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German Pages 374 Year 1990
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht
Band 9
Thomas Mann und die Demokratie Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers Von
Dr. Frank Fechner
Duncker & Humblot · Berlin
FRANK FECHNER
Thomas Mann und die Demokratie
Tübinger Schriften zum Staats- und VerwaItungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin HeckeI, Ferdinand Kirchhof Hans von Mangoldt, Thomas Oppermann Günter Püttner sämtlich in Tübingen
Band 9
Thomas Mann und die Demokratie Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers
Von Dr. Frank Fechner
DUßcker & Humblot . Berliß
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Fechner, Frank: Thomas Mann und die Demokratie: Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers / von Frank Fechner. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht; Bd. 9) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-06945-5 NE:GT
D21 Alle Rechte vorbehalten
© 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Satz: TecDok Angelika März, Tübingen Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-06945-5
Vorwort Die nachfolgende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Dezember 1988 vorgelegt wurde. Meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor De. Walfgang Graf Vitzthum, danke ich für seine intensive Betreuung der Arbeit und für zahlreiche anregende, weiterführende Hinweise. Ohne seine Abhandlung über Hermann Brochs demokratie- und völkerbund theoretische Schriften hätte ich kaum gewagt, das vorliegende Thema als Dissertation zu bearbeiten. Mein Dank gilt auch meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor De. De. h. c. Thamas Oppermann für die Erstattung des Zweitgutachtens sowie für die vielfachen wissenschaftlichen Förderungen und persönlichen Ermunterungen, die mir bei der Mitarbeit an seinem Lehrstuhl zuteil werden. Den Herausgebern der Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe, meinem Kollegen Herrn Dr. Walfgang März für freundliche Hilfe. Tübingen, im Februar 1990
Frank G. Fechner
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Frühe Äußerungen (Notizbuch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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2. "Buddenbrooks" (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
20
3. "Ein Glück" (1904)
.................................
24
4. "Fiorenza" (1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
25
5. "Versuch über das Theater" (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
27
6. "Das Eisenbahnunglück" (1909)
29
.........................
7. Brief an Heinrich Mann vom 30.9.1909 8. "Königliche Hoheit" (1909)
....................
30
............................
30
9. "Gedanken im Kriege" (1914)
..........................
36
10. "An die Redaktion des >Svenska DagbladetRing des NibelungenAssociation for Interdependence< (1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
8. Brief an David McCoy (1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
243
9. Tagebücher 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244
10. "Doktor Faustus" (1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
245
11. "Die Entstehung des Doktor Faustus" (1949) . . . . . . . . . . . . . . . .
254
12. "Über akademische Freiheit" (1946)
......................
259
13. "Von rassischer und religiöser Toleranz" (1946) . . . . . . . . . . . . . ..
260
14. Tagebücher 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
15. "Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung" (1947) . . . . ..
261
16. Tagebücher 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262
17. "Goethe und die Demokratie" (1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
264
18. "Eine Welt oder keine" (1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
266
19. Ansprache in Weimar (1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
20. Antwort an Paul Olberg (1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
267
21. "Meine Zeit" (1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
268
22. "Der Erwählte" (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
23. "Ich stelle fest ... " (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
272
24. Brief an einen jungen Japaner (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
274
25. "Der Künstler und die Gesellschaft" (1952) . . . . . . . . . . . . . . . . ..
274
26. "Die Betrogene" (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
276
27. "Gegen die Wiederaufrüstung Deutschlands" (1954) . . . . . . . . . . . .
276
28. "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" (1954) . . . . . . . . . . . ..
277
29. "Versuch über Schiller" (1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
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Inhaltsverzeichnis
Phasenübergreifende Fragen
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1. Thomas Manns Demokratiebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
285
2. Wandlung Thomas Manns?
............................
291
3. Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
297
.........................................
302
5. Formale oder materiale Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
6. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
7. Soziale Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
311
8. Militante oder wehrhafte Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312
9. Mißtrauen gegenüber dem Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
314
10. Eliten und monokratische Elemente in der Demokratie . . . . . . . . . .
315
11. Diktatorische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
326
12. Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
13. Humanität
.......................................
