Philipp von Zesen: Wissen – Sprache – Literatur 9783484366305, 9783484970588

The volume contains the papers given at a conference held in Basle in Autumn 2006 on the writer Philipp von Zesen (1619-

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German Pages 248 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker
Philipp von Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk
Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik
Schallinne: Zu Zesens Echo-Gedichten
Ob ein weiser Mann heiraten und das Gestirn beherrschen soll?
Zesens Exaltationen
Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens
Gedichte mit Fußnoten
Philipp von Zesens Coelum astronomico-poeticum
Philipp von Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft
Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur
Philipp von Zesens literarische Sondierung politischer Ideen
Backmatter
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Philipp von Zesen: Wissen – Sprache – Literatur
 9783484366305, 9783484970588

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Frhe Neuzeit Band 130 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Philipp von Zesen Wissen – Sprache – Literatur Herausgegeben von Maximilian Bergengruen und Dieter Martin

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-36630-5

ISSN 0934-5531

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Gesamtherstellung: Hubert & Co GmbH und Co KG, Gçttingen

Dank

Die in diesem Buch versammelten Aufsätze gehen auf eine Tagung zurück, die vom 1. bis 3. Oktober 2006 an der Universität Basel abgehalten und durch die freundliche Unterstützung der Max Geldner-Stiftung und der Freien Akademischen Gesellschaft (beide Basel) ermöglicht wurde. Die organisatorische Arbeit für den Kongress sowie die Einrichtung des Bandes (inklusive Register) übernahmen dankenswerterweise Dominik Wirz und Franziska Bomski. Für die Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit danken wir herzlich den Herausgebern.

Freiburg, im April 2008

Maximilian Bergengruen Dieter Martin

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ferdinand van Ingen Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker. Poetologische Strategien in der Sammelausgabe Dichterisches Rosen- und Liljen-tahl (1670) . . . . . . . . . 7 Seraina Plotke Philipp von Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Elisabeth Rothmund Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Dietmar Till Schallinne: Zu Zesens Echo-Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Maximilian Bergengruen Ob ein weiser Mann heiraten und das Gestirn beherrschen soll? Kosmische Misogynie in Zesens Liebeslyrik (und der Adriatischen Rosemund) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Claudius Sittig Zesens Exaltationen. Ästhetische Selbstnobilitierung als soziales Skandalon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Florian Gelzer Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dieter Martin Gedichte mit Fußnoten. Zesens Prirau und der frühneuzeitliche Eigenkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Reinhard Klockow Philipp von Zesens Coelum astronomico-poeticum. Eine Vorschau auf die geplante Neuedition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Inhalt

Andreas Herz Philipp von Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Rosmarie Zeller Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur . . . . . . . . . . . . 209 Andrea Wicke Philipp von Zesens literarische Sondierung politischer Ideen . . . . . . . . . . . . . . 223 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Einleitung

Philipp von Zesen (1619–1689) war einer der avanciertesten und vielseitigsten Autoren des deutschsprachigen Barock. Er gilt als erster ,freier Schriftsteller‘ im deutschen Kulturraum. Durch intensive Klang-, Bild- und Sprachspiele hat er sich den Ruf eines experimentierfreudigen Lyrikers erworben. Er firmiert als Autor des ersten eigenständigen deutschen Romans, der Adriatischen Rosemund, ist als Verfasser einer der bedeutendsten Barock-Poetiken hervorgetreten und hat die erste deutschsprachige Darstellung der antiken Mythologie vorgelegt. Auf Zesen geht die Gründung einer der wichtigen deutschen Sprachgesellschaften zurück, er hat sich als Rechtschreibreformer profiliert und war Übersetzer, nicht allein von poetischen Werken, sondern auch von Sachbüchern diverser Disziplinen. Schließlich ist er Verfasser politisch-historischer Schriften und einer großen Stadtbeschreibung Amsterdams, die man als ,Europas ersten Baedeker‘ bezeichnet hat. In Anbetracht dieser vielfältigen literarischen, poetologischen und sprachtheoretischen Leistungen verwundert es, daß Zesens Werk in der Forschung der letzten dreißig Jahre nur sporadisch und unsystematisch behandelt worden ist. Seit den 1960er und 1970er Jahren, als sich eine namhafte Gruppe von Literaturwissenschaftlern – insbesondere Ferdinand van Ingen, Ulrich Maché, Volker Meid und Karl F. Otto – intensiv mit seinen Schriften befaßt und den damaligen Kenntnisstand in einem Realien-Bändchen 1 , einer Bibliographie 2 sowie einem Sammelband zusammengefaßt hat, 3 ist eine einzige Dissertation zu Zesens Lyrik erschienen. 4 Selbst die bereits 1970 angekündigte ausführliche Darstellung von Zesens Leben steht bis heute aus. Seitdem erörtern lediglich verstreute Aufsätze einzelne Aspekte von Zesens reichem Werk. Als bedeutendste Leistung der letzten Jahrzehnte bleibt somit die von Ferdinand van Ingen veranstaltete und der Vollendung entgegenstrebende Gesamtausgabe 5 zu nen––––––––– 1 2 3

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Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970. Karl F. Otto: Philipp von Zesen. A bibliographical catalogue. Bern 1972. Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972. Josef Keller: Die Lyrik Philipp von Zesens. Praxis und Theorie. Bern u. a. 1983 (Diss. Zürich 1983). Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen. 17 Bde. in 24 Tln. Berlin 1970ff. – Alle in dieser Ausgabe enthaltenen Werke werden im vorliegenden Sammelband mit der Sigle ,Zesen SW‘ sowie der Angabe von Band (mit römischer) und Seite (mit arabischer Ziffer) zitiert.

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Einleitung

nen, welche die weitere Beschäftigung mit Zesen auf ein sicheres Fundament stellt, aber nur einzelne Werke durch Quellenverzeichnisse und Kommentare erschließt. Vor diesem Hintergrund haben die Herausgeber im Oktober 2006 in Basel eine Tagung mit dem Ziel veranstaltet, Forschungslücken zu schließen und neue Perspektiven zu eröffnen. Wiewohl die Leistungen der 1960er und 1970er Jahre, welche die Grundlage einer jeden erneuten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Texten Philipp von Zesens darstellen, kritisch aufgegriffen und weitergedacht werden sollten, ging es den Veranstaltern doch darum, methodische Differenzen zu markieren und das Spektrum der an Zesens Werk gestellten Fragen deutlich zu erweitern. Neben Zesens sprachtheoretischen Reformprojekten und seinen poetischen Werken, die mit seinen poetologischen Positionen konfrontiert und in komparatistischer Perspektive neu gewürdigt werden sollten, richtete sich daher die Aufmerksamkeit verstärkt auf seine Stellung in den außerpoetischen Diskursen des Barock und auf seinen Beitrag zum Wissenstransfer der Frühen Neuzeit. Zesens Werk sollte als Paradigma dienen, um Brückenschläge zwischen den Welten der Wissenschaften und der Künste nachzuzeichnen, um zu erörtern, wie er etwa seine Beschäftigung mit Medizin und Alchimie poetisch fruchtbar machte oder wie er die philologisch-gelehrte Kommentarpraxis seiner Epoche paratextuell produktiv einsetzte. Ebenso wurden Zesens politische, an der Auseinandersetzung mit dem Absolutismus geschulte Theorien sowie seine literarische Praxis einer wohl beispiellosen Selbstinszenierung und -nobilitierung in den Blick genommen. Um das Tableau der bei der Tagung gehaltenen Referate, deren schriftliche Ausarbeitungen dieser Band versammelt, thematisch abzurunden, wurden zusätzlich ein Beitrag zu Zesens Coelum astronomico-poeticum aufgenommen. Ferdinand van Ingen untersucht in seinem Beitrag „Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker. Poetologische Strategien in der Sammelausgabe Dichterisches Rosen- und Liljen-thal (1670)“ das Alterswerk Zesens, genauer: die Selbstreflexion des Frühwerks im Alterswerk. Da Zesen mit seiner Lyrik-Produktion auf Breitenwirkung abzielt, ist es kaum verwunderlich, daß er im Rosen- und Liljen-thal seine früheren Gedichte intensiv revidiert: Angleichung an ein neues sprachliches Eleganz-Ideal, Streichung abgegriffener Wendungen und Füllworte, Neuanpassung der Metrik. Was auf den ersten Blick wie eine angestrengte Herrschaft der Kunstfertigkeit über die angeborene Natur wirken mag, erweist sich bei näherem Hinsehen, so van Ingens These, als poetologisches Programm einer lebenslangen Fremd- und Selbstkorrektur. Wie stark Zesens Gesamtwerk dichtungstheoretisch und programmatisch grundiert ist, unterstreicht auch Seraina Plotke, empfiehlt sie doch, „Philipp von Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk“ zu betrachten. Ausgehend von der Beobachtung, daß sich Zesens Text zwar eng an Opitz’ Schäfferey von der Nimfen Hercinie anlehnt, aber doch mit signifikanten Merkmalen der Prosaekloge spielt, formuliert sie die These, daß Zesen – vor allem durch seine Bezugnahme auf die Tradition der Sylven und durch die Inte-

Einleitung

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gration von Inspirationsmetaphern – dem Werk eine immanent poetologische Dimension einschreibe, die den Vorschmack als Komplement zu Zesens Deutschem Helicon erscheinen lasse. „Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik“ nimmt Elisabeth Rothmund in den Blick. Dabei untersucht sie vor allem rhythmische Phänomene und die ,Sangbarkeit‘ als qualitatives Merkmal der Lyrik. Ausgehend von Zesens innovativer Position zur Frage des Daktylus in der deutschen Metrik, den er mit einem musikanalogen Taktbegriff rechtfertigt, kann Rothmund zeigen, daß Zesens rhythmisch-metrische Überlegungen auf drei musikalischen Modellen beruhen: auf gelehrten Kompositionsformen, auf volkstümlichen Traditionen der Vokalmusik und auf der Tanzmusik. Anhand der umstrittenen Frage, ob Sonette vertonbar seien, erörtert Rothmund abschließend, inwiefern Zesen scharf zwischen reiner Leselyrik und sangbarem Gedicht differenziert oder doch zumindest eine ,virtuelle Musikalität‘ aller Lyrik intendiert. Dietmar Till untersucht „Zesens Echo-Gedichte“ als Paradigmen einer avantgardistischen Spielraum-Poetik und erkennt in diesen Klang-Experimenten ein Signum barocker Modernität. Er nähert sich dem Phänomen des Echo-Gedichts über Johann Christoph Gottscheds Abwertung solcher „poetischen Lapalien“ an, um die im Rationalismus nicht mehr verstandene Eigengesetzlichkeit des EchoGedichts an einem Beispiel von Martin Opitz zu bestimmen. Vor dem Hintergrund dieses Musters zeigt sich, daß Zesen nicht nur die erste deutschsprachige Poetik dieses Genres formuliert, sondern auch dichterisch die Grenzen des dialogischen Gattungsmodells erprobt, ja erheblich erweitert und im autoreflexiven Spiel aufhebt. „Ob ein weiser Mann heiraten und das Gestirn beherrschen soll?“, fragt Maximilian Bergengruen in seinem Beitrag über die „Kosmische Misogynie in Zesens Liebeslyrik (und der Adriatischen Rosemund)“. Dabei zielt er darauf, Zesens doppelte Überformung des petrarkistischen Grundinventars zu rekonstruieren: Zum einen lassen sich markante Analogien zwischen Zesens Metaphorik des weiblichen Blicks, der den Mann ins Verderben ziehe, und einem astrologisch-naturmagischen Modell der Attractio erkennen, zum anderen schreibt Zesen dem petrarkistischen System misogam-misogyne Topoi aus der zeitgenössischen Querelle des femmes ein. Die Flucht vor der Gefahr weiblicher Dominanz aber führt für Zesen, so Bergengruens These, geradewegs in die Unsterblichkeit der Literatur. In seinem Referat über „Zesens Exaltationen. Ästhetische Selbstnobilitierung als soziales Skandalon“ nimmt Claudius Sittig die zeitgenössische Kritik an Zesens ,Self fashioning‘ auf, also den verbreiteten Vorwurf, dieser arbeite, von unmäßiger Eitelkeit getrieben, an einer anmaßenden Selbsterhöhung, indem er sich innere und äußere Adelsdiplome zuschreibe. Sittig interessiert nun die literarische Verfahrensweise dieser Selbstnobilitierungs-Strategie: Am Beispiel dreier lyrischer Texte – des Güldenen Regens, des Meien-lieds und des Scheidelieds – untersucht er, wie Zesen seine eigene Person im Zusammenhang des Herrscherlobs in Szene setzt. Er kann dabei zeigen, daß Zesen nicht selten den

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Einleitung

Topos der alchemischen Elevatio nutzt, um metaphorisch seine Erhöhung und Erhebung zu betreiben. Florian Gelzer weist in seinem Beitrag über den „Einfluß der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhundertes auf die Romane Philipp von Zesens“ nach, daß Zesen, vermittelt durch die Übersetzungen aus dem Französischen, in seinen Romanen auf eine differenzierte Weise die französische Weiterentwicklung des hellenistischen Romans bzw. des Prosaepos reflektiert. Als wichtigste Bestandteile dieser Reflexion wertet Gelzer die etwa schon bei Scudéry zu findende Verlagerung von der Dispositio zur Elocutio und mithin die zentrale Rolle der galanten Kleinformen in der Adriatischen Rosemund. Auch Assenat und Simson sind, so Gelzer weiter, vor der Folie der französischen Adaptation und Weiterentwicklung des hellenistischen Romans zu betrachten, in diesem Falle jedoch in einer typisch deutschen Variante: der Verbindung von Poesie und Gelehrsamkeit, die sich in einem immensen Anmerkungsapparat niederschlägt. In „Gedichte mit Fußnoten. Zesen Prirau und der frühneuzeitliche Eigenkommentar“ leistet Dieter Martin eine dreifache Einordnung von Zesens bis jetzt wenig untersuchtem Prirau-Gedicht: in die Tradition der patriotischen Enkomiastik, in die barocke Poetik des (Selbst-)Kommentars und, auf den ersten beiden Punkten aufbauend, in das Unternehmen, die deutsche Sprache und Literatur als mythenfähig auszuweisen. Vor diesem Hintergrund ist Prirau weniger, wie man zuerst meinen möchte, als ein Beispiel überholter und dysfunktionaler Gelehrsamkeit anzusehen, sondern als eine Poetik aus einem kulturpatriotischen Impetus heraus; eine Poetik, in der Text und Paratext eine für den deutschen Barock charakteristische Verbindung von Poesie und Philologie eingehen. Der Beitrag von Reinhard Klockow, „Philipp von Zesens Coelum astronomico-poeticum. Eine Vorschau auf die geplante Neuedition“ ist als Werkstattbericht konzipiert, der die Edition von Zesens gelehrter Abhandlung über die Sternbilder dokumentiert: das Coelum astronomico-poeticum von 1662. Am Beispiel des Lemma ,Krebs‘ exemplifiziert Klockow seine Vorgehensweise: Reprint des Original-Textes, Übersetzung und Kommentar. Über dieses singuläre Beispiel hinausgehend konstatiert Klockow in Zesens Sternlesekunst ein Plädoyer für einen Kompromiß zwischen Interpretatio christiana und heidnischer Mythologie (mit Schwerpunkt auf letzterer). Trotz des wiederholten Befundes einer Gelehrsamkeit aus zweiter und dritter Hand läßt sich, so Klockow, aus dem Coelum durchaus auch ein systematisches Vorgehen Zesens ableiten, so beispielsweise in seinem erfindungsreichen Versuch, mit dem Deutschen der französischen Sprache ihren Rang als (dem Hebräischen gleiche) Ur- bzw. Natursprache abzulaufen. Aus bislang unbekannten Quellen bewertet Andreas Herz das spannungsvolle Verhältnis zwischen Philipp von Zesen und der Fruchtbringenden Gesellschaft neu. Er dokumentiert detailliert Zesens Annäherung an die Fruchtbringer und rekonstruiert die spezifischen Bedingungen, die alsbald zum Konflikt führen mußten. Besonderes Gewicht liegt dabei erstens auf dem Selbstverständnis der Gesellschaft, auf ihrem sozialen Milieu und der in ihr herrschenden

Einleitung

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Wissenskultur sowie zweitens auf der fruchtbringerischen Sprachdebatte, die von Herz in ihren kulturgeschichtlichen Grundlagen erhellt wird, um Zesens schillernde Position in ihr zu umreißen. Rosmarie Zeller stellt „Zesens Sprachschriften“ in den „Kontext der Konversationsliteratur“ des Barock. Im Vergleich mit anderen Mustern der Gattung, vor allem mit Harsdörffers Gesprächspielen, wird deutlich, daß für Zesens Beiträge nicht nur seine thematische Konzentration auf sprachtheoretische Fragen spezifisch ist, sondern daß er das dialogische Modell auch als Form der Wissensvermittlung nutzt. Anders als die an romanischen Vorbildern orientierten und mehr auf ein höfisches Publikum ausgerichteten Gespräche Harsdörffers zielen Zesens Dialoge auf bürgerliche Leser, die weniger an der Einübung galanter Konversation als an einem gefällig dargebotenen Wissenstranfer interessiert sind. Andrea Wicke prüft in ihrem Aufsatz über „Philipp von Zesens literarische Sondierung politischer Ideen“ die These, Zesen habe zwischen 1645 und 1670 einen politischen Sinneswandel durchlaufen: weg vom Lobredner städtischer Gemeinden und Republiken (wie in der Adriatischen Rosemund), hin zum Verfechter absoluter staatlicher Souveränität. Am Beispiel von Die verschmähete und wieder erhöhete Majestäht, einer Vita Karls II., kann Wicke jedoch zeigen, daß Zesens ,Sondierung politischer Ideen‘ über eine genuin politische Theorie hinausgeht. Vielmehr ist sein der Politica christiana entnommenes Konzept des monarchischen Gottesgnadentums Teil eines übergeordneten Verständnisses der göttlichen Offenbarung, das sich nicht nur in einer politischen, sondern auch in einer naturphilosophischen und ästhetischen Variante nachweisen läßt.

Ferdinand van Ingen

Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker Poetologische Strategien in der Sammelausgabe Dichterisches Rosen- und Liljen-tahl (1670)

1. Von altersher war man von der Möglichkeit fasziniert, die Lebenswirklichkeit der sichtbaren Realität mit den Mitteln der Kunst zu imitieren oder zu variieren. Seit der Mimesis-Theorie des Aristoteles lassen sich die Spuren in der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte verfolgen, bis hin zu den phantastischen und abstrakten Kunstäußerungen des 20. Jahrhunderts. Das hat sich auch im Dichterbild und im dichterischen Selbstverständnis der Frühen Neuzeit niedergeschlagen. Augustus Buchner, einer der führenden Theoretiker neben Opitz und Zesens Lehrer in Wittenberg, hat bereits den Dichter aufgrund seines poetischen Vermögens in die Nähe des Schöpfergottes gerückt: Auch er sei ein „poetes“, weil er, „der Poët“, „vom schaffen oder machen seinen Nahmen hat.“ 1 Er fügte dem noch hinzu, was „schaffen“ heißt: „Schaffen ist etwas wesentliches machen.“ 2 Den Dichter unterscheide vom Philosophen das Vermögen, dem nur Erdachten Gestalt zu verleihen, was Buchner zu dem stolzen Wort bringt: „Aus welchem allen erscheinet, wie hoch und herrlich die Poëten anfangs gehalten / ja Gott selbsten gleich geachtet worden seyn / weil Ihnen ein solcher Nahme gegeben / der bißher nur allein der höchsten Majestät zuständig gewesen.“ 3 Selbstverständlich muß der Toposcharakter dieses Gedankens bedacht und das damit artikulierte Verteidigungsargument in Anschlag gebracht werden. Denn ähnlich wie die Abwendungsgeste, mit der noch Gottsched den unvernünftigen „Pöbel“ draußen halten will, sollte die Idee des außerordentlichen poetischen Schöpfers, der außerdem in verschiedenen Aspekten der Wissenschaften bewandert sein mußte, den sozialen Status von Dichter und Dichtung (und damit sein Ansehen in der Gesellschaft) erhöhen. 4 Davon abgesehen, hat die Frühe Neuzeit ständig auf diese Besonderheit und Auszeichnung zurückgegriffen, wann immer sie als zweckdienlich erschien. Sie war in der Tat einer der bedeutendsten Ideenspender und ließ sich leicht instrumentalisieren. Bekanntlich haben noch im ––––––––– 1

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Augustus Buchner: Poet. In: A. B.: Anleitung zur deutschen Poeterey / Poet. Hg. v. Marian Szyrocki. r(Wittenberg 1665) Tübingen 1966, S. 10f. u. 26ff. Ebd., S. 26. Ebd., S. 11. Vgl. Gunter Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983.

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Ferdinand van Ingen

18. Jahrhundert die Schweizer Bodmer und Breitinger mit dem Motiv des alter deus das Wunderbare in der Dichtung legitimiert: „Die Art Erschaffung, da das Mögliche durch die Kraft der Phantasie vollführet wird, kömmt dem Poeten kraft seines Amtes vornehmlich zu, nach welchem er ein Schöpfer, ,poetes‘, ist.“ 5 Sie reklamierten so die Einbildungskraft für den Dichter und seine Schöpfungen „aus einer andern möglichen Welt“, damit er „mit der Einbildungs-Kraft auf die Einbildungs-Kraft“ des Lesers wirke. 6 Gegen Gottscheds Beschränkung auf den Bereich des Wahren und Wahrscheinlichen richtet sich nun die Literatur mit neuer Stoßrichtung auf neue, mögliche Welten. Denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der Würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundenes Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme „Poietou“, eines Schöpfers zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilet. 7

Bodmer formulierte es noch einmal provokant: „Die Dichter sind Phantasiemänner und man beleidigte einen aus ihrem Mittel, wenn man von ihm sagte, er hätte mehr Verstand als Einbildungskraft in seinen Gedichten gezeigt. Das würde sagen, er wäre kein Poet.“ 8 Max Wehrli spricht in diesem Zusammenhang von der „Befreiung der Dichtung von ästhetischer Regeldogmatik.“ 9 Es scheint tatsächlich meilenweit entfernt zu sein von der Regelhaftigkeit der barocken Poetik. Dennoch ist der poetische Aufschwung (mit Buchner: „der Poet […] sich in die Höhe schwingt“ 10 ) für den Nürnberger Johann Klaj, den anderen Buchner-Schüler, die Anregung für das hymnische Dichterlob, in dem folgende Stelle unser Interesse auf sich lenkt: Es muß ein Poet ein vielwissender / in den Sprachen durchtriebener und allerdinge erfahrner Mann seyn: Er hebet die Last seines Leibes von der Erden / er durchwandert mit seinen Gedanken die Länder der Himmel / die Strassen der Kreise / die Sitze der Planeten / die Grentzen der Sterne / die Stände der Elementen. Ja er schwinget die Flügel seiner Sinne / und fleucht an die Stellen / da es regnet und schneiet / nebelt und hagelt / stürmet und streitet. Er durchkreucht den Bauch der Erden / er durchwädet die Tiefen / schöpffet scharffe

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Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger. Zürich u. Leipzig 1741, S. 573. Vgl. auch Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. r (Zürich 1740) Stuttgart 1966, Bd. 1, S. 426: „Ich sehe den Poeten an, als einen Weisen Schöpfer einer neuen idealischen Welt oder eines neuen Zusammenhanges der Dinge“. Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. r(Zürich 1740) Stuttgart 1966, S. 14. Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 5), S. 60. Zit. nach Max Wehrli: Johann Jakob Bodmer und die Geschichte der Literatur. Frauenfeld 1936, S. 45. Ebd., S. 47. Buchner (Anm. 1), S. 16.

Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker

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Gedanken / geziemende zierliche Worte / lebendige Beschreibungen / nachsinnige Erfindungen / wolklingende Bindarten / ungezwungene Einfälle / meisterliche Ausschmükkungen / seltne Lieblichkeiten / und vernünfftige Neurungen. 11

Der Dichter als eine engelhafte Gestalt, die in den Himmelskreisen schwebt und sich mit göttlicher Vernunft beflügelt – das ist ein Bild, das man nicht sofort mit der Theorie der Barockdichtung in Verbindung bringt. Die Sensation solcher Inspiration, die sich in der Erfahrung des leichten Schwebens ausdrückt, mit der fast magischen Konnotation des Übermenschlich-Himmlischen hat nachhaltig die barocke Bildvorstellung vom Poeten geprägt. Philipp von Zesen, jung und ambitioniert, war so klug, sein ‚hochfliegendes‘ Selbstverständnis in der Perspektive der zeitüblichen emblematisch-allegorischen Deutungsmuster in metaphysische Begründungszusammenhänge einzuordnen. In seinen Werken findet man das eben skizzierte gedankliche Umfeld gleichsam anzitiert, jedoch in charakteristischer Weise eigenständig abgewandelt. Immer jedoch ist es – obgleich in den poetischen Kontext integriert – im Sinne einer höheren Weihe des Dichtertums funktionalisiert. In seinem Roman Ritterholds von Blauen Adriatische Rosemund (1645) spielt Zesen auf seinen latinisierten Namen caesius (= blau) an. Blau ist in Zesens eigenwilliger Privatmythologie die Farbe der Pallas Athene, Göttin der Weisheit. Er hat sich mit der Weisheit, in der wir auch die biblische Sapientia erkennen, poetisch-symbolisch vermählt und ihr eine Anzahl von Gedichten gewidmet. 12 Zesen präsentiert sich als Pallas-Jünger, und zwar in der Lyrik, im Roman und in wissenschaftlichen Werken. Auf dem ersten Kupfer des Romans schaut Rosemund dem abfahrenden Markhold (= Philipp) nach; zwei Göttinnen halten auf dem Titelkupfer das eigentliche Titelblatt, Venus auf einer, Pallas auf der anderen Seite (Zesen nennt Pallas „Kluginne“ oder „Blauinne“). Das ganze Arrangement ist mit unübersehbarer Symbolik geladen. So sitzt Rosemund unter einem Palmbaum, das heißt: Zesens Zunftzeichen in der Gesellschaft der Deutschgesinneten und zugleich Symbol für die Dichtkunst. 13 Der Göttin der Weisheit ist im sprachtheoretischen Werk Rosen-mând ein mythologischer Aufzug gewidmet. In dieser Pallas erkennt man leicht ihre Gestalt vom Kupfer des Rosemund-Romans: „Die Als-göttin der Weißheit / Blauinne / oder Blauäugle […] trug Amazonische kleidung von sterbe-blauem sammet und atlas mit silbernen spitzen verbrähmet; […] der sturm-huht war –––––––––

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Johann Klaj: Lobrede der Teutschen Poeterey. Nürnberg 1645, S. 5. Zit. nach dem Neudruck in Johann Klaj: Redeoratorien. Hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1965, S. 389. Klaj beruft sich auf Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Hg. v. Wolfgang Hecht. r(Braunschweig 1663) Tübingen 1967, S. 105 bzw. 106–107: „Die Siebende Lobrede“: Der Dichter „ein fast göttliches“ Wesen, „weiln ein solcher Poetischer Geist […] unnachfölgig steiget / sich mit Göttlicher Vernunfft flügelt.“ Vf.: Philipp von Zesens Gedichte an die Weisheit. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt. Hg. v. Wolfdietrich Rasch u. a. Bern u. a. 1972, S. 121–136. Vgl. SW I/1, 80 (FrühlingsLust IV, Nr. 1, Strophe 2). Das Sinnbild des ewig grünenden Palmbaums geht auf den 92. Psalm zurück.

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Ferdinand van Ingen

blau angelauffen / und mit güldenen stärnlein übertzschäkkert: oben auf trug sie einen großen busch von sterbe-blau-weiss- und rosen-färbigen federn.“ 14 Die anspruchsvolle Einkleidung ist mit einem Blick in das mythologische Handbuch der Heidnischen Gottheiten deutlich umrissen: „Weil nun aus der Weisheit alles entstehet / und durch sie alles / das einen Bestand haben sol / gehandhabet und beherschet muß werden: so hat man der Pallas […] alle Vermögenheiten / die der Weisheit eigen seind / zugeschrieben. Und eben daher ward sie für eine Erfinderin / schier aller Künste […] gehalten.“ 15 Auch wird die Pallas zu Geheimnissen in Beziehung gesetzt, zu denen man nur dank einer besonderen Begabung Zutritt hat: „Weil […] die Weisheit / samt den Künsten / im verborgnen lieget / und ihre Höhe und Tiefe von gar wenigen Gaben erreichet wird / auch daher vor unsern Augen ein Wunder zu sein scheinet“. 16 Im Titelkupfer der Adriatischen Rosemund treten nun Venus (bei Zesen „Lustinne“) und Pallas zusammen auf – Venus ist einer Rose beigesellt, Pallas ein Palmbaum –, was auf einen tieferen Sinn der Romanhandlung verweist. 17 Farben und Blumen dominieren die Semiotik: blau mit der wichtigen Nuance „sterbe-blau“(bleumourant) und rot im Rot der Rose, der Venusblume und des Sinnbilds der Deutschgesinneten Gesellschaft („Rosengesellschaft“). Entsprechend sind die Schäferinnen und Schäfer bekleidet, die nach den „Als-göttinnen“ die Bühne im Rosen-mând beherrschen: Nach diesen Als-göttinnen erschien ein hauffen schäfer und schäferinnen / welche halb in sterbe-blau / halb in rose-farben atlas gekleidet gingen. Diese sungen der Rosemund zu ehren viel überaus-ahrtige schäfer-lieder / und bestreueten den gantzen platz mit allerhand bluhmen und kräutern. 18

Hinter diesen komplexen Spielen scheint Zesens Dichterprogramm auf, das das gesamte Werk zusammenhält und mit der Dichtergesellschaft verschränkt. Es ist die Liebe mit dem Sinnbild der Rose, die alles und alle vereint: „Ich schreibe aus liebe zur sprache / aus liebe zu dier / aus liebe zu meinem Vaterlande. Durch liebe werde ich getrieben; von liebe rede ich; mit liebe mische ich meine reden: damit sie solcher gestalt verlieblichet / dier / der du Liebe liebest / zu lesen belieben möchten.“ 19

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SW XI, 136. SW XVII/1, 433. SW XVII/1, 441f. Vgl. Vf.: Philipp von Zesens Adriatische Rosemund: Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Vf. Wiesbaden 1972. S. 47– 122. SW XI, 136f. SW XI, 84 (Rosen-mând, Beginn der Vorrede).

Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker

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2. Philipp von Zesen hat sich bereits als junger Mann einen Namen gemacht und wurde, trotz des Hickhacks um seine wahnwitzigen Vorschläge zur Orthographiereform, respektiert. Er wurde in den Adelsstand erhoben und erhielt die Würde eines kaiserlichen Hof- und Pfalzgrafen. Seine erste Liedsammlung hat er mit 23 Jahren veröffentlicht (FrühlingsLust oder Lob- Lust- und LiebesLieder, 1642), nur wenig früher, 1641, war sein erstes dichtungstheoretisches Werk, die Poetik Deütscher Helicon, erschienen. Auf die FrühlingsLust folgten alsbald weitere Sammlungen von Liedern und Gedichten, bis er sich 1670 entschied, eine große Sammelausgabe mit eigens für jedes Lied komponierten Melodien vorzulegen: Rosen- und Liljen-tahl. Es war, wie die Vorrede festhält, eine Sammlung von Liedern „unterschiedlichen alters“, wie Rosen unter den Lilien in bunter Mischung: „Alle diese gattungen findestu / in diesem Tahle / durch einander vermischet.“ Er habe auch niederländische und französische mit unter gemischt, „damit die veränderung Dich noch mehr belüstigte.“ 20 Es ist die poetische Ernte aus gut 30 Jahren. Man hat von einer „abendlichen Rückschau“ gesprochen 21 und den jungen Dichter gegen den bald fünfzigjährigen ausgespielt. Man kann die Sammlung aber auch anders beurteilen und sie als „lyrische Summe und lyrisches Programm“ zugleich betrachten. 22 Denn kaum etwas wurde unverändert übernommen, alles wurde dem kritischen Blick des erfahrenen Dichters unterworfen und mußte sich Abänderungen und Umstellungen gefallen lassen, die manchmal einer kompletten Neufassung gleichkamen. Zesen ist keineswegs nach Lust und Laune verfahren, es war hier im Gegenteil ein wacher, poetologisch bewußter Sachverstand am Werk. Das war kein Zufall, es war bei einem Autor, der nicht an letzter Stelle der erfolgreiche Verfasser einer Poetik war, nicht anders zu erwarten. Zesen hatte 1640 die erste Fassung seiner Poetik vorgelegt; sie war die erste umfangreiche Anleitung nach Opitz’ schmalem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) und erschien unter dem Titel Deütscher Helicon. 23 Hier wurden zahlreiche Mustergedichte eigener Hand aufgenommen. Bei aller Anerkennung von Opitz’ Autorität zeigte Zesen sich als ein dankbarer Schüler von Augustus Buchner. Dessen daktylische Verse propagierte er mit Geschick (er nannte sie die „Buchnerart“) und brachte so neues Leben in die nach Opitz’ Vorschriften von jambischen und trochäischen Metren dominierte deutsche Lyrik. Er hat seine Spezialität, die „hüpfenden“ Verse aus „rollenden Palmen- und Dattelreimen“ mit ihren unverhüllten, teils im Deutschen revolutionären Tanzrhythmen, sogar im ernsten Bereich der religiösen Dichtung erprobt. Die zweite Ausgabe des Helicon –––––––––

20 21 22 23

Ndr. in SW II, 9. Alfred Gramsch: Zesens Lyrik. Literarhistorische Studie. Kassel 1922, S. 2. So der Vf. in SW II, 414. Vollständiger Titel: Deütscher Helicon / oder Kurtze verfassung aller Arten der Deütschen jetzt üblichen Verse. Wittenberg 1640. Ndr. der Ausgabe 1641 (mit den relevanten Teilen der Erstausgabe 1640) in: SW IX.

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(1641) ist ausführlicher gestaltet, die dritte von 1649 war schon gründlich umgestaltet, die endgültige, vierte Ausgabe von 1656 nennt sich im erweiterten Titel stolz „Grundrichtige Anleitung zur Hoch-deutschen Dicht- und Reimkunst.“ Das war, mit vier ständig erweiterten Ausgaben eines Lehrbuchs, ein echter Erfolg. Zesens Poetik erreichte dank der vielen Neuerungen und Präzisierungen, auch im Bereich von Form und Struktur (wie das Sonett mit überspielter Zäsur), eine weite Verbreitung. Nicht genug damit, veröffentlichte er zwei weitere Schriften, die insofern auf Gottscheds Poetikverfahren vorgreifen, als sie die Regelpoetik mit Negativbeispielen verdeutlichen. Das erstere ist das Sendschreiben an den Kreuztragenden, das ausführlich ein Lied von Johann Rist durchhechelt, das zweite nennt sich Hochdeutsche Helikonische Hechel und versteht sich als „eine Unterweisung die gemachten Gedichte zu erwägen und zu verbessern.“ 24 Der Leser wird hier zu kritischer Aufmerksamkeit aufgefordert: „du kunstliebender Zuschauer / der du dein gesundes gehirne bewahrest / laß dir belieben hiervon klüglich zu urteilen. Findestu hierbei etwas zu erinnern / so tue dasselbe ungescheuet.[…] Ja ich wil dir folgen / wan du zur volkommenheit näher gelanget / als ich. Ich wil von dir lernen.“ 25 Zesen hat es, durchaus unter Einsatz hoher Mittel, mit seinen poetologischen Bemühungen auf Breitenwirkung abgesehen. Auf gut 120 Seiten wurden in einer Reihe von Gesprächen metrische und sonstige Verbesserungen an einem Gedicht vorgenommen, so daß der Leser den Prozeß sorgfältigen Feilens und Abwägens verschiedener Möglichkeiten Schritt für Schritt verfolgen kann. Das erregte Aufsehen, das war in der Tat ein neuartiges Verfahren, das die deutsche Dichtung im Aufschwung der Zeit allen gebildeten Lesern gesprächsweise präsentierte und die feinen Kniffe des wahren Dichters ad oculos demonstrierte. Damit gab er sich eine Blöße, denn dieses Vorgehen schuf natürlich einen neuen Erwartungshorizont; der Dichter sollte nun an seinen eigenen Normen gemessen werden. So ist es nur selbstverständlich, daß Zesen, der für jede neue Aufnahme seiner Gedichte Korrekturen vorzunehmen pflegte, bei der Herausgabe der Selbstauswahl von 1670 auf kritische Blicke und spitze Bemerkungen bedacht sein mußte. Er hatte schließlich als lyrischer Dichter und Poetiker einen Ruf zu verlieren. Es wundert deshalb nicht, daß hier zahllose Überarbeitungen früher erschienener Lieder festzustellen sind. Sie sind im Kommentar vollständig dokumentiert. Häufig betrifft es den Rhythmus, auch werden altmodisch gewordene oder abgegriffene Wendungen ersetzt. Interessant ist die Aufmerksamkeit, die auf die bildlogische Verwendung von Metaphern u. ä. gelenkt wird, denn die Dichtkunst soll, laut Zesen, die Dinge so beschreiben, „wie sie dem scheine nach aussehen / oder wonach sie eine gleicheit führen.“ 26 Es läßt sich an einem Bei-

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Ndr. in: SW XI, 403–439 bzw. 275–402, hier 280 (aus der Vorrede). SW XI, 281. SW XI, 322.

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spiel erläutern. Es ist der „Helikonischen werkstatt“ entnommen und stammt aus dem Demonstrationsgedicht der Hechel. 27 Itz zeigt ein göldner blik mit rosengold bezogen des frohen morgens schlos / das perlentohre führt / und dessen festungsbau als ein saffierenbogen mit bunten farben ist bekleidt und ausgeziert. Itz wird der graue tag / der helle tag / gebohren; der rauen nächte flucht zieht sich nach norden hin / die schon fürlängst verlies das rund der braunen Mohren.

Ich fasse die kritischen Anmerkungen gekürzt zusammen und lasse dann die verbesserte Fassung folgen. „Rosenschmuk“ ist an die Stelle von „rosengold“ getreten, denn „gold ist ja nicht röselicht / oder rosenfärbig“, auch sieht man nicht Rosen, die „gold getragen / oder mit golde seind gezieret / und vergüldet gewesen“, ferner ist „gold“ schon durch „göldner blik“ abgedeckt (S. 321). „Perlentohre“ weichen einer neuen Wendung, weil man in der Morgensonne „keine perlenfarbe“ sieht und es also „wider alle vernunft“ wäre; denn auch die Morgenwolken seien den Perlen unähnlich (S. 322), wohl aber rötlichen Dingen wie Rubinen, Granaten, Rosen usw. und natürlich „Gold“. Dann sei „wal“ näher an den Morgenwolken („aufwallender röhtlicher rubienen bogen“, S. 324), zu Mittag passe dagegen eine „blaue saffierne farbe“ (S. 324). Und weil die Morgenwolken auch nicht „bunt“ (oder „vielfarbig“) seien, ist hier „rosenpurpur“ angebracht. Der nächste Vers ist mit der Steigerung „froh / gülden“ besser gelungen als im Entwurftext, denn der „graue tag“ ist ohnehin ein Unding, wenn es Morgen wird. (S. 325) Die Nächte könne man nicht alle „rau“ nennen, die Metapher „fahle Mutter“ ist poetischer, inbesondere wenn man „nach norden“ durch eine andere Fügung ersetzt: „ihrem norden.“ „Rund“ sagt man besser nicht von einem Land oder Teil der Welt (S. 326). Die neue Fassung dieses Liedteils lautet demnach: Itzt öfnet uns ein strahl / mit rosenschmuk ümzogen / des Morgens schöne burg; die güldne mauren führt / und derer gantzer wal / als ein rubinenbogen / mit rosenpurpur ist belegt und ausgeziert. Itzt wird der frohe tag / der güldne tag gebohren. Die fahle Mutter flieht nach ihrem norden zu; von dar sie schaut entblößt die schwartzgebranten Mohren. 28

So geht das in barocker Ausführlichkeit weiter, rational, wohl überlegt und nüchtern, ja pedantisch. Es ist, als müsse der Dichter seine These von der Herrschaft der Kunstfertigkeit über die angeborene Natur beweisen: „Hierbei erinnere ich noch dieses: daß viele eine sehr feurige / ja alzu feurige und alzu heftige angebohrenheit zur Dichtkunst haben. […] es stürtzt sich solcher einflus […] mit einem heftigen und gewaltsamen durchbruche […] durch künstliches nachdenken unverbessert / in das weite gefilde der gelehrten welt. Solche […] ––––––––– 27 28

SW XI, 314. SW XI, 317.

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verdienen den nahmen eines Dichtmeisters [nicht]; weil ihnen die Kunst mangelt: und ihre Dichtereien schmäkken bloß allein nach dem brande der alzu hitzigen Natur; die ohne Kunst nimmermehr zur rechten volkommenheit gelangen kan.“ 29 Aber der Text ist tatsächlich besser und poetisch überzeugender geworden. Gleiches gilt für einen kleinen Text auf die hochgerühmte Rosemund, Heldin des Romans Adriatische Rosemund (1645): Was halten wir uns auf? Die hohe himmelstugend der schlauen Rosemund reicht bis zum süd und nord / ja bis zum west und ost. Noch alter / noch die jugend wird ihren wakren ruhm nach würden setzen fort. Wir seind zu schwach hierzu. Drüm wollen wir beschliessen / und dis ihr frohes fest mit allen wündschen grüßen. 30

Die korrigierte Fassung 31 streicht die vier Windrichtungen, Rosemund heißt nicht länger „schlau“, sondern „fromm“, rhythmisch werden einzelne Unebenheiten geglättet: Was halten wir uns auf! Die hohe himmelstugend der frommen Rosemund geht über alle wort / wie kräftig sie auch seind. Kein altertuhm / noch jugend mag ihren heilgen ruhm nach würden pflantzen fort. Wir seind zu schlecht hierzu. Drüm wollen wir beschließen: und dis ihr freudenfest mit heissen wündschen grüßen.

Das ist annehmbar, Schwachstellen finden sich verbessert, Flickwörter vermieden, die „himmelstugend“ sogar im Ganzen verständlicher. – So auf ein sorgfältiges Wägen und Prüfen vorbereitet, wird man in der Sammlung von 1670 eine Reihe von Korrekturen feststellen, welche die Frage aufwerfen, wie der Dichter selbst zu seinen Überarbeitungen stand. Viele überarbeitete Texte stehen neben neu gedichteten Liedern. Das war geradezu Zesens Brauch, und zwar in einem Ausmaß, daß man von Work-in-progress sprechen müßte. Dies gilt generell, für die Helicon-Gedichte, für alle Liedsammlungen, vielleicht sogar auch für die deutschen Reimzeilen zu Otto Vaenius’ Moralia Horatiana (1656) in der Überarbeitung der viersprachigen Ausgabe von 1684. 32 Das bekannte Loblied auf die Poeten, das seit dem Helicon-Druck von 1641 und der FrühlingsLust von 1642 in Zesens Lyrik präsent war, wurde 1670 als Nr. 33 in korrigierter Fassung aufgenommen. 33 Es weist nur wenige neue Wendungen auf, trägt aber dennoch die Spuren einer Überarbeitung unter poetisch fortschrittlichem Gesichtspunkt. So ist etwa die „Kunst“, die „aus Menschen Götter macht“ (Str. 1), entstanden aus: „die den Göttern gleich geacht“ bzw. ––––––––– 29 30 31 32

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SW XI, 301f. SW XI, 315. SW XI, 320. SW XIV, 601f. (Nachwort des Herausgebers). Die Verfasserschaft der Überarbeitungen ist bisher ungeklärt. SW II, 128ff.

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„welche Göttern gleich geacht.“ Dadurch wird ein anderer Akzent gesetzt, der dem neuen Titel entspricht: „Siegeslied der himmelsflammenden Dichtmeister.“ 34 In der dritten Strophe wird der Abstand zwischen „Neidhart“ (dem Neider) und dem Dichter mit Hilfe des Adlerbilds markiert und in der vierten folgerichtig mit der stolzen Bahn des Vogels fortgesetzt: „Dan wie Adler selbst sich schwingen | nach der sonnenkugel hin: | so bemüht sich unser sinn | nach dem höchsten ziel zu ringen.“ Das war in früheren Fassungen ungleich schwächer gewesen: „Wie der Adler pflegt zu schwingen | Sich zur rothen Sonnen hin“ bzw. über die verbesserte Fassung im Helicon 1656: „Wie die Adler sich auf-schwingen | nach der rothen sonnen hin.“ Schwach waren zweifellos „pflegt“, der Verseinsatz mit „sich“ und (vielleicht) die „rote Sonne“; es wurde mit sicherer Hand verbessert. – Die letzte Strophe wendet den Blick himmelwärts: Wo die güldne saat der sterne sich bewegt / und stille steht; wo der sonnen licht aufgeht / und der mohn uns scheint von ferne: da sol unser Nahme stehn und den sternen gleich aufgehn; wan die Neider kleben werden am beschlamten koht der erden.

Was die Bewegung am Himmel angeht, so ist der Wechsel vom Sich-Bewegen und Ruhen, Sonnenaufgang und Mondschein, ebenfalls das Ergebnis von einsichtigen poetischen Abwägungen. Bis 1642 war es nicht „der sonnen licht“, sondern „Phöbus“, der „auf- und nider-geht“, wobei dann auch dessen Licht erstrahlte: „Wo sein Licht uns scheint von ferne.“ Der Mond trat erst in den Helicon-Fassungen von 1649 und 1656 hinzu. Dagegen war die Himmelsbewegung nicht wie oben bezeichnet, stattdessen hieß es nur: „An dem blauen himmel steht“ bzw. „dort am blauen Himmel steht.“ Die Tendenz ist auch hier klar erkennbar: das Vermeiden von auf der Hand liegenden und deshalb zu gewöhnlichen (unpoetischen) Ausdrücken: die „rote Sonne“, der „blaue Himmel“. In mancher Hinsicht ist die neueste Fassung der Lieder und Gedichte der deutliche Versuch, durch natürlich fließende Rhythmen, verbunden mit einer normal-natürlichen syntaktischen Wortfolge, Härten tunlichst zu umgehen. Ein Beispiel bietet ein Begräbnisgedicht, das, 1641 als Separatdruck erschienen, in behutsamer Überarbeitung 1670 wiederaufgenommen wurde. 35 In der fünften Strophe wird der Mensch mit Hilfe eines Bibelworts (Joh 12, 24) mit dem Weizenkorn verglichen: „Also verfault und stürbet | der Mensch auch; der vergeht | ––––––––– 34

35

Im Helicon von 1656 wird auch Flemming „himmels-flammend“ genannt und heißt es vom „Durchleuchten Opitz“, er habe „sich selbsten aus dem staube der niedrigkeit fast in das gestirne hinauf / durch seinen mehr als menschlichen verstand so glüklich geschwungen / daß Ihm die höchste staffel der unsterblichkeit schon zu-erkant war / und es fast unmöglich schiene / Ihm den Palmen aus der hand zu reissen.“ (SW X/1, 32f.). SW II, 362f. (Grablied auf Margrete von Eitzen).

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eh als er aufersteht.“ Im Separatdruck hatte es geheißen: „Also der Mensch auch stirbet | verfaulet und vergeht […].“ Auch störte dort ein zweigliedriger Relativsatz den Eindruck der Natürlichkeit: „[…] daß Gott es hat getahn. | Der sie ziht Himmel an | und Ihr die Krohne schencket.“ Mit einfacher Umstellung geht der Satz nun zu Ende: „Der zieht Sie Himmel an | zur Krohne / die er schenket.“ Es sind nur leichte Eingriffe, die dennoch eine größere ästhetische Wirkung erzielen. In einem anderen Fall lautete das Original zu Beginn der ersten Strophe ursprünglich: „Wer wolte nicht jtzo mit Freuden abscheiden | Auß dieser elenden betrübeten Zeit.“ Die Neufassung hat aus beiden Zeilen Folgendes gemacht: „Wer wolte mit freuden das leiden nicht meiden / | und scheiden aus dieser betrübeten Zeit.“ Eine Schwierigkeit bot das Wort „elend“, wozu Zesen sich im Helicon geäußert hatte, 36 ebenso das veraltete „jtzo“. In der Neufassung von 1670 37 hat Zesen seiner Vorliebe für die „verzukkerung durch die mittelreime“ 38 in der „Dattelart“ (d. h. in daktylischen Versen) frönen können, wozu jedenfalls drei Reimworte zusammen gehören („leiden“, „meiden“, „scheiden“), nach damaliger Ansicht sogar vier, wenn „freuden“ mitgezählt wird. Die ästhetischen, poetologischen Anpassungen verstärken einen inhaltlichen Aspekt des Grablieds, und zwar die leichtfüßige, tänzerische Vorbereitung auf die Freuden des ewigen Lebens: „Im Himmel ist eben | das lustige leben / | die friedliche zeit.“ Die Vorfreude des himmlischen Jubilus setzt sich in der dritten und dritten Strophe fort und bildet in solch harmonischer Einheit ein schönes Specimen christlicher Trostliteratur. Wo in der Endfassung antik-mythologische Namen und Umspielungen ersetzt werden können, ist das in aller Regel durchgeführt. Auch werden Metaphern gleichsam auf die Erde heruntergeholt und der Text vom gelehrten Beiwerk der frühen Jahre befreit. Es mag als Anzeichen einer wachsenden selbstbewußten Haltung deutscher Dichtung gelten, die, nicht länger von ihrem gelehrten Gebaren abhängig, für sich meint bestehen zu können. Dafür seien die Strophen des „Palmenlieds“ angeführt, das als Geburtstagsgedicht für Gueintz, Zesens Mentor und Lehrer in Halle, bereits im Helicon-Druck von 1641 wie in den folgenden Ausgaben vertreten war. 39 Die Sonne ist das personifizierte Objekt, an das sich die ersten Strophe richtet: Hertze des Himmels / und Auge der sterne / welches erleuchtet und zieret das feld / zeige die lieblichen blikke von ferne / kertze der erden / und fakkel der welt! Grüsse die länder mit deinem gesichte; zeige des güldenen mundes rubien! mache das leiden mit freuden zu nichte! Freude sol heute das leiden einziehn.

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38 39

SW X/1, 48 (Ed.1656). Ebenfalls war hier ein Separatdruck von 1641 die Grundlage für den Leichengesang auf Hildebrant von Horn (SW II, 365ff.). SW X/1, 108. SW II, 284f.

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Ist die lachende Sonne mit ihrem Mund voller „rubien“ alles andere als ein poetisches Juwel, so ist diese Formulierung doch entschieden besser als das ursprüngliche „Angesicht voller rubien.“ Anstatt „mache das trauren mit freuden zu nichte“ wurde für „trauren“ in betonter Position „leiden“ eingesetzt, wodurch nun eine Verszeile mit Mittelreim entstand; ebenso wurde in der letzten Zeile durch eine ähnliche Änderung („das leiden“ statt „vor trauren“) ein selber Mittelreim geschaffen, Assonanz verbindet die Wörter „Freude“ und „heute.“ Letztere Wörterkombination wird in der zweiten Strophe mit auffälligen Häufungen fortgesetzt: Heute sol freude die stunden verjagen: heute sol freude versüssen den tag: heute sol freude verjagen das klagen / freude / die sonsten im leiden erlag. Heute bekräntzen sich alle Göttinnnen: klagen und zagen sei ferne von hier; da sie so schöne gesänge beginnen. Heute steht alles in völliger zier.

Kleinere Änderungen und Umsetzungen fallen nicht ins Gewicht. Die klingende Wirkung des lyrischen Singens überwiegt alles andere, der Effekt des Wortklangs dominiert die Strophe und drängt den Wortsinn fast an den Rand. 40 Es sei noch hervorgehoben, daß die Zeile mit den Göttinnen schon 1649 die Wendung „Phöbus und alle Göttinnen“ verdrängt hat und daß schließlich der vorletzte Vers: „da sie so schöne gesänge beginnen“ aus folgenden früheren Fassungen hervorgegangen ist: „Oden und schöne“ (Helicon B / FrühlingsLust, 1641/42), „sollen viel schöne“ (Helicon C, 1649), „welche viel schöne“ (Helicon D, 1656). Das überzeugendste Ergebnis der Überarbeitungen ist wohl an jenen Liedern abzulesen, die Zesen der himmlischen „Weisheit“ (Sophia) gewidmet hat. 41 Zesen hat die insgesamt sieben Weisheitgedichte von Anfang an in seine Poetikausgaben und in die frühen Liedsammlungen FrühlingsLust und Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack (beide 1642) aufgenommen. In die Sammlung „letzter Hand“, um die es hier nur gehen kann, sind deren vier in neuer Gestalt eingegangen. Sie wurden, mit neuen Titeln und mit Melodien versehen, an den Anfang der Sammlung gestellt. Erst danach folgen die Lieder an fürstliche Personen (Nr. 5–15). Die neue Stellung dieser Gedichte ist strategisch zu bewerten. Die Vorrangstellung geht auch aus den Titeln hervor: „Der überirdischen Weisheit“ (Nr. 1), „Hertzliches verlangen nach der himlischen Weisheit“ (Nr. 2), „Ein anders an eben dieselbe Weisheit“ (Nr. 3), „Noch ein anders an dieselbe nie genug gepriesene Weisheit“ (Nr. 4). Der poetische Lobpreis der Weisheit – durchgängiges Thema in Zesens ganzem Werk – gehört in den Rahmen der –––––––––

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Vgl. zu dieser Tendenz: Vf.: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 70ff. Vf.: Gedichte an die Weisheit (Anm. 12). Zesens Sophia-Lieder sind in keiner Weise mit der mystischen bzw. christlich-hermetischen Weisheitsdichtung wie etwa Gottfried Arnolds Geheimniß Der Göttlichen Sophia oder Weißheit von 1700 zu vergleichen.

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barocken Argumentation zum Topos „Lob der Dichtkunst“. Die Poesie als die „erste Wiege der Weisheit“ 42 war jener Zeit geläufig, ebenso der Gedanke vom unsterblichen Dichter, weil sein Werk voller Weisheit ist. Indessen ist in der auffälligen Licht- und Glanzmetaphorik der Sophiagedichte ein Rückgriff auf das biblische Buch der Weisheit zu sehen, wo von ihr gesagt wird, sie sei „ein stral der herrlichkeit deß allmächtigen“ und „ein glantz deß ewigen lichts“. 43 Sie sei, so Zesen weiter, ein „licht“ in „der fünsternüs“; aus ihren Quellen möchte er seine Weisheit trinken: „Laß deiner Weisheit ströhme fliessen / | und mich durchsüssen; | damit ich von Dir reden mag | zu nacht und tag.“ 44 Die Reminiszenz an das biblische Buch Jesus Sirach (15, 3: „und wird ihn träncken mit wasser der weisheit“) ist unüberhörbar: „zu trinken aus deinen flüssen / | die honig uns geben müssen; | drüm kom / und laß mich nicht / | du edles Licht.“ 45 Das Besondere an diesen Liedern mit dem Strahlen und Funckeln der Schönen ist das Oszillieren zwischen Metaphysik und Erotik. Der „zucker-süße Mund“, der „Lippen-Tau“ der rosenroten Lippen (mit „Perlen-Tau auf Rosen“ verglichen), der „feuchte zukkermund“, die blanken Brüste („die liljen der Brust“) sind Metaphern der barocken Liebesdichtung. Die Sophienlieder sind ihrem Charakter nach Liebeslieder; das lyrische Ich übernimmt die Rolle des werbenden Liebhabers. Aber zugleich wird das Erotische allegorisch überspielt, wie auch die Symbolhaftigkeit des Weisheitsbildes erotisch überspielt wird. – Der Umstand, daß von den Sophiadichtungen manche in verschiedenen, einige gar in fünf bis sechs Fassungen vorliegen, ermöglicht einen detaillierten Textvergleich. Hier müssen wir uns mit einigen wenigen Hinweisen begnügen. Den Anfang soll das Lied „Weisheit / sage / wo du bist“ machen. Die erste Fassung hatte die Helicon-Ausgabe von 1641 gebracht, die von 1670 ist die sechste. Von der Fügung „heller blitz“ abgesehen, die das bisherige „Sonnenblitz“ ablöst, sind die ersten beiden Strophen für unsere Zwecke kaum relevant. Die dritte und vierte Strophe jedoch umso mehr. Sie lauten in ihrer letzten Gestalt 46 : Deine Brust / mit lauter gold / und mit perlenschmuk ümgeben / ist mein leben: ja dein Antlitz blitzt in mir für und für / mehr als Adlersaugen können / wann sie brennen. Deine Wangen wachsen Dir / wie der zukkerrosen zier:

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Johann Christoph Männling: Lohensteinius Sententiosus, Das ist: Des Vortrefflichen Daniel Caspari von Lohenstein […] Sinnreiche Reden. Breslau 1710, S. 2. Buch der Weisheit 7, 25f. Hier und im folgenden zitiert nach der Lutherbibel, Wittenberg 1696. SW II, 29 (Nr. 2). Vgl. Buch der Weisheit 18, 4: „Und die quelle der weisheit ist ein voller strom“. SW II, 34 (Nr. 4). SW II, 26f.

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von dem tau die Lippen nassen / der entspringt auf Hermonsgassen. Du / o währtes Götterkind / hast mir hertz und muht gerühret / und entführet: ja dein honigsüßes wort reist mich fort; und das hertze wil mir brechen / kan nichts sprechen / wan dein Mund sich reget nur. Ich wil folgen deiner spuhr; und mich zu denselben enden / da Du redest / ewig wenden.

Frühere Fassungen hatten in der dritten Strophe in den Versen 1 und 2 durch Umstellung und unterschiedlichen Reim „geschmücket | entzücket“ eine andere Gestalt gefunden. Auch die Wendungen „Ja der hellen Augen zier | funckeln dier“ werden umgestaltet. Während „der hellen Augen Zier“ sich in Verbindung mit der Reimzeile „funckeln Dir“ ganz auf das bewunderte Objekt bezog, wird in der Umgestaltung das sprechende Subjekt einbezogen: „blitzt in mir“. Der steife vorgestellte Genitiv („der hellen Augen zier“) wurde in der frühen Fassung sogar verdoppelt: „Wie des Adlers hohe straalen“. Das mußte aus Gründen der Natürlichkeit abgeändert werden. Die Korrektur strafft und glättet, die Fassung der FrühlingsLust sticht dagegen als unreif ab. Sie lautet: Deine Brust mit Perlen gantz üm und üm geschmücket / Mich entzücket: Ja der hellen Augen Zier Funckeln Dier / Wie des Adlers hohe Strahlen / Wenn sie praalen: Deine Wangen wachsen Dier / Wie der Tausendschönen Zier von dem Tau die Lippen nassen / Der entspringt auf Hermons Gassen.

Ähnlich weist die vierte Strophe in der ursprünglichen Gestalt mehrere Schwachstellen auf, die durch abgegriffene und jetzt als unpassend empfundene Ausdrücke entstanden sind. Wiederum beweist die Gegenüberstellung mit der FrühlingsLust den sicheren neuen Zugriff: Du o werthe Creatur / du hast mir das Hertz gerühret und entführet / Deine Zucker-süße Wort Seyn mein Port / Ja das Hertze wil mir brechen / Kann nichts sprechen / Wenn dein Mund sich reget nur; Ich muß laßen Ziel und Spur und mich zu denselben Enden / Da du redest / willig wenden.

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Der Vergleich zeigt, daß die Verse rhythmisch flüssiger und syntaktisch einfacher geworden sind, wobei auch die Bezüge deutlicher wurden. Ebenfalls haben sie im Ausdruck gewonnen. Die Wortwahl zeigt eine Entwicklung auf eine elegantere Ausdrucksweise hin: Statt „o werthe Creatur“ heißt es jetzt „o währtes Götterkind“, aus der veralteten Formulierung „Deine Zucker-süße Wort / Seyn mein Port“ ist geworden: „ja dein honigsüßes wort / reist mich fort.“ Das „honigsüß“, das an die Stelle des formelhaften „Zucker-süß“ getreten ist, läßt sich unschwer aus dem Bedürfnis nach Variierung erklären; denn die ursprünglichen „Tausendschönen“ wurden durch die modischen „zukkerrosen“ ersetzt. Überhaupt wird die „unvergleichliche“ Schöne jetzt prächtiger ausstaffiert, die Tendenz der Überhöhung wird fortgesetzt, indem die vergleichende Wendung „wie des Adlers hohe Strahlen“ nun in Form eines Überbietungsvergleichs erscheint: „mehr als Adlersaugen können.“ 47 Das Vokabular hat die Eleganz der neuen Zeit aufgenommen, es ist für die Sophiagedichte entschieden von Vorteil. Lautet z. B. eine Strophe wie folgt: „Laß deinen feuchten zukkermund / | der mich verwundt / | mit meinen dürren lippen rühren / | den tau zu spühren / | der sich auf deinen stähts befindt […],“ 48 zeigt der Vergleich mit früheren Fassungen aufschlußreiche textgenetische Varianten. Der „feuchte zukkermund“ hat sich ‚emporentwickelt‘ aus „zuckersüßen Mund“, von dem Lippentau hieß es: „der auf den deinen sich befindt“, anderswo weicht das blasse „Laß seyn in deinen Armen mich“ dem neuesten französischen Brauch entsprechenden, hochmodernen „ümhälse doch / und hertze mich.“ 49 In Zesens Lyrik werden akustische Effekte in auffälliger Weise ausgenutzt. Renate Weber hat nachzuweisen versucht, daß dieser ‚klingenden‘ Sprachgestaltung eine „metaphysisch begründete Ordnung“ zugrunde liegt. 50 Zesens Sprachdenken in Analogien geht vom Wortklang aus, in dem die Ordnung der „Ursprache“ verborgen liege. Das hat nichts mit der Klangmalerei zu tun, die Wolfgang Kayser für die Nürnberger herausgearbeitet hat, 51 auch nicht eigentlich mit Jacob Böhmes „Natursprache,“ die sich auf den einzelnen Laut in der besonderen Art seines Hervorbringens konzentriert. Die Ordnung, in der sich analogistisch die himmlische und ewige Naturordnung spiegelt (nach dem pansophischen Prinzip „oben wie unten“), behandelt Wörter als klingende Bedeutungsträger, indem sie diese über den Klang zueinander in Beziehung setzt. Ein Beispiel möge das verdeutlichen. Es stammt aus einem Grablied, die Verse verweisen auf den Gesang der Engel im Himmel:

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47 48 49 50

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Vgl. Vf.: Philipp von Zesen (Anm. 40), S. 29f. SW II, 30 (Nr. 2, Str. 3). SW II, 29. Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen 1619–1989. Hg. v. Vf. Wiesbaden 1972, S. 156–181. Wolfgang Kayser: Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Leizig 1932.

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da der Außerwehlten schaar / da die Serafinen singen / und die stimmen hell und klahr / lassen kling- und wieder klingen. 52

Die hellen i-Laute, die l- und kl-Fügungen schaffen eine versinterne Ordnung, die den Engelsgesang repräsentiert. Auf die gleiche Art und Weise ordnen sich lautanalogistische Klangblöcke nach dem Typus des bekannten Meienlieds: 53 „Glimmert ihr sterne | schimmert von ferne | blinkert nicht trübe | flinkert zu liebe | dieser erfreulichen lieblichen zeit.“ Dabei wird die Wirkung der Musik vorausgesetzt; sie unterstützt die Worte in ihren Sinnbezügen. Eine von Zesens Spezialitäten war zweifellos der Gleichklang nach dem Muster „Was strahlet / was prahlet / was blitzen for spitzen.“ In der HeliconAusgabe von 1656 weist er besonders auf diese „verzukkerung durch die mittelreime“ hin, speziell in der „Dattel- und Palmen-ahrt.“ Er merkt dazu an, daß sie „überall und zu allen zeiten“ möglich ist: „dan ie mehr reim-worte darinnen zu finden seind / ie lieblicher und anmuhtiger seind sie su hören / zu lesen / und zu singen.“ 54 Das Tempo wird durch diese Verse beschleunigt, denn die „rollenden palmen-reime“ können wie ihr Vorbild, die Palmen in der Natur, „keine last noch bürde auf ihren zakken leiden“: sie „laßen sich in ihrem flüchtigen lauffe nicht hämmen und auf-halten / sondern setzen und springen mit einer gleichsam rollenden und feurigen hitze hindurch / bis sie zu ihrem gewünschten ende gelanget / und die sieges-palmen verdienet.“ 55 Zesens Sorgfalt betrifft manchmal augenscheinliche Kleinigkeiten, wie in dem Sophienlied „Schikke mir blikke der gunst.“ 56 In der dritten Strophe heißt es hier: „Bleib doch / o Himmelskind / bleib; bleib doch mit liebe | bleib / o mein Leben bei mir; daß ich mich übe.“ Die dominierenden Klangeffekte finden sich bei i und ei. Es war wohl beabsichtigt, die klangstarke Aufforderung „bleib“ vier Mal in den beiden Versen erklingen zu lassen. Die Helicon-Fassung hat das auf die Verse verteilt, und zwar zweimal zwei: „Bleibe doch / Himmelskind hier / bleibe mit liebe | bleibe / ja bleibe bei mir.“ Die Umgestaltung nutzt den Effekt m. E. dadurch stärker aus, daß die Imperativformen das e abgestoßen haben und nun eine zusätzliche ‚hämmernde‘ Wirkung haben, außerdem rücken die Liebe/Leben-Fügungen in analogistischer Logik zusammen: „bleib doch mit liebe / | bleib / o mein Leben.“ Sie stehen in gleicher Position. Die historisch-kritische Ausgabe, die ihrem Abschluß entgegengeht, ermöglicht einen übersichtlichen Vergleich aller Abänderungen, sowohl in Richtung auf frühere wie auf spätere Fassungen. Die Genese eines Textes sollte auf allen Stufen seiner Repräsentation rekonstruierbar sein. Im Neudruck werden die ––––––––– 52 53 54 55 56

SW II, 370 (Rosen- und Liljen-tahl, Nr. 112). SW II, 36. SW X/2, 108. SW X/2, 129f. SW X/2, 31f. (Rosen- und Liljen-tahl, Nr. 3).

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Ferdinand van Ingen

Liedsammlungen in ihrer ursprünglichen Gestalt und Anordnung bewahrt. Es kann auch das Prinzip des fortwährenden Leserbezugs rekonstruiert werden. Entgegen der landläufigen Meinung, Zesen habe sowohl seine orthographischen wie poetologischen Ansichten dekretiert und seine Freunde darauf verpflichtet, findet im gesamten Material keinen Anhalt. In der Briefsammlung von Johann Bellin belegt eine Briefstelle an Harsdörffer, daß Zesen keinerlei bindende Vorschriften machen wollte. 57 Er selber sagte dazu: „Worbei ich nohtwendig erinnern mus / daß ich meinen Deutschen eine neue schreib-art mit gewalt aufzudringen keines weges gesonnen sei / […] sondern nur weisen wolle / wie man selbige nach der natur und durch kunst verbessern könne.“ 58 Wenigstens gab Zesen sich bescheiden, auch in seiner Poetik und in den weiteren Schriften zum Thema. Zwei Zitate mögen das schließlich bezeugen. Im oben erwähnten Sendeschreiben kommt Zesen zuletzt auf die Unreife seiner Jugendwerke zu sprechen: Ich bin zwar auch ein Mensch / und daher menschlichen gebrechen unterworfen; und habe nicht alles in meinen ausgegebenen Schriften / sonderlich in jenen noch sehr jungen frühlingsjahren / straks schnuhrgerade treffen können. […] Die zeit hat mich immer besser und besser unterwiesen / ja unterweiset mich noch täglich mehr und mehr. Diese […] hat mich gelehret / wie ich die fehler meiner jugend ausbüßen und verbessern sol. […] Dan ich bin keines weges so eigensinnig geahrtet / daß ich meine in der ersten jugendhitze mir gleichsam entschossene fehler / nunmehr / da ich alles besser weis / mit gewalt vertähdigen und guht heissen wolte. 59

So weisen auch die gleichsam zur Schau getragenen Korrekturen seiner Lieder in einem weiteren Sinn poetologische Bedeutung auf. Sie haben programmatischen Sinn und verweisen den Leser auf die Möglichkeiten des Studiums und der Kunstübung. Es ist eine bemerkenswerte Strategie, m. W. in der Barockliteratur einmalig. Daran läßt sich ein weiteres Zitat anschließen, und zwar aus der Helikonischen Hechel. In der Vorrede wird festgestellt, daß Kunstvollkommenheit von allen angestrebt werden soll, aber von einem Menschen allein nicht erreicht werden kann: „Ich weis sehr wohl / daß ich irre. […] Ein auge siehet nicht alles. […] Du kanst freilich etwas sehen / darinnen mein auge noch blinselt. Sehe ich was / siehestu auch was / siehet ein ander wieder was / das vor uns noch niemand gesehen; wohlan! laßet uns dasselbe einander mitteilen. Sotahnig treten wir der volkommenheit immer näher und näher. Man mus sie suchen / bis man sie findet. Mit gesamter hand möchte man endlich so viel finden / als Sterblichen müglich.“ 60 Überblickt man das lyrische und poetologische Werk im Zusammenhang, wird man auch bei Zesen die elitäre Kunstübung des poeta doctus feststellen, ––––––––– 57

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„Wihr mögen ja ungezwungen schreiben / wie wihr wollen / ein ihder was ihn guht dünket: Und er selbst hat ja noch keinen genöthiget seine schreib-ahrt anzunähmen.“ (Johann Bellin: Etlicher der hoch-löblichen Deutsch-gesinnten Genossenschaft […] SendeSchreiben […]. Hamburg 1647, Nr. 17, datiert vom 8. Febr. 1645). SW XI, 89 (Rosen-mând, Vorrede). SW XI, 438f. SW XI, 381f.

Philipp von Zesen – Dichter und Poetiker

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wie sie generell zuletzt von Barner beschrieben wurde („Die gelehrte Grundlage der deutschen Barockliteratur“). Andererseits aber erkennt man das Bemühen um ständige Schulung des Kunstverstands, des eigenen und der anderen an deutscher Literatur Interessierten, der „Kunstbeflissenen“. 61 Das hat Zesen im gesunden Selbstgefühl und im Bewußtsein seines Könnens als seine Aufgabe angesehen.

––––––––– 61

Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, bes. S. 220ff.

Seraina Plotke

Philipp von Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk

Im Jahr 1642 erscheint in Hamburg in Verlegung Tobias Gundermans ein schmales Bändchen mit dem Titel Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack oder Götter- und Nymphen-Lust / Wie sie unlängst in dem Heliconischen Gefilde vollbracht. 1 Sein Autor Philipp von Zesen ist erst 23 Jahre alt, hat sich aber bereits durch schriftstellerische Leistungen hervorgetan. Schon zwei Jahre vorher publizierte Zesen die erste Auflage seiner Poetik Deutscher Helicon, die nur ein Jahr darauf bereits in einer vermehrten Ausgabe erschien und mit der er die bis dahin einzige deutschsprachige Poetik, Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey ergänzen, wenn nicht ersetzen wollte. 2 In ein ähnlich rivalisierendes Verhältnis zu Opitz begibt sich Zesen mit seiner Schrift Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack, die in der modernen Forschung den Schäfereien zugerechnet wird, genauer den Prosaeklogen, wie Klaus Garber die in der Nachfolge von Opitz’ Schäfferey von der Nimfen Hercinie stehenden Werke bezeichnet. 3 Diese zeichnen sich durch ein bestimmtes Muster aus, das an die verspoetische Tradition antiker Bukolik anschließt, sie aber in einen spezifischen erzählperspektivischen Rahmen integriert. Zesen ist einer der ersten, welche diesen Typus für sich entdeckten und nutzten. Ihre ganz große Blüte erlebte die Prosaekloge allerdings in Nürnberg, wo im Kreise der PegnitzSchäfer ab 1644 eine kaum fassbare Anzahl von Werken entstanden, die diesem Muster entsprechen. 4 ––––––––– 1 2

3

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Zesen SW III/1, 1–55. Zesen veröffentlichte 1640 die erste Auflage seiner Poetik, 1641 eine erweiterte und um zahlreiche Mustergedichte vermehrte Ausgabe. Im Jahr 1649 erschien eine vollständig neu bearbeitete Fassung in drei Teilen, die 1656 nochmals ergänzt wurde. Der vollständige Titel des Erstdruckes lautet: Philippi Caesii Deütscher Helicon / oder Kurtze verfassung aller Arten der Deütschen jetzt üblichen Verse / wie dieselben ohne Fehler recht zierlich zu schreiben / Bey welchem zu besserm fortgang unserer Poesie Ein Richtiger Anzeiger Der Deütschen gleichlautenden und einstimmigen / so wohl Männlichen / als Weiblichen Wörter (nach dem abc. Reimweise gesetzt /) zu finden. Wittenberg / Gedruckt bey Johann Röhnern / im Jahr 1640. Zum Begriff der Prosaekloge siehe Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln 1974, S. 26–38. Die sogenannte Prosaekloge erfreute sich bei den Pegnitz-Schäfern seit der Gründung des Ordens größter Beliebtheit. Gut bekannt und im Nachdruck erschienen oder neu aufgelegt sind heute die in der Anfangszeit des Ordens entstandenen Werke von Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken und Johann Hellwig, die – teilweise als

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Seraina Plotke

Ich möchte Zesens Prosaekloge hier als poetologisches Werk aufschliessen, indem ich zu zeigen versuche, dass der Autor seine im Deutschen Helicon begonnenen dichtungstheoretischen Überlegungen in dieser narrartiv-fiktionalen Schrift fortsetzt. Die immanent poetologische Dimension dieser Prosaekloge, so meine These, zeigt sich erst dann, wenn beleuchtet wird, wie Zesen mit verschiedenen Gattungstraditionen spielt, mit ihnen bricht und die Abweichung als Mittel benutzt, seine eigene Position zu artikulieren. Als typische Merkmale sogenannter Prosaeklogen sind zu nennen: 1. Der eigentliche Handlungskern wird in Prosa geboten, jedoch durch zahlreiche Gedichte durchsetzt. Die Gedichte fügen sich mehr oder weniger natürlich in den Handlungsrahmen ein. 2. Die Handlung wird erzählt durch einen IchErzähler, der sich auf einen Spaziergang in die Natur begibt. Dieser Spaziergang macht das Gerüst der Handlung aus. 3. Auf diesem Spaziergang trifft das Erzähler-Ich auf Hirten und Nymphen. Diese bilden das schäferliche Milieu. 5 4. Wie in der bukolischen Tradition seit Theokrit hat der locus amoenus auch in der Prosaekloge seinen hervorragenden Platz. Seine Kennzeichen sind: die schöne Wiese, anmutige Bäume und Sträucher, ein Bach oder ein Fluss, oft auch Berge und Gebirge. 5. Teile dieser Örtlichkeiten werden wirklichkeitsgetreu lokalisiert (so ist der Fluss beispielsweise bei den Nürnbergern die Pegnitz, bei Zesen die Elbe). 6. Passend zu dieser Wirklichkeitsnähe trägt der Ich-Erzähler autobiographische Züge des Dichters. Alle diese Merkmale finden sich in Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack wieder, der sich streckenweise sehr eng an Opitz’ Nimfe Hercinie anlehnt. Markant sind die Parallelen insbesondere am Anfang, sie lassen sich teilweise bis in den Wortlaut hinein beobachten. Opitz beginnt seine Nimfe Hercinie mit einer kurzen Prosapassage, die den Ort des Geschehens nahe seiner Heimat lokalisiert, und führt den Ich-Erzähler mit der Formulierung ein: „Daselbst befand ich mich / nach dem ich die zeit zue vertreiben / und meinen gedancken desto freyer nach zue hengen / vor zweyen tagen von einem andern orte / […] entwiechen war.“ 6 Zesen lässt die Ortsangabe zunächst weg, hebt analog an mit: „Nachdem Ich eine Zeitlang meiner Lauten die Ruhe vergönnet / –––––––––

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Gemeinschaftswerke verfasst – sich unter anderem auch mit der Gründungslegende der Dichtergesellschaft beschäftigen. Zu nennen sind: Georg Philiip Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644–1645. Hg. v. Klaus Garber. r (Nürnberg 1644 u. 1645) Tübingen 1966 (darin enthalten sind das 1644 veröffentlichte Pegnesische Schäfergedicht von Harsdörffer und Klaj sowie die 1645 erschienene Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey von Sigmund von Birken); Johann Hellwig: Johann Hellwig’s Die Nymphe Noris (1650). A Critical Edition. Hg. v. Max Reinhart. Columbia 1994. Zu den zahlreichen weiteren im Umkreis des Ordens verfassten Prosaeklogen siehe: Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesbaden 1994. Dazu Garber (Anm. 3), S. 35: Opitz und Zesen verzichten auf weiteres pastorales Requisit, bei den Nürnbergern ist jedoch schon das Erzähler-Ich Hirte, hinter dem sich aber deutlich der Dichter verbirgt. Martin Opitz: Die Schäfferey von der Nimfen Hercinie. Hg. u. eingel. v. Karl F. Otto Jr. r (1630) Bern u. Frankfurt a. M. 1976, S. 7.

Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk

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[…]“, und schreibt wenig später: „Ich befand mich auff einer sehr schönen Wiesen / die Elbe floß auff der einen seiten […].“7 Beide Autoren schieben in diese Eingangsbeschreibung ein Gedicht ein, welches den Zeitpunkt der Handlung näher festlegt, mit dem einzigen Unterschied, dass Opitz dieses Gedicht der betreffenden Jahreszeit widmet, Zesen sich der Tageszeit annimmt. Vollständig analog formuliert ist denn auch der unmittelbar weiterführende Prosatext, wo Opitz schreibt: „Mitt einem worte: Es war zue ende des Weinmonats […]“, 8 während Zesen festhält: „Kurtz zu reden: Die Mutter der Gestirne / die Nacht war vorbey […].“ 9 Abgesehen von solch offenkundigen Bezugnahmen lassen sich viele inhaltliche Anknüpfungen konstatieren. Wie sich bei Opitz die Protagonisten über die angemessene Art der Liebe unterhalten und über das richtige Verhältnis von Schönheit und Tugend, so belehrt bei Zesen die Nymfe den Ich-Erzähler hinsichtlich Keuschheit und Schönheit der Frau. In beiden Texten gibt es die Schau der olympischen Götter. In beiden Texten trifft die Gefolgschaft auf einen Brunnen, der eigentliche Gemächer ausbildet. Bei allen diesen offensichtlichen Übereinstimmungen müssen umso mehr die Abweichungen registriert werden, welche Zesen in seinem Text gegenüber Opitz vornimmt. Scheinen sie doch angesichts der vielen Parallelen durchaus signifikant zu sein. Als besonders markant ist hier ein Punkt hervorzuheben, der erst bei genauerer Betrachtung ins Auge fällt und der eines der Grundcharakteristika der sogenannten Prosaekloge betrifft: Es geht um den Spaziergang. Wie später auch in den zahlreichen Prosaeklogen der Nürnberger, zeichnet sich das Handlungsgerüst in Opitz’ Nimfe Hercinie durch den Wechsel zwischen Spazieren und Rasten aus, den das Erzähler-Ich in der Regel gemeinsam mit seinen Begleitern erlebt. 10 Aufenthalt und Bewegung treiben den Handlungsgang voran. Bei Opitz wird diese Bewegung der Protagonisten ausgedrückt durch Wendungen wie: „Als wir nun unter wehrendem gespreche gleichsam bergan gegangen waren / kamen wir an den außgang einer höle […]“; 11 oder es spricht einer der Begleiter: „Ein edeles flüßlein / […]. Laßt uns […] ein wenig daran hinauff spatzieren.“ 12 Solches Fortsetzen des Spaziergangs führt dann jeweils zu Treffen mit Nymfen, Hirten oder anderen Menschen, gibt Anlass zu neuen Gesprächen oder ermöglicht Entdeckungen wie Bäume mit eingeritzten Gedichten, Grotten oder Brunnen. In Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack gibt die äußerste Rahmenhandlung nun durchaus auch vor, einen Spaziergang darzustellen. So lautet der allererste Satz des Werks – nun in seiner Gänze zitiert: „Nachdem Ich eine Zeitlang meiner Lauten die Ruhe vergönnet / doch mehr auß Zwang der unbilligen ––––––––– 7 8 9 10 11 12

Zesen SW III/1, 9. Opitz: Nimfe Hercinie (Anm. 6), S. 7. Zesen SW III/1, 9. Dazu Garber (Anm. 3), S. 34. Opitz: Nimfe Hercinie (Anm. 6), S. 45. Ebd., S. 24.

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zeit / welche mir alle Freude geraubet / als auß Müdigkeit und Verdruß; gerathe ich an einem Morgen in die Gedancken / mich auf ein paar Stunden in das Grüne zu begeben.“ 13 Und zum Ende des Werks wiederum heisst es: „Ich fieng an etwas geschwinder fort zu eylen / damit ich nicht von der Nacht überfallen würde […]. Da es nun gar späte und die Nacht zusincken begunte / befande ich mich widerümb auf meiner Studier-stuben / und begab meine fast-ermüdete Glieder der süßen Nacht-ruhe; und war also dieses des erfreulichen SpazierGanges gewündschtes Ende.“ 14 Innerhalb des Werks jedoch gibt es kaum Bewegung des Ich-Erzählers. Auffällig im Unterschied zu Opitz’ Nimfe Hercinie ist der Umstand, dass die Hirten, die Nymfen, die diversen Götter mehr oder weniger unvermittelt vom Protagonisten gesehen und erblickt werden. Sie sind plötzlich da oder tauchen gleichsam aus dem Nichts auf, während das Ich an Ort und Stelle bleibt. Nur einmal bewegt sich dieses, geht da aber ausschließlich auf der Wiese umher, auf der es sich schon befindet. 15 Man könnte daher soweit gehen zu behaupten, dass alle Bewegung, welche der Ich-Erzähler in Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack vornimmt, einzig eine gedankliche ist. Einen deutlichen Hinweis darauf gibt der eben zitierte Auftakt des Werks, wo explizit allein vom Gedanken des Ichs die Rede ist, sich ins Grüne zu begeben, dieses sich dann unmittelbar danach auf der Wiese befindet, auf welcher es alle weiteren Begegnungen erlebt, die zu den zahlreichen eingeschobenen Gedichten Anlass geben. Kaum zufällig dürfte es denn auch sein, dass sich das Ich ganz zum Schluss wieder in seiner Studierstube befindet. 16 Ein Spaziergang im Kopf also, der gerade nicht durch die Natur führt, wie bei Opitz und später bei den Nürnbergern; ein Spaziergang durch die Textwelt des Erzähler-Ichs, in die virtuelle Welt des Dichtens und der Gedichte. Diese enthält zwar durchaus einzelne Versatzstücke aus der realen Natur, so eine Wiese an der Elbe, die als locus amoenus dient, ist aber sonst viel weniger einer äußerlich begründeten Naturerfahrung verpflichtet, als dies bei Opitz und dann vor allem bei den Nürnbergern der Fall ist. Wie lässt sich diese Abweichung erklären? Einen Schlüssel auf diese Frage liefert Zesen mit dem Titel des Werks. Dieser ist mehrgliedrig, wie das oft bei Titeln aus dieser Zeit der Fall ist, und lautet vollständig: Poetischer RosenWälder Vorschmack oder Götter- und Nymphen-Lust / Wie sie unlängst in dem Heliconischen Gefilde vollbracht / auff Lieb- und Lobseeliges Ansuchen Einer dabey gewesenen Nymphen kürtzlich entworfen. Besonders aufschlussreich ist der erste Teil des Titels, weist er doch in eine ganz andere Richtung als diejenige der Schäferei. Denn die Formel Poetische Wälder ist eine der Zeit gut vertraute Gattungsbezeichnung. Es handelt sich bei dieser Formel um eine von Martin Opitz geprägte Wortfügung, die dieser als deutsche Übersetzung für die –––––––––

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Zesen SW III/1, 9. Ebd., 55. Siehe ebd., 21. Im Vergleich dazu endet die Nimfe Hercinie damit, dass sich die drei Protagonisten im Dorf zu Ende des Spaziergangs trennen.

Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk

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auf den antiken Dichter Statius zurückgehende Gattung der silvae einführte, einer Gattung, die sich seit ihrer Wiederentdeckung im 15. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreut. 17 Auch wenn bei Statius die Abfolge von Prosapassagen und poetischen Texten als gattungskonstituierend anzusehen ist, sind es die Gedichte selbst, welche als silvae im engeren Sinne angesehen werden, was sich in der neulateinischen Dichtung der Renaissance spiegelt, die Sammlungen mit anlassbezogenen Gedichten als Sylvae bezeichnet. Opitz, der selbst mehrere Gedicht-Bücher unter dem Titel Poetische Wälder veröffentlichte, 18 hält deren Eigenschaften in seiner Poetik fest. Als Kennzeichen der Sylvae nennt er einerseits den Umstand, dass es sich bei ihnen um Dichtung handelt, die in der Hitze der Eingebung niedergeschrieben wird 19 – ein Topos, der sich seit Statius als Charakteristik der ,Wälder‘ hält. Zum Zweiten weist Opitz auf die metaphorische Bedeutung von silvae hin: Wie sich in einem Wald verschiedene Bäume und Baumarten befänden, so vereinigten auch Sylven allerlei Gedichtarten in einer Sammlung, wobei Opitz besonders auf den casualen Charakter dieser Gedichte hinweist. 20 Wenn also Philipp von Zesen sein Werk mit dem Titel Poetischer RosenWälder Vorschmack versieht, dann legt er damit ein besonderes Augenmerk auf die in diesem Werk versammelten Gedichte. Die eingeschobenen Gedichte – Zesen berücksichtigt ein breites Spektrum unterschiedlicher Gedichtarten und Metren – erscheinen unter dieser Perspektive als Zusammenstellung verschiedener Gewächse, die nicht nur als Bestandteile einer Textwelt zu werten sind, wie sie vom Ich-Erzähler auf seinem gedanklichen Spaziergang konstituiert wird, –––––––––

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Eine Handschrift mit den Silvae des Statius wurde von Poggio Bracciolini während des Konstanzer Konzils wiederentdeckt. Die starke Rezeption der Gattung setzt dann aber mit den ersten Druckausgaben von 1472 und 1475 ein (dazu Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ,bei Gelegenheit‘. Heidelberg 1988, S. 19–23). Siehe dazu: Adam (Anm. 17), S. 132–143; Thomas Borgstedt: Silvae et Poemata. Martin Opitz’ doppelte Einteilung seiner Gedichte und ihr Missverständnis bei Druckern und Forschern. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 31 (2004), S. 41–48. Martin Opitz gibt in seinem Buch von der Deutschen Poeterey folgende Definition der Sylven: „Sylven oder Wälder sind nicht allein nur solche carmina, die auß geschwinder anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden / von denen Quintilianus im dritten Capitel des zehenden buches saget: Diuersum est huic eorum vitium, qui primùm discurrere per materiam stilo quàm velocissimo volunt, & sequentes calorem atque impetum ex tempore scribunt: Hoc syluam vocant; vnd wie an den schönen syluis die Statius geschrieben zue sehen ist / welche er in der Epistel für dem ersten buche nennet libellos qui subito calore & quadam festinandi voluptate ipsi fluxerant: sondern / wie ihr name selber anzeiget / der vom gleichniß eines Waldes / in dem vieler art vnd sorten Bäwme zue finden sindt / genommen ist / sie begreiffen auch allerley geistliche vnnd weltliche getichte / als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder / Glückwündtschungen nach außgestandener kranckheit / item auff reisen / oder auff die zuerückkunft von denselben / vnd dergleichen.“ Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm Braune neu hg. v. Richard Alewyn. Tübingen ²1966, S. 22. Ebd.

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sondern die in diesem Sinne einen Textwald ausmachen, der sich dem Leser als Gedichtsammlung präsentiert. Die Frage stellt sich, warum und in welcher Hinsicht Zesen mit dem ersten Teil seines Titels das Augenmerk ganz auf die in die Schäferei integrierten Gedichte lenken will und dies über die Formel der Poetischen Wälder zu erreichen sucht. Eine mögliche Antwort liefert der Blick in die Poetices libri septem von Julius Caesar Scaliger. Welch zentralen Stellenwert Scaligers 1561 postum erschienenes Werk in Bezug auf die Entwicklung der deutschsprachigen Poetik einnimmt, muss hier nicht eigens betont werden. Scaliger versieht das zweite Buch seiner Poetik, welches sich intensiv mit Fragen der Prosodie und Metrik beschäftigt, mit der Überschrift Hyle. 21 Dieses griechische Wort bedeutet einerseits Wald, Holz, Gesträuch, andererseits Stoff, Material. Scaliger spricht in diesem Zusammenhang auch von der materia poeseos und meint damit den Stoff, aus dem die Dichtung gemacht, gleichsam hergestellt, ist – wozu er eben in erster Linie die Versfüsse und Versmasse zählt. 22 Bereits in der Antike überlagern sich die Bedeutungsfelder von ^XOK, materia und silva, so dass materia und silva immer wieder synonym verwendet werden. 23 Dass diese Synonymie aber insbesondere noch von Zesen und seinen Zeitgenossen als eine solche empfunden wurde, belegt Gerhard Johannes Vossius, der in seinen Commentariorum rhetoricorum libri sex von 1630 unter dem Abschnitt De synonymia schreibt: „Nam materia, & sylva, idem sunt: unde carmina subitò effusa calore, quia sunt velut rudis materia, sylvas appellarunt. Sed & etymon sylvae indicio est, cùm non à silendo NDW  D M QWYLIUDVLQ factum sit, sed à Greco ^XOK.“ 24 Vossius spricht also nicht nur von der Synonymie der beiden Wörter materia und silva unter dem Hinweis auf das griechische Wort ^XOK, sondern bringt als Beispiel auch gerade die Gattung der Sylven mit der topischen Definition des „subitò effusa calore“, wie sie sich seit Statius als nähere Charakterisierung dieses Gedichttypus hält und die gemäß Wolfgang Adam als „entscheidendes Bestimmungsmerkmal der literarischen Publikationsform Silvae“ 25 anzusehen ist: „Das Bekenntnis des Autors, daß hier Gedichte vorgestellt werden, die im Augenblick der poetischen Begeisterung und gleichsam mit der Lust am Extemporieren niedergeschrieben wurden.“ 26 Mit Blick nicht nur auf Opitz’ – der Tradition verpflichteter – Sylvendefinition, sondern auch auf das Buch Hyle aus Scaligers Poetices libri septem lassen sich also, was den Signalwert von Zesens Titel Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack anbelangt, zwei Punkte festhalten. Zum einen charakterisiert Zesen –––––––––

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Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. I: Buch 1 u. 2. Hg., übers., eingel. u. erläut. v. Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 444. Vgl. ebd., S. 444–633. Dazu Adam (Anm. 17), S. 66–68. Gerardi Ioannis Vossi Commentariorum rhetoricorum, sive oratoriarum institutionum libri sex […]. Leiden 1630, Buch V, S. 278. Siehe dazu auch Adam (Anm. 17), S. 67f. Adam (Anm. 17), S. 35. Ebd.

Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk

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die in dem betreffenden Werk zu findende Dichtung als eine, die „dem Augenblick der poetischen Begeisterung“ 27 verpflichtet ist und in der Hitze der Eingebung niedergeschrieben wurde. Zum andern legt Zesen aber auch ein besonderes Augenmerk nicht nur auf die in das betreffende Werk integrierten Gedichte, sondern vor allem auf deren metrische Formen, was gerade bei diesem Autor unbedingt als signifikant angesehen werden muss. 1640 ist Zesens Poetik Deutscher Helicon zum ersten Mal herausgegeben worden, 1641 bereits in einer vermehrten Auflage erschienen. Diese Poetik zeichnet sich gegenüber anderen Poetiken der Zeit dadurch aus, dass sie Fragen der Metrik zum grundlegenden Prinzip macht. Die materia der Dichtung im Scaligerschen Sinn, ihre ^XOK, das ist es, was Zesen im Deutschen Helicon bevorzugt behandelt und was er zu dessen strukturierender Größe erhebt. Dazu gehören neben Fragen der Versfüße und der Versmaße in Bezug auf die deutsche Sprache auch grundsätzliche Gedanken zum Reim. 28 Indem Zesen das narrativ-fiktionale Werk Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack indirekt mit dem Titel Hyle versieht, setzt er es über dieses Tertium unmittelbar in Bezug zu seiner Poetik. Dass Zesen hier tatsächlich an eine Art Fortsetzung seines Deutschen Helicon gedacht hat, an ein Komplement zu diesem, wird noch zu zeigen sein. Unberücksichtigt blieb bis jetzt in der Analyse von Zesens Titel der Umstand, dass dort nicht von poetischen Wäldern, sondern von poetischen Rosen-Wäldern die Rede ist, genauer gesagt, vom Vorgeschmack auf die poetischen Rosen-Wälder. Die botanische Art der Rosen nimmt in Zesens Gesamtwerk einen zentralen Stellenwert ein, was sich allein schon in den zahlreichen Werken spiegelt, in denen Zesen diese Blume bereits im Titel verewigt. Als berühmteste Beispiele sind etwa sein Roman Die adriatische Rosemund oder die sprachtheoretische Schrift Rosen-mând zu nennen. Bedeutsamer noch ist hier aber die Tatsache, dass Zesen nur kurze Zeit nach dem Erscheinen des Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack seine ,Deutschgesinnte Genossenschaft‘ gründete, für welche er die Rose als Zunftzeichen wählte. Unter dieser Perspektive ließe sich das Werk gleichsam als Programmschrift für Zesens Sprachgesellschaft lesen. 29 Ebenfalls in diese Richtung weist die Charakterisierung ,Vorschmack‘, 30 die sich in doppelter Weise interpretieren lässt. Einerseits zukunftsweisend: Als ein Vorgeschmack auf noch entstehende Text-Wälder und Text-Welten – was dann auch als Vorgeschmack auf die ,Deutschgesinnte Genossenschaft‘ zu verstehen wäre. Andererseits liefert der Vorgeschmack von bzw. auf etwas auch ein Beispiel desselben. Der Vorgeschmack vermittelt eine Vorstellung von der Sache selbst, genau so wie ein Exempel oder ein Muster. ––––––––– 27 28 29

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Ebd. Siehe Zesen SW IX. Siehe zum Rosenmotiv in Bezug auf die ,Deutschgesinnte Genossenschaft‘ Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 91–94. ,Vorschmack‘, eine andere Wortform von ,Vorgeschmack‘, meint im physiologischen Sinne eine Vorempfindung eines Geschmacks oder auch Geruchs, die mit Lust (oder auch Unlust) einhergeht.

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Joachim Dyck und Wilfried Barner haben gezeigt, wie sehr die barocke Poetik der rhetorischen Tradition verpflichtet ist, die seit der Antike auf den Dreischritt von praecepta (bzw. doctrina), exempla und imitatio baute, wobei zu letzterer die aemulatio, das Wetteifern mit dem Vorbild trat. 31 Diese Dreiheit bestimmte im 17. Jahrhundert sämtliche Bereiche bzw. artes, in denen Texte eine Rolle spielen, neben der Dichtkunst auch die Predigt, die Briefstellerei etc. Was nun die Poetik anbelangt, so begnügte sie sich in der Regel mit wenigen oder gar keinen praecepta, während den exempla, die es nachzuahmen und gegebenenfalls zu übertreffen galt, die zentrale Aufgabe der Vermittlung zukam. Dies trifft in ganz besonderem Maß für Zesens Deutschen Helicon zu, der die praecepta auf ein Minimum beschränkt oder ganz weglässt und alles Gewicht auf die exempla legt, so dass er zur Exemplifizierung eines bestimmten Genres oft sogar mehrere Beispielgedichte präsentiert. 32 Als exempla für verschiedene Gedichtarten lassen sich auch die Gedichte in Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack lesen, auf die der Autor, wie herausgearbeitet werden konnte, in zweifacher Hinsicht sein – bzw. des Lesers – Augenmerk legt, nämlich einerseits dadurch, dass er den für die Prosaekloge gattungskonstitutiven Spaziergang gleichsam verinnerlicht, andererseits durch den im Titel signalisierten Bezug auf die silvae, bzw. die ^XOK, der den Fokus ganz auf die in den narrativ-fiktionalen Text integrierten Gedichte und ihre materiale Beschaffenheit lenkt. Schlagen wir den Bogen noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als Prosaekloge nach dem Vorbild von Opitz’ Nimfe Hercinie. Es ließ sich belegen, wie eng sich Zesen gerade zu Beginn seines Werks an Opitz anlehnt. Tatsächlich lassen sich aber auch zum Auftakt des Werks Abweichungen vom Vorbild beobachten, die gerade dadurch, dass sich Zesen so eng an Opitz hält, eine besondere Bedeutung bekommen. Zesen macht die Grundsituation des Ich-Erzählers mit den ersten Sätzen deutlich, sie ist eine andere als diejenige bei Opitz. Zesens Ich-Erzähler ist seit geraumer Zeit nicht mehr zum Dichten gekommen, wie der allererste Satz betont: „Nachdem Ich eine Zeitlang meiner Lauten die Ruhe vergönnet […]“, 33 und zwar aufgrund äußerer Wirren, wie nicht vergessen wird hinzuzufügen. Der Erzähler erschafft sich nun aber in Gedanken eine Welt des Dichtens. Diese ist durch ein paradoxes hysteron-proteron-Verhältnis bestimmt. Im kreativen Akt des Dichtens entsteht eine Welt, die selbst wiederum Dichten erst möglich zu machen scheint. Ganz deutlich ist es der gleich darauf ausgemalte locus amoenus, welcher das Ich zum ersten eigenen Gedicht animiert. Zesen schreibt: Ich befand mich auff einer sehr schönen Wiesen / die Elbe floß auff der einen seiten mit sehr anmuthigem riseln und gereusche / daß mann sich nicht gnugsam darüber verwundern

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Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970; Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Tübingen ³1991. Siehe Zesen SW IX. Zesen SW III/1, 9.

Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack als poetologisches Werk

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konte; Auff der andern seiten war ein schöner Berg zu schauen / an dessen Wurtzeln ein klahrer Brunnen mit seinem silbergläntzendem rieselen auß dem Berge übersich sprang / dabey viel lustige Erlen und Gestreuche den Augen eine sonderliche Ergötzung erweckten; Ich warde dermaßen erfreuet / daß ich alsobald auff diese Wort geriet und bey mir selbst die Gegend also anredete: […]. 34

Es folgt ein in Alexandrinern gehaltenes Gedicht, das genau die vorher erwähnte paradoxe Reziprozität thematisiert: Du Außbund aller Zier / du Schauplatz aller Freude / Wo ich mit überfluß die Augen letz’ und weide / du ander Helicon / ach! solt ich ewig seyn In dieser Herrligkeit! ich wolte nur allein Auff Lieder seyn bedacht. Ich wolte durch mein singen Das schöne Musen-Volck an dieses [sic!] Ort herbringen […]. 35

Der beschriebene locus amoenus ist also einerseits schon Hort der Musen, wird als Helicon bezeichnet und gibt durch seine Schönheit Anlass zum Dichten. Gleichzeitig werden die Musen durch das Dichten erst an diesen Ort gebracht. Dichtung, die sich aus sich selbst heraus gebiert? Es ist die vom Ich-Erzähler im Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack erschaffene Text-Welt, welche diesen wiederum zum Dichten animiert. Zesen bietet hier also eine Art Inspirationslehre. Ein in Gedanken ausgemalter locus amoenus wird zum Ort göttlicher Eingebung stilisiert. Mit dem neu erwachten Selbstbewusstsein des deutschen Dichters wird dieser Musensitz in die eigene Heimat verlegt, er befindet sich an der Elbe. Neben dem lieblichen Anblick der Natur ist es denn auch vor allem das Wasser, genauer gesagt sind es die Geräusche des Wassers, welche zum Dichten anregen: Zesen spricht vom „anmuthigem riseln und gereusche“ der Elbe, vom „silbergläntzendem rieselen“ des Brunnens. Töne, Geräusche und Klänge, die Musikalität der Dichtung – dies sind Zesens zentrale Anliegen in seinem Deutschen Helicon. Immer wieder spricht er dort vom Klang der Gedichte. 36 Seine ganze Dichtungslehre dreht sich um die ^XOK im Scaligerschen Sinne, welche letzten Endes nichts anderes als Klänge, Geräusche und Rhythmen betrifft: Es geht Zesen in erster Linie um Versfüße, Versmaße und Reime. 37 Welchen Stellenwert musikalische Elemente ganz allgemein in Zesens literarischem Schaffen einnehmen, dies wurde in der ZesenForschung bereits herausgearbeitet. 38 Über die Hybridisierung verschiedener Gattungen, durch das Spiel mit Gattungstraditionen und den bewussten Traditionsbruch schafft Zesen mit dem –––––––––

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Ebd., 9f. Ebd., 10. Siehe etwa Zesen SW IX, 24, 36, 37, 49. Einen großen Teil des Deutschen Helicon machen umfangreiche Reimlisten aus (siehe ebd., 77–240, 467–570). Siehe etwa Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 156–181. Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Elisabeth Rothmund.

