue eines altsyrischen Königs vor, der mit Krone und Wulstsaummantel bekleidet auf seinem Thron sitzt.45 Ihre ikonographische und funktionale Entsprechung findet die Kalksteinstatuette aus Ugarit in den beiden Ahnenfiguren, die in der Königsgruft der mittelsyrischen Stadt Qatna gefunden wurden.46
42
Dazu YON, Stèles, 294–299.331 Abb. 11a; CORNELIUS/NIEHR, Götter, 46 Abb. 71. Vgl. BONATZ, Grabdenkmal, 134f. 44 Vgl. SCHROER, Mann, 68f mit Abb. 20 und YON, Note, 347.350 Abb. 1a. 45 So CORNELIUS/NIEHR, Götter, 44f mit Abb. 69. 46 Vgl. AL-MAQDISSI/DOHMANN-PFÄLZNER/PFÄLZNER/SULEIMAN, Hypogäum, 145f mit Abb. 10f; 156–162; PFÄLZNER, Politik, 92–94 mit Abb. 14–16. 43
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In dem nördlich des Königspalastes gelegenen temple royal wurde eine „tête divinisée“ gefunden. Diese gehörte wohl zu einer stehenden oder sitzenden Statue eines altsyrischen Gottes oder divinisierten Königs.47 Die Aufstellungsorte dieser Königsbilder sind mit dem Palast, dem Tempel des Baal auf der Akropolis, dem sanctuaire aux rythons im Stadtzentrum und dem temple royal nördlich des Königspalastes gegeben. Tempel als Aufstellungsorte für Statuen der verstorbenen Könige sind neben dem o.g. „Katalog der Sohnespflichten“ aus Ugarit auch aus dem königlichen Ahnenkult der Hethiter bekannt. Dazu tritt in Ugarit noch ein Kult vor Statuen in der zone funéraire des Königspalastes, von denen jedoch keine Reste mehr erhalten sind. Trotzdem lassen sich aufgrund einiger Ritualtexte48 noch Indizien für einen Kult an dieser Stätte ausmachen. Bei der obigen Auflistung der Aufstellungsorte der Königsbilder fehlt bislang noch der El-Tempel der Stadt. Im Temenos dieses Tempels wurden zwei Stelen mit Inschriften, die Totenopfer zum Thema haben, gefunden.49 Der Text der ersten Stele besagt: „Stele, die geweiht hat Šarelli dem Dagan: Ein Totenopfer und einen Ochsen zur Speise.“ (KTU 6.13)
Die bereits aus dem königlichen Bestattungsritual bekannte Königin Šarelli (vgl. KTU 1.161,32) brachte dem Gott Dagan ein Totenopfer dar. Der Gott Dagan ist schon während der altbabylonischen Zeit in Mari unter dem Titel bÓl pagrê als Empfänger von Totenopfern bekannt.50 Zu Ehren welches Toten, sei es ihres Gatten Ibiranu oder ihres Sohnes Niqmaddu IV., den sie überlebt hatte, Königin Šarelli die Totenopfer darbrachte, lässt sich nicht entscheiden. Der Text auf der zweiten Stele lautet: „Totenopfer, das geweiht hat Uzzinu dem Dagan, seinem Herrn, [und einen O]chsen vom Ackerland.“ (KTU 6.14)
Uzzinu war in der Zeit um 1200 v.Chr. ein königlicher Statthalter (sÁkinu) in Ugarit und insofern eng mit der Königsfamilie verbunden.51 Dafür spricht auch die Darbringung eines Totenopfers im El-Tempel von Ugarit. 47
Vgl. GALLIANO/CALVET, Royaume, 164 Nr. 149. Vgl. KTU 1.104; 1.106; 1.112,1–8; 1.164,1. 49 Zu diesen Stelen vgl. zuletzt PARDEE, Textes Rituels, 386–399; DERS., Ritual, 123– 125; FELIU, God, 272–274; DIETRICH/LORETZ, Weihen. 50 Vgl. FELIU, God, 70–73. 51 Vgl. zu Uzzinu VAN SOLDT, Studies, 590f. Zur Verbindung eines hohen Beamten in Ugarit mit dem königlichen Totenkult vgl. auch die Auffindung von KTU 1.161 im Haus des Urtenu. 48
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Die beiden Stelen belegen mit ihren Inschriften KTU 6.13 und 6.14 einen königlichen Totenkult am El-Tempel von Ugarit. Die Nennung von Ochsen deutet auf das Abhalten eines Totenbanketts als Teil der Trauerzeremonie.52 Der Abschluss der Totenklage Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Totenklage noch einige Tage nach der Bestattung weitergeführt wurde. Dies ist etwa im Mesopotamien des 1. Jahrtausends v.Chr. so belegt, wo erst am vierten Tag nach der Bestattung die Totenklage mit dem Abhalten eines Festmahls eingestellt wurde.53 Ein wichtiges Indiz aus dem zeitgenössischen Libanon liefert das um 1200 v.Chr. anzusetzende Bildprogramm des A̲irom-Sarkophags aus Byblos. Der Sarkophag zeigt auf seiner Vorderseite den im Jenseits thronenden König, dem ein Mahl bereitet ist. Auf den beiden Schmalseiten stehen jeweils vier Klagefrauen, die nach der Königsbestattung ihres Amtes walten.54 Der bislang einzige Beleg für die Praxis der siebentägigen Klage auch über die Bestattung hinaus liegt im Aqhatu-Epos vor. In KTU 1.19 III 41 wird die Bestattung des Aqhatu geschildert. Nachdem Danilu nun seinen Palast betritt, ereignet sich folgendes: „Es traten in [sein] Haus die [Wei]nenden,55 in seinen Palast die Trauerfrauen, in seinen Hof die Hautritzer. Er weinte56 über Aqhatu, den Helden, er vergoss Tränen über das Kind des Danilu, des Mannes von Rapiu. Von Tagen zu Monaten, von Monaten zu Jahren, bis zu sieben Jahren weinte er über Aqhatu, den Helden, vergoss Tränen über das Kind des Danilu, des Mannes des Rapiu.“ (KTU 1.19 IV 9–17)
Als Dauer der Klage des Danilu wird ein Zeitraum von sieben Jahren genannt. Grundsätzlich ist im Aqhatu-Epos unübersehbar, dass der Zahl Sieben eine hohe Bedeutung zur Markierung eines bestimmten Zeitraums zukommt.57 Dies schließt nicht aus, dass hier tatsächlich eine siebentägige Trauerzeit ins Auge gefasst ist. Dies wird umso deutlicher, wenn man den 52
Vgl. FELIU, God, 71.272f. Vgl. MOFIDI NASRABADI, Untersuchungen, 33.66.243. 54 Vgl. zum A̲irom-Sarkophag zuletzt NIEHR, Sarkophag. Siehe auch den Beitrag von S. Schroer in diesem Band. 55 Mit CAT z.St. ist bbt kyt zu lesen. 56 Die Verben stehen im Singular (vgl. TROPPER, Grammatik, 435 § 73.223.34 Nr. 8) und nicht, wie man erwarten könnte, im Plural, da die Totenklage des Danilu explizit genannt wird, während die Tätigkeit der Klagefrauen und der Hautritzer implizit mitgemeint ist, da diese aus ihrer Berufsbezeichnung hervorgeht. 57 Zur Siebenzahl im Aqhatu-Epos vgl. die Opfer des Danilu und die Zuwendung des Baal (KTU 1.17 I 1–16) sowie die Opfer an die Kotharot (KTU 1.17 II 32–42). 53
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weiteren Textverlauf anschaut. Danilu vertreibt die Klagenden und opfert den Göttern. „Dann, zu seinem Palast (kehrten zurück) die Zimbeln, die Kastagnetten aus Elfenbein zu seinem Haus.“ (KTU 1.19 IV 26–27)
Hiernach kann die Erzählung ihren weiteren Verlauf nehmen.
7. Ausblick Ausgehend von den Analysen des königlichen Bestattungsrituals in Ugarit kann man in vergleichender Hinsicht auf Grabanlagen Westsyriens während des 2. Jahrtausends v.Chr. eingehen. Für das 2. Jahrtausend v.Chr. lässt sich ein vergleichender Blick auf die Königsgräber in Qatna und in Kumidi richten.58 Hierbei sind als übereinstimmende Parallelen die Bestattung im Palast (Ugarit, Qatna) oder in einem separaten Gebäude beim Palast (Kumidi), die Verbindung der Grablege mit einem Ahnenkultraum (Ugarit, Qatna) bzw. einem vorgelagerten Platz (Kumidi), ein Ahnenkult mit Hilfe von Figurinen und ein Abhalten des kispum sowie eine Kommunikation mit den Unterweltsbewohnern mittels einer Grube (Ugarit, Qatna, Kumidi) festzuhalten. Des Weiteren ist auf die Grablege der Könige von Byblos, insbesondere die Gruft V mit dem A̲irom-Sarkophag und seinem Bildprogramm einzugehen. Allerdings liegen aus Qatna, Kumidi und Byblos keine Ritualtexte, Mythen oder Epen vor, die die königliche Bestattung zum Thema hätten bzw. Einblicke in diesen Bereich gewähren. Angesichts dieses Umstands kommt den Texten und den Grabungen aus Ugarit eine besondere Relevanz für die Rekonstruktion der Übergangsriten beim Ableben eines Königs im spätbronzezeitlichen Westsyrien zu.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3
CORNELIUS / NIEHR, Götter, 8 Abb. 8. CORNELIUS / NIEHR, Götter, 12 Abb. 15. CORNELIUS / NIEHR, Götter, 82 Abb. 128.
58
Vgl. dazu NIEHR, Funeral, und den Beitrag von J. Bretschneider in diesem Band.
Die Königsbestattung im Palast von Ugarit
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Verunreinigung durch die Berührung Toter Zum Ursprung einer altisraelitischen Vorstellung REINHARD ACHENBACH
Die Berührung Toter im Zusammenhang mit deren Bestattung bietet aus medizinischer Sicht grundsätzlich keinen Anlass für die Annahme einer hygienisch induzierten Verunreinigung derjenigen, die mit dem Leichnam in Berührung kommen. Eine solche Auffassung ist von daher, soweit ich sehe, weder in Ägypten noch im nordwest-semitischen Raum oder in Mesopotamien anzutreffen. Darum stellt K. van der Toorn in seiner vergleichenden Studie zu „Sin and Sanction in Israel and Mesopotamia“ fest: „The Mesopotamian texts hardly refer to the defilement incurred by the contact with a human corpse. The ideal of a swift and proper burial of the dead is apparently owing more to a concern for the welfare of the ghosts (e̺emmī) of the deceased than to fear of contamination.“1 Allerdings herrscht in der mesopotamischen Ritualistik die Anschauung, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, sich im Umgang mit anderen Menschen zu verunreinigen2 oder durch Berührung von Gegenständen, welche zu „Trägersubstanzen“ in magischen Ritualen geworden waren,3 die mit einem Tabu behaftet waren. Dazu konnte sogar der Kontakt mit dem „Staub von einem bösen Ort“4 als kontaminierend empfunden werden. Darum ist eine Fülle von Reinigungsriten bekannt samt zahlreichen Fällen, in denen deren Vollzug in 7 Tagen vorgeschrieben war.5 Auch die Beisetzung eines Toten hatte nach mesopotamischer Sitte in 7 Tagen zu erfolgen.6 Lediglich die Ansicht, dass die Berührung mit einem Toten als solchem verunreinige, scheint in mesopotamischen Texten in vorpersischer Zeit explizit nicht belegt zu sein. Allerdings wird in einem Namburbi-Ritual (KAR n178, Kol. VII, 35ff) beschrieben, „wie ein Mensch seine ‚Sünden‘ auf den Totengeist seines Va 1
VAN DER TOORN, Sin, 37. REINER, Šurpu, 19–24. 3 MAUL, Zukunftsbewältigung, 89–91. 4 LKA n119, vgl. hierzu EBELING, Beiträge, 178–191.178–181. Von Trauerritualen ist im Text keine Rede, gegen MILGROM, Numbers, 160. 5 OTTO, Art. ɕɄɜ, 1007ff. 6 WILCKE, Urnammus Tod, 891–901, bes. 894. 2
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ters, von dem ein Figürchen gefertigt worden war, übertragen konnte. Der Totengeist sollte dann die Sünden forttragen.“7 Das Reich des Todes galt also als ein Bezirk, in den all das, was einen Menschen vom Leben und damit auch von der Kultusgemeinschaft mit den Göttern zu scheiden vermochte, verbannt werden konnte. Das bedeutete umgekehrt, dass Priestern, die in besonderer Weise den Umgang mit den Göttern pflegten, die Meidung der Berührung von Gegenständen und Orten, über denen Reinigungsrituale vollzogen worden waren, auferlegt sein konnte. Beispielsweise führte der Umstand, dass der Gärvorgang und Gärbottiche in magischen Abwehrritualen genutzt wurden, Schenken also als Deponie für magisch unreine Stoffe galten, dazu, dass der Kodex Hammurabi gewissen Priestern bei Androhung der Todesstrafe verbot, eine Schenke zu betreten:8 „Die Gefahr, daß sie sich verunreinigen und damit den Gott, dem sie dienten, beleidigen könnten, war viel zu groß.“9 Auch in der west-semitischen Tradition war die Berührung mit dem Toten als solche nicht mit dem Tabu der Verunreinigung belegt.10 Der Ursprung der Vorstellung einer Kontamination ist also nicht im Bereich des Toten an sich zu suchen, sondern im Kontext des Schutzes der Heiligtümer vor Einwirkungen lebensbedrohlicher Mächte. Besonders eindrücklich sind die diesbezüglichen Befunde in Kleinasien und Griechenland: Nach westlichem, griechischem Empfinden war ein Temenos von Toten freizuhalten und denjenigen, die mit Toten in Berührung gekommen waren, war es vielfach für eine Zeitlang verboten, ein Heiligtum zu betreten.11
7
MAUL, Zukunftsbewältigung, 91. CH § 110. 9 MAUL, Zukunftsbewältigung, 105 zu KAR n234. 10 CAZELLES, Art. Pureté, 470–473. 11 Der Tod in einem Tempel galt als Sakrileg, aber auch die Geburt, vgl. PARKER, Miasma, 32–73, bes. 33 Anm. 5, mit Verweis auf LEWIS, Inscriptiones Graecae II3, 1035.10: ƻЎưƭƥƫƩ ζƯưƥƩ βƩ ƨƣƠơƩГ ưҊƩ ươƨơƩҊƩ ƨƚưť βƩưƛƦươƥƩ ƨƚưť βƩƝƬƫƤƩƚƯƦơƥƩ; Paus. II 27.1,6; Eur.Alc. 98–100; Iph. taur. 380–383; Hel. 1430f; SOKOLOWSKI, Lois sacrées, 8: Thuk. I. 134.3; Xen.hell. 5.3.19; Plut.Dem. 29,6; Aristoph.Lys. 742f etc. WÄCHTER, Reinheitsvorschriften, 45 (Hervorhebungen im Original): „Alle, die mit einem Toten in Berührung gekommen sind, sind verunreinigt.“ (Eur.Frg. 472 V. 16f; Diog.Laert. VIII 33; Theokr. XXIII V. 55; Theophr.char. XVI); 46: „Auch leblose Gegenstände gelten als durch die Berührung mit einem Toten verunreinigt.“ (Demeter-Inschrift Kos, AfRW X 403B § 5,33ff; Plut.Them. 22); 46f: „Jedes Haus, in dem sich eine Leiche befindet, ist unrein.“ (Soph.Oid.T. 1227ff; Aristoph.Eccl. 1032). PARKER, ebd., 66: „By banning birth, death, and also sexuality from sacred places, the Greeks emphasize the gulf that separates the nature of god and man [...] whereas for men birth and sex are part of a cycle that ends in the grave, the gods enjoy the benefits of the flesh but not the ills [...], the gods persist in splendid immortality.“ 8
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1. Verunreinigung und Profanation eines Temenos durch Tote Die Annahme liegt nahe, dass auch in der alttestamentlichen Vorstellungswelt die Idee einer Verunreinigung durch Berührung mit dem Toten in der Vermeidung einer Kontamination eines Heiligtums ihren Ursprung hat. Möglicherweise war das Verbot, nach Kontakt mit einem Toten ein Heiligtum zu betreten oder gar Tote in Kontakt mit dem Heiligtum zu bringen so selbstverständlich im religiösen Ethos wie in den Regularien der Heiligtümer verankert, dass dementsprechende Texte in den ältesten Rechtssammlungen des Alten Testaments kaum in den Blick kommen. Es gibt aus vorexilischer Zeit nur wenige Belege für die Vorstellung einer Entweihung eines sakralen Raumes durch die Tötung von Menschen im Bereich des Temenos, wie die Erwähnung eines entsprechenden Ad-hoc-Gebotes in 2 Kön 11,15 (= 2 Chr 23,14). In reziproker Analogie hierzu galt der Altar eines Heiligtums in vordeuteronomischer Zeit als der Ort, durch dessen Berührung dem vor Blutrache Fliehenden zeitweise Verschonung vor einer Sanktion zuteil werden konnte (1 Kön 1,50f; 2,28). Diese musste aber im Falle der Schuldfeststellung enden, die Todessanktion musste abseits des Altars und außerhalb des Temenos vollzogen werden (vgl. Ex 21,14b12). Der bewusste Akt der Zerstörung und Profanation eines Heiligtums bzw. sakraler Gegenstände assoziiert diese allerdings mit dem Bereich der Toten. So schildert der sog. Reformbericht der joschijanischen Kultreform, dessen Kernüberlieferung in 2 Kön 23,4–15 zu suchen ist,13 zunächst den Akt der Entweihung von Kultsymbolen als Verbrennung (V. 4.6.11). Die Emphase der Schilderung des Vorgangs wird von den Verfassern noch gesteigert, indem sie von dem Aschera-Symbol erzählen, Joschija habe dessen Asche über den Gräbern des gemeinen Volkes verstreut (V. 6b), es damit endgültig dem Bereich des Vergänglichen zugewiesen und seine numinose Macht im Bereich des Totenfeldes zum Verschwinden gebracht. Das Gleiche gilt für die Profanierung der Orte durch Menschengebeine (2 Kön 23,14b), an welchen sich ehemals Masseben und Ascheren außerhalb des Jerusalemer Tempel-Temenos befunden hatten. 12
Der für schuldig Befundene soll „vom Altar weggerissen werden“, wenn man ihn hinrichtet. Die Scheu vor einer Tötung des Asylsuchenden am Altar wird – so 1 Kön 2,29–31.34 – im Falle des Benaja nur durch ausdrücklichen königlichen Befehl überwunden und mit dem besonderen Fall des Ausgleichs einer höheren Blutschuld begründet (V. 5f.31–33). Überhaupt schreckte man vor dem Sakrileg der Tötung im Bereich eines Heiligtums (vgl. 2 Chr 24,20f) zurück, ebenso vor der Tötung eines Priesters (1 Sam 22,17f); vgl. HOUTMAN, Bundesbuch, 123–127; FRYMER-KENSKY, Levant, 1031. Rechtsgeschichtlich ist die frühe Form der Altarflucht von der elaborierten Form eines Asylrechts des Altars zu unterscheiden (vgl. TRAULSEN, Asyl, 19–50). 13 ARNETH, Reform, 246–274.
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Eine weitere Ausgestaltung hat dieser Gedanke im Zuge einer redaktionellen Erweiterung der Erzählung in 2 Kön 23,1614 gefunden, wonach die in V. 15 erwähnte angebliche Zerstörung des Altars von Bethel dergestalt stattgefunden haben soll, dass Joschija Menschengebeine auf dem Altar habe verbrennen lassen, wie späterhin auch auf weiteren Altären (V. 20). Die Abhorreszierung des Betheler Reichsheiligtums als eine durch kanaanäischen Götzenkult verdammungswürdige Stätte soll wohl durch das Motiv der auch jenseits der Grenzen Israels als Sakrileg empfundenen Verbrennung der Gebeine (vgl. Am 2,1!) mit gesteigerter Emphase zum Ausdruck gebracht werden.15 Dabei wird die Vorstellung eines gezielten Aktes der Entweihung dadurch impliziert, dass geradezu Joschija in einer Pervertierung des Brandopfers durch den Vollzug einer Bannweihe auf dem Altar einen irreversiblen Akt der Profanierung vorgenommen habe. Der Text korrespondiert der nach-dtr. eingefügten Prophetenlegende in 2 Kön 13,1–10, die in nachexilischer Zeit ein Interesse hat, besonders das verhasste Gegenheiligtum ab ovo unter den Vorbehalt nach-mosaischer Untergangsprophetie zu stellen (vgl. 2 Kön 17,13ff.23.28).16 Demgegenüber stand nach dem Scheitern Joschijas und dem Untergang Jerusalems die traumatische Erfahrung der Niederbrennung des JahweTempels dort. Vor allem die ezechielische Überlieferung sieht darin, dass Jahwe die Tötung zahlreicher Jerusalemer in der Tempelstadt zugelassen habe, einen Akt der Entweihung und Profanierung, welchen Jerusalem als Strafe für die synkretistische Verunreinigung von Heiligtum und Stadt habe erleiden müssen (vgl. Ez 7,21f; 9,6f; 22,26.31; 23,38f). Von daher ist es konsequent, dass im Zuge der Anweisungen für den Bau des zweiten Tempels in Ez 40–48 erstmals explizit für das Priestertum Regularien im Umgang mit Tod und Bestattung genannt werden, die darauf gerichtet sind, eine Verunreinigung des Temenos zu meiden. Besonders bemerkenswert ist zudem, dass im Kontext der Tempel-Visions-Perikope auch der dynastischen Tradition der Grablege im Nahbereich von Palast und Tempel aus analogen Gründen der Abschied gegeben wird: Die räumliche Nähe der königlichen Leichname zum Tempel wird als Verunreinigung des Heiligtums benannt, welche der Gegenwart Gottes entgegensteht, d.h. seinen heiligen Namen entweiht (Ez 43,7–9). Der Text markiert insofern eine para 14 Zwischen V. 15 und 16 besteht ein „literarkritisch relevanter Bruch“, so ARNETH, Reform, 250 Anm. 20; LEVIN, Joschija, 361; KOENEN, Bethel, 55 Anm. 102 (Lit.). Der Modus der Zerstörung soll in 2 Kön 23,16–18 näher definiert werden. 15 LEVINE, Numbers, 476–479, SCHMIDT, Dead, 198–220, nehmen einen Bezug zu Formen des Totenkultes an. 16 WÜRTHWEIN, Könige, 460f; HARDMEIER, König Joschija, 118ff. 1 Kön 13,2f ist von Am 7,10–17 geprägt (HENTSCHEL, 1 Könige, 87); zur relativen Spätansetzung vgl. KÖHLMOOS, Bet-El, 213–229.
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digmatische Wende im Umgang mit Bestattungen, als die Fortsetzung einer Tradition der königlichen Grablege aus vorexilischer Zeit für die nachexilische Zeit als unhaltbar deklariert wird und damit das Thema der Reinerhaltung des Heiligtums und seiner Umgebung mit der Thematik der Nähe und Berührung Toter in innovativer Form explizit assoziiert wird, und zwar unabhängig davon, in welchem Maße die Grablege der Davididen mit in der Ahnenverehrung wurzelnden kultischen Begängnissen oder Vorstellungen verbunden gewesen sein mag (vgl. Jes 57,9; Jer 34,5; 2 Chr 21,19).17 Eine zweite, insbesondere für die Aufrichtung des Tabus der Unreinheit durch Totenberührung bestimmende Wurzel dürfte in der dtr. und nach-dtr. Abhorreszierung von Nekromantie und Totenkult zu suchen sein (Dtn 18,10f; Lev 19,28.31; 20,6.7; 1 Sam 28; 2 Kön 21,6.23f; Jes 8,19; 57,6.9; 65,4; Ps 16,2f; 106,28).18 Als Schlüsseltext dieser Entwicklung wird in der Regel die Reinheitsdeklaration bei der Darreichung der Zehntabgaben nach Dtn 26,14 angenommen.19 Der Vers ist als Fortschreibung zu dem sachlich und kompositorisch mit Dtn 14,22–15,23* verzahnten Text Dtn 26,2–13*20 anzusehen und schließt u.a. an das nach-dtr. und nach-priesterschriftliche sog. kleine geschichtliche Credo an, welches bei der Darbringung der Erstlinge gesprochen worden sein soll.21 Es handelt sich damit um einen Nachtrag zum Zehntgesetz in Dtn 14,27–29. Weil es dabei nicht nur um den Aspekt der Fürsorge für die personae miserae geht, sondern um die Abgabe an das Heiligtum und noch mehr um die Abgabe zugunsten der Leviten, sind besondere Reinheitsvorschriften zu beachten, und es ist eine gleichsam eidesstattliche Deklaration vorzutragen. Diese ist konzeptionell analog dem (ebenfalls in Verbindung mit den Speisetabus Dtn 14,3–21 sekundär eingefügten) Verbot heidnischer Trauerbräuche Dtn 14,1–2 formuliert (Dtn 26,14a): „Ich habe nichts davon gegessen in Trauer (beťonî) und ich habe nichts davon separiert in Unreinheit und ich habe nichts davon für einen Toten gegeben!“
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Vgl. hierzu NIEHR, Aspekte, 1–13, bes. 4f.10; WENNING, Bestattungen, 93. Grundlegend hierzu TROPPER, Nekromantie. 19 SEEBASS, Numeri, 251 hält den Text für den „ältesten biblischen Beleg für Totenkult“ (Hervorhebung im Original). 20 Hierzu vgl. OTTO, Deuteronomium, 317f.321–323.352f. 21 Der Text setzt P (Gen 47,27b.28; Ex 1,9.13f; 2,23f) und nicht-P-Texte (vgl. Dtn 26,7/Ex 3,7.9) voraus. Dtn 26,12–15 ist ein Nachtrag zum Zehntgesetz in Dtn 14,28. Dem Thema der Abgaben in Dtn 14,26–28 sind im Anschluss an die Behandlung aller denkbaren Fälle der Bannung (Dtn 12,29–13,19) die Vorschriften zu Trauerritualen (14,1f) im Sinne von Lev 19,27f und die priesterlichen Speisegebote (14,4–21) sekundär vorangestellt worden. 18
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Die Zusicherung hat aufgrund des kultischen Kontextes eidlich bindenden Charakter. Sie soll sicherstellen, dass die Zehntabgabe vollständig erfolgt und nicht anteilig zweckentfremdet und damit insgesamt für die Darbringung unbrauchbar gemacht wird. V. 14aƝ beťonî wird im Lichte von Hos 9,4a zu deuten sein:22 das Brot, welches dem Trauernden zum Trost gegeben wurde (vgl. Jer 16,7; 2 Sam 3,35).23 Im Corpus des Ezechielbuches gilt es gleich der Speise im fremden Lande als unrein. Davon zu essen bedeutet, sich für die Teilnahme am Kultus zu verunreinigen (Ez 4,13). Der zweite Satz nimmt das Stichwort bŦr II PiŦel aus V. 13 auf: Während des Vorgangs der Aussonderung des Zehnten hat sich der Darbringende nicht in irgendeiner Weise im Zustand der Unreinheit befunden, sodass gar eine Verunreinigung auf die gesamte Abgabe hat übergehen können. Da im ersten und dritten Satz der Reihe ein Konnex zu Trauerritualen hergestellt wird, liegt die Annahme nahe, dass auch hier ein Zusammenhang mit denselben assoziiert wird.24 In Analogie zu dem Verbot, sich einem Verstorbenen zuliebe Minderungsriten zu unterziehen (Dtn 14,1 mit dativus commodi: lÁmet), ist es schließlich möglich, auch den dritten Satz dahingehend aufzufassen,25 dass er sich auf allfällige Mahlrituale im Kontext der Trauerrituale anlässlich einer Bestattung oder des Totengedenkens (le-met) bezieht und nicht zwingend auf eine Darbringung an den Toten selbst oder eine Opferhandlung zugunsten des Toten.26 Es reicht an dieser Stelle die Feststellung aus, dass keinerlei Anteil der Zehntabgabe in irgendeinen Zusammenhang mit einem Leichenbegängnis gebracht werden darf, weder dadurch, dass der Darbringende selbst den Anteil verzehrt hat oder zur Zeit der Aussonderung mit Toten auch nur in Berührung gekommen ist, noch dadurch, dass er einen Anteil für ein Ritual im Kontext des Totengedenkens zur Verfügung gestellt hat. So schreiten die Ausschlusskriterien vom konkretesten zum allgemeinsten Fall voran. Im Vordergrund steht nicht die Frage nach der Verunreinigung durch Kontakt mit dem Bereich des Toten, sondern vielmehr die Vorstellung, dass nichts von dem, was Jahwe darzubringen ist, in irgendeiner Weise dadurch entfremdet werden darf, dass es 22
LEWIS, Cults, 102f; VAN DER TOORN, Family Religion, 209. Vgl. Ez 24,17.22 (txt.em.). JEREMIAS, Hosea, 115ff; Hos 9,3.4a setzt den Untergang des Nordreiches deutlich voraus, die Fortschreibung in V. 4b setzt anachronistisch den Text in Bezug zum „Haus Jahwes“, das heißt zum Jerusalemer Tempel. Das Datierungsproblem ist ungelöst, vgl. WÖHRLE, Sammlungen, 57; RUDNIG-ZELT, Hoseastudien, 61A. 24 SCHMIDT, Dead, 199 unter Verweis auf die Wendung beťônî. 25 SCHMIDT, Dead, 199: „on account of“ mit Verweis auf Lev 19,28 (lÁnæpæš) und 21,1(lenæpæš). 26 WENNING, Bestattungen, 91; LEWIS, Cults, 101–104; SCHMIDT, Dead, 199f; zu Überlegungen über mögliche Analogien zu mesopotamischen Ritualen, vgl. MCGINNIS, Neo-Assyrian Text, 1–12; TSUKIMOTO, Totenpflege. 23
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mit dem Totenritual in Verbindung gebracht wird.27 Aber auch die Interpretation des Textes, die Dtn 26,14 dahingehend auslegt, dass hier explizit die Gabe eines Zehntanteils an einen Ahnen ausgeschlossen werden soll, ist m.E. durchaus wahrscheinlich zu machen, schon weil das Faktum der Existenz von Nekromantie im Alten Israel (Dtn 18,11; 1 Sam 28,7)28 im Grunde eine Verbindung zur Ahnenverehrung und also zum sog. TotenKult impliziert.29 Dabei zeigt das diesbezügliche Belegspektrum, dass Mahlgemeinschaften an den Gräbern (Jes 64,4f), das Essen von Opfergaben für Tote (Ps 106,28) und Brotgaben an die Verstorbenen (Tob 4,17)30 auch in der Zeit des zweiten Tempels vertraute Rituale des Totengedenkens waren. Ob Dtn 26,14 dann voraussetzt, dass der Anteil an der Zehntabgabe für den Ahnen auch mit Hoffnungen der Gewährleistung des Segens auf der na̲alÁh und einer Anrufung des Ahnen verbunden gewesen ist31 oder ob lediglich der Ahnvater in die Kultusgemeinschaft der Lebenden einbezogen gewesen sein soll, muss offen bleiben. Jede Minderung der Zehntabgabe aufgrund einer wie immer gearteten Einbeziehung der Ahnen in das Zehnt-Opfer-Ritual wird als Einschränkung der Weihe der geheiligten Gaben angesehen, durch welche die Abgabe unrein wird. Fragt man nun nach der Datierung des Textes, so wird seit C. Steuernagel festzustellen sein, dass Dtn 14,1–2.3–21 ein Textkomplex ist, der einer sekundären Bearbeitung des Deuteronomiums zuzuweisen ist.32 Diese setzt dessen dtr. Rahmung in Dtn 7,1–6* schon voraus. Der Verfasser von Dtn 14,2.21a nimmt die Erwählungszusage aus Dtn 7,6 auf und fügt sie als Begründung den durch die pluralische Anrede als paränetischer Einschub vom Kontext abgehobenen Reinheitsvorschriften V. 1.21a an.33 Dtn 14,1b ist sachlich und sprachlich äquivalent den Forderungen des Heiligkeitsgesetzes (vgl. Dtn 14,1b mit Lev 19,27f). Die Übertragung der Erwählungstopik vom Königtum auf das Verhältnis zwischen Volk und Jahwe wird durch die Übertragung des Motivs der Gottes-Sohnschaft auf Israel unterstrichen. Damit spielt der Text auf die durch Ex 19,6 vorgegebene Programmatik eines Priester-Königreiches der „Söhne Israels“ aus dem „Hause Jakobs“ (Ex 19,3b) an und weist die für den Verfasser wesentlichen Konsequenzen auf: die so zuvor in Israel noch niemals formulierte Verpflichtung des Volkes als einer Kultusgemeinschaft zur Observanz ritueller Reinheit. Der Text Dtn 14 ist also schon durch eine redaktionelle Per 27
STEUERNAGEL, Deuteronomium, 145; SCHMIDT, Dead, 199. PODELLA, Nekromantie, 121–135; TROPPER, Nekromantie. 29 VAN DER TOORN, Erbe, 105–120; vgl. LORETZ, Teraphim, 133–178. 30 Hierzu EGO, Tobit, 950. 31 VAN DER TOORN, Erbe, 106 unter Verweis auf 2 Sam 18,18. 32 STEUERNAGEL, Deuteronomium, 104ff. 33 ACHENBACH, Israel, 301f. 28
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spektive geleitet, welche die dtr. Gesetze im Lichte der priesterlichen Torot interpretiert und bearbeitet. In den durch V. 1f.21 gegebenen Rahmen ist in V. 3–20* eine Variante der Speisegebote zu Lev 11 eingefügt worden, deren Sprache und Anliegen nicht aus dtr. Tradition, sondern aus der Priestertradition des zweiten Tempels stammt.34 Das Anliegen des Bearbeiters, der Dtn 14,1–21 und Dtn 26,14 eingefügt hat, besteht offensichtlich darin, die dtr. Überlieferung näher mit der priesterlichen und priesterschriftlichen zu verzahnen. Dabei ging es darum, die wichtigsten Reinheitsregeln nicht nur im Zentrum der Sinaiperikope zu verankern, sondern sie auch in den Rahmen des Moabbundtextes des Deuteronomiums zu stellen und auf diese Weise im Rahmen eines das Leben außerhalb des Heiligtums betreffenden Textes in seinen wichtigsten Bezügen, und darum in einer von Lev 11 etwas abweichenden eigenen Fassung, zu popularisieren, d.h. dem Volke unmittelbar zur Beachtung zu übergeben.35 Dabei ist der spät-dtr. Gedanke der Heiligkeit des erwählten Jahwe-Volkes leitend. In der besonderen Zuweisung des Volkes zum Bereich des Heiligen wird der Ausschluss des Verzehrs unreiner Speisen, d.h. tierischer Nahrung, begründet gesehen. Während in der von Dtn 14 verwendeten Quelle unter der Aufzählung der Unreinheit von Tieren das Verbot der Berührung von Aas lediglich im Zusammenhang des Verbots eines Verzehrs von Schweinefleisch thematisiert worden war (vgl. Dtn 14,8; Jes 65,4f!), schließt der Redaktor in V. 21 die Reihe mit einem generellen Verbot des Verzehrs von „nebelÁh“ ab. Zur Begründung wird aber nicht auf das Problem der Unreinheit verwiesen, sondern auf die Heiligung des Volkes (vgl. Dtn 7,6). Ein Sonderfall ist die Forderung der Beseitigung des Leichnams eines aufgepfählten Hingerichteten vor Einbruch der Nacht, um eine Verunreinigung des Landes zu vermeiden (Dtn 21,22f). Die Bedrohung ist allerdings wohl weniger mit dem Umstand der Ausgesetztheit des toten Körpers zu erklären als vielmehr mit dem Fluch, der an dem Hingerichteten 34
NIHAN, Torah, 284–294. Lev 11 schließt die Reihe der unreinen Tiere in V. 4–7 mit dem Verbot des Schweinefleisches ab und erweitert das Verbot des Fleischgenusses und der Berührung des Aases (V. 8a = Dtn 14,8b) durch eine den Wortlaut von Lev 11,7b = Dtn 14,8aƟ in den Plural wendende, auf alle unreinen Tiere bezogene Begründung: kî ̺emeťîm hem lÁkæm (V. 8b). Die priesterliche Bearbeitung in Lev 11 durchzieht den Text konsequent mit Hinweisen auf die verunreinigende Wirkung von Aas (V. 11.24–28.32–40) und wird dabei offensichtlich von der Maxime des Heiligkeitsgesetzes geleitet (vgl. Lev 11,44 = Lev 19,2)! So wird in dem auf das Heiligtum bezogenen Kernbereich der priesterlichen Tora die Thematik ausführlich behandelt, welche in den Bestimmungen des Deuteronomiums, die an das Volk im Lande und seine Ältesten gerichteten Anweisungen lediglich in einem abschließenden, bündelnden Satz am Ende der Liste der unreinen Tiere einmal (erweitert um einen Rückverweis auf Ex 23,19) angeführt wird. Die Duplizität der Texte in Dtn 14 und Lev 11 im Rahmen des Pentateuch ist also redaktionell zu erklären. 35
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haftet,36 wie umgekehrt die Entdeckung eines Leichnams ein Sühneritual für den ansonsten ungesühnten Mord erfordert (Dtn 21,1–9). In diesem Sinne wird es auch zu verstehen sein, dass Hinrichtungen in der Regel extra muros erfolgten (vgl. Dtn 17,5; 21,19.21; 22,24; Jos 7,24f; 1 Kön 21,13 u.ö.). Erst im Zuge der Stilisierung des Pentateuch als Mose-Tora im Sinne einer religiösen Bundesverfassung für das heilige Volk Israel, welches um den in seiner Mitte im Heiligtum einwohnenden Gott geschart und angesiedelt ist, ergab sich die literarische Nötigung einer Einführung der Tempel-Tabu-Regelungen in das kodifizierte Gesetz.
2. Die Verunreinigung eines Priesters durch Kontakt mit Toten Das explizite Verbot für Priester, sich durch Berührung Toter zu verunreinigen, ist aus dem Gedanken der strikten Separierung des Bereiches des Jahweheiligtums als der Opferstätte von dem Bereich der Totenfürsorge und Bestattung bestimmt. Eine kosmologische Motivierung dieser Regelungen, die über den Aspekt der Separierung der Bereiche des Kultes und des Todes hinausreicht, kann man annehmen, eine diesbezügliche Elementenlehre ist nicht erkennbar.37 Sachlich wie hinsichtlich des Zeitpunkts ihrer literarischen Verankerung im Pentateuch gehen den Regelungen für die Laien diejenigen für die Priester voraus. In diesem Zusammenhang ist es nun auffällig, dass eine entsprechende Regel im Pentateuch innerhalb der einschlägigen Regularien für das Priestertum in der Priesterschrift und ihren Ergänzungen (Ex 28f; Lev 8f.11–15) noch nicht begegnet, sondern erst im Heiligkeitsgesetz (Lev 21,1b–4). Dessen Text hat eine sprachlich und sachlich enge Parallele in den Priesterregeln des Ezechielbuches (Ez 44,25–27). Die Priesterordnung in Lev 21 weist gegenüber der Parallele in Ez 44 eigentümliche Unterschiede auf. Ez 44,(6–14).15–31 richtet sich in Auseinandersetzung mit dem nach-dtr. Konzept eines „levitischen Priestertums“ (Dtn 10,8f; 17,9.18; 18,1; 21,5; 24,8; 27,9; 31,9; vgl. Ez 44,15) ausschließlich an ein der zadokidischen Linie entstammendes Priestertum38 36 Vgl. die Parallele 11Q19 LIV,6–13; Gal 3,13; siehe dazu RÜTERSWÖRDEN, Deuteronomium, 143. 37 Jahwe gilt in der Spätzeit mehr und mehr als Überwinder der bindenden Kraft der Unterwelt und des Todes (Dtn 32,39; 1 Sam 2,6; 2 Kön 5,7; Jes 25,8.14.19; Ps 16,10f; 49,16; 73,23f; 139,7f; Ijob 19,25; Dan 12,1–3; Weish 5,15), aber selbst hat er mit der Totenwelt nichts gemein; vgl. HEALEY, Land, 94–104; SPRONK, Afterlife. 38 Zur spät-nachexilischen Datierung von Ez 44 vgl. RUDNIG, Heilig, 280–331; zur institutionengeschichtlichen Korrelierung ACHENBACH, Priester, 285–309.
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und bildet eine klar strukturierte, in sich abgeschlossene Einheit. Das Heiligkeitsgesetz ist mit seiner redaktionellen Einbindung in den Darstellungszusammenhang aus P und D auf das innerhalb des Levitismus ausgesonderte altisraelitische sog. aaronidische Priestertum ausgerichtet, fasst also den Begründungszusammenhang der Priesterregeln weiter und führt ihn nicht auf einen Propheten des Exils, sondern auf Mose selbst zurück (Lev 21,1a). Zudem differenziert es gegenüber Ez 44 ausdrücklich zwischen dem zum kultischen Dienst privilegierten Priestertum und dem Hohepriester (V. 10ff). Die in Ez 44,25 angeführte Regel untersagt dem Priester, sich in die Nähe irgend eines menschlichen Leichnams zu begeben und wählt dafür die kurze Form „er soll nicht gehen zum met ťÁdÁm.“ Da er den Opferdienst im Heiligtum vollzieht (Ez 44,16), muss er jegliche Kontaktmöglichkeit mit einem Toten, durch die der Bereich des Heiligtums kontaminiert werden könnte, vermeiden. Die Regel in Lev 21,1b verkürzt die Ausdrucksweise in einer Form, dass zwar die Kontamination an einer Person (næfæš), die der Volksgruppe (Ŧam) des Priesters angehört, also ihm verwandt ist, untersagt wird, aber die explizite Attributierung der Person als met – verstorben – unterbleibt, wohl weil der Sachverhalt aus sich selbst heraus klar ist. Die Formulierung setzt also im Grunde das Wissen um die Regel schon voraus. Der Gedanke, dass ein Priester auch mit dem Leichnam eines Nichtisraeliten in Kontakt kommen könnte, der der allgemeineren Variante von Ez 44 noch inhäriert, tritt im Kontext des Heiligkeitsgesetzes nicht mehr in den Horizont des Denkbaren. Das Verbot der Verunreinigung wird sodann in Lev 21,4 weiter expliziert, indem es generell jeglichen Kontakt mit einer (männlichen) Persönlichkeit (baŦal) aus der priesterlichen Verwandtschaft begrenzt, wobei implizit auch hier vom Todesfall ausgegangen wird. Zur Begründung wird auf die Gefahr der Entwiehung des Priesters hingewiesen (V. 4b). V. 1b und 4 bilden zusammen mit V. 6 eine Rahmenstruktur, in der die Begründung des Kontaktverbotes ausgeführt wird. V. 2–3 enthalten die Ausnahmeregelung für den Todesfall in der engsten leiblichen Verwandtschaft: die Regel aus Ez 44,25b wird mit nur geringen Abweichungen auch in Lev 21,2b.3aƝƟ wiedergegeben, wobei allerdings darüber hinausgehend eine allgemeine Formulierung der Regel in V. 2a vorangestellt wird, die eben klarstellt, dass es sich um die engsten leiblichen Verwandten handelt. Die normale Reihung derselben wird in Lev 21,2b invertiert, indem hier die Mutter zuerst genannt wird, sodass man den Eindruck gewinnt, Lev 21,2 spiele, wie schon durch die allgemeine Formulierung in V. 1b angezeigt, auf bekannte Regelungen an, auch wenn dies der Fiktion der mosaischen Erzählung zufolge eigentlich nicht der Fall sein kann. Genau wie bei den Eltern und den eigenen Kindern ist der Priester auch im Falle des Bruders der einzig mögliche nächste Ange-
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hörige. Im Falle der nicht verheirateten Schwester allerdings enthält Lev 21,3 eine deutliche Einschränkung gegenüber der allgemeiner gefassten Regel in Ez 44,25: Nur an der ihm nächststehenden Schwester und nur, wenn sie noch Jungfrau ist, darf sich der Priester zum Zwecke der Bestattung verunreinigen. Die Priesterregel in Ez 44 ist anders strukturiert: Im Zentrum der priesterlichen Aufgaben steht die der Toraerteilung über heilig und profan (Ez 44,23), ihr sind die Reinheitsvorschriften für das Verhalten im Innenbereich des Heiligtums und der priesterlichen Familie (V. 15–22) und für den Kontakt im Außenbereich im Zusammenhang von Rechtsfindung und Pflege des Sakralrechts, Umgang mit Bestattungen, Besitz und Versorgung (V. 24–31) konzentrisch zugeordnet. Lev 21 setzt einen analogen Konnex im Zuge der Einbindung des Heiligkeitsgesetzes im Brückenbereich zwischen Priesterschrift (Ex 25 – Lev 16*) und Deuteronomium voraus. Hier ist unter dem Vorzeichen der Heiligkeitsforderung an Israel (Lev 17–20) die besondere Heiligung des Priestertums in den Blick genommen (Lev 21,4.6.8). Das wird noch dadurch unterstrichen, dass in Lev 21,5 dem Priester selbstverständlich auch die dem heiligen Volke untersagten Selbstminderungsriten der nicht-jahwistischen (kanaanäischen) Tradition verboten werden wie das Scheren des Haupthaares (V. 5aƝ, vgl. Lev 19,27a; Dtn 14,1!), das Stutzen des Bartes (V. 5aƞ, vgl. Lev 19,27b) und Einschnitte und Ritzungen (V. 5b, vgl. Lev 19,28a) für eine tote Person l enæpæš, vgl. 21,1b). Wie für das Volk die Forderung der Heiligkeit gilt (vgl. Lev 19,2; 20,26; Dtn 14,1a.2), so erst recht für das Priestertum (Lev 21,6a).39 Die Besonderheit der Priester gegenüber dem Volk in der Konzeption des Heiligkeitsgesetzes hat C. Nihan herausgearbeitet: „Yet priestly holiness is not only quantitatively superior to lay holiness, it is also qualitatively different, as the statement on priestly holiness in V. 6–8 makes clear. Contrary to the community, priests are no longer exhorted to become holy by keeping Yahweh’s laws, they are innately holy because they have been set aside (consecrated) to present Yahweh’s ‚food‘ (ɐɊɏ, V. 6,8), an anthropomorphism characteristic of H (but quite foreign to P!) summarizing the purpose of the sacrificial cult.“40 Die Besonderheit besteht in der Aufgabe der Heiligung des Jahwe-Namens und der Darbringung der ťiššaehOpfer! Die weitergehende Voraussetzung von Lev 21 ist der literarische Kontext der erweiterten priesterschriftlichen Erzählung von der Weihe der Aaroniden, wie von V. 6 her deutlich wird. Anders als in Ez 44,23 steht dabei nicht die Aufgabe der Toraerteilung zur Unterscheidung zwischen
39 40
LXX-Version Lev 21,5 ergänzt das Tonsurenverbot nach Dtn 14,1b um die Worte lÁmet. NIHAN, Torah, 485.
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heilig und profan im Zentrum des Interesses, sondern die Aufgabe der priesterlichen Repräsentation der Kultgemeinschaft im ťiššaeh-Opfer (V. 6). Insgesamt wird an den Erweiterungen der Priesterregel in Lev 21,1ff deutlich, dass sie gegenüber dem Katalog von Ez 44 eine jüngere Version derselben repräsentiert. Der Text ist für Leser konzipiert, bei denen eine Kenntnis der Ritualvorschrift schon vorausgesetzt werden kann. Das wird vor allem daran erkennbar, dass im Gegensatz zu Ez 44,26f, wonach dem Priester nach der Bestattung naher Verwandter eine siebentägige Reinigung und die Darbringung eines Sündopfers vorgeschrieben ist, im Kontext des Levitikusbuches diese Thematik eigentümlicherweise nicht behandelt wird! Der Text ist also mit Hinsicht auf Priester verfasst, die aus ihrer Tradition ohnehin schon wissen, wie sie in einem solchen Falle zu verfahren haben; diese Tradition muss daher nicht mehr eigens in der Mose-Tora verankert werden. Hier geht es vor allem um die Einbeziehung der Heiligungsregeln für Priester in das Gesamtkonzept des Heiligkeitsgesetzes.41 Die Regeln für den Hohepriester werden analog zur Priesterregel formuliert und verschärft (Lev 21,10–12). Ihm ist neben einer strengen Haarund Kleiderordnung (V. 10b) der Kontakt mit schlechterdings allen toten Lebewesen (LXX, Syr: ɝɑ ɜɗɓ; MT: ɝɑ ɝɜɗɓȽɏɎ) untersagt, selbst mit Vater und Mutter (V. 11)! Ja, er darf gar das Heiligtum selbst überhaupt nicht verlassen (V. 12). In seiner Radikalität geht Lev 21 nun über Ez 44 weit hinaus. Auch die für ihn ergangenen Vorschriften dienen dem Schutz seiner Person und ihrer Nachkommen vor Entweihung (V. 15, vgl. V. 4). In Lev 10,1–3 wird durch die Legende vom Tode der ersten Aaronsöhne infolge der Kontamination des Heiligen Feuers vor Jahwe auf dem JahweAltar die Gefahr anschaulich gemacht, die dem kultischen Umgang mit dem Heiligen innewohnt.42 Auf der Ebene eines Binnenverweissystems in den Ergänzungsschichten der priesterschriftlichen Sinai-Erzählung im Kontext des Pentateuch hat diese Erzählung die Funktion, die Konzentration des Sühnegeschehens am Jom Kippur zu begründen (Lev 10,1–3; 16,1f). Sogleich wird in ihr eine eigentümliche Fortführung der Genealogie angelegt, die in der Erzählung von den verbleibenden Aaronsöhnen Eleasar und Itamar die gestufte Sukzession und Rangordnung von Zadokiden als Nachfahren des Eleasar und der Itamariden als Nachfahren des altisraelitischen 41
NIHAN, Torah, 483–487. Der Versuch von ELLIGER, Leviticus, 278ff, eine Vorlage in Lev 21f zu rekonstruieren, ergibt kein stringentes Regelwerk, sondern eine Reihe von Fragmenten; GERSTENBERGER, Leviticus, 291 vermutet, dass der Verfasser auf Vorlagen zurückgreift. 42 Lev 10 weist mit der Rede vom „fremden Feuer“ Spuren einer Elementenlehre auf, die kulturelle Prägung durch die Anschauungen der Perserzeit vermuten lässt; vgl. ACHENBACH, Vollendung, 98–100.
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Priestergeschlechts zu begründen beabsichtigt.43 Dabei setzt Lev 10,4f sachlich die Regelung von Lev 21,10–12 voraus. Aus Gründen der Erzähllogik wird in einer eigens eingefügten mosaischen Tora, die hier gleichsam dem mosaischen prophetischen Vorherwissen oder aber der Kenntnis der Tora nach deren Übergabe durch Jahwe (Ex 24,12b!) zugeschrieben worden sein dürfte, die in diesem Zusammenhang notwendige Anweisung gegeben: dem Hohepriester und seinen Söhnen ist die Bestattung der Kinder bzw. Brüder nicht erlaubt. Dabei wird die Regel gegenüber Lev 21 verschärft, indem auch den Söhnen Aarons das Verlassen des Temenos untersagt (V. 7) und die Trauer als Aufgabe der „Brüder, des ganzen Hauses Israel“ deklariert wird (Lev 10,6). Die Beispielerzählung wird zum Anlass für die Einführung explikativer Regelungen, die über Ez 44 und Lev 21 hinausführen. So wird das Verbot der Haarschur (Ez 44,20a; Lev 21,5a) erweitert um die Ez 44,20b analoge Anweisung, das Haupthaar nicht frei hängen zu lassen (Lev 10,6aƞ). Hinzugefügt wird die Anweisung, das Trauerritual des Zerreißens der Kleider zu unterlassen, weil schon dieses im Inneren des Heiligtums den Zorn Gottes heraufbeschwören könnte (V. 6aƟƠ). Es ist dem – ja noch mit dem Vollzug des Opferrituals befassten – Hohepriester und seinen Söhnen das Verlassen des Temenos strikt untersagt (V. 7)! Lev 10,8f ist wiederum aus einem dem Duktus der Priesterregel Ez 44,20f analogen Text heraus zu erklären, wenn dem Verbot des Vollzugs von Trauerriten nun das Verbot des Weingenusses (vgl. Ez 44,21), erweitert um das des Rauschtrankgenusses, hinzugefügt wird, wobei der Vorgang durch eine eigene Redeeinleitung und Abschlussformel besonders markiert wird. Die nahezu wörtlichen Anklänge in V. 10f an das Gebot der Toraerteilung Ez 44,23f machen deutlich, dass der Verfasser von Lev 10,6–11 an der gleichen Schul- und Texttradition partizipiert.44 Damit ist die Abhängigkeitslinie eindeutig markiert: Die Priesterordnung von Ez 44 wird offensichtlich ohne Anspruch auf vollständige Berücksichtigung aller für den priesterlichen Dienst infrage kommenden Aspekte45 im Heiligkeitsgesetz weiterentwickelt und in der Legende Lev 10 noch einmal gleichsam midraschartig entfaltet.
43
Vgl. 1 Chr 5,29–41; hierzu ACHENBACH, Vollendung, 93–110. ACHENBACH, Vollendung, 105–109. 45 Vgl. GERSTENBERGER, Leviticus, 291; NIHAN, Torah, 483. 44
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3. Die Verunreinigung von Laien und Nasiräern Eine Ausdehnung des Verbotes, Tote zu berühren, auf die Schar der Laien kennt das Heiligkeitsgesetz noch nicht. Selbst der priesterliche Bearbeiter, welcher die Reinheitsgebote in Lev 11–15 eingefügt hat, hat es noch nicht für nötig befunden, das Thema der Verunreinigung an Toten explizit zu behandeln.46 Erst in Num 5,2–4 und 19,11–22 und damit in den jüngsten literarischen Schichten des Pentateuch47 kommt diese Thematik in den Blick. In einer episodenhaften ätiologischen Legende wird erzählt, man habe Aussätzige, Ausflussbehaftete und solche, die durch Berührung mit einem (toten) Körper (kol ̺Ámeť lÁnÁpæš) verunreinigt gewesen seien, aus dem Lager ausgeschlossen (V. 2), und zwar mit Rücksicht auf das in seinem Zentrum stehende Heiligtum und die Einwohnung der Gottheit (V. 3: ť anî
šoken betôkÁm).
In der dieser Legende entstehungsgeschichtlich vorausgehenden Regelung der dtr. Kriegsgesetze wird die Reinerhaltung des Lagers der Israeliten zunächst bezogen auf ein Kriegslager erwähnt (Dtn 23,10–15*48). Dabei geht es allerdings zunächst lediglich um die Reinigung nach unwillkürlichem Samenerguss (V. 11f)49 und die Verrichtung der Notdurft außerhalb des Lagers (V. 13f). Die Begründung geschieht mit dem Verweis auf die Heiligkeit des Lagers infolge der Anwesenheit des mit in den Krieg ziehenden Gottes (JHWH ť ælohækÁ mithallek beqæræb ma̲anækÁ, V. 1550). In einer späteren Bearbeitung des Textes ist diesem das Qahal-Gesetz Dtn 23,2–9 vorangestellt worden, das seinerseits an das dtr. Kriegsgesetz anknüpft. Der offensichtlich komplexe Verlauf der Textentstehung muss an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden. Hier ist lediglich von Interesse, dass das Problem der Berührung mit Toten in diesem Zusammenhang der fortgeschrittenen Redaktionsgeschichte des Deuteronomiums noch keine Rolle spielt! All dies spricht aber dafür, dass Num 5,1ff eine Lücke im Pentateuch füllt, die sich erst im Gefolge der nachexilischen Entfaltung der Tempeltheologie, der Synthese aus P und D und der Einfügung des Heiligkeitsgesetzes in den Pentateuch und der sich daraus ergebenden kasuistischen Überlegungen entwickelt hat, sodass der Text der spätesten Entstehungs 46
NIHAN, Torah, 309. Allein das Aas unreiner Tiere gilt in Lev 5,2; 11 als verunreinigend. ACHENBACH, Vollendung, 525–529; MILGROM, Studies, 85–95; SEEBASS, Numeri, 253. 48 Dtn 20,1–20; 21,10–14; 23,10–15 steht in sachlichem Konnex zur dtr Landnahmeerzählung und nicht zum joschijanischen Zentralisationsgesetz (vgl. OTTO, Deuteronomium, 231). 49 Dieser Text setzt die grundsätzlichere Regelung Lev 15,16–18 noch nicht voraus. 50 Erst in der abschließenden Segensverheißung des Heiligkeitsgesetzes Lev 26,11f werden die Motive des Mitwanderns Jahwes und seiner Einwohnung im Zentrum des Lagers miteinander verbunden. 47
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phase der Tora zuzuweisen ist.51 Dabei werden die Regelungen aus den zunächst der Priesterschrift (Ps), und späterhin im Zuge der Pentateuchredaktion dem Pentateuch zugewachsenen Reinheitsgebote vorausgesetzt, so für den Aussatz (kål-̸ÁrûaŦ) Lev 13,44 (ťîš-̸ÁrûaŦ ̺ameť hûť), für Ausfluss des Spermas beim Manne Lev 15,2 und den Ausfluss einer menstruierenen Frau Lev 15,19. Für Num 5,1b ist lediglich auf die Priesterregel Lev 21,1b zu verweisen (l enÁpæš loť-yi̺̺ammÁť). Diese wird auf die Laien übertragen, die sich gemäß der Vorstellung von Num 1–4 im Umkreis des Wüstenheiligtums aufhalten. Die Vorschrift des Ausschlusses aus dem Lager (Num 5,3) knüpft an Formulierungen von Lev 15,32f an.52 Auch die Nasiräats-Regeln knüpfen an die Priesterregeln an.53 Die Vermeidung der Kontamination des Heiligen durch Totenberührung in der Priesterregel gilt für ihn ebenso (vgl. Num 6,6–12; Ez 44,25; Lev 21,2f) wie das Verbot des Genusses von Wein und vergorenen Getränken (Num 6,3f; vgl. Ez 44,21; Lev 10,9) und das Verbot, die Haare zu scheren (Num 6,5; Ez 44,20; Lev 21,5). Die Tabuisierung des Umgangs mit Toten ist sogar noch strenger, insofern dem Nasîr, im Gegensatz zum Priester, nicht erlaubt ist, die nächsten Verwandten zu bestatten (Num 6,7). Die Formulierung von Num 6,6 changiert in der Ausdrucksweise zwischen der Priesterregel von Ex 44,25 und Lev 21,1ff und entspricht wörtlich der vormasoretischen Regel für den Hohepriester (vgl. Lev 21,11 LXX*: ɝɑ ɜɗɓɏɈ ɃɑɋɌ Ƀɏ ɈɑɃɏɈ ɈɌɄɃɏ ɃɄɌ Ƀɏ / MT: ɝɜɗɓȽɏɎ ɏɕɈ)! Der Grund für die Absonderung liegt in der besonderen Weihe, die ihm im Raum der Heiligkeit Jahwes zukommt. Dem Nasîr wird auferlegt, nach zufälliger Kontaminierung durch einen Toten, sein Haupt komplett zu scheren und sich nach den stets obligatorischen sieben Tagen der Reinigung einem neuen Opfer- und Weiheritual zu unterziehen (Num 6,9–12).
51
CRÜSEMANN, Tora, 420; SCHART, Mose, 55ff; ACHENBACH, Vollendung, 499ff. ACHENBACH, Vollendung, 500–504; MILGROM, Numbers, 33ff. Hag 2,11–14 ist ein später priesterlich-redaktioneller Nachtrag, der in der Traditionslinie von Lev 5,2; 7,21; 22,6; Num 5,2 steht (vgl. WÖHRLE, Sammlungen, 302–305). 53 ACHENBACH, Vollendung, 509ff; MILGROM, Numbers, 43–50. 52
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4. Reinigungsrituale nach der Berührung mit Toten Die Notwendigkeit purifikatorischer Riten infolge einer Kontaminierung durch Totenberührung wird im Rahmen des Priestergesetzes nicht behandelt, und auch in den Reinheitsgeboten für die Laien, die solche Riten kennen (vgl. Lev 14; 15,16f.27ff), wird das Problem nicht traktiert. So ist auch im narrativen Duktus des Pentateuch insgesamt die Thematik offensichtlich bewusst nicht in der sinaitischen Periode, sondern danach in Num 19 assoziativ eingefügt worden. Das Kapitel mit seinen ritualgeschichtlich jungen, synthetischen Anweisungen ist insgesamt den jüngsten Ergänzungsschichten des Pentateuch zuzuweisen.54 Zu seinen Lesevoraussetzungen gehört nicht allein die Ankündigung des Todes der Exodusgeneration in der Wüste (Num 14,29f.32–35), sondern auch die in Num 16f behandelte Problematik des Zugangs zum Kultus des Heiligtums und seiner Begrenzung unter Androhung der göttlichen Todessanktion (Num 17,27f). Bei der gestuften Vermittlung zum Heiligen, worin der Hohepriester Aaron und sein Sohn Eleasar im Zentrum des Kultus stehen (vgl. Num 17,1–5), die Leviten aber zwischen Priestern und Volk mit Anrecht auf die heiligen Abgaben und geschützt vor dem Todesbann des Heiligen (Num 18,32!), stellt sich implizit die Frage, wie das Volk, das auf allerlei Weise mit dem Bereich des Todes in Berührung kommt, gereinigt werden kann, damit das Heiligtum Jahwes in der Mitte des Lagers vor Verunreinigung geschützt bleibt (Num 19,13).55 Dass dabei auch an die Verunreinigung durch Totenkult gedacht worden sein könnte,56 ist angesichts der nachexilischen Belege für Totenkult (Jes 65,4; Ps 106,28; Tob 4,17) und Nekromantie (Jes 8,19f; 29,4) nicht auszuschließen, die weiterreichenden, allgemein gehaltenen Formulierungen lassen allerdings erkennen, dass für den Verfasser schlechterdings jegliche Berührung mit Toten als verunreinigend gilt, vgl. Num 19,11: hannogeaŦ bemet l ekål-næpæš ťÁdÁm we̺Ámeť šibŦat yÁmîm! Der Text führt über die Konzeption des rituellen Systems der späten priesterschriftlichen Ordnungen in Lev 5,3.5ff, wonach für den Fall der unwillkürlichen und gar unbewussten Berührung mit irgendetwas Unreinem 54 ACHENBACH, Vollendung, 525–528; SEEBASS, Numeri, 251ff; gegen SCHMIDT, Dead, 199, der den Text für älter als Dtn 26,14 hält. 55 SEEBASS, Numeri, 238–263.249–253, vermutet im Anschluss an Flav.Jos.Ant. IV 78–82, das spät eingefügte Kapitel bereite Num 20 (Tod Mirjams und Aarons) vor. Dafür bietet aber der Text keinen eindeutigen Hinweis. Josephus verändert die biblische Reihenfolge und lässt den Ritualtext sachlich auf die Todesnotiz folgen. 56 So GRAY, Numbers, 243f; DE VAULX, Nombres, 217; LEVINE, Numbers, 468–479; SCHMIDT, Dead, 200ff; SEEBASS, Numeri, 249–253. Zum Totenkult allgemein vgl. LEWIS, Cults, 1989; BLOCH–SMITH, Burial Practices, 109–132.
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das Sündopfer zu veranschlagen ist, hinaus.57 Offenbarungsempfänger und also in oberster Verantwortung zuständig ist neben Mose Aaron (Num 19,1). Eine wie in einem ähnlichen Fall (Dtn 21,3) zur Entsühnung bestimmte rotbraune makellose Färse soll außerhalb des Lagers (und also in Distanz auch zum Temenos)58 unter Aufsicht des Sohnes des Hohepriestersohnes Eleasar geschächtet werden (V. 2f). In einem eigentümlichen Akt verspritzt (sic!) der Priester siebenmal Blut in Richtung auf das Heiligtum (V. 4) und stellt so das Tier in Bezug zu demselben. Durch die totale Verbrennung der Kuh mitsamt der Gedärme, allerdings unter Hinzufügung von der Reinigung dienenden Ingredienzien (Zedernholz, Ysop, Karmesin, Lev 14,4.6.49ff) durch den Priester wird die Asche als ein antidotisches Mittel der Reinigung gewonnen.59 In Verbindung mit dem Besprengungswasser (wörtl: mê niddÁh ̲a̺̺Áťt = Ausscheidungswasser des Sündopfers, 19,9b) kann nun überall, wo das Mittel zur Verfügung steht, die Lustration vollzogen werden (V. 17–22).60 Erstaunlich ist die Radikalität und Konsequenz, mit der die Beachtung der Reinigungsvorschrift nach Berührung mit Toten für den 3. und 7. Tag61 nach dem Vorgang von Bürgern wie Metöken gefordert wird (V. 11f). Alles steht unter dem Leitsatz V. 10b.11a. Die Verse 13 und 20 fordern die kÁret-Sanktion bei Verstoß gegen die Reinigungsvorschrift bzw. bei Unterlassung des Rituals. V. 14–16 bietet eine Fallschilderung, in der definiert wird, was unter Berührung mit einem Toten zu verstehen ist: Nicht nur der Verstorbene, sondern alle Inhalte offener Gefäße im Sterberaum (im Zelt) sind von der Verunreinigung betroffen (V. 14f).62 Aber auch außerhalb eines Sterbehauses bzw. -zeltes ereignet sich die Verunreinigung bei Berührung von Toten, „vom Schwert Durchbohrten“,63 von Totengebeinen und 57 SEEBASS, Numeri, 243; NIHAN, Torah, 237–256, datiert Lev 4f aufgrund der Erwähnung des Räucheraltars, der in vor-nehemianischer Zeit nicht erwähnt wird, in die Mitte des 5. Jh. (vgl. Neh 13,5.9; Ex 30,1–10). 58 Vgl. Ex 29,14; Lev 4,11; 8,17; 16,27. 59 KIUCHI, Purification Offering, 139. 60 Flav.Jos.Ant. IV 81; Bell. IV 227; Apion. II 104; vgl. tPar 3,5.14; 5,6; 7,4; 10,2. 61 Der dritte Tag gilt als rituell kritischer Tag (Lev 7,17–19; 19,6ff). Der siebte Tag gilt als der Tag, an welchem Reinheit nach anfänglich diagnostizierter Unreinheit eindeutig eingetreten sein soll (vgl. Lev 13,2–6; vgl. 12,2; 14,9; 15,13.28). Ein Reinigungsopfer kann erst nach einer 7-tägigen Absonderung erfolgen (Lev 14,8ff). 62 SEEBASS, Numeri, 259 vermutet, dass „Lebensenergie, sich von der Leiche lösend, das Haus des Toten ungebunden erfüllt.“ Das geht wohl zu weit. So wie Kleider oder ein Haus durch „Aussatz“ unrein werden können (Lev 14,33–52; bes. 14,46f), so kann der Inhalt aller Gefäße, die offen sind, in indirekte oder direkte Berührung mit dem Verstorbenen kommen und somit potentiell unrein sein. Die ungeöffneten Gefäße gelten als unangetastet. 63 SEEBASS, Numeri, 259f vermutet als Hintergrund eine Form des Heroenkultes.
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von Gräbern.64 Besonders bemerkenswert ist, dass das Ritual nicht von einem Priester oder Leviten durchgeführt werden muss, sondern von einem Laien angewandt werden kann, der selbst nach den Reinheitsvorschriften rein ist (V. 18f). Allerdings wird er dabei durch die Berührung mit dem Unreinen selbst unrein und muss im Anschluss sich selbst auch einer Reinigung unterziehen (V. 21b.22). Was mit den unreinen Gefäßen zu geschehen hat, bleibt offen; erst die Tempelrolle (11QT 49,8f) ordnet ihre Zerstörung an. Die Problematik der bevorstehenden Landnahme und der Tötung im Kriege wird hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Reinhaltung im Lager in der Midianiter-Schlacht-Erzählung reflektiert (Num 31,19–24). Die Reinigung der Krieger nach den Tötungen in der Schlacht hat nach der Regel von Num 19,11–20 zu erfolgen: Die Entsündigung hat auch hier am 3. und 7. Tag zu erfolgen (V. 19), und am 7. Tage sind die Kleider zu waschen. Der Text ist eine narrative Entfaltung des durch Num 19 gestellten Problems und dementsprechend noch jünger anzusetzen.65
5. Verunreinigung durch Kontakt mit Toten bei Griechen und Persern Sucht man nach vergleichbaren Lustrationsritualen, so findet man im antiken Griechenland und Kleinasien eine Vielzahl vergleichbarer Bestimmungen.66 Aus der schier unübersehbaren Fülle des Materials lassen sich zu nahezu jedem Element der alttestamentlichen Bestimmungen Analogien finden. So war z.B. nach dem Gesetz von Eresos derjenige drei Tage lang unrein, der in einem fremden Haus mit einem Toten in Berührung gekommen war,67 in Athen durften Hausgenossen noch am 7. Tage nach dem Todesfall kein Opfer darbringen68 und Priestern war die Teilnahme an Bestattungsfeiern mitunter strikt untersagt.69 In vielen Gegenden stand vor einem Sterbehaus ein Wassergefäß für Reinigungsriten, das zugleich auch eine Warnung darstellte, das Haus zu betreten.70 Da sich im 5. Jh. zahlreiche Griechen auch in Transjordanien und an der Mittelmeerküste angesiedelt hatten, darf man annehmen, dass die im Umkreis der Totenbegängnisse 64 Im Umkreis Jerusalems wurden daher zur Sicherung der Pilger die Gräber mit Kalkfarbe markiert (mSheq 1,1; 1,46; Mt 23,27). 65 ACHENBACH, Vollendung, 615–622. 66 Hierzu vgl. Anm. 11. 67 ZIEHEN, Leges Graecorum, n.117; WÄCHTER, Reinheitsvorschriften, 62. 68 Aischin.Ctes. 77; WÄCHTER, Reinheitsvorschriften, 56. 69 Porph.Abst. II 50; Plat.leg. XII 947 D; WÄCHTER, Reinheitsvorschriften, 59f. 70 Eur.Alc. 98ff u.a.; vgl. PARKER, Miasma, 35.
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üblichen Reinigungsrituale auch den anderen Ethnien in der Satrapie nicht verborgen blieben. Das nachexilische Judentum stand also in der Ausprägung seiner kultischen Reinheitsvorschriften keineswegs isoliert da. Die systematische Entfaltung der Ansicht, dass die Berührung mit dem Toten verunreinige, ist nirgendwo so ausgeprägt zu beobachten, wie im Zoroastrismus der Perser, und zwar seit frühester Zeit.71 Die Idee der Reinerhaltung der Elemente und der Verunreinigung derselben durch den Einfluss der Daevas wirkt sich hier auch auf die Interpretation des Todes aus. Der Leichnam galt als hoch infektiös.72 Daher rühren die Aussetzungsrituale der altpersischen Zeit.73 Im jungavestischen VidÓvdÁt, dem „Gesetz zur Verstoßung der Dämonen“,74 wird die Unreinheit des Leichnams auf eine besondere, der persischen Überlieferung eigene Vorstellung zurückgeführt: Sogleich nach dem Tode „wenn die Wahrnehmungskraft (baodah) aus dem Körper herausgeht“,75 kommt eine Dämonin (drug) in Gestalt einer gefleckten Fliege über den Toten, „befällt alle feuchten Substanzen und ist in hohem Maße ansteckend“.76 Nach Vid. 6,44–46 sollen die Leiber der Toten „auf den höchsten Ort“ getragen und dort niedergelegt und befestigt werden, „auf dass seiner am sichersten gewahr werden die aasfressende Hunde (av. sunč kerefš.varč) oder die aasfressenden Vögel“.77 Den wenigen aasfressenden Wesen der an sich guten, nicht kontaminierten Kreatur kommt somit die Aufgabe der Exkarnierung und also der Reinigung des Corpus’ zu, der durch die Positionierung auf einer Anhöhe der Möglichkeit einer Berührung und Verunreinigung von (Quell-)Wasser, fruchtbarer Erde oder Feuer (vgl. Vid. 3,15ff) entrückt wird.78 Die Gebeine konnten sonnengebleicht und durch Regenwasser gereinigt in einem Ossuar beigesetzt werden (Vid. 6,49–51).79 Die Idee der Verunreinigung durch Tote ist in der persischen Anschauung also kosmologisch mit einer Elementen-Lehre verwoben. Der gesamte siebte Abschnitt der Sammlung befasst sich mit den Modalitäten der Reinigung. Besonders bemerkenswert ist, dass auch hier der 3- und 7-Tage-Rhythmus eine besondere Rolle spielt. Gegenüber dem VidÓvdÁt sind die Regelungen des Alten Testaments noch relativ nüchtern. Man wird aus der Gemeinsamkeit der jüdischen und 71
BOYCE, Art. Corpse, 279–286. BOYCE, Zoroastrians, 44. 73 Hdt. I 140. 74 STAUSBERG, Religion Zarathushtras I, 135ff. 75 Vid. 7,2, Übersetzung nach WOLFF, Avesta, 356. 76 STAUSBERG, Religion Zarathushtras I, 136; vgl. BOYCE, Art. Corpse; HUMBACH, Bestattungsformen, 99–105. 77 Übersetzung nach WOLFF, Avesta, 355. 78 BOYCE, Art. Corpse, 279. 79 BOYCE, Art. Corpse, 280. 72
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der iranischen Überzeugung von der Verunreinigung durch Tote wie aus dem Umstand der literarhistorisch späten Kanonisierung entsprechender Regeln im Pentateuch schließen dürfen, dass im Judentum dieser Gedanke sich erst im Umkreis des kulturellen Einflusses der iranischen, aber wohl auch der hellenischen Welt in nennenswerter Weise entfaltet hat.80 Die alttestamentliche Tabuisierung der Berührung mit dem Toten ist allerdings streng an dem Gedanken der Reinerhaltung des zentralen Heiligtums Israels orientiert. Im Zentrum der Heiligtumslegende des Pentateuch steht die Sinaioffenbarung, auf sie folgen sodann die mit dem Opfer verbundenen Reinheitsgebote und das Gebot der Heiligkeit an die gesamte Kultusgemeinde (Lev 19,2) und danach die ideale Schilderung des Lagers in Num 1–4. Danach ist die Einfügung von Num 5,1–4 plausibel. Der Midrasch SifBem 12 interpretiert Num 5: „Und sie sollen ihre Lager nicht verunrei-
nigen. Von hier haben sie gesagt: 3 Lager gibt es: das Lager der Israeliten, das Lager der Leviten und das Lager der Schekhina. Von den Toren Jerusalems bis zum Tempelberg: Lager der Israeliten. Von den Toren des Tempelbergs bis zum Vorhof: Lager der Leviten. Von den Toren des Vorhofes nach innen zu: Lager der Schekhina.“ Der Reinheitsgedanke gründet also nicht wie bei den Persern in einer differenzierten Elementenlehre und auch nicht in einer in sich besonders zu fassenden Miasmenlehre wie bei den Griechen, sondern schlicht in der Vorstellung der Reinheit der inmitten Israels wohnenden Gottheit, die als ein Gott „nicht der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk 12,27) verstanden wird.
80 Eine intensivere Ausprägung der Vorstellung von der Verunreinigung durch die Berührung mit Toten hat sich bekanntlich im Hinduismus entwickelt. So entfaltet das MÁnava-DharmásÁstra im 3./5. Jh. n.Chr. eine ausgeprägte diesbezügliche Kasuistik (vgl. MD 5,57–83; OLIVELLE, Manu’s Code of Law, 141f).
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IV. Postmortale Existenzformen – kosmologische und theologische Aspekte
Die Gottesferne der Unterwelt in der JHWH-Religion GÖNKE D. EBERHARDT
Einleitung Das Alte Testament kennt die Unterwelt als einen Ort der Gottesferne. Die Toten loben JHWH nicht, so heißt es in Ps 115,17 und Jes 38,18, ja sie gedenken seiner nicht einmal (Ps 6,6), und umgekehrt gedenkt er auch ihrer nicht, denn sie sind von seiner Hand abgeschnitten (Ps 88,6). Aber: Scheol und Abgrund liegen JHWH vor Augen (Spr 15,11), vor ihm werden die Tore des Todes aufgedeckt, so dass die Scheol nackt vor ihm liegt und die Totengeister erbeben (Ijob 38,17 und Ijob 26,5.6). Wer JHWH flieht, wird selbst in der Unterwelt von seiner Hand ergriffen (Am 9,2), denn auch dort ist er (Ps 139,8). Er löst Menschen aus der Gewalt der Unterwelt aus und kauft sie vom Tod frei (Hos 13,14). Er ist es, der tötet und lebendig macht, der hinabführt in die Scheol und wieder herauf (Dtn 32,39; 1 Sam 2,6 [!] und 2 Kön 5,7). Diese so unterschiedlichen Auffassungen über die Gottesferne der Unterwelt im Alten Testament lassen sich religionsgeschichtlich recht einfach erklären: nämlich mit einer Entwicklung, die zwischen der einen und der anderen Vorstellung steht: Ursprünglich war JHWH ein Gott der Lebenden, der mit den Toten und folglich auch mit der Unterwelt nichts zu tun hatte. Im Laufe der Zeit übernahm er sukzessive chthonische Kompetenzen und weitete seinen Zuständigkeitsbereich auch auf die Unterwelt und ihre Bewohner aus. Die Gottesferne der Scheol wich der Macht des Universalherrschers auch über das Totenreich. Das ist im Groben der Inhalt der These von der Kompetenzausweitung JHWHs auf die Unterwelt, die sich in den letzten Jahren wachsender Zustimmung erfreut und – wie zu erwarten – in unterschiedlichen Variationen existiert.1 Vor allem ist man sich uneins darüber, woher JHWH seine
1 S. den Forschungsüberblick bei EBERHARDT, JHWH, 3ff. Den Begriff „Kompetenzausweitung“ hat in diesem Zusammenhang m.W. zuerst C. Uehlinger gebraucht (DERS., Kultreform, ebd. 67). Der Begriff als solcher findet sich in anderem (verwandten) Zusammenhang auch schon früher, z.B. bei ZENGER, Art. Mose, 335.
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chthonischen Kompetenzen nahm. Gingen H.-W. Wolff und andere2 noch von einem „theologischen Vakuum“ in der Scheol aus, das schließlich von JHWH gefüllt wurde, postulieren unter anderen T. Podella und H. Niehr die direkte Übertragung von Totengottkompetenzen anderer Gottheiten auf JHWH – allerdings ohne dass dieser schließlich zu einer Totengottheit wurde.3 B. Janowski und andere vertreten gewissermaßen eine Synthese der beiden genannten Ansätze: Sie gehen sinngemäß von einer ‚Entdivinisierung‘ der ursprünglich JHWH-fernen, indes von anderen Göttern, Ahnen usw. „beherrschten“ Scheol aus; ein Prozess, der korreliert war mit der Übernahme der ‚freigewordenen‘ Kompetenzen durch JHWH.4 Von der Gottesferne zur Gottesnähe also, auf dem Wege neuerworbener Kompetenzen – das ist eine plausible Erklärung für die eingangs geschilderte Variationsbreite der Anschauungen im Alten Testament. Indes, ein bisschen komplizierter scheint es insgesamt doch gewesen zu sein, und so möchte ich an dieser Stelle ein Modell vorstellen, das den oben genannten Positionen verwandt ist, aber mehrere neue Aspekte beinhaltet. Es lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen:5 1. Die Vorstellung von der Gottesferne der Unterwelt wurde nicht im Zuge einer einzigen Entwicklung verändert, sondern es gab mehrere, teilweise interdependente Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen. 2. Diese Prozesse mündeten nicht in die eine Vorstellung von der Scheol als Machtbereich JHWHs, und sie begannen auch nicht bei der einen Vorstellung von der Gottesferne der Scheol. Sondern innerhalb eines bestimmten, sich wandelnden Spektrums von Unterweltsvorstellungen gewann der Gedanke von JHWHs machtvollem Eingreifen im Totenreich zunehmend an Bedeutung gegenüber der Vorstellung von der Unterwelt als einem gottfernen Raum. Was steckt hinter diesen zwei Thesen?
2
Zu nennen sind hier insbesondere KITTEL, Befreit, passim und GOLLINGER, „Wenn einer stirbt…“, 11ff. 3 PODELLA, Grundzüge, 72f. NIEHR, Aspekte, 11 m. Anm. 57. Entfernt verwandte Überlegungen findet sich bei HERRMANN, Triumph. 4 JANOWSKI, Die Toten, 226ff, bes. 229; DERS., Konfliktgespräche, 229ff; DERS., Sehnsucht (2006), 36ff; BIEBERSTEIN, Leben, bes. 9; LIESS, Weg, 294–322; LEUENBERGER, „Gnade“, 353ff; SCHLEGEL, Psalm 88, 75ff. 5 Die Grundzüge dieses Modells habe ich in meiner Dissertation „JHWH und die Unterwelt“ erarbeitet, auf die ich hier generell für Einzelfragen und Hintergründe verweise. Die in diesem Beitrag vertretene Position geht allerdings in ihrer Konsequenz über meine bisherigen Ergebnisse hinaus.
Die Gottesferne der Unterwelt in der JHWH-Religion
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I. Religionsgeschichtliche Veränderungen Für mindestens vier Vorstellungsbereiche lässt sich im Laufe der Zeit gewissermaßen eine ‚wachsende Nähe‘ zwischen Gott und Unterwelt erkennen. Zwei davon liegen auf der Ebene der Kosmologie, die anderen beiden auf der Ebene der „Soteriologie“ im weitesten Sinne, d.h. im Bereich der Rettungsvorstellungen.6 1. Die Unterwelt und der Universalherrscher JHWH (Kosmologie 1) Der nachexilische Vers Am 9,2 aus der fünften Amosvision7 schildert in einer Hyperbel das Geschick derer, die vor dem göttlichen Gericht zu flüchten versuchen, so: Wenn sie einbrechen in die Scheol: von dort wird meine Hand sie holen. Und wenn sie aufsteigen zum Himmel: von dort werde ich sie herunterbringen.
Diesem Text zufolge erreicht JHWH in der Unterwelt auch jene, die sich vor seiner Verfolgung in das Totenreich geflüchtet haben. Selbst wenn JHWH mit den Toten also nichts zu tun hat, heißt das noch lange nicht, dass sich sein Zugriff nicht auch auf diesen Bereich der Welt erstreckte. Eine ähnliche Aussage findet sich im gleichfalls nachexilischen Ps 139,8:8 Wenn ich aufstiege zum Himmel: da wärest du. Und wollte ich mir zum Bett machen die Scheol: Siehe: du wärest da!
Auch in diesem Vers, der wie Am 9,2 zu einem hyperbolischen Kontext gehört, geht es darum, dass der Mensch sich an keinem Ort der Welt JHWHs Zugriff oder Nähe entziehen kann. Zwar ist hier gegenüber Am 9,2 nicht nur von JHWHs Zugriff, sondern gar von seiner Präsenz in der Scheol die Rede, aber das qualifiziert JHWH nicht als Unterweltsgottheit, sondern beschreibt lediglich seinen unbegrenzten Bewegungsspielraum.
6 S. dazu auch die Textübersicht am Ende des Beitrags. Wenngleich die unter der Kategorie „Soteriologie“ zusammengefassten Texte für die (christlich-)dogmatische Soteriologie von großer Bedeutung sind, ist doch die Konstruktion einer israelitischen Soteriologie hier ausdrücklich nicht beabsichtigt. Die Begriffswahl ist rein pragmatisch und geht von der Grundbedeutung des Wortes aus: es geht um JHWH als den Retter. 7 Der Abschnitt Am 9,2–4a erweist sich durch seine spezifischen Besonderheiten in Terminologie, Syntax und literarischem Charakter als nachexilischer Einschub in die fünfte Amosvision. S. dazu EBERHARDT, JHWH, 47–66. 8 Die nachexilische Datierung dieses Psalms ist im Unterschied zur Einordnung der fünften Amosvision vergleichsweise unumstritten.
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Zu Unrecht sind Am 9,2 und Ps 139,8 in der Forschung immer wieder als Belege für die Vorstellung von JHWHs Macht über die Unterwelt herangezogen worden,9 denn eine solche lassen beide Texte nicht erkennen. Vielmehr geht es, wie der jeweilige Kontext unmissverständlich deutlich macht, um JHWHs unbegrenzte Reichweite in seinem Verhältnis zum lebenden Menschen.10 Betrachtet man dies als die Hauptaussage der betreffenden Verse und ihres engeren Kontextes, lassen sich die Hyperbeln, die in ihrer sprachlichen Grundlage vermutlich früheren Traditionen entstammen (s.u.), im Blick auf das Verhältnis von JHWH und Scheol tatsächlich „wörtlich“, d.h. als dezidiert theologische Aussagen über JHWH und die Unterwelt verstehen. Dieses Verständnis entspricht auch dem historischen und religionsgeschichtlichen Ort der Texte in der nachexilischen prophetischen Redaktion bzw. in der weisheitlichen Tradition. Bemerkenswert ist, dass beiden Texten zugleich aber auch die Vorstellung von der JHWH-Ferne der Unterwelt zugrundeliegt; genau darin liegt nämlich ihre Pointe: Die Scheol ist der vermeintlich am weitesten von JHWH entfernte Ort. Gleichwohl vermag auch dort Gottes Hand den Menschen zu erreichen. Eine ähnliche Vorstellung weist der ebenfalls nachexilische, aber nicht hyperbolische Text Ijob 14,13–17 auf. Hier umfasst JHWHs Reichweite die Unterwelt nicht nur, wenn es um das Einfangen von Flüchtlingen geht; die Scheol zählt bereits zu seinem „Verfügungsrahmen“: So ersehnt Ijob in seiner Bedrängnis ein seltsames Szenario: Ach wenn du doch in der Scheol mich aufbewahrtest, mich verbärgest, bis sich wendete dein Zorn, mir ein Maß setztest und dann an mich dächtest!
Sieht man einmal von dem Paradox ab, das in diesem Wunsch steckt, zeigt sich auf den ersten Blick das genaue Gegenteil von Am 9,2 und Ps 139,8: nämlich der Gedanke, dass der Mensch im Totenreich vor JHWHs Verfolgung sicher ist. Auf den zweiten Blick lässt sich aber erkennen, dass alle drei Texte charakteristische Gemeinsamkeiten in ihren jeweiligen Unterweltsvorstellungen aufweisen, und zwar folgende: In allen drei Texten ist die Unterwelt nicht der Ort, an dem JHWH sich gewöhnlich aufhält oder gar Macht über diejenigen ausübt, die sich darin befinden. Die Scheol ist der Ort der Toten, und mit denen hat JHWH nichts
9 Diese Auslegungstradition findet sich in verschiedenen Variationen auch in der jüngeren Forschung, so z.B. bei ALBANI, Problematik, 28; CRÜSEMANN, Fragen, 348.360 (Abstract); IRSIGLER, Flucht, 206f. 10 S. die entsprechenden Kapitel zu Am 9,1–4 und Ps 139 bei EBERHARDT, JHWH, bes. 96ff.153ff.172ff.
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zu tun. Er hat gewissermaßen keinen Grund, sich in ihr aufzuhalten;11 sie liegt außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Daher ist die Unterwelt der erste (weil vermeintlich beste) Fluchtort der letzten Amosvision und daher kann Ijob sich wünschen, dass JHWH ihn dort vor sich selbst verbirgt. Die Unterwelt ist ein Ort der JHWH-Ferne: Das ist die allgemeine Regel. Die Ausnahme von der Regel macht die Besonderheit der drei Texte aus, denn alle drei imaginieren eine Situation, in der JHWH durchaus Grund hat, sich der Unterwelt zuzuwenden. Sie schildern JHWHs Machtbereich als universal – solange es um sein Verhältnis zu den Lebenden geht. Eine neue Reichweite im Blick auf die Toten oder spezifische Totengottkompetenzen hat sich JHWH damit nicht erworben, im Gegenteil: Da die JHWHFerne der Scheol in den Texten die Folie für geschilderte Besonderheit bildet, könnte der Gedanke an chthonische Kompetenzen JHWHs kaum ferner liegen. Trotzdem zeigen die Texte, dass die bereits in vorexilischer Zeit einsetzenden Universalisierungstendenzen spätestens in nachexilischer Zeit auch auf die Unterweltsvorstellungen gewirkt haben. Die Gottesferne der Scheol wurde zwar weiterhin vorausgesetzt, durch JHWHs ‚Herrschaftsansprüche‘ aber offenbar zunehmend relativiert. Einen weiteren Faktor neben den Universalisierungstendenzen bildete die im Exil entstandene oder durch das Exil verschärfte Frage nach JHWHs Präsenz und Nähe zu seinem Volk auch außerhalb Israels,12 die zum einen die vorhandenen Universalisierungstendenzen verstärkte13 und zum anderen die Vorstellung von einer unmittelbaren Bindung JHWHs an sein Volk wie auch an das Individuum hervorbrachte.14 Entsprechend beantwortet Am 9,2–4a die Frage nach JHWHs Gegenwart und Reichweite mit der Schilderung des unentrinnbaren göttlichen Strafhandelns, das sich auch angesichts der Gefangenschaft nicht in Milde wandelt. Ps 139 hebt dagegen die unmittelbare und vom Aufenthaltsort unabhängige Nähe JHWHs zum Menschen (sei sie heil-, sei sie unheilvoll) hervor, die selbst in der Unterwelt aufrecht erhalten werden kann. Mit den genannten drei Texten ist die Scheol somit quasi
11 Vgl. KAISER/LOHSE, Tod, 52: „Wenn sie [die Menschen, G.E.] sterbend in tiefe Bewusstlosigkeit fallen, scheiden sie also auch für Israel aus dem Herrschaftsbereich Jahwes aus, sind sie für ihn ‚uninteressant‘ […] geworden.“ 12 Mit dem Exil wird die Bindung JHWHs an Israel (wieder?) vorrangig gegenüber seiner Bindung an den Tempel und den Zion (dazu JANOWSKI, Mitte, 119–147, bes. 127.140f). In den Visionen Ezechiels erscheint JHWH dem Propheten auch in Babylon (Ez 1,1; 10,20 etc.). Deutlich später folgen dann die Vorstellungen von einem allgemeinen JHWH-Kultus auch unter den Völkern: Jes 52,10; 55,5; Mi 4,2; Zef 2,11. 13 Vgl. BURKES, God, 262: „The loss of national structures also had the effect of promoting divine power over more territory, including other nations, empires, and Sheol…“ 14 In dieser unmittelbaren Bindung liegt die Pointe der exilischen Schekina-Theologie: Wo immer Israel ist, ist auch Gott; s. JANOWSKI, Mitte, 132f (mit Blick auf 1 Kön 8).
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in JHWHs Reichweite gelangt. Im zweiten Vorstellungsbereich gerät sie dagegen eher in sein Blickfeld: 2. Die Unterwelt und der solare JHWH (Kosmologie 2) Der zweite Vorstellungsbereich ist durch ein solares bzw. ein theophanisch geprägtes Gottesbild bestimmt. So zeichnet Spr 15,11 das Bild des prüfend vom Himmel blickenden Sonnengottes JHWH mit den Worten: Scheol und Abgrund sind vor JHWH, wieviel mehr die Herzen der Menschenkinder!
Für die solare Konnotation des Gottesbildes in diesem Text sprechen erstens seine terminologische Nähe zu den solar geprägten Texten Ps 11,4 und Ps 14,2 par 53,3,15 zweitens die Verwandtschaft zu den außerisraelitischen Traditionen vom Blick des Sonnengottes in die Unterwelt16 und schließlich drittens der Topos der Prüfung, der mit der Solarisierung JHWHs ab dem 8. Jh. v.Chr. zunehmend an Bedeutung gewann. Ebendiese Solarisierung bildete einen neuen Anknüpfungspunkt dafür, JHWHs buchstäblich überlegene Position gegenüber der Unterwelt zu thematisieren,17 wobei die Überlegenheit im Blick auf diesen Text jedoch nicht überschätzt werden darf: Die Präposition ɆɅɓ mit der Bedeutung „vor Augen von“ / „unter den Blicken von“, welche die Scheol, die Menschenherzen und JHWH miteinander in Beziehung setzt,18 indiziert per se kein
15 Der Ausdruck ɐɆɃ ɌɓɄ bzw. ɐɆɃ ɒɄ „Menschenkind(er)“ findet vorwiegend in exilisch-nachexilisch Texten Verwendung. Eine der vorexilischen Ausnahmen bildet die Rede von der Prüfung der Menschenkinder durch JHWH bzw. seinen Blick in Ps 11,4 und 14,2 par 53,3. Ihr liegt durchweg die Vorstellung von JHWHs prüfendem Hinabschauen vom Himmel zugrunde. Ps 11 weist auch darüber hinaus ein solar geprägtes Gottesbild auf: ɒɊɄ in V.5 und die Verbindung mit Gen 19 in V.6 (s. KEEL, Sodom, 10–17; JANOWSKI, Sonnengott, 230; PODELLA, Lichtkleid, 182f); vgl. auch die Rede vom Schauen des Gesichtes Gottes in 11,7, die M.S. Smith zufolge per se in den Psalmen solar konnotiert ist: DERS., „Seeing God“, 171–183, bes. 174; s. auch PODELLA, Lichtkleid, 192f). 16 Vgl. beispielsweise Z. 37f des babylonischen Šamaš-Hymnus: „Šamaš, your glare reaches down to the abyss, so that the monsters of the deep behold your light“ (zitiert nach LAMBERT, BWL, 129). 17 Vgl. UEHLINGER, Kultreform, 69; JANOWSKI, Die Toten, 230 m. Anm. 112; LEUENBERGER, „Gnade“, 356f; BERLEJUNG, Tod und Leben, 490. SCHROER, Beobachtungen, 294ff, bes. 298, weist auf die starke Präsenz von solar konnotierten Amuletten unter Grabbeigaben während des 9./8. Jh. v.Chr. hin. 18 So versteht den Text auch LXX, die sonst zum Teil große Abweichungen vom masoretischen Text der Sprüche aufweist. In diesem Vers besteht die markanteste Abweichung nach LXX dagegen lediglich in der Explikation der Lesart von dgn als ‚Offenheit‘ der Scheol vor JHWHs Augen: ПƠƣƮ ƦƝГ ƬƺƧơƥƝ Ʋ Ɲ Ʃ ơ ƭ Ѝ ƬƝƭЍ ưҋ ƦƱƭƛ҈ / ƬҊƮ ƫϰƳГ ƦƝГ Ɲϓ ƦƝƭƠƛƝƥ ưҊƩ ƩƤƭƺƬƵƩ.
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Machtverhältnis in dem Sinne, dass das, was „vor Augen ist“, dem Anschauenden ausgeliefert oder ihm verfügbar wäre.19 Die Aussage von Spr 15,11 beschränkt sich auf die Sichtbarkeit und ggf. ‚Durchschaubarkeit‘ der Scheol und der Menschenherzen für JHWH. Um seine Kontrolle oder Macht über Tod oder Totenreich geht es nicht.20 Eine gewisse Steigerung demgegenüber findet sich in JHWHs rhetorischen Fragen an Ijob in Ijob 38,16f, denen kein solares, sondern ein theophanisches Gottesbild zugrundeliegt: 16 17
Bist du gekommen bis zu den Quellen des Meeres, und auf dem Grund der Urflut bist du gewandelt? Sind aufgedeckt worden vor dir die Tore des Todes, und die Tore der Finsternis hast du gesehen?
JHWHs Herannahen lässt, ähnlich wie in 2 Sam 22,15f par Ps 18,15f, das Wasser zurückweichen, so dass der Meeresgrund bzw. die Tore der hier als Stadt vorgestellten Unterwelt sichtbar werden.21 Eine machtvolle Position innerhalb der Unterwelt wird aber auch hier nicht thematisiert. ɇɏɅ (I) Nif. bezeichnet in Ijob 38,17 nicht das Öffnen eines geschlossenen Tores, sondern lediglich das Sichtbarwerden des Tores, sei es offen, sei es geschlossen.22 Demzufolge geht es auch nicht darum (nicht einmal indirekt), dass JHWH wie ein Herr durch die Tore der Unterwelt schreite oder schreiten könne.23 Keinesfalls geht Ijob 38,17 mit auch nur einem Wort über die „Tore der Unterwelt“ hinaus: das Chaos, das jenseits davon liegt, bleibt von der Gottesrede in Ijob 38,17 unberührt. Entsprechend liegt eine Konkurrenz JHWHs zu Unterweltsgottheiten oder gar eine Auseinandersetzung mit ihnen diesem Text nicht zugrunde. Stattdessen wird der Gedanke von der Lenkung und Ordnung des Schöpfergottes im Kosmos ausbuchstabiert – bis an die Ränder der geordneten Welt bzw. bis zu ihren Grenzen zum Chaos, zu denen auch die Tore der Unterwelt zählen. Nichtsdestoweniger ist die Formulierung offen genug, um die Vorstellung von JHWHs Macht über das Totenreich vorbereiten zu können.24 Diese nämlich zeigt sich in
19 Vgl. den Hinweis auf JHWH, den der Beter in Ps 16,8 „vor Augen“ (ɌɆɅɓɏ) habe; sowie die Aussagen in Ps 18,23; 26,3; 39,2 u.a. 20 Anders u.a. WHYBRAY, Composition, 104: „Yahweh […] controls death“; ähnlich u.a. ALBANI, Problematik, 50. 21 S. dazu PERDUE, Wisdom, 208; BERLEJUNG, Tod, 486 u.a. 22 S. dazu EBERHARDT, JHWH, 183ff. 23 So REMUS, Menschenbildvorstellungen, 88 Anm. 331 u.a. 24 So interpretiert und übersetzt bereits LXX: ƩƫƛƟƫƩưƝƥ ƠА Ưƫƥ ƲƸƞ҈ ƬИƧƝƥ ƤƝƩƘưƫƱ ƬƱƧƵƭƫГ ƠЏ РƠƫƱ ϒƠƸƩươƮ Ươ ζƬưƣƪƝƩ – ähnlich auch andere Versionen. Möglicherweise orientiert sich diese Deutung an Ijob26,5f. S. dazu den folgenden Abschnitt.
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den Versen Ijob 26,5 und 6, die einer sehr späten Hinzufügung zum Ijobbuch angehören, zu deren Rezeptionsbereich Ijob 38 bereits zählt (ebenso möglicherweise Spr 15,11): 5 Die Refaim werden zum Beben gebracht unter den Wassern und ihren Bewohnern. 6 Nackt ist die Scheol vor ihm, und keine Hülle hat der Abaddon.
Dieser Text bildet gewissermaßen eine Kombination des Motivs von der ungehinderten Sicht Gottes auf die Scheol und des Motivs der vor JHWH aufgedeckten Unterweltstore. Hier ist die Machtposition JHWHs unübersehbar. Es ist der Universalherrscher der inzwischen monotheistischen und solar geprägten JHWH-Religion, dem die Unterwelt hilflos zu Füßen liegt. Im Unterschied zu Am 9,2; Ps 139,8 und Ijob 14,13 geht es nicht nur um JHWHs Herrschaft über die Lebenden an jedem denkbaren Ort, sondern hier ist es die Unterwelt selbst und in ihrer Eigenschaft als Totenreich, die JHWHs Macht unterworfen ist.25 Ebenso wenig wird deutlich, ob und inwieweit JHWHs Macht über die Unterwelt über das Geschilderte hinausgeht (ähnlich wie in Ijob 38,17). So wird weder von einem Zugriff JHWHs gesprochen noch von Lenkung und Regulierung dessen, was in der Unterwelt geschieht. Will man JHWH anhand dieses Textes dennoch die Herrschaft über die Scheol zusprechen, so besteht sie nicht im spezifischen Herrschen eines Unterweltsgottes über seinen Bereich, sondern ist Teil seiner universalen Herrschaft. Die Gottesferne der Unterwelt als Raum und die Gottesferne der Toten sind relativ geworden. Von Abgeschnittenheit kann keine Rede mehr sein – allerdings auch nicht von JHWHs Rettungshandeln an den Toten. Darum geht es dagegen im nächsten Vorstellungsbereich. 3. Die Unterwelt und JHWH als Gott des Lebens (‚Soteriologie‘ 1) Die Unterwelt wird im Alten Testament nicht allein als Ort der Toten verstanden, sondern auch als Ort all der Menschen, deren Leben diesen Namen nicht mehr zu verdienen scheint: der Kranken, Verlassenen, Verfolgten usw. Sie sind Tote unter den Lebenden und bereits vor ihrem physischen Tod der Unterwelt anheimgefallen.26 Das ist die Situation Efraims in
25 In Ijob 26,6 ist die Scheol durch ihre Nacktheit vor JHWH als der schwächere Part gekennzeichnet, wie bereits das Beben der Refaim in V. 5 keinen Zweifel an der Übermacht JHWHs lässt. Den Aspekt der Entehrung durch JHWHs Blick auf die unverhüllte Scheol lässt der Text dagegen nicht erkennen (vgl. FUCHS, Mythos, 207). 26 Wegweisend hat dies C. Barth in seiner Dissertation „Die Errettung vom Tode“ herausgearbeitet und damit Schule gemacht; vgl. u.a. JANOWSKI, Vorwort zur Neuaus-
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Hos 13,14,27 und vor allem ist es die Vorstellung, die den Rettungsaussagen der Individualpsalmen zugrundeliegt.28 Dies zeigt sich besonders deutlich an den scheinbar paradoxen Aussagen und Aufforderungen von Ps 88: „Kein Toter redet von dir“, ruft hier der ‚Tote‘ zu Gott, und: „In der Unterwelt ist man von deiner Hand abgeschnitten, also hol’ mich hier raus!“ Was wie eine – zugegebenermaßen etwas flapsige – Variante des Lügnerparadoxons klingt, ist es in Wirklichkeit keineswegs: Denn ob den Menschen in der Unterwelt die Gottesferne oder vielleicht die Rettung durch Gott erwartet, entscheidet sich erst am kritischen Punkt des physischen Todes. Die Machtsphären von Unterwelt und Gott des Lebens sind nämlich korreliert: Dort, wo sich der Einfluss des ‚lebendigen Gottes‘ über den Menschen zurückzieht, gewinnt die Macht der Unterwelt Raum. So kann JHWH den Menschen an die Scheol ausliefern (beispielsweise indem er sein Gesicht von ihm abwendet), er kann ihn der Unterwelt aber ebenso wieder entziehen. Bis zum physischen Tod ist die Macht des ‚Gottes des Lebens‘ über den Menschen stets größer als die Macht der Unterwelt, auch wenn diese ihn bereits umfängt. JHWH gehört der „Endpunkt für den Tod“, wie es im vorexilischen Ps 68,21 heißt.29
gabe von BARTH, Errettung, 8f; DERS., Konfliktgespräche, 47f.252ff u.ö.; PODELLA, Grundzüge, 77 m. Anm. 23 (Lit.); DERS., Art. Scheol, 471; WERLITZ, Scheol, 47f; LIESS, Weg, 322ff. S. auch LOADER, Emptied Life. 27 „Aus der Hand/Gewalt der Scheol soll ich sie loskaufen (ɐɆɗɃ)? Aus dem Tod soll ich sie auslösen (ɐɏɃɅɃ)? Wo sind deine Pestilenzen, Tod? Wo ist deine Seuche, Scheol? Mitleid ist verborgen vor meinen Augen.“ Immer wieder hat man zu Unrecht aus diesem Text JHWHs Macht über das Totenreich auch als räumlichen Bereich herausgelesen (WEISER, Propheten, 99 u.a. Vgl. auch MARTIN̂ACHARD, De la mort, 76–78; IRSIGLER, Flucht, 207.215): JHWH wird keine Macht über die Verstorbenen oder die Unterwelt als deren Aufenthaltsort zugesprochen, sondern lediglich die Fähigkeit, die noch Lebenden ‚aus der Gewalt der Scheol loszukaufen‘, d.h. den unmittelbar bevorstehenden physischen Tod zu verhindern. Die Scheol manifestiert sich hier in der Todesgefahr, in die Efraim sich durch sein Verhalten gebracht hat (13,13). JHWH besitzt eine Art ‚Befehlsgewalt‘ über Tod und Unterwelt, die als seine Hilfsgrößen dargestellt sind, ähnlich wie Schlange und Schwert in Am 9,3f. Das entsprechende Machtgefälle zeigt sich dabei nicht unbedingt in der Terminologie „Loskaufen“/„Auslösen“ als solcher. Es ist vielmehr JHWHs „Wahlfreiheit“, die in V. 14 vorausgesetzt wird, welche das Machtgefälle indiziert (vgl. CAZELLES, Art. ɇɛɗ, 517f). Das heißt: wenn JHWH tatsächlich Efraim auslösen wollte, dann könnte er es in jedem Fall. 28 S. u.a. die Psalmen 9; 18; 30; 31; 143. 29 „Der Gott ist unser, ein Gott für Rettungen, und JHWH Herr gehört der Endpunkt für den Tod.“ Zu dieser Übersetzung s. EBERHARDT, JHWH, 238–241. Der Vers benennt trotz seines aus dem Kontext ersichtlichen Situationsbezugs JHWHs grundsätzliche Fähigkeit, dem Zustand des ‚Lebens unter den Toten‘ ein Ende zu setzen. Er thematisiert nicht – wie die Individualpsalmen – einen konkreten Rettungsvorgang. Dieser prinzipielle Charakter begünstigte eine spätere Ausweitung des Rettungsgedankens im Sinne der
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Die Gottesferne der Unterwelt vor dem Tod ist genaugenommen also nicht dieselbe wie die Gottesferne der Unterwelt nach dem Tod: Die eine ist irreversibel, die andere ist es nicht. Anders ausgedrückt: Die ‚Scheol der Lebenden‘ liegt in JHWHs Reichweite, die ‚Scheol der Toten‘ nicht. Diese Unterscheidung wird allerdings auf der Wortebene nicht sichtbar, und genau diese undifferenzierte Rede von der Rettung aus dem Tod bildet die Grundlage für die späteren Vorstellungen, dass JHWH in der Lage sei, die Menschen auch nach ihrem physischen Tod aus der Unterwelt zu befreien. Man musste die alten Psalmen, Hos 13 und andere Texte nur unter neuen Vorzeichen lesen und deuten, um auch in ihnen Gottes Macht über die Unterwelt als solche (bzw. als ganze) zu erkennen. Besonders deutlich wird dieser Umdeutungsprozess an jenen Texten, welche die Macht des ‚lebendigen Gottes‘ nicht nur in der Rettung, sondern auch in der Verurteilung des Menschen erkennen, wie zum Beispiel Hos 6,1.2: 1 Kommt und lasst uns umkehren zu JHWH, denn er hat zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat geschlagen, er wird uns auch verbinden. 2 Er wird uns lebendig machen nach zwei Tagen, am dritten Tag wird er uns aufrichten, dass wir leben werden vor seinem Angesicht.
Dieser vorexilische Text umschreibt JHWHs Strafhandeln mit Hilfe von Metaphern, die nicht ganz so verhalten sind wie die Rede vom Abwenden des göttlichen Angesichts, die aber trotzdem noch nicht den Tod, sondern nur das Leben beim Namen nennen. Zugleich bleiben Notschilderung und Rettungshoffnung klar situations- und gruppenbezogen, d.h. es wird implizit und vor dem Hintergrund des weiteren Kontexts Hos 5,8–6,6 deutlich, dass es um die Rettung Israels aus seiner politischen Notlage, aus der ‚Scheol der Lebenden‘ geht. Dabei wird die Vorstellung von einer eigenständigen Macht von Scheol und Tod zwar nicht eindeutig sichtbar – sie werden gar nicht direkt genannt –, ist aber durch den Wortlaut des Textes auch nicht gänzlich ausgeschlossen.
Vorstellung, dass JHWH auch die Toten aus der Unterwelt ‚herausgehen‘ lassen könne. Und: wenngleich die Rede von den ɝɈɃəɈɝ ɝɈɑɏ, ursprünglich keine oder kaum kosmologische Bedeutung hatte, erlaubte sie doch den Eintrag der ‚soteriologischen‘ Überlegenheit JHWHs über die Todesmacht in kosmologische Vorstellungen. Anders ausgedrückt: Mochte JHWH sich nach den geläufigen Vorstellungen nicht in der Scheol aufhalten und in keiner Beziehung zu den Toten stehen, so zählte jetzt der entscheidende Bereich der Unterwelt zu seinem Besitz und Machtbereich. In diesem Sinne wurde die der ursprünglichen Aussageintention von Ps 68,20f nicht entsprechende Vorstellung von JHWH als einem machtvollen „Torhüter“ der Scheol durch die räumliche Dimension von ɝɈɃəɈɝ geradezu provoziert.
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Anders in den nachexilischen Texten Dtn 32,39; 1 Sam 2,6 und 2 Kön 5,7. Auch in ihnen bzw. ihrem jeweiligen Kontext geht es zwar ursprünglich um eine konkrete Situation, in der JHWH Leben nimmt und neu schenkt: JHWHs Strafhandeln an Israel in Dtn 32, die Kinderlosigkeit Hannas in 1 Sam 2 und die Krankheit Naamans in 2 Kön 5. Aber der Situationsbezug ist dort verblasst, und so wird nun sehr allgemein formuliert: 6 JHWH [ist es / einer], der tötet und lebendig macht, der hinabführt in die Scheol und heraufführt.
So 1 Sam 2,6. Ähnlich lauten Dtn 32,39 und 2 Kön 5,7.30 In diesen drei Texten zeigt sich, wie der Monotheismus inzwischen auch im Bereich der Unterweltsvorstellungen Früchte trägt: JHWH muss die Menschen nicht mehr aus irgendeinem fremden Machtbereich „auslösen“ oder „loskaufen“ wie beispielsweise noch in Hos 13,14.31 Die Vorstellung von seiner alleinigen Verantwortung für das menschliche Geschick diesseits des physischen Todes, die sich hier zeigt, lässt keinen Raum mehr für eine Todesmacht, selbst wenn ihr die Zugriffsmöglichkeit auf die Lebenden von JHWH zugemessen würde. Zwar geht es auch in diesen Texten weiterhin um Menschen, welche die Schwelle des physischen Todes noch nicht überschritten haben. Aber es liegt auf der Hand, dass die allgemeinen Formulierungen geradezu einladen zur Neuinterpretationen im Sinne von JHWHs Handeln an den Toten. Das ist auch durch die ältere und jüngere Auslegungsgeschichte der genannten Texte hinreichend belegt.32 Aus der Macht JHWHs über den Menschen im Leben und im ‚diesseitigen Tod‘ wird schließlich die Macht JHWHs über Leben und Tod als solche. Die Hinweise auf das sich wandelnde Verhältnis zwischen JHWH und der Unterwelt beschränken sich nicht auf das Alte Testament. Auch die vorexilische Bestattungskultur lässt in Einzelfällen JHWHs wachsenden Einfluss im Reich der Toten erahnen, so beispielsweise die prominente Inschrift 3 aus ̳irbet el-Kǀm und die wohl noch bekannteren Silberamulette von Ketef Hinnom.
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Dtn 32,39: „Seht nun, dass ich, ich es bin: / Und kein Gott ist mit/bei mir! // Ich bin es, ich töte, und ich mache lebendig; / habe ich zerschlagen, bin ich es: ich heile; / und keiner ist, der aus meiner Hand rettet!“ 2 Kön 5,7a: „Bin ich Gott [mit der Macht], zu töten und lebendig zu machen?“ 31 S.o. Anm. 27. 32 Zur ältesten Auslegungsgeschichte s. insbesondere Tob 13,2 und Weish 16,13 in Weiterführung von Dtn 32,39.
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4. Die Unterwelt und der Schutzgott JHWH (‚Soteriologie’ 2) Sowohl die Grabinschrift aus als auch die Amulette werden in jüngeren Veröffentlichungen zum Thema gern angeführt,33 allerdings als Belege für sehr unterschiedliche Überlegungen. In den Amulettexten wie auch der Grabinschrift begegnet JHWH in Gestalt des persönlichen Schutzgottes:34 Gesegnet war ťĪrëyÁhī vor JHWH. Und von seinen Feinden hat er ihn wegen seiner Aschera / um seiner Aschera willen errettet.
So lauten die Zeilen 2 und 3 der Grabinschrift 3 von ̳irbet el-Kǀm (Juda), die aus der zweiten Hälfte bzw. dem letzten Viertel des 8.Jh. stammt35 und zunächst vor allem durch die Diskussion um „JHWH und seine Aschera“ bekannt geworden ist. Auf Amulett 1 von Ketef Hinnom aus dem 7. / 6. Jh. v.Chr.36 finden sich neben einer Fassung des aaronitischen Segens die Worte: ɏɃɅ ɈɄ ɌɎ ɇɈɇɌ ɌɎ ɇ [?]ɈɓɄɌպ[Ɍ] [?ɍ]ɛɄɌ ɛɈɃ
11 12 13 14
Denn bei ihm ist Erlösung, denn Jahwe bringt uns zurück Licht. …
33 LIESS, Weg, 311, spricht im Blick auf die Amulette wie auch auf die Inschrift von ̳irbet el-Kčm von einer Kompetenzausweitung ab der Mitte des 8. Jh. bzw. Ende 7./Anf. 6.Jh. v.Chr.; ähnlich JANOWSKI, Konfliktgespräche, 231. UEHLINGER, Kultreform, 68f, beschränkt sich auf die Amulette und vermutet eine Kompetenzausweitung ab dem 6.Jh. v.Chr. BERLEJUNG, Tod, 490, gründet ihre Überlegungen gleichfalls nur auf die Amulette, die sie in nachexilische Zeit datiert, vermutet aber, dass eine Kompetenzausweitung „im Gefolge der Solarisierung (d.h. ab dem 8.Jh.)“ stattgefunden haben könnte. Ähnlich KÖCKERT, Wandlungen, 30 (ohne Rekurs auf die Solarisierung). 34 Für die Grabinschrift: JEREMIAS/HARTENSTEIN, „JHWH…“, 116; JANOWSKI, Die Toten, 213.229; DERS., Konfliktgespräche, 49. WENNING, Bestattungen, 88; DERS., „Grab“, 14; und unlängst LIESS, Weg, 305. Vgl. auch den Hinweis von KEEL/ UEHLINGER, GGG, 271f, auf das Fehlen eines Toponyms nach dem Gottesnamen nach dem Muster „JHWH von Jerusalem“. Dieses lässt sich auf ein Verständnis von JHWH als Reichsgott, aber ebensogut auch auf ein Verständnis als persönlicher Schutzgott zurückführen. 35 Zur Datierung s. RENZ in: RENZ/RÖLLIG, Handbuch I, 203; DEVER, Material, bes. 150.163ff.187ff u.a. 36 Die bis in die Mitte der 90er Jahre nahezu unumstrittene Datierung der Amulette in das 7./6.Jh. v.Chr. hat in der Zwischenzeit durch vehemente Spätdatierungen eine gewisse Relativierung erfahren (für eine nachexilische Datierung plädieren u.a. RENZ in: RENZ/RÖLLIG, Handbuch, 447ff; PODELLA, Totenrituale, 556 Anm. 83; GÖRG, Haus, 112). Die „Frühdatierung“ scheint sich aber nach der Veröffentlichung der neuesten Untersuchungsergebnisse wieder verstärkt zu (re-)etablieren. Sie geht im wesentlichen zurück auf die anfänglichen und kürzlich erneut vertretenen Überlegungen Barkays (s. z.B. DERS./VAUGHN u.a., Amulets, 41–71).
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Eine ganze Reihe von Gründen sprechen dagegen, aus der Grabinschrift und den Texten auf den Silberamuletten die Hoffnung auf eine Rettung aus der Unterwelt herauszulesen. Um nur die zwei wichtigsten zu nennen: Die Grabinschrift rekurriert vermutlich eher auf eine vergangene denn auf eine noch erwartete Rettungserfahrung und lässt dementsprechend keine Rückschlüsse auf die Zukunftserwartungen des Verstorbenen zu. Ähnlich die Amulette. Sie wurden nachweislich als religiöse Gebrauchsgegenstände für Lebende gefertigt und spiegeln folglich nicht das Gottesverständnis oder Erwartungen der bestattenden Angehörigen wider.37 Dennoch scheint es bemerkenswert, dass JHWH im Grabkontext überhaupt erwähnt wird – umso mehr noch, als seine Abwesenheit von Grab und Unterwelt noch Jahrhunderte später ein geläufiger Topos ist (Ijob 14,13). Während sich diese Erwähnung bei der Grabinschrift noch am ehesten mit der großen Bedeutung JHWHs für den Verstorbenen zu Lebzeiten erklären lässt, ist sie im Falle der Amulette bereits ein Indiz dafür, dass ihm als Schutzgott für den Zeitraum zwischen Grablegung und Dissoziation der Gebeine tatsächlich eine bestimmte Bedeutung beigemessen wurde. Vielleicht erwarteten oder hofften die Bestattenden, der göttliche Schutz, den das Amulett versinnbildlichte oder ‚beinhaltete‘, werde den Träger des Amuletts begleiten, wo immer und solange er es trage (d.h. bis zum Ende des Zerfalls). Diese Vorstellung kann, sofern das Mitgeben von Amuletten guter Brauch war,38 eine sehr unspezifische gewesen sein, ohne dass ihr eine besondere Vorstellung von JHWH zugrunde gelegen haben muss.39 Trifft das zu, so bildete nun also nicht mehr der physische Tod die kritische Grenze zwischen Gottesnähe und Gottesferne in der Unterwelt, sondern der vollständige körperliche Zerfall, mit dem der Mensch endgültig in die Unterwelt übertrat. Die Grenze von JHWHs Zuständigkeit für den Menschen hatte sich gewissermaßen nach hinten verschoben. Dass seine spezifische Schutzfunktion für die Toten mit dem Zeitpunkt der Dissoziation tatsächlich erloschen geglaubt wurde, lässt sich daran ablesen, dass die Amu-
37 Eine detaillierte Erörterung der beiden Funde und ihrer Bedeutung in diesem Zusammenhang findet sich bei EBERHARDT, JHWH, 366ff. 38 Das ist anzunehmen; s. die knappe Aufzählung bei WENNING, Bestattungen, 90. Zu den Amulettfunden s. u.a. SCHROER, Beobachtungen, 294ff. 39 Vgl. WENNING, Bestattungen, 84 u.a. Zu beachten ist aber die im Blick auf ägyptische Amulette getroffene Feststellung von SCHROER, Beobachtungen, 298, dass möglicherweise den Bestattenden „die Bedeutung einer Sachmet, eines Udjatauges usw. nicht vollumfänglich […] klar war, aber es ist ebenfalls auszuschließen, dass sie den Verstorbenen Zeichen mitgaben, die ihnen gar nichts sagten, oder die sie erwarben, weil ägyptischer Nippes gerade in Mode war.“
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lette danach in einem Repositorium deponiert wurden:40 Sie hatten ihre Aufgabe für den Verstorbenen erfüllt und wurden nun nicht mehr gebraucht. Man kann hinsichtlich der beiden Funde deswegen begründet von einer Entwicklung sprechen, weil sich auch sonst an den zeitgenössischen Grabbeigaben ablesen lässt, dass während der mittleren Königszeit die Hoffnung auf Begleitung im Grab durch die jeweilige persönliche Schutzgottheit deutlich zunahm. Glockenrock-, Tauben- und Reiterfigurinen finden sich vermehrt in den Gräbern dieser Zeit und sind vermutlich als Darstellung der persönlichen Schutzgottheit des Toten bzw. ihrer Familie zu deuten.41 Die Grabinschrift 3 von ̳irbet el-Kčm und das Mitgeben der Amulette von Ketef Hinnom zeigen, dass diese spezifische Tendenz in der persönlichen Frömmigkeit auch vor dem JHWH-Glauben nicht Halt machte. Dass JHWHs Schutzgottfunktionen in diesem Bereich ab dem 6. Jh. v.Chr. noch weiter wuchsen, ist möglich, lässt sich aber anhand der zwei genannten Funde naturgemäß nicht belegen – wie es überhaupt schwierig ist zu eruieren, mit welchen Hintergedanken die Menschen ihren Toten Amulette mit auf den Weg oder bestimmte Grabinschriften in Auftrag gaben. Gleichwohl mag diese Tendenz in der persönlichen Frömmigkeit dazu beigetragen haben, dass im Laufe der Zeit auch in der schriftgelehrten Theologie das Ende von JHWHs (Segens-)Macht über den Menschen nicht mehr durchgehend mit dem Augenblick des physischen Todes bestimmt wurde.42 Was die erste der beiden eingangs genannten Thesen betrifft, so fasse ich also zusammen: Die verschiedenen Facetten des JHWH-Glaubens boten jeweils eigene Ansatzpunkte für die zunehmende Relativierung der
40 Vgl. WENNING, Art. Grab, 944; sowie im Anschluss an Wenning auch BERLEJUNG, Tod, 487; vgl. auch BERLEJUNG, Was kommt nach dem Tod?, 2. 41 WENNING, Paredros, 92. S. auch DERS., Bestattungen, 91f. Bezeichnenderweise nennt Wenning die Statuetten „Segensbilder“ (DERS., Paredros, 92) – so dass sich der Zusammenhang mit dem „Segensbericht“ von ̳irbet el-Kčm bzw. dem Segen auf den Amuletten von Ketef Hinnom aufdrängt. Eine sehr ähnliche Position vertreten im Blick auf die Glockenrockfigurinen auch KEEL/UEHLINGER, GGG, 370ff, bes. 381: „Die Pfeilerfigurine repräsentiert in besonderer Weise die Schutzgottheit einer Familie. Sie bot dieser Segen und Schutz im Alltag, schenkte aber auch noch den im Grab liegenden Verstorbenen ihre mütterliche Nähe“. DIES., ebd. Anm. 355, weisen darauf hin, dass sich dies auf die Übergangssituation im Grab beschränkte, die andauerte, bis die Gebeine weggeräumt wurden. Zur Taube als Stellvertreterin der Göttin bzw. als Übermittlerin ihres Segens s. GGG, 370. 42 Vgl. dazu H.-P. MÜLLER, Kolloquialsprache, 42. Eine analoge Entwicklung lässt sich in Ägypten beobachten. So vollzog sich dort eine Kompetenzausweitung Amun-Res auf die Unterwelt zunächst im Grabkontext, fand später jedoch Eingang in die Tempeltheologie. Spätestens ab dem 10./9.Jh. v.Chr. wurde auch im sakralen Bereich, vor allem in den hymnischen Texten, Amun-Re unmittelbar als Osiris dargestellt. Diesen Hinweis verdanke ich Carsten Knigge, Universität Basel.