329
14. Idee der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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15. Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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16. Weltdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Verhaltnis von Essayistik und Romanwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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2. Thomas Mann in der juristischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Politische Voraussicht Thomas Manns? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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4. Thomas Manns politiSChe Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
351
5. Zeitgebundenheit oder Aktualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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4. Wahlen
Einleitung In den Werken Thomas Manns, der als Schriftsteller in hohem Ansehen steht, findet sich eine Fülle staatsrechtlich und staatspolitisch relevanten Materials, das von Thomas Mann mit ausgeprägtem Interesse für die Fragen der rechtlich und politisch zu ordnenden Gesellschaft, insbesondere der Machtverteilung im Staat behandelt wird. Die Ausstrahlung seiner Wirklichkeitsdarstellung und die Faszination seiner Prosa haben die Äußerungen zu diesen Problemen in den Hintergrund des öffentlichen Interesses gerückt, so daß diese selbst bei Juristen nur wenig Beachtung gefunden haben. Die staatsrechtlich interessanten Äußerungen sind allerdings meist an weniger bekannten, selten gelesenen Stellen verstreut, vor allem in Essays, Reden und in den Tagebüchern. Die Hinweise in den bekannten Erzählungen und Romanen sind oft nicht augenfällig und erschließen sich erst vor dem Hintergrund Manns kleinerer, rein politisch konzipierter Arbeiten. Zudem bedient sich Thomas Mann keiner einheitlichen Terminologie, vor allem nicht des juristischen SpraChgebrauchs. Mann, der im Unterschied zu vielen anderen Schriftstellern keine juristische Ausbildung durchlaufen hat, verwendet in seinen theoretischen Schriften einen stärker politisch als juristisch geprägten Wortschatz, häufig mit subjektiven Färbungen. Oftmals benutzt er gängige Formulierungen, die in ihrer Allgemeinheit mit weitgehender Anerkennung rechnen können. Aus juristischer Sicht kann ihm Vagheit und Ungenauigkeit vorgeworfen werden. Zu bedenken ist, daß er nicht nur literarisch, sondern auch politisch wirken, d.h. Einfluß auf Menschen und staatliche Verhältnisse ausüben wollte. Ein Schriftsteller und Redner kann mit umso größerem Erfolg rechnen, je offener er seine Begriffe wählt, das heißt je mehr Menschen unterschiedlicher Anschauungen sich mit seinen Aussagen identifizieren können. Ansatzpunkt vorliegender Arbeit ist die Demokratie, da sie im Zentrum staatsrechtlichen Interesses bei Thomas Mann steht. Indessen stellen sich der juristischen Aufarbeitung seiner Demokratievorstellungen drei Schwierigkeiten entgegen: Thomas Mann wollte und konnte sich als Schriftsteller auch bei seinen politischen Aktivitäten nicht der konventionalisierten juristischen Termini bedienen. Ferner war die Demokratie für ihn niemals eine bloße Staatsform, sondern ein kom-
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Einleitung
plexes gesamtgesellschaftliches Phänomen. Schließlich entzieht sich die Demokratie auch bei den Juristen bis heute einer allgemein anerkannten Begriffs- und Inhaltsbestimmung. Lediglich für die Demokratie des Grundgesetzes zeichnen sich schärfere Konturen ab. Aufgrund seiner ambivalenten Ausdrucksweise läßt sich Thomas Manns Einstellung zur Demokratie nur schwer deuten. Die Bandbreite der Deutungsmöglichkeiten wird durch die Gegenbegriffe Kontinuität oder Wandel gekennzeichnet. Kämpft Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" noch mit Vehemenz gegen die Demokratie, so preist er vier Jahre später in einer Rede die Republik. Damit kann er als Beispiel für die Meinungsänderung eines exponierten Intellektuellen im staatspolitischen Bereich gelten. Sucht man die Ursachen für die sich wandelnde Einstellung zu ein und derselben Staatsform, so findet man sie vor allem in den gewandelten politischen Verhältnissen der einander ablösenden Staatsformen. Seine Aussagen sind im Regelfall auf die konkreten Zeitumstände, die jeweilige Staatsform bezogen; oft handelt es sich lediglich um Ratschläge an die Mitbürger. Die in der Sekundärliteratur häufig überbewerteten ,Wandlungen' im Leben Manns, dürfen nicht losgelöst von den Zeitumständen untersucht werden. Allzuleicht ist es, mit heutigem Staatsverständnis frühere Aussagen zu verurteilen. Die Analyse seines Lebens, das den Zeitraum von 1875 bis 1955 umfaßt, führt zur Unterscheidung von vier Phasen, die durch unterschiedliche Staatsformen gekennzeichnet sind: 1. Im Wilhelminischen Kaiserreich ist Thomas Mann Anhänger der bestehenden Monarchie und kämpft gegen die herannahende Demokratie, unter der er sich einen chaotischen Willkürstaat vorstellt. Den Kampf gegen die Demokratie nimmt er im Ersten Weltkrieg auf, während zuvor für ihn die staatsrechtlichen Fragen im Hintergrund blieben und nur beiläufig mitbehandelt wurden.
