Philipp von Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt 9783110292992, 9783110307719

This book is a supplement to the eighteen-volume edition of the Complete Works of Philip von Zesen (1619-1689). For the

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Table of contents :
1 Vorbemerkungen
2. Werdegang eines Barockdichters
2.1 FrühlingsLust
2.2 Poetische Rosen-Wälder
2.3 Die Deutschgesinnete Genossenschaft
2.4 Die Reinweisse Hertzogin
2.5 Schöne Hamburgerin
2.6 Gekreutzigte Liebsflammen
3. Deutscher Helicon. Verskunst
3.1 II Tanz und Poesie oder Der Daktylus zwischen Lyrik und Lied
3.2 III Rhythmus und Klang
4. Romankunst I
4.1 Übersetzungen
4.2. Adriatische Rosemund
5. Romankunst II – Die biblischen Romane
5.1 Assenat
5.2 Simson
6. Zesen und die »Niederländische Freiheit«
6.1 I »Niederländischer Leue«
6.2 II Beschreibung der Stadt Amsterdam
7. Frömmigkeit und Zeitgeschmack
7.1 Zum Begriff Erbauungsliteratur
7.2 Gekreutzigte Liebsflammen
7.3 Frauenzimmers Gebeht-Buch
7.4 Lehrgesänge von Kristus Nachfolgung
7.5 Zesen als Übersetzer Johann Arndts
8. Geschichte und Geschichten
8.1 Englische Zustände (SW XV/1)
9. Kulturvermittlung und Wissenstransfer
9.1 Architectura militaris
9.2 Beverwijck-Cats: Schatz der Gesundheit
10. Religiöse Toleranz
10.1 Die Schriften »Wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen«
10.2 Calvin und Castellio
10.3 Castellio: neue Aktualität in Holland
10.4 Philipp von Zesen und die »Batavische Freiheit«
10.5 Täufer in Zürich und Bern
10.6 Grundlegung eines Politikums: Heinrich Bullinger
10.7 Niederländische Intervention
10.8 Schlussphase der Offensive: Zesens Beitrag
10.9 Kirche und weltliches Regiment
10.10 Zesens Vorbilder und Vorläufer in der niederländischen Republik
10.11 Zesen im niederländischen Kontext
11. Moralia Horatiana. Mythologie. Prirau als ein antikes Tempe-Tal
11.1 Moralia Horatiana
11.2 Die Heidnischen Gottheiten
11.3 Prirau
12. Philipp von Zesens Gedichte an die Weisheit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Bibliothekssiglen
Bibliographien. Nachschlagewerke
1. Quellen
2. Forschungsliteratur
Namenregister
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Philipp von Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt
 9783110292992, 9783110307719

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Frühe Neuzeit Band 177

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Ferdinand van Ingen

Philipp von Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt

De Gruyter

Für meine Frau Clazien in Liebe und Dankbarkeit

ISBN 978-3-11-029299-2 e-ISBN 978-3-11-030771-9 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

1

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Werdegang eines Barockdichters . . . . . . . . . 2.1 FrühlingsLust. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Poetische Rosen-Wälder . . . . . . . . . . 2.3 Die Deutschgesinnete Genossenschaft 2.4 Die Reinweisse Hertzogin. . . . . . . . . 2.5 Schöne Hamburgerin . . . . . . . . . . . . 2.6 Gekreutzigte Liebsflammen. . . . . . . .

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3. Deutscher Helicon. Verskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1 II Tanz und Poesie oder Der Daktylus zwischen Lyrik und Lied . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2 III Rhythmus und Klang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4. Romankunst I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.1 Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.2. Adriatische Rosemund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5. Romankunst II – Die biblischen Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1 Assenat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.2 Simson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 6. Zesen und die »Niederländische Freiheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.1 I »Niederländischer Leue« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.2 II Beschreibung der Stadt Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . 177 7. Frömmigkeit und Zeitgeschmack. . . . . . . . . . 7.1 Zum Begriff Erbauungsliteratur . . . . . . 7.2 Gekreutzigte Liebsflammen. . . . . . . . . 7.3 Frauenzimmers Gebeht-Buch . . . . . . . 7.4 Lehrgesänge von Kristus Nachfolgung. 7.5 Zesen als Übersetzer Johann Arndts . .

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VI

Inhalt

8. Geschichte und Geschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 8.1 Englische Zustände (SW XV/1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 9. Kulturvermittlung und Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 9.1 Architectura militaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 9.2 Beverwijck-Cats: Schatz der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . 279 10. Religiöse Toleranz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Schriften »Wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Calvin und Castellio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Castellio: neue Aktualität in Holland . . . . . . . . . . 10.4 Philipp von Zesen und die »Batavische Freiheit«. . 10.5 Täufer in Zürich und Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Grundlegung eines Politikums: Heinrich Bullinger. 10.7 Niederländische Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Schlussphase der Offensive: Zesens Beitrag . . . . . 10.9 Kirche und weltliches Regiment . . . . . . . . . . . . . . 10.10 Zesens Vorbilder und Vorläufer in der niederländischen Republik . . . . . . . . . . . . . 10.11 Zesen im niederländischen Kontext . . . . . . . . . . .

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11. Moralia Horatiana. Mythologie. Prirau als ein antikes Tempe-Tal 11.1 Moralia Horatiana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die Heidnischen Gottheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Prirau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355 355 364 383

12. Philipp von Zesens Gedichte an die Weisheit . . . . . . . . . . . . . . 390 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . Bibliothekssiglen. . . . . . . . . . . . . . Bibliographien. Nachschlagewerke . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . .

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Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

1

Vorbemerkungen

Die Meinung, Philipp von Zesen hätte in der Frühneuzeitforschung wieder Aufwind, beruht sicherlich zum Teil auf Wunschdenken. Andererseits jedoch findet sein umfangreiches Werk aus verschiedenen Perspektiven neues Interesse. Dafür ist nicht nur die fortwährende Arbeit an der Edition der Sämtlichen Werke, sondern auch ein interessanter Tagungsband ein Signal.1 Wer sich auf diesen Autor einlässt, muss sich auf widersprüchliche Urteile gefasst machen. Die ältere Forschung ist meist den häufig voreingenommenen Zeitgenossen gefolgt oder hat Unzutreffendes geäußert. So notiert etwa Alfred Gramsch in seiner Dissertation 1922 zu Zesens erster Dichtung Melpomene (1638): »Dann endet er sein Hauptthema mit einer Anrede an Jesus. Dieser solle mit des Dichters gutem Willen vorliebnehmen; wenn er zu Jesu Zeiten gelebt hätte, so hätte er wohl anders für ihn sorgen mögen. Gebet und Lob beschließen das kindliche Geschwätz.«2 Ähnlich herablassend urteilt Otto Schulz 1824.3 Zesen hatte bei Vielen eben keinen guten Ruf. Er hat sich darüber mehrfach beklagt. So etwa in dem Brief, den er auf die Aktivität Martin Kempes hin an Sigmund von Birken nach Nürnberg geschickt hat, mit der Mitteilung, er sei in die Deutschgesinnete Genossenschaft, und zwar in die »Rosenzunft« aufgenommen worden. Zesen schreibt u. a.: Gern wündschte ich nur ein paar stündlein das glük und die ehre zu haben, Denselben, den ich in meinem Sin iederzeit vor den volkomnesten Dichtmeister geehret, eigenmündig zu sprechen […]. Ja dan würde Er an mir viel einen andern finden, als ich Jhm beschrieben worden. Gott mag es denen vergeben, die aus lauter boßheit und giftigem neide, mich überal so gar schwartz zu machen gesuchet. Aber ich meine nicht die schwärtze, damit man mein angesicht nur überstreichen wollen, wie mich der redliche Unsterbliche, unter andern, berichtet: indem man ihm vorgeschwatzet, daß ich so schwartz sei, als ein Mohr, und ein häsliches durch die pocken verdorbenes und gantz ungestaltes angesicht hette; da ich doch niemahls die pocken gehabt. Uber dieses schwartz- oder häslich-machen, lache ich nur der albernen plauderer. Aber das andere schwartz- und häslich-machen, das die tugend betrift, dasselbe gehet mir ein wenig zu hertzen. Doch Gott wird die falschen verleumder und lästerer wohl finden;  1

 2  3

Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. v. Maximilian Bergengruen und Dieter Martin. Tübingen 2008. (Frühe Neuzeit Bd. 130) Zesens Lyrik. Leipzig / Zürich / Wien 1922, S. 10. Die Sprachgesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts. Berlin 1824, S. 30: »…unter seinen Gedichten im ›Dichterischen Rosen- und Liljenthal‹ ist mehr als eines, das seinem Verfasser ehren würde, wenn er nur nicht Philipp von Zesen hieße.«

2 und er hat sie auch schon zum teile gefunden und tapfer heimgesuchet, ja gar in die grube geworfen. Jch aber lebe noch, und halte noch fest an meiner tugend. […] Uber nichts verwundere ich mich mehr, als daß auch weise leute sich von Narren so haben betöhren laßen, daß sie so leichtgleubig worden, und ihnen mich so gar, so gar, so gar anders einbilden laßen, als ich bin. […] Ach! ich bin betrübt, daß die welt so gar gottlose ist, daß sie so gar böse, ja schelmisch ist, einem redlichen mann seinen ehrlichen nahmen so unverdienter weise zu stählen. […] Jch wil die sache Gott befehlen, und meine Neidhämmel hinrasen ja sich todt rasen laßen.4

Die Zeitgenossen dürften Anstoß daran genommen haben, dass er es wagte, mit Martin Opitz, dem von allen anerkannten Haupt der neuen Dichtung, um die Palme zu ringen. Das bezog sich natürlich auf seinen Helicon, aber auch auf seine Verserneuerungen. Wahrscheinlich auch vollzog er seine Selbstnobilitierung in Anlehnung an Opitz: Philipp Caesius von Fürstenau – Martin Opitz von Boberfeld. Wurde Opitz 1627 vom Kaiser geadelt, nahm Zesen jedoch früh den Adel der Feder bzw. den Geistesadel für sich in Anspruch. In der respublica litteraria galten andere Hierarchien. Auf ähnliche Weise wie der Schlesier musste er auf eigene Kraft in die aristokratischen Familien und die Kreise bedeutender Männer und Gelehrte aufsteigen, von denen er für sein Fortkommen abhängig war. Der Pfarrerssohn Zesen wusste um die Relativität der irdischen Dinge. Seine Aussagen im Gedicht, auch im traditionellen Epicedium, bemühen sich um höchste Klarheit, die Bildlichkeit ist weder komplex noch hochtrabend: »Wie wandelbar der mahn/ wie wandelbar die sterne;| so ist der Menschen zeit| gantz vol vergänglichkeit.| Bald nimmet zu/ bald ab die grosse nachtlaterne.| Balde seind wir frisch und roht/| hübsch und lieblich von gesichte:| balde seind wir krank und todt;| da der leib wird gar zu nichte.« (SW Bd. II, S. 370, Str. 2) Damit ist nicht im Widerspruch, dass er sein Talent nicht in falscher Bescheidenheit verborgen hielt. Er hat die von ihm weiter entwickelte »Buchnerart« (die »rollende Dattel- und Palmen-ahrt«) dem angehenden Dichter in mehreren Schriften nahegebracht, denn diese beherrsche man nicht »allein von der natur/ sondern auch aus der kunst«, um so, mit Hilfe des »lehr-meisters und unterweisers« endlich zum »dicht-meister« zu werden (Helikon von 1656, SW Bd. X/1, S. 60). Die höchste Stufe erreiche sie in der Verbindung mit Musik und Bewegung im Raum (sc. Tanz).5 In solcher Multimedialität hat Zesen sich einmal in einer Pindarischen Ode versucht, die er im Helikon von 1656 beschreibt  4

 5

Zesens Schreiben wurde am 13. 7. 1670 in Amsterdam ausgestellt, am 30. 8. 1670 Birken eingehändigt und am 3. 4. 1671 beantwortet. Sie wurden mit weiteren von Hartmut Laufhütte 2005 zuerst in DAPHNIS veröffentlicht, dann in H. L., Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, u. d. T. »Ja dan würde Er an mir einen andern finden, als ich Jhm beschrieben worden.« Philipp von Zesens Versuch, mit Sigmund von Birken in Briefkontakt zu gelangen, S. 115–124. Vgl. Elisabeth Rothmund: Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik. In: Philipp von Zesen. Wissen- Sprache – Literatur. S. 34–54. (Frühe Neuzeit 130)

3 (ebd., S. 61 f.). Da heißt es dann vom Abgesang: er »war von färtigen und lieblichen Dattel- oder palmen-reimen/ und wurde von beiden teilen zusammen/ mitten im zimmer/ gleichsam mit zitterenden/ doch frohen/ tritten getantzet/ mit zitternder und lieblender zungen gesungen/ und von den spielleuten/ welche absonderlich stunden/ mit zitternden fingern gespielet/ ja alles dreies geschahe nach dem färtigen und hüpfenden dreischlage.« In solcher Rhythmisierung und Dynamisierung der Verskunst hatte er keine Vorbilder und keine Nachahmer. Zesen war sich seiner besonderen Anlagen schon bewusst. Überblickt man das umfangreiche und vielverzweigte Gesamtwerk, stellt man alsbald fest, dass er sich unermüdlich bemüht hat, Gattungstraditionen inhaltlich und formal zu erweitern und zu erneuern. So bietet das Werk ein weit gefächertes Panorama. Er war durchaus mit der Einschätzung vertraut, dass sein Standort in der Linie OpitzBuchner6 ihm eine Sonderstellung in der literarischen Entwicklung und der deutschen Kultur einräumte,7 die es zu verteidigen galt. Dazu hat er sich der himmlischen Weisheit (als Geliebte gedacht) anvertraut und mit einem Gedicht, »Der überirdischen Weisheit Lobgesang«, die Sammlung Rosen- und Liljen-tahl eröffnet (SW Bd. II, S. 27, Str. 6): Du solst meines Nahmens lob in die hohen wolken bauen/ stähts zu schauen. Da wird bei der Sterne schaar/ immerdar mein Gedächtnüs müssen bleiben/ und bekleiben/ nur dir/ Neid/ zu trotz und hohn. Wohl dem/ der denselben lohn/ der da trotzt die hohen sinnen/ kan mit ehr’ und ruhm gewinnen!

Zesen hat sich vorzüglich in den Dienst der Frau gestellt, er spielte deshalb in ihrem Emanzipierungsprozess eine nicht unbedeutende Rolle.8 Nicht von ungefähr wird er in den frühen Werken der Adriatischen Rosemund und Rosen=mând das Idealverhalten der honnêteté vorgeführt haben. Diese modische Verhaltensform verlor ihre Attraktivität, als sich die Aufklärung ankündigte und Zesens Lebensende sich näherte.9  6

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Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001. Vgl. Andreas Herz: Philipp von Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Philipp von Zesen, S. 181–208. Vgl. insbes. Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Bonn 1980. Allgemein: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Hiltrud Gnüg und Renate Mohrmann. Stuttgart 1985. Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des honnête-homme-Ideals im 17. und 18. Jahrhundert. Bonn 1980.

4 Wie Zesen sich und seine Stellung in der literarischen Gemeinschaft einschätzte, zeigen das persönliche Sinnbild in der zeitüblichen emblematischen Bedeutung (beschwerte Palme) und die Spruchverse, mit denen er sich am 2. 12. 1648 ins Mitgliederverzeichnis der Fruchtbringenden Gesellschaft eingetragen hat: Tugend hat leider! allzuviel neider, aber indessen werd’ ich sie dennoch allezeit lieben, nimmer vergessen. Wilstu die rosen unter den Dornen völlig abbrechen, mustu nicht achten oder betrachten, daß sie dich stechen. wahlspruch Last häget Lust10

Den Spruch hat er häufiger als Stammbucheintragung verwendet, etwa 1651 in Hamburg (Adressat unbekannt), 1688 ebenfalls in Hamburg für das Stammbuch Johann Wilhelm Meurers. Verwandtschaftliche Beziehungen zur Juristen-Familie Meurer sind bisher nicht bekannt, aber nicht unwahrscheinlich: Zesen hatte zum Tod des Hamburger Juristen Johann Christoph Meurer 1652 die Trauerschrift Die flüchtigkeit Menschliches Lebens verfasst; sie wurde bei Georg Papen in Hamburg gedruckt.11 Der Wahlspruch »Last häget Lust« findet sich bereits 1645 auf dem Titelkupfer des Romans Adriatische Rosemund. In den hier genannten Wahlsprüchen wird noch lateinisch hinzugefügt: »Pax Cladem Sequitur.«12 Zesen wird als 1. Zunftglied der Rosengesellschaft emblematisch mit dem Palmbaum identifiziert. Im Bild erhebt dieser sich am Gestade, hoch aufragend neben einem Berg, auf dem man in der Ferne gerade noch das Dichterpferd Pegasus erblickt. Die Palme trägt obenauf einen »Ehrenkrantz von weiss=vollen und leibfärbigen hundert-blätrigen Rosen.« Der Kräftige (Friedrich Scherertz) spielt im Schlussteil seines Ehrengedichts darauf an und bringt auch Zesens Zunftnamen (Der Färtige) bei den Fruchtbringenden ins Spiel, das die Kombination von Last und Lust auszudrücken sucht:13 Er gleicht dem Palmenbaum; Er gleicht den Rosen-blüssen; weil seine Färtigkeit kan Last/ durch Lust/ versüßen; belästigt von der Kunst/ von aller Welt bekräntzt/ so daß sein Großer Nahm den erdkreus gantz durchgläntzt. Schaut diesen Palmenbaum so färtigstark als Löwen; der unsrer Sprache Last/ durch seine kunst kan höben/ und tragen himmelan! Schaut hier den Ehrenglantz/ der seiner scheitel giebt der edle Rosenkrantz!

10 11 12

13

Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. 1855. S. 489. SW Bd. XIV. S. 519–532. Herbert Blume: Beiträge zur Biographie Zesens. In: Daphnis 3. Bd. (1974), S. 196– 202. SW XII (Helikonisches Rosentahl. Amsterdam 1669). S. 225–230.

5 So trägt Er last mit lust; weil seine starke sinnen den Krantz der ewigkeit/ durch fleis und schweis/ gewinnen. Er beugt durch keinen Neid; steht fest und unbewegt; der/ in der meisten Last/ die meisten Lüste hägt.

2.

Werdegang eines Barockdichters

Eine Beschäftigung mit Zesens Biographie und dem Oeuvre in seiner Diversität bringt vielfältige überraschende Einblicke in die Welt der Frühen Neuzeit. Insbesondere erlaubt sie Aufschlüsse über ein besonderes Dichterverständnis und literarische Produktionsprozesse sowie über kritische Urteile, die wegen ihrer Verschränkung von ästhetischen und literaturtheoretischen Diskussionen mit sozialen und politischen Fragen den Blick schärfen für Tradition und Erneuerung im Bereich von Literatur und Kunst. Das 17. Jahrhundert ist uns heute ferngerückt, trotz der zahllosen relativ erfolgreichen Bemühungen in den Niederlanden, wo Philipp von Zesen lange gewohnt und gearbeitet hat, die Epoche des Goldenen Zeitalters (»Gouden Eeuw«) etwa als »Eeuw van Rembrandt« im allgemeinen Bewusstsein überleben zu lassen. In Deutschland sind die Dinge in etwa vergleichbar. Selbstverständlich sah die Welt vor 400 Jahren anders aus. Anders waren damals das Verständnis von Literatur und Dichter, anders auch der Begriff von ihrer sozialen Rolle. Das gilt nicht weniger für das damalige, seit dem Schulbesuch eingeübte, Verhältnis zu Kultur und Sprache der Antike, deren Bedeutung bei den Eliten noch durchaus geläufig war – ja die Dichter jener Zeit bedienten sich reichlich des Lateins, sowohl in gelehrten Schriften wie in ihrer Poesie.1 Wer also die spezifischen Formen und Dimensionen des europäischen Humanismus als die im 17. Jahrhundert immer noch dominierende Bildungsbewegung zu erfassen sucht und ihren Einfluss in der damaligen literarischen Arbeitswelt einigermaßen richtig einschätzen will, muss nach den historischen Voraussetzungen der höfisch-repräsentativen wie muttersprachlich-bürgerlichen Antikerezeption und ihrer Funktion bei der Konzeption einer sich in Deutschland verhältnismäßig jungen, sich aber rasch etablierenden deutschsprachigen Literatur fragen. Sie ist in ihren Grundlagen darzustellen. Zesen, dessen Würdigung als des »vielseitigsten Kopfes des Zeitalters« schon vor mehr als 80 Jahren Karl Viëtor angemahnt hat,2 dürfte ein überzeugendes Beispiel abgeben. Philipp von Zesen war ein gelehrter Dichter,  1

 2

Vgl. etwa Guillaume van Gemert: Deutsche Barockliteratur und Latinität. In: Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München 1999. S. 286–299, spez. 291 ff. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 2) Karl Viëtor: Vom Stil und Geist der deutschen Barockdichtung. In: Germanisch-Romanische Monatschrift 14 (1926), S. 156.

7 ein poeta doctus. Das geht aus seinem ganzen Werk hervor, das religiöse und weltliche Gedichte und Lieder, erfolgreiche Poetik-Handbücher (Deutscher Helicon in vier verschiedenen Fassungen, 1640 die erste, als Ergänzung von Opitz’ Deutscher Poeterey von 1624), Romane und Romanübersetzungen, historische Schriften (zu denen zum Teil auch die Amsterdamer Stadtbeschreibung gehört) und Gebetbücher, Übersetzungen niederländischer ›Sachbuch‹–Literatur usw. umfasst. Zu den genannten Gebieten sind noch Schäfereien, ein umfangreiches mythologisches Handbuch (Heidnische Gottheiten), ein umfangreiches lateinisches Werk über den Dichterischen Sternenhimmel (Coelum Astronomico-Poeticum), eine Übersetzung zur Festungsbaukunst, eine prächtige und sehr geschätzte Moralia Horatiana Das ist Die Horatzische Sittenlehre (1656, »mit 113 in Kupfer gestochenen Sinn-bildern«) zu zählen. Er hat einen weitverzweigten Briefwechsel geführt, nicht zuletzt für seine von Amsterdam aus geleitete Deutschgesinnete Genossenschaft. Immer mehr ist deutlich geworden, dass Zesens gesamtes Werk zu berücksichtigen ist, wenn man seine Zielsetzungen (auch in Fragen der Orthographie und Sprachgeschichte!) verstehen will: Man hat sein Selbstverständnis als poeta doctus ernstzunehmen. Zesens außerordentliche Schaffenskraft hat schon die Zeitgenossen mit Bewunderung erfüllt. Freunde stellten schon zu Lebzeiten des verehrten Meisters Verzeichnisse seiner Schriften zusammen und ließen sie drucken (Johann Heinrich Gabler: Verzeichnis der […] Zesischen Schriften. Speyer 1687). Das ist ein ungewöhnlicher Vorgang, der umso mehr besagt. Es war allerdings nicht unüblich, dass ein Autor in der Vorrede eines neuen Werks seine sonstigen Schriften aufzählte. So hat Zesen ebenfalls getan, aber Gabler verzeichnet auch Gelegenheitsschriften. Es erschien eine heute noch benutzte Liste, die 1672 veröffentlicht wurde: Verzeichnis der so wohl übergesetzten/ als selbst verfasseten Zesischen Schriften/ zum drukke befördert durch den Dringenden. Hinter dem Gesellschaftsnamen verbirgt sich Philipp von Bährenstätt aus Erfurt, der dann von Gabler überholt wurde. Gablers Vorrede gibt Aufschluss über die Funktion des Verzeichnisses. Anvisiert ist das Lob des verehrten und gelehrten Verfassers, denn die Vielheit seiner Schriften gebe zu erkennen, daß diser überträfliche Man unzählige bücher/ allerhand gattungen/ geläsen; daß Ihme der wesentliche innhalt aller Edelen Wissenschaften gründlich bekant; daß Er vieler sprachen volkommen kündig/ und vor allen dingen ein unvergleichlicher Retter/ Beschirmer und Heiland unserer teuren Hochdeutschen Helden-sprache seye; und daß ändlich Gott und die Natur den Herrn von Zesen mit einem durchdringenden Geist und gantz ungemeinen gaben dergestalt erleuchtert und bereichert haben/ daß man darüber billich in verwunderung gerahten müsse.

Es geht daraus auch hervor, dass Arbeit an der Literatur, gleichgültig in welcher Form, zugleich als Arbeit an der deutschen Sprache und ihrer

8 Pflege galt. Das war ein hochwichtiges Anliegen aller Autoren und »Literaturbeflissenen«, die sich in sogenannten Sprachgesellschaften3 zusammenschlossen. Hier sollen vorerst nur die Namen der wichtigsten genannt werden. Die erste war die Fruchtbringende Gesellschaft (1617 gegründet), die erlauchteste und fürstliche Gruppe, mit dem Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen als Oberhaupt. Es folgten Zesens Deutschgesinnete Genossenschaft (in Hamburg 1643 gegründet) und der Pegnesische Blumenorden (1644 in Nürnberg von Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj gegründet). Philipp von Zesen wurde am 8. Oktober 1619 in Priorau bei Dessau (Sachsen-Anhalt) geboren. Sein Vater, der dort von 1616 bis 1668 als lutherischer Pfarrer gewirkt hat (er starb vermutlich 1671) hat seinen Sohn getauft und trug das Datum in das noch heute erhaltene Taufbuch (»Pestbuch«) ein. Die Mutter wurde am 10. Februar 1657 beerdigt und trug den Namen Dorothea.4 Zesen besuchte vermutlich ab 1631 das berühmte Gymnasium in Halle, das von dem namhaften Grammatiker Christan Gueintz (1592–1650) geleitet wurde. Dieser verfasste das Buch Deutscher Sprachlehre Entwurf (1641), war Mitglied der Fruchtbringer und hat sich um seine Schüler in Sachen der Poesie besonders gekümmert; er beauftragte sie etwa mit kleinen Gelegenheitsgedichten. Bereits als Zwölfjähriger will Zesen die Reimtafel zu seinem Helicon fertig gestellt haben. Die in der Schule gelegte Grundlage wurde weiter verfolgt und ausgebaut, als er 1639 die Universität Wittenberg bezog. Hier lehrte der berühmte Dichter und Poetiker Augustus Buchner (1591–1661), der von vielen über Opitz – damals die anerkannte Autorität – gestellt wurde. In Wittenberg erschien (1640) die erste Auflage seiner Poetik, in der er sich für den von Buchner befürworteten Daktylus einsetzte, ein auch von Zesen in der poetischen Praxis gern eingesetztes Versmaß (er nannte es die »Buchner-art«), das von den von Opitz empfohlenen Jamben und Trochäen abwich und den Vers spürbar auflockerte. Darauf ist weiter unten zurückzukommen. Zesen verließ Wittenberg mit dem Magisterdiplom, das er mit einer Arbeit über die Sophistica abschloss, die er am 30. Januar 1641 im Auditorium Minor der Universität vorgetragen

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Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. SM, Stuttgart 1972. Ferdinand van Ingen: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert. In: Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur. Bd. 1. Wolfenbüttel 1973. S. 82–106. Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München 1973. Allgemein: Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Aufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin 1994. Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1984; Andreas Gardt (Hg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2000. Vgl. das Akrostichon in den Gekreutzigten Liebsflammen, 1653.

9 und verteidigt hat. Er führte den Titel Magister mit Recht auf dem Titelblatt seiner ersten größeren Liedpublikation, Himmlische Kleio (1641). Die nächste Station war 1642 Hamburg. Aus diesem Jahr sind einige Gelegenheitsgedichte aus der Hansestadt datiert. In dieselbe Zeit fällt die Bekanntschaft mit dem Wedeler Pastor und Dichter Johann Rist (1607– 1667), der später zu einem seiner bissigsten Kritiker werden sollte.

2.1 FrühlingsLust In Hamburg erschien die Schäferdichtung Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack und die bald beliebte Liedersammlung Frühlings-Lust (beide 1642). Die Sammlung »Lob- Lust-/ und Liebeslieder« widmet der Dichter dem sächsischen Geheimsekretär Christian Reichbrodt, der ihn großzügig aufgenommen hat, und den Brüdern Dietrich und Johann Petersohn, deren er als Dichterfreunde in der Vorrede gedenkt In der Leservorrede entschuldigt Zesen sich für die ›die Enge der Zeit‹, die keine bessere Ordnung zugelassen habe – eine captatio benevolentiae. Was die Liebessachen betrifft, heißt es: »Ich spiele/ doch bey gutem Verstande. Ich schertze/ doch so/ daß es zu verantworten.« Zur sprachlichen Gestaltung bemerkt er (es ist das erste Mal, dass der Dichter sich in dieser Form an den Leser richtet): »Die Worte seyn schlecht [= einfach]/ die Reden deutlich/ daß sie jederman verstehen sol. Denn so die Reden allzusehr verfünstert/ daß mancher kaum den halben Verstand daraus erzwingen kan/ wozu dienet es?« In der Widmung wird eine heitere Frühlingsstimmung evoziert, in die Zesen seine Lieder hineinstellt. Meine Lieder brächen nun gleichsam mit den Rosen bey gegenwärtigem Frühlinge herfür und wollen in dieser anmuthigen Zeit im spazieren-gehen das lüsterne Frauenzimmer ergötzen/ wo es nur einige Ergötzung daraus schöpffen kan. Diese Zeit zwar ergötzet genug und geräth männiglich nur bey Betrachtung derselben gleichsam in eine süße Verzückung. Bald empfinden wir eine sonderliche Ergötzung an den wider-hoch-auffsteigenden Straalen der Sonnen; Bald belustigen uns die liecht-blauen Gezelte des Himmels; anmuthige Blöße der Lufft/ die schöne Tapezereyen der Wiesen und Gärte/ die Kristall-hellen Bäche/ so durch die schattigten Wälder dahin rieseln/ und bey denen das verzuckerte Zwitschern der Vögel/ so sich mit dem lieblichem Gereusche der Bäche vereinbahret.

Das ist der gebräuchliche verblümte Ausdruck für ein verliebtes Herz. Sollte es hier anders sein? Nur eine Zeile vor diesen heiteren Klängen heißt es, er habe die Lieder »vor drey Wochen einer hohen Persohn« teuer versprochen. Das ist zweifellos die Dame, die die Sammlung mit einem Widmungsgedicht das Buch ihres »besonderen Freundes« eröffnet – »Herr / was sol ich von Euch sagen?| Eure schöne Lieder machen/| Daß Cupido selbst muß klagen …« Unterzeichnet ist das kleine Lied D. E. V. R. Das ist leicht zu entschlüsseln als Dorothea Eleonora von Rosenthal. Sie hatte Ze-

10 sen ihre Poetischen Gedancken (Breslau 1641) gewidmet und ihn darin als Lehrer und Freund gefeiert. Er hat sie wohl zusammen mit ihrer Freundin Sophie Vismar in Hamburg getroffen. Die Sammlung aus sechs Dutzend Liedern – so die Anordnung –- bringt neben Liebesgedichten auch Lob- und Widmungsgedichte, etwa auf Kaiser Ferdinand III. und August von Sachsen, auf seinen Lehrer Gueintz. Aber es sind vor allem (natürlich!) Liebeslieder, in dem locus amoenus mit Rosen, Lilien, Tulpen und Narzissen situiert; es werden »Wasser, Brunnen, Quell und Bäche« angerufen, um beim Abschied die Trauer zu begleiten. Vor allem wird die Liebste in petrarkistischer Manier mit Formen und Farben der herrlichen Natur ausgestattet, wie schon in wenigen Strophen deutlich wird: Der Himmel ist offt trüb’ und gibt uns Regen/ Deckt seine schöne Liechter zu/ Die gleichsam auch verhüllt zu trauren pflegen; Die Eigenschaften hast auch du. Lachest offt und sihst offt trübe/ Regnest Thränen ohne Zahl/ Wann dich teuscht die schnöde Liebe/ und verhüllst den Sternen-Saal. Der schönsten Blumen Zier so bey den Flüssen und bey den frischen Brunnen stehn/ Die kan dein Angesicht nicht einmal missen/ Mann siht sie täglich frisch auffgehn: Liljen zieren deine Wangen/ Tausendschönen mischen sich/ Wo die keuschen Rosen hangen und erfreuen dich und mich. Des Hertzens Vorhoff ist schön ausgesetzet/ mit theuren Perlen und Rubien. Du kanst auff deiner Brust/ die manchen letzet/ Narcissen-Rößlein hübsch erzihn. Kürtzlich: Alle Gärte weichen Deiner schönen Backen-Zier; alle Blumen müssen bleichen/ Wann dein Mund nur blickt herfür.5

Es sind häufig Rollengedichte, bei allen Liedern sind Versart und Versmaß angegeben (z. B. »Auf Pindarische Art. Von Anapästischen Versen«), es sind auch auffallend viele daktylische Verse darunter, kurz: es ist eine Mustersammlung neuer Metren. An Formen sind Echogedichte zu verzeichnen, die vor allem die Nünberger Dichter pflegten, sonst Dialoggedichte, die eine Auflockerung des Vortrags bedeuten. Wir wollen sie näher betrachten.

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Aus »Frühlings-Lust«, II, Nr. 3. SW Bd. I/1, S. 86/87.

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2.2 Poetische Rosen-Wälder Die Poetischen Rosenwälder sind – mit der Tasso-Übersetzung Roselieb oder Waldspiel 6 – Zesens Tribut an die im 17. Jahrhundert so beliebte Schäferdichtung, die in den westeuropäischen Literaturen als ›eskapistische‹ Utopieform einen bevorzugten Platz einnahm.7 Neben den Großformen des Schäferromans und Schäferdramas haben sich kleinere anmutige Gebilde entwickelt, wie etwa Tassos Aminta (1580) und Guarinis Pastor fido (1590). Die neuzeitliche Schäferdichtung basiert auf den antiken Formen, die bei Theokrit und Virgil Triumphe gefeiert haben.8 Sie sind der Entwurf einer Sonderform der Utopia-Vorstellung und führen den Leser in die verspielte Welt der freien Natur mit Hirten und Nymphen: Ein Arkadien, das als psycho-sozialer Rückzug aus der regulierten Ordnung der Welt verstanden werden kann.9 Martin Opitz aus Schlesien hat auch hier die Richtung vorgegeben. Seine Schäfferey Von der Nimfen Hercinie (Breslau 1630) hat für zahllose Nachfolgedichtungen vorbildlich gewirkt, insbesondere für die Nürnberger Dichter des Pegnesischen Blumenordens, die sich auch Pegnitz-Schäfer nannten. Opitz’ bescheidene literarische Wald- und Grottenwanderung vermittelte den deutschen Dichtern mannigfache Anregung. Eine interessante Deutung von Zesens Schäferei legte Seraina Plotke vor. Sie weist darauf hin, dass der für die Gattung konstitutive Spaziergang hier eine rein gedankliche Bewegung darstelle: »Ein Spaziergang im Kopf also, der gerade nicht durch die Natur führt […],« sondern »durch die Textwelt des Erzähler-Ichs, in die virtuelle Welt des Dichtens und der Gedichte«.10 Sie erkennt im Titel den Hinweis auf den Begriff silva (Wald oder Wälder für Gedichtsammlung), der in Antike und Renaissance auch synonym mit materia verwendet wurde, gleichbedeutend mit griechisch ›hyle‹. Hier wären Metrik und Klang darunter begriffen, Elemente also, die Zesen bevorzugt  6

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Beide im Neudruck: Bd. III/1 (1993). Der »Roselieb«, 1646 in Hamburg gedruckt und Dionysius Palbitzky (dem »Deutsch-herzigen«) gewidmet, wurde laut Titelblatt »fast nach dem des T. Tassens Amintas ümgesäzt«. Erst in einer Nachbemerkung erfolgt die Mitteilung, dass »des Hochgelehrten M. Schneiders übersezung« zugrund gelegt wurde (S. 119). Michael Schneider (er starb 1639) gehörte wie Zesen zum Kreis um Buchner. Achim Aurnhammer hat einen gründlichen sprachlich-stilistischen Vergleich beider Versionen vorgenommen, auf den hier verwiesen sei (Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994, S. 180–193). Hier ist von Belang, dass Zesen die ein Jahr zuvor mit der »Adriatischen Rosemund« begonnene Verdeutschung der antiken Namen fortsetzt, wenn auch nicht immer ohne Ungeschicklichkeiten (S. Aurnhammer, S. 184 f.). Der Internationale Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur hat sich des Themas energisch angenommen. Vgl. etwa den Band »Schäferdichtung«. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1976. Klaus Garber (Hg.): Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976. Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. Seraina Plotke: Zesens »Poetischer Rosenwälder Vorschmack« als poetologisches Werk. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. 2008, S. 25–34, hier 28. (Frühe Neuzeit, Bd. 130)

12 in seiner Poetik behandelt. Damit wäre der Blick auf die in die Handlung eingelagerten Gedichte gerichtet. Die hervorstechenden Merkmale wären daher »Töne, Geräusche und Klänge, die Musikalität der Dichtung – dies sind Zesens zentrale Anliegen in seinem Deutschen Helicon. […] Seine ganze Dichtungslehre dreht sich um die ›hyle‹ im Scaligerschen Sinne, welche letzten Endes nichts anderes als Klänge, Geräusche und Rhythmen betrifft: Es geht Zesen in erster Linie um Versfüße, Versmaße und Reime.«11 Schäfereien konnten mehreren Zwecken dienen. Die Mischform aus Prosa und Vers eignete sich für Hochzeiten und Huldigung bedeutender Persönlichkeiten oder Geschlechter. Sie bildeten eine halbseriöse Spielform, die verschiedenartigen Themen und ebenfalls etwa spielerisch-mythologischen und gelehrten Unterredungen Aufnahme boten. Sie hat sich in manchen Fällen mit der Landlebendichtung verquickt, wie sie von Antonio Guevaras Verachtung des Hof- und Lob des Landlebens (1539, Übersetzung des Aegidius Albertinus) exemplarisch gestaltet worden war.12 Zesens Schäferdichtung ist von einigem Interesse, nicht zuletzt wegen der Liedbeiträge. Sie sollten später meist in die Frühlings-Lust eingehen. Auf dem Titelblatt der Schäferei prangt stolz der Magistertitel: »M. Phil. Caesiens v. F.| Poetischer Rosen=Wälder Vorschmack| oder| Götter= und Nymfen=Lust/| Wie sie unlängst in dem Heliconischen Ge-| filde vollbracht/ auff Lieb= und Lobseeliges Ansuchen| Einer dabey gewesenen Nymfen kürtzlich entworffen.«13 Die Handlung im ›Heliconischen Gefilde‹ ist also Fiktion, eine dichterische Erfindung, und die genannte Person ist mit Sicherheit Dorothea Eleonora von Rosenthal. An sie richtet Zesen eine lange »An- und Vorrede«, in der sie in poeticis hoch gelobt wird: »O Außzug aller Kunst/ ô vierde Charitinn/| Minervens Schwester Du/ Du zehnde Pierinn« (Z. 10 f.) – »Du Andre Sappho Du/ Du Phöbus-selbst-Gemahlin« (Z. 33 f.). Es seien bald neue preiswürdige Proben ihrer Kunst zu erwarten, und schon meint der Dichter das Ergebnis zu sehen – das hohe Lob, »das Dier hat zu gemessen| der dreymahl dreyen Zunft/ mich deucht ich sehe schon/| Du Rose dieser Zeit/ den immergrünen Lohn/| den Phöbus geben wird.« (Z. 57 ff.). Trotz des hyperbolischen Lobs aus der Gruppe der neun Musen, das die Dame himmelan hebt, fehlen Nachrichten über weitere Kontakte. Zesens Schäferdichtung, kaum je Gegenstand bisheriger Forschung,14 ist zwischen der Hercinie und dem Pegnesischen Schäfergedicht von Georg 11 12

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Plotke, S. 33. Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum »Lob des Landlebens« in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Hermaea N. F. Bd. 44). Neudruck: SW Bd. III/1 Ulrich Maché: Opitz’ Schäfferey von der Nymfen Hercinie in Seventeenth-Century German Literature. In: Essays on German Literature. In Honour of G. Joyce Hallamore. Hg. v. M. S. Batts and M. Goetz Stankiewicz. Toronto 1969. S. 34–40. Weiter ist zu

13 Philipp Harsdörffer und Johann Klaj ein hübsches und interessantes Zeugnis von dem einfallsreichen Geist des jungen Dichters, der seiner schlesischen Schönen versichert, er werde sich weiterhin bemühen, »zu loben deine Zier/ weil Venus’ Blume blüht!« Die Rose, die Venus-Blume, ist hier sowohl eine Anspielung auf den Namen der Rosenthal wie auf die der späteren Rosemund, die ihr literarisches Nachleben Zesen verdankt. Man hat die Poetischen Rosen=Wälder wohl als eine Antwort auf die Schäferarbeit der Rosenthal betrachtet. Aber sie ist weit mehr als das. Sie ist eine huldigende Geste für die Rosenthal und eine Ehrung dreier Freundinnen, die ebenfalls am bukolischen Spiel teilnehmen (eine vierte gesellt sich fast unbemerkt hinzu), schließlich die Bilanzierung eines jungen Dichterlebens, in den festen Entschluss einmündend, aus dem Geschauten und Erfahrenen Konsequenzen zu ziehen, die das weitere Schaffen bestimmen sollen.15 Die Anmahnung zum weiteren Dichten (s. o.) präludiert die spätere Ode, die einer Muse in den Mund gelegt wird, »so zu nächst dem Apollo saß/ und unsere Nymfe mit unverwanten Augen ansahe.« Das Bild der sich verfinsternden Sonne wird in der zweiten Strophe wiederaufgenommen und fortgeführt: Die Sonne verfünstert sich selbsten und scheidet/ verlässet am Himmel die güldene spur/ So ferne dein Leben Ihr Angesicht meidet/ du andere Sonne/ du schöne Figur. Komm unser Verlangen/ laß blicken die Wangen dein güldenes Licht; Laß hören dein singen/ dein liebliches klingen/ Sonst werden die tage vor trauren zu nicht. (III/1, S. 32)

Zesen hat das Lied mit einer Melodie von Malachias Siebenhaar in die große Sammlung Rosen= und Liljen-tahl (1670, Nr. 35) aufgenommen, und zwar mit dem Titel: »Ermahnungslied an die Wohlgebohrne Dorotee Eleonore von Rosenthal/ als Er in langer zeit nichts von Ihren sinreichen Dichtereien gesehen.« Es hebt hervor, dass sie unmittelbar an Opitz anknüpft und somit an den Anfängen der ›modernen‹ Dichtkunst teilhat. In

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erwähnen Seraina Plotke: Zesens »Poetischer Rosenwälder Vorschmack« als poetologisches Werk. (Siehe Anm. 10). Die folgenden Ausführungen entnehme ich meinem Beitrag: Philipp von Zesens zehnte Muse: Dorothea Eleonora von Rosenthal. In: Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext. FS für Hans Pörnbacher. Hg. v. Guillaume van Gemert und Hans Ester. Amsterdam-Atlanta 1990. S. 85–102. Im Textanhang ist ein Abdruck von Rosenthals »Poetischen Gedancken« nach dem Exemplar in der SUB Göttingen wiedergegeben (S. 102–110).

14 dieses Lob teilt dann auch der Dichter, der schon früh sie selbst und ihre Dichtereien kennenlernen durfte: […] Bin auch bemüht vor allen/ (wo anders Dir mein Verß ein wenig kan gefallen) Dein Lob zu breiten auß/ so viel ich kann und mag/ durch meine schwache Faust/ wil preisen diesen Tag/ da ich zu erst geschaut dein freundlich Angesichte/ da mier es ward vergönnt zu lesen Dein Getichte/ der Tag sey stets gegrüßt/ gegrüßet sey die Zeit/ da Opitz Dich gelehrt/ Du Licht der Liebligkeit.

Für den dichterischen Werdegang der Rosenthal bietet der Passus keine weitere Unterstützung. Mit einer Wendung, die auf den Rosen-Namen der Dichterin anspielt (»Rose dieser Zeit«), klingt das Ehrengedicht aus – Zesen hat tatsächlich in seinem Werk ausführlich von der Rose gehandelt. Der für solche Huldigung geeignete Ort ist die anmutig-idyllische Natur, die nach den bukolischen Gepflogenheiten mit allen topischen Wendungen geschildert wird. Es sind die baumbestandenen Auen der Elbe, die für diese Gelegenheit mit einem Berg geschmückt sind, »an dessen Wurtzeln ein klahrer Brunnen mit seinem silbergläntzendem rieselen auß dem Berge übersich sprang.« Die reale Landschaft wird in eine antik-klassische transformiert. Die Metamorphose lässt in der schöpferischen Phantasie den Musenberg erstehen (»Du ander Helicon«), damit die Götter und Nymphen sich in gewohnter Umgebung niederlassen können. Im Spiel der poetischen Phantasie mischen sich Götter- und Menschenwelt in einer seltsamen Begegnung: […] Ich wolte durch mein singen Das schöne Musen=Volck an dieses Ort herbringen/ Hier sollte Phöbus stehn/ dort Pallas meine Zier Da Adelheit mein Lieb/ und Reinart neben mier./

Da erscheinen auch schon die Götter, vorangegangen von Mercurius: Jupiter mit Ganymed, Mars, Venus mit Cupido, Pallas e tutti quanti. Zesen begnügt sich nicht mit einer Nymphe als Führerin (wie Opitz) oder mit den neun Musen (wie die Rosenthal) – es erscheint die ganze Götterschar mitsamt Waldgöttern und Nymphen. Selbstverständlich fehlt der »HürtenGott« Pan nicht; er tritt auf in Begleitung von »Schäffern und Schäfferinnen/ so auff allerley Instrumenten spielten/ daß die gantze Gegend gleichsam zu tantzen schiene« (S. 16 f.). Der Dichter beobachtet die Szene – unter einem Strauch verborgen – und hört den Liedern zu, die von den Nymphen angestimmt werden. So beobachtet er auch den Schäfer Thyrsis und die Schäferin Amaryllis in einem Wechselgesang. Ihre Erscheinung macht ihm offenbar so viel Mut, dass er das Versteck zu verlassen wagt und »eine gute Weile gantz einsam auff der Wiesen« umhergeht und sich schließlich etwas hinlegt. – Plötzlich, so erzählt der Dichter, »hört ich in dem Gebüsche einen sehr anmuthigen

15 Toon einer Lauten mit welchem sich ein schöner Discant vermählet hatte« (S. 21). Er vermeint, es »würde eine von den Göttinnen der Anmuth= und Liebligkeit selbsten« sein. Die äußere Erscheinung der Lautenschlägerin – sie ist vornehm gekleidet und außordentlich schön – zeigt »eine solche Vollkommenheit und Zierde/ daß man nur durch das bloße Anschauen gäntzlich entzücket ward« (S. 22). Die Schöne bringt ein Echolied zu Gehör, dann ein weiteres Lied, das sie aber abbrechen muss, weil ihr eine Saite zersprungen ist. Darauf setzt sie sich an einen Tisch und nimmt eine Schreibfeder in die Hand, »vielleicht ein Lied oder sonst etwas zu tichten« (S. 24). Auf einem kleinen Nebentisch liegen zwei kostbar eingebundene Bücher, die Atmosphäre der Szene ist ganz auserlesene Lieblichkeit. Die von Liebe singende Nymphe umgibt eine Natur, die sich eigens für sie mit den herrlichsten Blumen geschmückt hat: Zu beyden seiten des Tisches hatte die Künstliche Natur viel schöne Rosenstöcke mit mancherley Farben gepflantzet/ welche sich für dieser Nymfen mit ihren anmuthigen Rosen gleichsam zu neigen schienen/ eben als wenn sie sich vor Schaam entfärbet/ daß ihre Farben von dero schönen Wangen überwunden würden (S. 25).

Die Metaphern des Schönheitspreises scheinen sich in die Natur zurückverwandelt zu haben, sie werden buchstäblich ins Bild gesetzt, das die schöne Dichterin bei der Arbeit zeigt: ein idealistisches Porträt. Da geschieht das Unglaubliche – sie kommt dem Dichter entgegen. Dieser »erstarret/ wuste nicht wie mier zu muthe/ in dem mich Sterblichen so eine göttliche Nymfe empfangen solte«. Aber sobald sie ihn lächelnd begrüßt, kommt der wie gebannt dastehende Dichter wieder zu sich: »darauß ich bald erkante/ daß es dieselbe were/ die Ich schon vorlängst vor die zehnde Muse gehalten« (S. 25). Die Metaphorik darf aber nicht gleich zur Identifizierung der Erscheinung mit ihrem Bild in der Lebenswirklichkeit aufgelöst werden, wodurch das inszenierte Arkadien sich verflüchtigen würde. Damit die Fiktion des Übernatürlichen gewahrt bleibe, tut die Natur – sie ist ja mit im Bunde – ihr Bestes: »Der Himmel war voller Schönheit und es schiene/ als ob er das Gewölcke darümb zertrieben hette/ damit Er die fröhliche und lustige Nymfe desto klährer beschauen könte« (ebd.). Das Gespräch kommt auf die Götter und Göttinnen, namentlich auf die Pallas mit ihren Waffen. Im Götteraufzug war sie erschienen »eben wie Mars gewapnet/ damit sie denen/ Ihre Keuschheit zu rauben gesonnen/ könte Widerstand thun« (S. 14). Das wird jetzt näher erläutert, weil Zesens vornehme Gesprächspartnerin nicht versteht, weshalb Pallas »ja zum Kriege mehr als zum Frieden außgerüstet« scheine (S. 26). Es sei umgekehrt, lautet die Antwort, sie sei eine rechte Friedensgöttin, weil sie kämpfe »wider die Laster und das unverantwortliche Beginnen/ das Mars auch in seinen billigsten Kriegen verübet«, und ferner verteidige sie die Keuschheit. Damit bekommt das Gespräch eine ernstere Wendung, die fast den Charakter einer sittlichen

16 Ermahnung annimmt. Die Nymphe fragt, warum die Keuschheit denn »so gar sehr verwachet werden« müsse, sie wisse nicht, was sie »solte zur unkeuscheit treiben«. Der Dichter erinnert die Freundin daran, dass gerade die Schönheit eine Frau in Gefahr bringe: »Dann eine schöne Jungfrau hat einen heimlichen Feind/ so ihr nachschleichet/ und das ist ihre eigne Schönheit/ daferne sie derselben mißbraucht« (S. 27). Das breit ausgesponnene Thema muss wegen eines heraufziehenden Gewitters abgebrochen werden, aber kehrt in Variationen (z. B. Paris-Urteil) wieder; es ist offensichtlich ein zentrales Anliegen dieser Schäferdichtung. Es ist bemerkenswert, dass an solch hervorgehobener Stelle ein holländischer Reimspruch (die Unterschrift eines allegorischen Gemäldes) eingerückt wird (S. 32): ’t Is waer/ men prysten Boom wiens bloeysel ’t oog verblyt/ Maer meer noch prystmen dien die Vrucht draegt t’ syner tyt. (Es ist wahr, man lobt den Baum, dessen Blüten das Auge erfreuen, aber mehr noch lobt man den, der Frucht trägt zu seiner Zeit).

Das Gewitter hat sich verzogen, es treten die drei Freundinnen Tugendreich, Adelheit und Erdmuth auf. Zesens Nymphe ist hocherfreut, »weil sie auch sonsten ein großes Verlangen getragen dieselben auff eine Zeit zu besuchen« (S. 35). Der Dichter schlüpft wieder in seine Beobachterrolle – »Ließ mich also hinter einen dücken Rosen=Busch in das Graß hernieder/ daß sie es nicht gewahr wurden.« In den Liedern, die nun von den Damen zusammen und einzeln abgesungen werden, handelt es sich um Liebeslust und -leid. Ist es ein Wink für die Nymphe, dass in der Reaktion auf die scheinbar heiter-unschuldigen Gesänge die Liebesklage überwiegt? Erdmuth kann ihr Lied kaum zu Ende bringen, und als dann auch die anderen ihre Liebeslieder anstimmen, bricht sie in laute Klagen aus und fällt in Ohnmacht, so dass sie mit »köstlichen starck-wassern« berieben werden muss. Mittlerweile hat der Dichter auf der anderen Seite die drei Parzen erblickt. Seine Stimmung schlägt jäh um –»vergesse ich aller vorigen Freude und laße das hoch=gedachte Frauenzimmer gantz unvermuthlich auß den Augen« (S. 47). Er findet sich plötzlich allein in großer Stille, die lustige Gesellschaft hat sich davongemacht, und nun tritt auch er den Rückweg an, arg verstört, »denn es hatte mich nicht eine geringe Furcht und Schrecken überfallen/ ich war fast gar aus mir selbst«. Mühsam schleppt er sich fort, es ist ihm, als ob »die Füße mehr hinter sich als vor sich eylten.« (ebd.). Wie der Wanderer des Sturmlieds, Goethe, etwa 150 Jahre später, versucht er sich mit Singen Mut zu machen: »beginne einen Gesang nach dem andern her zu singen/ mich in etwaß zu erfrischen und den Weg zu verkürtzen.« Der Inhalt der Lieder steht in einem unüberhörbaren Kausalverhältnis zum Vorangegangenen. Der ernste Ton, die Belehrung über die Vergänglichkeit der Schönheit, die Schrecken erregende Liebesklage der Erdmuth und ihre Ohnmacht, dann die urplötzliche Erscheinung der Parzen: Es

17 sind ebensoviele Vorbereitungen auf den Entschluss, sich nicht allzu sehr um das Vergänglich-Irdische zu kümmern und das Trachten vielmehr auf die »Weisheit« zu richten. Das erste Lied ist eine Abwendung von der »eyteln Welt«, die »willig nach dem Tode ringt«; der Refrain der zwölf Strophen lautet: » Ein ander suche Geld und Guth/ nach Weißheit steht mein Hertz und Muth«. Die »betrübten Gedancken« lassen sich aber von dem einen Lied nicht verscheuchen, zu überwältigend ist die Erfahrung im selbst entworfenen Arkadien – »et ego in Arcadia«. Tatsächlich bewahrt die Landschaftsidylle mit ihrem mythischen Göttervolk, den Nymphen und obligatorischen Schäferinnen den Dichter nicht vor der Konfrontation mit dem Lebensende. Der kann er nur ein weiteres Singen entgegenstellen – »Weil aber das unzeitige und tieffe nachsinnen alzu sehr bey mier einreissen und mich fast gar aus mir selbsten setzen wolte/ ward ich gezwungen/ die übrige Zeit mit folgenden zwey Liedern […] zuzubringen« (S. 50). Die folgenden Lieder greifen nun höher, sie reden die Göttin der Weisheit direkt an und bitten sie um ihre »keusche« Liebe: »Sophia komm/ du edles Bild«, »Weißheit/ sage wo du bist.« Hier ist der Anfang von Zesens dichterischer Liebe zu Sophia, die er in mehreren Gedichten gestaltet hat. Die insgesamt sieben Lieder sind der überzeugende und charakteristische Ausdruck von seinem poetischen Selbstverständnis, an dem er sich immer wieder innerlich aufrichtet. So ist es auch hier, als er am Ende seines Abenteuers sich den Lohn der Weisheit-Liebe ausmalt: Einen ewigen Namen verleiht sie dem Getreuen und einen Platz im Sternenzelt. Solchermaßen getröstet und beruhigt, besteigt er den Berg, um nach seiner Wohnung Ausschau zu halten. Von ferne sieht er sie im Abendglanz liegen. Das Schäfergedicht weist hohe gedankliche wie bildliche Stringenz auf und zeigt eine in der deutschen Gattungsgeschichte bisher nicht erreichte thematische Einheit. Die Rosenthal wird in den Höhenflug zum »immergrünen Lohn« (»An- und Vorrede«) einbezogen, sofern sie dem Rat des Freundes zu folgen bereit ist. Den Gipfel behält Zesen sich ausdrücklich selber vor, wenn er, einsam, seinen Weg allein geht. Zur Entstehungszeit ist noch anzumerken, dass die Rosenthal zusammen mit ihrer Freundin Zesen in Hamburg tatsächlich besucht hat. Das Gedicht »Wül-kommen an di ädle Tichterin Jungfer Sofien Vismarin, als si zu Hamburg anlangte« (1642 im Anhang zur Adriatischen Rosemund) kann den Zusammenhang herstellen. Die Stadt Hamburg hat, so heißt es, schon zwei Dichterinnen begrüßen können, jetzt sei die fehlende dritte auch angekommen: Di dritte fählte dihr, da dich di Rosenthalin, di zehnde Pierin, di Föbus-selbst-gemahlin, mit Dehr von Hohendorf, gewürdigt ihrer zihr; nuhn aber kom härbei, und schaue si alhihr, di dritte Hold=göttin ….

18 Die »zehnde Pierin« wird wohl bei dieser Gelegenheit ihre Huldigung im Schäfergedicht empfangen haben. Sie war mit Recht die Erste, die die Frühlingslust eröffnen durfte: Gingen doch alle Lieder jener Schäferdichtung, vierzehn an der Zahl, in diese Sammlung ein (mit Ausnahme des einen, »Die Sonne war entwichen«). Die Lieder waren für die jungen Damen gedacht, sie wollten »in dieser anmuthigen Zeit im Spatzieren=gehen das lüsterne Frauenzimmer ergötzen.« Das war die Ausgangslage, als Zesen von Hamburg abreiste, um sich in Holland niederzulassen. Hier änderte er zunächst nicht die Richtung, er schrieb nach wie vor für Frauen. Aber mit Rosemund, der in Amsterdam lebenden Venetianerin, erhielt sein Schaffen eine neue, originelle Mitte. Die Rosemund-Gestalt verbindet das künstlerische Werk und die sprach- und literaturtheoretischen Schriften zu einer Einheit und stellt auch eine Verbindung zwischen seinem Werk und der Sprachgesellschaft her, deren Seele Zesen zeitlebens war. Rosemund verweist auf deren erste Zunft, die Rosenzunft.

2.3 Die Deutschgesinnete Genossenschaft Was brachte Zesen, von den gedruckten Werken abgesehen, aus Hamburg mit nach Amsterdam, was mag ihn gereizt haben, sich dort niederzulassen? Es fehlen noch manche Detailinformationen. Sicher aber ist, dass er in Hamburg eine Sprachgesellschaft gegründet hat, die aus einem lockeren Freundeskreis (Zesen mit Dietrich Petersohn und Hans Christoph von Liebenau) hervorgegangen ist und dann wohl in Amsterdam feste Form angenommen hat. Welches Jahr als das Gründungsjahr anzusehen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen (1642 oder 1643?)16. Das 25–jährige Stiftungsfest, das 1668 begangen wurde, spricht für 1643. Als symbolisches Datum wurde der 1. Mai von Zesen bestimmt. Sicher war jedoch Hamburg die Gründungsstadt; dafür gibt es mehrere Belege.17 Die Deutschgesinnete Genossenschaft (weiter DG) hat sich die Fruchtbringende Gesellschaft (FG) zum Vorbild genommen: Jedes Mitglied bekam vom Stifter einen Gesellschaftsnamen mit Emblem und Spruch, die symbolische Blume für die ganze Gesellschaft war die Rose. Zesens Name war »Der Färtige«, sein Zeichen war der aus der Emblematik bekannte Palmbaum. Anders als die anderen Sprachgesellschaften war die DG in ›Zünfte‹ eingeteilt, die aus einer festgelegten Anzahl Mitglieder be16

17

Zur Diskussion vgl. Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 33 ff. Siehe auch Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970 (SM 96), S. 91–94. Ferdinand van Ingen: Die Erforschung der Sprachgesellschaften unter sozialgeschichtlichem Aspekt. In: Sprachgesellschaften – Sozietäten – Dichtergruppen. Arbeitsgespräch Wolfenbüttel 1977, Hamburg 1978, S. 9–26, hier 15 f. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 7).

19 standen. Es gab deren vier: die Rosenzunft, die Liljenzunft, die Nägleinzunft, es kam noch als vierte die Rautenzunft hinzu. Jede Zunft war in mehrere ›Zunftsitze‹ unterteilt. Die Rosenzunft bestand aus 9 Sitzen mit je 9 Mitgliedern, die ersten drei Zünfte kamen auf 81, 49 und 25 Personen. Es war also ein weit gedehnter Kreis, dessen Mitglieder natürlich nur brieflich miteinander verkehren konnten. Es gab zwei weibliche Mitglieder: Catharina Regina von Greiffenberg und Ursulane Hedwig von Feldheim. Die Gesellschaftsschriften bringen, ebenfalls nach dem Vorbild der Fruchtbringer, alle Namen etc.18 Die Pflege der deutschen Sprache in den Gesellschaften muss vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges gesehen werden sowie im Licht der grassierenden Verwendung fremdländischer Wörter und Begriffe im Deutschen. Die »Sprachreinigung« – von ihr wurden alle Mitglieder in verschiedenem Maße in die Pflicht genommen – sieht also ein Programm vor, das sich auch über Fragen der Orthographie und der Grammatik erstreckt, in metrischen Fragen Standpunkte erwägt (hier war Fürst Ludwig äußerst konservativ19), und nicht zuletzt die Mitglieder auf »Anstand« bzw. Tugend festlegte. Das waren weitgesteckte Ziele, vor allem deshalb, weil die Sprachpflege sich mitunter auf die angeblich uralte deutsche »Treu und Redligkeit« berief und von einer inneren Erneuerung der Deutschen eine Erneuerung der Sitten erhoffte (insbes. Johann Rist sei hier genannt, der Stifter des Elbschwanenordens). Stuft man die Ambitionen, mit denen die Sprachgesellschaften auf den Plan traten, auf ein vernünftiges Maß zurück, bleibt doch ihre ansehnliche kulturelle und Literatur fördernde Rolle insgesamt von signifikantem Wert. Andreas Herz, der sich intensiv mit der Fruchtbringenden Gesellschaft und ihren Nachfolgern beschäftigt hat, fasst folgendermaßen zusammen: Ihre Spracharbeit ist eingebettet in ein weitergehendes Tugend- oder Zivilisierungsund Kulturprogramm. Die Reihen der FG bevölkerten die christlich-humanistisch akkulturierten […] höfisch-administrativ-militärischen Führungsschichten überwiegend reformierter und lutherischer Konfession, die sich die neuen Leitvorstellungen höfisch-höflicher Gesittung zu eigen gemacht hatten. Sie hatten Bildungs- und Kavaliersreisen einschließlich Universitätsaufenthalten hinter sich, waren, auch ohne selbst schrifstellerisch in Erscheinung zu treten, den Künsten und Wissenschaften gegenüber aufgeschlossen und hatten im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges genügend Erfahrungen mit politisch-militärischen Konflikten, sozialen Notständen und erbitterten dogmatischen Kontroversen, um auch dem harten Unglück »mit Manier« zu begegnen.20

Karl Viëtor hat als Erster auf die weiträumigere Bedeutung der Sprachgesellschaften hingewiesen, die man zu Unrecht in der Tradition des 19. Jahrhun18

19

20

Die der DG wurden in den Sämtlichen Werken veröffentlicht als Band XII (1985), bearbeitet von Karl F. Otto. Vgl. Ferdinand van Ingen: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften (wie Anm. 3), S. 38 ff. Andreas Herz: Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur (wie Anm. 10). S. 181–208, hier 195.

20 derts auf Sprachreinigung festgenagelt hat. Er nannte die Sprachgesellschaft eine »barocke Bildungsgemeinde« und umschrieb ihre Tätigkeit und Bedeutung einprägsam wie folgt: »die moralisch-bildungshafte Gesinnung als das umschließende Allgemeine, die Erhaltung und Pflege der Muttersprache als das willensbestimmte Besondere«.21 Das dürfte sich auch im Hinblick auf Zesens Deutschgesinnete Genossenschaft als ein vielleicht noch zu wenig genutzter Ansatz angesehen werden. Denn die Sprachgesellschaften bildeten die eigentlichen literarischen Zentren des 17. Jahrhunderts, hier wurden zu wesentlichen Teilen sprach- und literaturtheoretische Probleme diskutiert, wurden Standpunkte angegriffen und verteidigt, wurde gelobt und verdammt. Nicht nur konzentrierte sich hier die literarische Kritik (möglichweise hauptsächlich in den Anfangsjahren), sie regten auch die literarische Produktion an (etwa Übersetzungen aus den ruhmvollen romanischen Literaturen). Zesen war mehr berüchtigt als berühmt wegen seiner Vorschläge zur Orthographiereform und tatsächlich nicht selten übertriebenen Neuschöpfungen, die eingebürgerte Wörter ersetzen sollten. Hier hat er zweifellos des Guten zuviel getan; es hat ihm nur geschadet. Es ist darum leicht vorstellbar, dass Zesen sich durch die Mitglieder seiner Sprachgesellschaft als Mitstreiter den Rücken stärken ließ – und viele haben tatsächlich in diesem Sinn nachgeholfen. Übrigens war Zesen nicht der Mann danach, sich von anderen belehren zu lassen, wenn er meinte, im Recht zu sein. Dem Willen zur Eigenständigkeit hielt wohl das Bedürfnis nach Ermutigung und Anschluss die Waage, da kam ihm die DG zustatten. Rufschädigend waren vor allem die Vorhaltungen, die Fürst Ludwig ihm machte und die im »Ertzschrein« der Fruchtbringer erhalten geblieben sind, wie etwa: »Caesius hat viel sachen alzu subtil und spitzig gesetzet, die sich so nicht wollen einfüren lassen.«22 Aber der Fürst hat sich in diesem Zusammenhang ebenfalls kritisch über andere geäußert, wie Georg Neumark, der Sekretär der Fruchtbringer, festgehalten hat. Auch hat Zesens Lehrer Gueintz dabei eine klägliche Rolle gespielt. Jedenfalls war das ein Grund, weshalb Fürst Ludwig Gueintz bei der Abfassung seiner Deutschen Rechtschreibung zur Eile antrieb. Wir wollen uns mit diesen Dingen nicht lange aufhalten und verweisen auf den ausführlichen Forschungsbeitrag von Herbert Blume, in dem die Neologismen sortiert und beurteilt werden.23 Die Gesellschaftsnamen lassen vermuten, dass sie demokratisierend gewirkt hätten, aber das lässt sich nicht nachweisen. Die (vielberufene) Tugend ist ja auch an keinen Stand gebunden, der Tugendbegriff tritt manchmal auch in Opposition zum Adel, so z. B. am Ende des 17. Jahrhunderts bei Johann Christian Hallmann: 21 22 23

Karl Viëtor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, S. 67. Andreas Herz, S. 197. Herbert Blume: Zur Beurteilung von Zesens Wortneubildungen. In: Ferdinand van Ingen (Hg.), Philipp von Zesen 1619–1969. Wiesbaden 1972. S. 182–192.

21 Es ist zwar grosses Lob/ viel tapffrer Ahnen wissen/ Die man in Marmel haut/ in Gold und Kupfer sticht/ Doch dieses kan uns nicht die Ehren=Pfort’ entschlüssen […] Denn Wappen/ Schild und Fahn sind erblich/ nicht die Tugend/ Die mit dem Ahnherr stracks eilt nach der Ewigkeit.24

Zesen hat die Satzungen seiner Gesellschaft in mehreren Schriften dargestellt, am ausführlichsten in Das Hochdeutsche Helikonische Rosentahl (Amsterdam 1669), aber auch an anderen Stellen zur Sprache gebracht, z. B. in der Vorrede zu der sprachtheoretischen Schrift Rosen-mând (1651). Er spielt hier in auffälliger Weise mit dem Begriff Liebe. Er bittet den Leser: »so laß doch ei lieber! die liebligkeit deiner augen/ lieber leser/ dieses aus liebe/ von liebe/ mit liebe/ ja durch liebe geschriebene liebes-zeichen lieblich/ liebsälig und freundlich anlächlen.« Dazu gesellen sich die programmatischen Worte: »Ich schreibe aus liebe zur sprache/ aus liebe zu dier/ aus liebe zu meinem Vaterlande. Durch liebe werde ich getrieben: mit liebe vermische ich meine reden: damit sie solcher gestalt verlieblichet/ dier/ der du Liebe liebest/ zu lesen belieben möchten.« Es geht in solchen Stellen rhetorischer Stichwortsetzung unverkennbar um die Herausstellung der Liebe als eines treibenden Prinzips, das den sittlichen Ernst des Dichters und den ethischen Anspruch seiner Genossenschaft sichtbar macht. Zesen hat hervorgehoben (Rosentahl, Bd. XII, S. 193), dass seine DG ursprünglich ein Freundschaftsbund gewesen sei. Dieser Aspekt hat die Gesellschaft geprägt und wirkt in den Satzungen nach, und zwar in dem etwas sentimentalisierten Begriff der Liebe. Das Zeichen der Rosenzunft (die Rose) wurde denn auch bedeutungsvoll gewählt: »Sie gehet mit Liebe schwanger; sie gebühret [= gebiert] die Liebe; sie reitzet zur Liebe: sie ist mit lieblichen blättern gezieret/ mit edelen zweigen belustiget« (Rosentahl, ebd., S. 22). Ferner erwähnt Zesen, dass die Rose nicht nur von altersher als die Blume der Liebe betrachtet, sondern auch »vor ein kenzeichen der Freien Künste« gehalten wurde (ebd.). Es liegt auf der Hand, dass die Gesellschafter in diesem Zeichen zur »unterlichen Liebe« angemahnt werden. In diesem Zusammenhang kommt dem von Jan Hendrik Scholte ausgeführten Argument, dass die Heldin der Adriatischen Rosemund (1645) als das Symbol von Zesens Gesellschaft zu gelten hat, eben der »Rosengesellschaft«, wie Zesen sie auch nennt (ebd., S. 23), ausschlaggebende Bedeutung zu.25 Denn in diesem Roman gehen Liebe, Gelehrsamkeit und Kunst eine ebenso fruchtbare Verbindung ein, die »Rosemund« – im Zeichen der »Libinne« (Venus) – und »Rosenmând« – im Zei24

25

J. Chr. Hallmann: Leich=Reden / Todten=Gedichte etc., Frankfurt und Leipzig 1682, S. 42. J. H. Scholte: Zesens »Adriatische Rosemund« als symbolische roman. In: Neophilologus 30 (1946), S. 20–30; ders., Zesens »Adriatische Rosemund«. In: DVjs 23 (1949), S. 288–305. Ferner Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens »Adriatische Rosemund«. München 1969, S. 103 ff.

22 chen der »Kluginne« (Pallas) – innerlich miteinander verbindet. Die ebenso von Zärtlichkeit wie von einer »lihblichen ernsthaftigkeit« geprägte Liebe, welche Rosemund im Roman verkörpert, soll das Leitbild der Deutschgesinneten Gesellschaft sein. Zesen hat ihr die idealistische Aufgabe zugewiesen, die Deutschen dazu zu bewegen, die Liebe wieder zum Maßstab ihres Denkens und Handelns zu nehmen. In den Schriften Wider den Gewissenszwang (1665), die in Form einer historischen Materialsammlung eine Erinnerung an die christliche Nächstenliebe darstellen, macht Zesen die »vergessenheit der Kristlichen Liebe« für alles Elend seiner Zeit verantwortlich. Die DG sollte mit ihrem Beispiel vorangehen und die Umsetzung des ethischen Ideals in die Praxis des gegenseitigen Umgangs zeigen. Zesen rückt damit seine Gesellschaft bewusst und mit Absicht in die Nähe der priesterlichen Verbände der Antike, »die ihr ziel zur wiederbringung der verlohrnen volkommenheit so wohl Göttlicher/ als Weltlicher Weisheit« gewählt hatten (Rosentahl, S. 4). Die Liebe in christlichem Sinn ist das Bindeglied zwischen göttlicher und menschlicher Weisheit (ebd., S. 236). Liebe zur Muttersprache und Liebe zu den Mitmenschen gehören für Zesen zusammen. Sie sind unlöslich verquickt, eine spiegelt sich in der anderen wider. Es verwundert daher nicht, dass seiner Übersetzung der Afrikanischen Sofobisbe ein Emblem vorausgeht – ein Rosenstock mit drei blühenden Rosen neben einem rinnenden Brunnen – unter der Aufschrift »An die hoch-löbliche Deutschgesinnete Genossenschaft«, mit nachfolgenden »Schränk-reimen«: Mit rechte hat man euch/ ihr ädlen Deutsch-gesinn’ten/ zum algemeinem märk drei rosen vorgebildt; Die ich/ wans müglich wär’/ in stahl mit güldner dinten beschrieben wolte sehn. Dan eine rose gilt so vihl als alle zihr/ die eine staude führet; so vihl als aller schmuk/ den eine blume trägt; Sie ist die Keiserin/ die alle gärte zihret; sie ist die Königin der schönheit/ die sie hägt. sie ist des Westens braut/ und angenähmer becher; sie ist der erden glanz/ der sträucher schönste zihr / der kräuter höchster schmuk; die als ein ädler recher/ der zugedachten schmach mit stacheln führ und führ den feind zurükke hält. Die dihnt zu eurem bilde/ ihr deutsch-gesinn’ten ihr; die wird durch einen strahl der sonnen aufgemacht im stärbe-blauen schilde/ da eine schon geföllt/ die ander’ an der zahl in etwas aufgetahn/ die dritte noch geschlossen/ an einem stokke stehn. Das sol ein bildnüs sein/ das euch recht bildet für/ ihr ädlen mit-genossen/ den zu=wachs eurer kunst. wohlan! fangt auf den schein/ den euch so mancher Held im deutschen hat gewiesen/ und gehet ihme nach; damit ihr mit der zeit als folle rosen auch könt sein gelobt/ gepriesen/ und/ jenen Helden gleich/ auszühn die stärbligkeit.26 26

Zit. nach dem Ndr. in den SW, Bd. VI (1972).

23 Zesen ist in den Niederlanden zum ersten Mal am 8. Oktober (es war sein Geburtstag!) 1642 bezeugt: An diesem Tag ist seine Spraach–übung aus Leiden datiert. Was Zesen dort unternommen hat, wissen wir nicht recht; jedenfalls war er zwischen Amsterdam, Utrecht und Leiden viel unterwegs und traf bedeutende Persönlichkeiten. Er war überhaupt reiselustig, denn er überschickte das eine Mal ein Gedicht aus London, ein ander Mal aus Paris (vgl. den Anhang zur Adriatischen Rosemund). Auch literarisch waren die ersten Jahre bis 1648 fruchtbar. Er hat hier Romane aus dem Französischen, die z. T. bereits in niederländischer Übersetzung vorlagen, ins Deutsche übertragen und veröffentlicht: Lysander und Kaliste (1644, nach Daudigier), Ibrahim Bassa (1645, nach Madeleine de Scudéry), Die Afrikanische Sofonisbe (1647, nach Sieur de Gerzan). In allen Fällen war der Amsterdamer Verlag von Ludwig Elzevier (schon damals ein berühmter Name) die Adresse, an die Zesen sich mit Erfolg gewandt hatte oder zur Übersetzung aufgefordert worden war. Seine so bekannt gewordene Romangeschichte der Adriatischen Rosemund erschien 1645 in demselben Verlag, 1648 die Übersetzung eines damals geschätzten Lehrbuchs: Matthiae Dögens Heutiges tages übliche Krieges Bau-kunst. Jedenfalls haben Amsterdamer Verleger (weiter noch Christoph Conrad, Johan van Ravesteyn, Johannes Blaeu u. a.) seine Bemühungen in vielerlei Hinsicht ermöglicht und unterstützt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Zesen in diesen Verlagshäusern als Korrektor gearbeitet hat. Versuche, neue Mitglieder für seine DG anzuwerben, verlaufen parallel mit seinen Anstrengungen, in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen zu werden, sogar verstärkt in den Niederlanden. So hat er etwa Die Afrikanische Sofonisbe der schwedischen Königin Christina gewidmet, was ihm jedoch nichts eingetragen hat. 1644 war ihm die Widmung des Ibrahim Bassa an das Oberhaupt der FG, Fürst Ludwig, als eine Möglichkeit erschienen, sich in Köthen ins Gespräch zu bringen. Harsdörffer hakte für ihn mit einem Aufnahmegesuch nach. Aber Ludwig reagierte kühl und schrieb einen ablehnenden Brief an Harsdörffer, in dem Zesen (selbstverständlich) die kühnen Neuerungen in der Orthographie und in der ›Wortverdeutschung‹ angekreidet wurden. Es kamen noch Anschuldigungen anderer Art hinzu, so z. B. von Gueintz, dem der unternehmende Geist seines Zöglings offensichtlich schon nicht gepasst hatte, kurz, es wurde vorläufig nichts daraus.27 Daraufhin widmete Zesen die Lustinne (1645), ein großes Gedicht von Macht und Wirkung der Liebe (es gehört zum Umkreis des RosemundRomans), dem Grammatiker und Sprachgelehrten Justus Georg Schottelius in Wolfenbüttel, wo dieser als Prinzenerzieher arbeitete. Als auch dieser 27

Es sei für diese Anschuldigungen und Zesens weitere Reaktion verwiesen auf: Ferdinand van Ingen, Philipp von Zesen (1970), S. 3 ff.

24 Versuch fehlschlug, reiste Zesen nach Wittenberg, zu Buchner, um ihn um Vermittlung zu bitten. Es war ihm also viel an seiner Sache gelegen, aber klein beigeben wollte er auch nicht, weil er sich in seinen Ansichten sicher zu sein glaubte. Aber als auch auf diese Weise sein Ziel nicht erreicht werden konnte, entschloss sich Zesen, 1648 selber nach Köthen zu reisen und den Fürsten zu besuchen. Diesmal hatte er tatsächlich Erfolg, Fürst Ludwig machte Gueintz brieflich Mitteilung: […] Weil man aber durch erlesung seiner ausgegangenen theils verdeutschten schriften, und wohlgesetzten Reime, in allerley arten, so viel bei der Fruchtbringenden Geselschaft ersehen, das seine stellung im Deutschen (außer der ungewönlichen wortschreibung, und etlicher neu erfundenen, und nicht wol sich schickenden redensarten und wörtern) flüssig und richtig, und man die Hofnung hat, er werde sich hierinnen lassen weisen und bessern: So ist bei anwesenden Geselschaftern bedacht worden, für ihn, den Nahmen des Wohlsetzenden, mit dem gemählde des Ruhrkrauts, in Lateinisch Gnaphalion genant, so zu vielen Kranckheiten dienlich, und dem Worte, »der Natur nach«, fürzustellen. Zu dem Ende, daß er dadurch desto mehr angereitzet werde, auch sich hinfüro zu seinem eigenen besten und aufnemen, der angebornen, recht Deutschen art, so im schreiben als stellen zu verhalten, und zu befleissigen, und das allzu neuerliche ungewöhnliche fahren zu lassen.28

Damit gehörte Zesen nun zu der angesehensten Sprachgesellschaft. Im Reimgesetz, das ihm auf den Weg gegeben wurde, klingt vielleicht doch noch eine leise Skepsis durch: Wolsetzend der Natur nach bin ich hier genant Dan wie das Ruhrkraut pflegt die leiber wol zu setzen Zum abfluß’, also wird die schrift für gut erkant Die flüßig ist, sie kan den Leser wol ergetzen. Gezwungne neuerung sey weit von uns verbant, Weil sie die eigenschafft der rede wil verletzen: Wer neue sachen setzt, der setze mit bedacht, Und nehme die Natur der sach’ und sprach’ in acht.

Zesen schrieb am 2. Dezember 1648 seinen Sinnspruch ins Gesellschaftsalbum29: Tugend hat leider! allzuviel neider, aber indessen werd’ ich sie dennoch allezeit lieben, nimmer vergessen. Wilstu die rosen unter den Dornen völlig abbrechen, mustu nicht achten oder betrachten, daß sie dich stechen. wahlspruch Last häget Lust

Man dürfte sich kaum täuschen, wenn man das als eine eigenwillige Antwort auf das »reimgesetz« liest.

28

29

Zitiert wurde nach G. Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Hg. nach den Originalien […] von G. K. 1855. Zit. Krause, S. 489.

25 Während dieser Zeit hat Zesen fleißig an der Neubearbeitung seines Helicon gearbeitet, und es scheint, als hätte er auf die Bedenken der Fruchtbringer einige Rücksicht genommen. »Was ich in dergleichen ehmahls verstoßen habe, ist meiner Jugend schuld, die von Tage zu Tage reiffere Gedancken zu führen beginnet«, schreibt er an Ludwig (13. Dez. 1648).30 Zesen hat dann tatsächlich für die Neubearbeitung, die er den Gepflogenheiten der FG nach, vor der Drucklegung dem Fürsten hätte vorlegen sollen, über Diederich von dem Werder (der ihm wohlgesinnt war) einige orthographische Verbesserungsvorschläge erhalten. Aber dann ist Zesen doch der Kragen geplatzt und er hat sie in einem langen Brief vom 25. Mai 1649 aus Priorau allesamt zurückgewiesen. Er war zu stolz und auch zu sehr an seine Selbständigkeit gewohnt, als dass er sich in Fragen der Rechtschreibung und Dichtungs- oder Verstheorie den Wünschen eines Fürsten zu beugen gewillt war. Fast ironisch schreibt er am Ende seines letzten Briefes an den Nährenden (= Ludwig), dem er seinen Reimspruch verdankt: »Sonsten verhoffe ich, daß man mir werde das lob geben, daß ich meinen Helikon dem nahmen gemäß, in dem ich der Wohlsetzende der Natur nach, I. F. G. gnädigem belieben nach, heisse, beschrieben habe.« Fast sofort darauf (am 26. Mai 1649) schreibt der Fürst eine gereizte Antwort: […] Mehrere verwirrung in deutscher sprache, wie schon von seiner genossenschaft in der übelschreibung, und andern überflüssigen Klügeleyen, die mehr in selberfundenen einbildungen und sonstiglichen meinungen, nach fremden sprachen gerichtet, als auf den rechten grund, die natur und eingeführten guten gewonheit, bestehen, helt der Nehrende gantz undienlich, und mag der erfinder oder anfänger solcher genossenschaft sehen, wie sie ins künftige ablauffen. Von der Fruchtbringenden Geselschaft und andern verstendigen, gelehrten, recht-Deutschen werden sie nie gut geheissen werden, und mag er sie unter ihrem nahmen auch mehr lassen ausgehen, ja wider die angeborne deutsche Natur und art, seinem erlangten worte ferner im schreiben und dichten neüerlich oder übel setzen, nicht gebrauchen, sonsten müste ihme hierunter öffentlich widersprochen werden. […] Wird demnach guter wolmeinung vermanet sich hierunter nochmals wol fürzusehen, damit er nicht wegen seiner ausschweiffenden gedancken den Nahmen des wolsetzenden verliere und solches auf sich durch eigenliebe und widrigen verstand ziehe. […]31

Er hatte es nun mit den Fruchtbringern gründlich verdorben. Harsdörffer scheint sich von Zesen distanziert zu haben, Johann Rist sieht nun die Bahn frei, den Hass auf den ehemaligen Freund ungeniert spielen zu lassen. Die Meinungsverschiedenheiten und Verleumdungen zogen weite Kreise, bis ein Deutschgesinneter, »Der Wohlriechende« (= Karl Christoph von Marschalk), in der Vorrede von Zesens Sendeschreiben an den Kreutztragenden (1664) eine vorläufige Bilanz zugunsten Zesens zieht: »Darüm ist es kein wunder/ daß Er zu weilen/ als ein Großmühtiger Leue/ ihm mit der 30 31

Zit. Krause, S. 415. Zit. Krause, S. 421–425.

26 tatze einen nasenstüber gegeben.«32 In diesem Sendeschreiben greift Zesen den Pastor-Dichter Rist an seiner empfindlichsten Stelle an. Er kritisiert seine Dichtkunst und stellt ihn – mit unverhohlener Schadenfreude – als einen Stümper bloß. Noch schlimmer kommt es in der Helikonischen Hechel (1668), in der ein Liebesgedicht Rists auseinander genommen und sorgfältig nach den Regeln der Kunst filiert wurde. Wie es dazu gekommen ist, berichtet Der Wohlriechende in seinem Gratulationsschreiben. Zesen sei in der Kunst des wahrhaften Dichtens nun so hoch gestiegen, dass »man itzund mehr als wahr zu sein befindet/ was jener Hohe Priester Kaifas/ der das Hochdeutsche Gedicht vor seine Sprachübung gemacht/ in der letzten Zeile von ihm gleichsam geweissaget. Und so ist Saul noch unter den Profeten/ und saget zu weilen wahr/ wan er nicht wil.«33 Rists Gedicht an der besagten Stelle lobt die neue Blüte der deutschen Sprache nach Opitz’ Tod und beschließt: »Wir werden allzumahl in ihrem Zimmer wohnen/| Wir dienen und sie bleibt die Königinn allein/| Doch soll Her Caesius ihr Kammer=Juncker seyn.«34 Es muss in aller Kürze gefragt werden, wie Zesen selbst die Beschuldigungen und »alle schmaach- und neid-süchtige lästerungen/ die etwan wider mich unverdienter weise möchten ausgegossen werden«, aufgenommen hat. Es heißt am Schluss des Sendeschreibens: Ich bin zwar auch ein Mensch/ und daher menschlichen gebrechen unterworfen; und habe nicht alles in meinen ausgegebenen schriften/ sonderlich in jenen noch sehr jungen frühlingsjahren/ straks schnuhrgerade treffen können. Aber darüm solte mein Splitterrichter so unverschähmt mit mir nicht gehandelt haben. Die zeit hat mich immer besser und besser unterwiesen/ ja unterweiset mich noch täglich mehr und mehr. Diese/ neben meinem anhaltenden fleisse das beste zu erforschen/ hat mich gelehret/ wie ich die fehler meiner jugend ausbüßen und verbessern sol; welches ich auch tuhe/ und zwar meinem Neidteufel zu trutze. Dan ich bin keines weges so eigensinnig geahrtet/ daß ich meine in der ersten jugendhitze mir gleichsam entschossene fehler/ nunmehr/ da ich alles besser weis/ mit gewalt vertähdigen und guht heissen wolte.35

Was Zesen in der Jugendzeit schon entdeckt hatte, war die wunderbare Kraft der Sprache, die er mit anderen teilte, aber die er doch wie kein anderer als eine Wunderkraft mit gleichsam übersinnlichen Geheimnissen betrachtete. Nur der wahrhaft Kundige könne sie entschlüsseln. Das hat er in dem großen ›Gesprächspiel‹ mit dem Titel Filip Zesens Rosen=mând ausführlich dargetan. Der weitere Titel enthält das Programm: »das ist| in ein und dreissig gesprächen| eröfnete Wunder=| schacht| zum unerschätzlichen Steine der Weisen:| Darinnen unter andern ge=| wiesen wird/ wie 32

33 34 35

SW Bd. VI. Der Band enthält Spraach-Übung, Rosen-mând, Helikonische Hechel, Sendeschreiben an den Kreuztragenden. SW Bd. VI, S. 286. S. 10. Sendeschreiben, S. 438 f.

27 das lautere gold| und der unaussprächliche schatz der| Hochdeutschen sprache/ unsichtbarlich/| durch den trieb der Natur/ von der Zun=| gen; sichtbarlich aber durch den | trieb der kunst/ aus der fe=| der und beiderseits/| jenes den ohren/| dieses den augen/| vernähmlich/| so wunderbahrer weise und so| reichlich entsprüßet.« Dieses ›Wunderbuch‹ erschien 1651 in Hamburg. Mit dem Stein der Weisen (lapis philosophorum) wurde auf die im 17. Jahrhundert noch hoch geschätzte ›Kunst der Alchemie‹ verwiesen, die Triumphe feierte und viele mit ihrem wissenschaftlichen Anstrich begeisterte; man muss sich in dieser Sache auf den Standpunkt jener Zeit stellen, von Aberglaube war dabei zu Zesens Lebzeiten noch keineswegs die Rede. Als Zesen sich dieses Terminus mit den Assoziationen des Geheimnisvollen und vorgespiegelten Glücks des Goldmachens in der Titelgebung bediente, hat er das ernst gemeint, vielleicht hat er sogar die verchristlichte Alchemie (bei Jacob Böhme u. a.36 ) anklingen lassen wollen. Denn die eigentümlich halb-religiöse Färbung der Sprache in Zesens Ausführungen ist im Rahmen der Sprachgeschichte jener Zeit zumindest auffällig und in ihrer fast massiven Breite von signalhafter Brisanz. Es sei hier ein kurzer Passus aus dem Rosen=mând zitiert: Daniel Heins verwundert sich in seinem Lobgesange über die fügligkeit der Holländischen sprache; aber wan der große man unsere Hochdeutsche so wohl verstehen solte als die seinige/ und mit einer rechten schärfe der verstands-augen in ihre fast gantz-götliche natur hinein blikken/ so würde er erst wunder über wunder erzählen. Dan freilich gehören scharfe augen hierzu/ wan man ihre geheimnüsse ergründen wil; ja man kan mit keinen andern/ als adlers-augen in ihre tieffe götligkeit hinein schauen. Und es ist nicht genug/ daß sie unsere Deutschen/ auch wohl sonst hochgelehrte leute/ so fluchtsinnig und oben hin/ wie ein kalb ein neues tohr/ ansehen. Ach! es gehöret mehr/ als ein paar schuhe/ zum tantze.37

Es ist für die Entwicklung von Zesens Sprachbewusstsein aufschlussreich, dass die ehemalige Vorbildwirkung des Niederländischen sich jetzt offenbar ins Gegenteil wendet. Die Niederlande waren in Sachen von Sprache und Kultur tonangebend für Deutschland gewesen, viele Schlesier studierten in Leiden.38 Daniel Heinsius (1580–1655), auf den Zesen hier Bezug nimmt, 36

37 38

Immer wieder hat man versucht bei Zesen Böhme-Spuren nachzuweisen. Jedenfalls hatte er in Amsterdam leichten Zugang zu Böhme-Drucken, in deutscher Sprache oder in ndl. Übersetzungen. Vgl.: Ferdinand van Ingen: Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bonn 1984 (Reihe Nachbarn, 29). Insbes. das reichhaltige Buch »Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham van Beyerland.« Hg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam: In de Pelikaan 2007. (Dazu die Rez. von F. v. I. in Arbitrium 3/2009, S. 302–305) Rosen=mând, SW Bd. XI, S. 241. Heinz Schneppen: Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben. Bonn 1969, 2. Aufl. 1970. Das »Do ut des« habe ich kompakt dargestellt in: »Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts.« Bonn 1981 (Reihe Nachbarn, 26). Maria A. Schenkeveld: Dutch Literature in the Age of

28 war der berühmte Leidener Professor und Humanist, dessen Nederduytsche Poemata Martin Opitz nachfolgte (Teutsche Poemata, 1624) und der als poeta doctus sein Leitbild war.39 Zesen spielt wahrscheinlich auf das emphatische Lob des Niederländischen an, jener Sprache, so »unglaublich süß«, »Prinzessin von allen Sprachen.« War Holland der gebende, Deutschland der empfangende Teil in den Kulturbeziehungen gewesen, so habe sich nun das Blatt gewendet – das ist die signalhafte Funktion der zitierten Stelle. Das ist schon mehr als eine rhetorische Überbietung (aemulatio), Zesen macht aus seinem Nationalstolz keinen Hehl. War er doch der festen Überzeugung, zu ihrer neuen Blüte gehörig beigetragen zu haben.40 Er wurde darin von seinen Mitgenossen bestärkt. Und wieder ist es Der Wohlriechende, der der Helikonischen Hechel (1668) einen Zesen lobenden, aber seinen »Verleumder« beleidigenden Brief vorangestellt hat: Ich versichere Ihn/ daß Er tausend guhte redliche Leute bei uns finden wird/ die zweier oder dreier Neidhämmel boßheit/ die sich wider seinen hertzlich guhtgemeinten fleis rüsten und brüsten/ in die hölle verdammen. Einer Seiner boßhaftigsten Verleumder/ denen Er doch nichts anders getahn/ als daß Er/ durch Seine himlische Tugend und Götliche gaben/ in erhöbung unserer Heldensprache aus ihrem schlamme/ das natterngift ihrer lästerzungen erreget/ mus itzund vor seine boßheit/ an Seiner unschuld bewiesen/ mehr als genug büßen/ uam. Er kan wohl errahten/ wen ich meine. Nun er stehet schon vor Gottes Gerichte/ und mein Herr hat sich seiner wegen nichts mehr zu bekümmern.41

So zogen Zesens Mit-Genossen an seiner Stelle vom Leder, um ihren Meister zu verteidigen, so wurde in diesem Fall eine langjährige Schrifstellerfehde für die Nachwelt dokumentiert. Zesen hat sich wohl von seinen umtriebigen Versuchen, eine feste Anstellung zu finden, die seiner Selbsteinschätzung entsprach, einiges erhofft. Aber auch der kleinste Erfolg ließ auf sich warten. Am 25. Mai 1649 hat er dem Fürsten Ludwig mitgeteilt, er wolle in acht Tagen nach Holland abreisen. Am 4. Mai hatte seine »träu-beständige Schwester Adelmund« ihn in einem aus Brüssel datierten Brief aufgefordert, wieder einmal einen Band Gedichte zu veröffentlichen: »ja es wündschen es alle hiesige Schäferinnen/ die von Hochdeutschem Bluhte entsprossen/ und alle/ die so nur ein wenig der Hochdeutschen sprache fähig sind.« Der moglicherweise

39

40

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Rembrandt. Themes and Ideas. Amsterdam / Philadelphia 1991, insbes. S. 147 ff. (»export of literature«). Die »Nederduytsche Poemata« wurden 1983, hg. v. Barbara Becker-Cantarino (Bern / Frankfurt am Main), neu vorgelegt. Es sollte nicht vergessen werden, dass manche Mitglieder selber mit Arbeiten zur Sprache hervorgetreten sind. Johann Bellin etwa, der die bekannte Briefsammlung zusammengestellt hat, ist hier als Autor von zwei weiteren Schriften zu nennen: »Hochdeutsche Rechtschreibung.« Lübeck 1657. In dem Exemplar der HAB (QuN 1000.1) ist auch enthalten: Syntaxis, Lübeck 1661. Hechel, »Des Wolriechenden abgegangenes Schreiben an den Färtig=Wohlsetzenden«, Bd. XI, S. 282–286, hier 283 f. – Rist starb 1667.

29 fingierte Brief ist vor der Sammlung abgedruckt, mit der Zesen der Bitte Folge leistete. Es waren Filip Zesens Dichterische Jugendflammen, 1651 bei Johann Naumann in Hamburg erschienen. Auf diese zweite Liedersammlung ist unten näher einzugehen. Im gleichen Jahr 1651 ist auch Zesens Rosen=mând veröffentlicht worden, ebenfalls in Hamburg (diesmal bei Georg Papen). Das Buch wurde oben bereits erwähnt. Zesen hat das sprachtheoretische Werk »Der Schweden und Gotten Götlichen Kristinen« gewidmet. Das war nach der Widmung der Afrikanischen Sofonisbe (1647) schon der zweite Versuch, sich der schwedischen Königin anzudienen. Er lobt sie als »Helden-mühtige« Hoheit, die jedoch neben »sieges-prachten, siegesliedern« auch an kunstsinnigen Gaben interessiert sei. Außerdem beherrschte sie das Niederländische. Ihr zu Ehren möchte er besingen »mit geschärftem feder-kiel deine siege/ deine tahten/| die zum frohen frieden Dier/ täure Heldin/ seind gerahten.« Natürlich hat er sich erhofft, durch Verbindung mit einem größeren Fürstenhof sich eine sichere finanzielle Grundlage zu verschaffen. Tatsächlich hat er seine Eignung wiederholt unter Beweis gestellt. Zesens zahlreiche Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten, die mit Schweden zu tun hatten, sind in der Tat auffallend. Die Adriatische Rosemund hatte er den Brüdern Dionysius und Matthias Palbitzky gewidmet; der eine war Christinas Kammerherr, der andere Gesandter im Dienst des schwedischen Hofes. Graf Heinrich von Thurn, der 1645 als »Der Siegende« in die Genossenschaft aufgenommen wurde, war schwedischer Reichsrat; er heiratete 1648 die Witwe des berühmten schwedischen Generals Bannér, Johanna, eine geborene Markgräfin von Baden42. Dem Obersten Heinrich von Delwich, der damals in schwedischen Diensten stand, hat Zesen mehrere Werke gewidmet:1668 die Schöne Hamburgerin, 1676 die Kriegs-Lieder und 1679 den Roman Simson. Auch ein anderer schwedischer Oberst, Johann von Holtzheim, der 1645 in die DG aufgenommen wurde, gehörte zu seinen Bekannten. Der schwedische Leibarzt Niclas Witte aus Riga gehörte sogar zu den ersten Mitgliedern der Genossenschaft. Sodann war Grotius, der Zesen einen Pass ausstellte, schwedischer Gesandter in Paris. Man sieht, es ist fast ein ganzes Netzwerk; man wüsste gern mehr über diese Beziehungen und ihre Hintergründe. Für wichtig halte ich vor allem, dass Zesens Dessauer Gönner, Fürst Johann Georg II. von Anhalt Dessau (1627–1693), in schwedischen Militärdiensten stand. Er und sein Dessauer Hof waren für Zesen von besonderer Bedeutung; das ist auch werkgeschichtlich von Interesse, deshalb ist darauf an dieser Stelle kurz einzugehen. Anhalt-Dessau hatte eine besondere Beziehung zum Haus Oranien, es war calvinistisch und suchte als kleines Land aus diesen Gründen An42

Siehe das »Neujahrslied« im Rosen- und Liljen-tahl, SW II, S. 53 ff.

30 schluss an Kurpfalz und Kursachsen. Zu den Niederlanden hatte schon Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen, der Initiator und Vorsteher der Fruchtbringenden Gesellschaft, enge Beziehungen. Das Fürstentum Anhalt wurde nach dem Tod von Joachim Ernst von seinen Söhnen übernommen und angesichts der Verschuldung des Fürstenhauses 1603/06 aufgeteilt in vier Teilfürstentümer mit den Residenzstädten Bernburg, Dessau, Köthen und Zerbst. Den Höhepunkt der anhaltisch-oranischen Verbindungen bedeutet die Vermählung Johann Georgs II. von Anhalt-Dessau mit Henriette Catharina von Oranien (1659). Dabei war der brandenburgische Gesandte in Den Haag, Daniel Weimann,43 so etwas wie ein Mittelsmann; auch er war mit Zesen befreundet. Johann Georg war der einzige Sohn des Fürsten Johann Casimirs von Anhalt-Dessau, er hatte sich im Dienst des schwedischen Königs Karl X. Gustav im Schwedisch-Polnischen Krieg (1655–1660) einen Namen gemacht, außerdem (aber wichtig!) war er reformiert. Henriette Catharina war 1637 als die 5. Tochter Friedrich Heinrichs von Oranien und Amalia von Solms geboren worden, sie war für Dessau »eine gute Partie.« Ihre Schwester Louise Henriette war seit 1646 mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (dem späteren Großen Kurfürsten) verheiratet, die Mutter Amalia hatte mit ihrem Schwiegersohn die Verbindung ihrer Tochter mit dem Dessauer Fürsten für vernünftig und empfehlenswert gehalten. Allerdings musste dieser von seinen schwedischen Diensten zurückstehen. Johann Georg wurde nach zähen Verhandlungen aus schwedischen Diensten in kurbrandenburgische übernommen und vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit den höchsten Ehren belohnt. Er wurde später (1670) sogar zum Generalfeldmarschall ernannt. Die Trauung wurde am 16. Juli 1659 in der Groninger Martinikerk vollzogen und wurde auch in Amsterdam gefeiert. Die enge Anbindung von Anhalt-Dessau über das Haus Oranien an Brandenburg-Preußen war von großer politischer Bedeutung. Auch hat Henriette Catharina, die nach dem Tod Johann Georgs 1693 bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Leopold (des späteren Alten Dessauers) die fünfjährige Regentschaft übernahm, viel für Anhalt-Dessau getan. »Die Auswirkungen der Eheschließung des Dessauer Erbprinzen mit Henriette Catharina waren für Anhalt beträchtlich. Das Land profitierte in vielfacher Weise vom landesherrlichen Wirken der Oranierin, die einer Republik entstammte, die zu Recht als ›vielbewunderte und eifrig kopierte europäische Vorreitergesellschaft‹ des 17. Jahrhunderts gilt [Heinz Schilling]. Henriette Catharina entfaltete in ihrer neuen Heimat zahlreiche soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aktivitäten, die ganz ent43

Zesen war mit ihm befreundet. Jedenfalls hat er zu seinem Tod 1661 für die Witwe eine ausführliche Trostschrift geschrieben: Filips von Zesen Trost-Schrift über die seelige Sterbligkeit. Gedruckt in Amsterdam bei Gillis Webber 1662. In SW Bd. XIV, S. 537–551 (mit Sterbelied und Grabspruch).

31 scheidend durch ihre niederländische Herkunft geprägt waren.«44 Die niederländisch geprägte Landespolitik drückt sich vorzüglich im Schloss Oranienbaum mit Park und Stadtensemble aus. Aber das gehört nicht mehr hierher.

2.4

Die Reinweisse Hertzogin

Zu dieser Vermählung verfasste Zesen die kleine Liedersammlung Die Reinweisse Hertzogin (1658, »auf Gnädigsten befehl besungen …«).45 Die Sammlung setzt, nach dem »Auftragslied« an den Fürsten, mit einem »Klinggedicht auf die Reinweisse Hertzogin« ein (Catharina=weiß): Mein Fürst versichert mich/ daß Sie sei weis von Haut; Recht! sagt das auge straks/ das Sie nur seitwärts schaut/ die Schöne Hertzogin. Weis seind die Augenlieder; Weis ist das Angesicht/ urteilet recht ein jeder/ ja reinweis durch und durch. Der diesen worten traut/ der Niederländer/ spricht/ und rüft selbst überlaut: Hochweis und lieblichrein seind Ihre Leibesglieder; der Augenblikke gluht steigt reinlich auf und nieder. Hochweis und hochrein ist der Hals/ die Stirn/ das Kin; Hochweis und hochrein ist Ihr unverfälschter Sin. So weis/ so rein/ so net ist unsre Hertzogin; drüm geht auch ein Sonnet zu Ihrem Ruhme hin/ aus meinem federkiel/ auf meines Fürsten willen/ auf sein gebot/ das ich stähts trachte zu erfüllen.

Hier werden die einzelnen Schönheiten der Braut besungen. Die petrarkistische Manier gibt das Vorbild für das dichterische Verfahren ab. Das erste Terzett weist Parallelismus auf in der ersten Zeile, die dritte summiert »so weis/ so rein/ so net …«, was wiederum in der nächsten Zeile wortspielerisch als »Sonnet« aufgenommen wird. Es folgen Lieder auf ihre »hochklahre Leibesfarbe«, ihre »hochklahre Seelenfarbe« (beide komponiert von dem Hamburger Matthias Weckmann). Nach einer niederländischen Zugabe (»Toegift«) – wohl als nette Geste gedacht – finden sich kleinere Gedichte, die zum Teil mit der Vermählung zusammenhängen. Beschlossen wird mit einem »Scheidelied An Seine HochFürstl. Durchleuchtigkeit Fürst Johan Georgen« (Melodiesatz von Malachias Siebenhaar), von dessen neun Strophen einige auch biographisch relevante Fakten bringen. 44

45

Michael Rohrschneider: Die Oranier und Anhalt. Verflechtungen und Beziehungen. In: Onder den Oranje boom. Dynastie in der Republik. Das Haus Oranien als Vermittler niederländischer Kultur in deutschen Territorien im 17. und 18. Jahrhundert. Textband. Hg. v. Horst Lademacher. München 1999. S. 225–237; hier 229. SW Bd. I/2, S. 261 ff.

32 Dem ich meinen gantzen sin werfe zu den füßen hin/ Großer Fürst/ sei hochgesegnet: sei gesegnet/ weil mich bannt Deiner Trauten Vaterland/ das mir je so wohl begegnet. Ich mus ziehen/ weil es winkt/ wie mich itzt von ferne dünkt/ und von Deinem Hofe scheiden; da ich sechs und zwanzig jahr in so hohen gnaden war. Ach! was fühl’ ich weh und leiden. Ach! mein Hertz/ mein Hertze bricht/ wan ich seh Dein Angesicht/ Tapfrer Fürst/ itzt vor das letzte; wan ich denk’ an jene zeit/ da das glük/ nicht ohne neid/ mich in Deine Gnade setzte. […] Daß Dein Gülden=apfel-baum (Gott/ gib unsrem wundsche raum!) in zwölf mohnden wieder trage; daß Er trage solche Frucht/ solche junge Fürstenzucht die des Stammes tod verjage.

Die gewöhnlichen Ach-Seufzer fehlen in diesem Abschied-Gedicht nicht, ebenso wenig affektreiche Wortwiederholungen.

2.5

Schöne Hamburgerin

In gleicher Aufmachung, im selben Jahr 1668 und im gleichen Verlag wird die Sammlung Liebeslieder Filips von Zesen Schöne Hamburgerin veröffentlicht.46 Auch die Komponisten sind dieselben, Weckmann und Siebenhaar. Die Widmung gilt »Herrn Henrichen von Delwich/ der Krohne Schweden Hochbestelten Obersten/ u. a. m.«, selbstverständlich mit dem Auftragslied: »Noch hab ich Deiner nicht/ O tapfrer Held vergessen.« Ebenso wie die Reinweisse Hertzogin auf die Widmung (mit Gedicht) einen heftigen Nasenstüber auf Zesens Neider und Tadler folgen lässt (»gernweiser Klügling«, ebd., S. 265), findet sich hier an der Stelle eine ähnliche klagende Anrede: »Naseweiser Leser« (ebd., S. 232–235). Wiederum ist hier eine schwedische Beziehung auszumachen. Dem Auftragslied zufolge war der Dichter dem Geehrten Heinrich Frhr von Delwich (1620–1696) freundschaftlich verbunden. Die Schöne Hamburgerin könnte 46

SW Bd. I/2, S. 222 ff.

33 übrigens seine Ehefrau Catharina gewesen sein, die 1678 in Hamburg verstarb.47 Zur Sammlung haben die Mitgenossenschafter K. K. Meerheim (Der Wohlrüchende) und Heinrich Friedrichs (Der Friedreiche) Gedichte zu Ehren des Meisters beigesteuert. Das erste Lied besingt den »Schönen Leib« der Dame, der einer Sonne verglichen wird und dem Dichter »himmelsfeuer« zu seinen Dichtereien schenkt. Dann geht es im folgenden um ihre »Schöne Seele«, womit »die allerschönste Braut/| mit der sich Gott selbselbst vertraut.« Dies ist der »Englische« Teil an ihr, es ist der schönste und unsterbliche Teil: Mit diesem Teile lebestu/ mit diesem Teile schwebestu in deines Seelenschatzes hertzen. In diesem Teile lebet Er/ in diesem Teile schwebet Er/ ja hier/ in Dir/ pflegt Er zu schertzen.

Die Einheit wird durch parallele Gestaltung treffend ausgedrückt. Als ihre größte Tugend wird die Liebe gefeiert, an die Zesen in seinem gesamten Werk immer wieder appelliert: Die Liebe wurtzelt tief in Dir/ die Liebe/ die der Kristen zier und gröste Tugend ist auf erden: auf der das Kristentuhm besteht/ und ohne sie zu grunde geht/ ja kein gebot erfüllt kan werden. Du weist/ daß ein rechtschafner Krist nicht/ als durch Lieb’/ ein solcher ist: drüm ist dein Glaub’ in Liebe tähtig. Du liebest Gott/ und selbst/ als Dich/ den armen Nächsten tähtiglich: so leuchtet deine leuchte stähtig.

Demgemäß heißt es dann: »Lieb-freundlich handeln ist dein ruhm/ | Barmhertzigsein / dein eigentuhm.« Hier bewahrheitet sich die damals übliche Regel: »Ist der Leib häslich/ so ist auch an der Seelen nichts liebliches« (ebd., S. 234). So bringt auch die »Liebligkeit« der Schönen Hamburgerin mit rhetorisch wirksamen Ausdrucksmitteln (adhortatio und appellatio, anaphorische Gestaltung, Parallelismen, annominatio und Stichwortsetzung) einen gelungenen Auftakt in der ersten Strophe: Auf! Liebe/ rühre meine lunge. Auf! Liebe/ führe meine zunge. 47

Ein Trauergedicht Zesens, »Hertzlicher Klage-Schall und tröstlicher Wieder-Schall« auf den Tod von Catharina Dellwich (1678), befand sich laut Dünnhaupt VI (S. 4316) früher in der Hamburger Stadtbibliothek.

34 Auf! Liebe/ ziere meinen klang damit er süß’ und lieblich klinge/ damit ich süß’ und lieblich singe ja lieblich/ diesen Lobgesang.

Die zweite Strophe ist mit allen rhetorischen Kniffen ein reines Klangspiel, das den -ie-Vokal des semantisch und klanglich hervorgehobenen Hauptworts Liebe in allen Verszeilen durchspielt: Die Lieb’ entspriess’ in meinen sinnen. Aus liebe fliesse mein beginnen. Von lieb’ ergiesse sich mein reim: in liebe schiess’ er aus dem kiele: mit liebe schliess’ er seine spiele/ durch liebe süß/ als honigseim.

Das Klangspiel wird mit leichter Variation in gleichem Schema fortgesetzt: Und so werd’ ich was lieblichs bringen/ der ich von Liebligkeit sol singen der lieblichsten Hamburgerin: die nur zur lieb’ ist auserkohren/ weil sie so lieblich ist gebohren/ daß ich durch sie verlieblicht bin.

Ein anderes Gedicht, »Der Schönen Hamburgerin Abgesang«, ist rhythmisch interessant. Wortwiederholungen mit ihrem hämmernden Pulsieren haben einen unerwarteten Effekt auf den Rezipienten, der sich im rhythmischen Sog gleichsam mitgerissen fühlt. Und so stirbt Anemon’ auch nimmer-nimmer-nimmer; ja nimmer-nimmermehr verwelket diese Bluhm. So blühet fort und fort/ ja immer-immer-immer und immer-immerfort ihr zweifach schöner Ruhm. Der Himmel/ der sich selbst selbst über Sie verwundert/ und/ gleich als gantz verliebt/ so lieblich Sie anblikt; der gebe/ daß Sie sei viel hundert-hundert-hundert/ ja tausend-tausend mehr/ als tausendmahl/ beglückt.

In dieser Liedsammlung ist zu beobachten, dass Zesen mit poetischer, kreativer Raffinesse verfährt und sich wagemutig weit vor wagt. Er ist bereit, um willen des ernsten klanglichen Spiels mit seinen eigenen Mitteln einiges zu riskieren. Die chronologische Abzweigung, veranlasst durch die Beziehungen nach Schweden, soll nun um einige Jahre korrigiert, d. h. vorverlegt werden, um wieder zu seinem Aufenthalt in Amsterdam zurückzukehren. Dort treffen wir ihn bei der Arbeit an einem großen Geschichtswerk. Seine Abreise nach Dessau finden wir zeitlich näher bestimmt in der Vorrede zum Niederländischen Leuen (1677). Das lateinische Original Leo Belgicus war 1660 er-

35 schienen, dessen Vorrede ist vom 12. Febr. 1656 datiert und enthält nähere Zeitangaben, die eine Rekonstruktion des Zeitverlaufs ermöglichen. Zesen schreibt nämlich, dass er das Werk schon vor drei Jahren in Angriff genommen habe (also 1653), dann jedoch unterbrechen musste: »Aber ich hatte kaum acht tage gesässen/ als das glück den Stuhl/ den er mir so vielmahls verrükt/ fast wider meinen willen/ schohn wiederüm unter mir wegnahm/ und mich an den Hochfürstlichen Anhaltischen Hof/ dahin ich dazumahl von Amsterdam aus abgesandt worden/ zu ziehen befahle …«. Es war sicher nicht die Stadt Amsterdam, die ihn nach Dessau schickte, denn dafür fehlt jede Spur. Der Zuschrift des Frauenzimmers Gebeht-Buch von 1657 an die zwei Fürstinnen von Anhalt, ist eine Zeitbestimmung und der Zweck der Abreise von Amsterdam zu entnehmen: »da vor ungefähr fünf jahren/ zu […] Herrn Johann Kasimiern […] meine wenigkeit von Amsterdam aus abgesant worden.« Was ihn am Dessauer Hof für Aufgabe erwartete, war bisher nicht zu ermitteln. Es ist aber demgegenüber eine andere interessante Angabe zu erwähnen, die im Ratsprotokoll vom 20. Oktober 1662 erhalten ist, das ihm das Bürgerrecht der Stadt Amsterdam verlieh. Hier wird Zesen »raetsheer van de Heere prince van Anhalt« genannt.48 In Dessau wurde er jedenfalls freundlich aufgenommen, insbesondere hatte er gute Kontakte zu den Damen, zu Sofie Margarete, der Frau Johann Kasimirs, und dessen Schwestern Eleonora Dorothea und Eva Katharina. Diese waren ihm, laut der Vorrede, herzlich zugetan. Zesen berichtet von der »überschwänglichen Gnade/ die von Derselben [d. h. der Fürstinnen] gantzem Hoch-Fürstlichen Stam-Hause«, die ihm »ie und allwege widerfahren.« Zesen zeigte sich nicht undankbar: In der Liedersammlung Dichterisches Rosen= und Liljen-tahl (1670) finden sich Lieder auf die Mitglieder des Anhaltinischen Hauses, wie die zwei Jahre vorher veröffentlichte Reinweisse Hertzogin mit den angehängten Liedern.49 Noch 1677 verfasste er ein Gedicht zum ersten Geburtstag des Prinzen Leopold. Es waren auch die in der Widmung des Gebeht-Buchs erwähnten Fürstinnen, deren Großzügigkeit der Dichter dankbar gedenkt, da sie »aus angebohrner Fürstlichen tugend/ meine reise auf den damahligen Reichstag zu Regensburg/ durch solche beförderungsmittel/ derer gedächtnüs nimmermehr aus meinen sinnen kommen wollen/ veruhrsachet.« Die Reise, die über Nürnberg nach Regensburg führte, ist durch den erwähnten Brief von Harsdörffer an Neumark vom 2. April 1653 belegt. Auf dem Reichstag wurde Zesen, erst 33 Jahre alt, in den Adelstand erhoben. Er bedankte sich mit einem großen allegorischen Gedicht: Güldener 48

49

Siehe das von J. H. Scholte entdeckte und veröffentlichte Faksimile. In: Amstelodamum XIV, S. 64. Reinweisse Herzogin, SW Bd. I/2, S. 259–281. Vgl. Rosen= und Liljen-tahl von 1670: SW Bd. II, S. 45 ff., 52 ff. 57 ff., 61 ff., 64 ff.

36 Regen über die Deutsche durch den Göttlichen Ferdinanden/ […] itzund in Regenspurg beruffene Danae von oben herab ausgegossen. Das Lied, das der Kaiserin Eleonore »am ersten Mäitage des 1653 jahres/ aus allerunterthänigsten schuldigkeit« gewidmet ist (Rosen= und Liljentahl, Nr. 5), ist wohl als Nachklang dieses Ereignisses zu betrachten. Ebenso wie der Dessauer Hof hat ihn also der Kaiserhof in Wien nicht im Stich gelassen, wenn es um materielle Dinge ging. Zesen stellte in einem Gedicht die inhaltliche Verbindung her, und zwar in der Reinweissen Hertzogin. Das Gedicht richtet sich an die »Hochfürstl. Durchleuchtigkeit/ als Sie ihn/ des vorigen Liedes wegen [gemeint ist das an Johann Georg adressierte ›Scheidelied‹]mit einer sehr milden gabe gnädigst begabet«. Es nimmt nämlich sofort in der ersten Strophe auf den »Güldenen Regen« Bezug: Was vor ein güldner Regen felt auf meine schrift/ o güldner Held/ Ist Jupiter vielleicht verirret? und scheint ihm mein papierner schnee der schoß zu sein von Danae/ die seinen sin wohl eh verwirret? So pflag der Große Ferdinand auch ehmahls/ mit gefülter hand/ auf mich mit gnad’ und gold zu regnen. Jtzt tuht es/ wan es je kein traum/ Dein Trauter Gülden-apfelbaum: Den Gott woll’ ewig reichlich segnen. […] Wan sich ein jahr verschlichen hat/ sol ich/ an dieses wundsches stat/ mit güldnen Liedern froh empfangen den mehr als güldnen Morgenstern/ den neugebohrnen Jungen Herrn/ auf Den man wartet mit verlangen.

Zesen konnte es sich nicht verkneifen, für diesen anvisierten Fall gleich einen höheren Lohn einzufordern: Dan wird/ mich deucht ich seh es schon/ des Dichters minster gnadenlohn ein regen sein von deamanten. Wie schön wird dieser steine glantz dan zieren meinen Lorbeerkrantz/ gleich als mit lauter sternenkanten.

Unter uns Normalbürgern heißt das wohl ein Wink mit dem Zaunpfahl. Von Regensburg kehrte er über Halle, wo er für seine Genossenschaft neue Mitglieder anzuwerben suchte, nach Dessau zurück. An Johann Sebastian Mitternacht schreibt er am 15. März 1654 aus Dessau: »… ich werde innerhalb 14 tagen nach Hamburg und von dort nach Estland zum Gra-

37 fen von Thurn, dem Siegenden verreisen.« Zesen war 1655 in den Ostprovinzen, beim Grafen, der dort Statthalter geworden war. Von diesem Aufenthalt wissen wir auch von Rists Brief vom 2. März 1655 an Neumark. Der Datierung der Vorrede zum Leo Belgicus (12. Februar 1656) gemäß war Zesen im folgenden Jahr wieder in den Niederlanden, sicher also von 1656 bis 1667. Hier erschienen dann die Moralia Horatiana, die »SittenKunst«, mit prächtigen Stichen. Der Utrechter Steven van Lamsweerde, der seit 1644 Mitglied der DG war, dürfte Zesen mit der berühmten Anna Maria van Schurman (1607– 1678) bekannt gemacht haben (Lamsweerde hatte einen schönen Kupferstich von ihr angefertigt). Schon der Helicon von 1649 enthielt bereits ein ›Spruchlied‹, Schurmans Wahlspruch: »meine Liebe ist gekreutziget.«

2.6

Gekreutzigte Liebsflammen

Die neue Sammlung nach den Jugend-Flammen trägt den Titel: Gekreutzigter Liebsflammen oder Geistlicher Gedichte Vorschmak und erschien 1653 bei Georg Pape in Hamburg.50 Gewidmet ist der Band der Fürstin Sofie Amalia von Dänemark und Norwegen. Der Spruch geht, wie Zesen im Anschluss an das Spruchlied dem Leser mitteilt, auf den Bischof und Märtyrer Ignatius von Antiochien zurück. Möglicherweise hat Schurman die Briefstelle um1635 in der Bibliothek ihres Mentors, des Theologen Gisbert Voetius, kennengelernt, denn er besaß zwei Ausgaben dieser Texte in späteren Editionen. Auch für Zesen mag das Spruchlied der Schurman eine gewisse Gültigkeit gehabt haben; er hat es in weitere Werke (etwa Helicon) aufgenommen und wohl wegen des Kehrreims geliebt: »Welt/ tobe/ wie du wilst/ und wühte/| mein ziel bleibt dännoch unverrükt:| mein sinn/ mein hertz und mein gemühte | seind nie von deiner lust entzükt.| Dan ob mich welt und lust schohn triebe/ | bleibt doch gekreutzigt meine Liebe«. Das ist die erste von vier Strophen, die den Band eröffnen.51 Man muss sich an diesen Ton gewöhnen, der nicht nur etwa Zesens eigene Religiosität, sondern mehr noch die der Utrechter frommen Gelehrten (sie galt als das »Wunder von Utrecht«) ausdrückt. Für die Schurman wurde der Wahlspruch zum Lebensmotto, wiederholt in Stammbüchern und einem Echo-Gedicht. Er bedeutet das Bekenntnis zur Weltabkehr und wohl auch zum ehelosen Leben. Zesen erläutert in der Vorrede an den »Gott-liebenden Leser« die Entstehung seiner Gedichtsammlung. Er hätte sie »fast zehn jahr« vorbereitet, nun aber beginnen sie »herfür zu blitzlen/ und bringen das jenige/ was sich so lange bei mir verborgen gehalten/ der gantzen Gottliebenden Welt zu 50 51

Zitiert wird nach den SW, Band I/2 (1993). SW Bd. I/2, S. 10.

38 gesichte. Darüm/ o mein lieber Leser/ blikke sie als die ersten zu tage gebrachten früchte meiner himmlischen liebe/ mit günstigen/ ja solchen augen an/ die sich von den irdischen eitelkeiten abgewendet; behertzige sie mit einem solchen hertzen/ das durch die höchste gekreutzigte Liebe der welt gekreutziget ist.« Dann folgen einige Hinweise auf den hier notwendigen »einfachen Stil«. Sie sind deswegen von besonderem Interesse, weil sie leicht so aufgefasst werden könnten, als sei bei geistlichen Themen nur ein schmucklos-kunstloser Stil angemessen. Dem ist jedoch nicht so, denn es geht keineswegs um den stilus humilis: »Du wirst hier wenig dichterische bluhmen und verzukkerungen/ sondern nur einfältige reden finden/ weil auch die göttliche Liebe keine andere erfordert/ und ich das meiste dieser arbeit in meiner erst-auskommenden und fast kindlichen jugend/ für zehen/ ja achtzehn jahren/ geschrieben«. Weiteres zu dieser Liedsammlung wird im Kapitel zum »Erbauungsschrifttum« mitgeteilt werden. An dieser Stelle geht es vornehmlich um die dichterisch wie biographisch relevante Entwicklung des Dichters. Festzuhalten ist hier noch, dass die Schurman mit den berühmtesten Männern (Dichtern wie Künstlern) in Kontakt stand und einen umfangreichen Briefwechsel führte. Sie war »eine Institution, ein Markenzeichen, ein Aushängeschild für die kleine und junge niederländische Republik, die solche außergewöhnliche Karrieren ermöglichte.«52 Sie hat sich für eine andere, weltabgewandte Lebensweise entschieden, wovon sie in ihrer autobiographischen Schrift (Eukleria)53 Zeugnis ablegte. Sie folgte dem schwärmerischen Prediger Jean de Labadie und seiner kleinen, aber frommen Gefolgschaft und starb 1678. Der schlichte poetische Ton der Liebesflammen verzichtet auf dunkle Metaphern-Gebilde und Wortzier. Aber das wird durch bescheidene Buchstabenspiele und überraschende Wort- und Reimstellen wettgemacht. Einige Lieder weisen z B. die Form des Akrostichons auf, etwa SOPHIE MARIE KÖNIGIN (»Seufzer«, S. 19), EVE KATRIN FÜRSTIN ZU ANHALT (S. 23 f.), KATARINE MARGRETE (S. 34 f.), DORTEE ZESEN (Zesens Mutter, S. 36 f.), PATRIK MOHR (S. 59 ff.). Eine Sonderstellung nehmen komplexe Wortfiguren wie die Anapher in Verbindung mit der Form der Sestine ein (»Verlangen zu Gott«, S. 15 f.). Hier scheinen in der Analyse zunächst lediglich dichterische Spielformen vorzuliegen. Dieser Eindruck weicht aber bald der Hochachtung und Bewunderung für solch kunstvollernsthafte Gestaltung der romanischen Sestine. Der Bau einer Sestine sieht 52

53

Michael Spang; »Wenn sie ein Mann wäre.« Leben und Werk der Anna Maria van Schurman (1607–1678). Darmstadt 2009 (WBG). S. 9. Der griechische Titel bedeutet etwa ›der beste Teil‹. Das lateinisch geschriebene Buch erschien zuerst 1673 in Altona, dann 1685 in Amsterdam. Eine deutsche Übersetzung ist 1783 in Dessau / Leipzig erschienen in der »Buchhandlung der Gelehrten«. Eine Sammlung ihrer Briefe und Gedichte erschien unter dem Titel Opuscula, Leipzig 1749.

39 sechs Strophen von je sechs jambischen Zeilen vor, die Schlussworte der ersten Strophe werden in allen Strophen beibehalten. Das Schlusswort der ersten Strophe bildet jeweils das Schlusswort in der ersten Verszeile der nächsten, an die sechste Strophe schließt sich eine dreizeilige Coda an, in der die Schlusswörter der ersten Strophe verarbeitet sind. Verlangen zu Gott. Sechssatz. Wan wird mich Sterblichen aufnehmen doch der Himmel? Wan werd’ ich doch einmahl anschauen meinen Gott? Wan werd’ ich hören wohl die süßen Engelslieder? Ich irre traurens-vol in dieser schwartzen nacht. Wan komm’ ich doch einmahl zur wahren himmels-freude? Die erd’ ist mier zu klein/ zu klein ist mier die welt. Mein Gott/ ich halte dich viel höher als die welt; Mein Gott/ ich halte dich viel höher als den himmel; Drüm hab’ ich große lust bei Dier zu sein/ mein Gott. Mein Gott/ ich höre Dich für seiten-spiel und lieder; Mein Gott / ich liebe dich und hoffe tag und nacht/ Mein Gott/ bei Dier zu sein/ zu schauen Dich mit freuden. Es suchet seine Braut der Bräutigam mit freuden/ Es liebet geld und gold die arme/ schwache welt; die erde liebet auch und wieder sie der himmel; aus liebe gegen uns gab selbst vor uns sich Gott/ und Du/ mein Seelen-schatz! erhörst nicht meine lieder/ und nimst mich nicht zu dier aus dieser schwartzen nacht. Wo du nicht bist/ mein Gott/ da ist es lauter nacht; wo du nicht bist/ mein Gott/ da seind wier ohne freuden; wo du nicht bist/ mein Gott/ vergeh ich in der welt. wo du nicht bist mein Gott/ was hülfet mier der himmel. Es ist üm mich geschähn/ wo du nicht bist mein Gott. Mein bähten wer’ ümsonst/ ümsonst die stäten lieder. Doch fahr ich immer fort zu singen meine lieder/ und gläube festiglich/ daß ich nach dieser nacht/ o großer Gott/ dein licht sol schauen an mit freuden! Ich hoffe festiglich zu segnen bald die welt; Ich gläube festiglich zu nehmen ein den himmel/ und traue festiglich zu schauen meinen Gott. Da lob’ und lieb’ ich dich von hertzen/ höchster Gott/ da sollen erst angehn die rechten freuden-lieder; weil uns kein ungetühm / kein schrökken/ keine nacht/ kein krieg abhalten wird alda von solchen freuden/ die Gott uns hat bereit. Ei nun! du schnöde welt/ ich laße deine last/ und suche lust im himmel. Erhöre/ lieber Gott/ mein bähten/ meine lieder/ und zeuch mich aus der welt/ Dier nach/ hinauf gen himmel weil hier ist lauter nacht/ dort aber licht der freuden.54 54

Das Gedicht findet sich bereits als Mustergedicht im Helicon 1641, SW Bd. IX, S. 275 f. In der letzen Fassung der Poetik, Helikon 1656, steht es SW, Bd. X/1, S. 267 f.

40 Neue Themen und Motive sind hier kaum anzutreffen. Brautmystik ist die traditionelle Grundlage für die typischen Metaphern der Hohe-Lied-Dichtung. Seufzerformeln in Wiederholungen (»Ach«), ›süße‹–Alliterationen verweisen auf vertraute Bilder: »Ach! lindre meine liebes-schmertzen«| »und lindre meine liebes-last«. Ein gutes Beispiel ist das »Verlangen einer in Gott verliebten Seelen ihren himlischen Bräutigam zu küssen« (S. 23 ff.). Er küsse mich und laße spüren den himmel-süßen lippentau; Er laße mich den mund berühren/ auf den ich gäntzlich hoff’ und bau. Das hertze mir für angst zerbricht/ Wo mier das wiederfähret nicht. Nim mich zu Dir in deinen garten/ o mein Rubien! o mein Topaß! da sol o Schönster/ auf dich warten der rosen-krantz ohn’ unterlaß. Das hertze mier für angst zerbricht/ wan mier dis wiederfähret nicht. Ach! ach! wie krank bin ich für liebe! o lieber Buhle/ kom doch bald/ und mich nicht länger so betrübe/ Du meines lebens aufenthalt. Das hertze mier für angst zerbricht/ wo mier dis wiederfähret nicht.

Soweit die ersten drei von sieben Strophen. Die Schlusszeilen variieren jeweils den Kehrreim und halten den leichten Ton der fromm-verliebten Sängerin durch. Das »Lob-lied des hoch-heiligsten nahmens Jesu« (S. 26–28) zeigt anaphorische Reihung in Stichwortsetzung, eine in damaliger Lieddichtung häufige Erscheinungsform. Das Weihnachtslied »Warüm ist der himmel offen?« (S. 38 ff.) vertritt die Form der Pindarischen Ode; es war bereits in der frühen geistlichen Gedichtsammlung der Himmlischen Kleio von 1641 enthalten (SW Bd. I/1, S. 26 ff.). Der Formenreichtum ist beträchtlich, um so mehr wenn man die fromme Intention berücksichtigt, die sich keineswegs als ein poetisches Hindernis erweist. So ist die verstärkende Wiederholung (Anadiplose) in der zitierten Sestine ein kräftiges rhetorisches Ausdrucksmittel: »Die erd’ ist mier zu klein/ zu klein ist mier die welt«; »Mein bähten wer’ ümsonst/ ümsonst die stäten lieder«. Manche Lieder der kleinen Sammlung sind über sie hinaus bekannt geworden, wie etwa das tänzerische Lied (»von lieblichen Dattelreimen«, S. 55 f.):

41 Die güldene sonne bringt leben und wonne/ die fünsternüs weicht; der morgen sich zeiget/ die Röhtin aufsteiget/ der mahnde verbleicht. Nun sollen wier loben den Höchsten dort oben/ daß Er uns die nacht hat wollen behüten vor schrekken und wühten der höllischen macht. Kommt/ laßet uns singen/ die stimmen erschwingen zu danken dem Herrn; Ei! bittet und flehet/ daß Er uns bei-stehet/ und weiche nicht fern. Es sei Ihm ergeben mein leben und schweben/ mein gehen und stehn. Er gebe mier gaben zu meinem vorhaben/ laß richtig mich gehn. Er wolle mich lehren/ und ewig ernehren/ ja bleiben bei mier; Er schärfe die sinnen zu meinem beginnen und öfne die tühr.

Die Sammlung war schon durch den bekannten Wahlspruch eine offene Huldigung an die Schurman, und so konnte Zesen auch in ihrem Bekanntenkreis Kontakte knüpfen. Aber die meisten hatte er doch in Amsterdam. Der Dichter Nicolaas Fontein (Fontanus) gehörte zu den ältesten; er steuerte zur Spraach-übung ein vom 20. Januar 1643 datiertes Gedicht bei, Zesen hat ihn mit einigen Reimen in der Scala Heliconis von 1643 geehrt. Er kannte auch die Dichterin Catharina Questiers (1631–1669). Ein holländisches Gedicht von Zesens Hand steht in ihrem zusammen mit Cornelia van der Veer herausgebrachten Gedichtband Lauwer-stryt (Amsterdam 1665); er enthielt auch Lobgedichte von Vondel und Huygens auf beide Dichterinnen. Sie schrieb Zesen zum Dank einen Reim ins Stammbuch, das ebenfalls dort abgedruckt steht. Im Dichterischen Rosen= und Liljentahl (1670) bringt Zesen einen »Lofzang aan de konstrijke […] Katarina Questiers.« Sie war, dem »Digitaal Vrouwenlexikon van Nederland« (Huygens Instituut, Malou Nozeman) zufolge, eine der frühesten niederländischen Dramenautorinnen. Ihre Stücke wurden wiederholt und mit Erfolg

42 aufgeführt; das erste, 1655 in Amsterdam gespielt, hat sie der kunstliebenden Königin Christina von Schweden gewidmet. Man weiß leider nicht genau, wie eine Mitteilung in einem Brief von G. C. Osthof an Harsdörffer (31. Januar 1648) zu bewerten ist: »… Herr Zesien soll, wie mich ein Buchführer von Amsterdamb Berichtet, Jansen schriftverbeßerer, Corrector, seyn, ist gar ein statlich ambt vor einen der lieber Konig der Poeten alß diener derselben hieße …«55 Der Amsterdamer Bürgermeister Willem Backer wird in Leo Belgicus als Zesens Mäzen erwähnt, persönliche Beziehungen hatte er ebenfalls zum Bürgermeister Cornelis Witsen, ferner zu den Inhabern der Amsterdamer Verlagshäuser Elzevier, Joh. Blaeu, Joh. Janssonius und Joh. van Waesberghe. In Amsterdam dürfte er auch Jan Amos Comenius kennengelernt haben, der sich 1656 dort niedergelassen hatte. Der Dichterische Sternhimmel (Coelum Astronomico-Poeticum), der 1662 erschien, ist einigen vornehmen holländischen Beschützern gewidmet. Die vielen niederländischen Gedichte im Rosen= und Liljen-tahl belegen seine Kenntnisse des Niederländischen und die Leichtigkeit, mit der er sich dieser Sprache bediente. Er hat auch öfter Lieder an niederländische Damen gerichtet, die er im Anhang seinem ersten Roman beigegeben hat, etwa das Loblied »Auf drei schöne Jungfrauen zu Utrecht« (er nennt sie Kobed, Ledar, Awelein). Aber auch andere wurden nicht vergessen: »An di hohch–ädle und gelährte Jungfrau/ […] Hildegond von Westohn«, ein Gedicht, das 1643 aus Den Haag abgeschickt wurde. Eine ganze Anzahl niederländischer Liebeslieder enthält das Rosen= und Liljen-tahl – an Anemone, Violette, Silvia, Anabelle, Tisbale, Engelmond, Maribelle, Lely, etc., auch noch ein »Lofzang der Dochteren van Viane aan de Rijnse Lek«. Zesen war überhaupt, wie auch aus dem Obenstehenden schon hervorging, ein Bewunderer von (jungen) Damen, insbesondere wenn sie dichterisch tätig waren. So lässt er dem Dichterkatalog in der Lustinne eine Reihe folgen, in der zum Teil die Genannten figurieren. (IV/2, S. 292): […] und mäld’ auch an di ädlen tichterinnen/ da=durch /das Deutsche Reich und seine Freie blüht/ di Lachmund süngen lährt/ und Fräudiginn’ erzüht. Schau auf/ Lustinne/ schau/ wi dich di Schwarzin ehret/ tanzt üm den mirten=stok/ und deinen ruhm vermehret; wi di von Rosentahl/ di ädle Parnassin; wi di von Hohendorf; Sofie Vismarin; jah wi dich Hildegond von Westohn so besünget auf hohch= und nider=deutsch di libes=seiten zwünget; […].

Hier finden wir heute fast unbekannte Namen, wie den des blutjung gestorbenen Dichterphänomens Sibylle Schwarz (1621–1638), deren Gedicht55

Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst (wie Anm. 25), S. 187.

43 sammlung postum 1650 erschien, und der damals bekannten humanistischen Dichterin Elisabeth Westonia aus Prag. Zesen hat mit Bedacht so oft und wo er konnte, die Frauen in der Literatur gefördert. Allerdings war es schon eine Ausnahme, als er die Österreicherin Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694) mit einer großen Lobdichtung in seine Deutschgesinnete Genossenschaft aufnahm. Sowohl das gelehrte Geschichtswerk Leo Belgicus wie die Beschreibung der Stadt Amsterdam zeigen das große Interesse für die Geschichte und das Werden seiner Wahlheimat. Aber in Deutschland wurde er nicht vergessen. Er erhielt den Titel eines Hof- und Pfalzgrafen, was für den ehrgeizigen Zesen deshalb wichtig war, weil er als Pfalzgraf im Namen des Kaisers Dichterkrönungen vornehmen durfte. Davon hat er selbstverständlich Gebrauch gemacht. Die erste Dichterkrönung dürfte die von Malachias Siebenhaar gewesen sein. Er war Zesens langjähriger Freund, Magdeburger Prediger und Komponist vieler Lieder. Das Jahr läßt sich auf Grund des Gratulationsgedichts Zesens u. a. bestimmen: »Siebenfaches Zunft- und Ehrenzeichen« (Hamburg 1667) und »Frohlokkende Glükwünsche […] Herren Malachias Siebenhaaren […] als Derselbe vom […] Herren Filip von Zesen/ Des Röhmischen Keiserlichen Hofs Grafen/ Rittern/ u. a. m. […] mit der Dichterischen Lorbeerkrohne […] begabet […] ward.« Bei späteren Krönungen steht in der Regel die Formel: »Aus kraft Keiserl. Maj. Begnadigung.« Auf Grund des Hochzeitsgedichts für Johann Naumann lässt sich feststellen, dass Zesen im Dezember 1667 wieder in Hamburg war. Dort blieb er auch im nächsten Jahr. Zur rechten Zeit hat er den Wohnort gewechselt, um das 25-jährige Stiftungsfest der DG, das man »im Meimohnde des 1668 heiljahres/ welches war das 25. nach ihrer stifftung/ zu Hamburg/ hochfeierlich beging,«56 mitzufeiern. Er war in den ersten Januartagen 1669 noch in der Stadt an der Elbe, um wohl im Lauf dieses Jahres nach Amsterdam zurückzukehren. Hier, im »Ertzschreine der Amstelinnen«, erschien 1669 die wichtige Gesellschaftsschrift Das Hochdeutsche Helikonische Rosen-tahl. Obwohl manche Forscher eine spätere Rückkehr angenommen haben, ist 1669 festzuhalten, denn die »Immergrühnende Ehrengabe Herrn Heinrich Kordes/ u. a. m. als Derselbe/ im 1669. jahre […] zum Meister der Freien Künste eingeweihet ward«, wurde »aus Amsterdam übergeschickt.« Für 1670 ist der Aufenthalt in Amsterdam u. a. durch zwei Briefe an Sigmund von Birken (vom 13. VII. und 20. XI. 1670) gesichert. Er ließ in Amsterdam 1670 auch seinen Roman Assenat erscheinen. Für ihn war Amsterdam auch mit einer persönlichen Feierlichkeit verbunden. Er hat sich hier verheiratet, und zwar mit der achtzehnjährigen Maria Beckers aus Stade. Die Heiratsurkunde ist datiert vom 13. Mai 56

Vgl. das »Freudenlied«, Rosen= und Liljen-tahl: Bd. II, S. 102–104.

44 1672.57 Von dieser Begebenheit zeugt eine kleine Schrift: »Die Eh- und Ehren-krohne/ welche dem Hoch-Edlen Paare/ Herrn Filip von Zesen […] und Jungf. Marien Bekkerin von Stahden/ am 19./29. tage des Rosenmohndes im 1672 jahre/ bei ihrer Ehlichen Verknüpfung/ hochfeirlich aufgesetzt ward/ besungen durch etliche Freunde und Freundinnen.« Die Sammlung wurde bei Christoph Conrad in Amsterdam gedruckt und enthält ein französisches Gedicht von Anne Margarite de Schurman, deutsche Gedichte von Malachias Siebenhaar, Karl Christoph von Marschalk (beide 1667 in die DG aufgenommen), Martin Kempe (seit 1670 Mitglied) und schließlich ein niederländisches von Steven van Lamsweerde. Marschalk, der damals in London lebte, übersandte 1676 aus der englischen Hauptstadt ein Gedicht, das zusammen mit einigen niederländischen Reimzeilen von K. von Weston gedruckt wurde: »Eilfertige Reimen-Zeilen auf das Bildnis der HochEdlen Tugendvolkommenen Frauen/ Fr. Marien von Zesen […] durch […] Delia Glauberin/ nach dem leben entworfen.«58 Das Ehepaar ließ bereits 1673 ein Testament aufsetzen, aus dem hervorgeht, dass Zesen noch eine Schwester hatte und Besitztümer in seiner Heimat besaß, die von den Herren Aus dem Winkel und Von Köhler verwaltet wurden. Aus diesem Besitz wird Zesen wohl die Einnahmen bezogen haben, die in den Briefen Joh. Hülsemanns an Zesen (vom 5. IV. 1651 und 29. V. 1652) erwähnt werden. Bald nach der Hochzeit siedelte er mit seiner Familie nach Hamburg über, aber im Frühjahr 1674 machte er von Hamburg aus wieder eine Reise nach Holland, das er nun aber bald wieder verlassen wollte, »weil mir Holland itzund gantz nicht mehr gefallen wil.«59 Er reiste über Wolfenbüttel nach Hamburg, wo er bis 1679 blieb. Nach Ostern dieses Jahres zog es ihn noch einmal nach Amsterdam, zuvor wollte er noch einmal seine Heimat besuchen (vgl. den vom 25. IV. 1679 datierten Brief an den Wolfenbütteler Bibliothekar Hanisius, s. Kaczerowsky, ebd., S. 184) Tatsächlich schreibt Paul Georg Krüsike (am 15. Okt. 1676 in die DG aufgenommen) an Hanisius, dass Zesen vor einigen Monaten nach Amsterdam abgereist sei (22. August 1679, b. Kaczerowky, ebd., S. 185).60 Damit begann die letzte Amsterdamer Periode. Erwartungsvoll hatte Zesen die Reise angetreten, seine Frau wollte dort einen »Handel mit Schlesischem Leinwand« anfangen, aber, so schreibt er an Hanisius (4. Okt. 1679), da sowohl sie als seine Schwiegermutter und er selber längere Zeit krank gewesen seien, sei alles Geld verloren und werde aus dem Unternehmen nichts. Die Briefe an Hanisius drücken immer wieder das Verlan57 58 59

60

Vgl. das Faksimile bei Scholte in Amstelodamum XIV, S. 134. Faksimile bei Scholte, S. 135–137. Briefe vom 6. IV. bzw. 31. VII. 1674 an den Wolfenbütteler Bibliothekar Hanisius, bei Kaczerowsky, S. 178 ff. Kaczerowsky, ebd. S. 184.

45 gen nach einem festen Wohnsitz und einer festen Stellung aus – »Und eben darüm bitte ich nochmahls, wie ich schon vor diesem getahn, seinen besten Fleis anzuwenden: damit ich etwan von einem Hofe hier oder im Hage einige Bestallung erlangen möge« (4. Okt. 1679). Sein Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Seit dem Jahr 1684 taucht sein Name wieder unter den Hamburger Gelegenheitsgedichten auf: Zesen wird sich wohl endgültig in Deutschland haben niederlassen wollen. In Hamburg fand er nach wie vor freundliche Aufnahme. An Ehrungen vonseiten der Hansestadt hat es ihm nicht gefehlt. So erhielt er 1677 von den »Stadt- und Bürger-Vätern« ein »Wein- und Ehrengeschenke«, wofür er sich mit dem Gedicht »Lobschallendes Ruhm- und Reim-geschenke« bedankte. Darin heißt es u. a. Es scheinet/ daß Hamburg mit Amsterdam wil streiten/ üm meinen dunklen Witz zu ehren vor den Leuten: indem mir Dieses schenkt’/ aus sonderbarer Gunst/ Sein Großes Bürgerrecht: und Jenes nun ümsunst/ aus seinen Weinen mich den Herrlichsten lest wehlen/ die Seele meiner Kunst gantz Herrlich zu beseelen. Man weis/ daß meinen Dank die Amstelstadt empfing/ indem Ihr Glantz und Staht aus meiner Feder ging. Nun weis ich selbst noch nicht/ wie meine Pflicht sol danken/ der Elbstadt/ nach gebühr: weil meine Sinne wanken/ und taumeln hin und her/ auf diesen milden Gus; der mir zu kopfe steigt/ und würkt den Zweifelschlus/ durch sein so kräftigs Nas. Ich wil ein wenig lauschen. Um meinen Rosenstok wird bald der Rausch verrauschen/ der heisse Dampf gedämpft üm diesen kühlen Strauch. Der Liljen Zimmetluft/ der Näglein süßer Hauch/ die hier ich selbst gepflantzt/ wird mein Gehirn ergetzen/ und mein Gedächtnis selbst/ zusamt den Sinnen/ wetzen.

Es wird also Bezug genommen auf die Beschreibung der Stadt Amsterdam, die drei »Zünfte« der DG, die Rosen- Lilien- und Näglein-Zunft. Barthold Vaget (in der DG Der Getreue) schrieb zu diesem Anlass ein »Hamburgisches Freudengetöhne.« Vaget war selber Mitglied einer etwas obskuren Gesellschaft, die unter dem Namen »Neunständige Hänseschaft« firmierte. Aus Vagets Ehrengedicht wissen wir, dass Zesen darin den Namen »Deutschold« trug. Selber berichtet er im Hochdeutschen Helikonischen Rosentahl (S. 14): » Nicht lange darnach erhub sich auch die Neunständige Hänseschaft; welche in geheim und unter ihren neun Hänsegliedern geblieben; von denen der Färtige [= Zesen] noch allein im leben.«61 Aber die großen Zeiten schienen nun endgültig vorbei zu sein, die letzten Jahre waren bestimmt die unglücklichsten seines Lebens. Ständig wurde er von Geldsorgen geplagt, Altersbeschwerden machten sich immer deutli61

Vgl. auch Bellin Nr. 16 und Helicon 1649, Tl. II, Blatt A 4 r.

46 cher bemerkbar. Auch an der Deutschgesinneten Genossenschaft hatte er keine Freude mehr, es wurden nur noch wenige neue Mitglieder aufgenommen. Johann Heinrich Gabler, der 1687 als Der Stützende der Genossenschaft beitrat, sollte dem Willen des Stifters gemäß nach dessen Tod den Vorsitz führen. Und so geschah es, als Zesen am 13. November 1689 im Alter von 70 Jahren in Hamburg starb, wo er auch begraben liegt.

3.

Deutscher Helicon. Verskunst

Martin Opitz (1597–1639) stand am Beginn einer auf nationale Identität zielende und Eigenheit fördernde Renaissance der deutschsprachigen Literatur und Dichtkunst.1 Sein Auftreten richtete sich aber von Anfang an nach zwei Seiten. Die den Zustand der deutschen Sprache beklagende Schrift Aristarchus sive de contemptu linguae teutonicae von 1617 wendet sich an die gelehrten Eliten und bedient sich deshalb des Lateinischen als der lingua franca der Gebildeten. Das ist ein Hinweis auf das Vorherrschen der Latinität – sogar im Bereich der Literatur – bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Auch diejenigen Dichter, die die Literatur einer neuen ambitionierten Dichtergeneration mitbegründen halfen (Opitz, Fleming, Gryphius u. v. a.), schrieben lateinische Gedichte als Beiträge zur neulateinischen Dichtungstradition. Latein war noch keineswegs eine »tote Sprache«. Daneben aber wendeten sie sich dem Deutschen zu, im Wettlauf mit den kulturell weiterentwickelten Nachbarstaaten im Westen und Süden (die Niederlande, die Romania), um ihre Muttersprache einer neuen Höhe zuzuführen. Deutsche Literatur sollte den anderen Bildungsnationen möglichst bald ebenbürtig werden und in der muttersprachlichen Dichtung eine neue Blüte erreichen. Hatte die neulateinische Dichtung bereits im 16. Jahrhundert durch Julius Caesar Scaliger eine aktuelle Beschreibung und systematische Erfassung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten erfahren – Poetices libri septem, 1561 –, war für die deutsche noch alles zu tun. Scaligers Poetik setzte neue Standards, sie bildete das umfassendste und einflussreichste dichtungstheoretische Kompendium der Zeit. Es hat die bedeutendsten Aspekte der Dichtkunst behandelt, wie Stil- und Gattungslehre, Prosodie und Metrik. Daran konnte Opitz sich spiegeln, als er ein ähliches normsetzendes Regelsystem für die deutschsprachige Literatur erarbeitete, das 1624 zuerst  1

Wolfram Mauser: Opitz und der Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur. Ein Versuch. In: Paolo Chiarini (Hg.): Filologia e critica: studi in onore di Vittorio Santoli. Roma: 1976, S. 281–314. Dass in den Patriotismus sich auch konfessionelle Momente mischen, hat Klaus Garber dargetan: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche »Barock«-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der »zweiten Reformation.« Hg. v. Heinz Schilling. Gütersloh 1980. Ferner: Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz: Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001. Zur poetologischen Normierung: Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Tübingen 2008.

48 erschien: das Buch von der Deutschen Poeterey. Es war nur ein schmales Bändchen, mehr eine Ergänzung zu den Rhetorik-Regeln, die durch die Schule vermittelt worden waren und die einfachsten Grundlehren der inventio und dispositio voraussetzen konnte.2 Das erklärt den rhetorischen Grundzug barocker Dichtung. Harsdörffer trägt dem Rechnung, wenn er im dritten Teil des Poetischen Trichters feststellt, es seien »die Poeterey und Redkunst miteinander verbrüdert und verschwestert/ verbunden und verknüpfet/ daß keine sonder die andre gelehret/ erlernet/ getrieben und geübet werden kann« (1653, Vorrede). Das spiegelt sich in den Arbeitsschritten der poetischen Praxis, die Sache und Wort (res und verba) unterschied. Die Sache konnte thematisch Verschiedenes sein (Glückwunsch, Hochzeit, Begräbnis, Abschied usw.), die Worte mussten sich ihr anpassen, um der Vorschrift der »Angemessenheit« (aptum) zu entsprechen. Die Poetik baute also auf dem System der Rhetorik auf, hatte jedoch ihren eigenen Wesenskern. Sie handelt über Metrik und Vers, ferner über die literarische Gattungslehre und Stilfragen, die in der elocutio dargelegt wurden. Weiter wird die Frage thematisiert, ob Dichten eine Naturgabe sei oder gelernt werden könne. Damit war ein Punkt berührt, der mit dem Status des Dichters zusammenhing und für die deutschsprachige Dichtung erläutert werden musste. Der dem Latein verpflichtete Dichter war ohnehin ein gelehrter Poet. Das wurde nun auch für den muttersprachlichen Dichter in Anspruch genommen, sofern er die Kunstregeln befolgte und sich weitläufig umgetan hatte, so dass er in vielerlei Gebieten bewandert war. Selbstverständliche Voraussetzung war die natürliche Begabung. Er müsse nach Harsdörffer über den Redner (Orator) hinaus »mehr natürliche Gaben zu seiner Vollkommenheit besitzen« (Poetischer Trichter III, Vorrede). Aber dennoch galt: Die Natur könne »ohne Kunst nimmermehr zur rechten volkommenheit gelangen« (Zesen).3 Auf diesem Wege konnte er das Ideal eines poeta doctus erreichen. Ferner ging es in der Poetik um die Anerkennung der gesellschaftlichen Bedeutung und Funktion des Dichters und seiner Kunst. Die Verwendung von Wortschmuck, Redefiguren, Metaphern, mythologischer Bildersprache etc. hat Opitz in Maßen empfohlen. Vor allen Dingen hat er eine metrische Neuordnung für den Vers verbindlich gemacht: die alleinige Anwendung des alternierenden Prinzips von Hebung und Senkung bzw. betonten und unbetonten Verssilben (d. h. Jamben und Trochäen). Ebenso wichtig war die natürliche Betonung: Die Übereinstimmung von Wort- und Versakzent  2

 3

Boy Hinrichs: Rhetorik und Poetik. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München 1999, S. 209–232. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger, Bd. 2). Helikonische Hechel, SW XI, S. 301 f.

49 sollte den Knittelvers der Hans-Sachs-Zeit mit der üblichen freien Senkung (was das »Klappern« hervorrief) vermeiden. Folgenreich wurde auch die Regelsetzung der Stilunterschiede, die den Standesunterschieden entsprechen sollen: Denn wie ein anderer habit einem könige/ ein anderer einer priuatperson gebühret/ vnd ein Kriegesman so/ ein Bawer anders/ ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte/ zue hohen ansehliche/ zue mittelmässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen.4

Entsprechend wurden Tragödie und Komödie standesmäßig unterschieden, wobei die Tragödie dem höchsten Stand vorbehalten blieb, die Komödie dem ›gemeinen Mann‹ und den Bauern zugeordnet wurde. Opitz hat sich für seine eigenen Gedichte, aber im Grunde für seine ganze Vorstellung vom Dichterberuf, den Leidener Gelehrten Daniel Heinsius (1580–1655) zum Vorbild genommen. Heinsius hat sich, obwohl gelehrter und hochangesehener Latinist, in der muttersprachlichen (niederländischen) Dichtung hervorgetan. Seine Nederduytsche Poemata hatten auf Opitz und seine Generationsgenossen große Vorbildwirkung. Opitz dichtete: Die Teutsche Poesy war gantz vnd gar verlohren, Wir wusten selber kaum von wannen wir geboren, Die Sprache, vor der vor viel Feind erschrocken sindt, Vergassen wir mit fleiß vnd schlugen sie in Windt. Biß ewer fewrig Hertz ist endtlich außgerissen, Vnd hat vns klar gemacht, wie schändtlich wir verliessen Was allen doch gebürt: Wir redten gut Latein, Vnd wolte keiner nicht für Teutsch gescholten sein. Der war’ weit vber Meer in Griechenland geflogen, Der hatt Italien, der Franckreich durchgezogen, Der prallte Spanisch her, Ihr [= Heinsius]habt sie recht verlacht, Vnd vnsre Muttersprach in jhren werth gebracht.5

Opitz’ Poeterey war sehr erfolgreich, sie brachte es in relativ kurzer Zeit auf sieben verschiedene Drucke und war »zum Regelbuch der neuen deutschen Kunstdichtung geworden« (Maché).6 Als Zesen ein Jahr nach Opitz’ Tod  4

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Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 40. Opitz: Teutsche Poemata (ed. Georg Witkowski. Halle 1902), S. 25. – Zum Thema: Ferdinand van Ingen: Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Bonn 1981 (Reihe Nachbarn, 26).; ders.: Niederländisch-deutsche Literaturbeziehungen. In: Walther Killy (Hg.) Literatur Lexikon, Bd. 14. Hg. v. Volker Meid. Gütersloh-München 1991. S. 158–162; Guillaume van Gemert: Niederländische Einflüsse auf die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Zwei Aufsätze. Trento 1993 (Facoltà di Lettere). Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik. In: Philipp von Zesen 1619–1969. (1972). S. 193–220.

50 seinen Helicon in erster Fassung erscheinen ließ, war es an der Zeit, auf den hier gebahnten Wegen weiterzugehen. Tatsächlich leitete sein Buch den Neubeginn der poetologischen Entwicklung in Deutschland ein, es hatte ebenso Geltung für Buchners Schüler (unter denen Zesen der gelehrigste war). Mit Zesen begonnen, wurden die Neuerungen alsbald von anderen aufgegriffen: Die bekanntesten sind Justus Georg Schottelius (Deutsche Vers- und Reimkunst, 1645), Georg Philipp Harsdörffer (Poetischer Trichter, 1647–1653), Sigmund von Birken (Teutsche Rede- bind- und DichtKunst, 1679). Buchner (1591–1661), Professor der Poesie und Rhetorik in Wittenberg, ist hier vorangegangen. Er hat in seinen Vorlesungen eine ganze junge Dichtergeneration angeregt, neben Zesen auch Johann Klaj, Justus Georg Schottelius, David Schirmer, Georg Finckelthaus.7 Allerdings hatte Buchner seine Poetik zurückgehalten, um nicht bei der Fruchtbringenden Gesellschaft Anstoß zu erregen. Ihr Oberhaupt Fürst Ludwig hatte 1640 eine kleine Poetik drucken lassen, in deren Vorwort er mitteilt, dass daktylische Verse hier »mit fleiß übergangen« worden seien.8 Nun war gerade der Daktylus eine von Buchner mit Nachdruck propagierte Versart, die der ›modernen‹ Zeit mit ihrem Bedarf an Affektausdruck entsprach: Dadurch kommen wir »zu weilen der Natur näher/ und trücken unser Gemüths Bewegungen besser aus.«9 Das hat Zesen offenbar schon früh begriffen und mit wahrer Leidenschaft sowohl in der Poetik wie in der dichterischen Praxis in die Welt getragen. Er hat die ersten Versuche schon während der Schulzeit in Halle beim bekannten Gymnasialrektor Gueintz unternommen. Dieser war als Schüler, Freund und Gevatter Buchners10 selbstverständlich mit dem Daktylus vertraut, daktylische Verse finden sich vor Zesen auch bei Gottfried Finckelthaus (Des weisen Salomons Hohes Lied sampt andern Geistlichen Andachten, Leipzig 1638) und weiteren Leipziger Dichtern. Aber bei Zesen finden sie ein mehr als durchschnittliches Interesse. Er hat sie im Helicon, in der Scala Heliconis (Amsterdam 1643) erwähnt und beschrieben, ebenfalls in der zweisprachigen Ausgabe Deutsch-lateinische Leiter zum hoch-deutschen Helicon: Wir nennen sie »von ihrem erfinder und uhrheber/ August Buchnern/ die Buchner=art. Wie auch die Dattel= oder Palmen=art.« Letzteres wird näher erklärt: »Dan die dattel ist eine frucht der Palmen/ welche von ihrer ähnligkeit mit den fingern also genennet wird. Ja der ädle Palm= 7

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Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919. Buchners Poetik wurde handschriflich herumgereicht, sie erschien erst 1663 und 1665 posthum im Druck. Vgl. Marian Syrocki (Hg.): Augustus Buchner, Anleitung zur deutschen Poeterey. Tübingen 1966. Buchner: Kurtzer Weg=Weiser zur Deutschen Tichtkunst (1663). Fotomechanischer Nachdruck Zentral-Antiquariat Leipzig o. J., S. 141. Alfred Gramsch, Zesens Lyrik. Eine literarhistorische Studie. Kassel 1922, S. 8 f., (mit Hinweis auf Borcherdt, S. 43, 156).

51 baum/ welcher die datteln träget/ ist daher also benahmet worden/ weil er sich mit seinem gipfel ausbreitet/ und die zweige gleichsam als finger von sich strekket/ daher er auch der flachen hand/ welche die lateiner ›Palmam‹ heissen, nicht übel heisset. […] Dan die stuffen dieser dattel=art haben von den dreien gliedern der finger/ deren das erste lang/ die andern zwei kurtz seind/ wie auch die palme mit ihren früchten/ den nahmen bekommen.«11 So versteht man Zesens »Dactylische Ode« zum Namenstag von Christian Gueintzius (»Hertze des Himmels und Auge der Sterne«) im Helicon von 1641 als eine anerkennende Geste, wie es ebenfalls das Widmungsgedicht für Buchner ist, das Zesen im selben Buch seinen Darlegungen voranstellt: »Dactylisch Sonnet an den Edlen und Weltberühmten Herrn August Buchnern/ über die Erfindung der Dactylischen und Anapästischen Verse.« Machés Vermutung, dass die Nähe zu Buchner bei Zesen die Idee einer neuen Poetik als Ergänzung zu Opitz hat reifen lassen, ist nicht von der Hand zu weisen. Höret die Lieder wie artlich sie klingen/ Welche Herr Buchner erfindet und übt/ Echo sich selbsten in ihnen verliebt/ Wolte sie gerne mit freuden nachsingen/ übet sich stetig die Stimme zu schwingen/ Aber in dem sie noch hefftig betrübt/ Nicht mehr als halbe gebrochne wort giebt; Wälder und Felder dem toone nachspringen. Buchner/ so längsten unsterblich gemacht/ Itzo mann änlich den Göttern Ihn acht/ Weil er Dactylisch zu singen erfunden: Phöbus verwundert sich selbsten ob Ihn/ Orpheus muß anders die Seiten aufzihn/ Cicero schweiget und lieget gebunden.12

Obwohl nicht gerade ein Meisterstück, ist die Botschaft deutlich. Zesen hat Buchner die Erfinder-Ehre gelassen, und dieser hat das mit Dank angenommen. Er verfasste ein Widmungsgedicht für Zesens Hohe-Lied-Dichtung, ein anspruchsloser Vierzeiler: »Was Salomon zuvor des Himmels=voll getichtet/| Schreibt Cösius hier ümb/ und in das Deutsche richtet:| Der Leser lobts/ und spricht: Wol dir/ geschickte hand/| Du ehrest Gott zugleich/ und ziehrst dein Vaterland.«13 Fasst man in der ersten Ausgabe von Zesens Poetik die wenigen über den »Boberschwan« hinausgehenden Neuerungen zusammen, sind insbesondere die daktylischen und trochäischen Sonette sowie die Echo-Gedichte zu nennen. Die Helicon-Ausgabe von 1640 ist denn auch beschränkt neuartig. Die rasch erfolgte zweite Ausgabe von 1641 bringt mehr Musterbeispiele, die dritte von 1649 hat mit den Reim11 12 13

Zesen: Deutsch-lateinische Leiter. In: SW Bd. XII (1985), S. 105/107. Deutscher Helicon (1641): Bd. IX (1971), S. 342 f. (an Gueintz), S. 13 f. (an Buchner). Deutscher Helicon (1641), S. 359.

52 registern und Musterbeispielen schon Riesenausmaßen angenommen. Erst die vierte (letzte) von 1656 scheint das Gesamtwerk zu repräsentieren. An sie ist auch die Scala Heliconis (1643) in zweisprachiger Fassung (Deutschlateinische Leiter) angehängt. Hier, in der endgültigen Fassung der Poetik, findet Zesen gewissermaßen wieder zu seinen dichtungstheoretischen Anfängen zurück. Nachdrücklich verweist er auf Wittenberg als die Stadt, wo daran erinnert werden sollte, »daß daselbsten die reine Dicht-kunst ihren uhrsprung und sitz nehme«; hier lehrte der »Durchleuchte Buchner«, der »Dattel-ahrt würdiger Vater.« So die poetische Huldigung Zesens in der Vorrede an den »Klug=sinnig=geneugten Leser.«14 Von Interesse ist noch die Betonung des Altruistischen, die Zesen seiner Leistung beimisst, dass nämlich in dieser Stadt »wier […] noch unbekante ahrten so wohl der reim=bände/ als gedichte selbst/ nicht zu unserm/ sondern zu unsers lieben Vaterlandes/ und desselben sprache/ auf=nehmen und ehre/ zu ehrst versucht und aufgebracht haben« [und nun] »wiederüm auf=legen und trükken […] lassen«. Der an Lobhudelei wahrlich nicht armen Epoche wird weiter zu bedenken gegeben: »Ja die Deutsch=liebende welt sol dieses nicht uns/ sondern dem edlen Wittenberg zu danken haben«. Wittenberg wird gelobt als »Keiserin der Dichtmeister in unserer helden=sprache«, es habe Athen und Rom, gar Jerusalem überrundet: Diese ehre wird verhoffentlich dem edlen Wittenberg niemand misgönnen/ und wan sich ja einer oder der andere finden würde/ der dieses so wohl als unser fürnehmen selbst tadeln und lästern wolte/ so wisse derselbe ösels=örige/ neidische Teufels=wicht/ und verteufelte prahl= und schmäh=hans/ daß wier sein schmähen und lästern nicht ein härlein achten/ auch uns von unserem guhten zwekke nicht im geringsten werden abhalten laßen. Dan wier leben der gewissen zuversicht zu allen redlichen/ deutsch=gesinneten Lesern/ daß sie uns fohr solchen mis=günstigen läster=zungen werden beschützen und sotahnich verträten helfen/ daß wier rechtmäßige uhrsache finden/ ihren ruhm mit güldenen buchstaben selbst zwischen das gestirne zu setzen/ und der ewigkeit einzuverleiben. Indessen mögen sie sich wohl gehaben.15

Was sich hier mit kämpferischen Tönen und nicht gerade sympathisch hören lässt, ist die bekannt-berüchtigte Erscheinung des Sprachpatriotismus jener Zeit.16 Zum Gesamtbild von Zesens poetologischen Bestrebungen gehören noch zwei weitere Schriften, das Sendeschreiben an den Kreutztragenden und die Helikonische Hechel (1668, vermutlich um 1650 entstanden). Auch hier führt in den Widmungsgedichten der Sprachpatriotismus die erste Stimme, er schließt das Oberhaupt der Deutschgesinneten mit ein: 14 15 16

Deutscher Helicon 1656, SW Bd. X/1, S. 10. S. 11. Vgl. Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts. Frankfurt am Main etc. 1984. Ferner Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin – New York 1994.

53 »Dir/ Adler Deutscher Zungen/| gebühret ja der Preis; Dir/ der du Dich geschwungen/| weit über andre hin; […] O! wer ist drauf bedacht/| wie Du/ daß unser Deutsch werd’ himmelan gebracht? […] Noch sag’ ich / Dir gebührt/| O Großer Zesen/ Preis. Du hast vielmehr geziert/ die Deutsche Heldensprach’/ als andre; welche pralen/| und blaue nebeldunst nur vor die augen mahlen| der Deutschgesinten Welt.«17 Der Sprachpatriotismus treibt manchmal – wenn auch relativ unschuldig – mitunter seltsame Blüten. Natürlich waren für Zesen die gleichgesinnten Geister der Mitglieder seiner DG wichtig. Er wusste sich von ihnen getragen. »Trotz vielfacher Anfeindungen und Schmähungen stärkte sich sein Selbstbewußtsein und sein Wille zu organisierter literarischer Tat immer wieder durch das Wachsen der Deutschgesinnten Genossenschaft, als deren Haupt er eine Instanz darstellte, bei der die Mitglieder in kunsttheoretischen und sprachreformatorischen Fragen Rat suchten.«18 Die Mitglieder unterstützten ihren Meister nach Kräften, wie Valentin Ruhles Beispiel (s. o.) zeigt. Sie betätigten sich auch, nach Maßgabe der Zeit, nicht selten als ›Applausmaschine‹. Man muss darüber hinwegsehen, denn Zesen hatte als freier Schriftsteller keinen leichten Stand. Er musste sich vor allem von den Möchtergern-Dichtern abgrenzen, die – wie schon Opitz klagte – auf Bestellung liefern müssen: »Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil/ sondern wenn er kan.«19 Das Hervorkehren der patriotischen Ziele, das in der letzten Ausgabe des Helikon von 1656 so penetrant hervortritt, hatte seine Wurzeln schon in der ersten Fassung. Dort hatte es geheißen, dass er »[s]einem Vaterlande zu ehren die Deutsche Poesie wieder erneuern vnd weiter fortpflantzen möchte«.20 Die traditionelle Ausrichtung an der Antike, die immer wieder von den Poetikern gefordert wird, war für Zesen vorbei. Er konnte im Helikon von 1656 stolz auf die Vollkommenheitsstufe der deutschen Dichtung im Vergleich mit den bewunderten »Alten« hinweisen und scheute sich nicht, sie abzuwerten. Die antike Dichtung sei reimlos gewesen, die deutsche sei infolge des Zusammenfalls von Wort- und Versakzent (Opitz!) »vil folkomner« und »lieblicher«. Der Kundige wird bekennen müssen, »daß unsere heutige Dicht=Kunst (indem sie beide der natur und der kunst ihr recht lässet/ […] viel fol=komner und grund=richtiger/ ja lieblicher sei/ als beides die Latein= und Griechische.« Gleichsam mit Paukenschlag wird der Passus folgendermaßen fortgeführt: »So ist es dan nun sonnenklar/ daß die deutsche Dicht= und reim=kunst folkomner sei/ als die Latein= und Griechische/ weil sie das natürliche ohren=maß/ welches von der recht= und falschen aussprache der wort=glieder uhrteilet/ überal/ als das allerfürnehmste in 17 18 19 20

Valentin Ruhl (zur »Hechel«), SW Bd. XI, S. 398 f. Maché, S. 199. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 16. SW Bd. IX, S. 21.

54 der Dicht=kunst/ beobachtet/ und alle wort=glieder/ nicht anders/ als nach der gemeinen und natürlichen aus=sprache/ kurtz oder lang schätzet und brauchet.«21 Fragt sich, warum in Verbindung mit der Stadt Wittenberg die »reine Dicht-kunst« auf den Schild gehoben wird. Doch wohl um einer Assoziation willen, die sich dem Leser gleichsam aufdrängt. Wittenberg als die Stadt von Luthers Reformation – die reine Lehre, die Stadt Buchners – die reine Dicht-Kunst. Auf den Wellen von Buchners Eintreten für den Daktylus schwimmt Zesens leidenschaftliche Verbreitung dieses Metrums. »Die für die Weiterentwicklung der deutschen Metrik so bedeutende Legitimierung des Daktylus erfolgte somit nicht durch Buchner, sondern durch seinen Schüler Zesen« (Maché),22 sie soll sich offenbar aus der sorgfältig inszenierten historischen Konfiguration ergeben. Die Aufnahme jenes Versmaßes vollzog sich schnell, innerhalb weniger Jahre, und wurde allgemein als »die wesentlichste Neuerung in der deutschen Dichtung nach Opitz’ Reform gepriesen« (Maché).23 In den ersten Ausgaben des Helicon hat Zesen sich noch mit den formalen Aspekten begnügt, die anhand von Beispielen verdeutlicht werden. In den ersten beiden (1640, 1641) hält er sich an Buchners Vorschlag von sechs daktylischen Metren, in den letzten beiden aber (1649 und 1656) geht er auf die ästhetischen Möglichkeiten der neuen daktylischen Versarten ein und erweitert vom Erscheinen der Scala Heliconis (1643) an, wie auch andere Poetiker (Titz 1642, Schottelius 1645, Harsdörffer 1647), das ursprünglich von Buchner vorgeschlagene Paradigma, zunächst auf acht, dann schließlich mit vier weiteren. Nicht nur ist der neue deutsche Vers mit dem Einsatz des Daktylus und des Anapäst wendiger und flüssiger geworden. Von relevanter Bedeutung ist der neu verfügbare Ausdruckswert, wie Zesen es in seiner Poetik darstellt, wenn er über Jambus, Trochäus und Daktylus spricht: Diese dreierlei Reim= und grund=ahrten nuhn seind […] 1/ die steigende oder mänliche [Genus Jambicum]/ so zu ernst=haften liedern und gedichten mehr/ als zu schertz= und lust=spielen/ ihres mänlichen Ganges wegen/ kan gebraucht werden. 2/ die fallende oder weibliche [Genus Trochaicum]/ welche zu allerhand liedern und lieblichen gesängen sich mehr/ als zu den erst=haften/ und Helden=gedichten/ schikken. 3/ die rollende Dattel= oder palmen=ahrt [Dactylicum]/ so ihrer färtigen und hüpfenden springe wegen fast nirgends zu/ als zu lustigen liedern und kling=gedichten […]/ am bästen schikket/ wil gebrauchen laßen.24

So bedingt das aptum die Verwendung des rechten Versmaßes, das Metrum (Aspekt des Wortes) entspricht der Sache. 21 22 23 24

SW Bd. X/1, S. 38/39. Maché, S. 194 Maché, S. 199. SW Bd. X/1., S. 112.