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Vorstellung von der Gottesferne in der Unterwelt: Die Vorstellungen von JHWH als dem Universalherrscher, dem solaren Gott, dem Gott des Lebens und dem persönlichen Schutzgott sind vier dieser Ansatzpunkte, doch dürfte sich die Liste bei genauerem Hinsehen noch fortsetzen lassen. Dass die betreffenden Entwicklungen nicht unabhängig voneinander verliefen, liegt auf der Hand. Ich werde darauf am Ende meines Beitrags noch kurz eingehen. Zuvor sei allerdings die zweite These erörtert: die These von der permanenten Vielfalt der Anschauungen.
II. Die Pluralität der Vorstellungen Es war nun keineswegs so, dass all die genannten Entwicklungen einen gemeinsamen Fluchtpunkt gehabt hätten, nämlich die Auflösung der Vorstellung von der Gottesferne der Scheol bzw. die einheitliche Vorstellung von Gottes Macht über die Unterwelt oder von seiner Nähe zu den Toten. Vielmehr wurde je nach Kontext, vielleicht auch je nach Verfasserkreis, das Verhältnis von Unterwelt und Gott anders akzentuiert, mal im Sinne eines kosmologisch-monotheistischen Universalismus, mal im Sinne eines soteriologisch-persönlichen Schutzgottverhältnisses usw. Zugleich bestand die Vorstellung von der Gottesferne der Unterwelt bis in die Spätzeit des Alten Testaments fort, wie sich bei genauerem Hinsehen leicht erkennen lässt: Im Vorstellungsbereich von der Universalität JHWHs steht sie bei allen drei genannten Texten im Hintergrund, und zwar als allgemeine Regel, von der eine Ausnahme geschildert wird. Besonders deutlich zeigt sie sich dabei in Ijob 14. Im Vorstellungsbereich von JHWH als dem Gott des Lebens, besonders im nachexilischen Ps 88 (88,6.11–13), aber auch in den nachexilischen Texten Ps 30,10 und Ps 115,17, begegnet sie in Gestalt des argumentum ad deum, als stärkstes Argument für die Rettung des Beters. Der Gedanke von der Gottesferne in der Unterwelt verschwand also keineswegs – und mit dem Aufkommen und Erstarken der Vorstellung von einer postmortalen seligen Gottesgemeinschaft der Gerechten und mit ihrer Blüte in der Apokalyptik verwandelte sich die Gottesferne der Unterwelt schließlich in die Gottesferne der Hölle.43 So wenig sich mit der Zeit eine einheitliche Vorstellung von Gottes Nähe zur Unterwelt entwickelte, so wenig stand eine einheitliche Vorstellung von der Gottesferne der Scheol am Anfang der geschilderten Entwicklungen, und zwar auch dann nicht, wenn man den ganzen Komplex von Totengottheiten, vergöttlichten Ahnen, Unterweltsgeistern und dergleichen aus-
43
MAAG, Tod, 195f.
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klammert und „Gottesferne“ auf „JHWH-Ferne“ einschränkt, wie ich es hier tue. Zwar stellen die Vorstellung vom Blick des Sonnengottes in die Unterwelt sowie JHWHs auf das Grab ausgeweitete Schutzgottfunktionen zwei Neuentwicklungen innerhalb des JHWH-Glaubens dar, die aus der mittleren Königszeit stammen. Was aber die beiden übrigen Vorstellungsbereiche betrifft, so verhält es sich anders. Hier zeigen sich bestimmte Motive, die in ihren Wurzel vermutlich bis weit in die Anfänge der JHWHReligion und womöglich noch weiter zurückreichen, und an denen sich ablesen lässt, dass die Vorstellung von der Gottes- oder besser: JHWH-Ferne der Unterwelt immer schon gebrochen war durch den Gedanken eines – wiewohl eingeschränkten – Zugriffs JHWHs auf die Unterwelt. Zu diesen Motiven komme ich nun. 1. In der Hand Gottes bis in die Unterwelt Das erste Motiv ist die Rede von der „Verfolgung“ bis in die Unterwelt hinein, wie sie sich in Am 9,2 findet oder auch in Ps 139,8. Es gibt dazu eine bekannte „Parallele“, nämlich den El-Amarna-Brief Nr. 264, in dem ein gewisser Tagi dem ägyptischen König von seinem gescheiterten Versuch berichtet, dem König Karawanen zu schicken. Dabei wäre der Bruder des Tagi beinahe ums Leben gekommen. In diesem Kontext heißt es: 14 15 16 17 18 19
Wahrlich, was uns angeht – meine beiden Augen sind auf dich gerichtet. Ob wir aufsteigen zum Himmel oder hinabsteigen in die Unterwelt, ist unser Haupt in deinen Händen…
Nun ist eine literarische Abhängigkeit der Texte Am 9,2 oder Ps 139,8 von EA 264 aufgrund des jeweiligen Settings zwar auszuschließen. Aber es ist schon verschiedentlich – und wohl nicht zu Unrecht – vermutet worden, dass der Gedanke vom Auf- und Abstieg in Himmel und Unterwelt und von der ‚Hand‘ „in einen Schatz geläufiger Denk- und Sprachelemente Eingang gefunden und so immer wieder Verwendung gefunden hat.“44 Demzufolge hätten Am 9,2 und vielleicht auch Ps 139,8 eine geläufige Formel aufgegriffen, die hyperbolisch den räumlich unbegrenzten Einflussbereich eines bestimmten Herrschers charakterisiert. Die Abgeschiedenheit der Unterwelt war also keineswegs absolut – nicht einmal im Blick auf menschlichen Zugriff, wenn man den Brief des Tagi beim Wort nimmt. Zwar bleibt zu fragen, inwieweit eine bestimmte Redewendung, allzumal eine hyperbolische, tatsächlich wörtlich verstanden werden darf und damit
44
BEYERLIN, Bleilot, 44 Anm. 78; vgl. HERRMANN, Triumph, 371 Anm. 7.
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Rückschlüsse auf konkrete Vorstellungen zulässt (s.o.). Man kann jedoch vermuten, dass der dezidiert theologische Gebrauch der Formulierung in den nachexilischen Texten Am 9,2–4a und Ps 139 nicht unüberlegt erfolgte, und JHWH damit in der Tat eine gewisse „Reichweite“ eingeräumt wurde – allzumal vor dem Hintergrund des bereits entstandenen Monotheismus. 2. Rettungsvorstellungen Ähnliches gilt für die Vorstellung von der Leben entziehenden und erneut schenkenden Gottheit. So heißt es beispielsweise in einem in Ugarit gefundenen babylonischen Klage- und Danklied an Marduk aus dem 13. Jh. v.Chr.:45 Der, der mich geschlagen hat, hat sich meiner erbarmt – der mich in die Finsternis geführt hat, hat mich gegürtet – der mich zerbrochen hat, hat mich davon losgerissen – der mich zerstreut hat, hat mich zusammengefügt – der mich hingeschüttet hat, hat mich aufgelesen – der mich hat fallenlassen, hat mich erhöht! Aus dem Schlund des Todes hat er mich gerissen, aus der Unterwelt hat er mich heraufgeholt!46
Und im Ludlul bÓl nÓmeqi, dem der Mardukpsalm möglicherweise vorlag und zu dessen Charakteristika es zählt, dass das menschliche Geschick von Marduk als dem persönlichen Gott abhängt,47 heißt es (I 21–22):48 Stechend sind seine Schläge, sie durchbohren den Leib, (doch) kühl sind seine Verbände, sie heilen den Tod.
Und in Ludlul I 38 heißt es:49 Er strafte mich, doch wie schnell machte er mich gesund!
Auch anderen Gottheiten neben Marduk wird die Fähigkeit zugeschrieben, leidende Menschen aus der Unterwelt heraufzuholen, zum Beispiel der
45
RS 25.460. Hier zitiert nach DIETRICH/LORETZ in TUAT II/6, 825 (Z. 34–41). Vgl. den Hymnus an Marduk (TUAT II/5, 758 Z. 184–187; vgl. auch Z. 182); ferner das akkadische Ludlul bÓl nÓmequi (I 21f. Vgl. außerdem Ludlul IV 48ff; 73ff; 105). 47 S. dazu auch ALBERTZ, Ludlul, 34ff, der in Anm. 42 die Frage aufwirft, „ob nicht dieses für die persönliche Frömmigkeit so ungewöhnliche Bild vom zornigen Gott, der über zerstörerische Waffen verfügt (Z. 34), aus dem Mardukbild der offiziellen Religion übernommen worden ist, wie es uns etwa in Enīma eliš entgegentritt.“ 48 Übersetzung nach ALBERTZ, Ludlul, 29. 49 Zitiert nach ALBERTZ, Ludlul, 40. 46
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Heilgöttin Gula oder dem ägyptischen Amun.50 Dass solche Vorstellungen nicht notwendig einen auf die Unterwelt erweiterten Zuständigkeitsbereich voraussetzten, zeigt die Entstehungszeit des zitierten Textes, zu der Marduk noch keineswegs die Universalität besaß, die ihm Mitte des ersten Jahrtausends zu eigen war.51 Die Nähe dieser Texte zu alttestamentlichen Passagen wie Hos 6,1–3 oder den Rettungstexten der Individualpsalmen sind unübersehbar – ohne dass man direkte literarische Abhängigkeiten annehmen müsste. Meines Erachtens ist vielmehr anzunehmen, dass Israel bereits seit der anfänglichen Profilierung des JHWH-Glaubens die unterweltsbezogene Wahrnehmung von Not und Rettung mit seiner religiösen Umwelt teilte – und dass sich die alttestamentlichen Verfasser in diesem Zusammenhang vorgeprägter Sprache bedienten.52 Was folgt daraus?
Schlussfolgerungen Wenn all das bisher Genannte zutrifft, so bedeutet das in der Konsequenz vor allem zweierlei: Erstens erweist sich die bislang gängige Annahme, dass die Unterwelt etwa bis zur mittleren Königszeit ein Ort fern von JHWH gewesen sei, als hinfällig. Vielmehr existierte bereits seit der Profilierung der JHWH-Religion die Vorstellung, Gott könne die Lebenden aus der Unterwelt (im Sinne einer Notsituation) wieder heraufholen, – ohne dass man ihm zugleich dezidiert chthonische Kompetenzen zugesprochen hätte. Zweitens bedeutet es, dass die alttestamentliche Rede von JHWH als dem Herrscher über Welt und Unterwelt und die Rede von JHWH als dem Herrn über Leben und Tod nicht primär aus theologischen Reflexionen innerhalb des JHWH-Glaubens erwuchs, sondern einesteils in ihren sprach-
50 TUAT II/5, 764 Z. 179; Votivstele aus Deir el-Medine, 13. Jh. v.Chr. (ASSMANN, ÄHG, 372–374). 51 Umgekehrt belegen der Mardukpsalm und die Ludlul-Passagen auch, dass in Mesopotamien persönliche Not keineswegs ausschließlich „auf das Wirken unterweltlicher Mächte zurückgeführt“ wurde (PODELLA, Grundzüge, 74). Vergleichbares gilt für Ägypten. Der Vorwurfliteratur Ägyptens und Mesopotamiens eignet eine deutlich monokausale Tendenz, d.h. das Bestreben, die menschliche Not auf einen einzigen Verantwortlichen zurückzuführen – ohne dass eine wie immer geartete Form des Monotheismus bereits etabliert wäre: Dafür aber kam am ehesten die persönliche Schutzgottheit in Betracht; vgl. SITZLER, Vorwurf, 156f. 52 So z.B. JEREMIAS, Hosea, 84 Anm. 17 u.a. im Blick auf das Gebet an Marduk und Hos 6,1. Das gilt übrigens auch für den Topos „Die Toten loben dich nicht“ als Argument für die Rettung des Beters: TUAT II/5, 756 Z. 67–69.
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lichen ‚Grundformen‘ aus der religiösen Umwelt Israels übernommen und dem JHWH-Glauben angepasst wurde. Dabei erfolgte die Integration der Unterwelt in den Machtbereich JHWHs auf dem Wege der Neuakzentuierung und Reinterpretation von geläufigen Topoi oder durch die bewusste Verwendung bestimmter Redewendungen. Andernteils, d.h. im Bereich der solaren und der Schutzgottvorstellungen, erfolgte sie dagegen über die Aneignung ursprünglich JHWH-fremder Kompetenzen und Funktionen. Weitere, hier nicht berücksichtigte Entwicklungen sind anzunehmen. Die anfänglichen Verbindungen zwischen JHWH und der Unterwelt werden marginal gewesen sein und sich vielleicht auf ein unspezifisches Rettungsmotiv oder sprachliche Formeln wie die Rede von der Reichweite „bis in die Unterwelt“ beschränkt haben. Dann aber, mit den religiösen Entwicklungen ab der mittleren Königszeit, mit der Solarisierung und der beginnenden Universalisierung JHWHs, und natürlich mit den Entwicklungen der exilischen und der nachexilischen Epoche: den politischen Umbrüchen, mit der Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs in der Weisheit und, nicht zu vergessen, mit der Entwicklung des Monotheismus, erschienen die alten Formulierungen in neuem Licht. Immer mehr boten sie sich an für theologisch unterfütterte Neuinterpretationen, bei denen die Gottesferne der Unterwelt in den Hintergrund trat gegenüber der machtvollen Nähe JHWHs zu den Menschen, selbst in der Scheol: Das war zunächst die Nähe zu den lebenden Menschen und schließlich auch zu den Toten. Diese Neuinterpretationen verliefen zweifellos nicht unabhängig voneinander; an diesem Punkt ist die nachfolgende Textübersicht (aus Gründen der Übersichtlichkeit) ungenau. Statt in Parallelen muss man sich die Entwicklungen eher in Wellen, und vor allem mit einer ganzen Reihe von Berührungspunkten und gemeinsamen „Streckenabschnitten“ vorstellen. Nichtsdestoweniger blieb die Bedeutung der Unterwelt als solcher in der JHWH-Religion – zumindest auf der Ebene der Schriften – vergleichsweise marginal. Vielleicht ist dies der Hauptgrund dafür, dass das Nebeneinander unterschiedlicher Vorstellungen durch die Religionsgeschichte Israels hindurch weiterbestand, auch wenn sich die Pluralität der Vorstellungen in ihrer Gesamtheit wandelte. Indem das Alte Testament diese Vielfalt bewahrt hat, gibt es eine sehr ehrliche und noch immer gültige Antwort auf die Frage nach dem Ende der Gottesbeziehung, nämlich: Ganz genau kennen wir es nicht.
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Textübersicht Kosmologie Die Unterwelt und der Universalherrscher JHWH
Die Unterwelt und der solare JHWH
,Soteriologie‘ Die Unterwelt und JHWH als Gott des Lebens
800
700
Spr 15,11
Individualpsalmen Hos 6,1−3; 13,14
Ps 68,20f 600
Am 9,2-4a 500 Ijob 14,13-17
Ps 88 1 Sam 2,6
Ijob 38,17 400
2 Kön 5,7 Dtn 32,39
Ps 139,8
300 Elihureden (v.a. Ijob 33)
Ijob 26,5f 200
Die Unterwelt und der Schutzgott JHWH
Grabinschrift 3 –irbet el-Kǀm
Amulette von Ketef-Hinnom
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„Hast du die Tore der Finsternis gesehen?“ (Ijob 38,17) Zur Lokalisierung des Totenreiches im Alten Testament KATHRIN LIESS
„Bist du gekommen zu den Quellen des Meeres, und bist du auf dem Grund der Urflut gewandelt? Sind dir aufgedeckt worden die Tore des Todes, und hast du die Tore der Finsternis gesehen?“ (Ijob 38,16f). Während Ijob diese rhetorischen Fragen nur verneinen kann, denn ihm wird in den Gottesreden die Unzugänglichkeit der Unterwelt eindrücklich vor Augen geführt, sehen sich die Beter der Klage- und Dankpsalmen bereits zu Lebzeiten in der Unterwelt: „Sie berührten die Tore des Todes“ – heißt es in Ps 107,18. Diese verschiedenen Sichtweisen werfen die Frage nach der Lokalisierung der Unterwelt sowie nach der Grenze zwischen dem Totenreich und der Welt der Lebenden auf. Diese Frage gehört in den größeren Zusammenhang der Diskussion um das Weltbild des alten Israel, die in der neueren Forschung unter Aufnahme von Fragestellungen der Religionsgeographie erheblich an Bedeutung gewonnen hat.1 Dabei spielt die Frage nach der Entstehung der „mental map“, einem „inneren Modell“ der Raumwahrnehmung, eine besondere Rolle: Wie wird die reale geographische Umwelt wahrgenommen und religiös gedeutet?2 Leitkategorien der Diskussion sind die Unterscheidung eines horizontalen und eines vertikalen Weltbildes und – damit verbunden – das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Diese Kategorien sind auch für die Frage nach Lage und Zugang zum Totenreich von Bedeutung.
1 S. dazu JANOWSKI/EGO, Weltbild; NIEHR, Himmel, 56f; BERLEJUNG, Weltbild; KRATZ, Gottesräume. 2 S. dazu HOHEISEL, Religionsgeographie, 118; vgl. PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi ërub, 13; DIES., Mental map; JANOWSKI, Weltbild, 20; DERS., Raum, 46.
Kathrin Liess
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I. Das Totenreich in vertikaler Perspektive 1. In der Erdtiefe Viele Texte verorten das Totenreich, die Unterwelt, direkt unter der Erde: Nach Num 16,30 öffnet der Erdboden seinen Mund und verschlingt die Menschen, so dass sie in die Scheol hinabsteigen; nach Jes 14 steigt der babylonische König in die Unterwelt hinunter, wobei die Tiefe der Unterwelt durch den Kontrast zum ersehnten Himmelsaufstieg besonders betont wird (V. 13–15). Diese Opposition heben in kosmologischen Grenzaussagen auch andere Texte hervor: Himmel – Unterwelt (Ps 139,8; Ijob 11,8; Am 9,2) bzw. oben – unten (Spr 15,24; Jes 7,11; Koh 3,21). Die Lage der Unterwelt in der Erdtiefe betonen Wortverbindungen mit ɝɌɝɊɝ bzw. ɝɈɌɝɊɝ, wie z.B. ɝɌɝɊɝ ɏɈɃɜ „die unterste Scheol“,3 ɝɈɌɝɊɝ ɘɛɃ, „die unterste Erde“4 oder ɝɈɌɝɊɝ ɛɈɄ, „die unterste Grube“.5 Auch die Wurzel ɚɑɕ, „tief sein“ und ihre Derivate ɚɑɕ (Spr 9,18) und ɐɌɚɑɕɑ (Ps 130,1) deuten auf die Tiefe der Unterwelt.6 Zudem kann ɘɛɃ – wie akk. er̸etu oder ug. ar̸ – die Unterwelt selbst bezeichnen.7 Diese Verbindung von Erde / Erdtiefe und Unterwelt ist vermutlich durch die Bestattung der Toten in Erdgräbern bedingt.8 ɛɄɚ „Grab“ und die entsprechenden Parallelausdrücke für ɏɈɃɜ, wie ɝɊɜ „Grube“,9 ɛɈɄ „Zisterne“10 und ɛɃɄ „Brunnen“,11 verweisen auf die Erdtiefe, wobei die beiden letzteren Bezeichnungen zugleich einen Bezug zur Wassertiefe herstellen. Die vertikale Perspektive bringt darüber hinaus das korrespondierende Wortpaar „hinabsteigen“ (ɆɛɌ) – „hinaufsteigen / -führen“ (ɇɏɕ Qal / Hif.) zum Ausdruck.12 Verstorbene steigen „in die Grube“ / „in den Staub“ hinab (ɛɈɄ ɌɆɛɌ / ɛɗɕ ɌɆɛɌ),13 der „Totengeist“ des Samuel steigt aus der Erde her3
Dtn 32,22; Ps 86,13. Ez 32,18; vgl. Jes 44,23; Ez 26,20; 31,14.16.18; 32,24; Ps 63,10 u.ö. Vgl. akk. er̸etu šaplëtu; s. KAR 307 37: die „untere Erde“ als Wohnort der Anunnaki; vgl. TALLQVIST, Namen, 11f; HOROWITZ, Geography, 273f. 5 Ps 88,7; Klgl 3,55. 6 ɐɌɚɑɕɑ kann auch auf Wassertiefe bezogen sein: vgl. Ps 69,3.15. ɚɑɕ kann – wie ɛɚɊ (s. unten Anm. 22) – neben der Tiefe auch die Unzugänglichkeit und Unerforschlichkeit der Unterwelt zum Ausdruck bringen; s. BEYSE, ɚɑɕ, 225f. 7 Vgl. die Wendung ɝɈɌɝɊɝ ɘɛɃ; s. Anm. 4. Für ug. ar̸ „Unterwelt“ vgl. z.B. KTU 1.5 V 5f; 1.6 I 17f; 1.19 III 5f; s. dazu DEL OLMO LETE/SANMARTÍN, Dictionary, 107f Zu akk. er̸etu s. HOROWITZ, Geography, 268ff; CAD E 310. 8 Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 28; s. auch TALLQVIST, Namen, 1. 9 Ps 16,10; 30,10; 55,24; Jes 38,17; Ijob 17,14 u.ö.; vgl. ug. ̴rt „Grube“; s. Anm. 49. 10 Jes 14,15; Jer 38,18; Ez 26,20; 31,16; Ps 30,4; 40,3; 88,5.7; Spr 1,12. 11 Ps 55,24; 69,16. 12 Vgl. PODELLA, Totenrituale, 545; JANOWSKI, Raum, 50. 13 ɛɈɄ ɌɆɛɈɌ: Jes 38,18; Ez 26,20; 31,14.16; 32,18.24f.29f u.ö.; ɛɗɕ ɌɆɛɈɌ: Ps 22,30. 4
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auf (ɇɏɕ; 1 Sam 28,11 u.ö.), und die Rettungserzählungen der Psalmen berichten vom „Heraufführen“ (ɇɏɕ Hif.) durch JHWH.14 Auch ugaritische Texte sprechen vom „Hinabsteigen“ in die Erde / Unterwelt (yrd ar̸): „Und steige hinab in das Haus Freilassung, der Unterwelt, sei gezählt zu denen, die hinabsteigen in die Unterwelt!“ (KTU 1.4 VIII 7–9).15 In Mesopotamien ist das entsprechende Wortpaar warÁdu(m) „hinabsteigen“ – elû(m) „hinaufsteigen“ belegt,16 z.B. in „Ištars Gang in die Unterwelt“17 oder in Ludlul bÓl nÓmeqi: „Beim Wohlergehen sprechen sie vom Aufstieg in den Himmel, betrüben sie sich, reden sie vom Hinabsteigen in die Unterwelt“ (II 46f).18 Singulär ist die Vorstellung einer Treppe, die in der Sultantepe-Version von „Nergal und Ereškigal“ Himmels- und Unterweltstor verbindet; allerdings scheint dieser Weg nur für Gottheiten zu gelten: „Hinab stieg Kaka die lange Leiter des Himmels, [(sprach,) als er das ‚Tor der Ereškigal‘ erreicht].“19
Einen Rekonstruktionsversuch zur Lokalisierung der Unterwelt bietet der Entwurf von O. Keel und I. Cornelius (Abb. 1).
Abb. 1: Rekonstruktion des biblischen Weltbildes nach O. Keel / I. Cornelius 14 Vgl. Ps 30,4; 40,3; Jona 2,7 u.ö. Weitere Verben, die die vertikale Achse zum Ausdruck bringen, sind ɏɗɜ Hif. „herunterbringen“ (Jes 56,7); ɝɊɓ „hinabsteigen“ (Ijob 17,16; 21,13); ɐɈɛ pol. „erhöhen“ (Ps 9,14); ɏəɓ Hif. „herausziehen“ (Ps 22,9; 69,15; 86,13; 144,7 u.ö.); ɇəɗ „herausziehen“ (Ps 144,11); ɇɏɆ Pi. „herausziehen, -schöpfen“ (Ps 30,2); ɇɜɑ „herausziehen“ (Ps 18,17). Die letztgenannten Verben beziehen sich zumeist auf die Wassertiefe; s. dazu BARTH, Errettung, 98ff. 15 Übersetzung: TUAT III/6, 1171. Vgl. KTU 1.5 V 15f; 1.5 VI 25; 1.6 I 7f. 16 Vgl. AHw III 1462f; I 206ff. Zur sumerischen Terminologie s. KATZ, Image, 92ff. 17 Vgl. z.B. Z. 85: „Ištar stieg in die Erde hinab und ist nicht mehr heraufgekommen“ (s. TUAT III/4, 764); s. auch „Inannas Gang in die Unterwelt“ Z. 4. 18 LAMBERT, BWL 40:46f; Übersetzung: TUAT III/1, 123. 19 STT I 15ff; Übersetzung: TUAT III/4, 779; vgl. VI 18f; zur Vorstellung der Treppe s. HOROWITZ, Geography, 359f; HUTTER, Vorstellungen, 158f.
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Diese Lokalisierung in der Erdtiefe ist jedoch nur ein Aspekt der alttestamentlichen Unterweltsvorstellung, wie der folgende Text Ijob 38 zeigt. 2. In bzw. unter der Wasser- / Meerestiefe a) Ijob 38,16–18 Die Unterweltsaussage in Ijob 38,17 steht im Kontext der 1. Gottesrede Ijob 38,1–39,30, die im 1. Abschnitt 38,4–28 den gesamten Kosmos durchmisst:20 von den Fundamenten der Erde (4–7) über die Begrenzung des Meeres (8–11), die Morgenröte an den Rändern der Erde (12–15), die Tiefe und Breite der Welt (16–18) bis zum Blick auf den Himmel und seine meteorologischen Erscheinungen (22ff). Das Thema, das sich durch alle Abschnitte zieht, ist die Begrenzung des Kosmos; gleichsam leitmotivisch ist von Grenzen die Rede: vom „Maß“ (Ɇɑɑ), von Türen (ɝɏɆ; V. 8), vom Tor (ɛɕɜ V. 10.17), von Riegeln (ɊɌɛɄ V. 10), vom „Grund“ (ɛɚɊ), von der „Grenze“ (ɚɊ; V. 10), vom „Rand; Äußersten“ (ɖɓɎ; V. 13). In diesen Zusammenhang fügt sich die Beschreibung der Tiefe und Breite der Welt in V. 16–18 ein: 16 17 18
Bist du gekommen zu den Quellen des Meeres und bist du auf dem Grund (ɛɚɊ) der Urflut gewandelt? Sind dir aufgedeckt worden21 die Tore des Todes, und hast du die Tore der Finsternis gesehen? Hast Aufmerksamkeit zugewendet den Breiten der Erde? Teile es mit, wenn du alles erkannt hast!
V. 16–17 zeichnen sich durch einen parallelen Aufbau aus („Quellen des Meeres“ // „Grund der Urflut“; „Tore des Todes“ // „Tore der Finsternis“) und beschreiben die äußersten Grenzen des Kosmos in der Tiefe. Die Quellen des Meeres entspringen in der Tiefe, denn das Oberflächenmeer (ɐɌ) speist sich aus dem kosmischen Urozean unter der Erdscheibe. Mit dem „Grund“ (ɛɚɊ) der Urflut ist der tiefste, unergründliche Bereich der Urflut, ihre Grenze gemeint.22 Und die Tore des Todes und der Finsternis markieren den Eingang in die Unterwelt und damit die Grenze zur Totenwelt.
20 Zur Komposition und zur Unterweltsaussage in Ijob 38 s. EBERHARDT, JHWH, 180ff. 21 Zur Bedeutung von ɇɏɅ nif. s. EBERHARDT, JHWH, 183ff. Zum Aufdecken der Fundamente vgl. 2 Sam 22,16//Ps 18,16 und unten unter 2.b). 22 ɛɚɊ bezeichnet einerseits das Erforschen/Ergründen, andererseits „das Ziel, auf das alle Ergründungen hinstreben, den Ur- und Abgrund“ (HORST, Hiob, 169); vgl. Ges18, 390; s. Ijob 11,7f: ɇɈɏɃ ɛɚɊ, die „Tiefe Gottes“, ist für Menschen unergründlich und nicht erkennbar. Dieser Bedeutungsaspekt schwingt auch in Ijob 38,16ff mit. Vgl. ɛɚɊɑ, „unerforschte Tiefen“ (Ps 95,4); s. HAL, 541. Zur Tiefe der Urflut vgl. Gen 49,25; Dtn 33,13.
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Was ergibt sich aus Ijob 38,16f für die Frage nach der Lokalisierung der Unterwelt? Ihre Tore liegen unter dem (Oberflächen-)Meer auf dem Grund des unterirdischen Urozeans, der ɐɈɇɝ, und damit in einer „Ferne, die weit über den für den Menschen begehbaren und sichtbaren Raum hinausreicht“.23 In welchem Zusammenhang jedoch die Unterwelt selbst zur ɐɈɇɝ steht, ist fraglich;24 in der Forschung gehen die Meinungen darüber auseinander, wie das Verhältnis beider zu bestimmen ist: liegt die Scheol im Urozean,25 über26 oder unter27 dem Urozean? Nach der Unterweltsbeschreibung Ijob 26,5 befinden sich die Toten unterhalb des Wassers (ɐɌɑ ɝɊɝɑ);28 der entsprechende Terminus ist hier jedoch ɐɌɑ, nicht ɐɈɇɝ. Texte wie Ez 31,15, in denen ɐɈɇɝ und ɏɈɃɜ vorkommen, nehmen keine eindeutige räumliche Zuordnung vor.29 So bleibt auch eine genaue Zuordnung in Ijob 38 problematisch und ist wohl hier auch nicht intendiert, da es um die Grenzen des geschaffenen Kosmos geht. Auch in Mesopotamien ist das Verhältnis zwischen arallû und apsû nicht eindeutig zu bestimmen.30 Nach KAR 307 30–38 wird die Unterwelt unterhalb des apsû lokalisiert; dieser Text ist jedoch der einzige, der Unterwelt, Erdoberfläche und apsû in Beziehung setzt.31 In einigen Fällen scheinen apsû und Unterwelt verbunden: „Although no text explicitly places the dead human beings in the Apsu, there is evidence that the Apsu and the underworld were either confused with one another or the Apsu itself was thought to be a netherworld inhabited by malevolent spirits“.32 So sind nach dem Erra-Epos die Unterweltsgottheiten im apsû.33 Nach Ludlul bÓl nÓmeqi kommt ein Totengeist aus dem apsû: Mich [aber], den schwer Erschöpften, verfolgt das Ungewitter, die schwächende Krankheit kam auf mich zu. Der böse Sturm wehte heran vom Horizont, aus der Unterwelt wuchs herauf die Kopfkrankheit.
23
WASCHKE, ɐɈɇɝ, 569. Vgl. BERLEJUNG, Weltbild, 65; BARTELMUS, ɐɌɑɜ, 213. 25 Vgl. JOHNSTON, Shades, 116 zu Ijob 26,5: „The Shades below tremble, the waters and their inhabitants“. Ijob 26,5 könnte „a watery underworld“ meinen (117; vgl. 119); Johnston erwägt aber auch, dass die Unterwelt unterhalb der Wasser liegt (117). 26 Vgl. BARTELMUS, ɐɌɑɜ, 213. 27 Vgl. WÄCHTER, ɏɈɃɜ, 904; KOCH, Weltbild, 547; VAN WOLDE, Approach, 372. 28 STRAUSS, Hiob, 102 übersetzt ɐɌɑ ɝɊɝɑ zwar adverbiell („Die in der Unterwelt beben, unten die Gewässer und ihre Bewohner“; vgl. HAL, 1587), geht aber davon aus, dass sich die Toten „unter den Grundwassern“ befinden (ebd. 107); vgl. GK §119c; WERLITZ, Scheol, 45; WITTE, Leiden, 144 („Siehe, die Totengeister vor ihm erzittern unterhalb der Wasser und seiner Siedler“); EBERHARDT, JHWH, 191. 29 Vgl. BARTELMUS, ɐɌɑɜ, 213. 30 Vgl. BERLEJUNG, Weltbild, 65. 31 S. dazu HOROWITZ, Geography, 348; vgl. 334; zum Text s. 3f. Zum apsû s. 306ff. 334ff. Vgl. PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi ërub, 35f; VAN WOLDE, Approach, 370f. 32 HOROWITZ, Geography, 342. Vgl. TALLQVIST, Namen, 8. 33 Erra-Epos I 183f; s. dazu HOROWITZ, Geography, 343. 24
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Ein böser Totengeist kam hervor aus dem apsû, der nicht zurückzustoßende Utukku kam aus dem Ekur heraus. (II 52f)34 Eine andere Vorstellung liegt der Unterweltsdarstellung auf einem kassitischen Kudurru aus Susa zugrunde, der die Chaosschlange als Symbol des unteren Ozeans unterhalb der Totenstadt zeigt (s. unten Abb. 4).35
Immerhin könnte man vermuten, dass in Ijob 38,17 die Tore den Eingang zu einer tiefer, und damit unter der ɐɈɇɝ gelegenen Unterwelt darstellen. Aber die Tore werden für Ijob nicht aufgedeckt; der Blick geht nicht darüber hinaus. Festzuhalten bleibt, dass die Unterwelt nach Ijob 38 nicht einfach in der Erdtiefe, also direkt unter der Erdoberfläche liegt, sondern in bzw. unter der Wassertiefe. Dieser vertikale Aspekt ist auch für den folgenden Text Jona 2 bestimmend, der nicht aus kosmologischer, sondern aus anthropologischer Perspektive von der Unterwelt spricht. Gleichwohl lassen sich aus diesem anthropologischen Text Informationen über die Lokalisierung der Unterwelt gewinnen. b) Jona 2,4–7 Für die Unterweltsvorstellung des Jonapsalms (Jona 2,3–10) ist die Wassertiefe kennzeichnend, wie die Rettungserzählung in V. 4–7 zeigt:36 4 Du hast mich geworfen in (Meeres-)Tiefe (ɇɏɈəɑ), ins Herz der Meere (ɐɌ), und Strömung (ɛɇɓ) umgab mich, all deine Wellen (ɛɄɜɑ) und Wogen (ɏɅ) gingen über mich hinweg. 5 Ich aber sagte: Ich bin verstoßen von deinen Augen weg; ja, ich werde wieder hinblicken zu deinem heiligen Tempel. 6 Mich umschlossen Wasser (ɐɌɑ) bis zur Kehle, Urflut (ɐɈɇɝ) umgab mich, Schilf war um meinen Kopf geschlungen. 7 Zu den Gründen (Ʉəɚ) der Berge bin ich hinabgestiegen, die Erde, ihre Riegel hinter mir für immer. Du aber hast hinaufgeführt aus der Grube (ɝɊɜ) mein Leben, JHWH, mein Gott!
Die Wassermotive in V. 4.6 rahmen die tempeltheologische Aussage in V. 5. Die verschiedenen „Wasserbegriffe“ ɇɏɈəɑ, ɐɌ, ɛɊɓ, ɛɄɜɑ, ɏɅ, ɐɌɑ und ɐɈɇɝ verweisen in zunehmendem Maße auf die Tiefe. Jona wird „in die (Wasser-)Tiefe, ins Herz der Meere“ geworfen (V. 4). Gemeint ist mit ɐɌ zunächst das Oberflächenmeer, so dass hier auch die horizontale Achse in den Blick kommt. Die Richtungsangabe „ins Herz (= in die Mitte) der 34
LAMBERT, BWL 40:49–54; vgl. BWL 52:5–6; Übersetzung: TUAT III/1, 123; s. dazu HOROWITZ, Geography, 343f. 35 S. dazu KEEL, Bildsymbolik, 39; CORNELIUS, Visual Representation, 198. 36 Zu Jona 2 s. PODELLA, Totenrituale, 549f.552f; JANOWSKI, Raum, 55f. Zu den Wasserbildern s. RUDMAN, Water imagery; JOHNSTON, Shades, 114ff.
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Meere“ führt in die Tiefe. So ist nach Ex 15,8 das „Herz der Meere“ der Ort, wo auch die ɐɈɇɝ ist. Der Begriff ɇɏɈəɑ „(Wasser-)Tiefe“ kann das große Weltmeer bezeichnen, auf dem die Erdscheibe ruht.37 Den steigernden Abschluss der Reihe bildet schließlich ɐɈɇɝ, der Urozean unter der Erde (V. 6). V. 7 führt die vertikale Dimension weiter, ergänzt aber das Bild von der Wassertiefe, indem in dem Unterweltsterminus ɝɊɜ „Grube“ die Erdtiefe anklingt, so dass sich beide Vorstellungen, Wasser- und Erdtiefe, in Jona 2 durchdringen. Schließlich kommt die vertikale Dimension in der Aussage vom „Hinabsteigen zu den Gründen der Berge“ zum Ausdruck. Das Verständnis des Begriffs Ʉəɚ, der in seiner Grundbedeutung den „Grundriss; Zuschnitt“ bezeichnet,38 ist umstritten, wie bereits LXX (ơϒƮ ƯƳƥƯƨЍƮ ϢƭАƵƩ „zu den Klüften/Spalten/Rissen der Berge“), Vulgata (ad extrema montium „bis zum äußersten [Teil] der Berge“), Peschitta („zum Grund der Berge“) und Targum Jonathan (ɃɌɛɈɋ Ɍɛɚɕɏ „zu den Wurzeln der Berge“) zeigen. Die Parallelen in Sir 16,19 (ɏɄɝ ɌɆɈɔɌɈ ɐɌɛɇ ɌɄəɚ), Dtn 32,22 (ɐɌɛɇ ɌɆɔɈɑ // ɝɌɝɊɝ ɏɈɃɜ) und Ps 18,8 (ɐɌɛɇ ɌɆɔɈɑ) verdeutlichen, dass Ʉəɚ die Grundfesten, die Fundamente der Berge bezeichnen kann, die in der Tiefe wurzeln (vgl. Ijob 28,9). Nach Ps 18,8.16 werden diese Fundamente der Berge bzw. der Erde bei der Theophanie sichtbar, wenn Gott das Meer bis auf den Grund aufdeckt (ɇɏɅ nif.; vgl. Ijob 38,17).39 Ʉəɚ bezieht sich also auf das äußerste Ende, den tiefsten Teil der Berge: „Tiefer als zu den Grundrissen der Berge kann keiner hinabsteigen.“40
Parallel zu den Gründen der Berge stehen in Jona 2 die „Riegel“ der Erde (ɊɌɛɄ).41 Sie dienen der Abgrenzung und markieren wie die Tore in Ijob 38 die äußerste Grenze in der Tiefe. Dass Berge den Zugang zur Unterwelt darstellen, ja bis in die Unterwelt hinabreichen können, ist aus dem Alten Orient bekannt. Im Baal-Epos liegt der Zugang zur Unterwelt bei den Bergen Trgzz und Trmg (KTU 1.4 VIII 1–14). Nach dem Gilgamesch-Epos kommt Gilgamesch auf der Suche nach dem ewigen Leben und dem Sintfluthelden Uta-napischti zum mythischen Gebirge mit dem Zwillingsberg Mašu, dessen „Brust“ (irtu), d.h. unterer Grund, in die Unterwelt hinabreicht: Des Berges Name ist Mašu. Als er am Berge Mašu an[kam], der täglich den Aus- [und den Ein]gang [der Sonne] bewacht, – seine Spitzen [erreichen] das Fundament des Himmels, unten langt seine Brust an die Unterwelt (šap-liš a-ra-le-e irat-su-nu kaš-da-át), Skorpionenmenschen bewachen den Eingang zu ihm, 37
BERLEJUNG, Meer, 314. Vgl. HAL, 1046. Zu Ʉəɚ s. auch OPGEN-RHEIN, Jonapsalm, 158ff. 39 Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 18. 40 LUX, Jona, 177. 41 Nach WOLFF, Dodekapropheton 3, 111 bezeichnet ɘɛɃ hier die Unterwelt, vgl. OPGEN-RHEIN, Jonapsalm, 161f. 38
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deren Schrecken fürchterlich, deren Anblick Tod ist, deren wogender Schreckensglanz die Berge überzieht, zum Aus- und Eingang der Sonne bewachen sie die Sonne. (Taf. IX II 1–9)42
Der Kontext von Tafel IX weitet den Blick über die rein vertikale Perspektive hinaus: auf seiner Suche hat sich Gilgamesch in die Peripherie der Welt begeben: von Uruk aus in die Steppe, dann ins Gebirge mit dem Berg Mašu am Rand der Erde. Damit rückt neben der vertikalen die horizontale Perspektive in den Blick, denn Berge gelten als „Achsenkreuze, an denen sich vertikale und horizontale Raumachse schneiden“.43 Das Bergland zählt zu den Bereichen, die nach altorientalischem Raumverständnis in der Peripherie liegen. Dieser horizontale Aspekt könnte in der Erwähnung der Berge und des Meeres in Jona 2 anklingen.
II. Das Totenreich in horizontaler Perspektive Kennzeichnend für das horizontale Weltbild des Alten Testaments und Alten Orients ist das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie (s. Abb. 2).
Abb. 2: Das altorientalische Weltbild 42
Übersetzung: TUAT III/4, 716; vgl. MAUL, Gilgamesch, 121f. Zum Text s. GEORGE, Gilgamesh I, 668f; zur Bedeutung von irtu s. DERS., Gilgamesh II, 865: „the image of mountains being grounded in the lowest levels of the cosmos is conventional.“ Vgl. die Beschreibung des Berges Simirriya: „above, its (Mt. Simirriya’s) peak leans on the heavens, below its roots reach into the underworld (šap-la-nu šur-šu-ša šuk-šud-du qé-reb a-ra-al-li)“ (TCL 3 pl.1 19); vgl. HOROWITZ, Geography, 98; CAD A II 226. 43 BERLEJUNG, Berg, 108.
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Fragt man nach Lage und Zugang zur Unterwelt innerhalb der horizontalen Raumachse, so sind mit zunehmender geographischer Entfernung vom Zentrum, der Stadt Jerusalem mit dem Tempel, folgende Bereiche zu nennen: außerhalb der Stadtmauern die Nekropolen, jenseits davon Wüste und Steppenland und schließlich an den äußersten Grenzen des Kulturlandes die Ränder des Berglandes und der die Erdscheibe umfließende Ozean.44 1. Nekropolen und Gräber Betrachtet man die religionsgeographische Topographie Jerusalems, so liegen die eisenzeitlichen Nekropolen jenseits der schützenden Stadtmauer in der Peripherie der Stadt, im Übergang zu den „ungeordneten Bereichen“,45 fern vom Tempel als Ort des Lebens. Die Gräber können als Haus der Toten bezeichnet werden: „Alle Könige der Völker – sie alle liegen (ɄɎɜ) in Ehren, jeder in seinem Haus“ – heißt es in Jes 14,18.46 Gräber gelten als Berührungszone, in der die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits aufgehoben werden kann. Sie stellen die Schnittstelle zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt dar, indem sie einerseits im Totenkult Ort des Kontaktes zwischen Lebenden und Toten sind, andererseits den Zugang zur Unterwelt ermöglichen.47 Wie das Verhältnis zwischen Grab und Unterwelt genau zu bestimmen ist, ist unklar. Nach Chr. Barth gilt die Scheol als das Grab schlechthin, als eine Art „Urgrab“, das sich in jedem Einzelgrab manifestiert.48 In den alttestamentlichen Texten können ɛɄɚ und ɏɈɃɜ gleichgesetzt werden: wer im Grab liegt, befindet sich in der Unterwelt (vgl. Ez 32,17ff; Ps 88,4.6.12).49 Mit dem Verb ɄɎɜ kann sowohl das Liegen im Grab wie in 44 S. dazu PODELLA, Totenrituale, 555; JANOWSKI, Raum, 50; für den Alten Orient s. die Beschreibung der sog. Babylon. Weltkarte bei PEZZOLI-OLGIATI, Erkundungen, 229ff. 45 PODELLA, Totenrituale, 537f; vgl. NIEHR, Himmel, 60ff; JANOWSKI, Raum, 46ff; BIEBERSTEIN, Pforte, 511ff. Von dieser peripheren Lage sind die Königsgräber durch ihre Lage auf dem Südosthügel ausgenommen; s. dazu WENNING, Medien, 113. 46 Vgl. Koh 12,5; Ps 49,12(?). In akk. Grabinschriften kann das Grab als „Wohnort der Ewigkeit“ (šu-bat da-ra-a-ti) bezeichnet werden; s. LUNDSTRÖM, Dauer, 217. Trotz der Bezeichnung als „Haus“ ist das Grab im alten Israel wohl nicht die bleibende Wohnstätte der Toten, wie die Beigabensitte zeigt; s. W ENNING, Medien, 129f. 47 Vgl. akk. bët nÓrab er̸eti „Haus des Eingangs in die Unterwelt“; s. TSUKIMOTO, Totenpflege, 6 Anm.16. Vgl. PODELLA, Jenseitsvorstellungen, 80 (AT); GRONEBERG, Unterweltsvorstellungen, 254 (Mesopotamien); HAAS, Unterwelts- und Jenseitsvorstellungen, 198 (Hethiter); GULDE, Unterweltsvorstellungen, 394ff mit Anm.13 verweist auf fensterartige Nischen in ugarit. Gräbern als Zugang zur Unterwelt. Zur ägypt. Scheintür als Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits s. ASSMANN, Tod, 286ff. 48 BARTH, Errettung, 66 (im Anschluss an J. Pedersen); vgl. KEEL, Bildsymbolik, 54. 49 Zum Zusammenhang von Bestattung im Grab und Unterwelt s. KTU 1.6 I 16–18: „Sie [sc. Anat] beweinte und begrub ihn, sie brachte ihn in die Grube der Götter der Unterwelt (b ̴rt ilm ar̸)“ (vgl. 1.5 V 5f); Übersetzung: TUAT III/6, 1186; vgl. DEL OLMO LETE/SANMARTÍN, Dictionary, 408: „formula for burial in myth of gods and heroes“.
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der Unterwelt bezeichnet werden.50 Grab und Unterwelt sind jedoch nicht einfach identisch. Nur wenige Texte setzen Grab (ɛɄɚ) und Unterwelt direkt in Beziehung.51 Dort, wo von Bestattung und Grab die Rede ist, wird die Unterwelt kaum erwähnt (vgl. die Erzählungen im Pentateuch); umgekehrt kommt das Grab selten vor, wenn es um die Scheol geht (vgl. die Todesmetaphorik der Psalmen).52 Zu den Ausnahmen zählen – neben Ps 88,4ff.12f – Jes 14,3ff und Ez 32,17ff. Jes 14,3–23, ein Spottlied über die Ankunft des babylonischen Herrschers in der Unterwelt, zeigt, dass Grab und Unterwelt in der Bildwelt nicht strikt zu unterscheiden,53 aber dennoch nicht identisch sind. In V. 8–11 gehen Grab- und Unterweltsvorstellung ineinander über: Die Erwähnung von Maden und Würmern als Lager und Decke spielt auf die Grabvorstellung an, zugleich ist von der Ankunft des Herrschers in der Unterwelt die Rede. Nach V. 18–20 hingegen ist der König „hingeworfen fern von seinem Grab“ (V.19f),54 gleichwohl heißt es, er sei in die Scheol „hinabgestiegen“ (ɆɛɌ; V. 11.15). Ein Grab als „Haus“, wie es die anderen Könige haben (V. 18), und ein ordnungsgemäßes Begräbnis scheinen nach Jes 14 zwar nicht Voraussetzung für den Abstieg in die Scheol zu sein, sind aber entscheidend für den Aufenthaltsort in der Unterwelt. Der unbestattete König ist in den entlegendsten Teil der „Grube“ (ɛɈɄȽɌɝɎɛɌ; V. 15; als Kontrast zu ɒɈɗəȽɌɝɎɛɌ; V. 13) hinabgebracht worden (ɆɛɌ hof.).55 Mit Jes 14 ist der Text Ez 32,17–32 thematisch verwandt, der das Geschick der Großmächte Ägypten, Assyrien und Elam in der Unterwelt schildert. Wie in Jes 14 wird zwischen verschiedenen Begräbnisformen und Bereichen der Unterwelt differenziert: dem „schimpflichen Grabort in der Unterwelt“56 mitten unter Erschlagenen (V. 23ff) steht das ehrenvolle Begräbnis der „Helden der Vorzeit“ mit Kriegsausrüstung (V. 27) gegenüber. Dabei sind die Vorstellungen von Grab und Unterwelt eng miteinander verwoben: Die Gräber Assurs liegen im hintersten Teil der „Grube“ (ɛɈɄȽɌɝɎɛɌ; V. 23), und Elams Grab befindet sich in der Tiefe der Unterwelt (ɝɈɌɝɊɝ ɘɛɃ; V. 24f).
Bemerkenswert ist, dass die Unterweltsvorstellungen des Alten Testaments, nach denen die Unterwelt als Ort der Finsternis (Ijob 10,21f; 17,13; Ps 88,7.13 u.ö.), des Staubes (Ijob 17,16; Ps 22,30; 30,19 u.ö.) und des Schweigens (Ps 31,18; 94,17; 115,17) gilt, in hohem Maße durch die kon50
Grab: Ps 88,6; Jes 14,18; Unterwelt: Jes 14,8; Ez 31,18; 32,21.27. ɄɎɜ lässt sich als Anspielung auf den Tod als Schlaf verstehen: vgl. Ijob 14,12; Ps 13,4; Dan 12,2. Zur Beisetzung in liegender Position und der damit verbundenen Vorstellung vom Tod als Schlaf im antiken Judentum s. den Beitrag von J. Zangenberg in diesem Band. 51 Vgl. STADELMANN, Conception, 170: „The biblical authors felt a need neither to join these conceptions nor to explain how the dead could be present in the grave and at the same time inhabit the nether world.“ 52 Vgl. KOCH, ɛɄɚ, 1153.1156. 53 Vgl. BEUKEN, Jesaja, 88; WILDBERGER, Jesaja, 550.557. 54 Das Verständnis von V. 19f ist umstritten: Zumeist wird angenommen, der König sei nicht im vorgesehenen Grab bestattet worden (WILDBERGER, Jesaja, 557f). Nach OLYAN, King, 423ff sei der Leichnam exhumiert und weggeworfen worden (vgl. Jer 8,1f). 55 Zum unterschiedlichen Geschick in der Unterwelt vgl. Taf. XII des GilgameschEpos; s. TUAT III/4, 743f; bes. Z. 150f: wenn der Leichnam in der Steppe liegt, findet der Totengeist keine Ruhe in der Unterwelt. 56 ZIMMERLI, Ezechiel, 781.
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krete Anschauung des Grabraumes geprägt sind.57 Im Hinblick auf die Frage der Lokalisierung kommt durch das Grab als Übergang zur Unterwelt neben der horizontalen Perspektive (Nekropole in der Peripherie) durch die Lage des Grabes in der (Erd-)Tiefe die vertikale Perspektive in den Blick. Die Lage der Nekropolen, und damit auch des Zugangs zum Totenreich, in der Peripherie verdeutlicht eine ägyptische Darstellung, die eine klagende Frau vor Gräbern zeigt (Abb. 3).58 Rechts liegt das fruchtbare Kulturland, links die Nekropole am Rand der Wüste.
Abb. 3: Nekropole in der Wüste; Malerei auf Stuck (11.– 9.Jh. v.Chr.)
2. Wüste Wüste und Steppenland galten im Alten Orient als Bereiche des Todes, als Übergang zum Totenreich. In Mesopotamien sind sie Aufenthaltsort von Dämonen und Totengeistern, denn sie sind durchlässig für den unteren Bereich der Erde, die Unterwelt.59 ̷Óru „Steppe“ kann zugleich auch das Totenreich selbst bezeichnen.60 Nach den alttestamentlichen Texten gilt die Wüste zwar nicht in gleichem Maße als Übergang zum Totenreich oder als Ort von Totengeistern, aber auch in der Raumwahrnehmung des alten Israel ist die Wüste mit chtonischen Konnotationen besetzt, wie Finsternis (Jer 2,6.31), Trockenheit (Dtn 8,15; Jer 2,6), Einsamkeit (Jer 2,6) oder Öde (Ijob 12,24f), die zu den Kennzeichen der Unterwelt zählen.61 So beschreibt der Beter des 63. Psalms seine Notsituation als Aufenthalt im Todesbereich der Wüste (vgl. Ps 107,4f), fern vom Heiligtum (V. 3): 57 Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 54; WERLITZ, Scheol, 45; zur Beschaffenheit der Unterwelt s. BERLEJUNG, Tod, 485f; PODELLA, Jenseitsvorstellungen; LIESS, Tod. 58 Zur Lage in der Peripherie vgl. die Abb. auf einem ägypt. Sarkophagrelief: Im Zentrum liegt Ägypten, in der Peripherie die Fremdländer und der Eingang in die Nekropole; s. KEEL, Bildsymbolik, 30ff (Abb. 33); CORNELIUS, Visual Representation, 196f. 59 S. dazu LUNDSTRÖM, Unterwelt, 45; PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi irub, 19; CAD S 138ff; AHw III 1094f. Nach KTU 1.23 gilt die Steppe/Wildnis (mdbr) als Bereich der Antiordnung, aus dem bedrohliche Götter kommen; s. GULDE, Unterweltsvorstellungen, 413f; DIES., Tod, 112. 60 S. dazu TALLQVIST, Namen, 17ff. 61 S. dazu BARTH, Errettung, 68f; KEEL, Bildsymbolik, 66f; BERLEJUNG, Tod, 487f.
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1 Ein Psalm Davids. Als er in der Wüste Juda war. 2 Gott, mein Gott bist du, nach dir suche ich, nach dir dürstet mein Leben, nach dir schmachtet mein Fleisch, in einem trockenen und erschöpften Land ohne Wasser.
3. Ozean und Berge Jenseits der Wüste bilden die Horizontberge und der die Erdscheibe umfließende Ozean die äußersten Grenzen der Erde (vgl. Ijob 26,10f). Beides klang bereits in Jona 2 an. Auch wenn dort mit den Wasserbildern die vertikale Achse betont wird, so spielt doch zugleich die horizontale Achse eine wichtige Rolle, wie sich besonders aus dem Buchkontext ergibt. Jona 2,4 nennt das Oberflächenmeer (ɐɌ), das nach alttestamentlicher Sicht im Westen liegt. Nach Jona 1 flieht Jona „fort von JHWH“ ans Mittelmeer nach Jafo und von dort nach Tarschisch im äußersten Westen (V. 3), und damit nach alttestamentlichem Verständnis in die äußerste Peripherie der damaligen Welt.62 Neben dem Meer erwähnt Jona 2,7 die Berge, die nach altorientalischem wie alttestamentlichem Verständnis als Schnittpunkt horizontaler und vertikaler Achse gelten.63 Jona 2 zeigt, wie beide Raumachsen ineinanderfließen: in vertikaler wie in horizontaler Perspektive liegt das Totenreich jeweils in der äußersten Peripherie, an den Rändern der Welt.64 Die äußersten Ränder der Welt sind auch gemeint, wenn in der Todesmetaphorik der Klagepsalmen vom „Ende der Erde“ die Rede ist: „Vom Ende (ɇəɚ) der Erde rufe ich zu dir, weil mein Herz kraftlos ist; auf einen Felsen, der mir zu hoch ist,65 führe mich“ (Ps 61,2f). Ebenso kann der Aufenthalt in der Peripherie des Landes als Aufenthalt im Todesbereich verstanden werden. So beschreibt der Beter von Ps 42 / 43 seinen Aufenthalt im äußersten Norden (Hermongebirge) mit Todesbildern und sehnt sich nach dem Zentrum, dem Tempel (vgl. 43,3f): 7 Mein Gott, aufgelöst in mir ist meine Lebenskraft (næpæš); darum denke ich an dich aus dem Jordan-Land und dem Gebirge des Hermon, 62
In der Wendung ɇɈɇɌ Ɍɓɗɏɑ könnte die Symbolik des Zentrums („Angesicht Gottes“ als tempeltheologisches Motiv) anklingen. Der Westen, der Ort des Sonnenuntergangs, gilt im Alten Orient als Eingang in das Totenreich und als Bereich des Todes; vgl. die West-Nekropolen in Ägypten. Für Ugarit s. GULDE, Unterweltsvorstellungen, 401.409. 63 S. dazu oben unter 2.b) 64 Diese Verschränkung der Perspektiven greift auf Jona 1,3–5 zurück: Bereits zu Beginn des Buches verschränken sich horizontale und vertikale Ebene: Jona flieht nach Westen ans Meer und nach Tarschisch (horizontal), und er steigt nach Jafo, ins Schiff und schließlich in den innersten Teil des Schiffes hinab (ɇɓɌɗɔɇ ɌɝɎɛɌȽɏɃ ɆɛɌ) (vertikal). Dabei wird die vertikale Richtung mit der Wurzel ɆɛɌ ausgedrückt, die auch das Hinabsteigen in die Grube in Jona 2,7 bezeichnet. ɇɓɌɗɔɇ ɌɝɎɛɌ (Jona 1,5) betont wie die Bezeichnung für die Tiefe der Unterwelt ɛɈɄȽɌɝɎɛɌ (Jes 14,15; Ez 32,23) die äußerste Tiefe. 65 Im Verb ɐɈɛ kommt zusätzlich die vertikale Achse zum Ausdruck.
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vom Berg Mi̸ŦÁr. 8 Urflut ruft der Urflut zu beim Brausen deiner Wasserfluten; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen. (Ps 42,7f)
Die Lage des Totenreichs am Rand der Welt betonen auch altorientalische Erzählungen.66 Besonders das am äußeren Rand gelegene, schwer zugängliche Bergland gilt als „Raum der Antiordnung“.67 So kann das Totenreich in „Inannas Gang zur Unterwelt“ als „Bergland ohne Rückkehr“ bezeichnet werden.68 Im Baal-Epos liegt der Eingang zur Unterwelt am „Rand der Erde“ (á̸r)69 unter den beiden Bergen Trgzz und Trmg; dort soll Baal in das Reich des Totengottes Mot hinabsteigen: Siehe, gehe geradewegs auf den Berg Trgzz, auf den Berg Trmg, auf die beiden Hügel am Rand der Erde (á̸r ar̸)! Hebe hoch den Berg auf deinen Händen, das Waldgebirge auf den beiden Handflächen! Und steige hinab in das Haus Freilassung, der Unterwelt, sei gezählt zu denen, die hinabsteigen in die Unterwelt! Dann begebe dich eiligst in seine Stadt Humuraya! Eine Grube ist sein Thronsitz, Unrat sein Erbland. (KTU 1.4 VIII 1–14)70
Auch nach KTU 1.5 VI 4ff liegt die Unterwelt an den Enden der Erde (q̸m
/ ksm):71 Wir umrundeten [die Rände]r der Erde, [. . ] bis zum Emmer / zur Grenze (ksm) des Tieflandes. Wir erreichten die Lieblichkeit, das Land der Seuche (nŦmy ar̸ dbr), die Anmut, das Feld am Todesfluss (ysmt šd š̲lmmt)72
Auch Gilgamesch steigt nach seinem Weg durch die Steppe im Bergland in der Peripherie in die Erde hinab;73 jenseits der Berge liegt der Ozean mit
66
Zu den „Enden der Erde“ (kosmische Berge; kosmischer Ozean) in Mesopotamien s. HOROWITZ, Geography, 330ff. Zur Lage der griech. Unterwelt am westlichen Rand der Welt jenseits des Okeanos s. JOHNSTON, Unterwelt, 1015. 67 PONGRATZ-LEISTEN, Mental map, 277; vgl. LUNDSTRÖM, Aussagekraft, 45. 68 TUAT III/3, 467. Vgl. TALLQVIST, Namen, 23ff. Zum Bergland als Bezeichnung für die Unterwelt in sumerischen Texten s. KATZ, Image, 63ff. 69 Zur Bedeutung von á̸r s. DEL OLMO LETE/SANMARTÍN, Dictionary, 327. 70 Übersetzung: TUAT III/6, 1171f; vgl. KTU 1.5 V 12ff. S. dazu GULDE, Unterweltsvorstellungen, 399. 71 Vgl. GULDE, Tod, 110. Die „lieblichen Gefilde“ sind ein Euphemismus für die Unterwelt. Möglicherweise ist damit das Steppenland gemeint; s. SMITH, Baal, 312: dbr // šd als „a desert locale“. Vgl. WYATT, Space, 143. 72 Übersetzung: TUAT III/6, 1182. ksm kann „Emmer“ (DIETRICH/LORETZ, ebd.), aber auch „Grenze“ bedeuten; s. SMITH, Baal Cycle, 149: „[W]e went [to the edge of the earth,] to the limits of the waters“; DEL OLMO LETE/SANMARTÍN, Dictionary, 462: „the limit of the meadow[s]“; vgl. KTU 1.16 III 4: ksm mhyt // q̸m ar̸.
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den „Wassern des Todes“, die er überqueren muss, bevor er in die jenseitige Welt gelangen kann: Nie gab es, Gilgamesch, je eine Übergangsstelle und keinen, der seit ewigen Zeiten das Meer (tâmtu) überschreiten könnte! Überschreiter des Meeres ist nur Schamasch, der Held; außer Schamasch, wer könnte das Meer überschreiten? Beschwerlich ist der Übergang, überaus schwierig der Weg dahin. Und dazwischen liegen die Wasser des Todes (mê mu-ti), die den Weiterweg absperren. (Taf. X II 21–25)74
In der Erwähnung des Berglandes und des Ozeans zeigt sich in besonderem Maße, wie die horizontale und die vertikale Dimension in den Texten miteinander verschränkt sind; dabei kann – je nach Kontext – die eine oder andere Perspektive in den Vordergrund treten. Die horizontale Achse, die sich besonders an der Erfahrungswirklichkeit der Jerusalemer der Königszeit orientiert,75 verweist zugleich auch auf die vertikale: in Nekropolen können Erdgräber in die Tiefe führen; die Wüste ist – zumindest im Alten Orient – für die Unterwelt in der Tiefe durchlässig; das Bergland am Rand der Welt ist Ort des Eingangs in die Unterwelt, und das Meer im Westen ist mit dem Urozean in der Tiefe verbunden. Dabei scheint das Bergland als Bereich des Todes im Alten Testament nicht in gleicher Weise eine Rolle zu spielen wie im Alten Orient. Weitaus häufiger werden Gruben, Zisternen, Wüste, Meer und Ozean als Bereiche des Todes erfahren. Diese Räume der Lebenswelt werden chthonisch konnotiert, stellen Übergangszonen in die Unterwelt dar, ja können als Unterwelt selbst bezeichnet werden. Auf der horizontalen wie der vertikalen Achse wird jeweils die Lage des Totenreichs in der äußersten Ferne betont: Die Texte verweisen dabei besonders auf die Grenzen der Welt: das Totenreich liegt in der äußersten Tiefe (vertikal), am äußersten Rand der Welt (horizontal). Ein anschauli-
73 S. dazu oben unter 2.b) Vgl. STOLZ, Topographie, 54ff; PEZZOLI-OLGIATI, Erkundungen, 235ff. 74 Übersetzung: TUAT III/4, 721. Vgl. MAUL, Gilgamesch-Epos, 129; zum Text s. GEORGE, Gilgamesh I, 682f. Zur Lokalisierung der „Wasser des Todes“ s. DERS. Gilgamesh II, 870: „the Waters of Death are located in a particular part of the ocean, way out to sea.“ Sie stellen den gefährlichsten Teil des Ozeans dar, der zwischen dem Ende der bekannten Welt und dem Ort des Uta-napischti liegt. George bringt die Wasser des Todes mit dem Unterweltsfluss ̳ubur in Verbindung (Gilgamesh I, 499f). Zum „Wasser des Todes“ s. auch HOROWITZ, Geography, 103f: „A belief that the distant reaches of the ocean were connected with death may derive from the notion that one could pass directly into the underworld through the waters of the far reaches of the sea, just as the sun appears to rise and set directly from/into the ocean by seashore.“ 75 Vgl. NIEHR, Himmel, 59; vgl. 55ff.
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ches Symbol dieser Grenze ist das Tor zur Unterwelt. Auf dieses Motiv möchte ich abschließend eingehen und dabei die Frage nach der Grenze zwischen dem Totenreich und der Lebenswelt in den Blick nehmen.
III. Das Tor zur Unterwelt – die Grenze zwischen der Welt der Toten und der Lebenden Tore, Türen und Schwellen spielen in der religiösen Symbolwelt des Alten Orients und des Alten Testaments eine wichtige Rolle. Sie stellen Übergangszonen und Grenzen zwischen zwei Welten, zwischen Innen und Außen, zwischen Ordnung und Antiordnung, zwischen profanem und sakralem Raum oder zwischen Stadt und Umland dar.76 Auf der horizontalen Raumachse bildet das Stadttor die Grenze zwischen dem geschützten Raum der Stadt mit dem Tempel als Ort des Lebens und dem Umland mit den Nekropolen, dem Bereich der Feinde und der Steppe / Wüste als Orte des Todes.77 Darüber hinaus ist das Motiv des Tores als Grenze zwischen zwei Welten auch in anderen Zusammenhängen in altorientalischen und alttestamentlichen Unterweltsvorstellungen von Bedeutung. 1. Alter Orient Altorientalische Epen wie Inannas bzw. Ištars Gang in die Unterwelt, Nergal und Ereškigal, Ur-Nammus Tod oder das Gilgamesch-Epos, aber auch ägyptische Unterwelts- und Totenbücher beschreiben in eindrücklicher Weise die Topographie des Weges in die Unterwelt.78 Dieser Weg ins Jenseits stellt jeweils einen „räumlichen Übergang“79 dar und ist durch Grenzen wie den Unterweltsfluss ̳ubur oder Tore (bÁbu / abullu) markiert,80 die sich häufig nur mit Hilfe eines Fährmanns / Pförtners passieren lassen. So muss Ištar auf ihrem Weg in die Unterwelt sieben Tore durchschreiten: 3
Es wandte die Tochter des Sin ihren Sinn nach dem finsteren Haus, der Wohnstatt von Erkalla, (…)
76
Zu Türen/Toren als „materielle Repräsentation“ der Grenze s. GEHLEN, Raum, 395; GENNEP, Übergangsriten, 25ff.152f. Vgl. HAETTNER BLOMQUIST, Gates, 15f. 77 Vgl. PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi ërub, 18.25; KRATZ, Gottesräume, 426. Zu den Funktionen des Tores s. HAETTNER BLOMQUIST, Gates, 15ff. 78 S. dazu LUNDSTRÖM, Unterwelt; DERS., Aussagekraft, 38ff; STOLZ, Topographie; KATZ, Image, 32ff; PEZZOLI-OLGIATI, Erkundungen, 233ff. 79 VAN GENNEP, Übergangsriten, 25ff. 80 Zum Unterweltsfluss s. HOROWITZ, Geography, 355ff; zum griech. Hades/Styx s. JOHNSTON, Unterwelt, 1015. Zum Unterweltstor s. Hom. Il. 5,646; 8,367; 23,71.74. Zur hethitischen Vorstellung s. HAAS, Unterwelts- und Jenseitsvorstellungen, 202. VAN
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Kathrin Liess Auf Tür und Riegel lagert sich Staub. Als sie das Tor des Kurnugia erreicht, sagt sie zum Pförtner des Tores: „He, Pförtner, öffne mir dein Tor! Öffne mir dein Tor, denn ich will eintreten! Wenn du mir das Tor nicht öffnest, ich nicht eintreten kann, werde ich die Tür einschlagen, den Riegel zerbrechen, die Türleibungen zerschlagen und die Türen aushängen! Ich werde die Toten herauflassen, sie werden die Lebenden fressen, zahlreicher als die Lebenden werden die Toten sein!“81 (Z. 3ff)
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Die Unterweltstore dienen nicht nur der Abgrenzung der Welt der Toten von der der Lebenden, sondern sie bieten auch Schutz vor den Toten, wie Z. 19f zeigen. Wer das „Tor des Landes ohne Wiederkehr“ (Z. 12: bÁb KUR.NU.GI4.A), durchschreitet, kann nicht in die Lebenswelt zurück.82 In einer Beschwörung gegen Totengeister heißt es: „Mit den Annunaki mögen sie ins Tor eintreten, nicht [zurückkehren], in den ̳ubur-Fluss mögen sie eintreten, nicht sich wenden, ins Tor der Todesstadt mögen sie eintreten, [bei den Lebenden] nicht erscheinen.“83 Hinter dem Motiv der Tore steht die Vorstellung einer Unterweltsstadt mit dem Palast der Ereškigal.84
Abb. 4: Unterweltsstadt auf einem kassitischen Kudurru aus Susa (12. Jh. v.Chr.) 81
Übersetzung: TUAT III/4, 761f. Vgl. „Inannas Gang zur Unterwelt“ Z. 73ff; s. TUAT III/3, 467ff. 82 Es gibt davon Ausnahmen: Inanna/Ištar kann nur aus der Unterwelt zurückkehren, weil sie eine Ersatzperson stellt; vgl. PEZZOLI-OLGIATI, Erkundungen, 246. 83 Übersetzung: EBELING, Tod und Leben, 128. 84 Zur Unterweltsstadt s. HOROWITZ, Geography, 293f.350f. Zur ugaritischen Unterweltsstadt Humuraya vgl. KTU 1.4 VIII 11–14.
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Neben diesen Toren der Unterweltsstadt kann auch das kosmische Tor des Westhorizonts Eingang zur Unterwelt sein. In Mesopotamien grenzt das „Tor des Sonnenuntergangs“ (abul ereb Šamši) die Unterwelt ab.85 Diese Vorstellung ist auch in Ägypten belegt: In den Pyramidentexten steigt der verstorbene König durch das kosmische Tor von der Erde ins Jenseits, in den Himmel, hinauf (vgl. Pyr 796ff; 876 u.ö.).86 Nach dem Totenbuch des Neuen Reiches kann der Verstorbene durch Tore in die Unterwelt eintreten und diese auch wieder verlassen:87 Spruch hervorzugehen am Tage Geöffnet sind mir die Türflügel des Himmels, geöffnet sind mir die Türflügel der Erde. Geöffnet sind mir die Riegel des Geb, aufgetan sind mir die Öffnungen des Himmels. Der mich bewacht hat, ist es, der mich (jetzt) freilässt, …88
Als Illustration zu diesem Spruch 68 zeigt eine Vignette aus dem Grab des Sennedjem, die bezeichnenderweise in der Nordwestecke des Grabes angebracht ist, das Tor mit dem nach Westen gerichteten Verstorbenen (siehe dazu Abb. 5 auf der folgenden Seite).
85
Vgl. BOTTÉRO, Mythologie, 32; BERLEJUNG, Tod, 468; CAD A I 87. Vgl. auch KAR 32,30f: der Sonnengott Šamaš öffnet das Tor der Unterwelt: „You open the gate of the vast earth (abul er̸eti rapašti). You make light shine for the Anunnaki, you settle the court case“ (Übersetzung: HOROWITZ, Geography, 279; vgl. CAD A I 87; AHw I 9). Zu er̸eti rapašti als Bezeichnung der Unterwelt s. HOROWITZ, 278f. 86 S. dazu ASSMANN, Tod, 436ff. 87 S. dazu BRUNNER, Tür, 783; DERS., Rolle, 40ff. 88 Totenbuch Spruch 68; Übersetzung: HORNUNG, Totenbuch, 143. Zu den „Toren des Geb“ s. Spruch 41 Z. 2. Spruch 26 Z. 26 und 126 Z. 16 erwähnen die „Tore des Westens“. Auch innerhalb der Unterwelt gibt es Tore: Nach den Sprüchen 144–147 kann der Verstorbene diese nur passieren, wenn er den Namen des Wächters bzw. den entsprechenden Spruch kennt. Die „Binnentore“ in den Unterweltsbüchern, die die 12 Nachtstunden voneinander trennen, öffnen sich dem Sonnengott, wenn er nachts durch die Unterwelt zieht; vgl. Amduat und Pfortenbuch; zu den Binnentoren s. BRUNNER, Rolle, 44.
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Abb. 5: Darstellung des Tores im Grab des Sennedjem (19. Dyn.)
2. Altes Testament Das Alte Testament berichtet zwar nicht in gleicher Weise vom Weg in das Totenreich wie die mythischen Erzählungen des Alten Orients, die Motivik der Tore gehört aber auch hier zu den Unterweltsvorstellungen. Dabei lassen sich zwei Verwendungszusammenhänge unterscheiden: ein kosmologischer und ein anthropologischer Kontext. a) Kosmologischer Kontext Die Tore des Todes und der Finsternis, die nach Ijob 38,17f auf dem Grund der Urflut liegen, markieren die Grenze zwischen dem Totenreich und der Welt der Lebenden. Möglicherweise wird mit diesem Motiv auf die Vorstellung einer Unterweltsstadt angespielt, wie sie in mesopotamischen und ugaritischen Unterweltsvorstellungen belegt ist.89 Ijob kann das Tor jedoch nicht sehen, geschweige denn diese Grenze überschreiten, denn in kosmologischer Perspektive bleibt das Jenseits für Menschen unzugänglich und in unerreichbarer Ferne. Anders im anthropologischen Kontext. 89 Vgl. BERLEJUNG, Tod, 486. Die LXX entfaltet das Tormotiv, indem sie in der zweiten Vershälfte von den „Türhütern“ des Hades (ƬƱƧƵƭƫГ ƠЏ РƠƫƱ) spricht.
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b) Anthropologischer Kontext In den Klage- und Dankpsalmen sowie im Hiskija- und Jona-Psalm (Jes 38,9–20; Jona 2,3–10) kann der Mensch mitten im Leben in räumliche Nähe zur Unterwelt gelangen. So heißt es in Ps 107,18 über Notleidende, die JHWH aus „ihren Gruben“ (ɝɌɊɜ), d.h. aus der Unterwelt, errettet hat: „Alle Speise verabscheute ihre Kehle / Lebenskraft (ɜɗɓ), sie berührten / reichten an die Tore des Todes.“ Ɇɕ ɕɅɓ „berühren; reichen an“ beschreibt die unmittelbare Nähe zum Totenreich, wie auch die parallele Aussage in Ps 88,4 zeigt: „Mein Leben hat die Scheol berührt (ɏ ɕɅɓ)“. Ebenfalls in Todesnähe befindet sich der Beter von Sir 51: Sein(e) Leben(skraft) (ɜɗɓ) berührt den Tod (ɝɈɑɏ ɕɅɓ) und sein Leben die unterste Unterwelt (ɝɈɌɝɊɝ ɏɈɃɜɏ) (V. 6). Von dort ruft er um Rettung: „Da erhob ich von der Erde meine Stimme und von den Toren der Unterwelt (Ɍɛɕɜɑ ɏɈɃɜ) mein Schreien.“ (V. 9) Das Motiv des „Berührens“ scheint in Verbindung mit dem Topos der Toren des Todes in besonderer Weise geeignet, um die Todesnähe zu betonen.90 Mit dem Motiv der Tore beschreibt auch der todkranke Hiskija seinen drohenden Tod mitten im Leben: „Ich sagte: In der Mitte meiner Tage muss ich gehen, zu den Toren der Unterwelt bin ich entboten für den Rest meiner Jahre.“ (Jes 38,10). Die Bedeutung der Wendung „zu den Toren der Unterwelt entboten werden / gesetzt sein“ (Ɇɚɗ Pu.) ergibt sich aus dem parallelen Verb ɍɏɇ „gehen“, das ein geprägter Ausdruck für „Sterben“ sein kann.91 Während die bisherigen Texte in der Klage zurückhaltend formulieren und die Tore – im Unterschied zu den altorientalischen Erzählungen – nicht geöffnet werden, geht Jona 2,7 einen Schritt weiter: „Zu den Gründen der Berge bin ich hinabgestiegen, die Erde, ihre Riegel hinter mir für immer.“ Die „Riegel“ (ɊɌɛɄ) gehören zum Motivfeld des Tores.92 Sie liegen hinter (ɆɕɄ) Jona – sinngemäß ist deshalb wohl „sind hinter mir verschlossen“ zu ergänzen.93 Bedenkt man, dass Stadttore von innen mit Rie90
Vgl. auch PsSal 16,2; 1QHa XIV 24. Zur Wegmetaphorik s. Gen 15,2; Jos 23,14; 1 Kön 2,2; Ijob 16,22; Ps 39,14 u.ö. Vgl. LAMBERT, BWL 70:16: na-a[d]-nī ab-bu-nu il-la-ku ú-ru-u̴ mu-ú-t[u] „hingegeben waren unsere Väter, mussten den Weg des Todes gehen“; s. auch die akk. Wendung ana šëmtušu alÁku „zu seinem Schicksal gehen“ als Bezeichnung für den vorzeitigen Tod. 92 Zu Riegeln an Unterweltstoren vgl. „Inannas Gang zur Unterwelt“ Z. 119.125 (TUAT III/3, 470); „Ištars Gang in die Unterwelt“ Z. 11 (TUAT III/4, 761); Totenbuch Spruch 125 Z. 191. Nach WOLFF, Dodekapropheton 3, 111 deuten die Riegel in Jona 2,7 auf die Vorstellung einer Unterweltsstadt. 93 Vgl. die geprägte Wendung ɆɕɄ ɝɏɆ ɛɅɔ Ri 3,23; 2 Kön 4,4f.33; Jes 26,20 bzw. ɛɅɔ ɆɕɄ Gen 7,16; Ri 9,51; 2 Kön 4,21. Nach der Vulgata schließen sich die Tore hinter Jona: terrae vectes concluserunt me in aeternum. Auch LXX führt MT weiter: ƦƝưƙƞƣƩ ơϒƮ ƟџƩ ωƮ ƫϓ ƨƫƳƧƫГ ƝϰưџƮ ƦƘưƫƳƫƥ ƝϒƺƩƥƫƥ. 91
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geln verschlossen wurden,94 so hat Jona die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten überschritten und befindet sich in der Unterwelt.95 „Für immer“ scheinen diese Riegel verschlossen; damit spielt Jona 2,7 auf die Bezeichnung der Unterwelt als „Land ohne Wiederkehr“96 an. Ps 9,14f schließlich blickt aus der Perspektive des Geretteten auf die Tore des Todes: Sei mir gnädig JHWH! Sieh an mein Elend von den Hassern als der, der mich emporhebt (ɐɈɛ) von den Toren des Todes (ɝɈɑ Ɍɛɕɜɑ). Damit ich erzählen kann all dein Lob, in den Toren der Tochter Zion jauchzen kann über deine Hilfe!
Wie den bisherigen Aussagen, die jeweils im weiteren Kontext das Totenreich als „Grube“ bezeichnen (Jes 38,17; Jona 2,7; Ps 107,20), liegt auch dieser Rettungsaussage eine vertikale Perspektive zugrunde: ɐɈɛ pol. „in die Höhe bringen“ verweist auf die Lokalisierung der Unterwelt in der Tiefe (vgl. V. 16 ɝɊɜ).97 Dem Kontrast zwischen den „Toren des Todes“ und den „Toren der Tochter Zion“ entspricht das Gefälle von Peripherie und Zentrum: die Rettung aus dem Totenreich führt aus der Gottesferne hinauf in die Gottesnähe auf dem Zion. Dieses Gefälle von Peripherie und Zentrum bzw. Tiefe und Höhe spielt auch in den anderen genannten Texten eine Rolle. Bemerkenswert ist, dass es sich in allen Fällen um Danklieder handelt, die aus der Perspektive der Errettung von den Toren der Unterwelt berichten. Die Totenreich ist jeweils in der Tiefe angesiedelt, wie die Lexeme ɝɌɊɜ (Ps 107,20) und ɝɊɜ (Jona 2,7; Jes 38,17) verdeutlichen. Hiskija erwartet Hilfe „aus der Höhe“ (Jes 38,14 ɐɈɛɑ), Jona wird aus der Grube „heraufgeführt“ (Jona 2,7 ɇɏɕ Hif.). Die Rettung mündet jeweils in das Gotteslob bzw. eine Dankopferfeier im Tempel (Ps 9,15f; 107,21f; Jes 38,19f; Jona 2,10; Sir 51,11f). Das mesopotamische Weisheitsgedicht Ludlul bÓl nÓmeqi beschreibt in ähnlicher Weise wie Ps 9,15 mit dem Motiv des Tores die Errettung aus dem Tod mitten im Leben. Das Zentrum, der Tempel Esangila mit seinen verschiedenen Toren, ist Ort der Rettung: „[der ich] ins Grab (fast) hinabgestiegen war, kam zurück zum [Sonnenaufgangs-]Tor
94
Vgl. MÜLLER, Tor, 347. Zum Motiv der „Riegel“ vgl. 1QHa XI 17f. Im Unterschied zu Jona 2 (MT) spricht dieser Text explizit vom Öffnen (Ɋɝɗ) und Schließen (ɛɅɔ) der Tore bzw. „Riegel“ hinter (ɆɕɄ) den Menschen: „when they descend into the deep (ɐɈɇɝ), shout out, and the gates [of Sheol] ([ɏɈɃɜ] Ɍɛɕɜ) open [for all] the works of the wickedness. Then the doors of the pit (ɝɊɜ ɌɝɏɆ) shut up the one who is pregnant with injustice, and the eternal bars (ɐɏɈɕ ɌɊɌɛɄɈ) shut up the spirits of wickedness“ (Übersetzung: PARRY/TOV, Reader, 23). In Z. 19f schließt sich der Dank für die Errettung aus der Grube, aus der Unterwelt an. 96 Vgl. Ijob 7,9f; 16,22; vgl. akk. er̸et/ašar/uru̴/̴arrÁn lÁ târi „die Erde/der Ort/der Weg/die Straße ohne Rückkehr“; s. TSUKIMOTO, Totenpflege, 8. 97 Zur vertikalen Perspektive der Errettung vgl. Weish 16,13: „Denn du hältst die Macht über Leben und Tod in deiner Hand. Du führst zu den Pforten des Todes (ơϒƮ ƬƹƧƝƮ РƠƫƱ) herab, doch dann wieder herauf“ (Übersetzung: HÜBNER, Weisheit, 190). 95
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(…) im Tor des Lebens wurde mir Leben entgegengebracht. Im Sonnenaufgangs-Tor wurde ich (wieder) zu den Lebenden gezählt.“ (IV 48.53f)98
Das Tor hat in den genannten Texten eine symbolische Bedeutung, indem es die Grenze zwischen Lebenswelt und Totenreich markiert. Dabei zeigt sich, dass im anthropologischen Kontext diese Grenze in die Lebenswelt hinein verschoben werden kann.99 Das Totenreich, das nach kosmologischen Aussagen wie Ijob 38 am äußersten, unzugänglichen Rand der Welt lokalisiert wird, reicht in anthropologischen Texten mitten in die Lebenswelt hinein. Die Psalmenbeter wie auch Jona können zu Lebzeiten an das Tor des Todes und in die „Grube“ der Unterwelt geraten. Auf ein ikonographisches Beispiel für die Grenzüberschreitung zwischen der menschlichen Lebenswelt und der Gegenwelt des Todes hat jüngst D. Pezzoli-Olgiati aufmerksam gemacht. Auf dem assyrischen Lamaštu-Amulett (8. / 7. Jh. v.Chr.) wird der Todesbereich nicht explizit dargestellt, sondern indirekt durch die Repräsentantin der Todeswelt, die Dämonin Lamaštu, im untersten Register (IV) angedeutet. Diese durchbricht mit ihrem Kopf das durch eine horizontale Linie abgetrennte IV. Register nach oben zur menschlichen Lebenswelt, dem Zimmer mit dem kranken Menschen (III). „Durch ihre Bewegung geraten Bereiche und Wesen in Kontakt, die am besten getrennt sein sollten. Die Überquerung der kosmologischen Grenzen bringt eine gefährliche, bedrohliche Bewegung in Gang“.100 Der Kranke gerät durch diese Genzüberschreitung in einen Zustand zwischen Leben und Tod. „Dieser Zug kann vielleicht visuell im Bruch der Trennungslinie zwischen dem IV und III Register geortet werden, wo die gefährliche Lamaštu bereits in den Bereich des Liegenden eingedrungen ist.“101 Diese Grenzüberschreitung hat gleichsam todbringende Auswirkungen im anthropologischen Bereich, vor denen das Amulett schützen soll.
Bemerkenswert ist, dass das Tormotiv als Grenzmarkierung zwischen dem Totenreich und der Lebenswelt im Alten Testament – mit Ausnahme von Ijob 38 – vorwiegend im anthropologischen Kontext belegt ist. Tore gelten wie andere Grenzen als „Niemandsland, Zwischenbereiche, Orte der Vieldeutigkeit“.102 Wessen Leben an das Tor der Unterwelt, an die Übergangszone zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, reicht, der befindet sich in einer Schwellenphase (liminale Phase) und schwebt gleichsam „zwischen zwei Welten“.103 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Psalmen sehr zurückhaltend formulieren: es ist vom „Berühren“ (ɕɅɓ) oder vom „Entboten-Werden“ zu den Toren (Ɇɚɗ Pu.) die Rede, nicht aber explizit 98
LAMBERT, BWL 60:78.82f; Übersetzung: TUAT III/1, 132. S. dazu PODELLA, Totenrituale, 546; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 262f; DERS., Raum, 51ff; FISCHER, Tod, 138; LIESS, Weg, 322ff. 100 PEZZOLI-OLGIATI, Gegenwelt, 391. Zur Darstellung s. ebd. 388 Fig. 2. 101 PEZZOLI-OLGIATI, Gegenwelt, 392. 102 BOLTE, Grenze, 50. 103 VAN GENNEP, Übergangsriten, 27; vgl. GEHLEN, Liminalität, 59; HAETTNER BLOMQUIST, Gates, 15. 99
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vom Öffnen oder gar Durchschreiten der Tore.104 Das Motiv des Tores als Ort des Übergangs scheint in besonderer Weise geeignet, um den Tod mitten im Leben, den „Schwellenzustand“, zu beschreiben, in dem sich die Beter der Psalmen befinden: „Der Bedrängte ist weder ein Toter noch ein im vollen Sinne Lebendiger; irgendwo in der Mitte hält er sich auf.“105 Dennoch sieht sich der Beter nach alttestamentlichem Verständnis ganz in der Unterwelt, die sich mitten in die Lebenswelt erstreckt. Wo das Totenreich in diese Welt hineinreicht, da kann JHWH rettend eingreifen und den Menschen „aus dem Tor des Todes emporheben“ (Ps 9,14).
IV. Schluss Die vielfältigen Unterweltsaussagen zeigen, dass es im Alten Testament keine einheitliche Unterweltskonzeption gibt und sich das Totenreich nur schwer eindeutig lokalisieren lässt. Im Hinblick auf die Frage nach einer Verortung im Weltbild ergibt sich, dass die vertikale und die horizontale Raumachse sich überlagern können und die Texte jeweils unterschiedliche Perspektiven in den Vordergrund stellen. Dabei lassen sich folgende Tendenzen beobachten: 1) Kosmologische Texte wie Ijob 26,5; 38,17f betonen die vertikale Achse und verorten das Totenreich in der Tiefe. 2) Der Jerusalemer Alltagswirklichkeit scheint die horizontale Achse zu entsprechen, nach der die Nekropolen außerhalb des Stadtzentrums in der Peripherie liegen.106 Dabei ist zugleich die vertikale Achse durch die Lage der Gräber in der Erdtiefe impliziert. 3) Anthropologische Texte wie Jona 2 oder die Psalmen machen in besonderem Maße deutlich, dass verschiedene Unterweltskonzepte wie die horizontale und die vertikale Lokalisierung, aber auch unterschiedliche vertikale Konzepte wie Erd- und Wassertiefe, in ein und demselben Text vorkommen können. Auf diese Weise wird die Schilderung der individuellen Todeserfahrung intensiviert. Im Hinblick auf die Frage nach der Grenze zwischen der Welt der Toten und der Lebenden zeigt sich am Motiv des Unterweltstores, dass man einen räumlichen und einen dynamischen Aspekt des Totenreichs unterscheiden kann.107 Nach dem kosmologischen Text Ijob 38 ist die Unterwelt als Aufenthaltsort der Verstorbenen ein mit Toren verschlossener, unzugänglicher Raum; nach den anthropologischen Texten erweist sich die Unterwelt als 104 Dieses scheint nur in Jona 2 vorausgesetzt, ist aber auch dort nicht explizit formuliert. Vgl. aber die Übersetzung der Vulgata oben Anm 93. 105 BARTH, Errettung, 93. Zum Todesverständnis der Klage- und Danksalmen s. ebd. 72ff.90ff; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 250ff; LIESS, Weg, 322ff. 106 Vgl. NIEHR, Himmel, 59. 107 Zu dieser Unterscheidung s. FISCHER, Tod, 141; vgl. BARTH, Errettung, 70.
„Hast du die Tore der Finsternis gesehen?“ (Ijob 38,17)
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eine dynamische Macht (Todessphäre), die sich in die Lebenswelt hinein erstrecken kann, wenn Menschen mitten im Leben an die Tore des Todes kommen (Ps 107,18; Jes 38,10; Jona 2,7; Sir 51,6; vgl. Ps 9,14). Die vielfältigen Unterweltsaussagen lassen sich als Versuche verstehen, einen den Menschen nach kosmologischen Aussagen unzugänglichen Bereich vorstellbar zu machen. Besonders im anthropologischen Kontext der Psalmen dienen die vielfältigen Unterweltsbeschreibungen dazu, Todeserfahrungen im Leben sprachlich zu fassen. Dabei erweist sich die Raumwahrnehmung des alten Israel als prägend für die Unterweltsvorstellungen, sowohl bei der Beschreibung der Beschaffenheit, der geographischen Lage und des Zugangs zur Unterwelt als auch bei der Schilderung individueller Todeserfahrungen mitten im Leben.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5
CORNELIUS, Visual Representation, 218 Abb. 10 BERLEJUNG, Art. Weltbild / Kosmologie, 66 Abb. 8 KEEL, Bildsymbolik, 66 Abb. 87 KEEL, Bildsymbolik, 38 Abb. 41 BRUYÈRE, Sen-nedjem, pl. XXV (Abdruck mit Genehmigung des IFAO)
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Jenseits der Todesschwelle Die Entstehung der Auferweckungshoffnungen in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur KLAUS BIEBERSTEIN
Gerechnet werde ich zu jenen, die in die Grube gesunken sind, wurde einem Mann gleich, dessen Kraft verschwunden ist, unter die Toten entlassen, wie Erschlagene, die im Grabe ruhen, derer du nicht mehr gedenkst, und die deiner Hand entzogen sind. (Ps 88,5f) Fürwahr, die Totenwelt preist dich nicht; der Tod rühmt dich nicht; die in die Grube gesunken sind, erwarten nichts mehr von deiner Treue. (Jes 38,18)
JHWH galt als ein Gott der Lebenden, und wer die Welt der Lebenden verließ, um in das Reich der Toten hinabzusteigen, wo alle – ob alt oder jung, arm oder reich, fromm oder frevlerisch – ein freudloses Dasein fristen, war nach Zeugnissen der alttestamentlichen Literatur seiner segnenden Macht entzogen.1 Doch werden in der nachexilischen frühjüdischen Literatur neben der Vorstellung vom gleichmachenden Schicksal aller Toten zunehmend auch andere, alternative Vorstellungen greifbar, wonach der Weg der Frevler nach der Todesschwelle zwar in die Scheol führe, JHWH den Seinen aber im Tod entgegentrete, um sie aufzunehmen – was eine grundlegende Wende in der Bebilderung des Todes voraussetzt, alternative Vorstellungen, die in Erwartung einer zunächst nur partiellen, schließlich aber sogar allgemeinen Auferweckung aller Toten fortgeschrieben wurden.2
1
Vgl. Ps 6,6; 30,10; 88,6; 115,17; Jes 38,18; Sir 17,27. Forschungsgeschichtlich wichtige und teilweise noch immer nützliche Überblicke bieten (in forschungsgeschichtlicher Folge) NÖTSCHER, Auferstehungsglauben; NIKOLAINEN, 2
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Diese Umcodierung des Jenseits – eine Besetzung des Jenseits durch JHWH – lag weder in metaphysischen Reflektionen über das Leib-SeeleVerhältnis noch in müßigen Jenseitsspekulationen begründet, sondern ergab sich einerseits aus dem Gedanken des Monotheismus, der keinen Machtbereich außerhalb der Macht des einen Gottes mehr annehmen konnte3, vor allem aber aus dem unaussetzbaren Ringen um die Gerechtigkeit des einen Gottes angesichts unverschuldeten Leidens – also im Ringen um Theodizee, wenn der Zusammenhang von Tun und Ergehen diesseits der Todesschwelle nicht aufging. Diese beiden Faktoren führten in der frühjüdischen Literatur zu unterschiedlichen neuen Jenseitsvorstellungen, innerhalb derer sich – weitere Modifizierungen eingeschlossen – mindestens vier sich zeitlich überlagernde und einander schließlich ablösende Modelle unterscheiden lassen.
1. Die Aufnahme der Gerechten im Tod Das erste Modell wird schon in frühnachexilischer Zeit greifbar. So wird im vierten Gottesknechtslied (Jes 53,1–11b) das Schicksal eines Menschen vor Augen geführt und sein Lebensweg von seiner Geburt (53,2 „wuchs er auf wie ein junger Spross“) bis zu seinem Grab (53,9 „man gab ihm bei Frevlern sein Grab“) als ein einziger Weg des Leidens beschrieben. Dabei bleibt das Gottesknechtslied nicht bei einer reinen Beschreibung seines Leidens stehen. Vielmehr entwickelt es im Ringen um Theodizee eine Deutung des persönlich unverschuldeten Leidens als stellvertretendes Leiden für die Vergehen der Gemeinde.4 Vor allem aber endet die Schilderung des Leidens nicht im Tod, sondern deutet jenseits der Todesschwelle erstmals eine im Kontext der Jenseitsvorstellungen weichenstellende Wende an (53,8–11b): 8
Aus Drangsal und Gericht wurde er genommen, doch seine Generation – wer (von ihr) erinnert sich (seiner)? Fürwahr, er wurde abgeschnitten vom Lande der Lebenden und wegen des Frevels seines Volkes5 geplagt6.
Auferstehungsglaube; SUTCLIFFE, Old Testament; MARTIN-ACHARD, Mort; HOFFMANN, Die Toten; NICKELSBURG, Resurrection; CAVALLIN, Life I; DERS., Leben; PUECH, Croyance; BAUCKHAM, Fate; AVERY-PECK/NEUSNER, Judaism IV; CHESTER, Messiah, 123– 190. 3 Vgl. Am 9,2f; Ijob 14,13; 26,6; 38,17; Ps 22,30; 139,8; Spr 15,11 u.a. Zu dieser Kompetenzausweitung JHWHs siehe EBERHARDT, JHWH. 4 Zur Übersetzung vor allem JANOWSKI, Stellvertretung, 70–73. Zum Gedanken der Stellvertretung ferner JANOWSKI/JANOWSKI/LICHTENBERGER, Stellvertretung. 5 Statt ै Ɍȴ ɕȷ lies mit 1QJesa ֖ȷɕ.
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Man gab ihm bei Frevlern sein Grab, und bei einem Reichen7, als er gestorben war8, obwohl er kein Unrecht getan hatte und kein Trug in seinem Munde gewesen war. Doch JHWH hatte es gefallen, ihn zu schlagen, (ihn) krank werden zu lassen. Wenn er sein Leben zur Schuldtilgung einsetzt, wird er Nachkommen sehen, lange leben, und der Plan JHWHs wird durch ihn gelingen. Nach der Mühsal seines Lebens wird er schauen das Licht9 und sich sättigen an seiner Erkenntnis.“
10
11
Demnach mündet der Lebensweg des persönlich unverschuldet Leidenden nicht in der Gottferne der Scheol, sondern er erblickt nach der Todesnotiz von Vers 8 und nach der Bestattungsnotiz von Vers 9 in Vers 11 überraschend „das Licht“. Eng vergleichbar mit diesem Argumentationsgang ist Ps 73, der durch das drei mal gesetzte Funktionswort ɍɃ „fürwahr“ (Verse 1.13.18) in drei Abschnitte (Verse 1–12.13–17.18–28) gegliedert ist. Denn in ihm stellt der Beter im ersten Abschnitt (73,1–12) angesichts des anstoßerregenden Glücks der Frevler den Zusammenhang von Tun und Ergehen und mit ihm Gottes Gerechtigkeit in Frage; er berichtet im zweiten Abschnitt (73,13– 17) von seinem zunächst vergeblichen Ringen mit dem Theodizeeproblem und kündigt am Ende des Abschnitts eine ihm in den ɏɃȽɌɜɆɚɑ „Heiligtümern Gottes“ zugekommene Lösung an.10 An dieser Stelle vollzieht der Psalm auch in formaler Hinsicht insofern eine Wende, als der Beter von nun an nicht mehr in 3. Person über Gott reflektiert, sondern sich in 2. Person betend an Gott selber wendet11 und im Gebet im dritten und letzten Abschnitt (73,18–28) zur Einsicht vorstößt, dass er – während die Frevler ɐɝɌɛɊɃɏ „zu ihrem Ende“ scheitern (73,17) – aufgenommen wird „zur Herrlichkeit“ (73,24): Nach deinem Ratschluss leitest du mich (ɌɓɊɓɝ ɍɝəɕɄ), und zur Herrlichkeit nimmst du mich auf (ɌɓɊɚɝ ɆɈɄɎ ɛɊɃɈ).
6
Alternativ: Statt ै ɕȷɅȶɓ lies mit 1QJesa ɕȸւȺɓ „wurde er getroffen“, und statt ै 1QJesa ֖ɑȸɏ lies mit ॄ ơϒƮ ƤƘƩƝưƫƩ entsprechend ɝȶɈ ȸ ɏȷ „zu Tode“. 7 Alternativ: Statt ै ɛɌ պȸ ȴ ɕ konjiziere ɕȸɛ Ɍ ջȹ ȵ ɕ „mit Übeltätern“. 8 Alternativ: Statt ै ɈɌȸɝɑȹ ցȰ konjiziere ֖ɝȹɑ ցȸ „seinen Grabhügel“. 9 Statt ै ɇȶɃɛȰ ȴɌ lies mit 1QJesab ɛ֖Ƀ ɇȶɃ ɛȰ ȴɌ „wird er schauen das Licht“. 10 JANOWSKI/LIESS, Gerechtigkeit. 11 Dass diese Sprechhaltung in den Versen 26 und 28 wieder mit einer Rede über Gott in 3. Person durchbrochen wird, kann an der Bekenntnisfunktion der Dichtung, kann aber auch an einer Überarbeitung liegen.
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Ähnlich schildert der in Ps 49 ebenfalls mit dem Theodizeeproblem ringende Beter zuerst den anstoßerregenden Wandel der Frevler (49,6–15), um schließlich, nachdem er angesichts der Ungerechtigkeit des Weltlaufs an der Gerechtigkeit des Weltlaufs zu verzweifeln drohte, nach einer Wende seine Glaubensgewissheit zu artikulieren, jenseits der Todesschwelle von Gott aufgenommen zu werden (49,16)12: Doch Gott wird mich (Ɍɜɗɓ) loskaufen aus dem Reich des Todes (ɏɈɃɜȽɆɌɑ), ja, er nimmt mich auf (ɌɓɊɚɌ).
Diese drei Belege der hebräischen Bibel mögen vorerst genügen. Drei mal bildet persönlich unverschuldetes Leiden den Ausgangspunkt, und drei mal münden die Texte in die Zuversicht, dass der Weg der unschuldig Leidenden nicht in der Gottferne der Scheol ende, sondern die Gerechten von Gott aufgenommen werden (Ps 49,16; 73,24) und das Licht (Jes 53,11) schauen, womit nicht nur die Gerechten, sondern auch Gottes Gerechtigkeit trotz persönlich unverschuldeten Leidens gerettet werden. Auch im frühjüdischen Schrifttum außerhalb der hebräischen Bibel kehrt diese Vorstellung wieder. So werden in den „Bilderreden“ in äthHen 37–71 im späten 1. Jh. v.Chr. die „Auserwählten“ oder „Gerechten“ nach ihrem Tod sogleich in den Kreis der Patriarchen, der Heiligen und des „Menschensohnes“ aufgenommen, um „am Ende der Himmel“ zu wohnen13, wo Henoch selbst zu sein wünscht (39,3–14; 48,1).14 Am Jüngsten Tag wird Gott die dann noch auf Erden lebenden Sünder von der Erde vertilgen (45,1–6) und die Erde den Gerechten übergeben (51,5; 58,2–6; 62,13–16).15 Die „Starken“ aber werden nicht auferstehen. Vielmehr soll deren Wohnung Finsternis sein, und Würmer sollen auf immer ihr Lager bilden (46,6).16
12
WITTE, Gott; DELKURT, Mensch, 14–75. Nur äthHen 70,3 lokalisiert den Wohnort der Gerechten „zwischen zwei Winden, zwischen dem Norden und dem Westen“, doch wird äthHen 70f allgemein als Anhang gewertet. 14 Nur äthHen 51 geht davon aus, dass alle Toten einschließlich der „Gerechten und Heiligen“ in der Scheol lagern und im Jüngsten Gericht freigegeben werden, um von „dem Erwählten“ gerichtet zu werden, doch scheint auch dieses Kapitel innerhalb der Bilderreden ein Einschub zu sein. Wo die Sünder nach ihrem Tod bis zum Jüngsten Gericht aufbewahrt werden, wird ansonsten nicht thematisiert; vermutlich in der Scheol; aber ihnen gilt offenbar kein Interesse. 15 Ob dabei nur an die zu jenem Zeitpunkt auf Erden lebenden oder auch an die schon verstorbenen und inzwischen in ihren himmlischen Wohnungen weilenden Gerechten gedacht ist, wird ebenfalls nicht expliziert. 16 Ferner wird in äthHen 54,1–6 und 56 ein Tal voller Feuer als Ort ewiger Strafen für die Könige und Mächtigen der Erde genannt, das mit 46,6 in einer gleichfalls unausgeglichenen Spannung steht. 13
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Natürlich waren mit dem Eintritt dieser Jenseitsbebilderung in die hellenistische Welt und ihrer Übersetzung in die griechische Sprache Metamorphosen verbunden. So hatte die hebräische Sprache keinen Begriff für eine die Todesschwelle überdauernde Größe gekannt und die Toten jenseits der Todesschwelle meist als ɐɌɃɗɛ „Heilende“ angesprochen. Nun hingegen wird deren Identität diesseits und jenseits der Todesschwelle meist mit ƴƱƳƚ „Seele“ benannt, doch hatte diese Sachübersetzung zunächst noch keine Neukonzeptionierung in den Vorstellungen vom Schicksal der Toten zur Folge. So werden die Seelen der Gerechten im Buch der Weisheit, das um die Zeitenwende entstand, schon mit Eintritt ihres leiblichen Todes in den Besitz der Unsterblichkeit gelangen (3,1–4): 1 Die Seelen der Gerechten (ƠƥƦƝƛƵƩ ƠЏ ƴƱƳƝГ) sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren. 2 In den Augen der Toren sind sie gestorben, ihr Heimgang gilt als Unglück, 3 ihr Scheiden von uns als Vernichtung; sie aber sind in Frieden. 4 In den Augen der Menschen wurden sie gestraft; doch ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit (σ βƧƬГƮ ƝϰưҊƩ ƤƝƩƝƯƛƝƮ ƬƧƚƭƣƮ).
Sie befinden sich nach einer allenfalls kurzen Strafe (3,5) an einem Ort der Ruhe „in Gottes Hand“ (3,1–9; 4,7f), um ihr Erbteil bei den Heiligen zu haben (5,5), unsterblich in Gottes Nähe zu weilen (6,17–20; 15,3; 16,13) und beim Jüngsten Gericht die Völker zu richten (3,7f). Die Frevler hingegen, die ein differenziertes Schicksal jenseits der Todesgrenze leugnen (1,16–2,5), werden gestürzt, sie erleiden Qualen und werden im Gericht überführt (4,17–20).17 Ebenso werden nach 4 Makk im späten 1. Jh. n.Chr. die Gerechten schon im Tod von Abraham, Isaak und Jakob aufgenommen (13,17),18 Frevler hingegen bereits zu Lebzeiten, vor allem aber nach ihrem Tod göttlicher Vergeltung unterzogen (12,18; 18,5.22), die in unaufhörlichen Qualen, namentlich durch Feuer, besteht (9,9.32; 10,10.15; 18,5.22), womit das Reich der Toten – wenn nur noch Frevler in ihm landen – stillschweigend zu einem Ort ewiger Strafen, zur Feuerhölle, mutiert.
17
BLISCHKE, Eschatologie. Während 2 Makk 7 (siehe unten) davon ausgeht, dass die Märtyrer erst im Jüngsten Gericht zu neuem Leben auferweckt werden, vermeidet die Neubearbeitung der Erzählung in 4 Makk 8,1–14,10 den Gedanken der Auferstehung und sichert den Märtyrern schon im Tod Unsterblichkeit zu. 18
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So entwickeln die zitierten Texte schon sehr früh Vorstellungen vom Jenseits des Todes, die sich in zweifacher Hinsicht als theologisch leistungsfähig erweisen sollten. Erstens vermochte die im Moment des Todes vollzogene Scheidung den Opfern der Geschichte eine göttliche Auflösung des noch offenen Bogens von Tun und Ergehen und den Frevlern eine ihren Untaten korrespondierende Strafe zu sichern. Zweitens sollte sich dieses Modell, wie insbesondere das Buch der Weisheit, Philo von Alexandria19 und Flavius Josephus20 auf unterschiedliche Weisen bezeugen, in seiner tiefen Verwurzelung in alttestamentlichen Traditionen zugleich als äußerst anschlussfähig gegenüber hellenistischen Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele erweisen. Denn es setzt noch keine Einbeziehung der Toten in das Jüngste Gericht im Sinne einer leiblichen Auferweckung von Toten voraus, die aus hellenistischer Sicht als befremdlich wirken musste (Apg 17,32), schließt die Option einer Einbeziehung der Toten in das Jüngste Gericht aber auch nicht aus (äthHen 37–71; Weish 3,1–9) und vermochte auf diese Weise, eine Synthese zwischen alten biblischen Traditionen und hellenistischen Vorstellungen vom Schicksal der Toten zu leisten.
2. Die Auferweckung der Ungestraften und Ungesühnten Erst wesentlich später als die oben beschriebene, schon seit frühnachexilischer Zeit belegbare Konzeption einer Aufnahme von Toten in himmlische Regionen setzt die Erwartung einer – vorerst nur partiellen – Auferweckung von Toten ein, die erst vom späten 3. Jh. v.Chr. an bezeugt ist und in ihrer Ausformulierung auf drei Vorgaben ansetzt. Als erste Vorgabe dienten Klage- und Danklieder einzelner Beterinnen und Beter mit Aussagen zur Rettung aus Todesnot.21 Während ein Teil der Lieder in punktuellen Retrospektiven (x-qatal) einer erfolgten Rettung aus dem Tod (Ps 56,14; 116,8) oder aus der Scheol (Ps 30,4; 86,13) gedenkt, gehen andere einen Schritt weiter und formulieren Gottes Rettung aus der Macht des Todes als generelle Sachverhalte (x-yiqtol LF), die in allen Zeitlagen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – liegen können (Ps 16,10; 49,16; 71,20) und somit offen lassen, ob sie sich nur auf Situationen der
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GRABBE, Eschatology, 165–173. GRABBE, Eschatology, 174–182; ELLEDGE, Life. 21 Noch immer grundlegend BARTH, Errettung; weiterführend JANOWSKI, Konfliktgespräche, und ZENGER, Mit Gott. 20
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Todesnot beziehen oder auch den Tod im engeren, medizinischen Sinn einschließen. Als zweite Vorgabe sind Erzählungen von Totenerweckungen durch die Propheten Elija (1 Kön 17,17–24) und Elischa (2 Kön 4,18–37; 13,21) zu werten, die zeigen, dass Gottes Macht auch nach eingetretenem Tod nicht endet. Als dritte Vorgabe sind schließlich Aussagen zur Wiedererstehung des Volkes zu nennen, die bereits auf der Bildebene mit einer Totenerweckung argumentieren. Während Hos 6,1–3 mit der Vorstellungswelt der Vegetation operiert, formuliert Ez 3722 im Bild einer Wiederbelebung individueller Totengebeine. Dass es im entscheidenden Schritt von diesen drei Brückenköpfen zur Erwartung einer Auferweckung der Toten nicht um eine – verständliche – Neugier nach dem Jenseits des Todes, sondern wiederum primär um Gerechtigkeit für die Opfer der Geschichte ging, zeigen insbesondere die drei frühesten Texte der frühjüdischen Literatur, die unbestreitbar und unbestritten eine individuelle Auferweckung von Toten verheißen: äthHen 22 und Dan 12,1–4 sowie der Zusatz Ez 37,7ab.8e–10b. Die Vision des Totenberges im Westen mit seinen Kammern zur Aufbewahrung der Toten zum Jüngsten Gericht in äthHen 22 ist ein integraler Teil der „Himmelsreisen“ (äthHen 17–36) im angelologischen „Buch der Wächter“ (äthHen 1–36). Zwar ist äthHen in seinen fünf Teilen vollständig nur in einer äthiopischen Tochterübersetzung erhalten, die auf einer griechischen Übersetzung der aramäischen Originalfassung beruht, doch ist das „Buch der Wächter“ (äthHen 1–36) fast vollständig in einem griechischen Fragment erhalten, das 1886 / 87 in A̲im entdeckt wurde. Fragmente der aramäischen Originalfassung kamen bislang nur in Höhle 4 von ̳irbet QumrÁn zutage. Nun ist äthHen 22 dort nur bruchstückhaft auf zwei kleinen Fragmenten (4QEne mit äthHen 22,3–7 aus der ersten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. und 4QEnd mit äthHen 22,13–23,3 aus dem letzten Drittel des 3. Jh. v.Chr.) bezeugt, doch wurde die älteste Rolle mit größeren Teilen des „Buches der Wächter“ (4QEna mit äthHen 1,1–6; 2,1–5,6; 6,4–8,2; 8,3–9,3.6–8; 10,3f; 10,21– 11,2; 12,4–6) von ihrem Erstbearbeiter J.T. Milik aufgrund ihrer semikursiven Schrift bereits in die erste Hälfte des 2. Jh. v.Chr. datiert, und die
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Die Vision bezog sich in ihrer Grundschicht 37,1–6.7c–8d.10c–12d.14a–f (10c ɊɈɛ noch ohne Artikel; 12d nur ɇɓɇ; 14a Satzanfang asyndetisch Ɍɝɝɓ) nur auf eine nationale Renaissance und wurde erst im Zusatz 37,7ab.8e–10b (10c ɊɈɛɇ mit Artikel) auf eine individuelle Auferstehung der ɐɌɅɈɛ „Erschlagenen“ übertragen. Zur Literarkritik trotz neuerer Studien noch immer grundlegend BARTELMUS, Ez 37.
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altertümliche Orthographie derselben lässt sogar eine Vorlage spätestens des 3. Jh. v.Chr. vermuten.23 Demnach dürfte die Vision der Totenwelt in äthHen 22 mit der ersten Ankündigung einer partiellen Auferweckung von Toten bereits in der Zeit der ptolemäischen Herrschaft über Juda und somit schon Jahrzehnte vor dem Makkabäeraufstand unter Antiochus IV. Epiphanes ausformuliert worden sein.24 Henoch schaut in Teil I (22,1–4) im Westen einen Berg mit vier Höhlen und erfährt deren Bestimmung, die Seelen der Toten bis zum Jüngsten Gericht zu verwahren. Sodann sieht er in Teil II (22,5–7) den Geist Abels, des ersten Ermordeten der Menschheit, dessen Klage zum Himmel schreit, weil sein Same vom Angesicht der Erde vertilgt wurde und nach Genugtuung verlangt. Schließlich wird in Teil III (22,8–14) die Funktion der eingangs erwähnten vier Höhlen als differenziertes Zwischenlager für die Toten bis zum Jüngsten Gericht erklärt.25 Teil I (GRUNDSCHICHT & zweite Erweiterung) 1 Und von dort ,wurde ich‘ zu einem anderen Ort ,getragen‘, und ,man zeigte mir‘ im Westen einen grossen und hohen Berg aus hartem Fels. UND vier AUSGEHÖHLTE STELLEN (WAREN) DARIN, TIEF UND SEHR GLATT, 2 drei von ihnen dunkel und eine licht, und eine Wasserquelle durch ihre Mitte hin. DA SAGTE ICH: WIE GLATT SIND DIESE HÖHLUNGEN UND TIEF UND DUNKEL ANZUSEHEN! 3 DA ANTWORTETE RAFAEL, EINER DER ,WÄCHTER UND HEILIGEN‘, DER BEI MIR WAR, UND SAGTE ZU MIR: DIESE AUSGEHÖHLTEN STELLEN (SIND DAZU DA), dass in ihnen die Seelengeister der Toten versammelt werden. Eben dazu sind sie
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MILIK, Books, zur Datierung 140f. MILIK, Books, 28 denkt für das „Buch der Wächter“ an eine Datierung Mitte des 3. Jh. v.Chr. SACCHI, In Libro, 80 und DERS., Apocalyptic, 61f geht, weil die Polemik von Koh 3,18–21 seiner Ansicht nach bereits den Gedanken der Auferstehung voraussetze, für äthHen 12–36 sogar bereits in die 2. Hälfte des 4. Jh. v.Chr. zurück, doch setzt Koh 3,18–21 nur die oben am Beispiel von Ps 73 dargelegte Vorstellung einer unmittelbaren Aufnahme von Toten in himmlische Regionen voraus. Zu früheren Datierungsversuchen siehe WACKER, Weltordnung (1982) 308–315; zu neueren Datierungsvorschlägen HOBBINS, Resurrection, 400f Anm. 9. 25 Da für äthHen 22 bislang nur geringe aramäische Fragmente (4QEne mit 22,3–7 und 4QEnd mit 22,13f) zutage kamen, muss der Exegese weithin der griechische und äthiopische Text als Grundlage dienen. Die oben wiedergegebene Rekonstruktion folgt in der Textkritik und Übersetzung (bis auf eine geringfügige Korrektur derselben in 22,2) WACKER, Weltordnung, 35–96. Diese Studie wurde in der kommentierten Übersetzung von UHLIG, Henochbuch, irritierenderweise nicht berücksichtigt. ,…‘ bezeichnen textkritisch emendierte Formulierungen, eckige Klammern […] markieren mögliche Glossen in den antiken griechischen oder äthiopischen Übersetzungen und runde Klammern (…) zielsprachig nötige Zufügungen der deutschen Übersetzung. 24
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gemacht, HIER DIE S EELEN ALLER MENSCHENKINDER ZU VERSAMMELN. 4 UND SIEHE, DIESES SIND DIE GRUBEN ZU IHREM GEFÄNGNIS. SO SIND SIE GEMACHT – BIS ZU DEM TAG, AN DEM SIE GERICHTET WERDEN, [ UND BIS ZUR ZEIT DES ENDTAGES DES GROSSEN G ERICHTS, DAS ÜBER SIE STATTFINDEN WIRD.] Teil II (erste Erweiterung) 5 Dort sah ich den Geist eines toten Menschen klagen, und seine Rede stieg zum Himmel auf, und er schrie und klagte. 6 Da fragte ich Rafael, den Wächter und Heiligen, der bei mir war, und sagte zu ihm: Dieser klagende Geist – von wem ist er, dass so seine Rede zum Himmel aufsteigt und (er) klagt? 7 Und er antwortete mir, indem er sagte: Dieser Geist ist der, der aus Abel, den sein Bruder Kain ermordete, herausging. Und er klagt um seinetwillen, bis dass sein Same vom Angesicht der Erde untergegangen und unter dem Samen der Menschen sein Same ausgerottet ist. Teil III (zweite Erweiterung) 8 Dann fragte ich nach all den Höhlungen ,und sagte‘: Warum sind sie eine von der anderen abgetrennt? 9 Da antwortete er mir und sagte: Diese drei26 sind gemacht, um die Geister der Toten abzutrennen. c Und diese ist abgetrennt für die Geister der Gerechten, in der die Wasserquelle hell (ist). Ӑ Gerechte 10 d Und diese ist gemacht für ,die Geister‘ der Sünder, wenn sie sterben und in der Erde begraben werden, und ein Gericht über sie in ihrem Leben nicht stattgefunden hat. Hier sind ihre Geister abgetrennt für diese große Folter bis zum großen Tag 11 des Gerichts der Schläge und Folter für die in Ewigkeit Verfluchten, ,zur‘ Vergeltung für ihre Geister. Dort wird ,man‘ sie in Ewigkeit binden. Ӑ noch zu richtende und daher auferstehende Sünder 12 e Und diese ist abgetrennt für die Geister der Klagenden, die Enthüllungen machen über ,ihren‘ Untergang, wenn sie ermordet werden in den Tagen der Sünder. Ӑ klagende und daher auferstehende Ermordete 13 f Und diese ist für die Geister der Menschen gemacht, welche nicht fromm, sondern Sünder sein werden, die gottlos und mit den Gesetzlosen mitschuldig sein werden. Diesen Geistern aber – [weil die hienieden Bedrückten weniger bestraft werden] – geschieht kein Unheil am Tag des Gerichts,27 aber sie werden sich auch nicht von hier erheben. Ӑ schon gerichtete und daher nicht mehr auferstehende Sünder 14 Darauf pries ich den Herrn der Herrlichkeit und sagte: Gepriesen sei der Richter in Gerechtigkeit [und gepriesen sei der Herr der Herrlichkeit und Gerechtigkeit], der herrscht über die Welt.