2. Nach einer Zeit der Umorientierung bekennt sich Thomas Mann im Jahre 1922 zur neu entstandenen Republik. Wie nur wenige namhafte Intellektuelle seiner Zeit und im Gegensatz zu breiten Schichten des Bürgertums setzt er sich für die Existenz der Demokratie ein. Früh ahnt er das Heraufkommen des Nationalsozialismus und beruft sich ihm gegenüber auf materiale Inhalte der Demokratie. 3. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 wird Thomas Mann das Leben in Deutschland unmöglich gemacht. Im schweizer und amerikanischen Exil ruft er - wiederum nach einer Zeit des Zögerns - die ,westlichen Demokratien' zum Kampf gegen den
Einleitung
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Nationalsozialismus auf. Er vertritt den Gedanken einer wehrhaften Demokratie, die ihre Werte gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen hat. Darüber hinaus entwickelt er die dynamische Konzeption einer Demokratie, deren Wesenszug es ist, ständig den Ausgleich zwischen den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu suchen. Roosevelt wird ihm zum Vorbild eines demokratischen Staatsmannes, der, mit umfangreichen Machtbefugnissen ausgestattet, zum Wohle des Volkes handelt. 4. In der vierten und letzten Phase, gekennzeichnet durch das Entstehen der Bundesrepublik, wird die Demokratie von Thomas Mann gegen ein Wiederaufflammen des Faschismus ins Feld geführt, verliert aber insgesamt an Bedeutung. In dieser Phase kommt seine Enttäuschung über die westlichen Demokratien, insbesondere über Amerika, zum Ausdruck, die seiner Auffassung der Notwendigkeit einer sozialen Demokratie nicht in hinreichendem Maße entsprachen. Äußeres Zeichen dieser Enttäuschung ist seine Rückkehr in die Schweiz. Diesen Lebensphasen Manns entsprechend ist die vorliegende Arbeit strukturiert. Beim ersten Teil handelt es sich um eine kommentierte Materialsammlung, in der immer wieder auf Zusammenhänge zwischen den vier Phasen hingewiesen wird. Dieser Teil hat zum einen die Funktion einer Bestandsaufnahme der wichtigsten Äußerungen Thomas Manns zur Demokratie und präsentiert zum anderen die Fülle des demokratierelevanten Materials. Durch die Zusammenfassung seiner Äußerungen diesbezüglich, enthüllt sich ein bisher kaum beachteter Aspekt seines Werkes. Zudem soll damit der Beweis der Vielfalt aber auch der Vielschichtigkeit staatsrechtlichen Denkens dieses Schriftstellers angetreten werden. Bewußt wird kein durchstrukturiertes System einer Staats theorie Thomas Manns dargelegt, da er selbst nie ein solches System entworfen hat und seinem Werk kein fremdes System aufoktroyiert werden soll. In einem zweiten Teil sollen einige phasenübergreifende Fragen erörtert werden. Die dort von mir postulierten Zusammenhänge sollen als Thesen und Interpretationsmäglichkeiten verstanden werden und das Fortwirken seiner Gedanken in der juristischen Literatur belegen. Die Arbeit untersucht die Essays und Reden, die das reichhaltigste Material zu staatsrechtlichen Fragen liefern, bezieht aber auch charakteristische Stellen aus den Romanen und Erzählungen mit ein. Es soll nachgewiesen werden, in welch reichem Maße gerade in den literarischen Werken staatsrechtliche Fragen von Relevanz behandelt sind. In seinen Werken konzentrieren sich die Fragen in umso stärkerem Maße, je intensiver sie den Schriftsteller, bedingt durch äußere Umstände
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Einleitung