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Seraina Plotke

narrativ-fiktional angelegten Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack ein Werk, in dem er seine Auseinandersetzung mit poetologischen Fragen fortsetzen kann, die er im Deutschen Helicon begonnen hatte. Dass Zesen den Vorschmack als ein Komplement zu seinem Helicon ansieht, macht er mehrfach und ganz explizit deutlich. Bereits durch den dritten Teil des mehrgliedrigen Werktitels deklariert er, dass die Text-Welt, die der Ich-Erzähler auf seinem gedanklichen Spaziergang erschafft, als „heliconisches Gefilde“ zu betrachten ist. Dieser lautet schließlich: Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack oder Götter- und Nymphen-Lust / Wie sie unlängst in dem Heliconischen Gefilde vollbracht […]. Wortwörtlich bezeichnet Zesen die sich dem Leser dort entfaltende Text-Welt als zweiten Helicon, nämlich im eben zitierten Gedicht am Anfang des Werks, das durch den gedanklich ausgemalten locus amoenus animiert ist. Dort heißt es: „Du Außbund aller Zier / du Schauplatz aller Freude / | Wo ich mit überfluß die Augen letz’ und weide / | du ander Helicon […].“ 39 Der wahre locus amoenus liegt nicht in der Dichtung selbst, sondern in der poetologischen Durchdringung und kunstvollen Aneignung ihres schöpferischen Potentials.

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Zesen SW III/1, 10.

Elisabeth Rothmund

Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik

Im Allgemeinen gilt das Werk Philipp von Zesens als eindeutig „musikalischer“ als das anderer Barockautoren wie z. B. Martin Opitz, Andreas Gryphius oder Paul Fleming, und in der Tat weist sein vielseitiges Œuvre zahlreiche Verbindungen mit der Musik auf, die man bei den eben zitierten Dichtern vermisst. Beispiele dafür sind nicht nur mehrere seiner Gedichtbände – darunter die 1642 herausgegebene FrühlingsLust, eine Sammlung von gesungenen Liedern, für die weitgehend auch jeweils die Melodie angegeben wird, anfangs in Form von Noten, später allerdings nur noch als Hinweis auf eine bereits bekannte Weise1 –, sondern auch schon die erste Fassung des Deutschen Helicons, Zesens erster dichtungstheoretischen Schrift, die auch die erste deutsche ars poetica nach Opitz wegweisendem Buch von der deutschen Poeterey darstellt. 2 Schon auf den ersten Seiten fällt auf, dass für Zesen – anders als für seinen Vorgänger – die Dichtung nicht nur als gelehrte und anspruchsvolle Tätigkeit eines göttlich inspirierten und sprachlich-rhetorisch geschulten poeta doctus zu gelten hat, sondern auch eine Kunstform darstellt, die eine wesensmäßige Verwandtschaft mit der Musik aufweist. Wiederholt ist von „Gesängen“ und „Liedern“ die Rede, sowie – was vor dem Hintergrund der bis dahin tonangebenden opitzschen Poeterey erstaunlicher ist, weicht doch Zesen darin entschieden von seinem immerhin verehrten Vorgänger ab – von der Verantwortung der Dichter den Komponisten gegenüber. 3 Dichtung scheint also für Zesen nicht nur dazu –––––––––

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Zesen SW I/1, 35–200 (Von Fürstenau FrühlingsLust oder Lob- und Liebes-Lieder). Weitere Gedichte bzw. Gedichtsammlungen mit Musik sind: Filip Zesens Gekreutzigter Liebsflammen oder Geistlicher Gedichte Vorschmak. Hamburg 1653 (Zesen SW I/2, 1–62), Salomons / des Ebreischen Königes / Geistliche Wohl-lust oder Hohes Lied; Jn Palmen- oder dattel-reimen / mit bei-gefügten neuen / vom fürtreflichen J. Schopen gesetzten Sang-weisen […]. Amsterdam 1657 (Zesen SW I/2, 85–194), Filip von Zesen Andächtiger Lehr-Gesänge von Kristus Nachfolgung und Verachtung aller eitelkeiten der Welt / erstes Mandel / aus dem Seeligen Tohmas von Kempis gereimet / und mit anmuhtigen sangweisen gezieret durch Malachias Siebenhaaren […]. Magdeburg 1675 (Zesen SW I/2, 283–368), Dichterisches Rosen- und Liljentahl / mit mancherlei Loblust-schertz-leid- und freuden-liedern gezieret. Hamburg 1670 (Zesen SW II). Die verschiedenen Fassungen des Deutschen Helicons, den Zesen zu seinen Lebzeiten viermal in Druck gab (Wittenberg 1640, Wittenberg ²1641, Wittenberg ³1649, Jena 41656), sind ediert in Zesen SW IX, X/1 u. X/2. Im Kapitel Von art / maß und zugehör der Deutschen Verse weist Zesen in den frühen Ausgaben des Helicons (1640 u. ²1641) auf einen Irrtum mancher Komponisten hin, die „den Singe-toon (accentum melitum) auff die sylbe [setzen] / da der verß-accent (accentus metricus) nicht steht.“ Doch sei oft nicht ihnen „die schuld beyzumessen / sondern dem

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Elisabeth Rothmund

bestimmt zu sein, innerhalb eines erlesenen Gelehrtenkreises gelesen zu werden. Sie soll sich vielmehr auch – in welchem Maße und unter welchen Bedingungen auch immer – zu einer musikalischen Darbietung eignen. Nicht von ungefähr werden in den späteren Ausgaben des Helicons sowohl die „Tantzkunst“ als auch die „singekunst“ als „der Dichterei Schwester[n]“ bezeichnet.4 Spricht man aber von musikalischen Elementen in Zesens Theorie der Lyrik, müssen diese zunächst genauer definiert werden. Vereinfachend lassen sich hier drei Hauptbereiche unterscheiden: der Klang, der Rhythmus und die allgemeine Sangbarkeit des Gedichts. Der Klang, im Sinne der Klangfarbe, aber auch der Alliterationen, Assonanzen und sonstiger Klangphänomene und Klangeffekte, ist sicherlich ein äußerst wichtiges Element bei Zesen, der etwa dem Reim, aber auch dem Echo großen Wert beimisst. Jedoch scheint seine Einstellung zum Klang, wie Renate Weber in ihrer Untersuchung zur Klanganalogie in Zesens Liedern nachgewiesen hat, 5 vielmehr sprachphilosophisch als streng musikalisch begründet zu sein. Neben der Lust am Wort als Klangmaterie, die u. a. auf die noch relativ junge Entdeckung des Deutschen als Dichtungssprache zurückzuführen ist, deren Möglichkeiten man noch lange nicht erschöpft hatte, war für Zesen die Überzeugung bestimmend, die Gleichlautung stelle zwischen verschiedenen Wörtern analogistische Beziehungen her. Zesen erkennt in der deutschen Sprache eine onomatopoetische Dimension; darin sieht er eine natürliche Eigenschaft dieser Sprache, wodurch sie auf das tiefe Wesen der Dinge verweisen könne – sozusagen über das Logisch-Begriffliche hinaus. Aufgabe des Dichters sei es, mit Hilfe von Lautanalogien, die Zesen als Mittel und Ausdruck eines naturanalogen Ordnungsprinzips begreift, der Sprache verborgene, jedoch naturgemäße Beziehungen wiederherzustellen. Obwohl rein ästhetische Momente nicht auszuschließen sind und die Freude an den schier unerschöpflichen klanglichen Möglichkeiten der Sprache manchmal nicht zu übersehen ist, wären Zesens Klangexperimente somit nie Selbstzweck, sondern meistenteils als Versuch zu werten, mit der dichterischen Sprache andere, tiefere Bedeutungszusammenhänge zu erschließen oder wieder erkenntlich zu machen. Grundlage für diese Auffassung sei, so Weber, Zesens Sprachphilosophie, die jedoch noch einer näheren Untersuchung bedarf, vor allem in Bezug auf ihr Verhältnis zu anderen Sprachphilosophien der damaligen Zeit. Deswegen wird hier auf eine Berücksichtigung der rein klanglicher Phänomene verzichtet, dafür aber auf Rhythmus –––––––––

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Verßmacher / der den accent und toon der wort nicht in acht genommen. Derhalben ist die Deutsche Poesie den Capellmeistern und Componisten auch hoch von nöthen / daß sie hernach nicht den Sing-accent anders setzen als die Natur des Verses und der toon der worte erfordert: muß also ein trochäisch Vers auff lautern reinen Trochäis / und ein Jambischer auff lautern reinen Jambis bestehen / welches die Componisten auch wissen und in acht nehmen sollen.“ (Zesen SW IX, 26–27). Zesen SW X/1, 182. Renate Weber: Die Lieder Philipp von Zesens. (Diss.) Hamburg 1961, und daraus: dies.: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen (1619–1669). Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 156–181.

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und Sangbarkeit fokussiert: zum einen aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen beiden Aspekten, zum anderen weil Zesen in seinen dichtungstheoretischen Werken hier einen ganz besonderen Weg zu gehen scheint. Der Rhythmus ist in erster Linie Sache der Metrik, obwohl beide Begriffe bzw. beide Bereiche nicht deckungsgleich sind. Kernpunkt von Zesens diesbezüglichen Ausführungen sind der Stellenwert von dreisilbigen Metren in der deutschen Lyrik sowie die sich aus ihrer Legitimierung ergebenden Folgen: die Entwicklung rein daktylischer oder anapästischer Verse und Gedichte, und die Einführung von „vermischten Versarten“, d. h. von Versen, in denen sich verschiedene Metren – zwei- und dreisilbige – abwechseln. Rhythmisch-metrische Überlegungen gehen also in der Regel vom einzelnen Vers aus und erstrecken sich dann auf die rhythmische Architektonik der gesamten Strophe oder des gesamten Gedichts. Bei der Frage der Sangbarkeit steht dagegen eher die Bestimmung des Gedichts als Ganzes im Vordergrund. Wiederum recht schematisch lässt sich dieser Aspekt auf folgende Fragestellungen reduzieren: In welchem Maße muss ein Gedicht auch gesungen werden können? Entwickelt Zesen hier eine andere Auffassung der Dichtung – zumindest der Lyrik – als seine Vorgänger Opitz und Buchner, und lassen sich bei ihm zwei verschiedene Dichtungssorten ausmachen, eine, die als reine Schriftkunst ausschließlich für die Lektüre bestimmt wäre und eine, die erst im Zusammenwirken mit der Musik zur vollen Entfaltung gelange? Aus praktischen Gründen beschränke ich mich auf Zesens streng normative Schriften, in erster Linie also auf die vier Fassungen des Helicons. Nach einer kurzen Darstellung der hier erwähnten Phänomene Rhythmus und Sangbarkeit sollen sie auf ihren Ursprung und ihre Bedeutung hin gefragt werden: Welches waren die möglichen Quellen, Vorbilder und Autoritäten, auf die sich Zesen bezieht, und welches mag seine Motivation gewesen sein in dieser für die Kunstdichtung doch recht eigentümlichen Verbindung von gelehrter Dichtkunst und – zumindest potentieller – musikalischer Ausführung? Ausgangspunkt von Zesens rhythmischen Überlegungen ist der Daktylus. Zwar ist er weder der Erfinder, noch der erste Theoretiker dieses Versmaßes – das war bekanntlich sein Lehrer August Buchner. Buchner, der seit 1616 den Wittenberger Lehrstuhl für Poesie und Poetik innehatte, hatte sich bereits in den 1630er Jahren mit diesem Problem auseinandergesetzt, doch aus Rücksicht auf die Fruchtbringende Gesellschaft, die damals tonangebende und wohl auch wichtigste Sprachgesellschaft, und dessen Oberhaupt Fürst Ludwig von AnhaltKöthen, musste er von der Veröffentlichung seiner bereits 1638 abgeschlossenen Poetik zunächst absehen. 6 So kann Zesen als der erste gelten, der sowohl ––––––––– 6

Vgl. Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik im 17. Jahrhundert. In: Zesen (Anm. 5), S. 193–220. Buchners „zur Zeit fast verborgene / doch vortreffliche edle Prosodie […] / bey welchem [er] das erste von Dactylischen versen gelesen“, ist im Helicon (1640/41) erwähnt (Zesen SW IX, 35). Buchners Poetik erschien postum (1665) unter dem Titel Anleitung zur Deutschen Poeterey; vgl. die Neuausgabe, hg. v. Marian Szyrocki. Tübingen r1966.

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den Gebrauch der dreisilbigen Versmaße als auch die ersten poetologischen Überlegungen dazu durch den Druck verbreitete. 7 Durch die Formulierung des alternierend-akzentuierenden Prinzips hatte Martin Opitz 1624 der deutschsprachigen Lyrik ein erstes rhythmisches Gerüst gegeben, das zwar der deutschen Dichtung ermöglichte, sich erstmals auf das Niveau der anderen europäischen Nationalliteraturen zu heben, jedoch vorerst nur zweisilbige Metren zuließ: Jamben und Trochäen. 8 Der Daktylus wird bei Opitz lediglich in Ausnahmefällen geduldet, womöglich nur – so die Vermutung von Ulrich Maché 9 – in der sapphischen Ode, in deren trochäischen Versen vereinzelte Daktylen anzutreffen sind. Folglich ist auch für den Schlesier die sapphische Ode die einzige Gedichtform, die den Gebrauch von „vermischten Versarten“ erlaubt. Buchner und vor allem Zesen gehen in zweifacher Hinsicht einen Schritt weiter, indem sie einerseits rein daktylische (oder anapästische) Verse und Gedichte möglich machen, andererseits durch die Entwicklung weiterer „vermischter Versarten“ nach dem Vorbild der sapphischen Verse. In beiden Fällen lässt sich ein sehr enger Zusammenhang mit der Musik feststellen, sowohl der gesungenen als auch der getanzten. August Buchner war wohl der erste Barockdichter, der daktylische Verse überhaupt verwendete und drucken ließ. In den 1630er Jahren griff er mindestens zweimal auf dieses Versmaß zurück, zunächst 1636 im Rahmen einer geistlichen Kantate zum Namenstag der sächsischen Kurfürstin (Die Bußfertige Magdalena), dann zwei Jahre später im Libretto des Balletts Orpheus und Euridice, das anlässlich der Hochzeit des sächsischen Kurprinzen aufgeführt ––––––––– 7

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Vereinzelte Beispiele von daktylischen Texten hatte es zwar bereits unmittelbar vor Zesens ersten Veröffentlichungen gegeben: August Buchners Kantaten-Libretto Die Bußfertige Magdalena (mit daktylischem Schlusschor) wurde, wenn auch anonym, 1636 veröffentlicht und Christian Brehmes Gedichtsammlung aus dem Jahr 1637 enthält ebenfalls einige daktylische Texte – kein Wunder, da Brehme Anfang der 1630er Jahre in Wittenberg studierte und dort auch Buchners Vorlesungen besuchte. Zesen bietet jedoch als erster im Rahmen eines gedruckten normativen Werks eine gründliche theoretische Auseinandersetzung mit den dreisilbigen Metren, für die er auch systematisch angelegte Beispiele gibt. Zu Buchner siehe Judith P. Aikin: Heinrich Schütz’ Die Bußfertige Magdalena (1636). In: SchützJahrbuch 14 (1992), S. 9–24 (darin Faksim. Nachdruck des Textes S. 17–24) und dies.: August Buchners Die Bußfertige Magdalena (1636). In: Daphnis 22 (1993), S. 1–26 (darin Neudruck des Textes S. 17–26). Zu Brehme siehe: Christian Brehme: Allerhandt Lustige / Trawrige / und nach gelegenheit der Zeit vorgekommene GEDJCHTE. Zu Passierung der Weyle mit dero Melodeyen mehrentheils auffgesatzt. Hg. v. Anthony J. Harper. r(Leipzig 1637) Tübingen 1994. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 51f. (Kap. 7). Maché (Anm. 6), S. 200f. Bei Opitz wird jedoch der Daktylus, der „gleichwol auch kan geduldet werden / wenn er mit vnterscheide gesatzt wird“ (Opitz [Anm. 8], S. 52), nicht explizit in Zusammenhang mit der Sapphischen Ode gebracht, an deren metrische Zusammenstellung Opitz nicht einmal erinnert. Daktylen gibt es dort an 3. Stelle der langen trochäischen Verse (í ‰ | í ‰ | í ‰ ‰ | í ‰ | í ‰) sowie an erster Stelle des Adoneus, des kurzen Schlussverses (í ‰ ‰ | í ‰). Der von Opitz gemeinte „Unterscheid“ bezieht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf daktylische Wörter: Seine Ausführungen folgen auf ein Kommentar über das Verb „obsiegen“, in welchem Opitz einen Daktylus erkennt.

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wurde. 10 Beide Texte, die im Hinblick auf eine Vertonung verfasst wurden, entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten und damals kurfürstlich-sächsischen Kapellmeisters Heinrich Schütz, auf den sich Buchner interessanterweise 1639 in einem Brief an das Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft beruft, um den Gebrauch des Daktylus aufgrund von dessen musikalischer Eignung zu verteidigen: „Es könne kaum einige andere art Deütscher Reime mit besserer und anmuthigerer manier in die Musick gesetzt werden, alß eben diese Dactylische“ – so wird der Musiker zitiert. Deswegen habe sich Buchner auf ausdrückliche Anfrage des Komponisten hin im Schlusschor seines Librettos für dieses Versmaß entschieden. 11 War er in seiner geistlichen Kantate noch recht vorsichtig geblieben (in den vierzeiligen Strophen verwendete er ausschließlich vierhebige daktylische Verse mit Auftakt: ‰ | í ‰ ‰ | í ‰ ‰ | í ‰ ‰ | í ‰), so erweist er sich im Ballett-Textbuch als deutlich kühner und erfindungsreicher: Die komplexe Strophenform lässt unterschiedlich lange Verse miteinander alternieren, trochäische und daktylische, mit und ohne Auftakt; mit Ausnahme des Adoneus, der jedoch nichts anderes ist als ein katalektischer daktylischer Kurzvers, sind „vermischte Versarten“ allerdings nicht vertreten. In beiden Fällen, in der geistlichen wie in der weltlichen Dichtung, handelt es sich um den Schlusschor, d. h. um fröhliche Begebenheiten, um Freudengesang und Glückwunsch. ––––––––– 10

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Der anonym gedruckte Kantatentext wurde vor einigen Jahren von Judith P. Aikin wiederaufgefunden und auf überzeugende Weise August Buchner zugeschrieben (vgl. Anm. 7). Ein von Buchner in Erwägung gezogener Druck des Textbuches zum Ballett Orpheus und Euridice kam jedoch nie zustande. Das Werk ist handschriftlich erhalten: Ballet / Bey Churfürst Johann Georgen des Andern gehaltenen Beylager […] (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Schönbergische Sammlung Nr. 54, Bl. 225–245b) und wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben wiederabgedruckt: Ballet bey Churf. Johann Georgen des Andern gehaltenem Beylager / Von dem Orpheo und der Euridice / 20. Nov. 1638 zu Gotha gehalten […]. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst 2 (1855), S. 13–39. Für eine detaillierte Analyse dieser Werke, siehe auch Judith P. Aikin: A Language for German Opera: the Development of Forms and Formulas for Recitative and Aria in SeventeenthCentury German Libretti. Wiesbaden 2002, sowie Vf.: Heinrich Schütz (1585–1672). Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. Bern 2004. „Die Dactylisches gesänge belangende, werden E. F. G. mihr gnedig erleüben nur dieses anietzt zu gedencken, daß der berühmete Musicus Herr Henrich Schütze Churfürstl. Durchl: zu Sachsen Cappelmeister […] gegen mihr sich vernenehmen lassen, es könne kaum einige andere art Deütscher Reime, mit besserer und anmuthigerer manier in die Musick gesetzt werden, alß eben diese Dactylische. Derowegen er auch bey Einrichtung der Poesie zu dem Ballet vom Orpheo, daß nunmehr gleich fur eim jahre bey dem Fürstl: Beylager Jhr &c. Durchl: deß Chur Princens zu Sachsen gehalten […] mich sonderlich gebeten, dahin bedacht zu sein, damit daß freudengeschrei und Glückwunschung bey schließung desselben ia in dergleichen art möchte gebracht werden, welches ich auch gethan, maßen E. F. G. auß beygefügten Copien genedig zu ersehen hatt. Und ist fast männigliches urtheil dahin gangen, daß dieses (wie wol an den versen, daß ich gar willig bekenne, nichts däugliches ist) in der Musick zum besten gefallen.“ Brief vom 19. Nov. 1639. In: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Hg. v. Gottlieb Krause. Leipzig 1855, S. 228–230.

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Die ersten Fassungen des Helicons (1640 und 1641), die unmittelbar nach diesen Experimenten entstanden, muten wie der Versuch an, das von Buchner Erprobte erstmals theoretisch zu erfassen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anfangs noch etwas zögerlich und skizzenhaft dargestellt, wird diese Theoretisierung in den späteren, überarbeiteten Ausgaben (1649 und 1656) vervollständigt. 12 Zunächst wird der Gebrauch des Daktylus – in Form von daktylischen Versen oder Gedichten – gefördert und vor allem „bey hochzeiten und andern fröhlichen dingen“ empfohlen 13 – was beiden BuchnerBeispielen durchaus entspricht. Bei ernsthafteren, z. B. auch bei geistlichen Themen wird aber dieses Versmaß keineswegs ausgeschlossen. 14 Neben Buchners anonym erschienenem Kantatentext hatte ja Zesen bereits in seiner Umdichtung des Hohen Liedes in daktylischen und anapästischen Versen, die ab 1641 dem Helicon beigefügt wird, ein Beispiel dafür gegeben. 15 Die Nähe mancher Strophenformen zu Buchners ersten Versuchen ist unverkennbar – sowohl in der Abwechslung von langen und kürzen Versen als auch in rein daktylischen Vierzeilern. Gefordert wird ebenfalls die Abwechslung von Daktylen und Anapästen, also von daktylischen Versen mit und ohne Auftakt, 16 genauso wie es Buchner in der Schlussstrophe zum Ballett vorgemacht hatte. Dann bespricht Zesen allerdings etwas, das in dieser Form in Buchners Texten nicht vorkommt und vor dem Hintergrund der opitzschen Poetik eigentlich nur als Verstoß gegen alle Regeln der Metrik gelten müsste, obwohl es neben der Legitimierung der dreisilbigen Metren – und nicht mehr der bloßen Tolerierung von daktylischen Einzelwörtern – eine der wichtigsten Neuerungen von Zesens Poetik darstellt. Es handelt sich um die vermischten Versarten, Verse, „in welchen ––––––––– 12

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Zesen darf hier nicht als Einzelgänger betrachtet werden, sondern muss in einen breiteren Kontext eingebettet werden. Seine Poetik nährte sich aus den Überlegungen anderer Dichter und Theoretiker: Neben Buchner wäre hier auch Martin Rinckart zu nennen, auf den sich Zesen zwar erst in den späteren Ausgaben des Helicons, also nach der Veröffentlichung von Rinckarts Summarischem Discurs (1645), bezieht, der aber möglicherweise schon viel früher eine Rolle in Zesens Denken gespielt hat und vielleicht sogar in persönlichem Kontakt mit ihm stand. Rinckarts Poetik war bereits 1639 angekündigt worden, in den Jahren also, in denen Zesens Helicon entstand. Vgl. auch Gary C. Thomas: Dance Music and the Origins of the Dactylic Meter. In: Daphnis 16 (1987), S. 107–146. Nachdem Zesen Buchner als „Erfinder“ des Daktylus dargestellt hat, wundert er sich darüber, dass dieses Versmaß noch keine breite Verwendung gefunden hat: „Nun wunderts mich nicht wenig / daß sich niemand unterwindet / dieser Art Verse weiter auszuarbeiten / in dem sie nicht weniger Anmuth mit ihrer so flüchtigen liebligkeit den Ohren erwecken als etwan andere / wo sie nur recht ausgemacht und zu rechter zeit gebraucht werden / denn bey Begräbnüssen haben sie schon solche anmuth nicht / als bey Hochzeiten und andern frölichen dingen / es sey denn sache / daß ich des Verstorbenen Freunde trösten und die übergroße Lust der Himmlischen Bürgerschafft / dahin es durch den zeitlichen Todt versetzt / ihnen vorbilden und beschreiben wollte / so könten sie etlicher maßen vergönnet werden.“ (Zesen SW IX, 35). Dies allerdings erst in den späteren Fassungen (1649 u. 1656), vgl. Zesen SW X/2, 575f. Zesen SW IX, 355–388 (Salomons Des Hebräischen Königs Geistliche Wollust / oder Hohes Lied / In Dactylische Verse gebracht / von Phil. Cös). Zesen SW IX, 37f., Beispiel 38.

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bald Jambische, bald Trochäische, bald daktylische pedes mit untergemischet werden“. 17 Sie werden, zumindest in der Frühfassung des Helicons, zunächst über den Umweg der sapphischen Ode erwähnt, mit dem Argument, die sapphischen Verse wären, „wenn wier selbige im Abmessen recht betrachten, auch nur vermischte Verse“. 18 Nach ihrem Vorbild lassen sich ähnliche, bald längere, bald kürzere Verse bilden, die sich, wie Zesen hinzufügt, „zu den Gesängen gar wohl schicken“. 19 Auf den ersten Blick scheint also die antike Form die Rechtfertigung für eine metrische Revolution zu liefern, deren Ursprung jedoch im wesentlichen anderer – im weitesten Sinne des Wortes: rhythmisch-musikalischer – Natur ist. In Opitz’ Poeterey hatte in der Tat die sapphische Ode als eine der seltenen gesungenen Gedichtformen Eingang gefunden, die der Schlesier in seiner Poetik zulässt. Doch tat er das vor allem in Anlehnung an Ronsard. 20 Der Autorität der antiken Form und des französischen Renaissance-Dichters maß er als Bezugsgrößen vermutlich mehr Bedeutung bei, als dass er in erster Linie vom metrischen oder vom rhythmischen Standpunkt über diese Form reflektiert hätte, wie das bei Zesen eindeutig der Fall ist. Bezeichnenderweise gibt Opitz zu, niemals solche Oden verfasst zu haben, und die französischen Beispiele lässt er als einzige in der ganzen Poeterey unübersetzt. Auch die metrischen Besonderheiten der sapphischen Ode sind ihm keines Kommentars würdig. Ursache für diese geringe Achtung sind einerseits die in seinen Augen unregelmäßigen Verse, andererseits der Bezug zum Gesang, dem Opitz nie große Aufmerksamkeit geschenkt hat, unter anderem weil dieser Aspekt der Dichtung seinem kulturpolitischen Anliegen wenig dienlich sein konnte. 21 Nimmt nun Zesen Opitz’ Bezug auf Ronsard fast wörtlich wieder auf, 22 so besteht doch kein Zweifel darüber, dass seine Überlegung anders motiviert ist und ihren Ursprung wenn nicht in tatsächlichen Vertonungen, so doch zumindest in der genauen Beobachtung musikalischer Phänomene hat. Geht es ihm vordergründig darum, sich als Nachfolger von Opitz zu profilieren und auf allgemein ––––––––– 17 18 19 20

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Zesen SW IX, 40 u. X/1, 135ff. Zesen SW IX, 40. Ebd. „Die Saphischen gesänge belangendt / bin ich des Ronsardts meinung / das sie / in vnseren sprachen sonderlich / nimmermehr können angeneme sein / wann sie nicht mit lebendigen stimmen vnd in musicalische instrumente eingesungen werden / welche das leben vnd die seele der Poeterey sind.“ Opitz (Anm. 8), S. 61. Zur Rolle und Funktion des patriotisch-konfessionellen Moments in Opitz’ Gesamtanliegen in den Jahren 1618–1625, siehe u. a. Klaus Garber: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche „Barock“-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprünge der deutschen Nationalliteratur. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „zweiten Reformation“. Hg. v. Heinz Schilling. Gütersloh 1986, sowie Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001. Zesen SW IX, 38, mit Betonung der Tatsache, dass solche Lieder „in Deutscher Sprache gar keine anmuth haben / wo sie nicht mit lebendigen stimmen in liebliche Musicalische Intrument / welche die Seele der Poesie / eingesungen würden.“ Vgl. auch Zesen SW X/1, 170: „die Saffischen lieder / welche ausserhalb des lebendigen gesanges / und ausserhalb der seiten-spiele / wie alle vermischten ahrten / auch nach Ronsards meinung / weder in der Französischen / noch Welschen / noch unserer sprache / anmuhtig sein können.“

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anerkannte auctoritates zu stützen, so verbirgt sich hinter der scheinbaren Ähnlichkeit des Wortlauts ein zum Teil ganz anders geartetes Dichtungsverständnis. Indem Zesen, wie Opitz und Ronsard vor ihm, im Falle der sapphischen Ode auf die Notwendigkeit des Gesanges oder zumindest einer Instrumentalbegleitung besteht, die es einzig vermöchten, vermischte Verse anmutig klingen zu lassen, erkennt Zesen zwar – vornehmlich in den Frühfassungen seines Regelwerks –, dass solche Verse in ihrer rein schriftlichen, d. h. lautlosen Erscheinung äußerst ungraziös wirken würden. Grund dafür wäre die nach opitzschem Verständnis unregelmäßige metrische Struktur dieser Verse. Davon, dass selbst Zesen sich anfangs von dieser Vorstellung noch nicht ganz zu lösen vermochte, zeugt die Art und Weise, wie er seine ersten Versuche im Bereich der vermischten Verse darstellt: Vom letzten Vers einer jeden Strophe in einem anapästischen Lied, in welchem auf die anfänglichen Daktylen zwei Trochäen folgen (‰ | í ‰ ‰ | í ‰ ‰ | í ‰ | í), sagt er ausdrücklich, ein solcher Vers würde „hinken“. 23 In der Tat hat man, wenn man von rein daktylischen Versen herkommt und sich deren Rhythmus eingeprägt hat, den Eindruck, hier aus dem Takt zu kommen, es sei denn, man verlangsame den Sprachrhythmus unter Beibehaltung eines gleichmäßigen Takts. Der ungewöhnliche Charakter dieser Kombination aus zwei- und dreisilbigen Metren erklärt auch, dass Zesen seiner Erörterung solcher Verse in den Frühfassungen des Helicons die Bemerkung hinzufügt, sie seien „bey uns gar seltzam“. 24 Dennoch versichert er, allerdings ohne dafür eine besondere Erklärung zu liefern, dass der hinkende Eindruck verschwindet, sobald der Text vertont bzw. gesungen wird, d. h. sobald er über den metrischen Rhythmus hinaus in einen musikalischen Rhythmus eingebunden wird. In den späteren Fassungen des Helicons weitet er sogar diese Feststellung, die ursprünglich nur den sapphischen Versen galt, auf alle vermischten Versarten aus, auf diejenigen also, die er nach dem Vorbild der sapphischen Verse in der deutschen Sprache entwickeln wollte und selber schon zumindest ansatzweise praktizierte. Ronsards Feststellung wird somit zum Prinzip erhoben, das – so Zesen – in fast allen Literatursprachen gültig sei. 25 1649 wie 1656 wird jedoch der seltsame bzw. hinkende Charakter solcher Verse mit keinem Wort mehr erwähnt – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass sich die Praxis der vermischten Verse inzwischen eingebürgert hatte. Was hat nun der Nachdruck, mit dem Zesen auf die Notwendigkeit einer musikalischen Gestaltung der vermischten Versarten beharrt, zu bedeuten? Zum ––––––––– 23

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Vgl. das Gegenhüpfende Hochzeitslied / darinnen das letzte Reimband in iedem gesetz hinket. Das Lied war schon in der FrühlingsLust (Anm. 1) enthalten und wurde in die späteren Fassungen des Helicons wiederaufgenommen (Zesen SW X/1, 367ff.). Zesen SW IX, 38. Vgl. Anm. 22. In der Vorrede zu seinen Sapphischen Oden war Ronsard noch radikaler gewesen, indem er behauptete, ohne Musik seien solche Lieder nicht schön; sie seien es nie gewesen und würden es auch niemals sein können (Pierre de Ronsard: Avertissement sur les odes saphiques [1587]. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. XVII/3. Hg. v. Paul Laumonier. Paris 1960, S. 396f.).

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einen weist er darauf hin, dass bis Anfang der 1640er Jahre das glatte Alternieren sich in der reinen Leselyrik durchgesetzt hatte und bestenfalls nur streng geregelte „Freiheiten“ duldete. Damit wird bestätigt, wie rasch sich Opitz’ alternierend-akzentuierendes Prinzip durchgesetzt und alle anderen Alternativen zur Gestaltung des deutschen Verses (darunter den romanisierenden Vers, den z. B. Weckherlin und Hübner verteidigt hatten und Opitz selbst in seinen frühesten Versuchen noch verwendete) innerhalb kürzester Zeit verdrängt hatte. 26 Andererseits ist das Wegfallen jeder Anspielung auf den seltsamen, hinkenden Charakter solcher Verse in den späteren Fassungen des Helicons sicherlich als Zeichen dafür zu deuten, dass sich die Einstellung zur metrischen Gestaltung allmählich gewandelt und Opitz’ streng metrologische Orientierung gelockert hatte. Wenn aber die Musik ansonsten regelwidrige Verse zur Anmut verhilft, und zwar so weit, dass sie trotz scheinbarer metrischer Unregelmäßigkeit kanonwürdig werden, so äußert sich darin ein neues Verständnis der Gebundenheit der Lyrik als oratio ligata: Nicht mehr das Metrum allein im Sinne des Versmaßes gilt (neben dem Reim) als entscheidendes Kriterium, sondern ein musikalisch fundierter Rhythmus im Sinne der Taktart. 27 Genau hierin liegt einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Zesen und seinen Vorgängern Opitz und Buchner. Trotz akzentuierend-alternierenden Prinzips war Opitz dem französischen, silbenzählenden Vorbild zumindest partiell treu geblieben, denn neben dem Metrum wird bei ihm ein Vers vor allem durch die Gesamtanzahl seiner Silben bestimmt: So zählt der deutsche Alexandriner wie der französische zwölf, der deutsche Gemeinvers wie der französische vers commun zehn Silben. Einzig der weibliche Reim hat eine zusätzliche Silbe zur Folge. Daneben gilt als oberstes Gebot die Berücksichtigung der Wortbetonung: Versakzent und Wortakzent dürfen nicht voneinander abweichen. Die Quantität des Vokals sowie die Zeitdauer der einzelnen Silben (zwei Phänomene, die nicht miteinander zu verwechseln sind) spielen bei ihm jedoch keine Rolle. Entscheidend für den opitzschen Vers sind ––––––––– 26

27

Kriterien für diesen nach französischem Vorbild gestalteten Vers sind die feste Silbenanzahl, der festgelegte Platz der Zäsur (nach der sechsten Silbe im Alexandriner, nach der vierten im Gemeinvers) und eine relativ freie Akzentuierung. In seine lateinische Rede zur Verteidigung der deutschen Sprache (Aristarchus, sive de contemptu linguae Teutonicae. Beuthen 1617) hatte Opitz erste Versuche eines deutschen Alexandriners eingefügt – Verse, die er nach eigener Angabe gallico more gedichtet hatte. Eine innovative Interpretation von Hintergrund, Motivierung und möglichen Inspirationsquellen für Opitz’ Übergang zu Betonungsgesetz und glatter Alternierung sowie für deren Erfolg bietet Nicola Kaminski: Ex Bello Ars oder Ursprung der Deutschen Poeterey. Heidelberg 2004. Siehe auch Heinz Entner: Der Weg von der deutschen Poeterey. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Berlin u. Weimar 1984, sowie Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. München 1971. Möglicherweise besteht hier ein näher zu untersuchender Zusammenhang mit der Entwicklung der Musiknotation seit dem Frühbarock, vornehmlich mit der Herausbildung des Akzentstufentakts, der wohl unter dem Einfluss der Betonungsrhythmik damals gebräuchlicher Tänze die antike Quantitätsrhythmik allmählich ersetzte.

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Elisabeth Rothmund

also nur zwei Kriterien: der Ton (oder Akzent) und die Anzahl der Silben. Hier ist nicht der Ort, nach den Gründen für Opitz’ Vorgehensweise zu fragen oder sie gar zu beurteilen; statt dessen soll ein zweifacher Hinweis genügen, zum einen auf die Schwierigkeit der metrischen Gestaltung eines deutschen Verses, der sowohl im Vergleich zur Antike als auch zur europäischen Renaissance wettbewerbsfähig sein sollte, zum anderen auf eine gewichtige Konsequenz des von Opitz gewählten Weges zu einer pragmatischen Lösung des Problems. Denn einerseits bleibt er (mit geringfügigen, sprachlich bedingten Abweichungen) dem silbenzählenden Modell treu, überträgt aber darauf ein besonderes – ebenfalls der deutschen Prosodie angepasstes – Betonungsgesetz; andererseits übernimmt er jedoch für die Bezeichnung der „neuen“ Versmaße die damals einzig bekannte Terminologie, nämlich die antike, und genau darin liegt einer der problematischsten Aspekte seiner Reform: In seiner Benennung beharrt er weiterhin auf einen Längenunterschied, obwohl nicht die Quantität des Vokals oder der Silbe gemeint ist, sondern deren Betonung – zwei Phänomene, die in keinem direkten Verhältnis zueinander stehen. Daraus entstand eine gewisse Undurchschaubarkeit, die den meisten Theoretikern zu schaffen machte. Hier sei stellvertretend auf Buchner verwiesen, dem es spürbar schwer fällt, betonte Silben mit kurzem Vokal explizit als „lang“ zu bezeichnen. 28 Eine der bedeutendsten Folgen von Opitz’ Festhalten an einer von vornherein festgelegten Silbenzahl und der Erhebung des Akzents zum einzigen Unterscheidungsmerkmal ist, dass im Hinblick auf den metrischen Rhythmus alle Silben – unabhängig von der Quantität ihres Vokals und ihrer Stellung im Vers – etwa den gleichen Zeitwert haben. Einzig vor diesem Hintergrund ist der hinkende Charakter von Zesens ersten vermischten Versen zu verstehen. Auch Buchner bleibt dieser Vorstellung treu: Duldet er den Daktylus in einem ansonsten trochäischen Vers, dann nicht, wie im Falle der sapphischen Ode, indem er eine zusätzliche Silbe erlaubt, sondern unter strenger Bewahrung der Silbenanzahl durch Unterbetonung einer normalerweise betonten Silbe. Dies betrifft in der Regel daktylische Wörter mit „schwacher“ Mittelsilbe: í ‰ | í ‰ |í ‰ |í Jn das Himmlische Ge- bäu 29 í ‰ | í ‰ |‰ ‰ |í

Zwar könnte man hier vordergründig von vermischten Arten sprechen und in diesem Vers drei verschiedene Metren erkennen (í ‰ | í ‰ ‰ | ‰ í), doch handelt es sich für Buchner eindeutig um eine Lizenz in einem Vers, dessen Grundmetrum der Trochäus bleibt – ein vergleichbares Phänomen wäre der ebenfalls von Buchner verteidigte Anfangsspondäus in jambischen Versen. Bei Buchner gilt also immer noch die Regel, nach welcher „keine fremde pedes in die Reim-Arten einzumischen“ sind. 30 ––––––––– 28 29 30

Buchner: Poeterey (Anm. 6), S. 113–116 (Kap. 7). Ebd, S. 144. Alle von Buchner hier zitierten Beispiele stammen aus Opitz-Gedichten. Ebd., S. 138–139. Dies erklärt auch, warum Buchner zunächst nur rein daktylische oder anapästische Verse dichtete, die in etwa dem Dreiertakt in der Musik entsprechen: Auch da

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Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik

Übertreten wird sie erst durch Zesen, dessen anscheinend simpler, doch einschneidender Einfall darin besteht, das Metrum gewissermaßen durch den Takt zu ersetzen. Bestimmend ist folglich bei ihm nicht mehr die Gesamtanzahl der Silben bei einem für den gesamten Vers festgelegten Metrum, sondern die Anzahl der Hebungen; dies erlaubt eine – relative – Füllungsfreiheit, die den Takt keineswegs beeinträchtigt. Die betonte Silbe fällt grundsätzlich auf den Takt, der unbetonten Zählzeit entspricht nun eine variable Silbenanzahl. Möglich wird das durch die Einführung eines aus der Musik entlehnten Moments, das im reinen Sprechvers bisher gefehlt hatte, nämlich das des variablen Zeitwerts der einzelnen Silben, genauso wie es in der Musik verschiedene Notenwerte gibt. Als Maßeinheit gilt folglich nicht mehr die Silbe oder das Versmaß, sondern der Versfuß, dem eine ähnliche Bedeutung zukommt wie dem Takt in der Musik: Er bildet nun die kleinste höhere Einheit, zu der mehrere Zählzeiten zusammengefasst werden, denen jeweils unterschiedliche Dauernwerte bzw. Kombinationen von Dauernwerten entsprechen. Oder einfacher formuliert: Das Metrum als regelmäßige Folge von Zählzeiten (nicht mehr von Silben) bildet nunmehr den Rahmen für verschiedenartig realisierbare rhythmische Verläufe. Eine mögliche Vertonung von Zesens „hinkendem“ Vers könnte wie folgt aussehen: /4R|RRR|RRR|IR|I|

3

Es

nah-en die Strahlen je mehr und mehr

‰ | í ‰ ‰

|

í ‰ ‰ | í

‰

| í

Alle betonten Silben fallen auf den Takt, die Hebungen sind somit regelmäßig verteilt, was den hinkenden Eindruck verschwinden lässt, und die Differzenz zu „opitzschen“ Versen besteht lediglich in der von Takt zu Takt unterschiedlichen Silbenanzahl. Alle Takte sind gleich lang, nicht mehr aber alle Silben. Die vorgeschlagene rhythmische Übertragung geht vom Daktylus als Grundmetrum aus und übersetzt ihn in den Dreiertakt; der verringerten Silbenanzahl im Übergang zu den Trochäen entspricht eine Verlängerung des Zeitwertes (eine Halbe statt zwei Viertelnoten). Das Vorherrschen eines dreisilbigen Versmaßes führt aber nicht zwangsläufig zu einem Dreiertakt: entscheidet man sich für einen binären Takt, so hat die überzählige Silbe im dreisilbigen Metrum eine höhere Anzahl an kleineren Notenwerten zur Folge. Möglich wären unter anderem also ebenso folgende rhythmische Übertragungen: /4ŒR|RFF|RFF|RR|I|

2

Es

nah-en die

‰ | í

Strahlen je mehr und mehr

‰ ‰ | í ‰

‰ | í

‰ | í

/2ŒŒŒR|IRR|IRR|II|X|

2

––––––––– sind alle drei Silben gleich lang, der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Hauptakzent auf der ersten liegt, während die zwei weiteren unbetont bleiben.

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Elisabeth Rothmund

Besonders anschauliche Beispiele bieten Zesens Lieder, denen in seinen Sammelbänden die Noten ebenfalls beigedruckt sind. Von besonderem Interesse ist das 1. Lied im 6. Dutzend der Lob-, Lust- und Liebes-lieder aus der FrühlingsLust, dessen Strophen aus achthebigen Versen bestehen, in welchen sich Daktylen und Trochäen abwechseln. 31 Die ersten vier Verse der Strophe sind im Zweiertakt vertont, die letzten zwei im Dreiertakt:

%RFF|RR|RFF|I|I|[…] 3/2III|XI|III|X Tugendreich mein selbst-ei-ge-nes Hert- ze […]

möge ver-gehn durch deinen An-blick

Hier wird deutlich, dass es aufgrund des Zusammenspiels von Zeitwert und Betonung keinen zwingenden oder exklusiven Zusammenhang zwischen Metrum und Taktart gibt. Einem binären Metrum kann durchaus eine ungerade Taktart entsprechen, einem ternären eine gerade. Zesens rhythmisch-metrische Überlegungen wurzeln eindeutig in der damaligen Musikpraxis – doch in welcher? Fasst man seine eigenen – allerdings manchmal kargen – Aussagen mit den Ergebnissen der Forschung zusammen (vornehmlich den Untersuchungen von Gary C. Thomas 32 ), lassen sich drei Hauptquellenbereiche ausmachen: das Kunstlied bzw. die gelehrten, anspruchsvollen Kompositionsformen, die volkstümlichere, autochthone Tradition der Vokalmusik, vornehmlich in der Form des Volks- und Kirchenlieds, und die Tanzmusik. Gelehrte Kompositionsformen wie das Kunstlied waren Zesen aus seiner Zusammenarbeit mit den Musikern bekannt, die seine Gedichte vertonten: Malachias Siebenhaar, Johann Schop, Peter Meier u. a. m. Darüber hinaus deutet aber auch vieles darauf, dass von Buchners Zusammenarbeit mit Heinrich Schütz etwas in Zesens Überlegungen hineingeflossen sein könnte, auch wenn handfeste Beweise dafür fehlen, dass er Schütz’ Vertonung von Buchners ersten daktylischen Versuchen tatsächlich zu Gehör bekam. In der vermischten Versart überträgt nämlich Zesen genau das, was Buchner im Schlusschor des Orpheus-Balletts erprobt hatte: die Aufeinanderfolge von zwei- und dreisilbigen Metren, etwa im Zusammenspiel von adonischen und kurzen trochäischen Versen (í ‰ ‰ | í ‰ || í ‰ | í ‰ | í oder í ‰ | í ‰ | í ||í ‰ ‰ | í ‰ ). Zwar fehlt jede Spur von Schütz’ Komposition, doch bereits Anfang der 1620er Jahre hatte der Musiker – ohne es zu wissen! – bereits vermischte Versarten vertont und möglicherweise auch selbst gedichtet. Der Text einer Trauerode auf den Tod der Herzogin Sophie von Sachsen (1622) weist nämlich eine äußerst interessante Formenvielfalt auf: Es alternieren kurze und lange Verse, mit und ohne Auftakt, und im 1. und 3. Vers jeder Strophe folgen auf einen Anfangsdaktylus drei Trochäen („Grimmige Gruft, so hast du dann…“, – ‰ ‰ | – ‰ | – ‰ | –). Diesen Vers vertonte Schütz wie folgt: –––––––––

31 32

Zesen SW I/1, 175–176. Vgl. Anm. 12.

Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik

D R

FF I

|R I R |R

47

I R |…

Grimmige Gruft, so hast du dann In Rachen dein … 33

Dass es sich hier um vor-opitzsche Dichtung handelt, die zudem nicht aus der Feder eines Berufsdichters stammt, macht dieses Beispiel noch interessanter und lässt erschließen, welchen Hintergrund Buchners Bezugnahme auf den Komponisten in seinem Einsatz zugunsten des Daktylus hatte. Obwohl keinerlei schriftliche Spuren aus der Zusammenarbeit zwischen dem Wittenberger Professor und dem sächsischen Kapellmeister erhalten sind, muss es zwischen beiden höchst fruchtbare Gespräche über Metrik und Rhythmik gegeben haben. 34 Dass nichts davon in Buchners Vorlesungen hineingedrungen sein sollte, ist höchst unwahrscheinlich. 35 Neben der Kunstmusik hat aber auch ganz sicher die deutsche Tradition der volkstümlicheren Vokalmusik eine entscheidende Rolle in Zesens metrischen Überlegungen gespielt. Schien er in den Frühfassungen seines Regelwerks die vermischten Versarten noch ausschließlich aus den sapphischen Oden herzuleiten, fällt in den späteren Ausgaben des Helicons eine deutlich spürbare Verlagerung des argumentatorischen Schwerpunkts auf. Neben den antiken Odenformen und ihren europäischen Renaissance-Entsprechungen, denen wohl nur noch poetologisch legitimierende Funktion zukommt, rücken immer mehr die „alten Kirchenlieder“ in den Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit wird z. B. Luthers Kirchenliedern geschenkt, in denen Jamben und Trochäen aufeinander folgen können. 36 Lieblich, so Zesen, seien solche Freiheiten nur im Gesang, ähnlich wie die vermischten Formen (Gedichte, die aus verschiedenartigen Versen bestehen) „mit Anmut und Lust weder gemacht noch gelesen [würden] / wo man die gesangweise, die ihnen die anmutigkeit erst geben muss / nicht dabei hat und zugleich selbst im aufsetzen und verfassen –––––––––

33

34

35

36

Heinrich Schütz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Bd. 37: Weltliche Lieder und Madrigale. Hg. v. Werner Bittinger. Kassel 1970, S. 4f.: Kläglicher Abschied (SWV 52). Kernpunkt dieser Zusammenarbeit war die Suche nach einer deutschen Entsprechung für den italienischen Madrigalvers – den Vers der Oper, der das Rezitativ möglich machen sollte. Zu dieser Thematik, siehe Aikin: Opera (Anm. 10) und Vf. (Anm. 10). Ähnlichkeiten zu dem von Zesen gegangenen Weg lassen sich u. a. im Werk der Leipziger Dichter der ersten Generation feststellen, die zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch Buchner-Schüler gewesen waren. Zur Leipziger Dichtung siehe u. a. Anthony J. Harper: Schriften zur Lyrik Leipzigs: 1620–1670. Stuttgart 1985. Zum Beispiel Ein feste Burg ist unser Gott: „Diese reim-bände werden des-wegen vermischte genennet / weil sie nicht aus einerlei schritten / wie diejenigen / davon wier bisher gehandelt haben / sondern aus vieler-hand zusammen-gefüget seind. Solche zusammenfügung nuhn geschihet nach des Dicht-meisters will-kühr / oder nach beschaffenheit der Stimme / darnach man bis-weilen seine bände richten wil. Daher kömmt es / daß man dergleichen oftmahls / auch selbst in den uhr-alten liedern / mitten unter die steigende oder fallende gemischet findet / wie aus des hocherleuchten Luters gesange (Ein-feste burg ist unser Got / u. a. m.) klährlich zu sehen.“ (Zesen SW X/1, 135) Sind die ersten vier Verse jambisch, so sind die folgenden „mit fallenden vermischt“: „der alt-böse feind / mit ernst ers itzt meint“ (‰ – | – ‰ | – || ‰ – | – ‰ | – ).

48

Elisabeth Rothmund

mitsinget.“ 37 An anderer Stelle weist er darauf hin, dass bereits alte Kirchenlieder (die meistens im Dreiertakt vertont sind) zumindest teilweise in Daktylen verfasst seien. 38 Von besonderer Bedeutung ist dieser wiederholte Hinweis auf Luther und die alten Kirchenlieder in Bezug auf vermischte Versarten und ihre rhythmisch-musikalische Auflösung in mehrfacher Hinsicht. Zunächst natürlich aufgrund der engen Verbindung zur Musik: Viele dieser Lieder wurden zu bereits vorhandenen Melodien verfasst, und oft handelt es sich dabei um Volkslieder, d. h. um allgemein bekannte Weisen und Rhythmen. Dann aber auch, weil es sich um vor-opitzsche Dichtung handelt, die insofern weniger gekünstelt ist als sie sich eindeutig enger an die Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache – so wie sie „im Naturzustand“ gesprochen wird – anschmiegt. Aus ähnlichen Gründen hatte übrigens Zesen die Stellung des Daktylus im sapphischen Vers geändert und ihn „unserer Sprache Natur und Aussprache wegen“ an den Anfang des Verses verlegt. 39 Als dritte Quelle für Zesens Überlegungen zur rhythmischen Gestaltung von vermischten Versarten muss schließlich der Bereich des Tanzes genannt werden. Es sei hier auf die Arbeit von Gary C. Thomas zur diesem Thema verwiesen, der die Rolle vornehmlich ungeradtaktiger Tänze für die Entwicklung und Durchsetzung dreisilbiger Metren hervorgehoben hat. 40 Dass der Daktylus aufgrund seines Wesens und seiner inneren Struktur etwas Fröhliches, Springendes, Tänzerisches an sich hat, entsprach damals einer weit verbreiteten Vorstellung, zu der nicht zuletzt manche Dichter-Komponisten wie z. B. Johann Hermann Schein oder vor ihm Hans Leo Haßler beigetragen hatten, indem sie Springtänze im Dreiertakt wie die italienische Galliarde (Gagliarda) in Deutschland heimisch werden ließen. Zu den beliebtesten Tanzrhythmen, die rasch auch auf die Vokalmusik übergriffen, gehörte fortan die Verbindung von Daktylus und Trochäus – die ja nichts anderes ist als der Adoneus aus der sapphischen Ode! Auch die Sarabande und die Courante wurden zu beliebten rhythmischen Vorbildern, die im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr in Zusammenhang mit der Dichtung gebracht wurden. 1642 gibt Johann Rist zu, ohne die geringste –––––––––

37

38

39

40

Zesen SW X/2, 587f. Dort werden „uhralte Kirchen-gesänge“ erwähnt, „welche / allem ansähen nach / ihre gesang-weisen meistenteils ehrst gehabt haben / ehe sie der Verfasser gemacht / oder doch zu gleich mit den weisen und stimmen seind verfärtiget und gesetzt worden.“ Daraus zieht Zesen folgenden Schluss: „Hieraus erhellt / daß die vermisch- und verwechselung / sowohl der stuffen und tritte in den reim-bänden / als der reimbände selbst in den liedern / kein neu- aufgebrachtes oder eingedrungenes und gezwungenes werk ist.“ „Wobei zu merken ist / daß die alte Reim-Kunst zwar aus etlichen alten Kirchen-gesängen (da die sang-weise bis weilen fast ganz rollend / das ist / mit dem drei-Schlage / die Lieder aber und reime selbst nicht / als nuhr an etliche orten / gesetzt seind) die lieblich-rollende dattel-ahrt schohn blikken lässet / weil sie die natur selbst darzu anwiese.“ (Zesen SW X/1, 135) Konkrete Beispiele gibt Zesen leider nicht. „Weil aber diese bände mehr gekünstelt als natürlich scheinen / und so anmuhtig nicht klingen wollen / so ist es besser / daß man der natur folget / und den rollenden trit / der sonst die dritte stuffe betrat / oder nach dem durch-schnitte gebraucht ward / unserer sprache natur und aus-sprache wegen / straks foran setzet.“ (Zesen SW X/1, 171) Vgl. Anm. 12.

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Ahnung von Daktylen ein perfektes daktylisches Lied gedichtet zu haben, nur weil er der Melodie einer Sarabande gefolgt sei. 41 Und bereits Anfang der 1630er Jahre betitelte der Danziger Dichter Johannes Plavius ein ebenfalls rein daktylisches Lied ausdrücklich als Courante oder Drähte-Tanz, ohne dass ein tatsächlicher Bezug zu einer konkreten Musik bestanden hätte. 42 Auch bei Zesen wird die enge, beinahe wesensmäßige Verwandtschaft zwischen Dichtung, Vokalmusik und Tanz zum Leitmotiv seiner theoretischen Ausführungen – erkennbar schon an der von ihm gewählten Terminologie: In den späteren Fassungen des Helicons werden im Zuge der von ihm vorgeschlagenen Sprachreform die lateinischen Benennungen durch deutsche ersetzt, so dass statt von Daktylen und Anapästen nunmehr von hüpfenden, gegenhüpfenden, gegenspringenden, zurückhüpfenden und sogar „hinten-aufwertsspringenden“ Tritten die Rede ist. Im Gegensatz zu den Gegnern der dreisilbigen Metren, die sie aufgrund ihrer „springenden“, d. h. tänzerischen Herkunft bestenfalls als vergnüglich und unseriös, meistens aber als gegen Sitte und Moral verstoßend empfanden – in erster Linie weil man sie mit dem Bereich des Körperlichen und Fleischlichen assoziierte – hält Zesen am Postulat einer ästhetischen Überlegenheit der dreisilbigen gegenüber den zweisilbigen Metren fest: Denn wie ein fußgänger bloß von Natur gehen / und ein läuffer ebenmäßig von sich selbst lauffen lernet / der tänzer aber sein zierliches tantzen / nicht allein von der natur / sondern auch aus der Kunst haben und lernen muß; so kann zwar auch mancher mensch / aus eingebung der natur und natürlichem einflüßen / ohne zutuung der kunst des lehrmeisters und unterweisers / bisweilen / in steigenden und fallenden reim-ahrten / aber niemals in der rollenden Dattel- und Palmenahrt / welche mehr kunst erfordert / zum dichtmeister werden. 43

Den Gipfel der Dichtkunst scheinen sogar für Zesen Tanz-Lieder zu bilden, die nach pindarisch anmutender Art zugleich gesungen und getanzt werden und dadurch zusätzlich den Raum ordnen. Kommt solchen „multimedialen“ Darbietungen eher ein Ausnahmestatus zu, scheint Zesen darin doch keine Nachfolger gehabt zu haben, so muss an dieser Stelle wiederum auf seinen vielleicht bedeutendsten Beitrag zur deutschen Metrik hingewiesen werden: ––––––––– 41

42

43

„Denn als mir ungefehr eine lustige Sarabande (welches eine sonderbahre art ist der Frantzösischen Couranten) […] zu Händen kam / und ich einen Text auff selbige fröhliche Melodey zu setzen ward gebeten / befand sich’s / daß nach Verfertigung desselben / ein recht Dactylisch Lied daraus war geworden / unangesehen / ich zu der Zeit noch keinen eintzigen Dactylischen Vers weder gesehen noch etwas davon gehöret hatte.“ (Johann Rist: Himmlische Lieder, Das Dritte Zehn. Lüneburg 1642, ). Wiederabgedruckt in: Danziger Barockdichtung. Hg. v. Heinz Kindermann. Leipzig 1939, S. 58. Für wertvolle Hinweise und Erläuterungen zu den Zusammenhängen zwischen Tanz und Dichtung und der Funktion des Tanzes in deutschen Poetiken des 17. Jahrhunderts sei hier Frau Prof. Dr. Marie-Thérèse Mourey (Université Paris IV-Sorbonne) besonders herzlich gedankt sowie auf ihre im Druck befindliche Habilitationsschrift verwiesen: M.Th. M.: Danser dans le Saint-Empire. Eloquence du corps, discipline des sujets, civilité des mœurs. Paris 2003. Zesen SW X/1, 60.

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Durch ihn erlangt sie erstmals die Möglichkeit, sich auf geregelte Art und Weise auch in der Zeit zu bewegen. Möglicherweise ursächlich mit dieser Vorstellung verbunden sind Zesen Äußerungen zur Prosodie, d. h. zur natürlichen Rhythmik des deutschen Sprachduktus, die am besten in seinen Kommentaren zu den den späteren Ausgaben des Helicons beigefügten Beispielen nachzulesen sind. In diesen Bemerkungen, die oft die Form eines Dialogs mit Martin Rinkart nehmen, hebt Zesen mehrmals hervor, dass ein Vers zwar metrisch korrekt sein kann („für sich selbst sehr wohl gemachet / und läufft nichts darinnen wider die eigenschaft unserer sprache und derselben Reim- und Dichtkunst“), aber dennoch gekünstelt erscheinen und den Eindruck geben könne, „wider die angeborenheit und natur der sprache“ zu gehen, wodurch sie „recht unlieblich, gezwungen und unangenehm“ lauten würden. 44 Ziel des Dichters soll es sein, die „flüssige[n] und der muttersprache selbst flüßende[n] schritte“ in der metrischen Gestaltung seiner Rede wiederzufinden. 45 Indem er verschiedene „gegen-hüpfende“ (d. h. rein anapästische) Verse von Rinkart einer leichten Korrektur unterzieht: ‰‰ í|‰ ‰ í |‰ ‰ í |‰ ‰ í|‰ ie be-kommen, genommen, gedichtet, verrich-tet! 46 ĺ í ‰ |í

‰

‰|í ‰ ‰ | í ‰

‰|í ‰

versucht er sie durch Veränderung der Abmessung dem immanenten Rhythmus der Sprache anzunähern. Noch anschaulicher ist folgendes Beispiel, in welchem Klangfragen ebenfalls eine Rolle spielen: ‰ ‰ í

|‰ ‰ í

|‰ ‰ í

|‰ ‰ í

Was for fleis und for schweis und for mü-gli-chen fleis 47 ĺ í

‰ |í

‰ ‰ | í

‰ ‰ |í ‰ ‰



ĺ ‰

‰ í |

‰ ‰

‰ í |í ‰ ‰



í |

Buchners bereits erwähntes Opitz-Beispiel („Jn das himmlische Gebäu“) hätte Zesen höchst wahrscheinlich als vermischten Vers abgemessen (í ‰ | í ‰ ‰ | ‰ í). Der Rückgriff auf einen musikalisch fundierten Rhythmus im Sinne des Takts erlaubt es ihm, sich so eng wie möglich der wesentlichen Gestalt der deutschen Sprache anzuschmiegen ohne auf die Gebundenheit der Lyrik als oratio ligata zu verzichten – eben weil er auch von der spracheigenen Rhythmik her argumentiert. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, dass Zesen, statt die Sprache in einen rigide festgelegten metrischen Rahmen einzuzwängen, den metrischen Rahmen neu modelliert, indem er ihn an der der deutschen Sprache innewohnenden Rhythmik orientiert. Besonders raffiniert ist dabei, dass es ihm ––––––––– 44 45 46 47

Zesen SW X/2, 572f. Ebd. Ebd., 573. Ebd., 572 u. 574.

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gelingt, eine – relative – normative Kontinuität mit seinen Vorgängern aufrechtzuerhalten. Indem er den Umweg über die musikalische Rhythmik mit seiner eigenen Sprachauffassung und Sprachphilosophie kombiniert, vermag es Zesen, sich aus den Zwängen des von Opitz auf der Basis der antiken und neulateinischen Metrik entwickelten Systems zu befreien, das der neueren Dichtung zwar den entscheidenden Impuls gegeben hatte, aufgrund seiner angeborenen, situationsbedingten Unvollkommenheit jedoch nur eine transitorische Lösung darstellen konnte. Ausschlaggebend für diesen Fortschritt war ohne Zweifel die Zusammenführung zweier voneinander weit entfernten Traditionen – einer antik-gelehrten und einer der Musik verpflichteten einheimisch-volkstümlichen. Ähnliches lässt sich beim Sonett feststellen – einer Form, die doch wenig Spielraum zu bieten scheint –, was uns zur Frage nach der Sangbarkeit des Gedichts zurückführt, diesmal allerdings nicht im Hinblick auf den Rhythmus des einzelnen Verses sondern auf die Architektonik des Gedichts als Ganzes. Ab der zweiten Fassung des Helicons (1641) fügte Zesen seinem Regelwerk eine kleine theoretische Schrift bei, die gemeinhin als Traktat über das Enjambement im Sonett bekannt ist 48 und an der sich die anfangs gestellte Frage nach der prinzipiellen Sangbarkeit eines jeden Gedichts exemplarisch untersuchen lässt. Mehr als um das Enjambement zwischen dem achten und neunten Vers, d. h. zwischen beiden Hauptteilen des Sonetts, geht es Zesen um die innere Strukturierung dieser Gedichtform. Hier konkurrieren zwei unterschiedliche Standpunkte, je nachdem, ob man im Sonett eine einfache, epigrammatisch angelegte Form erkennt – ein Sinn-Gedicht – oder eine komplexe Form, die wie das gemeine Lied oder die Ode einen strophischen Aufbau aufweist. Bestehe man darauf, das Sonett zu singen, so lasse sich aufgrund der Anzahl der Verse und der Reimanordnung nur eine Strophenform auf das Sonett übertragen: die triadisch aufgebaute pindarische Ode, in welcher auf die Strophe und die baugleiche Antistrophe eine anders beschaffene Epode folgt. Obwohl Zesen nicht dazu rät, das Sonett als Sing-Gedicht aufzufassen, gibt er verschiedene Beispiele pindarisch angelegter Sonette, in welchen die Vierzeiler jeweils Strophe und Antistrophe – oder Satz und Gegensatz –, der Sechszeiler die Epode oder den Abgesang bilden. In diesem Fall sei das Sonett „den Gesätzen und Regeln der Oden und Gesängen […] unterworffen / in welchen man sonderliche Strophen machen / und zwar in jede eine gantze vollkommene meinung bringen muß.“ 49 Anders gesagt muss jede Strophe auch eine syntaktische Einheit bilden, da sie auch in musikalischrhythmischer Hinsicht ein geschlossenes Ganzes darstellt. Fasst man dagegen im Sinne des Konzeptismus das Sonett als Epigramm auf, so fällt der Zwang der Zerstückelung weg und das Enjambement wird zulässig. –––––––––

48

49

Zesen SW IX, 243–520 [recte: 250]; Zesen SW X/2, 717–726 (Ph. Caesij Erörterung Der bißher streitigen Frage / Ob in den Sonneten die meinung sich je und allwege mit dem achten Verse enden / oder ob sie sich in folgenden sechs letzten verse erstrecken soll? Wittenberg / den 19. Aprilis Im Jahre 1641). Zesen SW IX, 245.

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Trotz aller Experimentierlust vertritt Zesen im Bereich des Sonetts jedoch einen traditionalistischen Standpunkt: Für ihn ist es definitiv kein Lied, sondern eindeutig „ein Epigramma oder überschrifft“. 50 Und dennoch kommt seiner kleinen Schrift eine ganz besondere Bedeutung zu, zunächst wegen der darin behandelten Frage, deren Ursprung wohl nie restlos aufzuklären ist. Wie und warum Zesen auf den Gedanken kam, das Sonett könne auf der Grundlage seiner Form auch gesungen werden, bleibt rätselhaft – es sei denn, es handelt sich bei ihm um eine grundsätzliche Frage. 51 Andererseits gewährt uns aber der Traktat einen interessanten Einblick in Zesens Einstellung zur Musik und zu autochthonen Gesangstraditionen. Wie schon bei der sapphischen Ode hat man nämlich auch hier den Eindruck, dass der Bezug auf eine antike Odenform – die in ihrer frühneuzeitlichen Prägung zudem kaum noch gesungen wurde und sich von ihrer ursprünglichen Bestimmung weitgehend verabschiedet hatte – lediglich zur Legitimierung des Experiments dienen soll. Was sich hinter dem pindarischen Sonett verbirgt, ist nämlich nicht so sehr die pindarische Ode als vielmehr die Meistersangstrophe, in der einem aus zwei gleich gebauten Stollen bestehenden Aufgesang ein anders beschaffener Abgesang folgt. 52 Einzeln sind die Stollen kürzer, zusammen aber länger als dieser – was dem Verhältnis von Acht- und Sechszeiler im Sonett entspricht. Auch die von Zesen gebrauchten deutschen Termini, die alle auf den Meistersang zurückzuführen sind, verraten seine Kenntnis der Stollenstrophe. Auf den ersten Blick könnte man aus diesem Traktat schließen, dass wir es bei Zesen also doch mit zwei voneinander getrennten Auffassungen der Lyrik zu tun haben: Einer, die man, dem emblematischen Denken verpflichtet, als begrifflich-visuelle bezeichnen könnte, wofür stellvertretend das epigrammatisch angelegte Sonett ein treffendes Beispiel wäre, und einer, in welcher die akustische, klanglich wie rhythmisch bedingte Wahrnehmung entscheidend wäre – ein gutes Beispiel wäre hier sicherlich das Meien-Lied; 53 einer gelehrt-intellektuellen und fürs stille Lesen bestimmten Dichtung und einer musikalisch-rhythmischen, die zumindest potentiell für die Vertonung und den gesungenen Vortrag bestimmt wäre bzw. aus dieser virtuellen musikalischen Gestaltung entstehen würde. 54 Doch so scharf voneinander getrennt wie in diesem besonderen Fall des Sonetts sind beide Auffassungen nicht. An zahlreichen Stellen des Helicons lässt sich nämlich feststellen, wie Zesen unmerklich von der einen Vorstellung in die andere hinübergleitet. Ein Beispiel nur: seine Äußerungen zur Zäsur und zum Reim bzw. zum Versende, die grundsätzlich ––––––––– 50 51

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Ebd. Er selbst gibt in seiner ganzen Produktion kein einziges Beispiel eines tatsächlich vertonten pindarischen Sonetts. Die einzigen vertonten Sonette wurden alle durchkomponiert. Auf diese Ähnlichkeit weist schon Thomas (Anm. 12) hin. Meien-Lied der Römischen Keiserlichen / wie auch zu Hungern und Böhmen Königlichen Majestät / Der Allerdurchleuchtigsten Eleonoren / seiner Allergnädigsten Keiserin und Frauen am ersten Mäi-tage des 1653 jahres / aus alleruntertähnigster schuldigkeit gewidmet durch F. von Zesen; Zesen SW I/2, 63–69. Vgl. auch Anm. 37.

Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik

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rhythmisch bedingt sind. Da in beiden Fällen eine kurze Pause – ein Atemholen – erfolgt und somit ein Abschnitt im Vortrag abgeschlossen wird, muss der Dichter darauf bedacht sein, an dieser Stelle kein Wort zu zerteilen, „es sey denn dass man bisweilen etwas durch eine sonderliche Emphasin desto deutlicher ausdrücken wollte.“ Die von ihm angeführten Beispiele für ein solches Enjambement, entweder innerhalb des Verses (über die Zäsur hinaus) oder von einem Vers zum andern, sprechen für sich: Wie sehr der Jaspis prangt / wie sehr Sapphir pravieret Wenn er mit gold’ ist ein-gefasset und gezieret […]

oder: Wie hat so bald der Todt des Lebens faden abGeschnitten dir, o Freund! Dass du ins kalte Grab So balde von uns weichst? 55

Auch in der perfektesten Strophenform lassen sich solche Verse nur schwer singen – es sei denn, es bestehe hier eine besondere Intention des Komponisten oder des Sängers! Alle hier besprochenen Phänomene und Beispiele zeugen von einer ganz besonderen Eigenschaft von Zesens Einstellung zur Lyrik, die auch in seine Theorie Eingang gefunden hat: dem Willen zur Zusammenführung äußerst unterschiedlicher Traditionen und Vorstellungen. Vor dem Hintergrund eines sprachphilosophischen Denkens, das sich im Falle der normativen Poetik nur schwer rekonstruieren lässt, sind das vor allem die anspruchsvolle Kunstdichtung, so wie sie über Opitz aus dem Denken von Späthumanismus und Renaissance entstanden war, und die Welt der musikalischen Praxis, die sowohl die gelehrte Kunstmusik als auch die volkstümlichere einheimische Lied- und Tanztradition einschließt – die Opitz mit keinem Wort erwähnt hatte. Vergleichbares lässt sich, wenn überhaupt, am ehesten bei den Leipziger Dichtern feststellen, mit denen zumindest der junge Zesen gute Kontakte pflegte. Viele waren übrigens wie er Buchner-Schüler gewesen. Sie beschränkten sich allerdings auf den Bereich der lyrischen Praxis; keiner von ihnen verfasste je ein Regelwerk. Bei ihnen wie bei Zesen scheint jedoch die Lyrik über weite Teile untergründig rhythmisch-musikalisch bedingt zu sein, so dass man von einer ursprünglich rhythmisch bedingten prinzipiellen Sangbarkeit wenn nicht aller, so doch zumindest zahlreicher lyrischer Formen sprechen kann, die vielleicht einfach daher rührt, dass die Lyrik – ganz anders als bei Opitz und möglicherweise auch noch bei Buchner – sozusagen aus einem musikalischen Denken entsteht. Wiederholt erwähnt Zesen Beispiele von Dichtungsarten, die nicht in erster Linie den Gesetzen der Reim- und Dichtkunst folgen, sondern „der weise und stimme / darnach [man] sein Lied machen wil“, 56 oder die erst ––––––––– 55 56

Alle Beispiele in Zesen SW IX, 32f. (Herv. E. R.). Zesen SW X/2, 588.

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Elisabeth Rothmund

durch eine wie auch immer geartete musikalische Gestaltung zur vollen Geltung gelangen würden. Die Anlehnung an genuin musikalische Phänomene ist es, die es ihm erlaubt, die deutsche Metrik neu zu definieren: Auch wenn nicht alle Gedichtformen gesungen werden sollen, ist die Lyrik für Zesen durch das ihr innewohnende Potential bestimmt, gesungen werden zu können: In manchen Fällen (den gemischten Oden oder vermischten Versarten) war eine musikalische Gestaltung zumindest am Anfang unerlässlich, in anderen Fällen schien jedoch das Gefühl oder das Gespür für die sozusagen virtuelle Musikalität der Verse zu genügen. Auf alle Fälle gelingt Zesen in seinen dichtungstheoretischen Schriften eine eigenartige Mischung von poetologischen und musikalischen Elementen, wie man sie sonst vielleicht nur in Caspar Zieglers MadrigalenTraktat wieder findet, 57 der allerdings unter ganz anderen Bedingungen entstand und andere Ziele verfolgte: Ziegler ging es lediglich darum, eine besondere Versart bzw. eine besondere lyrische Form zu fördern und vor allem den Komponisten zum Rezitativ geeignete textliche Grundlagen zu liefern. Durch die in erster Linie rhythmisch bedingten Elemente, die eindeutig musikalischen Ursprungs sind, ob sie nun auf die Volks- oder die Kunstmusik, das Kirchenlied oder den Tanz zurückgehen und auf der Ebene des Verses, der Strophe oder des gesamten Gedichts bestimmend sind, ergab sich bei Zesen dagegen eine unglaublich fruchtbare Bereicherung der deutschen barocken Kunstdichtung – ein Zeichen dafür, dass sein Synkretismus keinerlei Verlust an dichterischer oder ästhetischer Qualität zur Folge hatte. Ohne ihn wären weite Teile der späteren Produktion – man denke an die Nürnberger, es ließen sich aber weitere Beispiele anführen, als einer unter vielen wäre hier Andreas Gryphius zu nennen 58 – wohl anders ausgefallen.

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Caspar Ziegler: Von den Madrigalen / Einer schönen und zur Musik bequemsten Art Verse / Wie sie nach der Italianer Manier in unserer Deutschen Sprache auszuarbeiten / Nebenst etlichen Exempeln […]. Leipzig 1653. Neu hg. v. Dorothea Glodny-Wiercinski. Frankfurt 1971. Es sei hier nur auf den Gebrauch von Daktylen in zwei geistlichen Sonetten aus dem 2. Buch (1650) verwiesen: Mitternacht („Schrecken / vnd stille / vnd dunckeles grausen / finstere kälte bedecket das Land /“) und Die Hölle, in welchem die Sonettform besonders strapaziert wird. Beide Sonette beweisen eindeutig, dass der Daktylus sich sehr wohl auch für ernsthafte Themen der geistlichen Dichtung eignet und daß unterschiedliche Rhythmen und Verslängen nicht unbedingt der Musik bedürfen, um wirksam zu sein. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 1: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963, S. 66f. (Nr. IV) u. S. 91 (Nr. XLVIII).

Dietmar Till

Schallinne: Zu Zesens Echo-Gedichten

1. Gottsched und die aufklärerische Unlust am Spiel Im zweiten Abschnitt des zweiten Hauptstücks seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) behandelt der Leipziger Professor für Poetik und Rhetorik Johann Christoph Gottsched verschiedene „neue[ ] Arten größerer Lieder“ 1 wie „Ringeloden und Sestinnen“, 2 kommt aber auch auf das Sonett und weitere Gedichtformen zu sprechen, die wir heute als typisch ‚barock‘ einschätzen würden. 3 Gottsched zeigt, wie hinlänglich bekannt ist, für solcherlei „poetische[ ] Lapalien“, „kindische Spielwerke und Alfanzereyen“ nur wenig Verständnis. 4 Diese Gedichtformen legten der „gesunden Vernunft“ nämlich die „Fessel“ an. 5 Wer Sonette schreibt, so der Leipziger Literaturpapst der Frühaufklärung unter Rekurs auf Horaz, 6 sei wie ein Seiltänzer, der mit geschlossenen Beinen tanze. Und wer so tanze, der tanze zwar „künstlicher“, müsse aber gleichwohl Sprünge machen und dürfe sich keinen Fehltritt erlauben. Das Seiltanzen mit geschlossenen Beinen lohne aber die Mühe ebensowenig wie die Reimschemata der Sonetttradition, die sich „eher ein eigensinniger Reimschmidt, als Apollo“ – also der Gott der Poeten – ausgedacht habe, dem „gewiß an solchem gezwungenen Schellenklange nichts gelegen ist.“ 7 Aus seiner Aversion gegen das Sonett, das allzu künstlich sei, leitet Gottsched die harsche Ablehnung weiterer ‚barocker‘ Gedichtformen ab – Hintergrund ist, auch dies ist bekannt, das Natürlichkeitspostulat der frühen Aufklärung, die sich durch dieses Konstrukt von der Literatur vor allem des Spätbarock und der ‚galanten‘ Strömung abzusetzen versucht. Entscheidendes Stichwort ist das vom ‚Schwulst‘. Gottsched schreibt: ––––––––– 1

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: J. Chr. G.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Joachim Birke. Bd. VI/2. Berlin u. New York 1973, S. 222. Ebd. Vgl. allgemein zur Abwertung der Barockliteratur die umfassende Studie von Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur. Wertung, Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1974; sowie Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. v. Klaus Garber. Wiesbaden 1991, Bd. I, S. 187–214. Gottsched (Anm. 1), S. 224. Ebd., S. 223. Horaz: Epistulae II 1, V. 210f. Gottsched (Anm 1), S. 222.

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Dietmar Till Hieraus ist leicht zu sehen, was meine Gedanken von den Ringelgedichten, Sechstinnen, Endreimen, oder boutsrimez, Buchstabenwechseln, Irr-, Ketten- und Bilderreimen, Jahrzahlen und Namenversen, und wie sie ferner heißen mögen, seyn werden. Dieses ist poetischer Unrath, damit sich die Musen nichts zu schaffen machen, und welchen sie den kleinen Geistern, die auch gern auf den Parnaß wollten, entgegen schütten; damit sie sich nur unten am Berge verweilen, und niemals hinauf kommen mögen. 8

Zu diesem ‚poetischen Unrat‘ zählt Gottsched auch das Echo, das er als unnützes „Spielwerk“ unter die poetischen „Kindereyen“ rechnet. Die Beispiele in Gottscheds Critischer Dichtkunst stammen von den galanten Dichtern Benjamin Neukirch und Johann Besser. Neben Opitz wird an zentraler Stelle Philipp von Zesen als bedeutender Repräsentant dieser Form genannt: Im achten Hauptstück des zweiten Teils der Critischen Dichtkunst handelt Gottsched unter der pejorativ gemeinten Überschrift Von allerhand Arten von Scherzgedichten auch die Gattungspoetik des Echos ab. 9 Diese Gedichte seien zwar „läppisch“, hätten aber eine „Zeitlang ihre Liebhaber gefunden“. Das Bemühen um Distanz zur Literatur des 17. Jahrhunderts ist auch hier zentral. Das Kapitel beginnt mit den ‚Leberreimen‘, einem poetischen Gesellschaftsspiel, und geht dann über Chronosticha, Akrosticha und verschiedenen Formen des Reims über zum Echo, das er als „Widerhall“ dem „Widertritt“, also dem reichen Reim, an die Seite setzt: Zum Gefährten will ich diesen Wiedertritten, den Wiederhall geben; ungeachtet ich schon bey den Liedern davon geredet. Denn man ist damit nicht zufrieden gewesen, daß das Echo am Ende der Strophen antwortete; sondern hat es fast bey allen Reimen haben wollen. Z. E. Omeis spielet so: Nennest du mich noch den Deinen? Und begehrest sonsten keinen? Echo: keinen. Nun so komm und laß uns scherzen! Was beliebet deinem Herzen? Echo: Herzen. Schau, hier hast du zehen Küsse. Sind sie sauer oder süße? Echo: Süße. herrlich! Aber es kömmt zuweilen noch schöner; z. E. aus dem Zesen: Wirst du mich trösten, und sonst keine? Echo: Eine. Läßt mich in Angst und Ablaß gehn. Echo: laß gehn. Wem soll ichs danken mit der Zeit? Echo: der Zeit. 10

Ironischerweise stammen die drei Zeilen, die Gottsched mit dem Ausruf ‚herrlich!‘ satirisch kommentiert, gar nicht von Zesen, sondern von dem von Gottsched geschätzten Opitz, wie Zesen selbst im zweiten Teil seines Hochdeutschen Helikons notiert, der an dieser Stelle Gottscheds Quelle gewesen sein ––––––––– 8 9 10

Ebd. Ebd., S. 592ff. Ebd., S. 596.

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dürfte. 11 Doch die philologische Richtigkeit dieser Zuschreibung ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung, zentral ist vielmehr, daß Gottsched in seinem kritischen Rückblick auf die Literatur des 17. Jahrhunderts Zesen als den repräsentativen Echo-Dichter seiner Zeit einschätzt.

2. Spielräume der Wiederholung. Zur Gattungspoetik des Echos Das Echo gehört zu jenen Gattungen, die bereits in der Antike praktiziert wurden und im Renaissance-Humanismus in den volksprachlichen Literaturen seit dem 15. Jahrhundert – zuerst in Italien, dann in den Niederlanden und in Frankreich – adaptiert wurden. 12 Mit der charakteristischen Verspätung wird die Gattung in der deutschsprachigen Literatur erst im 17. Jahrhundert heimisch. Zentral ist auch für das Echo einmal mehr Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624), das durch die dort entfaltete Theorie und die mitgelieferten deutschsprachigen, von Opitz selbst stammenden oder von ihm übersetzten exempla normsetzend wirkte. Im Falle des Echos – oder, wie wir sehen werden, der Echo, wie es im 17. Jahrhundert mit weiblichem Genus hieß – allerdings sind Opitz’ Angaben nur äußerst knapp: Das ich der Echo oder des Wiederruffes zue ende der wörter gedencke / thue ich erstlich dem Dousa zue ehren / welcher mit etlichen solchen getichten gemacht hat / das wir etwas darvon halten; wiewol das so Secundus geschrieben (wie alle andere seine sachen) auch sehr artlich ist: darnach aber / weil ich sehe / das sie bey den Frantzosen gleichfalls im gebrauche sein; bey denen man sich ersehen kan. So sind jhrer auch zwey in meinen deutschen Poematis, die vnlengst zue Straßburg auß gegangen / zue finden. 13

Insbesondere eine Definition der Gattung sucht man hier vergeblich. Opitz bezieht sich mit den beiden Niederländern Janus Dousa (Jan van der Does, 1545–1604) und Janus Secundus (Johann Nico Everaerts, 1511–1536) lediglich auf zwei neulateinische Vorgänger. Im übrigen wird dem Leser die Druckgeschichte der 1624 in Straßburg erschienenen Teutschen Poemata geboten. Opitz liefert in der Poeterey kein Beispiel, was ungewöhnlich ist, sondern verweist einmal mehr auf die Teutschen Poemata. Opitz’ frühe Gedichtsammlung enthält ein im 17. Jahrhundert mehrfach parodiertes Echogedicht mit dem Titel Echo oder Widerschall:

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Diß Ort mit Bäumen gantz vmbgeben, Da nichts als Furcht vnd Schatten schweben, Da Trawrigkeit sich hin verfügt, Da alles wüst vnd öde ligt, Da auch die Sonne nicht hinreichet,

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Zesen SW X/1, 327. Véronique Gély-Ghedira: La nostalgie du moi. Écho dans la littérature européenne. Paris 2000. Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 21.

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Da gifftig Vngeziefer schleichet, Da gar kein Wasser sich ergeußt, Als daß auß meinen Augen fleust, Da gar kein Liecht nicht wirdt erkennet, Als das auß meinem Hertzen brennet, Beduncket mich bequem zusein, Da ich mich klag ab meiner Pein, Ab meiner Pein, ab meinem Leiden, Daß mich jetzundt wirdt von mir scheyden, Doch eh der lang gewünschte Todt Mit frewden abhilfft meiner Noth, Will ich von meiner Liebe klagen, Vnd, ob schon gantz vergeblich, fragen, Ist dann niemandt der tröste mich, Weil ich so trawre jnniglich? Ich. O Echo, wirdt ohn dich alleine Hinfort mich nimmer trösten keine? Eine Wie soll sie löschen meinen Brandt, Ist sie mir doch noch vnbekandt? Bekandt. Die die ich kenn wills nichts verstehen, Lest mich in Leydt ohn ablaß gehen. Laß gehen. Laß ich es gehn vnd komm in freudt, Wem soll ichs dancken mit der Zeit? Der Zeit. So ist nun noth daß ich verscharre Das Fewer, vnd der Stundt erharre? Harre. Wenn ich zu lange harren solt, Was hülffe meiner Vngedult? Gedult. Vieleichte möcht ich sterben eh, Weil ich in höchstem Elend geh. Entgehe. So folg ich deinem Rathe schlecht, Hoff alles werde gut vnd recht. Recht. Nun bin ich vieler Noth entbunden Vnd habe guten Trost empfunden, Du vnbewohnte Trawrigkeit, Ihr Hecken voll von meinem Leidt. Ihr grausam Hölen vnd jhr Wüsten, Da Eulen, Natern, Schlangen nisten, Du wüster Ort gehab dich wohl, Ich bin für trawren frewde voll. Für Finsterniß, such ich die Sonnen, Für Thränen, einen külen Bronnen, Die so Vertröstung mit gethan, Gewißlich nicht betriegen kan. 14

––––––––– 14

Martin Opitz: Teutsche Poemata. Hg. v. Georg Witkowski. Halle/Saale 1902, S. 36f. Eingeklammerte Verszahlen im laufenden Text beziehen sich auf diesen Abdruck.

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Jörg Jochen Berns hält das Gedicht für „das bedeutendste in der gesamten deutschen Echo-Produktion“. 15 Es scheint also sinnvoll, sich zunächst Opitz’ paradigmatisches Gedicht vorzunehmen und aus ihm die zentralen Gattungsmerkmale herauszuarbeiten, bevor in einem zweiten Schritt Theorie und Praxis des Echos bei Zesen behandelt werden. Berns stellt besonders die dem Gedicht inhärente dramatische Struktur heraus, wie sie sich formal in der Dreiteilung des Textes zeigt: Auf einen längeren Monolog folgt ein Dialog zwischen dem lyrischen Ich und Echo, auf den wiederum ein Monolog folgt. Diese Dreiteilung, die Berns mit den Worten „Verzweiflung“, „Trost“ und „Zuversicht“ überschreibt, wird sprachlich klar markiert: Der Dialog wird durch eine Frage – die erste im Text – eingeleitet, und durch das konkludierende „Nun bin ich“ (46) wird der Schlußteil des Gedichtes klar markiert. Das Gedicht gehört thematisch in das weite Feld der barocken Liebesdichtung. Mit der Unerreichbarkeit der Geliebten werden geradezu Konstanten der Liebesdichtung im ersten Teil des Gedichtes abgerufen, noch jenseits einer stärkeren Anbindung an eine bestimmte Tradition der Liebesdichtung, etwa die petrarkistische. Zunächst ist der Text gänzlich vom Moment der Klage bestimmt, wie es ja auch explizit heißt: „Will ich von meiner Liebe klagen“ (17). Das lyrische Ich sucht, wie im weiteren Verlauf klarer wird, Trost – und den erhält er von Echo: Denn die auf den eben zitierten Vers folgende, eigentlich im Selbstgespräch des lyrischen Ichs verzweifelt geäußerte rhetorische Frage: „Ist dann niemandt der tröste mich, | Weil ich so trawre jnniglich?“ (19f.) wird tatsächlich beantwortet. Aus der interrogatio wird durch die Antwort Echos – „Ich.“ – eine echte Frage, das in der Pragmatik der rhetorischen Frage implizite ‚Nein‘ zu einem expliziten ‚Ja‘. Diese Frage-Antwort-Struktur ist für die Gattung insgesamt charakteristisch. Die Antwort dient dem lyrischen Ich zum Trost und gibt ihm eine Reihe von Ratschlägen („Laß gehen“ [30], „Gedult“ [39]), die, wie es am Ende des Dialogteils heißt, vom Sprecher-Ich tatsächlich beherzigt werden: „So folg ich deinem Rathe schlecht, | Hoff alles werde gut vnd recht.“ (43f.) Das Ich konstatiert im Schlußteil, „Trost“ (47) gefunden zu haben; es nimmt Abschied von dem „wüste[n] Orth“ (52), der in der Eingangspassage so eindrücklich beschrieben worden war. Dunkelheit wird am Ende für Licht ausgetauscht, für die „Thränen“, die am Beginn noch geradezu unkontrolliert flossen, sucht das Ich einen „külen Bronnen“ (55). Aus der Liebesklage wird die Gewißheit der Treue, freilich nicht die der Geliebten aus dem Eingangsteil, sondern die Treue Echos. Mit dem Übergang vom ‚wüsten Ort‘ zum ‚kühlen Brunnen‘ ruft das Gedicht zwei Topoi aus der Tradition der bukolischen Dichtung auf, den locus desertus und den locus amoenus. 16 Sie bilden das landschaftliche Setting, in ––––––––– 15

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Jörg Jochen Berns: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Künstliche Echoeffekte in Poesie, Musik und Architektur der Frühen Neuzeit. In: Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Hg. v. Hanno Möbius u. J. J. B. Marburg 1990, S. 67–82, hier S. 69. Vgl. die klassische Studie von Klaus Garber: Der Locus amoenus und der locus terribilis. Köln u. Wien 1974, hier S. 226ff.

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dem das dramatische Gedicht spielt, und sind zugleich ‚Seelenlandschaft‘ in dem Sinne, daß sie mit konventionellen rhetorischen Mitteln die emotionale Befindlichkeit des Sprecher-Ichs nach außen vermitteln. Im folgenden soll der Dialog zwischen dem lyrischen Ich und Echo genauer analysiert werden, denn dieses Zwiegespräch ist ja für die Gattung des ‚Echo‘ konstitutiv. Die kompositorischen Prinzipien, nach denen ein Echogedicht funktioniert, erkennt man mit einem Blick: Wiederholt werden von Echo wenige der Ausgangs-Silben eines Verses – das Echo ist also ein Zitat der Rede des primären Sprechers: jnniglich? keine? vnbekandt? der Zeit? erharre? Vngedult? Elend geh. recht.

Ich. Eine Bekandt. Der Zeit Harre. Gedult. Entgehe. Recht.

Die Wiederholung dient hier aber, anders als bei den rhetorischen Wiederholungsfiguren, nicht der Wirkungsmaximierung und emotionalen Intensivierung des Ausdruckspotentials des Textes. Vielmehr wird durch die Echo-Repetition ein Spannungsverhältnis zwischen der Bedeutung des Ausgangsworts und einer neuen, mehr oder weniger veränderten Bedeutung der wiederholten ein oder zwei Silben aufgebaut. Diese semantische Spannung, die durch die Verknappung des Ausgangsworts ganz andere Bedeutungen generiert, ist für die Gattung zentral: „Die Erzielung möglichst großer Bedeutungsvarianz bei möglichst geringfügiger Veränderung des Konsonantenbestandes ist das ursprüngliche Prinzip der Echopoesie.“ 17 Die Barockpoetiken differenzieren an dieser Stelle: Birken etwa unterscheidet zwischen ‚echten‘ und ‚falschen‘ Echos, ‚Gegenhall-Fragen‘, wie er sie nennt: Echo könne ja nur repetieren, was sie empfangen habe, weshalb Änderungen am Lautmaterial nicht erlaubt seien. Die – notwendigen – semantischen Veränderungen müßten vielmehr dadurch entstehen, daß das letzte Wort „in einem andern Verstande“, also mit anderer Bedeutung, wiederholt werde, oder daß das letzte Wort ‚zerteilt‘ werde, um dadurch eine andere Semantik zu ergeben. 18 Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entspinnt sich aus dem Problem, daß eine Umsemantisierung notwendig ist, weil das Echo gerade kein einfacher Reim sein darf, zugleich aber als Zitat das Lautmaterial notwendig konservativ behandelt muß, eine Diskussion um die Spielräume – die poetische Lizenz – –––––––––

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Berns (Anm. 15), S. 71. Lathrop P. Johnson: Theory and Practice of the Baroque Echo Poem. In: Daphnis 19 (1990), S. 189–221, hier S. 192f. – Die Abhandlung ist besonders wegen ihres bibliographischen Anhangs, der alle dem Verfasser bekannten barocken Echo-Gedichte enthält (S. 210ff.), äußerst nützlich.

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zwischen identischer Wiederholung und leichter Veränderung des Lautmaterials. 19 Bereits Schottel erlaubt in seiner Poetik die behutsame Veränderung des Lautmaterials mit Blick auf die Konsonanten H und W, Harsdörffer postuliert, daß die repetierten Laute eine „Befreyung“ haben können, und in Kempes Anmerkungen zu Neumarks Poetischen Tafeln schließlich wird der erreichte Diskussionsstand noch einmal folgendermaßen referiert: Das H könne man ersetzen, die lautähnlichen Konsonanten d/t, v/f, b/w untereinander austauschen. 20 Insgesamt bleibt die Diskussion in den Poetiken aber stets knapp und auf solche Detailfragen beschränkt. Gerade im Falle des Echo-Gedichts bleibt fragwürdig, ob die bisweilen sehr subtile Diskussion in den Poetiken überhaupt eine normierende Funktion auf die poetische Praxis ausüben konnte. Das Echo-Gedicht ist im Gegenteil ein Paradebeispiel einer barocken ‚Spielraum-Poetik‘. 21 Der Veränderung des Lautmaterials dienen nicht zuletzt die aus der Rhetorik bekannten Änderungskategorien, also die Hinzufügung, Weglassung oder Veränderung einzelner Konsonanten oder ganzer Silben, die den überraschenden, ironischen oder auch bloß witzigen Effekt durch Veränderung der Semantik hervorbringen sollen. In dem frühen Echogedicht von Opitz werden diese Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt verwendet. Die Wiederholung der ein bis drei letzten Silben – auch über die Plausibilität der Wiederholung längerer Einheiten reflektieren die Poetiken recht ausführlich, im allgemeinen gilt eine Obergrenze von drei Silben 22 – erfolgt in der Regel unverändert, doch durch die Kürzung des Ausgangswortes etwa um eine Vorsilbe lassen sich überraschende Wirkungen erzielen, etwa eine glatte Umkehr der Bedeutung vom Negativen ins Positive (aus „vnbekandt“ wird eben „Bekandt“, aus „keine“ wird „eine“, aus „Vngedult“ wird „Gedult“ etc.). Beispiel für eine Wiederholung, die das Lautmaterial des Ausgangsworts nach dem Prinzip der nicht-wörtlichen, sondern nur phonetischen Ähnlichkeit wiederholt, ist die siebte Antwort Echos: „Elend geh“ – „Entgehe“. Vor dem Hintergrund, daß der Dialog zwischen dem lyrischen Ich und dem Echo konstitutiv für die Form ist, muß an dieser Stelle auch näher auf die Dialogpartner eingegangen werden. Dabei sind zwei Perspektiven zu trennen, ––––––––– 19

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Die Gattungspoetik ist nun erschöpfend dargestellt in der Abhandlung von Ferdinand van Ingen: Echo im 17. Jahrhundert. Ein literarisch-musikalisches Phänomen in der Frühen Neuzeit. Amsterdam 2002, hier v. a. S. 12ff. Auf van Ingens umfassende Darstellung sei nachdrücklich verwiesen. Sie enthält insbesondere eine präzise Rekonstruktion der Gattungspoetik, die hier nur in ihren groben Zügen dargestellt werden muß. Johnson (Anm. 18), S. 194. Vgl. Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004, S. 136ff. Wesche geht allerdings auf das Echo selbst nicht ein. – Zum Konzept der Spielraum-Poetik grundlegend: Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, T. I, S. 33– 67. Van Ingen: Echo (Anm. 19), S. 15.

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eine mythologische und eine dialoganalytische. Ersteres erklärt Zesen im zweiten Teil des Hoch-deutschen Helikons in folgenden Worten: Wo das lateinische wort und nahme ECHO (welches wier deutsch Schallinne) geben könten) herrühre / erkläret Ovidius in seinen Verwandlungs-büchern. Es sol aber eine waldjungfrau also geheissen haben / welche einen Jüngling / Narzissus genennet / den der allzugütige himmel mit fast unvergleichlicher schönheit verehret / hefftig liebgewonnen: weil er aber aus hoffart und laßdünkel gar keine liebe mit ihr pflegen wollen / und allzeit flüchtig erfunden worden / habe sie in kurtzen / wegen grosser traurigkeit / ihre leibes- und lebenskräfte verlohren / und sei in lauter haut und gebeine verkehret worden / bis sie endlich gar verschwunden / und nichts von ihr übergeblieben / als nur ihre bloße stimme und widerruff / den man noch heute zu tage in öden büschen / gebürgen und klüften / wan man etwas laute ruffet / widerschallen höret. Narzissus aber sei hernach aus wieder-vergeltung an ihm selbst zum narren worden / und habe sich in sich selbst verliebt / in dem er seines angesichts bildnüs in einer klahren bach / als er trinken wollen / gesehen / und solches zu küssen / mit ihme zu reden / und selbiges zu ümfahen / sich unterwunden. Als er nuhn nichts als einen bloßen schein und schatten befunden / hab er sich tag und nacht gehermet / sich und das stetsbrennende liebes-feuer seines hertzens verfluchet / bis er endlich in ohnmacht dahin gefallen / der Echo nachgefolget / und gar dem tode zu teil worden; Hernach aber sei aus seinem so überaus-schönen leibe / die schöne blume / welche von ihm den nahmen führet / und Narcißen-röslein genennet wird / entsprossen. 23

Zesen bezieht sich in seiner Schilderung auf das dritte Buch der Metamorphosen des Ovid (III, V. 339–401), die Geschichte der Nymphe Echo. Bemerkenswert ist, daß das bukolische Setting der Szenerie, wie sie auch Opitz in seinem Echo-Gedicht ausgestaltet, in der Überlieferung des Mythos bereits enthalten ist. 24 Mit Ovid referiert Zesen den wichtigsten Strang der Überlieferung des EchoMythos. Daneben existieren aber noch andere Echo-Mythen, in erster Linie ist hier an das bei Theokrit überlieferte Mythologem von Pan und der Oreiade Echo zu denken, das mancherlei Parallelen zu dem Nymphenmythos aufweist: Der Waldgott Pan verliebt sich heftig in die Oreiade Echo, eine jungfräuliche Waldgottheit, die Pans Zuneigung zurückweist. 25 Daraufhin läßt Pan sie von Schäfern und Hirten töten, die die Oreiade brutal zerteilen und ihre Glieder über die ganz Welt verstreuen, von wo sie im Widerhall weitertönen. Einmal mehr sind die landschaftliche Einbettung in eine bukolische Szenerie zentral wie die Vorstellung von der ‚Wider-Rede‘ Echos. Im Narziß-und-Echo-Mythos bei Ovid kommt es allerdings (wie auch in dem Opitz-Gedicht) tatsächlich zu einem Gespräch zwischen Narziß und Echo, was bei dem Mythos von Pan und Echo nicht der Fall ist. Die spezifische Echo-Kommunikation wird also weniger explizit thematisiert. Gerade deshalb ist dieser zweite Strang der Überlieferung für die Gattung des Echo-Gedichtes von untergeordneter Bedeutung. ––––––––– 23 24 25

Zesen SW X/1, 328f. Berns (Anm. 15), S. 70. Zur antiken Echo-Mythe vgl. (jeweils mit weiterer Literatur) Otto Waser: Echo. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. hg. v. Georg Wissowa. Bd. V. Stuttgart 1905, Sp. 1926–1930; Fritz Graf: Echo. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Bd. III. Stuttgart u. Weimar 1997, Sp. 873.