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Konjektur nach WACKER, Weltordnung, 103–110. WACKER, Weltordnung, 275–277 ergänzt den griechischen und äthiopischen Text mittels 4Q End zu „am Tag des Gerichts ,über die Toten‘„, wobei die Worte „,über die Toten‘„ im Fragment 4Q End selbst aufgrund eines Textverlustes entfallen sind und nur hypothetisch substituiert werden können. 27
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Einerseits bauen die drei Teile aufeinander auf: Teil II setzt in 22,5 mit dem Rückverweis „dort“ den Schauplatz von Teil I voraus, und Teil III nimmt in 22,12 mit dem Motiv der Klagenden auf Teil II Bezug und setzt in 22,8 mit den Höhlungen zusätzlich den Schauplatz von Teil I voraus. Andererseits ist der Anschluss von Teil II in 22,5 mit „dort“ angesichts von vier zuvor genannten Höhlen irritierend ungenau, und Abels Schicksal aus Teil II findet bei der Aufteilung der Toten auf die unterschiedlichen Höhlen in Teil III keine explizite Berücksichtigung mehr. Daher äußerte A. Freiherr von Gall 1926 (ohne detaillierte literarkritische Begründung) die Vermutung, die Einheit habe in ihrer Grundschicht nur die Vision des Totenberges 22,1– 3*.4.14 umfasst und sei in zwei Schritten erstens durch die Klagen Abels 22,5–7 und zweitens durch die Differenzierung der Höhlen 22,8–13 redaktionell erweitert worden.28 1982 versuchte M.-T. Wacker A. Freiherr von Galls These geringfügig zu modifizieren und ausführlicher zu begründen. So weist sie erstens darauf hin, dass in der Beschreibung 22,2 zunächst von drei dunklen und einer lichten Höhle die Rede ist, Henoch in seiner unmittelbar anschließenden Frage aber nur von „dunklen Höhlen“ spreche, wie wenn ihm diese Differenzierung noch unbekannt gewesen wäre. Daraus ist ihrer Ansicht nach zu folgern, dass die Differenzierung der Höhlen in 22,2 erst sekundär zugefügt wurde. Zweitens werde die Sammlung der Seelen der Toten in 22,3 zweimal erwähnt, was ebenfalls auf eine redaktionelle Erweiterung deute. Daher seien sowohl die genannten Erweiterungen in 22,2 und 22,3 sowie Abels Klage in 22,5–7 und die Unterscheidung der vier Höhlen in 22,8–14 einer Fortschreibung zuzuordnen.29 Allerdings erscheinen Abels Klage einerseits und die Unterscheidung der vier Höhlen andererseits kaum koordiniert. Erstens ist es nicht möglich, Abel eindeutig einer der drei Höhlen zuzuweisen.30 Zweitens gilt Abels Klage in 22,5–7 dem Untergang seines Mörders, die Klage der Ermordeten in 22,10f hingegen der Aufdeckung ihres gewaltsamen Todes.31 Daher sind die Erweiterung der einleitenden Vision des Totenberges im Westen 22,1–4* erstens durch Abels Klagen in 22,5–7 und zweitens durch die Differenzierung der vier Höhlen in 22,2*.3*.8–14 mit A. Freiherr von Gall gegen M.T. Wacker zwei unterschiedlichen Bearbeitungen zuzuordnen.
Die zum Verständnis der vorliegenden Fassung sowie zur Rekonstruktion ihrer Vorstufen wichtigste Bearbeitung liegt in der inkonsistenten Zählung der Höhlen, die eine dritte Bearbeitung signalisiert. Denn Teil I setzt in 22,2 explizit „vier“ Höhlen voraus: eine helle Höhle mit einer Wasserquelle und drei dunkle Höhlen. Und 22,9b–13 beschreiben dazu passend vier Höhlen, die paarweise mit den Worten: „und diese ist abgetrennt“ (22,9b.12) oder „und diese ist (…) gemacht“ (22,10.13) eingeleitet werden. Daher ist die Rede von „vier“ Höhlen in 22,2 sinnvoll auf diese vier Abschnitte (22,9b; 22,10–11; 22,12; 22,13) zu beziehen. 22,9 hingegen spricht von nur „drei“ Höhlen. Zwar könnte man erwägen, die beiden Zählungen in 22,2 und 22,9 unterschiedlichen Händen zuzuweisen und anzunehmen, dass ursprünglich nur von drei Höhlen die Rede war, die sekundär 28
FREIHERR VON GALL, ſƝƯƥƧơƛƝ, 341. WACKER, Weltordnung, 110–131; rezipiert von NICKELSBURG, 1 Enoch I, 303. 30 Dies bemerkt auch WACKER, Weltordnung, 187. 31 Dies bemerkt auch WACKER, Weltordnung, 189. 29
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zu vier Höhlen erweitert wurden. Aber die Parallelität der vier Beschreibungen spricht gegen eine sukzessive Entstehung. Daher hat M.-T. Wacker wohl zu Recht vermutet, ein späterer Kopist habe die „vier“ in 22,2 erwähnten Höhlen in der folgenden Beschreibung derselben nur abweichend angesetzt; er habe dem in 22,5–7 klagenden Abel schon eine eigene Höhle zugewiesen, nach deren Abzug die Zahl der noch zu beschreibenden Höhlen in 22,9 von ursprünglich „vier“ auf „drei“ reduziert und die Abgrenzungen derselben abweichend (etwa 22,9b; 22,10f; 22,12f) angesetzt.32 Aber im Grunde kommt es im Kontext der aktuellen Frage nach der Entstehung der Erwartung einer Auferstehung der Toten nicht auf literarkritische Feinheiten an. Vielmehr soll dieser literarkritische Exkurs nur helfen, kleinere Spannungen im Text zu erklären. Worauf es hier vielmehr ankommt, ist erstens, dass die „Geschichte der Toten“ in äthHen 22 über deren Einbeziehung in das Jüngste Gericht erstmals mit der „Geschichte der Lebenden“ verknüpft wird; zweitens als Konsequenz aus der Verschmelzung der beiden „Geschichten“, dass die traditionelle Scheol als „Endlager“ aller Toten zumindest für einen Teil derselben zu einem „Zwischenlager“ bis zu deren Auferweckung am Jüngsten Gericht mutiert; und drittens die Einführung eines impliziten Vorgerichts beim Eintritt in das Reich des Todes als Voraussetzung für die vierte neue Vorstellung einer Vorsortierung der Toten in Höhlen für das kommende Weltgericht. Der Schlüssel zur Verteilung der Toten auf vier Höhlen ist nicht leicht zu durchschauen. Denn in ihrer Beschreibung überlagern sich, wie Wacker treffend erkannt hat, zwei Systeme. Einerseits werden die Höhlen c und e mit der Wendung „und diese ist abgetrennt“, Höhlen d und f hingegen mit der Wendung „und diese ist … gemacht“ paarweise eingeführt, was nahelegt, die Höhlen c und e einerseits sowie die Höhlen d und f andererseits paarweise zusammen zu betrachten und – da Höhle c explizit für die Gerechten reserviert ist – auch die Ermordeten in Höhle e als Gerechte zu interpretieren. Andererseits wird Höhle c durch ihre Helligkeit und eine Wasserquelle, die den Durst der Toten stillt und an die elysischen Gärten erinnert, von den übrigen drei Höhlen abgehoben, was nahelegt, auch die Ermordeten in Höhle e gemeinsam mit den Sündern der Höhlen d und f als Sünder zu werten. Doch hat Wacker unter Hinweis auf Ez 32 überzeugend gezeigt, dass Ermordeten ein eigener Status unter den Toten zugewiesen wurde33, was in der vorliegenden Vision ihre scheinbare Zuordnung zu beiden Gruppen zugleich erklärt. Dann ist Höhle c für die anerkannten Gerechten reserviert (22,9b). Höhle d dient zur Aufbewahrung der noch unbestraften Sünder (22,10f),
32 33
WACKER, Weltordnung, 103–110; rezipiert von NICKELSBURG, 1 Enoch I, 307. WACKER, Weltordnung, 180–190.
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Höhle e für (ungesühnte) Ermordete, die im kommenden Gericht als Kläger und Zeugen auftreten werden (22,12), um freigesprochen oder verurteilt zu werden, und schließlich Höhle f für schon zu Lebzeiten bestrafte Sünder (22,13). „abgetrennt“
c Gerechte
e ungesühnte, klagende Ermordete
„gemacht“
d noch nicht gerichtete Sünder
f schon gerichtete Sünder
Ob die Gerechten von Höhle c auferweckt werden, wird nicht gesagt34 und kann auch nicht unter Berufung auf (nicht nachgewiesene) ältere Traditionen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielleicht erschöpft sich das Glück der Gerechten darin, in einer hellen Höhle mit einer erfrischenden Wasserquelle ruhen zu dürfen. Sicher wird die Auferweckung nämlich nur der zweiten und dritten Gruppe, den bislang unbestraften Sündern d einerseits und den ungesühnt Ermordeten e andererseits, zugesprochen. Dagegen werden die schon zu Lebzeiten bestraften Sünder der Gruppe f ausdrücklich nicht mehr auferweckt: Nur die zweite und dritte Gruppe der Toten wird zum Gericht auferweckt, weil die Rechnung der bislang unbestraften Täter d noch offen ist und die Gleichung von Tun und Ergehen im Fall der Getöteten e durch deren gewaltsamen Tod vorzeitig abgebrochen wurde und darum ebenfalls noch einer Lösung harrt.35 Demnach geht dieses früheste explizite Zeugnis für die Erwartung einer Auferweckung von Toten zum Jüngsten Gericht nur von einer partiellen Auferweckung bestimmter Gruppen von Toten aus. Doch geschieht die Selektion zwischen „aufzuerweckenden“ oder „nicht aufzuerweckenden“ Toten noch nicht nach moralischen Kategorien wie „Fromme“ oder „Sünder“. Vielmehr werden nur zwei besondere Gruppen von Toten auferweckt: (ungesühnt) ermordete Sünder einerseits, weil sie als Kläger und Zeugen auftreten werden, und Sünder andererseits, die zu Lebzeiten ihrer gerechten Strafe entkommen sind. Demnach geht es der Vision der partiellen Auferweckung der Toten allein um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in jenen Fällen, in denen der Zusammenhang von Tun und Ergehen zu Lebzeiten noch zu keinem Ausgleich gekommen war, und so endet dieses erste Zeugnis für eine Erwartung einer Auferweckung von Toten sinnig und
34 PUECH, Croyance I, 112 verweist für deren Schicksal zwar auf äthHen 25,3–7, wo den Gerechten am Tag des Gerichts der Baum des Lebens übergeben wird, doch erstens sind unterschiedliche Texte aus äthHen aus exegetisch-methodischen Gründen prinzipiell nicht kombinierbar, denn sie könnten auch unterschiedliche, unausgeglichene Vorstellungen bezeugen; und zweitens wird in 25,3–7 nicht gesagt, ob es sich bei den dort genannten Gerechten um zuvor verstorbene oder nur um zu jenem Zeitpunkt noch lebende handelt. 35 WACKER, Weltordnung, 178–233.
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stimmig in 22,14 mit einem Loblied auf Gott als „Herrscher in Gerechtigkeit“. Das zweite Zeugnis für die Erwartung einer Auferweckung von Toten stammt erst aus der Zeit des Makkabäeraufstandes gegen Antiochus IV. Epiphanes und findet sich in Dan 12,1–4, wo die Vision des anbrechenden Gottesreiches (unter Rückgriff auf Jes 4,3; 26,19; 66,24) ausgezogen wird bis zur Auferstehung der Toten: „1 In jener Zeit tritt Michael auf, der große Engelfürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Dann kommt eine Zeit der Not, wie noch keine da war, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Doch dein Volk wird in jener Zeit gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet gefunden wird. 2 Und viele von jenen, die im Land des Staubes schlafen, werden erwachen (ɈəɌɚɌ ɛɗɕȽɝɑɆɃ ɌɓɜɌɑ ɐɌɄɛɈ), die einen zum ewigen Leben (ɐɏɈɕ ɌɌɊɏ ɇɏɃ) und die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu (ɐɏɈɕ ɒɈɃɛɆɏ ɝɈɗɛɊɏ ɇɏɃɈ). 3 Die Verständigen werden strahlen, wie das Firmament strahlt; und die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten. 4 Und du, Daniel, halte die Worte geheim, und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes! Viele werden nachforschen, und die Erkenntnis wird groß sein.“
Dabei steht Dan 12 der Vorstellung von äthHen 22 noch sehr nahe. So werden nur viele – nicht alle – auferstehen. Auch verläuft die Grenze zwischen Nichtauferstehenden und Auferstehenden noch nicht entlang der späteren moralischen Linie zwischen Gerechten und Sündern. Schließlich wird innerhalb der Auferstehenden noch einmal unterschieden zwischen jenen, die auferstehen zum ewigen Leben, und jenen, die auferstehen zu ewiger Schmach. Diese doppelte Unterscheidung zwischen Auferstehenden oder Nichtauferstehenden sowie zwischen Auferstehenden zum ewigen Leben oder Auferstehenden zu ewiger Schmach hat in der Forschungsgeschichte zu unterschiedlichen Thesen Anlass gegeben. So wurde die erste Unterscheidung zwischen Nichtauferstehenden und Auferstehenden in früheren Forschungsarbeiten mitunter in Frage gestellt, ɐɌɄɛ „viele“ im Sinne von „nicht nur einzelne, sondern alle“ interpretiert36 und eine Auferstehung aller Toten angenommen37, doch muss diese These angesichts der eindeutig partitiven Formulierung ɐɌɄɛ ɛɗɕȽɝɑɆɃ ɌɓɜɌɑ „viele von jenen, die im Land des Staubes schlafen“38 sowie im Lichte anderer zeitnaher Zeugnisse, die ausnahmslos ebenfalls nur eine partikulare Auferstehung kennen, als abwegig gelten.
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Dass ɐɌɄɛ eine unspezifizierte „Menge“ ohne partitiven Sinn bezeichnen kann, hat JEREMIAS, ƬƫƧƧƫƛ, 536–538 unter Hinweis auf Ps 109,30 zweifelsfrei dargelegt. Die übrigen von Jeremias genannten Belege können den Beweis aber nicht tragen. 37 Für eine allgemeine Auferweckung (gelegentlich unter Verweis auf Mt 26,28 ƬơƭГ ƬƫƧƧҊƩ; Mk 14,24 ϱƬơƭ ƬƫƧƧҊƩ; Röm 5,15 ƫϓ ƬƫƧƧƫГ) votierte – um nur einen prominenten Vertreter zu nennen – seinerzeit VON RAD, Theologie I, 405. 38 Auch die syntaktischen Parallelen für rabbëm + min + menschliche Größe (Est 8,17; Esr 3,12) tragen ausnahmslos partitive Bedeutungen, und die antiken Übersetzungen ॄ, ् und ॐ geben Dan 12,2 ebenfalls ausnahmslos partitiv wieder.
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Auch wurde eine zweite Unterscheidung innerhalb des Lagers der Auferstehenden überhaupt abgelehnt und stattdessen vorgeschlagen, die erste der beiden mit ... ɇɏɃɈ ... ɇ ɏɃ „die einen … und die anderen …“ unterschiedenen Parteien auf die Auferstehenden und die zweite auf die Nichtauferstehenden zu beziehen39, doch handelt es sich in allen syntaktischen Parallelen (Jos 8,22; 2 Sam 2,13; Ps 20,8) stets um Untergruppen innerhalb einer unmittelbar zuvor genannten Gruppe – im vorliegenden Fall also innerhalb der unmittelbar zuvor genannten Gruppe der Auferstehenden. Nur sie kommt als Bezugsgröße für ... ɇɏɃɈ ... ɇɏɃ „die einen … und die anderen …“ in Betracht, doch werden diese in Dan 12,1–4 selbst nicht näher qualifiziert.
Demnach geht auch Dan 12,1–3 von einer partiellen Auferweckung der Toten mit einem anschließenden Gericht aus und setzt die zugrunde liegende Logik der Selektion stillschweigend als bekannt voraus. Daher legt es sich nahe, Dan 12 auf dem Hintergrund von äthHen 22 als einzigem zuvor belegtem Zeugnis zur Erwartung einer partiellen Auferstehung mit anschließendem Gericht zwischen zwei Unterguppen an Auferstehenden zu interpretieren. Dann greift Dan 12 in der prekären Situation des Makkabäeraufstandes auf die in äthHen 22 erstmals bezeugte Option einer partiellen Auferweckung der Toten zurück, einer Auferweckung der Opfer einerseits (zu neuem Leben) und der zu Lebzeiten noch unbestraften Täter andererseits (zur Strafe) – einer Auferweckung nur dieser beiden Gruppen, damit der Täter nicht über sein Opfer triumphiere, und das offenkundige Ringen um das Schicksal der Toten erweist sich erneut als eine Funktion der Theodizee. Und in diese Tradition einer partiellen Auferweckung der Toten, der Opfer, dürfte dann auch das dritte, nicht näher datierbare Zeugnis einzuordnen sein, das sich in einer Fortschreibung der Totenfeldvision von Ez 37 findet. Denn während sich deren Grundschicht auf eine Renaissance des Volkes bezogen hatte, setzt mit 37,7ab.8e–10b eine Nachbearbeitung ein, die sich von der Grundschicht – neben anderen, stilistischen Kriterien – insofern abhebt, als sie die Vision der Auferweckung der Toten nicht mehr auf das gesamte Volk bezieht, sondern in 37,9g auf ɐɌɅɈɛɇɇ „die Erschlagenen“ des Volkes fokussiert.
3. Die Auferweckung (nur) der Gerechten Die zweite Generation von Texten, die eine Hoffnung auf Auferweckung von Toten bekunden, verschiebt die Grenze zwischen Nichtaufzuerweckenden und Aufzuerweckenden und setzt die Nichtaufzuerweckenden pauschal mit den Frevlern und die Aufzuerweckenden pauschal mit den Frommen
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So zuletzt wieder PUECH, Croyance I, 79–85 und HAAG, Daniel 12, 133.136f.
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gleich40, was auf eine entscheidende Vereinfachung der Erwartung einer partiellen Auferstehung der Toten hinausläuft. Ob sich der redaktionelle Zusatz Jes 26,19 noch auf ein politisches Wiedererstehen des Volkes oder schon auf eine Auferweckung von Toten im gesuchten Sinn bezieht, entzieht sich noch immer dem Konsens der exegetischen Forschung. Jes 24–27 setzt mit einer Ansage kommenden Unheils über das „Land“ und den „Erdkreis“ ein (24,1–3.13.16c–23), die in der Ankündigung der Thronbesteigung JHWHs (24,23cd), eines Festmahles für die Völker (25,6f.8b–d) und des Gerichts über Moab (25,10b–11) einen qualitativen Umschlag in eine Heilsansage findet und in die Aufforderung an das Volk mündet, sich in seinen Kammern zu verbergen, bis Gottes Zorn vorüber (26,20–21) und selbst Leviathan getötet ist (27,1) und – erzählchronologisch verspätet – die Versprengten Israels heimgeführt werden (27,12f). Dieser chronologisch in sich – relativ – stimmigen Narratio werden auf einer zweiten Ebene zwei vorwegnehmende Rückblicke auf die Verheerung der Erde (24,4–12) und der Stadt (27,10f) eingespielt. Überlagert wird die Darstellung auf einer dritten Ebene von einem Chor der Völker (24,14–16b), der von Ferne schon vor dem Umschlag in die Heilsverkündigung mit einem Gotteslob einsetzt. Dieses wird mit Ankündigungen zweier Lieder der Gemeinde (25,9–10a; 26,1–6) fortgeführt, denen schließlich die Ankündigung eines Liebesliedes JHWHs auf seinen in Jes 5 einst verworfenen Weinberg (27,2–6) korrespondiert. Schließlich sind der mehrstimmigen Komposition ein Gebet eines Geretteten (25,1–5), der auf die Zerstörung der Stadt zurückblickt, sowie ein Gebet der Gemeinde (26,7–18) eingefügt, das nach einer weisheitstheologischen Einleitung (26,7) durch sechs Anreden an JHWH in sechs Abschnitte ungleicher Länge (26,8–10; 26,11; 26,12; 26,13f; 26,15; 26,16– 18) gegliedert ist. Diese blicken auf JHWHs „Lektion“ an seinen Gegnern zurück. Ihnen zufolge lernen die Bewohner des Erdkreises nur durch seine Zurechtweisungen (26,8–10), sie werden Gottes Liebe zu seinem Volk erkennen (26,11), denn er wird ihm Frieden schenken (26,12). Sein Volk wird noch von anderen Herren beherrscht, will aber nur seinen Namen rühmen (26,13), denn er hat sein Volk vermehrt und die Grenzen seines Landes erweitert (26,15). So blicken die Beter auf frühere Hilferufe und ihre eigene Hilflosigkeit zurück (26,16–18). Diese Collage unterschiedlicher Stimmen weist an drei Stellen Ausführungen zur Beseitigung des Todes (25,8a) und zum Schicksal der Toten (26,14 und 26,19) auf.
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Damit dokumentieren die folgenden Quellen eine Position, die Flavius Josephus (Flav.Jos.Bell. II 163; Ant. XVIII 14) den Pharisäern zuschreibt.
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Verschlungen hat er den Tod für immer. (Jes 25,8a)
Die erste Aussage zur Beseitigung des Todes ist als punktueller Zusatz zu werten. Denn während sich die Ankündigung des Festmahles der Völker im Kontext mit den Satzformen x-qiqtol und we-qatal-x auf ein künftiges Ereignis beziehen, ist die Aussage der Beseitigung des Todes mit der Satzform qatal-x in explikativer Asyndese als individueller Sachverhalt der Vergangenheit formuliert und daher schon aus rein syntaktischen Gründen als Zusatz zu betrachten. Tote leben nicht, und Totengeister stehen nicht auf. (Jes 26,14)
Die zweite Bemerkung ist im Anschluss an die unmittelbar zuvor (26,13) genannten ɍɝɏɈɉ ɐɌɓɆɃ „anderen Herren als du“ als Verheißung zu deren Ausschaltung zu interpretieren. Sie werden als ɐɌɝɑ „Tote“ und ɐɌɃɗɛ „Totengeister“ tituliert, die – nach konventioneller Vorstellung – nicht auferstehen, was im Blick auf die Entwicklung der individuellen Eschatologie keine Probleme bereitet. Leben werden deine Toten, meine Leichen41 auferstehn. Erwachet und jubelt, Bewohner des Staubes! Denn Tau von Lichtern ist dein Tau, und (die) Erde wird Refaim gebären42. (Jes 26,19)
Doch löst die dritte Bemerkung in ihrem Kontext wieder literarkritische Spannungen aus. Denn während das Gebet bislang von der Gemeinde (1. Pl.) gesprochen wurde, wechselt der Sprecher in der Ansage der Auferstehung der Toten in 26,19ab ɒɈɑɈɚɌ ɌɝɏɄɓ ɍɌɝɑ ɈɌɊɌ „Leben werden deine Toten, meine Leichen auferstehen“ unvermittelt zu JHWH. Demnach ist 26,19 als göttliche Antwort zu lesen. Diese aber findet in 26,20 eine Dopplung, welche dem Gebet der Gemeinde wesentlich besser korrespondiert. Daher ist auch 26,19 als ein Zusatz zu werten, der die Aussage über die Ausschaltung der Feinde von 26,14 fast wörtlich aufgreift und im Blick auf JHWHs Tote in ihr Gegenteil verkehrt.43
41
Dass ॄ ƩƝƯưВƯƫƩưƝƥ ƫϓ ƩơƦƭƫД ƦƝГ βƟơƭƤВƯƫƩưƝƥ ƫϓ βƩ ưƫѭƮ ƨƩƣƨơДƫƥƮ die beiden Subjekte ohne Personalpronomina nennt, ist als lectio facilior zu werten und stellt die Priorität der hebräischen Lesart nicht in Frage. 42 Der Vergleich zwischen Geburt und Auferstehung kehrt in 4 Esr 40–42 sowie in der rabbinischen Literatur (bBer 15b; bSanh 90b–91a) wieder. 43 KELLERMANN, Gotteslob, 5–7 fasst die wichtigsten literarkritischen Argumente noch einmal zusammen.
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Zwar ließe sich im Anschluss an Hos 6 und Ez 37 auch diese Aussage noch einmal als Sammlung und Wiederbelebung des versprengten Volkes interpretieren, wofür nicht zuletzt der Makrotext (insbesondere 26,16–18) spricht44, doch ist auch die Ansage einer künftigen Auferweckung von Toten nicht mehr gänzlich auszuschließen45. Dann aber würde die Rede von „deinen Toten/meinen Leichen“ keine allgemeine Auferstehung, sondern nur eine partielle Auferstehung implizieren.46 Dies aber können dann schwerlich die in äthHen 22 anvisierten ungerichteten Täter, sondern – in aller Vorsicht gesprochen – nur Gott besonders nahestehende Menschen sein, wofür wiederum im Blick auf den unmittelbar vorangegangenen Kontext zuerst an Gottes Volk zu denken ist. Sicher wird die weichenstellende Akzentverschiebung erst im frühen 2. Jh. v.Chr. in TestXII greifbar (TestSim 6,5–7; TestJud 25; TestSeb 10), wo der Kreis der Aufzuerweckenden explizit neu umschrieben wird. Denn aufzuerwecken sind nun nicht mehr die Opfer sowie die zu Lebzeiten noch unbestraften Täter. Auferweckt werden vielmehr die Gerechten, die – wie das Beispiel der zwölf Patriarchen zeigt – keineswegs mehr als Opfer aus dem Leben geschieden sein müssen.47 Nach der „Tiervision“ des äthiopischen Henochbuches (äthHen 85–90), deren Grundstock während des Makkabäeraufstandes 167–164 v.Chr. entstand, wird am Höhepunkt der Bedrängnisse im ersten Akt des Gerichts ein Thron errichtet, die versiegelten Bücher werden geöffnet, die Sterne und Hirten gerichtet und in ein Feuertal südlich des Tempelberges aufgeworfen (90,24–27). Danach werden in einem zweiten Akt (nur) „alle Umgekommenen und Zerstreuten“ auferweckt, um in die endzeitliche Schau des Heils einbezogen zu werden (90,31–35). So geht die „Tiervision“ nur von einer Auferweckung der Märtyrer aus. Die übrigen, ungerechten Verstorbenen aber bleiben ausgeblendet. Auch 2 Makk 7, zwischen 164 und 121 v.Chr. verfasst, gehört dieser Beleggruppe an.48 Am Höhepunkt der Repressionen erleidet ein Sohn nach dem anderen das Martyrium, wobei der zweite (7,9), dritte (7,10f) und
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Für eine Renaissance des Volkes argumentieren – um nur zwei von vielen Autoren zu nennen – JOHNSON, Chaos, 80f und CHESTER, Messiah, 134f. 45 Für eine individuelle Auferweckung der Toten argumentierten zuletzt wieder SCHOLL, Die Elenden, 141–145 und KELLERMANN, Gotteslob, 6f. Wie fragwürdig, weil anachronistisch eine säuberliche Trennung zwischen beiden Lesarten ist, zeigt BEUKEN, Deine Toten, 139–152. 46 LABAHN, Deine Toten, 61 formuliert vage offen: „Die Erwartung der Revivikation trifft nicht auf alle Toten zu, sondern nur für diejenigen, die zu Jahwe gehören (vgl. ‚deine Toten‘, ɍɌɝɑ).“ 47 HULTGÅRD, L’éschatologie. 48 KELLERMANN, Auferstanden.
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vierte (7,14) seine Leidensbereitschaft mit seiner Hoffnung auf Auferweckung begründet. Dabei gibt der dritte mit seiner Hoffnung auf Restitution seiner herausgeschnittenen Zunge zu erkennen, wie konkret die Hoffnung auf Auferweckung vorgestellt war (ebenso 14,46), und der vierte legt mit seiner Antwort an den König „Für dich aber gibt es keine Auferstehung zum Leben“ nahe, dass entweder nur eine partielle Auferweckung zumindest der Märtyrer (oder aller Gerechter?) vorausgesetzt war oder die Auferweckung – falls doch bereits an eine allgemeine Auferweckung gedacht war – dem König nicht zum Leben gereichen werde. Möglicherweise – aber nicht eindeutig – hier einzuordnen sind auch drei Zeugnisse aus Qumran, die von einer Auferweckung von Toten sprechen.49 1QH XIV 29f verkündet, dass Gottes Schwert zur Zeit des Gerichts eilen wird, ɇɕɜɛ [ɌɓɄ] ɐɝɇɏ ɈɛɈɌ Ɍɝ[ɑ]Ƀ ɌɓɄ ɏɈɎɈ „und alle Söhne seiner Wa[hr]heit erwachen, um ein Ende zu bereiten [den Söhnen des] Frevels“, und 14,34 fährt fort: ɒɛɝ ɈɑɌɛɇ ɛɗɕ ɌɄɎɈɜɈ ɔɓ ɈɃɜɓ ɐɌɝɑ ɝɕɏɈɝɈ „Und die im Staube ruhen erheben das Panier, und die Würmer der Toten richten die Signalstange auf“. Demnach verheißt er keine Auferstehung von Toten zum Gericht, sondern ein Aufgebot zum letzten Kampf gegen die Söhne des Frevels. Sollte damit tatsächlich an eine Auferstehung Verstorbener und nicht nur an einen Aufbruch der Söhne der Wahrheit gedacht sein, wäre auf jeden Fall nur eine Auferstehung von Frommen im Blick. 4Q385–388 aus späthasmonäisch-frühherodianischer Zeit bietet eine freie Wiedergabe von Ez 37 und verkündet, dass ɐɌɜɓɃ Ʉɛ ɐɕ Ɇ[ɑ]ɕɌ[Ɉ] „eine große Menge von Menschen aufersteht“ (Frag. 2, Z. 8), was sich, wie in Ez 37, auf eine nationale Renaissance, aber auch auf eine partikulare Auferstehung von Toten beziehen kann. Deutlicher ist allein 4Q521 aus dem frühen 1. Jh. v.Chr. mit der auf Gott gerichteten Hoffung, ɛɜɄɌ ɐɌɈɓɕ ɇɌɊɌ ɐɌɝɑɈ ɑɌɏɏɊ ɃɗɛɌ [ɌɎ] „dass er heile Durchbohrte und Tote belebe und Armen Frohbotschaft verkünde“ (Frag. 2, Sp. II, Z. 12), und der Rede vom Retter, Ɉɑɕ Ɍɝɑ ɇɌɊɑɇ „der belebt die Toten seines Volkes“ (Frag. 7, Z. 6), was eine partielle Auferweckung impliziert, wobei Gottes Volk – wie insbesondere späte Fortschreibungen in Prophetenbüchern lehren – im essenischen Horizont nicht über eine jüdische Abstammung, sondern über Kriterien der Lebensführung definiert wird.
Ebenfalls (nur) eine Auferweckung der Gerechten lehrt das „Buch der Traumvisionen“ (äthHen 83,1–91,10) in seiner redaktionellen Rahmung (äthHen 83f; 91,1–10) der älteren „Tiervision“ (äthHen 85–90). Diese hatte – wie oben bemerkt – das Schicksal der Toten im Jüngsten Gericht noch unbeachtet gelassen. Aber die redaktionelle Rahmung holt im 1. Jh. v.Chr. das Versäumte nach und betont, dass am Jüngsten Gericht nach der Vernichtung der Frevler (nur) die Gerechten von ihrem Schlaf auferweckt werden (91,8–10).
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Während PUECH, Croyance II, die folgenden Texte entschieden im Sinne einer Auferstehung von Toten interpretiert, urteilt LICHTENBERGER, Auferstehung, 79–91 zurückhaltend differenziert. Siehe auch CHESTER, Messiah, 152–156.
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Ebenso lehrt das „Paränetische Buch“ (äthHen 92–105) in seiner redaktionellen Rahmung (92; 93,11–105,2) der gleichfalls älteren „Zehn-WochenApokalypse“ (Wochen I–VII: 93,1–10; Wochen VIII–X: 91,11–17). Auch diese hatte das Schicksal der Toten im Jüngsten Gericht noch unbeachtet gelassen. Und auch diesmal trägt die redaktionelle Rahmung im 1. Jh. v.Chr. das Versäumte nach und notiert, dass die Gerechten am Jüngsten Tag von ihrem Schlaf auferstehen, um in ewigem Licht zu wandeln (92,2– 4), dass sie leben werden (103,1–4) und ihnen das „Tor des Himmels“ geöffnet wird (104,1–6), wobei allerdings offen bleibt, ob hierbei an einen Aufstieg zu Gott (wie Weish; äthHen 37–71; 4 Makk) oder an eine körperliche Auferstehung im Sinne der hier vorliegenden Belegreihe (insbesondere 2 Makk 7,10f) gedacht ist. Mit der Evakuierung der Gerechten aus der Scheol (äth. Si’ol) aber mutiert diese zur Feuerhölle (100,7–9; 103,7f), in der die Sünder getötet werden (99,11). Als letztes Beispiel für die explizite Erwartung einer partiellen Auferstehung seien schließlich PsSal genannt, eine Sammlung von 18 Dichtungen möglicherweise aus verschiedenen Händen, deren Abfassung zwischen 63 und 30 v.Chr. angesetzt werden kann. Dabei handelt es sich um Erbauungsliteratur zu Trost und Ermahnung. Sie kreisen um Gottes Gerechtigkeit und bemühen sich um Theodizee: Gott will die Gerechten durch Leiden läutern und züchtigen. Das Jüngstes Gericht aber soll die volle Rehabilitierung der Gerechten und Verurteilung der Sünder bringen. Dabei geht PsSal 3,10–12 davon aus, dass Gottesfürchtige zu einem ewigen Leben auferweckt werden, Sünder aber nicht (vgl. auch 14,9).50
4. Die Auferweckung aller Toten Alle bislang zitierten Belege zeigen sich stets nur am Geschick einzelner Gruppen – vor allem der Gerechten – interessiert.51 Doch konnte das Schicksal der Übrigen nicht auf Dauer ausgeblendet bleiben. Vielmehr lag der Schritt von einer partiellen zu einer allgemeinen Auferweckung aller Toten zu einem zwischen Gerechten und Frevlern scheidenden Gericht auf der
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Weitere, hier nicht erörterte Belege aus der Zeitenwende zur Erwartung einer partiellen Auferweckung Israels oder der Gerechten finden sich in AssMos 10,9f und ApkMos 13,3–5; 41,1–3. 51 Ein eindeutige Abgrenzung der letztgenannten Belegreihe von der folgenden Belegreihe ist nicht in jedem Einzelfall möglich. Denn während ein Teil der Belege eine Auferstehung der Frevler explizit ausschließt (Beispiel: 2 Makk 7), ist ein anderer Teil der Belege so ausschließlich am Schicksal der Gerechten interessiert, dass das Schicksal der Frevler außerhalb ihres Gesichtskreises bleibt, ohne dass deren Auferweckung ausgeschlossen würde (Beispiel: TestXII).
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Hand. Und doch ist es schwierig, genau zu bestimmen, wann, in welchem Text und in welchem kulturellen Horizont dieser Schritt zum ersten Mal vollzogen wurde. Die beiden einzigen Zeugnisse einer Erwartung einer allgemeinen Auferweckung der Toten, die noch vor der Zeitenwende entstanden sein könnten, sind in TestBenj 10 und äthHen 51 zu suchen. Doch handelt es sich in beiden Fällen um redaktionelle Zusätze, die jünger als ihre Kontexte sind, aber nicht genauer datiert werden können. So gehört TestBenj zwar zu den TestXII, die nur eine partielle Auferstehung der Gerechten vertreten. Doch findet sich in TestBenj 10,6–8 ein einzelner, punktueller, klarer Beleg für eine Erwartung einer allgemeinen Auferstehung: „10,6 Dann werdet ihr sehen Henoch, Noah und Sem und Abraham und Isaak und Jakob auferstehen zur Rechten mit Jubel. 7 Dann werden auch wir auferstehen, jeder zu seinem Stamm, und wir werden anbeten den König der Himmel. 8 Dann werden auch alle auferstehen, die einen zur Herrlichkeit, die anderen zur Entehrung. Und der Herr wird Israel als erstes richten wegen der Ungerechtigkeit, die sie vollbrachten. 9 Und dann wird er alle Völker richten.“52
Allerdings ist in Vers 8 der entscheidende Satz „Dann werden auch alle auferstehen, die einen zur Herrlichkeit, die anderen zur Entehrung“ vermutlich als Zusatz zu werten. Erstens steht er in sachlicher Spannung zu den anders gelagerten eschatologischen Erwartungen des Kontextes der TestXII, und zweitens bilden die Anfänge der Verse 7 und 8 eine Dopplung. Vermutlich wurde der Satz mit seinem entscheidenden Bekenntnis zur allgemeinen Auferstehung in Anklang zu Dan 12,2 erst sekundär zugefügt, ohne dass wir diese Zufügung noch näher datieren könnten. ÄthHen 51 ist im Kontext der „Bilderreden“ (äthHen 37–71) überliefert, denen zufolge die Gerechten im Tod nicht gemeinsam mit den Frevlern in die Scheol hinabsteigen, sondern sogleich in den „Garten der Gerechten“ aufgenommen werden, der „am Rand des Himmels“ lokalisiert wird, wo sie in Gemeinschaft der Heiligen und des Auserwählten auf die kommende Wende zum Heil warten. Nur äthHen 51 durchbricht dieses Konzept mit einer ganz anderen Vorstellung, weshalb diese Einheit als Einschub gewertet wird. Denn nur sie geht davon aus, dass die „Gerechten und Heiligen“ gemeinsam mit allen anderen Toten in der Scheol lagern und im Jüngsten Gericht freigegeben werden, um von dem Auserwählten gerichtet zu werden. Dann aber bleiben als früheste noch relativ genau datierbare Zeugnisse für die explizite Erwartung einer allgemeinen Auferweckung der Toten erst
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Übersetzung BECKER, Testamente, 136f.
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1 Kor 15,12–2853 und die nur wenig jüngeren Zeugnisse Apg 24,10–15 und Offb 20,13–15 sowie Sib 4,175–192 und – nicht näher datierbar – eine vage Andeutung in Pseudo-Phokylides 103f.54
5. Rückblick und Ausblick Zwischen Ps 88 und 1 Kor 15 lag ein langer Weg des Ringens und Reflektierens, auf dem unterschiedliche Vorstellungen vom Schicksal der Verstorbenen jenseits der Todesschwelle ausformuliert wurden. Während frühe Texte wie Ps 88 oder Jes 38 davon ausgingen, dass, wer die Welt der Lebenden verließ, um in das Reich der Toten hinabzusteigen, JHWHs segnender Macht entzogen sei, zeugen Texte wie Jes 53, Ps 73 oder 49 von einem Vertrauen, jenseits der Todesschwelle von Gott aufgenommen zu werden, und die jüngsten Texte wie 1 Kor 15 oder Apg 24 verkünden eine Auferweckung aller Toten. Dabei gibt die Mehrzahl der Texte keine in allen Details durchreflektierten Jenseitsvorstellungen zu erkennen. Vielmehr verharren sie in verhaltenen Andeutungen ihrer Optionen, und vermutlich liegen ihnen zumeist auch keine systematisch durchdeklinierten Jenseitsvorstellungen zugrunde. Vielmehr entwickeln sie situativ Theologie, was das zuweilen irritierende Nebeneinander unterschiedlicher Kozeptionen in Werken einzelner Autoren erklärt. So bewegt sich Lukas gelegentlich im erstgenannten Modell einer unmittelbaren Entrückung der Gerechten in himmlische Regionen, etwa wenn er ansagen lässt, Kaparnaum werde nicht in den Himmel aufgenommen, sondern in die Unterwelt (РƠƣƮ) verworfen (Lk 10,15 // Mt 11,23), oder wenn er einen Armen in seinem Tod von Engeln in Abrahams Schoß tragen, einen Reiche hingegen in der Unterwelt (РƠƣƮ) qualvolle Schmerzen leiden (16,19–31) oder Jesus einem neben ihm Gekreuzigten verheißen lässt, er werde noch heute mit ihm im Paradiese (βƩ ưҋ ƬƝƭƝƠơƛƯ҈) sein (23,43). Doch kann er in Apg 24,10–15 andererseits als einer der ersten Zeugen zugleich das vierte Modell einer Auferweckung aller Toten verkünden. Oder Paulus kann in Phil 1,21–24 im ersten Modell einer Entrückung im Todesmoment, in 1 Thess 4,13–18 im dritten Modell einer partiellen Auferstehung und in 1 Kor 15,12–28 im vierten Modell einer allgemeinen Auferstehung argumentieren.
Zwar hat es nicht an Versuchen gefehlt, in der Vielfalt der Vorstellungen ein System zu erkennen oder die Vielzahl der Texte zumindest nach unter-
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GIELEN, Totenauferweckung. Andere zwischen den beiden jüdischen Aufständen (70–132 n.Chr.) verfasste Schriften gehen bereits selbstverständlich von einer allgemeinen Auferweckung aller Toten voraus: LAB 3,10; 4 Esr 7,32; syrBar 50,2–4. 54
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schiedlichen Konzeptionen von Leib und Seele zu gruppieren, doch reichen diese Versuche nicht weit. Denn meist spielt das Verhältnis von Leib und Seele keine Rolle, und die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele scheint vielfach eher von der Lektüre von Platons Traktaten Phaidon und Phaidros an biblische und außerbiblische frühjüdische Texte herangetragen worden zu sein. Auch wurde die Wandlung der Jenseitsvorstellungen wiederholt auf zoroastrische oder hellenistische Einflüsse zurückgeführt. Zwar können solche Vorgaben durchaus stimulierend gewesen sein, doch wird aus fremden Symbolsystemen nur aufgenommen, was im eigenen Symbolsystem sinnvoll integriert werden kann. Wesentlich prägender als äußere Einflüsse oder – durch sie angeregte – anthropologische Fragen nach dem Verhältnis von Seele und Leib war vielmehr das insbesondere in frühen, weichenstellenden Texten wie Jes 53, Ps 73, Ps 49 oder äthHen 22 greifbare Verlangen nach Gerechtigkeit für die Leidenden, die Opfer der Geschichte. Von ihm aus lässt sich die Entwicklung der Auferstehungshoffnungen in einem alttestamentlich-frühjüdischen Denkprozess erklären, und das Ringen um Gottes Gerechtigkeit angesichts unschuldig Leidender erweist sich als grundlegende Option und Theologie treibende Kraft, die in vier großen Schritten zur sukzessiven Ausformulierung der Erwartung einer Auferweckung aller Toten geführt hat.
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JHWH und die Toten Zur Geschichte des Todes im Alten Israel BERND JANOWSKI
JHWH und die Toten – ist das überhaupt ein Problem, das der wissenschaftlichen Erörterung bedarf?1 Ist der Gott Israels denn nicht ein „Gott des Lebens“, der auch den Toten nahe ist, ja der den Tod sogar „für immer verschlungen“ (Jes 25,8) hat? Wer sich mit dem Alten Testament nur beiläufig beschäftigt, wird diese Frage vielleicht bejahen und im übrigen auf bestimmte Spätzeittexte2 hinweisen können, die dieses Urteil stützen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Frage aber als ein Problemknäuel, das zu entwirren ist, wenn man die Geschichte des Todes im Alten Israel rekonstruieren will. Wenn wir uns dieser Aufgabe religions- und theologiegeschichtlich nähern, so ist es hilfreich, sich vorab den Unterschied vor Augen zu führen, der in Bezug auf die Leben/Tod-Problematik zwischen Israel und seiner altorientalischen Umwelt besteht. Dieser Unterschied besteht darin, dass der Gott Israels ein Gott des Lebens ist, das er den Seinen im Diesseits zuwendet und das dem Tod(esbereich) diametral entgegengesetzt ist.3 Erst nach und nach wird der Tod entmachtet und in JHWHs Kompetenzbereich integriert, ja schließlich überwunden und „vernichtet“. Bevor wir uns diesem Sachverhalt zuwenden, müssen wir kurz auf die Wendung vom „Gott des Lebens“ eingehen, weil sie in der bisherigen Forschung meistens in einer Weise verstanden wurde, die die Probleme eher verdeckt als gelöst hat.
I. Der „Gott des Lebens“ und der Tod In der langen Geschichte des alttestamentlichen Gottesglaubens war JHWH nie ein Gott des Todes oder gar ein Totengott wie der mesopotamische
1 In erweiterter Form finden sich die folgenden Überlegungen in JANOWSKI, Gott Israels und die Toten. 2 S. dazu unten 465ff. 3 S. dazu LEUENBERGER, „Deine Gnade“.
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Bernd Janowski
Nergal, der ägyptische Osiris oder der ugaritische Motu, sondern immer ein „Gott des Lebens“ (Dtn 5,26; 1 Sam 17,26.36; Jer 10,10; 23,36),4 auch dann, wenn von ihm bekannt wurde, dass er den Beter vom Tod errettet oder aus der Unterwelt heraufholt. Immer ist es – seit der ‚klassischen‘ Ausformung der Leben/Tod-Problematik in der mittleren Königszeit – „JHWH, der Leben gibt, es bewahrt und in seiner Fülle und Vielfalt fördert: Gott und Leben ‚gehören zuhaufe‘. Dies gilt im polytheistischen Horizont in beide Richtungen: Nicht nur gehört JHWH auf die Seite des Lebens, sondern umgekehrt kommt auch das Leben auf die Seite JHWHs und nicht anderer Götter zu stehen“5. Im JHWH-Glauben besteht daher so etwas wie eine „theologische Asymmetrie von Leben und Tod“ 6. Die Stichhaltigkeit dieses Sachverhalts soll im Folgenden nicht bezweifelt werden – im Gegenteil. Zu fragen ist aber nach dem genaueren Verhältnis von JHWH und den Toten. Wenn nämlich die Macht des Gottes Israels an den Pforten der Unterwelt endet, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Tod in dieser ‚klassischen‘ Sicht des frühen JHWH-Glaubens hat und was sich – um im Bild zu bleiben – hinter den Pforten der Unterwelt für die JHWH-Verehrer/Verehrerinnen auftat: ein „sakrales Vakuum“ oder eine von einer anderen Gottheit beherrschte Region? Ist der Tod also „eine Leerstelle im Horizont des (sei es privaten, sei es offiziellen) JHWH-Glaubens“7 oder spielte er, obwohl JHWH ein „Gott des Lebens“ war, irgendeine, vielleicht sogar zentrale Rolle im religiösen Leben des vorexilischen Israel? In der bisherigen Forschung wurde diese Frage in der Regel folgendermaßen beantwortet: JHWH war ein „Gott des Lebens“, der mit dem Tod nichts zu tun hatte; dieser war für den JHWH-Glauben vielmehr ein „sakrales Vakuum“. H. Gese hat in seinem Aufsatz „Der Tod im Alten Testament“8 denn auch von der „Desakralisierung der Todessphäre“9, also dem „Ausschluss einer eigenständigen Todesmacht neben Gott“10 gesprochen. Und E. Zenger hat dem, von anderen Voraussetzungen her, die These von der „konsequenten Entdivinisierung des Todes“11 an die Seite gestellt, durch die der Boden für die Beziehung JHWH zu den Toten bereitet wurde.
4
Vgl. auch die Wendung „lebendiger Gott“ (Jos 3,10; Hos 2,1; 2 Kön 19,4.16 par. Jes 37,4.17), s. dazu KREUZER, Gott 21ff.259ff und LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 350. 5 LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 349. 6 LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 350. 7 LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 350. 8 GESE, Tod. 9 GESE, Tod, 38. 10 GESE, Tod, 40. 11 ZENGER, Israel, 145; anders jetzt DERS., Mose, 27f.
JHWH und die Toten
449
Diese Position, so eindrücklich sie vorgetragen wird, dürfte der Geschichte des alttestamentlichen Todesverständnisses nicht gerecht werden.12 Aus religions- und sozialgeschichtlicher Sicht sehen die Dinge anders aus, weil die Einstellungen zum Tod, mit F. Braudel gesprochen, Teil der „langen Dauer“ (longue durée) und ihrer Beharrungskräfte sind.13 Hinzu kommt eine inzwischen deutlich veränderte Sicht der Religionsgeschichte Israels und Judas und deshalb (!) auch der Theologie des Alten Testaments, die mit anderen Parametern als dem schlichten Dual ‚Israel versus Kanaan‘ arbeitet und stattdessen von einem komplexen Neben- und Ineinander der religionsgeschichtlichen Abläufe ausgeht.14 In diesem Sinn geht die folgende Skizze von dem Sachverhalt aus, dass JHWH von Haus aus zwar keine chthonischen Aspekte mitbringt, der Tod im Alten Israel deshalb aber nicht einfach „desakralisiert“ oder „entdivinisiert“ wurde und die Totenwelt auch kein „religiöser Leerraum“15 war. Im Gegenteil: Nicht weil der Tod(esbereich) ein „sakrales Vakuum“, sondern weil er durch die Ahnenverehrung und den Totenkult sakral konnotiert war, stellten die auf ihn bezogenen religiösen Praktiken eine große Herausforderung für den JHWH-Glauben dar. Dass Israel diese Herausforderung angenommen hat, war der Grund für die Vitalität des JHWH-Glaubens.
II. Zur Geschichte des Todes im Alten Israel Unsere Skizze zur Geschichte des alttestamentlichen Todesverständnisses beschränkt sich, ungeachtet zahlreicher Verästelungen, Seitenwege und auch Abbrüche, auf die wesentlichen Etappen oder Stufen, die für die Gesamtentwicklung offenbar entscheidend waren. Zur besseren Übersicht sei den folgenden Überlegungen eine Tabelle vorangestellt (s. Übersicht 1), die im weiteren erläutert und ausdifferenziert wird. Während in der linken Spalte die ‚klassische‘ Ausformung der Leben/Tod-Problematik dargestellt ist, enthält die rechte Spalte die wenigen vorexilischen Hinweise auf eine Beziehung zwischen JHWH und den Toten. Ab dem Ende des 7. Jh.s v.Chr. dürfte der Prozess eingesetzt haben, den die neuere Forschung „Kompetenzausweitung JHWHs“ (mittlere Spalte) nennt.
12
S. dazu auch die Kritik von EBERHARDT, JHWH, 3f. S. dazu den programmatischen Aufsatz von BRAUDEL, Geschichte, 52ff. 14 S. dazu JANOWSKI, Theologie, 96ff. 15 SCHROER, Totenweltmythologie 293, s. dazu auch NIEHR, Aspekte des Totengedenkens, 10f. 13
Bernd Janowski
450 Leben / Diesseits
Tod / Jenseits
JHWH als Gott der Lebenden -----------------------------------------Frühe Weisheit (Spr 10ff) „Lebendiger Gott“ (Jos 3,10 u.ö.) Prophetische Texte (Am 5,4ff.14f; Hos 6,1ff u.ö.) 8./7.Jh. Schöpfungstexte (Gen 2,7; 7,15.22 u.ö.) 7./6.Jh. Schwurf. ɇɈɇɌ ɌɊ (Ri 8,19 u.ö.)c) „Gott des Lebens“ (Dtn 5,26 u.ö.) Ikonographie Palästinas/Israels (Lebensbaum, Lebenszeichen)e) PN y̲wŦly,f) ON ɌɃɛ ɌɊɏ ɛɃɄg) u.a.; weitere Belege bis in die Spätzeit
JHWH und die Toten ------------------------------Trauerriten?a) Königlicher Totenkult Könige als Empfänger von Totenopfern (Gräber in Jerusalem?, in Samaria)b) 2 Hebr. Inschriften Gottesschutz auch im Tod/ über den Tod hinaus (̳irbet el-Kčm, Ketef Hinnom) 3 Individualpsalmend) a Errettung vom ‚Tod im Leben‘ (Hos 13,14?, KE/DE, Ps 68,20f?) b JHWHs ‚Weg in die Unterwelt‘ (Spr 15,11?, KE/DE)
0 1
königl. Tote
einzelne Tote Kompetenzausweitung JHWHs
JHWH als Gott der Lebenden und der Toten ------------------------------------------------------ab 587
3 c d
539–333
4
4./3. Jh.
5
2. Jh.
Individualpsalmen Errettung vom ‚Tod im Leben‘ (KE/DE) JHWHs ‚Weg in die Unterwelt‘ (KE/DE, Ijob 26,5f?) Weisheitstexte ‚Ewiges Leben‘/Unsterblichkeit (der Gottesbeziehung) (Ijob 19,25ff; Ps 49,15f?; 63,4; 73,23ff) Skepsis: Koh 3,19ff; 9,4ff (3. Jh.) Apokalyptische Texte Auferstehung der Toten/vom Tod (Ez 37,1ff; Jes 25,8; 26,19; Ps 22,28ff u.ö.; Dan 12,2f.13)
Gerechte d. Gottesvolks
Übersicht 1: Zur Geschichte des Todes im Alten Israel16
16
Erläuterung zur Übersicht 1: a) Zu der Frage, ob hierher auch die Entrückungs- und Totenerweckungsaussagen der Elia-Elisa-Erzählungen gehören, s. unten 463f – b) Von NIEHR, Aspekte des Totengedenkens, 11 als „erstes Bindeglied zwischen JHWH und den Toten“ bezeichnet, s. dazu unten 463. – c) „So wahr JHWH lebt“, s. dazu KREUZER, Gott, 37ff inschriftlich belegt als ̲(y)yhwh in Arad und Lachisch, vgl. die Nachweise bei LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 346 Anm. 10. – d) Die Aufgliederung von Ziffer 3 soll andeuten, dass die Reflexion der KE und DE über die Beziehung von JHWH und Tod(essphäre) in (spät-)vorexilischer Zeit beginnt (3a–b) und sich bis weit in die (spät-) nachexilische Zeit hinein fortsetzt (3c–d). – e) Vgl. LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 346f Anm. 12–13. – f) „Lebendig macht/mache/ist der Höchste“, vgl. ebd., 346 Anm. 11. – g) „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (Gen 16,14).
JHWH und die Toten
451
Um uns der Gesamtproblematik zu nähern, setzen wir im Folgenden mit denjenigen Formen des Umgangs mit dem Tod ein, die im eisenzeitlichen Palästina/Israel im Bereich der Ahnenverehrung und des Totenkults17 verbreitet waren. 1. Das Band zwischen den Lebenden und den Toten In den meisten Gesellschaften ist der Tod eines Angehörigen für die Hinterbliebenen ein einschneidendes Geschehen, das mit Hilfe von Trauerriten bewältigt wird. Diese Riten machen das biologische Ereignis zu einem sozialen Vorgang, indem sie den Verstorbenen Schritt für Schritt von der Welt der Lebenden in die Welt der Toten geleiten. Auch im Alten Israel nahmen Trauerriten einen festen Platz im Totenritual ein, obwohl JHWH in ihnen nicht explizit vorkommt.18 Zu diesen Riten gehörten Manipulationen an der Kleidung und am Körper wie das Zerreißen der Kleidung (Gen 37,34; 2 Sam 1,11; 3,31 u.ö.), das Anlegen eines groben ěaq-Gewandes (Gen 37,24; 2 Sam 3,31; 1 Kön 20,31f; Am 8,10 u.ö.), das Scheren des Haupthaares (Ijob 1,20; Jer 16,6; Am 8,10), das Schlagen von Brust (Jes 32,12?) und Lenden (Jer 31,19), das Bestreuen des Hauptes mit Asche oder Erde (Jos 7,6; Ez 27,30; Klgl 2,10 u.ö.), das Fasten (1 Sam 31,13; 2 Sam 1,12), das Anstimmen der Totenklage (Gen 23,2; 1 Sam 3,31; 2 Sam 1,19ff u.ö.) und das Beweinen durch Klagefrauen (Jer 9,16.19; Ez 32,16; 2 Chr 35,25).19 Die „Selbstminderungsriten“, wie E. Kutsch20 die Trauerriten nannte, haben einen sympathetischen Kern: sie bekunden das Mitleiden der Hinterbliebenen mit dem Toten. Auffallend im Blick auf das Alte Israel ist dabei aber, dass Sterben und Tod (noch) nicht „als Situation der Begegnung mit JHWH oder gar als Beginn einer gegenüber dem Leben noch intensiveren
17 Als neuere Überblicke s. KAISER, Tod, Auferstehung und Unsterblichkeit; GESE, Tod, 31ff; TROPPER, Nekromantie, 340ff; ZENGER, Israel, 132ff; SCHMIDT, Beneficent Dead; LORETZ, Ugarit, 125ff; DERS., Götter – Ahnen – Könige, 21ff; BLENKINSOPP, Deuteronomy; VAN DER TOORN, Family Religion; DERS., Verborgenes Erbe; PODELLA, Nekromantie; DERS., Ahnen/Ahnenverehrung, 227f; BIEBERSTEIN, Auferstehung, 3ff; NIEHR, Aspekte des Totengedenkens 1ff; KÜHN, Totengedenken, 287ff; FISCHER, Tod, 107ff.113ff und NAUMANN, Bilder. 18 Vgl. BERGES, Klagelieder, 40. Dennoch ist, wenn man die Motive der Totentrauer differenzierter betrachtet, mit GERSTENBERGER, Der klagende Mensch, anzunehmen, dass die Totenklage in Israel „nicht in völliger Abkehr von Jahwe stattgefunden haben kann“ (ebd., 65), s. dazu auch die Hinweise ebd., 65f. 19 S. dazu PODELLA, Trauerritus; DERS., Trauerbräuche; SCHROER, Kompetenzen, 24ff; BERGES, Klagelieder, 39ff; KRUGER, Mourning; VON GEMÜNDEN, Psychologie, 96f; KRATZ, Trauer. 20 KUTSCH, „Trauerbräuche“.
452
Bernd Janowski
Gemeinschaft mit JHWH“21 begriffen wurde. Die Totenklage, die rückwärts, nämlich zum vergangenen Leben des Verstorbenen hin gewandt ist, klagt einen Verlust ein, ohne jedoch JHWH zum nach vorne gerichteten rettenden Eingreifen aufzurufen. Das geschieht erst in den Individualpsalmen, in denen die Klage als Leidklage einen theologischen Ort bekommt.22 Die genuine Distanz des JHWH-Glaubens zur Welt des Todes dokumentiert auch die seit dem 7.(?)/6. Jh. v.Chr. greifbare Polemik gegen den Toten-/Ahnenkult und die Nekromantie.23 Diese Polemik hing offenbar damit zusammen, dass dieser Bereich im antiken Syrien-Palästina und – mindestens bis zur Joschijazeit24 – auch in Israel und Juda sakral besetzt war, also durch Riten, die dazu dienten, das Band zwischen den Lebenden und den Toten auf der sozialen (Familie, Sippe) und der lokalen Ebene (Grab, Ortsheiligtum) zu knüpfen.25 Neben JHWH, dem „Gott des Lebens“, gibt es nach der offiziellen Religion aber keine zweite Instanz, die wie die Verstorbenen/Ahnen26 eine sakrale Eigenmächtigkeit oder Kompetenz besitzt oder beanspruchen kann. Von dieser Sakralität des Todes müssen wir im Blick auf die Anfänge in der Entwicklung der alttestamentlichen Todesauffassung ausgehen. Sie ist beispielsweise in der vordtr Überlieferung der Totenbeschwörerin von Endor in 1 Sam 28,*3–2527 erhalten geblieben. Wenn man diesen Text als ältesten literarischen (!) Beleg für die Nekromantie im Alten Israel nimmt, lässt sich deren Geschichte in Umrissen rekonstruieren. Es gibt im Alten Testament etwa 15 Texte, die „bezeugen, daß sich Menschen im alten Israel entsprechend einem im gesamten alten Orient verbreiteten Brauchtum in schwierigen Situationen an ihre verstorbenen Vorfahren (Ahnen) wandten, in der Erwartung, daß diese ihr Schicksal
21
ZENGER, Israel, 142. S. dazu unten 455ff. 23 S. dazu TROPPER, Nekromantie, 161ff.340ff; ACHENBACH, Sitz im Leben, 582ff.584ff; SCHROER, Kompetenzen, 20ff. 24 Hier geschah offenbar der entscheidende Schritt zur Ausweitung des Exklusivitätsanspruchs JHWHs auf die private und familiäre Frömmigkeit, s. dazu den Überblick bei ALBERTZ, Religionsgeschichte, 327ff. 25 Speziell zu den Bestattungsbräuchen im eisenzeitlichen Palästina/Israel s. WENNING, Grab; D ERS., Bestattungen; DERS./KUHNEN, Bestattung; DERS., Bedeutung von Bestattungen und BERLEJUNG, Geschichte, 77ff, zu den Grabbeigaben im eisenzeitlichen Palästina/Israel s. SCHROER, Totenweltmythologie, 294ff. 26 Ahnenbilder/-figurinen – ɐɌɗɛɝ „Totengeister“ Gen 31,34f; 1 Sam 19,13.16; 2 Kön 23,24 u.ö., z.T. auch ɐɌɇɏɃ „(chthonische) Götter, Unterweltsgötter“ 1 Sam 28,13; Jes 8,19, vgl. akk. ilim, ug. ilm – sind eines der wichtigsten Medien des Totengedenkens im Hauskult, s. dazu VAN DER TOORN, Verborgenes Erbe, 104ff.114ff.119f und NIEHR, Aspekte des Totengedenkens, 3f. 27 S. dazu TROPPER, Nekromantie, 205ff, vgl. 340ff; DIETRICH, David, Saul und die Propheten, 20ff; FISCHER, Tod, 115 u.a. 22
JHWH und die Toten
453
positiv beeinflußten“28. Diese Texte lassen sich hinsichtlich ihrer Terminologie, Gattung und Thematik folgendermaßen zuordnen: Terminologie ʡʥʠ ʭʩʨʠ ʭʩɇʬʠ (ʭ)ɌɓɕɆɌ ʧʦʸʮ ʸʢɗ ʭʩʠʴʸ
„(Opfer-)Grube“, vgl. heth. api „Opfergrube“29, Belege: 1 Sam 28,3.7.8.9, vgl. Lev 19,31; 20,6.27; Dtn 18,11 u.ö. „Totengeist“, vgl. akk. e̺emmu „Totengeist“, Beleg: Jes 19,3 „(chtonische) Götter, Unterweltsgötter; Totengeist“, vgl. akk. ilim, ug. ilm, Belege: Dtn 21,23;30 1 Sam 28,13 „Wissende(r), Wahrsagegeist(er)“ (oft in Verbindung mit ɄɈɃ) „Kultmahl, Festversammlung“, vgl. akk. marzë̴u „Kultmahl“, Belege: Am 6,7; Jer 16,5 „(Toten-)Opfer“, vgl. akk. pagrûm „(Schlacht-)Opfer“, ug. pgr „Opfer“ Belege: Ez 43,7.9, vgl. Gen 15,11(?); Lev 26,30(?); Jer 31,40(?) „Totengeister“, vgl. ug. rÁpiťīma „(vergöttlichte) Ahnen“, Belege: Jes 14,19; 26,14.19; Ps 88,11; Ijob 26,5 u.ö.
Textgattungen / Thematik Erzählliteratur 1 Sam 28,*3–25 (Totenbeschwörerin von Endor), Rezeption in 1 Chr 10,13f und Sir 46,20 2 Kön 21,6 par. 2 Chr 33,6 (Nekromantie unter Manasse) 2 Kön 23,24 (Nekromantieverbot durch Joschija) Gesetzesliteratur Dtn 18,11 (Verbot der Nekromantie) Dtn 21,23 (Fluch des Totengeistes) Lev 19,31; 20,6.27 (Nekromantieverbote; 20,27: Androhung der Todesstrafe) Prophetische Literatur Jes 8,19f (Effizienz der Nekromantie bestritten) Jes 19,3 (Nekromantie bei den Ägyptern) Jes 29,4 (Vergleich Jerusalems mit Totengeist) Jes 65,4 (?, nächtliche Kultbräuche an Gräbern)31 [Weisheitsliteratur Ijob 32,19 (Wahrsagetechnik der Bauchrednerei)] Die Frage, wie diese Texte theologiegeschichtlich einzuordnen sind, lässt sich anhand der folgenden Übersicht beantworten:32
28
TROPPER, Nekromantie, 340. Alternative Übersetzung: „Ahn, Totengeist“, zur Diskussion s. TROPPER, Nekromantie, 189ff.312ff; PODELLA, Nekromantie, 125ff und GesB18 22 s.v. ɄɈɃ. 30 S. dazu VEIJOLA, „Fluch“. 31 S. dazu TROPPER, Nekromantie, 320ff. 32 S. dazu TROPPER, Nekromantie, 340ff. 29
454 1 Sam 28,*3–25 (vordtr) Dtn 18,11 (dtr) Dtn 21,23 (dtr) 1 Sam 28,*3–25 (dtr) 2 Kön 21,6; 23,24 (spätdtr) Lev 19,31; 20,6 (PH) Jes 8,19f; 19,3; 29,4 Jes 65,4 1 Chr 10,13f Lev 20,27 (PH); Ijob 32,19
Bernd Janowski frühe (?) Königszeit 6. Jh. 6. Jh. 6. Jh. 6. Jh. 6. Jh. spätnachexilisch 5./4. Jh. 4. Jh. 4./3. Jh. (?)
Abgesehen von der vordtr Lokalüberlieferung 1 Sam 28,*3–25 richten sich diese Texte gegen „ein beschwörendes In-Kontakt-Treten der Menschen mit ihren verstorbenen Ahnen“33. Dabei zeigt sich ein eindeutiges Gefälle: Während Ahnenverehrung und Totenkult für die vorexilische Zeit nur spärlich belegt sind (vgl. 1 Sam 28,*3–25vordtr), ist das Verbot der Nekromantie ab dem 7.(?)/6. Jh. v.Chr. in einem relativ kurzen Zeitraum entstanden – was im übrigen auch ihre tiefe Verwurzelung in allen Gesellschaftsschichten belegt. Die Gründe dafür hängen mit soziopolitischen und familienrechtlichen Veränderungen,34 dem Eindringen des JHWH-Glaubens in die private und familiäre Frömmigkeit (vgl. Dtn 18,11; Lev 19,31; 20,6) und der lebensorientierenden Kraft des göttlichen Wortes / der Tora (vgl. Jes 8,19f) zusammen.35 Auf dieser relativ späten Stufe der religionsund theologiegeschichtlichen Entwicklung ist auch längst entschieden, dass der „Gott des Lebens“ in eine tätige, d.h. rettende Beziehung zu den Toten tritt. Die Frage ist nur, wann dieser Prozess der sog. „Kompetenzausweitung“ JHWHs in Gang kam und wodurch er ausgelöst wurde. Halten wir zunächst fest, dass, wie die vordtr Lokalüberlieferung 1 Sam 28,*3–25, aber auch die dtr Verbotstexte zur Nekromantie zeigen, Ahnenverehrung und Totenkult im vorexilischen Israel und Juda alles andere als ein zur Illegitimität degradierter „Winkelkultus“36 waren. Sie stellten vielmehr einen bedeutsamen Teil des religiösen Lebens dar und befanden sich „von Anfang an in friedlicher Koexistenz mit dem Glauben an verschiedene (andere) Gottheiten, in Israel unter anderem auch mit dem aufkommenden Jahwismus“.37 Wir müssen für die vorexilische Zeit also von einer fak-
33
TROPPER, Nekromantie, 342. S. dazu auch den Beitrag von J.C. Gertz in diesem Band, ferner HARTENSTEIN, Religionsgeschichte Israels, 4ff.8ff; KÖCKERT, Wandlungen Gottes, 14ff.19ff; SCHMITT, Monolatrie; ZENGER, Mose, 17ff, bes. 27f und EBERHARDT, JHWH, 197ff. 35 Vgl. TROPPER, Nekromantie, 344ff. 36 VON RAD, Theologie, 290. 37 TROPPER, Nekromantie, 344, vgl. 348ff. 34
JHWH und die Toten
455
tischen Polyphonie verschiedener Frömmigkeitstypen und ihren mannigfachen Interferenzen ausgehen.38 2. Spuren der Kompetenzausweitung JHWHs Erst in exilisch-nachexilischer Zeit kaum es zu einer differentia specifica, die sich als Unvereinbarkeit von Toten-/Ahnenkult und Nekromantie mit dem JHWH-Glaube äußerte. Dennoch hat dieser religionsinterne Abgrenzungsvorgang nicht zu einer theologischen Marginalisierung oder gar Leugnung der Todesproblematik geführt – im Gegenteil! Denn wie sollte sich der JHWH-Glaube auf Dauer „damit abfinden, daß Menschen, die der Todeswelt anheimfallen, auch von ihrem Gott Abschied nehmen müssen“?39 JHWHs Herrschaft musste schließlich auf die Welt des Todes übergreifen und die Frage nach dem „Gott des Lebens“ gerade auch hier aufbrechen. Dieser Prozess, dessen Anfänge schwierig zu bestimmen sind,40 verlief offenbar auf mehreren Ebenen und hinterließ seine Spuren in unterschiedlichen (Kon-)Texten. a) Klage- und Danklieder des Einzelnen Man kann in bestimmten Texten des Alten Testaments „den aufregenden Erkenntnisprozess verfolgen, wie einzelne Psalmbeter und Weisheitslehrer schrittweise zu einer immer tieferen Einsicht in Wesen und Wahrheit des den Tod überwindenden Gottes gelangten“.41 Grundlegend ist dabei die in den Klage- und Dankliedern des Einzelnen tradierte Erfahrung, dass der an Feindbedrängnis, Rechtsnot oder Krankheit leidende Mensch mit der Wirklichkeit des Todes in Berührung kommt (vgl. Ps 88,4)42 – „aber gerade das genügt, um ihn die ganze Wirklichkeit des Todes erfahren zu lassen“.43 Dem entspricht die Gegenerfahrung, durch JHWHs Eingreifen „nicht nur aus Lebensgefahr, sondern aus dem Tode, aus dem Innern des Totenreichs und aus der Gewalt des Todes“44 errettet zu sein. Diese Beziehung JHWHs zu den Toten, die wir als Kompetenzausweitung JHWHs bezeichnen,45 leitet einen neuen Schritt im alttestamentlichen Gottesverständnis ein.46
38 S. dazu auch PODELLA, Nekromantie, 133 und LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 350f mit Anm. 27. 39 KITTEL, Rachen des Todes, 92. 40 S. dazu den Exkurs unten 463ff. 41 KITTEL, Rachen des Todes, 92. 42 S. dazu JANOWSKI, Die Toten, 207ff. 43 BARTH, Errettung vom Tode, 92. 44 BARTH, Errettung vom Tode, 93. 45 S. dazu jetzt ausführlich EBERHARDT, JHWH, 202ff. 46 Vgl. MICHEL, Unsterblichkeit, 156f.
456
Bernd Janowski
Wie neu dieser Schritt war, geht aus der spezifischen Auffassung der Leben/Tod-Problematik in den Individualpsalmen hervor, die man als Media vita in morte sumus-Motiv47 bezeichnen kann. Dafür gibt es im Psalter zahlreiche Belege, z.B.: Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und gelöst haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. (Ps 22,15) Ich bin in Vergessenheit geraten wie ein Toter – weg aus dem Herzen. Ich bin geworden wie ein zerbrechendes Gefäß. (Ps 31,13)
Wie eine Hirschkuh schreit über (ausgetrockneten) Bachbetten, so schreit meine næpæš nach dir, Gott. (Ps 42,2)
Die Todesbilder der Individualpsalmen stammen, wie diese Beispiele zeigen, allesamt aus Räumen der Lebenswelt, also aus der dem Beter vertrauten Natur-, Kultur-, Tier- und Pflanzenwelt. Durch das Wissen um die Präsenz des ‚Todes mitten im Leben‘ wurden sie aber zu Bildern des Todes umgeformt.48 In der Todesmetaphorik der Ich-Klage werden wir daher mit einem besonderen Raumverständnis konfrontiert, das das Todesgeschick des Beters „nicht bildlich übertreibend oder als theoretische Fiktion, sondern ganz realistisch“49 darstellt. Der so erfahrene Tod ist nicht nur der vorgestellte Tod, sondern als Negation des erfüllten Lebens ist er eine Form des realen Todes.50 Das Jenseits ist dabei offenbar ein Machtbereich, der geradezu räumlich ins Diesseits hineinragt und dieses zu einem Todesraum, zu einem jenseitigen Bereich in der diesseitigen Welt umgestaltet. In seinem diesseitigen Leben – und nicht erst nach seinem physischen Tod – erfährt der Gerettete das, was die Psalmen als ‚Errettung vom Tod‘, genauer als ‚Errettung vom Tod im Leben‘ qualifizieren.51 Weil „Auferstehung der Toten/vom Tod“ im-
47
S. dazu JANOWSKI, KonfIiktgespräche, 47f.250ff. S. dazu KRIEG, Todesbilder, 351ff.612ff und zuletzt ZENGER, Funktion der Todesbilder. 49 VON RAD, „Gerechtigkeit“, 237, vgl. DERS., Theologie, 399ff. 50 S. dazu auch EBERHARDT, JHWH, 203ff, die zwischen der „Unterwelt der Lebenden“ und der „Unterwelt der Toten“ unterscheidet und zugleich auf die Übergänge und Differenzen zwischen diesen beiden Lokalitäten hinweist. Die besondere Schwierigkeit im Verständnis oder besser: das Proprium der Todesmetaphorik der Individualpsalmen besteht darin, dass zwischen der „Unterwelt der Lebenden“ und der „Unterwelt der Toten“ terminologisch – und z.T. (!) auch konzeptionell – nicht unterschieden wird. In dieser begrifflichen Unschärfe dürfte der spezifische Beitrag der Individualpsalmen zur Vorstellung von der Kompetenzausweitung JHWHs zu sehen sein, vgl. auch ebd., 222ff. 51 S. dazu BARTH, Errettung vom Tode, 98ff. 48
JHWH und die Toten
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mer bedeutet, dass vorher der Tod eingetreten ist, unterscheidet sich diese Form der Errettung von der Auferstehung im eigentlichen Sinn. Die Bereiche, die dabei Jenseitsfunktionen übernehmen, sind das Grab, der Staub, das Gefängnis, die Zisterne, die Fallgrube, die Wasserflut, das Meer, die Wüste, die Steppe, der Rand des Gebirges und – als zeitlicher Bereich – die finstere Nacht.52 Sie bilden die schmale Grenze zwischen erfülltem Leben und endgültigem Tod, auf der sich der bedrängte Beter befindet (vgl. Übersicht 2). Diese Grenze wird dabei so gezogen, dass der Tod ins Leben hineinragt und das Leben des Beters die Unterwelt berührt (vgl. Ps 88,4b) – obwohl die Unterwelt nach den kosmologischen Vorstellungen Israels doch in der äußersten, unerreichbaren Tiefe liegt und ihre Tore nur von JHWH gesehen, wenn auch nicht durchschritten werden (vgl. Ijob 38,16–18).53 Diesseits
Diesseitsbereiche mit Jenseitsfunktion
Jenseits
Welt der Lebenden
‚Unterwelt der Lebenden‘ (Situation des Bedrängten)
Welt der Toten
Haus Stadt Tempel Kulturland Gemeinschaft Kommunikation Reinheit
Grab, Gefängnis, Grube, Zisterne, Wasserflut, Meer,Wüste/Steppe, Bergland, Finsternis, Nacht, ‚die Tiefe(n)‘
Unterwelt Scheol Abaddon Land ohne Wiederkehr Einsamkeit Schweigen Unreinheit
Übersicht 2: Die Grenze zwischen Leben und Tod nach den Psalmen
In der Anthropologie verläuft die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Leben und Tod aber anders als in der Kosmologie oder mit den Worten C. Barths: „Wer auch nur in der geringsten Beziehung in die Gewalt der Scheol gerät, befindet sich faktisch ganz in ihrer Gewalt. Wessen Fuß einmal ins Gleiten gekommen ist, für den gibt es nach menschlichem Ermessen kein Aufhalten mehr. Blickt er auf das unvermeidliche Ende, so ist er schon am Anfang ein verlorener Mann. Die hier wirksame Denkweise des
52 S. dazu KEEL, Bildsymbolik, 53ff; PODELLA, Jenseitsvorstellungen, 80f; DERS., Totenrituale und Jenseitsbeschreibungen und BERLEJUNG, Tod und Leben, 485ff. 53 Zur Lokalisierung der Unterwelt s. den Beitrag von K. Liess in diesem Band.
458
Bernd Janowski
pars pro toto ist für die altorientalischen Völker ebenso bezeichnend, wie sie uns Heutigen fremd ist.“54
In diesem Sinn gehören die Todesbilder der Psalmen, die nicht direkt einen Sterbevorgang beschreiben, in die „Kategorie der Beschreibung der tief ‚ins Leben hinein verschobenen Todesgrenze‘. Durch diese Präsenz des ‚Todes im Leben‘ wird nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die Vorstellung von Gott um eine wichtige Dimension erweitert. b) Spätvorexilische Inschriften Wann kam dieses neue Todesverständnis auf und welche Faktoren waren für seine Ausgestaltung verantwortlich? Wenden wir uns zunächst dem ersten Teil dieser Frage zu. Zwar ist die Datierung von Einzelpsalmen notorisch schwierig, doch dürfte mit der neueren Psalmenforschung ein (spät-) vorexilisches Datum für einzelne Klage- und Danklieder des 1. und 2. Psalmenbuchs (Ps *3–41.*42–72) anzunehmen sein.55 Dazu kommen zwei außerbiblische Dokumente aus dem eisenzeitlichen Palästina/Israel, die einen wichtigen Einblick in den Prozess der Kompetenzausweitung JHWHs gewähren. Beginnen wir mit dem älteren Dokument, nämlich der Inschrift 3 von ̳irbet el-Kčm (Ende 8. Jh. v.Chr.)56 und den für unser Thema relevanten Z. 1–3: 1 ťĪrëyÁhī, der Reiche, hat es schreiben (lassen): 2 Gesegnet ist/sei ťĪrëyÁhī vor JHWH. 3 Und von seinen Feinden hat er ihn durch seine Aschera errettet (yšŦ Hif.).
Neben die Inschrift ist eine nach unten gerichtete Hand gezeichnet, deren Obhut sich der Verstorbene auch nach seinem Tod empfiehlt. Es handelt sich möglicherweise um die rechte (?) Hand Gottes57 und damit um den
54 BARTH, Errettung vom Tode, 93. Nach LORETZ, Theoxenie der npš, 467ff handelt es sich bei der These von Barth um eine „Ideologie von der diesseitigen ‚Errettung‘“. Stichhaltige Gründe werden dafür allerdings nicht beigebracht. 55 S. dazu ZENGER, Psalmen, 362f.363ff und HARTENSTEIN/JANOWSKI, Psalmen/Psalter, 1769f. 56 Zum Text s. RENZ/RÖLLIG, Handbuch I, 207ff, ferner JEREMIAS/HARTENSTEIN, „JHWH und seine Aschera“, 115ff (mit einer abweichenden Interpretation von Z. 3: „um seiner Aschera willen“) und MCCARTER, 179 (Lit.), ferner BERLEJUNG, Tod, 489; LIESS, Weg des Lebens, 302ff; KÖCKERT, Wandlungen Gottes, 11ff.28f; LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 354f; DERS., Segen, 146ff.171ff.177f und EBERHARDT, JHWH, 339ff. 57 S. dazu JEREMIAS/HARTENSTEIN, „JHWH und seine Aschera“, 116. Anders KÖCKERT, Wandlungen Gottes, 11f.28f, der seine Skepsis auf die – zugegebenermaßen strittige – Deutung des Handsymbols (‚Rechte Hand Gottes‘ oder Apotropaion?), nicht aber auf die Inschrift gründet. Allerdings spricht auch Köckert von JHWH als dem „Schutz-
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„Repräsentant(en) des göttlichen Schutzes und der göttlichen Rettung nicht eines unbekannten Numens, sondern JHWHs, wie er vom Grabherrn im Leben erfahren wurde“58. Dieses Handsymbol zeigt JHWH offenbar in der Rolle einer „persönliche(n) Schutzgottheit des Verstorbenen, deren Obhut dieser sich auch nach seinem Tod empfiehlt“59. Das andere Dokument, die beiden Silberamulette vom Ketef Hinnom (Ende des 7. Jh.s.?),60 enthält nicht nur eine Variante des sog. Priestersegens von Num 6,24–26 (Amulett I Z. 14–18, Amulett II Z. 5–12), es scheint auch mit der Wirkmächtigkeit JHWHs in der Finsternis des Grabes zu rechnen. Der uns interessierende Abschnitt findet sich in Amulett I Z. 11–19, wonach JHWH als ein Gott gepriesen wird, der „unser Wiederhersteller und Fels ist“ [?] bzw. der „uns Licht zurückbringt [?]“ (Z. 12–14) und der „sein Gesicht leuchten lässt“ (Z. 16–19, vgl. Num 6,24–26) über die/zu den Toten hin: 11 12 13 14 15
ky bw gťl h ky yhwh [m]šybnw [w] ̸wr ybrk k yhwh [w]
Denn bei ihm (sc. JHWH) ist Erlö sung, denn JHWH (ist) unser [Wie]derhersteller [und] Fels.61 Es segne dich JHWH, [und]
gott des Verstorbenen“ (ebd., 29). Wie immer man es sieht: es geht um Grab und Tod, d.h. darum dass JHWH in eine tätige – hier: schützende – Beziehung zum Toten tritt, s. dazu auch LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 354f und EBERHARDT, JHWH, 366ff. Ob man bei der Deutung weiter, d.h. in Richtung auf eine den Tod überdauernde Gottesbeziehung gehen kann (skeptisch KÖCKERT, Wandlungen Gottes, 29), ist schwierig zu entscheiden. Immerhin ergeht aber die Segenszuschreibung bzw. der Segenswunsch Z. 2 „an der Grenze des Lebens – ja sogar deutlich jenseits davon: im Grab Uriyahus und d.h. im Bereich des Todes“ (LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 354), s. zur Sache auch BERLEJUNG, Tod, 489. 58 JEREMIAS/HARTENSTEIN, „JHWH und seine Aschera“, 116f. 59 JEREMIAS/HARTENSTEIN, „JHWH und seine Aschera“, 116, vgl. LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 355 Anm. 40. 60 Zum Text s. RENZ/RÖLLIG, Handbuch I, 447ff (Datierung: 5. Jh. v.Chr.). Nach der Analyse von BARKAY/LUNDBERG/VAUGHN/ZUCKERMANN/ZUCKERMAN, Challenges; BARKAY/LUNDBERG/V AUGHN /ZUCKERMANN, Amulets, wohl doch auf Ende 7.Jh. v.Chr. zu datieren, s. dazu auch UEHLINGER, Kultreform, 68f; KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, 417ff; BERLEJUNG, Tod 489; LIESS, Weg des Lebens, 307ff; LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 355ff; DERS., Segen, 156ff.171ff.177f und EBERHARDT, JHWH, 375ff. Eine Spätdatierung vertreten etwa KÖCKERT, Wandlungen Gottes, 29f (im Anschluss an J. Renz) und jüngst BERLEJUNG, Programm fürs Leben. 61 KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, 418: (12) ky yhwh (13) [y]šybnw [x?] (14) ťwr „denn JHWH bringt uns zurück Licht“. Anders RENZ/RÖLLIG, Handbuch I, 453f: „(10) [.] und (?) vom Bösen (11) [..] hat er erlöst. (12) Ist JHWH denn (13) (?) ein [Men]sch, der schlummert oder (14) [..]?“. Die von G. Barkay, A. Yardeni, G.I. Davies vorgeschlagenen alternativen Lesungen werden von RENZ/RÖLLIG, ebd. erwähnt und z.T. für möglich gehalten.
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460 [y]šmrk [y^] [ť]r yhwh pn[yw ťly] [... k]
16 17 18 19
[er] bewahre dich, [es] [las]se leuchten JHWH [sein G]esich[t zu] [dir ...].62
Zum Vergleich sei der Priestersegen Num 6,24–26 zitiert: ɂɍɛɑɜɌɈ ɇɈɇɌ ɍɎɛɄɌ 24 ɂɍɓɊɌɈ ɍɌɏɃ ɈɌɓɗ ɇɈɇɌ ɛɃɌ 25 ɂɐɈɏɜ ɍɏ ɐɜɌɈ ɍɌɏɃ ɈɌɓɗ ɇɈɇɌ ɃɜɌ 26 24
Es segne dich JHWH und er behüte dich, es lasse leuchten JHWH sein Gesicht zu dir hin und er sei dir gnädig, es erhebe JHWH sein Gesicht zu dir hin und er setze dir Heil/Frieden.
25 26
Das Grab gehörte einer begüterten Jerusalemer Familie der ausgehenden Eisenzeit (E II C: 720/700–587 v.Chr.), deren Frömmigkeit nach Ausweis der Grabbeigaben (Beskopf, Sachmet- oder Bastetamulett) zum Jerusalemer Tempel hin ausgerichtet war.63 Entscheidend für die Deutung der Silberamulette ist wieder der (hier sekundäre?) Kontext von Grab und Tod. Wenn man der Lesung von Z. 13f durch O. Keel / C. Uehlinger folgt, könnte man annehmen, dass die Formulierung vom „Zurückbringen“ des Lichts durch JHWH „an die gemeinorientalische, am besten aus Ägypten bekannte Vorstellung vom Sonnengott (erinnert), der in der Nacht durch die Unterwelt fährt und am Morgen tatsächlich ‚Licht zurückbringt‘“64. Sollte dagegen die Lesung von G. Barkay / M.J. Lundberg / A.G. Vaughn / B. Zuckermann / K. Zuckerman – [m]šybnw „unser [Wie]derhersteller“ Z. 13 (in Kombination mit der Metapher vom „leuchtenden Gesicht JHWHs“) – richtig sein, wäre šwb Hif.Ptz. (+ Suff. 1.c.p.) als JHWH-Epitheton anzusprechen, das dem Israelgott eine rettende Kompetenz im Leben und wohl auch im Tod zuschreibt.65 Als Formulierungsparallelen, die allerdings keinen Funerärbezug aufweisen, sondern sich auf Bedrängnisse
62
Zu den Lesungen und zur Interpretation s. BARKAY/LUNDBERG/VAUGHN/ZUCKERAmulets, 60f.68. 63 S. dazu KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, 421f und SCHROER, Totenweltmythologie, 299. 64 UEHLINGER, Kultreform, 69, s. dazu auch BERLEJUNG, Programm fürs Leben, 224ff. 65 S. dazu jetzt auch BERLEJUNG, Programm fürs Leben, 214ff.226ff, die allerdings strikt zwischen Grab und Jenseits/Unterwelt trennt – ob zu Recht, sei im Blick auf die (natürlich schwierig zu erhebende) Vorstellung der Hinterbliebenen zumindest gefragt. Der abschließende Hinweis (ebd., 229f) auf Ps 88,12 („Wird im Grab erzählt deine Güte, deine Treue am Ort des Untergangs?“), der zur Plausibilisierung ihrer These dienen soll, ist m.E. nicht überzeugend, weil im parallelen V. 13 mit der Wendung „Land des Vergessens“ (// „Finsternis“) eindeutig von der Unterwelt die Rede ist. Auch im Blick auf den Grabkontext von Ketef Hinnom ist vielleicht mit ähnlichen Vorstellungen zu rechnen, zumindest sollte man sie nicht a limine ausschließen. MANN,
JHWH und die Toten
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im Diesseits beziehen, könnte man auf die Kehrversbitte Ps 80,4.8.20 oder auch auf die Charakterisierung der Tora in Ps 19,8 hinzuweisen: JHWH, Gott der Heerscharen, stelle uns wieder her (ɄɈɜ Hif.), und lass dein Gesicht leuchten (ɛɈɃ Hif. + ɐɌɓɗ), damit wir gerettet werden! (Ps 80,4.8.20)66 Die Tora JHWHs ist lauter, sie bringt das Leben wieder (ɄɈɜ Hif.Ptz. + ɜɗɓ); die Bestimmung JHWHs ist verlässlich, sie macht den Einfältigen weise.67 Weitere Belege für diese Bedeutung von ɄɈɜ Hif. sind 2 Sam 12,23 (David kann seinen toten Sohn nicht ins Leben „zurückholen“) und Ps 35,17 (ɄɈɜ Hif. + ɜɗɓ).68
Nach den religiösen Vorstellungen einzelner begüterter Jerusalemer Familien des ausgehenden 7. Jh.s v.Chr., wie sie durch die Silberamulette vom Ketef Hinnom dokumentiert werden, wird JHWH demnach als ein Gott angerufen, der auch an den Toten wirkt: ihnen soll er seine Treue bewahren (Z. 14–16) – d.h. jene Lebensfülle zuwenden, die er ihnen in ihrem Leben geschenkt hatte – und sein „Gesicht“ auch im Grab (= Finsternis des Todes) leuchten lassen (Z. 16–19).69 Auch wenn es bei den Inschriften von ̳irbet el-Kčm und Ketef Hinnom nicht um die Hoffnung auf eine postmortale Fortexistenz im Sinn der weisheitlich-apokalyptischen Traditionsbildung70 geht, dürften die Vorstellungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen, doch die Tendenz zu einer Annäherung von JHWH und Tod/Unterwelt mit befördert haben.71 c) Ein Gott der Lebenden und der Toten Diese Annäherung von JHWH und Tod/Unterwelt wird vor allem von den ‚klassischen‘ Klage- und Danklieder des Einzelnen thematisiert, in denen der Bedrängte JHWH darum bittet bzw. dafür dankt, vom ‚Tod im Leben‘ errettet zu werden bzw. errettet worden zu sein. Diese Möglichkeit wird in Hos 13,14 zwar ausdrücklich negiert, damit aber als Möglichkeit JHWHs vorausgesetzt. Vielleicht ist hier auch ein früher Weisheitstext wie Spr
66
S. dazu HIEKE, Psalm 80, 215ff und HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 461 (E. Zenger). 67 S. dazu BECKER, Elliptisches hÓšëb (næpæš), 45ff; GRUND, Psalm 19, 228 (Lit.). 68 S. dazu GRAUPNER/FABRY, ɄɈɜ, 1136. 69 Vgl. KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, 421f und UEHLINGER, Kultreform, 69. 70 S. dazu unten 465ff. 71 Vgl. EBERHARDT, JHWH, 388ff.
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15,1172 zu berücksichtigen, der wie Ps 11,4 und Ps 14,2 par. 53,3 von JHWHs prüfendem Einblick in die Unterwelt spricht. Im Überblick lässt sich das folgendermaßen darstellen:73 – Gerichtsprophetie (letztes Drittel 8. Jh. v.Chr.) Errettung vom ‚Tod im Leben‘, aber negiert (Hos 13,14) – Inschrift 3 von ̳irbet el-Kčm (Ende 8. Jh. v.Chr.) Gottesschutz im Leben und auch (?) im Tod (Z. 2f) – Silberamulette vom Ketef Hinnom (Ende 7. Jh. v.Chr.?) Gottesschutz im Leben und über den Tod hinaus (Amulett I Z. 11–18) – Ältere Spruchweisheit (spätvorexilische Zeit) JHWHs prüfender Einblick in die Unterwelt (Spr 15,11) – Klage- und Danklieder des Einzelnen (ab spätvorexilischer Zeit) Errettung vom ‚Tod im Leben‘ (Ps *3–41.*42–72, vgl. Ps 68,20f?)
Das verbindende Element zwischen diesen Aussagen, die auf unterschiedlichen Ebenen – Schutz (Inschriften von ̳irbet el-Kčm und Ketef Hinnom), Rettung (Hos 13,14; Individualpsalmen, Ps 68,20f), Prüfung (Spr 15,11) – liegen, dürfte die Vorstellung von einem Gott sein, dessen Kompetenz sich auch auf den Bereich des Todes erstreckte und der gemäß der Metapher vom „leuchtenden Gesicht JHWHs“ (Ketef Hinnom Amulett I Z. 16–19, vgl. Num 6,24–26) möglicherweise solar konnotiert war. Man verband in spätvorexilischer Zeit mit dem Glauben an JHWH demnach die Hoffnung, dass er auch die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits überschreiten werde – ohne damit zu einem Totengott zu werden. Mit A. Berlejung könnte man diesen Prozess mit der Solarisierung JHWHs in Zusammenhang bringen, der ab der mittleren Königszeit (8./7. Jh. v.Chr.) in Juda/Jerusalem einsetzte: „Erst im Gefolge seiner Solarisierung (d.h. ab dem 8. Jh.) hätte (...) Jahwe in Juda nach der Unterwelt gegriffen und so die bestehende Beschränkung seines Kompetenzbereiches auf das Diesseits aufgehoben. Jahwe wäre dann im Zug der Übertragung der chthonischen Aspekte des Sonnengottes zum verbindenden Glied der Ober- und Unterwelt und der Zusammengehörigkeit von diesen beiden kosmologischen Bereichen geworden.“74
Nunmehr war JHWH – und er allein!75 – im Rahmen der persönlichen Frömmigkeit (schichtenspezifisch: Silberamulette vom Ketef Hinnom, schichtenübergreifend: Individualpsalmen) zuständig für den Verstorbenen und sein
72
S. dazu unten Anm. 89. Vgl. auch die Übersicht 1 oben 450. 74 BERLEJUNG, Tod, 489, vgl. DIES., Programm fürs Leben, 224ff; SCHROER, Totenweltmythologie, 298f; LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 356f; EBERHARDT, JHWH, 208ff. 75 Dies ist der Unterschied zwischen der Grabinschrift 3 von ̳irbet el-Kčm, die die Aschera (Göttin/Kultpfahl?) in unmittelbarer Nähe JHWHs erwähnt, und den Silberamuletten vom Ketef Hinnom, die nur von JHWH sprechen. 73
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Wohlergehen im Jenseits. Bevor wir diese Linie weiterverfolgen, sei nach der Entstehung der Kompetenzausweitung JHWHs gefragt. Exkurs: Zur Kompetenzausweitung JHWHs Die Frage nach den Anfängen der Kompetenzausweitung JHWHs ist wegen fehlender missing links und mangelnder archäologischer Evidenz (Königsgräber der David-Dynastie) nicht leicht zu beantworten. Folgende Aspekte wären m.E. aber zu berücksichtigen: a) Mit H. Niehr könnte man den königlichen Totenkult der E II-Zeit als erstes (?) Bindeglied zwischen JHWH und dem Tod/den Toten bezeichnen. Das ist deswegen wahrscheinlich, weil „sich in der Königsfamilie der staatliche und der familiäre Bereich des Kultwesens überschneiden. War schon der lebende König als Sohn der Gottheit eng mit JHWH verbunden, so zeigte sich bei den Königen eine über den Tod hinaus währende Bindung zu JHWH. Diese ist im Falle der Könige Judas dadurch gekennzeichnet, daß die Könige in der Nähe des Tempels bestattet wurden“. Allerdings muss es vorerst bei dieser Vermutung bleiben, weil sich „genauere Aspekte der Verbindung verstorbener Könige zu JHWH (...) aus den alttestamentlichen Quellen leider nicht beibringen (lassen)“76. Bei der Beantwortung der Frage, ob es im vorexilischen Israel analog zu Mesopotamien und Syrien77 unterirdische Königsgrüfte gab, könnten vielleicht die Gräber der Omriden in Samaria weiterhelfen.78 Als zweites Bindeglied kämen die Inschriften bzw. Segenszuschreibungen von ̳irbet el-Kčm und Ketef Hinnom in Frage, die zeigen, dass JHWH als ein den Toten schützender Gott von begüterten Familien im Jerusalem/Juda der E II C-Zeit verehrt wurde. Der Übergang zu einzelnen Toten ohne Statusangabe wäre dann ab spätvorexilischer Zeit in der älteren Spruchweisheit79 sowie in den Individualpsalmen (KE und DE) zu greifen, die ihrerseits den theologischen Diskurs der weisheitlich-apokalyptischen Texte der Spätzeit vorbereiten, wonach JHWH schließlich zu den Gerechten/den Angehörigen des Gottesvolks in Beziehung tritt, ja sogar den Tod überwindet (Jes 25,8). b) Wie lassen sich in diese Skizze die Entrückungs- (2 Kön 2,3.5.9–11, vgl. Gen 5,24) und die Totenerweckungsaussagen (1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37, vgl. 2 Kön 13,20f) einordnen? Nach W. Thiel gehören sie zu den „frühesten Zeugnissen von der Macht Jahwes über den Tod“80. Trifft dieses Urteil zu? Zu beachten ist nämlich, dass es in 1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37, vgl. 2 Kön 13,20f nicht um Auferstehung, sondern – weil „am Ende des neuen Lebens wiederum der Tod“81 steht – um die Bewahrung vor dem vorzeitigen Tod geht. Im übrigen lässt die Grundschicht der Erzählung 2 Kön 4,8–37 darüber, wie sich „Elischas schamanistische Kompetenz zur lebenswirkenden Macht Yhwhs (oder
76
NIEHR, Aspekte des Totengedenkens, 11, s. dazu auch BARKAY, Mounds; STAVRAUzza; ZORN, Burials; KÜCHLER, Jerusalem, 81ff und KEEL, Geschichte Jerusalems, 429f. 77 S. dazu NOVÁK, Bestattungssitten; NIEHR, Bestattung und Ahnenkult u.a. 78 S. dazu FRANKLIN, The Tombs, und DIES., Lost Tombs. 79 Zu Spr 15,11 s. unten Anm. 89. 80 THIEL, Könige, 79 vgl. 63ff.78f, ähnlich CRÜSEMANN, Rhetorische Fragen!?. 81 WASCHKE, Auferstehung, 915. KOPOULOU,
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einer anderen Gottheit)“82 verhält, nichts verlauten. Erst ein später Redaktor stellte die Totenerweckung unter Rückgriff auf die frühnachexilische Überlieferung von 1 Kön 17,17–2483 „ausdrücklich in den Horizont der Yhwh-Religion, wenn er Elischa in V. 33 zu Yhwh beten läßt“84. Auch das theologische Konzept der Entrückung (2 Kön 2,1–18, vgl. Gen 5,24) ist für unsere Fragestellung nicht einschlägig, weil Entrückung – im Unterschied zur Auferstehung – den „leiblichen Übergang in eine andere Daseinsform unter Umgehung des Todes“85 meint, das Todesschicksal des Menschen also außer Kraft gesetzt wird. Der Entrückte stirbt nicht, sondern er wird durch JHWHs Intervention vom allgemeinen Todesgeschick ausgenommen – nicht: vom Tod errettet – und in die himmlische Welt versetzt. c) Ob für die Frage nach den Anfängen der Kompetenzausweitung JHWHs schließlich die Unterweltsaussagen in Am 9,2; Ps 139,8; Hos 13,14 u.a. heranzuziehen sind, ist ebenfalls zu problematisieren. Sie spielen in der Diskussion immer wieder eine prominente Rolle, ohne dass dabei genauer differenziert würde.86 Mit G.D. Eberhardt ist m.E. eine kosmologische (Am 9,2; Ps 138,9; Ijob 14,13–17; 26,5f; 38,17; Spr 15,11)87 und eine soteriologische Argumentationslinie (Dtn 32,39; 1 Sam 2,6; 2 Kön 5,7; Hos 6,1–3; 13,14; Ps 68,20f; Grabinschriften von ̳irbet el-Kčm und Ketef Hinnom)88 zu unterscheiden. Im kosmologischen Diskurs geht es nicht um JHWHs Macht über die Toten, sondern über die Lebenden, die sich in die Unterwelt zu flüchten suchen, um sich in ihr zu bergen bzw. zu verstecken. In diesen – mit Ausnahme von Spr 15,11 – (spät-)nachexilischen Texten geht es also um „die Universalität des Einflussbereichs bzw. Bewegungsspielraums JHWHs, nicht um JHWHs chthonischen Charakter“89. Gleichwohl ist die Scheol jetzt für
82
UEHLINGER, Totenerweckungen, 25. S. dazu BLUM, Prophet; UEHLINGER, Totenerweckungen, 25ff und OTTO, Jehu, 179ff.240. 84 UEHLINGER, Totenerweckungen, 25. 85 GRIMM, Menschen, 49, s. zur Sache ferner SCHMITT, Entrückung (NBL); DERS., Zum Thema „Entrückung“; DERS., Elija; DIETRICH/VOLLENWEIDER, Tod, 591f und LIESS, Weg des Lebens, 371ff. 86 So z.B. außer CRÜSEMANN, Rhetorische Fragen!?, 355f.358.359 u.a. zuletzt HERRMANN, Theologie, 100ff u.a. 87 S. dazu EBERHARDT, JHWH, 36ff.172ff. 88 S. dazu EBERHARDT, JHWH, 220ff.290ff.292ff.366ff. 89 EBERHARDT, JHWH, 175 (Hervorhebung im Original), vgl. 172ff.213ff. Zu erwägen ist vielleicht, ob der (spät-)vorexilische Spruch Spr 15,11 („Scheol und Abgrund sind vor JHWH, / wieviel mehr die Herzen der Menschenkinder!“), wonach JHWH als göttlicher Richter Einblick in die Unterwelt gewinnt, ein missing link für die Entstehung der Kompetenzausweitung JHWHs sein kann. Die Antwort darauf hängt am Verständnis der Präposition ɆɅɓ „vor“ im Sinn von „vor Augen von / unter den Blicken von“. Die damit ausgedrückte Relation von JHWH und Scheol wäre dann nicht im Sinn eines Machtverhältnisses, sondern einer „Sichtbarkeit und gegebenenfalls ‚Durchschaubarkeit‘ der Scheol und der Menschenherzen für JHWH“ (ebd., 207) zu verstehen, vgl. Ps 11,4; 14,2 par. 53,3. Dennoch könnte diese Akzentuierung, die möglicherweise in den Kontext der vorexilischen Solarisierung JHWHs (s. dazu oben 462) gehört, eine „Annäherung von JHWH und Scheol“ (ebd.) darstellen, die damit bereits vor dem 6. Jh. v.Chr. begonnen haben dürfte. 83
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JHWHs Eingriff in sie „offen“ – ungeachtet der Frage, ob und inwieweit dieser auch an den Toten handelt. Dieses Problem ist das Thema des soteriologischen Diskurses, bei dem zwischen den Aussagen, dass JHWH aus der Unterwelt/vom ‚Tod im Leben‘ rettet (Hos 13,14; Ps 68,20f, vgl. die Individualpsalmen) und in die Unterwelt hinein- und wieder heraufführt (Hos 6,1–3; 1 Sam 2,6; Dtn 32,39; 1 Kön 5,7). Von diesen Texten dürften Hos 13,14 und Ps 68,20f der (spät-)vorexilischen Zeit angehören und in ihrer Aussageintention den Individualpsalmen nahestehen.90 (Ende des Exkurses)
Nach dieser Übersicht lässt sich als Zwischenergebnis zweierlei festhalten: zum einen, dass die Kompetenzausweitung JHWHs auf den Bereich des Todes eher eine Folge bzw. Begleiterscheinung als eine Voraussetzung des aufkommenden Monojahwismus/Monotheismus war, und zum anderen, dass die vorexilische Textbasis für eine Verbindung zwischen JHWH und Tod/Unterwelt umfangmäßig zwar schmal, inhaltlich – wie vor allem die Individualpsalmen zeigen – aber gewichtig ist. Diese Texte bildeten den fruchtbaren Boden, auf dem in persischer und hellenistischer Zeit umfassender als zuvor über die Kompetenz des vom Tod rettenden Israelgottes nachgedacht wurde. 3. „Ewiges Leben“ und Unsterblichkeit Wenn wir die Geschichte des alttestamentlichen Todesverständnisses bis in spätnachexilische Zeit weiterverfolgen, so ist zunächst festzustellen, dass der Tod dem Israelgott zwar weiterhin diametral entgegengesetzt bleibt, dass JHWH aber immer deutlicher in seinen Bereich eindringt und ihn entmachtet. Vielleicht sollte man genauer sagen, dass JHWH den Bereich des Todes umgreift und die Spannung zwischen Leben und Tod gleichsam „in die göttliche Machtsphäre hineinverlagert“91. Eine Aussage wie diejenige von Jes 25,8,92 wonach der Tod von JHWH „für immer verschlungen“ wird, ist in dieser Beziehung besonders aufschlussreich. Es ging jetzt nicht mehr allein um die JHWH-Ferne in der Scheol oder den ‚Tod im Leben‘, sondern grundsätzlicher um die Sterblichkeit des Menschen bzw. die Unsterblichkeit der Gottesbeziehung. Mit dem Übergang von der spätvorexilischen zur exilisch-nachexilischen Zeit wurde die Distanz zwischen JHWH und Tod/den Toten jedenfalls in ein Spannungsverhältnis transformiert, das dem JHWH-Glauben neue Perspektiven auf die Frage nach dem „ewigen Leben“93 eröffnet hat.
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Hos 6,1–3 würde ich aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen hier nicht berücksichtigen. 91 LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 357. 92 S. dazu zuletzt HIEKE, „Er verschlingt“. 93 Der Begriff „Ewiges Leben“ ist im Alten Testament nur spärlich belegt (vom Menschen: Gen 3,22, sonst nur von Gott: Dtn 32,40; Dan 4,31, ferner Tob 13,1; Sir 18,1; 42,23 u.a.), s. dazu JANOWSKI, Ewiges Leben.
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Die Hoffnung auf die Überwindung der Todesgeschicks hat dabei unterschiedliche Ausformungen erfahren, die sich vor und neben dem Auferstehungsglauben (Ez 37,1–14; Jes 25,6–8; 26,17–21; Dan 12,1–4.13, vgl. 2 Makk 7,9.11.14 u.ö.) entwickelt haben und zur Vorgeschichte der frühjüdischen und urchristlichen Auferstehungshoffnung gehören.94 Die entsprechenden Traditionen, Motive und Bilder sind allerdings nicht einheitlich, sondern ziehen die Grenze zwischen Leben und Tod ganz unterschiedlich. Gegenüber den traditionellen Klage- und Dankliedern des Einzelnen mit ihrem Topos der ‚Errettung vom Tod im Leben‘95 meldet sich in Ps 16,10f – 10 11
Ja, du (sc. JHWH) überlässt mein Leben nicht der Scheol, du lässt es nicht zu, dass dein Frommer die Grube schaut. Du zeigst mir den Weg des Lebens, Sättigung an Freuden bei deinem Angesicht, Wonnen zu deiner Rechten für immer.
eine andere Position zu Wort, die besagt: Es gibt eine dauerhafte, selbst durch den Tod nicht zerstörbare Gemeinschaft mit Gott. Der Diesseitscharakter dieser Lebenshoffnung ergibt sich u.a. aus der Wendung „Weg zum Leben“ (V. 11aƝ), die durch die beiden Schlussstichen (V. 11aƞ.b: Sättigung // Wonnen) expliziert wird.96 Der Übergang von dieser Diesseitshoffnung zu den Aussagen von Ps 49,14–1697 und vor allem Ps 73,23–28 ist zwar fließend, aber doch deutlich. Ps 73 gliedert sich in die zwei Hauptteile „Anfechtung“ (V. 2–17) und „Neue Einsicht“ (V. 18–26), in denen die Situation der Gottlosen der Situation des Gerechten gegenübergestellt wird. Am Ende des ersten Hauptteils steht mit V. 17 („bis ich eintrat in die Heiligtümer Gottes, Einsicht über ihr Ende gewann“)98 ein Scharniervers, der den Wendepunkt des Psalms markiert und zum zweiten Hauptteil überleitet. Am Schluss nehmen V. 27–28 die antithetische Gesamtstruktur auf und bilden zusammen mit V. 1 den
94 S. dazu HAAG, Das hellenistische Zeitalter, 245ff; SCHNOCKS, „Wacht auf“ und den Sammelband LABAHN/LANG, Jenseitsvorstellungen, ferner FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 206ff, bes. 212ff. 95 S. dazu oben 455ff. 96 S. dazu JANOWSKI, Die Toten, 239ff und LIESS, Weg des Lebens, 390ff. 97 Die Frage, ob Ps 49,16 („Doch Gott wird mein Leben loskaufen, aus der Hand der Scheol, gewiss, wird er mich nehmen [Ɋɚɏ]“) in diesen Zusammenhang oder eher in den Kontext des traditionellen Themas „Errettung vom Tod“ gehört, muss an dieser Stelle offen bleiben; für die zweite Möglichkeit plädieren etwa SEYBOLD, Psalmen, 203 und GRIMM, Menschen, 48ff.52f, s. dazu aber IRSIGLER, Suche nach Gerechtigkeit, 92ff; WITTE, Psalm XLIX; LIESS, Weg des Lebens, 373ff und DELKURT, „Der Mensch“, 68ff.70ff. 98 S. dazu JANOWSKI/LIESS, Gerechtigkeit, 74ff (K. Liess).
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Rahmen des Psalms: Der Beter kann das anfängliche Bekenntnis „Ja, gut ist zum Rechtschaffenen Gott“ (V. 1) jetzt auf sich selbst beziehen („Ich aber – Gott zu nahen, ist für mich gut“, V. 28) und damit der Erfahrung vom Glück des Gerechten Ausdruck verleihen: 23
Ich aber bin ständig bei dir, du hast mich an meiner rechten Hand ergriffen, nach deinem Rat leitest du mich und auf Ehren/Herrlichkeit hin wirst du mich (zu dir) nehmen.
24 25
Wen habe ich im Himmel (außer dir)? Und neben dir habe ich kein Gefallen auf der Erde. Vergeht auch mein Fleisch und mein Herz (, Fels meines Herzens), so ist (doch) mein Anteil Gott für immer.
26 27
Ja, siehe, die sich fern halten von dir, gehen zugrunde, du vernichtest alle, die dir gegenüber treulos sind. Ich aber, Gott zu nahen, ist für mich gut, ich habe meine Zuflucht auf den Herrn (JHWH) gerichtet, zu verkünden alle deine Taten.99
28
Nach diesem Text gibt es keine Differenz mehr zwischen Bedrängten und Toten wie in den Klage- und Dankliedern des Einzelnen. Denn der Beter wird nach V. 23–26 den Tod erleiden – und dennoch auf eine Rettung durch Gott hoffen, indem dieser die Gemeinschaft mit sich über den Tod hinaus endgültig werden lässt. Die Aussage, dass JHWH den Beter zu sich „nimmt“ (Ɋɚɏ V. 24b), hat dabei nicht eine Entrückung nach dem Vorstellungsmodell von Gen 5,24 oder 2 Kön 2,3.5.9–11100 im Blick. Sie artikuliert vielmehr die Erwartung des „ewigen Lebens“ im Sinn eines „gesegneten und erfüllten Lebensabschlusses, der weitergehende Hoffnungen und Erwartungen in sich schließt“, indem der Beter am Ende seines Lebens auf eine „dauerhafte Fortsetzung der Gemeinschaft mit Gott hofft, die sich bereits in seinem bisherigen Leben bewiesen und bewährt hat (V. 23– 24a)“101. Die Vorstellung vom ewigen Leben erreicht damit inneralttestamentlich einen gewissen Höhepunkt.102 Ps 73 ist Teil eines Diskurses, der wohl in persischer Zeit begann und in hellenistischer Zeit die Überschreitung der Todesgrenze durch JHWH explizit thematisierte. So ist in Jes 25,8 davon die Rede, dass Gott den Tod
99
Zum Text s. JANOWSKI/LIESS, Gerechtigkeit, 76ff (K. Liess), ferner HOSSFELD/ZENPsalmen 51–100 (s. Anm. 86), 331ff (E. Zenger). 100 S. dazu oben 463f. 101 SCHMITT, Wende des Lebens, 229, vgl. IRSIGLER, Psalm 73, 41ff. 102 S. dazu den Überblick bei JANOWSKI, Ewiges Leben, 1762f.
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„für immer verschlingen“ wird,103 und in Jes 26,19; Ez 37,1ff; Ps 22,28ff und Dan 12,2f.13, dass er die Gerechten / die Angehörigen des Gottesvolks auferwecken wird. Am Ende des großen Gebets um das Endgericht in Jes 26,7–21,104 in dem das apokalyptische Motiv von der Geburt des Gottesvolks bei der Ankunft des Königsgottes JHWH auf dem Zion tradiert wird, steht die Klage, dass sich diese Geburt vom Menschen aus nicht ereignen kann (Jes 26,17f). Auf diese Klage antwortet das Heilsorakel V. 19–21 mit der Botschaft, dass die Not durch das alle irdischen Grenzen transzendierende Heil kommt: 19
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21
Deine (sc. JHWHs) Toten werden leben, meine (sc. Israels) Leichname105 werden auferstehen! Es werden aufwachen und jubeln die Einwohner des Staubes: Fürwahr! Tau der Lichter ist dein Tau! Und auf das Land der Schatten wirst du (ihn) fallen lassen. Auf, mein Volk, geh in deine Kammern, und schließe deine Türen hinter dir! Verbirg dich eine kleine Weile, bis der Zorn verronnen ist! Denn siehe, JHWH bricht von seinem Ort/Heiligtum auf, um die Sünde des Erdenbewohners heimzusuchen. Und die Erde wird ihr Blut aufdecken, und ihre Erschlagenen wird sie nicht weiter zudecken.106
Im Unterschied zu den traditionellen Unterweltsvorstellungen des Alten Testaments darf man sich die Scheol107 hier nicht als einen Bereich vorstellen, der außerhalb der Macht JHWHs liegt. Wenn das der Fall wäre, dann wäre er nicht der einzige Gott, neben dem es keine andere Macht gibt, sondern lediglich der „Gott des Lebens“, der an der Grenze zum Tod die Grenze seiner Macht erführe.108 Vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zu dem einen und einzigen Gott ist es aber alles andere als verwunderlich, dass in den späten Texten Jes 25,8; 26,19; Ez 37,11ff; Ps 22,28ff und Dan 12,2f.13 erstmals im Alten Testament vom Tod des Todes (Jes 25,8) sowie von einer Auferweckung der Toten (Gerechte / Angehörige des Gottes-
103 Oder: „verschlungen haben wird“, s. zur grammatischen Problematik HIEKE, „Er verschlingt“, 35ff. 104 S. dazu SCHOLL, Die Elenden, 118ff, ferner BEUKEN, „Deine Toten“ und LABAHN, „Deine Toten“. 105 Zur Suffixdifferenz in V. 19 („meine“/„deine“ Toten) s. SCHOLL, Die Elenden, 132ff. 106 Vgl. zur Übersetzung SCHOLL, Die Elenden, 123. 107 S. dazu den Beitrag von K. Liess in diesem Band. 108 S. dazu oben 447ff.
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volks) und damit von einer „endgültigen Überschreitung dieser Grenze“109 die Rede ist. Verwunderlich ist vielmehr, dass dieser Schritt so spät vollzogen wurde. Die Gründe dafür, dass „nicht alle Rechnungen der Gerechtigkeit (...) im Diesseits aufgehen“110 und der Tote an der Wirklichkeit Gottes partizipiert, indem er in eine neue Form des Daseins eintritt („ewiges Leben“, „Unsterblichkeit der Gottesbeziehung“), sind vielfältig. Sie hängen vor allem mit der Entstehung des Monotheismus, der Todesmetaphorik der Individualpsalmen und der Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zusammen.111 Die Gesamtentwicklung verlief dabei kaum in klar voneinander abgrenzbaren Phasen, sondern, wie die folgende Übersicht andeutet, eher ineinander verzahnt und sich vielfältig überschneidend: Spätvorexil./exil.nachexil. Zeit ab 7. Jh. Persische Zeit 539–333
Individualpsalmen Ps *3–41.*42–72
Weisheitstexte
Ijob 19,25ff;112 Ps 16,10f; 73,23ff
Hellenist. Zeit ab 4. Jh.
Ps 49,15f (3. Jh.?) Skepsis: Koh 3,19ff u.ö.
4./3. Jh.
Ez 37,1ff; Jes 25,8; 26,19; Ps 22,28ff113 Dan 12,2f.13
Apokalyptische Texte
2. Jh.
Errettung vom ‚Tod im Leben‘
‚Ewiges Leben‘/Unsterblichkeit (der Gottesbeziehung)
Auferstehung vom Tod/ der Toten
Übersicht 3: Zur Geschichte des Todes in exilisch-nachexilischer Zeit
Nicht allen im spätnachexilischen Israel hat diese neue Erkenntnis einer Beziehung JHWHs zu den Toten eingeleuchtet. Zu ihnen gehört vor allem Kohelet, der die Unsterblichkeits- und Auferstehungshoffnungen zwar nicht
109
MICHEL, Unsterblichkeit, 159. ASSMANN, Tod und Jenseits, 18. 111 S. dazu MICHEL, Unsterblichkeit, 159ff, ferner GESE, Tod, 43ff; WASCHKE, Auferstehung, 915f u.a. 112 S. dazu SRAUß, Hiob, 15ff und zuletzt SCHNOCKS, Hope, 296ff und VAN DER KOOIJ, Ideas, 94f. 113 Weitere Texte (äthHen 20,8; 22,13; 90,33.38 u.ö.; PsSal 3,12; 4Q 521) bei FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 211f; zu Texten aus der griechisch-jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit s. ebd., 212ff. 110
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bestreitet, aber doch skeptisch beurteilt,114 indem er daran festhält, dass es das Beste für den Menschen, d.h. sein „Anteil“ (ɚɏɊ) ist, das Leben zu genießen (carpe diem-Motiv) und sich an dem zu erfreuen, was er tut: 4 5
6
Doch, wer noch zu den Lebenden gehört, hat noch Hoffnung, denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. Ja, die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten wissen überhaupt nichts mehr. Es gibt für sie keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. Sowohl ihr Lieben als auch ihr Hassen als auch ihr Eifern sind schon längst vergangen. Einen Anteil haben sie auf ewig nicht mehr an allem, was unter der Sonne geschieht (Koh 9,4–6).115
Die Erkenntnis des Menschen erstreckt sich nach diesem Text bis an die Grenze des Todes – nicht darüber hinaus (V. 6b). Das ist keine resignative oder gar nihilistische ‚Flucht ins Diesseits‘, die den Tod nicht ernst nimmt, sondern umgekehrt die Anweisung, die irdische Existenz des Menschen nicht heimlich ins Jenseits zu verlängern und damit die Welt zu entwerten. „Ins ‚Jenseits‘ gelangt der Mensch nicht dadurch, dass er dem ‚Diesseits‘ entflieht, sondern dadurch, dass er das Diesseits in seiner Wahrheit erkennt und annimmt: als Werk, als Gabe, letztlich als Antwort Gottes ([Koh] 5,19). Das ist des Menschen Anteil, das kommt ihm zu.“116 Und das ist, wie wir ergänzen können, eine Haltung, die sich der Unverfügbarkeit des Lebens bewusst ist und die ebenso zum biblischen Kanon gehört wie die Hoffnungsaussagen der Individualpsalmen oder der Unsterblichkeits- und Auferstehungstexte.
III. Zusammenfassung und Ausblick In seiner Studie „Der Tod als Thema der Kulturtheorie“ hat J. Assmann die These vertreten, dass „alle Kultur ihr Zentrum im Problem der Sterblichkeit hat und (zumindest im innersten Kern) den Versuch darstellt, dem Menschen in seinem Ungleichgewicht zwischen Sterblichkeit und Unsterb-
114
Die Liste der Texte, in denen Kohelet auf den Tod zu sprechen kommt, ist lang, s. dazu ZIMMER, Tod und Lebensglück, 45ff; SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Lehre vom absoluten Tod?; LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 361ff; JANOWSKI/LIESS, Gerechtigkeit, 88ff (B. Janowski) und DELKURT, „Der Mensch“, 76ff. 115 Zur Interpretation s. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 439ff. 116 SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet, 453, vgl. LEUENBERGER, „Deine Gnade“, 365f.
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lichkeit einen Halt zu geben“117. Die Kultur, die dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit entspringt, versuche „einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in der der Mensch über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und die Linien seines Handelns, Erfahrens und Planens ausziehen kann in weitere Horizonte und Dimensionen der Erfüllung, in denen erst sein Sinnbedürfnis Befriedigung findet und das schmerzliche, ja unerträgliche Bewußtsein seiner existenziellen Begrenztheit und Fragmentierung zur Ruhe kommt“118.