während des Entstehungsprozesses, beschäftigten. Die Unterscheidung eines Schriftstellers und eines Politikers Mann stellt sich nach der Lektüre der angeführten Beispiele als verfehlt heraus. Vielmehr durchdringen sich beide Aspekte in der Person wie im Werk; beide Sphären stehen in ständiger Wechselwirkung und beeinflussen sich gegenseitig. Das heißt nicht, daß es zwischen essayistischem und literarischem Werk nicht zu Widersprüchen kommt. Unstimmigkeiten lassen sich mit einem vorsichtigeren Taktieren Manns in den Essays erklären, die vom Sujet her eine klarere Festlegung verlangen und dem Autor nicht erlauben, sich hinter Romanfiguren zu verbergen. In den Romanen und Erzählungen stellt er seine Ansichten oft ungeschminkter dar, doch fällt hier der Nachweis schwer, die Meinung einer literarischen Gestalt dem Autor zuzurechnen. In solchen Fällen nützen nur Vergleiche und Gegenüberstellungen, um die Strukturen seines Staatsdenkens aufzudecken. Hilfreich bei dieser Vorgehensweise sind vor allem die Tagebücher, die, soweit erhalten bzw. zugänglich, die Meinung Manns unverfälscht wiedergeben. Bei den Tagebüchern, in die nicht einmal den engsten Familienangehörigen Einblick gewährt war, die der Diarist teilweise vernichtete und im übrigen mit Sperrfristen für die Veröffentlichung versah, bestand kein Grund zu Verfälschungen oder Verfremdungen. Viele der staatsbezogenen Äußerungen in den Romanen, die in der Sekundärliteratur als Ironie interpretiert werden, stellen sich vor dem Hintergrund der Tagebücher als ernst gemeint heraus. Erst ein Überblick über die vielfältigen Äußerungen des Schriftstellers erlaubt es, seine Vorstellungen von Demokratie in ein begriffliches System einzuordnen und inhaltliche Aussagen zu treffen. Besondere Probleme bereitet der Begriff der Demokratie, der nicht nur in den verschiedenen Phasen, sondern häufig in ein und demselben Werk unterschiedlich definiert wird. Das Wort kann zudem bei ihm einen unterschiedlichen Bezug haben und eine Staatsform ebenso wie eine politische Partei, ein Land oder eine bestimmte Weltanschauung meinen. Häufig steht Demokratie für Leben und wird dem aristokratischen Todesprinzip entgegengehalten. Eine gewisse Präzisierung des Demokratiebegriffs ergibt sich durch Gleichsetzungen mit anderen Begriffen, die Bildung von Gegensatzpaaren und adjektivische Ergänzungen. Die Zusammenstellung der Aussagen zur Demokratie erschließt ein ausgedehntes begriffliches Umfeld, in das seine Demokratieauffassung eingebettet ist. Einige Begriffe dieses Umfelds lassen sich auf den ersten Blick nicht mit dem Zentralbegriff in einen Zusammenhang bringen. Werden im folgenden unterschiedliche Themen wie Humanität oder Europa untersucht, so geschieht das aus der Erkenntnis heraus,
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daß diese Bereiche für Thomas Mann mit der Demokratie aufs engste verknüpft sind. Gerade wegen seines weiten und flexiblen Demokratiebegriffs fällt es ihm leicht, die unterschiedlichsten Gedanken mit dem der Demokratie zu verbinden. Von Demokratie schreibt Mann nie, ohne beispielsweise die Entwicklung Europas und seine Vorstellung von Humanität im Auge zu behalten. Das begriffliche System läßt seinerseits gewisse Rückschlüsse auf den Demokratiebegriff zu, der zwar als solcher nicht undefiniert bleibt, aufgrund der vielfältigen und oftmals pOlitisch eingefärbten Definitionsversuche jedoch sich ständig aufzulösen droht. Im Zentrum seines Begriffssystems steht die Humanität, die zwischen den Gegensatzpaaren Freiheit und Gleichheit, Individualismus und soziale Demokratie, deutsche Demokratie und Weltdemokratie vermittelt und damit die Idee der Mitte ebenso verkörpert wie den Ordnungsgedanken. Angereichert mit den Werten 'Gerechtigkeit' und 'Menschenwürde', entspricht der Humanitätsbegriff weitgehend seinem Begriff der Demokratie. Für den Juristen nicht nachvollziehbar, sind