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In dialoganalytischer Hinsicht – das ist der zweite Aspekt – ist zentral, daß die beiden Gesprächspartner in dem Opitz-Gedicht nicht gleichberecht sind. Der Dialog ist also durch Asymmetrie gekennzeichnet, aus der das Echo-Gedicht seine poetische Produktivkraft bezieht. Die Hierarchie ergibt sich aus dem Zitatprinzip der Echo-Rede zwangsläufig: Denn während das – stets männliche – lyrische Ich eine große Bandbreite an Möglichkeiten hat und in seinen Artikulationsformen nur durch die äußeren, formalen Rahmenbedingungen des Gedichtes – Versmaß, Reimschema, Strophenbau etc. – beschränkt bleibt, ist der Spielraum für die weibliche Stimme Echos viel geringer, da sie das Lautmaterial nur mehr oder weniger repetiert. 26 Das betrifft quantitative (Silbenzahl) wie qualitative Aspekte (Reproduktion und Abwandlung des phonetischen Materials) ebenso wie die prinzipielle Unmöglichkeit Echos, ein Gespräch überhaupt beginnen zu können. Letzteres gestaltet bereits Ovid in seiner Erzählung des Mythos aus, wenn er berichtet, wie Echo Narziß regelrecht nachschleicht und abwartet, bis dieser zufällig einem Begleiter ein passendes Wort zuruft, daß sie dann repetieren kann: Denn, so Ovid, die Natur erlaube ihr nicht, eine Kommunikation zu beginnen. 27 Im Falle der Stimme Echos entsteht also eine ziemlich rigorose Limitierung der Möglichkeiten der Artikulation, die durch das erwähnte Spannungsverhältnis aus Wiederholung und Variation, aus Reproduktion des Lautmaterials und der Erzielung semantischer Differenz, begrenzt wird. Das Echo ist insofern, wie Jörg Jochen Berns betont, eine „Grenzform der Dialogführung“.28 Das Zusammenspiel von Repetition und Variation soll den Dialog durch kleine, aber bedeutende Umsemantisierungen und Abweichungen voranbringen. Dies ist eine weitere zentrale Eigenschaft der Echo-Dialoge, welche die Dynamik der Texte erst möglich macht. Sie erzeugt ein Veränderungspotential, das sich auch auf der Ebene der Sprecher zeigt. Auffällig ist nämlich, daß viele Echo-Gedichte dazu tendieren, die asymmetrische Gesprächssituation zu einer symmetrischen machen zu wollen, in der sich tatsächlich ein Dialog zwischen Echo und Sprecher-Ich entspinnt. Die Antworten Echos nämlich dienen dann nicht mehr nur dazu, die Befindlichkeiten – im Falle von Opitz’ Echo-Gedicht die lamentatio – des Ichs nur zu bestätigen, sondern durch Variation und Differenz doch einen Gesprächsfortschritt und schließlich ein Ergebnis zu erzielen. Unter dem Schlüsselbegriff des Trostes wird dieses im Schlußabschnitt formuliert. Das Gedicht von Opitz gestaltet den Dialog allerdings noch in recht einfacher Weise durch eine Abfolge von Frage und Antwort, wobei die Antworten Echos wechselweise Imperative („Laß gehen“!) und psychische Befindlichkeiten („Gedult“) darstellen, die an die constantia-Ideale des Neustoizismus erinnern. –––––––––

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Vgl. Stephanie Kratz: Echo – eine Stimme von Gewicht? Zur Rhetorik einer weiblichen Wiederholungsfigur. In: Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen. Hg. v. Andrea Gutenberg u. Ralph J. Poole. Berlin 2001, S. 172–186. Ovid: Metamorphosen III, V. 376f. Berns (Anm. 15), S. 71.

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In den Klagegedichten, die den Kern der barocken Echo-Dichtung ausmachen, kommt dem Echo eine spezifische Funktion zu. In der Zwiesprache mit Echo, die eigentlich nur eine Verdoppelung der Rede des männlichen Geliebten ist, analysiert dieses Ich seinen eigenen Seelenzustand. Das Echo ist also keine Zwiesprache mit einer Fremden, sondern Autokommunikation des Subjekts mit sich selbst, eines Subjektes freilich, das in seiner Verzweiflung insofern gespalten erscheint, als es um Handlungsmöglichkeiten ringt. 29 In dem Opitz-Gedicht wünscht sich das Ich den Tod und fragt zugleich nach einem Ausweg aus der scheinbar ausweglosen Situation der Zurückweisung durch die Geliebte. Der ‚Niemand‘, der das lyrische Ich tröstet, ist die Gestalt der Echo, deren Auftreten einen Reflexionsgang im Ich in Gang setzt, der am Ende zur consolatio führt, dabei aber ein solipsistisches Selbstgespräch des Ichs mit sich selbst bleibt, das seinen Trost letztlich damit in sich selbst findet. 30 Einen ähnlich reflexiven Gestus, der allerdings nicht als Dialog gestaltet ist, hat man in der Forschung verschiedentlich auch für Petrarcas Canzoniere behauptet. Er ist ein Grundmodell lamentierender Liebesdichtung.

3. Entgrenzungen: Zesens Echo-Gedichte Zesens Echo-Gedichte nehmen innerhalb der Barockliteratur eine herausgehobene Stellung ein, und dies gleich in zweifacher Hinsicht: Zunächst liefert Zesen in seinem Deutschen Helikon (1641) die bei Opitz noch weitgehend fehlende Gattungspoetik des Echo-Gedichts nach, sodann lotet er in seinen Echo-Gedichten selbst die Spielräume der neuen Gedichtform aus – bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Zesens Ein Jambisch Echonisch Sonnet aus dem Deutschen Helikon ist eines der frühesten, wenn nicht gar das erste Echo-Sonett der Barockliteratur:

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Ach könnt ich doch den busch erreichen! E[cho:] eichen. Da wo mein Liebster innen sitzt! Ech. itzt. Mein hertz vor lieb’ ist aufgeritzt. Ech. ritzt. und will vor angst fast gar verbleichen. E. leichen. Ich ruff euch an ihr schönsten Eichen / Die Ihr die Wälder zieret itzt. Doch hör’ ich nichts als wie das blitzt. Ech. itzt. Der Wider-ruff auff mich mit keichen. Ich komme zu den klüften auch. E. lüften auch. und schrey nach meinem alten brauch / Da ist auch gäntzlich nichts zu hoffen / Ech. zu hoffen / Als nur der bloße widerschall / Ech. hall /

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Berns (Anm. 15), S. 74: „Das poetische Echo […] ist sprachlich-akustisch manifestierte Zwei-Werdung: Verzweiflung. Der Echo-Dialog ist die akustisch ausgestellte Reflexion eines Subjekts, das nicht bei sich bleiben kann, das vielmehr zu einer Ichspaltung treibt“. Vgl. ebd.

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Zesens Echo-Gedichte der sich ereignet überall; Mein mund steht mir ohn ablaß offen. Ech. laß hoffen. 31

Daß Zesen die Sonettform, die maßgeblich von Opitz in der deutschen Literatur heimisch gemacht wurde, verwendet, folgt klar einem ästhetischen Kalkül. In seinem Text greift er auf die Gattungskonventionen der italienischen Sonettform zurück, was sich u. a. in der Verwendung fünfhebiger Jamben zeigt, wobei allerdings die Silbenzahl zwischen acht und elf, die Zahl der Hebungen zwischen vier und fünf wechselt. 32 Das Reimschema folgt dem üblichen Modell: umarmende Reime abba in den zwei Quartetten, in den Terzetten ist das Reimschema ccd eed. Die Verwendung der Echo-Form treibt die Komplexität der ohnehin schon komplexen Sonett-Form auf eine höhere Ebene. Das Echo ist ja dem Reim als einer sprachlichen Form, die auf der Wiederholung von phonetischen Einheiten basiert, verwandt. Aus diesem Grund bemühen sich die barocken Poetiker durchgängig um eine möglichst trennscharfe Abgrenzung von Reim und Echo. In Zesens Texten wird auf das strenge Reimschema des Sonetts ein zweites System der Wiederholung aufgesetzt. Das Ergebnis ist eine doppelte Ordnung, wobei die erste Ordnung (Reim) die zweite (Echo) nicht einfach nur spiegelt: Vielmehr spielt Zesen ganz bewußt mit der Wiederholungserwartung, die durch den Reim erzeugt wird. Auffällig ist zunächst, daß sich Echo-Effekte keineswegs am Ende aller Verse finden, sondern nur in 9 von 14 Versen. Schließlich interagiert das System der Echo-Wiederholungen mit den ‚normalen‘ Reimen, etwa in den ersten beiden Versen, deren Echos „eichen“ und „izt“ als ‚normale‘ Reime am Beginn des zweiten Quartetts wiederholt werden. Das Gedicht erzielt dadurch einen klanglichen Effekt, der auf der Ausdrucksebene genau dasjenige realisiert, von dem der Text inhaltlich spricht: den Echoeffekt. Der Widerhall scheint das dominante Element, „alle Reime“ erscheinen schließlich, wie Gerhard Kaiser feststellt, wie Echos, „die überall sind, Lüfte und Klüfte füllen. Man verirrt sich im Echolabyrinth.“ 33 Die strenge Gedichtform des Sonetts, das ––––––––– 31

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Zesen SW IX, 67; Zesen fährt erläuternd fort: „Hier bey diesem Sonnete werden wir des widerruffs oder Echo erinnert / welches ein solch Getichte ist / so im anfange / ende und mittel des Verses die eine / zwey / oder drey letzten sylben des worts widerholet / und gleichsam nachredet / und bißweilen die vorhergehende meinung bässer erkläret / also: Ach wem! ach wem kan ich doch wohlgefallen? Ech[o:] allen Wer trauret doch ümb mich? Ech. ich. und Adelheit bistu mein leben? Ech. eben / Bistu nicht mein? Ech. nein. Ach soll ich nun einsam schweben? Ech. weben / und im elend seyn? Ach wo bistu? Ech. du? Ich ächtze / nur nicht etwas / Schatz / Ech. was schadts. Fort für fort ich lächtze / Ech. lächtze. Wo du mir versagst den schmatz. Ech. Matz.“ Gerhard Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan. Frankfurt a. M. 1987, S. 80. Ebd., S. 81.

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‚Klinggedicht‘, wie es im 17. Jahrhundert mit deutscher Bezeichnung heißt, 34 ist Voraussetzung für diesen doppelten akustischen Effekt. Welche Situation wird in dem Text geschildert? Auf einer ersten Ebene geht es um eine stereotype Situation, wie sie aus der Tradition der Liebesdichtung und Liebesklage vielfach bekannt ist: Im ersten Quartett verzehrt sich eine ängstliche (weibliche!) Geliebte nach ihrem Geliebten: Sie vermutet ihn in einem Busch, den sie nicht erreichen kann. Der Geliebte allerdings reagiert nicht, stattdessen antwortet Echo. Die weiteren Stationen im zweiten Quartett sind die Eichen und Wälder, schließlich die Klüfte im ersten Terzett. Doch der Geliebte (der übrigens nun gar nicht mehr adressiert wird) antwortet weiterhin nicht, die Sprecherin gibt ihre Hoffnung auf, es ertönt nur der „widerschall“ Echos, der im zweiten Terzett die gesamte Szenerie auszufüllen scheint und auch die Natur an den Rand drängt. Am Ende schreit die Sprecherin „ohn ablaß“, es herrscht Hoffungslosigkeit und Erstarrung, im Widerhall der Echos scheint das Ich die Kraft zur Anrede zu verlieren und es verstummt. Im Unterschied zu Opitz wird hier also die consolatio verweigert. Gerhard Kaiser hat vorgeschlagen, das Gedicht einmal aus seinem bukolischen Gattungskontext – sehnsüchtiges Mädchen ruft in schäferlicher Kulisse nach ihrem Geliebten, wird enttäuscht und klagt – zu isolieren und geradezu als ein Metagedicht über das Echo zu interpretieren: Das Gedicht führte in dieser Lesart das Echo-Spiel vor. Die Deutung wird vor dem Hintergrund plausibel, daß die Anrede an den Geliebten in dem Gedicht eigentlich nur am Beginn eine Rolle spielt und danach mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Ab dem zweiten Quartett schließlich ist von Liebe nicht mehr die Rede, stattdessen rücken ‚Echo‘ und ‚Widerschall‘ auch thematisch ins Zentrum. Der apostrophierte Busch schließlich ist eine der Wohnstätten Echos: Entsprechende Ausführungen finden sich, wie gesehen, in der Erzählung des Mythos in Zesens Hochdeutschem Helikon. Auch die „Klüfte“, die das Gedicht thematisiert, sind dort bereits zu finden. Liest man den Text auf diese Weise, dann ist das Gedicht keine Liebesklage, sondern führt die Situation eines Echo-Spiels modellhaft vor: „Wenn man“, so Kaiser, „das Gedicht als Liebesgedicht liest, ist das Echo – statt der Antwort – Sinnbild für die Verlassenheit der Geliebten. Wenn man das Gedicht als Echo-Gedicht liest, ist die Abwesenheit oder Antwortlosigkeit des Geliebten Voraussetzung und Konsequenz der Echosituation, in welcher der Rufende eben auch keine Antwort, sondern nur den Widerhall seiner eigenen Stimme hört.“ 35 Der Ruf nach dem Geliebten ist Teil dieses autoreflexiven poetischen Spiels, und auch die Enttäuschung darüber, daß niemals der Geliebte, sondern stets nur Echo antwortete, gehört zur Logik dieses Spiels: „Im Spielzusammenhang wird gar keine Antwort erwartet“. 36 ––––––––– 34

35 36

Ein knapper Gattungsüberblick findet sich bei Thomas Borgstedt: Sonett. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin u. New York 2003, S. 447–450. Kaiser (Anm. 32), S. 84. Ebd., S. 83.

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Im Vergleich mit Ein Jambisch Echonisch Sonnet geradezu leicht erscheinen die drei Echo-Lieder, die Zesen in seine frühe Gedichtsammlung FrühlingsLust von 1642 eingerückt hat. 37 Alle drei Lieder arbeiten formal nach einem ähnlichen Muster, doch treiben sie das Prinzip der Dialogizität des Echos auf die Spitze: Auf eine Frage des (männlichen oder weiblichen) Ichs folgt eine im Vergleich mit anderen Echo-Gedichten des 17. Jahrhunderts außerordentlich lange Antwort Echos, welche das ihr vom primären Sprecher gelieferte und von ihr eigentlich nur reproduzierbare lautliche Material recht frei behandelt. In dem ersten Lied, dem Ander Lied. Auff Echonische Art antwortet Echo nicht nur auf „fragen“ mit „klagen“, sondern auch auf „Schatz ümbfangen“ mit dem Widerhall „Mit den Wangen“, der das gelieferte Silbenmaterial umdeutet. Eine Vielzahl solcher Wiederholungen, die nicht gleiches repetieren, sondern klanglich nur mehr oder weniger ähnliches, zieht sich durch alle drei Texte. Sie sprengen deutlich den Rahmen dessen, was durch die Ausführungen in den Poetiken noch erlaubt ist. Mehr noch: Einige der Texte kehren das hierarchische Verhältnis von produzierender männlicher Stimme und bloß reproduzierender weiblicher EchoPersona regelrecht um. Ein Beispiel dafür ist Zesens Viertes Lied. Es beginnt mit der klassischen Kommunikationssituation des ratsuchenden männlichen Sprechers und der antwortenden weiblichen Stimme der Echo. Im Verlauf des Dialogs aber kippt diese Asymmetrie, wenn Echo im vierten Vers als diejenige auftritt, die nun dem Sprecher seinerseits Fragen stellt. Die weibliche Stimme erreicht dies, indem sie das gelieferte Sprachmaterial geschickt umdeutet: j. Echo zeige mir mein Leben! E[cho:] Ja dir eben. Weistu meine Liebste nicht? E. Die dein Licht? Ja sie ist mein Licht und Sonne / E. Freud und Wonne? Ja sie ist mein Freuden-Schein / E. Sie ist dein. 38

Am Beginn der zweiten Strophe kehrt sich dann das Verhältnis endgültig um, wenn das Sprecher-Ich zum Echo Echos wird: ij. Sol ich mich noch länger mühen? E. Laß verzihen: Ach verzihen macht mir Leid / E. Nein. Die Zeit. Was kann lindern meine Schmertzen? E. Jungfern schertzen. Ist nun balde da die Zeit? E. nicht mehr weit. 39

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Die Texte sind im Anhang dieses Beitrags vollständig wiedergegeben. Zesen SW I/1, 108.

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Auf Echos ziemlich freie Wiedergabe der Frage „Sol ich mich länger mühen?“ durch „Laß verziehen“ antwortet der Sprecher, indem er seinerseits Echos Worte wiederholt: „Ach verziehen…“. Auch hier kippt die asymmetrische Kommunikationssituation in die kommunikative Dominanz Echos um. Die Eigenständigkeit, mit der sie spricht, stellt sie im Gesprächsverlauf performativ her, indem sich Echo das Sprachmaterial des primären Sprechers aneignet und abwandelt. Zugleich wird das fürs Echo-Gedicht konstitutive Ungleichgewicht von dominierendem Sprecher-Ich und bloß wiederholender Echo-Rede unterwandert. Diese Neigung zur Subversion ist ein Grundzug der Gattung. In vielen EchoGedichten des 17. Jahrhunderts gibt es die Tendenz, das Repetitionsprinzip der Echo-Rede zu übersteigen, indem durch Abwandlung des sprachlichen Materials Echo die Möglichkeit eigenständiger Artikulation gegeben wird – mit dem Ergebnis freilich, daß die Echo-Rede aufhört, Echo-Rede zu sein. 40 Diese Tendenz zur Entgrenzung, ja zur Selbstdestruktion ist ein konstitutives Moment der Gattung. Kein Wunder, daß die Poetiken, etwa Birkens Dichtungstheorie, gerade solchen Variationen und Abwandlungen einen Riegel vorschieben und die ‚Spielräume‘ des Echogedichts limitieren wollen. 41 Bei Zesen erhält die Rede Echos eben durch diesen adaptierenden und verändernden Umgang mit dem Lautmaterial eine solch große Eigenständigkeit, daß man sich fragen muß, ob die drei Lieder überhaupt noch Echo-Gedichte im strengen Sinn sind – oder ob sie nicht eher zu jenen Formen dialogischen Wechselgesangs zu rechnen sind, die August Langen in seiner Studie zum Dialogischen Spiel (1966) untersucht hat. Das Gedicht wäre in dieser Lesart ein Wechselgesang zwischen einem männlichen oder weiblichen Sprecher und Echo, wobei der repetierenden Rede Echos nicht nur der Charakter bloßen Widerhalls, sondern eigenständiger Verscharakter zukäme. Dafür spricht jedenfalls die Länge der Rede Echos, welche die typische Kurzatmigkeit und Lakonik der Echogedichte überschreitet und ihre Rede als bloße akustische Widerspiegelung unplausibel werden läßt: Das zentrale Charakteristikum des Echos ist nun einmal seine Kürze, die auch die Poetiken, wie gesehen, auf eine bis höchstens drei, ein Einzelfällen allerhöchstens vier Silben beschränkten. Diese Obergrenze reizt Zesen aus, die Rede Echos ist im Schnitt zwischen drei und vier Silben lang, und dies durchgängig. Dafür spricht auch, daß der Rede Echos tatsächlich Verscharakter zukommt, was durch die paarreimartige Struktur unterstrichen wird. Zesen könnte sich hier bei der zeitgenössischen polyphonen Chormusik inspiriert haben lassen, die, wie Langen gezeigt hat, auch für die Dichtung eine zentrale Vorbild- und Anregerfunktion hat, 42 denn immerhin handelt es sich bei diesen Texten um Lieder. ––––––––– 39 40

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Ebd., 109. Vgl. Berns’ Aussage, daß Echo nie die „Möglichkeit [habe], eigene Versmächtigkeit zu gewinnen“ (Anm. 15, S. 72). An dieser Limitierung arbeiten sich Zesens Texte regelrecht ab. Eine Vielzahl solcher ‚disziplinierender‘ Vorschriften bei van Ingen: Echo (Anm. 19), S. 12f. August Langen: Dialogisches Spiel. Formen und Wandlungen des Wechselgesangs in der deutschen Dichtung (1600–1900). Heidelberg 1966, S. 50.

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Inhaltlich variieren alle drei Gedichte Motive und typische Situationen aus einer schäferlichen Liebesdichtung, wofür auch der Titel der Sammlung, FrühlingsLust, steht. Dabei allerdings treten die Ausgestaltung der Situation wie der gesamte Kontext der Natur in allen Texten in den Hintergrund – und letztlich auch die Liebe zu dem abwesenden Partner. In dem intimen Umgang mit Echo, also letztlich dem Zwiegespräch mit sich selbst, erweisen sich alle drei Texte als selbstbezüglich. Man fragt sich, wo in dem versweise wechselnden Gespräch zwischen Ich und Echo überhaupt noch Platz ist für die Geliebte. Alle drei Texte weisen eine deutlich positive Grundstimmung auf, die Hans-Georg Kempers Beobachtung bestätigt, daß die Botschaft von Zesens FrühlingsLust „ganz antipetrarkistisch stets auf eine Rechtfertigung der erfüllten sinnlichen Liebe“ 43 gerichtet sei: Im Unterschied zu Opitz tritt hier das Element der lamentatio deutlich in den Hintergrund, ja die Sehnsucht nach der Geliebten wird letztlich nur noch als sprachliches Spielmaterial zitiert, das fortwährend Echo-Effekte generiert, ohne daß es zu einer zwingenden dramatischen Struktur käme: Auf Didaxe zielen diese Texte sichtlich nicht mehr. Alle drei Gedichte kreisen um das wiederholte, ja wiederum selbst echoartige Durchspielen der immergleichen Topoi, denen, anders als bei Opitz, die wirklich existentielle Komponente abgeht: Es sind Spiele mit Formen und Grenzen des Echo-Gedichts. Repetierende Klangspielereien, wie sie Zesen in seinen Echo-Gedichten präsentiert, finden sich – auch über die Gattung des Echos hinaus – in seinem lyrischen Werk fast überall. Wiederholungen, vor allem auf der phonetischen Ebene, sind ein zentraler Formaspekt seiner Lyrik. Josef Keller hat in seiner Dissertation Die Lyrik Philipp von Zesen (1983) auf diesen Umstand hingewiesen: „Wir fanden in zahlreichen Gedichten ein additives, assoziierendes Verfahren vor und sprachen in diesem Zusammenhang davon, dass ein gefallenes Stichwort wieder aufgenommen und damit der Gedanke leicht variiert weitergesponnen werden.“ 44 Es gehe Zesen in seinen Gedichten geradezu um eine „Lust am Auskosten der klanglichen Werte der Wörter“. 45 Phonetische Kategorien bestimmten also die Wahl der Wörter, nicht semantische Gesichtspunkte. Zesen verwendet dabei eine Klasse von rhetorischen Stilmitteln, die man mit Henrich F. Plett „Figuren der phonologischen Äquivalenz (Isophoneme)“ 46 nennen kann. Äquivalenz bedeutet, daß zwei oder mehr Phoneme in einer linguistischen Einheit ähnlich oder gleich sind. Solche Erscheinungen werden in der Rhetorik konventionell als Alliteration, Konsonanz, Reim usw. bezeichnet, 47 in Arbeiten zur linguistischen Poetik werden diese Phänomene aber auch unter einem weiter gefaßten Begriff des Echos versammelt. 48 Zesens –––––––––

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Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. IV/2: Barock-Humanismus: Liebeslyrik. Tübingen 2006, S. 166f. Josef Keller: Die Lyrik Philipp von Zesens. Praxis und Theorie. Bern u. a. 1983, S. 83. Ebd. Heinrich F. Plett: Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen. München 2000, S. 59ff. Keller (Anm. 44), S. 84ff. David I. Masson: Sound-Repetition Terms. In: Poetics, Poetyka, Poetika. Studies presented at the International Conference of Work-in-Progress devoted to Problems of Poetics. Bd. I.

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Echo-Gedichte sind also nach poetologischen Prinzipien gestaltet, die sich in verwandter Form in seinem lyrischen Werk durchgängig finden. Das erklärt allerdings noch nicht, welche externe Funktion solche Klangfiguren in den Texten haben können. 49 Die Forschung hat diese Frage durch das Konzept der ‚Lautanalogie‘ zu beantworten versucht, das Zesen in seinem sprachtheoretischen Dialog Rosen-Mând (1651) entwickelt. 50 Es geht dort im Unterschied zur Klangmalerei nicht um die onomatopoietische Überwindung der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, sondern um die analogische Repräsentation der Welt (in Gestalt der vier Elemente) durch die vier Vokale a, e, u und o. Dies erklärt, warum sich der Sinn in vielen der Texte Zesens in Sound auflöst, die Sinn-Semantik der Worte zugunsten ihrer klanglichen Gestalt zurücktritt. Dabei handelt es sich nicht um Unsinnspoesie – eine solche Interpretation liest die Texte auf ihre Semantik hin und ist deshalb nicht adäquat –, sondern um die analogische Repräsentation von Mikro- und Makrokosmos im poetischen Text. 51 Ob allerdings eine solche ‚analogische‘ Interpretation auch im Falle der Echo-Gedichte angebracht ist, bleibt mehr als fraglich. 52 Zesens Echo-Texte tendieren ja gerade nicht zum Verlust der Wortsemantik, sondern erzielen ihre Effekte durch kalkulierte Erzeugung von Bedeutungen. Mir scheint deshalb eine Interpretation sinnvoller, die die Texte nicht gleich wieder mit Sinn auflädt – nichts anderes macht man, wenn man die Echo-Gedichte auf die Kontexte in Zesens Rosen-Mând bezieht –, sondern ihre Oberflächenstrukturen als autoreflexives Spiel liest.

4. Zesens Klang-Spiele als Signum ihrer Modernität Gerade die Tendenz, in diesen Texten das sprachliche Klang-Material in den Vordergrund zu schieben, ja es regelrecht auszustellen und jenseits des Inhalts der Gedichte zu ihrem eigentlichen Thema zu machen, scheint mir die spezifische Qualität von Zesens Echo-Liedern zu sein. Letztlich erfüllen diese Gedichte alle jene Kriterien der Literarizität, wie sie in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts seit dem russischen Formalismus und Strukturalismus zum ––––––––– 49

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Hg. v. Donald Davie u. a. Warschau u. Gravenhage 1961, S. 189–199. Kellers Beobachtung, Zesens Texte gewännen durch die Verwendung von Klangmitteln „an Atmosphäre und lyrischem Schmelz“ (Keller [Anm. 44], S. 90), vermag gewiß nicht zu überzeugen. Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 156–181. – Dieser Aufsatz geht zurück auf: Renate Weber: Die Lieder Philipp von Zesens. Diss. Hamburg 1962, S. 199ff. – Der Text in Zesen SW XI, 79–273, einschlägig vor allem S. 177ff. Kemper (Anm. 43), S. 159. Dies sehe ich anders als Kemper (Anm. 43), S. 166.

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Kriterium der Poetizität eines literarischen Textes gemacht worden sind: Zesen als Avantgardist. Roman Jakobson postuliert in seinem berühmten Aufsatz Linguistics and Poetics (1960), daß Literarizität dann vorliegt, wenn sich die Ausdrucksseite einer Botschaft (ihre Oberflächenstruktur) vor ihre Inhaltsseite (ihre Tiefenstruktur oder Bedeutung) schiebt. Genau in diesem Sinne aktualisieren Zesens Echo-Gedichte – ähnlich übrigens wie viele seiner Sonette, die ebenfalls ein produktives Experimentierfeld sind – gerade jene Sprachfunktion, die Jakobson ins Zentrum seines Konzepts poetischer Sprache stellt, nämlich die poetische Funktion, die als „Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche“, als „Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ 53 definiert wird. Die poetische Funktion realisieren die Echogedichte Zesens in paradigmatischer Weise. In ihrem Spielcharakter ist auch der Grund zu suchen, weshalb die spielabstinente Literaturtheorie der Frühaufklärung Zesens Texte so vehement ablehnte – die Gottsched-Zitate vom Beginn zeigen es. Einem inhaltszentrierten Literaturkonzept, das die Poesie nur als Vehikel für den Transport moralischer Botschaften braucht, konnten die Klangspielereien Zesens mit ihrer unklaren, fließenden Semantik nicht geheuer sein. In Zesens Echotexten zeigt sich, wie die Poesie die enge Bindung an das Postulat von prodesse und delectare hin zu einer Autonomisierung des Poetischen überschreiten kann. Das zeigt auch der Vergleich mit dem konservativeren Gedicht von Opitz, in dem der Leser durch den Nachvollzug der Abfolge von lamentatio und consolatio und die explizite Moral-Didaxe Echos tatsächlich eine ‚Lehre‘ ziehen kann. Davon ist Zesen weit entfernt. Mein Beitrag sollte sich als Plädoyer dafür verstehen, diese ‚Modernität‘ der Echo-Gedichte Zesens ernst zu nehmen, die sich eben in der Autoreflexivität dieser Gedichte zeigt, die mit dem sprachlichen Material auf komplexe Art spielen. Dichtung erscheint auf diese Weise als ein ‚Spiel‘, freilich nicht im Sinne der Unsinnspoesie, wie Alfred Liede in seiner Monographie über Dichtung als Spiel (1963) das Echogedicht gattungsgeschichtlich einordnet. 54 Von dieser Bestimmung aus, die das Echogedicht als Gattung versteht, die spielerisch über ihre eigene Struktur reflektiert, wären dann die Echogedichte der ‚Nürnberger‘ zu untersuchen, für die Zesen ein wichtiges Vorbild war.

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Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960). In: R. J.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 83– 121, hier S. 92. Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Berlin u. New York 21992 (11963), Bd. II, S. 136ff.

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Textanhang: Philipp von Zesen: FrühlingsLust, 1642 (Zesen SW I/1, 103–110) a)

Das Ander Lied. Auff Echonische Art j. Dich Lustkind Echo wil ich fragen / Echo. diß dein klagen? Ja klagen: Wo fühl’ ich die Schmertzen? E. In dem Hertzen. Wer macht die Gluth / die mich entzündet? E. die dich bindet. ij. Wer macht die Angst / die mich betrübet? E. die dich liebet. Was kan doch lindern solch betrüben? E. Treulich lieben. Wie sol mich dann mein Schatz ümbfangen? E. Mit den Wangen. iij. Wenn wird die Last von mir genommen? E. Sie wird kommen. Wird Sie dann balde mich befreyen? E. Gantz verneuen. Wie lange wird es sich verzihen? E. Zeit muß flihen. jv. Wovor wird doch geschickt die Krohne? E. Dir zu Lohne. Was macht der Krantz von Gold und Seiden? E. Lauter Freuden. Ach möcht ich nur Sie selbsten haben! E. Dich zu laben. v. Wird sie bald kommen mich zu küssen? E. Sie wird müssen. Ach! sih der Tag leufft schon zum Ende E. Gar behände. Nun kömmt Sie / meine Freuden-Sonne / E. Deine Wonne. vj. Nun wil ich Kuß üm Kuß Ihr geben. E. und dein Leben. Sie wird mir Lust und Freude machen. E. Dich anlachen. Sie wird mir alles seyn zu willen / E. Dich zu stillen. vij. Wo seyn doch hin die langen Stunden? E. Gantz verschwunden. Sol ich nun fort in Freuden schweben? E. Lustig leben.

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Zesens Echo-Gedichte Nun wil ich ruhen in den Armen: E. Zu erwarmen. viij. Nun fühl ich weder Angst noch Schmertzen: E. in dem Hertzen. Der Schmertz ist itzo gantz verschwunden: E. mit den Stunden. Nun kan ich meine Liebste hertzen: E. mit Ihr schertzen. jx. Ihr Zucker-Mund muß mich erquicken! E. und dich drücken. Was soll ich itzo thun und üben? E. lauter lieben. So lange biß die Nacht verstiebet: E. Sie dich liebet. x. Ey nun wil ich den Schmertzen meiden: E. Angst und Leiden. Nun mag ein ander Leide tragen: E. Weh und klagen. Ich kan nun für und für mich üben / E. völlig lieben.

b)

Das Dritte Lied. Auff eben vorige Art und Melodey. j. O Echo / wo sol man dich finden? Echo. In den Gründen. Wer wird uns Ihren Nahmen sagen? E. du must fragen. Wo sol ich dann auff Antwort warten? E. In dem Garten. ij. Wer führt dahin uns arme Blöden? E. wiltu reden? Wohl! wenn uns dieses ist vergönnet? E. Ja Ihr könnet. Ey nun wohlan! So wil ich fragen: E. und Ich sagen. iij. Was thut so weh in meinem Hertzen? E. Liebes-Schmertzen. Wer kan dieselben Schmertzen machen? E. Liebes-Sachen. Ist dann der Venus Sohn so mächtig? E. Ja / verdächtig. jv. Wann werd’ ich seyn in Fried’ und Freuden? E. Nach dem Leiden. Das weiß ich wohl / wann solls geschehen? E. Du wirsts sehen.

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Dietmar Till Ja sehen: Soll ich noch verziehen? E. Schmertz muß flühen. v. Wer ist der mir soll Freude geben? E. Selbst dein Leben. Soll mich mein liebster Schatz erfreuen? E. Gantz verneuen. Ach ja! mein Liebhold wirds verrichten? E. Dein Leid schlichten. vj. Wie daß er sich so lang verweilet? E. Schau / Er eylet. Nun freuet Euch Ihr schwachen Glieder! E. Er kömmt wider. Nun wil ich etwas frischer singen / E. Gar in springen. vij. Gehabt Euch wohl ihr bittern Schmertzen / E. Weicht vom Hertzen. Ich lebe nun in Freuden-Tagen; E. Andre klagen. Laß andre klagen / wie sie wollen / E. Ja sie sollen. viij. Laß fremder Hertzen immer hitzen: E. immer schwitzen. Ein ander mag sich nun bemühen / E. Liebe flühen. Ich wil nun alle Lust verüben; E. Allzeit lieben.

c)

Das Vierde Lied. Auch auff Echonische Art / In seiner sonderlichen Melodey. j. Echo zeige mir mein Leben! E[cho:] Ja dir eben. Weistu meine Liebste nicht? E. Die dein Licht? Ja sie ist mein Licht und Sonne / E. Freud und Wonne? Ja sie ist mein Freuden-Schein / E. Sie ist dein. ij. Sol ich mich noch länger mühen? E. Laß verzihen: Ach verzihen macht mir Leid / E. Nein. Die Zeit. Was kann lindern meine Schmertzen? E. Jungfern schertzen. Ist nun balde da die Zeit? E. nicht mehr weit.

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Zesens Echo-Gedichte iij. Wird mir bald das Leid benommen? E. Sie wird kommen. Soll sie kommen meine Zier? E. Ja zu Dier. Ach! der Tag wil schon verfließen / E. Laß sie grüßen. Ey! so bring Ihr meinen Gruß; E. Wenn ich muß. jv. Ach! wo seyn die langen Stunden? E. Gantz verschwunden. Ist dann schier der Schmertz vorbey? E. Du bist frey. Ach! wenn kommet mein Verlangen? E. Sih die Wangen. Ist dann diß mein Wunder-Licht? E. Sihst es nicht? v. Wohl! ich will sie auch empfangen / E. dein Verlangen? Wil Sie küssen unverwandt / E. Mund und Hand? Ey! nun lieg ich in den Armen / E. Zu erwarmen. Biß der Nächte Liecht verbleicht / E. und entweicht. vj. Nun wil ich die nacht verjagen / E. Schmertz und klagen. Nun bring’ ich in Fröligkeit: E. Zu die Zeit. Wil mich in dem süßen lieben: E. Stetig üben. Drümb Ade! du Schmertz und Leid E. Weiche weit. viij. Hiermit wil ich dieses schlüßen: E. Dich zu grüßen / Edles Bild voll Freundligkeit: E. Dieser Zeit. Echo / leb’ in grünen Heyden. E. Ihr in Freuden. Wir seyn nur auff Lust bedacht: E. Diese Nacht.

Maximilian Bergengruen

Ob ein weiser Mann heiraten und das Gestirn beherrschen soll? Kosmische Misogynie in Zesens Liebeslyrik (und der Adriatischen Rosemund)

Abstract Ziel dieser Studie ist es, zwei Dimensionen in der Liebeslyrik Philipp von Zesens zu rekonstruieren, die das petrarkistische Grundinventar überformen: eine metaphorische (Astrologie) und eine wörtliche (Misogynie). Die Frau, so die Logik der ersten Dimension der Gedichte (und der Adriatischen Rosemund), bedroht den Mann durch ihre, dem Einfluss der Sterne gleichenden, AugenBlicke. Diese als tödlich apostrophierte Gefahr kann der Vir sapiens nicht, wie es in der Astrologie vorgesehen wäre, meistern; er kann ihr nur durch eine Flucht in die Unsterblichkeit der Literatur entgehen. Eine solche – poetologisch zu verstehende – Konstellation, so die Rekonstruktion der zweiten Dimension, ist jedoch nicht nur dem Kontext der natürlichen Magie geschuldet, sondern rührt von einer misogam-misogynen Position her, wie man sie in der zeitgenössischen Querelle des femmes findet.

I. Wenn Blicke töten könnten Die Frauen, die in Philipp von Zesens Liebeslyrik besungen werden, unterliegen, was ihre äußerliche Beschreibung anbetrifft, einer sehr genauen und eng ziselierten Topik: Sie sind schön und begehrenswert, meist, wenn auch nicht immer, tugendhaft, auf jeden Fall jedoch gefährlich; und dies durch eine Waffe, welcher der Mann nichts entgegenzusetzen hat: durch ihren Blick. Man denke z. B. an die „liebeuglende Roselinde“, von der im gleichnamigen Gedicht aus dem Rosen- und Liljen-thal gesagt wird, dass ihr „Augenstrahl“ mit dem schreibenden männlichen Ich „spielen“ wolle, was auf den ersten Blick noch harmlos erscheinen mag. Aber ihr „Augenblick“ – und das ist in diesem Zusammenhang ganz wörtlich, also als Augen-Blick, zu verstehen –„zieht“ den „matten sin […] aus mir zurük“. Und damit klar ist, von wem die Rede ist, wiederholt das klagende männliche Ich noch einmal: „aus mir“ (SW II, 246f., V. 19f.; 1; 4f.). Die Zerstörung des männlichen Sinns, das Ent-sinnen (es handelt sich hierbei um einen petrarkistischen Topos), 1 richtet sich vor allem auf die Augen. Am besten beherrscht diese Technik anscheinend ein „Venenkind“ (SW II, 117, V. 2, –––––––––

1

Vgl. hierzu (mit Bezug auf Petrarca) Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973, S. 26f.

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„Reiselied“), also die, natürlich aus der „Venen-stadt“ Venedig abstammende, 2 Adriatische Rosemund (SWI/1, 383, V. 34, „Des betrübten Mahrholds Klage“). Von dieser wird nicht nur in der Rosemund-Lyrik – z. B. in „Des Marholds Reise-gesang“ aus den Jugend-Flammen – gesagt: „ihr aug entäuget mich“ (SW I/1, 375, V. 19), sondern auch in der Adriatischen Rosemund: „Es kahm mihr nicht anders führ“, schreibt der Geliebte Marhold, der ersten Begegnung mit ihr gedenkend, „als wan di wunder-kräftige strahlen ihrer häl-funklenden augen di meinigen zerbrochchen / oder mich durch einen solchen überirdischen schein gahr entäuget hätten“ (SW IV/2, 61; Herv. M. B.). 3 Ähnlich heißt es auch in einem Rosemund gewidmeten Gedicht, dem „Schertzlied nach Anakreontische ahrt“ im Rosen- und Liljen-thal: „Die Augen können taugen / | die meine kräft’ alleine / | die meine kranke beine / | ja augen gantz außsaugen“ (SW II, 93, V. 14). Entäugen im Sinne von Zerbrechen oder Aussaugen der Augen – deutlicher könnten die Beschreibungen nicht sein: Blind soll der Mann werden; blind vor Liebe, blind für andere Frauen, ja blind für alles andere. Doch bei der Zerstörung der Augen lassen es die Frauen natürlich nicht bewenden. Nicht nur der Sehsinn, sondern die Existenz des Mannes schlechthin stehen angesichts der gefährlichen weiblichen Blicke auf dem Spiel. „Schöne / wie mag dieses kommen / […] daß mich Ihrer Augen blik | ziehet aus mir selbst zurük“, heißt es in einem an J. Dorotee Darel gerichteten „Schertzlied“, das sich im Rosen- und Liljen-thal findet. Und weiter: „Mit den Fingern mag Sie spielen; | aber mit den Augen nicht“, da dieses Spiel, neben dem des (ebenfalls petrarkistisch aufgeladenen) 4 Gesangs das schreibende Ich „fast zum sterben bringt“ (SW II, 122f.; V. 1; 7f.; 9f.; 16; Herv. M. B.). ––––––––– 2

3

4

Zesen scheinen bei dieser Herleitung jedoch Zweifel zu plagen, die an anderer Stelle, den Anmerkungen zum zwölften Lied seiner Jugend-Flammen, zum Ausdruck kommen: „Daß man aber den nahmen Venedig von der lateinischen Venus herleiten wil / weil sie daselbst solte sein geehret worden / ist gantz falsch“ (SW I/1, 316). In der neueren Forschung zur Adriatischen Rosemund wurden bisher vor allem die Anleihen beim höfisch-galanten und beim Schäferroman diskutiert – Volker Meid: Zesens Romankunst. Frankfurt a. M. 1966 (masch. Diss.), S. 14ff.; Klaus Kaczerowsky: Philipp von Zesens ‚Adriatische Rosemund‘ (1645). München 1969, S. 10ff.; 37ff.; Jean-Daniel Krebs: Dissimulation und Kommunikation der Affekte in Madame de Lafayettes ‚Princesse de Clèves‘ und Zesens ‚Adriatische Rosemund‘. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. J. D. K. Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 163–174; Sandra Krump: Zesens ‚Adriatische Rosemund‘: Gesellschaftskritik und Poetik. In: Euphorion 94 (2000), S. 359–402, S. 396ff. – sowie die Bezüge zur Deutschgesinnten Genossenschaft offengelegt: Kaczerowsky, wie oben, S. 22ff.; 100ff.; vor ihm aber schon Jan Hendrik Scholte: Zesens ‚Adriatische Rosemund‘. In: Deutsche Vierteljahresschrift 23 (1949), S. 288–305. Van Ingen schließlich, um die Skizze der Forschung zur Rosemund abzuschließen, führt gegen eine psychologische oder autobiografische Lesart des Romans die des literarischen (idealisierenden) Portraits ins Feld, die nicht von der Fabel, sondern von der weiblichen Hauptfigur, also Rosemund, ausgeht: Ferdinand van Ingen: ‚Adriatische Rosemund‘. Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. F. v. I. Wiesbaden 1972, S. 47–122, S. 99ff. Vgl. hierzu Leonard Forster: Das eiskalte Feuer. Sechs Studien zum europäischen Petrarkismus. Übers. v. Jörg-Ulrich Fechner. Kronberg i. T. 1976, S. 16f.

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Es lässt sich in diesem Zusammenhang durchaus – und auch hier erweist sich der Petrarkismus als Stichwortgeber 5 – von einem Kampf sprechen. Die „Liebes-übung“ eines Paares kann z. B. in nichts anderem als dem „fechten“ der Augen bestehen (SW I/1, 338, V. 15). Und der in vielen Gedichten erwähnte „Augen-Blitz“ (SW I/1, 71, V. 61, „Unterredung zwischen dem Schäffer Thyrsis und der Schäfferin Amaryllis“) der angesprochenen Frauen deutet in eine ganz ähnliche Richtung: „Blitzen“ ist nämlich die Eigenschaft des Kriegsgottes Mars, von dem im sechsten Lied der FrühlingsLust gesagt wird, dass er von Venus oder – wie sie Zesen nennt – Lustinne bezwungen wird. Aber anscheinend hat sich die Siegerin die Techniken des Besiegten bis zur Perfektion angeeignet, so dass auch sie nun den aus den Augen herausgeschossenen „Liebes-Pfeil“ (SW I/1, 113, V. 12; 9) nach der Art des Kriegsgottes führen kann, also lethal. Dieser Umstand wird auch aus der Radikalisierung der petrarkistischen Formel von der Entselbstung des Mannes durch Herzensraub deutlich. 6 Marhold wird z. B. aus der Ferne gewahr, dass ihn seine geliebte Rosemund – so eine Formulierung aus „Des Mahrholds Reise-gesang“ – „enthertzet“ hat (SW I/1, 374, V. 9). Und dieses Entherzen ist, der Literalität des Begriffs entsprechend, tödlich, wie auch das männliche Ich einer anderen Frau von ihrem Liebhaber und baldigem Ehemann berichten kann: „Der Euch wollen abgewinnen | und itzund nach Liebes-Brauch | Erstlich wird das schiessen innen / | Das aus euren Augen dringt | und sein gantzes Hertz ümbringt“ (SW I/1, 116, V. 22–27, „Auff eine vornehme Hochzeit“). Hier wird die Konsequenz der gewählten Terminologie am deutlichsten ausgespielt: Die Liebenden stehen einander gegenüber wie ein „Feind“ dem anderen; als Waffe dienen der Frau – wie immer – Augen bzw. Augen-Blick, ungefähr so wie dem Mann das „Schwert“ im Kampf von Mann zu Mann. Hier hingegen, also im Kampf der Geschlechter, ist er vollkommen unbewaffnet. Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass das Ende dieses – notabene – „gierig[en]“ Kampfes durch den Tod des Mannes bzw., was auf das Gleiche hinausläuft, den seines Lebensorgans besiegelt wird: „sein gantzes Hertz ümbringt“ (ebd., V. 17; 19; 27). Was, so fragen sich Leser und Leserin von Zesens Gedichtsammlungen, ist an den weiblichen Augenblicken so gefährlich, ja tödlich für den Mann? Aufschluss gibt die literale Oberflächenstruktur der in den Liebesgedichten gewählten Metaphorik – und zwar weit genauer als die petrarkistischen Vorlagen. Der Blick der Frau ist deswegen so gefährlich für den Mann, weil er ihn bezaubert: „O süße Zauberung!“ ruft z. B. Marhold in seinem „Reise-gesang“ angesichts der Blicke Rosemunds aus (SW I/1, 375, V. 13). Eine ähnliche Erfahrung hatte schon sein Alter Ego in der Adriatischen Rosemund gemacht, der sich ebenfalls beim ersten Anblick Rosemunds bzw. von Rosemund „bezaubert“ fühlt (SW –––––––––

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6

Vgl. zum petrarkistischen Liebeskampf, Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963, S. 183ff., sowie Forster (Anm. 4), S. 17, und Hoffmeister (Anm. 1), S. 25f. Vgl. hierzu, insbesondere mit Bezug auf Fleming, Pyritz (Anm. 5), S. 194f.

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IV/2, 57). Analog dazu wird im zwölften Lied der FrühlingsLust von der „Liebes-lust“ gesagt: „Die mein Gemüth und Sinnen | Bezaubert allbereit / | nur Thorheit zu beginnen“ (SW I/1, 76; V. 3ff., Herv. M. B.). Was es genau mit dem Zauber, der von dem Blick der Frau ausgeht, auf sich hat, erklärt ein zuvor abgedrucktes Schäfergedicht der gleichen Zeit: „Starck ist ein Magnet im zihen / | Stärcker ist ein Liebes-Blick / | Ein Magnet ziht Stahl zurück; | Doch wann Liebes-Rosen blühen | In der Buhlschafft Eugelein / | Kan die Liebe stärcker seyn“ (SW I/1, 71, V. 61–66, „Unterredung zwischen dem Schäffer Thyrsis und der Schäfferin Amaryllis“). Man muss sich vor Augen führen, dass der „magnes“ in der Frühen Neuzeit, z. B. in Marsilio Ficinos De vita, als die Metapher verwandt wird, um die vom Gestirn ausgehende Anziehung und Abstoßung des Kosmos zu beschreiben: „Superius autem in eodem rerum contextu trahit quidem quod es inferius et ad se convertit“ (‚Das Obere aber zieht das, was unten ist, in einen ähnlichen Zustand und wandelt es zu dem, was es selbst ist‘). Es handelt sich dabei um eine Dynamik, die der Mikrokosmos Mensch durch die natürliche Magie, z. B. durch den Rückgriff auf die „virtu[s] imaginum“ (‚die Kraft der Bilder‘), nachahmen und in dieser Nachahmung optimieren soll. 7 Der Rückgriff auf den Magnet als Beschreibung für natürliche und (in ihrer Steigerung) künstliche Anziehung ist äußerst aufschlussreich, da die Parallelen zwischen einem naturmagischen Modell, wie es bei Ficino beschrieben wird, und der Konzeption, wie sie in Zesens Liebeslyrik entworfen wird, noch wesentlich weiter gehen. Die beschriebene harmonische Dynamik des Kosmos finde sich nämlich, so Ficino in De amore, bereits in der Dynamik, die „amor[ ]“ entfacht, so dass man ihn als den ersten „magum“ bezeichnen müsse. Ja, so Ficinos Argument, die Liebe ist eigentlich die ursprünglichste Form der Magie: „Quia tota vis magice in amore consistit“. 8 ––––––––– 7

8

Marsilio Ficino: Three Books on Life. A Critical Edition and Translation with Introduction and Notes. Hg. v. Carol V. Kaske u. John R. Clark. Binghamton u. New York 1989, S. 316 u. 314. In diesem Aufsatz soll Zesen nicht nur im engeren Rahmen der Natursprachenlehre – so z. B. Josef Keller: Die Lyrik Philipp von Zesens. Praxis und Theorie. Bern u. a. 1983, S. 119; Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 76; 81; Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik. In: Philipp von Zesen 1619– 1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 193–220, S. 203, und Renate Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: ebd., S. 156–181, hier S. 163 (u. ö.) –, sondern im umfassenderen der natürlichen Magie/Astrologie diskutiert werden. Die einzigen mir bekannten Publikationen, die diesen Zusammenhang berücksichtigen, sind Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, S. 37ff.; HansGeorg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Tübingen 1987ff., Bd. IV/II, S. 146– 192, bes. S. 155ff., und Leo Lensing: A ‚Philosophical‘ Riddle. Philipp von Zesen and Alchemy. In: Daphnis 6.1/2 (1977), S. 123–146. Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl (De amore, lt.-dt.). Übers. v. Karl P. Hasse. Hg. v. Paul R. Blum. Hamburg ³1994, S. 242. Zur Liebesmagie in der deutschsprachigen Lyrik der Frühen Neuzeit, insbesondere bei Opitz und Fleming, vgl. HansGeorg Kemper: Zwischen schwarzer Magie und Vergötterung. Zur Liebe in der frühen Neuzeit. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger.

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Die für die Magie konstitutive Anziehung („attractio“) aufgrund einer bestimmten Wesensverwandtschaft („cognatio[ ]“) wird für Ficino in ihrer erotischen Primärform – und hier wird der Bezug zu Zesen noch offensichtlicher – durch die Augen gewährleistet. Durch sie als die durchsichtigen Fenster der Seele („oculos, animi phenstras lucidissimas“) scheint der Lichtstrahl der Schönheit („pulchritudinis radius“) ungehindert hindurch, und zwar bisweilen so hell, dass die Liebenden „obcecati“, also geblendet werden. 9 Eine solche Denkweise ist natürlich nur konsequent für einen Platoniker, der Eros im Rahmen des Sonnengleichnisses aus der Politeia (508aff.) versteht: Allein über das Sehen kann die Liebe ihren alleinigen Anfang nehmen: „Amor […] ab aspectu ducit originem“. 10 Liebe als Magie, die über die magnetgleiche Attractio des Augenstrahls funktioniert und eine Verblendung der bzw. des Liebenden nach sich zieht – die Analogien zwischen Ficino und Zesen könnten größer nicht sein. Zesen unterfüttert das Magie-Argument sogar noch epistemisch, indem er ein weiteres petrarkistisches Motiv, 11 nämlich die Ähnlichkeit zwischen dem Gestirn und den Augen des geliebten Gegenüber, ebenfalls wörtlich nimmt und dadurch mit dem naturmagischen Denken in Einklang bringt. Wie oben angedeutet, geht die ursprüngliche Anziehung und Abstoßung im Kosmos, die der natürliche Magier nachahmen soll, vom Gestirn aus. Ficino führt im zweiten Kapitel vom dritten Teil seines Liber de Vita aus: „nos atque omnia quae circa nos […] coelitus […] sunt assidueque reguntur“: ‚Wir und alle Dinge um uns herum sind vom Himmel (gemacht) und werden vom ihm beständig regiert‘. 12 Von einem solchen astrologischen Standpunkt aus gesehen scheint es nun absolut folgerichtig, wenn in Zesens Liebeslyrik die die Attractio ausübenden Augen der beschriebenen Frauen mit Sternen verglichen werden: „Der Himmel deiner Stirn’ an welchem blicken | Zwo schöne Liechter voller Zier“, heißt es z. B. in „Tugendreich die kleine Welt“ aus der FrühlingLust (SW I/1, 85, V. 15); ähnlich im „Achte[n] Lied“: „Hertze des Himmels und Auge der Sterne / | Welches erleuchtet und zieret das Feld“ (SW I/1, 93, V. 1f.). Und im zehnten Lied schließlich: „Wie blitzen die Augen der beyden allhier! | Sie funckeln im dunckeln bey nächtlicher weile / | Wie sonsten die Sterne von ferne voll Zier“ (SW I/1, 95, V. 10ff.). –––––––––

9 10 11

12

Tübingen 1992, S. 141–162, sowie ders.: Hölle und ‚Himmel auf Erden‘. Liebes-, Hochzeits- und Ehelyrik in der frühen Neuzeit. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. v. Walter Haug. Tübingen 1999, S. 30–77. Ficino: Über die Liebe (Anm. 8), S. 240; 242. Ebd., S. 238. Vgl. hierzu, mit Rekurs auf Petrarca selbst, Forster (Anm. 4), S. 13ff., und Hoffmeister (Anm. 1), S. 26, sowie mit Bezug auf den deutschen Petrarkismus, insbesondere Opitz, Ulrich Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie. Notizen zu Opitz’ Sonettistik im Kontext des europäischen ‚Petrarkismus‘. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 73–87, hier S. 75ff. Ficino: Three books on Life (Anm. 7), S. 248.

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Die gleiche Logik findet sich in einem Gedicht aus den Jugend-Flammen, das explizit Rosemunds „Liebe[n] Augen“ gewidmet ist. Dort werden die „blitzel-augen fol von liebe“ auch als die „augen-sterne“ bezeichnet (SW I/1, 347; V. 17; 10); eine Terminologie, die mit all ihren Details im „Schäffer-lied bei der Amstel“ wieder aufgegriffen wird: „Ihrer schönen augen sterne / | das beflamte blitzel-zwei“ (SW I/1, 359, V. 21f.). Bisweilen werden die Augensterne auch mit dem wichtigsten Stern der Platoniker gleichgesetzt und als „Sonnen blikke“ bezeichnet („An eine Frantzösische Schöninne“, SW I/1, 372, V. 13). Die Augen sind – und dies nicht nur in der petrarkistischen Topik, sondern auch in der magischen Terminologie – die mikrokosmische Entsprechung der Sterne (nicht des Gestirns, das ist die Imaginatio). Während die Natur ihre magische Attractio über sie organisiert, greift der Mensch, zumindest der weibliche, auf sein Gestirn unterhalb der Stirn zurück. Soweit die astrologisch-magische Überformung des petrarkistischen LyrikInventars. Zesens Rekurs auf die magische Natur- und Liebesphilosophie ist nicht weiter erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass er der Theorie der natürlichen Magie, zumindest in ihrer logostheologischen Variante, sehr aufgeschlossen gegenüber steht, ja dass er im Rosen-mând die Kunst der Sprache analog zur Kunst der Alchemie versteht und behauptet, dass durch diese Kunst im „lichte der natur“ das, was „verborgen und versenket“ ist, offenbart werden soll; eine deutliche Anspielung auf den Occultum/Manifestum-Topos der Alchemie und natürlichen Magie in ihrer – Stichwort Licht der Natur – paracelsischen Verwendung (SW XI, 104; 112; Herv. M. B.). 13 Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die Rolle des Gestirns in der paracelsistischen Alchemie- und Magie-Diskussion des ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhunderts stark abgewertet wurde. Paracelsus hatte bekanntlich noch behauptet, dass der Einfluss des Gestirns, die siderische Impressio, das, wie er in der Astronomia magna schreibt, „liberum arbitrium“ des Menschen „bricht“. 14 Gegen diese Theorie begehren die Paracelsisten auf, indem sie sich auf drei in Sentenz-Form abrufbare, astrologische Master-Topoi der Frühen Neuzeit stützen: ‚Vir sapiens dominabitur astris‘ (‚Ein weiser Mann beherrscht das Gestirn‘), ‚astra inclinant, non de necessite causant‘ (‚Das Gestirn macht geneigt, aber zwingt nicht‘) und die auf Gn. 1, 14 beruhende Sentenz ‚Stellae erunt vobis in signa, tempora, dies, & annos‘ (‚Die Sterne seien euch Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre‘). Ungeachtet der Tatsache, dass Paracelsus bereits selbst, freilich mit einer deutlich anderen Lesart, auf diese Sentenzen zurückgegriffen hatte, führen die Paracelsisten sie als Kronzeugen ihrer eigenen Position ins Feld und behaupten, –––––––––

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Vgl. hierzu Vf.: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007, S. 214ff. Paracelsus: Astronomia magna. In: P.: Sämtliche Werke. Hg. v. Karl Sudhoff u. a. München 1929ff., Bd. I/12, S. 232; 236.

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dass der Freie Wille des Menschen vom Gestirn unberührt bleibe: Dass das Gestirn eine „Neigung“ („inclinatio“) oder eine „Nöthigung“ („necessita[s]“) „über den freyen Willen [super arbitrium liberum] bey sich hat“ – das kann z. B. der Alchemiker Johan Baptist van Helmont „nicht einmal“ mehr „in seinem kleinsten Punct […] zulassen“. 15 Dieser Position stimmt auch Philipp von Zesen zu. Für ihn verfügt der Mensch über den „freien Willen“; der „einflus des gestirns“ beläuft sich dementsprechend darauf, dass – hier liegt ein Rekurs auf den dritten der genannten sentenzhaften Topoi vor – im Himmel durch „buchstaben / alles angeschrieben“ ist (Rosen-mând, SW XI, 119; 121f.). Das hieße übertragen auf die Liebesthematik: Wenn es eine Notwendigkeit für die Liebe und Ehe von Mann und Frau gäbe, dann wäre sie in den Augen der Frau angeschrieben und für den Mann abzulesen. Die Zustimmung zum dritten Topos beinhaltet auch die zu den ersten beiden. Und das wiederum bedeutete, auch hier übertragen vom Gestirn auf die liebeheischenden Augensterne: Der gestirnte Liebesblick dürfte Marhold zur Gegenliebe höchstens geneigt machen, nicht aber ihn zwingen. Vielmehr müsste es ihm als einem weisen Manne leicht fallen, durch seinen unverlierbaren freien Willen die von den Augen-Sternen ausgehenden Liebes-Attraktionen zu beherrschen – und das heißt: in seine Richtung zu lenken. 16 Die letzten Sätze sind bewusst im Konjunktiv gehalten. Denn tatsächlich hat die von Ficino, Paracelsus und den Paracelsisten (wenngleich unterschiedlich) als harmonisch beschriebene Herrschaft des Magiers über die Sterne im erotischen Kosmos, den die Liebesgedichte Zesens beschreiben, nicht statt. Wie schon angedeutet, ist es dem weisen Mann, als der Marhold zu gelten hat, nicht möglich, die Kräfte der Sterne einerseits von sich selbst abzuwehren, andererseits so zu verändern, dass sie zu einer Optimierung der natürlichen (und in diesem Falle: menschlichen) Prozesse zu gebrauchen sind. Ganz im Gegenteil: die Augen-Sterne der Frauen beeinträchtigen seinen freien Willen erheblich, genau das macht sie so zerstörerisch, ja tödlich. Daraus erhellt, dass Zesen bereits bei der metaphorischen Beschreibung der Liebes-Blicke als Attractio des Gestirns eine Differenz gegenüber dem magischen Ursprungsmodell eingebaut haben muss, die aus der harmonischen Herrschaft des Mannes über das Gestirn (also die Frau mit ihren Liebesblicken) eine Disharmonie macht. Und für diese hinterlistige Verschiebung kommt natürlich nur einer in Frage: Der Teufel als Vater der Lügen, der, so Paracelsus, den ganzen Kosmos in sein Gegenteil „verkeren“ will, so dass es „on falsch nit hingang“. 17 ––––––––– 15

16 17

Johann Baptist van Helmont: Ortvs Medicinae […]. Hg. v. Franciscus Mercurius van Helmont. Amsterdam 1648, S. 1232; J. B. v. H.: Aufgang der Artzney-Kunst. Übers. v. Christian Knorr von Rosenroth. r(Sulzbach 1686) München 1971, S. 1652. Vgl. hierzu Vf. (Anm. 13), S. 144ff.; 214ff. Paracelsus: Philosophia magna. In: P.: Sämtliche Werke (Anm. 14), Bd. I/14, S. 173.

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Und genau in diese Richtung argumentiert auch Zesen, was sich schon an seiner Wortwahl ablesen lässt. Niemals spricht er nämlich in Bezug auf die weibliche Attractio via Augenstern von Magie, sondern immer von Zauberei. Und das meint im Deutschen eben gerade nicht natürliche, sondern dämonische oder teuflische Kunst. Genau darauf will Zesen auch hinaus. Schon die oben erwähnte Roselinde, die mit ihren „Augenstrahl“ den „matten sin“ aus dem männlichen Ich zurückzieht, wird als eine „Tausendkünstlerin“ (SW II, 247, V. 19; 3; 10) diffamiert – eine deutliche Allusion auf den Teufel als „mille artifex“. 18 Noch deutlicher sind die Anspielungen in „Des Marholds Reise-gesang“, in dem „aug’“ und Mund der Frau das männliche Ich betören: „O süße Zauberung! Sie ist mier zwar entlegen | ihr mund ist weit von mier; doch kan er mich bewegen / | durch lauter bilder-werk / und gibt mier solches ein / | daß ich mit willen mus ihr leib-geschworner sein“ (SW I/1, 375, V. 19; 13–16). Dass die Leibeigenschaft, in die sich der Mann nach diesen Angaben in der Liebe begibt, durch „bilder-werk“ zu Stande kommt, das die Frau ihm eingibt, und dass der Mann durch dieses „bilder-werk“ sogar gesteuert wird („doch kan er mich bewegen“), ist ein eindeutiger Hinweis auf die Mitwirkung des Teufels, der nach der Theorie Johann Weyers und seiner Nachfolger zwar selbst keine Veränderungen im Kosmos vornehmen kann, wohl aber dazu in der Lage ist, in den Menschen eine „falsche einbildung“ zu setzen, 19 die Weyer im lateinischen Original „Praestigi[ae]“ nennt. Nichts weniger als diese Fähigkeit zum diabolischen Trugbild also, das den Menschen zur verkehrten Wahrnehmung der Realität und Handlung in ihr verleiten soll, wird der – notabene: geliebten – Frau zugeschrieben.

II. Nur über ihre Leiche Die Überformung des petrarkischen Inventars durch Astrologie und teuflische Magie ist jedoch nur eine Dimension von Zesens Liebeslyrik. Strukturiert wird seine Dichtung weiterhin – und darum ist es mir im zweiten Teil dieses Aufsatzes zu tun – durch mehrere misogam-misogyne Topoi aus der Querelle des femmes; mit dem frappierenden Ergebnis, dass das Objekt der (angeblichen) Preisungen bei näherem Hinsehen eine, wenngleich überirdisch schöne, Leiche darstellt. Doch der Reihe nach: Die Transformation des Petrarkismus ist im Barock, namentlich zur Zeit Zesens, keine Seltenheit. Georg Rudolf Weckherlin z. B. transferiert, von Edmund Spenser motiviert, in seinem Buhlereyen-Zyklus die ––––––––– 18 19

Paracelsus: Astronomia magna. Ebd., Bd. I/12, S. 412. Johann Weyer: De praestigiis demonvm. Von ihrem vrsprung / vnderscheid / vermögenheit / vnd rechtmeßiger straaff / auch der beleidigten ordenlicher hilff / sechs Bücher. Übers. v. J. W. r(1578) Amsterdam 1967, S. 43r. Vgl. hierzu Vf. (Anm. 13), S. 238ff.

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petrarkistische Grundsituation, die beinahe tödliche Niederlage des Liebhabers durch die kaltherzige Geliebte, in die glückliche Situation einer protestantischen Ehe. Nachdem zuerst, ganz ähnlich wie bei Zesen, von einem gefährlichen und einseitigen „pfeil und plitz“ aus dem weiblichen „augen blick“ die Rede war, heißt es gegen Ende des 14. Sonettes: „Endlich hat meine kunst und müh den weg gefunden | Daß / wie Mein / so ihr hertz numehr mit gleichem glick | Verwundet / sich ergab / sigreich und überwunden“. Dieser wechselseitige Sieg führt, wie im 16. Sonett zu lesen ist, zu einem Waffenstillstands- bzw. Ehevertrag: „Glickseelig bin ich wol / weil sich mir ihre hand / | Hand unsers vertrags zeug / und unsers fridens zaichen / | Auch ihrer gunst und lieb unverwürfliches pfand | Numehr / nach meinem wunsch zu küssen / will darraichen“. 20 Zesen wählt einen ähnlichen Weg zur Überwindung der petrarkistischen Logik, geht ihn aber in die entgegengesetzte Richtung. 21 Das hängt nicht nur damit zusammen, dass bei ihm die Grundsituation gegenüber Weckherlin und dem Petrarkismus verändert ist (Rosemund steht Marhold von Anfang an weder kalt noch abweisend gegenüber), sondern ist vielmehr aus der oben herausgearbeiteten Überformung des petrarkistischen Grundinventars her zu verstehen. Die metaphorische Überschreibung des Liebeskampfes durch die neuzeitliche Astrologie, vor allem aber durch eine diabolische Magie, lässt Weckherlins Lösung, nämlich die angebetete Frau im Liebeskampf zu besiegen und so in den Waffenstillstand der Ehe zu führen, als kaum mehr möglich erscheinen: Von einer potenziellen Teufelsbuhlin muss sich der Mann vielmehr schnell entfernen, will er sein Seelenheil nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.22 Daher wird in der Liebeslyrik Zesens, genau wie in der Adriatischen Rosemund, die Möglichkeit, die Geliebte zu einer Ehepartnerin zu machen, zwar explizit thematisiert, jedoch mit einer zeittypischen Mischung aus Misogynie und Misogamie, also aus Frauen- und Ehefeindlichkeit, ausgeschlossen. Auch hier greift Zesen auf einen sentenzhaften Topos bzw. eine topische Frage zurück: „An vir sapiens uxorem ducat?“ – ‚Ob der weise Mann eine Frau nehmen solle?‘ –––––––––

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Georg Rudolf Weckherlin: Gedichte, 2 Bde. Hg. v. Hermann Fischer. Tübingen 1894f., Bd. I, S. 472, V. 9–14; S. 473, V. 1–4. Die Ersetzung der Virgeln durch Kommata wurde rückgängig gemacht. Vgl. hierzu den instruktiven Aufsatz von Thomas Borgstedt: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus und sein Vorbild bei Edmund Spenser. In: Arcadia 29 (1994), S. 240–266. Eine Verbindung zwischen Zesen und Weckherlin in Bezug auf die Liebeslyrik und ihr Thema (die Augen) stellt auch Volker Klotz: Ausgesprochene Unsagbarkeit. Barocke Preisgedichte auf schöne Augen, verfasst von Weckherlin und Zesen. In: Sprachkunst 31 (2000), S. 225–251, her – freilich mit differentem Ergebnis: Klotz interessiert sich weniger für die Gewalt, die die Augen der jeweils Geliebten ausüben, als für das unsagbar Schöne in ihnen (das sie natürlich auch besitzen). Vgl. zum Zusammenhang von Misogynie und Hexenvorwurf, Gerhild Scholz Williams: Der Teufel und die Frau. Textformen und Textaussagen. In: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit. Hg. v. Rüdiger Schnell. Frankfurt a. M. 1997, S. 280–302.

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Die Frage wird in ihrer topischen Form von der Spätantike in die Neuzeit überliefert. Man findet sie z. B. in ihrer ursprünglichen Form bei Quintilian („an uxor ducenda“ als „quaestio[ ] […] infinita“) 23 oder beim spätantiken Rhetor Libanios. 24 Maßgeblich, da die mittelalterliche Tradition und ihre Multiplikatoren beeinflussend, ist jedoch eine Schrift des Aristoteles-Schülers Theophrast, dessen Eingangsfrage („an vir sapiens ducat uxorem“) 25 und negative Antwort über ein Referat in Hieronymus’ Streitschrift Adversus Iovinianum überliefert sind. Die genannten Formulierungen verdichten sich als sentenzhafte Topik – und dies sowohl in einer positiven als auch in einer negativen Variante, je nachdem ob man die Frage mit ja (wie der spätantike Rhetor Libanios) oder nein (wie Theophrast/Hieronymus) beantwortet. Die Vermittlungsfigur für die positive Verbreitung stellt im Spätmittelalter Albrecht von Eyb dar, dessen so genanntes Ehebüchlein die topisch-sentenziöse Frage bereits im Titel führt: Ob einem manne sey zunehmen ein eelichs weyb oder nicht. Albrechts Antwort ist unmissverständlich: Wenn der Mensch den „lon der ewigkeit“ erlangen will, dann führt kein Weg an Gottes Gebot zur „vermischung“ mit der Frau in der „heyligen ee“ vorbei. 26 Spätestens seit Luthers noch stärkerem Plädoyer für das „Eeliche[ ] leben“, das er als ein „gottlich werck“ (und nicht nur „eyn gepot“) apostrophiert 27 – eine Argumentation, die man durchaus als Teilnahme an diesem Disput lesen kann 28 –, ist der Topos von protestantischer Seite in seiner positiven Form fest etabliert.29 Gleichzeitig wird der ‚Uxor ducenda‘-Topos auch in der misogammisogynen Variante – also in der Kombination mit dem Topos der ‚Molestiae ––––––––– 23 24

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Quintillian: Institutio oratoria III 5, 8. Vgl. zu Libanios’ 4dVLa HÓ JDPKWdRQ, Karl Praechter: Hierokles der Stoiker. Leipzig 1901, S. 141ff. Zur Tradition der Topoi ‚An vir sapiens uxorem ducat‘ und der ‚Molestiae nuptiarum‘ allgemein, vgl. den aufschlussreichen Aufsatz von Detlef Roth: ‚An uxor ducenda‘. Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. In: Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Hg. v. Rüdiger Schnell. Tübingen 1998, S. 171–232. Die lateinische Fassung findet sich in PL XXIII, 276B–278B oder (meine Vorlage): Diatribe in Senecae philosophi fragmenta. Bd. I: Fragmenta de matrimonio. Hg. v. Ernst Bickel. Leipzig 1915, S. 388ff. Deutsch in: Für und wider die Ehe. Antike Stimmen zu einer offenen Frage. Hg. v. Konrad Gaiser. München 1974, S. 30f. Albrecht von Eyb: Ob einem manne sey zunehmen ein eelichs weyb oder nicht. Hg. v. Helmut Weinacht. Darmstadt 1982, S. 56f. Martin Luther: Vom ehelichen Leben. In: M. L.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Weimar 1883ff., Bd. X/2, S. 275f. Vgl. hierzu den informativen Aufsatz von Gisela Bock u. Margarete Zimmermann: Die ‚Querelle des Femmes‘ in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung. In: Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Hg. v. G. B. u. M. Z. Stuttgart u. Weimar 1997, S. 9–38, hier S. 17. Vgl. hierzu Pia Holenstein: Der Ehediskurs der Renaissance in Fischarts Geschichtklitterung. Kritische Lektüre des fünften Kapitels. Bern 1991, S. 253ff., und Jan-Dirk Müller: Von der Subversion frühneuzeitlicher Ehelehre. Zu Fischarts ‚Ehzuchtbüchlein‘ und ‚Geschichtsklitterung‘. In: The Graph of Sex and the German Text. Gendered Culture in Early Modern Germany 1500–1700. Hg. v. Lynne Tatlock. Amsterdam 1994, S. 121–156, hier S. 123f.

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nuptiarum‘ (der ‚Ehebeschwerlichkeiten‘) – aufgegriffen. Diese Variante beruht auf dem oben erwähnten Ursprungstext von Theophrast bzw. Hieronymus. Denn dort wird die Frage, ob ein weiser Mann heiraten solle, sehr deutlich mit nein beantwortet, bringt doch, so das zentrale Argument, der Charakter der Frau den Mann in eine permanente lose/lose-Situation: Wie er sich auch in der Ehe entscheidet, stets gereicht es ihm zum Nachteil. Diese Logik lässt sich noch an Texten des mittleren 17. Jahrhunderts ablesen, z. B. dem Gedicht Nr. 671 aus der Lustigen Gesellschaft von 1660 über die Ungelegenheiten der Ehe: „Ist sie schön, | So hat er viel wartens. | Ist sie heßlich, | So bleibet er nicht im Hause, sondern suchet ein ander Bette. […] Versperrestu sie, | So klaget sie, | Lässestu sie gehen, | So ist sie in der Leute Mäuler […]“ usw. usf. 30 Dieser Rekurs auf Theophrast/Hieronymus ist kein Zufall; es gibt eine Traditionslinie, die über Mittelalter und Renaissance – man denke z. B. an Fischarts Ehezuchtbüchlein, dessen misogyne Passagen durchaus von dieser negativen Realisierungsvariante des ‚An vir sapiens uxorem ducat‘Topos inspiriert sind 31 – bis in die Querelle des Barock führt. 32 Der Begriff der Querelle wurde nicht ohne Hintergedanken verwandt. Denn tatsächlich ist die Frage, ob der weise Mann eine Frau nehmen solle, ungeachtet seiner aus der Spätantike herrührenden Traditionslinie durchaus als ein Element der im Spätmittelalter einsetzenden und in der Frühen Neuzeit heftig geführten Querelle des femmes zu verstehen. 33 Zwar wird dieser Streit im Verlauf der Debatte stärker von anderen (eheunabhängigen) Fragen überlagert – z. B. nach der, ob „ob die Weiber Menschen“, also heilsfähig, „seyn“, 34 ob den „foeminae christianae“ das „studium litterarum“ zukomme, 35 ob Frauen die Tugenden für öffentliche Ämter, insbesondere hohe politische, 36 besitzen, 37 kurz: ob es eine –––––––––

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Ich zitiere nach Ursula Kundert: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehung in Texten des 17. Jahrhunderts. Berlin u. New York 2004, S. 112. Vgl. auch die Erläuterungen ebd. Johann Fischart: Ehezuchtbüchlein. In: Deutsche National-Litteratur. Hg. v. Joseph Kürschner. Bd. XVIII.3. Stuttgart o. J. (1895), S. 248ff. Vgl. hierzu Müller (Anm. 29), S. 129ff. Vgl. hierzu Roth (Anm. 24). So argumentieren Bock u. Zimmermann (Anm. 28), S. 16f. So der Titel eines im Jahre 1618 entstandenen (anonym veröffentlichen) Textes, der in: Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Hg. v. Elisabeth Gössmann. München 1988ff., Bd. IV, S. 101ff., abgedruckt ist. So der Titel einer Schrift von Anna Maria von Schürmann aus dem Jahre 1648, in Auszügen übersetzt in Gössmann: Archiv (Anm. 34), Bd. I, S. 40ff. Zu Schürmanns Text, vgl. Elke Spitzer: Emanzipationsansprüche zwischen der Querelle des Femmes und der modernen Frauenbewegung. Kassel 2002, S. 32ff. Vgl. zur Gynäkokratie-Diskussion in der Frühen Neuzeit, Robert Valerius: Weibliche Herrschaft im 16. Jahrhundert. Die Regentschaft Elisabeths I. zwischen Realpolitik, Querelle des femmes und Kult der Virgin Queen. Herbolzheim 2002, S. 126ff., sowie Pauline Puppel: Gynaecocratie. Herrschaft hochadeliger Frauen in der Frühen Neuzeit. In: Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Hg. v. Gisela Engel. Königstein i. Taunus 2004, S. 152–167.

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„égalité des hommes et des femmes“ gibt. 38 In beiden Fällen (der Ehe- und der Gleichberechtigungsfrage) gibt es aber – und das nähert sie wieder an – sowohl antithetisch strukturierte philogyne als auch misogyne Positionen. Zesen kennt diese Debatte und hat Kontakt zu einer ihrer Protagonistinnen, Anna Maria Schürmann, die er sehr ehrenvoll bedichtet: „Auf der Wohl-ädelgebohrnen Hochgelehrten Jungfrauen J. Annen Marien von Schürman“ (SW I/1, 306). Seine Liebesgedichte lassen sich, so meine These, als eine chiffrierte Antwort auf ihre Thesen verstehen – und zwar, anders als man das vermuten könnte, als eine kontradiktorische: Zesen greift nämlich den ‚An uxor ducenda‘Topos in einer misogyn-misogamen Variante auf. Der Rückgriff auf Theophrasts negative Antwort auf die Frage ‚An vir sapiens uxorem ducat‘ bietet sich schon allein wegen der Möglichkeiten zur Verzahnung mit dem – für die metaphorische Ebene seiner Liebeslyrik wie gezeigt zentralen – Topos ‚Vir sapiens dominabitur astris‘ an; und zwar gerade in der beidseitigen Verneinung des Topos: Angesichts des eminent aggressiven und, wie gesehen, diabolischen Einflusses von Seiten der Frauen kann es keine harmonische Teilhabe am und auch keine Beeinflussung des gestirnten Liebesspiel(s) durch den doppelten Vir sapiens, nicht einmal im Sinne eines überlegenen magischen „Dominabitur“ oder eines hausherrlichen „ducat“, geben, wie es die positive Variante der beiden genannten Topoi nahegelegt hätte. Vielmehr wird in den Liebesgedichten a.) ein vollständiger Rückzug des Mannes von der liebenden Frau geschildert, der b.) eine durchaus aggressiv zu nennende Form des Gegenangriffs auf die gestirnten Attacken der Frau impliziert: Die Handlung des Mannes ist letztlich auf die Auslöschung der Geliebten angelegt, deren ruinöse Anreizung zu Liebe und Ehe 39 er nur auf diese Weise unterbinden zu können glaubt. Ich referiere im Folgenden kurz die wichtigsten Elemente der theophrastischen Position, da Zesen vollständig auf sie zurückgreift. Theophrast erwägt zwar eine Heirat mit einer schönen, gesunden, reichen Frau aus gutem Hause, lässt jedoch selbst dieses Best Case-Scenario wieder fallen, da 1. die Frau herrschsüchtig sei („vocanda domina“; „serviendum est“) und dem Manne das „arbitri[um]“, die freie Entscheidung, nehme, ––––––––– 37

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Vgl. hierzu Cornelia Plume: Heroinen in der Geschlechterordnung. Wirklichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die ‚Querelle des Femmes‘. Stuttgart u. Weimar 1996, S. 37ff. So der Titel eines zentralen Textes von Marie Le Jars de Gournays aus dem Jahre 1622. Vgl. hierzu den Aufsatz von Claudia Opitz: Gleichheit der Geschlechter oder Anarchie? Zum Gleichheitsdiskurs in der ‚Querelle des Femmes‘ und in der politischen Theorie um 1600. In: Engel (Anm. 36), S. 307–329. Dass die Kombination von Ehe und erotischer Liebe mitnichten eine (romantische) Erfindung des 18. Jahrhunderts ist, wie gerne behauptet wird, sondern ihre Wurzeln in Mittelalter und Früher Neuzeit hat, versucht Rüdiger Schnell: Liebesdiskurs und Ehediskurs im 15. und 16. Jahrhundert. In: Tatlock (Anm. 29), S. 77–119, nachzuweisen.

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2. sie den Mann durch ihre moralische Lasterhaftigkeit („pulcra cito adamatur, foeda facile concupiscit“) zur berechtigten Eifersucht anrege, 3. selbst jedoch vollkommen grundlos eifersüchtig werde („alterius amorem, suum odium suspicatur“), 4. ansonsten aber den Mann von den philosophischen Studien bzw. von den Büchern allgemein abhalte („primum enim inpediri studia philosophiae nec posse quemquam libris et uxori pariter inservire“). 5. Die Kinder schließlich, die Frauen Männern schenkten, und die damit verbundene Hoffnung einer zumindest namentlichen Unsterblichkeit, so Theophrast bzw. Hieronymus, seien sowieso im Allgemeinen überschätzt („liberorum causa uxorem ducere, ut […] nomen nostrum non intereat […] stolidissimum est“). 40 Der erste Punkt, also die Behauptung, dass die Frau herrschen wolle, ist oben bereits abgehandelt worden (da er ja auch mit der petrarkistischen Tradition, in gewissem Sinne auch mit der magischen Astrologie, zur Deckung kommt): Genau wie bei Theophrast/Hieronymus vorgegeben, wird auch in Zesens Liebeslyrik das Verhältnis zwischen Mann und Frau als ein Machtkampf geschildert, der den Mann, da seine Niederlage vorgezeichnet ist, sein Liberum arbitrium kosten kann. Der zweite Punkt, der Vorwurf des sexuellen Lasters, liegt in der Liebeslyrik offen zu Tage: „Drüm wäg du geile Wält / ihr buhlerischen Frauen / | Die uns ins Ahngesicht mit frächen Augen schauen / | die unsrer Seelen nichts als nuhr ein Ir-wüsch seyn / | und führen in den Sumpf der Lästerlichen Pein. | Wehr kann gesichchert seyn / wan sich Franzinne schminket / und mit verbuhlter Stirn und geilen Augen winket“ (SW I/1, 248, V. 257–262, „Lustinne“)? Das – in der Querelle ebenfalls topische – Argument, dass Frauen, die sich schminken, den Mann täuschen und in der Täuschung verführen wollen, oft in Kombination mit dem Vorwurf des geilen Blicks (das sich sogar bei dem als philogyn ausgewiesenen Agrippa von Nettesheim findet), 41 wird hier von Zesen benutzt, um –––––––––

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Theoprast. Ed. Bickel (Anm. 25), S. 388ff. Das Argument, dass Huren nicht nur „kosmetische Künste“ zur Täuschung der Männerwelt anwenden („fuco sollicitent corruptores“), sondern auch, genau wie bei Zesen beschrieben, „lasterverheißende Blicke“ („oculorum lasciuia“) aussenden können, wird bei Agrippa von Nettesheim in De incertitudine thematisiert (Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Opera. In duos tomos digesta. r[Lyon? 1600?] Hildesheim u. a. 1970, Bd. II, S. 157; dt. in Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften […]. Übers. v. Gerhard Güpner. Hg. v. Siegfried Wollgast. Berlin 1993, S. 139). Das erstaunt insofern, als man vom Autor der Declamatio de nobilitate et praecellentia foeminei sexus (1529), einem dezidiert philogynen Text, ein solches Argument nicht erwartet hätte. Allerdings wird in der Forschung schon seit Längerem darauf hingewiesen, dass Agrippas Argumentation durchaus ambivalent ist; so z. B. bei Elisabeth Gössmann: Einleitung. In: Gössmann: Archiv (Anm. 34), Bd. IV, S. 7–32, hier S. 16f. Das Argument taucht auch in Johannes Bergmanns Disputatio philosophica de mulieribus (1629) auf (ebd., Bd. I, S. 3). Vgl. zum Schmink-Topos allgemein, Holenstein (Anm. 29), S. 289ff., welche die antiken Wurzeln der Behauptung ‚Schminke=Täuschung‘ aufdeckt (Juvenal,

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den gestirnten Liebesblick der Frau mit der moralischen Lasterhaftigkeit, zumindest auf der Ebene der Latenz bzw. Potenzialität, gleichzusetzen. Die deutsche bzw. deutsch-italienische Lustinne mag in dieser Hinsicht etwas zurückhaltender sein, das Prinzip bleibt das gleiche. In jeder Frau – und selbst noch in der tugendhaftesten Rosemund – wohnt eine lasterhafte Fränzinne. Und das ist ihr, gemäß der Vorgaben Zesens, nicht auf, sondern unter die Stirn geschrieben. Der dritte Punkt, die grundlose Eifersucht der Frau, wird in der Adriatischen Rosemund, ausführlich ausgebreitet. Angesichts eines einzigen, nicht im gewohnt-liebevollen Stil gehaltenen Schreibens von Seiten Marholds fürchtet Rosemund sofort, „daß sich […] eine ausländerin in ihre ställe eingedrungen hätte“ (SW IV/2, 29). Und diese heftige Eifersuchtsattacke führt, da sie sich auch brieflich niederschlägt, zu einer latenten Unstimmigkeit zwischen den beiden. Der vierte und fünfte Punkt, die Abwertung der leiblichen Kinder und die Aufwertung der literarischen Arbeit auf Kosten der Frau, wird in der Rosemund und der Rosemund-Lyrik kombiniert und in ein aufwändiges System gebracht, das ich hier etwas ausführlicher rekonstruieren möchte. Im Roman werden Marholds Abwehrkämpfe gegen die gefährlichen Liebesblicke durch Entzug seiner Person minutiös geschildert. Gleich zu Beginn der Handlung wird die – für die Beziehung der beiden Liebenden prägende – Situation der Trennung vorgeführt: Rosemund ist in Amsterdam zurückgeblieben, Marhold nach Frankreich aufgebrochen. Und auch später, nach seiner Wiederkunft, zieht es ihn immer wieder in die Fremde, so dass angesichts des verräterisch „geschwünden ab-reisen[s]“ ihres Geliebten die von Rosemund flehentlich gewünscht Hochzeit (SW IV/2, 278) niemals zustande kommt. Zu Anfang mag man noch denken, die Ehe würde allein vom Vater verhindert, der sich in der Frage des „Glaubens-bekäntnüs[ses]“ – er und Rosemund sind katholisch, Marhold protestantisch – unnachgiebig zeigt und darauf dringt, dass Rosemund auch nach der Eheschließung katholisch bleibt und ihre möglichen Kinder in diesem Glauben aufzieht. Doch schon bald drängt sich dem Leser der Eindruck auf, dass der Vater, von dem im Übrigen gesagt wird, dass er „wohl zu beräden“ sei (SW IV/2, 79), nicht das entscheidende Hindernis in Bezug auf die Hochzeit darstellt. Nach einiger Überlegung möchte er nämlich seiner Tochter den Glauben „frei-ställen“, zumindest wenn die Eheleute in spe ihm im Gegenzug versprechen, dass wenigstens die Kinder katholisch aufgezogen würden (SW IV/2, 86). Doch Marhold könnte es noch einfacher haben: Rosemund wäre durchaus bereit, ihr „Glaubens-bekäntnüs“ zu ändern, ihre Kinder protestantisch aufzuziehen und die damit notwendig verbundene Konsequenz, also finanziell und ideell von ihrem Vater „enterbet“ zu werden, zu ertragen, wenn sich Marhold nur endlich zur Heirat entschlösse (SW IV/2, 138f.). Doch genau das versucht ––––––––– Xenophon) und ihre Funktionalisierung im Ehediskurs der Frühen Neuzeit, insbesondere bei Fischart, aufzeigt.

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der perennierende Verlobte mit allen Mitteln zu verhindern. Standhaft schützt er weiterhin das die Hochzeit unendlich aufschiebende Argument der Konfessionsproblematik vor – und statt wirklich mit Rosemund zu fliehen, agiert er diesen Gedanken gefahrenfrei in einer Geschichte aus, die er Rosemund erzählt: die „Nider-ländische geschicht von einer ahdlichen Jungfrauen und einem Ritmeister“ (SW IV/2, 266). Rosemund, die statt narrativer auf reale Taten gehofft hatte, wird krank; ein Zustand der sich gefährlich verschlimmert, da es Marhold zu allem Überfluss schon wieder in die Ferne zieht. Zur körperlichen Krankheit tritt eine seelische hinzu: Rosemund wünscht sich jetzt explizit den „tohd“ (SW IV/2, 264) – und wird ihn wohl auch finden. Der Erzähler hält sich bei der Antwort auf die Frage, „wi es ändlich mit ihrer Krankheit hin-aus-gelauffen“ sei, nämlich verräterisch bedeckt (SW IV/2, 281). Dazu gleich mehr. Alle für den Roman aufgezählten Elemente des Entzugs – die Verweigerung einer Erfüllung der Liebe, die damit verbundene Reiselust und schließlich der angedeutete Tod Rosemunds – finden sich auch in der Lyrik wieder; zum Beispiel in einem Widmungs-Gedicht aus den Jugend-Flammen, in dem das gesamte Personal der Adriatischen Rosemund auftritt. Von der Protagonistin selbst sagt das lyrische Alter Ego Marholds: „Itzt geh’ ich zu letzt mit ihr | bei den blanken Amstelinnen / | unter ihrer linden zier; | dan / o schmertz! ich mus von hinnen / ja von hinnen mus ich ziehn / | und mein eignes glükke fliehn. [//] Ein verhängnüs träkt mich fort / | o dem ungemenschten Thiere! | daß ich diesen ädlen ort / | ach! o schmertz! o leid! verlüre: | aber was! es mus so sein / | mein gemüht zwingt helfenbein.“ (SW I/1, 297, V. 49–60) Mehrere Momente sind an diesem Ausschnitt bemerkenswert. Erstens flieht der Marhold-ähnliche Sprecher bzw. Sänger des Gedichtes Rosemund nicht, weil er sie nicht mehr liebt. Ganz im Gegenteil: Er empfindet seine Situation ja gerade deswegen als so tragisch, weil er damit nicht nur Rosemunds, sondern auch sein eigenes „glük[ ]“ verbaut. Zweitens ist die Behauptung, es handle sich bei dem Zwang zur Reise 42 um ein „verhängnüs“, offenkundig nicht der letzte Stand der Dinge. Wenige Verse später gibt der lyrische Marhold expressis verbis zu, dass er dieses scheinbar unabwendbare Schicksal über sich selbst verhängt hat. Es selbst (bzw. sein „gemüht“) hat diesen Entschluss gefasst, und er wird ihn gegen alle Widerstände, und seien sie auch so hart wie „helfenbein“, durchsetzen. Im weiteren Verlauf des Gedichtes wird endlich eine Antwort auf die (im Roman unbeantwortete) Frage gegeben, warum die verschiedenen Marholde eigentlich ihr Glück so hartnäckig fliehen müssen, wie sie immer behaupten: „Sol ich dan so für und für | bei der Allerliebsten liegen / | und nicht kommen für die thühr / | ja mich gleichsam knechtisch bügen? | ach! das wil mir gar nicht –––––––––

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Die Stationen dieser Reise werden in dem thematisch ähnlichen Gedicht „Des Marholds Reise-gesang“, das auch in den Rosemund-Roman aufgenommen wurde, ausführlich aufgezählt.

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ein; | ich kan nicht gut weibisch sein“ (V. 67–72). Nicht zu reisen, also die Liebe in Leben, d. h. in diesem Falle Heirat und mithin auch Sexualität („an den leibern“ kleben, heißt es in V. 64), zu überführen, gebührt aus der Sicht dieses lyrischen Marholds, der es mit der Logik der Fortpflanzung in diesem Punkt nicht ganz so genau zu nehmen scheint, nur der Frau. Und auch die Antwort auf die Frage, was sich für den Mann, zumindest dem sich hier zu Worte meldenden Mann, ziemt, bleibt das Gedicht seinem Leser nicht schuldig: „Ehre bleibt mier / oder nichts; | reisen mus ich / oder sterben: | doch die kraft des nachgerüchts | läßt ohn dis mich nicht verderben. | Meine starke Tichterei | macht mich für dem tode frei“ (V. 79–84). Auch dieses Gedicht schreibt die berühmten Fußnoten zu Platon (in denen bekanntlich alles Wichtige steht) weiter. Ohne Zweifel liegt hier ein Rekurs auf die Rede der Diotima im Symposion (209a) vor, die mit den genannten Theophrast-Argumenten in einem Punkt – Bücher statt Frau, keine Kinder – vollständig übereinkommt. Der lyrische Marhold spielt nämlich die Theorie der geistigen Zeugung, also die der Literatur, gegen eine biologische aus, also die der Kinder, die sich Rosemund in der Ehe mit ihm verspricht. Die oben rekonstruierte und hier noch einmal wiederholte Behauptung von der (von Seiten der Frau angeblich) beabsichtigten Tötung des Mannes („sterben“) besteht also bei näherem Hinsehen darin, dass sie ihn mit der Liebe in die Sphäre des Irdischen und Tödlichen hinunter ziehen will, während er sich als Dichter in die Sphäre der Unsterblichkeit („für dem tode frei“) aufschwingen könnte. Die Rache für ein solch frevelhaftes weibliches Ansinnen folgt auf dem Fuß: Der Mann entzieht sich und schafft es so, den Waffen der Frauen etwas ebenso Gefährliches entgegenzusetzen. Die erste Stufe dieses männlichen Gegenschlags kann man als Verinnerlichung bezeichnen: „Zeit daß ich von euch bin / ihr liebsten Amstelinnen / | ihr Töchter bei der Mas’ / ihr andern halb-göttinnen / | und ihr auch bei der Lech; so sag’ ich ohne scheu / | daß eure Rosemund noch kräftig in mier sei“ – heißt es in dem nun schon mehrfach zitierten „Reisegesang“ des Marhold (SW I/1, 373, V. 5–8, Herv. M. B.). „In mir“, d. h. nicht nur, übertragen, in der Erinnerung, sondern auch, literal gedacht, im Körper, also so positioniert, dass kein weiblicher Augenstrahl mehr den Marholds treffen und besiegen kann. Und das wiederum heißt: befreit von dem Zustand, für alles andere wie tot und für sie wie ein, so der weitere Verlauf des Gedichtes, „leib-geschworner“ (V. 16) zu sein. Statt sich von der Frau wie eine Marionette „bewegen“ zu lassen (V. 14), kann der Mann, andersherum, nun sie in seinem Herzen und seinen Gedanken bewegen. Doch der „sin“, in dem Rosemund Marhold liegt, reimt sich, zumindest in einer schwachen Stunde des Dichters Zesen, auf „ob sie schohn ist längsten hin“, so zu lesen in „Des betruebten Mahrholds Klage / über seinen glükswechsel in der Liebe“ in den Jugend-Flammen (SW I/1, 383, V. 38; 40). Will heißen: Auch die übertragene Bedeutung hat es – ich komme zur zweiten Stufe des männlichen Gegenschlags – in sich: Marholds Erinnerung an Rosemund ist nämlich die Erinnerung an eine Tote. Schon der Roman, der, wie oben erwähnt, das Schicksal seiner Protagonistin nicht verraten zu wollen behauptet, endet mit

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dem verräterischen Wunsch, dass die „übermänschliche[ ] Adriatische[ ] Rosemund“ in das „gedächtnüs“ der Nachwelt eingeschrieben werden möge (SW IV/2, 281). Diese Geste wirkt auf den ersten Blick fast ‚großzügig‘. Es scheint, also ob der lyrische Marhold nicht nur selbst, als Dichter, Unsterblichkeit erlangen, sondern auch Rosemund, als Bedichtete, an dieser Unsterblichkeit teilhaben lassen wollte. Doch Marhold misst in diesem Falle, wie ich zeigen möchte, mit zweierlei Maß (und damit meine ich nicht nur, dass er aktiv, Rosemund passiv an der Unsterblichkeit partizipiert). Rosemund wird nämlich nicht nur in der Adriatischen Rosemund, sondern auch in den Jugend-Flammen eine „Gedächtnüssäule“ gesetzt, die ganz zufällig mit folgendem Untertitel versehen ist: „der überirdischen / seligen Rosemund“ (SW I/1, 384; Herv. M. B.) – also eine eindeutige Anspielung auf die lateinische Totenformel „beatae memoriae“. Daraus erhellt, wie der „Schmäkkende“ (d. i. Frh. Hans Adolf von Alewein) dem lyrischen Marhold in einem Widmungsgedicht zum Rosen- und Liljen-thal zu Hilfe kommt: Rosemund wird durch die Gedichte tatsächlich dem „Ruhm der Nachwelt“ überantwortet – aber eben, wie sich das für eine Frau, der eine „Ehrenseule[ ]“ gestiftet wird, gehört, „nach dem tode“ (SW II, 17; Herv. M. B.), während der Dichter, der sich ja durch die Reise und die Überführung von Handlung in Narration den tötenden Liebesblicken der Frau erfolgreich entzogen hat, 43 schon im Leben seiner Unsterblichkeit entgegen gehen darf – und dies, wie man hinzufügen möchte, auf einem Weg, der geradewegs über ihre Leiche führt.

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In gewissem Sinne ist eine Ähnlichkeit zwischen der misogynen Haltung des männlichen Ichs bei Zesen und dem petrarkistisch Liebenden bei Fleming zu verzeichnen, der ebenfalls, wie schon Pyritz (Anm. 5), S. 201f., bemerkt hat, auf die Liebe verzichtet, er freilich noch aus einer traditionell petrarkistischen Situation heraus (d. h. als nicht erhörter Liebhaber), während Zesens Marhold, andersherum, erhört wird, bevor er etwas gesagt hat.