55 Zesen nimmt die Überzeugung auch in Anspruch für ein geistliches Thema wie das Hohe Lied. Seine Bearbeitung in daktylischen und anapästischen Versen war neuartig. Sie erschien zuerst 1641 im Rahmen der Musterbeispiele im Helicon und wurde dann noch weitere drei Male gedruckt: Amsterdam 1657, Bern 1674, Schaffhausen 1707. Hohe-Lied-Bearbeitungen gab es vor Zesen von Opitz (1627, 1629, 1637, 1638, 1640) und Johann Michael Dilherr (1640).25 Auch die Weiterentwicklung der metrischen Formen, die sogenannten Mischverse, sind bei Opitz und Buchner vorbereitet. Buchner legitimiert sie ausdrücklich (Weg-weiser, S. 137–144), Zesens Helicon von 1640 geht kaum darüber hinaus. Aber 1641 geht er auch auf solche Verse ein, »in welchen bald Jambische/ bald Trochäische/ bald Dactylische pedes mit untergemischet werden.«26 Der Daktylus in allen seinen Facetten, dessen Neuartigkeit auch von anderen Dichtern in Zesens Nachfolge empfunden wurde, bedeutete sehr viel mehr als eine verstechnische Angelegenheit. Es kommt einem in der historischen Distanz fast wie ein Kampf vor, der erbittert geführt wurde. Er hat, wie so vieles (oder eigentlich alles) in den ersten Jahrzehnten der Barockpoetik, seinen Ursprung bei Opitz und musste sich gegen den konservativen Fürsten Ludwig und seine Fruchtbringende Gesellschaft durchsetzen. Diederich von dem Werder, unter den Fruchtbringern Der Vielgekörnte, wagte es 1641 gegen Ludwig (Der Nährende) Position zu beziehen. Er schreibt an Zesen (dieser hieß Der Wohlsetzende): Von dem Höchst=geehrten Herren Nährenden habe ich sein/ wie auch des Wohl=setzenden/ schreiben samt einem stük des Deutschen Helikons/ empfangen/ und alles verlesen. Ich/ meines teils befinde solches ein sehr wohl und tief-sinnig aus-geführtes werk/ desgleichen wohl in keiner sprache/ geschweige dan in unserer Deutschen/ zu finden: Es ist aber darbeneben so subtiel/ daß auch die/ der deutschen Poeterei/ erfahrne solches kaum begreiffen/ viel weniger die unwissenden etwas daraus lernen können; meiner meinung nach. Jedoch sol dieses den Wohl=sätzenden in seiner fürgenommenen arbeit nicht stutzig machen/ dieweil er dardurch die gantze volkommene ›Deutsche Poeterei‹ in ihre regeln bringet/ also/ daß nichts/ und zwar gar nichts/ bei dem Haubt=werke zu erinnern sein wird. […]27

Da Zesen, obwohl nach vielem Drängen endlich ebenfalls Mitglied dieser Gesellschaft geworden, von manchen seiner Dichter-Kollegen ständig angegriffen und angefeindet wurde (hier sind Schupp und Rist eigens zu nennen), ist es in diesem Zusammenhang aufschlussreich, der Sache auf den Grund zu gehen, um Zesens stolzes Bewusstsein seiner Leistungen recht zu verstehen. 25 26 27

Martin Goebel: Die Bearbeitungen des Hohen Liedes im 17. Jahrhundert. Halle 1914. SW Bd. IX, S. 40. Das Schreiben ist datiert vom 28. April 1649. Es wird hier zitiert nach der HelikonAusgabe 1656: SW Bd. X/1, S. 14/15. Zesen hat es vor seiner Poetik abdrucken lassen: »Des Vielgekörnten abgegangenes Schreiben an den Hoch=geehrten Herren Nährenden/ des Hoch=deutschen Helikons wegen.«

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3.1

II Tanz und Poesie oder Der Daktylus zwischen Lyrik und Lied

Kaum ein poetisches Regelbuch ist so emsig studiert worden wie Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Es hatte nahezu sakrosankten Charakter, eine Neuigkeit in der Poetik musste erkämpft werden, wenn Opitz ihr keinen Raum geboten hatte. Der Kampf um den Daktylus ist ein exemplarischer Fall. Opitz hatte, wie oben dargelegt, nur Jamben und Trochäen zugelassen, zum Daktylus aber angemerkt, er könne »geduldet werden / wenn er mit vnterscheide gesatzt wird«.28 In welchem Sinn diese Einschränkung gelten soll, wird nicht deutlich. Möglicherweise hat die niederländische Sammlung Den Bloem-Hof van de Nederlantsche Ieught (1608), die für Opitz Vorbildfunktion hatte, seine Meinung beeinflusst, denn diese enthält in überwiegender Zahl jambische und trochäische Gedichte. Jedenfalls hatte Opitz’ unmissverständliche Präferenz zur Folge, dass die Fruchtbringende Gesellschaft den Daktylus mit einem förmlichen Verdikt belegte. Ihr erster Vorsteher, Fürst Ludwig, radikalisierte die vorsichtig formulierte Abneigung, als er im Namen der Gesellschaft 1640 die Kurtze Anleitung zur Deutschen Poesie oder Reim-Kunst herausbrachte. Er habe daktylische Verse »mit fleiß übergangen«, zumal sie »noch so üblich nicht / auch sonsten dem Deutschen Masse und der Sprache hohen Ansehen noch im lesen nicht allzu wol lauten.«29 Buchner, dem Ludwigs Schrift zur Begutachtung vorgelegt wurde, tat noch einen Versuch, einem derart rigorosen Verbot entgegenzusteuern. Er schrieb am 19. November 1639 an den Fürsten: Die Dactylischen Gesänge belangend, werden E. F. Gn. mihr gnedig erleüben nur dieses allein aniezt Zu gedenken, daß der berühmte Musicus Herr Heinrich Schüze Churfürstl. Durchl: Zu Sachsen Capellmeister […] gegen mihr sich vernehmen laßen, ob könne kaum einige andre art Deütscher Reime, mit beßerer und anmuthigerer manier in die Musick gesezt werden, alß eben diese Dactylische.30

Er fügte hinzu, dass er für das von Schütz komponierte »Ballet vom Orfeo« – die Ballettoper nimmt einen bedeutenden Platz in der Geschichte des deutschen Musikdramas ein – auf Verlangen des Komponisten daktylische Verse verwendet habe, und zwar mit Erfolg: »Und ist fast männigliches urtheil dahin gangen, daß dieses […] in der Musick Zum besten gefallen.« In seinem Antwortschreiben (vom 16. Dezember 1639) räumte Fürst Ludwig ein, dass sie »bey denen arten die sonderlich mit vielen stimmen nach 28 29

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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Stuttgart 1970, ebd. S. 50. Zitiert nach Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik im 17. Jahrhundert. In: Philipp von Zesen 1619–1969. S. 193–220, hier 194. Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Hg. v. Gottlieb Krause. Leipzig 1855 (Reprint Hildesheim 1973), S. 228.

57 kunst der Music abgesetzet werden«, durchaus Verwendung finden könnten, wich aber keinen Schritt zurück.31 So waren die Standpunkte deutlich. In Richtung einer Erweiterung der Verskunst um polymetrische Verse hatten sich die Fruchtbringer eindeutig festgelegt. Deutlich war nun aber auch, dass mit dem Widerstand der mächtigen Gesellschaft zu rechnen war, wenn der Daktylus empfohlen würde. Buchner konnte sich mit Recht betroffen fühlen. War er doch in seinen Vorlesungen mit Begeisterung für den Daktylus eingetreten, was wiederum seine Schüler befeuerte. Unter ihnen waren Männer, die für die Entwicklung der deutschen Lyrik und Poetik von großer Bedeutung werden sollten. Sie hörten in Vorlesungen Buchners Ideen, die erst nach seinem Tod unter dem Titel Anleitung zur Deutschen Poeterey von seinem Schwiegersohn Otto Prätorius herausgegeben wurden, aber seit 1638 in Abschriften kursierten. Zesen war der Erste, der die »Buchner-Art« durch den Druck bekannt machte, der Erste auch, der sich des neuen Metrums mit Virtuosität bediente und es um die beliebten Doppelreime erweiterte, nicht zuletzt die theoretische Reflexion anhand der eigenen Praxis vertiefte. Buchner hatte für seine Erfindung – in bester humanistischer Tradition – gleichsam Schutz gesucht bei den Dichtern der Antike: Ob nun zwart wol die Erfindung so wol der Dactylischen als Anapästischen Verse ihrer viel / auch theils ümb die deutsche Poeterey wolverdiente Leute / uns zuschreiben wollen / wir auch gern gestehen / daß selbige wol zum ersten von uns wiederumb hervor gesucht und auf die Bahn gebracht worden; So sind wir doch so gar ehrgeitzig nicht / daß wir nicht gern gestehen wolten / dergleichen Art Verse müsten auch den Alten nicht unbekannt gewesen seyn.32

Als Beispiel führt er ein Zitat aus Ulrich von Lichtenstein an. Zesen bedarf solcher Schutzmaßnahmen nicht länger, denn er weiß sich gestützt durch die Erfahrung der Liedpraxis, genauer: durch die Anbindung des Wortes an die Musik, die im Tanzrhythmus daktylische resp. anapästische Verse geradezu vom Text forderte. Was den Daktylus betrifft, konnte er also an Buchners Argumentation anknüpfen, auch hatte Buchner den daktylischen Vers als ein der Musik entgegenkommendes Metrum benannt. Bei Zesen gilt die Verbindung des Textes mit der Musik jedoch generell, auch für jambische und trochäische Metren. Seine Gedichte sind eigentlich alle als Lieder gedacht. Auffällig oft verweist Zesen in seiner Poetik auf den Klangaspekt und häufig geht es dabei um daktylische Verse, wie etwa: »Nun wunderts mich nicht wenig/ daß sich niemand unterwindet / dieser Art Verse weiter auszuarbeiten/ in dem sie nicht weniger Anmuth mit ihrer so flüchtigen liebligkeit den Ohren erwecken als etwan andere.«33 In seinen Poetik-Ausgaben von 1649 und 1656 immer deutlicher über Opitz hinaus31 32 33

Krause, Ertzschrein, S. 231. Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey (wie Anm. 8), S. 151 f. Helicon 1641, SW Bd. IX, S. 35.

58 gehend, lässt sich die differenzierende Einstellung zur Lyrik gut verfolgen. Hier erwähnt er »Beispiele von Dichtungsarten, die nicht in erster Linie den Gesetzen der Reim- und Dichtkunst folgen, sondern ›der weise und stimme/ darnach [man] sein Lied machen wil‹ oder durch eine wie auch immer geartete musikalische Gestaltung zur vollen Geltung gelangen würden. Die Anlehnung an genuin musikalische Phänomene ist es, die es ihm erlaubt, die deutsche Metrik neu zu definieren: Auch wenn nicht alle Gedichtformen gesungen werden sollen, ist die Lyrik für Zesen durch das ihr innewohnende Potential bestimmt, gesungen werden zu können.«34 Das geht schon aus der ersten Auflage seiner Poetik hervor, die im gleichen Jahr wie Fürst Ludwigs Kurtze Anleitung erschien. Zesen hat Buchners Einsichten konsequent aufgegriffen. Was er in den Poetik-Ausgaben von 1640 und 1641 formuliert hatte, hat er in der poetischen Praxis weiterentwickelt. Die erste Liedsammlung von 1642, die FrühlingsLust, belegt das mit eindrücklichen Beispielen. Die späteren Auflagen der Poetik (1649, 1656) stützen sich in der Ausarbeitung der metrischen Neuerungen auf die Erfahrungen des Textdichters, der im Hinblick auf eine musikalische Ausführung arbeitet. Tatsächlich brauchte Zesen nicht ab ovo anzufangen. Er konnte, wie Buchner, auf Kirchengesänge und Volkslieder verweisen. Auch gab es vor und neben ihm Dichter, die sich nicht ohne Glück im neuen Metrum versuchten. Seit Mitte der vierziger Jahre fand er einen Mitstreiter in Martin Rinckart (1586–1649), dessen Prosodie von 1645 er für die Umarbeitung seiner Poetik weidlich nutzte. Es ist das Verdienst von Gary Thomas, auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht zu haben.35 Dank seiner Analysen kann man sich ein Bild machen von der Bedeutung der metrischen Diskussionen, wie sie seit der Briefkontroverse zwischen Buchner und Fürst Ludwig ins Land gingen, um schließlich in der zweiten Jahrhunderthälfte an einen Punkt zu gelangen, wo Tanzformen wie Sarabande und Courante in der Behandlung metrischer Fragen als übliche Versformen verzeichnet werden.36 In dieser Entwicklung fällt, wie Gary Thomas gezeigt hat, Zesen eine besondere Rolle zu. Er hat theoretisch wie praktisch der ›Buchner-Art‹ zu ihrer Popularität verholfen. Dennoch lassen sich Zesens Bemühen wie seine Wirkung erst im größeren Zusammenhang angemessen würdigen. Zu diesem Zweck wurde aus der Korrespondenz von Zesens Lehrer mit dem 34

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36

Elisabeth Rothmund: Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik. In: Maximilian Bergengruen und Dieter Martin (Hgg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. 2008, S. 35–54. (Frühe Neuzeit, 130) Gary C. Thomas: Dance Music and the Origins of the Dactylic Meter. In: Daphnis. Band 16. H. 1–2 (1987), S. 107–146. Rinckarts Werk trägt den Titel: Summarischer Discurs und Durch-Gang/ Von Teutschen Versen/ Fuß-Tritten und vornehmsten ReimArten. Oder Teutsche Prosodia. Leipzig 1645. Thomas: Dance Music, S. 139 (Hinweis auf Georg Neumarks »Poetische Tafeln« von 1667 und Christian Weises »Curiöse gedancken« von 1693).

59 ersten Vorsteher der Fruchtbringenden Gesellschaft zitiert. Denn die unterschiedlichen Standpunkte markieren verschiedene Wege der Poetik und geben den Blick frei auf je andere Zielvorstellungen im Entwicklungsprozess der deutschen Lyrik nach dem Tod von Martin Opitz (1639). Der Kampf um die Legitimierung des Daktylus spiegelt die Differenz zwischen einer gelehrt-humanistischen Orientierung, die auf Exklusivität abhebt, und einer Breitenwirkung anstrebenden Richtung, die unter Bewahrung des neulateinischen Elegantia-Ideals eine Einbeziehung volkstümlicher Elemente nicht als mit »der Sprache hohem Ansehen« unvereinbar erachtet. Am Daktylus scheiden sich die Geister, hier sind die Fronten klar geschieden. Es ist offensichtlich, dass die Fruchtbringende Gesellschaft Gedichttexte zum Lesen im Blick hat, während Buchner an die Verbindung mit der Schwesterkunst denkt. Es sind zwei Wege: die im Prinzip von der Musik unabhängige Lyrik (›Buchlyrik‹) in humanistischer Tradition gegenüber dem sog. Gesellschaftslied. Wo Buchner mit seinem Plädoyer für den Daktylus steht, geht aus folgendem Zitat deutlich hervor: […] will mich fast wundern / daß niemand bißhero / so viel mir bewust / auch dieser Arten Reimen auszuarbeiten sich unterwünden / weil gleichwohl dieselben nicht aller dinges unerhört / in deme auch unter den gemeinen Liedern etwas dergleichen zufinden / dadurch einer und der ander etwas vollkommenes in dieser Art zuversuchen / und auffzusetzen hette veranlasset werden können / und dörfte ich fast meinen / sie solten nicht weniger Anmuth und Liebligkeit haben / wann sie recht ausgemacht würden / als irgend eine der andern Sorten / sie könnten gar füglich wegen ihres schwinden Ganges / und daß sie gleich tantzen / zu frölichen Sachen gebraucht […] werden.37

Allerdings soll der Daktylus auf bestimmte Bereiche beschränkt bleiben (»zu fröhlichen Sachen«), aber immerhin: »unter den gemeinen Liedern […], und daß sie gleich tantzen«. Unüberhörbar ist der Konnex zwischen Versmaß und Tanzschritt. Das ist im Vergleich zu Opitz – und zugleich: gegen Opitz! – eine neue und zukunftsträchtige Orientierung der Dichtkunst. Für die Konstellation der poetologischen Machtverhältnisse ist aufschlussreich, dass Buchner Opitz’ Lizenzformel aufgreift:38 Im Helicon von 1641 heißt es bei Zesen, daß viele den Daktylus nicht »zulassen« wollen, der Verweis auf Opitz begnügt sich jedoch mit dem positiven ersten Teil: »daß der Dactylus auch wohl geduldet werden könne.«39 Mehr als eine Reverenz vor dem erlauchten Namen ist nicht übriggeblieben. Zesen wählte mit Entschiedenheit die von Opitz’ streng alternierenden Metren 37

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Augustus Buchners kurzer Weg-Weiser. Jena 1663 S. 145 f. Die Schrift – eine Nachschrift von Buchners Poetik-Vorlesungen – wurde zwei Jahre nach Buchners Tod von Georg Götze herausgegeben. (Siehe Anm. 9) Buchner: Anleitung. S. 139 f. Philipp von Zesen: Deutscher Helicon (1641). In: SW IX, S. 35 bzw. 57.

60 wegführende ›populäre‹ Richtung des Daktylus bzw. Anapäst. Für solche Verse war die Musik sein Fixpunkt, sein Vorbild die niederländischen »Vozighe Deundghen«.40 Produktion wie Rezeption seien gleichermaßen von dem Takt der Musik abhängig, sollen Verse wie »Schikke mir blikke der gunst / die mich entzükken« (in »rollenden und hüpfenden tritten«) ihre Vollkommenheit erreichen: Diese und dergleichen lieder werden mit anmuht und lust weder gemacht noch gelesen / wo man die gesang=weise / die ihnen die anmuhtigkeit ehrst geben mus / nicht darbei hat / und sie zugleich / auch selbst im auf=setzen und verfassen / mit=singet.41

Bei solchen Liedern könne sich der Textdichter ganz nach dem von der Melodie vorgegebenen Takt richten, der ihm auch metrische Abweichungen zugestehe, »da der Verfasser nicht den gesetzen der Reim= und Dicht=kunst / sondern der weise und stimme / darnach er sein lied machen wil / nachgehet.«42 An dieser Stelle fehlt nicht der Hinweis auf »etliche der unsrigen uhralten Kirchen=gesänge«, zum Beweis, dass ein solches Verfahren »kein neu=aufgebrachtes oder eingedrungenes und gezwungenes werk ist.« Die theoretische Absicherung und die betonte Anlehnung an die auctoritas der deutschen Kirchenlied-Tradition erlauben nunmehr eine Ausrichtung nach den aktuellen Bedürfnissen des (gesungenen) Liedes, das in den vierziger Jahren eine Vorliebe für Tanzrhythmen aufweist. Die große Beliebtheit von Zesens Liedern mit ihrem pulsierenden Rhythmus und klanglichen Reichtum ist, wie deren nachweisbare Wirkung auf die Zeitgenossen,43 wesentlich durch seine Beteiligung am Hamburger Lied bedingt. In Hamburg, der mächtigsten Stadt des deutschen Nordens, florierte das Gesellschaftslied, das auf die Kunstübung des Bürgertums großen Einfluss hatte. Anders als etwa in Königsberg – man denke nur an die achtbändige Arien-Folge von Heinrich Albert (1638–1650), in der der mehrstimmige, polyphone Satz und die von Melismen ausgeschmückte Melodie vorherrschten – ist in Hamburg das monodische Lied führend. Einfachheit und Klarheit in der Struktur geben ihm das Gepräge, die monodische Textbehandlung setzt Wort gegen Ton. Hier stehen Gabriel Voigtländer (Allerhand Oden und Lieder, 1642), Johann Rist (Des Dafnis aus Cimbrien Galathee, 1642) und sein Kreis mit Musikern wie Thomas Selle, Johann Schop, Peter Meier, Heinrich Scheidemann am Anfang einer Entwicklung, die dem Sololied zum Durchbruch verhalf. Mit Ausnahme der Sonderausgabe der Hohe-Lied-Dichtung (Amsterdam 1657) erschienen Ze40 41 42 43

Philipp von Zesen: Hoch-deutscher Helikon (1656). In: SW X/2., S. 588 Band X/2, S. 586 f. Helikon 1656: Band X/2, S. 588. Vgl. z. B. Herbert Zeman: Philipp von Zesens literarische Wirkungen auf Kaspar Stielers »Geharnschte Venus« (1660). In: Philipp von Zesen 1619–1969 (Anm. 6), S. 231– 245.

61 sens Liedsammlungen (mit Noten!) alle bei Hamburger Verlegern: FrühlingsLust (1642), Dichterische Jugend-Flammen (1651, Johann Naumann), Gekreutzigter Liebsflammen […] Vorschmak (1653, Georg Pape), Schöne Hamburgerin / Die Reinweiße Hertzogin (1668), Dichterisches Rosenund Liljen-tahl (1670, Georg Rebenlein); die Lehrgesänge (1675) erschienen wegen ihres erbaulichen Charakters bei Johann Hoffmann in Nürnberg, die Kriegs-Lieder (1676), Reise-Lieder (1677) und Danklieder (1685) aber wieder in Hamburg.44 Bis zum Gründungsjahr des Collegium Musicum (1660) wurde das Musikleben der Hansestadt vom Auftreten der Ratsmusikanten, von der Musik in den Hauptkirchen und vom Gesellschaftslied bestimmt. Die Hamburger Musiker (unter ihnen der Violist Johann Schop, die Organisten Dietrich Becker, Heinrich Scheidemann, Matthias Weckmann) waren weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmt. Die Stadt konnte es an Vielfältigkeit der musikalischen Darbietungen durchaus mit einem mittelgroßen Hof aufnehmen, und sie tat sich darauf etwas zugute.45 Zesens Liederbücher sind nicht nur faktisch mit den musikalischen Entwicklungen jener Zeit in Hamburg aufs engste verbunden gewesen, sondern haben diese zugleich mitgetragen, indem sie das Ohr für den richtigen musikalischen Akzent in Übereinstimmung mit dem Wortakzent schärften. Umgekehrt verpflichtet Zesen den Dichter auf die Bedürfnisse der Musik, er unterbaut seine Prosodie mit dem Hinweis auf die Erfordernisse der musikalischen Praxis. Damit werden Opitz’ Neuerungen mit Blick auf die musikalische Ausführung weitergeführt. Zesen hakt die Poesie gleichsam an der beliebten Schwesterkunst fest und verschränkt folgerichtig die Poetik mit der Musik. Eine so enge Beziehung zwischen Musik und Verskunst, die sich auch in der poetischen Theorie niederschlägt, war damals ohne Zweifel einmalig. Die von Martin Opitz eingeleitete Versreform zielte zunächst auf die Beachtung des natürlichen Wortakzents.46 Zesen feiert das in seiner Poetik als einen ersten Schritt über die Kunst der antiken Dichter hinaus. Denn »hetten sie so viel gewust von dem accent als wir uns anjetzt durch hülffe 44

45

46

Zum Lied vgl. folgende Studien: Hermann Kretzschmar: Geschichte des neuen deutschen Liedes. Leipzig 1911 (Reprint 1966); Walther Vetter: Das frühdeutsche Lied. Bd. 1/11. Münster 1928; Richard Hinton Thomas: Poetry and Song in the German Baroque. A Study of the Continuo Lied. Oxford 1963; Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004. Vgl. Lieselotte Krüger: Die Hamburgische Musikorganisation im XVII. Jahrhundert. Straßburg 1933 (Reprint 1981). Vgl. Nicola Kaminski: Ex Bello Ars oder Ursprung der ›Deutschen Poeterey‹. Heidelberg 2004; Heinz Entner: Der Weg von der deutschen Poeterey. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Berlin und Weimar 1984.

62 des numehr unsterblichen Opitzens/ nechst Gott bewust finden«, wären ihre Gedichte »noch anmuthiger und geistreicher« gewesen (Helicon 1641).47 Unmittelbar anschließend bezieht Zesen die Musik ein: Hierinnen irren auch die Componisten sehr offt / und setzen den Singe=toon (ACCENTUM MELICUM) auff die sylbe / da der verß=accent (ACCENTUS METRICUS) nicht steht / da doch beyde gleich fallen sollen. […] Derhalben ist die Deutsche Poesie den Capellmeistern und Componisten auch hoch von nöthen / daß sie hernach nicht den Sing=accent anders setzen als die Natur des Verses und der toon der worte erfodert: muß also ein trochäischer Vers auff lautern reinen Trochäis / und ein Jambischer auff lautern reinen Jambis bestehen / welches die Componisten auch wissen und in acht nehmen sollen.

Die Stelle zeigt, dass Zesen an gesungene Verse denkt. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen geht er deshalb auf das strophische Lied ein und fordert das Durchhalten desselben Metrums in allen Strophen. Wo die erste jambisch ist, dürfen die anderen nicht Trochäen einschmuggeln, »da sich denn die melodey des accents halben nicht schicket«: »In diesem fall ist dem Componisten nicht die schuld beyzumessen / sondern dem Verßmacher / der den accent und toon der wort nicht in acht genommen.« Hatte Opitz sich mit der Bemerkung begnügt, »die folgenden strophen […] müssen wegen der Music […] auff die erste sehen«,48 misst Zesen dagegen dem Punkt ungleich mehr Gewicht bei, und zwar mit ständigem Rekurs auf die Musik. So fasst er an anderer Stelle noch einmal zusammen: wann die andern folgenden Strophen der ersten nicht gleich / so könte das Lied auf keine rechte melodey gebracht werden / sondern müste ein jeder Verß eine sonderliche bekommen; ja wenn auch in der einen Strophe nur ein wort oder Verß Jambisch were / und in der andern Trochäisch / so were die melodey schon unrecht und falsch / weil der Verß=accent in dieser anders als in jener.49

Der Deutsche Helicon erschien 1640 und 1641 mit einem umfänglichen Exempelfundus aus eigenen Versen. Wenn man bedenkt, dass die Veröffentlichung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die ersten wichtigen Liedsammlungen gerade im Entstehen begriffen waren und Zesens Poetik das erste Buch dieser Art nach Opitz’ knapper Anleitung (1624) darstellt, ist ihre große Wirkung schon erklärlich.50 Aus dem von Opitz im Zusammenhang mit dem Akzent behandelten Problem der Metrik in deutschen Versen resultierte sein folgenreiches Eintreten für Jamben und Trochäen, das seine Versreform fürs erste komplettierte. Metrische Fragen standen im Brennpunkt des Interesses aller am Aufschwung der deutschen Literatur Beteilig47 48 49 50

Deutscher Helicon: Sämtliche Werke Bd. IX, S. 26 f. Opitz, Poeterey (wie Anm. 4), S. 56. Band IX, S. 59. 20. Vgl. die Studie von Ulrich Maché (Zesens Bedeutung, Anm. 6). Vgl. Ulrich Maché: Johann Sebastian Mitternachts »Bericht von der Teutschen ReimeKunst: Auszüge aus Zesens Helicon«. In: Philipp von Zesen 1619–1669 (wie Anm. 6), S. 246–252.

63 ten, sie bildeten das Kernstück der neuen Versbehandlung, die Zesen in Verbindung mit der Musik diskutierte. Seine Orientierung an der Musik dürfte daher zu gleichen Teilen der Dichtkunst wie der Liedkunst zugute gekommen sein. Das gilt ebenfalls für die Verfeinerungen, die Zesen an Beispielen erörterte, wie für die von ihm mit Verve verteidigten Erweiterungen der rhythmisch-metrischen Möglichkeiten. Auch hier verfährt Zesens Argumentation nicht innerliterarisch, sie greift auf den Bereich der Musik über. Das ist in der Geschichte der Poetik ein wesentlicher Punkt. Zesens Position am Neubeginn der poetologischen Entwicklung nach Opitz wird durch sein Plädoyer für metrische Erneuerungen markiert. Er hat die Palette der neuen Metren, wie sie Opitz theoretisch und praktisch bekannt gemacht hatte, erheblich erweitert. Schon in seiner ersten Liedsammlung von 1642 finden wir neben jambischen und trochäischen Versen auch anapästische sowie daktylische und gemischte. Theoretisch musste Zesen umsichtig die von Buchner vorgenommene Legitimierung des Daktylus durchsetzen. Erst in der zweiten Helicon-Fassung wagt Zesen es, dessen Erfindung allgemein zugänglich zu machen, was dann durch die Poetiken von Titz (1642), Schottelius (1645) und Harsdörffer (1647) so kräftig unterstützt wird, dass in der dritten Helicon-Ausgabe von 1649 die »rollenden Palmen- oder Dattelreime« den Sieg davontragen: Wie die Palmen= und Dattel=bäume […] keine last noch bürde auf ihren zakken leiden können / sondern ihr / ie mehr sie selbige fühlen / und ie mehr man sie unter zu trukken gedenket / ie mehr sie auch widerstand tuhn; so ist es auch mit unseren Palmen=reimen beschaffen / die laßen sich in ihrem flüchtigen lauffe nicht hämmen und auf-halten / sondern setzen und springen mit einer gleichsam rollenden und feurigen hitze hindurch / bis sie zu ihrem gewünschten ende gelanget / und die siegespalmen verdienet.51

Entwicklungsgeschichtlich ist von Interesse, dass Zesen mit Hilfe des Terminus Versfuss (pes) den Jambus und den Trochäus mit dem Gehen und dem Laufen als Beherrschung natürlicher Fähigkeiten vergleicht, während er den Daktylus dem Tanzschritt gleichsetzt und somit als Ergebnis der Kunst hinstellt: Hierbei möchte man […] fragen / wie solches sich zum rollenden schikken und reimen könne? Dem geben wier zur antwort / daß in diesem falle die Dicht= und reimkunst / dem tantzen nicht ungleich sei. Dan wie ein fußgänger bloß von natur gehen / und ein läuffer ebenmäßig von sich selbst lauffen lernet / der täntzer aber sein zierliches tantzen / nicht allein von der natur / sondern auch aus der kunst / haben und lernen mus; so kan zwar auch mancher mensch / aus eingebung der natur und natürlichem[!] einflüßen / ohne zutuhung der kunst des lehr-meisters und unterweisers / bisweilen / in steigenden und fallenden reim-ahrten / aber niemals in der rollenden Dattel- und Palmen-ahrt / welche mehr kunst erfortert / zum dichtmeister werden.52

51 52

Zitiert nach der Helikon-Ausgabe 1656: Bd. X/1, S. 129. Ebd. S. 60

64 Auf die Entwicklung der Lyrik bezogen, bedeutet das: Er erhebt einen kulturellen Anspruch auf die Vorrangstellung des Daktylus. Repräsentiert dieser doch die Stufe der Kunstvollkommenheit, während Jamben und Trochäen auf der niedrigeren Stufe der Natur rangieren. Die Wertschätzung des neuen Versmaßes in der Poetik beruht hier auf einem argumentativen Muster, das Kunst über die Natur stellt, demnach dem durch Beherrschung der Kunstregeln ausgezeichneten Poeten vor dem Naturtalent den Vorzug gibt. So greift eines ins andere. Der zentrale Platz der Polymetrik in Zesens eigener Poetik wird solcherart aus dem fortschreitenden Kulturprozess begründet. Dezidiert erklärt er: »weil die tantz=kunst der Dichterei schwester so wohl / als die Singe-kunst ist / und eine ohne die andere / wan man zur fol=kommenheit gelangen wil / fast nicht sein kan.«53 Man sollte nicht übersehen, dass die rasche Durchsetzung des daktylischen (und anapästischen) Metrums in den vierziger Jahren sich dem Umstand verdankt, dass es der damaligen Vorliebe für instrumentale Tanzfolgen (»Suiten«) entsprach und diese wiederum auf der Beliebtheit des Gesellschaftstanzes basierte. Zesens Bemühungen wurden von musikalischen Modetrends unterstützt; eine Kunst trägt die andere. Mit diesem Aspekt wird ein Punkt berührt, der von kulturhistorischem Interesse ist. Die Abneigung gegen Tanzrhythmen in der ernstzunehmenden Dichtkunst wurzelt wenigstens zum Teil auch in der heftigen Kritik der Kirche an paganen Gesellschaftsformen, die im Tanz zum Ausdruck kamen. Ferner stand im Selbstverständnis der Zeit der Dichter, namentlich der gelehrte Dichter, gesellschaftlich über dem Musiker. Hier waren alte Traditionen wirksam, die sich erst im 19. Jahrhundert allmählich auflösten. Die Emporstilisierung des Daktylus als eine dem Leistungsvermögen der damaligen Moderne voll entsprechende Ausdrucksform könnte die streng gefügte Ordnung stören. Als Zesen sich nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in der theoretischen Reflexion und in dem detaillierten Regelbuch dem daktylischen Versmaß verschrieb, ging er ein gewisses Risiko ein, das nicht wesentlich geringer war als dasjenige, das er mit seinen orthographischen und sprachwissenschaftlichen Neuerungen auf sich genommen hatte. Zesen muss sich bewusst gewesen sein, dass das Eintreten für tänzerische Rhythmen zumindest äußerlich als ein Aufbrechen des noch von Opitz in den Vordergrund gestellten inneren Zusammenhangs von Dichtung und Religion verstanden werden konnte. Nicht nur im protestantischen Norden geißelten Prediger die »Tanzwut«. Der wortmächtige Hofkanzlist Herzog Wilhelms V. von Bayern, Aegidius Albertinus, der auch am Anfang des deutschen Picaro-Romans steht, platziert seine Verurteilung der »Tantzer« zwischen ein gleich negatives Urteil über »Musicanten«, »Panckotierer« 53

Helikon 1656, S. 182.

65 und »Schalcksnarren«. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die angeblich graziösen Bewegungen und Gebärden nichts als Afferei seien, ein menschenunwürdiges Benehmen, das dem Teufel die freie Hand lasse: Was kan […] Iiederlicher sein / als daß einer seinen Leib hin und wider bieget und sich selbst zu einem muster der eytelkeit machet? Was kan einer für ein bessers und gewissers zeichen von sich geben / daß er wenig Hirn im Kopff habe? Fürwar / nicht sehr schwer kan da sein der Kopff dessen / der seine Füß so liederlich bewöget und umbspringt wie ein Aff? Was seind die Tantzhäuser oder Tantzplätz anderst als ein theatrum / allda der Teuffel die jenige Seelen widerumb gewinnet / welcher er inn der Kirchen hatte verlohren: O grosse unsinnigkeit / wann die Frawen unnd Jungfrawen zum Tantz gehen wöllen / alsdann zieren unnd schmucken sie sich zuuor mit grossem fleiß / und alsdann wetzet der Teuffel sein Schwerdt54

In der weitverbreiteten und vielgelesenen Piazza Universale, in der sich fast zu jedem Thema eine Äußerung findet, handelt Thomas Garzoni im 45. Diskurs »Von Springern / Täntzern / und allerhand Tripudianten und Wettlauffern«: Es ist aber solches Tantzen und Lust darzu / nichts anders / als eine Anzeigung eusserster Leichtfertigkeit / Zunder zu aller Uppigkeit / Reitzung zur Unzucht / Feind der Zucht / der Schamhafftigkeit zuwider / der Erbarkeit abhold […]. Dann es werden dardurch beydes Gesicht und Gehör gereitzet / darauß entstehen unzüchtige Gedancken / welche auch in Reden und uppigen Geberden / mit einem wunderbahrlichen kischen unnd schlenckern der Füß / nach unter-schiedlichem Gethön der Instrumenten / nach uppigen und leichtfertigen Liedern: Da fähret man Jungfrawen und Weiber bey der Hand / da nimbt man Gelegenheit mit unverschämten küssen umb sich zubeissen […]. Ich halte / dieses möchte wol genug seyn / der närrischen und unsinnigen Jugend / ja wol auch uppigen alten / das Tantzen zuverleyden / darbey ich es auch bewenden lasse.55

Sicher war Zesen solche Kritik vertraut. Wie anders ließe sich sein Einwand gegen Kritiker verstehen, die »die fröligkeit des ewigen lebens« nicht mithilfe des Daktylus besingen wollen? Nach einem Hinweis auf David, der vor der Bundeslade das Lob Gottes »nicht alein mit hüpfender zungen / sondern auch mit hüpfenden geberden fröhlich im Herren« ausgedrückt habe, steht im Helikon die rhetorische Frage: »Ob dergleichen hüpfende reim=ahrten darzu untüchtig seind / und endlich zu nichts als zu leicht=färtigen und weltlichen liedern könten und müsten gebraucht werden?«56 Der ganze Passus ist mit seiner Spitze selbstverständlich gegen den ehemaligen Freund, den Wedeler Pastor und Dichter Johann Rist, gerichtet. Dieser hatte – ihn selber überraschend – die Entdeckung gemacht, dass der Takt einer Sarabande mit dem neuen daktylischen Versmaß übereinstimmt. Er hatte im 54

55

56

Aegidius Albertinus: Der Welt Thurnierplatz. München 1615 (Reprint Leipzig 1975), S. 276. Thomae Garzoni Piazza Universale: Das ist: Allgemeiner Schawplatz. Frankfurt/M. 1659, S. 519–524. Band X/2, S. 576.

66 Anschluss daran erklärt, für »himmlische Sachen« schicke sich das Metrum nicht, er jedenfalls würde es dazu nicht verwenden. Rists Argument nährt sich offenkundig von der kirchlichen Ablehnung des Tanzes: Dactylische / Anapästische und derogleichen new erfundene Verß […] gefallen mir in Beschreibung solcher und derogleichen himlischen Sachen gar nicht / in Betrachtung / eine andächtige Seele sich nicht mit hüpffen und springen / besondern vielmehr mit seufftzen und sehnen / […] zu ihrem Erlöser und dem himlischen Jerusalem sol nahen und wenden […] Lasse ich sie im Gebrauch der Buhlen- und Hirtenlieder / auch wol anderer weltlicher Sachen […] ihren billichen Werth und Rum behalten; Bey denen Himlischen aber und zu Gott steigenden Liedern / begehre ich meines theils […] mich solcher leichten Täntzer-Art nimmermehr zu gebrauchen.57

Zesen glaubte seine in daktylischen Versen gehaltene Hohe-Lied–Dichtung gegen den (vermeintlichen) Angriff verteidigen zu müssen. Es seien »Michaelsköpfe«, die erklärt hätten, »daß man gedachte färtige reim=dichterei zu geistlichen liedern/ als welche nur mit kläglicher stimme und söhnlichem hertzen müsten gesungen werden/ durchaus nicht gebrauchen könte/ weil sie nichts anders (wie sie unbesonnen fohrgeben) als eine leichte täntzer=ahrt sei.«58 Hatte Rist den Gebrauch des Daktylus eingeschränkt, darin der konservativeren Richtung folgend, hat Zesen dagegen den Tanzschritt in der Dichtung weiterentwickelt. Er überbot auch theoretisch Buchner. Am Detail werden die modernen Tendenzen von Zesens Bestrebungen sichtbar. Der Einzug des Daktylus in die deutsche Verslehre ermöglichte eine Weiterentwicklung in Richtung der »gemischten« Versarten, die bisher der antiken Dichtung vorbehalten gewesen waren. Es betrifft also ein zentrales Anliegen der auf das Uberbieten (aemulatio) der antiken Vorbilder zielenden deutschen Metrik. Auch hier sah sich die Fruchtbringende Gesellschaft genötigt, folgerichtig und unbiegsam in der Person ihres ersten Vorsitzenden, dem Neuen einen Riegel vorschieben. Als Georg Philipp Harsdörffer den dritten Teil seiner FrauenzimmerGesprächspiele einschickte (1648), musste er sich eine unwirsche Antwort von Fürst Ludwig gefallen lassen: Bey der Deutschen Poesi [ … ] der Jambischen Heldenart wird nochmals guter wolmeinung erinnert, daß keine Dactili darinnen mögen gemischet werden: In den Dactilischen und Anapestischen reimen aber mögen sie herummer hüpfen und springen wie sie können und vermögen.

Die Daktylus-Frage war zum Anlass einer Briefkontroverse geworden, beide Parteien wollten nicht lockerlassen. Dem Brief vom 14. Oktober 1643 ging eine »Kurtze Antwort« voraus, die die Sache etwas ausführlicher erklärte:

57 58

Rist: Himmlische Lieder. Das dritte Zehn. Lüneburg 1648. Fol. A vjr. Band X/2. S. 575

67 Was die Dactylos in den Jambischen reimen oder Versen betrift, verbleibet man bei der Fruchtbringenden geselschaft der Bestendigen vernünftigen meinung, daß sie da hinein nicht gehören, wan die Reime nach unserem deutschen Masse sollen volkommen und nicht anstossend sein […]. Er mag sie in einer andern art Reime, dahin sie sich schicken, nützlicher nach der Kunst, die doch der natur gemes, anwenden, dieses jambische Mas aber darmit nicht verderben oder schäden.59

Sicherheitshalber folgte hier noch ein kritisches Wort gegen Zesen, auf den Harsdörffer sich berufen hatte: »Ja Caesius kan eben so wenig aus einem fehler eine regel machen[…]«. Harsdörffer erinnert dann noch an den Unterschied zwischen dem »jambo puro, et impuro« (24. November 1643); die Antwort ist kurz und bündig: Den unterschied Zwischen einem jambo puro et impuro kan man Zwar bald mercken, das aber der letztere Zuleslich oder ohne einen fehler in jambischen Deutschen Reimen, wol und bestehen könne, daran wird nochmals sehr gezweiffelt.60

Der Nürnberger hat in seinen Briefen das Problem nicht mehr angerührt, hat jedoch im zweiten Teil seines Poetischen Trichters unbeirrt »gemischte Reimarten« vorgestellt. Die Zitate vermitteln ein Bild von dem Ernst, mit dem Fürst Ludwig das hohe Ansehen der deutschen Sprache in der Lyrik glaubte retten zu müssen. Die Formulierung »herummer hüpfen und springen« könnte nicht treffender den Grund der Ablehnung anzeigen. Auch Zesen ließ sich nicht beirren. Der Poetik-Ausgabe von 1641 gab er gar ein Buch »Von den Mustern allerley vermischter Oden und Gedichte« bei. Er wandte seinen ganzen Fleiß an solche Verse, »in welchen bald Jambische / bald Trochäische / bald Dactylische pedes mit untergemischet werden«, was »der sache bißweilen einen sonderlichen Nachdruck« gebe.61 Damit zielt Zesen nicht nur auf die Sapphische Ode; er mischt besonders gern Daktylen und Trochäen, wobei jeweils drei Einheiten entstehen, die durch eine leichte Zäsur getrennt werden: »Flinkert ihr Sterne / blinkert von ferne / daß wier uns üben / Daß wier uns letzen / föllig ergetzen / daß wier uns lieben.« Das fordert einen taktfesten Vortrag. Deshalb möchte Zesen solche und andere »Mischverse« an die Musik anbinden, »weil sie ausserhalb der singe=kunst / und wan sie mit der gesang=weise nicht vermählet und hergeklungen oder gespielet werden / (welche durch ihre zeichen anweiset / wie sie sollen gesungen und dicht=mäßig gelesen werden) nicht aller dinge wohl lauten«62 Das Paradox des »dicht=mäßigen Lesens«, wenn man doch die Melodie dabeihat, verweist auf die Funktion der Melodiesätze in den Liedsammlungen: Man hat beim Lesen den von der Musik vorgegebenen Takt im Ohr. Zesens Liedtexte wollen mit hörbarer Skansion vorgetragen werden, denn nur so kommt der pulsierende Rhythmus 59 60 61 62

Krause, Ertzschrein. S. 325. Krause, Ertzschrein. S. 329. Helicon 1641: Bd. IX, S. 40 f. Helikon 1656: Bd. X, S. 580 f.

68 der gemischten Verse zu seinem Recht. In diesem Sinn empfiehlt Zesen dem Leser, »dem dieser Art verse noch unbekannt und fremde im lesen« vorkommen, zum Beispiel in den daktylischen Versen drei Silben zusammenzunehmen, dann wieder drei, »biß der verß zum ende/ also«: »Küsse mich / Liebster mein / einiges Leben /| Küsse mich / deine Braut / eyle zu mier.«63

Der Hinweis auf die Möglichkeit solch metrisch ordnenden Zugriffs, auch wenn dieser nur ein behelfsmäßiger ist, zeigt nicht nur einen klar strukturierten Vers, sondern vor allem die Bedeutung eines taktfesten Lesens, was offensichtlich Zesens erstes Augenmerk war. Der Tanzschritt teilt sich dem Leser mit, der Schwung der Verse ist gewährleistet. Die Sapphische Ode, von Opitz noch mit Vorbehalt behandelt, wird für Zesen zum Ausgangspunkt einer Versart, die infolge ihrer Mischung von jambischen, trochäischen und daktylischen Versen rhythmisch äußerst spannungsvoll ist. Ein Blick in die Poetiken zwischen der ersten und der dritten Ausgabe des Helicon bestätigt das angestrengte Bemühen, mit den antiken Formen zu wetteifern. Opitz hatte bei der Sapphischen Ode noch die traditionelle Wendung gebracht, dass für diese »unebenen« Verse die ausgleichende Wirkung der Musik hinzukommen müsse.64 Zesen verzichtet auf solche Schutzformel, er münzt sie im Gegenteil zum Vorteil der neuen Form um. Die Pindarische Ode, die er im Helicon als Musterbeispiel bringt, ist ein »Tantz- oder reihen-lied / zwischen einem mans- und einem weibesbilde«.65 Es hat die Form, die in vielen Liedern Zesens auftaucht. Es ist ein virtuoses Spiel voller Bewegung; gesungen und getanzt, entspricht es der rhythmisch-metrischen wie der Klangstruktur: Er fähet an nach zwei steigenden oder mänlichen reimen / mit forsetzung des rechten fußes / auf der rechten seite des saales / vom morgen nach dem abende zu / singende zu tantzen; Sie aber / die unterdessen stille gestanden ist / fähet an nach 2 fallenden oder weiblichen reimen / auch fallend / d. i. mit forsetzung des linken fußes / auf der linken seite des saales / vom morgen nach dem niedergange zu / da Er indeßen auf Sie wartet / auch singende zu tantzen. Da geben sie dan einander die hände / und tantzen das gesetze mitten auf dem saale / nach rollenden Palmen= oder Dattel=reimen follend hinaus / als: ( Er) Wo ist doch meine Rosemund / die mier mein hertz macht wund?| (Sie) Schau! hier kömt sie / dier ihr leben| gantz zu geben.| (Beide) Der himmel mag stürmen / mag hitzen und blitzen /| wan unter dem schirme der liebe wier sitzen.| wier können uns lieben /| ohn alles betrüben /| dieweil uns die liebe so lieblich anblikt /| ja weil es sich alles zur fröligkeit schikt.

Darauf mag die Bezeichnung »lyrisches Ballett« zutreffen. Es ist die folgerichtige Krönung eines in Poetik und dichterischer Praxis zielstrebig ange63 64 65

Helicon 1641: Bd. IX, S. 387. Opitz, Poeterey, S. 58. Helikon 1656: Bd. X/1, S. 180 f. Vgl. S. 61 f., wo ein solches »Ballett« eingeleitet und beschrieben wird, und Rosen-mând: SW, Bd. Xl, S. 219–220.

69 steuerten metrischen Entwicklungsprozesses, der auf der Jahrhundertmitte den ersten Höhepunkt einer Erneuerung der Verskunst erreicht. Dass diese, wie am Beispiel Zesen ersichtlich, in enger Anlehnung an Musik und Tanz bewirkt wurde, unterstreicht die hohe Relevanz der Schwesterkünste fiir die deutsche Poetik. Für die Odenform hebt er eine gesteigerte Wirkung bei Anteilnahme von Musik und Tanz hervor: »… daß es ohren und augen überaus annähmlich sei/ wan dise dreierlei reim=ahrten […] mit singen/ klingen und springen vermählet/ d. i. her=gesungen/ her=geklungen oder gespielet/ und her=getantzet werden.«66 Aus dem Pro und Contra in der Geschichte des Daktylus während der wichtigen vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts erhellt, dass sich mit dem neuen Metrum kulturgeschichtlich bedeutsame Traditionen und Kursänderungen verbinden. Das Kapitel aus der Versgeschichte erhält so im größeren Zusammenhang überraschende Relevanz. Die Wende zum (Tanz-)Lied als die progressive und interessantere Entwicklung kehrt bei Philipp von Zesen schließlich wieder in den Bereich der zum Lesen bestimmten Lyrik zurück. Indem Binnenreime der daktylischen Versart ihren höchsten Reiz verleihen, zum beschwingten Rhythmus die Pracht des Klanges tritt, machen sie die Musik im Grunde überflüssig, weil die Verse selber auf dem Weg zur Musik sind. Verse wie »Was strahlet / was prahlet / was blitzen für spitzen« tendieren zur Wortmusik und drängen die semantische Ebene zurück.67 Wenn die »heldenahrt und ernsthaftigkeit« um die »verzukkerte liebligkeit und süßigkeit« bereichert wird, erreicht der Liedtext eine Eigenständigkeit, die das Lesen und das Singen als wirkliche Alternative erscheinen lässt: »dan ie mehr reim-worte darinnen zu finden seind / ie lieblicher und anmuhtiger seind sie zu hören / zu lesen / und zu singen.«68

3.2

III Rhythmus und Klang

Vom Wortklang abgesehen, war Zesen in der Hauptsache an metrischen Neuerungen interessiert, weniger an solchen der Form. Aber beim Sonett liegen die Dinge anders. Hier bietet sich eine glanzvolle italienische Tradition mit berühmten Namen an. Sie waren für Zesen ein Anreiz, es ihnen gleichzutun oder zu übertreffen, denn hier finden seine kulturpatriotischen Ambitionen Antrieb. Als erstes stellt er dem traditionellen jambischen Sonett Formen mit trochäischen und daktylischen Metren zur Seite, und zwar schon im Heli66 67

68

Helikon, SW, Bd. X/1, S. 61. Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Ebd. S. 156–181. Vgl. auch Josef Keller: Die Lyrik Philipp von Zesens. Praxis und Theorie. Bern etc. 1983. S. 75 ff. (über Metrik und Rhythmus). Helikon 1656: Bd. X/1. S. 108.

70 con von 1640. Er habe eigene Beispiel-Gedichte verwendet, »aus mangel anderer« – »als in den Dactylischen/ Trochäischen und Echonischen Sonnetten/ und andern mehr/ welche meines Behalts/ ich bey andern/ ja auch in unsers Poeten Schrifften noch nicht gesehen.« Wie aus dem Kontext erhellt, ist damit Opitz gemeint.69 Opitz hatte die Form festgelegt, die von Zesen übernommen wurde: 14 Zeilen, das Reimschema Ronsards (abba abba ccd eed). Es gibt auch andere Reimordnungen und -experimente, aber meist sind die hier beschriebenen üblich. Anders die Versart: Opitz bevorzugt den Alexandriner und Vers communs (10 oder 11 Silben, fünfhebiger Jambus, Zäsur nach der 2. Hebung), Zesen den Daktylus. Er setzt ein »Dactylisches Sonnet« in den Helicon von 1641 ein und kommentiert es: »Diese Art Sonneten möchte jemand gefallen/ darumb ich denn eines anher setzen wollen/ weil es bässer klingt als ein jambisch Sonnet/ und könte bässer ein Kling=getichte genennet werden/ als selbiges/ weil alles darinnen klinget und springet/ auch flüchtiger von der zungen leufft/ als das Jambische.«70 Weiter führt er u. a. ein trochäisches Sonett an. Zur Frage der Form des Sonetts gehört selbstverständlich die Frage, die seine innere Struktur betrifft. Üblicherweise folgte nach den beiden Vierzeilern des Anfangs, durch eine Zäsur getrennt, das Sextett, häufig mit einer Pointe in der Schlusszeile. Zesen rückt in die Helicon-Fassung von 1641 eine kurze Abhandlung ein: »Erörterung Der bißher streitigen Frage/ Ob in den Sonnetten die meinung sich je und allwege mit dem achten Verse enden/ oder ob sie sich in folgende sechs letzten Verse erstrecken solle« (Wittenberg 1641, S. 243–520).71 Er erläutert das mit dem Hinweis, »daß man sich allzeit daran nicht binden dürffe«, mit dem erklärenden Zusatz: »sonderlich weil das Sonnet nur ein Epigramma oder überschrifft seyn sol/ da es dann den Gesätzen und Regeln der Oden und Gesänge nicht unterworffen.« Sollte es aber ›in eine Melodie‹ gesungen werden, könnte man es besser in zweimal achtzeilige Strophen aufteilen, die nach Art der strophischen Lieder jeweils eine gedankliche Geschlossenheit aufweisen sollten. Sollte es solcherart gesungen werden, schlägt Zesen eine Dreiteilung vor, die »nach Art der Pindarischen Oden« gesungen werden soll, wobei die Anordnung in »Satz« und »Gegensatz« (vierzeilig) mit einem sechszeiligen »Abgesang« aufgeteilt werden müsste. Auch an diesem Punkt führt Zesen die Möglichkeit des Gesangs und der Musik an, die weder bei Opitz noch bei Buchner in Betracht gezogen wur69 70 71

SW, Bd. IX, S. 21. SW, Bd. IX, S. 67. In historischer Perspektive wird der Punkt ausführlich dargestellt von Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009. (Frühe Neuzeit, 138)

71 de. In seinem lyrischen Werk finden sich daher häufig Lieder oder es wird ein Lied erwähnt, das zur Laute gesungen wird (Rosemund!). Wenn man die Sammlungen zusammenzählt, in denen von (meist) Hamburger Musikern Zesensche Lieder mit Melodien versehen wurden, summiert sich das zu einer beträchtlichen Menge. Die Ausgabe der Sämtlichen Werke versucht die Texte zusammen mit den zugehörigen Melodiesätzen unter das Auge des Lesers zu bringen und damit einen lebendigen Eindruck von der beabsichtigten Rezeption der Lieder zu vermitteln. Sogar Geistliche Wohllust oder Hohes Lied (Amsterdam. Kristof Kunrad, 1657) wurde mit Melodiesätzen versehen. Komponist war der Hamburger Stargeiger Johann Schop. Die einzelnen Lieder sind zart gestimmt, von lieblicher Klangqualität und von heiter-ansteckender Leichtigkeit. Einige Strophen (Salomon singt) mögen diese Reize dem Leser mitteilen. Ach! Liebste/ wie kanstdu mein hertze bestrükken/ Ach! Freundin/ wie schöne/ wie schöne bistdu. Die flinkernden äugelein siehet man blikken durch deine geflammete zöpfe darzu; sie schimmern im dunkeln wie lichte karfunkeln/ und leuchten so schön wie augen der tauben/ da wahrheit und glauben/ da treue mit liebe so lieblich aufgehn. Dein lippen-roht kan ich den rosen vergleichen: dein sprechen ist lieblich und süße wie wein. granaten-mark mus auch den wängelein weichen die zwischen den haaren volführen den schein. Wie Davids turn blinkert und überaus flinkert in köstlicher zier/ mit schilden bedekket/ mit waffen bestekket; so leuchtet dein lieljen-hals eben herfür. Wie unter den rosen im ersten aus-blühen zwee liebliche junge reh-zweelinge gehn/ die sich mit einander zu schertzen bemühen; so siehet man gleichsam die brüste da stehn. Wir wollen auf-stehen/ zum mirren-strauch gehen/ weils kühle noch ist; wir wollen uns wänden zum hügel hin-länden/ auf dem man noch mirren/ noch weihrauch vermisst.72

Nicht nur ist diese Lyrik stark rhythmisch bewegt, sie ist auch lautlich von heller Klarheit und klanglicher Schönheit. 72

SW, Bd. I/2, S. 138 f., Strophen 1, 3, 4.

72 »Zu den charakteristischen Merkmalen der Lieddichtung Zesens gehört ihre musikalische Qualität, das Interesse an Klangwirkungen und rhythmischer Beweglichkeit. Für ihn besteht eine enge Verbindung zwischen Poesie, Musik und Tanz: Diese Auffassung schlägt sich auch in der metrischen Vielfalt nieder, die Zesen noch über die von Buchner betriebene Einführung des Daktylus hinaus propagierte. Neben die rhythmische Bereicherung durch Daktylen und Mischformen tritt eine entschiedene Betonung der Klangwirkung. Binnenreime, Alliterationen und Assonanzen durchziehen viele seiner Lieder«. (Meid)73 Das Meien=lied zu Ehren der Kaiserin Eleonore (1653) ist ebenfalls mit Notenstimmen versehen. Aber das Lied braucht sie eigentlich nicht, weil es selber zur Musik tendiert. Die ie-, ei- und e-Laute der 1. Strophe heben das Ganze in ätherische Höhen und lassen Leid und Freud reimen – ein wahres Klangspiel. Glimmert ihr sterne/ schimmert von ferne/ blinkert nicht trübe/ flinkert zu liebe dieser erfreulichen lieblichen zeit. Lachet ihr himmel/ machet getümmel/ regnet uns seegen/ segnet den regen/ der uns in freude verwandelt das leid. Schwitzet und tauet/ blitzet/ und schauet höhen und felder/ seen und wälder alle mit gnaden an; Kröhnet das jahr. Erde sei fröhlich/ werde nun ehlich. Singet im schatten/ springet zum gatten/ singet/ ihr vogel/ und machet ein paar. […] Da sol Sie schimmern/ da sol Sie glimmern/ ewiglich blühen/ ewiglich sprühen blitzlende strahlen/ durch Tugend entzündt; welche Sie höret/ welche Sie ehret/ ja sie so liebet/ ja sie so übet/ daß Sie das hertze des Keisers gewinnt. 73

Volker Meid, Barocklyrik. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart-Weimar 2008, S. 105. (Sammlung Metzler, 227)

73 Jugend vergehet/ Tugend bestehet; nimmermehr stirbet/ nimmer verdirbet unserer Keiserin götlicher glantz. Schwindet die höhle/ bleibet die seele; schwindet das kennen/ bleibet das nennen/ welches erlanget den ewigen kranz.74

Die Klangwerte spielen bei Zesen eine hervorragende, zusammen mit dem Rhythmus gar die vornehmste Rolle. Die motorischen und musikalischen Impulse werden mit Hilfe von verschiedenen Reimarten »in eine verzukkerte liebligkeit und süßigkeit« verwandelt, was insbesondere für Binnen- und Mittelreime gilt: »Solche verzukkerung durch die mittel=reime kan in allen lieder=reimen/ sonderlich in der Dattel= und Palmen=ahrt/ überall und zu allen zeiten stat finden; dan ie mehr reim=worte darinnen zu finden seind/ ie lieblicher und anmuhtiger seind sie zu hören/ zu lesen/ und zu singen.«75 Das angeführte Beispiel »Auf das adeliche zimmer der Dichter und Dichterinnen« (ebd.) lautet in der ersten Strophe: Was strahlet/ was prahlet/ was blitzen for spitzen in diesem für=treflichen zimmer alhier? was! sollen die Dichter so sitzen und blitzen? so gläntzen mit kräntzen der ewigen zier? ja freilich die dichter/ seind deine vernichter/ du wühtender neid: sie können dich zwingen durch schreiben und singen: sie bleiben/ du schwindest im schwinden der zeit.

Die Klangkultur der Nürnberger Dichter mag von Zesen wichtige Anregungen erhalten haben, denn ihre (besonders Harsdörffers) gleichgerichteten Bemühungen erfolgten später als die Zesens. Das gilt in erster Linie für die daktylischen und anapästischen Verse, dann selbstverständlich ebenfalls für die gemischten: Alle erfreuten sich offenbar großer Beliebtheit bei den Zeitgenossen. Der neue Vers hatte eine bisher ungeahnte Beweglichkeit und Leichtigkeit bekommen, die Klangwerte verleihen der musikalischen Bewegung einen sonderbaren Glanz. Man weiß zunächst nicht, ob der Wortsinn oder die Klangwirkung den Leser im Griff hat, wie etwa: Was flinkert und blinkert? was strahlet und prahlet so prächtig/ so mächtig/ so lieblich herfür? Ach! ist es die Sonne/ mit wonne bemahlet/

74 75

SW, Bd. I/2, S. 67 ff., Str. 1 und 2, 6 und 7 des insgesamt siebenstrophigen Liedes. Helikon 1656: SW, Bd. X/1, S. 108.

74 mehr lieblich/ als üblich/ in güldener zier? Nein. Jason bringt heute/ die güldene Beute/ von Kolchos geführt; die manchen bekümmert: die schimmert und glimmert; die ist es/ die tausend und tausend gerührt.76

Es ist von überraschender Klangvirtuosität, aber sie saugt die einzelne begriffliche Aussage in so hohem Maße auf, dass das Wort als Lautträger einen eigengesetzlichen Sinnzusammenhang repräsentieren kann.77 Renate Weber spricht hier von Lautanalogie, die, im Gegensatz zur Lautmalerei, also weit über die akustische Imitation hinaus geht. Sie verweist auf die Bedeutung der betreffenden Ausführungen im Rosen-mând. Dort werden lautmalende Wörter und Buchstaben behandelt, die einen »klang sichtbarlich entwürfen.« Hier »scheinet unsere sprache auch für allen andern was sonderliches zu haben/ und am nächsten der natur zu folgen.« Dabei kann Zesen sich mit Recht auf Schottelius berufen. Aber Zesen nennt in der Reihe seiner Beipiele auch »angst/ zittern/ leben/ loben/ buse/ ja das liebliche lieben und 1000 andere/ derer klang ihre bedeutung schohn verräht.«78 Zesen geht hier auf einen tieferen Sinn hinaus. Er spricht von Lauten als Hinweise auf »uhr-worte«, »uhr-buchstaben«, die allesamt einem kosmischen »uhr-wesen« entsprechen, das den unverfälschten Bedeutungsinhalt zu erkennen gibt. Dazu dann die Anmerkung: »Hierbei märk/ daß die stamwörter auf zweierlei art müssen betrachtet werden, erst nach der bedeutung/ und dan nach der gestalt. und so seind sie auch selbst zweierlei: die ersten weisen uns den stam und uhr-sprung der bedeutung/ und erklären/ warüm ein wort so und so heisset: die andern aber zeugen uns den stam der worte und ihren ursprung aus der gestalt, d. i. den uhrbuchstaben selbst. Diese nuhn mus man nicht vermischen.«79 Es handelt sich um ein Beziehungsnetz von gleichlautenden Wörtern, die sich also analogistisch entsprechen. Dahinter steht die Überzeugung einer metaphysisch begründeten Ordnung: die analogia entis. Diese Lautanalogie, die auf eine naturgemäße Ordnung der Sprache verweist, ist das wesentlichste Gestaltungsmittel in Zesens Liedern. Mit ihrer Hilfe, so Zesens Meinung, findet man zur »Schaffung einer der ›Natur‹ gemäßen adäquaten Ordnung des Sprachraums.«80 Indem Zesen in der Sprache analogistische Beziehungen aufdeckt beziehungsweise selber herstellt, findet er zu einem sprachlichen Ord76

77

78 79 80

Rosen- und Liljen-tahl (1670), SW, II, S. 305. »Palmenlied […] auf die Huidekoperische Koimannische Hochzeit.« Hier ist zu verweisen auf Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen 1619–1969 (wie Anm. 6). S. 156–181. Rosen-mând: SW, Bd. XI, S. 211 f., Anm. f. SW, Bd. XI, S. 216, Anm. a. Weber, S. 170.

75 nungsprinzip, das in seiner Ganzheit der Ordnung der Natur spiegelt. Das lässt sich – in gewisser Weise – nachvollziehen in den vier Strophen »An die lieb= und freund=seelige/ schöne Adelmund/ die liebliche Liebes=reitzende Liebes=meisterin«81: Wie ist es? hat liebe mein leben besessen? wie? oder befindt sie sich leiblich in mier/ o liebliches Leben. Wem sol ichs zumessen/ daß meine gebeine so zittern für Ihr. Ich gehe verirret/ verwürret und trübe/ und stehe vertüffet in lieblicher liebe. Die ächzenden lüfte/ die seufzenden winde/ die lächzende zunge/ der augen gewürr’/ das böben der glieder macht/ daß ich verschwinde/ daß ich mich in meinen gedanken verirr’. Ach! Schöne/ Sie schone der schwächlichen Seelen/ wan Sie das gebrächliche hertze wil kwelen. Ihr übliches lieblen/ o liebliches leben/ der lieblenden äugelein frölicher plitz/ macht/ daß ich verzükket herümher mus schweben/ ja/ daß ich verlüre gedanken und witz. Das liebliche singen der zitternden zungen hat mier das hertze durchdrungen/ bezwungen. Sie lieb’ ich/ Sie lob’ ich/ Ihr leb’ ich zu liebe/ Sie ehr’ ich/ Sie hör’ ich/ Ihr kehr ich mich zu: Sie machet es/ daß ich im lieben mich übe/ daß ich verschertze die hertzliche ruh. Sie schreib’ ich/ mich treib’ ich/ Ihr bleib’ ich ergeben; Sie denk’ ich/ mich kränk’ ich/ Ihr schenk’ ich mein leben.

Hier geht es nicht um einen ästhetisch-schönen Sprachbegriff, »vielmehr ist die Gleichlautung bei Zesen ein Ausdruck des analogistischen Gestaltungsprinzips, das die Schaffung eines metaphysisch begründeten Sprachordo zum Ziele hat.« Das Gleiche lässt sich im Bereich der Metaphorik bei Zesen beobachten: das Bild wird völlig entwirklicht, es repräsentiert eine Idee, meistens die Analogie von Mikro- und Makrokosmos. Gleichermaßen gehorcht der Dichter diesem Ordnungsprinzip: Seine Gestaltung ist Aufgabe und Legitimation der Dichtung zugleich.82 Das Denken in Analogien verweist auf Paracelsisch-Böhmistische beziehungsweise allgemein neuplatonisch inspirierte Vorstellungen, die damals umgingen.83

81 82 83

Jugend-Flammen, SW, Bd. I/1, S. 271 f. Weber (wie Anm. 76), S. 177. Vgl. Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin 1994, insbes. Kap. I.2: Sprachmystik, mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung. (S. 45–128.)

4.

Romankunst I

4.1

Übersetzungen

Sieht man sich die Zielsetzungen und praktischen Realisierungen der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts an, springen die Besonderheiten ins Auge. Die Mitglieder werden auf Pflege guter (»treudeutscher«) Sitten und korrekter (»reiner«) deutschen Sprache verpflichtet. Wer schreibt, widmet sich nach Kräften der »Spracharbeit«, die zum nationalen Anliegen erklärt worden war. Man leistet seinen Beitrag nicht nur mit eigenen Originalarbeiten, sondern auch mit Übersetzungen aus anderen Literaturen. Die der Romania stehen dabei hoch im Kurs, die »artverwandte« niederländische ermuntert zur Imitatio und Aemulatio. Das kennzeichnet bekanntlich die ersten Schritte deutscher Schriftsteller, Opitz allen voran. Ins Deutsche übertragen wird zunächst, gleichsam als Kraftprobe für die deutsche Zunge, Lyrik aus Italien und Frankreich und den damals fortschrittlicheren Niederlanden. Es folgen alsbald Novellen und Romane, die als interessant und vorbildlich betrachtet wurden. Muster und Vorbild war vor allem der französische Roman, er wurde in Deutschland an Übersetzungen erprobt. Es war die Geburtsstunde des ›modernen‹ deutschen Romans, der hier seinen Siegeszug begann: Die Geschichte des deutschen Romans setzt mit Übersetzungen ein.1 Auch bei Übersetzungen wurde der Beitrag zur »Spracharbeit« hervorgehoben und nicht etwa das Vergnügen an schönen und unterhaltsamen Geschichten oder gar das Interesse des Buchmarkts – das schien alles Nebensache zu sein. Philipp von Zesen empfiehlt dem angehenden Dichter das Übersetzen, damit er sich in der Muttersprache übe und sein Sprachgefühl verbessere: Erstlich mus man die besten hochdeutschen bücher […] durch und durch betrachten. […] Darnach/ wan einer zur Dichtkunst etwan geneigt und gebohren were/ kan er sich auch darinnen üben […]. Wan er dieses getahn/ und sich sotahnig ein wenig färtig im schreiben gemacht/ dan mus er auch/ eh er selbst ein gantzes werk verfasset/ für allen dingen/ ja fast nohtwendig ein oder das andere in einer fremden sprache wohl

 1

Ganz wichtig waren natürlich »Amadis« und »Astrée«, auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht. Vgl. Renate Jürgensen: Die deutschen Übersetzungen der »Astrée« des Honoré d’Urfé. Tübingen 1990.

77 und zierlich geschriebene buch zuvor übersätzen und verdeutschen/ und im verdeutschen zugleich achtung geben/ wie darinnen die spruch-reden gefüget/ die zierlichkeit und glantz der worte angebracht/ ja wie die arten zu reden/ die seiner sprache sonst nicht angebohren/ und wider ihre natur lauffen/ am füglichsten und eigendlichsten verdolmetschen. Daraus/ wan er aufmärket/ wird er den besten grif und das meiste lernen/ und nachmahls ein reiferes urteil von diesem und jenem fällen können. […] Dan darüm geschihet es […] daß man ein buch in seine mutter-sprache übersätzet.2

Es wird also ein handfestes Ziel mit dem Übersetzen verbunden, aus der Erfahrung heraus wird es dem jungen Scribenten zur Aufgabe gemacht, sich auf diese Weise zu schulen. Darin ist es ein exemplarischer Text: Pädagogische Ziele überwiegen, andere Absichten werden nicht einmal angedeutet, denn zur ernsten Sache der »Spracharbeit« gehört unverdrossenes Üben. Der Kontext ist hier von Belang, es ist die informierende Gesprächsrunde im sprachtheoretischen Rosen-mând. Die deutsche Sprache wird in dieser Schrift geheimnisvoll aufgeladen (»Wunderschacht«, »Stein der Weisen«), sakral erhöht und mit kulturell-ethnischen Elementen verbrämt. Dafür werden alle Mühen in Kauf genommen. Weitere Legitimierungen bezieht man aus der Erweiterung des Wissens, Verfeinerung der Sitten (»Höflichkeit«) und anderen nützlichen Dingen. Der Literatur wird quasi nebenbei durchaus affektive Wirkung zuerkannt, denn bei Gelegenheit der Übersetzung französischer Liebesromane wird die Wirkungsmacht auf die deutschen Gemüter angeführt, um die Arbeit zu begründen. So unterrichtet Zesen in der Vorrede zum Ibrahim Oder Des Durchleuchtigen Bassa Und Der Beständigen Isabellen Wunder-Geschichte (Amsterdam 1645) »die unüberwündlichste Deutschinne« wie folgt über den Zweck des Romans: Dan/ gesäzt/ daß sich unser Ibrahim/ mit der Isabellen in Liebes-Lust einlässet/ daß Lustinne (= Venus) bolzen drähe/ und Liebreiz (= Cupido) verschüße/ daß die anmuhtigen Holdinnen bisweilen mit unter spielen/ ja daß die Deutsche Freye/ so bishähr in allen Landen deines Reichs gleichsam räde-loos und fast verjagt gewäsen/ den Zwäk dieser ganzen Geschichte wirke; so würd doch auch keiner läugnen können/ daß sich die Vernunft an solchen lieblichen dingen wezze/ und daß man deine prächtige Helden-sprache/ die bishähr gahr verdunkelt/ unausgeübet/ und wägen so vieler stätsanhaltenden Kriege/ versäumet geblieben/ durch kein bässer Mittel/ als durch dieses/ nicht allein berühmet/ sondern auch folkömlichen machchen könne.3

Zesen leitete sein Romanschaffen mit der Übertragung von zwei großen französischen Romanen ein (die erste war Lysander und Kaliste), die beide im Amsterdamer Verlag der Elzeviers erschienen (1644 und 1645). Wenige

 2  3

Rosen-mând, Hamburg 1651. SW Bd. 11, S. 224 f. Ibrahim: SW Bd. V/1, S. 8 f. – Die »Deutsche Freye« ist die deutsche, betont sittenbewusste Liebesgöttin, im Gegensatz zur »welschen« Venus.

78 Jahre später (1647) folgte als dritte Romanübersetzung Die Afrikanische Sofonisbe.4 Während Zesen für diese Arbeiten auf den Nützlichkeitsaspekt verweist, nimmt der österreichische Adlige Johann Wilhelm von Stubenberg dagegen die Freiheit seiner adligen Lebensweise in Anspruch. Das Übersetzen von italienischen Romanen geschehe »aus ehrlicher Kurzweile/ und aus keiner Amtspflicht« und deswegen »aus Befreyung Adelicher Freyheit/ die dißorts keinen Richter erkennet.«5 Stubenberg war einer der fruchtbarsten Übersetzer seiner Zeit. Er hat französische und italienische Romane übertragen, darunter die Eromena von Giovanni Francesco Biondi (4 Teile, Nürnberg 1650–1652), Ferrante Pallavicinos Samson (Nürnberg 1657) und die Clelia der Madeleine de Scudéry (5 Teile, Nürnberg 1664). Der Vergleich mit Zesen ist interessant, denn dieser entschuldigt sich, weil er den französischen Autor (er hält den Bruder für den Verfasser) »zum Vohr- und Lähr=schreiber gebraucht«, obwohl er doch »wohl selbst was eignes hätte schreiben können«6. Stubenberg brauchte keine Entschuldigung, denn er hat sich mit Rückendeckung der Fruchtbringenden Gesellschaft ganz aufs Übersetzen verlegt und konnte das als »fruchtbare« Tätigkeit präsentieren. Übersetzungen hatten großen Anteil an der Buchproduktion des 17. Jahrhunderts. Wahrscheinlich waren sie weit zahlreicher als deutsche Originalwerke. Sieht man in literaturgeschichtlichen Darstellungen die Werklisten in dieser Sparte durch, entsteht der Eindruck einer Überfülle, von der Gerhard Dünnhaupt unter bibliographischem Aspekt einmal als »Vermessung eines Eisbergs« gesprochen hat.7 Erst ausgedehnte Bibliotheksrecherchen würden ein einigermaßen zutreffendes Bild ermöglichen. Mit durch die Übersetzertätigkeit deutscher Autoren (zu nennen sind an bekannten Namen etwa Opitz, Zesen, Harsdörffer, Moscherosch, Stubenberg) wurde eine geschmeidige deutsche Literatursprache geschaffen sowie stilbildende Erzählmuster; es wurden Themen und Motive eingeführt, die den kulturellen Nachholbedarf schon um 1650 vollauf befriedigen konnten.  4

 5

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Liebes-beschreibung Lysanders und Kalisten. (nach Daudigier), Ibrahim (nach Madeleine de Scudéry), Die Afrikanische Sofonisbe (nach Sieur de Gerzan). Sie sind neugedruckt in den Sämtlichen Werken. Zit. nach Martin Bircher: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) und sein Freundeskreis. Berlin 1968. S. 60). (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. Bd. 25) Ibrahim, S. 7 (Anfang der »Schuz-räde«) Informativ ist immer noch Hans Gerd Rötzer: Der Roman des Barock 1600–1700. München 1972. (Kommentar zu einer Epoche). Volker Meid schickt seiner Darstellung Der deutsche Barockroman (Stuttgart 1974) ein Kapitel »Ausländische Vorbilder, Übersetzungen« voraus (S. 9–29). Matthias Bauer (Der Schelmenroman. Stuttgart / Weimar 1994) hat seine Darstellung insgesamt europäisch angelegt und kann mit einer Fülle von Details aufwarten.

79 Damit hatte die deutsche Romanproduktion eminente Vorreiter gefunden: »Die Geschichte des deutschen Romans beginnt als Rezeptionsgeschichte« (Volker Meid).8 Das hatte nicht nur Folgen für die Literaturgeschichte. Die deutsche Übersetzung des Amadisromans mit ihren vielen Fortsetzungen (1569– 1595) verdrängte allmählich die bürgerliche Kultur des älteren Prosaromans, die Serienproduktion erreichte im Nürnberger Verlag von Feyerabend gar 24 Bände.9 Für die deutsche Kultur war der Amadis zunächst bedrohend, nach und nach jedoch machte er seinen Einfluss geltend.10 Nahezu klassische Bedeutung errangen John Barclays Argenis (zuerst lat. 1621), 1626 von Martin Opitz übersetzt, und Sir Philip Sydneys Arcadia (1590 und 1593), in der Übertragung durch Valentinus Theokritus Hirschberg in Deutschland verbreitet, ab 1638 folgen weitere Auflagen in der Bearbeitung von Opitz. Aus der französischen Literatur wurde eine große Anzahl von Romanen übersetzt. Madeleine de Scudéry, La Calprenède, Jean Desmarets de Saint Serlin waren auch in Deutschland populäre Autoren, denen man für die Entwicklung des deutschen Romans und für Vertrautheit mit einer modern-höfischen Kultur vieles verdankt. Ebenso verhält es sich mit italienischen Romanautoren (Stubenberg war ihr wichtigster Vermittler), wie überhaupt die italienische Literatur und Kultur (Konversationsliteratur, Hofliteratur) bedeutenden Einfluss hatte, insbesondere durch Harsdörffer. Ausländische Schäferromane waren sehr beliebt, sie eröffneten eine neue seelische Welt und appellierten an emfindsame Gefühle. Sie fanden in deutscher Bearbeitung raschen Absatz und wurden oft nachgeahmt: Loredanos Dianea oder Rätselgedicht wurde von Dietrich von dem Werder übertragen (1644), Montemayors Diana (Teile I–III 1646 von Harsdörffer übersetzt), Honoré d’Urfés Astrée (1607–27, Teile I–IV unter dem Titel Von der Lieb Astreae vnd Celadonis in deutscher Übersetzung verbreitet (1619–39).11 Das moderne Liebeskonzept ist in Deutschland der Wirkung von d’Urfé zuzuschreiben. Es muss revolutionäre Bedeutung gehabt haben, es hat nicht umsonst heftige ethische Bedenken auf den Plan gerufen. Der Schelmenroman in Deutschland (neben Grimmelshausen haben sich viele Autoren  8  9

10

11

Meid 1974, S. 10. Hilkert Weddige: Die »Historien vom Amadis auss Franckreich.« Dokumentarische Grundlegung zur Entstehung und Rezeption. Wiesbaden 1975. (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. Bd. II.) Walter Ernst Schäfer: »Hinweg nun Amadis und Deinesgleichen Grillen.« Die Polemik gegen den Roman im 17. Jahrhundert. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 15 (1965), S. 366–384; Ulrich Maché: Die Überwindung des Amadisromans durch Andreas Heinrich Bucholtz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 542–559. Renate Jürgensen: Die deutschen Übersetzungen der »Astrée« des Honoré d’Urfé. (s. o.)

80 der Gattung angenommen) ist ohne die spanischen Vorbilder nicht denkbar,12 allbekannt ist die Vermittlung von Guzman durch Aegidius Albertinus: Der Landstörtzer Gusman von Alfarche oder Picaro genannt (1615).13 Der französische ›roman comique‹ hatte große Wirkung auf die Literatur neben und nach Grimmelshausen: Charles Sorels Histoire comique de Francion (1623, in zwei verschiedenen deutschen Übersetzungen 1662 und 1668 erschienen) und die Autoren Scarron und Furetière haben auf die Romanschöpfungen Johann Beers u. a. gewirkt und der Literatur dieser Machart bis ins 18. Jahrhundert hinein vielfache Anregung gebracht. Es braucht nicht eigens gesagt zu werden, dass die Übersetzungsliteratur in ihrer kultur- und sprachbildenden Kraft von relevanter Bedeutung für das sprachlich-kulturelle Selbstbewusstsein gewesen ist. Es hat sich auch in diesem Sinn artikuliert, wie aus folgendem Beispiel bei Georg Philipp Harsdörffer hervorgeht: »Gegenwärtige zwey ersten Theile von der schönen Diana/ haben die Frantzosen und Italiäner so hochgeachtet/ daß sie selbe in ihre Sprachen / und der Wol-Edle/ Gestrenge unnd Hochgelehrte Herr Gasbar Bart den dritten Theil in Latein übersetzet; wiewol andere Sprachen die Reimarten nicht so glücklich nachkünsteln wie wir Teutsche.«14 Der im Zitat sich äußernde Sprachnationalismus mit seinen üblichen kultur-ethnischen, ethisch-moralischen, politischen und anthropologischen Überblendungen zeugt von einem (behaupteten) Identitätsgefühl deutscher ›Volksgemeinschaft‹, das auch zu Abwertungen des »Welschen« führen kann.15 Französische Liebesromane erregten regelmäßig den Zorn deutscher Moralkritiker, was aber eher ihre Beliebtheit und Verbreitung belegt. Sie wirkten nachhaltig auf Anlage und Motivik deutscher Romane, sei es auch nicht selten in Form adaptierenden Umarbeitens. Die »Wollust aus Paris« trat in Opposition zur altdeutschen Tugend.16 Hinzu kommen Beiträge, die die neuen Bildungsideale, Lebensführungskonzepte und Verhaltensformen der Romania (vor allem aus Frankreich) 12

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Vgl. Hans Gerd Rötzer: Picaro – Landstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland. Darmstadt 1972. (Impulde der Forschung, 4). Grundlegend zu Albertinus Guillaume van Gemert: Die Werke des Aegidius Albertinus (1560–1620). Ein Beitrag zur Erforschung des deutschsprachigen Schrifttums der katholischen Reformbewegung in Bayern um 1600 und ihrer Quellen. Amsterdam 1979. Diana, von H. J. De Monte-Major. […] Mit reinteutschen Red- wie auch neu-üblichen Reim-arten ausgezieret. Durch G. P. H. Nürnberg 1646. Reprint Darmstadt 1970, S. 233 (Anhang). Andreas Gardt: Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historischsystematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen. In: Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Hg. von Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr, Thorsten Roelcke. Berlin / New York 1999, S. 89–113. (Studia Germanica, 54) Ferdinand van Ingen: Französische Gefühlskultur und deutscher Roman im XVII. Jahrhundert. In: Etudes Germaniques 27 (1982, Nr. 2), S. 113–134.

81 vermittelten. Sie sind mit den Oberbegriffen Konversation, Kommunikation, Geselligkeit und Höflichkeit zu bestimmen und finden ihren deutlichsten Ausdruck im gesellschaftlichen Ideal des »gentilhomme«.17 Politische Verhaltensregeln verfassten Antonio de Guevara, Baldassare Castiglione, Nicolas Faret – Harsdörffer übersetzte 1655 Farets L’Honneste-Homme. Auch in romantechnischer Hinsicht, in Struktur und Stil, verdankt der neue deutsche Roman, der nicht mehr mit Rittergeschichten, sondern mit Menschen in ihrem Glück und Leid die Aufmerksamkeit der Leser zu fesseln sucht, den fremden Mustern viel. Für ihn ist der ausländische Roman, vor allen Dingen der französische, vorbildlich geworden. Dieser ging wiederum auf den spätgriechischen zurück. Namentlich die hellenistische Aithiopika in 10 Büchern des Heliodoros (3. Jh. n. Chr.) bestimmte die Struktur der französischen Romane: die medias-in-res–Technik, das (meist königliche) Liebespaar, das, durch unzählige Abenteuer getrennt (Stürme, Schiffbrüche, Verschleppung durch Piraten etc.), dank ihrer Beständigkeit zusammengeführt wird, opernhafter Schluss. Die humanistische Ausgabe (Basel 1543) der Abenteuer von Theagenes und Charikleia fand alsbald Aufnahme und Nachahmung in Frankreich.18 Heliodor galt für die französischen Romanautoren als »Vollender, Großmeister, Übervater« (Florian Gelzer), wozu bemerkt werden muss, dass nicht einfach in Weiterentwicklungen an den griechischen Roman angeknüpft wurde, sondern die Grundidee, die Konzeption eines »reformierten hellenistischen Romans« als Ergebnis der Anregung und Anlehnung die Folge »einer sorgfältig konstruierten Neubegründung« darstellt. Die französische Übersetzung der Aithiopika besorgte Jacques Amyot, der spätere Bischof von Auxerre. Es ist von weitreichender Bedeutung, dass Amyot die Kategorie der vraisemblance als eine Mischung aus ›wahr‹ und ›falsch‹ verstand, die auch ohne Referenz der historischen Wirklichkeit eine ästhetisch befriedigende Wirkung zeigte. Die gefühlvolle Charakterzeichnung, vor allem aber der kunstreich verschlungene Aufbau bestimmten den neueren Roman19 – die-

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Maurice Magendie: La Politesse Mondaine et les théories d’honnêteté, en France, au XVIIe siècle de 1600 à 1660. Paris 1925. Speziell für die Literatur: Guillaume van Gemert: Fremsprachige Literatur. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München / Wien 1999, S. 286–299. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 2) Originaltitel: Heliodori Historiae Aethiopicae libri decem, nunquam in lucem editi. Die Vorrede ist von Vincentius Obsopoeus unterzeichnet. Für die wichtige Rolle der »Aithiopika« in der französischen Diskussion s. George Molinié: Du roman grec au roman baroque. Toulouse-LeMirail 1982; Brigitte Winklehner: Legitimationsprobleme einer Gattung. Zur Romandiskussion des 17. Jahrhunderts in Frankreich. Tübingen 1989. Das Hauptwerk des griechischen Romans, die »Athiopischen Geschichten«, erschien in deutscher Übersetzung von Johannes Zschorn (aus dem Elsass) zwischen 1559 und 1624 siebenmal. Vgl. E. Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig 3. Aufl. 1914, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 453–498.

82 ser hat über französische Vermittlung wiederum bestimmend auf Zesen gewirkt.20 Hier muss der knappe Überblick abgebrochen werden. Die wenigen groben Querschnitte dürften die neuen Romankonzepte in ihren Haupttendenzen wenigstens so weit erschlossen haben, dass ihr kulturstiftendes Potential in Umrissen anthropologisch fundiert erscheint. Denn die Abwendung von den alten Rittergeschichten zeitigt im neuen Roman nach griechischem Vorbild ein vollgültiges Menschenbild, das sich durch das Tugendmodell der Beständigkeit (constantia) im Liebesverhalten und durch edle »tendresse« als gesellschaftliche Umpolung ausweist. Das Umfeld von Zesens Romanübersetzungen und seines Romans der Adriatischen Rosemund mag in dieser Skizze ihre notwendigen Konturen gewonnen haben. Zesen trat zunächst als Übersetzer der Liebes=beschreibung Lysanders und Kalisten (Amsterdam 1644) hervor (ob aus eigener Initiative oder im Auftrag des Verlags, ist unbekannt). Das französische Original von Vital d’Audiguiers (Histoire trage-comique de nostre temps sous les noms de Lysandre et de Caliste, Paris 1616) gehörte zu den beliebtesten Romanen in Frankreich (bis 1750 29 Mal gedruckt!), und so lag eine Übertragung auf der Hand. Es ist selbstverständlich auch von Belang, dass hier die Handlung nicht in die Antike verlegt wurde, sondern in der Gegenwart spielt. Es war im Übrigen wegen des glücklichen Endes eine »histoire trage-comique« (entsprechend der Titel der Leidener Ausgabe von 1644: »Die Traurige jedoch Frölich-Außgehende Historia« …). Zesen spricht in der Widmung an die »überirdische Rosemund« von zwei Übersetzern; es ist wahrscheinlich, dass der zweite der 1644 in die Deutschgesinnete Genossenschaft aufgenommene Gottfried Hegenitz war.21 In der genannten Widmung geht Zesen u. a. auf die Fiktionalität (»Unwahrheit«) der Romangeschichte ein: Es möchte vielleicht meine Schöne einwärffen/ daß Sie beyde ertichtete Nahmen führeten/ daß die Erzählung ihrer Begäbnüsse nuhr ticht-werk/ und keinen Schein der wahrheit hätte! Ich mus bekännen/ daß Sie ihre Nahmen beyde verändert/ daß ihre Geschichte der unwahrheit ähnlich scheinen/ und daß Sie däshalben wohl uhrsache nähmen könte/ Sie/ als lügenhaftige/ aus zu stoßen. Aber gleichwol wird niemand

20

21

Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zur Theorie und Technik des barocken Romans. Diss. Göttingen 1955 (masch.). Vgl. auch: Hans Will: Zesen – Scudéry. Eine Parallele. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 80 (1925), Bd. 148, S. 12–17; Heinrich Reinacher: Studien zur Übersetzungstechnik im deutschen Literaturbarock. Madeleine de Scudéry und Philipp von Zesen. Diss. Freiburg i. Ue. 1937. Es sei vor allem hingewiesen auf Florian Gelzer: Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen und Dieter Martin. 2008, S. 119–139. Vgl. Herbert Blume: Sören Terkelsen, Philipp von Zesen, Gottfried Hegenitz und Konrad von Höfeln. In: Daphnis 2 (1973), S. 54 ff., bes. 58–63.

83 verneinen/ daß sie die wahrheit ihrer Geschichte beydes durch ihren verställten Nahmen/ als auch wunder=liebliche verschönerung/ verdunkeln wollen […].22

So versucht Zesen den (vorausgesetzten) Vorwurf zu entkräften. Er sagt einige Zeilen weiter, dass »diese Begäbnüs der Kaliste/ welche Sie meiner Schönen in solcher verdäkten erzählung zu verstehen giebet/ sich zur zeit Heinrichs des vierden dieses Nahmens/ Königes in Frankreich/ ohngefähr im 1606/ und 1607 jahren in= oder ausserhalb der Stadt Paries zugetragen.« Nimmt sie [die »Schöne«] mit dieser Erklärung vorlieb, werde sie Kalistes Geschichte und »ihrer hertz=entzükkenden unterredung genüßen.« Unterschrieben ist die Widmung: »der Blaue Ritter.« Das ist im Zusammenhang mit Rosemund nicht unwichtig. Die Übersetzung war ein glatter Erfolg. Nach der Erstausgabe 1644 erschien sie in Leiden 1644 (bei Jacob Marci, mit Inhaltsangaben der einzelnen Bücher), Amsterdam 1650 (Elzevier), Amsterdam 1670 in einer zweisprachigen Ausgabe (Jan van Ravesteyn), Frankfur t /Leipzig 1703 (Chr. Liebezeit). Die zweite Übersetzungsarbeit ist Ibrahims oder Des Durchleuchtigen Bassa und Der beständigen Isabellen/ Wunder=Geschichte (Amsterdam, Elzevier 1645). Das Original verfasste Madeleine de Scudéry: Ibrahim ou l’Illustre Bassa. (1641) Florian Gelzer hat auf die Bedeutung der von George Scudéry verfassten Vorrede hingewiesen. Sie gehöre zu »den wichtigsten romantheoretischen Abhandlungen des siebzehnten Jahrhunderts.« Scudéry stellte den Roman ebenbürtig neben das Epos (was für seine Bewertung äußerst wichtig war!) und trat ferner für die Einheit der Handlung ein, wodurch die zahlreichen Episoden sich »der einen Haupthandlung unterordnen lassen« sollten, und schließlich sollte die Handlung nicht mehr als ein Jahr umfassen und die Liebeshandlung nicht an der Lebenswirklichkeit gemessen werden. Damit war das Hauptanliegen des Romanautors also auf die dispositio, auf Anordnung und Aufbau der Romans gerichtet. Zesen hat seine Arbeit der Fruchtbringenden Gesellschaft gewidmet, in einem Medaillon versinnbildlicht durch einen üppig blühenden Palmbaum, an dem eine Harfe hängt, umgeben von neun musizierenden Damen, wohl die Musenschar. Die Widmungsschrift ist unterschrieben: Utrecht, den 1. Dezember 1644. Es folgt die ausführliche »Schuz=räde An die unüberwündlichste Deutschinne.« Darin geht Zesen auf die alten Deutschen ein, die tapfer Kriege geführt hätten, auch in den Künsten und Wissenschaften wohl versiert gewesen seien, aber sonst von Liebesgeschichten keine Ahnung gehabt hätten: Dehr gestalt/ daß keiner gefunden ward/ keiner/ sag’ ich/ dehr sich von Liebes=händlen/ Buhlereyen/ oder andern dehrgleichen weich= und weiblichen Sachchen zu schreiben bemühete; so gahr waar ihre Gebuhrts=ahrt davon abgeneuget/ daß sie es auch 22

SW Bd. IV/1, S. 5 f.

84 führ eine schande hielten/ ihren wält=beruhffenen Nahmen und ernsthaftigen Wohlstand mit dehrgleichen lüderlichen Dingen zu befläkken.23

Daran schließt sich der oben angeführte Passus über die Deutsche Freie an, der nun – nachdem das von Opitz entliehene Zitat von der Liebe als »Wetzstein der Vernunft« gefallen ist (»daß sich die Vernunft an solchen lieblichen dingen wezze«) –folgendermaßen fortgeführt wird: Dan es ist einmahl gewüs/ daß uns die überirdische Rosemund/ die Adriatische Mänsch=Göttin/ durch ihre sühsse verzükkungen oftermahls solche sün=reiche Gedanken erwäkket/ daß wier auch in verfassung dehrselben uns selbst an zierlichen Räden und ahrtigen Erfündungen überträffen.

Es werden der »hooch=flügende Opitz« erwähnt und der »Götliche und Himmels=flammende Flämming«, die zu Ehren der deutschen Sprache von der Liebe geschrieben hätten – »Wehr wolte mich dan nuhn verdänken/ wan ich solchen großen Männern naachfolge/ und nicht allein dieses/ sondern auch noch viel ein anderes von der Liebe geschrieben! Wehr wül mier dieses verargen/ wan ich in Des von Schudery liebliche Fuhsstapfen trähte/ und sein ahrtiges Wärk nicht allein mit Lust läse/ sondern auch mit Begier verdeutsche!« Hätte er, Zesen, daran nicht soviel Gefallen gefunden, »nimmermehr hätt’ ich seinen Ibrahim unsern Deutschen Helden in ihrer Sprache führ zu ställen gewürdiget. Diß einige Buhch (iedoch dem unstärblichen Geiste des Hern von Urfe nichts benommen) unter den Liebes=geschichten ist es/ damit Frankreich mit rächt prangen mahg.« Nach solch überzeugendem Pathos ist es an der Zeit, den Ibrahim von der üblichen lächerlichen und liederlichen Romangeschichtchen abzuheben und in Stil und Gehalt zu loben. Dan wehr wül der übrigen aufgeschwölleten/ hooch-trabenden Räden/ die fast wider alle Gesäzze der Schrift=verfassung lauffen/ einiges Lob gäben? wehr wül die=jenigen/ die mit handgreiflichen Lügen an stat der Wahrheit ähnlichen Räden/ erfüllet/ nuhr zu läsen/ ich schweige über zu tragen/ würdig schäzzen? Sie können den Sturm errägen wan sie wollen/ sie träumen/ ich wül nicht sagen/ räden/ von Schif=brüchchen/ wan es ihnen beliebt: kurz/ an stat der Wunder gäben sie uns Misgebuhrten zu läsen.

Mit diesen klaren Worten lehnt Zesen die landläufigen Werkchen der Franzosen ab und hebt den Ibrahim und seinen [!] Verfasser in den Himmel, lädt schließlich seine Leserinnen ein, sich durch die Lektüre erfreuen zu lassen: Trit härführ mit deinen Mänsch=Göttinnen/ du rädliche Deutschinne/ trit härführ/ und schaue unsere beyden Helden=bilder mit Gnaden an. Ihr dörffet euch nicht besorgen […] daß Euch etwan unser Uhr=schreiber durch ein unwahrhaftiges Lob wärde beschähmt machchen. […] wie sonsten Franzinne/ wan sie etwan in einen Garten geführet würd/ von ihren Lob=tichtern gewohnet ist; daß führ euren Lippen die Rosen/ führ euren Wangen die Tausenschönen/ führ eurem Halse die Lilien/ führ eurer Brust

23

SW Bd. V/1, S. 8.

85 die Narzissen verblassen/ ja Sonn’ und Mahnd sich selbst führ euren Augen verfünstern sollen.

Zesen kennt sich in der welschen Komplimentierkunst aus und beruhigt seine Leserinnen im Voraus. Das ist eben seine Art der Empfehlung, denn die Gattung Roman bedurfte um diese Zeit für ein deutsches Publikum noch einer Vorrede, die alles Unehrenhafte und gefährlich Verlockende aus dem Weg räumen und die Bahn für die »tugend-eifrigen Jungfern« frei machen sollte. Auch für den Stil enthält die Vorrede übrigens noch einen wichtigen Hinweis: Zesen habe hier die »langen Geträkk’ und Geschläppe der Räde« in der Nachfolge der Verfasserin vermieden. Das sollte Folgen haben für sein eigenes Romanschaffen. Und dann, selbstverständlich, ist die Rede von der deutschen Sprache. Zesen verlacht diejenigen Deutschen, die meinen, ihre Sprache wäre ohne Lehnwörter aus dem Griechischen und Lateinischen nur arm – »so gedänken sie […] daß sie den Hafen zum Helikon gefunden/ und alles wohl ausgerichtet haben.« Dem sei aber nicht im Entferntesten der Fall: Was gedänkestu aber/ liebe Deutschinne? Schaue doch! diß schreibet dein eigner untertahner/ dein Reichs=kind wil es bezeugen/ und beschuldiget deine unter allen andern izt üblichen folkomneste/ reicheste und führträflichste Helden=sprache/ solch=einer schmählichen Armuht/ als niemahls kein Aus=länder getahn. Das heisst ja wohl zu Schiffe naach dem Parnas gefahren […] und niemahls angelanget! […] Der guhte Mänsch vermeinet/ man müsse die schönen alten deutschen wörter […] ganz entärben/ und die ausheimischen/ die sich nunmehr so fräfendlich in der rechten Erben ställe eingeschlichchen/ in follem Besiz laßen. (V/1, S. 16)

Man bemerkt leicht, dass Zesen hier sein Steckenpferd reitet, und wundert sich denn auch nicht, dass dann ebenfalls die Schreibrichtigkeit zur Sprache gebracht wird, und zwar in aller Ausführlichkeit. Hier sei nur knapp Folgendes angeführt: »Ich mus mich wundern/ daß unsere Deutschen/ die sich doch rühmen/ daß sie ihre Mutter=sprache so schreiben/ wie sie aus=gesprochchen würd/ ihrer Schreib=richtigkeit nicht eher verholfen.«24 So geht es noch eine Weile fort – man kennt das Thema, das für Zesen von immenser Bedeutung war. Das national-patriotische Anliegen der Übersetzungsarbeiten setzt sich mit Beginn des dritten Teils fort. Es fängt mit einer Widmung an die »Deutsch=gesünnete Der groos=mächtigsten Deutschinnen zu Lob’ und Ruhm gestifteten Genossenschaft« an – es sind »Schränk=Reime«, die den Ruhm der Sprache gelten (V/2, S. 635, Z. 25 ff.): […] Der Ruhf gäht vohr mit schalle/ und säzt sie oben=an/ als eine die noch rein von Vieren übrig ist: als eine die noch pranget in ihrer eignen Zier/ die prächtig/ rein und scharf/ 24

SW Bd. V/1, S. 17/18.

86 und mänlich nuhr allein; die bis zum Himmel langet/ und nichts (O welch ein Ruhm!) von Fremden borgen darf. Fahrt also träulich fort/ ihr ädlen Mitgenossen/ zu rätten ihren Ruhm/ zu läutern ihre Zier/ Erzeuget Euch/ als die aus Deutschem Bluht’ entsprossen/ und seyd nicht träg und las/ so wärdt ihr führ und führ mit Rosen seyn bekränzt. Ich wül mich färtig zeugen/ so lange Seel’ und Geist die Lunge räge macht; Ich wil das meine tuhn/ und euer Lob nicht schweigen; So lang die Rose blüht/ so lang die Sonne wacht/ sol blühen euer Lob. Indäs laßt Euch vergnügen mit diesem Mark der Träu/ das als ein ehrstes Pfand aus Deutschem Herzen schänkt (so viel als sein Vermügen und leichtes Pfund vermaag) mit Herze/ Mund und Hand.

Unterschrieben sind die Reimzeilen mit Zesens Zunftnamen: »Der Färtige.« Die Verbindung mit der Genossenschaft ist dadurch unmissverständlich bezeichnet, aber sie wird noch zusätzlich geknüpft in dem Widmungsgedicht zum ersten Teil, das Der Samlende (Jürgen Conrad Osthof) beigesteuert hat: »Dem ädlen/ fästen und hoochgelährten Hern/ unserer Deutsch=gesünneten Genossenschaft zur Zeit Erz=schrein=haltern/ Dem Färtigen.« Es redet die Deutschen Helden an – »Komt hähr und schauet an/ wie eure Sprache prangt/| Von dehr Französisch/ Wälsch/ und Aenglisch hat erlangt/| Die Wurzel und den Stam: diß Buuch bringt Euch zu rächte;| Und zeugt durch Richtigkeit im schreiben dein Geschlächte/| Du ädle Sprache du; du lagest in der nacht/| Bis nuhn der Färtige (das noch kein Mänsch bedacht)| Dein’ Ankunft bringt ans Licht[…].«25 Womit wir dann wieder beim Thema wären. Die dritte Romanübersetzung ist Die Afrikanische Sofonisbe, nach der Histoire Afriquaine de Cléomède et de Sophonisbe des François du Soucy, Sieur de Gerzan (Paris 1628). Das Buch wurde 1647 in Amsterdam gedruckt, ist aber wahrscheinlich schon älter, wenn wir die knappe Notiz an den Leser ernst nehmen wollen: »Was ich vor etlichen zeiten zur erlärnung der französischen sprache aus derselben in unseres hoch=deutsch überbracht habe/ dasselbe laß ich izund […] vor deine augen gelangen.«26 Eine zweite Auflage erschien noch 1674 in Frankfurt. In dem Widmungsgedicht an die Deutschgesinnete Genossenschaft erläutert Zesen das abgebildete Signum der Gesellschaft, ein Rosenstrauch mit drei Rosen. Daraus seien hier einige Verszeilen zitiert, die, zunächst durch eine Anapher verbunden, sowohl der Rosen wie der Dornen gedenken: […] Dan eine rose gilt so vihl als alle zihr/ die eine staude führet; 25 26

SW Bd. V/1, S. 23. SW Bd. VI, S. 7.

87 so vihl als aller schmuk/ den eine blume trägt: Sie ist die Keiserin/ die alle gärte zihret: sie ist die Königin der schönheit/ die sie hägt. sie ist des Westens braut/ und angenähmer becher: sie ist der erden glanz/ der sträucher schönste zihr/ der kräuter höchster schmuk; die als ein ädler recher/ der zugedachten schmach mit stacheln führ und führ den feind zurükke hält. Die dihnt zu eurem bilde/ ihr deutsch=gesinn’ten ihr; die wird durch einen strahl der sonnen aufgemacht im stärbe-blauen schilde/ da eine schon geföllt/ die ander’ an der zahl in etwas aufgetahn/ die dritte noch geschlossen/ an einem stokke stehn. Das sol ein bildnüs sein/ das euch recht bildet für/ ihr ädlen mit-genossen/ den zu-wachs eurer kunst. […]27

4.2.

Adriatische Rosemund

Es handelt sich, wie Leo Cholevius das Buch kurz charakterisiert, um einen ›modernen‹ Roman: »ein durch sittliche und religiöse Motive gehobener Liebesroman.« Er kann aber dem Originalverfasser wegen der Struktur kein Verständnis entgegenbringen. Das folgende Zitat zeigt, wie wenig das 19. Jahrhundert der Barockepoche aufgeschlossen war: Die Häufung der retardirenden Motive muß uns jedoch zuletzt wohl unwillig machen sowohl über das Schicksal, welches die armen Verfolgten gar nicht zur Ruhe kommen läßt, wie über den Dichter, der die Auflösung bis zur Ermüdung hinhält. Haben sich endlich zwei Personen nach langem Suchen zusammengefunden und die eine verläßt den Zufluchtsort, etwa um für Lebensmittel zu sorgen oder die Gegend auszuspähen, so kann man mit Sicherheit annehmen, daß sie bei ihrer Rückkehr die andere nicht mehr antrifft, sondern daß diese schon wieder durch einen bösen Zufall in eine neue Gefahr verstrickt ist.28

Für den Zesenschen Prosastil gelte: »Alles ist klar und hat einen leichten Fluß.« Das stimmt zu Zesens Bemühen um einen klaren Prosastil, worauf Volker Meid in seiner Dissertation mit Verweis auf Beispiele hingewiesen hat. Im Rosen=mând wird ausführlich gesprochen über einen guten deutschen Stil (»Gespräche. Wie man zur rechten zierligkeit der hochdeutschen rede gelangen sol«).29 Es müsse, bemerkt Mahrhold, jemand, »der nicht für diesen zeitblick allein/ darinnen er schreibet/ sondern für die lange ewigkeit schreiben wil«, sich ordentlich anstrengen, ja wenn wir nicht »tag und 27 28

29

S. 9 f. Leo Cholevius: Die bedeutendsten deutschen Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1866. Darmstadt 1965, S. 32. SW Bd. XI, S. 221 ff.

88 nacht mit höchstem eifer alles durchschnüffelten und durchgrübelten/ [würden wir] nimmermehr zur rechten folkommenheit gelangen.« Ich selber, gesteht Mahrhold, erkenne manchmal nicht wieder, was ich vor einem Jahr geschrieben habe, »weil ich zwischen jener zeit und diesem itzund durch fleissiges nachforschen und nachsinnen/ ja ausüben meiner muttersprache […] von tage zu tage/ näher und näher/ nach der folkommenheit zu gelanget bin/ und itzund viel schärfer sehe/ als ich dazumahl getahn; ja mich höchlich verwundere/ daß ich für einem jahre so tum und so blind gewesen/ daß ich dieser unfolkommenheit dazumahl nicht auch/ wie itzund/ verhelfen können.« Darum sind diejenigen, die sich einbilden, ihr Geschriebenes, »das sie nicht in einer reinen hitze/ sondern in einem dampfichten braddel ihrer fürwitzigen jugend/ geschrieben« haben, sei vollkomen, nur dumm zu nennen. Wenn einer die besten Bücher im Deutschen gelesen hat und »durch und durch betrachte[t]«, »dan mus er […] / eh er selbst ein gantzes werk verfasset/ für allen dingen/ ja fast nohtwendig ein oder das andere in einer fremden sprache wohl und zierlich geschriebene buch zuvor übersätzen und verdeutschen/ und im verdeutschen zugleich achtung geben/ wie darinnen die spruch-reden gefüget/ die zierligkeit und glantz der worte angebracht/ ja wie die arten zu reden/ die seiner sprache sonst nicht angebohren […] am füglichsten und eigendlichsten zu verdolmetschen. daraus […] wird er den besten grif und das meiste lernen.« Dann folgt ein Satz, der im Grunde Zesens eigenes ›Lehrprogramm‹ wiedergibt: »Sonderlich aber schikken sich hierzu die Französischen bücher am allerbesten: weil diese zwei sprachen […] eine nahe verwandschaft und ähnligkeit in den ahrten zu reden untereinander haben.«30 Im Verlauf des Gesprächs kommt die Rede darauf, dass auch die besten Dichter doch nur Menschen seien und folglich fehlbar. Da der Mensch eben »kein Got gewesen«, bedeutet »daß er auch nichts folkomnes schaffen können.« Man sollte hier bescheiden sein, denn »also wil man itzund Opitzen in der Dichterei fast gantz für einen Gott aufwerfen/ als wan er alles gefunden/ was dazu gehörete/ und was die Dicht-mutter in unserer sprache verborgen. O weit gefehlet.« (228 f.) Zesen macht sich also seine Schreiberfahrungen in der Prosa zunutze und hat sie auch für seine theoretischen Ausführungen weidlich ausgenutzt. Er ist in den Übersetzungen der französischen Romane31 auf dem Wege zu einem lakonischen Stil, er bevorzugt immer deutlicher syntaktische Kürze (komplizierte Sätze werden sorgfältig »zerhackt«) und Übersichtlichkeit. 30 31

S. 225. Wie Zesen das versteht, ist unklar. Da es keine Originalwerke sind, wird für den Inhalt verwiesen auf Hans Körnchen: Zesens Romane. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 17. Jahrhundert. Berlin 1912 (Palaestra CXV). Repr.1967 (Johnson Reprint Corporation). Lysander und Kaliste, 17 ff.; Ibrahim, 38 ff.; Sofonisbe, 52 ff. Die Adriatische Rosemund wird hier S. 64–103 behandelt.

89 Das hat er wiederholt ausgesprochen,32 es kommt jedoch besser als in der Sofonisbe in anderen Romanen zum Ausdruck. Hier sei aus dem Rosemund–Roman der Passus angeführt, der bei Meid als Beispiel figuriert. Die Pariserinnen sind von Markhold hingerissen: Si libelten ihm mit zitternder und halb=lisplender stimme; si begähreten seiner kundschaft und seines gesprähches; si erzeugten ihm die höchsten ehren=dihnste; doch konten ihn dise Schönen mit so vihl tausend=künstlerischen libes=reizungen nicht bewägen. Dan Rosemund wahr sein einiges Al; Rosemund wahr sein einiger trohst; und ihr gedächtnüs wahr sein lahbsahl.33

Indessen findet sich in Ritterholds von Blauen Adriatischer Rosemund (Amsterdam 1645) der lakonische Stil neben dem üblichen Periodenstil mit seinen syntaktischen Unterordnungen. Auch sind interessante Beispiele zum Tempuswechsel und Apostrophe zu verzeichnen, allesamt Mittel, die Erzählung lebhaft zu gestalten und sie den Leser gleichsam als Augenzeugen mit erleben zu lassen. Als z. B. Rosemund ein Brief Markholds abhanden gekommen ist, erschrickt sie und droht ohnmächtig zu werden: Da stähet sie verstummet/ anfangs für schahm und unwüllen erröhtet/ nahchmahls verblasset/ wi eine rose/ di auch im anfang roht/ härnach blas/ und ändlich gahr verwälket dahin fället. Kom Markhold deiner Schönen zu hülffe; kom und tröhste si; labe si und stärke si; dan si liget in ohnmacht/ si vergähet wi eine rose/ di der Nord bestürmet ; wi di Sonne/ wan es nachtet. ach! schaue di arme! wi si kaum noch ein wenig röchchelt! nichts läbet mehr an ihr als das härze/ welches unaufhöhrlich klopffet und puffet/ dässen kraft und würkung auch der Schlahg unter der linken hand entfündet/ dehn es fohr libe mit solcher ungestühmigkeit schlagen machchet. Aber Markhold ist alzu weit entfärnet; drüm kom du/ o lihb=sälige Adelmund; trit aus mitleiden härzu/ und rätte deine Freundin/ eile zu hälfen/ Du hast hohe zeit. […] stärke ihren geist mit kraft-wasser/ daß er sich wider erhohle; nüm den schlahg-balsam und bestreiche dijenige/ di das läben deines Fräundes fristen sol.34

Der Effekt stellt sich bald ein – »Als sich nuhn Rosemund durch hülfe ihrer Fräundin algemach wider zu besünnen begunte …« (ebd.). Der Tempuswechsel zum Imperfekt signalisiert die Wiederaufnahme der Handlung. Es wurde bereits öfter darauf hingewiesen, dass die Adriatische Rosemund im Gegensatz zu den mit seltsamen Abenteuern und Intrigen überladenen Romanen jener Zeit die Fabel in Anlage und inhaltlicher Problematik denkbar einfach ist: es ist eine traurig-rührende Familiengeschichte. Was die seltsame, wiederholt diskutierte Stellung dieses Romans in Zesens Schaffen betrifft, weist Gelzer darauf hin, dass gerade hier an Einfluss der 32

33 34

Volker Meid weist auf einen Brief an den Freund Malachias Siebenhaar hin, der in Andreas Daniel Habichthorsts Briefsammlung gedruckt wurde: Wohlgegründete Bedenkschrift über die Zesische Sonderbahre Ahrt Hochdeutsch zu Schreiben und zu Reden. Hamburg 1678. SW Bd. IV/2, S. 19. Ebd., S. 32.

90 neuesten französischen Romane zu denken ist, die mit ihrer Betonung der Sprachgestaltung die elocutio wichtiger nehmen als die dispositio. Entscheidend wäre, »dass bei Zesen rhetorische Kriterien und nicht ›poetologische‹, die elocutio und nicht die dispositio im Vordergrund stehen. […] Bei der historisch-galanten Ausrichtung der Rosemund […] bleibt die dispositio zweitrangig.«35 Es müßte dann auch als bedenkenswert erscheinen, dass Markhold bei einem »wort-streit« Rosemund so gut gefiel, dass sie ihn mit besonderer Aufmerksamkeit beachtet und »nahchmahls ihre ganze räde nuhr einig und alein auf mich [Markhold] rüchtete.« Da bekahm si ehrst anlahs/ mihr mit so libes-anlokkenden blikken zu begegnen; wi ahrtig konte si nuhr ihre worte drähen; wi künstlich wuste si nuhr selbige auf schrauben zu säzzen/ daß ich si auch nihmahls fangen konte. Mit diser kurz-weile brachten wihr etliche stunden zu/ dehr-gestalt/ daß es nuhnmehr hohe zeit wahr/ daß ich von diser lihblichen Geselschaft meinen abschihd nähmen solte. (S. 75 f.).

Die Romanhandlung ist in ihren Hauptzügen bald erzählt. Markhold, ein junger Deutscher, wird von seiner Freundin Adelmund in das vornehme Haus einer venezianischen Familie in Amsterdam eingeführt. Die jüngste Tochter, Rosemund, verliebt sich in ihn und findet Markhold nicht abgeneigt. Der Vater, Sünnebald, stellt im Falle einer Heirat nur eine Bedingung: Eventuelle Töchter sollen katholisch erzogen werden. Aber Markhold muss sie vorerst verlassen, sein Reiseziel ist Paris. Rosemund erhält Briefe von ihrem Geliebten, aber ein besonders zärtlicher Brief weht ihr am Fenster aus der Hand. In ihrer Trauer liest sie ältere Briefe und Gedichte Markholds, findet auch den abhanden gekommenen Brief im Garten wieder, aber sie kommt innerlich nicht zur Ruhe. Inzwischen hat Markhold in Paris einige unschuldige amouröse Erlebnisse, ist aber Rosemund immer treu geblieben. Er sagt einer liebenswürdigen Französin: »mein härz ist nihmahls von ihr abgewichchen/ ob es gleich/ dem tast=bahrem leibe nahch/ entfärnet wahr. Markhold ist zwahr in fremden landen gewäsen/ aber seine gedanken alle-zeit zu hause: zu hause/ sag’ ich; dan wo haben si sonst ihren siz/ als bei der himlischen Rosemund?« (S. 189) Er steht im Duell einem Freund bei, erlebt die Einhuldigung des neuen Königs (es ist wohl Ludwig XIV, der am 16. Mai 1643 den Thron bestieg) und sieht sich in Rouen den Karneval an. Kurz, er amüsiert sich und lernt »die Welt« kennen. Inzwischen wird Rosemund immer trauriger, schreibt sich die Schuld an der sich anbahnenden Entzweiung zu und schickt Markhold eine kühl-distanzierte Nachricht. Nun wird auch Markhold unruhig und sehnt sich nach der Geliebten. Rosemund hat sich in eine Schäferei an der Amstel zurückgezogen und lebt ganz ihrer Schwermut. 35

Gelzer (wie Anm. 20), S. 133.

91 Als Markhold über Rouen nach Holland zurückgekehrt ist und Rosemund in ihrer Schäferei besucht, ist die Freude beiderseits groß. Rosemund kehrt zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurück, Markhold wird vom Vater wohl aufgenommen. Als Rosemund frühmorgens mit ihrer Laute den Garten betritt, findet sie an den Bäumen vier Gedichte, in denen Markhold ihre inneren und äußeren Schönheiten besungen hat: Mund, Herz, Augen und Haare. Zwar haben sich die Geliebten wieder, aber an ihre Verheiratung ist nicht zu denken, weil der Vater auf seiner Bedingung besteht. Für Markhold ist diese unannehmbar. Er verabschiedet sich und zieht nach Utrecht, um sich wieder den Büchern zu widmen. Nun vollzieht sich das Unglück. Rosemund erkrankt, der herbeigeeilte Markhold gelingt es, sie wieder aufblühen zu lassen. Schließlich muss er sie wieder verlassen, und sie erkrankt aufs Neue. »Solcher-gestalt ward di wunder=schöne Rosemund ihres jungen läbens weder sat noch fro/ und verschlos ihre Zeit in lauter betrühbnüs.« (S. 281) Der Schluss bleibt offen. Es wird angedeutet, dass sie an krankem Herzen stirbt. Die Fabel, so einfach sie sich gibt, ist durch die Art und Weise der Darstellung eine Glanzleistung, wie sie in damaliger Zeit einzigartig war. Es gibt nichts, was sich ihr an die Seite stellen ließe. Dabei ist die Handlung eigentlich dünn, wenn Zesen nicht zum zusätzlichen Mittel von Gedichten, Bildbeschreibungen, eingelegten Novellen und gelehrten Exkursen (Venedig; das alte und das heutige Deutschland) gegriffen und dadurch die Romangeschichte aufgelockert hätte. Sollte man auch eine andere Interpretation vorschlagen wollen, so gilt für die zarte Stimmung, die sich über das Liebesgeschehen ausbreitet, noch ganz, was Cholevius 1866 formuliert hat: Zesen schreibt die innere Geschichte eines Herzens, das mancherlei Phasen der Liebe, die Sehnsucht, die Eifersucht, den frohen Genuß des Augenblicks, den Schmerz über eine getäuschte Hoffnung durchempfindet, bis es sich in tragischer Schwermuth aufzehrt. Zesen hat dies Seelenleben mit Wärme und Innigkeit aufgefaßt, ja indem das lyrische Pathos nicht selten unverhüllt hervorbricht, geht die Erzählung in wirkliche Gedichte über. Vieles ist freilich tändelnd, übertrieben, unverständig. Die Poesie selbst ließ ihn nicht zur Ueberlegung kommen, sie entfremdet ihn der wirklichen Welt und er dichtete in einer selbstvergessenen Trunkenheit des Gefühls und der Phantasie. So sind auch Markhold und Rosemund ein phantastisches, dabei aber ein reines und hochgestimmtes Paar, wie es bis dahin kein deutscher Dichter aufgestellt. […] die Rosemund ein moderner Roman, der das ganze Jahrhundert hindurch der einzige seiner Art blieb.36

Als der Roman einsetzt, sitzt Rosemund am Meeresufer und blickt dem Schiff nach, das Markhold nach Frankreich bringen soll. Es ist eine emblematisch aufgeladene Szenerie, denn Rosemund befindet sich (am Gestade der Nordsee!) unter einer großen Palme – der Palmbaum war Zesens Zunft36

Leo Cholevius (wie Anm. 28), S. 67.

92 zeichen. So ist der Abschied dem Roman schon eingeschrieben. Er ist trotz allem keine weinerliche Geschichte. Davor bewahrt die Vielfarbigkeit infolge der eingelegten Geschichten und Gedichte sowie die Vielfältigkeit des Stils in den wechselnden Lokalitäten. Markhold erzählt selber die Rosemund-Geschichte bis zu seiner Abreise dem vertrauten Freund Härz=währt (S. 53 ff.), wir erfahren dabei auch, dass er auf der Durchreise in Amsterdam durch eine Freundin aufgehalten wurde (S. 55).37 Diese führt ihn in Rosemunds Elternhaus ein, wo sie ihrem Markhold zum ersten Mal begegnet: »Dises nuhn wahr unsere ehrste zusammenkunft/ bei welcher/ wi auch bei der andern und dritten/ ich noch ein ruhiges härze behihlt; aber die vihrte begunte mich algemach zu verunruhigen.« (S. 57). Zu ihrer anmutigen Erscheinung und ihrem »höhflichen« Auftreten, das von beiderseitigem »wort=gepränge« begleitet wird, tritt noch ein anziehender Klangwert hinzu – »Indähm ich aber also in meinen gedanken stähe/ so erhäbet sich über däm tohre/ auf einem damahls mit grühnen tüchern behangenem lust=gange/ ein überaus lihbliches lauten=spihl/ welches mich gleichsam gahr entzükte […]. Aendlich höret’ ich auch ein’ überaus=lihbliche stimme/ di so klahr/ so hälle/ so zahrt/ so rein und so träflich wahr/ daß ich dergleichen alle di tage meines läbens nicht gehöret habe.« (S. 57/8) Das hatte die »götliche Rosemund« ihm »zu ehren gespilet« (ebd.). Damit geht die kleine Gesellschaft in den »Lustgarten.« Das Lautenspiel gehört ebenso zu Rosemund wie ihre Schönheit, denn es findet wiederholt Erwähnung: Die beiden setzen sich im Garten an den herrlichen, mit nackten Grazien bestückten »lust=brunnen«, erfreuen sich an dem stillen Geriesel – »Rosemund nahm ändlich di laute/ damit si ihren lihblichen klang mit däm stamrenden gemürmel und lihblichem geräusche däs wassers vermählete.« (S. 83). Die Freundin Adelmund ist immer wieder die Brücke zwischen beiden. Es wird voll verständlich, dass Markhold hingerissen ist und sich mit Mühe losreißt, um sein Reiseziel Paris endlich zu erreichen. Das Liebesgeschehen, das Kennenlernen und das mit äußerstem Feingefühl dargestellte Aufeinanderzubewegen, ist von einer stilistischen Behutsamkeit, die französische Stil- und Umgangsformen verrät. So kniet Markhold vor Rosemund, »nach wälschem brauch«, küßt ihr die Hand und findet mit seinen gewählten Lobesworten kein Ende. Die luxuriös und kunstvoll eingerichteten Gemächer in dem Amsterdamer Wohnhaus des Vaters wie auch im Lusthaus an der Amstel zeugen von erlesenem Geschmack. Das Ambiente der Amsterdamer Szenen atmet den aristokratischen Geist des vermögenden Patriziats und ist von der verfeinerten Galanterie der Pariser Salons bestimmt. Das Stichwort »Höflichkeit«, die behutsam-respektvollen

37

Es wird jeweils zitiert nach dem Ndr., SW Bd. IV/2. Die im Text eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

93 Gebärden und die »wortgepränge« zeugen von der »politesse mondaine«, die Zesen nach Amsterdam verpflanzt hat. Es war die Rede von den retardierenden Einlagen. Damit ist nur die eine Funktion genannt. Auch hier ist nahezu alles da, was etwa im Gefolge des spätgriechischen Romans und in seinen französischen Bearbeitungen und übernommenen Versatzstücken fast willkürlich eingefügt erscheint. In dem aus acht Büchern bestehenden Roman von Leukippe und Kleitophon des Achilles Tatius aus Alexandrien (2. Jh.) – ein Dauerbrenner des antiken Romans38 – findet man Einlagen aller Art wie akademische Diskussionen, rhetorisch aufgemachte Briefe und Reden sowie Bildbeschreibungen. In der Adriatische Rosemund dagegen haben sie zumeist handlungsevidente Funktion, sind eine Wissensbereicherung39 oder dienen der Veranschaulichung etc. Letzteres trifft auf die Beschreibung des Lustbrunnens im Garten zu. Dieser ist so wunderschön, dass es Markhold fast den Atem verschlägt – »oder hab’ ich meine vernunft verlohren?« (S. 58) Der Brunnen an sich selbst/ wahr von gälblichtem Marmel/ di Als=Göttinnen/ derer dreie oben auf/ halb entblöhsset/ und halb mit wasser bedäkket/ in einem ringel mit aneinander=haltenden händen stunden/ waren von schne=weissem marmel/ so zahrt und so künstlich gehauen/ daß man auch alle di kleinesten äderlein sähen konte; aus den brüsten und aus dem munde kahmen solche lihbliche wasser=strahlen härführ gesprungen/ di sich im erhöben von einander gaben/ und in der mitten über dem brunnen schränks=weise über und durch einander schossen; welches ein solches anmuhtiges aus=sähen und ein solches lihbliches geräusche machte/ daß es einem das gehöhr und das gesichte beides zugleich entzükte. (S. 58)

Eine bekannt gewordene Beschreibung ist ferner die des Prunkleuchters: Der leuchter an sich selbst mit alle seinem zugehöhr wahr von messing/ stark vergüldet/ und überal mit schniz= und bluhm=wärk ausgezieret. Mitten in disem leuchter stund di Königin der Libe Lustinne/ mit einem flämlenden härzen in der hand/ und üm si härüm schwäbeten zwölf Libes=kinder/ mit rosen=kränzen auf den häubtern/ in der luft/ di alle brännende wachs=lüchter in den händen hihlten/ und so ahrtig geordnet wahren/ daß si di Libinne ganz ümringeten. In den augen diser Libes=kinder/ und der Lustinne selbst/ wahr ein kleiner flammender tahcht/ welcher durch seine gluht den Libes=reizzerlein di augen bewäghlich machte: in dem halb=eröfnetem munde gleiches=falls branten zwei kleine lüchterlein/ deren über=sich=steigender dampf das gesichte der Lust=kinder so ahrtlich benebelte/ und di kleinen gold=hährlein/ welche durch den rauch so lihblich härführ blikten/ bewägte/ daß es rächt mit lust an zu sähen wahr. Unter diesen zwölfen schwäbete noch ein kleiner gleichsam erzürneter Lihb=reiz/ dessen flügel von güldenen und silbernen schupen/ mit einem gespanneten bogen/ welchen er über sich nahch den brännenden lüchtern zu=hihlt/ gleichsam als wan er di flammen aus=schühssen wolte; mit diser beigeschribenen Losung: alles verkährt. (S. 63) 38

39

Erste Ausgabe Leiden 1544. Deutsche Übersetzung Frankfurt 1644: »Die sehr artliche und ergetzliche Histori von keuscher […] Liebe Clitophonis und Leucippe.« Vgl. Niklas Holzberg: Der antike Roman. München / Zürich 1986, S. 99–124. Egon Cohn: Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman des 17. Jahrhunderts. Studien zur deutschen Bildungsgeschichte. Berlin 1921, S. 71: »Ein ungeheurer Wissenshunger ist ein Symptom dieser Epoche, eine Neugier, alles zu wissen, eine Bereitwilligkeit, alles aufzunehmen.«

94 Nach einer Verbindung mit der dargebotenen Erzählung braucht man nicht lange zu suchen. Ferner finden sich verschiedene Gemäldebeschreibungen (auch mit Gedichten versehen), wie etwa S. 65 (mit holländischen Reimzeilen), die alle in irgendeiner Weise auf das Liebesgeschehen anspielen. Zuletzt soll das Gemälde »die Geburt der Lustinne« oder die Schauminne, »welche aus dem salz=schaume däs Mehres gebohren war«, erwähnt werden, mit den deutschen Reimen (»Di Lustinne rädet selbst«); nachher wird die Darstellung der »Deutschen Lustinne« genauer betrachtet werden. Aus däm Mehre bin ich kommen/ aus däs bitren salzes kraft hab’ ich dises sein gewonnen; dässen schaum an meinen lokken wi gefrohrne wasser=flokken annoch haft. Meinen krum=gekrüllten hahren hat di wild=erbohste Se (wi di hohlen wällen waren) gleiche krümmen eingetrükket/ da des schaumes silber blikket in di höh. Als Kluginn’ und Himmelinne dis mein bildnüs sahen hihr/ sprachen si; es kan Schauminne/ ja Schauminne kan mit rächte schahm=roht machchen ihr geschlächte durch di Zihr. (S. 67/8)

Ihre deutsche Schwester, die »Deutsche Lustinne«, wird nicht, wie die beiden vorhergehenden Bildbeschreibungen außerdem im Kupfer abgebildet, sondern muss sich mit den gedruckten Worten begnügen: Näben disem zur rächten hing di Deutsche Lustinne/ di Freie/ Istevons/ des vihrden Königes der Deutschen Eh=gemahl/ in einem blau=angelauffenem halben harnisch/ mit vergüldeten schupen. In der rächten hand hihlt si den königlichen Reichs=stahb/ und das ritterliche schwärt zugleich: in der linken ein härze/ dahr=aus unauf=höhrlich feuer=flämlein härführ blitzzelten. mit dem rächten fuhsse traht si auf einen Löwen/ und mit dem linken auf einen Lind=wurm. Aus ihrem gesichte blikte so ein fräund=sähliger schein/ und zugleich ein durchdrüngendes ernst=haftes wäsen härführ; Fohr ihrem Reichs=stuhle lahg ein grosses Volk auf den knihen/ das Si als eine irdische Göttin verehrete. (S. 68)

Auf diese Beschreibungen ist weiter unten zurückzukommen. Es sind jetzt noch die anderen Einschübe zu nennen. Weitere Gemälde werden in diesem Abschnitt geschildert; in einem Pariser Stadtschloss bewundert Markhold mancherlei Gemälde mit Gegenständen aus der antiken Mythologie, die zusätzlich in Gedichten auf weißen Täfelchen mit Goldbuchstaben geschrieben stehen: »Des Pirams Klage bei däm kleide seiner Lihbsten«, »Der Tisben Klage über den tohd ihres lihbsten/ des Pirams«, »Der Lust-

95 innen Klage über den tohd ihres Adohns« usw. (S. 144–149). In Paris nimmt uns eine spannende Duellszene gefangen (S. 92 ff.), in Rouen wird »Der Lust=wandel des Guhts=muhts« erzählt, eine lustige, in Sachsen spielende Geschichte (S. 165–180). Die Gesprächsrunde wird mit Markhold fortgesetzt: Er gibt »di Begäbnüs der Böhmischen Gräfin und des Wild=fangs« zum Besten, in die eine weitere Geschichte eingelagert ist, die von Markhold eingefädelt wurde. Wildfang ist ein Freiherr, der sich in die böhmische Gräfin verliebt hat, Lihb=währt, ein »Fränkischer von Adel« desgleichen. Markhold schmeichelt sich bei der Gräfin ein, aber wahrt Distanz. Lihb=währt bekommt seine Geliebte (S. 177), Wild=fang, der etwas zu frei und zu frech gewesen ist, geht leer aus und tröstet sich in seiner Liebesnot mit einer anderen, einer Bauernmagd. Er geht – wie ein französischer Liebender – in der Gegend herum und war in seiner »unsünnigen leidenschaft so wunderlich/ daß er fohr angst und weh=leiden nicht wuste/ was er begünnen solte. Bald wolt’ er sich ersäuffen/ bald erhänken/ bald wolt’ er in dem krige sein läben einbühssen. Ja er ställte sich so närrisch an/ daß ihn ändlich ihderman für einen hirn=blöden hihlt.« (S. 178). Da sieht er eine fesche, junge Baurnmagd in einem Bach baden. Er macht sich an sie heran. Sie, die Wummel, reagiert in ihrem Dialekt: »ik mochte mi […] buzig lachchen/ dat he so näksch und so trollich koset; wän mi mine junkers vaken schabbernakken/ so wehs ik noch/ wat se menen; aber dieser schuft bränget solche schnaken und solche schwänke fohr den tahg/ dat ich dahr=van rehne nischt verstahn kan.« (S. 178 f.). Sie ist besonders liebenswürdig: »Si grünset’ ihm bis=weilen über die aksel äben so fräundlich zu/ als eine kuh ihrem kalbe; und huhb mit ihren beinen unter der tahffel an zu bummeln/ welches er führ ein libes=zeuchen hihlt.« (S. 179) Markhold bricht nach Holland auf und verabschiedet sich mit einem Chanson (»Des Markholds Abschihds=Lihd an di schöne Luhdwichche«), das einige denkwürdige Verszeilen enthält (S. 184): O Schöne/ dänke nicht/ daß ich zu euren sitten/ von meinen abgeschritten: nein/ nein! Ein deutsches härz ist nih so leichte nicht; wehr pflücht und träue brücht/ ist euren dinern zwahr/ doch Deutschen nicht/ zu gleichen. Du sprüchst selbst wider dich/ wan Du di Deutschen preis’st und ihre fäste träu so sonnen=klahr erweis’st/ ja wüllig bist zu weichen. Du lobest das/ was Du von mihr begährst zu brächchen/ di deutsche träu zu schwächchen. ich ehre Dich/ weil Du so tugend=eifrig bist/ Und was es sonsten ist/ o tugendhaftes Bild […]

96 Eine überzeugende Kontrastgeschichte zu der unglücklichen Liebe zwischen Rosemund und Markhold stellt die »Nider=ländische geschicht von einer ahdlichen Jungfrauen und einem Rit=meister« (S. 266 ff.) dar, eine Entführungsgeschichte, die ihren Ursprung in der Geldgier ihrer Eltern hat, die sich »vihl liber in dem stünkenden schlamme der nidrigkeit und unehren härüm wälzen […] als nahch ruhm und ehren sträben« (S. 274). Es ist nicht das letzte Mal, dass Zesen sich herabsetzend über den Geiz der Niederländer auslässt. Die oben erwähnten akademischen Diskurse über Venedig (Rosemund, von ihrem Vater abgelöst, wo es um das Staatswesen geht) und »Kurzer entwurf der alten und izigen Deutschen« (Markhold), sind als nützliche Wissensvermehrung des Lesers oder (im Falle von Deutschland) als kritische Warnung zu betrachten. Man darf die Darstellung Markholds als Zesens politisch-soziales Engagement ansehen. Die Exkurse nehmen beträchtlichen Raum ein: S. 194–214 bzw. 221–228 (Venedig), 241–259 (Deutschland). Es ist nicht zu übersehen, dass der Teutsche Krieg, der allerdings östlich der niederländischen Grenzen wütet und Paris etwa überhaupt nicht tangiert hat, in diesem Liebesroman seinen Platz hat und damit den Zeitaspekt des Heute in Erinnerung ruft. Markhold nennt die Kriegsfolgen: den Untergang des schönen und wohlfahrenden Landes, wo die schönsten Städte, Schlösser und Herrenhäuser »nicht alein verwühstet/ verbrant und eingeäschert/ sondern auch gahr geschleiffet wärden.« Es erregt den Autor so sehr, dass er zur pathetischen Trauergebärde greift: »Der himmel erzittert dafohr/ di wolken wärden bewäget/ di stärne lauffen betrübet/ di sonne verhüllet ihr antlitz/ der mahnd erblasset/ und di irdischen uhrwäsen erböben; wan si schauen und sähen di bluhtigen und nimmer=mehr verantwortlichen verwühstungen.« (S. 258) Auch Zesen zeigt sich ein Anhänger der Kriegsdeutung als einer gerechten Gottesstrafe, die über Deutschland verhängt worden ist: »Aber was wül ich mein libes Vater=land […] noch lange betauren! es ist unsers Gottes gerächte strahf=ruhte.« (S. 259) Das Herzstück des Romans, Rosemunds von einem Diener in Paris ausführlich und ergreifend geschilderte Schäferei (S. 111–129), ist selbstverständlich mehr als eine interessante Einlage. Schäferei und Schäfertracht haben für das bibelfeste Jahrhundert ausdrücklichen Signalwert und sind nicht (nur) eine modische Verkleidung der guten Gesellschaft während einer Landpartie. Die Nürnberger Pegnitzschäfer (Harsdörffer, Klaj, Birken), die sich in den vierziger Jahren etablierten, haben das in ihrer dichterischen Praxis mit immer wachsendem Bewusstsein reflektiert, Sigmund von Birken hat das gleichsam zur Grundlage seiner Poetik gemacht: eine Poesie, die vom Himmel fließt und zum Himmel gehen soll. Mit den Schäfern stellte sich die Assoziation zum ursprünglich nomadischen Hirtenvolk der jüdischen Stämme (somit des Auserwählten Volks) des Alten Testaments ein, insbesondere mit der Hirtengruppe, die im nächtlichen Gefilde von

97 Bethlehem als erste Menschen Zeugen der Frohen Botschaft von Christi Geburt gewesen waren. Diese religiöse Konnotation ist mit dem Schäferkostüm verbunden, sie tritt auch bei Rosemund hervor. Zesen hat seine Heldin mit Zügen ausgestattet, die an die mythologische Venus erinnern wollen. Das trifft besonders auf ihre Haare zu, die in der Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung mit denen der Schwester verglichen werden (S. 73 f.). Es ist die Rede von den »unaufgekünstelten und uneingeflochten« Locken, die »gleichsam wi gekrümte wällen/ […] in über=aus anmuhtigen falten auf den hals härab geflossen/ in […] über=zihrlicher unachtsamkeit« (S. 73 f.). Man assoziiert leicht die »krum=gekrüllten« Haare in den Verszeilen von der Geburt der schaumgeborenen Venus (s. o.). Heißt es nicht »krause Haare, krauser Sinn«? Das scheint Rosemund selbst zu meinen, als sie Markhold einen traurigen Brief schreibt, voller Schuldgefühle wegen ihres »verbrächchens«, wie sie ihre Eifersucht, ihr hochmütiges Wesen und Betragen nennt. Sie ist jetzt voller Demut: »Er schaue doch/ mein Her/ den wüllen einer arm=säligen Schähfferin führ seinen fühssen ligen/ und ihr härz in seinen händen/ damit si solches däm seinigen/ weil es ihm alein gewihdmet ist/ übereignen möge« Sie ist zur Schäferin geworden und bekennt ihr Vergehen: »daß ich mich/ da ich noch hohch=mühtig wahr/ und in meinem angebohrnen stande lähbte/ an meinem Geträuen verbrochchen habe.« Nachdem sie das aufgegeben und »der frommen schähflein ahrt und eigenschaft an mich genommen« habe, sei sie nunmehr geheilt und bitte um »verzeuhung«. Dann folgt die zentrale Stelle des Briefes: Bin ich gleich mitten im Adriatischen Mehre gebohren/ und den wällen […] in etwas nahch=geahrtet; so hab’ ich doch izund solche stürmende wällen=ahrt verlahssen […]. Jah ich bin from/ demühtig/ stil und sitsam worden; da ich fohr=mahls (ich mus es wüllig bekännen) argwähnisch/ hohch=fahrend/ auf=geblasen und unruhig gewäsen bin. Solche laster hab’ ich nuhn gänzlich/ vermittelst dises nidrigen läbens/ das ich izund führe/ aus meinem härzen vertilget. (S. 111 f.)

Sie hat Demut gelernt und ist nicht nur an die Venus angenähert worden: Sie hat sich selbst überwunden. Damit ist sie – weit über die Venus-Identifikation hinaus – zur Idealgestalt einer treuliebenden Frau geworden. Und dennoch! Zesen hat in der Vorrede zum Roman auf die leicht verführerische Lektüre durch die ›welschen‹ Romane hingewiesen, so dass die Deutschen »von ihrer gebuhrts=ahrt und wohl=anständigen ernsthaftigkeit schihr abweichen dürften/ wan man also fortfahren solte.« Neben den Übersetzungen müßte man »was eignes« schreiben. Das sollte dann eben nicht »alzu geil und alzu weichlich sein/ sondern […] mit einer lihblichen ernsthaftigkeit vermischet/ damit wihr nicht so gahr aus der ahrt schlügen/ und den ernsthaften wohlstand verlihssen.« (S. 10) Damit wird an das Gemälde in Sünnebalds Haus erinnert, das die Deutsche Lustinne darstellt (s. o.). Hieß es doch dort: »Aus ihrem gesichte blikte

98 so ein fräund=sähliger schein / und zugleich ein durchdrüngendes ernst=haftes wäsen härführ.« Das ist – im Gegensatz zur welschen Venus – eben die deutsche, auf die Zesen in der Vorrede hinweist. Sie ist ernsthaft und fromm, von ihr wird gesagt, dass das Volk ihr insgesamt huldigt. Das ist aber noch nicht alles, denn die (gemalte) Lustinne trägt einen »blau=angelauffenen halben harnisch/ mit verguldeten schupen.« So wird sie bei Zesen, eigenwillig und hartnäckig, dargestellt, und in dieser Gestalt schmückt sie auch das Titelkupfer des Romans. Sie steht auf der rechten Seite, mit einem Helm gekrönt, links neben ihr eine Frauenfigur, ihr ist »Lihbreiz« mit seinem Bogen beigegeben. Aus den Herzen in der Mitte des Bildes wachsen jeweils eine Palme und ein Rosenstrauch, deren bildhafte Bedeutung klar sein dürfte. Beide heben den Namen der Adriatischen Rosemund auf den Schild, vom Glanz der Sonne angeleuchtet. Ist es die Sonne der Ewigkeit, wurde Rosemund durch die Kunst verewigt? Jedenfalls stehen die allegorischen Figuren auf Wolken, welche Zeitenthobenheit andeuten mögen. Dass hinter Markhold Zesens Vorname Philipp erkennbar ist, kann leicht enträtselt werden. Aber dennoch ist die Rosemund-Geschichte, trotz autobiographischer Anklänge in den Handlungspfeilern, kein autobiographischer Roman, es bleiben zu viele Unstimmigkeiten – und es wäre doch nur peinlich. Er hat sie nachdrücklich mit der Farbe blau konnotiert, vielleicht ist es auch eine Anspielung auf seinen Familiennamen.40 In dem sprachtheoretischen Buch Rosen-mând agiert Rosemund wieder, und zwar immer noch als Mahrholds »über-irdisch-schöne« Freundin. Er ist der Veranstalter eines mythologischen Aufzugs, der »übermenschlichen Rosemund« zu Ehren, in dem mehrere mythologische Gestalten auftreten. Die erste ist die »Fräue/ die Als-göttin der fräuerei und liebe«, dann aber folgt die Pallas Athene: Die Als-göttin der Weißheit/ Blauinne/ oder Blauäugle/ kahm/ auch auf einem vergüldeten ehren-wagen […] durch den hof gefahren; Sie trug Amazonische kleidung von sterbe-blauem sammet und atlas mit silbernen spitzen verbrähmet; ihre lantze war von eben-holtz auf das allerzierlichste gedrähet/ und an der spitzen vergüldet: der sturm-huht war blau angelauffen/ und mit güldenen stärnlein übertzschäkkert: oben auf trug sie einen großen busch von sterbe-blau-weiss- und rosen-färbigen federn; für ihr lagen drei bücher mit einer laute: das eine war halb eröfnet/ und die andern geschlossen.41

Dann ist das Pseudonym auf dem Titelblatt des Rosemund-Romans erklärlich: »Ritterholds von Blauen Adriatische Rosemund.« Damit ist auch die Widmung unterzeichnet. Zesen als Pallas-Diener, ihm ist die Farbe blau mit der Nuance »sterbe-blau« (bleu mourant) beigegeben. Erklärt ist nun auch 40

41

Im Anhang zum Rosemund-Roman (S. 336 f.) werden einige Namen verzeichnet, die erste lautet: PALLAS, Kluginne / Blauinne (caesia virgo). Rosenmând, SW Bd. XI, S. 136.

99 die vorherrschende Lieblingsfarbe von Rosemunds schäferlicher Behausung, »welche si inwändig mit stärbe=blauen prunk=tüchern über=al ausgeziret hatte; der boden wahr mit stärbe=blauen steinen gepflastert; die däkke mit äben selbiger farbe gemahlet/ und di tische blaulicht angestrichchen mit stärbe=blauen tüchern behänget/ also/ daß nichts als lauter blaues zu sähen wahr.« (S. 125 f.) Hier zeigt obendrein ein Gemälde einen blauen Ritter und eine Jungfrau, die ein Textband hält: »Ich säh’ und höre mein Blaues wunder.« Da nun die Pallas mit der Weisheit in Verbindung gebracht und von Zesen in seinen Heidnischen Gottheiten42 gar mit der göttlichen Herkunft verknüpft wird, erstaunt die religiöse Färbung der Gaben nicht, die ihrem Jünger verheißen werden. Es heißt in ihrer Bildbeschreibung, die oben zitiert wurde: »mit ihrem rechten Fuss trat sie auf einen Löwen, mit dem linken auf einen Lindwurm« (S. 68). Das ist eine Psalm-Allusion, die zu ihrem ernsthaften Wesen passt – »Auff den löwen und ottern wirst du gehen/ und treten auf den jungen löwen und drachen« (91. Psalm). In dem Anhang zum Roman findet sich eine Schrift, die ganz der Lustinne gewidmet ist: »Filip Zesens von Fürstenau LUSTINNE/ der un=vergleichlichen ROSEMUND zu ehren und gefallen verfasset.« Darin wird der deutschen Freie gehuldigt, es ist der fröhliche Frühjahrsbeginn. Lustinne schlägt nuhn auf ihr frohes libes=zelt/ wo Lihbreiz/ als ihr sohn/ zum Zeltner ist beställt. Es tanzen üm si rüm di fräundlichen Holdinnen, di ihre zohffen sein/ di Hold=sün=räuberinnen. ihr wagen stäht alhihr/ ihr wagen fol rubihn/ dehn durch di graue luft zwe weisse schwäne zühn. Den reichs=stuhl säh’ ich auch/ dahr=auf Lustinne sizzet/ di Libes=königin/ und durch di lüfte blizzet fohr dehr ein grohsses folk demühtig nider=kniht/ da Lihb=reiz üm und üm mit güldnen pfeilen sprüht. Der weih=rauch steigt entpohr. man sihet auf den höhen di gaben angeflammt in follem rauche stähen. Ganz Deutsch=land stället nuhn der Freien feier ahn/ und süngt/ auch in der angst/ so/ als es nih getahn. […] Wohlan! weil ich fohr=längst zu süngen dich erläsen/ so süng’ ich/ Freie/ dich/ doch nicht dein ganzes wäsen; es ist zu hohch fohr mich; mein geist verfleugt sich nuhr/ und kömmt durch so vihl wäg’ aus seiner rächten spuhr. Der Grich’ ist zweifälhaft; der Römer hats verlohren/ und weus nicht rächt/ wi/ wan und wo du bist gebohren. 42

Heidnische Gottheiten, SW Bd. XVII/1, S. 433 f.; »[…] weil alle Menschliche Weisheit/ deren Anfang die Furcht GOttes ist/ ihren Uhrsprung nur allein von GOtt hat; so haben die Atehner gedichtet […] daß ihr Pallasbild […] vom Himmel gefallen sei. […] die Götter erhalten die Stadt der Göttin Pallas; nähmlich in welcher die Gottesfurcht/ als die Wurtzel der Weisheit/ und der Gerechtigkeit/ samt allen heilsamen Sitten/ und durch weise Leute gestifteten guhten Satzungen/ im Schwange gehen.«

100 der Deutsche gläubt gewüs und schreibet einerlei/ daß seine Freie blohs von Deutschem bluhte sei.43

An der Gestalt der Adriatischen Rosemund hat man vielfach herumgerätselt. Die biographische Forschung hat sich im Sande verlaufen und ihre Problemstellungen sind nunmehr marginalisiert. Der Amsterdamer Germanist Jan Hendrik Scholte war der Erste, der 1949 auf ihren Symbolwert aufmerksam gemacht hat und damit vom Biographischen abrückte.44 Die Gestalt der Rosemund zieht sich durch das gesamte Werk. Sie hält alles zusammen, sie tritt mit ihrem Markhold in den sprach- und literaturtheoretischen Schriften Rosen-mând (1651) und Helikonische Hechel (1660) auf und figuriert in mehreren Mustergedichten der Poetik Deutscher Helikon.45 Sogar in dem gelehrten lateinischen Werk Coelum astronomico-poeticum (»Dichterischer Sternhimmel«) ist ein deutsches Gedicht an Rosemund enthalten, das sich sonst nicht identifizieren lässt.46 (Die Hinzufügung »nos aliquando ad Rosimundam lusimus« könnte sich auf das noch zu nennende Trauerspiel beziehen.): Dass ich so mager bin/ ist nicht vom vielen sitzen/ und lesen bei der nacht. Du machst es/ Du/ mein Licht; weil du dich mir entziehst. Das völlige gesicht des Mohndes nährt den Krebs/ der bei dem scheine weidet/ und wan es abnimt/ auch des fleisches abwachs leidet im dunkeln seiner gruft. Brich über mir hervor gleich als ein voller Mohnd dem/ der das Sonnen-tohr/ am Herkules/ verdient: so leb’ ich ausser leiden; so wird mein angesicht bei deinem glantz sich weiden/ und in der fülle stehn.

Für weitere Einzelheiten sei auf den Zesen-Beitrag des Verfassers in dem Sammelband Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts verwiesen.47 Wenn man schon für Rosemund mit einem lebendigen Vorbild rechnet, wie es Klaus Kaczerowsky48 näher ausgeführt hat, war sie jedoch daneben vor 43 44

45

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47

48

Lustinne: SW Bd. IV/2, S. 288 f. (Vs. 35–48, 61–68). Jan Hendik Scholte: Zesens »Adriatische Rosemund«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte XXIII (1949), S. 288–305. Etwa »O allerschönste Rosemund/ mein allerliebstes Leben« (Helikon D von 1656), S. 257; später in die große Sammlung »Rosen- und Liljen-tahl« von 1670 aufgenommen (Nr. 17), »Rosemund/ mein selbst-eigenes hertze« (etwa Helikon D, S. 580 und in den »Dichterischen Jugend-Flammen« von 1651, S. 122. Das kleine Gedicht »Wer hat so süsses sprächen« erschien im Helikon D (S. 166). Dr. Reinhard Klockow (Berlin) hat für die »Sämtlichen Werke« eine kritische Textausgabe mit Übersetzung besorgt (SW Bd. XVIII, 2011; der Kommentarband ist in Vorbereitung). Ihm sei für die freundliche Mitteilung des untenstehenden Textes gedankt. Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984. S. 497–516. Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens »Adriatische Rosemund.« München 1969.

101 allem Symbolfigur für Zesens umfassende Arbeit an der deutschen Sprache und Bezugsfigur der Deutschgesinneten Gesellschaft, die an Rosemunds Geburtstag (1. Mai) gegründet wurde. Aber sie war weit mehr: Der Rosemundkult bezeugt den inneren Zusammenhang von künstlerischem und theoretischem Werk, der für die Sprachgesellschaft Geltung haben sollte. Schließlich war sie, der programmatischen Vorrede des Romans gemäß, die Repräsentantin der deutschen Venus (der »Deutschen Lustinne«). So schmückt ihr Name das Titelbild: ein Gegenbild zu der »welschen«, zur Untreue bereiten Venus. Mit Rosemund fing alles an, in ihrem Zeichen wurde die mitgliedstarke Deutschgesinnete Genossenschaft gegründet; sie beherrscht auch alles Nachfolgende, in der Literatur, in den romanhaften Liebschaften Markholds, hinter dessen Namen man verschlüsselt den Autor des Romans erkennt (deutsche Bestandteile von griech. Philipp) – »Doch die allertiefste Wunde/ machte meine Rosemunde.«49 Warum geht der Roman tragisch aus, während das Mädchen doch beständig in ihrer Liebe bleibt und ihren Liebhaber endlich freigibt? Nachdem der katholische Vater den Liebenden klargemacht hat, dass seine Tochter den evangelischen jungen Deutschen nicht werde heiraten können, es sei denn dieser würde zum Katholizismus konvertieren, nimmt das tragische Geschehen seinen Lauf. Markhold, der schon zu Beginn des Liebesverhältnisses viel unterwegs war (u. a. in England, Frankreich und Paris), zieht sich jetzt immer mehr zurück. Er lässt sich in Utrecht nieder, »damit er in solcher stillen lust seiner bücher däs zu bässer abwarten könte.« (S. 263). Rosemund verzehrt sich in Kummer, die Briefe ihres Geliebten bringen keine Linderung ihrer Pein, denn »waren di seinigen fol trohstes und hofnung/ so waren di ihrigen fol trübnüs und verzweifelung.« (S. 280). Markhold verschwindet nun völlig aus dem Blickfeld, der Schluss des Romans ist ganz dem Mädchen gewidmet und dem jämmerlichen Zustand, »daß si nihmand hatte/ dehm si ein teil ihrer bekümmernüs auf-bürden könte.« (S. 281). Der Leser erfährt nur noch, dass die »wunder=schöne Rosemund« im Stillen leidet; ihr Ende wird nur angedeutet, kann jedoch kaum zweifelhaft sein – sie »verschlos ihre zeit in lauter betrühbnüs.« Erstaunlicherweise zitiert Zesen in der Romanvorrede »aus unserem Trauer-schau-spihle.« Da der Roman 1645 erschien, dürfte nach Kaczerowsy »die historische Rosemund« eher im Herbst 1644 als im Frühjahr 1645 gestorben sein.50 Auch hier ist wieder von Interesse, dass in der Helikonausgabe von 1649 anlasslich der Erörterung daktylischer Versformen aus »einem traur-schau-spiele über den seligen Hintritt der über-mänschlichen ROSEMUND« zitiert wird, in denen »die dattelahrt mit unter gemischet/ 49

50

»Markholds Klage über seinen glüks-wechsel in der Liebe.« Jugend-Flammen, Nr. 28. SW Bd. I/1, S. 380 ff. Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst, S. 104.

102 wan ich nähmlich ihren abschied mit zitternder und hinfallender rede besinge«: ROSEMUND stirbet/ ihre lob-würdige schöne verdürbet. kommet/ ihr sterblichen/ weinende/ sehet die Sonne fällt scheinende; kommet/ ihr nichtige/ sehet das flüchtige/ schauet das englische/ liebliche bild/ wie es das schöne gesichte verhüllt/ wie es so jämmerlich ächzet/ wie es in todes-angst lächzet/ wie es als rosen und lilien schwindet/ wie es das bittere sterben entfindet; u. a. m. Hier haben wier noch zum überflusse/ damit auch der reim und die stimme mit der seligen Rosemund zitternde dahin fiele/ vier bände/ mit bedacht und willen/ rollend oder zitternd schließen wollen/ welches wier biß her und ohne ursach noch nie getahn. Ihre Seele würd auch ferner/ als sie aus dem sterblichen leibe nach den [!] himlischen freuden-saale zugereiset war/ von ihrem Seelen-bräutigam in ebenselbigem/ unserem obgedachten Schau-spiele/ also angenommen: Wilkommen/ liebes Lieb/ wilkommen/ meine Traute/ wilkommen tausendmahl und tausendmahl darzu/ mein’ auserwählte du/ du bists/ nach der ich schaute/ derer liebe den nuhn letzt/ den so schmertzlich sie betrübte/ du/ o schönste/ bist es selbst/ die ich ie so hertzlich liebte/ daß ich dis mein eignes bluht/ ja mein leben spaarte nicht/ dich zu lösen/ o mein Licht. kom dan nun/ mein täurer Schatz/ und besitze diese freude/ kom/ und weide die lieblenden blikke der lieblichen augen/ welche mein hertze/ mein leben aus-saugen/ schaue doch/ was ich dier schenke for lust/ die keinem auff erden bewust/ schaue die perlenen tohre/ die güldenen strassen/ die mauren der ewigen/ götlichen stat/ welche sich nährlich besichtigen lassen/ und machen durch schimmern dein äugelein mat: […] eilend! ach eilend! was wartest du lange? was hältstu dich/ liebeste/ länger im zwange? wie kennst du dich selbst for zierligkeit nicht? Ermuntre dich/ rege dich springende/ der engel-schaar reget sich singende/ begrüßet dein liebliches/ schönes gesicht; die gantze gemeine der Frommen/ heisset dich singend und klingend wil-kommen. u. a. m.51

Dieser Passus ist m. E. kennzeichnend für den Umgang mit dem Rosemund-Material und macht den Rosemund-Komplex erst vollständig über51

Deutscher Helikon 1656. SW Bd. X/2, S. 577 ff. Das Trauerspiel ist nie veröffentlicht worden.

103 schaubar. Neben der offenkundigen Dominanz im Werk ist die distanzierte Weise der literarischen Überformung ihrer Gestalt signifikant. Das zuletzt angeführte Beispiel lässt erkennen, wie im Trauer- und Trostdrama unterschiedliche metrische Spielarten Verwendung finden und die »übermenschliche« Rosemund zum Demonstrationsobjekt wird. Demonstrationsobjekt ist sie auch in einem anderen Sinn, und zwar im literarischen Verewigungskult, wie es an Petrarcas Laura so ergreifend dargestellt worden ist und hier natürlich nicht zufällig anklingt. Der Mit-Genossenschafter M. von L. (»zubenahmt Der Liebliche«) beehrte Zesen mit einem Glückwunschgedicht zum 2. Teil seines Deutschen Helikons, in dem er auf die »schönste Laure« Bezug nimmt. Es heißt hier u. a.: »Die ew’ge Rosemund ist glücklich recht zu nennen/ in derer keuschen gluht Her Zesen pflag zu brennen/ daß sie so lange noch/ so lang gelebet hat/ bis sie bekahm den Held/ der ans gestirnte blat/ ihr nahmens-lob anschrieb.« Und weiter: Wie glüklich/ Rosemund/ trittstu den Himmels-trap! Dein Held zeigt dir den weg/ und führet bei den händen dahin’/ da dein gericht/ dein ew’ges an kan länden/ und nimmer sterben würd. Dan wer Ihm folgt/ der ist verewigt für der zeit/ und lebt/ zu aller frist.52

So sahen es die Freunde und Mitglieder, die wohl feinfühlig genug waren, den hochgeschätzten Meister in seinem »Unglück« nicht zu verletzen. In der biographischen Forschung hat Markhold-Zesen keine gute Presse, was sich in nahezu allen Forschungsarbeiten zum Thema niederschlägt. Man wirft ihm kalten Egoismus etc. vor, er habe – o Schande! – die Verweigerung des Vaters offenbar ohne weiteres akzeptiert und ist seines Weges gegangen. Allenfalls wird auf »Markholds Abschihds-lihd an seinen stand-fästen/ geträuen Felsen-sohn« hingewiesen (mit ihm, Petersen, hat er in Hamburg die Gesellschaft gegründet), dessen bekannte Strophen X bis XII lauten: Ein verhängnüs träkt mich fort/ o dähm ungemänschten Tihre! daß ich disen ädlen ohrt/ ach! o schmärz! o leid! verlühre: aber was! es muß so sein/ mein gemüht zwüngt helfenbein. Weich- und weiblich-sein gezihmt einer Jungfer und den Weibern; aber dehr sich mänlich rühmt/ muß nicht kleben an den leibern/ di nahch ehr und ruhm nicht gähn/ und im schwachchen Volke stähn.

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SW Bd. X/1, S. 245 f.

104 Sol ich dan so führ und führ bei der aller-lihbsten ligen/ und nicht kommen führ di tühr/ jah mich gleichsam knächtisch bügen? ach! das wül mihr gahr nicht ein; ich kan nicht guht weibisch sein.53

Sollte die mittelalterliche Untugend des Ritters, das »Sich verligen« (sc. bei der Dame), eine so lange Nachwirkung haben? Demgegenüber wäre eine andere Erklärung zu erwägen, die für Zesens Zeitgenossen leicht einsehbar sein musste: Sie liegt in der sogenannten Klimatheorie begründet.54 Diese behielt, mit diversen Modifikationen, ihre Gültigkeit von der Antike bis weit ins 18. Jahrhundert. Sie war eine Art Schnell-Screening der Nationalität europäischer Völker, die, kurz gesagt, auf der Klimazone basiert, in der die betreffende Heimat liegt. Sie bestimmte, so glaubte man auch in wissenschaftlichen Kreisen, die unterschiedlichen Sitten, Tugenden und Laster sowie den Volkscharakter. Schon Aristoteles hat sie zu einem triadischen System entwickelt. Griechenland (Athen) wurde der gemäßigten Zone zugeschlagen und von dem heißen Südosten wie dem kalten Norden unterschieden. So wurde eine Legitimation für die geistig-kulturelle und politische Vorherrschaft der griechischen Kultur gefunden bzw. erfunden. Diese wurde von den Römern auf die Ewige Stadt übertragen, dann aber von Frankreich beansprucht, das ebenfalls als gemäßigte Zone zu gelten hatte, um sodann die verfeinerte französische Kultur mit ihrer Kunst der Höflichkeit und Esprit als vorbildlich hinstellen zu können; man denke an das Idealbild des Honnête Homme. In diesem Zusammenhang mit seinen weitreichenden Konsequenzen ist vor allem Jean Bodin zu nennen.55 Für ihn sind die Nordländer nur Barbaren; Paris wurde zum Mittelpunkt der zivilisierten Welt erklärt, Vorbild für Urbanität, Galanterie und Politesse. Für Deutschland, das als Land nördlich der Alpen den Schimpf der italienischen Humanisten ertragen musste, bildete die Auffindung von Tacitus’ Germania-Handschrift (1472) den Auftakt zu einer ethnozentrischen Legitimation der »Alten Deutschen« und ihrer Nachfah53 54

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Adriatische Rosemund, SW Bd. IV/2, S. 35 ff., hier 36. Es seien hier nur genannt: Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993. Weiter die Beiträge von Franz Eybl und Martin Disselkamp in dem Symposium-Band Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wroclaw 2008. Hg. von Miroslawa Czarnecka, Thomas Borgstedt & Tomasz Jablecki. Bern etc. 2010. (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Kongressberichte, Bd. 99). Eybl; »Typus, Temperament, 4 Tabelle. Zur anthropologischen und medientheoretischen Systematik der Völkerstereotypen.« (S. 29– 43). Disselkamp: »Nationalcharaktere als Kriterien historischer Wahrheit. Zu Bodins ›Methodvs ad facilem historiarum cognitionem‹.« (S. 45–65) Jean Bodin: Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Parisiis 1566 (Dazu Disselkamp, s. o.). Weiter auch Bodins Six Livres de la République. Paris 1576. Kap. I.

105 ren.56 Erst im 18. Jahrhundert sollte eine Rehabilitierung des englischen und skandinavischen Nordens erfolgen.57 Es sei hier vorweggenommen, dass Zesen sich in anderen Schriften als Vertreter dieser Idee erweist. So heißt es in der Beschreibung der Stadt Amsterdam (1664): Wir müssen auch […] bekennen/ daß diese Stadt/ in ihrem gesümpfe/ so gar niedrig lieget/ und teils von den faulen ausgedünsteten dämpfen ihres bruchigten bodems/ teils von der groben und harten seeluft so über die maße ümgeben wird/ daß die heitere luft des himmels/ ihre würkung zu tuhn/ kaum hindurchdringen kan; dergestalt/ daß es scheinet/ als wan alhier keine andere geister/ als die irdisch und niederwärts gesinnet/ und allein nach den schätzen der erde trachten/ erzielet werden könten; gleichwohl bezeuget es die erfahrung/ daß mitten in dieser groben mit aufkwalmenden dünsten vermischter see-luft/ die ihm sonsten der Märkte kuhrgötze [Merkur, der Gott des Handels] fast allein zueignen wil/ auch zu zeiten solche leute/ wiewohl wenig unter so einer großen mänge/ gebohren worden/ derer geist durch die kraft des Himmels entzündet/ sich aus diesem niedrigen gesümpfe nach oben zu geschwungen/ und in das ewige licht der himlischen Weisheit/ die himlischen schätze zu suchen/ geblikket.58

Der Schlüssel solcher heute nur irritierenden Rhetorik liegt in der Tradition der Klimatheorie, die, wie man sieht, zu Vorentscheidungen führt, die als pseudowissenschaftliche Gegebenheiten zu nicht mehr hinterfragbaren Konsequenzen nötigen. Nicht Erfahrungen, die auf konkreten Lebenswelten und Lebensformen beruhen, bezeichnen die Leitlinien des Denkens, sondern Thesen, die Kommunikations-chancen und -strategien dispensieren. Das bildet die Perspektive, aus der noch einmal die Geschichte von Rosemund und Markhold beleuchtet werden soll. Ihr Verhältnis steht, wie oben gesagt, unter keinem guten Stern. Es wird angedeutet, dass der Konfessionsunterschied zwar das formale Hindernis bildet (obwohl Rosemund die Lutherbibel liest und zur Konversion bereit gewesen wäre) und der Vater die Probleme schon erkennt. Aber die eigentlichen Gründe dürften tiefer liegen und in der (»nationaltypischen«) Charakterstruktur der beiden jungen Menschen begründet sein. Von Markhold hören wir schon auf den ersten Seiten des Buches, er sei von »treu-deutschem geblüt entsprossen« und sei immer »treu-beständig.« Rosemund ist für Markhold gerade eine Probe seiner »keuschen Liebe.« Er habe sie erst nach und nach liebgewonnen: »dan/ wi ich meinem Fräund’ oft-mahls ge56

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Ludwig Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen Germania. Tübingen 1979. (Studien zur deutschen Literatur 59) Imagologie des Nordens. Kulturelle Konstruktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Astrid Arndt, Andreas Blödorn [u. a.]. Frankfurt a. M. und New York 2004. ( Imaginatio Borealis 7). Darin ist auch der große Beitrag von Gonthier-Louis Fink enthalten: Diskriminierung und Rehabilitierung des Nordens im Spiegel der Klimatheorie, S. 45–107. Zesen: SW Bd. XVI, S. 496 f.