diese Gleichsetzungen für Manns Arbeitsweise hingegen charakteristisch. Im Gegensatz zum Begriffssystem hat Mann keine neue staatsrechtliche Konzeption entwickelt. Sein Wirklichkeitssinn hat ihn davor bewahrt, Utopien zu entwerfen. Dagegen unterschätzt er die Gefahren der Entartung des demokratischen Staatswesens durch möglichen Machtmißbrauch und durch totalitär denkende Feinde, denen nur durch ein System geteilter Macht und gegenseitiger Kontrollen begegnet werden kann. Es bleibt indessen erstaunlich, in wie vielfältiger Weise sich der Schriftsteller mit Problemen des Staates beschäftigt und, unter Zurückstellung seiner schriftstellerischen Arbeit, sich um einen humanen Staat bemüht. Das Interesse entspringt auch dem Bedürfnis, seine persönliche und berufliche Existenz in einer staatlichen Ordnung abzusichern, der er in einem größeren Umfeld zur Wirkung verhelfen will. Er hat sich im Unterschied zu vielen seiner Mitbürger stets für das Wohl des jeweils bestehenden Staates verantwortlich gefühlt und war auch bereit, seine Meinung zu revidieren. Dem Unrechtsstaat ist er unter Aufgabe seiner Lebensgrundlage mit unbedingter Ablehung entgegengetreten. Leider haben sich bisher keine aussagekräftigen Äußerungen Manns zum Grundgesetz gefunden. Persönliche Differenzen und die Furcht vor einem Wiederaufflammen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik haben ihm den Blick für diese neue, in Reaktion auf die Erfahrungen in einem totalitären Regime entstandene Staatskonzeption erschwert. Das ist umso bedauerlicher, als im Grundgesetz eine Reihe
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Einleitung
von Ideen Manns staatsrechtliche Realität geworden sind. Vor allem die Konzeption eines Staates um des Menschen willen, gegründet auf eine Werteordnung, in deren Zentrum die Menschenwürde steht, entspricht dem von ihm propagierten Staat. Dies gilt ebenso für die Vorstellung eines Ausgleichs zwischen Freiheit und Gleichheit, die Absicherung gegenüber Willkürentscheidungen des Volkes und die besondere Berücksichtigung sozialer Bedürfnisse. Darüber hinaus haben einige der staatsrechtlichen Gedanken Manns bis heute ihre Bedeutung behalten. Gerade in der funktionierenden Demokratie, in der die Gewährleistung weitgehender Freiheiten vielen Bürgern zur Selbstverständlichkeit geworden ist, so daß sie den Grundlagen des Staates mit Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit gegenüberstehen, gilt es seine Warnung vor dem Totalitarismus im Auge zu behalten. Die Demokratie muß sich auch heute, Manns Forderung einer wehrhaften Demokratie entsprechend, ihrer Feinde erwehren, soll in ihr die Freiheit nicht untergehen. Ferner behält seine Vorstellung von der Notwendigkeit einer sich wandelnden Demokratie Gültigkeit, in der als ständige Aufgabe in einem dynamischen Prozeß nach einem gerechten Ausgleich von Freiheit und Gleichheit, liberalem Individualismus und sozialen Notwendigkeiten gesUCht wird. Diese Methode der Berücksichtigung widerstreitender Interessen, des abwägenden Ausgleichs zwischen ihnen, ist dem Juristen durchaus geläufig. Wurde auch die religiöse Fundierung des Staates und damit ein wesentlicher Stabilitätsfaktor aufgegeben, so kommt doch den Werten einer von Thomas Mann vertretenen weltanschaulich neutralen Humanität, wie der der Menschenwürde, für eine moderne Demokratie konstitutive und unverzichtbare Bedeutung zu. Schließlich hat die Idee der Weltdemokratie in einer sich ständig stärker verflechtenden Welt nichts von ihrer Aktualität verloren. So können Thomas Manns demokratierelevante Äußerungen dem Juristen auch heute eine Orientierungshilfe in Grundsatzfragen sein.