Diese Perspektive ist auch dem alttestamentlichen Todesverständnis eigen, denn auch hier begegnet man der „Realisierung eines umgreifenden Horizonts“,119 ohne den die Menschen im Alten Israel nicht leben konnten und der sich im Alten Testament auf unterschiedliche Weise niedergeschlagen hat. Im Blick auf diesen Prozess habe ich von einer faktischen Polyphonie verschiedener Frömmigkeitstypen und ihren mannigfachen Interferenzen gesprochen.120 Wer diesen Prozess verstehen will, muss zunächst „die Hierarchie der Kräfte, Strömungen, besonderen Bewegungen definieren und dann die Gesamtkonstellation erfassen“121. Wie bei anderen historischen Sachverhalten macht man dabei die Beobachtung, dass die beteiligten Kräfte, Strömungen und Bewegungen von unterschiedlicher Dauer und Prägnanz sind und erst im Verbund mit anderen Faktoren wie der Solarisierung JHWHs und dem aufkommenden Monojahwismus/Monotheismus122 ihr deutliches Profil erhalten. Überblickt man die Gesamtentwicklung, wie sie der vorliegende Beitrag in groben Schritten nachzuzeichnen versucht hat, so ist schließlich noch ein doppelter Sachverhalt hervorzuheben: zum einen, dass die besagte Kompetenzausweitung JHWHs nicht durch eine langsame Addition entsprechender Kräfte und Tendenzen entsteht, sondern so etwas wie einen ‚Umschlag des Denkens‘123 erfordert, dessen formatives Moment im Monojahwismus/Monotheismus der spätvorexilisch-exilischen Zeit zu sehen ist.124 Und zum anderen, dass es ein Vorurteil ist zu behaupten, dass das Alte Testament „im Blick auf das Geschick der Toten mit seiner kanaanäischen
117
ASSMANN, Tod als Thema der Kulturtheorie, 49. ASSMANN, Tod als Thema der Kulturtheorie, 13f, vgl. 18.49 u.ö. 119 ASSMANN, Tod als Thema der Kulturtheorie, 18. 120 S. dazu oben 457f. 121 BRAUDEL, Geschichte, 62. 122 S. dazu oben 462.465.469. 123 Ich verwende diesen Ausdruck im Anschluss an HORNUNG, Der Eine, 259. 124 Ob die explizite (!) Beziehung zwischen JHWH und den Toten ihren Ursprung im Monojahwismus/Monotheismus der spätvorexilisch-exilischen Zeit hat, ist dagegen fraglich, weil es einige – natürlich nur schwache – Spuren der Kompetenzausweitung JHWHs wie den königlichen Totenkult gibt, die diesbezüglich als ein erstes (?) Bindeglied zwischen JHWH und Tod/den Toten in Frage kommen könnten, s. dazu oben 463. 118
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Umwelt (...) die Erwartung eines endgültigen ‚Aus‘ (teilt)“125. Stattdessen ist von dem – inzwischen vielfach gesehenen – Sachverhalt auszugehen, dass die alttestamentlichen Texte zum Thema „JHWH und die Toten“ zur Vorgeschichte des neutestamentlichen Auferstehungsglaubens gehören und diesem zentrale Sprachbilder und Hoffnungsmotive zur Verfügung gestellt haben. Ohne den Einblick in das religions- und theologiegeschichtliche Profil der alttestamentlichen Texte zu den Themen „Errettung vom Tod“, „Ewiges Leben“ und „Unsterblichkeit (der Gottesbeziehung“) bleiben die neutestamentlichen Auferstehungstexte nicht nur blass, sondern unverständlich.126 Dass sie ihrerseits etwas qualitativ Neues zu sagen haben, wird dadurch in keiner Weise relativiert.
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V. Das Band zwischen den Lebenden und den Toten – zur rituellen Bewältigung des Todes II
Totengedenken im Alten Testament DAGMAR KÜHN
1. Die Bedeutung des Totengedenkens als Aspekt des Phänomens Memoria Das Gedenken der Toten im Alten Testament wie in der Antike überhaupt war mehr als eine bloße Erinnerung an die Toten. Es ordnet sich in den größeren Horizont des Phänomens der Memoria mit ihren unterschiedlichen Aspekten ein. Memoria in der Antike und im Mittelalter umfasste nicht nur die Zeitstufe der Vergangenheit, sondern alle Zeitstufen, da die Erinnerung im Sinne einer Vergegenwärtigung für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar gemacht wurde. Der Historiker O.G. Oexle unterscheidet zudem zwei Formen der Memoria. Die eine Form der Memoria, die sich auf vergangene Ereignisse der Geschichte bezieht, lässt sich als historische Memoria bezeichnen. Die andere Form bezieht sich nicht auf die Geschichte, sondern auf die Menschen dieser Geschichte, auf die Erinnerung von Individuen und Gruppen. In diese Form der Memoria, die von Oexle als „soziale Memoria“ bezeichnet wird, ordnet sich auch das Totengedenken ein. Die soziale Memoria hatte die Aufgabe, Gemeinschaft zu konstituieren und Abwesende und Tote an eine soziale Gruppe der Lebenden wie z.B. der Familie zu binden. Dieses erforderte ein konkretes Tun im Sinne eines Handelns der Menschen füreinander und ging in diesem Sinne über einen rein mentalen Akt der Erinnerung hinaus. Oexle knüpft in seinen Überlegungen an die Arbeiten des Soziologen Maurice Halbwachs an.1 Dieser hatte erstmals eine Theorie des „mémoire collective“ entwickelt.2 Nach dieser Theorie entsteht jegliche Erinnerung gruppenbezogen als gesellschaftliches Kon-
1 OEXLE, Gegenwart der Toten; DERS., Gegenwart der Lebenden; DERS., Memoria. Oexle führt außerdem das augustinische Memoriaverständnis weiter, wie es von Augustinus im X. und XI. Buch der Confessiones dargelegt wird. Ausführlich zu Oexles Ansatz KÜHN, Totengedenken, 12ff. 2 Zum Ansatz von Maurice Halbwachs (1877–1945) und seinen Werken vgl. KÜHN, Totengedenken, 8f.
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strukt.3 Der Erinnerung kommt deshalb identitätsstiftende Funktion zu. Die Gestaltung der gegenwärtigen und zukünftigen sozialen Lebenswelt hängt davon ab, welche Werte, Normen und Traditionen im bewusstem Rückbezug auf die Vergangenheit nicht vergessen werden, sondern erinnert und weitertradiert werden, um einen gemeinsamen Sinnhorizont zu entwerfen. In Anknüpfung an Halbwachs entwickelte auch der Ägyptologe Jan Assmann in zahlreichen Publikationen4 eine Theorie des Kulturellen Gedächtnisses. Insbesondere am Beispiel des Alten Ägypten konnte er die Zeit übergreifende Tragweite des Zusammenhangs von Kultur und Gedächtnis deutlich machen.
Für die altorientalischen Gesellschaften gelten für die Totenmemoria analoge Überlegungen.5 Die Lebenden und die Toten waren in direkter gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden. Ein angemessenes Totengedächtnis, das eine Versorgung des Toten und die Aufrechterhaltung seines Namens beinhaltete, garantierte den guten Fortbestand der Familie. Infolge einer Vernachlässigung dieser Pflicht musste die Rache des Toten befürchtet werden. Der auffällig ambivalent anmutende Zug des antiken Totengedächtnisses zwischen Pietas und Furcht6 kann nur vor dem Hintergrund des altorientalischen Loyalitätsverständnisses verstanden werden. Das Prinzip des „do ut des“ war auf allen Ebenen der Gesellschaft wirksam und garantierte die Aufrechterhaltung bzw. den Bestand der Ordnung der Welt. Die Erinnerung an die Verstorbenen gewährte den Toten weiterhin einen sozialen Ort in der Gemeinschaft der Lebenden und den Lebenden eine gute Zukunft. Familien konnten sich über die Toten und Ahnen an ihre Herkunft rückbinden. Das Gedenken der Toten war deshalb unabhängig von den religiösen und theologischen Vorstellungen zunächst einmal ein zutiefst soziales und kulturelles Phänomen. Es war eine soziale Verpflichtung, die im Ordnungsgefüge von Gesellschaft und Welt fest verankert war. „Das Leben der Mesopotamier konnte kaum unabhängig vom Bund der Familie sein. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war die emotionelle Basis der Familie und der Totenpflege, die die Integration der Familie bewahrt und die Kontinuität sichert. Dieses Gefühl war also eine Voraussetzung für die oben erörterten zwei sich widersprechenden Einstellungen zum Toten, Pietät und Furcht. Die Pietät zum Toten war sozusagen die posi3 Die strikte Betonung der rein soziologischen Bedingtheit auch des individuellen Gedächtnisses hat Halbwachs massive Kritik eingetragen. Sie wird in heutigen Ansätzen in dieser Rigorosität auch nicht weiter verfolgt. 4 Das Standardwerk zum Thema ist ASSMANN, Kulturelles Gedächtnis. Zu den inzwischen zahlreichen Publikationen zum Thema Kollektives bzw. Kulturelles Gedächtnis von J. Assmann, vgl. den bibliographischen Überblick in KÜHN, Totengedenken, 10–12. 5 Für die Kultur Mesopotamiens hat G. Jonker versucht, die von Assmann aufgestellten Überlegungen zum Kulturellen Gedächtnis umzusetzen, vgl. JONKER, Topography. 6 Von der Furcht vor der Rache des Totengeistes zeugen zahlreiche uns überkommene Texte insbesondere aus dem mesopotamischen Raum, die über Maßnahmen gegen den ruhelosen und Unruhe stiftenden E̺emmu berichten, vgl. für einen Überblick angesichts der Fülle der Literatur TSUKIMOTO, Untersuchungen zur Totenpflege; ABUSCH, E̺emmu, mit umfangreicher Bibliographie.
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tive Seite des Gefühls, während die Furcht vor dem Toten die negative Seite ausdrückt. Auf alle Fälle findet keine Totenpflege statt, wo es kein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen Toten und Lebenden gibt.“7
Auch für das Alte Israel war Memoria ein zentraler Begriff, der mehr als nur Erinnerung von Vergangenem beinhaltete. Im Alten Testament ist zkr ein zentraler Relationsbegriff und umfasst ebenfalls alle drei Zeitstufen.8 zkr will das zu Bedenkende für den Augenblick aktuell und präsent machen und für die Zukunft bewahren. Memoria in all ihren Aspekten stabilisierte und konstituierte die israelitische Gemeinschaft. Erinnerung bzw. Vergegenwärtigung von Vergangenem waren konstitutive Elemente für den Bestand der sozialen Gemeinschaft. In diesen weiten Bedeutungshorizont ordnet sich das alttestamentliche Totengedenken ein. Wenn man das Gedenken der Toten in all seinen Dimensionen verstehen will, dann erscheint eine Fokussierung des exegetischen Interesses allein auf den Totenkult, der in Konkurrenz zum JHWH-Kult stand, einseitig. Nekromantie und Totenkult sind vielmehr als „abgrenzbares Sondergebiet der Beziehung zwischen den Toten und Lebenden“9 zu bewerten. Der Umgang mit den Toten war weit vielschichtiger und stellte keineswegs in allen Aspekten eine Konkurrenz zur Verehrung JHWHs dar. Auch in der Zeit des sich herausbildenden Monotheismus wurde nicht jegliche Beziehung zu den Toten verboten. Darüber hinaus zeigt es sich sogar, dass das Gedenken der Toten in Verbindung mit wandelnden Jenseitsvorstellungen allmählich auch in die Verantwortung JHWHs rückte, der die familiären Pflichten übernehmen konnte (s.u. Jes 56,3–7). Bedenkt man zudem die soziale Bedeutung des Totengedenkens für die lebende Gemeinschaft und die Gesellschaft, dann wird nachvollziehbar, wie wichtig die stabilisierende Wirkung des Gedenkens gerade auch in Zeiten politischer und theologischer Umbrüche gewesen sein muss. Die Beziehung zu den Toten war für den Erhalt der Identität des engeren Sozialverbandes, der Familie, von Bedeutung. Es greift aber zu kurz, daraus ein Unterbinden jeglichen Totengedenkens zu folgern, um diesen engen und quasi autonomen Sozialverband der Familie zu schwächen. Denn das Totengedenken war auch für die sich in nachexilischer allmählich herausbildende jüdische Identität von Bedeutung. Dies lässt sich an der zunehmenden Bedeutung der Patriarchenverehrung in nachexilischer Zeit belegen.
7
TSUKIMOTO, Untersuchungen zur Totenpflege, 240f. Zum Terminus und zur Bedeutung von zkr sind mehrere bedeutende Untersuchungen erschienen: SCHOTTROFF, Gedenken, CHILDS, Memory and Tradition, DE BOER, Gedenken, FABRY, Gedenken. Vgl. auch die entsprechenden Artikel zum Lemma zkr in THAT und ThWAT. 9 LORETZ, Nekromantie, 285. 8
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2. Aspekte des Totengedenkens im Alten Testament10 Im Alten Testament waren zwei Dinge für die Zeit nach dem Tod wichtig: In Frieden im Verband der Ahnen ruhen zu können (s.u.) und von den Lebenden nicht vergessen zu werden. Das Gedenken der Toten erfolgte durch die Aufrechterhaltung ihres Namens, die eine fortdauernde Integration der Toten in der Gemeinschaft der Lebenden gewährleistete. Der Name repräsentierte nicht einfach nur ein bestimmtes Individuum als solches, sondern vor allem die soziale Person, als die der Tote seinen Platz in der Gemeinschaft ausfüllte. Dieser soziale Ort wurde durch die Aufrechterhaltung seines Namens auch über den Tod hinaus für ihn offen gehalten. Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Namens war eine den gesellschaftlichen und religiösen Normen entsprechende Lebensführung.11 Die Aufrechterhaltung des Namens wurde durch zwei Hauptaspekte des Totengedenkens gewährleistet: – –
Die räumliche Repräsentation der Toten durch Gräber, Grabdenkmäler oder andere Denkmäler Ein Handeln an den / für die Toten, das seinen Ausdruck in einer ordnungsgemäßen Bestattung und einer darüber hinaus fortbestehenden Beziehung (Totenmahl oder Totenkult12) findet.
2.1 Die Bedeutung von Grab und Bestattung für das Gedenken der Toten Eine ordnungsgemäße Bestattung der Toten war unbedingte Voraussetzung für die Verstorbenen, in Frieden ruhen zu können und im Jenseits mit den Familienahnen vereint werden zu können. „Das Begräbnis gibt dem Toten den Frieden als Abschluss und Vollendung seines Lebens.“13 Das fehlende Begräbnis bzw. ein Vernichten des Leichnams oder der Gebeine galt als schlimmste Bestrafung des Verstorbenen.14 Nicht nur war die Ruhe des To10
Im Folgenden wird auf den Umfang des Alten Testaments, wie ihn der katholische Kanon wiedergibt, Bezug genommen. 11 Dieser wesentliche Aspekt wird hier vernachlässigt, da der Schwerpunkt auf das Gedenken durch die Hinterbliebenen gelegt wurde. Vgl. aber zum Aspekt der Eigenleistung für ein späteres Gedenken durch die Hinterbliebenen, ASSMANN, Kulturelles Gedächtnis, 61; ASSMANN, Ma`at, passim; KÜHN, Totengedenken 11. 12 Im folgenden Überblick über die im Alten Testament wahrnehmbaren Aspekte des Totengedenkens werden die Aspekte des Totenkultes, insbesondere der Nekromantie ausgeklammert. Für sie ist auf die entsprechenden Beiträge in diesem Aufsatzband zu verweisen. 13 ZENGER, Israel und seine Toten, 134. 14 Vgl. die geläufigen Androhungen, von „den Tieren des Feldes“, „den Vögeln des Himmels“, „den wilden Tieren“ oder den „Hunden“ gefressen zu werden (Dtn 28,26; 1 Sam 17,44; 1 Kön 14,11; 16,4; 21,23f.; 2 Kön 9,36f; Jer 7,33; 16,4; Ez 29,5; 39,4).
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ten bei den Familienahnen verunmöglicht, auch sein Gedenken bzw. die Aufrechterhaltung seines Namens war nicht gegeben. Denn das Grab eines Verstorbenen war der erste Haftpunkt für ein bleibendes Andenken unter den Hinterbliebenen. Der Tote war somit durch ein fehlendes Begräbnis sowohl aus dem diesseitigen als auch aus dem jenseitigen Familienverband ausgeschlossen. Dieser Ausschluss bedeutete erst den eigentlichen Tod. Die Wichtigkeit der bleibenden Erinnerung in der sozialen Gemeinschaft wird besonders deutlich an der im Alten Testament gefürchteten damnatio memoriae, der Austilgung des Namens unter den Lebenden. Die Bedeutung der Bestattung und die damit gegebene Möglichkeit, der Toten zu gedenken, war nicht nur wichtig für den jeweiligen Familienverband. Der Akt der Bestattung stellte in Zeiten der kollektiven Identitätskrise eine Möglichkeit dar, die Solidarität der größeren Gemeinschaft der Juden zu festigen, wie es beispielsweise innerhalb des in hellenistischer Zeit entstandenen Tobitbuches zu beobachten ist. Tobit begräbt tote Juden, die über die Stadtmauer von Ninive geworfen worden waren und alle, die von König Sanherib hingerichtet worden waren (Tob 1,16–18). Der Akt der Bestattung eines Toten wurde in eine Reihe gestellt mit den bekannten Formen der Barmherzigkeit wie der Armenspeisung und der Kleidergabe an Nackte.15 Tote, Arme, Nackte, Witwen und Waisen bildeten zusammen die soziale Randklasse, die die Solidarität der ganzen Gemeinschaft brauchte.16 Zenger bewertet den Akt der Bestattung dementsprechend als „Grundverpflichtung zur Solidarität“.17 Der wahre Jude verhielt sich solidarisch nicht nur zu den lebenden Mitjuden, sondern auch zu den Verstorbenen. Kollektive Identitätsbildung steht auch wesentlich im Hintergrund der Erzählungen über die Bestattungen der Patriarchen.18 Nach dem Untergang des Königtums wurde die Rückbindung an Vorfahren wichtig für die Herausbildung einer neuen gemeinsamen Identität. In dieser Zeit gewann neben dem Akt der Bestattung der Ort der Bestattung an Bedeutung, da sich an ihm ein Totengedächtnis festmachen konnte. So lässt sich ab der nachexilischen Zeit eine zunehmende Bedeutung und auch Verehrung der Patriarchengräber und weiterer Heiligengräber feststellen. 15 Zur Konstituierung einer jüdischen Identität durch solidarische Zuwendung auf der einen Seite und Beachtung der Speisegebote und Stärkung der familiären Beziehungen auf der anderen Seite vgl. EGO, Heimat, 276–278. 16 Die Bedürftigkeit der Verstorbenen als Mitglieder der sozialen Randklasse wird auch bei Ben Sirach thematisiert. In Sir 7,31–34 gibt der Weise den Armen von seinem Vermögen und auch die Toten sollen eine Gabe erhalten. „Eine Gemeinschaft lebt auch da, wo es um die Fürsorge für die Verstorbenen geht.“, vgl. SAUER, Jesus Sirach, 94. 17 ZENGER, Israel und seine Toten, 138f. 18 Die Berichte über Tod und Bestattung sind eingesetzte Elemente einer literarischen Komposition. Die Struktur der Mitteilung von Sterben und Begräbnis bei den Patriarchen ist ausführlich von BLUM, Vätergeschichte, untersucht worden.
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Im Alten Testament wird das Interesse an der Verortung eines Totengedenkens im Zusammenhang mit dem Erwerb der Höhle von Machpela als Begräbnisort der Patriarchen deutlich (Gen 23). Der Erwerb der Höhle, in der zunächst Abraham seine Frau Sara bestattet und in der später die anderen Patriarchen bestattet bzw. überführt werden, wird ausführlich geschildert.19 Das Leitmotiv der nachexilischen20 selbständigen Erzählung ist nicht die Ermöglichung von Saras Bestattung, sondern der rechtmäßige Erwerb von Grabeigentum. Die kurze Notiz über Saras Bestattung gibt nur den Rahmen für den Hauptteil ab. Der Text spiegelt womöglich einen Anspruch auf die in nachexilischer Zeit nicht mehr in judäischem Gebiet liegende Grabstätte der Patriarchen wider. Im nachexilischen Hebron waren die Judäer nur eine ansässige Minderheit (vgl. Neh 11,25). Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass die im Text genannten Bene ̱et weniger die Hethiter als die inzwischen dort ansässige edomitische Bevölkerung repräsentieren.21 In hasmonäischer Zeit und sogar bis in die römische Zeit hinein wurde außerdem der edomitische Gott Qčs im Mamre verehrt.22
Eine Verehrung der Patriarchengräber in Verbindung mit konkreten Grabbauten ist archäologisch erst unter Herodes nachweisbar, wobei von einer bereits bestehenden Tradition ausgegangen werden kann.23 2.2 Grabdenkmäler als Zeichen der Repräsentation Die persönliche Erinnerung der Toten durch die Hinterbliebenen war allenfalls über 3–4 Generationen gesichert, eine dauerhafte Erinnerung erforderte weitergehende Maßnahmen, wie die „Verräumlichung des Toten“ durch Ahnenfiguren oder durch Grabaufbauten mit Memorialcharakter.24 Ein Totengedenken in Verbindung mit einem räumlichen Haftpunkt, sei es ein Grab oder ein Grabdenkmal oder ein vom Grab unabhängiges Denkmal war im Alten Israel wohl bekannt. Bereits für das späte 8. Jh. v.Chr. bietet die Nekropole von Silwan in Jerusalem ein archäologisch und damit historisch belegtes Beispiel dafür, dass Prunkgräber die Repräsentation des 19
Zur Exegese im Einzelnen vgl. KÜHN, Totengedenken, 296–306. Die Zuordnung zu P ist umstritten, da die aus P-Texten bekannten theologischen Anliegen fehlen. Verschiedene Aspekte innerhalb des Textes machen die Abfassung oder zumindest eine deutliche Bearbeitung einer älteren Vorlage in nachexilischer Zeit deutlich. Vgl. zum Stand der Diskussion der Zurechnung zu P den Überblick bei KÜHN, Totengedenken, 301f. 21 Vgl. KÜHN, Totengedenken, 302–304. Die edomitische Gesellschaft war stark tribal geprägt. Der Titel „Bene“ könnte auf einen edomitischen Stamm verweisen. 22 Vgl. dazu HEPPER/GIBSON, Abraham’s Oak; LICHTENBERGER 1999, Baupolitik. 23 Zur Tradition der Verehrung der Patriarchengräber vgl. KÜHN, Totengedenken, 306–310. 24 Vgl. ASSMANN, Kulturelles Gedächtnis, 39.59f. 20
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herausgehobenen sozialen Status der Verstorbenen über den Tod hinaus gewährleisten sollten.25 Jes 22,15–19 nimmt Bezug auf diese Nekropole.26 In einem Drohwort, das auf eine historische Episode im Zusammenhang mit der assyrischen Belagerung Jerusalems um 701 v.Chr. Bezug nimmt, verurteilt der Prophet Jesaja den anscheinend großspurigen Lebenswandel des Hofbeamten Schebna. V. 16a: Was gibt es hier für dich und wer bist du denn hier, dass du dir ein Grab hier aushaust?
Interessanterweise richtet sich die Kritik des Propheten nicht gegen die Anlage eines Prunkgrabes als solches, sondern vielmehr gegen die Anmaßung Schebnas, sich ein solches bauen zu lassen. Die wirkungsvolle Repräsentation nach dem Tod, die auch den sozialen Status der verstorbenen Person dauerhaft in Erinnerung hielt, wurde den entsprechenden Persönlichkeiten zuerkannt. Ebenfalls ist die Sitte, Gräber mit einfachen Monumenten wie z.B. einem Steinhaufen oder einem einzelnen aufgerichteten Stein zu markieren als Voraussetzung für ein Gedenken im Alten Testament bekannt. Jakob beispielsweise setzt eine Massebe auf Rahels Grab, die den Anhaftpunkt für ein Gedenken an sie bildete. Gen 35,20: Und Jakob errichtete eine Massebe auf ihrem Grab. Das ist die Massebe des Grabes der Rahel bis auf den heutigen Tag.
Die zweite Vershälfte deutet an, dass zur Zeit der Abfassung dieses Verses bereits eine Tradition um das Rahelgrab bzw. um ein entsprechendes Grabmonument bestanden haben muss. In der vorliegenden Endfassung des Textes wird der Weg nach Efrata, wo das Rahelgrab liegt, mit Betlehem identifiziert (V. 19bß). Bei dieser Lokalisierung bzw. Identifizierung handelt es sich aber mit aller Wahrscheinlichkeit um eine spätere Glosse,27 da 25 Mehrere monumentale Monolithgräber, Giebelgräber und Flachdeckengräber lassen sich durch Grabinschriften ins frühe bis späte 8. Jh. v.Chr. datieren. Die Gräber sind ausserdem durch Inschriften ausgewiesen. Die Grabbauten, die hohen Hofbeamten zugesprochen werden, verweisen auf eine Blütezeit Judas, zeitgleich zur Blütezeit Nordisraels. Mehrere Gräber wurden nicht fertig gestellt, auch weist keine Grabinschrift über das frühe 8. Jh. hinaus, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Nekropole im Zuge der assyrischen Belagerung Jerusalems und deren Folgen aufgegeben wurde, vgl. dazu WENNING, Eisenzeitliche Gräber, 841–933; KÜHN, Totengedenken, 311f. 26 Früher wurde Bezug auf ein ganz bestimmtes Beamtengrab genommen (Jerusalem O-Grab Nr. 35). In der dazugehörigen Grabinschrift rekonstruierte man den Personennamen Schebnajahu, den man dann mit dem im Bibeltext genannten Schebna identifizierte. Die Rekonstruktion des Personennamens ist aber völlig unsicher. Eine detaillierte Beschreibung des Grabkomplexes und eine bibliographische Übersicht zur Lesung der Inschrift findet sich bei WENNING, Eisenzeitliche Gräber, 893–907. 27 So auch BLUM, Vätergeschichte, 207 mit der Mehrheit der Autoren.
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sie anderen Angaben im AT widerspricht. So lokalisiert 1 Sam 10,2a das Grab in Benjamin bei Zelzach und Jer 31,15 das Grab im Gebiet zwischen Rama und Gibea. Diese beiden Textstellen haben wahrscheinlich die ursprüngliche Tradition bewahrt.28 Eine Herausbildung der zweiten südlichen Tradition ist in nachexilischer Zeit gut nachvollziehbar, da der Ort der nördlichen Tradition nicht mehr innerhalb der Provinzgrenzen Yehuds lag. Die Verlegung des Ortes verweist auf eine hohe Flexibilität bzw. Anpassungsfähigkeit einer Tradition an die jeweiligen historischen Umstände.29 Wenn sich soziale Gruppen räumlich verändern, bewegen sich dementsprechend auch ihre Orte der kollektiven Identitätsbildung. „Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen angeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung.“30
Ab dem 2. Jh. v.Chr. wird auch im Jubiläenbuch (Jub 32,34) die südliche Grabtradition für das Rahelgrab nachgewiesen. In dieser Zeit hatte das Rahelgrab bereits weitere Gräber bedeutender Frauengestalten an sich gezogen: das Grab der Bilha (Magd der Rahel), der Silpa (Magd der Lea), und der Dina (Tochter des Jakob).31 Die hohe Flexibilität der Tradition gilt nicht nur für die Verlegung des Rahelgrabes und weiterer Gräber in die Nähe von Betlehem, sondern auch für z.T. recht kuriose Traditionsveränderungen. Gen 35,16a gibt die Entfernung von Bet-El bis nach Efrata mit der Bezeichnung kbrt an. Der Terminus bezeichnet wahrscheinlich ein bestimmtes Längenmaß oder eine bestimmte Wegstrecke.32 LXX versteht unter kbrt anscheinend eine Ortslage mit Namen ƳƝƞƭƝƤƝ und fügt in Gen 48,7, der Parallelangabe zu Gen 35,16, zu der
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KÜHN, Totengedenken 325f. Vgl. dazu die treffende Ortsbeschreibung bei KEEL/KÜCHLER, Orte, 606: „Das Rahelgrab, ein wanderndes und verwandlungsfähiges Denkmal der Patriarchenfrau.“ 30 ASSMANN, Kulturelles Gedächtnis, 39. 31 JEREMIAS, Heiligengräber, 76f. 32 kbrt (nach Gesenius’ hebräischem Wörterbuch 17. Auflage, die Konstruktusform zu nicht belegtem kbrh) taucht nur an drei Stellen im AT auf, immer in Verbindung mit (hÁ) ťÁre̸ (Gen 35,16 // 48,7; 2 Kön 5,19). An allen Stellen legt sich die Bedeutung eines Längenmaßes bzw. einer bestimmten Wegstrecke nahe. Die syrische Übersetzung bringt das altpersische Maß der Parasange. Am sinnvollsten scheint eine andere Vokalisation des hebräischen Wortes. VOGT, Benjamin, 32f. erwägt statt kibrat die Lesung kebÓrat, bei der das kaph präpositional interpretiert wird und eine Wurzel bÓrÁ zugrundegelegt wird. Er setzt im Folgenden den Terminus bÓrat hÁťÁre̸ mit akk. bÓr qaqqari – „Landmeile“ gleich und übersetzt: „als es noch ungefähr eine Landmeile zu gehen war bis Ephrata“. Bei der Landmeile handelt es sich um ein Längenmaß, das in einer Doppelstunde zurückgelegt werden kann. 29
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Ortsangabe hinzu: ƦƝưЍ ưЕƩ ϓƬƬƸƠƭƫƨƫƩ ƳƝƞƭƝƤƝ ưџƮ ƟџƮ.33 Aufgrund der LXX-Übersetzung ist bereits im 2. Jh. n.Chr. eine Bestattung Rahels im Hippodrom vertreten worden.34 Hieronymus wiederum verstand die griechische Zufügung nicht und emendierte in Anlehnung an rabbinische Übersetzungsversuche zu „in electo terrae tempore“. Dieser für die Erde vorzügliche Zeitpunkt ist für ihn der Frühling.35
Zwei und mehr unterschiedliche Traditionen müssen nicht zwangsläufig einander ablösen. Es ist durchaus möglich und auch häufig belegt,36 dass konkurrierende Traditionen nebeneinander Bestand haben. Dies gilt auch für die nördliche Grabtradition des Rahelgrabes im Gebiet Benjamin. Das in Gen 35 erwähnte Efrata und die Grabtraditionen werden heute im Gebiet des Wadi Fara festgemacht.37 2.2 Grabdenkmäler ohne direkten Grabkontext Die Massebe, die sich Abschalom noch zu Lebzeiten errichtete, weil er keinen Sohn hatte, um seiner zu gedenken, ist wohl das bekannteste Beispiel eines Grabdenkmals ohne Grabkontext im Alten Testament (2 Sam 18,18). 18a Und Abschalom hatte es unternommen, für sich zu seiner Lebzeit die Massebe im Königstal zu errichten, denn er sagte: Ich habe keinen Sohn, um meinen Namen anzurufen (hazkir šem). 18b Und er rief die Massebe nach seinem Namen und man nennt sie „Mal (yad) Abschaloms“ bis auf den heutigen Tag.
33 Dies kann mit KÖHLER/BAUMGARTNER im Hebräischen und Aramäischen Lexikon zum Alten Testament (Lieferung II 31974, 438) im Sinne der Strecke, die ein Pferd laufen kann, interpretiert werden, aber ein Pferd vermag in der Regel mehr zu laufen, als das Längenmaß eines Hippodroms beträgt. Unwahrscheinlich ist auch, dass LXX rkbt statt kbrt gelesen hat und dieses Wort von rkb – „reiten“ abgeleitet hat, so bei JEREMIAS, Heiligengräber, 75, Anm. 2. Dagegen spricht weiterhin, dass LXX einen Ortsnamen aus kbrt herausliest. 34 So bei dem Jerusalemer christlichen Gelehrten Sextius Julius Africanus, von dem man eigentlich Ortskenntnis hätte erwarten können, vgl. den Beleg bei JEREMIAS, Heiligengräber, 75, Anm. 2. Eusebius ist vorsichtiger und spricht von dem Ort, den man Hippodrom nennt. 35 KEEL/KÜCHLER, Orte, 609. „Dabei folgt er den gängigen rabbinischen Auslegungen, die in kibrat die Wörter rebarah, «Sieb», kebar, «schon» und bar, «Korn» versteckt sahen und daraus den Sinn erschlossen: Die Erde war wie ein Sieb (d.h. für die Vegetation durchlässig).“ 36 In frühmittelalterlicher Zeit, als die Grabverehrung einen hohen Stellenwert erreichte, kennt man z.B. ein galiläisches und ein judäisches Jonagrab oder ein samaritanisches und ein jüdisches Josuagrab, vgl. dazu JEREMIAS, Heiligengräber. 37 KEEL/KÜCHLER, Orte, 608 unter Verweis auf die Untersuchungen von G. Lombardi. Zu den Steinfassungen auf der nördlichen Anhöhe des Wadi Fara, die mit den Gräbern in Verbindung gebracht werden vgl. WENNING, Eisenzeitliche Gräber, 197.
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Der in nachexilischer Zeit redaktionell eingefügte Vers versucht eine ätiologische Erklärung eines offensichtlich zur Abfassungszeit vorhandenen Grabdenkmals. Das Denkmal übernimmt die Funktion einer dauerhaften Repräsentation im Falle des verstorbenen Abschalom. Es wird zum Ersatz für den zum Totengedenken verpflichteten Sohn. Die Namensanrufung der toten Eltern war altorientalische Sohnespflicht. Die in der mesopotamischen Totenbeopferung bekannten Rituale verwenden die Formel šuma zakÁru bei der Totenevokation. Aus dem syrischen Raum ist die Evokation des Totengeistes des sam’alischen Königs Panamuwa im Rahmen einer Beopferung bekannt (yzkr nbš pnmw). Die Verpflichtung des Sohnes, ein Denkmal nach dem Tod des Vaters zu errichten, ist ebenfalls in Ugarit belegt (KTU 1.17). 38
Ob überhaupt, und wenn ja, wie in nachexilischer Zeit eine Namensanrufung in Verbindung mit einer Gabe an den Toten erfolgte, ist schwierig zu beurteilen. Eine Fürbitte als Wunsch nach Heil für den Verstorbenen in Verbindung mit der Anrufung des Namens ist in nachexilischer Zeit m.E. genauso wahrscheinlich, wie eine Gabe von Brot oder anderen Lebensmitteln (vgl. auch die arabische Sitte, im Gedenken einen kleinen Stein an das Monument zu werfen.). Die dauerhafte Aufrechterhaltung/Anrufung des Namens allein ermöglichte bereits eine Repräsentation des Toten in der Welt der Lebenden. Über Aussehen und Größe dieses Denkmals ist nichts bekannt. Der Terminus yd verweist auf eine Stele, der Terminus m̸bh auf einen aufgerichteten Stein.39 Ebenso erweist sich die Lokalisation des ursprünglichen Denkmals als schwierig. Das Königstal wird in Gen 14,17 mit dem Schawetal gleichgesetzt. Da dessen Lokalisation nicht weniger unbekannt ist und oft umgekehrt mit der Angabe in 2 Sam 18,18 zu erklären versucht wird, führt diese Angabe nicht weiter. Geringfügig informativer ist eine Angabe bei Josephus (Flav.Jos.Ant. VII 243), der das Tal 2 Stadien von Jerusalem lokalisiert und das Denkmal als Marmorstele beschreibt, die wohl aus hellenistischer Zeit stammt. Es ist anzunehmen, dass dieses Denkmal eine schon bestehende Tradition fortsetzt. Aus dem Textkontext ergibt sich die Nähe zum antiken Jerusalem. Basierend auf der Josephus-Notiz wurden in der Forschung mögliche Ortslagen in nahezu allen vier Himmelsrichtungen rund um Jerusalem ausgelotet, ohne dass eine eindeutige Eingrenzung favorisiert werden konnte.40
38 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der Sohnespflicht vgl. den Überblick über die verschiedenen Traditionen bei KÜHN, Totengedenken, 331ff. 39 Diskutiert werden aufgrund der Bezeichnung yd eine nach oben gestreckte Hand oder ein Unterarm, wie es von punischen Stelen bekannt ist bzw. eine phallusartige Gestalt oder eine griechische Herme aufgrund der zweiten Bedeutung von yd = Penis. Vgl. den Überblick zur Debatte um das Aussehen des Denkmals KÜHN, Totengedenken 336f. 40 Ein Überblick über die verschiedenen Lokalisationsversuche im N, S, SW, O findet sich bei WENNING, Eisenzeitliche Gräber, 938f.
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Das heute im Kidrontal als Abschalomgrab bezeichnete monolithische Grab mit Trompetendach stammt erst aus herodianischer Zeit. Dieses Grab wurde außerdem erst im Spätmittelalter mit Abschalom verbunden.41 Für das 6. Jh. n.Chr. wird ein Monument als Mal Abschaloms nahe des Toten Meeres verehrt.42 Eine besondere Ehrung von Verstorbenen durch ein Denkmal liegt in Jes 56,3–7 vor. JHWH selbst nimmt sich einer sozialen Randgruppe (die „Verschnittenen“)43 an, die nach dem deuteronomischen Gesetz vom Kult auszuschließen sind (Dtn 23,2–9). Da sie aber JHWH treu sind und seinen Geboten folgen, stiftet44 JHWH persönlich ein Denkmal und übernimmt an Sohnesstatt die soziale Verantwortung der Aufrechterhaltung ihres Namens, um ihnen Anteil an der Gemeinschaft des Volkes zu geben. 4a
Denn so spricht JHWH: Den Verschnittenen, die meine Sabbate bewahren und das erwählen, woran ich Gefallen habe, und festhalten an meinem Bund, ich will ihnen in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben – besser als Söhne und Töchter; einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der nicht ausgerottet wird.
b 5a
b
Das Hendiadyoin yd wšem drückt in gegenseitiger Verstärkung das zentrale Anliegen der Totenmemoria aus: die Repräsentation bzw. Vergegenwärtigung der verstorbenen Person. Dabei bedingen sich beide Aspekte: Die Dauerhaftigkeit der Erinnerung durch das Denkmal wird durch die Aufrechterhaltung des Namens gewährleistet.45 Das Denkmal wird im heiligsten Bezirk aufgerichtet, im Tempelbereich. Damit ist nicht nur durch das Denkmal als solches eine bleibende Erinnerung gegeben, sondern darüber hinaus eine bleibende Nähe zu JHWH über den Tod hinaus. Das vermutlich eschatologische Bild, das hier im Text gezeichnet wird, knüpft an vertraute altorientalische Vorstellungen an, nach denen eine vergleichbare Nähe zu den Göttern nur den Königen und besonderen Personen, wie z.B. Priestern zukam, deren Statuen im Tempel ihre Aufstellung fanden, um dort zusammen mit der Gottheit bzw. den Gott41
TOBLER, Siloahquelle, 285f.; BIEBERSTEIN/BLOEDHORN, Jerusalem, Bd. III, 239–241. TOBLER, Siloahquelle, 282. 43 Wer genau die Gruppe der Verschnittenen ausmacht, bleibt unklar, zum Problem vgl. KÜHN, Totengedenken, 340f. 44 Das Monument wird nicht errichtet (n̸b), sondern gegeben (ntn). Es geht nicht um eine konkrete Setzung des Denkmals, sondern um eine Stiftung in heilvoller Zukunft. 45 Die durch die Stilfigur des Hendiadyoin beabsichtigte Verstärkung sollte deshalb durch die Beibehaltung der getrennten Übersetzung beider Ausdrücke erhalten bleiben. Vgl. zu verschiedenen Reduktionsversuchen des doppelten Ausdrucks KÜHN, Totengedenken, 344. 42
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heiten beopfert zu werden. Die Kritik des Textes am Kult des Zweiten Tempels, der nur den Priestern und Leviten Privilegien vorbehielt, ist unverkennbar. 2.3 Ahnenbilder Im Unterschied zu vielen religionsgeschichtlichen Beispielen in der Umwelt des Alten Israel und auch in Israel selbst46 erhält man aus den Texten des Alten Testaments nur spärliche Hinweise auf Ahnenbilder, die unabhängig von einem Grabkontext Verstorbene im familiären Bereich repräsentierten. Diese Ahnenbilder bzw. Ahnenstatuetten werden in den alttestamentlichen Texten als „Terafim“47 bezeichnet.48 Trotz der mageren Hinweise in den alttestamentlichen Texten sollte die Bedeutung solcher Ahnenbilder nicht unterschätzt werden. Nach Niehr stellten sie sogar „eines der wichtigsten Instrumente des Totengedenkens im häuslichen Rahmen“49 dar. Die Repräsentation der Ahnen im Familienverband festigte nicht nur die Familienidentität, sondern hatte über die soziale Dimension hinaus einen rechtlichen Status. Nach altorientalischem Verständnis gehörte den Ahnen das Land der Familie, sie legitimierten deshalb den Anspruch der Familie auf das Land.50 Auf diesen rechtlichen Hintergrund verweist die heimliche Entführung der Terafim durch Rahel in Gen 31,34. Jakob als Ehemann Rahels erwirbt durch den Besitz der Terafim den Anspruch auf das Erbe Labans.51 Aufstellort der Ahnenbilder innerhalb des Hausbereiches könnte der Schlafzimmerbereich, der den Privatbereich der Familie bildete, gewesen sein (vgl. 1 Sam 19,13).52
46 Ein bekanntes Beispiel stellt die Sitzstatue des Stelenheiligtums von Hazor dar. Zur Rolle der Statue im Rahmen des Ahnenkultes vgl. GALLING, Stelenheiligtum. 47 Der Terminus trpym begegnet 15mal innerhalb des Alten Testaments, seine Etymologie ist nach wie vor nicht geklärt, vgl. VAN DER TOORN/LEWIS, terÁpîm; LEWIS, Teraphim. 48 Einige Textstellen, die nicht den Terminus „Terafim“ verwenden, deuten zwar auf die Existenz von Familienschutzgöttern hin (z.B. Ex 21,6), doch lässt sich diese Gruppe von Schutzgöttern nicht eindeutig allein auf Ahnen beziehen. Auch Fruchtbarkeitsgötter und andere Götter haben eine Rolle im Hauskult gespielt. 49 NIEHR, Aspekte, 3. 50 Zur engen Beziehung zwischen Land und Ahnen vgl. BRICHTO, Kin; VAN DER TOORN, Verborgenes Erbe, 108. 51 Vgl. dazu bereits THOMPSON, Historicity, 272–274. Beachtung verdient auch die These von SPANIER, Rachel’s Theft, dass Rahel, immer in Konkurrenz zur gebärfreudigen Lea, durch den Diebstahl der Ahnengötter den Status des Haupterben für ihren bis dahin einzigen Sohn Josef beansprucht. 52 NIEHR, Aspekte, 3; VAN DER TOORN, Verborgenes Erbe, 115.
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Ein ritueller Umgang mit den Ahnenbildern ist anzunehmen. Der symbolhafte Umgang mit dem Toten in Form seines Bildes ermöglichte die Kommunikation zwischen den Lebenden und Toten. Das Ahnenbild fungierte als Medium, der die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits sichtbar machen und durch eine rituelle Handlung auch überwinden konnte. Dies konnte beispielsweise durch eine Beopferung oder ein gemeinsames Mahl vor dem Ahnenbild geschehen. Die Texte des Alten Testaments nennen die Terafim vor allem in Zusammenhang mit divinatorischen Praktiken (1 Sam 15,23; 2 Kön 23,24; Ez 21,26; Sach 10,2), die in der deuteronomistischen Literatur scharf verurteilt werden. Die Kritik richtet sich allein gegen den kultischen Umgang mit den Terafim. Durch das Fremdgötter- und Bilderverbot im Dekalog wird aber indirekt auch jegliche Repräsentation der Toten zu unterbinden versucht.53 Neben den Hausgöttern spielten vermutlich Bilder von verstorbenen Königen im dynastischen Kult eine nicht unerhebliche Rolle. Herrscherbilder sind aus dem Alten Orient wohlbekannt. Diese dienten der Selbstthematisierung der Herrscher zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus. Durch Inschriften, in denen sich die Herrscher durch Nennung verdienstvoller Taten und in der Erfüllung sozialer Pflichten selbst rühmten, wurde nicht nur eine personale Identität des Herrschers über seine Lebenszeit hinaus gestiftet, sondern auch wesentlich die kollektive Identität der gesamten Gesellschaft gestärkt sowie das staatliche System gestützt. Das Bild, das Michal in 1 Sam 19,13 den Häschern Sauls im Bette Davids präsentiert, könnte ein Ahn aus der davidischen Familie gewesen sein. Nach Davids Salbung zum König wurde er zum Ahn der davidischen Dynastie. Einen Hinweis auf einen königlichen Totenkult in Verbindungen mit Memorialbildern der verstorbenen Könige gibt im Alten Testament möglicherweise Ez 43,7–9. Diese Verse verweisen auf Totenopfer (hebr. pægær)54 für die Könige. Diese Opfer könnten vor Memorialbildern vollzogen worden sein, wenngleich aus dem Text diesbezüglich kein Hinweis erscheint.55 Die Erwähnung von Opfern vor den toten Könige steht in einem exilischen Text, er wurde also in der Zeit geschrieben, als es bereits kein Königtum mehr gab. Nicht unwahrscheinlich ist, dass der Text nicht einfach eine Rückschau auf vorexilische Tatbestände vornimmt, sondern dass er einen 53
Vgl dazu auch LORETZ, Ahnen- und Götterstatuenverbot. Zum wahrscheinlichen Verständnis von pægær = Opfer/Totenopfer vgl. KÜHN, Totengedenken, 392ff. 55 Zur Debatte, ob die Bedeutung von hebr. pægær an dieser Textstelle „Stele“ meinen könnte vgl. KÜHN, Totengedenken, 389ff. Diese Bedeutung wird heute noch von RUSZKOWSKI, Volk, 138f. vertreten. 54
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noch bestehenden Kult kritisiert, der bis in die exilische Zeit hinein im Rahmen einer Königserwartung aufrecht erhalten wurde. Die Hoffnung auf Restitution des Königtums konnte auf diese Weise unterstützt werden. 2.4 Gaben an die Toten als Akt der Solidarität Das Totengedenken beschränkte sich nicht nur auf die bleibenden Repräsentation der Verstorbenen, sondern setzte sich auch in einer bleibenden Beziehung im Sinne eines sozialen Handelns an den Toten fort. Das bekannteste Handeln für die Toten ist neben dem Akt der Bestattung wohl ihre Versorgung mit Speisen und Getränken. Insbesondere Dtn 26,14 wird als Beleg angeführt, dass es im Alten Testament verboten gewesen sei, den Toten Spenden zu geben. Der Vers ist Teil der kleineren Einheit Dtn 26,12–15, die den abschließenden Rahmenteil der deuteronomischen Einzelbestimmungen in Dtn 12–26 bildet. Dtn 26,12–15 regelt die Verwendung des Zehnten im dritten Jahr. 56 V. 14 enthält ein Verbot, wem dieser Zehnt nicht zukommen darf. 14a Nicht habe ich während meiner Trauer davon gegessen und nicht habe ich etwas davon weggeschafft während ich unrein war und nicht habe ich etwas davon einem Toten gegeben. b Ich habe auf die Stimme JHWHs, meines Gottes gehört, habe alles das getan, was du mir befohlen hast.
Der Text gibt zwei Informationen. Erstens war es offensichtlich üblich, dass die Toten mit Gaben bedacht wurden, auch mit Teilen der Zehntabgabe, sonst wäre das Verbot der Verwendung des Zehnten im dritten Jahr für die Toten nicht nötig gewesen. Zweitens geht aus dem Text auch nur das Verbot zur Verwendung des Zehnten im dritten Jahr für einen Toten hervor, da dieser Zehnt für eine besondere Nutzung bestimmt war. Es wird kein grundsätzliches Verbot der Totenspende ausgesprochen.57 Die genaueren Umstände, in welchem Kontext diese Gabe an Tote erfolgte, lässt sich aus diesem Text leider nicht erschließen.58 Dass eine Gabe an Tote üblich war, lässt sich auch aus anderen Textstellen des Alten Testaments herauslesen. Sir 7,31–34 rechnet neben den Armen, den Witwen und Waisen auch die Verstorbenen zu den Bedürftigen, die mit einer Gabe bedacht werden sollen. Im Tobitbuch (Tob 4,17) 56
Vgl. zum Verständnis und zur Auslegung der Verse KÜHN, Totengedenken, 351–357. So auch ROSE, 5. Mose, 353. 58 Dies gilt sowohl für eine im Rahmen der Bestattung vorgenommene Ausstattung des Toten für seine Reise ins Jenseits, als auch für Opfergaben an Tote im Rahmen bestimmte Feste. Ein jährliches Fest für die gesamte Sippe, zu der auch die Ahnen gehören, ist wahrscheinlich in 1 Sam 20,6.29 belegt, doch geht auch aus diesem Text keine genaue Information hervor. 57
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ist die Spende auf das Grab59 der verstorbenen Gerechten eine Ehrensache. Auch im Alten Testament wird im Sinne der sozialen Memoria das Totengedächtnis mit der Handlung einer Gabe an den Toten verbunden. Diese Gaben sind als Akt der Solidarität zu werten, es geht nicht (allein) um die Beschwichtigung eines Totengeistes. 2.5 Das Mahl mit den Toten Das Mahl mit den Toten nahm in der heidnischen und christlichen Antike eine wichtige Stellung ein. In den orthodoxen Kirchen hat sich die Sitte, im Rahmen des Gräberbesuchs ein Mahl mit den Toten zu halten, sogar bis heute erhalten. In der lateinischen Tradition dagegen wurde das Totenmahl bereits ab dem frühen Mittelalter aus dem kirchlichen Bereich gedrängt und der Totenkult weitgehend auf Heilige und Märtyrer eingegrenzt.60 Für das Alte Testament lässt sich ein Mahl im Kontext von Tod und Sterben für Jer 16,1–9 nachweisen. Der Text kündet ein großes Sterben an und zählt die üblichen Riten im Kontext eines Todesfalles auf, die den Toten aber zukünftig als Strafe verweigert werden (V. 6f). 6a Und es werden sterben die Großen und die Kleinen in diesem Land; nicht werden sie begraben61 b und nicht wird man sie betrauern und nicht wird man sich Einritzungen machen und nicht wird man sich kahl scheren für sie. 7a Und nicht wird man Brot62 wegen der Trauer63 brechen, um jemanden zu trösten wegen eines Toten 59 Wörtlich: βƬГ ưЕƩ ưƘƲƫƩ. Die Übersetzung „beim/für das Begräbnis“ lässt sich vom Text her nicht begründen. So übersetzt aber dennoch die Einheitsübersetzung und auch der neueste Kommentar von SCHÜNGEL-STRAUMANN, Tobit, 96f. Sie lehnt sich dabei an KÜCHLER, Frühjüdische Weisheitstraditionen, an, der wie der Kommentar von GROß, Tobit, 27f. der Meinung ist, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: „Da es unwahrscheinlich ist, dass in Tob empfohlen wird, was das Gesetz verbot, kann Tob 4,17 nicht wörtlich verstanden werden. Denn Brot (und Wein) auf Gräber zu legen, widerspricht Dtn 26,14.“, vgl. KÜCHLER, Frühjüdische Weisheitstraditionen, 375. 60 OEXLE, Totengedenken, 50ff. Anliegen war zum einen das Abgrenzen von heidnischer Gesinnung, zum anderen die Sicherung der kirchlichen Kontrolle der Märtyrer- und Heiligenverehrung. Doch verschwand das Totenmahl als wichtiger Ausdruck der Beziehung Lebender zu ihren Toten auch in der westlichen Tradition nicht. Bis ins hohe Mittelalter und noch in der Neuzeit wurde es im außerkirchlichen Bereich in verschiedenen laikalen Gruppen wie Gilden oder Genossenschaften oder im privaten Verwandtschaftskreis begangen. 61 Der Versteil 6a fehlt zwar in LXX. STIPP, Sondergut, 64, Anm. 12 geht aber von einem zufälligen Textverlust aus Nachlässigkeit aus. 62 l̲m statt lhm korrigiert nach LXX. 63 Vulg. liest lugenti –„dem Trauernden“. Entsprechend wird eine Umvokalisierung von BHS zu ťÁbÓl vorgeschlagen.
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Dagmar Kühn und nicht wird man ihn64 trinken lassen den Becher der Tröstungen wegen seines Vaters und wegen seiner Mutter.
b
Es werden die Bräuche des Brechen des Trauerbrotes genannt und das Reichen des Trostbechers. Dafür, dass diese mit dem Begräbnis verknüpft gewesen sind, spricht der Kontext der Verse. Trotzdem bleibt der Text undeutlich. Aufgrund der genannten Trauerriten handelt sich eher nicht um ein Gedächtnismahl zu Ehren von bereits vor längerer Zeit Verstorbenen. Inwieweit bei dem gemeinsamen Trauermahl der Tote mit einbezogen war, lässt sich nicht aus dem Text erheben. Wenn die Feierlichkeiten im unmittelbaren Rahmen des Begräbnisses stattfanden, dann ist es sogar fast unwahrscheinlich, dass das Mahl zusammen mit dem Toten abgehalten wurde. Die erste Sorge nach der Bestattung eines Toten war, dass dieser ordnungsgemäß ins Jenseits gelangen konnte. Das Mahl, das dann wohl zunächst einmal für die Hinterbliebenen bestimmt war, fand aber wohl im solidarischen Gedenken an den ins Jenseits aufbrechenden Toten statt, der seinerseits im Grab für den Übergang ins Jenseits mit Beigaben versorgt worden war.65 2.6 Fürbitte und Sühnopfer für Tote 2 Makk 12,39–45 ist ein Beispiel dafür, dass die jüdische Solidargemeinschaft auch über die Grenze des Todes hinaus bestand.66 Sie bildete den Kreis der Gerechten, die am Ende der Tage auferstehen würden, um in Gemeinschaft mit JHWH zu leben. Deshalb war es wichtig, dass jeder dieses Ziel erlangen konnte. Als im Kampf gegen den Statthalter von Idumäa Juden umgekommen waren, die Amulette der Götzen von Jamnia getragen hatten, wurden von den Lebenden Fürbitte und Sühnopfer für die Toten geleistet, um ihre Auferstehung zu ermöglichen.67 Die starke Verantwortlichkeit für die vom rechten Glauben abgefallenen Juden unterstreicht, wie wichtig der Zusammenhalt der Juden in der hellenistischen Zeit geworden war. Nur als Ganzes konnte sich das jüdische Volk gegen die seleukidische Obermacht durchsetzen. Fürbitte und Sühnopfer für Tote als solidarischer Akt der Gemeinschaft stellen eine Weiterentwicklung der solidarischen Akte der Gaben an Tote 64
Korrigiert nach LXX. In den Text ist aufgrund der Nennung eines marzea̲-Hauses religionsgeschichtlich viel hineininterpretiert worden, vgl. dazu KÜHN, Totengedenken, 363ff. 66 Vgl. KÜHN, Totengedenken, 368–371. 67 Analoges findet sich in der christlichen Gemeinde von Korinth. 1 Kor 15,29 berichtet davon, dass sich die Hinterbliebenen stellvertretend für die noch ungetauft Verstorbenen taufen lassen konnten, damit auch diesen die Auferstehung in Gemeinschaft der Christen zuteil wurde. 65
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dar. Auferstehungsglaube und Totengedenken werden ohne Problem miteinander in Einklang gebracht, ja der Auferstehungsglaube ermöglicht sogar eine neue Dimension in der gegenseitigen Beziehung der Lebenden und Toten und vor allem in der Stellung der Toten. Genossen die Toten in vorexilischer Zeit hohes Ansehen,68 da sie einen günstigen Einfluss auf die Zukunft und das Schicksal der Lebenden auszuüben vermochten, so konnten sie in hellenistischer Zeit vor JHWH für die Lebenden eintreten. Dies galt vor allem für solche Toten, die bereits im Leben eine enge Beziehung zu JHWH innegehabt hatten. In 2 Makk 15,12–16 legen der verstorbene Hohepriester Onias und der Prophet Jeremia für das Volk Fürsprache vor JHWH ein.
Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Gedenken der Toten zu allen Zeiten im Alten Israel seinen Ausdruck fand. Bis auf wenige Praktiken, die den Toten eine konkurrierende Position zu JHWH zuerkannte, kann nicht von einer grundsätzlichen Polemisierung einer Beziehung zwischen Lebenden und Toten gesprochen werden. Auch die Gegenseitigkeit in der Beziehung bleibt erhalten. So zeigt sich im Laufe der Jahrhunderte vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Jenseitsvorstellung eine Veränderung in der Stellung der Toten. Herausragende verstorbene Persönlichkeiten können vor JHWH Fürbitte für die Lebenden leisten. Auch kann JHWH die „Sohnespflicht“ des ehrenden Andenkens von nahen Anverwandten übernehmen. Das Gedenken der Toten durch die Hinterbliebenen und das Gedenken der Toten durch JHWH im Alten Israel schlossen sich nicht aus, sondern bestanden nebeneinander.
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Totenversorgung, Totengedenken und Nekromantie Biblische und archäologische Perspektiven ritueller Kommunikation mit den Toten RÜDIGER SCHMITT
1. Formen ritueller Kommunikation mit den Toten im Alten Testament „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (EG 518) war auch für die Menschen im Alten Israel eine alltägliche Erfahrung und Gewissheit, die sich grundsätzlich von der neuzeitlichen Wahrnehmung des Todes unterscheidet, die diesen mehr und mehr aus dem Alltagserleben auszugliedern versucht. Der Tod und der Umgang mit den Toten umfasste im Altertum jedoch weit mehr als die Erfahrung, dass der Tod häufig Gast im Haus war, sondern auch unterschiedliche Formen ritueller Kommunikation mit den Toten, vor allem im Kontext der Familie, die insbesondere die innerfamiliäre Solidarität und die bleibende Verbindung zwischen Lebenden und Toten zum Ausdruck brachten und erhielten. Hierzu gehören Formen des Totengedenkens und der Ehrung der Ahnen bzw. des Angedenkens im Haus und an der Grabstätte, Begräbnis- und Trauerriten, sowie die Befragung der Toten. Totenriten sind darüber hinaus wichtige Vermittler von Identität, insbesondere auf familiärer und lokaler Ebene. Während die textlichen Zeugnisse zum rituellen Umgang der Lebenden mit den Toten v.a. in den letzten beiden Dekaden Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen sind,1 so wurde – sieht man von der Behandlung der Gräber und ihrer Ausstattung
1 U.a. FISCHER, Tod und Jenseits; JANOWSKI, Art. Jenseitsvorstellungen; KÜHN, Totengedenken; OLYAN, Mourning; PHAM, Mourning; PODELLA, Jenseitsvorstellungen; DERS., Art. Ahnenverehrung; DERS., Totenrituale; SCHMIDT, Dead; SPRONK, Afterlife; VAN DER TOORN, Totenkult. Neben den allgemeineren Arbeiten zur Thematik stand insbesondere die Nekromantie im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses: CRYER, Divination; JEFFERS, Magic; LEWIS, Cult; PODELLA, Nekromantie; DERS., Art. Nekromantie; TROPPER, Nekromantie; D ERS., Art. Spirit. Für die ugaritischen Zeugnisse: DIETRICH/LORETZ, Mantik.
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ab2 – anderen archäologischen Kontexten der Kommunikation mit den Toten kaum Aufmerksamkeit gezollt. In den folgenden Ausführungen soll daher versucht werden, nach einem kurzen Überblick über die einschlägigen Textbefunde, relevante archäologische Evidenzen vorzustellen und diese mit den literarischen in Beziehung zu setzen, wobei einiges freilich hypothetisch bleiben muss. 1.1 Nekromantie Die alttestamentlichen Quellen sind bekanntermaßen recht schweigsam, wenn es um den rituellen Umgang mit den Verstorbenen geht, oder polemisieren gegen bestimmte Formen ritueller Kommunikation mit den Toten, insbesondere gegen die Nekromantie. So untersagt das Prophetengesetz in Dtn 18,11 ausdrücklich die Befragung von ťčb, yiddeŦčnîm und mÓtîm.3 Den Umgang mit ťčbčt und yiddeŦčnîm verbieten auch Lev 19,31 und 20,6.4 Auch prophetische Polemiken wie Jesaja 8,19f – zumeist von Dtn 18,11 abhängig – wenden sich gegen die Befragung der Totengeister: Und wenn Sie zu euch sagen. Befragt doch ťčbčt und yiddeŦčnîm, die da flüstern und murmeln. Soll ein Volk nicht seine Totengeister (ťÓlčhîm)5 befragen, für die Lebendigen die Toten? Zu Gesetz und Bezeugung! Sie reden nach diesem Wort, das keine Macht hat.
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Die Konsultation der rÕpÁťîm durch Asa in 2 Chr 16,12 hat dann auch schließlich dessen Tod zur Folge. Einzig die spektakuläre Befragung des Totengeistes Samuels durch die Beschwörungsgrube (ťčb) in 1 Sam 28,3–25 vermittelt einen tieferen Einblick in die (vorexilische) nekromantische Praxis unter Einbeziehung religiöser Spezialisten.6 Spätere Texte, wie die Erwähnung der Terafim-Befragung in Sach 10,2, gebrauchen eine stereotypisierte Sprache, in der
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Siehe v.a. BLOCH-SMITH, Burial Practices. Die Arbeit von WENNING, Eisenzeitliche Gräber, ist bislang leider unveröffentlicht geblieben. Die wichtigsten Ergebnisse liegen jedoch in einer Reihe von Lexikon- und Überblicksartikeln vor (WENNING/ZENGER, Tod; WENNING, Art. Grab; DERS. Bestattungen; DERS., Art. Bestattung II; DERS., Medien). 3 Die vieldiskutierten ťčbčt könnten – wie in 1 Sam 28 – sowohl Beschwörungsgruben wie auch die daraus evozierten Totengeister selbst meinen. Zur Diskussion vgl. TROPPER, Nekromantie, 189ff; JEFFERS, Magic, 169; LORETZ, ťab. Die ‚Wissenden‘ (hayyidde Ŧčnîm) in V. 11 bezeichnen wohl die Totengeister selbst oder (mit LORETZ, ab, 509f) deren Abbilder. Zu yiddeŦčnîm vgl. TROPPER, Nekromantie, 317ff; CRYER, Divination, 260f; LORETZ, ťab, 509. 4 Vgl. hierzu SCHMITT, Magie, 345f. 5 In Hinblick sowohl auf den Kontext als auch auf 1 Sam 28,13 ist ťÓlčhîm hier am besten mit ‘Totengeister’ wiederzugeben. Vgl. auch PODELLA, Jenseitsvorstellungen, 87. 6 Die baŦÃlat ťčb kann als religiöser Phänotypus am besten mit der anatolischen ̴aššawa / SALŠU.GI verglichen werden. Siehe hierzu ÜNAL, Role, 65 und HAAS, Geschichte, 883.
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diese Praktiken zum polemischen Topos geworden und daher religionsgeschichtlich wertlos sind.7 Ein Grund für die biblischen Verdikte dürfte darin zu sehen sein, dass der Umgang mit den Toten zur Erkundung der Zukunft zuerst in der deuteronomisch-deuteronomistischen, der priesterlichen und schließlich der prophetischen Traditionslinie als Verletzung der Souveränität Jahwes gewertet wurde, wobei in letzterer vermehrt die Behauptung ritueller Autorität mitschwingt.8 Auch Veränderungen im Symbolsystem – insbesondere im Hinblick auf die sozialen Grenzziehungen zwischen Lebenden und Toten – der nachexilischen Zeit dürften hierbei eine Rolle gespielt haben, wobei deren Reichweiten und Konsequenzen in der Forschung jedoch unterschiedlich bewertet werden.9 Wie auch immer man die religionsgeschichtliche Entwicklung erklären mag, auf jeden Fall spielen in der nachexilischen Zeit nekromantische Praktiken keine Rolle mehr. In der hellenistischen Zeit sind viele der einschlägigen hebräischen Nekromantie-Termini schon nicht mehr verstanden worden. 1.2 Totenversorgung und andere Formen rituellen Totengedenkens Auch die alttestamentlichen Belege für andere Formen rituellen Umgangs mit den Toten, insbesondere ihre Versorgung, sind spärlich. Ein Institut der Totenpflege analog dem mesopotamischen kispum10 ist für das Alte Israel zwar nicht unmittelbar belegt, doch geben die Texte einige Hinweise sowohl auf bestimmte Riten im Kontext der Bestattung als auch auf regelmäßige bzw. periodisch wiederkehrende Riten im Rahmen der Totenversorgung. Die besondere Verehrung verstorbener Könige bezeugen 2 Chr 16,14; 2 Chr 21,19 und Jer 34,5 durch das Entzünden von Feuern (ěerapÁh/ miěrapčt) bei der Bestattung, wobei es sich nicht um Opferfeuer handelt, sondern um einen selbständigen – und wie assyrische Parallelen nahe legen – möglicherweise apotropäischen Ritus.11 Einige Exegeten haben auch die in Ez 43,7–9 erwähnten pgr als Totenopfer oder Stelen für den König gewertet,12 diese Bedeutung wird jedoch vom sonstigen Gebrauch von pgr (Leichnam, Kadaver) im Alten Testament nicht gedeckt. Ez 43,7ff polemisiert wahrscheinlicher gegen den Brauch der Bestattung der Könige im Pa-
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Vgl. TROPPER, Nekromantie, 337f. Vgl hierzu SCHMITT, Magie, 339ff. 9 So betont DOUGLAS, Jacob’s Tears, 176ff die enorme Bedeutung einer Grenzziehung zwischen Lebenden und Toten, wohingegen SCHMIDT, Dead, 276ff diese eher als gering einschätzt. 10 Siehe hierzu TSUKIMOTO, Totenpflege. 11 Siehe hierzu ZWICKEL, Verbrennen. Es ist jedoch nicht notwendig, mit ZWICKEL, ebd., 276f an eine Entlehnung zu denken. 12 Zusammenfassungen der Diskussion bieten KÜHN, Totengedenken, 384ff und DIETRICH/LORETZ, Weihen, 236. 8
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last und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tempel, der durch die Nähe der Kadaver verunreinigt wird. Grundsätzlich muss aufgrund der Quellenlage davon ausgegangen werden, dass ein regelrechter Ahnen- bzw. Totenkult mit Totenopfern – im Sinne einer Verehrung der Toten analog einer Gottheit – sowohl im Alten Israel wie auch seiner Umwelt im 1. Jt. v.Chr. nicht belegt ist.13 Dies schließt jedoch nicht die Notwendigkeit der Versorgung der Toten mit Trank- und Speisespenden, der Kommemoration (auch vermittels figurativer Repräsentanzen, siehe unten 1.4) und der Fürbitte aus. Im Anschluss an die moderne religionsethnologische Diskussion wird man den Status der Ahnen nicht mehr religionsphänomenologisch als quasi-göttlich beschreiben können, sondern muss ihn soziologisch als bleibende Verbundenheit innerhalb der sozialen Primärgruppe definieren.14 In den Kontext der familiären Religion gehört das jährlich an einem Interlunium (̲odeš) vollzogene Opferfest für den ganzen Klan (zeba̲ hayyÁmîm lÕkol-hammišpÁ̲â) in 1 Sam 20,6, wobei das lÕkol-hammišpÁ̲â wahrscheinlich auf die auch über den Tod hinaus bestehende Solidarität des ganzen Klans in Beziehung zu setzen ist.15 David versucht hier, sein Fehlen an dem nämlichen Bankett an der Tafel des Königs mit der Notwendigkeit seiner Anwesenheit bei seiner Familie in Betlehem zu begründen. Nach 1 Sam 10,2-3 gehören, wie K. van der Toorn gezeigt hat,16 auch Besuche der Ahnengräber (hier am Grab der Rahel und der wohl mit dem Grab der Debora identischen Tabor-Eiche) zu den rituellen Begehungen am Interlunium. Eine regelmäßige Speisung der Toten erwähnt Dtn 26,14. Der Text gehört zum sogenannten „liturgischen Anhang“17 der Bestimmungen des Zehntjahres, der eine Schwurformel des Zehntpflichtigen erhält, in dem er vor Jahwe versichert, nichts vom dem „Heiligen“ für Zwecke benutzt zu haben, die es entweihen könnten. Hierzu gehören sowohl das Essen vom Zehnten in der Zeit der Trauer, anderen Phasen der Unreinheit, als auch das
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Die Annahme eines religionsgeschichtlich der Religion vorgängigen Ahnenkultes, zuerst von N.D. Fustel de Coulanges (Ancient City, 1873), H. Spencer (Principles, 1872), E.B. Tylor (Primitive Culture, 1873) und W. Robertson Smith (Religion, 1889) formuliert, wird auch heute häufig noch im Sinne eines vorgängigen Phänomens oder „Survivals“ behandelt. Siehe hierzu ausführlich SCHMIDT, Dead, bes. 292. 14 Siehe THIEL, Religionsethnologie, 138ff. 15 Siehe hierzu VAN DER TOORN, Family Religion, 211ff. 16 VAN DER TOORN, Family Religion, 214ff. 17 Vgl. BRAULIK, Deuteronomium, 191. Es dürfte sich jedoch kaum um „Gegenliturgien zu kanaanäischen Fruchtbarkeitskulten“ handeln wie von BRAULIK vermutet, sondern um indigene israelitische Riten.
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Abzweigen von Gaben für einen Toten (V. 14a). Keinen Hinweis auf Totenmähler enthält jedoch der in diesem Kontext häufig angeführte Ps 106,28.18 Speisegaben an Tote scheinen noch in der hellenistischen Zeit üblich gewesen zu sein: So gilt bei Sir 7,33 die Gabe an die Toten als heilige Pflicht und in Tobit 4,17 gehört die Brotgabe auf das Grab der Gerechten (ζƦƳơƫƩ ưƫЗƮ ΦƭưƫƱƮ ƯƫƱ βƬГ ưЕƩ ưƘƲƫƩ ưҊƩ ƠƥƦƝДƵƩ) zu den Belehrungen, die Tobit seinem Sohn Tobias mit auf den Weg gibt.19 Auch archäologisch sind Grabbeigaben mit Speisespenden im hellenistischen Zeitalter gut bezeugt.20 Einen bemerkenswerten Hinweis auf die Totenpflege in der hellenistischen Zeit bietet 2 Makk 12,39–45: Judas Makkabäus lässt nach der Schlacht gegen Gorgias Sühneopfer (V. 43: ƬơƭГ ΣƨƝƭưƛƝƮ ƤƱƯƛƝƩ) für die gefallenen Juden darbringen, bei denen man Götzenamulette gefunden hatte, um sie in Hinblick auf die Auferstehung von ihrer Schuld zu entsühnen (V. 45: ưџƮ ΣƨƝƭưƛƝƮ ƬƫƧƱƤџƩƝƥ). Die in 2 Makk bezeugte Möglichkeit von post mortem aus Solidarität für die Toten vollzogenen Sühneritualen zeigt, dass sich trotz der unbezweifelbaren Kompetenzausweitung Jahwes21 keine Dissoziation der Lebenden von den Toten in der nachexilischen Zeit vollzieht.22 Etwas ausführlichere Schilderungen des rituellen Umgangs mit den Toten finden sich in Jer 16,5–8 und Jes 65,4f. Jer 16 ist als Zeugnis der im familiären Kontext vollzogenen Handlungen und Jes 65 als Beleg für kommemorative Ritualmähler im Kontext des Grabes anzusprechen. Von zentraler Bedeutung ist nach Jer 16,5–8 insbesondere das rituelle Toten- bzw. Trauermahl im Kontext des auch in Ugarit belegten marzea̲.23 Wie zahlreiche Arbeiten zur Thematik dargelegt haben und es auch Am 6,7 nahe legt, bezeichnet marzea̲ wohl keinen terminus technicus für das Totenmahl, sondern eher eine Institution nach Art eines Vereins und eine Örtlichkeit ohne feste Assoziation zum Totenkult.24 Der Text macht
18 So SPRONK, Afterlife, 232; LEWIS, Cult, 167. Dagegen SCHMIDT, Dead, 266f. Vgl. auch KRAUS, Psalmen II, 904 und SEYBOLD, Psalmen, 423f. 19 So auch KÜHN, Totengedenken, 355 mit Anm. 21. 20 Siehe HACHLILI/KILLEBREW, Funerary Customs, 116, 121; KUHNEN, Palästina, 77; TRIEBEL/ZANGENBERG, Hinter Fels, 456. 21 Vgl. JANOWSKI, Art. Jenseitsvorstellungen; DERS., Konfliktgespräche, 229ff; NIEHR, Status. 22 Auch in der rabbinischen Literatur wird mit der Kommunikation zwischen Lebenden und Toten gerechnet, wie in der Erzählung vom Frommen, der durch Belauschen (oder Inkubation) der Geister in einer Grabstätte Informationen zum günstigsten Zeitpunkt der Aussaat erhält (Ber 18b). Dieselbe Quelle spricht auch von einer unmittelbaren verbalen Kommunikation einer Toten mit einem Lebenden. 23 KTU 1.21; 1.114; 3.9; 4.642. 24 Siehe u.a. SPRONK, Afterlife, 196ff; LEWIS, Cults, 80–94; SCHMIDT, Dead, 246ff; MAIER/DÖRRFUSS, marzea̲; SCHORCH, Karneval.
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jedoch deutlich, dass ritualisierte Formen des Mahles wie das Brechen von Brot und das Verabreichen des Trostbechers (kôs tan̲ûmîm) neben den Riten des Klagens, des Sich-Kahlscherens und Einritzens Bestandteil von Trauerritualen waren, die im Rahmen eines marzea̲ von seinen Mitgliedern und Gästen durchgeführt worden sind. Eine religiöse Komponente wird man dem marzea̲ daher nicht absprechen können.25 Die ausführlichste Schilderung von Praktiken an bzw. in Begräbnisstätten selbst findet sich in Jes 65,4f: 4 Sie sitzen in den Grabkammern und verbringen die Nächte in Höhlen; sie essen das Fleisch von Schweinen und haben Brühe von unqualifiziertem Opferfleisch (piggûl)26 in ihren Töpfen; 5 Sie sagen: Bleib, wo du bist! Komm mir nicht nahe, sonst bist du geweiht (qedaštîkÁ).
Die tritojesajanische Polemik richtet sich offenbar gegen den Brauch von Totenmählern, die den Verzehr von Fleisch mit einschließen, wobei der Verzehr des als unrein geltenden Schweines als spezielle Totenversorgungsmahlzeit verstanden werden kann: Die Ritualteilnehmer verzehren die den Toten homologe unreine Mahlzeit, um diesen gleich zu werden.27 Dass der Verzehr von Schweinen nicht eine polemische Verzerrung ist, sondern tatsächlichem Brauch entsprechen könnte, zeigt der Fund von Schweineknochen in zwei eisenzeitlichen Gräbern des 7. Jh. aus Lachisch.28 Bei dem ‘unqualifiziertem Opferfleisch’ (piggûl), handelt es sich um Opferfleisch, das nach Lev 7,18 und 19,7 innerhalb von zwei Tagen verzehrt werden muss, am dritten aber untauglich wird und verbrannt werden muss. Die Partizipanten eines solchen Rituals befinden sich durch die Nähe zu den Toten in einem Zustand von besonderer Heiligkeit (qdš aber nicht – wie im Falle der Totenberührung nach Num 19,11 zu erwarten – ̺mť), der Unbeteiligte kontaminieren könnte. Auch nekromantische Praktiken könnten mit solchen Totenmahlzeiten verbunden gewesen sein: Die LXX ergänzt in V. 4a: Ơƥї βƩƹƬƩƥƝ, was auf Traumorakel hindeutet, die man an diesem Ort erwartete. Ob LXX hier aus zeitgenössischer hellenistischer Praxis ergänzt oder tatsächlich einen ursprünglichen Hinweis erhalten hat, ist letztendlich nicht mehr zu entscheiden. Von Bedeutung ist jedoch der Hinweis auf im Grab selbst vorgenommene Mahlzeiten, die die dauerhafte Verbindung der Lebenden mit den verstorbenen Familienmitglie-
25 Generell muss hier in Hinblick auf das griechisch-römische Vereinswesen darauf hingewiesen werden, dass diese Vereinigungen heutigen Vorstellungen von profanen Zusammenschlüssen nicht entsprechen, sondern immer religiöse Komponenten beinhalteten. Dies gilt umso mehr für die römischen Bestattungsvereine. Siehe hierzu den Sammelband von GUTSFELD/KOCH, Collegia. 26 Zu piggûl vgl. WRIGHT, Disposal, 141f. 27 Vgl. LÉVI-STRAUSS, Mythologica I, 169 u.ö. 28 Vgl. TUFNELL, Lachish III, 187.193f.
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dern zum Ausdruck bringen, wobei die Teilnehmer sich temporär durch den Aufenthalt im Grab und durch den Verzehr des unreinen Fleisches dem Status der Toten angleichen. 1.3 Erwähnungen von Totendenkmälern im Alten Testament Rituelles Gedenken an die Toten hatte seinen Ort nicht nur im Haus oder bei Gedächtnismählern im Kreise der Angehörigen und Freunde, sondern das Alte Testament berichtet auch von materialen Memoriae für die Toten, die als yÁd (2 Sam 18,18; Jes 56,5), ̸îyyûn (Grab des Gottesmannes in 2 Kön 23,17) oder ma̸̸ebÁ (Rahelgrab in Gen 35,20; Abschalom-Monument in 2 Sam 18,18) bezeichnet werden.29 Das Errichten einer solchen Memoria ist nach Gen 35,20 und Jes 56,6 primär Bestandteil familiärer Pietät. Die Bezeichnung der Memoria als ma̸̸ebÁ lässt auf eine bearbeitete oder auch unbearbeitete Stele schließen, deren Funktion über eine bloße Markierung des Grabes hinausgehen dürfte: Die explizite Benennung der ma̸̸ebÁ Abschaloms in 2 Sam 18,18 „nach seinem Namen“ als „Mal (yÁd) Abschaloms“ könnte nicht nur in Hinblick auf ein Grabdenkmal, sondern auch in Richtung einer Art Repräsentation des Toten – die nicht mit einer Identifizierung im animistischen Sinne missverstanden werden sollte – analog den späteren nabatäischen npš-Pfeilern verstanden werden. In ähnlicher Weise ist wohl auch das yÁd wÁšÓm in Jes 56,5 zu verstehen, das dem Namen der Verstorbenen Dauer verleihen soll, hier aber deutlich außerhalb des Grabkontextes, nämlich im Tempel selbst. Archäologisch konnten für das Israel und Juda der Königszeit indes bisher keine solchen Memoriae nachgewiesen werden.30 In der hellenistisch-römischen Zeit gehören npšPfeiler bzw. deren bildhafte Repräsentation jedoch zur Ausstattung jüdischer Gräber.31 Diese lassen sich auch literarisch in der Makkabäerzeit nachweisen: So erwähnt Josephus (Flav.Jos.Ant. XIII 212) monolithische Pfeiler (ƯưƹƧƫƱƮ ƨƫƩƫƧƛƤƫƱƮ), die Simon zum Gedenken an seine Eltern und seine Brüder an den Grabmonumenten anbringen lässt.
29
Siehe hierzu auch SCHROER, Bilder, 361ff, 168ff; BLOCH-SMITH, Burial Practices, 113f; KÜHN, Totengedenken, 311ff. 30 Die monumentalen eisenzeitlichen Grabdenkmäler in Silwan stellen hierbei als architektonischer Ausdruck herrschaftlicher Repräsentation eine Besonderheit dar. 31 Siehe HACHLILI/KILLEBREW, Funerary Customs, 114f; KUHNEN, Palästina, 80.
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1.4 TƟrƗpîm als mögliche Repräsentationen der Ahnen Von den in den alttestamentlichen Texten erwähnten figurativen Objekten kommen in erster Linie die tÕrÁpîm32 für eine Identifikation mit den Ahnenfiguren in Frage. Der Begriff selbst ist sehr wahrscheinlich eine hebraisierte Form des hethitisch-hurritischen Begriffs tarpiš ‚Dämon‘, ‚Schutzgeist‘ (entsprechend dem akkadischen šÓdu).33 Ein unmittelbarer Zusammenhang des Begriffs mit rpť ‘heilen’ oder den repÁťîm im Sinne von ‚Totengeist‘34 ist sowohl in etymologischer wie in sachlicher Hinsicht problematisch. Der alttestamentliche Gebrauch von tÕrÁpîm lässt eine Deutung in Richtung unterschiedlicher Ritual- oder Kultobjekte zu: Bei den von Rahel entwendeten tÕrÁpîm in Gen 31, die in V. 30 und 32 als ťêlčhîm (‚Gott‘) bezeichnet werden, handelt es sich deutlich um kleinformatige Objekte, die als Repräsentation eines Familien- oder Hausgottes bzw. eines vergöttlichten Ahnen Labans anzusprechen sind. Die Deutung von tÕrÁpîm als Ahnenfigur gewinnt dadurch an Gewicht, da auch in 1 Sam 28,13 und Jes 8,19 der Begriff ťêlčhîm als Geist eines Verstorbenen zu verstehen ist. Die Erwähnung der tÕrÁpîm im Kontext mantischer Praktiken, insbesondere deren explizite Befragung in Ez 21,6 und ihr Reden in Sach 10,2 könnte für eine Deutung als Ritualmedium in der Totenbefragung sprechen, wiewohl beide Belege aufgrund ihrer polemischen Tendenz und der Abhängigkeit des Sacharja-Textes von 1 Sam 15,23 nur unter Vorbehalt religionsgeschichtlich auswertbar sind. Als deutlicher Hinweis auf tÕrÁpîm als Ritualobjekte der Nekromantie ist jedoch 2 Kön 23,24 zu interpretieren, da Dtn 18,11, quasi das „Programm“ für die joschijanische Reform, in der Aufzählung der verbotenen Praktiken statt von tÕrÁpîm von den Toten (mÓtîm) spricht. Weniger klar ist die Bedeutung des als tÕrÁpîm bezeichneten Ritualobjekts in Ri 17 und 18, das zwar von einem Schnitz- und Gussbild unterschieden wird, aber mit dem hier wohl als Kleidungsstück zu interpretierenden ťepôd zusammengestellt wird. Es ist daher erwogen worden, den tÕrÁpîm in Michas Heiligtum als eine vom Priester getragene Kultmaske zu interpretieren.35 Auch für den von Michal in 1 Sam 19,13; 1 Sam 19,16 als Substitut für David benutzten tÕrÁpîm ist eine Deutung als Maske erwogen worden,36 da dieses Objekt größer gewesen sein muss als eine Figurine. Die offensichtliche Mehrdeutigkeit von tÕrÁpîm spricht dafür, dass dieser Terminus unterschiedliche anthropomorphe Ritualobjekte bezeich-
32 Gen 31,19; Gen 31,34; Gen 31,35; Ri 17,5; 18,14.17f.20; 1 Sam 15,23; 19,13.16; 2 Kön 23,24; Ez 21,26; Hos 3,4; Sach 10,2. 33 SEYBOLD, Art. t erÁfëm, 1057; LEWIS, Art. t erÁpîm, 766; LEWIS, Art. Teraphim, 845. 34 Vgl. TROPPER, Nekromantie, 334. 35 SEYBOLD, Art. t erÁfëm, 1058. 36 So u.a. ELLIGER, Art. Teraphim, 691; FOHRER, Art. Teraphim, 1952.
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nen konnte. Da jedoch die Mehrzahl der Belege auf kleinplastische Objekte hinweist, ist im Kontext der häuslich-familiären Religion am ehesten an eine Ahnenstatuette zu denken, die sowohl zur Verehrung der Ahnen (auch hier im Sinne einer Memoria bzw. einer Repräsentation und nicht eines regelrechten Ahnenkultes) im Allgemeinen als auch als Ritualmedium zur Befragung des Totengeistes Verwendung gefunden haben könnte. Dies führt uns nun zu den möglichen archäologischen Evidenzen der Ahnenverehrung, Totenfürsorge und Nekromantie.
2. Archäologische Evidenz für Ahnenverehrung, Totenfürsorge und Nekromantie 2.1 Ahnenverehrung in Hauskontexten Hinsichtlich der Frage nach einer möglichen archäologischen Evidenz für Ahnenverehrung und andere rituelle Umgangsformen mit den Toten in Hauskontexten ist zuerst zu klären, nach welchen diagnostischen Leitobjekten zu suchen ist. Die als Ahnenfiguren identifizierbaren biblischen tÕrÁpîm sind zwar mit den eisenzeitlichen Terrakotten in Verbindung gebracht worden,37 eine überzeugende Identifizierung mit bestimmten Typen ist jedoch bislang nicht gelungen.38 Für Ahnenfigurinen kommen zwar am ehesten Terrakottafigurinen in Frage, wobei jedoch sowohl die weiblichen Plakettentypen als auch die typischen Pfeilerfigurinen der Eisenzeit IIC, die aufgrund fehlender göttlicher Attribute sehr wahrscheinlich als die Dedikanten selbst repräsentierende Votivobjekte anzusprechen sind,39 auszuschließen sind. Da im Rahmen einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft – wie insbesondere die mit Ŧam, ťÁb und ťÁ̲ gebildeten Namen zeigen – der männliche Ahn im Vordergrund gestanden hat,40 sind daher männliche Figurinen als Leitfossil erster Ordnung zu betrachten. Für die philistäischen Terrakotten hat der Verfasser dieses Beitrages auf die Möglichkeit einer Identifikation der männlichen Figurinen mit den Ahnen
37
So LORETZ, Teraphim. VAN DER TOORN, Figurines, 55, stellt in diesem Zusammenhang fest: „Let me say right away that the association of pillar figurines and Astarte plaques with ancestor images is erroneos; if men and women died in equal proportions, why should there be far more female than male teraphim?“ Vgl. auch DERS. Family Religion, 225; DERS., Totenkult, 114ff. 39 So MEYERS, Discovering Eve, 161–163; BLOCH-SMITH, Burial Practices, 99f; SCHMITT, Problem, 51. Zur Diskussion um die Bedeutung und Funktion vgl. auch KLETTER, Pillar Figurines, 10–27. 40 Vgl. VAN DER TOORN, Family Religion, 229. 38
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und deren mögliche Verwendung bei mantischen Praktiken hingewiesen.41 Männliche Figurinen sind in Juda zwar deutlich seltener als weibliche, aber dennoch recht gut bezeugt.42 Einige Beispiele für männliche Terrakotten in Hauskontexten aus der Eisenzeit IIC mögen hier genügen: Der wahrscheinlich interessanteste Fund zu dieser Frage stammt aus Lachisch (Tell ed-DuwÓr): In Areal GE (Level III, EZ IIC), wurden in Locus 2066, der zu einer der Wohneinheiten an der zum Stadttor führenden Straße gehört, ein bislang einmaliges Paar von Figurinen entdeckt (Abb. 1).43 Es handelt sich um zwei summarisch ausgeführte, unten konisch zulaufende peg figurines, mit applizierter Nase. Da weibliche Attribute fehlen, dürften diese Objekte als männliche Figurinen anzusprechen sein. Ihre konische Form lässt darauf schließen, dass man sie (ähnlich den philistäischen Ɣ- und Trauerfrauenfigurinen ähnlicher Gestaltung) in den Erdboden stecken konnte, um eine Verbindung zur Erde / Unterwelt herzustellen. In einem kleinem Raum (Locus 4150) eines an Mauer und Tor anschließenden Level II-Hauses, das entweder als Wohneinheit oder auch dem Handel und der Aufbewahrung von Wein diente, fand sich der Kopf einer offensichtlich männlichen Figurine, die nicht dem Typus der Horse and Rider zuzurechnen ist. Mit der Figurine (Abb. 2)44 wurden ein kleines Ensemble von Speisezubereitungs- und Konsumgeschirr (drei bowls, ein cooking-pot) sowie zwei Vorratsgefäße gefunden. Aus Lachisch stammen noch zwei weitere in die Eisenzeit IIC zu datierende männliche Köpfe (Abb. 3–445), doch ist ihr Kontext (Oberflächenfund / Hof des Palastes) nicht aussagekräftig. Von den publizierten männlichen Figurinenfragmenten vom Tell enNasbe lassen sich zwei Exemplare der Wohnbebauung der EZ IIC zuweisen: Ein männlicher Kopf mit turbanähnlicher Kopfbedeckung (Abb.
41
SCHMITT, Terrakottafigurinen, 635.641. Eine Bestandsaufnahme männlicher Figurinen und Fragmente steht bislang noch aus. Für Lachisch lässt sich die Anzahl männlicher Figurinen unter den anthropomorphen Objekten (inklusive horse and rider) mit rund 17% angeben (vgl. KLETTER, Clay Figurines, Table 28.61). In philistäischen Ortslagen scheint die Anzahl der männlichen Terrakotten ebenfalls mit 17% gleich hoch zu liegen (vgl. hierzu SCHMITT, Terrakottafigurinen). Da diese recht hohen Werte zu einem guten Teil auch dem Fundzufall unterliegen dürften (Lachisch) bzw. lokalen Sondertraditionen geschuldet sind (Aschdod), sollten man sie nicht verallgemeinern. 43 Zusammenstellung des Verfassers nach: KLETTER, Clay Figurines, Fig. 28.36, 3–4; USSISHKIN, Area GE, 664 mit Fig. 12.34. 44 Zusammenstellung des Verfassers nach: KLETTER, Clay Figurines, 2058, Fig. 28. 36: 2; ZIMHONI, Pottery, Fig. 26,52: 9–15; USSISHKIN, Area GE, 654, 681 mit Fig. 12.41. 45 TUFNELL, Lachish III, 375, Pl. 31,15–16 (= SCHMITT, Terrakottafigurinen, Kat. Nr. 73–74). Umzeichnung des Verfassers. 42
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5)46 stammt aus Raum 239, dem Hinterraum eines Drei-Raum-Hauses (building 73.01).47 Der zweite männliche Kopf, mit einer flachen, turbanähnlichen Kopfbedeckung (Abb. 6)48 stammt aus Raum 393, dem südlichen, durch Säulen begrenzten Langraum des Drei-Raum-Hauses (building 141.01).49 Aus Megiddo stammen zwei Köpfe von männlichen Figurinen (Abb. 7 und 8) die dem Stratum III zugewiesen werden können.50 Auch in Jerusalem (Davidstadt) ist eine größere Anzahl männlicher Figurinen gefunden worden. Von den stratifizierten Funden (Str. 12–10, EZ IIC) seien hier nur ein Kopffragment mit flacher Kopfbedeckung aus dem Wohnviertel in Areal E (Locus 698; Abb. 9) und zwei weitere männliche Köpfe aus der Wohnbebauung in Areal G (Abb. 10–11) erwähnt. 51 Die Präsenz von männlichen Figurinen ohne klare göttliche Attribute im Kontext von Wohnbebauung zeigt deutlich deren Funktion in der häuslichfamiliären Sphäre. Eine Identifikation der männlichen Terrakotten mit den textlich bezeugten tÕrÁpîm als Ahnenfigurinen kann daher meines Erachtens mit gutem Grund vermutet werden. 2.2 Kultensembles aus dem Kontext der Totenfürsorge: Caves I–III und die Felskammer Locus 6015 in Jerusalem Das vieldiskutierte Cave I in Jerusalem wurde bereits 1967 durch Kathleen Kenyon entdeckt, die Befunde wurden indes sukzessive erst zwischen 1977 und 1995 vollständig publiziert.52 Zu den figurativen Objekten aus Cave I gehören 16 Pfeiler- und Fragmente ähnlicher Figurinen, 21 horse and rider, 7 Vögel- und 38 weitere zoomorphe Figurinen, 2 anthropoide Gefäße, 3 Exemplare von Miniaturmöbeln, eine Rassel, ein einfacher, undekorierter Modellschrein, 2 Miniaturaltäre, ein durchbrochener zylindrischer Kultständer sowie zwei Fragmente ähnlicher Objekte (Abb. 12).53 Die Keramik umfasste durchweg typisches Haushaltsrepertoire, insbesondere Gefäße zum Nahrungskonsum (511 bowls = 42,5%), zur Nahrungszubereitung (168 cooking pots = 14%) und zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten und Nahrungsmitteln (261 jugs, 51 juglets, 62 jars, 5 kraters), sowie 105 Lampen
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MC COWN, Tell en-Nasbeh I, Pl. 86,1. Vgl. ZORN, Tell en-Nasbeh, 408f. 48 MCCOWN, Tell en-Nasbeh I, Pl. 86,2. 49 Vgl. ZORN, Tell en-Nasbeh, 621f. 50 MAY, Megiddo Cult, Pl. XXXIII (= SCHMITT, Terrakottafigurinen, Kat. Nr. 79–80). 51 GILBERT-PERETZ, Figurines, Fig. 10,21; 17,18. 52 KENYON, Jerusalem, 139ff; HOLLAND, Clay Figurines; FRANKEN/STEINER, Jerusalem II; ESHEL/PRAG, Jerusalem IV. 53 HOLLAND, Clay Figurines, 139ff; Fig. 7–9. 47
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und 27 Gefäße unterschiedlicher Typen.54 Insgesamt dienten 63% der Keramik dem Nahrungsverzehr, 9% der Nahrungszubereitung und 24% der Vorratshaltung.55 Da auch ein Ofen sowie Tierknochen56 in der Höhle nachgewiesen wurden, sind dort mit großer Sicherheit Mahlzeiten zubereitet und verzehrt worden. Ein zweites großes Ensemble von Keramikgefäßen und Ritualobjekten, das typologisch mit demjenigen aus Cave I vergleichbar ist, wurde in einer Felskammer (Locus 6015) am östlichen Abhang des Ophel, der sehr wahrscheinlich ein Begräbnisfeld darstellt, entdeckt. Die fast quadratische, im Norden jedoch oval abgeschlossene Kammer misst im Grundriss 2,15 x 3,90 m und verfügt über eine Höhe von 3,5 m. Sie ist durch einen ebenfalls quadratischen Eingangsschacht im Westen zugänglich und verfügt über eine zweite 0,8 x 1,0 m große Öffnung in der Decke, die von den Ausgräbern als „Kamin“ angesprochen wurde. Da die Kammer keinerlei Reste von Bestattungen enthielt, aber eine großes Ensemble von Keramik und anderen Tonobjekten, handelt es sich nicht um ein Grab, sondern um eine Art Depot.57 Das Keramikensemble besteht aus einer großen Anzahl von Gefäßen zum Nahrungsverzehr (40 bowls), zur Nahrungszubereitung (8 cooking pots, 2 baking trays), zur Nahrungsaufbewahrung (6 large bowls, 1 krater, 4 jars, 3 pithoi, 3 holemouth jars), der Aufbewahrung von Flüssigkeiten (6 jugs, 4 decanter, 6 juglets) sowie 3 Lampen und 2 Pyxiden. Neben der Gebrauchskeramik enthielt das Ensemble auch noch eine Anzahl spezialisierter Geräte und Objekte: Eine Rassel, einen hohen zylindrischen Ständer, das Fragment eines Ständers mit Aufsatzschale bzw. eines Kelches (chalice), den Torso einer Pfeilerfigurine, ein bärtiger männlicher Kopf mit Helm und das Kopffragment einer Pferdefigurine (Abb. 13).58 Hohe zylindrische Ständer sind typisch für Kultensembles sowohl in Schreinen und Tempeln wie auch in Wohnhäusern – für Gräber aber sind sie untypisch. Der durchbrochene Ständer, das zweite Ständerfragment (bzw. chalice) weist deutlich auf Opfer bzw. die Präsentation von Opfergaben hin und das Keramikensemble macht die Zubereitung und den Verzehr von Nahrungsmitteln wahrscheinlich. Ein drittes Ensemble aus Cave II, dass ebenfalls kein Grab darstellt, enthielt außer dem Rad eines Wagenmodells und einem Fußfragment einer Tierfigurine wiederum mit 288 kompletten Gefäßen eine große Menge von
54 ESHEL, Groups, Table 3. Vgl. auch FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, Fig. 7-3 mit etwas abweichenden typologischen Zahlen. 55 Siehe FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, 48 u. Fig. 7-3. 56 Siehe LERNAU, Faunal Remains. 57 MAZAR/MAZAR, Excavations, 50–53. 58 MAZAR/MAZAR, Excavations, Figs. 25–29.
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Keramik. Auch hier dominieren Gefäße zum Nahrungsmittelkonsum (159 bowls = 55,2%) das Ensemble, Kochgeschirr ist mit 4,5% und Vorratsgefäße mit ca. 18% vertreten. Hinzu kommen 21 Lampen.59 Ein ähnliches Ensemble mit einem geringeren Anteil an Gefäßen zum Nahrungskonsum (58%) und zur Vorratshaltung (12%), aber mit mehr Kochgeschirr (12%) enthielt Cave III.60 Größere Mengen spezialisierter Objekte für rituelle Verwendung enthielten Cave II und III (bis auf die bereits erwähnten Fragmente eines Wagenmodells und ein zoomorphes Fragment in Cave II61) im Gegensatz zu Cave I und Locus 6015 nicht. Kenyon hatte die Caves I–III als favissae eines nahe gelegenen Heiligtums interpretiert.62 Da es sich bei der als Heiligtum mit Mazzeben interpretierten Struktur jedoch um ein pillared building handelt, haben Franken und Steiner vorgeschlagen, Cave II und III als Keramikdepots einer Herberge anzusehen. Cave I sei ebenso nicht als favissa anzusprechen, sondern als Kultstätte für private magische Rituale.63 Eshel hingegen betont den häuslichen bzw. kommerziellen Charakter des Inventars aus Cave I und möchte die Ritualobjekte davon isolieren.64 Das Vorhandensein von Ritualgegenständen und Ritualobjekten, Lampen, und der Charakter der keramischen Ensembles in Locus 6015 und Cave I sprechen deutlich für am Ort selbst abgehaltene Mahlzeiten mit ritueller Komponente. Dies wird auch durch die Funde tierischer Knochenabfälle aus Cave I bestätigt.65 Im Falle von Jerusalem Cave 1 dürften die Rituale aufgrund des Ofens sicher in der Höhle – die hierzu genug Platz bietet – selbst vollzogen worden sein. In Locus 6015 ist dies aufgrund der geringen Größe des Raumes zwar zu hinterfragen, doch bietet auch diese Höhle einer kleineren Gruppe durchaus Raum für eine Mahlzeit und das gleichzeitige Aufstellen des Ritualgerätes. Dass rituelle Handlungen unterirdisch in Höhlen vollzogen worden sind, ist als deutlicher Hinweis auf eine gewünschte Nähe zur Unterwelt hin zu interpretieren,66 wobei die Höhle hierbei als eine Art Zwischenbereich zwischen der Sphäre der Lebenden und der der Toten aufgefasst werden
59 ESHEL Groups, Table 2. Vgl. FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, 26 und Fig. 7-3 mit etwas abweichenden Zahlen. 60 FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, Fig. 7-3. 61 Siehe PRAG, Summary, 217. 62 KENYON, Jerusalem, 138ff. 63 FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, 125ff. 64 ESHEL, Groups, 23, 25. 65 KENYON, Jerusalem, 136; FRANKEN/STEINER, Jerusalem II, 26; LENAU, Faunal Remains. 66 So auch KEEL/UEHLINGER, Göttinnen § 201.
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kann.67 Da es sich nicht um Grabstätten handelt, entgehen die Partizipanten eines solchen Rituals auch der Gefahr der Kontamination durch Kontakt mit den Toten. Im Hinblick auf das Ritualgerät sprechen vor allem die Rasseln für einen Zusammenhang mit dem Totenkult, da diese fast ausschließlich in Grabkontexten gefunden worden sind.68 Die genannten Fundkomplexe, insbesondere aber Jerusalem Cave I und Locus 6015, lassen sich durchaus mit einem Totengedächtnismahl, wie dem in Jes 64,4f geschilderten, in Beziehung setzen. Im Hinblick auf Cave I und Locus 6015 könnten auch die Funde aus Cave II und III als Ensembles für Totengedächtnismähler gewertet werden. Eine besondere Form des Totengedenkens stellen die aus der ägäischzypriotischen Tradition stammenden philistäischen Figurinen von Trauerweibern (mourning figurines) dar, die die Trauer der Hinterbliebenen und die bleibende Verbindung mit den Toten auch über ihr Ableben hinaus zum Ausdruck bringen (Abb. 14a–b).69 Auch im Juda der EZ II sind Terrakotten häufige Grabbeigabe,70 es handelt sich hierbei jedoch zumeist um Pfeilerfigurinen und andere in nicht funerären Kontexten gebräuchliche Objekte. 2.3 Hazor Locus 44 – Ein Beleg für Nekromantie in Hauskontexten? Archäologische Evidenz für nekromantische Praktiken ist naturgemäß schwieriger nachzuweisen als die weit verbreitete häusliche Votiv- und Opferpraxis. Als diagnostisches Artefakt kommen hier vor allem Masken in Frage, die in vielen Kulturen im Kontext der Ahnenverehrung und des Orakelwesens Verwendung fanden und immer noch finden. In einem Wohngebäude der EZ IIB (Areal A, Stratum V) mit irregulärem Grundriss, das aus insgesamt vier Räumen besteht (Loci 13–16 und 44) wurden ein dekorierter, durchbrochener Kultständer und das Fragment einer Terrakotta-Maske im Kontext mit Haushaltskeramik zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten und Nahrung (jug und storage jar) gefunden (Abb. 15).71 Ein weiteres Maskenfragment ist in einem offenbar der Vorratshaltung dienenden Raum in der Zitadelle gefunden worden.72 Masken sind in der Eisenzeit in Israel und Juda sonst nicht in Hauskontexten belegt. Ihr Vorhandensein in klar kultischen Kontexten bezeugt jedoch ihre rituelle
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Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 600ff mit Abb. 78f; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 31ff. Vgl. TUFNELL, Lachish III, 376; BLOCH-SMITH, Burial Practices, 102f. 69 Siehe hierzu ausführlich SCHMITT, Terrakottafigurinen, bes. 635f. Abbildungen: Ebd. Katalog-Nr. 16f (= DOTHAN, Philistines, Fig. 10a, b). 70 Siehe BLOCH-SMITH, Burial Practices, 96ff. 71 YADIN, Hazor I, Pl. LVII, 22, 6; LX, 10; LVI, 9; YADIN, Hazor II, Pl. CCII. 72 YADIN, Hazor II, Pl. CIII, 6. 68
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Funktion.73 Eine Deutung des Fundes aus Locus 44 als Ritualgerät zur Divination oder Nekromantie liegt damit zwar im Bereich des Möglichen, muss letztlich aber hypothetisch bleiben.
3. Schlussfolgerungen Sowohl die textliche als auch die archäologische Evidenz bezeugen vielfältige Formen der rituellen Kommunikation mit den Toten, insbesondere im häuslich-familiären Kontext, aber auch am Grab und an bestimmten anderen Örtlichkeiten. Speisegaben für die Toten bei der Primärbestattung sind auch archäologisch gut bezeugt74 und sind sowohl Ausdruck der Bedürftigkeit der Toten wie der familiären Solidarität. Die im Alten Testament erwähnten Totenmähler, die sowohl in Gräbern bzw. Höhlen (Jes 65,4f) als auch im Kontext eines marzea̲ (Jes 16,5–7) abgehalten wurden, können mit einiger Wahrscheinlichkeit mit den Keramikdeposita aus Jerusalem Cave I–III und Locus 6015 in Verbindung gebracht werden, wobei Cave I aufgrund seiner Größe, der Ritualobjekte und des Ofens unmittelbar als Totenmahlstätte anzusprechen sein dürfte. Bei den anderen Keramikensembles mit Ritualgerät kann auch eine Verwendung außerhalb der Höhlen, nämlich am Grab oder einer anderen Räumlichkeit (bÓt marze̲) erwogen werden. Neben den Mählern gehörten Libations- und Speisegaben auf den Ständern sowie die Darbringung anthro- und zoomorpher Votive zu den Ritualhandlungen. Die textlich als häusliche Ahnenfigurinen bezeugten tÕrÁpîm dürften mit den in Hauskontexten gefundenen männlichen Terrakotten in Deckung zu bringen sein. Dass männliche Terrakotten im Kontext von Gefäßen zur Nahrungsmittelzubereitung und zum Verzehr gefunden worden sind, wie in Lachisch Locus 4150, darf für die häusliche Kultausübung im Juda der EZ IIC als typisch gelten.75 Es steht zu vermuten, dass die häufige Nähe von Figurinen zur Küche und zu Geräten der Nahrungszubereitung und des Verzehrs auch mit der rituellen Versorgung der Ahnen im Zusammenhang stehen dürfte. Wiewohl ein bislang einzigartiger Fund in einem Wohnhaus, können die Ritualobjekte (Ständer und Maske) aus Hazor Locus 44 vielleicht im Rah-
73
Vgl. MAZAR, Tell Qasile I, 84f. Siehe BLOCH-SMITH, Burial Practices, 105ff. 75 41% der Ritualobjekte aus häuslichen Ensembles der EZ IIC sind mit Koch- und Essgeschirr assoziiert. 10% der Ensembles mit Terrakotten wurden in unmittelbarer Nähe einer Feuerstelle gefunden. Siehe hierzu ausführlich ALBERTZ/SCHMITT, Family Religion (in Vorbereitung). 74
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men von im Haushalt geübten divinatorischen bzw. nekromantischen Praktiken gewertet werden. Auch 1 Sam 28 scheint sich – obwohl die mantischen Praktiken unterschiedlich sind – im Haus selbst abzuspielen. Einen Bezug der alttestamentlichen Quellen zu den archäologischen herzustellen, vermag jedoch nicht in jedem Fall zu gelingen: So sind die im Alten Testament relativ häufig belegten Totenmemoriae, wie Stelen und Mazzeben, in der Eisenzeit archäologisch nicht fassbar. Die hier präsentierten literarischen und archäologischen Befunde – letztere vornehmlich aus der EZ IIC – weisen auf die vielfältigen Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten, insbesondere die familiäre Angewiesenheit aufeinander auch über den Tod hinaus. Einerseits bedürfen die Toten der Versorgung und der Fürbitte durch die Lebenden, andererseits knüpfen auch die Lebenden Erwartungen an die Toten, wie etwa Erkenntnis über Zukünftiges und Hilfe bei wichtigen Entscheidungen durch Totenbefragung und den Segen der Ahnen durch ihre Repräsentationen im Haushalt. Als familiären Riten kommt den Toten- und Trauerriten eine wichtige Funktion in der Herausbildung von Identität zu, die ihren Ausdruck materialiter z.B. in der häuslichen Aufstellung von Ahnenfiguren finden kann. Falls die hier vorgelegte Interpretation von Jerusalem Cave I und der verwandten Befunde zutreffend sein sollte, ist dies ein weiterer Beleg für die wichtige soziale Funktion von Trauer- und Bestattungsritualen. Insbesondere rituelle Mähler im Kreis der Familie und Freunde bieten Gelegenheit zur Verarbeitung des Verlustes, Bekräftigung von Zusammenhalt und familiärer Solidarität, aber auch zur Bestätigung oder Neuverhandlung sozialer Rollen. Riten und Bräuche der Totenversorgung und des Totengedenkens sind somit ein wesentlicher Bestandteil familiärer Religion und ihrer existentiellen Funktionen.
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Abb. 1: Lachisch Level III. Figurinenpaar aus Locus 2066
Abb. 2: Lachisch Level II: Figurinenfragment aus Locus 4150
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Abb. 3
Abb. 4
Abb. 7
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Abb. 12: Jerusalem Cave I mit einer Auswahl von Objekten
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Abb. 13: Jerusalem, Ritualobjekte aus Locus 6015
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Abb. 14a–b
Abb. 15: Hazor, Areal A. Keramik und Ritualobjekte aus Locus 44
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Zur Rolle der Ahnen in der Grundkonzeption der Hexateuchüberlieferung RAIK HECKL
Die Verehrung Jhwhs und der Unterweltsbereich im Alten Israel Entscheidend für die Charakterisierung der biblischen Traditionsliteratur ist,1 dass deren Texte zumindest zu einem großen Teil nicht einfach als Spiegel oder Extrakte der religiösen Verhältnisse anzusehen sind. Vielmehr dienten sie dazu, auf sie und auf im Hintergrund stehende literarische Überlieferungen einzuwirken.2 Dies macht es erklärlich, warum hier viele Bezüge zu auch in der Umwelt anzutreffenden religiösen Vorstellungen und Traditionen erkennbar sind, diese aber selten direkt thematisiert werden. Große Teile der biblischen Traditionsliteratur sind daher als Tendenzliteratur anzusehen, die jeweils nur ein perspektivisches Bild von den religiösen Verhältnissen und der Religion Israels überhaupt zu erkennen gibt. 3 Als eine Reaktion auf die Hypothesen der religionsgeschichtlichen Schule4 begann sich seit dem Anfang des 20. Jh. allmählich die Ansicht durchzusetzen, dass der Unterweltsbereich und die Toten in der Religion Israels keine Rolle gespielt hätten. Diese Sicht basierte auf dem Axiom, dass die Re-
1
Zur Methodik vgl. weiter HECKL, Religionsgeschichte, 197–205. Ähnliches vollzieht sich bekanntlich in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im rabbinischen Judentum. Mischna und Talmud hatten ursprünglich wie das Deuteronomium und die Priesterschrift den Rang von Programmtexten, deren Inhalte sich nur allmählich in der jüdischen Bevölkerung durchsetzen konnten. Vgl. dazu STEMBERGER, Einführung, 74.78f. Außerdem sind die Mischna und die Talmudim ebenfalls als Tendenzliteratur anzusehen, in der aus der Perspektive der Rabbinen formuliert wird. Vgl. SCHÄFER, Geschichte, 178f. 3 Dies hat im Rahmen seiner Analyse der Psalmen KRATZ, Reste, 63 in ähnlicher Weise formuliert: „Die biblische Überlieferung repräsentiert nicht den Normalzustand, sondern die Literatur einer Minderheit, um nicht zu sagen einer Sekte, die sich im Rahmen des exilisch-nachexilischen Judentums formiert und am Ende durchgesetzt hat.“ 4 Im Zusammenhang mit dem Ahnenkult und den Unterweltsvorstellungen ist insbes. auf SCHWALLY, Leben nach dem Tode, bes. 75ff; STADE, Theologie I, 183f; DERS. Geschichte I, 425 zu verweisen, die in ihnen alte Vorstellungen sahen, die sich lange neben dem Jahwismus erhalten hätten. 2
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ligion Israels von Anfang an durch die exklusive Verehrung Jhwhs geprägt gewesen sei: „Der Jahweglaube, den schon Mose tief in die Seele des entstehenden Volkes einsenkte, ist, wenn auch vielfach getrübt, mit jener Intoleranz durch die Geschichte gegangen, die jeder lebenskräftigen Religion innewohnt. Man kann nicht zwei Herren dienen; man kann nicht Jahwe dienen und den Totengeistern.“5 Da man heute u.a. aufgrund der Erkenntnisse der Palästinaarchäologie annehmen muss, dass die Religion Israels auf dem Weg zur Alleinverehrung Jhwhs erheblichen Wandlungen unterworfen war und der Monotheismus sich frühestens seit der assyrischen Bedrohung Jerusalems (701) entwickelte,6 muss man auch in Bezug auf den Unterweltsbereich umdenken. Dies wird unterstützt durch eine Vielzahl von Textfunden aus den Nachbarkulturen, bes. aus Ugarit und Ägypten, die die biblischen Texte erhellen. Die Funde in Palästina zeigen zudem, dass sich der Umgang mit den Toten in Israel und Juda von jenem in der direkten Umwelt nicht wesentlich unterscheidet.7 Daraus ergibt sich in Verbindung mit den Hinweisen aus der Hebräischen Bibel, dass nicht nur für das Israel und Juda der Königszeit, sondern noch lange danach eine reiche Vorstellungswelt bezüglich des Unterweltsbereiches vorauszusetzen ist.8 Das scheinbare Zeugnis der biblischen Texte, dass die Jhwh-Verehrung ursprünglich nichts mit der Verehrung der Toten und der Unterwelt zu tun gehabt habe, lässt sich demgegenüber mit dem Charakter der biblischen Texte erklären: Da die Religion Israels einen allmählichen Weg zur Alleinverehrung Jhwhs und zum Monotheismus beschritten hat, stellte die Verehrung Jhwhs lange Zeit einen Teilbereich eines komplexeren religiösen Systems dar. Ein solcher Bereich war auch die Unterwelt. Wie andere religiöse Bereiche außerhalb der Jhwh-Verehrung wurde dieser zunächst bei der Abfassung der Texte, die in die biblische Traditionsliteratur eingeflossen sind, außer Acht gelas-
5 BERTHOLET, Vorstellungen, 39. Vgl. EICHRODT, Theologie II, 151; SCHMIDT, Glaube, 418f. Zum Umschwung der Sicht auf den Unterweltsbereich zu Beginn des 20. Jh. gegenüber dem 19. Jh. siehe TROPPER, Nekromantie, 163ff; EBERHARDT, JHWH und die Unterwelt, 3–32. Noch nach ALBERTZ, Religionsgeschichte I, 67 „setzten die Vorbehalte gegen die Ahnenverehrung offensichtlich schon weit eher ein, als O. Loretz glauben machen will, wie die distanzierend-ironische Behandlung der Teraphim schon in Erzählungen aus der frühen bis mittleren Königszeit beweisen (Gen 31; 1.Sam 19).“ 6 Vgl. JANOWSKI, Theologie, 97f; BERLEJUNG, Geschichte und Religionsgeschichte, 66 (in: GERTZ, Grundinformation). Grundsätzlich zur veränderten Situation vgl. KÖCKERT, Gott, 159–166. 7 Vgl. BLOCH-SMITH, Judahite Burial Practices, 133ff; PODELLA, Nekromantie, 131f; BERLEJUNG, Geschichte und Religionsgeschichte, 78; WENNING, Bedeutung, 14. 8 Vgl. z.B. BLOCH-SMITH, Cult, 222ff; LORETZ, Nekromantie, 313; TROPPER, Nekromantie, 163ff; VAN DER TOORN, Erbe, 104ff; DERS., Family Religion, 206ff; JANOWSKI, Sehnsucht; BERLEJUNG, Tod und Leben, 485–490; NIHAN, 1 Samuel 28, 52f.
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sen.9 Dass sich gerade hier traditionsgeschichtliche Hinweise auf lebendige Vorstellungen in nahezu allen literargeschichtlichen Stadien der Hebräischen Bibel finden, lässt sich am ehesten aus dieser Tendenz heraus erklären. Zunächst wurden in den religiösen Programmtexten Einflüsse des Todesbereiches aus dem Zuständigkeitsbereich Jhwhs verdrängt. Zusätzlich zu der Annahme einer allmählichen Kompetenzausweitung Jhwhs und einer entsprechenden Durchsetzung des Monotheismus in Israel lohnt es sich an dieser Stelle zwischen einem programmatischen und einem praktischen Monotheismus zu unterscheiden: M.E. repräsentieren die Programmtexte im Rahmen des Deuteronomismus wie z.B. 2 Kön 19,15 lediglich einen programmatischen Monotheismus, der aus einer bestimmten Perspektive entwickelt wird. Trotz radikaler theologischer Aussagen wird u.a. der Unterweltsbereich dort nicht konkret thematisiert, was dafür spricht, dass außerhalb der uns überlieferten Theoriebildung noch andere Vorstellungen lebendig waren und es auch literarische Überlieferungen gab, gegen die man sich zu positionieren hatte bzw. die man in veränderter Perspektive zu rezipieren trachtete.10 Ein praktischer Monotheismus dürfte sich erst ganz am Ende der Literargeschichte der Hebräischen Bibel u.a. mit der Entstehung einer im Jahwismus begründeten Auferstehungshoffnung eingestellt haben, nachdem Jhwh von der propagierten Alleinverehrung her allmählich für den Unterweltsbereich relevant geworden war.11
9 Bei aller Vorsicht kann man auf die allmähliche Entstehung des neutestamentlichen Kanons verwiesen. Wir kennen eine Reihe von Texten, die aus theologischen Gründen nicht in ihn integriert wurden. 10 Ein prominentes Beispiel hierfür findet sich in der Totenbeschwörung in 1 Sam 28. Die nekromantiekritische Erzählung greift auf eine Überlieferung zurück, die aus der mittleren Königszeit stammen dürfte. Vgl. TROPPER, Nekromantie, 227. Diese dürfte schriftlich vorgelegen haben, was an den widerstreitenden Aspekten in der Geschichte (positive Figurierung der Beschwörerin und Sauls auf der einen und eine theologische Abwertung der Beschwörung auf der anderen Seite) erkennbar ist. REUTER, Totenbeschwörungen, 18f hat einige inhaltliche Aspekte herausgearbeitet, die i.E. für den nichtdtr Ursprung von 1 Sam 28 sprechen. Die dtr Erzählung stellt so ein gutes Beispiel dafür dar, wie die Tendenz der Zurückdrängung des Unterweltsbereiches zu einer kritischen Stellungnahme gegenüber wohl noch geübten Praktiken, aber auch gegenüber traditionellen literarischen Überlieferungen geführt hat. Durch das perspektivische biblische Zeugnis darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass die Frage nach dem Tod und dem Nachleben schon lange „ein eminentes religiöses Anliegen“ (ALBANI, Problematik, 24) gewesen sein muss. 11 Zu beachten ist, dass auch die in den Texten spät bezeugten Auferstehungshoffnungen die traditionellen Konnotationen des Unterweltsbereiches nicht ersetzen. Stattdessen kommt die Rede von der Auferstehung als Errettung aus dem Unterweltsbereich zu diesen Vorstellungen hinzu. Für den fortschreitenden Zugriff des Jahwismus auf den Unterweltsbereich selbst ist auf die Untersuchung EBERHARDT, JHWH und die Unterwelt, 393ff (zusammenfassend), zu verweisen. LORETZ, Paradigma, 201 hält noch die „Unterdrückung der mythisch-polytheistischen Tradition [...] sowie die Entwicklung des
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Die biblische Traditionsliteratur bezieht sich also über weite Strecken als Tendenzliteratur auf differierende Vorstellungen und literarische Überlieferungen. Die biblischen Texte entwerfen ihre religiösen Konzepte aus einer eingeschränkten Perspektive der Jhwh-Verehrung heraus.12 Und so dürften auch die Differenzen zwischen den Vorstellungen vom Unterweltsbereich und von der Ahnenverehrung, die in der Hebräischen Bibel ansatzweise erkennbar sind, und jenen, die in der Umwelt Israels anzutreffen sind, aus dem Charakter der biblischen Traditionsliteratur heraus zu erklären sein: Johnston fasst diese Unterschiede speziell in Bezug auf die Vorstellung von den ɐɌɃɗɛ folgendermaßen zusammen: „they are lifeless need rousing, they tremble before God, they are not limited to heroes or kings, they are never individually named, they do not travel, participate at banquets or play any role vis-à-vis the living as protectors or patrons.“13 Die beiläufige Bemerkung in 2 Chr 16,12, dass König Asa bei seiner Krankheit nicht Jhwh, sondern bei den ɐɌɃɗɛ um Hilfe nachgesucht habe, zeigt demgegenüber, dass in Israel entsprechende Vorstellungen in Bezug auf die ɐɌɃɗɛ existiert haben.14 Daher reicht es m.E. nicht aus, mit Johnston lediglich davon auszugehen, dass „the Israelite writers appear to have taken a general Semitic concept and adapted it significantly to fit their particular Yahwistic perspective“15. Stattdessen ergeben sich die Unterschiede daraus, dass die biblischen Texte intendieren, die Bedeutung des Unterweltsbereiches gegenüber dem Jahwismus in Israel zu begrenzen.16 Die zugrunde liegende Vorstellungswelt und auch die von den biblischen Texten ver-
erst spät auftretenden jahwistischen Monotheismus“ für Ursachen für die Seltenheit der Zeugnisse vom Ahnenkult. 12 Die Tendenzhaftigkeit der biblischen Traditionsliteratur zeigt sich signifikant im Gegenüber zu den Texten von Elephantine, wo uns eine vielgestalte Religiosität mit deutlichen polytheistischen Tendenzen entgegentritt, aber zugleich auch zentrale Elemente des entstehenden Judentums wie Sabbat- und Passafeier vorzufinden sind (vgl. BECKING, Gottheiten, 213.217), und man sich außerdem in einer engen Beziehung zu Jerusalem weiß, vgl. TADAE A.4.7:18f (vgl. TUAT I, 255). Auch von „einer gemäßigten Art von Synkretismus“ (BECKING, Gottheiten, 226) ist demnach nicht zu sprechen, sondern eher von praktizierter Religiosität. 13 JOHNSTON, Shades, 142. Zur Beziehung zwischen den rpťm und El vgl. L’HEUREUX, Rephaim. 14 Interessanterweise scheint es eine ähnliche Verbindung auch bei den Phöniziern gegeben zu haben. Vgl. EBACH, Weltentstehung, 258f. 15 JOHNSTON, Shades, 142. 16 Ähnlich interpretiert BLOCH-SMITH, Judahite Burial Practices, 147 das Zeugnis der biblischen Texte: „Beginning in the eighth and seventh centuries BCE with the HezekianJosianic reforms, the cult of the dead was no longer an acceptable feature of the Jerusalem Temple Yahwistic cult.“ Vgl. auch ebd., 130–132.
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arbeiteten literarischen Überlieferungen Israels müssen sich daher von jenen der Umwelt qualitativ nicht unterschieden haben.