106 sagt habe/ ich bin mehr aus mit-leiden/ als aus innerlicher begihr/ zu ihrer libe bewogen worden« (S. 61) – »Ich lihbte si nicht/ sondern hihlt si nur hohch und währt; und kahmen mihr gleich bisweilen verlihbte gedanken ein/ so geschah’ es doch nuhr aus mit-leiden.« (S. 70). Dann aber laufen die Dinge anders und entwickelt sich ein inneres Geschehen, dem Markhold nicht länger gewachsen ist – und »begunte von dähm Nuhn an di Rosemund vihlmehr ihrer himlischen Tugend/ als über-irdischen schöhnheit wägen/ zu liben […] und nuhn-mehr mich selbst zu ihrer gunst- und Libesgeneugenheit zu beräden begunte.« (S. 76) Aber er lernt neben Schönheit und Tugend alsbald eine weniger positive Eigenschaft kennen – »und sahe wohl/ daß er si/ wo nicht erzürnet/ doch gleichwohl arg-wähnisch und schähl-sichtig gemacht/ üm daß er si in seinem lätsten schreiben nicht austrüklich seine Lihbste genännet hatte.« (S. 50). Rosemund gehört zu den seltenen Gestalten, die im Barockroman von Eifersucht gequält werden.59 Argwohn (»Scheelsichtigkeit«) ist in damaliger Liebesethik eine Untugend, ein vitium (»verbrächchen« nennt sie es selbst). Wohin das führt, wird in den Abenteuern während Markholds Pariser Aufenthalts dargestellt: die Liebesgeschichte um seinen deutschen Freund Härzwährt (Treue), den welschen Eiferich (Eifersucht), eine Französin (Leichtsinn) und eine Deutsche (Tugendreich). In diesen Episoden werden Deutsche und Franzosen einander gegenüber gestellt und zusätzlich kommentiert: Man saget sonst ins gemein/ daß di Hohchdeutschen träu-beständig/ di Wälschen Libes-eifrig/ oder schählsichtig/ und di Franzosen leichtsünnig sein. Wehr nuhn solches nicht gläuben wül/ daß es wahr sei/ dehr verfüge sich nuhr hihr-hähr/ und schaue dise drei mänschen-bilder/ den Härzwährt/ als einen Hohchdeutschen/ den Eiferich/ als einen Wälschen/ und dise Franzinne; gleichsam als einen dreifachchen läbendigen entwurf diser drei Fölkerschaften/ mit bedachtsamkeit an. Wahrlich/ er würd nicht läugnen können/ daß Härz-währt/ als ein Hohch-deutscher/ der aller-träueste/ allerhärzhafteste und aller-beständigste sei; daß Eiferich als ein Wälscher/ der aller-libeseifrigste/ aller-schähl-sichtigste und im schändlichen argwahn vertühfteste wühterich sei; und daß ändlich dise Franzinne/ di aller-unbeständigste/ di aller-wankel=mühtigste und aller-leicht-sünnigste sei. (S. 104)

Das der Rosemund aus Paris übersandte »Chanson«– das einer Charlotte gilt! – gefällt Rosemund über alle Maßen, »sonderlich weil es von träudeutscher hand hähr-rührete.« (S. 135) Als Markhold Paris verlassen muss, um wieder zu seiner Rosemund zurückzukehren, dichtet er ein Abschiedslied für die »schöne Luhdwichche«, dessen 2. Strophe das »völkerpsychologische« Thema noch einmal variiert: O Schöne/ dänke nicht/ daß ich zu euren sitten/ von meinen abgeschritten: 59

Antonie Claire Jungkunz: Menschendarstellung im deutschen höfischen Roman des Barock. Berlin 1937, S. 171 ff. (Germanische Studien 190)

107 nein/ nein! Ein deutsches härz ist nih so leichte nicht; wehr pflücht und träue brücht/ ist euren dinern zwahr/ doch Deutschen nicht/ zu gleichen. Du sprüchst selbst wider dich/ wan du di Deutschen preis’st und ihre fäste träu so sonnen-klahr erweis’st/ ja wüllig bist zu weichen. (S. 184)

Die Abenteuer in Paris dienen dazu, Markhold in Kenntnis der »Wollust aus Paris« zu zeigen und seine Beständigkeit zu prüfen beziehungsweise unter Beweis zu stellen. Rosemund erkennt in der Stille und Einsamkeit ihrer Schäferhütte an der Amstel (man hat an eine Art Eremitage zu denken) endlich ihr »Verbrechen« und deren Wurzeln in ihrer »Landesart«. Sie sei eine stolze und hochmütige Venezianerin gewesen, habe aber ihre Untugend eingesehen und in dem einsamen Schäferleben abgebüßt. Sie fasst das Ergebnis ihrer Schäferei als eine innerlich Verwandelte in einem Brief an Markhold zusammen (S. 111/112): »da ich noch hohch-mühtig wahr/ und in meinem angebohrnen stande lähbte« – so die Ausgangslage, zu der ihr jetziger Zustand als Kontrast erscheint: »nahch-dähm ich solchen hohch-fahrenden stand verlahssen/ und nicht mehr in einem so köstlichen hause wohne«: ich habe »mit einem nidrigen schähffer-hütlein meinen muht genidriget/ und meinen unbilligen eifer fahren lahssen.« Damit bittet sie ihren »Geträuen« um Verzeihung. Es kann nicht übersehen werden, dass sie in der großen historisch-politischen Erzählung über ihren Geburtsort Venedig das Gespräch unerwartet auf den angeblichen Stolz und Hochmut der Venezianerinnen bringt. Es heißt, dass das Frauenzimmer dort in »eitelen wohl-lüsten« lebe und sich um nichts sorge, »als seine lüsterne begihrden zu bühssen.« (S. 215). Das beziehe sich auf jenes Frauenvolk, das sich gern »nahch fremden/ und sonderlich hohch-deutschen/ üm-sähe und si durch verehrung/ und dihnst-färtigkeit zur lihbe bewäge.« (ebd.). Rosemund weiß das zu widerlegen, aber ganz sicher ist ihr nicht dabei. Das liest man aus dem zweiten Teil ihres Briefes an Markhold, der oben zitiert wurde: Bin ich gleich mitten im Adriatischen Mehre gebohren/ und den wällen (welche bald from/ bald stille/ bald widerüm ergrimmet und erbohsset/ fohr hohch-muht/ entpohr steigen) in etwas nahch-geartet; so hab’ ich doch itzund solche stürmende wällen-ahrt verlahssen […] ich bin from/ demühtig/ stil und sitsam worden; da ich fohr-mahls […] argwähnisch/ hohch-fahrend/ auf-geblasen und unruhig gewäsen bin. Solche laster hab’ ich nuhn gänzlich/ vermittelst dises nidrigen läbens/ das ich izund führe/ aus meinem härzen vertilget. (S. 112)

Die Schäferei, fernab von der luxuriösen Kultur ihres Zuhauses, führt sie zum natürlichen Verhalten zurück, vor allem jedoch zur Tugend der Demut. Rosemund versteht das selbst in diesem Sinn, als sie den Hochmut folgendermaßen umschreibt: Darunter verstehe ich »den stolz/ […] di hoh-fahrt/ den auf-geblasenen geist/ dehr sich inner den schranken der tugend nicht

108 halten kan/ dehr andere näben sich verachtet/ und keinen hohch-hält als sich selbst.« (S. 217). Dank ihrem Schäferleben, dank auch ihrem Freund Markhold, den sie nicht bekommen kann und soll, hat sie sich gefunden. Sie hat die höchste Stufe der Tugendleiter erklommen, die sie der Unsterblichkeit durch die Kunst würdig macht. Die Wirkungen der Klimatheorie sind in Haupt- und Nebenhandlungen des Romans derart vorherrschend thematisiert und in reflektierenden Kommentaren herausgestellt, dass man sie kaum übersehen kann. Sie sind in ihrer narratologischen Spannungserzeugung zu würdigen. Schon in der Vorrede an den Leser wird die »geile« Liebe der »spanischen und wälschen« Liebesgeschichten von der »wohl-anständigen« Ernsthaftigkeit der Liebe bei den Deutschen unterschieden. Anstatt der Übersetzungen aus den romanischen Sprachen wäre deshalb – wie oben bemerkt – ein eigenes Buch wohl besser. »Solches aber müst’ auch nicht alzu geil und alzu weichlich sein/ sondern bisweilen/ wo es sich leiden wolte/ mit einer lihblichen ernsthaftigkeit vermischet/ damit wihr nicht so gahr aus der ahrt schlügen/ und den ernsthaften wohl-stand verlihssen.« (S. 10). Neben diese Selbstempfehlung tritt die umfangreiche lyrische Feier der Liebe, das Gedicht Lustinne, das Zesen der »un-vergleichlichen Rosemund zu ehren und gefallen verfasset« hat. Darin wird die ernsthafte deutsche Venus, die Freie, ausführlich besungen – »Ganz Deutsch-land stället nuhn der Freien feier ahn …«. Natürlich, auch Markhold-Zesen widmet sich der Liebe, aber doch in der unverfänglichen Art des dichterischen Handwerks, der Literatur, die ohne das Liebesthema (Opitz: »Wetzstein der Vernunft«) einfach nicht denkbar ist. Die errungene Distanzierung von der Adriatischen (welschen) Rosemund passt in das Bild des Dichters, der sich bereits in jungen Jahren in seiner Lyrik der Weisheit versprochen hatte. Der weisheit-liebende Sänger sei, mit Rückgriff auf das 8. Kapitel des Weisheitsbuches, der Unsterblichkeit gewiss: »Mein Gedächtnüß wird bestehn/| Wo die Sterne gehn/| und unsterblich auch verbleiben.« Die hier vorgetragene, mit den zeitüblichen klimatheoretischen Anstrichen der Nationalitätsklischees begründete Deutung unterstreicht nur neuere und neueste Interpretationsansätze wie die von Sandra Krump und Maximilian Bergengruen.60 Krump verweist auf Kommunikationsbehinderungen, die im Roman schließlich zu Missverständnissen und Entzweiung führen. Bergengruen geht von der Zaubermacht der Augen der geliebten »göttlichen Rosemund« aus. Mit ihrem »Blitzen« ziehen sie den Mann mit der fast unaufhaltsamen Kraft der Liebes-Attraktion zu sich heran, bis er ihr 60

Sandra Krump: Zesens Adriatische Rosemund. Gesellschaftskritik und Poetik. In: Euphorion 94 (2000), S. 359–402; Maximilian Bergengruen: Ob ein weiser Mann heiraten und das Gestirn beherrschen soll? Kosmische Misogynie in Zesens Liebeslyrik (und der Adriatischen Rosemund). In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. S. 77–93.

109 erliegt. In dieser Dimension mische der Teufel mit; hier müsse der mannhafte Markhold sich wehren, wie es sein »Abschiedslied« an den Freund erklärt: »reisen mus ich/ oder stärben.« (S. 39, Str. XIV) Die Klimatheorie würde – so die Annahme im Konsens der Meinungen –, fast genau so wie die Sterne, den Menschen (als Teil des Volkes) in seinem charakterlichen Sein in Umrissen bestimmen. Ähnlich wie die Sterne nicht dirigieren, sondern nur ›neigen‹, wirke die lokale Herkunft sich auf das Sosein des Menschen und seine Sitten als Anlagen und Möglichkeiten aus. Sie bedingt dann aber eben so sehr das Selbstbild, wie bei beiden Akteuren dieser Liebestragödie ersichtlich. Sie wurde geschrieben, als Deutschlands Identität während des Dreißigjährigen Krieges Gegenstand vieler Abhandlungen, Predigten, Flugblätter und literarischen Werke war61 und auch in Markholds historischem Deutschlandporträt ausführlich thematisiert wird. Erst eine allmähliche Entwicklung machte die Vorstellung eines Nord-Süd-Gefälles nicht mehr sinnvoll, bis im Lauf des 18. Jahrhunderts eine Umpolung (Ossian statt Homer u.ä.) einen entschiedenen Paradigmenwechsel zur Folge hatte.62 Rosemund endlich ist seit Markholds Abreise nach Utrecht völlig allein und weiß sich nicht zu helfen. Ihre Schönheit verfällt zusehends, die Schilderung des Verfalls wird keineswegs ausgespart, sondern im Gegenteil breit ausgemalt und minutiös festgehalten: Di träu-beständige Rosemund/ di sich nuhn nicht mehr wolte tröhsten lahssen/ und ihres unerleidlichen zustandes wägen / an ihren leibes-kräften sehr abgenommen hatte/ begunte von tage zu tage unbäslicher zu wärden/ und mühete sich so sehr/ daß si ändlich ganz lagerhaftig ward/ und in eine schwähre krankheit geriht. Di fohr-belihbten wangen verfihlen; di augen warden gleichsam wi mit einem blauen gewäb’ üm-gäben/ und lagen schohn sehr tühf in ihren winkeln; di aller-schöhnsten lippen/ di ein mänsch ih-mahls mit augen gesähen hat/ verblichchen wi eine rose zur zeit des heissen mittages; di rägen glider/ der rasche gang/ di über-aus-lustige gebährden/ di anmuhtige höhfligkeit/ di härz-entzükkende leibes-gestalt/ waren ganz verlasset/ und spihleten fast das gahr-aus; der reine klang ihrer so lihblichen stimme ward heisch und unverständlich; ja der ganze leib fleischte sich von tage zu tage so sehr ab/ daß si mehr einem schatten als mänschlichem leibe gleich sahe. (S. 263)

Der Anstand, ihre »angebohrne zucht und höhfliche schahm wolten ihr nicht so vihl gestatten/ daß si sich däs-wägen gegen den Markhold beklaget hätte.« Sie nimmt ihr Schicksal hin, aber ihr Unglück bleibt ihrer Umgebung nicht verborgen. »Di matten blikke ihrer betrühbten augen kahmen mit den hin-fallenden gebährden und ihrer schwachchen stimme dem wohlstande so ahrtig zu hülfe/ daß man dises götliche bild nihmahls so lihblich/ so ahrtig und so libes-entzükkend gesähen hatte/ als da si sich in solchem 61

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Vgl. dazu Nienke Lammersen-van Deursen: Rhetorische Selbstporträts. Nationale Selbstdarstellung in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Amsterdam 2007. (Diss. Vrije Universiteit) Vgl. Fink, in: Imagologie des Nordens, S. 45–107.

110 zustande befand.« Sie verkörpert gleichsam das allegorische Bild der Melancholie, sie ist die Trübseligkeit in effigie: »Wan ein mahler di trühbsäligkeit und das weh-leiden ab-bilden wolte/ so könt’ er in wahrheit kein bässeres gleichnüs und äbenbild dahr-zu fünden/ als wan man si in solcher gestaltnüs entworfen hätte.« (S. 278). Allein in ihrem Zimmer beklagt sie die Unbilden ihres kurzen Lebens, sie seufzt über ihr »ungestümes verhängnüs«. Sie weiß ihren Schatz verloren – »Ich darf nuhn nicht mehr hoffen/ daß sich mein verhängnüs ändern wärde: es ist aus; aus ist es/ und ich wärde das ände bald sähen.« (S. 279). Aber in ihrem Leiden wächst sie über sich hinaus. Sie ist sich dessen bewusst, dass auch Markhold mit leiden wird: »wan ich noch alein unglüksälig wäre/ so solte mich mein unglük nicht so sehr betrüben; aber weil ich weus/ daß ich meinen Gelihbten auch dahr-ein stürze/ so kan ich mich der häftigsten betrühbnüs nicht entäussern/ und wärde mich nimmer-mehr zu friden ställen.« (S. 279). Von dem Augenblick an verfällt sie ganz, ihr schöner Körper scheint schon vom Leben verlassen zu sein. »In-dähm si solche worte mit seufzen här-aus gestohssen hatte/ so lahg si eine weile stok-stille/ nicht anders/ als wan si in ohnmacht gefallen wäre. Di augen waren halb eröfnet/ der mund verblasset/ di zunge verstummet/ di wangen verblichchen/ di hände verwälket und unbewähglich; ja der ganze leib lahg eine guhte zeit gleichsam ganz geist- und sehlen-lohs.« (S. 279) Mit letzter Kraft rafft sie sich zusammen und geht in den Garten hinunter. Die Natur neigt sich zur abendlichen Ruhe und scheint mit Rosemund zu trauern. »Di Sonne wahr nuhn-mehr ganz unter-gegangen/ der mahnd stund mit seiner hälfte zwüschen den stärnen/ und schauete diser trühbsäligen mit traurigem gesichte zu: der himmel selbst wahr aus mit-leiden entställt/ und di wolken wusten nicht (so als es schine) ob si eilen oder gahr verzühen solten.« (S. 280) In völliger Einsamkeit, da sie niemand ihr Leid klagen kann, bleibt sie zurück. »Solcher gestalt ward di wunder-schöne Rosemund ihres jungen läbens weder sat/ noch fro/ und verschlos ihre zeit in lauter betrühbnüs.« (S. 281) Zesens Roman steht in der Gattungsgeschichte des deutschen Romans im 17. Jahrundert isoliert da. Der Typus des höfisch-galanten Romans setzt mit der Trennung eines dem Stand der Herrschenden angehörigen Liebespaars ein, das sich nach vielen Wirrnissen (und Nebenhandlungen) am Ende der verschachtelten Handlung glücklich wiederfindet. Den Schluss bildet die glückliche Vereinigung der Liebenden, deren Liebe durch alle Trennungen hindurch beständig geblieben ist. Hier triumphiert die höchste Tugend der Barockepoche: die geprüfte Constantia;63 entsprechend gestal63

Werner Welzig: Constantia und barocke Beständigkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 416–432. Übrigens spielt der Roman auch in Sachen der Ethik eine hervorragende Rolle. Vgl. Walter

111 tet sich der glückliche Schluss. Der Schäferroman, an dessen Ende häufig eine Trennung steht und der in einem schäferlich-ländlichen Milieu spielt, kommt als Genre, trotz der handlungsrelevanten Schäferepisode, ebenfalls nicht in Frage.64 Die soziale Stellung der handelnden Personen passt weder zum höfisch-historischen noch zum Schäferroman. Das Einzige, das zum ersteren Romantypus passen würde, ist die nachgeholte Vorgeschichte, die hier die ersten beiden Bücher füllt. Zesens Roman spielt übrigens nicht, wie die heroisch-galanten Romane, in räumlicher und zeitlicher Ferne, sondern in der Gegenwart, in den Niederlanden und in Frankreich. Nicht höfisch ist der Handlungsraum, wohl aber spielt die Geschichte in einer Welt verfeinerter (französisch angehauchter) Bürgerlichkeit. Gerade der Umstand, dass sich Zesens Roman in keine der bereitstehenden Romanformen der Zeit pressen lässt, hat mich schon vor Jahren zu anderen Überlegungen geführt, zu denen ich heute noch stehe.65 Vergegenwärtigen wir uns die Lage, nachdem alles, was an Begebenheiten abwechslungsreich genug war, um das Interesse des Lesers festzuhalten. Immer mehr konzentriert sich die Darstellung in Rosemunds beschränkter Umgebung auf Zustandsschilderung. Markhold ist aus Paris zurück, aber ist auffallend untätig, wo es – endlich! – um eine eheliche Verbindung mit der schönen Geliebten ginge. Für Kaczerowsky ist das »quasi-Verlöbnis« Markhold nur lästig, ja »geradezu eine Zumutung«; Körnchen hat es so formuliert, wie es die spätere Forschung hätte übernehmen können: »man hat beinahe die Empfindung, es sei ihm ganz angenehm, um die Ehe herumzukommen.«66 Wie dem auch sei, die Retardierung der Handlung, die in den letzten Büchern nahezu zur Stagnierung führt, lässt volles Licht auf die Hauptperson fallen. Die Nebenfiguren – die Schwester, der Vater, Adelmund, vor allem natürlich Markhold – verschwinden allmählich von der Bildfläche. Zuletzt ist Rosemund allein, sie kann nur monologisieren und über ihr gnadenloses Schicksal reflektieren. Es liegt nahe, an den französischen Seelenroman oder an die Gattung des »portrait littéraire« zu denken, die in Frankreich populär war.67 Dabei geht es nicht um eine Folge von sich

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Ernst Schäfer: Tugendlohn und Sündenstrafe in Roman und Simpliciade. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 481–500. Anders bei Heinrich Meyer: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts (Diss. Freiburg 1928), der der »Adriatischen Rosemund« einen großen Platz einräumt. Auch Kaczerowsky zählt den Roman zum Genre des Schäferromans: Bürgerliche Romankunst, S. 10 ff. Vf.: Philipp von Zesens »Adriatische Rosemund«: Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619–1969, S. 47–122. Kaczerowsky, Bürgerliche Romankunst, S. 122 und 94; Hans Körnchen, Zesens Romane, S. 88. Paul Ganter: Das literarische Porträt in Frankreich im 17. Jahrhundert. Diss. Heidelberg 1939. Ganter führt Ansätze von Arthur Franz fort: Das literarische Porträt in Frankreich im Zeitalter Richelieus und Mazarins. Diss. Leipzig 1905.

112 sukzessiv entwickelnden Geschehnissen, sondern um eine Reihe von Momentaufnahmen und Darstellung von Seelenregungen, etwa von einer tragisch endenden Liebe. In dieser literarischen Gattung vernachlässigen die Autoren die Handlung und verlegen das Gewicht auf die Ausmalung der Wesenszüge eines Menschen und seiner seelischen Eigenart. Aus dieser Perspektive stört der offene Schluss des Romans nicht, man wird im Gegenteil an einer fehlenden Abrundung nichts auszusetzen finden. Denn alles ist gesagt, das Porträt der tugendvollen, »träu-beständigen« und selbstlosen Liebe ist fertig. Rosemund erscheint im letzten Teil des Romans vollends als Ikone der Tugend, sie entspricht dem weiblichen virtus-Ideal im Drama der französischen Klassik, das Liebe als die höchste Tugenderfüllung der Frau betrachtete.68 Mit einem barocken Bild könnte man von Zesens Rosemund sagen: Aus der schnell verblühenden Venusrose ist die christliche Tugendrose geworden, deren süßer Geruch nicht nachlässt, wenn auch die Blüten verwelkt sind. Sie ist wie die Tugendrose, die bei Johann Ludwig Prasch die Worte spricht: »Wiewohl ich sterblich bin/ und heute steh und falle/| So bleibet doch fürbaß mein herrlicher Geruch.«69 Man wäre versucht, an die berühmte Geschichte der Princesse de Clèves zu denken, der in dieser Hinsicht Zesens »Mänsch-göttin« ebenbürtig ist und von der Egon Cohn gesagt hat: »Hier wird in der Tat dem Tugendprinzip alles untergeordnet; in diesem Werk ist die Tugend nicht bloße Redensart, […] sondern essentieller Zentralpunkt […]. Man wird mit gutem Grund die Heldin dieses Romans […] als schöne Seele ansprechen dürfen.«70 Die Adriatische Rosemund hat keine Nachfolge gefunden, wohl aber hat der Verfasser von lutherischer Erbauungs- und ›Lebenshilfe‹-Literatur für die bürgerliche Jugend, Johann Joseph Beckh (Straßburg ca. 1635 – Kiel (?) ca. 1692), den Titel und weitere Handlungskonstituenten für eine von ihm verfasste Romangeschichte an Zesens Werk angelehnt: die Elbianische Florabella (Dresden 1667). Auch hier ist die Konfessionsverschiedenheit ein Grund zur Trennung der (bürgerlichen) Liebenden. Aber Beckh lässt Tragik und Dramatik gar nicht erst aufkommen. Dementsprechend ist das hohe Tugendideal völlig entideologisiert: Ohne viel Aufhebens sucht Amandus sich ein anderes Mädchen, während seine ehemalige Freundin das ohne Klage hinnimmt. Ingeborg Springer-Strand bringt das Geschehen auf die Kurzformel: »B.s Schäferroman wirkt wie ein Lehrbuch für junge Men68

69

70

Vgl. Astrid Grewe: Vertù im Sprachgebrauch Corneilles und seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geistes- und Sozialgeschichte des französischen 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1999. Auch die hier gemachte Unterscheidung zwischen Mann und Frau ist für die »Adriatische Rosemund« möglicherweise von Interesse, etwa: »Für den Mann dagegen darf die Liebesleidenschaft nur schmückendes Beiwerk seiner großen Taten sein, denn seine vertu verpflichtet ihn auf den Dienst an der Allgemeinheit.« (S. 123) Prasch: Gründliche Anzeige von Fürtrefflichkeit und Verbesserung Teutscher Poesie, samt einer poetischen Zugabe, 1680, S. 87. Egon Cohn, Gesellschaftsideale (wie Anm. 39), S. 24.

113 schen, das ihnen den Weg zu einer ›vernünftigen‹, auch zum Verzicht bereiten Liebe weisen soll.«71 Die im Vorhergehenden gestreifte Frage, wie Zesens Adriatische Rosemund auf die zeitgleichen menschenfeindlichen Ereignisse des Krieges in seiner Heimat reagiert, soll den Abschluss der Überlegungen zu diesem mehrschichtigen Roman bilden. Die Frage wird selten gestellt; die kürzeste Antwort wäre: der Roman enthält in seiner Gänze ein Kulturprogramm gegen den Krieg. In Markholds Erzählung von den »alten und izigen Deutschen« wird selbstverständlich die deutsche Tapferkeit (nach Tacitus!) erwähnt, auf die Jetztzeit gewendet, macht Zesen aus seiner Ansicht kein Hehl und spart auch die deutschen Fürsten nicht: Aber/ meine Schöne/ diser angebohrne muht zu föchten/ wi nüzlich und löblich er fohr disem den Deutschen gewäsen ist/ so schähdhlich und verdamlich ist er ihnen wider=üm zu disen zeiten: da sich di Deutschen Fürsten unter=einander selbst auf=räuben/ und das eine teil mit den aus=ländischen fölkern wider ihr eigenes vaterland in verbündnüs trit/ und dässen untergang beförtern hülfet. Jah ich kan es mit rächt seinen untergang nännen; in=dähm di schönsten Stätte/ di lustigsten und prächtigsten Schlösser und Herren=häuser muhtwüllig/ nicht alein verwühstet/ verbrant und eingeäschert/ sondern auch gahr geschleiffet wärden (S. 258).

Apokalyptische Bilder beschließen die Passage, die vor allem den Untergang von menschlicher Größe und von Kulturbauten beklagt: »Der himmel erzittert dafohr/ di wolken wärden bewäget/ di stärne lauffen betrübet/ di sonne verhüllet ihr antliz/ der mahnd erblasset/ und di irdischen uhrwäsen erböben; wan si schauen und sähen di bluhtigen und nimmer=mehr-verantwortlichen verwühstungen« (S. 258). Folgerichtig sind die schönen Herrenhäuser in der prosperierenden, international orientierten Kaufmannsstadt Amsterdam ein wahrhaftes Gegenbild, auf feine Umgangsformen und anspruchsvoll-gesittete Geselligkeit in den Bürgereliten ausgerichtet, dominiert von Musik, Tanz und »höflichen« Gesprächen. Es ist ein denkbar gutes Ambiente für die Entfaltung einer Liebe, wie sie in der Adriatischen Rosemund geschildert wird. Diese Liebe ist auch der Gegenbegriff zum kriegerischen Wesen der Deutschen. Die Liebe soll mit ihrer ethischen Kraft die Sittlichkeit in den deutschen Landen im Sinne der Romangeschichte umgestalten, sie soll der Verrohung ein Ende setzen und endlich eine innere Erneuerung der Nation bewirken. Das ist die programmatische Botschaft dieser Geschichte. Sinn und Bedeu71

Artikel Beckh in Killys Literatur Lexikon, Bd. 1, Gütersloh / München 1988, Bd. I, S. 380 ff. Vgl. auch dies.: Einige Nachrichten zur Biographie J. J. B.s mit einer Bibliographie seiner Werke. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 4 (1977), S. 75–80. Zu Beckhs Roman vgl. Vf.: Johann Joseph Beckhs »Elbianische Florabella.« In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Europäische Tradition und Deutscher Literaturbarock. Bern / München 1973, S. 285–303.

114 tung des Romans sind enthalten im Konzept solcher hochsinnigen Liebe, die den deutschen Dichterjüngling Markhold im wahrsten Sinn so sehr verändert hat, dass ihre Erzählung ihr und ihm »zu einem unstärblichen namen« gereicht (S. 281). Fern jeder Ideologie ist Liebe hier eine alles erschütternde Elementarkraft. Entsprechend sollen sich die Begebenheiten »mit einer lihblichen ernsthaftigkeit vermischet« zeigen, wie die Vorrede es umschreibt. Damit stellen sie sich dem frivolen Scherz und dem neckischen Geschäker, wie sie offenbar als Gesamtcharakteristik des romanischen Liebesromans präsumiert werden, plakativ entgegen – und das selbstverständlich nicht zuletzt als Eigenempfehlung … Der romanpoetische Entwurf, der sowohl ethische wie ästhetische Aspekte anspricht, steht in einem interessanten Argumentationszusammenhang, in dem die neue Romanform, in der die »lihbliche« Ernsthaftigkeit mit dem »ernsthaften wohl=stand« korrespondiert, die als das Ergebnis der »gebuhrts=ahrt« der Deutschen gilt, ein deutsches Nationalbewusstsein in der Literatur artikuliert. Ihre Grundlage ist allerdings die Annahme, dass das Eigene sich vom Fremden – das heißt hier das ›Welsche‹ – resolut zu unterscheiden habe. Der reklamierte Kulturpatriotismus und die ethische Erneuerung der Nation bilden auch die Wirkziele der Deutschgesinneten Genossenschaft, auf die Rosemund als Symbol der Liebe bezogen ist (sie hieß auch »die Rosengesellschaft!«). So steht somit auch die Sprachgesellschaft in diesem Zeichen der Liebe als eines treibenden Prinzips ihrer Ideale. Auf diese Weise erhält die Rosemund-Geschichte ihr Profil. Ihre kulturhistorische bzw. kulturpolitische Bedeutung dürfte den Stellenwert in der Romangeschichte um ein Vielfaches überragen. Nicht das unverkennbar autobiographische Unterfutter und das Ausleuchten menschlich-privater statt repräsentativ-politischer Schicksale ist das Besondere als vielmehr die Erhöhung des Privaten zum Exemplarischen. Das gilt insbesondere für die tragische Heldin, in anderer Hinsicht auch für ihren Markhold, der doch nur ihr Los erfüllen muss. Rosemunds Geschichte steht im Zeichen des Abschieds und der Vergänglichkeit. Abgebildet wird sie, wie sie weinend, am Stamm eines hohen Palmbaums angelehnt, den Weggang des Geliebten, dessen Schiff man in der Ferne davonsegeln sieht, betrauert. Die Rose, das Attribut der Venus und Sinnbild der Rosemund, ist in der bekannten emblematischen Bedeutung das Zeichen für eine rasch welkende irdische Schönheit. Das mythologisch-emblematische Programm des Prunkleuchters und der Gemälde sowie die beigegebenen Sprüche machen das Zimmer der Adelmund – das der Erzähler »di wal=stat unserer niderlage« nennt (S. 68) – zu einem allegorischen Raum des Feuers, des Brennens und Vergehens. Nur die Kunst könne das Leben über die Zeit hinausheben. Die Rose muss sich dann mit der Palme verbinden, dem immergrünen Baum der hl. Schrift (Ps 92, 13 ff.), bedeutungsträchtigem Sinnbild der Fruchtbringenden Gesellschaft (auch

115 Palmenorden genannt) und auch dem persönlichen Symbol Zesens als »Ertzschreinhalter« der Deutschgesinneten Genossenschaft. Es heißt ja im Helikonischen Rosen-tahl (SW, Bd. XII, S. 225 f.), Zesen führe »neben dem nahmen des Färtigen/ zum Zunftzeichen/ den Indischen Palmbaum/ durch einen Ehrenkrantz von weiss=vollen und leib-färbigen hundert=blätrigen Rosen belästiget; mit beigefügtem Zunftspruche: Last häget lust«. Auf solche allegorisch-emblematische Zusammenhänge verweist bereits das Titelkupfer. In der unteren Bildhälfte wird links ein Herz mit Rosen, an denen sich ein Cupido zu schaffen macht, durch eine Kette mit der Göttin Venus verbunden. Auf der anderen Seite ist auf gleiche Weise ein von einem Palmbaum gekröntes Herz mit einer Pallas-Gestalt verknüpft. Sowohl die Rose wie die Palme beziehen sich über den darunter angebrachten Sinnspruch »Last hägt Lust« auf den Oberzunftmeister Zesen. Mit Pallas, der Göttin der Weisheit, hatte er schon früh ein symbolisches Bündnis geschlossen, wie aus manchen Gedichten klar hervorgeht. Durch die Zuordnung der Venusblume zur Göttin der Weisheit und der Künste wird im Titelkupfer, also in einem Akt der Kunst, die Adriatische Rosemund der Zeit enthoben. Ihr Name ist deutlich sichtbar erhöht und prangt auf dem Schild, den Venus und Pallas gemeinsam dem Betrachter entgegenhalten. Gezeigt wird damit eine Verewigung durch die Kunst, die der Vergänglichkeit trotzt: Stehend auf den Wolken der Ewigkeit heben die Göttinnen die Adriatische Rosemund in die Sphäre des Überirdischen, die von der Sonne der Ewigkeit hell beleuchtet ist. Der Mundtere (Matthias Palbitzki) hat die Verewigung in seinem Ehrengedicht »Auf di ROSEMUND« festgehalten – »So kan kein tohd/ di Rose=mund erreichen| Di dise schrift däm stärblich=sein ent=reisst.« (S. 286) Im Bildprogramm wird die Blickrichtung konsequent auf die Verewigung der Heldin gerichtet. Das Titelkupfer zeichnet die Bahn vor, in der sich der Erzähler zielstrebig vorarbeitet, bis er sein poetisches Ziel erreicht hat: »das rühmliche gedächtnüs der über=mänschlichen Adriatischen ROSEMUND.« Mit diesem Satz endet die Romangeschichte, die alles auf die Vorbildlichkeit derjenigen Frau ausgerichtet hat, die sinnbildlich und sinnstiftend die literarische Arbeit Zesens und seines Schriftstellerkreises beherrschte. Auch die Umgebung, in der sie in der Amsterdamer multikulturellen städtischen Gesellschaft lebt, ist signalhaft für das angepeilte Elitepublikum, wie Zesen es sich gedacht hat. Das repräsentative Wohnhaus von Rosemunds Vater an einer der bekannten Grachten hat Markhold gleichsam verzaubert. Optische und akustische Reize gehen dem Erscheinen der Rosemund voraus. Der Erzähler verweilt lange bei dem kunstvoll gearbeiteteten Brunnen mit einem Laubengang, wo er Rosemund zuerst singen hört. Die Sinne werden schon in Schwingung versetzt, bevor die Schöne vom Erzähler eingeführt wird. Behutsam wird die Spannung gesteigert. Der junge

116 Mann schwebt »zwischen hofnung und furcht«, als sich die Tür öffnet. Der Eindruck ist überwältigend. Das »schöne Wunder« (S. 73) wird mit blendenden Lichtwirkungen der Natur verglichen: das »wunder=lücht« ist »gleich=sam wi das lücht der Sonnen«, das plötzlich hinter schwarzen Wolken hervorbricht (S. 72). Es ist »wi der bliz«, der die Menschen erschreckt und »di augen verlätset« (S. 73). Die Stille, die ihr Eintreten in der kleinen Gesellschaft bewirkt, ist wie die Ankündigung eines Gewitters – »es dauchte mich/ als wan sich izund das wetter kühlete/ als wan lauter blizlende strahlen üm mich härüm schwäbeten« (S. 73). Das lässt die blitzenden Augen der petrarkistischen Dichtung weit hinter sich. Rosemund »kahm in einem solchen glanz’ und solcher hoheit härein geträten« (S. 73), dass ihre Erscheinung an den Glanz fürstlicher Majestät erinnert; es war unmöglich, »si ohne verzükkung an zu schauen« (S. 74). Was jedoch dieser unwiderstehlichen weiblichen Schönheit die Krone aufsetzt, sind gesittete Umgangsform und Körperhaltung sowie Gebärden (»hohch=ansähnliche gebährden«, S. 74), insbesondere aber die hohe Kunst des Gesprächs: Ach! Mein Fräund/ wan ich ihm di klugen räden/ di si damahls mit solchen wohl=anstähndigen und färtigen gebährden so meisterlich verschönern konte/ daß man nicht wuste/ ob man ehrst das gehöhr oder das gesichte gebrauchen solte/ alle mit einander erzählen würde/ so müst’ er gestähen/ daß ich si noch nihmahls nach würden geprisen habe. (S. 75)

Sie leitet das Gespräch und beherrscht es, ohne dass es im Monologisieren erstarrte. Sie fasziniert die Zuhörer, so dass sie zum natürlichen Mittelpunkt und Schaltpunkt des Kreises wird: »Wan si zu räden begunte/ so ward also=bald ein stil=schweigen unter uns allen/ und ein ihder wahr begihrig zu hören/ was dise Schöne führ=bringen würde […] nihmand wahr unter uns allen/ dehr si nicht liber gehöret/ als selbst gerädet hätte« (S. 75). Darin liegt auch die Modernität des Romans. Die Kunst des Gesprächs, in der sich die französische Lebensart und Kultur niedergeschlagen hat, beherrscht Rosemund perfekt. Harsdörffers Diktum, »daß gute Gesprech gute Sitten erhalten und handhaben« (Frauenzimmer Gesprächspiele I, Nürnberg 1644, S. 17) beleuchtet die sozialgeschichtliche Bedeutung der Gesprächskultur im geselligen Umgang, die für die höheren Schichten der Patrizier und Kaufleute ein unabdingbares Element der »urbanitas« bedeutete. Die sich kulturell neu artikulierende Gesellschaftsschicht suchte nach neuen Lebens- und Umgangsformen. Die Romania war bereits vorangegangen. Neben Castiglione und Antonio de Guevara sind etwa zu nennen: Stefano Guazzos La civil conversatione (1574, ein echter Bestseller) und der Essay von Michel de Montaigne De l’art de conférer. Die Gesprächskultur wurde in Frankreich durch die Salons von Madame de Rambouillet und

117 Mademoiselle de Scudéry gefördert, sie gelten als Beispiele für eine »wirklich kulturbildende Institutionalisierung von Geselligkeit«, wie es Claudia Schmölders in Die Kunst des Gesprächs72 genannt hat. Hier greift das Gespräch in die Gesellschaft aus, beteiligt durch sprachliche Interaktion mehrere Personen und bindet sie zu einer sozialen Gruppe zusammen, in der die Konversation eine kulturspezifische Geselligkeit stiftet, deren distinktive Besonderheiten (»préciosité«) auch über den Kreis hinaus ihre Wirkung entfalten konnten. Die französische Liebesethik hat der Frau die besondere Position eingeräumt, im Kreis der Gefühle den Mann zu führen, ihn zu veredeln und zur Sittlichkeit zu erziehen. Davon gibt auch der »italienische Knigge«, der Galateo des Giovanni della Casa (1554), in der deutschen Übersetzung von Michael Rumpf einen guten Begriff: es ist ein Traktat über die guten Sitten.73 In der Adriatischen Rosemund sind die »wort-gepränge« und die »höhflichen räden« ein Echo jener französischen/ italienischen Kultur. Als »Rhetorik des privaten Kreises« ist die Gesprächskunst Gegenstand einer sorgfältigen Erziehung. Sie sieht das Einhalten konventioneller Spielregeln vor, die sich im je aktuellen Begriff von Anstand trendmäßig entwickeln. In diesem Geist ist Rosemund erzogen worden, so dass sie auch in der zeitweilig angelegten Schäfertracht ihr Verhalten danach ausrichtet: Als si nuhn noch eine lange zeit gehöhflet hatten/ und dise prunk-räden kein ände nähmen wolten/ in=dähm ein ihder das feld zu behalten gedachte/ so brachte si Adelmund noch ändlich von einander/ und sahgte mit lächlen zur Rosemund: ›Ich vermeinte/ daß ich eine Schähfferin besuchen wolte/ aber ich befünde/ daß unter einer schäfferin tracht di aller=sünlichste und gnaueste höhfligkeit/ di man auch am erz=königlichen hofe/ unter däm Käserlichen Frauen=zimmer/ zu Wihn kaum anträffen würd/ verborgen lihgt. Meinem Bruder hab‹ ich solches wohl zu=getrauet/ weil er gleich izt vom hofe kömt/ und solcher hohf=sitten und wort=gepränge gewohnet ist; aber einer schähfferin/ hätt’ ich nicht gedacht/ daß es anstehen solte/ oder daß si in dehrgleichen nuhr etwas erfahren wäre. (S. 125)

Markhold, der perfekte Amant, steht Rosemund nicht nach. Er versteht sich darauf, die verschiedenen Stufen und Grade des rhetorischen Arrangements zu reflektieren und geschickt auszunutzen. Das zeigt etwa die Stelle, in der er um die Gunst der »Böhmischen Gräfin« wirbt (S. 167). Der Raum der Handlung ist den exklusiven Umgangsformen angemessen. Die kostbare Einrichtung wird schon zu Beginn hervorgehoben. Der bevorzugte Ort für Rosemunds bezaubernde Erscheinung ist aber der Garten, der idealtypische Ort der Liebesromane, wo die blühenden Rosen, Lilien, Tulpen und Narzissen zu einem Vergleich mit der Schönheit der Dame einladen. Zum Garten gehört hier der Brunnen, ein wahres Prunkstück nach dem Geschmack der Zeit. Hier hält sie sich, in Gedanken versunken, gern 72 73

München 1979, dtv, S. 32. Heidelberg 1988.2. Aufl.1995

118 auf, in der zeittypischen Einsamkeit, in der sie sich »mit ihrer lauten ganz aleine befand/ und dem sprüng=brunnen zu=sahe« (S. 80). Die zarte Laute hat es Markhold angetan, er verspürt die Wirkung die ihr »uberaus lihbliches lauten=spihl« auf ihn ausübt – »ich wuste nicht ob ich bezaubert« (S. 57). Der stille Ort des Gartens, das private Beisammensein der Liebenden, bei dem rieselnden Brunnen und der flüsternden Laute bewirkt das Zusammenstimmen zweier empfindsamen Herzen. Vor unseren Augen ersteht das Bild einer jungen Frau und ihrer Lebenswelt, wie sie weniger realiter als idealiter existiert. Es ist die stilisierte Gesellschaft der »honnêtes gens«, in der die »politesse mondaine« das alles bestimmende Leitbild ist: Ich neugte mich/ dem wälschen gebrauche nahch/ führ ihr zur ärden nider/ ihren flügel=rok zu küssen/ und baht si üm verzeuhung/ daß ich so verwägen sein dürfte/ ihre vihlleicht anmuhtige gedanken zu verstöhren. […] Si boht mihr ihre hand/ und sahe mich auf di seite mit solchen lihblenden blikken an/ daß ich dadurch in wahrheit nicht wenig verwundert wahrd. Dan dis aus=erlesene libes=kind hat solch-ein lihbliches/ solch-ein fräudiges/ solch-ein freundliches und holdsähliges gesichte/ daß es einen/ ich weus nicht wi weit/ zu sich lokken solte: jah man konte si nihmahls ohne verzükkung anschauen/ sonderlich wan si di flinkernden augen mit halb=zitterlichen blikken auf einen zuwarf. (S. 81)

Das ist die Szenerie, in der sich das Je-ne-sais-quoi ereignet, welches das Unaussprechliche der Liebesblicke bedingt. Danach richtet man sich auch in Amsterdam, man genießt den Schmelz der Empfindsamkeit und den erlesenen Geschmack in Dingen der Kunst. Das ist nun nach Zesens Willen das Vorbild für die zerstrittene deutsche Nation, an die er in der Vorrede zum Rosemund-Roman appelliert. Die aus der kulturhistorischen Position im Dreißigjährigen Krieg zu erklärende Frontstellung gegen den vermeintlich schädlichen französischen Einfluss in puncto Liebesethik bewirkt eine Emporstilisierung angeblich deutscher nationaler Eigenschaften. Markholds Wesen und Entscheidungen haben infolge der Kontrastzeichnung ein deutsch-nationales Übergewicht, das (wenn das aus heutiger Perspektive auch naiv anmutet) strategisch eingesetzt wurde. Zesens Adriatische Rosemund nimmt, weil der Roman sich – allerdings mit Überlängen in der Darstellung – auf einen entscheidenden Punkt deutschen Nationalbewusstseins konzentriert, einen besonderen Platz in der Entwicklung des Nationalgefühls ein. Indessen bildet die Schäferepisode, in der Rosemund sich von Grund auf ändert, tatsächlich eine unumkehrbare Wende für sie und ihr Schicksal. Nach wie vor symbolisiert sie die antike Liebesgöttin, die Venus, der sie auch durch ihren Namen als ›Rosenkind‹ verbunden ist. Sie wird aber aus dem heidnisch-mythologischen Umfeld losgelöst, mit einigen wenigen Strichen an die Neuzeit angeglichen und christianisiert. Bis zum Schluss zeichnet sie sich durch ihre »Treu-Beständigkeit« aus, als sie Markhold freigibt und das gelobt »fohr Got und fohr der ganzen wält« (S. 136). Wenn irgend,

119 ist in ihrem Verhalten die Beständigkeit oder die Constantia offenbar geworden. Sie verkörpert gleichsam diese Haupttugend des Jahrhunderts, die der Leidener Professor Justus Lipsius eine »vnbewegliche stercke des gemüts« genannt hat, »die von keinem eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder vntergedrückt wird«.74 Die Constantia ist auch eine typische Märtyrertugend, in der Rosemunds aufrichtige Frömmigkeit hervortritt. Wie im dramatischen Moment der Glorifizierung das barocke »AdjeuWelt« in Form des contemptus mundi erklingt, so ist es auch hier: »alle schäzze der wält/ alle reichtühmer und alle herligkeit halt’ ich vergänglicher und vihl geringer als rauch. […] es ist aus; aus ist es/ und ich wärde das ände bald sähen« (S. 279). Die Erinnerung an ihre Venus-Komponente ist ihr aber noch ebenso gegenwärtig wie dem Leser. Nicht ohne Hintersinn bezieht sie im ›Bekehrungsbrief‹ an Markhold, in dem sie im Schussfeld der eigenen Vorwürfe den Sinneswandel kontrastiv thematisiert, die traditionelle Metapher der »Schaumgeborenen« auf sich bezieht (»Bin ich gleich mitten im Adriatischen Mehre gebohren …«). Die Herkunftsgeschichte der »Schauminne« war selbstverständlich bekannt. Die Aphrodite Anadyomene (»die aus dem Meer Auftauchende«) war nicht nur Gegenstand von Botticellis berühmtem Gemälde »Geburt der Venus« (Florenz, um 1478), sie wurde auch in der ornamentalen Kunst häufig dargestellt. So auch in Sünnebalds Wohnhaus, mit den beigegebenen Versen: »Aus däm Mehre bin ich kommen« etc., die oben bereits zitiert worden sind und in denen vor allem folgende Verszeilen die individuelle Färbung unterstreichen: »Meinen krum=gekrüllten hahren hat die wild-erbohste Se (wi di hohlen wällen waren) gleiche krümmen eingetrükket/ da des schaumes silber blikket in di höh.« (S. 67 f.)

Die Haare und die Wellen sind die metaphorischen Bindeglieder. – Nicht von ungefähr hängt im Gemäldesaal von Sünnebalds Stadtwohnung neben der antiken Aphrodite eine Darstellung der »Deutschen Lustinne«. Sie wird »Freie« genannt; als die Ehegattin des Königs Istevon (S. 68) ist sie eine Gestalt der germanischen Mythologie. Für ihre Darstellung scheint es kein Vorbild in der Ikonographie zu geben. Ihre Figur mit Attributen scheint vielmehr aus Zesens Phantasie entsprungen zu sein. Ihre Darstellung im Gemäldesaal wurde oben beschrieben. An dieser Stelle interessieren den »blau=angelauffenen halben harnisch/ mit vergüldeten schupen«, ihre Füße (»Mit dem rächten fuhsse trat sie auf einen Löwen/ und mit dem linken auf einen Lind=wurm«) und ihre Blicke: »Aus ihrem gesichte blikte 74

Von der Bestendigkeit. Ed. L. Forster, 1965, S. 10

120 so ein fräund=sähliger schein/ und zugleich ein durchdrüngendes ernst=haftes wäsen«). Diese deutsche Venus, die Zesen später in seinem mythologischen Handbuch beschreibt (1688), war wohl eine von ihm ausgebildete Spezialität. Sie setzt sich aus Komponenten zusammen, die auf Pallas (Minerva) wie auf Venus verweisen. Der halbe Harnisch mit der blauen Farbe erinnert an Pallas, wie Zesen selbst (mittels des eigenen latinisierten Familiennamens Caesius) sich als »blauer Ritter« oder »Ritterhold von Blauen« und dergleichen in die Jüngerschar dieser Göttin der Weisheit und Klugheit bzw. Kunst einordnet. Auf die Pallas-Farbe, die zugleich die Farbe Markhold-Zesens ist, hat Rosemund ihre Behausung in der Schäferei abgestimmt, in der »nichts als lauter blaues zu sähen wahr« (S. 125). An eine Venus-Darstellung in den Heidnischen Gottheiten gemahnen sowohl Zepter wie Schwert; die sog. »gewafnete« oder »ritterliche Venus« (Mann und Frau zugleich) ist ein Venusbild, das »einen Reichsstab führt«, »wiewohl es mit Frauenkleidern angetahn ist«. Das Herz mit den Feuerflammen ist wohl eindeutig, die Psalm-Allusionen (Ps 91,13 f.) wohl ebenfalls. (S. 682). Das aus bedeutungsschweren Teilen zusammengestellte Bild ergibt als Ganzes eine Montagegestalt, die den in der Leser-Vorrede des Romans herausgestellten Eigenschaften Freundseligkeit, liebliche Ernsthaftigkeit und ernsthaftes Wesen voll entspricht. Ihr, der deutschen Freie oder Lustinne, gilt die dem Roman beigegebene große Dichtung namens LUSTINNE, der »un=vergleichlichen ROSEMUND« zu Ehren verfasst und als eine lange Rede »An die über=irdische ROSEMUND« konzipiert. Die deutsche Venus hat so einen eigenen Platz bekommen. Sie ist die Patronin der deutschen Liebesgeschichte, die Zesen den Lesern als Alternative zu den welschen Liebesromanen versprochen hat. In diesem Signum steht also die Adriatische Rosemund. Das idealistische Konzept des Romans findet in der Herrschaft der Deutschen Lustinne seinen Ausdruck. In der »Schuz-räde« zum Ibrahim Bassa (1645) wird hervorgehoben, »dass die Deutsche Freye/ so bishär in allen Landen deines Reichs gleichsam räde-loos und fast verjagt gewäsen/ den Zwäk dieser ganzen Geschichte wirke« (SW Bd. V/1, S. 8 f.). Rosemund, der schaumgeborenen Venus zunächst näher und ihr auch charakterlich ähnelnd, gleicht sich in der Schäferepisode mehr und mehr der deutschen Venus an. Die Annäherung an die »ernsthafte« Venus der Deutschen erhält mit der blauen Farbe eine besondere Note. Denn die blau ausstaffierte Schäferhütte ist zwar der »symbolische Andachtsraum der auf Markhold bezogenenen Verehrung« (Kaczerowky) und so das emotionale Instrument einer nahezu totalen psychischen Vorbereitung auf ihr »Blaues Wunder« (S. 126). Aber sie ist über die blaue Farbe – und zwar in nicht weniger auffälliger Weise – auf die deutsche Lustinne bezogen, deren »blau=angelauffener« Harnisch so penetrant das ›treudeutsche‹ Element kodiert.

5.

Romankunst II – Die biblischen Romane

5.1

Assenat

Mich deucht/ ich sehe die Welt ihr leschhorn rümpfen. Mich dünkt/ sie ziehet das maul. Ich höre/ sie fraget: was ungewöhnliches/ was seltsames/ was neues ist dis? Sie siehet/ daß ich diese Liebesgeschichte heilig nenne. Das komt ihr fremde vor. Darüber verwundert sie sich. Darüber kreuset und kreutzet sie mit dem zeiger. Freilich ist es was neues/ was fremdes/ was seltsames. Ja es ist was heiliges/ dergleichen auf diese weise noch niemand verfasset.1

Wenn jemand so laut ins Horn stößt und so lärmend die Werbetrommel rührt, wie Zesen hier am Anfang seines Assenat–Romans, darf man sich tatsächlich auf etwas Interessantes und Neues gefasst machen. Es wurde auch allmählich Zeit. Die ›private‹ Geschichte der Adriatischen Rosemund hat auf die deutsche Romanentwicklung nach 1645, als neben Zesens eigenem Roman auch die Scudéry-Übersetzung Ibrahim Bassa bei Elzevier erschienen war, keinerlei Wirkung gehabt. Die Großform des typischen Barockromans (des »höfisch-galanten Romans«) mit der auf Spannung angelegten Handlungs- und Personenfülle bot Zesen offensichtlich keinen Anreiz, in dieser bekannten Richtung weiter zu arbeiten, weil er hier keine Lorbeeren verdienen konnte. Das Experiment des Pfarrers Andreas Heinrich Bucholtz, in seinen Romanen das Germanisch-Heroische mit dem Christlich-Erbaulichen zu verbinden,2 haben seine Romantätigkeit ebenfalls nicht angeregt, obwohl er sicher über die allgemeine Beliebtheit dieser Romane Bescheid gewusst hat. Bucholtz hatte den weltlichen Roman abdrängen wollen, indem er das »schandsüchtige AmadisBuch« ersetzte durch von christlicher Erbauung durchzogene Geschichten. Zesen hat das Problem anders und zwar dadurch gelöst, dass er den christlichen Charakter in den Stoff (die materia) selbst verlegte und so den weltlichen Roman durch eine »Heilige Stahts- Lieb 1

 2

Zesen: Assenat. SW Bd. VII, S. 9 (»Dem Deutschgesinten Leser«). – Es wird die Schreibung Josef um der Einheitlichkeit beibehalten. Des Christlichen Teutschen Großfürsten Herkules Und Der Böhmischen Königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte. 2 Teile. Braunschweig 1659/60; Der Christlichen Königlichen Fürsten Und Herkuladisla Auch Ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuhtige Wunder-Geschichte. Braunschweig 1656 und 1676. Frankfurt und Leipzig 1713. Vgl. Ulrich Maché: Die Überwindung des Amadisromans durch Andreas Heinrich Bucholtz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 542–559.

122 und Lebens-geschicht« überwand und anhand der biblischen Geschichten erarbeitete. Er macht es dem Leser leicht, sich im Buch zurecht zu finden und das Neue ohne Mühe und Aufwand zu erkennen, denn in der Leservorrede legt er seinen Plan dar. Fragstu/ warüm ich sie h e i l i g nenne? Freilich ist sie heilig/ weil sie aus dem brunnen der heiligen Geschichte Göttlicher Schrift geflossen. Zudem handelt sie von der A s s e n a t / die aus einer Egipterin eine Ebreerin ward. Ja sie handelt von J o s e f / der ein Nachkömling und Sohn der heiligen Ertzväter war und selbst ein Ertzvater worden; indem er zween Stamväter des heiligen Volks der Ebreer gezeuget. Die A s s e n a t war nicht allein eine gebohrene Fürstin; sondern auch eines Geistlichen Tochter/ und selbst eine geistliche Jungfrau. Darnach ward sie auch des J o s e f s Gemahlin/ und zugleich eine Mutter des Efraimischen und Manassischen Stammes. Ja sie ward eine Ertzmutter/ wie J o s e f ein Ertzvater/ dieser zween Stämme des heiligen Volks I s r a e l. Darzu komt noch dieses/ daß die Liebe der A s s e n a t so wohl/ als des J o s e f s rein/ keusch / und heilig gewesen.3

Das Folgende geht auf die Stellung des Liebesromans im internationalen Kontext ein. Die Ausländer seien vorangegangen, die Griechen mit Heliodor, die Spanier und »Wälschen«, die Franzosen und Engländer, schließlich auch die Hoch- und Niederdeutschen. »Aber nun sollen diese letzten in den Nicht-heiligen und weltlichen/ die ersten sein in den Heiligen. Hierzu veranlaßet sie hiesige feder« (S. 9).4 Sodann wird die damalige Romantheorie und die Stellung des vorliegenden Romans darin erläutert. Es gab damals zwei Richtungen, die häufig auch im Romantext selber bzw. im Vorwort diskutiert wurden. Eine legte den Akzent auf die Fiktionalität und nahm für sich eine deutlichere, exemplarische Sichtbarmachung der ethischen Botschaft in Anspruch (»Tugendlohn« oder »Sündenstrafe«). Die andere plädierte, teilweise in Nachfolge der Scudéry, für eine möglichst enge Annäherung an die historische Wahrheit oder zumindest ihre Wahrscheinlichkeit (»vraisemblance«).5 Zesen nimmt nun aber eine grundsätzliche Akzentverschiebung vor, die noch weiter auf die historische Wahrheit zu geht. Hatte er sich in der Vorrede schon mit hörbarem Ärger über die Liebesromane seiner Zeit geäußert (um die eigene Position nachdrücklicher beleuchten zu können), wird hier  3  4

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Assenat, S. 9 f. Im Folgenden werden Zitate aus dem Roman nur mit der eingeklammerten Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Vf.: Roman und Geschichte. Zu ihrem Verhältnis im 17. Jahrhundert. In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster. Hg. v. Dennis H. Green u. a. Baden-Baden 1982, S. 451–471. Zum Thema ist der kenntnisreiche Aufsatz von Stefan Trappen zu vergleichen, der umgekehrt argumentiert und für die Fiktionalität eintritt: Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit. Über den Gegensatz zwischen »fabula« und »historia« und seine Bedeutung für die Poetik. In: Simpliciana XX, 1998, S. 137–163.

123 die unmittelbare Gegenposition angesteuert. Die meisten Liebesromane seien erfunden und ersonnen (»fast bloße Gedichte«), in ihnen wird nicht auf die Wahrheit geachtet, sie werden »mit erdichteten wunderdingen ausgezieret/ ja oft im grundwesen selbst erdichtet […]; damit sie in den gemühtern der Leser üm so viel mehr verwunderung gebähren möchten.« In ihnen wird »die wahrheit mit einer andern gestalt vermummet/ und mit wahrscheinlichen/ auch oftmahls kaum oder gar nicht wahrscheinlichen erdichtungen vermasket/ ja selbsten verdrehet; damit sie üm so viel schöner/ üm so viel herlicher/ üm so viel prächtiger ihren aufzug tuhn möchten.« (S. 10 f.). Die Ausführlichkeit hat Methode, denn sie soll den grundsätzlichen Unterschied zur Romanproduktion der Kollegen bloßlegen und das Eigene ins Licht rücken. Aber diese meine Geschicht ist/ ihrem grundwesen nach/ nicht erdichtet. Ich habe sie nicht aus dem kleinen finger gesogen/ noch bloß allein aus meinem eigenen gehirne ersonnen. Ich weis die Schriften der Alten anzuzeigen/ denen ich gefolget. […] Hier […] haben wir keiner erdichtungen nöhtig gehabt. Die nakte Wahrheit dieser sachen/ davon hiesige Geschicht handelt/ konte solches ohne das genug tuhn. (S. 10 f.)

Die Anmerkungen – es sind weit mehr als sonst üblich! – geben die Quellen an, wo die Bibel »entweder zu kurtz redet/ oder aber gar schweiget« (S. 11). Sie enthalten deshalb interessantes Faktenmaterial, nach Meinung des Autors sogar derart bedeutsam, dass man sie »zuallererst lese.« (S. 11). Zesen geht auch auf das außerbiblisch-fremde Material, das neben der Heiligen Schrift herangezogen wurde, genauer ein. Dieses habe er allerdings, obwohl er die Geschichte »in ihrem gantzen grund-wesen […] heil und unverrükt gelaßen« (S. 10), »zu weilen[…] einen höhern und schöneren schmuk und zusatz/ der zum wenigsten wahrscheinlich/ gegeben« (ebd.). Zesen hat in den Hauptzügen der Handlung die biblische Darstellung nach Genesis grundgelegt: Gen 37 und 39–50 (Kap. 38: Juda und Thamar), schließlich, da Zesen eigene Akzente setzt, im sechsten und vorletzten Buch die weiterführenden Partien: Gen 41, 46–57: 42–46; 47, 1–26. Weitere Quellen sind die Historia Assenat und Testament vnd Abschrifft Der Zwölf Patriarchen.6 Mit Recht hat Meid darauf hingewiesen, dass durch die medias-in-res-Technik die Familienszenen in den Hintergrund geraten, Jakob und seine Sippe, aber auch die erste Reise der Söhne nach Ägypten über die Erkennungsszene bis zu Jakobs Audienz bei Pharao. Dafür wird Josefs Jugend bis zur Ankunft in Ägypten in einer Vorgeschichte (2. Buch) nachgeholt.7 Die ersten beiden Bücher bilden nach Meid die Exposition: Josefs Ankunft in Memphis, seine und Assenats Jugendgeschichte, Träume,  6

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Beide Werke wurden in einem Druck von 1664 zusammen gebunden. Ex. Göttingen, 8° Theol. thet. I 778/53. s. Werner Volker Meid, Zesens Romankunst. Diss. Frankfurt a. M. 1966. S. 52, Anm. 7. Die Texte finden sich auch in J. A. Fabricius: Pseudoepigraphicus Veteris Testamenti, 1713. Meid: Zesens Romankunst. S. 44.

124 die die Zukunft festzulegen scheinen und auf das folgende Geschehen vorausdeuten. Das dritte und vierte Buch erzählt die Erfüllung der Träume: Potiphars Weib, Gefängnis, Erhöhung. Im vierten Buch ereignet sich mit Josefs Erhöhung die Wende. Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit: Die dreijährige Gefängniszeit wird auf ganzen dreizehn Seiten dargestellt, das sich anschließende achttägige Fest, wobei Josef zum Vizekönig (Schaltkönig) erhöht wird, braucht gut den dreifachen Umfang. So spiegeln die Zeitverhältnisse und der Schauplatzwechsel im Roman den unerwarteten und unerhörten Umbruch im Leben Josefs. Das fünfte Buch erzählt die Begegnung mit Assenat und führt bis kurz vor dem Hochzeitstag. Das sechste beginnt mit dem Fest und wird mit Verwicklungen verschiedener Art breit geschildert, darauf erst folgt die Familiengeschichte. Das letzte Buch umfaßt 66 Jahre, einen sehr langen Zeitraum also, der mit Assenats, Jakobs und Josefs Tod markiert wird.8 Als höfisch-galanter Roman gelesen, muss der Roman wegen der im Vergleich wenigen Personen und wenigen Verwirrungen enttäuschen. Das Ende wird auch nicht mit der traditionellen Schlussapotheose einer Hochzeit gekrönt, im Gegenteil folgt noch die ganze segensreiche Wirksamkeit Josefs, seine Ehe, seine Kinder: die vollständige Lebensgeschichte, mit einer Handlungsdauer von 93 Jahren. Josefs Jugend in Kanaan (17 Jahre), wird in einer Vorgeschichte erzählt. Das steht im Widerspruch zu den gängigen Vorstellungen eines Barockromans, der trotz seines komplexen Baus in der Regel innerhalb eines Jahres zu Ende gebracht wird. Dann – ich folge hier wiederum Volker Meid – fällt die ganze Assenat-Geschichte, ebenso wie schon die Adriatische Rosemund und später auch der Simson – aus den üblichen Kategorien des Barockromans heraus. Der Zeitgenosse, Joachim Meier, der Zesen mit einer Romangeschichte nachgefolgt ist, hatte schon eine völlig falsche Vorstellung seines Vorbilds, das er mit folgenden Worten aburteilte: »Aber seine Erfindungen seynd so elend und Pöbelhafft/ ohne Abwechselungen/ Anmuth und Verwirrungen/ daß man auch wohl eines Coridons amour geschickter […] aufführen können.«9 Im Gegenteil war die Assenat Zesens erfolgreichster Roman. Nach der Erstauflage 1670 in Amsterdam erschienen drei weitere in Nürnberg (1672 und 1679, im letzteren Jahr zwei verschiedene Ausgaben), eine dänische Übersetzung brachte es zwischen 1711 bis 1776 auf mindestens sechs Auflagen. Vielleicht enthält der Umstand, dass statt der Apotheose des Lebens hier am Ende der Tod steht, einen Hinweis. »Die Assenat endet nicht mit einer Apotheose der Harmonie […], sondern mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit alles Irdischen, die im Falle Josephs aber auch Unsterblichkeit im Ge 8  9

Nach Meid, Romankunst. S. 45. Joachim Meier: Die Durchlauchtigste Hebreerinnen Jiska Rebekka Rahel Assenat und Seera In einem Roman […] auffgeführet. Leipzig und Lüneburg 1697. Vorrede, Bl. 7bf.

125 dächtnis der Nachwelt ist.«10 – Zesen hat lange an seinem Projekt gearbeitet, denn schon 1651 finden wir im Rosen=mând die ersten, aber bereits ziemlich deutlich umrissenen Nachrichten von »seiner« Assenat und ist ferner die Rede von Osiris und Isis, Memphis, Heliopolis, dem Nil, ja hier wird Josef erwähnt, »den man den zweiten Osiris zu nennen pfleget/ eben wie seine gemahlin Assenat unter dem nahmen Isis.« Es wird sogar gesagt: »Wovon in meiner Assenat weitläuftiger gehandelt wird.«11 Deutlich ist ebenfalls, dass er die Arbeiten des gelehrten Jesuiten Athanasius Kirchner benutzt hat. Das gilt jedenfalls für die Angaben über Ägypten: Sorgfältig werden Pyramiden und Grabkammern beschrieben (S. 251–260), Obelisken (S. 226–228), ägyptische Pflanzen und Tiere (Lustgarten, Baumgarten, Tiergarten: S. 243–244). Wie die französischen Romane holt Zesen auf diese Weise die Exotik, mit der maßgeblichen Facette einer wahrhaft fremden Kulturwelt, in seinen Roman. Den Strukturrahmen bildet der Umstand, dass Josef und Assenat, obwohl sie sich zu Beginn des Romans noch nicht einmal gesehen haben, für einander bestimmt sind und daher die langsame Anverwandlung an Josefs kanaanitische Religion mit großer Umsicht vor sich geht. Sind in den traditionellen höfischen Romanen die Vorgeschichten immer sehr lang – »Die Welt des Romans ist nicht sehr viel mehr als die Welt der Vorgeschichten«12 –, umfassen aber die beiden betreffenden Partien hier rund 35 Seiten. Schließlich endet der Roman mit dem Tod der beiden Hauptpersonen, so dass auch in diesem Punkt eine auffallende Änderung gegenüber dem höfisch-galanten Roman vorliegt, der üblicherweise als der ›eigentliche‹ Barockroman betrachtet wird. Zesen setzt eigene Akzente, aber natürlich doch wieder andere als in der biblischen Quelle. Er steuert unentwegt die Haupthandlung an. Es geht direkt und zielstrebig um die Josef-Handlung. Zwar lenkt eine spannende Liebesintrige die Aufmerksamkeit gegen Ende des sechsten Buches noch einmal ganz auf Assenat als eine begehrliche und begehrte Frau. Zesen benutzte für diese Episode eine andere Quelle: die Historia Assenat (oder Joseph und Aseneth). Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Kronprinz auf, der sich in Assenat verliebt und sie mit Hilfe der Brüder Dan und Gad zu entführen versucht. Der Versuch misslingt, der Kronprinz stirbt an einer Verwundung, der Pharao am Schmerz darüber, und Assenat erleidet einen Nervenschock, der ihr schließlich den Tod bringt. Die Entführungsgeschichte ist ein Retardierungsmoment und legt Josefs unermüdliche Tätigkeit zum Wohl des Staats für die Dauer der Episode still. Meid weist auf eine weitere Funktion hin: Sie 10 11 12

Meid, Romankunst, S. 47. Rosen=mând, SW Bd. XI, S. 195 f. und 198 sub c. Clemens Lugowski: Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists. Frankfurt am Main 1936, S. 16. (Zit. b. Meid, Romankunst, S. 47).

126 kündige das Ende des Romans an. »Mit dem Hinscheiden Assenats wird die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens den Werken Josephs gegenübergestellt. Gegen Ende wird das Vergängliche immer mehr betont.«13 Das Vergänglichkeitsthema wird in der Folge dadurch gesteigert, dass Josef in der Vorbereitung auf seinen Tod von Hiobs Unglücksfällen erfährt. Obwohl darüber entsetzt, sinniert er wie ein Glaubender des 17. Jahrhunderts über die Bedeutung der Unbilden des Lebens. Züchtigung sei eine Form von Gottes Liebe, sie führe zu ihm zurück. Und er meint den Sinn zu erkennen: »Ach! wir arme Menschen/ was seind wir? […] Doch was wil ich sagen? Es ist ein zeichen/ daß Gott ihn hertzlich liebet. […] Dan es ist einmahl gewis/ daß wir schweerlich anders/ als durch viel trübsaal/ und zeitliches leiden/ zur ewigen freude gelangen können« (S. 354).14 Nach solchem Überblick erhebt sich die Frage, welcher Sinn mit dieser so ganz andersartigen Strukturierung des Romangeschehens gemeint sein kann, was – in Erinnerung an Zesens Vorrede – das »Neue« ist. Volker Meid vertritt die Interpretation des Romans als Staatsroman. Alles Gute, was Josef für das Land unternimmt, hat die volle Zustimmung des Pharaos. Aber durch seine Maßnahmen wurde »nicht allein die wohlfahrt der untertahnen […] erhalten; sondern auch die Königliche macht und herligkeit selbsten üm ein märkliches vermehret/ und zu höherer glükseeligkeit erhoben« (S. 189). Das war nicht im Nebeneffekt, denn »alle seine anschläge zieleten fürnähmlich auf zwei dinge: den König groß/ und die Untertahnen wohlfahrend zu machen« (S. 219). Solche Absicht springt schon bei seiner Erhöhung ins Auge – »Kaum führete er andere reden/ als von stahtssachen. […] Er sprach nicht ein wort/ das nicht zuvor als auf der goldwage abgewogen zu sein schien« (S. 197). Auch seine Liebe zu Assenat, so aufrichtig sie zweifellos ist, findet sich eigentlich nur am Rande der Politik. Das zeigt sich an einer Stelle, die Zesen mit psychologischem Feingefühl gestaltet hat. Josef ist gerade von einer langen Inspektionsreise durch das Land zurück und wird von Assenat begrüßt. Mitlerweile kahm der König an. Unversehens überraschete er dieses liebe Paar. Unvermuhtlich traht er zum zimmer hinein. Zur stunde ward ein stilschweigen. Josef eilete ihm straks entgegen/ die Königliche hand zu küssen. Da veränderte sich der schertz in ernst; der liebeshandel in stahtsgeschäfte. (S. 247)

Ähnlich verhält es sich mit der Heirat der Königstochter mit einem lybischen Prinzen, wozu Josefs Meinung gefragt wird. Er ist sofort für die Heirat eingenommen, weil er die politische Bedeutung durchschaut:

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Meid, Romankunst, S. 53. Es ist eine deutliche Bibelanspielung: Ap 14, 22: »[…] ermahnten sie/ dass sie im Glauben blieben und dass wir durch viel Trübsale müssen in das Reich Gottes gehen«.

127 Unser Staht wird aufs herlichste blühen. Wir werden in gewündschtem friede leben. Unser ansehen wird groß/ unsere wohlfahrt vermehret/ unsere macht geehret werden. Die Gewaltigsten der Welt werden unsere freundschaft suchen. Ja/ was noch das allerfürnehmste ist/ die Königliche macht kan/ durch dieses mittel/ zur höchsten freiheit gelangen. Der König kan hierdurch über das gantze Egipten das freie volgewaltige gebiete bekommen. Dan wird er sagen können/ dessen sich noch kein König vor ihm unterstehen dürfen: dis wil ich/ dis gebiete ich; so mus es geschehen. (S. 280)

So gelangt der König zur unumschränkten Herrschaft eines absoluten Fürsten, wie sie im 17. Jahrhundert den politischen Vorstellungen eines zentralistischen absolutistischen Staates entsprach. Zesen tritt selbstverständlich für das Gottesgnadentum des Herrschers ein. Hier schlägt die Staatstheorie des Justus Lipsius zu Buche, wie Meid mit Verweis auf Gerhard Oestreich hervorhebt.15 Im 4. Buch seines Werks kommt Lipsius auf die Staatsklugheit (civilis prudentia) zu sprechen, die darauf achten muss, dass das Volk mit seinen Untugenden (unbeständig, ohne Vernunft, zu Affekten geneigt, unselbständig, missgünstig, selbstsüchtig, maßlos in Glück und Unglück) in Zaum gehalten werde.16 Der Fürst müsse, nach Lipsius, seine Untertanen so regieren, dass sie zwischen Furcht und Liebe schwanken. Neben Gerechtigkeit soll Güte seine Regierung kennzeichnen. Das ist genau das, was Josef dem König empfiehlt und selber handhabt. Dazu gehört auch, dass man das dumme Völkchen nicht mit den heiligen Geheimnissen Gottes irre machen sollte – eine alte politische Weisheit, die von Zesen in seinem Roman in gleicher Weise vertreten wird, als Josef berichtet, wie er seinen Schwiegervater (Priester des Osiris in Heliopolis) in seiner kanaanitischen Religion unterrichtet habe: »Dieser verbarg sie in seinem hertzen/ als einen köstlichen schatz. Er behielt sie allein vor sich. Er täht sie niemand kund. Es schien auch mehr unnütz/ als ersprießlich zu sein/ diese heilige Wissenschaft unter das im aberglauben ersoffene völklein zu bringen: zumahl weil es gewohnet war/ damit es im gehohrsam verbliebe/ nur mit Abgöttereien und falschen Gottesdiensten abgespeiset zu werden« (S. 285). Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, muss festgestellt werden, dass Josef nur an das Wohl des Staates denkt. Sogar im hohen Alter verlässt ihn das Bestreben nicht, »des Königreichs frommen und nutzen zu suchen.« (S. 348) Er ist ein idealer ›Schaltkönig‹: »Josef war ein rechter Lehrspiegel vor alle Stahtsleute.« (S. 349). Das könnte im Grunde das Motto sein, dass über seine Geschichte anzubringen wäre. Es werden am Ende seine Tugenden deshalb breit dargestellt, damit man sie recht genau betrachte (S. 348 f.):

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Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. In: Historische Zeitschrift 181 (1956), S. 31 ff. Hier auch (S. 33 f.) der Nachweis der 71 vollständigen Drucke der Politik in allen Kultursprachen der Zeit: IVSTI LPSI POLITICORVM SIVE CIVILIS DOCTRINAE LIBRI SEX. Erstauflage Leiden 1589. Lipsius IV, 5 die Liste der Laster, die Meid S. 61 Anm. 4 aufführt.

128 Allezeit erson er was neues. Immerzu erdachte er was sonderliches. Die wohlfahrt des Reichs/ das aufnehmen des Königes/ die nahrung der Untertahnen behertzigte er mit solchem eifer/ daß er alle seine sinnen und gedanken darnachzu lenkte. Den eigennutz kente er nicht. Nur der algemeine war ihm bewust. Er wolte sein amt treulich verwalten. Und das täht er auch redlich. Er war ein solcher getreuer Stahtsman/ daß ich zweifle/ ob seines gleichen in der gantzen Welt zu finden. Und eben darüm segnete ihn Gott so überflüßig. Er suchte keinen reichtuhm; gleichwohl kahm er ihm von sich selbst so reichlich in den schoß. Selbst im schlafe fiel er ihm zu. Wan er saß/ und sich üm die algemeine wohlfahrt bekümmerte; da trüpfte/ da flos/ da schos ein güldener regen vom Himmel. Indessen er vor andere sorgete/ sorgete der Himmel vor ihn: und belohnete ihm seine treue mit überschwänglichen gühtern.

In Übereinstimmung mit Lipsius’ politischer Theorie17 wird auch hier die Sorge des Regenten für das gemeine Wohl betont. Staatsmänner mögen vor den Spiegel treten, den Josef ihnen vorhält: Vor diesen edlen Spiegel möchten alle Stahtsleute/ alle Amtsleute/ alle Befehlshaber trähten/ und sich bespiegeln. Hier möchten sie lernen/ wie man/ durch liebe zur algemeinen wohlfahrt/ seine eigene befördert; wie man durch treue reich wird/ und aus vermeidung seines eigennutzes gleichwohl einen großen nutzen ziehet. Dan wan sie diesem Spiegel folgen/ so wird ihre eigene wohlfahrt/ ihr eigener reichtuhm/ ihr eigener nutz von sich selbsten blühen. So wird er grühnen/ und nicht verwelken. So wird er wachsen/ und nicht verschwinden. So wird er bestehen/ und nicht vergehen (S. 349).18

In diesem Roman geht es nirgends theoretisch um die beste Staats- und Regierungsform, sondern einzig um die Stärkung der königlichen Macht, wobei die Auffassung, dass die Monarchie die älteste und natürlichste sei, im 17. Jahrhundert weitverbreitet als die übliche Staatsform galt.19 Gegenüber anderen Meinungen – u. a. von Herbert Singer, der Josef als Heiligen betrachtet20 – bleibt Meid mit einer Fülle von Gegenargumenten bei seiner Ansicht, dass Zesen in Josef den vorbildlichen Staatsmann habe darstellen wollen. »Zesen nennt diese Geschichte heilig, aber nicht, weil sie von einem Heiligen handelte, sondern weil die biblische Überlieferung heilig ist.«21 Allerdings bleibt zu beachten, dass Zesen sich schon in der Vorrede über gewisse Zusätze und Stofferweiterungen ausgelassen hat, um den relativ kargen Bibelbericht romanhaft auszuschmücken. Dazu gehört selbstverständlich die Geschichte um Sefira. Mag die Haupttendenz der Assenat-Geschichte eine andere sein als die des höfisch-galanten Romans, gibt es dennoch Übereinkünfte in Strukturei17

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Meid, Romankunst, S. 67 ff., wo auch die Verbindung mit Zesens Schriften zu den »Englischen Zuständen« besprochen wird. Zur Idee des Absolutismus im Roman vgl. Hans Obermann, Studien über Philipp von Zesens Romane die Adriatische Rosemund, Assenat, Simson. Göttingen 1933 (Diss.), S. 58–102, insbes. 96–102. Vgl. Oestreich, S. 50; Lipsius, II, 2. Joseph in Ägypten. Zur Erzählkunst des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 48 (1954), S. 249–279. Meid, Romankunst, S. 77.

129 gentümlichkeiten und Motiven. Dazu gehört die erotische Versuchung des Helden. So wie schon in der Aithiopika des Heliodor Versuchungsszenen dem Helden Gelegenheit gaben, seine Treue und Festigkeit zu bewähren, muss auch Josef im Hause Potifars seine Tugend und Beständigkeit unter Beweis stellen, sei es um den Preis der Entehrung durch verleumderische Anklagen und eines Gefängnisaufenthalts. Das zielt auf die in Prosa und Drama der Frühen Neuzeit beliebten Szenen der Versuchung durch Sefira, Potifars Ehefrau. Erst wenn Josef ihren Versuchungen zu widerstehen weiß, ist er geeignet, das Modell für eine musterhafte Anthropologie der Beständigkeit abzugeben. Zesen konnte sich auf die biblische Geschichte berufen, aber ihre knappe Darstellung vertrug sich nicht mit der höfischen Sphäre, die er für seine Romangeschichte in Ägypten gewählt hatte: er musste sie galant ausschmücken. So erhält die Erscheinungsform der erotischen Versuchung und deren Bewältigung eine spezifische Färbung. Sorgfältige Inszenierung nimmt Potifar in die Pflicht seines Amtes, er muss bei dem Isisfest anwesend sein und repräsentieren. Sefira hat ihr Schlafgemach festlich geschmückt. »In diesem so köstlichen bette lag Sefira/ als eine zweite Alsgöttin der Schönheit und Liebe. Ihr gantzer leib/ den sie mit wohlriechenden wassern gewaschen/ und mit köstlichen salben […] bestrichen/ war gantz nakkend. Nur hatte sie eine rosenrohte seidene dekke bis an die brust darüber gedekt. Und diese war so zahrt und so dünne/ daß ihre schneeweisse liljenhaut gantz eigendlich durchhin blinkte.« (S. 148). So vorbereitet, setzt sie ihren Plan ins Werk – »da ließ sie den Josef zu sich rufen.« (Ebd.) Nun zeigt Sefira sich als eine echte Hetäre, und Josef, obwohl er ihrem Befehl gehorcht, scheint irgendwie vorgewarnt zu sein und ahnt schon, was kommen wird: Er wuste wohl/ was er für einen harten streit würde angehen müssen: davor ihm albereits grausete/ ja der angstschweis fast ausbrach. Darüm/ eh er hinein traht/ rief er zuvor seinen Gott hertzinbrünstig an/ ihn dermaßen zu stärken/ daß er seinen feind tapfer bekämpfen/ und heldenmühtig überwinden möchte. Und hierauf begab er sich in das Fürstliche zimmer. Er näherte sich/ wiewohl mit niedergeschlagenen schaamhaftigen blikken/ dem Fürstlichen bette. Er neugte sich/ seiner gewohnheit nach/ auf das allerdemühtigste und fragte/ was der Fürstin ihm zu befehlen beliebte? (S. 149)

Sefira macht es ganz schlau und nimmt die Zauberkraft ihrer Augen zu Hilfe: Seine blikke solten sich zuvor mit den ihrigen vereinbahren. Sie solten von ihrer ausbündigen schönheit/ die so bloß und nakkend vor seinen augen lag/ zuvor feuer ziehen/ sein kaltes hertz in den brand zu helfen/ oder es zum wenigsten lüstern zu machen. Und zu dem ende spielete sie mit den blitzen ihrer liebesreitzenden augen fort und fort auf ihn zu. Auch bewegte sie vielmahls ihren obersten leib dermaßen/ daß der zweifache schneehügel ihres füllig-schönen Busems/ über der dekke/ gantz entblößet zu liegen kahm. Hier sahe man die rechten lokvogel der liebe; die sich/ mit so lieblicher/ wiewohl stummer stimme/ die weisheit selbsten zu betöhren bemüheten. (S. 150)

130 Eine Reihe rhetorischer Fragen bezieht nun den Leser in die Situation mit ein, es ist ein die Erzählspannung aufs höchste steigernder Kunstgriff: Welcher Mensch hette wohl diese so lieblich entblößte schönheit/ ohne verzükkung/ anschauen können? Welcher mensch/ der diese so schönen augen/ diese so blühenden wangen/ diesen so lieblichen rosenmund/ ja dieses so zierlich gebildete angesicht ansehen sollen/ hette wohl unbewegt und unverliebt bleiben können? Ja wen hette so ein schöner und noch darzu so schön ausgeschmükter und in lauter wollust entblößter leib nicht zur höchsten liebe bewegen sollen? Man kan ihm leichtlich einbilden/ daß Josef/ bei diesem anblikke/ nicht unangefochten geblieben. Er war noch in seiner besten jugend. Sein sechs- und zwanzigstes jahr war kaum zum ende. Er bestund eben/ als andere menschen/ aus fleisch und bluhte. Er hatte eben die gemühtsbewegungen/ als andere. Aber gleichwohl schien er mehr ein meister über seine jugend/ über sein fleisch und bluht/ ja über alle seine gemühtstriften und begierden zu sein/ als sonst alle sterblichen. (S. 150)

Er will die Flucht ergreifen, »ehe dieser selbstreit ihn gäntzlich zu boden würfe« (S. 151). Aber Sefira lässt ihn nicht. In der anschließenden Diskussion erinnert sie Josef an den Gehorsam des »Leibeignen«, aber er begegnet ihren Worten mit Hinweis auf Gottes Gebote, »weil sie begehret und gebietet/ was Gott verbietet. […] Es ist vielmehr eine tugend/ die den nahmen der Beständigkeit im gehorsame Gottes verdienet« (S. 153). Sefira lässt nicht locker, aber: »Der vogel/ den sie gefangen zu haben vermeinte / ris ihre falstrükke plötzlich in zwei« (S. 153). Dann greift Sefira zur Gewalt. Sie erwischt Josef beim Rock und versucht ihn aufs Bett zu ziehen. Ist nun das glückliche Ende der Geschichte nahe? Keineswegs, unter Thränen »baht sie ihn mit den allerbeweglichsten worten: Er solte sie doch endlich einmahl ihre lust büßen laßen.« Josef aber schlüpfte aus dem Rock. »lief zum zimmer hinaus/ und flohe darvon« (S. 155). So endet bis soweit die Geschichte glimpflich: »Und also behielt der erkaufte sein freies gemüht; der geliebte enthielt sich der liebe: der gebähtene ward nicht erbähten; und der ergriffene lies sich nicht halten.« (S. 155 f.) Man kennt den Verlauf der Geschichte, er ist hier weiter nicht von Belang. Worum es geht, ist die ehrliche und erlaubte, also tugendvolle Liebe. Ihr steht die Umkehrung gegenüber, die sich dann auch sofort an der höllisch rasenden, abgewiesenen Fürstin zeigt: Straks machte Sefira ein solches erschrökliches geschrei/ daß ihre Stahtsjungfrauen und Kammermägdlein angelauffen kahmen. Diese entsetzten sich aus der maßen über ihrer Fürstin so abscheuliche gestalt. Kurtz zuvor war sie ihnen vorgekommen/ als eine Alsgöttin der liebe. Nun sahe sie aus als eine leibliche Teufelin. Der Zorn/ der has/ die rachgier blitzten ihr aus den augen. Lauter donnerschläge/ lauter blitze gingen aus ihrem munde. Ein flammender dampf stieg aus ihrer nase. Ihre blikke waren feurige strahlen; ihre worte zerschmetternde donnerkeule. Ihr haar hing gantz zerzauset über die zerkratzten wangen. Sie tobete/ sie rasete/ sie wühtete/ sie fluchete/ ja sie stellete sich so ungebährdig/ daß die Jungfern genug zu tuhn hatten sie wieder zu besänftigen. (S. 156)

131 Sefira bietet das einprägsame erschreckende Bild einer vor Raserei Tobenden, einer Bestia, als Verkehrung des Humanum. Die Zitate sollen Zesens psychologische Darstellungsart im Wortlaut ersichtlich und erfahrbar machen. Es wäre dem nicht Genüge getan, wenn die Beschreibung der Sefira in ihrer frustrierten Liebe nicht vorangegangen wäre. Sie bereitet auf die bekannte Verführung vor. »Ach!« sagte sie/ »ach! ich elende! Ich trostlose! bin ich nun so unglüklich […]. O grimmiges verhängnis! O unglückseelige Liebe/ die ich häge! O Josef! Josef! In was vor einen jammer versetzet mich deine schönheit? Ich bitte dich/ und du bist nicht zu erbitten. Ich flöhe dich an/ und du erhörest mich nicht. Ich falle dir zu fuße/ und du richtest micht nicht auf. Du lessest mich liegen in schmaach und verachtung. Ist es wohl müglich/ daß in einem so schönen leibe so ein grausames hertze verborgen? Ist es wohl müglich/ daß mir derselbe/ dessen leben und tod in meiner gewalt stehet/ mir seine liebe verweigern darf? Vielleicht kützelstu dich noch darmit/ daß du deine Gebieterin höhnest? Vielleicht ist es deine lust/ daß du mit mir spottest? O unmenschlicher wühterich! o grausamer Hänker! Doch was sage ich! was klage ich über dich? Du hast keine schuld. Du bist so unmenschlich/ so grimmig/ so erschröklich nicht. Der argwahn/ der zwischen mir und dir einstehet […] macht dich furchtsam und schüchtern. Doch ich verhoffe noch dis übel aus dem wege geschaft zu sehen.« (S. 134 f.)

Es war hier der Wortreichtum des Dichters in allen Nuancen des Ausdrucks zu zeigen, wie er sich der Lesererfahrung darbietet, um die sprachliche Virtuosität mit Fug und Recht zu bewundern. Dergleichen war in der Romankunst des 17. Jahrhunderts sicherlich etwas Besonderes. Denn wo gab es ähnlich sprachlich bewegte und ›herzbewegliche‹ Rhetorik! Man sollte jedoch den weiteren Nutzeffekt der Sefiraszene nicht hintansetzen oder gering veranschlagen. So wie das Verhalten Josefs in seiner Vorbildlchkeit nachahmenswert ist, so abschreckend und dem Leser zur Warnung ist Sefira geschildert, als sie sich in einen »Zornteufel« verwandelt hat. Daran, an der Äußerung heftiger Affekte, war jene Zeit ebenfalls interessiert. Die psychologische Anthropologie und Sittenlehre des Justus Georg Schottelius, die 1669 in Wolfenbüttel erschien, beschreibt ausführlich was geschieht, wenn man sich von seinen bösen Begierden leiten lässt. Wan es aber so weit kömmet/ daß unser/ durch Begier eingenommenes und durch Lustfeur angeflammetes Hertz den Willen vernebelt/ und durch blinde Gier an sich zeucht/ dan widersetzet sich der Wille dem Verstande/ höret recht zu/ der dadurch zusprechenden Vernunft: Sonderen (!) ergibt sich dem Hertzen/ fähet dessen Feur/ wie Zunder begierig/ folget den Hertzneigungen und thut ohne Rückdenken/ was dieselbe nur wollen. Ein solcher Mensch ist alsdann unvernünftig/ ob er schon Vernunft hat/ weil bey ihm der Verstand und in demselben die Vernunft nichts mehr/ sondern der begierliche Wille/ so sich dem Zügel der Vernunft entzogen und mit den Hertzneigungen verbrüdert werden/ wie ein wildes Thier der Lustbegier und allen anderen Gierreitzungen folget/ sich nachsturtzet und in sein Verderben eilet.22

22

J. G. Schottelius: Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. Wolfenbüttel 1669. Hg. v. Jörg Jochen Berns. Bern und München 1980, S. 126 f.

132 Der Mensch soll sich selbstverständlich davor hüten und sich durch die »Sittenkunst« belehren lassen, »zu Erlernung der Tugend und zur Vermeidung der Laster.«23 Wo man nicht an sich hält und der Kraft der Begierde ungezügelt Herrschaft über sich und die Vernunft einräumt, liegt die größte Gefahr auf der Lauer: Wan aber die Liebesneigung keinem vernünftigen Einrahten/ noch verständlichen Zusprechen folgen wil/ sonderen aller wollüstigen Anreitzungen nacheilet/ alsdan wird solche Hertzneigung zu einer sündlichen Liebesbrunst/ ist lasterhaft und verdamlich.24

Mit einem beliebten emblematischen Bild heißt es weiter: Ein starker unbedämmter Regenbach/ wan er sich ergeust/ überschwemmet alles/ was er überhöhet: Die ungezähmte Begierde mit aller Heermacht der Hertzneigungen/ reisset mit sich Verstand und Willen/ und also den Menschen ins Verderben dahin/ wan die Zuchthand der Lehre sie in ihren erlaubten Grentzen nicht eingepfält verwahret.25

Zorn und Wut haben ungeahnte Zerstörungskraft: »Der Zorn vernebelt den Verstand. […] Der Zorn ist wie ein Sturm/ der alles mit sich dahin zeucht/ und alles dahin beuget/ wohin er fähret.«26 Deshalb sei es ein »Meisterstück eines vernünftigen Menschen/ und die Kunst eines tugendliebenden Gemütes«, die Affekte zu beherrschen: »Es ist ein Sieg über Sich; Sich und seine Begierde in Tugendzier kleiden/ ist ein wolanständlicher Schmuk/ so uns in Ewigkeit rühmlich und entpfindlich seyn kan: Wohin dan die Sittenlehre mit Nutz zielet.«27 Nicht von ungefähr ist der Affekt des Zorns bereits in der mittelalterlichen Epik ein omnipotentes Phänomen, das wegen seiner gewaltigen Handlungsmächtigkeit auch für die Frühe Neuzeit das volle Interesse literaturwissenschaftlicher Analysen rechtfertigt.28 Es lässt sich verstehen, dass Grimmelshausens Josephsroman Des Vortrefflichen Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung samt des Musai Lebens-Lauff (1670) gerade die Bewährungsszene in den Mittelpunkt rückt, wie schon im Titel angezeigt.29 Grimmelshausen verfolgte ganz andere Zwecke, obschon er damit ebenfalls »Ein Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes« (so im Titel der Erstauflage von 1667 ) darzubieten beabsichtigte. Jedenfalls handelt es sich um ein attraktives Thema für 23 24 25 26 27 28

29

Schottelius, S. 127. Schottelius, S. 135. Schottelius, S. 138. Schottelius, S. 242. Schottelius, S. 137. Vgl. Thorsten W. D. Martini: Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analyse ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. Heidelberg 2009. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) Ndr. Hg. v. Wolfgang Bender. Tübingen 1968. Dazu Vf.: Grimmelshausens Keuscher Joseph und sein Leser. Simplicissimus 10 (1988), S. 405–420; Siegfried Streller: Grimmelshausens Keuscher Joseph und Zesens Assenat. Ein Vergleich. In: Ebd., S. 421–430.

133 die »Grünende Jugend«, das meist eher hausbacken abgehandelt wurde30 oder in einem lehrhaften Schauspiel vorgestellt.31 Die Episode und die Bewährung in Potiphars Haus ist tatsächlich »geeignet, dem Zuschauer [bzw. Leser] ein Exempel moralischen Wohlverhaltens angesichts heftiger Anfechtung nachdrücklich zur Nachahmung vor Augen zu führen: Der getreue Diener, den die Herrin zu verführen trachtet, weigert sich standhaft, verfällt der Rache der Verschmähten und wird schuldlos dessen angeklagt, was die Verschmähte vergeblich von ihm begehrte.[…] Hier wies das Verhalten Josephs den rechten Weg zur Tugend.« (Sieveke)32 Das soll nicht bestritten werden, im Gegenteil. Jedoch so wichtig der Aspekt der Affektbeherrschung in der Sefira-Episode ist, ist es doch nur ein Teilaspekt des Ganzen. Das muss indessen auch von Josefs »Stahts-Kunst« gesagt werden: Sie ist vorbildlich, aber es reicht für die Ambition eines »Heiligen Stahtsund Liebesromans« nicht aus. Von Morallehren und Hausväterliteratur abgesehen, ist in Zesens Roman die Darstellung höfischer und politischer Lebensgestaltung – so ganz anders als bei Grimmelshausen – sowie die Pflege und Anwendung von fürstlichen Fertigkeiten in anspruchsvollen baulichen und gartenarchitektonischen Angelegenheiten von relevanter Bedeutung, das heißt für den ›modernen‹ Leser von Nutzen. Die unerschütterliche Beständigkeit Josefs oder der Nachweis seiner Constantia stellten die Kardinaltugend der Frühen Neuzeit dar.33 Sie erhöhen seine fürstliche Tugend, denn Josef bewährt sich, wie seine Geschichte zeigt, in allen Lagen des Lebens und insbesondere in den Anschlägen der Fortuna. Erstaunlich wenig Beachtung hat die Assenatgestalt und ihre epische Integration in die Josefgeschichte gefunden, obwohl sie doch anfangs – zumindest außerhalb der biblischen Erzählung34 – nicht umsonst deren We30

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Es sei nur auf folgenden Titel des Bürgermeisters und Leipziger Schriftstellers Christian Brehme hingewiesen: Christliche Unterredungen. 3. Teil. Dresden 1660, wo es in der Vorrede heißt: »Wil man sich weltlich/ iedoch nützlich mit Frauen=Zimmer [!] ergetzen: Da fange man an/ ein Tugend= und Lasterspiel/ lasse auf die Reye rumb eine Tugend loben/ und ein Laster schänden. […] So dienet auch zu Gesprächen/ seine Liebste mit einer Blume/ mit einem Gewächse/ mit einer Frucht zu vergleichen/ und hierunter ihre Tugend und Laster zu erinnern«. Alexander von Weilen: Der ägyptische Joseph im Drama des xvi. Jahrhunderts. Wien 1887; Josef H. K. Schmidt: Die Josephsfigur in der Barockdichtung Deutschlands. In: Colloquia Germanica 5 (1971), S. 245–255. Franz Günter Sieveke: Philipp von Zesens »Assenat«. Doctrina und Eruditio im Dienste des »Exemplificare«. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 137–155. (Zuerst in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1 (1969), S. 115–136). Vgl. Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [De constantia]. Faksimile-Druck und deutsche Übersetzung des Andreas Viritius. Hg. v. Leonard Forster. Stuttgart 1965. Dazu u. a. Werner Welzig: Constantia und barocke Beständigkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 416 ff. In Genesis ist sie kaum mehr als ein Name.

134 senskern und narrative Mitte gewesen war. Gemeint ist die hellenistische Novelle Joseph und Aseneth, die als Historia Zesen bekannt gewesen ist und ihm nachweislich vorgelegen hat. Die Frage ist nicht nur von stofflichem Interesse, wie präzise der biblische Prätext im Vergleich zu ihr und dann auch in Relation mit der Romangeschichte lautet. Im biblischen Text der Genesis wird neben Josefs Schönheit, die in einer Notiz nur scheinbar nebenbei vermerkt wird (»Joseph war schön und hübsch von Angesicht«: Gen 39, 9), die Verheißung seiner späteren Machtstellung im Land der Feinde fokussiert. Hier soll die Zitation auf wesentliche Elemente reduziert wiedergegeben werden: Pharao sprach zu ihm, nachdem Joseph die Träume gedeutet hat: »Du sollst über mein Haus sein, und deinem Wort soll all mein Volk gehorsam sein; allein um den königlichen Stuhl will ich höher sein als du […]. Siehe, ich habe dich über ganz Ägyptenland gesetzt.« (Gen 41, 40 f.); Gen 41, 43 f.: »und ließ ihn auf seinem zweiten Wagen fahren […] und setzte ihn über ganz Ägyptenland. Und Pharao sprach zu Joseph: ohne deinen Willen soll niemand seine Hand und seinen Fuß regen in ganz Ägyptenland.« Es geht in der biblischen Quelle in lapidarer Aufzählung weiter: »Und nannte ihn den heimlichen Rat und gab ihm ein Weib, Asnath, die Tochter Potiphars, des Priesters zu On. Also zog Joseph aus, das Land Ägypten zu besehen« (Gen 41, 45). Zunächst wollen wir uns auf diese beiden Ingredienzien, Schönheit und Machtstellung des jüdischen »Leibeigenen«, konzentrieren. Zesen verfährt mit den Stoffelementen naturgemäß völlig anders. Er setzt im Roman mit der Handlung früher ein, und zwar mit Josefs Ankunft in Memphis, wohin er als Sklave verkauft worden war. Das hinzugelaufene Volk bewundert staunend Josefs Schönheit: »Die unvergleichliche schönheit des Ebreischen Leibeigenen machte sie alle entzükt. Aller augen sahen auf ihn. Niemand konte/ selbst mit tausend anblikken/ sein gesichte genug sättigen. Je mehr sie ihn ansahen/ je schöner er schien« (S. 17). Josef versammelte alle Schönheit der Vorgroßmutter, Großmutter und der eigenen Mutter in sich (Sara, Rebekka, Rahel), so dass er »ein gantz volkommenes meisterstükke der allerschönsten schönheit« war (S. 20). Das Zweite, womit er sich auffällig macht, ist seine Gabe der Traumdeutung und Auslegung von Gottessprüchen. Die Kunde verbreitet sich am Hof, auf der Burg. Eine Verwandte des Pharao, die Hofjungfer Nitokris, erzählt Josef von Potifar und seinem hohen Amt, auch von der Tochter Assenat. Sie ist von ihrer Schönheit hingerissen und erzählt begeistert: »Und also sahe ich das schöne Wunder/ das Bild aller tugend und zierligkeit. […] Darauf straks im ersten anblikke mein auge fiel/ das waren ihre Augen. Darinnen vergafte und vertiefte/ ja verirrete sich mein auge dermaßen/ daß es sich daraus so bald keines weges zurükfinden/ noch daran sat genug sehen konte« (S. 42). Mit »orientalischer« Übertreibung wird diese ihre schönste Zier beschrieben.

135 Diese allerschönsten äugelein/ diese kleine sonnen verursachten/ so waren meine blikke in ihren blitzlenden flämmelein verwürret/ daß ich meiner augen eine lange weile nicht so viel mächtig sein konte/ die übrigen leibesglieder dieses unvergleichlichen Engelbildes an zu schauen. Ja es waren/ durch dis liebeflinkern/ selbst alle meine sinnen so gar aus mir herausgerükt/ und so tief in dis karfunkellicht entzükket/ daß ich anfangs ihre so klahre/ so reine/ so lieb= und hold-seelige sprache nicht hörete. Je länger ich der schönsten Assenat äuglein betrachtete/ je mehr ich veränderung ihrer blikke fand. […] Endlich kahmen die hertzentzükkenden hauffenweise herausgedrungen/ ja geschossen. Diese waren so überaus scharf/ und so mächtig/ ja so durch alles hindringende/ daß das stärkste hertz selbsten sich ihrer nicht zu erwehren vermochte. Ja ich laße mich leichtlich bereden/ daß sich der allerschlaueste und allerbehändeste vor solchen so tausenterlei bewegungen nicht genug hühten solte. Doch was wil ich viel sagen/ eine einige bewegung ihrer süßen englischen Euglein bewog mehr/ als tausend anderer auch wohl der schönsten menschlichen augen. (S. 42 f.)

Es folgt die Beschreibung des Mundes und alles dessen, was daran bewundernswert ist. Das Erstaunlichste sei aber ihre Vernunft, der sie prächtig Ausdruck gebe: »Ja/ worüber ich gar bestürtzt ward/ ich vernahm/ aus ihren süßen und zugleich majestähtischen reden/ einen hohen verstand/ eine gantz durchdringende kraft der vernunft und sinnen. Ich wuste nicht/ ob ich einen Menschen/ ein Frauenzimmer/ oder einen Halbengel sprechen hörete …« (S. 43). Sie scheint dadurch älter zu sein als in Wirklichkeit: »Ich muste bekennen/ daß sie/ so jung als sie war/ eben so reif am verstande sei: und daß sie dadurch ein volwachsenes Frauenzimmer beschähmete« (S. 44). Diese vollkommene Schöne sei von ihrer Geburt an auf der Burg nur umgeben von »weibesvolk« und in dieser Weise »geheiligt« (S. 41). Zu ihrer Geburt sei ein Spruch des Sonnengottes an ihren Vater, den Priester, ergangen: Im fal man dieses Kind mir heiligt straks itzund: so wird es/ wan der Niel ist zwanzig mahl gestiegen/ in eines Fremden arm’ aufs höchst’ erhöhet liegen. Egipten/ schikke dich zu ehren beider mund. (S. 38)

So sei Assenat dort geblieben, von ihrem Vater »gleichsam verschlossen« (S. 45), und warte immer noch auf den erlösenden »Fremden.« Es ist ein rechtes Märchenmotiv. Zesens Josef erklärt die Zahl anders, indem er sie auf Assenats Lebensjahre bezieht. Nitokris nimmt diese Deutung gern auf: »Nähmlich nach dem zwanzigsten jahre ihres alters sol sie sich mit einem Ausländer vermählen. Mit dem wird sie/ in Egipten selbsten/ zugleich in den höchsten Ehrenstand erhoben werden. Ja das gantze Egipten wird ihm und ihr müssen nach dem Munde sehen/ ihr gebot zu erwarten. […] Und der König selbsten wird ihn über alle maße ehren. Er wird ihm alle Königliche macht in seine hände geben« (S. 55). Das erste Buch endet mit dieser neuen Deutung, Josef erscheint Nitokris als ein »Engel«. Bei einem Gartenfest, in Anwesenheit der Reichsstände, vollzieht sich Josefs Erhöhung. Pharao spricht fast wörtlich die Bibelworte mit der Kern-

136 stelle: »Alles übergebe ich deiner macht« (S. 191). Potifar freut sich, dass sein »Hofemeister« so zu Ehren kommt. Aber keine der Frauen weiß Bescheid, einzig Nitokris »kahm es nicht fremde vor« (S. 192). Erst nachdem Josef gekrönt worden ist und den Reichsstab in der Hand hält, können die Dinge allmählich enthüllt werden. Es wird ein Brautlied gesungen, es wird der neue König besungen als denjenigen, der die Braut mit sich führen werde – »Ein jedes Freulein wündschte wohl tausendmahl dieselbe Heilandin zu sein/ die in Josefs armen ruhen solte« (S. 196). Assenat ist nicht anwesend. An dem Tag, wo er in Anwesenheit der Ritterschaft in sein Amt bestätigt werden soll, sitzt Josef mit dem »ausbund des gantzen Egiptischen Adels« in »voller herligkeit und freude« zusammen (S. 216). Endlich tritt auch der Erzbischof von Heliopolis hinzu und lässt seine Tochter Assenat von der Burg holen. Er sagt zu ihr, die »noch niemahls einiges Mansbild gesehen« (S. 220): »Josef […], der Starke Gottes/ wird zu uns kommen: und ich habe beschlossen/ dich mit ihm zu vermählen« (S. 221). Assenat weiß aber noch nicht von seiner Erhöhung und gibt »eine weigerliche Antwort«: »Nein/ nein! […] ich wil keinem Gefangenem oder Leibeigenem/ aber wohl einem Königlichen Fürsten vermählet sein« (S. 221). Dann aber kommt Josef in ihr Blickfeld, gekrönt, stehend auf dem zweiten »Stahtswagen« – und sie bereut sofort ihre Worte. »Sie sahe seine himlische schönheit« und spricht: »sehet! die Sonne vom himmel ist auf ihrem Wagen zu uns kommen. Ich wuste nicht/ daß Josef GOttes Sohn were«. (S. 222). Hier zum erstenmal, im 5. Buch, wird die Begegnung von Josef und Assenat dargestellt. Bisher wurde immer die Außenperspektive angelegt, es wurden ›Blicke‹ beschrieben. Assenat wurde dem Leser zwar längst in ihrer bezaubernden Schönheit vorgeführt (mit den Augen der Nitokris gesehen), aber den »moment suprême« hat Zesen möglichst lange hinausgezögert. Jetzt erst löst sich die lange durchgehaltene Erzählspannung. Allerdings sind noch Schwierigkeiten zu überwinden – Assenat weigert sich zunächst, Josef als ihren Bräutigam anzunehmen. In der griechischen Novelle ist Assenats Abweisung des vorgesehenen Bräutigams noch um einiges heftiger. Pentephres (Potifar) spricht zu ihr: »Joseph, der Starke Gottes, kommt heute zu uns. Er ist Herrscher über das ganze Land Ägypten […]. Joseph ist ein gottverehrender und keuscher Mann und unberührt wie du heute. Und Joseph ist ein Mann, kraftvoll an Weisheit und Wissen. Der Geist Gottes ist auf ihm und die Gnade des Herrn mit ihm. Wohlan, mein Kind, ich will dich ihm zur Frau geben. Du sollst seine Braut sein, und er soll dein Bräutigam auf ewig sein!«35

35

Der Text wird mit Übersetzung zitiert nach der Ausgabe: Joseph und Aseneth. Hg. v. Eckart Reinmuth. Eingeleitet, ediert, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Eckart Reinmuth, Stefan Alkier, Brigitte Boothe u. a. Tübingen 2009. (SAPERE, Bd. XV). Zitatangabe: Nr. des Kap. und Abschnitt, Seite der Übersetzung. Hier 4, 7 und 8, Übs. S. 63.

137 Assenat reagiert wütend, das »Gesicht von tiefer Röte überzogen, und sie geriet in leidenschaftlichen Zorn« – sie spricht lauter herabsetzende Worte über den »Hirtensohn aus Kanaan« und meint, der »ist auf frischer Tat ertappt worden, als er mit seiner Herrin schlief …«. Sie beschließt: »Mitnichten, sondern ich werde den erstgeborenen Sohn des Königs Pharao heiraten …« (ebd., 10 f.). Darauf schweigt der Vater, »denn trotzig und mit Großtuerei und Zorn antwortete sie ihm.« Es wird in der Novelle eine hochdramatische Szene aufgebaut, denn auch hier bereut Assenat ihre Worte, sobald sie Josef sieht – »ihre Seele zerbrach, ihre Knie wurden schwach, ihr ganzer Körper begann zu zittern.«36 Als sie Josef auf dem »goldenen Wagen« erblickt, ist ihre Reaktion wie bei Zesen (der dieser Quelle folgt): »siehe, die Sonne aus dem Himmel ist in ihrem Wagen zu uns gekommen und ist in unser Haus hineingegangen und leuchtet hinein wie ein Licht auf die Erde«. Die erste persönliche Begegnung bringt für Assenat in beiden narrativen Gestaltungen eine bittere Enttäuschung. Im Roman verläuft die Handlungsführung parallel zur Novelle. Auf Josefs Frage und sofortige unwirsche Anweisung: »was ist das vor ein Weibesbild/ das über dem burgtohre im fenster lag? daß man sie straks aus diesem Schlosse schaffe« (S. 222), erfolgt auch in der Novelle das Gleiche: »Wer ist die Frau, die im Obergeschoss am Fenster steht? Sie soll dieses Haus verlassen«.37 Die nächste Hemmschwelle ist damit die Konfrontation Josefs mit dem Heidentum. Als er erfährt, dass es sich um die Tochter Potifars handelt, muss er einlenken. Aber als Assenat der Aufforderung des Vaters, Josef einen Willkommensgruß zu geben, nachkommen wil und sich ihm nähert, winkt dieser erneut ab. Er verweist darauf, dass es sich für einen frommen Juden nicht gezieme, eine Heidin zu küssen. Zesen folgt hier (S. 223 unten) ziemlich genau seiner Quelle, wo es heißt: Als Aseneth sich näherte, um Joseph zu küssen, streckte Joseph seine rechte Hand aus und legte sie auf ihre Brust, zwischen ihre beiden Brüste – ihre Brüste waren schon erregt. Und Joseph sprach: »Es geziemt sich nicht für einen gottverehrenden Mann, der mit seinem Mund den lebendigen Gott segnet und gesegnetes Brot des Lebens isst und den gesegneten Kelch der Unsterblichkeit trinkt und sich mit gesegneter Salbe der Unvergänglichkeit salbt, eine fremde Frau zu küssen, die mit ihrem Mund tote und stumme Götterbilder segnet und von ihrem Tisch Brot des Erwürgens isst und aus ihrem Trankopfer den Kelch der Hinterlist trinkt und sich mit Salbe des Verderbens salbt. […] Ebenso wenig geziemt es sich für eine gottverehrende Frau, einen fremden Mann zu küssen. Denn das ist ein Greuel vor Gott dem Herrn.«38

Assenat sieht sich »gleichsam verschmähet« (Zesen), sie wurde »von hertzen betrübt« und »weinte bitterlich«. Aus Mitleid wendet er sich ihr von 36 37 38

Ebd., 6,1. Übs. S. 65. Ebd., 7,2. Übs. S. 67. Ebd., 8,5 und 7. Übs. S. 69.

138 Neuem zu: »Er legte seine hand auf ihr heupt/ und seegnete sie« (S. 224). Assenat »erfreute sich über seinen seegen« und ging in ihr Zimmer. Da überdachte sie »alle worte des Josefs« und »behertzigte sie alle seine reden.« Sie schwört den »leblosen Abgöttern« ab und bekehrt sich zu Josefs Gott: »Sie verleugnete sie alle: und erkante den wahren lebendigen Gott« (S. 224). In der Novelle geht es feierlicher zu. Auch hier sieht Josef ihre Tränen »und hatte heftiges Mitleid mit ihr; auch er war sehr betrübt, denn Joseph war sanftmütig, mitleidig und gottverehrend.« Seine Segensworte haben gleichsam liturgischen Charakter, sie erbitten Gottes Geist um Erneuerung dieses Menschen: Und er hob seine rechte Hand und legte sie auf ihr Haupt und sprach: »Herr, Gott meines Vaters Israel, du Höchster und Starker Jakobs, der du das Universum lebendig machst und riefst es aus der Dunkelheit in das Licht und aus dem Irrtum in die Wahrheit und aus dem Tod in das Leben, du Herr, segne diese Jungfrau. Erneuere sie wieder mit deinem Geist und forme sie wieder mit deiner verborgenen Hand und mache sie wieder lebendig. Und sie möge essen das Brot des Lebens und sie möge trinken den Kelch deines Segens. Und zähle sie zu deinem Volk, das du ausgewählt hast, bevor das Universum geworden ist. Und sie möge hineingehen in deine Ruhe, die du deinen Auserwählten bereitet hast. Und sie möge leben in deinem Leben auf ewig.«39

Assenat bleibt in ihrem Zimmer, Josef geht seinen Pflichten nach und will in acht Tagen wiederkommen. In beiden Texten ist Assenat bußfertig und zerknirscht, vor allem ganz allein (in der Novelle heißt es gar zweimal: schloss die Tür sorgfältig und legte den Querriegel vor). Im Roman wird leicht gekürzt, aber ist der Text dennoch eindringlich: Unterdessen legte Assenat ein schwartzes trauerkleid an: und warf alle Götzenbilder zum fenster hinaus/ welches nach dem mittage zuging. Auch bestreuete sie ihr heupt mit asche/ lag auf den kniehen/ fastete/ und weinete sieben tage nacheinander. In aller dieser zeit hörete sie nicht auf zu bähten. Sie bähtete den lebendigen Gott an/ den Gott Josefs. Sie flöhete/ sie seufzete tag und nacht; und lies nicht nach/ als bis sie der Höchste erhöret. Sie ward auch in warheit erhöret; und die herligkeit Gottes erschien ihr (S. 229).

Am achten Tag blickt Assenat in der Morgendämmerung aus dem Fenster hinaus »nach dem aufgange zu« (man beachte diese Sichtwendung!). Da tat sich der Himmel auf und es erschien ein großes Licht. Ein Mann stieg vom Himmel nieder, der sie bei ihrem Namen nennt – »und er war Josef gantz gleich. […] Aber sein angesicht war als der blitz. Seine augen strahleten/ wie die Sonne. Und seine haare gläntzeten und schimmerten/ als feuerflammen« (S. 229). Hier verfährt die Novelle anders und ist der Unterschied zu Zesens Erzählung manifest. Denn als es dort 10,1 heißt: »Und Joseph ging seines 39

Ebd., 8,8 und 9. Übs. S. 71.

139 Weges, und Pentephres und seine ganze Verwandtschaft gingen auf ihr Erbgut …« (Übs. S. 71), bedeutet das die narrative Zäsur, wo nun das volle Licht auf Assenat fällt. Vom 10. bis zum 14. Kapitel (Übs. S. 71–85) spricht Assenat ihre verzweifelten und herzzerreißenden Lamentationen. Mit 11, 1, in der Morgendämmerung des achten Tages, beim Krähen der Hähne, beginnt Assenats Demütigung. Sie ließ den Kopf hängen »und die Haare ihres Hauptes waren aufgelöst von der vielen Asche«, so der Erzähler (Übs. S. 75). Es ist ein ergreifender Text, Worte einer existenziell verunsicherten und gleichsam am Boden zerstörten jungen Frau. Die Mitte (ab 13, 1) bilden zehn anaphorisch gereihte Sätze, welche die Not der vereinsamten Assenat und ihre Empfindungen fokussieren – »Schau auf meine Demütigung, Herr, und erbarme dich meiner«. Am Ende (ab 14, 1) geht der Morgenstern auf: »Aseneth sah ihn, freute sich und sprach: ›Hat Gott der Herr wirklich mein Gebet erhört, da dieser Stern, Bote und Herold des Lichts des großen Tages, aufgestiegen ist?‹Als Aseneth noch schaute, siehe, nahe bei jenem Morgenstern wurde der Himmel gespalten, und es erschien ein großes und unaussprechliches Licht. Und Aseneth sah es und fiel auf ihr Angesicht auf die Asche. Da kam ein Mensch aus dem Himmel …«. Von dem Punkt an verläuft die Novelle in der Handlungsführung wieder parallel zu Zesens Geschichte. Deshalb sei wieder hier angeknüpft. Der Engel sagt ihr, sie soll das Trauerkleid ablegen und sich wieder festlich kleiden, den »Gürtel der Buße« soll sie ebenfalls wegtun, Gesicht und Hände waschen, auch den Schleier soll sie ablegen und das Haupt entblößen. Mehr oder weniger wörtlich erzählt Zesen die Worte des Engels in der Novelle nach. Assenat wird vom Engel aufgerichtet: »Darüm sei stark/ und freue dich/ o Jungfrau Assenat. Dein gebäth ist erhöret. Deine seufzer seind durch die wolken gedrungen. Dein Nahme stehet schon in das Buch des lebens geschrieben. Daraus sol er nimmermehr vertilget werden. Von diesem tage an solstu/ als eine gantz erneuerte und lebendig gemachte/ das geseegnete Broht des lebens essen/ und den Trank der unvergänglichkeit trinken: ja mit dem heiligen öhle solstu gesalbet werden. Heute ist dir Josef zum Breutigam gegeben. […] deine Bußfärtigkeit hat dich bei dem Allerhöchsten versühnet. Nun hat er dir gnade geschenket. ….« (S. 230).

Es vollzieht sich dazu noch ein Wunder. Ein Fladenbrot, das plötzlich auf ein Wort des Engels da ist, teilt der Engel mit ihr, »sie isst vom Brot des Lebens« (S. 232); ein Schwarm Bienen (aus dem Paradies) umschwirrt Assenat, die nun auch einen neuen Namen erhält: »Vielzuflucht«.40 Dann verlässt der Engel sie. »Sie sah, wie ein Wagen mit vier Pferden in den Himmel gen Osten fuhr. Der Wagen war wie eine Feuerflamme und die Pferde wie ein Blitz. Und der Mensch stand oben auf jenem Wagen« (17, 8. Übs.

40

Zesen, S. 230, Z. 19. In der griech. Novelle »Stadt der Zuflucht«: 15,7 (Übs. S. 89).

140 S. 99). Zesen belässt es bei: »sobald solches geschehen war/ verschwand er vor ihren augen« (S. 233, Z. 18 f.). Es ist deutlich, dass die Novelle einen anderen Akzent setzt als Zesens Roman. Es geht zentral um die Umkehr (Metanoia), womit wohl auf Nichtjuden abgezielt wird.41 Die »Umkehr« wird in der Novelle auch personifiziert gedacht. Sie soll im Himmel dereinst Vorsprache sein für alle Völker, die sich zu Gott bekehren »und auf Gott den Herrn vertrauen«: »Denn die Umkehr ist in den Himmeln eine schöne und sehr gute Tochter des Höchsten. Sie bewegt den Höchsten durch Bitten zu jeder Stunde […]. Und allen, die sich bekehrt haben, hat sie einen Ort der Ruhe bereitet. Sie wird alle wieder erneuern, die sich bekehren, und wird ihnen dienen auf ewig. Die Umkehr ist sehr schön, eine Jungfrau, heiter und lachend allezeit; sie ist mild und sanftmütig. Deswegen liebt sie der höchste Vater, und alle Engel halten sie in Ehren.« (15, 7 u.8. Übs. 89/91). So sprach der Engel. Das große Sündenbekenntnis, das am Ende im Lob Josefs gipfelt (s. unten Anm.), erkennt die Bedeutung von Josefs Liebe gerade in ihrer religiösen Dimension und unterstützt die hier als dominant betrachtete Interpretation: Ich sündigte, Herr, ich sündigte vor dir, vielfach sündigte ich, bis Joseph, der Starke Gottes, kam. Er holte mich herab von meiner Herrschsucht und erniedrigte mich von meinem Hochmut. Mit seiner Schönheit fing er mich und mit seiner Weisheit überwältigte er mich wie einen Fisch auf dem Haken. Und mit seinem Geist lockte er mich wie mit einer Lockung des Lebens. Mit seiner Stärke stützte er mich und führte mich zu dem Gott der Ewigkeiten und dem Herrscher des Hauses des Höchsten. Er gab mir Brot des Lebens zu essen und (den) Kelch der Weisheit zu trinken, und ich wurde seine Braut auf ewige Zeit.

Dergleichen fehlt bei Zesen, der dafür Anderes in den Blick rückt. Er versteht offenbar die Worte metaphorisch: »Du bist eine Tochter des Allerhöchsten/ eine fröhliche/ eine fort und fort lachende/ und eine züchtige Jungfrau« (S. 230). Bei ihm heißt es gleich anschließend: Also war Assenat nunmehr bekleidet mit weissem sammet der Heiligkeit. Sie war angetahn mit reiner Seide der Gottseeligkeit. Im ungefärbtem atlasse der Keuschheit schimmerte sie/ als eine liebliche Lilje. Im purpur der Schaamhaftigkeit blühete sie/ als eine anmuhtige Rose. In allen Jungfreulichen Tugenden grühnete sie/ als ein lustiger Lorbeerbaum; und wuchs auf/ als eine herliche Zeder (S. 230).

Auch in der Novelle legt Assenat ihren Schmuck an und macht sich schön, denn sie sollte sich schmücken wie eine Braut: Und sie umgürtete sich mit einem goldenen, königlichen Gürtel, der aus wertvollen Steinen war. Um ihre Hände und ihre Füße legte sie goldene Bänder. Um ihren Hals legte sie wertvollen Schmuck, an dem unzählige kostbare Steine hingen. Und einen

41

Auf diesen erzählerischen Kern verweist zusätzlich das »Bekenntnislied Aseneths zu Gott, dem Höchsten« (Übs. S. 107/109), ein großes, als Litanie aufgebautes Sündenbekenntnis, das am Ende im Lob des Bräutigams gipfelt (Übs. S. 109).

141 goldenen Kranz setzte sie auf ihr Haupt. Und in dem Kranz war vorn auf ihrer Stirn ein großer Hyazinth, und im Kreis rings um den großen Stein waren sechs prächtige Steine. Und mit einem Schleier verhüllte sie ihr Haupt wie eine Braut, und in ihre Hand nahm sie ein Szepter. (18, 6. Übs. S. 101)

Auch sieht sie im Wasser, wie schön ihr Äußeres geworden ist, nun ausgedrückt in erlesenen Metaphern – die Augen wie ein »aufgehender Morgenstern«, die Wangen wie »Felder des Höchsten« etc., bis zum Hals und der Brust, »wie eine bunt schimmernde Zypresse und ihre Brüste wie die Berge der Liebe des höchsten Gottes« (Übs. S. 101). Dann trifft Josef ein, und sie eilt ihm entgegen. Sie erzählt alles Geschehene und die Worte des Engels. Von Zesens Josef wird kein überflüssiges Wort gesprochen: »Und Josef erwog sie in seinem hertzen. Aber er lies sich nicht märken/ was er bei ihm beschlossen« (S. 233/34). Nach dem Mittagsmahl bricht Josef wieder nach Memphis auf. – Offensichtlich ist Assenat für den vielbeschäftigten Josef kein Sehnsuchtsgegenstand. Deshalb ist Josef in allen Situationen der Politiker, der Staatsmann. Keine Intimität, auch keine Szene liebevoller Gefühlsintensität zeichnet das Zusammensein des Brautpaars aus. Selbstverständlich wird ein großes Fest gefeiert, mit vielen geladenen Gästen (das sechste Buch setzt damit ein) – das ist dem Vizekönig angemessen. Hier erscheint Assenat in schönstem Brautschmuck, wie auch Josef vornehm herausgeputzt, zum Zeichen seiner Würde eine goldene Krone tragend. Der Erzbischof traut sie selber, es klingen liebliche Saitenspiele, fröhlicher Hall von Trompeten und Krummhörnern erfüllt die Burg. Sieben Tage dauert das Fest, der König sparte keine Kosten zu diesem wahrhaft fürstlichen Beilager. Aber nach dem »Trautag« entschloss Josef sich wieder eine Reise zu machen, um die Kornhäuser zu inspizieren, deren Bau er für die fetten Jahre in Auftrag gegeben hat. Assenat ist seine Gefährtin: »Wo er hin zog/ begleitete sie ihn. Assenat konte ohne ihren Josef/ und Josef ohne seine Assenat nicht sein: so lieb hatten sie einander« (S. 281 f.). Das ist jedoch buchstäblich das höchste der Gefühle, soweit sie dem Leser mitgeteilt werden. Überdeutlich ist, dass in der Darstellung des Liebesglücks nicht die Hauptintention des Romans liegt. Wir hören noch, dass vor Beginn der teuren Zeit dem Josef »von seiner lieben Assenat« zwei Söhne geboren werden (Manasse und Efraim). Dadurch liebte ihn Assenat »noch tausent mahl mehr«, er sie aber nicht weniger. Die Hauptsache liegt – mit den Worten des Romans – woanders. »Erstlich liebte sie ihn/ daß er sie zur erkäntnüs des wahren Gottes gebracht […]. Darnach heuffeten solche liebe solche zwei lieben Ehpfände […] noch mehr. Und darzu kahm auch endlich der überschwänglich große reichtuhm, den […] Josefs klüglicher handel veruhrsachte« (S. 285). Die Dominanz der vielgestaltigen Begebenheiten des Romans betrifft den öffentlichen Aspekt von Josefs Leben und Wirken

142 im Dienst von Verwaltung und Politik. Der Vergleich mit der antiken Geschichte von Joseph und Aseneth macht das um so deutlicher. Denn wie anders liest man die Begebenheiten ihrer Liebe in der Novelle! Josef erkennt seine Braut zunächst nicht, erstaunt wie er ist über ihre Schönheit. Dann aber erzählt er, dass der Engel auch zu ihm gekommen sei. Er streckt seine Hände aus, Assenat desgleichen – sie »lief zu Joseph und fiel an seine Brust. Und er umarmte sie und Aseneth umarmte ihn. Und sie umarmten einander lange und liebkosten sich, und beide lebten in ihrem Geist wieder auf.« Josef kommt gleich tiefgründig-liebevoll in Aktion: »Und Joseph küsste Aseneth und gab ihr Geist des Lebens und küsste sie zum zweiten Mal und gab ihr Geist der Weisheit und küsste sie zum dritten Mal und gab ihr Geist der Wahrheit« (19, 10 u.11, Übs. S. 193). Die faszinierende und spannungsreiche antike Erzählung ist mit ihrer eigenen Dynamik vorläufig zu Ende gegangen. Die Eltern kommen nach Hause und freuen sich. Josef geht am nächsten Morgen zum Pharao und erbittet Assenat von ihm zur Frau. Pharaos Antwort lautet wie erwartet: »Sie, ist sie dir nicht seit Ewigkeiten verlobt? Sie sei deine Frau, von nun an und für ewige Zeit« (21, 2/3. Übs. S. 105). Pharao spricht den Segen (»Es segne euch der Herr, der höchste Gott, und er erfülle euch und verherrliche euch in Ewigkeit«), nachdem er beiden goldene Kränze auf ihre Häupter gesetzt hat. Zesen macht im Roman lediglich eine ausführliche Episode aus der Trauung – wichtiger ist wohl sein Anliegen bezüglich der Vorratskammern: »Er samlete von jahren zu jahren immer mehr und mehr ein. Er spielete aufs künftige« (S. 283). Damit wenden wir uns wieder der Architektur des Zesenschen Romans zu, der – wie oben schon gesagt – einen ganzen Reichtum an Wissen in den Anmerkungen bereitstellt. Über die Frage, was es mit der Gelehrsamkeit in diesem biblischen Roman auf sich hat, haben sich manche Forscher Gedanken gemacht. Hans Körnchen urteilt nur negativ: »Wir sehen, es ist Zesen nicht um eine höhere Wahrheit zu tun, […] sondern um Wissen und Gelehrsamkeit.« Willi Beyersdorff urteilt ähnlich: »Das übermäßige Anhäufen von Wissensstoff führte endlich zu Ergebnissen hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und Wissen. […] Die Grundtendenz war Darbietung des Wissens als solches, ohne daß Zesen bestimmte Anschauungen konsequent vertrat.« Eberhard Lindhorst kann dem Assenatroman ebenfalls nichts abgewinnen: »Hier liegt die Hauptschwäche Zesens: ihm fehlt die selbstschaffende, quellende Phantasie, die einen Sprachkünstler erst zum wirklichen Dichter macht.«42 Sogar Franz Günter Sievekes Standpunkt ist 42

Körnchen: Zesens Romane. Berlin 1912, S. 117; Beyersdorff: Studien zu Philipp von Zesens biblischen Romanen »Assenat« und »Simson«. Leipzig 1928, S. 38. Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zu Theorie und Technik des barocken Romans. Diss. Göttingen 1955, S. 77.

143 wenig überzeugend. Er registriert detailgenaue Angaben und kommentiert (S. 147): »Solche ›wissenschaftlich exakte‹ Detailschilderungen, die nach Aussage der ihnen zugeordneten umfangreichen Anmerkungen aus einem ausgiebigen Quellenstudium resultieren, sind in ihrer Umfänglichkeit oft unmotiviert und vielfach von modernem Empfinden aus betrachtet nicht recht in die Romanhandlung integriert. Das aber dürfte dem Geschmack der Zeit nicht widerstrebt haben.« Vielleicht ließe die Frage der Quellentreue sich mit Verweis auf die absolute Wahrheit, die Zesen in seinem Roman zu erreichen verspricht, beantworten. Hier ist dann alles andere als Stoffhuberei und Wissenanhäufung gemeint, sondern wird die nachdrückliche »nakte Wahrheit dieser sachen« gewissermaßen aus den Quellen belegt und ergänzt. Meid hat in einem zusammenfassenden Aufsatz über die biblischen Romane gerade auf diesen Aspekt deutlich den Nachdruck gelegt: Hier werde eine Geschichte erzählt, die »ihrem grundwesen nach nicht erdichtet« sei, eine Wahrheit erzählt, wozu »vollständiges Ausschöpfen der Quellen« eine Grundvoraussetzung ist, womit denn auch Zesen versucht habe, »die Tugenden der Geschichtsschreibung in die Romankunst einzubringen.«43 Diese Meinung wird auch von Sandra Krump vertreten: Bei Zesen finde man nicht umsonst ein »akribisches Wahrheitsstreben bis ins Detail«, denn: »›Heilig‹ und ›wahr‹ sind […] zwei engstens miteinander verbundene Leitbegiffe des Zesenschen Romankonzepts.«44 Man ist anscheinend weit von Herbert Singers Ansatz abgerückt. Es mag indessen ein etwas weiter abgestecktes Feld sein, das für eine Interpretation in Frage käme. In Zesens Assenat herrscht ein wesentlich anderer Geist als in Grimmelshausens Keuschem Joseph.45 Josef ist kein Heiliger, aber seine Geschichte enthält sicher legendenhafte Elemente. Josef ist von Anfang an der »Meister-Träumer«, also ein mit besonderen Gaben Ausgezeichneter, der zugleich ein Traum-Deuter ist. Ähnlich ist auch die Figur der Nitokris – eine erfundene Gestalt Zesens – über alle Orakel und alle Träume im Bilde, sie kennt schon im Voraus das Geschick von Josef und Assenat, hat die Versuchung durch Sefira zuvor gesehen, als auch Josefs Widerstand, ja sie ist in ihrer Rolle dadurch von besonderer Bedeutung für den Fortgang der Handlung, dass sie als eine »Art Unterstützung der Vorsehung« angesehen werden darf.46 Obwohl sie die Zukunft weiß, greift sie nicht zuguns43

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46

Volker Meid: Heilige und weltliche Geschichten: Zesens biblische Romane. In: Philipp von Zesen 1619–1969 (wie Anm. 32). S. 26–46, hier 27. Sandra Krump: Von der heiligen Schönheit. Zesens »Assenat« und die Romandiskussion des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 26 (1997), S. 691–713, hier 697. Man sollte sich noch einmal Sievekes Charakterisierung vergegenwärtigen: »Grimmelshausen bietet eine durch schwankhafte Züge aufgelockerte, chronologisch geordnete Nacherzählung der Josephsgeschichte der ›Genesis‹; durch diese Reihung von Episoden verrät er auch hier wieder seine Verbundenheit mit dem pikaresken Roman.« Sieveke, S (wie Anm. 32). S. 140. Krump, S. 699. Vgl. S. 104: »Weil nun dieses alles/ und noch darzu Josefs eigene

144 ten Josefs ein, sondern schweigt zum Geschick: »Mit stilschweigen laßet uns die erfüllung dieses Göttlichen rahtschlusses erwarten.« ( S. 95) Indem sie den Libyer-König heiratet, kann sie elegant aus der Josef-Handlung verschwinden. Die Vorsehung scheint alles bestens eingerichtet zu haben, so dass man sich nicht länger wundert, als sich auch Analogien zu Christi Leben nachweisen lassen, d. h. Josef als eine Präfiguration Christi. Das tritt an verschiedenen Stellen deutlich zu Tage. Er wird etwa abweichend vom Genesis-Text für 30 Silberlinge verkauft, er bittet für seine Brüder wie Christus für seine Peiniger. Es ist nicht so wichtig, dass Josef an einigen Stellen »Heiland« oder »Gottes Sohn« tituliert wird, es gibt noch Weiteres, das alle Zweifel beseitigen muss, dass Josef auf Christus zeichenhaft vorausweist (d. h. ihn »präfiguriert«). Um hier mit Sieveke abzuschließen: »Der Sinn der Figuraldeutung liegt auf der Hand: figura und neutestamentliche Erfüllung haben historischen Charakter, entsprechen also dem geforderten Wahrheitskriterium.«47 Dem widerspricht nicht die Idealfigur des Herrschers, die Josef eben auch darstellt. Denn die Präfiguration Christi erlaubt auch das: »Politische Ansichten und politisches Verhalten eines Heiligen […] sind imitabilis, nachahmenswert für einen christlichen Herrscher.«48 Sandra Krump geht über die angestrengte Wahrheitsbeglaubigung und -beteuerung hinaus. Sie geht von der Bedeutung des »Heiligen« im Romantitel aus, das sie folgendermaßen auffasst: »Das Heilige bzw. das Heil wird hierbei verstanden als Harmonie von Sein und Schein, als Überwindung bzw. Begrenzung des Chaos durch Kosmos.«49 Das müsse dann auf allen Ebenen gelten: für den Stil, den Umgang mit den Quellen und die Darbietungsweise. Hier herrsche somit der Kosmos-Begriff, dem auch das »explizite Bemühen um Klarheit und Deutlichkeit auf allen diesen Ebenen« entspricht.50 Das stimmt in vollem Umfang für die Josefgestalt,51 auch Augen und Gebärden verraten seine Seele. Ebenfalls ist seine Leibesschönheit eine Auszeichnung, insbesondere für einen Berater des Königs, weil im Inhaltlichen Harmonie und Kosmos für Ordnung einstehen und das Chaos abwehren. Josef ist in allem Vertreter der göttlichen Ordnung, nicht an letzter Stelle in der Versuchungsszene, wo er vor die Wahl gestellt wird: »Wolte er leben/

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Treume die Königliche Fürstin wuste; so gab ihr ihre scharfsinnigkeit und stähtiges überwegen dieser des Josefs traumdeutung sehr wunderliche gedanken ein.« Sieveke, S. 155. Sieveke, ebd. Krump, S. 702. Krump, ebd. Vgl.: »Aber diese euserliche leibesschönheit/ ob sie schon keine feder beschreiben/ keine zunge aussprechen/ und kein kunstmahler abbilden kan/ ist gleichwohl gegen die andern gaben/ darinnen die innerliche Seelenschönheit bestehet/ und damit ihn der Allerhöchste/ so gar reichlich geseegnet/ nichts zu rechnen.« (S. 69).

145 so muste er lieben.« (S. 149) Aber für ihn ist eigentlich schon entschieden: »Er wolte lieber hundertmahl den tod leiden/ als einmahl in unkeuscher liebe bewilligen« (ebd.). Krump sieht darin die »Wiederholung einer entscheidenden Ursituation der Menschheit«.52 Und eben deshalb – den adamitischen Sündenfall vor Augen – ist er vorgewarnt, wo Sefira bei sich überlegt: »Worzu dienet ein schöner Apfel/ der zu essen verbohten?« (S. 143) Als Sefira ihm allerhand köstliche Speisen ins Gefängnis zukommen lässt, wird er von einem Engel gewarnt, davon nicht zu essen (S. 143). Von Sefira zur Rede gestellt, kann er von der Speise nur sagen: »sie war mit dem tode erfüllet. Gott hat es mir durch seinen Engel geoffenbahret« (S. 144). Der Erzählerkommentar klärt nun auch den Leser vollends auf: »Josef sahe wohl/ daß sie der Höllische geist besaß; daß ein Geist des abgrundes sie in die euserste verzweifelung gestürzt. Darüm rief er ihrentwegen zu Gott. […] Er trachtete nach nichts anders/ als ihre kranke vernunft zu heilen« (S. 145). Auch hier müßte die Einsetzung der Ordnung dem Chaos entgegen gehalten werden, damit sich die Entwicklung und Entfaltung des Heils an Josef und seinem weiteren Umkreis vollziehe. Es ist eine fruchtbare Überlegung, wenn Krump auf den Traum Josefs hinweist, wo er die Ankündigung des künftigen und endgültigen Heilsbringers, des Messias, erfährt (S. 200/201). Daraufhin fasst sie ihre Interpretation dahin zusammen, »daß diesem Roman Zesens ein umfassendes Konzept zugrunde liegt, das mit den Schlagworten Harmonie von Sein und Schein, Kosmos gegen Chaos, aptum und perspicuitas kurz umrissen werden kann. Einzigartig ist die Umsetzung dieses Konzepts auf allen Ebenen des Romans, die Anpassung der Darstellungsweise, des Stils, des spezifischen Umgangs mit den Quellen an dieses Konzept.«53 Der von Zesen entwickelte besondere Stil für diesen Roman ist ganz im Einklang mit dem, was hier an Spezifika angeführt wurde, der Stil ist das angemessene Gefäß für eine Romangeschichte, die in den Gestalten von Josef und Assenat die Vorsehung am Werk sieht und ihr beider Wirken in diesem Sinn als »Heilige Geschichte« versteht.54 Hier sei schließlich noch der Vorschlag gemacht, den Begriff »heilige Texte« im Bezugsrahmen der theologischen Tradition zu betrachten. Paulus beruft sich Rö 1,1 f. darauf, »zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift.« Die Schriften der Propheten sind demnach in dem Sinn »heilige Texte«, dass sie nach Ansicht des Apostels verweisen auf Gott und seinen Heilsplan mit der Welt. Der Glaube setzt voraus, dass heilige Texte von Gott herstammen und von ihm ›inspiriert‹ seien. Der Inspirationsbegriff (theo52 53 54

Krump (wie Anm. 44), S. 706. Ebd., S. 711. Vgl die ausführlichen Analysen bei Volker Meid: Zesens Romankunst (wie Anm. 7), S. 80–110.

146 pneustie) wurde so verstanden als »mechanische Inspiration«, wie 2 Tim 3, 16: »alle Schrift, von Gott eingegeben« (als hätte Gott diesen Texten durch den Heiligen Geist seinen Atem eingeblasen).55 Das scheint mir im Fall von Zesens Josefsroman u. a. durch biblische Rückverweise und präfigurative Züge mehr noch als durch den biblisch56-historischen Gegenstand den Begriff der »Heiligen Stahts- und Liebesgeschichte« im Kern zu treffen.

5.2

Simson

Zesens zweiter biblischer Roman Simson/ eine Helden- und Liebes-Geschicht, neun Jahre nach der Assenat erschienen, ist in seinem vielfältigen Schaffen vielleicht das am wenigsten gelungene Projekt. Sogar wenn man die prekären Entstehungsbedingungen, über die die Vorrede informiert, berücksichtigen will, ändert das kaum etwas am Ergebnis. Die »stähtige Mühsäligkeit« seines Lebens, Arbeitsüberlastung und andere Unannehmlichkeiten hätten ihn von allen Seiten »bestürmet«. »Hierzu komt dan auch das andringende Alter; welches ohne dis anders nichts/ als Schwachheiten/ mit sich schleppet. Und also war der Wille wohl da/ aber das Vermögen entfiel mir meinen Simson zum schönsten auszuarbeiten.« (S. 9) Das ist eher ein aufrichtiges Geständnis als eine captatio benevolentiae. Zesen war nicht der Mann danach, ein lange angekündigtes Projekt, zu dem er schon viele Vorbereitungen gemacht hatte, aufzugeben. Und so müssen wir auch das Nachfolgende als Entschuldigungsgrund akzeptieren: »Ich hatte zwar beschlossen seine Lebensgeschicht viel weitleuftiger […] auszuführen. Auch war die Anstalt zu funfzehen Büchern albereit gemacht. Aber die Feder war kaum angesetzet/ als mir meine jähligen einbrächende Schwachheit schon gebot solchen Schlus zu ändern.« (Ebd.) Er hat sich dann entschieden, die Arbeit »nohtwendig« abzukürzen. Er habe diese »gantze Wundergeschicht in viel ängere Grentzen einschlüßen« müssen, um »nur bald zum Ende zu kommen.« (S. 9/10) Die Geschichte spielt in der Zeit, als die Filister über Israel herrschten. Zesen erwähnt seine Quellen – das Buch der Richter, Flavius Josephus, der italienische Romanschriftsteller Pallavicino, dessen Simson-Roman »der berühmte Herr von Stubenberg« übersetzt habe. Eigene Erfindung seien die Riesengeschichten im 4. Buch, die Geschichte von der »Schönen Timnatterin« sowie die Geschichte der Ägyptischen Fürsten und die ganze Begebenheit von der »Schönen Naftalerin«, »in welcher und jener ich eine 55

56

Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. III. Renaissance, Reformation, Humanismus. München 1987. S. 68–200. Die novellenartige Josephsgeschichte (1 Mose 37; 39–47; 50) gehört zur Weisheitsliteratur; obwohl sie möglicherweise einen historischen Kern enthält, könnte Joseph auch Idealtyp einer Beispielerzählung sein (Reclams Bibellexikon, 4. Aufl. 1987).

147 recht Tugendhafte Schönheit/ gleichwie in Simsons Eheliebsten/ und der Filistischen Fraue/ welche sich für die Mutter der Schönen Naftalerin ausgab/ eine Lastervolle Häsligkeit abbilden wollen.« (S. 11) Allerdings gibt die Geschichte im Buch der Richter (mit der Geburtsankündigung im 13. und die weiteren Begebenheiten im 14.–16. Kap.) nicht allzu viel her, so dass Zesen das in der Assenat verwirklichte Programm der ›nakten wahrheit‹ nicht ohne Abstriche hat verwirklichen können. Darüber ist die Vorrede deutlich. Aber nicht genug damit, dass er für die genannten ›galanten‹ Damen aus eigener Erfindung schöpfen musste, er hat darüber hinaus Vieles zu weit ausufernden Digressionen erweitern müssen, um der biblischen Erzählung des riesenhaft starken Helden noch Interessantes und Unterhaltsames hinzuzufügen. Das ist nicht überall gelungen. Zesen scheint sich von Anfang an über Richtung und Disposition des erforderlichen Materials nicht völlig im Klaren gewesen zu sein. So ist die schließlich doch immense Materialfülle (im Original 593 Seiten und 189 Seiten Anmerkungen) strukturmäßig offenbar nicht ganz bewältigt worden. Dadurch entstehen allzu große eigenständige Partien und weit ausgesponnene Motive, die mit der Simsonhandlung kaum etwas oder überhaupt nichts zu tun haben, wie etwa die Ausführungen über die Riesen, die fast das ganze 4. Buch füllen, oder die astrologisch-medizinischen Monologe des Arztes im 7. Buch. Zesens Bedürfnis nach Abwechslung durch frei erfundene Erzählungen (Episoden) und durch die die Handlungsführung unterbrechenden Exkurse dürfte auf den Versuch zurückzuführen sein, auf einfache Weise das Material zu ›strecken‹. Auch bei anderen Begebenheiten ist die epische Integration nicht recht gelungen. Es ist etwa zu denken an die breit dargestellte Szene im 7. Buch, die demonstrieren soll, wie Simson in Weisheit und Gerechtigkeit sein Richteramt (das ihm im 6. Buch übertragen wird) erfüllt. Es erscheint eine Filisterin vor ihm, die ihn zu bestechen versucht, um so zu ihrem ungerechten Glück zu kommen. Sie hat nämlich einmal einer jüdischen Frau ihr Kind rauben lassen und für ihr eigenes ausgegeben. Mutter und Tochter erkennen sich jedoch nach vielen Jahren in der Konfrontationsszene sofort wieder. Eine Art Salomonsurteil beweist die Unbestechlichkeit Simsons: Die Betrügerin wird bestraft, der Simson als Bestechung heimlich zugespielte Staatsrock wird vom Henker mit dem Schwert zerteilt. In Anbetracht solcher Szenen, die nicht gerade von großer Phantasie zeugen, ist die Basis für Detailanalysen im Grunde entfallen. Diese scheinen allenfalls für repräsentative Handlungsstationen Früchte abzuwerfen. Ohne nun ganze Partien aus der Handlung aussondern zu wollen, geschieht so dem Autor mehr Recht, als wenn ein negatives Urteil immer wieder von Neuem wiederholt werden müßte. Denn auch dann, wenn man den Simsonroman in seiner Entstehungszeit – gegen Ende des Barockjahrhunderts – verortet, gewinnt er nicht, sondern mutet als Ganzes vielmehr als ein

148 Werk an, dessen Verfasser wohl die Proportionen aus den Augen verloren hat. Das ganze Werk legt den Akzent auf die Wunderkraft Simsons. Sie wird in allerhand Variationen hervorgehoben – aber nicht, um ihn als ›Kraftprotz‹ darzustellen (obwohl sich das nicht immer vermeiden lässt), sondern wegen seiner Wunderkräfte, die ihn als Gottes Kraft vor allen anderen auszeichnet. Die Vorrede stellt die Weichen: Er war/ durch seine übermenschliche Wunderstärke/ die so wundergroße Heldentahten verübet/ ein ruhmherliches Weltwunder. Er war ein Heiland Israels/ zum wunderwürdigen Vorbilde dem Heilande der Welt selbsten erkohren. Und eben darüm erforderte seine Wundergeschicht eine wunderwürdige Feder. (S. 9).

Was hier mit dem von Karl Otto Conrady eingeführten Begriff der Insistierenden Nennung in rhetorischer Absicht betont wird,57 ist das Wunderbare, die Wunderstärke sowie das Vorbild des Heilands der Welt selbst. So erfährt zu Beginn die Redeabsicht durch solche Stichwortsetzung ihre Bedeutung, welche die Leserrezeption sofort in die gewünschte Bahn lenken soll. Dieses Verfahren wendet Zesen hier häufiger als im Assenat-Roman an, z. B. in Form eines rhetorischen Syllogismus und mit Hilfe der von ihm bevorzugten Dreigliedrigkeit: »Wie nun dem Müßiggange die Sünde folget; so folget der Sünde GOttes Zorn/ und diesem die Strafe. […] Eine solche dreigliedrige unzertrenliche Kette befesselte das Volk. […] Ein solcher dreifältig verknüpfter Zweifelsknohte hing über Israels Heupte. Ein solches dreifache schädliche Kleeblat wuchs in seinem Garten.« (S. 14, 7.) Die ständigen Hinweise auf Christus als Heiland, in Parallele zu Simson als ›Heiland Israels‹, stellen die Figuraldeutung des Romans in aller Deutlichkeit dar. Sie wird bereits in der Vorrede angekündigt und tritt an markanten Stellen der Simson-Geschichte expressis verbis in Erscheinung. Auf sie ist unten weiter einzugehen. Schon im ersten Buch wird die Timnatterin eingeführt. »Straks auf den ersten Anblik dieser Schönheit/ folgeten so viel tieffe Hertzwunden/ als die Strahlen/ oder vielmehr Pfeile aus ihren allerschönsten Augen auf ihn zuschos. Mit diesen blikkenden oder vielmehr blitzenden Strahlen vereinbahrten sich seiner Augen Blikke dermaßen/ daß sie/ mit einer heftigen Entzündung/ in ihre Höhlen zurückpralleten: welche von stunden an das schädliche Feuer/ das sie empfangen/ den innersten Schlaufwinkeln der Seele mitteileten«. […] Mit einem Worte: »Simson ward verliebt.« (S. 17, 22. u. 19, 25] Nach Hause zurückgekehrt, berichtet er Vater und Mutter von seiner Liebe, aber er erntet keine freudige Zustimmung. Sie erklären sich dagegen, dass ihr Sohn eine »Götzendienerin« (S. 23, 43) heiraten will. Aber Simson 57

Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 4)

149 setzt sich durch: »Eine so ausbündige Schönheit […] behält überal den Preis. Der Ruhm bleibet ihr überal. An allen Orten gebühret ihr Ehre. Ja were sie schon mitten in der Hölle …« (S. 25, 48). Sie kennen seine »Gemühtstrift«: diese lässt sich zuweilen leiten, »aber von ihrem Wege nie ableiten.« (S. 27, 56). Aber sie kannten nicht die Providenz, die »hierinnen mit unterspielete« (ebd., 58). Hier muss der Erzähler vom Ende her urteilen: Wo GOttes Wille mitwaltet/ da erlangt man alles/ was man verlangt. Wohin der Himmel wil/ dahin mus die Erde folgen. Wo GOttes Rahtschlus unsern Willen begünstiget/ da gedeiet unser Anschlag zum glüklichen Ausschlage. Da müssen alle Hindernisse weichen. Schlösser und Rügel springen auf. Die Tühren öfnen sich selbst. Alles mus unsrem Willen gehorchen. (S. 29, 64)

Simson war schon vor seiner Geburt ein »Verlobter GOttes« (S. 31, 70), er durfte deswegen sich die Haare nicht schneiden, keinen Wein trinken und keine Weintrauben essen. So ging er auch, weil der Weg nach Timnat durch die Weinberge lief, eine andere Wegstrecke, um »die Gelegenheit zu sündigen« zu meiden (ebd.). Dabei wird er von einem wütenden Löwen angegriffen. »Simson aber vereitelte diesen Ansprung […] und fiel darauf das Tier dermaßen an/ daß er es von stunden an auf den Boden warf/ und wie ein Böklein zerrisse« (S. 32, 76). Das sollte sich als ein folgenreicher Zwischenfall erweisen. In diesem Löwenmaul bauen die Bienen ein Nest, um ihren Honig abzulegen; beides soll in Simsons späterem Rätsel eine Rolle spielen. Unterdessen sind sein Vater Manoah und die Mutter in Timnat angekommen, kurz danach trifft Simson ein. Die Filister kannten bereits seine Tapfkeit – »Sein bloßer Nahme war ihnen ein Schrik.« (S. 35, 82). Er erhält daher schnell die Einwilligung der schönen Timnatterin und ihrer Eltern. Das Paar wird sich bald einig: »Simson begab sich straks in das Brauthaus. Straks ward er in das Jungfrauenzimmer geführet. Geschwinde ging alles zu. Ihn und seine Liebste lies man allein. Sie hatten auch keines Zuschauers nöhtig. Ein fremdes Ohr und Auge war ihnen verdrüßlich« (S. 35, 83). Der lakonische Stil dieses Zitats ist der Situation angemessen, kennzeichnet aber auch weniger stark ausgeprägt den Erzählstil ganzer Partien des Romans. Zum Vergleich, wenige Seiten weiter (S. 40, 107): »So ümhälsete dan Simson seine Liebste. So fügte er Mund auf Mund. So drükte er das Siegel des Kusses auf das rohtweisse Koral der zweifachen Tühre des Hertzens/ mit so viel Seufzern/ als Wunden seinem Hertzen ihrer Schönheit Strahlen gegeben.« Ein »Kus= und Schlus-lied« schließt die Szene ab. Der Erzähler unterbricht den Fortgang der Geschichte, um auf die Präfiguration einzugehen (S. 51–53). Dann jedoch wird der Umschlag gleich vorbereitet: Seine geliebte, nunmehr angetraute Frau lässt eine ungeheure Begierde nach den »gewöhnlichen Brautgaben« durchblicken und schaut Simson immerfort auf die Hände, ja »sie lauerte darauf mit unverwanten Blikken; nicht anders/ als

150 ein Raubvogel auf eine fette Henne: nicht anders/ als ein Habicht/ oder eine Weihe nach dem Raube« (S. 53, 134). Die Vergleiche lassen nicht nur tief blicken, sondern auch Böses ahnen. Ein Vorzeichen war schon der »abscheuliche Strobelstern/ welcher in eben der Nacht/ da Simson des Tages zuvor sein Ehverlöbnis zu Timnat gehalten,« erstmals erschienen und dann fünf folgende Nächte über Timnat und weitere Umgebung bis nach Gaza stehen geblieben sei (S. 55, 142). Das angekündigte Unheil vollzieht sich schrittweise, aber unaufhaltsam, was Simson auch immer unternimmt, seine Frau umzustimmen: »Ja die Liebe schien in ihr beinah in den letzten Zügen zu liegen; wo sie nicht schon gantz erkaltet/ oder gar wohl erstorben. Und darüm küssete sie nur/ wan sie küssete/ mit kalten küssen; denen die warme Hertzensluft mangelte« (S. 73, 52). Dann wieder wendet sie eine andere Taktik an: »da veränderte sie das Spiel aufs neue. […] Ja sie spielete/ vor seinen Ohren so leise/ so süße/ so lieblich/ so anmuhtig/ daß sie seine schier eingeschlummerte Liebesneugung volkömlich wieder erwekte« (ebd., 54). Man kennt die Geschichte. Sie versucht das Rätsel, das Simson beim Hochzeitsfest dreissig jungen Stutzern aufgegeben hat, zu erraten, um ihren Mann damit zu hintergehen und zu verraten. Sie verlegt sich nun aufs Trauern und Weinen, scheint gar in Verzweiflung, ihre Lippen erbleichen, »die Zukkerrosen ihrer Wangen« sind erblasst, ihr Gesicht hatte eine »düstere Tohtenfarbe bekommen.« Es scheint nun der Höhepunkt ihres Anschlags auf Simson gekommen zu sein: Sobald sie sich ein wenig wieder erhohlet/ begunte sich zuerst der Trähnenbach ihrer Augen zu öfnen. Mit kleinen Tröpflein fing er an: die als runte Perlen über die Bakken algemach hin kullerten. Denen folgete das Riselen. Endlich brach eine gantze Trähnenfluht durch die Tämme der Augen hin/ und überschwemmete das Angesicht so gar/ daß auch ein Strohm darvon selbst in den schneeweissen Busem geschossen kahm; da er sein herbes Saltzwasser mit der süßen Milchsee vermischete. Ja es schien/ als wolte dieses gewaltige Gewisser ihren gantzen Leib überströhmen/ wo nicht gar erseuffen. (S. 75, 60).

Der Erzähler kommentiert zunächst nüchtern: »Weinen/ und Wehklagen seind die zwo fürnehmsten Rüstungen der Weibsbilder. Hierinnen bestehet ihre meiste Macht/ ihr euserster Nachdruk/ ihre höchste Zuflucht« (S. 75, 61). Dann kommt er aber wieder auf seine Geschichte zurück, die er überleitend folgendermaßen beginnt: Die Gewalt aber dieses Thrähnengewissers ist niemals gewaltiger/ als wan es aus den Augen einer Geliebten schüßet: indem es die Sinne des Verliebten gleich als in einem Würbel herümtreibet […]. Niemahls wird Menschlicher Anblik mehr zum Mitleiden bewogen/ als wan er zwei Augen/ die er als zwo lebendige Sonnen verehret/ verfünstert/ und in Thränen gleichsam zerronnen erblikket. Es siehet alzuerbärmlich aus/ wan ein Wolkenbruch der Thränen die Lilien und Rosen eines wunderschönen Antlitzes verwüstet. […] Es pfleget auch gewislich auf einen solchen so anhaltenden Thränenflus gemeinigleich eine See zu folgen; darinnen menschliche Schönheit nohtwendig ihr Grab/ oder aber den Hafen des Erbarmens erreichen mus. (S. 75/76, 62.63)

151 So erfolgt auch hier wieder ein Umschlag: »In diesen Hafen der Erbarmnis trachtete auch in Wahrheit Simsons Ehliebste/ durch einen so heuffigen Trähnengus/ anzuländen« (ebd., 64). Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte sie Simson gezwungen, »seine Zunge/ der Trübsäligen zu wilfahren/ in diesem Augenblikke zu lösen« (ebd., 65). Dann aber, als das nicht sofort zum Erfolg führt, fasst sie »alle ihre Seufzer zusammen«. Diese stürmeten zu erst inwendig so gewaltig/ daß ihre Brusthügel zitterten/ ja der gantze Busem/ in überaus heftiger Bewegung/ bald auf/ bald niedersprang; nicht anders/ als wan ein heftiges Erdböben vorhanden. Auf diesen inwendigen Seufzersturm/ folgete der Ausbruch/ mit so vielem Knallen und Krachen/ als Seufzer heraus flogen. Er geschahe durch die zwo Rubinenmauren des Mundes: welche man anfänglich erschüttern/ darnach gar durch diese Spalte/ kaum verflogen/ als ein gantzer Schwarm Jammerworte/ mit noch etlichen Seufzern vermänget/ hinter ihm herdrung. (S. 77, 66/67)

Die Jammerpartie, die sich noch über einige weitere Seiten hinzieht, ändert jedoch zunächst nichts, – »Alle ihre Hofnung fiel in den Brunnen« (S. 82, 82). Simson fällt in einen tiefen Schlaf, sie nimmt ihn bei der Hand, küsst ihn »mit einem solchen Kusse/ daß sich seine Lebensgeister darüber ermunterten« (S. 83, 86). Simson ist vor Glück fast zerschmolzen – »mein Engel! mein Freudenbild! meine Wonne! Ja meine Sonne/ die mich/ nach so vielen erlittenen Stürmen/ wieder ümleuchtet! Wo bin ich? Was seh’ ich? was fühl’ ich? was geniesset meine Seele für Lust? Ist dieser Kus/ den ich fühle/ wahrhaftig ein Kus? Oder dünkt es mir nur/ daß ich ihn fühle?« (S. 83, 87) In »solchen schlafirrenden Gedanken« erhebt Simson sich vom Bett und umarmt sie. »Die Gegenküsse/ die er gab/ waren unzehlbar. Unzehlbar waren die Seufzer […]. Unzehlbar waren auch seine Liebesblikke/ mit denen er den ihrigen so liebreich begegnete« (ebd., 89). Aber wieder wendet sich das Blatt: »Die erfreulichen Blikke seiner Liebsten warden mit trüben Wolken plötzlich überzogen/ und diese mit unzählbaren Thränen geschwängert« (S. 84, 90). Der Erzähler hatte schon von »Scheinliebelungen« gesprochen, es soll sich nun bewahrheiten. Die Frau gibt ihm die Schuld ihres Verhaltens, ja gar ihrer Erkrankung: »ach! so gedenke doch/ daß dieses verfallene/ vermagerte/ betrübte/ ja gantz erbärmliche Wesen/ das du an mir erblikkest/ nirgend anders herrühret/ als von den übermäßigen Schmertzen/ damit Du selbst eine Zeit lang mein Hertz so gar unbarmhertzig und ungnädig biß zum Tode zu gleichsam gefoltert« (S. 85, 94). Sie setzt ihre Anklage noch eine Weile fort. Zesen legt ihr gern die Worte in den Mund, denn in solchen Szenen virtuoser Beschreibung ist er in seinem Element: Du selbsten trägst die Schuld/ daß deine Liebste so unlieblich/ so häslich aussiehet. Du selbsten bist die Uhrsache/ meiner verschwundenen Schönheit/ meiner verschlundenen Liebligkeit. Die Unbarmhertzigkeit/ die Grausamkeit/ die aus der Asche deiner ausgebranten Liebe/ mich zu peinigen/ gebohren worden/ hat sie vertilget. (S. 85, 95)

152 Solche psychologischen Einblicke in taktisches Verhalten von Frauen beziehungsweise Einsicht in Frauenlist zeichnen Zesens Erzählkunst aus. Vor allem die verbale Gestaltung mit Hilfe immer neuer Augmentationen voller rhetorischer Spannung war von jeher das Ferment seines narrativen Sprachstils. Es steht zu erwarten, dass die Frau nicht locker lässt und in Simson drängt, ihr doch endlich das Geheimnis zu offenbaren. »Entbinde dieselbe Zunge/ die/ durch stähtige Liebkosungen/ in meiner Seelen eine so reine Liebesbrunst angeflammet/ mir dasselbe zu offenbahren/ das mein Vorwitz zu wissen so ängstiglich verlanget.« (S. 85/86) Und schon nimmt sie einen Vorschuss: »Ach! ich bilde mir schon ein/ daß sich meine Arme üm deinen Hals schwingen/ daß ich meinen Mund auf deinen Mund drükke/ Dir für die so lange verlangte/ und nunmehr erlangte Gnade zu danken« (S. 86, 98). – »Und also ward Simsons Hertz/ nach vielen ausgestandenen Stürmen/ endlich erobert« (ebd. 100), er verrät ihr das Geheimnis. Der Erzählerkommentar verlegt sich aufs Allgemeine. »Ein Frauenbild/ das wenig/ oder wohl gar nicht liebet/ ist eben so wenig verschwiegen. Es ist als ein Sieb/ welches das eingefüllete Wasser straks wieder durchsiepern lesset. Es ist anders nicht/ als ein Sandleuffer. […] Kaum hat es das anvertraute Geheimnis mit den Ohren empfangen/ als es schon wieder zum Munde hinaus eilet. Kurtz/ ein solches Weib krieget mit Betruge/ und sieget mit Verrähterei« (S. 89, 109). Selbstverständlich nimmt Simson Rache und kehrt dann nach Hause zu seinen Eltern zurück. Damit beginnt das dritte Buch, in dem ein alter Greis auf seine Fragen hin Simson von seiner Geburt erzählt, es ist also erzähltechnisch die nachgeholte Vorgeschichte. Ihm wird bedeutet, dass seiner Mutter schon angekündigt wurde, ihr Sohn würde Israel erlösen, »der Höchste habe Dich darzu ausersehen.« (S. 102, 6) Ein Engel sei ihr im Feld erschienen und habe ihr geweissagt, dass er »Israel aus der Filister Hand« erlösen wird (S. 103, 9). Der Greis gibt ihm noch weit mehr zu wissen, etwa dass er schon »wunderbar« war in seiner Geburt, dass seine Heldentaten »Ausgebuhrten der Almacht sein solten/ der Almächtige selbst bestimmet«; er sei auch sofort erwachsen gewesen und verfügte über ungeheure Kräfte: »Es schien/ als weren die Siegsgepränge mit Dir gebohren.« (S. 109, 26) Dann spricht er den Segen im Namen des Gottes Israels – »Er erhalte Dich. Er stärke Dich. Er erleuchte Dich. Ja Er befestige Dich endlich […] zu unsrem Erlöser.« (Ebd., 27) Dann beschließt Simson, nach Timnat zurückzukehren, denn sein »Hertz hing nach einer Braut: die wolte/ solte/ und muste er haben/ es kostete/ was es wolte« (S. 113, 43). Aber dort findet er sich betrogen, weil sie »einen neuen Bräutigam« gesucht habe, was wiederum in geistlicher Ausdeutung auf die Untreue der Christen gegenüber ihrem Himmlischen Bräutigam bezogen wird (S. 115 ff.). Jedoch ahnt Simson nichts, er ist in »freudigen Gedanken« und baut ihm »einen Himmel vol Geigen« (S. 120, 64). Ja »sein Hertz

153 tanzete für Freuden/ und hüpfete für Wonne«, er zeigte das »in allen seinen Gebährden« (ebd., 64). Sofort begab er sich ins Haus und eilte ins Schlafzimmer, »da er seine Liebste selbst im Bette zu überraschen gedachte« (S. 121, 66). Weit gefehlt: er findet die Tür verschlossen, sein Schwiegervater jagt ihn davon. Simson sah wohl, »was die Glokke geschlagen« hatte und »veränderte seinen Schlus« (ebd., 67). Sein Schwiegervater erklärt, sie »sei schon einem andern verheurrahtet« (ebd., 69). Man sah nun in »Simsons Hertzen/ darinnen kurtz zuvor die Esse der Liebe feuerte/ den Gluhtofen des Zornes hitzen« (S. 123, 72). Im Gebirge geht er auf die Fuchsjagd und erlegt mit seinen bloßen Händen 300 Tiere. Nachdem er die Füchse »zu paaren bei den Schwäntzen zusammen« gebunden hat, macht er Fackeln daran fest, –»da gab es ein recht lustiges Schauspiel« (S. 127, 85). Sie wurden ins Feld und in die Stadt gejagt und richteten großen Schaden an. Das Feuer erreicht auch das Haus seiner »gewesenen Liebsten«, die sich dann ereignende Szene ist greulich. Im zugeströmten Publikum hört man: »Weil Simsons treuloses Ehweib ihren Ehman verrahten/ ja noch darzu/ auf guhtheissen ihres Vaters/ mit einem andern sich verehliget«, »solte sie/ andern zur Abscheu/ als eine Verrähterin […] samt ihrem Vater/ und neuem Ehmanne/ Simsons grimmigen Rachzorn zu besänftigen/ in ihrem eigenen Hause verbrant werden« (S. 138 f., 116). Die Tochter, die junge und schöne Schwägerin Simsons, bittet um die Begnadigung ihrer Mutter, der Staatsrat findet beide unschuldig, und sie dürfen gehen. So entkommt die Schöne der Feuerstrafe, während die untreue Timnatterin, ihr Vater und ihr zweiter Mann in den Flammen umkommen, als das Haus über ihnen angezündet wird. Die Schönheit hat die Schwester gerettet. Niemand konnte »die traurigen/ doch auch zugleich lieblichen schwartzbraunen Augen/ die unaufhörlich mit Thrähnen flossen/ ohne sonderliches Mitleiden anschauen. Aus diesen so schönen/ so liebsäligen Augen/ daraus/ als aus zwei Hertzensfenstern/ die Unschuld […] leibhaftig hervorblikte/ schlos der gantze Stahtsraht zur stunde/ daß sie am Verbrächen der Ihrigen kein Anteil hette« (S. 141, 125). Die ehebrecherische Ehefrau hat sich aufs Dach gerettet, aber springt aus Verzweiflung herunter. Der Erzähler lässt sich die Möglichkeit nicht entgehen, auch jenes Schreckliche in der Geschichte der Frau breit zu erzählen, das doch in so großem Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten steht. »Nun war nichts Schönes mehr an ihr. Sie schien die Häsligkeit/ die Abscheuligkeit selbsten zu sein«, sie sah aus wie ein Höllengespenst oder eine Teufelin, »die sich etwan aus dem Abgrunde des ewigen Zornfeuers herauf begeben/ die Menschen zu erschrökken.« (S. 148 ff., 4) Mutter und Tochter begeben sich an den Hof des ältesten Fünffürsten und erhalten dort Asyl. Das junge Mädchen wird von der Fürstin wie eine Tochter aufgenommen. Diese Episode, die sich allmählich verselbständigt, berichtet von dem neuen Glück der beiden aus Timnat Geretteten. In

154 einem langen Exkurs (S. 157–173) wird von Riesengefechten und von Riesen in Mythologie und Geschichte erzählt, veranstaltet zur Unterhaltung der schönen Timnatterin. Man versucht auch Simson zu beruhigen: Alle Reden der Filister waren »mit Honige bestrichen/ alle ihre Worte mit Zukker bestreuet«, aber Simson blieb, »wer er war«. Er will nicht ihren »Scheinliebelungen« folgen (S. 183, 94): »Mein Zorn […] ist noch nicht gesättiget. Mein Grim ist noch nicht gestillet. Meine Grausamkeit hat sich noch nicht geleget« (S. 183, 95). Nach dem Willen des Verfassers sonnt sich Simson im Glanz des Auserwähltseins und geht mit Selbstgerechtigkeit und Machtbewusstein dem Ziel seiner Rache nach. Bei so beschaffenen Sachen/ stund dan dem Simson nichts im Wege die Städte der Filister leer/ und ihre Gräber vol an Einwohnern zu machen. Sich mit Tohtschlägen zu sättigen war ihm überflüßig vergönnet. Nichts verhinderte ihn seinen Bluhtdurst zu leschen/ und dem Tode selbst eine reiche Leichenärnte zu verschaffen. […] Er ward des Reissens/ des Schmeissens/ des Bluhtvergiessens/ des Tohtschlagens endlich so gewohnet/ daß er kaum wieder aufhören konnte. Wo die Filister am dikkesten stunden/ da sprang er/ eben als ein wühtender Wolf/ mitten unter den Hauffen. Ie grösser und stärker die Mänge war/ üm so viel mehr Niederlagen erfolgeten. […] Wan GOtt seine Feinde zu geisseln beschlossen/ müssen sie selbst der Geissel entgegen lauffen. […] Also schlug sie dan dieser tapfere Held dermaßen/ daß sie bei tausenden fielen. Ja er erfüllete den Ort/ da die Schlacht geschahe/ mit so viel Tohten/ daß die übrigen Filister/ welche der Glüksfal daselbsten gespahret/ nicht mächtig genug waren eine so große Mänge zu begraben. (S. 185–187)

Solche Szenen muten peinlich, inhuman und schändlich an. In der Frühen Neuzeit war man jedoch nicht nur weniger bedachtsam und zimperlich – wenn man etwa an die vielen Gerichtsszenen und öffentlichen Strafgerichte durch Enthaupten, Aufs-Rad- Flechten, Erhängen usw. denkt, die man auch auf der Bühne ohne Scheu darstellte. Man war auch damals gleichsam an Grausamkeiten im Leben wie in der Literatur gewohnt. Dann war bei aller Leserneugier, die man zu befriedigen hatte, ebenfalls relevant, dass Zesen einer biblischen Vorlage folgte und im Schutz des ›heiligen Textes‹ seiner sonst blassen Nacherzählung mit Greuelszenen, die vermutlich dem damaligen Publikum zusagten, neuen Aufschwung zu geben versuchte. Das fünfte Buch setzt damit ein, dass Simson sich »nach dieser tapferen Heldentaht« aus dem Staub macht und nach Etan zurückkehrt. In einer Felskluft beobachtet er einen Steinadler, der von einem großem Vogelschwarm bedroht wird. Der Schwarm wird dann aber vom Steinadler vernichtet. Hier liegt eine allegorische Vorausdeutung vor, denn die Filister sind aufgebrochen, sich an Simson zu rächen. Die Einwohner von Juda, durch die lange Okkupation ohnehin »zu erschlappen gewohnet« (S. 201,33), spüren Simson auf und wollen ihn den Filistern ausliefern. Der jüdische Heerführer bietet dem Hauptmann der Filister gar den »Judaskus« (S. 203); er nennt Simson einen »Friedenstöhrer«, der nur Ungelegen-

155 heiten mache. Die Präfiguration liegt klar am Tage. Simson gesteht, dass er die »Filister zimlich hart und mit scharfen Kämmen gestriegelt« habe. Man möge sich also an ihm rächen: »Ich/ weil ich den Willen GOttes/ und sein Vorhaben/ in dieser Sache/ wohl weis/ bin hierzu willig« (S. 205, 45). Er fügt hinzu: »Das Buch der Schlüsse GOttes ist mit dunkelen Buchstaben geschrieben« (S. 205, 46). Wiederum fängt nun ein Vorspiel zu einem Gemetzel an, das Simson selber, sich mit Ausrufen ermutigend, beginnt. »Ich wil sie so geisseln/ so peitschen/ so striegeln/ so räffeln/ so hecheln/ so zerpoken/ so zerplauen/ so zerstauken/ daß sie es fühlen/ […] solche ihre Zurüstung sei ihnen selbst/ und nicht mir zum Tode gediehen. […] ich wil sie so schlagen/ so wil ich sie klopfen/ so wil ich sie zermalmen/ daß keiner/ wan es mir beliebet/ auch nicht einer/ es nachzuerzehlen/ entrinne.« (S. 206, 48) So äußert sich sein Zorn, in einer asyndetischen Reihe von Kraftsprüchen und Drohungen auf Schreckliches vorbereitend. Mit diesen letzten Worten/ die als ein Donner von seiner Zunge rolleten/ und gleich den Donnerkeulen aus seinem Munde brummeten/ begunte die Peitsche seiner Rache schon zu klatschen/ Ja die Kraft/ die in ihm zu streiten pflegte/ begunte sich schon zu bewegen. Seine gantze Gestalt entstellete sich. Alle seine Gebährden veränderten sich. Sein gantzes Wesen ward erschröklich. Seine Wangen feuerten. Seine Stirne glühete. Sein Ahtem hitzete. Seine Augen flammeten/ wie die Augen eines ergrimmeten Leuens. Er schüttelte die Aerme/ wie ein muhtiger Kampfhahn die Flügel/ wie ein gezörgeter Leue die Mähne. Alles/ was an und in ihm war/ rüstete/ wo nicht vielmehr entrüstete sich dermaßen/ als hette er seine Feinde schon erblikket. (S. 206 f.)

Er geht dann zuversichtlich auf seine Landsleute zu, die ihn binden sollen, d. h. »ihrem algemeinen Feinde selbst verrahten/ ja selbst zugeführet«. Die Präfiguration ist in der Parallele leicht zu erraten, wird aber zusätzlich unterstrichen: Also ward dan derselbe/ der von GOTT selbsten zum Erlöser und Heilande seines Volkes bestimt war/ von eben demselben seinen eigenen Wühterichen/ den Filistern/ zur Schlachtbank/ gefänglich und gebunden ausgehändigt. Hier sehen wir abermahl an diesem Irdischen Simson ein recht ähnliches Vorbild des Himlischen. Beider Begäbnisse gleichen einander […] so eigendlich/ als schier ein Ei dem andern. […] Eben also ward der Himlische Simson der Heiland/ und Erlöser der Welt JESUS/ von seinen eigenen Landesleuten/ von eben denselben Jüden ausgespühret/ und verrahten (S. 207 f., 51–53).