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich Die erste Phase der Demokratievorstellungen Thomas Manns läßt sich in zwei Abschnitte unterteilen. Im ersten Abschnitt, der bis zum Ersten Weltkrieg reicht, sind Äußerungen zum Staat und zur Demokratie in den Essays wie auch im literarischen Werk selten. Im zweiten Abschnitt, mit Beginn des alarmierenden, von Thomas Mann nicht vorausgeahnten! Ersten Weltkriegs, setzt sein staatspolitisches Engagement ein, wenn er sich auch damals selbst noch für unpolitisch hält. Findet sich in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg noch keine explizite Auseinandersetzung mit der Demokratie, so beschäftigt Thomas Mann das Problem der Staatsgewalt, das Verhältnis von Herrschenden gegenüber dem Volk, schon früh. 2 1. Bereits in einem Not i z b u eh des Zweiundzwanzigjährigen (aus der Zeit um 1897/98) findet sich der möglicherweise für eine spätere Arbeit ohne weitere Angaben vorgemerkte Name "General Dr. von Staat".3 In knappster Formulierung hat Thomas Mann in diesen Namen die personalen Elemente gefaßt, aus denen ihm staatliche Macht zusammengesetzt scheint: Militär, akademische Bildung und Adel. Diese frühe Formulierung belegt die Fähigkeit Thomas Manns, Sachverhalte aus dem abstrakten staatlichen Bereich literarisch wirksam umzusetzen und auch zu ironisieren. Das Abstraktum des Staates wird zu einer anschaulichen Person.
! Vergl. den Brief an den Bruder Heinrich Mann vom 7.8.1914; TM-HM Briefwechsel S. 13l. 2 In seinem "Lebensabriß" (GW Xl S. 102) schildert Thomas Mann, daß sein Hauptgespr3chspartner unter den Kommilitonen in München [1895/96] ein junger Jurisl war, der noch im Jahr 1930 der Führer der Demok.ratischen Partei Deutschlands gewesen sei. 3 de Mendelssohn S. 1043; er verwendet diesen Ausdruck., leicht abgewandelt, in einem Brief an seinen Bruder vom 29.12.1900, Briefe I S. 19, bezüglich seines Milit3rdienstes: ,,( ... ) daß ich aus dem fürchterlichen Handel mit Dr. von Staat so glimpflich davongekommen ( ... )".
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
Wenn auch verstreut, finden sich immer wieder Hinweise auf Fragen des Staates. 4 Zur Freiheit bekennt Thomas Mann sich bereits 1905.5 In den frühen Erzählungen wird das Kranke, das Todesprinzip mit dem Adel gleichgesetzt. Es sucht aus der Vereinigung mit dem Volk sich dem Leben zu verbinden. 6 2. In Thomas Manns erstem Romanwerk, den" B ud den b r 00 k s " (1901) ist die Familiengeschichte untrennbar mit der staatlichen Sphäre und den politischen Zeitereignissen verwoben. Der staatliche Bereich bezieht sich vornehmlich auf die Regierungsform Lübecks, wenn diese Stadt auch nicht namentlich erwähnt ist. In Lübeck, einem Staatswesen mit demokratischen Elementen, ist Thomas Mann aufgewachsen; mehrfach lassen sich Eindrücke aus dieser Stadt in seinen frühen Erzählungen nachweisen. 7 In der im Geburtsjahr Thomas Manns bekanntgemachten, revidierten Verfassung der freien und Hansestadt Lübeck8 wird in Art. 4 festgelegt, daß die Staatsgewalt9 dem Senate und der Bürgerschaft gemeinschaft-