Claudius Sittig

Zesens Exaltationen Ästhetische Selbstnobilitierung als soziales Skandalon

„Bis zu dem Grad war jene Kreatur eitel“, schreibt Erdmann Neumeister einmal über Philipp von Zesen, „daß ihm einfiel sich darüber zu wundern, warum er sich nicht den Namen Caesar noch vor Caesius angemaßt habe.“ 1 – Diese üble Nachrede findet sich sechs Jahre nach Zesens Tod in Neumeisters Buch De poetis germanicis. Sie steht dort im Kontext einer längeren satirischen Passage, in der Zesens poetische Sprachexperimente dem Gelächter preisgegeben werden sollen, und die Empörung über Zesens Umgang mit seinem eigenen Namen könnte in der allgemeinen Belustigung über seine Absonderlichkeiten fast untergehen. Der Vorwurf der Eitelkeit und Anmaßung aber, der dahinter steht, wog für die Zeitgenossen schwer. Und er war ernst gemeint, denn er richtet sich gegen einen befremdlichen Habitus in Zesens Leben und seinen Texten, um den es im Folgenden gehen soll. Die zeitgenössische Wahrnehmung steht im ersten Teil der Untersuchung im Mittelpunkt und dabei insbesondere die Empörung Johann Rists, der Zesens schärfster Widersacher war und darum zugleich auch der aufmerksamste kritische Beobachter. An der satirischen Bloßstellung Zesens in seinem Schauspiel Das Friedejauchtzende Teutschland läßt sich zeigen, daß die Kritik nicht in erster Linie auf die poetischen Extravaganzen zielte, sondern mindestens gleichrangig auch auf die sozialen Exaltationen. Anschließend wird ein Blick auf weitere zeitgenössische Aussagen über Zesen zeigen, daß Rist mit seiner Empörung nicht allein stand, sondern daß in den Dokumenten aus dem Kontext der Privatfehde nur besonders deutlich sichtbar wird, was die Zeitgenossen so sehr irritierte: Es sind literarische Formen der Selbstnobilitierung, Ausdruck eines exaltierten self-fashioning, das für Zesen charakteristisch ist. Weil diese Praxis der ästhetischen Selbsterhöhung den Zeitgenossen offenbar als soziales Skandalon erschien, nimmt die Untersuchung im zweiten Teil Texte in den Blick, die im Zusammenhang mit der tatsächlichen sozialen Nobilitierung entstanden sind. 2 Vier Gedichte werden dabei im Mittelpunkt stehen: zum einen Zesens ––––––––– 1

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„Usque adeo fuit ambitiosus hoc animal, ut mirari subiret, quamobrem Cæsaris nomen præ Cæsiano sibi non arrogarit […].“ Erdmann Neumeister: De poëtis germanicis hujus saeculi præcipuis dissertatio compendiaria […]. Hg. v. Günter Merwald u. Franz Heiduk. r(o. O. [Halle/Saale] 1695) Bern 1978, S. 118f. Im Folgenden interessieren darum weder Spuren zeitgenössischer Adelstheorien in Zesens Werken, noch seine wechselnden politischen Ansichten. Zum Lob der republikanischen Verfassung Venedigs in seiner Adriatischen Rosemund vgl. zuletzt die Untersuchung von Danielle Laforge: Theorien über Hof, Staat und Gesellschaft in Philipp von Zesens Adriati-

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Güldener Regen und sein Meien-lied, die er zum Anlaß seiner Erhebung in den Adelsstand im Jahr 1653 verfaßte; und zum anderen ein Gedicht mit dem Titel Des Adels Ehrenkrantz aus dem Jahr 1658, das Zesen für Philipp Adrian von Borck geschrieben hat, sowie ein Gedicht, das Zesen bei seinem Abschied aus Dessau Anfang der 1660er Jahre dem regierenden Fürsten zugeeignet hat.

Rists Empörung Nicht nur der beißendste Spott, den man über Zesen ausgegossen hat, findet sich in Johann Rists Schauspiel Das Friedejauchtzende Teutschland aus dem Jahr 1653, sondern auch eine der schärfsten Anschuldigungen, die man gegen ihn erhoben hat. Der Angriff geschah vermittelt über die bekannte Figur des Herrn Sausewind, die hier zum zweiten Mal auftrat, nachdem Rist sie schon sechs Jahre zuvor in seinem Friedewünschenden Teutschland erfolgreich eingeführt hatte. Dort war Herr Sausewind noch ein bramarbasierender miles gloriosus gewesen, inzwischen aber hatte Rist ihn erkennbar auch mit Zesens Zügen ausgestattet. Die literarische Figur war dabei dem Vorbild der realen Person offenbar so ähnlich geraten, daß Rist es für geboten hielt, sich schon im Vorfeld vor dem Vorwurf zu schützen, er schreibe in ehrabschneiderischer Absicht. „Parcere personis, dicere de vitiis“, hieß ein alter Grundsatz, der die Grenze zwischen erlaubter Satire und unbotmäßiger Schmähschrift markierte und den auch Rist beachtet haben wollte. 3 So beteuerte er jedenfalls in seinem Vorbericht mehrfach und wortreich, es gehe nicht um eine konkrete Person, sondern um eine Bloßstellung der Laster im Allgemeinen und um die Verspottung eines Typus von Lügnern und Aufschneidern: „Mit einer oder etliche gewissen Personen hat man dieses falles gar nichts zu schaffen“, betonte er, und niemand solle „gleichwohl absonderlich werden verstanden oder bezeichnet“. Allerdings setzte er sofort auch hinzu: „Dafern sich nun […] einer würde beklagen / daß man ihn für den rechten Sausewind […] halte / in deme man ihn durch diese Schauspieler ziemlich klar und deutlich vorbilde / der wird sich hiedurch […] selber zum Lügner […] machen / dafür man ihn sonst vielleicht so bald nicht würde schelten dürfen.“ Offensichtlich schien ihm außerdem ein vorsorglichbeschwichtigendes Wort angebracht, man könne schließlich niemandem verwehren, sich doch gemeint zu fühlen. Derjenige – obgleich man ihn „auch vielleicht wol nicht einmal“ kenne – solle also versichert sein, daß der Autor des Friedejauchtzenden Teutschland „gantz und gar nicht bedacht“ sei, mit ihm „einen sonderlichen Krieg anzufangen.“ 4 ––––––––– 3

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scher Rosemund. In: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Elger Blühm u. a. Amsterdam 1982, S. 253–276. Vgl. Martial: Epigrammaton liber decimus, 33, 10; zu Verhandlungen über die Legitimität satirischer Schärfe vgl. Christoph Deupmann: ‚Furor satiricus‘. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. Johann Rist: Das friedejauchtzende Teutschland. In: J. R: Sämtliche Werke. Bd. II: Dramatische Dichtungen (Das friedewünschende Teutschland, Das friedejauchtzende

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Damit war demjenigen, der sich in der Tat wiedererkennen durfte, der Mund verboten, wenn er sich nicht durch eine Beschwerde mit dem prototypischen Lügner und Aufschneider identifizieren und selbst entlarven wollte. Denn so sehr Rist seine Friedfertigkeit betonte und versuchte, sich umfassend vor dem Vorwurf des Ehrabschneidens zu schützen, so offen steht im Text des Schauspiels auch, wer tatsächlich gemeint war. Nach einem wahrhaft mediokren Lied des Herrn Sausewind, mit dem er sich im zweiten Zwischenspiel als „allerfürnehmsten Poet von Teutschland“ 5 empfehlen will, lobt ihn sein Diener Bullerbrok mit den Worten, es gebe nur einen, der dem Herrn Sausewind gleichen könne: „Fürwar / ehrenvester Junker / Wenn ich nicht wüste / daß ihr ein fürnehmer Ritter wäret / auch nun bald Ambassadoor werden soltet / ich wolte sagen / daß unter allen Teutschen Poeten eures gleichen nicht zu finden / es wäre denn Herr Reuterhold von der blauen Wiese / welcher sonst allen das Sand in die Augen wirft […].“ 6 Mit diesem „Reuterhold von der blauen Wiese“ ist ganz offenbar der „Ritterhold von Blauen“ gemeint, also Philipp Zesen unter seinem etymologisch konstruierten, eingedeutschten Namen, den er als Autor der Adriatischen Rosemund verwendet hatte. 7 Daß sich hinter der Figur des Sausewind die Person Zesens verbirgt, ist lange bekannt und keines neuen Nachweises bedürftig. 8 Aber wie konsequent die Kritik auf das skandalös-anmaßende Verhalten Zesens zielt, ist bisher kaum prägnant herausgearbeitet worden. Dabei ist schon in Bullerbroks knapper Aussage auffällig, was die Gleichsetzung von Sausewind und Zesen verhindern soll. Sie scheitert nicht an der unterschiedlichen Qualität der dichterischen Machwerke – sie sollen, kurz gesagt, gleichermaßen minderwertig erscheinen. Die Gleichsetzung scheitert vielmehr daran, daß Bullerbrok Herrn Sausewind für einen „fürnehmen Ritter“ hält und den „Reuterhold“ Zesen nicht. Aber darin täuscht er sich, denn beide geben sich nur dafür aus. Das Vertrauen, das der treuherzige Diener seinem Herrn schenkt, potenziert im Kontext der Satire ––––––––– 5 6 7

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Teutschland). Hg. v. Eberhard Mannack u. a. Berlin u. New York, S. 205–459, Zitate S. 225f. Ebd., S. 369. Ebd., S. 373. Vgl. Zesen: SW IV, 5 u. ö. Als der „blaue Ritter“ erscheint Zesen schon in der Widmungsschrift zu Lysander und Kaliste (SW IV/1, 6). Unsicher ist, ob Zesen darüber hinaus auch als Gesandter Amsterdams am Hof von Dessau aufgetreten ist, die Zeitgenossen jedenfalls haben darüber offenbar mindestens spekuliert; vgl. Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 10. Vgl. die Zusammenstellung der offensichtlichen Bezüge bei Karl Dissel: Philipp von Zesen und die Deutschgesinnte Genossenschaft. Wissenschaftliche Beilage zum Osterprogramm des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg. Hamburg 1890, S. 32; Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Literaturwissenschaft 38 (1930), S. 1–199, bes. S. 123–128; vgl. zuletzt Fausto De Michele: Der „Capitano“ der Commedia dell’arte und seine Rezeption und Entwicklung im deutschsprachigen Theater. In: Daphnis 31 (2002), S. 529–591, bes. S. 556f. Noch bis in jüngere Zeit findet sich aber mitunter noch die irrige Auffassung, Rists Satire habe nicht auf Zesen gezielt (vgl.: Sprachhelden und Sprachverderber. Dokumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen (1478–1750). Hg. v. William Jervis Jones. Berlin u. New York 1995, S. 89f.).

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darum nur die polemische Schärfe des Angriffs gegen Zesen. Auch in der Prätention eines höheren sozialen Standes gleicht die literarische Figur der realen Person, das poetische Abbild hat seinem realen Vorbild durchaus nichts voraus. Dieser Vorwurf ist in aller Ausführlichkeit schon im ersten Zwischenspiel diskutiert worden. Aus dem Munde des erfahrenen, gelehrten, verständigen und mutigen Soldaten Degenwehrt hört das Publikum dort, daß Sausewind – alias Zesen – so voller Eitelkeiten stecke, „daß es groß Wunder ist / wie es doch müglich / daß er für seinen eingebildeten Stoltz und Ehrgeitz nicht gar von einander bärstet.“ 9 Ein ganzes Arsenal von Lastern wird hier bemüht: Neben Eitelkeit, Stolz und Ehrgeiz lautet der Vorwurf auch auf Hoffart, „eingebildete Geschikligkeit“ und „Thumkühnheit“. Und die bitteren Worte, die Rist dem wütenden Degenwehrt in den Mund legt, überschreiten immer wieder die Grenze zwischen witziger satirischer Bloßstellung und humorloser scharfer Anfeindung – daß Sausewind die Unverschämtheit besitze, seine „erschröcklichen Lügen“ auch intelligenten Menschen ins Gesicht zu sagen, das sei es, was Degenwehrt „so hefftig auff ihn verdreust“. 10 Wenn man sich ansieht, was Sausewind diese Schimpftirade einträgt, dann sind es weder die Vorwürfe aus der Alamode-Satire, in deren Kontext die literarische Figur ursprünglich auch gehört – sie würden allerdings den Sprachpuristen Zesen kaum treffen; noch ist es die Zesische Sprache Sausewinds, die in anderen Passagen satirisch bloßgestellt wird. Statt dessen entzündet sich die vehemente Kritik an vier Verhaltensweisen, deren Zusammenstellung aufschlußreich ist: Es sind zum einen die verstiegenen Entwürfe der jeweils geliebten Rosemund, die Sausewind in quixotesker Manier verehrt und umwirbt. Die Kritik zielt dabei weniger auf Sausewinds lächerliche Liebeswut, sondern im Zentrum steht seine beständige falsche Behauptung, die Geliebten seien von höherem und höchstem Stand, und insbesondere gilt dieser Vorwurf für seine erfundenen Rosemunden. An zwei Heiratsplänen mit solchen Damen, eine davon adelig und eine fürstlich, wird deutlich, daß der empörte Degenwehrt hinter all diesen Zuschreibungen und Erfindungen ein echtes strategisches Kalkül vermutet. Denn es heißt, Sausewind schwanke zwischen der fiktiven adeligen Dame mit der besseren Mitgift und der fiktiven fürstlichen Dame mit dem besseren Namen, und er komme schließlich nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluß, „jhme [sei] auch mehr an dem Hohen Fürstlichen Ehrenstande / als dem gar grossen Reichthume gelegen.“ 11 Und wenn Degenwehrt anschließend mitteilt, wie sehr sich Sausewind darin gefalle, sein zukünftiges stattliches Auftreten mit sechsspänniger Kutsche und einem Haufen Diener und Lakaien zu imaginieren, dann verläßt er sich nicht darauf, daß sich diese Größenphantasie selbst als vermessen entlarvt, sondern er quittiert sie zur Sicherheit explizit mit desillusionierenden Hinweisen auf die tatsächliche Ärmlichkeit des elenden „Dorffteuffels“. Innerlich, so sagt er, habe er Sausewind mit den scharfen Worten zurechtgewie––––––––– 9

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Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 4), S. 311f. Ebd., S. 317. Ebd., S. 316.

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sen: „[…] Du magst wohl der grössester Auffschneider heissen / der im gantzen Römischen Reiche zu finden!“ 12 Zu den Kritikpunkten zählt, zweitens, Sausewinds zweifelhafter Umgang mit seinem Namen und dem geistigen Eigentum anderer, wenn er seine Bücher von anderen schreiben läßt, anonym gedruckte Werke für sich reklamiert, indem er seinen Namen darüber setzt, oder unter fremdem Namen Lobgedichte auf sich selbst verfaßt. 13 Und auch der dritte Kritikpunkt zielt auf die Frage nach Sausewinds Namen und seiner Reputation: Der „hoffärtige Phantast“, heißt es, schäme sich „seines Herkommens / Seiner Eltern und Verwandten / bißweilen verläugnet oder ändert er den Namen seines Geschlechtes“. Er nehme statt dessen bevorzugt – das ist das eigentliche Skandalon – die Namen adeliger Familien an. Auf skeptische Fragen, was ihn dazu berechtige diese Namen zu führen, könne Sausewind keinen besseren Grund nennen, als daß er „mit einem Edelmann […] beim Trunke Brüderschaft gemacht / und also fort desselbigen Zunamen an sich genommen“ 14 habe. Mit der Namensänderung ist es aber noch nicht genug. Sausewind habe sich überdies auch ein eigenes Wappen entworfen. Daß dieses Verfahren auf groteske Weise illegitim ist, illustriert Degenwehrt durch einen polemischen Vergleich: Auf ganz ähnliche Weise habe einmal ein Bauernsohn ein Wappen für sich erfunden, indem er in die vier Quartiere des Schildes Löwe, Greif, Adler und Elefant gesetzt und überdies das goldene Vlies unten angehängt habe, um endlich in einer Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz beim zufriedenen Blick auf die exzessive heraldische Bildlichkeit auch noch mit seinem Erfindungsreichtum zu prahlen. Das Wappen, das sich Herr Sausewind mit seinem „Eulen- oder Taubengehirn“ erdichtet habe, bleibt nach Degenwehrts anschließender Schilderung dagegen fast vollkommen undeutlich – bis auf ein entscheidendes Detail: den ‚offenen Helm‘, den er im Oberwappen darauf gesetzt habe, ein heraldisches Zeichen also, mit dem er einen höheren Adelsstatus beansprucht. 15 Und schließlich habe Sausewind zu allem Überfluß „noch ferner ––––––––– 12 13

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Ebd., S. 316. Vgl. ebd., S. 313. Zur Frage der prekären Verbindung von Plagiat und Reputationsgewinn in der Frühen Neuzeit vgl. Verf.: Löhneysens Plagiate. Die Produktion von Reputation. In: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Hg. v. Corinna Laude u. Gilbert Heß. Berlin 2007. Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 4), S. 312. In der Kanzleiheraldik der Reichshofkanzlei und der Hofpfalzgrafen verwendete man ab dem 15. Jahrhundert Helmformen, um zwischen den Wappen bürgerlicher Familien und denjenigen adeliger Familien zu unterscheiden. Für die ersteren reservierte man den älteren geschlossenen Stechhelm, die Wappen der letzteren kennzeichnete man durch den neueren offenen Bügelhelm (vgl. dazu Adolf M. Hildebrandt u. Ludwig Biewer: Handbuch der Heraldik. Wappenfibel. Neustadt/Aisch 1998, S. 78f.). Ob Zesen ein Wappen führte, ist nicht bekannt (dazu unten); daß er aber jedenfalls die Formsprache der Heraldik zur Auszeichnung benutzte, zeigt etwa seine Lobrede von der Buchdruckerkunst, SW I/1, 201–234. Dort heißt es über die Druckerkunst, es habe sie „Friederich der Dritte so erhöht / | Daß auch der Drücker-Stand fast gleich dem Adel steht. […] Gibt ihnen freye Macht den offnen Helm zu führen […].“ (S. 209).

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fürgeben / er seye auch ein Ritter / hat sich durch offentlichen Druk in seinen Büchern […] Equitem strenuum et nobilissimum, einen hochedlen und gestrengen Ritter selber genennet“. Aber so wie er auf Nachfragen nach seinem adeligen Namen nicht beweisen könne, „daß ihm der Römische Käiser den Adel / Schild und Helm hätte gegeben“, so könne auch „kein Mensch erfahren / wer ihn doch zum ritter habe geschlagen / ob es etwan der König in China / oder der grosse Mogul / oder der in Japon gethan habe […].“16 Ein vierter und letzter Vorwurf schließt an die drei anderen an, und hier wird Degenwehrts Ton endgültig bitter. Denn aus ihm sprechen Enttäuschung und Verdruß über Verleumdungen, Schmähungen und Beschimpfungen, die Sausewind über seine früheren Wohltäter – gelehrte, vortreffliche und berühmte Leute allesamt – hinter ihrem Rücken verbreitet haben soll. 17 Dieser vierte Vorwurf scheint auf den ersten Blick mit den vorangegangenen Vorwürfen unvermittelt zu sein. Ihre Verbindung hat Rist allerdings in seiner Vorrede explizit gemacht. Dort kommen sie alle zusammen: Unter die Sausewinde sind auch zu zehlen alle Geckshäuser / welche auß eigenen Laßdunckel oder ingebildeter Hoffart sich für die jenigen Leute außgeben / die sie doch in der Warheit nicht sind / auch in Ewigkeit nicht werden können / verläugnen wol danebenst ihre ehrliche Elteren und Geschlechte / verändern ihren Namen / wollen mit Gewalt Rittere und Cavallire heissen / da sie doch nur arme elende Dorfteüfel sind / erdichten ihnen selber ansehnliche Wapen / machen falsche Briefe / Diplomata und Zeuchnissen / und damit sie ja sich trefflich mügen erheben / und groß machen / so verachten sie offt fürtreffliche und hochbegabte Leute, da doch dergleichen Sausewinde vielmals nicht würdig sind / daß sie solchen tapferen / gelehrten und hochverständigen Männern / welche sie dergestalt in ihrem Abwesen und hinterrückens schmähen / solten die Stifelen putzen. 18

Damit laufen alle vorgetragenen Kritikpunkte auf einen einzigen großen Vorwurf hinaus: Die Behauptung des eigenen Adels und die Diffamierung anderer vortrefflicher Personen sind allesamt komplementäre Erscheinungsformen einer gemeinsamen sprachlichen und gedanklichen Figur der Erhebung – genauer: der Überheblichkeit, der ungerechtfertigten Erhebung der eigenen Person über andere, die durch Selbsterhöhung ebenso wie durch die Herabsetzung anderer geschehen kann.

Zesens Neider Dieses satirische Portrait, das Rist in seinem Friedejauchtzenden Teutschland entwarf, dürfte Zesen einigermaßen unangenehm gewesen sein, weil es mindestens in Teilen der Wahrheit entsprach. Nicht nur die Namensexperimente hatten stattgefunden, sondern Zesen war tatsächlich auch in einem Ehrengedicht ––––––––– 16 17 18

Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 4), S. 312f. Vgl. ebd., S. 317. Ebd., S. 227.

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einmal ungerechtfertigt als „eques nobilissimus et ad omnigenum virtutem strenuus“ bezeichnet worden. Und er hatte das Gedicht in der Tat dem Druck seiner Gespräch-Sammlung Rosenmând aus dem Jahr 1651 vorangestellt. 19 Rist hatte bei seinen Vorwürfen also wohl konkrete Fälle vor Augen. Die Anfeindung dürfte Zesen darüber hinaus unangenehm gewesen sein, weil die Aussage zeigte, daß Rist offensichtlich genau beobachtete und daß es ihm mit Degenwehrts Drohung ernst war, er werde nötigenfalls seine Kenntnis von Zesens Leben mit all seinen „geführten unerhörten […] Händelchen / erschröklichen Lügen und grober Unwissenheit“ 20 öffentlich machen und auch Beweise für seine Anschuldigungen vorlegen können. 21 Die Art, wie Zesen hier mit Vorwürfen überhäuft wird, dürfte den hohen Grad der Empörung Rists ausreichend deutlich machen. Daß Rist glaubte reagieren zu müssen, wird auch verständlich, wenn man Zesens Verhalten aus der Perspektive des Wedeler Pastors betrachtet, der selbst großen Wert auf die soziale Anerkennung seines eigenen Status als erfolgreicher Dichter legte und dabei andere Zeitgenossen seine Überlegenheit ebenso deutlich spüren ließ wie er empfindlich auf Kritiker und Konkurrenten reagierte. 22 Aus Rists Empörung über Zesens Verhalten spricht darum wohl auch ein konkretes Gefühl der Sorge, denn Zesen bewegte sich während seiner längeren Aufenthalte in Hamburg in eben dem regionalen literarischen Feld, an dessen Spitze sich Rist zu etablieren versuchte. Und wenn dieser dazu die Strategie gewählt hatte, sich als nördlicher Statthalter eines klassizistischen Opitzianismus zu präsentieren, dann war die Abwertung von Zesens poetischen Formexperimenten ebenso verständlich wie die persönliche Diffamierung. 23 ––––––––– 19

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„Philippo Caesio, equiti nobilissimo et ad omnigenam virtutem strenuo“, lautete die Anrede Zesens durch Johannes Niekerk (Zesen SW XI, 92). Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 4), S. 317. Das ist kurze Zeit später tatsächlich geschehen. Rist legt seinem Brief an Harsdörffer am 2. März 1655 die Kopie eines Schreibens bei, in dem ein Kaufmannsgeselle aus Hamburg über einige „Pasquillien“ Zesens berichtet, die diesen fast in Kontakt mit dem Scharfrichter gebracht haben sollen (Dissel [Anm. 8], S. 34). Dissel, der zur Verteidigung Zesens angetreten ist, bezweifelt allerdings die Echtheit des Schreibens. Vgl. zuletzt ausführlich Ralf Schuster: „Jst es hier nit Eitelkeit!“ Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johann Rist als Beispiel für literarisches Konkurrenzdenken im Barock. In: Daphnis 34 (2005), S. 571–602. Zu Rists Vermittlung seiner Dichterrolle mit seinem Pastorenamt vgl. Richard E. Schade: Baroque Biography: Johann Rist’s Self-Concept. In: The German Quarterly 51 (1978), S. 338–345. Vgl. Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Hg. v. Alexander Ritter. Heide 1991, S. 47–66; zur Konkurrenz zwischen Rist und Zesen mit Blick auf die poetologischen Richtungsentscheidungen vgl. bes. S. 62. Dammann zeigt auch, daß Rists Widmungen zunehmend an Personen aus dem Hamburger Raum adressiert sind (S. 54). Und in Anbetracht dieser Konstellation ist Dissels vorsichtige Vermutung wahrscheinlich nicht von der Hand zu weisen, daß der Zeitpunkt von Zesens Rückkehr nach Hamburg unmittelbar nach Rists Tod kein reiner Zufall sei (Dissel [Anm. 8)] S. 43). Nur kurze Zeit später wechseln auch schon die ersten Mitglieder aus Rists Elbschwanenorden in Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft.

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Ein frühes Zeugnis der latenten Konkurrenz ist ein Antwortbrief Rists an Zesen aus dem Jahr 1644. Vielsagend ist hier Rists Überraschung darüber, daß Zesen seinen Brief offenbar mit einem Gesellschaftsnamen unterzeichnet hatte. Rist, der sich bereits seit längerem intensiv aber erfolglos um die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft bemüht hatte, war offensichtlich alarmiert: „Aber was mein Herr?“, schrieb er. „Ist Er vielleicht in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen? Der Zuname, der Färtige, sollte mich solches schier glauben machen, mich wundert aber, daß mir Herr Schottelius nicht das geringste davon geschrieben.“ 24 Womöglich hat Zesen ihn zunächst in dem Glauben gelassen und nicht mitgeteilt, daß es sich um den Gesellschaftsnamen aus seiner eigenen, eben gegründeten Deutschgesinnten Genossenschaft handelte. Denn noch zwei Jahre später berichtet Andreas Tscherning, Rist habe ihm geschrieben, Zesen sei unter dem Namen des ‚Färtigen‘ unter die Fruchtbringer aufgenommen worden. 25 Wenn also schon das Führen eines Gesellschaftsnamens als irreführendes Signal für die Aufnahme in die prestigeträchtige Gesellschaft der Fruchtbringer gedeutet wird, dann erscheint Zesens Praxis, selbst eine Sprachgesellschaft zu gründen und sich und anderen Gesellschaftsnamen zu geben, ungeheuerlich. Sie war umso skandalöser, als ihm an der Unterscheidung der Mitglieder seiner Sprachgesellschaft von denen anderer Gesellschaften nicht wirklich gelegen zu sein schien. 26 Man unterstellte ihm sogar, er gebe sich für das Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft aus. 27 Und in diesen Zusammenhang gehört schließlich auch die Empörung über –––––––––

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Johann Rist an Philipp Zesen, 24. August 1644, zit. nach Dissel (Anm. 8), S. 55. Vgl. die Nachricht aus einem Brief Tschernings an Matthäus Apelles von Löwenstern (17. Januar 1646), auszugsweise abgedruckt bei Hans Heinrich Borcherdt: Andreas Tscherning. Ein Beitrag zur Literatur- und Kultur-Geschichte des 17. Jahrhunderts. München, Leipzig 1912, S. 310, Anm. 28. Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen war irritiert über Zesens undifferenzierte Verwendung der Gesellschaftsnamen und forderte eine Markierung der Differenz. An Dietrich von dem Werder schrieb er am 16. April 1649 über eine Passage aus Zesens Hoch-deutschem Helikon: „Weil der Schmeckende in die fruchtbringende geselschaft nicht gehöret, oder darinnen Zu finden, so möchte man zu verhütung irthums ihm entweder seinen taufnahmen, oder der angefangenen genossenschaft, die sonst mit der fruchtbringenden gesellschaft nichts Zu schaffen darbey mit wenigen erwenung thun.“ (Zit. nach: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe und Devisen und anderweitige Schriftstücke […]. Hg. v. Gottlieb Krause. r[Leipzig 1855] Hildesheim u. New York 1973, S. 420). Den Vorwurf, daß diese Verwirrung durchaus intendiert sei, erhebt Rist noch in seinem Brief an Harsdörffer vom 2. März 1655: „Sonsten hat der leichtfertige Bube, wie er vergangenen Sommer hier zu Hamburg gewesen, unterschiedliche lose Kerle zu Gesellschaftern auf- und angenommen, hat denselben aus selbst angemaßeter Macht und Gewalt Namen erteilet, gestalt er den einen den Flüchtigen genennet hat, welcher der ärgste Bärenhäuter ist, der auf zwei Beinen mag treten, ja er hat rotzige Schulbuben mit ingenommen, wodurch er denn der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft einen solchen Hohn und Schimpf erwiesen, daß viele Leute nunmehr fast nicht wissen, wie sie spöttisch genug davon reden sollen, vermeinen, es sei lauter Kinderwerk damit, nachdemmalen nun ein jedweder leichtfertige Kerl und Vagant da könne hineinkommen und sich ein solcher Lotterbube und Landläufer, als der Zesius ist, sich gleichsam für das ander Haupt dieser fürstlichen Gesellschaft darf ausgeben“. (zit. nach Dissel [Anm. 8], S. 33).

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Zesens Umgang mit seinem Namen, denn aus ihm – so erzählte man sich – zog er die Autorität zur Gründung seiner Sprachgesellschaft: Es hieß, „Caesius nenne sich den blauen Ritter, und habe aus eigener Macht einen Orden stiften wollen: inductus ratione nominis sui.“ 28 Rists Empörung über Zesens Extravaganzen war also sicher nicht nur persönlich motiviert, sondern Zesen verstieß mit seinem Verhalten offensichtlich gegen allgemeine gesellschaftliche Konventionen. So behauptet auch Harsdörffer in seinem Brief an Neumarck aus dem selben Jahr wie Rists Drama, er habe Zesen bei dessen Besuch „rund herausgesagt, daß er ein eitler und ruhmsüchtiger, wankelmüthiger Mensch sein müsse, weil er seinen Namen zum öftern ohne Ursach verändert habe […].“ 29 Und der große Streit, der kurz nach Zesens tatsächlicher Aufnahme unter die Fruchtbringer zwischen ihm und dem Oberhaupt Ludwig von Anhalt-Köthen ausbrach und so weit eskalierte, daß man Zesen sogar den Ausschluß aus der Gesellschaft androhte, drehte sich nicht nur um Fragen der Orthographie, sondern es ging auch um das fürstliche Titelprädikat „illustris“ oder „durchleucht“, das Zesen neu und offenbar ganz bewußt in der dritten Auflage seines Hoch-deutschen Helikon eingefügt und typographisch hervorgehoben hatte, um damit Opitz und Buchner auszuzeichnen – und vielleicht gar, prospektiv, am Ende sich selbst, der mit seiner großen Poetik einen Platz in der Reihe der prominenten Dichtungstheoretiker beanspruchte. 30 Die deutliche Zurechtweisung durch den Köthener Fürsten, man solle – um „misgunst oder nachrede Zu verhüten“ – „erleuchtet“ statt „durchleuchtet“ schreiben, 31 fand bei Zesen kein Gehör. Er beharrte statt dessen trotzig auf seiner Wahl, und er rechtfertigte sie mit der knappen Begründung, „durchleucht“ sei ein Prädikat, das hervorragende Sprachrichter zurecht wegen ihres hohen Verstandes und ihrer umfassenden Bildung in Anspruch nehmen dürften. Eine Reihe von sechs Namen von Scaliger bis Buchner führte er an, und in einer merkwürdigen Klimax ließ er diese Reihe in einem Namen gipfeln, von dem er offenbar nicht einmal sicher war, ob er als Exemplum dienen konnte: „Selenus in Engelland wird gar der Durchleuchteste genannt, ob er nuhn von hohem Stamme sei, oder es nuhr seines hohen verstandes wegen geschehen, kann ich ––––––––– 28

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Andreas Tscherning an Matthäus Apelles von Löwenstern (10. Juni 1646), Auszug abgedruckt bei Borcherdt (Anm. 25), S. 311, Anm. 28. Schon im Brief vom Januar desselben Jahres hatte Tscherning mitgeteilt: „Rist berichtet mich, daß sich Caesius auch schreibe den blauen Ritter, woher, weiß ich noch nicht.“ Georg Philipp Harsdörffer an Georg Neumarck, 2. April 1653, zit. nach Hoffmann von Fallersleben: Findlinge Bd. I. Zur Geschichte deutscher Sprache und Dichtung. Leipzig 1860, S. 17. Die Zuschreibung findet sich noch in der vierten Auflage (vgl. Zesen: SW X/1, 32 u. 59). Der Hinweis auf diesen Gegenstand des Streits findet sich mit einer Zusammenstellung der relevanten Aussagen bei Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978, S. 210–214. Zu Zesens Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft vgl. auch den Beitrag von Andreas Herz im vorliegenden Band. Ludwig I. von Anhalt-Köthen an Dietrich von dem Werder, 16. April 1649, zit. nach Krause (Anm. 26), S. 420.

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nicht wissen.“ 32 Vermutlich wird Zesen allerdings die Ironie entgangen sein, daß sich hinter dem Pseudonym Selenus, das über einem Schachbuch und einem Werk zur Kryptographie stand, nicht (wie manche Zeitgenossen glaubten) Francis Bacon verbarg, sondern tatsächlich ein Autor, dem der Titel ‚illustrissimus‘ von Standes wegen unbedingt zukam: Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg. 33 Nach diesen Beispielen für die Verwendung des Attributs ‚durchleucht‘ für Sprachkritiker und Dichter schloß Zesen mit dem knappen Hinweis, die Alternative ‚erleuchtet‘ komme erst recht nicht in Frage, denn der Titel sei für Geistliche reserviert. 34 Seine Übertragung der fürstlichen Titulatur auf den Dichter machte er jedenfalls nicht mehr rückgängig. Zesens Anspruch mochte unterschwellig metaphorisch gestützt sein durch das Bild vom gekrönten Dichter oder die Rede vom Dichterfürsten, 35 und Zesen fühlte sich in seiner Ambition sicher durch die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft ebenso bestärkt wie durch die vermutete soziale Lizenz im Umgang der Mitglieder untereinander. Aber wenn hinter seinem Versuch, die metaphorische Rede in die soziale Realität einer Titulatur umzumünzen, tatsächlich ein Kalkül der Erhebung der Dichtkunst, der Dichter oder gar seiner selbst gestanden hatte, dann hatte er sich gründlich verrechnet. Denn Widerstand kam nicht nur von Fürst Ludwig, der die Differenzierungsleistung der Titel für die reale symbolische Ordnung der Gesellschaft bewahren wollte, sondern Widerstand kam auch aus den Reihen der anderen Mitglieder. Mit Blick auf diese Diskussion um die Verwendung des Attributs „durchleucht“ schreibt etwa Martin Milagius, der Zesen ebenfalls zum Einlenken hatte bewegen wollen: „Mich deucht, es stecket eine nichtswürdige eitelkeit darunter, und eckelt mir für dem Großen Zesen […].“ 36 Seine Einschätzung steht in einer Reihe mit bekannten skeptischen Urteilen wie etwa der früheren Aussage von Zesens Lehrer Christian Gueintz, er sei „Ehrgierig und Hochsinnig“ 37 , und sie führt in direkter Linie zur satirischen Bloßstellung von Sausewinds exaltierter Selbsterhebung in den Adelsstand in Rists Friedejauchtzendem Teutschland im Jahr 1653. Zesen selbst ist diesem Widerstand auf seine Weise begegnet: Als er in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde, formulierte man – offensichtlich mit pädagogischen Absichten – ein ‚Reimgesetz‘ für ihn, in dem es ––––––––– 32

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Philipp von Zesen an Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen, 25. Mai 1649, zit. nach Krause (Anm. 26), S. 423. Vgl. Gustavus Selenus (d. i. August von Braunschweig-Lüneburg): Cryptomenytices et cryptographiae libri IX […]. Lüneburg 1624; vgl. Gerhard F. Strasser: Die kryptographische Sammlung Herzog Augusts: Vom Quellenmaterial für seine Cryptomenytices zu einem Schwerpunkt in seiner Bibliothek. In: Wolfenbütteler Beiträge 5 (1982), S. 83–121. Vgl. Philipp von Zesen an Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen, 25. Mai 1649 (Krause [Anm. 26], S. 422f.). Vgl. zuletzt Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. Metamorphosen einer Metapher in Deutschland. In: Vom Künstlerstaat. Hg. v. Ulrich Raulff. München 2006, S. 144–185. Martin Milagius an Ludwig I. von Anhalt-Köthen, 12. Mai 1649, zit. nach Krause (Anm. 26), S. 426. Christian Gueintz an Ludwig I. von Anhalt-Köthen, 5. Dezember 1648, zit. nach Krause (Anm. 26), S. 277.

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heißt: „gezwungne neuerung sey weit von uns verbant“. 38 Seine Antwort darauf faßte er am 2. Dezember 1648 im Gesellschaftsalbum in die topische Formel: „Tugend hat leider! allzuviel neider […].“ 39 So ließen sich alle unangenehmen Versuche, ihn in seine Schranken zu weisen, umgekehrt als Indikatoren für seine wahre tugendhafte Größe deuten. „Er wird uns zu groß / wir müssen ihn verkleinern“, war eben die Einstellung der lästigen Kleingeister, denen Zesens Aufschwung in ungeahnte Höhen suspekt sei, wie der ‚Wohlriechende‘ unter den Fruchtbringern, Johann Georg I. von Anhalt-Dessau, zwei Jahrzehnte später in seinem vorangestellten Schreiben in Zesens Helikonischer Hechel formulierte. 40

Zesens Güldener Regen So unangenehm die satirische Bloßstellung für Zesen dennoch gewesen sein dürfte, weil sie traf, so unangenehm hätte Rist schließlich sein eigener Angriff sein können, weil er Zesen zum Zeitpunkt, als das Schauspiel im Druck erschien, wenigstens teilweise wieder verfehlte. Denn Zesen war im Mai 1653 auf dem Regensburger Reichstag von Ferdinand III. tatsächlich in den Adelsstand erhoben worden. Harsdörffer, der ihn einen Monat zuvor noch in Nürnberg getroffen hatte, berichtet in seinem Brief von Andeutungen Zesens, die erkennen lassen, daß er dem kommenden Ereignis einige Bedeutung beimaß. Da heißt es, Zesen habe „seinen Weg auf Regensburg genommen, da man, wie er saget, großes Verlangen nach ihm träget.“ 41 Angesichts von Zesens unbescheidenen Versuchen der Selbstnobilitierung erscheint es allerdings verwunderlich, daß über die Umstände seiner Erhebung in den Adelsstand nur wenig in Erfahrung zu bringen ist. Das zweite ähnlich bedeutende Ereignis in diesem Zusammenhang, die spätere Ernennung Zesens zum Hofpfalzgrafen, ist nicht einmal sicher zu datieren. 42 Und so wie sich die –––––––––

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Krause ( Anm. 26), S. 411. Zesens Sinnspruch ist abgedruckt bei Krause (Anm. 26), S. 489. Zum Topos vom Neid als Begleiter der Tugend vgl. die Emblemata Invidia integritatis assecla oder Virtutis invidia comes in: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne. Stuttgart u. Weimar 1996, Sp. 195f. In seiner Frühlingslust zitiert er explizit auch das emblematische Bild ‚crescit sub pondere virtus‘: „Aber doch / jemehr beschweret | Eine Palme sich befindt / | Desto mehr sie Krafft gewinnt / | und sich weit / als vor entpöret / | So wird unterdrücket nie / | Die geehrte Poesie / | Sondern pfleget sich zu rechen / | Wenn der Neid sie gleich wil schwächen.“ (Zesen SW I/1, 127– 129, hier 127). Zesen SW XI, 286. Georg Philipp Harsdörffer an Georg Neumarck, 2. April 1653, zit. nach von Fallersleben (Anm. 29), S. 17. Zu den Standeserhebungen vgl. das große Register von Maximilian Gritzner: Standeserhebungen und Gnadenakte deutscher Landesfürsten während der letzten drei Jahrhunderte. Görlitz 1880. Sowohl das Haus-, Hof und Staatsarchiv als auch das Allgemeine Verwaltungsarchiv in Wien haben auf Anfrage mitgeteilt, daß sich in ihren Beständen weder

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Forschung nie sicher sein kann, ob all diejenigen, die als Mitglieder seiner Deutschgesinnten Genossenschaft geführt wurden, auch von ihrer Mitgliedschaft wußten; 43 oder wie man länger darüber diskutiert hat, ob Zesen tatsächlich den Magistergrad erworben hatte, den er führte 44 – so könnten auch Zweifel an der realen Grundlage für Zesens Adelstitel aufkommen. Dies gilt zumal da beide Ereignisse auf den ersten Blick kaum erkennbare Spuren in Zesens Texten hinterlassen haben. Im Folgenden sollen darum die beiden Gedichte näher in den Blick genommen werden, die im unmittelbaren Kontext der Erhebung in den Adelsstand zu situieren sind; außerdem ein Gedicht, das ein Jahrzehnt später das zentrale Bild des goldenen Regens aus Zesens Gedicht an den Kaiser fortsetzt, sowie ein Gedicht zu Ehren des Adeligen Adrian Philipp von Borck. Der Befund, daß in zeitgenössischen Texten kaum eindeutige Spuren der Erhebung in den Adelsstand zu finden sind, ist auch deshalb auffällig, weil es durchaus allgemein üblich war, das Ereignis publik zu machen und zu feiern. Als im Jahr 1653 die Satire auf Zesens Behauptung seines Adels erschien, wäre es für Rist eher geboten gewesen, auf Zesens tatsächliche Standeserhebung mit einem Glückwunschgedicht zu reagieren – wie jenes heraldische Gedicht, das Zesen seinerseits zu Rists Erhebung in den Adelsstand sieben Jahre zuvor verfaßt hatte: Auf Herren J[ohann]. Ristens Wapen. Diss aufgelassne Haar an diesem jungfernbilde, Der schwaan und dieser flus in deinem ritterschilde Das Dier, o ädler Rist, des Kaisers Hof darreicht, Die sein es, denen sich dein’ ädle Kunst vergleicht. 45

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ein Adelsakt, noch Informationen zu seinem Hofpfalzgrafenamt finden. Van Ingens Datierung der Ernennung Zesens zum Hofpfalzgrafen um die Mitte der 1660er Jahre gründet sich vor allem auf die Tatsache, daß Zesen zu dieser Zeit beginnt, Dichter zu krönen (van Ingen [Anm. 7], S. 13). Moller nennt in seiner Praxis Epistolica die korrekte Titulatur eines nicht beamteten Comes Palatinus am Beispiel Zesens (Alhard Moller: Praxis epistolica iterum de novo adaucta & recognita […]. Frankfurt u. Danzig 1688, S. 376f.; den Hinweis darauf verdanke ich Sinemus [Anm. 30], S. 392, Anm. 3). Kaczerowsky bietet einen Auszug aus einem Brief von Martin von Kempe aus London an Sigmund von Birken aus dem Jahr 1671, in dem dieser davon berichtet, daß Zesen „sich eines Comitives gebraucht“, um akademische Grade zu verleihen (vgl. Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund. München 1969, S. 188, Brief Nr. 16). Vgl. zuletzt Laufhüttes Hinweis auf Birkens Überraschung, als dieser im Jahr 1670 erfuhr, daß er seit 26 Jahren Mitglied der Gesellschaft gewesen sein sollte (Hartmut Laufhütte: „Ja dan würde er an mir viel einen andern finden, als ich jhm beschrieben worden“. Philipp von Zesens Versuch, mit Sigmund von Birken in Briefkontakt zu gelangen. In: Daphnis 34 [2005], S. 185–201). Vgl. Karl F. Otto Jr.: Philipp von Zesen: Magister. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 17 (1990), S. 13–15. Oskar Kern: Rist als weltlicher Lyriker. r(Marburg/Lahn 1919) New York 1968, S. 125, Anm. 2; Abbildung der Handschrift bei Martin Bircher: Autographen barocker Autoren. Quellen zur Fruchtbringenden Gesellschaft in der Biblioteka Jagiellonska Kraków, aus dem Besitz der ehem. Preußischen Staatsbibliothek Berlin. In: Respublica Guelpherbytana. Wol-

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Verglichen mit anderen Gedichten zum selben Anlaß nehmen sich Zesens Verse allerdings bescheiden aus. Was er bietet, ist kaum auch nur eine befriedigende Blasonierung des Wappens, in keinem Fall aber eine geistreiche allegorische Deutung. Denn mehr war hier nicht gesagt, als daß der Schwan und der Fluß im Schild und das Haar der Jungfrau im Oberwappen 46 (ohne daß Zesen das gemeinsame tertium comparationis nennen würde) allesamt wohl als poetologische Metaphern für Rists edle Kunst stehen sollten. Zesen überging außerdem den Umstand, daß die Jungfrau nicht nur selbst bekränzt war, sondern auch einen Lorbeerkranz in ihrer Hand hielt – das Zeichen dafür, daß Rist gleichzeitig mit der Erhebung in den Adelsstand auch zum Dichter gekrönt worden war. Vielleicht ist es sogar gerechtfertigt, hinter dieser Leerstelle einen kritischen Zug zu vermuten, 47 und Rist hat wahrscheinlich aus diesem Grund Zesens Gedicht nie in einen seiner Drucke aufgenommen. Es ist wohl auch darum nur handschriftlich überliefert. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz bleibt es aber immer noch ein Dokument von Zesens Anerkennung, die Rist ihm im Jahr 1653 umgekehrt nicht zollte. Abgesehen von der persönlichen Feindschaft, die das verhindert hat, könnte man auch behaupten, daß Rist Zesen diese Form der Anerkennung nicht im selben Maße schuldig war. Denn Zesen war nicht zum Dichter gekrönt, sondern nur in den Adelsstand erhoben worden. Im Kontext der Dichterkrönung waren solche poetischen Glückwünsche dagegen naturgemäß verbreiteter. Der Grund dafür liegt schon in der obligatorischen Gegenleistung, die jeder Geehrte für diese Ehrung zu erbringen hatte: Es gehörte zum Verfahren, daß jeder gekrönte Dichter in seiner Funktion als dispensator gloriae eine große panegyrische oratio auf den Kaiser verfertigen mußte. 48 Um diese herum ließen sich die Glückwunschgedichte anderer Dichter leicht gruppieren. Und wenn schließlich das gesamte Werk zum Druck befördert wurde, dann war es nicht nur zum Lob des Kaisers, sondern auch zum Lob des Dichters selbst, der so seine Standes–––––––––

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fenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Hg. v. August Buck u. Martin Bircher. Amsterdam 1987, S. 291–356, Abbildung S. 321; zum Vergleich läßt sich etwa das heraldische Gedicht Andreas Tschernings heranziehen, das in Rists Publikation seiner Lobrede im Jahr 1653 abgedruckt ist: „Den ädlen Rist bedeutet hier der Schwan: | Das wasser und des schnabels gold zeigt an | Das von der hand Ihm güldne verse fliessen. | Die Jungfrau lässt ihr haar zu felde schiessen | Ist selbst gekränzt und trägt auch in der hand | Den Lorbeer Krantz, den ihm der Kaiser sand. | Weich Zoilus verkreuch dich Nasenweiser. Wer dis verhöhnt, der tadelt selbst den Käiser.“ (zit. nach Kern, S. 125). Zur poetologischen Metapher der Locken vgl. Gerhart von Graevenitz: Locke, Schlange, Schrift. Poetologische Ornamente der Lyrik (Zesen, Klopstock, Goethe, Handke). In: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Hg. v. Susie Kotzinger u. Gabriele Rippl. Amsterdam 1994, S. 241–262. Die Kritik konnte solche subtilen Formen annehmen; vgl. etwa das Glückwunschgedicht, das Birken an Rist zu dessen Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft sandte (eine Analyse des Gedichts mit Blick auf die provokativen Elemente bei Schuster [Anm. 22], S. 587–591). Zu Rists Lobrede vgl. Kern (Anm. 45), S. 124–130.

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erhöhung und seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Poeten weithin sichtbar anzeigen konnte, ohne sich damit zwangsläufig dem Vorwurf der Eitelkeit auszusetzen. 49 Ein Ruhmeswerk mit diesen Dimensionen war dagegen nicht zwingend geboten, wenn ein Dichter nur in den Adelsstand erhoben wurde wie Zesen im Jahr 1653. Aber nach der situativen Logik von Gabe und Gegengabe im Kontext der Standeserhöhung war eine literarische Reaktion Zesens doch angemessen. Zesen verfaßte darum zum Anlaß zwei Gedichte, die er noch im selben Jahr jeweils separat veröffentlichte: das Meien-lied, das er unter dem Datum des 1. Mai der Kaiserin widmet, 50 und der Güldene Regen, der an den Kaiser selbst adressiert ist. 51 Beide sind – auf dem Titelblatt oder unter dem Widmungsgedicht – mit dem Namen „Filipp von Zesen“ versehen, den er jetzt führen durfte, nachdem er schon seit fünf Jahren seine Sinnsprüche im Gesellschaftsalbum der Fruchtbringer und in anderen Alben so signiert hatte. 52 Seinem Güldenen Regen stellt Zesen ein Widmungsgedicht an Ferdinand III., den „dreimal Großen Ferdinand“, voran. Darin entwirft er in drei großen syntaktischen Perioden (V. 8–13, 14–19, 20–27) dreifach den gleichen Gedanken – die Spannung zwischen der Hoheit des Kaisers und seiner eigenen Niedrigkeit. Der erste Satz lautet: Wan eine Hoheit je der niedrigkeit läst zu / daß sie in tiefster pflicht Ihr eine gabe tuh; wan je ein Großer reucht die kleinsten lobes-sträuser; so wird Dier auch dies klein’ / o dreifach-Großer Keiser / vom kleinsten deines Reichs zu hohen gnaden gehen / so wird es unbeschähmt für deinen augen stehn. 53

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Zu den symbolischen Praktiken, die mit dem Ereignis der Dichterkrönung verbunden waren, vgl. zuletzt Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln u. a. 2003. Zesen SW I/2, 63–69. Zur rein musikalischen Form vgl. Renate Weber: Die Lieder Philipp von Zesens. Hamburg 1962, S. 145–149; dort außerdem S. 215–220 der Hinweis auf ein eng angelehntes Gedicht auf Adelmund in Zesens Jugendflammen (SW I/1, 308–310; vgl. auch den Druck im Deutschen Helikon, SW X/1, 363–365). Zesen SW I/2, 73–84, hier 75. Wo, wann und wie Zesen seine Texte in Regensburg präsentierte, ist nicht bekannt. Eine Geschichte der Reichstage, die auch ihre kulturelle Bedeutung berücksichtigen würde, ist erst noch zu schreiben. Vgl. die Eintragung im Gesellschaftsbuch aus dem Jahr 1648 bei Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. 527 Biographien. Transkription aller handschriftlichen Eintragungen und Kommentar zu den Abbildungen und Texten im Köthener Gesellschaftsbuch. Weinheim 1985, S. 663–669, die Signatur dort S. 666 (Krause [Anm. 26], S. 411 druckt die Unterschrift nicht ab); den Text einer wortgleichen Eintragung in das Album des Nürnbergers Christoph Arnold aus dem Jahr 1650 bietet Leonard Forster: An Unpublished Poem by Philip von Zesen. In: Modern Language Review 35 (1940), S. 530f. Zesen SW I/2, 75, V. 8–13.

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Die große Distanz zwischen der „tiefsten niedrigkeit“ und der „höchsten Hoheit“, so lautet die vielfach variierte Formulierung, wird auf der einen Seite allerdings verringert durch die Gnade, die den Hohen dem Niedrigen geneigt macht; und sie wird auf der anderen Seite auch verringert durch den eigenen Aufschwung, zu dem sich der Niedrige im Wissen um die Gnade berechtigt und animiert fühlt. Denn in Zesens Gedicht wird keine dauerhafte demütige Sprechhaltung etabliert wie sie etwa Rists frühere Lobrede auf den Kaiser als Dank für seine Erhebung in den Adelsstand und die Dichterkrönung charakterisiert: „Ich leg O Ferdinand mich unterthänigst nieder zum schemel Deiner füss […].“ 54 Dieses Bild der Unterwürfigkeit gehört zum panegyrischen Register der devoten humilitas, das natürlich auch Zesen beherrschte und das er in anderen Gedichten verwendete. Im Widmungsgedicht an Moritz von Sachsen etwa, das er der dritten Auflage seines Hochdeutschen Helikon im Jahr 1649 voranstellte, heißt es in topischer Bescheidenheit: Die tugend lobt sich selbst: mein reim ist viel zu schlecht / die wort gebrächen uns / und rühmen Dich nicht recht / Du Auszug aller Zier. Ein andrer mag sich schwingen bis an den Himmel nauf / und Dich / o Fürste / singen: Mein sinn und meine kunst erstreckt sich nicht so weit ich kann mich reissen nicht von dieser sterbligkeit […]. 55

Im Widmungsgedicht zum Güldenen Regen dagegen bittet er den Kaiser, „einen strahl der gnaden“ (V. 24) auf ihn zu gießen, damit sein „schwacher reim […] muhtig werde / | und sich in deinen preis mag reissen von der erde.“ (V. 26f.) In Anbetracht der vorher hergestellten Spannung zwischen den mehrfach befestigten Polen von Niedrigkeit und Hoheit ist diese Ankündigung, „kühner zu sprechen“ und „durch die niedrigkeit zu deiner Hoheit zu brechen“ eine forsche Formulierung. Und mit Blick auf das Folgende ist der „strahl der gnaden“, den der hohe Ferdinand auf Zesen gießen soll, damit dessen Dichtung sich erhebe, mehr als nur ein panegyrischer Inspirationstopos. Denn er vermittelt die Vorstellung der Gnade, von der im Widmungsgedicht die Rede ist, mit dem Bild des goldenen Regens, der ebenfalls „von oben herab ausgegossen“ wird, wie es im Titel des Gedichts heißt. Im folgenden Gedicht ist von Gnade und Dank dann keine Rede mehr, und auch die Panegyrik tritt hinter einem allegorischen Entwurf der Größe des politischen Augenblicks zurück. Nach einer großen Klage über die Verheerungen, metaphorisch im Bild der verletzten schönen Dame Deutschland (V. 1–16), folgt die Evokation des Jubels über die erreichte Einigung über den Truppenabzug ––––––––– 54

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Johann Rist: Allerunterthänigste Lobrede | An die | Allerdurchläuchtigste Unüberwindlichste Römische | Kaiserliche Maiestätt | Herren Ferdinand den Dritten | Als Allerhöchstgedachte Kaiserl. Maiest. | Ihn | Durch den Hochwolgebohrnen Grafen und | Herren | Herren Herman Tscherning […] Mit Adelichen Freiheiten / Schild / Helm und Wapen | auch der poetischen Lorberkrohn von dero Kaiserlichen | Hofe aus allergnädigst hatte verehren | lassen […]. Hamburg 1647, S. 4. Zesen SW X/1, 4.

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auf dem Nürnberger Exekutionstag von 1649/50 (V. 17–32) – aus diesem Ereignis und ex loco notationis der dort anwesenden schwedischen Königin Christina entwickelt Zesen das Thema: die wieder geeinte Christenheit. Überboten wird das Glück dieses politischen Moments aber noch durch den Regensburger Reichstag der Jahre 1653/4. Und wiederum ex loco notationis gewinnt Zesen auch das Bild, das die folgende Allegorie strukturiert: den goldenen Regen, in dessen Gestalt sich Jupiter nach der Mythologie mit Danae vereinigt hat. Die Figur des Helden Perseus, die aus dieser Verbindung entstand, soll allerdings nicht, wie man in einem panegyrischen Gedicht erwarten könnte, allegorisch als Personifikation des Kaisers zu verstehen sein, sondern der ausführliche Kommentar, den Zesen für den Leser zum besseren Verständnis anfügte, erklärt, sie solle für die „vereinigte Reichs-macht“ 56 stehen. Und auch Jupiter soll nicht als Ferdinand zu denken sein, sondern er steht für den christlichen Gott, der den goldenen Regen, das sollte heißen: den Geist der Eintracht, auf Danae, die versammelten Reichsstände, ausgegossen hatte. Kurz gesagt: Für den großen Kaiser selbst war – dem Reichtum des mythologischen Personals zum Trotz – in Zesens politischer Allegorie keine eigene repräsentative Rolle vorgesehen. Seine löbliche Leistung, die wiederum göttlichem Ratschluß zugeschrieben wird, war einzig die friedfertige Einberufung des Reichstags selbst: Ferdinand habe „die glieder seines Reichs gleichsam in ein glied gebracht“ (V. 40), wie es im Gedicht heißt. Man darf das Lob, das damit ausgesprochen war, nicht zu gering veranschlagen, denn die Einberufung selbst war die wesentliche Voraussetzung für die politische Einigung, deren Lob in der Allegorie der Eintracht entfaltet wird. Darin war die politische Bedeutung des Regensburger Reichstags des Jahres 1653 allerdings auf den Punkt gebracht, denn man wartete seit der Ratifikation des Westfälischen Friedens inzwischen über vier Jahre ungeduldig darauf, daß eine ‚verfassungsgebende Versammlung‘ nun für das Reich einlösen sollte, was man im Frieden unter Beteiligung europäischer Mächte ausgehandelt hatte. 57 Das Zustandekommen dieses einträchtigen korporativen Zusammenschlusses war in der Tat nach der schweren Krise der Reichsverfassung und dem folgenden Krieg höchst unwahrscheinlich, und darum war der Verzicht auf eine exponierte Rolle des Kaisers in der Allegorie der Situation durchaus angemessen. 58 ––––––––– 56 57

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Zesen SW I/2, 83. Zur politischen Bedeutung des Reichstags vgl. Andreas Müller: Der Regensburger Reichstag von 1653/54. Eine Studie zur Entwicklung des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 16–24. Auch die Tatsache, daß Zesen der ‚Türkengefahr‘ große Bedeutung beimißt, unterstützt diesen Eindruck. Sie ließ sich in sein Gedicht offenbar nicht problemlos einfügen: Der König Akrisios findet nur im Kommentar als ‚Groß-Türke‘ Erwähnung (SW I/2, 83). Die Bedrohung ist im Jahr 1653 nicht so sehr drängende Realität, sondern das Szenario, das Zesen entwirft, stammt aus dem Kontext älterer Diskussionen um das Erstarken dissoziativer Partikularinteressen auf Kosten der alten harmonischen politischen Ordnung. Vgl. Martin Disselkamp: Discordia, Concordia. Zerfallsbewußtsein und Einheitsappelle in Türkenkriegsprojekten des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 187–213.

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Wenn es die politische Eintracht ist, die im zentralen Bild ausgestellt werden soll, dann erscheint es aufschlußreich, daß die Identität oder Herkunft des goldenen Regens zwischen der politischen Allegorie, dem vorangestellten Widmungsgedicht und der Formulierung des Titels changiert. Im Gedicht selbst ist Jupiter genannt – und damit natürlich: der christliche Gott. Im Widmungsgedicht ist der göttliche Ferdinand die hohe Instanz, die einen „strahl der gnaden“ über Zesen gießen kann, so wie es wörtlich im folgenden Gedicht heißt, ein „strahl aus des himmels gnade“ (V. 88) auf die Versammlung in Regensburg niedergeht. Auf dem Titelblatt des Drucks ist dagegen nur ein Name in syntaktisch angemessener Stellung genannt: „Filip Zesens Güldener Regen, über die Deutsche […] itzund in Regensburg beruffene Danae von oben herab ausgegossen“. So lautet die Formulierung, die noch vielsagend unbestimmt läßt, was der goldene Regen sein soll und wer sein Quell ist. In diesem Bild des goldenen Regens ist nach der politischen Logik von Gabe und Gegengabe noch mindestens ein weiterer, ganz literaler Sinn latent: Zesen selbst hat in einem späteren Gedicht vom Anfang der 1660er Jahre im Rückblick pointiert und im Einklang mit der ikonographischen Tradition ein ganz materielles Verständnis des Güldenen Regens für sich in Anspruch genommen. Nach einem Aufenthalt am Dessauer Hof hatte er dem Herzog Johann Georg II. von Anhalt-Dessau ein neunstrophiges panegyrisches Scheidelied zukommen lassen, 59 und dieser hatte ihn daraufhin „mit einer milden Gabe gnädigst begabet“. 60 Darum dankte Zesen mit sieben weiteren Strophen für das Geschenk. Dieses zweite Gedicht setzt gleich fulminant mit dem Bild des goldenen Regens ein: Was für ein güldner regen felt auf meine schrift / o güldner Held / Ist Jupiter vielleicht verirret? und scheint ihm mein papierner schnee der schoß zu sein von Danae / die seinen sin wohl eh verwirret? So pflag der Große Ferdinand auch ehmals / mit gefülter hand / auf mich mit gnad’ und gold zu regnen. 61

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Zesen SW I/2, 277–279. Das Gedicht ist im Anhang der Reinweißen Hertzogin im Jahr 1668 im Druck erschienen, Johann Georg II. hatte Henriette Catharina von Nassau-Oranien im Jahr 1659 geheiratet, im Jahr 1663 wurde nach zwei Töchtern, die bereits bei der Geburt gestorbenen waren, der erste Sohn geboren. Da das Gedicht offenbar auf die Todesfälle Bezug nimmt („des Stammes Tod“, V. 42) und die Geburt des Sohnes noch aussteht, ist es wohl auf das Jahr 1662 zu datieren. Zu Johann Georg II. von Dessau vgl. zuletzt Michael Rohrschneider: Johann Georg II. von Anhalt-Dessau (1627–1693). Eine politische Biographie. Berlin 1998, dort S. 121f. ein kurzer Hinweis auf Zesens Kontakte zum Dessauer Hof, ohne daß der bisherige Wissensstand erweitert wird. Zesen SW I/2, 280f. (Ein anders an eben Dieselbe Seine HochFürstl. Durchleuchtigkeit […]), Zitat S. 280. Zesen SW I/2, 280, V. 9–17; vgl. auch Zesens Übersetzung der Moralia Horatiana (SW XIV, 152–154 [Moralia Horatiana I 49]): „Wo es Gold regnet / ist kein Dach zu dichte“.

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Als dritter in dieser Reihe der hohen Wohltäter steht der dessauische Fürst, der „mit vollen händen / güldne scheiben“ auf Zesen regnen läßt, damit deren Schein ihn „auf etwas höhers antreiben“ soll. 62 In dieser Hochstimmung läßt Zesen dann weitere Worte folgen, weniger bescheidene als er im ersten Gedicht gewählt hatte. Im Interesse der Überbietung amplifiziert er vor allem die Formulierung des Nachkommenswunschs, der schon im vorangegangenen Gedicht ausgesprochen war. Dabei kann er an das dort bereits etablierte Bild vom goldenen Apfelbaum anschließen und an den Wunsch, er möge wieder Frucht tragen (also die Reinweiße Hertzogin Henriette Catharina von Nassau-Oranien, deren Wappensymbol, die Orange, nach Zesens Vorschlag ‚Goldapfel‘ heißen sollte). Konsequent durchwirkt Zesen nun den Ornat des Gedichts mit dem Attribut ‚golden‘ und erhöht damit im gleichen Moment auch sein eigenes poetisches Potential, diesen kommenden Stammhalter zu besingen. Im Dienste der Evokation zukünftiger höchster Freude ist Zesens Wille zu Höherem und zum hohen Ton gerechtfertigt, weil er einer dynastischen Logik entspricht: Nicht nur der Held, der Apfelbaum, die Lieder, der Morgenstern sind nun aus Gold, sondern auch die Tinte, die aus Zesens Federkiel fließen wird, und seine Reime. Nicht mehr golden aber wird sein „gnadenlohn“ sein: Einen „regen […] von deamanten“ sieht Zesen auf sich niedergehen, Diamanten, deren Glanz schließlich seinen „Lorbeerkrantz“ zieren soll „gleich als mit lauter sternenkanten“. 63 – Die Art, wie sich Zesen hier in einem imaginativen Prozeß aufschwingt zu höchsten Ehren, ist eine wahrhaft exaltierte Größenphantasie. 64

Zesens Exaltationen Zesen verwendete das Bild des diamantenverzierten Kranzes in seinem Scheidelied allerdings nicht zum ersten Mal. Nicht lange zuvor hatte er es in einem Gedicht für Philipp Adrian von Borck mit dem Titel Des Adels Ehren-Krantz benutzt. 65 Von Borck war am 3. August des Jahres 1658 als der ‚Verborgene‘ in Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft aufgenommen worden und hatte zwei Wochen später an der Universität Leiden eine Rede auf die Wahl Leopolds I. zum römischen König gehalten. Diese gelehrte Rede, so schrieb Zesen kurz darauf an das studierende neue Mitglied, flechte „ein lorber-reis um dein noch ––––––––– 62 63 64

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Zesen SW I/2, 280, V. 23 u. 26. Zesen SW I/2, 281, V. 40f. u. 44. Es gibt auch Ironiesignale wie etwa den möglichen Irrtum Jupiters zu Beginn oder die finanzielle Deutung des goldenen Regens, aber diese Ironie ist im konkreten Kontext des Gedichts immer in Gefahr, in den Ernst umzuschlagen, der einem Dankgedicht angemessen wäre. Philipp von Zesen: Des Adels EHREN-KRANTZ […]. Abgedruckt bei Karl F. Otto Jr.: Wiederaufgefundene Zeseniana I. In: Wissenschaftliche Zeitschrift Martin Luther Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 30 (1981), H. 4, S. 113–127, dort S. 122f.

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frisches haar“, und wenn der pommersche Adelige von Borck damit seine tugendhafte Gelehrsamkeit unter Beweis stellte, dann zeigte er gleichzeitig, daß nobilitas corporis und nobilitas mentis, „leibs- und seelen-adel“, in seiner Person in idealer Weise vereint seien: „So adelt dich die Faust / so adelt dich der Geist | der aus der Sterbligkeit zum himmels-adel reist: | so adelt dich das Buch / so adelt dich der Degen.“ Aber Zesen bleibt nicht beim konventionellen Lob einer besonderen Zierde und glücklichen Koinzidenz, sondern die Gegenüberstellung der Adelsbegriffe ist schon durch die Begriffe der „Sterbligkeit“ und des „himmels-adels“ erkennbar asymmetrisch angelegt. Und so setzt er die Hierarchie der verschiedenen Arten des Adels auch im Bild des Kranzes fort: Ein krantz allein von gold giebt nur ein halbes gläntzen / das aber kan alsbald des demants blitz ergäntzen: so steht der Adel auch / der irdisch nur allein und himlisch nicht zugleich / in halber glantz und schein.

Gelehrsamkeit ist hier nicht nur ein Komplement zur Vervollständigung eines umfassenden Adelsideals, sondern das Blitzen der Diamanten im Kranz übertrifft das Glänzen des Goldes. Es ist dieses Bild, das in der übersteigerten poetischen Größenphantasie in Zesens Scheidelied, im Bild des gekrönten Dichters, noch einen Nachhall findet. Seine Resonanz wird noch deutlicher hörbar, wenn man eine Passage aus Zesens Ehrenkrantz hinzunimmt, in der das Mittel zu dieser Steigerung des Adels eindeutig bestimmt wird: So muss der höchste trieb zum Adel sich bewegen / zum Adel / der nicht stirbt / vn [!] noch sich zur erden neigt / zum Adel / der allein / durch kunst vergötlicht / steigt […]. 66

Zesens Rede von der Erhöhung seines poetischen Potentials im Scheidelied entpuppt sich damit zugleich als Rede von der Steigerung seiner selbst durch die Kunst. Und diese Figur der künstlichen Steigerung, materialiter im Bild des Kranzes von Gold und Diamanten formuliert, gewinnt im Scheidelied noch eine weitere Bedeutungsdimension. Sie steht dort gemeinsam mit dem Bild des goldenen Regens unter einem Titel, der an den zeitgenössischen Terminus für die Alchemie, die ‚Scheide-Kunst‘ erinnert. Dort hat auch der goldene Regen im Verfahren der Transmutation seinen Platz 67 und ebenso die Denkfigur der künstlichen Steigerung der Materie, deren fundamentale alchemistische Bedeutung –––––––––

66 67

Zesen: Des Adels Ehren-Krantz (Anm. 65), S. 123. Vgl. exemplarisch das mythologische Vokabular, das Johann Rudolph Glauber zur Beschreibung eines alchemistischen Verfahrens verwendet, bei dem er „durch Rat und Tat Jupiters einen güldischen Regen“ herstellt, um ihn durch das Loch eines Kolbens „hinunter auf Danaë Schoß fallen“ zu lassen. (Johann Rudolph Glauber: Von den Dreyen anfangen der Metallen, Alß Schwefel / Mercurio / vnd Saltz der Weisen […]. Amsterdam 1666, S. 38). Zu dieser Tradition der Verwendung mythologischer Namen vgl. Joachim Telle: Mythologie und Alchemie. Zum Fortleben der antiken Götter in der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur. In: Humanismus und Naturwissenschaften. Hg. v. Rudolf Schmitz u. Fritz Krafft. Boppard 1980, S. 135–154.

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Zesen geläufig war. 68 Und auch die religiöse Semantik, die in Zesens Vorstellung von der Steigerung der Persönlichkeit mitschwingt, findet hier einen möglichen Rückhalt im Begriff der alchemisch-mystischen exaltatio, mit dem man das Programm der Vergöttlichung durch künstliche Mittel fassen könnte. 69 Wenn also beide Gedichte das Vokabular der Alchemie verwenden, 70 um in einem sozialen Kontext die Figur der künstlichen Steigerung zu formulieren, dann lohnt sich noch einmal ein Blick auf die beiden Gedichte, die Zesen zum Anlaß seiner Erhebung in den Adelsstand geschrieben hat. Für das Meien-lied, das Dankgedicht an die Kaiserin, ist diese Funktion der spezifischen sprachlichen und gedanklichen Figur, verstanden ganz aus dem Kontext der alchemistischen Sprachtheorie Zesens, schon gezeigt worden. 71 Wenn er dieses Lied überreich mit Assonanzen und Reimen ausstattet, dann scheint hier eine „Alchemo-Erotik“ der Paarung am Werk zu sein, die die Sprache zum reinsten und vollkommensten Ausdruck ihrer Lautnatur führt. Und es wäre nach einer solchen esoterischen Lesart des Gedichts möglich, auch die selbstreflexiv besungene Leistung der Dichter – die Erhebung der Kaiserin unter die Sterne – im Kontext alchemistischer Theorien der künstlichen Steigerung zu verstehen: unsere gnädigst gebietende Frau sollen wir letzen wollen wir letzen eben von ferne neben die sterne / wo sich befindet der himmlische bau Da sol Sie schimmern / da sol Sie glimmern / ewiglich blühen / ewiglich sprühen blitzlende strahlen / durch Tugend entzündt […]. 72

––––––––– 68

69

70

71 72

Vgl. Maximilian Bergengruen: Verborgene Kräfte und die Macht des Gestirns. Zur Verschiebung alchemischer und astrologischer Gedankenfiguren im 16. und frühen 17. Jahrhundert und zur poetologischen Aneignung bei Philipp von Zesen. In: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie. Hg. v. Thomas Strässle u. Caroline Torra-Mattenklott. Freiburg 2005, S. 121–143; zu Zesens alchemistischem Wissen vgl. auch Leo Lensing: A ‚Philosophical‘ Riddle: Philipp von Zesen and Alchemy. In: Daphnis 6 (1977), S. 123–146. Der Terminus selbst ist im Diskurs der Alchemie nicht prominent, die Begriffe lauten dort eher elatio, elevatio, exultatio, furor, illuminatio usw. Der terminologische Vorschlag stammt von György E. Szönyi: John Dee’s Occultism. Magical Exaltation through Powerful Signs. Albany u. New York 2004, bes. S. 34–37. Zur Verbreitung im höfischen und adeligen Kontext vgl. Rosmarie Zeller: Ein Delirium der Zeichen zum Lob Leopolds I. Zu Christian Knorr von Rosenroths Cojugium Phœbi et Palladis. In: Der Fürst und sein Volk. Herrscherlob und Herrscherkritik in den habsburgischen Ländern der frühen Neuzeit. Hg. v. Pierre Béhar u. Herbert Schneider. St. Ingbert 2004, S. 69–91; Pamela H. Smith: Alchemy as a Language of Mediation at the Habsburg Court. In: Isis 85 (1994), S. 1–25. Vgl. zum Folgenden: Bergengruen (Anm. 68), S. 133–143. Zesen SW I/2, 68f.

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Daß dabei wiederum die Kunst das letzte Wort hat, wird deutlich, wenn es abschließend heißt, nachdem die Kenntnis der realen Person erloschen sei, bleibe „das nennen | welches erlanget den ewigen krantz.“ Die provokative Qualität dieser Aussage von der letztinstanzlichen Rede der Dichter, die nicht nur als Topos der poetischen Stiftung von Erinnerung formuliert ist, sondern auch von höchster Achtung spricht, läßt sich noch präzisieren durch den Hinweis darauf, daß nach der frühneuzeitlichen paracelsistischen Astrologie, der Zesen mindestens nahe stand, der Mensch nicht nur unter dem Einfluß der Sterne steht, sondern daß der Weise gleichzeitig die Deutungshoheit über das Gestirn besitzt. 73 Wenn das Dankgedicht die Kaiserin metaphorisch in den Himmel lobt, dann wird damit – nach der esoterischen Lesart – also in doppelter Hinsicht eine souveräne Position des Dichters formuliert, die mit der konventionellen Haltung der Unterwürfigkeit nur schwer zu vereinbaren ist. Diese Lesart, die auf alchemistische Denkfiguren rekurriert, läßt sich nicht nur durch den Hinweis auf Zesens bekannte Figur der Erhöhung im Meien-lied plausibler machen, sondern auch durch einen Hinweis auf deutliche alchemistische Anklänge in seinem zeitgleich entstandenen Güldenen Regen. Schon das Widmungsgedicht kennt die Bewegung des Aufschwungs, wenn Zesen wünscht, daß sein „schwacher reim […] muhtig werde / | und sich in [des Kaisers] preis mag reissen von der erde“. Und Zesen läßt sein Lob der entstehenden christlichen Eintracht eschatologisch in zwei Bildern gipfeln, die diese Bewegung doppelt bekräftigten: Andromeda werde schließlich durch Perseus gerettet, die „vereinigte Reichs-macht“ also werde die bedrängte Christenheit „aus der höllen schlund reissen in des himmels schoß“, und dort werde sie Minervas Gunst „unter das gestirne setzen, sie „reissen aus dem schlam in den klahren sternensaal“. 74 Nach dem allegorischen Kommentar sollte das bedeuten, daß „die Himlische Weisheit Jesus / der hochgelobte Sohn Gottes / [Danae und ihren Perseus mit den Kristgläubigen] aus diesem Jammertahl in seinen ewigen freuden saal versetzen zu hell-leuchtenden sternen machen wird.“ 75 In diesem Moment wird ein Prozeß zum Abschluß kommen, der nach Zesen auf dem Regensburger Reichstag begonnen hat: Dann wird alles sein vollendt / was itzund den anfang nimmet in des güldnen Regensburg / da der eintracht trinkgold glimmet aus des Himmels scheide-kunst / welches uns im letzten stoß / der uns näher / als man meint / stärken wird und würken loß aus der angst und aus der furcht […]. 76

Damit verbindet Zesen das zentrale mythologische Bild des goldenen Regens aus seiner Allegorie der Eintracht einmal auch explizit mit einer alchemistischen Substanz: dem Trinkgold, aurum potabile, dem man große Heilkräfte zuschrieb ––––––––– 73 74 75 76

Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Bergengruen (Anm. 68). Zesen SW I/2, 78f. Zesen SW I/2, 83. Zesen SW I/2, 79.

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und für dessen Wirkung hier eine himmlische Alchemie verantwortlich gemacht wird. Gestärkt durch die politische und religiöse Einigung, so lautet die Aussage, wird man der nahenden Endzeit getrost entgegen sehen können. Denn wenn die Alchemie stimmt, dann wird es ein gutes Ende nehmen mit der Christenheit, und sie wird endlich in den Himmel erhoben. Wenn Zesens Güldener Regen ebenso wie sein Meien-lied mit alchemistischen Vorstellungen operiert, dann ist vor dem aufgespannten politischen und heilsgeschichtlichen Bedeutungshorizont ganz offensichtlich kein Platz für ein poetisches Programm, wie es im Meien-lied entwickelt wird. Zesens Widmungsgedicht dagegen kennt, wie bereits gezeigt, die Figur der selbstbewußten poetischen Erhebung ebenso wie das Titelblatt den Eindruck erweckt, es könne auch Zesen sein, der einen poetischen goldenen Regen über der Versammlung der Reichsstände niedergehen läßt. Wenn der Kaiser schließlich in der folgenden Allegorie keine hervorragende Rolle mehr spielt, dann mag das angesichts der prekären politischen Situation umsichtig gedacht sein. Aber wenn das Gedicht zusammen mit dem komplementären Meien-lied als Ausdruck des Dankes für die soziale Erhebung in den Adelsstand zu verstehen ist, dann ist auffällig, daß beide Texte zwar die Bewegung der Erhebung kennen, aber sie besetzen die höchste Position nicht mit der Figur des Souveräns. Es waren diese Formulierungen der poetischen Exaltation, die Zesens Zeitgenossen mit so großer Empörung aufgenommen haben. Sie haben darin eine eitle Anmaßung gesehen – vor allem wohl, weil sie die sozialen und ständischen Konnotationen der Texte und Handlungen wahrnahmen. Es stand Zesen unter dieser Prämisse weder zu, sich ‚blauer Ritter‘ zu nennen oder seine Texte mit dem Namen ‚Filip von Zesen‘ zu signieren, noch hielt man ihn für berechtigt, zu einem so frühen Zeitpunkt in seiner Karriere als Dichter eine eigene Sprachgesellschaft zu gründen, ohne daß er (wie die geadelten Hofpfalzgrafen Rist oder Birken) mit dem nötigen sozialen Kapital ausgestattet war. Zesen hingegen scheint sich selbst und seine Texte durchaus anders verstanden zu haben. Die tatsächliche Standeserhöhung spielt in seinen Gedichten keine erkennbare Rolle. Dominant sind stattdessen die ästhetischen Figuren der künstlichen Steigerung, mit deren Hilfe er abseits von sozialen Verbindlichkeiten operierte. Und ähnliches gilt auch für die Gründung der Deutschgesinnten Genossenschaft: Ebenso wie bei den etymologischen Konstruktionen seines eigenen Namens oder mit Blick auf das Titelprädikat illustris nimmt Zesen beim Umgang mit den Gesellschaftsnamen der Mitglieder eine weite Lizenz in Anspruch. Es war auch hier offenbar nicht primär ein soziales Feld, in dem sie zu situieren sein sollten. So unterließ er es, bei ihrer Verwendung zugleich auch die Zuordnung zu einer der Sprachgesellschaften zu markieren, so daß am Ende eine Gruppe von Literaten vorstellbar war, die von äußeren sozialen Verbindlichkeiten entkoppelt und intern weitgehend entdifferenziert erscheint. Zusammen könnten Zesens exaltierte Erhebungsphantasien darum als radikale Behauptung eines autonomen literarischen Feldes gelesen werden.

Zesens Exaltationen

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Ein letztes Beispiel zeigt aber, daß Zesen dabei nicht nur im Dienste einer gemeinsamen Sache der Dichter agierte, und auch hierin mag ein Grund für die Empörung der Zeitgenossen liegen: Zesen immunisierte sich gegen jede Kritik an seinen Größenphantasien, indem er seinen Widersachern eine subalterne und moralisch minderwertige Position zuschrieb. Ihre Diskreditierung als Neider ist oben bereits erwähnt worden, als von seiner Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft die Rede war. In einem prominenten Lied aus seiner Frühlingslust, ungefähr zur selben Zeit, wird er aber noch deutlicher. Dort steht schon im Titel der Wunsch, Daß die Poeten oben / Neidhart aber unten schwebe. 77 Seit die „schöne Kunst“ der Dichtung entstanden sei, „die den Göttern gleich geacht und die Sterbligkeit verlacht“, so heißt es dort, gebe es auch Neider, die sie begleiteten. Die Poeten allerdings seien hoch über sie erhaben und schwebten in einer Entfernung, die sie von aller Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit den niederen Motiven der Neider enthebe – letztere seien ungefährlich, zumal der Neid mit der Zeit ohnehin vergehe, „Weil Er nicht versteht die Sachen / | Die Ihn können Göttlich machen.“ Im Gegensatz zu diesen niedrigen Neidern schwingt sich der „Sinn“ der Poeten „wie der Adler“ hinauf zur Sonne, und wie das kristallklare Wasser, das aus dem Morast hervorquillt und steigt, so „steigt auch unser Mund / | Will dem Himmel ähnlich werden / | Da der Neidhart bleibt auf Erden.“ Am Ende steht, wie zu erwarten, als Ziel dieses Aufschwungs wieder das Firmament: Wo die güldne Saat der Sterne An dem blauen Himmel steht / Phöbus auff und nieder geht / Wo sein Licht uns scheint von ferne; Da sol unser Name stehn und den Sternen gleich auffgehn: Wann die Neider kleben werden An dem schnöden Koth der Erden. 78

Diese typische Figur der Erhebung, die hier zum Ausdruck kommt, ist inzwischen bekannt – aber es gelingt Zesen, die exaltierte Größenphantasie noch einmal zu überbieten: In einem zweiten Lied, ebenfalls aus seiner Frühlingslust, nimmt er diese letzte Strophe noch einmal auf und revidiert sie. Das neue Gedicht, dessen Abschluß sie bildet, ist ein erotisches Liebes- und Loblied auf die Weisheit, und Zesen spricht hier endlich nicht mehr im Plural. Nicht mehr von der ganzen Gruppe der Poeten ist nun die Rede – sondern nur noch von einem: Du solt meines Nahmens Lob in die hohen Wolcken bauen Stets zu schauen /

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78

Zesen SW I/1, 127–129; Zesen hat das Lied an anderer Stelle noch einmal in seine Schriften aufgenommen (SW IX, 253f.). Zesen SW I/1, 128f.

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Claudius Sittig Mein Gedächtnüß wird bestehn / Wo die Sterne gehn und unsterblich auch verbleiben und bekleiben / Nur dier / Neid / zu Trotz und Hohn: Wohl demselben! der den Lohn / Der da trotzt die hohen Sinnen / Kann mit Ehr und Ruhm gewinnen. 79

––––––––– 79

Zesen SW I/1, 155.

Florian Gelzer

Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens  Ich hatte viel von dieser jungen Fürstin unvergleichlicher schönheit und wunderwürdigen geschikligkeit gehöret. […] Und also sahe ich das schöne Wunder / das Bild aller tugend und zierligkeit. […] Je länger ich der schönsten Assenat äuglein betrachtete / ie mehr ich veränderungen ihrer blikke fand. Und ein blik war immer schöner / als der andere: einer war immer lieblicher / als der andere: einer war immer sanfter / als der andere. Endlich kahmen die hertzentzükkenden hauffenweise herausgedrungen / ja geschossen. Diese waren so überaus scharf / und so mächtig / ja so durch alles hindringende / daß das stärkste hertz selbsten sich ihrer nicht zu erwehren vermochte. 1

Mit solch hyperbolischer Rhetorik beschreibt Semesse, eine Hofdame, in Philipp von Zesens Roman Assenat (1670) dem hebräischen Sklaven Joseph ihre erste Begegnung mit der Titelheldin. Assenat ist die Tochter des ägyptischen Oberpriesters Potiphar, die im Tempel des Helios heranwächst und „als die allerschönste / als die allerliebseeligste / als die allergeschikteste / als die allerverständigste / und allertugendvolkomneste Fürstin der gantzen welt“ (S. 62f.) verehrt wird. Die Liebe zwischen ihr und dem ebenso überirdischen Joseph ist das verbindende Element, das in Zesens Roman ein Jahrhundert biblischer Geschichte umklammert. Freilich birgt bereits die alttestamentarische Urfassung der Josephsgeschichte ein beträchtliches romaneskes Potential. Der Beginn der Assenat erinnert allerdings weniger an das Buch Genesis als an die einschlägigen antiken Romane. Die Liebe zwischen einem zu Unrecht ausgesetzten Königssohn und einer zur Priesterin erzogenen Jungfrau, die versuchte Verführung des standhaften Jünglings durch eine mächtige Königin und die Rache der Gekränkten, schließlich die in Orakeln und Träumen vorausgeahnte Auflösung der Verwicklungen – all dies sind gängige Elemente des hellenistischen Liebesromans. 2 Wie Heliodors berühmte Aithiopika spielt Assenat zudem am Nil, in einem Milieu geheimnisvoller Priester und intriganter Fürstinnen. Versucht man, Zesens Romane auf solche antiken Einflüsse hin zu untersuchen, gerät man unweigerlich in ein Dilemma: Mit Gewissheit lässt sich nämlich nicht entscheiden, ob Zesen ein bestimmtes Motiv direkt den hellenistischen Prosawerken entnommen hat, oder ob es nicht vielmehr über Zwischenstufen auf ihn gekommen ist, konkret: durch die Vermittlung des –––––––––

1 2

Zesen SW VII, 42. Vgl. die nützliche Übersicht: Françoise Létoublon: Les lieux communs du roman. Stéréotypes grecs d’aventure et d’amour. Leiden u. a. 1993.

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französischen Romans. 3 Denn die entscheidenden theoretischen und erzähltechnischen Impulse der Romanpraxis des siebzehnten Jahrhunderts haben ihren Ursprung allesamt in Frankreich. 4 Hier setzen meine Überlegungen an: Ich möchte versuchen, Philipp von Zesens Romanübersetzungen sowie seine eigenen Romane für einmal nicht innerhalb der deutschen Barock-Diskussion (Opitz, Birken, Anton Ulrich etc.) zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit der französischen Rezeption des antiken Romans. Dabei werde ich das Augenmerk vor allem auf die drei von Zesen aus dem Französischen übersetzten Romane richten: d’Audiguiers Lysandre et Caliste, Gerzans L’Histoire afriquaine de Cléomède et de Sophonisbe und Scudérys Ibrahim, l’illustre Bassa. Die drei Übersetzungen werden in der Forschung kaum je beachtet, obwohl sie meiner Meinung nach als Bindeglieder zur französischen Romanpraxis in der Entwicklung von Zesens Romanverständnis eine Schlüsselrolle spielen. 5 Diese Um- und Anverwandlungen des hellenistischen Romans werde ich in drei Anläufen skizzieren. Zunächst werde ich (I.) knapp die Konzeption des ‚reformierten hellenistischen Romans‘ zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts umreißen. Anschließend möchte ich (II.) zeigen, wie die drei von Zesen ins Deutsche übertragenen Romane das antike Gattungsmodell auf je verschiedene Weise transformieren. Dann werde ich (III.) Zesens eigene drei Romane Adriatische Rosemund, Assenat und Simson auf dem Hintergrund dieser Entwicklung betrachten, um (IV.) aus dem Befund ein vorläufiges Fazit zu ziehen. Angesichts der erdrückenden Stoffmassen werde ich raffend und schematisierend vorgehen müssen – allein eine oberflächliche Zusammenfassung der Afrikanischen Sophonisbe würde den gegebenen Rahmen sprengen.

I. Die Bezugnahme auf den hellenistischen Roman, allen voran auf die Aithiopika des Heliodor, ist in der Romandiskussion des siebzehnten Jahrhunderts ein schon beinahe obligatorisches Leitmotiv. WD SHUL 4HDJdQKQ NDL &DU¤NOHLDQ $ÓTLRSLNYD – so der originale Titel – gelten als Grundmodell des Romans überhaupt. Heliodor ist für den Roman, was Homer für das Epos ist: Vollender, –––––––––

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Die umfangreiche Spezialliteratur zu Zesens Romanen kann hier nur punktuell herangezogen werden. Einführend zu Zesens Verhältnis zum antiken Roman: Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zur Theorie und Technik des barocken Romans. Diss. Göttingen 1955. Einen guten Überblick bieten: George Molinié: Du roman grec au roman baroque. Un art majeur du genre narratif en France sous Louis XIII. Toulouse-Le-Mirail 1982; Brigitte Winklehner: Legitimationsprobleme einer Gattung. Zur Romandiskussion des 17. Jahrhunderts in Frankreich. Tübingen 1989. Die drei Titel werden knapp vorgestellt in: Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 42–44. Eine größere Untersuchung zu den Übersetzungen steht noch aus.

Der Einfluss der französischen Romanpraxis auf die Romane Philipp von Zesens

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Großmeister, Übervater. 6 Die Entstehung des Barockromans aus dem Geist des hellenistischen Romans ist nun aber nicht die Folge einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern eher einer sorgfältig konstruierten Neubegründung. In schroffer Abgrenzung zu chevaleresken, mittelalterlichen Erzählformen wird um 1600 ein Leitmodell konstruiert, das dem Roman antike Dignität verleihen soll. Mit dieser Konzeption beginnt anfangs des siebzehnten Jahrhunderts eine Tradition des französischen Romans, die in Deutschland und in England bald ähnliche Entwicklungen auslösen sollte. Ein paar wichtige Stationen dieses Prozesses seien rasch skizziert. Bei der ‚Erfindung‘ des französischen Romans spielt die Humanistenstadt Basel eine entscheidende Rolle. Denn dort wurde 1534 bei Johannes Herwagen – dem Stiefvater von Johannes Frobenius – die editio princeps von Heliodors Aithiopika gedruckt. Der Herausgeber, der junge Humanist Vincentius Obsopœus, schreibt im Vorwort, der Heliodor-Codex habe einem jungen Soldaten gehört, der ihn beim Einmarsch der Türken in Budapest aus der Bibliothek des Matthias Corvinus gerettet habe, bevor diese niedergebrannt wurde. Der Soldat habe weder Griechisch noch Latein verstanden („græcorum quàm latinorum disciplinis abhorrentissimus“); ihn habe vielmehr der Glanz des mit Goldschmuck verzierten Buchs angezogen („quia auro exornatus […] splendescebat“). 7 Was in Hunderten von späteren Romanvorreden fingiert werden wird – der spektakuläre Manuskriptfund durch glücklichen Zufall –, entspricht hier offenbar den Tatsachen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ohne diesen unbekannten miles die europäische Romangeschichte wohl ganz anders ausgesehen hätte. In Frankreich begann sich Jacques Amyot, der spätere Bischof von Auxerre, für die Aithiopika zu interessieren. Er benutzte die Basler Ausgabe von Obsopœus als Grundlage für seine französische Übersetzung von 1548. Wenn sich ein katholischer Priester ausgerechnet mit einer Romanübersetzung dem Publikum vorstellt, musste dies in jener Zeit Widerspruch hervorrufen. Wohl–––––––––

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Vgl. das programmatische Bekenntnis in: Madeleine de Scudéry: Artamène ou le Grand Cyrus. r(Paris 1649–53) Genf 1972, Bd. I, S. 2: „Je vous diray donc seulement que j’ay pris et que je prendray tousjours pour mes uniques Modelles, l’immortel HELIODORE, et le Grand URFE. Ce sont les seuls Maistres que j’imite, et les seuls qu’il faut imiter.“ „Deuenit ad me seruatus ex ista clade Vngarica, qua serenissimi quondam regis Matthiæ Coruini bibliotheca omnium instructissima superioribus annis à barbarie asiatica uastata est. Hunc cum alijs nonnullis miles quidam planè gregarius, & ab omnibus tam græcorum quàm latinorum disciplinis abhorrentissimus […] forte fortuna non sine mente reor, sine numine diuûm, sustulit, quia auro exornatus nonnihil adhuc splendescebat“ (‚[Der Codex] ist zu mir gelangt, nachdem er aus jener ungarischen Schlacht gerettet worden war, in der die reichste aller Bibliotheken, die des erlauchten Königs Matthias Corvinus, vor wenigen Jahren durch asiatische Barbaren verwüstet worden ist. Diesen hat, mit einigen anderen, ein gewöhnlicher Soldat, der über keinerlei Latein- oder Griechischkenntnisse verfügte, ganz zufällig und nicht ohne göttlichen Plan, mitgenommen, weil er, durch Goldschmuck verziert, ziemlich geglänzt hat‘) ([Vincentius Obsopœus: Vorrede.] In: Heliodori Historiæ Aethiopicæ libri decem, nunquam antea in lucem editi. Basel 1534, S. a2v). Die Übersetzungen sind meine eigenen.

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weislich nimmt Amyot im Proesme solche Einwände vorweg, um einen frühen Ansatz zu einer eigenständigen Romantheorie zu formulieren. Nicht alle „lügenhaften Schriften“ („escrits mensongers“) müssten verdammt werden. 8 Die menschliche Natur sei nicht dazu geschaffen, ausschließlich tiefsinnige Bücher zu lesen; das Bedürfnis nach Zerstreuung sei legitim. Nicht Belehrung sei der Endzweck der Fiktion, sondern „l’ébahissement & la delectation“, die Fähigkeit, zu verblüffen und zu erfreuen: [L]’artifice d’inuention Poëtique, comme doctement a escript Strabon, consiste en trois choses. Premierement en histoire, de laquelle la fin est verité […]. Secondement en ordre, & disposition, dont la fin est l’expreßion & la force d’attraire & retenir le lecteur. Tiercement en la fiction, dont la fin est l’esbahissement, & la delectation, qui procede de la nouuelleté des choses estranges, & pleines de merueilles. Par ainsi beaucoup moins se doiton permettre toutes choses és fictions que lon veut desguiser du nom d’Istoriale verité, ainsi y faut entrelasser si dextrement du vray parmi du faux, entretenant tousiours semblance de verité & si bien rapporter le tout ensemble, qu’il n’ayt point de discordance du commencement au milieu, ny du milieu à la fin. Et au contraire la plus grande partie des liures de ceste sorte, qui ont anciennement esté escrits en nostre langue, outre ce qu’il n’y a nulle erudition, nulle cognoissance de l’antiquité, ne chose aucune (à brief parler) dont on peust tirer quelque vtilité encore sont ils le plus souuent si mal cousuz & si esloignez de toute vraye semblable apparence qu’il semble que ce soyent plustost songes de quelque malade resuant en fieure chaude, qu’inuentions d’aucun homme d’esprit & de iugement. 9

Ein spannender Aufbau sowie eine Handlung, die Neues, Fremdartiges und Wundersames enthalte, seien das Wichtigste, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln. Dabei wird die Kategorie der Wahrscheinlichkeit dem Ästhetischen untergeordnet: Man müsse Wahres so unter das Falsche mischen, dass es an keiner Stelle eine Unstimmigkeit („discordance“) gebe. Das vraisemblable ––––––––– 8

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[Jacques Amyot:] Proesme dv Translateur. In: L’histoire æthiopique de Héliodore […]. Lyon 1584 [11548]; vgl. Marc Fumaroli: Jacques Amyot and the Clerical Polemic against the Chivalric Novel. In: Renaissance Quarterly 38/1 (1985), S. 22–40; Laurence Plazenet: Jacques Amyot and the Greek Novel. The Invention of the French Novel. In: The Classical Heritage in France. Hg. v. Gerald Sandy. Leiden u. a. 2002, S. 237–280. Amyot (Anm. 8), S. a3r (,Die Kunstfertigkeit der dichterischen Erfindung, wie Strabon auf gelehrte Weise geschrieben hat, besteht in drei Dingen: Erstens in der Geschichte, deren Ziel Wahrheit ist […]. Zweitens in der Anordnung und im Aufbau, deren Ziel der dichterische Ausdruck ist und die Kraft, den Leser anzulocken und zu fesseln. Drittens in der Fiktion, deren Endzweck das Verblüffen und das Erfreuen ist, das aus der Neuartigkeit von Dingen hervorgeht, die fremdartig sind und voll von Wunderbarem. Daher darf man sich umso weniger in Fiktionen alles erlauben, das man unter dem Namen der geschichtlichen Wahrheit verbergen möchte. Und so gilt es, geschickt Wahres unter das Falsche zu mischen, dabei immer den Schein der Wahrheit aufrechtzuerhalten und alles zusammen so gut zu berichten, dass es keine Unstimmigkeit gibt, weder vom Anfang zur Mitte, noch von der Mitte zum Schluss. Was im Gegensatz dazu den Großteil der Bücher dieser Art betrifft, die früher in unserer Sprache geschrieben worden sind, so verfügen sie nicht nur über keinerlei Gelehrsamkeit und über keinerlei Kenntnis der Antike – kurz gesagt über gar nichts, woraus man irgend einen Nutzen ziehen kann: Darüber hinaus sind sie oft so schlecht zusammengefügt und so fern von jeglicher Wahrscheinlichkeit, dass es scheint, als handle es sich eher um Träume eines Kranken, der in heißem Fieber schwitzt, als um Erfindungen eines Mannes von Geist und Urteilskraft‘).

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wird von Amyot somit nicht mehr an der Lebenswelt geprüft, sondern die Kategorien von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ werden ästhetisch neutralisiert. Es geht ihm also nicht in erster Linie um Übereinstimmung mit der geschichtlichen Wahrheit, sondern um eine ästhetisch befriedigende Mischung von Wahrem und Erfundenem. ,Ébahissement‘ und ,delectation‘ würden vor allem auch durch die dispositio erzeugt: indem der Leser aus einem Netz von rückgreifenden und vorausdeutenden Verweisen die Geschichte allmählich enträtseln und ordnen muss. Der Roman soll also nicht nur deshalb mediis in rebus beginnen, weil dies ein bewährtes Stilmittel ist. Diese Technik erzeuge einerseits Spannung, andererseits bürge sie dafür, dass der Roman auf einem durchdachten Gesamtplan beruht und nicht bloß Episoden aneinanderreiht. Die Aithiopika seien mithin ein geistreiches Vergnügen, deren virtuoser ordo artificialis als artistische Leistung gewürdigt werden müsse. (Scaliger und Torquato Tasso werden wenig später Heliodor zum Maßstab auch des Epos erklären.) 10 Einziger Einwand: Den Aithiopika fehle es an grandeur, an heroischer Größe, denn Theagenes vollbringe keine kriegerischen Heldentaten. 11 Der bislang vorliegenden Romanliteratur – zu denken ist hier vor allem an die Amadis-Zyklen – kann Amyot nichts abgewinnen: Sie gliche Träumen eines Fieberkranken. Ein halbes Jahrhundert vor dem Don Quichotte (1605) wird hier das Romaneske bereits mit ansteckendem Wahnsinn in Verbindung gebracht. An Amyots Vorwort scheint mir zweierlei bemerkenswert: zum einen die Auffassung des Romans als eines legitimen Lesegenusses; zum anderen die Rückführung der Wirkung auf die dispositio, die kunstfertige Anlage. Die Idee eines – wie ich ihn nennen möchte – ‚reformierten hellenistischen Romans‘ wird in der Folge von zahlreichen Schriftstellern dankbar aufgenommen und erweitert. 12 Mit der Anbindung an Heliodor schien eine Lösung gefunden, den Roman innerhalb traditioneller poetologischer Normen zu verorten – und innerhalb christlicher Normen: Bischof Amyot, der den Roman des – angeblichen – Bischofs Heliodor propagierte, ist übrigens nur einer von mehreren hohen –––––––––

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Vgl. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem ad Sylvium filium. Lyon 1561, III, Cap. XCVI, S. 144D: „Hanc disponendi rationem splendidissimam habes in Æthiopica historia Heliodori. Quem librum epico Poetæ censeo accuratissime legendum, ac quasi pro optimo exemplari sibi proponendum“; Torquato Tasso: Discorsi del poema eroico [1594]. In: T. T.: Prose. A cura di Francesco Flora. Milano, Roma [1932], S. [315]–539, II, S. 374: „Concedasi dunque che ’l poema epico si possa formar di soggetto amoroso, com’è l’amor di Leandro e d’Ero, de’ quali cantò Museo antichissimo poeta greco […] o quelli di Teagene e di Cariclea, e di Leucippe e di Clitofonte, che nella medesima lingua furono scritti per Eliodoro e per Achille Tazio“. „[L]’une des deux perfections requises pour faire chose belle, c’est la grandeur, à cause que les contes, mesmement quant à la personne du Theagenes, auquel il ne faict executer nuls memorables explits d’armes, ne me semblent point assez riches“ (Amyot [Anm. 8], S. 6f.). Zur Rezeption des höfisch-historischen Romans in England vgl. v. a.: Thomas Philip Haviland: The Roman de Longue Haleine on English Soil. Diss. Philadelphia 1931; Laurence Plazenet: L’ébahissement et la délectation. Réception comparée et poétiques du roman grec en France et en Angleterre aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1997.