Als dann die zwei Heeresgruppen aufeinander treffen, stellt sich Simson als einer, der »Hertz und Muht/ Macht und Stärke verlohren. Er schwieg/ als ein Fisch« (S. 209, 57). Aber plötzlich, »da er seine Zeit erwartet/ und den Götlichen Antrieb an ihm märkte«, warf er seine Bande von sich »als schwache Zwirnsfäden« und griff an. Er fand einen »faulen verlegenen Eselskinbakken« und »gebrauchte sich dessen an Schwertes stat.« (S. 212, 65). Es folgt nun der Kampf, der selbstverständlich als ›Heldenarbeit‹ mit ausgesuchten Worten

156 dargestellt wird. Simson schwang seinen Eselskinnbacken, »Ruk und Zuk/ Knal und Fal war eins. Kaum begunte diese Peitsche seines Zornes zu klatschen/ da fielen die Filister hauffenweise schon zu Bodem. Er fing kaum an dieses Schlachtzeichen zu geben/ da war der Sieg schon in seinen Händen. […] Wo dieser Kinbakke […] hintraf/ da ward alles zerschmettert/ alles zerknürschet/ alles zermalmet. Die Knochen zerknakten/ die Haut ward zerklobet/ das Fleisch zerknöhtschet/ ja die Seele selbst/ samt dem Bluhte/ mit Gewalt aus dem Leibe getrieben.« (S. 213, 66 f.). Der Drastik nicht genug, schreit er in der Verfolgung den Feinden noch reihenweise Schimpfwörter nach: »Ihr Blödlinge! ihr Feiglinge! ihr Zaglinge! ihr Schröklinge! Wo ist nun euer Trotz? Wo ist nun euer Heldenmuht? Ihr Aufschneider! ihr Prahler! ihr Großsprächer! ihr Schnarchhänse! ihr Windbrächer!« (S. 216, 74).

In keinem anderen Werk hat Zesen soviel virtuose Rhetorik angewandt und die Sprache in derart aufwühlenden Passagen mit ruhigen Reflexionen, Erzählung im Berichtstil oder zarten Liebesdarstellungen abgewechselt. Dadurch ist der Sprachstil im Simson streckenweise stark aufgelockert, in differenzierter Weise abwechslungsreich und bewegt. Aber es ist nicht zu verkennen, dass ganze Partien nur auf Breite angelegt zu sein scheinen: Ein Gespräch werde, meint Körnchen,58 »zu einem endlosen Herumgerede; jeder Gedanke wird nicht nur dreimal ausgesprochen, sondern auch häufig nach allen Seiten hin gewendet, erläutert, erweitert oder eingeschränkt.« Davon abgesehen, dass in dieser Weise Zesens rhetorischer Dreigliedrigkeit wenig Verständnis entgegengebracht wird, ist die Beobachtung nicht ganz unwahr. Und ebenfalls ist Meids Beobachtung nicht von der Hand zu weisen, die darauf zielt, dass die im Richter-Buch meist zurückhaltend berichteten Gewalttaten in Simsons Kämpfen verlängert und erweitert werden: »In den Auseinandersetzungen Simsons mit den Philistern regiert die rohe Gewalt, und je mehr Blut fließt, desto wohler fühlt sich Simson.«59 Das soll nicht geleugnet werden, obwohl unsere Analysen daneben auch auf die frühneuzeitliche Faszination von Gewaltszenen aufmerksam machen wollen, die man mit dem Titel Theater des Schreckens präzise bezeichnet hat und die in mancherlei Aufspaltungen fassbar ist.60 Zum Glück nimmt das Gemetzel im Roman auch ein Ende, – nachdem Simson noch wortreich einen Riesen (einen »vierschröhtigen Pengel«) »mit 58 59 60

Hans Körnchen, Zesens Romane (wie Anm. 42), S. 151. Volker Meid, Zesens Romankunst (wie Anm. 7), S. 118. Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München, 3. Aufl. 1988 (Beck’sche Reihe, Bd. 349); Vf.: Leiden, Folter, Marter und die literarische Passionsfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der frühen Neuzeit. Hg. v. Johann Anselm Steiger. Wiesbaden: Harrassowitz /Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2005, 2 Bde. I. Bd., S. 301–314.

157 einem einigen Streiche das Genikke zerknikte«) –: »also fand unser Siegesheld/ in hiesiger Schlacht/ gantz keinen Widerstand.« (S. 219) Simson kann mit Zufriedenheit auf seiner Hände Werk zurückblicken: »Sehet! dort liegen sie bei Hauffen. Dort liegen die Mängen der Erschlagenen. Dort liegen dieselben/ die mir den Tod dreueten/ selbst in den Banden des Todes. Dort liegen eure sowohl/ als meine Feinde/ ja die Feinde des gantzen Israels/ die sich vermaßen euren Staht zu vertilgen/ nun selbsten vertilget. Ich habe sie vertilget. Ich habe/ mit diesem Eselskinbakken tausend Filister erschlagen.« (S. 221, 87)

Aber Simson versäumt nicht, auf die Quelle seiner ungeheuren Kraft hinzuweisen: sie entspringt »aus dem Springbrunnen der Almacht« (S. 222, 90). Dennoch redet er mit so aufgeblasenen Worten, dass er sich besser hätte bescheiden sollen: »Der Himmel selbst/ der itzund ein Zuschauer der nie erhöhrten Meisterstükke irdischer Stärke gewesen/ wird diesen Nahmen seinem großen Heldenbuche/ zum ewigen Zeugnisse meines heldenmäßigen Verhaltens/ meines unüberwindlichen Muhtes/ meines so gar sonderlich und wunderlich erhaltenen Sieges/ mit unausleschlichen güldenen Buchstaben einverleiben« (S. 225, 97). Mit solchen nach Ansicht des Erzählers »Gottesvergessenen Worten« ist er zu weit gegangen, er hat eine »irdische Schwachheit/ und überirdische Stärke zugleich blikken«lassen: »Simson beging einen Gottesraub. Er ward ein Ehrendieb« (ebd., 98). Er wurde sofort von großem Durst gequält – die »Zuchtruhte GOttes« hat getroffen (S. 228, 106). Aber aus dem Eselskinnbacken lässt der gnädige Gott endlich einen Brunnen aufquellen. Das Volk wählt im sechsten Buch Simson auf den Richterstuhl. Die Filister hat er »so weich und schmeidig/ ja so bändig und bange gemacht«, dass er in Frieden das Land verwalten kann (S. 242, 12). Er findet jedoch nicht sein eigenes Glück. Er trifft in Gaza eine Hure, deren Handwerk er aber nicht durchschaut und daher nicht bemerkt, wie sie wirklich ist, »da sie doch in der Taht anders nichts war/ als ein lebendiges Grab/ als ein beseeltes Aas« (S. 244, 18). So stand sie in der Haustür, als Simson gerade vorbeiging. Sie »lokasete« die Passanten, sie »beitzete« und »reitzete« sie »mit flinkernden Augen/ mit lächlendem Munde/ mit munterem Wesen/ wie ein Meerweib mit singender schmeuchlender Zunge/ sich in das Wohllustmeer ihrer Liebe zu verfügen« (ebd., 19). Aber »der arme Simson« wusste nichts davon, er »gedachte nicht/ daß diese gefärbete Spieltokke so ein abscheuliches Gespänst/ so ein betrüglicher Irwisch sei« (S. 245, 22). Schon ist es um ihn geschehen. Simson, »wie stark er sonst war/ so schwach war er itzund dieser Anlokkerin/ dieser Tausendkünstlerin zu widerstehen« (S. 246, 26). Ungeduld und Verzweiflung über ihre »wunderseltsame[n] Possen« ärgern ihn schließlich derart, dass er sich davon machen will. Simson nahm dan seinen Abschied plötzlich. Plötzlich schied er von dannen. Unversehens verlies er dieselbe/ die ihm so halsstarrig/ so widerspänstig/ so grausam be-

158 gegnet. Seiner Worte waren wenig; doch schier einieder Klang derselben mit vielen spitzigen Stacheln erfüllet. Diese kützelten ihr das Ohr/ ritzeten das Hertz/ und reitzeten es zu einer genugsamen/ doch schier zu spähten Reue. Gleichwohl lies sie sich dessen nichts märken. Sie verbarg ihr Anliegen (S. 251, 44).

Obwohl Simson sich den ganzen Tag nicht auf der Straße sehen ließ, »butzte sie sich auf das schönste. Sie schmükte/ ja schmünkte sich auf das zierlichste«, kurz: sie suchte ihn wieder einzufangen. Aber es ist alles vergebens, denn »Gott selbsten gab ihm ein/ was man wider ihn vorhette« (S. 259, 70). So weiß er, dass man ihn in der Nacht überfallen will und schleicht sich in der nächtlichen Stille davon. Er findet aber das Stadttor verschlossen. Keine Not für Simson mit seinen Bärenkräften! Darüm entschlos er sich straks das Tohr/ zusamt den Seulen/ Ringeln/ Rügeln/ und Schlössern/ auszuhöben. Zu dem Ende forderte/ ja trieb er aus allen Gliedmaßen seines Leibes alle Kräfte/ mit gewaltiger Bewägung/ in die starken Arme zusammen. Diese fasseten/ durch Hülfe der Hände/ zuerst die eine/ darnach die andere Tohrseule mit solcher Gewalt an/ daß die Mauren/ darinnen sie fest stunden/ wakkelten/ und mit greulichen Krachen voneinander barsten/ auch teils einfielen/ teils an den Seulen hängen blieben. Es war erschröklich anzusehen/ als er jede Seule mit einem einigen Risse/ mit einem einigen Schütteln dermaßen aus dem Grunde herausris/ daß alles/ was sie fest hielt/ seiner mehr als menschlichen Stärke weichen muste. Ja viel erschröklicher und verwunderlicher schien es/ als er noch darzu diese gantze Last des Tohres auf seine Schultern lud/ und damit eben so färtig/ als wan er irgendwohin lustwandelte/ fortging vor Hebron sein Siegeszeichen aufzurichten. (S. 263, 84–86)

An dieser Stelle ist die Aufschwellung mit Händen zu greifen. Das Ganze wird mit wenigen Worten Richter 16:5 erzählt: »Simson aber lag bis zu Mitternacht. Da stand er auf zu Mitternacht und ergriff beide Türen an der Stadt Tor samt den beiden Pfosten und hob sie aus mit den Riegeln und legte sie auf seine Schultern und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron« (Lutherübersetzung). Die romanhafte Aufschwellung findet zusätzlich eine Anreicherung durch die in der Bibelgeschichte fehlende Bestürzung der Einwohner: »Unterdessen kam der Ruf an/ das Stadttohr sei weg. Es were nirgend zu finden. Die Mauer/ darinnen es gestanden/ sei über einen Hauffen geworfen. Hieraus schlos man zur Stunde/ Simson sei geflohen; er habe sich durch gebrochen/ und das Tohr selbst mit darvon getragen. Alle stunden als vernarret. Iederman war bestürtzt. Schier niemand sprach ein Wort« (S. 266, 93). Für Zesen ist das eine nochmalige Gelegenheit, die Christus-Parallele auszuarbeiten. Die Jünger haben die Türe versperrt und verriegelt. »Aber bald nach Mitternacht/ da der Morgen wil anbrächen/ erwachet und stehet Er auf. Ja Er bricht/ als ein Überwinder des Todes/ durch die versperrete/ versiegelte Tühre hin« (S. 275, 118). An dieser Stelle, wo das Bibelbuch sofort die Delila-Handlung anschließt, nimmt Zesen die Geschichte von der Schönen Timnatterin wieder auf und weitet sie zur selbständigen Episode aus. Aber bevor es soweit ist,

159 muss Simson seinen sterbenskranken Vater zu Hause besuchen und von den Begebenheiten zu Gaza erzählen, wobei dieser anfängt, »überlaut zu lachen«. Hier ist der Einschub über die Bedeutung der Zahlen, die oben gestreift wurde (»Wechseltage«, »Wechseljahre«). Man hat Manoah im Garten unter einen blühenden Rosenstock gesetzt (das beigefügte Kupferbild zeigt ihn in einem barocken Ziergarten mit mehreren Springbrunnen), wo er seinen Sohn segnet. Nach seinem Tod und Begräbnis trauert Simson sieben Tage lang, die Mutter stirbt bald ihrem Mann nach. Dann nimmt Simson sein Richteramt wieder auf; es ereignet sich die versuchte Bestechung durch die Filisterin. Die Geschichte der ›gestohlenen Tochter‹ wird fortgesetzt. Sie bekommt auch einen Namen: die schöne Naftalerin. Die Schönheit dieser jungen Frau wird ausführlich geschildert (S. 313 ff.). Der Mund, »so er nicht verliebt machte/ zog doch alle zur Gunst. Dieser blühete wie eine liebliche Zukkerrose/ mit schneeweissen Liljen ümgeben.« (S. 314) Dabei bleibt es nicht, denn in barocker Manier geht es weiter: »Aber alle diese Schönheiten von aussen […] übertraf die innerliche Schönheit der schönsten Seele bei weitem« (ebd.). Vor allem schmückten »Gottsäligkeit und Frömmigkeit ihre reine Seele« (S. 315, 129). Ein Liebhaber, Simsons nächster Vetter, käme für sie in Betracht, aber sie kann nicht in seine Liebe einwilligen, und er lässt das Leben: »Es war vielzulange geharret« (S. 316, 135). Es hat wiederum für Simson keine weiteren Folgen. Das achte Buch erzählt das Begräbnis von Simsons Mutter und erläutert das Brauchtum, geht aber bald zum folgenden Thema über, das mit »Lust und Ergetzung anzuhören sein wird« (S. 321, 12). Den Anlass bildet das Geschehen um die Schöne Timnatterin, das endlich hier wiederaufgenommen wird. Wie wir uns erinnern, war sie die jüngere Schwester von Simsons »treuloser« und mit Verbrennung bestrafter Frau, sie war mit der Mutter nach dem Hof des ältesten Fünffürsten entkommen. Die hier berichteten Begebenheiten zeigen Zesens Anschluss an den heroisch-galanten Roman, mitsamt den Abenteuern des hellenistischen Romans (Heliodors Aithiopika). Mit den Geschehnissen um die Schöne Timnatterin, die vom achten Buch an detailliert erzählt werden, zeigt sich die »geringe Kompositionsfestigkeit« Zesens: So schön sie dargestellt werden, haben sie doch mit der Simsonhandlung nichts zu tun, als nur dies: die Episode »bildet das freundliche Gegenspiel zu der an grausamen Taten reichen Haupthandlung.«61 Es wird sofort spannend, denn die Episode setzt mit der Entführung der Schönen Timnatterin ein, die angeblich auf Geheiß des ägyptischen königlichen Fürsten geschieht. Ein bestochener Diener des Fünffürsten begleitet sie, von weiteren Dienern geholfen. Das übliche Arsenal wird eingesetzt: Schiffsreise, Sturm, Schiffbruch. 61

Willi Beyersdorff (wie Anm. 42), S. 44.

160 Der Schiffbruch ist indessen mehr als die Reprise eines Motivs aus dem griechischen und dem ihm nachgestalteten französischen höfisch-historischen Roman. Er führt die Timnatterin in eine Situation existenzieller Not (eine »Grenzsituation« heißt es im Existentialismus), in der sie ihr bisheriges Leben an sich vorbeiziehen sieht, »da sie allen ihren Glüks- und Unglüks-fällen nachdachte« (S. 328, 32). Freilich fügt sich das Geschehen in die Zeit der Antike ein, wo Schiffbrüche mit stätem Regelmaß wiederkehrten und so auch in die Literatur eingingen. Man denke an die von Homer und Vergil dargestellten Sturmszenen; der Apostel Paulus erlebte einige Male einen Schiffbruch (Apg 28) und Flavius Josephus musste eine Nacht schwimmend im stürmischen Meer verbringen.62 Die Schiffsmetaphorik ist bekanntlich auch in der Barocklyrik beliebt. Auf alle Fälle ist das Motiv bildhaft auf die Stürme des Lebens und den sicheren Hafen bezogen. Es kann auch den Anfang eines neuen Lebensabschnitts mit ungeahnten Chancen und Möglichkeiten bezeichnen, wie es in Zesens Roman der schönen Timnatterin begegnet. Sie kommt als Einzige an Land und lässt ihr Leben Revue passieren. »Ich habe nunmehr in der Taht erfahren/ daß alles/ was in der Welt ist/ nur eitel und unbeständig sei. Ich habe nunmehr gelernet/ daß weltliche Wohllust und Ehre nichts anders sei/ als ein verschwundener Rauch/ als ein vergänglicher Schatte. Vor wenig Stunden stund ich noch im Stande der höchsten Ehren/ der höchsten Glüksäligkeit. Ich ward geliebet/ geehret/ bedienet. […] Aber wo ist nun dieselbe so große Glücksäligkeit? Ach! wie bald ist sie verschwunden?« (S. 328 f.). Solche zeitüblichen Vanitasgedanken (»Steigen und Fallen hoher Herren«) entsprechen den widerlichen Umständen, in die sie geraten ist. Aber es kommt Rettung – ein Märchenmotiv wird eingeführt. Es erscheint urplötzlich ein Löwe, dem sie einen Splitter aus der Tatze zieht und der ihr anhänglich wie ein »Schoßhündlein« begleitet: »Wan sie schlief/ war er ihr Wächter. Er täht kein Auge zu« (S. 332, 40). Als sie bei Menschen einkehrt, halten diese sie gleich für die Phönizische Göttin Onke, was sofort Folgen hat. Ihr Wirt hat nämlich eine ungeratene Tochter, mannstoll und von erotischer Gier beherrscht – »Was alda vorging/ verbietet mir die Schaam zu melden. Ich muß es unter der Rose laßen« (S. 334.53). Diese gewinnt aber ihr Vertrauen, sie klagt der ›Göttin‹ ihre Not und bittet um Hilfe. Sie liebe den Nachbarsjungen, dessen Eltern nicht in ein Verhältnis einwilligen wollen, weil ihre zu arm sind. Überraschend trifft die Heldin im Wald auf diesen jungen Mann, der als Jägermeister in den Diensten des Fünffürsten steht. Sie bittet ihn, einen Brief an seinen Brotherrn abzuliefern. Da wird dann auch das Märchen Wirklichkeit: Das 62

Siehe Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948; Horst S. Daemmrich: Steuermann – Schiffbruch – Hafen. In: Elemente der Literatur. Hg. von A. J. Bisanz, R. Trousson. Stuttgart 1980.

161 junge Mädchen wird zur Hofmeisterin, der Jäger zum Oberjägermeister befördert; nichts steht ihrer ehelichen Verbindung im Wege. Die Schöne Timnatterin, schon vom Löwenabenteuer als eine besondere (»heilige«) Gestalt ausgezeichnet, hat dazu die entscheidenden Impulse gegeben und hat den einfachen Leuten, die ihr Rettung und soviel Glück bescherten, den sozialen Aufstieg ermöglicht. Sie hat also durch ihr Auftreten segensreich gewirkt und gesellschaftliche Anteilnahme in eine Wohltat zugunsten junger mittelloser Menschen praktisch umgesetzt. Auch sie besitzt neben der äußeren die innere Schönheit, die sich in ihren Taten erweist. Wurde sie für eine Göttin gehalten, reagiert der Fünffürst auf den vom Jäger überbrachten Brief: »du hast recht gesagt/ dieser Brief sei von einer Göttin geschrieben. […] wiewohl nicht die Göttin Onke. Die Göttin von Timnat ist es. […] Die schöne Timnatterin ist es« (S. 347, 90). Der Löwe war, wie Zesen selber angibt, religionshistorisches Requisit, jedoch die aufblühende innere Schönheit der Frau die eigentliche Legitimationsfunktion des Schiffbruchs. Das Märchen und die Liebesidylle bilden einen wirksamen Kontrast zu den Szenen, in denen Simson bedroht und verraten wird, sich mit Berserkerkraft wehrt und unter seinen Feinden wütet. Stimmungsgehalt und Gemütsregungen werden in schroffer Gegensätzlichkeit für Augenblicke ausbalanciert, wenn auch auf Kosten der inhaltlichen Einheit der fabula. Dann kann der Faden der ›Normalität‹ wieder aufgenommen werden. Das Missverständnis, dass der ägyptische Prinz die Entführung gewollt und angezettelt hätte, klärt sich auf. Es ist die Tat des Räubers Pammenes gewesen, dessen Lebensgeschichte als kleine Einlage im neunten Buch (S. 377 ff.) erzählt wird. Seine an Land gespülte Leiche hat man am höchsten Baum aufgeknüpft. – Der Einzug der Schönen Timnatterin als die Fürstliche Tochter mit ihrem Gefolge wird mit einem großen Fest gefeiert. Damit ist die Episode zu ihrer Fortsetzung (9. Buch) angelangt. Alle Welt hat sich aufs schönste geschmückt, jeder freut sich. Man begibt sich aus dem Schloss auf die Straße. Es herrscht die höfische Atmosphäre mit ihrem komplizierten Ritual. Die »Stahtsjungfrauen neugeten sich […] so tief/ daß sie mit den Kniehen die Erde schier berühreten. Auch schien es/ als wolten sie auf dem Boden gar liegen bleiben. Nach unterschiedlichen Freudenbezeugungen/ und Grusreden/ die unter beiden Fürstinnen vorfielen/ empfing die Hofmeisterin ihre Tochter ebenmäßig mit sonderlichen Freuden/ ja gar mit heuffigen Freudenthrähnen: welche der Tochter gleichfals in die Augen stiegen.« (S. 370, 6) Das Volk jauchzt und jubelt bei solchem »Lustgepränge«. Endlich geht man zu Tisch und ist vergnügt. Die Sprachebene ist ganz von der höfischen Umgebung bestimmt, sie ist gehoben und teilweise gewählt. Das nun entstehende Problem ist eine erotische Komplikation: Durch die Reden des ägyptischen Gesandten von den Tugenden und Schönheiten

162 der Schönen Timnatterin ist der junge ägyptische Prinz unversehens vom Hörensagen verliebt geworden. Er fragt den Gesandten, »ob es mir rahtsam/ und dem Egiptischen Reichsstuhle dienlich sei üm Sie werben zu laßen. Ich für mein Teil wünschte nichts lieber/ als einer solchen Fürstin/ die ihr mir so überaus gerühmet/ vermählet zu werden« (S. 403, 121). Der Gesandte sieht sich vor einem Dilemma, es waren ja seine Reden,die dem Prinzen »das Hertz gerühret« und »ein Feuer der Liebe darinnen angezündet« haben (S. 404, 123). Er muss aber doch abraten und erzählt die Geschichte von der Verbrennung ihrer bösen Schwester in Timnat. Das betrübt den Prinzen, der anfängt »jämmerlich zu kärmen« und seufzt: »Hat mich das Glük darüm in der Könige Stand erhoben/ damit ich nicht ehlichen könte/ die ich wolte; damit ich ehlichen müste/ die ich nicht wolte?« (S. 405 f.). Der Gesandte muss lange auf den jungen Mann einreden, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Ja Er vergaß einer solchen Liebe/ die Ihm nur nachteilig sein wolte/ fast gar/ als Er/ auf Anstalt des Gesanten/ sich des folgenden Tages in Geselschaft einer großen Mänge des schönsten Egiptischen Frauenzimmers befand« (S. 419, 144). Das hat Erfolg, er vergisst sie. Aber Simson erscheint nun auf dem Plan, denn dieser wandert durch das Filisterland, »sich nach einer neuen Schönheit/ nach einer frischen Liebsten ümzutuhn« (S. 413, 151). Es bleibt unverständlich, weshalb er trachtete, »sich von einer Filisterin verstrükken zu laßen« (S. 414, 157). Damit kommt die Rede wieder auf die Schöne Naftalerin. Sie hatte »allein mehr Schönheiten/ als alle Frauen und Jungfrauen des gantzen Filisterlandes. Gegen diese war die schöne Timnatterin […] nicht anders/ als ein Schatten gegen das helleuchtende Licht der Sonne« (S. 415, 159). Die sich bietende Gelegenheit, ihre Schönheiten erneut (nur ausführlicher) zu beschreiben, nimmt Zesen natürlich wahr; er war nicht umsonst dafür bekannt. Seine neuerliche Probe setzt dem Ganzen die Krone auf. Sie übertraf an Schönheit/ an Zierlichkeit alle Geschöpfe/ ja alles/ was den Nahmen schön und lieblich zu sein in der Wahrheit verdienete. So schöne Strahlen hat niemahls die Sonne/ wan sie am schönsten leuchtet/ als ihre zwo Augensonnen zu strahlen pflegten. So helle funkelt kein Deamant/ kein Karfunkel/ wan er das reineste/ das klähreste Licht hat/ als die helflinkernde schimmernde Feuerfunken/ die aus der düsteren Kluft ihrer zween Augenäpfel/ als aus einer Berggruft vol edeler Steine/ gleichsam herausschossen/ zu funkeln schienen. […] So schönen und lieblichrohten Glantz häget kein Rubien/ wan er am liechtesten ist/ als die Rubienenschacht ihres Mundes hägete. So schönen pupurrohten Schein giebet keine Rose/ wan sie am frischesten blühet/ als das zweifache Gartenbetchen ihrer lieblichen Lippen zu geben pflegte. […] So süßen Geschmak hat kein Honig/ kein Zukker/ wan er am lieblichsten schmäkket/ als die allersüßeste Feuchtigkeit/ die auf ihren Lippen lag. […] So schön und glat/ so klahr und weisblinkende findet man keine Perl/ wan sie am klähresten leuchtet/ als ihre schneeweisse Zähne waren. […] So zährtlichroht ist keine Zukkerrose/ kein Näglichen/ keine Tulpe/ keine Tausendschöne/ noch einiges anderes Blühmlein/ wan es am schönsten blühet/ als das zweifache Mittelfeldichen ihrer ahrtiggestalteten Bakken zu sein pflegte. (S. 415/416)

163 Das ist nur ein Ausschnitt, denn so geht es noch eine Weile weiter, bis es dann heißt: »Aber das rechte Licht ihrer Schönheit/ nähmlich die innerliche Seelenschönheit/ die gantz unvergänglich/ ja ewig/ und schier ungebrächlich war/ zu beschreiben/ wird eine schärfere Feder/ eine geschiktere/ ja wohl gar unsterbliche Zunge erfordert« (S. 417, 168). Im Vergleich mit ihrer erstmaligen Beschreibung (S. 313 f.) zeugt diese von der Preziosität, auch von der »Zuckerbäckerei« spätbarocker Literatur, an deren Fülle von unermüdlich aufgezählten Schönheiten mit den entsprechenden Vergleichsobjekten der zeitgenössische Leser sich offenbar kaum genugtun konnte. Unter den Tugenden der schönen Naftalerin (vom Stamm Naftali) ragen die Haupttugenden Liebe, Glaube, Hoffnung hervor. Auch ihre Gottesfurcht und die »wahre Gelassenheit« sind bekannt, wie auch ihre Frömmigkeit, Demut und Barmherzigkeit. Darüberhinaus sind ihre ›Hertzhaftigkeit‹ und ›unüberwindliche Beständigkeit‹ für sie kennzeichnend. Kurz: sie ist die ideale Frau, der man die äußere und innere Schönheit gleichsam auf den ersten Blick ansieht. Dennoch blieb Simson seltsamerweise gegen diesen Ausbund von Schönheiten unempfindlich. Sie konnte Simson nicht erreichen, denn er »sahe sich gleichwohl nach einer andern […] üm« (S. 419, 176). Am Bach Sorek findet Simson eine schöne Filisterin; auch sie ist wieder eine ebenso gefährliche wie liederliche Frau. »Er stolperte wieder in die gefährlichen Fußangeln/ die ihm schon zweimahl/ auf dem Pfade geuler Liebe/ den Fuß verletzet.« (S. 421, 2). So wird der Leser auf der Schwelle zum zehnten und letzten Buch gleich informiert. Er kennt die Geschichte, die hier beginnt: Delila hat ihn sofort erobert. »Straks entstund in ihm ein Sturm von vielerlei Neugungen. Diese tobeten und wühteten in seinem Gemühte dermaßen/ daß der Raum viel zu änge ward« (ebd., 4). Delila ist ihm in allem zu Willen, sein »Lusthunger befand sich lange so heftig nicht/ als sie freigebig war/ ihn zu stillen« (S. 423, 8). Es kommt ihm vor wie der »Vorschmak des Paradieses/ aber ach leider! nicht des Himlischen« (S. 424, 9). Obwohl die Filister auf ihn lauern und seine Kraft so gut wie seine Schwächen kennen, verfällt er ganz dieser Frau. »Die Hitze der Delila war dermaßen stark/ daß sie nimmer nachlies ihnen [sc. seinen Begierden] ein Teil darvon mitzuteilen« (S. 424, 12). Tatsächlich, Delila hat »ihr Handwerk wohl gelernet« (S. 421, 1). Delila setzt alles daran, Simson zu übertölpeln, damit sie hinter das Geheimnis seiner Kraft komme. Denn sie weiss, dass »niemand als sie/ in die Schatzkammer seiner Heimligkeiten einen freien Eintritt zu haben vermöchte« (S. 426, 19). Zu dem Zweck waren die Filister an sie herangetreten, »durch ihre Liebkoserei auszuforschen/ woher dieselbe so ungeheure Stärke/ dadurch er allen Menschen ein unvermeidliches Schrökken einjagte/ sich entsponnen? Was für ein Stern oder Unstern es sei/ der eine so gewaltige Kraft in ihm würkte? Und ob dieselbe Kraft und Stärke nicht etwan

164 zu gewissen Zeiten von ihm wiche?« (S. 427, 21). Ihre Belohnung soll 5500 Silberlinge betragen, mit den 30 Silberlingen verglichen, die man Judas für den Verrat Christi zahlte (das »Blutgeld«), eine beträchtliche Summe. Daran wird in dem Präfigurations-Passus (S. 428, 26) erinnert. Das erste Mal hat Simson die Fesseln einfach von sich abgeschüttelt, er »zerrisse sie/ wie einen Faden/ der von der Lohe versänget ist« (S. 435, 46). Delila sah sich genötigt, seinen Zorn zu besänftigen: »Sie muste geschmierte Worte geben/ und wieder anfangen zu schmeicheln« (ebd., 49). Zum Schein sagt Simson ihr die Wahrheit: Wenn man ihn mit neuen, nie gebrauchten Stricken binde, würde seine Kraft verschwinden wie bei jedem anderen Menschen. Die Liebesfunken waren also wiederum wirksam, so dass die Filister ein zweites Mal herbei gerufen werden – diesmal ist Delila vom Gelingen überzeugt. (S. 439). Der Erzähler wundert sich, dass man Simson nicht einfach im Schlaf umbringe, sondern ihn partout zuerst binden wolle (S. 440, 71). Er meint darauf, das sei eben der Vorsehung Gottes zuzuschreiben. Denn wenn menschliche »Gebrechligkeit« uns »die Bahne zum Verderben glättet«, hilft »Gottes mitleidende Hand«. So war es auch hier. Simson war »aus angebohrner Gebrächligkeit/ zum Sturtzfalle geneugt« und ging nun zum zweiten Mal in die Fallstricke »desselben Weibes«. Da »übergab ihn zwar GOtt dem Triebe seiner Neugungen/ doch also/ daß er zugleich die boßhaftigen Unterwindungen seiner Feinde vereitelte« (S. 441, 75). Auf Delilas Schrei: »Die Feinde sind da«, erwachte er augenblicklich aus dem Schlaf, »mit einer solchen gewaltigen Bewägung/ daß die Bande von Armen und Beinen straks absprangen. […] Die Knöpfe gingen loß. Die Knohten sprangen auf. Die Stränge/ da sie am dikkesten waren/ rissen in Stükke. […] So viel vermochte das bloße rekken und rütteln seiner Arme/ seiner Schultern/ und seiner Füsse!« (S. 441, 76 f.). Als Delila dasteht »gleichals vor den Kopf geschlagen«, entpuppt sich ihr wahres Wesen in unbändigem Zorn: Weil sie mit lauter Rasereien schwanger ging/ konte keine Schmeuchelei zur Ausgebuhrt kommen. Auch die Scheinliebelung selbsten wolte nicht fort. Sie gedachte nun an kein Lachen. Die Blikke/ die aus ihren Augen schossen/ waren nur Zornblikke. Die Worte/ die aus ihrem Munde gingen/ brummeten/ wie der Donner. Nirgend fand sie Ruhe. Sie lief als tolsinnig/ im Zimmer herüm/ und sprang/ als eine gescheuchte Ziege. (S. 442, 80)

Aber dann reagiert Simson unerwartet: er »lachte mehr/ als er zürnete.« Delila ist unverändert diejenige, die nur dann sich freuen kann, wenn man ihr schmeichelt, wie es gerade die Filister in böser Absicht taten: »Sie tähten ihr so wohl/ daß ihr Hertz für großen Freuden im Leibe gleichsam hupfete/ ja daß es so groß ward/ als der gröste Kuhmagen. Sie lauschte/ sie horchte […] nicht anders/ als eine mit Unflaht übersudelte Sau/ die von einer Elster gelauset wird. Ja eben also/ als diese sich brüstet/ wan sie mit einer güldenen Halskette behänget einhertrit/ brüstete sich auch und erstoltzte die unflähtige Delila: zuvoraus weil Fürsten selbst ihr einen solchen Ehrenschmuk zueig-

165 neten« (S. 427, 20) Die Sprachebene passt vorzüglich zu dieser unflätigen und widerlich lügenhaften Frau – in vollem Gegensatz zur Naftalerin! Aber Simson überlegt sich, dass er ohne Delilas Liebe nicht leben könne, er sei entschlossen, »ihr itzund mit der lauteren Wahrheit zu wilfahren« (S. 445, 91). Dann erzählt er ihr: »er würde gantz unvermögende sein/ sobald man sieben Haarlokken seines Heuptes/ mit einem Flechtbande/ würde geflochten/ und mit einem Nagel in den Boden geheftet haben« (S. 446, 99) Delila reicht Simson einen Schlaftrunk, darauf schläft er ein. Delila geht an die Arbeit – aber ihr »vorgenommenes Schelmenstükke« misslingt auch das dritte Mal. Simsons Zorn weicht rasch wieder seiner Liebesbegierde. »Allein Delila ist es/ die alle deine Sinne zur besten Weide führet und einleitet/ deren du auch schon so oft mit Wohllust genossen. […] bei der Delila suchestdu sicherlich/ was du bei ihr schon so oft gefunden« (S. 458, 146). Dann ist sein Entschluss gefasst. Auf die Stimme der Liebe »folgete von Stunden an eine gleichals aberwitzige Verwürrung seiner Gedanken. Diese verbasterte die Vernunft/ die seinem Willen widerstrebete. Diese widerstund dem Urteile/ das seine betöhrte Neugungen einzuzeumen trachtete. Ja sie stieg so hoch/ daß sie den unglüksäligen Simson in einen jämmerlichen Zustand versetzte« (S. 459, 151). Er ist bereits weit von seinem Weg abgekommen. »So zischelte dan der verliebte Simson/ von der Peitsche so ungestühmer Plagegeister angetrieben/ auf dieser Glander seines Verderbens fort« (S. 460, 154). Er wird nach langem Bitten von Delila in ihre Kammer gelassen; im Vollbewusstsein der Folgen verrät er ihr das wahre Geheimnis: »So entschlos er sich dan/ auf ungestühmes einblasen der Liebe/ lieber/ durch Entdekkung dieses Geheimnisses/ seine Liebste zu vergnügen/ und also ihre Gunst zu erhalten/ als durch Verschweigung dessen/ sie noch ferner zu beleidigen/ und ewig von ihr verstoßen zu leben; wiewohl er gewis wuste/ daß er […] das Leben darzu verlieren würde. Und eben hierzu brachte ihn seine so gar ungezeumt- und ungezähmte Leidenschaft« (S. 463, 169). Das Ergebnis ist bekannt. Delila schneidet ihm, sobald er eingeschlafen ist, die Haare ab: »In sieben Schnitten lag es auf ihrem Schoße. Und hiermit verwüstete sie dasselbe Haar/ das die Wunder Göttlicher Almacht in Simsons Stärke/ so lange es auf seinem Heupte gestanden/ erhalten hatte« (S. 467, 184). Erst als er die Locken auf dem Boden liegen sieht, erkennt er den Verlust seiner Stärke und weiss, dass er verraten ist. Er fällt nun den Feinden in die Hände. Man blendet ihn und erniedrigt ihn. Beim Danksagungsfest, das die Filister zur Gelegenheit veranstalten, wird er von einem Knaben hinein geführt. »Das Lachen/ das Spotten/ das Hohnekken/ das Lästern/ das Beschimpfen hatte kein Ende.« Er fleht Gott um die Erlangung seiner früheren Stärke. Nachdem er seine Sünden bekannt und seine Lebensmüdigkeit gestanden hat, fühlt er die Kraft in seinen Körper zurückkehren.

166 Er umfasst die beiden Säulen, links und rechts, die das Gebäude trugen. »Diese hielt er so fest/ und schüttelte sie so gewaltig/ daß das gantze Gebeu kaum zu wakkeln begunte/ als man es schon über einen Hauffen gefallen sahe« (S. 477, 225). Das war Simsons Rache an den Filistern: »So bald sie das Gebeu wakkeln sahen/ und desselben knarren/ knakken/ krachen und prasseln höreten; da sahen sie schon ihr Grab vor Augen/ da höreten sie schon die Bohtschaft/ die ihnen den Tod verkündigte« (ebd., 227). Es ist der totale Untergang des Gotteshauses – »da wichen die Seulen und Balken aus ihrem Stande: da fiel das Dach/ darauf bei dreitausend Männer und Weiber stunden/ plötzlich herunter« (S. 479, 228). Auch hier wird dem Leser die Präfiguration Christi sichtbar gemacht. Als Simson die beiden Arme ausbreitet, wird an die Körperhaltung Christi am Kreuz erinnert; ebenso wird beim Wackeln des »Götzenhauses« an das Erdbeben bei Christi Tod erinnert, wobei der Vorhang des Tempels in zwei Stücke zerriss. Simson wird schließlich bei dem Grabmal seines Vaters bestattet. – »Es war genug/ daß Simson alda sein letztes Siegsgepränge volbracht« (S. 483, 245). Zu den wohlbekannten Begebenheiten der Bibelerzählung ist einiges anzumerken. Die wiederholten Versündigungen Simsons werden nicht verdeckt, sondern geradezu ins volle Licht gerückt. Sie bilden gegenüber seiner ungeheuren Kraft seine Schwachheit. Darin steckt zugleich seine Tragik: keine von den begehrlichen Frauen, weder die Schöne Timnatterin, noch die schöne Naftalerin erwecken seine Liebe; er begibt sich immer wieder ins Land der Filister, um sich dort eine Lebensgefährtin zu suchen – und gerät wiederholt an eine falsche, verräterische Frau. So wird er, der Richter Israels, viermal verraten. Die Tragik seiner Lebensgeschichte konnte im Roman nicht dargestellt werden. Zesen hat seine Aufgabe anders gesehen. Aus den wenigen Seiten im Buch der Richter hat er ein dickes Buch gemacht, was wohl heißt: seine ohnehin schwache Komposition unkontrolliert anwachsen lassen. Es wurde ihm in der Forschung meist zur Last gelegt. Es stimmt schon, dass die Episoden- und Exkurstechnik Anlass zum Aufschwellen gegeben hat. Auch hätte man vielleicht in jenen Passagen, in denen etwa die Schönheiten der Frau und ihre Liebesspiele oder das Schimpfen der Feinde bzw. Simsons wortreich dargestellte Wut lieber etwas kürzer gefasst gesehen. Aber nicht alles ist funktionslos, wie zum Beispiel aus den langen Delila-Szenen hervorgeht. So wird einmal (allerdings vor mehr als hundert Jahren!) giftig bemerkt, dass die »Schilderung der Liebkosungen, der zurückhaltenden Kälte und der Drohungen, mit denen Delila dem Helden endlich das Geheimniß entreißt, daß seine Stärke in den Haaren liege, fünfundvierzig Seiten [einnehme].«63 Die enorme 63

Leo Cholevius: Die bedeutendsten deutschen Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Repr. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1866: Darmstadt 1965, S. 102.

167 Spannung, die endlich zur bekannten Auflösung von Simsons Erniedrigung und Tod inmitten seiner Feinde führt, ist mit List und Tücke angefüllt, unterbrochen von den gewaltigen Schimpfreden und ebensolchen Liebkosungen der Delila, der Simson sich in totaler Verfallenheit anheim gegeben hat. Die epische Breite mag der Versuch sein, die Spannung im Leser hervorzurufen. Zesen hat im Simson-Roman eine allbekannte Geschichte nacherzählt, selbstverständlich mit den Mitteln seiner Zeit, für die in den letzten Jahrzehnten wieder erneutes Interesse besteht. Man sollte sich dessen bewusst sein, dass eine relativ kurze und ›flotte‹ Nacherzählung des Bibelmaterials nicht seine Zielorientierung war und auch nicht sein konnte. Dafür hat er eine virtuose Sprachkunst geschaffen, die zu seiner Zeit ohnegleichen war. Von Assenat zu Simson ist eine wesentliche Stilveränderung zu erkennen, besonders in Verwendung von Wortspielen und Lautentsprechungen. Eigentümlich sind selbstverständlich die lakonischen Stilformen, die mit ihrer Dreigliedrigkeit eine ansehnliche Variationsbreite demonstrieren. Ferner stehen die Stilarten bzw. Stilebenen getrennt nebeneinander. Die höfische Welt und die unhöfische »Mittelahrt«, aber auch – für sich getrennt – die betont niedere der Schimpfreden und Wutausbrüche. Das macht den Simson zum kontrastreichsten Roman Zesens, nicht nur im Bereich des Stils, sondern auch im Gegenstand. Simson, der Gewalttätige, der eine Präfiguration Christi, des Sanftmütigen, sein darf. Es muss zum Schluss auf das Strukturelement der Präfiguratio zurückgekommen werden, auf das im Vorhergehenden verwiesen wurde. Meid hat in seiner Dissertation über Zesens Romankunst von 1966 die Methode der Figuraldeutung auf den Simson-Roman angewandt, und zwar in dem Sinn, dass sie die Struktur des ganzen Romans wesentlich bestimmt. Hier sei der Abschnitt vollständig wiedergegeben. Für den Roman, der in einzelne Episoden zu zerfallen droht, wird die Figuralstruktur […] zum wichtigsten Mittel, seine Einheit zu sichern. Denn die Ausdeutungen der Geschehnisse überschreiten immer die Beziehung zu einem engen Romanausschnitt: Sie weisen voraus und zurück. Wenn das Leben Simsons von seiner Geburt an bis zu seinem Tod mit Leben, Leiden und Auferstehung Christi in engste Verbindung gebracht und ihm durch diese Zuordnung der höhere Sinn verliehen wird, so ist es vorausberechenbar und führt in jedem Stadium durch die Analogie zum Heilsgeschehen weiter. Die Vergleiche, die nur an bestimmten Punkten offen zutage treten, bedingen in Wirklichkeit immer und in jeder Phase der Handlung die Parallelität der Geschehnisse, auch wenn sie gerade nicht ausgesprochen wird. Dadurch – und weil die ganze Figuraldeutung auf der Voraussetzung der göttlichen Vorsehung beruht – werden alle Teile der Simsonhandlung eng aufeinander bezogen, gerade deswegen, weil sie über sich hinausweisen. Die Christus-Präfigurationen, die die Geschichte Simsons immer wieder auf das Heilsgeschehen transparent machen, sind wichtige strukturelle Elemente, die zugleich formale und gehaltliche Funktionen haben.64

64

Meid, Zesens Romankunst (wie Anm. 7), hier S. 126 f,

168 Die Figuraldeutung als Bibelexegese besagt, dass Geschehnisse und Personen des Alten Testaments als Vorläufer neutestamentlicher Erfüllung angesehen werden. Sie wurde für die literarische Hermeneutik insbesondere von Erich Auerbach beschrieben und angewandt.65 Er formulierte folgendermaßen: »Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere dagegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit; sie sind beide in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis, ihres Zusammenhangs ist ein geistiger Akt.«66 Anders als in der Allegorie bleibt sowohl die »Figura« wie die »Erfüllung« im historischen Eigencharakter bewahrt. So ist die Anwendung in der Praxis dadurch gekennzeichnet, dass ein historisches Ereignis über die Zeiten hinweg prophetisch auf ein anderes wirkliches Ereignis vorausweist. Der geistige Akt setzt beide Ereignisse zu einander in Beziehung. Die Beziehung ist nicht kausal-logisch, sondern auf andere Weise zu denken. Auerbach drückt das mit dem Begriff »vertikal« aus. Es »wird ein Zusammenhang zwischen zwei Ereignissesn hergestellt, die weder zeitlich noch kausal verbunden sind – ein Zusammenhang, der auf vernünftige Weise in dem horizontalen Ablauf, wenn man dies Wort für eine zeitliche Ausdehnung gestattet, gar nicht herzustellen ist. Herzustellen ist er lediglich, indem man beide Ereignisse vertikal mit der göttlichen Vorsehung verbindet, die allein auf diese Art Geschichte planen und allein den Schlüssel zu ihrem Verständnis liefern kann. […] das Jetzt und Hier ist nicht mehr Glied eines irdischen Ablaufs, sondern es ist zugleich ein schon immer Gewesenes und ein sich in Zukunft Erfüllendes; und eigentlich, vor Gottes Auge, ist es ein ewiges, Jederzeitliches, im fragmentarischen Erdgeschehen schon Vollendetes.«67 Die Figuraldeutung erlebte im 17. Jahrhundert einen Höhepunkt, erfassbar sowohl in Bibelkommentaren und Predigtsammlungen wie in literarischen und anderen Werken. Die Quelle für Zesens Simson wurde von Meid exakt nachgewiesen. Es ist die große Predigtsammlung von Valerius Herberger, DE JESU, Scripturae nucleô & medullâ, MAGNALIA DEI.68 Das 65

66 67 68

Erich Auerbach: Figura. In: Archivum Romanicum XXII (1938) S. 436–489; ders.: Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur. Krefeld 1953; ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern und München 1946. Hier zitiert nach der 5. Auflage 1971 (Sammlung Dalp, 90). Auerbach: Mimesis, S. 75. Zuvor, fast gleichlautend in Archivum, S. 468. Auerbach: Mimesis, S. 75. Der vollständige Titel bei Meid, S. 139: Magnalia Dei. Das ist: Die grossen Thaten GOTTES/ wie Gott der Vater mit seinem Sohne/ Jesu Christo/ durch die gantze Heilige Schrifft gepranget und großgethan hat/ daß also die gantze Bibel ist ein immerwährendes Zeugnis und Kunst=Buch von Christo: Jesus aber hingegen der gantzen

169 Buch erschien in vierter Auflage Leipzig 1678. Bei Zesen ist vor allem an die Darstellung der historischen Ereignisse um Karl I. Stuart in Analogie zur Leidensgeschichte Christi zu denken.69 Es war während des 17. Jahrhunderts allgemein üblich, Simson als Figura Christi zu interpretieren und so interpretierend darzustellen, auch im Drama. In Zesens Roman wird das schon zu Beginn deutlich, es wird am Schluss gleichsam in der Wiederholung noch einmal bekräftigt: »Und also scheinet schier alles/ was in Simsons Leben bis in seinen Tod vorging/ ausgenommen sein sündliches Wesen/ das allheiligste Leben/ Leiden und Sterben unsers Heilandes gleichsam vorgebildet zu haben« (S. 477, 226). Im Simson-Roman ist die Figuraldeutung durch Präfiguration so offenkundig – auch wo sie nicht durch kommentierende Leserlenkung hervorgehoben wird –, dass man das »Netz der Figuraldeutungen« (Meid) eigentlich nicht verfehlen kann. Der Löwenkampf im ersten Buch entspricht Christi Kampf mit dem Teufel, aber das Motiv von Simsons Durst als Parallele zum Kreuzgeschehen ist schwerer zu verstehen. Das gilt vielleicht auch für seine Flucht aus Gaza mit dem Raub des Stadttors, das er auf eine Anhöhe (Hebron) aufstellt, als ein Parallelgeschehen zur Heilsgeschichte, und zwar Auferstehung, Höllen- und Himmelfahrt Christi. Schwierig zu verstehen ist ferner, dass Simson sich immer wieder zu Frauen außerhalb des Gebiets und der Stämme von Israel hingezogen fühlt. Am Ende des neunten Buches wird das vom Erzähler reflektiert, als er die schöne Naftalerin verschmäht – »Seine Begierden trieben ihn […] abermahl nach dem Filisterlande zu/ ihm alda eine neue Buhlschaft zu suchen« (S. 419, 176). Die Passage endet mit einer Erklärung, die auf die Parallele im Heilsgeschehen hinweist und damit auf die folgende Delila-Handlung Bezug nimmt: »[…] mich deuchtet unter diesem gantzen Handel ein sonderliches Geheimnis verborgen zu sehen. Ich laße mich bedünken/ er habe so wohl hierinnen/ als anderwärts/ ein Vorbild unsers Heilandes sein sollen: welcher eben als Simson/ wiewohl auf eine gantz keusche/ ja Götliche Weise/ die Menschenkinder/ da sie noch Fremdlinge waren/ da sie noch im Schlamme der Sünden lagen […] geliebet/ ja gar zu seiner Braut erkohren« (S. 420, 177). Erst die Transparenz auf das Heilsgeschehen mittels der Präfigurationen zeigt Zusammenhang und innere Verbindung des Lebens Simsons mit dem Leben des »Göttlichen Retters und Heilands«.

69

Schrifft Hertz/ Kern/ Stern/ Leben/ Marck/ Ziel/ Ende/ Zweck/ Edler Stein und Heiligthumb/ Gefasset Durch fleißiges Gebet/ Lesen und Nachdencken/ Hertz/ Mund und Feder Valerius Herbergers Predigers in Frauenstadt. Jetzo von neuem übersehen und verbessert/ […] nebenst einer Vorrede Herrn D. Johann-Adam Schertzers/ Prof. Publ. und Primarii zu Leipzigk/ […] zum vierdten mahl gedruckt. – Zesen erwähnt Herberger mit dem Titel seines Buches wiederholt in den Anmerkungen zum Simson, etwa S. 534. Für weitere Nachweise und Details sei verwiesen auf Meid, Zesens Romankunst, S. 137–152: »Die Quelle für die Figuraldeutungen: Valerius Herberger.« Die verschmähete/ doch wieder erhöhete Majestäht.

6.

Zesen und die »Niederländische Freiheit«

6.1

I »Niederländischer Leue«

Die Niederländische Republik war nach der bekannten Charakterisierung Johan Huizingas sowohl ein »staatliches Monstrum« wie ein »Wunder«. Aus einem unvollkommenen und vorläufigen Konstrukt hervorgegangen, wusste sie sich in Europa alsbald an die vorderste Stelle zu setzen. Natürlich konnte das kleine Land, das See und Wasser zu Bundesgenossen hatte, die Chance der Stunde nutzen. Die Großmächte hatten in der ausländischen Politik nirgends eine Faust machen können. Der Dreißigjährige Krieg, der im Reich wütete, zehrte an Energie und Kapital, Frankreich war ganz involviert, und Spanien, zu dessen Herrschaftsgebiet die nördlichen wie die südlichen Niederlande gehörten, erwies sich als ohnmächtig, der niederländischen Rebellen Herr zu werden. Offensichtlich wurden die einmaligen Möglichkeiten zur Etablierung freiheitlicher Ordnungen in den (nördlichen) Niederlanden richtig eingeschätzt und voll ausgeschöpft. Mit Blick auf zeitgenössische Herrschaftsverständnisse war der Freiheitskampf der Niederländer unerhört, und der rasche Erfolg musste allüberall überraschen. Es war für das Ausland erstaunlich genug, dass ein so freies Staatsgebilde im absolutistischen Zeitalter zusammenhielt und obendrein noch zu solcher Machtentfaltung imstande war. Nicht weniger erstaunlich war die wirtschaftliche und kulturelle Blüte so kurz nach der Geburt der nationalen Einheit. Die u. a. von Huizinga vertretene Ansicht, dass das »Wunder« sich ganz natürlich erklären lasse, und zwar gerade aus der politischen Anomalie, dürfte noch heute relative Gültigkeit haben. Denn wie immer man die Republik als Ganzes betrachtet, sie kennzeichnet sich durch das Fehlen eines kräftigen Machtzentrums. Die Einheit beruhte lediglich auf dem gemeinsamen Interesse der städtischen Oligarchien. Das weist bei Differenzen und Uneinigkeiten auf eine zentrale Rolle für Vermittlung und Konsens; diese ist auf eine Balance der verschiedenartigen Kräfte und Interessenfelder ausgerichtet. Die gemeinschaftliche Interessenvertretung bedingte eine Politik der Versöhnung nach innen, nach außen eine betonte und aktive Friedenspolitik. So ersteht das Bild einer mitnichten einheitlichen Gruppierung von Provinzen und Städten, die der Aufstand gegen den spanischen König aber dennoch und aus politischer Notwendigkeit zur nationalen Einheit zusammengeführt hatte. Der Vielfalt der politischen, reli-

171 giösen und wirtschaftlichen Bedingungen entspricht eine reiche Verschiedenheit geistiger Strömungen und Bewegungen. In Holland kamen die verschiedensten Ideen zusammen und wurden durch die Druckerzeugnisse vieler Verlage verbreitet. Die Aufnahme fremden Gedankenguts hatte Tradition. Sie hat schließlich das geistige Klima erzeugt, das die nach wie vor bestaunte Geistesblüte im niederländischen Goldenen Zeitalter ermöglicht hat. Die kulturelle Mannigfaltigkeit der nördlichen Niederlande im 17. Jahrhundert ist oft genug beschrieben worden. Sie hat eine geistige Offenheit begünstigt, die lange vorbereitet war. Hier wirkt ein Humanismus nach, der mit dem Namen des Erasmus eine eigene Prägung bekommen hatte. Ebenso wie eine politische Mitte im Konsens der Interessengruppen bestand, herrschte in geistiger und religiöser Hinsicht kein Zwang von oben. Kein Machtzentrum hat allgemein verbindliche Entscheidungen für alle Einwohner der Republik getroffen. Der Calvinismus war keine Staatskirche. Die Offenheit gegenüber anderen Meinungen und die Duldung unterschiedlicher Konfessionen bestimmen den Geist der jungen Republik; auch die Dordrechter Synode von 1618 hatte nur eine – wenn auch sehr gewichtige – Akzentverlagerung zur Folge. Da Zesen für seine historische Darstellung den niederländischen Geschichtsschreibern folgt, versteht er den Geist der Toleranz in Holland als das Erbe des angeblichen Freiheitsdrangs der Bataver (der »Urahnen«!), der auch noch den Freiheitskampf gegen Spanien bestimmt habe. Infolgedessen ist der Tenor: politische Freiheit und Gewissensfreiheit (»Toleranz«) seien historisch unlöslich verbunden. Damit gibt es in diesem Kapitel und dem nachfolgenden mit dem Titel »Religiöse Toleranz« manche Überschneidungen, die sich z. T. auch im Quellenmaterial finden. Das führt zu unvermeidlichen Überlappungen in der vorliegenden Darstellung. Sie ergeben sich aus dem von Zesen eingenommenen »point of view« und belegen die damalige Sicht der Dinge. Die holländische Toleranz hatte in der Tat eine beträchtliche Bandbreite. Im damaligen Europa war das, wie anhand von Textzeugnissen festzustellen ist, einzigartig. Die Diskussion wurde vor allem von protestantischen Theologen geführt. Dementsprechend ist das Toleranz-Problem in erster Linie virulent in protestantischen Ländern. Den Testcase für die neugegründeten evangelischen (protestantischen) Kirchen und die sie tragenden Stadtregierungen bildeten die Täufergruppen, die fast gleichzeitig mit den reformatorischen Bewegungen Luthers, Calvins und Zwinglis auf den Plan traten. Die anfängliche tolerante Gesinnung der Reformatoren bestand die Probe nicht, als die Täufer sich nicht ›ruhig‹ verhielten und die theologischen Streitpunkte nicht in einer akademischen disputatio klären wollten. Radikale Täufergruppen im Umkreis von Thomas Müntzer und später in der Stadt Münster haben in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert eine gesellschaftliche Verunsicherung hervorgerufen, die noch lange nachzitterte.

172 Mit ihrem revolutionären Ideengut stellten sie eine Herausforderung kirchlicher und bürgerlicher Autorität dar. Auch nachdem sich die meisten Mennoniten, wie sie sich als Nachfolger von Menno Simons in den Niederlanden nannten, von den umstürzlerischen Ideen distanziert hatten, blieben die Täufer im Verruf sozialer Ruhestörer. Der Verlauf der europäischen Bewegung tut hier weniger zur Sache als der Umstand, dass die Täufer in den Niederlanden Duldung erfuhren und sich am Ende völlig in die Gesellschaft haben eingliedern können. Sonst wurden sie in West-Europa fast überall vertrieben, verurteilt und manchmal auch ihrer Güter beraubt, auf alle Fälle von der Obrigkeit scheel angesehen und argwöhnisch beobachtet. In der Schweiz wurden sie systematisch bekämpft, und für die Dauer des 17. Jahrhunderts haben die Stadträte von Bern und Zürich ihnen das Leben schwer gemacht. Das Vorgehen gegen die Täufer ist deswegen kein Ruhmesblatt in der eidgenössischen Geschichte. Naturgemäß waren die Täufer an der Verwirklichung religiöser Toleranz besonders interessiert. Wo immer sie willige Druckerpressen fanden (wie in der niederländischen Republik), haben sie sich in diesem Sinn publizistisch betätigt. So stammt eine umfängliche Kompilation von Texten zur religiösen Toleranz, 1609 in Holland erschienen, aus der Feder eines täuferischen Predigers: in Übersetzung betitelt Zu besserer Religions-Freiheit. Die Vorrede zu dieser Sammlung von Pieter Jansz. Twisck (1565 – 1636) bringt des Verfassers eigene Ansichten zum Ausdruck, die für das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts aufschlussreich sind. Er lobt die holländische Obrigkeit überschwenglich wegen ihrer unvergleichlichen Toleranz und Güte: Gaet soecken alle Coninck-rijcken door, spuert ront-om aen alle eynden des werelts waer vint ghy een sodanighe regheringhe, die so merckelijck met Godes beleyt ende segen verciert is, als wyse hier bevinden. Hoe soudmen niet wt bersten, om te brengen voor alle mans oren, die weldaden der conscientien die een yder door wijse regheringe alhier gheschiet, tot die eere Gods ende tot danck van die E. Moghende Staten deser landen. (»Sucht in allen Königreichen, erforscht alle Enden der Welt – wo findet Ihr eine solche Herrschaft, welche so deutlich mit Gottes Führung und Segen geziert ist, wie wir sie hier finden. Wie würde man nicht vor aller Ohren bringen die Wohltat des Gewissens, die einem jeden infolge weiser Regierung geschieht, zur Ehre Gottes und zum Dank der Hochmögenden Staaten dieser Lande.«)

Die Argumentation in den niederländischen Toleranzschriften beruht auf den bekannten Bibelstellen und auf solchen Aussagen, die sich in der Kirchenväterliteratur ebenso finden lassen wie in der Literatur zur Geschichte des Christentums. Denn bereits früh wurde gegen Ketzer und Andersgläubige vorgegangen. Und auch hier ließ sich aus Rede und Widerrede relevantes Material zur Verteidigung sammeln. Am meisten geht es natürlich darum, dass die weltliche Obrigkeit in Glaubensfragen die größtmögliche Zurückhaltung übt und in Meinungsverschiedenheiten der Glaubenden nicht eingreift, d. h. die Untertanen in völliger Freiheit ihres Gewissens und innerer Überzeugung gewähren lässt. Sei es dass in Holland das Be-

173 wusstsein der Cura Religionis von der Obrigkeit weniger strikt gehandhabt wurde als etwa in Deutschland, eine konfessionelle Einheitlichkeit wurde jedenfalls nicht erzwungen. Die niederländischen Obrigkeiten haben ihr christliches Schutzamt nicht so verstanden, dass sie das Territorialprinzip zu Lasten der Religionsfreiheit glaubten verteidigen zu müssen. Zu stark war die Erinnerung an die spanische Inquisition und an Alvas »Blutrat«, als dass eine Obrigkeit eine mit dem »weltlichen Schwert« bewirkte konfessionelle Dominanz hätte riskieren können oder wollen. Damit wird der Kern der Dinge deutlich und wird in der niederländischen Literatur die religiöse Toleranz als ein Erbe des Freiheitskampfes erklärt. Sie hat auf diese Weise – auch wenn das historisch nicht ganz korrekt wäre – im kollektiven Bewusstsein ihren fest verankerten Platz in Geschichte und Idee der Nation. Die Täufer argumentierten denn auch damit, dass der Kampf gegen Spanien um die Freiheit des Gewissens geführt würde und ihre Unterstützung ihnen volles Recht auf solchermaßen errungene Freiheit gäbe. So heißt es in dem Brief niederländischer Mennoniten an die Stadt Middelburg vom Jahr 1577, dass sie »hierdurch anders nichts suchten/ als in freiheit ihres Gewissens zu leben; üm welcher willen der gegenwärtige Krieg wider den König von Spanien von seinen Untertahnen begonnen […]: worinnen man auch nunmehr/ durch Gottes hülfe/ so weit gekommen/ daß man obgedachte Gewissensfreiheit erhalten.« Der evangelische Radikalismus der Täufer rückt das Toleranzproblem in die Perspektive der christlichen Liebe (etwa Joh 13, 34 f.) und verschärft insofern die politische Frage der äußeren Ordnung und des öffentlichen Friedens, als diese in Form eines existenziellen Problems erscheint. Denn in der Ethik der Täufer rangiert das Verhältnis des Menschen zu Gott mitsamt den sich daraus ergebenden Konsequenzen an erster Stelle, aber aus einem so verstandenen summum bonum folgt bekanntlich nicht selten ein problematischer Praxisbezug. Dennoch stieß das geradlinige Argumentieren der Täufer in Holland auf einiges Verständnis. Ein in täuferischem Sinn schriftbezogenes Leben in der Welt löst den Gläubigen aus den bürgerlichen Bindungen. So appellieren sie damit an das evangelische Prinzip der Freiheit und nehmen die Ermahnung des Apostels Paulus wörtlich: »So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen« (Gal 5,1). Das ist auch der Anknüpfungspunkt für weitere religiöse Strömungen, die in der Republik ein Refugium suchten und fanden. Friedrich Breckling (1629–1711), einer der vielen religiösen »Dissidenten«,1 die, aus Deutschland vertrieben, in Holland unbehelligt predigen  1

Siehe Bernard Gorceix: Mystische Literatur. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 3: Zwischen Gegenreformation und Aufklärung: Späthumanismus, Barock (1572–1740). Hg. von Harald Steinhagen. Reinbek b. Hamburg 1985. S. 206–218, spez. 214 f.

174 konnten, greift die Schrift Twiscks wieder auf. Sie musste nur leicht reaktiviert werden, um 1663 in der Schrift Von der Gewissens Freyheit von neuem die Toleranz in den Niederlanden zu rühmen. Wiederum findet man das Argument, dass tolerantes Verhalten Segen herbeiführe: So sehe man nur wie der grosse Gott die hochlöbliche Obrigkeit in den Vereinigten Niederlanden deßhalb für allen andern so reichlich und wunderbahrlich gesegnet/ geschützet/ und fast biß in den Himmel erhoben/ so lange sie jedermann seine Gewissens Freyheit gelassen/ und Gott nicht in sein Regiment über die Gewissen gegriffen.

Der Verfasser, nunmehr Prediger in Zwolle, bringt eine etwas zweifelhafte Erklärung der wirtschaftlichen Blüte in der niederländischen Republik: Daher ich und viele andere Verfolgete durch Gottes Vorsorge/ noch Schutz und Zuflucht unter ihren Flügeln bißher geniessen. Und ihnen mit unserm Gebeth wiederumb allen Segen/ Wolfahrt und Frieden von Gott erbitten müssen; und wer ihren Segen mit geniessen wil/ der folge ihrem Exempel hierin nach. Würden sie aber solche ihre Freyheit wieder die arme/ verjagte/ vertriebene und Verfolgete Christen mißbrauchen/ so solten sie bald erfahren/ wie Gott ihnen seinen Segen/ Nahrung und Freyheit wieder entwenden/ und sie mit aller Verfolgung/ Plage und Auffruhr straffen würde.

Da ist natürlich Vieles bloße Rhetorik, denn Brecklings Rede geht aufs Ganze. Er hat eine totale Kultfreiheit ohne obrigkeitliches Eingreifen anvisiert. Breckling ist scheinbar völlig naiv, aber im Grunde von erstaunlicher und risikovoller Frechheit. Es sei ja deutlich, daß welche den Gottesdienst/ Druck/ Bücher/ und andere von Gott jederman in Freyheit gestelte Sachen/ nicht wollen frey lassen/ sondern uns den Gottesdienst verstöhren/ die Kirchen verschliessen/ den Druck verbieten/ die Bücher confiscieren/ das Schreiben wehren/ den Bekennern die Hände binden/ und den Martyrern gar die Zunge abschneiden/ offenbahre Antichristen/ Türcken und Teuffel seyn. […] da sie doch den Juden ihre Gottesdienste frey lassen/ und alle Heydnische/ Ketzerische/ und Satanische Bücher/ Narrenpossen/ Zauberkünste/ Lügen und Buhlen-lieder frey drücken und verkauffen lassen. O Europe! merck hier/ wie feine Prediger du hast.

So sollte man in dem hoch rhetorischen Passus die segensreichen Früchte der niederländischen Toleranz im Vergleich zum »Babylonischen Gewissens-zwang« in anderen Ländern erkennen. Breckling hat sich die Freiheit für eine Reihe von theologischen Warnschriften zunutze gemacht, die in »Freistadt« (d. h. Amsterdam) gedruckt wurden. An diesen wenigen Beispielen kann gezeigt werden, wie Toleranz mit dem Bild der blühenden Holländischen Republik assoziiert wurde. Breckling spricht nicht zufällig von vielen, die hier eine Zuflucht fanden – die Toleranz wurde im 17. Jahrhundert offenbar ebenso großzügig gewährt wie in Anspruch genommen. Ihre religiöse Begründung liegt schon vom Gegenstand her nahe. Sie reicht aber sehr viel weiter und begreift das Nationale mit ein. Die Verankerung der Toleranz in der niederländischen Nationalidee ergänzt das religiös-ethische Moment und tritt dazu nicht etwa in Opposition. Man muss sich nur auf die zeitübliche Mehrdeutigkeit der Dinge einstellen, die

175 sich in allegorischen Vorstellungen und im ›emblematischen Denken‹ spiegelt. In literarischer Sprache wird über den Klang und die Lautanalogie eine begriffliche Beziehung hergestellt. Dieses Verfahrens bedient sich auch Philipp von Zesen, der viele Jahre seines Lebens in Holland verbracht hat und Bürger der Stadt Amsterdam war. In der Vorrede zu seinen zwei Büchern Wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen (1665) appelliert er zunächst in vertrauter Weise an die evangelische Freiheit: »Wir/ die wir Kristen heissen/ und sein wollen/ […] waren wohl ehmals Knechte/ knechtisch/ nach dem Fleische/ gebohren: nun aber seind wir Freien/ nach dem Geiste/ wiedergebohren.« Es klingen manche Bibelallusionen an, wie: »wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2 Kor 3,17) oder: »Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen« (Rö 8,15). Es wird über diesen Vorstellungsraum die christliche Liebe und Nächstenliebe angepeilt. Die Mahnung lautet unzweideutig: »laßet ab von den armen bedrängten Kristen/ euren freigebohrnen Mitbrüdern.« Bedrängung oder Verfolgung, Verurteilung oder Güterkonfiszierung sind im Horizont der »brüderlichen Liebe« indiskutabel. In Zesens Argumentation entspricht der zeitgenössische »Gewissens= und Glaubenszwang« dem evangelischen Begriff »Knechtschaft.« Mit solcher Einleitung richteten sich diese Schriften an die Stadträte von Bern und Zürich, um sie von ihrer Unterdrückung der Täufer abzubringen. Die niederländische Republik machte solchen öffentlichen Appell möglich, die Generalstaaten beteiligten sich sogar an der Aktion. Es geht bei den Toleranz-Schriften um Aktuelles. Die religiöse Toleranz hat eine geistige Offenheit gefördert. Schon damals vermutete man in Täuferkreisen eine dem Holländer quasi eingeborene Bereitschaft, den Mitbürger in seinem Denken und Handeln gewähren zu lassen. Holland war ein weitberufenes tolerantes Land, – die Meinungen sind hier einhellig. Zesen kann an eine Tradition anknüpfen, wenn er die Gewissensfreiheit an die altüberlieferte politische Freiheit zurückbindet. In seiner historischen Beschreibung Niederländischer Leue (1677) wird der uralte Freiheitsdrang der Niederländer ins Zentrum gestellt und bildet nahezu den alleinigen Interpretationshorizont. Das ganze Buch soll »erweisen/ wie der Betauer zwar vielmahls gedrückte/ doch niemahls unterdrückte immerwährende Freiheit […] vom ersten begin dieses weltberühmten Volkes an/ auf einerlei weise gehandhabet worden.« (XV/2, S. 467). Die Zielrichtung ist deutlich: das »Batavische Temperament« und die immer schon verteidigte Freiheit machen die Toleranz zur nationalen Eigenheit. Diesen Mythos, der auf den Kampf der Bataver gegen die Römer zurückdatiert und über den Freiheitskampf des 16. Jahrhunderts hinaus ins Goldene Zeitalter (»Gouden Eeuw«) verlängert wird, stützen biblische Bezüge und Parallelfiguren in Malerei und Dekoration: Das Volk Israel, das aus der ägyptischen Knechtschaft ausgezogen und von Gott unter Moses’ Leitung in die Freiheit geführt wurde.

176 Die Geschichte seiner Wahlheimat hat Zesen mit Liebe und Akribie geschildert. Der niederländische Leue war zuerst 1660 auf lateinisch erschienen unter dem Titel Leo Belgicus (Amsterdam: Elzevier), 1670 erschien dann in Nürnberg (bei Johann Hofman) die deutsche Ausgabe, die nach Angabe des Autors bereits 1655/56 geschrieben wurde (die Vorrede ist datiert »in Amsterdam im 1656 jahre«), aber Zesen behauptet, dass er in Amtsgeschäften habe verreisen müssen, und zwar »von Amsterdam aus abgesandt« an den »Hochfürstlichen Anhaltischen Hof«. Was immer er dort verhandeln sollte und in wessen Auftrag, ist bis heute ungeklärt. Aber von Bedeutung ist die Bemerkung, dass er in Regensburg die Fürstin Elisabeth in ihrer Wohnung aufgesucht habe und »die ehre hatte« ihr »bei währendem Reichstage untertähnigst aufzuwarten« und offensichtlich mit seiner Kenntnis aus eigener Erfahrung die Zeit zu kürzen: »durch ein gespräche vom Stahtswesen der Vereinigten Niederländer/ sonderlich von der macht/ und freiheit der Stadt Amsterdam«2. In diesem Sinn kommen beide Werke hier zusammen, gleichsam in einem Atemzug, und so sei Zesen auch wieder an sein Vornehmen erinnert worden. Von der Fürstin »durch allerhand scharfsinnige reden von Stahtsgeschäften/ noch weit mehr lüstern gemacht/ die Geheimnüsse dieses Stahts bester massen zu untersuchen/ und zu papiere zu bringen.« (S. 468) Er habe sich allseitig kundig gemacht; er nennt auf den Seiten 13–17 des Originals 193 Gewährsleute, nennt in der Vorrede eigens des Grotius Commentariolus de statu Foederati Belgii und verweist im Buch selber mehrfach auf Emanuel van Meterens Geschichtswerk.3 Das Zusammenzwängen historischer Ereignisse und zeitlich weit auseinander liegender Völkerschicksale ist rhetorisches Erbe und bezweckt eine überraschende Conclusio. Die noch unförmige Gegenwart setzt so Patina an. Im Selbstverständnis der Niederländer drückt sich das mitunter kaum verhohlen aus – Amsterdam als eine figura des biblischen Jerusalem. Solche biblisch grundierte Auszeichnung enthält selbstverständlich eine ethische Verpflichtung, sie ist hier mit Händen zu greifen. Die Rhetorik der national narratives, früher und jetzt, zielt auf eine nationale Einheit, mit der sich jeder identifizieren kann. An der Toleranzfrage lässt sich das detailliert nachweisen, und hier kommt auch ihre Aktualität zum Tragen. Sie knüpft mit dem historischen Band der Einheit alle diejenigen zusammen, auf deren Wirken die niederländische Freiheit beruht. In der Nachfolge des Grotius beschreibt Zesen den Aufstand gegen die Spanier als eine Reaktion  2  3

Zitiert nach den SW, Bd. XV/2, S. 468. Hier Vorrede Hugo de Groot (1583–1645), unter dem Namen Grotius weltberühmt als Jurist und Publizist. Der Südniederländer Emanuel van Meteren war seit 1583 Konsul der niederländischen Kaufleute in London. Er verfasste eine Landesgeschichte unter dem Titel »Belgische ofte Nederlandsche Historiën van onsen tijden« (1590), im Geist Oldenbarnevelds umgearbeitet unter dem Titel »Historie der Nederlanden ende haerder naburen oorlogen«, 1614.

177 auf die Verärgerung unter dem Volk, dass die römisch-katholische Kirche, »darinnen damahls die glaubens-lehre mit abscheulichen irthümern benebelt/ und einer algemeinen leuterung benöhtiget« (S. 544), offiziellen Schutz erhielt (Papst Adrianus von Utrecht wird hier genannt!), obwohl doch bekannt sein könnte, dass die Niederländer, »so treu und gehohrsam sie sonst vor sich seind/ so wiederspänstig und halsstarrig auch weren/ ihrer freiheit/ im fall sie angefochten würde/ mit euserster Macht vor zu stehen« (S. 544). Wer wollte leugnen, dass »veränderung der Glaubens-Lehre […] die erste springader gewesen/ daraus nachmahls (sonderlich als man noch hierzu den Spanischen gewissens-zwang/ die untersuchung deß Glaubens oder das Ketzergerichte […] des so langwierigen aufstandes/ und bluhtigen Krieges wühtender strohm über gantz Niederland je länger je häftiger herfürgebrochen.« (S. 545) Dabei habe der Kaiser seinen Sohn Philipp noch gewarnt, »daß er vor allen dingen der Niederländer freiheiten beobachten/ und den angebohrnen hochmuht der Spanier/ der dieselben zu kränken begierig/ im Zaum halten solte […]: dan die Spanier weren überall zu herschen und zugebieten gewohnet; welches die Niederländer durchaus nicht vertragen könten« (S. 547). Der Herzog von Alba, der »Wühterich«, der den »Blutrat« angeordnet hatte, habe sich gerühmt, »daß er zeit seiner sechsjährigen Stathalterschaft 18600. menschen durch den hänker allein hinrichten laßen« (S. 562). Die Religions- und Gewissensfreiheit erscheint so als das positive Ergebnis einer gemeinsamen Geschichte, aber ebenso sehr als deren Voraussetzung. In diesem Sinn war die Toleranz durchaus ein niederländisches Spezifikum, dessen man sich in und außerhalb der Republik bewusst war. Im Niederländischen Leuen wird dann auch am Schluss daran erinnert, dass das Land zwar »vielerhand Glaubensbekenner« habe, deswegen aber gerade kein Aufruhr und keine revolutionäre Uneinigkeit zu befürchten sei, »weil man allen denen ihres gewissens freiheit vergönnet.« Im Gegenteil sei »aus solcher so angenehmen vergünstigung keines unheils jemahls zu befahren« (S. 764).

6.2

II Beschreibung der Stadt Amsterdam

Zesens Stadtbeschreibung (1664), die man als die geglückte Verbindung von informierendem Bericht und narrativer Darstellung betrachten darf, schließt sich hier wie selbstverständlich an. Denn Zesen war stolz auf seine Wahlheimat und hat das nirgends verhehlt, im Gegenteil. Man muss zum besseren Verständnis etwas weiter ausholen, um sich einen Begriff von der damals so berühmten niederländischen Metropole im 17. Jahrhundert zu machen. Mit der Entwicklung der frühneuzeitlichen Stadt, einer städtischen Gesellschaft, die sich durch die Besonderheiten eines eigenen komplexen

178 Kommunikationsraums von der ländlichen Gesellschaft abhob, mussten andere Publikumsbedürfnisse befriedigt werden als zuvor. Eine frühmoderne urbane Schichtung der Gesellschaft verlangte nach unterschiedlicher kultureller Ausprägung, sie suchte nach eigenen Profilierungsmöglichkeiten, die insbesondere durch ein weitgefächertes Bildungsangebot ermöglicht wurden. Damit wurden auch an den Buchmarkt andere Anforderungen gestellt; das literarische Sortiment hatte sich nicht nur nach weltlichen und geistlichen Texten zu differenzieren, sondern vor allem nach gelehrter und populärer Literatur. Auch wuchs der Bedarf an solchen Schriften, die eine Identifikation des Lesers mit der Stadt begünstigten und sein Zugehörigkeitsgefühl zu deren (bevorzugter) Bürgerschaft unterstrichen. In erster Linie sind hier das Enkomium zu nennen, das Städtelob mit den üblichen Hyperbeln der rhetorischen Gattung, und die Stadtchronik bzw. die historische Darstellung des Werdens der Stadt mitsamt ihren Sehenswürdigkeiten. Das Repräsentationsbedüfnis, das der frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaft im Wetteifer mit konkurrierenden Städten zu eigen war, prägte die Darstellung durch die Betonung ihrer Bedeutung und Macht und die Schilderung eines friedvollen sozialen Lebens. Städtisches Bewusstsein drückte sich in der Art und Weise der Verschriftlichung aus. Um einer grösstmöglichen Wirkung willen bestimmte meist eine Verquickung von (faktenmäßiger) Historie und Fiktion (Gründungslegenden!) das Entwicklungsbild, die narrative Konvention bestimmte die Gestaltung von der ›grauen‹ Vorzeit bis in die Frühneuzeit, mit spannenden Szenen aus der Stadtgeschichte angereichert. Der Eigenprofilierung der Stadt dienten Chroniken und historische Berichte (›Relationen‹), Reiseerzählungen und -abenteuer usw. Solch charakteristische »Verbindung von kritischer Historie und literarisiertem Erzählgut verweist auf den doppelten Funktionscharakter städtischer Überlieferung«, in der sich sowohl das »Bedürfnis nach Unterhaltung« als das »nach einer gefälligen Präsentationsform« spiegelt. Dieses Neben- und Ineinander bildet für die Literaturgeschichte – mit ihrem Interesse für textästhetische Eigenheiten – den Anreiz von frühneuzeitlichen Stadtschilderungen: »Im Schnittpunkt von geschichtlicher Beschreibung und literarischer Darstellung traditioneller Herkunft ist der Ort der frühneuzeitlichen Stadtschilderung […] anzusiedeln.«4 Das ist jedoch nur ein Aspekt des neuerlichen Interesses für die ›Poetik der Reise- und Länderberichte‹.5 Auch wenn man andere Akzente  4

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Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum. Köln und Wien 1982. (Literatur und Leben, N. F. 22) S. 161. Zu verweisen ist auf die Symposien zum Thema an der Universität Gießen, deren Ergebnis in dem Band »Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reiseund Länderberichte« vorliegt. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Gerhard Giesemann. Amsterdam-New York 2003. (Chloe Bd. 34)

179 setzt,6 ist die narrative Inszenierung des jeweiligen Autors, die spezifische Auswahl und Deutung des Materials im Hinblick auf Repräsentation und Leserlenkung, zu bedeutsam, um sie außer Acht zu lassen. Sowohl der fiktionale wie der nicht-fiktionale Textbereich setzt die Anwendung von narratologischen Kategorien und Strukturen voraus.7 Sie gilt auch dort, wo man im humanistischen Reisebericht im Vergleich zu fiktionalen Texten eine »wesentlich geringere Dichte und Konsequenz der strukturellen Organisation« und demzufolge »unterschiedliche Grade der Intensität des Narrativen« feststellen muss.8 Philipp von Zesen bietet in seiner Amsterdam-Beschreibung ein exemplarisches Beispiel, das seine kulturvermittelnde Zielsetzung klar in Erscheinung treten lässt. Als Beiträge zur Geschichtsschreibung im aufstrebenden städtischen Handlungsraum werden in der Regel einerseits die ehrenvolle Historie und geschichtliche Qualität der Stadt, die Selbstbewusstsein und Eigencharakter der Bürgerschaft prägen, herausgestellt, andererseits ihre zukunftsträchtigen und daher spezifisch neuerungsbezogenen Impulse, die mit einer progressiven und kulturell überlegenen Mentalität ihrer Einwohner einhergehen. Anders ausgedrückt: die frühmoderne Stadtbeschreibung trägt ihre starke Einbindung in die städtischen und bildungsmäßigen Eliten zur Schau.9 Zesen macht denn auch keinen Hehl aus den Voraussetzungen jener kommunikativen Struktur, in der sich geistige Aufgeschlossenheit und kaufmännische Fortschrittlichkeit als Garanten eines ausgeprägten Modernismus verstanden.10 Es ist nicht zu weit hergeholt, an den Geist der Amsterdamer Antrittsrede des Caspar Barlaeus: Mercator sapiens (1632), zu erinnern.11 Zesens Beschreibung gehört zu seinen bekanntesten Büchern. Die Aufgabe muss ihn, den Wahlniederländer, gereizt haben. Die Stadt war weltbekannt, wohlhabend und weltoffen, international orientiert und nach damaligen Begriffen schon ein Ort multikultureller Urbanität. Außerdem war Amsterdam der Sitz der »Verenigde Oost-Indische Compagnie« (V. O. C.), einer Welthandelsfirma und der ersten Aktiengesellschaft großen Stils. Seit 1621 kam das westindische Pendant W. I. C. den Spaniern in die Quere. An interessierten Käufern und Lesern hat es dieser Stadtbeschreibung mit ihren

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A. Maczah / H. J. Teuteberg (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982. (Wolfenbütteler Forschungen 21) Lehrreich in diesem Zusammenhang Hayden White, The Historical Text as Literary Artefact, 1974. Friedrich Wolfzettel, Zum Problem mythischer Strukturen im Reisebericht. In: Chloe Bd. 34, S. 3–30. Kleinschmidt, Stadt und Literatur S. 158 f. Vgl. I. Thorndike, Newness and Craving for Novelty in Seventeenth Century Science and Medicine. In: Journal of the History of Ideas 1951, S. 584 ff. Ed. S. van der Woude, Amsterdam 1947.

180 detailgetreuen Kupfern und sowohl historischen wie aktuellen Informationen nicht gemangelt: das Buch war weitverbreitet. Man darf bei Planung und Vorbereitung des Werkes handfeste verlegerische Interessen voraussetzen: Es war eine teuere Produktion. Aber die Vorrede an die »Amstelinnen / die schönsten und herlichsten Töchter des gesamten Niederlandes«, lenkt den Blick auf anderes. Der Verfasser kenne die Stadt gut, habe er doch hier »nunmehr innerhalb zwei und zwanzig jahren die meiste zeit / als ein Gast / zugebracht«, sei dann aber »im verlauffenen jahre / durch die mächtigen Amstel-Väter / selbst mit dem höchsten Vorrechte der Bürger verehret worden.« Er sei nun »ein solcher angenommener Bürger«, da die Stadt ihn »aus eigenem triebe / vor ihren Bürger erkennet«. Das Bürgerrecht wurde Zesen tatsächlich am 20. Oktober 1662 verliehen. Der Dank für die »so hohe Gunst und Ehre« sei nun diese Stadtbeschreibung, die »aus dankbarkeit und zur erwiederung« verfasst wurde, um »solcher gestalt Ihren Nahmen dem Zeitbuche der Ewigkeit ein zu verleiben.« Hier, in der Vorrede, war der Ort, die Mühen des Verfassers hervorzuheben, weil sie sein Geschenk als Gegengeschenk zu Bewusstsein bringen sollten: »Ja dieses ist allein die ursache / warüm meine feder so kühne werden dürfen einen solchen hohen flug zu tuhn / und eines so schweeren und allermühsamsten Werkes sich zu unterwinden.« So wird mit prächtigen Wendungen und Sprachschnörkeln der Hintersinn klargestellt und die Wahl der deutschen Sprache begründet: Damit nämlich »euer herlicher Nahme unter denen Völkern / die sich darüber albereit verwundern / üm so viel mehr ausgebreitet / ja sie selbsten gereitzet und angelokket würden / Euch / samt eurer Stadt / in eurem eigenen schmukke zu schauen.« Das ist barocke Fremdenwerbung. Die Vorrede ist auf das Jahr 1663 datiert. Es war eine politisch-strategische Datierung, weil in jenem Jahr eine ebenfalls sehr bekannt gewordene niederländische Stadtbeschreibung erschien, und zwar die Historische beschryving der stadt Amsterdam von Dr. med. Olfert Dapper (Amsterdam: Jacob van Meurs 1663).12 Im Abbildungsteil (72 Kupferstiche) ist Zesens Buch von diesem Vorgänger abhängig und es ist ihm auch in mancher Formulierung verpflichtet; wohl deshalb verbreitet sich die Vorrede über die Bedeutung der Namenssetzung auf dem Titelkupfer. Es erscheine hier »des Verfassers Nahme« ausdrücklich, »auf daß dieses sein Werk / als ein recht ehliches ehrliches Kind / und nicht als ein Fündling / dessen sich sein Vater zu schähmen / mit solchem Väterlichen Nahmen üm so viel freier an das liecht trähten möchten.« Ein weiterer berühmter Vorgänger, auf den Zesen wiederholt verweist, war Johannes Is. Pontanus mit seiner Rerum et Urbis Amstelodamensium historia (1611), eine in der Übersetzung durch Petrus Montanus ›klassische‹ Stadtgeschichte mit topographischer Be12

Dapper (1636–29.12. 1689) war Arzt in Amsterdam, er verfasste zahlreiche Bücher, u. a. Reisebeschreibungen. Über ihn: A. J. van der Aa, Nieuw Nederlandsch Biographisch Woordenboek.

181 schreibung: Historische Beschrijvinghe der seer wijt beroemde coop-stadt Amsterdam (Amsterdam 1614). Zesen hat sein Material nicht systematisch gruppiert – wie Olfert Dapper –, sondern in Form eines Rundgangs, der gleichsam dem Stadtplan folgt. Da er Bürger der Stadt ist und einige Jahrzehnte hier gewohnt hat, ist die Authentizität der Beschreibung verbürgt, auch in ihren historischen Dimensionen, für die auf das Toposwissen schriftlicher Überlieferung zurückgegriffen wird. Eigene Erfahrung und Beobachtung ergänzen das Angelesene. Wahrheitscharakter beansprucht aber ebenfalls der Ausgriff in die Vergangenheit. Stilisierung mit Hilfe von ästhetisch gewählter und arrangiertier Bildsprache markiert den Übergang zur fiktional geprägten Erzählung. Darin äußert sich eine manifeste Erzählstrategie: Der faktenmäßige Bericht wechselt mit narrativen Partien und umgekehrt. Eine historische Darstellung muss im Falle Amsterdams in der Vorzeit ansetzen. Die Blickrichtung verlängert sich bis in die unbegrenzte Nachwelt, als der Verfasser seinen Vorsatz der Verewigung der Stadt auf die Formel bringt: Das »weltberufene Amsterdam / die helleuchtende Perle des gantzen Niederlandes« (Vorrede) zum Erstrahlen zu bringen. Die Inventio situiert den Standplatz des Historikers, der nun die Feder ansetzt, in der dämmerigen Landschaft der Vorgeschichte. Vage, ohne feste Umrisse, stumm und leblos wie in todähnlicher Erstarrung scheint die Geschichte zu ruhen. In prächtigen Metaphern wird das Bild jener Landschaft aufgerufen. Die ersten beiden Sätze, mit denen die Beschreibung nach der Vorrede beginnt, bestimmen, jeweils im Dreischritt des Trikolons vorwärtsschreitend, die Tonlage: Die Begäbnüsse der alten zeiten schlummern meistenteils im neblichten schatten: zu weilen schlafen sie in stok-dikken düsternüssen: ja oft liegen sie gar als im tode / mit einer tieffen stille ümgeben. Daher ist es sehr mühsam durch ihren nebel zu schauen: es ist fast unmüglich ihrer dunkelheit ein licht zu suchen / ja ihren spraachlosen leichnam zu finden.13

Kindheit und Wiege des »nunmehr mächtigen Volkes« (12) bleiben notwendig im Dunkel, und die Zeit, da die Stadt, von armen Fischern und Dorfleuten bewohnt, zum Sitz von stolzen Bürgern geworden sei, unbestimmt. Dem Geschichtsschreiber bleibt nur der Versuch, dem Leser die Stadt vors geistige Auge zu führen und sie in Erscheinung treten zu lassen: »[…] der aus ihrem sumpfichten mohrast so hoch und herlich aufgestiegenen Kauf=stadt Amsterdam ersten ursprung aus zu forschen / auch ihren anwachs und aufnehmen samt den erlangten freiheiten und vorrechten / vom ersten begin an biß auf diesen tag …« (12 f.). Die ersten Bewohner werden als Betauer oder »Bataviren« beschrieben und ihr Land als »des alten Betauischen Landes unterstes und allerinnerstes 13

Zitiert wird nach der Ausgabe in den Sämtlichen Werken, XVI. Band, S. 11. Im laufenden Text beziehen sich die eingeklammerten Zahlen auf die Seiten dieser Ausgabe.

182 teil / das man nachmahls Holland geheissen« (12).14 Die »Insel Betau« sei unter dem König Bato weiterentwickelt worden, bis man, zur Macht gelangt, um 800 n. Chr. das höher gelegene Haarlem gegründet und dann erst die Gegend, »da itzt Amsterdam lieget«, zum späteren Zeitpunkt (»seines so gar niedrigen und bruchichten bodens wegen«) besiedelt habe. Wiederum greift die Descriptio das poetische Bild der Perle auf, diesmal glaubt man Sandro Botticellis Geburt der Venus zu erblicken: Dan freilich hat die Perlen=muschel / wir meinen die Wiege dieser nunmehr so hoch aufgewachsenen fürtreflichen Amstel-Göttin / der schönen Vene / aus ihrem salzichten und schlammichten see-schaume / ja mohrastigen pfützen / nicht eher auftreiben / und anländen können / als eben üm gemelte zeit / da diese Perlen-tochter ihren fuß an das niedrigste Amstelland zu setzen einen festen boden gefunden. (24, 1 ff.)

Im ersten Buch der Beschreibung wird die weitere Geschichte des Volkes und der Stadt erzählt, natürlich auch die Sage von den »zween Fischern«, die ebenso wie Romulus und Remus als Stadtgründer auftreten: […]welche in einem schiflein ohne ruder / samt einem hunde / von ongefähr im Damrak (wie man den wasser-strich oder den ausgang der Amstel zwischen dem fluht-bette und dem Ei-strohme zu nennen pfleget) bei dem vorgelegten Damme des fluht-bettes angetrieben / und alda ein hütlein von holtz mit stroh gedekt aufgerichtet. Zu diesen hetten sich von zeit zu zeit mehr andere gesellet / dergestalt daß endlich aus solchem so unansehnlichem kleinen begin ein gantzes Fischer-dorf worden. (24, 11 ff.)

Mit der Betau als dem Ursprungsland im Westen und unweit von Amsterdam wurde dem damaligen Leser ein unübersehbares Signal gegeben. Die Entdeckung von Tacitus’ Germania in der Renaissance gab den Völkern im Norden einen neuen Mythos. Das sollte nicht ohne Folgen bleiben.15 Die Mythenbildung hat in den Niederlanden seltsame Wucherungen getrieben, die nach und nach zurückgestuft und erst in jüngster Zeit auf glaubwürdige Weise reduziert wurden.16 Die Niederländer hatten den deutschen Humani14

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Die Gleichsetzung Batavia-Betuwe und die Situierung in Holland ist ein Topos in den Amsterdam-Beschreibungen. Bei Dapper wird sie gleich zu Anfang behandelt (S. 2 f.), Pontanus behandelt sie, seinen geographischen und historischen Interessen gemäß, sehr ausführlich: Joh. Isacius Pontanus: Historische beschrijvinghe der seer wijt beroemde Coop-stadt AMSTERDAM. 1614 (ursprünglich ›Rerum et Urbis Amstelodamensium historia‹, 1611, ins Niederländische übersetzt von Petrus Montanus, 1614). Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert bzw. verwiesen. Hans Tiedemann, Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten. Berlin 1913; Manfred Fuhrmann, Die ›Germania‹ des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein. In: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition. Stuttgart 1982, 113 ff.; Kenneth C. Schellhase, Tacitus in Renaissance Political Thought. Chicago 1976. Für diesen historischen Abschnitt greife ich auf meinen Beitrag ›Sprachpatriotismus im Europa des Dreißigjährigen Krieges‹ zurück (in: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion-Geschechter-Natur und Kultur, hg. von Klaus Garber, Jutta Held u. a. München 2001, S. 943–956; hier 950 f. – Zur holländischen Geschichtsschreibung: Herman Kampinga, De opvattingen van onze oudere vaderlandsche geschiede-

183 sten Schützenhilfe geleistet (etwa Petrus Montanus mit »De Laudibus Germanorum«), fanden aber im Germanenstamm der Bataver eigene Ahnen, denen sie ihre ganze Aufmerksamkeit widmeten, Erasmus allen voran.17 Erasmus hatte den Ausdruck »Auris Batava« kommentiert und auf die Bataver bezogen, die er mit den Holländern identifizierte.18 Das war der Beginn eines langlebigen Mythos, dessen Kraft bis ans Ende des 18. Jahrhunderts reichte. Der Historiker Cornelius Aurelius situierte »Batavia« im späteren Wohngebiet der Holländer und gab die Ureinwohner für deren unmittelbare Ahnen aus. Ausschlaggebend ist aber, dass seine Darstellung auf das Holland seiner Zeit zugeschnitten war, und zwar (in den Worten von Karin Tilmans) im Sinne eines Musters: »Arcadian Batavia: a return to old values.« Seine Ansichten hatten große Wirkung.19 Bei Aurelius war Batavia ein Land von freien Bauern, der Fürst regierte zusammen mit der Ständevertretung, sie waren Bundesgenossen der Römer und unterstützten sie militärisch. Im Hinblick auf die burgundisch-habsburgische Politik war dieses Bataviabild für die holländische Identität natürlich von aktuellem politischem Interesse. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts erhielt der Mythos eine noch weit größere Bedeutung. Im Rahmen des Aufstands gegen Spanien wurde der Aufstand der Bataver gegen die Römer (69–70 n. Chr.) zur historischen Parallele. Man sah Wilhelm von Oranien als den zweiten Julius Civilis, der den erfolgreichen Aufstand geleitet hatte. Auf dem Titelkupfer von Historiae Gelricae Libri XIV des J. I. Pontanus (Harderwijk 1639) sind Civilis und Wilhelm von Oranien zusammen abgebildet.20 Die »Batavische Freiheit« wurde zur Leit-

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nis bij de Hollandsche historici der XVIe en XVIIe eeuw. Den Haag 1917, Utrecht 1980; Karin Tilmans, Historiography and Humanism in the Age of Erasmus. Aurelius and the »Divisiekroniek« of 1517. Nieuwkoop 1992 (Bibliotheca humanistica et reformatica, 51); E. O. G. Haitsma Mulier, De Bataafse mythe opnieuw bekeken. In: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 111 (1996), H. 1, S. 344–367. Tilmans, S. 84 ff., 211 f. (Erasmus). Conrad Celtis erwähnte die Bataver als Bewohner des niederländischen Rheinlands (»Ad Rhenum« in: Quatuor libri amorum. Nürnberg 1502), Raffael Maffei bezeichnete Holland als das Land der Bataver. Die bekanntesten Quellen sind neben Tacitus’ Germania 29: Caesar, De Bello Gallico 4, 10; Plinius, Naturalis Historia 4, 101–106. Nach 1515 insbes. Tacitus, Annales 2. 6, hg. von Philippo Beroaldo, Rom 1515. M. E. H. N. Mout, »Het Bataafse oor«. De lotgevallen van Erasmus’ adagium »Auris Batava« in de Nederlandse geschiedschrijving. Amsterdam 1993. Bonaventura Vulcanus: Batavia sive de antiquo veroque eius insulae quam Rhenus in Hollandia facit situ, descriptione et laudibus, adversus Gerardum Noviomagum. Antwerpen 1586; Petrus Scriverius, Oudt-Batavien nu ghenaemt Hollandt, 1606; ders., Batavia illustrata. Leiden 1609. Pontanus, Historische beschrijvinghe 1614 bespricht den Bataveraufstand detailliert und parallelisiert den Abfall von Spanien und jenen Aufstand (Oranien=Claudius Civilis). Ralf Urban, Der ›Bataveraufstand‹ und die Erhebung des Iulius Classicus. Trier 1985. Kritisch dazu Gerold Walser: Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiserzeit. Studien zur Glaubwürdigkeit des Tacitus. Basel 1951.

184 idee des Liber de antiquitate reipublicae Batavicae des Hugo Grotius, 1610 gerade zum rechten Augenblick erschienen, nämlich ein Jahr nach dem Waffenstillstand mit Spanien. Hier war die »Insula Batavorum« nun ein selbständiges, unabhängiges Reich mit moderner Regierungsform: Vertretung der sieben Stämme und auf Zeit gewählte Führer. Es wurden bei Grotius deutlich die sieben vereinigten niederländischen Provinzen präfiguriert. Der Batavermythos hatte also in der niederländischen Publizistik eine aktuell-politische Funktion. Von Bedeutung waren ohne Zweifel die räumliche Ausdehnung und geographische Lage des Bataverlands. Nach der legendenhaften Erzählung der zwei Fischer oder zwei Grafen als Stifterfiguren der Stadt ist »aus seiner zimlich fünsteren dömmerung« der »erste Morgen« erreicht, »da uns dan das licht der Amsterdamschen Geschichte mehr und mehr aufbricht; also daß wir itzund erst recht anfangen / durch ein fern-glas / die folgenden bewohner des Amstel-dams / zusamt ihrer wohnstat / kennen zu lernen.« (S. 26). Anbrechender Tag, ein Fernglas – es sind die bildhaften Elemente, die eine behutsame Annäherung an die Geschichte der Stadt anzeigen. Auch hier bleibt Zesen seinem Darstellungsprinzip des kritischen Abwägens mehrerer Erklärungsmöglichkeiten, das letztlich auch der Beglaubigung dient, treu. Fest steht jedenfalls der freiheitliche Status der seefahrenden Kaufmannsstadt, der im allgemeinen Bewusstsein städtischer Gemeinschaftlichkeit identitätsbildend war und in der politischen Wirkungsform der Stadt zum Ausdruck gelangte. Das kollektive Identitätsbewusstsein und die Verwurzelung in einer gemeinsamen Tradition politischen Handelns und kaufmännischen Verfahrens werden von einer genauen Verschriftlichung gefördert. Freiheiten und Vorrechte, Protokolle und Verträge, gewissenhaft verbrieft und im Tresor des Rathauses aufbewahrt, blieben in Chronik und Stadtgeschichte lebendig. Dank des florierenden Seehandels konnte die Stadt immer wieder erweitert werden. Sie war 1650 nach Paris, London und Neapel die größte europäische Stadt. Dann setzte der wirtschaftliche Verfall ein, der alsbald ein anderes Bild zeigte. In Zesens Darstellung wird das getreu gespiegelt. Das Aufführen von Gebäuden war in Amsterdam infolge des sumpfigen Bodens so schwierig, dass man auf Auswege sinnen musste. Technische Erneuerungen in der Baupraxis hatten weltweit Aufsehen erregt, Zesen hält sie in seiner Beschreibung detailliert fest. Und darüm / damit diese steinerne gebeue / sonderlich aber die türne / in solches allezeit weichende sumpfichte erdreich nicht einsünken und seitwärts sich neugen möchten / hat man endlich diesen fund erdacht / daß der grund / darauf solche gebeue stehen sollen / zuvor mit mastbeumen / oder starken fiechtenen pfälen […] welche man mit einem schweeren zugschlägel / daran 50 / 60 / ja zuweilen wohl achtzig arbeiter ziehen / einschläget / fest und unbewäglich gemacht wird. — Man schläget aber mit diesem zug-trümmel / der ohngefähr tausend / oder auch wohl zwölf hundert pfund wäget / solche fiechtenbeume […] vierzig oder funfzig schuhe / ja so tief hinein /bis sie in den festen sandichten see-grund / darüber das oben aufliegende schlam-

185 michte und modderichte erdreich gleichsam schwimmet / zu stehen kommen; […] Darnach leget man […] zween starke balken: welche so lang / als das gebeu sein sol […]. Zwischen diesen balken werden alsdan erst die pfäle zu den gemeinen häusern von ungefähr 40 schuhen / zu den schweersten aber von ungefähr 60 / so dicht bei einander eingeschlagen / daß keiner mehr hinein kan. Wan solches geschehen / […]schneidet man die eigeschlagenenen pfäle oben allesamt gleich ab / und nagelt starke breter […] darüber. (111)

Das ist sachgerechte Information, wie man sie hier erwartet: hartes Fichtenholz, in den festen Teil des Bodens gerammt und schließlich mit einem Querbalken gedeckt und festverbunden. Das Ergebnis ist, dass die ganze Stadt »wunderbahrer weise auf lauter ümgekehrten beumen gebeuet.« (112, 2 f.) Das führe nun aber häufig dazu, dass sich das Bauprogramm sehr verteuert und »daß der grund höher ist zu stehen kommen / als das darauf gelegte gebeu selbsten.« (112, 22 f.) Mit solchen und ähnlichen Angaben wird das Interesse am städtebaulichen Kalkül befriedigt. Sachinformation herrscht ebenfalls im anschließenden Abschnitt vor, der den kirchlichen Gebäuden gewidmet ist. Die auffällige Tatsache, dass man im alten Zentrum »so viel und so weit ümschweiffende Klöster gehabt«, während doch »den bürgern gleichwohl auch raum zu wohnen muste gelaßen werden« (113, 25 ff.) – konnte nicht übergangen werden (es waren drei Mönchsund dreizehn Nonnenklöster). Sicher sei das ein Zeichen großer Frömmigkeit der Ahnen, ansonsten sei die Geistlichkeit auch nicht faul gewesen. Dazu wird das Wunder der vom Feuer verschonten und wunderwirkenden Hostie erzählt – »davon wir zu gleuben einem jeden / was ihm beliebt / frei stellen« (120, 23 f.). Der Protestant Zesen beruft sich auf seinen Vorgänger Pontanus,21 kann sich aber eine kritische Anmerkung nicht verkneifen: »Ob nun dieses in der taht also geschehen / oder durch listigkeit der Münche nur erdichtet / und dem gemeinen einfältigen manne / damit er / zu wiedererbauung dieser Kapelle / üm so viel reichlicher sein Gottesgeld einbringen möchte / eingebildet worden / das laßen wir an seinen ort gestellet« (121,3 ff.). Der Standpunkt des Verfassers ist kaum interkonfessionell zu nennen, nirgends wird die Erlebnisebene des Ich-Erzählers verlassen. Es ist hier wie im ganzen Buch das Bemühen zu verspüren, Detailkenntnisse und relevante Information geschickt zu mischen und mit erzählerischen Partien aus der Stadtgeschichte abzuwechseln. Die Gebäude werden in klarer Sprache beschrieben (ihre Lage, ihr historischer Hintergrund), auch wird ihre Bestimmung früher und jetzt angegeben: »Seine Kirche ist nunmehr in eine Zukker-bäkkerei verändert / und das Kloster selbst in das Zunfthaus der Makeler …« (122, 30 ff.). Häufig werden Objekte mit Namen versehen, wodurch der Leser Zusammenhänge schärfer sehen möge, oder es werden Angaben überprüft und korrigiert (»… also haben wir dasselbe / darinnen sich Pontan in seinem Amsterdam so sehr verwürret und verirret befunden / 21

Pontanus nennt die Kirche De Heylige Stede und erwähnt auch ihre Mirakel: S. 21.

186 nach unserem wenigen vermögen / deutlich genug entknöhtelt / und aus dem Ir-garten gerettet«; 127,30 ff.). Und da manche Leser handfeste Informationen über Preise zu schätzen wissen – »Der gantze bau hat dazumahl nicht mehr / als 5305 Holländische gülden / oder 2122 Reichstahler / und 4 stüber gekostet« (138, 24 f.) – werden solche mitgeteilt. Die rechnerische Note begünstigt, wie auch die geographische und historische Genauigkeit, den Eindruck der Nachprüfbarkeit. Die Amsterdam-Beschreibung zeigt zur Genüge, daß die urbane Lebenswelt nicht etwa ›von selber lief‹, sondern von Kirche und Konfession, von kirchlichen Einrichtungen und Bräuchen sowie eine recht strenge »Policey« beherrscht wurde. Unter diesen Umständen kann man sich leicht vorstellen, dass die von Gerhard Oestreich beschriebene ›Sozialdisziplinierung‹ ein bekanntes Instrument der Ordnungsregulierung gewesen ist.22 Es trat ein weiterer Faktor hinzu, der im Prinzip für jede größere Stadt in Europa galt. Es war nämlich abzusehen, dass ein städtisches Gebilde wie das ausgedehnte und ›volkreiche‹ Amsterdam in kürzester Zeit von Aufruhr und Rebellion in Unordnung geraten würde, die Stadt war nicht nur durch Feuergefahr ständig gefährdet. In Verbindung mit Konfessionsunruhen, die in der Frühen Neuzeit nicht gerade selten waren, wurde die Stadtobrigkeit leicht nervös und schritt bald zu Taten. Die Ereignisse des Wiedertäuferaufruhrs (Zesen S. 144–159) und der beginnenden Reformation mit Bildersturm, Calvinistischen Streitigkeiten, Albas Einschreiten (Blutrat!) und Aufstand der Niederländer (Zesen S. 179–206) gaben Anlass zu den ernsthaften und weitreichenden Problemen, die die jüngste Vergangenheit in der Republik beherrscht hatten. Diese bilden in Zesens Amsterdam-Beschreibung gut und spannend erzählte Darstellungen, die im farbenreichen Ambiente der Stadt geschildert werden. Die Stadt war sicherlich schon eine hochentwickelte Sozialgemeinschaft. Für Arme, Kranke, Waisen und »unnützes Mannsvolk« waren in der ganzen Stadt öffentliche Einrichtungen gegründet worden, die von gesellschaftlicher Verantwortung gegen hilfsbedürftige und arme Mitbürger zeugen. Die Armen- und Krankenfürsorge war in Amsterdam vorbildlich.23 Interessanterweise geht an solchen Stellen die Stadtbeschreibung über den strikten Informationsbedarf hinaus. Es werden eigene Akzente gesetzt, bei Zesen andere als bei Olfert Dapper und Pontanus. Die Obrigkeit hatte schon im 16. Jahrhundert Müßiggänger, Tagediebe und Kriminelle aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und im »Tuchthuis« und »Rasphuis« (beide für Männer) resp. »Spinhuis« (für Frauen)24 an kör22

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Gerhart Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 179–197. Frijhoff / Spies, 1650, S. 174. Pontanus, S. 132: »Landtloopers ende bedelaers« (Tuchthuys), »meyskens / die wy te vooren geseyt hebben datse langs de strate liepen« (Spinhuys).

187 perliche Arbeit gewöhnt und im Geist calvinistischer Arbeitsethik erzogen. Die Einrichtungen wurden außerhalb des Landes als vorbildlich betrachtet und deshalb als Institutionen zur Resozialisierung ausdrücklich erwähnt.25 Im ›sozialen Verdichtungsraum‹ der Großstadt musste die Obrigkeit aus Gründen der Selbstbehauptung und des Bürgerschutzes sowie der Arbeitsund Produktionsdisziplin gegen Randgruppenexistenzen vorgehen.26 Armenfürsorge und Unterstützung der kranken und notleidenden Mitbürger – schon im 16. Jahrhundert ein viel diskutiertes Thema – waren Aufgabe der Lazaretts und Spitäler. Im Armenhaus (»Het Oude-zijts Huyssitten-Huys«), das sich derjenigen Frauen angenommen hatte, »welche sich von ihrer hände arbeit nicht genug ernähren können«, wurden Brot, Butter und Käse, im Winter auch Torf ausgeteilt (Zesen S. 255). Das kirchliche Waisenhaus (»Het Diakonen-Weeshuys«) wird eigens behandelt, und zwar nicht nur wegen der baulichen Schönheiten (»groß / schön und prächtig«; 258), sondern auch wegen der auffälligen Helligkeit der vielen Fenster, »dan dis gantze haus wird überal mit fenstern erleuchtet« (258). Die ca. 600 Waisenkinder27, nach Knaben und Mädchen getrennt, wurden von Pflegepersonal, d. h. »Armenversorgern/ welche aus den frömsten und ehrlichsten bürgern erwählet werden« (259), beaufsichtigt, Schneider und Schuster waren im Hause, die Kinder wurden täglich von einem Arzt besucht. Geldprobleme scheint man von der Gründung im Jahr 1656 an nicht gekannt zu haben. Es wurde alljährlich Geld eingesammelt; im ersten Jahr wurde in der Neuen Kirche »so reichlich« gespendet, dass man über 288719 Holländische Gulden verfügen konnte, man kam, so heißt es, leicht auf »drei tonnen goldes« jährlich. Die Mädchen lernten kochen und nähen, die Knaben aber, »wan sie im lesen und schreiben genugsam unterwiesen / auch zu ihren jahren gekommen / bestellet man hier und dar in der stadt / ein handwerk zu lernen.« Bei Besprechung eines anderen Waisenhauses – es ist das Große Waisenhaus, Stifterin war ca. 1520 Frau Haasje Claes – äußert Zesen sich bemerkenswert kritisch. Es geht um die Möglichkeiten, neben einem Handwerk die schönen Künste und die »übung der Gelehrtheit« zu betreiben. Aber ach leider! die Amsterdamschen gemühter seind itzund von dieser nicht nur edlen / sondern gar götlichen Kunst meistenteils so gar entfremdet / daß sie selbige / zu ihrem großen nachteile / nicht einer bohne / nicht eines ziegenhaars währt achten / wir schweigen / daß sie die armen Waisekinder darzu solten auferziehen laßen. Kurtz: sie wollen / mit ihrem geldwucher / lieber irdisch / und an der fünstern erde kleben bleiben / als sich in den liechten himmel schwingen / himlisch / ja Götlich zu werden /

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Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit. München 1995, S. 44 ff. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 34). Wolfgang von Hippel, Armut, S. 50. Bei Pontanus hören wir schon von 400 Knaben und ebenso vielen Mädchen, die von sechs Regenten ›regiert‹ werden.

188 und mit den Gelehrten / nach dem ausspruche des Göttlichen Daniels / in jenem leben wie des himmels blitzender glantz zu leuchten. (369)

Die Disziplinierung der Stadtbevölkerung dürfte in einer großen Stadt, die von Seefahrt und Welthandel lebte (was sich auch im städtischen Leben auf Plätzen und in Straßen bemerkbar machte), nicht immer ohne Probleme gewesen sein. Je komplexer sich die Gesellschaft mit ihren sozialen und politischen Aufgaben gestaltete, um so wichtiger mussten die Bildungsinstitutionen Schule und Universität erscheinen. Die Stadt war seit dem Spätmittelalter immer deutlicher zum Bildungszentrum geworden. Bei Zesen ist das noch in Resten erhalten, wenn er im fünften Buch den »Heidelberger« G. J. Vossius, den »Dichtmeister« C. van Baarle und die Freischule mit ihren Gelehrten28, schließlich am Ende seiner Darstellung (ebenso wie Olfert Dapper) Gelehrte und Künstler der Stadt nennt. Was aber Pontanus im Gesamt der Leistungen und im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Blüte am geistigen Leben Amsterdams für wertvoll hielt und welche Bedeutung er ihm beimaß, zeigt die Auflistung unter dem Titel »Eenighe treffelicke ende vermaerde mannen van Amsterdam.«29 Dapper bietet kaum mehr als Zesen: das Gymnasium (»doorluchtige schole«) 1632, die Gelehrten Gerard Vossius, Caspar Barlaeus, Martinus Hortensius, schließlich die Stadtbibliothek, in der alle Fakultäten vertreten waren, insbesondere aber die Theologie. Auch müssen Dappers ausführliche und genaue Beschreibungen der Neuen Kirche und des Neuen Rathauses genannt werden (mit Erwähnung der Künstler Jacob van Campen und Daniel Stalpert).30 Zesen hat im Detail anders disponiert als seine beiden Vorgänger. Selbstverständlich ist er in der chronikartigen Aufzählung der Amtspersonen bestrebt, für die Gegenwart des »itzigen 1663 jahres« niemanden von den wichtigen Persönlichkeiten zu übergehen. Aber es tritt ein wesentlicher Unterschied zutage, der für die ganze Anlage seiner Amsterdam-Beschreibung charakteristisch ist: Zesen organisiert und fasst zusammen, wo Dapper in der Nachfolge des Pontanus Namen ledigleich auflistet.31 Zesens Hauptziele waren nach wie vor die Informierung und die gehobene Unterhaltung des Lesers. Die Distanzhaltung, die man gewöhnlich mit einem berichtenden Darstellungsstil verbindet, musste aber auf weiten Strecken zurücktreten, um einer affekthaltigen Darstellung zu weichen. Das ist ein neuartiger Zug, der zur Literarisierung der Stadtchronik und der Descriptio urbis führt. Zesens Stadtbeschreibung, obgleich in seinen Aussagen faktenmäßig belegt und nach Ermessen der Zeit mit Hilfe von Fakten 28

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In der Freischule wurde vor »liebhabern der edlen wissenschaften« ohne Lateinkenntnisse zweimal in der Woche auf Niederländisch gelesen (S. 428). Pontanus, Beschryvinghe, S. 376 ff. Dapper, Historische Beschryving, S. 328–377 (Rathaus), 382–387 (Neue Kirche). Pontanus nennt S. 310 bis 351 (jeweils in drei Spalten) »Schout, Burghemeesteren ende Schepenen«, ab 1413 bis 1614.

189 und Zahlen wissenschaftlich grundiert, vermochte dennoch ihre Leser zu affizieren, sie innerlich zu bewegen und zu rühren, ja mitzureißen. So wurde das allmähliche Eindringen der neuen Lehre mit der »unröhmischen« Predigt fast zum Rührstück (S. 179 ff.). Sie war zunächst auf die Umgebung Amsterdams konzentriert, weil die Bürgermeister sich dieser ›Modernität‹ widersetzten. Aber die Zusammenkünfte in Overveen fanden unter Beteiligung der vornehmsten Amsterdamer Bürger statt. Die Massen strömten hinzu – »Es ist fast nicht zu gleuben / was für ein großer eifer / die erste Overveenische predigt zu hören / alhier unter den bürgern entbrante. Der auslauf aus der stadt war so groß / daß keine wagen / noch schiffe mehr / das volk zu führen / zu bekommen.« (180) Der begeistert empfangene Prediger musste seine Predigt im Freien halten und legte das 2. Kap. des Epheserbriefes aus. Die Wirkung war überwältigend: »geschahe mit einer solchen bewegligkeit / daß vielen zuhörern / vor großem eifer / und inniglicher wehmühtigkeit / die trähnen über die bakken flossen.« (180) Der eigentliche Clou der Darstellung ist die emotionale Wirkung. Tränenreich wurden die Worte aufgenommen, die auf die Gnade Gottes und den Glauben verwiesen.32 Handelt es sich doch um das Lutherische sola fide, sola gratia. Die neue Lehre ging bekanntlich mit rohem Auftreten des »leichten gesindlein« einher, das Kirchen und Altäre plünderte (das »Bild-stürmen«; 184 ff.). Als endlich wieder Ruhe eingetreten war, erschien der »allergreulichste Wühterich«, der Herzog von Alba auf dem Plan, der »auf des höllischen Geistes einblasen den allergotlosesten Bluhtraht gestiftet« (194). Dieser hatte volle Gewalt über »guht und bluht/ ja tod und leben aller eingesessenen« und handelte, aller »freiheiten und vorrechte ungeachtet«, nur im Auftrag »des rasenden Bluhthundes«. (194) In der Wortwahl drückt sich noch nach 100 Jahren die Erregung aus, Wut und Abscheu werden mit verbalem Appell an den Leser in emotionale Bewegung umgesetzt: Und also fing man an allen enden an / männer und frauen / hohe und niedrige / junge und alte zu fangen / und zu spannen. Die gerichts-plätze lagen mit bluht überschwämmet; die galgen / die räder / die staken / und die beume an den wegen waren überladen mit leichen der erwürgten / enthalseten / und geräderten. Der schmauch und rauch von den verbranten unschuldigen überzog die luft mit einem so dikken kwalme / daß die strahlen der sonne kaum durchbrechen konten. Und das allergrausamste war / daß man auch selbsten anderen menschen das weinen und seufzen über so unbarmhertziges handeln ihren bekanten und bluhtsfreunde verbot / ja sie wohl gar deswegen / als verdächtige / gefänglich einzog / und zur pein-bank brachte. (194 f.)

Die Zahl der Folterqualen wird noch weiter ausgedehnt und vom Erzähler genau und bis ins Detail wiedergegeben, ja bis zur höchsten Wirkung gesteigert, damit kein Mittel zur Erregung der Affekte ungenutzt bliebe. Den 32

Eph 2, 8/9: »Denn aus Gnade seid ihr selig worden durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme.«

190 auf dem Scheiterhaufen Sterbenden, die »mit beherzter zunge« ihr Glaubensbekenntnis zu sprechen pflegten, wurde das mithilfe eines greulichen Instruments unmöglich gemacht. »Dieses war gleich als ein schraube-stok; darzwischen die zunge geschraubet ward: welche man voran mit einem glühendem eisen brante / daß sie aufschwällen und nicht einwärts schlüpfen solte. Und also gaben diese armseeligen in der flamme ein holles dumpfichtes geleute«.33 Solche Marter- und Folterszenen kennt man auch aus zeitgenössischen Dramen, die damit den Empfehlungen der Rhetorik und Poetik entsprachen. Bei Zesen werden sie dazu eingesetzt, um Spannung zu erzeugen und in der Abfolge der rein informativen Partien durch Affekterregung eine neue Wirkung zu erzielen. Sie sucht durch Emotionssteuerung den Leser im Innern zu berühren. Durch gezielte Affektsteuerung ist der Leser ganz bei der Sache und neugierig auf den Fortgang der Handlung; es wachsen Spannung und Interesse. Der Leser soll seelisch in die Geschichte der Stadt einbezogen werden, die Darstellung ihm so stark in die Seele reden, dass der zeitliche Abstand zu jener »drangsäligen zeit« überbrückt und das »feuer der verfolgung« (193) gleichsam hautnah gespürt wird. Auf andere Weise lockert die Darstellung des Wiedertäuferaufruhrs den Bericht auf. Sowohl Pontanus wie Dapper hatten in der historischen Abfolge der Ereignisse in der Stadt jene Unruhen breit erzählt und mit Details angereichert. Es waren politisch und sozial brisante Begebenheiten, die befürchten ließen, dass Amsterdam das Schicksal der Stadt Münster bevorstünde. Es wird immer wieder und mit immer neuen Argumenten die Bedrohung herausgekehrt, die von den rasenden Fanatikern ausging: drohender Untergang der Stadt, Umsturz der bürgerlichen Ordnung und Errichtung eines Wiedertäuferreichs. In der bekannten geschichtlichen Darstellung des Lambertus Hortensius: Oproeren der wederdoperen (1660) wird das Material ausgebreitet, das der Stadtbeschreibung Dappers und Zesens zugrundelag.34 Zesen kann mit Fug und Recht auf die Gefahr hinweisen und das harte Durchgreifen der Stadtbehörden gegen die »Ketzer-rotte« gutheißen, um so mehr als ihre »rasende tolsinnigkeit« zum »öffendlichen aufruhr« auswuchs und der Stadt ihr »endlicher untergang gedreuet« wurde (144). Hortensius hatte die heftige Reaktion mit den Gefahren einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft legitimiert, die Ruhe und Sicherheit der Bürger bedrohe.35 Alles hätte mit Thomas Müntzer und Melchior Hof33 34

35

»Geleute«, ein Hollandismus (»geluid«), mit der Bedeutung »Laut, Ton«. Lambertus Hortensius: Oproeren der wederdoperen: Geschiet Tot Amsterdam, Munster, en in Groeningerlandt. Amsterdam 1660. Es handelt sich um das Jahr 1535; Dapper, Historische Beschryving, S. 143–152, Zesen, Beschreibung, S. 144–160. Pontanus bespricht S. 41 ff. »De occasie der raseye der Wederdoopers: de welcke die van Amsterdamme bijna haeren onderganck dreychde.« Es ist eine einfache ›Relation‹, die auch Jan van Leyden und David Joris behandelt (60 ff.). »[…] de begonnen wreede straffe […] nerghens meerder als binnen Amstredam, want de Stadt is door de menichte der handelaers ende toeloop van verscheyde vreemde

191 mann angefangen, den radikalen Gegnern obrigkeitlicher Autorität, die die urbane Gesellschaft nur provozierten, indem sie verkündigten: »Daß man allen Obrigkeiten gegenstand tuhn müste / und dieselben mit aller macht aus zu rotten suchen.[…] Daß ihnen [sc. den Wiedertäufern] macht gegeben sei die gotlose Obrigkeit mit dem schwerte zu vertilgen.« (146) Zesen nennt jene Wiedertäufer »Höllen-gespenster«, weil sie zum Aufruhr aufwiegelten und in der Gesellschaft moralische Unruhe stifteten (sie riefen zur Gütergemeinschaft auf, zur Hurerei und Vielweiberei usw.). In allen zeitgenössischen Beschreibungen findet sich der Topos, sie hätten die Stadt fast in einen Trümmerhaufen verkehrt.36 In Amsterdam werden die ersten ›Nacktläufer‹ signalisiert (mit der Begründung, daß sie die nackte Wahrheit wären37). Die Strafen sind hart: »etliche Wiederteuffer [wurden] teils entheuptet / teils gerädert / teils verbrant […]. Auch hat man eine Fraue […] ertränkt.« (148) Aber noch ist es nicht genug. Des andern tages haben sie sich wiederüm sehr früh alhier versamlet; und etliche frauen seind selbst von ihrer männer seite stilschweigens aufgestanden / sich auch anher zu verfügen. Nachdem man nun vier stunden mit lehren und behten zugebracht / legte der Profeht seinen helm vom heupte / zog seinen brust-harnisch aus / und schmis seine kleider / degen / und andere waffen auf das feuer; also daß er gantz nakkend stund. Hierauf geboht er den andern männern sich ebenmäßig zu entkleiden: welches sie auch tähten: und die weiber folgten ihnen zur stunde nach; dergestalt daß sie alle nach der reihe herüm gantz entblößet da stunden. Dan der Profeht hatte ihnen ein gesetz gegeben / daß alles / was aus erde gemacht were / ins feuer müste geworfen werden; indem er wähnete / daß solches vor Gott ein süßer geruch sein würde. – Die Fraue selbiges hauses / welche noch schlief / und nicht wuste / was sich begeben / ward vom übelen stanke der schmauchenden kleider / der durch alle kammern hinzog / wakker / und sprang aus dem bette / zu sehen / ob auch irgend brand vorhanden. Als sie auf den boden gelanget / fand sie eilf mansbilder / und vier frauen gantz nakkend stehen So bald sie der Profehlt erblikte / geboht er ihr gleichesfals / sich zu entkleiden / und ihre kleider aufs feuer zu werfen: welches sie auch von stunden an täht.38

Der »Prophet« ist der Anführer der kleinen Rotte von religiösen Abenteurern, die nun in der Nacht zu Unruhestiftern werden: Hierauf befahl er ihnen weiter / daß sie ihm sämtlich mit lauffen und rufen nachfolgen solten. Und also sprungen sie zum hause hinaus / und lieffen längst den gassen / als

36

37 38

Natien in korten tijt t’eenemael gheinfecteert geworden, gelijck gemeenlijck de verscheydenheyt van gemoeden ende oordeelen, mitsgaders vreemde Religien, in een Stadt oorsaeck zijn van der selver verderf« (Hortensius, Oproeren, S. 28). [die grausamen Strafen (…) nirgendwo mehr als in Amsterdam, denn diese Stadt ist durch die große Zahl der Händler und den Zustrom verschiedener Nationen in kurzer Zeit infiziert worden, wie gewöhnlich die Verschiedenheit von Gemütern und Meinungen sowie fremde Glaubensbekenntnisse in einer Stadt deren Untergang verursachen.] Dapper, Beschryving, S. 143: »Waer door byna deze stadt tot een puynhoop was geraekt.« Dapper, Beschryving, S. 147: »dat zy de naekte waerheyt waren.« Zesen, Beschreibung, S. 149. Pontanus erzählt die Geschichte auf S. 47.

192 wahnsinnige menschen / ja rieffen überlaut: Weh! weh! rache! rache! o Himlischer Vater!39

So zogen sie schließlich zum Rathaus, wo man sie gefangennahm. Einer von den Schöffen warf einer von den Frauen seinen Mantel zu; sie schmiss ihn aber weg und sagte, dass »das Bild Gottes sich zu schämen nicht nöhtig hette« (150). Die imago-Dei-Bildlichkeit wird ebenso ins Lächerliche gezogen wie vorher das Wort von der nackten Wahrheit. Indessen lag die Gefahr auf der Lauer; die Obrigkeit beriet sich fieberhaft, wie die Bürger in aller Stille bewaffnet und zum Rathaus geführt werden könnten. Man hatte die Zeit verstreichen lassen, denn da kamen schon die Wiedertäufer, »gewafnet / und mit fliegenden fahnen / auch mit trommelschlagen […] und bestürmeten zur Stunde das Rahthaus; da sie die wache todt schlugen.« (153) Durch den Lärm wurde ein Diener des Schulzen, »der sich vol gesoffen / und zwischen den stühlen auf dem boden lag und schlief / wakker gemacht.« Da er nicht wusste, wie ihm geschah, stieg er in den Turm und nahm »den strang von der stadtglokke«, damit »durch das leuten kein größer schrik unter der gemeine verursachet würde.« (153) Nun war auch Alarmläuten nicht mehr möglich. Der Tumult war groß, die Straßen zum Rathaus waren so voller Leute, dass kein Mensch mehr durchkam. Man wagte noch einen Versuch, die Belagerung des Rathauses mit Hilfe von Freiwilligen zu durchbrechen, »daß sie so bald die Wiederteuffer vom Tamme getrieben weren / zu allererst einen anfal auf das Rahthaus tuhn / und dan die bürger nachdringen solten.« (154) Aber die Wiedertäufer zögerten ihren Angriff hinaus. Sie »brachten die nachnacht mit singen etlicher geistlichen lieder zu« und besetzten bei Tagesanbruch das Rathaus. (155) Die Schlacht wurde von den Bürgern gewonnen. Sie hatten zwanzig, die Wiedertäufer achtundzwanzig Mann verloren. Die Bestrafung der übrig gebliebenen Täufer, die sich in ihren Häusern versteckt hielten, war entsprechend grausam, es sollte wohl ein Exempel statuiert werden: Sechs tage hiernach warden die zwölf gefangene Wiederteufer zu erst lebendig auf eine bank gebunden: da man ihnen / nach eröfneter brust / das Hertz aus dem leibe gerissen / und üm das gotlose maul geschlagen. Darnach warden ihre noch zaplende leiber auf den markt geworfen / und in vier stükke zerhauen: welche man vor die stadt-tohre hing / und die Köpfe auf staken setzte. (156)

Die Szenen kruder Grausamkeiten in diesem »Theater des Schreckens«40 zeigten dem damaligen Leser alle Bedeutungsvaleurs frühneuzeitlicher Strafrituale. Es war hier deutlich ein Komplex von Körper- und Ehrenstrafen, bei dem der Bestrafte auf schmachvolle Weise sein Leben mitsamt seiner Ehre verlor. Es handelt sich – wie Richard van Dülmen dargelegt 39 40

Zesen, Beschreibung. S. 149. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1985, 3. Auflage 1988. (Beck’sche Reihe 349)

193 hat – in eigentlichem Sinn um Vergeltungs- und Reinigungsstrafen, die symbolisch für die begangenen Verbrechen stehen. Jede Tat hatte ihre eigene Strafe, und so kamen auch kulminierte Strafen zustande. Es lässt sich in Deliktkombinationen sogar eine »Hierarchie von Grausamkeit« beobachten,41 das Zunge-Ausschneiden hat wie das Abhacken der Hand funktionale Bedeutung. Es soll die Sühnung der verbrecherischen Tat ad oculos demonstrieren, bei der Hinrichtung des Wiedertäufers Jakob von Kampen etwa: daß er / mit einem Bischofs-mütze auf seinem kopfe […] auf öffendlichem Blutgerüste vor dieser stadt aufgerichtet […] eine stunde […] sitzen / und wan er also lange gesessen / seine zunge / damit er seine falsche lehre hat ausgebreitet / durch den Scharfrichter abgeschnitten / seine rechte hand / damit er wiedergetauft hat / und darnach sein haupt von seinem leibe gehauen / sein rumpf mit feuer verbrant / das heupt aber mit der Bisschofs-mütze / und die hand darbei auf einen staken […] gestelt sol werden.42

Auch am toten Körper wurde die Straftat gerächt. Als einer zum Tod verurteilt worden war, aber am Abend vor dem Gerichtstag im Gefängnis starb, »so ließ man ihn gleichwohl / sein mühtlein auch am todten leichnam zu kühlen / im gefängnüsse entheupten«.43 Die Theatralik der Hinrichtungsszenen hat innerhalb der Stadtbeschreibung die Funktion affektiver Erregung, welche die rationalen Berichtteile abwechseln soll. Ihr ethisch-didaktischer Warncharakter markiert die Grenzen gesellschaftlicher Toleranz im Rahmen der stadtbürgerlichen Verhaltensmodellierung, die auf Ruhe und Ordnung basiert. Gemessen an den Rechtsnormen jener Zeit war die Todesstrafe für jenen Prediger allerdings nicht abwegig, wie man überhaupt die Wiedertäufer mit strengen Strafen belegte und sie mindestens Landes verwies. In der Perspektive des 16./ 17. Jahrhunderts (mit Hexenverbrennungen und Märtyrertod!), wo der Gedanke an eine Ordnungsstörung schon panische Angst verbreiten konnte, machte man sich die Dinge nicht allzu kompliziert. Wiedertäufer erregen Anstoß und bringen Unruhe, so war das allgemeine Empfinden; das demonstrative Nacktlaufen illustriert das. Hundert Jahre später urteilte man über die zeitgenössischen Täufer schon ganz anders, – ruhige und bescheidene Mitbürger, denen man mit Respekt begegnete.44 Es lässt sich noch 41 42

43 44

Van Dülmen, Theater des Schreckens, S. 112. Zesen, Beschreibung, S. 159, 14 ff. Zur Verstümmelungsstrafe des Abschneidens der Zunge Van Dülmen S. 69, kombinierte Strafen und Deliktkommunikationen S. 79, 110, 112, Herausnehmen von Eingeweide und Herz S. 127, 144 (»Die Vorstellung, daß man eine Person und ihr verbrecherisches Tun auch noch durch eine Marter an ihrem Leichnam strafen könne, reicht bis ins 19. Jahrhundert hinein.«). Zesen, Beschreibung, S. 196, 4 ff. »Unsere heutigen Mennisten sind ganz anders geartet, man würde jetzt unter diesen ruhigen Leuten keine Seele finden, die sich in der Öffentlichkeit nackt zeigen würde, oder es müßte mit ehrlichen Küssen auf Venus’ Bettstatt sein.« (Melchior Fokkens, Beschryvinge der wijdt-vermaarde koopstadt Amstelredam, Amsterdam 1662, S. 44).

194 eine Beobachtung anschließen, die für die Stadtbeschreibung von Bedeutung ist. Die Hinrichtungen waren Volksbelustigungen und rechneten deshalb mit einem zahlreichen schaulustigen Publikum. Ihm musste deren Warnsymbolik, von weither sichtbar am Galgen oder am aufgerichteten Blutgerüst, überzeugend vorgeführt und die Strafgewalt der städtischen Obrigkeit demonstriert werden. So heißt es in der Beschreibung: »anderen zum beispiel«, »anderen zur abscheu«.45 Da nun die täuferischen Delinquenten einer ersten Strafreihe »halsstarrig« geblieben waren (sie hätten Gott gelobt, die Umstehenden verwarnt und gar Rache angedroht46), war ihre Hinrichtung aus obrigkeitlicher Sicht nur teilweise gelungen – diese sah nämlich ein reumütiges und versöhntes Opfer vor. Um so strenger wurde »sechs tage hiernach« verfahren, wie aus obigem Zitat hervorgeht. Die Darstellung von Grausamkeiten und ähnlichen Begebenheiten hat eine über die historische Information hinausgehende Funktion, die mit der erkennbaren Lokalisierung zusammenhängt. Sie erleichtert eine Identifizierung und ermöglicht ein stärkeres Hineinbeziehen des Lesers, der sich in der Stadt auskennt. Chronographia und topographia verstärken den Effekt. Mit anderen Worten: die wirklichkeitstäuschende Hypotyposis (die rhetorische evidentia) macht das Geschehen anschaulich und bewirkt durch konkrete Vorstellung, Drastik und Bewegung eine von altersher bewährte Affekterregung, die im Marinismus wiederaufgegriffen wurde. Tesauro spricht von der »Vivezza«, die das Objekt gleichsam vor die leiblichen Augen führen lasse.47 Zesen hat sorgfältig seine Quellen selektiert und manches, was ihm überflüssig vorkam, ausgelassen. Was die Bürger zum Beispiel antrafen, als sie beim Wiedertäuferaufruhr die Eindringlinge im Rathaus überwältigt hatten, hat er übergangen, obwohl es doch im strengen Vorgehen gegen die Täufer durchaus funktionale Bedeutung gehabt hätte: »sie fanden im Eintreten viele Tote am Boden liegen, die teils durch Gewehrschüsse, teils durch grobes Geschütz umgekommen waren, darunter manche im Sterben, die durch beherzte Bürger durchstochen wurden« – so liest man bei Hortensius.48 Auch im weiteren Bericht über den Aufruhr lässt sich beobachten, dass Zesen nicht planlos auswählte und übersetzte, sondern sich von zwei Zielsetzungen leiten ließ: informieren und unterhalten resp. bewegen. 45 46 47

48

Zesen, Beschreibung, S. 156, 34 bzw. 157, 7. Zesen, Beschreibung, S. 150. Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996: evidentia. Ferner (mit weiteren Hinweisen) Reinhart Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von »Agrippina«. Göttingen 1986, S. 126 ff. (Palaestra 279) Hortensius, Oproeren, S. 130 (»sy vonden in het inkomen veel dooden leggen, die eensdeels met roers, ende eensdeels met grof geschut waren om gebracht, daer onder sommighe noch ziel-braekende door de moedighe Burgers voorts doorsteecken wierden«) [Übs. F. v. I].

195 Das docere ist auf den informativen Bericht beschränkt, das movere wird in den narrativen Partien, wo immer es geht, gehörig eingesetzt. Auf diese Weise entspricht das Textganze auch in der Hinsicht den rhetorischen Idealen Ciceros, Quintilians und der frühneuzeitlichen Rhetoriker. Die Affektwirkung ist allerdings kaum feinfühlig, die Schilderung grausamer Einzelheiten nirgendwo zurückhaltend. Der Leser wird ständig schockiert, er sollte auch mit Erstaunen, Erschrecken, Entsetzen reagieren. Der Text ist in seiner weitgehend affektiven Besetzung in hohem Maß leserorientiert. Das markiert den Unterschied zu Dappers Amsterdam-Beschreibung, die keine so einheitliche Verbindung von informierenden und narrativen Teilen aufweist. Zesen war, anders als seine Vorgänger, ein erfolgreicher Romanautor, er hat sich seine schriftstellerische Erfahrung zunutze gemacht. An nur einem einzigen Beispiel sei das gezeigt. Der Übergang zu den Wiedertäuferunruhen ist bei Zesen in den historischen Verlauf der Stadtgeschichte aufgenommen und integriert. Es wird erzählt, daß 1533 neun Wiedertäufer »nach dem urteile Kaiser Karls selbsten« »entheuptet« worden sind, obwohl die Strafandrohung eine Besserung des Zustands versprochen hätte. Die Folge der Ereignisse zeigt jedoch überhaupt keine Änderung: »so wuchsen sie doch immer mehr und mehr gegen die strafen an / ja streueten brieflein auf öffendlichen gassen aus« (146). Diese Stelle fungiert nun als Scharnierpunkt zum großen Bericht über den Aufruhr. – Mit demselben narrativen Verfahren hat Zesen Hexengeschichten in den Zusammenhang der Stadtbeschreibung eingeordnet. »In eben demselbigen jahre / nähmlich im 1555 / da König Filip von seinem Vater die herrschaft über diese länder empfangen / ward ein Frauenmensch/ nahmens Meins Kornelis von Purmerend […] als eine Zeuberin und Hexe […] öffendlich verbrant.« (167) Die lange Geschichte wird anschließend erzählt, mit vielen spannenden und seltsamen Einzelheiten: »Von dieser Meintz wird noch heute zu tage eine lange bekäntnüs …« (167). Auch dabei nimmt Zesen einen eigenen Standpunkt ein, der von Dappers ablehnendem Urteil über den Hexenglauben der Zeit entscheidend differiert: »Weil nun unser zwek alhier nicht ist zu untersuchen / ob dergleichen zaubereien in der taht und wahrhaftig also geschehen / wie sie erzehlet werden: so laßen wir uns vergnügen / etwas darvon aus der Bekäntnüs dieser Meintz […] nur allein erzehlet zu haben« (173). Zesen schreibt für ein Publikum in Deutschland, und dort gingen die Uhren anders als in Holland. Um 1600 wurden in den holländischen Städten kaum noch Hexenprozesse geführt, um 1630/40 fand man in der ganzen Republik keinen Juristen mehr, der eine Beschuldigung der Zauberei ernst genommen hätte49 – Zauberei war in der niederländischen Literatur kein seriöses Thema.50 49 50

Willem Frijhoff / Marijke Spies, 1650: Bevochten eendracht, S. 425. Ferdinand van Ingen, Toverij en ketterij in Philipp von Zesens Beschreibung der Stadt

196 Pontanus hatte den Leserappell ganz anders eingerichtet. Er war auf Entdeckungsfahrten versessen und kam mit der Seefahrt nach China und der ersten Fahrt nach Ostindien auf seine Kosten. In seinem Amsterdam-Buch hat er auf vielen Kupfern die seltsamen Menschen und Tiere großformatig abbilden lassen, die Exotik der Beschreibungen und die Asiatischen Abenteuer leisteten Ähnliches wie die Erzählungen Zesens, nur dass dieser die Stadtgrenzen nicht verlässt. Anlässlich des West-Indischen Hauses spannt sich bei ihm der Blick über See, als wäre es ein Kommandoposten.51 Rhetorisch gebaute Perioden spiegeln die Macht und Gewalt dieses Hauses, man musste seinen Platz nicht verlassen, um weltweite Herrschaft bis nach Brasilien auszuüben. Solche Stilentscheidungen zeugen von einer sicheren Hand. Sie verknüpft die Fäden zum poetischen Band, das die einzelnen Partien einfärbt. Die blumenreiche Sprache mit der Tagesanbruch-Metaphorik setzt sich im jeweiligen Anfangsteil der fünf Bücher fort. Im dritten wird die Fabel von der Abfolge der eisernen, kupfernen, silbernen und goldenen Zeit zum Einsatz gewählt und fortgeführt: »als sie itzund ihr köstlich gekröhntes heupt aus den sumpfichten schilflachen / und dumpfichten biesen-tählern / gleich als ein gedrükter / doch nie untergedrükter Palmbaum / in die heutere luft zu erhöben begunte.« (219) Wie eine schön geschmückte Braut begrüßt sie das vierte Buch: »Die Stadt Amsterdam erhub sich aus ihrem gesümpfe von zeit zu zeit / mit überaus köstlichen heusern / immer höher und höher in die luft […] daß sie / als eine junge geschmükte braut […] die augen der anschauenden verblendete / ja die sinnen der betrachtenden entzükte.« (318) – So wird das fünfte Buch, zunächst in den üblichen Ton gestimmt, mit einem Verweis eröffnet, den man fast überhört hätte, weil man sich auf lauter Lob eingestellt hat: »Wiewohl in einer stadt / da der märkte Kuhrgötze [i. e. Mercurius] täglich / und so gar feierlich / als in dieser / angebähtet wird / die freihen künste und hohen wissenschaften anders nicht / als über die schulter angesehen /ja angeschielet werden: so hat doch die viel weisere Obrigkeit / als heupter des schwachen völkleins / dieselben / mitten

51

Amsterdam (1664), in: Fred de Bree, Marijke Spies en Roel Zemel (ed.), ›Teeckenrijcke Woorden‹ voor Henk Duits. Opstellen over literatuur, toneel, kunst en religie, meest uit de zestiende en zeventiende eeuw. Stichting Neerlandistiek VU/Amsterdam & Nodus Publikationen Münster, 2002, S. 175–196; Marijke Gijswijt-Hofstra / Willem Frijhoff (ed.): Nederland betoverd. Toverij en hekserij van de veertiende tot in de twintigste eeuw. Amsterdam 1987. »[…] daß man von hieraus West-Indien erobern / und besitzen kan. […] Daß man von hieraus so viel gewaltige Städte auf jener seite des Mittel-strichs überwältigte / so viel Bresilische häfen/ ströhme / seebuhsemen / festungen / ja gantze Inselen […] in der vereinigten Länder gewalt gebracht / das hatte man allein diesem hause zu danken. […] Endlich hat es auch dieses Haus so weit gebracht / daß die Niederländer in der ferne noch itzund eine neues Niederland / weit über see / besitzen / und alda mit andern Holländern ümgehen.« (S. 292–293)

197 unter den berauchten götzen-höhen / schon längst zu erhöben begonnen.« (427) Gemeint ist die Gründung der Freischule im Jahr 1631, als die Stadt die Gelehrten Vossius und Barlaeus verpflichtete und »vermittelst dieser helscheinenden Lichter« die Schule als städtisches Bildungszentrum auszustatten begann. Am Schluss erwähnt Zesen stolz die großen Geister der Stadt (unter ihnen auch Schriftsteller wie D. V. Coornhert, P. C. Hooft, H. L. Spiegel), aber im Unterschied zu Dapper erläutert er ihre historische Bedeutung und – was wohl das Wesentliche ist – nimmt sie in sein narratives Konzept auf. Wo man im Ausland manchmal glaubt, Amsterdam sei aufgrund der damals aktuellen Klimatheorie (kaltes Wasser, grobe Erde) zu geistigen Höhenflügen nicht imstande, wird man eines Besseren belehrt: Und hieraus siehet der Leser / daß diese Stadt eben so wohl Gelehrte Leute […] als andere / die bloß an der nichtigen unedelen erde kleben / und / nach dem ausspruche der heiligen Schrift / das werk der Welt befördern / erzielen kan: also daß man ihrem ruhme diesfals zu kurtz tuhn solte / wan man / nach etlicher Ausländer einbildung und wahne / so weit ginge / daß man alle ihre eingebohrne zu den hohen himlischen wissenschaften / üm der harten / mit den eigenschaften des kühlen wassers und der groben erde vermischten luft willen / gantz untüchtig [i. e. ungeeignet] zu sein urteilen wolte. (507)

Zum narrativen Konzept Zesens gehört auch die Erzählerfiktion des Spaziergangs durch das »weltberufene Amsterdam« mit »allen seinen gassen«: »Ich habe […] durchwandelt«. (7) Am Schluss des Buches rundet sich das Bild des Rundgangs, indem das »Wandeln« wiederaufgenommen wird: »Und also haben wir die gantze stadt durchwandelt / und alle ihre große und kleine graften / gassen / und stege […] betrachtet.« (473) Der so natürlich anmutende Redegestus ist ein Kunstgriff, der der Stadtbeschreibung einen Anstrich der Natürlichkeit geben sollte. Zu diesem Stil passt der variationsreiche Duktus, der bald mit prächtigen und mit künstlerischer Konsequenz durchgehaltenen Metaphern, bald mit den natürlichsten Worten Bericht und Erzählung zusammenhält. Es wird beispielsweise von einem Ehepaar erzählt, das von seinem gesammelten Reichtum den großen Gasthauskomplex (das »Gast= und Kranken-haus«), das Waisenhaus und das Armenhaus finanziert hat. Aber auch hier geht es nicht ohne Nasenstüber ab: Es scheinet zwar fast allen Niederländern / sonderlich denen / die in der harten und rauen seeluft dieses winkels wohnen / gleichsam angebohren zu sein / daß sie ihre höchste ehre / ja ihr höchstes guht zu sein achten / wan sie durch übermäßigen fleis und spahrsamkeit / oder vielmehr geitziges zusammen-schrapen / und fültziges kargen / zu einem großen reichtuhme gelangen können. Doch gleichwohl schien sie diese frau / samt ihrem manne / sämtlich zu übertreffen: indem sie so ärmlich und elendiglich lebte / daß sie kaum einen pfennig vor ihren mund ausgeben wolte. […] Und auf eine solche weise kahmen sie alle beide mit der zeit zu einem großen reichtuhme. Aber das allerverdamlichste an ihnen war dieses / daß sie ihren armen bluhtsfreunden nichts darvon gönneten: indem sie alles / aus eiteler scheinheiligkeit / an öffendliche armen vermachten; damit ihr erkargtes großes guht […] ihnen einen großen nachruhm machen möchte. (422 f.)

198 Solch einfach-natürlicher Stil in der angenehmen Atmosphäre eines ausschweifenden Erzählers macht die flüssig erzählte Anekdote zum Ruhepunkt im Bericht. Zesen verfügte über eine beträchtliche stilistische Palette, die mit Geschick genutzt wird und den Leser nach dem Prinzip ›variatio delectat‹ vergnügt und belehrt.52 Manchmal meint man sogar, dass der Stil unmittelbar vom Inhalt bestimmt wird. In dieser Hinsicht ist die lakonische Art der Darstellung, welche die strengen Verordnungen der Stadtbehörden ohne Umschweife anzeigt, in auffälliger Übereinstimmung mit dem Aussagegehalt. Als Zesen im vielgepriesenen Gebäude der Neuen Waage die eigene »Kammer der Heilmeister oder Wundärtzte « beschreibt, heißt es zu ihnen, dass sie »alda wöchendlich zwei mahl erscheinen müssen unterweisung in der Heilkunst / auch Entgliederkunst zu empfangen; und / wan sie aussen bleiben / in eine gesetzte buße verfallen« (138 f.). Die Befolgung der rhetorisch-stilistischen Decorumvorschriften lässt hier ihre Entsprechung in der Lebenspraxis erkennen. Tatsächlich war der soziale Status jener Berufsgruppe nicht sonderlich hoch, der Verwaltungsapparat kannte eben die Verhältnisse.53 Mit solchen und ähnlichen Informationen, quasi nebenbei mitgeteilt, schuf sich Zesen ein Höchstmaß an beglaubigender Darstellungsstrategie. Was in dieser Stadtbeschreibung, die eine Dankesgabe an die Stadtoberen sein sollte, in aller Deutlichkeit hervortritt, ist die Bewunderung für dieses politische Gebilde, die »Perle des Landes.« Die Austarierung der sozialen Kräfte zum frühneuzeitlichen modernen Stadt-Staat war alles andere als eine glatte Selbstverständlichkeit. Die Stadt hatte damals (um 1700) mehr Immigranten als heute [!] und war ein »Schmelztiegel« vieler europäischer Nationen und Sprachen. Man muss die Klugheit der Bürgermeister bewundern, die diesen sozialen Kosmos einer bereits modernen Metropole umsichtig und weise zu leiten und sich dazu genügend Autorität zu verschaffen wussten. Die sicher nicht immer leichten Koexistenzbedingungen von Trägern verschiedener Kulturen und Mentalitäten boten manche Möglichkeiten der Konfrontation, machten aber andererseits die kulturelle Vielfalt der Stadt aus, die international zu ihrem Ruhm beigetragen hat.

52

53

Die Meinung Christian Gellineks, dass Zesen die Arbeit verschiedener »Vorübersetzer« lediglich »synchronisiert und geglättet« hätte, teile ich nicht. Europas Erster Baedeker: Filip von Zesens Amsterdam 1664, mit einer Einleitung hg. von Christian Gellinek. New York / Bern / Frankfurt am Main / Paris1988, S. XI. Zum leicht gespannten Verhältnis zwischen den promovierten Ärzten und den Wundärzten in Amsterdam (»chirurgijns«) vgl. Frijhoff / Spies, 1650, S. 207.

7.

Frömmigkeit und Zeitgeschmack

7.1

Zum Begriff Erbauungsliteratur1

Die deutsche Erbauungsliteratur – ein Sonderfall der Gebrauchsliteratur – stellte im 17. Jahrhundert den größten Anteil der Buchproduktion. Es ist kaum ein Autor zu nennen, der sich daran nicht in irgendeiner Form, es sei Lyrik oder Prosa oder Beides, aktiv beteiligt hätte. Es ist ein Sammelbegriff, der nahezu alle literarischen Gattungen umfassen kann. Trotz der Unschärfe des Begriffs in seinen verschiedenen historischen Ausprägungen, Erscheinungsformen und differenzierten Funktionen hatte diese Literatur eine offenkundig große Breitenwirkung, namentlich in den deutschen Gebieten lutherischer Konfession. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft umschreibt es kurz und kernig: »Literatur, die dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung in christlicher Lebensführung dienen will.«2 Das ist weit genug gefasst, um ihre spezifischen Formen in der Frühen Neuzeit einzubeziehen und in Spezialforschungen aufzuschließen.3 Die Glaubens- und Frömmigkeitsschriften treiben in Gemeinden gleicher Konfession Gemeinsamkeit und Interdependenz voran, können aber auch infolge von Spannungen in der Umwelt, etwa aufgrund unterschiedlicher Konfessionskultur, Spannungen auslösen. Es empfiehlt sich deshalb, sie in ihren historischen Kontext hineinzustellen und möglichst praxisorientiert zu erschließen. Die Erbauungsliteratur nimmt in ihrer Praxisbezogenheit an der theologischen Geistesgeschichte teil, indem sie es sich zur Aufgabe macht, den Leser zu belehren, zu ermahnen und zu trösten. Sie hat also eine eminent wichtige soziale Funktion.  1

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Vgl. Andreas Solbach (Hg.): Aedificatio. Erbauung in der frühen Neuzeit in Literatur, Kunst und Musik. Tübingen 2005. Reallexikon. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. v. Klaus Weimar. Berlin / New York 1997. Bd. I, Art. »Erbauungsliteratur« (Susanne Schedl, Dietz-Rüdiger Moser), S. 484–488, hier 484. Hier seien nur einige Titel genannt. Berndt Hamm: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1982; Wolfgang Brückner u. a. (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 1985. 2 Bde. (Kongressbände Wolfenbüttel); Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. In: Rhetorik 5 (1986), S. 97–113; Carsten-Peter Warncke: Die Seele am Kreuz. Emblematische Erbauungsliteratur und geistliche Bildkunst. In: Vestigia Bibliae 2 (1980), S. 159–202.

200 Dass ein Bündel von Faktoren als ursächliche Begründung der »neuen Frömmigkeit« in der Frühen Neuzeit ab ca. 1600 geltend zu machen ist, mag unmittelbar einleuchten. Nur herrscht in der historischen Forschung keine Einigkeit über die präzisen Entstehungsgründe einer »Krise«, auf die das ungeheuer umfangreiche geistliche Schrifttum die ›Antwort‹ wäre. Dessen ungeachtet spricht man allgemein von einem damaligen Krisenbewusstsein. Die Thesen von E. J. Hobsbawm und H. R. Trevor-Roper4 wurden öfter kritisiert, etwa von Hartmut Lehmann in Christentum und Gesellschaft. (Bd. 9). Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot.5 Manchmal hat man den Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert als tiefe Zäsur in der europäischen Wirtschaftsgeschichte dargestellt (man denke an Max Webers These vom Zusammenhang von kapitalistischem Geist und Calvinismus). Aber auch dann ist das Bild einseitig. Denn es geht (so Herfried Münkler) vielmehr um eine allmähliche »Desintegration der Institutionen« und einen »langsamen Umbau der Mentalitäten«: »Seuchen und Hungersnöte, Aufstände und Kriege, aber auch wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftlicher Wandel haben zu einer tiefen Krise der überkommenen Ordnung und der Lebensbilder der Menschen geführt.«6 War das 16. Jahrhundert im Allgemeinen eine Periode wirtschaftlicher Expansion und Blüte gewesen mit lediglich zeitweilig lokal begrenzten ökonomischen Erschütterungen, so ändert sich das Bild mit dem nächsten Zeitabschnitt. Das 17. Jahrhundert ist eine »Epoche wirtschaftlicher Stagnation, wenn nicht gar Depression gewesen«, deren Ursachen nach wie vor umstritten sind.7 Jedenfalls trifft der Begriff »Krisenzeit« für die Habsburger Monarchie ebenfalls zu: »Neben den Erfahrungen politischer, sozialer und konfessioneller Konflikte bedrücken Seuchen (Pestepidemie in Wien 1679), Erdbeben, Hungersnot, Stadtbrände, Hexenverfolgung das Leben und Denken der Menschen. Gegen diese Erfahrung von Unheil, Unordnung, Chaos, Zerfall der alten Wertordnung, der sogenannten ›alten teutschen Redlichkeit und Treue‹ setzen die Schriftsteller ihre beschwörenden Versuche zur Rettung der Reichs- und Heilsordnung im Sinne des biblischen Geschichtsverständnisses. Dies gilt vor allem für die Andachtsliteratur, die aus der Tätigkeit der Seelsorger und Prediger entstand und in unzähligen Traktaten, Postillen und Predigtsammlungen in allen Sprachen der Monarchie größte Verbrei 4

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Hobsbawm: The Crisis of the Seventeenth Century. In: Trevor Aston (Hg.): Crisis in Europe 1560–1660 (1965); Trevor-Roper: The General Crisis of the Seventeenth Century. Auch deutsch: Trevor-Roper: Religion, Reformation und sozialer Umbruch (1970), S. 53–93. Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Stuttgart etc. 1980. Kap. III: »Not, Angst, Hoffnung.« Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S. 128. Münkler: S. 129.

201 tung fand.«8 Ob und inwieweit wirtschaftliche Entwicklungen für die sozialen und politischen Krisen der Zeit verantwortlich zu machen sind, ist noch eine offene Frage: »Daß den auffälligsten Krisenerscheinungen des 17. Jahrhunderts, der Häufung von Aufständen, Revolutionen und Kriegen – der englische Bürgerkrieg, die Fronde in Frankreich, die Aufstände in Katalonien und Portugal, Neapel und Palermo, die Niederlage des Hauses Oranien in den Niederlanden und, vor allem, der ganz Mitteleuropa verheerende Dreißigjährige Krieg – mit wirtschaftlichen Erklärungen auf den Grund zu kommen sei, wird von nicht wenigen Historikern bezweifelt.«9 Lehmanns Krisenbegriff rechnet mit einer Periode von etwa 1600/20 bis 1720/40, sie beinhaltet »eine langanhaltende Schwächung der Kräfte,« »eine generelle Reduktion des Lebensstandards, eine Bedrohung der Lebenssicherheit und ein Nachlassen des Lebensmuts. […] Gemeint ist […] eine Strukturkrise von Gesellschaft und Kultur, die fast alle europäischen Länder erfaßte und etwa vier Generationen dauerte, eine […] lange Periode mit ganz besonderen geistigen und religiösen Einstellungen und mit ganz besonderen sozialpsychologischen Problemen.«10 Es sind hier für Deutschland die Reformation und die Bauernaufstände (Thomas Müntzer u. a.)11 zu nennen, ebenso die katholische Gegenreformation, beides in den 30-jährigen Krieg einmündend. Kriege und in ihrem Gefolge Seuchen haben sowohl den Bevölkerungswachstum wie die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt. Die anhaltende ökonomische Depression und die drückenden Finanzlasten, die von der Bevölkerung getragen werden mussten, haben selbstverständlich die Mentalität verändert: »Der im 16. Jahrhundert dominierende Glaube an den Fortschritt war im 17. Jahrhundert offensichtlich gebrochen, die Selbstsicherheit der Europäer dahin; jetzt, im neuen Säkulum, dominierten nicht mehr Zuversicht und Hoffnung, sondern Sorge und Angst, jetzt dominierte nicht mehr das Leben, sondern der Tod.«12 Hier hatte die nachreformatorische Kirche eine große und bedeutende Rolle. »In der damaligen Gesellschaft war es die christliche Theologie, die eine Überwindung von Angst durch neue Hoffnung lehrte, es war die christliche Tradition, die religiöse Praktiken vermittelte, um Angst zu verarbeiten, es waren die Kirchen und ihre Repräsentanten, an die sich die Menschen in Not und Angst um Rat und Hilfe wandten. Als die Krise des 17. Jahrhunderts Europa erfasste, war deshalb keine gesellschaftliche Institution so sehr gefordert wie die Kirche, wurde kein Element der europäischen Tradition  8

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12

Dieter Breuer, in: Herbert Zeman (Hg.), Literaturgeschichte Österreichs von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart. Graz 1996, S. 231. Münkler, S. 130. Lehmann (wie Anm. 5), S. 108 f. Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Hg. v. Winfried Schulze. Frankfurt a. M. 1982. Lehmann, S. 111.

202 so sehr geprüft wie das Christentum. Die Krise des 17. Jahrhunderts war deshalb von entscheidender Bedeutung für das Christentum zwischen Reformation und Aufklärung.«13 Man darf erwarten, dass es zu zeittypischen Reaktionen kam, die verschiedene Spielarten des christlichen Denkens und spezifische Formen des christlichen Lebens zum Ausdruck brachten: Zunächst die Hinwendung zu erbaulicher Literatur, die in der Not Trost versprach, dann die Erneuerung der Eschatologie, ferner die Unterdrückung jener Kräfte, bei denen man die Schuld für das ganze Übel suchte, dann die Absicht, durch besondere Leistungen das Elend zu bannen und schließlich der Versuch, durch neue und wissenschaftliche Einsichten die grundlegenden Elemente der Weltordnung zu erkennen und dadurch das Chaos zu überwinden.14

Man kann also mit Lehmann ohne weiteres für die Vorstellungen von einer Glauben und Lebensführung verbindenden Frömmigkeit, von einer »neuen Epoche christlichen Selbstverständnisses« sprechen.15 Es muss kaum eigens erwähnt werden, dass man in Europa, insbesondere in Deutschland, mit einem nahen Weltende rechnete und im weitesten Sinn an den Tod gedachte, das heißt, sich regelmäßig (wenn es irgend ging: täglich) auf ihn vorbereitete, wie es sich gehörte: mit Buße und Reue.16 Mit diesen wenigen Strichen mag der Interpretationshintergrund der Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert genügend skizziert sein. Ein Großteil von Zesens geistlicher Lyrik besteht aus Liedern, die für die Privatandacht bestimmt sind. Der Melodiesatz des Andachtslieds – »Oberstimme« und bezifferte »Grundstimme« – wird eigens für das Lied komponiert und bildet mit dem Text eine Einheit. Die Darbietungsform verweist auf die Praxis privater Frömmigkeitsübung, die für das 17. Jahrhundert in mehr als einer Hinsicht charakteristisch ist. Der Musik kommt eine spezifische Funktion zu, sie ist keineswegs um ihrer selbst willen hinzugefügt und ist alles andere als eine ästhetische Zutat. Trotz der Strenge der musikalischen Rationalität, trotz auch der Herrschaft der musikalischen Rhetorik, der sie unterworfen ist, wurde Musik in ihrer Affekthaltigkeit erfahren 13 14 15 16

Lehmann, S. 112. Lehmann, S. 113. Lehmann, S. 114. Verf.: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barockdichtung. Groningen 1966; Martin Knauer: »Bedenke das Ende.« Zur Funktion der Todesmahnung in druckgraphischen Bildfolgen des Dreißigjährigen Krieges. Tübingen 1997. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 58); Zur Mentalität auch: Ferdinand van Ingen, Bußstimmung, Krisenbewusstsein und Melancholie – Deutungsmuster der Frühen Neuzeit? In: Pietismus und Neuzeit, Band 32, S. 57–78; ders.: Poesie der Trauer. Zeitgenössische Literatur im Reich. In: Horst Lademacher / Simon Groenveld (Hgg.): Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648. Münster / New York / München / Berlin 1998, S. 347–364; Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der ›meditatio mortis‹ in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004. (Frühe Neuzeit, 90)

203 und konnte eben deshalb zum bevorzugten Instrument der Andacht werden. Das erklärt die hervorragende Funktion der Musik im religiösen Bereich, auch außerhalb der Kiche, im kleinen häuslichen Kreis, wo man (neben gern gesungenen weltlichen Liedern) im geistlichen Gesang beschauliche Stunden erlebte und zur Ehre Gottes musizierte. Die ›Macht der Töne‹ über das Gemüt wurde zur Bewegung des Herzens und zur Ausrichtung auf dasjenige, was über die Welt der sichtbaren Dinge hinausgeht, voll eingesetzt.17 Als wichtigste Wirkungsbestimmung der Musik galt die Freisetzung der Gemütskräfte, die zum Göttlichen hin zu leiten waren. Deshalb war der Weg über Herz und Gemüt zu bahnen, nicht über die Vernunft. Dank ihrer Wirkung auf die Affekte fiel der Musik im geistlichen Lied die Aufgabe zu, die Worte im Herzen zum Erklingen zu bringen. Eine »herz-bewegende« Kunst im Sinne religiöser Erbauung war somit das erklärte Ziel.18 Der musikalische Rostocker Pfarrer Heinrich Müller (1631–1675) gab seinem Buch den Titel Heilige Seelen-Musik (1659), der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) verfasste Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649). Zu diesem Zweck wird die Musik im Dienst Gottes in Vorreden und Betrachtungen der Sphäre des Sakralen zugeordnet und von ihrem weltlichen Gebrauch abgegrenzt. Der Pfarrer und Kirchenlieddichter Johann Rist (1607–1667), in religiösen Dingen ein Feind der beliebten Tanzweisen, mit denen die Jugend sich zu ›verlustieren‹ pflegte, nimmt mit resoluten Worten den Zusammenhang mit der in der Bibel überlieferten Musikpflege in Anspruch und baut die biblische Grundlage zum verpflichtenden Vorbild auf. Als christlicher Liedersänger stellt er seine Arbeit in die Tradition der Sänger des Alten Testaments: O wie mag doch manchem Gottliebenden Menschen das Hertz vor Frewden gesprungen und gelachet haben/ wenn die Kunstreiche königliche Capellmeister/ als der Assaph/ Hemar und Jedithun/ so viel tausend heiliger Priester und Leviten/ auff Harffen/ Cimbeln/ Posaunen/ Psaltern/ Paucken und Trommeten haben spielen und 17

18

Irmgard Scheitler hat in ihrer Studie »Das geistliche Lied im deutschen Barock« (Berlin 1982. Schriften zur Literaturwissenschaft, 3) darauf hingewiesen, dass nach Meinung der Dichter und Musiker im 17. Jahrhundert die Musik als die angestrebte »Lieblichkeit« die »Andacht« des Textes unterstütze. Sie zitiert (nach Bunners, s. die folgende Anm.) aus einer Musikpredigt der Zeit den notwendigen Verbund: »Liebligkeit sol beym Gesang seyn/ ohn Liebligkeit bewegt er nicht viel/ Andacht muß aber auch bey der Liebligkeit seyn/ Liebligkeit ohne Andacht gefället Gott nicht/ Andacht ohn eusserliche Liebligkeit gefället Gott wol/ wann aber Andacht und Liebligkeit beysammen/ gefellt es ihm desto besser/ ist auch desto mehr zu rühmen und zu preisen« (Zit. S. 140 f.). Das Original: Sonderbarer Predigten von unterschiedenen Materien … Erster Theil. Leipzig 1632, S. 233. Der Autor ist der Ulmer Superintendent Cunrad Dieterich (1575–1629) Christian Bunners: Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zur Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1966 (Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung, 14)

204 blasen/ die andern aber so wunderschöne himmlische Lieder und außerlesene Psalmen mit lauter und frölicher Stimme/ in die/ theils frewdige/ theils liebliche Instrumenten singen lassen.19

Der Rückgriff auf die biblische Vorzeit ist der Orientierungspunkt, dem in Rists Argumentationsführung noch dazu die Himmelsmusik der Engel und erlösten Seelen beigegeben wird. Diese ist ein Vorklang der Zukunft einer Christenseele in der jenseitigen ewigen Freude, sie erinnert in der ›Zwischenzeit‹ an die verheißene Herrlichkeit des Dereinst: Ja/ was wird es künfftig für eine unaußsprechliche/ ja unaußdenckliche Frewde und Herrligkeit seyn/ wenn wir im andern und ewigen Leben/ bey der Gesellschafft so vieler tausend himmlischer Singer der lieben heiligen Engel und Außerwehlten Gottes unsere gantz vollkommene Stimmen erheben/ und die allerheiligste Dreyfaltigkeit ohne Auffhören werden loben und preisen.20

So wollen Rists Himmlische Lieder gleichsam eine Brücke zwischen den Zeiten bauen. In der »heiligen Singekunst« wehe der »Geist Gottes«, der durch die heilige Betrachtung in unseren Herzen angezündet werde und uns lehre, »alle Eitelkeiten der Welt verachten.« Sodann rufen sie ihren Ursprung ins Gedächtnis: Ihre Elemente entstammen »der himmlischen Music« und der »unsterblichen Poesy«. So vermögen sie den Menschen über die Zeit und die Weltdinge hinauszuheben. Ähnlich argumentierte auch der Nürnberger Sigmund von Birken in der Vorrede seiner Poetik Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst (1679). Das ist Möglichkeit und Anspruch zugleich. Solche und ähnliche Spekulationen sicherten der Musik einen festen Platz in der Frömmigkeitsbewegung jener Zeit. Sie haben nicht nur den Gebrauch von Singstimmen und Instrumenten im Bereich von Andacht und Erbauung legitimiert, sondern auch wesentlich gefördert. Ihnen ist die Blüte des religiösen Sololieds zu verdanken, die in den deutschen Landen dem Vordringen der italienischen Oper Widerpart bieten konnte. Das Kräftespiel zwischen weltlicher und religiöser Musik erklärt die Vehemenz der Argumentation, mit der man auf der Seite jener Dichter und Musiker, die sich der Sache Gottes in der Welt widmeten, für die »heilige Singekunst« optierte. Als »Seelenmusik« verstanden erhält die musikalische Kunst ihre funktionale Bedeutung in der Förderung der individuellen Frömmigkeit, die man nicht einseitig pietistischen Bestrebungen allein zuschreiben sollte. Die ›Andachtskultur‹ des 17. Jahrhunderts macht sich die Begeisterung für neue Formen des musikalischen Ausdrucks und die Vorliebe für die Violine als ausdrucksstarkes Instrument zunutze. Sie ging darin durchaus mit der Zeit 19

20

Johann Rist: Himlische Lieder. Mit sehr anmuhtigen/ von Herrn Johann: Schopen/ dero löblichen Stadt Hamburg Capellmeistern gesetzten Melodeyen. Das Erste Zehn. Lüneburg 1650. Fol. A iij. Rist, ebd.

205 und gab sich betont modern. Das begründet das ständig wachsende Interesse für Sammlungen geistlicher Texte mit Musik. Der Einsatz von Musik im Dienst der Privatandacht führte somit zu einer neuen Wertschätzung beider Künste, wo es um die gezielte Führung der Gläubigen ging, die der Vernachlässigung von Gottesdienst und Andacht, beziehungsweise (glaubt man den unzähligen Zeugnissen) der grassierenden Glaubenskrise das Haupt bieten sollte. Die damals mit Recht empfundene Modernität des geistlichen Lieds spiegelt die Attraktivität solcher Verbindung der Künste. Im damaligen Verständnis ist die Musik das geeignete Mittel zur Erhebung des Herzens, auch wenn die Worte schlicht und einfach sind. Heinrich Müller drückt das mit wenigen Worten aus: »Die Krafft des Gesangs liegt nicht in den Worten des Mundes/ sondern in der Andacht des Hertzens.«21 Die Musik ist bei Müller die ›conditio sine qua non‹ für die Vorbereitung der Seele auf das himmlische Leben, denn nichts führe »das Gemüth so schnell und empfindlich in den Himmel/ als der Gesang.«22 Mit der Zielrichtung auf das Herz entspricht das geistliche Lied den subjektiven und individualisierenden Tendenzen des Erbauungsbuchs. Dieses hatte schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zusehends massiver im 17., mystisches Gedankengut aufgenommen, das so auch dem neuen geistlichen Lied zur Verfügung stand. Das Herz (bzw. die Seele) als der Ort der Begegnung mit dem Göttlichen und die Feuer- oder Flammenmetaphorik, die das Einströmen und Wirken des Heiligen Geistes bezeichnete, dringen auch in die Titel geistlicher Lied-Sammlungen ein und stellen die Verbindung zur Andachtsliteratur her. Harsdörffer veröffentlichte Hertzbewegliche Sonntagsandachten (Nürnberg, I 1649, II 1652), Angelus Silesius eine Heilige Seelen=Lust/ Oder Geistliche Hirtenlieder (Breslau 1668), Johann Rist ein Musicalisches Seelenparadis (Lüneburg 1662), Heinrich Müller eine Geistliche SeelenMusik (Rostock 1659). Der Nürnberger Pastor Johann Michael Dilherr (1604–1669) nannte seine »Andachten/ Gebet/ und Seufzer« Göttliche Liebesflammen (Nürnberg 1654), Heinrich Müller seine »Zehen Geistliche Liebes=Lieder« Himlische Liebes=Flamme (1659).