4 Brief an Heinrich Mann vom 17.1.1906, TM-HM Briefwechsel S. 68 (bezogen auf die Rücknahme von Wälsungenblut auf Wunsch der Familie seiner Frau): "Du nennst mich gewiß einen feigen Bürger. Aber Du hast leicht reden. Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben"; von der "häuslichen Ordnung und Hierarchie" berichtet Michael Mann S. 133. 5 "Ich bin, um es ganz schlicht zu sagen, für Freiheit. Das Wort, der Geist sei frei. ( ... ) Jeder Künstler sollte die Freiheit vor allem und in allem lieben. Und mit einem Autor, der kritischer Angriffe wegen greint und grollt oder gar in die Gerichte läuft, habe ich nichts zu schaffen", "Über die Kritik", GW XIII S. 246. 6 Beispiele dafür können frühe Erzählungen wie "Der Wille zum Glück" (1896) und "Der Tod" (1897) sein. 7 So in "Der Bajazzo" (1897), wo sich die bezeichnende Stelle findet: "bewußt ( ... ), daß ich zu den Oberen, Reichen, Beneideten gehörte, die nun einmal das Recht haben, mit wohlwollender Verachtung auf die Armen, UnglOcklichen und Neider hinabzublicken", GW VIII S. 115; in "Tonio Kröger" (1903) ist der Protagonist ebenfalls Sohn eines mäChtigen Konsuls, stammt aus dem herrschaftIichsten Haus der ganzen Stadt (GW VIII S. 272) und es ist "in allen Stücken etwas Besonderes mit ihm ( ... ) und er war allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen ( ... )", GW VIII S. 279; die gesellschaftliche Schichtung tritt etwa auch in der Erzählung "Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten" (1911) zutage; gewisse Parallelen lassen sich zu Venedig im "Tod in Venedig" ziehen; diese Republik bezeichnet Thomas Mann als "gesunkene Königin".
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Zitiert nach Binding S. 3 ff.
Lübeck ist selbständiger Staat des Deutschen Reiches, Art. 1 der Verfassung der freien und Hansestadt Lübeck. 9
2. "Buddenbrooks"
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lieh zusteht. Die Eigenart der lübischen Verfassung, die für das Verständnis der "Buddenbrooks" unentbehrlich ist, zeigt sich in folgenden Einzelheiten: Von den vierzehn Mitgliedern des Senats müssen stets acht dem Gelehrtenstande angehören, unter diesen wenigstens sechs Rechtsgelehrte sein (Art. 5 Abs. 2). Die übrigen Mitglieder dürfen dem Gelehrtenstande nicht angehören, vielmehr müssen wenigstens fünf von ihnen Kaufleute sein (Art. 5 Abs. 3). Durch Wahl kann zum Senator jeder zum Mitglied der Bürgerschaft wählbare Bürger werden, wenn er das 30. Lebensjahr vollendet hat und nicht bereits einer seiner Verwandten Mitglied des Senats ist (Art. 6). Die Senatoren werden durch eine Wahlversammlung bestimmt. Diese Wahlversammlung besteht aus Wahlbürgern, die als Mitglieder der Bürgerversammlung zum Zweck der Wahl von der Bürgerversammlung ausgesucht wurden 1o, so daß der maßgebliche Einfluß im Stadtstaat bei der Bürgerschaft liegt. Die Bürgerschaft ihrerseits besteht aus 120 Mitgliedern, Vertreter genannt (Art. 19). Zur Teilnahme an der Wahl der Vertreter sind, von einigen Ausschlußgründen abgesehen, alle Bürger des Lübischen Freistaates berechtigt, welche in demselben ihren regelmäßigen Wohnsitz haben (Art. 20). Von der Ausübung des Wahlrechts sind u.a. diejenigen ausgeschlossen, über deren Vermögen Konkurs eröffnet ist, denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt wurden, sowie diejenigen, welche eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen (Art. 21). Bereits diese wenigen Hinweise zeigen deutlich, welch andersartige Vorstellungen damals einem Staat zugrundelagen, der als demokratisches Staatswesen bezeichnet wird; Vorstellungen, die nicht alle mit dem heutigen Verständnis einer freiheitlichen und sozialen Demokratie in Einklang zu bringen sind. Thomas Mann bezeichnet seine Vaterstadt in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" als eine staatlich selbständige, oligarchische Stadtdemokratie, deren sozialen Zuständen bis tief in seine Lebenszeit hinein ein patriarchalischer Charakter erhalten geblieben seL I1 Im Roman spiegelt sich der staatliche Aspekt wider. Auf den ersten Seiten der "Buddenbrooks" schildert Thomas Mann ein preußisches Kindermädchen, das die gesellschaftlichen Unterschiede nicht nur ohne zu fragen akzeptiert, sondern durch ihr Handeln aktiv unterstützt. Einzelheiten: Art. 7 der Verfassung. 11 GW XII S. 138; kein Hinweis findet sich auf die Germanistenversammlung von 1847 in Lübeck, auf der unter Beteiligung von Thöl und Ihering u.a. über den parlamentarischen Anteil des Volkes am Staatsleben beraten wurde. 10