Aspekte der Verdrängung der Unterweltsvorstellungen im Dtn und im Deuteronomismus Wie bereits festgestellt, finden sich im Bereich des Deuteronomiums und der dtr Theologie die deutlichsten Spuren für die Zurückdrängung des Einflusses existierender Unterweltsvorstellungen. Dies dürfte mit der zuerst dort anzutreffenden Tendenz zur Alleinverehrung Jhwhs zusammenhängen.17 Zu nennen sind aus diesem Bereich die bekannten Stellen im Gesetzeskorpus des Dtn wie das Verbot von bestimmten Trauerriten (Dtn 14,1) oder die Verwendung von Opfergaben als Opfer für die Toten (Dtn 26,14) sowie das Verbot, die Toten zu befragen (Dtn 18,11). Nach K. van der Toorn ist auch die Rede von der ɇɏɊɓ mit dem Totenkult verbunden gewesen, weswegen zuallererst das Deuteronomium festhält, dass der Priester kein ɚɏɊ und ɇɏɊɓ in Israel hat (Dtn 18,1f; vgl. Num 18,20; Ez 44,28–30).18 Die Bestimmungen zeigen, dass in Israel die Verehrung der Verstorbenen nicht fremd gewesen ist. Das Verbot des Gebrauchs des Zehnten (Dtn 26,14) im Zusammenhang mit Trauerriten und als Gabe für die Toten weist außerdem darauf, dass auch der Totenkult selbst gängige Praxis gewesen ist.19 Die Intention der Vorschrift zielt zunächst allein auf eine Trennung von Jhwh-Kult und Totenkult ab. Der Unterweltsbereich wird dabei auch vom Deuteronomium nicht prinzipiell geleugnet. Ähnliches ist auch in der dtn / dtr Vorstufe der Pentateuchüberlieferung spürbar. Denn diese bildet ja gegenüber dem größeren literarischen Bogen von der Erzeltern- zur Landnahmegeschichte einen engeren Zusammenhang, der mit der Gestalt des Mose verbunden ist. Die als Moserede stilisierten Vorschriften im Dtn, die die Ahnenverehrung betreffen, haben ein Pendant darin, dass in Dtn 34 für die Person des Mose anders als bei vielen wichtigen Figuren in der Pentateuchüberlieferung und darüber hinaus ganz bewusst keine Grabtradition eröffnet wird. Auch wenn es über die Bestattung des Mose auch vorher vielleicht keine Überlieferungen gegeben ha-
17
Vgl. BLOCH-SMITH, Cult, 223f. Vgl. VAN DER TOORN, Erbe, 108. 19 NIHAN, 1 Samuel 28, 53 stellt fest, dass die Texte, die den Ahnenkult erwähnen, kaum Einzelheiten darüber enthalten. Dies dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die Kenntnis der Praxis bei den Adressaten der Texte vorausgesetzt ist. 18
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ben mag,20 so ist doch deutlich, wie stark sich die Erzählung von Moses Bestattung in Dtn 34,1ff (vgl. Dtn 3) von den Erzählungen über die Beisetzung der Erzeltern unterscheidet. Die Unkenntnis seines Grabes zielt auf die praktische Unmöglichkeit seiner Verehrung. Die Tatsache, dass das Volk mit Moses Vermächtnis, der Tora, ins Land zieht, weist zugleich auf ihre Unnötigkeit, da Mose aufgrund der dtn Tora eine bleibende Bedeutung für das Volk hat. Es lässt sich also ein plausibles Szenario entwickeln, wonach vorpriesterlich aus einer umfangreicheren Überlieferung der Zusammenhang der Bücher Exodus bis Deuteronomium herausgegriffen wurde, um u.a. die religiöse Relevanz der Erzeltern als der einstmals verehrten Ahnen des Volkes zu reduzieren. In Dtn 1–3, wo die Funktion der Tora in der Person des Mose präfiguriert und gleichzeitig erklärt wird, warum Mose nicht mit in das Land gehen kann,21 gibt es eine Reihe von Formulierungen, in denen eine Historisierung der Ahnenverehrung vollzogen wird. Die sog. antiquarischen Notizen zeichnen die ɐɌɃɗɛ als vergangene Völker der Vorzeit des Landes Kanaan. Interessant ist freilich ein Bezug, der sich von den ɐɌɃɗɛ zu dem sagenhaften König Og von Baschan auftut. Der Bezug zur Ahnenverehrung in Dtn 1–3 ist besonders in einer Glosse, in der Og als der letzte der ɐɌɃɗɛ bezeichnet wird (Dtn 3,11), erkennbar.22 Interessant ist, dass auch die Ortsbezeichnungen seiner Residenzen Aschtarot und Edrei (Dtn 1,4) direkt zu verschiedenen ugaritischen Belegen führen, und Og vielleicht auch wegen seines Namens mit einer wichtigen chtonischen Gottheit in Ugarit zusammenzusehen ist.23 Dieser Og, der samt seinem Volk (Dtn 3,3) von den Israeliten während der Landnahme vernichtet wird, hat also schon im Grundtext von Dtn 1–3 eine Affinität zur Ahnenverehrung bzw. zu Vorstellungen, die mit der Unterwelt zusammenhängen. Für den antiken Adressaten dieses Textes dürften die Bezüge zur Ahnenverehrung klar gewesen sein, was nicht zuletzt die sog. antiquarischen Notizen,24 in denen die vernichtete Vorbevölkerung glossarisch mit dem Terminus ɐɌɃɗɛ bezeichnet wird,
20 Jhwh äußert in Ex 32,10; Num 14,12 Mose gegenüber die Absicht, ihn anstelle Israels zu einem großen Volk machen zu wollen, was dieser jeweils ablehnt. Dabei wird Gen 12,2 rezipiert und mit der Ablehnung des Vorschlages die grundsätzliche Differenz von Mose zu Abraham herausgestellt. Mose hat vielleicht traditionsgeschichtlich in der Ahnenverehrung nie eine Rolle gespielt, wie ja auch die Nachkommen des Mose keine besondere Rolle spielen. Im Übrigen könnte auch die Begrenzung seiner Lebenszeit auf exakt 120 Jahre (Dtn 34,7) ein Versuch sein, ihn von den Erzeltern abzuheben. 21 Vgl. HECKL, Moses Vermächtnis, 459ff (zusammenfassend). 22 Vgl. insgesamt NIEHR, Herkunft, und die dort angegebene Literatur. 23 Vgl. NIEHR, Herkunft, 569f. 24 Zur literarkritischen Unterscheidung dieser Stellen vgl. HECKL, Moses Vermächtnis, 451f (zusammenfassend).
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beweisen. Eine wesentliche Intention von Dtn 3 ist es demnach, dass die Israeliten während ihrer Landnahme nicht nur das Ostjordanland erobert, sondern dabei auch einen Repräsentanten der Unterwelt vernichtet haben: Wenn es Og und die ɐɌɃɗɛ insgesamt nicht mehr gibt, dann ist eine Ahnenverehrung sinnlos. Damit liegt eingebunden in den Bericht über die Eroberung des Ostjordanlandes ein Gegenmythos vor.25
Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Patriarchenüberlieferung Von O. Loretz ist vermutet worden, dass der gesamte Bereich der Gottesbeziehung der Erzeltern ein Reflex auf eine zugrunde liegende Ahnenverehrung ist. Er spricht hierbei von „jüdischer Patriarchenverehrung“26. Von besonderer Bedeutung dafür ist die Bezeichnung ɄɃ ɏɃ bzw. ɄɃ ɌɇɏɃ, deren Eigentümlichkeit A. Alt zu seiner Hypothese einer sich in den Erzelterngeschichten widerspiegelnden nomadischen Vätergottreligion angeregt hatte.27 Nach einer noch verhaltenen Zustimmung zu der These von O. Loretz durch M. Köckert,28 legt der Vergleich zu ugaritischen Texten heute nahe,29 dass sich in der Formulierung ein Verweis auf die Totengeister der Väter
25 Eine Verbindung von Heroenkult und ɐɌɃɗɛ wird auch darüber hinaus gesehen. Vgl. MOOR, RÁpiťīma, 337ff. Der Gegenmythos richtet sich gegen eine aus phönizischen Inschriften im Zusammenhang ugaritischer Texte zu erschließende, in zeitlichem Kontext zur Entstehung der Hebräischen Bibel durchaus noch intakte Verehrung einer Gottheit im Baschan. Vgl. dazu NIEHR, Herkunft, 574–580. Dass „trotz aller Historisierung aufgrund der Nennung der Städte Aštarot und Edrei, der r epaťim und des Bašan der Unterweltscharakter dieser Tradition noch gut erkennbar“ (ebd., 578) ist, zeigt die Intentionalität der Thematisierung des Og. Die antiquarischen Notizen folgen der schon ahnenverehrungskritischen Tendenz der Grundschicht. Die für den antiken Rezipienten durchsichtige Historisierung Ogs und der ɐɌɃɗɛ zeigt, dass es sich dabei nicht um ein kanaanäisches Erbe handelt (so FISCHER, Tod, 110), sondern wohl um eigene Überlieferungen Israels. – Auf ein verwandtes Phänomen stößt man in der Landgabezusage für Kaleb (Dtn 1,36; vgl. Jos 14,13f), dem Hebron übereignet wird. Wenn die Beobachtung von LIPIăSKI, ŦAnaq, richtig ist, dass der Ortsname ɕɄɛɃ ɝɌɛɚ ursprünglich auf die vier Sippen der Stadt, die sich auf vier Ahnen zurückführen, zurückgeht, zu denen auch die Sippe Kalebs gehörte, dann entspringt die Tötung der drei Söhne Anaqs durch Kaleb wahrscheinlich einem ähnlichen Interesse. Man versucht eine Verehrung von Vorfahren, die nicht in einem engen Bezug zu den Überlieferungen standen, die in die Hebräische Bibel einflossen, auszuschließen bzw. zu diskreditieren. 26 Vgl. LORETZ, Totenkult, 187f. 27 ALT, Gott der Väter, 49ff. 28 Vgl. KÖCKERT, Vätergott, 310f. 29 Vgl. DE MOOR, Standing Stones, 19; VAN DER TOORN, Ilib, 386; BLOCH-SMITH, Judahite Burial Practices, 123; DIES., Cult, 224.
DE
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widerspiegelt. Nach Loretz handelt es sich bei den uns vorliegenden Väterüberlieferungen lediglich um die Korrektur eines „wesentlich[en] Bereich[es] fämiliärer Frömmigkeit vom Jahwismus her“, der so „der offiziellen Religion eingegliedert“30 wurde. Loretz ist außerdem der Ansicht, dass die Einbindung der Erzeltern in die Geschichtskonzeption mit „dem Aufenthalt der Väter Israels in Mesopotamien und Ägypten“ nachträglich mit den autochtonen Traditionen von den Ahnen verbunden wurde. Die Geschichtskonzeption verdrängt und kompensiert s.E. den mit den Vätern verbundenen Aspekt des Totenkultes. In der Tat stellt die Autochtonie einen der wesentlichen Punkte in der Verehrung der Vorfahren dar. Denn es sind die Gräber, an denen sie ihre Haftpunkte hat.31 Allerdings haben die Gräber im literarischen Konzept des Hexateuch eine übergreifende Bedeutung. In Gen 49 wird von Jakobs Bestattung in Machpela von Ägypten her berichtet und in Jos 24 steht die Bestattung der Gebeine Josefs betont am Ende des Hexateuchzusammenhangs. Daher dürfte die Autochtonie der Erzeltern nicht erst bei ihrer Einbindung in das Konzept des Hexateuchs durchbrochen worden sein. Dennoch ist die These von O. Loretz plausibel, dass die Erzelterngeschichten ein historisierter Erzählzusammenhang sind, der noch die Verehrung dieser Ahnen Israels und ihre Bedeutung für das Leben des Volkes erkennen lässt.32 Die Erwähnung der ɐɌɃɗɛ an Stellen, die keinen Bezug zu den Erzeltern haben (Jes 14,9; 26,14.[19]; Ps 88,11; Ijob 26,5; Spr 2,18), die Evokation von Samuels Totengeist in 1 Sam 28 und die gegen die Nekromantie und den Totenkult gerichteten Stellen im Dtn zeigen dabei, dass die Erzelterngeschichte nur auf einem begrenzten Bereich der Totenverehrung fußt. Dass sie trotzdem in die biblische Traditionsliteratur eingegangen ist, dürfte damit zusammenhängen, dass man diese Überlieferungen von den Anfängen Israels nicht verschweigen konnte.33 Die Hochschätzung der Patriarchengräber und die Bedeutung des Grabbesitzes hängen mit dem späteren Landbesitz des Volkes Israel zusammen und dürften mit den Ursprüngen der Landverheißung in einer Verbindung stehen.34 Hierzu gehört auch die in der jetzigen Erzelterngeschichte spürbare exemplarische Bedeutung der Patriarchen für das spätere Volk.35
30
LORETZ, Totenkult, 188. Vgl. WENNING, Bedeutung, 8.10f. 32 Vgl. LORETZ, Totenkult, 188. 33 Die traditionsgeschichtliche Bedeutung der Väter zeigt sich neben den Gräbern auch an den Heiligtumslegenden mit den Altären und Stelen. In letzterem zeigen sich Affinitäten zu ugaritischen Texten, denn diese Stelen repräsentierten nicht nur die Gottheit im Kult, sondern auch die Ahnen. Vgl. DE MOOR, Standing Stones, 13ff. 34 Vgl. LORETZ, Totenkult, 186 (mit Verweis auf EICHRODT, Theologie II, 148); VAN DER TOORN, Erbe, 108. 35 Vgl. dazu LORETZ, Totenkult, 194, der dies als Hinweis für die Historisierung ansieht. 31
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Ein weiterer Bezug zur Ahnenverehrung liegt mit der Problematik des erwarteten Nachfahren vor. Allen voran zwischen den Abraham-Erzählungen und dem mit der Ahnenverehrung eng verbundenen Aqath-Epos bestehen Affinitäten (Kinderlosigkeit, Bedeutung der Ahnen für den Kindersegen,36 Gefährdung der Nachkommenschaft, die Errettung des Nachkommen bis hin zur Bestattung Abrahams durch Isaak und Ismael). Gleichzeitig zeigt sich als ein weiterer Aspekt, der mit der Ahnenverehrung ursprünglich in Verbindung gestanden haben dürfte, die Thematik der Astralisierung der Ahnen. In Gen 15,5; 22,17; 26,4 wird eine Nachkommenschaft „wie die Sterne des Himmels“ verheißen, wobei gerade mit dem Opfer und mit der Nächtlichkeit der Szenerie in Gen 15 weitere Bezüge zur Ahnenverehrung vorliegen könnten.37
Zur Frage nach dem Verhältnis der Patriarchenüberlieferung zur Exodus-Landnahmeüberlieferung Bei den Wanderbewegungen der Erzeltern handelt es sich um ein wiederkehrendes Motiv innerhalb von Gen 12–50. Dass die betreffenden Erzählungen aber nicht aufgrund dessen miteinander und mit dem Exodusgeschehen zu einem einheitlichen theologischen Zusammenhang verbunden sind, spricht dafür, dass das Nichtautochtoniemotiv nicht erst zum späten Erzählbestand gehört. Denn abgesehen von der Josefsgeschichte werden keine direkten Verbindungen mit dem Exodus angestrebt. Daher ist es wahrscheinlich, dass auch die kontextuell auf den Exodus bezogene Josefsgeschichte nicht erst aufgrund eines späteren Gestaltungswillens mit ihm verbunden worden ist. Dies ist in der Pentateuchexegese zur Zeit sehr umstritten. Die Sagen der Genesis werden hier oft als ein alternativer Ursprungsmythos zur Exodus-Landnahmeerzählung angesehen, der erst spät (Pentateuchredaktion) hinzugekommen ist.38
36
Vgl. TROPPER, Nekromantie, 141; LORETZ, Nekromantie, 301. Vgl. ALBANI, Der eine Gott, 171. 38 SCHMID, Erzväter, 161 spricht von „zwei Ursprungstraditionen[, die] für Israel beide dasselbe begründen, nämlich das Verhältnis Israels zu seinem Land, seinen Vorbewohnern und Nachbarn...“ Es bildet sich die Tendenz heraus, nur noch einen vorpriesterlichen literarischen Spannungsbogen von Ex 1 bis zum Dtn bzw. zur Landnahme zu sehen. Erst der priesterliche Pentateuch habe die Väterüberlieferung an den übrigen Bestand des Pentateuch angebunden. Vgl. GERTZ, Tora und Vordere Propheten, 208–210 (in: DERS., Grundinformation). 37
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Dass die Erzelterngeschichten nicht erst im priesterlichen Pentateuch für das Leben im Land von Bedeutung sind,39 ist an der Mehrungs- und Landverheißung erkennbar, die auf den Exodus bzw. die Landnahme zielen. Die Theologumena Landverheißung und Mehrungsverheißung finden sich schon in dtn/dtr Texten. Sie bilden anders als die Wanderungen der Erzeltern einen heilsgeschichtlichen roten Faden innerhalb der Vätergeschichten, der in die Exodus-Landnahmeüberlieferung hinzuführen scheint.40 Und es gibt keinen anderen Überlieferungszusammenhang, in dem die Einlösung der Land- und Mehrungsverheißung thematisiert wird. Man müsste nun zusätzlich zu den o.g. Grabtraditionen Hinweise auf eine Verehrung der verstorbenen Erzeltern im Bereich der Exodus-Landnahmegeschichte ausfindig machen,41 um die Annahme einer ursprünglichen Verbindung der beiden scheinbar literarisch eigenständigen Komplexe (Gen, Ex–Dtn) zu stützen. Außerhalb des Pentateuchs ist von Abraham, Isaak oder Jakob allerdings auffälligerweise sehr selten die Rede. Bereits außerhalb der Genesis findet man fast ausschließlich summarische Rückgriffe, die sich auf sie als den Anfang der Volksgeschichte oder auf den Bund mit den Vätern beziehen. Die Bezeichnung Jhwhs als Gott der Väter, die Verheißungen und den Schwur Jhwhs an die Väter können hinzugerechnet werden. An einigen Stellen wird auch der Weg der Jakobsfamilie nach Ägypten als Ausgangspunkt des Exodus erwähnt. Wichtige Ausnahmen finden sich in Jos 24, wo u.a. der Götzendienst der Väter in Mesopotamien erwähnt, dafür aber nur Terach angeführt (V. 2f) und bei dem Bericht von der Beisetzung Josefs auf den Kauf des Feldes in Sichem durch Jakob verwiesen wird (V. 32). Interessant ist an dieser Erwähnung, dass schon der mit einem Altarbau verbundene Kauf (Gen 33,18–20) nur exzerptartig formuliert wird. 1 Kön 18,31 erwähnt die Namensgebung Israels und zitiert dabei Gen 35,10 (vgl. Gen 32,29). Ein Schwur an Isaak wird in 1 Chr 16,16– 18 erwähnt, was sich direkt auf Gen 22,16–18, bezieht. Den Namenswechsel Abrahams (Gen 17,5) erwähnt ein Summarium in Neh 9,7. In Jes 29,22 wird mit der Formulierung ʭʤʸʡʠ ʺʠ ʤʣʴ ʸʹʠ vielleicht auf den Exodus angespielt.42 Jes 51,2 verweist metaphorisch auf die Volkwerdung als eine Geburt aus Abraham und Sara und damit auf die Geburt Isaaks.
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Die Rückbezüge auf die Genesis liegen im Exodusbuch erst im Bereich später Textschichten, nach GERTZ, Tradition, 390f, erstmals in P vor. 40 Vgl. RENDTORFF, Problem, 151f. 41 Bei solchen Überlieferungsstücken würden gute Chancen bestehen, dass sie nicht nur als vorpriesterlich, sondern auch als vordtn/dtr anzusehen wären. 42 Zumindest ist das Thema der Erlösung deutlich mit der Exodusthematik verbunden. Wenn man annimmt, dass mit ɐɇɛɄɃ in V. 22aƞ wie mit ɄɚɕɌ in V. 22bƝ kollektiv auf das Volk verwiesen wird, dürfte auf den Exodus angespielt sein. Andernfalls müsste man überlegen, ob eine Beziehung zu nicht mehr erhaltenen Überlieferungen vorliegt oder eine Interpretation der Abrahamtraditionen vom Exodus her vorgenommen worden ist. Vgl. WILDBERGER, Jesaja, 1143f.
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Jes 63,16 fällt aus diesen Bezugnahmen deutlich heraus, da hier eine religiöse Verehrung Abrahams und Israels durchscheint. Die Anrede Jhwhs als Vater, seine Anrufung als Erlöser, die damit verbundene Konfrontation mit den beiden genannten Vätern sowie das auf Jhwh gerichtete Bekenntnis, dass er der ɏɃɈɅ ist, zeigt, dass zumindest dieser singuläre Text auf eine Heilsfunktion der Väter anspielt.43 Der Text ist allerdings nicht polemisch gegen diese Heilsfunktion gerichtet; der Rückgriff auf sie dient stattdessen dazu, die Bedeutung Jhwhs zu unterstreichen.44
Ex 15,22–27 als Spur einer frühen Verbindung zwischen der Erzelternüberlieferung und der Exodusgeschichte Im Folgenden soll ein Indiz dafür vorgestellt werden, dass die Väterüberlieferung bereits sehr früh in die Exodusgeschichte mündete. Es wird sich zeigen, dass dies nur scheinbar den gegenwärtigen Thesen zur Literargeschichte des Pentateuch widerspricht. Ex 15,22–27 war bereits vor J. Wellhausen in Zuordnung und diachroner Schichtung umstritten, und ist es bis heute geblieben.45 An einigen Kohä-
43 Den Text brachte schon DUHM, Jesaja, 469 in den Zusammenhang des Ahnenkultes oder zumindest der Nekromantie. Er wandte sich schon damals gegen ein Verständnis der Stelle, wie es zuletzt von BLENKINSOPP, Isaiah 56–66, 263 vorgeschlagen wurde: „[W]e could take it as expressing a sense of disorientation and alienation from the traditions of origins.“ Doch das Ganze zielt nicht nur allgemein auf Orientierung, sondern, wie V. 16b deutlich erkennen lässt, auf die Heilsfunktion Jhwhs, die dieser anders als die Väter für das Volk hat, so dass man auf die Schlussfolgerung von Duhm zurückkommen muss: „Wenn dieser Satz nicht reine leere Phrase enthalten soll, so muß es manchen Zeitgenossen möglich erschienen sein, bei den Ahnen (wenn auch just nicht bei dem Ahnherren Abraham) Hülfe zu finden, es muß das nicht eigentlicher Ahnenkult, es kann auch Nekromantie gewesen sein.“ Anders als von Duhm vorausgesetzt, für den das hohe Alter der nichtpriesterlichen Genesis noch feststand, weist die Erwähnung Abrahams und Israels in Jes 63 auf eine entsprechende Bedeutung in nachexilischer Zeit, für die es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch literarische Überlieferungen gegeben hat. Zur Konzeption von Jes 63,16 und der zweifachen Begründung der Vaterschaft Jhwhs darin vgl. NISKANEN, Yhwh as Father, 400ff. 44 Diese Intention der Erwähnung von Abraham und Israel könnte erklären, warum außerhalb des Pentateuchs so selten und (wenn überhaupt) dann nur summarisch von den Erzeltern die Rede ist. Man vermeidet so das Aufrufen von Überlieferungen, die mit der Jhwh-Verehrung, wie sie in den überwiegend vom Deuteronomismus her geprägten Texten propagiert wird, nicht konform sind. 45 Vgl. zur Übersicht LOHFINK, Ich bin Jahwe, 109ff; sodann die Diskussion der älteren Literarkritik bei MEYER, Israeliten, 61. In Ex 15,22–27 sah man seit Wellhausen lange Hinweise auf ein ursprüngliches Wüstenfest in Kadesch und verband den Text aufgrund des Ɉɇɔɓ in V. 25b zusätzlich mit Massa: „Sie (22b.25b – R.H.) sind nur die kaum noch verständlichen Trümmer einer ausführlicheren Version; sie zeigen aber, daß
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renzproblemen im Text, aber auch an seiner harmonisierenden Rezeption im priesterlichen Num 33,8f,46 zeigt sich, dass der Text auf älteren literarischen Zusammenhängen fußt. Es ist die Formulierung ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ (V. 26b) die den Text in eine mögliche Beziehung zur Ahnenverehrung bringt.47 Der kurze Text wird nach vorn durch den Wechsel vom poetischen Text zum Prosatext und durch die Bewegungsverben, die auf neue Orte zielen, begrenzt. Nach hinten ergibt sich eine Zäsur zwischen 15,27 und 16,1 durch das Gegenüber von Lagernotiz und Wiederaufbruch.48 Insgesamt handelt es sich bei den Versen um eine exzerptartige Auflistung von Ereignissen. Diese beginnt in V. 22 mit der Feststellung, Mose habe den Dreitageweg des Volkes durch die Wüste in Gang gebracht (ɕɔɓ HifŦil). In V. 22b stellt sich dabei Wasserknappheit ein, weswegen man den Ort Mara aufsucht, dessen Wasser aber ungenießbar ist (V. 23a). Der Kausalsatz ɐɌɛɑ ɌɎ ɐɇ bildet mit dem zuvor genannten Ortsnamen ein Wortspiel (ɛɑ – ɇɛɑ) und mündet in V. 23b in eine Ortsnamensätiologie. Diese hat ein Kohärenzproblem zur Folge, da auf der Erzählebene der Eindruck erweckt wird, als sei der Name schon vor dem Eintreffen bekannt gewesen. Das Nebeneinander spricht dafür, dass V. 23 eine knappe Zusammenfassung einer ausführlicheren schriftlichen Überlieferung ist,49 die wie z.B. in Gen 11,1– 9; 16,7–14 eine abschließende Benennung des Ortes enthielt. Es folgt ein Murren des Volkes gegen Mose (V. 24), das nur mit der direkten Rede ɇɝɜɓ ɇɑ zusammengefasst wird. Es ist m.E. auffällig, dass das Murren des Volkes mit ɒɈɏ (NifŦal) ausgedrückt wird. Inhaltlich hätte sich das Synonym ɇɛɑ (Qal)50 als zweite Ätiologie angeboten (vgl. Num 20,24; 27,14). Da es hier nicht verwendet wird, soll also mit dem Murren des Volkes bewusst keine Deutung des Ortsnamens erfolgen. Dies bestätigt, dass die vorangehende Namensätiologie eine vorgegebene Überlieferung war. Der Aspekt des Murrens ist zu dieser älteren Überlieferung hinzugekommen. Dass keine Einzelheiten aus ihr mitgeteilt werden, zeigt, dass die ältere Überlieferung bei der dtn/dtr Neuformulierung51 nicht für notwendig
das Quellwunder von Massa und Meriba, das in späterer Gestalt zweimal, Exod. 17 und Num. 20, berichtet wird, ursprünglich hier gestanden hat“ (MEYER, Israeliten, 61). 46 Der Ausgangspunkt des Weges liegt in diesem Itinerar vor dem Durchzug. Das Volk lagert dann in Mara und in Elim, weswegen es in dieser Version frühestens am vierten Tag in Elim ankommt. 47 Vgl. LORETZ, Paradigma, 198. 48 Die masoretische Textgliederung markiert aber schon vor der Fortsetzung des Weges nach Elim mit einer Setuma einen Einschnitt. 49 Der zusammenfassende Stil des Textes mit mehreren aufeinander folgenden Ereigniszusammenhängen spricht dafür, dass eine ausführlichere schriftliche Überlieferung vorausgeht. 50 Vgl. SCHUNCK, ɒɈɏ, 528. 51 Zu dieser Einordnung vgl. HOUTMAN, Exodus II, 304; PROPP, Exodus I, 574f.
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erachtet wurde oder ihr gegenüber nicht konform war. Die exzerptartige Form spricht aber dafür, dass bei den intendierten Adressaten eine Kenntnis der älteren Überlieferung vorausgesetzt ist. Mose reagiert in V. 25a, indem er Jhwh anruft, worauf ihm ein Holz gezeigt wird, welches das Wasser genießbar macht (ɚɝɑ). Die nachfolgenden beiden Sätze sind aufgrund ihrer Kürze besonders schwer zu fassen: Wenn man ihre Parallelstruktur in Rechnung stellt, können sie nur das gleiche Subjekt haben.52 Aufgrund der Formulierung „Ɉɇɔɓ ɐɜɈ und dort prüfte er es“ muss Jhwh Handlungsträger sein: „Dort legte er (Jhwh) ihm (dem Volk) Recht und Gesetz vor, und dort prüfte er (Jhwh) es (das Volk).“53 Die Parallelstruktur des Halbverses legt weiterhin nahe, dass damit ein und dieselbe Handlung im Blick ist: Mit Recht und Gesetz prüfte Jhwh das Volk. Das Schreien zu Jhwh erweckt den Eindruck, als sei es in der Prüfung gescheitert und Mose habe für das Volk bei Jhwh eintreten müssen, was dann erst das rettende Wunder bewirkt hat. Hier scheint ebenfalls die Kenntnis weiterer Erzählinhalte vorausgesetzt zu sein. Doch auch der Fortgang ist eigentümlich. Denn nach V. 25b erwartet man die Verkündigung einer Vorschrift. Bei V. 26 handelt es sich aber um eine Art konditional formulierter Gebotsparänese mit einem Wechsel von der Rede über Jhwh zur Jhwh-Rede: „Wenn du der Stimme Jhwhs, deines Gottes, gehorchst (...), dann werde ich auf dich (ɍɌɏɕ) nicht die ganze Krankheit legen, die ich in Ägypten (ɐɌɛəɑɄ) auferlegt habe.“ Die einfachste Erklärung dafür ist, dass in V. 26a bewusst eine Beziehung zu Dtn 28 hergestellt werden soll, wo die Formel nahezu im gleichen Wortlaut den Segen- und Fluchabschnitt eröffnet (Dtn 28,1.15). Aufgrund der Determination bei ɇɏɊɑɇ ɏɎ am Anfang kann nicht nur an irgendeine Krankheit gedacht sein. Der Bezug von V. 26a auf Dtn 28 weist auf ɒɌɊɜ („Aussatz“, vgl. Dtn 28,27aƝ), die mit dem Auszug verbundene Krankheit, die auch als sechste Plage (Ex 9,8ff) die Ägypter selbst trifft.54
52
HOUTMAN, Exodus II, 307ff., eruiert zunächst unabhängig von der Parallelstruktur jede Möglichkeit und kommt zu dem gleichen Ergebnis. MEYER, Israeliten, 61 postuliert den Wechsel des Subjekts. 53 Hier liegt eine Lokalisierung des Gesetzes vor, die womöglich damit zusammenhängt, dass Bundesbuch und dtn Gesetz ursprünglich literarisch noch nicht fest mit der Exodus-Landnahmegeschichte verbunden waren. Das auch in Dtn 4,45 noch nicht exakt in der Geschichte verortete Gesetz dürfte aber theologisch bereits im Hintergrund des Endtextes von Ex 15,22–27 stehen. 54 Unklar ist, welche Krankheit damit genau gemeint ist. Es handelt sich aber um die erste Plage, die die Menschen direkt betrifft und vielleicht auch als lebensbedrohlich angesehen wurde. Vgl. HOUTMAN, Exodus II, 76f.
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Der Vers schließt mit dem oft ausgelegten Satz ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ.55 Obskur an dieser Selbstvorstellung Jhwhs ist ihr Anschluss an die vorangehende Paränese, in der ja mit Krankheit gedroht wird, aber von Heilung keine Rede ist. Möglich ist ein Bezug auf die ‚Heilung‘ des Wassers,56 wobei aber ein weiteres Mal die Abfolge des Textes und der direkte Zusammenhang nicht eindeutig markiert sind und allenfalls eine vage Beziehung intendiert sein kann. Danach wird in V. 27 berichtet, dass die Israeliten an den Ort Elim kamen, an dem sie lagern. Anders als in Num 33 findet die Ankunft in Elim noch am dritten Tage statt. Nicht nur der Ortsname ist auffällig, sondern auch die wenigen Einzelheiten. Berichtet wird lediglich von zwölf Quellen und 70 Palmen und davon, dass das Volk oberhalb oder gegenüber dem Wasser (ɐɌɑɇ ɏɕ) gelagert habe. Der Text insgesamt weist eine Reihe von inhaltlichen Problemen auf: Im jetzigen Zusammenhang wird an den Ort Mara die zugrunde liegende Ätiologie kontrastierend eine Wundergeschichte mit einem Wasserwunder geheftet. Am selben Tag kommt das Volk in einer wasserreichen Oase an. Am ersten Ort wird auf eine Versuchung des Volkes durch Jhwh angespielt. Mose wendet sich fürbittend an ihn, ohne dass der Hintergrund klar wäre. Außerdem wird auf eine Verkündigung von ɋɗɜɑɈ ɚɊ verwiesen, aber keine Vorschrift genannt. Eine Gebotsparänese schließt sich an, ohne dass Gebote mitgeteilt werden. Demgegenüber ist mit dem zweiten Ort, dem wasserreichen Elim, keine Handlung außer der Lagernotiz verbunden. Das Fehlen einer Handlung verwundert angesichts der symbolischen Zahlen ebenso wie das Weiterziehen des Volkes von Mara zu dem betont wasserreichen Elim am selben Tage,57 obwohl das Wasser von Mara durch das von Mose vermittelte Wunder genießbar war. Weiterhin ist innerhalb der Ereignisse in Mara das Nebeneinander der Drohung mit der ägyptischen Krankheit und die Betonung der Heilungsfunktion Jhwhs auffällig. Wenn man dies mit dem Fehlen des Berichtes über das Ende der sechsten Plage (Ex 9,8–12)58, mit der eigentümlichen
55 Die Selbstvorstellung steht in einem Zusammenhang mit einer Reihe von Texten, in denen Jhwh als Arzt vorgestellt ist. Zu dem religionsgeschichtlichen Hintergrund dieser Vorstellung vgl. NIEHR, JHWH als Arzt. LOHFINK, Ich bin Jahwe, 113 hat den Text aufgrund der Selbstvorstellungsfomel ɇɈɇɌ ɌɓɃ nachpriesterlichen Schichten zugeordnet. S.E. handelt es sich um „eine bedingte Segensverheißung, [die] begründet [wird] durch eine göttliche Selbstvorstellung“ (ebd., 101). Er übersieht, dass es sich um eine Androhung von Unheil handelt, die mit der Selbstvorstellung nicht problemlos auf eine Linie zu bringen ist. 56 So STOEBE, Ƀɗɛ, THAT II, 805. Vgl. 2 Kön 2,21f; Ez 47,8f.11. 57 Im priesterschriftlichen Itinerar Num 33,8 ist dieses Problem durch eine Lagernotiz in Mara ausgeglichen worden. 58 Vgl. HOUTMAN, Exodus II, 77. Der Text berichtet interessanterweise ebenfalls nicht davon, wie die Israeliten von der Krankheit ausgenommen wurden. Zu den antiken Erklä-
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Notiz in Ex 12,38, wonach mit den Israeliten weiteres Volk aus Ägypten zog, und mit dem verbindet, was die griechischen Historiker Hekataios von Abdera und Manetho nach biblischen und weiteren Quellen59 über den Auszug aus Ägypten verlauten lassen,60 so könnte das betonte ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ im Zusammenhang der Drohung mit ‚ägyptischer Krankheit‘ eine Heilung zumindest eines Teils der Flüchtlinge vom Aussatz implizieren. 61 Bereits diese nahe liegende Vermutung zeigt, dass Ex 15,22–27 einen anders gearteten Text verarbeitet und z.T. verdrängt haben dürfte, der mit der inhaltlichen Struktur des Auszuges in anderer Weise verbunden war, als er es jetzt in seiner exzerptartigen Form ist. Das betonte ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ könnte den Text bereits in einen Zusammenhang mit der Ahnenverehrung bringen. Die Formulierung ermöglicht für sich genommen allerdings kein abschließendes Urteil. Doch auch die Kombination des Ortsnamens ɐɏɌɃ mit den beiden Zahlenangaben könnte von einer Verbindung zur Ahnenverehrung zeugen. In der Regel wird in der Form ɐɌɏɃ ein Plural von ɏȴɌվ „Terebinthe“ gesehen.62 Auffällig ist bei dieser Namensdeutung aber, dass in V. 27 von ɐɌɛɑɝ „Palmen“ die Rede ist. Die Baumgruppe wird also in V. 27 nicht direkt mit dem Ortsnamen in Verbindung gebracht, so dass die Bezeichnung auf einer anderen Ebene liegen dürfte. Dass es sich bei der Zwölf und der Siebzig um Symbolzahlen handelt, ist offenkundig. Für sie kommt im Kontext von Ex 15 folgender Zusammenhang in Betracht: Die Zwölf Quellen könnten sich auf die Jakobsöhne, die siebzig Palmen auf die Überlieferung von den siebzig Vorfahren Israels beziehen,63 die nach Gen 46,26f; Ex 1,5 und Dtn 10,22 nach Ägypten zogen und dort zu einem großen Volk wurden (so Ex 1,5f; Dtn 10,22). In diesem Sinne haben schon die Targumim und die frühen Midraschim Ex 15,27 interpretiert.64 Der mutmaßlich älteste Beleg dafür findet sich in Dtn 10,22: պɗɓ ɐɌɕɄպɄ Ʉɛɏ ɐɌɑպɇ ɌɄɎɈɎɎ ɍɌɇɏɃ ɇɈɇɌ ɍɑջ ɇɝɕɈ ɇɑɌɛəɑ ɍɌɝɄɃ ɈɆɛɌ – „Mit siebzig See-
rungen für beides vgl. ebd. – Ex 9,11b betont, dass der Aussatz ganz Ägypten betraf (ɐɌɛəɑ ɏɎɄɈ ɐɌɑɋɛɊɄ ɒɌɊɜɇ ɇɌɇɈ). 59 Zumindest vermuten das die Rezensenten jener Historiker. Vgl. dazu ASSMANN, Moses der Ägypter, 60 (Lit.). 60 Manetho spricht von einer Leprakolonie, die unter der Führung Moses aus Ägypten vertrieben worden sei. Siehe die Textausgabe WADDELL, Manetho, 121 (Fragment 54:227–229). 61 Vgl. weiter Hekataios von Abdera: WALTON, Diodorus of Sicily, 278–287 (Diodor XL 3). 62 Vgl. HOUTMAN, Exodus I, 103. 63 So schon DIEBNER, Exodus 15,22–27, 151f, allerdings von der Maßgabe ausgehend, dass der Text aus dem 2. (sic!) Jh. stammt. 64 Vgl. HOUTMAN, Exodus II, 315.
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len zogen deine Väter hinab nach Ägypten und nun hat dich Jhwh dein Gott wie die Sterne des Himmels so zahlreich gemacht.“ Die Siebzig ist dabei Ausdruck der kleinen Zahl Menschen, die im Exodusbuch zu einem großen Volk wird.65 Doch dass die Parallelisierung der Siebzig mit den Sternen des Himmels erfolgt, zeigt zugleich die Nähe der Formulierung zu den Verheißungen der Genesis66 und darüber hinaus möglicherweise eine astrale Konnotation der Verehrung der Vorfahren.67 Die Zahl von siebzig Personen findet sich biblisch an weiteren Stellen. Es handelt sich bei ihr offenbar um eine Repräsentanzgröße. Zu verweisen ist auf die Völkertafel (Gen 10) und auf die siebzig Söhne Gideons (Ri 8,30). In 2 Kön 10,1 finden sich 70 Söhne Ahabs. Zu vergleichen sind weiter die Kinder und Kindeskinder von Abdon in Ri 12,13. Bei diesen Stellen scheint wie in Dtn 10,22 immer an das vollständige Geschlecht oder die Sippe, die sich auf ein Haupt bezieht, gedacht zu sein.68 Die Siebzig hat auch noch in den siebzig Ältesten nachgewirkt (Ex 24,1.9 u.ö.). Bemerkenswert ist dabei, dass siebzig von den Ältesten in Ez 8,11f in einer nächtlichen Zeremonie beschäftigt erscheinen, die man mit der Ahnenverehrung in Verbindung bringt. Die Siebzig findet sich außerbiblisch mit ähnlichen Konnotationen.69 So wird in der aramäischen Inschrift für den König Panammu aus dem 8. Jh. parallel zu Ri 9 die Ermordung von siebzig Nachfahren erwähnt. Der Tod von siebzig Nachkommen scheint damit auf die komplette Vernichtung der Nachkommenschaft einer Person zu zielen. Weiterhin ist für die Bedeutung der Siebzig wichtig, dass Baal in KTU 1.4 VI 46 die siebzig Söhne Els und der A̼irat zum Festmahl einlädt. Danach findet sich in KTU 1.6 I 17ff ein Begräbnisritual mit der Opferung von siebzig Wildstieren, Ochsen, Schafen, Widdern, Steinböcken und Rehböcken durch Anat. Zu der Verbindung der Siebzigzahl der Angehörigen der Familie Jakobs mit den Sternen des Himmels in Dtn 10,22 findet sich als möglicher Hintergrund, dass in Mul.Apin die Gesamtzahl aller Sternbilder mit 70 bzw. mit 71 angegeben wird.70
Die siebzig Vorfahren in Dtn 10,22 haben also mit dem Verweis auf eine Nachkommenschaft wie die Sterne des Himmels einen astralen Bezug, der bei den zwölf Stämmen ja gleichfalls evident ist. Die Bedeutung der sieb-
65
Vgl. WEINFELD, Deuteronomy, 441. Übrigens kommt der Vergleich gerade in der Auszugsgeschichte nicht vor. Er findet sich im Pentateuch außer in Ex 32,13 (der Fürbitte des Mose) nur in Rückgriffen des Deuteronomiums auf die Genesis (Gen 1,10; 10,22; 28,64). 67 Ein Zusammenhang von Ex 1,5 und Ex 15,22ff ergibt sich möglicherweise über eine im Jubiläenbuch verarbeitete Tradition, der zufolge nicht nur Jakob von Ägypten aus, sondern alle Jakobssöhne außer Josef in Machpela begraben wurden (Jub 46,9). In Ex 1,5 wird ausdrücklich festgehalten, dass es sich um siebzig leibliche Nachkommen Josefs gehandelt habe, die hinabkamen. Josef wird nicht mitgezählt, da er schon in Ägypten war. Zur Herkunft und Alter der in Jub. verarbeiteten Tradition, die auch in 4QVisions of Amram zu finden ist, vgl. HALPERN-AMARU, Burying the Fathers, 152. 68 Vgl. DE MOOR, Seventy, 199. 69 Vgl. im Folgenden weiter DE MOOR, Seventy, 201f. 70 Vgl. ALBANI, 70-Jahr-Dauer, 13. 66
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zig Vorfahren Israels zeigt sich im Rückbezug von Dtn 32,8 auf Gen 10 nach MT, während in 4QDtnj ( ɐɌɇɈɏɃ ɌɓɄ) und LXX (avgge,lwn qeou/) womöglich noch ein Bezug auf die siebzig Söhne Els durchscheint.71 Wenn sich die Zahlenangaben der Bäume in Elim auf die Vorfahren der Israeliten bezieht, dann legt sich alternativ für den Ortsnamen ɐɏɌɃ (sam. ɐɌɏɌɃ) die Plenelesung des Jod nahe, was ein Verständnis des Ortsnamens als Pl. von ɏɃ ergibt. Dadurch wird eine Beziehung zur Ahnenverehrung erkennbar, da ɐɌɏɃ an einigen Stellen der Hebräischen Bibel wie ilu in Ugarit die vergöttlichten Ahnen bezeichnet.72 Bedenkt man, dass auch die Bezeichnung ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ eine Polemik gegen einen wesentlichen Aspekt der Ahnenverehrung sein kann,73 wird diese Deutung wahrscheinlich. Ex 15,22−27 weist also eine Reihe von möglichen Bezügen zur Ahnenverehrung auf, die aber nicht explizit thematisiert wird. Bedenkt man, dass der Text möglicherweise auf einer verdrängten Vorlage fußt, und behält im Blick, dass weder die Weise der Prüfung noch die Vorschriften genannt werden, die dem Text zufolge eingeschärft werden, so legt sich die Vermutung nahe, dass sich die Kohärenzprobleme des Textes aufgrund einer Verdrängung ahnenkultischer Zusammenhänge ergeben. Welche Erzählinhalte dies auch gewesen sein mögen, sie dürften mit dem Ort verbunden gewesen sein, an dem das Volk lagert, in Elim, mit seinen siebzig Palmen und zwölf Quellen. Ursprünglich war dieser Ort also wohl nicht nur der Zielpunkt einer ersten Etappe nach dem Durchzug durch das Schilfmeer, sondern auch inhaltlicher Höhepunkt des Zusammenhanges. Im Zuge der Verdrängung der ahnenkultischen Bezüge wurde ein Wasserwunder sekundär mit dem Ort, der seinen Namen aufgrund seines bitteren Wassers trug, verbunden. In welcher Weise der Ort mit dem vielen Wasser und der Dreitageweg mit den Vorfahren verbunden war, darüber kann man aufgrund der dezidierten Aussage ɍɃɗɛ ɇɈɇɌ ɌɓɃ vermuten, dass sie gegen die bereits vermutete Heilungsfunktion der Ahnen gerichtet ist.74
71
Vgl. zu den Bezügen des Textes zu ugaritischen Parallelen LORETZ, Paradigma, 212f. In Bezug auf Ugarit ist inbes. auf KTU 1.20 I 1–2, II 6–9; 1.21 II 3–4; 1.22 II 3– 11.19–21, in der Hebräischen Bibel neben Ex 21,6; 22,19 auch auf 1 Sam 28,13; 2 Sam 12,13b–16 (vgl. dazu NIEHR, Text, 305); Jes 8,19 zu verweisen. 73 LORETZ, Paradigma, 198 überlegt sogar, ob Ƀɗɛ ein Epitheton Jhwhs gewesen sei. Eine polemische Verwendung und Übertragung der Heilsfunktion auf Jhwh liegt aber aufgrund des Suffixes bei ɍɃɗɛ näher. Zum religionsgeschichtlichen Komplex der Bezeichnung Jhwhs als Arzt vgl. NIEHR, Jhwh als Arzt, 8f.17, der den Zusammenhang der Bezeichnung Jhwhs als Heiler mit seiner Verehrung als Sonnengott aufzeigt. Eine Heilsfunktion der in Hebron und Sichem bestatteten Vorfahren vermutete auch schon STADE, Geschichte I, 454. 74 Der Hilferuf des Mose ɇɏ Ƀɓ Ƀɗɛ Ƀɓ ɏɃ in Num 12,13 für die aussätzige Mirjam, könnte ebenfalls ein Hinweis auf eine verdrängte Heilung der Exodusgruppe von Aussatz sein. 72
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Diese Vermutungen erhalten durch einen übergreifenden literarischen Bezug Bestätigung: Am Anfang von Ex 15,22–27 wird der Dreitageweg betont, der mit der Ankunft in Elim zu seinem Ziel kommt. Diese Betonung der drei Tage könnte in einem Zusammenhang mit Ex 3,18; 5,3; 8,23 stehen, wo vor dem Pharao dreimal in der gleichen Terminologie ein dreitägiger Weg in der Wüste (ɛɄɆɑɄ ɐɌɑɌ ɝɜɏɜ ɍɛɆ) angekündigt wird, der zu einer Opferung für Jhwh führen soll.75 Doch von einer kultischen Feier und von Opfern ist weder in Mara noch in Elim die Rede.76 M.E. legt es sich aufgrund des fragmentarischen Charakters von Ex 15,22ff und der Verdrängung einer Vorlage nahe, das Ziel der drei Tage, die jenseits des Schilfmeeres zurückgelegt werden, mit der vor dem Exodus in Aussicht gestellten Opferfeier zu verbinden. Ähnliches wurde in der älteren Forschung vermutet und bildete damals die Grundlage der Rekonstruktion eines ursprünglichen Wüstenfestes in Kadesch.77 So weit, die Ereignisse der gesamten Wüstenwanderung umzugruppieren und z.T. miteinander zu verbinden, kann man nicht gehen. Doch die Alternative zu einer Verbindung von Ex 3; 5 und 8 mit Ex 15,22ff bestünde allenfalls in der unwahrscheinlichen Annahme, dass es sich bei dem Fest um eine Ausrede der Israeliten dem Pharao gegenüber gehandelt habe.78 Dass angesichts dessen in dem uns vorliegenden Text von Ex 3; 5; 8 lediglich ein Opferfest für Jhwh allein erwähnt ist und ein solches erst viel später am Sinai vollzogen wird, verwundert nicht, wenn man annimmt, dass das Ex 15,22ff zugrunde liegendes Fest mit einer kultischen Verehrung der Vorfahren verbunden gewesen ist. Die Zahlen legen dabei die literarische Verbindung zu der Väterüberlieferung durchaus nahe. Die Verarbeitung der Linie zu dem uns vorliegenden Text lässt sich dabei m.E. am besten verstehen, wenn die Verehrung der Ahnen ursprünglich
75 Gegen eine solche Verbindung wird schon von JACOB, Exodus, 450 vorgebracht, dass „mit 3,18 5,3 8,23 diese drei Tage (in Ex 15,22 – R.H.) nichts zu tun haben, denn von Ägypten sind sie schon länger fort“. Vgl. ebd., 118. 76 Solche erscheinen im jetzigen Pentateuch erst in Ex 18,12, wo die Opfer allerdings von Jitro dargebracht werden. Ein Opfermahl mit von Israeliten dargebrachten Opfern findet sich erst danach während der Bundesschlusszeremonie in Ex 24,5f.9ff. Wohl aber zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Paränese in Ex 15,26 und Ex 5,3, wo im Fall des Nichtziehens ein Schlagen Israels durch Jhwh mit „Pest oder Schwert“ befürchtet wird. 77 Vgl. z.B. MEYER, Israeliten, 61; zusammenfassend SCHMIDT, Exodus, 8–11. Dabei dachte man freilich an eine Verlagerung der Ereignisse an den Sinai. Einen Überblick bietet auch HOUTMAN, Exodus I, 375–377. 78 Vgl. JACOB, Exodus, 118. HOUTMAN, Exodus I, 376f, favorisiert eine Lösung, wonach die drei Tage „a vague indication of the length of time“ bezeichnen. S.E. ist das Fest daher von vornherein auf den Horeb zu beziehen. Das erklärt aber nicht die Betonung des Dreitageweges in Ex 15,22. Da dieser keine vage Zeitangabe ist, ist es unklar, warum die Angabe in Ex 3; 5; 8 eine solche sein sollte.
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durchaus im Zusammenhang mit einer Opferfeier für Jhwh gestanden hat. Warum sie nicht mehr erwähnt wird, kann man sich leicht mit Blick auf das Bundesbuch (Ex 22,19), erklären79: „Wer den Elohim opfert und nicht Jhwh allein, soll gebannt werden.“ Damit erweist sich Ex 15,22–27 als ein Text, der zurückführt auf einen aufgrund relionsgeschichtlicher Veränderungen nicht mehr opportunen Text. Dabei dürfte ein durch Jhwh gewirktes Wunder an dem in der Überlieferung als Ort mit ungenießbarem Wasser bekannten Mara die ursprünglich mit dem Ort Elim verbundenen Ereignisse verdrängt haben. Ex 15,22ff steht dabei aber mit der zugrunde liegenden Überlieferung noch in einer Auseinandersetzung. Die Kenntnis der älteren Texte dürfte bei den intendierten Adressaten vorausgesetzt gewesen sein. Eine Bedeutung, die die Ahnen vielleicht für die Heilung und / oder für die Erhaltung des Volkes in der Wüste gehabt haben, ist für uns zwar aufgrund der Parallelen insbes. zu ugaritischen Quellen auszumachen, aber im Text von Ex 15,22–27 selbst nicht mehr unmittelbar erkennbar. Gleichzeitig zeigt sich aber, dass die Grundlage von Ex 15,22–27 in einer Vorstufe der Hexateuchüberlieferung sowohl mit der Erzelternüberlieferung als auch mit den Vorstufen von Ex 3; 5; 8 und damit der Exodusüberlieferung verbunden gewesen ist.
Zusammenfassung Die biblischen Texte sind perspektivisch auf bestimmte Vorstellungen ausgerichtet. Sie argumentieren mit und gegen literarische Überlieferungen und vertreten eine programmatische Jhwh-Verehrung, der gegenüber andere religiöse Praktiken und Überlieferungen zurückgedrängt oder uminterpretiert werden. Ex 15,22–27 fußt auf einem in der entsprechenden Vorstufe der Hexateuchüberlieferung zentralen Text, der mit Ex 3,18; 5,3; 8,23 verbunden gewesen ist und in einem Zusammenhang mit einer Vorstufe der Genesis stand. In diesem Text wurden die nach Ägypten gezogenen Vorfahren der religiös bedeutsamen Ahnen des Volkes thematisiert (vgl. Jub 46). Der vom Dtn her geprägte vorpriesterliche Pentateuch hat aus diesem umfänglicheren Überlieferungszusammenhang die mit der Person des Mose verbundene und auf die Übermittlung der dtn Tora zielende Überlie-
79 Darauf, dass ein Zusammenhang von Ex 22,19 zum Themenbereich der Familie – also zu 22,17f – vorliegt, hat WAGNER, Opferart, 614f, hingewiesen. Es dürfte aber nicht das Kinderopfer lmlk (vgl. ebd., 616) gemeint sein – warum sollte das in dem Gesetz auch unausgesprochen bleiben? –, sondern um ein Opfer für die Ahnen. Auf diese dürfte sich die Bezeichnung ɐɌɇɏɃ wie in Ex 21,6 beziehen. Zur Interpretation der letztgenannten Stelle siehe VAN DER TOORN, Erbe, 119; DERS, Family Relgion, 233.
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ferung (Ex–Dtn*) herausgegriffen, um die religiöse Bedeutung der Erzelterngeneration zu relativieren. Die zweifellos auch in diesem dtn geprägten „Pentateuch“ vorhandenen Bezüge zu den älteren Erzelternüberlieferungen haben dann später dazu geführt, dass diese im Vollzug der priesterlichen Komposition des Pentateuchs in transformierter Form wieder stärker an die Exoduserzählung angebunden wurden.
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Das Zerschneiden des Bandes zwischen den Lebenden und den Toten in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur JAN CHRISTIAN GERTZ
I. Die barocke Formulierung des mir gestellten Themas nimmt eine weithin geteilte Doppelthese auf. Ihr erster Teil betrifft die Religionsgeschichte Jerusalems und Judas sowie des ehemaligen Nordreichs. Danach war in der ausgehenden Königszeit und während des Exils die Vorstellung einer Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten unbeschadet aller notwendigen regionalen Differenzierungen eine durchaus landläufige religiöse Überzeugung. Der zweite Teil der Doppelthese gilt der Theologie- und Literaturgeschichte des Alten Testaments. Er besagt, dass diese Vorstellung in einer bestimmten geschichtlichen Situation gezielt bekämpft worden ist, wobei für die gezielte Abkehr von der bis dahin geübten religiösen Praxis ein Sachzusammenhang mit den theologischen Grundannahmen des Deuteronomiums und der von ihm inspirierten Literatur behauptet wird. Mit der skizzierten Doppelthese ruht die Themenstellung auf einem Konsens, wie er sich in den letzten Jahren etabliert hat, wenngleich Einzelaspekte beider Teilthesen nach wie vor umstritten sind. Im folgenden werde ich die These erläutern und im Durchgang durch ihre bisherigen Begründungen modifizieren. Unverkennbar liegt das Hauptaugenmerk der bisherigen Diskussion auf der genauen Beschreibung und religionsgeschichtlichen Einordnung des „Bandes zwischen den Lebenden und den Toten“, während die nicht weniger interessante Frage nach einer präzisen Beschreibung der dtn-dtr Interessen- und Motivationslage beim „Zerschneiden des Bandes“ bislang nur geringe Beachtung gefunden hat. Sie soll daher im Zentrum stehen. Da der eine Teil der Doppelthese aber nicht ohne den anderen zu haben ist, gehe ich zuvor in der gebotenen Kürze auf den religionsgeschichtlichen Befund und seine Auswertung ein.
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II. Ich beginne mit einem Regelverstoß und eröffne die Tour d’horizon zum religionsgeschichtlichen Befund nicht mit den epigraphischen und archäologischen Daten, sondern mit einem ersten Blick auf die alttestamentlichen Texte.1 Grund hierfür ist die Einschätzung, dass die religionsgeschichtliche Diskussion bis in die Gegenwart hinein ganz wesentlich von der Bewertung der alttestamentlichen Äußerungen zur Nekromantie bestimmt ist, obgleich es sich selbst unter denjenigen Texten des Alten Testaments, die sich explizit mit Tod und Toten beschäftigen, lediglich um ein Seitenthema handelt. Folgen wir dem Textverlauf des Alten Testaments, so steht am Anfang in der Tora das mehrmalige Verbot der Totenbeschwörung, die als illegitime Kultform den Zorn Jahwes provoziert und Tod, Verunreinigung sowie Landverlust mit sich bringt (Lev 19,31; 20,6.27; Dtn 18,11). Das Verbot der Tora gibt die Lesart aller weiteren einschlägigen Belege vor. In der erzählenden Literatur fügt die düstere Episode von Sauls nächtlichem Besuch bei der Totenbeschwörerin von Endor den Schlussstein in das Mosaik von Sauls Verwerfung ein (1 Sam 28). Manasse, der Erzbösewicht auf dem Throne Davids, zeichnet sich dadurch aus, dass er auch noch gegen dieses Verbot der Tora auf ganzer Linie verstoßen hat (2 Kön 21,6), während der wackere Joschija dem Spuk endlich ein Ende bereitet (2 Kön 23,24). Unverkennbar polemisch und an der Tora orientiert sind die Belege der prophetischen Literatur (Jes 8,19; 19,3; 29,4; 65,4), während sich die Weisheit damit begnügt, abgeklärt die Nutzlosigkeit der Totenbeschwörung herauszustellen (Ijob 14,21; Koh 9,4–6.10). Mit alledem bietet das Alte Testament auch eine Theorie zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Phänomens: Totenbeschwörung ist ein „Greuel der Völker“ und der Jahwe-Religion mit ihren spezifischen Weisen der Gotteserkenntnis in Tora, Prophetie und Weisheit wesensfremd. Eine erste Ausweitung und Differenzierung erfahren die Beschreibung und religionsgeschichtliche Einordnung des „Bandes zwischen den Lebenden und den Toten“ durch die Animismustheorien des ausgehenden 19. Jh., wonach die Vorstellung von Seelen und Geistern den Ursprung von Religion bildet, aus dem sich dann die Verehrung tierischer Ahnen und schließlich der auch am Anfang der Jahwe-Religion stehende Ahnenkult entwickelt hat.2 Auch wenn es bekanntlich um evolutionistische Modelle der 1 Zu der berechtigten Forderung, die Darstellung im Alten Testament nicht mit der Religion Israels und Judas in vorexilischer Zeit zu identifizieren vgl. nur WEIPPERT, Synkretismus, 9 u.ö. 2 Zur Anwendung der Animismustheorie auf das Alte Testament vgl. STADE, Geschichte; SCHWALLY, Leben. Vgl. ferner den Überblick bei SPRONK, Afterlife, 28–43. Über die Animismustheorien informiert SCHLATTER, Animismus.
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Religionsgeschichte recht still geworden ist, lässt sich für die alttestamentliche Forschung und unsere Fragestellung ein bleibender Erkenntnisgewinn verzeichnen. Das belegt folgendes Zitat zur vorgeschichtlichen Entwicklung in der 1922 erschienenen „Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion“ von Gustav Hölscher: „Am Anfang steht (...) die Verehrung lebender Häuptlinge und hervorragender Stammesgenossen, die als machtbegabte Persönlichkeiten auch nach ihrem Tode im Gedächtnis fortleben. Daraus entwickelt sich eine allgemeine Verehrung der Vorfahren. Der Ahn wird nun für die Sippe bzw. Familie zum Symbol ihrer Zusammengehörigkeit und zum Objekt der Pietät gegen die Vorfahren überhaupt. So ist der Ahnenkult ein bedeutsames Symptom für die Anfänge der Tradition.“3 Die Nekromantie ist demnach im Kontext des Ahnenkultes zu sehen, der wiederum in seinen religionssoziologischen Kontext einzuordnen und in seiner Funktion für die Familie zu würdigen ist. Zugleich handelt es sich beim Ahnenkult um ein gemeinsemitisches religiöses Phänomen, das ausweislich der von Hölscher angeführten biblischen Belege bis weit in die nachexilische Zeit verbreitet war. Schwierig bleibt hingegen die Verhältnisbestimmung des gemeinsemitischen Elements zur Jahwe-Religion.4 Der Jahwekult habe keine Handlungen aus dem Bereich des Totenkultes gekannt. Einige Elemente des Totenkultes wie die Totenbeschwörung seien mit dem Jahwekult schlechterdings unvereinbar gewesen, andere habe der Jahwekult zunächst geduldet und mit der Zeit abgestoßen, bis „am Ende nur noch ein Teil dieser Trauerbräuche in Übung blieb, und zwar teils als unverstandene und nur durch die Sitte gebotene oder durch neue Motive gestützte Riten, teils auch neubelebt durch die unversiegbaren psychologischen Quellen uralten Seelenglaubens“.5 Aus dem Greuel der Völker ist ein religionsgeschichtliches Nach- und Nebeneinander geworden, dessen Ausformung bei Hölscher und in der Folgediskussion allerdings weitgehend ungeklärt bleibt. Charakteristisch für die Folgediskussion ist die kleine Abhandlung Walther Zimmerlis zur „Weltlichkeit des Alten Testaments“.6 Im Kapitel „Tod und Leben“ erinnert Zimmerli zunächst im Anschluss an Wheeler Robinson7 völlig zu Recht daran, dass im alttestamentlichen Konzept der Corporate Personality die jeweils jetzt Lebenden mit den Ahnen und den Nachkommen zusammengedacht sind und dass die Bestattung im Kreise der Vorfahren in den alttestamentlichen Texten eine große Bedeutung hat. Hiervon möchte Zimmerli die auch in der Umwelt belegten „weltbildlichen Vorstel3
HÖLSCHER, Geschichte, 30. Hölscher schildert die Anfänge der Jahwe-Religion erst in dem folgenden Kapitel „Die altisraelitische Zeit“. 5 HÖLSCHER, Geschichte, 73. 6 ZIMMERLI, Weltlichkeit. Dort das Kapitel „Tod und Leben“ (ebd., 111–124). 7 ROBINSON, Conception. 4
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lungen“ der Totenwelt unterschieden wissen, die im Alten Testament jedoch „eigentümlich unberührt vom Glauben Israels und von allen theologischen Akzenten frei im reinen Vorstellungsbereich stehen[bleiben]“.8 Das gilt gerade auch für die Erzählung von Sauls Besuch bei der Totenbeschwörerin von Endor, in der sich „die weltbildlichen Vorstellungen von der Unterwelt mit den Zügen scharfer Zurückweisung des Umgangs mit dieser Welt [mischen]“.9 Aus dem „Greuel der Völker“ und dem religionsgeschichtlichen Nach- und Nebeneinander ist das Weltbild geworden, das Israel mit seiner Umwelt teilt, dessen religiöse Dimension durch den alttestamentlichen Glauben zumindest an diesem Punkt jedoch ignoriert, wenn nicht abgelehnt wird. Angesichts der Orientierungsleistung von Weltbildern10 bleibt indes die Frage, wie sich der alttestamentliche Glaube innerlich so weit von den „weltbildlichen Vorstellungen“ distanzieren konnte, ohne den Bezug zur Lebenswirklichkeit und damit seine Orientierungsleistung zu verlieren. Die Frage wird durch die seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts vollzogene, nicht zuletzt von der Archäologie angestoßene Neuorientierung in der Forschung verschärft, die sich wie folgt auf den Begriff bringen lässt: Juda und Israel waren in vorexilischer Zeit keine Fremdkörper in der westsemitischen Kultur- und Religionsgeschichte11 und der Gegensatz zwischen „Israel“ und „Kanaan“ ist ein pattern, durch den sich das Alte Testament in Distanz zum eigenen Lebens- und Kulturraum gesetzt und auf diese Weise eine genuin alttestamentliche Identität ausgebildet hat12. Diese Sicht der Kultur- und Religionsgeschichte des antiken Israel wirkt sich selbstredend auch auf unsere Fragestellung aus. So kommt Elizabeth BlochSmith nach Sichtung der Gräber und Grabfunde aus Jerusalem und Juda zu folgendem Ergebnis: „[T]he Judahite conception of the tomb and the fate of the deceased remained consistent throughout the Iron Age.“13 Wie diese bleibende Konzeption ausgesehen hat, ermittelt sie anhand des archäologischen Befundes und der weitgehend als historisch zuverlässig angesehenen alttestamentlichen Texte. Im Grab der Vorfahren auf dem Erbland der Familie oder auf dem örtlichen Friedhof habe der Anspruch auf das väterliche Erbe Gestalt gewonnen. Seine Nähe zur Familie sei zugleich die Voraussetzung für eine Versorgung der Toten und für ihre Verehrung gewesen. Beides habe in Verbindung mit der Macht, welche den Verstorbenen zugeschriebenen worden sei, zu einer großen Bedeutung des Totenkultes in der 8
ZIMMERLI, Weltlichkeit, 116. ZIMMERLI, Weltlichkeit, 117. 10 Vgl. dazu (mit weiterer Literatur) den Überblick von JANOWSKI, Weltbild. 11 Für einen Überblick: NIEHR, Religionen. 12 Vgl. HILLERS, Analyzing. 13 BLOCH-SMITH, Practices, 147. Für eine kurze Zusammenfassung ihrer These vgl. DIES., Cult. 9
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israelitischen und judäischen Gesellschaft geführt.14 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen mit Blick auf die Bedeutung des Ahnenkultes und insbesondere der Nekromantie Josef Tropper15 und Oswald Loretz,16 wobei sie sich vor allem auf Analogien in ugaritischen Texten und gegen den „dogmatischen Strich“ gelesene alttestamentliche Texte berufen. Aus dem „Greuel der Völker“ und dem von Israel nur mit Einschränkung geteilten Weltbild ist die landläufige religiöse Praxis der Königszeit geworden, von der sich das Alte Testament erst im Nachhinein, dann aber mit Nachdruck, abgegrenzt hat. Man mag gegen diese Sicht einwenden, dass die Auswertung der ugaritischen Texte17 oder die Erklärung der philologischen Probleme der einschlägigen alttestamentlichen Texte18 keineswegs unumstritten sind. Auch ist der archäologische Befund zu den eisenzeitlichen Gräbern in Juda und Israel alles andere als selbstevident. Er erweist sich nämlich bei genauerer Betrachtung allein schon aufgrund der im Vergleich zu Phönizien und Nordsyrien wesentlich bescheideneren ökonomischen Verhältnisse als recht mager.19 Das Bild gewinnt aber an Klarheit, sobald die in der Forschung zuweilen zu beobachtende Fixierung auf das Phänomen der Nekromantie zugunsten einer Ausweitung des Gegenstandes und einer stärkeren Berücksichtigung der religionssoziologischen Fragestellung aufgegeben wird. Zweifellos sind Toten- und Ahnenkult sowie Nekromantie sorgfältig voneinander zu unterscheiden, sie hängen aber auch zusammen.20 Ihr ge14
Vgl. BLOCH-SMITH, Practices, 146f. TROPPER, Nekromantie. 16 LORETZ, Nekromantie. Vgl. für einen Überblick auch PODELLA, Nekromantie. 17 Vgl. außer den Beiträgen von Tropper und Loretz die Gegenposition bei SCHMIDT, Dead, 47–131. Schmidt deutet die rpum in den ugaritischen Texten gegen die Forschungsmehrheit nicht im Kontext des königlichen Ahnenkultes als vergöttlichte Könige, sondern als Krieger im Dienst des Königs, die nach einer vernichtenden Niederlage als mythische Heroen verstanden worden sind. Ebensowenig habe die Institution des marzÓa̲ eine Funktion im Totenkult. Für den syrischen Raum des 3./2. Jt. sei ein Glaube an „supernatural beneficent power of the dead“ (ebd., 131; vgl. dazu auch unten Anm. 20) nicht nachweisbar, was im übrigen auch für die aramäischen Texte des 1. Jt. gelte (ebd., 132ff). 18 Im Zentrum der Debatte stehen Herleitung und Verständnis des Terminus ɄɈɃ (Lev 19,31; 20,6.27; Dtn 18,11; 1 Sam 28,3.7.8.9; 2 Kön 21,6; 23,24; Jes 8,19; 19,3; 29,4; 1 Chr 10,13; 2 Chr 33,6; Ijob 32,19). Diskutiert werden die Ableitung vom akkadischen ab/pu „Loch“, was an eine Installation denken lässt, die den Zugang zur Unterwelt ermöglicht (vgl. 1 Sam 28,7), sowie eine Bildung aus dem hebräische ɄɃ „Vater“, was an die Bedeutung „Ahne“ denken lässt. Zur Diskussion vgl. EBACH/RÜTERSWÖRDEN, Unterweltsbeschwörung, Teil I und Teil II; Loretz, ťap; SCHMIDT, Dead, 150–152. 19 Zum archäologischen Befund vgl. auch WENNING/ZENGER, Tod, sowie (und vor allem) den Beitrag von J. Kamlah in diesem Band. 20 Für eine begriffliche Unterscheidung vgl. TROPPER, Nekromantie, 4ff: Totenkult bezeichnet eine religiöse Einstellung des Menschen gegenüber Verstorbenen, was die Verehrung der (göttlichen) Toten einschließt. Ausdruck dieser religiösen Einstellung sind 15
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meinsamer Nenner ist die Vorstellung einer wie auch immer im einzelnen beschaffenen Existenzweise der Verstorbenen, die von Seiten der Lebenden auch mit Blick auf deren eigenes Ergehen einen besonderen Umgang mit den Verstorbenen verlangt – eben das in unserer Fragestellung genannte Band zwischen den Toten und Lebenden. Nimmt man nun die Funktion des Ahnenkults stärker in den Blick, dann lässt sich in Wiederaufnahme Hölschers und im Anschluss an Karel van der Toorn für das Alte Testament folgendes festhalten21: Die Verehrung der Ahnen hat im Kontext patrilinearer Erbfolge eine große Bedeutung. Die Bestattung auf dem Familienland (ɝɈɄɃ ɝɏɊɓ; vgl. 1 Kön 21,3) stellte sicher und machte nach Außen hin klar, dass die Familie des Verstorbenen das Land (weiterhin) besitzt22. Die Nachkommen der Verstorbenen hatten das Land von ihren Ahnen erhalten. Hätten die Nachkommen die Versorgung und Verehrung ihrer Verstorbenen durch die Anrufung ihres Namens, aber auch durch Trankopfer und ververschiedene, von Furcht und Pietät gekennzeichnete Riten und Handlungen. Werden diese Riten ohne die Vorstellung einer Verehrung der (göttlichen) Toten ausgeübt, bietet es sich an von Totenbräuchen zu sprechen. Im Ahnenkult richtet sich der Totenkult auf die intensive kultische Verehrung der verstorbenen Ahnen einer Familie. Hiervon zu unterscheiden als eine besondere Form der Ahnenverehrung ist der Kult der verstorbenen Herrscher und der Heroenkult. Nekromantie bezeichnet Wahrsagung mittels der Verstorbenen. Im engeren Sinne sind damit alle magischen Praktiken gemeint, mit deren Hilfe die Lebenden von Verstorbenen bestimmte Informationen und Hilfe zu erhalten suchen. Im weiteren Sinne geht es um jedwede Form von Kontaktaufnahme mit den Toten, damit die Verstorbenen positiv in das künftige Schicksal eines Menschen eingreifen. Anders hingegen SCHMIDT, Dead. Schmidt vertritt die These, dass der Glaube an die übernatürliche wohltätige Macht („supranatural beneficent power“) der Ahnen und eine entsprechende Verehrung der Ahnen erst Mitte des ersten Jahrtausends durch assyrischen Kultureinfluss in Syrien-Palästina eingedrungen sind. Eine grundlegende Voraussetzung dieser These ist seine kategoriale Unterscheidung zwischen Vorstellungen von der Wirklichkeit der Toten, die von ihrer Bedürftigkeit ausgehen, und solchen, die ihre übernatürliche Macht behaupten (ebd. 4–13). Zu ersteren zählen nach Schmidt die in Syrien-Palästina schon in vorassyrischer Zeit belegten Riten im Umfeld der Bestattung („situationally observed rites“) und die institutionalisierten Kulte zur Totenversorgung und Totenerinnerung („regularly instituted cults“). Zu letzteren gehören nach Schmidt die aus Assyrien stammende Verehrung verstorbener Ahnen und die in diesem Kontext zu lokalisierenden magischen Praktiken („magical mortuary rites“) wie Nekromantie und Exorzismus. Von der Bewertung der ugaritischen Texte (s.o. Anm. 17) und der assyrischen Herleitung der Nekromantie einmal abgesehen, erscheint auch die eingeforderte kategoriale Unterscheidung wenig hilfreich. So zeigt allein schon der Blick auf die mesopotamischen kispum-Texte die Ambivalenz der gleichermaßen bedürftigen und wirkmächtigen Totengeister: Unbetreute Totengeister können Unheil bringen und durch Totenpflege besänftigt werden, wobei in solchen Fällen die ebenfalls bedürftigen Totengeister der eigenen Familie um Schutz angegangen worden sind. Vgl. dazu TSUKIMOTO, Untersuchungen. 21 VAN DER TOORN, Erbe. 22 Zur Beisetzung auf dem Familienbesitz vgl. Ri 8,32; 2 Sam 2,32; 17,23; 19,38; 21,14; 2 Makk 12,39.
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gleichbare Handlungen, aufgegeben, so bestand die Gefahr, dass die Verbindung zwischen Ahnen, Land und Nachkommen zerreißt.23 Die enge Verbindung von Familienbesitz und Ahnengräbern machte den Ahnenkult zu einer der Hauptpflichten innerhalb der Familienreligion, an der das Wohlergehen der Familie hing. Die zugegebenermaßen spärlichen Belege für einen Totenkult in Juda und Israel sind in diesem Zusammenhang zu würdigen. Dazu gehören vor allem die wenigen Hinweise auf Totenversorgung in Form von Opferdarbringungen24 und auf Feierlichkeiten zu Ehren verstorbener Familienangehöriger.25 Schließlich darf an die Erwähnungen von ɐɌɃɗɛ „Heilenden“, ɝɈɄɃ „Ahnen“ und ɐɌɓɕɆɌ „Wissenden“ als mögliche Bezeichnungen für Totengeister und die ɐɌɗɛɝ als ihre gegenständlichen Repräsentationen erinnert werden.
III. Ich komme zu den Beweggründen, die innerhalb der dtn-dtr Literatur zur Polemik gegen die mutmaßlich landläufige religiöse Praxis des Totenkults geführt haben. Die gängigste Antwort verweist auf die innerhalb der dtndtr Literatur erstmals mit Nachdruck propagierte Forderung der ausschließlichen Jahweverehrung, die sich nicht mit der Verehrung der Ahnen im Totenkult vertragen habe.26 In der Regel wird in diesem Zusammenhang auch
23 Zur Sorge für das Überleben des Namens des Toten vgl. die Errichtung einer Massebe durch den kinderlosen Abschalom (2 Sam 18,18) und das Institut der Leviratsehe (Dtn 25,6). 24 Neben den spärlichen und in der Auswertung nicht eindeutigen archäologischen Befunden gibt es in den biblischen Texten (polemische) Erwähnungen von Speisen, die bei Gräbern niedergelegt wurden, und von Opfern für die Toten (Dtn 26,14; Ps 16; 106,28; Ez 43,7.9; Ex 22,19 [ɐɌɇɏɃɏ ɊɄɉ = Schlachtopfer für Totengeister? Vgl. dazu LORETZ, „Verbot“, 498–505]; Tob 4,17; Weish 14,15f; Sir 30,18). 25 VAN DER TOORN, Erbe, 109–113, kombiniert die Angaben über ein Familienritual in 1 Sam 20 mit denjenigen in 1 Sam 9,1–10,16 und schließt daraus auf ein Familienfest mit Opfergaben für die Ahnen unter Vorsitz des männlichen Familienhauptes. Das Fest sei wie in Mesopotamien der dreitägigen Unsichtbarkeit der Mondsichel vor Neumond, dem sog. Interlunium (akkad. bubbulum), veranstaltet worden. 26 Vgl. statt vieler TROPPER, Nekromantie, 343ff; LORETZ, Nekromantie, 313; DERS., ťap, 511 jeweils mit dem wichtigen Hinweis, dass die Fokussierung auf die Tora als Weisung Jahwes schlechthin einen Bewusstseinswandel markiert, der andere Formen göttlicher Weisung für „Israel“ ausschließt. LANG, Life, bringt die Polemik gegen den Totenkult mit dem Aufkommen einer „Jahwe-Allein-Bewegung“ in der mittleren Königszeit in Verbindung. Auch hier stößt sich der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes an der landläufigen kultischen Praxis.
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noch von einem Antagonismus zwischen einer offiziellen Theologie des Jerusalemer Tempels und der familiären Frömmigkeit gesprochen.27 Was spricht für diese Erklärung? Zum einen wird sie der Tatsache gerecht, dass erstmals in unstrittig dtn-dtr Texten eine Polemik gegen den Totenkult erkennbar ist. Sodann vermag die unterstellte Konkurrenz von Jahwekult und Totenkult auch zu erklären, warum im Dtn neben den Verboten bestimmter Riten im Totenkult (Dtn 14,1; 26,14) und der Totenbeschwörung (Dtn 18,11) auch solche Texte stehen, die offenkundig mit der Wirkmächtigkeit der Totengeister rechnen, diese aber einzudämmen suchen. Hierzu zählt die Bestimmung in Dtn 21,22–23a,28 die im Anschluß an Überlegungen Timo Veijolas wie folgt zu übersetzen ist.29 „Hat jemand ein todeswürdiges Verbrechen begangen und er ist hingerichtet worden, und du hast ihn am Holz aufgehängt, so darfst du seinen Leichnam nicht übernachten lassen an dem Holz, sondern du mußt ihn unbedingt am selben Tag begraben, denn ein Fluch des Totengeistes (ɐɌɇɏɃ ɝɏɏɚȽɌɎ) ist der Aufgehängte.“ Bedeuteten schon nicht begrabene Leichname grundsätzlich eine potentielle Gefahr für die Gemeinschaft (2 Sam 21,10–14), so galt dies erst recht für feindliche Könige (Jos 8,29; 10,26f) oder Verbrecher, die selbst nach ihrem Tod noch Fluch unter den Lebenden verbreiten konnten.30 Wie in der Auseinandersetzung mit den fremden Göttern richtet sich das Verbot des Totenkults also nicht gegen irgendeine obskure Form des Aberglaubens, sondern in der Wahrnehmung seiner Verfasser und Adressaten geht es um existierende Wirkmächte. Ich komme zu den Einwänden: Zunächst ist festzuhalten, dass das Deuteronomium die Ausschließlichkeitsforderung nicht explizit mit der Vereh27 Vgl. LEWIS, Cults, der bei etwas unklarer literarhistorischer Zuordnung vom Gegensatz zwischen „normative Yahwism“ und „popular religion“ spricht. 28 Der begründende Hinweis auf die Verunreinigung des Landes in V. 23b ist nachgetragen. Vgl. bereits STEUERNAGEL, Deuteronomium, 131. 29 VEIJOLA, „Fluch“. Dort auch eine ausführliche Begründung für den Vorschlag, die Verbindung ɐɌɏɃ ɝɏɏɚ weder mit der LXX, Gal 3,13 und den meisten neueren Bibelübersetzungen als Genetivus subjectivus („verflucht von/vor Gott“) noch mit der Hauptströmung der jüdischen Auslegungstradition als Genetivus objectivus („er wurde wegen der Lästerung Gottes aufgehängt“ [Symmachus] bzw. „weil es ein Ärgernis Gottes ist, einen Mann aufzuhängen“ [Targum Pseudo-Jonathan]) zu verstehen, sondern in dem Gehängten einen Fluch des ɐɌɇɏɃ zu sehen. Für das Verständnis von ɐɌɇɏɃ als Totengeist kann Veijola auf 1 Sam 28,13 und der vom übrigen Gebrauch im Dtn abweichenden Verwendung des Wortes verweisen. Die Durchführung der Bestimmung in Jos 8,29; 10,26f erhärtet die These. Hier tritt die von den Toten ausgehende Gefahr für die Lebenden deutlich hervor. 30 Ob die Bewertung einer nicht erfolgten Bestattung etwa infolge von Kriegshandlungen als schändlich (Ps 79,2f; Jes 34,3; Nah 3,3) auf der Angst vor dem „unbeheimateten Toten“ oder auf Pietät gegenüber den Verstorbenen beruht, formuliert eine falsche Alternative.
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rung der Ahnen in Verbindung bringt bzw. die gegen Totenkulte gerichtete Polemik in keinen Begründungszusammenhang mit dem deuteronomischen Hauptgebot stellt.31 Vor allem aber kommt das Deuteronomium in dem skizzierten Erklärungsansatz vergleichsweise weit entfernt von der Lebenswirklichkeit seiner Adressaten zu stehen. Entsprechend hat Mary Douglas für den ganz ähnlich gelagerten Fall der Bestimmungen zum Totenkult im Buch Levitikus gefragt: „Is the book (...) about a real religion that was actually practised by a living people from cradle to grave in some real time in the past?“32 Es ist nicht nur für das Deuteronomium schwer, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Ich formuliere meinen Einwand daher etwas anders: In der skizzierten Form stellt die Herleitung der dtn-dtr Polemik gegen den Totenkult aus der Ausschließlichkeitsforderung eine unzureichende Verkürzung auf die dogmatische Problemstellung dar. Sie geht nicht hinreichend darauf ein, unter welchen Vorraussetzungen die „offizielle Theologie“ den Ausgriff auf die „familiäre Frömmigkeit“ unternehmen konnte oder sich dazu genötigt sah. Erklärungen, die diesen Aspekt berücksichtigen, neigen nun dazu, das zweite Charakteristikum des Deuteronomium, die Zentralisation des Kultes, in den Mittelpunkt zu stellen. So bringt Bloch-Smith die Zentralisationsforderung mit Flüchtlingsströmen nach dem Untergang des Nordreiches in Verbindung, zu denen auch kultische Funktionsträger gehört hätten33. Diese waren in die judäische Gesellschaft zu integrieren, sollten jedoch nicht in religiöse und ökonomische Konkurrenz zum Jerusalemer Tempel treten. Die Antwort der Jerusalemer Theologie auf diese gesellschaftlichen Verschiebungen und ihre Ursache, den Untergang des Nordreichs, sei die beginnende Exklusivität des Gottes von Jerusalem gewesen. Da aber die im Totenkult besonders stark zur Geltung kommende familiäre Frömmigkeit sich einer zentralen Kontrolle grundsätzlich entziehe und der per se dezentrale Totenkult mit dem auf Exklusivität drängenden Zentralisationsgedan31
Das ist für die Astralgottheiten bekanntlich anders. Oswald Loretz erkennt dagegen in einer ursprünglichen Fassung des ersten Gebotes eine Frontstellung zur Herstellung von Ahnenbildern, die erst nachträglich auf alle anderen großen und kleinen Götter der anderen Völker ausgeweitet worden sei. Vgl. LORETZ, „Verbot“. Grundlegend für diese These ist die Rekonstruktion eines Grundbestandes ɏɔɗ ɍɏȽɇɜɕɝȽɃɏ ɏɃ ɍɏȽɇɌɇɌ Ƀɏ aufgrund kolometrischer Gründe, wobei ɏɃ gleichermaßen die vergöttlichten Ahnen und „kanaanäische“ Gottheiten und ɏɔɗ deren Bilder bezeichnet. Doch diese Rekonstruktion ist schwierig und die Annahme, dass sich die Formulierung ɐɌɛɊɃ ɐɌɇɏɃ einer Überarbeitung verdanke, zumindest für die Dekalogfassung des Gebotes ausgeschlossen. Wie Erik Aurelius gezeigt hat, wurde die Formulierung ɐɌɛɊɃ ɐɌɇɏɃ „mit dem Ersten Gebot geschaffen und dann als ein den Lesern bekannter Begriff in der deuteronomistischen Literatur verbreitet“ (AURELIUS, Ursprung, 12). 32 DOUGLAS, Tears, 177 zu Lev 19,31; 20,6; 20,27. 33 BLOCH-SMITH, Practices, 130ff.
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ken kaum zu vereinbaren gewesen sei, habe das Deuteronomium der Jerusalemer Priesterschaft versucht, den Totenkult zu eliminieren. Joseph Blenkinsopp hat diese Erklärung aufgenommen, sie aber mit dem Vorhaben der Reorganisation des Gemeinwesens nach Abzug der Assyrer oder im Exil in Verbindung gebracht und den politischen Aspekt stärker herausgestellt.34 Als ein integraler Bestandteil von Sozialverbänden, die auf Verwandtschaft beruhten, sei der Totenkult mit einer sich ausbildenden zentralen Staatlichkeit und ihrem Anspruch auf Land, Steuern und Loyalität nicht vereinbar. Als politisches Dokument gelesen, ziele das Deuteronomium auf die Sicherung und Exklusivität des Staatskultes und bekämpfe die wirtschaftliche, politische und religiöse Loyalität innerhalb des „kinship network“.35 Zur Untermauerung beruft sich Blenkinsopp auf die Bestimmungen des dtn Gesetzes zur Gerichtsorganisation, die er im Lichte von Max Webers Bürokratismusthese als Versuch liest, den Einfluss verwandtschaftlicher Herrschaft zugunsten staatlicher Institutionen zurückzudrängen. Die Einführung einer staatlichen Gerichtsbarkeit in den Ortschaften und am Zentralheiligtum (Dtn 16,18–20; 17,8–13) greife in die Rechte des pater familias und der Sippenältesten ein, während diejenige von Asylstädten (Dtn 19,1–13) den Familien das Recht der Blutrache nehme. Auch ließe sich die Forderung, den nächsten Angehörigen im Fall von Fremdgötterverehrung anzuzeigen und somit dem Tode auszuliefern (Dtn 13,7–12), als Versuch verstehen, die innerfamiliäre Solidarität von Innen heraus zu sabotieren. Das Verbot des Totenkults ist nach Blenkinsopp auf dieser Linie zu sehen. Es war Teil „of a general strategy of shifting the emotional focus of the religious life of the people, and therefore ultimately their allegiance, away from the lineage system with its immemorial practices and beliefs toward the state and its institutions“.36 Vor aller Kritik im Detail ist Bloch-Smith und Blenkinsopp darin uneingeschränkt recht zu geben, dass sich die dtn-dtr Polemik gegen die mutmaßlich landläufige religiöse Praxis des Totenkults nicht auf der Ebene einer gleichsam „reinen Dogmatik“ abhandeln lässt. Hat es in Juda und Israel in der Königszeit und darüber hinaus einen Totenkult gegeben, so ist die in diesem Kult geübte Solidarität zwischen den Lebenden und den Toten einer Familie im Kontext patrilinear organisierter Familien und dadurch geprägter Gesellschaften zu sehen. Das wiederum bedeutet, dass die dtn-dtr Äußerungen zum Totenkult in den Kontext der familien- und erbrechtlichen Bestimmungen zu stellen und mit diesen auf Spuren eines möglichen Wandels in den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu befragen sind.
34
BLENKINSOPP, Deuteronomy. BLENKINSOPP, Deuteronomy, 189. 36 BLENKINSOPP, Deuteronomy, 184. 35
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IV. Damit komme ich zur Kritik an dem, wie mir scheint, etwas schlichten Modell von Über- und Unterbau bei Bloch-Smith und Blenkinsopp, wobei ich einzelne Punkte herausgreife und auf diese Weise versuche, eine eigene Sicht der Dinge zu entwickeln: (1.) Gerade gegenüber Blenkinsopps Rekonstruktion der dtn-dtr Interessenlage, die ein wenig an die Kirchen- und Adelspolitik Ottos des Großen erinnert, wird man betonen müssen, dass das Hauptproblem in dtn-dtr Zeit kaum darin bestanden hat, die zentrifugalen Bestrebungen politisch starker Familienverbände zu unterminieren. Im Gegenteil: Wie Baruch Halpern aufgezeigt hat, sind in der judäischen Gesellschaft des 8. und 7. Jh. v.Chr. starke soziale Umbrüche zu verzeichnen37. Mehrere Faktoren haben dabei eine Rolle gespielt. Hatte zunächst wohl die Zunahme der Bevölkerungszahl in Juda zur Urbanisierung und einer mit Arbeitsteilung und Spezialisierung verbundenen Ökonomie geführt, so wurde dieser Prozess durch die Konzentration der Bevölkerung in befestigten Städten zur Zeit Hiskijas noch verstärkt. Es ist gut vorstellbar, dass diese Entwicklung zum Bedeutungsverlust der gentilen Solidarbeziehungen und zur Auflösung der traditionellen Bindung der Familien an ihr Erbland geführt hat. In dieser Situation dürften sich die Schwächung der an das Erbland gebundenen Ahnenverehrung und die Abnahme des Generationen übergreifenden Zusammenhalts der Großfamilie gegenseitig verstärkt haben. Ein Übriges wird Sanheribs großangelegte Deportation der Bevölkerung der auf seinem dritten Feldzug eroberten Landstriche und Ortschaften Judas bewirkt haben. Die dann vermutlich von Jerusalem ausgehende Neubesiedlung der landjudäischen Gebiete hat die partielle Auflösung großfamiliärer Strukturen sicher nicht verhindern können. War mit der Beschränkung des judäischen Staatsgebiets auf Jerusalem und seine unmittelbare Umgebung durch Sanherib im Jahr 701 v.Chr. die Zentralisation des Kultes bereits einmal eine erzwungene Realität gewesen,38 so gilt dies nicht viel weniger für das Wegbrechen der Grundlage einer weit verbreiteten Ahnenverehrung in Juda. (2.) Die rechtlichen Bestimmungen des Deuteronomiums fügen sich gut in dieses Bild. Sie geben das Bemühen zu erkennen, familiäre Strukturen unter neuen Bedingungen zu stärken und den mit dem Wegfall des Zusammenhalts der Großfamilien verbundenen Verlust an Solidarität auszugleichen. Letzteres ist etwa beim „Bruderethos“ des Deuteronomiums der Fall, in dem das familiäre und nachbarschaftliche Ethos auf das Ganze des Jahwevolkes ausgeweitet wird. Was die familienrechtlichen Bestimmungen im engeren Sinne anbelangt, so ist unbestritten, dass das Deuteronomium mas37 38
HALPERN, Jerusalem, 71f. Vgl. dazu LEVIN, Josia, 198ff.
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siv versucht, Einfluss auf familiäre Belange auszuüben. Doch geschieht dies kaum primär, um das „kinship network“ auszuhebeln. Das Interesse ist anders gelagert. Materialrechtlich ändert sich nämlich nur wenig. Was sich ändert, sind die Rechtsbegründungen – die familiäre Solidarität wird in ein spezifisch israelitisches Ethos überführt39 – und die verfahrensrechtlichen Bestimmungen. Beides sind Maßnahmen, die schon im älteren Bundesbuch angelegt sind und die auf die Krise der verwandtschaftlichen Beziehungen reagieren.40 (3.) In exilisch-nachexilischer Zeit gewinnen diese Veränderungen im sozialen Gefüge und die von ihnen hervorgerufenen Reaktionen nochmals eine neue Dynamik und Ausrichtung. Vermutlich sind nach dem Verschwinden der ohnehin nur rudimentären staatlichen Strukturen in Recht und Verwaltung die Sippenoberhäupter wieder stärker mit öffentlichen Aufgaben wie der Rechtsprechung betraut gewesen.41 Entsprechend basieren gerade auch in der exilisch-nachexilischen Zeit die Außenabgrenzung „Israels“ wie die Binnenrelation auf Verwandtschaftsstrukturen, wobei der Bezugspunkt aller Verwandtschaftsstrukturen das Gottesvolk ist.42 Das Deuteronomium hat diesen Prozess maßgeblich angestoßen und in seinen jüngeren Schichten weiter vorangebracht. Dies spricht ebenfalls gegen die Annahme, dass hinter den dtn-dtr Äußerungen zum Totenkult eine auf die Schwächung der Familienverbände hin ausgerichtete Politik steht. Schließlich sind (4.) die literarhistorische Stratigraphie und der Kontext der fraglichen Texte zu beachten. Es herrscht ein breiter und gut begründeter Konsens darüber, dass Dtn 14,1; 18,11 und 26,14 zu den jüngeren Erweiterungen des Deuteronomiums gehören.43 Man wird daher vermuten dürfen, dass das Verbot bestimmter Trauerriten, der Nekromantie und eventuell des Totenopfers keine Kernanliegen des Deuteronomiums formulieren. Ein knapper Durchgang durch die Texte bestätigt den Eindruck. In Dtn 14,1 geht es um das Verbot bestimmter Trauerriten. Das Einritzen der Haut und das Scheren der Haare sind noch in der Exilszeit gang und gäbe, ohne irgendeinen Anstoß zu erregen (vgl. Jer 16,6; 41,5; 47,5; Ez 7,18; 27,31). Zudem weisen die in Dtn 14,1 inkriminierten Bräuche eine deutliche Nähe zu der im Kernbestand des dtn Gesetzes verlangten symbolischen Trauer einer Kriegsgefangenen um ihre Eltern auf (Dtn 21,10–14). 39 Dies gilt insbesondere für die sog. Ältestengesetze in Dtn 21,18–21; 22,13–21; 25,5–10. Vgl. dazu GERTZ, Gerichtsorganisation, 173–225, bes. die jeweilige rechts- und literarhistorische Einordnung. 40 So auch OTTO, Ethik, 67 u.ö. 41 Vgl. dazu GERTZ, Gerichtsorganisation, 173–225. 42 Vgl. dazu BLUM, Volk. 43 Zu Dtn 14,1 vgl. VEIJOLA, Deuteronomium, 295f, zu Dtn 18,11 vgl. GERTZ, Gerichtsorganisation, 30ff und zu Dtn 26,14 vgl. VEIJOLA, Deuteronomium, 304 sowie GERTZ, Stellung, 32f.
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In beiden Fällen lässt sich die Funktion des Ritus klar bestimmen: „Die durch den Tod bewirkte Auslösung des Toten aus dem Kreis der Lebenden wird von den Trauernden als Separationsritus solidarisch mit- und nachvollzogen, indem sie ihr eigenes Leben rituell unterbrechen.“44 Über die Stoßrichtung und Bedeutung des Verbots in Dtn 14,1 lässt sich hingegen ähnlich wie bei dem Solon zugeschriebenen Verbot expressiver Trauerriten im Athen des 6. Jh. v.Chr. trefflich streiten45. Dass sich die Bestimmung gegen die Verehrung von Totengeistern richtet, wird jedenfalls nicht gesagt. Ging es beim Verbot der Ritzwunden vermutlich um die Bewahrung der körperlichen Integrität und vielleicht auch um die Einhaltung des Bluttabus, so kann man für das Verbot des Kahlscherens zwischen den Augen erwägen, dass der Platz nach Dtn 6,8 für die ɝɈɗɋɈɋ „Merkzeichen“ eben zwischen den Augen reserviert ist.46 In diese Richtung könnte jedenfalls die Eingangsformulierung „Ihr seid Kinder Jahwes, eures Gottes“ weisen. In Dtn 18,11 geht es nun eindeutig um Totenkult, genauer um das Verbot der Nekromantie.47 Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass das Verbot nicht im Zentrum des Textes steht. Dies zeigt schon der Umfang der in V. 10f verbotenen mantischen und magischen Praktiken: „Es finde sich bei dir keiner, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, kein Orakelkundiger, Wolkendeuter, Schlangenbeschwörer, Zauberer, keiner, der Bannungen vornimmt, Grubenorakel [?] oder Wahrsagegeister befragt, keiner, der sich an die Toten wendet.“ Der Rundumschlag richtet sich gegen solche Praktiken bei der Erkundung des göttlichen Willens und der zukünftigen Geschehnisse, die auf menschlicher Mitwirkung und der Anwendung technischer Mittel beruhen. Darin bietet er eine Gegenfolie zu der allein als legitim erachteten, an der Tora des Mose orientierten Jahwe-Prophetie.48 Sie steht im Zentrum des Prophetengesetzes. Doch unabhängig von der Intention, die Jahwe-Prophetie als einzig angemessene Form der Erfragung des göttlichen Willen zu profilieren, ist das Verbot der Nekromantie und anderer mantischer Praktiken stilbildend geworden. Dies belegt der Nachtrag zum Reformwerk des Joschija in 2 Kön 23,24 über die Ausrottung von Totenbeschwörung und Wahrsagerei nach der Vorgabe des gefundenen Buches. Von dieser Stelle ist wiederum die Auffüllung des ohnehin umfangreichen Sündenregisters des Manasse in 2 Kön 21,649 abhängig. Schließ44
PODELLA, ̷ôm, 77. Normative Eingriffe der Städte in Bestattungsrituale und Totengedenken sind an den verschiedensten Orten der griechischen Welt von der archaischen bis hin zur hellenistischen Zeit belegt. Vgl. ENGELS, Magnificentia. Zu den „solonischen Gesetzen“ samt der schwierigen Quellenlage vgl. ebd., 77–96. 46 So auch ACHENBACH, Israel, 301. 47 Zu den philologischen Problemen vgl. die oben in Anm. 18 genannte Literatur. 48 Vgl. auch RÜTERSWÖRDEN, Gemeinschaft, 76ff. 49 Vgl. TROPPER, Nekromantie, 247. 45
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lich gehört auch die dtr Uminterpretation der Erzählung von Sauls Besuch bei der Totenbeschwörerin in Endor in die Nachgeschichte von Dtn 18,11.50 Schwer zu verstehen ist schließlich die nach Dtn 26,14 bei der Abgabe des Zehnten verlangte Erklärung: „Ich habe nichts davon gegessen, als ich in Trauer war, und ich habe nichts davon ausgeräumt, als ich unrein war, und ich habe nichts davon für einen Toten gegeben.“ Sehr wahrscheinlich erwähnt der letzte Teilvers ein Totenopfer. Doch gilt wieder: Der Totenkult steht nicht im Zentrum des Interesses. Darüber hinaus ist gegenüber einem weit verbreiteten Missverständnis sogar festzuhalten, dass das Totenopfer wie ja auch die ebenfalls erwähnte Trauer nicht verboten wird. Es geht lediglich um die unversehrte rituelle Reinheit des Zehnten. Aufs Ganze gesehen lässt sich aus den drei genannten Texten kein programmatischer Entwurf zur Abwehr des Totenkults herauslesen. Die Erwähnungen in Dtn 18,11 und 26,14 wirken eher beiläufig und es hat den Anschein, als stünde der Totenkult schon längst zur Disposition. Anders und als Ergebnis unseres Durchgangs formuliert: Das Deuteronomium kämpft nicht auf breiter Front gegen den Totenkult, sondern vollzieht mit dem Verbot eine mentalitätsgeschichtliche Entwicklung nach, die aufgrund der geschilderten sozialgeschichtlichen Veränderungen schon längst eingesetzt hatte. Das schließt natürlich nicht aus, dass es die abgelehnten Praktiken zur Zeit der Entstehung der genannten Texte gegeben hat. Es wird sich vielmehr so verhalten haben, dass die Verfasser der einschlägigen dtn-dtr Texte im zeitgenössisch praktizierten oder erzählten (1 Sam 28) Totenkult eine Unvereinbarkeit mit ihrer Auffassung der Jahwe-Religion erkannt haben und darin den skizzierten sozialgeschichtlichen und unterstellten mentalitätsgeschichtlichen Wandel theologisch nachvollzogen und weiter voran gebracht haben. Die gewonnene theologische Einsicht hat dann das Verstehen einschlägiger Äußerungen in der älteren Literatur gesteuert. Das Ergebnis sind die dtn-dtr Überarbeitungen älterer Texte, die dem Phänomen ursprünglich neutral gegenüber gestanden haben (vgl. 1 Sam 28). Die theologische Durchdringung des mentalitätsgeschichtlichen Wandels hat darüber hinaus aber auch auf die Wahrnehmung der religiösen Lebenswirklichkeit zurückgewirkt. Letzteres wird gerade durch die jüngeren, nachdtr Belege zum Thema bestätigt. Auf den ersten Blick rufen sie vielleicht den Eindruck hervor, dass die dtn-dtr Polemik nicht sonderlich erfolgreich gewesen ist. Doch ist eher das Gegenteil der Fall. Spätalttestamentliche Texte und die Übersetzer der LXX bedienen sich der ursprünglich gegen die kultische Form der Ahnenverehrung gerichtete dtn-dtr Polemik, zielen aber auf neue religiöse Phänomene wie professionelle Wahrsager und Bauchredner (Lev 50
Zu 1 Sam 28 vgl. FISCHER, Tod, 115–122. Er unterscheidet in 28,3–16 drei Schichten. Die älteste, vordtr Schicht (V. 7*.8aƞbƝ.12a*.13*.14bƞ) bewertet die Nekromantie noch nicht negativ.
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20,27; Ijob 32,19).51 Das im Nachvollzug eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels am Beispiel der Nekromantie entwickelte theologische Argument hat also über seine individuelle Ursprungssituation hinaus allgemeine Gültigkeit gewonnen. In diesem Sinne wurde das Band zwischen den Lebenden und den Toten in der dtn-dtr Literatur tatsächlich durchgeschnitten.
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Zur Übersetzung der LXX vgl. TROPPER, Nekromantie, 171ff. ɄɈɃ ist zumeist mit βƟƟƝƯưƭƛƨƱƤƫƮ („Bauchredner“) übersetzt, in 2 Kön 21,6; 23,24 fälschlicherweise mit ƤơƧƣưƚƮ („einer, der will“). In Jes 29,4 ist für ɘɛɃɑ ɄɈɃ ƫϓ ƲƵƩƫѼƩươƮ βƦ ưџƮ ƟџƮ („die aus der Erde sprechen“) verwendet, ähnlich sind Jes 8,19; 19,3. ɌɓɕɆɌ ist mit βƬƝƫƥƠƸƮ („Zauberer“), βƟƟƝƯưƭƛƨƱƤƫƮ, ươƭƝưƫƯƦƸƬƫƮ („Zeichendeuter“), ƟƩКƯưƣƮ („Kenner“) oder ƟƩƵƭƥƯưƚƮ („Erkenner“) übersetzt. Zu Lev 20,27 und Ijob 32,19 vgl. ebd., 264ff und 297ff.
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VI. Tod und Jenseits im antiken Mittelmeerraum – komparatistische Aspekte
Die Toten als Richter über die Lebenden Einblicke in ein Himmel, Erde und Unterwelt umspannendes Verständnis von Leben im antiken Mesopotamien ANNETTE ZGOLL
Vorstellungen vom Jenseits Enkidu im Jenseits Gilgameš und Enkidu, die besten Freunde, stehen auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes: Ein großes Abenteuer haben sie glanzvoll bestanden, haben einen gewaltigen Gegner, den Wächter des Zedernwaldes besiegt, und kostbares Holz nach Mesopotamien gebracht. Ein rauschendes Fest haben sie gefeiert, die ganze Stadt war auf den Beinen. Doch nun ist Nacht. Und in dieser Nacht geschehen furchtbare, dunkle Dinge. Ein grauenvolles Wesen steht auf einmal da, die Fratze eines Löwen auf Enkidu gerichtet. Mit Krallen eines Raubvogels fühlt er sich an den Haaren gepackt, geschlagen, zu Boden getrampelt (Gilgameš-Epos 7:173ff). Enkidu versucht noch sich zu wehren – keine Chance. Er ruft Gilgameš um Hilfe an – der lässt ihn im Stich. Denn er hat selbst Angst. Und so macht der Dämon Enkidu zu einem vogelartigen Wesen, macht ihn also den Bewohnern der Unterwelt gleich. Dann fesselt er ihn und schleppt ihn ins Totenreich (Gilgameš-Epos 7:184). In eigener Person muss Enkidu das Jenseits betreten.1 Grabartiges Jenseits Das Jenseits ist nach mesopotamischer Vorstellung staubig,2 dunkel3 und totenstill.4 Wie das Grab.5 Und diese dunkle, unwirtliche Welt wird als be-
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Zum realen Charakter dieser während eines Traumes stattfindenden Ereignisse vgl. ZGOLL, Traum, 273–275. 2 Urnammas Tod 190 (FLÜCKIGER-HAWKER, Urnamma; vgl. ETCSL c.2.4.1.1 mit weiterer Literatur); Gilgameš-Epos 7:188 Staub und Lehm als Nahrung; 7:191f (GEORGE, Epic). 3 Eindringlich betont im Todestraum des Enkidu, Gilgameš-Epos 7:184.187.190. 4 Gilgameš-Epos 7:192.
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drohlich empfunden. Man stellt sie sich von vogelartigen Totengeistern,6 von tod- und krankheitsbringenden Dämonen, d.h. Mischwesen mit Teilen von verschiedenen Raubtieren, und von Urzeit- und Unterweltsgöttern bevölkert vor. Angst vor dem Tod Mit diesem Bereich wollen die Mesopotamier nichts zu tun haben. Sie nennen ihn kur-nu-gi4-a, er̸et lÁ târi, „Land ohne Wiederkehr“. Ein abgeriegelter Bereich. Doch diese Bezeichnung entpuppt sich als frommer Wunsch. Denn Wesen aus dem Totenreich können in die Welt der Lebenden eindringen. Und gerade das jagt Angst und Schrecken ein. Man fürchtet sich vor ihnen, weil sie, wie man glaubt, schlimme Schäden anrichten können. Das geht so weit, dass man sich sorgt, Totengeister könnten die Lebenden mit in den Tod ziehen.7 Diese kurze Skizzierung altorientalischer Unterweltsvorstellungen klingt vertraut, und wesentliche Teile davon wirken in der morgen- und abendländischen Tradition lange Zeit weiter fort.
Thema des Beitrages In diesem Beitrag geht es um eine andere Perspektive auf die Toten, welche in den Quellen weitaus seltener zu erkennen ist, um die Möglichkeit einer positiven, gelungenen Kommunikation zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Austausch zwischen beiden Welten kann sogar erwünscht sein und daher induziert werden. Denn offenbar haben die Toten nach mesopotamischer Anschauung Zugang zu besonders relevantem Wissen, nämlich Einblicke in die Zukunft des Diesseits – und sie besitzen eine gewisse Macht, die wiederum positive Auswirkungen auf das Diesseits zeitigen kann. Zunächst zum bedeutungsvollen Wissen der Toten. 5 So explizit Urnammas Tod 190: sahar PU2 saÝ-Ýa2-ka „im Staub einer Grube“ lässt man ihn, den König, sitzen. 6 Bei seinem Abstieg ins Totenreich während des Traumes wird Enkidu in ein Wesen ähnlich einer Taube verwandelt, er hat Flügel, die man festbinden kann, vgl. GilgamešEpos 7:182; entsprechend haben die Toten nach Gilgameš-Epos 7:189 ein Federkleid wie Vögel. Vgl. auch Inanas Gang zur Unterwelt (SLADEK, Descent; vgl. ETCSL c.1.4.1) und sein akkadisches Pendant Ištars Gang zur Unterwelt (MÜLLER, Höllenfahrt). Weitere Hinweise bei MAUL, Zukunftsbewältigung, 233. – Dieser Befund muss nicht bedeuten, dass man sich Totengeister überall und jederzeit in dieser Form vorgestellt hat. 7 Das bezeugen Texte, die behandeln, wie man sich wirkungsvoll dagegen schützen kann vgl. z.B. TSUKIMOTO, Totenpflege, 146ff; SCURLOCK, Means; MAUL, Zukunftsbewältigung, 233f; SCHWEMER, Rituale; NASRABADI, Bestattungssitten, 44ff.
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1. Spontane Botschaften der Toten Ein besonders dichter Fall soll hier als Kronzeuge fungieren. Es handelt sich um einen Brief aus dem 18. Jh. an den Herrscher von Mari, geschrieben von seiner eigenen Mutter. Diese Frau mit Namen Addu-dīrë war nach Auskunft des erhaltenen Briefkorpus bemüht, sämtliche Informationen über die Zukunft ihres Sohnes und des Staates aufgrund von Prophetien und Träumen genau zu beachten. In diesem Brief meldet die Königsmutter ein Erlebnis, welches eine andere Frau während eines Traumes hatte: Zwei verstorbene Propheten sind ihr erschienen und haben sie aufgefordert, eine Befragung von Toten, speziell von Totgeburten durchzuführen. Der Text lautet: 1
[ana bÓlë-ja 2 qibëma 3 umma MUNUS.]dAddu-dīrë-ma [x-b]i?-lÁ'u šuttam 5 [i̺̺]ul umma šëma 6 [ina šu]ttë-ja 7 [Ha]dnu-El 8 [u] Iddin-Kībë 9 [LU2m]uhhû 10 Ӫiblu̺ī ӫnimma 11 ana [l]Ót/lêt dAbba 12 ërubī-ma 4
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këam iqbû 14 umma šunīma ana kībë-kina 16 qibê-ma 17 ebīr šulmim 18 Zimri-Lim 19 lëpuš 20-27 (stark beschädigt oder abgebrochen) 15
1 [Zu meinem Herrn sprich: Folgendermaßen] Addu-Dīrë: 4 Die (Frau) [...-b]ilÁ'u hat einen Traum [geseh]en. So (hat) sie (gesagt): 6 „In meinem Traum 7 wurden die Propheten/Ekstatiker (muhhû) Hadnu-El und Iddin-Kībë lebendig. 11 An der Seite des (Gottes) Abba (oder: unter den Kühen des Abba)8 traten sie ein und 13 sprachen folgendermaßen: 15 „Mit euren (fem.) Totgeburten sprecht, 17 auf dass Zimri-Lim Frieden (oder: Wohlergehen) ernte! ............... [ca. 8 Zeilen fehlen].9
Der kleine Text enthält zweierlei Botschaften aus dem Jenseits: zum einen die spontan ergangene Botschaft der verstorbenen Propheten, zum anderen die von ihnen geforderte Befragung der Totgeburten, welche eine weitere Botschaft erbringen soll. Die Befragung soll offensichtlich durch Frauen ausgeführt werden, da das Possessivpronomen „eure (Totgeburten)“ sich eindeutig an Frauen wendet.
Entweder: ana [l]Ót dAbba – „Zur Seite von (= zu) / An der Seite von dAbba“ (so DURAND, Archives, 467), wobei ana lÓt als Richtungsangabe oder ungefähre Ortsangabe aufzufassen ist. Alternativ kann ana [l]êt gemeint sein, vgl. HEIMPEL, Letters, 264 „among the cows of“, ebenso NISSINEN, Prophets, 59 „before the cows of“. Nach HEIMPEL, Letters, 264 stammt der Name, falls die Verbindung mit Kühen stimmt, vom sumerischen ab2-ak und ist ein elliptischer Genitiv: „Der von den Kühen“. 9 DURAND, Archives, 467, Nr. 227; HEIMPEL, Letters, 264; NISSINEN, Prophets, 59. 8
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Wie ernst man solche Träume nahm, zeigt ein Wirtschaftstext aus derselben Stadt. „80 Liter Brot, 20 Liter gutes Bier, 60 Liter Mehl für zweitklassiges Bier“ werden ausgegeben für eine Totenspeisung der königlichen Ahnen, welche aufgrund des Traumes einer Frau angeordnet wird.10 Der Traum selbst wird im Kontext der Abbuchungsnotiz nicht berichtet. Doch unschwer lässt sich erraten, dass man ihn als Botschaft von königlichen Totengeistern aufgefasst hat.11 Zurück zum Brief der Addu-dīrë: Die im Traum empfangene Botschaft, welche zur Befragung der Totgeburten auffordert, zeigt ein kommunikatives Geflecht zwischen Oberwelt und Unterwelt, welches keinen anderen Zweck verfolgt, als Wissen der Unteren für die Oberen zugänglich zu machen. Es ist nicht ein Wissen um des Wissens willen, sondern steht in einem lebenspraktischen, lebensfördernden Zusammenhang. Es geht um ein Wissen und eine Kraft, welche eine gute, friedliche Zukunft für den Herrscher und damit auch für seinen Staat ermöglichen soll. Die kurze Formulierung „sprecht mit euren Totgeburten“ kann auf eine rein „kognitive“ Hilfe, auf verbale Information durch die Totgeburten abzielen, kann aber auch eine aktive, tatkräftige Hilfe meinen. Das wird im Folgenden noch deutlicher werden. 2. Induzierte Botschaften der Toten Botschaften der Toten können also spontan während eines Traumes erfolgen (vgl. Enkidus Todestraum12). Die Lebenden können aber auch versuchen, eine solche Begegnung mit Botschaft zu induzieren. Der eben vorgestellte Mari-Brief vom Anfang des 2. Jt. ist neben einem zeitgleichen aus Assur13 und einem sumerischen Literaturwerk14 das bislang früheste Zeugnis für solche Praktiken, die wir ansonsten v.a. aus Ritualen des 1. Jt. ken-
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Vgl. WILCKE, Traum, 11–16; ZGOLL, Traum, 84. Eine ähnliche Sonderleistung für einen königlichen Totengeist fordert auch ein Prophet (ARM 3 Nr.40 = KUPPER, Correspondance, 64f, Nr. 40, vgl. DIETRICH/HECKER/ HOFTIJZER [u.a.], Deutungen, 87): ein muhhûm des DagÁn bringt dem Provinzgouverneur von Terqa die Gottesbotschaft, dass man eilends dem Totengeist des Königs Yahdun-Lim eine Totenspeisung bereiten möge. 12 Auch der Todestraum des Enkidu (vgl. oben) oder der Todestraum des Dumuzi (Dumuzis Traum und Tod, vgl. ALSTER, Dumuzi, ETCSL c.1.4.3, ZGOLL, Traum, 441f) enthält solche nicht induzierten, sondern spontanten Botschaften. Diese enthalten hier nicht nur Wissen über Zukunft, sondern auch den Keim dieser Zukunft, sie sind zugleich der Beginn dieser Zukunft; vgl. ZGOLL, Traum, 273–275; 374–376. 13 TC 1, 5, vgl. TROPPER, Nekromantie, 69ff; HIRSCH, Untersuchungen, 14f. 14 Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt, GEORGE, Epic vgl. ETCSL c.1.8.1.4. 11
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nen. Diese Rituale15 sowie ein Ausschnitt aus dem Etana-Epos16 geben Auskunft, auf welche Weise man den Kontakt mit der Unterwelt herzustellen suchte. Zu beobachten sind verschiedene Arten von rituellen Vorgehensweisen, die auch miteinander kombiniert werden können. Man ruft die Totengeister an und bringt ihnen Speise und Trank dar.17 Gegebenenfalls muss man, um mit den Jenseitigen sprechen zu können, die Augen oder das Gesicht mit einer Essenz bestreichen. Alternativ kann man eine temporäre Behausung für den Gast aus der Unterwelt herstellen und diese mit einer dafür vorgesehenen Paste bestreichen. Als solch vorübergehende Behausung bzw. Ver-Körperung dient ein Lehmfigürchen oder ein Totenschädel. Dann fleht man den Sonnengott um Unterstützung an: Er soll die Jenseitigen von seiner nächtlichen Reise durch die Unterwelt mitbringen.18 Oder man wendet sich mit diesem Anliegen an die Erde selbst, der man im Gegenzug Blut zu trinken anbietet (Etana-Epos späte Version 2:133). Auf diese Weisen versucht man, mit einem Totengeist, meist aus der eigenen Familie,19 oder mit dem eigenen20 Todesdämon (Namtaru) in Kontakt zu treten und von diesen Antworten auf drängende Fragen zu erhalten.21 Eine sorgfältige Sichtung und Zusammenschau sämtlicher relevanter Texte legt nahe, dass die eben aufgezählten Elemente keineswegs willkürlich oder in beliebiger Variation zum Einsatz kommen. Es lassen sich bei genauer Analyse zwei hauptsächliche, formal verschiedene Arten der Kommunikation mit dem Jenseits voneinander unterscheiden: Kommunikationsversuche mit und solche ohne begleitende Opfergaben. Vergleicht 15 Zusammengestellt von TROPPER, Nekromantie, dazu teilweise TSUKIMOTO, Totenpflege. 16 Etana-Epos späte Version 2:131–136, vgl. HAUL, Etana-Epos und ZGOLL, Traum, 408f. 17 Dies kann zusammengefasst als „ehrfürchtig behandeln“ bezeichnet werden, vgl. Etana-Epos späte Version 2:134. 18 In SCURLOCK, Means, Text Nr.74 (BM 36703) wird der Sonnengott als „Öffner der Dunkelheit“ bezeichnet, vgl. auch seine Erwähnung in Text Nr.72, wo das nekromantische Ritual „vor Šamaš“ durchzuführen ist; in Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt 240ff öffnet er eine Öffnung, durch welche der Geist des Enkidu aus dem Totenreich schlüpfen kann. 19 Offen bleibt dies im Ritual, wo der Tote selbst spricht, EBELING/KÖCHER/ROST, Keilschrifttexte, Nr. 83 (VAT 8268). 20 VON WEIHER, Texte, Nr. 20 Z. 12´f.15´.17´ und TROPPER, Nekromantie, 98. 21 Botschaften aus der Unterwelt können nicht nur durch Nekromantie erfolgen: Denn nicht nur die Toten können aus dem Jenseits kommen und Botschaften mitteilen, vielmehr auch der jeweilige Todesdämon eines Menschen, Namtaru. – Die Erde, genannt im Etana-Epos späte Version 2:131ff, ist wohl nicht als selbst sprechend, sondern als numinose Mittlerin der Totengeister aufzufassen.
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man beide Gruppen, so zeigt sich, dass dem formalen auch ein funktionaler Unterschied korrespondiert: Rituale ohne Opfergaben zielen vor allem auf Information, Rituale mit Opfergaben hingegen zielen auf Aktion. Geht es dem Menschen vorwiegend darum, bestimmte Auskünfte zu erlangen, so genügen Anrufungen der Totengeister und Einreibeprozeduren. In Ritualen, wo man zusätzlich oder stattdessen Speise- und Trankopfer darbringt,22 erhofft man sich mehr; hier sucht man von seinen verstorbenen Verwandten konkrete Hilfe zu erhalten. Wie man sich diese Hilfestellung aus dem Jenseits im einzelnen vorzustellen hat, wird im folgenden Teil entwickelt werden. Dies kann dann auch die Frage klären, was eigentlich der tiefere Grund dafür ist, dass die Toten Einblicke in die Zukunft auf Erden haben können. 3. Aktionen der Toten Ohne auf Details einzugehen, lässt sich aus den Quellen folgendes Bild gewinnen: In göttlichen Gerichtsverfahren kann immer wieder die Zukunft eines lebenden Menschen verhandelt werden. Nicht nur Götter des Himmels, sondern auch Götter der Unterwelt, Dämonen und Totengeister sind an solchen juridischen Prozessen beteiligt. Sie entscheiden über das Schicksal des Menschen. Verstorbene der eigenen Familie können dabei versuchen, auf einen solchen Schicksalsentscheid positiv einzuwirken. Dazu sollen sie dem betroffenen Menschen, wie es wörtlich heißt, vor den Göttern beistehen,23 auf dass die Entscheidung zugunsten des betroffenen Menschen ausfällt. Anhand mehrerer Rituale lässt sich nun genauer rekonstruieren, wie es überhaupt zu einem solchen Prozess kommen konnte und wie dieser ablief.24
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Als Empfänger sind in diesem Falle nur Totengeister, nicht aber der Todesdämon genannt. 23 VAT 8910 und Duplikate VAT 13656 und VAT 13657 (TSUKIMOTO, Totenpflege, 161ff; SCURLOCK, Means 351ff, Nr. 85, Textzeuge YY 3:14 und Parallelen) und K 2001+ (FARBER, Beschwörungsrituale mit Textzeuge A Z. 161 und Parallelen, dazu auch TSUKIMOTO, Totenpflege, 161ff; SCURLOCK, Means 351ff): izizzÁnimma „steht (dort) für mich“. 24 Die Rituale zeigen uns dabei nur einen Ausschnitt, nämlich wenn ein Mensch todkrank war. Die Literatur aber verweist darauf, dass auch bei Kinderlosigkeit die Unterwelt um Hilfe angerufen werden konnte (vgl. Etana-Epos); auch der Brief aus Mari (vgl. oben unter Punkt 1: Spontane Botschaften der Toten) ist semantisch offener auf eine gute Zukunft gerichtet. Allgemein lässt sich festhalten, dass die diachrone und diatope Streuung der Quellen darauf hindeutet, dass wir nur die berühmte Spitze des Eisberges sehen. Die Belege verweisen auf den Bereich der familiären Religiosität, der aufgrund der Beschaffenheit der Quellen weitaus seltener zu greifen ist, als staatsrelevante Belange bzw. gerade dann aufscheint, wo er staatsrelevant wird wie im Brief über die Thronfolge des Assurbanipal (vgl. unten unter 4. Auswertungen).