7.2

Gekreutzigte Liebsflammen

In diese Tradition sind Zesens geistliche Lieder einzuordnen. Das Gegenstück zu den Dichterischen Jugend=Flammen von 1651 trägt den Titel Gekreutzigte Liebsflammen und ist 1653 (ebenfalls in Hamburg) erschienen. Johann Schop, Rists ›Hauskomponist‹, steuerte Melodiesätze bei, die meis21

22

Heinrich Müller: Geistliche SeelenMusik Bestehend In zehen betrachtungen […] mit allerhand schönen/ unter andern fünfzig gantz neuen Melodeyen gezieret. Rostock 1659. S. 143. Müller: Vorrede, fol. )( 6r.

206 ten stammen jedoch von Peter Meier. Der Titel verweist auf Anna Maria van Schurman (1607–1678), die europaweit berühmte Utrechterin. Sie gehörte als gelehrte Frau schon früh zu den namhaften Kreisen der Gelehrtenrepublik, insbesondere als theologische Expertin. Sie war die Schülerin des Gisbert Voetius, der ihr auch die Gelegenheit verschaffte, heimlich an den Vorlesungen teilzunehmen und die akademischen Dispute zu hören, was üblicherweise Frauen verboten war. Voetius gab ihr als Mentor die Möglichkeit, seine große Privatbibliothek zu benutzen. Auch besaß sie außerordentliche Sprachkenntnisse, schrieb und sprach selbstverständlich Latein und Griechisch, beherrschte daneben auch orientalische Sprachen; sie verfasste Gedichte, so etwa – auf Einladung von Voetius – zur Eröffnung der Utrechter Universität. Ihre Gedichte, sowohl lateinische als niederländische, genossen Ansehen bei Gelehrten im In- und Ausland. Sie war befreundet mit bekannten niederländischen Gelehrten und Dichtern (Jacob Cats, Constantijn Huygens, Caspar Barlaeus, Daniel Heinsius, Jacob Revius, Pieter Hooft, u. v. a.). Auch hatte sie Bewunderer in Frankreich, etwa den bekannten Dichter Guillaume Colletet, der später Van Schurmans briefliche Debatte mit André Rivet über die Bildungsmöglichkeiten von Frauen ins Französische übersetzte: ihre in mehreren Übersetzungen bekannt gewordene Amica dissertatio […] de ingenii muliebris ad scientias, et meliores literas capacitate (Paris 1638). Der Dordrechter Arzt Johan van Beverwijck veröffentlichte ihre (von ihm erbetene) Antwort auf die Frage De vitae termino, eine gelehrte theologische Abhandlung über die Prädestination (Beverwijck: Epistolica quaestio de vitae termino, fatali, an mobili? 3. Teil, Leiden 1639). Kurz: Anna Maria van Schurman war gelehrt und berühmt. Vermutlich hat der Utrechter Steven van Lamsweerde, der schon 1644 Mitglied von Zesens Deutschgesinneter Genossenschaft wurde, Zesen die Bekanntschaft mit der Schurman vermittelt. Lamsweerde hat einen Kupferstich verfertigt, der die Schurman vor dem Hintergrund des Utrechter Doms zeigt, in dessen direkter Nähe sie ihre Wohnung hatte. Schon Zesens Poetik von 1649 (Deutscher Helicon) enthielt ein Lied »Auf den wahl-spruch der wohl=edel=gebohrnen und hoch=gelehrten Jungfrauen/ Jr. Annen Marien von Schürman« (wiederholt in der Helicon–Ausgabe von 1656).23 Das Lied eröffnet ebenfalls die Sammlung geistlicher Gedichte, die den Spruch in ihren Titel aufnimmt: »Meine Liebe ist gekreutziget worden.« Welt/ tobe/ wie du wilst/ und wühte/ mein ziel bleibt dännoch unverrükt: mein sinn/ mein hertz und mein gemühte seind nie von deiner lust entzükt. Dan ob mich welt und lust schohn triebe/ bleibt doch gekreutzigt meine Liebe.

23

Sämtliche Werke, X/1, S. 306 f.

207 Die liebe / die vergänglich bleibet/ ist schohn aus meinen sinnen hin: ich bin derselben einverleibet/ Die / JESU / Dich führt zum gewinn. Dan ob mich welt und lust schohn triebe/ bleibt doch gekreutzigt meine liebe. Mein hertz ist himlisch nur gesinnet/ was weltlich ist/ bleibt unberührt. Die liebe/ die den preis gewinnet/ ist diese/ die zum himmel führt. Dan ob mich welt und lust schohn triebe/ bleibt doch gekreutzigt meine liebe. Ob ich der welt schohn bin verhasset/ weil mier verhasst ist/ was sie liebt; so leb’ ich doch mit lieb ümfasset von Dem/ dem sich mein Hertz ergiebt. Ja ob mich welt und lust schohn triebe/ bleibt doch gekreutzigt meine liebe.24

In einer ausführlichen Anmerkung wird die Herkunftsgeschichte des Spruchs referiert. Er entstammt dem Briefwerk des Bischofs und Märtyrers Ignatius von Antiochien.25 Mehrere Stellen im Neuen Testament drücken den Gedanken des Kreuztragens in der Nachfolge Christi aus (Mt 10,38) und drängen auf den inneren Nachvollzug seiner Kreuzigung zum Zeichen der Weltabkehr (Gal 6,14 und 2,19). Es war der Terminus technicus für eine Absage an die Welt, für restlose Hingabe an Christus und demütigen Gehorsam gegen Gott: »ich bin mit Christo gekreuzigt […] durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist« (Galaterbrief). Insofern enthält der Spruch ein zeittypisches Ferment asketischer Lebenshaltung. Ignatius hatte ihm in jener Prägung einen beherrschenden Platz in seiner Theologie eingeräumt, deren Themen Inkarnation, Kreuz und Abendmahl bilden.26 Für unseren Zusammenhang ist weder dessen erneute Aufnahme durch Anna Maria van Schurman noch die naheliegende Möglichkeit, den Sinngehalt an die lutherische »Theologia crucis« anzuschließen, ausschlaggebend. Der Spruch charakterisiert im 17. Jahrhundert allgemein einen breiten Bereich evangelischer Frömmigkeit.27 Die Bedeutung liegt vielmehr 24 25

26 27

Sämtliche Werke, I/2, S. 10. Ignatius von Antiochien: An die Römer, 7,2. Die apostolischen Väter. Eingeleitet, hg. u. erläutert von Joseph A. Fischer. Darmstadt 1964. S. 191. Schriften des Urchristentums, 1. Teil. Dazu: E. J. Tinsley, The »imitatio Christi« in the Mysticism of St. Ignatius of Antioch. Studia Patristica, Vol. II. Berlin 1957, S. 553–560. Vgl. den Artikel von William R. Schoedel in TRE 16 (1987), S. 40–45. Allgemein zum Thema: F. Tillmann: Die Idee der Nachfolge Christi. Frankfurt a. M. 1934; E. Kleinadam: Die Nachfolge Christi nach Bernhard von Clairveaux. In: Amt und Sendung. Hgg. E. Kleinadam, O. Kuß, E. Puzik. Freiburg/Br. 1950, S. 432–460; H. J. Schoeps: Von der Imitatio Christi, in: Aus frühchristlicher Zeit. Tübingen 1950, S. 286 ff.

208 darin, dass Zesen das religiöse Motiv der Weltabkehr, das zeitweilig sein eigenes Frömmigkeitsverständnis bestimmt haben mag, gleichsam nobilitierte und aktualisierte. Denn um diese Zeit vollzog sich der aufsehenerregende Schritt der Anna Maria van Schurman, der Welt der Bücher und der Gelehrsamkeit zu entsagen und sich der Sekte der Labadisten anzuschließen.28 Sie, die fast sagenhafte Gelehrte, blieb nicht nur ehelos (um sich ganz der Religion widmen zu können), sie publizierte weiterhin international: 1646 die französische Übersetzung des Rivet-Briefwechsels (Paris), zwei Jahre später die erste Auflage ihrer Opuscula (Leiden: Elzevier), bereits zwei Jahre später eine zweite, dann 1652 (bei einem Utrechter Verleger) eine dritte Ausgabe des begeistert aufgenommenen Werks. Der Inhalt der Opuscula enthielt auf deutsch ›Kleine Werke auf Hebräisch, Griechisch, Latein und Französisch‹. Herausgeber war der aus Amberg stammende reformierte Theologe Friedrich Spanheim, der 1642 auf einen Leidener Lehrstuhl berufen worden war. In ihrem religiösen Rechenschaftsbericht Eukleria (zuerst lateinisch Altona 1673) schrieb sie: Ich gestehe zwar, dass ich bisweilen, wenn ich Blümchen oder irgendwelche Insekten mit Wasserfarben malte […], meinen Geist ebenso auf himmlische Gedanken wie meine Hand auf Ausübung irdischer Dinge richtete. Aber doch füllte dies manchmal auch durch neue Einfälle mein Gehirn und sogar mein Herz so sehr aus, dass ich dadurch Gott in sich selbst oder in seinen Geschöpfen nicht leicht und anhaltend betrachten oder genießen konnte – und das hätte mir dann doch die Eitelkeit dieser Kunst vor Augen führen müssen.29

Als modernes Exemplum funktionalisiert, eignete sich die literarische Bindung an die Schurman für die moraltheologischen Zwecke von Zesens Sammlung. Jene Frömmigkeit im Zeichen des Spruchlieds konnte zum Vorbild einer asketischen Lebenshaltung dienen. In ihrem Zeichen verstehen sich die entsprechenden Textsignale. Hier fällt ins Gewicht, dass Zesens Zielpublikum, deutlicher vielleicht als das der oben genannten Autoren, sich hauptsächlich aus (vornehmen) Frauen zusammensetzte. In diese Richtung weist das Widmungsgedicht für Königin Sophia Amalia und das an exponierter Stelle stehende Spruchlied. Das frömmigkeitliche Programm war somit im Hinblick auf Frauen entworfen, und das war nicht ohne Einfluss auf die Gestaltung des Gesamtthemas: Rückzug aus der Welt aus Liebe zu Christus. So konnte zugleich 28

29

Schurman (1607–1678) ist eine der berühmten Frauen, die wegen ihres außerordentlichen Intellekts allüberall bewundert wurden. In Utrecht, wo sie lange wohnte, verkehrte sie u. a. mit dem Theologieprofessor Gisbert Voetius, der ihr Lehrer und Mentor wurde; hier ist auch Zesen mit ihr bekannt geworden. Von ihrer (späteren) Weltabkehr legte sie in einer gelehrten Schrift Rechenschaft ab: Eukleria sive melioris partis electio, 2 Teile, 1673 und 1685. Der Titel lautet in Übersetzung: Erwählung des besten Teils. Vgl. dazu Michel Spang: »Wenn sie ein Mann wäre.« Leben und Werk der Anna Maria van Schurman 1607–1678. Darmstadt 2009 (WBG). Zitiert nach Michael Spang: S. 135.

209 die Chance genutzt werden, das Zeitthema, das in Vanitas- und Mementomori-Ermahnungen seinen Ausdruck fand,30 konkreter und zeitgemäßer zu fassen. Mit Hinweis auf vornehm-gelehrte auctoritas und gestützt durch Bibelsprüche wie durch Zitate aus der patristischen Literatur (neben Ignatius noch Isidorus und Ambrosius) waren die Lieder eine Alternative für ›weltlich‹ gesinnte Gemüter. In allen seinen Schriften zeigt Zesen sich bemüht, ethische bzw. religiös-ethische Vorstellungen zu propagieren, die nicht nur zeitkonform waren, sondern in gleicher Weise an Zielvorstellungen appellierten, welche die Frau als die erzieherische Mitte der Familie auf überzeitlich-christliche Werte verwies. Sophia Amalia ist das erste Akrostichon gewidmet (»Sofiee Amalie Königin«): »Seufzer zum Könige aller Könige/ üm gnädige beiwohnung.« Weitere gelten einer Anhaltinerin (»Eva Katrin Fürstin zu Anhalt«), zwei unbekannten Damen und einem gewissen »Patrik Mohre«. Auf Persönliches lässt das Lied auf den Wahlspruch »seiner hertz-viel-geliebten Frau Mutter« schließen: »Dier leb ich/ Dier sterb’ ich«. Das Akrostichon ergibt »Dortee Zesens«, mit ihrem Lied werden die Akrostichon-Gedichte beschlossen. Der Spruch (nach Rö 14,8) fügt sich in den Themenkreis ein – »So leb’ ich hin/ so wil ich scheiden.« Die Glaubenshaltung der Schurman steht am Anfang, der Dank einer befreundeten Unbekannten am Schluss. Letzterer Text fasst die Wirkungsabsicht des Dichters in Form einer literarischen Danksagung zusammen: Herr Zesen/ Großer Freund; sein wohldurchkreutztes lieben hat dis mein welt-gemüht zur geistligkeit getrieben. Ich liebte lust der welt/ die mich zur höllen bracht/ nun lieb’ ich dieses kreutz/ das ewig-seelig macht.31

Der schmale Band ist ein wirkungsvolles Identifikationsangebot an alle Leserinnen der geistlichen Lieder. Motivlich suchen manche Lieder Anschluss an den beliebten Brautschaftsgedanken, der ein Bindeglied zu jener mystischen Tradition bildet, der auch Zesen verpflichtet ist. Er stellt sich in dieser Art Lyrik rasch ein, wo Weltabkehr mit dem Verlangen nach Einssein mit Christus begründet wird: »Seufzer einer frommen Seelen/ welche von der welt begehret aufgelöset zu werden und bei ihrem süßen Jesu zu sein.« Der hier apostrophierte »Seelen-Bräutigam« beherrscht alsbald das Feld: »Verlangen einer in Gott verliebten Seelen ihren himmlischen Bräutigam zu küssen.« Die »in Gott verliebte Seele« ist nichts anderes als der metaphorische Ausdruck einer 30

31

Nach Spang, ebd. S. 152 hat auch Angelus Silesius in seine Liedersammlung von 1657 Heilige Seelenlust ein Gedicht mit dem Titel »Ihre Liebe ist gekreuzigt« aufgenommen. Ed. Held, München 1949, S. 118 f. (Hl Seelenlust, 2. Buch Nr. LVI). Hier haben die vier Strophen den Kehrreim »Weil meine Lieb gekreuzigt ist.« Liebsflammen: SW I/2, S. 61.

210 Frömmigkeit, die auf Askese drängt und sich in den Wirren der Zeitlichkeit nicht von dem Ziel des Gläubigen, der ewigen Herrlichkeit, ablenken lässt. Diesem frommen Ziel dient die ganze sorgfältige Textstrategie. Eine im Luthertum verwurzelte Tradition konnte aufgegriffen und in die neue Form eines pietistischen Empfindens und »bräutlichen« Glaubensausdrucks gekleidet werden. Eine an das Hohe Lied anknüpfende, auf Jesus als Seelenbräutigam gerichtete Brautlyrik hatte im 17. Jahrhundert ungeheure Verbreitung gefunden. Im Anschluss an Johann Arndt war Heinrich Müller mit seiner Sammlung Geistliche Seelenmusik (1659) der führende Erbauungsschriftsteller einer Gruppe von lutherischen Dichtern, die auf Verinnerlichung und Individualisierung der Frömmigkeit drängten. Seine Lieder zielen auf ein »innerseelisches Bewegtwerden, das Müller […] gerne als ›Süßigkeit‹ kennzeichnet.«32 Zesen hat dem Brautschaftsthema eine eigene Dichtung gewidmet. Die Sammlung Salomons/ des Ebreischen Königes/ Geistliche Wohl-lust oder Hohes Lied, die zuerst in den Helicon-Ausgaben veröffentlicht worden war, wurde als Separatausgabe Amsterdam 1657 bei Kristof Kunraht gedruckt, mit der Titelblattangabe: »In Palmen= oder dattelreimen/ mit bei-gefügten/ vom fürtreflichen J. Schopen gesetzten sang-weisen/ auch kurtzen erklährungen des geistlichen verstandes; beides nach art der gespräch-spiele/ auf öffentlicher schau-burg fürgestellet.«33 Hier hat sich eine kurze Sammlung angeschlossen unter dem Titel Geistliche Seelen-Lust/ das ist Wechsel-gesänge zwischen dem himlischen Bräutigam/ und Seiner hertz-hochgeliebten Braut. Sie werden alle durch den gleichen innigen Ton zusammengehalten. Im metaphorischen Begriffsfeld verschmelzen die Motive. »Verachtung der welt-freude und verlangen nach dem ewigen seeligen Leben« kann sich in »Verlangen zu Gott«34 in denselben Ton einstimmen, und zwar im Schnittpunkt der Brautmystik. Schon Philipp Nicolai (1556–1608) hatte in seinen Frewden Spiegel deß ewigen Lebens (1599) ein entsprechendes Lied eingerückt: »Ein Geistlich Braut=Lied der gläubigen Seelen/ von Jesu Christo jrem himmlischen Bräutigam.« Dass bei Zesen ein Jesus-Lied Aufnahme findet (»Lob-lied des hoch-heiligsten nahmens JESU«),35

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Christian Bunners: Kirchenmusik und Seelenmusik, S. 125. Es wird hier verwiesen auf die von Winfried Zeller zusammengestellten Belegstellen für Süßigkeit / Dulcedo in seinem Beitrag: Paul Gerhardt, in: Musik und Kirche (1957), S. 161 ff., hier 168. Das Kapitel über Heinrich Müller (Teil III) ist betitelt: »Seelenmusik«. Eine historisch-kritische Ausgabe erschien in den Sämtlichen Werken, Bd. I/2. Weitere Ausgaben erschienen in der Schweiz: 1674 (Sonnleitner, Bern), mit einer dritten Stimme musikalisch erweitert (»Drey-gestimmter Zesischer Salomon. Das ist: Salomons […] Geistliche Wohl-Lust Oder Hohes Lied.« (Sonnleitner, Bern 1674). Ferner erschien eine weitere Ausgabe in Schaffhausen, 1706. SW I/2, S. 15 ff; 20 f. SW I/2, S. 26 ff.

211 macht die Zusammenhänge mit der bernhardinischen Tradition um so deutlicher.36 Was die Stillage des geistlichen Lieds betrifft, sind manche Forscher der Meinung, es sei nur der einfache Stil erlaubt, und das sei auch die allgemeine Überzeugung der Dichter des 17. Jahrhunderts gewesen.37 Das war jedoch nicht die allgemeine Meinung und ebensowenig der allgemeine Brauch. Andreas Gryphius, der größte Dichter jener Zeit, hat dem 4. Buch seiner Oden (1647), das die »Tränen über das Leiden Jesu Christi« zum Gegenstand hat, eine bekannte Vorrede beigegeben, in der er ausdrücklich sagt, er sei »der Meynung gar nicht zugethan/ die alle Blumen der Wolredenheit und Schmuck der Dichtkunst auß Gottes Kirche bannet/ angesehen die Psalmen selbst nichts anders als Gedichte/ derer etliche übermassen hoch und mit den schönesten Arten zu reden/ die himmlischen Geheimnüß ausdrucken.«38 Er verweist ferner auf das Hohe Lied, viele weitere Bibelbücher und auf die Dichtungen der Kirchenväter. Man wird also differenzieren müssen, wenn auch in bestimmten Gattungen tatsächlich der einfache Stil bevorzugt wird.39 In der Jesus-Devotion äußert sich jene Liebe zu Gott, die der hohen Gottesliebe antwortet. Sie führt häufig zu einer stilistischen Einfachheit, die einer Demutsgebärde entspricht. So ist es auch bei Zesen: »Du wirst hier wenig dichterische bluhmen und verzukkerungen/ sondern nur einfältige reden finden/ weil auch die göttliche Liebe keine andere erfordert« (Vorrede). So programmatisch diese Worte anmuten, sind sie indessen lediglich die fromme Formulierung eines poetologischen Sachverhalts.40 Denn die Zurückhaltung in der Ausschmückung der »verba« täuscht nicht darüber hinweg, dass stilistische Vollkommenheit (dem rhetorischen »decorum« gemäß) das selbstverständliche poetische Ziel darstellt. Perfektion im Poetisch-Sprachlichen war durchaus angestrebt, nur wurde sie nicht zur Schau getragen. So weist das »Weihnacht-Lied nach Pindarischer Art«: »Warüm ist der himmel offen?«41 betont kunstvolle Gestaltung auf. Es fand sich schon in Himmlische Kleio (1641) sowie – seit 1641 – in den 36

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Marie-Luise Wolfskehl: Die Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock. Gießen 1934. (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie, 34) Zur Diskussion Scheitler, Das Geistliche Lied, S. 121–147. Vgl. die grundlegende Kritik Krummachers: Probleme des geistlichen Liedes und seiner Poetik. Zur Kritik des Buches von Irmgard Scheitler. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hgg. Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Alberto Martino. 12. Band 1987, S. 273–295. Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, II. Bd: Oden und Epigramme. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1964, S. 98. Scheitler, S. 141 ff.; Bunners, S. 15–56. Zesen, SW I/2, S. 7. Irmgard Scheitler vertritt die These, dass die Stillage des geistlichen Lieds nicht einem niedrigen Stil entspricht, sondern dem ›genus medium‹: Das Geistliche Lied im deutschen Barock, S. 124–141. SW I/2, S. 38 ff.

212 verschiedenen Helicon-Ausgaben, in poetologischem Kontext also. Das geistliche Lied folgt den Gesetzen der Poetik und verzichtet nicht auf eine künstlerische Form. Die Zurückhaltung in der stilistischen Zier, auf die immer wieder hingewiesen wurde, ist eine ästhetische Qualität; sie wird regulativ bewirkt und bildet häufig geradezu das Spezifikum dieses Genres. Aufgrund der ornativen Bescheidung öffnet sie sich der Schwesterkunst: sie kommt dem musikalischen Ausdruck entgegen. Darin findet das geistliche Lied seine ihm immer wieder zugesprochene Qualität der »Lieblichkeit«, welche die »Andacht« nicht stört, sondern im Gegenteil fördert. Heinrich Müller möge auch hier der Gewährsmann für die so verstandene Wirkung geistlicher Lieder sein. Er hebt mit Hilfe eines Zitats hervor, dass »darinnen nicht allein gut Ding ist/ sondern auch in feine/ holdselige Worte gebracht/ und mit einer süssen Melodey gesungen.« Dann erst erreichen sie ihren Zweck: »Die Liebligkeit des Gesanges dienet dazu/ daß die Nutzbarkeit der schönen Worte durchs Gehör ehe ergriffen werden/ ehe wirs selber mercken.«42 Solche »Lieblichkeit« wird selbstverständlich vom ausdrucksstarken Wort gefördert, wenn es vorzugsweise im Motiv der »geistlichen Buhlschaft« den Schmelz des Wohlklangs mit der empfindsamen Situation verbindet. Zesen hatte das schon früh zu seiner Spezialität entwickelt. Zahlreich sind die Lieder, in denen er den situativen Augenblick der sehnsüchtig verlangenden Seele nach der Liebe ihres Himmelsbräutigams auskostet und in die weiche Tonlage führt. Auch in den Gekreutzigten Liebsflammen setzt er diese Kunst ein. Das Lied »Ach! wie so lang/ ach! wie so lange« gestaltet das Motiv der auf den Geliebten harrenden Seele. Ach! wie so lang/ ach! wie so lange/ mein Trost/ verweilest-du? mier wird auf erden angst und bange/ ich finde keine ruh. Mein hertz ist aus dem hertzen hin/ weil ich von Dier verlaßen bin.43

Der seufzende, rhetorisch effektvoll wiederholte Einsatz führt sogleich in die Mitte der Liebesklage; das leicht manierierte »mein hertz ist aus dem hertzen hin« verrät noch nicht den geistlichen Sinn. Erst die nächste Strophe, welche die nächtliche Verlassenheit metaphorisch als die »ErdenNacht« einer auf Erlösung hoffenden Welt verstehen macht, zielt direkt auf Christus. Er ist der Geliebte über das Irdische hinaus (»mein Trost«), das »Licht des Lebens«, »Licht der Welt« (Joh 8,12). Konnotiert wird die Vereinigung der Liebenden in der ›Neugeburt‹ der Auferstehung (»Lebens-

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Müller: Geistliche SeelenMusik, S. 90 f. SW I/2, S. 13.

213 Licht«), schließlich deren Tageshelle mit dem Glanz der ewigen Anschauung – »von angesicht zu angesicht« (1 Kor 13,12): Die liebe zwingt mich so zu klagen mit hochbetrübtem sinn. ach! spricht mein geist/ wan wird es tagen? wan ist die nacht doch hin? wan seh’ ich doch mein Lebens-licht von angesicht zu angesicht?

Zesen beherrschte die ganze Skala der weltlichen Liebeslyrik, seine Lieder waren beliebt, besonders in Hamburg. Er konnte aus dem Fundus schöpfen, den die deutsche Literatur inzwischen ausgebildet hatte. Er war der Dichter des eleganten Gedichts, das es in den gelungensten Texten mit dem esprit der Franzosen aufnehmen konnte. Das poetische Zeichensystem konnte leicht umfunktioniert werden, die Lyrik der Zeit bezog geradezu wesentliche Anreize aus doppelter Beziehbarkeit und spielerischem Doppelsinn. Zesen hatte seine Feder mit Erfolg für geistreiche Inventionen geschwungen. Ebenso beherrschte er die Kunst des spielerischen Andeutens im Sinne des dezenten Eros, wie es im biblischen Hohenlied als Beispiel für viele Bearbeitungen und Nachahmungen vorlag. Sie waren im 17. Jahrhundert ausgesprochen beliebt. Sie waren mannigfach applizierbar, und so haben sie sich auch der Sammlung der Liebsflammen mitgeteilt. Das Lied »Er küsse mich und laße spüren«44, das seit 1640 in den vier Helicon–Ausgaben erscheint, fügt sich gut in die Stimmungslage der Liebsflammen. Der Eingang nimmt die Anfangsverse des Hohenlieds auf (»Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes«) und zeigt damit die Richtung an, in der intertextuelle Bezüge die Liebesmotivik an die biblische Vorlage anbinden: Das Wegführen zum Stelldichein im Garten (Str. 2 – HL 5,1), der »rosen-krantz« (Str. 2 – HL 2,16; 6,2), das Kranksein vor Liebe (Str. 3 – HL 2,5; 6,2), das Vernehmen der geliebten Stimme (Str. 5 – HL 2,14; 5,2). Das geistliche Lied schöpft traditionsgemäß aus dem Hohenlied-Repertoire. ›Lieblich‹–schöne Metaphern (»den himmel-süßen lippentau«) und Kostbarkeitsmetaphorik (»o mein Rubien! o mein Topaß!«) geben der amatorischen Situation die Weihe, die zur herausgestellten Süßigkeit des Liebesleids passt: »liebes-schmertzen«, »liebes-last«, »die süßen schmertzen«. Die qualvolle Verlassenheit des Hohenlieds (5,6) findet ihren gemäßen Ausdruck: Ach! ach! wie krank bin ich für liebe! o lieber Buhle/ kom doch bald/ und mich nicht länger so betrübe/ Du meines lebens aufenthalt. Das hertze mier für angst zerbricht/ wo mier dis wiederfähret nicht. 44

SW I/2, S. 23 ff.

214 Das ist eine Lyrik für empfindsame Seelen. Sie verstärkt die im geistlichen Lied jener Zeit zu beobachtende »Tendenz zur religiösen Innerlichkeit.«45 Die Lieder steuern jene Wirkung an, die das moderne ›Seelen-Lied‹ zu erreichen sucht. Der poetische Einsatz aller jener Mittel, die das Herz rühren und behutsam für die Aufnahme der Botschaft bereiten, erfolgt gezielt, aber dennoch ohne dass sie sich dem Leser als ›Kunstmittel‹ aufdrängten. Vielmehr sind sie von einer bewussten Verhaltenheit geprägt, die von den »irrdischen eitelkeiten« ablenken soll: »beherzige sie mit einem solchen hertzen/ das durch die höchste gekreutzigte Liebe der welt gekreutziget ist« (Vorrede). Damit leisten sie dem meditativen Erwägen der Liebesbotschaft Vorschub und rücken das Lied in die Nähe erbaulicher Betrachtung. Es ist ein ernstes Spiel, das auf den Hintersinn von Bild und Wort aufmerksam macht und diese in die Semiotik des Heils einspannt. Gleichsam als Anleitung zu solch deutendem Lesen wurde dem Morgenlied »Die nacht ist hin/ das schrekken ferne«46 eine Prosa-Erklärung beigefügt. Sie vertieft strophenweise die Metaphorik von Nacht und Morgensonne, von Sonnenwärme und Liebesglut, und zwar in einer Form, die im Anschluss an das Lied zu einem Nachbeten seiner einzelnen Motive wird: Ach! du liebreicher Heiland/ du licht des lebens/ Du o süsse Sonne meiner Seelen/ brich doch mit deinem gnadenglantze/ bei dem itzt-anbrechenden tageslichte/ nun auch an, in dieser meines sündlichen hertzens verfünsterter hölen, treib die geist= und leibliche schlafsucht heraus/ und heilige/ reinige dasselbe zu einem götlichen eifer …

Die »kurtze erklährung« ist »gebehts-weise gestellet«. Diese Anlage verdient einige Aufmerksamkeit. Die Mischung aus einzelnen Andachten und entsprechenden Liedern war damals eine beliebte Form, welche die feste Einheit von Singen und Beten in der täglichen Hausandacht zeigt. Die Betrachtung mündet in der Regel in ein Gebet ein, das im nachgesprochenen Bekenntnis den Leser in den prozesshaften Gedankengang von Reflexion und Vollzug einbezieht. Zesen steht zwischen Georg Philipp Harsdörffer (Hertzbewegliche Sonntagsandachten, 1649 und 1650) und Johann Rist (Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit/ In vier und zwantzig Erbaulichen Seelengesprächen, 1658 und 1668). Seine Stellung ist durch eine Aufteilung in Liederbuch und Gebetbuch markiert, obgleich die Grenzen – wie an der Erklärung zum Morgenlied ersichtlich – fließend sind. Das Gebetbuch (bei Harsdörffers Sonntagsandachten noch im Titel: »Bild= Lieder= und Bet=Büchlein«) erschien einige Jahre später (1657), es setzt mit anderen Mitteln die Betrachtung der »Gekreutzigten Liebe« fort. Wiederum lässt der Autor es sich angelegen sein, als seiner Leserinnen 45 46

Scheitler, S. 408. SW I/2, S. 48 ff., das nachfolgende Prosazitat S. 50.

215 geistlicher Führer, »ihre seelen zur andacht/ ihre augen zu Gott/ ihre hertzen auf die spuhr der wahren seeligkeit zu leiten.«47

7.3

Frauenzimmers Gebeht-Buch

Zesen war zum Teil auf die Einkünfte aus seinen Schriften angewiesen. Wenn er sich über Raubdrucke beklagte und sich darüber ereiferte, dass man ihm sein geistiges Eigentum gestohlen habe, reklamierte er nicht nur aus ethischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Hinter dem unverhohlenen Berufsstolz versteckt sich nur notdürftig der Ärger eines Autors, der sich von einfallsreichen Verlegern ausgenommen fühlt. In der Vorrede zur Lobdichtung Schöne Hamburgerin nimmt er kein Blatt vor den Mund, als er die Vorzüge der novitas rhetorisch herausstellt: Diese Lieder seind gantz Neue/ das ist/ meine eigene. Ich wil sagen/ nicht ausgestohlen. Ich rede deutsch/ daß du es verstehen solst. Solche gewohnheit haben etliche aus deinem hauffen. Aber ich hasse sie. Ich fliehe sie von meiner ersten blühte an. Diese Gesellen bringen viel dinges/ das mein/ oder eines andern ist/ unter ihrem nahmen zum drukke. Heisset das nicht gestohlen? oder wilstu haben/ daß ichs entlehnet heissen sol. Aber dem entlehnten lesset man ja seines Eigners Nahmen. Ausgeschrieben könte es wohl höflicher heissen. Doch wer ihm was fremdes zueignet/ und seines Meisters Nahmen verschweiget; stielet der nicht? Das tuht so mancher: teils aus misgunst/ teils aus eigenem ehrgeitze. Mein Frauenzimmers Gebehtbuch klaget hierüber. In der Erinnerung an den Leser/ bei dem jüngsten Hamburgischen drukke wirstu es finden.48

Hier interessiert in erster Linie das genannte Buch. Es erschien zum ersten Mal 1657 in Amsterdam und wurde in Hamburg vertrieben. Das Titelblatt macht genaue Angaben über Zielpublikum und Verwendungszweck: »Frauenzimmers Gebeht-Buch: Auf allerlei zu-fälle des täglichen gemeinen lebens/ so wohl nach den haupt-staffeln des kindlichen/ blühenden/ und bejahrten alters; als nach allen des Fraulichen geschlechts unterschiedlichen ständen/ gerichtet und verfasset durch Filip von Zesen.« Das Buch wurde offenbar ein großer Erfolg. Alte Quellen und ältere Forschungsliteratur nennen nach dem Erstdruck folgende Ausgaben: Königberg 1658, Königberg 1659, Frankfurt 1662, Frankfurt 1664, Hamburg 1668, Nürnberg 1677. Sie konnten in den Bibliotheken heute ebenso wenig aufgefunden werden wie die Übersetzungen ins Niederländische.49 Wohl erhalten hat sich jedoch eine weitere Auflage, auf die Zesen, trotz der werbenden Titelei, sicher keinen Einfluss gehabt hat. Sie erschien 1660 in Schaffhausen: 47 48 49

»An= und vor-rede«. SW XIV, S. 335. SW I/2, S. 232. Titel von niederländischen Ausgaben: Karl F. Otto: Philipp von Zesen. A Bibliographical Catalogue. Bern und München 1972, Nr. 71,72,74,76,77.

216 Filips von Zesen Neües Buß und Gebätt-Buch: […] mit Andächtigen Gebätten/ und Himmel-aufsteigenden Hertzen-seufzen/ zu seeligem gebrauch und nuzen […] kürzlich entworffen: Auch Allen lieb-seeligen/ in allen Ständen/ zu jeden zeiten/ in allerlej anligen/ sehr nuzlich und dienstlich zubetrachten und zugebrauchen.

Der Verleger sucht in seiner Vorrede den Raubdruck unter anderem damit zu rechtfertigen, dass er den winzigen Druck durch größere Typen verbessert und das Buch mit Beiträgen von »Dienern des Göttlichen Worts« (Pfarrern) ergänzt habe: Ob zwahr eine gute anzahl von schönen Gebät-büchern/ derer sich fromme herzen/ so wol in offentlicher/ als sonderlicher andacht nuzlich gebrauchen können/ überal vorhanden: So hat es sich dannoch schiken müssen/ diß überauß schöne und geistreiche gebätt-buch deß Edlen Herren Filips von Zesen/ so vor einem Jahr in Holand [!] mit einem gar kleinen Truk außgangen/ mit grossen und Läshaften buchstaben/ ans liecht zuverfertigen/ und mit vermehrung etlich weniger Hocherl. Dienern deß G. W. […] gebäten […] an tag zugeben.

Auch diese Ausgabe wurde nachgedruckt (1675).50 Zesens Name musste ein weiteres Mal für Buchhändlergewinne herhalten, der Autor hatte wiederum das Nachsehen. Die Attraktivität des Buches (die geographische Streuung ist beträchtlich) lässt sich heute nicht ohne weiteres nachvollziehen. Worin lag sie begründet, wie konnte ein solcher Titel, wie konnte ein solcher Inhalt für den Buchhändler zum Geschäft werden? Die historische Frage lautet auch hier: Wie bringen Menschen zu welchen Zeiten welchen Sinn hervor? Man macht sich heute kaum einen richtigen Begriff von der Ernsthaftigkeit, mit der in früheren Jahrhunderten auch junge Menschen sich freiwillig in die strenge Zucht individueller Frömmigkeit und persönlichen Glaubens begaben. Karl Philipp Moritz (1756–1793) erzählt, wie der halbwüchsige Anton Reiser zu seinem Patron, dem Hutmacher L…, Vertrauen gefasst hat und die abendliche Unterhaltung in gemeinsame Lektüre einmündete. »Manchmal unterhielt sich auch L… des Abends mit Anton allein, und sie lasen dann zusammen etwa in den Schriften des Taulerus, Johannes vom Kreuz, und ahnlichen Büchern.«51 Dem lässt sich das Zeugnis des pietistischen Schriftstellers Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817 aus seinen ›Jünglingsjahren‹ an die Seite stellen: »Er lase dann mit einem recht empfindsam gemachten Herzen die Bibel, und geistliche Lebensgeschichten frommer Leute: als Gottfried Arnolds Leben der Altväter, seine Kirchen- und Ketzerhistorie und andere von der Art mehr.«52 50 51 52

Alfred Gramsch: Zesens Lyrik. Diss. Marburg 1922. S. 98. [G. W.= Göttliches Wort] Karl Philipp Moritz: Werke. Hg. v. Horst Günther. 1. Bd. Frankfurt a. M. 1981. S. 79 f. Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anmerkungen, hg. von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt (1976), unveränderte Auflage 1984, S. 125.

217 Es handelt sich hier um einige Spitzenautoren jenes Schrifttums, das über Jahrhunderte hinweg seine passionierten Leser fand und bis weit ins 18. Jahrhundert nicht zu altern schien. Johannes Tauler (um 1300–1361) arbeitete in der Nachfolge Meister Eckharts und bildete mit ihm und dem nur wenig älteren Heinrich Seuse das sog. Dreigestirn deutscher Mystik.53 Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz, 1542–1591) lehrte in seiner glühenden Sprache die Sublimierung des Menschlichen in der mystischen Hochzeit der Seele mit Gott. Mit Gottfried Arnold (1666–1714) kommt der pietistische Historiker in den Blick, dessen Unpartheyische Kirchenund Ketzerhistorie (1699/1700) auch dem jungen Goethe viel bedeutet hat, wie das 8. Buch von Dichtung und Wahrheit zeigt. Hier wie in Vitae Patrum oder das Leben der Altväter und anderer gottseeligen Personen (1700) wurde ein christlicher Lebenswandel den Mängeln der institutionalisierten Kirchen kontrastiert. Sicher halten die Jugenderfahrungen von Moritz und Jung-Stilling eine Praxis in pietistischen bzw. sektiererischen Kreisen fest, die zu ihrer Zeit vielleicht eher Ausnahme als Regel war. Dennoch findet man in ihnen ein Echo christlicher Lebensführung unter Anleitung gezielter Buchlektüre. Im Lauf der Zeit werden die Weichen anders gestellt und ändert sich die Richtung des Suchens und Fragens. Aus dem 17. Jahrhundert weht uns jedoch ein anderer Geist entgegen. Aus dieser Perspektive betrachtet, handelt es sich, pauschal formuliert, bei den genannten Autoren um Restformen einer allgemein üblichen praxis pietatis. Die private Andachtsübung mit Bibel, Katechismus und Gesangbuch strukturiert in allen Schichten der Bevölkerung den Tagesrhythmus.54 Zusätzlich bringen weitere Schriften Auslegung und Vertiefung der vertrauten Glaubenswahrheiten und setzen sie zum Zweck der Meditation um. Das ist der eigene Bereich der Erbauungsliteratur, aus der sich ein Großteil der damaligen Buchproduktion zusammensetzte. Mehr als andere Textsorten waren die Meditationsschriften gewinnträchtige Produktionen für den Buchhandel. Sie waren die geistige Nahrung im Haushalt, ein täglicher Bedarf für alle Stände. Sie gaben dem Gläubigen 53

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Walter Nigg: Das mystische Dreigestirn. Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse. Zürich und München 1988. Von Luther hochgeschätzt, wurde Tauler als das Bindeglied zur Reformation betrachtet. Vgl. »Luther und die Mystik«, in: Alois Maria Haas: Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Frankfurt a. M. 1989, S. 264–285 (Literaturangaben!). Zu Tauler und seiner Wirkung: Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre. München 1993, insbes. S. 411 ff. Zum Vorrang der konfessionellen Frömmigkeit im Leben der Menschen Dieter Breuer: Der Prediger als Erfolgsautor. Zur Funktion der Predigt im 17. Jahrhundert. In: Vestigia Bibliae 3 (1981), S. 31–48. Ders. (Hg.): Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Amsterdam 1984; ders. (Hg.): Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Wiesbaden 1995. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 25)

218 unter pastoraltheologischem Aspekt Schriftworte an die Hand zur Orientierung und zum Trost in den verschiedensten Lebenslagen. Sie zielten auch auf das Bemühen um ein gottgefälliges Leben, das in den Anfechtungen der ›bösen Welt‹ täglich neu erkämpft werden musste. Sie verwiesen schließlich auf eine Geisteshaltung, die in der Spannung des In-der-Welt-Seins und der Heilserwartung die Weltdinge in ihrer Vorläufigkeit und den Menschen in seiner kreatürlichen Schwäche erkannten. Damit übten sie den Gläubigen endlich in die Zucht einer Lebensgestaltung sub specie aeternitatis ein, die in Buße und Gebet einer ständigen Erneuerung bedurfte. Nicht umsonst hatte das Andachtsbuch des Thomas von Kempen, die Imitatio Christi, gesamteuropäische Wirkung; man zählt zwischen 1600 und 1740 insgesamt 744 Ausgaben! Solches Schrifttum, das sich zwischen Ermahnung und Trost bewegt, ist im Wortsinn Gebrauchsliteratur. Diese erhält ihre genuine Funktion und ihren Sinn in solchen Zeiten, wo die persönliche Frömmigkeitsübung in Verbindung mit der Sonntagsheiligung mit Predigt und Liturgie als feste Einheit gesehen und erlebt wird. Der Begriff »Erbauungsliteratur« mit seiner Konnotation des kitschig-falschen Sentiments und der religiösen ›Gefühligkeit‹ ist zur Charakterisierung kaum geeignet. Als Sammelbegriff hat er sich jedoch eingebürgert. Er ist ein Notbehelf und deckt ebenso wenig die inhaltliche Mannigfaltigkeit mit ihren zahlreichen formalen Spielarten wie die äußere Aufmachung jener Literatur ab.55 Diese umfasst Gebete und Lieder, Betrachtungen und Sprüche. Die Bücher geben sich bald schlicht und beschränken sich auf den gedruckten Text, bald sind sie mit Emblemen und Kupfern ausgestattet, nicht selten auch mit Melodiesätzen. Weil uns heute der Begriff und seine literarischen Formen ferngerückt sind und dem heutigen Bewusstsein fremd geworden, sei noch einmal zusammenfassend wiederholt: Was unter Erbauungsliteratur subsumiert wird, ist ein verschiedenartiges Literaturangebot, das unterschiedlichen Zwecken Rechnung trägt. Im Horizont barocken Literaturverständnisses ist religiöse Literatur in erster Instanz Literatur. Sie folgt den Konventionen der literarischen Sprachgestaltung und des genrespezifischen Regelrepertoires. Der Autor einer Sammlung erbaulicher Texte wird sich indessen – wie bei weltlich intendierten – um Variierung und Erweiterung des Herkömmlichen und Vorgegebenen bemühen, dem Leitprinzip der Stufenfolge von imitatio und 55

Zur raschen Orientierung: Walther Killy: Literatur Lexikon, Bd. 13, hg. v. Volker Meid, Gütersloh / München 1992, s. v. Erbauungsliteratur, S. 233–239. Ferner Wolfgang Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannten Erbaulichen. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. v. W. B., 2 Bde. Wiesbaden 1985, S. 499 ff. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 13). Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. In: Rhetorik 5 (1986), S. 97–113.

219 aemulatio gemäß. Auch hier gilt: jeder neue anspruchsvolle Text setzt einen neuen Standard. Wenn bei religiöser Gebrauchsliteratur das literarische Gelingen sich auch nachdrücklich vom Zweck her versteht, gelten Sachverstand und Kunstfertigkeit als dessen Voraussetzungen. In der damaligen Schreibpraxis ist »Kunst-losigkeit« keine Kategorie. Dem Usus wie der Einschätzung jener Zeit entsprechend, sollten auch für diesen Bereich der Literatur Form- und Gattungsfragen, nicht zuletzt natürlich Aspekte des Ornatus,56 von der Forschung ernst genommen werden. Denn so vielfältig diese Literatur ist, so unspezifisch ist schließlich ihr Begriff als literaturwissenschaftliche Kategorie: »Was ›Erbauung‹ inhaltlich bedeute, wird von der Literaturwissenschaft als bekannt oder notorisch unbekannt vorausgesetzt.«57 Aus Zesens erbaulichen Werken, den geistlichen Liedern und Gebeten, geht deutlich hervor, dass sie für Frauen verfasst wurden. Die Frau dürfte in den meisten Fällen die Adressatin von Erbauungsliteratur überhaupt gewesen sein. Sie war als Erzieherin von Kindern und Herrin des Gesindes für die Lebensführung des »Hauses« verantwortlich, zu der die tägliche Andacht mit Lesen, Singen und Beten den Grund legte. An sie wendete sich der Trost, den diese Lektüre versprach, die Bücher waren deshalb auf geschlechtsspezifische Benutzung angelegt. Es ist unschwer festzustellen, dass das stark in den Vordergrund tretende Gefühlsmäßige den Kern der intendierten Frömmigkeit trifft. Jedoch gehört auch der im Vergleich zur Reformationszeit gehobene und verfeinerte Geschmack zu den Wesensaspekten der Erbauungsliteratur aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die typische Empfindsamkeit ist ein Indiz für die soziale Exklusivität der Lektüre. Denn es wurde nicht nur ein Lesenkönnen vorausgesetzt, sondern auch eine Lektüremöglichkeit, und damit wird ein gewisser sozialer Status anvisiert.58 Das ist auch für Zesen eine wichtige Beobachtung; sie lenkt den Blick auf seine Neuerungen. Obwohl man nicht vergessen sollte, dass Zesen auf Einkünfte aus seinen Büchern angewiesen war, drängt es ihn doch (in der Vorrede zum Frauenzimmers Gebeht-Buch) zu beteuern, dass man sich vielleicht wundert, dass 56

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58

Siehe z. B. Cristina M. Pumplun: »Begriff des Unbegreiflichen«. Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtstagsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694). Amsterdam 1995, S. 120. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 120) Ute Mennecke-Hanstein: Artikel Erbauungsliteratur, in: Literatur Lexikon. (Anm. 55), S. 233. Cornelia Niekus Moore hat Leichenpredigten für Frauen zur Analyse der Lesegewohnheiten ausgewertet und auf wesentliche Funktionen von Erbauungsliteratur aufmerksam gemacht: Erbauungsliteratur als Gebrauchsliteratur für Frauen im 17. Jahrhundert: Leichenpredigten als Quelle weiblicher Lesegewohnheiten. In: Le livre religieux et ses pratiques/ Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. Hgg. v. Hans Erich Bödeker, Gerald Chaix, Patrice Veit. Göttingen 1991, S. 291–315; »Der Anspruch der Erbauungsliteratur war ein Anspruch auf Exklusivität« (S. 299).

220 ein Dichter von Liebesliedern »als ein vermeinter weltling« ein frommes Buch verfasst habe. Die Bibel sei ihm aber abends und morgens die erste Lektüre. Denselben Geist atmet auch das andere Gebetbuch, das Buß– Beichtund Beht-Büchlein, das in Amsterdam (ohne Jahreszahl) bei Christoph Cunrad erschienen ist. Es gibt den Gebrauchszweck auf dem Titelblatt an: »Vor/ in/ und nach genießung des heiligen Nachtmahls […] zum seeligen gebrauch.« Der »geneugte Leser« wird darauf vorbereitet, dass der Verfasser sich, wie auch in anderen geistlichen Schriften, an den Wortlaut der H. Schrift (»an die bloßen worte«) gehalten habe, denn er hat »nicht deuten oder auslegen/ noch vor diese/ oder jene deutung fechten wollen.« »Dan ich wil das Kristentuhm/ so viel an mir ist/ bauen; und nicht ümwerfen, ich wil durch sanft-sinnige reden/ sonderlich alhier/ da ich dem sanft-sinnigsten Geschlechte dienen wil/ die kristliche einigkeit und liebe/ als das neue gebot des neuen Bundes/ im baulichen wesen erhalten; ja dieselben […] nicht verunruhigen.«59

In Zesens Werk sind literarische Formen genauer zu erfassen, die für die Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts als bezeichnend anzusehen sind: das Gebet und die Meditation (»Betrachtung«)60, die bei Zesen mit Liedsätzen angereichert wird. Was ihren »Sitz im Leben« (Gunkel) betrifft, haben sie am breiten Strom verinnerlichten Glaubens teil, der von der existenziellen Frage bestimmt wird, wie ein sündhafter Mensch einen gnädigen Gott finde – Luthers »simul peccator ac simul justus et semper poenitens« – und mit Blick auf die Rechtfertigung in Christus ein gottseliges Leben führe. Zesen zeigt die Prägung seiner Zeit, die durch Sündenerkenntnis und Bußbereitschaft den Weg zum Heil sucht. Die Jahrhunderte der Reformation und der Orthodoxie waren nicht nur Zeiten religiöser Spannungen, sie wurden in ihrer Folge auch von tiefgreifenden Glaubenskrisen beherrscht.61 Hatte sich das frühe Luthertum angesichts der Frage von Sünde und Gnade auf das individuelle Heil eines jeden in Christus gerechtfertigten Menschen berufen und sich das »Sola fide« an die Brust geheftet, war diese reformatorische Dynamik um die Wende zum 17. Jahrhundert jedoch verbraucht. Sündenangst ist das hervorstechende Merkmal der meisten evangelischen Schriften zur Hausandacht. Zur Rettung der Heilsgewissheit vertrauten die Gläubigen sich dem Gebet und, 59 60

61

SW, Bd. XIV, S. 475. Vgl. Paul Althaus: Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur. Repr. der Ausgabe 1927: Hildesheim 1966; Klara Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst. Die Meditation im 16. Jahrhundert. Eine funktionsanalytische Gattungsbeschreibung. Wiesbaden 1990. Vgl. Hartmut Lehmann (wie Anm. 5) S. 105–170. Vgl. weiter: Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. (s. o.); Vf.: Bußstimmung, Krisenbewusstsein und Melancholie – Deutungsmuster der Frühen Neuzeit? In: Pietismus und Neuzeit. Bd. 32, S. 57–78.

221 neben der kirchlichen Beichte, dem privaten Sündenbekenntnis an. Gewissenserforschung entsprach dem religiösen Krisenbewusstsein der Zeit, sie gibt der Trost- und Meditationsliteratur des 17. Jahrhunderts ihr eigentümliches Gepräge. Charakteristisch (und somit stellvertretend für viele andere) ist folgende Stelle aus Martin Mollers Soliloquia de Passione Christi (1587): O meine Seele/ du vnfruchtbarer Baum/ wo sind deine Früchte? Du dürres vnnd vntüchtiges Holtz/ du bist werth/ daß du abgehawen/ vnd ins ewige Fewer geworffen werdest? Matth.3 […]Ich armer elender Mensch/ was habe ich gethan? O wie vbel habe ich ausgericht? Wehe mir/ O Zorn des Allerhöchsten/ falle nicht auff mich/ O Grim des Allmächtigen/ wer kan dich ertragen? O Angst/ O Schrecken/ wo sol ich hin an jenem Tage/ wenn der Herr das Gerichte halten wird? Wo soll ich meine Augen hinwenden?62

Selbstanklage und ein zerknirschtes Gemüt – die typischen Ingredienzien der Meditation auch im 17. Jahrhundert – sind nicht mit der Trauer einer melancholischen Seelenverfassung zu verwechseln. Sie sind im Gegenteil auf die Heilsgnade gerichtet, für deren freudige Annahme sie die für notwendig erachtete Vorbedingung als gläubige Praeparatio und Herzensprüfung darstellen. In solcher Frömmigkeit liegt der Ansatz der »Himmel-seufzen« im »De profundis« (»Aus der Tiefe«), in der reumütigen Klage des Sünders, dessen Errettung allein Sache eines barmherzigen Gottes ist. Die Spannung der Gedankenausrichtung zwischen Sündenzerknirschung und Heilserwartung weist die typische Fallhöhe solcher Literatur auf. Damit ist die Bahn der Gebetsliteratur vorgezeichnet. Sie treibt seit den reformatorischen Anfängen immer mehr in die Richtung einer rigorosen ›Gebetskasuistik‹. An die Stelle formalisierter Gebetsakte treten mehr oder weniger ausführliche Bußbetrachtungen, die von negativ besetzter ›Weltliebe‹ ihren Ausgang nehmen, und Gewissenserforschungen, die nicht selten in einem pedantischen Verständnis christlicher Lebensregeln gründen. Das Signum der Religiosität der Zeit ist die Angst vor der Sünde bzw. die Ermahnung, angesichts des existenziellen Bedrohtseins des flüchtig-nichtigen Lebens solche Angst ja mit höchstem Ernst zu empfinden. Die dunkle Grundierung von Theologie und Frömmigkeit (»memento mori«) färbt in besonderer Weise die Meditation und das Gebet. Nach wie vor hat die Charakterisierung von Paul Althaus ihre Gültigkeit, wenn man das religiöse Empfinden von Zesens Zeitgenossen zu erfassen versucht: »Das Gebet ist die Seele und der eigentliche Herzschlag der Religiosität.« Es ist nichts Außergewöhnliches, dass Zesen sich in diesem Bereich mehrfach hervorgetan hat. Seitdem Martin Opitz 1624 die uranfängliche »Poeterey« in unmittelbarer Nachbarschaft der Religion und ihrer Geheimnisse angesiedelt hatte (»eine verborgene Theologie/ vnd vnterricht von 62

Martin Moller: Soliloquia de Passione Jesu Christi. S. 4–6.

222 Göttlichen sachen«),63 war der Dichter / Schriftsteller als Hüter und Deuter theologischen Wissens legitimiert und unterstützte mit seiner Kunst Beruf und Amt des Predigers. Es kam der aus den Zeitumständen zu erklärende Bedarf an theologischer Gebrauchsliteratur und neuen geistlichen Texten zur Tröstung und Unterweisung der Glaubenden hinzu. Pointiert formuliert: Die Kirche war damals die große Förderinstanz, sie machte aus Pfarrern Dichter und aus Dichtern Pfarrer. Von den Erfordernissen von Religion und Kirche in die Pflicht genommen, färbte sich die dichterische Sprachwelt insgesamt mehr oder weniger religiös. Die christliche Religion prägte das private Leben ebenso wie das der Öffentlichkeit und der gesellschaftlichen Institutionen. Luthers Schrift Von weltlicher Obrigkeit war ausdrücklich gegen den linken Flügel der Reformation gerichtet, es heißt im Artikel XVI der Confessio Augustana zu Beginn: »Denn das Evangelium lehrt nicht ein äußerlich, zeitlich, sondern ein innerlich ewig Wesen und Gerechtigkeit des Herzens und stößt nicht um weltlich Regiment, Polizei und Ehestand, sondern will, daß man solches alles halte als wahrhaftige Ordnung und in solchen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werke […] beweise.«64 Die Formen der kirchlichen Tradition und die theologische Begrifflichkeit waren ein breit fließender Strom, der die Literatur und ihre Erscheinungsformen in der Frühen Neuzeit nachhaltig beeinflusst hat. Der Faden riss im Barockzeitalter nicht mehr ab, die Dichter fanden in Theologie und Frömmigkeit ein ausgedehntes Betätigungsfeld und für ihr Talent immer neue Herausforderungen. Kurz, der Dichter ist in der Epoche des Konfessionalismus auch Erbauungsschriftsteller. Man hat sich darauf einzustellen, dass schriftstellerische Arbeiten im Dienst des christlichen Glaubens (»Erbauungsschrifttum«) als ernst zu nehmende literarische Leistungen angesehen wurden, gleichwertig mit anders orientierten Arbeiten. Zesens geistliche Lieder und Gebetbücher waren für ein unterscheidungsfähiges Publikum bestimmt, das sich wohl überwiegend aus Kreisen der Gebildeten und der Aristokratie zusammensetzte.65 Auch dort, wo die Stilebene im Vergleich zu anderen Äußerungen barocker Schriftkultur weniger hoch anzusetzen ist, war doch keine ›Volkstümlichkeit‹ in heutigem Sinn bezweckt. Anvisiert ist eine soziale Schicht, die auf verfeinerte Erregung des Gemüts reagierte und Nuancierungen im religiösen Sprachgebrauch zu schätzen wusste. »Die Gebet- und Erbauungsbücher des 17. Jahr63

64 65

Vgl. R. Bachem: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn 1956. Herfried Münkler: Im Namen des Staates, S. 99 ff. Dieser Abschnitt greift meinen Beitrag von 2001 wieder auf: Form- und Stilfragen der Gebetsliteratur in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel von Philipp von Zesens »Frauenzimmers Gebeht-Buch« (1657). In: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Hgg von Ferdinand van Ingen und Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001, S. 131–146 (= Wolfenbütteler Forschungen, 92).

223 hunderts zeigen das Bestreben, der neuen Gesellschaftsschichtung gerecht zu werden. […] Zesen und Harsdörffer etwa bieten Andachtsbücher, die nicht nur durch besondere Pflege weiblichen Gefühlslebens sich auszeichnen und die sublimierten Seelenregungen mit verfeinerten Methoden religiös kultivieren, sondern nach Aufmachung und Ton nur dem Gebildeten zugedacht waren.«66 Aufgrund der Forschungen von Engelsing, Martino, Breuer und Scheitler ist festzustellen, daß die neuen Andachtslieder und die Gebetbücher, die hier zur Sprache kommen sollen, nicht für den Volkshaushalt, sondern für relativ exklusive Rezipientenkreise verfasst wurden. Auf diese hebt Zesen in der Vorrede zum Frauenzimmers Gebeht-Buch ab.67 Er gibt sich als Mann von Welt, vielbeschäftigt und mit verantwortungsvoller Arbeit betraut, aber eben doch als ein frommer evangelischer Christ. Er entwirft ein Selbstbild, das ihn, den nützlichen Gelehrten und Künstler, als dem vertrauten sozialen Tätigkeitsbereich der Oberschicht zugehörig ausweist. Zugleich (darin liegt der geschickte Trick) gibt er sich zu erkennen als ein Mann, der über den Büchern das Buch der Bücher nicht vergißt: […] so werden sie sich gantz nicht wundern/ noch ihren gedanken verhängen/ mir solches zu verargen; zuvoraus/ wan sie ferner betrachten/ wie die heilige Schrift/ das Buch der großen geheimnüsse Gottes/ des abendes mit mir zu bette gehet/ und auch des morgens mit mir wieder aufstehet/ ja daß ich sotahnig die beste zeit meines lebens in den heiligen Rechten des Herrn zubringe; ob ich schon des tages über das große Werk der weltlichen Rechte/ nebenst andern geziemten wissenschaften und künsten/ die einem menschen in dieser zeitligkeit zu wissen so wohl nöhtig/ als ergetzlich/ meistenteils zu handhaben pflege.

So profiliert sich ein gelehrter Autor gegenüber den zuerst angesprochenen Damen. Es sind die Ehefrau und die Schwester des »Schmackhaften«, des zweiten Oberhaupts der erlauchten Fruchtbringenden Gesellschaft (Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar), so dass auch der Name dieser ersten und »hoch-preis-würdigen« Sprachgesellschaft stolz auf dem Titelblatt erwähnt werden konnte. Gegenüber den Widmungspersonen war sodann die gewählte Stilhöhe zu rechtfertigen. Die rhetorische Vorschrift hätte eine schickliche Harmonie zwischen Adressat und Sprache erfordert (aptum), aber hier wird eine schmucklose Rede verwendet, die dann auch entsprechend erklärt werden soll. Die Vorrede benutzt Zesen dazu, sein neues Beginnen mit Emphase zu legitimieren: »ich beginne was neues/ ich suche was sonderliches/ ich bahne […] einen solchen weg/ den vor mir […] noch keiner gebahnet.« Verzicht auf das höchste Stilniveau verbindet sich in der Argumentation mit 66

67

Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. (1935) Stuttgart, 2. Aufl.1947, S. 125. Die »An= und vor-rede An das Gott= leut= und lieb-seelige Frauenzimmer« ist unpaginiert: XIV, S. 336.

224 dem Ideal der Kürze, die als Kennzeichen der heiligen Schrift verstanden wird. Diese, die »eigne redens-ahrt der heiligen Schrift«, wird »der hohen ümschweiffigen/ aufgeschwollenen reden pracht« entgegengesetzt. Interessant ist die psychologische Begründung. Infolge der menschlichen Schwachheit schweifen in der Andacht die Gedanken leicht ab, sie können, »wan das gebeht zu lange währet«, doch »nur ein halbes vierteilstündlein/ ja bisweilen kaum einen augenblik« auf den Gegenstand konzentriert bleiben. Beispielhaft für ein »so kurtz-bündiges gebeht« sei das Vaterunser: Dergestalt das wir kurtz behten sollen/ und nicht viel/ sondern vielmahls/ nicht viel auf einmahl/ sondern wenig/ und oftmahls; ja also die kürtze mit oft-wiederhohlten stoß-seufzern ersetzen/ welche in solcher erhohlung gleichsam muht und kraft schöpfen/ und/ wan sie nicht das erste mahl/ doch das zweite/ dritte/ oder vierde mahl hindurch brechen/ und die gnädige erhöhrung des Allerhöchsten erlangen.68

Die Zitate machen deutlich, dass ein stilistisches Verfahren vorgestellt wird, das sowohl dem Redegegenstand wie der Redesituation gerecht werden soll. Sprachlich-stilistische Normvorstellungen werden aus dem religiösen Kanon abgeleitet. Zesen bevorzugt den kurzen, prägnanten Ausdruck und sucht damit sogar das »wort-prahlende/ und überhin-plapprende« Reden der »Heiden« auszustechen (ebd.). Das Argument sollte man wohl nicht auf die Goldwaage legen. Wichtiger ist die Beobachtung, dass Zesen ein Charakteristikum seines Personalstils in die Literaturgattung des Gebets einführen will und sich nach einer Begründung umsieht. Dabei ist bemerkenswert, dass die Verortung des neuen (»lakonischen«) Stils in der Sprachtradition der Bibel im Kontext einer christlichen Poetik sich als legitimiert versteht. Schon in der »Schuz=räde« vor dem Ibrahim-Roman (1645) hatte er sich gegen »die langen Geträkk’ und Geschläppe der Räde« ausgesprochen, und der lange Brief an Malachias Siebenhaar, den alten Freund, erläutert das Ideal des sog. lakonischen Stils.69 Hervorgehoben wird die ästhetische Qualifizierung: »Wer nicht gar wohl der Sprache meister ist/ kan kein Lakonier werden. […] Schweer fället sie dem Verfasser: nicht leichter manchem Leser.« In dem Roman Assenat, Zesens erstem biblischem Roman (1670, weitere Auflagen 1672 und 1679), wurde schließlich der Lakonismus mit dem Periodenstil verbunden (Zesen spricht von der »gemeinen Mittelahrt«). Die kontrastreiche Mischung ergab einen originellen Erzählstil. Im Gegensatz zu dem meist überladenen Sprachstil von Barockromanen haben Zesens Erzählwerke eine oft ›modern‹ anmutende Diktion. Jedenfalls ist das eine besondere und beachtliche Leistung, worauf Zesen sich mit Recht 68 69

Frauenzimmers Gebeht-Buch, Vorrede, S. 337. Ibrahim, SW V/1, S. 11, 28 ff.; Andreas Daniel Habichthorst: Wohlgegründete Bedenkschrift über die Zesische Ahrt Hochdeutsch zu Schreiben und zu Reden. Hamburg 1678, S. 27 ff., Zitat 38.

225 einiges zugute tat. Diese Schreibart war Zesen geläufig, als er sie im Gebetbuch als seine neue innovative Leistung herausstellte. Der Mischstil wurde im Gebeht-Buch introduziert und in der spezifischen Situation der Andacht erprobt. Denn »Kurtz-bündigkeit« eignet sich nicht für längere Passagen, heißt es da. Sie ist aber den »oft-wiederhohlten stoß–seufzern« angemessen, die Zesen empfiehlt. Im Lobpreis sollte man sich jedoch Zeit nehmen (Gottes »Hoheit« wolle nicht »auf der flucht« geehrt sein) und die Worte »weitleuftiger« setzen: Daher seind unsere gebehte/ den andachts-liedern des Königes Davids zur folge/ gemeiniglich mit danksagungen/ und betrachtungen der göttlichen wunder-tahten angefüllet/ und die seufzer zwischen-ein gemänget: damit durch solche abwechselung/ die andacht üm so viel mehr erhalten/ oder aufs neue erwekket würde.70

Das Ergebnis ist eine kunstvolle, gepflegte Sprache, die für den je verschiedenen Aspekt des Gebets die jeweils passende Form sucht. Das Gebeht-Buch ist also mitnichten lediglich der Beitrag eines gewiss frommen Autors zur Vermehrung der Gebetsliteratur, sondern die kunstbewusste Schöpfung eines Autors, der die Gattung um stilprägende Neuerungen bereichern wollte. Mit dieser Novität hielt Zesen nicht hinterm Berg. Er präsentierte sie ebenso geräuschvoll, wie er das ebenfalls in anderen Werken zu tun pflegte. Das Selbstbewusstsein des Erfinders geht in die Formulierung ein, wie aus dem Zitat hervorgeht. Es passt in das Konzept des Neuerers, dass er auch hier – wo es vielleicht nicht ganz der richtige Platz gewesen wäre – auf seinen sonstigen sprachlichen Eigenheiten besteht (»reines, gutes und flüssiges« Deutsch) und, in geringfügiger Abwandlung seines Spruchs »Tugend hat leider/ allzu viel Neider«, gegen seine Kritiker Position bezieht: […] so habe ich mich/ so viel müglich/ billich beflissen/ deutlich und verständlich/ ja rein= guht= und flüssiges deutsch zu schreiben/ und kein verworrenes gemänge […] zu markte zu bringen; ja nicht ein haar achten wollen/ was mein Herr Tadelgern […] aus zu geiffern pfleget.71

Das Neuartige ist unter dem Aspekt der Literatursprache von Interesse, aber es betrifft auch die Anlage des Buches. Die Einteilung nach Morgen- und Abendgebeten ist konventionell. Dann aber bezieht sich eine Abfolge von Gebeten auf die Wochentage, wobei sie auf die Tagwerke der Weltschöpfung rekurrieren. Die irdische Zeit mit dem regelmäßigen Wechsel von Morgen – Abend – Nacht wird in die ewige Zeit hineingestellt, aus der sie durch das Schöpfungswerk entstanden ist. Das »Morgen-gebeht am fräu-tage« (Freitag) ist ein gutes Beispiel.72

70 71 72

Gebeht-Buch, S. 338. S. 338. S. 367 ff.

226 Hochgelobet sei Gott mein Vater/ gepriesen sei Gott mein Erlöser/ geehret sei Gott mein Tröster; heilig/ heilig/ heilig sei Gott mein Schöpfer itzt und zu ewigen zeiten. Heute bricht an der gebuhrtstag des ersten menschen; heute bricht an der liebliche erfräuliche fräutag/ der tag der irdischen und himlischen liebe; da Gott aus liebe den menschen geschaffen/ ihm zum bilde/ ja zum bilde Gottes/ in unschuld und reinligkeit/ in heiligkeit und gerechtigkeit; da Er ihm eingetahn die erde zur speise-kammer/ das feld zur vieh-zucht/ die wasser zum fisch-teich/ die länder zur wohnung/ die wälder zur holtzung/ ja alles unter seine beherschung.

Ebenso ordnet das Gebet das betende Individuum in die ›historische‹ Reihung der Menschengeschlechter ein, an deren Anfang der erste Mensch mit seinem Sündenfall stand, bis er, wiederum durch Beistand aus der Ewigkeit, in den Stand der Gnade erhoben wurde: Am ersten fräutage verschertzte der erste Adam/ durch antrieb seiner frauen/ welche die schlange verleitet/ den himmel; am andern brachte ihn der andere Adam wieder zu wege. Was Adam ehmahls verdorben/ hatt Kristus wieder erworben. In Adam waren wir verlohren; in Jesu seind wir wieder erkohren. Heute hatte Adam den tod verdienet; heute hatt ihn Kristus wieder versühnet. heute hatte die erste fraue sich vom höllischen drachen verführen laßen; aber heute hatt ihm der weibes-samen den kopf zertreten. (Ebd.)

Der theologische Rahmen ist vertraut: Adam als der Repräsentant des Menschengeschlechts, Christus als der neue Adam und der Schlangentreter der Weissagung. Der damalige Leser war bei solchen weiträumigen Durchgängen durch die Bibel nicht wie der heutige total überfordert: Er hat schon im gedrängten theologischen Programm die Botschaft entdeckt: Schöpfung, Sündenfall und Erlösung des Menschen. Durch Sprachklang und Rhetorisierung bringt Zesen die Kernaussage auf den Punkt: Der Freitag ist nach seiner eigenwilligen Etymologie ein Freudentag: Ja heute sollen wir billich Gott unserm Schöpfer und Erbarmer danken; Gott unsern Erlöser und Heiland loben. heute ist der tag unserer schöpfung/ unsers sünden-falls/ und unserer erlösung. Das erste ist freudig; das andere traurig; das dritte aber bringt freude die fülle. An diesem tage ist ausgebrochen aus der höhe/ gnade über gnade.73

Es ist deutlich erkennbar, dass die theologischen Aussagen in der Folge in eine Sprachbewegung umgesetzt werden, die den rhetorischen Affekt freisetzt und an die inneren Kräfte der Emotionen appelliert. Lapidare »Stoßseufzer« stehen jeweils am Beginn und am Schluss. Sie bestehen meist aus nur vier Zeilen und sind durch Parallelgestaltung (häufig mit Hilfe von Anaphern) spruchartig markiert. An diesem einen Beispiel ist die strenge Durchgestaltung der Motive sowie die Abfolge der Stilebenen ersichtlich, – Grund genug, vor dem historischen Hintergrund der Gebetsliteratur die Eigenständigkeit des Autors festzustellen. Was hier der Tradition entnommen ist, lässt sich ohne Mühe erkennen. Die Differenzierung nach Beruf und Stand war vorgegeben, ebenfalls die 73

S. 367 f.

227 Einteilung nach Wochentagen mit einem besonderen Morgengebet und Abendsegen für jeden Tag. Sie war nicht einmal eine Erfindung des Protestantismus, sie hatte ihre Vorgaben. Die Serta honoris des Petrus Michaelis vom Jahr 1561 kennt sie schon, und das Gebetbuch von Johannes Habermann (Avenarius), das 1567 zum ersten Mal erschien, hat sie mit weiteren inhaltlichen Elementen übernommen. Der Titel kündigt solche Anlage genau an: Christliche Gebett/ für alle Not vnd Stände der gantzen Christenheit/ außgetheylet auff alle tage in der Wochen zu sprechen. Sampt gemeinen Dancksagungen/ auch Morgen= vnd Abendseegen.74 Das Gebetbuch war bis zum Erscheinen von Johann Arndts Paradiesgärtlein (1612) das verbreitetste der lutherischen Welt. An diesen Mustern hat Zesen sich orientiert, aber er hat seine Ziele um einiges höher gesteckt. Die kunstvolle motivliche und sprachliche Durchgestaltung hebt sein Gebetbuch denn auch aus der Massenproduktion heraus. Wie die Rezeptionsgeschichte lehrt, haben die Zeitgenossen das richtig erkannt. Auch Anlage und Einteilung sind traditionell: Gebete je nach gesellschaftlichem Status und Stellung, etwa des Ehemanns, der Ehefrau, des Untertanen, eines Dienstboten, eines Wanderers etc. Es würde einer näheren Untersuchung bedürfen, ob die bei Zesen begegnende weitere Spezifizierung ebenfalls auf Vorbilder zurückgeht: Gebet »eines jungen töchterleins/ so noch eltern hat« bzw. »das noch vater und mutter hat« oder »einer tochter/ so elter-loß ist« bzw. »die vater-loß ist« oder »so mutter-loß ist« usw. »Tägliche Gebete« sind meist nach Anlässen oder Tätigkeiten geordnet: »wan man an seine arbeit gehet«, »wan man in gärten und feldern mit gehen sich erlustiget«, »üm verstand und weisheit«, »üm seegen der nahrung/ und rechten gebrauch der zeitlichen gühter«, »üm erhaltung der früchte des feldes«, »üm einen fruchtbaren reegen«, »üm warmen sonnen-schein« usw. Besondere Gebete betreffen eine »Gebieterin und herscherin über land und leute«, eine »untertahnin vor ihre Obrigkeit«. Nicht ausgespart wird das ›Hauskreuz‹, viele Gebete beziehen sich (in logischer Staffelung) auf Zeugung und Geburt; den Anfang macht das tägliche Gebet »einer befruchteten frauen«. Gebete in Zeitplagen (Teuerung und Hungersnot, Krieg, »in sterbens-leuften«) leiten die Gebete für Kranke und Sterbende ein, die mit einem »Täglichen gebeht/ üm ein seeliges ende« abgeschlossen werden. Die Anlage von Zesens Gebetbüchern weist auf engen Anschluss an die protestantische Andachtsliteratur hin. Es fallen vor allem die jeweils beigefügten Textstellen (Psalmen, Evangelien etc.) auf. Die Gelegenheit der Meditation, die traditionsgemäß zu andachtsvollem Lesen, zum »Stille-Seyn« 74

Althaus, Forschungen, S. 122 ff. Vgl. Traugott Koch: Johann Habermanns »Betbüchlein« im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Beiträge zur historischen Theologie, 117)

228 und Gebet hinführen wollte, wird in den jungen evangelischen Gemeinden voll genutzt, um dem Leser die Geheimnisse und die wunderbaren Zusammenhänge der beiden Testamente näherzubringen, ihn mit anderen Worten zum Bibelstudium anzuregen. Zu diesem Zweck wurden nach Vorbild der bekannten lateinischen Bibel-Konkordanzen für die Hand des Geistlichen – sie reichen wohl ins 13. Jahrhundert zurück – handliche Bücher in der Muttersprache veröffentlicht, in denen man gleichlautende oder verwandte Textstellen übersichtlich sammelte.75 Neben den nach wie vor erscheinenden, ergänzten oder neu in Angriff genommenen lateinischen Konkordanzen sind es die muttersprachlichen Werke, die hier die Weichen für den Gebrauch durch ein Laienpublikum gestellt haben. Das bezeugt u. a. die 1566 im calvinistischen Genf gedruckte Concordance de la bible. Unter theologischem Aspekt lag der Hauptgrund solchen Sammeleifers im Versuch, Bibelstellen miteinander zu vergleichen und in Einklang zu bringen. Frömmigkeitsgeschichtlich ist ein anderer Aspekt von Belang, der auf gezielte Schulung von Laien hindeutet. Darin drückt sich der moderne Trend der hier in Umrissen skizzierten, auf der Grenze von wissenschaftlicher Benutzung und ›christlichem‹ Hausgebrauch balancierenden Publikationsform. Schon im 16. Jahrhundert wurden umfangreiche Verbalkonkordanzen zusammengestellt. In Deutschland wurde selbstverständlich Luthers Bibelübersetzung zugrunde gelegt. Es erschienen verschiedene Wortstellen-Register, die sich nach und nach auf die ganze Bibel ausdehnten (Leonhard Brunner, Straßburg 1546), mit ersten Höhepunkten im frühen 17. Jahrhundert: Michael Müling, Concordanz-Bibel (Leipzig 1602); Lucas Stöckle, H. Götlicher Schrift Schatzkammer oder Teutsche Biblische Concordantzen (Herborn 1606). Mit fast 730 Seiten ist die Schatzkammer schon ein stattliches Buch in vertrauter barocker Machart. Auch auf dem Gebiet des Sammelns und Systematisierens von theologischem Wissen feierte gelehrte Gründlichkeit Triumphe. Die Concordantiae bibliorum des Nürnberger Buchdruckers Conrad Bawr (Agricola) war eine eindrucksvolle große Arbeit (1610). Christian Zeises Bearbeitungen des Werkes (1658, 1674) erfreuten sich eines echten Erfolgs. Das 18. und 19. Jahrhundert zogen mit großangelegten Sammelwerken nach, die teilweise bis heute Bestand haben. Längst beschränkte sich die Sammelarbeit nicht mehr auf das Wortmaterial, sondern bot ebenfalls eine Anordnung nach Sachgruppen; Geschlechtsregister und Geographica der biblischen Umwelt – man denke an die berühmte Geographica Sacra seu Phaleg et Canaan des Samuel Bochartus – erwiesen sich als eine Fundgrube für den bildungshungrigen Leser evangelischer Provenienz. 75

Für das Nachfolgende: Artikel »Konkordanz« von Caspar René Gregory, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche X, Leipzig 1901, S. 695 ff.

229 Ähnlich lagen die Dinge in den Niederlanden, wo Zesen solche Sammelwerke zur Verfügung standen. Berühmt waren hier vor allem zwei Bücher, deren Entstehung bis ca. 1530 zurückreicht, die aber immer wieder Neuauflagen erlebten und im 17. Jahrhundert zum selbstverständlichen Bestand einer theologischen Handbibliothek gehörten: der »Quell des Lebens« und die »Hauptartikel«.76 An diesen beiden Büchern wird alsbald die Funktion der Konkordanzen und ihre Attraktivität für ein neues, nicht notwendig akademisch geschultes Publikum erkennbar. Mit dem bereitgestellten Material ist es dem Leser möglich, durch die Bücher beider Testamente hindurchzugehen wie durch eine Landschaft, den Blick bald auf dieses bald auf jenes Detail zu richten und sich während solcher Betrachtung mit dem Ganzen vertraut zu machen. Insbesondere ermöglicht die Konkordanz das Aufleuchten von inneren, verborgenen (›geheimen‹) Beziehungen, die in sog. Parallelstellen an den Tag treten. Damit ist die Wirkungsabsicht der Konkordanz noch nicht vollständig erfasst. Die Anordnung erfolgt nach einem »erbaulichen« Prinzip, das Zweck und Ziel der Bücher unmissverständlich zeigt. Die verschiedenen Bibelstellen sind nämlich so gereiht, dass sie eine durchgehende Gedankenfolge bilden, die in der Regel in ein Gebet mündet. In diesem Sinn war auch die bekannte Konkordanz von Abraham van Gherwen ein großartiger Beitrag zur Andachtsliteratur: Handt-boecxken Ofte: Concordancie/ Dat is: De ghelijckluydende plaetsen/ der Heyliger Schrift.77 Von Bedeutung ist noch, dass dieses »Handbüchlein« in Täuferkreisen benutzt wurde, ja die Konkordanz der Täufer in Holland darstellte. Das Buch bietet mit geschickter Anordnung von 82 Gegenständen von Genesis aufwärts einen großen Vorrat an Motiven und Themen, die zu ebenso vielen Anlässen dienlich waren. Dem Benutzer, der nicht nur nach den damals hochgeschätzten biblischen »Exempeln« suchte, sondern zur Einbindung einer Gelegenheit in die biblische Schriftwelt Parallelstellen brauchte, war eine stattliche Auswahl von Bibelstellen zur Hand. Die für den andächtigen Gebrauch unerlässliche anregende Funktion erhält somit einen kräftigen Akzent. Es erfolgt so eine schrittweise Erweiterung des Einzelnen, der Einzelfall wird in ständig weiter gezogenen Kreisen erweitert und in den breiten Rahmen von Gottes Heilsplan gestellt. Solchermaßen entsteht ein festgefügtes Strukturgebilde, das den einzelnen Menschen mit dem Gesamt der Schöpfung,

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77

»De Fonteyne des Levens«, Rotterdam 1619; »Die principaele hooftarticulen van allen dingen […] wt die heylige scrift […] met grooter neersticheyt vergadert«. Dazu J. G. de Hoop Scheffer: Geschiedenis der kerkhervorming in Nederland van haar ontstaan tot 1531. Amsterdam 1873. 1. Band, S. 415–420. Vgl. Frederik Casparus Wieder: De Schriftuurlijke Liedekens. De liederen der Nederlandsche Hervormden tot op het jaar 1566. ’s-Gravenhage 1900, S. 37 f. Es ist ein Druck bekannt von 1562, ferner: 1576, 1581, 1583, 1614 (u.ö.?).

230 Vergängliches mit Ewigem, den Sünder mit dem Werk der göttlichen Gnade und Erlösung verkettet. Erkennbar ist eine dauernd präsente Durchsicht bis in die metaphysischen Bereiche: Ein ewiger Zusammenhang von Welt und Kosmos mit dem Reich des Himmels, eine alles umfassende Zeit-Raum-Verschränkung, eine unendliche Einheit aus dem Verschiedenartigsten, jedoch nach festem Plan und mit einmaliger Stellung des Individuellen im Ganzen. Für den Kundigen genügte schon ein Antippen des kleinsten Teils, um den Aufriss des Ganzen vor sich zu sehen. Infolge der dogmatisch festgeschriebenen Voraussetzungen und Folgen des Heilsplans erlaubte bereits ein fragmentarischer Teil (ein Wort, eine Textstelle) die stufenweise erfolgende Einreihung in die Geschichte der Welt, von Genesis bis zur Apokalypse, über die Altes und Neues Testament hinreichend informieren. Hinter dem triumphalistischen Auftrumpfen gelehrter Wissenschaft vom Göttlichen (»Theo-logie«), wie es sich in den dickleibigen Konkordanzen präsentiert, scheint nun doch auch die demütige Gebärde des Beters auf. So ist das Wortmaterial der Konkordanzen nichts anderes als ein Steinbruch, aus dem der Gläubige sich seine Steinchen zur »Erbauung« zusammensucht. Diese nurmehr instrumentelle Bedeutung erhebt die Handbücher in den Stand nützlicher praeparationes für den meditierenden Leser: Sie waren ein geeignetes Mittel, seine Phantasie in Gang zu setzen. Vor diesem Hintergrund erhalten Zesens Gebetbücher ihr besonderes und eigenes Relief. Es steht zu vermuten, dass die großzügige Angabe von Textstellen zu jedem Gebet (mit jeweils ausgedrucktem Text) ein ausgesprochen ›moderner‹ Zug war und zur Beliebtheit dieser Gebetbücher entscheidend beigetragen hat. Zesen hat insofern das Zufällige vom Gebet ferngehalten, dass er es jeweils mit wörtlich zitierten Schriftstellen versieht. Diese Struktur unterstreicht die Einheit von Schriftwort und Gebet. Zwischen den Bibelstellen und dem Text der Gebete herrscht bemerkenswerte stilistische Stimmigkeit. Auch da, wo ein heutiger Leser auf Ungeschick zu schließen meint – »Ich arme betrübte sünderin beuge die kniehe meines hertzens vor dem Gnadenstuhl des Allerhöchsten«78 –, lässt sich eine biblische Vorlage ausmachen (hier ist die Vorgabe: Gebet von Manasse, 11). Tatsächlich zeigt Zesen sich bemüht, im Ganzen »die eigne redensahrt der heiligen Schrift«79 zu beobachten und sich sprachlich dem heiligen Prätext anzugleichen. Auf diese Weise gehen die verschiedenen Teile, die »Stoß-Seufzer« und die Bibelzitate, bruchlos ineinander über. Die stilistische Ebene der Gebete ist mit dem »kurz-bündigen« Stilus der Schriftworte in Zesens Sinn zu bestimmen.

78 79

Frauenzimmers Gebeht-Buch S. 10. Frauenzimmers Gebeht-Buch, An= und vor-rede.

231 Auch für Zesen gilt die Bibel sowohl als »Brunnen des Lebens« wie als »Buch der großen geheimnüsse Gottes« (»An= und vor-rede« zum »Gebeht-Buch«), und steht die Aufforderung im Zentrum, durch das menschliche Wort in die Verborgenheiten des göttlichen Worts vorzudringen. Der Aufreihung von Bibelstellen liegt nicht ein schlichtes Wortregister zugrunde, sondern das evidente Bemühen, über den semantischen Kreis den relevanten Sinnbereich aufzuschlüsseln. Dorthin verweist die jeweilige Konkordanz, die im wahrsten Sinn als Anleitung zu verstehen ist. Ein deutliches Beispiel bietet der Text »üm erhörung des täglichen Gebehts.«80 Der Gebettext legt den Akzent auf den Vater- und Mutteraspekt der Bibel. Die Schriftstellen schöpfen zunächst (vorwiegend) aus den Psalmen und verankern das Gebet um Hilfe und Trost biblisch (es werden ca. 10 Psalmverse zitiert). Im nächsten Schritt geht es um neutestamentliche Texte (Matthäus, Lukas, Johannes), in denen die Wirksamkeit gläubigen Betens bekundet wird. Daran schließen sich – gewissermaßen zur Erinnerung und Warnung – solche Stellen an, die ein ›reines Herz‹ zur Bedingung machen (Joh 9,31: »Wir wissen/ daß Gott die Sünder nicht erhöret«). Mit der Zuversicht der Gerechten wird die Reihe ihrem Ende zugeführt, das mit dem vertrauten Zwiegespräch im »Kämmerlein« zwischen dem himmlischen Vater und dem Gläubigen (Mt 6,6) zum Anfang zurückleitet: Mit dem personhaften Gott, Vater in Christus, kommt der Gläubige ›ins Gespräch‹. Der Weg geht, der dogmatisch fixierten Glaubenslehre des 17. Jahrhunderts gemäß, über Buße und Bekehrung. Zesens Gebetbuch ist auch literarhistorisch von einigem Interesse. Seine Stärke bildet die stilistische Vielfalt, die auf die ganze Skala der Affekte einwirkt. Die in Form von Gebeten gehaltenen Meditationen weisen einen hohen Anteil an rhetorischen Figuren auf, die sinnverstärkend positioniert werden. Die Rhetorisierung gehört seit der Wende zum 17. Jahrhundert mit zur Tradition der Erbauungsliteratur. Martin Moller, Johann Arndt, Philipp Nicolai setzen die Rhetorik treffsicher ein, um mit ihrer Hilfe persuasorisch jene Affekte zu bearbeiten, die dem geistlichen Zweck dienlich sind. In den Gebeten steht das »movere« im Zentrum, ihm steht das »delectare« ergänzend zur Seite. Dem entspricht die Zielsetzung des Autors: die Lebhaftigkeit des Stils möge dem Geist Gottes (in traditioneller Metaphernsprache »feurig-flammend« oder »wehend«) vorarbeiten:»ja ich beginne; damit ein höherer geist/ in dem der Geist Gottes kräftiger und durchdringender/ ja gleichsam sauset und brauset/ aufgereitzet werde […]«.81 Zesen sieht seine Aufgabe in gezielter Erweckung der seelischen Regungen durch das Wort und mit Hilfe agogischer Sprachkraft. Zu dem Zweck erachtet er die von ihm entwickelte Stilart, die das Herz in »hei80 81

Frauenzimmers Gebeht-Buch S. 6 ff. Frauenzimmers Gebeht-Buch, An= und vor-rede. Hier auch das folgende Zitat.

232 lige andacht« versetzen soll, besser geeignet als solche, die »viel worte« macht. Im Zusammenhang der historischen Entwicklung geht es nicht nur um eine neue Stilqualität, sondern um eine durch sie bewirkte neue Stimmungslage. Stilistische Signale markieren die gedanklichen Einschnitte, welche die Übergänge zwischen den Bitten und den Betrachtungen bilden, ja machen solche Übergänge erst recht sinnfällig. Auf den betrachtenden Partien liegt ein schwerer Akzent. Sie sind durch die Herübernahme von Schöpfungsgeschichte und Heilsgeschichte in einen intellektuellen Rahmen eingespannt, der im Verbund mit den stilistischen Elementen Beweglichkeit und Spannung erzeugt. Es ist nicht nur die Verwendung des Begriffs »Vorschmack« (schon 1653 in den Gekreutzigten Liebsflammen), der an das so beliebte Werk Der Vorschmack göttlicher Güte von Joachim Lütkemann erinnert (Wolfenbüttel 1653). Es ist auch sonst eine gleich gerichtete Tendenz zu verzeichnen. Die Begrüßung des Morgenlichts gleich zu Anfang von Zesens Gebetbuch erweckt das Verlangen nach dem Aufgang der Morgensonne zu Beginn des Jüngsten Tages. Das gläubige Ich spricht seine Sehnsucht nach dem befreienden Licht aus: »daß ich die heilige Sonne/ die unvergängliche Sonne/ die seelig-machende Sonne entblößet schauen/ und hertz-inniglich grüßen könte«, in die Bitte überleitend: »erwekke in mir den vorschmak der unvergänglichen freudigkeit des ewigen Lichtes/ wie du mir äuserlich die vergängliche freudigkeit dieses zeitlichen tagelichtes erwekket.« Der Mensch ist auch hier noch befangen von dem »greulichen sünden-schwarm« (S. 1), aber ist doch zugleich Teil der Weltschöpfung, an der er bildnishaft teilhat: »Der Mensch/ die kleine welt/ ja der auszug der großen/ darinnen er den lauf seiner irdischen wallfahrt volbringet«. So ist er, in die Liebe Gottes und in die Fülle seiner Wohltaten eingefangen, in der Spannung von Natur und Gnade. Die Richtung der Argumentationsführung ist augenfällig. Die menschliche Abhängigkeit von der göttlichen Gnade und Liebe wird nicht, mit Hinweis auf die lutherische Rechtfertigung, theologisch vorausgesetzt, sondern argumentativ-psychologisch begründet. Darin drückt sich modernes Empfinden aus, das wohl an Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christenthum geschult ist.82 Man denke an das 4. Buch, das im Anschluss an 1 Joh 4,16 die Liebe Gottes erläutert und den Menschen in die Pflicht nimmt, angesichts der Schöpfung Gott zu loben – eine Vorwegnahme der Physikotheologie. Stilistische Nouveauté’s ziehen 82

Von der Arndt-Literatur seien nur zwei Titel erwähnt: Christian Braw: Bücher im Staube. Die Theologie Johann Arndts in ihrem Verhältnis zur Mystik. Leiden 1986; Johannes Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Breuer (Hg.), Frömmigkeit (s. o.) S. 50–74. Der 1. Teil des WC erschien 1606 in Braunschweig, die erste vollständige Ausgabe 1610.

233 jedoch kein Publikum an. Deshalb muss die aus den vielen Drucken des Gebetbuchs zu belegende Beliebtheit andere Gründe haben. Zesens neue, an diese Gattung herangetragene Sprachkultur ist Ausdruck jenes literarisch Neuen: Seine Gebetbücher stehen an einer historischen Umbruchstelle. Um die Mitte des Jahrhunderts begnügt sich der Leser nicht mehr mit dogmatischen Sätzen, sondern will das ihm zugesprochene Heil im Herzen erfahren. Der neue dynamische Stil kommt der erforderlichen ›Herz-beweglichkeit‹ entgegen. Sie erreicht jene Dynamisierung der inneren Regungen, auf die es die moderne Spielart der praxis pietatis abgesehen hatte. Das ›Vergänglichkeitsbarock‹ tritt zurück, die Frömmigkeit richtet sich auf die Bedürfnisse der Seele in den Ängsten und Nöten der sichtbaren Welt, sie orientiert sich mit ihrer Reflexion über den Menschen in Zeit und Welt eher am Alltagsverlauf des Christenlebens. In Zesens Gebetbuch für Frauen erweist sich die religiöse Hilfestellung in der Dynamisierung der Sprache als ›Hilfe von oben‹: Ich tuhe so viel/ als mir mein Gott verliehen; ja ich beginne; damit ein höherer geist/ in dem der Geist Gottes kräftiger und durchdringender/ ja gleichsam sauset und brauset/ aufgereitzet werde/ dasjenige/ was meine schwache gebrechligkeit nicht vollbringen können/ ihnen zu liebe/ vollend zu werke zu richten; und ihnen solche reden/ solche worte vor zu schreiben/ darinnen der Geist des Herren lebendiger/ die liebe Gottes/ und unsers nächsten brünstiger/ und die aufmunterung zur andacht durchdringender erblikket werde.83

Das ist der fromme Vorsatz, das Publikum im wahrsten Sinn zu erbauen. Der Autor bemüht sich nämlich, seine Leser » zur wirklichen Andacht aufzumuntern und diese nicht etwa zu ersetzen.«84 In jeder Hinsicht parallel zum Frauenzimmers Gebeht-buch ist Frauenzimmers Buß= Beicht= und Beht-Büchlein gestaltet. Der Bestimmungszweck wird im Titel spezifiziert: »Vor/ in/ und nach genießung des heiligen Nachtmahls.« Es erschien (ohne Angabe der Jahreszahl) im gleichen Amsterdamer Verlag und bildet mit dem vorhergehenden Titel eine Einheit. Der Verfasser hatte im Vorgängerwerk schon eine Fortsetzung angekündigt, der zweite Teil der Gebetsfolge sei das hier vorgestellte; ein dritter ist wohl über die Planung nicht hinausgekommen. Es sollte sich um Gebete für Frauen handeln, »die sich mit Gotte nunmehr versühnet/ ihren Heiland angezogen/ und hinfort einen Kristlichen tugendhaften wandel zu führen begierig.« Es ist nicht undenkbar, dass das später veröffentlichte Buch von der Nachfolge Christi – die Lehrgesänge – an seine Stelle getreten ist. Die Vorrede verweist den »Gunst-geneugten Leser« auf die »ansprache« vor dem Frauenzimmers Gebeht-Buch zurück und erläutert knapp das Prinzip des Autors. Der Leitgedanke ist Treue zum Schriftwort. Die theologi83 84

Frauenzimmers Gebeht-Buch, S. 336. Frauenzimmers Gebeht-Buch, S. 336.

234 sche Deutungswut wird abgelehnt und unter Berufung auf die ›evangelische‹ Einigkeit und Liebe kritisiert. Es seien »durch menschliche deutungen und unnöhtiges ausgrübeln/ viel spaltungen entstanden.« Im Zeitalter der Orthodoxie sind das Töne, die aufmerken lassen. Sie begegnen in Zesens Oeuvre häufiger, es ist aber wohl an Johann Arndts Betonung der individuellen Frömmigkeit gegenüber der akademischen Theologie zu denken. Zesen greift aber weiter aus. Er formuliert fast programmatisch: »[…] ich wil das Kristentuhm […] bauen; und nicht ümwerfen.«85 Die Wendung des ›Bauens‹ verweist auf die Bedeutung der Erbauung in der altchristlichen Gemeinde (aedificatio). Es war ein Bauen an der Kirche gewesen, das auf dem geistigen Fundament der einzelnen Glaubenden aufruhte. Somit ist die Erbauung hier bezogen auf das »geistliche Verfasstsein«, das sich durch das »Erbauliche« von »anderen Arten belehrender oder moralisierender Literatur unterscheidet.«86 In diesem Sinn ist Zesen ein bewusster Erbauungsschriftsteller. Er hat sein Ziel darin gesehen, nach seinen eigenen Worten »die kristliche einigkeit und liebe/ als das neue gebot des neuen Bundes/ im baulichen wesen [zu] erhalten.«87 Damit rückte er seine schriftstellerische Tätigkeit unter den Aspekt der Liebe und Einigkeit, der vor der Folie der damaligen Zeitverhältnisse etwas anderes meinte als heute. Dieselben Kategorien und dieselbe Verpflichtung auf die christliche Einigkeit und Liebe (concordia) beherrschen nämlich die Schriften im Umkreis des Dreißigjährigen Krieges, der ja auch in erster Linie ein Religionskrieg war. Der Friedensschluss lag bei Erscheinen von Zesens Gebetbüchern nur um wenige Jahre zurück. Amsterdam als Druckort lässt die Vermutung zu, dass Zesen in den Niederlanden Kontakte hatte zu frommen Kreisen, in denen die individuelle Frömmigkeit gepflegt wurde. Im toleranten Klima der holländischen Republik konnten sie gedeihen. »Es gab in der Republik keine Handbreit Boden, wo nicht sehnsüchtige Seelen, wie auch immer, ihren Durst nach mystischen Erfahrungen löschen konnten. Denn von der Stadt oder dem Dorf, wo sie ihren Ursprung hatten, breiteten die pietistischen Sekten sich im 17. Jahrhundert wie ebenso viele kleine Flüsse aus, übereinander und durcheinander fließend, über das ganze Gebiet der Sieben Provinzen, das gleichsam ein ganzes mystisches oder mystizistisches Quellgebiet bildete.«88 Ausländer fanden hier offene Türen. Jean de Labadie etwa hatte starken Zulauf (und hatte nicht nur Anna Maria van Schurman angezogen, die ihm folgte), neben ihm konnten sich andere frei entfalten, wie zum Beispiel Antoinette Bourignon. Die Werke Jacob Böhmes (1575–1624) wurden hier 85 86 87 88

Frauenzimmers Buß= Beicht= und Beht-Büchlein, Gunst-geneugter Leser. Johannes Procopé, Artikel »Erbauungsliteratur«, in: TRE, S. 29–43, hier 29. Wie Anm. 46, ebd. P. Polman O. F. M.: Godsdienst in de Gouden Eeuw. Utrecht / Brussel 1947, S. 38 (Übs. F. v. I.).

235 gesammelt, gedruckt und übersetzt,89 Jan Amos Comenius leitete von hier aus seine Kirche. Die Immigranten90 hatten auch Kontakte zu den Männern der pietistischen Reformbewegung im niederländischen Calvinismus (»Nadere Reformatie«), deren Frömmigkeit nicht nur mit der des englischen Puritanismus verwandt war, sondern auch Ähnlichkeiten mit den Idealen der spätmittelalterlichen »Devotio moderna« aufwies. Da die Volkskirche sich nicht so schnell reformieren ließ, suchten diejenigen, die eine radikale Besserung des religiösen und moralischen Lebens anstrebten, diese im privaten Bereich zu verwirklichen. In Seeland scharten die Brüder Eloud und Willem Teellinck fromme Seelen um sich, in Utrecht bildete sich um den Theologieprofessor Gisbert Voetius ein Kreis, dem auch Anna Maria van Schurman angehörte.91 In der teilweise asketischen Gesinnung mit starker Betonung der Christus-Frömmigkeit wurde in allen jenen Kreisen, mit je anderem Akzent, etwas vom Erbe der großen Bewegung der »Devotio moderna« bewahrt.

7.4

Lehrgesänge von Kristus Nachfolgung

Zesen hat seine Erbauungsschriften Fürstinnen und adligen Damen gewidmet. Solches ›Andienen‹ lässt auf das Publikum schließen, an das er sich richtet. Freilich geht die soziale Exklusivität nicht aus den Auftrags- und Vorreden, aus Begleit- und Lobgedichten selber hervor. Diese halten sich, wie in der obigen Titelformulierung, an das Allgemeine und reden allenfalls das weibliche Geschlecht insgesamt an, wobei etwa die (nach allgemeiner Ansicht) besondere Eignung der Frau für die Dinge des Herzens herausgestellt wird. So richtet sich einer der Balthis-Dichter in dem Lobgedicht »Auff des Hochedlen Herrn Wohlsetzenden/ Filips von Zesen […] Geistreiches FrauenZimmers=Gebettbuch« direkt »An das Hochdeutsche FrauenZimmer«: Hihr herbey/ Du schönes Volk! trehtet her/ Ihr Erdgöttinnen/ Di der Himmel nimals minder/ als die Männer hertzlich libt/ Sehet! was der teure Zesen euch vor teure Gaben gibt: 89

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Vgl. Ferdinand van Ingen: Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bonn 1984. (Nachbarn Nr. 29.) Es sei hingewiesen auf: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham van Beyerland. Hg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam, In de Pelikaan, 2007. (Rez. von F. v. I.: Arbitrium 3, 2009, S. 302–305). Sie bildeten in der Amsterdamer Stadtkultur ein wesentliches Element. Siehe Erika Kuijpers: Migrantenstad. Immigratie en sociale verhoudingen in zeventiende-eeuws Amsterdam. Hilversum 2005. F. A. van Lieburg: De nadere reformatie in Utrecht ten tijde van Voetius. Rotterdam 1989.

236 Dessen färtigedler Geist/ dessen Feüervolle Sinnen/ Sich geswungen schon vorlängst zu den höchsten Sternenzinnen. Brauchet/ Schöne/ was Er schenket/ wan Euch dis und das betrübt; Braucht es/ wan di wahre Tugend auch soll werden außgeübt. Braucht es/ wan ihr seelig sein/ und den Himmel wolt gewinnen.92

Dieser Aufforderung kamen wohl nur die Damen nach, die diesem Stil und dessen spezifischem Affektgehalt aufgeschlossen waren. Gilt doch allgemein, also auch für Zesens erbauliche Schriften, dass die in der Widmung ausgedrückte aristokratische Zielsetzung in den Werken selber realisiert wird: Sie schlägt sich im Inhaltlichen wie im Stilistischen nieder.93 Überraschenderweise sind die Lehrgesänge94 einem Ehepaar gewidmet. Der Hauptteil ist Georg von Schöbel und Rosenfeld zugeeignet, die angehängten drei Tugendlieder (mit eigenem Titelblatt) seiner Frau Maria Dorothea. Das erklärt sich wohl zunächst aus den Umständen. Schöbel war Kanonikus in Magdeburg, der Komponist der Gesänge, Zesens Freund Malachias Siebenhaar, Pfarrer an der dortigen Ulrich-Levienskirche. Der Druckort war ebenfalls Magdeburg, möglicherweise hat Schöbel den Druck finanziert. Schöbel und Siebenhaar waren beide Mitglieder der Deutschgesinneten Genossenschaft; hier bot sich die Gelegenheit, gleichsam im Namen der Sprachgesellschaft aufzutreten. Schöbel (1639–1680) war ein bedeutender Mann, Syndikus der Stadt und Mitglied sowohl der Fruchtbringenden Gesellschaft (dort hieß er der »Himmlischgesinnte«) wie der Lilienzunft der Deutschgesinneten Genossenschaft (mit dem Namen der »Fröhliche«).95 Ob engere persönliche Beziehungen zwischen ihm und dem Dichter bestanden, war nicht zu eruieren, sind aber anzunehmen. Als nämlich die Schöbelsche Ehe 1675 mit der Geburt eines Sohnes gesegnet wurde, gratulierte Zesen mit einem langen Gedicht unter dem Titel Der fröhliche Eheseegen. Auf beide Gesellschaften spielt dessen Schlussteil an. Die Rosen und Lilien der Genossenschaft bilden das »Tugendfeld«, des Dichters »Feldschalmei« lobt den Vater, den »Fröhlichen im HERRN«, und nimmt schließlich den ›frucht-bringenden‹ Namen als vielsagendes ›Omen‹:

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BALTHIS Oder Etlicher an dem Belt weidenden Schäffer des Hochlöbl. Pegnesischen Bluhmen Ordens Teutscher Gedichte Drey Theile. Bremen 1677. S. 208 f. Alberto Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz. In: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur, 1 (1976), S. 107–145, insbes. 120 ff. Vollständiger Titel: Filips von Zesen andächtiger Lehr=gesänge von Kristus Nachfolgung und Verachtung aller eitelkeiten der Welt/ erstes Mandel/ Aus dem Seeligen Tohmas [!] von Kempis gereimet/ und mit anmuhtigen Sangweisen gezieret durch Malachias Siebenhaaren […] Mitgenossen der höchstpreiswürdigen Deutschgesinten Genossenschaft. Gedrukt zu Magdeburg […], Nürnberg 1675. Zitiert wird nach: SW I/2. Bei Jöcher (4. Bd., Sp. 318) wird er Ratsherr und Syndicus zu Breslau genannt. Hier auch die Titelerwähnung: Flores ex C. C. Taciti horto decerptos.

237 Wohl dem/ und aber wohl/ der Himlisch so gesint/ Daß Er von oben her so Edle Frucht gewint!

Konnte dieser Name schon ein Fingerzeig sein, war aber für die Widmung des Erbauungsbuchs noch in Rechnung zu stellen, dass Nachfolge Christi, dem strikten Wortlaut des Evangeliums nach, Männersache war: »Spricht Jesus zu seinen Jüngern: Wil Mir jemand nachfolgen/ der verleugne sich selbst/ und nehme sein Kreutz auf sich/ und folge Mir nach« (Mt16,24, bei Zesen auf der Versoseite des Titelblatts abgedruckt). Darauf weist auch die thematische Orientierung einiger Kapitel hin, die auf die Lebensführung des Mannes in Welt und Gesellschaft Bezug nimmt. Zesens Verse gehen die vorgezeichnete Bahn und richten sich mitunter ausdrücklich an den männlichen Adressaten: »Ein Kristman mus ein Kreutzman sein«96, »Den Weibern/ welche from/ gib ehre :// sonst sei mit ihnen nicht gemein.«97 Die Lieder folgen der von Johann Arndt vorgeprägten Übersetzung des lateinischen Originals der Imitatio Christi, an die Zesen sich in den Prosaabschnitten eng anlehnte.98 Arndt wurde übrigens von Zesen zu den ersten ›Sprachmeistern‹ seiner Zeit gerechnet, die er 1651 als exemplarische Vorbilder empfahl.99 In der Rangordnung (»für allen Arndts schriften«) mag sich auch eine geistige Wertschätzung ausdrücken, die ihn 1675 selbst veranlasste, in Arndts Spuren zu treten. Für Arndt war Thomas von Kempen die wichtigste Bezugsgestalt ›in litteris‹, unerschöpfliches Vorbild und Führer auf dem Weg zum »wahren Christentum«. Arndt war keine Ausnahme: Die Imitatio Christi wurde nach der Bibel das meistgelesene Buch der Christenheit. Die Feststellung gibt eine Reihe von Fragen auf, die für Verständnis und Begriff der Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert wesentliche Bedeutung haben. Wie konnte zum Beispiel, über die Entstehungszeit und über die konfessionellen Schranken hinaus, das Buch eine so eminente Stellung erlangen? »Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, wieso ein Buch weltberühmt werden konnte, das eigentlich lauter Anforderungen stellt, die dem Menschen von Natur aus widerstreben: Welt- und Selbstverachtung (I,1,12; I,216), Abwertung der eigenen Meinung und Person gegenüber der anderer (I,2,17; 9,10; III,8), Bevorzugung von Demütigungen gegenüber Ehrungen (II,7,22), Sterben als ein Prinzip der Lebensgestaltung (II,12,58), kurz: 96 97 98

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SW Bd. I/2, S. 354, Z. 19. S. 324, Z. 13. Zwey alte vnd edle Büchlein. Das Erste. Die Deutsche Theologia/ […]. Das Ander. Die Nachfolge Christi. […] Jetzo auffs newe […] deutlicher vnd verstendlicher denn zuuor an den tag gegeben/ Durch Johann Arndten. Magdeburg 1606. Rosen=mând, Hamburg 1651: »von den neuen aber für allen Arnds schriften/ und dan Buchnern und Opitzen/ darnach die zu Köhten ausgefärtigte bücher/ weil man sich darinnen sonderlich beflissen/ rein und unvermischt deutsch zu schreiben …«: SW XI, S. 224.

238 Weltentsagung und Selbstverleugnung.«100 Die Wirkungsgeschichte der Imitatio ist ein Indiz für die Konstanz ihrer Frömmigkeitsvorstellungen über Jahrhunderte hinweg. Die Dominanz des ethischen Ideals der Christus-Nachfolge im praktischen Leben, wie sie auch in protestantischen Kreisen üblich war, dürfte im 16. und 17. Jahrhundert die leer gewordenen Stellen der Heiligenvitae eingenommen haben. Das Bedürfnis nach Exempel- und Vorbildfiguren war im protestantischen Bereich kaum geringer als im katholischen.101 Jedenfalls hatte das kleine Buch des Thomas von Kempen (ca. 1379–1471) erstaunlichen Aufwind. Die Auflagenhöhe ist im 16. Jahrhundert enorm,102 um dann im 17. massiv anzusteigen, namentlich in übersetzter Fassung. Eindrucksvolle Zahlen belegen den Tatbestand: »Das heißt, daß es die von Thomas à Kempis unter dem Einfluß der ›Devotio moderna‹ im 15. Jahrhundert vorgelegte Sammlung von Überlegungen zur praktischen Frömmigkeit und von Erwägungen aus dem Bereich der mystischen Erfahrung im 16. Jahrhundert auf insgesamt 191 Auflagen brachte, […] im 17. Jahrhundert dagegen auf insgesamt 465 Auflagen oder 4,65 Auflagen pro Jahr. Zählt man die Auflagen dieses Werks von 1600 bis zum Jahre 1740, dann sind es sogar insgesamt 744 Auflagen oder im Durchschnitt 5,31 Auflagen für die einzelnen Jahre.«103 Die Aktualität der Imitatio Christi hatte in den 70er Jahren des Jahrhunderts keineswegs nachgelassen. Im Hausse der Erbauungsliteratur hat sich die Beliebtheit erhalten, was als ein Hinweis auf sozial-psychologische Gründe anzusehen ist. Die Glaubenskrise, von der schon die Rede war, prägte die Zeitstimmung des 17. Jahrhunderts insgesamt. Die vorherrschende Angst (Kriege, Seuchen, Hungersnöte) forderte die Kirchen heraus. Diese versprachen Hoffnung und Trost unter Hinweis auf ein seliges Leben am Ende des irdischen »Jammertals«. Die Erbauungsliteratur kam den Bedürfnissen möglichst entgegen, spendete Trost und löste mit unerschütterlicher Zuversicht das Versprechen auf Erlösung ein, indem sie Krankheit und Not, Leid und Tod als Formen des Kreuztragens im Christenleben verstehen 100 101

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Rudolph Mohr, Artikel »Erbauungsliteratur« in: TRE, Zit. S. 48. Vgl. John Exalto: Gereformeerde heiligen. De religieuze exempeltraditie in vroegmodern Nederland. Hilversum 2005. Lehmann (wie Anm. 5), S. 115: »Schon in den 100 Jahren zwischen 1500 und 1600 brachte es dieses Werk auf 65 lateinische Auflagen, auf 48 italienische, 18 französische, 16 deutsche, 14 niederländische, 13 englische und 9 spanische sowie auf 5 Auflagen in verschiedenen anderen Sprachen und auf 3 Ausgaben, in denen der Stoff des Buches in freier Bearbeitung vorgelegt wurde. In den 100 Jahren zwischen 1600 und 1700 wurde De Imitatione Christi, soweit sich das feststellen lässt, dann aber allein 124mal in der lateinischen Version neu aufgelegt, dazu in 119 französischen Ausgaben, in 43 italienischen, 28 niederländischen, 27 deutschen, 21 spanischen, 14 englischen sowie in 28 Auflagen in weiteren Sprachen …«. Lehmann, ebd.

239 lernten. Auf diesem Boden wuchs das barocke Märtyrerdrama, von dem Constantia-Ideal des Neustoizismus zusätzlich vorbereitet. Auf protestantischer Seite wurde Thomas’ Schrift bald rezipiert, allerdings ohne das 4. Buch. Die ersten evangelischen Drucke erschienen 1531 und 1536 bei Philipp Ulhart in Augsburg, herausgegegeben von Kaspar von Schwenckfeld (1498–1561). Danach folgten in großer Zahl weitere evangelische Drucklegungen.104 Neben Schwenckfelds Ausgabe wurde ferner die von Sebastian Castellio (1515–1563) ins Humanisten-Latein übertragene Ausgabe, Basel 1563, wichtig. Für die Frömmigkeitsgeschichte wie für die Rezeptionsgeschichte der Imitatio Christi folgenreicher wurde dann die Aufnahme und Verarbeitung durch Johann Arndt in seinem Wahren Christentum, namentlich im ersten Buch, das als Auftakt zu den bereits konzipierten vier Bücher umfassenden Werk 1606 in Braunschweig erschien. Der Tenor des Ganzen lag damit vor Erscheinen der ersten vollständigen Edition von 1610 unmissverständlich fest. Die Akzentverschiebung war unübersehbar: die Akzentverschiebung von Luthers dogmatischer Theologie (›Christus als Erlöser‹) auf die christliche Lebenspraxis bei Arndt und deren auf Thomas von Kempens Imitatio-Lehre basierende Grundlage – »… so stellet uns Gott seinen lieben Sohn für unsere Augen/ nicht allein als einen Heiland/ sondern auch als einen Spiegel der Gottseligkeit mit seinem heiligen Leben.«105 Die Imitatio-Lehre als sittliche Verpflichtung für ein Christenleben erreichte mit Johann Arndt ihre größte Breitenwirkung im lutherischen Protestantismus. Zählt man die vielen Druckorte und Drucke zusammen, kann man ohne weiteres von einer Massenwirkung sprechen. Arndt, »die einflußreichste Gestalt der lutherischen Christenheit seit den Tagen der Reformation«,106 ist für die Geschichte der Frömmigkeit des frühneuzeitlichen Protestantismus vermutlich von einer Bedeutung gewesen, die noch nicht einmal in Umrissen bekannt ist.107 Das Wahre Christentum wurde zum verbreitetsten lutherischen Erbauungsbuch überhaupt. »Ihre Auflagen und 104

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Edmund Weber: Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum als Beitrag zur protestantrischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung. Marburg 1969. (Schriften des Instituts für wissenschaftliche Irenik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, II), S. 42 f. Eine vollständige Bibliographie der Imitatio Christi fehlt. Dieses Zitat spielt eine wichtige Rolle in der Untersuchung von Christian Braw: Bücher im Staube. zit. S. 105. Johannes Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984, S. 50–74, hier 54. (Daphnis, Bd. 2) Es sei ausdrücklich auf Wallmanns Aufsatz verwiesen und auf Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. Tübingen 1981. Bd. 1, S. 215–225. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 64 und 65)

240 Ausgaben allein im deutschen Sprachbereich sind Legion. Arndts Werk aber sprengte die nationalen Grenzen und verbreitete sich über ganz Europa und Nordamerika.«108 Wallmann hat mit seiner pointierten Formulierung wohl Recht: die Wirkungsgeschichte Arndts »ist innerhalb der Geschichte des neuzeitlichen Protestantismus ohne Vergleich, übertrifft sicherlich diejenige Luthers (wenn man von dessen Bibelübersetzung, Katechismus und den Liedern absieht).«109 Die Kirchengeschichte hat das bisher nur zögernd zur Kenntnis genommen bzw. hat dort, wo man sich mit Arndts Wirken beschäftigte, seine Bedeutung möglichst herabgesetzt (exemplarisch bei Wilhelm Koepp) oder es so hingestellt, als wäre Arndt von seinen Amtskollegen nur angegriffen und angefeindet worden, etwa in Form der Behauptung, daß die Zeit »gegen Arndts ›Wahres Christentum‹ mit allen nur denkbaren Mitteln vorging«.110 Arndt blieb zwar nicht unwidersprochen, aber er fand ebensoviele Verteidiger,111 unter ihnen führende Vertreter der lutherischen Orthodoxie, die sich ebenso wie Johann Gerhard positiv über ihn geäußert haben. In der älteren Forschungsliteratur findet man übrigens schon Hinweise, dass die Reformorthodoxie Arndt direkt nachgeahmt hat und eine regelrechte Arndt-Schule von Erbauungsschriftstellern entstand.112 Es ist für uns nicht leicht nachvollziehbar, weshalb die Historiker der lutherischen Kirche sich mit Arndt so schwer getan haben.113 Muss doch die Aufforderung Christi, ihm nachzufolgen,114 nur als der Kern der »praxis evangeliorum« angesehen werden, oder – mit Arndt zu reden: »Der ist ein rechter Diener Christi/ der Christo im Leben nachfolget […]. Ein Liebhaber 108 109 110

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Edmund Weber, S. 178. Wallmann (1984), S. 52. Ingeborg Röbbelen: Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Göttingen 1957, S. 26. Paul Egard: Ehrenrettung Johannis Arndten/ Das ist/ Christliche vnd in Gottes Wort wolgegründete Erinnerung/ was von D. Lucae Osiandri […] vber Johan Arndten wahres Christenthumb seye zu halten. Lüneburg 1624. [SB Berlin]; [Melchior Breller] Wahrhafftiger […] Bericht vom wahren Christenthumb Herrn Johannis Arndten/ auß den gefundenen brieflichen Vrkunden zusammen getragen. Lüneburg 1625. [UB Marburg] Johann Gerhards Zeugnis, in: Erdmann Rudolph Fischer: Vita Ioannis Gerhardi. Lipsiae 1723, S. 502 f. Die Schrift Osianders trägt den Titel: Theologisches Bedencken/ Vnd Christliche Treuhertzige Erinnerung/ welcher gestalt Johann Arndten genandtes Wahres Christenthumb/ nach Anleitung deß H. Worts Gottes/ vnd der reinen Evangelischen Lehr vnd Bekandtnüssen anzusehen vnd zuachten seye. Tübingen 1624. [HAB Alv.: Ac 551,1]. H. Beck: Die religiöse Volksliteratur der evangelischen Kirche Deutschlands. Gotha 1891; H. Leube: Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie. Leipzig 1928. Offensichtlich war der Name von Johann Arndt vorbelastet, und derjenige, der sich mit ihm einließ, geriet durch ein halboffizielles Verdikt in Zugzwang, so dass ein unbefangenes Urteil erschwert wurde. Hier ist nicht die Rede von seinen umfangreichen Predigtbänden! »Folget mir nach«: Mt 4,19; 20,22; 19,21; Mk 1,17,18, 20; 2,14; 10,21; Lk 5,11,27,28; 9,59; 18,22; Joh 1,43; 21, 19,22. Nachfolge durch Gleichwerdung: 1 Petr 2, 21.

241 Christi ist auch ein Nachfolger Christi.«115 Ein Blick in die Theologie- und Kirchengeschichte macht aber die Hintergründe der Vorbehalte und Kritik deutlich. Das Zeitalter der Orthodoxie kennzeichnet sich, wie man weiß, durch Konfessionalisierung.116 Die lutherische Kirche bekämpfte in ihrem Bemühen um Rechtgläubigkeit nicht nur den Calvinismus, sondern auch jene Bestrebungen in den eigenen Reihen, die durch Betonung des persönlichen Glaubenserlebnisses zu einer »Privatisierung« des Christentums tendierten. Die orthodoxen Theologen zeigten sich besorgt, dass ohne kirchlichen Halt (Gottesdienst und Katechese) ein religiöser Wildwuchs die Gläubigen verwirren und dass eine mit der Christus-›Verinnerlichung‹ einhergehende Geringschätzung der Sakramente und der Wortverkündigung schließlich Häresien verschiedener Art Tür und Tor öffnen könnte. Solche Befürchtungen waren, vom Standpunkt der Orthodoxie aus gesehen, nicht ganz unbegründet. Es ist hier nicht der Ort – und es fällt nicht in meine Kompetenz – darauf näher einzugehen. Stattdessen wollen wir den Hauptpunkt der Kritik herausgreifen, auf den sich bis in unsere Zeit die Bedenken gegen Arndt konzentrieren: Arndt habe durch sein Anknüpfen an die mittelalterliche Mystik die lutherische Rechtfertigungslehre untergraben und die Bedeutung von Christi Erlöserfunktion geschmälert. Der Mystikvorwurf hat das Arndt-Bild der Forschung geprägt. So stellt Wilhelm Koepp, deutlich von Albrecht Ritschl herstammend, in seiner immer noch grundlegenden Monographie Mystik und Christentum einander gegenüber. Es dürfe als das Ziel des Christentums nicht eine persönliche ›Vereinigung‹ mit Gott in Form eines innerlichen Besitzes Christi angesehen werden, sondern ledigleich eine ›Verkehrsgemeinschaft‹ mit Gott. Da er Arndt für einen Mystiker hält, muss das Urteil über ihn notwendig negativ ausfallen: »Arndts Lebenswerk, ›die Mystik im Luthertum‹, ist für uns gefallen.«117 Die neuere Forschung hat Koepp sowohl hinsichtlich seiner Grundthese als auch in seiner Voraussetzung von Arndts eigener mystischer Erfahrung (und zwar in einer Entwicklung von der Deutschen Mystik bis zur Bernhardinischen) überzeugend widerlegt. Wallmann bringt die neue Sicht bündig zum Ausdruck: »er war kein Mystiker, aber ein Liebhaber der Mystik.«118 Man hat inzwischen auch den breiten Strom an mystischer Literatur, der das Luthertum seit Anfang des 17. Jahrhunderts begleitet und bei Arndt in einzigartiger Weise zusammengefasst und verarbeitet wird, neu 115 116

117

118

Vorrede zum 1. Buch des WChr von 1606. [Ex. HAB 988. 8 Theol.] Siehe Wolfgang Reinhard: Sozialdisziplinierung – Konfessionalisierung – Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs. In: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungsergebnisse. Paderborn-München-Wien-Zürich 1997. S. 38–55. Wilhelm Koepp: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Berlin 1912. Ndr. Aalen 1973, S. 284. Wallmann (1984). S. 74.

242 sehen und einschätzen gelernt.119 Was Arndt betrifft, hat Wallmann mit Nachdruck auf die Umarbeitung der mystischen Tradition hingewiesen: Es sind Anleihen aus der Tradition der christlichen Mystik. Arndts Schriften also kein Quell einer besonderen, nämlich protestantischen Mystik […], sondern eher Brunnenrohre, durch die das Wasser des seit der Reformation abgedrängten Stroms mittelalterlicher Mystik wieder in das Luthertum zurückgelenkt wird. […] Arndt hat keine überkonfessionelle Mystik verbreitet, sondern eine lutherisch konfessionalisierte Mystik.120

Unter diesem Aspekt ist auch seine Aufnahme der alten Leben-ChristiEthik differenzierter zu beurteilen. Sie steht bei Arndt in engstem Zusammenhang mit der neuen Erschließung der Theologia Deutsch, die schon Luther mit einer eigenen Vorrede 1520 herausgebracht hatte: Zwey alte vnd edle Büchlein. Das Erste. Die Deutsche Theologia/ […]. Das Ander. Die Nachfolge Christi. […] Jetzo auffs newe […] deutlicher vnd verstendlicher denn zuuor an den tag gegeben/ Durch Johann Arndten. Der Sinn dieser programmatischen Sammelausgabe, die 1606 in Magdeburg gedruckt wurde, lässt sich unschwer bestimmen: Eine rechte Theologie müsse sich wieder auf ihre Ursprünge in der persönlichen Gottesbegegnung besinnen und müsse die Imitatio Christi einschließen (gemäß 1 Petr 2, 21 ff.), für die eine verinnerlichte Glaubenserfahrung die Voraussetzung darstellt. In der Vorrede bezieht Arndt eine deutliche Position. Er stellt der Kontroverstheologie seiner Zeit eine Lebenspraxis entgegen, die auf der erfahrenen Nähe Gottes statt auf dem Wissen über ihn aufbaut: Du wirst in diesen Büchlein nit viel unnützes geschreyens/ disputierens/ streitens/ oder einigen menschlichen affecten/ oder stachlichte reden finden/ sondern lautere reine liebe/ verlangen nach dem höchsten ewigen gute/ absagung vnd verschmehung der Welt eitelkeit/ die Auffopferung deines eignen willens/ die tödtung vnnd creutzigung deines fleisches/ die gleichförmigkeit Christi in gedult/ sanfftmut/ demut/ Creutz/ trübsal vnnd verfolgung. Summa/ wie du der Welt absterben/ vnd Christo leben sollest. Es ist bißdaher viel von der Christlichen lehr disputirt/ gestritten/ vnd geschrieben/ wenig aber vom Christlichen leben.121

Es ist der gleiche Impetus der Erfahrung versus der akademischen Wissenschaft, der im Vorwort zum Wahren Christentum den ethischen Appell markiert: »Viel meinen/ die Theologie sey nur eine blosse Wissenschafft und Wortkunst/ da sie doch eine lebendige Erfahrung und Ubung ist.« Die durch den Streit um Rechtgläubigkeit entstandene Kluft zwischen Lehre und Leben versucht Arndt mit Rückgriff auf den breiten Fundus vorreformatorischer kontemplativer Literatur zu schließen. 119

120 121

Hier hat vor allem Heinrich Bornkamm vorgearbeitet, insbes. mit »Mystik, Spiritualismus und die Anfänge des Pietismus im Luthertum.« In: Vorträge der Theologischen Konferenz, 44. Folge. Gießen 1926. Wallmann (1984), S. 62 und 72. Zitiert nach dem Exemplar HAB 1089. 7 Theol, fol. iiijr+v.

243 Die Adaption der Imitatio Christi im Wahren Christentum dient ganz diesem Zweck und wird dieser Zielsetzung angepasst. Dabei lehnt sich Arndt nicht an seine Vorlagen an, sondern entlehnt aus ihnen direkt und nahezu wortwörtlich,122 allerdings mit charakteristischen Änderungen. Wo etwa Thomas à Kempis bei der Enthaltung von Welt und Gesellschaft auf das Mönchtum und die Klosterzelle verweist, tritt bei Arndt eine anders gefärbte Welthaltung in Erscheinung, die anstelle eines äußeren Rückzugs aus der Welt eine permanente innere Distanz von den Weltdingen fordert, die sich letztlich von der lutherischen Sozialethik nur graduell entfernt. Auch sonst zeigen die Umformungen das Bemühen, bei Wahrung der lutherischen Glaubensinhalte (wie die Rechtfertigungslehre), die Lebenspraxis durch eine erneuerte ›Beschaulichkeit‹ zu vergeistigen und ihr so eine neue Qualität zuzuführen. Die bisherigen Quellenvergleiche und Analysen haben m. E. zu wenig beachtet, dass Arndt das ältere Material für sein Anliegen grundsätzlich anders einsetzt, wodurch es tendenziell pietistisch eingefärbt wird. Das zeigt die zeittypische Funktionalität, die die Nachfolge Christi bei Arndt erhält. Sie wird in eine reformatorische Frömmigkeit transplantiert, die auf erlebte ›Echtheit‹ des Glaubens hin arbeitet. Der Zielpunkt der Leben-Christi-Lehre ist nämlich die Erneuerung der Taufgnade durch die Wiedergeburt im Geist, die im späteren Pietismus, bei Spener, zur zentralen Kategorie des ›neuen Menschen‹ führen sollte.123 An diesem Punkt der ›Wiedergeburt‹ im Geist und durch den Geist wird nun aber zugleich deutlich, dass Arndts Anleihen bei der Mystik nicht eigens reflektiert werden und wegen ihrer begrifflichen Unschärfe bzw. terminologischen Sorglosigkeit nicht auf die Goldwaage gelegt werden sollten. Die ›Wiedergeburt‹ wird zum Beispiel folgendermaßen umschrieben: Diß ist die vereinigung mit Gott/ […] die vermehlung mit vnserm Himmelbreutigam Christo Jesu/ […] Der lebendige Glaube/ die newe Geburt/ Christi Einwohnung in vns/ Christi edles Leben in vns/ des H. Geistes früchte in vns/ die Erleuchtung/ die Heiligung/ das Reich Gottes in vns. Diß alles ist eins. […] Das ist die newe geburt/ die da kömpt auß dem Glauben an Christum.124

Aus der unterschiedslosen Aneinanderreihung von Begriffen verschiedener Provenienz soll offensichtlich nur auf die Zielrichtung des Gemeinten geschlossen werden, während die begriffliche Phalanx selber Unterschiede eher bewusst einzuebnen scheint. Ist die Wiedergeburt das Ziel, so ist die Imitatio Christi mit ihren einzelnen Stufen bei Arndt Teilaspekt – wenn auch ein wesentlicher – eines 122 123

124

Vgl. die Analysen bei Edmund Weber, S. 42 ff. Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Witten 1969. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 2) Zwey alte vnd Edle Büchlein, fol. vjv.

244 größeren Komplexes. Es finden sich im Wahren Christentum mehr als vierzig Belegstellen, die eine eindrucksvollle Kontinuität mit der Tradition erkennen lassen. Aber durch die Einbindung in das Postulat »Christus in uns« als Wesensgehalt des »wiedergeborenen« Menschen erfolgt eine spürbare Akzentverlagerung. Wenn Arndt sein Anliegen im Wahren Christentum prägnant formuliert, wird die Neugeburt als Absage an die in Adam verdorbene Natur gefasst: »Wie ein wahrer Christ in Adam teglich sterben/ in Christo aber leben/ vnd nach dem Bilde Gottes erneuwert werden/ vnd in der Neuwen geburt leben müsse.«125 Christus-Nachfolge ist hier unter dem Aspekt des »Lebens in Christo« nicht nur Meditation und asketische Weltabkehr, sondern auch ständige Tugendübung nach dem Vorbild Christi. – »Dann was ist doch lehr und leben/ als ein Baum ohne früchte?«126 Über die Imitatio gelangt man zur Gleichförmigkeit mit Christus und diese führt schließlich zur Wiederherstellung der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit.127 Aus der Leben-Jesu-Ethik wird so eine Rückführung des Menschen in die anfängliche göttliche Schöpfungsordnung. Das ist dann aber längst nicht mehr Tauler oder die Theologia Deutsch und Thomas à Kempis: Hier steht Arndt den Vorstellungen Jacob Böhmes und des Spiritualismus ungleich näher.128 In Arndts Paradiesgärtlein (1612) ist eine andere mystische Tradition wirksam, nämlich die bernhardinische Jesusmystik mit ihrem Verlangen der Seele nach dem himmlischen Bräutigam. Zesen, jahrzehntelang in Amsterdam ansässig, übersetzte das Gebets- und Erbauungsbuch ins Niederländische. In dieser Form erlebte das Paradijs-Hofken zwischen 1658 und 1750 ca. 20 Auflagen. Aber schon früher hatte Zesen aus Arndts Buch geschöpft: das zeigen die Gekreuzigten Liebsflammen, die 1653 in Hamburg erschienen. Gleichzeitig verankerte Zesen sein Buch im niederländischen Umfeld der Anna Maria van Schurman. So überrascht es nicht, dass Zesen in den Liebsflammen gleichfalls die Christus-Nachfolge thematisiert, wie es schon der dritte der vorangestellten Leitsprüche anzeigt: »Wer nicht sein Kreuz auf sich nimt/ und folget mier nach/ der ist meiner nicht währt/ sagt der Gekreutzigte Heiland.« Es ist ein Matthäus-Zitat. Zesens Beiträge zur Erbauungsliteratur bilden die ständige Begleitung seines vielfältigen Schaffens. »Der bedeutendste Erbauungsschriftsteller 125 126 127

128

Wahres Christentum, unpag. S. 17. Zwey alte und Edle Büchlein (wie Anm. 98), fol. vr Vgl. Die Überschrift des Schlusskapitels des WChr: »Das ganze Christenthum stehet in der Wiederaufrichtung des Bildes Gottes im Menschen/ und in Austilgung des Bildes des Satans.« Es sei auf Hans-Georg Kempers Untersuchung »Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß« verwiesen. 2 Bde. Tübingen 1981. Für die Paracelsusrezeption Edmund Weber, S. 108 ff., und Gustav Adolf Benrath in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Hg. v. C. Andresen. Bd. 2, Göttingen 1980, S. 598 ff. (»Johann Arndt und der Spiritualismus des 17. Jahrhunderts«).

245 unter den deutschen Dichtern des 17. Jahrhunderts ist Zesen« – Karl Viëtors Feststellung hat ihre Gültigkeit behalten.129 Die erbauliche Prosa atmet den gleichen pietistisch gefärbten Geist der geistlichen Lieder. Sie fordern zur demütigen Selbstverleugnung, zur Weltabkehr und zum Kreuztragen auf. Folgerichtig krönt er 1675 mit einer Adaption von Thomas à Kempis’ Imitatio Christi: Lehr-Gesänge von Kristus Nachfolgung und Verachtung aller eitelkeiten der Welt. […] Aus dem Seeligen Tohmas von Kempis gereimet (Nürnberg 1675) sein ständiges Bemühen um den frommen Nächsten. Wie im Hohen Lied mischt Zesen Prosa und Lieder. Den Liedern geht jeweils ein Kapitel aus der Imitatio Christi voraus, wobei ihm wahrscheinlich Arndts Übersetzung vorgelegen hat. Die Lyrik ist eine unpathetischruhige, fast wortgetreue Übertragung der Prosa in die Liedform. Malachias Siebenhaar hat die Texte »mit anmuthigen Sangweisen gezieret«. Die LehrGesänge sind ein Torso geblieben. Gedruckt wurde nur das »erste Mandel«, das die ersten 15 Kapitel aus Thomas’ Schrift behandelt. Überschlägt man die Bedeutung der Lehr-Gesänge für Zesens Oeuvre, liegen die Dinge ähnlich wie bei Arndt: Die Nachfolge-Lehre nach dem Vorbild des Thomas von Kempen liefert die grundlegenden Gedanken für eine christliche Lebensführung. Aber bei Zesen lässt sich – deutlicher als bei Arndt – eine betont überkonfessionelle und irenische Stoßrichtung ausmachen. Vielleicht hat er deshalb in seinem letzten großen Werk lyrisch-erbaulichen Charakters Anschluss an die alte Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna in den Niederlanden gesucht. In der Vorrede zum Buß– Beicht- und Bet-Büchlein (Amsterdam 1657?) hat er die irenische Absicht ohne Vorbehalte ausgesprochen: Dan ich wil das Kristentuhm/ so viel an mir ist/ bauen; […] ich wil durch sanft-sinnige reden […] die kristliche einigkeit und liebe […] im baulichen wesen erhalten; ja dieselbe/ nach eignen menschlichen gemühts-regungen/ welche sie durch eiteles wortund sin-gezänke/ vielmahls vertilgen/ und verbitterungen stiften/ nicht verunruhigen.

Was zusehends nötiger wurde, war weder Dogma noch Katechismus, sondern wahrhaft empfundenes Christentum und eine lebenspraktische Orientierung, wie sie etwa Thomas von Kempen bot. Hier ist ein bezeichnender historischer Einschnitt zu verzeichnen: Im Erscheinungsjahr der Lehrgesänge erschienen Philipp Jakob Speners Pia desideria (1675). Zesen hat auch im letzten Drittel des Jahrhunderts ›das Gebot der Stunde‹ verstanden. Mit dem biblischen Roman hatte er sich in breiten Kreisen profiliert (Assenat: 1670, 1672, 1679), die staatstheoretischen Bezüge der Josephs-Geschichte zum politischen Berufsstand hatten ihn für ein aufstrebendes Publikum christlich-praktischer Provenienz attraktiv gemacht. Auch diesmal hat er für seine neue lyrische Sammlung nach dem Rosen- und 129

Karl Viëtor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, S. 50.

246 Liljen-tahl von 1670 die Chancen genutzt. Mit seiner bewährten Schreibweise – klare und kurze Sätze in den Prosaabschnitten, flüssige Verse ohne Pathos und nahezu ohne Redeschmuck –, die mit den Jahren kompakter geworden zu sein scheint, konnte er die volksnahe und offensichtlich aktuelle Thematik noch einmal aufnehmen. Fast mutet es an, als habe sein Stil alles Überflüssige abgestreift, im Bemühen ein adäquates Gefäß für die Botschaft der Weltverleugnung zu sein. Wer alles Weltguht wirfet hin/ daß Kristus werde sein gewin; verlesset seinen eignen willen/ den willen Gottes zu erfüllen: der wird in wahrheit recht geehrt vor Weise/ Klug/ und Hochgelehrt.130

Solche lyrische Diktion ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rar. Wo findet sich ein Dichter, der wie er die Aussage auf den Kern reduziert und auf die Eigenkraft des Verses zu vertrauen wagt? Das Urteil von Alfred Gramsch (1922) kann man auch heute nachempfinden: »So haben sich der Geist des Thomas, die Sprache Arndts und die Verskunst Zesens hier in einem Werk voll edler, andächtiger Ruhe und Reife vereint.«131 Die Liedtexte sind in die Musik von Malachias Siebenhaar geschrieben, der diesmal der Singstimme mit Generalbass eine Geigenstimme beigab. Die Wirkung der Soloarien wird durch das damals außerordentlich beliebte Instrument um einiges gesteigert, zur Intensivierung des ›schmelzenden‹ Ausdrucks der Lieder. Der Vergleich mit seinen früheren Werken lässt den Schluss zu, dass die Lehrgesänge einen neuen Stil repräsentieren. Die Metapher ist ganz zurückgetreten, rhetorische Amplifikationen sind vermieden, in Verbindung mit einem natürlich-ungezwungenen Satzbau herrscht höchste Klarheit. Das humanistische Ideal der »perspicuitas« ist hier zu neuen Ehren gekommen. Das gilt für die geistliche Lyrik der späteren Jahre überhaupt, insbesondere für die Kriegs-Lieder von 1676, die dem Kriegshelden Heinrich von Delwig gewidmet sind. Thematisch und motivlich ist selbstverständlich vieles vorgegeben, um so mehr als Zesen dicht am Text seiner Prosavorlage bleibt. Seinem Charakter als ethischer instructio gemäß hält sich Thomas von Kempens einführender Teil frei von tieflotenden Betrachtungen. Das spiegelt sich bei Zesen. Die Zustandsschilderung des Menschen in der Welt beschränkt sich auf allgemeine und traditionelle Züge, die leicht auf das 17. Jahrhundert appliziert werden konnten. Das »Wachen und Beten« (Mt 26,41; Mk 13,33; 14,38), das in dem eschatologisch ausgerichteten Pietismus ange130 131

SW I/2, S. 308, letzte Strophe. Gramsch, Zesens Lyrik (wie Anm. 50), S. 99.

247 sichts der irdischen Trübsal mit Nachdruck empfohlen wurde, durchzieht die ganze Liedfolge. Der Abwendung von der Welt und ihrem lauten Tun steht die Pflege der pietistischen »Stille« (S. 314, 37 ff.) zur Seite. Die »wahre hertzenruh« (S. 317, 25) und die »ruhe/ welche nicht vergehet« (S. 340, 42) werden dem vom Welthandel Beunruhigten anempfohlen, »der stöhrt selbst seine ruh« (S. 329,3). »Niedrigkeit« (Demut) und »Einfalt« (die Tugend der »simplicitas«) sind die Leitsterne für denjenigen, der auf das Heil seiner Seele bedacht ist: »Die Seele’ empfähet keine Speise// aus vieler worte stoltzer pracht« (S. 298, 31 f.). Die Abqualifizierung der »Wort-Pracht« begegnete in Zesens erbaulichen Schriften schon früher, die Einfachheit wird aber jetzt zur moralischen und stilistischen Leitvorstellung. Die paränetische Wirkkraft der Lehrgesänge liegt im Einfach-Natürlichen des Stils, der Ausdruck einer souveränen, gegen Äußerliches gefeiten Geisteshaltung ist (S. 330): Was aber hilft uns das? Oft hämt den trost von innen/ damit uns Gott besucht/ der euserliche schein. Drüm/ daß wir ja die zeit ümsonst nicht sehn zerrinnen/ so laßt uns im gebeht und seufzen wakker sein.132

Die Musik konnte das zurückhaltend-lehrhafte Wort nach der gefühlvolleren Seite hin ›exprimieren‹ und so die andächtige Ruhe fördern. Indessen machte Zesens »inventio« nicht bei den Lehrgesängen Halt. Der zweite Teil, der die drei christlichen Haupttugenden thematisiert, ist einheitlich mit ihnen verbunden, aber in besonderer Weise. Der Himlischen Haupt=Tugenden Dreiling hat nämlich bemerkenswerten Eigencharakter und bewirkt eine stilistische Auffächerung, die im Rückblick auf beide Teile des Werks interessantes Licht wirft. Die schlichte Sprache der Lehrgesänge kontrastiert mit dem sprachlichen Ausdruck in diesem Teil. Die neue Einfachheit in der Lyrik zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit Christian Weises (1642–1708) Praxis, die sich um die gleiche Zeit mit ähnlichen Kunstvorstellungen durchzusetzen sucht. Weise begleitet seine Gedichtbücher mit theoretischen Überlegungen, die (in spätbarocker Umgebung!) auf die »perspicuitas« abzielen.133 Die von ihm betonte »Affection«, ohne welche die »perspicuitas« in unpoetische Nüchternheit und Kargheit abrutschen würde, war in jenen Jahren für Zesen nicht mehr aktuell. Sie erschien ihm wohl auch überflüssig, weil er anderes anvisierte. Als Autor für ein überwiegend weibliches Publikum wusste der Erbauungsschriftsteller Zesen durchaus auch andere Saiten aufzuziehen. 132 133

SW I/2, S. 330, 21 ff. Verf.: Temperament und Funktionalität. Christian Weises Dichterbegriff. In: Christian Weise. Dichter – Gelehrter – Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlaß des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Hgg. v. Peter Behnke u. HansGerd Roloff. Bern 1994, S. 283–295.

248 Das neuartige Unternehmen, auf das die »getrennte« Widmung hinzuweisen scheint, ist dahingehend zu explizitieren, dass hier, in kaum bezweifelbarer Publikumsorientierung, gleichsam mit zwei lyrischen Stimmen gesprochen wird. Das heißt, dass zum erstenmal in der Erbauungsliteratur mit sicherem Griff eine geschlechtsspezifische Ausdifferenzierung vorgenommen wurde, die ihresgleichen sucht. Diese Auffassung muss selbstverständlich so lange eine Hypothese bleiben, bis weiteres Material Vergleichsmöglichkeiten bietet.134 In dem Frau von Schöbel gewidmeten Teil setzt Zesen die Affektsprache wieder ein, zum Beispiel mit gehäuften »Ach«-Exklamationen. Dieser Teil, »Der Haupt=Tugenden Dreiling«, ist von textlichen Vorgaben unabhängig und behandelt die paulinischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. Wortwiederholungen drücken seelische Erregung aus (»Ja Dir/ ach! Dir!«) und verstärken die Entschlussbereitschaft in asketischem Sinn (»Wie gerne wolt’ ich/ wan ich könte.// Wie gerne wolt’ ich/ daß mein Geist«). Chiastische Formulierungen bewirken akzentschwere Amplifikation: »Dich solt’ ich über alles lieben// ja! hertzlich lieben solt’ ich Dich«. Hier finden sich auch die in pietistischen Kreisen so geschätzten bewegungs-aktiven Verben mit richtungsweisendem Präfix und wird die in den Lehrgesängen angebahnte Richtung »nach innen« um die Wendung »nach oben« ergänzt: »damit mein schwaches Glaubensrohr/| durch Dich gestärket/ steig’ entpohr« (S. 363,23). Hier schließlich ist vom ersten bis zum dritten Lied eine Ausdruckssteigerung zuwege gebracht, die ›affectuös‹ auf die Stropheneinsätze einwirkt: Die sieben Strophen des Schlusslieds fangen abwechselnd mit »Ach!«, »Hilf« und »Meine Seele« an. Ein logisches Band hält die Lehrgesänge und die anschließenden Tugendlieder zusammen. Die allmähliche Vorbereitung in den Lehrgesängen wird in einen aktiven Vollzug der Weltabwendung umgesetzt. Der sehnsüchtige Blick ist aufwärts gerichtet, die Seele findet ihre sanfte Ruhe in der Vereinigung mit Gott, für welche die altbekannte brautmystische Formel immer noch der gemäße Ausdruck war – »ich leb’ in Dir und Du in mir« (S. 368): Ach! ich weis auf nichts zu hoffen/ als auf Dich/ auf Dich allein. Nun steht mir der Himmel offen; nun/ nun blikk’ ich schon hinein. Ach! wie wohl ist mir geschehen/ daß ich hier mein Heil kan sehen.

134

Vgl. Brigitta Stoll: Frauenspezifische Verwendung von mystischem Traditionsgut im »Geistlichen Frauenzimmer-Spiegel« des Hieronymus Oertl. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino, Heinz Schilling und Walter Sparn hg. v. Dieter Breuer. Kongressbände Wolfenbüttel. Wiesbaden 1995, S. 477–485.

249 Meine Seele’ ist nun zu frieden/ ja sie ruhet sanft’ in Dir. Ach! gib/ daß ich ungeschieden leb’ in Dir und Du in mir. Ach! wie wohl ist mir geschehen/ daß ich nun mein Heil kan sehen.135

Die auf das Ehepaar Schöbel verteilten Liedtexte können als zwei sich zur idealen Einheit ergänzende Stimmen gesehen werden: männlich-nüchtern in den Lehrgesängen, gefühlvoll-ekstatisch in den Tugendliedern. Im »Seelengespräch« finden sich die Ehepartner zusammen, jeder in seiner Eigenart, aber einmütig im »himlisch-gesinten« Bestreben. Ein geistliches gespräch’ erzielt ein geistlichs leben; zuvoraus wan es wird von denen ausgeübt/ die gleiches geistes seind/ nach gleichem ziele streben/ und derer hertz sich nie der eitlen welt ergiebt. (S. 330)

Mit den Liedern für Frau von Schöbel rundet sich das Bild der Lehrgesänge als ein Werk der Deutschgesinneten Genossenschaft. Im Widmungsgedicht an ihren Ehemann war die Sprachgesellschaft bereits ›durch die Blume‹ eingeführt worden: »da die Rosen blinken/ da die Liljen winken.« Die drei Haupttugenden Glaube, Liebe, Hoffnung (der »Drilling«) stehen für die drei ersten Zünfte, die Rosen-, die Lilien- und die NägleinZunft. In solcher Form des Andachtslieds erinnern diese Lieder nochmals an die christliche Orientierung von Zesens Vereinigung, deren unverkennbar pietistische Komponente die Gattung des Andachtslieds einer Blüte zugeführt hat.

7.5

Zesen als Übersetzer Johann Arndts

Johann Arndts Paradies-Gärtlein (1612) war eines der beliebtesten Gebetbücher der Zeit und hatte weitreichende Folgen für die Frömmigkeitspraxis des 17. und noch des 18. Jahrhunderts. Der Titel lässt den engen Zusammenhang mit den Vier Büchern des wahren Christentums erkennen: »Paradies-Gärtlein voller Christlichen Tugenden/ wie solche zur Übung des wahren Christenthums durch geistreiche Gebete in die Seelen zu pflanzen.« Die erste noch vorhandene Ausgabe ist die von Leipzig/ Magdeburg 1612. Wie das Andachtsbuch des Wahren Christentums wurde es oft neuaufgelegt und in andere Sprachen übersetzt.136

135 136

SW I/2, S. 368, 31 ff. Für rasche Information sei auf den Artikel »Johann Arndt« von Martin Schmidt hingewiesen: TRE 4, S. 121–129.

250 Es atmet bis in Einzelheiten den Geist des Andachtsbuchs, zu dessen praktischer Ergänzung es verfasst wurde. Arndts Anliegen ist nicht eine Abwertung des sündhaften Menschen, sondern eine Hinführung zu Gott als dem reinen Bild dessen, was der Mensch im Schöpfungsplan hätte sein sollen: ein Ebenbild Gottes. Das Gebet ist ein Führer auf diesem Weg, ständige Erinnerung an die Güte und Liebe Gottes. Die Umschreibung der »rechten Bet-Kunst« in der programmatischen Vorrede unterstreicht diese Leitlinie. »Zu dem Ende nun habe ich dieses Bet-Büchlein gestellet/ daß du für allen Dingen deine Sünde erkennen und Gott abbitten solst/ durch die Tugend-Gebetlein/ damit das schöne Bild Gottes in dir aufgerichtet/ und des Satans Bild verstöret werde/ denn ohne dasselbe erneuerte Bild Gottes wirst du kein rechter Beter werden.« Die positiv-unablässige Ausrichtung auf die Gottebenbildlichkeit lässt das Leben in der Welt nicht als ein unwürdiges Erleiden des irdischen Jammers erscheinen, sondern als eine freudig begrüßte Möglichkeit, durch Einkehr und ein gottgefälliges Leben in die Liebe Gottes zurückzufinden. Arndt legt deswegen großen Wert auf die biblische Begründung der Gebetstradition, ohne jedoch den kirchlichen Formen und Bräuchen den Rücken zu kehren. Die Stufen der Gebete, die ganz Arndts Absichten spiegeln, folgen einer an der biblischen Geschichte erarbeiteten Situationsfolge: »Die erste Stufe begreift die Abbitte der Sünden in sich, die zweite die Bitte um gottgefällige Tugenden, die dritte das Beten mit lauteren kräftigen Seufzern wie Hanna (I Sam 1) und wie Maria aus Magdala mit heißen Tränen ohne Worte. Die vierte Stufe ist ein Beten mit großer Freude und echtem Frohlocken wie die Jungfrau Maria in ihrem Lobgesang, die fünfte und höchste ein Beten aus großer feuriger Liebe. Erst darin geht es ausschließlich um Gott selbst, denn solchen Betern bedeutet Gott alles in allem. An ihnen erfüllt sich die Verheißung von Joh 14,21, daß Gott sich ihnen offenbaren wird, weil sie ihn lieben.«137 Schon zu Beginn orientieren sich die Gebete um die Tugenden am Dekalog. Sie haben Weinen und Tränen zur Folge, um dann in den Kreuz- und Trostgebeten die Seele wieder aufzurichten. Den Dankgebeten für Christi Leiden und Tod schließen sich Freudengebete an und (am Schluss) solche Gebete, die um die reine, feurige Liebe kreisen, der Gott nichts verweigern könne. Zesens Übersetzung ins Niederländische steht am Anfang einer erfolgreichen Reihe von Ausgaben, die bis weit ins 18. Jahrhundert in der Hausandacht gelesen und benutzt wurden. Wahrscheinlich lag bereits eine Übertragung vor, die von Zesen bearbeitet, vor allem aber mit vielen Zusätzen erweitert wurde. Das Titelblatt der ersten so »erneuerten« niederländischen Ausgabe, die 1665 zum ersten Mal in Amsterdam erschien, lautet vollständig: 137

Schmidt (wie Anm. 136), S. 127.

251 Het vernieuwde PARADYS-HOFKEN, Vol allerhande leer-ryke-deught-dank-kruisampt-lof- en vreughde-gebeden; Daer door tot herstellinge van ’t Beelt Godts, tot stichting eens nieuwen geestelicken levens, en oefening des waren Christendoms, alsook tot troost in ’t Kruis, en tot lof des naems Gods, De ware Christelicke Deughden, Uit alle de Hooft-leeren van ons Christelick Geloof, mitsgaders de grondt-spreucken der H. Schrift, in de ziele krachtelick geplant worden; In ’t licht gegeven door de hoog-verlichten Godts-geleerden Johan Arent. En voor desen uit het Hoogh-duits vertaelt; maer nu, in dese laetste druck, van nieuws, na het selve, als ook volgens de nieuwe Oversettinge der Nederlantschen Biblien verbetert, van vele fouten gesuivert, en met de voornaemste hooft-spreuken der H. Schrift, achter elck gebedt daer op passende, verciert. Bijna een vierde-pert vermeerdert. Door F. V. Z. ’t Amsterdam, By Willem van Beaumont, Boeckverkooper in de Kalver-straet, tusschen de S. Lucie, en de Spaer-pot-steeg, in de Witte Boek-pars, 1665.

Das Kupferporträt (links unten der Vermerk »Mayer. f.«) ist mit folgenden Spruchversen versehen: Dit ’s maer een schim, in zijne Boeken Moet ghy IAN ARENT selven zoeken: Diens Geest vol oogen, klaar als glas, Gelijk de Vliegend’ Arent was. F. van Zeesen. [Das ist nur ein Schatten, in seinen Büchern sollst du Johann Arndt selber suchen. Dessen Geist voller Augen, klar wie Glas, wie der fliegende Adler war]

Das Wortspiel Arndt (niederl. »arend«) – Adler war bekannt. Die Brüderschaft der Rosenkreuzer in Stargard hatte Arndt schon als Adler bezeichnet, der nach der Gans (Johannes Hus) und dem Schwan (Martin Luther) die Wahrheit verkündige.138 Der fliegende Adler ist in der Offenbarung des Johannes eines der vier Tiere um den Stuhl Gottes im Himmel, »voll Augen vorne und hinten« (4,6 f.). Das Adlerbild wird im niederländischen Spruch auf Folio A 1v nach Jes 40,31 wiederaufgenommen: De ZIELE, die alleen op GODS GENADE wacht, Die loopt, en wordt niet mat, die krijght gantsch nieuwe kracht, Die vaert met vleugelen op ten Hemel, als een AREND, En vindt haer oogenmerck, de SALICHEIT, als varend. [Die Seele, die nur auf Gottes Gnade harrt, läuft und wird nicht matt, sie bekommt ganz neue Kraft; sie fährt mit Flügeln in den Himmel, wie ein Adler, und findet ihr Ziel, die Seligkeit, im Flug]

Auch diese Verse stammen aus Zesens Invention und sind mit »F. van Zeesen« unterzeichnet. Arndts Widmung und Vorreden fügte Zesen eine eigene Vorrede »Aen den Godsvruchtigen LESER« hinzu (Fol. A 11r bis A 11v), die wegen der relativen Unzugänglichkeit des Textes hier in Übersetzung wiedergegeben sei: 138

Schmidt, ebd.

252 Dem Gottesfürchtigen LESER. Dass unter allen Schöpfungen der Menschen nichts so vollkommen sei, dass seine Unvollkommenheit sich nicht mit einigen zusätzlichen Mängeln offenbare, haben wir auch hier in dem niederdeutschen PARADIES-GÄRTLEIN, einst von dem Hocherleuchteten Seligen J. Arent im Hochdeutschen geschrieben, für wahr befunden. Denn als ich von Wilhelm von Beaumont, dem Buchverkäufer, gebeten worden war, jedem Gebet einige dazu passende Sprüche der H. Schrift zur weiteren Erklärung und Erbauung des christlichen Lesers hinzuzufügen, habe ich im Durchlesen der Gebete mit Verwunderung festgestellt, dass die niederländische Übersetzung an manchen Stellen von der ersten hochdeutschen Fassung nicht wenig abgewichen war, auch hie und da im Druck und Nachdruck durch Nachlässigkeit einige Wörter falsch gesetzt, ja wohl ganz ausgelassen und der Sinn verdorben und verdunkelt war. So dass ich aus Liebe zum niederländischen Gottliebenden Leser das ganze Büchlein nicht allein mit Sprüchen, nach der Art meines Frauenzimmers Gebet-Buch, durchgehend zu schmücken, sondern auch nach dem Original des seligen Arndt selber wie nach der neuesten Übertragung der niederländischen Bibel zu erneuern, zu verändern und so weit zu berichtigen, wie es die kurze Zeit und meine Gelegenheit zuließ, als höchst notwendig, mein geringes Vermögen, wenn auch nicht ohne große Mühe, verwendet habe. Deshalb wird auch ohne allen Zweifel der Liebhaber dieses so erneuerte ParadiesGärtlein über alle alten Drucke stellen und für sehr angenehm und bequem schätzen. Und ob schon ein naseweiser Klügling mit Blick auf meine Ergänzungen ausrufen mag, es sei unpassend, der Arbeit eines anderen etwas hinzuzufügen, so möge er wissen, daß solche Ergänzungen und Anmerkungen auch den allervortrefflichsten Büchern, ja der allervollkommensten H. Schrift selber von verschiedenen vortrefflichen Männern beigefügt worden sind; so dass ich auch keineswegs getadelt werden kann, dass ich diesen Gebeten nicht aus eigener Erfindung, sondern einzig und allein durch das Licht der H. Schrift selbst einen frischen und neuen Glanz verliehen habe. Ich für meinen Teil begehre dafür keinen Ruhm, sondern möchte diesen Gott allein zuerteilt wissen, der auch allein würdig ist zu empfangen Ruhm und Ehre F. van Zeesen.

Die neue Übersetzung der niederländischen Bibel, der das Gebetbuch nun angeglichen wurde, war die berühmte Statenvertaling. Von den Generalstaaten in Auftrag gegeben, war sie das Werk einer während der Synode von Dordrecht (1618) eingesetzten Kommission. Die Arbeit wurde 1625 in Angriff genommen und konnte von den Revisoren 1635 abgeschlossen werden. Sie entsprach den damaligen neuesten wissenschaftlichen Ansprüchen und hatte, da sie jahrhundertelang in Gebrauch blieb, großen Einfluss auf die niederländische Sprache. Zur Zeit von Zesens Überarbeitung von Arndts Gebetbuch konnte diese Bibelausgabe, 1637 erschienen, mit Recht eine »neue« genannt werden. Das Paradies-Gärtlein war auch in der niederländischen Übersetzung ein Buch der neuen Frömmigkeit. Die Herzensfrömmigkeit Johann Arndts entsprach den Bedürfnissen der pietistischen Bewegung in den Niederlanden, in der bereits geistesverwandte englische Prediger ihre Spuren hinterlassen hatten (Amesius, Baxter, Bunyan u. a.). In Glaubenshaltung und Sprachgebrauch spiegelten reformierte Gemeinden durchaus die religiöse Innigkeit und die ernsthafte Gewissenserforschung, die verschiedenen Konfessionen gemeinsam waren und auch Zesens Gebeten und Liedern das

253 Gepräge gaben. Arndts Gebetbuch (1612) in Zesens Bearbeitung befriedigte die Erwartungen dieser Kreise offenbar nachhaltig. Bisher konnten zwischen 1658 und ca. 1760 dreißig Ausgaben festgestellt werden, die meisten mit Amsterdam als Druck- und Verlagsort.139 Es sind bis weit ins 18. Jahrhundert Nachdrucke von Zesens Übersetzung. Der Appell zur Reformierung des ganzen Lebens, auf die Arndt sein Augenmerk gerichtet hatte, geht aus dem Gebetbuch nicht weniger deutlich hervor als aus dem großen Erbauungsbuch, das es begleitete.140 Ähnlich wie das Wahre Christentum erfüllte es seine Funktion zum größten Teil außerhalb der offiziellen Kirchen, in Konventikeln und in der Hausandacht. Schon der Bearbeiter der niederländischen Ausgabe des Wahren Christentums, der Buchhändler Zacharias Webber, stellt die Bedeutung des Werkes für das Herzens-Christentum heraus. Es sei »neben Gottes Wort das Buch/ das mir durch die Barmherzigkeit Gottes hat erkennen lassen/ wie man zum wahren/ inwendigen/ süßen/ empfundenen (›bevindelicke‹)/ rechtschaffenen Wesen in Christo komme und dadurch wegfalle alles schmerzliche Schein-Christentum.«141 So wirbt die Vorrede der Ausgabe Amsterdam 1658 für die Aktualität dieses Buchs nach dem neuen Geschmack. In den vorgezeichneten Bahnen pietistischer Frömmigkeit bewegt sich, zusammen mit Arndts wirkungsvollem Hinweis auf einen verinnerlichten Glauben, auch das Gebetbuch, das man, nicht ganz unzutreffend, Zesens Paradys-Hofken nannte. Zesen wurde nicht zufällig zum Vermittler jener Frömmigkeitsliteratur in den Niederlanden. Der Dichter steht in der gleichen Tradition wie Johann Arndt.142 Für ihn geht es um ›Heiligung des Lebens‹ und um eine praktische Ethik, die in der Nachfolge Christi grundsätzlich von einer toleranten Gesinnung getragen wird. Man hat keine Veranlassung daran zu zweifeln, dass die persönliche Glaubenserfahrung in ihm Empfindungen weckte, die das Gebetbuch in der Ausgabe von 1656 (S. 151) einen »Vorschmack des ewigen Lebens«143 und den »Vorhof des Paradieses« nennt. 139

140

141 142

143

Vgl. John Exalto: Gereformeerde heiligen. S. 49. Die ndl. Übersetzungen des Paradiesgärtlein mit den Namen der Verleger etc. werden komplett aufgelistet auf S. 291, Anm. 58. Das WChr erschien in erster niederländischer Ausgabe 1631 (»Vier boecken van het waere christendom«) und wurde wiederholt nachgedruckt. Die deutsche Übersetzung stammt aus meiner Feder, F. v. I. Verf.: Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei Johann Arndt und Philipp von Zesen. In: Religion und Religiosität (Wiesbaden 1995, Bd. II), S. 467–475. Bezogen wird das Singen auf die himmlische Musik, deren »Vorschmack« der geistliche Gesang ist, wie Heinrich Müller in der Geistlichen Seelenmusik S. 102 bemerkt: »Wie offt empfindet die Seele in ihren Lobgesängen eine brünstige berührung/ lebendige Krafft und sondere Süssigkeit/ daß sie nicht weiß/ wie ihr geschicht! Kan auch nicht sagen/ was sie geschmecket hab! … Thränen … und sie weis selber nicht woher … Was ist das anders/ als ein Fürschmack des ewigen Lebens.« Zitiert nach Bunners (wie Anm. 18), S. 135.

8.

Geschichte und Geschichten

Schwerpunktmäßig ist Zesen zweifellos ein Dichter, im Vollbewusstsein seiner Gaben und Fähigkeiten. So hat er mit Gelegenheitsdichtung angefangen, sogar auch mit den ebenso anspruchsvollen wie ambitionierten Überlegungen zur Poetik. Aber es ist schon erstaunlich, welche Aufgaben er sich darüber hinaus gestellt und meist auch zu Ende geführt hat. Das Gesamtwerk ist von enormen Ausmaßen und umfasst so disparate Gattungen wie Dichtungstheorie und Lyrik, Romane und Romanübersetzungen, ein großangelegtes mythologisches Handbuch, eine gereimte Sittenlehre, Erbauungsbücher, ein mythico-poetisches Handbuch (lateinisch), Übersetzungsarbeiten verschiedener Art, historische Werke.

8.1

Englische Zustände (SW XV/1)

Die umfangreiche Schrift von der verschmäheten und wieder erhöheten Majestäht wurde in Europa rasch bekannt. Sie behandelt ein zeitnahes Geschehen und ein brennend aktuelles Problem der europäischen politischen Diskussion, und zwar die Frage der Staatsgewalt und ihrer Legitimierung: ruht sie beim Volk oder beim Fürsten? Und damit verbunden die Frage des Fürstenmords: ist sie unter gewissen Umständen erlaubt und entschuldbar? Englische Geschichtsdarstellungen informieren über den desolaten Zustand der Wirtschaft und des Finanzwesens im England Karls I. Der König hatte durch Maßnahmen zur Aufbesserung seiner privaten Finanzen sich Teile der Bevölkerung entfremdet. Es kamen gottesdienstliche Probleme mit dem calvinistischen Schottland hinzu, die Karl mit den Waffen lösen wollte. Dabei wurde er mit dem Parlament uneins, das auch weitere Kritik an ihm äußerte. König und Parlament waren so sehr von gegenseitigem Misstrauen erfüllt, dass die Spannungen zu einer »konstitutionellen Revolution« und – nach Verschärfung des Konflikts – gar zum gewaltsamen Eindringen von königlichen Truppen ins Parlament führte (4. Jan.1640). Damit hatte der König seine Autorität vollends verloren und musste London verlassen. Seine Prärogative wurden ständig weiter ausgehöhlt. Die Radikalisierung artete 1641 schließlich in einen Bürgerkrieg aus. Von jetzt an war England praktisch eine Republik. Die Bevölkerung war sozial wie religiös verunsichert. Oliver Cromwell machte sich die Situation

255 zunutze, als Lord Protektor hatte er in der Armee und im Parlament die Fäden in der Hand. Er wusste sich mit so viel Geschick breitzumachen, dass das Parlament ihn gern auf dem leeren Thron gesehen hätte. Im religiösen Leben herrschte ein rigoroser Puritanismus, der von Cromwells Persönlichkeit maßgeblich geprägt wurde. Inzwischen lebte der Sohn Karl II. lange Jahre im Exil, hielt sich immer wieder gern in den Niederlanden auf, wo seine Mutter (die Witwe des Winterkönigs) lebte. Zeitweilig befand sich sein Hof in der Stadt Breda. Als er endlich 1660 wieder als Monarch eingesetzt wurde, geschah das zu allgemeiner Freude und Erleichterung. Die Zusammenarbeit mit dem Parlament funktionierte gut, nur dass Karl II. gezwungen wurde, seine Toleranzpläne in der Religionspolitik aufzugeben und den anglikanischen Glauben fest zu etablieren. Das ist in groben Zügen die Handlungsübersicht.1 Zesen hat seine Darstellung mit vielen Szenen aus den drei Teilen des Königreichs angereichert und die Begebenheiten detailreich und ausführlich erzählt. Eingeschobene Briefe, offizielle Verlautbarungen und Reden mit zahlreichen aussagekräftigen Einzelheiten beleben die Darstellung. Außerdem erhöhen sie den Eindruck der Authentizität und wird mit wechselnden Erzählperspektiven ein romanhafter Charakter erzielt. Es entsteht jedoch kein Spannungsverhältnis, das eine kritische Perspektivierung der englischen Königsherrschaft genannt werden könnte. Im Gegenteil ist das Ziel eine eindeutige Klage über den Königsmord sowie über Cromwells Untaten. Zesen stand eine Flut von Literatur zur Verfügung, die er sicher teilweise intensiv benutzt hat, so z. B. die Defensio Regia, die unmittelbar nach dem Urteil und dessen Vollstreckung 1649 von dem Leidener Professor Salmasius (Saumaise) verfasst wurde. Man schätzt die Zahl der betreffenden Schriften auf einige Tausende, denn es war ein ganz West-Europa aufwühlendes Ereignis, das überall zu empörten Reaktionen führte. Wir sind auch über eine direkte literarische Wirkung von Zesens Buch unterrichtet: Andreas Gryphius hat seine Tragödie Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß–Britanien (1663) auf Grund von Zesens Darstellung umgearbeitet. Die von dem Schlesier benutzten Quellen sind bekannt, Zesens Buch wird 17mal erwähnt.2 Gryphius hat zweifellos den Eikon Basilike (Karls Verteidigungsschrift, 1649) gelesen. Was er im Einzelnen Ze 1

 2

Sämtliche Werke, Bd. XV/1. Im laufenden Text beziehen sich die Zahlen auf diese Ausgabe Vgl. Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. Stuttgart, 2. Aufl. 1986, S. 68 ff. (Sammlung Metzler Bd. 76). Es muss besonders auf die Untersuchung von G. Berghaus hingewiesen werden: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel »Carolus Stuardus.« Studien zur Entstehung eines historisch-politischen Märtyrerdramas der Barockzeit. 1983 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 79) Eine Schrift, die man mit Frucht heranzieht, ist C. V. Wedgwood: The Trial of Charles I. London 1964.

256 sen verdankt, ist hier nicht zu erörtern, aber es ist, in der Nachfolge des Salmasius, sicher die Deutung von Karls Schicksal als Märtyrium, das damit in die Tradition der Passion Christi gestellt wird. Diese Sicht der Dinge spielt bei Zesen von Anfang an eine große Rolle. Zum Werkkomplex gehört auch eine aus dem Lateinischen von August Buchner übersetzte »Zweifache Rede«: Was Karl der Erste […] bei dem über Ihn gefälltem Todes-Uhrteil hette für-bringen können.3 In der Widmung an Dietrich von dem Werder (der Zesen als Fruchtbringer wichtig war) werden die Weichen bereits gestellt – ein einmaliges, nie dagewesenes Ereignis: Ich weiß nicht mit was für worten ich dieses schreiben beginnen sol/ so wunderlich ist mir zu muhte. Dan es bricht ein neues geschrei/ ein nie erhöreter ruf/ so lange der welt grund ist geleget worden/ herfür. Die welt erzittert/ der himmel selbst böbet/ die Fürsten ergrimmen/ die Könige der erden flammen für zorne/ dan der ruf dieser gantz-neuen/ erschröklichen geschicht/ ja der ruf des durch gotlose verwegenheit und schein-gerechtichkeit vergossenen königlichen bluhtes durch-dringet die gantze welt/ und seine rach-schreiende stimme zihet […] der Gewaltigen geschärft und zorndreuendes stahl nach sich. (SW, Bd. XV/1, S. 3.)

Es werden drei Jesuiten angeführt, die für das Widerstandsrecht eingetreten sind, falls ein König eines ›irrigen‹ Glaubens wäre. Zesen teilt aber der »Päbstler« Meinung nicht: »Es ist nicht kristlich/ auch nicht menschlich. Ein Krist sol auch den wunderlichen Herren untertähnig gehorchen.« Das ist ein gut-lutherischer Standpunkt. Und das ist das unvorstellbare und frevelhafte Handeln der Rebellen: »Engel-land hat sich an der königlichen heiligkeit/ ja götligkeit verbrochen.« Es heißt in der zweiten Rede unmissverständlich, dass der König von Gott eingesetzt ist: »Daß Wier Könige seind/ daß seind wier von Gotte. […] Die Könige seind hoch-heilig; darüm sollen sie nicht verletztet werden. Wier wollen mehr sagen. Könige seind Götter; darüm sollen sie ewig geehret werden. […] Ihr habt uns nicht zum Könige gemacht/ Wier seind es gebohren.«4

Das ist ganz in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Auffassung von der absoluten Fürstenherrschaft als Gottesgnadentum. Zesen teilt damit den Standpunkt seiner Landsleute. Es ist auch der Ton, der in der großen Darstellung Die verschmähete/ doch wieder erhöhete Majestäht durchgehalten wird. Unter diesem Blickwinkel sei das Buch – ein Fürstenleben! – zu gleicher Zeit ein TugendSpiegel: »Ja ich darf mich unterfangen eines großmühtigen Fürstens bisher geführtes mehr als tugendhaftes leben […] zu entwerfen.[…] Ich werde  3

 4

Die Schrift erschien ohne Ort und Jahr. Nach Gablers Verzeichnis von Zesens Schriften (Speyer 1687, Nr. 13) ist sie 1649 in Wittenberg erschienen, im Jahr 1649. Auch die lat. Schrift (Quid Carolus I. Britanniarum Rex, loqui potuerit lata in se ferali sententia, Oratio seu declamatio gemina) erschien ohne Angabe von Ort und Jahr. Ebd. S. 4 (Z. 20 f.), 3/4 bzw. S. 9/10.