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Geistlichen, die den Aufstieg des Romans in Frankreich maßgeblich beförderten: Jean-Pierre Camus, Bischof von Bellay, hat über dreißig höfisch-historische Romane verfasst; und Pierre Daniel Huet, Bischof von Soissons und Avranches, legte 1670 die erste systematische Geschichte und Theorie des Romans vor. Die Usurpation des Raums des Epos und seiner poetologischen Grundlegung konnte jedoch den Weiterentwicklungen in der Praxis schon bald nicht mehr gerecht werden. Zwischen der Theorie des ‚Prosaepos‘ und den Romanen selbst entstanden je länger, je mehr Spannungen, die erst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts theoretisch überzeugend aufgelöst werden konnten.

II. Während seines ersten Aufenthalts in den Niederlanden, genauer: 1644–45, hat Philipp von Zesen in rascher Folge – und offenbar auch „zur Erlärnung der französischen Sprache“ 13 – drei Romane aus dem Französischen übersetzt: je einen von Vital d’Audiguier (a.), Sieur de Gerzan (b.) und Madeleine de Scudéry (c.). Da die drei Werke über die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts verteilt erschienen sind (1616, 1627f. und 1641ff.), vermitteln sie einen repräsentativen Eindruck von den Möglichkeiten des Romans in dieser Zeit. Inwiefern hängen die drei Titel nun mit der oben skizzierten Poetik des reformierten hellenistischen Romans zusammen? a. Mit dem ersten Roman, Vital d’Audiguiers Lysandre et Caliste (1616), 14 hat sich Zesen kein nur Kennern vorbehaltenes Werk vorgenommen. Es handelt sich vielmehr um einen der meistgelesenen Romane der Zeit, der in Frankreich bis 1750 nicht weniger als 29 Mal nachgedruckt wurde. Dieser langanhaltende Erfolg mag auf eine ungewöhnliche Variation zurückzuführen sein, die d’Audiguier dem klassischen Schema angedeihen lässt. Zunächst spielt die Handlung nicht etwa in der Antike, sondern im zeitgenössischen Frankreich, zur Zeit von Heinrich dem Vierten. Zudem ist Caliste, die weibliche Hauptfigur, bereits verheiratet, als sich Lysandre in sie verliebt. Die Zuneigung wird mit Takt sublimiert, führt jedoch zu heiklen Situationen. So wird Lysandre etwa bei einem Stelldichein mit Caliste vom heimkehrenden Ehemann überrascht. Der Geliebte kann gerade noch hinter einen Vorhang flüchten, wo er dem Liebesakt des Ehepaares beiwohnen muss. 15 Trotz dieser kitzligen Dreiecksgeschichte und des eher ungewöhnlichen Gegenwartsbezugs 16 ist Lysandre et Caliste aber kein ––––––––– 13 14

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Zesen SW VI, [7] (Dem Läser). Vital d’Audiguier: Histoire trage-comique de nostre temps sous les noms de Lysandre et Caliste. Paris 1616. Zum Autor vgl. die Monographie: Frederick Wright Vogler: Vital d’Audiguier and The Early Seventeenth-Century French Novel. Chapel Hill 1964. d’Audiguier (Anm. 14), Bd. II, S. 97–104. Im Vorwort seiner Übersetzung streicht Zesen den authentischen Gehalt des Werks eigens heraus: Es würden sich „noch Leute bey leben fünden / die sich der Kalisten Gefängnüs zu Paries / und des todes ihres Ehmannes Kleanders / wohl werden zu erinnern wissen“

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Vorläufer des psychologisch-‚realistischen‘ Romans im Stil von Mme de Lafayettes Princesse de Clèves (1678). Das Verhältnis mit der Verheirateten gipfelt in keiner tragischen Katastrophe, sondern wird mit Umsicht gehandhabt: Die beiden Liebenden verbinden sich erst, nachdem der Ehemann zu Tode gekommen ist (er wird im fünften Buch ermordet). Eine histoire trage-comique also: Eine potentiell tragische Konstellation wird zu einem versöhnlichen Abschluss geführt – die Leydener Ausgabe von Zesens Übersetzung trägt denn auch den Titel Die Traurige jedoch Frölich-Außgehende Historia von Lysandern vnd Kalisten. 17 Auch wenn dies nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird: Mit der Rezeption des antiken Romans steht auch Lysandre et Caliste in unmittelbarem Zusammenhang. Denn d’Audiguier hat die Heliodor-Ausgabe von Amyot – mittlerweile ein Klassiker – revidiert und neu herausgegeben. 18 Mit dem reformierten hellenistischen Roman ist seine histoire trage-comique mit ihren vielen novellistischen Einlagen jedoch kaum vereinbar. Sie erscheint vielmehr wie ein Rückfall in die Welt des mittelalterlichen Romans. Einige Beispiele: Ein Geist prophezeit dem Ehemann Cléandre seinen Tod; Lysandre wird durch einen opérateur von einer schweren Krankheit geheilt und erbricht in der Folge „Federmesser / Dintenfässer / wächsene Bilder / Armbänder / Haare / und Nägel von Karren“, die als Reliquien aufbewahrt werden. 19 An einem Turnier am englischen Königshof Jakobs des Ersten winkt als Preis ein Schwert aus dem Besitz von König Artus. Und auf dem abschließenden Hochzeitsfest erscheint eine Nymphe, die eine Wasserquelle und Bildsäulen hervorzaubert. 20 Schauplatzwechsel werden zumeist durch Schiffbrüche oder Duelle herbeigeführt, –––––––––

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(Zesen SW IV/1, 6 [Auf-traags-schrift An die überirdische Rosemund]). Im Vorwort ist überdies von einem Mitarbeiter an der Übersetzung die Rede, der als Gottfried Hegenitz identifiziert wurde. Die Traurige Jedoch Frölich-Außgehende Historia Von Lysandern Vnd Kalisten, Hiebevorn Frantzösich [!] beschrieben Vom Herrn Davdigern […]. Leyden 1644. Histoire éthiopique d’Héliodore, contenant dix livres traitant des loyalles et pudiques amours de Theagenes Theassalien et de Chariclée Ethiopienne. Traduite de grec en françois par Maistre Jacques Amyot et de nouveau reveuë, corrigée et augmentée sur un ancien exemplaire escrit à la main, par le Sr d’Audiguier. Paris 1609 [wieder 1614, 1616, 1626]. Ebd.: „Il m’a pris envie de faire parler cest Autheur un peu plus doucement que celuy qui l’avoit traduit; ce n’est pas que ce ne fut un fort habille homme, mais le temps ne luy permettoit pas de mieux faire. J’en ay retranché quelques mots que j’ay trouvé superflus, et adjousté quelques argumens qui m’ont semblé necessaires“ (,Ich [d’Audiguier] bekam Lust, diesen Autor [Heliodor] ein wenig sanfter sprechen zu lassen als derjenige, der ihn übersetzt hatte [Amyot]. Nicht, dass dieser kein äußerst gewandter Mann gewesen wäre; aber die Zeit hat ihm nicht erlaubt, es besser zu tun. Ich habe einige Wörter weggestrichen, die ich für überflüssig gehalten habe und einige Argumente berichtigt, die mir notwendig erschienen‘). Zu d’Audiguiers Amyot-Bearbeitung liegt eine eigene detaillierte Studie vor: E.[dmond] Huguet: Quomodo Jacobi Amyot sermonem quidam d’Audiguier emendaverit. Diss. Paris 1894. Zesen SW IV/1, 126 (d’Audiguier [Anm. 14], Bd. IV, S. 200–203). Ebd., Bd. VIII, S. 790–796.

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was der Erzählung einen rastlosen, sprunghaften Charakter verleiht. 21 Nicht nur fehlt die historische Tiefendimension; das Ganze gleicht eher einer Sammlung von Einzelepisoden und ‚hispanisierten‘ Novellen als einem durchkomponierten ‚Prosaepos‘. Amyot und orthodoxe Vertreter des reformierten hellenistischen Romans hätten Lysandre et Caliste wohl als Beispiel eines effekthascherischen Abenteuerromans abgelehnt. 22 Tatsächlich ist Lysandre noch ein Romanheld im herkömmlichen Sinn: ein starker und attraktiver Krieger, der sich durch kämpferischen Mut auszeichnet. Er besticht allerdings auch in der Salonkonversation, schreibt Gedichte, komponiert und spielt auf der Laute. Gut lässt sich verfolgen, wie d’Audiguier diese Tendenz von Auflage zu Auflage verstärkt: Er formt nämlich die Soldaten zunehmend in galante Höflinge um und merzt die genannten romanesken Elemente aus. Vielleicht liegt es an dieser Bereitschaft d’Audiguiers zu Konzessionen an die Poetik des roman raisonable, dass er in der Romandiskussion der Zeit durchaus wahrgenommen wird. So stellt Bischof Jean-Pierre Camus Lysandre et Caliste im Vorwort zu seinem Roman Alexis (1622) gar in die Nähe von Daphnis und Chloe und der Aithiopika. 23 Und in ––––––––– 21

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Auffallend häufig sind auch die noch bei Zesen gerne verwendeten Formeln nach dem Muster: „wir lassen unseren Lysandre für einen Moment, um uns wieder Calisten zuzuwenden“. Vgl. z. B. Zesen SW VII, 46 (Assenat): „NUn wollen wir den schönen Leibeigenen / mit seinen Hausjungfrauen / ein weilichen allein laßen; und der Abgeschiedenen nachschleichen.“ Es zeigt sich allerdings, dass sich gerade diejenigen Elemente, die man gemeinhin als charakteristische Versatzstücke des damaligen Romans betrachtet – Schiffbrüche, Duelle, heimliche Heiraten etc. –, als authentisch erweisen können. So schreibt d’Audiguier, ein Soldat unter Heinrich dem Dritten, er habe „mit 17 Jahren schon 17 Duelle“ ausgefochten. Die Niederschrift von Lysandre et Caliste habe sich verzögert, weil er durch acht Schwertstreiche verletzt worden und kurz darauf ausgeraubt worden sei: „[D]eux choses en ont rendu le dessein qu j’en auois impossible. L’vne que l’ayant comancee depuis six mois parmy des diuertissemens tels que ceux qui me connoissent peuuent sçauoir, j’en ay demeuré les trois & demy blessé de huict coups d’espee, auec des douleurs qui me faisoyent plustost songer a ma conscience, qu’à cette histoire; sans conter le desplaisir d’auoir esté volé quinze jours apres vn Assasinat, qui m’auoit reduit a l’extremité, intermedes sanglants de cette Tragecomedie“ (,Zwei Dinge haben meine ursprüngliche Absicht verunmöglicht. Zum einen: Ich habe vor sechs Monaten mit der Geschichte begonnen, neben anderen Zerstreuungen, über die diejenigen, die mich kennen, Bescheid wissen können. Dreieinhalb Monate der Zeit lag ich verwundet durch acht Schwertstreiche, unter Schmerzen, die mich eher dazu brachten, mir über mich selbst Gedanken zu machen als über diese Geschichte. Ganz zu schweigen von dem Missvergnügen, vierzehn Tage nach einem Anschlag ausgeraubt zu werden, was mich aufs Äußerste zurückwarf – blutige Einlagen dieser Tragikomödie‘) (d’Audiguier: [Anm. 14], Advertissement, S. [1]). Man weiß überdies, dass d’Audiguier, nach unzähligen weiteren Händeln, schließlich beim Glücksspiel erstochen wurde (vgl. Vogler [Anm. 14]). Es gilt also, mit der vorschnellen Aburteilung solcher Werke als ‚romanhaft‘ und ‚phantastisch‘ vorsichtig zu sein. Jean-Pierre Camus: La premiere partie de l’Alexis […]. Paris 1622, S. iijrf. (L’Autheur à Menandre): „[D]e ceste sorte d’escrits, vn excellent Esprit m’apporta vne histoire Tragecomique de sa façon, sous le nom de Lysandre, qui me semble auoysiner de bien prés ceste antiquité: la suitte en est belle, le stil hardy & fort, mais la verité du fait est enuironnee de tant de feintes que ce sont autant de nuages qui rebouchent les rays de cet vnique Soleil, du

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Charles Sorels Berger extravagant (1627ff.) – der später Anti-Roman betitelten Romanparodie – wird ausführlich darüber debattiert, ob es sich bei Lysandre et Caliste um einen legitimen Roman oder um ein chevalereskes Wahngebilde handle. 24 Hier beginnt eine Tradition der Romankritik, die aus der Perspektive der Satire oder der Persiflage zwischen legitimem ‚Prosaepos‘ und romanesker Phantastik unterscheidet. b. Im Unterschied zu d’Audiguiers histoire trage-comique handelt es sich beim zweiten von Zesen übersetzten Prosawerk geradezu um ein Schulbeispiel des reformierten hellenistischen Romans: Gerzans Histoire afriquaine de Cléomède et Sophonisbe (1627f.). 25 Das dem berühmten galanten Stilisten JeanLouis Guez de Balzac gewidmete Vorwort lehnt Gerzan ganz eng an Amyots Proesme zur Heliodor-Übersetzung an. Sein Roman enthalte allerlei Geheimnisvolles, was er auf seinen Reisen in Griechenland von einem Alten erfahren habe: Je fais voir les grands avantages de la morale par-dessus les autres sciences. Là même je découvre deux admirables chefs-d’œuvres que les grands esprits ont toujours cachés, dont l’un agit puissamment à la conservation de l’humide radical et par l’autre les dames peuvent parvenir au plus haut degré de beauté soit pour la blancheur soit pour la délicatesse du teint. Car je descris fort exactement ces deux choses de la façon qu’un vieux Grec me les a montrées en mes voyages. 26

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vray qui seul contente les aigles legitimes, rien n’est à desirer en cet habile homme qu’vn employ plus serieux“ (,Von dieser Art Schriften [den neueren französischen Romanen] hat mir ein vortrefflicher Geist eine tragisch-komische Geschichte nach seiner Art gebracht, unter dem Namen Lysander, die mir sehr nah an die Antike heranzukommen scheint. Die Erzählfolge ist schön, der Stil keck und kräftig, aber die Wahrheit der Tatsachen ist von so vielen Täuschungen umgeben, dass so viele Wolken die Strahlen dieser einzigen Sonne – der Wahrheit – verdecken, die allein die rechtmäßigen Adler zufrieden stellt. Nichts ist von diesem fähigen Mann also zu verlangen als ein ernsthafterer Einsatz‘). [Charles Sorel:] Le berger extravagant. Ov parmy des fantaisies amovreuses on void les impertinences des Romans & de Poësie. Paris 1627, Tl. II, Buch 10, S. 461–464; Tl. IV, S. 458–525 (Remarques sur le X. livre). Auch in seiner Bibliothèque françoise erwähnt Sorel d’Audiguier noch einmal lobend: „Ie ne pense pas qu’on doiue mépriser absolument le sieur d’Audiguier Autheur des Auantures de Lysandre et de Caliste; Quoy qu’il n’eust pas beaucoup d’estude, il écriuoit en ce temps-là d’vn Stile assez vigoureux & assez net“ (Charles Sorel: La bibliothèque française […]. Paris 1667 [11664], S. 187f.; S. 261). François du Soucy, Sieur de Gerzan: L’Histoire afriquaine de Cléomède et de Sophonisbe. Paris 1627f. Zu Zesens Übersetzung vgl.: Hermann Fischer: Der Intellektualwortschatz im Deutschen und Französischen des 17. Jahrhunderts, untersucht an Gerzans und Zesens Sofonisbe. Diss. Münster 1938. Kurioserweise wurde Gerzans Roman in der älteren Forschung z. T. fälschlicherweise Scudéry zugeschrieben (wohl erstmals in: Leo Cholevius: Die bedeutendsten deutschen Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. r[Leipzig 1866] Darmstadt 1965, S. 18). Gerzan (Anm. 25), Préface (unpag.) (,Ich zeige die großen Vorzüge der Moral gegenüber den anderen Wissenschaften. Auch mache ich zwei bewundernswürdige Errungenschaften bekannt, die die großen Geister immer versteckt gehalten haben. Eine davon verhilft wirksam dazu, dass die lebensnotwendige Feuchtigkeit bewahrt bleibt; durch die andere können die Damen zum höchsten Grad der Schönheit gelangen, sei es durch die Weiße, sei es durch die Zartheit der Gesichtsfarbe. Denn ich beschreibe diese beiden Dinge ganz genau gemäß der Art und Weise, die mir ein alter Grieche auf meinen Reisen gezeigt hat‘).

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Hatte die abenteuerliche Überlieferung der Aithiopika, wie sie Obsopœus schilderte, noch der Wahrheit entsprochen, erfindet Gerzan hier eine griechische Quelle, um seinem Werk ,hellenistisches‘ Prestige zu verleihen. Als meines Wissens erster französischer Autor überhaupt greift er einen bekannten historischen Stoff auf, um ihn in einem Roman zu behandeln: nämlich die bei Livius erzählte Geschichte der karthagischen Prinzessin Sophonisbe. Nicht diese historische – unter anderem von Scudéry, Corneille und Voltaire aufgegriffene – Sophonisbe ist allerdings gemeint, sondern ihre gleichnamige, vom Autor erfundene Tochter. Gerzans Erstling zeigt das Verfahren des Romans à la grecque beispielhaft. Die erfundene Geschichte wird durch einen historischen Stoff und eine fiktive antike Quelle legitimiert; Gerzan betont, dass er „l’exacte Géographie“ sowie „la vraie Histoire“ genau eingehalten habe. Auch hier meint vraisemblable also nicht ‚mit der Lebenswelt übereinstimmend‘, sondern ‚die Geschichte kunstvoll erweiternd‘. Die Histoire afriquaine soll dabei nur den Auftakt zu einem ganzen Quartett von Romanen bilden, die auf allen Erdteilen spielen: „Afriquaine, Asiatique, Europeaine, Ameriquaine“. Den krönenden Abschluss würde dann eine „Histoire gauloise“ bilden. 27 Gerzans Sophonisbe ist damit Teil eines groß angelegten Projekts, mit historisch-antikisierenden Romanen einen Gegenentwurf zur chevaleresken Romanliteratur vorzulegen. In einer der Histoire afriquaine vorangestellten Ode schreibt Jean Baudoin – selbst Verfasser hellenisierender Romane wie der Histoire Negre-pontique (1631) – denn auch, dass Gerzan mit seinem antikisierenden Roman die Amadis-Zyklen sowie Cervantes übertreffe. 28 Die Verbeugung vor dem hellenistischen Roman ist dabei mehr als ein Topos. Cléomède et Sophonisbe ist derart genau der Aithiopika nachgebaut, dass man streckenweise beinahe von Plagiat sprechen müsste. Die Anfangsszene etwa entspricht bis in die Syntax dem Beginn der Aithiopika. Wie bei Heliodor wird geschildert, wie ein unbekanntes, ausnehmend schönes Liebespaar nach einem Schiffbruch ans Land gespült wird. In der Übersetzung Zesens: DIe Winde hatten sich schon geläget / und die wütenden Wasser-wogen begunten sich auch zu bekwämen / als das gewaltige Schif / welches die Hirten auf dem hohen Mehre gesähen hatten / mehr durch eine wanckelhaftigkeit des glükkes / als einige geschickligkeit des Steuermannes / nach der Afrikanischen seite zu-lief / und an das gefährliche ufer / da Kleomedes und Sofonisbe gleich schifbruch gelidten hatten / geschmissen ward. 29

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Ebd. Erschienen ist neben der Histoire afriquaine lediglich eine Histoire asiatique: François de Soucy, Sieur de Gerzan: L’Histoire asiatique de Cérinthe, de Calianthe et d’Arthénice, avec un traité de la vie humaine et de la philosophie des dames. Paris 1634. [Jean Baudoin:] À Monsieur de Gerzan, sur son Histoire africaine. Ode. In: Gerzan (Anm. 25), unpag.: „[…] Aussi toutes les belles Fables | Que l’Espagne inventa jadis, | Et tous ces contes agréables | De Rosiclair et d’Amadis. | Ou ceux qui donnent de la gloire | À Cervantès l’ingénieux, | Ne sont pas si beaux que l’Histoire | Que tu viens offrir à nos yeux.“ Zesen SW VI, 11 (Afrikanische Sofonisbe).

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Wie bei Charikleia und Theagenes in den Aithiopika handelt es sich bei Sophonisbe und Cléomède um ausgesetzte Königskinder. Sie ist, wie gesagt, Tochter der gleichnamigen karthagischen Königin; er ist ein Prinz von Getulien. Herkunft und Schicksal der beiden Schiffbrüchigen bleiben lange umrätselt. Das Orakel in Delphi wird befragt, und erst ganz am Schluss, nach unzähligen Prüfungen und Abenteuern, können sie gemeinsam den Thron besteigen. Einzelne Episoden scheinen aus Apuleius und Achilles Tatios entlehnt zu sein. 30 Auffallend ist auch eine der Iphigenie nachempfundene Szene, die sich auf den Kanarischen Inseln abspielt. 31 All dies lässt den Roman zu einem etwa dreifachen Umfang der Aithiopika anschwellen, so dass deren genau abgemessener Aufbau hier erheblich aus dem Gleichgewicht gerät. Mit Lysander und Kaliste und der Afrikanischen Sofonisbe hat Philipp von Zesen mithin zwei von deutlich verschiedenen Konzepten ausgehende Romane übersetzt, die aber dennoch beide ohne die Heliodor-Übersetzung von Jacques Amyot kaum zu denken sind. d’Audiguier hat selbst Amyots Übertragung neu herausgegeben; Gerzan wiederum ist einer der konsequentesten Schüler Heliodors und Amyots. Beide vermeiden auffallenderweise den mit phantastischem Fabulieren assoziierten Begriff ‚Roman‘ und nennen ihre Prosawerke ,Histoire‘. Allerdings steht d’Audiguier noch stark in der Tradition der spanischen Novellistik (er hat selbst, zusammen mit François de Rosset, Cervantes’ Exemplarische Novellen übersetzt) 32 sowie der Zauberwelt des Amadis; auch die Dreiecksgeschichte ist für einen höfisch-historischen Roman eigentlich zu gewagt. Gerzan hingegen präsentiert eine antikisierende, an einen historischen Stoff angebundene Abenteuer- und Prüfungsgeschichte, die sich sowohl stofflich wie erzähltechnisch direkt im Fundus der antiken Romane bedient. c. Auch der dritte von Zesen übersetzte Roman nennt sich Histoire. Es handelt sich um das erste große Prosawerk der Madeleine de Scudéry: Ibrahim, ou l’illustre Bassa (1641). In unserem Zusammenhang ist vor allem die (von ihrem Bruder George verfasste) Vorrede aufschlussreich. Sie zieht gleichsam die Bilanz der gesamten, durch Amyots Heliodor-Übersetzung angestoßenen Entwicklung. Neben Huets Traité sur l’origine des romans (1670) und Du Plaisirs Sentiments sur les lettres et sur l’histoire (1683) gehört die Ibrahim-Vorrede zu den wichtigsten romantheoretischen Abhandlungen des siebzehnten Jahrhunderts. Wie Amyot entwirft Scudéry – der Bruder – seine Romantheorie aus einer Abwehrhaltung gegen den romanesken Roman. Er orientiert sich aber program––––––––– 30

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Hierzu auch: Gerald N. Sandy: Classical Forerunners of the Theory and Practice of Prose Romance in France. Studies in the Narrative Form of Minor French Romances of the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Antike und Abendland 28 (1982), S. 169–191 (insbes. 185–189). Cléomèdes Schwester Praxitee agiert dort als Priesterin und flieht mit ihm, statt ihn vorschriftsgemäß zu opfern. Les Nouvelles de Miguel de Cervantes Saavedra. Où sont contenues plusieurs rares Adventures, & memorables Exemples d’Amour […]. Traduictes d’Espagnol en François. Les six premieres par F. De Rosset. Et les autres six, par le Sr. D’Audiguier. […] Paris 1615.

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matisch am Epos (Ilias, Odyssee, Æneis) und verstärkt damit die Anbindung an die Antike. Das naheliegendste Unterscheidungsmerkmal zwischen Epos und Roman – die Verwendung von Vers oder Prosa – wird überraschenderweise nicht einmal erwähnt. Neben dem Aufbau, der dispositio, scheint es für Scudéry eine sekundäre Äußerlichkeit zu sein. Dafür betont er vor allem die Einheit des Ganzen: Analog zum Epos sollen sich die Episoden der einen Haupthandlung unterordnen lassen, die nicht mehr als ein Jahr umfassen sollte. Hierbei wird der liaison, der geschmeidigen Verknüpfung, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Wie beim menschlichen Körper soll jeder einzelne Teil unentbehrlich für das Ganze sein: I’ay donc vû dans ces fameux Romans de l’Antiquité, qu’à l’imitation du Poëme Epique, il y a vne action principale, où toutes les autres sont attachées; qui regne par tout l’ouurage; & qui fait qu’elles n’y sont employées, que pour la conduire à sa perfection. Cette action dans l’Iliade d’Homere est la ruïne de Troye: dans son Odyßée, le retour d’Vlisse à Itaque: dans Virgile, la mort de Turne, ou pour mieux dire la conqueste de l’Italie; plus prés de nous dans le Tasse, la prise de Hierusalem; & pour passer du Poëme au Roman, qui est mon principal objet, dans l’Heliodore, le mariage de Chariclée & de Theagenes. Ce n’est pas que les Episodes en l’vn, & les diuerses histoires en l’autre, n’y soient plûtost des beautez que des deffaux: mais il est toûjours necessaire, que l’adresse de celuy qui les employe, les face tenir en quelque façon à cette action principale, afin que par cet enchainement ingenieux toutes ces parties ne facent qu’vn corps; & que l’on n’y puisse rien voir de détaché ny d’inutile. 33

‚Die Zerstörung Trojas‘ oder ‚Die Heimkehr des Odysseus‘ – solche Stoffe kämen für den Roman nicht mehr in Frage, sondern nur Liebesgeschichten. (Zesen definiert in Rosen-mând, der Sprachtheorie, den Roman ähnlich als entweder „ungebundene Heldengeschichte“ oder „Liebes-geschichte“.) 34 Scudérys préface ist mehr als eine Synthese gängiger Aristotelischer und Horazischer Postulate. Sie wird zu einem veritablen Manifest des art du mensonge, der ––––––––– 33

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[George et Madeleine de Scudéry:] Préface. In: Madeleine de Scudéry: Ibrahim ou L’Illustre Bassa. Rouen 1665 [11641–44]. S. [2]f. (,Ich habe in diesen berühmten Romanen der Antike gesehen, dass sie, in Nachahmung des Epos, eine Haupthandlung besitzen, an die alle anderen angelagert sind. Sie waltet über das ganze Werk und sie macht, dass diese [die Nebenhandlungen] nur eingesetzt sind, um sie zur Vollkommenheit zu führen. Diese Handlung ist in der Ilias Homers der Fall Trojas; in seiner Odyssee die Heimkehr des Ulysses nach Ithaka; bei Vergil der Tod des Turnus, oder beser gesagt die Eroberung Italiens; und, näher bei unserer Zeit, im Tasso die Einnahme Jerusalems; und um vom Epos zum Roman überzugehen, der mein eigentliches Thema ist: bei Heliodor die Heirat von Charikleia und Theagenes. Das heißt nicht, dass bald die Episoden, bald die verschiedenen Geschichten nicht auch eher Schönheiten als Mängel sein können. Aber es ist immer notwendig, dass derjenige, der sie einsetzt, sie mit Geschick auf irgend eine Weise mit der Haupthandlung verbindet, so dass durch diese raffinierte Verkettung alle Teile zusammen einen Körper bilden, an dem man nichts Abgetrenntes und nichts Überflüssiges sehen kann‘). Zesen SW XI, 78–273, hier 226: „ROMANDS nennen solche die Frantzosen. Ich halte / es sollen ROLANDS / das ist Rolanden sein: wiewohl Rohland und Romand beides einen Helden bedeutet. zuerst hat man auch die ungebundene / doch auf Dichterische art verfassete Heldengeschichte also genennet: bis endlich auch den Liebes-geschichten / so auf diese art beschrieben werden / solcher nahme zugeteilet worden.“

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‚Lügenkunst‘, erweitert. Dabei werden die Grenzen der Wahrscheinlichkeit genau abgesteckt: Elfen, Feen und Geister – all dies war etwa bei d’Audiguier durchaus noch präsent –, der ganze Apparat des Übernatürlichen, wird abgelehnt. Der Roman gilt als ‚entzaubertes Epos‘, als Erzählraum, in dem übersinnlicher oder göttlicher Beistand verpönt ist. In den Bereich des vraisemblance gehört auch die Diskussion der Charaktere: Stereotype Tugendhelden werden als ‚romanhaft‘ abgelehnt. Verlangt werden eine sorgfältige und konsistente Differenzierung der Charaktere sowie die Verschleierung wirklicher Personen. Ibrahim, l’illustre Bassa kann diese Poetik gut illustrieren. Wie bei Gerzan wird ein ‚Seiteneinstieg‘ in einen bekannten historischen Stoff gewählt: Der Titelheld Ibrahim heißt eigentlich Justinian und ist Großwesir von Soliman dem Zweiten, dem Eroberer Wiens. Die Gestalt Ibrahim-Justinians ist eine Erfindung Scudérys; der Hintergrund jedoch ist historisch belegt: Sultan Soliman ließ sich von seiner ehrgeizigen Gemahlin Roxelane überreden, seinen Sohn Mustapha zu beseitigen. Sein anderer Sohn, Zeangir, brachte sich vor Schmerz neben der Leiche des Bruders um – den Stoff um die beiden Brüder behandeln im achtzehnten Jahrhundert noch Lessing und Christian Felix Weiße. Scudéry lässt nun Ibrahim-Justinian vor dieser historischen Kulisse mit Isabelle, einer Prinzessin aus Monaco, zusammenkommen (eine Neuausgabe aus dem zwanzigsten Jahrhundert trägt den Titel Isabelle Grimaldi, princesse de Monaco). 35 Das Geschehen – das tatsächlich rund ein Jahr umfasst – wird auf drei Schauplätze verteilt: Konstantinopel, Persien sowie Genua, wo vor allem die divertissements einer Hofgesellschaft vorgeführt werden. Die Organisation des Erzählgefüges – die so intensiv theoretisierte dispositio – kann als durchaus gelungen gelten. Ibrahim entspricht keineswegs dem Klischee eines unlesbaren roman de la longue haleine, sondern die Anlage ist überschaubar und durchdacht. – Mit Scudéry ist der Höhepunkt in der Entwicklung eines neuen Romans auf der Basis der hellenistischen Vorbilder erreicht. In Antoine Furetières Nouvelle allégorique (1658), einer allegorischen Literaturgeschichte, triumphiert Mlle de Scudéry als Königin von ‚Romanie‘ und verbietet jeglichem Galimathias den Eintritt in ihr Reich. 36

III. Man muss sich vor Augen führen, dass die drei vorgestellten Romane insgesamt rund 4800 Oktavseiten umfassen. Umso mehr erstaunt das hohe Tempo, in dem Zesen diese drei voluminösen Werke übersetzt hat. Die Entstehungszeit seines ersten Romans, Ritterholds von Blauen Adriatische Rosemund (1645), fällt nun ––––––––– 35

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Madeleine de Scudéry: Isabelle Grimaldi, princesse de Monaco. Avant-propos et notes de Ernest Seillière. Paris 1923. [Antoine Furetière:] Novvelle allegorique ov histoire des derniers trovbles arrivez av royavme d’eloqvence. Paris 1658, S. 32f.

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genau in die Zeit dieser Übersetzungen. Inwiefern hat sich diese intensive Beschäftigung mit dem französischen Roman auf die Rosemund ausgewirkt? Verschiedene Elemente von Zesens Erstling erinnern unmittelbar an d’Audiguiers Lysandre et Caliste: Die Handlung ist ebenfalls in der Gegenwart angesiedelt; wie bei d’Audiguier spielt das Konfessionsproblem eine entscheidende Rolle; 37 im Vordergrund steht zudem in beiden Romanen das galante Werben um eine unerreichbare Dame. Vermutlich hat Zesen zur Zeit seiner Übersetzungen Heliodor noch gar nicht gekannt. Mit Gerzans Histoire afriquaine lag ihm jedoch ein Beispiel vor, das Heliodors in-medias-res-Technik sowie die Disposition mehrerer Vorgeschichten schulbuchmäßig umgesetzt hatte. Über inhaltliche Übernahmen aus Gerzans Roman lässt sich nur spekulieren: Auffallend ist etwa, dass bereits Sophonisbe Schäferin werden möchte, um den Nachstellungen zu entgehen – das Motiv ist allerdings in der zeitgenössischen Romanliteratur häufig anzutreffen. Dass Zesen aus Scudérys Ibrahim ganze Passagen in die Rosemund übernommen hat, wurde in der Forschung bereits nachgewiesen. 38 Signifikant scheint mir aber, dass die Vorrede von Scudéry mit ihrem engagierten Plädoyer für die ‚Lügenkunst‘ Zesen nicht sonderlich behagt zu haben scheint – er übersetzt sie gar nicht. Wichtig sind ihm vielmehr die Konversationen und die Lehren des Ibrahim, „darinnen er [Scudéry] den alten Griechen nicht allein gefolget / sondern auch in vielen zuvohr kommen“: „Hier fündet ein Wält-weiser / was er suchet; hier schauet ein Frauen-zimmer / was in seinen Krahm dienet; hier sihet ein Höhfling / wie er bey großen Herren und den Frauen-bildern höhflen sol“. 39 Bei näherem Hinsehen gilt es die Einflüsse des ,reformierten hellenistischen Romans‘ jedoch zu relativieren: Zwar beginnt die Adriatische Rosemund mediis in rebus in Paris, und der Held Markhold liefert in einem langen Gespräch seine erste Begegnung mit Rosemund in Amsterdam nach. 40 Doch handelt es sich eher um ein einmaliges hysteron proteron als um ein ausgeklügeltes Gefüge vorgreifender und nachholender Geschichten, wie es die Aithiopika und die französischen Nachfolger vorgeführt hatten. Wohl begegnen Markhold klassische Abenteuer: So gerät er auf der Überfahrt nach Holland in einen Seesturm (S. 186–188) oder muss bei einem „zwe-streit“ sekundieren (S. 95f.). Aber der Schiffbruch ist eher ein riskanter Zwischenfall als eine schicksalhafte Wendung, und das Duell ist eine Abrechnung unter Ehrenmännern und kein Ritterturnier, von dem das Schicksal eines Landes abhinge. Nicht Kampfesstärke, entschlos––––––––– 37 38

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Bei d’Audiguier werden z. B. abtrünnige Mönche wie Luther scharf kritisiert. Vgl. bes.: Hans Will: Die aesthetischen Elemente in der Beschreibung bei Zesen. Giessen 1922; H. W.: Zesen – Scudéry. Eine Parallele. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 80 (1925), Bd. 148, S. 12–17 (Nachweis von Übernahmen von Beschreibungen, etwa eines Springbrunnens oder einer Grotte, in die Adriatische Rosemund); allg.: Heinrich Reinacher: Studien zur Übersetzungstechnik im deutschen Literaturbarock. Madeleine de Scudéry – Philipp von Zesen. Diss. Freiburg i. Ue. 1937. Philipp von Zesen: Schuz-räde An die unüberwündlichste Deutschinne. In: SW V/1, [7]– 21, hier 9, 10. Zesen SW IV/2, 53–87 (Di Begähbnüsse des Markholds und der Rosemund).

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sener Mut oder staatspolitische Fähigkeiten lassen also Markhold brillieren, sondern sein galantes Benehmen. Der charmante Umgang mit dem anderen Geschlecht, seine einfallsreichen Briefe sowie seine unterhaltenden „wortgepränge“ und „prunkreden“ – so übersetzt Zesen die französischen compliments – verschaffen ihm Respekt bei der galanten Gesellschaft. Die Kunst, „ahrtig Worte zu drähen“ und sie „künstlich […] auf schrauben zu säzzen“ (S. 76) – die Fähigkeit zum geistreichen tour also – hat die körperliche Tatkraft abgelöst. Natürlich finden sich solche Einlagen ansatzweise schon bei d’Audiguier und ausgeprägt bei Scudéry. Konversationen und Gespräche sind dort aber Ruhepunkte innerhalb einer noch immer abenteuerlichen und staatspolitischen Handlung. Die unaufhörlichen Mahlströme von Abenteuern sind in der Rosemund hingegen beruhigt oder kommen gänzlich zum Stillstand: Die galanten Einlagen sind zum Hauptinhalt geworden. Mir scheint, dass hier der Grund für die Uneinigkeit liegt, was die literargeschichtliche Einordnung der Adriatischen Rosemund betrifft. Denn betrachtet man sie auf der Folie der zeitgenössischen Romantheorie, wird man lediglich Abweichungen oder Defizite verzeichnen können. Entscheidend ist aber, dass bei Zesen rhetorische Kriterien und nicht ‚poetologische‘, die elocutio und nicht die dispositio, im Vordergrund stehen. Entsprechend lässt sich die Adriatische Rosemund auch besser mit Kategorien der Rhetorik als der Poetik erfassen. Die sparsame Handlung gibt den Hintergrund ab, vor dem zwei Idealporträts, eines galanten Edelmanns und einer galanten Dame, gezeichnet werden. Dabei kann der Autor alle Register seines epistolographischen und lyrischen Könnens unter Beweis stellen. Wie bei Scudéry ließen sich die Einzelteile – ein Gedicht, ein Brief oder eine eingelegte Erzählung – auch aus dem Gesamtgefüge herauslösen. So braucht es auch nicht weiter zu irritieren, wenn Rosemund auf dem Höhepunkt, beim Wiedersehen mit ihrem Geliebten, zu ihrem enzyklopädischen historischen Exkurs über ihre Heimatstadt Venedig ansetzt (S. 194–228) und sich Markhold mit seiner ebenso umfangreichen Abhandlung über die „alten und izigen Deutschen“ revanchiert (S. 241–259). Ein Fremdkörper wären solche Einlagen nur in einem streng komponierten Prosaepos, bei dem alles dem Spannungsbogen der Haupthandlung untergeordnet ist. Bei der rhetorisch-galanten Ausrichtung der Rosemund hingegen bleibt die dispositio zweitrangig. Unter diesem Blickwinkel erscheint auch der vielumrätselte Schluss weniger unbefriedigend. Markhold verlässt ohne Grund seine Geliebte, von der lediglich noch knapp erwähnt wird, dass sie vor Gram dahinsieche (S. 281). Parallele Beispiele aus der französischen galanten Literatur können das empörend abrupte Ende zu erklären helfen. Wenn eine Idealfigur erschöpfend porträtiert ist – hier also die mit constantia und humilitas liebende Rosemund –, und wenn damit die rhetorischen Fähigkeiten des Autors genügend bewiesen sind, kann die Geschichte abgebrochen werden: Spannungserzeugung und eine künstlich hinausgezögerte Auflösung waren ohnehin nie beabsichtigt! Ich kann also Ferdinand van Ingen nur zustimmen, der argumentiert hat, es handle sich bei

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Zesens berühmtestem Roman gar nicht um einen ‚Roman‘, sondern um ein portrait littéraire, um das psychologisierende Bild einer idealisierten Frau. 41 Ich sehe die Adriatische Rosemund zusätzlich als eine Art Portfolio, in dem Zesen die ganze Breite seiner galanten Konversations- und Erzählkunst demonstrieren kann. Es sollte nicht vergessen werden, dass in Frankreich solche galante Literatur durchaus als eigenes Genre verstanden wurde. 42 Vieles von dem, was die ältere Forschung an der Adriatischen Rosemund als ‚frühbürgerlich‘ betrachtete – die Konzentration auf das Private, die ‚realistische‘ Liebesgeschichte, die ‚bürgerlichen‘ Gesprächsspiele etc. –, 43 ist auf die Schwerpunkt-Verlagerung von der dispositio auf die galante elocutio, mithin auf die Annäherung an die französische galante Literatur zurückzuführen. Die beiden anderen Romane Zesens, Assenat (1670) und Simson (1679), erscheinen erst drei Jahrzehnte nach den erwähnten Übersetzungen und der Adriatischen Rosemund. Sie gehören somit in einen ganz anderen Kontext als die Rosemund und können hier nicht mehr als gestreift werden. In der Forschung wurde zu Recht und ausführlich darauf hingewiesen, dass und inwiefern die beiden Romane innerhalb der barocken Romanpraxis eine Sonderstellung innehaben. 44 Zesen orientiere sich zwar noch an den einschlägigen höfischhistorischen Romanmodellen, wandle sie aber zu einer eigenwilligen Form des ,polyhistorischen Wissensroman‘ um. Hier soll es einzig darum gehen zu zeigen, inwiefern in diesen beiden ,Bibelromanen‘ dennoch die Poetik des ,reformierten hellenistischen Romans‘ weiterwirkt. Gleich zu Beginn der Vorrede des Assenat-Romans nennt Zesen Heliodor, um sich dann selbstbewusst als origineller Erneuerer zu präsentieren, der die Deutschen mit der internationalen Romanliteratur konkurrenzfähig mache: Mit nicht-heiligen / ja unheiligen Liebesgeschichten hat man sich lange genug belustiget; mit weltlichen übergenug ergetzet. Darzu hat der Grieche Heliodor zuerst die feder gespitzt. So gehet die gemeine rede. Die Spanier und Wälschen seind ihm gefolget: und diesen die Franzosen / mit den Englischen. Endlich haben sich auch die Hoch- und Niederdeutschen eingefunden. Aber nun sollen diese letzten in den Nicht-heiligen und weltlichen / die ersten sein in den Heiligen. Hierzu veranlaßet sie hiesige feder. Hierzu wird sie

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S. den klassischen, noch immer grundlegenden Beitrag: Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens Adriatische Rosemund: Kunst und Leben. In: Philipp von Zesen 1619–1669. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. F. v. I. Wiesbaden 1972, S. 497–516. Vgl. Sorel: Bibliothèque (Anm. 24), S. 189: „On doit considerer […] quantité de pe[ti]tes Pieces particulieres, qui paroissent sous diuerses formes, comme d’Allegories, de Voyages, de Portraits, d’Histoires feintes, & de plusieurs inuentions agreables[.]“ Vgl. hierzu auch: Delphine Denis: Le parnasse galant. Institution d’une catégorie littéraire au XVIIe siècle. Paris 2001; D. D.: Romanesque et galanterie au XVIIe siècle. In: Le romanesque. Hg. v. Gilles Declerq u. Michel Murat. [Paris] 2004, S. 105–117. V. a. Waltraut Kettler: Philipp von Zesen und die barocke Empfindsamkeit. Diss. Wien 1948; Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund. München 1966. Zusammenfassend: Sandra Krump: Von der heiligen Schönheit. Zesens Assenat und die Roman-Diskussion des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 26/4 (1982), S. 691–713.

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ihnen eine vorgängerin; indem sie diese heilige Stahts-lieb-und lebens-geschicht fliessen lesset. 45

Ist die Berufung auf Heliodor hier nur ein Topos der Romanvorrede? Assenat weicht in der Tat ganz erheblich vom in Frankreich verbreiteten Modell des ,hohen‘ Romans ab. Zesen legt den Schwerpunkt auf die „Stahts-geschicht“, auf das Wirken Josephs als gerechter und weiser „Schaltkönig“, unter dessen Hand Ägypten zum mächtigsten und wohlhabendsten Land aufsteigt. Die straffe, geradlinige Erzählführung verzichtet größtenteils auf die Verrätselungen und Verwirrungen des höfisch-historischen Romans. Dort galt es, durch eine kunstvolle dispositio, durch Verwechslungen und Wiedererkennungsszenen die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, um dann die abschließende Hochzeit umso prächtiger auszugestalten. Zesen hingegen erzählt in der Assenat eine Handlung, die nicht wie von Scudéry verlangt ein Jahr, sondern ein ganzes Säkulum umfasst, und zwar mehr oder weniger entlang der vom Buch Genesis vorgegebenen Chronologie. So endet der Roman auch nicht mit der obligaten Hochzeit des Protagonistenpaares – diese findet bereits im sechsten Buch statt –, sondern mit dem Tod Assenats und Josephs Sterbelager. Die entscheidende Änderung im Vergleich zum ,reformierten hellenistischen Roman‘ betrifft also das Verhältnis von prodesse und delectare: Zesen macht Amyots Bevorzugung von ,ébahissement‘ und ,delectation‘ wieder rückgängig und betont programmatisch und entschieden den erzieherischen Aspekt. Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, zu der es weder in Frankreich noch in England eine Entsprechung gibt: die Umverwandlung des höfisch-historischen Romans in ein quellengesättigtes polyhistorisches Lehrbuch. Selbst Heliodors Aithiopika werden unter diesen Vorgaben als Quelle herangezogen, um eine Anmerkung zu antiken ägyptischen Bräuchen zu vervollständigen (S. 523). Diese gelehrten Anmerkungen zu den beiden ,Bibelromanen‘ sind in der Romanpraxis der Zeit singulär. 46 Auch in den Romanen von Scudéry, oder im englischen höfisch-historischen Roman von Roger Boyle, wird über verschiedene Themen konversiert. Die Gespräche bleiben dort aber in der Regel auf klassische galante Topoi beschränkt, allen voran die Liebe oder das gefällige Benehmen. Weitergehende Exkurse würden als pedantisch gegolten haben. Jedenfalls ist mir kein einziger französischer oder englischer Roman der Zeit bekannt, der wie Zesens Assenat oder Simson einen separaten Anmerkungsteil oder Fußnoten besäße. Diese ausgesprochene Betonung des Wissens und des Nutzens für den Leser scheint eine deutsche Eigenart zu sein. Zesen empfiehlt gar, den Anmerkungsapparat zuerst zu lesen, damit man sich von der ,nackten Wahrheit‘ des Geschilderten überzeugen möge. 47 In Frankreich wird zur selben –––––––––

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Zesen SW VII, 9 (Dem Deutschgesinten Leser). Zu Zesens Eigenkommentaren vgl. den Beitrag von Dieter Martin im vorliegenden Band. „Ja darüm ist mein raht / daß man solche Anmärkungen zuallererst lese. Dan wan man diese wohl gefasset / wird man die Geschichtsverfassung selbsten mit grösserem nutzen so wohl / als verstande / lesen. Viel leichter wird man dan wissen / wohin ich ziele“ (Zesen SW VII, 11 [Assenat]).

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Zeit versucht, die veränderte Romanpraxis auch theoretisch zu berücksichtigen, das heißt, eine stärker an der Rhetorik und der galanten Ästhetik orientierte Grundlegung des Romans zu entwerfen. 48 Anstatt der rigiden Beharrung auf den von der klassischen Poetik vorgegebenen Mustern wird der Roman dort je länger je mehr als offene Form akzeptiert. In Deutschland hingegen wollen Zesen und andere Romanautoren gerade als Gelehrte und nicht als galante Schriftsteller verstanden werden. Dennoch: Liest man den Assenat-Roman neben der Athiopika und ihren französischen Nachahmern, wird deutlich, dass sich Zesen trotz aller gelehrten Amplifizierungen noch stark im Rahmen dieser ,Prosaepen‘ bewegt. Die klare Disposition der Handlung, die Technik der Verdoppelungen und Parallelen, die Strukturierung des Geschehens durch Orakel und Prophezeiungen sowie die Ausgestaltung eines höfischen Milieus – all dies verrät eine intensive Schulung an der Erzähltechnik Heliodors und seiner Nachfolger. Dies lässt sich an Zesens drittem und letzten Roman Simson noch deutlicher aufzeigen. Wie bei der Assenat folgt er der alttestamentarischen Vorlage (Richter 13–16) mehr oder weniger chronologisch und kommentiert die – hier sogar durchnummerierten – Abschnitte durch einen umfangreichen Quellen- und Anmerkungsteil. 49 Buch für Buch werden die entscheidenden Stationen von Simsons Leben behandelt: seine Vermählung mit einer Philisterin; deren Verrat und die blutigen Rachezüge gegen die Philister; Simsons Wahl zum Richter und seine gerechte Herrschaft; seine Affäre mit einer Philisterin aus Gaza. Die berühmteste Episode der Simson-Geschichte allerdings – seine Liebe zur Philisterin Delila, der Verrat und die Blendung – wird im letzten Buch nachgetragen. Hier wird ein in der zeitgenössischen Romanpraxis oft diskutiertes Problem deutlich: Im Grunde ist es die Episode von Simson und Delila, die von der ganzen Simson-Geschichte das größte Potential zu einer ,romanesken‘ Liebesgeschichte besäße. Als Grundlage für einen ,Bibelroman‘ im Sinne Zesens ist sie jedoch völlig ungeeignet: Das tragische Verhältnis zwischen Simson und Delila ließe sich nur dann in eine Liebesgeschichte nach Heliodorschem Vorbild verwandeln, wenn man sie bis zur Unkenntlichkeit umwandelte. Deshalb bleibt bei Zesen die Liebe Simsons zu Delila auch verhältnismäßig unmotiviert, und ihr Verlauf mit der tragischen Katastrophe bildet eine in sich geschlossene Episode des zehnten und letzten Buchs. 50 Interessanterweise hat Zesen nun aber, gleichsam um diesen Verlust an romaneskem Potential zu kompensieren, eine Nebenhandlung hinzugedichtet, in –––––––––

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Vgl. hierzu: Poétiques du roman. Scudéry, Huet, Du Plaisir et autres textes théoretiques et critiques du XVIIe siècle sur le genre romanesque. Hg. v. Camille Esmein. Paris 2004. Zesen SW VIII, 487–647 (Filips von Zesen Zugabe oder Anmärkungen über seinen Simson). Am Ende des neunten Buchs wird als Gegenpart zu Delila eine weitere weibliche Figur, die „schöne Naftalerin“, eingeführt („Gegen diese war die schöne Timnatterin […] nicht anders / als ein Schatten gegen das helleuchtende Licht der Sonne“ [S. 415]). Sie sollte wohl Simons fatalen Drang, „sich von einer Filisterin verstrükken zu laßen“ (S. 414) sowie den Kontrast zur verräterischen Delila deutlich hervortreten lassen.

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der das gesamte Arsenal des hellenistischen Romans aufgeboten wird und die mit „Lust und Ergetzung anzuhören sein wird“ (S. 321). Es handelt sich um die Geschichte der ,schönen Timnatterin‘, der Schwester von Simsons erster Braut. Sie, die Timnatterin, ist es und nicht Delila, die die weibliche Hauptrolle im Simson-Roman spielt. Das achte Buch spinnt einen vollwertigen kleinen Abenteuerroman um diese andere Charikleia aus: Die ,schöne Timnatterin‘, die vom Fürsten der Philister wie eine Tochter aufgenommen wurde, wird im Auftrag eines ägyptischen Prinzen entführt (S. 322f.), erleidet an der Küste der Philister Schiffbruch (S. 324f.) und überlebt dank eines von ihr gezähmten Löwen. Wie Charikleia und Assenat – und damit schließt sich der Kreis – wird die Timnatterin für eine Göttin gehalten: „[A]us der wunderwürdigen Schönheit der schönen Timnatterin schlossen sie endlich / daß dieselbe / welche sie für ein Menschliches Frauenbild angesehen / die Fönizische Göttin Onke selbst sein müste“ (S. 333). 51 Bald erhält sie Gelegenheit, als vermeintliche Göttin Segen zu stiften, indem sie einem jungen Jäger zu seiner Liebsten verhilft. Schließlich wird sie in einem prächtigen Staatswagen nach Hause geholt (S. 369–372); der ägyptische Prinz erweist sich als unschuldig und beschließt, die Timnatterin zu heiraten. Standesgemäß beginnt dieser ,Roman im Roman‘ mit dem Topos der Entführung und des Schiffbruchs – ja, Zesen lehnt sich offensichtlich sogar wörtlich an den Beginn der Afrikanischen Sofonisbe an, welcher seinerseits wiederum den Eingang der Aithiopika kopiert. 52 So erlebt der klassische hellenistische Abenteuerroman hier noch einmal eine Renaissance, allerdings aufgehoben innerhalb eines polyhistorischen Bibelromans und nicht als eigenständige Geschichte.

IV. Die französische Romantheorie des 17. Jahrhunderts – so habe ich zu zeigen versucht – verläuft zu einem großen Teil parallel zur italienischen Diskussion über den romanzo: Der Roman wird mit den Maßstäben des Epos und am Grundmodell von Heliodors Aithiopika gemessen. Schon bald zeigte sich aber, dass die rigide Ausrichtung an Aristotelischen oder Horazischen Kategorien den ––––––––– 51

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Vgl. die Parallelstelle in den Aithiopika: „Für die einen war sie [Charikleia] eine Göttin, Artemis oder Isis, die Göttin ihres Landes, für die andern eine von einem Gott besessene Priesterin“ (Heliodor: Die Abenteuer der schönen Charikleia. Übers. v. Rudolf Reymer. Eingel. u. erl. v. Bernhard Kytzler. München 1990, S. 13). „Weil das Ruder unbrauchbar gemacht war / konten sie das Schif weder wenden / noch lenken. Und daher begab es sich / als sie vor diesen Flus kahmen / daß es auf eine harte Sandbank geschmissen ward. In einem Augenblikke war es mitten voneinander geborsten. Die eine Hälfte sunk / mit allen Menschen / straks unter. Die andere / darinnen die schöne Timnatterin sich gantz allein befand / ward vollend nach dem Lande zu getrieben. Es währete so lange nicht / als ich dieses schreibe / da lag sie / durch eine gewaltiggroße Wasserwoge / schon auf das Ufer geworfen“ (Zesen SW VIII, 325). Vgl. oben, vor Anm. 29.

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Transformationen der Romanpraxis nicht mehr gerecht zu werden vermochte. Die Gewohnheit, die Wirkung des Romans allein auf seine ingeniöse Disposition zurückzuführen – seine Vorzüge also mit Kategorien des Epos oder der Tragödie zu erklären –, führte je länger je mehr zu einer Kluft zwischen der Romantheorie und der sich rasch weiterentwickelnden Gattung. Die drei von Zesen übersetzten Werke sind nun deshalb so aufschlussreich, auch im Hinblick auf seine eigene Produktion, weil sie drei Stationen in diesem Prozess darstellen: d’Audiguiers histoire trage-comique ist eine Mischform, welche mit der poetologischen Grundlegung des Romans nicht vereinbar ist. Die Afrikanische Sofonisbe multipliziert die Techniken Heliodors und des hellenistischen Romans in einer Weise, dass die geforderte harmonische Disposition aus den Fugen gerät. Scudérys Ibrahim schließlich kann als eine der gelungensten Weiterentwicklungen der Idee eines reformierten hellenistischen Romans gelten, wobei dessen strenge Konzeption durch die Integration zentrifugaler Elemente zunehmend unterhöhlt wird. Angesichts von Zesens intensiver Auseinandersetzung mit der französischen Romanpraxis ist es nicht erstaunlich, dass seine eigenen Romane stark von der Tradition des reformierten hellenistischen Romans geprägt sind. Allerdings zeigen sich im Vergleich zu Frankreich doch starke Ungleichzeitigkeiten: Zesen entwirft seine biblischen Romanprojekte – welche die französische Romanpoetik in ihrer klassischen Strenge noch weit übertreffen – zu einer Zeit, als solche großen Prosaepen in Frankreich praktisch nur noch im Zerrspiegel der Kritik und der Anti-Romane figurieren. An die Stelle eines hedonistischen höfischen Lesegenusses treten bei ihm „Doctrina und Eruditio im Dienste des ‚Exemplificare‘“ (wie ein Aufsatz zur Assenat heißt) 53 – und zwar mit Fußnoten. Mit der Adriatischen Rosemund hat sich Zesen hingegen auf virtuose Weise den poetologischen Aporien entzogen: Hier experimentiert er mit einem Erzählarrangement, das die modernen galanten Kleinformen aufzunehmen vermag, ohne sie gewaltsam mit den Vorschriften der klassischen Poetik zur Übereinstimmung zu bringen. Dieser Befund wirft weiterführende Fragen auf. Bereits in der zeitgenössischen Kritik des ‚hohen‘ Romans gelten die Romane etwa Scudérys oder Zesens als blutleer, stereotyp und langfädig. (Andererseits hält man sie, paradox, aber doch für gefährlich, weil sie offenbar so spannend sind, dass sie Frauen verführen und lesesüchtig machen können.) 54 Diese abschätzige Bewertung des ‚hohen‘ Romans wird zum Teil in der Forschungsliteratur weitergeführt: In vielen romangeschichtlichen Studien – prominent etwa bei Michail Bachtin – wird die ‚hohe‘ Variante des Romans ebenfalls regelmäßig als statisch und konservativ gezeichnet, während man nur den ‚niederen‘, satiri–––––––––

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Franz Günter Sieveke: Philipp von Zesens Assenat. Doctrina und Eruditio im Dienste des ‚Exemplificare‘. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 115–136 (wieder in van Ingen: Zesen [Anm. 41], S. 137–155). Vgl. insbes.: Pour et contre le roman. Anthologie du discours théorique sur la fiction narrative en prose du XVIIe siécle. Hg. v. Günter Berger. Paris 1996.

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schen Romanformen Innovationskraft zugesteht. Der Überblick über die Transformationen des hellenistischen Modells sollte aber zeigen, dass durchaus auch das ‚hohe‘ Genre zu eigenständigen und originellen Erneuerungen imstande ist. Wird das innovative Potential auch des ‚hohen‘ Romans im siebzehnten Jahrhundert anerkannt, dann nehmen sich viele der vermeintlich epochalen Neuerungen im achtzehnten Jahrhundert – in dem der moderne Roman ja angeblich erfunden worden sein soll – weit weniger spektakulär aus. So denunziert etwa Henry Fielding im Vorwort zu Joseph Andrews (1742) sowie in seinem Tom Jones (1749) den höfisch-historischen Roman von Scudéry und La Calprenède, um selbstbewusst eine neue Art der novel zu inaugurieren. 55 Betrachtet man Fieldings Grundlegung der novel jedoch genauer, so zeigt sich, dass seine Konzeption eines „(comic) epic poem in prose“, eines modernen Prosaepos, ironischerweise Punkt für Punkt den Überlegungen der Scudérys entspricht – doch dies wäre bereits ein nächstes Thema.

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„Thus the Telemachus of the Arch-Bishop of Cambray appears to me of the Epic Kind, as well as the Odyssey of Homer; indeed, it is much fairer and more reasonable to give it a Name common with that Species from which it differs only in a single Instance, than to confound it with those which it resembles in no other. Such are those voluminous Works commonly called Romances, namely, Clelia, Cleopatra, Astræa, Cassandra, the Grand Cyrus, and innumerable others which contain, as I apprehend, very little Instruction or Entertainment“ (Henry Fielding: Preface. In: H. F.: Joseph Andrews. Hg. v. Martin C. Battestin. Oxford 1967, S. [3]–11, hier S. 3f.).

Dieter Martin

Gedichte mit Fußnoten Zesens Prirau und der frühneuzeitliche Eigenkommentar

Gedichte mit Fußnoten – das scheint ein Widerspruch in sich. Seit der Goethezeit jedenfalls, seitdem Poesie und Philologie weitgehend getrennte Wege gehen, stehen historische Anmerkungen, sprachliche Erläuterungen und kritische Kommentare zu dichterischen Werken nicht eben im besten Ruf. Textkritik und Kommentar, darin sind sich die Weimarer Klassizisten 1 mit ihren Zeitgenossen einig, gelten als Angriff auf die Autonomie des poetischen Kunstwerks: „Noten, Vorreden“ und ähnliche Paratexte bezeichnet Friedrich Schlegel als „Gemeinheiten, weil sie“ das „Kunstwerk […] zum Naturwerk erniedrigen“, 2 und für seinen Bruder August Wilhelm vernichtet der philologische Apparat den ästhetischen Genuß: „Noten zu einem Gedicht, sind wie anatomische Vorlesungen über einen Braten.“ 3 Das gelehrte Beiwerk des poetischen Buchs geriet im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend in Mißkredit. Erst recht erschien es verdächtig, eigene poetische Werke kritisch zu annotieren. Auch wenn Ausnahmen – wie Goethes Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan oder auch sein einigermaßen ernsthafter, aber freilich nicht ausgeführter Plan, „Noten“ zu den Römischen Elegien zu verfassen 4 – schnell zur Hand sind: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte gelehrte Dichtung einen schweren Stand, 5 und eine poeti––––––––– 1

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„Als Dichter“, der zusammenfüge und verbinde, errichtete Goethe – in der Diskussion über die ästhetischen Konsequenzen von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum, welche die Einheit der Homerischen Epen in Zweifel ziehen – „eine unübersteigliche Scheidewand zwischen [sich] und dem heillosen Beginnen des Kritikers“, dessen Beruf es sei „aufzulösen“ und zu „trennen“ (Bericht von Karl August Böttiger, wohl vom 29. Mai 1795, zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Begegnungen und Gespräche. Begr. v. Ernst Grumach u. Renate Grumach. Bd. IV: 1793–1799. Hg. v. Renate Grumach. Berlin u. New York 1980, S. 147f., hier S. 148). Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur. Tl. I. Hg. v. Hans Eichner. Paderborn u. a. 1981 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 16), S. 120 [Nr. 425, wohl 1797]. August Wilhelm Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum 1 (1798), S. 179–322, hier S. 188. Vgl. hierzu die Briefe Goethes an Schiller vom 17. Mai und 17. August; Johann Wolfgang Goethe mit Schiller: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805. Tl. I: Vom 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799. Hg. v. Volker C. Dörr u. Norbert Oellers. Frankfurt a. M. 1998 (Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. II 4), S. 70 u. S. 106. Symptomatisch ist etwa, daß Karl Wilhelm Ramler, selbst sicherlich kein ungelehrter Dichter, 1751 eine Abhandlung von der Gelehrsamkeit in Gedichten plant, die sich „heimlich wider die letzten Gesänge des Noah“ von Johann Jakob Bodmer richten soll, in welcher „[d]er Mahler, der Botanicus, der Mechanikus, der Physicus […] seine Kunstwörter“ finde:

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sche Gelehrsamkeit, die sich in Selbstkommentaren exponiert, zog erst recht scheele Blicke auf sich: „Was ist das für eine Art zu schreiben, wenn man hinter jedes Wort eine Note heften muß?“, fragt Gerstenberg von der Warte einer Poetik, die auf unmittelbare Originalität baut. 6 Schon die Schriftsteller der Aufklärung, die – wie Haller und Hagedorn – ihre Lehrgedichte durchaus mit Fußnoten versahen, 7 disziplinierten und funktionalisierten ihren Gebrauch erläuternder Anmerkungen. Denn Dichter, deren prosaische Selbstkommentare „Dinge enthalten“, die für das Verständnis ihrer Verse nicht notwendig sind, mußten sich den Vorwurf gefallen lassen, „eine pedantische Auskramung der Gelehrsamkeit, und eine Scholiastencharlatanerie“ zu betreiben. 8 Und wer die rechte Proportion zwischen Versdichtung und Prosakommentar nicht bewahrte, der weckte „grosse[ ] Zweifel, ob die Verse der Anmerkungen wegen, oder die Anmerkungen der Verse wegen […] gedruckt worden“ sind. 9 Auch wenn man in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht mit der Autonomie des poetischen Gebildes argumentierte, hat man selbst in ‚zweckhaften‘ Lehrdichtungen die Rangfolge von primärem Kunst- und sekundärem Beiwerk strikt verteidigt. Die Verse sind der eigentliche Text, dagegen haben Fußnoten, Anmerkungen und Kommentare nur insofern ihre Berechtigung, als sie dem Verständnis des Textes, auf den sie sich punktuell beziehen, dienen und ihm untergeordnet bleiben. 10 Auf Tendenzen, das textuell Sekundäre in den Vordergrund zu heben, reagierte die Aufklärung einigermaßen empfindlich. Die –––––––––

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„Was darf ein Dichter so deutlich sagen, daß er allerley Bücher gelesen habe; er muß gar keine Bücher verrathen“ (Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hg. v. Carl Schüddekopf. Bd. I: 1745–1752. Tübingen 1906 [Bibliothek des Litterarischen Vereins 248], S. 286 u. 291; Ramler an Gleim, 23. Februar und 17. März 1751). Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1777. Hg. v. Ottokar Fischer. Berlin 1904, S. 377–383 (Rezension des Lehrgedichts Die Redlichkeit von Johann Philipp Lorenz Withof, 1770), hier S. 382f. Zur Funktion der Anmerkungen in didaktischen Dichtungen des 18. Jahrhunderts vgl. den knappen, aber informativen Exkurs bei Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 140, der u. a. aus Hagedorns (an sich schon symptomatischer) Rechtfertigung seiner Anmerkungsapparate zitiert und dessen Nachweisen sich einige der hier zitierten Bemerkungen aus dem 18. Jahrhundert verdanken. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Tl. III. Halle ²1759, S. 32: „Man kan es also überhaupt als eine nothwendige Sache ansehen, wenn ein Dichter dann und wann eine Note zu seinen eigenen Gedichten macht. Sie muß aber nur solche Dinge enthalten, ohne welche seine Gedanken von niemanden völlig verstanden werden können, sonst ist es eine pedantische Auskramung der Gelehrsamkeit, und eine Scholiastencharlatanerie.“ Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks II 12 (1745), S. 321– 335 (Rez. zu Caspar Gottlieb Lindner: Deutsche Gedichte und Uebersetzungen. Breslau u. Leipzig 1743), hier S. 328f. In diesem Sinne einer strukturellen Unterordnung definiert auch Gérard Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort v. Harald Weinrich. Aus dem Französischen übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 304f.: „Eine Anmerkung ist eine Aussage unterschiedlicher Länge (ein Wort genügt), die sich auf ein mehr oder weniger bestimmtes Segment des Textes bezieht und so angeordnet ist, daß es auf dieses Segment verweist oder in dessen Umfeld angesiedelt ist.“

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Hierarchie zwischen Text und Paratext wurde gegen Verletzungen bissig verteidigt: das bekannteste Zeugnis liefert Gottlieb Wilhelm Rabeners Satire Hinkmars von Repkow Noten ohne Text. 11 Solche satirische Abwehr dysfunktionaler Gelehrsamkeit richtete sich nicht allein gegen Auswüchse der eigenen Zeit. Sie indiziert auch, daß die Aufklärung ein neues Wissenschaftsideal errichtete, indem sie die Gelehrsamkeit der vorangegangenen Epoche herabsetzte. Denn unschwer zu erkennen ist, daß die abschätzige Rede von ‚Pedanterie‘ und ‚Scholiastencharlatanerie‘ dazu diente, sich von der als rückständig erachteten Erudition des 17. Jahrhunderts abzugrenzen und den sich selbst kommentierenden Poeta doctus des Barock als ‚Auslaufmodell‘ zu diskreditieren. Vor diesem Hintergrund späterer Epochen – aber freilich nicht mit deren wertendem Maßstab – skizziere ich zunächst die Funktion und den diskursgeschichtlichen Ort frühneuzeitlicher Eigenkommentare, um dann an Philipp von Zesens Lobgedicht auf seine Geburtsstadt Prirau das spannungsvolle Zusammenspiel von Dichtung und Eigenkommentar exemplarisch zu beschreiben. Systematisch an Studien wie Gérard Genettes Paratexte angelehnt, 12 nehmen meine Überlegungen zugleich Erkenntnisse der historischen Kommentarforschung auf. Diese setzte 1975 mit August Bucks und Otto Herdings Sammelband zum Kommentar in der Renaissance einen ersten Markstein, 13 präsentierte sich 1995 in Jan Assmanns und Burkhard Gladikows Kongreßbericht über Text –––––––––

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Gottlieb Wilhelm Rabener: Sammlung satyrischer Schriften. Tl. II. Leipzig 1751, S. 107– 168. Vgl. hierzu Harald Stang: Einleitung – Fußnote – Kommentar. Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungselemente moderner Erzählkunst. Bielefeld 1992, S. 25f., der Rabeners Noten ohne Text gemeinsam mit Liscovs Geschichte von der jämmerlichen Zerstörung der Stadt Jerusalem, Swifts A Tale of a Tub und Popes Dunciad als Beginn des literatur- und gelehrtensatirischen Gebrauchs paratextueller Formen würdigt. Auf solche neueren Formen konzentriert sich, zum Teil mit den gleichen Beispielen, auch Sabine Mainberger: Die zweite Stimme. Zu Fußnoten in literarischen Texten. In: Poetica 33 (2001), S. 337–353. Ebenso wenig ergiebig für unseren Zusammenhang bleibt die Arbeit von Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Aus dem Amerikanischen übers. v. H. Jochen Bußmann. Berlin 1995; dazu Helmut Zedelmaier: Fußnotengeschichte(n) und andere Marginalien. Anthony Grafton über die Ursprünge der modernen Historiographie aus dem Geist der Fußnote. In: Storia della Storiografia 30 (1996), S. 151– 159. – Unter der Überschrift ‚Abusus artis critica‘ verweist Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden u. a. 1995, S. 181–192, bes. S. 186f., auf ältere Beispiele solcher parodistischen Kommentare. Hinzuweisen wäre auch auf Grimmelshausens satirisches, mit gelehrten Annotationen durchsetztes Galgen-Männlin; dazu Wilhelm Kühlmann: Grimmelshausen und Prätorius. Alltagsmagie zwischen Verlockung und Verbot. Anmerkungen zu Simplicissimi Galgen-Männlin (1673). In: Simpliciana 26 (2004), S. 61–75. Wie Anm. 10; vgl. zuletzt auch die Studie von Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin u. New York 2007. Der Kommentar in der Renaissance. Hg. v. August Buck u. Otto Herding. Bonn 1975. – Vorangegangen war die überaus kenntnisreich und gewitzt eingeleitete Studie von Walther Rehm: Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser. In: W. R.: Späte Studien. Bern u. München 1964, S. 7–96, hier bes. S. 7–12.

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und Kommentar als moderne kulturwissenschaftliche Disziplin 14 und zeigte ihre methodische Ergiebigkeit zuletzt in einem Wolfenbütteler Arbeitsgespräch über den Kommentar in der Frühen Neuzeit. 15 Der Eigenkommentar wurde dabei allerdings nur in wenigen Beiträgen gewürdigt, 16 so daß man mit Herbert Jaumann weiterhin von einem noch kaum erschlossenen Genre sprechen kann. 17

I. Die Frühe Neuzeit darf als außerordentlich kommentarfreudige Epoche gelten. Quer durch alle Fakultäten und Disziplinen war der Kommentar eine der vornehmsten Formen frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit. 18 Theologie wie Philosophie, Jurisprudenz wie Medizin pflegten ihn als wichtiges Medium des wissenschaftlichen Diskurses. Auch wenn sich der Kommentar dabei verselbständigte und das Kommentierte an Umfang oft weit überbot, blieb seine grundsätzlich dienende Funktion unbestritten. Wenigstens prinzipiell stand der kommentierende Paratext im Dienst eines unantastbaren Textes. Denn kommentarbedürftig und zugleich kommentarwürdig waren (und sind im Grunde bis heute) Texte, die nicht verändert werden durften und die wegen ihrer historischen, sprachlichen und sachlichen Distanz Erläuterungen nötig hatten. Daraus ergibt sich eine Wechselbeziehung von Kommentar und Kanon 19 : Kanonische –––––––––

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Text und Kommentar. Hg. v. Jan Assmann u. Burkhard Gladikow. München 1995. Vgl. auch den Sammelband: Les commentaires et la naissance de la critique littéraire. France / Italie (XIVe–XVIe siècles). Actes du Colloque international sur le Commentaire. Paris, mai 1988. Hg. v. Gisèle Mathieu-Castellani u. Michel Plaisance. Paris 1990. Der Kommentar in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ralph Häfner u. Markus Völkel. Tübingen 2006. – Angekündigt ist: Erschliessen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Hg. v. Frank Grunert u. Anette Syndikus. Berlin 2008. Zu nennen ist bes. der Beitrag von Aleida Assmann: Der Eigen-Kommentar als Mittel literarischer Traditionsstiftung. Zu Edmund Spencers The Shepheardes Calender. In: Text und Kommentar (Anm. 14), S. 355–373, sowie die kleine Abteilung „Auto-commentaires“ in: Les commentaires (Anm. 14), S. 83–110 (Claudette Perrus: Dante critique de Dante. Ebd., S. 83–89; Marcel Tetel: Commentaire et réécriture dans l’Heptaméron. Ebd., S. 91– 100; Françoise Charpentier: L’auto-commentaire de Jean de La Ceppède. Ebd., S. 101– 110). Parodistische Annotationspraktiken und spielerische Autokommentare behandelt Martin Muslow: Subversive Kommentierung. Burleske Kommentarparodien, Gegenkommentare und Libertinismus in der frühen Neuzeit. In: Der Kommentar in der Frühen Neuzeit (Anm. 15), S. 133–160. Jaumann (Anm. 11), S. 113, weist darauf hin, wie bedeutsam für „die Zukunft der Literaturkritik“ die Anwendung gelehrter Kommentarpraktiken „auf Werke zeitgenössischer Literatur“ ist, wie unerschlossen dieses Feld aber bislang blieb. Bündige Informationen (mit weiterer Literatur) bietet Ulrich Püschel: Kommentar. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. IV. Darmstadt 1998, Sp. 1179–1187. Die „These […], daß der Kommentar als eine notwendige Begleiterscheinung der Kanonisierung auftritt“, erörtert nachdrücklich Jan Assmann: Text und Kommentar. Einführung. In: Text und Kommentar (Anm. 14), S. 9–33, hier S. 18.

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Texte werden kommentiert, weil sie nicht mehr unmittelbar verständlich sind und weil sich aktualisierende Texteingriffe verbieten. Im Umkehrschluß darf das, was mit gelehrtem Aufwand kommentiert wird, den Rang des Kanonischen beanspruchen. Wie Dignität und Alter eines Textes seine Kommentarwürdigkeit begründen, so unterstreichen Mühe und Scharfsinn des Kommentars den Anspruch und die Autorität des Textes. Aus diesem engen Konnex von Kanon und Kommentar folgte in der Frühen Neuzeit aber auch, daß zeitgenössische Werke, vor allem solche in der Volkssprache, in der Regel gar nicht und nur ganz ausnahmsweise von den Autoren selbst annotiert wurden. Denn ein eigenes Werk zu kommentieren, galt offenbar als Versuch der Selbstkanonisierung, den sich sogar anerkannte Humanisten nicht umstandlos anmaßen konnten. Das bezeugt etwa der Fall des Erasmus von Rotterdam: Als man ihm nachsagte, er habe die nachträglichen, von Gerardus Listrius vorgelegten Scholien zu seinem Lob der Torheit einem fremden Kommentator bloß untergeschoben, in Wirklichkeit aber eigenhändig verfaßt, da wies er den „Verdacht solcher Selbstinszenierung“ zurück. 20 Und ebenso symptomatisch ist es, daß Sebastian Brants Narrenschiff zwar bald nach dem Erstdruck, aber nicht von ihm selbst und nicht im deutschen Original, sondern in der lateinischen und damit schon kanonisierten Fassung mit gelehrten Marginalien versehen wurde. 21 Die Erläuterung eigener poetischer Werke war somit in der Frühen Neuzeit keineswegs die Regel, sondern eine Ausnahme, die mehr oder weniger expliziter Rechtfertigung bedurfte. Zu erkennen sind dabei zwei bevorzugte Orte des Eigenkommentars: Zum einen begegnet er dort, wo Dichtung und Geschichtsschreibung Hand in Hand gehen, also in Romanen und Dramen mit historischen Sujets. Wie die Historiographie ihren langen Weg zur Geschichtswissenschaft mit ausführlichen Fußnoten pflasterte, 22 so nutzten die Dichter – gegen den –––––––––

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Vgl. dazu Günter Hess: Kommentarstruktur und Leser. Das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam, komm. v. Gerardus Listrius u. Sebastian Franck. In: Kommentar in der Renaissance (Anm. 13), S. 141–165, hier S. 146f. Die „Problematik“ einer im zeitgenössischen Kommentar gerne gegebenen „Inszenierung eigener Bildungspotenz und Belesenheit“, werde „an den Erläuterungen deutlich, die Jodocus Badius Ascensius seiner lateinischen ‚Narrenschiff‘-Redaktion widmete: Hier ist der Text ganz offenbar um des Kommentierens willen konzipiert“; zu diesem Gelehrten vgl. auch Paul Gerhard Schmidt: Jodocus Badius Ascensius als Kommentator. In: Kommentar in der Renaissance (Anm. 13), S. 63–71. – Zu dem im Humanismus insgesamt seltenen Phänomen „von Kommentaren“, die „Texten der eigenen Zeit gewidmet“ sind, vgl. zusammenfassend auch Hans-Gert Roloff: Zur Geschichte des editorischen Kommentars. In: Editio 7 (1993), S. 1–17, hier S. 8–10: außer Badius’ Kommentar zu den Eklogen des Baptista Mantuanus und Gerardus Listrius’ Skolien zu Erasmus’ Lob der Torheit nennt Roloff die Annotationen Jacob Spiegels und Georg Symlers zu Johann Reuchlins Henno und Sergius, also vor allem Kommentare von Humanisten-Schülern zu Werken ihrer Lehrer. Vgl. Hess (Anm. 20), S. 146, und ders.: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1971, S. 354–361. Vgl. dazu Grafton (Anm. 11) und zuletzt Markus Völkel: Historiographische Paratexte. Anmerkungen zu den Editionen antiker Geschichtsschreiber im 16. und 17. Jahrhundert (Caesar/Sueton). In: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 243–275.

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topischen Vorwurf der Lüge – Anmerkungen zum Aufweis historischer Treue. Barockdramatiker brauchten Apparate wesentlich dazu, die Geschichtlichkeit ihrer Werke zu dokumentieren oder poetische Freiheiten zu legitimieren. 23 Historische Romane suchte man poetologisch als ‚Geschichtsgedichte‘ zu etablieren, indem man sie am gleichen Wahrheitsanspruch maß wie historiographische Darstellungen und daher quellenmäßig belegte, daß man sich die erzählte Geschichte „nicht aus dem kleinen finger gesogen“ habe. 24 Geht es in diesem Typus des Eigenkommentars vorrangig um historische Beglaubigung, so war es zum anderen auch gestattet, in Marginalien und Fußnoten die Kunstfertigkeit des eigenen Dichtens zu erweisen. Dazu berechtigt war jedoch, wenigstens zu Beginn des deutschen Humanismus, nur eine privilegierte Gruppe, nämlich kaiserlich gekrönte Poeten. Bevor die Dichterkrönung inflationär verkam, war sie nicht nur eine symbolische Auszeichnung, sondern vielmehr die venia legendi eines Poeten-Magisters. 25 Sie begründete das Recht, poetische Werke, und zwar antike und eigene, öffentlich vorzutragen und auszulegen. Entsprechend exemplifizierten gekrönte Dichter wie Jacob Locher ihre Poetikvorlesungen mit eigenen Werken und glossierten ihre Gedichte sogleich schulgerecht. 26 Solange diese Lizenz an ein ausgezeichnetes universitäres Amt geknüpft blieb, war der poetische Eigenkommentar der Unterrichtssprache gemäß vorrangig die Sache neulateinischer Poeten. Volkssprachliche Dichtungen –––––––––

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Zu den „Anmerkungen als Thesauren der Geschichte“ vgl. zuletzt Uwe-K. Ketelsen: Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. „Eh ich will der Römer Schau-Spiel sein“. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpretationen. Stuttgart 2000, S. 115–133, und Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 197– 205, und die eher editionspragmatischen Hinweise auf Lohensteins Anmerkungen in: Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung II: Dramen. Bd. II: Agrippina. Epicharis. Hg. v. Lothar Mundt. Berlin u. New York 2005, S. 595–602 (dazu die Besprechung von Robert Seidel: Lohensteins Römische Trauerspiele in mustergültiger Edition. In: IASL online. URL: Datum des Zugriffs: 07.07.2006). – Symptomatisch für die vorrangig historisch legitimierende Funktion ist etwa, daß Andreas Gryphius seine Catharina von Georgien annotiert, das auf einer romanischen Novelle beruhende Trauerspiel von Cardenio und Celinde dagegen nicht. Zesen SW VII, 10 (Assenat, Vorrede). – Zur Bedeutung der historischen Beglaubigung für die Poetik des Barockromans vgl. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1973, S. 10–15. Vgl. zuletzt Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln 2003, und zum „wissenschaftlich-akademischen Anspruch“ des gekrönten Poeten-Magisters zuvor speziell Dieter Mertens: „Bebelius … patriam Sueviam … restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145–173, hier S. 151f.: „Er [der poeta laureatus Petrarca] erhält die Erlaubnis, überall die Werke der Alten und seine eigenen vorzutragen und auszulegen und dies […] feierlich und öffentlich zu tun.“ – Vgl. zu diesem Kontext auch den Beitrag von Claudius Sittig im vorliegenden Band. Mertens (Anm. 25), S. 163, unterstreicht im Blick auf Lochers Libri Philomusi von 1497, daß „das Vortragen und Erklären eigener Schriften zu den besonderen Rechten des poeta laureatus“ zählte.

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kommentierte man, soweit bislang zu erkennen, überhaupt erst im Zuge kulturpatriotischer Bewegungen, und in diesem Kontext entstanden auch die ersten Eigenkommentare muttersprachlicher Literatur. Beispiele finden sich daher zuerst in der italienischen Renaissance seit Dante, 27 dem die weiteren europäischen Literaturen mit gebührendem Abstand folgten – wobei die Pioniere des volkssprachlichen Eigenkommentars eine symptomatische Mischung von Legitimationsdruck und patriotischem Ehrgeiz zeigen. So zum Beispiel Edmund Spenser, dessen Shepheardes Calender von 1579 als erste englische Dichtung gilt, die sogleich mit Anmerkungen erschien. Seinen Eigenkommentar weist Spenser einem fiktiven Freund zu und rechtfertigt „sein ungewöhnliches Unternehmen“, das Aleida Assmann „als Mittel literarischer Traditionsstiftung“ interpretiert hat, mit der archaisierenden, daher erläuterungsbedürftigen Kunstsprache seiner Eklogen und vor allem mit seiner „Ambition, mit anderen Kulturnationen zu wetteifern“. 28 Solche expliziten Begründungen scheinen in den verspäteten Anfängen der deutschen Barockpoesie zwar zu fehlen. Doch fällt es nicht schwer, auch hier einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Eigenkommentaren und dem Beginn humanistisch gelehrter Kunstdichtung in der Muttersprache zu erkennen. Wer volkssprachlichen Gedichten den Rang antiker und neulateinischer Poesie geben will, der nutzt dazu gerne das Instrument des Kommentars, mit dem man öffentlich Gelehrsamkeit und poetische Finesse demonstrieren kann. Martin Opitz, der schon in den lateinischen Aristarchus und dann natürlich in die deutsche Poeterey eigene Gedichte einlegte, hielt sich dabei vergleichsweise noch zurück. Immerhin aber stattete Opitz, etwa nach dem Vorbild des von ihm übersetzten Bacchus-Hymnus des Daniel Heinsius, 29 größere Werke mit Anmerkungen aus, 30 und er bürgerte andere diskursiv-reflektierende Formen ein, wie die prosimetrische Schäfferey, in der sich Poesie und Reflexion zwanglos verbinden. Daran konnte die nachfolgende Generation deutscher Barockdichter anknüpfen, und keiner hat dies wohl intensiver getan als Philipp von Zesen.

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Hierzu Perrus (Anm. 16). Aleida Assmann (Anm. 16), hier S. 358. Zu der (auch für Zesen bedeutsamen) „humanistischen Aemulatio“ in Heinsius’ Lof-sanck van Bacchus, den (von Opitz allerdings nicht mitübersetzte) gelehrte Anmerkungen von Petrus Scriverius begleiten, vgl. zuletzt (mit weiterer Literatur) Ferdinand van Ingen: Mythenkritik und mythologische Invention. Daniel Heinsius, Sigmund von Birken, Philipp von Zesen. In: Euphorion 100 (2006), S. 333–358, hier S. 334–338. Vgl. Martin Opitz: Geistliche Poemata 1638. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen ²1975, S. 56–85 (Jonas; mit abschnittweise integrierten Anmerkungen) und S. 259–272 (Außlegung etlicher Oerter deß Lobgesangs); M. O.: Weltliche Poemata 1644. Erster Teil. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen 1967, S. 31–84 (Vesuvius; mit abschnittweise integrierten Anmerkungen), S. 169–188 (Auslegungen Auff das Lob Des Krieges Gottes), S. 219–232 (Erklärung vorigen Getichts [Zlatna]), S. 381–440 (Außlegung der Trojanerinnen) und S. 484–506 (Excerpta & Notæ [zu Catonis Disticha]).

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II. Philipp von Zesen, der seinen ganzen Ehrgeiz auf die Besteigung des deutschen Helikons wandte, wurde bislang noch nicht als vielfältiger Selbstkommentator gewürdigt. Ausführlicher behandelt wurden einzig seine Anmerkungen zur Assenat, die Grimmelshausens sujetgleichen Josephs-Roman kritisieren und Zesen eine Replik des simplicianischen Autors einbrachten. 31 Zesens anderweitige Erläuterungen seiner Werke blieben hingegen so gut wie unbeachtet. 32 Dabei hat Zesen vor allem in der Spätphase seines Schaffens das ganze Spektrum paratextueller Formen aufgeboten, um seine Schriften gelehrt zu erschließen: Des Hochdeutschen Helikonischen Liljentahles […] Vorbericht von 1679 ist durchgängig mit umfänglichen Fußnoten versehen. 33 Dem SimsonRoman aus dem gleichen Jahr hat Zesen eine Zugabe angefügt, die wie die angeblich ‚Kurtzbündigen Anmärkungen‘ zur Assenat (1670), die nach dem Willen des Verfassers zuerst gelesen werden sollen, knapp ein Drittel des gesamten Umfangs beansprucht. 34 Beide späten Romane enthalten zudem Register, die sich nicht nur auf den eigentlichen Text, sondern zu einem Gutteil auch auf den gelehrten Kommentar beziehen. 35 Zesens liedhaft-sangbare Lyrik in der FrühlingsLust (1642) und dem Dichterischen Rosen- und Liljenthal (1670) kommt mit den zeittypischen Vorreden und Widmungsversen aus, wird aber nur punktuell zum Gegenstand von Eigen-Kommentaren. 36 Gelehrte Formen der Selbsterläuterung poetischer Werke erprobt Zesen dagegen in der versifizierten Lob-Rede von der […] Buchdruckerey-Kunst (1642) und in seiner Lustinne, der Gebundene[n] Lust-Rede von der Kraft und Würkung der Liebe (1645): Folgt diesem mythologischen Venus-Gedicht ein Oedipus oder Entwikkelung etlicher fremden Nahmen und Ahrten zu reden, 37 so erschließt Zesen seine Hymne auf den Buchdruck nicht allein durch eine Außlegung etlicher Historien und dunckeler Oerter, sondern auch durch ein Verzeichnis der Quellen, „so in dieser ––––––––– 31

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Zu diesem Zusammenhang vgl. zuletzt Dieter Breuer: Grimmelshausen als Literaturkritiker. In: Simpliciana 28 (2006), S. 101–114. Vgl. den auf einen Roman und wenige Aspekte konzentrierten Beitrag von Franz Günter Sievecke: Philipp von Zesens Assenat. Doctrina und Eruditio im Dienste des ‚Exemplificare‘. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 137–155, sowie zuletzt Van Ingen: Mythenkritik (Anm. 29), S. 351 u. 357f. Zesen SW XII, 338–381. Zesen SW VII, 367–574; VIII, 487–647. Zesen SW VII, 575–592; VIII, 649–663. – Vgl. Werner Welzig: Einige Aspekte barocker Romanregister. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. v. Albrecht Schöne. München 1976, S. 562–570. Zu nennen sind die Kurtze erklährung zur Farbsymbolik eines Liedes (Zesen SW I/1, 315– 319) sowie das Märk zum Spruch-lied auf den wahl-spruch […] Meine liebe ist gekreutziget (Zesen SW I/2, 9–11). Zesen SW I/1, 252–257.

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Auslegung angezogen worden“. 38 Die „Kurtze erklährung“ zu den Gekreutzigten Liebesflammen (1653) hat Zesen, dem geistlichen Sujet gemäß, „gebehts-weise gestellet“, 39 und seine Nachdichtung des Hohen Liedes (1657) durchsetzt er mit allegorischen erklährungen des geistlichen verstandes, die er nach art der gespräch-spiele im Dialog der personifizierten Kirche mit ihrem Heiland vorstellt. 40 Am intensivsten aber hat Zesen seine umfangreichste und späteste Versdichtung annotiert, das 1680 als Einzeldruck erschienene Prirau / oder Lob des Vaterlandes. Der exakt 1.000 trochäische Tetrameter umfassenden Dichtung, das macht im Neusatz knapp 30 Seiten, folgt ein Anmerkungsapparat von nicht weniger als 115 Druckseiten sowie ein ‚Blatweiser‘, also ein detailliertes Sach- und Namenregister, von 15 Seiten im Petitdruck. 41 Um das Zusammenspiel von Text und Kommentar in Zesens Prirau zu bestimmen, zunächst einige Bemerkungen zum Gedicht. Die Zesen-Forschung hat Prirau speziell nur wegen einiger autobiographischer Referenzen beachtet und allgemein als Beispiel ‚humanistischen Städtelobs‘ klassifiziert. 42 Diese Etikettierung ist natürlich, wie schon der Untertitel Lob des Vaterlandes anzeigt, grundsätzlich richtig. Die Besonderheiten des Gedichtes erfaßt sie aber noch nicht. Denn tatsächlich ruft Zesens Prirau (vgl. die tabellarische Darstellung) lediglich im eröffnenden und schließenden Rahmen die Topoi patriotischer Enkomiastik auf: In der Exposition wird das Gedenken erinnert, das antike Gelehrte und Dichter ihren Vaterstädten gezollt haben: Platons Athen, Vergils Mantua und manch anderes Exempel illustriert, wie die alten Gelehrten ihre Geburtsorte trotz freiwilliger oder unfreiwilliger Distanz im Gedächtnis behielten. Das gibt das Muster für das eigene Vorhaben ab, um zugleich die für den Fortgang bedeutsame Kontrastspannung zwischen den weltgeschichtlich bedeutenden Kulturstädten Theben, Athen und Rom und dem Provinznest Prirau aufzubauen: Geschichtlich unbedeutend, „im Winkel“ gelegen, 43 „von Menschen abgewandt“ (V. 59) und von der „Kunst […] ungeziert“ (V. 61), scheint das „Fleklein“ (V. 69) kaum das geeignete Objekt für eine am klassischen Maßstab orientierte Lobeshymne zu sein – wofern es nicht der Dichter als berühmter Sohn Priraus vermag, dem Ort etwas von seinem „Ruhm […] mitzuteilen“ (V. 73f.). Doch selbst dies, so setzt der Hauptteil argumentativ ein, scheint nicht –––––––––

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Zesen SW I/1, 217–234. Zesen SW I/2, 50–54. Zesen SW I/2, 88–194, hier 88 (Titel). Zesen SW III/1, 163–168 (Titel und Widmung), 169–198 (Dichtung), 199–314 (Anmärkungen), 315–328 (Blatweiser), 329 (Drükfehler). Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 67f., und Karl F. Otto: Christian von Stökken and Philipp von Zesen. In: Modern Language Notes 88 (1973), S. 594–597. – Im folgenden zitiere ich aus Prirau durch Angabe des Verses (bzw. der Seite des Kommentars) nach Zesen SW III/1, 163–329. Sperrungen der Ausgabe werden hier durch Kursivierungen wiedergegeben. Die graphische Hervorhebung „im Winkel“ (V. 57, nochmals V. 70) weist voraus auf die gegen Ende erwähnte Namensänderung der ansässigen Erbherren: „So pflag auch sich Der zu nennen / | Krosek aus dem Winkel her / der zu Schierau Erbherr war: | weil er als im Winkel saß“ (V. 926–928).

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Philipp von Zesen: Prirau / oder Lob des Vaterlandes. Amsterdam 1680. Überblick 1–74 1–34 35–74

75–952 75–104 105–454 105–162 163–228 229–312 313–330 331–454 455–757 455–589 589–757 757–812 757–788 789–812 813–865 813–832 833–865 866–952

953–1000

Einleitung Die „Liebespflicht“ gegenüber Vaterland und -stadt am Beispiel antiker Gelehrter und Dichter. Besinnung auf das eigene Vorhaben. Mangelnde Bedeutung des eigenen, geschichtslosen, „im Winkel“ gelegenen Geburtsortes Prirau. Kompensation des Mangels durch die „Kunst“ des berühmten Sohns des Ortes. Hauptteil Reichtum des Ortes an natürlichen Gegebenheiten, summarisch in Bildreihen exponiert. Pflanzen und Tiere in der Natur Eigene „Erfahrung“ lehrt wunderbaren Reichtum an wilden Kräutern und Pflanzen in Feld, Busch, Berg und Sumpf. „Der Gärte Schmuk“. Rebe, Rose, Raute (kursächsische Wappenpflanze). Wald, wilde Bäume und Sträucher um Prirau als artenreiches „Wunderwerk“. Überleitung zum Tierreich. Vögel und andere Flugtiere. Nutzpflanzen und ihre Ernte Getreidesorten. Geschichte des Flachses von Aussaat über Verarbeitung bis zu Verwertung am „heimlichen Ort“. 44 Früchte und Obst summarisch. Äpfel. Birnen. Nüsse. Nutztiere und Jagd Fischerei Vogelfang. Jagd auf Wildtiere. Handwerk Holz„ernte“. Holzhandel mit Halle (Gedenken an Gueintz). Bauhandwerk. Lehmziegel

Frühling

Sommer / Herbst

Spätherbst Winter

Geschichte des Ortes Wenige Zeugnisse. Die Erbherren und ihre Namen. Der Ortsname ‚Prirau‘. Erinnerungen der eigenen Vorfahren (Ortspfarrer). Schluß Referenz auf eigenes Leben in Hamburg und Amsterdam. Deren äußerer Reichtum. Seelische Verbundenheit mit natürlich reichen Prirau. Segenswünsche.

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In diesem Abschnitt, der empathetisch erzählt, wie „viel […] der arme Flachs leiden [mus] straks von anbegin“ und wie er „endlich gar in ein solches heimlichs ort“ getragen wird, um schließlich von dort aus als Dünger für neuen Flachs zu dienen (V. 489–577, hier 496 und 572), zeigen sich deutliche Parallelen zur Schermesser-Episode im Simplicissimus Teutsch (Continuatio, Kap. 11–12). Wahrscheinlicher als eine Übernahme von Grimmels-

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nötig zu sein: „Er [der Ort] ist zwar nicht währt zu rühmen / | wan man auf die Kunst wil sehn: gleichwohl wil es sich geziemen | der Natur / die ihn geziert / und so mildiglich begabt / | ihren Ruhm auch zuzustehn“ (V. 77–80). Was Prirau an natürlichem Reichtum aufzubieten habe, stehe der andernorts versammelten Kunst nicht nach. Diese kompensatorische These zu bekräftigen, bedarf es allerdings des beschreibenden Subjekts, das im Fortgang sein Sammeln, Ordnen und Erschließen der natürlichen Fülle immer wieder autoreflexiv bedenkt (etwa V. 454f., V. 953f.): der anaphorisch betonten Menge von „Tausend Kreutern“, „tausend Tiere[n]“, „tausend Vogel[n]“, „tausend Fische[n]“ (V. 97–100) korrespondiert nicht allein der „tausend tausendmahl“ geübten „Liebespflicht“ der antiken Weisen (V. 4), sondern auch der Anzahl der exakt 1.000 Verse des eigenen Gedichts. Das beschreibende Subjekt, das sich durchaus ‚modern‘ naturwissenschaftlich auf die Empirie, auf seine eigene „Erfahrung“, auf seinen eigenen Erkundungsgang durch die Prirauer Felder, Wälder und Wiesen beruft (V. 104–109 u. ö.), erschließt die Fülle der Natur, indem es ihre Phänomene ordnet und interpretiert. Dabei überlagern sich verschiedene Strukturierungsmuster: Die Grundordnung bietet die saisonale Abfolge vom Frühling bis zum Winter. Eingelagert in diesen Jahreszeitenzyklus ist eine einigermaßen systematische Einteilung, die den Menschen immer stärker als Kultivator der Natur zur Geltung bringt: Von den ‚wilden‘ Kräutern und Tieren in der Natur wird der Bogen über Nutzpflanzen und -tiere bis hin zu jenen natürlichen Rohstoffen Holz und Lehm geschlagen, die dem Haus- und Städtebau dienen. Solchermaßen von der Natur zur Kultur reichend, kann die Dichtung in die schütteren Zeugnisse der Prirauer Ortsgeschichte einmünden und mit Erinnerungen an die eigenen Vorfahren zur Schreibsituation des Dichters zurückführen, der zwar – in Wiederaufnahme der Eingangstopoi – mit dem Leib in den reichen Kulturstädten Hamburg und Amsterdam weilt, sich aber seelisch dem natürlichen Reichtum Priraus verbunden weiß. Um die Ebenbürtigkeit der Landgemeinde mit den alten und neuen Weltstädten zu erklären, reicht Zesen die systematisch angeführte Artenfülle nicht hin. Denn offenbar konzediert der Dichter die historische Armut Priraus so ausdrücklich, um kompensatorisch einen natürlichen Reichtum zu entfalten, der nicht allein in der äußeren Fülle liegt, sondern mehr noch in ihrer inneren mythologischen Verweisungskraft, die allein ein Poeta doctus aufschließen kann. Nur der gelehrte Dichter, der naturkundliche Erfahrung mit mythologischem Weltwissen kombiniert, kann vergegenwärtigen, wie rund um die geschichtsarme Winkelgemeinde die mythische Vorgeschichte präsent ist. Dazu dient im Text, und zwar geballt in den Abschnitten über die wunderbare Prirauer Pflanzen- und Vogelvielfalt, ein feststehendes Argumentationsmuster, das im ––––––––– hausens ist aber, daß Zesen die gleichen Quellen wie dieser benutzt hat (etwa das Kräuterbuch des Hieronymus Bock; vgl. dazu Peter Heßelmann: Zwischen Buchgelehrsamkeit und Erfahrungswissenschaft. Grimmelshausen und die Kräuterheilkunde im Wissensdiskurs der frühen Neuzeit. In: Simpliciana 26 [2004], S. 219–243, hier S. 226).

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Naturgegenstand „noch“ die in ihm seit Urzeiten aufgehobenen Gottheiten erkennt: 137.

141.

145.

Auf den Hügeln sah’ ich noch die verliebten Augen schärfen das verlaßne Tetiskind / und ohn’ unterlaß sie wärfen nach Apollons wagen zu; der / aus Zorne / sie versties / da sie / was er stahl / entdekt’ / und sie so verschmachten lies / daß sie in ein Kraut verschwand. Hier noch fand ich / bei den Flüssen / durch des Teufels Neid das Kraut an der wurtzel abgebissen / das aus Jafets Sohne wuchs. Hier stund auch dasselbe noch / dahinein die schöne Magd / die mit Pluto buhlte / kroch / als sie ward in Furcht und Schrik / durch die Königin der Hölle / ja schier aus sich selbst gejagt.