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Gegenstand des Prozesses: Verurteilter Mensch Wenn einen Menschen schwere Krankheiten treffen, dann deutet man dies im Alten Orient als Zugriff von bösen Dämonen oder Totengeistern, die in seinen Leib eingedrungen sind und ihn in die Unterwelt bringen wollen.25 Damit erfüllen sie schlicht ihre Aufgabe. Denn sie tun dies als Vollstrecker göttlicher Aufträge.26 Der Mensch, der sich von einem solch schweren Schicksalsschlag betroffen sieht, wendet sich in einem Rechtsfall an die Götter, um sie implizit zu einer Annullierung ihres Auftrages zu bewegen, d.h. den bösen Dämon oder Geist von seiner Aufgabe zurückzurufen. In einem solchen Verfahren ist der Mensch selbst und sein Schicksal Gegenstand der Verhandlungen. ina īmi annî mahar Šamaš Gilgameš izizzÁnimma dënë dënÁ purussÁja pursÁ lemutta ša ina zumrëja šërëja šer´Ánëja bašû ana qÁt Namtari sukkal er̸etim piqdÁnim Heute stellt euch für mich hin vor Šamaš und Gilgameš, um meinen Prozess zu entscheiden, die Entscheidung über mich zu fällen! Das Übel, das in meinem Leib, meinem Fleisch, meinen Sehnen ist, überantwortet dem Namtaru, dem Minister („Boten“) der Unterwelt. VAT 8910 Z.7–1027
Richter Oberste Hoheit über einen derartigen Rechtsfall haben hohe Gottheiten: der Sonnengott Šamaš (VAT 891028 und W 22758/229), der Mondgott Sîn (VAT 1365330), die Venusgöttin Ištar (K 2001+31). Es handelt sich in allen Fällen um eine Gestirngottheit. Das ist sicher kein Zufall. Gerade die Gestirngötter haben Affinitäten zur Unterwelt, weil sie diese auf ihrer Bahn durchqueren. Von daher haben sie eine Art natürliche Hoheit über Prozesse, welche sowohl die obere wie die untere Welt betreffen. Jede dieser Gestirngottheiten kann vom betroffenen Menschen erfahren werden, wenn sie am Himmel erscheint und dem Menschen ein ansprechbares Gegenüber bietet. Die Rituale sind perfekt darauf abgestimmt. So heißt es in einem solchen, dass man dem Sonnengott bei seinem Untergang die Problematik 25
Vgl. z.B. FARBER, Beschwörungsrituale oder SCURLOCK, Means. Vgl. z.B. explizit FARBER, Beschwörungsrituale, 94ff. A II. Es gibt daneben Fälle, in welchen man Hexerei für solche Vorgänge verantwortlich glaubt. 27 Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. 28 Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. 29 W 22758: VON WEIHER, Texte, Nr. 20; SCURLOCK, Means, 335ff, Nr. 81; TROPPER, Nekromantie, 94ff, Text 3, Rituale 3 und 4. 30 VAT 13653: VON WEIHER, Texte, Nr. 20; SCURLOCK, Means, 337ff, Text TT und UU. 31 Zu K 2001+ siehe Anm. 23. 26
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schildert, dass man nämlich von einem Totengeist gepackt ist. Und dass man ihm dann am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, ein Mahl bereitet, bevor der Prozess beginnt (Ass.13955ft+kc32).33 Die Rituale nennen aber noch weitere Richter. In allen Fällen erscheinen die Götter in einem Team: Jedem astralen Hochgott steht ein weiterer Gott zur Seite: einmal Gilgameš (VAT 891034), ein andermal PabilsaÝ (W 22758/235) oder Dumuzi (K 2001+36). Einmal ist es eine ganze Gruppe, nämlich 6 Urzeitgötter (VAT 1365337); analog ist hier auch Šamaš zu nennen, wo er in Kombination mit Aššur genannt wird (K 115238). Diese immer an zweiter Stelle genannten Götter haben auch etwas gemeinsam: Sie alle sind, zumindest zeitweilig, Unterweltsgottheiten. Die Hoheit über einen Rechtsfall haben in diesen Ritualen demnach Götter des Himmels und der Unterwelt. Vermutlich steht hinter diesem Befund die Vorstellung, dass grundlegende Entscheidungen, gerade wenn es um Leben und Tod eines Menschen ging, von je einem oder mehreren Vertretern der oberen und der unteren Götter gefällt werden mussten. Die Richterpaare sind Šamaš und Gilgameš (VAT 891039), Šamaš und PabilsaÝ (W 22758/240), Ištar und Dumuzi (K 2001+41), Urzeitgötter und Sîn (VAT 1365342), Aššur und Šamaš43 (K 115244). Neben judikativen kommen den Unterweltsgottheiten exekutive Aufgaben zu; diese werden im Anschluss an die Vorstellung der Richterkollegien zu besprechen sein.
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Ass. 13955ft+kc (EBELING/KÖCHER/ROST, Keilschrifttexte, Nr. 84; TSUKIMOTO, Totenpflege, 170ff). 33 Der Spruch wird in diesem Ritual elliptisch ausgelassen. 34 Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. 35 Zu W 22758 siehe Anm. 29. 36 Zu K 2001+ siehe Anm. 23. 37 Zu VAT 13653 siehe Anm. 30. 38 K 1152 (PARPOLA, Letters, Nr. 132; DERS., Scholars, Nr. 188); zu diesem Text vgl. unten sub 4. Auswertungen. Zu dieser Position des Šamaš vgl. Anm. 43. 39 Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. 40 Zu W 22758 siehe Anm. 29. 41 Zu K 2001+ siehe Anm. 23. 42 Zu VAT 13653 siehe Anm. 30. 43 In dieser Kombination fungiert Šamaš als zeitweilige „Unterweltsgottheit“, was im Blick auf seine nächtliche Reise durch die Unterwelt eine mögliche Konstruktion darstellt. Gerade die exekutive Aufgabe, das Übel in die Unterwelt zu transportieren (vgl. dazu unten), kommt ihm auch in anderem Kontext zu. 44 Zu K 1152 siehe Anm. 38.
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Richterkollegien bzw. andere beteiligte Organe Diese richterlichen Teams mit ihrer Kombination aus oberer und unterer Kompetenz entscheiden die für den Menschen so lebenswichtigen Prozesse aber nicht alleine. Ihnen steht vielmehr noch eine weitere judikative Instanz zur Seite. Es handelt sich um die Gruppe der Totengeister. Es heißt, dass die Totengeister für den Lebenden „den Rechtsspruch richten, die Entscheidung entscheiden“ sollen: dënë dënÁ purussÁja pursÁ Meinen Prozess entscheidet, die Entscheidung über mich fällt! VAT 8910, 3:15 mit Duplikaten45 und K 2001+, 161 mit Duplikaten46
In ihrer richterlichen Funktion sind sie den genannten Hochgöttern zugeordnet, werden teils aber auch alleine als Spruchkörper angerufen (W 22758/ 247 und VAT 1365348). Dies lässt sich verstehen als Spiegelung des mesopotamischen Alltagslebens und seiner Praktiken. Wir sehen eine Jurisdiktion mit verschiedenen Instanzen. Neben den Richtern im engeren Sinn gibt es Gruppen von Personen, die ebenfalls Urteile abgeben. Die Totengeister zeigen sich somit in einer Position, die man in Analogie zu einem Ältestenrat verstehen kann. Ein solcher juristischer Spruchkörper tagt häufig unter dem Vorsitz eines hochrangigen Beamten, kann aber auch alleine Fälle entscheiden. Entsprechend ist die Kompetenz der Totengeister teils autonom, teils hochrangigen Gottheiten untergeordnet. Im Dankversprechen des betenden Menschen wird diese hohe Aufgabe der Totengeister ganz deutlich, wenn sie analog zu den höchsten Göttern behandelt werden: anÁku aradkunu lublu̺ lušlimma aššu upšaššî šumëkunu luzkur ana arītëkunu mê ka̸īti luqqë bulli̺Áninnima dÁlilëkunu ludlul Ich, euer Diener, möge leben und heil sein, damit ich wegen der (= eurer) machtvollen Taten eure Namen ausrufen kann, damit ich in eure Grabröhren kühles Wasser darbringen kann! Lasst mich leben, damit ich euren Lobpreis verkünde! K 2001+, Textzeuge A 166ff mit Duplikaten49
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Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. Zu K 2001+ siehe Anm. 23. 47 Zu W 22758 siehe Anm. 29. 48 Zu VAT 13653 siehe Anm. 30. 49 Zu K 2001+ siehe Anm. 23. 46
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In derselben Funktion wie die Totengeister können auch sämtliche Unterweltsgottheiten, die Anunnakī, am Prozess beteiligt sein (vgl. z.B. FARBER, Beschwörungsrituale, A II Z.135ff).50 Exekutive Nach Abschluss des positiven Urteils für den betroffenen Menschen kommt den Totengeistern noch eine weitere, ganz entscheidende Funktion zu: Sie können die Übel bringenden Dämonen und bösen Totengeister wieder in das Totenreich zurückbringen. In dieser Funktion handeln sie als exekutive Macht, welche das Urteil in die Tat umsetzt. Entsprechend können auch dämonische Wesen selbst ihre eigenen „Kollegen“ wieder mit in die Tiefe nehmen. lemutta ša ina zumrëja šërëja šer´Ánëja bašû ana qÁt Namtari sukkal er̸etim piqdÁnim Ningišzida guzalla er̸etim rapaštim ma̸̸arta- / ̸ibitta-šunu lidannin Biti idugal er̸eti pÁnë- / arki-šunu [lëdil] ̸ubbutÁšuma šīridÁšu ana er̸et lÁ târi Das Übel, das in meinem Leib, meinem Fleisch, meinen Sehnen ist, überantwortet dem Namtaru, dem Minister („Boten“) der Unterwelt. Ningišzida der „Sesselträger“ (-Minister) der weiten Unterwelt möge deren (= der Dämonen, welche die Übel bringen) Wache / Haft verstärken! Biti, der Obertürhüter der Unterwelt, [möge absperren] vor (Variante: hinter) ihnen! Packt ihn fest (= Dämon) und bringt ihn herab in das Land ohne Wiederkehr! VAT 8910 Z.9–1351
Gerade dies ist auch eine wichtige Aufgabe der im Team der göttlichen Richter genannten Unterweltsgottheiten. Dumuzi etwa soll, wenn er im Monat Tammīz in die Unterwelt hinab muss, die bösen Totengeister und Dämonen, welche die Menschen bedrohen, mit sich hinab nehmen. PabilsaÝ als Gottheit des Strafvollzuges soll sie in der Tiefe halten.52 Ersatz Außerdem kann den Schergen ein Ersatz überantwortet werden. Im Normalfall handelt es sich dabei um ein Tier. Den müssen sie dann ihren Auf50 Das Verhältnis der Totengeister (der eigenen Familie) zu den Totengottheiten Anunnakī in diesen Texten ist im einzelnen noch zu bestimmen. Die Grenzen zwischen diesen Instanzen erscheinen hier fließend. Beide Gruppen werden parallel behandelt. 51 Zu VAT 8910 siehe Anm. 23. 52 Für Gilgameš und die Urzeitgötter kann man Entsprechendes erschließen. – Die Unterwelt soll für diese schrecklichen Mächte wie ein Gefängnis sein, wo sie hinter Schloss und Riegel gehalten werden. Gerade drei Götter sollen v.a. darauf achten, dass sie nicht ausreißen können: der Wesir Namtar, der Türhüter Biti und der Sesselträger NinÝišzida.
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traggebern ausliefern (nadÁnu). Die Gabe des Ersatzes hat auf richterliche Anweisung zu geschehen („auf Geheiß des Šamaš“, Ass. 13955/go53). Um die korrekte Durchführung kümmern sich eigene Rituale, die insbesondere Prozeduren der Identifizierung des Stellvertreters mit dem eigentlich für den Tod bestimmten Menschen beinhalten. So kann man beide niederwerfen, beider Kehle mit Messer berühren, die Binde des Kranken um das Ersatztier binden (Ass. 13955/fb, Vs.1–3354), es kann aber auch eine verbale Identifikation sämtlicher Gliedmaßen von Mensch und tierischem Stellvertreter vorgenommen werden (K 4859 + K 5139 + K 5317, 14´ff55). Dann wird der Ersatz mit allen Prozeduren einer menschlichen Bestattung auf seine Reise ins Jenseits geschickt. Regelung im Einvernehmen Erwähnt sei hier noch, dass man sich statt auf juristischem Wege auch im Einvernehmen einigen kann. So kann man mit einem Toten direkt verhandeln, ob er einen Ersatz akzeptiert (VAT 826856 mit Zitat der Rede des Totengeistes, der die Ersatzgabe annimmt). Den Totengeist des eigenen Vaters oder der Mutter, die einen in die Unterwelt holen wollen, versucht man zu beschwichtigen und mit Geschenken per Schiff wieder zurück zu senden (K 4993 + K 2550 + K 700857).
4. Auswertungen Bedeutung der Toten In allen vorgestellten Texten zeigt sich die herausragende Bedeutung der Totengeister, ihre exekutive wie ihre judikative Macht. Wenn sie mit diesen Kompetenzen sich für einen Familienangehörigen einsetzen, dann darf man berechtige Hoffnungen hegen, dass dieses Engagement sich förderlich für das eigene Leben auswirken wird. Deswegen sucht man sich die Totengeister zu verpflichten, indem man ihnen besonders feine Gaben darbringt und verspricht, sie zum Dank für ihre Hilfe auf das höchste zu verehren
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Ass. 13955/go (KÖCHER, Medizin, Nr. 234, 33f; TSUKIMOTO, Totenpflege, 133). Ass. 13955/fb (EBELING/KÖCHER/ROST, Keilschrifttexte, Nr. 79; TSUKIMOTO, Totenpflege, 125ff). 55 K 4859 + K 5139 + K 5317 (THOMPSON, Incantations, 37c; TSUKIMOTO, Totenpflege, 131f). 56 VAT 8268 (EBELING/KÖCHER/ROST, Keilschrifttexte, Nr. 83; TSUKIMOTO, Totenpflege, 173ff). 57 K 4993 + K 2550 + K 7008 (FARBER, Beschwörungsrituale, I A, Tf. 3). 54
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und zu preisen. Selbstverständlich darf man besondere Hoffnung hegen, wenn man immer schon auf die Verehrung der Verstorbenen bedacht war. Ein konkreter Fall: Assurbanipals Thronfolge Ein neuassyrischer Brief aus dem 7. Jh. kann einen solchen Fall illustrieren.58 Der situative Kontext ist die noch nicht entschiedene Regelung der Thronfolge Asarhaddons. In dem Brief heißt es, dass Assurbanipal den Totengeist seiner Mutter immer verehrt habe. Aus diesem Grund habe nun dieser Geist ihn gesegnet. Und wegen der Frömmigkeit59 der Mutter haben die Götter60 entschieden, dass Assurbanipal Thronfolger werden soll. Die Aktion der verstorbenen Mutter kann als Fürbitte vor den Göttern zu verstehen sein, kann aber auch ein Votum im dargelegten Sinne bedeuten – die Übergänge zwischen beiden waren sicher fließend gedacht: Weil der mütterliche Totengeist in der Gerichtsversammlung zur Schicksalsbestimmung zugunsten Assurbanipals votiert hat, und weil dieser Totengeist den Göttern genehm war, kann Assurbanipal im Gegenzug für seine Pietät gegenüber der Mutter ihren Segen und damit auch den Segen und den positiven Urteilsspruch der Götter empfangen. Die Aufgabe der Totgeburten in Mari Wenn man von hier zum Brief der Addu-dīrë (vgl. oben sub 1) zurücksieht, dann wird deutlich, dass auch die Befragung der Totgeburten in eben dieser Weise zu verstehen ist: Man soll mit ihnen sprechen, auf dass König Zimri-Lim Frieden bzw. umfassendes Wohlergehen (šulmu) ernte. Das bedeutet nach dem Dargelegten, dass sich die Totgeburten in den Gerichtsverfahren, wo die Zukunft des Königs Zimri-Lims verhandelt werden, zu seinen Gunsten verwenden sollen. Ursprung des Wissens der Toten Das Konzept eines Diesseits und Jenseits umspannenden Prozesses, welches sich hier zeigt, lässt uns auch verstehen, woher die Toten nach mesopotamischer Vorstellung ihr weitreichendes Wissen beziehen: Gerade die Teilnahme an den schicksalsentscheidenden Prozessen ist es, die den Toten Einblicke in die Zukunft gewährt. Wissen und Macht der Toten gehören also aufs engste zusammen. 58 Es handelt sich um den Text K 1152 (siehe Anm. 38). Die hier vorgestellte Deutung basiert auf der Interpretation von PARPOLA, Letters, 132, vgl. auch DELLER, Briefe 57f und TROPPER, Nekromantie, 76–83. 59 Wörtlich ina kÓnītiša – „wegen ihrer Beständigkeit“, sc. gegenüber den Göttern. 60 Aššur und Šamaš. Sie stehen hier für die oberen und die unteren Götter, vgl. dazu den Abschnitt „Richter“ und Anm. 43.
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Vorstellungen vom Jenseits Mit diesen Einblicken in die Himmel, Erde und Unterwelt umspannenden Prozesse kommen wir nun nochmals auf die eingangs anhand des Gilgameš-Epos dargestellten Vorstellungen von der Unterwelt als solcher zurück. Neben denjenigen, welche von der Anschauung der Gräber geprägt sind, stehen andere, welche das Totenreich als durch und durch städtische Welt konzeptualisieren, genau so organisiert, wie man es von den kulturellen Zentren an Euphrat und Tigris aus lebendiger Anschauung kennt: Mit Toren,61 einem Wasserlauf,62 einem Palast63 und einer funktionierenden Verwaltung.64 In dieses Umfeld gehören auch die Gerichtsverfahren, welche sich anhand der Rituale rekonstruieren ließen.
Resumée und Ausblick Halten wir die Ergebnisse fest: Grabähnliches Jenseits und gefährliche Totengeister können den Menschen Schrecken einjagen, da man viele Übel, v.a. den Tod selbst, auf ihren Eingriff zurückführt. Es gibt aber auch eine positive, erwünschte Form der Kommunikation: Man erhofft Informationen über die Zukunft durch Totengeister und durch den eigenen Todesdämon. Solche Kontakte erwartet man in spontanen oder induzierten Träumen65 und in Ritualen. Dabei zeigt sich, dass es dem altorientalischen Menschen nicht nur um kognitive Einblicke geht, sondern v.a. darum, seine verstorbenen Verwandten zu positiven Aktionen für seine Zukunft zu verpflichten: In einem Prozess sollen sie als Richter für ihren Angehörigen ein gutes Geschick bewirken. Der Rechtsfall ist das wesentliche Konzept, welches die Vorstellungen von der sich entfaltenden Zukunft prägt.66 Dieses Konzept eröffnet den Menschen in lebenskritischen Situationen rituelle Handlungsspielräume, welche positive Rückwirkungen auf eine Veränderung der widrigen Umstände haben können. 61 62
Inanas Gang zur Unterwelt Z. 74ff; Urnammas Tod Z. 76.
Für die Vorstellungen nach sumerischen Texten vgl. KATZ, Netherworld, 32ff; für die Vorstellungen nach babylonischen Texten vgl. z.B. Babylonische Theodizee Z. 16f, VON SODEN, Weisheitstexte, 147. 63 Vgl. z.B. Inanas Gang zur Unterwelt Z. 73. 64 Ein ganzer Hofstaat wird z.B. in Gilgameš-Epos 8:140ff aufgezählt. 65 Man stellt sich vor, dass der Lebende in den Bereich des Todes reist oder von einem Toten besucht wird. Vgl. dazu ZGOLL, Traum, 259–283. 66 Zum Recht als zentraler Grundlage mesopotamischen Weltverständnisses vgl. WILCKE, Recht. Die hier vorgestellte Rolle der Unterweltsgötter und der Totengeister erweitert unser Wissen um dieses Konzept durch einen neuen, bislang unbekannten Bereich.
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Der Einblick in die Vorstellungen von Rechtsfällen, deren Inhalt das Schicksal der Lebenden ist, macht auch verstehbar, woher die Toten nach mesopotamischer Auffassung ihr Wissen über die Zukunft der Lebenden beziehen: Ihr Wissen gründet sich auf ihre Teilnahme an den Prozessen, die das Schicksal der Menschen entscheiden. Konzeptionell gehört der Rechtsfall zu den Vorstellungen von der Unterwelt als Stadt. In diesem Kontext lässt sich ein gewisser „Spielraum“ im Umgang mit dem Tod erkennen. Wenn die Mächte des Todes personal gedacht werden, als Herrscher und untergebene Beamte, dann kann man versuchen, sie mit reichlichen Gaben und durch die Auslieferung eines Stellvertreters zufriedenzustellen.67 Für die anthropologische Perspektive lässt sich festhalten, dass sich der Mensch in der mesopotamischen Antike zwischen die Mächte von oben und von unten gestellt sieht. Das allein wäre banal. Aber dass aus beiden Richtungen dezidiert Segen für den Menschen ausgehen kann, das verraten nicht alle Texte. Diese aber zeigen: Beide Bereiche, Himmel und Unterwelt, verlangen Ehrfurcht, beide entscheiden über menschliches Schicksal, von beiden kann der Mensch Gaben erwarten. Und so sagt es das antike Sprichwort prägnant: palÁh ilÁni damÁqu ullad palÁh Anunnakë balÁ̺u uttar „Verehrung der (oberen) Götter schafft (= gebiert) Gutes, Verehrung der (unteren) Mächte (= Anunnakī) verlängert das Leben.“ K 115268
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Z.B. eine Ziege. Vgl. TSUKIMOTO, Totenpflege, 125ff.151ff. Zu K 1152 siehe Anm. 38. Entsprechend wird in den weisheitlichen Ratschlägen formuliert: pÁlih ilÁni ul išêssu damÁ[qu] / pÁlih Anunnakë urrak [umëšu] / „Wer die (oberen) Götter verehrt, den wird das Glück (lit: Gute) nicht verlassen. / Wer die (unteren) Mächte (= Anunnakī) verehrt, verlängert [seine Tage].“ Counsels of Wisdom 146f, LAMBERT, Wisdom, 104. 68
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Tod, Geschick und Schicksalsgöttin: Übergänge zwischen Leben und Tod in babylonischen Abwehrzauber-Ritualen DANIEL SCHWEMER 1. Der Tod gilt Babyloniern und Assyrern als das Schicksal des Menschen schlechthin; man entgeht ihm nicht, er gehört zu den Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens, zu den ewig von den Göttern festgeschriebenen Geschicken. Nach dem altbabylonischen Atram̴asës-Mythos wird die Sterblichkeit des Menschen vom Weisheitsgott Ea eingerichtet, um die Zahl der sich ständig vermehrenden und lärmenden Menschen in Grenzen zu halten, ohne sie, die für die Versorgung der Götter unentbehrlich sind, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Erzählung interpretiert Sterblichkeit und Tod als Teil einer gelungenen, sich im Gleichgewicht befindlichen Weltordnung.1 Die Ordnung der Welt selbst wird als von den Göttern festgelegtes Geschick begriffen. So bezeichnet akkadisch šëmtu, eigentlich „das Festgesetzte“, sowohl die ewige, unveränderliche Weltordnung als auch das individuelle, so oft wechselhafte Geschick eines Menschen.2 Das unveränderliche individuelle Geschick der Menschen, das menschliche Geschick schlechthin, aber ist der Tod, der so euphemistisch auch als šëmtu bezeichnet wird.3 Das Sterben kann als „zum Schicksal gehen“4 umschrieben werden, Dämonen bemächtigen sich der šëmtu eines Menschen und bringen so den Tod.5 Aber šëmtu tritt in verschiedenen Wendungen auch 1
Für eine Übersetzung s. FOSTER, Muses, 227–80; zur Gesamtinterpretation s. WILCKE, Weltuntergang, mit weiterer Lit., in unserem Zusammenhang besonders wichtig dort, S. 98, der Hinweis, dass die Muttergöttin als Schöpferin der Menschheit in Atram̴asës auch bÁniat šëmÁti bzw. bÁnât šëmti „Schöpferin des (Todes)geschickes“ genannt wird (LAMBERT/MILLARD, Atra-̴asës, 62 iii 11 und 102 III vi 47). 2 Zu den unterschiedlichen Konzepten, die mit šëmtu bezeichnet werden, s. LAWSON, Concept. 3 Dies ist natürlich keine Besonderheit der babylonischen Kultur; so heißt der Tod im Hethitischen etwa ̴inkan „das Zugeteilte“, s. dazu HOFFNER, Hittite Terms, 54–55; zur Schicksalskonzeption in der hethitischen Kultur s. zusammenfassend Verf., Art. „Schicksal C. Hethitisch“, RlA (im Druck). 4 S. CAD Š III 16–17 s. v. šëmtu 3a mit zahlreichen Belegen. 5 Vgl. die Beschwörung LB 1000 Vs. 7: mÁšum u mÁštum mÁrī Sîn lamaštam mÁrtam pašittam … ay u̺e̴̴û ana šëmtëka „Mögen Zwillingsbruder (Šamaš) und Zwillings-
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als handelndes Subjekt auf. So „holen“ den Sterbenden „die Geschicke“;6 den Toten „hat das Schicksal niedergeworfen“.7 Der Sterbetag schließlich heißt einfach īm šëmti, „der Tag des Geschicks“.8 Trotz dieser grundsätzlichen Akzeptanz der Unausweichlichkeit des Todes, wird der unzeitgemäße, der überraschende Tod als großes Unheil empfunden. Er gehört zu den der Intuition zuwiderlaufenden Ereignissen, die in Babylonien wie in vielen anderen Kulturen nach besonderen, der Intuition zuwiderlaufenden, aber eben doch plausiblen Erklärungs- und Deutungsmustern verlangten.9 Der unzeitgemäße Tod läuft babylonischer Vorstellung nach jedoch nicht nur dem nach allgemeiner Erfahrung Erwartbaren zuwider, sondern verstößt gegen das eigentlich für den Menschen vorgesehene Geschick eines Todes im Alter. Der unzeitgemäße Tod ist daher der nicht schicksalhafte Tod. Omenapodosen verheißen dem Klienten einen Tod nach erfülltem Leben mit den Worten mīt šëmtëšu imât „Er wird zum ihm bestimmten Zeitpunkt eines natürlichen Todes sterben“ (wörtlich: „Er wird den Tod seines Geschicks sterben“); interessanter Weise begegnet innerhalb dieser Formel statt mīt šëmtëšu auch die Wendung mīt ilëšu „Tod seines Gottes“, also „zu dem von seinem persönlichen Gott festgelegten Zeitpunkt“.10 Dagegen heißt es von demjenigen, der zur Unzeit sterben wird: ina īm lÁ šëmtëš[u imât] „[Er wird] an einem nicht von seinem Geschick bestimmten Tag [sterben]“.11 In einem Gebet an Šamaš klagt der Kranke: ay mīt mītu ša lÁ šëmtëy[a] „Möge ich nicht zur Unzeit einen bösen Tod sterben!“ (KAL 2,34 Rs. IV 3'). In einem Gebet an die Heilgöttin Gula wird das Todesgeschick – ebenso wie der Tag (des Geschicks) – als eine handelnde Person beschrieben, die den Patienten gleich seinen persönlichen Göttern verlassen und so seinen unzeitgemäßen Tod verursacht hat: ilšu u ištaršu īmšu u šëmtašu umašširīma ur̴a šutÓschwester (Ištar), die Kinder des Sîn, Lamaštu, das mörderische Mädchen, … (folgt eine Liste von Dämonen) nicht an dein ‚Schicksal‘ herankommen lassen“; für eine Bearbeitung des Textes s. GELLER/WIGGERMANN, Magic. 6 So in UCP 10/1 105 Vs. 5–10 (GREENGUS, Studies, 168–69): adi bal̺at ittanaššëši īm šëmÁtīša itarrâši Tuliš ummaša ana Nu̺̺uptum mÁrtim „Solange sie (Tuliš) lebt, wird sie (die Sklavin) sie versorgen. An dem Tag, an dem ihre Schicksale sie fortholen – (nämlich) die Tuliš, ihre Mutter –, gehört sie (wieder) Nu̺̺uptum, der Tochter.“ Für weitere ähnliche Wendungen s. CAD Š III 17b s.v. šëmtu 3b. 7 Zu bullu „niederwerfen“, „wegraffen“ mit šëmtu als Subjekt s. AHw 137a, 1549a. Die Formen werden von CAD A I 17 zu (w)abÁlu gestellt, dem steht jedoch nach wie vor (trotz LAMBERT, Wisdom Literature, 303) die Perfektform ubtël entgegen. 8 Einschlägige Belege bietet CAD Š III 17–18 s.v. šëmtu 3d. 9 Zu diesem Basismuster allen religiösen Denkens s. grundlegend BOYER, Naturalness. 10 Zu mīt šëmtëšu s. CAD M II 318–19 s.v. mītu f1', zu bedeutungsgleichem mīt ilëšu ibid. 319 s. v. mītu f2'; beide Wendungen begegnen schon in altbabylonischen Omenapodosen. 11 LBAT 1543: 10, s. BIGGS, „Prophecies“, 129.
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šura u ̴arrÁn lÁ târi tebû „Sein Gott und seine Göttin, sein Tag und sein Schicksal haben ihn verlassen, so dass er nun auf geradem Wege und auf einer Reise ohne Wiederkehr unterwegs ist.“ (STT 73 Vs. I 37f).12 2. In der babylonisch-assyrischen Vorstellungswelt wurde der Zustand des schwer Erkrankten, dem ein Tod zur Unzeit drohte, als ein Zustand der Unreinheit und des Gebundenseins konzeptualisiert. Die schlimme Lage der Todesnähe, in der sich der Patient befand, konnte verschiedene Ursachen haben, die vom eigenen Tabubruch, dem Tabubruch innerhalb der eigenen Familie (besonders der Eltern und Vorfahren),13 über Totengeister und Dämonen14 bis zu übelwollenden Mitmenschen reichten, die den Zustand des Patienten durch schadenzauberische Rituale oder die Verabreichung schadenzauberischer Substanzen herbeigeführt hatten.15 Mit allen drei Krankheitsursachen, die sich im Einzelnen natürlich weit differenzierter beschreiben lassen, wird häufig das Motiv des Götterzorns verbunden, insbesondere das Motiv der erzürnten und daher ferne weilenden persönlichen Schutzgottheiten des Patienten. Der Beschwörer (Ášipu) konnte aufgrund des Symptombildes oder mit Hilfe einer Orakelanfrage die Ursache der jeweiligen Erkrankung diagnostizieren, um dann entsprechende Rituale und Heilmittel zur Anwendung zu bringen. So informieren auch über den babylonisch-assyrischen Hexenglauben vor allem die zahlreich überlieferten Abwehrzauber-Rituale des Ášipu. Die Abwehrzauber-Rituale möchten für den behexten Patienten, der sich unmittelbar mit dem Tod konfrontiert sieht, einen Übergang zum Leben erreichen; sie zielen aber auch umgekehrt darauf, die Agenten des Schadenzaubers rituell zu töten, sie der Unterwelt zu überantworten oder sie – dies wurde offenbar nicht als widersprüchlich empfunden – insbesondere durch Verbrennung vollkommen zu vernichten und so streng genommen selbst einer Schattenexistenz in der Unterwelt zu berauben.16 Dieser Tausch, die gegenläufigen Übergänge vom 12
S. REINER, Fortune-Telling, 32. Der Komplex des Tabubruchs wurde unter den Oberbegriff mÁmëtu „Eid, Fluch, Bann“ gefasst, s. zusammenfassend MAUL, ‚Lösung vom Bann‘, vgl. auch SCHWEMER, Abwehrzauber, 66.162.166.188.195–96. 14 Zu den einschlägigen Ritualen s. SCURLOCK, Means. 15 Für einen umfassenden Überblick zum babylonisch-assyrischen Schadenzauberglauben und den uns verfügbaren Quellen s. SCHWEMER, Abwehrzauber und zuvor THOMSEN, Zauberdiagnose; viele der grundlegenden Beiträge T. Abuschs (insbesondere auch zu Maqlû) sind in ABUSCH, Witchcraft, gesammelt. 16 Zur Funktion der Verbrennung und auch der Verfütterung von Ersatzfiguren als vollkommener Vernichtung der Übeltäter s. ABUSCH, Witchcraft, 228–34, Ghost and God 372–78. In Maqlû VIII 121'''' („[Er]eškigal möge [dich] nicht in die Unterwelt hi[nabsteigen] lassen!“, s. ABUSCH/SCHWEMER, Maqlû, 143) liegt vielleicht einmal eine explizite Verbindung zwischen der vollkommenen Vernichtung der Hexe und der Verweigerung einer Aufnahme in die Unterwelt vor. Freilich könnte man in der Textlücke ebenso13
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Tod zum Leben und vom Leben zum Tod und die Verkehrung des im Leiden des Patienten manifesten Schicksalsentscheides der Götter werden in den Abwehrzauber-Ritualen trotz bestimmter, immer wiederkehrender Grundmuster jeweils unterschiedlich dramatisch gestaltet. Das von den meisten Abwehrzauber-Ritualen geteilte Basisschema der spiegelbildlichen Befreiung des Patienten durch die Rückwendung des gut „mich“ ergänzen; dann bezöge sich der Passus auf die Rettung des Patienten. Sieht man von der oft belegten Bitte, der Rauch der verbrannten Figuren möge zum Himmel aufsteigen, ab, wird die Vernichtung und Tötung der Schadenzauberer durch Verbrennung sonst nicht explizit damit verbunden, dass die Übeltäter nicht in die Unterwelt eingehen würden. Vielmehr rechnet auch Maqlû mit einer Bannung der Schadenzauberer in die Unterwelt, wie vor allem die Beschwörungen zu Beginn des Rituals zeigen. Gelegentlich wird die Verbrennung in Maqlû ausdrücklich mit Bildern assoziiert, die klar auf eine Bannung in die Unterwelt hinweisen. So wird das Feuer im Innern des Ofens in Maqlû II 220 als „Feuer des Grabes“ bezeichnet (išÁt qabri), und in Maqlû III 29 wird der Feuergott gebeten, die Hexe auf eine „Reise ohne Wiederkehr“ (̴arrÁn lÁ târi) zu schicken. Für entsprechende Belege in anderen Abwehrzauber-Beschwörungen s. ABUSCH, Witchcraft, 69–76, der in dieser Verbindung jedoch eine sekundäre Entwicklung sieht. ABUSCH, Witchcraft, 231–33 möchte Maqlû II 119–23 dahingehend deuten, dass der Beter den Feuergott bitte, die Gräber (der bereits als verstorben gedachten) Hexen plündern zu lassen, um so ihre Leichen zu verbrennen und sie jedes Zugangs zur Unterwelt zu berauben. Diese Interpretation beruht einerseits auf der Deutung von ma-na-̴a-te-šú-nu als „ihre Ruhestätten“ (zu manÁ̴tu, s. GAG § 56c, CAD M I 206b 6.); angesichts des Parallelismus zu makkīru „Besitz“ und bīšu „Habe“ liegt die herkömmliche Deutung als „Güter“ (zu mÁna̴tu) jedoch näher. Andererseits nimmt Abusch an, dass Ekur in Z. 123 sich auf die Unterwelt bezieht; ebensogut kann jedoch das Heiligtum des Enlil gemeint sein, in dem sich der in Maqlû mit Nuska eng verbundene Feuergott Gira aufhält. Mir scheint näher zu liegen, dass sich die Zeilen auf das schlimme irdische Geschick der Schadenzauberer beziehen, die aller Habe beraubt werden sollen und in ihrem Elend keine Ruhe mehr finden sollen (zu Bildern des sozialen Umsturzes in Maqlû s. SCHWEMER, Abwehrzauber, 208f, zum Motiv der Ruhelosigkeit, das den Übeltätern auferlegt wird s. Maqlû IV 94, vgl. auch I 41; dies steht nur oberflächlich in Spannung dazu, dass der wütende Zorn der Übeltäter gegen den Patienten beruhigt werden soll). Ich würde daher übersetzen: „Veranlasse einen Mächtigen, ihren Besitz fortzunehmen, lass einen Dieb ihre Habe davontragen, lass einen Räuber ihre Güter in Besitz nehmen! Wütender, vollkommener, ehrfurchtgebietender Gira, in Ekur, wo du einhergehst, veranlasse sogleich, dass sie nicht mehr zur Ruhe kommen!“ In dieser Deutung bezöge sich Ekur nicht auf den Aufenthaltsort der Schadenzauberer, sondern auf die Heimstatt des Gottes und zugleich den ranghöchsten Tempel Babyloniens, wo das üble Geschick der Schadenzauberer sanktioniert würde. Die Annahme, Hexer und Hexe würden durch die Verbrennung geradezu von einer Bannung in die Unterwelt ausgeschlossen, ist systematisch durchaus problematisch. Die Totengeister von Verbrannten gelten als besonders gefährlich, gerade weil sie als Unbeerdigte umherirren und Unheil stiften, s. LKA 84 Vs. 27, bearbeitet bei SCURLOCK, Means, 503ff, sowie ‚Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt‘ Z. 302–3 (ETCSL 1.8.14, besonders in der Variante UET 6, 58 Rs. 4f). Mir scheint daher nahe liegend, dass das Bild des schrecklichen Todes und der vollkommenen Vernichtung durch Verbrennung in der Regel mit einer Bannung in die Unterwelt zusammen gedacht wurde.
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Übels auf seine Verursacher lässt sich am klarsten an einem einfachen, in mehreren Handschriften überlieferten Ritual illustrieren, das zu einer Gruppe von Behexungstherapien gehört, die von der Formel ana pišerti kišpë „Zur Lösung von Hexereien“ eingeleitet werden.17 Der Text lautet in Übersetzung: „Zur Lösung von Hexereien, deren (Methode) du nicht kennst: Du fertigst ein Bild des Hexers und der Hexe, eines Mannes und einer Frau, aus Wachs an. Du sprichst vor Šamaš das Urteil über sie. Du umkleidest sie mit Talg, du legst sie in ein Einmalgefäß. Du verbrennst sie: ‚Šamaš, ihre Zaubermittel mögen zu ihnen, die sich gegen mich zum Bösen wandten, zurückkehren!‘ So sprichst du dreimal, dann [wirfst du] das Einmalgefäß mitsamt den verbrannten Überresten in den Fluss.“18 Ersatzfiguren der Übeltäter werden vor dem Sonnengott als Gott des Rechts des Verbrechens der Hexerei für schuldig befunden. Implizit wird damit auch eine Revision des göttlichen Verdikts gegen den Patienten, das sich in seiner Behexung manifestiert hat, erbeten. Die Zaubermittel (upëšī), die Hexer und Hexe über den Patienten gebracht haben, werden zu ihren Schöpfern zurückgesandt, indem man deren Ersatzfiguren – in spiegelbildlicher Wiederholung des angenommenen Schadenzauber-Rituals – verbrennt und so die Vernichtung von Hexer und Hexe herbeiführt. Die Verbrennungsüberreste werden samt Gefäß im Fluss versenkt, ein auch anderweitig bekannter Ritus, der in erster Linie eine Übergabe in die Gewalt des Ea, des Gottes des unterirdischen Ozeans und der Beschwörungskunst, symbolisiert, aber hier vielleicht auch eine endgültige Bannung der durch Verbrennung vernichteten Übeltäter in die Unterwelt impliziert. 3. Diese „Umkehr der Verhältnisse“, die letztlich das Ziel jedes Abwehrzauber-Rituals ist, impliziert eine Revision des Geschicks des Patienten, dem innerhalb des Rituals sein eigentliches, gutes Geschick wieder zugesprochen wird, während man das schlimme Geschick des unzeitgemäßen Todes, das die Schadenzauberer ihm zugedacht haben, auf diese selbst zurückwendet. Die Vorstellung, dass die šëmtu des Patienten und der Schadenzauberer rituell manipuliert werden kann, belegt am deutlichsten das umfängliche Abwehrzauber-Ritual Maqlû, dessen Durchführung sich über eine Nacht erstreckte und die Rezitation von zahlreichen Beschwörungen einschloss.19 Die Gesamtdynamik des Rituals bewegt sich auf den Morgen 17
Zur dieser Textgruppe s. zusammenfassend SCHWEMER, Abwehrzauber, 32–33. KBo 9, 47: 11'–18' // KUB 4, 99: 4'–13' // BAM 317 Rs. 4–8 // KAL 2, 43 m. Kol. 1'–7' // KAL 2, 45 (KAR 275) r. Kol. 1'–6'. Eine Edition des Textes wird in ABUSCH/ SCHWEMER, Corpus of Mesopotamian Anti-Witchcraft Rituals, Bd. I vorgelegt werden (in Vorbereitung). 19 Maqlû wurde zuletzt von MEIER, Maqlû (s. auch MEIER, Studien), ediert. Eine Neuedition wird von T. Abusch vorbereitet; für eine neue deutsche Übersetzung, die das unpublizierte Textmaterial vollständig berücksichtigt, s. ABUSCH/SCHWEMER, Maqlû 18
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und den Aufgang der Sonne zu; am Morgen erfährt der Patient seine endgültige Rettung aus den Fängen von Hexer und Hexe, er steigt gleichsam mit dem aufgehenden Sonnengott, der den rituellen Prozess endgültig zu seinen Gunsten entscheidet, aus der Unterwelt empor,20 wird strahlend rein und lässt Hexer und Hexe im Dunkel der Nacht zurück; während der Nacht aber geht der Sonnengott durch die Unterwelt, und auch das Dunkel der Nacht dürfte – wie der Schlaf mit dem Tod – mit dem Dunkel der Unterwelt assoziiert worden sein.21 Im Zentrum von Maqlû steht ein lange missverstandenes Ritualsegment, das zeigt, wie der Abwehrzauber die šëmtu der Hexe (und damit indirekt auch das Geschick des Patienten) beeinflusst.22 Die Ritualtafel schreibt in Z. 50'–52' für die Beschwörung „Heh du, die du gegen mich gezaubert hast!“, die etwa um die Mitte der Nacht zu rezitieren war, folgende Riten vor: (50')
Beschwörung: „Heh du, die du gegen mich gezaubert hast!“: Du machst (die Figur) eine(r) Göttin von der Kopfbedeckung bis zum Standfuß aus Lehm. Zu ihrer Linken stellst du Bitumen hin. (51')Schlacke aus einem Ofen, Ruß von einem Kochtopf löst du (52') in Wasser auf und [schüttest] es über ihrem Kopf aus.23
Die Prozedur ist einigermaßen ungewöhnlich: Die Figur einer Göttin wird mit schwarzer Flüssigkeit übergossen; zudem wird schwarzes Bitumen auf der linken, unglückverheißenden Seite der Figur hingestellt. Mit d15 kann in diesem Zusammenhang nicht die große Göttin Ištar gemeint sein,24 die (dort auch Einleitendes zu Maqlû und weitere Literatur, eine detailliertere Diskussion in SCHWEMER, Abwehrzauber, 37–55 zuvor ABUSCH, Witchcraft, 287–92 und passim). Alle Zitate aus Maqlû folgen in der Zeilenzählung ABUSCH/SCHWEMER, Maqlû (vgl. auch SCHWEMER, Abwehrzauber, 283–85). 20 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass in Maqlû VII 48 die Stirn des Patienten mit der aufgehenden Sonne gleichgesetzt wird (pītë Šamaš nap̴u). Wie am frühen Morgen die Sonne zunächst nur als Halbkreis zu sehen ist, so wird in der Bildersprache der Beschwörung zunächst das Halbrund der Stirn des Patienten bei seinem Aufstieg aus Unterwelt sichtbar. Für das Motiv der Rettung am Morgen, bei Aufgang der Sonne, dass in der ganzen altorientalischen Welt weit verbreitet und auch den biblischen Psalmen geläufig ist, s. JANOWSKI, Rettungsgewissheit. 21 Zur Gesamtdynamik von Maqlû s. SCHWEMER, Abwehrzauber, 38–40. 22 Grundlegend zur Interpretation dieses Ritualsegmentes SCHWEMER, Abwehrzauber, 226–30, zum relevanten Passus der Ritualtafel vgl. zuvor ABUSCH, Witchcraft, 173. 23 Nach K 2385+ // K 8879+(+) // VAT 4103 // STT 83 (vgl. auch die Rubrik in STT 82 Rs. III 11–12 [Maqlû III] und KAR 94 Rs. 37'–40' [Kommentar zu Maqlû III 116]) ist der akkadische Text wie folgt zu rekonstruieren (s. SCHWEMER, Abwehrzauber, 226f mit Anm. 139): én at-ti-ie-e šá te-pu-šin-ni dištar(15) kub-ši kin-̸i šá ̺ëdi(im) teppuš(dù) ma̴ar(igi) šumÓlë(150)-šá i̺̺â(esir) tašakkan(gar)an ̴a-̴a-a šá ú-tu-ni dí̴-me-en-na šá dug diqÁri(útul) ina mê(a)meš ta-ma̴-̴a-a̴-ma ana qaqqadë(sag.du)-šá [ta-tab-bak]. 24 So fragend MEIER, Maqlû, 59. Auch die Transkription bei ABUSCH, Witchcraft, suggeriert, dass ein Eigenname vorliege. Die dort Anm. 16 erwogene Emendation erübrigt sich.
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man kaum einer solch erniedrigenden Behandlung unterziehen würde; vielmehr liegt sicher das Nomen ištaru „Göttin“, „Göttinnenfigur“ vor. Darüber welche Göttin hier geschwärzt wird, gibt die zugehörige Beschwörung unzweideutig Auskunft. Sie spricht zunächst die Hexe direkt an, beschreibt aber in den letzten Zeilen die zugehörige Ritualhandlung und identifiziert die geschwärzte Figur als die šëmtu, also das personifizierte Geschick, die Schicksalsgöttin der Hexe (Maqlû III 102–15):25 Beschwörung: „Heh du, die du gegen mich gezaubert hast! Heh du, die du gegen mich hast zaubern lassen! Heh du, die du mich behext hast! Heh du, die du mich zerschlagen hast! Heh du, die du mich gepackt hast! Heh du, die du mich eingeschlossen hast! Heh du, die du mich vernichtet hast! Heh du, die du mich bezichtigt hast! Heh du, die du mich gebunden hast! Heh du, die du mich beschmutzt hast! Du hast meinen Gott und meine Göttin von mir abgeschnitten, du hast Nachbarn, Nachbarin, Bruder, Schwester, Freund, den Gefährten (und) Kollegen von mir abgeschnitten! Ich nehme für dich Schlacke aus einem Ofen, Ruß von einem Kochtopf, löse (sie) auf (und) schütte sie über dem Haupt deines bösen Schicksals aus!“
Die Personifizierung und Deifizierung des persönlichen Geschicks als göttliche šëmtu, wie sie unser Ritualsegment klar belegt, begegnet auch andernorts, wenn auch in weniger aussagekräftigen Kontexten.26 Deutlich wird jedoch, dass die šëmtu-Göttin konzeptionell den persönlichen Schutzgottheiten nahesteht, wie dies auch der oben zitierte Passus aus dem Gula-Gebet in STT 73 voraussetzt: Das Paar der persönlichen Schutzgötter wird parallel zu dem Paar des personifizierten Todestages (īmu) und des personifizierten Geschicks (šëmtu) genannt. Auch dort wo, wie oben erwähnt, in Omentexten die Formel mīt šëmtëšu durch mīt ilëšu ersetzt wird, zeigt sich, dass man die personifizierte šëmtu als eine dem jeweiligen Individuum nahe stehende, niedere Schicksals- und damit nach babylonischem Denken auch Todesgöttin betrachtete. Diese Göttin wird hier im Dunkel der Nacht schwarz gefärbt und als das böse Geschick (šëmtu raggatu) der Hexe bezeichnet. Damit wird das schlimme Geschick der Hexe – und das heißt: ihr Tod – endgültig besiegelt; während der Patient am Morgen seine Heilung erfährt, wird die Hexe im Dunkel von Nacht und Tod zurückgelassen und damit in die Unterwelt gebannt. Wie so oft in AbwehrzauberRitualen dürfen wir auch hier vermuten, dass die Manipulation des Schick25
Z. 114–15 lauten im Akkadischen: aleqqâkkimma ̴a̴â ša utīni di̴mennu ša diqÁri, ama̴̴a̴ atabbak ana qaqqad raggati šëmtëki. 26
S. SCHWEMER, Abwehrzauber, 227 für die Belege im Einzelnen.
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sals (bzw. der Schicksalsgöttin), wie man sie defensiv gegen die Hexe vornimmt, umgekehrt der Hexe zur Last gelegt wurde, die so überhaupt erst das Unglück des Patienten herbeigeführt hatte. Dass diese Vermutung nicht aus der Luft gegriffen ist, belegen zwei Passagen in AbwehrzauberBeschwörungen, die auf dem Hintergrund des šëmtu-Rituals innerhalb von Maqlû in ihrer eigentlichen Bedeutung überhaupt erst verständlich werden. In einem Gebet an Sirius, das man innerhalb eines Rituals zur Heilung todbringender zikurudû-Behexung rezitierte,27 klagt der Beter: „Hexereien sind gegen mich durchgeführt worden, so dass mein Schicksal geändert ist!“28 Und ganz ähnlich beschreibt eine kurze Beschwörung in Maqlû selbst, wie die Hexe mit ihren bösen Ritualen das Geschick des Patienten zum Ungünstigen gewendet hat (VI 65–68): Beschwörung: „Du, die du alles (mögliche) gezaubert hast, was auch immer du gegen mich und mein Schicksal gezaubert hast:29 Die kukuru-Pflanze des Berglandes zerschlage jeweils deine Bindung, der Südwind trage das zu deiner Linken und das zu deiner Rechten fort!“ Beschwörungsformel.
Was auf den ersten Blick als allgemeine Klagen über die unheilvolle Wirkung des Schadenzaubers auf das Ergehen des Patienten gedeutet werden könnte, entpuppt sich auf dem Hintergrund des šëmtu-Rituals in Maqlû als konkreter Vorwurf einer rituellen Manipulation der personifiziert vorgestellten Schicksalsgöttin mit dem Ziel der Tötung des Patienten. Die šëmtu des Patienten ist so, wie wir im Umkehrschluss aus dem Abwehrritual schließen dürfen, zu einer bösen Göttin geworden, die den Tod zur Unzeit bringt. Damit aber ist die šëmtu zur Perversion ihrer selbst geworden, bringt sie doch, was Gebete und Omina als den mīt lÁ šëmti „den nicht schicksalsgemäßen Tod“ bezeichnen. Erwartungsgemäß ist das Ziel des Abwehrzauber-Rituals, genau diese Dynamik auf die Hexe selbst zurückzuwenden. 4. Die Entscheidung des Geschicks der Hexe ist nur eine der rituellen Techniken, die in Maqlû verwendet werden, um den Übergang vom Tod zum Leben und vom Leben zum Tod für Patient und Schadenzauberer herbeizuführen. Richtet man den Blick über Maqlû hinaus auf andere, weniger umfängliche Abwehrzauber-Ritualen, so erschließt sich eine Vielfalt von Techniken und Symbolen, die denselben Zweck verfolgen, sich jedoch anderer Vorstellungsmuster und Motive bedienen. Allen gemeinsam ist nahe 27
Zu zikurudû „Lebensabschneidung“ (eigentlich „Kehldurchschneidung“) s. grundlegend THOMSEN, Zauberdiagnose, 40–47, danach SCHWEMER, Abwehrzauber, 14–16. 63–64.101–5.155–57 und ABUSCH, Witchcraft, Omens, and Voodoo-death. 28 MAYER, Gebete, 470 Z. 10: kišpë epšīnimma enât šëmtë. 29 Akkadisch: mimmû tÓpušë yâši u šëmtëya.
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liegender Weise die Bezugnahme auf mythologische oder reale Situationen, innerhalb derer sich eine besondere Durchlässigkeit zwischen der Welt der Lebenden und der Unterwelt ergibt, die dann zugunsten des Patienten genutzt werden kann. So bedient sich das von W. Farber als ‚Hauptritual B‘ seiner Beschwörungsrituale an Ištar und Dumuzi edierte Abwehrzauber-Ritual30 des Mythos von Ištars Gang in die Unterwelt,31 um den Tausch zwischen Schadenzauberern und Patient herbeizuführen. Im Mythos steigt Ištar in die Unterwelt hinab, um auch diesen Teil der Welt ihrer Herrschaft zu unterstellen, gerät dort aber in Gefangenschaft. Nach der akkadischen Fassung des Textes schickt der Weisheitsgott einen von ihm erschaffenen männlichen Prostituierten (assinnu) in die Unterwelt, um Ereškigal, die Herrin der Unterwelt, günstig zu stimmen und Ištar mittels einer List wieder zu beleben. Der Plan gelingt, doch nicht nur lädt Ereškigal einen Fluch auf den assinnu, der die Schattenseiten des Prostituiertenlebens zum Teil seinen Geschicks bestimmt, sie verlangt auch ein Substitut für die wiederbelebte Ištar, die sich anschickt, aus der Unterwelt emporzusteigen. Der akkadische Mythos deutet in wenigen Worten an, dass ihr Liebhaber Dumuzi für sie in die Unterwelt steigen muss; die sumerischen Texte, v.a. ‚Inannas Gang zur Unterwelt‘ und ‚Dumuzis Traum‘, erzählen breiter davon, wie der trotz Inannas Tod nicht trauernde Dumuzi von dieser selbst als ihr Substitut bestimmt wird und auch nach anfänglicher Flucht diesem Geschick nicht entrinnt. Das genannte Abwehrzauber-Ritual benutzt den Mythos als beglaubigtes Grundmuster für seine eigenen Ziele. Figuren von Ištar, Dumuzi, dem Patienten, den Schadenzauberern und dem göttlichen Pförtner der Unterwelt werden verwendet und im Verlauf des Rituals, das ein langes Gebet an Ištar und kürzere sich an Dumuzi und den Pförtnergott richtende Anrufungen einschließt, so eingesetzt, dass der Patient gleichsam mit Ištar emporsteigt, während die Schadenzauberer zusammen mit Dumuzi die Reise in die Unterwelt antreten müssen, wo sie vom Pförtnergott gefangengesetzt werden. Der Tausch zwischen Ištar und Dumuzi wird so rituell unmittelbar auf den Patienten und die Schadenzauberer übertragen. Andere Abwehrzauber-Rituale verwenden Totengeister – wie Dumuzi auch sie Bewohner der Unterwelt –, um das Unheil, das den Patienten befallen hat, rituell in das Totenreich zu transferieren. So schreibt ein nach 30
FARBER, Beschwörungsrituale, 218–59 (zu den Textzeugen ist zwischenzeitlich KAL 2, 36 hinzuzufügen); für eine ausführlichere Diskussion des Rituals s. SCHWEMER, Abwehrzauber, 215–17. 31 Für rezente Übersetzungen der sumerischen bzw. akkadischen Fassung des Mythos s. BLACK u.a., Literature, 65–84 (Inannas Gang in die Unterwelt und Dumuzis Traum) sowie FOSTER, Muses, 498–505 (akkadische Fassung), jeweils mit weiterführender Literatur.
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Handschriften aus Assur und Ninive bekanntes Ritual32 zunächst zwei längere Gebete an den Sonnengott Šamaš vor; danach werden eine Reihe von Ersatzfiguren von Hexer und Hexe misshandelt und schließlich in verschiedenen Öfen verbrannt. Auf die erfolgreiche Vernichtung von Hexer und Hexe folgt ein weiterer Ritus, in dessen Zentrum ein Totenschädel – der symbolische Vertreter eines nicht weiter genannten Totengeistes – und ein Figürchen der Dämonin Lamaštu stehen. Der Totenschädel wird gewaschen, gesalbt und geschmückt, wie sich das für ein Begräbnis gehört. Dann setzt man eine Figur der Dämonin Lamaštu dazu, die, wie dies aus den eigentlichen Lamaštu-Ritualen wohlbekannt ist, mit Proviant und verschiedenen Kostbarkeiten ausgestattet wird, um so ihre Reise in die Unterwelt anzutreten;33 auch das Totenopfer (kispu) wird für Lamaštu durchgeführt. Der eigentliche Zweck des Lamaštu-Ritus innerhalb unseres Abwehrzauber-Rituals besteht aber nicht darin, allein die Dämonin Lamaštu, die in den bislang bekannten Texten nie als (dämonische) Hexe charakterisiert wird, gemeinsam mit dem durch den Totenschädel repräsentierten Totengeist in die Unterwelt zu schicken. Entscheidend für das Verständnis des Teilritus ist, dass zwei Lehmfigürchen zunächst in den Gewandsaum des Patienten eingebunden werden, um sie dann mit Lamaštu auf die Reise zu schicken. Durch das Verknoten der Figürchen mit dem Gewandsaum des Patienten überträgt man seine durch die Behexung hervorgerufene Unreinheit auf die Figürchen, die sein Miasma dann mit in die Unterwelt nehmen. Das Lamaštu-Ritual dient also nur als Vehikel, um innerhalb des Abwehrzauber-Rituals einen Übergang in die Unterwelt zu erreichen. Über die Entsorgung der Verbrennungsüberreste erfahren wir im erhaltenen Text leider nichts; sie werden jedenfalls nicht ausdrücklich zusammen mit Lamaštu und den beiden Lehmfigürchen erwähnt. Apotropäische Riten, die den nunmehr gereinigten Patienten vor künftiger Behexung schützen sollen, bilden den Abschluss des Rituals. Ein weiteres Abwehrzauber-Ritual, das aus verschiedenen Handschriften des 1. Jt. bekannt ist,34 verwendet ebenfalls einen Totenschädel. Der Schädel repräsentiert einen unbekannten Totengeist, der ohne Angehörige 32 Das Ritual ist in einer Memorandum-Version (K 888) und einer Bibliotheksversion, die den vollen Wortlaut der Gebetstexte überliefert (KAL 2, 26 // RIAA 312 // CBS 1498), erhalten; s. SCHWEMER, Reisen (mit Edition von K 888) und für RIAA 312 auch ABUSCH/SCHWEMER, O 193. 33 Für die Rituale gegen Lamaštu s. KÖCHER, Beschwörungen, FARBER, Art. Lamaštu, RlA 6 (1980–83) 439–46 und FARBER, Tamarisken, mit weiterer Lit. 34 KAR 227 mit Duplikaten; der Text wurde zuerst von EBELING, Tod und Leben, 122–33 ediert und dann verschiedentlich behandelt (beachte besonders TSUKIMOTO, Untersuchungen, 161–67 u.ö. sowie SCURLOCK, Magical Uses, 103–4); für eine Zusammenstellung der Duplikate und eine Diskussion des Textes s. ABUSCH, Witchcraft, 76–77. Ich danke T. Abusch für die Mitteilung seiner synoptischen Transliteration des Textes.
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ist und keinen hat, der ihn beerdigt hätte und seinen Namen bei der Totenpflege anrufen würde.35 Dieser Totengeist wird nun mit den Totengeistern der Familie des Patienten versorgt und darum gebeten, die Behexer des Patienten zu packen und mit sich hinab in die Unterwelt zu nehmen.36 Zuvor ist den Totengeistern der Familie des Patienten das Totenopfer dargebracht worden. Dabei wurden auch diese Totengeister, die den Lebenden bei ihrer rituellen Speisung nahe sind, darum gebeten, Hexer und Hexe zu packen und in die Unterwelt hinabzuschicken: ̸abtÁšuma šīridÁšu ana Kurnugi’a „Packt es und bringt es hinab in das ‚Land ohne Wiederkehr‘!“.37 Die Übergabe von Hexer und Hexe sowie des Miasmas des Patienten durch die verschiedenen Totengeister an die Unterwelt bereitet das Ritual durch die Anrufung derjenigen Götter vor, die für die Verurteilung der Schadenzauberer und ihre Festsetzung in der Unterwelt zuständig sind: zunächst wird der Sonnengott selbst als universaler Richter angerufen; darauf folgen Gebete an Gilgameš, der in der Unterwelt als Richter fungiert, und die Anunnakkī-Götter, die etwa auch aus der akkadischen Fassung von ‚Ištars Gang in die Unterwelt‘ als Richterkollegium der Unterwelt bekannt sind.38 Sowohl Gilgameš als auch die Anunnakkī werden gebeten, Hexer und Hexe zu verurteilen und in der Unterwelt festzusetzen. So heißt es im Gebet an die Anunnakkī: „‚Alles Böse‘, das gegen mich bewirkt worden ist, den Hexer und die Hexe führt in das ‚Land ohne Wiederkehr‘, übergebt sie [dem] Namtar, dem Wesir der Unterwelt!“39 Nachdem das göttliche Ver35
Vgl. den Beginn des Gebetes and den unbekannten Totengeist: attÁ e̺emmu lÁ mammÁnama ša qÓbira u sÁqira lÁ tÓšû (KAR 227 Rs. III 27'f // LKA 89 Rs. III 19'f). 36 KAR 227 Rs. III 31f // LKA 89 Rs. III 23'f: ina ma̴ar Šamaš GilgÁmeš Anunnakkë e̺em kim[ti] qëšta ma̴rÁta kunnÁta nadunnû „In Gegenwart des Šamaš, des Gilgameš, der Anunnakkī (und) der Totengeister der Familie hast du ein Geschenk empfangen, bist du mit einer Gabe versorgt worden.“ 37 KAR 227 Rs. III 20' // LKA 89 Rs. III 14' // Si 747: 9'. Mit „es“ ist mimma lemnu „Alles Böse“ angesprochen, das innerhalb des Rituals summarisch das Unheil bezeichnet, das den Patienten durch die Machenschaften von Hexer und Hexe befallen hat. Neben Figuren von Hexer und Hexe wird im Ritual auch eine mimma lemnu-Figur verwendet: ̸alam kaššÁpi u kaššÁpti ša ana yâši ina ma̴ar Šamaš [ëpušīni(?)] ̸alam mimma lemni ša i̸batanni Ópuš „Ich habe Figuren des Hexers und der Hexerin, die gegen mich vor Šamaš [gezaubert haben] (sowie) eine Figur von ‚Alles Böse‘, das mich gepackt hat, angefertigt.“ (KAR 227 Rs. III 39'f // LKA 89 Rs. III 31'f; zur Behexung vor den Göttern s. SCHWEMER, Abwehrzauber, 149–57). 38 Die Anunnakkī-Götter werden vor Ištars ‚Wiederbelebung‘ aus ihrem unterweltlichen Wohnsitz Egalgina herbeigerufen und nehmen auf goldenen Thronen Platz, um – so dürfen wir annehmen – über ihr Geschick zu entscheiden. Nach der sumerischen Fassung ist es diese Göttergruppe, die bei der Herausgabe der Göttin ein Substitut verlangt. 39 LKA 90 Rs. III 22f // Sm 38: 10–12: [mimma] lemna ša yâši šakna kaššÁpa kaššÁpta ana Kurnugi’a urâšunīt[i], [ana] Namtar šukkal er̸eti piqdÁšunī[ti]. In BM 68455+ (Beschwörung für Amulette gegen Behexung) wird die Hexe beschuldigt, den Patienten an Ereškigal und Namtar übergeben zu haben (vgl. SCHWEMER, Abwehrzauber,
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dikt durch diese drei Gebete erfleht worden ist, kann die Durchlässigkeit zwischen Ober- und Unterwelt, die sich bei der Totenpflege ergibt, dazu genutzt werden, die Übeltäter des Patienten samt dem von ihnen verursachten Übel in die Unterwelt zu senden.40 Integrierte der eben besprochene Abwehrzauber die Totenpflege in den Ritualablauf, so kann man im Abwehrzauber, ebenso wie in anderen Beschwörungsritualen, auch regelrechte Bestattungsriten verwenden, um das Unheil in das ‚Land ohne Wiederkehr‘ zu bannen. Innerhalb des Corpus der Abwehrzauber-Rituale lässt sich dies am klarsten in einem Ritual gegen zikurudû-Behexung beobachten (s. oben Anm. 27). Eine zikurudû-Behexung konnte sich dadurch auszeichnen, dass dem Patienten von den Schadenzauberern Unheilsträger geschickt wurden; im Falle des vorliegenden Rituals handelt es sich dabei um eine „geschlachtete Maus“. Diese tote Maus, das unheilbringende Zaubermittel, gilt es, im Abwehrzauber nun sicher zu entsorgen. Dazu hüllt der Beschwörer den Kadaver unter Beigabe kostbarer und reinigender Grabbeigaben in die Haut einer anderen Maus ein. So entsteht gleichsam ein sicherer Container für das Zaubermittel. Die so präparierte Maus steckt man in ein Grab, um dann sieben Tage lang die üblichen Totenopfer und Bestattungsriten durchzuführen. Damit ist das Zaubermittel endgültig entsorgt.41 Resümee: Der behexte Patient sieht sich dem Tode nahe, der an und für sich als das natürliche Geschick (šëmtu) des Menschen betrachtet wird. Die Möglichkeit des vorzeitigen Tod wird als nicht dem eigentlichen (Todes-) Geschick des Patienten entsprechend gedeutet; den Schadenzauberern unterstellt man, das Geschick des Patienten negativ verändert zu haben. Ziel der Abwehrzauber-Rituale ist die Rückwendung der Behexung auf ihre Verursacher. In Maqlû wird diese Rückwendung unter anderem dadurch bewerkstelligt, dass man die šëmtu-Göttin der Hexe durch Schwarzfärbung in eine böse Schickalsgöttin (šëmtu raggatu), also einen schlimmen Tod, verwandelt. Die Personifizierung und Deifizierung der šëmtu, des Todesgeschickes, lässt sich auch anderweitig nachweisen; es handelt sich offensichtlich um ein dem Konzept des persönlichen Schutzgottes nahe stehende Vorstellung. Das Corpus der Abwehrzauber-Rituale bezeugt eine Vielfalt unterschiedlicher Methoden, die Schadenzauberer rituell zu töten; häufig 99); in dem Abwehrzauber-Ritual BM 47806+ (Bearbeitung in Vorbereitung) wird Šamaš gebeten, die Hexer dem ̳umu̺-tabal, dem Fährmeister der Unterwelt, zu übergeben. 40 Für die Verwendung der Totenpflege in Beschwörungsritualen s. generell SCURLOCK, Magical Uses. 41 Zum Text s. TSUKIMOTO, Untersuchungen, 135ff; THOMSEN, Zauberdiagnose, 42f; NASRABADI, Untersuchungen, 43f und zuletzt mit einer Teilbearbeitung SCHWEMER, Abwehrzauber, 222–25.
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kommen dabei Substitutsfiguren der Übeltäter zum Einsatz. Neben der Erniedrigung und völligen Vernichtung von Hexer und Hexe – vorzugsweise durch Verbrennung – wird in einigen Ritualen auch eine Bannung in die Unterwelt, in das ‚Land ohne Wiederkehr‘, explizit durchgeführt; diese kann sich auf Hexer und Hexe selbst, aber auch auf die substanzhaft vorgestellte Behexung oder beim Patienten gefundene Zaubermittel beziehen. Rituale dieses Typs nehmen auf typische Situationen der Durchlässigkeit zwischen Ober- und Unterwelt Bezug (Mythos vom Gang Ištars in die Unterwelt, Totenpflege, Bestattung, Bannung von Dämonen).
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Grab und Grabausstattung im späten Ägypten JOACHIM FRIEDRICH QUACK
Ausgangspunkt für meine nachfolgenden Darlegungen soll eine Bemerkung in Assmanns Standardwerk über Tod und Jenseits im Alten Ägypten sein, die von bemerkenswerter Brisanz ist. Er stellt fest, dass es ihm nicht gelungen ist, eine klare chronologische Entwicklungslinie in den Texten zu erkennen.1 Dieser Punkt ist um so auffälliger, wenn man bedenkt, dass derselbe Assmann für die ägyptische Religion an sich durchaus eine historische Entwicklung ansetzt, bei der vor allem in der Ramessidenzeit wesentliche Neuerungen aufgekommen seien.2 A priori ist es unwahrscheinlich, dass es in der langen Geschichte der ägyptischen Kultur nicht substantielle Entwicklungen gegeben hat; die Frage dürfte wohl eher darin liegen, wie man sie fasst, und ob eine durchlaufende Benutzung von Kompositionen auch als Zeugnis für ein durchlaufend gleiches Verständnis dieser Texte bewertet werden darf. Hier möchte ich ansetzen. Der funeräre Bereich hat den Vorteil, dass er aufgrund der günstigen Erhaltungsbedingungen in Gräbern der am besten dokumentierte für das alte Ägypten überhaupt ist.3 Es sollte also leichter sein, Wandlungen im Verständnis des Jenseitslebens bzw. mindestens der Beigabensitten zu fassen als sonstigen Wandlungen der ägyptischen Geistesgeschichte. Wenigstens für das Vorhandensein von Texten und Objekten als Teil der Grabausstattung wird das, was in bestimmten Epochen nicht bezeugt ist, zumindest nicht regulär vorhanden gewesen sein. Man muss sich für diese Fragestellung einige methodische Grundansätze klar machen. Insbesondere die Datierung von Texten muss auf eine andere Grundlage gestellt werden, als es in der Ägyptologie vielfach noch üblich ist. Es gilt, zwei Punkte sauber auseinander zu halten. Das eine ist die Entstehung eines Textes an sich, die u.U. weit vor seiner ersten posi-
1
ASSMANN, Tod und Jenseits, XI–XIII. Wichtig ist hier insbesondere ASSMANN, Re und Amun, s. weiter ASSMANN, Theologie. Assmanns Analysen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Darlegung bei KOCH, Geschichte sowie GÖRG, Religion genommen. 3 Relevant sind dabei als wichtiger Gesamtüberblick TAYLOR, Death; GRAJETZKI, Burial Customs. 2
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tiven Bezeugung liegen kann.4 Das andere ist sein Aufgreifen in Medien, für die gute Erhaltungsbedingungen bestehen. Letzteres ist gerade für Überlieferungen aus dem Grabzusammenhang wichtig. In vielen Fällen werden Kompositionen für uns erst durch ihre funeräre Nutzung fassbar, diese muss jedoch keineswegs zwingend mit dem Zeitpunkt ihrer ersten Abfassung identisch sein – mutmaßlich ist es sogar meistens anders. Gerade dann muss man für die weitere Analyse auch beachten. dass ein Text vielleicht nicht für das funerär übernommen wird, was er sagt, sondern für das, was er ist; nämlich z.B. ein Text über Osiris (aus Tempelkultzusammenhängen), der qua Beziehung zwischen Schicksal des Osiris und Schicksal des Toten aufgegriffen wird, nicht aufgrund bestimmter Details seiner spezifischen Aussagen. Diese doppelte Einpassung in die ägyptische Geistesgeschichte wird in Zukunft mehr Aufmerksamkeit in der Forschung brauchen. Ebenso beachten muss man das korrekte methodische Herangehen an Objekte, die aus Gräbern stammen. Allzu viele Ägyptologen denken kurzschlüssig, alles, was aus einem Grab stamme, sei rein funerär und unter dem Gesichtspunkt des Jenseitsglaubens bzw. noch spezifischer einer „Wiedergeburt“5 ausgewählt. Erfahrungen mit anderen Kulturen ebenso wie nüchterne Überlegungen an sich dürften ein komplexeres Bild ergeben.6 Das Auftreten eines Objekts im Grab kann viele Gründe haben. Es kann Teil des konkreten Rituals der Aufbahrung oder Bestattung gewesen sein bzw. auch in komplexer Art darauf verweisen, es kann spezifisch als Mittel gegen Schwierigkeiten und Gefahren im Jenseits beigegeben werden. Es kann aber auch ein Objekt der Alltagswelt sein, wenn man etwa dem Verstorbenen einfach seine normale Tracht beigibt, wenn man ihn in seiner sozialen Rolle bzw. im Status markieren will, oder zu Lebzeiten liebgewordene Gegenstände um ihn legt. Als großes Thema bei den hier behandelten Fragen erweist sich immer wieder die Beziehung der Grabausstattung einerseits auf den König, andererseits auf den Tempelkult, letzterer insbesondere im Aspekt der osirianischen Rituale und vergleichbarer Bräuche für andere verstorbene Götter. Gerade hier ergeben sich leider doch wieder schwarze Löcher der Dokumentation. Königsgräber sind viel seltener als Gräber der sonstigen Bevölkerung, und für die hier behandelte Epoche haben wir an Dokumentation für den König selbst nur die Gräber von Tanis sowie noch den Sarg Nektanebos’ II. Bedingt heranziehen kann man für diesen Bereich die Gräber und Grabausstattungen der Gottesgemahlin des Amun sowie einiger enger Verwandter von Königen.
4
Vgl. hier grundsätzlich VON LIEVEN, Grundriß, 223–250. Zu diesem Konzept an sich kritisch s. BUCHBERGER, Wiedergeburt. 6 Vgl. PINCH, Funerary Objects. 5
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Ich werde im folgenden Überblick jeweils für verschiedene Zeitbereiche die wesentlichsten Züge der Bestattung betrachten, d.h. die Gräber in Architektur und Dekoration, Textbeigaben insbesondere auf Papyri und Leinen, Amulette und sonstige Kleinobjekte der Grabausstattung. Mit der Wende zur 21. Dynastie ergeben sich bei der Anlage und Architektur der Gräber einige Veränderungen, wobei diese kaum aus dem Nichts kommen, sondern schon im Trend der Ramessidenzeit angelegt sind. Bereits im Theben der 20. Dynastie kann man feststellen, dass eine Weiterführung und Umnutzung bestehende Grabanlage im Vergleich zur Anlage ganz neuer Bauten deutlich an Bedeutung gewinnt. Mit dem Übergang zur Nachramessidenzeit ist dann die Zeit der Felsgräber mit Malerei oder Reliefdekor zunächst einmal vorbei. Dekorationselemente, die im Neuen Reich auf den Wänden auftauchen,7 werden in den nachfolgenden Zeiten in großem Ausmaß auf Papyri und Särge verlagert. Zumindest zu einem gewissen Grade kann man sich der Frage nicht entheben, ob verringerte ökonomische Möglichkeiten hier eine maßgebliche Rolle gespielt haben – selbst die Dekoration aufwendiger Särge kostete zweifellos erheblich weniger als das Aushauen und Dekorieren größerer Felsgräber. Allerdings stellt sich die Frage, ob dies allein ausschlaggebend war, oder man nicht damals auch zu einer stärker diesseitsorientierten Lebensweise übergegangen ist, bei welcher prozentual weniger für die Anlage des Grabes, mehr dagegen für den Genuss im Leben selbst verausgabt wurde. Eine wichtige Etappe der Entwicklung stellen die Königsgräber der 21. und 22. Dynastie in Tanis dar.8 Ihre Dekorationsmuster übernehmen vieles aus Tradition der Königsgräber der Ramessidenzeit, sind aber keine simple bruchlose Fortsetzung.9 Hinsichtlich der äußeren Anlage zeigen diese Bauten die frühesten erhaltenen Fälle vom Typ des Grabes am Tempeldromos.10 Diesen habe ich bereits in einer früheren Untersuchung auf ein Bestreben nach größerer Gottesnähe zurückgeführt, auf eine Suche nach Nähe zu den lokalen Bestattungsorten der verstorbenen Gottheiten, insbesondere des Osiris. Zunächst scheint dieser Typ königliches Privileg zu bleiben. Vom äußeren Erscheinungsbild geben aber auch diese Anlagen Anlass, die oben gestellte Frage weiter im Auge zu behalten. Es handelt sich um relativ unsorgfältige Arbeiten. In den Wänden sind viele Steine älterer Bauten als Spolien genutzt. Auch in der Grabausstattung selbst greift man auf das bereits vorhandene Gut zurück. So werden als Sarkophage für Psusen7 Dabei müsste man natürlich auch die Dekorationsgewohnheiten des Neuen Reiches in ihrer erheblichen inneren Entwicklung analysieren, was im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann. 8 MONTET, Tanis; DERS., Tanis II; DERS., Tanis III. 9 ROULIN, Tombes royales. 10 QUACK, Tempeldromos; vgl. auch BOMMAS, Gottesnähe.
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nes derjenige des Merenptah sowie ein anderer aus dem Neuen Reich wiederverwendet.11 Die Benutzung von Silber für den inneren Sarg ist zwar relativ aufwendig, verglichen mit dem Goldsarg des Tutanch-Amun (der sicher im Vergleich zu sonstigen Bestattungen des Neuen Reiches nicht ungewöhnlich luxuriös war) jedoch ein klarer Abstieg in der Preisklasse.12 Dabei muss man aber im Auge behalten, dass dieses Phänomen auch damit zu tun haben könnte, dass in der Libyerzeit eine etwas andere Auffassung vom Königtum bestand, das weniger absolut und spezifisch hervorgehoben war.13 Die Dritte Zwischenzeit, und gerade ihr früherer Bereich, gilt nicht ohne Grund als Höhepunkt in der Herstellung ägyptischer Särge.14 Typisch sind Holzsärge, die außen gelb dekoriert und in vielen relativ kleinteiligen Szenen dekoriert sind, im Inneren befinden sich meist größere Bildeinheiten von oft ästhetisch noch besserer Qualität. Eine Standardausstattung dieser Zeit besteht aus einem äußeren und einem inneren Sarg sowie einem Mumienbrett. In den Szenen sieht man vor allem den Besitzer vor verschiedenen Gottheiten. Relativ häufig werden zumindest in den späteren Phasen dieser Sargdekoration neben Osiris auch verstorbene Könige in einer Rolle als Unterweltsherrscher dargestellt, insbesondere Amenhotep I., aber auch Thutmosis III. und Haremhab – vor allem also solche, die für den Amunkult und seinen Tempel in Theben viel getan haben.15 Einzelne Motive dieser Särge stammen recht deutlich aus dem Osiriskult, insbesondere gilt dies für die Darstellung eines Regierungsjubiläums des Osiris auf einem heute verlorenen Sarg der Berliner Sammlung und eine vergleichbare Szene auf einem Kairener Sarg.16 Von ähnlicher Relevanz sind Szenen des Osiris auf der Bahre bei der Mumifizierung und Wiedererweckung – dies sind Startpunkte einer wichtigen Entwicklung in der Spätzeit. In der 21. Dynastie ändert sich bei den Papyrusbeigaben einiges.17 Einerseits wird das Totenbuch nunmehr sehr of hieratisch geschrieben. Es gibt zwar noch kursivhieroglyphische Vertreter18 doch lässt bei ihnen vielfach (keineswegs immer) die Textqualität der Überlieferung nach. Demgegen11
MONTET, Tanis II, 111–130. Von daher kann das Argument von KOCH, Geschichte der ägyptischen Religion, 428, der Wandel der Grabanlagen beruhe nicht auf wirtschaftlichen Gründen, in dieser Form nicht überzeugen. 13 JANSEN-WINKELN, Fremdherrschaften, bes. 10–12; VITTMANN, Ägypten und die Fremden, 7–11. 14 Vgl. NIWIăSKI, 21st Dynasty Coffins; DERS., The Book of the Dead on Coffins; VAN WALSEM, Coffin. 15 Vgl. VON LIEVEN, Vergöttlichung. 16 MÖLLER, Hb-Èd; NIWIăSKI, Papyri, 143f. 17 S. auch den ganz knappen Überblick bei HEERMA VAN VOOS, Totenliteratur. 18 Dies gilt etwa für das Totenbuch der Maatkare bei NAVILLE, Kamara. 12
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über scheinen die hieratischen Exemplare auf Vorbilder der 18. Dynastie zurückzugreifen19 – was auch insofern nicht unplausibel wirkt, als in der frühen 18. Dynastie auch hieratische Totenbuchfassungen kursierten,20 ehe zunächst einmal das Kursivhieroglyphische die Überlieferung dominierte. Ein anderer Punkt ist zu beachten, der Teil des größeren Bildes sein dürfte. Die Sprüche in den Totenbüchern der 21. Dynastie zeigen des öfteren im Vergleich mit solchen des Neuen Reiches ausführlichere Fassungen, bzw. stimmen mit königlichen des NR im Umfang gegenüber Privathandschriften des NR überein.21 Hier werden nicht irgendwelche alten Fassungen hervorgezogen, sondern spezifisch königliche, die jetzt zumindest in der Elite des Gottesstaates des Amun eine etwas weitere Verbreitung finden. Totenbücher der 21. Dynastie sind, abgesehen von der Elite, oft relativ kurz, wobei die Zahl der verwendeten Sprüche gegenüber dem NR abnimmt, zudem viele nur durch einen Teilbereich von wenigen Zeilen repräsentiert sind.22 Der Stellenwert von Abbildungen geht in diesen Handschriften gegenüber dem Neuen Reich deutlich zurück. Konzentriert wird er auf eine Vignette am Anfang, welche den Besitzer in Anbetung meist vor Re oder Osiris zeigt. Teilweise sind die Papyri sonst ganz unillustriert, teilweise lässt der Aufwand für die Abbildungen zumindest nach; manche Handschriften haben nur Schwarzweiß-Strichzeichnungen. In einigen bedeutenden Handschriften begnügt man sich nicht mit dem Basisbestand von „Totenbuchsprüchen“, sondern bietet einen „Anhang“ mit liturgischen Exzerpten insbesondere aus dem Sonnenkult. Obgleich diese Fälle aufgrund des Interesses, das sie etwa für die Überlieferung von Sonnenhymnen haben, in der Forschung stark herausgestellt worden sind, handelt es sich doch um ein ausgesprochen seltenes Phänomen. Bedeutsamster und bekanntester Fall ist wohl das Totenbuch der Nestanebetischeru (pGreenfield).23 Hinzu kommt noch der hieroglyphische Papyrus der Nedjemet (BM 10541) ebenfalls mit seltenen Wissenstexten aus dem Sonnenkult, wo die einschlägigen Abschnitte jedoch am Anfang des Papyrus ste-
19 U. RÖSSLER-KÖHLER, in: MUNRO, Pa-nedjem II, 49–52; DIES., Tradierungsgeschichte, bes. 170–173. Dazu passen dürfte auch, dass diese Schreiber im Hieratischen z.B. wieder auf die ausführlichere Form des m-Zeichens zurückgreifen, die nach der 18. Dynastie aufgegeben worden ist. 20 Vgl. etwa MUNRO, Jah-mes. 21 Vgl. etwa HORNUNG, Totenbuch, 494 (zu TB 130), 501 (zu TB 141–143); 503 (zu TB 145), 520 (zu TB 181), 521 (zu TB 183); QUACK, BiOr 57, 55f zu TB 130; LUCARELLI, Gatseshen, 253f (zu TB 178 und 181). 22 NIWIăSKI, Papyri, 29f; LENZO MARCHESE, Abrégés; DIES., Manuscrits hiératiques, 273–276. 23 BUDGE, Greenfield Papyrus.
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hen.24 „Liturgische“ Elemente können auch innerhalb der Sequenz stehen,25 so im Totenbuch der Gatsescheni26 und im Totenbuch des Paennesti-Tawi (BM 10064).27 Die meisten Handschriften dieser Zeit, selbst von sehr bedeutenden Personen bis hin zum Hohenpriester Painedejem II, weisen jedoch keine auffälligen Erscheinungen dieser Art auf.28 Einzelne Forscher haben versucht, anhand der Spruchzusammenstellungen persönliche religiöse und philosophische Vorlieben zu erkennen,29 doch bleiben die Ergebnisse oft dürftig30 oder methodisch unfruchtbar.31 Im Rahmen meines Ansatzes, hier größere Tendenzen zu ermitteln, würden individuellen Vorlieben ohnehin wenig relevant sein, eher schon generelle Moden. Hierfür sind statistische Angaben über die Auswahl der Sprüche in dieser Epoche nötig,32 die dann mit der in anderen Epochen verglichen werden müssen.33 Andererseits gibt es eine zur Textlichkeit direkt entgegengesetzte Tendenz.34 In dieser Zeit kommen die sogenannten „mythologischen Papyri“ auf, die vorrangig Bilder zeigen.35 Viele davon haben ihre Wurzeln in Traditionen von Totenbuchvignetten. Sie können somit als Reduktion eines Kapitels auf jeweils ein Bild verstanden werden. Auf Papyri präsent sind auch das Amduat36 und andere Unterweltsbücher (Pfortenbuch, Höhlenbuch,
24
Die relevanten Abschnitte sind bei SHORTER, Catalogue, 14f beschrieben u. 68–78 ediert. 25 Vgl. viele Belege bei LENZO MARCHESE, Manuscrits hiératiques. 26 NAVILLE, Katseshni; LUCARELLI, Gatseshen. 27 MUNRO, Pa-en-nesti-taui. 28 Vgl. die Edition von MUNRO, Pa-nedjem II. Wie Munro S. 5 ausführt, ist dieser Papyrus in Textbestand und Spruchfolge dem pGreenfield eng verwandt (jedoch fehlt ihm der liturgische Anhang). 29 So etwa HEERMA VAN VOOS, Religion und Philosophie; LESKO, Pinedjem I and I. Demgegenüber weist LUCARELLI, Gatseshen, 255f m.E. mit Recht darauf hin, dass hier bestimmte Meistervorlagen relevant sind. 30 So bei Heerma von Voos, der kaum etwas anderes als die Ersetzung des Toten durch einen anonymen Gehilfen bei der Arbeit im Opfergefilde (TB 110) vorweisen kann. 31 So Lesko, der über die Sprüche lediglich eine schale Opposition von Sonnen- und Osirisreligion legt. LUCARELLI, Gatseshen, 257 betont dagegen, es sei zu beschränkt, den von ihr untersuchten Text lediglich auf die Bereiche solarer und osirianischer Vorstellung zu reduzieren. 32 Als Basis dienen kann MUNRO, Spruchvorkommen. 33 Für das Neue Reich kann man auf MUNRO, Untersuchungen, 334–351 zurückgreifen, auch wenn der Stand dort sicher ein anderer ist als der, den das Totenbuchprojekt inzwischen erreicht hat. 34 Einzig diese unter Ausblendung der textlastigen Handschriften ist bei KOCH, Geschichte, 429f wahrgenommen worden. 35 PIANKOFF, Mythological Papyri; NIWIăSKI, Papyri. 36 SADEK, Contribution.
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Buch von der Erde) sowie die Sonnenlitanei.37 Meist werden sie aber nur in Auszügen geboten. Dies ist auch eine Frage der realen Verfügbarkeit. Besonders deutlich wird dies an den Amduatpapyri. Einige Exemplare zeigen, wie Bild und Text mitten im Verlauf der 9. Stunden einsetzen; der Bereich davor wird allenfalls, soweit es von der Bildmotivik möglich ist, ergänzt. Den betreffenden Priestern stand nur das abgerissene Ende eines Amduatpapyrus zur Verfügung, keine vollständige Abschrift.38 Mit nicht ganz geringer Wahrscheinlichkeit geht dessen Verfügbarkeit auf die Auffindung einer realen Handschrift im Zusammenhang der Umbettung der Königsmumien zurück, die in der 21. Dynastie durchgeführt wurde. In jedem Fall liegt der Befund auf genau derselben Ebene wie der Rückgriff auf spezifisch königliche Texttraditionen der 18. Dynastie im Totenbuch. Zu beachten ist, dass zu einer vollständigen Grabausstattung in dieser Zeit zwei verschiedene Papyri gehörten, von denen durch die Ägypter selbst einer als Totenbuch, der andere als Amduat bezeichnet wurde. Allerdings sind, schaut man auf die Inhalte, die Grenzen durchaus fließend; etliche Papyri führen Elemente des Totenbuches und solche der Unterweltsbücher zusammen; z.B. zeigt das hieratische Totenbuch der Nedjemet Szenen aus dem Höhlenbuch.39 Insgesamt ist das Bild relativ komplex und in seinen Details noch wenig erhellt. Es scheint so, als ob die Elite der 21. Dynastie mehr Zugang als die der Ramessidenzeit zu exklusiven Text hat. Dies hängt damit zusammen, dass sie u.a. im Zuge der Umbettung der Königsmumien relativ einfachen Zugriff auf königliche Ausstattungsobjekte hatten, daneben auch damit, dass die Hohepriesterfamilie des Amun so etwas wie ein eigenes Königtum ausgebildet hat und damit kaum noch durch eine höhere Autorität in der Nutzung von Traditionen eingeschränkt werden konnte. Allerdings ist dieser Zugriff doch immer eingeschränkt. Man hat nur Teile der Texte – eklatant etwa im Falle des Amduats – oder man nutzt zumindest nur Teile davon, so werden vom Text der Sonnenlitanei nur Einzelpassagen ins Totenbuch integriert und spezifische Papyri beschränken sich meist auf Gestalten aus der großen Litanei dieser Komposition. Hat man hier im Zweifelsfall nach dem Prinzip eines „pars pro toto“ gehandelt, da man den Auf37
PIANKOFF, Litany of Re. LIEVEN, Grundriß, 211. Ältere Versuche, einen tiefen Sinn in der Auswahl gerade der letzten Stunden zu sehen, z.B. SADEK, Contribution, 324f; LUCARELLI, Gatseshen, 23f, müssen als Fall der in der Ägyptologie leider nicht seltenen übertriebenen Spitzfindigkeit angesehen werden. NIWIăSKI, Papyri, 177f nimmt m.E. irrig an, dass die Vorlage dieser Papyri direkt von einer Grabwand kopiert worden ist; auch er übersieht die Relevanz der Tatsache, dass die Abschriften auf allen Registern mitten in der 9. Stunde beginnen. 39 BUDGE, Book of the Dead, Netchmet, Taf. 6 und 9 (mit Elementen aus dem Schlussbild und dem vierten Abschnitt). 38
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wand für Vollversionen scheute bzw. angesichts guter Kenntnis der Kompositionen an sich für unnötig hielt? Die Grabausstattung der frühen Dritten Zwischenzeit zeigt besonders viele Uschebti. Während wir im Neuen Reich im königlichen Grab des Tutanch-Amun bereits einen Satz von 413 haben, der einem ausgeklügelten System von 365 Arbeitern (für jeden Tag des Jahres), 36 Aufsehern (für jede Dekade einen) und 12 Oberaufsehern (für jeden Monat einen) haben,40 zeigen Privatgräber erheblich geringere Mengen, auch wenn sie im Verlauf der 20. Dynastie ansteigen.41 Dagegen sind in der Dritten Zwischenzeit 401, gelegentlich noch mehr Uschebti eine standardisierte Zahl (also ohne die zusätzlichen 12 Oberaufseher), die auch in einem erhaltenen Kaufvertrag exakt so bezeugt ist.42 Götterdekrete über die korrekte Bezahlung ihrer Herstellung, welche mit ins Grab gegeben wurden, zeigen die Relevanz, welches dieses Thema damals besaß.43 Ebenso wird in dieser Epoche gerne auf einem einzelnen Papyrusblatt ein Text beigegeben, der später gelegentlich Teil des Totenbuches ist und deshalb als Tb 166 (Pleyte) gezählt wird, an sich aber eine Komposition eigener Herkunft ist, und u.a. den korrekten Erwerb der Uschebtis und entsprechend ihre Verpflichtung zur Arbeit für den Besitzer thematisiert. Diese Phänomene passen zu einem der auffälligsten Züge dieser Zeit, nämlich der Tendenz, juristische Endscheidungen der Realwelt der göttlichen Jurisdiktion in Form von Orakeln zu unterstellen.44 Gleichzeitig handelt es sich erneut um einen Fall der Übertragung königlicher Bräuche älterer Zeit auf eine etwas breitere Personengruppe, denn TB 166 (Pleyte) wird im Titel als Text bezeichnet, der am Hals der Mumie des Usermaatre gefunden wurde45 – wohl erneut ein Verweis auf die reale Bedeutung der Umbettung der Königsmumien für die Funerärkultur dieser Epoche. Typisch für diese Epoche sind Osiris-Figuren, die zur Aufnahme eines Papyrus dienten (von den späteren Ptah-Sokar-Osiris-Figuren unbedingt zu
40
Zur Menge s. CARTER, Tut=ench=Amun 3, 105. SCHNEIDER, Shabtis, Part 1, 267. 42 EDWARDS, Bill. 43 ÌERNÝ, Caractère. Es sollte betont werden, dass es sich in diesen Texten nicht um Ideen des Neuen Reiches, sondern der 21. Dynastie handelt, was zumindest die Verwendung für nichtkönigliche Nutzer betrifft. 44 Vgl. etwa RÖMER, Gottes- und Priesterherrschaft; WINAND, Décrets oraculaires. In dieselbe Richtung geht auch das Dekret für die Vergöttlichung der Seele der Neschons, s. GUNN/EDWARDS, Decree sowie das Dekret für die Vergöttlichung der Seele des Pinodjem (Kairo CG 58033). 45 SCHNEIDER, Shabtis, Band I, 320. Vgl. auch die Diskussion bei ALLAM, Totentexte, 137; WÜTHRICH, Untersuchungen, 368. Ich sehe keinen inhärenten Grund, die Angabe der Handschriften als Fiktion zu betrachten. 41
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trennen!).46 Objekte des täglichen Lebens fehlen in den Grabgütern offenbar völlig. Ungeachtet der oben geäußerten Einschränkungen hinsichtlich des materiellen Aufwandes möchte ich insgesamt die Funerärkultur der 21. Dynastie doch als recht jenseitsgeprägt und wenigstens in Teilbereichen deutlich osirianisch einstufen. Letzteres zeigt sich vor allem in der Mitnahme der Osirisfiguren sowie der osirianischen Motive auf Särgen, weniger dagegen in großen Textkompositionen. Daneben ist eine allerdings nuancierte und nur teilweise Verfügbarmachung königlicher Texte vornehmlich solarer Herkunft bemerkbar. In der frühen 22. Dynastie scheinen die Bräuche bei Totenpapyri noch ähnlich wie in der 21., zumindest gibt es einen gut datierten Fund, der einen Totenbuchpapyrus und einen Papyrus mit liturgischen Texten des Sonnenkultes verbindet.47 Danach besteht allerdings anscheinend eine gewisse Lücke in der Totenbuchbeigabe, die ich für substantiell wichtig halte. Bzw. genauer sollte man sagen, dass es eine Reihe von Handschriften gibt, die wohl in die 22. oder die mit ihr teilweise gleichzeitige 23. Dynastie gehören, welche in der Forschung üblicherweise als „Totenbuch“ etikettiert werden, tatsächlich aber kaum noch Textbestand des eigentlichen Totenbuches zeigen, sondern als Auftakt meist Kapitel 23, danach weitgehend sonst unbekannte Sprüche, dabei öfters mit dem Titel von TB 162.48 In diesen Papyri würde ich Zeugnisse dafür sehen, dass in bestimmten Kreisen zwar noch die Sitte der Beigabe von Funerärpapyri gepflegt wurde, die verbindliche Kraft des Totenbuches jedoch deutlich nachgelassen hatte. Der Rückgang der Bezeugung betrifft auch andere Ausstattungsgegenstände primär funerärer Natur, so Uschebtis.49 Kanopenkästen werden selten und sind öfters nur noch Scheingefäße, was für gewandelten Umgang mit den Eingeweiden spricht. Mumienmasken und -bretter werden durch Mumienhüllen aus Kartonnage ersetzt. Bei der Ausstattung scheinen insbesondere gegen Ende der Dritten Zwischenzeit wieder Gegenstände des täglichen Lebens zu dominieren, während Särge fast zum einzigen spezifisch funerären Objekt werden.50 Als Teil dieser Ausstattung aus dem Leben aufzufassen ist auch eine bestimmte Textgruppe, die gehäuft in dieser Zeit auftaucht, nämlich die sogenannten „Orakelschutzdekrete“, in denen Götter Versprechung für die Gesundheit und erfolgreiche soziale Entwicklung 46
GRAJETZKI, Burial Customs, 95. ALTENMÜLLER, Papyri; DERS., Chonsu-maacheru. 48 LENZO MARCHESE, Manuscrits hiératiques, 131–170 49 GRAJETZKI, Burial Customs, 101. 50 Vgl. GRAJETZKI, Burial Customs, 111; die dort vorgeschlagene Interpretation der Funde aus dem Tadja-Grab würde ich nicht mitmachen. 47
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von Kindern abgeben.51 Sie wurden zu Lebzeiten in Hülsen um den Hals getragen, und ihre heutige Erhaltung verdanken sie vorrangig der Tatsache, dass sie als Teil der Tracht mit ins Grab gegeben wurden – eigentlich funerär sind sie distinktiv nicht. Dafür kommen wenigstens in gewissem Umfang wieder neue Grabkapellen vor. Etliche davon, so die von Prinzen im Umfeld des Ptahtempels von Memphis,52 zeigen die schon für die Königsgräber in Tanis zu beobachtende Nähe zum göttlichen Bereich. Allerdings macht gerade ihre Zugehörigkeit zur Königsfamilie sie für übergreifende Analysen weniger verwendbar. Von anderen etwa in Theben hinter dem Ramesseum sind bislang keine Dekorationen, sondern nur Oberbauten in Lehmziegeln bekannt gemacht.53 Wichtige Entwicklungen gibt es in der 22. u. 23. Dynastie im Amulettbestand. Er ist durch einen stark diesseitigen Schwerpunkt geprägt. Im Zentrum steht der Schutz von Mutter und vor allem Kind. Dem entspricht auch, dass dort, wo archäologisch sauber ergrabene Befunde vorliegen und auch anthropologische Untersuchungen durchgeführt wurden, Kindergräber deutlich am reichsten mit solchen Amuletten ausgestattet sind. Mit dieser Schwerpunktverlagerung geht einher, dass rein funeräre Objektgattungen zunächst einmal verschwinden. Typische Formen der Amulette dieser Zeit54 sind etwa die löwenköpfigen Göttinnen aus Fayence, die „libyschen“ Katzen, Dekanamulette55 oder Schweineamulette.56 Beliebt sind auch Bes und Patäken. Gerade diese Amulettgruppe wird im gesamten Mittelmeerraum verbreitet, mutmaßlich von phönizischen Handelsnetzen transportiert, aber sicher auch aufgrund eines realen sachlichen Interesses.57 In Ägypten selbst hält sich diese Front als Grabgut nur bis zum Beginn der Saitenzeit, die ausländische Rezeption lässt sich dagegen länger fassen. Mutmaßlich wird sie dadurch gefördert, dass diese Art von Amuletten lediglich eine generelle Konzeption von göttlichem Schutz vor Gefahren und Krankheiten vor-
51 Grundlegend EDWARDS, Hieratic Oracular Amuletic Decrees, ergänzend BOHLEKE, Oracular Amuletic Decree of; zu einem dort übersehenen Text s. QUACK, Ani, 8. 52 BADAWI, Scheschonk. 53 EIGNER, Monumentale Grabbauten, 24–26. 54 Gute Belege hierfür aus archäologisch sauber ergrabenen Friedhöfen bieten etwa die mittelägyptischen Funde bei BRUNTON, Matmar, Taf. LVIII–LXI; Illahun bei PETRIE, Illahun, T. XXIX u. PETRIE/BRUNTON/MURRAY, Lahun II, Taf. LV, LVA, LXVIII; Tell el Yahudiyeh und Tell er-Retabe bei PETRIE, Hyksos and Israelite Cities, Taf. XVIII– XIX, u. XIXA–C; XXXIV u. XXXIVA–C. 55 Katalog in QUACK, Beiträge. 56 EL-HUSENY, Inkonsequente Tabuisierung, 354–383. 57 Vgl. etwa CLERC/KARAGEORGHIS/LAGARCE/LECLANT, Kition II; GAMER-WALLERT, Iberische Halbinsel; HERRMANN, Amulette; DERS., Amulette II; DERS., Amulette III; HÖLBL, Altitalien; DERS., Sardinien; PADRÓ I PARCERISA, Iberian Peninsula; VERCOUTTER, Mobilier funéraire carthaginois.
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aussetzt, anders als spezifisch funeräre Amulette dagegen nicht die komplexe ägyptische Jenseitsvorstellung und osirianische Mythologie. Dieses Nachlassen in der funerären Ausstattung sollte allerdings auch auf dem Hintergrund eines anderen Phänomens gesehen werden, nämlich der Zunahme der Tempelstatuen. Während es aus der 21. Dynastie kaum solche gibt, sind sie in der 22. und 23. Dynastie in reichlicher Menge und oft mit ausführlichen Inschriften vorhanden.58 Auf ihnen finden sich durchaus auch Bitten um die Rezitation von Opferformeln, aber insgesamt erkennt man eine Verlagerung der Hauptaktivitäten. Der Tempel als Ort der dauerhaften Erinnerung und die Berufssolidarität der Priester werden wichtiger, während der Aufwand für die Bestattung erheblich nachlässt. Ganz neue Dimensionen des Grabbaus tun sich in der 25. und 26. Dynastie auf. Hervorzuheben sind die Großgräber der obersten Elite im thebanischen Asasif59 und in Sakkara.60 Bei den Bauherren sind die Obergüterverwalter der Gottesgemahlin des Amun richtungweisend, also eine neue Schicht mit erheblichen finanziellen Mitteln, bei denen eine ökonomische Basis mit einer Anbindung an den Tempel verbunden war, und dies dürfte nicht zum wenigsten erklären, warum diese Gräber sowohl äußerlich aufwendig sind als auch auf religiöse Überlieferungen arkaner Natur zugreifen können. Nischen mit Götterbildern in diesen Gräbern können als Wiedergaben von Tempeln verstanden werden.61 Da es sich immer um eine Darstellung des Osiris handelt, ist die spezifische Art des Tempels evident. In den Gräbern gibt es in der Dekoration einen Zugriff auf exklusive Texte aus älterer Zeit. Markant ist dies etwa in der Verwendung des Stundenrituals ganz oder in Auszügen, Sonnenlitanei, Amduat und andere Unterweltsbücher.62 Ungeachtet mancher Detailprobleme ist es nicht unplausibel, dass die Architektur dieser Gräber in Teilbereichen bewusst auf die Konzeption des Osirisgrabes abhebt.63 Im Grab des Montemhet ist sogar fassbar, wie die unterirdischen Wächterfiguren dreidimensional als Skulptur umgesetzt wurden, die sonst als in Abbildungen zur Szene der Erweckung des Osiris auf der Bahre bezeugt sind.64 Das Maß der konkreten Aufnahme osirianischer Liturgien ist allerdings uneinheitlich.65 58
JANSEN-WINKELN, Biographien. EIGNER, Monumentale Grabbauten. 60 BRESCIANI, L’attività archeologica. 61 ASSMANN, Basa, 32–34. 62 PIANKOFF, Am-Duat; RÉGEN, Recherches. 63 Vgl. EIGNER, Monumentale Grabbauten, 163–183 sowie LEITZ, Dat; EINAUDI, „Tomb of Osiris“. 64 LECLANT, Montouemhat, 113–132; zur Wächtergruppe an sich s. WAITKUS, Apotropäische Götter; ROULIN, Tombes royales, 201–205. 65 Vgl. ASSMANN, Mutiridis, 101f zum Grab der Mutirdis, wo es relativ hoch ist. 59
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Zu beachten ist, dass in diesem Grabtyp die Verwendung einer astronomischen Decke regulär ist. Dies wirkt zuallererst nach einem Aufgreifen königlicher Vorbilder, sind solche Decken doch im Neuen Reich (abgesehen von Senmut) typisch für die ramessidischen Königsgräber. Allerdings zeigen Details der Traditionsgeschichte, dass die konkret verwendete Vorlage nicht diejenige der Königsgräber ist, sondern von osirianischen Dekorationsmustern abhängt.66 Daneben findet man Anlehnung bzw. Kopien von etlichen Bild- und Textelementen, die so schon aus älterer Zeit bekannt sind. Vor allem betrifft dies Szenen der Alltagswelt sowie biographische Phrasen und Anreden an die Besucher. Hier wird sich die zentrale Frage stellen müssen, ob „Living in the Past“67 die angemessene Beschreibung für die dahinter stehenden Einstellung ist bzw. wie man das Phänomen des sogenannten spätzeitlichen „Archaismus“ bewertet.68 Die von Assmann geäußerte Vermutung, man wolle sich hier am Ideal des Patrons der Ersten Zwischenzeit orientieren,69 möchte ich dezidiert ablehnen. Tatsächlich handelt es sich darum, wie insbesondere durch den positiven Nachweis in Form zweier Papyri aus Tebtynis abgesichert wird,70 welches Textkonglomerat es in die „Überlieferungskette“ geschafft hat,71 und dies ist (vielleicht aus ganz zufälligen Gründen) eben eine Rolle aus Assiut gewesen, auf der Texte der Herakleopolitenzeit ebenso wie der der 12. Dynastie tradiert wurden – eine dezidierte Auswahlmöglichkeit zugunsten der „Patrone“ gegen andere Traditionen dürften die späteren Nutzer kaum gehabt haben. Hinsichtlich der Szenen dürfte sich das Auftreten vieler Typen aus einer Kombination zweier Phänomene ergeben. Das eine ist die Tatsache, dass man wieder größere Grabwände dekoriert. Das Dekorum von Wänden besonders im vorderen Bereich der Gräber ist ein anderes als das von Särgen und Totenpapyri. Nur in diesen Grabbereichen sind Szenen des „diesseitigen Alltagslebens“ üblich. Der zweite Punkt ist, dass soziologisch gesehen die betreffenden Grabinhaber als wirtschaftliche Oberverwalter der Domäne der Gottesgemahlin des Amun einen erheblichen zivilen Aufgabenbereich hatten, der sie vor die Möglichkeit stellte, derartige Motive real umzusetzen. Hier ergibt sich das, was man heute als archaisierenden Rück-
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QUACK, Beiträge. DER MANUELIAN, Archaism. 68 Vgl. NEUREITER, Archaismus (stärker in der Kritik älterer Ansätze als in der Ausarbeitung einer plausiblen Lösung). Wichtig ist hier KAHL, Siut-Theben, bes. 349–355. 69 ASSMANN, Sinngeschichte, 378. 70 OSING/ROSATI, Papiri, 55–100; Taf. 6–13. 71 KAHL, Siut – Theben. Diese meist verlorene Papyrusüberlieferung macht die von DER MANUELIAN angeschnittenen Fragen nach der saitischen Sprachkompetenz sowie Orthographiekonventionen in der gestellten Form weitgehend wertlos. 67
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griff empfindet, daraus, dass alle verfügbaren Modelle für solche Szenentypen einige hundert Jahre alt waren. Hinsichtlich der „Entgrenzung“ der arkanen Texte sollte man beachten, dass es sich keineswegs um eine allgemeine „Demokratisierung“ handelt – ein Begriff, der ohnehin für so ziemlich alle Erscheinungen der ägyptischen Funerärkultur unangebracht ist, für die er je angewendet wurde.72 Zugang zu diesem Wissen hat immer noch nur eine sehr kleine Elite, eben diejenige, welche die Großgräber erbaut und mengenmäßig im Vergleich zu denen, welche sich im Neuen Reich dekorierte Gräber geleistet haben, kaum ins Gewicht fällt. Zwar stellen die saitenzeitlichen Großgräber hinsichtlich Ausmaßen und Aufwand praktisch alle älteren Grabanlagen in den Schatten,73 es sind jedoch in der Summe erheblich weniger,74 als in der 18. Dynastie in einer vergleichbaren Zeitspanne dekoriert werden.75 Hier ist zu fragen, ob nicht nur die erneute Zentralisierung des Landes bessere wirtschaftliche Bedingungen geschaffen hat, sondern diese Ressourcen auch innerhalb der Elite ungleicher verteilt waren, so dass die oberste Spitze mehr als früher zur Verfügung hatte, die zweite Garde der Elite dagegen weniger. Dem würde z.B. entsprechen, wie nach dem Zeugnis des pRylands 9 ein erfolgreich Pfründen scheffelnder Beamter für sich allein 20% der gesamten Tempeleinkünfte erhält, während sich 80 weitere Priester in den Rest teilen müssen, was erhebliche soziale Spannungen mit sich bringt.76 Neben diesem Großgrabtyp gibt es aber noch andere, die vor allem im Norden in Erscheinung treten. In Sakkara und Abusir finden sich in der fortgeschrittenen 26. und wohl auch noch der 27. Dynastie beachtliche Schachtgräber.77 Ähnliche Bauten wurden jetzt auch in Oxyrynchos gefunden.78 Auffälligstes Merkmal ist die Verstärkung der technischen Sicherheit. Man baut das Grab in einem großen Schacht, der über einen Füllmechanismus zugeschüttet wird, so dass die reine Masse des zu bewegenden 72
Kritisch zu ihm auch WILLEMS, Textes des Sarcophages. Eine gewisse Ausnahme ist vielleicht das Grab des Cheriuf (TT 192), dessen Stellung als Oberverwalter der Königin Teye vielleicht nicht zufällig strukturelle Ähnlichkeiten mit dem der Obergüterverwalter der Gottesgemahlin aufweist. 74 EIGNER, Monumentale Grabbauten, hat bereist unter Einbeziehung kleinerer und unfertiger Anlagen etwas über 20 Gräber aufgenommen; in der Zusammenstellung des typischen Programms (S. 59–62) sind noch 11 ausgewertet. 75 ENGELMANN-VON CARNAP, Beamtenfriedhof, hat allein für die Zeit von Amenhotep I.-II., unter Reduktion auf solche aus Scheich Abd-el-Qurna und Chocha sowie auf solche mit t-förmigem Grundriss bereits 28 Anlagen einbezogen (von 48 insgesamt in diesem Gelände liegenden Gräbern der betreffenden Zeit). 76 VITTMANN, Rylands 9. 77 Zusammenfassung der Literatur bei GESTERMANN, Überlieferung, 59–102; vgl. DIES., Schachtgrab. 78 CASTELLANO SOLÉ, Saite Tomb. 73
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Erdreiches Grabraub relativ unergiebig erscheinen lässt. Leider sind die Oberbauten dieser Gräber meist verloren, so dass hierzu kaum Aussagen getroffen werden können. Die innere Ausstattung ist textlastig, mit Passagen besonders aus Pyramidentexten, Sargtexten und Totenbuch. Vielfach dürfte es sich um Spruchfolgen aus den osirianischen Tempelliturgien handeln.79 Ähnliche Textprogramme haben auch einfachere Kammergräber in der Region von Heliopolis.80 Dabei könnte der Schwerpunkt im Textbereich auch darauf beruhen, dass es sich normalerweise um die Dekoration der unterirdischen Bestattungsräume handelt, wo Bilder, zumal solche der nichtreligiösen Sphäre, traditionell wenig am Platz sind. Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen der Funerärtexte fällt gerade in diese Epoche: In Saitenzeit kommt er zur Kanonisierung des Totenbuches in Bestand und Abfolge. Damit geht eine grundlegende Veränderung einher, die sich die meisten Ägyptologen überhaupt nicht bewusst machen. Ab hier gibt es recht eigentlich überhaupt erst das Werk „Totenbuch“ als solches, vorher nur individuelle Stichproben aus einem prinzipiell offenen Pool von Sprüchen.81 Am Ende des Werkes wird mit einer Überschrift eine Reihe von Kapiteln als Auszug aus einem anderen Werk zusätzlich zum „Herauskommen am Tag“ etikettiert.82 Sie unterscheiden sich inhaltlich merklich vom sonstigen Totenbuch. Ihre Herkunft scheint in der frühen Dritten Zwischenzeit, eventuell (in anderen Tradierungsbereichen) auch schon in der Ramessidenzeit zu liegen,83 die Angabe dreier allesamt relativ früher Handschriften bringt sie spezifischer mit dem Amuntempel von Tanis zusammen. Sie werden gekennzeichnet durch sprachlich deutlich neuägyptischen Charakter sowie zahlreiche Formeln, die nicht nach ägyptischer Sprache wirken.84 In der Einbeziehung dieses Extramaterials sehe ich einen Trend zur Systematisierung sowie den regulärer gewordenen Zugriff auf Material, das vorher teilweise königliches Privileg war, teilweise nichtfuneräres Tempelgut. Es passt also in dieselbe Denkstruktur wie die oben besprochenen Kompositionen in den großen dekorierten Gräbern. Vor kurzem intensiver untersucht worden ist die Wiederaufnahme der Sargtexte in der Spätzeit.85 Der ohnehin wenig glückliche Begriff „Sarg-
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Vgl. u.a. KAHL, Pyramidentext-Spruchfolge. Ein Beispiel publiziert von EL-SAWI/GOMAA, Panehsi. 81 Vgl. QUACK, Redaktion. 82 Vgl. einstweilen WÜTHRICH, Untersuchungen. 83 Hier wäre zu hinterfragen, ob ALLAM, Totentexte, XIII den pLouvre N 3172 (P 11) mit Recht bereits in die 19.–20. Dynastie setzt. 84 YOYOTTE, Contribution; LESKO, Chapter 162; DERS., Nubian Influence; ZIBELIUSCHEN, Lexeme. 85 GESTERMANN, Überlieferung. 80
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texte“86 wird durch die durchgängige Anbringung auf Grabwänden in dieser Zeit dabei einmal mehr ad absurdum geführt. Man sollte betonen, dass nur ein sehr kleiner Teil der spätzeitlichen Gräber dafür überhaupt einschlägig ist; selbst von den sonst im Zugriff auf seltene Kompositionen so reichen Großgräbern im Asasif zeigt nur das des Petamenope (TT 33) echte Sargtexte. Im Allgemeinen werden nur wenige Sargtexte tradiert, diese aber ausgesprochen homogen. Interne Abweichungen bleiben gering. Alle spätzeitlichen Textzeugen gehen recht direkt auf dieselbe Meistervorlage zurück; Änderungen beschränken sich auf Individualfehler. Üblicherweise werden die Sprüche in festen Sequenzen tradiert, die gleichartig erscheinen. Man hat also eine stark normierte, sozusagen kanonisierte Fassung vor sich, deren konkrete Textgestalt oftmals auch zeigt, dass sie nur noch rudimentär und nicht mehr umfassend verstanden wurden.87 All dies scheint mir auf einen Befund hinzudeuten, der ganz dem des Totenbuches gleicht: Etwa in derselben Zeit, in der auch bei diesem die entscheidende Kanonisierung erfolgt, werden auch die Sargtexte in einem relativ festen Bestand aufgearbeitet und dann als Block tradiert, bei dem die Existenz und das Vorhandensein dieses Blockes insgesamt wichtiger war als die Bedeutungsfeinheiten jedes Einzelbestandteils. Für die chronologische Orientierung entscheidend ist dabei die Frage nach der Datierung des Petamenophis, dessen Grab teilweise noch in der späten 25. Dynastie angesetzt wird.88 Allerdings hat Jansen-Winkeln vorgeschlagen, ihn deutlich später anzusetzen, nämlich erst in der Zeit um 650–630 v.Chr., somit deutlich innerhalb der Saitenzeit.89 Insbesondere in der Elite kommen große Steinsarkophage auf,90 die öfters Kapitel des Totenbuches tragen, insbesondere Spruch 72, von dem in der Nachschrift explizit gesagt wird, er solle auf den Sarg geschrieben werden; im Neuen Reich ist er in dieser Funktion spezifisch auf Königssärgen belegt.91 Daneben sind auch Sprüche bezeugt, die schon aus den Pyramidentexten bekannt sind. Für diejenigen, die nur Holz verwenden, kommt etwa um 750 v.Chr., d.h. mit der 25. Dynastie, der Typ des Pfostensarges mit gewölbtem Deckel auf. Darauf wird oft eine Falkenfigur befestigt, auch Darstellungen von Isis und Nephtys als Klageweiber sind typisch. In den Darstellungen scheinen einerseits dämonische Gestalten aus dem Bereich der Wache über Osiris zu dominieren, andererseits Szenen der Son86
Vgl. kritisch BUCHBERGER, Transformation, 40–46. GESTERMANN, Untersuchungen, 411. 88 GESTERMANN, Untersuchungen, 120–123. 89 JANSEN-WINKELN, Datierung. GRAEFE, Spätdatierung, hat sich gegen eines seiner Argumente gewandt, ohne die Sache insgesamt zu entscheiden. 90 M.-L. BUHL, Sarcophagi; GRALLERT, Sarkophage. 91 HAYES, Royal Sarcophagi, 94–96. 87
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nenbarke, die ihre Inspiration letztlich in den Unterwelts- und Himmelsbüchern haben dürften; auch das Buch vom Tage bzw. Auszüge daraus erscheinen gelegentlich.92 Statt der Kartonnagen gibt es wieder hölzerne Innensärge. Als Grabobjekt sehr häufig ist die Ptah-Sokar-Osiris-Figur.93 Sie dienen im Gegensatz zu den älteren Osirisfiguren nicht mehr zur Aufbewahrung eines Papyrus, es könnten allerdings Kornosirisfiguren darin untergebracht gewesen sein.94 Uschebtis werden wieder in großen Mengen angefertigt. Der Körper wird von einem großen Perlennetz umhüllt. Die Typenfront der Amulette der Dritten Zwischenzeit, bei der es sich um die Beigabe dessen handelt, was man zu Lebzeiten getragen hat, kommt in Ägypten selbst außer Gebrauch, auch wenn Ausläufer ihrer Tradition in ägyptisierenden Objekten der Mittelmeerwelt noch etwas länger laufen. Statt dessen gibt es „osirianische“ Amulette in typischem Spätzeitbestand,95 der anders als in älteren Zeiten auch so viel Normierung erkennen lässt, dass es moderne Standardpläne der Verteilung auf der Mumie gibt.96 Dies kann damit verglichen werden, dass auf dem ptolemäerzeitlichen Totenbuch pBM 10098 ein prinzipiell gleichartiger Normplan für die Amulettpositionierung überliefert ist.97 Es ist kaum ein Zufall, dass dieses „Totenbuch“ nicht für einen konkreten Besitzer geschrieben ist, sondern für mn, also „NN“.98 Eine Angabe dieser Art ist für die Bestattungsspezialisten relevant, nicht jedoch für den Verstorbenen selbst. Viele der ab der Saitenzeit typischen Amulette wirken als Objekte zunächst bizarr, so Miniaturobjekte von Handwerksgerät wie rechten Winkeln. Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis mancher dieser Objekt-Amulette hat bereits Heinrich Schäfer gefunden.99 Es handelt sich um solche Objekte, die als reale, funktionsfähige Gegenstände etwa auf den Objektfriesen der Särge des Mittleren Reiches dargestellt sind. In der Spätzeit sind sie miniaturisiert worden und dadurch in den Bereich rein der Amulette abgeglitten. Man gibt sie nicht mehr bei, weil sie als solche im Jenseits direkt verwendet werden, sondern deshalb, weil Osiris derartige Objekte in seiner Ausstattung hat und die Anlehnung an Osiris als sicherster Garant der jenseitigen Existenz verstanden wird.