257 allen Königen/ und Herrschern auf erden/ ja allen tugend-liebenden augen einen recht-königlichen Tugend-spiegel vorstellen.« (Ebd., S. 22). Es sei aber kaum möglich, »solche heilige Majestäht« angemessen zu beschreiben (S. 23) Daran schließt sich die topische Bescheidenheitsformel der ›schwachen Feder‹ an, um dann aus der Not eine Tugend zu machen: »wan ich nicht wüste/ daß die Tugend/ wie sie in ihrer höchsten majestäht am allereinfältigsten ist/ also auch mit einfältigen gedanken/ und worten wil beschrieben sein.« (Ebd.) Damit wird ein ›einfacher‹ Stil (cum grano salis!) als dem erhabenen Stoff angemessen erklärt – »Was aus sich selbst das beste ist/ kan durch keinerlei künstelwerck besser gemacht werden« (ebd., S. 25). Das gilt für beide Fürsten mit dem Namen Karl, die denn auch beide über ungeheure Fähigkeiten verfügen müssten. »Dan weil könige/ ob sie schon sterben sollen/ als menschen/ gleichwohl/ nach Gottes ausspruche selbst/ Götter seind«, kann ihr Amt auch nicht sterben (S. 132). Das ist denn – wie in solchen Schriften nicht ungewöhnlich – eine Kernstelle bei Zesen: Wan Gott beschlossen/ einige seiner geschöpfe über das gemeine wesen der sterblichen zu erhöben/ und/ gleich als die sonne die aufsteigenden dünste/ näher zu sich zu ziehen/ damit er zu ihnen sagen möge/ ihr seid Götter; alsdan pfleget er sie mit hohen klahrheiten zu erleuchten/ und mit gaben/ ehre/ und herligkeit zu zieren/ eben wie die strahlen der sonne den aufgezogenen dampf der erde. (S. 135)

Das Schicksal des Vaters wird als Gottes Strafe für »Engelandes sünden« dargestellt und verallgemeinert. »Wan Got ein unglük über ein volk zu verhengen beschlossen«, sterben zuvor die besten Männer im Staat, »zum gewissen vor-zeichen des instehenden unheils« (S. 43). So wurde der Königliche Rat, der Graf von Strafford, »dem wühten des rasenden/ und hartnäkkigen volkes aufzuopfern/ auf die öffendliche bluht= und schau-bühne geführet« (ebd.). Er ist also das erste blutige Opfer der Rebellion, sein Tod zeige mehr nahendes Unheil an. Es trifft alsbald ein. Vater und Sohn gehen beide »die unterschiedliche verdrüßliche wege«. Die Anwesenheit des Sohns tröstete den Vater, aber es schmerzte ihn zu gleicher Zeit, »daß sein unglük seine unschuldige Kinder […] mit einwikkelte« (S. 49). Aus dieser Perspektive ist in Zesens Buch die ganze Handlung, die nur berichtet von Revolten und Unruhen, Verrat und Misstrauen, Auseinandertreiben von Parlament und Königsherrschaft, dargestellt. England wird geschildert als ein zerrüttetes Reich, dessen drei Teile den König unter sich gleichsam als Beute verteilen. Immer wieder fallen mit religiöser Negativität geladene Worte, wie etwa: »so ward dieser nunmehr in krieges-haft genommene König […] von einem ort zum andern geschlept/ indem das verrähterische Teuffels-gesinde keinen ort höllisch genug zu ihrem höllischen vornehmen zu finden vermochte« (S. 66 f.). Die Reflexion des Erzählers ist deutlich. Die Gottlosen scheinen immer Glück zu finden, »dagegen mus der

258 fromme und gerechte/ wan er schon noch so from und rechtschaffen/ allezeit leiden und den kürtzern ziehen/ so lange bis ihn endlich der algewaltige Vergelter seiner frömmigkeit […] mit ewigen freuden kröhnet« (S. 69). Das ist die bereits alttestamentliche Klage, sie weist auf das Märtyrerschicksal voraus. Inzwischen weilt der Sohn bei seiner Mutter in Frankreich, wo er mit dem Bruder und der Schwester zusammen ist. Die Engländer wünschen ihn aber (»dem elenden Königreiche zu liebe«, S. 74) wieder bei sich zu haben, wollen aber auf die Bedingungen nicht eingehen. Die hin und her wogenden Wellen des Glücks und Unglücks und die nie ganz schweigenden Waffen sind für den königlichen Sohn wie für den Vater ständige Bedrohungen. Zwar versucht man ihn in Schutz zu nehmen, besonders in der Sache des sogenannten Verrats, denn weil der König »das heupt des gantzen dreifachen Reichs« wäre, könne er doch nicht »der andern verrähter sein« (S. 94). Das fruchtet alles nichts: »Ja man durfte sich schon vermessendlich verlauten laßen/ der König/ weil er sich schon durch verwahrlosung seiner pflicht alles verlustig gemacht/ habe nun keine gewalt mehr über sie; darüm dan auch dieses selbst-herrische Rotten-gezüchte des Königreichs Erb-herren weren« (S. 95). So wird der König rücksichtslos verschleppt, von einem Ort zum anderen, »zwischen den zween Feldherren/ eben wie unser HErr und Heiland zur Schädelstette/ zwischen zween mördern/ geführet ward« (ebd.). Es wird endlich »durch das aufgeworfene Rotten-geschmeusse/ ein volgemächtigter Blut-raht oder Hals-gerichte verordnet« (S. 95 f.). Das musste auf ein blutiges Ende hinauslaufen, wie es sich schon zu Beginn in Handlungsführung und Motivik angekündigt hatte. »Und also ward der König gerichtet/ nicht durch seines gleichen/ weil ihm keiner gleich/ auch nicht durch seinen Obern/ der allein Gott ist; sondern durch seine untertahnen. Dis ist fürwar was neues/ und ein fremdes wunder/ dergleichen die welt/ so lange sie gestanden/ weder gesehen/ noch gehöret« (S. 98). Die Rechtsverdrehung nimmt ihren Lauf, der König wird verurteilt »als ein Wühterich/ Verrähter/ Mörder/ und offenbahrer Feind des gemeinen Bestens«, der »durch abschlagung seines heuptes/ vom leben zum tode sol gebracht werden« (S. 105). Die Enthauptung ist beschlossene Sache, sie wird am 30. Januar 1649 vollstreckt. In den Vorbereitungen auf seinen Tod findet der König noch Gelegenheit, einen ausführlichen Brief an seinen Sohn (und Nachfolger nach seinem Ableben) zu schreiben – Daraus nun kan man gnugsam abnehmen/ wie tapfer und freimühtig er sich zum tode bereitet/ und mit was für herlichen gedanken er dazumahl ümgegangen. Dan es schienen diese unterrichtungen entsprossen zu sein/ mehr aus einem englischen/ als menschlichen verstande/ oder zum wenigsten aus eines solchen menschen/ als seine heilige Majestät dazumahl war/ indem sie nunmehr schon auf den staffeln des him-

259 mels/ innerhalb wenig stunden der unsterblichen volkommenheit teilhaftig zu sein/ erwartete. (S. 106)

Es sollen im Folgenden einige Stellen aus diesem langen Brief (im Neudruck S. 107 bis 120) hervorgehoben werden, die für die Charakterzeichnung Karls I. charakteristisch sein dürften. Der Brief war für Zesen selbstverständlich unverzichtbar. Aus ihm spricht eine bewunderswerte Glaubensstärke, die Karl seinem Nachfolger ebenfalls wünscht. Dazu wollen die vielen Hinweise anleiten. Ich wil/ daß du mit Gotte/ dem Könige aller könige beginnen solst. […] Dein ruhm sol die beförderung sein des ruhmes und der ehre Gottes/ in befestigung des wahren Gottesdienstes/ und wohlfahrt der kirche […]. Gottesfurcht sol dich glücklich […] machen. Dan dadurch wirstu/ wan du auch alles verlieren soltest/ doch aufs wenigste eine reine seele behalten. […] Dieser Kelch/ welchen wir trinken/ ist des HErrn genäsmittel/ das nunmehr eben so gewis zu unserer gesundheit dienet/ als es uns in unsrem wohlstande mangeln würde. Ich wündsche/ daß Du vor allen dingen in deinem gottesdienst wohl gegründet seist/ nach dem allerbesten Glaubens-bekäntnüsse der Kirche von Engelland. […] Bleib beständig/ und weiche nicht von diesem unsrem gottesdienste. […] Die befestigung des Gottesdienstes ist zu diesem frieden deiner seele/ und des König-reichs/ höchst nöhtig. […] Bemühe dich der scheinbaren zweispaltungen/ durch sanftmuht/ entweder zu wehren/ oder lege ihnen/ nach deiner macht/ ein solches gebis in den mund/ daß du darnach niemand dürfest fürchten/ oder liebkosen. […] Man findet nirgend weniger treue/ weniger gerechtigkeit/ oder bescheidene menschligkeit/ als in gottes-dienstlichen aufwüglern/ und rot-geistern/ derer stahtsüchtige ränke/ unter dem schein der gottesfurcht/ mit sicherheit/ und frohlokkendem zuruf/ durchgehen. Man kan wohl Jakobs stimme hören/ aber man wird Esaus hände fühlen. (S. 108–110)

Die Säkularisierung in heutiger Zeit, in der Gott allenfalls eine überflüssige Denkfigur früherer Zeiten darstellt, hat andere Werte und Orientierungen entwickelt. Heute ist die Vorbildlichkeit solcher Frömmigkeit wahrscheinlich schwer vorstellbar. Aber die Zeitgenossen, mit ihrer anderen Weltanschauung und Mentalität, dachten anders und haben diese Sprache verstanden. Vom Allgemeinen wechselt der Ton dann zum Besonderen, den persönlichen Erfahrungen des Fürsten entsprechend. Da ist kein Platz für Unklarheit oder Zweideutigkeit: Die Prediger-rotten/ oder wie sie mehr undeutsch genennet werden/ die Presbiterianer/ schienen der Kirchen/ und dem Reichs-staht von Engelland wenig zu schaden/ so lange sie sich an die algemeine Kirchen-ordnung hielten. […] Was in sachen des gottesdienstes anfänglich nur einer hand breit scheinet zu sein/ wird/ durch aufrührische geister/ als durch einen starken würbel-wind/ nachmahls sotahnig vergrössert/ daß es selbst den gantzen himmel bedekket. und darüm mus mans bei zeiten unterdrükken/ und wieder zu rechte bringen. (S. 111)

Schließlich werden die Fäden zusammengezogen und miteinander verknüpft: Was aus ehrlichen und auf den ersten Blick unschuldigen, gar vernünftigen und begrüßenswerten Gründen gewünscht wird, erweist sich hinterher als teuflische Verlockung.

260 Die zeit wird/ durch selbst-entdekkung der verborgenen tükkischen anschläge/ welche zuerst unter der schönen maske der freiheit/ und wiederaufrichtung des Gottesdienstes verdekt lagen/ alle rottungen und anhänge trennen. Der Wolf ist an sich selbst häslich. doch wird er mit mehr recht gehasset/ wan er/ als ein reissendes tier in schafs-kleidern/ sich offenbahret. (S. 113)

Es wird die Suggestion erweckt, als sei der Sohn dem Vater nachgeartet, und zwar in seiner stillen, melancholischen Art. Vom Sohn wird zu Anfang erzählt, in ihm herrschte »am allermeisten die schwartze galle«. Er habe neben den schönsten Eigenschaften des Himmels »ein wenig zuviel eigenschaften der erde aus seiner Mutter leibe empfangen.« Daher »war er anfangs sehr schweermühtig/ und gar selten frölich.« Aber durch eine gute Erziehung sei das ausbalanciert worden (»eine angenehme vermischung«), so dass die Wesensanlage dann »zum besten ausgefallen.« An dieser Stelle wird eine zeitübliche psychologische Analyse eingeschoben, wonach die ›Kinder des Saturn‹ (die Melancholiker) eben zu den großen Geistern zählen. So helt die schweermühtigkeit/ wan sie nicht alzu übermäßig/ der scharf-sinnigkeit stätig geselschaft; und diese lesset nicht nach/ sie habe dan die weisheit zu ihrer gespielin bekommen. Wo weisheit ist/ ist gewis die tief-sinnigkeit/ samt ihrer schwester der schweermühtigkeit auch zugegen. keine von dreien ist nie ohne die ander. Ich habe keinen hochvernünftigen geist/ keinen tieffen verstand/ keine große seele jemahls gesehen/ die nicht in einem schwartz-gälligen leibe gewohnet/ und dem zur folge schweermühtig gewesen. (S. 32 f.)

Das ließ nun jedoch der Verdacht aufkommen, er sei »kein kind/ sondern ein betagter mann gebohren.« Deshalb befürchtete man, »daß die junge Rose/ die so früh aufblühete/ bald verwelken würde; weil alle irdische dinge/ je eher sie auf das höchste gestiegen/ je plötzlicher auch fallen. Je eher der sommer kömt/ je geschwinder verlieret sich seine kraft. je eher der apfel reiffet/ je eher fället er ab.« (S. 34 f.). Es zeigt sich hier auch die an manchen Stellen fast verschwenderische Vielfalt der Sentenzen, ein Stilistikum, das gerade in historischen Schriften ausgeprägte rhetorische Sorgfalt verrät. So ist an der Darstellung der Verstandesentwicklung des Jungen Ähnliches festzustellen. Er schien ein langsamer Denker zu sein (»eines langsamen begrifs«, S. 37), aber es erweist sich der Nutzeffekt einer sorgfältigen Erziehung: Ein tief-versenkter verstand bricht endlich unvermuhtlich/ nach langem stilschweigen/ wan er durch stätigen fleiß wohl ausgearbeitet/ mit einer weit mehr verwunderlichen/ und volkomneren kraft herfür/ als ein solcher/ der stäts auf der zungen lieget/ und sich/ eh er noch halb reif /als ein mohn-kind /oder unvolkommene gebuhrt/ wil sehen laßen. Daher ist der verstand/ der sich langsam äusert/ indem er durch unverdrossenen fleiß bearbeitet/ und endlich aus seiner verborgenen tiefe gleichsam heraufgezogen wird/ der alleredelste/ allervolkomneste/ und allertauerhafteste. Ein gebeu/ je geschwinder und leichter es aufgeführet wird/ je eher fället es ein. so tauret auch ein alzujähliger/ und aus einem alzuhitzigen braddel gleichsam aufgestiegener verstand nicht lange/ ja er bringet lauter eitele/ und hinfällige gedanken zu lichte. Aber wie ein gebeu/ das wohlgegründet/ und mit langsamkeit wohl bearbeitet/ und ausgebauet

261 wird/ fester/ zierlicher/ füglicher/ und währhaftiger ist/ so ist auch ein wohl und lange bearbeiteter verstand nicht allein vor sich selbst herlicher/ beständiger/ und ausbündiger/ sondern er giebet seine herligkeit/ beständigkeit/ und ausbündigkeit in der taht selbsten an den tag. Die bücher so aus einem alzuhitzigen braddel so jähligen herfürschießen/ seind gemeiniglich […] nicht länger in achtung/ als ihr verfasser daran gearbeitet. […] So gelangte dan endlich unser Karl je näher und näher dem hohen mittage der herlichen tugenden/ welche die welt in ihm noch itzund mit verwunderung anschauet. (S. 37 f.)

Das Buch bringt praktische Belehrung, die aus der Beobachtung der Geschichte hervorsprießt (»historia vitae magistra«), erhält aber seine Wirkung auf den Leser nicht zuletzt durch stilistische Feinheiten, Raffinessen in der Wortwahl und eine ausgewogene Struktur, die von kontrastreichen Szenen und Wendungen reichen Gebrauch macht. Gegenüber der ›Göttlichen Tugend‹ des Monarchen soll »die scheinheilige boßhaftigkeit des Gotts-vergessenen« Cromwell sich umso schwärzer abheben – »Ich gleube nicht/ daß der gantze höllen-schwarm selbst/ wan schon durch den weiten und breiten abgrund ümfrage geschehen/ was spitz-fündigers ersinnen/ und vorbringen können/ als der einige ehr-vergessene Kromwel alhier tähte.« Ansonsten ist es die »selbst-herrische Rotte«, die über den König zu Gericht sitzt. Licht und Schatten sind solchermaßen verteilt, dass sowohl die »verschmähete« wie die »wieder erhöhete« Majestät – der Sohn bestieg 1660 als Karl II. den Thron – in Zesens Darstellung dem Leser zu Herzen gehen. Die Diskussionen über die Staatsform, die in der Gekröhnten Majestäht breiten Raum einnehmen, entscheidet Zesen expressis verbis, wie oben anhand von Zitaten gezeigt wurde, zugunsten der Monarchie. Es ist der »einheuptige Königliche Staht«, welcher »der Gottheit selbsten […] der nächste.« (S. 452) »Es konte auch in wahrheit das gantze Englische Volk Gott nicht gnugsam danken/ daß Er ihnen/ nach so vielen unterdrükkungen / ein Haupt gegeben; vor welchem sie sich wiederüm freimühtig aufrichten; und in allem ihren unrechtmäßig abgesprochenem rechte tähtliche hülfe suchen mochten.« (ebd.) Zesens Darstellungsstil in dieser tragischen Königsgeschichte, die auf Enthauptung des höchsten Würdenträgers des Landes hinausläuft, eröffnet auf dem Tiefpunkt eine wahrhafte »Schaubühne des Todes«. Das unerhörte Geschehen erfordert Aktanden, deren Charaktere gegensätzlicher nicht hätten sein können. Ein edler königlicher Held der eine, ein Abscheu erregender Unhold der andere. So kontrastreich die Wesenszüge, so überbordend die Spannungen auf der Handlungsebene. Mit solch romanhaft ausgestatteter, zeithistorisch ›korrekter‹ Beschreibung eines aktuellen Geschehens müsste Zesen Erfolg buchen. Er kannte seine Stärken und versprach sich eine ansehnliche Breitenwirkung. Zur erzählerischen Perspektivierung gehört die Parteilichkeit, die ganz bewusst und unverhohlen eingesetzt wird. Der König ist, so Zesen, von Gott königlich ausgezeichnet. Er besitzt »leibes-gaben/ und sonderliche geschikligkei-

262 ten/ damit ihn Gott vor andern menschen so mildiglich ausgezieret/ daß er deswegen allein eines solchen Reichstuhls würdig sein solte«. (S. 134) Gott habe ihn »mit überaus hohen gaben/ ja strahlen der majestät […] reichlich beseeliget« (S. 135). Da ist zunächst die schöne »Leibesgestalt«, die ihn so übermäßig von gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet, dass in der Beschreibung sich biblische Figuren gleichsam aufdrängen. Dan was sein wesen/ und seine leibsgestalt betrift/ die ist/ eben wie an Saul/ herlicher und ansehnlicher/ als einige des gantzen volks/ so/ daß ihm keiner in allem volke gleich ist; indem er so wohl geschaffen und gebildet/ daß selbst das gnausichtigste auge/ wie es keinen gebrechen/ noch tadel an Absolon fand/ […] auch keinen an ihn zu finden vermag. (S. 135)

Dazu kommt die Schönheit seiner »schwartz-blinkenden haar-lokken«, »in mittelmäßig-große ringel/ sehr zierlich gekrüllet« (ebd.). Und dann erst die Augen! Durch die Locken »spielen die flinkrenden karfunkel-sterne seiner schönen augen/ eben wie an David/ mit […] anmutig blitzlenden strahlen« (ebd.). Zur Schönheit treten die geistigen Fähigkeiten hinzu: ein scharfes Urteil, ein gutes Gedächtnis, insbesondere aber die Gabe des Wortes. Letztere sticht hervor durch »sehr bewegliche zierliche worte«: Dan alle seine reden seind so auserlesen/ so treflich/ so bündig/ so angenehm/ so klahr/ und so durchdringend/ daß er sich dadurch […] gnugsam fähig gemacht über den willen der menschen zu herschen/ und ihre gemühts-neugungen so wohl zu erwekken/ als in den schlaf zu wiegen/ ja gar gefangen zu nehmen/ und andere in ihre stelle zu bringen (S. 138).

So sei auch seine »gottesfürchtige/ rechtfärtige/ und mäßige Hofhaltung« derart vorbildlich, dass sie den Spruch erfüllt (S. 139): »Des Königs fürbild nimt die gantze welt in acht/| indem sie auf der spuhr ihm straks zu folgen tracht.« Die glänzende, wahrhaft königliche Gestalt, dargestellt in der höchsten Stillage mit biblischen Anklängen, zeigt alle Merkmale einer Sublimierungsstrategie. Davon hebt sich die rohe Gewalt Cromwells und seiner Parteigänger um so negativer ab. Und also suchte Kromwel seine Obermacht wie er sich/ als ein schlauer/ durchtriebener fuchs immer näher und näher darnach zugeschlichen/ bis er sie zuletzt volkömlich in seine greifs-klauen bekommen/ auf eben dieselbe tükkische/ betrügerische/ und unrechtfärtige weise zu erhalten. Auch gebrach es ihm in der taht weder an arglistigkeit/ noch am betruge/ noch auch an gewalt/ und macht/ sich selbst in seinem neuen Staht vor sein gantzes leben zu befestigen (S. 262).

Angesichts der »grausamen mordereien/ und unterdrükkungen der getreuen königlichen untertahnen« bleibt dem König nur das Gebet: »Gott anzuflehen/ welches er auch unnachläßlich verrichtete« (S. 263).

263 Die Spannung wird geschürt durch ein gleichsam göttliches Zeichen, das dem »druk und elende« ein Ende bereiten könnte. Der Leser ist aufs Äußerste gespannt: Dann mitten in Kromwels eben so greulichen mordtähtigkeiten/ als abscheulichen gewalttähtigkeiten/ ja mitten in seinen großen eroberungen/ kahm eine hand aus dem himmel/ und gab diesem gewaltigen Mörder eine solche maulschälle/ daß er darvon auf das bette hindäuselte/ und alda zur widervergeltung der pein/ die er so manchem unschuldigen hertzen zugefüget/ mit den allerbittersten schmertzen gepeiniget ward (S. 263).

Aber der »Wühterich« will nicht hören und schlägt die Warnung des Himmels in den Wind. Und so schlägt die Gewaltherrschaft mit noch härterer Hand zu. Da Zesen – wie ein echtes Kind seiner Zeit – gehörig Werbung betreibt und in anderen Büchern seine Vorzüge von Mitgenossen der Deutschgesinneten Gesellschaft herausstreichen lässt, wird auch in diesem Fall kräftig auf die Pauke gehauen. Was vor einen lieben dank mein Herr bei den frommen Sprachliebenden/ durch ausfärtigung seiner »Verschmäheten doch wieder Erhöheten Majestäht«/ verdienet/ ja was vor ein unsterbliches lob Er hierdurch erlanget/ kan ich nicht gnugsam aussprechen. Viel große Leute urteilen davon also: Daß/ wan Er auch schon nichts mehr geschrieben/ als dieses einige Buch/ Er dannoch/ zu erlangung eines unsterblichen preises/ mehr als genug getahn: daß in dem einigen Buche die zierde/ die kraft/ die majestät/ und volkommenheit der Deutschen Heldensprache sich erst recht und gantz untadelhaftig sehen laße: daß darinnen nicht ein einiges wort/ noch einige redensahrt zu finden/ die nicht so wohl gesetzt und angebracht were/ daß kein sterblicher sie zu verbessern fähig und mächtig gnug sei: dergestalt daß Er den Nahmen des Wohlsetzenden der Natur nach/ mit allem rechte verdienet.

Soweit der Verfasser eines vor der Helikonischen Hechel (1668) eingerückten Briefs, »Des Wohlriechenden abgegangenes Schreiben an den Färtig=Wohlsetzenden«.5 Das ist aber noch nicht alles. Es ist noch ein angehängtes Schreiben an die Majestät-Bücher zu berücksichtigen, das aus London überschickt wurde. Es ist der Brief des brandenburgischen Geheimen Rats und Kanzlers im Herzogtum Kleve, Daniel Weimann, mit dem Zesen lange in Verbindung stand und zu dessen Ableben er eine Trostschrift verfasste. In London hielt er sich damals als Abgesandter an die Englische Majestät auf, wie hier eigens mitgeteilt wird. Er habe das »Büchlein« erst vor sechs Tagen erhalten und entschuldigt gegenüber dem Verfasser seine späte Reaktion. Dann jedoch folgt sogleich das (uneingeschränkte) Lob: »Das Werk ist fürtref 5

SW Bd. XI (1974), S. 282–286, hier 284. Der »Wohlriechende« ist Karl Christoph von Marschalk-Meerheim (1664–1676), Zesen hieß in seiner Gesellschaft »Der Färtige«, in der Fruchtbringenden Gesellschaft hatte er den Zunftnamen »Der Wohlsetzende der Natur nach«.

264 lich; und wie Er mich damit verehren wollen/ so achte ich die ehre üm so viel höher.« (Bd. XV/1, S. 395 f.) Er verspricht – und das mag der erste Grund für Zesens Buchsendung gewesen sein – das Buch »Seiner Königl. Majestäht« »untertähnigst« zu überreichen und »bei kurtz künftiger zusammenkunft auch derselben urteil und gnädiges gefallen/ Ihm mündlich bei [zu]bringen« (ebd., S. 396). Der ›Anhang‹ ist eine eigene Darstellung, mit eigenem Titelblatt: Die Gekröhnte Majestäht; Das ist/ kurtz-bündiger Entwurf der herrlich-prächtigen Kröhnung Karls des Zweiten. Erschienen ist die Beschreibung in Amsterdam, 1662, bei Joachim Nosche. Die Widmung ist gerichtet an Karl Friedrich Schmieden, Sohn des Bürgermeisters von Danzig. Besser gesagt, die ganze Schrift ist ihm gewidmet und zugeeignet »zur zierde seines hochansehnlichen Stam-Hauses/ und zum preis und ruhm allen Tugend-liebenden erkohren.« Der Grund dafür wird nicht ganz klar, aber jedenfalls ist er der Adressat, der am Schluss noch einmal eigens angeleuchtet und mit einem »Liedlein« geehrt wird. Zesen äußert sich zunächst zu Sinn und Zweck von Geschichtsschriften. Sie seien sterblichen Menschen beim Gedächtnis an die Zeiten unserer Ahnen behilflich, sie helfen der allgemeinen »vergesligkeit« ab, indem sie »tapfere tahten aus ihrem grabe […] reissen« (S. 402). Da sie Tugenden und Laster demonstrieren, seien sie auch »unsere wekker und lehrer« (ebd.). Die »Englischen Zustände«, wie sie beschrieben worden sind, stellen insbesondere vor Augen, »wie in allen weltlichen dingen nichts beständiger sei/ als die unbeständigkeit« (ebd.). Darin kann man »solche jählingen/ und plötzlich über und durch einander rollende glüks-kugeln erblikken/ als uns kaum in einigen geschichten von so kurtzen jahren/ so lange die welt gestanden/ aufstoßen werden« (S. 403). Um so größer die Freude und das Bemühen, bei diesem absonderlichen Fall der Krönung »die wiedergebrachte hohe glükseeligkeit des ehmahls trüb-seeligen/ und haupt= ja trost-losen Engellandes« in aller Fülle zu beschreiben (S. 404). Dann folgt ein Passus, der die Widmung und Anrede in etwa erklären hilft. Wie solche hart bedrückte und »beschweerte Gerechtigkeit keine zuflucht/ noch hülfe fand«, nachdem die höchste Instanz, das Gekrönte Haupt, nicht mehr vorhanden ist, gehört zu den Rechtsfragen, für die insbesondere Herr Schmieden zuständig sei: »Und hierzu/ mein Edler Herr Schmieden/ hat mich unter andern veranlaßet Er selbsten/ sonderlich aber mit seiner neulichsten Rechts–übung; dadurch Er nicht allein erwiesen und erörtert/ auf was weise man sich […] in seiner im gerichtschwebenden/ und unbillich verurteilten sache/ vom Unter-richter auf das höchste Haupt zu berufen befuget sei« (usw., S. 404 f.). Nachdem das noch weiter ausgeführt worden ist, setzt die Beschreibung der Krönungsfeierlichkeiten ein (»wir wollen zu unserem zwekke schreiten«). Die Krönung am 3. Mai 1661 wird durch verschiedene feierliche

265 Handlungen eingeleitet. Es werden viele Männer zum Ritter geschlagen (sie werden namentlich aufgeführt), nachdem sie geschworen haben, »daß sie Gott über alle dinge ehren; in ihrem Kristlichen Glauben beständig verharren/ ja denselben/ nach ihrem äusersten vermögen/ vertähdigen und beschirmen wolten« (u. a. m., S. 409 f.). Natürlich werden sie ebenfalls auf den neuen König eingeschworen, aber es »beliebte dem Könige/ als dem Haupte des Adels/ seines Leibes edelste Glieder zu allererst mit diesen hohen ehren zu kröhnen.« Sehr detailliert wird der weitere Verlauf geschildert. In einem langen Aufzug schreiten die Würdenträger voran, dann reitet der König selbst vorbei – Er ritte einen apfel-grauen Spanischen hängst […]. Die mähne dieses königlichen rosses/ sehr zierlich gekrüllet/ auch mit güldenen und anderen vielfärbigen strükken/ so mit demanten besetzt waren/ gezieret/ schwungen sich bis auf die erde. Der zaum war aus feinem golde sehr künstlich gearbeitet/ und mit perlen und anderen edelen steinen bereichert/ wie auch ebenmäßig der halter/ welcher von perlen starrte. (S. 417)

Es wird eine lange Rede gehalten, dann noch eine vom »Worthalter und Verzeichnüs-bewahrer« der Stadt London, beschlossen mit dem Wunsch: »Gott bewahre den König!« Der bis ins Einzelne beschriebene Zug nahm zwei Stunden in Anspruch. Zesen hat mit der minutiösen Schilderung des Geschehens offensichtlich ein breites Publikum angesprochen. »Es schien auch alhier in wahrheit/ als wan das gantze Engelland seine bisher gesamlete reichtühmer/ und von langer zeit her gesparete schätze/ zu seines vom Höchsten Heilande selbst zugeschikten Heilandes und Erlösers ehre und herligkeit/ gantz und gar ausgeschüttet.« (S. 426). Die Beschreibung eines noch lebenden Zeitgenossen und die Begebnisse in England, die sich vor kurzem zugetragen haben, dürften das Interesse der Leser belebt haben. Gern werden sie auch gelesen haben, wie seine »weisheit/ die mit Ihm allezeit zu throne steiget,« ihn befähige »nicht allein seiner angebohrnen drei Krohnen/ sondern auch aller Krohnen der gantzen welt besitzer/ und beherscher zu sein« (S. 427). Nun ist seine »Walfahrt« an ihr Ende gekommen, ein mühsames und gefahrenvolles Leben in der Fremde, wie es mit rhetorischem Pathos festgehalten wird: Auf solcher seiner Walfahrt/ war Er so manches mahl in gefahr auf dem wasser/ in gefahr auf dem lande/ in gefahr in der stadt/ in gefahr in wildnüssen/ in gefahr unter seinen eigenen leuten/ in gefahr unter den reubern/ in gefahr unter den mördern; indem Ihn seine eigene untertahnen/ welche lüstern waren noch einen König zu ermorden/ an allen enden verfolgeten. Er befand sich manches mahl in armuht und blöße/ in arbeit und elend; Er lidte hunger und durst/ frost und kälte; die ängstige sorgen/ die schweeren bekümmernüsse ließen ihn manche nacht nicht schlafen. (S. 427 f.).

Der Himmel habe seine Geduld belohnt. »Nunmehr siehet man/ durch die milde gunst des Himmels/ seinen walfahrts-stab/ in einen königlichen

266 reichs-stab/ und seine walfahrts-mütze in eine dreifache Reichs-krohne/ ja seine gantze unstäte walfahrt hinter sich zurükke geworfen/ in ein ewiges beständiges Reich verändert« (S. 428). Dann führt Zesen den Leser – nach allen langwierigen Feierlichkeiten im Westminster – zum Krönungsmahl, wo alles vor Pracht und Glanz erstrahlt und die herrlichste Musik ertönt: Da kahm der König wieder in den Saal/ und empfing vor der königlichen tafel/ indessen daß die spiel-leute/ und trompetter ein überaus liebliches freuden-getöhne machten/ das hand-wasser; welches der Oberste Kammer-herr aus einer überaus künstlich ausgearbeiteten güldenen gieß–kanne ausgab/ indem ein ander Hertzog das handbekken unterhielt/ und noch ein anderer mit dem hand-tuche bereit stund. Hierauf ließ sich der König auf einem künstlich ausgehauenem/ und köstlich geziertem marmelsteinernem Stahts-stuhle/ und neben Demselben der Hertzog von Jork/ am obersten ende der tafel nieder; und vier Grafen setzten sich zu Seinen füßen. (S. 440)

Was im fürstlichen Kreis so feierlich zugeht, setzt sich in dem Freudengetümmel in den Straßen von London und auf den Dörfern fort. Hier sprangen »Walker und Humfri/ mit Janichen und Jates […] in ihren freudentäntzen/ üm die wette herüm; ja die spielleute selbsten konten sich/ vor großen freuden/ des hüppelens und springens nicht enthalten. […] Kurtz: die Dörfer und Meierhöfe/ die äkker und auen waren erfüllet mit dem getöhne der schalmeien/ der flöhten/ der sak-pfeiffen/ so daß die felder und wälder/ die änger und wiesen/ die hügel und gründe/ die berge und tähler/ ja alle gegenden selbst zu tantzen schienen.« (S. 446) Die Zeichen haben sich erfüllt. »Nunmehr siehet man den Stern/ der in seiner gebuhrt gegen morgen/ über dem königlichen Schlosse/ gestanden/ und uns bisher im zweifel gehalten/ seine wahre bedeutung/ in der tähtlichen vollen würkung/ mildiglich offenbahren.« (S. 428) Damit sind nun auch »diese Englische jammer-jahre gleich als mit einer höllischen fünsternüs ümgeben/ [zu Ende gegangen und] nahmen endlich/ so bald sie ihre wieder-aufsteigende Sonne zu bestrahlen begunte/ ihr langgewündschtes ende. Ja also stehet nunmehr das ehmahls trübseelige Engelland wieder in voller lust und freude« (S. 454). Mit Sang und Spiel haben die dramatischen Ereignisse ein Ende genommen. Die Engländer hatten nun erfahren, wie wichtig und nützlich ein weiser König ihrem Staatswesen ist. Sie hatten in der taht erfahren/ wie schädlich ihnen sein abwesen/ und wie vorteilhaftig dem gantzen Reiche/ seine noch kurtze gegenwart gewesen. Dan durch jenes wuchs ihnen elend/ jammer/ und armuht; durch diese wohlfahrt/ ergetzung/ und allerlei reichtuhm zu. Und darüm ist freilich dieser ihr König mehr ehre würdig/ ja verdienet einen viel höheren dank/ als sie Ihm jemahls zu erweisen vermögen. (S. 427)

Überblickt man die historische Beschreibung der »englischen Zustände« aus zeitlicher Distanz, sind abschließend einige Beobachtungen zu machen, die Zesens Anliegen und dessen literarische Realisierung präzisieren. Dazu muss der geistesgeschichtliche Hintergrund in Betracht gezogen werden. Es

267 war bekanntlich die Zeit des Absolutismus, der absoluten und, so glaubte man, von Gott eingesetzten Königsherrschaft. In diesem Licht besehen, war die in Europa fast ausnahmslos vorherrschende Ansicht, dass Könige und Herrscher deshalb auch nur von Gott zur Rechenschaft gezogen werden können und sollen. Die Heiligkeit der königlichen Macht galt es zu respektieren, auch im Fall schlechter Herrschaft – wie Zesen es in der Widmung der Buchner–Übersetzung an Dietrich von dem Werder kurz und bündig formuliert: »Ein Krist sol auch den wunderlichen Herren untertähnig gehorchen« (ebd., S. 4). Es ging deshalb in erster Linie darum, wie diese Widmung zeigt, die Greueltaten der Unruhen und die Ermordung des Königs in aller Abscheulichkeit und Widerlichkeit vor Augen zu führen und vor der moralischen Instanz der vernünftigen Welt als eine »gotlose verwegenheit« anzuprangern. Das geeignete Stilmittel ist der lakonische Stil, der in Geschichtsdarstellungen wegen der Pathoswirkung gern eingesetzt wurde: »Die welt erzittert/ der himmel selbst böbet/ die Fürsten ergrimmen/ die Könige der erden flammen für zorne.« Dann fällt das Urteil über das englische Volk, das solches Laster geduldet hat: es hat sich »an der königlichen heiligkeit/ ja götligkeit verbrochen.« Damit ist Zesens ideologischer Standpunkt auf den Punkt gebracht. Eine zweite Beobachtung betrifft Stil und Struktur. Volker Meid hat schon die Nähe zum Romanschaffen hervorgehoben, die namentlich die Eigenart der »Kurz-bündigkeit« in den Blick rückt6 und weiterhin die stilistische Vorliebe für Klangwirkungen gerade im Zusammenhang mit diesem »Stakkatostil« aufgezeigt. Er bringt dafür folgendes Beispiel aus der Gekrönten Majestäht, das das freudige Lärmen in der Stadt London beschreibt im Augenblick der Krönung: Es begunten die trompetter zu blasen von den türnen; die trommel-schläger zu rasen auf den straßen; die glokken zu summen auf den kirchen, die geschütze zu brummen auf den schiffen. Die Festung bließ einen freuden-tohn aus ihren stüken; die Kriegs= und bürger-wache ließ einen freuden-klang aus ihren röhren; die Meister-sänger brachten einen freuden-gesang aus ihren kählen; die Meister-spieler machten einen freuden-schal mit ihren seiten; ja hand/ und mund verursachten einen freuden-hal mit spielen/ blasen/ singen/ auf lauten/ geigen/ harfen/ auf zinken/ flöhten/ krumphörnern/ und posaunen (S. 444).

Schließlich sind die Christus-Allusionen zu nennen, die für beide Könige gelten. Sie finden sich schon in der Schrift EIKON BASILIKE, deren Autorschaft Zesen Karl I. zuschreibt, obwohl diese nach wie vor umstritten ist. Sie lagen für Zesen also auf der Hand, sie liegen bereits in seiner Formulierung »Könige seind Götter« beschlossen. Sie werden in der groß angelegten Untersuchung von Günter Berghaus (1984) zu Gryphius’ Carolus Stuardus in eingehenden Analysen dargestellt und so sind weitere Elemente  6

Volker Meid: Zesens Romankunst. Frankfurt a. M. 1966, S. 86 ff.

268 an die Erträge der Gryphius-Forschung anzuschließen. Sie machen einmal mehr bewusst, welche Dimensionen die frühneuzeitliche Konstruktion von »Historia« aufweist. Darauf rekurrieren die Beiträge von Karl F. Otto und zuletzt Andrea Wicke.7 Es muss noch einmal auf die Romanähnlichkeit der hier besprochenen Schriften eingegangen werden. Die Darstellung versucht dem Leser klarzumachen, dass es im Fall der englischen Könige nicht geht (wie es Andrea Wicke formuliert) »um die sprachliche Repräsentation der äußeren Pracht des Königs, sondern um die Vergegenwärtigung ihrer inneren Majestät«. Das ist zweifellos ein richtiger Ansatz, aber dennoch wird auch ohne den »rhetorischen Ornatus« stilistischer Nachdruck erreicht, und zwar durch die bewährten Mittel der Antithetik, Parallelismus, Klangwirkungen (wie im obigen Zitat: Binnenreime, Assonanzen, Alliterationen) und dergleichen. Es ist in Anschlag zu bringen, dass Zesen ein Dichter und Sprach- bzw. Wort-Künstler war und ein breites Publikum anvisierte. Sogar in dem sprachphilosophischen Werk Rosen=mând bemüht er sich um Publikumswirkung, wenn er – nachdem er in der Vorrede das Wort »liebe« in allen möglichen Beziehungen vorgeführt und variationsreich durchgespielt hat – zuletzt den kritischen Leser unsanft anredet: »… so wisse/ daß ich nicht für dich allein/ sondern für alle schreibe; daß ich allen belieben wil […] und nicht allein das zu schreiben/ was sprach-liebende; sondern auch was eingezogene/ oder zur üppigkeit sonst ausgelaßene Gemühter/ ja was Weltund geistliche lieben; […] damit ich also allen mit solchen süßen und anlokkenden verzukkerungen meinen zweg […] nicht allein zu vernehmen gäbe/ sondern auch die edle Hochdeutsche Zunge zugleich annehmlich machte.« (Bd. XI, S. 90)

 7

Karl F. Otto: Zesens historische Schriften: ein Sondierungsversuch. In: Philipp von Zesen 1619–1969. S. 221–230; Andrea Wicke: Philipp von Zesens literarische Sondierung politischer Ideen. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. S. 223– 236. – Zum Thema ferner Danielle Laforge: Theorienen über Hof, Staat und Gesellschaft in Philipp von Zesens»Adriatischer Rosemund«. In: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Elger Blühm u. a. Amsterdam 1982, S. 253–276. – Barbara Bauer und Wolfgang G. Müller (Hg.): Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Wiesbaden 1998; Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht in Europa der Neuzeit. In: Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Berlin 2001. Hg. von Robert von Friedeburg. S. 11–59.– Günter Berghaus: Die Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640–1669. Bd. I: Studien zur politischen Literatur und Publizistik im 17. Jahrhundert mit einer Bibliograhie der Flugschriften. Wiesbaden 1989.

9.

Kulturvermittlung und Wissenstransfer

9.1

Architectura militaris

Zesen hat sich verschiedentlich als ein dankbarer Sohn seiner Wahlheimat erwiesen. Er war, in Amsterdam ansässig, eng mit den Stadtverhältnissen verbunden, fühlte sich auch bei den »Amstelinnen« offensichtlich wirklich wie zu Hause. Aber dennoch verschwand die Heimat nie aus seinem Bewusstsein; davon zeugt auch ein reger Briefwechsel und sein in den Niederlanden gerade starkes Bemühen, seiner Deutschgesinneten Genossenschaft neue Mitglieder zuzuführen. Er sprach und schrieb Niederländisch, verfasste übrigens auch manche niederländische Gedichte (die meisten allerdings im Vergleich mit den deutschen von mittelmäßiger Qualität), die er – als wäre das nichts Besonderes – in seinen Gedichtsammlungen neben die deutschen stellte. Zesens Interesse lag nicht nur auf dem Gebiet der ›belles lettres‹. Ich erinnere nur an die Amsterdam-Beschreibung, an die Beverwijck–Übersetzungen und die glänzend geschriebene Geschichte der sieben Vereinigten Niederlande, auf die er viel Zeit und Mühe verwendet hat. Letzteres war ein Thema, das angesichts der auch im Ausland anerkannten politischen und kulturellen Bedeutung der Republik aktuell war. Das Buch erschien erstmals in lateinischer Sprache – womit also die gelehrte Welt bedient war – (Leo Belgicus, Amsterdam 1660). Es folgte 1677 die Übersetzung von Zesens eigener Hand, die in Nürnberg gedruckt und vertrieben wurde: » Niederländischer Leue: Das ist/ Kurtzer/ doch grundrichtiger Entwurf Der innerlichen Gestalt und Beschaffenheit Des Staht=wesens der sieben Vereinigten Niederländer.« Der barocke Titel fasst präzise das Thema. Es geht um die Entwicklungsgeschichte des Staatswesens von den Anfängen bis zur Gegenwart. Das Generalthema ist die »zwar vielmahls gedrükte/ doch niemahls unterdrükte immerwährende Freiheit«, wie sie seit der Herrschaft der »Betauer« (Bataver) hier heimisch war.1 Der Verteidigung der Freiheit dienen heute »mächtige Kriegsrüstungen zu Wasser« und die gewaltige Flotte. Sie stehe der Landverteidigung in keiner Weise nach, denn sie beruht »fürnehmlich auf dem bau der fast unüberwindlichen Festungen.«2  1  2

Zitiert wird nach dem Neudruck in SW, Bd. XV/2. Hier S. 467. S. 693.

270 Der Festungsbau war im 17. Jahrhundert tatsächlich eine niederländische Spezialität, die Namen der hier arbeitenden Ingenieure Simon Stevin und Menno van Coehoorn sind noch heute ein Begriff.3 In Zesens Beschreibung klingt der Stolz des Wahlniederländers nach: Die Festungen und schantzen/ mit denen diese Länder/ wo ihnen das wasser seinen schutz zu versagen scheinet/ als ein schöner Lustgarten mit einem festen zaune/ oder starken eingemauer/ fast gantz umringet/ seind nach der heutigen und besten kriegsbaukunst aufs allerkünstlichste nicht allein angeleget/ sondern auch so volkömlich ausgebauet/ und mit allem zugehör so überfliessig versehen/ daß sie für meisterstükke/ ja wunderwerke/ da die hochgestiegene Kunst und menschliche scharf-sinnigkeit ihr euserstes vermögen angewendet/ billich zu schätzen. Dan man hat nicht allein aus Hochdeutschland/ Frankreich/ und andern Ländern die besten Kriegsbaumeister hierzu gebrauchet; sondern die Fürsten von Uranien selbst seind auch in solcher fürtreflichen Kunst so erfahren gewesen/ daß sie manchem berühmten Meister nicht gewichen.4

In einer Anmerkung (S. 702 f.) verweist Zesen auf seine Übersetzung der Festungsbaukunst Matthias Dögens, »des berühmten Walmeisters«, und damit ist ein Punkt berührt, der auch aus heutiger Perspektive Aufmerksamkeit verdient. Er meint Zesens Tätigkeit auf einem unerwarteten Gebiet der architectura militaris, die aber aufs engste mit seiner Rolle als Vermittler niederländischer Kultur verbunden ist (obwohl Dögen kein Niederländer war). Trotz schwieriger äußerer Bedingungen der Fachterminologie und ihrer angemessenen Übertragung ins Deutsche hat Zesen sich dieser prekären Aufgabe gestellt und mit seinen üblichen schöpferischen Kräften bewältigt. Mit der Übersetzung von drei Werken der Festungsbaukunst trug Zesen zur aktuellen Frage der Verteidigung von Städten gegen feindliche Angriffe bei. Sie war durch die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges um so dringlicher geworden, als die alten Anlagen gegen neue Angriffswaffen keinen hinreichenden Schutz mehr boten. Mit ihren Türmen und Mauerwehren waren sie auf vertikale Verteidigung gerichtet gewesen, gegen Feuerwaffen boten sie nicht genügend Deckung. Am Fuss des Turms oder der Mauer konnte eine äußerst gefährliche Situation entstehen, wenn der Angreifer sich im ›toten Winkel‹ befand und die Verteidigungswerke leicht untergraben konnte (»minieren«).  3

 4

Stevin (1548–1620), der aus Brügge stammende Mathematiker und Architekt von Festungsbauten nach den neuesten Gesichtspunkten, war von europäischem Ruhm. Er war der Lehrmeister des Prinzen Moritz und hat in der niederländischen Wissenschaftsgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt (Mathematik, Mechanik). Sein Buch De Sterctenbouwing (1594) war das erste zum Thema in den Niederlanden. – Der Baron Menno van Coehoorn (1641–1704) hat sich als Festungsbau-Architekt und Feldherr in Europa einen Namen gemacht. Bekannt wurde sein Verteidigungsplan der Festung Coevorden (1680). Er wurde 1695 zum Generaldirektor der Festungswerke und 1697 zum General der Artillerie ernannt. S. 693 f.

271 Italienischer Vernunft verdankt man die Erfindung und Konstruktion von Bastionen. Sie ermöglichten bei anstürmenden Truppen den Angriff in die Flanken und eliminierte den berüchtigten ›toten Winkel‹. Italienische Architekten entwarfen die Zitadelle von Antwerpen und die Anlagen in Vlissingen (1571) und Groningen (1575). Niederländische Baumeister entwickelten ihre Kunst weiter. Unter ihnen war Simon Stevin der bedeutendste und namhafteste. Er leitete die Ausbildung junger Militäringenieure an der neuen Universität Leiden (ab 1600). Der lange Krieg gegen Spanien hatte die Bedeutung leistungsstarker Befestigungswerke gezeigt. Die italienische Bauweise mit Bastionen aus schweren Quadersteinen wurde an die Verhältnisse in den Niederlanden angepasst. Die Erdwälle – ein ausgeklügeltes Verfahren verhinderte ein Abrutschen – und die Wassergräben steckten den Grundplan ab, der um ein verfeinertes und reich variiertes Bastionssystem ergänzt wurde. In den Niederlanden war ein dichtes Netz von Verteidigungsanlagen modernen Zuschnitts entstanden. Stevin, der vertraute Mitarbeiter und Berater von Moritz von Nassau (er war der erfolgreiche Kriegsführer und Heeresreformer) zog ausländische Studenten an, die ihre Ausbildung in Leiden erhielten. Niederländische Ingenieure bauten im Ausland (Deutschland, Skandinavien) nach dem bewährten niederländischen Modell die alten Anlagen aus beziehungsweise verbesserten sie. Johan van Valckenburgh z. B. erbaute zwischen 1619 und 1625 die Festungswerke in Hamburg, die mit ihren 22 Bastionen dazu beigetragen haben, dass die Stadt im Teutschen Krieg (1618–1648) verschont wurde und ihre Blüte keine Einbuße erlitt. Ausländische Gäste besuchten in Leiden also nicht nur die akademischen Sehenswürdigkeiten und studierten nicht nur Jura und Medizin, sondern kamen auch mit handfesten technischen Interessen nach Holland, um sich in jener von Kriegen geschüttelten Zeit über Entwicklungen im Festungsbau zu informieren. Das Studium der niederländischen Befestigungskunst war schon vor dem Dreißigjährigen Krieg ein »Lieblingsgegenstand der Kavaliers-Erziehung.«5 Der Mediziner Johannes Magri, der auch der Festungsbaukunst großes Interesse entgegenbrachte, widmete sein Compendium Fortificatorium (Berlin 1646) dem Großen Kurfürsten (der ja die Niederlande aus eigener Erfahrung kannte und seit 1646 mit der Oranierprinzessin Luise Henriette verheiratet war) und versprach ihm einen Unterricht vom Festungsbau, »wie derselbe nicht allein in Niederlandt, sondern auch nunmehr fast in gantz Europa gebräuchlich ist.«6 Das Buch ist, Max Jähns zufolge, ein gelungener Abriss der niederländischen Befestigungskunst.  5

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Max Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland. 3 Bde. München / Leipzig 1889–1891 (21. Band des Gesamtwerks Geschichte der Wissenschaften), Repr. New York / Hildesheim 1966. Bd. 21/2, S. 1091. Jähns, S. 1127.

272 So ist es nur natürlich, dass in Holland gedruckte Bücher zum Thema Festungsbaukunst für deutsche Verhältnisse denen aus anderen Ländern etwas voraus hatten. Das machten sich Zesen und der Verleger Ludwig Elzevier zunutze. Im Jahr des Friedens von Münster und Osnabrück erschien auf deutsch, in Zesens Übersetzung, das Buch Matthias Dögens: Heutiges tages Übliche Kriges Bau-kunst. Ein Jahr zuvor war die lateinische Originalausgabe erschienen, etwa gleichzeitig mit Zesens deutscher Übersetzung kam die französische Bearbeitung heraus.7 Das war eine damals in großen niederländischen Verlagshäusern nicht unübliche Verkaufsstrategie, die sich offenbar auszahlte. Matthias Dögen, um 1605 in Dramburg (Mark Brandenburg) geboren und 1672 in Berlin gestorben, scheint früh nach Holland gekommen zu sein und kannte sich in den dortigen Verhältnissen gut aus.8 Er war, wie er wiederholt betonte, ein Mann der militärischen Praxis; die Oranierprinzen Moritz und Friedrich Heinrich erwähnt er mit Respekt. Wohl aufgrund seiner Erfahrungen und Verdienste wurde Dögen mit diplomatischen Aufträgen betraut. Er war von 1648 bis 1655 brandenburgischer Resident in den Niederlanden, 1655 wurde er als See-Kriegs-Kommissarius bei der Admiralität der Generalstaaten angestellt. Seine Kriegsbaukunst widmete er Friedrich III. von Dänemark (1609–1670), der als Sohn Christians IV. gerade die Regierung angetreten hatte. In seinem Gratulationsgedichte auf Dögen nimmt Zesen darauf Bezug. Er nimmt die Argumentation der Widmung auf, die in den von Kriegsgefahr beherrschten Zeitläuften Friedrich als den Garanten des Friedens auf den Schild hebt. Nachdem der Schwedenkönig in der Schlacht gefallen – (bei Lützen am 16. November 1632) – und der englische König »von seinen eigenen vnterthanen« »zugleich deß Läbens und Reichs beraubet worden« – seine Hinrichtung fand am 30. Januar 1649 statt – sei Friedrich III. der einzige nichtkatholische Fürst, auf den man zählen könne. »Die gantze Christenheit […] ist leider! durch Ihrer Könige und Gewaltigen blut/ und Land-dürstige waffen anitzt meistenteils verwüstet und zerstöret; ja allenthalben durch brand und verheerung der Städte/ solcher gestalt verrükket und zerschleiffet/ daß sie ihres geschwornen tod-feindes/ des Gros-Türcken/ maght fast aller orten offen steht.« (Fol. A2r). Die Angst vor der Türkengefahr bildet die Grundlage des Lobs, das Zesen sowohl Dögen wie dem dänischen König darbringt:

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 8

Architectura militaris moderna. Variis historiis, tam veteris, quam novis confirmata, et praecipuis totius Europae monumentis, ad exemplum adductis exornata. (Amsterdam: Elzevier 1647). L’architecture militaire moderne, ou fortification […] Mise en Franc. Par Hélie Porier. (Amsterdam: Elzevier 1648). Vgl. den Artikel von Th. Hirsch in ADB. Die Architectura militaris ist dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg gewidmet.

273 Sein buch/ das uns den bau der wäll und schantzen lehret/ Vnd wie man feindes list und jähen einfall wehret/ Soll einem Könige hinfürder heilig sein/ Der unter Königen itzund ist nuhr allein/ Der dessen würdig bleibt:: Ja Der auch nur alleine Der krancken Christenheit kan helffen auff die beine.

Die Gefahr hielt tatsächlich ganz Europa in Bann, sie begründet zusätzlich das Interesse am Festungsbau, der, wie Dögen hervorhebt, nicht dem zerstörenden Krieg, sondern dem sicheren Frieden diente. In seiner Darstellung, der eine Streit=bau=kunst folgt (»Der Kriges-Kunst heutiges tages gebräuchlicher Sturm= und Währ=bau«), orientiert Dögen sich an den niederländischen Gepflogenheiten, setzt sich aber auch kritisch mit ihnen auseinander. Dem dort üblichen Wassergraben zieht er einen trockenen Graben vor (S. 93 ff.) und äußert sich skeptisch zu der damals nicht unumstrittenen Frage der ›Schönheit‹ eines Festungsbauwerks. Er rät zu einem praktischen Verfahren, das sich nach der natürlichen Lage richtet und ihr die ›Kunst‹ unterwirft. Die irreguläre (›ungeschickte‹) Anlage sei außerdem weit billiger und verdiene schon deshalb den Vorzug, »aldiweil auch eine ungeschickte/ idoch zu schutz und schirm über=aus bekwäme Fästung mit vihl geringern unkosten uns oftmahls an di hand kömmet« (S. 182). So sei die ›ungeschickte befästigung‹ gerade »der Kriges-baukunst ädelstes teil.« (S. 181) Über die Arbeit an der Übersetzung hinaus müssen zwischen Dögen und Zesen persönliche Kontakte bestanden haben. Denn als Dögen 1651 Maria Vermeulen heiratete, schrieb Zesen »dem ädlen Paare« ein Hochzeitsgedicht, das in mythologischer Einkleidung und versehen mit gelehrten Anmerkungen repräsentativen Charakter hat. Es können hier aus Raumgründen nur einige wenige Andeutungen gemacht werden. Zesens Vorliebe für in der Mythologie angesiedelte ländliche Situationen tritt auch hier hervor. Er lässt in frühmorgendlicher Naturszene in der Nähe von Hamburg den Bräutigam auf die »Deutsche Vene« (Venus) treffen. In einem magisch-märchenhaften Farbenspiel (die Skala reicht von safrangelb bis zum königlichen Gold) erfüllt sich die karge Handlung. Den Schlüssel zum Rätselspiel (deshalb die gelehrten Erläuterungen) stellt die Namensumschreibung des Dichters im Titel dar: »Einer der die Blaue farbe liebet.« – Weit einfacher nimmt sich das Lied auf die Braut aus: »Was hall ist dis? was schallt so laut?| So sage miers/ o schöne Braut«. Das Formulierungsmuster gibt keine Rätsel auf. Die Braut ist der Stimme der Weisheit gefolgt und wird Dögen heiraten: »Sie wählt/ o kluge wahl! mit Dem zu leben/| Der alzeit lebet/ wan er stirbt/| und dessen nahme nie verdirbt.«9 Jedenfalls zeugen beide Lieder  9

Die Gedichte wurden in die Sammlung Dichterische Jugend-Flammen von 1651 aufgenommen: SW Bd. I/1, S. 312–318 bzw. 328 f.

274 (das erstere nach einer Melodie von Peter Meier) von persönlicher Anteilnahme. Weniger Glück war indessen Zesens Übersetzung im Urteil des Sprachgelehrten Justus Georg Schottelius beschieden. Dieser war 1642 als Der Suchende in die erlauchte Fruchtbringende Gesellschaft aufgenomen worden und war in sprachkritischen Fragen gewissermaßen ihr Sprachrohr. Zesen hatte ihm sein großes Gedicht Lustinne (1645) gewidmet, in deutlich strategischer Absicht. Er wollte für sich werben und für seine neue, ungewohnte (und meist belächelte) Rechtschreibung, auf die er sich etwas zugute tat.10 Es war verlorene Liebesmühe, der Korb, den er sich holte, kam mit der Rezension der Dögen–Übersetzung: In disem Buche sind recht schöne künstliche Kupferfiguren/ auch viele gute Teutsche Worte und Redarten in der Hochteutschen Übersetzung befindlich/ nur daß die ehrlichen guten Teutsche Worte jhr recht natürliches Kleid ofters verlihren/ und in so vermeinter Zier verunzieret werden/ woher solches rühre/ und aus was rechtmäßiger Uhrsach es also vor die Leute komt/ weiß man nicht/ man pflegt zu sagen/ dat Kleed verschleppet den Mann/ de sonst goet genoeg wäre.11

Für die Einschätzung der ›architectura militaris‹ ist übrigens bezeichnend, dass bei Schottelius an gleicher Stelle drei weitere Bücher zu diesem Thema aufgeführt werden. Die zweite Übersetzungsarbeit galt einem Werk des französischen Jesuiten Georges Fournier aus Metz: Traité des Fortifications ou Architecture militaire, in Zesens Übersetzung 1667 im Amsterdamer Verlag von Johannes Jansonius van Waesberghe unter dem Titel Handbuch der itzt üblichen Kriegs-baukunst erschienen.12 Nach Jähns13 war es »eine sehr verbreitete und beliebte Arbeit«, die viele Auflagen erlebte. Zesens Name erscheint nicht, auf dem Titelblatt heißt es lediglich: »Und nun aus den [!] Französischen verhochdeutschet durch einen Liebhaber dieser kunst.« Das Buch wurde besonders geschätzt wegen der vielen Abbildungen bekannter Festungsbauten. Die Kupfer des französischen Originals wurden denn auch in alle Ausgaben übernommen; hier sind sie mit französischen und niederländischen Beischriften versehen.

10 11

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Vgl. die Widmung: SW Bd. I/1, S. 239 f. Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubtsprache (1663). Hg. Wolfgang Hecht. II. Teil. Lib. V. S. 1207. Auf diese Stelle hat zuerst Cornelia Bouman aufmerksam gemacht: Philipp von Zesens Beziehungen zu Holland. Diss. Bonn 1916, S. 45 Anm. 2. Die französische Originalausgabe erschien 1648, eine französische Ausgabe wurde 1668 in Amsterdam bei Jansson van Waesberge verlegt. Eine niederländische Übersetzung lag ebenfalls vor: »Tractaet van fortificatie, of vesting-bou […] Uyt het Frans […] overgeset door Een Liefhebber der Kunst«. Amsterdam: J. de Z(etter). Jähns (wie Anm. 5), S. 1336 f.

275 Zesens Übersetzung wurde mit verändertem Titelblatt 1671 in Mainz ein weiteres Mal herausgebracht14, auch diesmal ohne Widmung und Gedicht, aus denen man auf innere Beteiligung des Übersetzers hätte schließen können. Es ist fraglich, ob diese Ausgabe mit Zesens Mitwirkung zustande gekommen ist; ein Raubdruck ist nicht auszuschließen (das Zesensche ›Vortrab‹ wurde durch ›Vorrede‹ ersetzt). Einiges spricht dafür, dass der deutsche Verleger auf der Modewelle hat mitschwimmen wollen: »Jetzt aber/ der Teutschen Nation/ als einer sonderbaren liebhaberin der Fortification=Kunst/ zum besten/ in Mütterliche hohe deutsche Sprache mit Fleyß übersetzt« (Titelblatt). Im Verhältnis zur niederländischen Ausgabe sind die Kupfer nachlässig gestochen. Es ist alles in allem keine Ausgabe, die dem deutschen Verlag Ehre gemacht hat. Anders verhält es sich mit dem Buch Kriegsarbeit Oder Neuer Festungsbau, eine Übersetzung von Alain Manesson-Mallets Les Travaux de Mars (1671), in Amsterdam 1672 bei Johan van Meurs verlegt.15 Die Vorrede »An den Hochdeutschen Liebhaber der Kriegsbaukunst« bringt mehr als die üblichen Empfehlungen. Sie stellt zunächst die vorliegende Übersetzung in den Umkreis der vorhergehenden und erläutert Zesens Absicht. Ihr ist zu entnehmen, dass im Fall von Dögens Kriegsbaukunst Zesens Freund Gottfried Hegenitz die Übersetzung angefangen, er selber sie fertiggestellt hat: »hierzu leistete ich ihm hülfliche hand/ ja volführete es nachmahls mit eigener feder«. Die Aktualität der Kriegsarbeit sei aber im Vergleich zu jenem ersten Buch nicht geringer geworden: »weil durch E u r o p e/ aus dessen grentzen der Krieg etliche jahr nacheinander wunderlicher weise gantz verbannet gewesen/ eben ein heftiges Kriegsgeschrei erschallete.« Das neue Werk soll in Zeiten neuerlicher Kriegsgefahr den Landsleuten mehr Sicherheit bieten. In der Vorrede wird die Bedeutung von Übersetzungen für die sich entwickelnde deutsche Sprache zu Bewusstsein gebracht. Man hat sie also anders zu beurteilen als heutige. Zesen hatte sich bereits früh, aus Gründen, die zu erläutern sein werden, dafür eingesetzt, die »vielen neuen Kunstwörter« doch »recht und verständlich « zu verhochdeutschen. Nun aber, nachdem er »alle diese schweerligkeiten« hinter sich gebracht hat, geht er zum Angriff gegen seine Kritiker über. War für Schottelius Zesens Rechtschreibung ein Ärgernis gewesen, waren es für andere die Verdeutschungen, die er zum Zwecke der »Reinerhaltung der Sprache« eingeführt hat. Er war auf diesem Feld zwar nicht der Einzige, aber er hat sich am weitesten vorgewagt und einiges riskiert. Es ist nicht sonderlich schwer herauszufinden, 14

15

Hand-Büchlein »Der ietzt-üblichen Kriegs-Bau-Kunst/ Aus der besten und jetziger Zeit berühmbtesten Frantzösischen / Holländischen und andern Festungen gezogen.« Ebenfalls 1672 erschien eine niederländische Übersetzung: »Den Arbeid van Mars«, uit het Frans vertaelt [door Mattheus Smallegange]. Amsterdam: J. J. van Waesberge en J. van Meurs.

276 weshalb Zesen sich oft der Lächerlichkeit ausgesetzt hat: Er tat leicht des Guten zuviel. Hier nimmt er nun das Wort »Nonnenkloster« zum Beispiel, er begründet seinen Versuch, es durch »Jungferzwinger« zu ersetzen: Hierbei erinnere ich mich des wortes N o n n e n k l o s t e r, welches ich vor achtundzwanzig jahren einen J u n g f e r z w i n g e r genennet. Weil nun über dieses wort J u n g f e r z w i n g e r etliche naseweise Klüglinge/ die es angesehen wie ein kalb ein neues tohr/ ihren mund als über etwas ungereimtes/ tapfer zerrissen; so mus ich ihnen alhier nohtdrünglich anzeigen/ daß es eben so ungereimt nicht sei/ wiewohl es dazumahl aus meinem schier noch kindlichen verstande geflossen. Das wort K l o s t e r ist ja nirgend her/ als aus dem Lateinischen C l a u s t r u m gebildet und C l a u s t r u m heisset eben so viel/ als das guhte uhralte Deutsche wort Z w i n g e r. […] Wer siehet nun nicht/ daß K l o s t e r seinem uhrsprunge nach/ eben so viel gesagt sei/ als Z w i n g e r/ das ist ein ümschlus oder ümzug/ der eine Stadt ümschlüßet? Ja wer siehet nicht/ daß J u n g f e r z w i n g e r einen Ort bezeichnet/ der J u n g f e r n üm- oder e i n - s c h l ü ß t/ oder darinnen sie i n e w i g e r J u n g f r a u s c h a f t z u l e b e n e i n g e s c h l o s s e n s e i n d ?16

Für uns ist die Sache eine Lappalie, nicht wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, geschweige sich zu streiten. Im Zuge des ›Purismus‹ sah man aber im 17. Jahrhundert die Dinge anders. Die Vermeidung von Fremdwörtern galt zugleich einer patriotischen Erneuerung der Nation. Sie muss daher mit dem Bemühen zusammengesehen werden, die angeblich drohende Gefahr geistig-sittlicher Überfremdung abzuwehren. In historischer Perspektive bedeutet die Übersetzung ins ›reine‹ Deutsch von sachverständigen Autoren eine Chance, die deutsche Sprache um neue Möglichkeiten zu bereichern. Freilich konnte man sich dabei auch in die Nesseln setzen, wie Zesen es zu wiederholten Malen hat erfahren müssen. Die Übersetzung von Fachprosa hat bekannlich ihre Tücken. Zesen hatte denn auch seine liebe Not, das Gemeinte adäquat wiederzugeben: »also daß ich lieber ein gantzes Buch aus meinem eigenen kopfe hingeschrieben/ als einen einzigen Bogen aus diesem Schreiber übersetzt hette.« Warum hat er dann die Mühsal auf sich geladen? Mitunter hat man gemeint, so etwas sei eine reine Brotarbeit gewesen. Es wurde ja damals massenhaft übersetzt, der internationale Buchmarkt florierte wie nie zuvor und die Entlohnung mag bei einem so großen Markt nicht allzu mager ausgefallen sein. In diesem Fall gibt die Vorrede aber Anlass zu einem anderen Urteil, insofern der Eindruck entsteht, dass die Initiative von Zesen selber ausgegangen ist. Er erwähnt die von ihm übersetzten Bücher von Dögen und Fournier, mit denen er geglaubt hatte, den Leser »vergnüget zu haben« – bis er auf Manesson-Mallet stieß: Dan in seinem schönen Werke fand ich/ was ich weder bei itztgemeldten/ noch allen andern/ die den Festungsbau beschrieben/ nicht gefunden. Ich fand alda einen Auszug aller solcher berühmtesten Schreiber/ die iemahls geblühet; einen Auszug des Kernes 16

Siehe dazu Herbert Blume: Zur Beurteilung von Zesens Wortneubildungen. In: Philipp von Zesen 1619–1669. (1972). S. 253–273.

277 ihrer Schriften. Ich sahe sie alda/ auf einen einzigen Schauplatz versamlet/ ihre unterschiedliche Befestigungsweisen eröfnen; und diese weisen sahe ich/ nach ihren Vor= und Nach-teilen bewähret/ und mit den gantz neuerfundenen unsers hiesigen Schreibens verglichen. Was sol ich sagen? Dieses alles machte mir lust/ dich/ durch eine Hochdeutsche feder lüstern zu machen/ solchen Neuen Festungsbau zu besichtigen.

Zesen hatte den richtigen Blick für die Qualitäten des Werks, und der Gegenstand war ihm wichtig genug, seine Landsleute dafür zu interessieren. Er wollte den aktuellen Anlass dazu nutzen, ihnen vom relativ sicheren Amsterdam aus behilflich zu sein – »Die gedanken waren/ meinen Landsleuten/ sich vorteilhaftiger und vorsichtiger zu beschirmen/ dienst zu tuhn.« Das persönliche Engagement drückt sich aus in den drei Widmungsgedichten, die er den Teilen des Werks beigeben hat. – Das erste ist Johann Krampich gewidmet, dem damaligen brandenburgischen Residenten in den Vereinigten Niederlanden und erklärten Freund der Wissenschaften und Künste. In dem Augenblick, »da Mars bald hier/ bald dort in voller Arbeit steht«, müßte ihm doch diese Schrift hochwillkommen sein: Wan Deutschland/ dem ich bloß zu dienen bin bereit/ hierdurch gelangen wird zu mehrer Sicherheit; dahin mein tuhn auch zielt; so bin ich gantz vergnüget/ so hab’ ich Lohnes sat.

In seiner Wahlheimat war der Krieg schon wieder Realität geworden, und Zesen wusste somit, wovon er sprach: 1672 (in der niederländischen Geschichte das ›Katastrophenjahr‹ genannt) begann der Krieg Frankreichs gegen die niederländische Republik. Ludwig XIV. wusste auch England, Münster und Köln auf seine Seite zu ziehen. Die französische Armee (mit erfahrenen Generälen wie Turenne, Luxembourg, Condé) war die modernste und stärkste in ganz Europa, die Truppen der Republik wurden von dem erst 22-jährigen Prinzen Wilhelm III. von Oranien angeführt. Die neue und berühmt gewordene Belagerungstaktik Vaubans machte den niederländischen Städten schwer zu schaffen. Im Zuge dieser Entwicklungen wurden im Land zwischen 1672 und 1678 (Kriegsende mit dem Frieden von Nijmegen) viele Festungen erbaut oder modernisiert. Vor dem zeithistorischen Hintergrund erhielt die deutsche Ausgabe von Mallets Hauptwerk besondere Aktualität. Die Widmung des zweiten Teils richtet sich an die Brüder Pellicer, beide Mitglieder der Deutschgesinneten Genossenschaft: an den »Gezierden« (Matthias) und den »Zierenden« (Hans Georg).17 Nicht der Krieg, sondern die Freundschaft, welche Zesens »Edele Genossenschaft« bestimmte, ist 17

Angaben zu den Brüdern Pellicer: s. Jöchers Lexikon. Johan Georg (gest. 1682) und Matthias (gest. 1673) spielten beide eine Rolle in dem Nürnberger Pegnesischen Blumen-Orden zur Zeit des Präses Sigmund von Birken.

278 das Thema, das die Brüder – Jurist der eine, Kanonikus und Poet der andere – in die »Arbeit von Mars« einbezieht. In der Widmung des dritten Teils beherrscht ein Namensspiel das Gedicht. Der Maler Johann von Kempen (›Kempfen‹!) wird hier mit einem anderen Kampf als dem des Cupido bekannt gemacht. Zesen hat ihm einen Vers zugedacht, der anstatt des Liebeskampfs auf den »Kriegskampf« Bezug nimmt: Den K a m p f/ den K r i e g e s k a m p f/ gemahlt auf dis Papier/ entworfen auf dis blat/ den schenk’ ich Ihm alhier; doch diesen Wunsch darzu; daß in des K ä m p f e r s armen/ d i e K r i e g e s g ö t t i n mag in kurtzer zeit erwarmen/ das edle M a r s e n k i n d. Weil M a r s ein K ä m p f e r heist/ der heldenmühtig kriegt/ und Feinde niederschmeist; so mus das K i n d d e s M a r s sich mit dem K ä m p f e r paaren/ und Eins sein/ die zuvor/ im Zweien/ uneins waren.

Das gelehrte mythologische Spiel bezieht sich nicht auf Cupido (Eros) als den Sohn von Mars (Ares) und Venus (Aphrodite), sondern auf die Tochter aus der gleichen Ehe: Es ist die in Theben geborene Harmonia. Der Sinnbezug macht den ›Wunsch‹ des Dichters zu einer friedvoll-utopischen Vorstellung. Aus dem Bund des wilden Kriegers und der sanft liebenden Frau möge »das edle Marsenkind« als der Anfang menschlicher Kultur hervorgehen. Auf diese Hoffnung hin ist die Pointe konzipiert: Auch spitz’ ich schohn den Kiel/ obwohl der Geist ist müde/ obwohl die Faust ist las/ zum frohen K ä m p f e r l i e d e.

Auch Mallet (1630–1706) war, wie Dögen, ein Mann der Praxis. Er hatte an den französischen Kriesgzügen gegen Spanien teilgenommen, hatte seine Fähigkeiten im Festungsbau in Portugal entwickelt und war schließlich zum Mathematiklehrer der Pagen Ludwigs XIV. aufgerückt. Sein Buch, das mit 400 Kupfertafeln und fast 1500 Einzeldarstellungen ausgestattet ist, nennt Max Jähns »eines der ausgezeichnetsten, welche in dieser Art veröffentlicht wurden.«18 Mallet geht nicht nur ausführlich auf Verbesserungen von Bastionen und Hauptwall ein, sondern auch (im dritten Teil) auf Angriff und Verteidigung von Fortifikationen. Das muss zur damaligen Zeit – man denke an den erfolgreichen Sébastien le Prestre Marquis de Vauban und seine an der Festung Maastricht demonstrierte Angriffstechnik – von hohem Interesse gewesen sein. Vor allem mit der Mallet-Übersetzung steht Zesen mitten in seiner Zeit, der er sogar auf dem Gebiet moderner Kriegstechnik zu Friedenszwecken dienen will. Die Funktion der Amsterdamer Verlagswelt als einer Drehscheibe neuer und den Interessen eines hochentwickelten Staatswesens 18

Vgl. Jähns (wie Anm. 5), S 1344 ff.

279 dienender Publikationen wusste er geschickt auszunutzen. Zesen erweist sich auch hier als ein moderner Autor, der – alles andere als ein weltfremder Poet – sich der gesellschaftlichen Bedeutung seines Tuns wohl bewusst war.

9.2

Beverwijck-Cats: Schatz der Gesundheit

Als Zesen 1671 im Verlag von Johan Blaeu zu Amsterdam das große Werk des Dordrechter Arztes Johan van Beverwijck in deutscher Übertragung vorlegte, konnte er sich mit Recht eines wichtigen Buchereignisses rühmen. Der barocke Titel ist eine Wiedergabe des Inhalts, aber er hat hier auch die Funktion eines Werbetitels und verweist auf die allgemeine Bedeutung – es geht um die Gesundheit des Menschen: Schatz der Gesundheit/ das ist/ Kurtzer Begrif der algemeinen Bewahrkunst: Dadurch der gantze Mensch vor Ungesundheit und Seuchen kan bewahret/ und in beständiger Gesundheit erhalten werden: »allen Hausvätern und Hausmüttern/ ja allen Menschen/ denen ihre Gesundheit lieb/ zum nutzen und frommen verfasset/ durch Johan van Beverwik […] / dem Hochdeutschen Liebhaber zum besten/ übertragen/ und nach desselben Landesahrt hier und dar eingerichtet.« Es ist also deutlich, dass hier ein Buch angekündigt wird, das wir zur Gattung der Hausväterliteratur rechnen, also zu einer Gattung frühneuzeitlicher Sachliteratur, die (etwa in Art von Kompendien) Anweisungen bringt für den ›Hausvater‹. Mit anderen Worten eine »Ökonomik« mit praktischen Anweisungen, die für das »ganze Haus« (die engere Familie und das Gesinde umfassende Hausgemeinschaft) unter der herrschaftlichen Leitung des Hausvaters Geltung besitzt.19 Im Übrigen ist der Ton bei Beverwijck ungezwungen, es sind im wahrsten Sinn Ratschläge. Der Titel war selbstverständlich attraktiv, aber der Zusatz der Bereicherung um Kupferbilder und Verse von Jacob Cats (»mit allerhand Kupferstükken/ wie auch ahrtigen Reimen des Edlen Ritters Jacob Catsens gezieret«) enthielt wohl einen besonderen Anreiz. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Sammlung mehr oder weniger akademischer Hinweise zum menschlichen Körper und dessen Pflege und Erhaltung, sondern um handfeste Anweisungsliteratur. Der Text ist jedem Leser leicht zugänglich, das Material übersichtlich gegliedert, durch Bilder aufgelockert und oft mit 19

Sie ist in den Ratschlägen insofern autoritär, als sie vom Hausvater ausgeht. Im Art. Hausväterliteratur (Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke. Berlin / New York 2000. Bd. II [(Autor Paul Münck]) wird ferner angemerkt: »Die vom Haus ausstrahlende väterliche Herrschaft bildet nach zeitgenössischem Verständnis das Fundament und Paradigma aller übergeordneten Herrschaftsverhältnisse in Gesellschaft und Staat.« (S. 15). Das mag auf deutsche bzw. österreichische Verhältnisse zutreffen, in der liberaleren Republik ist zu nuancieren.

280 einem Schuss Humor gewürzt. So kam jeder auf seine Kosten und erhielt Anweisungen zum diätetischen Verhalten in allen Lebenslagen beider Geschlechter. Das war damals wie heute aktuell. Es wurde zum Beispiel von der Mutter mit vielen Argumenten gefordert, dass sie ihr Kind selbst säugt (erst dann sei sie wahrhaft Mutter), oder es wurde die Frage beantwortet, ob man beim Essen trinken soll und was, ob man mit zunehmendem Alter sich körperlich mehr bewegen oder besser länger schlafen soll. Auch bot das Buch eine umfassende Kräuterkunde mit vielen Abbildungen und Beschreibungen, besonders im zweiten Teil, der im gleichen Jahr unter dem Titel Schatz der Ungesundheit erschien. Der Übersetzer der beiden prächtigen Bände in Großformat konnte mit Recht auf die lange Zeit der notwendigen Vorbereitungen hinweisen: Es seind albereit funfzehen jahre verlauffen/ als ich die letzte feder an dieses Werk setzte. So lange hat es sich bei mir verweilet. So lange hat es/ unter meinen verworfenen Schriften/ im staube gelegen. […] Endlich nimt es das hertz sich offendlich sehen zu laßen. Es scheinet was neues zu sein: und das ist es auch. Es ist ein neuer und seltzamer Gast in meinem Vaterlande. […] Ihre Muttersprache war die Niederdeutsche. […] Aber die Hochdeutsche hat sie endlich von mir erlernet. Damit ziehet sie nun/ auf mein anrahten/ in Hochdeutschland. Dadurch gedenket sie meinen Landesleuten ihren köstlichen Schatz mitzuteilen. Dadurch trachtet sie ihnen zu frommen.20

Man erkennt unschwer die für Zesen fast gebräuchlichen Eigenheiten: Betonung des Neuen (immer ein Argument zum Eigenlob: novus) und die patriotische Zielsetzung des eifrigen Kulturvermittlers. Johan van Beverwijcks Name brauchte in Deutschland wahrscheinlich einer Empfehlung, obwohl er in den späteren Nachschlagewerken (Zedlers Universal-Lexikon, Jöchers Gelehrten-Lexikon) durchaus Erwähnung findet. In Holland war er ein berühmter Autor, Ratsherr und Arzt in der Stadt Dordrecht.21 Beverwijck (1594–1647) hatte in Leiden und im Ausland (Caën, Paris, Montpellier) studiert und erhielt in Padua die Doktordiplome der Philosophie und Medizin. Er besuchte noch Bologna, Basel und Löwen, bevor er nach seiner Vaterstadt Dordrecht zurückkehrte, wo er alsbald in führende Ämter aufstieg: 1625 oberster Stadtphysikus und Professor der Medizin, 1627 Ratsherr, 1629 Schöffe, 1631 Präsident der Admiralschaft, 1633 Direktor des Waisenhauses etc.22 In seinen Schriften ging er von 20

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Zitate nach dem Exemplar der Universiteitsbibliotheek Amsterdam, Sign 639. A.22. Hier Vorrede fol.*3r. – Ndr. der Zesen–Übersetzung: SW Bd. III/2. Die Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Die ältere Dissertation von Evert Dirk Baumann: Johan van Beverwijck (Amsterdam 1910) ist für Faktenmaterial immer noch brauchbar. Daten der Amtstätigkeiten nach Jöcher (S. 1059/60). Bei A. J. van der Aa, Biographisch Woordenboek der Nederlanden, tweede deel Haarlem 1854, S. 500–5003 lauten sie etwas anders: 1627 Ratsherr, 1631 Schöffe, 1637 Vorsteher des Waisenhauses (Präsident der Admiralität fehlt).

281 aktuellen Zeitfragen aus. Er verfasste eine Widerlegung Michel de Montaignes und stand mit vielen Gelehrten und Schrifstellern im Briefwechsel. Zu nennen ist hier etwa Anna Maria van Schurman, für die er das Buch Van de Wtnementheydt des Vrouwelijken Geslachts verfasste (1639).23 Zu seinem Wirkungskreis gehörten Vertreter eines blühenden Kulturlebens der Stadt.24 Daniel Heinsius, der Leidener Gelehrte, schrieb ihm 1647 die lateinische Grabschrift.25 Die beiden zusammengehörigen Bücher Schat der Gesontheyt und Schat der Ongesontheyt waren außerordentlich beliebt, ihre Bibliographie spiegelt die Geschichte eines regelrechten Bestsellers. Eine vollständige Auflistung und bibliographische Beschreibung liegt bisher nicht vor. Auch das Verzeichnis im Appendix des Cats-Catalogus26 ist nur eine Teilbibliographie und basiert im wesentlichen auf den Sammlungen der Koninklijke Bibliotheek Den Haag, der Universitätsbibliotheken Amsterdam und Leiden sowie der British Library. Um wenigstens einen Eindruck von der Verbreitung des Buches zu vermitteln, seien hier die Ausgaben verzeichnet, die das vorläufige Ergebnis von Bibliotheksrecherchen in den Niederlanden darstellen. Der Schat der Gesontheyt erschien zuerst 1636 in Dordrecht und Amsterdam, es folgten rasch weitere Drucke: Dordrecht 1636 und 1640, Amsterdam 1643 und 1649, Utrecht 1651, Amsterdam 1652 etc. Der Schat der Ongesontheyt fand sich in folgenden Ausgaben: Dordrecht 1642, Amsterdam 1644, Dordrecht 1647, Amsterdam 1650, 1651, 1652, 1656, 1669, 1672. Teilweise sind darunter auch die beiden Gesamtausgaben begriffen, die das zweiteilige Werk als erstes bringen. Sie werden folgendermaßen 23

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»Von der Besonderheit des weiblichen Geschlechts«, Dordrecht, 3 Bde. Der 1. Bd. beschäftigt sich mit der »Natur der Frauen«, der 2. Bd. handelt von der »Gelehrtheit und Weisheit der Frauen« und ist Anna Maria van Schurman gewidmet: hier auch ein Porträtstich von ihr, eine umfangreiche Widmungsschrift und mehrere Lobgedichte. Die Utrechter Gelehrte wehrte sich dagegen und bat Van Beverwijck davon abzusehen. – Der 3. Bd. beschäftigt sich mit den »Tugenden der Frauen.«. Vgl. Michel Spang: ›Wenn sie ein Mann wäre‹. Leben und Werk der Anna Maria van Schurman 16707–1678., Darmstadt 2009, S. 80–84. – Im selben Jahr veröffentlicht van Beverwijck ihre Abhandlung »de vitae termino« im 3. Bd. seiner Sammlung »Epistolica quaestio de vitae termino, fatali an mobili?« Vgl. die Beiträge in dem Band: Willem Frijhoff / Marijke Spies (Hgg.): Geschiedenis van Dordrecht 1572–1813. 1998. Abgedruckt bei Jöcher und Van der Aa. Sie lautet: Lex hic medendi, sanitatis regula Salus salutatis civium, vitae artifex, Mortis fugator sedulus, victor suae, Scriptis superstes ipse mortem sibi, Dordrechti Apollo et Aesculapius jacet. Defuncto lubens maerensque posuit Daniel Heinsius. De werken van Jacob Cats in de Short-Title Catalogue, Netherlands. Inleiding Paul Dijstelberge. Redactie Jan Bos en J. A. Gruys. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek 1996, S. 116–120 bzw. Nr. 266–268.

282 bibliographiert: Alle de wercken (9 Titel in einem Band), Utrecht 1651, Amsterdam 1652, 1660, 1663, und Wercken der geneeskonste (4 Titel in einem Band) Amsterdam 1664, 1671, 1672, 1680. Johan van Beverwijck hatte mit dem Dichter Jacob Cats das gesellschaftlich-politische Engagement und die Betätigung im öffentlichen Dienst gemeinsam. Die Gemeinsamkeiten reichten jedoch weiter, denn auch Cats (»Vater Cats«) war in jeder Hinsicht ein echter Volksaufklärer. Sein Interesse galt vor allem dem bürgerlichen Alltag und seinen Fragen der Moral, selbstverständlich auf der Basisüberzeugung des niederländischen Calvinismus. Seine umfangreichen Lehrgedichte über den weiblichen Lebenslauf (über Jungfrau, Freundin, Braut bis zu Gattin, Mutter und Witwe) und über die Ehe waren weit verbreitet: Houwelijck, dat is de gantsche gelegenheyt des echtenstaets (1625) beziehungsweise Trou-ringh (1637). Cats war ein Moralist pur sang, ein unermüdlicher Erzieher, aber sicherlich kein Freund von weltlichen Genüssen und kein strenger Sittenrichter – er konnte die Dinge mit Humor nehmen, Unvollkommenheiten schrieb er der Schwachheit der menschlichen Natur zu. Die Hunderte von Gedichten und Reimzeilen, die Cats für Beverwijcks Werk beisteuerte und die sicher mit zur Popularisierung seines medizinischen Wissens beigetragen haben, halten sich im Rahmen der bekannten alltagsnahen Szenen und greifen mit ihren Weisheiten kaum über einen praxisorientierten Horizont hinaus. Die Bildungsansprüche werden eher versteckt als vorgezeigt, die Eleganz von Dichtern wie Hooft und Huygens lässt sich vermissen, Formaspekte scheinen nicht ins Gewicht zu fallen. Die Verse sind in den meisten Fällen nicht ungeschickt gestaltet, sind fließend und in der syntaktischen Struktur der lehrhaften Zielsetzung angemessen. Aber sie sind im Vergleich mit anderen Autoren, die sich solchen Aufgaben lieber entzogen und ihr Talent anders anlegten, an manchen Stellen etwas hausbacken oder auch einfach seicht. Cats’ Begabung eignete sich für solche Lehrdichtung aufs Beste; und so behandelt er mit gleichem dichterischen Einsatz Themen wie Krankheit und Tod, sexuelle Enthaltsamkeit in der Schwangerschaft, Freude und Trauer, örtliche und klimatische Bedingungen für ein glückliches Leben, ergeht sich über die Fragen, welches Fleisch man essen soll, welches Obst gesund und was vom Schlaf zu halten sei, worauf die Eltern beim Kinderzeugen achten sollen usw. Sie sind nicht als Einzelgedichte geplant, sondern gehören in den Kontext von Beverwijcks Erörterungen, denen sie sich anpassen und zu deren populär-wissenschaftlichem Zuschnitt sie sich bequemen. Zusammen mit der sachgemäßen Prosa und den Illustrationen prägen sie dieses besondere Hausbuch. Mit anderen Worten: Cats’ dichterische Beiträge zu diesem doppelten »Schatz der Gesundheit« erhalten ihr Eigengewicht erst in ihrer strikten Funktionalität. Philipp von Zesen hat die niederländischen Gedichttexte mit Sorgfalt und Respekt übersetzt. Er übernimmt die Form, das Metrum und die Reim-

283 anordnung, und dort, wo er im Ausdruck oder im Bild eine andere Entscheidung trifft (oder treffen muss), scheint diese auf den ersten Blick aus dem Wandel des dichterischen Geschmacks hervorzugehen. Aber nicht immer lassen sich Änderungen des niederländischen Wortlauts so erklären. Beispiele bietet schon das erste Gedicht, das das erste Kapitel eröffnet. Es handelt von »der verderbligkeit des Menschen/ und wodurch er den Krankheiten/ ja dem Tod selbst unterwürfig gemacht worden«, kurz: um den Sündenfall und den Gedanken, dass der Tod der Sünde Sold sei (Rö 6, 23). Der Mensch das edle Tier/ gebildt nach Gottes Bilde/ besaß/ in lauter lust/ das schöne Lustgefilde/ den edlen Paradies: und wo er sich befand/ da war er als ein Herr/ ein Herr der Welt/ bekant. Er sahe nichts/ als lust/ da/ wo die Bäum’ entsprossen. Er höhrte nichts/ als lust/ da/ wo die Bäche flossen. Er schmäkte nichts/ als lust/ wo er von Früchten aß. Ein lieblicher Geruch ümgab ihn/ wo er saß. Wo er gegangen kahm/ sah’ er die Vögel singen/ die Fische frölich sein/ die wilden Tiere springen/ die Schäflein bei dem Wolf’ auch immer spielend gehn/ ja selbst dis raue tier in süßem lieblen stehn. Er ward auch/ wie es schien/ geliebet von den winden. Kein sturm war auf der fluht/ noch in der luft zu finden: da blies kein rauher nord/ der üm die ohren brummt; da kahm kein harter frost/ dadurch der mund verstummt. Man wuste dazumahl noch nicht von diesen Seuchen/ die sich mit schmertz und weh’ in unre glieder schleichen. Kein dampf/ kein nebel fiel. Der Mensch befand sich hier/ nach vollem hertzenswundsch’/ in höchster lust und zier. Ach! aber als die Schlang’ ihn bald darauf betrogen/ und ihm sein höchstes Guht sehr listig abgelogen; da fiel er alsobald/ mit leib und seel/ in pein: da war es/ daß er must’ im nuh verdorben sein. Ach weh! es war verschertzt das schöne Bild von oben: ein ümgekehrter geist begont’/ in ihm zu toben: die gantz verdorbne sucht vergifte muht und sin/ und kroch/ gleich als ein Krebs/ durch alle glieder hin. So war dan aus der ahrt kein Tod in ihm zu finden; der ihm nur auferlegt zur strafe seiner Sünden. Da rührt das unheil her/ das böse das man mus/ von kindeswiegen an/ hier tragen mit verdrus. Darüm wilstu/ o Mensch/ von Krankheit sein genesen/ und suchst vor deinen leib ein stäts gesundes wesen; so such’ erst deinen Gott/ und klag’ ihm deine pein: dan mag die Artzenei den Gliedern heilsam sein. [De mensch, het edel Dier, by Godes hant geschapen, Was, om in stage jeught sijn lust te mogen rapen, Was in het schoon priel: en waer hy immer gingh, Daer was hy aenghesien als heer van alle dingh.

284 Hy vont een schoon gesicht alwaer de boomen groeyden, Hy vont een soet geluyt alwaer de beken vloeyden: Hy vont een soeten reuck alwaer hy neder zat, Hy vont een soeten smaeck alwaer hy fruyten at. Waer dat hy quam gegaen de soete vogels songen, De visschen waren bly, de Wilde Dieren sprongen, Het schaepjen met den wolf gingh spelen in het groen, En oock het felste beest dat quam hem hulde doen. Hy wort aen alle kant getroetelt van de winden, En geen onguere lucht en wasser er oyt te vinden; Daer quam geen felle vorst die in de leden sneet, Daer blies geen Noortsche buy die in de wangen beet, Geen koorts, geen vyerigh zeer, geen pest of peper-koren, Geen gicht, geen leelijck schurft, en wasser er noch geboren: Geen damp, geen vuyle mist, en vielder op den mensch; Men vont aen alle kant sijn vollen herten-wensch. Maer na dat hem de slangh met liegen had bedrogen, En van sijn hooghste goedt door listen afgetogen; Doe wast dat hy terstont in alle qualen viel, Niet met het lijf alleen, maer even met de ziel. Eylaes! het was verbeurt, al wat hy had verworven, En hy vol slim bejagh, en in den gront bedorven, In hem en is geen deel tot aen het minste lit, Daer in geen slim verderf en stage kancker zit. Soo is dan uyter aert geen doodt in ons gevonden: Maer sy is in den Mensch een straffe van de sonden. Van daer komt ons het quaet, en al het swaer verdriet, Dat yeder menschen-kindt hier op der aerden siet. Wilt ghy daerom een koorts of ander quael, genesen, Of soeckje langen tijd in goeden stant te wesen, Gaet eerst tot uwen Godt, en klaeght daer uwe pijn, So kan het heylsaem kruyt u leden dienstigh zijn.]

In den parallel gestalteten Zeilen: »Hy vont een schoon gesicht/ Hy vont een soet geluyt/ Hy vont een soeten reuck/ Hy vont een soeten smaeck« ist der deutsche Text durch die Setzung der Sinnesempfindungen (»sahe/ höhrte/ schmäkte«) und das dreifach betonte »nichts als lust« prägnanter als die Vorlage. Gleiches gilt für die gedrängtere Form des Sündenfalls, wodurch Raum bleibt für dessen Folgen – »da war es/ daß er must’ im nuh verdorben sein.« Die Umgestaltung des göttlichen Bilds wird aktiv ins dichterische Bild geholt: »ein ümgekehrter geist begont’ in ihm zu toben:| die gantz verdorbne sucht vergifte muht und sin| und kroch/ gleich als ein Krebs/ durch alle glieder hin.« Die »Vertierung« des Menschen kontrastiert nun wirkungsvoll mit der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit, die bei Zesen an die Stelle von Gottes Schöpferhand tritt: »by Godes hant geschapen«/ »gebildt nach Gottes Bilde«. Die zentrale anthropologische Aussage christlichen Denkens (1 Mose 1,26 ff.; 5,1; 9,6) spielt in der Deutschen Mystik, im Spiritualismus (Paracelsus, Weigel, Böhme) und im Luthertum (Johann Arndt) eine hervorragende Rolle, an die Zesen, von seiner Vorlage

285 abweichend, anknüpft. Die erste Zeile wird im zweiten Teil wiederaufgenommen – »das schöne Bild von oben« (Cats: »al wat hy had verworven«). Ferner ist eine Auslassung zu verzeichnen, die vielleicht wegen der Drastik Zesens Bedenken hervorrief. Die Zeilen: »Geen koorts, geen vyerigh zeer, geen pest of peper-koren| Geen gicht, geen leelijck schurft, en wasser noch geboren« werden umgewandelt in: »Man wuste dazumahl noch nicht von diesen Seuchen| die sich mit schmertz und weh’ in unsre glieder schleichen.« Darin mag sich ein Generationsunterschied ausdrücken (Cats lebte von 1577 bis 1660, Zesen von 1619 bis 1689), aber nicht weniger eine andere Dichtungstradition. So lässt sich auch generell der verstärkte Einsatz von Exclamationen und Seufzern erklären. Ähnlich liegen die Dinge beim Thema der rationalen Beherrschung ungesunder Neigungen: »Hoe dat een edel hert sijn tochten moet bestieren| Om niet verwoest te zijn gelijck de Wilde Dieren.« Das erinnert stark an die »Bestiae« der Erasmus-Tradition (Querela Pacis) und war wohl weniger brauchbar für den deutschen Übersetzer. Zesen machte daraus: »wie seine lüste sol ein edles hertz bezwingen| damit es sich nicht selbst in unglück möge bringen.« Der Übersetzer versteht sich in der Regel als der dienende Geist des Autors; das war in früheren Zeiten nicht anders als heute. Aber die Feststellung, dass Cats in Zesen einen adäquaten und gewissenhaften Übersetzer gefunden hat, sieht am Kern der Sache vorbei. Das Wesentliche enthüllt sich erst im Detail, wobei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass man in der anderen Sprache andere Wörter finden muss. Im vorliegenden Fall war Zesen ein Deutscher, der das Niederländische perfekt beherrschte und – wenn auch ein wenig steif – in dieser Sprache dichtete. Die Vorlage – hier wird von Beverwijcks Prosa abgesehen – war ihm völlig klar, Cats’ Gedichtsprache war ihm geläufig. Bei aller Bewunderung für »Vater Cats« ist Zesens eigener Sprachgestus nicht zu übersehen; sein eigener Ton schlägt durch, und zwar nicht zum Schaden des niederländischen populären Dichters. Wer sich eingehend mit dem niederländischen Text und seiner deutschen Übersetzung beschäftigt hat, muss oftmals der Versuchung widerstehen, den Übersetzer über den Dichter des Originals zu stellen. Das findet seinen Grund im Ausdruck, der häufig kräftiger und prägnanter, bald auch bildhafter und poetischer wirkt als die Vorlage. Ferner lockert Zesen wo möglich die sich oft einstellende rhythmische Monotonie (»Catsdreun«) durch einfache rhythmische Eingriffe und Kniffe auf, durch emphatische Wortwiederholung, durch metrische Zäsuren mit Hilfe von Halbversen. Das zweite Gedicht, das gleich auf das vom Sündenfall folgt, möge das zeigen. Man muss nicht partout negativ über Cats’ Verse urteilen wollen, um den Gedichtanfang – »Waer Adam niet verruckt tot ongeregelt mallen,| Den Schepper af-gegaen, den duyvel toegevallen« – gegen die Übersetzung austauschen zu wollen: »Wer’ Adams vorwitz nicht vom Schöpfer abgegangen| aus ungeziemter lust/ durchs Teufels list gefangen.« Und wie an-

286 ders klingt auch die Zeile: »Der Sünden poltergeist hat alles Heil verdorben« als das Original: »De Sond, het lelijck spoock, die heeftet al bedorven.« Die Übersetzung bemüht sich öfters um eine durchgeführte Bildlogik, die dem Text einen ungleich geschlosseneren Charakter verleiht. Aus den zahlreichen Beispielen möchte ich eines auswählen, wo es gerade in der Pointierung der letzten Verszeile offenkundig werden dürfte: De dochters van het wout, de frisse boomgewassen, Zijn op bequamen gront de menschen toe te passen: Haer groen, des soomers kroon, dat wort des wintersroof, En siet een jonger blat verdrijft het oude loof. Wy groenen in der jeught en hebben blijde dagen, Maer worden van de doot allencxkens wech-gedragen; En t’wijl de tijt verloopt, en onse vruchten leest, Soo wort een nieu geslacht dat wy eens zijn geweest.

Die Übersetzung konkretisiert den Baum zu Eichen, aus deren Früchten letztlich ein neuer Stamm wächst: Des Waldes töchterlein/ die jüngst entsprosnen Eichen/ seind mit der jungen blüht des Menschen zu vergleichen: ihr grühner sommerrok wird bald des winters raub: dan seht/ ein jüngers blat vertreibt das alte laub. Wir grühnen jung hervor/ und stehn in freudentagen: doch werden wir gemach vom tode weggetragen: und weil die zeit verlauft/ und samlet unsre frucht/ entsprüßt ein neuer Stam aus uns/ nicht aus der luft.27

Mit solchen kleinen Änderungen schließt Zesen den Text an die emblematische Dichtertradition an: Die emblematische Eiche, aus deren abgefallenen Früchten neue Bäume wachsen, deutet den Kreislauf der Dinge an.28 Zweifellos hat der Übersetzer das für eine Besserung gehalten, zumindest war es im Sinne des 17. Jahrhunderts eine Modernisierung. Aus der Perspektive der Gedichtstruktur läuft der Text auf eine barocke Pointierung hinaus, die in dieser Form dem Original abgeht. An anderer Stelle verbessert Zesen die Vorlage in der offenkundigen Absicht der Bilddurchführung. Zur schwindenden Lebenskraft inventiert er das Bild einer Öllampe: Maer Godt de Soone spreeckt van recht gesonde lieden, En raet hun t’ haren dienst geen meester oyt t’ ontbieden. Maer, Vrienden, letter op, en vat de sake wel, Wat eertijdts is geseyt is heden ons bevel.

27 28

Cats: Alle de wercken, S. 7 f.: Zesen, SW III/2, S. 36 bzw. 37. Siehe: Emblemata. Hgg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Sonderausgabe Stuttgart 1978, S. 224. Hier die pictura mit der Beischrift: MVLTA RENASCENTVR QVAE JAM CECIDERE [CADENTQVE]. Es handelt sich um ein Zitat aus Horaz’ Ars Poetica 70 (»Vieles harrt der Wiedergeburt, was schon dahinstarb«).

287 Das zielt natürlich darauf, dass man das Buch zu Rate ziehen soll. Zesen stellt den Passus um der Deutlichkeit willen um und richtet den Blick zunächst auf die Kranken: Und diesen setzt den Arzt des höchsten Sohn zur seiten/ nicht aber/ märkt es recht/ den gantz gesunden leuten/ die allerdinge frisch; dan die bedürfens nicht. Wem nützt bei sonnenschein ein angezündets licht?29

Durch die rhetorische Frage entsteht eine wirkungsvolle Kunstpause, an die sich dann die Conclusio anschließt. Oben wurde schon auf die stärkere dichterische Geschlossenheit der übersetzten Texte gegenüber dem Original hingewiesen. Der Schlussteil des eben genannten Gedichts führt das noch einmal vor Augen. Die Conclusio räumt der »Kunst« große Bedeutung ein – und zwar in der alten Bedeutung: Gelerntes in die Praxis umzusetzen wissen – und stellt in der Pointe die Tugend der Sparsamkeit ins Licht. Mache man sonst Gewinne durch Überseehandel, so spare man sein Geld auch, wenn man auf Medikamente verzichten kann: Dient u van desen Boeck, en laet de Medicijnen, Ghy kont u swacken aert door kunste doen verdwijnen; ’t Is ja soo grooten deught dat yemant ’t syne spaert, Als dat hy over zee om groote winste vaert.

Mag sein, dass dem Übersetzer solche Wendung zu holländisch vorkam und er eine deutsche Tugend an ihre Stelle setzen wollte (die Tapferkeit, die vor dem Ansturm der feindlichen Truppen das Schloss sichert und so die eigenen Kriegsvölker spart) – jedenfalls wird der Schlussteil ganz umgeändert: Du aber/ lieber Freund/ halt dieses Buch in ehren/ und suche/ durch die kunst/ der schwächligkeit zu wehren, Es ist ein kluger Held/ der seine völker spahrt/ und/ eh der sturm geschieht/ sein schlos/ durch kunst/ verwahrt.30

Man beachte, dass Zesen – anders als Cats – das Wort »kunst« als Bindeglied nutzt und es in zweifacher Bedeutung durchspielt: einmal als Arzneikunst (ars medicinae), dann als Kriegskunst (ars militaris). Manch einer wird dazu neigen, den deutschen Text für besser zu halten als das Original. Das Bemühen um größere Einheitlichkeit im Metaphernbereich führt dazu, dass ein Bild möglichst in ein Bildfeld eingebettet wird. Dafür sei ein Beispiel gewählt, ein schönes Cats-Gedicht über die Traurigkeit, die sich mit Freundeshilfe und gutem Freundesrat vertreiben lässt, besser allerdings durch Bibellektüre und Gebet. Cats findet einen überraschend reinen Ton. (S. 52/53): 29 30

SW III/2, S. 42 und 43 SW III/2, ebd. S. 42/44 und 45.

288 Soo gaetet met den mensch, sijn swacke leden buygen, Soo haest zijn edel hert niet meer en heeft te suygen; Want als sijn leven-sap ten eynde wort gebracht, Is stracx sijn schoone glans begraven in der nacht.

Zesen bereitet den Untergang des Glanzes in der Nacht durch Einführung des Begriffs »Lebenslicht« in der ersten Zeile vor und erreicht so eine allmähliche Entfaltung des Bildes: So gehts dem menschen auch; sein Lebenslicht verschwindet/ so bald sein hertz nicht mehr die lebensnahrung findet: dan als sein lebenssaft vertrocknet und vergeht/ da sieht man/ wie sein glantz im untergange steht.

Vielleicht geht es zu weit, von einer behutsamen Barockisierung des niederländischen Dichters zu sprechen – schon aus inneren Gründen, denn Zesen hat sich zeitlebens von der schlesischen Wortkunst (Gryphius, Lohenstein, Hofmannswaldau) ferngehalten, aber seine Spezialität, der stilus laconicus, mit den Möglichkeiten der emphatischen Steigerung, versieht auch ein bescheidenes Textgebilde mit rhetorischer Dynamik. Dafür möge ein kurzes Beispiel genügen. Cats hält die Selbsttötung der verzweifelten Dido in folgendem Vierzeiler fest: Sy leydt verbeten van de doodt, Niet na den regel van den Noodt; Maer in der haest, en al te ras, Oock eer haer tijdt gekomen was.

Das ist halbwegs annehmbar, in der Übersetzung teilt sich dem Leser aber die Bestürzung gleichsam mit. Schwungvolles Pathos zerteilt den Schlussvers in zwei Hälften: Hier liegt die junge Fürstin todt/ nicht nach bestimter sterbensnoht: dan ihre zeit war noch zurük. O früher tod! O ungelük!31

Rhetorisierung und Leserappell gehen bei Zesen Hand in Hand, während Cats es bei einem unbestimmten Jemand oder beim blassen »Freunde« belässt. Ein Beispiel möge das verdeutlichen. Es geht um die Bedeutung eines Anweisungsbuches, wie es der Schatz der Gesundheit ist.32 Bei Cats lautet der Einsatz: »Maer yemant sal misschien hier tegen konnen drijven/ Dat geensins noodigh is van dit beleyt te schrijven.« Die Übersetzung benennt diesen Jemand als »Wedelwind« (d. i. jemand der es mit einer Handbewegung wegwischt): »Hiergegen soll vielleicht ein Wedelwind was treiben| als daß es unnütz sei/ von diesem werk zu schreiben.« Dadurch kann 31 32

Cats, S. 11; Zesen, S. 13; SW III/2, S. 10 und 41. Cats, S. 12; Zesen, S. 14; SW III/2, S. 42 und 43.

289 Zesen etwas weiter die Apostrophe einsetzen. Die Verszeile: »Maer Vrienden, hoort een woort: indien de menschen waren| Als in den ouden tijt en langh voorleden jaren«, ersetzt er durch folgende: »Sacht! sacht! Mein Wedelwind! Wan noch/ in diesen jahren/| die Menschen so vol kraft/ wie sie vor alters waren.« Auf der gleichen Linie liegt die Einführung eines Fragesatzes, der an eine Verdeutlichung der Vorlage anschließt. Die crux liegt darin, dass halb verborgen auf das Jesuswort (Luk 5,31) angespielt wird: »die Gesunden bedürfen des Arztes nicht.« Bei Cats heißt es: Laet ons wat dieper gaen en in ’t bysonder spreken Van al dit ziel-gewoel, en al de binne-steken; De droefheydt is voor eerst die ons de sinnen quelt, En menigh teer gemoedt in vreemde bochten stelt. Hier tegen dient behulp en goeden raet gegeven, Om sonder eenigh leet en stil te mogen leven; Maer ’t kruyt dat aen den mensch in dese sieckte dient En komt niet uyt het velt, maer van een wijsen vrient. Een woort, een troostigh woordt te rechter tijdt gesproken, Dat heeft aen menigh hert dit onheyl af-gebroken, Dat is de rechte zalf die swacke menschen helpt, En droeve sinnen heelt, en heete tranen stelpt. Maer Godes heyligh Boeck in dit geval te lesen, Plagh aen een treurigh hert een groot vermaeck te wesen; Doch boven alle dingh, tot Godt een reyn gebedt Dat is de rechte troost die een in ruste set.

Die Übersetzung folgt dem Text der Vorlage auf den Fuß und ändert ihn nur geringfügig ab. Die leicht ungeschickte Fügung in der 4. Zeile »in vreemde bochten stelt« wird ersetzt durch: »in fremden schmertz versetzt«, ansonsten bleibt der erste Gedichtteil fast unverändert. Erst dann greift Zesen etwas kräftiger ein. Die vollständige Übersetzung lautet: Laßt uns was tieffer gehn/ und sonderlich betrachten/ der Seelen trieb und ruhr/ samt allen ihren machten. Schaut erst die Traurigkeit/ die unsern sin verletzt/ und manches zahrtes hertz in fremden schmertz versetzt. Hiergegen mus man raht und guhte lehren geben/ damit man in der still und ohne leid mag leben. Das kraut/ das hierzu dient/ hägt nimmermehr kein land: es steht allein gepflantzt in weisen freundes hand. Ein wort/ ein tröstlichs wort/ zu rechter zeit gesprochen/ hat diesem unheil oft die kraft und macht gebrochen. Dis ist das freudenöhl/ das hier ein großes gilt/ die trübe sinnen heilt/ die schmertzenträhnen stillt. Zudem ist nie kein schmertz in jemands hertzen blieben/ wan er nur laß das Buch/ durch Gottes trieb geschrieben. Doch geht das bähten vor/ in reiner sucht getahn: dan so komt voller trost vom milden himmel an.33

33

Cats, S. 24; Zesen, S. 28; SW III/2, S. 56 und 57.

290 Um beim »Kraut« im Bildfeld zu bleiben, wählt Zesen die Fügung: »es steht allein gepflantzt in weisen freundes hand.« Ferner ist »freudenöhl« auf die nachfolgenden »schmertzenträhnen« bezogen, es sind Wörter aus der lutherischen Frömmigkeits- und Andachtsliteratur. Wiederum lässt sich beobachten, dass mit wenig Mitteln das Gedicht geschlossener wirkt. Man sollte wohl besser sagen: poetischer – allerdings nach dem Geschmack der Poetiker und Dichter in Deutschland. Eine der wesentlichen Unterscheidungen der gebundenen Rede von der ungebundenen ist (neben Metrum und Reim) die Verwendung von Metaphern. Das zeigt sich, wenn man die Dinge von der Rhetorik her entwickelt. Das Bild ist, rhetorisch gesprochen, eine Verdeutlichung, eine verdeutlichende Variatio. Es wird traditionsgemäß bei den Wortfiguren unter Augmentatio (Periphrase, Definitio etc.) abgehandelt. Auf die »schöne Rede« angewandt, überwiegt die schmückende Funktion vor der belehrenden und definitorischen. In der Poetik erhält die Metapher als »Redeblume« einen eigenen Status; sie wird nahezu ganz von der Schmuckfunktion bestimmt. In Deutschland ist solche Entwicklung, die schon bei Opitz (um 1625) zu beobachten ist, um die Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen. Die poetische Sprache kommt nicht ohne Metaphern aus und ist ohne sie nicht zu denken. Vor diesem Hintergrund ist die größere Bildhaftigkeit, die Zesens Übersetzungen kennzeichnet, im Hinblick auf das deutsche Publikum eine zielorientierte Modernisierung. Auch wenn sich bei Zesen der intellektualistische Kombinierungstrieb in Grenzen hält und seine Poetologie nirgends metaphorische ›Wucherungen‹ zulässt, signalisiert man eine gewisse Raffinesse in seinen Cats-Bearbeitungen. Das ist deswegen ein Phänomen von sozial–ästhetischer Relevanz, weil Zesen sich in Widmungen und Widmungsadressen an adlige Personen wendet und deshalb im Sinn jener Zeit mit ihren strikten Decorum-Vorschriften ihr Kulturideal zu berücksichtigen hat. Eine behutsame stilistische Verfeinerung hat er dabei wohl als unumgänglich angesehen. Das ist aber nicht der einzige Grund für Zesens ›glättende Hand‹. Als deutscher Dichter stand er in einer anderen Tradition, auf diese Spuren trifft man in seinem Werk auf Schritt und Tritt. Wie sollte er sich bei dem Thema, was die Liebe für ein Ding sei, nicht petrarkistischer Elemente bedienen? Das war nach Opitz und Paul Fleming, die diese Konvention um virtuose Stilformen bereichert haben, und auch nach Zesens eigenen Petrarkismen, kaum anders zu erwarten. Ein Textvergleich führt an die Andersartigkeit (Alterität) heran. Cats bringt die bekannten Grillen der Verliebten (namentlich der Freier) ins Spiel, aber bei Zesen findet sich erst die bekannte Figur nach dem Schema »Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß«34: 34

Martin Opitz, vorletzter Vers aus dem Sonett »Francisci Petrarchae.« Weltliche Poemata. 1644 Ndr. II. Tl. S. 371.

291 Er ist und bleibt unwillens vol/ er wil nicht/ was er wollen sol/ ja wil/ was er nicht wollen mus/ und hört das guhte mit verdrus.35

Bei Cats findet sich dafür keine Entsprechung. In Übereinstimmung mit solchem systemgerechten Eingriff wird auch die Schlusszeile abgeändert. Gegenüber Cats: »In ’t korte, ’t is een wreede pijn,| In Venus Hof verdoolt te zijn«, schließt Zesen mit der modischen Geste der Tristesse amoureuse ab: »Drüm ist es wohl recht hänkerspein| in Liebesbrunst versunken sein.« (Ebd.) Obwohl das 17. Jahrhundert einen weit gedehnten Übersetzungsbegriff kannte, würden wir heute lieber von Bearbeitung oder Adaption sprechen. Zesens Verdeutschungen weisen alle diese Schattierungen auf. Im letzteren Fall liegt zweifellos eine Adaption vor. Der deutsche Autor orientiert sich an einem teilweise andersartigen poetischen System. Die bewusste oder unbewusste Systemorientierung lässt sich sowohl mit eigenästhetischen wie mit rezeptionsästhetischen Argumenten begründen. An den deutschen Cats–Übersetzungen Zesens dürfte exemplarisch zu zeigen sein, in welchen Ausmaßen sprachlich-literarische Transfers von Überlegungen der Alterität bestimmt werden. Wie in einem Prisma brechen sich in den vorliegenden Textmaterialien unterschiedliche literarische Traditionen. Aus Gründen, die weit über den Fragenkreis der Übersetzungstechnik hinausreichen, berührt sich die Beverwijck-Cats-Verdeutschung mit kulturhistorischen Fragestellungen. Das sei hier in gebotener Kürze angedeutet. Die bisher angeführten Beispiele stellen das sprachliche und dichterische Können Zesens unter Beweis. Mit dem zuletzt behandelten Gedicht über die Liebe wurde ein weiteres Problemfeld angeschnitten, das den Blick auf unterschiedliche Kulturtraditionen lenkt. Das niederländische Original dankt seine Entstehung einem Verbund von zwei nationalen Größen. Für die Literatur bedeutete ihre Inanspruchnahme durch die medizinische Wissenschaft eine Förderung, die sich vollends als »nützlich« legitimierte. In Deutschland wurde teilweise ein soziologisch anderes Publikum anvisiert, das in Sachen medizinischer Theorie und Praxis sich vom niederländischen Usus unterschied.36 Da Zesen erklärtermaßen zu Nutz und Frommen seiner Landsleute sich die Mühen einer Übertragung aufgebürdet hatte, musste er auf solche Differenzen Rücksicht nehmen, nicht zuletzt in 35 36

Cats, S. 43; Zesen, S. 49; SW, S. 84 und 85. Vgl. Willem de Blécourt, Willem Frijhoff, Marijke Gijswijt-Hofstra (Red.): Grenzen van genezing. Gezondheid, ziekte en genezen in Nederland. Hilversum 1993; K. S. Groos / Tim Huisman (Red.): Van piskijkers en heelmeesters. Genezen in de Gouden Eeuw. Catalogus Museum Boerhaave 1993/94; Marijke Gijswijt-Hofstra (Red.): Op zoek naar Genezing. Medische Geschiedenis in Nederland vanaf de 16e eeuw. Themanummer Mens en Maatschappij 70 (1995).

292 Cats’ Gedichten. Sollten diese doch zu Beginn eines jeden neuen Kapitels oder Abschnitts den Leser gleichsam spielend in das Thema einführen, sein Interesse erregen und für die Ausführungen werben. Der Dichter trat also in eigener, distinktiver Funktion in Erscheinung und profilierte sich als poetischer Vorredner auf der Bühne der Gelehrsamkeit. ›Verfremdungseffekte‹, die durch zu große Distanz vom Vertrauten hervorgerufen würden, wären hier fehl am Platze gewesen. Dennoch erweist Zesen sich bei seiner kulturvermittelnden Arbeit, auf die er in der Vorrede stolz verweist, in erster Linie als ein bewusst und reflektiert vorgehender Schriftsteller. Er war ein erfolgreicher Autor, als Liederdichter hat er sich einen Namen gemacht, er war Übersetzer von französischen Romanen und Verfasser von eigenen Romanwerken, er war der erste Poetiker nach Martin Opitz. Neuartig war in seiner Poetik das großangelegte Reimwörterbuch.37 Er war einer der ersten Theoretiker, die Metrum und Klang (Reim) zum Inhalt in Beziehung setzten und poetische Wertqualitäten zum Kern der dichterischen Gestaltung machten. Um die Versgestaltungsmöglichkeiten zu verfeinern, trat er für die Erweiterung der daktylischen Paradigmata ein. Alle diese Aspekte kommen oft in e i n e r Übersetzung / Adaption zusammen. Das Ikarus-Gedicht eignet sich für einige wenige abschließende Überlegungen. Soo haest de jongelingh een weynig heeft gevlogen, Is hy tot aen de Son en hooger op-getogen. Hy kreeg een moedig hert, hy maeckt een snelle vlucht, Het docht hem wonder moy te swerven in de lucht. Hy liet sijn Vader daer (die wou geen zonne raken) Hy dacht in sijn gemoedt, hy woudet beter maken: Hy siet dat helder licht, en ’t stont hem wonder aen, Hy wou, indien hy mocht, tot in den Hemel gaen. Maer als de gulde zon sijn vleugels quam beschijnen, So smolt de loose was, sijn veren die verdwijnen, En hy is sonder hulp, sijn leden worden bloot; Daer is van stonden aen de vlieger in den noot. Hy roept tot sijn behulp de vleugels van de winden, Maer daer en is geen troost in sijn verdriet te vinden. Ach! t’wijl hy nederviel, en om sijn Vader riep, Soo lagh hy metter daedt te midden in het diep. Daer liet de jongelingh sijn onversichtigh leven, En daer is maer alleen de blote naem gebleven, De naem van Icarus, die nam het water aen: Sie daer een droef besluyt van onbedachte waen.

Die Übersetzung führt einige naheliegende Metaphern und eine wortspielende Fügung ein: »der Sonnen bogen«, »der wolken kluft«, »sein hertz im 37

Vgl. Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik im 17. Jahrhundert. In: Philipp von Zesen 1619–1969. S. 193–220.

293 hertzen wuchs«. Metrisch / rhythmisch ist das »aufgeflogen« in der ersten Verszeile interessant, klanglich die Abfolge »strahlen / schossen / schmoltz« und »füttige / federn fliegen, flüger«. Als nun der Jüngling schon ein wenig aufgeflogen/ da schwung er sich auch selbst bis an der Sonnen bogen: sein hertz im hertzen wuchs; er sucht der wolken kluft; es daucht’ ihn wunderschön zu schweben in der luft. Sein Vater blieb zurük/ und machte sich zur seiten. Er aber lies sich straks durch eigendünkel leiten/ da er die Sonne sah’ im klahren golde stehn/ und wolte/ so er könt’/ auch in den himmel gehn. Als aber auf ihn zu die heissen strahlen schossen; da schmoltz das wächsernwerk/ die füttige zerflossen/ die federn fielen ab/ der flüger schwebt’ in noht/ und sahe/ so entblößt/ den alzu nahen tod. Er rief um hülf und trost die flügel von den winden. Kein trost war aber hier/ kein helfer auch zu finden. und weil er in dem fall den lieben Vater baht; da lag er in der see/ da lag er mit der taht. Da ward dem Ikarus sein hochmuht eingetrieben; und da ist nur allein sein bloßer nahme blieben/ sein nahme/ der so frech; den nahm das Wasser an. Hier seht ihr recht belohnt den unbedachten wahn.38

In Zesens Gedichtsprache ist – auch in der Übersetzung der Cats-Gedichte – das Bewusstsein von der tieferen Bedeutung des Wortklangs eingegangen. Denn Zesen folgte den Spuren der Natursprachentheorie und war überzeugt, dass man durch Nachsinnen über Klang und Bedeutung das eigentliche Wesen (»Uhrwesen«) der Natur und der Dinge aufspüren könne. Da nun der Dichter über die Gabe verfüge, in der Sprachgestalt die Natur zum Erklingen zu bringen, ist er dazu aufgerufen, seine ganze Kunst einzusetzen und dem Leser den »unerschöpflichen schatzkasten der Natur« zu eröffnen.39

38 39

Cats, S. 49; Zesen, S. 57; SW, S. 98/100 und 99/101. Zesen: Rosen-mând; das ist: […] Eröfnete Wunder-schacht zum Unerschätzlichen Steine der Weisen. Hamburg 1651. SW, Bd. XI, S. 112.

10.

Religiöse Toleranz Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. (Goethe, Maximen und Reflexionen – 151)

10.1

Die Schriften »Wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen«

Manchmal erlebt man auch bei bekannten Autoren Überraschungen. Sie ergeben sich aus der Summierung des Wissens, wodurch Zusammenhänge in neuem Licht erscheinen, oder kommen aus einer unerwarteten Ecke. Das ist etwa der Fall, wenn zeitgenössische Ereignisse plötzlich den Blick freigeben auf eine Aktualität von vor 350 Jahren, die uns heute unmittelbar berührt. So ergeht es einem mit Zesens Toleranzschriften. Sie verlieren ihren unverbindlichen Charakter, sobald man die strategische Bedeutung der beiden Schriften Handlungen und Urteile wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen erkennt: Sie bringt schlagartig deren politische Relevanz in der damaligen Lebenswirklichkeit zum Bewusstsein. Zesens systematisierte Anthologie erweist ihre herausragende Funktion erst im Zusammenhang mit den von Holland ausgehenden offiziellen und halboffiziellen Aktionen zugunsten der unterdrückten Täufer in der Schweiz. Es handelt sich daher nicht um akademisch-gelehrte Überlegungen im Umkreis theologischer Gewissensproblematik, sondern um existenzielle Fragen mit handfester Konsequenz. Nichts weniger stand schließlich zur Debatte als die absolute Toleranz im konfessionellen Bereich, konkret: ein Zurücktreten der Obrigkeit in Fragen der Religionsausübung. Was in unserem (westlichen) Kulturkreis als selbstverständlich erscheint, galt in früheren Jahrhunderten keineswegs ohne nationale oder regionale Unterschiede. Genossen die Täufergemeinden während des Goldenen Zeitalters in der Republik der Vereinigten Niederlande zunehmend Religionsfreiheit, so stand dem jedoch eine gleichzeitige Oppression in anderen Ländern gegenüber. Toleranz musste erkämpft werden, zumindest religiöse Toleranz. Dafür, dass man in der historischen Toleranzdiskussion bisher nicht (oder kaum) auf den Namen Zesens gestoßen ist, gibt es Gründe. Sie sind vor allem historiographischer Art. Die Täufergeschichte im 16. und 17. Jahrhundert war Gegenstand der Kirchengeschichte, das Toleranzthema

295 wiederum passte zum Humanitätsideal der Aufklärungszeit. Damit kamen Zesens Schriften mit ihrem vehementen Plädoyer für Toleranz und Religionsfreiheit nicht in den Blick. Die Toleranz, als »Duldsamkeit in Religionsdingen« verstanden, ist ein echtes Thema des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Zedlers Begriffsbestimmung hebt den Aspekt der freien Entfaltung einer Glaubensgemeinschaft hervor: »dieses Wort wird insgemein von einer Obrigkeit gebrauchet, welche in einer Provintz oder Stadt geschehen lässet, daß auch andere Religions=Verwandten ausser der daselbst eingeführten Religion, und welcher sie selbst zugethan ist, die freye Uebung ihres Gottesdienstes darinnen haben mögen«.1 Toleranz war denn auch »eine der Leitideen der Aufklärung, der Kampf gegen religiösen ›Verfolgungsgeist‹ daher ein zentrales Thema aufklärerischer Publizistik.«2 Seit der Toleranzakte von 1689, die nach der Glorious Revolution allen Dissenters und Nonkonformisten in England ungehinderte Entfaltung ihres Glaubens ermöglichte (ihnen aber nach wie vor den Zutritt zu Staatsämtern verwehrte)3, war in Europa einiges ins Rollen gekommen. Die Vertreibung der Salzburger Protestanten (1729) zeigte aber, daß in den deutschen Landen die Uhren anders gingen. Da im kulturhistorischen Discours Toleranzbemühungen des 17. Jahrhunderts – wie gesagt – eine untergeordnete Rolle spielten, beanspruchen Zesens Schriften »wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen« (1665) eine ausführlichere Darstellung, um so mehr als sie für Zesens ethisches Denken und literarische Bestrebungen in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich sind. Ihr historischer Umkreis und die Frage ihrer sozialen bzw. politischen Wirkung erfordern ein Ausgreifen in die Reformationszeit; nur vom geschichtlichen Ansatz her ist ihre Stellung zureichend zu profilieren. Eine möglichst genaue Umschreibung dessen, was heute unter dem Toleranzbegriff verstanden wird, ist für unsere Fragestellung unumgänglich. Vor allen Dingen ist die Unterscheidung zwischen »Toleranz« und »Religionsfreiheit«, wie sie Hans R. Guggisberg herausgearbeitet hat, von Interesse. Sie steht in der Einleitung zum betreffenden Sammelband »Wege der Forschung« an prominenter Stelle: Toleranz ist grundsätzlich als eine menschliche Haltung oder Disposition zu verstehen. Ein Mensch übt Toleranz, wenn er einen anderen Menschen duldet, der sich in seinen Meinungen und Anschauungen und vielleicht auch in seinem Handeln von ihm unterscheidet. Eine Obrigkeit praktiziert Toleranz, wenn sie religiöse Minderheiten, die sich von der offiziellen Kultausübung distanzieren, in ihrem Staatswesen leben läßt. (…) ›Religionsfreiheit‹ hingegen bedeutet ein gewährtes Recht und dadurch einen Zustand,  1  2

 3

Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Leipzig-Halle 1745. Artikel »Toleranz« von Günter Gawlick, in: Lexikon der Aufklärung, hg. von Werner Schneiders. München 1955. S. 412 ff. R. B. Barlow: Citizenship and Conscience. A Study in the Theory and Practice of Religious Toleration in England during the 18th Century. Philadelphia 1963.

296 den die Bürger eines Staatswesens genießen, und zwar als Konsequenz der von der Regierung praktizierten Toleranz. Anders gesagt: Toleranz ermöglicht, gewährt und schafft Religionsfreiheit, Religionsfreiheit ihrerseits erlaubt die Entstehung eines religiösen Pluralismus innerhalb der staatlich-politischen Gemeinschaft.4

Aus heutiger Perspektive haben sich die theologischen Streitfragen, die damals die Kirchen spalteten und Bevölkerungsgruppen entzweiten, minimalisiert. Man nimmt die Argumente und Gegenargumente zur Kenntnis und bleibt innerlich kalt, oder es müßte sein, dass einen Leser von heute der Zorn packt über die Hinrichtung Michael Servets in der Nähe von Calvins Genf:5 er brannte als Ketzer auf dem Scheiterhaufen von Champel, am 27. Oktober 1553. Er war weder der erste noch der letzte der durch die Reformation hingerichteten ›Ketzer‹.6 Über die Methoden der Inquisition muss man sich nicht eigens verbreiten. Alles in allem sind uns die Gründe und Hintergründe der Zwistigkeiten zwischen Dogmatikern und Häretikern in der Frühen Neuzeit ferngerückt, nicht jedoch die ihnen zugrunde liegenden Fragen religiöser Toleranz. Die tägliche Erfahrung zeigt andauernde bzw. erneut aufflammende Haßwellen, die von Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgehen. »Es gibt wenige Themen, die nach 400 Jahren mit mehr als einem historischen Interesse rechnen können. Zu ihnen gehört offensichtlich das Problem der religiösen Toleranz, dessen Lösung noch heute eine nicht bewältigte Aufgabe ist.«7 Diese Feststellung, mit der Gerhard Güldner seine Toleranz-Studien einleitete, hat nichts von ihrer aktuellen Bedeutung verloren. Die Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen aus dem 16. und 17. Jahrhundert bringt alsbald den besonderen Status der je eigenen Konfession einer Obrigkeit in der Struktur ihres ethischen Normensystems und der entsprechenden Sozialdisziplinierung zum Bewusstsein. Die strikte obrigkeitliche Aufteilung in erlaubte und verbotene Religionspraktiken lässt die Notwendigkeit einer Begriffsdifferenzierung im Sinne Guggisbergs erkennen. Eine Obrigkeit konnte sich damals durchaus als tolerant verstehen,  4

 5

 6

 7

Hans R. Guggisberg: Wandel der Argumente für religiöse Toleranz und Glaubensfreiheit im 16. und 17. Jahrhundert. In: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit. Hg. von Heinrich Lutz. Darmstadt 1977. S. 455–481; Zitat 458 f. und (Einleitung) S. IX (= Wege der Forschung, CCXLVI). Zum Einverständnis der reformierten Gemeinden von Basel, Bern, Schaffhausen und Zürich: Roland H. Bainton, Michael Servet 1511–1553. Gütersloh 1960. S. 131 f. Walter Köhler: Reformation und Ketzerprozeß. Tübingen und Leipzig 1901; Johannes Kühn: Toleranz und Offenbarung. Eine Untersuchung der Motive und Motivformen der Toleranz im offenbarungsgläubigen Protestantismus, zugleich ein Versuch zur neueren Religions- und Geistesgeschichte. Leipzig 1923; M. Hoffmann (Hg.): Toleranz und Reformation. Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 24. Heft. Gütersloh 1979; Hans R. Guggisberg (Hg.): Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung. Stuttgart-Band Cannstatt 1984 (= Neuzeit im Aufbau, 4). Gerhard Güldner: Das Toleranz-Problem in den Niederlanden im Ausgang des 16. Jahrhunderts. Lübeck und Hamburg 1968. S. 7 (= Historische Studien, H. 403).

297 ohne Religionsfreiheit zu gewähren. »Gewissenszwang« als Idee wurde von praktisch allen Reformatoren abgelehnt. Auch in solchen Fällen, wo sogenannten Ketzern (meist Täufern) Zusammenkünfte und Lehre untersagt waren, ließ eine Obrigkeit sich den Vorwurf der Intoleranz nicht gefallen. Obrigkeitsdenken und Staatsauffassung lenken den Blick auf Unterschiede, die sich aus den historischen Ansichten von obrigkeitlicher bzw. staatlicher Herrschaftsausübung erklären lassen. Das Auftreten von Täufergruppen im Reformationszeitalter bedeutet in diesem Punkt eine Herausforderung der evangelisch gewordenen Städte und Länder. Luthers Lehre von den zwei Reichen unterscheidet zwar im Prinzip Kirche und weltliches Regiment, aber verlangt doch von dem obrigkeitlichen »Schwert« die Abwendung von »Zweitracht«, »Rotten« und »Aufruhr« unter den Untertanen, um den Landfrieden nicht zu gefährden. In diesem Sinn wurde auch das Täufermandat, das auf dem Reichstag von 1529 beschlossen worden war, als Aufruhr-Dekret verstanden. Während aber im Mittelalter Ketzerei mit dem Feuertod bestraft wurde, hat man für Täufer in den meisten Fällen Landesverweisung als ausreichende Maßnahme betrachtet. Solche war, nach Ansicht der Reformatoren und Stadtoberen, mit dem sich rasch verbreitenden Täufertum unvermeidlich geworden. In den Täufergruppen sah man staats- und religionsgefährdende Umtriebe; es wurde auch langfristig die Verbindung zu Thomas Müntzers Bauernunruhen gelegt, wie überhaupt ihr revolutionäres Potenzial sorgenvoll signalisiert wurde. Zur Vermeidung weiterer Unsicherheit und Uneinigkeit in Stadt und Land wurde von kirchlichen Ratgebern öffentliches Lehr- und Predigtverbot für Täufer empfohlen, und so wurde eine andere als die örtlich geltende Religion ausnahmslos verboten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die unterschiedlichen Positionen lutherischer und calvinistischer Theologen verstehen, die anfangs weitherzig die »Freiheit des Gewissens« verteidigten, im Lauf von nur wenigen Jahren jedoch in ihren Gutachten auffallend zurückstecken mussten. Luther (er hatte nicht umsonst mit dem Sprichwort »Gedanken sind zollfrei« argumentiert) und auch Melanchthon sahen sich zur Veränderung ihrer Stellung zur Glaubens- und Gewissensfreiheit veranlasst. In den deutschen Landen, in der Schweiz und auch in Holland wurden die Dinge nicht nur diskutiert, sondern gaben Ereignisse im Herrschaftsgebiet einzelner Städte verschiedentlich Anlass zu obrigkeitlichem Einschreiten. »Ketzerei« war nicht länger eine innerkirchliche Angelegenheit, sondern rückte wiederum in die Machtsphäre weltlicher Gewalt. Hier wie dort gestalteten sich die Dinge aber anders, und nicht jede Obrigkeit war zu harten Maßnahmen bereit.

298

10.2

Calvin und Castellio

Servets Hinrichtung hat Wellen geschlagen, nicht nur in der Publikumsmeinung der reformierten Gemeinden der Schweiz, sondern auch in der Publizistik, zunächst in Calvins Umgebung, alsbald international. Gerade die Verteidigung Calvins: Defensio orthodoxae fidei de Sacra Trinitate contra prodigiosas errores Michaelis Serveti Hispani vom Ende Januar 1554 wurde zum Anlass »einer grundlegenden Diskussion um die religiöse Toleranz«.8 Obwohl eigene Erfahrung (Ketzerverbrennungen in seiner südfranzösischen Heimat) sowie gründliche theologische und philologische Schulung den Keim seiner späteren irenischen Theologie gelegt haben mögen, sprang Sebastian Castellio sofort für religiöse Toleranz in die Bresche, als Calvins »Defensio« im Druck erschienen war.9 Castellios direkter Angriff auf Calvin, nämlich der Traktat Contra libellum Calvini, wurde nur handschriftlich verbreitet und sollte erst 1612 in Holland gedruckt werden. Darin findet sich der vielzitierte Satz: »Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.«10 Castellios berühmte Schrift De haereticis an sint persequendi (1554) wurde zum Auftakt einer gerade auch für die Niederlande wirksam werdenden Rezeption einer toleranten Theologie. Für die hier berührten Zusammenhänge ist von Bedeutung, dass die Toleranzidee sich innerhalb der damaligen theologischen Diskussion entwickelte. Sie hat ihrem Wesen nach also nichts zu tun mit ›moderner‹ religiöser Indifferenz oder einer fälschlich der Aufklärung zugeschriebenen Gleichgültigkeit gegenüber theologischen Fragen. Toleranz ist vor dem Hintergrund ihrer historischen Entfaltung grundsätzlich mit der herrschenden Auffassung von der zentralen Rolle zusammenzusehen, die die Kirche auch nach der Reformation für das gesamte Spektrum politischer und sozialer Fragen der Gesellschaft spielte. Versteht man Toleranz allgemein als Rücksichtnahme auf den anderen, wird von ihr ein gesellschaftlicher Spielraum eingeklagt, der dem Mitmenschen die volle Entfaltung seiner Person erlaubt. Mit den Formulierungen Guggisbergs:

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10

Siehe die zusammenfassende Übersicht bei Güldner, Toleranz-Problem, S. 13 ff., Zitat S. 15. Ferner: J. Selderhuis: Johannes Calvin. Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel. Eine Biographie. Gütersloh 2009. S. 244–246. Werner Kaegi: Castellio und die Anfänge der Toleranz. Basel 1953. Basler Universitätsreden, 32. In dieser vielgerühmten Darstellung orientiert man sich am leichtesten über Leben und Bedeutung Castellios. Ferner: Güldner,Toleranz-Problem (wie Anm. 7), S. 16–31 (»Die Toleranzidee Sebastian Castellios«), H. R. Guggisberg (1984), 86 ff. »Hominem occidere, non est doctrinam tueri, sed est hominem occidere.« Contra libellum Calvini in quo ostendere conatur haereticos jure gladii coercendos. Vgl. Guggisberg (wie Anm. 6), S. 88.

299 Toleranz erscheint stets als eine soziale Tugend, die das Zusammenleben der Gruppen und Individuen dort ermöglicht, wo aus der Verschiedenheit der Partner Reibungen entstehen können. (…) Sie kann diktiert sein von der pragmatischen Bereitschaft zur momentanen Geste des Entgegenkommens, aber auch von einem auf philosophischer oder theologischer Reflexion beruhenden ethischen Imperativ.11

Solche Überlegungen machen Aktualität und Brisanz der Fragestellungen deutlich, können aber andererseits dazu verführen, den historischen Standort der Toleranzidee in der Frühen Neuzeit zugunsten einer in den Vordergrund gespielten Modernität zu übersehen und Texte und Kontexte aufgrund aktueller Erfahrung dem Missverstehen auszusetzen. »Toleranz ist im weitesten Sinne verstanden ein weltanschauliches Problem. Sie wird zur religiösen Toleranz, wo sie sich auf religiöse Anschauungen, Überzeugungen und Lehren bezieht.« Guggisbergs Worte, die auf den oben zitierten Passus folgen, markieren in aller Deutlichkeit den eingeschränkten Problemkreis der Toleranzschriften, wie sie mit Castellios erfolgreicher Ketzer-Verteidigung und, gut hundert Jahre später, mit Zesens kompilatorischen Büchern auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen suchten. Das ein halbes Jahr nach Servets Hinrichtung veröffentlichte kleine Buch leitete eine Reihe weiterer Schriften ein, die Castellio dem Problem der religiösen Toleranz widmete. Der Conseil à la France war auf die Verhältnisse in Frankreich gerichtet. Der Verfasser plädiert aus Gründen politischer Interessen – durchaus rational also – für eine Gleichberechtigung der Evangelischen neben den Katholiken – »laisser les deux religions libres«.12 Das was 1562 (zehn Jahre vor der Bartholomäusnacht) ein Aufruf, der, inmitten überzeugender Argumente plaziert und in klarer Sprache vorgetragen, von politischem Gespür zeugte. Je mehr man sich mit diesem »ersten systematischen Theoretiker der religiösen Duldsamkeit« (Guggisberg) befasst, um so deutlicher tritt seine unvoreingenommene Geisteshaltung angesichts unerschütterlicher Dogmenstrenge hervor. Es kam die im Humanismus wurzelnde Überzeugung hinzu, dass Gott den Menschen nicht umsonst mit Vernunft begabt hat. Anders als Calvin, teilweise auch im Unterschied zu Luther, betonte Castellio die nicht von der Erbsünde tangierte Erkenntnisfähigkeit des Menschen, wo er das Gute zu wählen und das Böse zu meiden habe. Für ihn wächst auch nach der Vertreibung aus dem Paradies ein sicherer Baum: »nam et arbor certe, non ficte neque falso vocata est arbor scientiae.« Diese Grundidee ist das Fundament der »Kunst des Zweifelns und des Glaubens«, die in seinem Todesjahr (1563) fertiggestellt wurde: De arte dubitandi et confidendi, ignorandi et sciendi,13 die »abschließende prinzipielle Notwendigkeit der Tole11 12 13

Religiöse Toleranz (wie Anm. 6), S. 9. Ed. Marius F. Valkhoff. Genf 1967. S. 53 bzw. 51. Erst 1937 nach der Handschrift publiziert: Ed. E. Feist. Rom 1937, in: Reale Accademia d’Italia. Studi e Ducumenti, Bd. 7, S. 307–430. Eine französische Übersetzung von

300 ranz.«14 Für Castellio ist das Verständnis der menschlichen Vernunft als Schnittpunkt von humanistischen Ideen und Grundanschauungen der niederländischen Devotio moderna charakteristisch: »Denique secundum hanc ipse Jesus Christus, viventus dei filius, qui Graeco sermone Logos dicitur, hoc est ratio.«15 Was Castellios Schriften von ähnlich argumentierenden Arbeiten vorreformatorischer Zeit unterscheidet – etwa vom Traktat De pace fidei des Cusanus (1401–1464) anlässlich des Falls von Konstantinopel – ist die Bezugnahme auf konkretes Vorgehen obrigkeitlicher Instanzen gegen sogenannte Ketzer. Die Reformation hatte offensichtlich die theologische Problematik in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen weiter zugespitzt. Seitdem geht es in der Frühen Neuzeit beim Toleranz-Thema kaum um einen theologischen Gelehrtendisput. Es wurde auch nicht länger ein »innerchristlicher Konsens« anvisiert, sondern aufgefordert zur Schaffung von geistigen und sozialen Freiräumen für christliche Minderheiten, wobei sowohl der Ketzerbegriff selber wie die Befugnis der Obrigkeit über den Glauben ihrer Untertanen in Frage gestellt wurden. Castellios De haereticis ist ohne den Namen des Verfassers erschienen. Die »praefatio« stammt von »Martinus Bellius« (sie ist an den Herzog Christoph von Württemberg gerichtet), den Beschluss bildet eine »refutatio« eines Basilius Montfortis; hinter beiden Namen verbirgt sich Castellio.16 Im Zentrum des Buches steht das Problem, dass immer einer den anderen für einen Ketzer hält, der Häresiebegriff somit schwankt. Nach Castellios Rat würde es dem Stand der Dinge entsprechen, wenn man sich auf einen prägnanten Kern (»aurea moneta«) von Glaubenswahrheiten beschränken würde. Dieser sei die »Goldmünze«, die »ungeachtet ihrer Prägung [›figura‹] überall angenommen wird«: Der Glaube an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und die Befolgung der Gebote der wahren Religion, die in der Heiligen Schrift stehen: das ist die Goldmünze, die noch besser geprüft und gültiger ist als das Gold selber.17

Neben einer deutlich erkennbaren (und eigentlich selbstverständlichen) Bibeltreue lässt Castellio nichts gelten außer der Vernunft. Wenn irgendwo im Zusammenhang mit metaphysischen Fragestellungen der Geist des neuzeit-

14 15 16

17

Ch. Baudouin (»De l’art de douter et de croire«), Genf / Paris 1953, eine niederländische von A. Dirkzwager / A. C. Nielson (»De kunst van twijfelen en geloven«), ’s-Gravenhage 1953. Güldner (wie Anm. 7), S. 27. De arte dubitandi, ed. Feist. I. Buch, 23. Kap., S. 363. Sébastien Castellion, De haereticis an sint persequendi. Reproduction en fac-similé de l’édition de 1554 avec une introduction de Sape van der Woude, Genève 1954. Introduction VIII ff. Nach der Übersetzung in Hans R. Guggisberg, Religiöse Toleranz (wie Anm. 6), S. 89 ff., Zitat 95.

301 lichen Humanismus greifbar wird, dann ist es hier, in Castellios Begründung religiöser Toleranz. Mit seiner »Einsicht in die grundsätzliche Irrelevanz aller auf unsicherer Überlieferung beruhenden kirchlichen Tradition, dogmatischer Bindung und theologischer Spekulation« (Guggisberg) reiht Castellio sich in die Phalanx der Vorkämpfer aufklärerischer Ideen ein.18 Castellios Plädoyer für eine Beschränkung des Glaubens in dogmatischer Formulierung auf Hauptpunkte trifft die Lieblingsbeschäftigung zeitgenössischer Theologen. Denn gestritten wurde keineswegs über das i-Tüpfelchen, sondern – so Castellio in seiner Ketzer-Schrift – »über die Trinität, über die Prädestination, über den freien Willen, über Gott, die Engel, den Zustand der Seele nach diesem Leben und über mancherlei ähnliche Dinge, die man zur Erlangung des Heils durch den Glauben nicht notwendigerweise zu kennen braucht.«19 Das sind Töne, die auf einen freien Standpunkt jenseits von Kirchen und Dogmen hinweisen, dorthin nämlich, wo gerade die menschliche Vernunft zur Bescheidenheit mahnt. Denn theologische Besserwisserei in unsicheren Angelegenheiten (»opiniones de rebus adhuc ignotis«) setzt Castellio treffsicher mit der Sünde der Superbia (Hochmut) gleich – »Hieraus entstehen die Verbannungen, die Inhaftierungen, die Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen und am Galgen, die täglich vorkommenden Verurteilungen der Meinungen.«20 Castellio war längst nicht der erste, der kein Blatt vor den Mund nahm. Er hat für seine Ausführungen u. a. zurückgegriffen auf Sebastian Francks Chronica, Zeytbuch und geschychtsbibel (Straßburg 1531) – darin auch die von Castellio aufgeworfene Frage »Was und wer ein Ketzer sey« – und Johannes Brenz’ Bedencken (…) Ob ein weltliche Obrigkeit in Göttlichen und billichen Rechten die Widertäuffer durch Fewer oder Schwerdt vom Leben zum todt richten lassen möge (1528).21 Aber die Stringenz seiner Argumente und die bestechende Ausdrucksweise sicherten ihm eine große Resonanz. Eine deutsche Übersetzung erschien gleichzeitig mit einer französischen (Martini Bellii von Ketzern, 1554), eine niederländische (nach der deutschen Fassung) ist ebenfalls bezeugt.22

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Wandel der Argumente, S. 464. Für Castellios Rezeption vgl. Ders.: Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt vom Späthumanismus bis zur Aufklärung. Basel, Stuttgart 1956, S. 48 ff., 68 ff., pass. Übersetzung bei Guggisberg, Religiöse Toleranz, S. 90. Der lateinische Text:. Van der Woude (S. 4 f.). Übersetzung bei Guggisberg (Anm. 19), Der lateinische Text ist kompakter: »Hinc exilia, hinc uincula, hinc ignes & cruces, & miserabilis quotidianorum suppliciorum facies« (ed. Van der Woude, S. 6). Vgl. Van der Woude, Einleitung und »Notes«, insbes. S. 181, 185. Van Ketteren of men die oock vervolgen off hoemen met haer handelen zal. Vgl. Van der Woude, wie Anm. 16) S. XIX sq. Eine moderne Übersetzung: Castellio, Concerning Heretics, transl. Roland H. Bainton, 1935.

302 Castellios Schrift fasst geschickt ältere Meinungen zusammen, Kirchenväter und Reformatoren kommen zu Wort, sogar Calvin selbst, der ähnlich wie die von Castellio ausführlich reproduzierten Autoritäten Luther und Johannes Brenz früher energisch für die Glaubensfreiheit Partei ergriffen hatte, jedoch später darauf zurückgekommen war. Mit De haereticis wurde also eine altehrwürdige christliche Tradition ins Bewusstein gerufen — Jesus Christus als Vorbild, das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen aus Mt 13,30 oder die Geschichte von Gamaliels Rat aus Apg 5. Hier schließt auch Zesen mit seinen Vorgängern bruchlos an. Die Tradition wird aktualisiert und dahingehend zugespitzt, daß sie den politisch Verantwortlichen ins Gewissen redet. Zusehends deutlicher ist denn auch im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Beteiligung von Nicht-Theologen an der Diskussion. Guggisberg verweist auf den Vorrang national-politischer Interessen, die auch »Vertreter des politischen ›Establishments‹« zu Toleranzverteidigern werden ließ.23

10.3

Castellio: neue Aktualität in Holland

Sicher war das für die Niederlande, wo Zesen im 17. Jahrhundert seine Toleranzschriften konzipierte und veröffentlichte, ein wichtiger Punkt. Aber der religiöse Pluralismus war zugleich eine Voraussetzung für die historische Blüte von Handel und Gewerbe, wodurch die Republik ihre mächtige Stellung in den europäischen politischen Verhältnissen erhalten konnte. Tatsächlich waren wirtschaftliche Momente ein traditionsgemäß bedeutender Faktor,24 aber daneben war hier eine geistige Tradition wirksam, die eine Aufnahme von Castellios Ideen begünstigte. Man konnte nämlich leicht an Erasmus anknüpfen, der bei Castellio (de haeret. S. 74 ff.) einen großen Platz einnimmt. Auf den Namen Erasmus hört der Traditionsstrang eines friedfertigen Gelehrtengesprächs, das die Einheit der Christenheit nicht durch ›unnützes Wortgezänk‹ zerstört sehen wollte. Die vielzitierte Widmung von Erasmus’ Hilarius-Ausgabe (1523) unterstreicht die Gefahr drohender religiöser Konflikte und warnt vor dem »Definieren«, »wohl wissend wie gefährlich und wenig fromm es ist, über Unaussprechliches zu reden, Unbegreifliches zu erforschen, Lehren über Dinge zu verbreiten, die unserem Zugriff weit entzogen sind.«25 Kein Zweifel, dass Erasmus vor unlösbaren Fragen haltmachte. Er wollte deswegen den Glauben auf eine kleine Zahl von Grund23 24

25

Religiöse Toleranz (wie Anm. 6), S. 66 f. Vgl. Erich Hassinger: Wirtschaftliche Motive und Argumente für religiöse Duldsamkeit im 16. und 17. Jahrhundert. In: Archiv für Reformationsgeschichte 49 (1958), S. 226–245. Nach der Textwiedergabe in Guggisberg, Religiöse Toleranz (wie Anm. 6), S. 72 ff.

303 lehren beschränkt wissen, wie solches später bei Castellio begegnet. In diesem Sinn versteht sich gleichfalls die Verteidigungsschrift gegen die spanischen Mönche (1529). Ob Erasmus wirklich einer religiösen Toleranz das Wort reden oder vielmehr die Einigkeit innerhalb der Kirche nicht gefährden wollte, ist nicht leicht auszumachen.26 Jedenfalls aber stellte er die christliche Einheit über die »verwegene Lust des Definierens«, als er sagte: »Das Wesentliche unseres Glaubens liegt im Frieden und der Einmütigkeit. Diese aber können bestehen, wenn wir das Definieren auf das mindeste beschränken und in vielen offenen Fragen jedem sein freies Urteil lassen.«27 Die Richtung von Erasmus’ Meinungen und Urteilen zielt unverkennbar auf eine Warnung vor Engherzigkeit. Seine Wirkung auf die Zeitgenossen ist – wie Güldener formuliert – eine selbstverständliche, weil er zu den Autoren gehört, »die jeder las.«28 Es ist erasmisches Geistesgut, das bei Libertinern wie Täufern und Remonstranten durchschlägt.29 Dies bestimmt das geistige Klima, in dem so verschiedene Naturen wie Coornhert und Lipsius miteinander diskutierten und wo der Genfer Calvinismus zunächst nur eine bescheidene Rolle spielte. Die Toleranzdiskussion in den Niederlanden hat »in der Verbreitung spiritualistischer und humanistischer Vorstellungen eigene Wurzeln, wobei von Anfang an auch die Wirkung der Toleranzgedanken Castellios sichtbar wird.«30 Letzteres ist in der breiten Castellio-Rezeption durch Dirck Volkertszoon Coornhert (1522–1590) augenfällig. Die nachweislich größte Wirkung von De haereticis ist eben für die Niederlande bezeugt. Nicht von ungefähr erregte in den Kreisen um Calvin der religiöse Freiheitskampf der Niederländer gegen Spanien Unruhe. Die Haltung der niederländischen Calvinisten fand im Stammland keineswegs ungeteilte Zustimmung, Théodore de Bèze sprach sogar von einer »si malheureuse liberté.«31 Das beunruhigende bzw. appellative Potential von Castellios Ketzerschrift ist für heutige Begriffe eher bescheiden. Die Argumentation ist distanziert und von Rationalität bestimmt, der Grundstock des angeführten Materials aus Tradition und Gegenwart nicht originell: De haereticis ist 26

27 28 29

30 31

Cornelis Augustijn weist im Kapitel »Um die Einheit der Gesellschaft« darauf hin, dass Erasmus sich nicht grundsätzlich zum Toleranzproblem äußert, die Obrigkeit jedoch im Punkt der öffentlichen Ordnung zur Vorsicht und Zurückhaltung mahnt: Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung. München 1986. S. 153 ff. Über die Juden äußert Erasmus sich nur »negativ und intolerant« (Guggisberg); vgl. Guido Kisch, Erasmus’ Stellung zu Juden und Judentum. Tübingen 1969. Religiöse Toleranz (wie Anm. 6), S. 74. Güldener, Toleranz-Problem (wie Anm. 7), S. 40. J. Lindeboom, Erasmus’ Bedeutung für die Entwicklung des geistigen Lebens in den Niederlanden. In: Archiv für Reformationsgeschichte, 43. Bd. (1952), S. 1–12 Güldener (wie Anm. 7), S. 41. Van der Woude (wie Anm. 16), S. XXIII.

304 eine Kompilation. Allerdings sollte die geschichtliche Distanz nicht über die Schlagkraft der Schrift hinwegtäuschen. Das Wissenschaftsverständnis des 16. Jahrhunderts legte Wert auf breite Berücksichtigung der »auctoritates« und auf Häufung von Argumenten zum Zwecke einer rhetorischen Amplifikation. In diesem akademischen Bildungsstrang wurde auch Castellio erzogen, er wusste um die wirksame Steigerung der Gedanken mit Hilfe von Reihung und Wiederholung: die res erhält so ihre Kraft und Wucht. An den Anfang stellt er die erklärte und anerkannte Autorität des neuen Glaubens, Luther. Auf die Zitate aus seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523) folgt sofort der württembergische Theologe Johannes Brenz mit seiner Wiedertäufer-Schrift. Mit Erasmus, Sebastian Franck und Calvin (!) sind sodann die Kronzeugen der neuen Zeit benannt. Es folgen Kirchenväter (Laktanz, Augustinus, Johannes Chrysostomus, Hieronymus); zeitgenössische Gewährsmänner werden in bunter Folge angeschlossen: Otto Brunfelsius, Conrad Pellican, Urbanus Rhegius u. a., unter ihnen auch Sebastian Castellio (mit der Vorrede aus der lateinischen BibelBearbeitung, die 1551 dem englischen König Edward VI. gewidmet wurde). Diese Anlage wurde zum Vorbild aller späteren Anthologien gleichen Inhalts.32

10.4

Philipp von Zesen und die »Batavische Freiheit«

Philipp von Zesen steht gut hundert Jahre später noch in dieser Tradition der Wissenssummierung, die Castellios humanistisch-gelehrter Schrift das respekteinflößende Gepräge gegeben hatte. Er ordnet die Zeugnisse streng chronologisch, bei den Kirchenvätern einsetzend (»Urteile der fürnehmsten Altväter und Kirchenlehrer/ auch ihrer Nachfolger/ der nachmahligen Gottsgelehrten«), und innerhalb dieser Chronologie wieder systematisch: »Es seind Kernsprüche: die wir aus ihren eigenen Schriften gezogen/ und in diese ordnung/ nach den jahren ihrer lebenszeit […] bester maßen zusammen gefüget.«33 Zesens Versicherung, er habe erst auf anhaltendes Drängen anderer die zu seiner »eigenen erbauung« angelegte Sammlung veröffentlicht, ist vermutlich Ausdruck herkömmlicher Vorreden-Bescheidenheit. Auf jeden Fall ist die Kompilation durch Zesens Sammelfleiß zustande gekommen und gibt sich, dem akademischen Brauch der Zeit folgend, als ein Erzeugnis des Barockjahrhunderts zu erkennen. »Collecta32

33

Es sei hier betont, dass sie ohne Ausnahme scharf umrissenen Zielen dienen und auch in der Hinsicht an Castellios Modell anknüpfen. Schon aufgrund dieser Gattungsstrategie verliert Zesens Buch den akademischen Charakter einer Quellensammlung. Zitiert nach der Ausgabe: Sämtliche Werke, Bd. XIII (Vorrede), S. 21 und 22. Die Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Das folgende Zitat ebd., 23

305 neen« waren damals unabdingbar, sie ergänzten vorhandene Anthologien und »flores«.34 Die Absicherung des Materials, insbesondere bei brisanten Themen, war indessen mehr als eine wissenschaftliche Gepflogenheit, der sich der poeta doctus anschloss. »Im übrigen haben wir/ in unserem gantzen werklein/ nichts/ ja gar nichts gesetzet/ das wir nicht aus anderer so wohl alten als neuen bewährten Schriften beweisen könten.« Die Formulierung ist eine Empfehlung, sie versieht das kompilatorische Vorgehen mit eigener Wirkungskraft. Denn die breite Streuung der Zeugnisse durch die Jahrhunderte und ihr genauer Nachweis trägt zur Überzeugungskraft des Ganzen erheblich bei und verstärkt das Hauptargument, dass es die »allerfürnehmsten rechtgleubigen Lehrer der Kirche einhälliglich ausgesprochen.« Die Toleranz-Zeugnisse berichten also von einer althergebrachten communis opinio, sie seien folglich für »Schlüsse der algemeinen Kristlichen Kirche selbsten zu halten« (S. 22). Das engagiert vorgetragene Anliegen ist Ausdruck einer neuen Aktualität des Toleranz-Themas. Die längst geführten Diskussionen und die seit der Reformationszeit vorliegenden Sammlungen beredter Texte gegen die »Gewissenszwinger« (Zesen) genügten offensichtlich den neuen Forderungen des Tages nicht mehr. Sicher waren die Verhältnisse in den Niederlanden dem Geist der Glaubensfreiheit günstiger als anderswo, aber Zesen hatte nicht die Niederlande oder Deutschland ins Visier genommen, sondern die Schweiz, genauer gesagt: die Stadträte von Zürich und Bern und ihre Unterdrückungspolitik, deren Opfer nach wie vor die Täufer waren. Er brauchte darauf nicht ausdrücklich Bezug zu nehmen, denn seit Bullingers großangelegter Verteidigung strengen Vorgehens gegen die Ketzer (1561) war die Praxis der Schweizer Intoleranz allgemein bekannt. Bevor darauf näher eingegangen wird und die von Amsterdam aus unternommene Werbung für Glaubensfreiheit vor dem Schweizer Hintergrund ihre lokal-regionale ›Verortung‹ bekommen kann, ist mit einigen wenigen Strichen ihre Stellung in Werk und Gedankenwelt Zesens zu skizzieren. Zesens Bewunderung für seine Wahlheimat ist auf die Überzeugung ihres einzigartigen Staatswesens gegründet. Er folgt seinen Gewährsmännern – es werden in seinem Buch über die Vereinigten Niederlande über 190 Autoren aufgelistet – mit jener beneidenswerten Unbefangenheit, die damals nicht unüblich war, und er stößt unbedenklich ins Horn des niederländischen Nationalstolzes. Die vielgerühmte Toleranz der Niederländer ist in Zesens Erörterungen zur Sache, namentlich in seinem Buch Niederlän34

Allgemein zum Sammelprinzip vgl. Verf.: Art. »Aeraria poetica« in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992. Sp. 199–202. Ferner auch: Verf., Strukturierte Intertextualität. Poetische Schatzkammern und Verwandtes. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. 1994. S. 279–308.

306 discher Leue (1677)35 weniger eine anerzogene Tugend als ein herkömmlicher Wesenszug. Dieser wird in Zesens Argumentation auf den ›Urstamm‹ zurückgeführt, der mit »Betauer« bezeichnet wird. Diese »Betauischen völker« hätten immer darauf gesehen, dass eine Oberherrschaft »ohne verletzung ihrer uhralten Freiheit« ausgeübt würde (S. 484). Damit sei der Grund gelegt worden für die Freiheitsliebe der Nachkommen, die dem Stammvolk nachgeartet wären.36 Denn die »Betauer« hätten sich keiner »Königlichen obermacht« beugen wollen, »weil sie von natur vor allem Gewaltzwange scheu und ekel trugen/ und die liebe der Freiheit ihnen gleichsam angebohren« wäre (S. 515). In solch uralter Tradition seien nun die zeitgenössischen Niederländer gewurzelt, ihr Staatswesen fixiere gleichsam die uranfängliche Ungebundenheit, welche die Sozialgemeinschaft der Betauer bestimmt haben soll. Völkerpsychologie und Geschichtswissenschaft erzeugen im Verbund einen germanischen Mythos niederländischer Prägung, – Zesen strickt an diesem emsig weiter. Die Kardinalfrage der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Machtposition der Niederlande in ihrem Goldenen Zeitalter betriftt selbstverständlich die religiöse Toleranz, die Zesen als die zeitliche Verlängerung der ›Betauischen Freiheit‹ ansehen möchte. Sie ist ihm der stabilisierende Faktor, der Uneinigkeit und politische Instabilität verhindere. Die religiöse Toleranz sei vielmehr der Garant dafür, dass alle Teile zusammenhalten und die Einheit bewahren. So lautet in Zesens Formulierung der Schluss: daß zwar vielerhand Glaubensbekenner in der Vereinigten ländern zu finden: aber weil man allen denen ihres gewissens freiheit vergönnet; so hette man sich/ aus solcher so angenehmen vergünstigung/ keines unheils jemahls zu befahren/ sondern vielmehr das gegenteil zu hoffen.37

Die Begründung (S. 764) ist etwas ungewöhnlich. Man habe, so Zesen, »vielerhand Glaubensgenossen/ ja so mancherlei Völkerschaften« aus den umliegenden Ländern aufgenommen und ihnen sowohl bürgerliche wie Konfessionsfreiheiten zugesichert, das heißt ihnen »ihre glaubens= so wohl als andere bürgerliche freiheiten unweigerlich gestattet.« Dadurch sei nicht nur der allgemeine Wohlstand gehoben, sondern wurde auch verursacht, »daß solcher so unterschiedlichen Glaubenslehren/ ja so unterschiedlicher angebohrenheiten und köpfe wegen/ die unter so mancherlei ahrt völkern zu finden/ keine unterliche vertrauliche gemeinschaft […] könte gepflogen werden.« Der Sinn ist wohl dieser: einer traute dem andern 35 36

37

Filips von Zesen Niederländischer Leue. Nürnberg 1677. Sämtliche Werke, Bd. XV/2 Über den Gebrauch der Bataver als Prototypen der nationalen Identität in der niederländischen Geschichtsschreibung jener Zeit vgl. Ivo Schöffer, The Batavian Myth during the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: P. A. M. Geurts / A. E. M. Janssen (Hg.): Geschiedschrijving in Nederland. 2 Bde. ’s-Gravenhage 1981, II, S. 85–109. Niederländischer Leue, S. 764, Zeile 2–8.

307 nicht, infolgedessen war das gegenseitige Verhalten darauf gerichtet, die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften gewähren zu lassen. Kein Idealismus beherrscht das Bild, es herrscht dagegen nüchterne Pragmatik vor: so hat man aus solcher uneinigkeit oder vielmehr ungemeinschaft der gemühter (die auch den Holländern selbst fast angebohren/ oder aus beiwohnung so vieler ahrten völker/ oder aus stätiger arbeit darzu sie die grosse schatzungen und wohnungsgelder gleichsam antreiben/ angewohnet zu sein scheinet) keinen aufruhr wider die Obrigkeit jemahls zu gewarten.38

Diese Ideen zur religiösen Toleranz in den Niederlanden sind um so interessanter, als auch dort Konfessionsunterschiede die geschichtliche Entwicklung mit geprägt haben. Es war bekanntlich der Zuzug protestantischer Kaufleute aus den Spanischen Niederlanden, der die wirtschaftliche Blüte der Stadt Amsterdam ermöglicht hatte (und zwar auf Kosten Antwerpens). Der Ratspensionär Johan van Oldenbarneveld hat in einem Religionskonflikt, der den Keim eines Bürgerkriegs enthielt, sein Leben lassen müssen (er wurde am 13. Mai 1619 in Den Haag hingerichtet). Es wurde auch nie vergessen, dass der Befreiungskrieg der nördlichen Niederlande aus der spanischen Herrschaft sowohl religiös wie politisch motiviert war. Dem Dreißigjährigen Krieg im Reich vergleichbar, war die Geschichte des »Abfalls der Vereinigten Niederlande« (es war der sogenannte Achtzigjährige Krieg, 1568–1648) auch die Geschichte eines Religionskrieges. Der vom spanischen Herzog von Alva (Alba)1567 eingesetzte »Blutrat« zur Bestrafung der Schuldigen in den Unruhen wurde zum Symbol eines verhassten Regimes und wurde ebenfalls mit religiöser Repression assoziiert. Der politische Protest in seiner auffälligen Verquickung mit dem Protestantismus sowie das anti-römische weil anti-spanische Klima waren Philipp von Zesen nicht entgangen – war er doch am niederländischen Selbstverständnis orientiert. Der »Blutrat« wurde mithin auch als religiöses Druckmittel empfunden. Zesen schildert Alvas Gericht ausführlich, und zwar in seiner berühmten Beschreibung der Stadt Amsterdam (1663), wobei er den spanischen Grande als einen brüllenden Löwen präsentiert (»bluht= und guht-dürstige klauen«) und den »Blutrat« unter dem Vorsitz des Spaniers unverkennbar bestialisiert (»nach des rasenden Bluhthundes/ des Albaners/ uhrteil«). Die Schilderung des grimmigen Wütens lässt der Phantasie des Lesers nur wenig Spielraum: Und also fing man an allen enden an/ männer und frauen/ hohe und niedrige/ junge und alte zu fangen/ und zu spannen. Die gerichts-plätze lagen mit bluht überschwämmet: die galgen/ die räder/ die staken/ und die beume an den wegen waren überladen mit leichen der erwürgten/ enthalseten/ und geräderten. Der schmauch und rauch von den verbranten und unschuldigen überzog die luft mit einem so dikken kwalme/ daß die strahlen der sonne kaum durchbrechen konten. Und das allergrausamste war/ daß 38

Ebd., Zeile 7–33.

308 man auch selbsten anderen menschen das weinen und seufzen über so unbarmhertziges handeln ihrer bekanten und bluhtsfreunde verbot/ ja sie wohl gar deswegen/ als verdächtige/ gefänglich einzog/ und zur pein-bank brachte.39

Einen Höhepunkt der Tortur stellte die Prozedur des Zungenschraubens dar, die den protestantischen (›protestierenden‹) Märtyrer vollends mundtot machen sollte. Zwischen dem gesprochenen Glaubensbekenntnis und solcher Bestrafung tut sich eine Kluft auf, die Zesen an anderer Stelle dem »abgrunde der Höllen« gleichsetzt.40 Der Scheiterhaufen, die eigentümliche Hinrichtungsstätte der Ketzer, wurde noch um eine weitere Qual ergänzt, die den Unglücklichen zutiefst erniedrigte: Die Unröhmischen warden meistenteils verbrant: und weil sie nach dem feuer zutretende ihr glaubensbekäntnüs mit beherzter zunge zu tuhn pflegten/ erdachte man/ solches zu verhindern/ ein greuliches werkzeug. Dieses war gleich als ein schraubestok; darzwischen die zunge geschraubet ward: welche man voran mit einem glühendem eisen brante/ daß sie aufschwällen und nicht einwärts schlüpfen solte. Und also gaben diese armseeligen in der flamme ein holles dumpfichtes geleute/ und brülleten eben als dieselben/ die der Sizilische Wühterich in den glühenden Kupferen Ochsen/ den meister-fund der Perils/ geworfen41.

Zesens Gedankenwelt in diesem Punkt ist damit umrissen. Sie war das Ergebnis eigener Erfahrung und Lektüre, sie trägt gleichfalls die Spuren der noch jungen niederländischen Republik. Religionsfreiheit und politisch-nationale Freiheit sind aufs engste verquickt, sie gehören zusammen wie die beiden Seiten einer Medaille. In den Niederlanden ist der Appell zu religiöser Toleranz im 17. Jahrhundert von der Erinnerung an den Freiheitskampf gegen Spanien gefärbt, das Bezugsmuster der alteingesessenen Freiheit (»Betauer«!) bildete das national-mythische Fundament. Bei Zesen läßt sich der Niederschlag solcher Zusammenhänge deutlich erkennen. Die Handlungen und Urteile wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen bieten in den Hauptbestandteilen zwar umfängliche Kompilationen, aber in den Vorreden hat Zesen eigene Gedanken zum Thema entfaltet. Die Toleranzschriften sind in Amsterdam entstanden und in einem auf konfessionell ›schräge‹ Literatur spezialisierten Verlag erschienen. Vielleicht hat die Stadt mit dem toleranten Klima einer metropolitischen Kaufmannsstadt dazu angeregt. Die Widmungen an den Rat der Stadt Zürich bzw. Bern sind aus Amsterdam datiert: vom 1. Mai und 12. Juni 1665. Das zentrale Thema ist, den Auftrags-Schreiben gemäß, in keiner Weise etwa deckungsgleich mit dem Fragenkreis der interkonfessionellen Irenikerkreise um Georg Calixt und seine Schüler. Zesen tritt für eine in die Sozialpraxis umgesetzte christliche »Brüderlichkeit« ein. Er zieht also die praktischen Konsequen39

40 41

Filips von Zesen Beschreibung der Stadt AMSTERDAM, 1664 (Joachim Nosche), S. 194. Gewissenszwang (wie Anm. 33), S. 14. Beschreibung (wie Anm. 39), S. 195.