Mit mythologisch gebildeten Augen durchwandert, geben sich in der Natur die vermeintlich untergegangenen Götter Griechenlands zu erkennen: Clytie, die Tochter des Oceanus und der Tethys, von Apollon um der Leucotoe willen verlassen, ist „noch“ im ‚Heliotrop‘, der ‚Sonnwende‘, vorhanden; in dem ‚Teuffelsabbiß‘ genannten Kraut soll sich „noch“ der Iapetide Prometheus verbergen; und in der Minze ist Menthe, die von Proserpina verwandelte Geliebte des Pluto, „noch“ präsent – man sieht nur, was man weiß. Als Ovidius inversus erzählt Zesens Text nicht die Metamorphosen antiker Gottheiten, sondern geht vom Namen oder von bestimmen Eigenschaften der empirisch faßbaren Naturobjekte aus, um deren Aitiologie jeweils nur knapp zu alludieren. Ja, das mythologische Ursprungswissen des gelehrten Spaziergängers präformiert seine Wahrnehmung so stark, daß die Binnenordnung der Kräuter- und Vogelsequenzen nicht natürlichen Merkmalen, sondern mythologischen Verhältnissen folgt: Nach dem Kraut ‚Aland‘, das „aus den Trähnen der Helene“ erwachsen sei, rückt das „Täschelkraut“ in den Blick, das seinen Namen der Hirtentasche des Paris danke (V. 111–116). Um diesen Beziehungszauber, der die Natur personifiziert und beseelt, recht zu entfalten, reicht Zesen der Text nicht hin. Hier schlägt die Stunde des Kommentars, der Prirau erst eigentlich zu jenem Speicher kulturellen Wissens macht, der die ganze aitiologische Fülle der Natur versammelt. Vordergründig dient der Kommentar durchaus vertrauten Zwecken. Er hellt die oftmals nur antonymisch oder patronymisch eingeflochtenen Mythologeme des Verstextes auf, teilt Quellen sowie Literaturhinweise mit 45 und erörtert Aspekte der Deutungsgeschichte: Zesen referiert dabei vielfach auf die frühneuzeitliche Auslegungstradition, wie sie in den lateinischen Handbüchern von Boccaccio über Natalis Comes bis Ravisius Textor greifbar ist, er adaptiert die schon ansatzweise quellenkritischen Ausläufer der christlichen Ovid-Exegese, die – wie Vossius’ „fürtrefliches Werk von den Heidnischen Götzendiensten“ (S. 306) –––––––––

45

Vgl. die Quellennachweise im Anhang. Selbstverständlich bedeutet die Nennung eines Werks nicht, daß Zesen es eigenständig eingesehen hat. Vielmehr wird er sich (wie in seiner Zeit üblich) in den kompilatorischen Handbüchern orientiert und von dort vielfältige Nachweise übernommen haben.

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– Ovid als künstlichen Nachahmer wahrhaftiger alttestamentlicher Überlieferungen bezeichnet (etwa S. 250f.) und beispielsweise Bacchus mit dem biblischen Weintrinker Nimrod identifiziert (S. 231 und 233). Etymologische Wörterbücher werden ebenso zitiert wie historische Nachschlagewerke, ältere ‚Kräuterbücher‘ wie Castore Durantes Hortulus Sanitatis (um 1585) genauso wie die aktuellere Geographia Sacra von Samuel Bochart (1646). Indem der Kommentar knapp Alludiertes breit ausführt, reicht er nicht nur quantitativ über den Text weit hinaus. Wenn Zesen nämlich die mythologischen Anspielungen seiner Dichtung absichtsvoll so verkürzt, daß sie ohne Erläuterungen kaum verständlich sind, ermöglicht er erst einen Kommentar, der die Funktion einer bloßen Bedeutungsfestlegung entschieden übersteigt. Ein Beispiel: Statt die Lerche bei ihrem einheimischen Namen zu nennen, dichtet Zesen von einer „Zille“, das ist seine Schreibweise für Scylla, und spielt auf deren Verfehlungen und Gewissensängste an:

393.

397.

Zille dükt sich auch noch hier / wan ihr Nisus komt zunah / den in einen Spärber man vormahls ümgestaltet sah / in den Stoppeln / auf den bauch; da sie kreucht und hörcht und zaget / weil sie das Gewissen drükt / weil das scheue Hertz ihr saget / wie dem Minos sie zu lieb’ ihren Vater selbst verriet; dessen brennendheissen Zorn sie noch fürchtet / sie noch flüht / und daher so ängstig scheint: […].

Für eine leserfreundliche Monosemierung würde es wohl genügt haben, die Herkunft der mythischen Figur zu referieren, die schließlich in jene von Zesen eigentlich gemeinte schreckhafte Lerche verwandelt wurde. Stattdessen hebt aber der Kommentar so an: „Die Zille / darvon wir alhier reden / war nicht dieselbe Zille / welche die Wassergötzin Amfitrite / weil sie mit ihrem Ehherrn / den Neptuhn / sich fleischlich vermischet / nachdem sie den Brunnen / darinnen sich die Zille zu baden pflegte / vergiftet / und sie dadurch so unsinnig gemacht / daß sie sich selbsten in das Meer gestürtzet / in ein abscheuliches Seetier mit sechs Köpfen und zwölf Füßen / wie Isazius Homerus / in seinem Heldengedichte vom Ulisses / und Miro Prianeus / im 5 B. seiner Messenischen Geschichte / melden / verwandelt.“ (S. 279f.) So geht es gut zwei Seiten fort, bis dann die rechte Skylla in den Blick kommt. Oder zu V. 333f. („Unter denen / wan ihr Lied Priams Schwester hat geklappert / | fängt Pandions Tochter an“): „Durch diese des Troischen Königes Priams Schwester verstehen wir nicht die Hesione / welche Herkules / nachdem er ihren Königlichen Vater / den Laomedon / erschlagen / samt ihrem itzt gemeldten Bruder / gefänglich wegführete […]“ (S. 260). Statt den Text geradewegs zu disambiguieren, nutzt Zesen die – selbstgeschaffenen – Möglichkeiten einer mehrdeutigen Bildlichkeit, um die Polyvalenz der Mythen aufzufächern. Parallel gelesen, wirkt ein solchermaßen digressiver Kommentar weniger bedeutungsverengend als semantisch bereichernd auf die Dichtung zurück. Anstatt den poetischen Text nur punktuell zu erläutern, legt Zesens Paratext den ganzen Reichtum gelehrter Anspielungen frei. Zitate aus mythologischen Dichtungen der Antike und des neulateinischen Humanismus stellen das eigene

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Werk, das wie ein kanonischer Text kommentiert wird, klassischer Poesie gleich. Was als persönliche Anmaßung wirken mag, ist aber kulturpatriotisches Programm: Nicht zufällig öffnet Zesen seine Wissensspeicher anhand eines Gedichts, das dem Lob des Vaterlandes gilt. Demonstriert werden soll, welchen Rang die als rückständig gescholtene muttersprachliche Literatur erreicht hat und wie umfassend man sich – gerade an einem scheinbar nichtigen Sujet und in der vermeintlich barbarischen deutschen Sprache – die klassische Mythologie aneignen kann. Wie seine niederländischen Vorbilder und Kollegen zielt Zesen ehrgeizig darauf, die antiken Mythen im eigenen Vaterland zu beheimaten, 46 den humanistischen Bildungshorizont in die Muttersprache zu übertragen. Zu diesem Zweck durchzieht Zesen sein Werk mit wenig transparenten Mythologemen, welche die tradierten Metamorphosen von ihrem Endzustand her verkürzt alludieren, um poetische Anlässe für gelehrte Kommentare zu bieten. Indem er dort aber weit über eine bloße Texterhellung hinausgeht, nähert Zesen sein Werk einer in der deutschen Sprache des 17. Jahrhunderts neuen Textsorte an, dem mythologischen Lexikon. Als Vorstufe eines mythologischen Lexikons erscheint Zesens paratextuell überformtes Prirau-Gedicht zudem durch zwei Eigentümlichkeiten: Erstens durch das alphabetische Register, das vor allem die Namen von Pflanzen, Tieren und mythologischen Gestalten versammelt. Indem es im wesentlichen auf den Kommentar und nur mittelbar auf den poetischen Text weist, arbeitet das Register einer selbständigen Benutzung des Apparates als Informationsquelle für mythologische Fragen vor. Zweitens zitiert Zesen nicht nur aus der mythologischen Poesie der Antike sowie des neulateinischen Humanismus 47 und verweist auf Auslegungen antiker Dichtungen sowie auf lateinische Darstellungen der antiken Mythologie. Vielmehr bringt er auch zahlreiche Querverweise auf seine anderen Anmerkungsapparate: „Und daß dieser Bachus […] eigendlich Nimrod […] gewesen / haben wir […] in den Anmärkungen über unsern Simson / sonderlich aber über die Assenat ausführlich angewiesen“ (S. 231). Mehrere Dutzend solcher Querverweise, 48 die den Leser hier auf Zesens Erläuterungen zu seinen späten Romanen hinlenken, knüpfen ein dichtes Netz aus Zesens Paratexten, das schließlich fast zwangsläufig zu einer eigenständigen mythologischen Darstellung führt. Tatsächlich hatte Zesen bereits in seinem lateinischen Coelum astronomico-poeticum (1662) große Teile der Mythologie in astronomischer Systematik erörtert, 49 bevor er kurz vor seinem Tod mit –––––––––

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Van Ingen: Mythenkritik (Anm. 29), S. 340f., belegt eindrücklich, daß sich gerade im niederländischen Humanismus eine starke Traditionslinie ausbildete, die „der antiken Mythologie breiten Raum“ ließ, und zeigt an Zesens Venus-Gedicht Lustinne mit seinen gelehrten Anmerkungen, wie sehr Zesen sich als ein von „von religiösen und kulturgeschichtlichen Bedenken“ unberührter „Adept der humanistischen Tradition“ und ihres mythenfreundlichen Kulturpatriotismus verstand (ebd., S. 350–358). Vgl. die im Anhang unter b) Nachantike Autoren angeführten Verweise etwa auf Petrus Lotichius Secundus, Angelus Politianus und Pamphilus Saxus. Vgl. im Anhang unter c) Zesens Querverweise auf eigene Werke und deren Apparate. Vgl. hierzu den Beitrag von Reinhard Klockow im vorliegenden Band.

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seinem – in den Prirau-Anmerkungen schon vielfach annocierten 50 – Werk von Der erdichteten Heidnischen Gottheiten […] Herkunft und Begebnissen (1688) die erste eigenständige Lehre der antiken Götter in deutscher Sprache herausbrachte. Wie in seinen Kommentaren erprobt, stellt Zesen die Mythologie dort in historisch-systematischer Ordnung vor und überantwortet den alphabetischen Zugriff dem differenzierten Register: mit dieser intensiven „Erschließung des Materials“ blieb „Zesens Darstellung“ bis hin „zum Erscheinen von Benjamin Hederichs Schul-Lexicon (1717, 1731) […] im deutschsprachigen Raum ohne Konkurrenz.“ 51 Festzuhalten bleibt: Aus dem Blickwinkel der Nachgeborenen muß Zesens Prirau mit seinem scheinbar überfrachteten Kommentar als abschreckendes Beispiel dysfunktionaler, überholter Gelehrsamkeit erscheinen, als scholiastisches Werk, in dem – mit einem Wort Lichtenbergs – die „Noten […] den Text wie Efeu umschlingen und ersticken“ 52 oder – mit einem von Jean Paul geborgten Wortspiel – die fortgehenden Noten dem Text davonlaufen. 53 Betrachtet man ein solches Werk indessen vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Eigenkommentare, dann wird der kulturpatriotische Impetus sichtbar, der das Zusammenspiel von Text und Paratext trägt und einen Zwitter aus Poesie und Philologie hervorbringt, dem die Konkurrenz zwischen autonomem Kunstwerk und sekundärem Apparat noch fremd ist.

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51 52

53

Demnach muß sich Zesens Arbeit an den Heidnischen Gottheiten über viele Jahre erstreckt haben. Genauere Daten zur Entstehungsgeschichte fehlen. Zesen SW XVII/2, 209. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Bd. I: Sudelbücher. München 1968, S. 879 (Heft L 191). Jean Paul: Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten. Nebst der Beichte des Teufels bey einem Staatsmanne. Tübingen 1809.

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Anhang: In Zesens Anmärkungen zu Prirau genannte Autoren und zitierte Werke Angeführt wird die Seitenzahl in: Zesen SW III/1, 199–314. Aufgrund von Zesens Zitier- und Schreibweise muß die Identifizierung vielfach ungewiß bleiben. Wo ein Werk angegeben ist oder wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit ermittelt werden kann, ist dieses genannt, bei nachweisbaren Zitaten auch die Fundstelle; in zweifelhaften, durch Anführungszeichen kenntlich gemachten Fällen wird der Werktitel in der von Zesen angegebenen Form genannt.

a) Antike Autoren (die Ansetzung folgt, soweit möglich, dem Neuen Pauly, sonst Pauly’s Realencyclopädie) Agatharchides von Knidos: Europika 281 Ailianos, Claudius 257, 260 Aischylos (Eschiel): Prometheus desmotes 229, 284 Akestodoros (Acesodorus) 284 Akusilaos: Genealogiai 280, 284 Alexandros Myndos 286 Alexandros Polyhistor, Cornelius: Peri Phrygias 213 Alkaios 203 Alkman (Alkmaon) 203 Ammianus Marcellinus: Res gestae 207 Anakreon 203 Andron von Halikarnassos (Andretas, A[n]gretas) 219, 228f. („Skythische Geschichte“), 284, 285 Andron aus Teos (Andretas): Periplus 242, 283 Antigonos aus Karystos 286 Antimachos aus Kolophon: Thebaïs 276 Apollodoros aus Athen (zugewiesen): Bibliotheke 220, 263, 274, 284, 296, 300, 309 Apollonios Rhodios: Argonautika 228, 272, 280, 281, 296, 300 Aratos aus Soloi: Phainomena 223 Archias, Aulus Licinius 200 Aristophanes 279 Aristoteles 203, 239, 276, 296 Asklepiades 284 Augustinus, Aurelius 233 Ausonius, Decimus Magnus 259

Chariklides: „Die Kette“ 280 Charon von Lampsakos 296 Cicero, Marcus Tullius – De finibus bonorum et malorum II 202 – De natura Deorum 228, 273, 291f. – De officiis III 222 – Epistulae ad familiares IV 201 – Pro A. Licinio Archia poeta oratio 200 – Pro L. Flacco Oratio 297 – Tusculanae Disputationes I 261 Claudianus, Claudius 296 – Deprecatio ad Hadrianum 252 – In rufinum I 253 – Panegyricus de sexto consulatu Honorii Augusti 223 – Panegyricus dictus Probino et Olybrio consulibus 223 Columella, Lucius Iunius Moderatus: De re rustica 253, 258 (X) Cornelius Gallus, Caius 207 Demetrios Skepsios: Troikos diakosmos 276 Deinolochos (Demolchos) 200 Diodoros Siculus: Bibliotheke historike 207, 293, 308 Diogenes Laertios 203, 205 Diognetos (oder Diogenianos?) 219 Dionysios (aus Milet?): „Kolchfahrer“ (Gigantias?) 285 Dionysios Periegetes: Oikumenes Periegesis 231 Dionysios von Halikarnassos: Rhomaïke archaiologia 230, 274 Dionysios von Syrakus 199 Dorotheos von Sidon (oder Dorotheos aus Askalon?): „Verwandlungen“ 246, 272 Duris aus Elea 219

Bakchylides 203 Caelius Aurelianus 202 Calpurnius Siculus, Titus: Bucolica II 255 Catullus, Caius Valerius 247 (carm. 63), 265 (carm. 65) Celsus, Aulus Cornelius 227

Epicharmos 200 Euphorion aus Chalkis 220 Euripides – Bakchai 231 – Iphigeneia 287 – Troades 216, 219

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Gedichte mit Fußnoten Euanthes: „Lehrgedichte“ 238 Gellius, Augus: Noctes Atticae 303 Hegesandros aus Delphi 221, 288 Hekataios aus Milet: Genealogiai 241, 309 Hermesianax 245 Herodotos: Histories apodexis 219, 220, 228, 241, 284 Hesiodos 204, 299, 314 Theogonia 285, 309 Homeros 200, 207, 233 – Ilias 208, 215, 219, 279, 305 – Odyssee 242, 267, 273, 280, 281, 285, 294, 301, 303f. Horatius Flaccus, Quintus 199 – Carmina 202 (III 19), 253 (III 25), 267 (IV 12), 293 (II 16), 293f. (I 28) – De arte poetica 205f. – Epodon liber 252 (XVII), 260 (XVI) Hyginus, Caius Julius: De astronomia 223 Iosephos Flavios: Antiquitates Iudaicae 304f. Istros Kallimacheios: Attika 237 Iuvenalis, Decimus Iunius: Saturae 207 (V), 259 Kallimachos aus Kyrene 296, 300 Kallisthenes von Olynthos 276 Kerkops (Zekrops) (?) 284 Klearchos von Soloi: Peri ton enudron 287 Lactantius (Lucius Caeclius Firmianus) 205f., 268, 298, 303 – Divinae institutiones 295 – De falsa religione 295 Leandrios von Milet 211 Livius, Titus: Ab urbe condita 257 Lucanus, Marcus Annaeus: Pharsalia 200, 249 Lucretius Carus, Titus: De rerum natura 224, 259 Lukianos von Samosata 231, 241, 259 – Enalioi dialogoi 215 – Theon dialogoi 247 – Halcyon seu de transformatione (Ps.Platon oder Ps.-Lukianos) 286 Lykophron aus Chalkis (zugeschrieben): Alexandra 285f. Martialis, Marcus Valerius: Epigrammata 258 (VII 88 und XI 42), 259 (II 46), 264 (X 51), 268 (XIII 72) Menandros 249

Menekrates von Xanthos: Lykiaka 245 Mnaseas aus Patara: Periplus 281, 295 Mnesimachos 296 Moschos: Europa 284 Musaios 204f. Nikandros aus Kolophon 235, 245 Nikokrates 263 Olympionikos (?): „Von den Pflanzen“ 221 Orpheus 204 – Orphischer Hymnos an Hypnos 302 Ovidius Naso, Publius 204, 207, 219 – Amores 211f. (II 16), 257 (I 1), 266 (II 14) – Ars Amatoria 259 (II 517), 279 (II 561f.), 282 (I 331f.) – De Philomela (Ps.-Ovid) 291 – Epistulae ex Ponto 201 (I 3), 258 (II 4), 259 (II 7) – Fasti 209 (II 389f.), 228 (VI 545), 230 (II), 247 (IV 240–242), 261 (IV 31ff.), 268 (II 854) – Heroides 214f. (XVI 45–49, 359f.), 216 (XVI 65f.), 235f. (XVI 181f.), 251 (XVI 83), 261 (I 3f.), 265 (XV 154) – Ibis 227, 252 (255f.), 259 (199), 289, 311 (187f.) – Metamorphoses 206 (XIII 685f.), 220 (VII 418f.), 221 (I 747–II 400), 223f. (I 705f.), 225 (XI 171–179), 227 (IV 167ff.), 229 (X 729), 235 (X 162ff.), 236f. (III 339–510), 242 (VIII 758), 245 (V 47ff.), 246 (X 103–105), 248 (XIII 790), 250 (VIII 611ff.), 253 (X 93), 255 (X 100), 257 (I 568–570), 259 (VIII 222), 266 (VI 639–641), 269 (VI 672–674), 272 (XI 85ff.), 278 (VIII 445ff.), 280 (XIII 898ff.), 284 (I 568ff.), 288 (IV 407f., 414f.), 289 (II 591–595), 290 (V 543–550), 291 (V 675–678), 298 (VII 465–468), 300 (II 590ff.), 301f. (XI 592ff., 623–625), 308 (VI 146ff.), 309 (I 209ff.), 310 (VI 1ff.) – Remedia Amoris 252 (47f.), 266 (59f.) – Tristia 207 (II 1), 212 (IV 10), 222 (I 79f.), 260 (I 10), 262 (III 3), 265 (V 1), 276 (V 8) Pausanias: Periegesis Hellados 217, 218, 219, 221, 231, 238, 258, 272, 275, 276, 282, 284, 296, 301 Pedanios Dioskurides: Peri hyles iatrikes 220

158 Phanodemos: Atthis 237 Pherekydes 300 Philemon aus Syrakus 200, 249f. Philostratos 304 Pindaros 203, 204, 205 Platon 199, 233 Plinius Secundus, Caius: Naturalis historia 199, 206f., 211, 220, 232, 241, 256, 257, 258, 259, 269, 291, 296, 304, 310, 314 Plutarchos 231, 257 – Moralia 273, 287 Polyzelos von Rhodos: Rhodiaka 286 Pompeius Festus, Sextus 292 Pompeius Trogus: Historiae Philippicae 231 Pomponius Mela: De chorographia 223, 274 Poseidonios 304 Propertius, Sextus: Elegiae 208 (II 10), 252 (II 1), 262 (II 8), 314 (IV 5) Ptolemaios, Klaudios 199, 211, 258, 307 Sappho 203f. Semos: Delias 232 Seneca, Lucius Annaeus – Agamemnon 265 – Hercules Oetaeus 265 – Oedipus 261 – Phaedra 248 Serenus Sammonicus, Quinctius: Liber medicinalis 252 Servius Honoratus, Maurus: VergilKommentar 223, 235, 257, 273, 293, 305, 310 Sidonius Apollinaris – Carmina 256 (II 328), 258 (XXIV 57), 266 (XXIII 277) – Epistulae 264 (II 2) Silius Italicus, Tiberius Catius Asconius: Punica 211 (IX 72), 258 (XIV 199f.) Sokrates 199 Sophokles 199 – Electra 267f. Sostratos aus Nysa: Mythikes historias synagoge 245 Statius, Publius Papinius – Silvae 238 (I 5), 268 (II 4, IV 6) – Thebais 238 (VII 340ff.), 255 (VI 106), 258f. (VI 210), 261 (XII 312ff.), 265 (VIII 616f., XII 478f.) Stesichoros 203, 280 Strabon: Geographika 199, 207, 208, 215, 241, 245, 257, 258, 259, 260, 264, 281, 282, 300, 304, 307

Dieter Martin Suetonius Tranquillus, Caius: Vita Vergili 207 Theokritos 200, 283 Theophrastos: Peri phyton aition 220 Thukydides 258 Tibullus, Albius: Carmina 231 (I 7), 301 (I 3) Timaios von Tauromenion: Historiai 280 Valerius Flaccus Setinus Balbus, Caius: Argonautica 207 (VI 118), 221 (V 429), 242 (I 302), 259f. (VI 145) Varro Terentius, Marcus 200 – Rerum rusticarum de agri cultura 227 (I 46), 259 (III), 295 Vergilius Maro, Publius 204, 207, 231f. – Aeneis 199 (X 199f.), 209 (VIII 330– 332), 222 (VIII 189ff.), 230 (II), 237 (VI 249–251), 243f. (VI 203–209), 251 (VI), 253 (XI 135f.), 261 (III 11), 280f. (III 420–428), 285 (VII 15–20), 293 (IV 584f.), 301 (VI 595), 303f. (VI 744) – Eclogae vel bucolica 222 (VI 62f.), 224 (II 32), 248 (VI 63), 256 (II 70), 258 (I 54), 260 (IX 30), 266f. (VI 78–81), 273 (VIII 70), 281 (VI 74–77) – Georgica 223 (I 482), 241 (I 148f.), 249 (I 136), 257 (II 469f., IV 119), 261 (III 35f.), 282 (I 404–409), 284 (III), 295 (IV), 314 (II 176, IV 119) – Aetna (Ps.-Vergil) 206 (574) Xenophon 199, 303 Zenodotos aus Ephesos 242, 282 b) Nachantike Autoren (angesetzt werden in der Regel die von Zesen gebrauchten latinisierten Namensformen) Andrelinus, Publius Faustus 256 Aventinus (Johannes Turmair) 312 Becmann, Christian: Manuductio ad Linguam Latinam 297 Bertius, Petrus: Commentariorum Rerum Germanicarum 212 Bigus Pictorius, Ludovicus (Luigi Bigi Pittorio) 221 Bochart, Samuel: Geographiae sacrae. Pars prior: Phaleg. De dispersione gentium et terrarum 274

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Gedichte mit Fußnoten Boccaccio, Giovanni: Genealogia deorum gentilium 206, 300 Brusch, Kaspar (Bruschius) 212 Calentinus, Elisius (Eliseo Calenzio) 264 Castellus, Guglielmus (?) 257 Cleophilus, Francesco Ottavio: De coetu poetarum 264 Clusius, Carolus (Charles de l’Ecluse) 212 Comes, Natalis (Natale Conti): Mythologiae sive explicationis fabularum 203, 232, 266f., 306 Decimator, Henricus 266 Domitius de Calderiis (Domizio Calderini): Ovid-Kommentar 227, 289 Du Bartas, Guillaume (Guillaume de Saluste): La Sepmaine 270f., 283 Durante, Castore: Hortulus Sanitatis 227, 239, 243 Entzelt, Christoph: Chronicon 239, 311f. Erasmus von Rotterdam, Desiderius: Adagia 312 Ferrari, Filippo: Novum Lexicon Geographicum 205 Fleck, Johann (Theologe; lt. Zedler Bd. 57, 1732: Johann Fluck) 313 Florianus, Johannes 298f. Fontz, Tobias (?) 212 Habert, François: Les quinze livre de la metamorphose d’Ovide 298 Hartung, Valentin: BartasÜbersetzung 271f., 283 Hopper, Joachim 312 Horst, Jakob: Wunderbarliche Geheimnüsse (Lemnius-Übersetzung) 242f., 244 Hübner, Tobias: Bartas-Übersetzung 283 Isacius (Issac) Tzetzes 280, 281, 296 Isidorus von Sevilla 205 Johannes de Hauvilla: Architrenius 249 (VIII 171), 291 (VI 158f.) Lemnius, Levinus: Occulta naturae miracula 242, 244 Ligorius, Pyrrhus (Pirro Ligorio) 211 Lotichius Secundus, Petrus (Peter Lotz): De Philomela 269f.

Mancinelli, Antonio: Horaz-Kommentar 293 Mantuanus, Baptista Spagnuoli (Battista Mantovano) 207, 287, 294 Marullus, Michael Tarchaniota (Michele Marullo) 249 Matthiolus, Petrus Andreas (Pietro Andrea Mattioli): Commentarii in sex libros Pedacii Dioscoridis 244f. Merian, Matthäus: Topographia superioris Saxoniae 210 Münster, Sebastian: Cosmographey 312 Perottus, Nicolaus (Niccolò Perotti) 277 Photios (der Große) 200 Piccolomini, Aeneas Sylvius Bartholomaeus (Enea Silvio de’ Piccolomini; Pius II.) 264 Politianus, Angelus (Angelo Poliziano): Silvae 206 (Nutricia 581), 257 (Rusticus 320) Pontanus, Johannes Jovianus (Giovanni Gioviano Pontano) 207, 221, 258 Prianeus, Miro (?) 280 Ravisius, Johannes (Ravisius Textor, Jean Tixier de Ravisi) 203, 208, 266, 277 – Opus epithetorum 299 Rösslin, Eucharius d. J.: Kreutterbuch 293 Saxus, Pamphilus (Panfilo Sasso) 205, 264, 265 – Epigrammaton liber 247 (IV 145) Scaliger, Joseph Justus: TibullKommentar 297, 299 Simler (Simmler), Josias: In primum librum Mosis 302 Stephanus, Robertus (Estienne) 258 – Dictionarium nominum proprium 203 Strozzi, Tito Vespasiano 242, 265, 268 Strozzi, Ercole 268 Suidas (angeb. Vf. der Suda) 201, 305 Taubmann, Friedrich 283 Trithemius, Johannes (Johannes Heidenberger) 312 Vadianus (Joachim von Watt) 208 Vossius, Gerardus Joannes (Gerhard Johann Voß): De Theologia Gentili Et Physiologia Christiana 306

160 c) Zesens Querverweise auf eigene Werke und deren Apparate Scala Heliconis Teutonici (1643) / Deutschlateinische Leiter zum hoch-deutschen Helikon (1656) 204 Coelum Astrononicum-poeticum (1662) 203, 231, 263, 306 Das Hochdeutsche Helikonische Rosentahl (1669) 234 Assenat (1670) 231 Simson (1679) 220, 231, 243, 255, 304, 306, 309

Dieter Martin Des Hochdeutschen Helikonischen Liljentahles / das ist der […] Liljen-Zunft Vorbericht (1679) 233, 234, 309 Des Hochdeutschen Helikonischen Nägleintahles / das ist der […] Näglichen-Zunft Vorbericht (1687) 234 Der erdichteten Heidnischen Gottheiten / wie auch Als- und Halb-Gottheiten Herkunft und Begäbnisse (1688) 226, 262, 272, 275, 283, 302, 304, 309 Zitate aus eigenen Gedichten 201, 249

Reinhard Klockow

Philipp von Zesens Coelum astronomico-poeticum Eine Vorschau auf die geplante Neuedition

I. Das Werk Philipp von Zesens 1662 in Amsterdam erschienenes Buch Coelum astronomico-poeticum sive mythologicum stellarum fixarum 1 , von ihm selbst als Dichterischer Sternenhimmel 2 zitiert, gehört zu den Werken, die weitgehend ungestört in den Tiefen der Bibliotheksmagazine ruhen und allenfalls gelegentlich von Forschern mit Spezialinteressen konsultiert, aber wohl kaum zur Gänze gelesen werden. Schon zu Lebzeiten des Autors ist es nicht über die erste Auflage hinausgekommen, und auch damals wird man es vor allem als Nachschlagewerk und weniger zur fortlaufenden Lektüre benutzt haben. Die klare Gliederung in Einzelkapitel mit vielen Querverweisen und das ausführliche Register deuten darauf hin, daß der Autor selbst diese Benutzung im Auge hatte. Darin ähnelt es den Heidnischen Gottheiten 3 , zu denen auch inhaltlich zahlreiche Beziehungen bestehen. Im Rahmen der Zesen-Gesamtausgabe soll nun auch sein Coelum neu erscheinen, verbunden mit einer Übersetzung und einem Kommentar. Ich bin seit 2004 mit den Vorbereitungen dieser Edition beschäftigt und möchte hier dies weithin unbekannte Werk vorstellen sowie einen Zwischenbericht über meine Arbeit geben. Zesens Coelum umfaßt im eigentlichen Textteil 379 gezählte Seiten. Hinzu kommen – neben Widmungstexten und vorangestelltem Autorenregister – ein astronomiegeschichtliches Praefamen von 11 Seiten sowie am Ende ein ausführlicher Index rerum, & verborum memorabilium von 39 ungezählten Seiten. Mit einer Liste von Emendanda ac Inserenda ergibt das zusammen 440 Seiten. Das Werk ist nicht illustriert. –––––––––

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Der vollständige Titel lautet: PHILIPPI CAESII à ZESEN COELVM ASTRONOMICOPOETICVM sive MYTHOLOGICVM STELLARVM FIXARVM, hoc est, Signorum coelestium, sive Constellationum omnium ad certas imagines redactarum, inque Coelo fictitio sive Organo Globi Astronomici continui, mythologico nomine & picturâ, ab Antiquis repraesentatarum SVCCINCTA DESCRIPTIO. AMSTELAEDAMI, Apud IOANNEM BLAEU. M DC LXII. – Zitiert wird nach dieser Ausgabe durch einfache Seitenangaben im laufenden Text. Z. B. im Simson: „Doch hiervon kan auch unser Dichterischer Sternenhimmel / bei dem Zeichen des Stiers gelesen werden.“ (Zesen SW VIII, 577) Querverweise auf Zesens Coelum in dessen Eigenkommentar zu seinem Prirau-Lobgedicht verzeichnet der Beitrag von Dieter Martin im vorliegenden Band. Zesen SW XVII.

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Der Titel nimmt Bezug auf ein Werk der römischen Antike, auf das unter dem Namen des Hyginus überlieferte Poeticon astronomicon (auch Poetica astronomica oder einfach De astronomia 4 ), und auch inhaltlich knüpft Zesen an dieses Vorbild an: Wie (Pseudo-)Hygin behandelt er die Sternbilder und die mit ihnen verbundenen Sagen, um zudem das astronomische Wissen seiner Zeit zu verarbeiten. Ursprünglich war anscheinend ein zweiter Band vorgesehen, der – nach den Fixsternen des ersten Teils – die Planeten behandeln sollte. 5 Dazu ist es aber offenbar nicht gekommen. Der Text ist in vier Membra aufgeteilt: Membrum I (S. 1–17) befaßt sich mit dem Sternenhimmel im allgemeinen (Fixsterne vs. Planeten, Zusammenfassung von Sternen zu unterschiedlichen Figuren, die Milchstraße usw.). In Membrum II (S. 18–104) geht es um den Tierkreis und seine zwölf Zeichen, in Membrum III (S. 104–225) um die nördlichen extrazodiakalen Sternbilder und in Membrum IV (S. 225–379) um die südlichen. Insgesamt werden 64 Sternbilder besprochen. Ausgangs- und Bezugspunkt der Betrachtungen ist ein von dem bekannten Amsterdamer Kartographen und Astronomen Willem Blaeu (1571–1638; latinisiert Caesius) angefertigter Himmelsglobus, dessen Qualitäten Zesen verschiedentlich rühmt. Die Identität der latinisierten Namensformen gibt Zesen Anlaß zu beziehungsreichen Wortspielen. 6 Entscheidende Orientierung liefert darüber hinaus die Uranometria (1603), der epochemachende Sternbildatlas des Augsburger Juristen Johann Bayer (1572–1625). 7 In seinen astronomiegeschichtlichen Ausführungen im Praefamen und in Membrum I, die bis auf Adam und Seth als die angeblich ersten Astronomen zurückgreifen, gibt sich Zesen als überzeugter Kopernikanianer. Auch über die neueren Entwicklungen durch Kepler, Galilei u. a. zeigt er sich informiert, verweist aber für weitere Einzelheiten auf den Copernicus Redivivus von Daniel –––––––––

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Moderne Ausgabe z. B.: Hygini de astronomia. Edidit Ghislaine Viré. Stuttgart u. Leipzig 1992. „Stellarum errantium sive Planetarum Coelum“, heißt es im Widmungsbrief des Johannes Crusius (S. *8v). Vgl. das dem Praefamen vorangestellte Widmungsgedicht Zesens an das vierköpfige Bürgermeisterkollegium von Amsterdam (S. *2v): CAESIA quae PALLAS Globulo Vivaria ficto Vranies propiùs conspicienda dedit, hic descripta Tibi, PROCERVM QUADRIGA, sacravit. CAESIADES, recitans mystica Mythologûm. […] In meiner Übersetzung: Was die caesische Pallas uns auf dem kunstvollen Globus Aus Uraniens Reich anschaulich nahegebracht, Das beschrieb hier und widmete dir, du edle Quadriga, Caesisches Blut und erzählt Rätsel der Mythologie. Caesia Pallas ist einerseits das handwerkliche Genie des Willem Blaeu (Caesius), andererseits die „blauäugige“ (Caesia, griech. glaukopis) Pallas Athene selbst. – Eine weitere persönliche Beziehung ergibt sich dadurch, daß Willems Sohn und Nachfolger Johan Blaeu (1596–1673) Zesens Coelum verlegt hat. Johann Bayer: Uranometria. Omnium asterismorum continens schemata; nova methodo delineata, aereis laminis expressa. Augsburg 1603.

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Lipstorp (1631–1684), 8 denn im Coelum liegt der Akzent auf den Sternbildern und den mit ihnen verbundenen Geschichten. Zesen polemisiert heftig gegen die Araber, die mit barbaris figmentis und ridiculis monstris (S. 6) den Sternenhimmel der Griechen verunstaltet hätten, und referiert zwei Versuche, die himmlischen Figuren neu zu benennen oder gar ganz neu zu ordnen: den Coelum stellatum Christianum (1627) von Bayers Landsmann und Freund Julius Schiller (um 1580–1627), der die Gestalten der griechisch-römischen Mythologie durch christliche ersetzt (aus dem Tierkreis wird der Apostelkranz, aus dem Widder wird Petrus, aus Saturn wird Adam usw.), 9 und die Signorum coelestium vera configuratio (1553) von Guillaume Postel (1510–1581), wo an die Stelle der traditionellen Sternbilder ein abstraktes Koordinatensystem aus Quadraten und Dreiecken rückt. 10 Beides lehnt Zesen ab. Eine völlige Neuordnung verbiete sich aus praktischen Gründen; man sei eben an die alten Bilder gewöhnt. Und auch die christliche Neuinterpretation Schillers habe ihre Probleme. So passe die neue Benennung oft gar nicht zum traditionellen Charakter der Sternbilder: Der lüsterne, unzüchtige Widder etwa widerspreche dem frommen, untadeligen Wesen des heiligen Petrus (S. 9). Man merkt: Für Zesen sind die alten Bezeichnungen mehr als bloße Namenskonventionen, sie drücken vielmehr das Wesen der jeweiligen Konstellation aus. So plädiert Zesen – durchaus zeittypisch 11 – für einen Kompromiß zwischen der traditionellen, ,heidnischen Mythologie‘ und einer durchgreifenden ‚interpretatio christiana‘, wenn er sein eigenes Programm formuliert: Sed nos, ut in sequentibus patebit, servatâ quidem stellarum antiquâ in imagines certas distributione, mutatâ tamen omni earundem ex fabulis, ac commentis Poetarum plerumque desumtâ appellatione, vera ex veris Sacrae scripturae historiis rerum naturam stellarum haud impugnantium [!] nomina omnibus, quoad fieri potuit, imposuimus. 12

Praktisch sieht das so aus, daß der Widder bei Zesen ein Widder bleibt (nämlich der, den Abraham anstelle des Isaak opferte, bzw. Christus als Lamm Gottes), ––––––––– 8

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Daniel Lipstorp: Copernicus redivivus, seu de vero mundi systemate, liber singularis. Leiden 1653. Julius Schiller: Coelum Stellatum Christianum […] Sociali operâ Ioannis Bayeri I. C. Vranometriam novam, priore accuratiorem, locupletioremque suppeditantis […]. Augsburg 1627. Guillaume Postel: Signorum coelestium vera configuratio aut asterismus, stellarumve per suas imagines aut configurationes dispositio, […] sive coelum repurgatum, et apotelesmate summo determinatum. Paris 1553 u. ö. Vgl. (mit weiteren Hinweisen) zuletzt Ferdinand van Ingen: Mythenkritik und mythologische Invention. Daniel Heinsius, Sigmund von Birken, Philipp von Zesen. In: Euphorion 100 (2006), S. 333–358. „Wie im folgenden deutlich wird, behalten wir zwar die alte Verteilung der Sterne in bestimmte Bilder bei, ändern jedoch alle ihre Bezeichnungen, die zumeist den Märchen und Erfindungen der Dichter entnommen sind, und setzen, soweit es möglich ist, dafür wahre Namen aus den wahren Geschichten der Heiligen Schrift ein, Namen, die dem Wesen dieser Sterne nicht widersprechen.“ (S. 7) – Mit impugnantium unterläuft Zesen einer der bei ihm äußerst seltenen Lateinfehler: es muß impugnantia heißen, bezogen auf nomina.

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der Löwe ein Löwe (nämlich der von David oder der von Samson getötete), und daß die Haarpracht der Berenike lediglich den Besitzer oder die Besitzerin wechselt (Haare der Maria Magdalene oder der Lazarusschwester Maria oder des Jonathan). Entsprechend treten an die Stelle mythologischer Figuren passende (haud impugnantes) biblische Gestalten: Herkules wird zu Josua oder Samson, Bootes zum Ochsentreiber Amos, und selbst für Hadrians Liebling Antinoos findet Zesen noch ein biblisches Pendant: den Sohn der sunamitischen Frau, den der Prophet Elisa von den Toten auferweckte. Dieses Programm aber setzt Zesen in den konkreten Erläuterungen zu den einzelnen Sternbildern nur ansatzweise und halbherzig um. Denn dort werden die so abfällig beurteilten fabulae ac commenta Poetarum nicht mit wenigen Worten zugunsten der „wahren“ Geschichten abgetan, sondern nehmen breitesten Raum ein. Sie werden referiert, kommentiert, interpretiert und bewertet, sie sind sein eigentliches Thema, dem er sich mit Verve und einem ungeheuren Aufwand an Gelehrsamkeit widmet. Für die „wahren Namen aus den wahren Geschichten der Heiligen Schrift“ bleiben dagegen in der Regel nur einige Zeilen am Schluß der Kapitels übrig, die wenig mehr bieten als den knappen Verweis auf eine Bibelstelle. Da er häufig mehrere Figuren zur Auswahl stellt (aut si mavis), bleibt der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit. Zesens Philologenherz schlägt, auch wenn er das Gegenteil behauptet, für die „heidnischen Gottheiten“ und ihre bunten Geschichten. Die Bibelverweise wirken dagegen wie ein religiös korrektes Pflichtprogramm. Die Artikel zu den einzelnen Sternbildern sind nach einem einheitlichen Schema aufgebaut. Sie beginnen mit einer Übersicht über die verschiedenen Bezeichnungen für die Konstellation im Lateinischen, Griechischen und Arabischen (dies meist unter Berufung auf Schickardt 13 ), manchmal auch im Hebräischen sowie bei einzelnen Autoren. Darin folgt er Bayers Uranometria, deren Sternbildbeschreibungen ebenfalls mit solch einer Übersicht beginnen. Da Zesen im Umfang meist deutlich über Bayer hinausgeht, ist die Benutzung weiterer Quellen vorauszusetzen. Es schließt sich, in kleiner Kursive gedruckt, eine Aufstellung von Zahl und Größe der Sterne des jeweiligen Sternbildes an. Dabei werden routinemäßig die Zahlen und sonstigen Angaben bei Postel 14 und Bayer referiert. Maßgebend für Zesen bleibt aber der Himmelsglobus von Blaeu. Auch die Besonderheiten einzelner Sterne – etwa Kontroversen über ihre Lage oder ihre Bezeichnung – können hier zur Sprache kommen. Manchmal geschieht dies aber auch erst im folgenden, wieder recto gedruckten Abschnitt. Auf diesen astronomischen Teil, der in der Regel ein bis zwei Seiten umfaßt, folgt als Kernstück der ,mythologische‘ Teil, der sich mit der Frage beschäftigt, wie das jeweilige Sternbild zu seinem Namen kam und welche Geschichten damit verbunden werden. Hier kann Zesen mit seiner ganzen Gelehrsamkeit aufwarten, unterschiedliche Versionen vorstellen und gegeneinander abwägen, ––––––––– 13

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Wilhelm Schickardt: Astroscopium. Pro facillima stellarum excogitatum, & commentariolo illustratum. Stuttgart 1646. Postel (Anm. 10).

cognitione

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so daß manche Sternbildartikel eine beträchtliche Länge erreichen (Gemini 22 Seiten, Argo-Navis 21 Seiten, Hercules 20 Seiten). Ein Teil dieses Materials ist später in die Heidnischen Gottheiten eingegangen, die sich gelegentlich wie eine Übersetzung des Coelum lesen. 15 Der kurze Schlußabschnitt mit den Bibelverweisen beginnt in der Regel mit fast formelartigen Wendungen wie Verum nos pro omnibus istis vanis, ac merè fictitiis nominibus, potiùs vera ex ipsis sacris litteris eligamus (S. 79, Sternbild Virgo) und nennt eine oder mehrere Bibelgestalten mit den entsprechenden Stellenangaben. Bei den neu entdeckten Sternbildern der südlichen Hemisphäre kann dies Schema allerdings nicht mehr durchgehalten werden: Über Dorado (Schwertfisch), Apous (Paradiesvogel) oder Hydrus (Kleine Wasserschlange) u. ä. weiß weder die griechische Mythologie noch die Bibel etwas zu berichten. Hier begnügt sich Zesen mit naturkundlichen Erklärungen, sofern er nicht, wie bei Piscis volans, dem kürzesten aller Artikel (11 Zeilen, S. 377f.) lediglich sagt, daß es nichts zu sagen gibt. 16 In den Artikeln wird ein gewaltiges Arsenal von Gelehrsamkeit aufgeboten. Die entferntesten Quellen, die entlegensten Autoren werden herangezogen, um die eine oder andere Mythenversion, um eine Genealogie, eine Örtlichkeit oder eine Namensform zu belegen – wie auch das vorangestellte mehrseitige Autorenverzeichnis auftrumpfend historisch-philologisches Wissen demonstriert. Vieles davon entpuppt sich bei näherem Hinsehen als gelehrtes Treibgut, aufgelesen in den Handbüchern und Standardwerken der Zeit, die es ihrerseits anderen Sammlungen entnommen haben. Entsprechend haben die einzelnen Artikel des Coelum stark kompilatorischen Charakter. Sie erzählen keine Geschichten, sondern referieren Inhalte; es geht um Information, nicht um Anschaulichkeit oder Vergegenwärtigung. Aufgelockert wird diese Gelehrtenprosa durch zahlreiche Verseinlagen antiker und neuerer Autoren: Arat, Manilius, Avienus und Germanicus illustrieren astronomische Sachverhalte, für größere Erzählpartien muß vor allem Ovid herhalten, und überhaupt wird jede Gelegenheit genutzt, griechische und lateinische Verse der unterschiedlichsten Autoren einzustreuen, bis hin zu Neulateinern wie Pontano (Zodiacus vitae), Poliziano (Urania) und Barlaeus. Auch deutsche und niederländische Verse finden sich, von Opitz, Vondel und natürlich vor allem von Zesen selbst, dem daran gelegen ist, neben den eigenen literarisch-wissenschaftlichen Verdiensten auch die –––––––––

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Etwa die folgende Passage aus dem Kapitel über Herkules (S. 157): „Praeter hos alius fuit Hercules Phoenicius, sive Tyrius, Athamantis, sive, ut traditum Sanchoniathoni aut Philoni Bybliensi, Iovis Demaroontis regis Phoeniciae filius, & Cadmi Phoenicis ex filia Ino nepos. Hic Palaemon dictus, postea vocabatur Melicarthus sive Melicerta […].“ – Dem entspricht in den Heidnischen Gottheiten die folgende Stelle: „Aber dieses Gedicht […] komt […] dem Fönizischen oder Tirischen Herkel zu: welcher des Adamas oder / wie Sanchoniathon und aus ihm Filip der Biblier meldet / des Fönizischen Jupiters oder Königes Demaroons Sohn / und des Fönikers Kadmus aus seiner Tochter der Ino Enkel war / und erstlich Palemon / darnach aber Melikart oder Melizert […] hies.“ (Zesen SW XVII/1, 655) „De hoc nihil memoratu digna occurrunt.“ (S. 378).

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seiner Familie und seiner neulateinischen Namensvettern ins rechte Licht zu rücken. 17 Inhaltlich geht es Zesen neben der möglichst vollständigen Darstellung der unterschiedlichen Mythenversionen zu den einzelnen Sternbildern um deren rationalistische Deutung oder Entmythisierung. Er rekurriert dabei auf ein dreigleisiges Interpretationsmodell: historice, physice, ethice. 18 Historice werden die Mythen als phantastische Transfigurationen realer Ereignisse interpretiert, physice als märchenhafte Einkleidung von Naturvorgängen und ethice als Exempla für moralische Maximen. Manchmal werden auch poetice und historice als gegensätzliche Verständnisformen einander gegenübergestellt. 19 Am häufigsten verwendet Zesen die ,historische‘ Interpretation. Die Entführung der Europa nach Kreta durch Jupiter in Gestalt eines Stiers ist demnach so zu lesen: Europa wurde von kretischen Kaufleuten entführt, deren Schiff einen Stier als Gallionsfigur oder Abzeichen trug (S. 31). 20 Oder: der Minotaurus war nicht das Produkt eines sodomitischen Beischlafs zwischen Pasiphae und einem Stier, sondern Pasiphae, die Frau des Minos, hatte ein Verhältnis mit Taurus, einem Feldherrn ihres Mannes, und so wurde die Frucht dieses Ehebruchs gemeinhin Minotaurus genannt (S. 85); hinter der von Dädalus zu diesem Zwecke konstruierten hölzernen Kuh verbirgt sich das mit einer Kuh verzierte Holzhaus des Dädalus, in dem sich die Liebenden trafen (S. 87). Oder: Phaethon bzw. Endymion waren frühe Astronomen, von denen sich der eine vor allem für die Sonne, der andere für den Mond interessierte (S. 232). Oder: Ledas Kinder schlüpften nicht aus einem Ei, sondern wurden in einem verborgenen ovalen Gemach aufgezogen (S. 47) – die Beispiele ließen sich vervielfachen. Die Dichter, erklärt –––––––––

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Von den Kartographen und Verlegern Blaeu/Caesius war schon die Rede (s. o. Anm. 6); im Praefamen nennt Zesen unter den Vertretern der modernen Astronomie ausdrücklich auch Federicus Caesius (Federico Cesi, 1585–1630), der mit seiner Academia dei Lyncei zwar Galilei unterstützte, aber selbst mehr als Botaniker und Bienenforscher hervortrat. Seine Erwähnung hier verdankt er wohl vor allem seinem Namen. Mehrfach weist Zesen auch auf Schriften seines Großvater Abraham Caesius hin, so gleich auf der ersten Seite auf dessen Propositiones astronomico-physicae de Sole (ich habe vor, diesem Zusammenhang in einer besonderen Untersuchung nachzugehen). Und gern zitiert er eigene Werke: etwa die (nicht veröffentlichte und erhaltene) Ancilla Astronomiae, den Leo Belgicus, den Rosenmahnd, die Frühlings-lust, die Dichterischen Liebes-flammen, die Rosamunda Adriatica und ein Werk über Ägypten. Auch anderswo nicht veröffentlichte Verse scheinen sich hier zu finden. Z. B. S. 232: „Caeterum hanc fabulam alii historicè, alii physicè, alii ethicè explicant.“ – Erläuterung des Schemas (mit griechischen Begriffen) S. 166. Z. B. S. 45: „Iccircò non historicè, sed poeticè scribere amat Ovidius; cum Theseum sic alloquitur […].“ Gallionsfiguren oder Abzeichen von Tieren sind ein beliebtes Erklärungsschema: ,Phrixus reitet auf dem Widder nach Kolchis‘ bedeutet ,er fährt auf einem Schiff mit WidderEmblem‘; ,Io durchquert, als Kuh verwandelt, den Bosporus‘ bedeutet ,sie fährt auf einem Schiff mit Kuh-Emblem‘; ,Jupiter entführt in Gestalt eines Adlers Ganymed‘ bedeutet ,Ganymed wird von einem Schiff mit Adler-Emblem entführt‘; ,Andromeda soll einem Walfisch geopfert werden‘ bedeutet ,sie soll mit einem Piraten verheiratet werden, dessen Schiff das Abzeichen eines Wals trägt‘.

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uns Zesen, reden gern in einem schema poeticum von wundersamen Verwandlungen oder gar von Vergöttlichung, um die Hinterbliebenen zu trösten oder ihnen zu schmeicheln (S. 207). In „naturbezogener“ Interpretation steht beispielsweise der Drache, der die Äpfel der Hesperiden bewacht, für die Meeresarme, „in die wie in Drachenwindungen das Meer um jene Inseln oder Gärten Hesperiens […] auslief und die von Herkules oder vielmehr von Minerva, d. h. der Klugheit, auf Schiffen überwunden wurden“ (S. 114). 21 Der Riese Orion, der angeblich aus dem Urin der Götter Jupiter, Neptun und Apoll erzeugt wurde, repräsentiert die Mischung der Energien von Luft, Meer und Sonne und die dadurch erzeugten Dämpfe, die zu heftigen Stürmen führen, weswegen es auch heißt, sein Haupt rage bis die Wolken (S. 246). Mit dem aus Löwe, Ziege und Schlange zusammengesetzten Mischwesen Chimaira ist ein feuerspeiender Berg gemeint, auf dem es sowohl Ziegen als auch Schlangen und Löwen gegeben haben soll (S. 220). Die zwölf Arbeiten des Herkules bedeuten den Durchgang der Sonne durch die zwölf Tierkreiszeichen (S. 166). Solche Rationalisierung des Mythos ist nicht das Produkt von Zesens aufklärerischem Impetus, sondern geht wie der Mythos selbst schon auf die Antike zurück. Der Name Palaiphatos, auf dessen Unglaubliche Geschichten sich Zesen mehrfach beruft, mag hier stellvertretend für viele andere stehen. 22 Und schon lange vor und neben Zesen haben andere solche rationalistischen Deutungen aufgegriffen und weitergeführt, namentlich der von Zesen gern zitierte (und noch mehr ausgeschriebene) Gerardus J. Vossius (1577–1649) in seinem Werk De theologia gentili et physiologia christiana sive De origine ac progressu idololatriae. 23 Ein wichtiges Argumentationsinstrument für Zesen ist die Etymologie. Die Proklamation der eigenen Sprache als Ursprache, wie sie zuvor Guillaume Postel für das Französische sowie Schottelius und Gueintz für das Deutsche übten, wendet auch Zesen auf seine Muttersprache an. 24 Da er der verbreiteten ––––––––– 21

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„[…] maris brachia, quibus , tanquam Draconum spiris, mare circum Insulas illas, sive Hortos […] Hesperiae sese explicaverat, ab Hercule, sive potiùs Minvervâ, hoc est, prudentiâ navigiis superata.“ Jetzt leicht zugänglich in einer zweisprachigen Reclam-Ausgabe: Die Wahrheit über die griechischen Mythen. Palaiphatos’ Unglaubliche Geschichten. Griechisch/Deutsch. Hg. v. Kai Brodersen. Stuttgart 2002. Band I mit den Büchern I und II erschien 1642 bei Blaeu in Amsterdam. Weitere Bände erschienen posthum. Vossius führt die „heidnischen“ Götter auf die Vergöttlichung bedeutender Menschen oder von Naturerscheinungen zurück. Darin folgt ihm Zesen. Vgl. hierzu Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin u. New York 1994, S. 348–364; Thorsten Roelcke: Der Patriotismus der barocken Sprachgesellschaften. In: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Andreas Gardt. Berlin u. New York 2000, S. 139–168, hier S. 154–157. Zu Postels kabbalistischer Etymologie vgl. Maximilian Bergengruen: Verborgene Kräfte und die Macht des Gestirns. Zur Verschiebung alchemischer und astrologischer Gedankenfiguren im 16. und frühen 17. Jahrhundert und zur poetologischen Aneignung bei Philipp von Zesen. In: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie. Hg. v. Caroline Torra-Mattenklott. Freiburg 2005, S. 121–143.

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kulturpatriotischen These folgt, die deutsche Sprache sei nach der adamitischen oder hebräischen die zweitälteste, auf die sich die meisten anderen zurückführen ließen, 25 versucht er, für lateinische oder griechische Wörter einen deutschen Ursprung nachzuweisen. So wird der Name ,Herkules‘ – wie schon im Rosenmahnd – als ,Heeres-Keule‘ gedeutet und Herkules selbst mit dem etymologischen Argument zum germanischen Helden gemacht (S. 162). Die griechische ,Kithara‘ wird über die ,Zither‘ auf das deutsche Verb ,zittern‘ zurückgeführt, weil die gezupfte Saite zittert und außerdem der Ton den Zuhörer erzittern läßt und innerlich bewegt (S. 198). Selbst ,Cytherea‘ als Beinamen der Venus will er von ,zittern‘ oder ,kittern‘ (im Sinne von ,verstohlen kichern‘) ableiten und den Namen Venus selbst von ,veen‘ oder ,vein‘ (= ,fein‘, S. 198f.). Einen wahren Windmühlenkampf ficht er gegen Sebastian Münster aus, der den slawischen Götternamen ,Belbok‘ – korrekt – als ,weißer Gott‘ deutet. Zesen hingegen führt den zweiten Bestandteil auf das deutsche ,bok‘ zurück, dem er über das Zwischenglied der Satyrn und der biblischen ,Feldteufel‘ die Bedeutung Daemon & Deus zuschreibt. Für den ersten Bestandteil ist ihm die Ableitung vom niederländischen ,belle‘ (,Glocke‘) am liebsten (aber auch ,Baal‘ oder niederländisch ,belgen‘ = ,zürnen‘ hält er für möglich), so daß ,Belbok‘ so viel wie ,Leithammel‘ bedeutet, was schließlich zur Bedeutung princeps deorum bonorum (S. 52) führt. Und so deutet Zesen dann auch den Städtenamen Jüterbog als ,guter Bock‘ und, mit den oben beschrieben Zwischenschritten, als bonus deus oder bonus daemon (S. 53). Einige weitere Etymologien dieser Art: corona kommt vom deutschen ,krumm‘ (S. 300), titulus von ,tuten‘ (S. 302), pavo („Pfau“) von ,bauen‘ – vom selben deutschen Wort stammen auch ,Bügel‘, ,Buch‘, ,Pauke‘, ,bläuen‘, ,Pavillon‘, ,Papier‘ usw. (S. 357f.); das griechische alemenai (,herumirren‘) geht auf die unsteten ,Alemannen‘ zurück. Man sieht, daß Zesen das ursprünglich französische Argumentationsmuster, die Superiorität der eigenen Sprache durch Präzedenz in der Genealogie zu erklären, besonders findungs- und fintenreich auf die deutsche Sprache überträgt. 26 Um dem bisher Gesagten mehr Anschaulichkeit zu verleihen, wird im folgenden ein Kapitel des Coelum im lateinischen Original mit paralleler Übersetzung abgedruckt. Ich wähle dazu das Sternbild des Krebses aus Membrum II (Tierkreis), das bei relativer Kürze eine Reihe der oben aufgezählten Aspekte beispielhaft verdeutlicht, zugleich aber auch Besonderheiten aufweist (wie das Fehlen der rationalistischen Mythendeutung und die Einbettung einer weiteren Konstellation). –––––––––

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Zesen wundert sich darüber, daß die Wurzeln deutscher und anderer Wörter meist im Lateinischen und Griechischen gesucht werden: „Satiùs esset, ac tutiùs eam quaerere ex Ebraicâ, vel potius Adamiticâ: quae prima omnium linguarum mater; uti secunda plurimarum Germanica. Quippe ut & ipsi Germani plurimorum circumjacentium populorum, imò ipsorum etiam ex parte Graecorum parentes videntur: sic multò magis Germanorum lingua parens videbitur linguarum, quas loquuntur iidem populi.“ (S. 197). Ein anderes Steckenpferd, das er mit ähnlicher Beharrlichkeit reitet, sind Genealogien, etwa die des argivischen Herrscherhauses (S. 32), des Theseus (S. 40f.) oder der Familie des Aietes (S. 235f.).

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II. Die Neuedition Die Neuedition soll zwei Bände umfassen, einen Text- und einen Kommentarband. Der Textband bietet das lateinische Original von 1662 als reprographischen Nachdruck (mit Zeilenzähler), dazu im Paralleldruck die deutsche Übersetzung. Die Entscheidung für einen reprographischen Nachdruck des lateinischen Textes anstelle eines Neusatzes hat folgende Gründe: Die Ausgabe von 1662 ist auch für Nicht-Spezialisten gut lesbar und enthält kaum Druckfehler. Eine Reproduktion bewahrt das historische Druckbild mit seiner spezifischen Ästhetik. Sie ist zudem deutlich billiger als ein Neusatz. Bei einem Neusatz müßten Eingriffe vorgenommen werden: neben der Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern müßten die Emendanda ac Inserenda eingearbeitet werden (bei der Übersetzung werden sie selbstverständlich berücksichtigt), und es stellt sich die Frage nach weiteren Korrekturen, etwa der von falschen Namensformen, von Griechischfehlern, fehlerhaften Zitaten oder Stellenangaben. Bei einem reprographischen Nachdruck bleibt der Text unangetastet. Bemerkungen zum Text enthält ein kleiner kritischer Apparat im Anhang, auf den jeweils durch ein Zeichen am Rand hingewiesen werden kann (ein kritischer Apparat im üblichen Sinne ist ja schon deshalb nicht erforderlich, weil es keine weiteren Textzeugen gibt); alles Weitere ist Sache des Kommentars. Die Übersetzung soll noch im Jahr 2007 fertiggestellt werden, so daß der an die 900 Seiten starke Textband in absehbarer Zeit erscheinen kann. Verse werden als Verse wiedergegeben, möglichst unter Verwendung vorliegender metrischer Übersetzungen (z. B. der Aeneis-Übersetzung von Voß in 62,5, der Tusculum-Übersetzung der Fasti in 60,26). Wo solche Übersetzungen nicht vorliegen, nicht greifbar oder nicht brauchbar sind, wird behutsam ,nachgedichtet‘ (im Beispieltext bei Avienus, 61,3ff., und Germanicus, 62,13ff.). Zeitaufwendig ist weniger die eigentliche Übersetzung als vielmehr die Verifikation der zahllosen Werktitel und Namen – Namen von antiken und neueren Autoren, von mythologischen und historischen Gestalten, von Örtlichkeiten, Ereignissen usw. Als Übersetzer muß man wissen, wovon die Rede ist, wenn man die Sachverhalte korrekt wiedergeben will. Daher ist schon während der Übersetzung ein Großteil der Vorarbeit für den Kommentar zu leisten. Denn ein so voraussetzungsreicher, mit gelehrtem Wissen angefüllter Text wie Zesens Coelum bedarf bei der Neuedition eines Kommentars, der dem Leser wenigstens einen Teil der Fragen beantwortet, die sich bei der Lektüre auf Schritt und Tritt stellen. Solche Fragen betreffen die Inhalte, also die zur Rede stehenden Personen, Örtlichkeiten, Sachverhalte, sowie die Zitate und Verweise, die Quellen, die Querverbindungen zu anderen Werken. Der Kommentar befindet sich gegenwärtig noch im Stadium der Materialsammlung, und seine Fertigstellung wird noch geraume Zeit beanspruchen. Im Vorgriff seien einige Proben gegeben.

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[59]

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IV. CANCER, der Krebs, die Krabbe

Nepa, Astacus, Cammarus, bei Manilius Cyllenius oder Mercurii sidus [„das kyllenische Gestirn“ oder „Gestirn des Merkur“]; hebräisch sartan, griechisch [60] karkinos, kammaros, französisch Hommar, italienisch Gammaro; sonst auch [gr.] astakos, bei den Italienern von Venedig Astase; bei Hesychios kabeiros, bei Manilius [gr.] opisthobamon, „rückwärts gehend“, was man auch vom Skorpion sagt; bei anderen oktapous, „achtfüßig“; ebenso Pagouros, eine im Meer lebende Krebsart; arabisch Alsartan oder Asartan, laut Schickardt Assartano; bei den Italienern Granchio, in Rom Granzo. Er beleuchtet den Meridian um Mitternacht nach Beginn und im ganzen Rest des Januars und umfaßt auf unserem Globus 16 Sterne. Er bezeichnet die Feuchtigkeit sowie den bei diesem Zeichen beginnenden schrägen Rückweg der Sonne, nach der Art der Krebse, die in entgegengesetzter Richtung und schräg zurücklaufen. Deshalb wird der Krebs auch das erste Tor der Sonne genannt, so wie der Steinbock das zweite. Zum Grund für diese Bezeichnung vgl. das Sternbild des Steinbocks. Postel spricht diesem Sternbild neun Sterne im Innern und vier außerhalb zu; Brahe 15, Bayer hingegen 35: zwei dritter Größe - der eine am südlichen Fuß, der andere an der südlichen Schere oder am südlichen Arm, auf anderen Abbildungen auch am Kopf; weiterhin vier Sterne vierter Größe, sechs fünfter und 23 sechster Größe, die den übrigen Körper und den Schwanz besetzen. Denn Bayer ließ seinen Krebs so aussehen, wie ihn die Münzen des Nero und des Antoninus Pius, die einen Tierkreis aufweisen, darstellen.

Das auf die Zwillinge folgende Zeichen ist der Krebs. Deshalb schreibt Ovid: Dann tritt Sol aus der Zwillinge Bild, und es rötet der Krebs sich.

Auf seiner Brust befindet sich ein Nebelstern, dem Mars und dem Mond, nach anderen dem Mars und der Sonne wesensverwandt, auf griechisch to nepheloeides [„der Wolkige“], systrophe, „Verdichtung“, hebr. taalat, [gr.] Phatne [„Krippe“], arabisch Mellef oder Meeleph, laut Schickardt Mallephon, „Zusammenballung“, bei den Lateinern nubilum [„Gewölk“], Vortex nebulosus [„nebelartiger Wirbel“] und Praesepe oder Praesepium [„Krippe“] genannt. Daneben stehen die beiden Aselli [„Eselchen“], gleichen Wesens, welche Manilius Iugulae [„die nebeneinander Stehenden“], die Griechen onoi, oniskoi [„Esel, Eselchen“] nennen, nämlich des Silen, der nach Laktanz der Erzieher und Lehrer des Bacchus war.

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[61] Von ihnen wie auch von der Krippe liefert Avienus in seiner Übersetzung des Arat folgende Beschreibung: Angebracht ist’s, hier auch die kleine Krippe zu nennen. So benannten die Wolke, die hoch im Krebse dahertreibt, Griechenlands Weise. Betrachte deswegen zum Schluß auch die kleinen Esel: der eine von ihnen entzündet die Sterne im Norden nahe am Wagen; von fern sieht der andere nach Süden, zur Wärme. Was in der Mitte verdichtet erscheint wie der Dunst einer Wolke, Nennt man die Krippe. Doch wenn nun diese Krippe urplötzlich Aus den Augen ganz ferne entschwindet, zugleich aber weithin Aufscheint ein rötliches Feuer ganz dicht bei den himmlischen Eseln, werden gewaltige Stürme aufwühlen Gewässer und Meere.

Die Scheren oder Kiemen des Krebses, die dem Merkur und dem Mars wesensverwandt sind und auf den Löwen weisen, heißen bei den Arabern Zuben assartani; weiterhin Acubene oder Azubene, laut Schickardt Azubeno. Ovid nennt sie flagella [„Fangarme“], Plinius acetabula [„Essigtöpfchen“, d.h. Saugnäpfe] oder cirri [„Locken“, d.h. Fangarme], die Barbaren Grivenesci, die Alphonsiner Labia [„Lippen“], andere brachia [„Arme“] oder auch anteriores Vngulae [„Vorderkrallen“]. Der Krebs selbst ist für Platon und den Philosophen Ariston ein Symbol für die Sophisten, weil er rückwärts und quer läuft; bei anderen ist er ein Symbol für die Wahnsinnigen, vielleicht weil er kein Gehirn hat. Bei den Alten wurde er Nepa genannt, z.B. bei Plautus; man vergleiche dazu Varro. Festus zeigt, daß das Wort afrikanischen Ursprungs ist und daß damit in der Sprache der Afrikaner das Sternbild gemeint ist, welches Krebs genannt wird. Wir aber behaupten, daß es vielmehr deutsch oder niederländisch ist. Een neep bedeutet nämlich in der niederländischen Sprache dasselbe wie unser deutsches ein knip, nämlich „Kniff, Stichelei“, von kneipen oder nypen, „kneifen“. Das ist fast dasselbe wie krabben, woher das Wort kräbs kommt. Hy is genepen sagen die Niederländer, wenn man jemanden gekniffen oder gestichelt hat. Und das „Kneifen“ ist den Krebsen eigen. Daher wird Nepa von den Deutschen im eigentlichen Sinn als ein kneiper oder kneip-fisch übersetzt. Aber die beiden Cicero, Marcus und Quintus, verwenden Nepa auch für „Skorpion“, ebenso Manilius und Columella. Und die Skorpione entstehen, wenn die Sonne durch das Zeichen des Krebses zieht, aus toten Krebsen auf dem Trockenen, wie Plinius in Buch 9, Kap. 30 seiner Naturgeschichte bezeugt. Der Krebs soll von Jupiter an den Himmel versetzt worden sein, weil er Garamantis, die Tochter des Königs Garamas, mit seinen Scheren packte,

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[62] sie an der Ferse verletzte und dadurch aufhielt, als diese Nymphe vor Jupiter davonlief, weil sie nicht mit ihm schlafen wollte. So konnte Jupiter sie bequem fangen und vergewaltigen. Daher schreibt Vergil in Buch 4 der Aeneis: Ammons Sohn und der Nymphe, die jener geraubt, Garamantis.

Ampelius hingegen meint, der Krebs sei dank Juno in den Himmel aufgenommen worden. Denn als Herkules ausgesandt worden war, um die Lernäische Schlange zu töten, soll der Krebs auf Befehl der Göttin ihm in Füße und Waden gekniffen und sie regelrecht zerfleischt haben, wodurch er ihm größere Unannehmlichkeiten bereitete als die Schlange selbst, bis er schließlich doch noch von Herkules zertreten wurde. Das bezeugt auch Germanicus in seinen Anekdota: Als der Alkide mit seinen Händen die furchtbare Hydra niederrang und du, Krebs, es wagtest, ihn heftig zu beißen, gab dir Saturns Tochter Juno ein Sternbild, ein schönes, sie, die niemals vergißt, die Stiefmutter, niemals besänftigt.

Daher haben wir einst an Rosemund gedichtet: Daß ich so mager bin / ist nicht vom vielen sitzen / und lesen bei der nacht. Du machst es / Du / mein Licht; weil du dich mir entziehst. Das völlige gesicht des Mohndes nährt den Krebs / der bei dem scheine weidet / und wan es abnimt / auch des fleisches abwachs leidet im dunkeln seiner gruft. Brich über mir hervor gleich als ein voller Mohnd dem / der das Sonnen-tohr / am Herkules / verdient: so leb’ ich außer leiden; so wird mein angesicht bei deinem glantz sich weiden / und in der fülle stehn.

Der Krebs zieht sich nämlich in mondloser Nacht, also wenn der Mond abnimmt oder abzunehmen beginnt, in Höhlen zurück; wenn man Licht daran hält, kann man ihn wieder herauslocken, und genauso wird er auch durch den wieder zunehmenden Mond nach draußen getrieben und kehrt zu seinen Futterplätzen zurück. Daher wird er zur Zeit des Vollmonds fett, weil er dann die ganze Nacht fressen kann; wenn er sich jedoch bei abnehmendem Mondlicht versteckt, fällt durch den Hunger vom Fleisch. Es erscheint es mir übrigens glaubwürdiger, daß der Krebs, wie auch andere meinen, deshalb an diejenige Stelle unter den Sternen versetzt wurde, wo die Sonne gleichsam umzukehren scheint,

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[63] weil auch er selbst mit schrägem Schritt rückwärts zu laufen pflegt. Daher schreibt Aristophanes in seiner Eirene [„Der Friede“]: Oupote nikeseis ton karkinon ortha batizein Niemals hoffe, den Krebs zu bewegen, daß er gradaus geht;

wobei ich statt nikeseis lieber poieseis lesen möchte, also „du wirst bewirken“ oder „du wirst machen“. Doch auch jene beiden Eselchen, die an der Krippe stehen, die sich ungefähr in der Mitte des Krebses befindet, das eine in Richtung Norden, das andere in Richtung Süden, wurden aus etwa dem gleichen Grund an den Himmel versetzt. Als nämlich die Satyrn, Waldgötter und Silenen auf Eseln dem Jupiter gegen die Giganten zu Hilfe kamen, da erschraken die Esel vor einem Schatten, oder sie staunten, nach einer anderen Überlieferung, über die massige Größe der Giganten und machten mit ihrem Gebrüll einen solchen Krach und Lärm, daß die Feinde glaubten, es sei zu seiner Unterstützung ein furchtbares Ungeheuer gegen sie angerückt; und so konnte Jupiter sie besiegen und in die Flucht schlagen. Und damit verdienten die Esel es sich, als die Urheber eines so großes Sieges für Jupiter in den Himmel aufgenommen zu werden. Caesar Germanicus allerdings erzählt diese Geschichte oder vielmehr Fabel von den Eseln etwas anders: „Als der Krieg zwischen den Giganten und den Himmlischen ausbrach, wurden jene von Liber, Vulkan und den Satyrn dank des Schutzes der Esel, auf denen sie ritten, besiegt. Und deshalb wurden die Esel zusammen mit der Krippe von den Göttern in das Sternzeichen des Krebses versetzt.“ Manche sagen, es stehe nur ein einziger Esel an der Krippe. Das läßt sich auch aus Theophrasts Schrift über die Anzeichen für bevorstehendes schönes Wetter ersehen, wenn er sagt: „Wenn die Krippe des Esels rein und glänzend erscheint, ist das ein Anzeichen für bevorstehendes schönes Wetter.“ Im übrigen aber soll dieses Sternzeichen ton thoraka dikaiosynes [„den Panzer der Gerechtigkeit“] bedeuten, jenen cancer Iustitiae [„Krebs der Gerechtigkeit“], wie manche ihn auf Latein nennen und den der Apostel im Brief an die Epheser 6,14 erwähnt; und die Krippe mit den Eseln soll die Krippe des neugeborenen Jesus Christus mit Ochs und Esel sein, Luk. 2,12.

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1. Für unseren Beispieltext erscheinen Sacherklärungen u. a. zu folgenden Textstellen angebracht: 59,35 Nepa, Astacus, Cammarus] Diese Wörter bezeichnen, wie ihre griechischen Gegenstücke in 60,1ff., unterschiedliche Arten von Krebsen oder Krabben, vgl. dazu die genauen Unterscheidungen im Kleinen Pauly, s.v. Krebs (Bd. III, Sp. 332ff). Aus der Reihe fällt Nepa (eigentlich „Skorpion“): „Seltsamerweise ist das Sternbild des Krebses einmal von Cicero (Arat. 216) mit dem africanischen Worte Nepa bezeichnet worden, was sonst für den Scorpion gebraucht wird.“ (RE III,2,1460, s.v. Cancer). Vgl. unten 61,18ff. 59,35f. Cyllenium, vel Mercurii Sidus] Vgl. Manilius 2,440: Cyllenie, cancrum (sc. regis) – „Du, Kyllenier, regierst den Krebs“. Es geht hier um die Lehre von der Zuständigkeit einzelner Götter für die Tierkreisgestirne, wobei der Krebs in die Zuständigkeit des Merkur fällt (der nach seinem Geburtsort, dem Gebirge Kyllene auf der Peloponnes, auch Cyllenius genannt wird). 61,38] Garamantida, Garamantis regis filiam] Garamas: eponymer Ahnherr des Berberstammes der Garamanten, Sohn des Apoll. Zesen bzw. seine Quelle schreibt ihm hier eine Tochter Garamantis zu, während Garamantida an der entsprechenden VergilStelle (s. u. 62,5) gewöhnlich als Adjektiv („garamantisch“) gedeutet wird, z. B. bei Georges (Servius ad loc. läßt die Frage ausdrücklich offen).

Wer die in 61,17 erwähnten Barbari sind, ist noch zu klären. Neben den Namen bedürfen auch manche Aussagen des Textes einer Erläuterung; etwa die folgende: 61,21 quia cerebro caret] Da viele Krebsarten (Krabben) keinen Kopf haben, wurde ihnen auch das Gehirn (griech. enkephalos – „das im Kopf Befindliche“) abgesprochen. Vgl. dazu die Diskussion bei Galen, De usu partium 8,4, der allerdings den Krebsen ein Gehirn zuspricht, weil es nicht auf den Sitz des Organs, sondern auf seine Funktion ankomme.

In diesen Zusammenhang gehören auch Hinweise zur Übersetzung schwieriger oder textkritisch problematischer Stellen: 61,13 Chelas cancri, seu branchias] Das übliche Synonym für chelae („Scheren“) ist bracchia („Arme“), z. B. oben 60,19. Branchiae („Kiemen“) erscheint sachlich unpassend und wirkt wie ein Versehen anstatt des eigentlich gemeinten bracchia. Jedoch führt Bayer (Uranometria, Tab. 25) unter den Ausdrucksalternativen für chelae auch branchiae an („alij branchias“), und anscheinend greift Zesen hier diese Möglichkeit auf.

2. a) Zitate werden nachgewiesen und textlich überprüft: 60,25f. Ovidius … rubescunt] Ovid, Fasti 6,727. 61,2ff. Avienus Arataea vertens … procellae] Avienus, Phaenomena 1651–1660. 62,11ff. Germanicus in MDQHNGYRWRLa] Gemeint ist die Arat-Übersetzung (Phaenomena) des Germanicus, 543–546. Bei der Übersetzung gehe ich in 62,16 (= 546) mit den neueren Ausgaben von der Lesart noverca (statt novercae) aus.

Dabei wird auch auf Irrtümer Zesens hingewiesen: 63,1ff. Aristophanes HM QHMLUYKQKÈ … EDWYL]HLQ] Aristophanes, Frieden 1083; korrekt: EDGYL]HLQ. Die von Zesen 63,5 bevorzugte Lesart SRLYKVHLa ist die heute übliche.

Oder bei dem aus Bayers Uranometria übernommenen Verweis auf Ovid:

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61,16 Ovidius autem flagella] An der entsprechenden Ovid-Stelle (Met. 4,366f. „utque sub aequoribus deprensum polypus hostem / continet ex omni dimissis parte flagellis“) geht es um die Fangarme von Polypen, nicht um die Scheren von Krebsen.

Auch die Autor-Angaben sind nicht immer korrekt: 63,20ff. Caesar Germanicus paullò aliter refert … illati] Das Zitat stammt nicht, wie man schon aus der fehlenden Versform ersieht, aus der Arat-Übersetzung des Germanicus, sondern aus den Scholien dazu, vgl. Alfred Breysig (Hg.): Germanici Caesaris Aratea cum Scholiis. Berlin 1867, dort S. 70; ähnlich S. 130.

Schließlich führen manche Verweise ins Leere: 60,3 Manilio MRSLVTREYDPZQ] Bei Manilius nicht nachzuweisen.

2. b) Bei bloßen Verweisen auf Textstellen wird versucht, die gemeinte Stelle zu eruieren und zu zitieren: 61,22 ut apud Plautum] Casina 443: recessim dabo me ad parietem, imitabor nepam. 61,34ff. Et Scorpiones … testis est Plinius H.N. l.9, c.30] Plinius 9,99: sole cancri signum transeunte et ipsorum, cum exanimati sint, corpus transfigurari in scorpiones narratur in sicco.

Auch hier stellt man fest, daß den Verweisen nicht immer zu trauen ist, manchmal zu seinem eigenen Erstaunen: 63,33f. praesepe, cum asino, & bove, Luc. c.2, v.12] Lukas 2,12: „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Von Ochs und Esel ist in der Weihnachtsgeschichte nirgends die Rede.

2. c) Schließlich macht der Kommentar (jeweils beim ersten Vorkommen) kurze Angaben zu den zitierten Autoren und Werken (bei gedruckten Werken: Titel, Erscheinungsort und -jahr). Geplant ist auch ein Autoren- und Werkregister. 3. Neben der Verifizierung der Zitate und Verweise möchte der Kommentar – zumindest ansatzweise – die tatsächlichen Quellen Zesens nachweisen. Denn natürlich hat Zesen all diese Belege und Verweise nicht selbst gesammelt, sondern großenteils aus anderen Werken übernommen; und manchmal nicht nur Zitate und Quellenangaben, sondern auch ganze Textpartien. Das ist die Praxis in seiner Zeit, und daß Zesen da keine Ausnahme macht, merkt man schon an verräterischen Indizien: wenn er etwa Minucius in octavo (S. 147) zitiert und dabei anscheinend an das achte Buch eines Werkes von Minucius denkt, während es doch um dessen nur aus einem Buch bestehenden Octavius geht, was Zesen aber offenbar nicht klar ist. Oder wenn er ein Zitat aus Aeneid. l. 2 (S. 217) bringt, das in Wirklichkeit aus Buch 11 stammt – Zesen hat die arabische Zahl seiner Vorlage als römische gelesen. 27 Die Vorlage läßt sich in diesem Falle sogar identifizieren: die Officina oder das Theatrum von Ravisius Textor (Jean Tixier de Ravisi, 1480–1524), 28 dem Zesen nicht nur dieses Zitat, –––––––––

27

28

Der umgekehrte Fehler findet sich auch auf S. 256, wo Plato l. 11 de Republ. zitiert wird, während in Wirklichkeit Buch 2 gemeint ist. S. 359 der Ausgabe Lyon 1560 (zitiert nach den Digitalisaten in: http://www.unimannheim.de/mateo/camena/ravis1/ravisiusofficinaeprima.html).

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sondern viele weitere Angaben im Umfeld verdankt, ohne seinen Namen zu nennen. Natürlich beruft sich Zesen auch auf neuere oder zeitgenössische Autoren, auf Bayer, Postel, Schickardt, Natalis Comes, Joseph Scaliger und viele andere; auch Ravisius wird gelegentlich erwähnt. Aber die stillschweigenden Übernahmen gehen viel weiter, als die expliziten Verweise anzeigen. Ein Beispiel dafür ist Vossius, den er gern mit Attributen wie maximus oder illustris bedenkt, den er als seinen verehrten Lehrer bezeichnet 29 und dessen Theologia gentilis er immer wieder als Standardwerk zitiert. Eher zufällig stellte ich fest, daß das astronomiegeschichtliche Praefamen sich zu großen Teilen aus ziemlich wörtlichen Anleihen bei einem anderen Werk von Vossius zusammensetzt, nämlich De quatuor artibus popularibus 30 – erst viel später (S. 6) gibt es einen vereinzelten Hinweis auf dieses Buch. Und die Theologia gentilis ist, das zeigen schon Stichproben, ein gewaltiger Steinbruch, aus dem Zesen so manchen Textbaustein entnimmt. Für unseren Beispieltext gilt, daß die Namenslisten (59,35ff. und 60,27ff.) mit den in ihnen enthaltenen Zitaten und Verweisen großenteils aus Bayer (Uranometria, Tab. 25) und Schiller (Coelum stellatum christianum, Constellatio XXV, S. 72) übernommen sind. Aus Schiller stammt der Verweis auf Laktanz in 60,34 (dort präzisiert: „secundum Lactant: Diuinar: Institut. lib. 1. cap. 21“) sowie das angebliche Germanicus-Zitat 63,20ff. Auch die Formulierung in 60,11ff. („solisque cancrorum in contrarium ac obliquè redeuntium more, ab hoc Signo obliquum regressum: unde & prima Solis Porta vocatur“) klingt stark an Schiller an („Cancer solis porta vocatur, eo quod retro atque oblique incedat; et tali ratione Sol in eo signo obliquum incipiat agere retrogressum“, Const. XXV, S. 72). Umgekehrt kann man davon ausgehen, daß die in 61,24ff. entwickelte Ableitung von Nepa aus niederl. neep Zesens eigene Idee ist. 4. Schließlich werden im Kommentar die von Zesen gegebenen Querverweise verifiziert, z. B. 60,16 vide sis ad signum Capricorni] Vgl. u. 89,30ff.

Weiterhin werden Hinweise auf Parallelstellen im Coelum oder in anderen Werken Zesens gegeben, gegebenenfalls auch Verweise auf Forschungsliteratur und Interpretationsvorschläge. Das Problem des Kommentars ist offenkundig die Fülle des Materials. Dieses Material gilt es in Hinblick auf die Benutzerinteressen zu filtern, zu strukturieren und in ökonomischer Form zu präsentieren. Das ist keine geringe Aufgabe, bei der ich Rat und Unterstützung der Kenner gern annehme. ––––––––– 29

30

„[…] oculatissimum Vossium, illum humanae divinitatis Virum, quem, ut Praeceptorem meum, ante omnes meritò vereor […].“ (S. 130). Gerardus Ioannes Vossius: De quatuor artibus popularibus, de philologia et scientiis mathematicis. Amsterdam 1650. Zesen verwertet daraus v. a. den Teil De mathematicarum scientiarum natura, ac constitutione liber, und zwar, wie die Seitenangaben zeigen, in der Ausgabe von 1660.

Andreas Herz

Philipp von Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft*

Philipp von Zesens Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft (FG) unterlag einer persönlichen und sachlichen Spannung, welche die Momente durchaus erfahrener Anerkennung Zesens durch die FG und sein Bild bei Mit- und Nachwelt wie nichts anderes verdunkelt hat. Zwar konnte er nach erfolglosen Annäherungsversuchen im Dezember 1648 seine Aufnahme in die Gesellschaft erreichen. Doch wurde auch diese trotz der Akzeptanz seiner poetischen und stilistischen Leistungen von Vorbehalten gegenüber seinen sprachlichen Eigenwilligkeiten begleitet. Schon im Frühjahr 1649 spitzte sich die Divergenz zu einem massiven Konflikt zu, der in den frühen 1650er Jahren in offene Ausgrenzung überging. Aber auch dann blieb die frühere FG unter Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen für Zesen und seine eigene Sozietät, die um 1643 gegründete „Deutschgesinnte Genossenschaft“ (DG), ein positiver Bezugsrahmen. Im Folgenden soll die Entwicklung des Verhältnisses Zesens und der FG nachgezeichnet werden. Dabei werden zur Erklärung der auftretenden Vorbehalte und Mißstimmungen Blicke auf das Selbstverständnis, die Regularien, das soziale Milieu und die Wissenskultur der FG zu werfen sein, bevor die fruchtbringerische Sprachdebatte der 1640er Jahre in ihren Grundzügen skizziert, in ihren kulturgeschichtlichen Grundierungen erhellt und Zesens Position in ihr umrissen werden.

I. Annäherung und Konflikt Beginnen wir mit einem Dokument, das Zesens Ausgrenzung aus der FG auf eine denunziatorische Spitze trieb. In seinem Brief an Georg Neumark vom 2. März 1655 beschimpft Johann Rist Zesen, den er 1643 neben Schottelius, Harsdörffer und anderen noch als „Meister unser Sprach’“ gefeiert hatte, 1 als ––––––––– *

Der vorliegende Beitrag ist im Zusammenhang des von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig geförderten Forschungs- und Editionsprojekts „Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft“ entstanden. Neben den Werken Zesens werden folgende Schriften mit Sigle und Seitenzahl zitiert: Halle II/2 Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Süddeutsche und österreichische Mitglieder. Hg. v. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tübingen 1997 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe II, Abt. C: Halle, Bd. II).

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Andreas Herz

einen „leichtfärtigen Landläuffer“, „Ehrendieb“ und „leichtfertigen Buben“, der sich angemaßt habe, „lose Kerle“, „Bährenheuter“ und „rotzige Schulbuben“ in die hochfürstliche FG aufzunehmen und sich selbst als ihr zweites Oberhaupt aufzuspielen. „Hohn und Schimpf“ habe der verlogene „Vagant“ über die FG gebracht, was ihm die Großen der Gesellschaft nicht vergeben sollten. 2 In diesem Brief macht nicht nur die selbstvergessene oder böswillige Verwechslung der FG mit Zesens Deutschgesinnter Genossenschaft stutzig. Befremdlich sind auch die moralische Entwertung und die krasse soziale Distinktion, worauf wir zurückkommen werden. Andere Zeugnisse taten ein Übriges, Zesen in der FG unmöglich zu machen: „H. Zesen ist ein Ketzer in unsrer Sprache und hat seiner die Gesellschaft keine Ehre, so gar daß sich nicht wenig an seiner Eintrettung geärgert haben und er, wie ich verstanden, mit gewissen Beding ist aufgenommen worden.“ Das schrieb Georg Philipp Harsdörffer, selbst seit Dezember 1644 als „der Kunstspielende“ Mitglied der DG, schon am 19. Dezember 1652 an Georg Neumark. 3 Dieser war damals, durch Vermittlung Rists und anderer, ––––––––– KE

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Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Hg. v. Gottlieb Krause. Leipzig 1855. Köthen I/3 Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Bd. III: 1630–1636. Unter Mitarb. v. Gabriele Ball u. Andreas Herz hg. v. Klaus Conermann. Tübingen 2003 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I, Abt. A: Köthen, Bd. III). Köthen I/4 Ebd. Bd. IV: 1637–1638. Unter Mitarb. v. Gabriele Ball u. Andreas Herz hg. v. Klaus Conermann. Tübingen 2006 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I, Abt. A: Köthen. Bd. IV). Köthen II/1 Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen: Werke. Bd. I: Die ersten Gesellschaftsbücher der Fruchtbringenden Gesellschaft (1622, 1624 und 1628). Johannis Baptistae Gelli Vornehmen Florentinischen Academici Anmutige Gespräch Capricci del Bottaio genandt (1619). Hg. v. Klaus Conermann. Tübingen 1992 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe II, Abt. A: Köthen, Bd. I). Widmungsgedicht „Auff des hochgelahrten Herren Philip Cæsiens Sprach-übung / An alle redliche Teütschen“. In: Zesen SW XI, 1–77, hier 9. Vgl. auch die beiden Briefe Rists an Zesen vom 4.4.1642 und 24.7.1644 in SUB Hamburg: Sup. ep., Bl. 270r–273v. Thüring. Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHSTA): Fl. Hausarchiv A 118171, Bl. 132rv u. 134rv. Inliegend (Bl. 133rv) die „Copia Schreibens Eines Kauffgesellen von Hamburg an seinen vatter auß Reval“. Darin bittet der Absender seinen Vater, „Herrn Ristio zusagen, daß der leichtfertige vogell, der Zesiuß“, sich in der Revaler Gesellschaft und im Rat durch „pasquilliren“ unmöglich gemacht habe. Er sei so weit gegangen, daß ihn nur die Fürbitte des schwedischen Statthalters, Gf. Thurn, vor dem Strick habe retten können. ThHSTA Weimar: Fl. Hausarchiv A 118171, Bl. 93r–94v; veröffentlicht in Carl August Hugo Burkhardt: Aus dem Briefwechsel Georg Philipp Harsdörffers zur Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft 1647–1658. In: Altes und Neues aus dem Pegnesischen Blumenorden III (1897), S. 23–140, S. 105–109, hier S. 109. Seine DG-Mitgliedschaft wollte Harsdörffer zurückziehen, wenn Zesen bestimmte sprachliche Irrlehren nicht aufgebe. Vgl. Harsdörffers Brief an Zesen vom 10.4.1645, nach dem Original in der UB Tartu mitgeteilt von Herbert Blume: Beiträge zur Biographie Zesens. In: Daphnis 3 (1974), S. 196–202, hier S. 197ff. Stark verstümmelt wurde dieser Brief bereits von dem ZesenVertrauten Johann Bellin veröffentlicht in: Etlicher der hoch-löblichen Deutsch-gesinneten

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frisch bestallter Bibliothekar der herzoglichen Büchersammlung in Weimar unter dem zweiten Oberhaupt der FG, Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (Oberhaupt 1651–1662). Ein Jahr darauf ist Neumark Mitglied der FG, ab 1655 ihr Erzschreinhalter. 4 Wenige Monate später setzte Harsdörffer hinzu: „Dieser Tagen ist H. Zesen unbekanter weise [!] bey mir gewesen, habe ihm auf begehren, was ich von ihm hielte, rund herausgesagt, daß er ein eitler und ruhmsichtiger, wanckelmütiger mensch seyn müsse […]. Habe seithero noch viel wunderliche Aufzüge von ihm gehöret“. 5 Wir übergehen andere abfällige Äußerungen 6 und schließen unsere Beobachtungen mit einem aufschlußreichen Zettel im Weimarer Erzschrein der FG, der Aufklärungsbedarf signalisiert. Offenbar irritiert vom Skandalon der Zesenschen FG-Mitgliedschaft, will Herzog Wilhelm im Mai 1657 von Neumark wissen, „Auff wann Filip von Zesen in die Fruchtbringende geselschaft der Wohlsetzende genommen ist Wo Vnd Zu welcher Zeitt er Ein getreten“.7 Von 1617 bis zu seinem Tod im Januar 1650 hatte Fürst Ludwig von AnhaltKöthen die FG als „der Nährende“ und langjähriges erstes Oberhaupt geleitet. Zesens Beurteilung war damals, seit er 1637 in den Wahrnehmungshorizont Fürst Ludwigs und des anhaltischen Fruchtbringer-Kreises trat, mitnichten nur negativ. „Sonsten bin ich der meinung, der die klagerede gemacht, sey tüchtig genug die deutsche sprachlehre aufzusetzen“, schrieb Diederich von dem Werder am 26. Dezember 1637 an Fürst Ludwig. Damals war in der FG der Plan gefaßt worden, eine deutsche Grammatik auszuarbeiten, und der Rektor des Gymnasiums zu Halle, Christian Gueintz, 1641 als „der Ordnende“ in die Gesellschaft aufgenommen, 8 wurde um diese Zeit mit der Ausarbeitung beauf–––––––––

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Genossenschaft Mitglieder / Wie auch anderer hoch-gelehrten Männer Sende-schreiben Ehrster teil […] zusammen geläsen […] durch Johan Bellinen. Hamburg 1647, Bl. [G viii]v–H iijr. Das früheste gedruckte DG-Mitgliederverzeichnis führt Harsdörffer auf: Zesen SW XII, 178–310, hier 240f. Vgl. ThHSTA Weimar: Fl. Hausarchiv A 118171, Bl. 3v; Michael Ludscheidt: Georg Neumark (1621–1681). Leben und Werk. Heidelberg 2002, S. 201 u. 251ff. An Neumark, 2.4.1653. In: ThHSTA Weimar: Fl. Hausarchiv A 118171, Bl. 110r–111v, hier 110r; veröffentlicht in Burkhardt (Anm. 3), S. 111–113. Justus Georg Schottelius an Sigmund von Birken, 15.8.1662, über Zesens Verdeutschung (vermutlich) der Moralia Horatiana: „darin das hochteutsche eine so närrische orthographi bekommen, daß man fast nicht weiß, was es ist, vnd haben die ehrlichen Teutschen worte ihre Kleidung verlohren, daß sie vnerkentlich sein, […] vnd ist solches in warheit nicht, die Sprache befördern, sondern in verachtung setzen, vnd das gantze studium verdächtig vnd verhast machen.“ Nachlaß Birkens im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg: P.Bl.O. C.310.8., hier zit. n. Hartmut Laufhütte: „Ja dan würde er an mir viel einen andern finden, als ich jhm beschrieben worden“. Philipp v. Zesens Versuch, mit Sigmund v. Birken in Briefkontakt zu gelangen. In: Daphnis 34 (2005), S. 185–201, hier S. 195; vgl. auch Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens „Adriatische Rosemund“. München 1969, S. 187; Tuomo Fonsén: Kunstlöbliche Sprachverfassung unter den Teutschen. Studien zum Horrendum Bellum Grammaticale des Justus Georg Schottelius (1673). Frankfurt a. M. 2006, S. 274ff. ThHSTA Weimar: Fl. Hausarchiv A 118172, Bl. 86r. Gueintz hatte 1619–1622 im Rahmen des von F. Ludwig v. Anhalt-Köthen und seinem Neffen, Hz. Johann Ernst d. J. v. Sachsen-Weimar, aufgelegten ratichianischen Schul-

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tragt. 9 Für jene in Werders Brief genannte „klagerede“ kommt nur Zesens Melpomene Oder Trauer- vnd Klaggedichte / Vber das vnschuldigste vnd bitterste Leiden vnd Sterben JESV CHRJSTJ in Betracht, das 1638 im Druck erschien. Zesen war damals Schüler von Gueintz und dieser könnte dessen erste literarische Arbeit der Köthener FG, abschriftlich und vielleicht unter Verbergung ihres wahren Autors, vermittelt haben, wo sie, wie gezeigt, auf anerkennende Aufnahme stieß. 10 Jahre später, am 23. Dezember 1644, bedankte sich Harsdörffer in einem Brief an Zesen für seine Aufnahme in die DG, unterbreitete Vorschläge für das Sinnbild der Genossenschaft und die eigene Gesellschaftsimprese, empfahl Mitgliedskandidaten und Gebräuche der FG zur Nachahmung: das Gesellschaftssiegel, die Mitglieder-Medaillen, die Veröffentlichung eines Gesellschaftsbuches, einheitlich gestalteteȱ Mitglieder-Impresen u. a. m. 11 Kurz zuvor hatte Zesen eine Widmungszuschrift an die FG, d. d. Utrecht 1. Dezember 1644, aufgesetzt, die seine Übersetzung des Romans Ibrahim ou L’illustre Bassa von Madeleine de Scudéry einleitete. Zugleich aber sollte er in dieser Übersetzung (wie auch in der Adriatischen Rosemund) eine Rechtschreibung aufbringen und in einer vorangestellten „Schuz-räde“ verteidigen, die den Nerv fruchtbringerischer Sprachregulierung, -standardisierung und -kodifizierung des Hochdeutschen traf. 12 In einem undatierten Schreiben (vom Mai 1645?) unterrichtete Harsdörffer Fürst Ludwig über die Zueignung des Ibrahim an die FG und –––––––––

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reformwerkes in Köthen unterrichtet und ein griechisches Lehrwerk veröffentlicht. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. Das Köthener Gesellschaftsbuch Fürst Ludwigs I. von Anhalt-Köthen 1617–1650. 3 Bde. Hg. v. Klaus Conermann. Leipzig [zugleich: Weinheim] 1985, hier Bd. III, S. 415. Im November 1638 lieferte Gueintz seinen Entwurf handschriftlich der FG ein. Vgl. Köthen I/4, 723ff. Nach intensiver kritischer Diskussion und Zirkulation des Entwurfs in den Reihen der FG und externer Gutachter erschien der Deutschen Sprachlehre Entwurf 1641 in Köthen. Vgl. Anm. 64. Vgl. Köthen I/4, 391ff., hier 392. SUB Hamburg: Sup. ep. 28, Bl. 370r–373v. Veröffentlicht in modernisierter Orthographie in Karl Dissel: Philipp von Zesen und die Deutschgesinnte Genossenschaft. Hamburg 1890 (Wissenschaftliche Beilage zum Osterprogramm des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg 1890), S. 55–57, und Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München 1973, S. 48–51. Zesen SW V/1 u. 2. Zesen SW V/1, 5f. (Auf-traags-schrift An die Höchst-löbliche Fruchtbringende GESELSCHAFT); ebd., 7–21 (Schuz-räde), zu Zesens Rechtschreibung s. hier 17ff., eine Liste verdeutschter Fremdwörter 12ff. Vgl. auch Zesens Brief an das DGMitglied Graf Rüdiger v. Starhemberg, Utrecht 8.2.1645, dem er den ersten Druckbogen des Ibrahim beilegte, „darinnen ich meine schreib-ahrt […] etlicher massen habe gebrauchen wollen“. Er, Zesen, habe damit wegen der vielen Anwürfe gezögert, wage es aber nun, weil „sie auf nichts als vernunftmässigen gründen beruhet“. In: Bellin (Anm. 3), Bl. B 2r. Vgl. zu den damaligen Rechtschreibneuerungen Zesens, die ihn in der Diskussion deutlich isolierten, Hiroyuki Takada: Grammatik und Sprachwirklichkeit von 1640–1700. Zur Rolle deutscher Grammatiker im schriftsprachlichen Ausgleichsprozeß. Tübingen 1998, S. 65ff. – Die Widmung der Lustinne von 1645 (Zesen SW I/1, 237–258; vgl. auch IV/2, 283ff.) an Justus Georg Schottelius dürfte einen weiteren Versuch darstellen, sich der FG zu nähern.