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Vgl. u.a. MORET, Sarcophages. RAVEN, Papyrus Sheats; BUDKA, Ptah-Sokar-Osiris-Statuetten; ZIEGLER, Ptah-Sokar-Osiris. 94 RAVEN, Papyrus Sheats, 286f. 95 HÜTTNER, Mumienamulette. 96 PETRIE, Amulets, 51f, Taf. L–LIII. 97 ANDREWS, Amulets, 8. 98 QUIRKE, Owners, 44; DERS., Last Book of the Dead, 91f. 99 SCHÄFER, Mumienamulette. 93
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Der gesamte Befund der Saitenzeit dürfte durch zwei wesentliche Tendenzen zu charakterisieren sein, die wohl nicht unabhängig voneinander laufen. Das eine ist die Übernahme einst königlicher Prärogative älterer Zeit durch wenigstens die Top-Elite der Beamtenschaft. Dies betrifft Dinge wie die Unterweltsbücher und verwandtes arkanes Wissen. Es stammt vorrangig aus dem Bereich des Sonnenkultes. Das andere große Phänomen ist eine intensive Angleichung des Verstorbenen an Osiris. Deutlich gilt dies für die Amulettausstattung. Hier kann man darauf verweisen, wie in Dendara in den Osiriskapellen ein spezifischer Satz von 104 Amuletten des Osiris definiert wird, die eklatante Ähnlichkeiten mit dem zeigen, was in den realen Gräbern der Spätzeit auftaucht (Dendara X, 399, 9–400, 15).100 Auch das Perlennetz ist hier einschlägig, greift man hier doch auf eine spezifische Form des Osiris zurück, die Kultform Hemag, die eben durch ein Perlennetz gekennzeichnet wird.101 Ebenso ist die Beigabe der Ptah-Sokar-Osiris-Figuren zu bewerten. Bei ihnen sollte man auch im Auge behalten, wie problematisch es in älteren Zeiten teilweise war, überhaupt Götter im Grab darstellen zu können, was erst im Neuen Reich möglich wird. Die Mitnahme richtiggehender Götterstatuen muss also als erheblicher Entwicklungsschritt betrachtet werden. Zusammengenommen dürfte deutlich sein, dass die Saitenzeit enorme Veränderungen zeigt, die teilweise im soziologischen Bereich begründet sind, daneben aber auch mit Veränderungen der Geisteswelt zu tun haben. Wer immer noch am Konzept einer Achsenzeit hängt,102 tut gut daran, deren Folgen in Ägypten im Bereich eben dieser massiven Innovationen zu suchen, auch wenn es gerade Innovationen sind, die nicht auf den ersten Blick als Neuerungen zu erkennen sein. Während es kaum dekorierte Gräber des 5. und 4. Jh. v.Chr. gibt, sind aus frühptolemäischer Zeit in Hermopolis-West einige wichtige Bauten bekannt geworden, insbesondere das des Petosiris.103 Diese Gräber sind architektonisch merklich an Tempel angeglichen. Im Grab des Petosiris gibt es im äußeren Raum etliche Darstellungen des diesseitigen Alltags, die im Text ihrer Arbeiterreden sogar gelegentlich ältere Beischriften aufgreifen.104 Merkwürdigerweise sind sie im Gegensatz etwa zu den saitischen Gräbern kaum je unter dem Stichwort „Archa100
CAUVILLE, Commentaire, 187–191. ZECHI, Osiris Hemag. Vgl. QUACK, Hohenzollern-Sigmaringen II, 80. 102 Vgl. hier etwa die Diskussion von ASSMANN, Ma’at, 24–28; DERS., Gedächtnis, 289–292, der in Ägypten keine eigentliche Achsenzeit zu diesem Zeitpunkt erkennen will, wohl aber eine Art Vorläufer in der Amarna- und Ramessidenzeit. 103 LEFEBVRE, Petosiris; GABRA, Hermopolis Ouest. 104 GUGLIELMI, Reden Rufe und Lieder, u.a. 196. 101
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ismus“ ausgelotet worden; vielleicht weil sie künstlerisch zu innovativ wirken. Die Motivation für die betreffenden Szenen dürfte allerdings strukturell ganz gleichartig sein wie oben schon entwickelt. Eines der wichtigsten Ämter des Petosiris war das des Lesonis. Eben dieser ist es aber, der im Tempel spezifisch für die wirtschaftlichen Belange zuständig ist, und daraus ergibt sich der Sinn einer Darstellung von Alltagsarbeiten als Abbild seines Berufprofils und somit Status. Dieses Grab demonstriert auch etwas, was ich als Musterfall für die phasenverzögerte Textnutzung in verschiedenen sozialen Schichten ansehe. Es gibt auf dem saitenzeitlichen Sarkophag der Gottesgemahlin Anchnesneferibre umfangreiche liturgische Kompositionen, die wohl wesentlich mit dem Kult um Osiris (besonders die Kornmumien) zu tun haben.105 Wie oben dargelegt, ist diese Orientierung an Osiris im Prinzip bereits voll im Geiste der Saitenzeit, aber außerhalb der Könige (und die Gottesgemahlin hat einen solchen Status) als Textbeigabe nur in sehr eingeschränktem Maße üblich. Ein substantieller Teil dieser Komposition erscheint auch im Grab des Petosiris, nun also im Umfeld des späten 4. Jhs., wo diese osirianischen Kompositionen in größerem Maße ins Grab beigegeben wurden. Noch später ist der Text dann auch in einem Papyrus mit osirianischen Liturgien bezeugt.106 Einen Rückgriff auf Tempeldekoration kann man auch in einem Grab aus Nag Hammadi erkennen, in dem die Decke mit zwei verschiedenen Typen von Himmelsikonographie versehen ist, deren nebeneinander sonst typisch für Tempel ist und sich insbesondere anhand der Tebytnis-Papyri auf die Tradition des in den Tempelbibliotheken überlieferten Weltwissens zurückführen lässt.107 Vor allem aus dem 4. und 3. Jh. v.Chr. stammen etliche sehr sorgfältig gearbeitete große Steinsarkophage meist aus Hartgestein, deren Dekoration teilweise auf das Totenbuch, teilweise auf Unterweltsbücher zurückgreift.108 Dabei könnten königliche Modelle richtungweisend gewesen sein, zumindest gehört der Sarkophag Nektanebos’ II. als einziger erhaltener Königssarkophag der Spätzeit gerade zu diesem Typ.109 Die Vorlagen dieser Sargdekorationen scheinen teilweise recht weit zurückzureichen, zumindest ist auffällig, dass im Amduat Passagen klar und korrekt überliefert sind, welche in den Gräbern des Neuen Reiches nur in den ältesten Versionen verstanden worden sind. Angesichts des Fehlens von Zwischenphasen der Überlieferung wird man hier entweder einen Rückgriff auf Papyrusvorla105
ASSMANN, Privat-Felsgrab, 288 Anm. 58. HERBIN, Glorification. 107 Detailargumentation in QUACK, Beiträge. 108 MANASSA, Underworld. 109 JENNI, Nektanebos II. 106
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gen (also mutmaßlich Tempeltexte) oder eine (ab der Saitenzeit bestehende?) königliche Tradition annehmen müssen. Bemerkenswert ist auch das relativ häufige Vorkommen der personifizierten Stundengöttinnen. Es dürfte darauf hindeuten, wie im Bestattungsvorgang die Stundenrituale osirianischer Herkunft realiter besonders wichtig waren. Jedenfalls ist mit dem Dekorationsprogramm dieser Särge der Zugriff auf das ursprünglich geheimgehaltene Wissen um den Sonnenlauf noch erheblich weitgehender freigegeben, als es in der Dritten Zwischenzeit der Fall war. Oft kann man in der Forschung nachlesen, es habe spezifisch in der griechisch-römischen Zeit eine grundlegende Entwicklung gegeben, welche von einer Änderung des ursprünglichen „Osiris NN“ zu einer neuen Form „Osiris des NN“ führt. Man sah darin eine besonders enge Beziehung, ein mystisches In-eins-werden von Mensch und Gottheit, das gerne in den Zusammenhang zeitgenössischer Mysterienreligionen eingespannt wurde110 Allerdings hat Mark Smith m.E. stringent nachgewiesen, dass es sich um eine rein orthographische Frage handelt und der Ausdruck zu allen Zeiten als „Osiris des NN“ aufzufassen ist.111 Damit entfallen dieser Punkt und alle Konstruktionen, die sich daran gerankt haben. Dennoch bleibt in der Spätzeit eine andere markante Neuentwicklung der Totenbezeichnung festzuhalten. Früher war die Konzeption einheitlich, d.h. geschlechtsneutral wurden alle Verstorbenen als „Osiris“ bezeichnet. Nunmehr kommt eine spezifische weibliche Form auf, nämlich „Hathor (der) NN“.112 Sie wird allerdings nicht immer konsequent durchgezogen, d.h. es findet sich teilweise auch für Frauen „Osiris (der) NN“ bzw. die Mischform „Osiris Hathor (der) NN“, doch sind derartige Wendungen wohl in der nicht immer konsequenten Umschreibung von maskulin formulierten Vorlagen auf konkrete Frauen begründet. Hier ist der chronologische Aspekt wichtig. Normalerweise wird angenommen, diese Bezeichnung sei nicht vor dem 2. Jh. v.Chr. belegt.113 Hauptproblem ist dabei die demotische Inschrift eines Sarges (Kairo CG 31154), den Spiegelberg ohne Photographie publiziert und in die 26.–30. Dynastie datiert hat.114 Angesichts der Tatsache, dass im Fayum, aus dem er stammt, insbesondere für Hawara eine starke Tendenz zu relativ archaisch aussehenden demotischen Händen 110 MORENZ, Leichentuch; DERS., Werden zu Osiris; beides wiederabgedruckt in DERS., Gesammelte Aufsätze, 231–262; SCHNEIDER, Shabtis, Part I, 346; darauf aufbauend RÖMER, Werden zu Osiris, 156–160; KÁKOSY, Seelige und Verdammte, 98f; DERS., Osiris of NN. 111 SMITH, Osiris NN. 112 MORENZ, Leichentuch, 65; DERS., Werden zu Osiris, 81–83; SMITH, Mortuary Texts, 129f. 113 GOYON, Rezension, 206 Anm. 11. 114 SPIEGELBERG, Inschriften, 62.
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feststellbar ist,115 könnte man der Paläographie nach durchaus einen Ansatz ins 4.–3. Jh. v.Chr. vertreten. Dies wiederum würde mit dem Datum für die Tadipakem116 sowie mit einzelnen anderen Belege übereinstimmen.117 Dass diese spezifisch feminine Form den Geschlechtsunterschied klarer herausarbeitet, ist offensichtlich,118 aber nur eine Beschreibung, keine Erklärung. In dieser Zeit muss ein verstärktes Bedürfnis vorhanden gewesen sein, eine Geschlechtsidentität auszurücken, das man vorher lange Zeit über nicht gehabt hatte, wo eine reine Umänderung der Suffixe gereicht hatte, selbst in Fällen, wo es sich an sich um geschlechtsspezifische Sexualhandlungen handelte.119 Zumindest als Frage sei in den Raum geworfen, ob dies mit sich übergreifend wandelnden Frauenbildern im Hellenismus zu tun hat. Ein Phänomen, das vor allem spätdynastisch und frühptolemäisch belegt ist, sich aber in Ausläufern noch bis in die Römerzeit zieht, ist die Nutzung neuer liturgischer Kompositionen, insbesondere aus dem Osiriskult. Dabei spielen die sogenannten Verklärungen120 eine wichtige Rolle. Es dürfte sinnvoll sein, die Strukturen des Phänomens in den Blick zu nehmen. Prinzipiell kann man drei verschiedene Haupttypen von Handschriften unterscheiden. Zum einen gibt es ursprüngliche Tempelhandschriften, die zunächst real im Kult benutzt wurden bzw. dafür zumindest vorgesehen waren. In ihnen ist ein individueller Name eines Nutznießers entweder gar nicht genannt, oder erst nachträglich eingesetzt, indem in Freiräumen der Handschrift eine Notiz mit Namen und Titel geschrieben wurde, oder gelegentlich auch in den Sprüchen ein ursprüngliches „Pharao“ als Nutznießer durch einen konkreten Namen ersetzt wurde. Zweiter Typ sind Handschriften, die von Anfang als Grabbeigabe gedacht waren und deshalb den Namen des Besitzers im Textfluss eingefügt haben, dabei aber rein aus dem Bestand „unkonventioneller“ Texte schöpfen. Als dritten Typ unterscheide ich solche Handschriften, welche an ein mehr oder weniger vollständiges Exemplar des Totenbuches noch einen Anhang mit Gut aus eben diesem „unkonventionellen“ Bestand anfügen, das ebenfalls originär für den Besitzer der Handschrift formuliert ist. Es gibt in Einzelfällen auch Kompositionen, welche sich offenbar einer Personalisierung entziehen, d.h. in denen der Name des Besitzers nicht genannt wird, obgleich sie Teil eines Ensembles sind, das diesen an anderer Stelle durchaus ursprünglich nennt. 115
Vgl. etwa die Texte bei HUGHES/JASNOW, Hawara Papyri; LÜDDECKENS, Hawara. LEFEBVRE, Couvercle, 238f. 117 QUIRKE, Last Book of the Dead, 85; RIGGS, Beautiful Burial, 45. 118 RIGGS, Beautiful Burial, 41–94. 119 Instruktiv ist hier die von WESTENDORF, Homosexualität, 1274 Anm. 16 aufgezeigte Wendung CT VI 258g, wo von einer Frau ganz schematisch gesagt wird „sie begattet seinen After“. 120 ASSMANN, Mortuary Liturgies; DERS., Osirisliturgien. 116
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Eine längere Sequenz von Sprüchen, die sowohl im pLeiden T 31 als auch im pLouvre N 3248 bezeugt ist, von Pleyte als Anhang zum Totenbuch verstanden und deshalb im Rahmen seiner Edition der „Zusatzkapitel“ zum Totenbuch als TB 167–174 aufgenommen wurde, könnte durchaus primär von der menschlichen Mumifizierung und Bestattung stammen, eine genauere Behandlung muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Sie sollte nicht als „Totenbuch“ verstanden werden. Ebenso muss man vom Etikett „Totenbuch“ da loskommen, wo in dieser Zeit des kanonisierten Totenbuches Einzelsprüche in anderen Zusammenhängen auftreten, die anderswo zu anderen Zeiten auch einmal als Totenbuchspruch verwendet sind. Am meisten möchte ich dies für das sogenannte Kapitel 175 des Totenbuches betonen. Dies ist in der Spätzeit bislang zweimal bezeugt, einmal im pBM 10081,121 ein anderes Mal im pSÙkowski.122 Beides sind Handschriften, die nicht an sich Totenbücher darstellen, obgleich der pSÙkowski auch noch TB 100 beinhaltet (das gerne für sich als Amulettext gebraucht wird). Tatsächlich gehört Kapitel 175 zu denjenigen Sprüchen des Totenbuches, die zwar in einigen Handschriften des Neuen Reiches auftauchen, jedoch nicht zum kanonisierten Bestand gehören, wie er ab der 26. Dynastie feststeht. Folglich ist dieser Text auch für die Spätzeit nicht als Totenbuch, sondern als osirianisches Ritual bzw. dazu zu rezitierender Spruch zu bewerten. Die Menge der einschlägigen Handschriften für diese Kompositionen aus dem Tempelkult insbesondere um Osiris wirkt zunächst erheblich. Mir soll es dennoch darum gehen, das Phänomen besser in den Griff zu bekommen und auf seine wahren Dimensionen zu reduzieren. Zunächst ist zu sagen, dass der größere Teil der Funerärpapyri aus der betreffenden Zeit keine derartigen Texte aufweist. Das einzige Material, dessen Aufarbeitung gut genug ist, um statistisch relevante Aussagen zu machen, nämlich die Papyrusfunde aus den deutschen Grabungen im Asasif,123 zeigt von wahrscheinlich 24 Handschriften124 nur bei vieren die Präsenz der relevanten Kompositionen aus dem Bereich der osirianischen Verklärungen. Ebenso ist zu beachten, dass einige wenige Personen (insbesondere Nesmin und Pawerem) gleich mehrere Papyri dieser Art mitgenommen haben (selbst wenn man nur die durch Namen personalisierten zählt; einige anonyme könnten aus denselben Komplexen stammen) und gerade diese beiden nach paläographischen Erwägungen auf Produkte desselben Skriptoriums (teil121
SCHOTT, Spruch 175; BURKARD, Osiris-Liturgien, 11 u. 63–83. SZCZUDāOWSKA, Chapter CLXXV. 123 BURKARD, Papyrusfunde. 124 So unter der Annahme, dass die osirianischen Texte Teil der Totenbuchhandschrift des Smendes I. und keine eigenen Rollen sind; vgl. zum Problem BURKARD, Papyrusfunde, 43 u. 55. 122
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weise wohl sogar desselben konkreten Schreibers) zugegriffen haben. Auch hier sollte man also keineswegs von einer Demokratisierung sprechen; die Zugriffsrechte sind lediglich auf eine kleine Gruppe beschränkt. Ansonsten dürfte es kaum zufällig sein, dass manche Verklärungen deutlich häufiger belegt sind als andere, sondern dürfte unterschiedlich leichte Zugriffsmöglichkeiten aufzeigen. Am deutlichsten wird dies an der Verklärungssequenz I, welche ohnehin die am häufigsten belegte ist und von der zudem kurze Einzelstücke auf Särgen und als Anhang zu Totenbüchern so häufig sind, dass sie in der modernen Forschung sogar zeitweise irrig als Kapitel 191 und 192 eben des Totenbuches aufgefasst wurden.125 Eben diese Verklärung ist nach Ausweis ihres Titels aber eine, die durch den obersten Vorlesepriester bei allen jahreszeitlich festgelegten Festen, am Erstmondsfest (3b̺.w), am Vollmondsfest und allen Festen des Westens begangen werden soll, somit die am wenigsten exklusive ist. Man kann sich vorstellen, dass sie bzw. gerade die beiden besonders weit verbreiteten Paragraphen so etwas wie die „gewöhnlichen Verklärungen“ darstellten, deren Rezitation textlich nicht selten angegeben wird. Weiterhin hat die Tatsache, dass die Texte in dieser Zeit in funerär beigegeben Papyri in guter Erhaltung nachweisbar sind, zu einem m.E. folgenschweren Fehlurteil geführt. Indem man nur geringfügig über ihr Belegdatum hinausprojiziert hat, wurde auf der Basis der Ächtungsrituale (d.h. pBremner-Rhind und Urk. VI) spezifisch für die Spätzeit eine Art von Hassritualen mit Stoßrichtung gegen die damaligen äußeren Feinde konstruiert.126 Nichts könne falscher sein. Etwa für die Rituale gegen Apopis im pBremner-Rhind finden sich genügend Parallelen, um ihre Existenz spätestens im Neuen Reich sicher nachzuweisen,127 zudem gehören Ächtungsrituale ohnehin zu den großen Konstanten der ägyptischen Kultur.128 Funerär adaptiert gibt es u.a. bereits eine Abschrift eines Rituals zum Holen des Kranzes der Rechtfertigung im hieratischen Papyrus der Nedjemet aus der Dritten Zwischenzeit, die deren Rechtfertigung mit generellen Wendungen, welche den Ächtungsritualen bemerkenswert ähneln, an die des Osiris und des Re anknüpft.129 Das Ritual zum Schutz der Neschmetbarke, das 125
Richtig gestellt von GOYON, Véritable attribution. ASSMANN, Sinngeschichte, 446–452. 127 Vgl. etwa die Heilstatue Ramses’ III. mit dem Rezitationstext des „Buches zum Niederwerfen des Apopis, des großen Feindes“ bei DRIOTON, Statue prophylactique, 78– 82 (parallel zu pBremner-Rhind 26, 12–20) sowie die Statue Karlsruhe Inv. H 1049, vgl. QUACK, Ägyptische Kunst, 48–50. 128 Vgl. zu ihnen QUACK, Execration mit weiteren Literaturangaben; DERS., Feindvernichtung. 129 BUDGE, Book of the Dead, 58–60, Taf. 7–9 (in der Umschrift des Hieratischen gelegentlich zu korrigieren). Das Ritual schließt sich inhaltlich durchaus angemessen an TB 125 an. 126
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ebenfalls die gleiche Art von Frontstellung gegen Seth einnimmt, ist sogar positiv bereits im Neuen Reich nachgewiesen.130 Wenn man sich die Daten für das Auftreten dieser Papyri in Gräbern ansieht, beginnt das Phänomen im späten 4. Jh. v.Chr., und zwar erst unter griechischer Herrschaft, dann aber gleich in ziemlichen Umfang. Hauptnutzer sind Priester, die von Berufs wegen guten Zugriff auf die betreffenden Kompositionen hatten. Viele von ihnen tragen den Titel eines Gottesvaters. Dieser Titel ist nach Ausweis des Buches vom Tempel spezifisch eben für den Umgang mit Osiris relevant.131 So dokumentiert er einmal mehr, dass es eine spezielle Gruppe war, die allein guten Zugriff auf die Texte hatte. Allerdings ist der berufliche Zugang nur die eine Seite, die Erlaubnis der Grabnutzung noch eine andere. Immerhin hat man in der Saitenzeit noch keine Mitnahme osirianischer Rituale auf Papyrus, obgleich die funeräre Kultur als solche dezidiert osirianisch wirkt. Ein Faktor, den man in Rechnung stellen muss, ist eben die Machtfrage. In der Saitenzeit gab es einheimische Könige, die mutmaßlich restriktiv hinsichtlich der Nutzung als Grabbeigabe waren. Jedenfalls wirkt es auffällig, wie sehr gerade seit der griechischen Herrschaft in Ägypten auf einen Schlag die Verwendung einsetzt. Vielleicht war den fremden Herren die Kontrolle über diese Textgruppe weniger wichtig, oder sie gaben der priesterlichen einheimischen Elite Privilegien, da sie zur Herrschaftssicherung auf deren Zusammenarbeit angewiesen waren. So spektakulär diese osirianischen Verklärungen und sonstigen Rituale auch sind, so sollte man doch ihre Kurzlebigkeit als funeräres Phänomen im Auge behalten. Sie kommen im späten vierten Jahrhundert auf und haben direkt dann und allenfalls noch im 3. Jh. v.Chr. ihren Höhepunkt, alles andere sind nur noch Ausläufer. Ich würde vermuten, dass ihr baldiges Verschwinden ähnliche Gründe hat wie das Auslaufen des traditionellen Totenbuches (s.u.), nämlich vor allem mangelnde Verständlichkeit. Diese Kompositionen sind oft schwierig oder sogar extrem schwer, für heutige Wissenschaftler eine harte Nuss132 und wenigstens teilweise schon von ägyptischen Schreibern mit Hilfsbemerkungen zur Lesung und Übersetzung versehen worden.133 Auch die Pyramidentextversionen der Verklärungen wären für uns ohne Kenntnis der Vorlagen des Alten Reiches oftmals nur bedingt verständlich. In dem Maße, wie ihre Attraktivität als neu verfügbare Kompositionen, die den Anschluss an Osiris ermöglichten, sank, da sie am Reiz der Neuheit verloren, dürften die Probleme mangelnder in-
130
GOYON, Barque. QUACK, Normes. 132 Vgl. etwa BURKARD, Osiris-Liturgien, 179; QUACK, Fragment. 133 SCHOTT, Deutung, 152f. 131
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haltlicher Transparenz sich negativ auf ihre private Nutzung ausgewirkt haben. Ein weiterer wichtiger Faktor der Entwicklung, den man vielleicht passend an dieser Stelle einfügen kann, ist der Ausbau der funerären Ausstattung heiliger Tiere. Manche davon, etwa der Apisstier, sind schon seit der Frühzeit Ägyptens sicher bezeugt. Jedoch sind Gräber für diese Tiere kaum nachgewiesen, ein Apisgrab aus der Zeit Amenhoteps III. bleibt relativ isoliert. In der Spätzeit wächst der Aufwand erheblich. Die großen Galerien der Apisstiere in Sakkara sind gut bekannt; auch die Paviansgalerien von Tuna el-Gebel werden ab der Ptolemäerzeit reich mit Reliefs ausgeschmückt. Gleichzeitig damit ergibt sich auch die Konstellation, dass für die Bestattung von Menschen diejenige der heiligen Tiere eine Vorbildfunktion erhält, die textlich explizit ausgesprochen wird.134 Die Grabbauten der heiligen Tiere selbst sind deutlich an Tempeldekoration orientiert, und zwar vornehmlich osirianischer Herkunft, daneben sind auch Opferszenen vor den jeweiligen Lokalgöttern wichtig. Das kanonisierte Totenbuch bleibt in der Ptolemäerzeit zunächst intakt, erweist sich jedoch in der Folge keineswegs ein Selbstläufer. Vielleicht ist es gerade seine Normierung und sein Abgleiten in etwas, das nur noch in seiner Existenz, nicht in seinem Detailinhalt relevant ist, was ihm letztlich seine Relevanz genommen hat. In dem Moment, wo bei den Nutzern verstärkt die Frage nach dem Sinn aufkommt, riskiert es, wie ein alter Zopf abgeschnitten und durch eine neue Mode ersetzt zu werden. Etwa so ist es auch tatsächlich gekommen. Es gibt ein deutliches Abklingen im Interesse am Totenbuch, der sich bei allem Vorbehalt hinsichtlich der genauen Datierung etwa ab dem 2. Jh. v.Chr. oder allenfalls 1. Jh. v.Chr.135 nachweisen lässt; verlässlich aus der Römerzeit stammt kein einziges Totenbuch im engeren Sinne.136 Bereits in der Ptolemäerzeit lässt sich dabei ein deutliches Abklingen des Interesses konstatieren, indem oft nicht mehr der kanonisierte Gesamtbestand abgeschrieben wird, sondern nur noch eine Auswahl an Sprüchen. Gerade die spätesten Handschriften zeigen eine deutliche Tendenz zur Reduktion, die m.E. bereits den Weg zum Phänomen der Bücher vom Atmen bahnt. Die einzige als „Totenbuch“ etikettierte Handschrift, die sicher aus der Römerzeit stammt, ist eine demotische Übersetzung, die durch ein Kolophon exakt auf 63 n. Chr. datiert ist.137 Sie ist aber nicht eigentlich ein Totenbuch, da zum einen die Anfangsteile der Handschrift einen auch sonst 134
KÁKOSY, Totenkult, 114; QUACK, Tempeldromos, 120. LEJEUNE, pLouvre N. 3125. 136 Vgl. QUAEGEBEUR, Books of Thot; QUIRKE, Last Book of the Dead; COENEN, Demise. 137 STADLER, Totenpapyrus. 135
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bekannten Text im Umfeld des Buches vom Durchwandeln der Ewigkeit bieten, zum anderen die übersetzte Partie ausschließlich Kapitel 125 des Totenbuches betrifft, eben dieses aber in mehr oder weniger abgekürzter und überarbeiteter Form auch zu denen gehört, die im Rahmen der Bücher vom Atmen wieder aufgegriffen werden.138 Selbstverständlich wird durch das Verschwinden des Totenbuches nicht einfach eine Lücke hinterlassen. In spätptolemäischer und römischer Zeit kommen eine Reihe ganz neuer Kompositionen auf, von denen die Bücher vom Atmen139 und das Buch vom Durchwandeln der Ewigkeit140 die bekanntesten, aber keineswegs einzigen sind. Die genauere Diskussion dieses Materials muss aus Raumgründen hier unterbleiben. Hier sei nur noch ein Punkt aufgeworfen, nämlich ein erneuter Richtungswechsel der Beigaben wieder weg von der funerären Orientierung. Gegen Ende der Ptolemäer-, spätestens in der Römerzeit, kommen die vertrauten funerären Objekte weitgehend außer Gebrauch, d.h. Uschebtis, Ptah-Sokar-Osiris-Figuren oder Kanopenkästen verschwinden.141 Dies ist keineswegs einfach als Untergang der ägyptischen Kultur an sich zu bewerten,142 sondern lediglich als nochmals veränderte Haltung gegenüber dem Tod. Gegenstände der Alltagswelt der Lebenden kehren wieder in die Gräber zurück, und zwar in erheblichem Umfang.143 Zusammenfassend kann man mehrere Stufen der intensivierten Anbindung an den Osiriskult feststellen. Eine erste in der Dritten Zwischenzeit betrifft vor allem Bildmotivik in Papyri und auf Särgen, eine zweite in der Saitenzeit geht auf Architektur und Grabausstattung mit Amuletten, teilweise auch bereits auf Textdekoration an Grabwänden. Eine dritte im 4. und 3. Jh. v.Chr. führt zur Mitnahme von liturgischen Kompositionen auf Papyri. Alle Stufen sind nicht ohne Gegenbewegungen und Abbau. Sie sollten in jedem Fall auch vor dem Hintergrund der kultischen Entwicklung bei Osiris insgesamt gesehen werden. Dass es wesentliche Riten für ihn seit jeher gegeben hat, kann man als evident voraussetzen – zudem geben einige der liturgischen Papyrushandschriften Redaktionsstufen im Mittleren und Neuen Reich an – und bereits im Mittleren Reich erleben wir in Form der Kenotaphe und Stelen in Abydos eine Phase des besonderen Wunsches nach Nähe zu ihm. 138 Unter diesen Gesichtspunkten ist das Urteil von SPIEGELBERG, in: LEXA, Demotisches Totenbuch, II, das Totenbuch bleibe bis zuletzt derselbe Text, nur mit etwas anderen Worten, m.E. nicht angemessen. 139 GOYON, Rituels funéraires, 183–317; COENEN, Books of Breathing. 140 HERBIN, Parcourir l’éternité. 141 GRAJETZKI, Burial Customs, 123. 142 In diesem Sinne wurde es von STERNBERG, Horusstelen, 161 bewertet. 143 DUNAND/LICHTENBERG, Pratiques, 3293f.
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Aber es ist doch auffällig, dass die archäologisch vergleichsweise gut fassbaren Bestattungen von Osirisfigurinen aus Tempelritualen erst im späten Neuen Reich und der Dritten Zwischenzeit recht einsetzen, um sich dann in der Spät- und Ptolemäerzeit nochmals zu steigern.144 Die zunehmende Beziehung der Funerärkultur auf Osiris geht also Hand in Hand mit einer Ausbreitung der „funerären“ Seite des Osiriskultes. Abschließend sei gesagt, dass ich bei meinen Ausführungen weit mehr im Bereich der Elite hängen geblieben bin, als ich es mir eigentlich gewünscht habe. Hier sei deshalb nur noch einmal bemerkt, dass es zu allen Zeiten in der Funerärkultur immer das Normale, das Mögliche und das Exzeptionelle gibt. So sehr das Exzeptionelle den Forscher fasziniert, so deutlich sollte auch sein, dass man die geistige Befindlichkeit einer Zeit eher am Normalen fassen kann.
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Königsgrab und Herrscherlegitimation in Alt-Syrien im 3. Jahrtausend v.Chr. JOACHIM BRETSCHNEIDER
Der Tod manifestiert sich im Ritual Glaube in Religion Und der Glaube an Macht in Architektur
Den Ausgangspunkt der Untersuchungen zur Topographie von Herrschergräbern in Syrien im 3. Jt. v.Chr. bilden die Grabkomplexe von Tell Beydar, Ebla, Mari und Tell Bi’a. Die unterirdischen Grabanlagen mit ihren reichen Befunden verändern grundlegend unsere Kenntnisse zu den Herrschergräbern des 3. Jt. v.Chr. in Nordmesopotamien. Neben einer vergleichenden Analyse der verschiedenen Grabanlagen steht der Grabbau in seinem topographischen Kontext im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen.
Baulicher Kontext der Grabanlage von Tell Beydar Auf der Hügelkuppe, im Zentrum des antiken Stadtgebietes, liegen auf verschiedenen Geländestufen angelegt, die Monumentalbauten der Kranzhügelstadt von Tell Beydar. Die Gründung der Stadt lässt sich bis in die ersten Jahrhunderte des 3. Jt. v.Chr. zurückverfolgen, doch sind bislang die Schichten der ausgehenden frühdynastischen und der akkadischen Zeit (ca. 2500– 2200 v.Chr.) im Bereich der Hügelkuppe am gründlichsten untersucht.1 Den architektonischen Mittelpunkt des Akropolis-Ensembles bilden zwei große Baueinheiten, die als Palast und Tempel angesprochen wurden (Abb. 1). Als alles überragende Baueinheit dominiert der Palastbaublock der Bauschicht 3b den Nordteil der Hügelkuppe.2 Die Südhälfte der Kuppe wird auf einer Fläche von ca. 25m x 30m durch einen als Haupttempel ange-
1 BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, 65–140; BRETSCHNEIDER/JANS/SULEIMAN, Die akkadzeitlichen Tempel, 149–168; BRETSCHNEIDER/CUNNINGHAM, Elite Grave, 99–158; LEBEAU, Le Bloc Officiel, 21ff. 2 BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, 103ff, Abb. 3–8.
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sprochenen Baukörper beherrscht.3 Der Haupttempel (Tempel A) der Bauphase 3 ist Nachfolger eines noch weitgehend unbekannten Baukörpers der Phase 2. Nach Abriss und Planierung wurde in Bauphase 3a im Bereich des Haupttempels ein neues Raumkonzept verwirklicht, das in Phase 3b weitgehend beibehalten wurde (Abb. 2). Die Nutzung des spätfrühdynastischen Tempels und Palastes verlaufen gleichzeitig. Tempel A unterscheidet sich durch seine Größe und Ost-West-Orientierung deutlich von den drei anderen Tempeln B–D im südlichen Bereich des Akropolis-Ensembles, denen eine Nord-Süd und West-Ost Ausrichtung zugrunde liegt.4 Die Ansprache des Tempels A als Heiligtum basiert auf der durch Pfeiler-Nischen-Architektur verzierten Ostwand, in die eine Kultnische mit vorgelagertem Lehmziegelpodest eingearbeitet ist (Abb. 3). Der langrechteckige Hauptraum des Gebäudes wird als Cella angesprochen, an den sich kleinere Nebenräume im Westen anschließen. Dem südlichen Bereich der Ostwand ist ein kleiner Raum vorgelagert, der wiederum durch seine fein gearbeitete Pfeiler-Nischen-Architektur auffällig ist und wahrscheinlich als Sakristei fungierte. Die Nebenräume in der Westhälfte des Heiligtums zeigen wasserwirtschaftlich genutzte Installationen, deren exakte Funktion im rituellen Geschehen nur vermutet werden kann.5 In allen bislang freigelegten Tempeln (A–D) und innerhalb des Palastes nahe dem Thronsaal finden sich sorgfältig mit Gipsestrich verputzte Nassräume mit blockförmigen Installationen.6 Senkrechte, aus gebrannten Tonrohren gearbeitete Leitungen führen bis zu 20 Meter in die Tiefe. Vergleichbare Installationen werden gewöhnlich als sanitäre Einrichtung (Toiletten) angesprochen. Die Vielzahl der „Nassräume“ und ihre exponierte Lage nahe den Tempel-Cellae und dem Thronsaal des Palastes lassen sicherlich auch andere Deutungen, z.B. rituelle Handlungen in Verband mit Reinigungen oder Libationen, zu.7 Aufgrund des Fehlens signifikanter Kleinfunde innerhalb des Tempels A
3
BRETSCHNEIDER/JANS/SULEIMAN, Die akkadzeitlichen Tempel, 157. SULEIMAN, Temples B and C, 85ff, Plan 1 und 2; DEBRUYNE/JANS, Temple D, 75ff, Plan 2 und 3. 5 BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, 95f, Abb. 47–49. 6 VAN DER STEDE, Drains verticaux, 189ff. 7 BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, 95 mit Anm. 36. Van der Stede (Drains verticaux, 195 mit Anm. 44.5) greift die Deutung des Autors auf, lehnt jedoch eine riteulle Funktion im Verband mit dem akkadzeitlichen Grab unter Tempel A ab. Unberücksichtigt bleibt in ihrer Argumentation der ältere spätfrühdynastische Ursprung der Grabanlage von Tell Beydar, sowie die Nachnutzung des Tempels A und seiner Installationen in der frühen Akkad-Zeit. In Ugarit und Tell Tweini sind Brunnen und vertikale Schächte häufig in Verband mit Grabanlagen belegt. Die ugaritischen Installationen wurden zuletzt von MARGUERON, Pratiques Funéraires, 17ff, SALLES, Rituel Mortuaire, 177ff und NIEHR, Royal Funeral, 9f analysiert. 4
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fällt aber eine exakte Rekonstruktion der vermuteten Kulthandlungen schwer. Eine unterirdische brunnenartige Baustruktur wurde kürzlich im Außenbereich des akkadzeitlichen Palastes von Tell Mozan freigelegt. Die Ausgräberin M. Kelly-Buccellati deutet die mehrphasige monumentale Anlage als Ritualgrube. In späteren hurritischen Textquellen werden vergleichbare Kultanlagen als Ábi bezeichnet.8 Die große Zahl von über 1000 Tierknochen (Ferkel, Schafe, Esel und Hundewelpen) weist auf regelmäßige Tieropfer in der Anlage hin. In hurritischen-hethitischen Ritualtexten spielen Ábi-Opfergruben in der Kommunikation zwischen den Menschen und den Göttern der Unterwelt eine besondere Rolle,9 wobei der König und die Königin gelegentlich an solchen Ritualen teilnahmen.10 Palast und Tempel A waren in Beydar an den von Süden ansteigenden monumentalen Hauptzugangsweg direkt angebunden, der die repräsentative Hauptachse innerhalb des Akropolis-Ensembles darstellt. Der Zugang zum Palast führte an den Akropolis-Tempeln A bis D vorbei, wobei die Nischen verzierte Ostwand des Tempels A direkt mit ihrer Rückwand an den Zugangsweg anschloss. Die Position der Tempel seitlich des monumentalen Aufweges zum Palast lässt ein politisch-religiös motiviertes Bauprogramm erkennen, dem hierarchische Strukturen zu Grunde liegen: die „topographisch“ herausgehobene Macht des Herrschers (Palast) wird durch die Stadt (?)-Götter (Tempel B–D) und durch die Ahnen (Tempel A) legitimiert. Ähnlich motivierte urbane Konzepte sind jüngst für die benachbarte Kranzhügel-Stadt von Tell Chuera vorgestellt worden.11 Nach dem Zusammenbruch der spätfrühdynastischen Palastwirtschaft gegen ca. 2400 v.Chr. verliert Tell Beydar, das antike Nabada, seinen urbanen Charakter und seine überregionale Bedeutung. Nur der ehemalige Haupttempel A wird als lokale Verehrungsstätte in Verband mit einem ElitenGrab weiter genutzt.12 Die religiöse Kulttopographie des Ortes ist bis zum Ende der Akkad-Zeit in Form eines dreiphasigen Tempels nachzuweisen.13
8 KELLY-BUCCELLATI, Unterwelt, 131ff; BUCCELLATI/KELLY-BUCCELLATI, Geschichte des Ábi, 13ff. 9 NIEHR, Royal Funeral, 10 zieht den Vergleich zu einer Opfergrube in der zone funéraire im Palast von Ugarit (s.u.). 10 KELLY-BUCCELLATI, Unterwelt, 142. 11 MEYER, Town Planning, 139ff. Konzeptionelle Übereinstimmungen sind auch für Hassek Hoyük und Arslantepe belegt, siehe BRETSCHNEIDER, Verhältnis, 14ff. 12 Eine akkadzeitliche Nachnutzung einzelner Räume ist nun auch für die östliche Oberstadt von Tell Beydar gesichert, siehe PRUß, Bildhauermodell, 315. 13 BRETSCHNEIDER/JANS/SULEIMAN, Die akkadzeitlichen Tempel, 149ff.
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Das Grab unter Haupttempel A Während der Grabungskampagne im Jahre 2000 wurde eine Störung im Fußboden des Tempels A untersucht.14 Die in der Längsachse der Cella liegende rechteckige Grube nimmt in ihrer Ausrichtung deutlich auf die Kultnische in der nördlichen Hälfte der Nischen verzierten Ostwand Bezug. Die 7,7m x 3,45m große Störung beginnt unmittelbar über dem jüngsten spätfrühdynastischen Fußbodenniveau und ist daher der Nachnutzungsphase des Tempels in der frühen Akkad-Zeit um 2340 v.Chr. zuzuschreiben (Abb. 4). Bei Anlage der Grube (58111) wurde eine podestförmige, mit Gipsestrich verputzte Lehmziegelplattform in der NO-Ecke des Heiligtums geschnitten und teilweise zerstört.15 Auch die spätfrühdynastischen Fußböden sind aufgrund der frühakkadzeitlichen Nachnutzung des Heiligtums teilweise verfangen und ausgebessert. Der in Bauphase 3 angelegte Hauptkultraum (R 6682) und andere Räume wurden im frühakkadzeitlichen Bauzustand fast unverändert weitergenutzt, wobei auch die podestförmigen Installationen im Bereich der Ostwand weiter in Gebrauch blieben. Auch die blockförmige Abwasserinstallation (Libations-Anlage?) in Raum 6899 blieb in Funktion. Größere bauliche Veränderungen ließen sich nur in der Westhälfte des Heiligtums nachweisen.16 Die Geradlinigkeit und die Ost-West-Orientierung der Grubenstörung ließen auf eine mögliche Grabanlage innerhalb des Tempels schließen,17 obwohl Grablegungen in mesopotamischen Tempeln eher ungewöhnlich sind.18 Eine sepulkrale Deutung des „Haupttempels A“ von Tell Beydar schien zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. Im Ostteil der Grubenstörung wurde eine 2m x 2m messende Sondage (58111) ausgesetzt. Die beiden jüngsten spätfrühdynastischen Fußböden waren in diesem Teil des Kultraumes 6682 gestört. Bis in eine Tiefe von fast vier Metern war die Grube mit lockerer Erde gefüllt, nur wenig Scherbenmaterial kam dabei zum Vorschein. Am Fuß der Sondage zeichnete sich ein kleiner rechteckiger Raum ab, auf dessen
14
BRETSCHNEIDER/CUNNINGHAM, Elite Grave, 99ff. BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, 96, Abb. 52–53. 16 BRETSCHNEIDER/JANS/SULEIMAN, Die akkadzeitlichen Tempel, 150. 17 Babylonische Keilschriftquellen beschreiben in einem scheibenförmig zu verstehenden Weltbild das Grab als Eingang in die Unterwelt. Der Westen wird als Ort des Sonnenunterganges als dunkler Weg zur Unterwelt verstanden, dorthin soll der Totengeist gehen und nicht zurückkehren. Dem gegenüber wird der Osten als Ort des Sonnenaufganges positiv gesehen. 18 Zu den Gräbern unter dem frühdynastischen Ischtar-Tempel von Mari siehe BRETSCHNEIDER /CUNNINGHAM, Elite Grave, 109 mit Anm. 20. 15
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Fußboden Tierknochen und wenige akkadzeitliche Gefäße geborgen wurden. In der südlichen Profilwand war eine in Kraggewölbetechnik überspannte, zugemauerte Türöffnung sichtbar, die mit dem nördlichen Raum in Verbindung stand. Die Sondage innerhalb der Cella wurde mit der Hoffnung auf neue Befunde nach Süden erweitert. Nach etwa zwei Metern kamen ein großer, mit Dreiecksfenstern verzierter Gefäßständer und eine dazu gehörige große Schale zum Vorschein, die ursprünglich auf das Dach des unterirdischen Raumes gesetzt waren. Zweifellos handelte es sich hier nicht um die bekannte Keramik aus dem Palast von Tell Beydar. Eine rituelle Funktion des Gefäßständers und der Schale ist im Verband mit der Grablegung zu vermuten. Die durch Lehmziegel zugesetzte Türöffnung des darunter liegenden Raumes (58114) wurde geöffnet. Dahinter verbargen sich Dutzende übereinander gestapelte Gefäße, die den kleinen, nur 2m x 3m messenden Raum fast vollständig ausfüllten. Unter ihnen lagen schlecht erhaltene tierische (?) Knochen, die von den Vorratsgefäßen förmlich zerdrückt waren. Weitere Knochen waren sorglos an der Rückwand der Gruft zusammen geschoben. Aufgrund dieses Befundes wird eine Mehrphasigkeit des Grabes vermutet. Da die Grabkeramik zu Beginn der Akkad-Zeit datiert, müssen die Knochenreste an der Rückwand des Raumes von einer älteren Bestattung stammen, die wahrscheinlich gleichzeitig mit dem spätfrühdynastischen „Haupttempel A“ anzusetzen ist. Auch aus dem architektonischen Befund wurde deutlich, dass die Grabräume sekundär genutzt wurden und bereits in der spätfrühdynastischen Zeit angelegt waren.19 Bei der Ausweitung der Sondage nach Westen kam ein weiterer, mit Vorratsgefäßen gefüllter überwölbter Durchgang zum Vorschein. Im Durchgang lagen zudem zwei Räucherständer aus ungebranntem Ton und eine direkt am Eingang niedergelegte Bronzeschale. Die Konstruktion des überwölbten Durchganges wird von den Ausgräbern noch spätfrühdynastisch datiert, da die gleichzeitigen Fußböden über der Bogenkonstruktion unversehrt erhalten waren. Weiter nach Westen öffnet sich der etwa 3,6m x 1,8m messende Hauptraum (58550) der Grabanlage. Wie im ersten Vorraum (58111) war die Grube fast vier Meter hoch mit lockerer Erde gefüllt. Der vermutete ältere spätfrühdynastische Grabbau lässt sich mit einer Kraggewölbedecke rekonstruieren, die fast vollständig bei den akkadzeitlichen Ausschachtungsarbeiten zerstört wurde. Anschließend wurde die Grube für eine neue Grablegung vorbereitet.
19
BRETSCHNEIDER/CUNNINGHAM, Elite Grave, 109ff.
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In der Hauptkammer kam das Skelett eines etwa einen Meter achtzig großen Mannes unbeschädigt zum Vorschein (Abb. 5 und 6). In seinen Händen hielt er eine bronzene Streitaxt und einen Dolch. Bronzene Speerspitzen und ein großer Zweizack waren dicht neben seinem Kopf niedergelegt. Neben einer Vielzahl weiterer Waffen und bronzener Gefäße zeugen Schmuckgegenstände vom hohen sozialen Status des Verstorbenen. Spärliche Reste eines silbernen Diadems lagen noch auf der Stirn. Viele der Bronzegefäße haben ihre Entsprechungen in Ton, sind jedoch hier erstmalig in Nordmesopotamien in Metall belegt. Zu den auffälligsten Funden gehören ein fein gearbeiteter Henkelkrug und eine mit Rosetten verzierte Schale, die ihre Parallelen im Königsfriedhof von Ur haben.20 Toilettenartikel und andere Bronzegefäße müssen in Verbindung mit der Körperpflege des Toten gestanden haben. Einmalig und bislang in ihrer Bedeutung ungeklärt sind Steinsetzungen in Verbindung mit Waffen und Tierknochen. In einer sorgfältig aus Feldsteinen gefügten runden Steinformation war ein Bronzedolch hinein gestochen. Nur der Griff war anfänglich sichtbar, die Klinge der Waffe blieb in der Steinsetzung verborgen. Unter einem benachbarten zweiten Steinhaufen lagen große Tierknochen, die wahrscheinlich von Equiden stammen. 21 Eine schemenhafte, fast zwanzig Zentimeter hohe Statuette aus ungebranntem Ton muss wie die anderen Befunde in Verbindung mit dem Bestattungsritual gedeutet werden.22 Aus der Quantität, Qualität und der Fundgruppenverteilung der Beigaben wird deutlich, dass es sich um die Bestattung einer der kriegerischen Elite zuzurechnenden Person handelt.23 Die Ausgräber vermuten aufgrund des Beigabenspektrums, dass der Krieger auf einem Kriegszug starb und im früheren Gruftbereich unter dem Tempel A beigesetzt wurde.24 Politische wie auch religiöse Gründe waren für die Wahl des Begräbnisplatzes ausschlaggebend. Die direkte Nachnutzung der dynastischen Grüfte und des darüber liegenden Ahnenheiligtums in der frühen Akkadzeit durch die neuen Eliten dürfen als eindeutiges politisches Statement verstanden werden. Das Fortbestehen des Tempels A während der gesamten Akkad-Zeit bleibt eindeutig mit dem Ahnenkult verbunden, wobei der bestattete Heerführer im Fokus der Verehrung steht. Über einen
20
MÜLLER-KARPE, Metallgefäße, 197, Taf. 121. Die durch L. Milano (Università Ca`Foscari di Venezia) koordinierten Analysen der Skelettreste aus der Grabanlage liegen leider noch nicht vor. 22 BRETSCHNEIDER/CUNNINGHAM, Elite Grave, 104. 23 Ausführlich zur Funktion und Bedeutung von Waffen im Grabkontext: REHM, Waffengräber, 1ff. 24 Zu den verschiedenen Fundgruppen im rituellen Kontext: BRETSCHNEIDER/CUNNINGHAM, Elite Grave, 108f. Auffallende Parallelen zu den Grabbefunden aus Beydar bietet das jüngst publizierte „burial 14“ von Nippur (MCMAHON, Nippur V, 45ff). 21
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Heroenkult oder selbst die Vergöttlichung des Bestatteten darf sicherlich spekuliert werden.
Auswertung und Parallelen Das Eliten-Grab von Tell Beydar muss der frühakkadzeitlichen Nachnutzung des Palastheiligtumes auf der Akropolis zugeschrieben werden. Die eigentliche Gruftkonstruktion mit einer vermuteten früheren Belegung lässt sich bis in die spätfrühdynastische Zeit zurückverfolgen. Der ursprüngliche Grabbau und das darüber liegende Heiligtum wurden mit dem Palast gleichzeitig angelegt, so dass für den Palast-Tempelbereich ein politischreligiöses Gesamtkonzept zugrunde gelegt werden muss. Die Architektur von Palast, Tempel und angeschlossenen Baueinheiten auf der Akropolis unterliegen strengen, ideologisch und religiös motivierten Ordnungsprinzipien. Innerhalb dieses „Masterplans“ dominiert der auf der obersten Terrassenstufe gelegene Palastbaublock das Bauensemble im Zentrum der kreisrunden Stadtanlage. In direkter baulicher Nachbarschaft liegt der Tempel A der Anlage, der im Süden direkt an den Palast angebaut ist und als eigenständige Baueinheit innerhalb des Gesamtkonzeptes „Palast-Tempel“ zu verstehen ist.25 Ost-West-Orientierung, Kult-Ausstattung und Reste einer Gruftkonstruktion in Tempel A weisen auf einen dynastischen Ahnenkult hin.26
25
Die räumliche Abgrenzung zwischen Palast und Tempel A beruht auf der trennenden Doppelmauer zwischen den beiden Baublöcken. Gegenüber der repräsentativen Raumgruppe des Palastes (Thronsaal/6326, Festsaal/6518 und Baderaum/6331 liegen die Fußböden der Tempelräume auf einer ca. 2 Meter tiefer liegenden Terrassenstufe. Auch der Bauplan von Tempel A mit großem Zugangshof und angeschlossenen Raumeinheiten (BRETSCHNEIDER, Palast-Tempel, Beiheft ,Architectural Plan‘, Plan 8 und 9) sprechen für seine funktionale Eigenständigkeit. Der vom Autor gewählte Begriff des „PalastTempels“ für den gesamten Baukomplex auf der Akropolis soll den ambivalenten Charakter der Anlage zum Ausdruck bringen. Spätestens seit dem beginnenden 2. Jt. v.Chr. werden Ahnenkult-Heiligtümer fest in den Palastbauplan integriert (s.u.). 26 Innerhalb des Totenkultes im Alten Orient muss zwischen Bestattungsritual und Ahnenkult unterschieden werden. Nach PFÄLZNER (Ahnen, 390; DERS., Ahnenkult, 57) reflektiert das Bestattungsritual die rituellen Handlungen, die den Übergang des Verstorbenen vom Diesseits in das Jenseits begleiten. Die Bestattungsabfolge wird häufig mehrstufig rekonstruiert. Das Bestattungsritual kann eine Vorstufe des Ahnenrituals sein. Im Ahnenkult wird eine möglichst dauerhafte rituelle Verehrung der verstorbenen Vorfahren angestrebt. Die kultischen Handlungen müssen daher am Grab oder in einem Grabkultkomplex in Regelmäßigkeit wiederholt werden. Die Versorgung der Verstorbenen nach der Bestattung mit Wasser und Nahrungsmitteln ist ein bedeutender Teil der Totenpflege in Mesopotamien und Syrien. REHM, Waffengräber, 134f weist darauf hin, dass das Ri-
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Ahnenbildnisse der verstorbenen Herrscher von Nabada (modern Tell Beydar), könnten auf dem Podest vor der Nischen verzierten Ostwand aufgestellt gewesen sein (Abb. 3). Ein ähnlicher Befund wird für den Kleinen Antentempel in Tell Chuera27, den Ninni-Zaza Tempel in Mari28 und den Ischtar-Tempel in Assur rekonstruiert. Die hier erhalten geblieben „Beterstatuetten“ werden als Ahnenfiguren interpretiert, denen Trankopfer dargebracht wurden.29 Auch die monumentalen Statuen vom Djebelet el-Beda sind jüngst als Ahnenbildnisse einer politischen Elite angesprochen worden.30 Für das spätere 2. Jt. v.Chr. sind es die Fundorte Qatna und Ugarit, für die jüngst H. Niehr die Belege für Ahnenkultfeierlichkeiten in Verband mit Statuen versammelt hat.31 Auffällig ist zudem die bauliche Nähe der Cella zum Thronsaal des nördlich anschließenden Palastes von Tell Beydar. Die Verknüpfung des Ahnenkultes mit der architektonischen Zurschaustellung repräsentativer Macht legitimierte die Führungsrolle der Herrscherdynastie und somit ihren politischen, religiösen und sozialen Anspruch. Das Grab der Vorväter verbunden mit der Pflicht des Erbsohnes für die Versorgung ihrer Totengeister spielt in der bronzezeitlichen Palastkultur Syriens eine bedeutende Rolle und kann somit als Legitimations-Mittel der herrschenden Eliten verstanden werden. Gegenüber den auf Tempelwirtschaft beruhenden Gesellschaftssystemen Südmesopotamiens deuten sich für den Norden prinzipielle Unterschiede an, wobei hier palastwirtschaftliche Systeme, gebunden an dynastische Nachfolge, dominant sind. Die Anbindung und Integration von Heiligtümern und Tempeln des Ahnenkultes an die Palastbauten muss als Teil des politischen Programms gewertet werden, wobei ein göttlicher Status für die dynastischen Vorfahren vermutet werden darf. Das Grab im Heiligtum oder Tempel im Gesamtkonzept der Herrschaftsarchitektur bildet somit keinen Widerspruch zur „kultischen Reinheit“ des sakralen Raumes.
tual der Totenpflege – aus verschiedenen Keilschriftquellen als kispum (Ritual) bekannt – überwiegend für Wohnhäuser belegt ist. Neue archäologische und philologische Indizien für einen Ahnenkult in Wohnhäusern lieferten die Befunde aus dem spätbronzezeitlichen Tall Munbaqa und Tall Bazi (WERNER, Tall Munbaqa, 112; OTTO, Tall Bazi, 57f, 241f). Zu Ugarit siehe VAN DER TOORN, Family Religion, 153ff. 27 PFÄLZNER, Ahnen, 406. 28 MOORTGAT, Berührungen in Mari, 222ff. 29 MAYER-OPIFICIUS, Rundbilder, 257ff. 30 MEYER, Ahnenverehrung, 294ff. 31 S.u.
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Ebla Etwa gleichzeitig mit dem Befund von Tell Beydar datiert das Hypogäum G4 von Ebla. Die auf der Westhälfte der Akropolis gelegene Grabanlage wurde 1993 und 1995 unter einer großen eisenzeitlichen Abfallgrube und einer darunter liegenden Schicht von Kalksteinblöcken in einer Tiefe von 5,50m freigelegt.32 Der anfänglich erfasste westliche Raum L. 5762 mit einer Grundfläche von 5,2m x 4,0m war aus fein gemetzten Kalksteinblöcken errichtet, wobei von dem ursprünglich aufgehenden Mauerwerk nur wenig erhalten blieb. Der Fußboden der Grabkammer lag 5,85m unter dem älteren Fußboden des Palastes und war wie dieser aus Gipsestrich gearbeitet. Auffällig waren 4 kleinere Löcher in den 4 Ecken des Raumes, für die der Ausgräber keine funktionale Erklärung bietet.33 Der später freigelegte östliche Raum L. 6402 des Hypogäums ist mit der Grundfläche von 3,5m x 4,0m etwas kleiner. Die Ost-West Ausrichtung der Anlage erinnert deutlich an die Orientierung des Grabkomplexes von Tell Beydar. Als bedeutungsvoll wird die Lage des Hypogäums im Westen des Palasthügels vom Ausgräber P. Matthiae gedeutet: 34 „Clearly, the region of sunset was felt, in a cosmical sense, at Ebla like in Egypt, as the region of death, and, as a consequence, in the topographic sense, the western palatial area of the older period, and the western urban area in the later period, were considered to be the regions fort the royal burials“ Für beide Räume des Hypogäums von Ebla wird eine Gewölbe-Konstruktion rekonstruiert. Die Datierung der Anlage in die ausgehende Frühbronze IVA-Zeit basiert unter anderem auf den bei der seitlichen Verfüllung der Baugrube verwendeten Lehmziegeln in den Maßen von 0,4m x 0,6m, die dem typischen Ziegelmaß des Palastes G von Ebla entsprechen. Unsicher bleibt aufgrund des stark gestörten Architekturbefundes und der fundleeren Fußböden die Belegung der Grabanlage. Selbst die endgültige Fertigstellung des Komplexes wird vom Ausgräber diskutiert. Auch nach dem Untergang und dem Wiederaufblühen im frühen 2. Jt. ist das architektonische Zusammenspiel von Palast und Grab in Ebla dokumentiert.35 Die mittelbronzezeitlichen Felsgräber unter dem „Palazzo Occidentale“ werden der eblaitischen Herrscherdynastie zugeschrieben.
32
MATTHIAE, Syrian Kings of Ebla, 268ff. Zu Gruben und Schächten in Verband mit Gräbern, s.o. Anm. 7. 34 MATTHIAE, Syrian Kings of Ebla, 271. 35 MATTHIAE, Ancestors, 563ff. 33
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Der südöstlich an den Palast anschließende Tempel B2 wird von Matthiae im Zusammenhang mit den dynastischen Gräbern gesehen und Dagan bzw. Reschef zugesprochen:36 „The topographic analysis itself demonstrates without doubt the connection of the burial area with Palace Q, a probably administrative but certainly not residential palace, with Temple B 1, typical of the Old Syrian sacred architecture for its classical structure of Langraum, and with Sanctuary B2, most probably devoted to a peculiar cultic function connected with the cult of the deceased.“37 Ahnenkult-Rituale und Zeremonien für die verstorbenen eblaitischen Könige und ihr Gefolge werden besonders mit dem Sanctuary B2 verbunden.38 Tell Beydar und Ebla bieten für das 25.–24. Jh. v.Chr. interessante Neufunde von monumentalen Grabanlagen innerhalb oder in der nächsten Umgebung von Palastanlagen. In beiden Fundplätzen wird erstmalig für Nordmesopotamien und Syrien eine Bautradition sichtbar, die eine Integration (Ebla) oder direkte Anbindung (Beydar) eines Grabkomplexes an den Palast zur Grundlage hat. Die über den Grüften liegenden Raumeinheiten, in Tell Beydar als mehrräumige Tempelanlage angesprochen, dürfen mit Ritualen und Feierlichkeiten im Verband mit dem (königlichen) Ahnenkult gedeutet werden. In den syrischen Palästen des 2. Jt. v.Chr. wird die Gruft unter dem Palast integraler Bestandteil des Bauprogramms.
Mari Dem Typus des Palastgrabes in Syrien lassen sich gleichwohl die Grüfte des ausgehenden 3. bis beginnenden 2. Jt. v.Chr. unter dem „Petit Palais Oriental“ in Mari zuordnen,39 die jüngst vom J.-C. Margueron neu gedeutet wurden:40 „Le Petit Palais Oriental est un palais-hypogée, mais n’est-il que cela? Il possède, comme nous venons de le voir, toutes les caractéristiques d’un palais normal et aucun trait significatif d’un sanctuaire. Alors peut-on comprendre les raisons qui ont conduit à le construire tel que nous l’avons retrouvé? Si le palais n’avait eu d’autre but que le culte funéraire, on n’au-
36
MATTHIAE, Ancestors, 566f. MATTHIAE, Ancestors, 563. 38 Zur Verbindung von Tempel und Grab: MATTHIAE, Ancestors, 567 mit Verweis auf MBIIB–C-zeitlichen Doppeltempel von Hazor (MB IIB–C). 39 MARGUERON, tombe royale, 401ff. 40 MARGUERON, Mari, 361. 37
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rait jamais cherché à en faire un espace de vie; c’est pourtant ce qui a été réalisé et, on l’a vu, selon des principes nouveaux qui vont profondément influencer l’avenir des réalisations architecturales.“ Beide Gruftanlagen liegen unter den zwei größten Innenräumen des Palastes (Abb. 6–7), wobei der nördliche Saal als Thronsaal angesprochen wird. Fest (?)- und Thronsaal müssen in direktem funktionalen Zusammenhang mit den Gräbern gesehen werden, wobei Feierlichkeiten in Verband mit dem königlichen Ahnenkult zu rekonstruieren sind.
Palastgräber des 2. Jahrtausends v.Chr.: Tell Bi’a, Qatna und Ugarit Die direkte Anbindung von Hauptsaal und Hypogäum ist gleichermaßen für den mittelbronzezeitlichen Palast des Jasma̴-Addu in Tell Bi’a gesichert,41 der deutliche Parallelen zu seinem Vorläufer aus Mari aufzeigt. Die nie fertig gestellte Gruft lag wiederum unter dem größten Raum des Palastes, südlich des Audienzsaals (Abb. 8). Mittelsäle dieser Dimension werden als Versammlungs- und Festräume, hier sicherlich in Verband mit den Ahnenkultfeierlichkeiten, gedeutet. Kleine, an die Festsäle angeschlossene Räume werden im Palast des Zimri-Lims von Mari und Tell Bi’a als Kapellen angesprochen. Ein dynastischer Kult im Angesicht von Herrscherbildern ist hier zu vermuten.42 Auch die jüngst bekannt gewordenen Königsgrüfte des 2. Jt. von Qatna bieten für die Anbindung von Grab und Palast ein überzeugendes Vorbild.43 Ein 40 Meter langer Korridor verbindet hier das königliche Hypogäum direkt mit Halle A (20m x 40m), die von P. Pfälzner als Zeremonialsaal interpretiert wird.44 Westlich schließt direkt der fast gleich große Thonsaal an, dem die quadratische Audienzhalle vorgelagert war (Abb. 9). Die Monumentalität des Ahnenkult-Zeremonialraumes (Halle A) und seine zentrale Position innerhalb des palatialen Komplexes sind gleichwertig mit dem Thronsaal des Palastes. Die wahrscheinlich bis in der Mittelbronze-II Zeit zurückreichende Baugeschichte des Palastes und seiner Grüfte verdeutlicht auch eine über 500
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MIGLUS/STROMMENGER, Tall Bi’a, 59, 74, Beilage 1. MIGLUS, Palast, 238f. 43 AL-MAQDISSI ET AL., Hypogäum, 189ff; zusammenfassend mit ausführlicher Literatur: PFÄLZNER, Qatna, 161ff. 44 PFÄLZNER, Qatna, 165; PFÄLZNER, Ahnenkult, 58. 42
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Jahre fortdauernde Ritual-Tradition,45 in der Herrschaft und politische Macht durch Ahnenkult legitimiert wird.46 Der Typ des Palastgrabes ist in der 2. Hälfte des 2. Jt. v.Chr. auch für die Region der nördlichen Levante gesichert.47 Die von H. Niehr48 neu bearbeiteten Grüfte von Ugarit und Kamid el-Loz stehen bau- und religionsgeschichtlich deutlich in früh- und mittelbronzezeitlicher Tradition. In Ugarit liegen die der königlichen Familie zugeschriebenen Grüfte im Norden des spätbronzezeitlichen Palastbezirks. Das fünfräumige Bauensemble wird als zone funéraire gedeutet, wobei Hof II und der östlich liegende Raum 38 als die zentralen Zeremonialräume in Verband mit dem Toten- und Ahnenkult beschrieben werden. Aufgrund mesopotamischer Textzeugen, die die Aufbahrung des verstorbenen Königs im Hof oder einer Halle seines Palastes dokumentieren, leitet H. Niehr eine gleichartige Funktion für den Hof II von Ugarit ab. Hier sollen die Toten- und regelmäßig durchgeführten Ahnenkultfeierlichkeiten für eine größere Anzahl von Personen stattgefunden haben. Die abschließenden Bestattungszeremonien und kispum-Rituale werden im kleinen Raum 28 oberhalb der Gruft rekonstruiert, der als Totentempel und hst-Raum angesprochen wird.49 Im oberirdischen Teil des Gruftbereiches von Raum 28 werden auch die Statuen der vergöttlichten Könige von Ugarit vermutet, die im Rahmen regelmäßig stattfindender Ahnenfeierlichkeiten auf dem Podium im Zeremonialhof II aufgestellt wurden.50 Sehr ähnliche Riten in Verband mit dem Toten- und Ahnenkult werden sich im Hypogäum und der Halle A vom Palast von Qatna abgespielt haben.51
Zusammenfassung Ein eindrucksvolles Zeugnis für die Verbindung von Palast, Grab und Ahnenkult im frühbronzezeitlichen Syrien bietet das jüngst freigelegte Tempelgrab auf der Akropolis von Tell Beydar.
45 Die wenigen altbabylonischen Textzeugen zum Tod und Begräbnis des Königs wurden jüngst von CHARPIN, La mort, 95ff untersucht. 46 PFÄLZNER, Ahnenkult, 56ff. 47 Übersicht bietet: MIGLUS, Palast, 239f. 48 NIEHR, Royal Funeral, 1ff; NIEHR, König wird zum Gott, 47ff. 49 NIEHR, Royal Funeral, 9f; NIEHR, König wird zum Gott, 49. Der Begriff Totentempel sollte nicht auf Raum 28 beschränkt sein, sondern den gesamte Bestattungs-, Totenund Ahnenkultbereich (zone funéraire) von Ugarit einschließen. 50 NIEHR, Royal Funeral, 11f; NIEHR, König wird zum Gott, 51. 51 NIEHR, Royal Funeral, 4; PFÄLZNER, Qatna, 165; PFÄLZNER, Ahnenkult, 58.
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Der am Ende der ansteigenden Hauptstraße gelegene Palastbaublock dominiert das Bauensemble durch seine topographisch herausgehobene Lage auf der obersten Terrassenstufe im Zentrum der Stadtanlage. In direktem baulichen Anschluss zum repräsentativen Bereich des Palastes liegt der Tempel A der Anlage, dessen Funktion aufgrund des Grabes unter seinem Fußboden in Verbindung mit dem Ahnenkult zu sehen ist. Grabkomplex, Tempel und Palast sind hier in ein übergreifendes architektonisches und ideologisches Gesamtkonzept integriert, das die dauerhafte rituelle Verehrung der verstorbenen dynastischen Vorfahren und den daraus resultierenden Machtanspruch der herrschenden Eliten zur Grundlage hat. Der Ahnenkult in Verbindung mit dem Palast-Tempelgrab muss in Syrien und der Levante als bedeutendes Instrument der dynastischen Erbfolge verstanden werden, dessen Ursprünge bis in das 3. Jahrtausend zurückzuverfolgen sind. Zugleich manifestiert sich in ihm ein zentraler Baustein der zeitgenössischen lokalen Königs- und Herrscherideologie.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9:
Palast und Tempel von Tell Beydar, um 2400 v.Chr. Tempel A von Tell Beydar, um 2400 v.Chr. Ansicht der Ostwand und Schnitt durch den Grabschacht in Tempel A Frühakkadzeitliches Heiligtum, um 2340 v.Chr. Bestattung und Beigaben in der Hauptkammer, frühakkadisch Palast mit Grüften von Mari (nach: MARGUERON, Mari, Fig. 330) Mari, Gruft unter dem Thronsaal (nach: MARGUERON, Mari, Fig. 344) Palast mit Gruft von Tall Bi`a (nach: MIGLUS / STOMMENGER, Tall Bi`a, Taf. 5) Palast mit Gruft von Qatna (nach: PFÄLZNER, Qatna, Abb. 2)
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Abb. 1 Palast und Tempel von Tell Beydar, um 2400 v.Chr.
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Abb. 2 Tempel A von Tell Beydar, um 2400 v.Chr.
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Abb. 3 Ansicht der Ostwand und Schnitt durch den Grabschacht in Tempel A
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Abb. 4 Frühakkadzeitliches Heiligtum, um 2340 v.Chr.
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Abb. 5: Bestattung und Beigaben in der Hauptkammer, frühakkadisch
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Abb. 6: Palast mit Grüften von Mari
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Abb. 7: Mari, Gruft unter dem Thronsaal
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Abb. 8: Palast mit Gruft von Tall Bi`a
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Abb. 9: Palast mit Gruft von Qatna
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Trockene Knochen, himmlische Seligkeit Todes- und Jenseitsvorstellungen im Judentum der hellenistischfrührömischen Zeit1 JÜRGEN ZANGENBERG
1. Methodische Positionsbestimmung Die letzten Jahre erlebten eine wahre Renaissance des Themas „Tod und Jenseits“ in den Altertumswissenschaften allgemein, und auch die biblischen Disziplinen sowie die Wissenschaft vom antiken Judentum haben sich in erfreulicher Breite dieses Themas angenommen.2 Zahlreiche monographische Darstellungen und eine enorme Fülle von Aufsätzen zu einzelnen Autoren, Epochen und Themen haben so eine bisher nicht erreichte Dichte an Information und neue Möglichkeiten der Erkenntnis geschaffen. Sicher spielen dabei Texte und die daraus zu entnehmenden „Vorstellungen“ des antiken Israel, frühchristlicher Gruppen oder bestimmter Autoren immer noch eine zentrale Rolle, doch vermittelte der rasante Materialzuwachs besonders in der Archäologie Palästinas und benachbarter Kulturen entscheidende Impulse für weitergehende Fragestellungen nach „Praktiken“
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Ich danke den Organisatoren der Konferenz, Angelika Berlejung und Bernd Janowski, für die Einladung nach Leipzig und meinen Leidener Kollegen Henk Jan de Jonge, Arie van der Kooij und Johannes Tromp für zahlreiche Hinweise bei der Erstellung dieses Beitrags. Johannes Schnocks hat mir freundlicherweise Sonderdrucke zweier seiner Artikel zur Verfügung gestellt. 2 Neben dem Leipziger Symposion „Tod und Jenseits im Alten Israel und in seiner Umwelt“ sei nur auf das unmittelbar danach veranstaltete Kolloquium „ Das Jenseits und sein Verhältnis zum Diesseits“ der Universitäten Nijmegen und Leuven hingewiesen (vgl. EYNIKEL/GARCIA-MARTINEZ/NICKLAS/VERHEYDEN (Hrsg), The Otherworld in Its Relation to This World). An neuerer Literatur nenne ich exemplarisch BAUCKHAM, Fate; SETZER, Resurrection; FISCHER, Tod; ELLEDGE, Life. Mit speziell frühchristlichen Zugängen zum Tod bzw. deren Einflüsse auf die Kultur der Spätantike befassen sich VOLP, Tod bzw. SAMELLAS, Death (dazu die Rezension von P. PILHOFER in Gnomon 77 [2005], 45–49); LABAHN/LANG, Jenseitsvorstellungen, 87–102. Nach Abschluss dieses Manuskriptes erschien der grundlegende Band von KLONER/ZISSU, The Necropolis of Jerusalem in the Second Temple Period.
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und kulturellen Wechselwirkungen.3 In der alttestamentlichen Wissenschaft war die Erforschung altisraelitischer Vorstellungen seit je her stark mit dem Studium ägyptischer und mesopotamischer Kultur (auch materieller Art!) verbunden, in der neutestamentlichen Wissenschaft wird das traditionellerweise hohe Interesse an Textaussagen in letzter Zeit auch durch vertiefte Reflexion relevanter materieller Hinterlassenschaften und einen intensiveren Dialog mit den Wissenschaften derjenigen Kulturen erweitert, in deren Mitte das frühe Christentum entstand (Judaistik, klassische Altertumswissenschaften).4 Als Schritt auf diesem Weg versteht sich auch der vorliegende Beitrag. Kaum ein anderes Thema eröffnet dabei so faszinierende Möglichkeiten, das Zusammenspiel von religiösen Vorstellungen, sozialen Gegebenheiten und wertbezogenen Praktiken zu untersuchen und so dem „kulturellen Kern“ einer Gesellschaft nahezukommen wie Todes- und Jenseitsvorstellungen.5 Doch ist gerade die Frage, wie prägend spezifische „Vorstellungen“ für die tatsächliche Praxis waren, so wie wir sie aus der materiellen Kultur erfassen können, bisher unter der Annahme, dass Texte die ideologischen Hintergründe und religiösen Motivationen menschlichen Handelns mehr oder minder zutreffend und vollständig reflektieren, meist so beantwortet worden, dass enge Verbindungen zwischen Jenseitsvorstellungen und Bestattungspraxis bestanden. Selbst in „schriftlichen“ Kulturen wie dem antiken Judentum, behält Archäologie ihre unersetzbare Bedeutung als gleichberechtigter Gesprächspartner. Gerade die Begräbniskultur legt beredtes Zeugnis davon ab, dass es auch in „Schriftkulturen“ durchaus „schriftlose“ Bereiche gibt und dass Texte nicht stets und unbedingt dieje3 Archäologische Aspekte jüdischer Begräbniskultur spielen z.B. eine besondere Rolle in den Studien von MCCANE, Death and Burial oder EVANS, Ossuaries; TRIEBEL, Jenseitshoffnung. Speziell jüdische Inschriften bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung von PARK, Conceptions (vgl. dazu aber die wichtige Rezension von R. DEINES in ZDPV 120 [2004], 86–96), während PERES, Grabinschriften, sich die Aussagen griechischer Epitaphien als Vergleichsmaterial wählt. Grundlage für jegliche Beschäftigung mit den materiellen Hinterlassenschaften palästinisch-jüdischer Bestattungen ist nun HACHLILI, Funerary Customs. In all diesen Bänden finden sich auch reichhaltige Literaturhinweise. 4 Da es im vorliegenden Zusammenhang um die Rekonstruktion vergangenen Geschehens geht, ist der Beitrag ntl. Wissenschaft im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas zu leisten. Zur Archäologie als historische Kulturwissenschaft vgl. EGGERT, Archäologie; BERNBECK, Theorie, 2–20. Zum Dialog zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und Archäologie vgl. ZANGENBERG, Überlegungen, 1–24. 5 Die folgenden Ausführungen, besonders zum archäologischen Material, basieren auf ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“ (zur Zeit in Druckvorbereitung unter dem Titel „Jüdische und frühchristliche Bestattungskultur in Palästina. Studien zur Literatur und Archäologie“, Tübingen 2009 [WUNT I]), vgl. auch KUHNEN, Palästina, 69–81 und 253– 282; HACHLILI, Funerary Customs. Ferner verweise ich auf ZANGENBERG, Bestattungssitten; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 447–487; ZANGENBERG, Körper, 33–55.
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nige repräsentative Rolle besaßen, die ihnen oft unterstellt wird. Zudem ist der Schatz an zeitgenössischen Texten, die über Bestattung und Totenpflege Auskunft geben, vergleichsweise gering und nimmt auf die alltäglichen Gepflogenheiten oft nur wenig Bezug.6 Eine der ausführlichsten Quellen ist interessanterweise die Beschreibung der Bestattung Jesu (Mk 15,42–47 parr; Joh 19,31–42),7 der größte Teil der texlichen Quellen ist jedoch mehr an Fragen der postmortalen Existenz interessiert als am Bestattungswesen. Insofern erfordert die angemessene Behandlung der mir gestellten Aufgabe eine zweifache Erweiterung unseres Blickfeldes. Erstens wird man über Todes- und Jenseitsvorstellungen nicht sachgerecht sprechen können, ohne auch auf Begräbnisrituale und Bestattung insgesamt einzugehen. Daher ist zweitens auch quellenmäßig eine Erweiterung nötig, indem die Zeugnisse der Archäologie zusätzlich herangezogen werden. Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren gerade hier eine große Anzahl archäologischer Befunde etwa aus den Nekropolen von Jerusalem,8 Jericho,9 EnGedi,10 der Karmel-Region11 oder aus Qumran12 publiziert worden, die ein zunehmend differenziertes Bild von der funeralen Kultur Palästinas in hellenistisch-römischer Zeit eröffnen.
2. Einige Parameter hellenistisch-jüdischer Bestattungskultur a) In seiner Apologie des jüdischen Glaubens schreibt der jüdische Historiker Flavius Josephus gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. (Flav.Jos.Apion. II 205):13 Unser Gesetz sorgte im Voraus für die Ehrfurcht den Verstorbenen gegenüber, nicht durch verschwenderische Pracht der Beerdigungsfeier oder durch künstlerische Gestaltung der sichtbaren Grabmäler, sondern es verordnete betreffs der Bestattung einerseits 6 Dazu vgl. DAVIES, Death, 71–124; KRAEMER, Meanings; TILLY, Tod und Trauer, 143–150; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen mit Verweisen auf ältere Literatur. Von besonderem Interesse ist darüberhinaus VitAdEv 31–43 und dazu SCHREIBER, Mensch. 7 Zum historischen Hintergrund der Bestattung Jesu und ihrer literarischen Gestaltung vgl. BROER, Urgemeinde; BROWN, Death, 1201–1283; ZANGENBERG, Buried. 8 Die Literatur ist fast kaum mehr zu überblicken. An neueren Beiträgen vgl. TRIEBEL/ ZANGENBERG, Beobachtungen, passim; HACHLILI, Funerary Customs, passim; KLONER/ ZISSU, Necropolis sowie Spezialberichte z.B. von AVNI/GREENHUT, Aceldama Tombs; GEVA/AVIGAD, Jerusalem, 747–757; KLONER/ZISSU, Burial Complexes, 125–149; BARAG, Exploration, 78–110. 9 KENYON, Jericho I; DIES., Jericho II (Diskussion vereinzelter hellenistisch-römischer Gräber aus dem Umkreis von Tell es-Sultan); HACHLILI/KILLEBREW, Jericho. 10 HADAS, En Gedi. 11 KUHNEN, Nordwest-Palästina; DERS., Studien. 12 Dazu vgl. NORTON, Reassessment, 107–127; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Abschnitt 2.1 mit weiterer Literatur. 13 Zu Flav.Jos.Apion. vgl. GERBER, Bild.
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den nächsten Angehörigen, sie zu vollziehen, andererseits machte es für alle, die vorbeikommen, während jemand beerdigt wird, zum Gesetz, hinzuzukommen und mitzuklagen. Zu reinigen heißt es aber sowohl das Haus als auch die Bewohner nach dem Todesfall.
In dieser kurzen Passage zählt Josephus zentrale kulturelle Parameter jüdischer Bestattungskultur auf. Ehrfurcht gegenüber den Toten, eine Bestattung in würdevoller Einfachheit und ein starkes Bewusstsein familiärer Bindungen prägen die ideale, weil von Gott im biblischen Gesetz angeordnete Haltung in rebus mortis. In der Tat: An kaum einem anderen Ort als dem Grab kommt man dem näher, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, ihren Werten, ihrer Struktur und ihren alltäglichen Lebensäußerungen. Zugleich demonstriert diese Passage, wie sehr jüdische Bestattungskultur eingebettet ist in die Normen und Werte antiker mediterraner Gesellschaften insgesamt: keine der von Josephus genannten Maximen (Ehrfurcht vor den Verstorbenen, Familiengebundenheit der Bestattung, Vermeiden von Grabluxus, Pflicht zur Anteilnahme, rituelle Reinigung) ist spezifisch jüdisch, jeder Grieche oder Römer würde sie ebenso vertreten.14 Derartiges Verhalten gehört für antike Menschen zum Grundbestand dessen, was den Mensch zum Menschen macht, eine Lebensweise als „Kultur“ definiert und wechselseitigen Respekt der Kulturen ermöglicht (dies zu zeigen ist ja auch eines der Hauptinteressen des Josephus in Contra Apionem).15 Antike jüdische Bestattungskultur ist Teil der „mediterranen Koine“.16 Die Ausbildung eines eigenständigen Profils jüdischer Bestattungskultur ist erst auf dem Hintergrund dieser Koine verständlich und eigentlich ein Teil der ihr inhärenten Mechanismen, indigene Kulturen nicht zu nivellieren, sondern durch Kontakte mit anderen Kulturen zur Ausformung eigener Akzente zu führen. b) Eine völlig andere Aussage finden wir im 40. Buch der „Historischen Bibliothek“ des Diodorus Siculus in Form einer stark verkürzten Paraphrase eines ethnographischen Exkurses über Juden und Judentum, den Diodorus in der heute verlorenen „Geschichte Ägyptens“ des alexandrinischen Gelehrten Hekataios von Abdera vorgefunden hatte. Nach Ausführungen über die Entstehung des jüdischen Volkes in Ägypten und seiner Etablierung unter Mose in Judäa berichtet Hekataios über Verfassung, Kult und
14
Zur hellenistischen und römischen Monumentalgräbern vgl. FEDAK, Monumental Tombs; VON HESBERG, Grabbauten. Zur Einschränkung des Grabluxus vgl. ENGELS, Funerum sepulcrorum magnificentia. 15 Zur Ehrfurcht vor den Toten und zur Bestattung bei Griechen und Römern vgl. GARLAND, Way of Death; TOYNBEE, Death. 16 Ich gebrauche hier dankbar einen Begriff, den Silvia Schroer in die Diskussion meines Vortrags in Leipzig eingebracht hat.
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Gebräuche dieses für ihn so seltsamen Menschenschlags. Gegen Ende der Passage findet sich ein markanter Satz: Bezüglich der Ehe und der Bestattung der Toten ordnete Mose an, dass deren Bräuche sich weit von denen anderer Menschen unterscheiden sollten.
Diesen Satz kommentiert Diodorus folgendermaßen:17 Später aber, als sie [scil. die Juden] fremden Mächten untertan waren, als ein Ergebnis ihrer Vermischung mit Menschen anderer Völker – sowohl unter persischer Herrschaft als auch unter der der Makedonen, die die Perser gestürzt hatten – wurden viele ihrer überlieferten Praktiken verfälscht.
Das Zitat führt uns mitten in das Spannungsfeld zwischen „Judentum“ und „Hellenismus“,18 das natürlich auch bei der Beschäftigung mit jüdischer Bestattungskultur und Jenseitsvorstellungen stets eine besondere Rolle gespielt hat. Jüdische Identität und fremde Sitten stehen sich für Diodor unversöhnlich gegenüber und verbinden sich nur, weil Unterdrückung und Fremdherrschaft keinen anderen Ausweg lassen. Dem Resultat dieses Prozesses haftet der Makel des Uneigentlichen und Verfremdeten an, der Verlust staatlicher Unabhängigkeit geht einher mit dem Verlust der eigenen kulturellen Identität. Sicher spielte es dabei eine Rolle, dass Diodorus eben kein Jude war und – im Gefolge nicht gerade judenfreundlicher alexandrinischer Traditionen– die Priorität griechischer Kultur betonte. Gerade die Archäologie hat in den letzten Jahren sehr dazu beigetragen, beide Aspekte, das Fortbestehen indigener Kulturelemente wie auch ihre Weiterentwicklung durch hellenistischen Einfluss, in einem sinnvollen und kreativen Miteinander verständlich zu machen und wenig hilfreiche Kontrastmodelle zu relativieren. c) Hellenistischer Einfluss auf die Funeralkultur ist erst ab der Mitte des 2. Jh. v.Chr. greifbar.19 Wichtige Motive für diese Übernahme werden in der Beschreibung des Makkabäergrabes von Modein deutlich.20 Leider ist das Grab nur noch literarisch greifbar. In 1 Makk 13,23–30 (später verändert 17 So die Hypothese von BAR-KOCHVA, Pseudo-Hecataeus, 24. Hekataios’ Exkurs stellt den ältesten zusammenhängenden Bericht zu diesem Thema in der griechischen Literatur dar (erhalten durch ein Exzerpt des Photius aus Diodorus Siculus). 18 Die Reichweite hellenistischen Einflusses auf die jüdische Kultur Palästinas bleibt bis heute umstritten, vgl. HENGEL, Judentum; COLLINS/STERLING, Hellenism; FELDMAN, Judaism; BERLIN, Power, 141–147 spricht provokativ von der „seduction by Hellenistic material culture“ (145). 19 FISCHER/TAL, Decoration, 19–37: „From the evidence of the archaeological context and the artistic design it would appear that all these architectural elements made their first appearance only during the second century B.C.E.“ (29). 20 Dazu vgl. ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“ , Abschnitt 2.3.2; TRIEBEL, Jenseitshoffnung, 76f; FINE, Art, 60–81.
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übernommen in Flav.Jos.Ant. XIII 210–212) findet sich eine ausführliche Beschreibung eines Grabmonuments, das Simon III. (Hoherpriester 142– 134 v.Chr.) für seinen ermordeten Bruder Jonathan hat errichten lassen. Simons Bau integriert das ältere Grab seiner Ahnen offensichtlich unverändert, nimmt daneben sowohl Elemente auf, die schon früher aus benachbarten Kulturen nach Palästina eingeführt waren (geglättetes Mauerwerk, Pyramide), als auch völlig neue Bestandteile wie eine Säulenhalle oder Waffenrüstungen (Panoplia) und skulptierte Schiffe, wie wir sie aus dem hellenistischen Bereich kennen. Wichtig ist, dass die neuen Elemente keinesfalls nur sekundäres Beiwerk darstellen oder als politisches motivierte Äußerlichkeiten zu vernachlässigen sind. Was der Bau nach dem Willen seines Auftraggebers intendiert, kann nur durch das Zusammenwirken indigener und hellenistischer Elemente erreicht werden. Simon nutzt das architektonische Programm bewusst, um den Anspruch einer neuen Dynastie zu unterstreichen – und zwar indem er seine früheren Gegner und jetzigen Konkurrenten nachahmt, statt eigene Wege zu gehen oder das Althergebrachte einfach zu repristinieren. Dieser Befund ist durchaus von grundsätzlicher Bedeutung: Nicht einmal die starken Tabus gegenüber Gräbern und Fremden innerhalb der jüdischen Priesterschaft, zu der Simon als Angehöriger der Benei Hashmon ja gehörte,21 hielt diese davon ab, hellenistische Funeralelemente zu übernehmen. Die „Hybridisierung“ indigener und externer Impulse ist geradezu ein Charakteristikum der regionalen Kulturen im hellenistischen Osten. Der Sieg des makkabäischen Aufstands gegen die Seleukiden erweist sich auf längere Sicht nicht als Beginn eines jüdischen Sonderwegs inmitten eines Ozeans von durch den Hellenismus um ihre Eigenständigkeit beraubten Kulturen, sondern markiert den Beginn der Ausbildung einer eigenen, jüdischen materiellen Kultur während des 2. und 1. Jh. v.Chr., die ohne den hellenistischen Kontext nie stattgefunden hätte. Insofern besteht zwischen der synchronen Einbettung jüdischer Bestattungskultur in hellenistischrömischer Zeit und der diachronen Beständigkeit etwa in Bestattungsweise, Grabform und Grabinventar bis hinab in die Eisenzeit22 auch kein eigentlicher Widerspruch. d) Freilich ist „Beständigkeit“ ihrerseits wieder in ihrem gebührenden Kontext zu sehen. Ian Morris hat in seiner Studie „Death Ritual and Social Structure in Classical Antiquity“23 ein Phänomen beschrieben, das sich auch im hellenistisch-römischen Judäa beobachten lässt: neue, unter be21
Zu Simon als Hoherpriester vgl. jetzt VANDERKAM, High Priests, 270–285. Dies wird etwa im Konferenzbeitrag von J. Kamlah oder durch WENNING, Bestattungen im königszeitlichen Juda; DERS., Bestattungen im eisenzeitlichen Juda, deutlich. 23 MORRIS, Death. 22
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stimmten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen entstandene kulturelle Entwicklungen im Umfeld einer Gesellschaft („Moden“) werden seit dem Ende des 2. Jh. v.Chr. zuerst von deren Elite aufgenommen und diffundieren von dort aus in die Breite der gesamten Gesellschaft, werden „demokratisiert“.24 Irgendwelcher Zwang war dabei nicht vonnöten. Die Bandbreite individueller Adaptationen hellenistischer Bau- und Dekorationselemente auf Grabmälern des späten 2. und des 1. Jh. v.Chr. demonstriert ferner, dass nicht einfach nur einzelne isolierte Elemente von Gräbern der Herrscherschicht übernommen oder einzelne „Modellmonumente“ kopiert wurden (deshalb führt die Suche nach direkten „Vorbildern“ auch oft nicht weiter), sondern dass man sich an die Formensprache einer Kultur insgesamt, an einen „Lebensstil“, anlehnte, der immer breiteren Schichten offensichtlich als geeignetes Mittel erschien, ihre soziale Rolle und kulturelle Identität auszudrücken. e) Im Unterschied zur Fülle funeraler Befunde aus Palästina besitzen wir nur sehr wenige zeitgenössische Quellen zur Bestattungskultur der jüdischen Diaspora.25 Die punktuell zum Teil recht zahlreichen Befunde aus Ägypten, Kleinasien (Hierapolis) oder Italien (Katakomben in Rom) erlauben kaum ein flächendeckendes Bild und sind zudem oft zu spät, als dass sie für unsere Belange in Frage kämen.26 Typisch jüdische Bildsymbole oder semantische Signale auf Inschriften werden erst relativ spät eingesetzt,27 und selbst dann scheint der Gebrauch paganer Ausdrücke (D M) in Einzelfällen möglich gewesen zu sein.28
24 Vgl. z.B. die Befunde aus dem Jason-Grab bei RAHMANI, Jason’s Tomb und zum Gesamtbild FISCHER/TAL, Decoration. 25 HACHLILI, Ancient Jewish Art; ZANGENBERG, Archaeology. 26 NOY, Buried, 75–89. Zur materiellen Kultur der einst großen jüdischen Diaspora in Ägypten sind wir fast ausschließlich auf Gräber und Inschriften angewiesen, vgl. VENIT, Tombs, 19–21; NOY/HORBURY Inscriptions, 51–182 nr. 29–105 zu den Inschriften von Tell Yehoudieh; ABD EL-FATAH/WAGNER, Épitaphes, 85–96; NOY, Communities. Zu Kleinasien s. ILAN, Inscriptions; zu Italien vgl. den oben erwähnten Aufsatz von Noy über Venosa und RUTGERS, Jews. 27 So kommt z.B. die Menora in der römischen Diaspora (abgesehen von der Darstellung auf dem Titusbogen) nicht vor dem 3. Jh. n.Chr. vor, vgl. HACHLILI, Menorah, 355f; früher sind Darstellungen auf Tonlampen in jüdischen Gräbern in Ägypten, siehe VENIT, Tombs, 20. 28 Zur paganen Formel „D M“ für DIS MANIBVS auf jüdischen Inschriften vgl. PARK, Conceptions, 16–21. Zur komplexen, hier nicht zu diskutierenden Frage nach der Erkennbarkeit jüdischer Gruppen in der Diaspora s. etwa VAN DER HORST, Epitaphs, 16– 18; ILAN, Inscriptions, 71–86 und PRICE/MISGAV, Inscriptions, 461–483 (461).
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3. An der Schwelle des Todes Der Tod war allgegenwärtig in einer Gesellschaft, die gegen Sepsis nichts ausrichten konnte und Krankheit und Tod entweder als Schicksal oder als göttliche Strafe sah. Der Tod konnte sich langsam in das Leben schleichen in Form von Krankheit oder Alter. Körperliches Leiden verstand man oft als Vorbote des Todes; viele Psalmen vergleichen die Genesung von Krankheit daher als Rettung aus dem Schlund der Scheol, der mythischen Unterwelt. Der Tod konnte auch schnell und gewaltsam zupacken durch Unfall oder die Hand des Nächsten. Besonders anfällig waren Kinder, nur etwa jedes zweite Neugeborene erreichte das 10. Lebensjahr. Frauen heirateten früh und gebaren viele Kinder, dementsprechend groß war die Gefahr im Kindbett zu sterben. Die hohe Sterblichkeit wirkte sich sicher auch auf das Lebensgefühl antiker Menschen aus. Trotz einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 30–35 Jahren kannten antike Gesellschaften jedoch genug hochbetagte Menschen, um ein Altern in Würde als erstrebenswerten Segen zu sehen. Besonders berühmte Beispiele waren natürlich die biblischen Patriarchen und Matriarchen, von denen erzählt wurde, sie seien „alt und lebenssatt“ gestorben. 3.1 Rituale zwischen Leben und Tod Riss der Tod einen Menschen aus dem Leben, dann betraf das vor allem die Familie, die ein komplexes Gefüge von Ritualen in Gang setzte, um mit dem Verlust des Angehörigen zurecht zu kommen. Das jüdische Trauerund Bestattungsritual spielte sich an drei Orten ab: im Haus, auf dem Weg zum Grab und am Grab. An all diesen Orten wurden Handlungen vollzogen, deuteten Gesten und Worte den Tod des Angehörigen und halfen den Hinterbliebenen, Abschied zu nehmen und den Weg zurück in den Alltag zu finden. In dieser Hinsicht besitzt auch die palästinisch-jüdische Bestattung durchaus alle Merkmale eines „Übergangsritus“ (rite de passage).29 Natürlich sind viele Bestandteile dieses Ritus, wie Gesten, Worte oder Gebete, unwiederbringlich verloren, geschweige denn, dass sie archäologisch verwertbare Spuren hinterlassen haben. Einiges lässt sich aber doch sagen. 3.2 Der Umgang mit dem toten Körper Primärer Träger einer jüdischen Bestattung war die Familie, der die Totenpflege nach Gesetz und Sitte ausdrücklich aufgetragen war. Das wichtigste „Element“ des Ritus aber war der Körper des Toten. Seine schiere Existenz griff in das Leben der Hinterbliebenen in mehrfacher Hinsicht radikal ein. Der Leichnam machte das Trauerhaus „unrein“, er veränderte die Sozial29
MCCANE, Death and Burial, 1–25; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 1.
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kontakte der Angehörigen dadurch drastisch und veranlasste sie, Sorge für die würdige Bestattung des Toten zu tragen. Diese Phase dauerte eine bestimmte Zeit lang an, nach der die Familie schrittweise wieder ins normale Leben rückintegriert wurde. Einige Stationen dieser Vorbereitungen an der Schwelle des Todes sind auch archäologisch nachweisbar. Sie unterschieden sich interessanterweise kaum von denen der meisten benachbarten nichtjüdischen Kulturen. a) Der Tote wurde gewaschen und in Tücher (Joh 11,44) oder Binden (Lk 23,53) gehüllt bzw. in Gewänder gekleidet. Reste solcher Leichentücher haben sich in Palästina nur unter extrem günstigen Bedingungen erhalten. Besonders aufschlussreich sind die Befunde aus einem Kammergrab der Akeldama-Nekropole in Jerusalem, wo eine männliche Leiche in Tücher gehüllt in einem Grabstollen aufgefunden wurde. Spektakuläre Textilfunde wurden auch aus der großen Nekropole von ̳irbet Qazone am Ostufer des Toten Meeres berichtet.30 Fingerringe, Ohrringe, Kämme, Kosmetikgegenstände, Kleidungsreste sowie zuweilen auch Sandalen, die neben manchen Leichen gefunden wurden, belegen, dass Tote nicht nur nackt in ein Tuch gehüllt wurden, sondern manche Familien es vorzogen, ihre verstorbenen Angehörigen mit deren persönlichem Schmuck und in schöner Kleidung beizusetzen.31 b) Möglicherweise hat man bereits im Trauerhaus begonnen, den Toten unter lautem Klagen mit Duftöl und Wein zu benetzen. Einige der Salbölfläschchen und Kännchen, die sehr häufig in Gräbern angetroffen werden, könnten durchaus bereits im Haus benutzt und im Grab mitbestattet worden sein, da sie durch den Kontakt mit dem Toten für die Lebenden unbrauchbar geworden sind. Das Vergießen von Wein und Duftessenzen vertrieb nicht nur rasch einsetzende Leichengerüche, sondern ehrte den Toten und demonstrierte den Verlust, den man durch dessen Tod erlitten hatte. Manche Tote dürften auch bereits im Haus in einen Sarg gelegt worden sein, meist aber war es vermutlich ein Brett oder eine Liege, auf der man den gewaschenen und verhüllten bzw. bekleideten Leichnam aufbahrte. Ab dem 1. Jh. v.Chr. kamen immer mehr zum Teil aufwändig verzierte Holzsärge in Gebrauch, in denen der Tote zum Friedhof transportiert werden konnte (Jericho, En-Gedi, Qumran).32 30
POLITIS, Excavations; ZANGENBERG, Farewell; POLITIS, Discovery, 213–219. Vgl. die Befunde aus Jericho in HACHLILI/KILLEBREW, Jericho, 27 und 168f; zu EnGedi siehe HADAS, En Gedi, 5*–9* und HACHLILI/KILLEBREW, Jericho, 140f; insgesamt siehe ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.4; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 455f. 32 Zu Särgen vgl. HACHLILI, Funerary Customs, 75–94; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.2.3.2 mit Nachweisen. 31
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c) Die liegende Position, in die der Tote nach dem Ableben gebracht wurde, wurde auch bei der öffentlichen Überführung zum Friedhof unter Musik und Klagen (Lk 7,11–17) und bei der Beisetzung ins Grab beibehalten. Die allermeisten ungestörten Primärbestattungen fand man in gestreckter Rückenlage, wobei die Arme entweder entlang der Körperseiten oder gekreuzt über dem Beckenbereich positioniert waren. Der Kopf weist keine regelmäßige Blickrichtung auf. Die Fundlage des Schädels ist oft nur ein Resultat postdepositionaler Prozesse, die nicht intendiert waren, besitzt daher keine Bedeutung für die Rekonstruktion des Bestattungsvorganges. Mitunter fand man Kissen oder kissenähnliche Kopfstützen aus organischem Material im Grab (z.B. Qumran, En Gedi), die den Eindruck unterstreichen, dass man den Tod auch im Judentum als „Schlaf“ besonderer Art angesehen hat und man dem „Schlafenden“ eine bequeme Ruhestatt bereiten wollte. d) Die Vorbereitung des Leichnams auf das Ruhen im Grab war somit kurz und schmucklos. Schwierig zu entscheiden ist, ob man dem Zustand des Toten im antiken Judentum einen bestimmten „Symbolwert“ über die oben erwähnte Schlafanalogie hinaus zugestehen soll. Zentral für den jüdischen Umgang mit dem Toten ist sicher, dass der leblose Körper bis zur Beisetzung praktisch unverändert blieb. Die Ganzkörperbestattung ist die ausschließliche Form der Primärbestattung im jüdischen Palästina, ganz im Unterschied zu manchen Nachbarkulturen. In Ägypten etwa wurden Tote erst in einem aufwändigen Prozess der Mumifizierung zur Beisetzung vorbereitet, bei Römern, Kelten, Germanen und Phöniziern existierte die Brandbestattung.33 Keine dieser Alternativen fand im antiken Judentum nennenswerte Nachahmung. Die Gründe dafür sind vielschichtig und letztlich nicht ganz geklärt. Während bei der Ablehnung der Mumifikation sicher auch ihre massiven religiösen Konnotationen eine Rolle spielten, von denen man sich absetzen wollte, teilt das antike Judentum die Nichtpraktizierung der Kremation mit zahlreichen anderen semitischen Völkern und muss keine spezifisch jüdischen Ursachen haben. Statt den Zerfallsprozess des Körpers zu beschleunigen wie bei der Kremation oder ihn künstlich aufhalten zu wollen wie bei der Mumifizierung, ließ das Judentum den natürlichen Zerfallsprozess des Körpers bewusst zu. e) Dementsprechend einfach gestaltete sich die Beisetzung. Im palästinischen Judentum waren weder Spezialisten zur Vorbereitung des Leichnams noch Vertreter der „offiziellen“ Religion wie etwa Priester o.ä. vonnöten. Auch waren keine Opfer im Haus oder am Grab üblich, weder für Gott, noch weniger bei oder für die Toten. Obwohl nicht „säkular“, war die Be33
Zu den Phöniziern s. den Beitrag von J. Kamlah in diesem Band.
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stattung keine im engeren Sinne „sakrale“ Handlung. Auch war das Grab nur in dem Sinne ein „heiliger“ Ort, dass die Verletzung der Totenruhe streng sanktioniert und der Bereich eines Friedhofs dem alltäglichen Leben enthoben war. Schließlich fehlte dem Körper des Toten jegliche sakrale Aura. Über den gesellschaftlich geforderten Respekt hinaus genossen Verstorbene zumindest in hellenistisch-römischer Zeit in aller Regel keine besondere, etwa auf ihrer Bedeutung als „Ahnen“ basierende Verehrung. Im jüdisch-palästinischen Bereich vermissen wir jegliche bildliche Darstellung der Verstorbenen. Weder führte man Bilder oder Büsten der Toten auf Trauerzügen mit, noch stattete man die eingewickelten Leichname mit Portraitabbildungen aus wie im zeitgenössischen Ägypten34 oder stellte Portraits der Verstorbenen in Gräbern auf (was in paganen Gräbern im Palästina des 2./3. Jh. durchaus üblich war).35 Die Behandlung des Leichnams erfolgte somit primär als Ausdruck von Wertschätzung und Ehrerbietung dem Toten gegenüber und als Akt der Trauer der Hinterbliebenen. Die Bestattung selbst diente nicht der Vorbereitung des Toten auf das Jenseits, etwa um ihm dort eine bestimmte Stellung zu sichern oder ein bestimmtes Ergehen zu gewährleisten, sondern hatte mehr etwas mit dem Rang des Toten im Leben und der Rolle der Hinterbliebenen in ihrem sozialen Bezugsfeld zu tun. 3.3 Das Grab als Ort der Trennung und der Gemeinschaft a) Kein Ort war so ausschließlich auf die Bedürfnisse des Toten zugeschnitten wie das Grab. Jedes Grab erfüllte stets mehrere Funktionen, war zugleich der Ort, an dem Tote zur letzten Ruhe gebettet wurden, Schauplatz komplexer Riten der Hinterbliebenen, sowie Medium der Selbstdarstellung im Angesicht der Lebenden. Komplexe archäologische Prozesse verwehren es aber, Gräber als „Spiegel des Lebens“ zu verstehen, die gleichsam nur „rückwärts“ gelesen zu werden brauchen, um daraus die Vorstellungswelt oder Sozialstruktur einer bestimmten Gesellschaft zu extrapolieren. b) Wie alle anderen mittelmeerischen Kulturen trennte auch das antike palästinische Judentum zwischen dem Bereich der Lebenden von dem der Toten. Gräber wurden stets in einem gewissen Abstand zu den Behausungen der Lebenden angelegt (11QT 48,11–14; mBB 2,9; vgl. Mk 5,2.5; Lk 7,12; Joh 11,31). Dies ist nicht nur durch zahlreiche Nekropolen belegt. Auch nach dem Bericht der Evangelien lag die Grabstätte, in die Josef von 34
Aus der reichen Literatur nenne ich nur WALKER/BIERBRIER, Ancient Faces; BORG, Mumienportraits; P ARLASCA/SEEMANN, Augenblicke. 35 SKUPINSKA-LOVSET, Portraiture.
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Arimathaea den Leichnam Jesu nach der Kreuzigung beisetzte, nahe bei einer Hinrichtungsstätte in einem aufgelassenen Steinbruch außerhalb der Mauern Jerusalems (Golgotha).36 Für Juden waren (und sind) Gräber Quelle höchster Unreinheit. Daher kennzeichnete man sie, um Ortsunkundige zu warnen (Mt 23,27; Lk 11,44; mOhal 17,1–3). Während sich Menschen üblicherweise von Gräbern fernhielten, eigneten sie sich ideal als Wohnstatt von Dämonen und sozialen Outcasts (Mk 5,2f Aussätziger). c) Typologisch lassen sich in hellenistisch-römischer Zeit zwei Grundtypen von Gräbern unterscheiden, die beide eine lange Vorgeschichte haben und keinesfalls auf Palästina oder den spezifisch jüdischen Nutzungskontext beschränkt sind: Senkgräber für oft nur einzelne, seltener mehrfache Primärbestattungen, sowie Kammergräber für mehrfache Primär- und Sekundärbestattungen. Schon seit der Bronzezeit bestatteten Menschen ihre Toten in unterirdischen Kammern und Höhlen, ja die Vorstellung von der Unterwelt selbst scheint von solchen Totenkammern nicht unbeeinflusst geblieben zu sein.37 Gegen 200 v.Chr. setzte sich, wohl inspiriert durch alexandrinische Vorbilder des späten 4. Jh. v.Chr. und vermittelt durch phönizische Anlagen, ein recht standardisierter Typ von Kammergrab in Judäa durch. Er verfügte zumeist über einen symmetrischen, vertikal in den Fels geschlagenen Grundriss (mBB 6,8). In die Kammer gelangte man durch einen meist mit einem rechteckigen, seltener einem runden Stein verschlossenen, engen Durchschlupf. Dahinter folgte zuweilen eine kleinere Vor- oder Nebenkammer. Die rechteckige Hauptkammer verfügte über eine variable Anzahl von meist an drei, manchmal aber auch an allen vier Wänden rechtwinklig in die Kammerwände geschlagenen Stollen, in denen bis zu drei, in der Regel aber nur ein auf dem Rücken liegender Leichnam bestattet wurde („Schiebestollen“, loculi, kokhim). Die Stollen wurden mit flachen Steinplatten oder anderem Material verschlossen. Die Außenfassade dieser Gräber war oft je nach Wohlstand und Status der Besitzer dekorativ gestaltet. Viele größere Grabanlagen verfügten zudem über ein Gärtchen oder Installationen zum Zuleiten und Sammeln von Wasser, das wohl der rituellen Reinigung diente (so das sog. „Königsgrab“ in Jerusalem). Besonders große Gräber (z.B. Jericho Komplex H) verfüg36
Zur wahrscheinlichen Lage von Golgotha s. GIBSON/TAYLOR, Beneath; BIDDLE, Grab; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 3.2. 37 Zu Kammergräbern insgesamt siehe FEDAK, Monumental Tombs, bes. 46–56; von HESBERG, Grabbauten, 76–94; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 459–466; HACHLILI, Funerary Customs, 29–73 und 235–310; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.3; zu den Befunden aus Marescha siehe KLONER, Maresha I, 21–30 mit Angabe relevanter älterer Literatur.
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ten über „mourning enclosures“, an denen sich die Trauergemeinde versammeln konnte, bevor man zur Beisetzung am Grab schritt.38 Andere Gräber hatten zu diesem Zweck einfache Höfe vor dem eigentlichen Eingang. So konnte am Grab die Familie zur Trauergemeinde erweitert werden, ja der Friedhof wurde im Vollzug der Bestattung trotz aller Tabus zu einem Ort der Kommunikation der Lebenden untereinander im Angesicht der Notwendigkeit, sich von einem anderen Menschen zu trennen. So wenig wie Kammergräber sind auch Senkgräber eine jüdische „Erfindung“.39 Senkgräber sind in letzter Zeit vor allem durch die kontroverse Diskussion um den Friedhof von Qumran wieder verstärkt ins Blickfeld getreten, doch sind ähnliche Exemplare auch aus dem Karmelgebiet, der Küstenebene, Jerusalem und dem Land am Ostufer des Toten Meeres (̳irbet Qazone) bekannt. Im uns interessierenden Zeitraum existieren mehrere Untertypen nebeneinander, es gibt keinen Normtyp. Unterschiede bestehen vor allem in der Tiefe des vertikalen Schachtes und der Gestaltung der Grablege am Ende des Schachtes. Hier existieren sowohl nach vorne versetzte (v.a. Ägypten, Nubien) als auch seitlich vom Schacht abgesetzte „Nischen“ (Qumran, Jerusalem-Beit Safafa) wie auch eine senkrecht in Verlängerung des Schachtes befindliche Grablege. In den allermeisten Fällen ist die Grablege durch eine Abdeckung von der Schachtverfüllung abgetrennt, der Tote liegt in ausgestreckter Rückenlage, eine normative Orientierung des Schädels ist nicht erkennbar. Ihr Vorteil ist ihre verhältnismäßig einfache Herstellung und der geringe Platzverbrauch. Senkgräber kommen zumeist in mehr oder minder regelmäßig angelegten Gräberfeldern vor (Qumran, Qazone). Senkgräber können sowohl in den Fels als auch in lockeres Erdreich eingetieft sein. Die klar als jüdisch identifizierbaren Senkgräber beinhalten neben dem Leichnam nur sehr spärliche Objekte, die meist als Teile der Kleidung oder persönlichen Ausstattung (Schmuck) mit ins Grab gelangt sind. Die besondere Eigenheit der Senkgräber besteht darin, dass man sie nach der Verfüllung nur sehr schlecht wieder öffnen kann. Sie eignen sich weder für Nachbestattung (der Hinzufügung eines weiteren Verstorbenen in ein bestehendes Grab) noch für die oft vorgenommene Zweitbestattung (dazu gleich). c) Ein plausibler Grund für die Tatsache, dass zwei unterschiedliche Grabtypen zeitgleich existierten, lässt sich derzeit nicht nennen. Weder deuten die Befunde auf ethnisch begründete Präferenzen oder religiöse Motive für die Wahl der einen oder anderen Grabform hin. Möglich ist, dass soziale 38
Vgl. den Beitrag von EHUD NETZER in: HACHLILI/ KILLEBREW, Jericho, 45–50. Dazu TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 464–466; HACHLILI, Funerary Customs, 13–23 und 467–479; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.1.4. 39
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oder materielle Gründe für die Anlage der einen oder anderen Grabform sprachen, doch ist zu bedenken, dass Senkgräber nicht mit bloßen „Armengräbern“ verwechselt werden dürfen bzw. dass Kammergräber notwendig nur von den Reichen angelegt wurden. Im Gegenteil, die vergleichsweise Armut an Grabobjekten und die Zurückhaltung bei Grabluxus im Allgemeinen, sowie die Tatsache, dass ein einmal angelegtes einfaches Kammergrab, wie es sie zu Hunderten etwa im Umfeld Jerusalems gab, über Generationen hinweg immer wieder belegt werden konnte und den Nutzern daher nicht unbedingt teurer kam als die bei jedem Todesfall notwendige Neuanlage eines Senkgrabes, verbietet allzu vordergründige Erklärungen. Bei näherem Hinsehen sind die Unterschiede zwischen beiden Grabformen auch gar nicht so groß. Abgesehen von der Tatsache, dass an verschiedenen Stellen (Petra, Jerusalem) Senk- und Kammergräber durchaus in ein- und demselben Friedhof vorkommen, lassen sich beide auch problemlos mit den oben skizzierten zentralen Vollzügen ritualisierter Trauer verknüpfen. Das Spektrum an Grabobjekten ist bei beiden Formen sehr ähnlich (wenn auch im Fall der derzeit bekannten jüdischen Senkgräber quantitativ deutlich schmaler als bei Kammergräbern), und der Umgang mit dem Toten praktisch identisch (Lage, mögliche Benutzung von Holzsärgen o.ä.), mit nur der Ausnahme, dass bei Senkgräbern keine Zweitbestattung möglich war, weil man dafür das gesamte Grab eigens öffnen müsste. Eine Zweitbestattung war bei Senkgräbern aber auch nicht nötig, weil kein Platzmangel wegen „Überbelegung“ wie in einem Kammergrab auftreten konnte. Unbegründet ist die Annahme, dass allein Kammergräber auf eine Bestattung im Familienkontext hinweisen, während Senkgräber eine angebliche „Individualisierung“ nahe legen und potentiell „sektiererisch“ sind (so die ältere Forschung im Fall von Qumran). Im Prinzip entspricht ein Senkgrab daher funktional dem loculus eines Kammergrabes. d) Kammergräber hatten – im Unterschied zu Senkgräbern – einen entscheidenden Nachteil. Der verfügbare Platz im Grab war irgendwann einmal erschöpft. Bereits in der Eisenzeit hatte man daher die sterblichen Überreste von bereits länger bestatteten und daher im Zerfallsprozess weit fortgeschrittenen Körpern von den wenigen zur Verfügung stehenden Bänken abgeräumt und die Knochen in einer kleinen Seitenkammer ohne Rücksicht auf die Zusammengehörigkeit der Knochen zweitbestattet („Ossilegium“).40 40 RAHMANI, Catalogue, plädiert für eine Verbindung zwischen der pharisäischen Auferstehungshoffnung und der Verwendung von Ossuaren. Zu Recht kritisch TEITELBAUM, Relationship; FINE, Note; DERS., Boxes; REGEV, Meaning. Zum Thema vgl. ferner AVIAM/SYON, Ossilegium; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 469–471; EVANS, Ossuaries, 2003; HACHLILI, Funeral Customs, 94–115; MAGNESS, Ossuaries; DIES., Why Ossuaries; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.2.
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In hellenistisch-römischer Zeit wurde die Sitte des kollektiven Ossilegiums noch bis ins 1. Jh. n.Chr. gepflegt, dann aber seit dem 1. Jh. v.Chr. in Judäa langsam durch die Zweitbestattung in Ossuaren (in Galiläa etwas später) abgelöst. Ossuare sind rechteckige, mit einem flachen, runden oder spitzwinkligen Deckel verschlossene Kistchen aus lokalem Kalkstein, die zur Aufnahme der zur Zweitbestattung eingesammelten Knochen dienten. Ihre Durchschnittsgröße entsprach den Maßen menschlicher Röhrenknochen: ca. 70–80 cm lang, 30–40 cm breit und 30–50 cm hoch, doch gab es auch zuweilen kleinere (für Kinder?), selten jedoch größere Ossuare. Das Ossilegium wurde im kleineren Familienkreis nur von den engsten Verwandten vorgenommen. Die Angehörigen hatten Sorge zu tragen, dass der Tote vor der Einsammlung der Knochen tatsächlich zerfallen war (was nach Ausweis der archäologischen Quellen freilich nicht immer eingehalten wurde), und dass die Knochen bei der Beisetzung im Ossuar ebenso ehrfurchtsvoll wie bei einer Primärbestattung behandelt wurden (Übergießen mit Duftöl und Wein, Einwickeln in Stoff). Sowohl das Material (der lokale, auch für Steingefäße und andere Gegenstände verwendete Kalkstein) als auch die Dekoration (ca. 30 % der Ossuare waren verziert) belegen eindeutig, dass Ossuare eine typisch jüdisch-palästinische „Erfindung“ darstellen. Nur höchst selten kommen Ossuare außerhalb Palästinas vor (einige wenige Beispiele sind aus alexandrinischen Nekropolen bekannt),41 ihre Benutzung von nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen ist nicht gesichert. e) Weitaus häufiger als Behältnisse zur Primär- und Sekundärbestattung und in praktisch jedem Grab vorhanden waren Gegenstände des täglichen Gebrauchs.42 Sarkophage, Särge und Ossuare waren dabei die einzigen Objekte, die nur für den Funeralkontext angefertigt wurden. Alle anderen Objekte, die in Gräbern anzutreffen sind, entstammen der alltäglichen Produktion. Auffallend ist, dass trotz der oft großen Menge an Keramik stets dieselben Typen anzutreffen sind, mehr noch als in Fundkontexten des Alltags. Die Auswahl der Typen muss also in einem Zusammenhang mit deren Funktion im Kontext der Bestattung stehen. Kochtöpfe bilden die Masse funeraler Fundkeramik und werden vor dem Grab, an verschiedenen Stellen der Hauptkammer und vor oder in einzelnen loculi angetroffen. Neben Töpfen kommen Schüsseln und Schalen sowohl im als auch noch etwas häufiger vor dem Grab vor. Da zahlreiche Töpfe, Schüsseln und Schalen intakt gefunden wurden, kann von einer generellen rituellen Zerstörung der 41
VENIT, Tombs, 19–21. Zum Material vgl. HACHLILI, Funerary Customs, 375–446; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 455f und sehr ausführlich ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.4.5. 42
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Keramik nicht die Rede sein. Nichts spricht dagegen, dass diese Gefäße auch im Funeralkontext genau dem Zweck dienten, den sie auch in der Welt der Lebenden erfüllten: der Zubereitung und dem Transport von Speisen. Ein Teil davon dürfte den Hinterbliebenen bei der Abhaltung von Bestattungs- oder Gedächtnismählern gedient haben, doch deckt das nicht das gesamte Befundspektrum. Zumindest der Inhalt derjenigen Kochtöpfe, die intakt in verschlossenen loculi neben den Leichen entdeckt wurden, muss den Toten selbst zugedacht gewesen sein. Damit würden archäologische Befunde aus jüdischen Gräbern Palästinas einem wichtigen Element nichtjüdischer Totenpflege entsprechen. Einige vage, meist ablehnende Andeutungen in der antiken Literatur scheinen dies noch zu bestätigen (Dtn 26, 14; Tob 4,17; Bar 6,26b; Sir 30,18). Leider fehlen detailliert dokumentierte Befunde über die Art der in den Töpfen zubereiteten Speisen, doch wurden in jüdischen Gräbern immer wieder vereinzelte Tierknochen gefunden, die freilich – wenn sie überhaupt Beachtung fanden – entweder als Abfall aus späterer Zeit oder als unspezifischer Zufallsfund angesehen wurden. Hier sollte man in Zukunft in der Tat genauer hinsehen. Neben Töpfen trifft man in Gräbern regelmäßig auf kleine Fläschchen (Amphoriskoi, Unguentarien aus Glas oder Keramik) oder Krüge. Erstere dienten sicher dem Transport von Duftstoffen und Salben zur Pflege des Toten und des Grabes, letztere dem von Flüssigkeiten wie Wein oder Wasser, die entweder für die Hinterbliebenen als Bestandteile ritueller Handlungen (Waschungen bei Fehlen von fließendem Wasser oder Mählern) oder für die Behandlung des Toten am Grab mitgeführt und dort endgültig abgelegt wurden. In geringerer Anzahl wurden auch Vorratsgefäße gefunden. In Jericho befanden sich z.B. mehrere vollständige Exemplare solcher Gefäße außerhalb einer Grabkammer und enthielten wohl Wasser. All diese Objekte sollte man eher als Bestandteile der Totenpflege, nicht eines wie auch immer gearteten „Totenkults“ sehen. Weder wollen sie den Toten für das Jenseits ausstatten, noch wollen sie das Grab zu einem Ort des fortgesetzten Diesseits machen. Ganz im Gegenteil. Das Grab war keine Kopie der Wohnung der Lebenden, und der Tod keine bloße Verlängerung des Lebens mit anderen Mitteln. So vermisst man eine an der Architektur der Lebenden orientierte, räumliche Aufteilung des Grabes ebenso wie Möbel oder andere Objekte des täglichen Lebens bzw. deren Imitate. Obwohl der Tote in Schlafstellung beigesetzt wurde und er gewissermaßen „ruht“, fehlen ihm die allermeisten Gegenstände, die er nach dem Übergang in eine neue Existenz benötigen würde. So sollte auch die Dekoration vieler Grabanlagen mit Elementen der Architektur oder Ornamentik des Alltags der Lebenden (Pilaster, Imitate von Quadermauerwerk oder die bukolischen Szenen mit Weinranken, Vögeln und einem Kranz in Grab H aus Jericho) nicht als Versuch angesehen werden, die Welt der Lebenden
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im Todesbereich nachzuahmen oder sie ins Jenseits hinüber zu projizieren. Sie sind auch keine Vorwegnahme des Paradieses.43 Eher zeugen sie vom Bedürfnis, den Ort der Verwesung für die Hinterbliebenen erträglich zu machen und dem Tod die Ordnung gemauerten Steins und Bilder von prallem Leben entgegenzuhalten. Das Grab, in dem nun der Tote ruhte, galt als unantastbar. Einbruch und Störung der Totenruhe waren nicht allein für Juden, sondern für alle antiken Völker schwere Verbrechen. Das Grab mitsamt der Erträge des umgebenden Grundstücks war der Nutzung durch die Lebenden enthoben. Dennoch kam es vor, dass Gräber verkauft, ausgeräumt, wiederbelegt und geplündert wurden; auch die Grabräuberei war verbreitet.44
4. Jenseits der Schwelle des Todes Der Übergang eines Familienmitgliedes vom Leben zum Tod verlangte intensive Aktivität seitens der Lebenden. Was aber war danach noch zu tun? Was geschah mit den Toten nach der Beisetzung? Wie stellte man sich ihre Weiterexistenz vor? Unsere Quellen bleiben hier trotz aller Vielfalt auffallend vage. Hinweise über konkrete Vorstellungen zur postmortalen Existenzweise der Toten sind den Texten nur schwer zu entlocken, und auch die Archäologie kann nur vereinzelt Hinweise geben. Dennoch sind auch hier vorsichtige Aussagen möglich: a) Deutlich ist zunächst, dass man den Tod nicht als abrupten, auf einen Punkt kondensierten Übergang von Leben zum Nichtmehrleben verstanden hat. Nicht nur das Sterben verlief für den antiken Juden in Etappen ab, sondern auch das Totsein jenseits der Todesschwelle. Zwei Kategorien von archäologischen Befunden könnten darauf hinweisen. Zunächst mag das Vorhandensein von Kochtöpfen in Gräbern in der Tat implizieren, dass viele Juden der Auffassung waren, dass man mit den Verstorbenen durch gemeinsame Mähler am Grab noch Gemeinschaft halten kann. Doch scheint es sich dabei nicht allein um eine Veranstaltung für die Hinterbliebenen gehandelt zu haben. Die Tatsache, dass immer wieder Kochtöpfe in verschlossenen (!) Schiebestollen dicht beim Leichnam eines Toten gefunden 43
Zum Weinrankenmotiv von Jericho vgl. HACHLILI/KILLEBREW, Jericho, 159–161. Eine symbolische Deutung von Dekorationselementen auf Ossuaren vertrat etwa FIGUERAS, Ossuaries. Kritisch zur Möglichkeit einer direkten Auswertung dekorativer Elemente im Hinblick auf Jenseitsvorstellungen ist TRIEBEL, Jenseitshoffnung, bes. 261–284 (auf Grundlage seiner Studien zu Grabpyramiden und Nefaschot). 44 STRUBBE, Cursed, 33–59; HACHLILI, Funeral Customs, 489–507; ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.4.6.