309 zen aus dem Liebesgebot und fordert auf der Basis der christlichen Liebe soziokulturelle Bedingungen für ›geistliche Abweichler‹, kurz: religiöse Freiheit als politisch-soziale Entsprechung von Luthers ›Freiheit eines Christenmenschen‹. Wie man aus der politischen Geschichte und aus regionalhistorischen Studien weiß, war das keine Selbstverständlichkeit und kein Recht, das man ohne Probleme in Anspruch nehmen konnte. Hier war daher Klartext am Platze. Den Zürcher Stadtvätern wird bedeutet, dass sie, als »eine Obrigkeit/ derer Ziel ist ihre/ des Stahts/ und der Untertahnen Glükseeligkeit zu befördern«, das geistliche Aufsichtsrecht wahren soll: »daß der wahre Gottes-dienst […] allenthalben fortgepflantzet/ und erhalten […] werde.« Aber mit einer Erinnerung »zur kräftigen genießung der Freiheit der Kinder Gottes« hält Zesen ihnen zugleich das Sorgerecht für alle vor: Man mus die kranken in einem Stahtswesen/ und die Irrenden/ wofern jene durch heilsame Artzneien/ und diese durch guhte Wegweiser nicht können/ oder wollen zu rechte gebracht werden/ mit geduld ertragen. Die Obrigkeit mus der Irrenden Gewissen nicht allein keine Wunden zufügen/ indem man sie mit gewalt zu zwingen trachtet; sondern sie auch selbsten/ als ein liebreicher Vater/ der seinen aberwitzigen und im haupte verrükten Sohn keines weges aus dem hause verstößet/ und dem gespötte der gassenleuffer übergiebet/ wider anderer anfälle in ihrem Gebiete behalten und beschirmen.42

Es wird mehr angemahnt als lediglich Duldung und Geduld – der Einsatz ist vielmehr behördlicher Schutz vonseiten der städtischen Obrigkeit. Die Suggestivkraft von Zesens Argumentation findet ihren Ursprung im Begriffsspiel mit frei und Freiheit. Es sind die in der paulinischen und lutherischen Tradition (s. o.) den Christen auszeichenden Charakteristiken, und zwar mit spezifischer Bedeutung: durch Christus freigemacht von der Sünde (Rö 6,18: »nun ihr frei geworden seid von der Sünde«) und so aus der Entfremdung von Gott wieder zu ihm als der Quelle aller Freiheit zurückgeführt. Im geschliffenen Paradox des Apostels Paulus wird der Bedeutungskonnex exakt erfasst: »wer als Freier berufen ist, der ist ein Knecht Christi« (1 Kor 7,22). Der exegetisch ergiebige Metaphernkomplex »Sünde – Knechtschaft – (›Knecht der Sünde‹: Rö 6,20) – Losmachen bzw. Erlösen« findet hier seinen Ansatz. Hier setzt Zesen an, nach dem Auftakt, dass der Glaube (»eine Gnadengabe Gottes«) »keinen zwang durchaus leiden« mag: »Wir waren wohl ehmals Knechte/ knechtisch/ nach dem Fleische/ gebohren: nun aber seind wir Freien/ frei/ nach dem Geiste/ wiedergebohren.« Die Parallele der neutestamentlichen Erlösung mit dem einstigen Hinausführen des erwählten Volks aus Ägypten, dem Sklavenhaus (5 Mose 15, 15), legt die Verbindung von Freiheit und Zugehörigkeit zu einem Volk, 42

Gewissenszwang (wie Anm. 33), S. 8.

310 zu einer Gemeinde nahe: die von Gott Erwählten werden »Kinder Gottes« genannt. Die (religiöse) Freiheits-Idee kann sich dann mit Christi Liebesgebot verbinden, und zwar um so leichter, als die Bezeichungen »Kinder Gottes« (oder »Söhne Gottes«), im Anschluss an die Gott-Vater-Vorstellung mit dem Gottes-Sohn als Erlöser das Bild einer Familiengemeinschaft heraufrufen. So verstanden sich die Glieder der frühen christlichen Gemeinde als Glieder einer durch Gott begründeten Bruderschaft, in der alle »brüderlich« (d. h. »gleichgesinnt«: 1 Pe 3, 8) miteinander verkehrten und man sich »brüderlich« liebte (Rö 12,10: »die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich«). So werden Freiheit und Bruderschaft als eine feste Einheit verstanden. Diese Gedanken und Bildvorstellungen bilden das Unterfutter von Zesens Argumentationsführung. Von diesem Standpunkt aus werden die Mitchristen (»das ist der Freien Kinder«) zu Brüderlichkeit und Eintracht aufgefordert: […] begegnet doch euren freigebohrnen Mitbrüdern/ die etwan in einem noch zahrten/ und schwachem Glauben unter euch wandelen/ wie es ihre freiheit/ und die unterliche brüderschaft zwischen euch und ihnen erfordert: wohnet doch einträchtig/ und brüderlich/ wo es nicht in allen stükken Geistlich sein kan/ doch gleichwohl Weltlich und Bürgerlich unter ein ander; liebet sie doch herzlich.43

Es wird eine Brüderlichkeit aufgeführt, die ein Wohnrecht einklagt. In Erinnerung an damals vielerorts übliche Aussiedlungen und Vertreibungen von Andersgläubigen erfolgt die dringende Bitte, von Verfolgungen abzulassen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, als würde Zesen der freien Entfaltung von religiösen und politischen Ideen das Wort reden. Davon abgesehen, dass im 17. Jahrhundert keine »Policey« auch nur den geringsten allzu freimütigen Gedanken erlaubt hätte, ist Zesen vorsichtig genug, sich nicht zu weit vorzuwagen. Er will mitnichten zu den ›Aufwieglern‹ gezählt werden, die in jener politisch unruhigen Zeit die Obrigkeit verunsicherten. Zum Beweis seiner bürgerlichen Loyalität markiert er genau die Grenzen der Freizügigkeit. Wer einer »schädlichen rotte anhänget« oder »durch erdichtete Geisttreibereien« die Religionen verwirren, gar »eine Gottesleugnung stiften« oder aber »die Stahtswesen selbsten in die allergreulichste unordnung stürtzen« wollte, müsse bestraft werden.44 Es dürfe selbstverständlich auch nicht »unter dem scheindekkel der Glaubensfreiheit« Gotteslästerliches verbreitet werden – Zesen verbleibt ganz im System seiner Zeit.45 Die Rücksicht auf das geistige Gemeinwohl von Stadt und Land konzediert der Obrigkeit ein Durchgreifen in brenzligen Angelegenheiten.

43 44 45

Gewissenszwang, S. 12 f. (Vorrede). Gewissenszwang, S. 20. Gewissenszwang, S. 21.

311 Durch solch bewusste Inanspruchnahme obrigkeitlicher Pflicht erhält Zesens Argumentation die vertraute kulturelle Vorprägung, die leichte, aber immerhin wesentliche Bedeutungsverschiebungen erlaubt. Mit ihrer Hilfe wird sodann ein Casus aus der religiösen Sphäre in die »Weltliche und Bürgerliche« hinein verlängert. Das rhetorische Verfahren ist einfach und zumindest in der Argumentationsweise der Predigttradition nicht unüblich. Die semantische Konditionierung wird nur leicht geändert, so dass die religiöse (metaphysisch begründete) Freiheit ins Bürgerlich-Politische verschoben werden kann. So werden auch die »Mit-Brüder« (d. i. ›in Christo‹) unter der Hand zu Mitbürgern einer Stadt. Zesens Anliegen ist ausdrücklich im politisch-sozialen Jetzt angesiedelt, es meint die christliche Sozialgemeinschaft im ›hinc et nunc‹. Aus dieser unmittelbar sozial engagierten Haltung heraus hat Zesen seine Materialsammlungen angelegt, systematisiert und herausgebracht. Er wollte sich nicht mit Unverbindlichkeiten begnügen und Altbekanntes breittreten; sein gewissenhaft auswählendes Verfahren ist genau nachzuprüfen, es indiziert sein ernstgemeintes Engagement. Zesen thematisierte bereits Menschenrechte und Menschenwürde, als in Europa Hexenverbrennungen noch an der Tagesordnung waren. Wer bedenkt, wie schwer man sich noch im aufgeklärten 18. Jahrhundert mit der Toleranz getan hat und wie mühsam sich die »Duldsamkeit in Religionsdingen« durchsetzen konnte, wird Zesens Toleranzschriften seine Achtung nicht versagen können. Freilich erschien nicht viel später, 1670, Spinozas Tractatus Theologicopoliticus in Amsterdam (anonym!), John Lockes Letter concerning Toleration kam 1690 heraus. Hier wurde manches vorweggenommen, was in der Toleranz-Debatte der Aufklärung zum Tragen kommen sollte. Im Zeitalter der Glaubenskriege aber sahen die Dinge vielfach anders aus und waren die damit verbundenen politischen Belange anders gelagert, zumal in Deutschland, wo seit dem Augsburger Religionsfrieden noch nach dem Prinzip des »Cuius regio, eius religio« verfahren wurde.

10.5

Täufer in Zürich und Bern

Der theologie- und sozialgeschichtliche Hintergrund von Zesens ToleranzSchriften mit ihrem Appell an die Stadträte von Zürich und Bern ist genauer im Rahmen der Geschichte des Täufertums zu erfassen.46 Die feste Einheit von Toleranzproblem und Täufertum wie die Tatsache der gesellschaftlichen Bedeutung jenes kirchenhistorischen Phänomens, das in den ersten beiden Jahrhunderten der Reformationsgeschichte die Geister in Atem hielt, erfordert eine mehr als oberflächliche Beschäftigung mit Zür46

Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer. Geschichte und Deutung. München 1980.

312 cher bzw. Berner und niederländischen Täufern. Vorab ist zweierlei festzustellen: Fundament und Antrieb von Zesens publizistischen Bemühungen um Toleranz sind unbezweifelbar täuferisch, und ein solch herausforderndes Buch, das die Ratsherren zweier angesehener Schweizer Städte öffentlich zum Einstellen ihrer »Tyrannei« mahnt, kann nicht ohne innere Anteilnahme seines Verfassers geschrieben sein. Mit den appellativen Widmungen und Leservorreden, die der »auctoritates«-Sammlung jeweils voraufgehen, halten die beiden Schriften die Mitte zwischen einer Anthologie historisch-systematischen Inhalts und einem persönlichen Bekenntnis. Während die historischen Zeugnisse den objektivierenden Part der Argumentatio bilden, verspürt man in Zesens eigenen Ausführungen den ganzen Ernst eines engagierten Autors. Zesen bringt sich selber ins Spiel, versteckt sich nirgends hinter einem Auftraggeber oder einem ›guten Freund‹, er bezieht offen Stellung. Das ist bemerkenswert, denn im 17. Jahrhundert herrschte im allgemeinen Bewusstsein ein ambivalentes Verhältnis gegenüber Täufergemeinden und -gruppen. Wenn sie nicht vertrieben oder verfolgt wurden, erlangten sie im besten Fall Duldung, wie seit 1577 in den Niederlanden, wo sie schließlich völlig in die Gesellschaft integriert worden sind. Den Täufern haftete der Makel bürgerlicher Unbotmäßigkeit an – sie blieben unter sich in der ›Absonderung‹ und wären Ruhestörer. Neben den blutigen und rauschhaften Ereignissen in Münster – das »Tausendjährige Reich«, das Jan van Leiden als »König« des »neuen Zion« proklamiert hatte, ging 1535 in hartem Kampf zugrunde – gab es auch andernorts solche, durch die sich die Täufer verschiedentlich in Verruf brachten. Hier fangen schon die Probleme an, die eine Fixierung von Zesens Standpunkt erschweren. Obwohl das Täufertum inzwischen zu den besterschlossenen kirchenhistorischen Problembereichen gehört, sind national oder regional geltende Urteile nur mit Vorsicht zu verallgemeinern.47 So sind die Schweizer Täufer von den Mennoniten in den Niederlanden zu unterscheiden, was für die Diskussion, in die Zesen einzugreifen suchte, von Bedeutung ist. Es muss schon für die Frühzeit, d. h. schon für die Zürcher Anfänge, mit verschiedenen Richtungen gerechnet werden. Johann Heinrich Ott, der frühe Historiker der Täuferbewegung, unterscheidet 1672 mehrere Strömungen, die er unter dem Titel »Genera Anabaptistarum« auflistet und beschreibt.48 Neben einer libertinischen Spielart stand ein apokalyptischer Spiritualismus, die Lehre des gewaltlosen evangelischen Täufertums (bis hin zum Pazifismus und zur Wehrdienstverweigerung) war 47

48

Gustav Adolf Benrath: Die Lehre der Täufer. In: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Hg. von Carl Andresen. 2. Bd.: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität. Göttingen 1980, S. 611–664. Johann Heinrich Ott, Annales Anabaptistici. Basilea 1672. Folio c 2v – d 2 r (Ex. der Universiteitsbibliotheek Amsterdam: O 65/1025).

313 nicht die alleinherrschende.49 Den Angelpunkt der täuferischen Unruhen im 16. Jahrhundert bildete der radikale Flügel – er hatte sich anfangs um Thomas Müntzer gesammelt -, der die weltliche Obrigkeit herausforderte und das Regiment an sich zu reißen drohte. Das wurde vorübergehend in Münster Wirklichkeit, Furcht verbreitendes Beispiel religiösen Irrtums. Auch in Amsterdam war kurz danach eine sozial-politische Erregung zu verspüren, welche die städtische Obrigkeit tangieren musste. Es steht zu erwarten, dass Zesen sich von solchen Dingen distanziert hat: war er doch in allen seinen Schriften ein Vertreter sozialer und politischer Ordnung. Für die Frage, ob Zesen selber innerlich dem Täufertum nahegestanden habe, ist seine Darstellung der Unruhen von 1535 in Amsterdam aufschlussreich. In der Beschreibung der Stadt AMSTERDAM nimmt der vereitelte Anschlag auf das Rathaus beträchtlichen Raum ein (Seite 107 bis 120). Zesen hatte keine Bedenken, die Bestrafung der ›aufrührerischen Rotte‹ detailliert und unter Verweis auf das Gerichtsurteil wiederzugeben: Sechs tage hiernach werden die zwölf gefangene Wiederteufer zu erst lebendig auf eine bank gebunden: das man ihnen/ nach eröfneter brust/ das hertz aus dem leibe gerissen/ und üm das gotlose maul geschlagen. Darnach warden ihre noch zaplende leiber auf den markt geworfen/ und in vier stükke zerhauen: welche man vor die stadttohre hing/ und die Köpfe auf staken setzte.50

Noch im nächsten Kapitel zittert die Erregung über »das greuliche ungewitter der Wiederteuffer« nach (S. 163). Die Erinnerung an die Ereignisse war im 17. Jahrhundert noch durchaus lebendig, aber man hat auch damals schon differenziert und die (in Zesens Worten) »einfältigen waffenlosen Mennisten« von den »Aufwüglern« unterschieden. Das führt zu den Anfängen in Zürich zurück, speziell zur täuferischen Obrigkeitsanschauung im süddeutsch-schweizerischen Raum. Die Repression der Täufer in der Schweiz, gegen die Zesen mit anderen von den Niederlanden aus Stellung bezieht, ist eine konsequente Weiterführung uranfänglicher Frontstellung. Hier haben sich Differenzen verhärtet, die im siegreichen Verbund von Kirche und Staat seit Zwinglis Tagen wurzeln. Natürlich ist in Anschlag zu bringen, dass romantische Freiheitsvorstellungen im Reformationszeitalter nicht greifen. Es galt, die gottgewollte Ordnung aufrecht zu erhalten. Das bedeutet für die Reformatoren die Aufsichtspflicht auch in Fragen der Religion. Das war auch Luthers Standpunkt, wie z. B. aus seiner Auslegung des 82. Psalms (1530) hervorgeht: Türken und Täufer werden über einen Leisten geschlagen: Denn sie sind auch nicht schlecht allein ketzer, sondern offentliche lesterer. Nun ist yhe die oberkeit schuldig die offentlichen lesterer zu straffen, als man die strafft, so 49

50

Joseph Lecler, Histoire de la tolerance au siècle de la réforme. 2 Bände. Aubier 1955. 1. Bd., Chap. III: »Ambiguité de l’Anabaptisme, ses formes révolutionnaires et ses formes pacifiques.« Beschreibung (wie Anm. 39), S. 116

314 sonst fluchen, schweren, schmehen, lestern, schelten, schenden, verleumbden etc. Denn solche lerer schenden mit yhrem lestern Gottes namen und nemen dem nehisten seine ehre fuer der wellt.51

Auf dem zweiten Reichstag zu Speyer wurden 1529 die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Täufer festgeschrieben. Zur Begründung konnte auf altes Reichsrecht zurückgegriffen werden, das Mandat war auf Abwehr von Unfrieden und Uneinigkeit im Reich gerichtet. So ging es im Volksmund sowohl um Aufruhr wie um Ketzerei, am häufigsten um beides zusammen.52 In diese Richtung bewegen sich die Zürcher Klagen gegen die Täufer. Bald überwiegt das eine, bald das andere. Fast wonnevoll zitiert Johann Heinrich Ott ein lästerliches Wort im Originalton: »Vnd Barbara Bruppacherin sprach: Wann sie für ein Kirchen fürüber gang/ seige ihro sie müste (rev.) kotzen.«53 Man muss sich vor Augen halten, was eine ohnehin irritierte stadtbürgerliche Obrigkeit argwöhnisch machte: das frühe Täufertum war eine »dynamische, religiös-sozialrevolutionäre Bewegung, eine radikale Befreiungsbewegung innerhalb der Kirche und für die Gesellschaft.«54 Das musste sich im reformierten Zürich unangenehm bemerkbar machen. Zwingli hatte mit Rückendeckung der Obrigkeit die Reformation durchgeführt, die nun gegen Unruhestifter aller Art zu verteidigen war. So hält es noch ein Ratserlass vom Jahr 1612 fest, mitsamt den Sanktionen: Dieweil die Widertäuffer der mehrertheil vilerley schädlicher Irrthumben von etlichen Articklen des Glaubens habend vnd führend. In denen sy nit allein den Kindertauff verwerffend/ sonders irrend/ auch mehrentheils vnter jhnen/ in den rechten Hauptpuncten der Christlichen Lehr. Item durch jhre Lehr werdend Christenliche Kirchen verwirrt vnd zerstört/ Desglych die Regiment vnd Hußhaltungen zerrüttet.55

Wer der neuen Lehre folgt, wird verwarnt und bekommt eine Geldbuße. Hilft keine Verwarnung, dann folgt Verhaftung: Der vnd dieselben söllend zu vnseren als der hohen Oberkeit/ handen genommen/ vnd in Gefangenschafft gelegt werden. Vnd da man gegen söllichen widerspenstigen Lüthen mit fernerem fründtlichem vnderrichten vnd abwysen vom Irrthumb/ auch nüdt schaffen könte. So wöllend wir alsdann uß Oberkeitlichem gewalt den vnd dieselben von vnser Statt vnd Landschafft verwysen. Vnd so sy darüber wyter darinne ohne vorgehnde Begebung der Gehorsame/ vnd abstand vom Irrthumb/ betretten wurdind/ sy widerum in Gefencknuß leggen/ vnd mit Muß vnd Brodt spysen lassen/ vnd da sy sich uß Göttlichem Wort nachmaln nit zum Abstand vnderrichten lassen wölten/ den vnd dieselben nochmal von vnser Statt vnd Land verwysen.56 51

52 53 54 55 56

Luther, WA 31, 1, 189 ff. Zit. Nach Manfred Hoffmann (Hg.): Toleranz und Reformation (wie Anm. 6), S. 33 f. Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer (wie Anm. 46), S. 127 ff. Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 304. Goertz: Die Täufer (wie Anm. 46), S. 19. Ott, Annales, ebd.,S. 208–213, Zitat 208. Ott, Annales, S. 209.

315 Schließlich, bei äußerster Hartnäckigkeit, soll an der Strafe nicht gespart werden, die Todessstrafe wird nicht ausgeschlossen. Die Obrigkeit nämlich werde sie »an jhrem Lyb/ oder auch am Leben/ nach gestaltsamme der Sachen/ straffen.«57 In diesem Sinn hatten schon die Zürcher Reformatoren zu hartem Durchgreifen geraten. Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger (1504–1575) setzte alles daran, das System einer kirchlich-staatlichen Einheit zu bewahren.58 Er wollte auch einem im Reich grassierenden Vorwurf begegnen, die Schweizer Reformierten seien selber zu den Täufern zu zählen. Damit nahm Bullinger eine Arbeit in Angriff, die seine ganze Amtstätigkeit umspannen sollte. Sie sollte mit allen Mitteln nachweisen, dass Zürich im Kampf gegen das Sektenwesen unnachgiebig sei und unverrückt die reine Lehre verteidige. Bullinger drehte also den Spieß herum und verlegte den Ursprung des Täufertums kurzerhand ins lutherische Mitteldeutschland. Dafür konnte er an gelehrte Gewährsmänner anknüpfen, die eine direkte Linie herstellen zwischen Thomas Müntzer und den Bauernunruhen über Melchior Hoffmann bzw. Melchior Rinck zum Wiedertäuferreich in Münster.59 Auf Bullingers polemisch zugespitzte Behauptung eines direkten Zusammenhangs zwischen dem apokalyptisch-revolutionären Täufertum Müntzers und den Zürcher Täufern geht schließlich die ganze Furcht der Obrigkeit vor täuferischem Aufruhr in Zürich und Bern zurück, die »noch in diesem Jahrhundert für geschichtliche Wahrheit gehalten« wurde.60 Man muss sich das Ausmaß an Angst vor Unruhen bei der Obrigkeit als auch die Dauererregung eines offensichtlichen Störfaktors in der Bevölkerung klarmachen, um sich einen Begriff zu bilden von den sich über zwei Jahrhunderte erstreckenden Bemühungen der Stadtväter, die Unruheherde zu isolieren und die Täufer von der übrigen Einwohnerschaft fernzuhalten. Es lässt sich nicht übersehen, dass im großen Komplex religiöser und sozialer Spannungen die täuferische Absonderungspraxis zusätzliche Irritationen hervorgerufen hat.61 Mit der Zeit hat sich das keineswegs gebessert, sondern eher noch verschlimmert. Denn nach wie vor werden Kirche und Staat (Stadt) als ein durch dasselbe geistige Band zusammengehaltenes Gemeinwesen empfunden. Ein von Ott mitgeteiltes Aktenstück vom 10. Februar 1616 zeigt mit aller Deutlichkeit, wo der Schuh drückt: 57

58

59 60 61

Ott, Annales, S. 210. So wurde mit Johann Landis verfahren: Er wurde am 29. September enthauptet (ausführliche Darstellung des Prozessverlaufs S. 218–220). Heinrich Fast: Heinrich Bullinger und die Täufer. Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie im 16. Jahrhundert. Weierhof (Pfalz) 1959. S. 148 ff.: »Kirche und Obrigkeit.« (Schriftenreihe des Mennonitischen Geschichtsvereins, Nr. 7). Vgl. Luthers Vorrede zu »Neue zeitung von Münster«, 1535. Benrath (wie Anm. 47), S. 614. Vgl. Martin Haas: Der Weg der Täufer in die Absonderung. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Umstrittenes Täufertum 1525–1975. Neue Forschungen. Göttingen 1975. S. 50– 78.

316 Weil ein Christliche Obrigkeit auch schuldig ist/ die Einigkeit deß Glaubens so vil müglich/ in guter äusserlicher Ordnung zuerhalten/ vnd billich ein jeder Vnderthan sich in Liebe/ schuldiger Gehorsame Gottes vnd der Obrigkeit/ mit gutem Willen sich solte vnderwerffen: vnd keineswegs sich dergstalt/ wie die Widertäuffer thund/ von vns einer Kirchen vnd Gemein in Vbung des Christlichen Glaubens/ absöndern/ vnd also aller dings kein Gemeinschafft mit vns han woltend/ vnd hiermit schädliche Irrungen anrichtend/ welches nit ein gerings: dann worfür müssend sie doch vns ein gantze Christliche Gmeind/ vnd sie sich selbsten halten.62

Es ist das Ergebnis einer lange anhaltenden Verstörung, die in Zürich nahezu gleichzeitig mit Zwinglis Reformarbeit eingesetzt hatte.

10.6

Grundlegung eines Politikums: Heinrich Bullinger63

Eine der wichtigsten Quellenschriften für die Geschichte des Täufertums und der täuferischen Gemeindebildungen im Züricher Landgebiet ist Heinrich Bullingers Darstellung Der Widertöufferen vrsprung (1561). Das Faktum der Unruhen um den Züricher Reformator Ulrich Zwingli herum macht die historischen Ereignisse als frühe Entfaltung von protestantischen Dissenter-Bewegungen um so interessanter, als sich an Bullingers Buch ablesen lässt, wie eine gutgezielte Diskreditierung soziale Abwehrreflexe hervorzurufen wusste, die dann mindestens für ein Jahrhundert das Bild bestimmten. Bullinger war ein scharfer Beobachter. Er vermittelte nicht nur detaillierte Kenntnisse über die im Entstehen begriffenen täuferischen Lehrmeinungen, sondern lenkte bereits den Blick auf charakteristische Besonderheiten. Es wird etwa die »wunderbare spaltung in vielerley Secten« erwähnt und die Weigerung Waffen zu tragen: »Christen weerind sich nit/ darumb kriegind sy nit.« Auch wird die Absonderung thematisiert, die für die Täuferbewegung so weitreichende Folgen hatte. Es sei, hätten sie zu Zwingli gesagt, »yetzund […] an dem/ daß man sich absündere von anderen in diser statt/ vnd samle ein reine Kirch vnd gmeind der rechten kindern Gottes/ die den geist Gottes habind/ vnd von jm regiert oder gefürt werdind: mit vil andern ernsthaffteren worten mer.«64 Die Faszination, die Bullingers Buch noch auf den modernen Leser ausübt, ist im zielsicheren Griff begründet, der die skandalöse Tabu-Verletzung der Täufer zum Bewusstsein des auf »law and order« getrimmten Stadtbürgertums zu bringen verstand. Der gelehrte Theologe (1504–1575), nach Zwinglis Tod 1531 dessen Nachfolger in Zürich und Verfasser der Confessio Helvetica (1536), kennt natürlich die rhetorischen Kniffe und 62 63

64

Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 236. Vgl. Fritz Büsser: Heinrich Bullinger. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen. Bd. 1 (2004) und 2 (2005). Der Widertöufferen vrsprung / fürgang/ Secten/ wäsen/ fürnemen vnd gemeine jrer leer Artickel. Zürich 1561. (Ex. Universiteitsbibliotheek Amsterdam: O 67–48). Die Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

317 weiß sie treffsicher einzusetzen. So führt er an exponierter Stelle die dramatischen Ereignisse in Münster ins Feld, um die Obrigkeit als Hüterin höherer Werte zu titulieren. Denn es sei doch vor diesem aktuell-historischen Hintergrund sonnenklar, dass die Obrigkeit, welche bei vergänglichen Gütern eine Schutzpflicht habe, um so eher in Aktion treten müsse, wo es geht um »die höheren vnd mererer güter/ als da sind religion/ fryheit/ das läben/ eer/ ja statt vnd land/ vnd alles was der mensch ist vnd hat.« (S. 165v) Das ist der Kern der Sache und der fortwährende Stachel: Weshalb hat die Obrigkeit die Täufer nicht gewähren lassen? Auch sie – immerhin Christgläubige wie die Zwinglianer –haben doch die Obrigkeit (sogar auch eine ›schlechte‹) als Ordnung Gottes stets anerkannt. Auch über deren Aufsichtsamt gab es keine abweichende Meinung, – sie soll »die Bösen strafen und die Frommen schützen und bedecken.«65 Bullinger stellte sich auf den Standpunkt, dass aus dem allgemeinen Fürsorgeamt der Obrigkeit die Pflicht erwachse, das ›Gute‹ vor dem ›Bösen‹ zu schützen. Das gelte auch in Glaubensdingen. Denn ließe man Irrlehren, durch welche die Gläubigen ›verführt‹ werden könnten, ungestraft, so würde ein gleichsam gesetzloser Zustand einreißen. Man geht kaum fehl in der Vermutung, dass der Ruf nach obrigkeitlicher Gewalt ein Vorwand war, um kirchliche Ruhestörer draußen zu halten. Sollte es wirklich so sein, dass das Vorgehen der Täufergruppen (eigenmächtige Bestallung von Pfarrern, Verweigerung des Zehnten, Zerschlagen der Bilder) eine »Tradition des direkten Handelns begründet« hätte, die dann mit der nichtautorisierten Reform der Sakramente eine nicht mehr zu duldende Herausforderung der Obrigkeit bedeutete?66 Handelt es sich um eine anders akzentuierte Beantwortung der Frage, ob es nicht allein »dem Obristen richter« zustehe, »das vnkrut von dem guten somen zu sünderen«,67 oder liegt hier ein fundamentaler Unterschied vor, der Reformierte und Täufer absolut und tiefgehend trennt? Während nach Ansicht der Täufer nur Fragen der Aufrechterhaltung öffentlicher Ruhe und Ordnung zum obrigkeitlichen Aufgabenbereich gehören und die Obrigkeit sich in Glaubensfragen nicht einmischen soll – »Die weltlich oberkeit hat nit über den glauben zu richten, dann das geistlich schwert kere der weltlichen oberkeit nit zu«68 – beharrt der Zürcher Kirchenvorstand bei obrigkeitlicher 65

66

67 68

Zit. Nach Joachim Hillerbrand: Die politische Ethik des oberdeutschen Täufertums. Eine Untersuchung zur Religions- und Geistesgeschichte des Reformationszeitalters. Leiden 1962, S. 14. (Weitere ähnliche Zeugnisse Anm. 40). So James M. Stayer: Die Anfänge des schweizerischen Täufertums. In: Goertz, Hg. (wie Anm. 61), S. 19–49, hier spez. 39. Bullinger (wie Anm. 64), S. 166v. Zeugnis aus dem Jahr 1533, zit. Hillerbrand (wie Anm. 65), S. 17 Anm. 52. Zur Ausübung des obrigkeitlichen Amtes: S. 30–46.

318 Hilfe, wenn auf dem heimatlichen Boden falsche Lehrer, Verführer und Gotteslästerer erscheinen. Bullinger argumentierte natürlich nicht akademisch, sondern unmittelbar gegen die Täufer. Diese würden nämlich daran festhalten, »daß man niemant sölle oder möge von der religion wägen straaffen oder töden.«69 Hier ist der Verfasser in seinem Element: Dargägen wir yetzund […] sagend/ daß man ja nieman weder straffen noch töden sölle von deß rächten gloubens wägen/ aber falschen vnd vngerächten glouben sol man weeren vnd den nit fürgon lassen/ wo man kan: vnd gottslesterer vnd schädliche verfürer im glouben/ sol man straaffen vnd mag man töden/ ye nach dem die fäl sich zutragend. (S. 165v.)

Den Zeitgenossen, die hinter solch unmißverständlichem Urteil standen und Zwingli bzw. Bullinger unterstützten, war es vermutlich nicht völlig verborgen, dass man bei den Lehrmeinungen der Täufer allenfalls von Irrlehren, aber doch nicht eigentlich von Gotteslästerung sprechen konnte.70 Der Begriff der Gotteslästerung, sofern er die Verletzung religiöser Gefühle meint, ist nicht scharf umrissen und lässt Auffassungen Raum, die nur innerhalb einer sozialen Gruppe Evidenz besitzen. Das ist auch in diesem Fall vorauszusetzen, wo doch ein schweres politisches Mittel zum Einsatz gebracht wurde. Offensichtlich war die Dominanz der jungen protestantischen Kirchengemeinden in Zürich entscheidend und mächtig genug, um ›Abweichler‹ kaltzustellen, und fiel es den Verteidigern der obrigkeitlichen Gewalt nicht schwer, die kirchlichen Ruhestörer als soziale Gruppe zu isolieren. Bullingers Argumentation lässt durchblicken, dass er deshalb den Topos ›Verunsicherung der Gläubigen‹ um soziale Elemente erweitern musste, um das Einschreiten der Obrigkeit als notwendige Maßnahme nach außen hin genügend abzusichern. Hier liegt ein zusätzlicher kulturhistorischer Reiz solch historischer Texte. Zweimal setzt Bullinger zum Nachweis einer gefährlichen Störung des Friedens und der öffentlichen Ordnung an. Man muss nur den Gang der Argumentation in ihrem inneren Zusammenhang nachvollziehen, um auf die Gelenkstelle aufmerksam zu werden: In summa/ die Oberkeit laßt den jren das Euangelium predigen/ gloubend die vnderthonen dem/ so dienet es jnen zum heyl: gloubt man jm nit allein nit/ sondern man widerleit sich jm/ vnd wil erst wider das Euangelium ein widerwärtige leer/ mit gewalt oder mit listen ynfüren/ vnd also trennung in der gmeind anrichten/ damit sich dann die rädlifürer ouch an der Oberkeit vnd jrer göttlichen ordnung vergryffend/ so thut die Oberkeit rächt wenn sy die vnrüwigen vngehorsammen/ gehorsam macht/ vnd nach gepür strafft. Das heißt dann ouch nit eigentlich zwingen zum glouben/ sonder

69 70

Bullinger (wie Anm. 64), S. 165v. Interessanterweise ist das Zesens einziges Argument, wenn er dem »Gewissenszwange« weicht: Gewissenszwang (wie Anm. 33), S. 17.

319 vnrüwige lüt vnd vngehorsamen widerbäfftzer rüwig vnd gehorsam machen: damit man einigkeit/ frid vnd ruw behalte. (S. 165)

Das Gemeinte tritt solcherart klar an den Tag. Die Maßnahmen werden fast völlig ihrer theologischen Importanz entkleidet, die abweichende Lehrmeinung erscheint kriminalisiert und wird in den Bereich der »Policey-Ordnung« überführt. Demnach ist die Konsequenz – sofern man der rhetorischen Argumentation folgt – mit unabweislicher Strenge zu ziehen: Es gehe nicht um Maßnahmen zum »gloubenszwang«, sondern um solche zur Bestrafung der »rädlifürer.« Mithin hat die weltliche Gewalt nicht nur das Recht, sondern vielmehr die Pflicht, die Rädelsführer zu bestrafen. Die Stichwörter, die den auf soziale Ruhe als die erste ›Bürgerpflicht‹ fixierten Leser überzeugen sollen, sind nicht zu überhören: Uneinigkeit (»trennung in der gmeind«), Unruhe und Störung der »göttlichen ordnung« werden bekämpft und Einigkeit, Frieden und Ruhe wieder eingesetzt. In wirksame rhetorische Phalanx gebracht, runden diese letzteren den Passus ab. Wegen der Zerstörung »der einigkeit vnnd guter sitten/ vnd zerrüttung guter regimenten/ grosse vnruw vnd verwirrung aller dingen« (S. 171v) sei die Obrigkeit berechtigt, die Täufer zu strafen »an eeren/ gut/ leyb vnnd läben/ ye nach gstalt der sachen« (S. 171). Inwiefern die Täufer die »göttliche ordnung« gestört und die Zürcher »Oberkeit« herausgefordert haben, ist schwer zu bestimmen. Jedenfalls ist die Ansicht Abraham Friesens (im Anschluss an Forschungen Heinold Fasts) in diesem Zusammenhang bedenkenswert, dass die Diffamierung der Täufer als soziale Unruhestifter und Revolutionäre allein auf Heinrich Bullinger zurückzuführen sei. Denn Bullinger formulierte »the classic version of this ›revolutionary‹ sixteenthcentury interpretation of Anabaptism«, die nur ständig wiederholt zu werden brauchte, um immer wieder eine »affirmation of the Bullinger version« zu ergeben.71 Wie zu erwarten, suchte Bullinger überall nach Beweisgründen für die angeblich politische Unbotmäßigkeit der Schweizer Täufer – »Sy sind gmeinlich widerwertig der Oberkeit/ deren sy dann/ wo sy statt vnd fug habend/ thaatlich widersträbend […]. Welche der Oberkeit widersträbend/ widersträbend Gottes ordnung/ vnd werden jnen selbs das gericht empfahen.« (S. 166r). Was von den Anschuldigungen bleibt, ist wenig mehr, als dass sie »in der kirchen vnruw/ spaltung/ vnd grossen zwytracht machend.«72 Alles in allem steht außer Zweifel, dass Bullingers Wiedertäufer-Buch von der einzigen Tendenz beherrscht wird, die Zwinglianer vom Verdacht sektiererischer Neigungen zu befreien. Berücksichtigung der Umstände und der Funktion bewahren vor einer Lektürerezeption, die uns, je nach Stand71

Abraham Friesen: Social Revolution or Religious Reform. In: Goertz (wie Anm. 61), S. 223–243, Zit. 227.

320 punkt, ganz für die Täufer oder völlig gegen sie einnimmt. Es wurde nachgewiesen, dass Bullinger sein Buch an eine ganze Reihe weltlicher Herrscher geschickt hat (von denen Herzog Christoph von Württemberg, Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz, Landgraf Philipp von Hessen, König Maximilian II. von Böhmen und Elisabeth von England nur die prominentesten sind), und zwar aus dem Wunsch heraus, sie möchten mit ihrer Autorität dem verleumderischen Gerede ein Ende machen.73 Das Gewicht und das Ansehen Bullingers haben bewirkt, dass in der Schweiz die Dinge über lange Zeit nicht anders angesehen wurden, denn als sie von ihm beschrieben worden waren.

10.7

Niederländische Intervention

Es war alles andere als ein Zufall, dass Niederländer für die Schweizer Täufer in die Bresche sprangen. Hatte sich doch die Täuferbewegung in diesen beiden Ländern behaupten können, während sie in Deutschland, verbunden mit fanatischem Schwärmertum, untergegangen war. So grundverschieden die Täufer in der Schweiz und die Mennoniten in den Niederlanden auch waren, hatten niederländische Täufer im 17. Jahrhundert aufgrund starker Verwandtschaftsgefühle sich doch für die rechtlosen Brüder und Schwestern in Bern und Zürich eingesetzt. Die Verschärfung der Lage in der Schweiz, die etwa seit der Synode von Aarau von 1585 zu verzeichnen ist und durch eine deutliche täuferische Vermehrung um 1600 noch einmal mehr zur Beunruhigung Anlass gab,74 rief niederländische Glaubensgenossen auf den Plan. Die Verbindung mit dem bürgerlich-republikanischen Holland war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts rege, viele Zürcher Studenten hatten ein Stipendium für eine niederländische Universität. Auch Antistes Johann Jakob Breitinger (1575–1645), der für Zürich von großer Bedeutung gewesen ist und auf der Dordrechter Synode von 1618/19 die Zürcher Kirche vertreten hatte, war auf diese Weise mit den dortigen Verhältnissen vertraut.75 So war man in den Städten der Republik sehr gut über die Lage der Täufer in der Schweiz informiert, und so wurde natürlich auch die Güterkonfiszierung bekannt, die aufgrund der Zürcher Ratsverfügung vom 22. Oktober 1614 durchgeführt worden war. 72 73 74

75

Bullinger (wie Anm. 64), S. 166v. Vgl. Heinrich Fast (wie Anm. 58), S. 64 ff. Cornelius Bergmann: Die Täuferbewegung im Kanton Zürich bis 1660. Leipzig 1916, S. 52 ff., 68 ff. (Quellen und Abhandlungen zur schweizerischen Reformationsgeschichte, V). J. C. Mörikofer: J. J. Breitinger und Zürich. Ein Kulturbild aus der Zeit des 30jährigen Krieges. Leipzig 1874.

321 Die Zeit der Unterdrückung der Täufer von 1635 bis 1645 war bitter.76 Seit 1641 lassen sich holländische Verbindungen zu der Schweiz nachweisen, die den Zweck hatten, die Gefangenen zu unterstützen.77 Die Aufregung in niederländischen Täuferkreisen war groß. In Johann Heinrich Otts Annalen beispielsweise wird zum Jahr 1643 ausführlich aus einer Schrift contra Petrus Bontemps zitiert: Man beobachte nur die grosse Tyranney der Reformierten über vnsere Glaubens=Gnossen im Schweitzerland. Dann wiewol man gehofft/ daß die von Zürich jhren Blutdurst soltend/ gelöscht haben/ so thund sie laut deß Innhalts jhres Mandats/ so sie an. 1530. wider die Widertäuffer gestellt/ danahen sie Landis an.1614. mit dem Schwert gericht/ vnd hörend noch nit auff zuverfolgen/ mit dem Schwert zurichten/ Gelt abzunemmen/ zufahen/ vnd dergleichen. Von dem ellenden Zustand daselbsten wollend wir auß etlichen vnderschidlichen Schreiben nur ein Außzug nemmen.78

Ursprünglich auf niederländisch (»lingua Belgica«), bewahrt die Übersetzung ihren appellativen Charakter, – nur war es dann zu spät. Breitinger hat sich zwar für eine Pazifizierung eingesetzt, musste aber negative Erfahrungen machen. Die Zugeständnisse vonseiten der Obrigkeit wurden von den Täufern zurückgewiesen, die Irritationen über solche ›Hartnäckigkeit‹ wuchsen. Selbstverständlich hat die europäische Kriegslage eine weitere Trübung der Probleme bewirkt. Die Verweigerung des Waffendienstes wurde den Täufern zum Vorwurf gemacht und blieb nach wie vor ein Stachel im Fleisch der Eidgenossen. Die prinzipiellen Fragen waren immer mehr in den Hintergrund geraten, die kirchlichen Instanzen, die den Kampf mit den Täufern begonnen hatten, überließen ihn ganz der weltlichen Obrigkeit und zogen sich schließlich völlig zurück.79 Das ist die Sachlage, die im Lauf weniger Jahrzehnte zum Anlass einer »holländischen Interzession« genommen werden sollte.80 Sie konnte nur erfolglos sein, weil sie lediglich die öffentliche Meinung erreichen konnte, die aber vom Verbund zwischen Stadt und Kirche beherrscht wurde. Die erhaltenen Akten in Zürcher Archiven, die Bergmann für seine historische Darstellung herangezogen hat, zeugen vor allem von der Ergebnislosigkeit aller Bemühungen. Die von Ott mitgeteilten Archivalien, die bedeutende Ergänzungen bringen, ergeben ein gleiches Bild.

76 77 78

79 80

Bergmann, S. 103–135. Bergmann, S. 132 f. Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 295–300, Zit. 295. Die gegen Bontemps gerichtete Schrift trägt den Titel: »Spongie tot afwasschinge van de vuyle vlecken, die Petrus Bontemps de Mennisten […] heeft aenghewreven«. Den Anlass bildete Petrus Bontemps: Kort bewijs van de menighvuldighe doolingen der Wederdoopers, ofte Mennisten, Haarlem 1641. Bergmann, S. 135. Bergmann gibt im VII. Kapitel (»Die holländische Interzession«) eine aus den Quellen erarbeitete Schilderung.

322 Auf niederländischer Seite ist ein bemerkenswerter Elan festzustellen. In Täuferkreisen machte man sich mit großem Einsatz auf, die glaubensverwandten Schweizer Gruppen zu unterstützen. Haben doch die Vorgänge jener Jahre in der Schweiz in breiten Kreisen der niederländischen Republik Aufsehen und Unwillen erregt. Das bildet den unmittelbaren Hintergrund von Zesens Schriften, denen eine wichtige Rolle in einer nochmaligen gezielten Aktion zugedacht war. Den Auftakt stellen Korrespondenzen aus Amsterdam nach Zürich dar, mit ausführlicher Antwort und weiteren Schriftstücken zur Erläuterung der Dinge. Die Briefkontakte wurden, soweit sich feststellen lässt, zuerst 1641 vom Amsterdamer Kaufmann Isaak Hattavier aufgenommen. Hattavier übermittelte auch Geld für die Gefangenen (»100 imperiales cum literis ad captivos nostros Anabaptistas«).81 In den Antwortbriefen, die Ott überliefert, geht es immer wieder darum, der »Verleumdung«, »so von den Widertäuffern in Niderlanden/ wider vnsere Kirchen/ auch Geist= vnd Weltlichen Stand« verbreitet werde, entgegenzutreten. Hattavier bekommt die Antwort, dass man sich in Holland eine völlig falsche Vorstellung mache. Mit den Täufern in den Niederlanden habe es »weit ein andere Beschaffenheit«, denn die verhafteten Täufer seien »böse/ vnrüwige Auffwigler vnd Vbertretter«, ferner »Zerstörer der Gmeinen Ruw.«82 Der Briefwechsel zwischen Hattavier und Ott war in den Jahren 1656 bis 1658 sehr rege. Es handelt sich bei Nachfrage und Information zumeist um praktische Dinge, die den Gefangenen das Leben erleichtern sollten. Die mit Johann Heinrich Otts Annales Anabaptistici (1672) ausführlich dokumentierten Querelen vermitteln ein fesselndes Bild der Vorgänge in Zürich (und Bern) und der Reaktionen in Holland. Der Zürcher Ott (1617–1682) spielte in der Buchaktion, die mit Zesens Mitwirkung Mitte der 60er Jahre vonstatten ging, die Hauptrolle. Er konnte mit seinem Gewicht den nötigen Druck ausüben und sollte auch vermitteln. Als loyaler Bürger und angesehener Gelehrter (Theologe, Linguist, Orientalist) war er der geeignete Mann. Seit 1651 war er als Professor am Zürcher Carolinum tätig. Er kannte und schätzte sprachtheoretische Schriften Zesens und hatte schon vor Jahren brieflich mit ihm Verbindung gesucht.83 Für die Zusammenhänge mit Zesens Toleranzschriften ist der Briefwechsel zwischen Ott und dem mennonitischen Kaufmann Hans Vlamingh 81 82 83

Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 302 (zum Jahr 1645). Ott, Annales, S. 327. Für Einzelheiten sei auf den Aufsatz von Leonard Forster verwiesen: Dichterbriefe aus dem Barock. In: Euphorion 47 (1953), S. 390–411. Forster, der als erster auf die hier dargestellten Dinge hingewiesen und einige Briefe aus dem handschriftlichen Briefband in Horsham (Sussex) veröffentlicht hat, gibt möglichst detaillierte biographische Angaben. Im vorliegenden Kapitel habe ich seine Ergebnisse dankbar verwertet und u. a. aufgrund von Otts Annalen ergänzt.

323 höchst aufschlussreich.84 Man erfährt daraus auch, wie die Beziehungen geknüpft wurden. In Vlaminghs Haus in Amsterdam wurde der nachmalige Zürcher Professor der Ethik Johann Heinrich Heidegger (1633–1698) empfangen, bei dieser Gelegenheit wurde er mit Zesen bekannt. Die Bekanntschaft mit dem Theologen ergänzte das herzliche Verhältnis zu Ott, das auch durch den Interventionsversuch zugunsten der Schweizer Täufer nicht getrübt wurde: Ott wurde von Zesen in die Liljenzunft seiner Deutschgesinneten Genossenschaft aufgenommen und bekleidete dort eine Ehrenstelle.85 Die Verbindungen Vlamingh – Zesen – Ott waren also vielfältig. Wahrscheinlich hatte Vlamingh Grund zur Annahme, dass ein offizielles Einschreiten mittels eines niederländischen Abgesandten die Dinge in der Schweiz bewegen könnte. Adolf de Vreede traf im Frühsommer 1660 ein. Er vertrat die Städte Amsterdam und Rotterdam, hatte Briefe von der wallonischen Kirche und der Elsässer Ritterschaft, vor allem jedoch von den Generalstaaten mit. Sein erstes Ziel war die Bewilligung der Ausreise für gefangene Täuferfamilien. In Bern hatte man 1659 eine erneuerte Verordnung der Stadt gegen die Täufer erlassen. Dennoch scheint De Vreede hier mit Erfolg verhandelt zu haben. Er wusste die Freigabe von zwölf Täufern zu bewirken, die Rückgabe ihrer Güter und die Erlaubnis zur Auswanderung. In Zürich standen die Sterne ungünstiger und war man zurückhaltender. Der Rat setzte eine Kommission ein, welche die Verhandlungen mit den Täufern überwachen sollte, man überprüfte auch noch einmal die Verwaltung der Täufergüter. Der »Amicus Tigurinus« (d. h. Ott) antwortete seinem Freund Vlamingh nach Amsterdam (25. August 1660), Herr De Vreede habe tatsächlich für die gefangenen Täufer plädiert, »ja dergestalten hat er sich eingelegt/ daß er von etlichen Herren nit für wärth/ sonder für ein Mennonit ist geachtet worden.« Dann sei natürlich nichts mehr zu erreichen gewesen. Ott habe das schon kommen sehen: »Vnd hat sich mein Herr zuerinnern/ daß/ als er mir erstlich von diesem Täuffer Gut geschrieben/ ich jhme kein Hoffnung gemachet/ vil minder jhme gerahten/ daß der Herr in Person herkomme.« Kurz und gut: »Wäre also Gedult/ Sanfftmuth/ Langmuth/ Demuth/ vil ersprießlicher gewesen.« Außerdem hätten die Ratsherren auch nicht verkehrt gehandelt. Ott verteidigt selbstbewusst seine Stadt: »In allem finden[!] ich/ daß kaum einig ding hiesige Obrigkeit mehr 84

85

Vlamingh war ein prominenter Vertreter der Amsterdamer Täufergemeinde. Auf der Konföderationsversammlung der deutschen, friesischen und flämischen Gemeinden am 19. Mai 1639 in Utrecht begleitete er laut Protokollbuch den Ältesten: »Tieleman Tielen, outsten der gemeynte tot Amsteldam met syn gezelschap Hans Vlamingh.« (H. B. Berghuys: Geschiedenis der doopsgezinde Gemeente te Utrecht, 1925, S. 29). Zesens diesbezüglicher Brief ( dat. vom 5. 7. 1670) ist abgedruckt b. Forster, S. 401. Im Namenverzeichnis der Rosen- und Liljen-Zunft wird er mit der Vorsitzerstelle des dritten Zunftsitzes betraut: SW XII, S. 328.

324 vnd häfftiger verbittere/ als wann die jenige/ so Gelübd gethan das Land zumeiden/ jhr Gelübd brechen/ heimblich hienein kommen/ andere auffwiglen/ mit sich hinweg führen/ etc. Deren dann ein namhaffte Anzahl.«86 Der Rat der Stadt Zürich hat ein umfangreiches Schreiben an die »Hochmögenden Herren Staaden« und (in gleicher Form) an die Städte Amsterdam und Rotterdam sowie an die »Ritterschaft im Elsaß« gerichtet.87 Was der Rat an die »Hochmögenden Herren« nach Holland schreibt, ist deutlich, aber kaum geeignet, in der toleranten Republik ›Missverständnisse‹ auszuräumen. Man sei in Holland falsch informiert, weil man die dortigen Täufer zum Maßstab nehme. Die »Irrthumben« habe man in Zürich schon toleriert und durch »gehaltene gar vil Gespräch vnd Besuchungen« auf Besserung gehofft. Aber es hätte »alles mit einandern nützit geholffen.«88 Die Täufer, sobald sie wieder frei sind, würden nur auf Mittel und Wege sinnen, ihr Unwesen wieder aufzunehmen. Da sie nun »durch heimbliche Predigen in Höltzern vnd Wäldern/ deßgleichen Nächtlichen Zusammenkunfften in den Häusern/ jhre verderblichen Irrthumen außzusprengen/ vnd vnser übrigen angehörigen/ von Mann vnd Weib/ von jhrer Einfallt/ Trew vnd Gehorsame/ auch allem gutem abzuführen« [trachten], sei dem Stadtrat keine andere Wahl geblieben: So hat vns billichen sollen vnd wollen obgelegen seyn/ eintweders gegen solchen hochschädlichen Leuthen/ mit mehrerm vnd hocherforderlichem Ernst zuverfahren/ oder aber allerhand Zerrüttungen/ vnd den Vndergang vnser wahren Reformirten Kirchen/ vnd deß Regiments gar zuerwarten.89

Ebenfalls würden die Täufer sich gegen die weltliche Obrigkeit richten, denn sie hätten »gesucht vnsern Obrigkeitlichen Regiment-stand selbsten in Verachtung vnd Abgang zubringen.«90 Hier begegnen natürlich die üblichen Argumente wieder (Wehrdienstverweigerung, Anstiftung zum Aufruhr), die den Rat gleichsam zu einem energischen Vorgehen nötigen. Denn es handle sich doch recht eigentlich um einen Akt der Selbstverteidigung: […] auch das tragen der Waffen zu Schirm deß Vatterlands/ durch jhre Lehr auffgehebt/ vnd hierdurch vil übels angerichtet/ inmassen wir dann diesere Frücht auß vnderschidlichen Rebellionen vnd Eidlosen Auffstähnden/ mit grossem Schaden/ vnd vielmehr als vns lieb erfahren: Also haben wir nit fürbey gehen können/ zu Schirm vnd Rettung vnser selbsten/ vnd Auffrecht-behaltung vnsers Stands vnd Lands/ gegen disen vnsern widerwärtigen vnd eigensinnigen Menschen/ wie ernannte vnsere Widertäuffer sind/ in den ein vnd andern weg/ nach vnsern Obrigkeitlichen Pflichten/ vnd 86 87

88 89 90

Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 350. Ott, Annales, S. 351–354. Ott verweist auch auf die Briefe der Stadt Rotterdam (1660), die De Vreede in der Schweiz übergeben habe (vgl. SW XIII, S. 283 ff.). Ott, Annales, S. 352. Ott, Annales S. 352. Ott, Annales S. 353.

325 dergestalten zuverfahren/ daß wir derselbigen abkommen/ vnd vnsere Kirchen vnd Stand/ von jhrer Verderbnuß vnd Schädligkeit/ so vil immer müglich/ rein vnd sicher verbleiben möge.91

Es ist sonnenklar, dass bei solcher Sachlage kein Verhandlungsspielraum für den niederländischen Abgesandten verbleiben konnte. Ein wichtiger Punkt war schließlich noch zu besprechen: die Konfiszierung des Besitzes. Denn der Einsatz der ›Interzession‹ war ja, für die Täuferfamilien in der Schweiz »die Abfolge jhres Haab vnd Guts«92 zu erreichen. In seinem langen Schreiben geht der Zürcher Rat deshalb auf das eingezogene »Täufergut« ein. Auch hier müsse man sich, Ott zufolge, in Zürich keinerlei Vorwürfe machen, im Gegenteil. Obwohl die Täufer nämlich »der würcklichen confiscation« gar wohl »meritierend«, habe der Rat »auß sonderbarer Miltigkeit vnd Gnaden/ biß dato« nicht so weit gehen wollen. Er übe nur den Brauch, »somlich Haab vnd Gut vntz anharo in sorgfeltiger Verwaltung zuhalten«, lasse das Verwaltete jedoch den Täufern durchaus zugute kommen, »theils jhren hindergeblibnen gehorsamen Weib vnd Kindern/ theils auch denen/ so auß rewen etwan selbsten widrumb heumwerts zu vns gekommen«. Von Bereicherung zu Lasten jener »widerwärtigen vnd eigensinnigen« Leute könne daher keine Rede sein.93 Auf diese Weise glaubte der Rat sich genügend deutlich erklärt zu haben. In ähnlicher Form habe man bereits Herrn de Vreede »von Mund« informiert, das Schreiben möge die Dinge noch einmal auf den Punkt bringen und die Ablehnung des Gesuchs begründen. Der lange Schlusspassus mit seinen gewundenen Sätzen ist die forcierte Pointe dieser offiziellen Antwort: Aus deme nun allem/ was hiebevor substantlicher angedeutet/ sind wir der ohnzweifffenlichen vnd guten Zuversicht/ E. Hochmögh. Werden nach dero hoher Vorsichtigkeit befinden alle gnugsame vnd völlige satisfaction über vnser verfahren/ so wir gegen vnsern Widertäuffern gebraucht/ vnd daß alles/ was beschehen/ vns zu Schirm vnd Rettung vnser Kirchen vnd Stands/ mehr als zuvil abgetrungen worden/ vnd deßnaher vns nit verdencken/ daß von wegen der jenigen so etwan von disen Widertäuffern nacher/ an Weib vnd Kinden/ sich in vnsern Landen annoch würcklichen vnd gehorsamlichen befinden/ vnd wir noch mehr der jhrigen/ in den ein vnd andern weg zuerwarten/ E. Hochmögh. Wir nit willfahrlich entsprechend/ vnd disern vnsern Widertäuffern Haab vnd Gut/ dessen meistentheils nit gar vil ist/ abfolgen lassen mögen.94

Die Niederländer ließen die Sache aber nicht ruhen, und auch in Zürich wurde die Täuferangelegenheit vielen lästig. Inzwischen hatten Ott und Vlamingh ihren regen Briefwechsel forgesetzt, es beteiligte sich nun auch der orthodoxe Professor an der Groninger Universität, Samuel Maresius.95 91 92 93 94 95

Ott, Annales S. 353. Ott, Annales S. 351. Ott, Annales S. 353. Ott, Annales S. 354. »… von Mund«: S. 352. Vgl. Ott, Annales, S. 355 zum Jahr 1663: »Interea quoque inde ab anno 1661. diversae intercessoriae partim à D. Vlamingho, partim à Celeb. D. Maresio, Theologiae in

326 So lassen sich nach dem Misserfolg von 1660 wiederholte briefliche Bitten und Ermahnungen aus den Jahren 1661 bis 1664 belegen, die in der Hauptsache auf Vlaminghs Initiative zurückgehen.96 Vielleicht hat die HollandReise, die Otts früherer Studienkamerad in Groningen, Johann Heinrich Hottinger (1620–1667) in einer politischen Mission der Stadt Zürich 1664 antrat, Erwartungen geweckt. Er wurde auch zu Hans Vlamingh eingeladen; aus Quellenmaterialien weiß man, dass Hottinger, der doch der Täufersache ausweichen sollte, nolens volens auf sie gestoßen wurde, da »alle Kreise von dem Interesse an den Schweizer Verhältnissen erfüllt waren.«97 Die Dinge lagen in Zürich schwierig. Der Rat sah auch nach einer neuerlichen Überprüfung der Tatsachen, die auf Drängen der Zürcher Pfarrer 1663/64 stattfand, keine Veranlassung zum Aufgeben seines nun schon traditionellen Standpunkts. Die oben im Wortlaut zitierten Briefe und Schriftstücke, die alle die Tradition von Bullingers gelehrter Kampfschrift fortsetzen, führen eine Schweizer Spezialität vor, die nach mehr als hundert Jahren auch nach Meinung mancher Schweizer allmählich überholt war. Die Originalformulierungen erlauben auch nach Jahrhunderten eine atmosphärische Kontaktnahme, die erst den wahren Eindruck von Brisanz und Aktualität von Zesens Toleranzschriften vermittelt. Aus der persönlichen Initiative weniger Mennoniten hervorgegangen, war die »holländische Interzession« längst keine Privatsache mehr. In der Republik war eine breite Öffentlichkeit interessiert, das Eintreten der Generalstaaten und zweier Städte hatte eine bemerkenswerte Mobilisierung der weltlichen Obrigkeit gezeigt, und zwar in dem verwandt-reformierten Land. Zesen konnte seine Appelle mit beträchtlicher Rückendeckung losschicken, um so mehr als den Zürchern und Bernern, die in Holland studiert hatten und noch Beziehungen dorthin unterhielten, die Sache peinlich zu werden begann. Das wenigstens ist aus Otts Annalen zu entnehmen, aber eben auch die Unerschütterlichkeit der Zürcher Oberen. Man wollte bzw. konnte hier nicht aus den gewohnten Geleisen ausbrechen, und so waren alle Versuche bis in die 60er Jahre des 17. Jahrhunderts festgefahren. Der unermüdliche Einsatz niederländischer Mennoniten, Hans Vlamingh allen voran, sollte nun 1665 mit einem publizistischen Aufgebot ersten Ranges seinen Höhepunkt erreichen. Auf Ott ruhte dabei die ganze Verantwortung, von der man sich in Holland vielleicht kein richtiges Bild gemacht hatte.

96 97

Academia Groningana Professore, ad aliud Civem Tigurinum datae.« Einschlägig von Maresius: Theologus pacificus, sive dissertatio de syncretismo et reconciliatione partium in religione dissidentium. Groningen 1651. Bergmann (wie Anm. 74), S. 154 ff. Bergmann, S. 157. Hier auch Angaben zum Quellenmaterial.

327

10.8

Schlussphase der Offensive: Zesens Beitrag

Hans Vlamingh, ab 1663 als Diakon einer täuferischen Gemeinde in Amsterdam bekannt, ist also der Mann hinter Zesens Toleranzschriften. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er für die Druckkosten aufgekommen und hat auch sonst die Publikation finanziert. Zesen nennt ihn in seinem Brief vom 22. Februar 1666 an Johann Heinrich Ott als den »Verleger«98, Vlamingh erwähnt selber (an Ott, 20. April 1666) die »Druckkosten«, die er »vorgestreckt« habe. Jedenfalls hat Vlamingh seinen Glaubensbrüdern in der Schweiz unter die Arme greifen wollen. Zesen hatte aber offenbar sein Ziel höher gesteckt, hatte eher Allgemeines und Grundsätzliches im Sinn gehabt und dachte, wie aus dem Brief an Ott vom April hervorgeht, doch in erster Linie an die Repression durch die römisch-katholische Kirche. Der Passus im niederländisch geschriebenen Brief lautet in Übersetzung: Genannter Herr [Philipp von Zesen] hat gemeint, dass es jetzt die rechte Zeit und das rechte Jahrhundert sei, solche Materialien zu veröffentlichen, weil das Papsttum darauf aus ist, nicht nur alle Protestanten in Piemont und hier, sondern auch in ganz Böhmen, Österreich und Ungarn auszurotten. Zu den drei letztgenannten Ländern dient es am besten, weil es hochdeutsch ist, und außerdem wäre es nötig, dass jemand, der die Gewissensfreiheit liebt, es ins Französische übersetzte, damit es den schwer bedrängten Reformierten in Piemont zugute käme. Und auch ich meinte, dass dieses Buch allen Protestanten nützlich wäre, deshalb habe ich nicht zurückstehen wollen, die Druckkosten vorzustrecken, in der Hoffnung, es würde viele römisch-katholische Obrigkeiten zum Nachdenken bringen, dass sie die Protestanten nicht länger so arg bedrängen.

Das bedeutet wohl eine Ausweitung von Vlaminghs ursprünglicher Zielsetzung, die doch vor allem auf die Schweizer Protestanten bezogen war und einem praktischen Ziel dienen sollte. Vlamingh erklärte sich jedoch mit Zesens Plänen einverstanden, konnte sie auch übernehmen und vertreten. Jedenfalls wollte er Ott über den grundsätzlichen Charakter von Zesens Buch informieren. Damit leitet Vlamingh zu seinem eigentlichen Anliegen über. Er teilt Ott mit, dass er ein Paket mit 30 Exemplaren von Zesens Buch erhalten werde und bittet ihn, diese in Zürich wie folgt zu verteilen: 25 an die Ratsherren des Kleinen Rats, je ein weiteres für Ott selber, für den Kirchenvorsteher Antistes Johann Jakob Ulrich, Professor Johann Heinrich Hottinger, Professor Johann Heinrich Heidegger und für den Statthalter Salomon Hirzel-Werdmüller.99 Zuvor hatte Zesen mit einer flankierenden Maßnahme Schützenhilfe geleistet und selber in dieser Sache an Ott geschrieben.100 Der Brief ist aus mehreren Gründen interessant. Zesen bittet ihn um eine kleine »mühwal98

99 100

»Gemeltes Büchlein erkennet vor seinen Verleger den frommen man, Herrn Hans Vlamingen.« Forster, Dichterbriefe, (wie Anm. 83), S. 398 ff. Zu diesen Namen s. Forster, Dichterbriefe, Anm. 25. Brief vom 22. 2. 1666, Forster, Dichterbriefe, S. 398 f.

328 tung« und kommt so auf sein Buch zu sprechen. Ott möge diese »Gabe« (davor mit einigem Pathos als »eine geheiligte gabe« auf die Bühne gebracht) »mit erheischter ehrerbietigkeit der Züricher Höchstansehnlichen Rahtsversammlung ein [zu] reichen, wan, und wie es Derselbe selbsten rahtsam befindet.« Die Sammlung sei aus aktuellem Anlass entstanden. Zesen spricht von »diesen so überaus sorglichen Zeiten« und spezifiziert die Zeitlage, indem er den mennonitischen ›Verleger‹ einführt: Vlamingh, voller Sorgen um seine Mitbrüder in Zürich, verspreche sich von dem Buch Abhilfe. Gemeltes Büchlein erkennet vor seinen Verleger den frommen man, Herrn Hans Vlamingen; der sich in seine guhte gunst befielet, und bittet, dass doch mein Herr bei dieser gelegenheit ein guhtes wort bei hochgemelter Hochachtbahren Rahtsversamlung vor seine Glaubensgenossen, die armen Mennisten, ein zu legen geruhen wolle; damit ihnen ein wenig mehr gewissens- und glaubens-freiheit in Ihrem Staht möchte vergönnet werden. Wan den guhten Man mein Herr dieser bitte gewähret; so versichere ich Ihn, dass er sotahnig nicht allein ihm, und seinen Mitbrüdern, den einfältigen waffenlosen Mennisten, sondern auch Gotte selbsten, unserem Freimacher, einen wohlgefälligen dienst leisten, ja Ihm dadurch selbsten eine staffel zum himmel erbauen werde.

Sodann werden die Maßnahmen in der Schweiz zu denen von Papst und Kaiser in den österreichischen Landen in ominöse Beziehung gesetzt: Zu gewündschter zeit tritt dieses Büchlein, nach meinem wenigen urteile, herfür: nähmlich zu einer solchen zeit, da der Papbst, mit seinem anhange, wider die Gewissens- und Glaubens-freiheit aufs neue und heftigste zu wühten beginnet: da der Röhmische Keiser wie eben itzund dem Herrn Komenius aus Osterreich berichtet wird, einen öffentlichen Befehlbrief ausgehen lassen, mit dem inhalte; dass alle eingesässene in Böhmen und Mähren, weil viele sich vor Römische Kristen ausgeben, und gleichwohl im Hertzen anders gleubeten, solten untersucht werden; welche nun vor guhte Röhmische Kristen befunden würden, dieselben solte man alle mit einander, die gemeinen leute vor der stirne, die fürnehmen aber auf der hand, mit dem zeichen des Kreutzes brandmärken; damit sie von den andern, den Ketzern, von iederman möchten erkant werden.

Die Zeichen der Zeit erscheinen in apokalyptischer Beleuchtung. Erinnert doch das angeblich vom Papst angeordnete Brandmarken an die Worte in Offb 13, wo es vom Tier und dessen Treiben heißt: »… es macht, daß die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte, allesamt sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn« (Vers 16). Die dort anschließend genannte Zahl 666 als die Zahl des Tieres gab den apoklyptischen Spekulationen des 17. Jahrhunderts Antrieb.101 Auch Zesen verschloss sich ihnen nicht:

101

Forster (Dichterbriefe, Anm. 10) verweist auf Francis Potter: An Interpretation of the Number 666. Oxford 1642.

329 Ach wie wahrhaftig wird hierdurch die Heilige Offenbahrung erfüllet! Wie es gewisses zeichen ist dieses, dass die drei 666 den Tiere, samt seinem Profeten, den untergang dreuen! Davon schon vor etlichen 100 jahren viel fromme Hertzen geweissaget.

Zumindest beruht die Nachricht über kaiserliches Einschreiten gegen die Protestanten in den habsburgischen Erblanden bekanntlich auf Wahrheit. Für die Ereignisse in Zürich und Bern, von denen ausschließlich die Täufer betroffen waren, ist man auf die archivalisch überlieferten Spuren angewiesen. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Der Zürcher Stadtrat – über Bern fehlen so detaillierte Informationen – zeigte sich beleidigt und verbot das Buch. Martin Bircher hat die fraglichen Materialien aus dem Staatsarchiv Zürich publiziert und mit Kommentar versehen.102 Soviel lässt sich feststellen: Zesens Toleranzschriften waren zu einem Fall geworden. Von der versuchten sozialen und politischen Wirkung bis hin zur Rezeptionsverhinderung ist das Geschehen nun nahezu lückenlos zu dokumentieren. Das ist ein Glücksfall in der Überlieferungsgeschichte, weil an diesem Werk exemplarisch die Funktionalität von barocker Literatur bis ins letzte Detail aufzuzeigen ist. Wenn ein Autor im 17. Jahrhundert sich herausnimmt, mahnend an eine Obrigkeit heranzutreten, muss er umsichtig vorgehen. In vorliegendem Fall ist Zesen auch so verfahren und hat sich auf allen Seiten abgesichert. Vlamingh hatte an Johann Heinrich Ott geschrieben, Zesen ebenfalls, und so hatte der Zürcher im Ganzen eine Schlüsselstellung. Ott war ein erfahrener Mann, der auf ausgedehnten Studienreisen auch Holland und dortige Gelehrte kennengelernt hatte. Auch soll er dort interessehalber täuferische Gottesdienste besucht haben, so dass er für seine Annales Anabaptistici eigene Erfahrungen außerhalb der engeren Heimat einbringen konnte. Er war Pfarrerssohn und stammte aus angesehenem Zürcher und Schaffhauser Geschlecht. Nach geistlichen Amtsjahren in der Umgebung von Zürich wurde er 1651 Professor der Eloquenz, 1655 für orientalische Sprachen und schließlich 1658 für Kirchengeschichte am Carolinum. Gerade dieses Amt war für die von Zesen und Vlamingh anvisierten Dienste unverfänglich und machte Ott für die Vermittlerrolle besonders geeignet. Ist Zesens Anthologie doch eine historische angelegte Quellensammlung zu einem Thema aus der Kirchengeschichte. Dessen ungeachtet schlug die ganze Dedikation an den Zürcher Rat fehl, und der Autor wurde das Opfer eidgenössischer Pressezensur. Zesen ließ die Büchersendung von einem Widmungsbrief an die Stadtväter begleiten, der im Wortlaut von der bereits gedruckten Widmungsadresse abweicht.103 Die Zeugnisse, so schreibt Zesen, mögen dem Rat »sehr 102

103

Martin Bircher: Zesen und Zürich. In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster. Ed. by D. H. Green, L. P. Johanson, Dieter Wuttke. Baden-Baden 1982. S. 501–509. Abgedruckt bei Bircher, S. 502 f.

330 wohl bekant« sein, er habe dennoch »aus Kristlicher pflichtschuldigkeit« seine Sammlung als »einen kurtzen zusammenzug solcher Urteile« publizieren und sie »als in einem gewissens-spiegel« vorstellen wollen. Mit der letzteren Wendung verliert das Buch also die distanzierte Unverbindlichkeit einer bloß historischen Anthologie. Und das ist durchaus so gemeint, denn der Verfasser redet schon Klartext: »Dan ich suche dadurch anders nichts, als die Ehre Gottes, der Menschen zeitliche und ewige seeligkeit, ja selbsten einen algemeinen Land- und absonderlichen Gewissens-frieden auch in Ihrem Stahtswesen zu befördern.« Damit ja nichts versäumt werde, spickt Zesen endlich die (üblichen) Segenswünsche für eine Hohe Regierung noch mit deutlichen Hinweisen – eine »friedliche« Herrschaft, sowohl »innerlich« wie »äußerlich«: »[…] alß daß […] Ihre beherschung mit einem geruhigen wohlstande geseegnet, und Ihre untertahnen friedlich, so wohl innerlich als euserlich, zusammen zu leben befunden werden.« Wie der Rat entschieden hat, ist einem Zusatz von alter Hand zu entnehmen: »Was daruber erkhant, ist im Manuale zu finden vnder Montags den 13. Augusti 1666.«104 Und das war wenig erfreulich. Man urteilte nämlich, dass die Vorrede Unannehmliches enthalte: »in deßen Vorred an den gemeinen Läser eine verdeckte anklag wider myner gnedigen Herren verfahren gegen den Widertauffern vnderspickt, deßglychen die ablesung gedachten Her von Zesen Schrybens selbs.«- Die Botschaft war also angekommen, sie wurde aber nicht angenommen. Die Angelegenheit sollte von A bis Z negiert werden: Ward guttfunden solches mit stillschwygen zu vbergehen, samb man darvon nichts wußte. Vnd das auch Herr Ott darvber nüt antworte.105

Eine Zensurmaßnahme soll schließlich die ganze Sache zudecken – »So viel exemplaria annoch verhanden verwahrt, vnd denen hiesigen Buchführern vnd Buchbindern ernstlich injungiert, derglychen allhier nit zuverkauffen noch ynzubinden.« Die inkriminierte Vorrede zu diesem ersten, dem Zürcher Stadtrat gewidmeten Teil bringt in der Tat manch harte Nuss für einen, der sich angesprochen fühlte: Laßet ab/ ihr Gewissenszwinger/ ihr Glaubensdringer/ die ihr Gotte die volgewaltige Herschaft über die Seelen der Menschen/ die Er ihm allein vorbehalten/ abdringet: laßet ab von den armen bedrängten Kristen/ euren freigebohrnen Mitbrüdern/ welche die Gnadengabe des Glaubens von Gott noch nicht volkömlich empfangen/ oder nach eurem Menschlichen urteile/ das leichtlich fehlen kan/ noch nicht empfangen zu haben nur scheinen: laßet ab sie zu verdammen/ zu verfolgen/ und aus zu stoßen; laßet ab ihre Güter zu rauben/ oder sie gar zu verbannen/ und ins elend zu verjagen; laßet ab

104 105

Bircher, S. 503. Bircher, S. 504.

331 sie zu befeden/ zu bekriegen/ ja unmenschlicher/ ich wil nicht sagen unkristlicher/ weise zu peinigen/ und selbst auf das allerschmählichste zu tödten.106

Der rhetorisch so wirksame Appell fand weder in Zürich noch in Bern ein Echo. Ott verzeichnet noch 1669, dass »Mercator Ambsterodamensis amico Tigurino« geschrieben habe und auf die Hinrichtung des Johann Landis von 1614 zurückgekommen sei. Ihm wird im Brief vom 14. März 1669 ausführlich geantwortet.107 Das Einerseits-Andererseits verrät eine verständliche Verlegenheit. Es kennt ja der Herr vnser Magistrat wol/ daß sie an der Tyranney vnd Spanischen inquisition kein gefallen tragt/ vnd eben solches an vnsern Widersachern schilt/ auch allen beträngten/ so vil müglich/ zu Hilff vnd Trost kompt. Aber darneben muß auch eine hohe Obrigkeit/ als Vätter vnd Regenten des Landes/ Jhr Ampt verrichten/ das Ansehen erhalten/ vnd wo nöhtig/ das Schwert vnd den Gewalt brauchen. Also ist es hier auch bewandt/ vnd haltend darfür/ sie könnind vmb diese jhre Thaten gute Rechenschafft geben/ sy habind nichts vnbesinnts/ in der gäche/ oder auß Tyranney gethan/ auch nit wegen des Glaubens/ sonder wegen vielfaltiger groben verbrechen.

Dabei ist es dann geblieben. Aus Störenfrieden sind plötzlich Verbrecher geworden, veritable Kriminelle, gegen die eine Obrigkeit zum Schutz ihrer Bürger polizeilich vorgehen muss. Eine lange Tradition wirft ihren Schatten. Noch Zedlers Universal-Lexicon (Halle und Leipzig 1745) führt im Artikel »Toleranz« das bekannte Argument auf, dass unterschiedliche Religionen in einer Nation die Einheit stören, weil es »der Ruhe und dem Frieden des gemeinen Wesens zuwider sei«, um unmittelbar darauf zu kontern: »Aber man weiß auch, daß solches der Vernunfft und Erfahrung zuwider ist.«

10.9

Kirche und weltliches Regiment

Zesens Toleranzschriften erhalten vor dem Hintergrund der holländischen Interzession ihre Tiefenschärfe. Sie hatten eine genau bestimmbare Funktion und eine ebenso klare Wirkungsabsicht: Sie sollten den jahrelangen Bemühungen von niederländischer Seite die Krone aufsetzen, mit Aufklärung und Appell die Ratsherren in der Schweiz rational wie emotial ansprechen. Zugleich – und deshalb war es auch ein allerletzter Rettungsversuch großen Stils – ging der Fall durch die Buchpublikation von 1665 sozusagen in Großaufnahme durch die europäischen Medien. Der Adressatenbezug ist in den beiden Widmungen und den Vorreden gut zu verfolgen. Zesens Argumente bewegen sich auf dem vertrauten Boden der Tradition. Das Band zwischen Staat und Kirche wird keineswegs 106 107

SW XIII, S. 13, 10–22. Ott, Annales (wie Anm. 48), S. 356–359, das Briefzitat S. 357.

332 gelockert, – woher auch? Es wird vielmehr, wie in solchen Adressen an die Obrigkeit üblich, fester geknüpft. Die in der ersten Widmungsschrift hervorgekehrte Bedeutung der Religion entspricht ihrer damaligen sozialhistorischen Funktion. Sie war noch »kein gesellschaftliches ›Subsystem‹«108, sie war noch der Kern göttlicher und menschlicher Ordnung. Das ist auch Zesens ausdrücklicher Standpunkt. War sie doch die Tugend, die Gott zu ehren lehrt und »alle Stände befestiget« (XIII, S. 7). Deshalb sei der Gottesdienst das Fundament des Staates, ja »aller Stahtswesen grundfeste«, durch welche »die gantze Menschliche Geselschaft allein bestehet« (S. 7). Als Garant der weltlichen Ordnung bewirke sie in dieser Weltzeit die »algemeine glükseeligkeit« und in fernerer Zeitperspektive »alles Heil« (S. 6 f.). Die grundlegende Bedeutung der Religion wird sodann um das gesellschaftlich-politische Element der weltlichen Ordo-Struktur ergänzt. Denn das staatliche Ordnungssystem stützt die moralische Ordnung: Am Anfang stehen die »gesetze von Göttlichen dingen«, durch welche »die übrigen von den Weltlichen befestigt würden« (S. 7). Die Treue der Untertanen zum Fürsten, der Gehorsam gegen die Obrigkeit, die Liebe der Kinder zu den Eltern und so die allgemeine Menschenliebe haben hier ihren Ursprung und Bestand (S. 7). Der Gottesdienst erbringt ein geordnetes und gestuftes System staatsbildender und -erhaltender Normen, auf die in der Reformationsepoche wie im Zeitalter der Orthodoxie das politische System rekurriert. Keine Obrigkeit wird sich deshalb eine indifferente Haltung gegenüber den Glaubensgemeinschaften in ihrem Herrschaftsgebiet erlauben. Eine so begründete Funktion des Glaubens stellt im Gegenteil in den sich etablierenden Herrschaftssystemen der Frühen Neuzeit die Sicherung des Kirchenfriedens als Voraussetzung obrigkeitlicher Macht dar. Zesens traditionsorientierte Argumentation zitiert zwar die Autoritäten der Antike (»die Heidnischen Weisemeister«), bedeutet substanziell aber ein unmittelbares Anknüpfen an theologisch-politische Auffassungen seit dem 16. Jahrhundert.109 Obrigkeitliche Gewalt lässt sich in diesem Rahmen als ein Instrument gottgewollter Aufsichts- und Schutzpflicht verstehen. Denn die Obrigkeit ist zur Wahrung der äußeren Ordnung und des öffentlichen Friedens ausersehen, wozu sie unter einer doppelten Perspektive ihre Macht anwenden muss. Die obrigkeitliche Cura Religionis bedeutet den Schutz des Seelenheils der Untertanen; das Territorialprinzip, das diese religiöse Fürsorge unterstützt, verbietet insofern Duldung von religiösen Dissidenten, als die konfessionelle Einheitlichkeit den Bestand des Staatswesens zu gewährleisten scheint. Auf dieser Grundlage sind schon im 16. Jahrhundert die welt108 109

Goertz, Die Täufer (wie Anm. 46), S. 151. Vgl. Heinold Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer (wie Anm. 56), S. 148 ff.: »Kirche und Obrigkeit«; Hillerbrand, Die politische Ethik (wie Anm. 65).

333 lichen Obrigkeiten gegen die Täufer vorgegangen.110 Aus zweifacher Richtung erwächst dem Stadtregiment von Zürich und Bern die Verpflichtung polizeilichen Einschreitens, beide Male jedoch religiös motiviert. Während die Cura Religionis sich in der damaligen Denkwelt von selbst versteht, leitet sich das Aufsichtsamt hinsichtlich des Territorialprinzips aus den (wirklichen oder auch nur befürchteten) Effekten eines Glaubensunterschieds her. Denn »ungleiches Predigen« führe nach allgemeiner Ansicht des 17. Jahrhunderts – man denke nur an die Begründung der habsburgischen Protestantenvertreibung – zu Unruhe und Empörung. Das Täufertum wurde von den Behörden als »latent aufrührerisch« eingeschätzt.111 In der Schweiz galten solche Gründe der äußeren Sicherheit offensichtlich länger als sonstwo in deutschen Landen. Darauf beziehen sich im Antwortschreiben des Zürcher Rats an die Generalstaaten und die Städte Amsterdam und Rotterdam die Worte »zu Schirm vnd Rettung vnser Kirchen vnd Stands.«112 In der Perspektive der Stadtväter handelte es sich um angemessene Strenge, weil sonst die Dinge aus dem Ruder laufen würden – es werden »Zerrüttungen« heraufbeschworen und gar der Untergang der »Kirchen vnd deß Regiments.« Ihnen setzt Zesen die Ermahnung zur Milde entgegen: Man müsse in einem Staatswesen die »Irrenden« (lies: Ketzer) wie die Kranken »mit geduld ertragen« (Bd. XIII, S. 8). Schon die Begriffsverbindung »Kirche« und »Regiment«113 weist auf die herkömmliche Gedankenführung der Schweizer hin, die ein gedankliches Anknüpfen an die bekannten Anschauungen der Reformatoren nahelegt. Hier hakt Zesen ein. Er fokussiert in seiner Widmung die unverkürzt gültige Cura Religionis: Eine Obrigkeit müsse mit Rücksicht auf ihren Wohlstand darauf sehen, dass »der wahre Gottesdienst/ und die reine Lehre Gottes« durch geeignete Prediger verbreitet, der »Irtuhm« aber widerlegt und abgewehrt werde, – jedoch ausdrücklich einzig und allein »mit dem Worte Gottes«. Die Kompetenz der weltlichen Obrigkeit in Religionsfragen zieht Zesen – wie auch weiter unten noch festgestellt wird – keineswegs in Frage. Im Hinblick auf die reformatorische Tradition der Zeit ist die Intoleranz der Schweizer keine Ausnahme.114 Sowohl politisch wie kirchlich war die 110

111

112 113

114

Im Wiedertäufermandat von 1529 war das Vorgehen gegen die Täufer mit dem Verstoß gegen bürgerliche Gesetze vorgesehen, aber »Uneinigkeit« ließ sich beliebig dehnen. Vgl. Goertz, Die Täufer, (wie Anm. 46), S. 129 ff. (Kanton Bern). Goertz, Die Täufer, S. 140. Die »Aufruhrthese« schon bei Walter Köhler, Reformation und Ketzerprozeß (wie Anm. 6), S. 36. Ott, Annales, S. 354.2. Zit. b. Ott, Annales, S. 352: »Vndergang vnser wahren Reformirten Kirchen/ vnd deß Regiments.« Das gehört seit Bullingers Widertäufer-Schrift zum festen Bestand. Neben dem Buch von W. Köhler sei verwiesen auf Johannes Kühn (wie Anm. 6). Manche interessante Details in den älteren Arbeiten von Nikolaus Paulus (Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, Freiburg 1911) und Karl Völker (Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation, Leipzig 1912). Schließlich Ingo Broer / Richard Schlüter (Hgg.): Christentum und Toleranz. Darmstadt 1996.

334 schwer erkämpfte Selbständigkeit noch zu behaupten. In ähnlichem Zugzwang haben Luther und Melanchthon, auch Johannes Brenz sowie die Theologen und Juristen der Freien Reichsstadt Nürnberg im 16. Jahrhundert die Täufer abgewiesen, und nirgends wurden sie offiziell geduldet.115 Die Idee völliger Kultfreiheit (d. h. konfessionelle Neutralität des Staates) wird nur einmal thematisiert, und zwar in dem »Gutachten eines Unbekannten« aus dem Jahr 1530: Ob ein weltlich Oberkeit Recht habe in des Glaubens Sachen mit dem Schwert zu handeln.116 Die dort vorgenommene Begründung mit Hilfe einer Interpretation von Luthers Lehre der Zwei Reiche wurde jedoch von den Zeitgenossen allgemein abgelehnt. Wie immer unterschieden, sind beide Reiche doch nicht total getrennt, wie Wenzeslaus Linck als Verfasser eines Gegengutachtens hervorhebt, sie müssten sich vielmehr gegenseitig stützen und einander dienen, wie eine Hand der anderen. Auch der scheinbar tolerantere Johannes Brenz schließt in seinem Gegengutachten eine selbständige Entfaltung von Glaubensgemeinschaften neben der bestehenden aus. Eine Duldung von Ketzern, wie das traditionelle Unkraut-Argument (Mt 13) und der Krankenvergleich bei Zesen sie verlangen, war in der Praxis der evangelischen Länder und Herrschaftsgebiete kein Thema; eine solche wurde nirgends ernsthaft erwogen. Die Angst vor politischer Unordnung kehrt in den Schriften zur Toleranzfrage von jeher ständig wieder; damit zusammenhängend ist die Inanspruchnahme von Recht und Gesetz eine repetierende Figur. Die Umtriebe der radikalen Täufergruppen im 16. Jahrhundert haben die kollektive Erinnerung nachhaltig geprägt. Das erklärt das regelmäßig angemahnte Schutzamt der Obrigkeit und die Anerkennung des weltlichen Schwerts. Kein Autor, der in dieser Literatursparte solche Hinweise unterließ. Auch Zesen legitimiert das Einschreiten der Obrigkeit, sobald Geist und Seele ihrer Bürger in Gefahr sind. Denn es dürfe ja nicht der Fall eintreten, daß man »unter dem scheindekkel der Glaubensfreiheit« jedermann gewähren ließe und schließlich »strafbahre laster und greuel/ ja Gotteslästerungen selbsten […] in einem Stahtswesen dulden solte oder müste« (S. 21, 17 ff.).117 Wenn der Obrigkeit ihre Rechte in Glaubensfragen eingeräumt werden, bleibt das Problem zu erörtern, wo und wodurch ihre Grenzen markiert werden. Die Untergrenze ist für Zesen – und sicher auch für die meisten 115

116

117

Hans-Dieter Schmid: Täufertum und Obrigkeit in Nürnberg. Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg, 1972 (Nürnberger Werkstücke, 10). Publiziert von Martin Brecht in ARG 9 (1969), S. 67–75. Eine Zusammenfassung bei Gottfried Seebaß: »An sint persequendi haeretici?« In: Blätter f. württembergische Kirchengeschichte 70 (1970): Johannes Brenz 1499–1560. Beiträge zu seinem Leben und Wirken, S. 40–99, Zusammenfassung des Gutachtens S. 61–67. Vgl. dazu Bullinger (wie Anm. 64): »gottslesterer vnd schädliche verfürer im glouben/ sol man straaffen vnd mag man töden/ ye nach dem die fäl sich zutragend«. (S. 165v).

335 seiner Zeitgenossen – dort gegeben, wo die Grundlagen eines christlichen Staatswesens unterminiert werden und Umsturz droht. Konkret: wo durch »Gottesleugnung« das Fundament zerstört würde, auf dem die politische wie die moralische Ordnung beruhen. Die Angst vor einer Verkehrung der Ordnung musste tief wurzeln, weil sie in den von Johann Heinrich Ott mitgeteilten Schriftstücken auffällig oft erwähnt wird. Bei Zesen ist sie als alptraumhafte Vorstellung greifbar: »… ja die Stahtswesen selbsten in die allergreulichste unordnung stürtzen/ und die Untertahnen wider ihre Obern aufreitzen« (S. 20). Pervertierte Ordnung komme offenbar einem Chaos gleich, das keineswegs den Keim des Neuen enthält, sondern auf Zerstörung und den Weltuntergang hinausläuft. Man mag hier eine Bekräftigung der Ansicht sehen, dass die im Zeitalter des Absolutismus so beredt gepriesene Ordo-Idee in Wahrheit einen prekären Balance-Akt darstellt.118 Die Furcht vor Umsturz und Aufruhr ist auf der Negativseite das Pendant der barocken »Policey-Ordnung«. Sie findet deshalb wohl eine Stütze in der Bevölkerung, legitimiert auch eine rigorose Buchzensur und gibt der Obrigkeit das Instrument in die Hand, ihr unliebsame Gruppen vom Hals zu schaffen. In der Diskussion um das Ketzerproblem dürfte deshalb die Aufruhrthese am aktuellsten gewesen sein. Sie wurde von den Schweizern immer wieder ins Feld geführt. Auf sie bezieht Zesen sich einige Male in den Leservorreden, wenn er die Täufer nachdrücklich Mitbürger, ja »Mitbrüder« nennt (S. 13). Sie seien doch gar nicht Gottesleugnern oder Kriminellen gleichzustellen, verhalten sie sich doch »als fromme Bürger« (S. 16). Sie seien Mitchristen, denen in der Sozialgemeinschaft brüderliche Liebe zukomme. Und noch einmal hebt Zesen hervor, die Täufer seien doch »eingebohrne Bürger/ und sonsten gehohrsame Einwohner und Untertahnen« (S. 21, 6 f.). Die Widmungen erwähnen mit keinem Wort die behauptete Ruhestörung, und auf das Gegenargument des verweigerten Bürgereids und Waffentragens geht Zesen nicht ein (aus Unkenntnis?), um vielmehr vor dem so penetrant entworfenen Hintergrund des Bieder-Bürgerlichen den asozialen Effekt des bürgerlichen Ausstoßens aus der Gemeinschaft emotional ausklingen zu lassen. Die sorgfältig aufgebauten Pathos-Stellen weisen die Widmungsvorreden als das Instrument eines rhetorischen Angriffs aus. Exclamationen erregen das Gemüt. Mit rhythmisch bauenden und dynamisch gesteigerten Fragen richtet der Text einen Appell an die christlich-humanen Gefühle der Adressaten: »warüm verfolget/ verbannet/ und verjaget ihr« die Andersgläubigen »aus eurer Gemeine/ aus eurer Stadt/ ja aus eurem gantzen lande ins elend?« (S. 15 f.). Der persuasive Charakter drückt sich insbesondere 118

Unter dieser Voraussetzung bietet das bekannte Buch von Johannes Boterus einen Schatz an Material: Gründlicher Bericht von Anordnung guter Policeyen und Regiments. Straßburg 1596.

336 darin aus, dass die Argumentationsführung harte Akzente setzt – dem Gott »oben im Himmel« steht etwa der »im abgrunde der Höllen« gegenüber, je mit den digressiven Aufgliederungen (S. 14, 6 ff. und 9 ff.), die negativ besetzten Begriffe grell beleuchtet. Den Gott der »Gewissenszwinger« nennt der Verfasser den »Höllischen Seelenmörder« (S. 17, 11), sie selbst werden in der bewährten Form des Tricolons apostrophiert – »ihr Gewissenszwinger/ ihr Glaubenserforscher/ ja ihr Gedankengrübler« (S. 19, 24 f.). Es rührt von solch scharf schneidender Optik her, dass das altvertraute far stupir des oratorischen Überraschungseffekts Zusammenhänge aufleuchten lässt, die hart an die Grenzen des aptum stoßen. So wird im Exemplum der Ketzer Nestorius angeführt, um das Vorgehen der Zwinglianer gegen die Täufer in eine Linie mit verwerflichen Praktiken der Alten Kirche zu stellen: »Und also seind die Ketzer die ersten Gewissenszwinger/ Verfolger/ und Lärmenbläser in der Kirche/ ja eure Lehrer/ und Vorgänger gewesen« (S. 18, 7 ff.). Das dürfte die Bereitwilligkeit der Stadtväter nicht sonderlich gefördert haben. Im Vergleich zur Tradition der Toleranzschriften mit ihren verschiedenen Richtungen119 gehört Zesens Beitrag ohne Zweifel zum fortschrittlichen Lager. Seine Argumentationsführung wird von einer freien Geisteshaltung getragen, die auf anderes Meinen und Fühlen Rücksicht nimmt, schließlich auch den Zweifel (als fruchtbare kritische Kategorie) zum Denken zulässt. Es ist nicht die rhetorische Gedankenfigur der dubitatio gemeint – obwohl der stark rhetorisierte Kontext das nahelegt –, sondern die philosophischethische Skepsis, die in puncto Glaubenswahrheiten zur Vorsicht mahnt und Zurückhaltung übt. »Dünkt euch/ daß sie fehlen? Warüm denket ihr nicht auch/ daß ihr vielleicht selbsten fehlet/ indem ihr wähnet/ daß sie fehlen oder irren?« (S. 16, 13 ff.). Mit der allgemeinen Sentenz, dass kein Mensch je vom Irrtum ausgenommen sei, wird die Apostrophe angeschlossen. Die Grundsätzlichkeit der Argumente hebt Zesens Eintreten für obrigkeitliche Toleranz weit über bisherige Versuche hinaus. Zesens treibende Idee tritt in den Widmungsvorreden klar zutage: Toleranz, nicht als Fernziel, sondern praktisch und sofort, und zwar als Religionsfreiheit für die Täufer in der Schweiz verstanden: Das ist Zesens treibende Idee in den Widmungsvorreden. In Konsequenz solcher Geistes- und Denkhaltung hat er dies mit Bestimmtheit als einen ersten Schritt auf den Weg zum »religiösen Pluralismus innerhalb der staatlich-politischen Gemeinschaft« angesehen, womit Zesen nach Guggisbergs Definition120 auf die Aufklärungsmoderne vorauswies: Solchen Pluralismus fand er ja in der Lebenswelt verwirklicht, die ihn in Holland umgab.

119 120

Hans R. Guggisberg: Wandel der Argumente (wie Anm. 4), S. 455–481. Siehe Anm. 4 zu Seite 2.

337

10.10 Zesens Vorbilder und Vorläufer in der niederländischen Republik Prinz Wilhelm von Oranien figuriert noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur als der Anführer im niederländischen Befreiungskrieg, sondern als der tapfere Verteidiger der Gewissensfreiheit.121 In seiner Person kommen die beiden Elemente zusammen, die für die Republik weitreichende Folgen hatten und die dominante Stellung der Toleranz bewirkten. Die breite Castellio-Rezeption in den Niederlanden dürfte sich wesentlich aus einem nationalen Selbstverständnis erklären, das Religionsfreiheit als die Verlängerung der politischen Freiheit betrachtet. Jedenfalls spielt Castellio eine große Rolle in einer niederländischen Toleranzschrift, die Zesen nachweislich benutzt hat.122 Pieter Jansz. Twisck verfasste eine umfangreiche Kompilation, deren Titel Zesen zum Vorbild gedient haben könnte: Na beter Religions Vryheyt. Een korte Cronijcsche beschryvinghe van die Vryheyt der Religien/ tegen die dwang der Conscientien/ ghetrocken wt veel verscheyden Boecken/ van Christus tijt af/ tot den Jare 1609. toe. Das Buch erschien 1609 und trägt Spuren seiner Entstehungszeit (Pamphlete u. dgl.).123 Wes Geistes Kind der Verfasser ist, geht aus dem Raum hervor, der Castellio gewidmet ist (S. 93–115) und aus den Lobesworten zu seiner Person, mit den Stichworten Gelehrsamkeit, heiliges Leben, Zierde der Universität Basel.124 Pieter Jansz. Twisck (1565–1636), Ältester der Mennoniten-Gemeinde von Hoorn, präsentiert Menno Simons als eine der Autoritäten der Neuzeit, neben Erasmus, Luther, Melanchthon, Calvin, Zwingli, Johannes Brentz, Sebastian Franck u. a. Zesen sollte ihm darin dezidiert nicht folgen: er vermied geflissentlich jede ›Täufer-Couleur.‹ Twisck musste sich dagegen nicht zurückhalten; es geht dem belesenen Kompilator von Toleranz-Zeugnissen nicht um wissenschaftliche Genauigkeit, sondern um eine möglichst eindrucksvolle Masse. Deshalb ist er auch nicht besonders selektiv verfahren und bringt manche Texte doppelt. Twisck, der keine Universität besucht hat und nur Holländisch sprach, zeigt sich über die Castellio-Pseudonyme nicht informiert, er nennt Bellius, Montfortius und Castellio als drei Autoren. Er sammelte recht willkürlich 121

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Siehe im Zusammenhang z. B. Zesen, Bd. XIII, S. 284, 26 ff.: die Stadt Rotterdam; Borremans, Het gevoelen (1663), S. 501: »een dapper voorstander van de vryheydt der conscientien«. Dazu Peter G. Bietenholz: Philipp von Zesens Schrift »Wider den Gewissenszwang« und die Schweizer Täufer. In: Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Fs. f. Hans R. Guggisberg, hg. v. Michael Erbe u. a. Mannheim 1996, 306– 317. Dazu Hans Rudolf Guggisberg: Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt (wie Anm. 18), 75–78. In Anm. 28 Hinweise auf biographische Information. »syn geleertheyt ende heylicheyt van leuen, een wt-gelesen sieraet vanden Schole te Basel« (ebd., S. 93).

338 und hat es durch die Aufnahme vieler niederländischen Pastoren aus seiner Umgebung auf einen staunenswerten Umfang gebracht (2 Teile: I, 231 Seiten, II, 251 Seiten, Register). Sein Anliegen war eine absolute Religionsfreiheit. Unter dem Druck der massierten Argumente sollte der Leser zur Überzeugung angehalten werden, dass das Schwert der weltlichen Obrigkeit nicht zum Glaubenszwang der Gewissen angewandt werden dürfe. Zesen konnte sich für die Anlage seiner Sammlung an diesem Buch orientieren. Aber der Unterschied springt ins Auge, nicht allein wegen der Ungleichartigkeit der hier gesammelten Dokumente. Schon der Anfang bei den Evangelisten und Twiscks Bemühen um eine biblische Fundierung seines Grundsatzes, um sich dann über die Kirchenväter nach und nach ins Mittelalter vorzuarbeiten und die Gegenwart mit Pamphleten und Streitschriften zu Worte kommen zu lassen, weist auf das Fehlen eines Konzepts hin. Es ist eine kunterbunte Anhäufung von Texten verschiedenster Provenienz, von den Stichworten zum Thema notdürftig zusammengehalten. Twisck hat sich an Coornhert angelehnt, die Angaben über Castellio etwa hat er von ihm übernommen. Die Anregungen Coornherts auf dem Gebiet der Toleranzdiskussion treten gerade im Detail immer deutlicher in den Blick. Das gilt in jeder Hinsicht für das Buch von Coornherts Freund und Gesinnungsgenossen Cornelis Adriaanszoon Boomgaert, das in zwei Teilen unter dem Titel Merck-teycken (1633/1635) publiziert wurde.125 Das Toleranz-Thema ist hier mit weiteren vermischt, denn Boomgaert hat sich zentrale Probleme des Glaubens und der Kirche vorgenommen. Die Ausführungen bilden selbständige Kommentare zur Sammlung von Verteidigungen der Gewissensfreiheit. Das Generalthema des Buches ist die Stütze des Glaubens in Kreuz, Verfolgung und Leiden, Leitidee ist somit eine religiöse Verhaltensdidaxis. Die Verbindung konnte über das Märtyrermotiv geknüpft werden; auch innerhalb einer Glaubensgemeinschaft konnte eine abweichende Meinung einen Menschen in die Rolle des Märtyrers zwingen. So rückt das Lieblingsthema barocker Dramatik unter der Perspektive der religiösen Toleranzforderung in ein besonderes Licht. Boomgaert (gest. 1606) war ein gelehrter Mann mit humanistisch-literarischer Erfahrung und (als einer der ersten Direktoren der Vereinigten Ostindischen Compagnie) mit genügend sozial-gesellschaftlichem Ansehen,

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Merck-teycken, Om te komen tot kennisse vande ware ende valsche Religie, Kerck, ende Leeraeren, uyt hare woorden ende wercken. In cruys ende lyden, Conscientidwangh, ende vervolgingh, om saecken des Geloofs. Tot vertroostinghe van die om de Religie vervolginghe lyden. Eerste Deel. Tweeden Druck. […] T’samen gestelt door Cornelis Adriaensz. Boogaert. Tot Amsterdam […] 1635. (Ex. Universiteitsbibliotheek Amsterdam: 416 F 17). Der zweite Teil, mit eigenem Titelblatt und mit der Angabe 1633, schließt sich mit durchgehender Paginierung an. Zum Druck: M. Boas: Over eenige onvindbare eerste uitgaven van werken van Corn. Adr. zn. Boomgaert. In: Het Boek 15 (1926), S. 15–24, spez. 22 ff.

339 um mit seinem theologischen Anliegen ernst genommen zu werden.126 Den Impuls bildet die christliche Liebe im Umgang mit den Mitmenschen (Joh 13,35), die von selbst zur Unterscheidung zwischen der »rechten« und der »falschen« Religion führe: die rechte leidet, liebt, verträgt, die falsche verfolgt, haßt und verjagt: De rechte Religie ist, die leydt, lieft, en verdraeght, De valsche die vervolght, haet, doodt, en verjaeght.127

Das Buch ist deutlich gegliedert, das kompilatorische Material straff organisiert. Der hauptsächlich von der Gewissensfreiheit handelnde Teil setzt mit dem 3. Kapitel ein und hat den Titel: »Von Gewissenszwang, Verfolgung um des Glaubens willen und Ketzer-Tötung« (»Vande Conscientie-dwangh, vervolgen om ’t gheloove, ende Ketter-dooden«).128 Der Verfasser ist kirchengeschichtlich in jeder Hinsicht gut informiert, benutzt die richtigen Quellen und —was in unserem Zusammenhang von Interesse ist – spart die Schweizer in keiner Weise. Die wechselnde Gesinnung Calvins wird erwähnt (S. 151), und wo dieser über erlaubten Zwang spricht, wird er widerlegt (etwa S. 127 f.). Die Unterdrückung der Täufer durch die Zwinglianer versieht Boomgaert gewissenhaft mit dem Namen Bullingers und nennt die Verordnung von 1530 »blutig« (S. 154). Zesen hat sich ganz auf seinen Gewährsmann verlassen und nennt seine Quelle regelmäßig ›in margine‹. Dadurch kann man heute Zesens Arbeitsweise genau verfolgen, vereinzelt Nähte und Brüche feststellen und sogar die Herkunft einer fehlerhaften Wiedergabe eruieren. Selbstverständlich hat Zesen die in Merck-teycken (MT) lateinisch angeführten Textstellen ins Deutsche übersetzt. Das ist z. B. bei Johannes Seranus der Fall (S. 128 ff.), wo MT 202 einen umfangreichen lateinischen Passus bringt, an anderer Stelle (MT 310 f.) die Fortsetzung (Zesen S. 130 f.). Obwohl Zesen den Luther-Thesaurus auch selbständig zitiert (etwa S. 55), stützt er sich dennoch häufig auf Boomgaert, wie z. B. S.57, 1 ff., wo auf MT S. 21 verwiesen wird (hier Nimrods Wort lateinisch). Ebenfalls gibt er S. 57, 6 f. eine Luther-Stelle nach MT S. 361 wieder, unterlässt jedoch Boomgaerts Verweis auf den Thesaurus. Bei einer Nachprüfung dieses Verfahrens stößt man auf Übersetzungsfehler, die bei der Kompilation einer Kompilation nahezu unvermeidlich sind. Ein Beispiel möge genügen. Auf S. 62 wird Luthers Hauspostille auf den 6. Sonntag nach Ostern zitiert, und zwar nach MT 282, wie korrekt angemerkt. Das Zitat wird aber abgebrochen: »Sie werden Euch in den ban tuhn; und wer euch tödtet/ u. s. f.« In Zesens Quelle heißt es jedoch: »zy 126

127 128

M. Boas: C. A. Boomgaert, een vriend van Coornhert en Spieghel. In: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 43 (1924), S. 40–55. Mit den Vorsprüchen auf S. 4 abgedruckt. Dazu Guggisberg, Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt, S. 93 f.

340 sullen u inden Ban doen/ ende sullen u dooden«. Der zweite Teil des Satzes hätte also lauten sollen: »und werden euch tödten.« Das lässt sich schon als Verschreibung erklären. An anderen Stellen herrschen Unsicherheiten einer anderen Größenordnung. Da Zesen kompiliert und nicht kommentiert, weiß man nicht immer, ob eine Auslassung als Versehen zu buchen ist oder etwa auf einer strategischen Entscheidung beruht. Ein interessantes Beispiel bietet S. 111 (im Calvin-Abschnitt), wo nach MT 272 zitiert wird. Zesen bricht das Zitieren mit Zeile 12 ab und setzt mit eigenen Worten den Gedankengang fort. An dieser Stelle wurde nun ein pikanter Satz unterdrückt, der (in Übersetzung) lautet: »Nach Calvins Gesetz müßte die Obrigkeit alle, die im Besitz der wahren Lehre sind [d. h. der wahren reformierten], kurzerhand umbringen.« Zesen hat wohl mit Rücksicht auf Empfindungen in dem Land, in dem man mehrheitlich der Lehre Calvins anhing, solche Passagen vermieden. In allem zeigt sich Zesens Wertschätzung dieser Vorgängerarbeit. Boomgaert könnte ihm wesensverwandt erschienen sein. Die humanistische Grundlage seiner Schriftstellertätigkeit, die in der Plutarch-Übersetzung De tranquillitate animi und der Übersetzung von Catos Moralia fassbar wird, fand eine Ergänzung mit der Castellio-Übersetzung De calumnia liber unus und der ersten Sammlung von Coornherts Werken (1612). Seine echt protestantische Frömmigkeit bezeugt die Ausgabe der gesammelten Gebete und Meditationen über den 51. Psalm (1618). Boomgaert vermittelte die Traditionslinie Castellio – Coornhert. Die hinter Zesens Toleranzschriften aufleuchtende geistige Welt, in der neben dieser Tradition über Twisck und den Kreis um Hans Vlamingh die eingezogene Sittlichkeit der niederländischen Mennoniten spürbar ist, dürfte Zesens religiös-ethischen Vorstellungen in voller Breite entsprochen haben. Seine Toleranzschriften lassen sich ganz in diese Atmosphäre stiller Frömmigkeit einordnen.

10.11 Zesen im niederländischen Kontext Es gehört zu den Ungereimtheiten der Geschichte des Christentums, dass es die Liebe predigt, aber sich in Fragen der Religionsfreiheit häufig so unverträglich und unversöhnlich gezeigt hat. Noch im späten 17. Jahrhundert mag sich manch einer über fehlende religiöse Toleranz gewundert haben. Das Bedürfnis nach Textsammlungen mit bewährten Argumenten lässt jedenfalls ein neu erwachtes Interesse am Gegenstand erkennen. Im Jahr 1663 verdienen zwei Druckerzeugnisse die Aufmerksamkeit: eine bemerkenswerte Castellio-Bearbeitung und Friedrich Brecklings Traktat Von der Gewissens Freyheit. Die hier in Frage stehende Entwicklung erhält durch diese Arbeiten ihre besondere Problemschärfe: Gewissensfreiheit war in den Niederlanden im öffentlichen Bewusstsein ein aktuelles Thema.

341 Es ist einerseits einfach, andererseits aber schwierig, diese Sachlage zu erklären. War die Republik der Vereinigten Niederlande tatsächlich tolerant, und war die herrschende Sozialschicht von Patriziern und gebildeten Bürgern im modernen Sinn aufgeklärt? Man sollte nicht vergessen, dass es um komplexe Zusammenhänge geht. Wie aus dem Vorhergehenden erhellt, ist Toleranz ein relativer Begriff. Im Lauf einer geschichtlichen Entwicklung ändern sich die Umstände und mit ihnen auch die Meinungen. Aber beim Toleranzbegriff ist die historische Dimension um so nachdrücklicher in Anschlag zu bringen, als man üblicherweise die Problematik erst mit Beginn der Aufklärungsepoche ernst nimmt. Es waren jedoch nicht barbarische oder tyrannische Gesinnungen, die 1529 zur Annahme des Wiedertäufermandats führten, das die Todesstrafe vorsah – »vom natürlichen Leben zum Tode mit Feuer und Schwert oder dergleichen nach Gelegenheit der Person.«129 Politische Rücksichten und solche der stadt-bürgerlichen Sicherheit gaben im 16. Jahrhundert in Fragen der Religion den Ausschlag; es war im 17. Jahrhundert in der Regel wenig anders. Vermutlich kann man sagen, dass die Toleranz in Holland im Vergleich zu anderen Ländern groß war. Das hier anstehende Problem ist aber insofern zunächst ein literarisches, als Intention und interne Strategie der Toleranzschriften fokussiert wird. Es ist auf die Frage zuzuspitzen, weshalb die Autoren die unter der Ägide der Generalstaaten waltende Religionsfreiheit derart hervorkehrten, dass sie gleichsam gattungstypisch wurde und topischen Charakter annahm. In den Vorreden wird die niederländische Religionsfreiheit auf die Gründung der Republik, d. h. auf den Kampf gegen den spanischen König um die Unabhängigkeit des Landes zurückgeführt (wenn zumindest nicht der Freiheitsdrang der Bataver bemüht wird). Der Toleranz-Topos wird damit nicht nur historisch abgesichert und mit einem geschichtlichen Ereignis markiert, sondern auch als eine nationale Eigenheit verbucht. Das politische Moment des Freiheitskampfes wandelt sich dann in der nationalen Mythenbildung fast ganz zum religiösen: Freiheit wird national-politisch wie religiös reklamiert, beide Erscheinungen, der Freiheitskampf und die Gewissensfreiheit, stehen zueinander nicht im Verhältnis der Korrespondenz, sondern der Konsequenz. Diese Sicht der Dinge wird in den Vorreden der im vorliegenden Abschnitt behandelten Werke festgeschrieben. Die Texte, sonst durchaus eigener Natur und verschiedener Provenienz, erhalten dadurch ihr »niederländisches« Gepräge – religiöse Toleranz als historische Errungenschaft und als niederländische Eigentümlichkeit. Der Buchmarkt spiegelt den Sachverhalt. Die so geartete Religionsfreiheit mag den Intentionen der für die öffentliche Meinung verantwortlichen Kreise entsprochen haben, auch ohne gezielte Publikumslenkung. So sind in groben Umrissen die Verhältnisse zu skizzieren, auf die in den Nieder129

Das Mandat wurde auf dem Reichstag zu Speier verabschiedet, am 23. April 1529.

342 landen jedes Buch zur Toleranzfrage sich beziehen musste. Zwei Jahre vor Erscheinen von Zesens Büchern »wider den Gewissenszwang« im Amsterdamer Verlag von Christoph Cunrad war der Markt schon vorbereitet, ein Interesse von Käufern und Lesern somit vorhanden. Diese Tatsache erhärtet die Vermutung, dass die sechziger Jahre für das Toleranz-Problem in Europa eine kritische Zeit gewesen sind. Guggisberg nennt England als Beispiel, wo »mit der Erstarkung der orthodoxen Kräfte auch die Intoleranz und die religiöse Verfolgung […] unaufhaltsam zugenommen hatte.«130 Schriftsteller und Verleger nutzten die Gelegenheit. Kaum denkbar und vor dem Hintergrund der oben dargelegten Dinge auch kaum zu erwarten, dass in der niederländischen Republik nicht ein aufnahme- und diskutierbereites Publikum für das Thema gewonnen werden könnte. Der Anlässe waren vielerlei, ohne dass bestimmte einschneidende Ereignisse als Auslöser namhaft zu machen wären. Die Schweizer Täuferprobleme spielten aber sicherlich eine Rolle. Daneben hatte die Castellio-Rezeption eine ehrwürdige Tradition, die mit Coornhert und Boomgaert in die Zeit der niederländischen Orthodoxie hineinragte. An Castellios Verteidigung der Glaubensfreiheit erinnerten mehrere Autoren, wenn auch die Sache der Toleranz mehr in den Vordergrund trat und der Name Castellios allmählich aus dem allgemeinen Bewusstsein schwand. Das ist auch an der Neubearbeitung der Farrago Bellii festzustellen, die 1663 in Amsterdam erschien. Für Guggisberg ist sie die »wichtigste und interessanteste Edition aus dem späteren 17. Jahrhundert.«131 Das Titelblatt nennt Castellio ganz am Schluss und am Rande. Deutlich sind aber die markierenden Anklänge an die erste niederländische Übersetzung (1590: Van Ketteren) und an den Originaltitel mit dem Autorenpseudonym (De haereticis, Martinus Bellii): Het gevoelen Van verscheyden […] Schrijvers, Aengaende de KETTERS. Hinter dem Pseudonym »N. B. A.« verbirgt sich der Vielschreiber Nicolaas Borremans.132 Den Kernbestand von Borremans’ Buch bildet die Schrift Castellios, und zwar nach der Ausgabe Straßburg 1610; deren Anhang enthielt bereits die vier Briefe des Gerardus Noviomagus, die hier in niederländischer Übersetzung erscheinen. Durch weitere Ergänzungen schwoll das Buch zu echt130 131

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Guggisberg, Wandel der Argumente (wie Anm. 4), S. 475. Guggisberg, Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt, (wie Anm. 18), S. 102– 104, Zitat 102. Über ihn ist wenig Information zu finden. Der Titel lautet: Het gevoelen Van verscheyden zo oude als nieuwe Schrijvers, Aengaende de KETTERS, Of men die vervolgen, en hoe men met hun handelen zal. […] Aldereerst in het Latijn te zamen gebracht/ door Martinum Bellium, Daer nae overzien […] door Iochem Kluten van Mekkelenburg: En nu uit het Latijn vertaelt, en wederom vermeerdert met eenige Schriften van Cassander, Castellio, en zommige andere vermaerde Schrijvers. Door N. B. A. t’Amsterdam. 1663. (Ex. Universiteitsbibliotheek Amsterdam: 402 G 29). Vgl. H. R. Guggisberg, Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt, S. 102 Anm. 175.

343 barocken Ausmaßen an und erreichte etwa den doppelten Umfang des Originals. Neuaufgenommen wurden u. a. ein Brief Castellios an einen unbekannten niederländischen Freund (S. 420 f.), zwei Briefe Cassanders (an Aggeus Albada, 1563: S. 442–449; an Wilhelm Herzog von Jülich und Kleve: S. 436–441), ein meditativer Kommentar des Hugo Grotius über Matth 13, 42 (Gleichnis vom Unkraut) und der Brief des Rats der Stadt Rotterdam an den Rat der Stadt Bern (1660: S. 499–506), welcher der Täuferfrage gilt und bei Zesen das vorletzte Zeugnis darstellt (Bd. XIII, S. 283– 289). Borremans kompilierte das schon im Druck vorliegende Material und enthielt sich eines Kommentars. Inhaltlich setzte er keine neuen Akzente. Grotius’ Beitrag gesellt sich etwa zu denen von Hieronymus, Chrysostomus und Conradus Pellicanus über den selben Evangelientext. Es wird aus den Acta pacificationis zitiert, die Cassander-Briefe werden übersetzt nach der Edition Illustrium et clarorum virorum epistolae scriptae vel à Belgis vel ad Belgas (ed. Daniel Heinsius, Leiden 1617). Die Neubearbeitung fügt dem bekannten Bild nichts Neues hinzu. Neu ist dagegen die Aktualität, auf die Borremans seine Arbeit bezieht. In der Vorrede an den »sanftmütigen Christen« deutet er den Untergang des Reichs im Dreißigjährigen Krieg als Folge der religiösen Intoleranz: Die Verfolgung von religiösen Dissenters habe den Religionskrieg verursacht, im Gefolge sei dann das mächtige Reich zerfallen. Dieser Meinung kommt jedoch bei Borremans zusätzlich funktionale Bedeutung zu. Sie ist in seiner Argumentation nur das Exempel zur Unterstützung der ›propositio‹, man dürfe nicht über jemandes Gewissen urteilen, weil Religionszwang zu Uneinigkeit und Krieg führt. An diesem Punkt geht die Vorrede zum Vergleich Deutschlands mit der niederländischen Republik über. Hier herrsche, so versichert Borremans, allgemeine Freiheit, auch und gerade hinsichtlich der Wahrheitssuche. Letzere, die »freie Untersuchung der höchsten Wahrheit«, sei in der Republik ein »gemeines Vorrecht«, und zwar »für alle insgesamt wie für jeden insbesondere.« Zum Beweis dieser These führt der Verfasser den nicht ganz originellen Gedanken an, dass bei Aufrechterhaltung der allgemeinen Religionsfreiheit kein Grund für Aufruhr und dgl. sei: »So lange dieses Privileg als ganzes intakt und unverletzt bleibt, so lange gibt es auch keine Gefahr der Meuterei, des Aufruhrs und der Zusammenrottung.«133 Solch nüchterne Einschätzung der Toleranz ist im niederländischen Schrifttum öfter festzustellen. Hier steigert man sich nicht in tiefgründige Ideologien hinein und lässt sich auf theoretisches Schattenboxen erst gar nicht ein. Die pragmatische Lösung der Niederländer brachte dem Land Ruhe und hat, wie die 133

Borremans, Het gevoelen, Vorrede: »Zo langhe nu als die Privilegie in sijn geheel en ongeschonden blijft, zo langhe iszer oock gheen gevaer van muyterye, oproer en rotterijen.«

344 Geschichte zeigt, den verschiedenen Konfessionen ein halbwegs friedfertiges Zusammenleben ermöglicht. Borremans verhehlt seinen Stolz auf die holländische Besonderheit nicht, sondern stellt sie ins helle Licht der öffentlichen Meinung. Der springende Punkt in der Gedankenführung der Vorrede ist nämlich nicht ein von der niederländischen Obrigkeit erhobener Anspruch auf religiöse Wahrheit, sondern die im Horizont europäischer Erfahrungen immerhin bemerkenswerte Tatsache, dass sie in der Sache kein Urteil sprechen wolle. Deshalb ist Borremans überzeugt, dass die Obrigkeiten »unseres Landes« tatsächlich »manche [religiöse] Gesinnungen, welche unseres Erachtens vor Ketzereien nur so strotzen, mit gütigen Augen dulden und in ihren Schutz stellen.«134 Das niederländische Gepräge des Buches hat Borremans noch durch die Aufnahme von (größeren) lyrischen Passagen namhafter holländischer Dichter unterstrichen. So beschließen Pieter Corneliszoon Hooft und Constantijn Huygens den Band, der übrigens durch einen spitzfindigen Reimspruch von Huygens eingeleitet worden war. Mit seinem Titel scheint er für die Anthologie wie geschaffen: Ketterbranden. ’T was misverstand Al dat gebrand Om trouw en waerheit: Die vlam gaf klaerheit: Van een te vyer Ontstack ’er vier.135

Borremans hatte mit seiner Anthologie unverkennbar ein eigenes Anliegen. Er wollte in Angelegenheiten der Religion vor einem vorschnellen Urteil warnen: Ketzerei sei nämlich das Schmutzigste (»de alder vuylste kladde«), was man einem Menschen vorwerfen könnte. Ansonsten sei jeder, obwohl selbstverständlich noch nicht alles zum Besten stehe, in der Republik der Vereinigten Niederlande vor Religionszwang sicher. Der gleichen Meinung ist auch Friedrich Breckling, der jedoch hinzufügt, auch die niederländische Obrigkeit müsse Tag und Nacht Gottes Wort lesen, »daß sie darauß Unterscheid zwischen Schafe und Wölffe/ Creutz-diener und Bauch-diener/ gut und falsch Gold/ rechte und falsche Christen lerneten.«136 Das muss damals sicher so nötig gewesen sein wie heute, denn die Pest sei in Amsterdam, wie der Amsterdam-Reisende Christian Knorr von Rosenroth zu berichten weiß, aggressiver als anderswo, und just in dem Jahr 1663 seien ihr vom Sommer bis zur Mitte des Winters jede Woche fast 300 Personen zum 134

135 136

Borremans, ebd.: »… verscheyden gezintheden, welcke onzes oordeels, van ketterijen overvloeijen, met goede ooghen dulden, en onder hunne bescherminghe nemen«. Aus: Koren-Bloemen (IX, Nr. 67). Friedrich Breckling: Von der Gewissens Freyheit. S. 20.

345 Opfer gefallen.137 Dennoch war die Stadt auf dem Höhepunkt ihres Ruhms die wirtschaftliche und kulturelle Mitte eines hochgelobten Landes: die »helleuchtende Perle des gantzen Niederlandes« (Philipp von Zesen). Ihre Toleranz, welche nach dem Augenmaß der holländischen und ausländischen Autoren, die in der Metropole arbeiteten und publizierten, in der damaligen Welt einzigartig war, gab die Norm in der niederländischen Republik ab. Durch die Augen der Zeitgenossen gesehen, kam ihr keine Stadt gleich und war ihre geistige Freiheit sprichwörtlich. Für die Entwicklung des Toleranz-Themas hat die Weltoffenheit der Stadt in Verbindung mit dem modernen Druck- und Verlagswesen im 17. Jahrhundert eine hervorragende Rolle gespielt; sie ist aber kaum über die Ansätze hinaus beschrieben worden. Mit Sicherheit ist es dieser Lage der Dinge zu verdanken, dass Zesen seine Toleranzschriften in Amsterdam zum Druck befördern konnte; anders als in der Schweiz hatten sie bei einflussreichen Persönlichkeiten im Reich durchaus Erfolg.138 Die Republik der Vereinigten Niederlande war nach der bekannten Charakterisierung Johan Huizingas sowohl ein »staatliches Monstrum« als auch ein »Wunder«.139 Als ein »Wunder« musste dann nicht nur das republikanische Staatsgefüge gelten, das ohne zentrale Mitte eines Hofes zurechtkam und den Prunk eines absoluten Herrschers nicht brauchte, sondern auf rationale Weise sich selbst im Wortsinn zu beherrschen wusste. Es gab zweitens die verwunderlich anmutende Tatsache des unerwartet rasch blühenden Wirtschaftslebens, wozu insbesondere der Überseehandel das Seine beitrug. Wie oben bereits hervorgehoben wurde, als der »Niederländische Leue« betrachtet und in seinen Wesenszügen analysiert wurde, war die Republik der Vereinigten Niederlande im europäischen Raum weithin die Ausnahme. Im Ausland staunte man, dass ein so freies Staatsgebilde – im damals sicherlich hochmodernen absolutistischen Zeitalter – scheinbar von unsichtbaren Kräften gehalten, zusammenhielt und außerdem sich zu einer militärischen Macht entwickelte, die mancher – trotz des Fehlens einer zentralen Machtstruktur – für unschlagbar hielt. Die »politische Anomalie« hat, so scheint es, dennoch eine, wenn auch locker gefügte, nationale Einheit gefördert. Die Einheit beruhte möglicherweise lediglich auf dem gemeinsa137

138

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Nach Guillaume van Gemert: »Die helleuchtende Perle des gantzen Niederlandes.« Deutsche Barockdichter sehen Amsterdam. In: Brückenschläge. Hg. von Martin Bircher und Guillaume van Gemert. Amsterdam 1995, S. 127–176, hier 137. Der Titel zitiert hier Zesen in der »Beschreibung der Stadt Amsterdam« von 1664. Die niederländische Literatur hatte damals eine Vorbildfunktion für die deutsche. Vgl.: Guillaume van Gemert: Niederländische Einflüsse auf die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Trento 1993. (Ricerche di Germanistiche, ed. I. M. Battafarano, Bd. 5). Vgl. den Brief Zesens vom 5. Juli 1670 an Johann Heinrich Ott, bei Forster, Dichterbriefe, S. 401 f. Johan Huizinga: Nederland’s beschaving in de zeventiende eeuw. Haarlem 1941, S. 45 ff.

346 men Interesse der verschiedenartigen Kräfte der Stadtregierungen. Dieses war auf ein Gleichgewicht der verschiedenen Kräfte und Interessenfelder ausgerichtet. Die gemeinschaftliche Interessenvertretung bedingte eine Politik der Beruhigung und Versöhnung nach innen, nach außen eine aktive Friedenspolitik. Das Bild einer einheitlichen Zusammenarbeit von Städten und Provinzen, die den Aufstand gegen Spanien erfolgreich zu Ende geführt hatten, mag trügerisch scheinen, es hat jedoch funktioniert. Hilfe erhielt das Land von den südlichen Landesteilen (nun unter spanischer Herrschaft), deren nicht unvermögende Bürger und versierte Handwerker sich in den nördlichen Niederlanden und mit Vorliebe in der Stadt Amsterdam niederließen. Der ständige Zustrom von Ausländern brachte neue Ideen und Meinungen, die eine Vielfalt geistiger Strömungen und Bewegungen zur Folge hatte. Das haben die Verlagshäuser dankbar genutzt. Die zahlreichen Bücher in deutscher Sprache fanden bald ihren Weg nach Hamburg und Köln.140 Ein freies Verlagswesen ohne Buchzensur eröffnete vielen Autoren Publikationsmöglichkeiten, die sie in ihrer Heimat nicht hatten. So hatte im 17. Jahrhundert die Aufnahme fremden Gedankenguts in der Republik schon Tradition. Diese war ein wesentliches Ferment der weltoffenen Kultur: sie hat das geistige Klima erzeugt, das die Geistesblüte im Goldenen Zeitalter ermöglicht hat. Die geistige und kulturelle Mannigfaltigkeit des Landes im 17. Jahrhundert hat eine frühe Aufnahmebereitschaft begünstigt, zu der bereits im späten Mittelalter der Grund gelegt worden war. Das sogenannte »Batavische Temperament«, wie es in Zesens Schriften erscheint, entzog sich einer allzu straffen Führung auch in geistigen und religiösen Dingen (man denke an die Devotio moderna, in der auch Erasmus seine frühen Erfahrungen gemacht hat) und wurzelte in einem Humanismus eigener Prägung, der mit den Namen des Erasmus und Coornherts gekennzeichnet werden kann. Ebenso wie eine politische Mitte im Konsens der Interessengruppen bestand, hat hier in religiöser Hinsicht kein Machtzentrum für alle Bürger verbindliche Entscheidungen getroffen. Geistige Offenheit und Duldung unterschiedlicher Konfessionen bestimmten nach Meinung der Historiker – im Vergleich zu anderen Nationen – den Geist in der Republik. Der Toleranz muss in der Tat eine beträchtliche Entfaltungsmöglichkeit vergönnt gewesen sein. Auch die niederländischen Täufergruppen, Nachfolger des Menno Simons (1496–1561), fanden in der Republik allmählich Ruhe und Sicherheit; die Mennoniten haben hier, wenn auch in lange währender Uneinigkeit, ihre Lehre entwickeln und verbreiten können.141 Das schlug auch in der Entwicklung der Toleranzfrage zu Buche. Naturgemäß 140

141

J. Bruckner: A Bibliographical Catalogue of Seventeenth-Century German Books Published in Holland. The Hague / Paris 1971. (Anglica Germanica XIII) Gustav Adolf Benrath: Die Lehre der Täufer (wie Anm. 47), 2. Bd., S. 652 ff., 657 f.

347 waren die Täufer an der Verwirklichung religiöser Toleranz besonders interessiert. Wo immer sie willige Druckerpressen fanden (wie in der Republik), haben sie sich in diesem Sinn publizistisch betätigt. Der freie Buchmarkt sicherte ein Angebot verschiedenster Ideen über Religion und Ethik, Politik und Toleranz. Auffällig oft begegnet in Toleranzschriften das Lob der niederländischen Obrigkeiten. Es ist gewissermaßen ein Kennzeichen der in Holland gedruckten Texte zur Toleranzfrage. Der täuferische Prediger Pieter Jansz. Twisck (s. o.) findet in der Vorrede zu seiner Kompilation »Zu besserer Religionsfreiheit« im Überschwang der Gefühle kaum Worte, als er die »Wohltaten der Toleranz des Gewissens« rühmt. Die Argumentationsführung der Toleranz-Schriften ist im einzelnen weniger interessant als die von den Autoren selbst vorgenommene kulturgeschichtliche Einbettung. Mit Rückgriff auf Mt 13 (das Unkraut, das mit dem Weizen bis zur Ernte aufwachsen soll) und auf den Rat des Gamaliel aus der Apostelgeschichte (5, 34 ff.) wurde die Toleranz auch biblisch fundiert, während der Rahmen mit Textmaterial von der Kirchenväterliteratur aufwärts gefüllt wird. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der Forderung, dass die weltliche Obrigkeit in Glaubensfragen schweigen und den Untertanen völlige Bekenntnisfreiheit gewähren soll. Sei es, dass in Holland das Bewusstsein der Cura Religionis von der Obrigkeit weniger strikt gehandhabt wurde als etwa in Deutschland, eine konfessionelle Einheitlichkeit wurde jedenfalls nicht erzwungen. Die niederländischen Obrigkeiten, die Generalstaaten allen voran, haben ihr christliches Schutzamt mit Erinnerung an die Unruhen der spanischen Herrschaft über die Niederlande nicht so verstanden wie andernorts. Dazu war die Erinnerung an die spanische Inquisition und an Alvas »Blutrat« zu stark, als dass man eine mit Gewalt bewirkte konfessionelle Dominanz hätte riskieren wollen, obwohl man andererseits (etwa im Streit zwischen Arminius und Gomarus) alles andere als zimperlich war. Damit wird der Kern der Angelegenheiten in der hier angeführten Literatur zu religiöser Toleranz augenblicklich evident: Das Phänomen wird als ein Erbe des ›nationalen‹ Freiheitskampfes erklärt. Es hatte in dieser Form im kollektiven Bewusstsein einen fest verankerten Platz in Geschichte und Idee der Nation. Die niederländischen Täufer argumentierten denn auch damit, dass der Kampf gegen Spanien tatsächlich um die Freiheit des Gewissens geführt worden sei und ihre Unterstützung ihnen volles Recht auf die solchermaßen errungene Freiheit gäbe. Es sei auf den Brief niederländischer Mennoniten an die Stadt Middelburg (1577) im Kapitel über den »Niederländischen Leuen« verwiesen, wo sich ein treffendes Zitat findet, das diese Ansicht belegt.142

142

Zitiert bei Zesen SW XIII, S. 234, 16–27.

348 Friedrich Breckling (1629–1711),143 einer von den vielen unruhigen Geistern, die, aus Deutschland vertrieben, in Holland (vorläufig) unbehelligt predigen konnten, greift die Lobeshymne Twiscks wieder auf. Das Thema der toleranten Obrigkeit besaß also auch für die zweite Hälfte des Jahrhunderts noch Gültigkeit. Es konnte ohne weiteres 1663 in der Schrift Von der Gewissens Freyheit verwendet werden, um von neuem den Leser zu bewegen. Wiederum findet sich das Argument, tolerantes Verhalten führe Segen herbei. Damit man ein »Augenscheinlich Exempel« habe, […] so sehe man nur wie der grosse Gott die hochlöbliche Obrigkeit in den Vereinigten Niederlanden deßhalb für allen andern so reichlich und wunderbahrlich gesegnet/ geschützet/ und fast biß in den Himmel erhoben/ so lange sie jedermann seine Gewissens Freyheit gelassen/ und Gott nicht in sein Regiment über die Gewissen gegriffen.144

Der Verfasser, seit 1660 Prediger in Zwolle, setzt die eigene Erfahrung zur Bekräftigung seiner Worte ein. Breckling ist einer der Zeugen, die eine wirkliche Toleranz seitens der niederländischen Obrigkeit selbst erfahren haben. Seine Gedanken seien deshalb im Wortlaut wiedergegeben. Als Grund und Ursache des Blühens und Gedeihens in Wirtschaft und Kultur, aber auch im Kirchenwesen der Republik verweist Breckling auf Gott. Er nennt den Sieg im Freiheitskampf ein Zeichen göttlicher Gnade und legt die vertraute Verbindung mit der Toleranz, jedoch mit einer bemerkenswert kasuistischen Begründung: [Gott hat] allen seinen in dieser letzten Zeit von der Welt verfolgeten Kindern/ ein sonderlich Asylum, Freystatt/ Zuflucht und Herberge bereitet/ daß er der hochlöblichen Obrigkeit derer Vereinigten Provintzen in ihr Herz gegeben/ daß sie Gott zur Danckbarkeit für solche Gnade/ nun in ihren Ländern und Stätten solche Freyheit/ an allen mit ihnen Verfolgeten/ und von der Welt Außgestossenen reichlich mitgetheilet: Welche ich mit vielen anderen ümb der Religion verfolgeten/ durch Gottes Gnade reichlich geniesse; und daher nechst Gott der hochlöblichen Obrigkeit in diesen Ländern und Stätten für ihre Gunst/ Schutz und Freyheit/ die ich mit ihnen unter Gott geniesse/ allen Gehorsam/ Dienst/ Vorbitte und Danck schüldig bin.145

Interessanterweise wird hier wiederum der Zusammenhang von politischer Freiheit und religiöser Toleranz hervorgehoben: beidesmal waltete hier die göttliche Gnade. Vor der Folie eines so gedeuteten Geschichtsbilds wird das deutlich begünstigte Land andererseits in die Pflicht genommen, wie es das 143

144

145

Zur raschen Information vgl. Dietrich Blaufuß in Walther Killy (Hrsg.): Literatur Lexikon, 2. Band (1989), S. 188 f. In Nomine Jesu. Religio libera Persecutio relegata, Tyrannis Exul & Justitia Redux. Hochnötige Erinnerung an die Hohe Obrigkeiten in Deutschland/ Engeland/ Dennemarck/ Schweden/ und andern Fürstenthümern/ Ländern und Stätten Europae über einige Gewissens Fragen VON DER GEWISSENS FREYHEIT/ und andern hochnötigen Sachen der Obrigkeit Ampt und Persohn anbelangend. […] Gedruckt zur Freystat/ Anno 1663. (Ex. der Universiteitsbibliotheek Amsterdam: 346 K 43). Zitat S. 10. Breckling, S. 64 f.

349 Ende des Zitats bereits andeutet. Die Auszeichnung erfolge gleichsam auf Widerruf: »Denn wollen wir unserm Nechsten und Nebenchristen unsere Freyheit und Schutz nicht unter uns gönnen; so wird Gott uns auch nicht bey solchem Schutz und Freyheit mehr erhalten.«146 Das anschließende Argument bringt eine theologische Erklärung für die wirtschaftliche Blüte des Landes. Zufriedene Untertanen stellt Breckling nämlich als eine positive Kraft im Staatswesen hin, denn das Gebet dankbarer Untertanen bewirke Segen. Sollte eine Obrigkeit jedoch ihren Undank verschulden, so würde sie es, gemäß der gleichen Mechanik, schon zu spüren bekommen: Daher ich und viele andere Verfolgete durch Gottes Vorsorge/ noch Schutz und Zuflucht unter ihren Flügeln bißher geniessen. Und ihnen mit unserm Gebeth wiederumb allen Segen/ Wolfahrt und Frieden von Gott erbitten müssen; und wer ihren Segen mit geniessen wil/ der folge ihrem Exempel hierin nach. Würden sie aber solche ihre Freyheit wieder die arme/ verjagte/ vertriebene und Verfolgete Christen mißbrauchen/ so solten sie bald erfahren/ wie Gott ihnen seinen Segen/ Nahrung und Freyheit wieder entwenden/ und sie mit aller Verfolgung/ Plage und Auffruhr straffen würde.147

Offener als in Werken anderer Autoren tritt die intentionale Bedeutung der so finalistisch strukturierten Argumentationsführung an den Tag. Der Topos des Lobs zeigt unverhohlen seine instrumentelle Funktion. Mit der Strafandrohung wollte Breckling klaren Wein einschenken, damit er gehört werden sollte. Denn seine Forderungen gehen über eine Predigt- und Katecheseerlaubnis hinaus. Es wird nichts weniger angemahnt als eine totale Kultfreiheit mit konfessioneller Neutralität der Obrigkeit. In dem Punkt ist Brecklings Schrift von nahezu überrumpelnder Stringenz. Es sei ja deutlich, heißt es, […] daß welche den Gottesdienst/ Druck/ Bücher/ und andere von Gott jederman in Freyheit gestelte Sachen/ nicht wollen frey lassen/ sondern uns den Gottesdienst verstöhren/ die Kirchen verschliessen/ den Druck verbieten/ die Bücher confiscieren/ das Schreiben wehren/ den Bekennern die Hände binden/ und den Martyrern gar die Zunge abschneiden/ offenbahre Antichristen/ Türcken und Teuffel seyn. […] da sie doch den Juden ihre Gottesdienste frey lassen/ und alle Heydnische/ Ketzerische/ und Satanische Bücher/ Narrenpossen/ Zauberkünste/ Lügen und Buhlen-lieder frey drücken und verkauffen lassen. O Europe! merck hier/ wie feine Prediger du hast.148

Im Rückblick erkennt man in dem hoch-rhetorischen Passus die Stoßrichtung, wenn die segensreichen Früchte der niederländischen Toleranz gegenüber dem »Babylonischen Gewissens-zwang« in anderen Ländern in den Vordergrund gespielt werden. Breckling hat sich die Freiheit für eine Reihe von theologischen Warnschriften zunutze gemacht, die in »Freistadt« (d. h. Amsterdam) gedruckt wurden. Vielleicht sollte man seine prekäre Stellung nicht aus den Augen verlieren, denn ohne Zweifel war er ein Schwärmer, 146 147 148

Breckling, S. 67. Breckling, S. 10. Breckling, S. 32.

350 ein Querulant obendrein. Er stellte sich gern in die Linie alttestamentlicher Propheten und arbeitete dann den Kontrast zu seiner Gegenwart heraus: Sollte jetzt ein Sacharja auftreten, »unsere Phariseer würden ihn bald ins Gefängniß stecken/ daß er nimmermehr in die Bibel hinein käme.«149 Wegen solcher Stellen ist Breckling für den heutigen Leser eher vergnüglich als verstörend. Den Zeitgenossen war er jedoch der irritierende Bußprediger, dem keine Kirche und keine Sekte genügte, und deswegen von der Freiheit in den Niederlanden einen eigenen Gebrauch zu machen gedachte: »Darumb ist die Freyheit allenthalben zu Lehren heut insonderheit hochnöhtig/ da das Ministerium in allen Secten eben so irrdisch/ verkehrt und verdorben/ ja noch viel ärger als zu der Phariseer zeit.«150 Er sah sich, in direkter Nachfolge Luthers, als einer der Propheten und Apostel, der »längst verdampte Ketzereyen wieder auf die Bahn bringen/ verthätigen/ und über die gantze Welt weiter außbreiten darff.« Damit hat er sogar im toleranten Holland den Bogen überspannt. Zur Zeit seiner Toleranzschrift wähnte er sich in Zwolle in Sicherheit, lebte allerdings im Bewusstsein, dass ihn die ›Pharisäer‹ längst »darumb verurtheilet und verdammet« hätten, »wenn Gott ihn nicht auß ihren Klawen und Gefängniß errettet.«151 Obwohl Breckling immer wieder mächtige Gönner fand, wurde er dann doch wegen »Kirchenkritik wie Lebensführung« (Dietrich Blaufuß) abgesetzt und 1668 aus dem Amt entlassen. An diesen wenigen Beispielen konnte gezeigt werden, wie von Twisck, Boomgaert, Borremans und Breckling das Bild eines religiös freiheitlichen und deshalb blühenden Landes heraufbeschworen wird. Breckling spricht nicht zufällig von vielen Menschen, die hier eine Zuflucht fanden. Die Toleranz wurde im 17. Jahrhundert offenbar stark in Anspruch genommen und großzügig gewährt. In der Hinsicht war die niederländische Republik tatsächlich die große Ausnahme, denn Duldung oder Toleranz waren damals »völlig unbekannte Haltungen.«152 Die Republik brauchte – es sei nicht vergessen – viele neue Arbeitskräfte, die Stadt Amsterdam war für ihren wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg zu wesentlichen Teilen von Immigranten abhängig.153 Das wirtschaftliche Motiv wird in den Toleranzschriften der Zeit nicht reflektiert, es lag im spezifischen Argumentations149 150 151 152

153

Breckling, S. 101. Breckling, S. 76. Breckling, S. 106 f. Notker Hammerstein: Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeitalters. In: N. H. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band I, 15. bis 17. Jahrhundert. München 1996, S. 57–101, Zit. 64. Siehe Jan Luiten van Zanden: The rise and decline of Holland’s economy. Merchant capitalism and the labour market. Manchester UP 1993. S. 46: »Due to the spectacular growth of employment opportunities and the city’s extremely high mortality rate, Amsterdam’s economy was exceptionally dependent on this influx of newcomers during the seventeenth century.«

351 zusammenhang auch nicht nahe. Auf der Hand lag vielmehr die religiöse Begründung von Gewissensfreiheit und Toleranz (extrem von Breckling vertreten) und der Hinweis auf ihren historischen Platz in der Kirchengeschichte (Anführung der auctoritates seit Castellio). Sie reicht aber in den hier behandelten Schriften weiter und schließt die politische Geschichte mit ein. Die Verankerung der Toleranz in der niederländischen Nationalidee ergänzt das religiös-ethische Moment auf willkommene Weise. Die Religionsfreiheit anbelangend, hatte sich eine Tradition ausgebildet, die allbekannt gewesen sein muss. Es war gleichsam eine stehende Redewendung, welche die Religionsfreiheit in der Republik aus dem Unabhängigkeitskampf der (späteren) Vereinigten Niederlande herleitet. Überall findet man die Spuren dieser Anschauung. Boomgaert z. B. verweist auf das Geschichtswerk von Pieter Christaensz. Bor (1559 – 1635), das anhand von zahlreichen Dokumenten die Geschichte der Unruhen und der Inquisitionsprozesse in den Niederlanden erzählt (ab 1595 in sechs Bänden erschienen). Außerdem hat ein älteres Werk eine Rolle gespielt, das als offiziell beglaubigte Dokumentation der Friedensverhandlungen zum Abschluss des »Abfalls« hohes Ansehen hatte. Dessen Verfasser, der friesische Jurist Aggeus Albada nimmt im Zusammenhang mit der Toleranzfrage einen besonderen Platz ein.154 Er hatte als junger Assessor am Reichskammergericht zu Speyer gearbeitet und wurde 1579 zum Mitglied der Gesandtschaft der Generalstaaten beim Friedenskongress von Köln ernannt. In dieser Funktion hatte er den Standpunkt der Generalstaaten zu verteidigen – wobei er entscheidend auf die Beratungen eingewirkt haben soll – und den Gang der Verhandlungen festzuhalten. Ihm fiel dann die Aufgabe zu, das Protokoll herauszugeben. Es erschien 1580 als Acta Pacificationis und 1581 als Acten Vanden Vredehandel gheschiet te Colen.155 Die Acta waren auch für Zesen eine wichtige Quelle; er zitiert sie als »Fr. H. die kölnische Friedens-Handlung zwischen dem Könige in Spanien/ und den Ständen der Vereinigten Niederländer.« Die Bedeutung für die Toleranzschriften liegt vor allem in den eingeschobenen Kommentaren, Zitaten und Anmerkungen, die neben den offiziellen Texten die Meinung der Generalstaaten (in deren Auftrag das Buch erschien) wie die Albadas 154

155

Vgl. Guggisberg: Sebastian Castellio im Urteil (wie Anm. 18), S. 50 ff. Hier auch biographischen Informationen (Anm. 11). Acta Pacificationis qvae coram sac. caesareae maiestatis commissariis, inter Seren. Regis Hispaniarum & Principis Mathiae Archiducis Austriae, Gubernatoris, &c. Ordinumque Belgii legatos, Coloniae habita sunt. Antwerpen 1580. – Acten Vanden Vredehandel gheschiet te Colen/ inde teghenwoordicheyt vande Commissarissen der Keyserlijcker Maiesteyt. Tusschen d’Ambassadeurs ende ghesanten des doorluchtigsten Conincs van Spaignen/ ende Matthias Aertshertoge van Oostenrijck/ Gouverneur etc. ende den staten van Nederlant. […] Ghetrouvvelijck beschreven uyt den Protocol der ghesanten vande Staten, ende overgeset inde nederduytsche sprake. Leiden 1581. (Ex. der Universiteitsbibliotheek der Vrije Universiteit:XE 05576 bzw. XE 05575).

352 selber zum Ausdruck bringen. Namentlich die Vorrede (datiert vom 6. Dezember 1579) ist »eine eigentliche Verteidigung der Toleranz und Glaubensfreiheit mit Berufung auf die Schriften verschiedener Kirchenväter« (Guggisberg). In den Kommentaren sind die Gewährsmänner, die Albada gewissenhaft anführt, in der Hauptsache die aus Castellios Farrago Bellii bekannten, so dass mit Sicherheit angenommen werden kann, dass Albada diese Schrift nicht nur gekannt und studiert, sondern bei der Niederschrift auch ständig herangezogen hat.156 Auf diesem Wege fanden Gedanken Castellios auch noch im 17. Jahrhundert ihren Weg. Am interessantesten für die historische Reklamation der Gewissensfreiheit in den Niederlanden sind m. E. die Artikel über die Religion (»Artijclen aengaende de Religie«), die raumfüllend in Albadas Dokumentation aufgenommen wurden (1581, S. 190 – 199). Mit Blick auf die Diskussionen über das Amt der Obrigkeit in Glaubensangelegenheiten ist die strikte Ablehnung jedweder Einmischung von Interesse: Die Obrigkeit dürfe nicht von Amts wegen Personen an die Stelle Gottes und in das Reich der Gnade Christi setzen, darin zu herrschen und zu leiten, zu gebieten und zu verbieten.157 Damit wurde schon im 16. Jahrhundert der Grund gelegt für die Deutung der in den Niederlanden geübten Toleranz: Gewissensbzw. Religionsfreiheit und national-politische Freiheit werden auf diese Weise in einen so engen Funktionszusammenhang gerückt, dass ein Begriff zugleich den anderen mit evoziert. Bei Zesen findet man ebenfalls die Annahme solcher Zugehörigkeit, – nichts ist auch natürlicher. Denn er hat Albada breit rezipiert und zitiert. Er hebt hervor, wie dieser »den anwesenden Keiserlichen und Königlichen Befehlichten mit großer freimühtigkeit zugeredet« habe.158 Eine ausdrückliche laus gubernatorum sucht man in seinem Buch aber vergebens; die Dokumente sprechen schon für sich. Es geht bei den hier in gebotener Kürze vorgestellten Toleranz-Schriften um aktuelle Situationen und Vorstellungen, damals wie heute. Die religiöse Toleranz, die so nachdrücklich für die Republik im 17. Jahrhundert reklamiert wurde, hat das Geistesleben jener Zeit merklich beeinflusst. Sie dürfte eine Einübung in andere Denksysteme und Vorstellungswelten gewesen sein, eine Art von Denkschule, in der geistige Offenheit gelehrt wurde. Die Literatur fixiert ein vertrautes Bild (Toleranz als »nationales Marken156

157

158

Siehe Guggisberg, Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt, S. 52 f., vor allem Anm. 20 mit der Auflistung der zitierten Castellio-Passagen. Zesen wird auch Mino Celsis Traktat aus dieser Quelle gekannt haben, Albada zitiert: »De haereticis coercendis quatenus progredi liceat.« Acten 1581, S. 19: »Daeromme is de Magistraet qualick geleert ende onderwesen/ dat sy lieden hebben laten stellen van weghen haerlieder officie in de plaetse Gods/ ende int rijcke van der ghenaden Christi/ om dat sy daer inne souden regeren ende gouuverneren/ gebieden en verbieden.« Handschriftliche Anmerkung: »Religions vrijheyt« (wie im Titel des Buches von Twisck). Die Stelle bei Zesen: Bd. XIII, S. 251. SW XIII, S. 250, 3 ff.

353 zeichen«). Zesen konnte an eine Tradition anknüpfen, als er die Gewissensfreiheit an die altüberlieferte politische Freiheit zurückband. Wie oben bereits in Erinnerung gerufen wurde, hat er in seiner historischen Beschreibung Niederländischer Leue (1677) den uralten Freiheitsdrang der Niederländer ins Zentrum gestellt. Das ganze Buch sollte »erweisen/ wie der Betauer zwar vielmahls gedrückte/ doch niemahls unterdrückte immerwährende Freiheit […] vom ersten begin dieses weltberühmten Volkes an/ auf einerlei weise gehandhabet worden.«159 Diesen Mythos, der auf den Kampf der Bataver gegen die Römer zurückdatiert und über den Freiheitskampf des 16. Jahrhunderts bis ins Goldene Zeitalter hinaus verlängert wird, stützen in der kulturellen Landschaft der Zeit biblische Bezüge und Parallelfiguren. In Malerei und Dekoration wird die Verbindung zum Volk Israel gelegt, das aus der ägyptischen Knechtschaft ausgezogen und von Gott unter Moses’ Leitung in die Freiheit geführt wurde. Eine biblisch grundierte Auszeichnung enthält natürlich eine ethische Verpflichtung, sie ist hier mit Händen zu greifen. Die Rhetorik der national narratives, früher und jetzt, zielt auf eine nationale Einheit, mit der sich jeder identifizieren kann. An der Toleranzfrage, wo in solch regressivem Selbstbild Vergangenheit und Gegenwart zusammenkommen, lässt sich das bis ins Detail nachweisen. Das sichert ihr die Aktualität, die sie unübersehbar intendiert. Sie knüpft mit dem historischen Band der Einheit alle diejenigen zusammen, auf deren Wirken die niederländische Freiheit beruhe. Die Religions- und Gewissensfreiheit erscheint so als das Ergebnis einer gemeinsamen Geschichte, aber ebenso sehr als deren Voraussetzung. In diesem Sinn wäre Toleranz durchaus ein niederländisches Spezifikum. Dessen war man sich in und außerhalb der Republik bewusst. Zum Schluss sei noch Folgendes angemerkt. Was in früheren Zeiten als ein »Wunder« angesehen wurde – hier die Staatsform der Republik der Vereinigten Niederlande und ihre wirtschaftliche und geistige Blüte – ist es bei nüchterner Analyse und rationaler Betrachtung natürlich keineswegs. Einer modernen Definition zufolge ist ein Wunder nur das Herbeigewünschte, wovon man glaubt, es sei von Gott oder Göttern in weltlichen Angelegenheiten verursacht.160 Ferner ist die im Quellenmaterial emporstilisierte religiöse Toleranz als besondere Auszeichnung und geistiges nationales Merkmal eines von Gott gesegneten Volkes in der Republik ebenfalls kein »Wunder«, sondern in der historischen Distanz des Heute erkennbar als das Produkt einer (re)konstruierten Geschichte (oder als Konstrukt eines Konstrukts). Die national narratives zeigen deutlich ihre Funktion inner159 160

SW XV/2, S. 467. R. Stark / R. Finke: Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion. University of California Press 2000, S. 109: »Miracles are desirable effects believed to be caused by the intervention of god or gods in worldly matters.«

354 halb einer rhetorischen Zielsetzung, die allenfalls in nationalem Wunschdenken wurzelt. Das wird um so mehr erkennbar im Vergleich zu der heute sich etablierenden »Global History.«161 Gleichfalls wirft die neue Buchreihe Nederlandse cultuur in Europese context ein anderes Licht auf die historischen Befunde, die damit eine gesunde Relativierung erhalten. Das mahnt zur Bescheidenheit angesichts der offensichtlich beliebten national-geschichtlichen Kanonbildungen. Es tut aber dem Meinen und Empfinden der Zeitgenossen, die in unserer Darstellung zur Sprache kamen, keinen Abbruch. Vor diesem Hintergrund erhält das vielverhandelte Toleranzthema eine eigene Tiefenschärfe und bekommen Zesens Schriften Wider den Gewissenszwang eine neue Sinndimension – oder anders: werden sie in ihrer instrumentellen Bedeutung und strategischen Funktion erkennbar.

161

Vgl. B. Mazlish: Comparing Global History to World History. In: Journal of Interdisciplinary History 28 (1998), S. 385–395.

11.

Moralia Horatiana. Mythologie. Prirau als ein antikes Tempe-Tal

11.1

Moralia Horatiana

Die Emblemliteratur, eine feste Wort-Bild-Kombination, erlebte in der Frühen Neuzeit eine wahre Blüte, an deren Anfang man allgemein Andrea Alciatos Sammlung Emblematum liber (Augsburg 1531) stellt. Es ist eine Form der Lehrdichtung, die an die Bildlichkeit gebunden (anders als etwa Parabel und Exempel) und durch Dreigliedrigkeit gekennzeichnet ist: Überschrift oder Motto (Inscriptio), Bild (Pictura), erläuternde Bildunterschrift, meist in Form des Epigramms (Subscriptio). Oft folgt noch ein (lehrhafter) Prosakommentar zur dargestellten Lebensweisheit. Es gab politisch-ethische, religiöse (jesuitische!), alchemistische u. a. Emblembücher, manchmal waren sie auch auf politische Ereignisse ausgerichtet wie z. B. Johann Vogels Meditationes emblematicae de restaurate pace Germaniae (Nürnberg 1649). Die internationale Emblemforschung ist besonders seit den 60er und 70er Jahren ein beliebtes Arbeitsfeld der Literatur- und Kunstwissenschaft.1 Die Text-Bild-Kombinatorik lässt mehrere Schwerpunktsetzungen und Zuordnungen zu. Legt man das Gewicht auf die Pictura, dann sind die textlichen Elemente der Inscriptio und Subscriptio die Bilddeutung steuernde Teile. Ist die Inscriptio durch die sentenzenhafte Kurzfassung auslegungsbedürftig, erhalten sowohl die Subscriptio wie die Pictura relevante interpretatorische Funktion. Es können also im dreigliedrigen Gebilde Funktionsverschiebungen auftreten, die von einer unterschiedlichen Prävalenz abhängig sind: von Bedeutungsstrukturen literarischer Texte oder Sinnkomplexen piktoraler Art. In solchem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis erfüllt, wie Ingrid Höpel es formuliert, »die eine Kunst Hilfsfunktionen für die andere« – Entweder »wird der Textteil zur Interpretationshilfe für die Pictura herangezogen«, oder die »Pictura kann auslegende und damit ›literarisch‹ in Form einer bildhaften Kommentierung ihrer selbst wer-

 1

Vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin / New York, Bd. I (1997), S. 435 ff. (Art. Bernhard F. Scholz). Das bekannte Werk Emblemata, hg. v. Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Stuttgart 1967), ist die reichste Sammelausgabe unserer Zeit.

356 den, und die Subscriptio kann die Pictura beschreibend ergänzen und damit ›bildlich‹ wirken.«2 Die emblematischen Wort-Bild-Folgen hatten von jeher eine moraldidaktische Funktion. Der Mediziner und Historiograph am Hof Kaiser Maximilians II. und Rudolphs II., Johannes Sambuccus, verfasste eine bekannte Schrift zur Emblemkunst: Emblemata (Antwerpen 1564). Höpel nimmt auf seine Darstellung der Pictura »die Poesie« Bezug: eine weibliche Figur mit Lorbeerkranz, in der linken Hand hält sie Schere und Stab, in der rechten Pinsel und Palette als die Werkzeuge der Malerei. In der Subscriptio wird hervorgehoben, dass sie (die Poesie) die Wirklichkeit mischt »mit erdichteten und erfundenen Zuständen und Ereignissen«.3 Der Emblematiker hat bei ihm also die gleichen Freiheiten wie der Dichter, er kann auch Mythologisches oder etwa Historisches mit einfließen lassen. Ganz anders sah das Emblemkonzept seines Zeitgenossen Nicolaus Taurellus aus. Dieser war Professor der Philosophie und der Medizin in Altdorf und vertrat ebenfalls eine Form der Belehrung durch Anschauung. Aber er zielte vornehmlich auf die Dinge der Natur, Fabel und Mythologie verboten sich daher von selbst. Er meinte ferner, dass die emblematische Bedeutsamkeit der Natur durch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen erfahrbar und so in ihrer Gesetzmäßigkeit für die Sitten einsichtig sei. Aus diesen Gründen musste er, anders als der humanistisch orientierte Sambuccus (er war ein namhafter Editor klassischer Autoren), auf die eigene Erfindung wie auf Phantastisches und Wunderbares verzichten und bei der Gestaltung der Pictura auf ihre Anschaulichkeit achten: Da es ja die wichtigste Zierde und Nützlichkeit der Embleme ist, daß sie sittliche Vorschriften erhellen, begründen und bestätigen, ist es gewiß angemessener, die Natur nachzuahmen als ich weiß nicht welche Ungeheuer der menschlichen Phantasie, Ungeheuer, die nicht gewisser sind als jene Kreise, die die Fliegen in der Luft beschreiben. Die Natur aber bietet uns Dinge, die wahrhaft existieren und durch ihre bestimmte und dauerhafte Seinsweise unsere Sinne beeinflussen.4

Gerade in der Gegenüberstellung so unterschiedlicher Konzepte emblematischer Arbeit erhellt die historische Bandbreite der Möglichkeiten. Taurellus, von seiner Beschränkung auf die Naturdinge her sein Emblembuch konzipierend, drückt das programmatisch im Titel aus: Emblemata physico-ethica, hoc est, Naturae Morvm moderatricis picta praecepta (zuerst 1595, editio secunda Noribergae 1602). Die unterschiedliche Begriffsbestimmung erlaubt es Sambuccus, seiner Personifikation der Dichtkunst mit der Freiheit in Stoffwahl und Darstellungsweise auszustatten: »der  2

 3  4

Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch. Frankfurt a. M. 1987, S. 33. Höpel, S. 140. Höpel, S. 146; das lateinische Original in Anm. 250.

357 Dichter [steht] zwischen Chaos und Schöpfung, ist Herr über Realität und Phantasie.«5 Aber am meisten wundert aus heutiger Perspektive die Verbindung der Poesie mit den Attributen der Malkunst. Sie ist in August Buchners Auffassung des Schaffensbegriffs vorbereitet. Wo Buchner formuliert: »Schaffen ist etwas wesentliches machen«6, da meint er, der Poet vermöge die Sachen, »so niemals gewesen/ gleich als wären Sie/ fürzustellen.« Das ist ein Begriff aus der Malerei und zielt darauf, Nichtexistentes als Existentes so plastisch vorzustellen, dass es in der künstlerischen Vergegenwärtigung gleichsam zur Neuschöpfung wird. Man schätzte am Gemälde namentlich die täuschende Ähnlichkeit mit der Natur.1642 äußert Zesen sich im Vorbericht zu seiner Gedichtsammlung FrühlingsLust über die Wunderwerke der Malerei folgendermaßen: »Es ist mir auch noch in frischer Gedächtnüß das wunderschöne Jungfer-Bild/ so an einer Thüren des Zimmers entworffen/ darauff ich dann dazumahl heimlich bei mir also spielete«: Wie lebstu? oder nicht? Du wunderschönes Bild? Es macht mich gar verzückt der blancken Brüste Schild: So offt ich wil die Thür auffmachen/ So offt pflegstu mich anzulachen: Kan diß der Schatten thun? Was würde wohl geschehn/ Wan ich dein ursprungs-Werck lebendig solte sehn? Ich kan mir fast nicht bilden ein/ Daß du solst ohne Seele seyn.7

Zesens Zeit war wie versessen auf Gemälde und Porträts, zu keiner Zeit erfreute sich die Malerei solcher Beliebtheit. Die vornehmen Häuser glichen privaten Kunstsammlungen, die Wände waren über und über mit Gemälden bedeckt; vom Boden bis zur Decke hingen Landschaften, Porträts und allegorische Darstellungen über–, unter- und nebeneinander. Die Wohnräume von Schloss Pommersfelden haben solche charakteristische Ausstattung noch am reinsten bewahrt und vermitteln heute noch ein eindrucksvolles Bild der barocken Bilderwut. Die Malerei mit ihrer lebendigen Darstellung und ihrer staunenswerten Anschaulichkeit wurde zum Ideal der Dichtkunst. Die Barockdichter greifen gern auf Horaz zurück: »Ut pictura poesis« (Ars poetica, 361). Immer wieder begegnet der Vergleich von Malerei und Dichtkunst. Bei Buchner steht etwa zu lesen: »Keine Kunst ist der Poesi so nahe anverwandt/ als die Mahlerey/ denn sie beide der Natur nachahmen […] und was der Mahler mit Farben thut/ das thut der Poet mit Worten/ darum die Mahlerey eine stumme Poesi/ die Poesi aber eine redende Mahlerey von den Alten genennet.«8 Der Malerei-Vergleich nimmt in  5  6  7  8

Zit. bei Höpel, S. 140. Buchner, Poet, S. 26. FrühlingsLust, SW. Bd. I/1, S. 41. August Buchners kurzer Weg-Weiser zur deutschen Tichtkunst […] hervorgegeben

358 der barocken Literaturtheorie topischen Charakter an. Auch die Stadt Amsterdam verknüpfte die Bildkünste mit ihrem Farbenreichtum, die in ihrem Schutz gedeihen würden, mit der berühmten Seefahrt: »De Stad zal zich zoo ver, door hare verven| Doen roemen, als haar scheepen zee beslaan.«9 Hatte Buchner sich damit begnügt, die Poesie von der Philosophie abzuheben, weil es in den nachahmenden Künsten nur auf »eine äusserliche erkäntnis« der Dinge ankomme und nicht, wie in der Philosophie, auf »eine volkömmliche Wissenschaft«,10 so gehen die Dichter der jüngeren Generation über ihn hinaus. Der Nürnberger Harsdörffer stellt die Arbeit des Dichters und des Malers kontrastierend nebeneinander: »Die Poeterey ist eine Nachahmung dessen/ was ist/ oder seyn könt. Wie nun der Mahler die sichtbarliche Gestalt und Beschaffenheit vor Augen stellet/ also bildet der Poet auf das eigentlichste die innerliche Bewandtniß eines Dings.«11 Zesen setzt ebenfalls an diesem Punkt an: »Dan ein Mahler […] entwirft nur mit farben oder zügen das äuserliche sichtbare wesen und gestalt der menschen[…]. Ja er reisset/ zeuchnet und zühet nur das jenige nach/ was er für augen hat […]. Aber was er nicht sihet/ oder gesehen hat/ […] das kan er auch nicht entwerfen.« Demgegenüber aber verfügt die Dichtkunst über eine sonderliches Vermögen, welche unsichtbahre dinge (o welch ein wunder/ und was kan die kunst nicht tuhn!) sichtbar/ vernehmlich/ ja leserlich machen und ausbilden/ ja das jenige/ was der mund gesprochen oder das ohr vernommen/ und/ das noch wunderbahrer ist/ was das gemühte in ihm selbst erst unsichtbahrlich verfasset/ und er noch nicht gehöret/ noch gesehen/ alles zugleich sichtbar und den augen vernehmlich darstellen kan. und so ist der mahler ein abbilder und entwerfer der sichtbahren dinge sichtbahrlicher weise. Der schreiber aber ist ein ab-bilder und entwerfer der unsichtbahren dinge sichtbahrlicher weise. Ja die schrift ist eine stumme/ doch sichtbahre rede; und die schreiberei ist eine halb-götliche kunst und unbegreifliche Mahlerei ihres verborgenen uhrsprungs wegen.12

Damit ist nun nach Zesens Meinung die Dichtkunst die höhere der Schwesterkünste. Deshalb knüpft er in der »Vorrede an den Tugend-geflissenen

 9

10

11 12

durch M. Georg Gözen. Jena 1663, S. 46. Zit. nach Szyrockis Ausgabe der Anleitung, Nachwort 11. Jan Vos, Zeege der Schilderkunst (Amsterdam 1654), 149 f. Zit. nach Nina Geerdink, Jan Vos’ Zeege der Schilderkunst. In: Nieuw Letterkundig Magazijn. Jg,XXVIII, Nr. 2, Dez.2010, S. 45–50. Dazu auch G. Weber, Der Lobtopos des ›lebenden‹ Bildes. Jan Vos und sein ›Zeege der Schilderkunst‹ von 1654. Zürich / Windesheim / New York 1991. Buchner, Poet, S. 27 f.: »Wird genug seyn/ daß der Poët ein Thun darstelle/ wie es entweder ist/ seyn soll/ oder mag/ das übrige aber andern befehle. Gleich einem Mahler seinem Ambte gnug gethan/ wann er etwas so abbildet/ daß man erkennen kann/ was es sey/ ob gleich die innerliche Beschaffenheiten/ und sein gantzes Wesen nicht angedeutet ist«. Harsdörffer, Poetischer Trichter, II. Teil (1653), S. 7. Rosen=mând, SW Bd. XI, S. 130 f.

359 LESER« zur Einführung seiner Moralia Horatiana zugleich im ersten Satz an die Malerei an, die er in den höchsten Tönen lobt: Unmüglich ist es alle schöne dinge lieben/ und nicht auch zugleich der Mahler-kunst mit liebe begegnen. Diese ist die allereuserste würkung der innerlichen bildungs-kraft/ so wohl / als der Kunst selbsten. Sie ist die schwester der Dicht-kunst; und die zweite mitbuhlerin und nachahmerin der Natur. Sie würket die endliche vollziehungen des schönsten zierrahts der allerheiligsten götlichen/ so wohl/ als weltlichen Königlichen/ gebeue. sie ist die lieblichste und unschuldigste verführerin der augen. Die allerberühmtesten Stahts-wesen haben die Mahler/ gleich den überwindern/ gekröhnet; und ihre nahmen in eben dasselbe ertz graben laßen/ darinnen sie das gedächtnüs ihrer Obrigkeiten und Krieges-helden verwahrten. Ja sie schätzten derselben Kunst-stükke vor welt-bekante zeugnüsse der fürtrefligkeit ihrer herschaft; und damit dieselbigen unter dem volke geehret würden/ so haben sie solche/ als geheiligte werke/ unter die zahl ihrer Gottheiten geordnet. Man hat üm die beute eines einigen gemäldes schlachten geliefert. Man hat feindliche städte nicht verletzen wollen/ damit ein einziges gemälde unverletzet bliebe. […] Wan die berühmten Mahler zu unserer Voreltern zeit so wohl belieben getragen hetten/ zu unterweisen/ als sie lust hatten zu ergetzen/ […] so würde man sie dem Sokrates und Zeno gleich geschätzet/ und in ihren Kunst-läden den Nutzen so wohl/ als die Ergetzung/ gesucht haben.13

Zugleich beklagt er also jene Maler, die sich wenig um die Verbindung ihrer Kunst mit der »wahren Weisheit« gekümmert, das delectare wohl, aber das prodesse (Horaz!) nicht eifrig bedacht hätten: »sie seind meistenteils leichtsinnige und rauch-verkauffende fuchs-schwäntzer und Liebe-diener gewesen/ welche die Gewaltigen/ damit sie gunst an ihren höfen erlangten/ fast alle vergötlichet«. Dafür beruft er sich auf Zeno, er war der »weltberuffene stifter des allerstrengesten Ordens/ den man jemahls auf erden vernommen/ ja der feind des fleisches und des bluhtes«. Dieser hätte dem Fehler abhelfen können. Er hatte ja in Athen den Bau eines »prächtigen Lust-Saals« veranlasst, der nicht nur ein imposantes Bauwerk, sondern insbesondere durch das Innere ein »zuvor nie gesehene[r] zierraht« gewesen, »der mit dem euserlichen nicht einmahl zu vergleichen.« Man trat über eine Marmortreppe in einen schönen Saal, wo »die allerkünstlichsten mahler […] aller ihrer sinnen und innerlicher bildung euserste kraft ausgeschüttet« hätten. Die Beschreibung wird fortgesetzt mit den Gemälden, die die »damahlige allerlauterste Glaubenslehre von der Götter natur zu gläuben lehrete.« Dann geht es auch noch an den Seitenwänden weiter: »Auf jeder seiten sahe man noch andere hundert große tafeln/ darauf/ als in einem schriftlichen entwurf/ die gantze gestrenge Lehre der Ernst-sittigen/ und Stoischen […] eröfnet stund« (S. 11 f.). Die Bedeutung dieser Gemälde liegt auf der Hand: »Alhier veränderte Zeno die angebohrenheit des menschen/ und machte aus einem elenden spielball der zeit und des glüks/ einen helden/ der auch mit Jupitern selbsten/ des ehrenruhms und der glükseeligkeit wegen/ zu streiten fähig.« Deshalb genoss der Saal große Wertschätzung: 13

Zitiert wird nach den SW Bd. XIV, S. 10 f.