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Zesens Gründung der DG; Zesen habe ihm, Harsdörffer, die Mitgliedschaft angeboten,ȱ jedoch wolle er zuvor die Einwilligung des Nährenden einholen. „Betreffende des Cæsijȱ ansinnen an den Spielenden, ihn in seine so genante Deutsch-gesinte genoßenschaft […] zu nehmen“, antwortete Ludwig am 29. Mai 1645, sei solche den Mitgliedern der FG und Harsdörffer grundsätzlich frei gestellt, nur daß die andere Gesellschaft dem „Zwecke“ der FG nicht „entgegen“ sein dürfe. „Weil es aber fast scheinet, als wan Cæsiusȱgar etwas neues in derȱ Deutschen Orthographi, oder wortschreibung für hat, so zimlich weit gesuchet, auch in etzlichen neu aufgebrachten und nicht alzu wol erfundenen wörtern bestehet, inmaßen sein verdeutschter Jbrahim, in diesem Jhare zu Amsterdam gedruckt, mit mehrern ausweiset“, so möge darauf gesonnen werden, „wie vorgedachterȱCæsius, der sonsten in seiner verdeutschung läuffig, und in der feder flüßig, zuvor vollend zur rechtmessigen gleichförmigkeit möge gebracht werden.“ Dazu werde die von der FG durchgesehene, nunmehr in den Druck gegebene Deutsche Rechtschreibung hoffentlich beitragen. 13 Diese war 1643 wiederum bei Christian Gueintz in Auftrag gegeben und wie schon die Sprachlehre lange und kontrovers diskutiert worden. Mit Fürst Ludwigs Brief an Gueintz vom 4. Mai 1645 war diesem eine letzte Durchsicht des Manuskripts zugegangen. Er solle die fraglichen Punkte überarbeiten und das Werk dann schnellstens zum Druck befördern, weil nicht alleine vom Spielenden [Harsdörffer] und Clajo [Johann Klaj] in Nürnberg und dan von dem Suchenden im lande zu Braunschweig [Justus Georg Schottelius] unterschiedene neue und sich übel schickende schreibarten wollen aufgebracht, sondern auch vornemlich noch eine fremdere und ungewöhnlichere von Zæsio eingefüret werden, wie aus seiner verdeutschung des Jbrahims Bassa und der Bestendigen Isabellen wundergeschichte in diesem Jhare zu Amsterdam gedruckt, zu ersehen: Dan ob schon sonsten die redens art darinnen fein läuffig und rein, so will doch solche von ihme gerümte schreiberichtigkeit nit verantwortlich sein, in deme es scheinet, das sie auf keinem rechten grund, sondern nur auf sonderbaren einbildungen und anleitungen aus fremden sprachen genommen bestehet. 14

Was Zesen betreffe, so die Antwort von Gueintz zwei Tage später, ist es mein Lerner [Schüler] gewesen, und hat sein witz niemalß sich so erwiesen, daß man was sonderliches bey ihme verspühret, ausser daß Er allezeit was neues in dem Deutschen ohne grund und beliebte wahrheit, ihme eingebildet. Wie dan auch die schreibart genugsam es beweiset. 15

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Historisches Museum für Mittelanhalt / Bach-Gedenkstätte Köthen (HM Köthen): VS 545, Bl. 310r–312v (Konzept und Reinschrift), hier Bl. 311rf. Unzuverlässig veröffentlicht in: KE, 337ff., hier 338. Harsdörffers undatierter Brief, der den Empfangsvermerk 9.5.1645 trägt, in HM Köthen: VS 545, Bl. 308r–309v; veröffentlicht in KE, 336f. Die beiden genannten Briefe Harsdörffers und Fürst Ludwigs weisen nicht eine (gescheiterte) Empfehlung Harsdörffers für Zesen zur Aufnahme in die FG nach, sondern handeln nur von Harsdörffers Eintritt in die DG. Diese hatte er bereits im zitierten Brief an Zesen vom 23.12.1644 mit „möglichster Danksagung“ angenommen (Anm. 11), Bl. 370r; vgl. Dissel (Anm. 11), S. 55; Blume (Anm. 3), S. 196; Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 3f. HM Köthen: VS 545, Bl. 216rv, hier 216r; KE, 271f. HM Köthen: VS 545, Bl. 187r–188v, hier 187r; KE, 272.

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Auch Augustus Buchner, in der FG seit 1641 als „der Genossene“, ließ Reserven gegenüber Zesen erkennen, der ihm seit seiner Studienzeit in Wittenberg (ab 1639) bekannt war und verbunden blieb. 16 In einem Brief an Fürst Ludwig vom 12. August 1646 zögerte er, seinen einstigen Schüler vermittelnd einzuführen, jedoch wünsche Zesen einen persönlichen Besuch. Was dieser bislang „in unserer sprache gethan“, sei Fürst Ludwig bekannt, „was künftig von ihme zu hoffen“, könne niemand besser als der Fürst beurteilen, heißt es ausweichend. 17 Um den 22. Januar 1647 ist es dann zu der angestrebten persönlichen Begegnung in Köthen gekommen. Fürst Ludwig ließ Harsdörffer knapp wissen: Zesius ist hier gewesen, seine wortschreibung aber nicht gut geheißen, sondern hier und dar einwenden darbey gethan worden. Die begierde zur fruchtbringenden geselschaft ist zu loben, darbey aber der reinligkeit und richtigkeit der deutschen sprache nachzugehen, und dieselbige durch unerhebliche neuerung in größere unrichtigkeit und verwirrung nicht zubringen. 18

Harsdörffer gab die Nachricht an Schottelius weiter: „Cæsius ist zu Cöthen gewesen, aber nicht in die Hochlöbliche Fruchtbringende Gesellschaft genommen worden: er ist auf mich, u. viel andre sehr erzürnet, daß man seinem wahn nicht beypflichtet, u. wie er schreiben wil.“ 19 Der erste erhaltene Brief Zesens an das FG-Oberhaupt stammt aus Amsterdam vom 21. April 1648. Die Ankündigung von Zesens (erneutem) Besuch in Köthen wird höflich aufgenommen, und auch die Zurückhaltung erbetener Informationen gehorcht noch den in der FG allgemein üblichen Diskretionspflichten. 20 Der Eindruck, den der anhaltische Landsmann dann persönlich sowie seine Schriften in Köthen machten, weckte kritische, aber wohlwollende Aufmerksamkeit. Am 16. Oktober 1648 – Zesens zweiter direkter Kontakt in Köthen – gab Fürst Ludwig Zesen ein Schreiben an Gueintz mit, den sein einstiger Schüler in Halle aufsuchte. Zesen ist für etlichen jahren durch den Genoßenen [d. i. Buchner] mit beförderungsschreiben, bey dem Ertzschreine der Fruchtbringenden Geselschaft angegeben worden, das er möchte in dieselbe eingenommen werden, so doch bisher, sonderlicher erhebligkeiten wegen, angestanden. Weil man aber durch erlesung seiner ausgegangenen theils verdeutschten schriften und wolgesetzten reime, in allerley arten, so viel bey der Fruchtbringenden Geselschaft ersehen, das seine stellung im Deutschen (außer der ungewönlichen wortschreibung, und etlicher neu erfundenen, und nicht wol sich schickenden redensarten und

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Vgl. etwa Zesens Widmung des ersten Teils seines Hoch-Deutschen Helikons an Buchner in allen vier Ausgaben (1640, 1641, 1649 u. 1656), in Zesen SW IX, 12ff. u. X.1, 26f. Vgl. auch Anm. 36. Merkwürdigerweise nicht im Köthener Erzschrein (vgl. HM Köthen: VS 545) überliefert. Zit. n. Bellin (Anm. 3), Bl. J ijr–J iijv. Fürst Ludwig an Harsdörffer, Köthen 22.1.1647. HM Köthen: VS 545, Bl. 359rv; hier 359r; KE, 379f. Harsdörffer an Schottelius, 15.2.1647. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 377 Novi 2°, Bl. 22rv, hier 22r. Vgl. die Briefe vom 21.4. (Zesen), 21.5. (Beauftragter Fürst Ludwigs) und 22.8.1648 (Zesen) im HM Köthen: VS 545, Bl. 441rv, 442rv u. 443r–445v; KE, 413ff.

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wörtern) flüßig und richtig, und man die hofnung hat, er werde sich hierinnen laßen weisen und beßern: So ist bey anwesenden Geselschaftern bedacht worden, für ihn, den Nahmen des Wolsetzenden, mit dem gemählde des Ruhrkrauts, in Lateinisch Gnaphalion genant, so zu vielen Kranckheiten dienlich, und dem Worte, der Natur nach, fürzustellen, zu dem ende, das er dadurch desto mehr angereitzet werde, auch sich hinfüro zu seinem eigenen besten und aufnemen, der angebornen, rechten Deutschen art, so im schreiben als stellen zu verhalten, und zu befleißigen, und das alzu neuerliche ungewöhnliche fahren zu laßen. 21

Gueintz möge sich dazu erklären und auch Buchner zu Rate ziehen. Dieser versicherte Gueintz am 23. Oktober 1648, „De Cæsio nostro assentior Jllustrissimo Principi […]“, 22 übersetzt: „Über unseren Zesen pflichte ich dem Durchleuchtigsten Fürsten bei. Die Sucht nach Neuem und die Prahlerei sind die größten Laster der Jugend; das legt sich mit dem Alter, wie ich hoffe, im Vertrauen auf so viele Mahner.“ In seiner Antwort auf das ausgiebig zitierte Schreiben Fürst Ludwigs wollte Gueintz die erzieherische Volte in Zesens FGImprese noch verschärfen, nannte dabei Zesen sogar „Ehrgierig und hochsinnig auch frauenholdig“. 23 Es blieb beim alten Impresen-Vorschlag für den „Wohlsetzenden“, jedoch bezeugen verschiedene Blätter im Köthener Erzschrein, daß mehrfach an der Imprese und dem Reimgesetz gefeilt und dieses Zesen sogar selbst zur Verbesserung vorgelegt wurde. 24 Als letztes Mitglied des Jahres 1648 wurde Zesen im Dezember in die FG aufgenommen. 25 Sein Reimgesetz wiederholt die ambivalente Beurteilung Zesens: ein vorzüglicher Stilist, aber in Rechtschreibung und Wortschatz ein unsicherer Kantonist: Wolsetzend der natur nach bin ich hier genant Dan wie das Ruhrkraut pflegt die Leiber wol zu setzen Zum abfluß, also wird die schrift für gut erkant Die flüßig ist; sie kan den leser wol ergetzen. Gezwungne neuerung sey weit von uns verbant, Weil sie die eigenschaft der rede wil verletzen: Wer neue sachen setzt, der setze mit bedacht, Und nehme die Natur der sach’ und sprach’ in acht. 26

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Fürst Ludwig an Christian Gueintz, Köthen, 16.10.1648. HM Köthen: VS 545, Bl. 201r– 202v, hier 201r; KE, 276f. HM Köthen: VS 545, Bl. 447rv, hier 447r; gedruckt in: Augusti Buchneri Epistolarum partes tres. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1720, S. 298f.; Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner. München 1919, S. 163. Vgl. Kaczerowsky (Anm. 6), S. 190. Gueintz an Fürst Ludwig, Halle, 5.11.1648. HM Köthen: VS 545, Bl. 203r–204v, hier 203r; KE, 277f. HM Köthen: VS 546, Bl. 130r, 131r, 132r u. 133r. Vgl. auch Conermann: Erzschrein III (Anm. 8), S. 667f., ferner Gueintz’ Eintrag in Zesens Stammbuch, der seine mahnende FGImprese variiert. S. den Brief Zesens an Fürst Ludwig, Dessau 13.11.1648. In: HM Köthen: VS 545, Bl. 446rv u. 448rv, hier Bl. 446r; KE, 415f. Vgl. seine eigenhändige Eintragung ins Köthener Gesellschaftsbuch der FG vom 2.12.1648. KE, 489; Conermann: Erzschrein III (Anm. 8), S. 666; Ingen (Anm. 13), S. 6. Sie wurde zu seiner Standard-Stammbucheintragung. Vgl. Blume (Anm. 3), S. 201f.; Manfred Lemmer: „Sonne der Deutschen, ihr Varro, ihr Homer“. Zum 300. Todestag Philipp von Zesens. In: Bitterfelder Heimatblätter 10 (1989), S. 1–52, hier S. 12. Conermann: Erzschrein III (Anm. 8), S. 667. Bereits die Widmungsgedichte in der stark überarbeiteten und vermehrten dritten Ausgabe seines Hoch-deutschen Helikon

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Am 13. November 1648 übte sich Zesen, er ist von Buchner nach Dessau 27 zurückgekehrt, in Buchnerscher moderatio. Als ein Klassizist, der sich im Lateinischen heimischer fühlte als in der Muttersprache, war Buchner im bereits zitierten Brief an Gueintz vom 23. Oktober 1648 auf Distanz zum hypertrophen Sprachlob des Deutschen gegangen, das ihm in Harsdörffers handschriftlich zirkulierendem Bedencken, Wie ein Teutsches Dictionarium oder wortbuch zuverabfassen 28 zu begegnen schien, wenngleich er das Vorhaben als solches nachdrücklich begrüßte. 29 Zesen, der selbst die deutsche Sprache als „die vornehmste und erste“ der in der babylonischen Verwirrung entstandenen Sprachen feierte und das Lateinische massiv abwertete, 30 pflichtete Buchner in dem genannten Brief bei: „Wier können unsere sprache selbst nicht so hoch über alle erhöben, es müssens fremde Völker tuhn; uns wird es von verständigen übelgedeutet, weil eignes Lob stünket, wie das gemeine sprichwort lautet. Was ich in dergleichen ehmahls verstoßen habe, ist meiner jugend schuld, die von tage zu tage reiffere gedanken zu führen beginnet.“ Auch von Gueintz habe er viele Anregungen erfahren, über die er sich mit Fürst Ludwig mündlich auszutauschen wünsche. 31 Danach wolle er in Wittenberg an die Korrekturdurchsicht der 3. Auflage seines Helikon gehen. Ins sprachkritische Detail geht Fürst Ludwig in seinem Schreiben an Diederich von dem Werder vom 16. April 1649, dem er „uberfertiget, was der Wolsetzende an denselben schriftlich gelangen laßen, und gebeten es an den Vielgekörnten [Werder] gleichsfals zu bringen.“ Es muß sich um ein Stück des erneut dem Druck übergebenen und noch 1649 erschienenen Deutschen Helikon gehandelt haben. Fürst Ludwig habe es bereits durchgesehen, einiges „in der wortschreibung verbessert, darbey aber noch etliche bedencken“ entwickelt, die im Einzelnen ausgeführt werden und sich auf Rechtschreibung und Etymologie beziehen. Werder möge seinerseits mögliche Kritikpunkte eröffnen, damit sie –––––––––

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(Wittenberg 1649) zeichnete Zesen als „Der Wohl-setzende / der Hochlöblichen Fruchtbringenden Geselschafft Mit-glied“. S. [Kupfertitel:] Filip Zesens Durch-aus vermehrter njd Zum dritt- und letzten mahl in dreien teilen aus gefärtigter Hoch-deutscher Helikon / oder Grund-richtige Anleitung zur hoch-deutschen Dicht- und Reim-kunst. Wittenberg 1649, Bl. A iiijv, B viijv, 2. Tl., Bl. A ijrv. (Yale UL: Slg. Jantz: German Baroque Literature, No. 2789; Microfilm-Ed.). Vgl. auch die Helikon-Ausgabe von 1641 (Zesen SW IX, 4 u. 13f.) und von 1656 (Zesen X/1, 7ff., 26f. u. 241f.). Zu den guten Beziehungen Zesens zum Dessauer Hof vgl. Conermann: Erzschrein III (Anm. 8), S. 663f.; Dissel (Anm. 11), S. 40f.; Lemmer (Anm. 25), S. 14f. Vgl. auch Zesens zahlreiche Gelegenheitsgedichte auf Mitglieder der Dessauer Linie in der Reinweissen Herzogin von 1668 (Zesen SW I/2, 259–281) und im Dichterischen Rosen- und Liljentahl von 1670 (Zesen SW II, 45ff., 48ff., 52ff., 57ff., 61ff. u. 64ff.). Des Spielenden Unvergreiffliches wolgemeintes Bedencken, wie ein Deutsches Dictionarium oder wortbuch zu verabfassen. Titel. Vollständiges Wortbuch in welchem die Majestetische Deutsche Haubtsprache […] an das licht gesetzet wird […] Durch Etliche Mitglieder der Hochlöblichen Fr. Gesellsch. HM Köthen: VS 545, Bl. 405r–408v; vgl. KE, 387ff. S. Anm. 22. Zesen SW XI, 13f. (Hooch-Deutsche Spraach-übung). Vgl. ferner Zesen SW XI, 79–273 (Rosen-mând), hier 103, 127, 146, 201f. u. 205. Zesen an Fürst Ludwig (Anm. 24), hier 446r; KE, 415f.

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„ferner an den Wolsetzenden, der doch wol thut, seine sachen erst fürzuzeigen, von hinnen aus gebracht werden“. 32 Am 28. April 1649 setzt Werder seine Antwort an Ludwig auf, in der er sogleich auf das ihm überschickte Stück des Helikon zu sprechen kommt und befindet solches ein sehr wohl und tiefsinnig ausgeführtes werck, dergleichen wohl in keiner Sprache, geschweige dan in unserer deutschen, zufinden: Es ist aber darbeneben so subtil, das auch die, der Deutschen Poeterey, erfahrnen solches kaum begreiffen, viel weniger die unwissenden etwas draus werden lernen können. Meiner meinung nach jedoch, Sol dieses den Wohlsetzenden in seiner vorgenommenen arbeit nicht stutzig machen, dieweil er dardurch die gantze volkommene Deutsche Poeterey in ihre regeln bringt, also, das nichts, und zwar gar nichts, bey dem haubtwerck zuerrinnern sein wird. […] Wegen der rechtschreibung, wird der Herr Nehrende ohne Zweifel an guter errinnerung es nicht ermangeln lassen. 33

Damit hat Werder, der auch schon zu Martin Opitz’ Aufnahme in die FG wesentlich beigetragen hatte, die Bedeutung des Deutschen Helikon als der ersten grundlegenden deutschen Poetik nach Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), dieses an Gehalt und Umfang deutlich übertreffend, klar erkannt. Zesens flüssiger Prosastil und seine Dichtungslehre waren folglich in Köthen grundsätzlich – im „haubtwerck“ – akzeptiert. Doch vier Jahre nach Erscheinen der Deutschen Rechtschreibung von Gueintz und den intensiven Sprach-Diskussionen mochte Fürst Ludwig einen Rückfall in vermeintlich eigenmächtiges Gutdünken hinsichtlich Rechtschreibung und Etymologie nicht hinnehmen. Seinem Brief an Zesen vom 11. Mai 1649 fügte er das Urteil Werders bei; hinsichtlich der Rechtschreibung sei es nicht nötig, „in dergleichen neuerung sich so viel zu belustigen“. 34 In seinem Brief an Fürst Ludwig aus Dessau vom 9. Mai 1649 entschuldigte sich Zesen zunächst, daß sein Helikon schon vollständig im Druck sei und daher nur das fertige, nicht mehr zu korrigierende Ergebnis der FG eingesendet –––––––––

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HM Köthen: VS 545, Bl. 451rv; KE, 419f. Vgl. auch Werders Brief an Fürst Ludwig, Reinsdorf 2.1.1649. HM Köthen: VS 544, Bl. 506r–507v; KE, 183f. HM Köthen: VS 544, Bl. 510r–512v (Konzept und Reinschrift), hier 510rf.; KE, 184f. Werder unterrichtete Zesen selbst am 14.5.1649, daß er sein Urteil über dessen Neuausgabe des Helikon (Anm. 26) dem Nährenden übergeben habe. Er dankt Zesen für die Zuschreibung seiner Übersetzung der beiden lateinischen Reden Augustus Buchners: Was Karl der erste / König in Engelland / bei dem über Jhn gefälltem todesurtheil hette fürbringen können. Zwei-fache Rede. o. O. u. J., welche Zesen mit seinem Brief vom 9.5.1649 Fürst Ludwig zugesandt hatte (s. Anm. 35). Das Exemplar befindet sich noch heute im Köthener Erzschrein. HM Köthen: VS 545, Bl. 457rv und 7 unfol. Blätter. Zugleich übersandte Werder in der ihm eigenen Selbstironie das von Zesen erbetene einfache Gedicht auf dessen Helikon. Zesen druckte Werders positive Stellungnahme und das vierzeilige Widmungsgedicht in der dritten und vierten Ausgabe seines Hoch-deutschen Helikon (1649 bzw. 1656) ab (Anm. 26), Bl. Biv–Bijv; Zesen SW X/1, 14ff. Werders Brief an Zesen vom 14.5.1649 in SUB Hamburg: Sup. Ep. 28, Bl. 361r–362v; veröffentlicht in Dissel (Anm. 11), S. 57f. Vgl. auch Zesens Loblied auf Werders Tochter Katharina Viktoria, „als Er Sie ihres H. Vaters wohlverfaste geistreiche Lieder spielen und singen hörete“. In: Zesen SW II, 119ff. HM Köthen: VS 545, Bl. 451v; KE, 421 (datiert 1.5.1649).

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werden könne. Das widersprach dem ausdrücklichen Wunsch des Fürsten. Die Rechtschreibung habe er nicht mehr durchgehend und systematisch ändern wollen, sondern dem Korrektor „anbefohlen […], daß er sich nuhr nach der gemeinesten zu Wittenberg und Leipzig itzt üblichen schreib-ahrt richten sol, und habe ich mein werk dieses mahl davon nicht machen wollen, weil sie [die Rechtschreibung] kein wesendliches, sondern nuhr ein zufälliges stükke unserer sprache bleibet“. Mit den Fruchtbringern Martin Milagius, anhaltischem Gesamtrat, und Wilhelm Micrander, fürstlich-dessauischem Rat, habe er sich ausgetauscht, sie schlugen vor, Werders positives Urteil über den Helikon diesem beizudrucken. Er dankt Fürst Ludwig und Werder für ihre Stellungnahmen, die er alsbald ausführlich beantworten werde. 35 Milagius war bei der Sache nicht wohl. Er sandte Fürst Ludwig am 12. Mai 1649 aus Dessau, „was der Wolsetzende nach gehaltener unterrede zugestellet, Jch verspüre, das er zwar den sachen fleißig fürsinnet, und seine fürhabende regeln mit guten gründen wol zu befestigen emsig bemüht ist, Allein er wird schwerlich einen gemeinen beyfall erlangen […]. Jch habe E. F. G. und des H. Obr. Werders erinnerungen gesehen, und bin wegen des worts durchleuchte mit ihm zu reden gekommen“: Zesen wollte „durchleucht“ an die Stelle des sonst gebräuchlichen „erleucht“ setzen, z. B. „durchleuchter“ statt „erleuchter“ Verstand, weil „erleucht“ nur den Geistlichen zukomme. Das hatte auch Fürst Ludwig schon als verwirrend abgelehnt, 36 denn Durchleucht sei als FürstenAnrede in der Übersetzung von „Illustris“ festgelegt. Die Diskussion sei ihm widrig geworden, schreibt Milagius, „Mich deucht, es stecket eine nichtswürdige eitelkeit darunter, und eckelt mir recht für dem Großen Zesen, welches, wie ich gesehen, bey ausfertigung des Helicons abermahls auf die bahne gebracht wird.“ 37 ––––––––– 35

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HM Köthen: VS 545, Bl. 449r–450v; KE, 416f. Zur Relativierung der Rechtschreibung als der Sprache nicht wesentlich vgl. Anm. 64. „Das Siebende NB. betrift das wort durchleuchtet, sol beßer erleuchtet stehen, misgunst oder nachrede zu verhuten, ist auch sonst nicht gebreuchlich.“ Brief Fürst Ludwigs an Werder, 16.4.1649 (Anm. 32), Bl. 451r. In der Vorrede zur dritten Auflage seines Hochdeutschen Helikon von 1649 (Anm. 26) preist Zesen seinen Wittenberger Lehrer: „der Durchleuchte Buchner“. Der FG wird hier nicht gedacht, jedoch Wittenberg „als rechte Erfinderin der hoch-deutschen Dicht- und reimkunst Keiserin der Dichtmeister in unserer helden-sprache“ mit dem Lorbeerkranz gekrönt. A. a. O., Bl. Avvf. Unverändert in der 4. Helikon-Ausgabe von 1656, s. Zesen SW X/1, 10f. Später wird das DG-Mitglied Johann Benedikt Schubart Zesen als „Dem Großen / und Erleuchten [!] Herren“ ein Widmungsgedicht zuschreiben. In: Zesen SW XI, 275–402 (Hochdeutsche Helikonische Hechel), hier 290. HM Köthen: VS 545, Bl. 496r–497v; KE, 425f. Im zweiten Teil des Hoch-deutschen Helikon (³1649; Anm. 26), den er Pz. Wilhelm Ludwig v. Anhalt-Köthen, Sohn des Nährenden, widmete, ließ sich Zesen von dem DG-Mitglied Matthias v. Langen mit einem Gedicht „Dem großen Filip von Zesen“ feiern, obwohl Zesen damals noch nicht in den Adel erhoben war. A. a. O., Bl. Aiiijrff. Unverändert in der 4. Helikon-Ausg. von 1656, Zesen SW X/1, 245f. Vgl. auch die 3. Ausgabe von 1649, 3. Teil, Bl. Avr und die Helikon-Ausgabe von 1656, Zesen SW X/2, 561. Vgl. den Beitrag von Claudius Sittig im vorliegenden Band. Übrigens hatte Milagius noch im August 1646 „herr[n] Cæsius“ in die Zahl der

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In zwei Briefen bezog Zesen Stellung zu den „Erinnerungen“ Fürst Ludwigs und Werders. In dem in Priorau, der elterlichen Heimat, am 12. Mai aufgesetzten Schreiben 38 entschuldigte er sich, daß ein (neuerlicher) Besuch in Köthen mangels Reisemöglichkeit habe aufgeschoben werden müssen. In sechs Wochen gedenke er nach den Niederlanden aufzubrechen, in ein paar Tagen werde er in Wittenberg die Drucklegung des Helikon überwachen und von Buchner Abschied nehmen. Zwei Wochen später, immer noch aus Priorau (25. Mai 1649) nahm er eingehend auf Fürst Ludwigs sprachkritische Einwendungen Bezug, um sie sämtlich zurückzuweisen. Im Falle der Übersetzung von Illustris / Durchleucht blieb er bei seiner Meinung, auch am „Dichtling“ als seiner Übersetzung für den lateinischen „Vers“ hielt er fest. Aus Zeitmangel nahm er von einer mündlichen Unterredung in Köthen Abstand.39 Mit Fürst Ludwigs Antwort vom 26. Mai 1649 endet die überlieferte Korrespondenz zwischen dem Oberhaupt der FG und Zesen. Der Brief läßt keinen Zweifel an der eingetretenen Verstimmung. Mehrere verwirrung in deutscher sprache, wie schon von seiner also vorgehabten genoßenschaft in der übelschreibung [von F. Ludwig verbessert aus rechtschreibung] und andern überflüßigen klügeleyen, die mehr in selbsterfundenen einbildungen und sonstiglichen meinungen, nach fremden sprachen gerichtet, als auf dem rechten grund der natur und eingeführten guten gewonheit bestehen, helt der Nehrende gantz undienlich, und mag der erfinder oder anfänger solcher genoßenschaft sehen, wie sie ins künftige ablauffen; von der fruchtbringenden geselschaft und andern verstendigen gelehrten rechten deutschen werden sie nie gut geheißen werden, und mag er sie unter ihrem nahmen [unter dem Namen der FG] […] nicht gebrauchen, sonsten müste ihme hierunter öffentlich widersprochen werden […]. Wird demnach guter wolmeinung vermanet sich hierunter, nochmaln wol fürzusehen, damit er nicht wegen seiner ausschweiffenden gedancken den Nahmen des wolsetzenden verliere, […] in deßen sol seine gegenantwort andern geselschaftern […] bey gelegenheit zu zeigen wol aufgehoben werden womit ihme glück auf der reise gewuntschet wird und ist sonsten Des Wolsetzenden gantz williger Der Nehrende 40

Der am Ende aufgetretene offene Konflikt wurde nicht mehr geheilt, zumal Fürst Ludwig ein gutes halbes Jahr später, am 7. Januar 1650 starb. Fassen wir die hier zitierten Quellen zusammen, so haben die Prosa-Stilistik und die Poetik Zesens grundsätzlich Anerkennung in den Kreisen der anhaltischen Mitglieder gefunden, obwohl im Falle der letzteren Fürst Ludwig eine Vermischung der streng alternierenden Versmaße, insbesondere des jambischen Alexandriners, mit daktylischen oder anapästischen schon gegenüber Martin Opitz und Augustus Buchner abgelehnt hatte. Bereits Zesens metrisch variabler –––––––––

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redlichen Beförderer der deutschen Sprache eingereiht. Martin Milagius: Der Singende Jesaia / Oder Der Prophete Jesaia / Jn reine deutsche Reime gebracht / Vnd Jn ein hundert und vierzehen Gesänge eingetheilt. Bremen 1646, Bl. )( viijr. HM Köthen: VS 545, Bl. 453rv. Leicht gekürzt in KE, 418f. HM Köthen: VS 545, Bl. 454rv u. 456rv; KE, 421–424. HM Köthen: VS 545, Bl. 455r; KE, 424f.

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Eintrag im Köthener Gesellschaftsbuch zeigt seine abweichende Auffassung. 41 Auch die Lyrik Zesens war anscheinend nicht ausdrücklich Gegenstand von Kritik seitens der FG-„Zentrale“. Was Zesen durchgehend vorgeworfen wurde, waren seine eigenwillig hergeleitete Rechtschreibung, verschiedene als mißlungen verworfene Neologismen, überhaupt die Neigung, willkürlich, oder doch zumindest ungenügend oder unplausibel begründete Neuerungen einführen zu wollen – in Milagius’ Worten übertriebenes „klügeln“ und „ungewöhnliche neuerung“, 42 die die bei seiner Einnahme in die FG gehegten Hoffnungen, er werde sich von der fruchtbringerischen opinio communis „weisen“ lassen, enttäuschten. Tatsächlich hat Zesens Verweigerung eines kritischen Korrekturprozesses die FG an einem wesentlichen Punkt ihres Selbstverständnisses, dem der gegenseitigen Werkkritik, getroffen. 43 Bei allen Unterschieden, die es der FG nicht gestatteten, die institutionelle Matrix einer romanischen Renaissance-Akademie auszubilden – sie war weder stadtstaatlich organisiert wie die italienischen Renaissance-Akademien, noch genoß sie zentralstaatliche Protektion wie die königlichen französischen Staatsakademien des 17. Jahrhunderts, insbesondere die Académie Française –, war es unter Fürst Ludwig als Oberhaupt dennoch gerade ihre Kooperations- und Korrekturpraxis, die die FG bei ihrer vergleichs––––––––– 41

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Vgl. Fürst Ludwigs in Verse gefaßte Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesi oder Reim-Kunst, die nach ausgiebiger Diskussion in der FG 1640 in Köthen im Druck erschien, S. [2] u. 5. In der Vorrede folgte er der Argumentation Buchners, der unter Berufung auf Heinrich Schütz die besondere Eignung des daktylischen Metrums zur Vertonung gepriesen hatte. Er selbst habe es übergangen, stelle es aber jemand anderem frei, „auf wie viel und manche art er auch dieselbe / seinem belieben nach / auffs künstlichste auszuarbeiten gesinnet“ (S. 5). Ähnlich schloß Fürst Ludwig später den Daktylus nur aus dem streng alternierenden Metrum aus: „Bey der Deutschen Poesi aber der Jambischen Heldenart wird nochmals guter wolmeinung erinnert, das keine Dactili darinnen mögen gemischet werden: Jn den Dactilischen und Anapestischen reimen aber mögen sie herummer hüpfen und springen wie sie können und vermögen.“ (Fürst Ludwig an Harsdörffer, 14.10.1643, zit. n. KE, 327). Vgl. dazu Köthen I/4, 8, 14 u. 655f. Vgl. auch den Briefwechsel Buchner – Fürst Ludwig, KE, 161ff. und hier Anm. 48. Zu Zesens Eintrag im Köthener Gesellschaftsbuch s. Anm. 25. Martin Milagius an Fürst Ludwig, Dessau 12.5.1649 (Anm. 37). Vgl. auch Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache / Worin enthalten Gemelter dieser HaubtSprache Uhrankunft / Uhraltertuhm / Reinlichkeit / Eigenschaft / Vermögen / Unvergleichlichkeit / Grundrichtigkeit […] Abgetheilet Jn Fünf Bücher. r(Braunschweig 1663) Tübingen 1967, S. 1201: „Philippus Caesius hat in Trukk kommen lassen viele und mancherley Poetische Tractätlein / auch sonst ein und anderst aus Frantzösischen und Holländischen ins Hochteutsche übergesetzt / woraus wol abzunehmen / daß er der Teutschen Sprache mechtig / und sonderlich in Poesi eine fertige nicht unliebliche Art habe: Alles aber so vorhin entweder Teutsches Herkommens ist / oder Teutsches Verstandes seyn kann / in anderweitiges Unteutsches Teutsch zusetzen; oder auch die Teutschen Worte / der Schreibung und offenem Ansehen nach / in eine andere Gestalt kleiden / oder jhnen das Kleid / worin sie überall kennlich und hergestammet / ohn gründliche Uhrsach ausziehen / ist ein Werk eigener Einbildung / so sich verständigen Beyfals wenig versicheren kan.“ Vgl. das kumulierte Sachregister, Lemma „Gesellschaftliche Kritik / Korrektur von Werken“ in Köthen I/4, 774. Auch die Statuten der DG sahen kritische Kontrolle zumindest durch den Erzschreinhalter (Zesen) vor, s. Anm. 99.

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weise geringen statuarischen Regulierung mit den genannten Akademien verband. Fürst Ludwig spornte die Mitglieder nicht nur an, bestimmte Aufgaben wie Übersetzungen, Durchsichten oder Gutachten zu übernehmen, sondern erwartete auch, daß sie ihre Arbeiten vor der Veröffentlichung einer kritischen Durchsicht in der FG unterzogen. Auch seine eigenen Arbeiten, die Nachdichtungen alttestamentarischer Bücher, die verschiedenen Übersetzungen, seine knappe, in Verse gebrachte Reimkunst, legte er anderen Mitgliedern wie besonders Diederich von dem Werder, aber auch etwa seinem Neffen Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg, Martin Opitz oder Augustus Buchner zur Kritik vor. Bei gemeinsamen, im Namen der FG publizierten Unternehmungen, wie der Sprachlehre oder der Rechtschreibung von Gueintz moderierte er den kritischen Prozeß durch Verteilung und Zirkulation der Entwürfe, durch Heranziehung von Gutachten und Gegengutachten. Ziel war eine möglichst anspruchsvolle und von einem breiten Konsens getragene Lösung. Die „Accademia della Crusca“, in die Fürst Ludwig am 11. Juli 1600 in Florenz aufgenommen worden war, hatte Pate gestanden bei der Gründung der FG 1617 in Weimar mit ihrer Impresenkunst, programmatischen Spracharbeit und dem „spirito di coltivazione“, 44 der wie beim Land- und Gartenbau auch bei der Verwaltung eines Landes und der Bildung seiner Bewohner den rohen Boden einer Gesellschaft bebauen, pflegen, kunstvoll heraufläutern wollte, getreu der uralten Kulturdevise: Natura incipit, ars perficit. In der Crusca wurden zudem geschriebene Texte aller Art in einen Mahltrichter geworfen und die schriftliche Kritik durch zwei Zensoren in der Versammlung vorgetragen und verteidigt. Einen solchen Zensurtrichter, tramoggia, gab es in der FG nicht, wohl aber bezog sich die deutsche Gesellschaft in der Imprese ihres ältesten Mitglieds, des Weimarer Hofmarschalls Caspar von Teutleben, unmittelbar auf die Imprese der florentinischen Akademie: Sie zeigt eine Mahlvorrichtung und einen frullone, einen Beutelkasten, zum Scheiden des Mehls von der Kleie (Crusca), und mit dem Sinnbild der Crusca übernahm die FG deren sprach- und literaturkritische Praxis. 45 Nicht nur Zesen, auch andere FG-Mitglieder haben darauf verzichtet, ihre Arbeiten vor dem Druck der FG-Zentrale zur Begutachtung vorzulegen. Carl Gustav von Hille (Der teutsche Palmbaum, 1647) ist ein prominentes, von Fürst Ludwig dafür getadeltes Beispiel. 46 Der schroffe Ton in Schottelius’ Gutachten –––––––––

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Hierzu Klaus Conermann: Die Fruchtbringende Gesellschaft und das Fürstentum Anhalt. In: Mitteilungen des Vereins f. Anhaltische Landeskunde 15 (2006) (im Druck); ders.: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie? Über das Verhältnis der Fruchtbringenden Gesellschaft zu den italienischen Akademien. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Vorträge und Berichte. Hg. v. Martin Bircher u. Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978, S. 103–130, hier S. 107f. u. 112. S. Conermann: Erzschrein I (Anm. 8), Bl. Ar. Vgl. Conermann: Akademie (Anm. 44), S. 106f. Zesen entwarf übrigens mit der „Hechel“, die zum Auskämmen des Flachses diente, ein eigenes symbolisches Instrument zur Sprach- und Literaturkritik, das er mit der „Schleifmühle“ oder dem Hobel verglich. Vgl. Zesen SW XI, 280. Vgl. Hilles Briefwechsel mit Fürst Ludwig im Köthener Erzschrein. HM Köthen: VS 545, Bl. 1r–48v; Auswahl in KE, 42f. u. 191ff. Vgl. auch etwa den Brief Fürst Ludwigs an Harsdörffer, 22.1.1647. HM Köthen: VS 545, Bl. 359rv; KE, 379f.

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von 1640 über Gueintz’ Sprachlehre, 47 der er im selben Jahr 1641 mit seiner Sprachkunst antwortete, mäßigte sich nach seiner Aufnahme in die FG am 25. September 1642. Fortan suchte auch Schottelius stärker den Ausgleich. Andere Meinungen wurden in Köthen im Laufe der Diskussionen toleriert, wie im Falle Buchners und Zesens in der Daktylus-Frage, 48 Harsdörffers und Schottelius’ in grundlegenden Fragen der Sprachlehre. Besonders Harsdörffer hielt die Formen der Verständigung aufrecht und räumte der FG eine organisierende Funktion in der Sprach- und Literaturdebatte ein, ja wollte sich im Hinblick auf sein Specimen philologiae Germanicae 49 Fürst Ludwigs „richterlichem Ausspruch“ willig unterwerffen. „Des Richterlichen ausspruchs über solches wercklein, wird sich der Nehrende nicht unterfangen können“, beschied Ludwig am 5. Juli 1646, weil die Gedanken und Mundarten der Menschen, auch der Gelehrten, verschieden seien. Er werde daher den Verlauf der Debatte „ferner erwarten“. 50 Auch anderen gegenüber räumte Fürst Ludwig ein, daß der Diskussionsprozeß nie zu einem definiten Schluß kommen werde: „Man wird allzeit in der sprache zu anleiten und zu verleyden haben, doch mus es mit guter bescheidenheit geschehen“. 51 Immer wieder und bis heute ist der FG vorgehalten worden, sie habe nur wenige und relativ spät Vertreter der bürgerlichen Gelehrsamkeit aufgenommen, während das dem Adels- und Fürstenstand entstammende Gros der Mitglieder „weder sprachwissenschaftlich noch literarisch“ hervorgetreten sei. 52 Das ist völlig richtig, verfehlt aber gerade das Besondere der FG, die weder eine –––––––––

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Zu Gueintz’ Sprachlehre s. Anm. 9. Justus Georg Schottelius’ Gutachten dazu in HM Köthen: VS 545, Bl. 140r–145v; veröffentlicht in KE, 246–253. Vgl. Anm. 41 u. KE, 217ff. Georgi Philippi Harsdoreferi [sic] Specimen philologiae Germanicae, continens disquisitiones XII: De linguae nostrae vernaculae historia, methodo, et dignitate. Nürnberg: Endter 1646. HM Köthen: VS 545, Bl. 347r–348v (Harsdörffer an Fürst Ludwig, 20.6.1646), hier 347r, u. ebd., 349rv (Fürst Ludwig an Harsdörffer, 5.7.1646), hier 349r; KE, 356ff. Vgl. auch das aufschlußreiche Schreiben Diederichs v. dem Werder an Fürst Ludwig vom 20.4.1645, in dem er angesichts widersprüchlicher „gedanken und meinungen“ einen Vorschlag zur Steuerung der Sprachdebatte unterbreitete. HM Köthen: VS 544, Bl. 474r–476v; KE, 173–176. Fürst Ludwig an den Fruchtbringer Winand v. Polhelm, 17.3.1645. HM Köthen: VS 545, Bl. 463rv, hier 463r; KE, 49. Georg Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Die Fruchtbringer – eine Teutschhertzige Gesellschaft. Hg. v. Klaus Manger. Heidelberg 2001, S. 5–37, hier S. 8. Vgl. auch Detlef Döring: Die mitteldeutschen gelehrten Kollegien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als Vorläufer und Vorbilder der wissenschaftlichen Akademien. In: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Hg. v. Holger Zaunstöck u. Markus Meumann. Tübingen 2003, S. 13–42, hier S. 13f., Anm. 3. In seiner schroffen Kritik sind Döring der Charakter der FG als einer Renaissance-Akademie und die Gemeinsamkeiten in der wissenschaftsethischen Begründung, welche die FG in der Tat an die späteren Akademiegründungen mit und nach Leibniz rücken lassen, verborgen geblieben. Auch lohnt sich ein Blick auf deren fruchtlos gebliebene sprachwissenschaftliche Seitentriebe. Vgl. Harro Stammerjohann: Das Wörterbuch der Crusca und die Lexikographie des Deutschen. In: Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 11 (1984), S. 28–44, hier S. 33–37.

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Gelehrten- noch eine reine „Sprachgesellschaft“ war. Ihre Spracharbeit ist eingebettet in ein weitergehendes Tugend- oder Zivilisierungs- und Kulturprogramm. Die Reihen der FG bevölkerten die christlich-humanistisch akkulturierten jüngeren höfisch-administrativ-militärischen Führungsschichten überwiegend reformierter oder lutherischer Konfession, die sich die neuen Leitvorstellungen höfisch-höflicher Gesittung zu eigen gemacht hatten. Sie hatten Bildungs- und Kavaliersreisen einschließlich Universitätsaufenthalten hinter sich, waren, auch ohne selbst schriftstellerisch in Erscheinung zu treten, den Künsten und Wissenschaften gegenüber aufgeschlossen und hatten im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges genügend Erfahrungen mit politisch-militärischen Konflikten, sozialen Notständen und erbitterten dogmatischen Kontroversen, um auch dem harten Unglück „mit Manier“ zu begegnen 53 und Entscheidungen mit Augenmaß fällen zu helfen. Freilich: keine Sprach- oder Literaturgeschichte verzeichnet all die Alvenslebens, Börstels, Knochs, Kospoths, Krosigks, die Bodenhausens, Dieskaus, Geuders, Ortenburgs, Pfaus, Trothas usw. Sie sind in der deutschen Kulturgeschichte unbeschriebene Blätter. Und doch waren sie häufig Förderer, Mäzene oder Büchersammler, versuchten sich an Übersetzungen, Gelegenheitsdichtungen, geistlichen Liedern oder kleinen Satiren, wandten Zeit und Geld an wissenschaftliche Studien und künstlerische Interessen. Kurz: es waren überwiegend gebildete, in vielerlei Amtsgeschäften erfahrene und erprobte Dilettanten. Das erste und sich im Verlaufe des Krieges immer eindrucksvoller manifestierende Gesellschaftsziel der FG war eine Kultur der Pazifizierung und Zivilisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. 54 Das fing im Kleinen, mit der Verständigung innerhalb der FG an: In seinem Brief an Harsdörffer vom 3. Mai 1642, der einige Kritikpunkte zur Prosodie in dessen Versen (im 2. Teil der Frauenzimmer-Gesprächspiele) formuliert hatte, bittet Fürst Ludwig den Adressaten, „was für dismal erinnert, nicht anders als geselschaft meßig“ aufzunehmen. 55 „Gesellschaftsmäßig“ bedeutet in Anlehnung an den Kurtzen Bericht: kein FG-Mitglied habe „dem andern ein ergetzlich wort für übel auffzunehmen“. 56 Dasselbe begegnet bei Harsdörffer, der einen eigenen Vorschlag als „wolgemeinte[s] beginnen, nach Geselschaftmessiger Veranlaßung, nicht übel aufgenommen“ sehen möchte. 57 ––––––––– 53

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Diederich v. dem Werder an Johann David Wies, Bernburg 21.2.1639. Landesbibliothek Kassel: 4° Ms. Hist. Litt. 15, Bl. 237rv. Es verbirgt sich im Kurtzen Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft Zweck und Vorhaben von 1622 in der Formulierung, die „erhaltung guten vertrawens / und erbawung wolanständiger Sitten“ sei Zweck der Gesellschaft. S. Köthen II/1, [7]–[10], hier [8]. HM Köthen: VS 545, Bl. 274rv, hier 274v; KE, 311f. Köthen II/1, [10]. Harsdörffer an Fürst Ludwig, 24.6.1643, HM Köthen: VS 545, Bl. 283r–284v, hier 283r; KE, 316–318. Vgl. den undatierten, aber ins Jahr 1651 fallenden Brief Fürst Christians II. v. Anhalt-Bernburg im Landeshauptarchiv Dessau: Abt. Bernburg C 17, Nr. 67, Bl. 18r, wonach „der rechte zweck der fruchtbringenden gesellschafft eigentlich sein soll, die einigkeit zu befördern, allen streit, widerwillen, zanck v. mißstände zu vermeiden v. aufzuheben, gutes teutsches vertrauen vnder den mitgliedern zu stifften v. anzurichten, vnd

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So wurde der offene, kritische Dialog geübt, und deshalb fanden nur ausnahmsweise Theologen Zugang zur FG. Die Tollwut („rabies“) der Zank- und Streittheologen wollte Fürst Ludwig unbedingt aus der FG ausgeschlossen wissen. Kennzeichnend für die politici in der FG ist ein duldsames, irenisch gesonnenes Christentum, 58 welches spitzfindig-subtiles Dogmatisieren meiden und zumindest von den Kanzeln fernhalten wollte. Der politischen Kultur des Ausgleichs entsprach ein praktischer Begriff von Vernunft und ein Ideal von Conversatio als Erkenntnismodus, der nicht auf stringenten Beweisen, nicht auf einer umfassend-systematischen Topik und Dialektik von Argumenten beruhte, sondern auf dem situativ gebundenen gemeinsamen Finden praxistauglicher Wahrheiten. 59 Daß auch Zesen Verständigung und Kooperation der Sprachverständigen reklamierte, 60 daß er das literarische Gesprächsspiel gern zur zwanglosen Inszenierung seiner sprachlichen und poetischen Konzepte wählte – in der Spraach-übung, dem Rosen-mând, der Helikonischen Hechel usw. – zeigt, daß er kein Pedant, kein Schulfuchs war. Auffällig aber bleibt, wie stark die Gesprächspartner bei Zesen in ihrer sprachperformativen Rolle hinter Zesen„Deutschlieb“, „Mark-“ und „Mahrhold“ zurückstehen, wie überhaupt die ausgeprägte und unangefochtene persönliche Spitzenstellung Zesens in der DG deutlich über die sich in die Gesellschaft zurücknehmende Rolle Fürst Ludwigs in der FG hinausgeht. 61 Die höfische Sphäre mit der bürgerlich-gelehrten vermittelt zu haben, gilt zurecht als Verdienst der FG. Daß sich beide Milieus, Lebenswelten und Wissenskulturen aber reiben konnten, zeigt die Sprach- und Literaturdebatte der 1640er Jahre. –––––––––

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was verdrießlich, abzuthun“. Zur Rolle der Vertrauensbildung im Prozeß der beginnenden säkularen Nationsbildung vgl. Georg Schmidt: Teutsche Kriege. Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt. München 2000, S. 33–61, hier S. 43f.; ders.: Reich und Nation. Krieg und Nationsbildung in Deutschland. In: Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648. Hg. v. Horst Lademacher u. Simon Groenveld. Münster u. a. 1998, S. 57–75, hier S. 62f. u. 68. Vgl. Fürst Ludwigs vielzitierten Brief an Fürst Christian II. vom 3.11.1647. HM Köthen: VS 544, Bl. 168rv; KE, 90f.; ferner Köthen I/3, 469ff. u. 487ff. Vgl. Dieter Merzbacher: Conversatio und Editio. Textkorrektur in der Fruchtbringenden Gesellschaft und editorische Wiedergabe aufgezeigt an zwei Texten Christoph von Dohnas (1582–1637). In: Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22. März 1990. Hg. v. Martin Stern. Tübingen 1991, S. 35–51. Eine durch dogmatische Differenzen gefährdete Conversatio behandelt ders.: Der Abendmahlstreit zwischen dem Vielgekörnten und dem Spielenden, geschlichtet vom Unveränderlichen. Georg Philipp Harsdörffers Lehrgedicht Vom H. Abendmahl Christi in einer Anhalter Akte aus dem Jahre 1651. In: Daphnis 22 (1993), S. 347–392. Vgl. etwa Zesens Vorrede an den Leser in seiner Hochdeutschen Helikonischen Hechel in Zesen SW XI, 281f. Vgl. Dissel (Anm. 11), S. 26f.; Klaus Conermann: „Einnehmungs-Brieff“ Caspar Stielers entdeckt – oder über den merkwürdigen Umgang mit Aufnahmeurkunden und Vollmachten in der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 33 (2006), S. 97–117.

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II. Die Sprachdebatte der 1640er Jahre „Cæsius hat viel sachen alzu subtil und spitzig gesetzet, die sich so nicht wollen einfüren lassen.“ 62 Übertriebene Klügelei und unerhörte Neuerung war die Sache der gebildeten Laien, der Sprachliebhaber und -geflissenen in der FG nicht. Ungebrochen blieb das Vertrauen in den Diskurs: Im dialogischen Abwägen der Argumente, „durch mancherley unterschiedenes vernünftiges erwegen wird endlich die warheit desto klarer erhellen“. 63 Um das gespannte Verhältnis Zesens zur FG zu verstehen, wollen wir kurz einen Blick auf die Sprach- und Literaturdebatte der 1640er Jahre werfen. 64 ––––––––– 62

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Aus einer undatierten Stellungnahme Fürst Ludwigs oder der anhaltischen FG-Mitglieder zu einem „Bedenken“ Harsdörffers, vermutlich von 1643. HM Köthen: VS 545, Bl. 291r– 292v, hier 291r. Fürst Ludwig an Harsdörffer, 14.10.1643. HM Köthen: VS 545, Bl. 293r; KE, 327. Seit 1638 zirkulierte in der FG der Entwurf von Christian Gueintz’ Deutscher Sprachlehre, die im Frühjahr 1641 in Köthen im Druck erschien (s. Anm. 9). Sie wurde Mitgliedern und externen Fachleuten wie Buchner und Schottelius vorgelegt, der sie in einem handschriftlichen Gutachten wohl vom Mai 1640 kritisch, z. T. in unverhohlener Polemik beurteilte (s. Anm. 47). Noch im gleichen Jahr antwortete er der Sprachlehre mit seiner Teutschen Sprachkunst (Justi Georgii Schottelii Einbeccensis Teutsche Sprachkunst / Darinn die Allerwortreichste / Prächtigste / reinlichste / vollkommene / Uhralte Hauptsprache der Teutschen auß ihren Gründen erhoben / dero Eigenschafften und Kunststücke völliglich entdeckt / und also in eine richtige Form der Kunst zum ersten mahle gebracht worden. Abgetheilet in Drey Bücher. Braunschweig 1641), die er schon bald überarbeitete und 1651 in vermehrter 2. Auflage herausgab (Justi-Georgii Schottelii J.V.D. Teutsche SprachKunst / Vielfältig vermehret und verbessert / darin von allen Eigenschaften der so wortreichen und prächtigen Teutschen Haubtsprache ausführlich und gründlich gehandelt wird. Zum anderen mahle heraus gegeben im Jahr 1651. Braunschweig 1651). Von diesem Diskussionsprozeß zeugen u. a. die verschiedenen Überlieferungen von Fürst Ludwigs Goulart-Übersetzung Der weise Alte von 1643, s. Köthen I/3, 387ff., und das sog. Druckfehlerverzeichnis in der GuevaraÜbersetzung Fürst Christians II. v. Anhalt-Bernburg: Die Vnterweisung Eines Christlichen Fürsten von 1639, vgl. Köthen I/4, 244f. Auch nach 1641 wurde die Sprach- und LiteraturDebatte fortgesetzt, viele Wechselschriften kursierten, Buchner, Harsdörffer, Schottelius, Fürst Ludwig, Werder, Rist waren dabei, auch unbekanntere FG-Mitglieder wie Milagius, Mechovius, Hans v. Dieskau oder Externe wie Friedrich Wendelinus, Balthasar Walther, Jacob Martini, Georg Bose. Wiederum wurde Gueintz beauftragt, eine Deutsche Rechtschreibung aufzusetzen, die seit 1643 kursierte und 1645 in Halle im Druck erschien (Christian Gueintz: Die Deutsche Rechtschreibung Auf sonderbares gut befinden Durch den Ordnenden verfasset / Von der Fruchtbringenden Geselschaft übersehen / und zur nachricht an den tag gegeben. Halle a. d. S. 1645. Eine Handschrift mit zahllosen Korrektureinträgen hat sich im HM Köthen erhalten: VS 670). Um den in Zesens orthographischen Eigenwilligkeiten angelegten Konfliktstoff zu entschärfen, hatte Harsdörffer ihm schon in seinem Brief vom 23.12.1644 angeraten, in die Satzung der DG einen Passus aufzunehmen, daß „die Rechtschreibung kein wesentliches Stück der Sprache sey“ (Anm. 11), Bl. 372v. Das geschah (auch wenn die DG-Satzung erst 1669 veröffentlicht wurde): „Hierbei müssen wir auch nohtwendig erinnern / daß kein Mitglied unserer Genossenschaft gehalten ist / sich an eine gewisse dieses oder jenes Schreibahrt […] zu binden; sondern ein jedes seine volkommene freiheit habe / nach seiner eigenen wilkühr damit zu verfahren; jedoch also / daß es mit der rechtmässigen vernunft / oder zum wenigsten mit dem erleidlichsten üblichem gebrauche / ob er schon zu weilen jener schnuhrstraks zugegen leuft / übereinkomme.“ (Zesen SW XII, 205). Zesen

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Bevor nicht die große Zahl handschriftlicher Dokumente in Verbindung mit den gedruckten Quellen gesichtet, kritisch bearbeitet und ediert ist, kann ein wirklich fundiertes Urteil auch zu Zesens Position(en) in dieser Debatte nicht gefällt werden. Vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses und des historischen Profils der FG wird man in der Sprachdebatte aber erneut die mal fruchtbare, mal konfligierende Reibung zwischen einer eher pragmatisch konsensorientierten Sprachkultur und einer auf die tiefsten Wurzelgründe der Muttersprache abzielenden, spekulativen Sprachreflexion stoßen. Diese Reibung läßt sich im uralten zeichentheoretischen Dualismus zwischen der ontologisierenden physeiund der konventionalen thesei-Auffassung verdichtet ablesen. Drückt Sprache das Wesen der Dinge unmittelbar und objektiv aus? Sind ihr morphologisch ureigene ewige Gesetze eingeschrieben, die sie auszeichnen und die aus historischer Korrumpierung wieder herauszuarbeiten und in Geltung zu setzen sind? Oder ist Sprache etwas Gesetztes, ein durch Konvention etabliertes, sich durch Gewohnheit festigendes, im Gebrauch dia- und synchronisch veränderndes „Band“ der Gesellschaft? Heißt „Reinigung“ derȱ deutschen Sprache, zu ihren unverfälschten Ursprüngen zurückzukehren 65 oder im Gegenteil den gewöhnlichen Gebrauch auf Regeln zu ziehen und damit von Inkongruenzen zu befreien, indem etwa festgelegt wird, wie Vokaldehnung zu markieren, wann z oder tz zu schreiben ist oder daß v und w nur die Mitlaute, das u nur den Selbstlaut bezeichnen kann und folglich nicht mehr „unuergleichlich“, „Frewde“ oder „vnd“ zu schreiben ist? 66 Ist also die aus den natürlichen Sprachgründen durch nachforschende Vernunft (zurück)gewonnene „Grundrichtigkeit“ der Sprache der Weg zur Sprachnormierung, -standardisierung und -kodifizierung oder ist der gegenwärtige Usus, wie er in der anspruchsvollsten, „reinsten“ hochdeutschen Mundart, dem Meißnischen, 67 vorliege, der Maßstab der Sprachregulierung, um zu einem alltagstauglichen schriftsprachlichen Standard zu gelangen? Gueintz und Fürst Ludwig räumten in strittigen Fällen dem Sprachgebrauch die Entscheidung ein, Harsdörffer, Schottelius und auch Zesen 68 vertraten motivierende oder ontologisierende Natursprachkonzeptionen. Nur wenige Zitate ––––––––– 65

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führte das Argument auch gegen Fürst Ludwigs kritische Bedenken in seinem Brief vom 9.5.1649 ins Feld. S. oben u. Anm. 35. Sein etymologisches Prinzip in der Rechtschreibung beschreibt Zesen eingehend in einem Brief an Valentin Kuhle, undat. mitgeteilt in Andreas Daniel Habichthorst: Wohlgegründete Bedenkschrift über die Zesische Sonderbahre Ahrt Hoch-deutsch zu Schreiben und zu Reden / den Sprachliebenden zum diensamen Nachrichte zusammen und zu tage getragen. Hamburg 1678, S. 40–42 u. 45–54, hier v. a. S. 40f. Vgl. etwa Köthen I/3, 397ff. Das „Meißnische“ war die obersächsische Umgangssprache, die sich relativ stark nach der ostmitteldeutschen Tendenz der nhd. Schriftsprache richtete. Vgl. Peter v. Polenz: Geschichte der deutschen Sprache. Berlin u. New York 81972, S. 76ff.; Dieter Cherubim u. Ariane Walsdorf: Sprachkritik als Aufklärung. Die Göttinger Deutsche Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung der SUB Göttingen, Göttingen ²2005, S. 55ff. Vgl. Herbert Blume: Die Morphologie von Zesens Wortneubildungen. Diss. U. Gießen 1967 (Masch.), S. 189ff.

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mögen diese Scheidelinie in der Sprachnorm-Debatte zwischen den „Anomalisten“ und „Analogisten“ 69 beleuchten. Hören wir zunächst Gueintz: Es ist nun von Anfang der Welt biß anhero mitt gewißen gründen erhärtet, daß die Sprachen, zumahl die, so von den Müttern vnndt durch tägliche vbung gefaßet worden, auß den Büchern anfangs nicht erlernet; Sondern daß die gewonheit sie gelehret, getrieben, erhalten. […] Alles nach einer Regell machen, ist alles eines haben wollen, das doch auch in der Seel der Menschen nicht ist; Alles so wollen wie man es sich einbildet, ist eine Einbildung; Sprachen können wir auch nicht machen, Sie sindt schon; Aber wie man andere[,] so sie nicht können, lehren wolle, darümb sind Regeln erdacht. […] Der gebrauch aber doch muß den anschlag geben, vnndt nicht die Regel dem gebrauch, wieder aller Sprachen art, vorgezogen. 70

Die Regeln sind „hernacher zuzusetzen, alß eine fernere erklerung“ der Praxis. 71 In seiner Deutschen Rechtschreibung von 1645 heißt es: Allgemein sei dem Menschen von der Natur nur die Sprachfähigkeit eigen, nicht aber eine besondere Sprache; die Erstsprache werde jeweils erst „durch gewonheit und übung erlernet“. Die Gewohnheit muß also auch „von denen / so derselbigen gewisse gründe auf die Vernunft setzen / geprüfet / und beobachtet werden“. Man könne verdienstvoll in alten Sprachdenkmälern forschen, etwa im Sachsenrecht, aber deren Sprache ist bis zur Unverständlichkeit veraltet. Dort kann nicht die Richtschnur zur Regulierung der Sprache für uns „ietzige zierliche hochDeutsche“ liegen, sondern auf der Höhe der Gegenwartssprache. 72 Schottelius hielt die Notwendigkeit eines gründlichen Studiums der Sprache dagegen: Richteten wir uns nur nach der vielstimmigen Gewohnheit, würden wir nur ein „ungewisses zerrüttetes Wesen“ in unserer Sprache entdecken, „die doch auff den gewissesten Gründen festiglich beruhet / und in die Würtzelen der Natur gepflantzt ist“. Es gelte alles, was zur Sprache gehört, „nach Gründen und richtigen Hauptregulen“ zu erfassen, um „dem blinden Gebrauche augen zu geben“. 73 Das Sprachkonzept des Suchenden wird fundiert durch die Überzeugung: „die Teutsche Sprache ruhet fest und unbeweglich in ihren, von Gott eingepflanzten haubtgründen“ (den Stammwörtern). 74 Spürt man diesen nach, so ––––––––– 69

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Vgl. Werner Besch: Sprachliche Änderungen in Lutherbibel-Drucken des 16.– 18. Jahrhunderts. In: W. B.: Deutsche Sprache im Wandel. Kleine Schriften zur Sprachgeschichte. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 179–200, hier S. 185; Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin u. New York 1994, S. 368ff.; Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu G. P. Harsdörffer, J. G. Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. New York 2000, S. 32ff., 108ff., 119; Takada (Anm. 12), S. 22ff. Vgl. allg. auch Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München 2003, S. 17f., 25ff. Gueintz in der Rechtfertigung seiner Sprachlehre auf das kritische Gutachten Schottelius’ vom Mai 1640 hin. HM Köthen: VS 545, Bl. 146r–150v, hier 146rf.; KE, 253–257 (falsch datiert auf den 28.3.1640). Vgl. auch die Vorrede „An den Leser“ in Gueintz: Sprachlehre (Anm. 9). Gueintz’ Rechtfertigung (Anm. 70), Bl. 150r; KE, 257. Gueintz: Rechtschreibung 1645 (Anm. 64), S. 1ff. Schottelius: Sprachkunst 1641 (Anm. 64), S. 4, 12 u. 13. Schottelius in seinem Gutachten über Gueintz’ Sprachlehre vom Mai 1640 (Anm. 47), Bl. 140v; KE, 246.

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wird „eine gründliche Gewißheit und kunstmessige Grundrichtigkeit“ in der Sprachregulierung zu erhalten sein. 75 Zesen läßt sich in dieser Kontroverse kaum bündig zuordnen; ausgeprägte Sprachmystik und kabbalistische Argumentationstradition 76 verbinden sich mit der Legitimation präskriptiver Gewohnheit und zugleich der Überzeugung, „auffrecht- und naturmäßige gründe“ 77 in der Sprache finden und zur Richtschnur der Regulierung machen zu können: „alles / was ich redete oder schrieb“, sollte „der Kunst / und angebohrnen Eigenschaft unserer Hochdeutschen sprache gemäß sein […] und nichts wider einigen Lehrsatz“ verstoßen. 78 Ausführlich diskutierte Zesen in seinem Rosen-mând (1653) die strittige Frage, „Seind aber die worte den dingen nicht vielmehr nach belieben oder eigner lust / als durch kunst oder natürlichen trieb gegeben?“ Die Einen sagen, daß „die benahmung der dinge wilkührlich und von ohngefähr entsprossen [sei] / und auf der zustimmung der menschen und dem gebrauche beruhe“. Andere halten dafür, daß die Stammwörter unveränderlich und naturgegründet mit dem Wesen der Dinge „übereinkähmen“. „Ich für mein teil laße beiderlei meinung / doch auf gewissen fal / zu.“ Auf die adamitische Ursprache treffe die zweite Meinung unzweifelhaft zu. Daß danach und heute „einer oder der andere aus kurtzweile ein ding so und so nennet / ist auch wahr“. Jedoch fließen auch neue Bezeichnungen „aus dem grunde der natur und eigenschaft des benennten dinges selbst“. 79 Die Worte der nachbabylonischen und heutigen Sprachen sind weder Natur, noch Kunst, sie sind „zwar aus der natur / aber durch kunst-reiche vernunft und vernunft-reiche kunst / vermittelst des menschlichen fleisses“ geflossen; sie sind daher „so zu reden / kunst-natürlich“. An dieser Dialektik von Natur und Kunst / Vernunft wird sich noch über 100 Jahre später die Aufklärungsdebatte über den Ursprung der Sprache mit Herders preisgekrönter Abhandlung von 1772 abarbeiten. Hier dürfte manche Entdeckung bei Zesen zu machen sein, der die Dissoziationserfahrungen der Epoche im Religiösen wie Sprachlichen durch den Rückgang auf unverfälschte Ursprünge zu bändigen –––––––––

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Schottelius: Sprachkunst ²1651 (Anm. 64), Bl. Bir. Vgl. etwa Zesens Rosen-mând (Zesen SW XI, 79–273, hier 114ff); ferner Gardt (Anm. 69), S. 58ff. u. 114f.; Josef Keller: Die Lyrik Philipp von Zesens. Praxis und Theorie. Bern u. a. 1983, S. 121ff. u. 136ff.; Fonsén (Anm. 6), S. 38; Rosemarie Zeller: Natursprache, Kabbala und die Friedensbemühungen in der Frühen Neuzeit. In: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden: Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hg. v. Klaus Garber u. a. München 2001, S. 907–922, hier S. 914f.; dies.: Adamitische Sprache, Natursprache und Kabbala. Überlegungen zu Sprachtheorie und Poesie im 17. Jahrhundert. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 133–154. Auffälligerweise findet Zesen keine Beachtung bei Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente des frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, und Richard Nate: Natursprachenmodelle des 17. Jahrhunderts. Münster 1993. Zesen SW XI, 1–77 (Hooch-Deutsche Spraach-übung), hier 25. Aus einem Brief Zesens an Malachias Siebenhaar, undatiert mitgeteilt in Habichthorst (Anm. 65), S. 34; vgl. Kaczerowsky (Anm. 6), S. 138. Zesen SW XI, 107.

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hoffte. 80 Wie alle menschlichen Erfindungen, so liegen für Zesen auch die Worte „im reichen und unerschöpflichen schatzkasten der Natur alwege verborgen und versenket“, aus welchem sie – im Bilde der Alchemie („Scheidekunst“, „Goldmachen“) – gehoben „und durch menschliche kunst-geflissenheit und vernunft“ vollendet werden. 81 Harsdörffer, der Schottelius’ Ansatz übernahm und popularisierte, 82 berief sich auch auf Zesen, als er am 31. Januar 1646 an Gueintz schrieb: „Es ist die frage: Wie man das Deutsche Sprachwesen, in eine kunstrichtige, gleichgründige, und allen eigenschaften gemäße verfaßung setzen könne“. Weder Vorurteil, noch Gewohnheit, noch Ansehen der Person geben hier den Ausschlag, sondern die „gründliche warheit“. 83 Noch einmal Fürst Ludwigs Antwort darauf: Neue Regeln in der deutschen sprache zumachen, als von dem Suchenden, in seiner sprachkunst theils geschehen wollen, stehet nicht in eigener erfindung und meinung, sondern es mus entweder vom alten herkommen oder durch die erfarung und gewonheit beyfal haben, dan eines oder zweyer Menschen einbildung es nicht thun können. […] Zaesium der noch wunderlichere neuerungen im schreiben für eine richtigkeit[,] im Niederlande und theils von Frantzosen gelernet, ausgiebet und drucken leßet, deswegen, und andere an zu ziehen, dienet auch nicht zur sache […] Es werden auch viel neue wörter gemacht, die nicht die besten seind, und wol eine maße drinnen zu halten were, als kunstrichtig, gleichgründig, hertztraurig und dergleichen, da es an richtig, gleiches grundes, und traurig genug were […]ȱ Rationem nostrae lingvae müssen wir ex hodierna nostra consuetudine et pronuntiationeȱnemen, und daraus die regeln gegenwertig zu machen, das haben Varroȱund andereȱGrammaticiȱauch gethan. 84

Die Anhaltiner glaubten oder hatten tatsächlich das Glück, in einer Region Deutschlands zu leben, in der das Lutherdeutsch zuhause gewesen war und in der ein anerkannt gutes, „meißnisches“ Hochdeutsch gesprochen wurde, wo man also glaubte, sich auf den Maßstab des eigenen Sprachgebrauchs verlassen zu können. 85 Deshalb konnte Fürst Ludwig gegen Zesens aus der 1. Person Indi–––––––––

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Vgl. Martin Disselkamp: Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund. In: Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Andreas Solbach. Tübingen 2005, S. 77–93, hier S. 82f. Das verbindet Zesen insofern mit den reformierten Anhaltinern, als diese sich in Dogmatik und Kirchengebräuchen strikt auf die „Erste Christliche Kirche“ bezogen. Vgl. etwa LHA Dessau: Abt. Dessau A 19 Nr. 10, Bl. 138r(ff.). Zesen SW XI, 111f. (Rosen-mând). Etwa in der „Schutzschrift / für Die Teütsche Spracharbeit / und Derselben Beflissene“ im ersten Teil seiner Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. v. Irmgard Böttcher. r(1644) Tübingen 1968, S. 339–396, oder im „Anhang von der Teutschen Sprache: durch ein Mitglied Der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft“ im zweiten Teil seines Poetischen Trichters. r(Nürnberg 1648) Hildesheim u. a. 1971. HM Köthen: VS 545, Bl. 338rv (Köthener Abschrift), hier 338v; KE, 349–352. HM Köthen: VS 545, Bl. 340r–341v; eigenh. Entwurf von Fürst Ludwig, ebd., Bl. 339rv; KE, 352–354. Gueintz: Rechtschreibung 1645 (Anm. 64), S. 25: „Derhalben es auch die jenigen / so anderer mundarten gewohnet / und derer sich gebrauchen / nicht übel vermercken werden / das diese rechtschreibung meistentheils nach dieser mundart in dem Obersächsischen /

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kativ Präsens „ich riegele“ normativ abgeleiteten Infinitivform „riegelen“ knapp ex usu statuieren: „riegelen, schreibet oder ausspricht man nicht wol, sondern riegeln, verriegeln derwegen es [das e vor l] auszulassen“. 86 Im Verlauf der Diskussion gab es Wandlungen und Annäherungen der Parteien, 87 die Geltungskraft der Argumente wechselte, wie bei Zesen die angestrebte Markierung der Vokaldehnung (erst nach nd. Vorbild durch Vokaldopplung, dann Dehnungs-h, dann Zirkumflex). 88 Manches ist überhaupt widersprüchlich. Gueintz und Buchner, die Lehrer Zesens, waren eher pragmatisch gesinnt und an der Gewohnheit orientiert, obwohl sie Gelehrte von Profession waren, und obwohl Gueintz seine Sprachlehre, unbeanstandet von Fürst Ludwig, in ein so dichotomisches Schema preßte, daß der durch die Stemmaform des Wissens erhoffte Ordnungsgewinn sich ins Gegenteil dozierender Pedanterie verkehrte. Das wiederum kritisierten Buchner und Schottelius mit didaktisch-praktischen Gründen. 89 Zesen wiederum stand mit seiner sprach–––––––––

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Meisnischen / Magdebürgischen und Anhaltischen Ländern / wie sie an Chur- und Fürstlichen Höfen / auch in etzlichen fürnemen / und wegen jhrer lieblichen ausrede berühmeten städten gebräuchlich / eingerichtet worden.“ Auch Zesen folgte eigenem Bekunden nach „gantz und gar der Meisnischen Mundahrt / als der allerbesten / zierlichsten / lieblichsten / und reinesten unter allen Deutschen Mundahrten.“ Zu dieser gehöre auch die Aussprache, „welche an etlichen örtern in Anhalt und Obersachsen gebreuchlich / als sonderlich in Köthen / welches wohl würdig zu märken / zu Wettien / Lebechien / wie auch zu Halle / und daherum in demselben gantzen Striche; da die Hochdeutsche sprache / sonderlich unter den Fürnehmen […] wohl zierlicher / lieblicher / und reiner geredet wird / als zuweilen in Meissen selbsten.“ Aus einem Brief Zesens an Malachias Siebenhaar, undatiert mitgeteilt in Habichthorst (Anm. 65), S. 34f. Schon in seiner Hooch-Deutschen Spraach-übung hatte Zesen die Fürstliche Offizin zu Köthen wegen ihrer verbesserten Orthographie gerühmt und eingeräumt, daß „gewisse Regeln“ der Rechtschreibung nicht vorgegeben seien, sondern die richtige Schreibung aus „dem Gebrauche und gewohnheit“ erlernt werden müsse. Zesen SW XI, 53, vgl. 34 u. 39. Fürst Ludwig an Werder, 16.4.1649 (Anm. 32), Bl. 451r. Vgl. Zesen an Fürst Ludwig, 25.5.1649 (Anm. 39), Bl. 454r. Vgl. etwa Fürst Ludwigs Schreiben an Gueintz vom 9.2.1644 (HM Köthen: VS 545, Bl. 172r– 174v; dazu eigenhändiges Konzept Fürst Ludwigs Bl. 175r–176v; KE, 264–267, datiert 14.2.), in welchem er die Ergebnisse von Beratungen im Kreise interessierter und verständiger FGMitglieder über die Rechtschreibung mitteilt. Deutliche Annäherungen an Schottelius’ Position lassen Gueintz erstaunt vermerken, daß das neue Gutachten allerdings „für neu gehalten“ wird. Er werde es berücksichtigen, auf daß man alsbald zu einem Schluß komme. Gueintz an Fürst Ludwig, 19.2.1644. HM Köthen:VS 545, Bl. 177r–178v; KE, 267f. Vgl. seinen Brief an Gueintz (?), undatiert mitgeteilt in Habichthorst (Anm. 65), S. 14–22 (der Brief erwähnt den Rosen-mând und ist daher frühestens in dessen Erscheinungsjahr 1651 zu datieren, vgl. Anm. 30. Gueintz starb aber bereits im April 1650). Hier beschreibt und erklärt Zesen ausführlich seine gewandelten orthographischen Auffassungen, bis er aufgrund von Akzeptanz- und praktischen Durchführungsschwierigkeiten (z. B. in der Satztechnik des Buchdrucks) wieder stärker zu der gewöhnlichen Schreibung zurückgekehrt sei. Vgl. ferner den Brief an das DG-Mitglied Adolph Rosel (undat., wohl 1645) in Bellin (Anm. 3), Bl. Bviirff. Zur Vokaldehnung vgl. auch Zesen, SW XI, 33 (HoochDeutsche Spraach-übung), seine Praxis im Ibrahim (1645), in der Adriatischen Rosemund (1645) und der Afrikanischen Sofonisbe (1647) sowie den 5. Tag des Rosen-mând (Zesen SW XI, 182ff.), mit der Einführung von Tonzeichen. Augustus Buchner an Fürst Ludwig, 22.1.1640. HM Köthen: VS 545, Bl. 84r–85v;

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philosophischen Reflexion in der Nähe Schottelius’ und Harsdörffers, kritisierte aber wichtige Elemente der Stammworttheorie Schottelius’ (durchgehende Einsilbigkeit). Er brachte damit und mit seinen orthographischen Bestrebungen, seinem puristischen Rigorismus und „wilden“ etymologischen Denken auch Harsdörffer und Schottelius gegen sich auf. 90 Andererseits verteidigte er wie die Anhalter die Schreibung „Deutsch“ gegen die Anlautverhärtung „Teutsch“, weil diese eine „ungegründete Neurung“ darstelle und überhaupt „kluge verbässerung“ von „unnöhtiger Neurung“ abzugrenzen sei. Wohllautende Aussprache nach dem Meißnischen, das phonologische Prinzip, steht in der Rechtschreibnormierung seiner Spraach-übung (1643) formal gleichrangig neben dem morphologisch-etymologischen. 91 Es fehlte insgesamt nicht am Hissen verbaler Friedensfahnen, etwa wenn der anhaltisch-bernburgische Kammerrat und Fruchtbringer Joachim Mechovius die normierende Gewohnheit auf die „vernünftige Gewohnheit“ einzog, 92 wenn Schottelius eine „nach grundrichtiger gewonheit [!] eingerichte, und mit algemeiner beliebung angenommene Sprachkunst“ wünschte, 93 oder wenn er in der zweiten Auflage seiner Sprachkunst (1651) auf dem Frontispiz die Dame Consuetudo neben der Dame Ratio das Spruchband des Buchtitels halten und die Consuetudo keineswegs wie eine „Bawrdirn“ aussehen ließ, die zwar ihr Liedchen trällern kann, aber von Musik nichts versteht, in deren Bild er die „blinde, wackelnde“ Gewohnheit in der 1. und 2. Auflage der Sprachkunst sah. 94 Die Notwendigkeit eines schiedlich-friedlichen Diskurses stand nicht in Zweifel und so schrieb Fürst Ludwig am 7. Dezember 1642 über den frisch aufgenommenen FG-Genossen an Harsdörffer: „Justi Georgii Schottels deutsche Sprachkunst ist ein feines unserer deutschen Sprache wol anstendiges werck und wird noch ein mehreres von demselben herauskommen, das er also an seiner stelle, unsre deutsche Sprache verhoffentlich zur volkommenheit mit bringen zu helffen gerne vertretten wird“. 95 Gueintz aber rief Ludwig in seinem Widmungsgedicht auf die Deutsche Rechtschreibung zu: Lasst euch das alzu neu’ und alte ia nicht irren / Vermeidet überfluß / und schreibet wie euch lehrt Gewonheit mit vernunft […]. 96

Wäre bei so viel Verständigungsbereitschaft bei zwei im Kern gegensätzlichen Sprachauffassungen nicht wenigstens ein Eckensteher-Plätzchen auch für Zesen ––––––––– 90 91 92

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KE, 233f. Vgl. Blume (Anm. 3), S. 199. Zesen SW XI, 25 u. 26. Vgl. Kaczerowsky (Anm. 6), S. 135ff.; Takada (Anm. 12), S. 62f. In seiner Stellungnahme zu Harsdörffers Specimen (Anm. 49), HM Köthen: VS 545, Bl. 504r–505v, hier 505r; KE, 101–103. Schottelius an Fürst Ludwig, 7.10.1645; HM Köthen: VS 545, Bl. 254r–255v, hier 254r; KE, 296. Schottelius: Sprachkunst 1641 (Anm. 64), S. 5; Sprachkunst ²1651 (Anm. 64), S. 7. HM Köthen: VS 545, Bl. 278rv, hier 278r; KE, 315. Im Druck von 1645 (Anm. 64) auf Bl. )( iv; KE, 276.

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frei gewesen? Wäre es unter Fürst Ludwig überhaupt zu der geschilderten Ausgrenzung gekommen? Ein weises dilatorisches „Konfliktmanagement“ haben die Anhaltiner in anderen Fällen durchaus bewiesen. Als der Fürst und Gueintz 1650 starben, waren die Weichen neu gestellt: nicht nur schied die Geschäftsstelle der FG unter deren künftigen Oberhäuptern als organisierendes Zentrum der Sprachdebatte aus, nicht nur geriet die Position der Anomalisten zunächst ins Hintertreffen, 97 die „hochlöbliche“ FG selbst durchlief einen gravierenden Wandel hin zum „durchleuchtigen Palmenorden“. Es war nicht nur sprachtheoretisch begründet, sondern muß auch im Sozialcharakter der fürstlich-adelig dominierten FG zu suchen sein, daß der Usus so stark zur Richtschnur sprachlicher Normierung gemacht wurde. Die vernünftige Gewohnheit liegt vor dem Gesetz, das sie als das, was sich von selbst versteht, nicht braucht. Sie ist das Soziale selbst, die Treuhänderin der zwischenmenschlichen Übereinkunft und des common sense, auch in der FG. In einem Brief an Werder vom 6. Mai 1640 übersendet Fürst Ludwig, „der gesellschaft gesetze“ nach, französische Impresenverse zur freundlichen Durchsicht. Er ersetzt dann die Formulierung „der gesellschaft gesetze“ zutreffend durch „der geselschaft gutten gewonheit“. 98 Interessanterweise lehnt sich Zesen in seinen DG-Statuten nicht nur eng an die programmatische Selbstdefinition der FG an – Pflege vertrauensvoller, aufrichtiger Verständigung und der deutschen Muttersprache „den Fruchtbringenden zur löblichen Folge“ –, sondern kodifiziert auch das, was in der FG nur geltende Praxis war. Dazu gehört die Verpflichtung der Deutschgesinnten, den Erzschreinhalter (also Zesen) in Übersetzungspläne frühzeitig einzuweihen und selbst verfaßte Schriften, „ehe sie dem drukke übergeben werden […] dem Ertzschreinhalter / über zu sehen / [zu]zufärtigen; damit Er dem Verfasser / nach derselben verlesung / sein urteil eröfnen; und ihn / wo irgend etwas gefehlet / oder wider das augenmärk der löblichen Deutschzunft gehandelt were / dessen wohlmeinend erinnern könne.“ 99 Kommt also die Gewohnheit als informelle Regelungspraxis der vorabsolutistischen Hof- und Adelswelt der Renaissance grundsätzlich entgegen, so dürfte sie sich wohl auch auf die historisch-genealogische Legitimationskategorie des „Herkommens“ beziehen lassen, das die entscheidende Rolle bei der Begründung politischsozialer Herrschafts- und Geltungsansprüche spielte (wenngleich das Anciennitäts-Prinzip nur als Alter der Mitgliedschaft in der FG den Rang innerhalb derselben bestimmte). „Ungewöhnliche neuerung“ war neben dem „übertriebenen klügeln“ Milagius’ Hauptvorwurf an die Adresse Zesens gewesen, in der zeremoniellen Sprache der politisch-sozialen Ordnung: präjudizierliche Innovation, die stets als Gefahr abgewehrt wurde. „Warümb“, fragte Gueintz an die Adresse Schottelius’, „soll man waß newes machen, das die Zierligkeit nicht zulest, daß die gewonheit verwirfft, die doch eine richtschnure der Redart ist?“ –––––––––

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Vgl. Takada (Anm. 12), S. 32ff. HM Köthen: VS 544, Bl. 437r. Zesen SW XII, 205 u. 208 (Das Hochdeutsche Helikonische Rosentahl).

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Wer wolle behaupten, „in denen sprachen allen ist nur eine Conjugation? Der alles will vmbkehren, sonsten keiner“. 100 Ob hier politische Konnotationen herauszuhören sind, ob dieser Ansatz tragfähig für ein weitergehendes kulturgeschichtliches Verständnis der fruchtbringerischen Sprachdebatte der 40er Jahre ist, müßte angesichts der überall zu greifenden Widersprüche noch weiter erprobt werden. Er fokussiert aber doch das komplexe Bündel von Motivationen, Sach- und Interessenlagen, welche die Sprachdebatte begleiteten, wenn nicht grundierten. Daß es Zesen nach 1649 nicht gelang, sich in der FG zu verankern, daß aus dem Konflikt um seine Kakographie, Etymologie und puristischen Neuerungen eine scharfe Diskriminierung wurde, hat zweifellos auch mit dem gewandelten Rollenbild der FG zu tun, das dem politisch-gesellschaftlichen Wandel nach dem Westfälischen Frieden korrespondiert. Im älteren patrimonialen Fürstenstaat prägten personenbestimmte Entscheidungsstrukturen die Regierungsarbeit, verbunden mit einer in hohem Maße auf kooperativen Vertrauensverhältnissen und vielfach informeller Kommunikation beruhenden höfischen Interaktion. Verständigungsideal und -praxis der frühen FG dürften hier bis in die Zusammensetzung des frühen FG-Personals hinein eine Wurzel haben. 101 Dieses Modell wurde in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich abgelöst von einer intensivierten, funktional ausdifferenzierten und systematisch organisierten Territorialherrschaft mit standardisierten Verfahren und Geschäften. 102 Der Ausbildung des barockabsolutistischen fürstlichen Verwaltungsstaats entsprach mit dem Niedergang ständischer Partizipation auch die Ablösung der früheren höfischen Leitbilder und eine gewisse soziopolitische und zeremonielle Erstarrung der FG unter den Nachfolgern Fürst Ludwigs im Oberhauptsamt, in welcher die Mitglieder zunehmend nach Rang und Stand taxiert wurden. 103 Dieser Prozeß einer Hierarchisierung und Bürokratisierung läßt sich wie in nuce an den FGOberhäuptern und ihrem jeweils wichtigsten FG-Mitarbeiter ablesen. Da haben wir bei Fürst Ludwig den reformierten Diederich von dem Werder, die vollendete Verkörperung eines altadligen gentiluomo und des „arte et marte“-Leitbildes. Kundig in Sprachen und europäischer Literatur als Tasso-, Ariost- und Loredano-Übersetzer; Verfasser eigener Dichtungen, die ebenso tieffromme ––––––––– 100

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102

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Gueintz in seiner Stellungnahme zu Schottelius’ Gutachten über seine Sprachlehre (s. Anm. 70); KE, 257. Vgl. Anm. 42. Vgl. Günther Hoppe: Zur anhaltischen Behördengeschichte im frühen 17. Jahrhundert und zum „persönlichen Regiment“ des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen in der Frühzeit seiner Regierung. In: Mitteilungen des Vereins für anhaltische Landeskunde 4 (1995), S. 113–142. Vgl. zu diesem Prozeß: Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. Konstanz 2004, S. 629f.; Andreas Peþar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740). Darmstadt 2003, S. 17ff. u. 126ff. Vgl. Georg Neumark: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Hg. v. Martin Bircher. r (Nürnberg u. Weimar 1668) München 1970, S. 34; Sigmund v. Birken u. Martin Limburger: Ehren-Preiß Des Durchleuchtigst-Fruchtbringenden Teutschen Palmen-Hains. In: Joachim v. Sandrart: Iconologia Deorum, Oder Abbildung der Götter. Nürnberg, Frankfurt a. M. 1680. Ndr. des Ehren-Preiß in: Halle II/2, 301–321, vgl. hier 315 u. 325.

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geistliche Lieder wie manieristisch-concettistische Capricci umfassen, darin anerkannt von den zeitgenössischen Dichtern und Gelehrten. Werder verband im Ansehen der Zeitgenossen zudem als „Erfahrener in Waffen“ – er war schwedischer und kurbrandenburgischer Obrist – die neue, moderne Bildung mit den alten Ritterlichkeitsidealen von Tapferkeit und Tugend. Gewandt und bewährt in der Vertretung landständischer Interessen als Unterdirektor des anhaltischen Stände-Ausschusses, partizipierte er eng am landesherrlichen Regiment Fürst Ludwigs, der sich seiner in vielen diplomatischen Missionen bediente. Eine auf allen Ebenen emanzipierte Gestalt, war die Kommunikation zwischen Werder und Ludwig von Respekt, Kooperation, aber auch einem ironisch-selbstironischen, urbanen Witz geprägt. Georg Neumark, Erzschreinhalter der FG unter deren zweitem Oberhaupt, Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, war herzoglicher Beamter in der unteren Ämterhierarchie, am Ende seiner Karriere als Sekretär des gesamternestinischen Geheimen Ratskollegiums. Ein geschickter, musikalisch begabter Dichter, gewann er das Vertrauen des Herzogs, dem er als Hofdichter huldigte. Als Erzschreinhalter wußte er seine Machtposition zu nutzen. Eine respektable Gestalt, aber weit entfernt von der chevaleresken, unabhängig-selbstbewußten Statur Werders. Mit dem Librettisten David Elias Heidenreich, Sekretär, Rat und Erzschreinhalter unter dem letzten Oberhaupt der FG, dem nicht mehr der Sprache und Literatur aufgeschlossenen, sondern von Jagd, Baukunst und Musiktheater begeisterten Herzog August von SachsenWeißenfels, haben wir dann das vollendete Konterfei der barocken Hofschranze vor uns. 104 Der Umstand, daß unter Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar mehr bürgerliche Mitglieder in die FG aufgenommen wurden als unter Fürst Ludwig, sagt also nichts über den Sozialcharakter der Gesellschaft aus, in der eine programmatisch-habituelle Verbürgerlichung keineswegs stattfand. Der bürgerliche Beamte, Dichter oder Gelehrte wird sich in der Spätphase der FG als geringstes Bodenkraut im hoch aufgipfelnden fürstlichen Palmenwald begreifen und den Hohen andienen. 105 Für Zesen, den „Landläuffer“ ohne Stellung und festes Einkommen, war, so scheint es, in der strengen sozialen Distinktion kein Platz mehr. Die Persönlichkeit Zesens betreffende Distanzierungen, denen wir auch schon unter Fürst Ludwig begegnen – Ehrgeiz, Anmaßung, Eitelkeit, Selbstdarstellung 106 – wurden nun zu jener „förmlichen Zesenhetze“ verhärtet, ––––––––– 104

105 106

„Das Ideal des Hofpersonales in der Renaissance war das des ethisch und kulturell hochstehenden ‚Hofmannes‘, wie er etwa in Psalm 101 definiert war, gefolgt vom und symbolisiert im Ideal des ,Cortegiano‘, wie er bei Baldassare Castiglione beschrieben wird, und schließlich dem Typus des ,Höflings‘, der als patriotischer und kompetenter Fürstendiener positiv bewertet, allerdings auch als parasitäre ,Hofschranze‘ in der Epoche von Barock und Aufklärung kritisiert wird.“ Rainer A. Müller: Hofstaat – Hofmann – Höfling. Kategorien des Personals an deutschen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit. In: Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jh.). Hg. v. Klaus Malettke u. Chantal Grell unter Mitw. v. Petra Holz. Münster 2001, S. 37–53, hier S. 48. Vgl. Birken u. Limburger: Ehren-Preiß (Anm. 103), S. 340ff. Vgl. Anm. 23 u. 37.

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die Dissel erkennen wollte. 107 Zesen wußte indes die Karte zurückzuspielen. Er verteidigte weiterhin die FG der Köthener Phase und ihr damaliges Oberhaupt, bekannte sich zu seiner Mitgliedschaft in der FG, wenn er im Rosen-mând oder im Helikonischen Rosentahl (1669) Fürst Ludwig und die von ihm gestiftete FG lobt, 108 in der Helikonischen Hechel (1668) mit seiner FG-Imprese spielt 109 oder sich darin vom DG-Mitglied Karl Christoph Marschalk-Meerheim in einem Widmungsschreiben, das die Funktion einer zweiten programmatischen Vorrede übernimmt, als legitimes Mitglied der FG feiern läßt, da doch diese selbst im Begriff sei, ihr Gründungsanliegen zu verraten. 110 Die persönliche Fehde Rists wird ebenfalls öffentlich erwidert. 111 Das distanzierte Verhältnis zu Zesen, etwa seitens Birkens, blieb bestehen, auch wenn späte FG-Mitglieder wie Daniel Klesch und Martin Kempe ein entspannteres, gar tief verbundenes Verhältnis zu Zesen einnahmen, als die FG als solche kaum mehr aktiv in Erscheinung trat.112 Was die Spracharbeit betrifft, so hat auch die FG völlige Gewißheit und Einhelligkeit am Ende nicht heraufführen können. Sie hat aber eine Sprachdebatte begonnen und integrativ-koordinierend gestaltet, die zum ersten Mal eine systematisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Grammatik, Lexik und Orthographie des Hochdeutschen beförderte und in einer günstigen historischen Phase „die Anforderungen der Welt wie der Schule“ 113 zu vereinbaren suchte. Zesens Beitrag in dieser Debatte um Sprachregulierung und -normierung wurde

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Dissel (Anm. 11), S. 31. Vgl. Zesen SW XI, 101; 190ff. Zesen SW XI, 280, vgl. auch 288 u. 290f. Vgl. ebd., 283ff. Vgl. ebd.; ferner die poetische Abrechnung mit Rist in: Filips von Zesen Sendeschreiben an den Kreutztragenden / der Hochpreiswürdigsten Rosenzunft Mitglied / im 1664 jahre abgelauffen: darinnen nebenst vielen die Hochdeutsche Dichtkunst / und Sprache selbst betreffenden Geheimnüssen / etliche zu wissen nöhtige Anmärkungen über das berufene Ristische Lied / Höhr/ Himel / was mein trauriges hertze / u. a. m. einverleibet zu finden. O. O. u. J. [wohl Hamburg 1667]. In: Zesen SW XI, 403–439. Vgl. Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Die preußischen Mitglieder Martin Kempe und Gottfried Zamehl. Hg. v. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tübingen 1997 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe II, Abt. C: Halle, Bd. 1), S. 39, 43ff., 78f., 82 u. 369f.; Halle II/2, 320; Kaczerowsky (Anm. 6), S. 173ff., 181, 189; Laufhütte (Anm. 6). – Repräsentativer für die späten FG-Mitglieder ist Caspar Stielers Kritik: „Also stehet einem Secretario nicht frey / entweder neugemachte teutsche Worte aus dem Caesio und etlichen andern neugierigen Poëten und Hirnschleiffern herbey zu schleppen / oder aus andern Sprachen unverständliche Redarten der teutschen Sprache aufzuzwingen.“ C. St.: Der Allzeitfertige Secretarius. Nürnberg 1679, S. 62. Vgl. auch Claudine Moulin-Fankhänel: Orthographiereform und Orthographische Satire im Barock. Gottfried Wilhelm Sacers „Reime dich oder ich fresse dich“ (1673). In: Beiträge zur Schriftlinguistik. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Nerius. Hg. v. Petra Ewald u. Karl-Ernst Sommerfeldt. Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 175–189. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987, S. 132.

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schon zu Lebzeiten durch berüchtigte Extremvorschläge anhand unsinniger Etymologien verdunkelt und wartet immer noch auf eine eingehende Studie.114 Sprachnormierung ist bis heute Teil legitimer Sprachkritik. 115 Doch hat Johann Georg Hamann ihre Problematik erkannt und all das Unregulierte, die überkommenen Regelausnahmen und Willkürlichkeiten des Sprachgebrauchs verteidigt, welche „der allgemeinen, gesunden und practischen Menschenvernunft, Religion und Orthographie leider! ins Fäustchen lachen“. 116 Für den Magus im Norden wie für Zesen, den „vir sapiens als Magier“ (Zeller), macht der Mensch seine Sprache so, wie nach Marx der Mensch seine Geschichte macht: zwar selbst, aber nicht aus freien Stücken. „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen“. 117 Totale Regelhaftigkeit wäre am Ende nichts als ein „Backofen von Eis“. 118

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Vgl. Blume (Anm. 68), S. 199f.; Kaczerowsky (Anm. 6), S. 134ff.; Takada (Anm. 12), S. 183ff. (mit abgewogenen Urteilen über Zesen). Kritisch zu Zesen: Gardt (Anm. 69), S. 362ff., 377 u. 430; Hundt (Anm. 69), S. 44, 48 u. 111ff. Vgl. Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München 1998. Zu den „barocken Sprachgesellschaften“ S. 62ff. Hamanns Replik auf orthographische Reformvorschläge Christian Tobias Damms: Neue Apologie des Buchstaben h. Oder Ausserordentliche Betrachtungen über die Orthographie der Deutschen (fingiert Pisa 1773). In: J. G. Hamann: Schriften zur Sprache. Hg. v. Josef Simon. Frankfurt a. M. 1967, S. 179–196, obiges Zitat S. 187. Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce (1762). In: J. G. H.: Schriften zur Sprache (Anm. 116), S. 105–127, hier S. 109. Hamann: Neue Apologie (Anm. 116), S. 187.

Rosmarie Zeller

Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind Zesens in Form von Gesprächen abgefasste Sprachschriften Hooch-Deutsche Spraach-übung 1643, der Rosen-mând 1651 und die Helikonische Hechel oder des Rosenmohndes zweite Woche 1668. 1 Dabei soll es weniger um die darin geäußerten sprachtheoretischen Auffassungen gehen soll als um die Gattung des Gesprächs als einer Form der Wissensvermittlung. Die zahlreichen Publikationen, welche Wissen aller Art in Form von Gesprächen aufarbeiten, sind relativ schlecht erforscht, wie überhaupt der ganze Bereich der Miscellaneae noch der wissenschaftlichen Bearbeitung harrt. Bei Autoren wie Eberhard Werner Happel und Erasmus Francisci, welche die Gespräche für die Vermittlung von Wissen nutzen, lässt sich der Zusammenhang von Buntschreiberei und Gespräch oder Gesprächspiel fassen. Zesens hier zu untersuchende Schriften unterscheiden sich von denen der genannten Autoren und den wohl als Vorbild fungierenden Gesprächspielen Harsdörffers durch die Konzentration auf Fragen der Sprachentstehung, Sprachrichtigkeit und poetischen Sprachverwendung sowie durch die relativ umfangreichen Anmerkungen, die oft auch längere Zitate und Literaturangaben enthalten – letztere kommen auch bei Harsdörffer vor. Dass Zesen statt eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, wie sie etwa Schottels Sprachkunst darstellt, zum Gespräch als Vermittlungsmedium gegriffen hat, deutet darauf hin, dass er sich davon eine weitere Verbreitung, wohl auch in anderen sozialen Schichten, als denjenigen erwartet hat, die wissenschaftliche Publikationen rezipieren. Um die Eigenart von Zesens Verwendung der Textsorte Gespräch herauszuarbeiten, liegt es nahe, die drei Sprachschriften mit Harsdörffers Gesprächspielen zu vergleichen, die in der Zeit wohl eine Referenz bildeten. Dass auch gewisse persönliche Beziehungen zwischen Harsdörffer und Zesen bestanden, wird von der Forschung nicht bezweifelt, wenn auch die Zeugnisse spärlich sind. Wahrscheinlich haben sich Harsdörffer und Zesen 1653 in Nürnberg getroffen. 2 Harsdörffer hat die Aufnahme Zesens in die Fruchtbringende Gesellschaft betrieben. Umgekehrt hat Zesen die Nürnberger Harsdörffer, Birken und Klaj in seine Rosenzunft aufgenommen. Zesen hat ein Lobgedicht auf den fünf––––––––– 1 2

Zitiert werden die Schriften nach der Ausgabe: Zesen SW XI. Siehe dazu den Beitrag von Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin 1994.

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ten Band der Gesprächspiele geschrieben, 3 in deren viertem Band Zesen (1645) an zwei Stellen zitiert wird. Harsdörffer verweist an einer Stelle auf die Spraach-übung 4 und zusätzlich im Literaturverzeichnis, wo die Spraach-übung fehlt, unter dem latinisierten Namen Caesius auf die lateinische Version der Helikonischen Leiter von 1643 und auf Frühlingslust. 5 Auch umgekehrt finden sich in Zesens Sprachschriften, die ich allein untersucht habe, nur wenige Hinweise auf Harsdörffers Schriften und zwar ausschließlich auf die Gesprächspiele. Die direkte Auseinandersetzung der Autoren miteinander scheint nicht sehr intensiv gewesen zu sein, wenn sie auch beide in Bezug auf die Sprachtheorie an demselben, wohl vor allem auf Schottel zurückgehenden Diskurs teilnehmen. Harsdörffer hat mit der Publikation der Frauenzimmer Gesprächspiele, welche ab dem dritten Band unter dem vereinfachten Titel Gesprächspiele erschienen, eine Gattung der gehobenen Unterhaltung eingeführt, für die die Anwesenheit von Frauen konstitutiv ist – daher wohl die programmatische Aufnahme des „Frauenzimmers“ in den Titel der ersten beiden Bände. Harsdörffer übernimmt damit eine in Italien im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts aufgekommene Textsorte, in der, wie die Forschung hervorgehoben hat, die Anwesenheit von Frauen eine Maske ist, um eine intellektuelle Kultur zu begründen, die es auf die Divulgierung des Wissens abgesehen hat. 6 Die Frauen spielen nicht zuletzt deshalb eine wichtige Rolle, weil sie eine soziale Gruppe vertreten, welche weder Latein kann, noch sich auf Universitäten ein Spezialwissen erworben hat. Die Einführung von Frauen erlaubt es folglich den Autoren, auf Spezialausdrücke, 7 auf das, was im 17. Jahrhundert „pedantisch“ oder „schulfüchsisch“ genannt wird, zu verzichten und so ihre Texte einem weiteren Publikum zugänglich zu machen. Wegen der Breite des im allgemeinen in solchen Texten vorgeführten Wissens, welches vom alltäglichen bis zum okkulten Wissen wie der Kabbala oder Physiognomik geht, kann man solche Schriften in den größeren Kontext der Miscellaneae stellen, die sowohl fiktionale Texte wie leicht verständlich und gefällig erzähltes historisches und naturwissenschaftliches Wissen, Wissen über Kuriositäten, welche häufig auch ferne Länder und ––––––––– 3

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Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1641–1649). Hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Teil V, S. 44f. Zitiert werden die Seitenzahlen des Neudrucks. Siehe dazu unten Text zu Anm. 36. Es geht um die offenbar schon von Luther aufgeworfene Frage, ob Teut oder Deut zu schreiben sei (Harsdörffer [Anm. 3], T. IV, S. 343). „Phil Caesius: Scala Heliconis Teutonici, Amstelod. 1643. Frühlingslust. Hamburg 1642.“ (ebd. S. 705). Siehe dazu die Introduzione von Riccardo Bruscagli zu Girolamo Bargagli: Dialogo de’ Giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare. r(1572). Siena 1982. In dieselbe Richtung gehen auch die Untersuchungen von Christoph Strosetzki: Rhétorique de la conversation. Sa dimension littéraire et linguistique dans la société française du XVIIe siècle. Paris 1984. Siehe auch meinen Beitrag: Die Rolle der Frauen im Gesprächspiel und in der Konversation. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 531–541. Siehe die Beispiele in meinem in Anm. 6 genannten Aufsatz S. 537.

Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur

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Völker betreffen, an ein mehr oder weniger breites Publikum vermitteln. 8 Die Verfasser solcher Gespräche betonen meistens den unterhaltenden Charakter des Gesprächs im Unterschied zu anderen Formen der Wissensvermittlung. Von Anfang an hat diese Art von Gesprächen auch eine ästhetische Komponente in dem Sinne, dass sie einerseits Vergnügen erwecken sollen und andererseits nicht unbedingt auf unmittelbaren Nutzen aus sind. Pierre Le Moyne schreibt in der Vorrede zu seinen Peintures morales: Ça été encore pour le divertissement du lecteur, que j’ai choisi le Dialogisme qui est le genre d’écrire le plus ancien, le mieux autorisé, et le plus agréable. Il est aussi ancien que la Philosophie et a l’autorité, de Platon, de Cicéron, de Boèce.

Es sei eine besonders angenehme Art zu schreiben, welche die Vorteile der Poesie ohne ihre Ketten habe und die Varietät der Geschichte ohne ihre Zwänge. Sie sei eine Mischung aus der Konstruktion der Rede und des Dramas und gebe ein Vorbild ab für den Umgang der honnêtes gens. 9 Platon gilt ganz allgemein als der Vorläufer dieser Gattung, die durch die Rückführung auf die Antike aufgewertet und damit andern Gattungen gleichgestellt wird. Auch Charles Sorel, dessen Maison de jeux wahrscheinlich ein wichtiges Vorbild für Harsdörffers Gesprächspiele war, schreibt: On peut soustenir que tous les ouvrages de Platon ne sont proprement que des Ieux; Car d’introduire des personnes diuerses que l’on fait parler de plusieurs choses selon leur fantaisie, à dessein de rapporter differentes opinions des hommes, c’est vne espece de Ieu. 10

Die Textgattung Gespräch oder Gesprächspiel hat immer einen unterhaltenden Aspekt, oft auch etwas Unernstes, insofern als es in der Regel nicht darauf ankommt, eine Schulmeinung zu vertreten, sondern verschiedene Meinungen aufeinander treffen zu lassen. Im folgenden sollen Zesens Sprachschriften auf typische Merkmale dieser Gattung hin untersucht werden. Festzuhalten ist zunächst, dass sich Zesens Unterhaltungen von dieser Art Gespräche und Gesprächspiele, für welche Abwechslung und folglich eine Vielfalt von Themen charakteristisch ist, durch ihre Konzentration auf Fragen der deutschen Sprach- und Dichtkunst unterscheiden. Man könnte sie daher in die zahlreichen Poetiken und Schriften zur deutschen Sprache einordnen, wenn nicht ihre Gesprächsform wäre, die sie von den eher akademischen Schriften unterscheidet. Dass Zesen sich dieses Unterschieds sehr wohl bewusst ist, zeigt sich in der Vorrede zum Rosen-mând, wo er die Ver––––––––– 8

9 10

Auf den Zusammenhang gehen in verschiedener Weise die Arbeiten über Erasmus Francisci von Roswitha Kramer (Gespräch und Spiel im Lustgarten. Literatur und Geselligkeit im Werk von Erasmus Francisci. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 505–529) und Ina Timmermann („löbliche Conversation“ als ‚Einübung ins Räsonnement‘. Das Gespräch als Ziel und Funktion barocker Erzählsammlungen am Beispiel der Lustigen Schau-Bühne von allerhand Curiositäten des Erasmus Francisci (1627–1694). In: Simpliciana 21 [1999], S. 15–40) ein. Zit. nach Strosetzki (Anm. 6), S. 101. Charles Sorel: La Maison des Ieux. r(1657) Genf 1977. Die 1. Aufl. ist 1642 erschienen.

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bindung von Ernst und Scherz, von Anmut, Lust und Nutzen hervorhebt. Er habe die Schrift verfasst, damit der unanmuhtige immerwährende ernst mit lieblichen schertz-reden verzukkert / mit fröhlichen lust-geprängen versüßet / einen lieblichen schmak bekähme. So gatten sich alhier ernst und schertz; so küssen sich nutz und lust; so umhälsen sich frommen und liebe; so vermählen sich ernsthaftigkeit und liebligkeit. 11

Ernst und Nutzen betreffen in der Spraach-übung Oder unvorgreifliches Bedenken über die Hooch-Deutsche Haupt-Spraache und derselben Schreibrichtigkeit von 1643, wie der Titel sagt, hauptsächlich Fragen der Orthographie und der Grammatik, die Zesen bekanntlich sehr interessierten. Zu Beginn werden aber auch Fragen der Entstehung der deutschen Sprache behandelt, so werden unter anderem auch althochdeutsche Texte abgedruckt. Den größten Teil des Textes nimmt aber die Verbesserung eines Briefes ein, den Adelmunds Dienerin auf der Straße gefunden hat. Der Rosen-mând von 1651 nimmt zum Teil die Themen der Spraach-übung wieder auf, er beschäftigt sich ausführlich mit der Entstehung des Deutschen, mit seinem Zusammenhang mit der hebräischen Ursprache, mit der Entstehung der Buchstaben, den Stammwörtern, kurz mit allen jenen Fragen, die den Diskurs über die deutsche Sprache im 17. Jahrhundert bestimmen und die letztlich dazu dienen, zu belegen, was die Hochdeutsche sprache für eine edele / natürliche / künstliche / und über alle andere folkommene / sprache sei. Ja man hat sich zum höchsten zu verwundern / daß ihre art zu schreiben der natur noch so nahe kömmet / und weit weit näher / als alle andern sprachen. 12

In der Fortsetzung des Rosen-mând in der Helikonischen Hechel geht es um die Poesie, es werden dort Lobgedichte auf Rosemund verbessert. Die RosenmondSchriften sollen offensichtlich ein komplettes sprachlich-poetisches Programm, von der Orthographie bis zur Dichtkunst, vermitteln. Auf den Inhalt der drei Sprachschriften möchte ich nicht im Detail eingehen. Zesen vertritt in ihnen, hierin Harsdörffer und Schottelius sehr ähnlich, die Auffassung, dass die deutsche Sprache unmittelbar vom Hebräischen abstammt und daher letztlich eine Natursprache ist, in der die Wörter ihre ursprüngliche Bedeutung behalten haben und daher auch ganz nahe am Gegenstand sind, den sie bezeichnen, das heißt, dass die Wörter der deutschen Sprache motiviert sind. Das führt zu der großen Vorliebe von Etymologien, wo diese Motiviertheit jeweils nachgewiesen wird, indem nicht selten auch das Hebräische beigezogen wird. Zesen versucht darüber hinaus, die Ordnung der Sprache mit den vier Elementen in Verbindung zu bringen. Jedenfalls zeugen diese Konzepte vom Einfluss von Alchemie und Kabbala auf Zesens Sprachkonzeption. 13 Das Personal, welches in diesen Schriften auftritt, kann man mit Anmut umschreiben. Es entstammt zum Teil der Adriatischen Rosemund. In der Spraach––––––––– 11 12 13

Zesen SW XI, 84. Zesen SW XI, 176. Zu diesem Diskurs siehe Gardt (Anm. 2), S. 60. Siehe dazu Gardt (Anm. 2), S. 128ff.

Zesens Sprachschriften im Kontext der Konversationsliteratur

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übung, der kürzesten der drei Schriften, unterhalten sich drei Personen miteinander: Adelmund, Deutschlieb und Liebhold. 14 Adelmund ist in der Adriatischen Rosemund die Verlobte von Markholds Freund Lihbwährt. In den beiden Rosenmond sind es Marhold, Deutschlieb und Liebwährt, wobei in diesen beiden Texten noch eine Rahmenveranstaltung stattfindet, in welcher auch Rosemund, ihre Schwester Stilmuht, ihr Vater sowie Freunde und Freundinnen auftreten. 15 Nicht nur über das Personal, sondern auch über die Rosenmetaphorik sind die Texte miteinander verbunden. Der Rosenmond ist der Mai, an dessen erstem Tag die Deutschgesinnte Genossenschaft oder Rosengesellschaft in einem lustigen Rosengarten gestiftet worden ist. 16 Noch ein Wort zur Rosen-Metaphorik: Diese wird von Zesen im Helikonischen Rosenthal selbst ausführlich erläutert. Die Rose ist das Emblem der Rosenzunft wie die Palme jenes der Fruchtbringenden Gesellschaft. Die Rose ergötzt alle Sinne: das Auge durch die Farbe, den Tastsinn, wenn die Blüte durch die Hand gebrochen wird, den Geruchsinn durch ihren feinen Duft, den Geschmacksinn durch ihren Saft, ferner schreibt er ihr einen süßen Klang zu. Die weiteren Ausführungen über die Rose sind ganz direkt auf das Programm der Sprachgesellschaft gemünzt, deren Absicht neben der Pflege der Freundschaft die Pflege der Wohlredenheit ist: Ja sie ist selbst der liebe / freundschaft / hulde / ja aller schönheiten / und anmuhtigkeiten bild und zeichen. Wer mit diesem Zeichen wahrhaftig gezeichnet ist / der wird allezeit / wie / nach Virgiels zeugnüsse / die Alsgöttin der Liebe / mit einem Rosenmunde reden: der wird / durch seine liebliche wohlredenheit / aller gemühter zu seiner liebe bewegen. 17

In dieser Beschreibung finden sich die Bestandteile der Namen des Personals der Rosemund und der Rosenmond-Schriften wieder: Rosemund ist nicht nur eine Anspielung auf Venus, sondern auch eine auf Wohlredenheit und Bildung, wie die Ausführungen über die medizinische Nützlichkeit der Rose zeigen. Da diese vor allem darin besteht, den Verstand zu bestärken, kann die Rose zu einem Sinnbild der Freien Künste werden. 18 Wohlredenheit, Freundschaft, die ––––––––– 14

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Adelmund ist die Verlobte eines Freundes von Markhold bzw. Marhold. Lihbwährt ist sein Freund. Die Schreibweise der Namen variiert. Für die Interpretation der Rosemund scheint es mir nicht ganz unwichtig zu sein, diese Schriften, in denen dasselbe Personal auftritt, einzubeziehen. Zesen scheint auch in der Rosemund schon eine Art Unterhaltungsprogramm verwirklicht zu haben mit der Mischung der verschiedenen Textsorten. Zesen SW XII, 192f., 197 (Helikonisches Rosenthal). Es geht hier nicht darum, diesen Stiftungsmythos auf seine historische Wahrheit hin zu befragen. Dazu siehe Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972. Zesen SW XII, 199. Zesen SW XII, 200: „Daß aber die Rose auch ein bild und kenzeichen der Freien Künste sei / sollen uns nicht die Dichtmeister / durch ihr verzukkertes und oft kaum wahrscheinliches / aus etwan einem erdichteten Sangbrunnen geschöpftes geschwätze / zu gleuben bereden; sondern die Naturkündiger und Aertzte selbst / durch ihren wahrhaftigen beweis / aus dem wesendlichen brunnen der großen Zeugemutter aller dinge geschöpfet / dartuhn und behaupten. Von diesen hören wir: daß der Rose lieblicher und gleichsam fliessender geruch (davon sie auch bei den Griechen / nach Plutarchs (*) und anderer urteile / ihren

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Pflege der Freien Künste – das sind Ideale der Sprachgesellschaften, aber auch jener geselligen Zusammenkünfte, welche zum Beispiel Harsdörffer in seinen Gesprächspielen abzubilden versucht. 19 Die Rosenmetaphorik weist darauf hin, dass dieser Aspekt für Zesen ebenso wichtig ist wie für andere Verfasser von Gesprächen und Gesprächspielen. Dass sich Zesen dieses Zusammenhangs sehr wohl bewusst ist, zeigt sich in der Vor-rede zum Rosen-mând, in der er betont, dass er „für alle“ schreibe, dass er Ausschweifungen nicht vermeide, sondern im Gegenteil, diese als Verzuckerung der Materie ansehe, die er nicht auf „schuhlfüchsische Art“ behandeln will. Wolte mich etwan ferner ein Wunderkopf tadeln / daß ich in diesen gesprächen so vielerlei unterein[an]der mische / und nicht allzeit nach seiner runtzlichten stirne und starren boksaugen meine verfassung mache; so würd er im begin dieser vor-rede die uhrsache schon vernommen haben. Doch hastu mich noch nicht recht verstanden / so wisse; daß ich nicht für dich allein / sondern für alle / schreibe; daß ich allen belieben wil; und daher habe ich meiner feder / die ich sonst in zimlich-ängen schranken zu halten pflege / verhänget / tapfer aus zu schweiffen / und nicht allein das zu schreiben / was sprach-liebende; sondern auch was eingezogene / oder zur üppigkeit sonst ausgelaßene Gemühter / ja was Welt- und geistliche lieben; damit ich also alle verursachte / diese Gespräche zu lesen; damit ich also allen mit solchen süßen und anlokkenden verzukkerungen meinen zweg / (der für sich / wan ich auf schuhlfüchsische art darvon handelte / allen / ich schweige / jungen und lustigen gemühtern / langweilig und verdrüßlich fallen würde / und im lesen einen alzu frühen ekel gebähren /) nicht allein zu vernehmen gäbe / sondern auch die edle Hochdeutsche Zunge zugleich annehmlich machte. 20

Bei dem Anspruch, möglichst vielen zu gefallen, und beim Bestreben, das Ganze mit Scherzreden zu verzuckern, mag es erstaunen, dass Zesen die Frauen praktisch nicht an den Gesprächen teilnehmen lässt. In der Spraach-übung nimmt noch eine Frau, Adelmund, aktiv an den Gesprächen teil. Im Rosen-mând figurieren die Frauen zum Teil noch als Zuhörerinnen, meistens sprechen die Männer aber miteinander, während die Frauen sich anderweitig vergnügen. In der Helikonischen Hechel, zu deren Beginn Rosemund eben Petrarca gelesen hat, nimmt sie nur am ersten Tag am Gespräch teil. Obwohl also die Frauen durch ihre Lektüre ihre Bildung beweisen, werden sie nicht einbezogen, wodurch auch Galanterie, Witz und Scherz zwischen den Geschlechtern in die Rahmenhandlung verbannt sind. Dass dieses Fehlen der Frauen, welches ja gerade auch durch den Rückbezug auf Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele besonders auffällig ist, mit dem anvisierten bürgerlichen Publikum zu tun –––––––––

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nahmen empfangen zu haben scheinet) das dürre gehirn wieder erfrischet; ja daß ihre gantze selbständigkeit / sonderlich wan sie dürre worden / eben dasselbe / samt dem verstande / kräftiglich stärket; das hauptweh stillet; die ermüdeten und abgematteten schlaflosen sinnen wieder schlafen machet; und die uberfliessigen feuchtigkeiten / die dem verstande hinderlich / aus dem heupte vertreibet; ja in diesem schlosse der Freien Künste / durch ihre fürtrefliche sinnenschärfende tugend / so viel würket / daß sie es fast allen ändern bluhmen zuvor tuht.“ Die Ausdeutung der Rosensymbolik verdiente eine ausführlichere Untersuchung. Zesen SW XI, 90.

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haben dürfte, könnte man auch aus Johann Rists Monatsgesprächen ableiten, welche reine Männerunterhaltungen sind. Es gehört zu solchen Dialogen, dass zunächst einmal ein Anlass dazu geschaffen wird und eine Örtlichkeit gegeben ist, wo sie stattfinden können. Harsdörffer illustriert diese Situation in seinen Gesprächspielen immer mit einem Titelkupfer, was deren Inszenierungscharakter unterstreicht. Meistens handelt es sich um eine gesellige Zusammenkunft an einem angenehmen Ort, einem locus amoenus oder „Lustort“, wie es bei Zesen heißt. Besondere Affinität zur Konversation haben das Spazieren, die Lustfahrt auf einem Schiff, der Aufenthalt in einem Garten. 21 Die Teilnehmer solcher Konversationen entstammen aber normalerweise dem adligen Milieu. Zesen scheint sie ins bürgerliche Milieu verlegt zu haben, wobei sich allerdings die Personen eines adligen Lebensstils mit Jagden, musikalischen und theatralischen Unterhaltungen befleißigen, wie auch das Haus von Rosemunds Vater mit Emblemen und anderen Kunstgegenständen geschmückt ist, die mit Ausnahme der Niederlande wohl eher dem Adel oder dem städtischen Patriziat als dem Bürgertum zukommen. In der Spraach-übung wird das Gespräch als eine Fortsetzung eines andern Gesprächs eingeführt, welches unter den Linden geführt worden sei, wo sich die Gesellschaft auch in der Gegenwart wieder befindet. Das Gespräch wird gleichgesetzt mit dem Vergnügen am Saitenspiel und der „stummen Augen-lust“, welche die „nach Ordnung gesetzten Beume“ bereiten. 22 Sein ästhetischer Charakter wird durch den Vergleich mit andern ästhetischen Objekten und durch seine Wirkung unterstrichen: es handelt sich um ein „Lust-gespräch“. Zudem soll es die beiden Deutschen von dem Zustand ihres Vaterlandes, welcher ihre Gemüter belastet, ablenken – ein häufiges Motiv in dieser Art von Unterhaltung und zugleich ein weiterer Hinweis auf den ästhetischen Charakter, welcher die am Gespräch Teilnehmenden aus der Wirklichkeit heraushebt. Im Rosen-mând ist die Rahmensituation viel stärker ausgearbeitet. Es werden festliche Aktivitäten zu Rosemunds Geburtstag abgehalten, die eigentlich einen ganzen Rosenmond lang dauern sollten. Während die Damen sich mit allerhand Unterhaltungen wie Theater, Tanz, Gesang vergnügen, unterhalten sich die Herren Deutschlieb, Liebwährt und Marhold mit „einem und dem andern Lust-gespräche“ über die Herkunft der deutschen Sprache, über die Entstehung der Buchstaben und was der Fragen in diesem Zusammenhang mehr sind. Jedem Tag ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das immer mit einer Beschreibung des fast immer sonnigen Morgens beginnt. Während Rosemund ein Ständchen gebracht wird, das immerhin zwei Stunden dauert, setzen sich die drei Freunde am ersten Tag zum „Lust-gespräch“ unter eine Linde. Am zweiten Tag tanzen die Frauen am Abend allein, während sich die Männer in einem Zimmer, in dem ein Prunkleuchter der „Als-göttin der Weisheit“ hängt, zu einem weiteren Gespräch versammeln, hat doch Marhold das Gespräch vom Vortag „die gantze nacht im sinne gelegen / daß ich mich solcher so süßen und ––––––––– 21 22

Bei Rist beginnen fast alle Gespräche im Garten, oder sie haben den Garten zum Gegenstand. Zesen SW XI, 11.

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gleichsam verzukkerten gedanken nährlich entschlagen konte.“ 23 Am dritten Tag finden Aufzüge zu Ehren von Rosemund statt. Marhold hat diese zwar veranstaltet, scheint dann aber nicht dabei zu sein, sondern sich wiederum mit seinen Freunden bei Gesprächen zu vergnügen, wobei – typisch für die Gattung – eine mit Hieroglyphen versehene Säule den Anlass zum Gespräch über die Bilderschrift der Ägypter gibt. Am vierten Tag ist Regenwetter, weswegen ausnahmsweise kein Morgenständchen stattfindet und Marhold sich zu seinen Freunden begibt, „die er ebenmäßig betrübt und schweer-mühtig fand.“ Die Unterredung, in der „allerlei lustige Sachen fürfielen“, hat die Funktion, die Freunde zu erheitern. 24 Am fünften Tag geht man auf Kaninchenjagd, wobei die Schifffahrt nach Harlem Gelegenheit gibt, das Gespräch vom Vortag fortzusetzen. Hier sind weitere Zuhörer dabei, die begierig sind, etwas zu lernen. So bittet die „hochverständige Rosemund“ Marhold und gibt ihm zu verstehen, „daß er ihnen die höchste freundschaft tähte / wan er seine Herren mit-gefährten auf solches nützliche gespräche brächte / daraus sie auch etwas zu lernen begierig weren“. 25 Die Teilnahme an den Gesprächen wird als große Gunst interpretiert, wie sich auch am sechsten Tag zeigt, an dem die Gespräche früh beginnen, weil nachher getanzt werden soll: „Und Deutschlieb / der sich über diese hohe geheimnüsse / die er vernommen / höchst verwunderte und gerne noch weiter zugehöret hette / dankte dem Mahrhold so hertzlich / nam ihn in den arm und umhälsete ihn.“ 26 Die „hohen geheimnüsse“ betreffen die Stammwörter der deutschen Sprache. Am siebten Tag, dem Sonntag, ist ein Ruhetag, an dem keine Festivitäten stattfinden. Man macht aber einen Lustgang, auf dem man wiederum Gelegenheit findet, das Gespräch über die Zierlichkeit der deutschen Sprache und über ihr Alter fortzusetzen. Es muss also jeden Tag ein anderer Vorwand gefunden werden, wie man die Gespräche beginnt und weiterführt. Auch hier scheint das Prinzip der Variation Pate gestanden zu haben. Die Helikonische Hechel, die, wie der Untertitel sagt, die zweite Woche des Rosenmohnd enthält, 27 ist als eine Fortsetzung der Festivitäten gestaltet. Wiederum finden die Gespräche in der freien Zeit zwischen den Festivitäten, oft am Morgen, einmal bei einem Lustwandel übers Feld statt. Man hat das Gefühl, dass sich die Freunde die Zeit für das Gespräch des Öfteren von andern gesellschaftlichen Verpflichtungen abstehlen müssen. Dass diese Gespräche ihren Teilnehmern eine große Lust bedeuten, ist unzweifelhaft. Diese rührt zum Teil von den „geheimnüssen“ her, die man da erfährt, die ihnen offenbart werden, wie es einmal heißt. 28 Dazu muss man sich –––––––––

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Zesen SW XI, 115. Ebd., 164. Ebd., 178. Ebd., 218. Filips von Zesen Hochdeutsche Helikonische Hechel oder des Rosenmohndes zweite woche: darinnen von der Hochdeutschen reinen Dichtkunst / und derselben fehlern […] gehandelt wird. Siehe das Zitat oben zu Anm. 26. Liebhold bittet in der Helikonischen Hechel Marhold inständig „ihnen etliche geheimnüsse der Dichtkunst zu offenbahren.“ (Zesen SW XI, 295).

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den ganzen Titel des Rosen-mând in Erinnerung rufen, wo es heißt das ist in ein und dreissig gesprächen Eröfnete Wunderschacht zum unerschätzlichen Steine der Weisen. Dieses Wissen über die deutsche Sprache wird also als Schatzsuche, bei der man das lautere Gold findet, als Zugang zu einer Art Geheimwissen gepriesen. Geheimnis und Verwunderung deuten auf den Zusammenhang zu jener Literatur hin, welche wie etwa Mexías Wunderwald über Merkwürdigkeiten der Natur und überhaupt über Kuriositäten informiert. 29 Die Gattung des Gesprächs bietet besondere Vorteile bei der Wissensvermittlung, so vor allem die Möglichkeit, die Diskussion nach Belieben, besonders wenn sie langweilig zu werden droht oder zu sehr ins Detail geht, abzubrechen und an irgendeinem Ort wieder aufzunehmen. Die Kürze wird immer wieder als eine Qualität solcher Unterhaltungen angeführt. So mahnt denn auch Adelmund in der Spraach-übung: „Mein Herr will alles gar zu eigentlich ausführen; Er mach es nur / wo es ihm beliebet / auffs kürtzeste / alß er kann.“ 30 Liebhold meint etwas später: „Diese und dergleichen sachen dörfften vor das Frauenzimmer allzuschwer und verdrüßlich fallen / drum wolle Er Ihm belieben laßen von den folgenden auch zu reden.“ 31 Das Ende der Gespräche wird immer motiviert mit einem Hinweis, man müsse jetzt Rosemund aufwarten, man müsse zum Essen gehen oder bei einer Reise, man sei jetzt am Ziel angekommen. Dies erlaubt Zesen, seine Ausführungen nicht, wie es einer wissenschaftlichen Abhandlung entspräche, die er als Material für seine Gespräche benützt hat, bis in alle Details auszuführen. Wenn er denkt, der Leser habe nun genug, bricht er ab. Ein weiterer Vorteil der Gesprächsform ist die Digression, die Möglichkeit nach Belieben neue Themen einzuführen, die nur assoziativ mit dem Hauptthema verknüpft sind. Am zweiten Tag des Rosen-mând gehen die Freunde etwa von der Frage aus, was der Psalmvers (45.2) „Meine zunge ist ein griffel eines guhten schreibers“ heiße. Dies bringt sie auf die Frage, ob nicht auch der Teufel wie Gott verborgene Gedanken lesen könne; es geht dann um den Zusammenhang von Gedanken und körperlicher Äußerung dieser Gedanken, von da kommt man auf den freien Willen und auf die Ähnlichkeit von Menschen mit Tieren und dann auf die Frage des Einflusses der Gestirne auf den Menschen, bis Deutschlieb die Gesellschaft mahnt, sie kämen von ihrem Zweck allzu weit ab, und versucht, mit der Frage nach der Erfindung der Buchstaben „diese ausschweiffende zusammen-sprache wieder in ihre schranken“ zu bringen. 32 Typisch für diese Art von Digressionen ist auch, dass man von einem aktuellen Anlass oder Gegenstand ausgehen kann, wie es z. B. in der Helikonischen Hechel der Fall ist, wo ein Taler, der zufällig auf dem Tisch liegt, Anlass zu einem Gespräch über die Herkunft des Wortes „Thaler“ gibt, um dann zu ––––––––– 29

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Pedro Mexía: SYLVA VARIARUM LECTIONUM Das ist: Historischer Geschicht- Naturund Wunder-Wald / allerhand merckwürdiger Erzehlungen / sonderbarer und seltzamer Begebenheiten / Auflösung unterschiedlicher / dunckler und subtiler Fragen […]. Nürnberg 1669. Zesen SW XI, 50. Ebd., 56. Ebd., 123.

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generellen Fragen der Benennung von Münzen überzugehen. Dass Deutschlieb sagt, dass „ihn diese und dergleichen dinge überaus ergetzen“, passt ins Bild solcher Gespräche, ebenso wie die Bemerkung, Marhold solle abbrechen, um sich nicht zu viel Mühe damit zu machen. 33 Allerdings sind die Abschweifungen nicht sehr zahlreich und Zesens didaktische Absicht ist im Vergleich zu Harsdörffer viel stärker präsent. Zesen geht es viel mehr als Harsdörffer darum, ein bestimmtes Wissen zu vermitteln und nicht einfach geistreiche Unterhaltung zu simulieren. Dies kann man auch daran sehen, dass Deutschlieb in der Spraach-übung, Marhold in den beiden andern Schriften eine herausragende Bedeutung hat. Letztlich verfügt er über das Wissen, auf das es ankommt, die andern Figuren treten größtenteils nur als Stichwortgeber auf, indem sie eine Frage stellen, auf die Marhold jeweils ausführlich antwortet. Wenn verschiedene Meinungen diskutiert werden, so nicht, um, wie es bei Sorel heißt, verschiedene Meinungen zur Unterhaltung nebeneinander anzuführen, sondern um letztlich doch zu sagen, wie es ist. Harsdörffer hingegen, dies wurde in der Forschung festgestellt und auch manchmal missverstanden, lässt bei kontroversen Fragen Meinungen nebeneinander bestehen. Als Illustration zwei kurze Beispiele: Gleich zu Beginn der Spraach-übung bemerkt Deutschlieb, dass Adelmund die deutsche Sprache zu recht „redlich“ nenne, „weil sie so redlich / daß mann in derselben gar wenig viel-deutige Wort finden mag / derer doch in andern Spraachen ein überfluß ist.“ 34 Dies ist eine Wiederaufnahme einer Diskussion in Harsdöffers Gesprächspielen. Es handelt sich dabei um das 82. Gesprächspiel, welches den Titel trägt „Die zweydeutigen Wörter“ und dem „Lustbetrug“ zweideutiger Wörter gewidmet ist, von denen allerhand Beispiele u. a. aus den Gesichten Philanders von Sittewalt von Moscherosch erzählt werden. Nach einigem Hin und Her meint Degenwert: „Unsere Teutsche Muttersprach ist so redlich / daß man in derselben wenig zweydeutige Wörter findet.“ Worauf Reymund antwortet, indem er sich auf Gellius’ Attische Nächte beruft, dass es wenige Wörter gebe, die man nicht auf zweierlei Arten verstehen könne. Frau Julia versucht ihn zu widerlegen, indem sie das Beispiel „Schwester“ bringt, das man nur in einer Bedeutung auffassen könne, was Reymund wiederum bestreitet, worauf Angelica meint, auf diese Weise wisse man nicht mehr, was weiß und schwarz sei. Vespasian, der älteste unter den Teilnehmer, spricht schließlich eine Art Urteil: „Es ist gewiß / daß fast alle Wörter einen Buchstaben und Übertragungsverstand leiden.“ 35 Es komme auf den Gebrauch an, in der Dichtung und in der Redekunst dürfe man solche metaphorischen Bedeutungen gebrauchen, nicht aber in „Handel und Wandel“. Während Zesen Deutschlieb mit der Autorität, die ihm in der Spraach-übung eigen ist, sagen lässt, dass die deutsche Sprache „redlich“ sei und darum wenige vieldeutige Wörter habe, lässt Harsdörffer die Frage diskutieren und gibt eine differenzierte Antwort. Ein ähnliches, vielleicht noch sprechenderes Beispiel ist ––––––––– 33 34 35

Ebd., 366 (Zweite Rosenwoche). Ebd., 11. Harsdörffer (Anm. 3) Teil II, S. 248.

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die Diskussion um das anlautende d oder t im Wort „deutsch“. Im vierten Teil der Gesprächspiele wird diese Frage unter dem Titel „Teut oder Deut“ abgehandelt. In diesem Zusammenhang wird auf Zesens Spraach-übung verwiesen, wo die Frage, wie nicht anders zu erwarten, von Deutschlieb ausführlich beantwortet wird, natürlich in dem Sinn, dass man Deutsch und alle davon abgeleiteten Wörter mit D schreiben müsse. Im Gesprächspiel meint dagegen Frau Julia: „Weil es kein Glaubens-Articul / mag ein jeder seine Meinung behalten / und behaupten so gut er kan.“ 36 Diese Haltung ist typisch für die Gesprächspiele, in denen es nicht primär darum geht, zu einem Ergebnis zu kommen, sondern Fragen zu debattieren und dadurch den Verstand zu schärfen, während Zesen offensichtlich eine gewisse normative Absicht verfolgt. Dass Harsdörffer und Zesen ihre Vorstellung von der Funktion literarischer Gespräche nicht von den gleichen Modellen herleiten, zeigt sich daran, dass sich Harsdörffer mehrfach auf die italienische Tradition mit ihren auch die Frauen einbeziehenden Konversationstheorien bezieht, die durchaus auch in den italienischen Akademien gepflegt wurden. Diese Vorstellung hat sich auch auf die Konzeption der Pegnitz-Schäfer ausgewirkt. Demgegenüber scheint sich Zesen, wie aus dem Helikonischen Rosenthal hervorgeht, eher an naturwissenschaftlichen Akademien zu orientieren. 37 Zesens Programm in den drei Sprachschriften ist von dem Harsdörffers wohl nicht grundsätzlich verschieden: er will einerseits die deutsche Sprache verbessern oder, wie er in der Einleitung zum Rosenthal sagt, zu jener Vollkommenheit führen, welche sie ursprünglich einmal hatte, bevor sie durch die Wirren der Geschichte verdorben wurde. 38 Es geht ihm aber auch um Sprachpatriotismus, das heißt darum, zu zeigen, dass die deutsche Sprache allen anderen überlegen ist, und schließlich geht es ihm offensichtlich darum, die Dichtkunst auf ein höheres Niveau zu bringen. Dies alles kann er durch die Form, die er seinen Sprachschriften gegeben hat, zugleich auch vorführen, indem er nämlich vor allem die Einleitung zu den einzelnen Tagen in der Regel –––––––––

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Ebd., Teil IV, S. 344. Siehe auch Vespasian am Ende dieses Spiels: „Kan also beide Meinung behauptet / und Teutsch / nach der Alten Schrift / Deutsch nach der gemeinen Aussprache geschrieben werden.“ (ebd. S. 347f.). Sie nennt er in erster Linie: „Unter den Weltlichen Geselschaften der Gelehrten hat man in unsrem geliebten Vaterlande / auch anderwärts / eine zeit her unterschiedliche gehabt: welcher absehen / unter andern / gewesen / fürnämlich die Scheidekunst aus zu üben / und die verborgenheiten der großen Zeugemutter aller dinge zu erforschen. Fast dergleichen Geselschaft ist die neulich-gestiftete Hochdeutsche Schuhle der Naturkündiger (ACADEMIA CURIOSORUM NATURAE) als auch die Englische Königliche Geselschaft der Naturerfahrenden (COLLEGIUM EXPERIMENTALE, oder CURIOSORUM NATURAE).“ (Zesen SW XII, 186). Vgl. auch das Zitat in Anm. 38. „Darinnen [in den Sprachübenden Gesellschaften] seind die Spracherfahrene dieser oder jener Völkerschaft bemühet / ihre Muttersprache / so wohl in dichterischer / als gemeiner rede / mit gesamtem fleisse / nicht allein bei ihrem angebohrnen glantze zu erhalten / und wo er etwan verblichen / ihn wieder zu ergäntzen; sondern auch die gantze Sprache je mehr und mehr auf das zierlichste aus zu arbeiten / und zur möglichsten volkommenheit zu bringen.“ (Zesen SW XII, 186).

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sprachlich sehr auffällig gestaltet: es wimmelt nur so von Wortwiederholungen, Binnenreimen, Assonanzen, ungewöhnlichen Wortzusammensetzungen usw., alles Mittel, welche eigentlich nur in der poetischen Sprache und nicht in der Prosa vorkommen. Dies alles wirkt wie eine Demonstration seines Könnens und zugleich als ein Versuch in der Dichtung jene Motiviertheit der Sprache wieder herzustellen, die sie im Alltag verloren hat. Als Beispiel möge der Anfang des ersten Tages des Rosen-mând dienen: Rosemund hatte die lieben augen noch nicht eröfnet; und der liebliche morgen / der das blaulichte gewölke nach osten zu mit lieblichen gold-strahlen bemahlet / begunte die aufsteigenden dünste der Amstel eben zu schwächen / als man dieser Schönen instehenden Gebuhrts-tag / mit allerhand seitenspielen zu begehen anfing / und die gantze gegend herum mit gesange und klange erschallen machte. 39

Noch weiter geht Zesen am Anfang der Helikonischen Hechel, wo in jedem Satz das Wort „lieb“ in den verschiedensten Zusammensetzungen und Neubildungen vorkommt: Wan liebliche tage hohe und zum ernst geneugte Geister iemahls verlieblichet / und mit frölichen lieblenden blikken aus alzu straffen tiefsinnigen gedanken in ein süßes liebreiches sinnenspiel gezogen; so ist es gewislich an diesem der zweiten Rosenwoche erstem morgen geschehen: da mit so liebseeligem und geleutertem antlitze der gühtige Himmel seiner lieben Liebsten / der Erden / gleichsam liebelte / und die Sonne sie so überaus lieblich / so überaus fröhlich / und so gantz anmuhtig bestrahlete / daß sie überal freudig / überal lachend / überal liebreizend an zu schauen war. 40

Die Natur bildet hier gleichsam die Stimmung ab, in der die nachfolgenden Gespräche sich abspielen sollen. Diese Einleitungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede Art von Galanterie und erotischem Spiel in die Rahmenhandlung verbannt ist, wo sie aber wiederum nicht ausgeführt wird. Man hört nur davon, dass Marhold Rosemund ein Ständchen bringen lasse, einzig am Ende der Schifffahrt ist von „schertz-worten“ die Rede. 41 Im Widmungsgedicht zu Harsdörffers V. Teil der Gesprächspiele spricht Zesen durchaus davon, dass neben der Kluginne (Athene) auch die Lustinne (Venus) und ihre Begleiterinnen, die Gratien und Cupido mitspielen: Lustinne verzukkert die Reden im Spiele / das muntere Liebeskind spielet zum Ziele: die trauten Holdinnen verlieblichen auch und lieben solch Spielen nach ihrem Gebrauch. 42

Vergleicht man Zesens dialogische Schriften mit Harsdörffers Gesprächspielen, so fällt die thematische Beschränkung auf die deutsche Sprache und Dichtung ––––––––– 39 40 41 42

Zesen SW XI, 93. Ebd., 293. Ebd., 199. Harsdörffer (Anm. 3), Teil V, S. 45.

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auf, während Harsdörffer ein umfassenderes Bildungsprogramm vertritt. 43 Zugleich ist Harsdörffer in vielem weniger dogmatisch als Zesen. Es geht ihm viel mehr darum, Meinung gegen Meinung zu stellen, während Zesen seinen Deutschlieb bzw. Marhold als Figur einsetzt, die das richtige Wissen besitzt. Vielleicht kann man diesen Unterschied auch als einen des Zielpublikums sehen. Harsdörffers Gesprächspiele zielen primär auf ein adliges Publikum: die Personen, die sie spielen, sind adliger Herkunft und insbesondere Frau Julia bezieht sich öfters auf Spiele, die sie an Höfen hat spielen sehen oder hören. Übrigens ist auch die Ausstattung von Harsdörffers Gesprächspielen, die außerordentlich viele Kupfer enthalten, eine ganz andere als die von Zesens bescheiden ausgestatteten Schriften. Zesens Zielpublikum ist ein bürgerliches, welches sich auf angenehme Weise aus diesen Schriften sein Wissen holt, dabei aber nicht zugleich eine Art von geselligen Umgang lernen will, für den diese Art Publikum wohl in der Realität keine Verwendung hat. Dazu passt auch, dass die Frauen im Gegensatz zu Harsdörffers Gesprächspielen nicht als gleichwertige Partnerinnen im Gespräch auftreten. In diesem Sinn schreibt Zesen, wie er es in der Vor-rede behauptet, in weit größerem Maße für alle als Harsdörffer. Auffällig ist in diesem Fall, dass Zesen bei einer relativ weiten Leserschaft ein Interesse für Themen wie das Alter der deutschen Sprache, die Entstehung der Buchstaben und Ähnliches voraussetzt. Dass er das Rosenmond-Projekt nicht zu Ende geführt und dass keine der Schriften eine zweite Auflage erlebt hat (im Gegensatz etwa zu Rists Monatsgesprächen), deutet darauf hin, dass Zesen sein Publikum nicht richtig eingeschätzt hat. Trotz der Rahmenhandlung weisen die Konzentration auf ein Thema und die oft recht umfangreichen Anmerkungen auf den Typus des gelehrten Gespräches hin, wie es Christian Thomasius in seinen Monatsunterhaltungen pflegen wird, welche dann aber ebenso wie Rists Monatsgespräche doch eher ein gebildetes Publikum anvisieren.

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Ich stimme nicht mit Markus Hundt überein, der Harsdörffer auf die Spracharbeit reduzieren möchte (Spracharbeit im 17. Jahrhundert: Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. New York 2000, und ders.: Sprachtheorie und Sprachspielpraxis im 17. Jahrhundert. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847–2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt a. M. u. a.. 2006, S. 97–134); das ist nur ein kleiner Teil des Programms.

Andrea Wicke

Philipp von Zesens literarische Sondierung politischer Ideen

„Die Geschichts-verfassungen von Lebendigen seind sorglich“, 1 so beginnt Philipp von Zesen die Vita Karls II. Fürsten wollten „fast alle vergöttlicht / und nicht / als sterbliche / beschrieben werden“ (21,12). „[S]icherer“, so Zesen, sei es, über Tote zu schreiben. Gleichwohl: Außergewöhnliche Phänomene verlangten außergewöhnliche Reaktionen, und so verdiene eine „ungemeine Tugend“, wie sie Karl II. verkörpere, „eine gedächtnüs-schrift“ (ebd.) zu Lebzeiten. Die Schwierigkeiten und Sorgen, die es mit sich bringt, über lebende Fürsten zu schreiben – die vergöttlicht werden wollen, obwohl sie doch gebrechliche Sterbliche sind – stehen dabei am Anfang dieser Herrschervita. Doch sind die ersten Sätze als captatio benevolentiae zu verstehen – und damit vorrangig als Versuch des Autors, sich für das nun folgende Herrscherlob die wohlwollende Aufmerksamkeit seiner Leser zu verschaffen. Im derart rhetorisch aufgemachten Kontrast zu den üblichen Schmeicheleien (vgl. 21,13f.) konzipiert Zesen seine „gedächtnüs-schrift“ als eine Vergegenwärtigung göttlicher Majestät. Im Rahmen seines gesamten Werkes wird Zesens Vita Die verschmähete Majestäht in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung zugewiesen: So hat Karl F. Otto eine „auffällige Romanähnlichkeit“ konstatiert,2 von Volker Meid wurde die Schrift in formaler und inhaltlicher Hinsicht als eine Art Bindeglied zwischen Zesens erstem Roman, Der Adriatischen Rosemund, und dem ein Vierteljahrhundert später erschienenen Josephsroman, der Assenat, charakterisiert. 3 In diesen Zusammenhang gehört auch die von Danielle Laforge Anfang der achtziger Jahre formulierte These, zwischen 1645 und 1670 habe ein politischer Sinneswandel Zesens – weg vom idealisierenden Lob städtischer Gemeinden und Republiken in der Adriatischen Rosemund, hin zum Verfechter absoluter staatlicher Souveränität in der Assenat – stattgefunden. 4 Als Beleg für diese These ––––––––– 1

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Zesen SW XV/1, S. 21, Z. 6. Weitere Zitate aus Die verschmähete und wieder erhöhete Majestäht werden in runden Klammern mit Seite und Zeile nachgewiesen. Karl F. Otto jr.: Zesens historische Schriften: ein Sondierungsversuch. In: Philipp von Zesen (1619–1969). Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 221–230, hier S. 222, 228. Werner Volker Meid: Zesens Romankunst. Frankfurt a. M. 1966, S. 86ff. Laforge hat ihre Thesen an zwei Orten publiziert; eine komprimierte Darstellung findet sich in: Danielle Laforge: Theorien über Hof, Staat und Gesellschaft in Philipp von Zesens Adriatischer Rosemund. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. II. Hg. v. August Buck u. a. Hamburg 1981, S. 257–260. Ich rekurriere hier auf die detailliertere Argumentation, siehe Danielle Laforge: Theorien über Hof, Staat und Gesellschaft in

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diente auch Zesens Übersetzung zweier akademischer Reden Buchners Was Karl der erste / König in Engelland / bei dem über Ihn gefälltem Todesurhteil hette fürbringen können, die er 1649 veröffentlicht und in deren Widmungsschreiben er sich als überzeugter Anhänger des Königs äußert. Laforges Vermutung, die im gleichen Jahr erfolgte Hinrichtung Karls I. habe bei Zesen einen politischen Sinneswandel ausgelöst, 5 ist von der Forschung nicht weiter verfolgt worden. Hingegen herrscht inzwischen ein allgemeiner Konsens darüber, daß sowohl des Josephs Heilige Stahts- Lieb- und Lebens-geschicht als auch Zesens Schriften zur englischen Revolution von einer „Theorie des idealen absolutistischen Monarchismus“ geprägt werden. 6 Hinsichtlich der Assenat bleibt gleichwohl – das haben die Überlegungen von Sandra Krump gezeigt – weiterhin strittig, wie relevant die politische Darstellungsintention für den gesamten Roman ist. 7 Innerhalb des Korpus der historischen Schriften, das von der Forschung erst allmählich erschlossen wird,8 dienen Zesens Schriften zur englischen Revolution als pauschale Belege für Zesens politische Haltung, sind aber im Einzelnen kaum untersucht. Im Folgenden wird es vor allem um Die verschmähete und doch wieder erhöhete Majestäht gehen: Nicht nur hat der hier zugrundeliegende politische Konflikt und seine breite Rezeption erheblich zur Differenzierung des zeitgenössischen Politikverständnisses beigetragen.9 Es hat im 17. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich kaum andere Themen gegeben, über die in populären wie in gelehrten Medien derart oft, ausführlich und kontinuierlich berichtet wurde.10 Die öffentliche Aufmerksamkeit erreichte – nach 1649 – um 1660 ihren zweiten Höhepunkt und der Verleger Joachim Noschen wollte offensichtlich davon profitieren.11 ––––––––– 5 6

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Philipp von Zesens Adriatischer Rosemund. In: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Elger Blühm u. a. Amsterdam 1982, S. 253–276, hier S. 275f. Laforge (Anm. 4), S. 276. Wilhelm Kühlmann: Philipp von Zesen. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. II. Hg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Stuttgart 1988, S. 266–276, hier S. 273. Vgl. Sandra Krump: Von der heiligen Schönheit: Zesens Assenat und die RomanDiskussion des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 26 (1997), S. 691–713. Grundlegend dazu Otto (Anm. 2). Seither wurde lediglich die Beschreibung der Stadt Amsterdam genauer untersucht: Vgl. die Einleitung von Christian Gellinek in: Europas Erster Baedeker. Filip von Zesens Amsterdam 1664. Mit einer Einleitung hg. v. Christian Gellinek. New York u. a. 1988. Kritisch dazu Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens Beschreibung der Stadt Amsterdam (1664). Informierender Bericht und narrative Darstellung. In: Daphnis 34 (2005), S. 203–229. Vgl. darüberhinaus nun den Beitrag von Dieter Martin zu Prirau im vorliegenden Band. Vgl. Günter Berghaus: Die Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640– 1669. Bd. I: Studien zur politischen Literatur und Publizistik im 17. Jahrhundert mit einer Bibliographie der Flugschriften. Wiesbaden 1989. – Jürgen Kamm: The Government of the Tongue. Der Diskurs um Herrschaft und Sprache im England des 17. Jahrhundert. In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Hg. v. Barbara Bauer u. Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 1998, S. 427–444. Nach Günter Berghaus, der die deutschsprachige Flugschriftenliteratur zur englischen Revolution publiziert hat, haben nur der Dreißigjährige Krieg und die Türkenkriege eine vergleichbare Publizität erreicht, vgl. Berghaus (Anm. 9), S. 78. Die publizistische Aufmerksamkeit läßt sich an den von Günter Berghaus zusammengestellten Erscheinungszahlen der deutschen Schriften zur englischen Revolution erahnen,

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Um Zesens Auseinandersetzung mit den politischen Konzepten seiner Zeit genauer charakterisieren zu können, sind also auch die literarische Gattung und der gewählte Publikationstypus einzubeziehen: Zesens Schrift partizipiert an der breiten Tradition der Fürstenspiegel – einem bedeutsamen Korpus politischer Literatur.12 Fürstenspiegel dienen nicht nur der rhetorischen, stilistischen und inhaltlichen Vergegenwärtigung der Preiswürdigkeit des Herrschers, sondern aufgrund der literarischen Tradition wie der repräsentativen Funktion eines solchen Herrscherlobs verweist die Schilderung der historischen Ereignisse auch auf das Herrschaftsverhältnis zwischen Gott und den Menschen, die Darstellung dient der Symbolisierung göttlicher wie weltlicher Ordnung. Diese Reichweite der Aussage fehlt den Städte- und Länderchroniken Zesens wie Leo Belgicus oder der Beschreibung der Stadt Amsterdam; auf diesen Aspekt komme ich zum Abschluß meiner Überlegungen zurück. Offenbar – das läßt sich vorab sagen – liegt Zesen weniger daran, den Herrscher im umgangssprachlichen Sinne zu vergöttlichen, indem er ihm schmeichelt oder sein Verhalten beschönigt. Vielmehr geht es darum, mit allen Mitteln zu zeigen, daß ein solcher König von Gottes Gnaden – und nicht von dieser Welt ist. Diese Vorrangstellung der Monarchie innerhalb der Schöpfungsordnung, quasi ein monarchisches Gottesgnadentum, gehört innerhalb der vier zeitgenössischen Konzeptionen politischer Herrschaft – politischer Aristotelismus, Monarchomachen, politica christiana und Tacitismus – zum vielgestaltigen Ideenkreis der politica christiana.13 Die verschmähete / doch wieder erhöhete Majestäht erscheint erstmals 1661 in Amsterdam im Verlag von Joachim Noschen, aktueller Anlaß ist die Krönung Karls II. 14 Es handelt sich um historische Gelegenheitsdichtung im weiteren Sinn – mit repräsentativer Funktion für gehobene, wenn auch nicht unbedingt gelehrte Ansprüche. Die Verherrlichung Karls II. ist an das kontinentaleuropäische, insbesondere deutschsprachige Publikum adressiert, dem die Restauration der Stuarts als Triumph eines theokratischen Absolutismus präsentiert wird. In ihrer Rechtfertigung der monarchischen Souveränität entspricht diese Schrift –––––––––

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vgl. Günter Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel Carolus Stuardus. Studien zur Entstehung eines historisch-politischen Märtyrerdramas der Barockzeit. Tübingen 1984, S. 298. Einen Überlick über das Korpus gibt der Artikel „Fürstenspiegel“ von Theo Stammen und Michael Philipp, vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992–2005, Bd. III, Sp. 495–507. Zum historischen Stellenwert und Wandel dieser Gattung vgl. Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. 2 Bde. Köln u. Weimar 1991, Bd. II, S. 468–474. Vgl. Dreitzel (Anm. 12), Bd. II, S. 481–528, insbes. S. 499ff. Der Titel wurde ein Jahr später wiederaufgelegt, versehen mit dem Anhang Die gekröhnte Majestäht (Amsterdam 1662) mit separater Paginierung. Das Titelkupfer wurde von der Erstausgabe übernommen, vgl. die auf die zweite Ausgabe rekurrierende Edition durch Ferdinand van Ingen: Zesen SW XV/1, 13f. u. 397–460. Zu den Drucken auch Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Stuttgart 1990–1993, T. VI, S. 4295f.

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dem publizistischen Mainstream. 15 Die Glaubwürdigkeit der Darstellung wird durch die dementsprechende Adressierung bekräftigt: Der volle Buchtitel weist nicht nur auf die aufwendige Ausstattung mit „unterschiedlichen Kupferstükken“ hin – es handelt sich um Darstellungen der wichtigsten Personen und Ereignisse –, sondern betont auch die breite Basis authentischer und zuverlässiger Quellen. 16 Das auch als Kurtzer Entwurf der Begäbnüsse Karls des Zweiten bezeichnete Werk umfaßt etwa 400 Seiten 17 und ist in drei Bücher etwa gleichen Umfangs gegliedert. Das erste Buch verhandelt die Jahre 1630–1653: Hier geht es um die Geburt Karls II., um den Sturz der Monarchie durch die Hinrichtung seines Vaters, Karls I., und schließlich um die Wahl Oliver Cromwells (13–146). Das zweite Buch schildert weniger das Militärregime Cromwells als vor allem die Versuche des auf den westeuropäischen Kontinent exilierten Prinzen, den englischen Königsthron wiederzugewinnen. Die Darstellung reicht bis zum Jahre 1658, dem Todesjahr Cromwells (147–268). Das dritte Buch setzt mit den Unruhen nach dem Tode Cromwells ein, es stellt die triumphale Rückkehr Karls II. nach London im Jahre 1660 und damit die Restitution der Monarchie detailliert dar. Mit der Verurteilung der Mörder Karls I. sowie der Exhumierung der Körper der Königsmörder Oliver Cromwell, John Bradshaw und Henry Ireton und ihrer nachträglichen Enthauptung schließt die „gedächtnus-schrift“ (269–394). Zesens Auseinandersetzung mit seinen Quellen ist noch nicht untersucht, anders als in der Assenat verzichtet er in der Majestäht auf Anmerkungen. Er nennt lediglich kursorisch das bereits im Juni 1649 erschienene (,.:1 %$6,/,.+, das er als eigenhändig verfaßte Lebensbeschreibung Karls I. auffaßt und als „Ebenbilde / oder Gedenk-schrift“ bezeichnet (49,10). 18 Außerdem erwähnt er anerkennend den deutschen Titel der Schrift von Claudius Salmasius –––––––––

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Obwohl belegt, lassen sich heute nur noch wenige Schriften finden, die sich für die englische Revolution aussprachen, vgl. Berghaus (Anm. 9), S. 47. Welche Zensurmaßnahmen die Veröffentlichung von Schriften, die „den Parlament und dessen adhaerenten favorisieren“ – so das Protokoll der kurfürstlichen Ratssitzung vom Juli 1653 –, hervorriefen, läßt sich am Beispiel von Miltons Pro Populo Anglicano Defensio beobachten, dazu Günter Berghaus: A Case of Censorhip of Milton in Germany: On an Unknown Edition of the Pro Populo Anglicano Defensio. In: Milton Quarterly 17 (1983), S. 61–70. Das erwähnte Protokoll befindet sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Bestand Kurbayern, Lit. 2636; hier zitiert nach Berghaus (Anm. 9), S. 92. „Alles aus den wahrhaftigsten unterschiedlichen englischen Verzeichnungs-Schriften gezogen“ (17). Zu den schriftlichen Quellen kommen persönliche Kontakte mit Gelehrten, Politikern und Diplomaten, auf die Zesen im fortlaufenden Text verweist. Vgl. dazu Otto (Anm. 2), S. 228; Berghaus (Anm. 11), S. 272. Das gilt für die zweite Ausgabe von 1662 (426 Seiten) wie für deren Edition durch Ferdinand van Ingen (394 Seiten). Vgl. (,.:1 %$6,/,.+ vel Imago Regis Caroli. In illis suis aerumnis et solitudine. Den Haag 1649. Das Werk hatte großen Erfolg, neben zwanzig englischsprachigen Ausgaben innerhalb weniger Monate zählt Berghaus im gleichen Jahr insgesamt siebzehn verschieden Ausgaben in holländischer, französischer, deutscher und dänischer Sprache. Die Autorschaft Karls I. ist umstritten, vgl. dazu wie zu Aufbau und Inhalt der Schrift Berghaus (Anm. 11), S. 117–133, hier 118f.

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(Claude Saumaise) Königliche Verthätigung Für Carl den Ersten (184,5ff.). 19 Dementsprechend polemisch ist der Ton gegenüber John Miltons Pro Populo Anglicano Defensio – eine aus proparlamentarischer Perspektive formulierte Kritik an Salmasius (148,29ff.; 184,15ff.). 20 Jedenfalls konnte Zesen im (,.:1 %$6,/,.+ eine typologische Argumentation mittels der imitatio passionis Christi vorfinden. 21 Und die propagandistische Schrift des Salmasius negiert jegliches Widerstandsrecht und situiert wie Zesen den König „supra leges“, sein legitimer Richter sei allein Gott.22 Meine Hypothese ist nun, daß Zesens Interesse für die politische Konzeption einer umfassenden Unantastbarkeit des Königs auf die gleichen kosmologischen Prämissen zurückzuführen ist, aus denen sich auch Zesens sprachtheoretischer und literarästhetischer Rigorismus speist. In der vorliegenden historischen Schrift wie im Josephsroman, der Heiligen Stahts- Lieb- und Lebens-geschicht, fungieren Termini wie Göttliche Majestät oder Heilige Geschichte als metonymische Formeln für die Undarstellbarkeit, Unsagbarkeit und Unerreichbarkeit der göttlichen Offenbarung. Folgt man Zesens Argumentation, eröffnet die damit verbundene Idee absoluter monarchischer Autorität einen ästhetischen Spielraum – an dem er vielleicht eher interessiert war als an den politischen Implikationen eines theokratischen Absolutismus. In literarischer Hinsicht nämlich legitimiert die Unerreichbarkeit der göttlichen Schöpfung sprachliche und ästhetische Innovationen, insofern die Entfernung vom Ursprung durch sprachliche Kühnheiten, seien sie etymologischer oder stilistischer Art, ausgeglichen werden kann. Im Folgenden werde ich drei Textpassagen aus der Verschmäheten Majestäht herausgreifen. An erster Stelle stehen Zesens poetologisch wie politisch signifikante Vorbemerkungen, zweitens greife ich die Darstellung Karls II. heraus, drittens geht es um die Hinrichtung Karls I. Die ersten beiden Passagen erlauben es, die literarischen Implikationen seines politisch-historischen Themas genauer zu erkennen, die hier angesprochenen Probleme sind auch für Zesens Adaptation der Josephsgeschichte relevant und werden dort wieder aufgegriffen. In der dritten Passage expliziert Zesen anläßlich des Prozesses gegen Karl I. sein Monarchiekonzept, innerhalb seines Werkes – soweit ich sehe – in einmaliger Deutlichkeit.

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Das Werk erschien 1649 bei Elzevier auf Kosten Karls II. Neben weiteren ElzevierAusgaben zählt Berghaus bis 1652 in Holland, Frankreich und Deutschland siebzehn verschiedene Ausgaben, vgl. Berghaus (Anm. 11), S. 147. Die Auseinandersetzung zwischen Milton und Salmasius wird in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts an den deutschen Universitäten breit rezipiert, vgl. Berghaus (Anm. 11), S. 148. Ebd. auch eine Auseinandersetzung mit Salmasius monarchistischer Schrift, S. 145–161. Berghaus (Anm. 11), S. 123ff. Vgl. [Claude Saumaise:] Defensio Regia. Pro Carolo I. AD Serenißimum Magnae Britanniae REGEM CAROLUM II. Filium natu majorem, Heredem & Successorem legitimum. O. O. 1649, S. 165. Zitiert nach Berghaus (Anm. 11), S. 154.

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I. Zesen legt seine Schrift als Fürstenspiegel an, insofern er das Vorhaben, die Vita des Herrschers zu dessen Lebzeiten zu verewigen, mit dessen außergewöhnlicher Tugend rechtfertigt. Karl II. wird als Verkörperung vollkommener Tugend vorgestellt: Zesen will „eines großmüthigen Fürstens bisher geführtes mehr als tugendhaftes leben / selbst vor seinen lebendigen augen / […] entwerfen: eines solchen Fürsten / der so guth / als groß ist / ja größer als der gantze neid / den er nunmehr nach langer verfolgung / glüklich überwunden“ (22,25). 23 Wie in einem Fürstenspiegel üblich ist die Person des Herrschers für das politische Geschehen konstitutiv; damit einher geht der exemplarische Anspruch der Darstellung: Ich werde allen Königen / und Herrschern auf erden / ja allen tugendliebenden augen einen recht-königlichen Tugend-spiegel vorstellen. darinnen sollen sie schauen eine verschmähete / doch wieder erhöhete Majestäht / einen verhöhnten / doch wieder gekröhnten König (22f.).

Nach dieser Rechtfertigung in der Sache diskutiert Zesen sprachliche und ästhetische Schwierigkeiten, die sich aus dem besonderen Gegenstand für die Darstellung ergeben. Schon an dieser Stelle wird Karl II. als personifizierter Eingriff Gottes in die Geschichte vorgestellt, und damit als „Wunder-werk“ Gottes, das mit menschlichen Mitteln nicht wiedergegeben werden kann. Zesen entwickelt dabei aus konventionellen Bescheidenheitstopoi dialektisch ein entschiedenes Bekenntnis zu einem ästhetischen Simplizitätsideal. Ich zitiere: Aber wie sol meine Feder ein solches Wunder-werk nach genügen beschreiben; […] Als wenig der künstlichste mahler die Sonne kan abbilden / gleich wie sie ist / so wenig kan auch dieser recht-königliche Sonne die gelehrteste feder entwerfen. […] Das große kan allein ausdrücken / was groß ist. […] Darüm möchte ich mich wohl vergnügen laßen solche heilige Majestäht eher mit verwunderung zu beschauen / als so uneigendlich auszubilden. Zudem solte mich auch billich meine armuht an zierlichen Worten / und hohen erfündungen zurücke halten; wan ich nicht wüste / daß die Tugend / wie sie in ihrer höchsten majestäht am allereinfältigsten ist / also auch mit einfältigen gedanken / und worten wil beschrieben sein.“ (23,14ff.)

Zesen geht hier über die gebotene auktoriale Bescheidenheit deutlich hinaus und scheint seine Darstellung von der rhetorischen Aufgabe lösen zu wollen, die Herrscherpersönlichkeit zu verherrlichen. Als Verkörperung der göttlichen Offenbarung läßt sich die „heilige Majestäht“ mit sprachlichen Mitteln nicht angemessen veranschaulichen – und genau dieses Manko rechtfertigt die besonderen Ausdrucksmöglichkeiten der Darstellung. Der Hiatus zwischen der göttlichen Schöpfung und der menschlichen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, den Zesen an dieser Stelle postuliert, scheint mir eine basale Vorstellung für sein gesamtes literarisches Schaffen zu bilden, auf die er immer wieder auf den verschiedensten Argumentations- und Darstellungsebenen ––––––––– 23

An späterer Stelle heißt es: Gott habe ihn „mit solchen tugenden begabet / die selten jemand besitzet / der weniger ist / als ein könig.“ (140,14f.).

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rekurriert. Hingewiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf seine wiederholten Reflexionen über Sterndeuterei, in deren Rahmen in der Verschmäheten Majestäht (28f.) wie in der Assenat 24 providentielles Geschehen und menschliche Möglichkeiten vermittelt werden. Zesens „Geschichts-verfassung“ (21,6) – so läßt sich der hier formulierte Anspruch verstehen – geht es nicht um die sprachliche Repräsentation der äußeren Pracht des Königs, sondern um die Vergegenwärtigung ihrer inneren Majestät. Das Heilige oder eine ungemeine Tugend lassen sich nicht im rhetorischen Ornat ausdrücken, sondern nur „mit einfältigen gedanken und worten“. Zesen distanziert sich hier von der konventionellen Vorstellung, daß ein wirkungsvoller Text geschmückt sein müsse. Sprachliche Ausschmückungen gelten ihm als „verdunklende schminke“ (25,5), die den „natürlichen schmukke“ verdeckt. Es sei nur daran erinnert, daß Zesen auch in seiner programmatischen Vorrede zur Assenat betont, bei der Darstellung des heiligen Geschehens käme es nicht auf Maskierungen an, sondern es gehe um die „nakte Wahrheit dieser sachen“, 25 der zu größerer Wirkung verholfen werden soll. Gerade die Vollkommenheit des Gegenstands der Darstellung erfordert es, sich von der Vorstellung zu verabschieden, sie könne mit menschlichen Mitteln wiedergegeben werden. Nur Gegenstände der Schöpfung, die von geringerer Dignität sind, lassen sich mittels menschlicher Kunst perfektionieren. In diesem Zusammenhang distanziert Zesen sich von den sprachlichen Mitteln der Beschönigung, von den colores rhetorici, von Sinnfiguren und Tropen: „Es seind nur schlechte bluhmen / die ein mahler schöner kan mahlen / als sie die natur gebildet. Also ist es nur ein schlechtes ertz / das man vergülden / und also durch die gold-farbe verschönern mus. das gold selbsten hat es nicht nöhtig.“ (25,7ff.) An diesem Punkt enden Zesens literarästhetische Präliminarien.

II. Erst jetzt beginnt die eigentliche Vita des „Großmüthigen Karl“. Bei dessen Präsentation als auserwählter Person verfährt Zesen in ähnlicher Weise wie später hinsichtlich der biblischen Josephsfigur im Roman. Zunächst wird die Geburt dieses Prinzen von verschiedenen Phänomenen begleitet, die als Hinweise darauf fungieren, „daß das göttliche Verhängnüs aus unserm Karl was sonderliches zu machen vorgehabt“ (26,8f.). Das Geschehen entspricht der göttlichen Vorsehung, insofern es fünf Jahre dauerte, ehe der „Wunder-sohn […] aus [dem] mutterleibe hefür brach“ (26,13), und bei seiner Geburt erschien ein neuer Stern über London (27,24). Zesen betont die besondere Aufmerksamkeit der „gantze[n] Natur auf königliche Gebuhrten“ (27,30) ebenso wie auf das Sterben „Großer Fürsten / und ––––––––– 24 25

Zesen SW VII, 165f. Zesen SW VII, 11, V. 8.

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anderer großen Leute“. Die Natur weist „durch neue sterne / luft-zeichen / flammen / donnern / erdböben und dergleichen“ auf das außerordentliche Geschehen hin. Zesen kommentiert: „Königen / als Gesalbten deß Herrn / komt diese anmärkungs-ehre billich zu“ (28,4), nicht aber gemeinen Leuten, die täglich geboren werden und sterben – nämlich „ohne dergleichen anmärkungen“. Das Phänomen läßt sich durch ein besonderes Verhältnis königlicher Nachfolge plausibilisieren; jedenfalls führt Zesen das Erscheinen des Sterns zurück auf die Geburt Jesu Christi: „Als Gottes eigener Sohn zum Könige über das heilige Zion mensch gebohren ward / kam ein stern aus dem Morgenlande seine heilige gebuhrt anzuzeigen“ (28,7–9). Doch nicht nur die Geburt, auch die Leiden Christi wurden – wie beim englischen König – von Naturgewalten kommentiert und durch „ein erschrökliches erdböben / und stokdikke finsternüs“ begleitet (28,14). Damit erhält die gesamte historische Darstellung einen heilsgeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen der englische Bürgerkrieg als Leiden, ja Kreuz des Königs präsentiert wird, dessen Leben als imitatio passionis Christi erscheint. Viel später, am Ende des ersten Buches, greift Zesen die verschiedenen Aspekte, die die Prädestination des Königssohns belegen, wieder auf. Der Verlauf des historischen Geschehens hat an dieser Stelle die Hinrichtung Karls I. bereits hinter sich gelassen; der in Den Haag weilende Karl II. hat die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten, mit Fassung reagiert und entschließt sich nun, nach Paris aufzubrechen, um seine Mutter zu besuchen. Diesen banalen Ortswechsel nutzt Zesen für einen radikalen Perspektivwechsel am Ende des ersten Buches, insofern er den „Prinzen von Wales“ in Holland läßt, um in Paris „seiner Majestät dem neuen Könige von Engelland / wie wir ihn hinfort allezeit nennen werden / selbst auf[zu]warten“ (132,20). Daß er den Prinzen von Wales bereits zu diesem Zeitpunkt, lange vor seiner tatsächlichen Krönung, als englischen Monarchen einführt, betrachtet und anspricht, ist nicht nur ein dramaturgischer Vorgriff auf das zukünftige Geschehen, sondern ist signifikant für Zesens Monarchieverständnis. Zesen argumentiert hier mit der Unsterblichkeit des Königs als Institution Gottes: Dan weil könige / ob sie schon sterben sollen / als menschen / gleichwohl / nach Gottes ausspruche selbst / Götter seind / und dannenher der kraft nach / leben gleich den Göttern / ja / nach den gesetzen / niehmahls todt sein können; […] Und in wahrheit die natur selbst trägt eben so viel sorge / daß ihr wesen nicht aufhöre / als die gesetze tragen / daß ihre handhabung nicht nachbleibe. (132,22f.)

Auf die Implikationen dieses Monarchieverständnisses, das zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Körper des Königs unterscheidet und den Staat als eine der Natur analoge Institution Gottes betrachtet, gehe ich an späterer Stelle noch ein. Hier geht es mir um die Auszeichnungen des Protagonisten (132ff.). Nach Zesen ist der Sohn Karls I. bereits zu diesem Zeitpunkt „die einige Obermacht über Engelland / die von Gott verordnet ist“ (133,17). Zesen nennt dafür fünf Argumente, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind – und wohl in ihrer Summe besonders überzeugend wirken sollen. Die ersten vier

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Gründe lauten: Karl ist König durch Erstgeburt, sodann durch die in der Reichsverfassung garantierten Erbrechte, schließlich durch seinen Stammbaum und überdies aufgrund der historischen Übergabe der erblichen Königswürde an die Stuarts. Auf solche genealogischen Aspekte hebt beispielsweise auch das Titelkupfer der Verteidigungsschrift für Karl I. von Salmasius ab, die vom Prinzen selbst in Auftrag gegeben worden war. 26 Zesen dagegen mißt dem fünften Grund besondere Bedeutung bei, nämlich: „sotahnige Gemühts- so wohl / als leibes-gaben / und sonderliche geschikligkeiten“, mit denen „Gott [Karl II.] vor andern menschen so mildiglich ausgezieret / daß er deswegen allein eines solchen Reichstuhls würdig sein solte.“ (134,28) Wie bei der Josephsfigur stimmen hier innere und äußere Schönheit überein. 27 In der außergewöhnlichen seelischen wie physischen Schönheit dieses Menschen, in der sich innere und äußere Begabungen harmonisch fügen, zeigt sich die unerreichbare Herrlichkeit Gottes in seiner Schöpfung. Anders als die vorangegangenen Argumente, die sich auf anderthalb Seiten abhandeln ließen, entfaltet Zesen diesen Punkt auf über sechs Seiten. Zesen versteht die Person des Königs als Ausdruck göttlicher Providenz. Auserwählte Menschen werden in besonderer Weise ‚erleuchtet‘ und ‚geziert‘ (vgl. 135,9f.), die Eigenschaften Karls II. demonstrieren in diesem Zusammenhang eine besondere Nähe zu Gott, seinen Status als Auserwählter: Wan Gott beschlossen / einige seiner gschöpfe über das gemeine wesen der sterblichen zu erhöben / und / gleich als die sonne die aufsteigenden dünste / näher zu sich zu ziehen / damit er zu ihnen sagen möge / ihr seid Götter; alsdann pfleget er sie mit hohen klahrheiten zu erleuchten / und mit gaben / ehre / und herligkeiten zu zieren / eben wie die strahlen der sonne den aufgezogenen dampf der erde. (135,4ff.)

Das Bild von der den irdischen Dunst aufklarenden Sonne ist aufschlußreich, weil damit auch das providentielle Geschehen weniger mit blendender Pracht als mit einer eine klare Sicht ermöglichenden Aufklärung – avant la lettre – konnotiert wird. Auch diese Metaphorik hat ihre ästhetischen Implikationen: Genannt sei neben der anfangs erwähnten ‚Einfältigkeit‘ des Ausdrucks nur Zesens kurzbündiger, lakonischer Stil, der zum besseren Verständnis – und nicht zuletzt: zur sprachlichen Vergegenwärtigung eines heiligen Geschehens beitragen soll. 28 An erster Stelle wird die „leibsgestalt“ Karls II. beschrieben – unter Anspielung auf biblische Herrscherfiguren wie Saul (135,18), Absalon (135,22), David (135,30). Freilich haben die biblischen Gestalten hier keine konstitutive, son-

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[Claude Saumaise:] Königliche Verthätigung Für Carl den Ersten: Geschrieben An dessen Eltesten Sohn, Erben und rechtmäßigen Nachfahr Den durchläuchtigsten König von GroßBrittanien Carl den Andern. O. O 1650, Titelkupfer (vgl. VD 17: 23:239430B). Zu den Entstehungsumständen dieser Schrift vgl. Berghaus (Anm. 11), S. 145f. Zesen SW VII, 69ff. Zum lakonischen Stil der Assenat vgl. Meid (Anm. 3), S. 104ff.

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dern eher eine die Argumentation unterstützende Funktion. 29 Zesen bemerkt, der eigentlich bereits vollkommene äußere Eindruck seiner Person werde noch gesteigert, weil belebt, wenn Karl das Wort ergreife: dann sei er „am allerschönsten“ (136,7). Auffällig ist, wie die eigene Dynamik des verführerischen Schönen – nicht immer überzeugend – zugunsten der ehfurchtgebietenden Präsentation von Macht limitiert werden muß. 30 In diesem Sinn betont Zesen abschließend, daß es sich bei Karl um keine reizende, sondern vielmehr majestätische Erscheinung handelt, die „eher herlich / als lieblich“ (136,11f.) wirke. Die äußere Gestalt der Majestät fungiert – insgesamt gesehen – indes lediglich als ‚schön gezierter Rahmen‘ (136,17) für seine geistigen Fähigkeiten: Zesen hebt hier den Intellekt, die Urteilskraft und das Gedächtnis Karls II. hervor. Zu den intellektuellen Fähigkeiten Karls gehören an erster Stelle seine sprachlichen Kompetenzen, die ihm alle Wissensbereiche eröffnen: Zesen rekurriert hier in beiläufiger und – ob des selbstverständlichen Gestus – in besonders aussagekräftiger Weise auf einen platonischen, sprachbasierten Wissensbegriff, der mit seiner Sprachtheorie korrespondiert, insofern „niemand der dinge wissenschaft volkömlich erreichen könnte / er hette dan zuvor sich der worte / als des mittels die beschaffenheit der dinge so wohl auszubilden und zu lehren / als zu erlernen und zu fassen / bemächtiget“. Nur mit großer Sprachkenntnis kann es demzufolge gelingen, „seine seele in die gelehrtheit Gottes sowohl / als der welt / um soviel besser einzuführen“ (136f.). Die Vollkommenheit dieses Königs wird in einer interessanten Verschränkung ethischer und ästhetischer Kriterien resümiert: „Dan was wahrhaftig ist / was erbar / wer gerecht / was keusch / was lieblich / was wohllautet / das ist alles in ihm.“ (140,16f.) Die Kriterien des Lieblichen und des Wohllautenden beziehen sich nicht nur auf verhaltensethische, sondern auch auf ästhetische Parameter: Es ist ein autonomes Schönes, daß sich in dieser Majestät zeigt – zu dem neben der Anmut auch der schöne Klang seiner wohlgesetzten Worte, die Euphonie, gehört. Den majestätischen Anspruch Karls II. auf Königswürde repräsentieren auch seine sinnlichen Reize. Das abschließende Plädoyer für Karl II. als „einige Obermacht über Engelland“ (133,17) verknüpft Zesen mit einer Bemerkung über die verblendeten englischen Parlamentarier, die deren Anliegen jegliche Legitimation abspricht: „Er ist der Man / den Gott / und alle Menschen eines Königreiches für würdig geachtet / ohn allein dieselben / derer König er ist.“ (140,18)

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Zu dieser Differenzierung siehe Herfried Münkler: Moses, David und Ahab. Biblische Gestalten in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit. In: Bibel und Literatur. Hg. v. Jürgen Ebach u. Richard Faber. München 1995, S. 113–136. Analoge Darstellungsprobleme stellen sich bei der Beschreibung fürstlicher Feste, dazu Thomas Rahn: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568–1794). Tübingen 2006, S. 9–20.

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III. Ich komme zur dritten ausgewählten Passage, der Hinrichtung Karls I. (91ff.). Zum historischen Hintergrund: Im Januar 1647 war Karl I. von den Schotten an das Parlament ausgeliefert worden. Im Januar 1649 eröffnet das von radikalen Independisten dominierte Rumpfparlament den Prozeß gegen den König. Die Anklage lautet auf Tyrannei und Anzettelung des Bürgerkriegs. Bei Zesen finden sich typologisch argumentierende Verweise, die die folgenden Ereignisse als Martyrium Karls I. verstehen lassen; so evoziert seine Ankunft in London Jesu Gang nach Golgatha. Indes konterkariert der Sinn für das historische Detail ein wenig die typologische Argumentation: Nach Zesen wurde Karl I. „in die Stadt / zwischen […] zween Feldherren / eben wie unser HErr und Heiland zur Schädelstette / zwischen zween mördern / geführet […] / doch gleichwohl mit dem vorzuge daß dieses zu pferde / jenes aber zu fuße geschahe“ (95,26ff.). 31 Der Prozeß gegen Karl I. wird als Handeln einer „selbstherrische[n] Rotte“ (92,25), eines „Blut-raht[s]“ (98,3) präsentiert. Nach Zesen vollzieht sich durch diesen Prozeß eine völlige Verkehrung der gottgewollten politischen Staatsverfassung: „Dan“, so Zesen, „sie waren alle so unheilig / und so verteufelt / daß sie auch Gottes heiligen Rahtschlus selbst / durch den ihrigen / zu vernichtigen sich unterstunden.“ (97,29) Der politische Staatskörper wird damit nicht nur auf den Kopf gestellt, sondern das Haupt wird ihm abgeschlagen und die Füße erscheinen an Stelle des Hauptes. 32 Daß es sich bei diesen Vorgängen insgesamt um eine Usurpation staatlicher Macht handelt, stellt Zesen auch im Zusammenhang mit dem neuen Siegel heraus, mit dem das Rumpfparlament sein Handeln bevollmächtigt. Dieses Siegel hatte die äußerst bedeutsame Funktion, den Parlamentariern die nötige institutionelle Autorität zu verleihen, im Namen des Königs gegen das Individuum Karl I. aufzutreten und vorzugehen. 33 Zesen dagegen akzentuiert die grauenerregende Absurdität und völlige Illegitimität dieses Verfahrens, mit dem ––––––––– 31

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Biblische Metaphern und apokalyptische Motive dienen überdies dazu, das Verhalten des Rumpfparlaments zu verunglimpfen: Hier wütet das „rasende viel-köpfige Untier“; das „Nattern-gezüchte“ (97,13) verstopft seine Ohren vor den Ratschlägen der Rechtsgelehrten (97,22f.). Zesen verweist auf eine wächserne Bildsäule aus der Regierungszeit Richard II., die zuweilen gesprochen habe. An ihr habe „man endlich das heupt gemisset und die füße an dessen stat erhoben gesehen.“ Zesen deutet dieses Ereignis, „[w]an dieses wahr ist“ als auf die aktuelle Revolution vorausweisendes Zeichen, vgl. 98,19. Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 21994 [zuerst engl. 1957], S. 44f., analysiert die während des Bürgerkriegs entstandenen Darstellungen des englischen Königs auf Siegeln und Medaillen, die den König im Parlament zeigen. Zur Kritik an Kantorowicz’ zentraler These, die Lehre von den zwei Körpern des Königs habe die christologische Vorstellung der zwei Körper Christi säkularisiert, vgl. Blandine Kriegel: Kantorowicz und die Entstehung des modernen Staates. In: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. Hg. v. Wolfgang Ernst u. Cornelia Vismann. München 1998, S. 119–127.

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sich die Repräsentanten des Gemeinwesens der majestas teilhaftig machen: Im Blutraht saßen solche leute / die alle des Beklagten nicht allein untertahnen / und eids-verpflichtete / sondern auch tod-feinde waren / ja zugleich auch Ankläger und Richter sein sollten / gevolmächtigt durch ein großes und neues siegel / und also wohl gevolmächtigt / als die besten fleisch-hauer / über ihres Herrn und Königes Leben / und tod zu sitzen; ja nach den rechten / wiewohl wider das recht / denselben zu richten / der / als ein geber und stifter des rechts / weit über das recht war. Und also ward der König gerichtet / nicht durch seines gleichen / weil ihm keiner gleich / auch nicht durch seinen Obern / der allein Gott ist; sondern durch seine Untertahnen. (98,4ff.)

Zesen negiert hier nebenbei das verfassungsrechtliche Paradox, daß der Souverän über dem Gesetz steht und an das Gesetz gebunden ist – auf das alle zeitgenössischen Widerstandstheorien in irgendeiner Weise rekurrieren. 34 Stattdessen argumentiert Zesen vor dem Hintergrund eines theokratischen Absolutismus. Danach ist der Herrscher als Amtmann Gottes vorzustellen, ist allein diesem verpflichtet – und steht über den weltlichen Gesetzen. Das läuft auf eine staatsrechtliche Unverantwortlichkeit des Königs hinaus. Es folgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit den vier Hauptanklagepunkten. Der König sei, so die Anklage, erstens, ein Tyrann; zweitens, ein Mörder; drittens, ein Verräter; viertens, ein Feind des Vaterlandes. Für Zesens Herrschaftsverständnis ist die Argumentation gegenüber dem Vorwurf des Verrats besonders aufschlußreich: Zesen bestreitet nämlich grundsätzlich jede Möglichkeit, einen König des Verrats zu bezichtigen. Der Tatbestand des Verrats, hier verstanden als „treu-brüchigkeit“, sei nur unter „seines gleichen“ oder von einem „kleinern gegen den grössern“ möglich (101,16f.). Nach Zesen kann der König nur jemanden verraten haben, der ihm übergeordnet ist, weil er nur einer übergeordneten Instanz verpflichtet ist. Innerhalb dieses Herrschaftskonzepts gibt es die Möglichkeit nicht, daß der König sein Volk verrät. Dementsprechend ist dieser Anklagepunkt für Zesen „ein aberwitziger neuer / in ihrer neuen Stahts-kunst erst jung-gewordener fund“ (101,20). Er plädiert dafür, das Verhalten des Königs dem das Weltgeschehen abschließend beurteilenden Jüngsten Gericht anheim zu stellen – und damit dem Urteilsspruch Gottes zu überlassen. Sein zentrales Argument lautet: Über Karln hat nie ein anderer könig geherschet. Man hette ihn sollen stehen / oder fallen lassen / vor seinem eigenen Herrn / an jenem großen tage des des urteils / der von Gott bestimmt ist / durch seinen Sohn alle menschen / so wohl groß als klein / zu urteilen / und zu verdammen. (101,24)

Philipp von Zesen artikuliert hier einen theokratischen Absolutismus, demzufolge der Herrscher im staatsrechtlichen Sinn nicht zur Verantwortung zu ziehen ist. Diese Herrschaftskonzeption rekurriert auf den englischen Royalismus, auf ––––––––– 34

Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht im Europa der Neuzeit: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven. In: Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Hg. v. R. v. F. Berlin 2001, S. 11–59.

Zesens literarische Sondierung politischer Ideen

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die Vorstellung vom Divine Right of Kings, wie sie die Stuarts, insbesondere Jakob I., entwickelt hatten. Historisch gesehen wurde diese Konzeption durch die Ereignisse der englischen Revolution überholt, und im Reich gewann diese Variante der politica christiana keinen größeren Einfluß. 35

Schluß Zesen favorisiert die politische Idee eines monarchischen Gottesgnadentums. Schon aus Gattungsgründen ist seine Schrift Die verschmähete und wieder erhöhete Majestäht besonders aussagekräftig, um Aufnahme und Verarbeitung zeitgenössischer politischer Konzepte zu beobachten, denn Zesen läßt in deren Verlauf aufgrund seines historischen Gegenstandes die Vorgaben eines Fürstenspiegels hinter sich. Die Darstellung der Hinrichtung Karls I. erfordert es, ein umfassenderes Herrschaftskonzept zu entwickeln, das sich von der Person des Fürsten, seinen Tugenden und seinem moralischen Verhalten löst. Die verschmähete Majestäht scheint mir deshalb für Zesens politische Haltung aussagekräftiger als seine Städte- und Landeschroniken, die nicht in dieser Weise eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Staatswesen erfordern, sondern in denen vielmehr alle persuasiven Mittel dazu dienen, Bestehendes zu preisen. Der politische Konflikt, den Die verschmähete Majestäht verarbeitet, hält hier größere Herausforderungen bereit – und führt dazu, politische und literarästhetische Vorstellungen engzuführen. Gleichwohl ist es weder nötig noch überzeugend, Zesen in den Jahren 1649 bis 1670 einen radikalen politischen Gesinnungswandel zu unterstellen. Vielmehr ist von einer Gemengelage von Motiven auszugehen: Nicht nur entstehen in den 60er und 70er Jahren mit Leo Belgicus und seiner deutschen Übersetzung sowie der Beschreibung der Stadt Amsterdam die bereits erwähnten Chroniken, deren Gegenstände und persuasive Aufträge andere politische Präferenzen nahelegen. 36 Überdies ist generell zu berücksichtigen, daß Zesen für stark am aktuellen Markt ausgerichtete Verlage (beispielsweise Jacob van Meurs, Joachim Nosche, Elzevier) gearbeitet hat, und es gibt Indizien dafür, daß seine Meinungsäußerungen auch absatzfördernden Maßgaben gehorchten. 37 Soweit ich sehe, geht Zesen nicht eigens auf das Verhältnis von monarchisch und demokratisch verfaßten Gemeinwesen ein. Aber die in der Verschmäheten Majestäht artikulierte Vorstellung vom Gottesgnadentum impliziert einen natürlichen Vorrang der Monarchie in der Schöpfungsordnung. Das bedeutet, daß andere Staatsformen, bspw. Republiken, als defizienter Modus institutioneller Herrschaft angesehen werden. Und es fällt auf, daß Zesen in den Chroniken – und –––––––––

35 36 37

Vgl. dazu Dreitzel (Anm. 12), Bd. II, S. 509. Vgl. Ferdinand van Ingen (Anm. 8), S. 203f. Vgl. für das Beispiel der Amsterdam-Chronik die Hinweise von Christian Gellinek (Anm. 8), S. vii–xx.

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Andrea Wicke

das gilt eben auch schon für das Lob Venedigs im Roman Die adriatische Rosemund – diesseits epideiktischer Beredsamkeit immer wieder die moralische Korrumpierung der Bürger dieser Republiken thematisiert. 38 Diesseits politischkonzeptioneller Fragen setzt Zesen hier auch persönliche gesellschaftskritische Akzente – ich erwähne nur seine Einlassungen zum Ämterkauf, seine Beschreibung der ständeübergreifenden Beschäftigung mit den freien Künsten als Schlüsselkompetenz –, die sich indes nicht zu einer konsistenten politischen Aussage bündeln lassen. Insgesamt scheint mir Zesen weniger an staatstheoretischen Problemen interessiert zu sein, als daran, eine geeignete Sprache für ein quasi göttliches Geschehen zu finden. Seinen ästhetischen Ambitionen kommt die Vorstellung eines theokratischen Absolutismus sehr entgegen, insofern sich dieser politische Diskurs mit einem Schönheitsbegriff vereinbaren läßt, der aufgrund einer umfassenden Unerreichbarkeit des Herrschers entrhetorisierende Effekte hat und ästhetische Kühnheiten rechtfertigt.

–––––––––

38

Vgl. die Kritik am Hochmut der Venezianer und an der Geldgier der Niederländer in der Rosemund, Zesen SW IV/2, 215f., 273, V. 31ff. Ähnlich für den Niederländischen Leuen, Zesen SW XV/2, 597, V. 20. Für die Beschreibung der Stadt Amsterdam: Zesen SW XVI, 369, V. 25f.

Namenregister

Achilleus Tatios 129 Agrippa v. Nettesheim, Heinrich Cornelius 89 Alewein, Hans Adolf v. 93 Ampelius, Lucius 174f. Amyot, Jacques 121–123, 125–129, 135 Anhalt-Bernburg ĺ Christian II., F. v. Anhalt-Dessau ĺ Johann Georg I., F. v. ĺ Johann Georg II., Hz. v. Anhalt-Köthen ĺ Ludwig I., F. v. ĺ Wilhelm Ludwig, Pz. v. Anton Ulrich, Hz. v. BraunschweigLüneburg 120 Antoninus Pius, Röm. Kaiser 170f. Apelles v. Löwenstern, Matthäus 102f: Apuleius, Lucius 129 Arat 165 Ariosto, Ludovico 205 Ariston 172f. Aristophanes 176–178 Aristoteles (aristotelisch) 7, 86, 130, 137 Arnold, Christoph 108 Arnold, Gottfried 17 Avienus, Rufius Festus 165, 169, 172f., 178 Audiguier, Vital d’ 120, 124–127, 129, 131–133, 138 August d. J., Hz. v. BraunschweigLüneburg 103f. August, Hz. v. Sachsen-Weißenfels 206 Bacon, Francis 104 Badius Ascensius, Jodocus (Bade, Josse) 145 Balzac, Jean-Louis Guez de 127 Barlaeus (van Baerle), Caspar 165 Baudoin, Jean 128 Bayer, Johann 162, 164, 170f., 178, 180 Bellin, Johann 22 Besser, Johann 56 Birken, Sigmund v. 25f., 60, 68, 101, 106f., 110, 120, 183, 204, 207, 209 Blaeu, Johann 162, 166

Blaeu, Willem 162, 164, 166 Boccaccio, Giovanni 152 Bochart, Samuel 153 Bock, Hieronymus 151 Bodmer, Johann Jacob 8, 141 Boethius, Anicius Manlius Torquatus Severinus 211 Böhme, Jakob 20 Borck, Philipp Adrian v. 96, 106, 112f. Bose, Georg 197 Böttiger, Karl August 141 Boyle, Roger 135 Bradshaw, John 226 Brahe, Tycho 170f. Brant, Sebastian 145 Brehme, Christian 38 Braunschweig-Lüneburg ĺ Anton Ulrich, Hz. v. ĺ August d. J., Hz. v. Breitinger, Johann Jacob 8 Buchner, August 7f., 37–40, 43f., 46f., 50, 53, 103, 183, 187–194, 197, 202, 224 Caesius, Abraham 166 Caesius, Federicus (Federico Cesi) 166 Camus, Jean-Pierre 124, 126 Castiglione, Baldassare 206 Cervantes Sauvedra, Miguel de 128f. Christian II., F. v. Anhalt-Bernburg 193, 195–197 Christina, Kgin. v. Schweden 110 Cicero, Marcus Tullius 172f., 178, 211 Columella, Lucius Iunius Moderatus 172, 173 Comes, Natalis (Natale Conti) 152, 180 Corneille, Pierre 128 Cromwell, Oliver 226 Crusius, Johannes 162 Dante Alighieri 147 Darel, J. Dorotee 78 Dieskau, Hans v. 197 Dohna, Christoph v. 196

238 Dousa, Janus (Jan van der Does) 57 DuPlaisir 129 Durantes, Castore 153 Eitzen, Margrete v. 15 Eleonore, Röm. Ksin. 52, 108, 114f. Erasmus v. Rotterdam, Desiderius 145 Eyb, Albrecht v. 86 Ferdinand III., Kg. v. Ungarn, Röm. Ks. 52, 105–111 Ficino, Marsilio 80f., 83 Fielding, Henry 139 Fischart, Johann 86f., 90 Fleming, Paul 35, 80, 93 Francisci, Erasmus 209, 211 Frobenius, Johannes 121 Furetière, Antoine 131

Namenregister Heinsius, Daniel 147 Heliodor 119–121, 123, 125, 128–131, 134–138 Hellwig, Johann 25f. Helmont, Johan Baptista van 83 Henriette Catharina, Pzin. v. NassauOranien 111f Herder, Johann Gottfried 200 Herwagen, Johannes 121 Hesychios 170f. Hieronymus 86f., 89 Hille, Carl Gustav v. 193 Homer 120, 130, 139, 141, 153 Horaz 55, 130, 137 Hübner, Tobias 43 Huet, Pierre Daniel 124, 129 Hyginus, Caius Iulis 162 Ireton, Henry 226

Galilei, Galileo 162 Galen 178 Gellius, Aulus 218 Germanicus, Iulius Caesar 165, 169, 174–180 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm v. 142 Gerzan, François du Soucy, Sieur de 120, 124, 127–132, 137 Glauber, Johann Rudolph 113 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 142 Goethe, Johann Wolfgang 141 Gottsched, Johann Christoph 3, 7f., 12, 55–57, 71 Goulart de Senlis, Simon 197 Grimmelshausen, Johann Jakob Christoffel v. 143, 148, 150f. Gryphius, Andreas 35, 54, 146 Gueintz, Christian 16, 104, 167, 183– 189, 193f., 197–199, 201–205 Gunderman, Tobias 25 Hagedorn, Friedrich v. 142 Haller, Albrecht v. 142 Hamann, Johann Georg 208 Happel, Eberhard Werner 209 Harsdörffer, Georg Philipp 5, 22, 25f., 61, 101–103, 105, 181–186, 188, 192– 199, 201, 203, 209–212, 214–215, 218–221 Haßler, Hans Leo 48 Hederich, Benjamin 155 Hegenitz, Gottfried 125 Heidenreich, David Elias 206 Heinrich III., Kg. v. Frankreich 126 Heinrich IV., Kg. v. Frankreich 124

Jakob I., Kg. v. England 125, 235 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 155 Johann Ernst d. J., Hz. v. SachsenWeimar 183 Johann Georg I., F. v. Anhalt-Dessau 105 Johann Georg II., F., Hz. v. AnhaltDessau 96, 111f. Johann Georg II., Kurf. v. Sachsen 38 Juvenal, Decimus Iunius 89 Karl I., Kg. v. England 224, 226f., 230f., 233–235 Karl II., Kg. v. England 5, 223, 225–232 Kempe, Martin v. 61, 106, 207 Kepler, Johannes 162 Klaj, Johann 8f., 25f., 185, 209 Klesch, Daniel 207 Knorr v. Rosenroth, Christian v. 114 Kuhle, Valentin 198 La Calprenède, Gautier (Gaulthier) de Coste (Costes), Sieur de 139 Lafayette, Marie-Madeleine de 125 Lactantius (Lucius Caecilius Firminianus) 170f., 180 Langen, Matthias v. 190 Le Jars de Gournays, Marie 88 Le Moyne, Pierre 211 Leopold I., Kg. v. Ungarn, Röm. Kaiser 112, 114–116 Lessing, Gotthold Ephraim 131 Libanios 86

Namenregister Lichtenberg, Georg Christoph 155 Limburger, Martin 206 Lipstorp, Daniel 162f. Liscow, Christian Ludwig 143 Listrius, Gerardus 145 Livius, Titus 128 Locher, Jacob 146 Lohenstein, Daniel Casper v. 18, 146 Loredano, Giovanni Francesco 205 Lotichius Secundus, Petrus (Peter Lotz) 154 Ludwig I., F. v. Anhalt-Köthen 37, 102– 104, 181, 183–198, 201–207 Luther, Martin 47, 86, 132, 210 Magdalena, Kurfn. v. Sachsen 38 Manilius, Marcus 165, 170–173, 178f. Männling, Johann Christoph 18 Mantuanus, Baptista Spagnuoli (Battista Mantovano) 145 Marschalk-Meerheim, Karl Christoph 207 Martialis, Marcus Valerius 96 Martini, Jacob 197 Marx, Karl 208 Matthias I. Corvinus (Matthias Hunyandi), Kg. v. Ungarn 121 Mechovius, Joachim 197, 203 Meier, Georg Friedrich 142 Meier, Peter 46 Meurs, Jacob van 235 Mexía, Pedro 217 Micrander, Wilhelm 190 Milagius, Martinus 104, 190–192, 197, 204 Milton, John 226f. Minucius Felix, Marcus 179 Moller, Alhard 106 Moritz, Kurf. v. Sachsen 109 Moscherosch, Johann Michael 218 Münster, Sebastian 168 Nassau-Oranien ĺ Henriette Catharina, Pzin. v. Nero, Röm. Ks. 170f. Neukirch, Benjamin 56 Neumark, Georg 61, 103, 105, 181–183, 205f. Neumeister, Erdmann 95 Niekerk, Johannes 101 Nosche, Joachim 224f., 235 Obsopœus, Vincentius 121, 128 Omeis, Magnus Daniel 56

239 Opitz, Martin 2f., 7, 11, 15, 25–32, 35, 37f., 40–44, 50f., 53, 56–59, 61–66, 69, 71, 80f., 103, 120, 146f., 165, 189, 191, 193 Ovidius Naso, Publius 62f., 152f., 165f., 170–173, 178f. Palaiphatos 167 Paracelsus (Theophrastus Bombastus v. Hohenheim) 82–84, 115 Petrarca, Francesco 64, 77, 81, 84 Platon 92, 149, 172f., 179, 211 Plautus Maccius, Titus 172f., 179 Plavius, Johannes 49 Plinius Secundus, Caius 172, 173, 179 Plutarchos 213 Poggio Bracciolini, Gian Francesco 29 Pompeius Festus, Sextus 172f. Polhelm, Winand v. 194 Politianus, Angelus (Angelo Poliziano) 154, 165 Pontano, Giovanni 165 Pope, Alexander 143 Postel, Guillaume 163f., 167, 170f., 180 Prianeus, Miro 153 Quintilianus, Marcus Fabius 86 Rabener, Gottlieb Wilhelm 143 Ramler, Karl Wilhelm 141f. Ravisius, Johannes (Ravisius Textor, Jean Tixier de Ravisi) 152, 179f. Reuchlin, Johannes 145 Richard II., Kg. v. England 233 Rinckart, Martin 40, 50 Rist, Johann 12, 48f., 95–103, 105–107, 109, 116, 181f., 197, 207, 215, 221 Ronsard, Pierre de 41f. Rosel, Adolph 202 Rosset, François de 129 Roxelane (Anastasia Lisowska), Hürrem Sultan 131 Sachsen ĺ Johann Georg II., Kurf. v. ĺ Magdalena, Kurfn. v. ĺ Moritz, Kurf. v. ĺ Sophie, Hzin. v. Sachsen-Weimar ĺ Johann Ernst d. J., Hz. v. ĺ Wilhelm IV., Hz. v. Sachsen-Weißenfels ĺ August, Hz. v. Salmasius, Claudius (Claude Saumaise) 226f., 231 Sandrart, Joachim v. 205 Saxus, Pamphilus 154 Scaliger, Julius Caesar 30f., 33, 103, 123

240 Scaliger, Joseph Justus 180 Schein, Johann Hermann 48 Schiller, Julius 163, 180 Schickardt, Wilhelm 164, 170–173, 180 Schlegel, August Wilhelm 141 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 141 Schop, Johann 46 Schottel(ius), Justus Georg 9, 61, 102, 167, 181, 183–186, 192–194, 197– 205, 210, 212 Schubart, Johann Benedikt 190 Schürmann, Anna Maria v. 87f. Schütz, Heinrich 39, 46f., 192 Scudéry, Madeleine de 4, 120, 124, 127– 133, 135, 138f., 184 Scudéry, George de 129f. Scriverius, Petrus 147 Secundus, Janus (Johann Nico Everaerts) 57 Selenus, Gustavus ĺ August d. J., Hz. v. Braunschweig-Lüneburg Servius 178 Siebenhaar, Malachias 46, 200, 202 Soliman (Süleyman), Sultan der Osmanen 131 Sophie, Hzin. v. Sachsen 46 Sorel, Charles 127, 134, 211, 218 Spenser, Edmund 84, 147 Spiegel, Jacob 145 Statius, Publius Papinius 29f. Stieler, Caspar 196, 207 Strabon 122 Swift, Jonathan 143 Symler, Georg 145

Namenregister Tasso, Torquato 123, 205 Teutleben, Caspar v. 193 Theokritos 26, 62 Theophrastos 86–89, 92, 176f. Thomasius, Christian 221 Tscherning, Andreas 102f., 109 Vaenius, Otto (Otto van Veen) 14 Varro Terentius, Marcus 172f. Vergilius Maro, Publius 149, 174f., 178, 213 Voltaire (François Marie Arouet) 128 Vondel, Jost van den 165 Vossius, Gerardus Joannes (Gerhard Johann Voß) 30, 152, 167, 169, 180 Walther, Balthasar 197 Weckherlin, Georg Rudolf 43, 84f. Weiße, Christian Felix 131 Wendelin(us), Friedrich 197 Werder, Dietrich v. dem 102f., 183, 188– 191, 193–195, 197, 202, 205f. Werder, Katharina Viktoria v. dem 189 Weyer, Johann 84 Wies, Johann David 195 Wilhelm IV., Hz. v. Sachsen-Weimar 183, 206 Wilhelm Ludwig, Pz. v. Anhalt-Köthen 190 Withof, Johann Philipp Lorenz 142 Wolf, Friedrich August 141 Xenophon 90 Ziegler, Caspar 54