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wurden, zeigt, dass man der Meinung war, dass Tote zumindest für eine bestimmte Zeit noch Speise benötigten und man ihnen diese mitgeben musste. Wie schwierig es freilich ist, archäologische Befunde hinsichtlich möglicher, dahinter stehender Vorstellungen von postmortaler Existenz zu interpretieren, zeigt das Vorkommen der sog. „Charonsmünze“45 in einigen wenigen palästinisch-jüdischen Gräbern der Zeit vor 70 n.Chr. Die Sitte, eine Münze auf den Augen oder im Mund des Toten abzulegen, um damit die Überfahrt über den Styx ins Reich der Toten zu gewährleisten, kennen wir vor allem aus der griechisch-römischen Welt. Auch wenn letztlich undeutlich bleiben muss, wie stark diese mythologischen Konnotationen von palästinischen Juden rezipiert wurden, so zeigen diese Funde doch, dass der liminale Zustand zwischen Leben und Tod als besonders prekär angesehen wurde und dementsprechende Unterstützung erforderte. Je mehr Zeit aber verging, desto „toter“ wurde der Verstorbene; je mehr sein Leib verfiel, desto mehr verflüchtigte sich der Tote aus der Welt der Lebenden, und desto geringer wurden die Verpflichtungen, die man ihm gegenüber noch zu erfüllen hatte. Schritt für Schritt entglitt der Tote der Sorge der Lebenden. b) Die Hinwendung zu individueller Zweitbestattung statt des kollektiven Ossilegiums und die Zunahme der namentlichen Nennung der Verstorbenen durch Inschriften auf Ossuaren und Verschlüssen von Schiebestollen während des 1. Jh. v./n.Chr. deuten sicher auf eine steigende Wertschätzung des Individuums im Kontext der Großfamilie hin. Diese Akzentverschiebungen sind wichtige Indikatoren für tiefgreifende Veränderungen innerhalb der palästinischen Gesellschaft, die eben auch größere künstlerische und handwerkliche Ausdrucksmöglichkeiten vor allem der Oberschicht, dann aber zunehmend auch der Mittelschicht ermöglichten.46 Auch die Hoffnung auf individuelle Auferstehung ist ein Bestandteil des größeren Interesses am Individuum, doch ist eine solche spezifische Vorstellung nicht im Umkehrschluss überall dort vorauszusetzen, wo man Hinweise auf eine angebliche „Individualisierung“ im archäologischen Befund ausmacht. Weder sind Ossuare noch Einzelgräber per se Zeugnisse dieser Auferstehungshoffnung. Welche Instanz aber die Individualität des Verstorbenen auch nach dem Tod sichert (etwa der „Körper“), wird im palästinischen Judentum kaum reflektiert. Wir werden darauf noch zurückkommen.
45 Dazu vgl. HACHLILI/KILLEBREW, Coin-on-Eye; DIES., Coin-in-Skull; RAHMANI, Remarks; STEVENS, Obol; TRIEBEL/ZANGENBERG, Beobachtungen, 476; HACHLILI, Funerary Customs, 441f und die ausführliche Diskussion in ZANGENBERG, „Haus der Ewigkeit“, Kap. 2.3.3. Interessanterweise wurden bisher keine dezidiert als Amulette zu interpretierende Objekte in Gräbern unserer Epoche gefunden. 46 REGEV, Meaning; s. auch BURKES, Death.
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c) Mit dem Problem der Identität und Kontinuität der Person im Zustand des Totseins werden wir auf andere Art und Weise wieder konfrontiert, wenn wir zu beantworten suchen, wo sich der Tote eigentlich aufhält. Nach allem was wir den nun zumeist schriftlichen Quellen entnehmen können, hätten antike Juden sehr unterschiedliche, nicht immer widerspruchsfreie und selten erschöpfende Antworten auf diese Frage gegeben. Sicherlich wähnte man den Toten in bestimmter Weise und für eine bestimmte Zeit noch „in der Nähe“ des Grabes. Andere würden behaupten, dass sich die einzelnen Toten mit ihres gleichen an einem dunklen Ort in der Erde zusammenscharen, um dort im „Reich der Unterwelt“ (Scheol) ein Dasein als blutleere und flüchtige Schatten zu verbringen. Doch bestand zwischen diesen beiden Vorstellungen kein Widerspruch: Dass der Tote in der Erde ruhen („schlafen“) und sich zugleich im Schattenreich aufhalten kann, konnte man sich durchaus vorstellen, wie die eigentümliche Gleichzeitigkeit in Jes 14 nahe legt: während der König von Babel im Grab noch „auf Maden gebettet“ ist, wird sein Totengeist von den anderen Schatten schon in der Unterwelt begrüßt.47 Ebenso gut vorstellbar ist, dass ein Toter nach der Bestattung zu den Sternen in den Himmel aufgenommen wurde, während sein Leib noch im Grab ruhte. Auch auf diese Problematik werden wir weiter unten noch zurückzukommen haben.
5. An der Schwelle zu neuem Leben a) Einigen Autoren reichte die allgemeine Vagheit traditioneller Vorstellungen über das Geschick der Toten offensichtlich nicht aus. Dass die Toten, sofern sie ein ordentliches Begräbnis erfahren hatten, unter ihres gleichen „ruhen“ und in der Erinnerung des Volkes oder den Nachkommen fortleben, ließ Fragen offen.48 Daher begegnen ab dem 3. Jh. v.Chr. in verschiedenen Texten Aussagen, wonach für einige, viele oder alle Tote die Zeit des Totseins einmal ein Ende haben wird und dass diese – sei es als kleine Gruppe in erwartbarer Zeit oder sei es als großes Kollektiv im Verlauf anderweitiger kosmischer Ereignisse– in einen neuen Zustand versetzt werden. Dabei richtete sich das Interesse weniger auf die postmortale Daseinsweise („Schatten“?) oder den Aufenthaltsort der Toten („Unterwelt“?), sondern auf die Umstände, unter denen dieser Zustand aufgehoben wird. Antike jüdische Vorstellungen zu dieser Phase postmortaler Existenz sind schlechthin nur durch Texte zu greifen, archäologische Funde liefern dazu 47
Zu Jesaja 14 vgl. SCHÖPFLIN, Blick. Zu den Vorstellungen des Alten Israel vgl. z.B. WÄCHTER, Tod; PODELLA, Grundzüge; KITTEL, Befreit; JOHNSTON, Sheol. Zur Problematisierung der traditionellen Vorstellungen vgl. etwa BURKES, Death; SCHMIDT, Memory. 48
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keine Hinweise, im Gegenteil: oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass keine Verbindungen zwischen der Bestattungsform und etwaigen Vorstellungen von postmortaler Existenz erkennbar sind.49 Die Interpretation der relevanten frühjüdischen Zeugnisse ist freilich keine leichte Aufgabe. Die einzelnen Passagen stammen aus unterschiedlichen Epochen und sind zudem noch schwer zu datieren. Ihre sprachliche Form verkompliziert die Aufgabe zusätzlich: oft haben wir es mit visionären Kompositionen zu tun, die unterschiedliche Themen oft agglutinierend und assoziativ nebeneinander stellen, ohne recht deutlich zu machen, wie sie gelesen werden wollen. Auch geht metaphorische Sprache oft in gegenständliche Erwartung über und umgekehrt kann gegenständliche Erwartung leicht in metaphorischer Sprache fortgesetzt werden. Eine zweite relevante Quellengattung sind Inschriften, die durch ihre Formelhaftigkeit und Knappheit aber oft mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten.50 Die Vielfalt frühjüdischer Aussagen zu den Ereignissen an der Schwelle zu neuem Leben darf weder nivelliert noch harmonisiert werden.51 Ich betone das vor allem deshalb, weil wir geneigt sind, unsere christliche Perspektive einer „Auferstehung der Toten“ bzw. „des Fleisches“ in diesen Texten unmittelbar wiederzufinden oder zumindest angelegt zu sehen.52 Frühchristliche Aussagen über die Auferstehung Jesu oder der Christen gehören selbstverständlich in die große Familie jüdischer Aussagen über die Rückkehr von Toten, keineswegs aber laufen frühjüdische Vorstellungen direkt und notwendig auf das hinaus, was wir im NT finden. Doch war bis dahin noch ein weiter Weg mit – um im Bild zu bleiben – zahlreichen Verästelungen, Sackgassen und Umleitungen zurückzulegen, den man nicht einfach durch die Hintertür biblisch-kanonischer Postulate abschneiden darf. Die Vielfalt und oft genug auch Widersprüchlichkeit jüdischer und frühchristlicher Vorstellungen dokumentiert einen kreativen Prozess selektiver Interpretation und Aktualisierung traditioneller Vorstellungen innerhalb des frühen Judentums. Die einzelnen Texte sind Schlaglichter, die nicht in ein Modell organischen Wachstums gebracht werden können. Die Texte verdeutlichen ferner, dass die Aktualisierung älterer Tradition stets unter kreativem Einfluss von außen verlief (orientalisch wie auch später zunehmend griechisch), wie auch neue historische und politische Konstellationen aufgriff. So ist etwa die Astralisierung des „Jenseits“ in be49
NICKELSBURG, Resurrection; AVERY-PECK/NEUSNER, Death; SEGAL, Life. Zu Inschriften vgl. VAN DER HORST, Epitaphs; RUTGERS, Death; PARK, Conceptions; VAN DER HORST, Greek ; PERES, Grabinschriften. 51 Vgl. dazu die wegweisende Arbeit von NICKELSBURG, Resurrection. 52 Siehe die Warnung von JOHN J. COLLINS in AVERY-PECK/NEUSNER, Death, 129: „(R)estauration of the body was only one of a number of ways in which the resurrection could be imagined. It was never the sole, nor even the dominant, concept of afterlife in ancient Judaism“; vgl. auch SETZER, Resurrection, 2. 50
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stimmten Texten weder ohne das tiefe Interesse des Alten Orients an der Welt der Sterne zu verstehen noch ohne relativ junge Einflüsse aus Babylon.53 Dennoch entsteht im Rahmen jüdischer Rezeption etwas durchaus Eigenes, das seinerseits wiederum Quelle weiterer Inspiration und kreativer Aneignung wird. Keine der in diesem Prozess entstandenen Aussagen ist mehr oder weniger „jüdisch“, je nach dem wie viel „fremden“ Einfluss man festzustellen glaubt, da das Judentum in verschiedenen, regional ausgeprägten und miteinander in Austausch stehenden Spielarten bestand und es keine „Orthodoxie“ gab.54 b) In vereinzelten Passagen der alttestamentlichen Literatur des 6. bis 4. Jh. v.Chr. werden sprachliche Mittel entwickelt und für späteren Gebrauch bereitgestellt, die die von Gott erwartete nationale Wiedergeburt Israels mit Worten funeraler Metaphorik beschreiben (Ez 37,1–15; Jes 25,8; 26,19). Wir wissen nicht genau, wann diese metaphorische Sprache in gegenständliche Erwartung umgesetzt wurde. Auch wurden nicht alle sprachlichen Formen in gleicher Weise und zur gleichen Zeit zur Basis und Inspiration für Vorstellungen über Wiederkunft von Toten.55 Seit dem 3. Jh. v.Chr. sind erstmals Versuche greifbar, traditionelle Konzeptionen vom Abstieg der ɜɗɓ in die Scheol (Num 16,30; Dtn 32,22; Ijob 7,9; Jes 57,9; Ps 69,2f.15f; 88,3f; Jona 2,3–6; noch so spät wie Koh 12,1–7) zu „objektivieren“, um die Hoffnung auf eine wirkliche Wendung des Totseins und die Rückkehr von Toten auszudrücken. Mehrere Faktoren, alle letztlich bereits präsent in jüngerer alttestamentlicher Literatur und nicht zu denken ohne eine breite Verwurzelung in altorientalischen Vorstellungen inspirierten und unterstützten diesen Trend.56 1) Wichtig waren zunächst Entwicklungen innerhalb des biblischen Monotheismus. Während ältere Texte noch keine besondere Verbindung zwischen Jahwe und der Unterwelt und ihren Schattenbewohnern sahen (z.B. Hos 13,14; Ps 6,6; 88,6.11–13), begannen spätere alttestamentliche Texte 53
Dazu etwa ALBANI, Astronomie. So zu Recht ELLEDGE, Life, 44: „(O)ne encounters a great deal of diversity. This diversity is attributable to the fact that there was no widely accepted orthodoxy regarding the nature of the future life in the period. Instead, often conflicting and confused accounts of the future life developed side by side – occasionally, even within the same literary document. The religious syncretism of the period further contributed to the diversity, as did the different historical, geographical, linguistic and theological settings of those who held these beliefs“. 55 Jes 26,19 scheint über Dan 12,2–3 stärker auf die Nachwelt eingewirkt zu haben als Ez 37, das erst im 2. Jh. n.Chr. als Bezugnahme auf die Auferstehung gesehen wurde, dazu TROMP, Bones, 69–78 (dort 70–75 auch zu 4QPsEz). 56 Dazu s. etwa LIESS, Weg; EBERHARDT, Unterwelt und den Beitrag von M. Leuenberger in diesem Band. 54
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damit, Jahwes Kompetenzbereich ausdrücklich bis über die Grenzen biblischer Geographie (wozu auch die Unterwelt gehört) und menschlicher Erfahrung einschließlich Leid und Tod hinaus auszudehnen (Ps 139,8; Ijob 14). Jahwe begann sich für die Toten zu interessieren.57 2) Hinzu kommt, dass sich die spätere Weisheit zunehmend der Diskrepanz des tatsächlichen Geschicks von Frommen und Frevlern und der göttlichen Ordnung des Daseins annahm. Der innerweltliche Ausgleich zwischen Handeln und Ergehen im Rahmen des traditionellen Tun-ErgehenZusammenhangs geriet zunehmend in die Krise.58 3) Schließlich stellte die spät- und nachexilische Prophetie (besonders Deutero-Jesaja im späten 6. Jh. v.Chr.) zunehmend das Geschick Israels und der anderen Völker in den Zusammenhang weltumspannenden Geschehens und bediente sich dazu schöpfungstheologischer Sprachformen. Der Horizont zumindest dieser Autoren, so könnte man sagen, hatte globale Reichweite. Selbstverständlich resultierte das Nachdenken über das Ende des Totseins und den Wandel vom Totsein zum Nichtmehrtotsein nicht in einer einzigen, konsistenten Auffassung. Sowohl darüber, wen dieser Wandel betrifft, als auch darüber, was der Wandel konkret beinhaltet (Rückkehr auf die Erde, Wiedereinleibung, Versetzung in himmlische Welt), herrschte sowohl terminologisch als auch inhaltlich große Vielfalt. Die folgenden Ausführungen bieten weder eine auch nur annähernd vollständige Liste von Vorstellungen, noch geben sie vor, die betreffenden Passagen erschöpfend diskutieren zu wollen. c) Besonders komplexe Vorstellungen hinsichtlich des postmortalen Ergehens bietet das Buch Henoch, eine höchst komplexe Sammlung recht unterschiedlicher Texte, die zwischen dem 3. Jh. v.Chr. und dem 1. Jh. n.Chr. entstanden sind.59 Bereits in den ältesten Schichten der Henochtradition, dem astronomischen Buch der Himmlischen Lichter, wird das Ende postmortaler Existenz thematisiert. Tragend für alle Schichten der Henochtradition ist die Frage nach der Ermöglichung von Strafe und Lohn jenseits der Schwelle des Todes. Dabei sind zwei Unterformen traditionsgeschichtlich zu unterscheiden: zum einen die Wiederbelebung einzelner Märtyrer und deren Versetzung in eine Sphäre himmlischer Seligkeit (meist in Kür57 Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht schon früher entsprechende, meist aber figurativ gemeinte Spitzenaussagen gegeben hat, vgl. Hos 6,1–3; Spr 15,11; Am 9,2; Ps 68,21. Zum Thema s. BERLEJUNG, Tod; JANOWSKI, De profundis, 244–266 sowie die Beiträge von Bernd Janowski sowie Gönke Eberhardt und Kathrin Liess in diesem Band. 58 KAISER, Verständnis; KELLERMANN, Überwindung; OEMING/SCHMID, Hiobs Weg; WITTE, Beobachtungen; JANOWSKI, Todesverständnis. 59 WACKER, Weltordnung; BERGER, Henoch; ELLEDGE, Life, 5–12; NICKELSBURG, 1 Enoch 1.
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ze erwartet: 1 Hen 102; 108,11f), zum anderen die Wiederherstellung von kollektiven Gruppen (meist im Kontext von allgemeinen Gerichtsvorstellungen: 1 Hen 22; 91,10; 92,3). Im einzelnen aber sehen positive wie negative Vergeltung durchaus ähnlich aus: die Gottlosen werden mit Gefangenschaft im Feuer oder Vernichtung in Dunkelheit bedroht (1 Hen 10,13–15; 92,3–5; 100,4–9), den Gerechten werden unterschiedliche Segnungen in Aussicht gestellt, einschließlich der Wiederherstellung des paradiesischen Zustands (25,4–6), Schutz vor Bestrafung (81,4; 100,4–9), ewiger Freude (100,3f) oder Erhebung in die himmlische Welt der Sterne (92,3–5). Die Konsequenzen, die eine solche Wandlung vom Zustand des Todes in eine neue Existenz für den Körper des Toten hat, wurden in den allermeisten Texten auch außerhalb von Henoch kaum reflektiert oder klar ausgesprochen (2 Makk 7 ist eine Ausnahme). Dass der ins neue Leben gelangte Mensch einen wie auch immer gearteten „Körper“ als Träger des neuen Lebens haben muss, war klar, doch man machte keine Anstalten auszumalen, wie man sich diesen Körper denn vorzustellen hatte. Das ganz weitgehende Fehlen jeglicher Bezüge auf die drastische Körpermetaphorik von Ez 37 in jüdischen Texten vor 70 n.Chr. ist ein klares Indiz für die geringe Bedeutung, die die Frage nach der Beschaffenheit des Körpers der wiederauflebenden Toten insgesamt hatte. An eine Rekonstituierung und Wiederbelebung desselben prämortalen Leibes, der als Leiche ins Grab gelegt worden war, dachte niemand.60 Diese Vagheit trug entscheidend dazu bei, dass unterschiedliche Auffassungen von der Art der neuen Existenz in der Literatur nebeneinander existieren konnten (Wandlung, Auferstehung, Astralisierung). Eine universelle Rückkehr aller Toten wird erst im späten Teil der Henochtradition, den Gleichnissen, thematisiert (Scheol wird ihre Toten zurückgeben, 51,1f). Obwohl die unterschiedlichen Bezüge auf postmortales Ergehen sich durch gut 300 Jahre Henochliteratur hindurch ziehen, sollte man daraus keine „Entwicklung“ konstruieren, in der „Primitives“ durch Ausdifferenziertes ersetzt oder signifikante Einzelfälle zu universaler Auferstehung vergrundsätzlicht werden. Unterschiedliche Konzepte haben nebeneinander bestanden. d) Die Rede vom „Auf(er)stehen“ oder „Aufgewecktwerden“ eines Toten ist lediglich eine Spielart der Hoffnung auf postmortale Statusveränderung, die mehr durch ein bestimmtes Vokabular geprägt ist als durch konsistente 60
Zum Problem des „Leibes“ derer, die zum Leben zurückkommen vgl. WALTER, Auferstehung; MARTIN, Body, 3–37 und 104–136; SETZER, Resurrection; TROMP, Bones, 70; STEMBERGER, Leib , 87; völlig anders HENGEL, Begräbnis, der das Überschreiten der Schwelle zu neuem Leben stets als „Auferstehung“ und diese als „Auferstehung aus dem Grabe“ versteht.
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anthropologische Anschauungen etwa zur Art der Körperlichkeit des Auferstandenen. Berühmt ist vor allem Dan 12,1–3, wo die „Schlaf-“ und „Aufwachthematik“ besonders deutlich ist. Möglicherweise hat Dan 12,1–3 die noch metaphorische Vorstellung von Jes 26,19 vergegenständlicht. In jedem Fall ist die danielische Terminologie in ihrer griechischen Übersetzung (LXX: ЍƩƝƯưВƯƫƩưƝƥ; Theodotion: βƪơƟơƭƤВƯƫƩưƝƥ) für die spätere jüdische Literatur (PsSal) wie auch für das NT höchst einflussreich geworden.61 Doch ist Dan 12,1–3 nicht nur wegen des Vokabulars bedeutsam, sondern vor allem auch wegen vier inhaltlicher Punkte: – Dan 12,1–3 demonstriert, dass die Frage nach der Körperlichkeit der Auferstehenden nicht thematisiert werden muss, um das Proprium der Vorstellung auszudrücken: nämlich dass Tote aus dem Totsein zurückkommen können. – Dan 12,1–3 zeigt auch, dass Auferstehen zunächst auf besondere Menschen begrenzt war. Der Text spricht bewusst von „vielen“, nicht von „allen“. Auferstehung ist vor allem ein Mittel, das Geschick derer zu wenden, die auferstehen dürfen, nämlich der Gerechten, die für das Gesetz verfolgt werden.62 – Ferner dokumentiert Dan 12,1–3 auch, dass die Auferstehungsmetaphorik durchaus mit Metaphern aus anderen Sachkontexten kombiniert werden kann (in Dan 12,3 das Versetzen in die astrale Welt). „Auferstehung“ ist daher kein allgemeiner Begriff für den Wandel des Totseins zu neuem Leben, sondern eine Metapher unter vielen. – Schließlich ist Dan 12 auch eines der frühen Zeugnisse dafür, dass neben den Gerechten, die zu Ruhm und ewigem Leben aufgeweckt werden, auch „andere“ zu ewigem Tadel und Spott aufstehen werden. Freilich gehört auch die letztere Gruppe zu den „vielen“, die aufgeweckt werden, sodass man davon ausgehen muss, dass eine unbestimmte Anzahl von Menschen gar nicht aufwacht, sondern weiter im „Land des Staubes“ schläft. e) Von regelrechtem „Aufstehen aus dem Schlaf“ spricht auch 1 Hen 91,10f. Hier beziehen sich die Vorstellungen freilich auf einen einzelnen Gerechten und Weisen, der „aus seinem Schlaf aufstehen“ und Unterdrücker und Sünder vernichten wird. In 1 Hen 103,3f stehen wieder Gerechte und Weise im Plural im Mittelpunkt. Ihnen wird zugesagt, dass ihr „Geist nicht vergehen soll noch ihre Erinnerung vom Antlitz des Großen verschwinden bis in alle Generationen der Welt. Daher sorge Dich nicht über ihre Erniedrigung“. Vor allem der letzte Satz legt nahe, das diese Passagen in die Zeit von Dan 12,1–3 (7–12) und auf die Bedrängnis der Makkabäerzeit Bezug nehmen, in der besonders der grausame Tod der Gerech61 62
Zu Daniel vgl. COLLINS, Daniel; ELLEDGE, Life, 12–15. KELLERMANN, Danielbuch.
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ten ein drückendes Problem darstellte. Auch in Jub 23,30f geht es um die Trennung von Gerechten und Sündern und um die Frage von Lohn und Vergeltung. Interessanterweise jauchzen die „Geister“ der Gerechten in Ewigkeit über die Bestrafung ihrer Verfolger, während deren Knochen in der Erde liegen. Von Auferstehung im engeren Sinne kann daher eigentlich nicht die Rede sein. TestJuda erwartet die Wiederkunft von Abraham, Isaak und Jakob und den Wiederantritt der Herrschaft Judas und seiner Brüder über Israel; Gerechte werden wieder zum Leben erweckt (25,1.4). Die am meisten ausdifferenzierten Vorstellungen finden sich in 2 Makk 7.63 2 Makk ist – neben der LXX64 – vermutlich der älteste uns überkommene Text aus der griechischsprachigen jüdischen Diaspora (1. Hälfte 1. Jh. v.Chr.), der den Übergang vom Totsein zu neuem Leben thematisiert. Durch den konsequenten Gebrauch der Terminologie, die bereits aus Dan 12LXX bekannt ist (ƩƝƯưџƯơƥƩ, ƢƵВ), ein stark theologisches Interesse an der Theodizee und damit an einer aktiven Rolle Gottes bei der Wandlung zum neuen Leben sowie das drastische Interesse an der Körperlichkeit der Auferweckten hat 2 Makk 7 große Wirkung entfaltet. Die Wiederbelebung der treuen Märtyrer wird explizit in Verbindung gebracht mit der Eigenschaft Gottes als Schöpfer (2 Makk 7,22f), und die schreiende, körperliche Brutalität der Folter wird konterkariert durch die Betonung der Körperlichkeit der Auferstehungsexistenz (2 Makk 7,11.14). Insofern bringt es hier das eigentlich tragende Motiv der Kompensation von Unrecht und gewaltsamem Tod mit sich, dass die Körperlichkeit der wieder zum Leben Erweckten derart intensiv thematisiert wird. Auch ist auffällig, wie oft die Ewigkeit der neuen Existenz der Gerechten angesprochen wird; will man so einen Kontrast zur begrenzten Dauer ihres Totseins und der impliziten Endlosigkeit des Totseins der anderen konstruieren? Von einer kollektiven Wiederbelebung aller Menschen ist nicht die Rede,65 allein Antiochus als bösem Sünder wird angedroht nicht wieder aufstehen zu dürfen. Wenn gesagt wird, dass Israel insgesamt als kollektive Größe wiederhergestellt werden soll, dann deshalb weil und insofern Israel als ganzes gerecht ist und unter Verfolgung und Gewalt leidet. Die Treue Gottes zu Israel forderte geradezu, dass sein Leiden nicht das letzte Wort bleibt. Die Bedeutung dieser Gedanken für die Entwicklung der frühen Christologie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.66 63 GOLDSTEIN, II Maccabees, z.St.; KELLERMANN, Auferstanden; VAN HENTEN, Martyrs; ELLEDGE, Life, 15–19. 64 Zur „Auferstehung“ in der LXX vgl. der sehr zurückhaltende Überblick von VAN DER KOOIJ, Ideas (allein in Ijob 42,17a kann von „Auferstehung“ die Rede sein). Zuversichtlicher ist SCHNOCKS, Hope. 65 2 Makk 12,43f ist kein Gegenargument, da die Gefallenen als Märtyrer betrachtet werden, vgl. DE JONGE, Opstanding 51f. 66 DE JONGE, Jesus’ Death, 125–134.
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f) In den Jahrzehnten um die Zeitenwende nimmt das Interesse an der Schwelle zum neuen Leben beträchtlich zu. Dabei hält sich die Sorge um die Rechtfertigung der Gerechten durch die Wandlung des Todesgeschicks als bestimmendes Motiv durch. So spricht auch PsSal 2,31–34 von der „Auferstehung“ der Gerechten und ihrem ewigen Dasein im Angesicht Gottes, thematisiert aber als einer der ersten Texte auch das Ergehen der Ungerechten. Die Strafe der Sünder liegt hier gerade darin, dass sie nicht wiederbelebt werden, ihre postmortale Schattenexistenz nicht gewandelt wird bis hin zur völligen Auflösung und völligem Vergessen (PsSal 3,11f; 13,11; 14,3; 15,3.12). Dies ist dann sozusagen die endgültige Form von Tod. Sieht man sich die Texte von Qumran an, die man nicht vorschnell mit entsprechenden Berichten in Flav.Jos.Bell. II 152–158; Ant. XVIII 18 oder Hier.Haer. 9,26f in Beziehung setzen sollte,67 findet man ein inhaltlich breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen darüber, ob, wer und, wenn ja, wie Menschen nach der Phase des Todes wieder zum Leben zurückkehren können. In einigen, zumeist als sektarisch angesehenen Texten werden neue inhaltliche Motive mit der Vorstellung von der Wendung des Totseins zu neuem Leben verbunden. Auffällig sind vor allem eine gewisse Tendenz zu Determinismus und Dualität (1QH; 1QS) und die Überzeugung, schon jetzt zur Gemeinschaft des eschatologischen Heils erwählt zu sein (1 QS 11,7–9). So dankt der Schreiber von 1QHa 11,19–22 Gott dafür, dass er sein „Leben vor der Grube, und vor der Sheol des Abaddon errettet und ihn zu ewiger Höhe erhoben hat (!)“. Die Metapher des Ergehens an der Schwelle zum neuen Leben wird ihrerseits zur deutenden Metapher der Existenz vor der Schwelle zum Tod. g) Nach 70 n.Chr. setzen 4 Esr und 2 Bar die Auferstehungsthematik unter Aufnahme von Dan 12 fort und bieten ausführliche Beschreibungen des Schicksals der Sünder. 4 Esr ist dabei besonders an der Ausmalung der postmortalen Existenz der Seelen und der Natur des zukünftigen Lebens interessiert (4 Esr 7). Doch auch hier ist diese Vorstellung gepaart mit dem Gedanken astraler Unsterblichkeit seitens der Gerechten und ihrer Verwandlung in Engel (bes. 2 Bar 51,5.10). h) Freilich gab es auch andere Möglichkeiten, eine Fortexistenz jenseits der Todesschwelle auszudrücken als die Auferstehungsmetaphorik. Das beste Beispiel dafür ist Weish, eine weisheitliche Schrift der ägyptischen
67 LICHTENBERGER, Auferstehung, 79–91; PUECH, Croyance; DERS., Necropolises; ELLEDGE, Life, 19–26.
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Diaspora des 1. Jh. v.Chr.68 Statt der Auferstehungsmetaphorik etwa in Dan 12LXX oder 2 Makk 7 benutzt Weish stark platonisierendes Vokabular, das auf der Unterscheidung von Körper und Seele aufbaut und deren zentraler Begriff „Unsterblichkeit“ ist. Doch wie in Dan 12LXX und 2 Makk 7 steht auch in Weish der Kontrast zwischen gegenwärtigem Leiden und zukünftiger Kompensation im Zentrum. Interessanterweise veranlasste die Nähe zu platonisierender Philosophie und die Leidensproblematik den Autor von Weish dazu, intensiv über den Charakter der ursprünglichen Schöpfung („Unverderblichkeit“) und das Hereinbrechen des Bösen in die Welt nachzudenken (Ansätze zu einer Theodizee). Als Vertreter eines ähnlichem Milieus wie Weish können auch 4 Makk; Philo (de opficio 134f) und PsPhokylides gelten.69 Auch Josephus70 vermeidet jeglichen Hinweis auf Auferstehung mitsamt der entsprechenden Terminologie und spricht stattdessen höchstens von „Wiederbelebung“ (ƩƝƞДƵƯƥƮ Flav.Jos.Ant. XVIII 13f bei der Beschreibung der Lehre der Pharisäer; „die Toten zurückerhalten“ Bell. II 153; „in einen nicht verunreinigten Körper“ Bell. III 374). Am weitesten verbreitet sind aber Passagen, die von der „Unsterblichkeit“ der Seele sprechen und von ihrer Reise von einem Körper zu einem anderen (Flav.Jos.Bell. II 163; Ant. XVIII 13f; Apion. II 218), was stark von griechischen Vorstellungen inspiriert ist. Josephus setzt hier Impulse aus der ägyptischen Diaspora fort, die bereits in Weish greifbar sind, setzt aber unter Benutzung populärphilosophischer Gedanken auch eigene Akzente (Metempsychose). i) Trotz aller textlicher Zeugnisse blieb die Frage, ob Tote wiederbelebt werden können, stets ein kontroverser, nur in manchen Kreisen populärer Gedanke, der keinesfalls von allen Juden vertreten wurde. Bekannt sind etwa die Debatten um die „Auferstehung“ zwischen Pharisäern und Sadduzäern (Mk 12,18–27parr; Apg 17,18.31–33; 23,6–8; 24,15–17.25; 26,6– 8.23; Flav.Jos.Ant. XVIII 14–16); auch haben die Samaritaner bis in nachchristliche Zeit den Gedanken abgelehnt, dass Tote wiederbelebt werden könnten (bSanh 90b; QohR 5,10; Hippolyt, Ref. 9,29; Origenes, CommMt 22,23–33). Hermann Lichtenberger bemerkt zudem, dass „von den über 500 in Qumran gefundenen nichtbiblischen Handschriften nur zwei oder drei explizite Aussagen über Totenauferstehung machen“.71 Die Motive für die 68
Zur den Vorstellungen der ägyptischen Diaspora vgl. FISCHER, Eschatologie; zu Weish vgl. SPIECKERMANN, Seelen, 345–368; WINSTON, Wisdom, 25–33; ELLEDGE, Life, 27f. 69 ELLEDGE, Life, 29f; Zu PsPhoc s. KARL-WILHELM NIEBUHR, Tod und Leben bei Pseudo-Phokylides. 70 Zu Josephus s. jetzt ELLEDGE, Life, passim. 71 LICHTENBERGER, Auferstehung, 90.
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Ablehnung der Wiederkunft Toter bzw. die Indifferenz gegenüber dieser Vorstellung dürften unterschiedlich gewesen sein und sind für uns aufgrund des Charakters der einschlägigen Quellen nicht mehr klar zu fassen. Jedenfalls scheint ein gewisser Traditionalismus eine Rolle gespielt zu haben, der in den Mittelpunkt stellte, dass Tote zwar zu ehren und zu pflegen seien, aber sehr zurückhaltend war, wenn es um die Ausmalung der Existenzform der Toten ging. Strittig war in diesem Fall nicht die „Fortexistenz der Verstorbenen“ nach dem Tod, sondern gerade die Aufhebung dieser traditionell verstandenen Fortexistenz in Grab und Unterwelt.
6. Ausblick Folgende Thesen seien zum Schluss formuliert: Antike jüdische Bestattungspraktiken, wie auch Vorstellungen vom Jenseits, zeigen sehr viele Ähnlichkeiten mit paganen griechischen oder römischen Sitten. Trotz aller Unterschiede war das antike Judentum auch hinsichtlich der Funeralpraxis und der Jenseitsvorstellungen Teil der antiken Mittelmeerwelt. Die Untersuchung materieller Hinterlassenschaften liefert wichtige Einsichten in frühjüdische Todes- und Jenseitsvorstellungen. Aufgrund eines differenzierteren Bildes der Grabformen und verschiedenen Abschnitte des Bestattungsablaufs können wir nun viel präziser nach der Relevanz konkurrierender Konzepte von postmortaler Existenz fragen. Es stellt sich dabei heraus, dass die in der antiken Literatur belegten Diskussionen (wie etwa um die Auferstehung der Toten) keine erkennbare Rolle in der Bestattungskultur spielen. Die Frage nach den Todes- und Jenseitsvorstellungen im antiken Judentum nimmt zu Recht breiten Raum in der Forschung ein. Sieht man sich die frühjüdischen Texte genauer an, dann erkennt man schnell, wie bunt und vielfältig die Modelle hinsichtlich der postmortalen Existenz der Toten waren. Regionale Aspekte und konkurrierende theologische Tendenzen sorgten dafür, dass alles andere entstand als eine auch nur annähernd konsistente „Auferstehungslehre“. Die Selbstverständlichkeit, mit der im frühen Christentum und breiten Bereichen des NT von „Auferstehung“ nicht nur Jesu, sondern auch der Christen bzw. der Menschheit insgesamt geredet wird, ist innovativ und findet sich in dieser Form eben nicht im antiken Judentum „fast nahtlos“ vorbereitet.72 Das frühe Christentum hat vorhandene motivische und termi72
Insofern kann ich nicht wie Martin Hengel davon sprechen, dass „die erstaunlich einheitliche urchristliche Auferstehungserwartung fast ‚nahtlos‘ die jüdisch-palästinische weiterführt“ (HENGEL, Begräbnis Jesu, 172).
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nologische Impulse einzelner Texttraditionen ausgewählt, diese z.T. massiv verstärkt, andere weggelassen und neue Elemente hinzugefügt. Doch dies ist ein anderes Thema, das hier nicht behandelt werden soll.
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Trockene Knochen, himmlische Seligkeit
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Stellenregister 1. Altes Testament Genesis 1,10 2–4 2,7 2,16f 3 3,16 3,19 3,20 4,8 6,3 6,17 7,15.22 10 10,22 11,1–9 12–50 12,2 14,17 15 15,5 16,7–14 17,5 22,16–18 22,17 23 23,1–20 23,1 24,28.53 25,7–11 25,7 25,8 25,9f 25,9 25,17 25,21–26 25,24–26 26,4
540 103 17, 53, 56 103 104 104 53 104 229 152 56 56 540f 540 536 533 530 490 533 533 536 534 534 533 91, 272, 486 259 119 96 120 121 119, 122ff, 151, 229 129f 91 151 89 89 533
27 27,1–17 28,64 31,19–35 31,30.32 31,34 32,29 33,18–20 35,8 35,10 35,16–20 35,16–19 35,16a 35,19f 35,19 35,20 35,28f 35,29 37,34 38,11 38,14.19 38,29 42,38 44,31 46,26f 47,30 49 49,29–33 49,30ff 49,33 50,2.24–26 50,3 50,12f 50,13
90 91 540 98 508 492 534 534 119 534 89, 98 229 488 91f 119 487, 507 229 91, 119, 129f, 151 94 105 94 89 124 124 539 286 532 229, 272 259 151 94 95 91 259, 272
Exodus 1f 1,5
106 539f
Stellenregister
692 3 3,18 5 5,3 8 8,23 9,8ff 9,11b 12,38 15 15,22–27 15,22.23.24 15,25.26 15,27 16,1 19,3b 19,6 21,6 21,14b 22,17 22,19 24,1.9 28f 32,10 32,12 32,13 34,6f 44,25
542f 542f 542f 542f 542f 542f 537 539 539 539 535, 537, 539, 541, 542f 536 537 536, 538f 536 353 353 541 349 101 541, 543, 553 540 355 530 13 540 33 361
Levitikus 4f 5,2 5,3.5ff 7,17–19 10,1–3 10,6–11 11 12,2 13,2–6 13,44 14 14,4.6.49ff 14,8ff 14,33–52 15,2 15,13.28 15,16–18 15,16f
15,19 15,27ff 15,32f 16,1f 19,2 19,6ff 19,27f.31 19,27f 19,27 19,28 19,31 20,6f 20,6.27 20,6 20,26 20,27 21,1b–4 21,1 21,2f 21,4 21,4.6.8 21,5 21,6–8 21,6 21,10–12 21,15 26,11f
361 362 361 358 357, 366 363 312 353 357 351, 357 351, 453f, 502, 548, 551, 555 351 453 502, 548, 551, 555 357 454, 548, 551, 555, 561 355 356, 358, 361 356, 361 356 357 313, 357, 359, 361 357 356f 358f 358 360
Numeri 363 360 362 363 358 359 354, 360 363 363 361 362 363 363 363 361 363 360 362
5,1b 5,2–4 6,3f 6,5 6,6–12 6,24–26 12,13 14,12 14,29f.32–35 16,30.33f 16,30 17,27f 18,20 19,1 19,9b 19,11–22 19,11–20 19,11f
361 360 361 361 361 282, 459f 541 530 362 80 675 362 529 363 363 360 364 362, 363
Stellenregister 19,13 19,14–16 19,17–22 19,18f 19,21b.22 20,1 20,24 20,29 26,10f 27,13 27,14 31,19–24 33 33,8f 33,26b
362 363 363 364 364 92 536 95 80 151 536 364 538 536, 538 536
Deuteronomium 1–3 1,36 3 3,11 4,45 6,8 7,1–6* 7,6 10,8f 10,22 11,6 12–26 14 14,1–21 14,1a.2 14,1 14,3–21 14,22–15,23* 14,27–29 17,5 17,9.18 18,1f 18,1 18,9–14 18,10f 18,11
18,18f 18,19f 20,1–20
530 531 531 530 537 559 353 354 355 539f 81 494 353 353, 354 357 313, 352, 357, 529, 554, 558f 351 351 351 355 355 529 355 99, 101f 351, 559 101, 353, 453f, 502, 529, 548ff, 554, 558ff 102 103 360
21,1–9 21,2f.4 21,5 21,10–14 21,15–17 21,18–21 21,19 21,21 21,22–23a 21,22f 21,23 22,13–21 22,24 23,2–9 23,10–15 24,8 24,17 25,5–10 25,6 26,2–13* 26,12–15 26,12–14 26,14
27,9 27,19 28 28,1.15 28,26 28,27aƝ 31,9 31,16 32 32,8 32,22 32,39 32,50 34,1ff 34,8
693 355 363 355 360, 558 90 558 355 355 554 354 453f 558 355 360, 491 360 355 93 93, 558 553 351 494 269 94, 269, 351, 353f, 494f, 504, 529, 553f, 558, 560, 670 355 93 537 537 92 537 355 286 383 541 675 155, 355, 373, 383 151 529f 95
Josua 7,24f 8,29 10,26f 14,13f 24 24,2f 24,32
355 554 554 531 532 534 534
Stellenregister
694 Richter 4,17ff 8 8,30 8,32 11,37–40 16,28–30 16,31 17,5 18,14–20 19,25ff
105 540 540 272, 552 95 186 272 99 99 229
1 Samuel 2 2,6 4,19–22 9,1–10,16 10,2–3 10,2 15,23 17,12ff 19,13.16 19,13 19,16 20 20,6 20,29 25 28 28,3–25 28,3 28,7–9 28,7 28,13 31,5
383 155, 355, 373, 383 89 553 504 92, 488 493 105 99 492f, 508 508 553 494, 504 494 93 101, 351, 453, 516, 548, 560 452, 454, 502 454, 551 551 353 453, 541, 554 193
2 Samuel 1,19–27 2,32 3,31–39 3,33f 3,35 11,26 12,13b–16 12,15–23 13,19
305 272, 552 306 305 352 95 541 95, 312 302
17 17,23 18,18 19,38 20,10–14 21,10–14 21,10f 21,11–14 21,14 22
179 179, 182, 272, 552 281, 489f, 507, 553 272, 552 306 96, 554 92 97 97, 552 158
1 Könige 1 1,50f 2,6 2,9 2,10 2,28 3,11 3,13f 11,43 14,31 15,8 15,24 17,17–24 18,28 18,31 21,3 21,13 22,34–38 22,51
90f 349 124 124 151, 286 349 116 116 286 286 286 286 429 314 534 552 355 93 286
2 Könige 2,21f 4,18–37 5 5,7 8,24 9,7.10.30–37 9,28 9,33–37 10,1 11,15 12,22 13,1–10 13,21 14,20 15,7
538 429 383 155, 355, 373, 383 286 113 286 92 540 349 286 350 429 286 286
Stellenregister 15,38 16,20 17,13ff 17,23 17,28 21,6 21,18 21,23f 21,26 23,4–15 23,6 23,10 23,14b 23,16 23,17 23,24 23,30
286 286 350 350 350 351, 453, 454, 548, 551, 559 287 351 287 349 259 291 349 350 507 453f, 493, 508, 548, 551, 559 287
34,3 38 38,10 38,18 42,13f 45,6f 51,2 51,8 51,17–23 53 53,1–11b 53,11 56,3–7 56,5.6 57,6 57,9 63,16 64,4f 65,1–5 65,4f 65,4
94 81 102, 362, 454, 502 351, 541, 548, 551 82 673 406 532 92 405 98 515 453f, 548, 551 91, 487 283 437 83, 170 355 80, 84, 438, 465, 675 468 438 532 438, 675, 678 75ff 362, 454, 548, 551 534 291 304
Jeremia
Jesaja 3,24 5,14 8,19f 8,19 9,19 14 14,3–23 14,9 14,18–21 14,18 15,1–9 16,5–7 19,3 22,15–19 22,15f 24–27 25 25,8.14.19 25,8 26,7–21 26,14 26,14.[19] 26,19 28,15.18 29,4 29,22 30,33 32,9–12
6,26 7,31 9,16–21 9,16–20 9,20 9,26 16,1–9 16,5–8 16,6f 16,6 16,7 19,5f 25,23 26,23 31,4.13–15 31,15 34,5 41,4f 41,5f 41,5 47,5 48,37 49,3 49,32
695 554 170, 443 114, 415 423 106 155 534 15 98 443f 424 426 491 507 351 351, 675 535 353 102 94, 354, 505f, 515 351, 362, 453f, 548
94 291 100 304 70ff 312 495 505 303 302, 558 94, 352 291 313 259 98 98, 488 351, 503 303 302 558 303, 558 303 303 313
Stellenregister
696 Ezechiel 4,13 7,18 7,21f 8,11f 8,14 9,6f 13 13,1–16 13,2f.17 13,9 13,14 13,20–23 21,26 22,26 22,31 23,38f 24,17.22 27,31 32,17–32 37 37,1–15 37,7ab.8e–10b 43,7–9 43,7.9 43,7 43,9 44,6–14.15–31 44,15–22 44,15 44,16 44,20f 44,20 44,21 44,23 44,24–31 44,25–27 44,25 44,26f 44,28–30 47,8f.11
Joël 352 558 350 540 101, 317 350 102 102 102 103 103 103 493 350 350 350 94 558 406 677 675 429 350, 493, 503 269, 286 553 553 355 357 355 356 359 359, 361 361 357 357 355 356f, 361 358 529 538
Hosea 6,1–3 6,1.2 9,4 13 13,14
390 382 94, 352 382 373, 381, 383, 675
2,9
70
Amos 2,1 5,16f 9,2–4a 9,2
350 304 377 163, 373ff, 380, 388
Jona 1,3–5 1,3 1,12 2,3–6 2,4–7 2,4 2,7
408 408 190 675 402 408 408, 415
Micha 2,9f
93
Nahum 3,3
554
Habakuk 2,4f 2,5
80 81
Sacharja 10,2 12,11–14 12,12ff
493, 502 100 306
Psalmen 2–89* 6,6 8 9,14f 11,4 12–14 13 13,4
167 165, 675 32, 36ff 416 378 159 157 159
Stellenregister 14,2 16 16,2f 16,10f 16,10 18 18,5f 18,8.16 19,8 21,5 22,15 22,30 30 30,4 30,10 31,13 39 39,6 42,2 42,7f 49 49,12 49,15 49,16 53,3 55,24 56,14 61,2f 63 63,1f 63,4a 68,20f 68,21 69,2–3.15–16 71,20 73 73,9 73,23f 73,24 79,2f 80,4.8.20 84ff* 86,13 88 88,3–4 88,4 88,5f 88,6 88,6.11–13 88,10aƞ–13
378 553 351 355, 466 428 157 158 403 461 117 456 165 157 160, 428 165, 387 456 167ff 167 456 409 167, 443f 278 74ff 355, 426, 428 378 115 428 408 169 407 169 382 381 675 428 425, 443f, 466f 82 355 426 554 461 167 428 4ff, 162ff, 381, 443 675 415, 457 423 373 4ff, 387, 675 164
88,11 88,16f 89,48f 90 90,1f 90,3.5.6 90,4 90,7–9 90,9 90,10–12 90,10 90,11 90,13 90,14.15.16 90,17 90–92 91,14–16 91,16 93,1 96,10 102 102,2–12.24–28 102,14–23 102,25 102,26–28 102,27f 102,29 103 103,1f 103,3–5 103,6–10 103,11–13 103,14–18 103,15f 104,5 104,29 106,17 106,28 107,18 115,17 116,8 124,3 139 139,7f 139,8 146,4
697 165, 532 5f 7f 8, 167ff 13 9f 9, 20 10f 169 12 11, 89, 152 11 10ff 12 13 14 127 132f 15 15 14ff, 170 14 15 14, 114 15 20 15 16ff 16 16 16 16 16f 17f 15 55 81 351ff, 362, 505, 553 415 165, 373, 387 428 80 377 163, 355 373ff, 380, 388, 676 55
Ijob 1,16f.18f
229
Stellenregister
698 3,11 4,7–9 4,17–20 5,18 5,26 6,1–3 6,4 6,8–10 6,8 6,10 6,11–13 7,7 7,9 7,15f 7,17f 7,19 7,21 14 14,13–17 14,13 14,21 19,25 21,13.23f 22,22 23,12 26,5.6 26,5 26,6 27,3 32,8 32,19 33,4 34,14f 34,14 36,11 38 38,16–18 38,16f 38,17f 38,17 42,12 42,17
229 31 25 35 229 26 26 25ff 27 28ff 30 31 675 31ff 36f 32 32f, 37ff 387, 676 376 380, 385 548 355 229 29ff 29ff 373 380, 532 380 56 56 453f, 551, 561 56 56 55 229 380 400, 457 379 414 373, 379f 128 120, 127, 132, 151, 229
Sprüche 1,12 2,18 5,1–14 6,26
80f 532 105 105
15,11
163, 373, 378ff
Hoheslied 8,6
104
Kohelet 1–3 1,3 1,4–11 1,4 1,11 1,12–2,26 3,1–8 3,1b 3,2–8 3,9 3,11 3,16–22 3,16f 3,17 3,17.18–21 3,18–22 3,18–21 3,18 3,19–21 3,20b 3,21 3,22 4–12 6,3 7,15–20 7,17 8,10 8,11f 9,4–6 9,10 11,7f 11,9–12,7 11,9f 11,9 12,1–7 12,1a 12,2–6 12,5 12,6 12,7 12,14
44 45 45 45 45 46 46 49 49 46 60 47 48 48ff, 60 47 54 48, 50, 58 51, 58 52 47, 61 47, 55, 61 48, 57f 44, 46 129 53 115 50 50 470, 548 548 59 59 60 49 60, 675 62 60 278 60 47, 58, 61 49
Stellenregister Klagelieder 5,1–3
98
16,16–18 23,1 24,15 29,28
699 534 151 129 124f, 128
Daniel 2 Chronik 12 12 LXX 12,1–4 12,1–3
170, 435, 680 679, 681 429, 435 355, 678
Nehemia 3,16 9,7 11,25
259, 287 534 486
1 Chronik 10,13f 10,13
453f 551
16,12 16,14 21,19 21,20 23,14 24 24,15 24,16 24,25 28,27 32,33 33,6 35,24 35,25
502 259, 286, 503 286, 351, 503 259 349 131 130, 132, 151 131 259 259 259, 287 551 259 100, 305
2. Apokryphen und Pseudepigraphen AssMos 9,6f AssMos 10 Bar 6,26b 2 Bar 2 Bar 51,5.10 4 Esr 4 Esr 7 1 Hen 10,13–15 1 Hen 22 1 Hen 25,4–6 1 Hen 51,1–2 1 Hen 81,4 1 Hen 91,10–11 1 Hen 92,3–5 1 Hen 100,3–4 1 Hen 100,4–9 1 Hen 102 1 Hen 103,3–4 1 Hen 108,11f äthHen 1–36 äthHen 17–36 äthHen 22 äthHen 37–71 äthHen 51 äthHen 83,1–91,10
192 192 670 680 680 680 680 677 170, 677 677 677 677 677f 677 677 677 677 678 677 429 429 429f, 435, 444 426, 428 442 440
äthHen 85–90 äthHen 92–105 Jub 23,30–31 Jub 46 Jub 46,9 Jdt 8,5 Jdt 16,24 1 Makk 6,43–46 1 Makk 13,23–30 2 Makk 6,18–31 2 Makk 7
439 441 679 543 540 94 95 186f, 190 659 188, 191 170, 191, 440, 677, 679, 681 2 Makk 7,40 191 2 Makk 10,13 185 2 Makk 12,39–45 496, 505 2 Makk 12,39 552 2 Makk 15,12–16 497 4 Makk 681 4 Makk 5,1–7,23 188, 191 4 Makk 8,1–14,10 191f 4 Makk 14,11–17,6 191 PsSal 2,31–34 680 PsSal 3,10–12 441, 680 PsSal 13,11 680 PsSal 14,3 680
Stellenregister
700 PsSal 15,3.12 Sir 7,31–34 Sir 18,9 Sir 22,12 Sir 25,24 Sir 30,18 Sir 38,16–23 Sir 38,17 Sir 40,11 Sir 41 Sir 41,1–4 Sir 51,6 Sir 51,9 Sir 7,33 TestSim 6,5–7 TestJud 25
680 485, 494 152 311 104 553, 670 95, 311 95 55 170 111 415 415 505 439 439
TestJud 25,1.4 TestSeb 10 TestBenj 10,6–8 Tob 1,16–18 Tob 3,7–17 Tob 3,10 Tob 4,17 Tob 7,9–8,3 Tob 7,11 Tob 8,10 Weish 3,1–4 Weish 4,7–9 Weish 5,15 Weish 14,15f
679 439 442 485 105 179, 181f 94, 353, 362, 494, 505, 553, 670 105 105 105 Weish 3,1–9 428 427 155 355 553
3. Neues Testament Mt 23,27 Mt 27,3–5 Mt 27,5 Mk 5,2f Mk 5,2.5 Mk 12,18–27parr Mk 12,27 Mk 15,42–47 Lk 7,11–17 Lk 7,12 Lk 11,44 Lk 23,53 Joh 11,31
364, 666 182, 189 179 666 665 681 366 657 664 665 666 663 665
Joh 11,44 Joh 19,31–42 Apg 17,18.31–33 Apg 17,28 Apg 17,32 Apg 23,6–8 Apg 24 Apg 24,15–17.25 Apg 26,6–8.23 1 Kor 15 1 Kor 15,29 Gal 3,13
663 657 681 63 428 681 443 681 681 443 496 554
4. Hebräische Epigraphik ̳irbet el-Kčm 3 Ketef Hinnom 1
163, 280, 384ff, 458f, 461ff 163, 384ff, 459ff
Lachisch 3,6f Lachisch 6,5–7 Tell Dan Inschrift
161 162 144
5. Qumran 1QHa 11,17f 1QHa 11,19–22 1QS 11,7–9
416 680 680
4QVisions of Amram 540 11QT 48,11–14 665 11QT 49,8f 364
Stellenregister
701
6. Rabbinische Literatur bSanh 90b mBB 2,9 mBB 6,8 mOhal 17,1–3
681 665 666 666
QohR 5,10 SifBem 12 tPar 3,5.14; 5,6; 7,4; 10,2
681 366 363
7. Ägypten und Alter Orient Ägyptische Texte Admonitions II 12 Anii 4,2–4 El-Amarna 264 Gespräch des Lebensmüden 11–13 Grabstein der Taimhotep Kairo CG 31154 pBrooklyn 37.1799E pGreenfield pJur. Turin II 7f pJur. Turin V 4.6–10; VI 2 pLeiden T 31 pLouvre N 3248 pRylands 9 ptolemäerzeitliches Totenbuch Totenbuch der Gatsescheni Totenbuch Spruch 23 Totenbuch Spruch 68 Totenbuch Spruch 72 Totenbuch Spruch 166 (Pleyte) TT 33
183 72 388 183 72 615 145 601 184 185 617 617 145, 609 612 602 605 413 611 604 611
Mesopotamische Texte ARM 26/1 Nr. 227 Ass.13955ft+kc Atram̴asës-Mythos BA 2 634 20 BAM 317 Rs. 4–8 CH § 110 Etana-Epos 2,133 Gilgamesch VII 173ff Gilgamesch IX II 1-9 Gilgamesch X II 21-25 Gilgamesch XI 232−233 Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt Z. 302–3
569, 578 574 583 71 587 348 571 567 403 409 71 586
Ištars Gang in die Unterwelt K 2001+ K 4993 KAL 2,34 Rs. IV 3' KAL 2,43 m. Kol. 1'–7' KAL 2,45 r. Kol. 1'–6' KAR n178 KAR n234 LKA n119 LB 1000 Vs. 7 Ludlul bÓl nÓmeqi I 21f Ludlul bÓl nÓmeqi I 38 Ludlul bÓl nÓmeqi II 46f Ludlul bÓl nÓmeqi II 52f Ludlul bÓl nÓmeqi IV 48.53f Maqlû II 119–123 Maqlû II 220 Maqlû III 29 Maqlû III 102–15 Maqlû IV 94 Maqlû VI 65-68 Maqlû VII 48 Maqlû VIII 121'''' Mayer, Gebete, 470 Z. 10 Mul.Apin Pessimistischer Dialog 79–86 STT 73 STT 73 Vs. I 37f STT I 15ff TCL 17: 29,17 VAT 8910 VAT 13653 W 22758/2
411 575 577 584 587 587 347 348 347 583 389 389 399 401 416 586 586 586 589 586 590 588 585 590 540 184 589 585 399 72 573 573 573
Hethitische Texte KBo 9.47: 11'–18' KBo 22.178 KUB 4.99: 4'–13' KUB 48.109
587 75 587 75
Stellenregister
702 Ugaritische Texte KTU 1.1–6 KTU 1.3 V 17f KTU 1.4 VI 46 KTU 1.4 VII 47−49 KTU 1.4 VIII 1–14 KTU 1.4 VIII 7−14.26−30 KTU 1.4 VIII 7–9 KTU 1.4 VIII 17−20 KTU 1.4 VIII 21–24 KTU 1.5 I 1−8 KTU 1.5 I 14ff KTU 1.5 II 6ff KTU 1.5 VI 4ff KTU 1.5 VI 9–10 KTU 1.6 I 17ff KTU 1.6 II 24f KTU 1.14–16 KTU 1.16 I 3–15 KTU 1.16 II 36–37.40 KTU 1.17–19 KTU 1.17 KTU 1.18 IV 36–37 KTU 1.19 II 42
325 79 540 79 409 79 399 79 79 79 79 79 409 330 540 79 325 329 329 325 490 329 330
KTU 1.19 IV 9–17 KTU 1.19 IV 26–27 KTU 1.20 I 1–2 KTU 1.20 II 6–9 KTU 1.21 II 3–4 KTU 1.22 II 3–11.19–21 KTU 1.23 8−11 KTU 1.23 61−64 KTU 1.101 KTU 1.101,5–7.13–14 KTU 1.108 KTU 1.113 KTU 1.125 KTU 1.161 KTU 1.161,20–26 KTU 6.13 KTU 6.14 RS 25.460
343 344 541 541 541 541 79 82 331 331 337 337f 336 333, 336 336 342f 342f 389
Iranische und Indische Texte MD 5,57–83 Vid. 3,15ff Vid. 6,44–46 Vid. 6,49–51
366 365 365 365
8. Antike Schriftsteller Aischin.Ctes. 77 Aristoph.Eccl. 1032 Diodor II 6.10 Diodor XL Diodor XL 3 Diog.Laert. VIII 33 Eur.Alc. 98ff Eur.Frg. 472 V. 16f Flav.Jos.Ant. IV 78–82 Flav.Jos.Ant. IV 81 Flav.Jos.Ant. VII 228f Flav.Jos.Ant. VII 243 Flav.Jos.Ant. VII 387 Flav.Jos.Ant. XIII 210–212 Flav.Jos.Ant. XIII 212 Flav.Jos.Ant. XV 358f Flav.Jos.Ant. XVIII 13f Flav.Jos.Ant. XVIII 14 Flav.Jos.Ant. XVIII 14–16 Flav.Jos.Ant. XVIII 18 Flav.Jos.Apion. I 26
364 348 182 658f 539 348 348, 364 348 362 363 180 490 191 660 507 182 681 437 681 680 182
Flav.Jos.Apion. II 104 Flav.Jos.Apion. II 205 Flav.Jos.Apion. II 218 Flav.Jos.Bell. I 271f Flav.Jos.Bell. I 662 Flav.Jos.Bell. II 152–158 Flav.Jos.Bell. II 153 Flav.Jos.Bell. II 163 Flav.Jos.Bell. II 469–476 Flav.Jos.Bell. II 473 Flav.Jos.Bell. III 359f Flav.Jos.Bell. III 361–382 Flav.Jos.Bell. III 374 Flav.Jos.Bell. III 375 Flav.Jos.Bell. III 390 Flav.Jos.Bell. IV 227 Flav.Jos.Bell. VII 333 Flav.Jos.Bell. VII 375 Hel. 1430f Hier.Haer. 9,26f Hipp.Ref. 9,29
363 657 681 184 194 680 681 437, 681 189 191 193 193 681 192 194 363 189 192 348 680 681
Stellenregister Inscriptiones Graecae II3, 1035.10 Iph.taur. 380–383 Kos, AfRW X 403B § 5,33ff Origenes, CommMt 22,23–33 Paus. II 27.1,6 Philo opif. 134f
348 348 348 681 348 681
Plat.leg. XII 947 D Plut.Them. 22 Porph.Abst. II 50 PsPhokylides Soph.Oid.T. 1227ff Theokr. XXIII V. 55 Theophr.char. XVI
703 364 348 364 681 348 348 348
Sach- und Namensregister Aaron 95, 123, 138, 359, 362f Aaronsöhne 358 Aas, Berührung von 354 Abaddon 380, 457, 680 Abija 141, 285 Abraham 91, 114, 119ff, 138f, 427, 442f, 486, 530, 533ff, 679 Abschalom 179, 280, 489ff, 507, 553 – Grab von 280, 489, 491, 507 Abschiedsszene 229 Abschreckungsikone 217 Abusir 146, 205, 222, 609 Abwehrzauber 583ff Abydos 192, 204f, 220, 246, 621 Achsenzeit 613 Achsib 288f Ächtungsritual 618 Adad-guppi’ 128 Addu-dīrë 569f, 578 Adonis 316 Ägypten 54, 70ff, 90, 116f, 122, 133, 143ff, 153, 172, 182f, 194, 200, 204ff, 216ff, 233ff, 258, 270, 277f, 289, 292f, 299, 307f, 347, 386, 390, 406ff, 413, 460, 482, 526, 532ff, 542f, 597ff, 606, 612f, 619f, 658, 661, 664ff Affektkontrolle 234f Aggression 188, 217f, 231, 235, 239 Ahas 142, 285 Ahasja 285 Ahitofel 140, 179ff Ahnen 139, 142, 206, 323, 334, 337, 340f, 353, 374, 387, 454, 482ff, 492ff, 501, 504, 508ff, 515f, 525ff, 548ff, 570, 633, 660, 665 – Bilder 492ff, 509, 555, 638 – Heiligtum 636
– Kult 98f, 259f, 269, 287, 290, 342ff, 504, 509, 525ff, 548ff, 636ff – Väter 137f – Verehrung 142, 351ff, 449ff, 509ff, 514, 526ff, 552, 557, 560 Akeldama-Nekropole 663 Akko 206f, 211f, 219f, 223 Alleinverehrung 526ff „alt und lebenssatt“ 111ff, 122ff, 132f, 151ff, 162, 662 Alter 59, 152, 229ff, 535, 584, 662 – gutes 90, 123ff, 133 – schönes 117 Alterität 227ff Amazja 143, 285 Amduat 116, 413, 602f, 607, 614 Amenhotep I. 600, 609 Amenophis, Seher 179, 182, 611 Ammištamru II. 333ff Amon 286 Amphoriskoi 670 Amulett 118, 203, 206, 225, 269, 281, 287ff, 291, 378, 383ff, 392, 417, 459ff, 496, 505, 593, 599, 606f, 612f, 617, 621, 672 Amunkult 600 Anat 219, 221, 304, 311, 329ff, 405, 540 Anchnesneferibre 614 Animismustheorien 548 Anklage 185, 282 – Gottes 30 Anunnakkī 576, 580, 593 Anzu-Vögel 223, 228 Apisstier 620 Apokalypse / Apokalyptik 62f, 80, 170, 387, 441 apsû 401f Aqath 533
Sach- und Namensregister Archaismus 608
argumentum ad deum 166, 181, 387 Arslan Tasch 225 Asa 122, 141f, 285, 502, 528 Asarja 141f, 285 Asasif 607, 611, 617 Aschera 163, 281, 349, 384, 458, 462 Asiat 209, 223 Assarhaddon 128, 578 Aššur 77, 209f, 277, 574, 578, 592, 638 Assurbanipal 117, 193, 215f, 239, 572 – Thronfolge 578 Assurnassirpal II /Aššurna̸irpal II. 145, 205ff, 214, 222 Astralisierung 533, 674, 677 Athen 234, 364, 559, Ätiologie 104, 536ff Atlit 289 Audienzsaal 641 Aufbahrung 226, 323, 331f, 642 – Ritual der 598 Aufbahrungsszene 206, 236, 240f Auferstehung 112, 133, 427, 429f, 433ff, 456f, 463f, 469, 496, 505, 527, 672, 674f, 677ff, 680ff – Glaube 466, 472, 497, 685 – Hoffnung 112, 116, 423, 444, 466, 469f, 527, 544, 668, 672 – Text 470 Auferweckung – Gerechte 436 – partielle 430, 434ff, 440 – Tote 170f, 423, 428f, 434f, 437ff, 440ff, 468 – Ungestrafte und Ungesühnte 428 Auge 9, 20, 31, 33, 37, 55, 59, 76, 105, 125, 129, 159, 179f, 186, 192, 238, 305, 313, 317, 373, 378ff, 388, 402, 427, 464, 559, 571, 599f, 672 Auserwählte 426, 442 Autochtonie 532 BaŦalu 78f Bahre 205, 227, 232, 600, 607 Balawat 208, 215, 217
705
Bankgrab 264, 272ff, 279ff Barmherzigkeit 17, 21f, 28ff, 33, 37, 485 Bartwuchs 234 Begräbnis 50, 88, 91ff, 114, 117, 121, 125, 129ff, 139ff, 146, 172, 236, 257ff, 289ff, 406, 484f, 495ff, 592, 642, 673 – verweigertes 92 Begräbnisriten 260ff, 271, 274, 289ff Beigaben 88, 192, 260, 262f, 265, 268f, 274f, 281, 287, 291, 323, 332, 335, 339, 378, 386, 405, 452, 460, 496, 505, 594, 597, 621, 636, 643, 648 Berg 138, 331, 404, 409ff, 430 Bes 606 Bestattung 92, 97, 130f, 139, 146, 200, 260f, 272ff, 288f, 302, 305f, 311ff, 323ff, 331ff, 350ff, 398, 405f, 484ff, 494ff, 529ff, 549, 552ff, 563, 577, 595ff, 607, 617, 620, 635ff, 657ff, 673 – intramurale 287 – Kultur 156, 335, 383, 657ff, 682 – Mahl 516, 671 – Ritus 268, 342, 594, 636f, 662 Bet-El 350, 488 Beterstatuette 638 Bet-Schean 211, 287 Bet-Schemesch 270, 272f Bildanalyse 202f Bilderverbot 493 Binarität 230, 232, 235 Blutschuld 96f, 185, 190, 349 Blutstriemen 309 Bogen 209ff, 213f, 218, 329 Bogenjagd 209 Bronzegefäß 268, 636 Buch, Bücher – vom Atmen 620f – vom Durchwandeln der Ewigkeit 621 – vom Tage 612 – von der Erde 603 Bund 16ff, 75ff, 491, 534 Byblos 215, 286, 294, 308, 343f
carpe diem-Motiv 470 Cella 632, 634f, 638
706
Sach- und Namensregister
Charonsmünze 672 Chorsabad 208, 215 conditio humana 4, 8, 20, 36, 169 corporeality 202 Dämon 71, 105, 206, 224ff, 249, 365, 407, 417, 508, 567f, 572f, 576, 583f, 585, 592, 595f, 611, 666 Daevas 365 Dagan 330, 342, 570, 640 Damaskus 285 Danilu 330f, 343f Dankpsalm 190, 397, 415 David 90ff, 105, 113, 116, 119, 121ff, 140ff, 179f, 282ff, 302, 305f, 312, 331, 351, 408, 461ff, 493, 504, 508, 548 Death, effective 191 Decke, astronomische 608 Deir el-Balah 287f Demokratisierung 314, 609, 618 Demutsgeste 231 Diadem 636 Diaspora 188, 661, 679ff Diesseits 48, 54, 58, 67, 75, 83, 116, 166, 241, 263, 274f, 290ff, 323, 405, 447, 450, 456f, 461f, 469f, 493, 568, 578, 637, 655, 670 Diesseitsorientierung 152 Differenz, soziale 236f Dumuzi 101, 300, 317ff, 570, 574ff, 591 Dürreformel 79 Ebla 206ff, 213, 251, 631, 639f Eckstein 75f Ehre 117, 124, 127f, 132f, 180f, 189ff, 195, 204, 216, 226, 236ff, 301, 342, 405, 467, 496, 553 Ehrverlust 235 Einbalsamierung 94, 205, 308 Einblicke in die Zukunft 568, 572, 578 Ekron 271 Elamer 215f, 240 Eleasar 187f, 190ff, 358, 362f Elementenlehre 355, 358, 366 Elfenbein 205ff, 211, 219, 231, 268, 344
Elfenbeinpaneele 207, 220, 223 Elifas 26ff, 35, 38f Elim 536ff, 541ff Eliten, einheimische 619 Emar 207f, 210 Empirie 47f, 54, 57, 59, 62f Endlichkeit 13, 43, 45f, 50, 60, 62 Endor 452f, 548, 550, 560 En-Gedi 657, 663 Entblößung 308 Entrückungsaussagen 463ff Equiden 210, 221f, 636 Erbe, Erbbesitz 90f, 139, 142, 272, 492, 531, 550 Erbland 409, 550, 557 Erblasser 90, 96 Erbsohn 638 Erde 15, 45, 51ff, 60ff, 80f, 97, 184, 301, 304, 330f, 334ff, 365, 398ff, 403ff, 413, 415f, 426, 430f, 437f, 451, 467f, 489, 510, 524, 561, 567, 571f, 579, 603, 634f, 673, 676, 679, 688 – numinose 571 Erhängen 180ff, 216ff Ereškigal 145, 399, 411f, 420, 591ff Eresos 364 Erinnerung 45f, 59, 62f, 311f, 333, 481ff, 491, 497, 607, 673, 678 Erwählungszusage 353 Eschmunazar 154, 286 Esel, Esel-Onager-Hybriden 221f Etana-Epos 571f Etrurien 258 Eva 103ff Ewigkeit 15, 17, 21, 36, 43, 46, 50, 405, 431, 621, 679, – Haus der 144, 275ff, 657, 672ff, 680ff Existenz, postmortale 56, 200, 274, 292 Exkarnierung 365 Exorzismus 552 Exzerpten, liturgische 601 Falschprophetie 102 Familie 90, 93, 96ff, 127, 139, 146, 148, 199, 275, 277, 291, 305, 332, 357, 386,
Sach- und Namensregister 452, 460, 481ff, 492f, 501, 504, 516, 540, 543, 549f, 552f, 556, 571f, 576, 585, 593, 642, 662f, 667, 674 Familiengott 508 Fasten 301f, 312, 314, 451 Feindbild 81, 233f, 236, 239 Feindkonstrukt 235 Feindstatuette 226 Feminisierung 235, 237 Femme fatale 105 Festraum 641 Feuer 179, 189, 226, 285, 289ff, 358, 365, 426f, 503, 559, 586, 677 – heiliges 358 Feuerhölle 427, 441 Figur 69, 71f, 80, 105, 107, 225, 368, 588f, 592f, 612 Finsternis 38, 59, 159, 161, 165, 379, 389, 397, 400, 406f, 414, 426, 457ff Folter 192, 206, 214ff, 226, 232, 431, 679 Frauen in Schwarz 96 Frauenbilder im Hellenismus 616 Frauenmord 216 Fremde 68, 82, 233f, 237ff, 315, 660 Fremdgötterverbot 493 Freude 12, 27f, 48, 57ff, 111, 466, 677 Frevler 14, 31, 36, 48ff, 80ff, 423ff, 436, 440ff, 676 Friedhof 263ff, 289, 550, 606, 663ff Frömmigkeit 386, 389, 452ff, 471, 578 – familiäre 454f, 532, 554f Gaben 60, 339, 353, 494ff, 505, 577, 580 Ganzkörperbestattung 664 Gebet 6f, 11, 13, 16, 20ff, 32, 36, 114, 118, 159, 291, 390, 589ff, 425, 437f, 468, 584, 589f, 591ff, 662 Geburt 49, 89, 98f, 104, 229, 300, 305, 348, 424, 438, 458, 534 Gedächtnis, kulturelles 482 Gedächtnismahl 496, 507, 670 Gedenken 60, 139, 287, 481ff, 496f, 507 Gefolgschaftstod 192ff Gegenmythos 531 Gegenwelt 75, 83, 157, 417
707
Geier 205, 239 Geierstele 204, 212, 214, 239, 246 Geist 56, 116, 131, 430f, 505, 508, 548, 571, 573, 578, 678f Genderaspekt 87ff, 204, 307f Gerechte 14, 48ff, 155, 387, 424ff, 431ff, 440ff, 450, 463, 466ff, 495f, 505, 677ff Gerechtigkeit 6, 26, 28f, 33ff, 38ff, 43ff, 46ff, 115, 429ff, 469 – Gottes 17, 37ff, 165, 424ff, 441, 444 – distributive 52 – konnektive 36 Gericht 48f, 375, 424, 426ff, 434ff Gerichtsverfahren 184, 578f Geschick 45, 48, 51, 53, 58f, 112, 167, 375, 383, 389, 406, 441, 471, 579, 583ff, 673, 676, 678 Geschöpf 11, 56, 60, 63 Geschöpflichkeit 18, 52 – egalitäre 52 Gestirngottheit 573 Gewalt, sexuelle 89, 98, 103 Gier 73, 77ff Gilgamesch/Gilgameš 71f, 194, 300, 403ff, 409ff, 567ff, 593 Girsu 204f, 212, 214 Glück 28, 31, 36, 43, 58, 75, 133, 425, 434, 467, 480 Gnade 6, 12, 16ff, 33, 37f, 164, 169 Gnadenformel 16, 18f, 32f, 37, 39 Golgotha 666 Gott – des Lebens 84, 153, 158, 380f, 387, 392, 447ff, 455, 468 – Richter 50, 464, 576 – schlagender 218, 225 – solarer 378ff, 387, 391f, 462, 471 Götterfiguren 271, 291 Gottesbild 31ff, 37f, 378ff Gottesferne 3ff, 113, 162, 373ff, 416 Gottesfurcht 11, 19, 26f, 30, 115, 441 Gottesvater 118, 619 Gottgemeinschaft 235f, 238 Grab, Gräber 54, 60f, 88, 91, 114ff, 130f, 136, 139f, 147f, 164, 180, 192, 205,
708
Sach- und Namensregister
208f, 212, 226, 233, 240, 257ff, 271ff, 282ff, 290f, 310, 323, 364, 385ff, 398, 405ff, 413ff, 424f, 450ff, 457f, 484ff, 495f, 501f, 504ff, 512, 515, 532, 550f, 553, 567, 579, 586, 594, 597ff, 613ff, 632ff, 642f, 658ff, 670ff, 682 – Anlage 223, 278f, 344, 599f, 609, 631ff, 640, 666, 670 – Ausstattung 597ff, 621 – Bau 607, 631, 635, 637 – Beigaben 88, 175, 192, 262f, 269, 281, 287, 323, 335, 339, 378, 386, 452, 460, 505, 514, 594, 616, 619 – Besitz 282, 532 – Denkmal 278, 486ff, 507 – Einzelgrab 148, 268, 405, 672 – Elitengrab 633, 637 – Familiengrab 91f, 97, 140, 148, 272, 275, 278, 284f, 292 – Felsgrab 261f, 272, 281f, 599, 639 – Form 259, 261ff, 272, 660, 667f, 682 – Großgräber, saitenzeitliche 609 – Grubengrab 263ff – Herrschergrab 631 – Höhlengrab 263f, 271ff, 280 – Inschrift 140, 145, 149f, 154, 163, 280f, 287, 292, 384ff, 392, 405, 421, 462, 464, 487 – Kammergrab 610, 663, 666ff – Kapelle 606 – Keramik 635 – Kindergrab 606 – Lege, davidische 350f – Luxusgrab 561, 658, 668 – Mahlgemeinschaft an den 353 – Massengrab 212, 239 – Nischenbankgrab 264, 275ff, 282 – Objekte 598, 668 – Palastgrab 640ff – Prunkgräber 264, 277, 280, 282f, 286, 290, 486f – Raub, Räuber 282, 286, 610, 671 – Schachtgrab 609 – Senkgrab 666ff – Stein 72f, 280f
– Stele 205, 226, 247, 280, 289 – Stollen 663 – Tempeldromos 599 – Typologie 261, 264, 277 – Verehrung 485f, 489 – Wohnung 258, 275ff, 282, 291, 670 Greifen 205, 207, 220ff, 228f Grenze 53, 62, 70, 168, 202, 204, 350, 379, 385, 397, 400ff, 411ff, 435ff, 457, 466ff, 496, 578, 583, 603, 678 – zwischen Diesseits und Jenseits 405, 457, 462,466, 493 Griechenland 184, 202, 226, 233f, 300ff, 307f, 315ff, 348, 364 Grube 56, 60, 81, 83, 160, 164, 265ff, 287ff, 340, 344f, 398, 402, 405ff, 415ff, 453, 457, 466, 523, 562, 568, 634ff, 680 Haarescheren, Haarschur 303ff, 312, 359 Haartracht 231, 234 Haldi 218 Haremhab 600 Hasael 285 Hassritual 618 Hathor 129, 278, 615 Hausgötter 498, 93, 508 Hautritzen 303ff, 312, 314, 318, 343 Hawara 615 Hazor 308, 492, 514f, 521, 640 – Locus 44, 514f Heiligkeit 354ff, 506 Heiligkeitsgesetz 353ff Heiligtum 89, 92, 341, 348ff, 355ff, 407, 425, 466ff, 508, 513, 586, 632ff, 647 Hekataios von Abdera 539, 658f Hellenismus 616, 659f Hermopolis-West 613 Heroenkult 363, 531, 552, 637 Herrin der Tiere 218 Herrscher 78f, 83f, 130, 163, 200, 205, 208ff, 217f, 228, 235ff, 285, 388ff, 406, 435, 493, 552, 569f, 580, 633 – Ideologie 643 – Legitimation 631ff
Sach- und Namensregister – Pose 205, 209 Hexe / Hexenglauben 101, 573, 585ff Hierakonpolis 205, 207f, 213, 216, 246 Hierarchie, soziale 236 Hinrichtung / Hingerichtete 97, 180, 184f, 195, 215f, 232, 354f, 666 ̳irbet Bet Layy 280 ̳irbet el-Kčm 163, 259, 280, 290f, 383ff, 392, 450, 458, 461ff ̳irbet Qazone 663, 667 Hiskija 114, 142, 286, 415f, 557 Hohepriester 99, 356ff, 361ff, 497, 603 Höhlenbuch 602f Holzsarg 600, 663, 668 Horus 212, 223 ̳umu̺-tabal 594 Hunde 92, 113, 205, 340, 365, 470, 633 Hungertod 90, 229 Hybriden 221, 660 Hypogäum 639, 641f Idalion 206, 211, 223, 246 Identität 181, 201, 227, 230ff, 237ff, 291, 427, 483, 485, 488, 493, 501, 516, 550, 659, 661, 673 – kollektive 239, 493 Identitätsbildung, kollektive 485, 488 Ilimilku 325, 331 Ilu 78f, 338, 340, 541 Individualbestattung 284, 287 Individualität 75, 672 Individuum 45f, 75, 156, 164, 177, 199, 233, 240, 303, 377, 484, 589, 672 Inferiorität 233f Installation 290, 551, 632, 644, 666 Integrität, körperliche 114, 194, 204, 232f, 237ff, 559 Isaak 90f, 119ff, 126, 128, 130ff, 138, 427, 442, 533f, 679 Isis 226, 236, 308, 311, 611 Israel 3, 16, 67, 87, 90, 92, 94, 100f, 105f, 113, 116, 130ff, 137, 140, 149, 151ff, 167, 171f, 179, 187, 257ff, 280, 284ff, 299ff, 311ff, 353, 355, 377, 383, 390, 405, 407, 419, 442, 447ff, 469,
709
486, 492, 497, 501, 504, 507, 514, 525ff, 532ff, 546, 550ff, 556, 655, 679 Ištar 399, 411f, 573f, 581, 584, 588, 591, 593, 595, 634, 638 Ištar-Stele 210 Itamar 358 Jabâ 145, 149 Jaël 105 Jagd 209, 211, 214 Jagdhund 207, 209 Jakob 90f, 93ff, 119, 122ff, 133, 138ff, 149, 285, 353, 427, 442, 487f, 492, 532, 534, 540, 679 Jammu 77f Jasma̴-Addu 641 Jenseits 43f, 67, 74f, 87, 116, 183, 192f, 241, 257f, 263, 274f, 282, 290f, 323, 337f, 343, 405, 408, 411, 413f, 424, 428f, 444, 450, 456f, 460, 462f, 470, 484, 493f, 567ff, 571f, 577ff, 597f, 612, 622, 637, 655ff, 665, 670ff, 682 Jericho 657, 663, 666, 670f Jerusalem 271, 277, 279f, 283ff, 290, 350, 384, 405, 450, 462f, 486f, 490, 511, 520, 528, 547, 550, 555ff, 657, 663, 666ff – Cave I 271, 511, 513ff – Cave II 512ff – Cave III 513ff Jhwh-allein-Bewegung 164, 166 Joasch 131, 141, 285 Jojada 119, 122, 126, 130ff Joram 141, 285 Joschafat 141f, 285 Joschija 140, 286, 205, 317, 349f, 367, 453, 548, 559 – Reform 349f, 360, 395, 508 Josef 90, 94f, 124, 492, 532ff, 540, 561 – von Arimathaea 665 Jotam 141f, 285 Juda 70, 76, 90, 94, 105, 140, 143, 158, 172, 189, 257ff, 261, 271f, 284, 290f, 408, 430, 449, 452, 454, 462f, 487, 507, 510, 514f, 526, 547f, 550ff, 679
710
Sach- und Namensregister
Judas 182, 189, 505 Judit 93f, 105 Jüngstes Gericht 426ff, 440ff Kahlscheren 94, 303, 313, 506, 559 Kamid el-Loz 642 Kannibalismus 98 Kanopenkasten 605, 621 Kapelle 340, 606, 613, 641 Karkemisch 207, 210 Karmel-Region 657, 667 Keramikgefäße 262f, 265, 269, 512 Ketef Hinnom 163, 278ff, 292, 383ff, 392f, 450, 459ff Kinder 12, 16, 70ff, 93, 95ff, 118, 127ff, 183, 211, 227, 229, 262, 265, 270, 287, 289, 305, 312, 329, 340, 356, 359, 540, 584, 606, 662, 669 Kinderbestattung 262, 265 Kinderlosigkeit 79, 113, 383, 533, 572 Klage 5, 7f, 10ff, 14, 25f, 31ff, 70f, 83, 95ff, 101, 113f, 147, 157ff, 168f, 235, 299, 302ff, 311ff, 334, 343, 415, 430, 432, 452, 468, 506, 590, 663f – Frauen 95, 100f, 226, 234, 300, 304ff, 316f, 343, 451, 611 – Frauenfigurinen 311 – Klage- und Danklieder des Einzelnen 4, 113, 153, 428, 455ff – Rhetorik 25ff – Ruf 95 Kleidung 94, 231, 234, 259, 268f, 301, 304, 310, 331, 451, 508, 663, 667 Kleinasien 348, 364, 661 Kleopatra 179, 183, 194 Knochengrube 274f, 284 Knochensiegel 220 Kommunikation, rituelle 271, 501ff Kompetenzausweitung JHWHs 102, 162ff, 373, 384ff, 424, 450, 454ff, 463ff, 471, 505, 527 König 46, 58, 74, 90ff, 102, 114ff, 122, 125, 128f, 131, 140ff, 151, 179ff, 185, 194, 206, 209ff, 214ff, 223, 228ff, 259, 285ff, 300, 305ff, 307, 324ff, 333ff,
341ff, 388, 398, 405f, 413, 426, 440, 450, 463, 485, 490ff, 503f, 528, 530, 540, 551, 554, 568, 570, 578, 581, 598ff, 614, 619, 633, 640ff – Bestattung 269, 284ff, 323ff, 333 – Grab 142, 192, 259, 264, 284ff, 291, 344, 405, 463, 598f, 606ff, 631ff – Gruft 285, 332, 336, 339f, 463, 641 – Ideologie 117, 329, 338, 643 – König-gegen-Feind 228 Kopf 59, 105, 147, 193, 201, 205ff, 212ff, 222ff, 232, 268, 284, 301ff, 313, 341, 402, 417, 510f, 588, 636, 664 Köpfen 208, 215, 227 Kopfgeld 214 Kornosirisfigur 612 Körper 34, 54, 87, 92, 94, 189, 202ff, 214f, 225ff, 237ff, 259, 292, 304, 314, 354, 360, 365, 451, 612, 662, 664ff, 677, 681, – Bestattung 290 – Bild 230f, 239 – Integrität 239 – Konstrukte 203 – des Toten 204f, 259, 292, 662, 665, 677 – Wahrnehmung 202 Kosmologie 59, 78, 83, 375ff, 392, 457 – Kosmos-Chaos-Konstellation 157f, 161 Kranke 160, 203, 206, 380, 417, 577, 584 Krankheit 3, 6, 28, 34, 36, 89, 116, 123, 151, 155, 160ff, 177, 229, 270, 312, 314, 329f, 339, 383, 401, 455, 528, 537ff, 568, 573, 585, 606, 662 Kranzhügel-Stadt 631, 633 Kremation 289f, 292, 664 Kreuzigung 666 Krieg 10, 89, 151, 195, 199f, 218, 228, 312, 315, 360, 364 – Dienst 89 – Gesetze 360 – Gott 218 – Krieger 105f, 213ff, 306, 364, 551, 636 – Wagen 207, 210, 221 Kult 340, 342, 353, 491ff, 532, 552, 556, 614, 616, 641, 658
Sach- und Namensregister – Ausstattung 637 – Gefäß 270f – Nische 632, 634 – Objekt 260, 269, 508 – Reform Ӑ Joschija – Topographie 633 Lachisch 161f, 206, 215, 217, 220, 234, 247, 260, 287, 308, 450, 506, 510, 515f Lachisch-Reliefs 237 Lamaštu 225, 592, 417, 584, 592 Lamaštu-Amulett 203, 206, 417 Land – Besitz 532 – Verheißung 92, 139, 532, 534 Leben – Atem 53, 55f, 61 – Dauer 7f, 36, 151f – erfülltes 118, 133 – Erwartung 18, 88f, 115, 121, 151f, 662 – ewiges 36, 53, 403, 435, 441, 450, 465, 467ff, 469, 472 – Freude 43, 60 – langes 18, 26, 116ff, 125, 127, 133, 148 – lebenssatt 111ff, 122ff, 128ff, 151ff, 162, 662 – Prinzip 53f, 56, 62 – Qualität 152 – Zeit 10ff, 36, 114ff, 122, 126, 128ff, 148, 153, 167, 493, 530 Lehmziegelpodest 632 Lehre des Anchscheschonki 146 Leib 30, 56, 61, 188, 204, 208, 214, 365, 398, 444, 573, 576, 672f, 677 Leiche(n) 96, 99f, 107, 180, 202, 212ff, 226f, 232, 237ff, 287ff, 301f, 306ff, 348, 363, 438f, 586, 663, 670, 677 – Darstellung 204f, 239 – Fraß 92 – Lied 73, 100, 302, 305, 315 – Tracht 332, 335 – Tücher 626, 663 Levirat 93, 95, 553 Libation 269ff, 632, 634
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Licht 10, 38, 59, 64, 69, 131, 159, 161, 344, 352, 354, 368, 384, 391, 425f, 435, 438, 441, 459f, 468, 676 Liebeszauber 226 Literatur, frühjüdische 423ff Liturgie, osirianische 607, 614, 619 Löwe 35, 180, 207, 218ff, 222, 224ff, 229, 470, 567 Löwendrache 223f, 228 Loyalität 228, 482, 556 Machpela 91, 119f, 130, 139f, 486, 532, 540 Macht 10, 12, 32, 68, 78, 81ff, 96, 104, 116, 158, 162, 166, 199, 223, 228, 299ff, 316f, 337, 348f, 373, 376ff, 383, 386f, 390f, 416, 419, 423f, 428f, 443, 448, 463f, 468, 502, 550, 552, 568, 576ff, 631, 633, 638, 642, 659 Manasse 122, 140ff, 286, 453, 548, 559 Manetho 182, 539 Mara 536, 538, 542f Mari 219, 221, 247, 342, 569ff, 578, 631, 634, 638, 640ff, 649f Märtyrer 190f, 427, 439f, 495, 676, 679 Martyrium 188, 190f, 439 Massada 189, 192 Massebe 349, 487, 489, 513, 516, 553 Media vita in morte sumus-Motiv 456 Megiddo 208, 210ff, 220, 225, 511 Mehrungsverheißung 534 Memoria – kollektive 481 – soziale 481, 495 Memorialbilder 493 Memphis 205, 606 Mensch 3ff, 25, 30ff, 45ff, 51ff, 61ff, 73ff, 84, 88, 93, 99ff, 129ff, 147ff, 153ff, 167ff, 179, 183ff, 199ff, 213ff, 225ff, 267ff, 280f, 299ff, 323ff, 348ff, 373ff, 391ff, 414f, 424ff, 452ff, 465ff, 481ff, 501, 537, 540, 551f, 571ff, 583ff, 594, 615, 620, 633, 658f, 666ff Menschengebeine 349f Mentalität 200, 202, 204
712
Sach- und Namensregister
Merismus 212 Metapher, narrative 68 Metempsychose 681 Miasmenlehre 366 Midianiter-Schlacht 364 Minderungsriten 301, 352, 357, 451 Miniaturisierung 612 Miniaturmöbel 511 Mirjam 92, 362, 541 Mischwesen 199, 204, 207, 222ff, 232, 280, 568 Moabbund 354 Möbelmodell 271 Modein 659 Monojahwismus 465, 471 Monotheismus 383, 389ff, 465ff, 483 526f, 544, 562f, 675 Montemhet 607 Mord, ungesühnter 355 Mose 13, 16, 95f, 122f, 138, 149, 285, 355ff, 363, 526, 529f, 536ff, 559, 658f Mot 157f, 161, 409 Motu 77ff, 331f, 335, 448 mourning enclosures 667 mourning figurines 514 Mumie 146, 205, 226, 604, 612 Mumienschild aus Dendara 146 Mumifizierung 292, 600, 617, 664 Musik 302, 337, 664, Mut 118, 135, 212 Mysterienreligion 615 Nabada 633, 638 Nabonid 128, 135 NabûbÓlšumÁti 190, 193 Nabûdamiq 193 Nachkommen(schaft) 16, 45, 71f, 92, 103f, 111, 121, 125, 127ff, 131f, 139, 259, 329, 337, 358, 425, 530, 533, 540, 549, 552f, 673 Nacktheit 207, 231, 234, 239, 380 Nag Hammadi 614 Nahkampf(szene) 213ff Namburbi 347 Name
– Anrufung 490, 552 – Aufrechterhaltung 482, 484f, 490f Namtar 576, 593 Namtaru 571, 573, 576 Naram-Sin 204, 206, 246 Narmer 212, 246 Nasiräer, Nasiräat 314, 360f Nassraum 632 Nekromantie 101f, 157, 351, 353, 362, 452ff, 483f, 501ff, 532, 535, 548ff, 558ff, 570f Nekropole 148, 260, 268ff, 280ff, 307, 405ff, 418, 486f, 657, 663, 665, 669 Nektanebos I. 209 Nektanebos II. 598, 614 Nephtys 226, 236, 308, 611 Nergal 218f, 224, 399, 411, 448 Nesmin 617 Netz 205, 209 Niederschlagen der Feinde 209ff, 218, 228ff, 231 Niedertrampeln der Feinde 219, 222 Nimrud 145, 150, 220 Ninos 182 Ninurta 218 Niqmaddu III. 333f Niqmaddu IV. 325, 333ff, 342 npš-Pfeiler 507 Objektfriesen 612 Og 530f Ohrring 287, 663 Onnes 179, 182 Opfer 37, 70, 89, 180, 187, 189ff, 207, 210, 212f, 216, 218, 220, 222, 225, 229, 260, 263, 269f, 285, 306, 315, 334, 340ff, 353, 357f, 361, 364, 366, 429, 436, 439, 444, 453, 493, 512, 529, 533, 542f, 664 Orakelschutzdekret 605 Osiris 147, 236, 311, 386, 448, 598ff, 611ff, 621 – des NN 615 – Figuren 604f, 612ff, 621f – Grab 607
Sach- und Namensregister Ossilegium 668f, 672 Ossuar 365, 668ff Oxyrynchos 609 Ozean 402, 405, 408ff, 587, 660 PabilsaÝ 574, 576 Palast 70f, 100, 113, 145, 189, 216, 247, 285f, 305, 323ff, 343ff, 412, 510, 579, 631ff, 640ff, 651ff Palastkultur 638 Papyri, mythologische 602 Passage 191f, 196 Passivität 232, 235, 239 Patäken 606 Patriarch 90ff, 426, 439, 485f, 532, 662 Paulus 63, 443 Pawerem 617 Pella 288 Pepi II. 222f Peripherie 71, 397, 404f, 407ff, 416, 418 Perle 268, 287 Perlennetz 612f Perser 205, 234, 364ff, 659 Person, soziale 233, 240, 484 Pessimistischer Dialog 184, 196 Petosiris 613f Pfählen 208, 215ff, 354 Pferd 92, 207, 210, 213f, 219, 221f, 489 Pferdefigurine 512 Pfortenbuch 116, 413, 602 Phallus, Phalloi 207f, 213, 490 Philister 186f, 289 Philo von Alexandria 428 Phönizien 205, 234, 251, 280, 286, 292, 551 Physiognomie 230f Portraitabbildung 665 Postmortalität 48, 58 Prophetie 102f, 548, 559, 676 Ptah-Sokar-Osiris-Figur 604, 612f, 621 Ptolemaios Makron 185 Qatna 285, 332, 341, 344, 638, 641ff, 652 Qual 27f, 124, 427 Qumran 429, 440, 657, 664, 667f, 680
713
Rache 50, 113, 124, 182, 186ff, 197, 482 Rahel 89ff, 98, 119, 487ff, 492, 504, 508 – Grab von 92, 119, 487ff, 504, 507 Ramesseum 209, 213, 606 Ramses II. 207, 209, 213 Ramses III. 184f, 195, 207ff, 213, 618 Ramses IV. 184f, 209 Rašpu 78 Rassel 271, 291, 511f, 514 Räucheropfer 271 Räucherständer 635 Rebekka 89ff, 96, 119 Rechmire 212 Rechtsordnung 53 Rechtsfall 475, 573f, 579f Rehabeam 141f, 285 Reinheit – Gebote 317, 360ff, 366 – kultische 99, 365, 638 – Vorschrift 314, 348, 351ff, 357, 364f Reinigung 127, 182, 314, 358ff, 632, 658, 666 – Opfer 191, 363 – Rituale 347f, 362ff Religiosität, familiäre 572 Repositorium 274f, 278, 281, 386 Reschef 640 Rettung 5f, 16, 22, 25f, 75, 105, 127, 156, 158ff, 170f, 380ff, 385, 389ff, 415f, 428, 459, 462, 467, 586ff, 662 Richterkollegien 574f, 593 Richterpaare, göttliche 574 Rizpa 92, 96f, 130, 306, 317 Rollenbild 235f, 239 Sahure 222 Sakkara 205f, 223,226, 247, 607ff, 620 Salmanassar III. 208ff, 214, 217, 247 Salomo 90f, 116, 122, 124f, 128, 131, 141f, 285, 368 Samaria 140, 207, 211, 286f, 290, 303, 450, 463 Šamaš 145, 378, 410, 413, 571, 573f, 577f, 583f, 587f, 592ff Sanherib 206, 215ff, 234, 247, 485, 557
714
Sach- und Namensregister
Sara 91f, 119, 486, 534 Sara (Tobit) 105, 181f, 195 Sarg 205, 323, 598ff, 605, 611f, 615, 621, 663, 669 Sargtexte (Spätzeit) 610f Sargon II. 71, 208, 215, 237 Sarkophag 200, 271, 286ff, 308, 343ff, 407, 599, 614, 669 – anthropoider 286, 293 Sättigung 118, 126ff, 152, 466 Saul 92, 96f, 99, 101f, 140, 180, 190, 193, 305, 493, 527, 548, 550, 560 Schadenzauber 585ff Scham 204 Schande 181, 186, 191, 195, 236 Schatten(reich) 14, 43, 75, 116, 168, 468, 609, 673, 675, 680 Schebna (Schebanjahu) 91, 282, 487 Scheingefäß 605 Scheol 7, 27, 31, 34, 36f, 54, 62, 76, 80ff, 102, 112, 114, 124, 133, 157, 160ff, 166, 194, 373ff, 381ff, 398ff, 405, 415, 457, 464ff, 662ff s. auch Unterwelt Schicksalsgöttin 583ff Schiebestollen 666, 671f Schlangenbecken 219 Schmuck 88, 187, 260, 268f, 289, 301, 339, 592, 620, 636, 663, 667 Schnittwunde 303, 312f Schöpfer / Schöpfergott 11, 20, 33, 60ff, 78, 83, 126, 379, 583, 587, 679 Schöpfung 7f, 15, 61ff, 84, 122, 474, 681 – Ordnung 32, 35 – Theologie 17ff, 676 Schutz 76, 93, 127, 190, 236, 269, 282, 341, 358, 385f, 412, 462, 552, 606, 618, 677 – der Toten 269, 271, 291f Schutzgott 384ff, 392 Schwangerschaft 89 Schwert 26, 179, 189, 193, 363, 381, 440, 542 Seele 16, 56f, 123, 160, 164, 181, 427ff, 444f, 475, 477, 526, 548, 604, 680f Seelenglauben 62, 549
Segen 90, 118, 127f, 132, 173f, 282, 291f, 341, 353, 384, 386, 578ff, 662 – der Toten 271, 291, – für den Menschen 580 Selbstminderungsriten 301, 347, 451, Selbstopfer 188ff Selbsttötung 177ff Selbstverwirklichung 45 Semiotik 201, 203 Semiramis 182 Sendschirli 210 Sidon 154, 286, 310 Siegel 163, 205, 207ff, 219ff, 233, 269 Siegesikone 222 Silwan 259, 277, 280f, 283ff, 287, 291, 486, 507 Simon III. 660 Simson 140, 186f Sitzmöbel 271, 291 Skeptiker, Skepsis 43f, 48, 54, 56ff, 62, 277, 326, 450, 458, 469 Smendes I. 617 Solarisierung (JHWHs) 378, 384, 391, 462, 464, 471 Soldaten 206, 210ff, 228, 230 Solon 315ff, 559 Sonne 45, 48, 51, 58ff, 64, 116, 147, 334, 403f, 470, 588 Sonnenbarke 612 Sonnengott 79, 85, 147, 333f, 378, 388, 413, 460ff, 541, 571, 573, 587f, 592f Sonnenkult 601ff, 613 Sonnenlauf 615 Sonnenlitanei 603, 607 Sozialstatus Ӑ Status, sozialer Speise 35, 75, 129, 313, 342, 352, 415, 494, 553, 571f, 670ff Sphinx 205, 207, 220, 222ff, 228f, 280 Stadtklage 303 Standarte 212, 216, 221 Stärkungsrituale 301f Statuette 98, 226, 228, 271, 297, 341, 386, 492, 509, 636, 638 Status – sozialer 204, 236f, 239f, 263, 269, 487,
Sach- und Namensregister 636 – verstorbener König 337 Staub 9, 17, 27, 37, 47, 51, 53f, 56, 60f, 94, 169, 301, 304, 308, 330f, 334, 347, 398, 406, 412, 435, 438, 440, 457, 468, 567f, 678 Steinformation 636 Steinsetzung 636 Stellvertreter 386, 577, 580 Sterbehaus 307, 363f Sterben 3, 5f, 14, 22, 28, 36f, 45, 51ff, 61, 67, 74, 87ff, 111ff, 132f, 137ff, 151, 181, 186f, 191ff, 231ff, 285, 303, 317, 329, 377, 415, 431, 451, 470, 485, 495, 583f, 662, 671 Sterbesegen 90, 93 Sterblichkeit 20, 52, 60, 64, 103f, 139, 153f, 167f, 170, 465, 470f, 583, 662 Stereotyp(isierung) 79, 88, 98, 140, 151, 233f, 502 Stier 207, 219f Strafe 35, 52, 92, 103, 126, 130, 140, 178, 182, 185, 189, 215, 217, 251, 302, 350, 426ff, 434, 436, 495, 662, 678ff Streitwagen 205, 207ff, 213f, 218, 221, 232, 234 Streitwagenbesitz 234 Stundenritual 607, 615 Styx 411, 672 Sühne(tod) 178, 188f, 191, 193, 196, 345, 358, 505, 515 Šuli(n)katte/Nergal 218 Sünde / Sünder 10f, 13, 22, 26, 33, 52, 102ff, 155, 161, 166, 177f, 182, 189, 196, 347f, 426, 431, 433ff, 441, 468, 559, 678ff Sündenbekenntnis 236, 240 Syrien 206ff, 219ff, 249, 262, 452, 463, 552, 562, 631ff, 640, 642 Tabnit 286 Taharqa 209 Tamar 89f, 94, 105, 302 Tammuz 101, 317, 576 Tanis 220, 598f, 606, 610
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Tattoo 313f Tell Beydar 207, 248, 631ff Tell Bi’a 631, 641 Tell Brak 221 Tell Chuera 633, 638 Tell Deir ŦAlla 207, 278 Tell el-FarŦa [Süd] 211, 247, 287 Tell el-Mazar 205ff, 211f, 219f, 270 Tell en-Nasbe 271, 510 Tell el-ŦAŗul 224 Tell es-SaŦidiye 264ff Tell Etun 271, 275f, 280 Tell Halif 271 Tell Mozan 633 Tell Qasile 271 Temenos 342, 348ff, 359, 363 Tempel 101, 117f, 125, 161f, 208f, 213, 220, 222, 225, 250, 285, 300, 317, 325f, 341ff, 352ff, 377, 402, 405, 408, 411, 416, 457, 460, 463, 491f, 504, 507, 512, 525, 554f, 586, 600, 607, 613f, 619, 631ff – Dekoration 620 – Eid, demotisch 146 – Grab 642f – Kult um Osiris 617 – Rolle 364 – Statue 607 – Wirtschaft 638 Tendenzliteratur 525, 528 Terafim 98f, 492f, 508ff, 526 – Befragung 502ff Teumann 193 Theben 117f, 125, 205ff, 247, 307, 318, 599f, 606, 608, 623 Theodizee 424ff, 436, 441, 679, 681 Theologie, offizielle 554f Thronsaal 327, 632, 637ff, 650 Thutmosis I. 221 Thutmosis III. 600 Tier, heiliges 620 Tierknochen 512, 633, 635f, 670 Tieropfer 633 Tiglath-pilesar III. 145, 215, 217, 247
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Sach- und Namensregister
Tod 3f, 25ff, 33ff, 43ff, 59, 87ff, 111ff, 116ff, 124, 129, 131ff, 177ff, 199ff, 309ff, 329ff, 373ff, 404ff, 423ff, 447ff, 484ff, 501ff, 540ff, 568ff, 583ff, 597ff, 631ff, 662ff – absoluter 43f, 62, 168, 470 – Angst 111f, 568f – Art 229, 237 – biologischer 153, 156f, 159, 161f, 168ff – als Dämon 571f, 579 – als Dieb 70, 73f – Drohung 31, 103 – Eliminierung 170 – Errettung 114, 456, 466, 472 – genderspezifischer 98, 103ff – Geschick 47f, 52f, 456, 464, 466, 584, 594, 680, 685 – gewaltsamer 96, 113, 123f, 432ff – Grenze 20, 50, 170f, 204, 427, 458, 467 – als Herrscher 83 – als Hirte 74f – von Kindern 97, 312 – Konstrukte 203 – metaphorischer 153 – mitten im Leben 5, 18, 114, 170, 415ff, 456 – physischer 180, 380ff, 386, 456 – Prinzip 44,53, 61 – Relativierung 169 – Schwelle 423ff, 671ff – sozialer 180, 183, 186f, 197, 302, 319 – Sphäre 99, 113, 157, 160f, 164, 204, 206, 230, 419, 448, 232 – Stoß 216 – Ursache 88, 199, 237, 240 – des Viehs 51ff – Vorstellung 236, 406, 655ff – vorzeitiger 15, 124, 151ff, 168, 172, 229, 415, 463, 594 – Wunsch 25ff, 30, 37, 39f, 123 – zweiter 183, 196 Tofet 290 Toilettenartikel 636 Tor(e) 46, 59, 115, 217, 333f, 366, 373, 379, 397, 399f, 411ff, 441, 457, 510
– Tod 373, 379, 397, 400, 414ff, 419 – Unterwelt 379f, 412f, 415ff Tote(r/n) – Bahre 205 – Bekleidung 269 – Beschwörerin 101f, 454f, 546, 548, 550, 560 – Beschwörung 99, 102, 452f, 527, 548f, 554, 559 – Botschaften 569ff – Brauch 552 – Erinnerung 552 – Erweckungsaussagen 450, 463f – Fürbitte 496f – Fürsorge 355, 509ff – Gabe 494f, 505 – Gebeine 363, 429 – Gedenken 352f, 452, 481ff, 501ff, 559 – Geist 62, 101, 164, 216, 312, 345, 347f, 373, 398, 401f, 406f, 412, 438, 452f, 477, 482, 490, 495, 502, 508f, 526, 531f, 552f, 559, 563, 568, 570ff, 585f, 591f, 634, 638, 673 – Haus 275ff, 292, 363, 405 – Klage 70f, 95, 98ff, 205, 299ff, 342, 451f – Kult 94, 163, 257ff, 263, 270, 287, 290, 299, 325, 327, 333, 342f, 350ff, 362, 405, 449ff, 463, 471, 483f, 493ff, 504f, 514, 529, 532, 549ff, 642, 670 – Mahl 94, 200, 263, 289f, 484, 495ff, 505f, 515 – Opfer 285, 325, 336, 339, 341f, 450, 493, 503f, 558, 560, 592ff – Opfergaben 353, 494 – Pflege 156f, 482f, 503, 505, 552, 593ff, 637f, 657, 662, 670 – Reich 112, 115, 139, 146, 149, 157, 165, 194, 348, 373ff, 393, 397ff, 423, 427, 443, 455, 567f, 576ff, 591, 672 – Richter 567ff, 579 – Ruhe 278, 665, 671 – Spende 494 – Sühnopfer 496f – Tanz 199, 204
Sach- und Namensregister – Verehrung 532 – Verräumlichung 486, 488 – Versorgung 269f, 274, 292, 299, 501ff, 550, 552f – Verwandte 572, 579 Totenbuch 309, 411, 413, 415, 600ff, 610ff, 620ff – Kanonisierung 610 – Vignetten 602 Totengott 374, 377, 409, 447, 462, 576 Trachtsitte 259, 281, 289 Traditionsliteratur 525f, 528, 532 Trankopfer 340, 552, 572, 638 Trauer 93, 95, 97ff, 178, 181, 233, 240, 299ff, 330f, 351, 359, 494f, 504, 514, 558, 560, 665, 668 – Arbeit 95, 98, 100 – Becher 301 – Brot 94, 301, 496 – expressive 308, 316, 559 – Frauen 343, 514 – Frauenfigurinen 510 – Gemeinde 667 – Gesang 291, 305 – Haus 94, 662f – Kleider 94 – Mahl 496, 505 – Riten 88, 94f, 99ff, 255, 260, 299ff, 311ff, 330, 343, 347, 351f, 359, 450f, 496, 501, 506, 516, 529, 549, 558f, 662 – Zeit 95f, 311f, 314, 343 Trennungsriten 301, 323 Triumphbilder, -motiv 223, 228, 230, 240 Trostbecher 303, 496, 506 Trostrituale 301f Tumuli 286 Tun-Ergehen-Zusammenhang 48, 155, 391, 469, 676 Tutanch-Amun 206, 209, 600, 604 Tyros 289 Übergangsriten 323ff, 344, 662 Ugarit 62, 67, 77ff, 166, 210f, 219, 300, 304, 323ff, 338ff, 389, 399, 405, 412,
717
448, 490, 501, 505, 522, 526, 530f, 541, 551ff, 638, 641f Ulai 215f Unguentarien 670 Universalherrscher 373ff, 380, 387, 392 Universalisierung, Universalismus, Universalität 377, 387, 390f, 464 Unreinheit 99, 314f, 351ff, 363ff, 457, 504, 585, 592, 662, 666 – Leichnam 365 – Tiere 354, 360 Unsterblichkeit(shoffnung) 116, 155, 192, 329, 427f, 450f, 465ff, 469ff, 680f Unsterblichkeitstext 470 Unterwelt 5, 37, 40, 54, 57, 75ff, 111ff, 124ff, 133f, 145ff, 157ff, 194, 292ff, 330ff, 345, 373ff, 381ff, 397ff, 408ff, 413ff, 443ff, 456ff, 465, 473, 510, 513, 525ff, 530f, 544, 550f, 567ff, 574ff, 588ff, 591ff, 633f, 662, 666, 673, 675, 677, 680, s. auch Scheol – Aussagen 400, 418f, 464f – Bereich 525ff – Bücher 602ff, 614 – Eintritt 335 – Gefängnis 576 – Gott 337, 339f, 375, 379, 380, 401, 452f, 545, 568, 574ff – Herrscher 157, 600 – Stadt 412ff, 580 – Tor 380, 399, 411f, 414f, 418 – Vision 430 – Vorstellung 54, 156, 337, 374, 376f, 383, 400, 402, 406, 411, 414, 419, 468, 525, 529, 568 Ur 192f, 196, 205, 221, 224, 636 Urflut 379, 397, 400, 402, 409, 414 Urijahu 281 Urne 289f Urozean 400f, 403, 410 Ursprungsmythos 533 Uruk 210, 214, 219, 223, 404 Urzeitgötter 574, 576 Uschebti 604f, 612, 621
718
Sach- und Namensregister
Väter 44, 75, 90ff, 116, 130, 130f, 137ff, 151, 180f, 186, 272, 274, 285, 303, 329ff, 358, 395, 415, 490, 496, 431ff, 551, 577 Verehrung der Verstorbenen 290, 539f, 578ff Vergänglichkeit 3ff, 31, 35ff, 43, 45, 55, 59, 152ff, 167, 277 Vergänglichkeitsklage 7, 20, 31, 167ff Vergewaltigung 216, 302 Vergöttlichung 604, 637 Verklärung 25, 616ff Verräter 185, 194, 217 Verunreinigung – Laien 360ff – Priester 355ff – Totenkult 347ff, 362 Verwesung 144, 263, 274f, 291, 671 Verzehr von Schweinefleisch 354, 506 VidÓvdÁt 365 Vieh 48, 51ff, 55ff, 61, 445, 473 Vorfahren 58, 111f, 120, 123, 137ff, 215, 275, 333, 335, 338f, 452, 485, 531f, 539ff, 585, 637f, 643 Vormundschaft 96 Vorratsgefäß 510, 513, 635, 670 Vorteil 37, 45, 51, 56, 67, 597, 667 Vorväter 123, 140, 142, 148, 240, 638 Waffen 84, 88, 210, 213, 232, 260, 269, 389, 636 Wahrnehmung 13, 31, 33, 47f, 59, 62, 201ff, 229ff, 337, 390, 501, 554, 560 Waisen 93, 485, 494 Wasser 76, 158, 365, 379f, 400ff, 456, 536ff, 575, 588, 637, 666, 670
Weisheit 46, 53, 106f, 112, 115, 155, 168, 391, 427f, 450, 476, 548, 676 Weltbild 40, 62, 220, 230f, 239, 397, 399, 404, 418, 550f, 562, 622, 634 Wiederbelebung 429, 439, 593, 676ff Wiedereinleibung 676 Windhauch 31, 43, 51, 59 Wirklichkeitskonstruktion 200, 203, 240 Witwe / Witwenschaft 79, 93ff, 305, 316, 485, 494 – Kleider 94 – Stand 94 Würde 237, 662 Wüste 130, 362, 405, 407ff, 457, 535f, 542ff Zehntabgabe 351ff, 494 Zeit 3, 9ff, 20, 32, 36, 44, 46, 48, 50, 56, 65, 73, 89, 111ff, 146ff, 154ff, 184, 189ff, 210, 218ff, 241, 258, 264, 269, 308, 352ff, 430, 463, 490ff, 533, 558, 613, 641, 675 Zentrum 6, 12, 71, 112, 203, 205, 228, 354, 357f, 360, 362, 366, 397, 404ff, 416, 470, 547, 551, 559f, 588, 592, 631, 637, 643 Zeremonialsaal 641 zikurudû-Behexung 590, 594 Zimri-Lim 569, 578, 641 Zitadelle von Aleppo 218 Zorn 50, 97, 169, 182, 359, 376, 437, 468, 548, 586 Zoroastrismus 365 Zweitbestattung 667f, 672 Zwölftafelgesetz 315
Wortregister
Ägyptisch ̴np mt
šm i.ir nԹj=f it.w
73 72
145
Akkadisch ab/pu ťap bubbulum e̺emmī ilim kÓnītu
kispum marzë̴u pagrûm šÓdu šëmtu šuma zakÁru
551 551 553 347, 453 452f 578
503, 552 453 453 508 583 490
Hebräisch ɄɃ ɝɈɄɃ ɏɄɃ ɐɆɃ ɇɑɆɃ ɄɈɃ ɛɈɃ ɆɊɃ ɐɌɋɃ ɇɎɌɃ ɌɓɓɌɃ ɏɃ ɐɌɇɏɃ ɜɈɆɚ ɌɛɑɃ ɌɝɛɑɃ ɝɈɄɃȽɏɃ ɖɔɃ ɈɌɑɕȽɏɃ ɖɔɃ ɆɈɗɃ ɘɛɃ
551 553 301 48, 51, 53, 61 81 453, 502, 551, 561 59 51, 53 453 95 31, 37f 555 554f, 452f 29f 47, 51 143ff 123ff 508 81
ɝɌɄɇ ɏɕ ɛպʠ ɌɑɌ ɌɑɆɄ ɇɑɇɄ ɛɈɄ ɍɌɃɛɈɄ ɌɑɌ ɌəɊɄ ɈɑɏɈɕ ɝɌɄ ɇɎɄ ɕɏɄ ɐɌɎɏɑɇ ɝɈɛɄɚɄ ɇɄɈɋ ɇɄɌɜɄ ɐɈɏɜɄ Ɋɉɛɑ ɝɄ
ɇɛɌɄɅ ɕɈɅ ɄɓɅ ɃɎɆ ɐɌɇɏɃɏ ɊɄɉ ɛɎɉ
282 115 48, 51 60 60 114 278 299 80, 84 259 123 132 515 96 121ff 73 27 553 31, 60, 62
Wortregister
720 ɒɈɛɎɉ ɒɚɉ ɐɌɑɌ ɕɄɜɈ ɒɚɉ ɏɄɇ ɛɆɊ ɜɆɊ ɇɈɇɌ(Ɍ)Ɋ ɚɏɊ ɏɑɊ ɚɓɊ ɍɜɊ ɝɈɗɋɈɋ ɆɌ ɐɜɈ ɆɌ ɕɆɌ ɐɌɓɕɆɌ ɛɎɉɌ ɌɏɕɈɊɌ ɆɛɌ ɒɈɛɝɌ ɝɛɄɎ ɐɌɑɈɇɓɝ ɔɈɎ ɕɕɏ ɔɃɑ ɛɝɈɑ ɒɝɌȽɌɑ Ɇɗɔɑ ɐɈɚɑ ɇɛɚɑ ɇɄəɑ Ɋɉɛɑ ɒɎɜɑ ɋɗɜɑ ɐɌɝɑ ɆɅɓ ɝɈɄɃ ɝɏɊɓ ɇɑɊɓ ɜɗɓ ɛəɓ
45, 62 123ff 119, 121, 125 43, 59 259, 281, 283 504 450 58 28 180 59 559 489f, 507 491, 507 62 453, 502, 553 59, 490 450 61 45f 488 506 26 34f 55 27 304 49, 53 51, 53 490, 507 453, 505, 515 283 49 502 464 552 28 34ff 33
ɇɑɜɓ ɛɝɓ II Ɇɗɔ ɐɏɈɕ ɒɌɕ ɇɏɕ ɛɗɕ ɐəɕ ɝɕ ɏɅɗ ɛɅɗ ɏɔɗ ɚɌɆə ɚɆə ɐɈə ɒɈɌə ɛɎə ɛɄɚ ɆɌɈɆȽɌɓɄ ɌɛɄɚ ɇɓɌɚ ɇɃɛ ɊɈɛ Ƀɗɛ ɐɌɃɗɛ ɕɜɛ ɏɃɜ ɕɄɜ ɐɌɑɌ ɕɄɜ ɇɄɈɋ ɇɄɌɜ ɄɈɜ ɛɊɜ D-Stamm ɇɄɌɜ ɝɈɄɃȽɐɕ NN ɄɎɜ Ɋɑɜ ɜɑɜɇ ɝɊɝ ɇɈɚɝ ɐɌɗɛɝ
53 27 302 60 31 61 47, 53, 61 34 46, 49, 50 506 269, 286, 453, 493, 503 555 48, 51 49 301 507 483 259, 282, 283 259 302, 305 47, 58, 62 47, 53ff, 61f 508 453, 530ff, 553 48f 27 81, 125f 119, 121, 126 132 461 38 124 137 59f 48 30f 452, 553
Wortregister
721
Ugaritisch ilm marzÓa̲
452f 551
pgr rÁpiťīma
453 453, 551
Hurritisch Ábi
633
tarpiš
Hethitisch api
453
508
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren Dr. Reinhard Achenbach ist Professor für Altes Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Angelika Berlejung ist Professorin für Altes Testament: Geschichte und Religionsgeschichte Israels und seine Umwelt an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Klaus Bieberstein ist Professor am Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaften der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Dr. Joachim Bretschneider ist Professor für Vorderasiatische Altertumskunde an der Katholischen Universität Leuven. Jan Dietrich ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft der Universität Leipzig. Dr. Gönke D. Eberhardt war bis 2003 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Altes Testament der Universität Tübingen und hat über das Thema „JHWH und die Unterwelt“ promoviert. Dr. Irmtraud Fischer ist Professorin für alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät und derzeit Vizerektorin für Forschung und Weiterbildung an der Universität Graz. Dr. Christian Frevel ist Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Jan Christian Gertz ist Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Dr. Stefanie Gulde ist Akademische Rätin an der Universität Tübingen (katholische Fakultät). Dr. Raik Heckl ist Privatdozent und Wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Bernd Janowski ist Professor für Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Jens Kamlah ist akademischer Rat an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und leitet das dort ansässige Biblisch-Archäologische Institut.
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
723
Dr. Annette Krüger ist Wissenschaftliche Angestellte im Fachbereich Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Dagmar Kühn ist freie Referentin des Katholischen Bibelwerks und arbeitet im Bereich Altes Testament und Nordwestsemitische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen. Dr. Martin Leuenberger ist Professor für Altes Testament an der Universität Münster. Dr. Kathrin Liess ist Wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Rüdiger Lux ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Ute Neumann-Gorsolke ist Lehrbeauftragte und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altes Testament an der Universität Hamburg. Dr. Herbert Niehr ist Professor für Biblische Einleitung und Zeitgeschichte an der kathol.-theol. Fakultät der Universität Tübingen und Professor Extraordinary in Ancient Studies am Department of Ancient Studies der Universität Stellenbosch (Südafrika). Dr. Joachim Friedrich Quack ist Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg. Dr. Rüdiger Schmitt ist Nachwuchsgruppenleiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Johannes Schnocks ist Privatdozent für Altes Testament an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Bonn und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Dr. Silvia Schroer ist Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Dr. Daniel Schwemer ist Reader in Ancient Near Eastern Studies an der School of Oriental and African Studies, London. Dr. Jürgen Zangenberg ist Professor für Neues Testament und frühchristliche Literatur an der Fakultät der Geisteswissenschaften und Professor für Archäologie an der Fakultät der Archäologie der Universität Leiden (Niederlande). Dr. Annette Zgoll ist Professorin für Altorientalistik an der Universität Göttingen.