360 »Dieser heilige bau ward […] lange zeit in eben den ehren gehalten/ als die allerheiligsten gebeue der Götter selbst.« Sie seien aber von den Feinden, Persern und Römern, zerstört worden und es sei auch nichts Schriftliches von dem lehrhaften Schmuck der »Verwandlungs-schule« überliefert. Jedoch habe zum Glück ein »reisender Liebhaber« mehrere Abbildungen gefunden und sei in der Meinung gewesen, diese seien »erfindungen aus den Kunst- und lehr-tafeln des Zeno genommen« und habe damit das Gedächnis an sie erneuert (S. 12). Sie stehen nun jedermann offen, dem »die liebe zur tugend zur erkentnüs seiner geheimnüsse beruffet.« Ich, so sagt Zesen, werde der »geleitsman« sein, der »ihnen zugleich den eintrit in solche heilige wohnung belobet.« Man müsse aber konzentriert den nachfolgenden Inhalt betrachten und lesen: »Aber damit wier auch unserm verhoffen nach/ nutzen schaffen/ so müssen wier alle gantz eingehen/ und unsere gemühter/ inzwischen/ daß die augen auf diese tafeln fallen/ nicht zurük in den wollüsten und eitelkeiten der welt laßen/ welche hierinnen/ als der wahren glükseeligkeit ärgste tod-feinde/ verdamt werden« (S. 13). Diese lobende Schilderung der stoischen Philosophie geschah wohl im Vorgriff auf die Vorrede zum 2. Teil der Sitten-lehre, die auf den Seiten 193–195 in diesen neuen Teil einleitet. Es heißt hier: »Wier haben alle Kunst- und lehr-tafeln betrachtet/ welche die rechte seite des berühmten Kunst-sahls gezieret; und ich würde unserer rechtmäßigen und tugendgeflissenen begierde ungleich tuhn/ wan ich zweifelte/ daß unter uns allen ein einiger zu finden/ der nicht auch so wohl die augen des gemühts/ als des leibes/ auf so ein schönes schau-werk geworfen. Weil dem nun also ist/ so haben wier alle/ so wohl tugenden/ als laster […] angemärkt und behertziget.« Zesen meint, dass er damit auch den »halb-blinden« sehend gemacht hat, indem er »den vorhang vor so klugsinnigen kunst-tafeln weggezogen« und das vom Künstler Gemeinte »recht eigendlich entdekket und vor augen gestellet.«Jetzt sei es nicht mehr möglich, dass eine »gemühts-regung/ noch einiges laster/ sie mögen geschmünket und vermummet sein/ wie sie immer wollen/ keines weges mehr fähig sein können/ die einfalt oder das blöde gesichte der anschauer zu betöhren« (S. 193). In diesem Teil geht es offensichtlich um Laster und Untugenden, die einzeln aufgeführt zu werden scheinen. »Die boßheit lieget nicht mehr unter der dekke; ihre schmünke siehet man märklich. ja ein jeder kan ihre fall-strükke und fußangel sehen und meiden«. So wird die Reihe auf der nächsten Seite fortgesetzt, damit sie sich dem Benutzer einprägt: »Die falsche liebe ist so wankel-mühtig/ so grausam und so mistreu abgemahlet/ daß niemand mehr/ es möchten dan etliche willig-unbesonnene sein/ ihren pfeilen zum ziel/ und ihren flammen zum zunder dienen solte. Der Hochmuht/ welcher seines falschen scheinadels wegen/ rühmlich zu sein scheinet/ hat seinen aufgeblasenen prächtigen nahmen […] gäntzlich verlohren. wier haben ihn entmaschket/ und […]

361 den purpur ausgezogen; ja weil wier seine unwürdigkeit und angemaßten mietlings-schein so gar kentlich gemacht/ wird er hinfort/ unseres erachtens/ niemand mehr/ als nur ehrlose mietlings-gemühter/ entzükken können.« So streift er noch den Zorn, die Mißgunst, der Geiz, die Hoffart etc., »ja alle andere laster seind daselbsten sotahnig vorgestellet/ als sie sich befinden.« Man sieht, Zesen hat sich ins Zeug gelegt, ja nichts zu übergehen, was »dem fleissigen bau der weisheit gemäß« zu vermeiden ist. »Unser neuer Zeno« ist der Meinung, dass er die Leser nicht mit Unwahrheiten oder Unehrlichkeiten gleichsam aufhält: Er stellt sie uns vor »als spiele und ergetzungen vor die reichen; oder aber zum trost/ ja als noht-hülfen und entsatzungen vor diejenigen/ die mit dem glükke nicht alzu wohl stehen. Sie seind auch überdas und in wahrheit anders nichts/ als die ersten aufgaben/ und frage-stükke/ die uns die Weisheit vorgiebet/ damit wier also gemach und gemach zur erkentnüs dieser großen Kunst/ dieses götlichen Kunstwerkes/ und unaufhörlicher übung der helden und engel selbst/ die auf die freie unverbundene Weisheit gerichtet/ gelangen sollen.« So wird uns dieses Buch eines so »getreuen Weisemeisters« nur Nutzen bringen. Und »indem wier die Tugend uns zur geleits-frau in unsrem gantzen leben erwählen/ so werden wier so glükseelig sein/ daß sie uns auch im tode selbst nicht verlaßen wird« (S. 195). Horaz ist der meist zitierte Autor der Antike (daher auch der Titel des Buches), aber es finden sich auch viele andere neben ihm. Er bedichtet häufig Alter, Tod und Vergänglichkeit in seinen Carmina (I,11; II,3; 11; 14; 16; 17) und ruft dabei zur rechten Lebensführung auf bzw. zum rechten Genuss der gegenwärtigen Zeit und des Augenblicks, zur Ausgeglichenheit, Harmonie und Maßhalten (aurea mediocritas II,10,5). Auch spielt dort der bekannte Zusammenhang von vinum, sapere und sapientia eine Rolle: I,7; 11; II,2; 3; 11; 15; 17; III,17. Es wird angenommen, dass Horaz Anregungen aus der griechischen moralphilosophischen Diatribenliteratur aufgenommen hat, wie II,14 über die Vergänglichkeit, II,15 über den Reichtum, II,16 über die Unerschütterlichkeit, III, 1 die selbständig-autarke Persönlichkeit, III, 24 die Habgier, das Selbstgefühl angesichts des Todes II,19 und 20; III, 13 und 25; die Schlusslieder des II. und des III. Buchs. Obwohl er nicht eigentlich ein populärer Dichter war, zeigt er sich in späterer Zeit in selbstbewussteren Reflexionen.14 Die zentrale Mitte bilden nach wie vor die Kategorien des sittlichen und sozialen Verhaltens. In den Moralia Horatiana werden diese Themenfelder und Themenkomplexe insbesondere dadurch erhellt, dass in der Regel keine Fabeltiere oder mythologischen und allegorischen Gestalten in der Pictura dargestellt wer14

Der Kürze halber wurde hier dankbar folgender Lexikonartikel zu Rate gezogen: Paul Kroh, Lexikon der antiken Autoren. Stuttgart 1972 ( Kröners Taschenausgaben Bd. 366).

362 den (mit Ausnahme von Mors, Putten, Bacchus und dergleichen), so dass ein Höchstmaß an Anschaulichkeit und Konkretheit ermöglicht wird. Funktions- und Bedeutungsträger sind als Menschen erkennbar, was ihre exemplarische Vergegenwärtigung in den Sinnsetzungen erleichtert.15 Zesen hat sich selbstverständlich mit den Gattungstraditionen beschäftigt, auch in diesem Fall, wo die Bedingungen der inventio im Grunde mit dem französischen Original großenteils vorgegeben waren. Die Erstausgabe erschien 1607 in Antwerpen unter dem Titel Q. Horatii Flacci Emblemata, entworfen von Otho van Veen (Octavius Vaenius). Dieser war Kupferstecher, wurde 1556 in Leiden geboren und starb 1629 in Brüssel. Er hatte u. a. in Rom gearbeitet und lebte seit 1583 ganz in den südlichen Niederlanden; er hat sich 1593 in Antwerpen niedergelassen. Hieronymus Verdussen lieferte die Kupferstiche. Das Buch war eine der ersten umfangreichen Emblematiken, wurde in kurzer Zeit sehr populär und erlebte zahlreiche Neu-Auflagen und Bearbeitungen. Es war mit 113 gestochenen Sinnbildern eine teure Ausgabe. Die Edition von 1656, die in den Sämtlichen Werken gedruckt wurde (Bd. XIV), erwähnt den Namen von Kornelis Dankers als Verleger zu Amsterdam. Die Epigramme der Erstausgabe stammten von dem niederländischen Dichter Gerbrand Adriaensz. Bredero (1585–1618). Er war Mitglied der Dichtervereinigung »De Eglantier«, kannte Hooft, Grotius und Heinsius und studierte die klassischen Autoren in Übersetzung. Zesen hat auf der französischen Ausgabe aufgebaut, für welche der Romanautor Marin Le Roy de Gomberville die Prosa-Erklärungen verfasst hatte: La Doctrine des moeurs, tirée de la Philosophie des Stoiques (Paris 1646). Zesen hat recht frei übersetzt, was einem zusätzlichen Nachwort zu entnehmen ist (S. 325 f.), das sich an den »Kunst= und gunst-geneugten Liebhaber« richtet. Die Sinnsprüche aus der lateinischen Antike würden sich hier im Verbund mit der Dichtkunst und der Malerei zeigen, eine die andere »erklähret und gleichsam belebet« – seien doch jene »ein redendes gemälde/ diese aber eine stumme dichterei genennet.« Auf Bitte des Verlegers habe Zesen nicht allein die deutschen »Reimbände« hinzugefügt, sondern auch die französischen Erklärungen »in unser Hochdeutsch (wiewohl an vielen örtern nach meinem eignen guhtbefinden/ und nach erheischen der bild-tafeln selbst/ in etwas verändert und vermehret) übergetragen.« Daran schließt sich ein für Zesen charakteristischer Passus an, der auf die Sprachrichtigkeit des Deutschen zielt. »Auch habe ich unserer edlen mutter-sprache den hohn und schimpf nicht antuhn wollen/ sie mit fremden undeutschen wörtern aus zu flikken und zu verunehren/ ungeachtet der 15

Für die mittelalterliche Literatur vgl. Leonie Franz: Wahre Wunder. Tiere als Funktions- und Bedeutungsträger in mittelalterlichen Gründungslegenden. Heidelberg 2011. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte)

363 schmachsüchtigen/ mehr töhrichten/ als klüglichen wider-bälberns etlicher der Hochdeutschen Mutter aus der ahrt geschlagenen oder vielmehr Bastahrt-kinder.« Es werden dann noch anderer Autoren gedacht, die »dasjenige/ was die Höchstlöbliche Fruchtbringende Geselschaft und Deutschgesinnte Genossenschaft disfals rühmlichst gebauet/ so unbedachtsam wiederüm nieder zu reisen bemühet« sind. Hier sah sich dann doch der für seine Sprachbemühungen bekannte Autor genötigt, das Wasser auf seine Mühle zu leiten. Im Übrigen sind die beiden Emblematiken in dieser zweibändigen, aufwendigen Aufmachung (der 2. Band hat auch noch einmal 43 Kupfer) ein glatter Erfolg gewesen. Es erschien 1684 in Amsterdam bei Hendrik Wetstenius eine weitere Auflage, schließlich die sog. Polyglott-Ausgabe von 1755: Le spectacle de la vie humaine, ebenfalls mit einer deutschen Ausgabe ausgestattet: Das Schauspiel des menschlichen Lebens, Frankfurt und Leipzig (Verlag Van Düren). Die in den Emblemen begegnenden Denkfiguren stammen geistig und mentalitätsmäßig aus der Antike, sind jedoch in der Reflexion der Frühen Neuzeit häufig noch als selbstverständlich gegenwärtig. Die Kulturkonzeptionen zeigen mehr strukturelle Konstanz, als man etwa erwarten sollte. Aber ihre ideengeschichtlichen Quellen liegen in einer Bildungstradition, die – wie Zesen ausdrücklich bemerkt – ohne Rücksicht auf Standes- und Berufsunterschiede Geltung beansprucht. Der »auf weisheit geflissene Künstler« hat uns »bisher alle beschaffenheiten und berufsstände des menschlichen lebens […] gezeuget.« Er sei aber der Meinung, dass »wir dieselben wählen/ die uns am meisten geziemen. […] Wan ihnen aber etliche derselben verächtlich/ und den handwerkern anständiger und ziemlicher zu sein scheinen/ so sollen sie wissen/ daß unser neue Zeno ihres wahnes nicht ist. Dan er lebet der meinung/ daß kein handwerk verächtlich sei/ wan es der mensch in einfalt treiben kan« (S. 194 f.). Bei solchen Verständnisansätzen kann man schon von Bereitschaft zur Herausforderung allgemein menschlichen und in echtem Sinn humanistischen Engagements sprechen. Hier werden Grundorientierungen angeboten im Verbund von Ethik und Ästhetik, die quer durch die historischen Epochen dazu geeignet sein dürften, von denkenden Menschen verstanden und rezipiert zu werden. Die dem Emblembuch inhärente Wechselbeziehung zwischen den Künsten mag Zesen sowohl eine ästhetische »Provokation« als auch eine dankbar ergriffene Chance ethischer Einflussnahme in ungewohnter Problemlage geboten haben. Wenn er auch Vorgängerwerke zu Rate gezogen haben sollte, dürfte er wohl nicht weniger Rücksichtnahme auf individuelle Bedürfnisse gezeigt haben, wie sie sich ihm hier boten. Denn Zesen war in seinem Werk auf den Menschen und dessen Nöte und Sorgen ausgerichtet. Zwar sagte man damals: »Klappern gehört zum Handwerk«, aber man hat doch keine Veranlassung, seinen guten Willen anzuzweifeln: »Es ist meine

364 Schuldigkeit/ meine Lieben/ ja es ist die schuldigkeit aller menschen/ die ihren Heiland bekennen/ daß sie das pfand/ das sie von seiner gnade empfangen/ nicht vor sich allein behalten/ sondern auch darvon ihren mit-brüdern/ und mit-schwestern/ nach ihrem vermügen/ mitteilen sollen.«16 Und da er sich »nach jedwedern beruf/ und stande gericht«/ ist hier »der hohen ümschweiffigen/ aufgeschwollenen reden pracht vermieden«17 Damit legitimiert er den einfachen, für jedermann begreiflichen Stil – »so habe ich mich […] billich beflissen/ deutlich und verständlich/ ja rein= guht= und flüssiges deutsch zu schreiben/ und kein verworrenes gemänge/ mit etlichen bücher=schreibern/ welche in der schrift-verfassung zwar gantz unerfahren/ ja gantz ungeübet/ und dannoch wider allen dank schreiben wollen/ zu markte zu bringen; ja nicht ein haar achten wollen/ was mein Herr Tadelgern […] wider meine wenigkeit aus zu geiffern pfleget.«18 Das trifft in vollem Ausmaß auf die deutschen literarischen Beiträge der Moralia Horatiana zu. Georg Philipp Harsdörffer hat ein Lobgedicht zum ersten Teil geschickt (ein passables Echogedicht), ein gewisser Hans Siegmund von Zeidler (»Meisnischer Edelman«) hat an den Verfasser ein fast ungebührlich lobendes Gedicht zum 2. Teil geschickt. Darin heißt es etwa: »Verstekke Naso dich/ und Maro du ingleichen«, so dass die Verszeilen nicht mehr überraschen, wo das ganze Vaterland sich glücklich schätzen müsse: »Drüm prange/ Vaterland/ daß bei dier ZESEN lebt/ der dich dem himmel gleich mit seiner kunst erhebt«, um wieder mit den Anfangszeilen zu beschließen: »Daß Er nun übertrift/ und statlichst hat ersätzet/| was durch Opitzens tod verlohren ward geschätzet.«

11.2

Die Heidnischen Gottheiten

Die Mythologie der Antike stößt heute und schon seit Jahren auf ein reges öffentliches Interesse von Lesern aller Altersstufen, nicht zuletzt der jüngeren Generation. Sie haben voller Erstaunen, teils auch ungläubig Kenntnis genommen von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts: des Nationalsozialismus, des Faschismus, des Kommunismus. Die Prozesse der Aufarbeitung (Völkermord, Holocaust, Gulag) und ihrer Ost-West-Konfliktlinien bedurften alles andere als Märchen beziehungsweise Mythen. Vermutlich hat das erneute breite Interesse der Gegenwart für die antike Götterwelt etwas zu tun mit Sinnfragen angesichts der immer manifesteren Abwendung vom Christentum, das weder für die Identitätsentwicklung noch das Geschichtsverständnis der gegenwärtigen Moderne noch relevante Bedeutung zu re16 17 18

Frauenzimmers Gebeht-Buch. Amsterdam 1657, Vorrede. SW Bd. XIV, S. 336. S. 337. S. 338.

365 präsentieren scheint.19 Es tut sich ein Vakuum auf, das man mit Verschiedenem zu füllen hofft. Dabei scheinen sogar geschichtserzählenden antiken Mythen eine Rolle zuzukommen. War das zu Zesens Lebenszeit anders? Hatte man etwa Denkmodelle oder Ansätze dazu zur Bewältigung von geistigen Krisen, z. B. angesichts der Entfremdungskrise im Gefolge des langen 30–jährigen Krieges? Heute werden jedenfalls andere Konzepte gefordert. Wie dem auch sei: Mythen sind »hot« und mögen gar neuen Wirkungsmöglichkeiten entgegengehen. – Dennoch, die breite Welle des Eingedenkens der beiden Riesen Carl Gustav Jung und Karl Kerényi, die zu den ständigen Neuauflagen ihrer Buchpublikation Einführung in das Wesen der Mythologie (1941, jetzt Zürich und Düsseldorf 1999) geführt hat, kontrastiert mit der distanzierten inneren Haltung, die die Mythenbeschäftigung des 17. und 18. Jahrhunderts kennzeichnet. Man begreift heute unter Mythos eine »narrative Überlieferung aus einer vorschriftlichen Epoche« oder auch – im Gegensatz zum rationalen (wissenschaftlichen) Weltbegriff – die »Form eines vorrationalen Weltverständnisses.« Es wird dann darunter die Gesamtheit von Mythen einer Kultur und deren »Erforschung und Konzeptualisierung mit historischrekonstruktivem oder philosophischem Interesse« begriffen. Die Begriffsgeschichte ist manchmal komplex, aber trotz zahlreicher Varianten dürfte mehrheitlich gelten: »Die Bedeutungsdimension des Mythos als erzählender Darstellung ist zentral für die literaturwissenschaftliche Perspektive.«20 Gerade die Dimension von Dichtung und Phantasie bestimmt die Ansicht im 18. Jahrhundert bei Karl Philipp Moritz, in Übereinstimmung mit Goethe. So lautet der Titel seines erfolgreichen Buches von 1795 (bis 1861 zehn Auflagen und mehrere Nachdrucke): Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. Wilhelm Haupt bemerkt im Nachwort seiner Ausgabe21, es wäre für Moritz höchst bedenkenswert, dass man es hier mit »Sprache der Phantasie« zu tun habe: »Die Götterlehre will am Beispiel der Griechen den 19

20

21

Wolfgang Janke: Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters. Weg und Wahrheit, Welt und Gott. Würzburg 2011. (Der Verlagsprospekt fasst zusammen: »Der Grundzug des gegenwärtigen Zeitalters ist die nihilistische Angst vor totaler Sinnlosigkeit: Es ist nichts mehr mit den Wert–, Ziel- und Sinnvorgaben von Platonismus und Idealismus, von Moralismus und Christentum und nichts mit der Wahrheit von Mythos, Religion und Metaphysik. Unser Weltalter ist durch Verwissenschaftlichung, Werte- und Vertrauensverfall, Seins- und Gottverlassenheit in eine Krise gestürzt.«) Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung, Hg. v. Harald Fricke. Bd. II. Berlin / New York, S. 660 ff. – Das heutige Interesse eines meist jüngeren Publikums ist zumindest auffällig, wenn man sich den neuen Gesamtkatalog 2010/ 2011 des Philipp Reclam Verlags Stuttgart einmal vornimmt. Da wird nicht nur des wunderbarsten und sagenumwobenen Gegenstandes der mittelalterlichen Literatur »Der Gral« gedacht (V. Mertens, DG. Mythos und Literatur), Reclams Lexikon der antiken Mythologie in 6. Aufl. angekündigt, sondern vor allem eine ganze Titelliste: Mythos Abraham, Mythos Atlantis, Mythos Dionysos usw., usw. Inselausgabe 1966, S. 325.

366 Nachweis bringen, daß der Mythos die Sprache der Phantasie, als bildende Kraft in der Welt, im menschlichen Dasein wirksam ist.« Moritz hebt in dem »Gesichtspunkt für die mythologischen Dichtungen« hervor: Die Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen ist ein ebenso törichtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichte zu verwandeln sucht. Die Hand, welche den Schleier, der diese Dichtungen bedeckt, ganz hinwegziehen will, verletzt zugleich das zarte Gewebe der Phantasie und stößt alsdann statt der gehofften Entdeckungen auf lauter Widersprüche und Ungereimtheiten.22

Dennoch blieben Mythenverständnis und -kritik in der Frühen Neuzeit, besonders im 17. Jahrhundert, ja bis Goethe und Moritz, nicht unverändert beziehungsweise unangefochten. Heiter-spielerisch setzt das bekannte Pegnesische Schäfergedicht (1644) von Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj ein, anspielend auf die anmutige Landschaft um die Stadt Meissen herum – ein wahrhaft idyllischer Ort, »welchem an Lust und Zier kein Ort etwas bevorgiebt.«23 Dem Dichter kommen nur lobende Epitheta in den Sinn, welche die Suggestion eines sächsischen Arkadien erwecken: »Wohnplatz der Freuden«, »Lusthauß der Feldnymfen«, »Herberge der Waldgötter«, »Ruhstelle der Hirten«, »gelehrte Entweichung der Poeten«, »Spatzierplatz der liebhabenden Gemüter.« Kein Wunder, dass sich die Götter und Halbgötter der griechisch-römischen Mythologie sofort einstellen. So Hat Vater Jupiter/ zu zeigen seine Macht/ in diesen schönen Thal/ den Blitz hervorgebracht/ Neptun den Dreyzankstab/ Minerva ihre Eule/ Die Harfe Cynthius/ Alcides seine Keule/ Die gelbe Ceres Korn/ Gott Bacchus Rebensafft/ Pan Pfeiffen/ Flora Gras …

Man kennt die gelehrte Einkleidung, sie gehört zum Ambiente der Hirten und Schäfer der dichterischen Pegnitzgesellschaft, deren »liebreichste Kunstgedanken durch lustige Schäfergedichte« an den Tag gebracht werden, obschon doch Harsdörffers Vorrede nicht leugnen kann, »daß die Schäfer dergleichen Unterredungen nicht führen/ ja solche zu verstehen nicht fähig weren.« Es handelt sich bekanntlich um eine literarische Spielform mit eigenen Regeln und Codes, deren allegorischen Charakter Harsdörffer hier festschreibt: Es seien nur verkleidete Schäfer, die Schafe bedeu-

22

23

Vgl. Joel B. Lande: Moritz’s Gods: Allegory, Autonomy and Art. In: Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens. Hg. v. Anthony Krupp. Amsterdam / New York 2010. S. 241–253. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Bd. 77) Hier und auch die folgenden Zitate nach der Ausgabe von Klaus Garber. Tübingen 1966.

367 ten ihre Bücher, die Wolle ihre Gedichte und die Hunde ihre Mußestunden. Mythologische Kenntnisse machen den sie pflegenden Dichter nach dem Verständnis jener Zeit schon zum humanistischen Gelehrten. Aber sie sind hier noch modische Verbrämung und chique Garnitur, sie reichen nicht aus zur Befürchtung einer Wiederkehr der alten Götter. Trotzdem hat das 17. Jahrhundert über die Frage der Zulässigkeit der alten Götternamen in der Literatur unterschiedlich geurteilt. Zwar hat Opitz’ Autorität den Gebrauch von »Nahmen der Heidnischen Götter« damit entschuldigt, dass »derer sich die stattlichsten Christlichen Poeten ohne verletzung jhrer religion jederzeit gebrauchet haben« und im Vorbeigehen darauf hingewiesen, dass sie bekanntlich anderes bezeichnen (»durch Minerven die vorsichtigkeit, durch den Apollo die Sonne, durch den Neptunus die Lufft …«). Wenn er im Übrigen feststellt, es sei »so viel bericht darvon geschehen, das es weiterer außführung« nicht mehr bedarf,24 bedeutet das jedoch keineswegs, dass die Frage auf sich beruht. Opitz hatte die Tradition der niederländischen Humanisten aufgenommen. Der namhafte Daniel Heinsius, einer von Opitz’ Gewährsmännern, kannte wie seine Humanistenfreunde Janus Dousa und Julius Caesar Scaliger keine Skrupel hinsichtlich der heidnischen Mythologie. Es war in ihrem Kreis üblich, biblische und mythologische Motive zu verbinden. Ein Beispiel: Der Triumphzug bei der Gründung der Leidener Universtät im Februar 1575 zeigte die Sacra Scriptura mit den vier Aposteln, gefolgt von Apollo mit den Musen, die mit Neptuns Schiff landeten. Heinsius verfasste auch den Bacchus-Hymnus (»Lof-sanck van Bacchus«, 1614)25, mit dem er zum Zweck der Aemulatio mit den Dionysiaca von Nonnus (Gegenstand seiner Dissertation von 1605), den Neulateinern Flaminius, Marullus, Muretus, Julius Caesar Scaliger und Petrus Ronsard wetteiferte. Dazu trugen auch die gelehrten Anmerkungen des Herausgebers Petrus Scriverius bei.26 Das alles hatte seine Relevanz für die kulturelle Atmosphäre der aufstrebenden Stadt, der dem unermüdlichen und dichterisch begabten Stadtsekretär Jan van Hout (1542–1609) viel verdankt.27 Nicht nur Stoffwahl und Motivnähe weisen Heinsius als den hervorragenden Gelehrten aus, der er war, sondern außerdem die Liebe für die alten Sprachen, ihren Formenreichtum und ihren begeisternden Gehalt.28 Das 24

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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Ed. Braune, S. 14 / Ed. Sommer, S. 17 f. Von Opitz übersetzt: Teutsche Poemata. Ed. Georg Witkowski (Abdruck der Ausgabe von 1624). Halle/S. 1902, S. 199–220. Barbara Becker-Cantarino in: Daniel Heinsius, Nederduytsche Poemata, nach der Erstausgabe von 1616. Bern und Frankfurt a. M. 1979. Vorwort. Dazu vgl. Karel Bostoen: Hart voor Leiden. Jan van Hout (1542–1609), stadssecretaris, dichter en vernieuwer. Hilversum 2009. Becker-Cantarino, und dies.: Daniel Heinsius, Boston 1978, Kap. 4–8 über die lateinische Dichtung.

368 hatte er in der Antrittsrede De poetis et eorum interpretatoribus thematisiert und das prägt sich auch in der Bacchus-Hymne aus, wo am Ende der Dichter, vom Rasen der Mänaden angesteckt, sich in den Bacchus-Rausch hineinsteigert. Das sind die Hintergründe, die mitzudenken sind. Sie erinnern daran, dass die Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit bei den Kulturnationen ihre Ursprünge in der Latinität hat. Das hatte Konsequenzen, auch für die Mythologie. Viele Dichter haben, in Deutschland wie in den Niederlanden, mehrsprachig gedichtet und an die lateinische Dichtungstradition angeknüpft. Das bedeutet auch, sie haben sich an den Götternamen mit ihrem häufig exotischen Klang berauscht. So lässt Heinsius sich im Raptus der Musen mitreißen und nennt in einer metonymischen Reihe die Namen seines Gottes (Vs. 621 ff.): O Evan Evöe, bey kindt en oude man, O Sabon, Indiaen, Osiris, ende Pan. Denys, Hymenean, Euasta, Sinne-breker, Lenaee, Ligyreu, ghy Snorcker, ghy Groot-spreker, Ghy Moorder van de pijn, ô onverwinlick Godt. O Hyae, Nisean, Pean, Iraphiot.

Das dürfte ein wichtiger, aber meist übersehener Faktor sein. Es ist mehr als nur die inhaltliche Seite, die durch ein Substitut ersetzt werden kann; sie ist bei »poetischen Erfindungen« in Rechnung zu stellen. Denn es geht bei mythologischen Namen ebenfalls um Wortklang oder – mit Gottfried Benn zu reden – um klangliche Faszination. Opitz hat das Abschiedsgedicht für Johann von Landskron mit ästhetischem Bedacht mit den Namen Phoebus und Hesperus enden lassen, bis er es mit dem kunstvollen Chiasmus schloss: Doch wann du werest gleich, wo Phoebi glantz auffgehet, Und Ich in occident, wo Hesperus entstehet, So wolten dennoch wir nicht abgesondert sein, Mein Hertze bleibet dein, dein Hertze bleibet mein.29

Eine normalsprachliche Substituierung etwa durch ›Sonnenglanz‹ und ›Abendstern‹ hätte hier nicht so funktioniert. Heinsius stammte aus Gent, es mag sein, dass er wie der Maler Karel van Mander (1548–1608, gründete mit Goltzius und C. Cornelisz. 1584 die ›Haarlemer Akademie‹) seine Vorliebe für die Mythologie aus der Heimat nach Leiden mitbrachte. Die südlichen Niederlande hatten (Rederijker!) die Fabeln und Götternamen der Antike reichlich rezipiert, die Auslegungen von Ovids Metamorphosen durch Karel van Mander (1604) waren für die nördlichen Provinzen etwas ganz Neues, was für Malerei und Literatur eine 29

Teutsche Poemata, S. 141 (Nr. 136).

369 echte Herausforderung darstellte.30 Die niederländische Ovid–Übersetzung des Joannes Florianus (Antwerpen 1566) war ebenfalls von Bedeutung. Letztere versteht in der ausführlichen Einleitung die mythologischen Erzählungen als verhüllte historische, naturphilosophische und moralische Wahrheit, die ihren Kern erst preisgibt, nachdem man die Nuss geknackt hat beziehungsweise die herrliche und nützliche Blume sich zeigt, nachdem die Leser mit ihrem scharfen Verstand die rauhe Oberfläche »lichtelijc doorbijten« (durchbissen) haben. Van Mander dürfte ebenfalls Anregung durch die Mythologia des Natalis Comes (1551) erhalten haben. Von Bedeutung ist nach wie vor, dass er die genannte dreifache Allegorese zugrunde legt, andererseits jedoch vermeidet die antiken Fabeln auf Christus hin auszudeuten.31 Damit ging er einen anderen Weg als die Dichter Coornhert und Hendrick Laurenszoon Spiegel. Diese wollten mit diskursiv-rhetorischer Argumentation und mit Hilfe von Exempla den Menschen zur Tugend und Weisheit erziehen. Spiegel sagt es programmatisch, dass Kenntnisse der griechisch-lateinischen Antike für einen niederländischen Dichter unnötig seien, der Parnassus sei ja weit, hier sei auch kein Helikon, sondern nur Dünen, Wald und Bach: Moet juist een duyts Poëet nu nodich zijn ervaren In Griex-Latijn? Daar d’eerste en beste herders waren, Parnassus is te wijd, hier is gheen Helikon, Maar duynen, bosch en beek.32

Auf ähnliche Weise profiliert sich auch Heinsius’ Standpunkt. An die alten Götter glaube natürlich niemand mehr (Vorrede Bacchus-Hymnus); sie seien vielmehr Wesenheiten und Eigenschaften, wie die Alten unter dem Namen Vulcanus, Bacchus, Venus u. a. »nichts anderes als das Feuer, den Wein, die Liebe und ihre Wirkungen, Gutes und Böses, Brauch und Missbrauch anzeigen wollen.« So werden also menschliche Schwächen und das richtige menschliche Verhalten ihnen gegenüber angezeigt, eine praktische und anschauliche Lebenshilfe mithin, oder der Ausdruck von Weisheit und Philosophie der Alten, die unter den Fabelgeschichten »begraven und bedeckt licht« (begraben und bedeckt liegt). Zusammenfassend (in den Worten von Marijke Spies): »Heinsius’ conception was much more poetical, laying full emphasis on the beauty of rhythm, sound and images, and rejecting all far-fetched 30

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Wtlegghingh op den Metamorphosis Pub. Ovidij Nasonis. Haarlem 1604. Zum Komplex vgl. Eric Jan Sluijter: De ›heydensche fabulen‹ in de Noordnederlandse schilderkunst, circa 1590–1670. Den Haag 1986. »te trecken op eenen gheestelijcken sin, en op Christum te duyden: want deze dinghen hebben gheen overeencomste noch ghemeenschap.« Sluijter, S. 315. Zit. Marijke Spies: ›Poeetsche fabrijcken‹ en andere allegorieën, eind 16e- begin 17e eeuw. In: Oud Holland, Vol. 105 (1991), Nr. 4, S. 228–243; hier 240.

370 allegorical interpretations.«33 In den Nederduytsche Poemata nahm der Bacchus-Hymnus eine wichtige Stelle ein, die Sammlung wurde bis 1650 wiederholt neuaufgelegt. In Deutschland war die Situation insofern vergleichbar, als über das Auftreten von Göttern und Dämonen in der Literatur verschieden geurteilt wurde. Berns registriert eine allgemein zu beobachtende Angst vor der Wiederkehr der alten Götter und stellt mit den Zeitgenossen die bange Frage, ob sie auch schon »wiedererwachen, wenn sie in Bildern, Gedichten und Schauspielen lediglich allegorisch herangezogen werden?«34 Berns meint ferner, manche Autoren der Harsdörffer-Generation hätten in ihrer poetischen Arbeit »einen theologischen und ästhetischen Synkretismus« praktiziert, »der in einer allesverschlingenden, alles mit allem vermählenden Mischallegorese seinen Ausdruck fand.«35 Richtig ist sicher, dass die Poesie mit kritischerem Blick betrachtet wurde, seitdem sie von Opitz der Theologie als ihrem »Muttergrund« verbunden erachtet wurde und daher ihre Wahrheit immer von Neuem »an Theologie zu bewähren« habe: »Theologie wäre demnach allemal parasakral, wäre schlechthin nicht säkularisierbar.«36 Harsdörffer hat deshalb zur Vorsicht geraten und im V. Teil seiner Frauenzimmer Gesprächspiele von 1645 zu bedenken gegeben, dass der Dichter nicht selber, sondern durch ihn andere Personen reden, »Jedoch dergestalt/ daß sie so viel möglich ihre Gedanken/ Worten/ und Sitten gemäß und anständig kommen/ und verstellet sich gleichsam in die jenigen/ welche er vorstellet.« Dann heißt es konkret: Zu solchem Ende holet und entlehnet der Poet aus allen Religionen/ was ihm von nöhten ist. Er führet aber der Heyden Redarten nicht in der Kirchen Gottes/ sondern auf dem Schauplatz/ nicht ihren Götzen zu Ehren/ sondern zur Verachtung/ nicht die Wahrheit in der Christen Herzen zu verfinstern/ sondern die abscheulichen Laster und grosse Blindheit der Heydnischen Greul ihren Augen und Ohren vorzuweisen. Solchergestalt haben die Christlichen Poeten sich jederzeit der Götter Namen bedienet, aber jedesmals was anders darunter verstanden/ wie auch die Väter der ersten Kirchen/ und die heilige Schrift selbst. […] Wer weiß nicht/ daß Neptun das Meer/ Mars den Krieg/ Apollo die Poeterey/ Pallas die Wissenschaft/ Musa die Kunst/ Venus die Wollust/ Ceres die Erden? Bacchus den Wein/ Vulcan das Feur/ Jupiter den Regen/ Juno die Lufft bedeutet?

Im III. Teil des Poetischen Trichters (1653) ist Harsdörffer genauer – und negativer: »[…] Hierauf ist zu wissen/ daß ich für verantwortlich halte/ 33

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Marijke Spies: Helicon and hills of sand; pagan gods in early modern Dutch and European poetry. In: Helen Wilcox e. o. (eds.): Sacred and Profane. Amsterdam 1995. Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons. In: Italo Michele Battafarano (Hg.), Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern (etc.) 1991, S. 23–81, hier 33. (IRIS,1) Berns, ebd. Berns, ebd.

371 wann die Christen der heidnischen Götzen Namen noch im Munde noch in ihrer Feder führen/ oder ja ihrer […] mit grosser Bescheidenheit gebrauchen.«37 Birken war noch weit strenger, in puncto Mythologie hatte man in Nürnberg deutlich Berührungsängste. Auch Johann Rist, Wedeler Pfarrer und Gesinungsgenosse Harsdörffers, hat sich nur negativ geäußert: »Ein rechtschaffener Poete darff sich solcher Heydnischen Lumpen-Gedichte gahr nicht bedienen […]. Er hat dazu keines Jupiters/ keines Apollo/ keines Merkurius/ noch auch der leichtfertigen Venus-Metzen von nöhten.«38 In den 40er und 50er Jahren wird nach Berns die Verwendung heidnischer Götternamen vor allem dort als heikel empfunden, »wo sie in traditionell sakrale, insbesondere sakral besetzte Zonen des christlichen Kultes reicht.«39 Es lassen sich aber zahlreiche Ausnahmen ausmachen. Hier sei nur ein Pindarisches Trauerlied Zesens beim Tod »seines viel-geliebten Herrn Vetters« angeführt, in dem es etwa heißt: O ihr götter und göttinnen/ weinet itzund bitterlich/ mande/ nun verhülle dich/ und ihr zarte Kastalinnen/ folget seiner leiche nach/ saget allzeit weh und ach!40

Der Ulmer Prediger Balthasar Gockel hat 1647 unter dem Titel Heidnische Poëterey/ Christlich corrigiert vnd verbessert einen Traktat veröffentlicht, mit dem erklärten Ziel, »daß die heydnische Abgötterey auß der Christenheit abgeschafft werde« (Widmung).41 So waren die Weichen gestellt, als die Nationalliteratur sich aus dem Geist des Humanismus erneuert hatte und sich eben anschickte, die Alten in ihrem mythologischen Glanz zu übertreffen und so die Palette jüdischchristlicher Motive und Stoffe zu bereichern. Birken listet die niederländischen Künstler auf – um den Stab über sie zu brechen: ›Hubertus Goltzius‹ hat sich nicht gescheuet/ nach verrichteter LänderReise/ dem WanderGötzen ›Mercurio‹ einen ›Hymnum‹ zu schreiben. Dergleichen Götzen Ge37

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Trichter, III. Tl., Seite XVj. Vgl. schon im I. Tl. (1647, 2. Aufl. 1650), S. 3: »Wir Christen […] sollen uns der Heyden Fabelwerck enthalten. […] Doch kan man mit Bescheidenheit derer Fabel wol gebrauchen/ in welchen natürliche Ursachen bedeutet/ oder sondere Lehren verborgen sind.« Rist: Poetischer Schauplatz. Hamburg 1646. Vorbericht. Siehe Berns, Harsdörffer, S. 36 ff. Berns, Harsdörffer, S. 42 f. Hochdeutscher Helikon 1656. SW Bd. X/2, S. 621. Der Traktat ist abgedruckt bei Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 143–171.

372 dichte/ findet man hin und wieder in den Schrifften unserer Poeten/ und werden insonderheit die Venus und ihr Cupido fast von allen/ als Götter/ angeruffen. ›Justus Lipsius‹ hat/ für seinen Garten/ eine Fürbitte an sie geschrieben. Also haben ›Dan. Heinsius‹ und unser Opitz/ den Kriegs= und Wein=Götzen ›Marti‹ und ›Baccho‹, Lobgesänge verfasset.42

Für Birkens Argumentation ist natürlich von Bedeutung, dass er – im Anschluss an die gängige Meinung der Zeit – glaubt die Priorität der alttestamentarischen Patriarchen vor den griechischen Dichtern und Philosophen aufzeigen zu können und darlegt, wie die griechische Antike durch Teufels Blendwerk (Satan als »der Affe Gottes«) die tiefsinnigen altjüdischen Geschichten diebisch an sich genommen habe: Aus bisher-erzehltem erhellet nun/ daß keineswegs die Griechen/ wie zwar von ihnen gerühmet wird/ sondern die Ebreer und Israeliten/ die erste Poeten gewesen/ und zwar nur GOtt zu Ehren Lieder gesungen.43

In seiner Poetik brüstet Birken sich gar mit den Heldengeschichten der Bibel: »Da haben wir/ an stat des Hercules/ den Löwenzwinger Simson und viel andere Helden; an stat der Venus/ die keusche Gottesgebärerin«. (S. 70) Dyck hat in Athen und Jerusalem mit Recht gesagt, Birken zeige eine ausgesprochen aggressive Tendenz gegenüber der heidnischen Antike. Und wirklich streitet Birken ihr jede Originalität in der geistig-poetischen Überlieferung ab, wie etwa in dem schmählichen Reimspruch: Weg mit eurer Huren-Göttin/ Heide/ Mahler und Poet! Weg auch mit dem kleinen Teufel/ die ihr an der Seite geht! Eine Jungfrau/ die ihr Kind trägt in keuschen Mutter-Armen/ lobt und mahlet mir/ seit Christen! Du gebenedeites Weib! du hast unsren GOTT empfangen und ümfangen mit dem Leib! ich wills mit dem Herzen thun/ und in seiner Lieb erwarmen.44

Schon aus Gründen der Priorität behauptet Birken, Literatur sei christliche Literatur, wenn sie Vollkommenheit beanspruche: »Die Poesy ist freilich die Kunst/ so mit den Gottes-Liedern angefangen. Sie ist die rechte Pallas/ von deren die Griechen gedichtet/ daß Jupiter sie aus seinem Gehirne gebohren habe: wie dann alle Weißheit von GOtt kommet«.45 Die historische Verkehrung der Wirklichkeit habe zu den Missverständnissen geführt: Darum haben sie/ nicht nur eine Pallas oder KunstGöttin/ sondern auch einen Apollo oder Vorsteher der neun Musen erdichtet/ ihm eine Cyther in die Hand/ und die Berge Parnassus und Helikon zur Wohnung gegeben/ einen Brunn daraus herabfließen gemacht/ und vorgegeben/ man trinke Geist-Feuer mit selbigem Wasser in sich/ und man erwache ein guter Poet/ wann man auf dieser Berge einem eingeschlaffen. Dieses hat/ der Feind und Affe Gottes/ von David dem König und Poeten abgesehen: welcher viel 42 43 44 45

Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679, S. 66. Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 69. Rede- bind- und Dicht-Kunst, ebd., S. 70. Rede- bind- und Dicht-Kunst, Vorrede. Abschnitt 11.

373 Sänger und Poeten/ […] um und unter sich gehabt/ auf dem Berg Sion gewohnt/ daraus der Brunn Siloha gefloßen/ auf der Harffen gespielet/ und in deren Thon viel Psalmen gesungen. [ Vorrede, Abschnitt 12] Dann heißt es [Abschnitt 14]: Der Himmel/ oder die Wohnung der Herrlichkeit GOttes/ […] ist der rechte Parnassus/ daraus diese Geistes-Flut erqwillet und herabschießet. […] Sind also die Poeten himlische SpringBrunnen/ oder sie sollen solche seyn/ und das Himmels-FlutFeuer nicht irdisch verwenden.

Jedenfalls wurde hier Wert gelegt auf eine klare Positionsbestimmung, da er meinte, es hätten sich manche so sehr »in die Heidnische Altertum-Sachen« verliebt, dass sie dabei »wo nicht zu Heiden/ jedoch zu Atheisten« werden.46 Eines ist deutlich: Im Anverwandlungs- und Aneignungsprozess der antiken Mythologie wurde mehr bewegt als nur das Gefühl, dass die Muttersprache des kühlen Nordens tatsächlich die lichte Götterwelt des klassischen Südens widerspiegeln kann – der Mythos selber wurde ebenfalls ›heimgeholt‹. So hatte Heinsius einen Bacchus vorgeführt, der als sein Bestes einen Krug Rheinwein in der Hand trägt. Der Anfang des Gedichts hat bereits die Herkunftssage abgewandelt, in Opitz’ Übersetzung:47 Wo aber ists geschehn? viel von den alten sagen, Es habe Nisa dich in Indien getragen; Viel sagen es sey nicht, ein jeder sagt das sein’, Ich meine daß du seyst geboren an dem Rein: Da kömpt das edle naß nach Dordrecht abgefahren, Das Niederlandt erfrewt: da waren dein’ altaren.

Es war Opitz in seinem Lobgedicht auf den Gott Mars (Lob des Krieges Gottes MARTIS) nicht zu kühn, seinen Deutschen vorzuhalten: »Mars ist dein eigner Gott; dein Volck hat Tag und Nacht | Jn Waffen als gewohnt …« (Vs. 424 ff.); auch nicht, in der Übersetzung von Heinsius’ Lobgesang Jesu Christi die das Gloria singenden Engel mit antiken Göttern und heidnischen Hirten zu mischen: »und singen einen thon/ | Der aus dem Himmel fleußt/ nicht aus dem Helicon.« (Vs. 279/80) Auch in den Niederlanden hatten sich inzwischen zwei Lager gebildet. Der Gebrauch der Mythologie wurde einerseits unter Berufung auf unnötigen Pomp abgelehnt (Coornhert, Spiegel), andererseits gab es das Anthologie-Projekt mit dem Titel Den Nederduytschen Helicon (Haarlem 1610), an dem sich Refugiés aus den südlichen Niederlanden beteiligten. Für die Haarlemer Manieristenschule war Karel van Mander prägend, für Leiden war Heinsius der natürliche Mittelpunkt. Aber sogar er, der in der klassischen Literatur Erfahrene, hat sich von der Mythologie abgewandt. Das Einleitungsgedicht zum Christus-Hymnus zeigt, wie er sich von den »Früchten der Jugend« verabschiedet: »Ick late Venus gaen […] Den hemel eyst het zijn« (Ich lasse Venus nun gehen, der Himmel fordert das Seine). 46 47

Rede- bind- und Dicht-Kunst, ebd., S. 66. Teutsche Poemata (wie Anm. 25). S. 199–220, hier Vs. 21 – 26

374 Man sollte allerdings nicht übersehen, dass die Malerei mit ihren eigenen Bedürfnissen zumindest im niederländischen Kontext einen anderen Stellenwert hatte als die Literatur; demgemäß war ihre Toleranzbreite größer. So sagt Heinsius in der Bacchus – Vorrede: Viele hätten an den Geschichten des Weingottes den Mißbrauch des Weins aufgezeigt – »Gelijck nu noch de schilders doen, die niemant qualick af en neemt« (denen niemand es übelnimmt). – Die Frage, ob ein christlicher Dichter die heidnischen Götternamen gebrauchen dürfe, ist Gegenstand einer langen Erörterung in Birkens Rede- bind- und Dicht-Kunst (S. 63): »Die/ so es behaupten wollen/ halten dafür/ daß der Poesy gröste Zierde in einführung solcher Namen bestehe. Sie wenden auch vor/ man verstehe darunter/ nicht die Heidnische Götter/ sondern die Tugenden/ Laster und andere Eigenschaften Gottes und der Menschen. Ferner spötteln sie/ es seyen nur Worte/ und keine Gefahr dabei/ daß jemand dadurch zum Heiden gemacht werde: weil man sie nur nenne/ aber nicht anbete.« Hier verweist er auch auf Johann Valentin Andreae: Mythologiae Christianae Libri Tres (1619): »Von solchen Poeten/ kan man mit eines vornehmen GottesLehrers Worten sagen: Es ist zu zweiflen/ ob GOtt deme beiwohne/ der an höllischen Götzen gefallen hat?Und ob der an den Himmel recht gedenke/ der öfter die Venus als die GottesMutter Maria/ den Cupido als das HimmelKind Immanuel/ den ›Phoebum‹ als den H. Geist/ den Berg Parnaß als den Oelberg/ die Elysische Felder als das Paradeis/ und Fabeln als das himlische Wort der Warheit/ in dem Mund seiner Feder führet?« (S. 66 f.). Die Bibel wird gegen die antike Fabelwelt ausgespielt: Die H. Schrift hat viel warhafte schöne Geschichten/ die man stat dieser Lügen/ einführen kan. Es ist auch ohnedas/ der Heidnische Götzen-Krempel/ lauter Affenwerk des Satans/ aus H. Schrift genommen. Was sind Jupiter und Juno anders/ als Adam und Eva/ das erste paar Menschen? Jubal/ Tubalkain und Naema/ sind Orfeus/ Vulcanus/ und Venus. Noah/ ist Janus/ Bacchus und Deucaleon. Was sind die Himmelstürmende Riesen anders/ als die Babylonische Thurn-bauer? Was ist gleicher/ als Jacob oder Mose und Apollo/ beiderseits Exulanten und Hirten? Miriam und Diana? Joseph/ und Phryxus mit der Phädra? (S. 67 f.)

Wie dem auch sei, als Zesen 1688 sein großes mythologisches Handbuch der Heidnischen Gottheiten herausbrachte, war nichts, was auf christliche Rücksichtnahme hinwies.48 Nur nimmt der Vorbericht in herkömmlicher Weise auf das Argument der biblischen Priorität Bezug. Er erwies sich schon in den frühen Amsterdamer Jahren als ein Adept der humanistischen Tradition, unberührt von religiösen Bedenken. Das große Venus-Gedicht Lustinne, das mit dem Roman Adriatische Rosemund (1645) eine inhalt48

Der erdichteten Heidnischen Gottheiten/ wie auch Als= und Halb-Gottheiten Herkunft und Begäbnisse/ den Liebhabern nicht allein der Dicht= Bild= und Mahler-Kunst/ sonder auch der gantzen Welt= und Gottes-gelehrtheit zu erleuterung ihres verstandes zu wissen nöhtig/ Kurzbündig beschrieben durch Filip von Zesen.

375 liche Einheit bildet, folgt dem Modell von Heinsius und Opitz. Innovativ wollte er allerdings auch sein, und zwar in den antik-mythologischen Namen. Er fügte einen Anhang an, in dem das Wort »rächt deutsch« gegeben wird. Es heißt hier (unter vielen Wörtern) »Pallas, Kluginne/ Blauinne (caesia virgo); Diana, Weidinne, Jagtinne; Mars, Heldreich; Vulcanus, Gluhtfang; Venus, Lustinne / Libinne / Lach=mund oder Schauminne; Cupido, Lihb-reiz / oder Lust=kind; Juno, Himmelinne; Flora, Bluhminne / oder Westinne; Neptunus, Schwümmahrt / oder Wasser=reich; Echo, Schallinne / wider=ruhf.« Das Lustinne–Gedicht ist mit Zitaten und Halbzitaten durchspickt und trägt ein gelehrtes Gepräge zur Schau, das mit den zugehörigen Anmerkungen (die lateinischen und griechischen Belege werden originalsprachlich gegeben!) seine Abrundung findet. Es zeigt humanistische Gemeinsamkeit, man ist quasi unter sich. Ein besonderer Anreiz lag natürlich im kreativen Umgang mit dem Fundus der Tradition. Schon bei Heinsius war das im Bacchus–Lobgesang im Eingang zu spüren, wo die traditionelle Herkunftsgeschichte mit einem unschuldigen Trick so akzentuiert wurde, dass aus dem exotischen Bacchus ein gar nicht weit von der heimatlichen Scholle amtierender Weingott wurde. Zu der Verszeile: »Ich meine, daß du seyst geboren an dem Rhein« lautet die Anmerkung: »Der Dichter meint Baccharah am Rhein, wo die besten Rheinweine her kommen, vom lateinischen Bacchi ara, das ist Altar des Bacchus.« Solche Unstimmigkeiten oder Unsicherheiten in der Überlieferung bilden die Nischen für die inventive Phantasie des Dichters. Der Weg war für den etwa 25–jährigen Dichter gebahnt: Zesen wollte sich als poeta doctus präsentieren. Deshalb suchte er für seine Lustinne nach Anknüpfungspunkten – für seine Ziele brauchte er eine deutsche Venus. Nach bewährter Methode wird nun bei der Herkunft der Göttin angesetzt. Weder die Griechen noch die Römer wären ganz sicher gewesen – »Doch sein si nimmer eins/ was einer izund sprücht| das hat er offt=mahls selbst schohn anders üm=geticht’t« (Zeile 83 f.). Aber der Deutsche weiß mit Bestimmtheit, dass »seine Freije« eine Deutsche gewesen ist, und zwar die Gattin des sagenhaften germanischen Königs Istevon (Zeile 65 ff.): Der Grich’ ist zweifälhaft; der Römer hats verlohren/ und weus nicht rächt wi/ wan und wo du bist gebohren. Der Deutsche gläubt gewüs und schreibet einerlei/ daß seine Freie blohs von Deutschem bluhte sei/ Istevons Eh=gemahl/ dehr von dem Man und Sonne sein ehrstes wäsen hat/ der Deutschen lust und wonne; ja dehr im deutschen reich der vihrde könig wahr/ und nahch ihm hat genännt der Istevoner schahr.

Elegant wird der Eindruck eines Alleinanspruchs vermieden, indem nicht ein umfassendes Bild der Göttin versprochen wird -Bescheidenheitstopos:

376 »es ist zu hohch fohr mich«– sondern nur eine Annäherung, die lediglich Teilaspekte aufzeigt: »So süng ich/ Freie dich/ doch nicht dein ganzes wäsen« (Z. 64). Die Identifizierung der deutschen Freie mit der antiken Venus weitet das mythologisch-antike Feld ins germanische Altertum aus. Sie ist die »bedeutendste Göttin der altskandinavischen Mythologie« und »die schöne Göttin der Liebenden«.49 Zesen steht mit der Einbeziehung der germanischen Vorzeit in der Tradition der deutschen und niederländischen Humanisten, die die national-germanische Mythologie ebenbürtig neben die der klassischen Antike stellten. Die Erweiterung der klassischen Venus um die deutsche wird durch die Offenheit der antiken Zeugnisse ermöglicht. Zesen in den Anmerkungen dazu (Zeile 87, SW Bd. IV/2, S. 300): »Kurz: di heidnischen geticht=schreiber und ahrt=kündiger haben di libe/ ein=ihder/ wi es ihm am bästen gedaucht hat/ aus däm geheimnüs der grohssen zeuge=mutter/ durch so vilerhand Venusen und Kupidonen wollen ab=bilden; dahähr sein so vihl unterschihdliche meinungen entstanden.« Hier lag also die Chance für den Dichter, die Fäden der Mythologie weiterzuspinnen, um neue Aspekte zu bereichern und ihm selber Möglichkeiten zu geben, sich sowohl als Dichter wie als Gelehrter hervorzutun. Er arbeitet seine Kenntnisse geschickt in die Verse seiner Dichtung ein (Z. 85 ff.): O Venus/ was sahgst-du? wo bistu hähr gebohren? hast-du dein Vaterland und ältern dan verlohren? ist keine mutter da? wi! ist’s Dione nicht/ di dich von Jupitern gebracht ans tage=lücht? O jah/ si ist es auch: drüm heist-du Dioninne/ du feuchte Venus du/ du himlische Lustinne/ Was aber höhr’ ich noch? was schreibt uns Plato führ? Was sahgt Pausanias und Zizero von dihr?

In den Anmerkungen werden die Quellen um weitere Namen ergänzt und die neuere Fachliteratur sowie dichterische Belege aufgeführt. Der Stoffkomplex wird auf diese Weise eingegrenzt, um den ganzen Bereich der Gelehrsamkeit mit relevanten Sachinformationen zu einem poetischen Mosaik zusammenzufügen. Nach und nach werden die Linien gezogen, die aus der Aphrodite–Überlieferung stückweise ein Bild der Liebesgöttin erstehen lassen, das nicht nur durch die Quellen hinreichend gestützt wird, sondern auch Anregungen für aktuelle Erweiterung bietet. Katalogartig werden sie aufgeführt. Als »Schauminne« ist sie die Schaumentstiegene; das Perlmutter ist »Mutter / Amm’ und Wagen«, die Muschel hat sie »nach Zypern zu getra49

Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Stuttgart. 2. Aufl. 1995, S. 109–111.

377 gen«. Die Aphrodite Anadyomene (die »Auftauchende«), wie sie Apelles gemalt haben soll (Z. 73 ff.). Hier war sie ohne Mutter und ohne Vaterland gewesen (Z. 85 f.). Der andere Überlieferungsstrang nennt sie die Tochter des Zeus und der Dione, eben »Dioninne« (Z. 87 ff.). Mit Plato kommt die Liebeskraft in den Blick, deren Mächtigkeit in der rhetorischen Frage nach den »dreierlei personen« nachschwingt. Die Allusion »heilige Dreifaltigkeit« ist sicherlich gewollt, die Anmerkung hält die »drei göttinnen der libe« ausdrücklich fest. So erscheint Lustinne als die »Himmlische« (›Aphrodite Urania‹), die »Göttliche« und die »Irdische« (›Aphrodite Pandemos‹), die in der menschlichen Seele wirkt (»Sehlen=herscherin«). Diese letzte sei die hier gemeinte Lustinne, mit Kultstätten in Paphos auf Kypris (Z. 93 ff.). Ihr gilt die Heiligung der »länder/ bäum’ und stätte« (Z. 105), der »bärge/ büsch’ und brunnen« (Z. 104). Ihr streute man Blumen auf den Weg, ihr ist die Myrte, ist vor allem die Rose zugeeignet (Z. 107). Als Gestirn strahlt sie am Firmament – »so ehrt dich Jupiter« (Z. 121). Der Mythos belegt ihre außerordentliche Macht über die Menschen und sogar über die Götter, die sie unter »das saure Jogh der sühssen libe« bringt (Z. 122). Die Ehebruchsgeschichte, in der sie, die Gattin des Hephaistos, mit Ares ins Bett ging und von der Sonne ertappt wurde, wird allegorisch verstanden: »Du bist es/ di aus krihg den ädlen friden macht| weil dich der kriges-her fohr seine Göttin acht’t« (Z. 123 f.). Die Allegorese, die aus Venus nun eine Friedensgöttin macht, liegt zwar auf der Hand, ist aber doch alles andere als ein Zufallsergebnis gelehrten Bemühens um den alten Mythos. Auf sie ist im Gegenteil das ganze Gedicht angelegt, denn sie macht den Mythos für die damalige Zeitlage aktuell. Zesens Gedicht wurde 1645, also nur drei Jahre vor dem Frieden von Münster und Osnabrück veröffentlicht. Die Zielvorstellung der Befriedung eines vom Krieg geschüttelten Landes bildet den dichterischen Impetus. So wie »die Liebe« Mars einst gezähmt und besiegt hatte, so möge sie auch jetzt, in der kriegerischen Gegenwart, infolge der poetisch herbeigezwungenen Liebesmacht, zum Frieden gereichen, wenn alle sich unter ihre Macht begeben wollen. Es ist eine Art Liebeszauber, die poetische Vision sieht die Sehnsucht bereits verwirklicht. Mit ausdrucksstarken Adhortationes wird Venus zum Sehen gezwungen: »Mein! schaue Deutschland an«. Die Kriegsfahne hat eine andere Funktion erhalten (Z. 133) – »Schau an wi sich bewäget!« (Z. 142) – »Kom/ schaue/ wi dich ehrt« (Z. 147). Das Lustinne-Gedicht ist, wie folgendes Zitat belegt, aufs engste mit dem Roman der Adriatischen Rosemund verbunden. Markhold / Zesen erklärt seiner Rosemund: Aber/ meine Schöne/ diser angebohrne muht zu föchten/ wi nüzlich und löblich er fohr disem den Deutschen gewäsen ist/ so schähdlich und verdamlich ist er ihnen wider=üm zu disen zeiten: da sich di Deutschen Fürsten unter-einander selbst auf=-

378 räuben/ und das eine teil mit den aus=ländischen fölkern wider ihr eigenes vaterland in verbündnüs trit/ und dässen untergang beförtern hülfet. Jah ich kan es mit rächt seinen untergang nännen; indähm di schöhnsten Stätte/ di lustigsten und prächtigsten Schlösser und Herren=häuser muhtwüllig/ nicht alein verwühsstet/ verbrant und eingeäschert/ sondern auch gahr geschleiffet wärden. […] Aber was wül ich mein libes Vater=land […] noch lange betauren! es ist unsers Gottes gerächte strahf=ruhte […]. Der Rosemund lühffen indässen über solcher erbärmlichen räde di trähnen mildiglich über di wangen/ und dise Schöne betrübete sich aus grohssem mitleiden so sehr/ daß auch Markhold gezwungen ward mit seiner erzählung auf zu höhren. (S. 258/59)

Die »Kraft und Würkung der Liebe«, wie der Untertitel lautet, ist, so wird sie in der rhetorischen Argumentation genannt, eine der vier Säulen, auf denen die dichterische Begabung beruht. Neben ars und doctrina wird auf die natura rekurriert, die, auch während der Herrschaft der Poetik als Lehrgegenstand, als die Quelle schöpferischer Kraft gilt. Der dichterische »Geist« (der furor poeticus) wird von der Liebe in Gang gesetzt und angetrieben. Denn »di süßen wütereyen/ die eifer=folle brunst« zeugen von der Begeisterung, in der die Liebe wirkt. Die Konzeptualisierung dieser Figur hat eine tiefere Bedeutung, denn im Kontext der aktualisierten Mythologie geht es um Grundsätzliches. In solch konstitutivem Sinn ist die Liebesgöttin die Patronin der Dichterzunft und sind die Poeten ihre Jünger, die mit ihrer Kunst das »Evangelium« in die Welt tragen. Sie sind also von Amts wegen »Liebe-Diener«. An das Venus-Mars-Motiv schließt sich denn auch sogleich die Passage an, in der die Dichterwürde gepriesen und in diesem Sinn von Zesen reklamiert wird (Z. 125 ff.): Des tichters stränger geist/ di sühssen wütereien/ die eifer=folle brunst/ di ihn der wält entfreien/ (wan er so klühglich ras’t/ entmuhtet seinen muht/ enthärzt sein irdisch härz/ und nichts als götlichs tuht) bestähn auf vihrerlei; auf libe/ kunst und deuten was künftig sol geschähn/ und tühffen heimligkeiten. das ehrste würkest=du/ du wez=stein der vernunft/ drüm ehret dich so hohch der tichter grohsse zunft.

Dies ist die Schlüsselstelle des Gedichts, das sein mythologisches Spiel zum aktuellen Problem des Dichterberufs umfunktioniert. Die dichtungsenergetische Berufung auf die Liebesgöttin folgt der Tradition der einschlägigen Topik, für die Opitz in der deutschen Literatur seiner Zeit bestimmend geworden ist (die Liebe als »wezz-stein der vernunft«). Trotz der spielerisch-mythologischen Einkleidung bleibt die Kriegslage als ein lebensgefährdender und das Kulturleben lähmender Zustand im Gedicht stets präsent. Die politische Aktualität macht das Lustinne-Gedicht nie vergessen. Hatte Opitz die bange Frage anklingen lassen (Lob des Krieges Gottes Martis) – »wirst du/ O kluge schar| Der Musen Trost vnd Ziehr/ entgehen der Gefahr« (Z. 511 f.) – hat er dennoch sein Dichteramt als wesentlichen Beitrag zur Rettung des Vaterlands aufgefasst: »Dem einen ist zu thun/ zu schreiben mir gegeben« (Z. 517).

379 Für Zesen ist die Macht der Liebe schon derart gewaltig in Erscheinung getreten, dass der »Deutsche Helikon« zum Siegeszeichen wird. Hier sind die Poeten und Poetinnen angetreten, eine muntere Schar, ein mutiges Heer (Z. 137 f.) – »Das mit der kriges=fahn’ auch üm di wette flüget/| und mitten in der angst däm andern folk’ obsiget.« Allen voran schreitet Opitz, der »Held von Boberfeld«, dessen »sühsse laute« die feindselige Kampflust und Aggressivität zerschmelzen macht (Z. 145 ff.): »Dadurch ein stählern härz mit=leidendlich mus wärden/| des muhtes unmuht schwündt/ und reisst sich von der ärden| zu dähm/ was himlisch ist.« Was noch mehr ist: Opitz hat den Ton gesetzt, ihm folgen andere nach, bis ein alle und alles umfassendes friedensstiftendes Singen geworden ist: »Kom/ schaue/ wi dich ehrt/| das ganze deutsche reich/ und andre süngen lehrt« (Z. 147 ff.). Dass die Dichter eine Phalanx bilden – der Dichterkatalog (Z. 149–193) erfüllt ganz diese Funktion – ist selbstverständlich die mitreissende Novität. Das ist der Gipfel dieser programmatisch und gesellschaftlich-politisch engagierten Dichtung. Der Leser wird suggestiv zum Zeugen eines Siegeszugs im Zeichen der Liebesgöttin gemacht (Z. 139 ff.): Ein hohes lohb führ si; ein höhers noch führ dich/ du deutsche Freie/ du. Dein Folk erhöbet sich stürbt ab der stärbligkeit/ steigt wi di palme pfläget im prässen mehr entpohr. Schau an wi sich bewäget der deutsche Helikon.

Es ist deutlich geworden: Lustinne ist ein mit virtuoser Stategie gelenktes Lobgedicht auf die deutsche Liebesgöttin (Z. 193 ff.): Dis alles kömmt von dihr/ und würd durch dich getriben/ dis alles würkest=du/ du starke kraft im liben/ du himmels-fürstin du/ du macht= und eifer=kind.

Eine ausführliche Digression grenzt »eitle lust« (Z. 247) und »geile wält« (Z. 257) aus dem reinen Bezirk der deutschen Lustinne aus. Die Einbindung (Anmerkungen!) in die humanistische Tradition mythologischer Sinnhaltigkeit weist den Dichter als einen ambitionierten poeta doctus aus. Die Dichtung mit den Anmerkungen, welche die Wissenschaftlichkeit der Inventio absichern, zeigt, dass Poesie eine gelehrte Wissenschaft ist.50 Es ist aber auch und nicht zuletzt eine lebendige Wissenschaft, keine museale Angelegenheit oder gelehrte Stoffhuberei. Das kreative Moment verhindert ein ledigliches Repetieren von Sachkenntnissen, das nur den Schulmeisterverstand befriedigt hätte. 50

Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 209 ff. (Studien zur deuschen Literatur, 75); Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982.

380 Im Aneignungsprozess wird, wie gesagt, der Mythos ›heimgeholt‹. Das konnte Zesen seinen Vorgängern entnehmen. Ruft Opitz seinen Lesern zu: »Mars ist dein eigner Gott« (Mars-Dichtung, Z. 424, wie oben angemerkt), so tritt bei Zesen eine »deutsche Freie« auf – und ist doch zugleich die antik-klassische Aphrodite / Venus. Besser als eine gelehrte Abhandlung zeigt das poetische Beispiel, das Zesen seinen Lesern vorlegt, wie eine ebenso kritische wie durch kreative Beschäftigung die mythologische Welt der Antike in ihren tiefsinnigen Deutungen aktualisiert werden kann, ohne sie im ›heidnischen‹ Sinn ›gläubig‹ anzuerkennen oder ihr einen eigenen geistigen Wert zuzuerkennen. Sehr wohl aber können Konzepte und Figurationen dieser »Götzenwelt« zu aktuellen Sinnbezügen anverwandelt werden, die den heutigen Lesern in ihren Gegenwartsfragen und -problemen mit sinnvollen, hintergründigen Fragen und tiefer lotenden Antworten helfend beistehen möchten. In diesem Sinn ist das große Handbuch der Heidnischen Gottheiten angelegt, das nicht von ungefähr oder etwa prahlerisch den Regierenden gewidmet wurde: »Den Heuptern und Göttern des Erdbodens/ den Hochgesetzten Obrigkeiten ins gemein; und absonderlich Denen der Weltberufenen des Deutschen Keiserreichs freien Stadt Speier« gewidmet. Entsprechend ist aus dem Widmungsgedicht die aufrichtig gemeinte Gesinnung des Dichters herauszuhören: »Euch wiedm’ ich diese Schrift/ Euch weih’ ich diese Bletter/ da kurtz beschrieben stehn die Götter jener Wält/ die Groß= und Kleinen Götter/ die Rohm ehrt’ und Atehn/ die Memfis und Edess’ und Babel angebähtet/ doch nuhn die Kristenheit/ als einen blinden schwarm der Heiden/ ausgegähtet/ der Heiden jener Zeit. Wärft dan auf sie und mich die strahlen eurer Gühte/ die Euch ist angebohrn die mich/ dem dünken nach/ in ihrer vollen blühte zu ihrem Ziel erkohrn.«

Der Vorbericht stellt sofort die Weichen richtig: Hier siehest du/ lehrbegieriger Leser/ den gantzen Schwarm der erdichteten Gottheiten. Hier wird von ihrer Herkunft/ von ihrem Uhrsprunge gehandelt. Hier werden ihre Verrichtungen/ ihre Begäbnisse kurtzbündig erzehlet. Ja hier hast du das gantze Götzenwesen/ mit den vornähmsten Götzendiensten der Heiden: welche sich/ in vielen Dingen/ als des wahren ewigen Gottes Affen erwiesen; indem sie zuerst seinen großen und heiligen Nahmen […] zugeeignet/ und darnach auch seines Volkes/ der Ebräer/ Gottesdiensten und heiligen Gebreuchen […] in vielen stükken nachgeäffet.

Im weiteren Verlauf des Vorberichts gibt der Verfasser als seine Überzeugung zu erkennen, dass die Heiden, »wo nicht alle/ doch die weisesten und gewissenhaftigsten unter ihnen nur einen Gott erkanten/ oder zum wenigs-

381 ten unter der Vielheit ihrer Götter den Einigen wahren GOTT verstunden und ehreten«. (S. 14). Diese communis opinio verschafft gleichsam die Legitimation sich mit jener ›Götzenwelt‹ zu beschäftigen, im Bewusstsein ihres Blendwerks und (unter Umständen) ihrer Lasterhaftigkeit, die zur Abschreckung und Warnung gelten soll. In diesem Sinn will Zesen seine gelehrte Schrift, die mit vielen lateinischen und griechischen Zitaten aufgezogen kommt und auch mit Nachweisen und Belegen ihren wissenschaftlichen Charakter unterstreicht, verstanden haben. Sie ist denn auch nicht als Lexikon, sondern systematisch angelegt. Schon darin unterscheidet sie sich, mehr aber noch nach dem Geist, von dem berühmten Hederich, auf dessen Gelehrsamkeit die Schüler und Gelehrten, nicht zuletzt die Poeten des 18. Jahrhunderts, sich berufen: Reales Schul=Lexicon […] der studirenden Jugend insonderheit zu wissen dienlich […] Verfasset von M. Benjamin Hederich (Leipzig 1713). Es wird z. B. in dem Artikel Iuppiter erzählt, dass er von seinem Vater Saturnus gefressen worden wäre, hätte ihn nicht seine Mutter Rhea gerettet, indem sie dem Vater »einen in Windeln gewickelten Stein, den sie gebohren zu haben, fürgab, zu verschlucken gab.« Jupiter teilte sich mit seinen Brüdern in der Herrschaft, er bekam den Himmel, Neptunus das Wasser, Pluto die Hölle; fing dann ein »sehr gutes Regiment an« und »verband« sich den Menschen »mit so vielen Wohlthaten, daß er für den Gott aller Götter verehret wurde.« Dann wurde ihm von den Giganten, »welche ihn nicht leiden wolten«, arg zugesetzt; er war dabei so unglücklich, dass er »dem Typhaeo in die Hände gerieth, welcher ihn auf den Rücken nahm, in ein fernes Land trug, und ihn daselbst die Nerven an Händen und Füssen ausschnitt.« Aber Mercurius befreite ihn bald wieder, und »gelangete er darauf zu einer friedlichen Ruhe«. Aber dann beginnt es erst recht: »fieng aber auch darbey an, sich insonderheit in der Liebe gegen das Weibs=Volck gantz toll aufzuführen. Maßen er unter andern 1. seine Händel mit der Niobe hatte, und mit solcher den Argum zeugete; 2. sich in einen Ochsen verwandelte, die Europam raubete, und von ihr den Minoëm, Sarpedonem und Rhadamanthum zu Söhnen bekam; 3. sich in einen Schwan verkehrete, und mit der Leda […] den Pollucem und die Helenam zeugete; 4. sich in einen güldenen Regen verwandelte und machte, daß die Danaë von ihm den Perseum gebahr.« So geht es noch eine Weile weiter, bis zum 7. Punkt; anschließend werden weitere Liebschaften und Kinder genannt, »ungeacht er doch schon seine eigene Frau, die Iunonem, hatte, so zugleich auch seine Schwester war, und von ihm unter der angenommenen Gestalt eines Guckucks auch war betrogen worden, seine allererste Frau aber, die Merin, selbst verschlungen

382 hatte. Nichts destoweniger aber hieß er doch Deorum optimus maximus, als wofür er sowohl von den Griechen, als den Römern verehret wurde.« Hederichs Jupiter verkörpert, wenn auch in seiner jeweiligen Erscheinung meist liebenswert, nicht eine hehre bzw. ätherische Gestalt, sondern verströmt eher die Magie einer dämonisch-erotomanen Figur, allerdings zugleich hinreichend vital, um sich seinen zahlreichen Opfern, weiblichen Schönheiten, zu nähern. Auch ist er eher schelmisch und erfinderisch, aber doch ein ›Macho-Mann.‹ Sicherlich spielen bei Hederich und Zesen andere Orientierungspunkte für die Darstellung eine ausschlaggebende Rolle, je nach Zielsetzung und Interessenkreis. Jedenfalls drückt Zesen sich, ohne an den Fakten vorbeigehen zu wollen, etwas vorsichtiger aus. So heißt es: »Von so vielen und vielerlei Jupitern scheinet es auch entsprossen zu sein/ daß die alten Dichtmeister dem einigen Jupiter/ des Saturnus Sohne/ so viel Gemahlinnen oder Ehweiber/ ja eine so große Zahl der Nebenweiber und Spielmägdlein angedichtet: indem sie ihm alle dieselben/ die bald der/ bald dieser von jenen absonderlich gehabt/ zugeeignet.« (Bd. XVII/1, S. 55). »Ja man dichtet noch dieses hinzu/ daß Jupiter hierauf in seinem Kopfe selbst schwanger geworden/ und endlich daraus die gewafnete Pallas gebohren« (ebd.). Die Frauen werden dann alle namentlich aufgezählt, auch wird erwähnt, dass er, sie zu betrügen, sich in mancherlei Gestalten verwandelt habe. Vielmehr scheint Zesen bereits im Vorbericht die positivsten Zeugen herauszusuchen, die seiner Ansicht nach einen kritischen Leser, wenn er die schärfsten Urteile cum grano salis zu nehmen bereit ist, nicht abschrecken: Wiewohl Orfeus der Götter Vielheit […] erster Uhrhöber sol gewesen sein/ so hat er doch nachmahls selbst die Einheit Gottes gegleubet/ indem er von Gotte folgender gestalt schreibet: Er ist ja der Einige/ der sich aus sich selbst gezeuget/ und aus seiner Einheit alle Dinge gebohren/ unter denen Er gegenwärtig ist; wiewohl Ihn kein sterblicher siehet. Er aber selbst siehet alle. Auch saget er anderwärts: Es ist eine einige Stärke/ ein einiger Gott/ ein einiger Fürst aller. Er ist einig/ volkommen: alles ist des Einigen werk. Er ist Himlisch/ und volendet auf Erden alles; indem Er ist der Anfang/ das Mittel und das Ende. Und diesem Orfeus stimmet mit zu der Heidnische Dichter und Weisemeister Xenofanes/ wan er also spricht: Der grösseste unter den Göttern und Menschen ist der einige Gott/ der den sterblichen weder dem Leibe/ noch dem Gemühte nach gleichet. (Ebd., S. 15).

Ob man mit derart signifikanten Zügen ein Beziehungsnetz mit simultan gültigen Sinnsetzungen zwischen den heidnischen Vielen und dem jüdisch-christlichen Einen knüpfen könne, sei dahingestellt.

383

11.3

Prirau

Aus guten Gründen lässt sich hier das große Lobgedicht auf die eigene Heimat einordnen. In Hederichs Schul=Lexicon von 1731 wird auf S. 2666 Tempe beschrieben als ein »ungemein lustiger [!] Thal […]. Mitten der Länge nach gieng durch selbigen der Fluß Peneus und, weil denn nicht nur dieser gantz sachte floß, sondern auch ein ungemein helles Wasser führete, hiernechst mit anmuthigen Bäumen an den Ufern bewachsen war.« Nach diesem Tal seien auch andere »dergleichen Örter Tempe genannt.« So unbedeutend der Ort Prirau (Priorau) damals wie heute anmutet, so hoch erhebt Zesen dessen Lob: Prirau oder Lob des Vaterlandes. Er hat die Dichtung 1680 bei Christoph Cunrad in Amsterdam drucken lassen, und zwar »auf Kosten der Genossenschaft.« Das ist möglicherweise ein Zeichen der Finanzschwäche des Verfassers. Der Anfang schlägt gleich die Tonart an, die jedoch einer gewissen Komik nicht entbehrt (SW III/1, Vs 1–9, 17–21): Konte Plato sein Atehn/ konte Flakkus sein Venuse/ und Virgiel sein Mantua/ Dion auch sein Sirakuse/ ja Homer sein Smirne wohl so vergessen/ daß sie nicht tausend tausendmahl gedacht an die treue Liebespflicht/ die das Vaterland erheischt? welches zwar ein Weiser missen/ aber nie so hart kan sein/ daß er solte sein geflissen sein Gedächtnis/ seine Lieb’ ihm zu bannen aus der Brust/ die/ als seiner Tugend Sitz/ immer wieder schöpfet Lust sich zu sehnen heimwärtszu. […] War der Weise von Stagier/ in der Fremde/ schon in Ehren: sah’ er schon alda das Glük sich so mildreich zu ihm kehren/ daß es/ als verschwändrisch/ ihm seine Gunst warf in die hand: gleichwohl sorgt’ er immerzu für sein liebes Vaterland/ als ein treues Landeskind.

Nach diesem Hinweis auf Aristoteles folgt mit Recht die bange Frage: »Aber wo fleugt hin mein Kiel« (Vs 35), um dann den Blick der engeren Heimat zuzuwenden. Er entstammt als ein »treuer Mildenschwahn« der »frohen Priorsau« (Vs 53–60): ob er schon ist kein Venuse/ kein Atehn/ kein Mantua/ kein Stagier/ kein Sirakuse/ ja kein Smirne/ Tehb’/ und Sulm. Er ist nur ein kleiner Ort/ solch ein Ort/ darvon man findt noch zur zeit kein einigs wort in den Schriften angeführt: den kein Dichter noch gepriesen; weil er als im Winkel liegt/ als von Menschen abgewandt/ als mit Büschen schier ümringt/ unberühmt und unbekant: weil die Kunst ihn ungeziert/ ungeschmükt hat laßen liegen.

Gerade deshalb hat Zesen sich entschlossen, seiner Heimat ein Lob zu singen und sie gehörig in die Aufmerksamkeit zu bringen. Hier fällt dem

384 berühmten Sohn die Aufgabe zu, mit seiner Kunst der Geschichtslosigkeit jenes »Flekleins« abzuhelfen (Vs 65–74): ob ich nun wohl unbekümmert/ (ich/ dem Gottes Gnad’ ein Schlos aller Ehren aufgezimmert/ den so herlich sie begabt/ daß daher mein Ruhm schier klingt/ wo die Sonne steigt und fält/ und selbst Nord= und Sud-an dringt) üm ein Fleklein solte sein/ das so gar verächtlich stehet/ das im dunklen Winkel liegt/ ja vor andern gar verschmähet: gleichwohl reitzt die Liebe mich/ weil ich hier gebohren bin/ gleichwohl wekt mich meine Pflicht/ ja sie treibet meinen Sin ihm von solchem meinem Ruhm’/ hier in diesen Dichterzeilen/ denen zwar die Kunst gebricht/ etwas gleichsam mitzuteilen.

Von gesundem Selbstbewusstsein getragen, fängt der Dichter sein Werk an und beschreibt die wunderbare Natur nach den Regeln der Kunst – und natürlich mit Hilfe der ›gelehrten‹ Literatur; zu nenen ist etwa das Kräuterbuch des Hieronymus Bock.51 Hier wird alles dessen gedacht, was da kreucht und fleucht (Vs 97–100): Tausend Kreuter wachsen hier/ bald in Büschen/ bald in Brüchen: tausend Tiere lauffen hier/ oder schleuchen/ oder krüchen: tausend Vogel flügen hier/ oder flattern in der Luft: tausend Fische schwimmen hier/ in so mancher Wassergruft.

Nach den Kräutern, Pflanzen und Blumen geht es weiter (Vs 229–232): Wil man dan noch weiter sehn/ was alhier die treue Sachsen/ die mit Anhalt seind ümringt/ auch für Beume sehen wachsen? Derer seind so mancherlei/ daß sich wundert/ wer sie sieht/ daß auch der Dodoner Wald so viel Ahrten nicht erzieht.

Im Frühling sei die Landschaft am schönsten, eigentlich mit keiner anderen zu vergleichen (Vs 313–318): Wie die Gegend lacht alsdan/ wie vol Lust mein Prirau stehet/ wie erfreut ins Grühne dan Hans/ mit seiner Griete gehet/ ja wie lieblich anzusehn/ wie anmuhtig alles scheint/ können keine Federn sich / wie geschikt sie sonsten seind/ auszudrükken unterstehn. Hier mus meinem Prirau weichen/ Tempe selbst/ mit seiner Lust.

Es werden durchaus nützliche Sachen erwähnt, die der ›Industrie‹ dienen, wie Papier, Hanf – und natürlich das reiche Sommerobst. Der Ausdruck für die herrlichen Freuden, die die Trauben uns versprechen, hebt sich durch den beliebten rhetorischen Kniff der Anaphora von seiner Umgebung ab,

51

Peter Heßelmann: Zwischen Buchgelehrsamkeit und Erfahrungswissenschaft. Grimmelshausen und die Kräuterheilkunde im Wissensdiskurs der frühen Neuzeit. In: Simpliciana 26 (2004), S. 219–243.

385 durch Wiederholung und Parallelisierung gleichsam den ganzen Körper mit zum Genuss einladend (Vs 621–629): Ach! wie lieblich lacht uns zu hier die Roht= und weisse Traube/ durch der grühnen blätter schmuk/ in der Wein= und Sommer-laube. Wie anmuhtig winket sie durch die Fernsterscheuben hin/ gleichals wolte sie uns selbst lüstern machen Hertz und Sin/ gleichals wolte sie das Aug’/ auf sie hin zu schauen/ beitzen/ gleichals wolte sie die Hand/ sie selbst abzubrächen/ reitzen/ gleichals wolte sie den Mund/ sie zu kosten/ zu sich ziehn/ gleichals hett’ er itzt nicht Lust/ wie er sonst zu haben schien/ auszusaugen ihren Saft.

Auch sonst wird die Rhetorik zu Überraschungseffekten eingesetzt, die den Dichter der Sorge der schier endlosen Reihung entheben (Vs 785–796): Was für Fische sonst die Mild’ hier in ihrer Mulde träget/ was für Fischwerk man alhier in den Bäch= und Teichen häget/ da der träge Kräbs auch kreucht/ da er krabbelt/ durch den Sand/ üm den alten Stam herüm/ laß’ ich alles ungenant. Was der Vogelfang hier nützt/ wie der Finkenherd/ die Dohnen/ wie der Klob’ und Meusentantz unsren Vogelsteller lohnen/ laß ich unberühret stehn. Was die Jägerei vermag/ die mein Prirau vor der zeit sonderlich zu hägen pflag/ was der Dachse Stöberung/ was das Fuchs= und Hase-hetzen/ was der Wilden Katzen schus/ was das Martefallensetzen/ was der wilden Schweinejagt/ was der Reh= und Hirsche-fang hier vermag/ dem geht vorbei gleichfals meiner Feder schwang.

Mit dem Thema Holz (»ein Holtzstal für die Pfänner«) kommt die Rede auf das Salz und auf die nahe Salzstadt Halle. Damit wird der Ton der Erinnerung an die eigenen Jugend- und Bildungsjahre dort persönlicher (Vs 825– 832): So mus dan mein Prirau sein selbst ein Holtzstal für die Pfänner/ für das braunberauchte Volk ihrer Sohl= und Wasser-männer/ das in seinen Kothen kocht ein Gewürtz/ das weit mehr währt/ als das man so lüstern sonst selbst aus Indien begehrt: welches mein noch junger Kiel/ mein noch zahrter Mund besungen/ als von mir ein Abschiedslied mein so lieber Gueintz bedungen: dessen Asche ruhe wohl/ bis ihn Jesus auferwekt/ bis er ihn mit Klahrheit fült und mit Strahlen überdekt!

Wenn die Landschaft auch im wahrsten Sinn geschichtslos blieb, so kann sie nun doch – dokumentiert! – mit der Schilderung einer schönen und nützlichen Naturfülle aufwarten. Historische Anspielungen gab es im Text zwar einige, aber gegen Ende des poetischen Lobs wird dann konkreter gefasst, was von den alten Besitzern des Ortes zu sagen ist (Vs 909–917): Daß ein Krosek ihn besaß schon vor vielen hundert jahren / hat man guhte Nachricht auch/ aus der Alten Schrift erfahren. Daß von diesem nachmahls hier Der von Köhler Stam gestamt/

386 ja noch eines andern Glantz/ in der Schierau/ abgeflamt/ den man aus dem Winkel nent/ das bezeuget aller dreier Schild und Wapen/ welches sie allerseits macht alt und teuer/ durch das Pflugschaar/ das es führt: ob schon itzt das letzte zwei ümgekehrt es lässet sehn/ daß auch zwischen Ihnen sei ein gewisser Unterscheid.

Dann werden Grossvater und Vater, beide Pfarrer in Prirau, genannt und geehrt (Vs 945 ff.), und allmählich nimmt der Dichter seinen Abschied von der Heimat (Vs 953–958): Hiermit zieh’ ich ab den Kiel/ der befeuchtet in der Elbe/ von der Milde schrieb/ und ihr gar ein ewigs Denkgewölbe/ einen Ehrenbogen zog auf dis weisse Schreibeblat/ das von meinem Prirau nur dieser Wohllustschatten hat. Hiermit schlüß’ ich dieses Lied/ welches in Hamburg geklungen/ doch mein Prirau/ mein Atehn/ mein Venuse hat besungen.

Der Abschied fällt offenbar schwer, aber der »Pflicht« gegenüber dem »Vaterland« ist Genüge getan. Die Erinnerung an die Heimat werde sich nie verlieren, sie werde sich auch in der Fremde erhalten und mit der Zeit nicht schwinden (Vs 965– 976): Nimmermehr vergess’ ich sie. Nimmermehr vergess’ ich deiner/ mein geliebtes Vaterland. Eher noch vergess’ ich meiner. Lieber hab’ ich dich/ als mich. Kan ich schon bei dir nicht sein/ trekt und schlept mich schon von dir mein Verhängnis an den Rein/ an die Amstel/ ferne weg; dannoch denk’ ich/ liebste Mutter/ liebstes Prirau/ stähts an dich. Du bist meiner Sinnen Futter. Du bist meiner Seele Spiel. Diese spielet für und für/ ist der Leib schon in Hamburg/ dannoch schier allein bei dir. Bin ich schon in Amsterdam/ bei den schönen Amstelinnen/ denk’ ich dannoch immerzu an die lieblichen Mildinnen. Werd’ ich lüstern schon gemacht durch der Amsteltöchter Spiel: dannoch bist du solcher Lust/ liebstes Prirau/ einigs Ziel.

Es wurde hier eine andersartige Darstellung gewählt als eigentlich auf der Hand gelegen hätte. Denn dass keine sentimentalische Heimatschilderung vorliegt, dürfte deutlich sein und aus den Vergleichsobjekten und Namen zu Anfang und in der (teilweise) Wiederholung am Schluss hervorgehen. Die Schilderung der vertrauten Heimat schöpft aus dem Brunnen der klassischen Bildung, und auf diese Weise sucht Zesen sie in eine altehrwürdige Tradition einzureihen. Dazu stellt er zu Beginn bereits Lesersignale auf. Plato mit Athen; Horatius Flaccus hatte seinen Geburtsort Venusa wie Virgil sein Mantua. Es wird Dion genannt mit Syrakuse, Homer mit Smyrna (heute Izmir). – Mit Plato, dem »Weisemeister«, kommt die Stadt der »Dichtmeister« und Gelehrte in den Blick: Sophokles, Sokrates, Xenophon u. a. m., es ist auch die Stadt der »Alsgöttin der Weisheit« (Pallas / Minerva). Zu der Stadt Syrakuse ist natürlich noch daran zu erinnern, dass sie nicht nur die Heimat des Philosophen Dion ist (Schüler Platos), sondern

387 auch des Archimedes und Theokritos. Der vornehme Athener Themistokles, der für den Seehandel und für eine starke Flotte eintrat (Schlacht bei Salamis!), wurde durch Ostrakismos aus der Stadt verbannt; er ging nach Persien; daher der Perserkönig Xerxes, der ihn vergeblich gegen die Griechen anzustacheln versuchte. Ferner treten vor die Erinnerung: Der athenische König Kodros – er gab sich den Tod, um sein Land zu retten –, der sagenhafte Nationalheld Theseus besiegte den Minotaurus; der »Weise von Stagier« (Aristoteles) soll den König Alexander, der Stageiros zerstört hatte, um Wiederaufbau seiner Stadt gebeten haben, wodurch sie schöner geworden sei als zuvor. Das siebentorige Theben, u. a. die Heimat des Pindaros, war die bedeutendste Stadt Böiotiens, womit gleich der Musenberg, der Helikon, erwähnt werden kann: Sie krönt die Landschaft. Auf dem Helikon entspringt der sagenhafte Dichterbrunnen Hippukrene (Hippocrene), ebenfalls der Fluss Permessos, der den »Göttinnen der Freien Künste geheiligt ist« (Zesen in den Anmerkungen). Der Tiber beherrscht Rom, die Ewige Stadt. Wieviel berühmte Namen aus Geschichte, Kunst und Wissenschaften der klassischen Antike, wie viele entscheidende Taten und Schlachten, Kämpfe und Siege sind hier nicht in einer Namenreihe zusammengeballt! Welchen historischen Duft, weltlich wie geistlich, verströmt nicht der Tiber! Mit diesem geschickten Schlenker kann der Dichter nun den Blick des Lesers auf seinen Heimatfluss und Geburtsort lenken: Aber wo fleugt hin mein Kiel? Wil er bei Permessus Fluht/ oder bei der Tiber/ hier/ da die Milde schöpfet Muht/ nach so langem gange her/ mit der Elbe sich zu paaren/ suchen/ was er schreiben sol? (Vs. 35 ff.)

Da besinnt der Dichter sich und wendet sich »als ein treuer Mildenschwahn« den »lieblichen Mildinnen« zu und stellt den bescheidenen Heimatort in thematischer Stimmenverdichtung am Schluss – musikalisch gesprochen – in spannender Engführung vor: […] ob er schon ist kein Venuse/ kein Atehn/ kein Mantua/ kein Stagier/ kein Sirakuse/ ja kein Smirne/ Tehb’/ und Sulm. Er ist nur ein kleiner Ort/ solch ein Ort/ darvon man findt noch zur zeit kein einigs wort/ in den Schriften angeführt: den kein Dichter noch gepriesen; dessen Gegend niemand noch/ in Geschichten/ angewiesen. (Vs. 53 ff.)

Es ist ein anspruchsvolles Panorama, das am Leser vorbeizieht. Das weist darauf hin, dass keine Natursehnsuch den Antrieb zu dieser Dichtung gebildet hat. Es ist auch keine idyllische Landschaft, geschmückt und gewürzt mit der Patina der Jugenderinnerung und mit einer im Rückblick vergoldeten Vergangenheit; ebenso wenig ein Arkadien, eine Hirtenlandschaft, die wir aus der Bukolik kennen. Vielmehr ist der Fixpunkt die antike Land-

388 schaftsschilderung, die weniger auf die Schönheiten als auf die Zweckmäßigkeit und den praktischen Nutzen der Natur gerichtet ist – »Ja die Erde/ Luft und Fluht/ hägt in diesen Gegenden/ was dem Menschen vorteil tuht« (Vs. 95 f.). Hier kein Erdgeruch … In diesem Sinn hat Zesen sein Ziel tatsächlich erreicht: Sein Prirau wurde durch ihn verewigt. Dass dies im Geist des gelehrten Barockhumanismus geschah, liegt sowohl in Zesens Persönlichkeit wie in der Zeit begründet. Selbstverständlich ist es denn auch nicht die Natur allein, die hier andeutend geschildert wird, sondern die vom Menschen nutzvoll und kenntnisreich, dazu mit erforderlicher Erfahrung geschilderte kultivierte Natur. Das bestimmt das Argumentationsmuster dieses Spaziergangs durch die Wunder der heimatlichen Schöpfungsordnung. Mit solcher Perspektive einer eminent zweckdienlichen Schöpfungsordnung will diese Dichtung betrachtet sein, erst dann wird ihr Unterfutter sichtbar: Der Verfasser ist nicht umsonst ein poeta doctus ! Darauf verweist der überquellende Anmerkungsapparat, der die Prirau-Dichtung schmückt, aber schon dem großen Lustinne-Gedicht ausgezeichnet und den Romanen das gelehrte Gepräge gegeben hatte. Der vorliegende Text macht vollends deutlich, dass klassische Bildung im 17. Jahrhundert für Autor und Leser unumgänglich ist. Der dichterische Text ist nämlich ein Hort von Kunst und Kultur der Antike. Das ist der Ausgangspunkt von Dieter Martins grundlegender Untersuchung »Gedichte mit Fußnoten«. Es heißt darin u. a.: »Mit mythologisch gebildeten Augen durchwandert, geben sich in der Natur die vermeintlich untergegangenen Götter Griechenlands zu erkennen. […] Um diesen Beziehungszauber, der die Natur personifiziert und beseelt, recht zu entfalten, reicht Zesen der Text nicht hin. Hier schlägt die Stunde des Kommentars, der Prirau erst eigentlich zu jenem Speicher kulturellen Wissens macht, der die ganze ätiologische Fülle der Natur versammelt.«52 Der Kommentar bildet solcherart einen eigenen Paratext, der den Nationalstolz der barocken Humanisten-Gelehrsamkeit bezeugt. Dieser Gelehrtenkultur anzugehören, war immer Zesens Ambition, die er gegen Ende seines Lebens noch einmal mit Genugtuung ausbreitet. Es handelt sich – wie gesagt – kaum um Naturschönheit und Naturgefühl an sich, weniger noch um Naturgenuss, wie der Städter ihn sucht. Man fragt danach vergebens. Die Natur präsentiert sich in der Prirau-Dichtung als Sachinhalt. Was wahrgenommen und empfunden wird, muss sich dem klischeehaften Bild bequemen. Das besagt keineswegs, dass hinter dem konventionellen Bild und dem poetisch vorgeprägten Ausdruck kein persönliches Empfinden steckt – nur: es drückt sich nicht als solches aus. Wenn es 52

Dieter Martin: Gedichte mit Fußnoten. Zesens Prirau und der frühneuzeitliche Eigenkommentar. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen 2008. S. 141–160, hier 152. (Frühe Neuzeit, Bd. 130)

389 bei Willi Flemming heißt: »Selbst der vielgeschmähte Martin Opitz ist nicht so gantz vertrocknet, sondern läßt gerade in ländlicher Szene eigenen Herzschlag spüren«,53 ist man doch etwas argwöhnisch. Das gilt vielleicht mehr noch für die Fortführung des Satzes: »… daß auch Opitz eigenes Naturgefühl besitzt, so oft es sich sonst bei ihm wie bei all seinen Zeitgenossen hinter konventioneller Ausdrucksweise verbirgt.« Wo im 17. Jahrhundert in der Dichtung von der Natur die Rede ist, steht der Mensch als Herr der Schöpfung höher. Der Mensch ist von Gott dazu ausersehen, dass er »hier von Gott ihm verliehenes Recht ausübt.«54 So steht auch für den erklärten Gartenliebhaber Johann Rist die Kunstschönheit zwar ebenbürtig neben der Naturschönheit, aber im Grunde höher. Das zeigt sein Vergleich zwischen Natur und Kunst: Komm’ her Natura/ komm’ und gib uns zu betrachten/ Was Menschen in der Welt so hoch und köstlich achten/ Die theüre Schilder-Kunst/ die stets ist ohne Ruh Und Ehre sucht/ die macht es eben so wie du. Was rühmst du dich/ Natur/ daß du den Glantz der Waffen So bilden kanst? Die Kunst kans ja so lebhafft schaffen Und noch wohl schöner fast. Schau dort nur fleissig an/ Jn seinem Kurass den gemahlten Rittersmann/ Wie gläntzt das blaue Stahl! Hie muß Vulkanus weichen/ Mit dieser Farb’ ist kaum ein Harnisch zu vergleichen Und wenn er noch so wol im Zeüghauß’ ist polirt/ Hier spürt man/ daß die Kunst das höchste Lob weg führt!55

Tatsächlich geht es um den Menschen und seiner Stellung in der Natur. Deshalb schreibt Flemming mit Recht: »Das Landschaftsbild ist bewußte und gewollte Komposition für den bestimmten Zweck.« Die Natur präsentiert sich in der Erscheinungsform der »landschaftlichen Szenerie.«56 Das findet man in Zesens Prirau bestätigt.

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54 55

56

Willi Flemming: Der Wandel des deutschen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert. Halle 1931, S. 37. Auch das ist Flemming: ebd., S. 45. Johann Rist: Die alleredelste Belustigung (1664), Vs. 34 ff. In: SW unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. V. Berlin / New York 1974. S. 405 Flemming, ebd., S. 59.

12.

Philipp von Zesens Gedichte an die Weisheit

Als Johann Matthäus Meyfart (1590–1642), der wortgewaltige Theologe und Schriftsteller, Professor am Coburger Akademischen Gymnasium und späterer Rektor der Universität Erfurt, sich in der lateinischen Rhetorik hervorgetan hatte, wandte er sich mit Erfolg der muttersprachlichen Redekunst zu und verfasste die Teutsche Rhetorica/ Oder Redekunst.1 Dieses Werk war mit seinem kulturpatriotischen Impetus ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des deutschen Prosastils. Entsprechend prächtig ist das Bild der deutschen »Wohl-Redenheit« am Ende des ersten Kapitels: Ihr Gestalt blühet wie von Blumen/ und trohet wie von Waffen: Das Häupt ist mit dem güldenen Helm umbfasset/ und auff den Helm der Jungfräwliche/ von den Musen gebundene und gewundene Crantz/ mit Englischer Klarheit umbstralet: Die Rüstungen/ welche sie in den Händen führet/ flammen von dem Glantz der Sonnen/ als die Blitze von dem Knall der Donner. Die Brust ist von aussen mit den theuresten Perlen/ und von mancherley Farben Kleinodien gesticket/ die Augen funkeln heller als die Africanischen Adler/ die Wangen wachsen zierlicher als die Thessalischen Veielein. Die Lippen nassen von dem köstlichen Thaw/ welche GOtt von dem Berge Hermon uber diese werthe Creatur gegossen hat. Diese/ wenn sie anhebet jhre Rüstung zu schwingen/ zuerschüttern und zustreichen/ müssen geschwinde die Donner aus dem gelehrten Munde loßbrechen/ nicht anders/ als ob in der Lufft die Wolcken zersprüngen/ und die erschreckliche Schläge mit dem entzündeten Fewer in unterschiedliche Ort sich verwendet hetten. Wohin jhr gefället/ darff sie antreiben und führen; Wohin jhr gefället/ darff sie abtreiben und wegführen. Bald erweichet sie den harten Menschen in sanffte Threnen/ bald verhärtet sie den weichen Menschen in grawsame Felsen/ und thut solches in dem [!] gewaltigen Städten bey Rathsmännern/ auch in den grünen Awen unter den erhitzeten Soldaten. Wie lieblich ist der Thon der Stimmen? Wie prächtig ist die Verfassung der Worte? Es were fast billich/ daß die Frongeisterlein aus dem Garten der Ewigkeit sich auff die Erden wageten/ und anhöreten die hohe Subtiligkeit in den Erfindungen/ den unzehlbaren Reichthumb in den Reden/ den unuberschwencklichen Schatz von Sprüchen und Argumenten in dem Gedächtnuß. Wie ist die Ordnung so künstlich gefasset? Wie ist der Klang in den Sprachen so * In dieses Kapitel ist – umgearbeitet und stark erweitert – der gleichnamige Beitrag

 1

eingegangen in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. FS für Günther Weydt. Hg. von W. Rasch, H. Geulen und K. Haberkamm. Bern und München 1972, S. 121 – 136. Vgl. Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München 1972. Zur lat. Rhetorik: Mellificium oratorium. Leipzig, 3 Bde. 1628, 1633, 1637. Die eschatologischen Warnschriften (Tuba novissima, 1626; Das hellische Sodoma, 1630 u.ö.; Das Himmlische Jerusalem. 2 Bde., 1627 u.ö.) hatten ein breites Publikum. Die Teutsche Rhetorica (1634) wurde von Trunz 1977 im Ndr. vorgelegt, 1980 auch die Tuba novissima.

391 lieblich verendert? Wie stattlich seyn die Gebehrden/ wenn sie sich beweget? Wie tieff seyn die Gedancken/ wenn sie sich besinnet? Gering erzeiget sie sich in kleinen Stücken/ Leicht in Mittelmässigen Dingen. Was sollen wir ferner sagen? Wer die Wohlredenheit höret/ wird gezwungen zuglauben/ was er zuvor verneinete: zulieben/ was er zuvor hassete: zuloben/ was er zuvor lästerte. Wenn sie der Menschen gemüther widereinander verhetzet/ entstehet die feindseligste Zwieträchtigkeit: Wenn sie die Thaten rühmet/ entstehet die stolze Hoffertigkeit. Sie ist eine Uberwinderin der Seelen/ und Ubermeisterin der Sinnen.2

Es ist auffällig, dass das Bild der Wohlredenheit mit Attributen ausgestattet ist, die sie mit Pallas (Minerva) assoziieren. Das muss eine bewusste Anlehnung sein, die beim gebildeten Publikum sofort die klassische Göttin in Erinnerung ruft, mit allen sie auszeichnenden äußeren und inneren Zügen. Das gehört zum Bildungswissen, wie es die höhere Schule jedenfalls bis weit ins 18. Jahrhundert vermittelte. So umschreibt Benjamin Hederich noch in den ersten Jahrzehnten Minerva.3 Sie sei »des Jovis Tochter, entsprang als eine gewaffnete Jungfrau aus dieses Kopfe.« Sie werde abgebildet als eine schöne Jungfrau und werde »als die Göttin der Weisheit, item des Krieges und der Künste verehret.« Sie wurde dargestellt »als eine schöne Jungfrau, so einen Helm mit einer Feder […] auf dem Kopfe, in der einen Hand […] einen Spies, und in der andern einen Schild auf der Medusae Haupte, anbey an sich gelbe fliegende Haare und Himmel=blaue Augen hatte.« Sie würde auch »Caesia« genannt, »weil sie blaue Augen hatte« (S. 1935). Zesen selber hat sie bereits auf dem Titelblatt des Romans Ritterholds von Blauen Adriatische Rosemund (1645) in dieser Gestalt abbilden lassen. Das war für ihn offenbar eine Selbstverständlichkeit, denn er hat sie schon damals als persönliche Bezugsfigur in seine kreative Formenwelt aufgenommen, wie die »blaue Farbe« sowohl im Titel wie in der Romanhandlung anzeigt. In dem mythologischen Handbuch der Heidnischen Gottheiten (Nürnberg 1688) wird der Göttin denn auch viel Platz eingeräumt. Wir finden alle ihre Eigenschaften, wie sie eben genannt wurden, detailliert beschrieben. Pallas / Minerva ist »Göttin der Weisheit und freien Künste Vorsteherin« (S. 442), sie werde mit Recht hoch gerühmt wegen ihrer »fürtreflichen Vermögenheiten«: »weil man sie für eine Göttin der Weisheit und Klugheit/ dadurch die Göttliche Weisheit selbsten bezeichnet ward/ zu halten pflegte« (S. 432). Ihre Gestalt wird in deutlich pädagogischer Absicht ausführlich geschildert: Weil nun aus der Weisheit alles entstehet/ und durch sie alles/ das einen Bestand haben sol/ gehandhabet und beherschet muß werden; so hat man der Pallas/ als der Göttin der Weisheit/ alle Vermögenheiten/ die der Weisheit eigen sind/ zugeschrieben.  2

 3

Teutsche Rhetorica/ Oder Redekunst/ Darinnen von aller Zugehör/ Natur und Eygenschafft der Wohlredenheit gehandelt. Coburg 1634. S. 8 ff. Benjamin Hederich: Reales Schul=Lexikon. Andere und vermehrtere Auflage. Leipzig 1731. S. 1933 ff. (Minerva).

392 Und eben daher ward sie für eine Erfinderin/ schier aller Künste/ so wohl derer/ die man mit der Hand/ als der andern höheren/ die man mit dem Heupte pflegt auszuführen/ gehalten. Daher ehrete man sie/ als eine algemeine Lehrmeisterin/ als eine Beisitzerin/ ja Vorsteherin der Kunstgöttinnen selbst/ und als eine Beschirmerin der Bauleute/ der Akkersleute/ der Schiffenden/ der Heuser und Städte/ zuvoraus der Tühren und Tohre derselben/ darzu sie auch allein unter allen Göttern die Schlüssel zu besitzen Eschiel […] gedichtet. […] Ja weil alle Menschliche Weisheit/ deren Anfang die Furcht Gottes ist/ ihren Uhrsprung nur allein von GOtt hat; so haben die Alten gedichtet/ daß ihr Pallasbild/ […] von dem sie wähneten/ daß eine Stadt/ so lange man ein solches Pallasbild darinnen unverletzt erhalten/ wohl beschirmet und unüberwindlich sein würde/ vom Himmel gefallen sei. […] die Götter erhalten die Stadt der Göttin Pallas: nähmlich in welcher die Gottesfurcht/ als die Wurtzel der Weisheit/ und der Gerechtigkeit/ samt allen heilsamen Sitten/ und […] guhten Satzungen im Schwange gehen. (S. 433/ 34)

Auf diese Weise wird auch, wie man unmittelbar feststellt, der Mythos mit Bibelwissen verquickt – »die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang« (Spr 9, 10). Das hat Konsequenzen für Zesens Verständnis der Weisheit, der er sich zu eigen gegeben und zu dienen versprochen hat. Das bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. Das Jungfrauenbild ermöglicht mehrfache Bezüglichkeit. Allerdings war es in der Frühen Neuzeit nicht unüblich, Frauenfiguren in bildlicher Bedeutung darzustellen, sogar in religiöser, theologischer Funktion. Zu denken ist an den »philosophus teutonicus« Jacob Böhme (1575– 1624), der zu Beginn des 17. Jahrhunderts in eigenwilligen Vorstellungen des göttlichen Schöpfungsvorgangs neben der Trinität die Jungfrau Sophia einführte. Sie ist auf allen Stufen des Prozesses der unendlichen dynamischen Selbstgebärung Gottes in das Geschehen bezogen, bis hin zum Sohn und Geist und der Erschaffung des ersten Menschen. Sophia hat dabei die Funktion der »Kraft Gottes.« In gebotener Kürze sei in wenigen Strichen das überirdische Geschehen mit den Kernbegriffen Schöpfung, Erschaffung, Geburt und Wiedergeburt skizziert; es wird nicht ohne empfindliche Lücken möglich sein. – Gott ist ein ewiges Wesen, ohne Anfang und Ende, ohne Zeit und Raum – »Er gebäret von Ewigkeit in Ewigkeit sich selber in sich.«4 Es ist ein Prozess von Urgegensätzen, von Spiel und Widerspiel; auf der Ebene des Menschen bezeichnen wir die Gegensätze mit Gut und Böse. »Und befindet sich, daß es also seyn muß, sonst wäre kein Leben noch Beweglichkeit, […] sondern es wäre alles ein Nichts.«5 Auch der Mensch ist davon betroffen, denn jeder ist »ein zweyfacher Mensch«, in »Gutem und Bösem habhaft«, was daraus hervorgeht, »daß solches alles von und aus Gott selber herkomme, und daß es seines eigenen Wesens sey, das Er selber ist, und Er selber aus sich also geschaffen habe; und gehöret das  4

 5

Böhme, Mysterium magnum, 1, 2. Zitiert wird nach der Gesamtausgabe von 1730 mit Angabe der Kapitel- und Abschnittszählung: Faksimile-Neudruck in 11 Bdn. hg. von Will-Erich Peuckert, 1955. Böhme, Drei Prinzipien, Vorrede, 13.

393 Böse zur Bildung und zur Beweglichkeit, und das Gute zur Liebe.«6 So entsteht die Trinität: Und verstehet also den Vater für die feurende Welt, den Sohn für die Licht- und KraftWelt; den H. Geist für das Leben der Gottheit, als für die ausgehende führende Kraft; und ist doch alles nur ein Gott, wie das Feuer und das Licht mit der Luft nur ein einig Wesen ist; aber es scheidet sich selber in drey Theile; und kann keines ohne das ander bestehen.7

Mit der Menschwerdung Christi korrepondiere auf der Geistebene die Offenbarung der Gottheit in einer Jungfrau. Bevor nämlich das dritte Prinzip (d. h. die sichtbare Erschaffung »in Bildungen«, das In-Erscheinung-Treten) eintrat, war es in Gottes »Weisheit« offenbar geworden und hat sich das göttliche Wesen in Gestalt einer Jungfrau selber erkannt: »Also ist diese Jungfrau der Weisheit ein Spigel der Gottheit, darin der Geist Gottes sich selber siehet […] und in ihr hat der Geist Gottes die Formungen der Creaturen erblicket. […] Sie stehet vor der Gottheit als ein Glast oder Spigel der Gottheit, da sich die Gottheit inne siehet.«8 Die Jungfrau steht also als das Bild Gottes am Beginn der kreatürlichen Schöpfung. Bei Christi Geburt treffen die Jungfrau Sophia und die Jungfau Maria zusammen, jede in eigener Bedeutung und Funktion. An diesem Punkt brechen wir die Böhme-Skizze ab, die noch mit Marias Empfängnis und Christi Geburt weitergeführt wird. »Es soll in Ewigkeit nicht vergessen werden, daß Gott in ihr [Maria] ist Mensch worden«– da ist Christus, der Neue Adam, geboren.9 Es ist festzuhalten, dass für Böhme die »ewige Jungfrauschaft« ausdrücklich der Jungfrau Sophia vorbehalten ist, denn diese ist »keine Gebärerin gewesen, sondern die Offenbarung Gottes […] ein Spigel der Gottheit, darin der Geist Gottes sich selber siehet.«10 Man soll die Böhmesche Sophia für sich betrachten und sie nicht aus dem Konfigurationssystem herauslösen. Ihr Bild hat (aus Unkenntnis der Zusammenhänge) viele verwirrt, noch in der Frühaufklärung hat man gerade daran die angebliche Monstrosität von Böhmes Theosophie aufweisen wollen. Zedlers Universal-Lexikon von 1743 hält noch ein Echo solcher negativen Einschätzung fest: SOPHIA, […] Deutsch We i ß h e i t, ist ein Wort, welches von Jacob Böhmen, seinen Nachfolgern und allen übrigen Fanaticis zu einem rechten Monstro gemacht wor 6  7  8  9

10

Ebd., 13/14. Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi II, 5, 9. Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 1, 12. Vgl. Verf.: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jacob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hg. von Jan Garewicz und Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994. S. 147–163. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 24) Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 1, 12.

394 den. Denn es soll etwas göttliches seyn; keine Person, aber doch eine Persönlichkeit; nicht etwas vierdtes in Gott, und doch etwas von der Drey-Einigkeit unterschiedenes, ein sonderbares göttliches Wesen, und doch ein eigentlich so genanntes Weib, das H. Weib, der ewige Krafft-Leib Gottes durch welchen die Gottheit würcket und schaffet, die ewige und himmlische Jungfrau, die himmlische Gebähr=Mutter, welche sich in den Menschen herunter gelassen, das Ebenbild Gottes in ihm wieder aufzurichten …11

Das ist, in der absichtlich widerspruchsvollen prägnanten Formulierung, nicht einmal ganz falsch. Gottfried Arnold, selber ein glühender SophiaVerehrer,12 hat in seiner großen historischen Darstellung der »Kirchenund Ketzer-Historie« die allgemeine Unsicherheit, die Böhmes Vorstellungen offenbar hervorrief, nicht beseitigt: »Was Böhme hin und wieder von der himmlischen sophia oder weißheit Gottes geschrieben/ ist zwar auch vielen bedencklich und ungereimt vorgekommen/ von anderen aber gar vernehmlich gemachet worden.«13 Zesen hat nicht die religiös-erotische Sphäre Arnolds vorweggenommen, in deren Mitte Sophia für Jesus steht, wie überhaupt das bedeutungsvolle Weisheit-Motiv Zesens nicht in der Tradition der mystischen Weisheit-Literatur steht (etwa Heinrich Seuses »Horologium sapientae«, Büchlein von der ewigen Weisheit).14 Vielmehr geht er auf eine bereits bekannte Verweltlichung der Figur der Sapientia zurück, die allerdings, u. a. über Hohe-Lied-Motive, christlich-religiös grundiert war. Das hatte er bei Meyfart finden können, der im 1. Kapitel seiner Rhetorica aus dem 8. Kapitel des Buches der Weisheit Salomonis die ersten fünfzehn Verse anführt, aber die Stelle mit folgendem Satz einleitet: »Von der Wohl-Redenheit stehet geschrieben unter der Person deß Salomons/ in dem Buche der Weißheit …«. Das mag Zesen schon früh tief beeindruckt haben. Er hat das Thema dankbar aufgegriffen und das Bild der Sophia zu seinem dichterischen Leitbild genommen. Er hat wohl sofort die fesselnden Möglichkeiten erkannt, als er das Bild der »Poesis« und der »Rhetorica« zu einer neuen Einheit verschmolz und beide zu einer neuen Einheit im Bild seiner allegorischen Jungfrau zugleich aufhob und erweiterte. Die Jungfrau wird beseelt und – als halb irdische, 11

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Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. 1743, Bd. 38. S. 851. Gottfried Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Faksimileneudruck der Ausgabe von Leipzig 1700, mit einer Einführung von Walter Nigg. Stuttgart-Bad Canstatt 1963. Hier heißt es in dem Kap. »Von dem Geist Jesu und der Weißheit«: Der Gläubige werde bald erkennen, »daß der Geist Jesu/ und der Geist der Weißheit nicht zwey unterschiedene Geister seyn/ sondern ein einiger Geist« (S. 35). Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Frankfurt a. M. 1700. S. 640. Arnold denkt hier wahrscheinlich insbes. an Böhmes Schrift »Von der Theuren und Hoch-Edlen Jungfrauen der Weisheit Gottes« (1620). Vgl. Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre. München 1993. S. 334 f. Seuses Horologium ist eine erweiterte lat. Umarbeitung des »Büchleins«.

395 halb überirdische Gestalt – zum Gegenstand einer Liebesdichtung gemacht, die ihren Schöpfer und sein Amt gleichermaßen adelt. Welch große Bedeutung Zesen selber seinem originellen Beitrag zur Hebung von Amt und Würde des Dichters und zum poetischen Selbstausdruck beimaß, erhellt daraus, dass die frühesten Beispiele sich in bemerkenswerter Umgebung finden, und zwar in der Schäferdichtung Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack oder Götter- und Nymfen-Lust, 1642 in Hamburg erschienen.15 Der Dichter hat sich hier selber – als Person und als Dichter – ins Spiel gebracht. Die Stimmung in der kleinen Gruppe ist heiter, bis sich ernste Themen aufdrängen und die Gesellschaft der Damen mit trübseligen Liebesgedanken kämpft. Als dann ein Gewitter aufzieht, ziehen die Damen sich zurück, der Dichter sieht sich plötzlich allein und erblickt auf der anderen Seite die drei Parzen. Er wird nun selber auch nachdenklich, die lustige Gesellschaft hat sich aufgelöst, und so tritt er, durch die Erscheinung der Parzen konfrontiert mit der Vergänglichkeit, den Weg nach Hause an. Er ist bedrückt und verstört, »denn es hatte mich nicht eine geringe Furcht und Schrecken überfallen/ ich war fast gar aus mir selbst.« Mühsam schleppt er sich fort, als ob »die Füße mehr hinter sich als vor sich eylten.« In diesen Umständen und in solcher Verfassung beginnt er »einen Gesang nach dem andern her zu singen/ mich in etwaß zu erfrischen und den Weg zu verkürtzen.« Verunsichert, denn es hat »das tieffe nachsinnen« von ihm Besitz ergriffen, versucht er die »betrübten Gedancken« durch Gesang zu verscheuchen. Das erste Lied gilt der Abwendung von der »eytlen Welt«, die »willig nach dem Tode ringt«; der Refrain der zwölf Strophen lautet: »Ein ander suche Geld und Guth/ nach Weißheit steht mein Hertz und Muth.« Es folgen dann noch zwei weitere Lieder. Zesen hat sie in der ersten größeren Liedersammlung FrühlingsLust (Hamburg 1642) wieder aufgenommen. Er hat später die Sammlung Dichterisches Rosen- und Liljentahl (Hamburg 1670) damit bereichert. Abgesehen von den Weisheitgedichten als Musterbeispiele im Helicon, erschienen sie also insgesamt in drei Sammlungen. Vorab dürfte die Frage nicht ganz unnütz sein, weshalb der Dichter, der sich zur Dichtkunst wirklich berufen fühlte, das Bedürfnis nach einer poetischen Selbstreflexion verspürte und davon öffentlich Zeugnis ablegte. Das war in der Frühen Neuzeit alles andere als selbstverständlich: Sollte man sich doch in der Gesellschaft als nützlich erweisen, dazu hatte man gelernt und sich darauf nach Möglichkeit vorbereitet. Zur Vorbereitung gehörte in der höheren Schulbildung der Unterricht der Rhetorik und eine Einführung in die Kunst des Versemachens, weil diese Fertigkeit jedem Gebildeten zu verschiedenen Gelegenheiten abverlangt wurde. Denn der Casualdichter 15

In den Sämtlichen Werken, unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid hg. von Ferdinand van Ingen (Berlin / New York). Bd. III/1 (1993), S. 1–55.

396 war zu jener Zeit ein gern gesehener Gast. Von Berufs wegen hatte er eine wichtige, nahezu unverzichtbare soziale Rolle zu spielen: Das Casualcarmen sollte im Namen aller Anwesenden Freude und Leid nach den Regeln der Kunst angemessen zum Ausdruck bringen. Die Gattung des »personalen Gelegenheitsschrifttum«, wie Klaus Garber sie genannt hat, wurde tatsächlich »schon in der Hochzeit ihrer Pflege ob ihres massenhaften Auftretens kritisiert, was niemanden davon abhielt, sich ihrer weiterhin zu bedienen. Sie war für zwei Jahrhunderte das gegebene Medium der poetischen Kommunikation für alle ›gelehrten‹, d. h. des Lateins kundigen Schichten und hat den Festtag nicht anders als den Alltag in Gestalt von Geburt, Namenstag, Geburtstag, Hochzeit, Tod, Graduierung, Ehrung, Jubiläum, Abreise, Wiederkunft etc. bestimmt. Entsprechend reich ist das Repertoire der dem Anlaß angepaßten poetischen Formen; entsprechend zahlreich ist die Menge des Geschriebenen und vielfach auch Gedruckten. Hunderttausende solcher poetischer, auf Personen bezogener Produkte haben sich in zumeist umfänglichen Sammlungen erhalten …«16. Solche Beiträge »zu dieser geselligen Spielart poetischen Treibens« waren natürlich meist Eintagsfliegen, obwohl die Kenner erkannten, »wo in dem Immergleichen eine neue Wendung gefunden, ein neues Argument eingeführt, eine neue Bildsequenz aufgebaut worden war, die das Gedicht auszeichneten und seinen Erfinder ehrten.«17 Grosso modo gilt das auch für manche Pastoren-Gedichte, wenn diese auch zu besonderer Gelegenheit verfasst wurden. Von daher versteht man das Artikulieren des Dichterstolzes, womit man sich von der Menge der Allzuvielen unterscheiden wollte, wohl besser und versteht auch seinen Hintergrund. Die in der Poetik von Martin Opitz (1624) bekanntlich für Deutschland relativ spät in Gang gesetzte Hebung des Dichtertums macht im Grunde nicht viel Wesens von einer geschliffenen Umschreibung eines Poeten: »Er muß ›euphantasiotos‹, von sinnreichen einfällen vnd erfindungen sein/ muß ein grosses vnverzagtes gemüte haben/ muß hohe sachen bey sich erdencken können/ soll anders seine rede eine art kriegen/ vnd von der erden empor steigen.« Dann folgt sofort eine verächtliche Bemerkung über den Gelegenheitsdichter: »Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter.«18 August Buchner, Zesens Lehrer, hat das i-Tüpfelchen gesetzt: 16

17 18

Klaus Garber: »Gattungsparadigma Personales Gelegenheitsschrifttum«. In: Göttin Gelegenheit. Hg. von der Forschungsstelle »Literatur der Frühen Neuzeit« der Universität Osnabrück. K. G.: Umrisse des Projekts, S. 12–35. Nr. 1, S. 13. Osnabrück 2000. (Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Bd. 3) Garber, ebd. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. (1624). Hg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1970. S. 16.

397 »… daß der Poeten Thun mehr von einem Göttlichen Antrieb und Einfluß/ als Kunst und Geschickligkeit der Menschen herrühre.«19 Vor diesem Hintergrund versteht man Zesens Bedürfnis nach einem ihm angemessenen und höchstpersönlichen Ausdruck seines Dichtertums, mit dem er sich von seinen Vorgängern, auch von Buchner, deutlich unterscheiden und auch seinen Lehrer übertreffen konnte (aemulatio). Er hatte sich schon mit seinem Helicon, der ersten sytematischen Abhandlung nach Opitzens kleiner Poetik von 1624, als Dichtungstheoretiker einen Namen gemacht; erschienen 1640, musste sein Buch bereits 1641 in erweiterter Neuauflage erscheinen. Es sei auch nicht vergessen, dass dichterisches Selbstbewusstsein ein integrales Moment des Barockhumanismus darstellte. Die Weisheit-Gedichte Zesens artikulieren eine sich bescheiden gebende Religiosität, vielmehr in auffälliger Doppelheit von barocker Metapher und biblischen Anklängen (Hohes Lied) sich äußernd als in frömmigkeitlich vertrauten Formulierungen. Es ist Liebesdichtung, jedoch ohne jeden erotischen Anflug. Dafür stellt sich die den Petrarkismus anzitierende respektvolle Verehrung und fast scheue Belobigung ein. Man muss ein Gespür für solche differenzierte und differenzierende Spielformen entwickeln, um an diesen poetischen Hintergründigkeiten und subtilen Artikulationen Gefallen zu finden. Es handelt sich um ein Dichtertum, das bei aller Formvollendung und rationaler Bildwahl ein seltsames Oszillieren zwischen der intendierten Reflexions- und Begriffsentwicklung des damaligen Dichters und dem tiefgreifenden Ausdruck eines dichterischen Selbstgefühls angesichts der unausweichlichen Vergänglichkeit alles Irdischen zeigt. Denn so war die oben skizzierte Ausgangslage in der oben erwähnten Schäferdichtung. Die ›in poeticis‹ bereits in den Vordergrund gestellte Fähigkeit zu vernunftgeleitetem Handeln (etwa in der Bildlogik) und die individuelle Befindlichkeit des Dichters verweisen zugleich auf einen zu Gott hin offenen Lebensvollzug. Darin liegt die Bedeutung der hier in nähere Betrachtung gezogenen Weisheit-Gedichte im Rahmen des lyrischen Gesamtwerks sowie der Selbsteinschätzung ihres Verfassers. Es sind insgesamt sieben Gedichte, die Zesen auf die Weisheit gedichtet hat: »Wol dem| der in den Schrancken bleibet« (FL I, III), »Sophia komm/ du edles Bild« (FL V, I), »Weißheit/ sage wo du bist« (FL V, II), »Solte die Tugend so liegen verschwiegen?« (FL VI, VIII), »Schönste willkommen/ ach Liebste willkommen« (FL VI, IX), »Schikke mir blikke der gunst« (RL Nr. 3), »Ach! Schönste/ wie kan so blenden« (RL Nr. 4).20 In die Schäfer19

20

Augustus Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey/ Poet. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1966. S. 12. (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 5) Die Siglen verstehen sich wie folgt: FL = FrühlingsLust (1642) mit Teil und Nummer, RL die Sammlung Dichterisches Rosen- und Liljen-tahl (1670). Sie werden hier nach der Wiedergabe in den Sämtlichen Werken zitiert: SW Bd. I/1 (FrühlingsLust) bzw. Bd. II.

398 dichtung wurden übernommen FL I, III; FL V, I; FL V, II; die Sammlung von 1670 bringt die Gedichte FL V, I und FL V, II zum drittenmal (Nr. 2 bzw. 1), FL VI, IX zum zweitenmal (Nr. 36). Wichtiger als die nochmalige Wiederaufnahme der Jugendgedichte ist ihre Anordnung in der letzten vom Dichter selber veranstalteten Auswahl aus seinem dreißigjährigen lyrischen Schaffen, im Rosen- und Liljen-tahl von 1670. Die 115 Lieder umfassende Sammlung stellt eine Anzahl Weisheit-Gedichte an den Anfang und versieht sie mit neuen Titeln, die für ihre Bewertung aufschlussreich sind: »Der überirdischen Weisheit« (Nr. 1), »Hertzliches verlangen nach der himlischen Weisheit« (Nr. 2), »Ein anders an eben dieselbe Weisheit« (Nr. 3), »Noch ein anders auch an dieselbe nie genug gepriesene Weisheit« (Nr. 4). Danach erst folgen die an fürstliche Personen gerichteten Lieder (Nr. 6–115). Die solchermaßen betonte Vorrangstellung der Sophiengedichte legt den Schluss nahe, dass Zesen den poetischen Lobpreis der Weisheit gewissermaßen als sein dichterisches Credo betrachtet wissen wollte. Ihrem Charakter nach sind die Sophienlieder Liebesgedichte. Das lyrische Ich – das mit dem Dichter zu identifizieren ist – übernimmt die Rolle des werbenden Liebhabers. Zwei Gedichte fallen aus diesem Rahmen heraus. Das eine (FL I, III) ist ein Lied über, nicht an die Weisheit. Hier tritt denn auch nicht Sophia in Erscheinung, sondern es wird die Weisheit als Abstraktum besungen. Der Anfang erinnert an die (dem Horazischen »Beatus ille« nachgebildete) bekannte Opitz-Verszeile: »Wol dem der weit von hohen dingen …«, die, oft nachgebildet,21 Simon Dach zum neunstrophigen Lied anregte, dessen Kehrreim bei Zesen leicht verändert wiederkehrt: Wol dem, der sich nur lesst begnügen Daran was jhm auf Gottes Gunst Das Glück unfeilbar zu muß fügen, Und nehrt sich redlich seiner Kunst! Ein ander halt auff Geld und Guth, Ich liebe Kunst und freyen Muth.22

Die erste Strophe lautet bei Zesen:

21

22

Siehe Max von Waldberg: Die deutsche Renaissance-Lyrik. Straßburg 1888, S. 120– 123. 1. Strophe des Liedes, das als Nr. 9 in den 2. Teil von Heinrich Alberts »Arien« (Königsberg 1640) aufgenommen wurde. Zit. nach »Gedichte des Königsberger Dichterkreises«, aus Heinrich Alberts Arien und musicalischer Kürbshütte (1638–1650) hg. von L. H. Fischer. Halle/S. 1883, S. 48. Das Opitz-Gedicht ist leicht zugänglich in: »Teutsche Poemata«. Abdruck der Ausgabe von 1624 mit den Varianten der Einzeldrucke und der späteren Ausgaben hg. von Georg Witkowski. Halle/S. 1902. Nr. 116. (Auf die Unzulänglichkeiten dieser Ausgabe hat Günther Weydt hingewiesen: Euphorion 50 (1956), S. 14 ff.)

399 Wol dem! der in den Schrancken bleibet/ und nicht nach großem Reichthum strebt/ Wohl dem/ der so die Zeit vertreibet und stets in stoltzer stille lebt; Ein ander suche Geld und Guth/ Nach Weißheit steht mein Hertz und Muth.

Es ist ein ausgeprochen didaktisches Gedicht, das in zwölf Strophen die Richtigkeit der in der Überschrift aufgestellten These: »Daß Weißheit der beste Schatz sey«, beweist. – Das andere (FL VI, VIII) ist ein Gelegenheitsgedicht (»Als H. B. Heinsius Magister worden«) und lässt Sophia als Geliebte des jungen Magisters erscheinen, dem zu Ehren der Dichter die Feder angesetzt hat. In der vorletzten Strophe jedoch wird die Jungfrau selbst angeredet, der Schluss gilt ihr allein: Mercke/ Sophia/ diß sing’ ich zu Ehren Deinem Geliebten und selbsten auch Dier/ unsere Muse wird solches vermehren/ Geben dein hohes Lob weiter herfür; Hier will ich beschlüßen mit Versen zu grüßen/ Dich edeles Bild. Wil anderwerts singen Von höheren Dingen welche dein Hertze vollkömmlich erfüllt.

Betrachtet man diese Verse als Pointe, dann gehört das Gedicht zweifellos eher in den Zusammenhang der Sophiengedichte als das zuerst besprochene. Bemerkenswert ist auch, dass Sophia hier in die Nähe der Pallas rückt und das innige Band zwischen ihr und ihrem Geliebten mit einer Vermählung krönt: Pallas liebeugelt und lächelt vor Freude/ Alle Göttinnen erfreuen sich auch/ unsre Sophia windt Kränzte mit Seide/ Giebet den Trauring nach ihrem Gebrauch.

Damit leitet dieses Lied zum folgenden über (FL VI, IX), das von des Dichters Vermählung mit Sophia berichtet: »Als Ihm seine Hertz-aller-Liebste solte vertrauet werden.« Die übrigen Gedichte richten sich alle schon in der ersten Verszeile an Sophia, in Form einer Aufforderung, eines Seufzers etc., wie es im Liebesgedicht üblich ist. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch eine bald versteckte, bald offenkundige Andeutung der überirdischen Abkunft der Geliebten. Die Strophen 1 und 3 des Liedes FL V, I etwa sind auf den ersten Blick zu einem bezaubernd schönen Mädchen gesprochen: Sophia komm/ du edles Bild/ Mein Trost und Schild/ Ich fühle deiner Liebe Schmertzen In meinem Hertzen;

400 Ach eyle/ meine Sonn und Zier und komm zu mier/ Ach laß der Augen helles strahlen mich auch bemahlen; Laß seyn in deinen Armen mich/ damit ich dich/ mein Lieb erkennen kann/ Die ich vorlängsten liebgewann. Laß deinen Zucker-süßen Mund/ Der mich verwundt/ mit meinen dürren Lippen rühren/ Den Tau zu spüren/ Der auff den deinen sich befindt/ Du weises Kind/ Wie Perlen-Tau auff Rosen stehet/ Wenn einher gehet Die Himmels-Braut bey früher Zeit in roth bekleidt: Wohlan! Ich komm zu Dier/ wil bey dier wohnen für und für.

Motivik und Metaphorik unterscheiden sich in nichts von einem barocken Liebesgedicht. Der »Zucker-süße Mund« – ein beliebtes Requisit der barocken Schönen – soll einen Kuß auf die schmachtenden (»dürren«) Lippen drücken, der »Lippen-Tau« der rosenroten Lippen (die beliebte Metapher) wird, wie üblich, mit »Perlen-Tau auff Rosen« verglichen. Sogar petrarkistische Elemente – das »verwunden«, der »Liebe Schmertzen«– fehlen nicht ganz. Sieht man genauer hin und hat man die betreffenden Bibelstellen sowie Meyfarts Darstellung im Ohr, wird hinter manchem eine tiefere Schicht erkennbar. Es wurde bemerkt, dass Meyfart aus dem 8. Kapitel des Weisheitsbuches zitiert. Im Vers »Die ich vorlängsten liebgewann« klingt die in der Rhetorica angeführte Bibelstelle an: »Dieselbige hab ich geliebt und gesucht von meiner jugand auff/ und gedacht mir sie zur braut zu nehmen/ Denn ich hab ihre schöne lieb gewonnen.« Und hinter dem Lippen-Tau erkennt man leicht die bei Meyfart begegnenden Worte: »Die Lippen nassen von dem köstlichen Thaw …«. Unverhüllter treten die Andeutungen in der 2. und 4. Strophe auf: Sophia komm und träncke mich/ So lieb’ ich Dich/ Laß deine weisen Ströhme fließen und mich durchsüßen/ Damit ich von dir reden mag Zu Nacht und Tag: Ach! laß mein Heupt nun auch bekräntzen In diesem Lentzen/ und schleuß mich nun in deine Gunst/ du Bild der Kunst;

401 Dein braunes Angesicht/ Das sey in Dunckelheit mein Licht. Komm/ liebe Braut/ und kröne mich/ Lieb’ ich doch dich; Komm/ lege deinen Scepter nieder/ Damit ein jeder von Dier/ O Fürstin/ wird geehrt/ Der dich nur hört: Ich wil mein Antlitz zu Dier kehren und dich nur hören/ Damit ich deine weise Kunst/ Dein’ Ehr und Gunst Allzeit genießen mag/ O schöne Braut/ zu Nacht und Tag.

Das Bild vom Strom bereitet das vom Lippentau aus der 3. Strophe vor, die »weisen Ströhme« korrepondieren mit der Anrede »Du weises Kind«. Aber man darf darin auch eine Reminiszenz an die Sprüche Salomonis sehen: »Und die quelle der weisheit ist ein voller strom« (Kap. 18, 4).23 Das unmittelbar folgende Lied (FL V, II) fasst das Strom-Motiv konkreter; was im vorliegenden Lied auf zwei Strophen verteilt ist, wird hier in einer Strophe zusammengefasst: Weißheit/ sage wo du bist/ wo dein reicher Quell aufsteiget und sich zeiget/ Träncke mich mit deiner Fluth/ Höchstes Guth/ Laß mich deinen Most versüßen und genießen Deinen Zucker-süßen Wein/ Laß mich immer bey dier seyn/ Daß mein Mund mit Weißheit blühe und in Tugend sich bemühe.

Die Apostrophe »du Bild der Kunst« ist, wie »du edles Bild«, in der Liebesdichtung des Barock nicht ungebräuchlich, aber im Buch der Weisheit wird Sophia »aller kunst meister« genannt (Kap. 7, 20) und heißt es von ihr: »Wer ist unter allen ein künstlicher meister denn sie?« (Kap. 8, 5). Das »weise Kind« ist zugleich ein »Bild der Kunst«, die »liebe Braut« zugleich auch eine »Fürstin«, die ein Zepter hält und Krönungen vornehmen kann. Das Krönungsmotiv wird in der 2. Strophe angeschlagen, aber so, dass es sich nur auf den Brautkranz zu beziehen scheint: »Ach! laß mein Haupt nun auch bekräntzen/ In diesem Lentzen«. Erst in der 4. Strophe scheint es in seiner vollen Bedeutung auf.24 Dass Sophia als eine Fürstin auftritt, geht 23

24

Hinzuweisen ist noch auf die Stelle Eccl. XV, 3: »… und wird ihn träncken mit wasser der weisheit.« Die Bibelzitate werden geboten nach der Lutherbibel in der Ausgabe Wittenberg 1696. Vgl. Eccl. XV, 6: »Sie wird ihn krönen mit freud und wonne …«

402 wieder auf Meyfart zurück, der seine Beschreibung der schönen Jungfrau mit folgenden emphatischen Worten einleitet: »O der geschmücktisten Jungfrawen aus allen Zimmern/ und der schönsten Nymphen/ aus allen Wäldern! O der ansehnlichsten Heldin aus allen Feldern! O der prächtigsten Fürstin aus allen Schlössern/ und der Majestätischen Königin aus allen Thronen/ auch der Edelsten Göttin aus allen/ wo nicht Himmeln/ doch Tempeln.« – Schließlich sind auch die Verszeilen »Dein braunes Angesicht/ Das sey in Dunckelheit mein Licht« doppeldeutig. Sie knüpfen zunächst an »der Augen helles strahlen« an, indem sie den Vers hyperbolisch fortsetzen. Aber es ist auffällig, dass in fast allen Weisheit-Gedichten das Funkeln und Strahlen der Sophia hervorgehoben wird. Das Gedicht RL Nr. 4 ist ganz dem »edlen Licht«gewidmet und handelt von der »strahlen macht«: Ach! Schönste/ wie kan so blenden dein sonnenliechter glantz? der mich ümgeben gantz? Wie kanstu mein hertze wenden/ Du Herrscherin meiner sinnen? Wie kanstu mich so gewinnen/ durch deiner strahlen macht/ zu tag und nacht?

Hier wird offenbar die Sphäre des Weisheitsbuches verlassen und auf die Gleichsetzung der Weisheit mit Gott oder Jesus angespielt. Dass Zesen die Eigenschaft des göttlichen Lichts auf seine Sophia überträgt, zeigt noch deutlicher das Gedicht FL V, II, wo es in der 5. Strophe heißt: Wann mich ja die dunckle Nacht irrig macht/ Soll der Augen helles blicken Mich erquicken.

Das Irren im Dunkeln und das Aufblicken zum Licht hatten für das bibelfeste Barockjahrhundert religiösen Klang, man assoziierte solche Bilder mit bekannten Bibelstellen wie Joh 8, 12: »ich bin das licht der Welt/ wer mir nachfolget/ der wird nicht wandeln im finsterniß/ Sondern wird das licht deß lebens haben«.25 Es handelt sich hier um altes Traditionsgut, das Johann Arndt – den Zesen kannte und schätzte, auf den er auch oft verwies – im 1. Kapitel des 4. Buches seines Wahren Christenthums zusammenstellte. Hier 25

Vgl. auch das Epigramm des Andreas Gryphius »Auff die Nacht meiner Geburt« (Epigr. Nr. LXVII), das mit den Versen endet: »Solt ich wol irre gehn? Wie könt es doch geschehn?/ Weil ich mit offnem Aug kan nach den Flammen sehn!« Zit. nach der Ausgabe-Szyrocki in der von Marian Szyrocki und Hugh Powell edierten »Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke«, Bd. 2, Tübingen 1964, S. 181. Für die Bildbereiche von Nacht und Licht sei auf die Ausführungen von Dietrich Walter Jöns verwiesen: »Das ›Sinnen-Bild‹«. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966. S. 132–146.

403 liest man u. a.: »Das Licht vertreibet die finsternis und die geister der finsternis«, mit dem Hinweis auf Ps 18, 29: »Der Herr mein Gott machet meine finsternis licht.« Andreas Gryphius redet den Heiligen Geist als »Flamme« an, er nennt ihn »das heilge Feur«, das »Licht/ das unsre Nacht und Tunckelheit vertreibet.«26 Die Übertragung der Weisheit auf Gott, Christus und den Hl. Geist lässt sich übrigens auch in der zeitgenössischen Lyrik mehrfach belegen. Als Beispiel seien nur einige Gedichte der Catharina Regina von Greiffenberg erwähnt. Die Dichterin redet Christus, das »Fleisch wordene Wort«, mit »Du Weißheits Wesenheit« an und bittet den Hl. Geist: Komm schönster Seraphin/ berühre meinen Mund! mich woll der Flammen-Fluß/ die Gottes weißheit träncken.27

Die Licht-Motivik verbindet die Weisheit mit den Personen der Heiligen Dreifaltigkeit. Es ist aber das Weisheitsbuch selbst, das diese Verbindung vorbereitet, wenn es von der Weisheit sagt, sie sei »ein stral der herrlichkeit deß allmächtigen« und »ein glantz deß ewigen lichts« (Kap. 7, 25 und 26). Zesen konkretisiert das Strahlen der Sophia als das helle Funkeln ihrer Augen. Es ist wohl müßig, dafür auf Meyfart zu verweisen, denn Zesen hat seine Liebe zu Sophia in die Form eines Liebesgedichts gekleidet. Er zeigt dabei das Bestreben, sein Gedicht zwischen weltlicher und geistlicher Erotik spielen zu lassen. Die Motive verschränken sich derart, dass eine schwebende Mitte zwischen Liebesgedicht und Hymne entsteht. Religiöses wird verweltlicht, Weltliches vergeistlicht, so dass die Bildelemente, aus denen sich das Gedicht zusammensetzt, durchweg in doppelter Bezugsrichtung zu lesen sind. Die an diesem Gedicht aufgewiesene Eigenart von Zesens Sophiengedichten mag schließlich noch ein weiteres Beispiel belegen. 26

27

»Sonette aus dem Nachlaß«, Nr. X, VII bzw. IX. Ed. Szyrocki, Bd. 1. Tübingen 1963, S. 99 und 98. Es ist bezeichnend, dass bestimmte Hohe-Lied-Vorstellungen, die fast immer in die mystische Sophiendichtung einfließen, bei Zesen ebenso wenig begegnen wie Anklänge an sein eigenes Werk »Salomons/ deß Ebreischen Königes Geistliche Wohllust/ oder Hohes Lied« (SW Bd. I/2), das im »Helicon« von 1641 zum erstenmal veröffentlicht wurde. Die Anrede der Sophia als Braut geht, ohne irgendwelche Implikationen in Richtung auf die Braut-Mystik, auf das 8. Kap. des Weisheitsbuches zurück (8, 1 bei Meyfart S. 5). Nur für die Einkleidung der Sophienliebe in die Form des Liebesgedichts dürfte Zesen an die im 17. Jh. weitverbreitete Hohe-Lied-Dichtung angeknüpft haben. William Frhr. von Schröder bemerkt übrigens: Das »Verhältnis von Sophienlyrik und HL-Poesie bedürfte einer eingehenden Untersuchung, welche zu erforschen hätte, in welchen Ausgestaltungen das Sophienmotiv im Pietismus und in der Theosophie Böhmes und seiner Anhänger auftritt, welche Abwandlungen es erfuhr von seinem ersten Auftreten in der Lehre des Gnostikers Valentinos durch das Mittelalter hindurch bis zu Jakob Böhme, der es zur vollen Entwicklung brachte, und wie es schließlich einfließt in die Romantik, um in der Dichtung des Novalis eine zentrale Rolle zu spielen« (»Gottfried Arnold«. Studien zu den deutschen Mystikern des 17. Jahrhunderts. I. Heidelberg 1917, S. 110). Das ist m. W. noch nicht einmal in Ansätzen in Angriff genommen worden.

404 Es ist das »Hochzeitslied« auf die Vermählung des Dichters mit Sophia (FL VI, IX). Die letzten der im Ganzen vier Strophen des heiter-geselligen Liedes enthalten die im Hochzeitscarmen gebräuchliche Aufforderung an die Gäste, in die Freude des glücklichen Paars einzustimmen und das Fest mit Musik und Tanz fröhlich zu feiern: Sehet ihr Töchter! ach sehet uns stehen/ Sehet das überaus schöne Geschenck/ Helffet das Freuden-Fest alle begehen/ Trincket das edele Freuden-Getränck. Ach! trincket und esset Des Leides vergesset Zu itziger Zeit: Es kommet gegangen in röthlichen Wangen unsere schöne Sophia bereit. Laßet die lieblichen Lauten erklingen/ Laßet die Geygen erschallen allhier/ Laßet uns singen/ die Stimmen erschwingen/ Bachus gibt Reben-Safft/ Ceres giebt Bier/ Kommt laßet uns tantzen und trincken zu gantzen/ Ihr Brüder itzund: Macht Freuden-Gethöne/ Daß unsere Schöne/ unsre Sophia mag leben gesund!

Auch die erste Strophe hebt wie ein weltliches Liebesgedicht an, erst die letzte Zeile verrät den überirdischen Ursprung der Schönen: Schönste willkommen/ ach Liebste willkommen/ Deine geberden o edeles Bild/ Haben uns gäntzlich das Hertze genommen/ Sehet/ ihr Brüder/ das doppelte Schild mit Perlen besetzet/ die Augen ergötzet/ die Adliche Zier: Die Lippen/ ach schauet! seyn immer betauet/ Welches von Hermon der Höchste schenckt Ihr.

Dann erinnert man sich auch bei der Erwähnung der mit Perlen besetzten Brüste an die Formulierung: »Die Brust ist von aussen mit den theuresten Perlen […] gesticket.« Der Übergang zur zweiten Strophe, die der Beschreibung von Sophias Tugenden und Eigenschaften gewidmet ist, kann nun ungezwungen erfolgen: Ihre Gespielen seyn Adel und Tugend/ Stärcke/ Gerechtigkeit/ Klugheit und Zucht/ Welches am nützesten unserer Jugend/ Sonsten ist alles geneiget zur Flucht.

405 Begehrstu zu singen Von künfftigen Dingen/ Das zeiget sie Dier; Sie lesset bekräntzen im itzigen Lentzen unsere Heupter in träfflicher Zier.

Im ersten Teil wird fast wörtlich aus dem bei Meyfart angeführten 8. Kapitel des Weisheitsbuches zitiert: »Ihr Arbeit ist eytel Tugend/ denn sie lehret Zucht/ Klugheit/ Gerechtigkeit und Stärcke/ welche das aller nützest sind im Menschen Leben. Begehret einer viel Ding zu wissen/ so kan sie errathen beyde was vergangen und zukünfftig ist …« Nur die letzte Zeile der ersten Strophe und die ganze zweite Strophe verweisen auf den symbolischen Sinn des Gedichts, Beginn und Ende aber verfremden den symbolischen Gehalt des Themas so weit, dass Zesens »Sophienkult« sonderbar zwischen Metaphysik und Erotik oszilliert. Im Endeffekt ist jedoch nichts mehr vom irdischen Wesen der Weisheit zu spüren; man darf deshalb wohl von einer Transponierung des Metaphysischen ins Innerweltliche sprechen.28 Für alle Weisheit-Gedichte gilt in gleichem Maße: Die Symbolhaftigkeit wird erotisch überspielt, ja die Symbolwertigkeit erscheint als eine den erotischen Bildern nur lose umgehängte Drapierung. Die spielerische Behandlung des von Meyfart bereitgestellten Materials – Zesen geht nirgends darüber hinaus – lässt den Gedanken an ein mystisches Sophien-Erlebnis, wie es für Gottfried Arnold bezeugt ist, gar nicht erst aufkommen. Es wäre denn auch verfehlt, Zesens Gedichten einen Mangel an Schwerkraft vorzuwerfen, denn unbekümmerte Schwerelosigkeit war ihr offenkundiges Ziel. Sie haben nichts von dem Ernst und der Innigkeit, womit Catharina Regina von Greiffenberg die göttliche Weisheit anbetend besingt, nichts auch von der erotischen Inbrunst, die Arnolds Sophienlieder kennzeichnet. Schon ein Blick in die Sammlung der Lob- und Liebes-Lieder, die »meistentheils Weltliche und voller verliebten Gedancken sind« (Vorrede an den Leser), lehrt, dass Zesen seine Sophia von vornherein im Zeichen des heiter poetischen Spiels sieht. Dennoch wird man am ernsten Kern dieser Lieder nicht vorbeisehen dürfen. »Ich spiele/ doch bey gutem Verstande«– auch das sagt Zesen in der Vorrede zur eben angeführten FrühlingsLust. Hinter dem Spielerischen verbirgt sich eine Idee, die durchaus ernst zu nehmen ist. Es gehörte zu den vordringlichen Aufgaben der Poetenzunft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wie eingangs angedeutet, Würde und Bedeutung des Dichteramts gehörig herauszustreichen. Opitzens Poeterey diente 28

Die Kennzeichnung W. von Schröders (s. o., S. 103): »Arnolds Feier der Schönheit Jesu ist gierig bis zum Geilen, stürmisch bis zu fast priapischer Brunst« ist für Arnold als unzutreffende Übertreibung von der Hand zu weisen; bei Zesen käme man gar nicht auf solche Idee.

406 im wesentlichen diesem Ziel. Immer wieder wird das Argument wiederholt, dass alles vergänglich sei und nur das vom Dichter Besungene Bestand habe. In seiner groß angelegten »Elegie« kontrastiert Opitz die Eitelkeit der Welt und die allgemeine Sterblichkeit (»Es sey auch was es will so muß es doch vergehn«) mit der Unvergänglichkeit des Dichters: Allein der kluge Geist gelehrt und wolerfahren, Fleucht den gemeinen lauff, bricht durch, ist Herr der Jahren, Er acht den Tode nicht, fehrt fort und muß er schon Den Pfad den alle gehn, so kompt er doch darvon. […] Wer diesen Zweck erlangt, darff nicht hierunden kleben, Und wer’ er zehnmahl todt so soll er dennoch leben, Gott herbergt selbst in jhm, ja was er denckt und schafft Riecht nach Unsterbligkeit, schmackt nach deß Himmels krafft. Drumb wirdt die schnelle Flucht der Jahren nicht verderben Was ich beginn, und auch, wann ich schon sterbe, sterben, Ob das, so unden war, solt alles oben stehn, So kan der Weißheit Lob doch nimmermehr vergehn.29

Neben dem Aspekt der Gottwerdung – der an die traditionelle Formel des »poeta alter deus« anknüpft und nur im Rahmen des das dichterische Selbstbewusstsein konstituierenden Argumentationssystems verstanden sein will – ist das Motiv des Aufschwungs zu beachten.30 Bemerkenswert ist aber vor allem, dass das Werk des Dichters als »der Weißheit Lob« bezeichnet wird. Allerdings war Gelehrsamkeit für den Barockdichter die notwendige Voraussetzung, gelehrte Bildung selbstverständlich, aber der Zusammenhang von Dichter und Philosoph, wie er bei Opitz begegnet, fasst die Sache konkreter und führt im Hinblick auf Zesens Weisheit-Gedichte weiter. Er enthält den Hinweis auf den ethischen Zweck der Dichtung, nämlich den Leser »zu der Tugend und Weisheit zuführen.«31 – Die Dichter sind unsterblich – so ist Opitz’ Elegie wohl zu interpretieren –, weil sie das Lob der Weisheit besingen und ihre Werke voller Weisheit sind. Der Zeit war der Gedanke geläufig, dass die Poesie die »erste Wiege der Weisheit« sei.32 Wenn Martin Kempe hervorhebt, die Poeten seien »ehe der 29 30

31

32

Teutsche Poemata. Zit. nach der Edition Witkowski (Anm. 22), S. 23. Vgl. Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970 (über die Barocklyrik S. 43 ff.). In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die von Conrad Wiedemann vertretene These vom »Engelwesen« einiger Barockdichter: Engel, Geist und Feuer. Zum Dichterselbstverständnis bei Johann Klaj, Catharina Regina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin 1968. S. 85–109. Johann Peter Titz in der Vorbereitung (f. A iijv) zu seinem Werk »Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen.« Danzig 1642. Johann Christoph Männling: Lohensteinius Sententiosus. Das ist: Des vortrefflichen Daniel Caspari von Lohenstein […] Sinnreiche Reden. Breslau 1710, S. 2.

407 Name Sophia, oder Philosophia aufkommen/ vor weise Leute geschätzt worden«, setzt er nur einen Gedanken fort, den Zesens Lehrer in Wittenberg, August Buchner, mit auffälliger Ausführlichlichkeit dargelegt hatte.33 Das ist der tiefere Grund für Zesens dichterische Liebe zu Sophia, deshalb ruft er sie an, sie möge ihn »träncken« mit ihrer »Fluth«– »Daß mein Mund mit Weißheit blühe/ und in Tugend sich bemühe.« Dann ist der philosophische Dichter, der Weisheit liebende Sänger, der Unsterblichkeit gewiss: Du solt meines Nahmens Lob in die hohen Wolcken bauen Stets zu schauen/ Mein Gedächtnüß wird bestehn/ Wo die Sterne gehn und unsterblich auch verbleiben und bekleiben/ Nur dier/ Neid/ zu Trotz und Hohn: Wohl demselben! der den Lohn/ Der da trotzt die hohen Sinnen/ Kann mit Ehr und Ruhm gewinnen.

So lautet die Schlussstrophe des Liedes FL V, II, das 1670 den Auftakt bildet für die umfangreiche Selbstauswahl des »Rosen- und Liljen-tahls«. Es wundert nicht, dass auch dieses Motiv aus dem 8. Kapitel des Weisheitsbuches stammt: »Ich werde einen unsterblichen Namen durch sie bekommen/ und ein ewiges Gedächtniß bey meinen Nachkommen lassen.« Das ist, wie man nach einiger Lektüre-Erfahrung weiß, ein typisches Zesen-Motiv. Es lässt sich aber gut an die vom Humanismus ererbten Idee der Unsterblichkeit des Dichters anschließen. In Zesens Weisheit-Gedichten gehen das allegorische »Bild der Poesis« bzw. der »Wohl-Redenheit« und das stolze Idealbild des Dichters, der dem unabänderlichen Gesetz der menschlichen Vergänglichkeit trotzt, eine Verbindung ein, welche die »Jungfrau der Weisheit Gottes« als Genius des Dichters inthronisiert. Bei dieser Jungfrau, der »niemahls gnugsam-gepriesenen Weißheit«, findet der Dichter Trost und Schutz, wie es exemplarisch in der zu Anfang genannten Dichtung Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack dargestellt wird.

33

Martin Kempe in seinem Kommentar zu Georg Neumarks Buch: »Poetische Tafeln/ Oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst.« Jena 1667, S. 57. – Buchner: »Poet.« Aus dessen nachgelassener Bibliothek heraus gegeben von Othone Prätorio. Wittenberg 1665, S. 13 ff. Ndr.: Augustus Buchner, Anleitung zur deutschen Poeterey / Poet. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1966. – Zum Komplex vom Dichter und Philosophen Joachim Dyck: Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhetorik als Verständnishorizont der Literaturtheorie des XVII. Jahrhunderts. In: Arcadia 4 (1969), S. 1–15.

Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Bibliothekssiglen HAB SB München KB UB Amsterdam UB Amsterdam/VU

Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Staatsbibliothek München Koninklijke Bibliotheek Den Haag Universiteitsbibliotheek Amsterdam Universiteitsbibliotheek Amsterdam / Vrije Universiteit

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410 Bd. 3 Bd. 4 Bd. 5 Bd. 6 Bd. 7 Bd. 8 Bd. 9 Bd. 10 Bd. 11 Bd. 12 Bd. 13 Bd. 14 Bd. 15 Bd. 16 Bd. 17 Bd. 18

Weltliche Lyrik III/ 1 (u. a. Poet. Rosen=Wälder. Prirau) Weltliche Lyrik III/ 2 (Schatz der Gesundheit) Romane IV/1 (Lysander und Kaliste) Romane IV/ 2 (Adriatische Rosemund) Romane V (Ibrahim) Romane VI (Die Afrikanische Sofonisbe) Romane VII (Assenat) Romane VIII (Simson) Deutscher Helicon (1641) Hoch-Deutscher Helicon (1656) Spraach-Übung. Rosen-mând. Helikonische Hechel. Sendeschreiben an den Kreutztragenden Deutsch-lateinische Leiter. Gesellschaftsschriften Wider den Gewissenszwang Ethische Schriften (u. a. Moralia Horatiana. Frauenzimmers Gebeht-Buch) Historische Schriften 1 (Majestäht) Historische Schriften 2 (Ndl. Leue) Beschreibung der Stadt Amsterdam Heidnische Gottheiten 1 Heidnische Gottheiten 2 Coelum astronomico-poeticum 1 (Lateinischer Text und Übersetzung) Coelum astronomico-poeticum 2 (Kommentar) – in Vorbereitung

Weitere Mitarbeit: Karl F. Otto Jr. (Gesellschaftsschriften, XII) Reinhard Klockow (Coelum, XVIII) Reinhard Klockow (Coelum 1 und 2, XVIII) Folgende mehrfach genannte Sammelbände erscheinen im Literaturverzeichnis mit leicht gekürztem Titel: Philipp von Zesen 1609–1969. Studien zu seinem Leben und Werk. Hg. von Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972. (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Bd. 1) Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen und Dieter Martin. Tübingen 2000. (Frühe Neuzeit, 130)

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413 Scriverius, Petrus: Oudt-Batavien nu ghenaemt Hollandt. 1606. – Batavia illustrata. Leiden 1609. Schottelius, Justus Georg: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. 1663. Neuausgabe (Reprint) hg. von Wolfgang Hecht. 2 Bde. Tübingen 1967. – Ethica. Die Sittenlehre oder Wohllebenskunst. Wolfenbüttel 1669. Hg. von Jörg Jochen Berns. Bern und München 1980. Stubenberg, Johann Wilhelm: Geteutschter Samson/ Des Fürtrefflichsten Jtaliänischen Schreiber-Liechtes unserer Zeiten/ Herrn Ferrante Pallavicinis. Übersetzt von J. W. S. Nürnberg 1657. (HAB) Twisck, Pieter Jansz.: Na beter Religions Vryheyt. Een korte Cronijcsche beschrijvinghe van die Vryheyt der Religien/ tegen die dwang der Conscientien/ ghetrocken wt veel verscheyden Boecken/ van Christus tijt af/ tot den Jare 1609 toe. Verzeichnis der so woll übergesetzten/ als selbst verfasseten Zesischen Schriften/ vor fünfzehen jahren zum drukke befördert durch den Dringenden […]; nun aber vermehret durch den Stützenden [Johann Heinrich Gabler]. Speyer 1687. Vulcanus, Bonaventura: Batavia sive de antiquo veroque eius insulae quam Rhenus in Hollandia facit situ, descriptione et laudibus. Antwerpen 1586.

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Namenregister Achilles Tatius 93 Albada, Aggeaus 343, 351 f. Albertinus, Aegidius 64, 80 Alba (Alva), Herzog von 177, 186, 189, 307 f. Albert, Heinrich 60 Althaus, Paul 221 Amadis 79 Amalia van Solms 30 Angelus Silesius 205 Aristoteles 383 Arndt, Johann 227, 232, 237 ff., 240 ff., 243 f., 249 ff., 402, 405 Arnold, Gottfried 217, 394, 405 d’Audiguiers, Vital 82 Auerbach, Erich 168 August von Sachsen 10 Augustijn, Cornelis 303 Aurelius, Cornelis 183 Aus dem Winkel, Johann Ernst und Johann Titus 44 Backer, Willem 42 Bährenstätt, Philipp von 7 Barclay, John 79 Barlaeus (van Baarle), Caspar 179, 188, 197, 206 Bawr, Conrad (Agricola) 228 Becker, Dietrich 61 Beckers, Maria 43 f. Beckh, Johann Joseph 112 Bergengruen, Maximilian 108 Berghaus, Günter. 267 Berns, Jörg Jochen 370 f. Beverwijck, Johan van 206, 279 ff. Beyersdorff, Willi 142 Biondi, Francesco 78 Bèze, Theodore de 303 Bietenholz, Peter G. 337 Bircher, Martin 329 f. Birken, Sigmund von 1, 43, 50, 204, 371 ff., 374 Blaeu, Johannes 23, 42 Blaufuß, Dietrich 350

Blume, Herbert 20, 82 Bochartus, Samuel 228 Bodin, Jean 104 Böhme, Jacob 27, 234, 392 f. Bontemps, Petrus 321 Boomgaert, Cornelis Adriaansz. 338 f. Bor, Pieter Christaensz. 351 Borcherdt, Hans Heinrich 50 Borgstedt, Thomas 70 Borremans, Nicolaas 342 ff. Braun, Werner 61 Breckling, Friedrich 173 f., 340, 344, 348 ff. Bredero, Gerbrand Adriaensz. 362 Brehme, Christian 133 Breitinger, Johann Jakob 320 Brenz, Johannes 301 f., 304, 334 Breuer, Dieter 200 f. Bruckner, John 346 Buchner, Augustus 8, 50 f., 52, 54 ff., 59, 396 f., 407 Bucholtz, Andreas Heinrich 121 Bullinger, Heinrich 305, 315, 316 ff. Bunners, Christian 203, 211 Calixt, Georg 308 Calvin, Johannes 298 Campen, Jacob van 188 Casa, Giovanni della 117 Castiglione, Baldassare 81, 116 Castellio, Sebastian 298 f., 300 ff., 304, 337, 340, 352 Cats, Jacob 206, 279, 282, 290 ff. Cholevius, Leo 87, 91, 166 Christina, Königin von Schweden 23, 29, 42 Coehoorn, Menno van 270 Cohn, Egon 112 Colletet, Guillaume 206 Comenius, Jan Amos 42, 235 Comes, Natalis 369 Conrady, Karl Otto 148 Coornhert, Dirck Volckertsz. 197, 303, 338, 340, 346

424 Cromwell, Oliver 254 f., 261, 263 Cusanus, Nikolaus 300 Dach, Simon 398 Dapper, Olfert 180, 188, 190, 195 Delwich, Catharina von 33 Delwich, Heinrich von 29, 32, 246 Desmarets de Saint Serlin, Jean 79 Dilherr, Johann Michael 55, 205 Dögen, Matthias 270, 272 f. Dousa, Janus 367 Dülmen, Richard van 192 f. Dünnhaupt, Gerhard 78 Dyck, Joachim 372 Eckhart, Meister 217 Eleonore, Kaiserin 36, 72 Elzevier (Louis / Ludwig) 23, 42 Erasmus, Desiderius 171, 183, 302 f., 346 Faret, Nicolas 81 Feldheim, Ursulane Hedwig von 19 Ferdinand III., Kaiser 10, 36 Finckelthaus, Georg 50 Flemming, Willi 389 Florianus, Joannes 369 Fontein, Nicolaas 41 Forster, Leonard 322 Fournier, Georges 274 Franck, Sebastian 301 Friedrich III., König von Dänemark 272 Friedrich Heinrich von Oranien 30, 272 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 30 Friesen, Abraham 319 Gabler, Johann Heinrich 7, 46 Garber, Klaus 11, 396 Gardt, Andreas 8, 75, 80 Garzoni, Tomasso 65 Gelzer, Florian 81, 83 Gemert, Guillaume 6, 75, 345 Gerhard, Johann 240 Gherwen, Abraham van 228 Gockel, Balthasar 371 Goebel, Martin 55 Goethe, Johann Wolfgang 16, 217 Gomberville, Marin Le Roy de 362 Gramsch, Alfred 246 Greiffenberg, Catharina Regina 19, 43, 405 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel 79, 132, 143 Grotius, Hugo 29, 176, 184

Gryphius, Andreas 211, 255, 267 Guarini, Giovanni Battista 11 Guazzo Stefano 116 Gueinz, Christian 8, 10, 20, 23 f., 50 f. Guevara, Antonio 12, 81, 116 Güldener, Gerhard 296, 303 Guggisberg, Hans R. 295 f., 298 f., 301 f., 336, 342 Habermann, Johann (Avenarius) 227 Hallmann, Johann Christian 20 Hanisius, David 44 Hankamer, Paul 222 f. Harsdörffer, Georg Philipp 8, 13, 23, 25, 35, 42, 48, 50, 54, 63, 66, 80, 116, 203, 214, 358, 364, 366, 370 f. Hattavier, Isaak 322 Haupt, Wilhelm 365 Hederich, Benjamin 381 f., 383, 391 Hegenitz, Gottfried 82, 275 Heidegger, Johann Heinrich 323, 327 Heinsius, Daniel 27, 49, 206, 281, 343, 368, 373 ff. Heliodor 81, 129, 159 Henriette Catharina von Oranien 30 f. Herberger, Valerius 168 Herz, Andreas 19 Hinrichs, Boy 48 Hobsbawm, E. J. 200 Holtzheim, Johann von 29 Höpel, Ingrid 355 f. Hofmann, Melchior 190, 315 Hooft, Pieter Cornelisz. 197, 206, 282, 344 Hortensius, Lambertus 188, 190 Hottinger, Johann Heinrich 326 f. Horaz 357, 361 Huber, Wolfgang 8 Hülsemann, Johann 44 Huizinga, Johan 170, 345 Huygens, Constantijn 282, 344 Ignatius von Antiochien 37, 207 Jähns, Max 271, 274, 278 Janssonius, Johan 42, 274 Jöns, Dietrich Walter 402 Johann Casimir von Anhalt-Dessau 30, 35 Johann Georg II. von Anhalt-Dessau 29, 30, 31, 36 Jürgensen, Renate 76 Jung, Carl Gustav 365

425 Kaczerowsky, Klaus 44, 100, 111, 120 Kaminski, Nicola 61 Keller, Josef 69 Kempe, Martin 1, 44, 406 Kerényi, Karl 365 Kirchner, Athanasius 125 Klaj, Johann 8, 13, 50, 360 Kleinschmidt, Erich 178 Koepp, Wilhelm 241 Körnchen, Hans 142, 156 Kordes, Heinrich 43 Krampich, Johann 277 Krause, Gottlieb 4, 28 Krüger, Lieselotte 61 Krüsike, Paul Georg 44 Krump, Sandra 108, 143 ff. Kühlmann, Wilhelm 3 Labadie, Jean de 38, 234 La Calprenède 79 Lademacher, Horst 31 Lamsweerde, Steven van 37, 44, 206 Lehmann, Hartmut 200 ff. Leopold von Anhalt-Dessau 30, 35 Liebenau, Hans Christoph von 18 Linck, Wenzeslaus 334 Lindhorst, Eberhard 142 Lipsius, Justus 119, 127 f., 303 Locke, John 311 Lohmeier, Anke-Marie 12 Louise Henriette von Oranien 30 Ludwig, Fürst von Anhalt-Köthen 8, 19 f., 24, 25, 28, 30, 50, 55 f., 58, 66 f. Lüttkemann, Joachim 232 Luther, Martin 220, 222, 297, 302, 304, 309, 313 f., 334, 339 f. Maché, Ulrich 49, 54 Magri, Johannes 271 Mallet, Allain Manesson 275, 276 f. Mander, Karel van 368, 373 Maresius, Samuel 325 Marschalk-Meerheim, Karl Christoph (Der Wohlriechende) 25, 28, 33, 44 Martin, Dieter 388 Mauser, Wolfram 47 Meid, Volker 78, 87, 123 ff., 127, 143, 156, 167, 267 Meier, Joachim 124 Meier, Peter 60, 206 Meteren, Emanuel van 176 Meurer, Johann Wilhelm 4 Meurer, Johann Christoph 4

Meyfart, Johann Matthäus 390 f., 394, 400, 402 Mitternacht, Johann Sebastian 36 Moller, Martin 221 Montanus, Petrus 180 Montaigne, Michel de 116, 281 Montemayor 79 Moritz, Karl Philipp 365 f. Müling, Michael 228 Müller, Heinrich 203, 205, 210 Münkler, Herfried 200 Müntzer, Thomas 190, 297, 315 Naumann, Johann 29, 43 Neumark, Georg 20, 35, 37 Nicolai, Philipp 210 Oestreich, Gerhard 127, 186 Oldenbarneveld, Johan van 307 Opitz, Martin 11, 28, 47, 49, 56, 59, 62, 67, 70, 221, 367, 375, 378, 380, 396, 398, 406 Osthof, Georg Conrad 42, 86 Ott, Johann Heinrich 312, 315 f., 321 ff., 324, 326 ff., 329, 331, 335 Otto, Karl F. 8, 268 Pallavicino, Ferrante 78, 146 Pellicer, Matthias u. Hans Georg 277 f. Palbitzki, Matthias u. Dionysius 29, 115 Petersohn, Dietrich 9 Petersohn, Johann 9 Petrarca, Francesco 103 Plotke, Seraina 11 Pontanus, Johannes Isacius 180, 183, 188, 190, 196 Prasch, Johann Ludwig 112 Questiers, Catharina 41 Reinmuth, Eckart 136 ff. Rinckart, Martin 58 Rist, Johann 9, 19, 25 f., 37, 60, 65 f., 203 f., 214, 371, 389 Rivet, André 206, 208 Rohrschneider, Michael 30 f. Rosenthal, Dorothea Elenora 9 f., 13 Rötzer, Hans Gerd 78, 80 Rothmund, Elisabeth 2 Ruhle, Valentin 53 Salmasius (Saumaise), Claude 255 Sambuccus, Johannes 356 f. Scaliger, Julius Caesar 47, 367

426 Scheidemann, Heinrich 60 f. Scheitler, Irmgard 203, 211 Scherertz, Friedrich 4 f. Schilling, Heinz 30, 47 Schirmer, David 50 Schmieden, Karl Friedrich 264 f. Schmölders, Claudia 117 Schöbel und Rosenfeld, Georg von 236 Schöbel und Rosenfeld, Maria Dorothea von 236, 248 f. Scholte, Jan Hendrik 21, 100 Schop, Johann 60 f., 205, 210 Schottelius, Justus Georg 23, 50, 54, 63, 131, 274 f. Schulz, Otto 1 Schütz, Heinrich 56 Schurman, Anna Maria 37 f., 206, 208 f., 234, 244, 281 Schwarz, Sibylle 42 Schwenckfeld, Kaspar 239 Scudéry, Madeleine de 80, 93, 122 Servet, Michael 296 f. Seuse, Heinrich 394 Siebenhaar, Malachias 13 f., 31 f., 43 f., 224, 236, 245, 246 Sieveke, Franz Günter 142, 144 Simons, Menno 337, 346 Singer, Herbert 128, 143 Sofie Amalia von Dänemark und Norwegen 37 Sorel, Charles 30 Soucy, François du 86 Spang, Michael 208 f. Spanheim, Friedrich 208 Spener, Philipp Jakob 245 Spiegel, Hendrik Laurensz. 197, 369 Spies, Marijke 369 f. Spinoza, Baruch de 311 Springer-Strand, Ingeborg 112 Stalpert, Daniel 188 Stevin, Simon 270 f. Stöckle, Lucas 228 Stoll, Christoph 8 Stockhorst, Stefanie 47 Stubenberg, Johann Wilhelm 78, 146 Sydney, Sir Philip 79 Tacitus 104, 182 Tasso, Torquato 11 Tauler, Johannes 216 f. Taurellus, Nicolaus 356

Teelinck, Eloud u. Willem 235 Theokrit 11 Thomas, Gary C. 58 Thomas, Richard Hinton 61 Thomas von Kempen (à Kempis) 218, 237 ff., 245 Thurn, Heinrich Graf von 29, 37 Tilmans, Karin 183 Titz, Johann Peter 54, 63, 406 Trappen, Stefan 122 Trevor-Roper, H. R. 200 Trunz, Erich 390 Twisck, Pieter Jansz. 172, 337 f. d’Urfé, Honoré 79 Vaenius, Octavius (Otho van Veen) 362 Vaget, Barthold 45 Viëtor, Karl 6, 19, 244 f. Virgil 11 Vismar, Sofie 10, 17 Vlamingh, Hans (de) 322 f., 326, 327, 340 Voetius, Gisbert 37, 206, 235 Vogel, Johann 355 Voigtländer, Gabriel 60 Vossius, Gerardus Joannes 188, 197 Vreede, Adolf de 323 ff. Waesberghe, Johannes van 42 Wallmann, Johannes 240 ff. Webber, Zacharias 188 Weber, Max 200 Weber, Renate 74 Weckmann, Matthias 31 f., 61 Weimann, Daniel 30, 263 f. Weise, Christian 247 Welzig, Werner 110 Werder, Diederich von dem 55, 256 Westohn (Westonia), Hildegond 42 f., 44 Wicke, Andrea 268 Wilhelm von Oranien 183 Witsen, Cornelis 42 Witte, Niclas 29 Zedler, Johann Heinrich 280, 331, 393 f. Zeise, Christian 228 Zeman, Herbert 60 Zeno(n) 359 f.