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich "Sie war eine Person von aristokratischen Grundsätzen, die haarscharf zwischen ersten und zweiten Kreisen, zwischen Mittelstand und geringerem Mittelstand unterschied, sie war stolz darauf, als ergebene Dienerin den ersten Kreisen anzugehören, und sah es ungern, wenn Tony sich etwa mit einer Schulkameradin befreundete, die nach (... [ihrer]) Schätzung nur dem guten Mittelstande zuzurechnen war ... ,,12
Diese Geisteshaltung wird aber bald durch revolutionäre Gedanken abgelöst, die den Zustand Deutschlands vor 1848 veranschaulichen. Die Köchin, die "bislang nur Treue und Biedersinn an den Tag gelegt hatte", äußert sich eines Tages wie folgt gegenüber ihrer Arbeitgeberin: "Warten Sie man bloß, Frau Konsulin, dat dauert nu nich mehr lang, denn kommt 'ne annere Ordnung in de Saak; denn sitt ick daar up'm Sofa in 'sieden K1eed, un Sei bedienen mich denn .. ."\3
Die theoretische Grundlage der sich ankündigenden Unruhe wird vom Burschenschaftier und Vorkämpfer der Bourgeoisie gegenüber dem Adel folgendermaßen formuliert: "Wir, die Bourgeoisie, der dritte Stand, wie wir bis jetzt genannt worden sind, wir wollen, daß nur noch ein Adel des Verdienstes bestehe, wir erkennen den faulen Adel nicht mehr an, wir leugnen die jetzige Rangordnung der Stande ... wir wollen, daß alle Menschen frei und gleich sind, daß niemand einer Person unterworfen ist, sondern alle nur den Gesetzen untertanig sind! ... Es soll keine Privilegien und keine Willkür mehr geben! ... Alle sollen gleichberechtigte Kinder des Staates sein, und wie keine Mittlerschaft mehr existiert zwischen dem Laien und dem lieben Gott, so soll auch der Bürger zum Staate in unmittelbarem Verhältnis stehen! ... Wir wollen Freiheit der Presse, der Gewerbe, des Handels ... Wir wollen, daß alle Menschen ohne Vorrechte miteinander konkurrieren können, und daß dem Verdienste seine Krone wirdL .. ,,14
Während diesem Akademiker an der Wahrheit gelegen ist, die wegen der Pressegesetze nicht zu Wort kommt, am Geistigen und Neuen, für das die "Polizistengewalt" ohne Verständnis ist l5 , geht es den aufständischen Arbeitern konkret um Wahlrecht 16 und Republik. Konsul Buddenbrook ist im Gegensatz zu seiner Frau, die mit dem schreckensvollen Ruf ,,( ... ) die Revolution ... Es ist das Volk .. .',17 alles verschließen
12 13
14
15 16
17
GW GW GW GW GW GW
I I I I I I
S. S. S. S. S. S.
14. 178. 137 f. 139. 193. 180.
2. "Buddenbrooks"
23
läßt, der Situation gewachsen. Jovial spricht er mit den Aufständischen: daß die Lampen nicht angezündet seien, gehe nun doch zu weit mit der Revolution. 18 Er versucht die Leute nicht argumentativ, sondern aufgrund ihrer geistigen Unterlegenheit ins Unrecht zu setzen. Auf "das allgemeine Prinzip von dat Wahlrecht" angesprochen, antwortet er nur: "Du redest ja lauter Unsinn (... )". Der Forderung ,,( ... ) wi wull nu 'ne Republike( ... )", nimmt Konsul Buddenbrook die Wirkung, indem er ausruft: "ÖWer du Döskopp ... Ji heww ja schon een!"19 Das reicht nach Thomas Manns Deskription zur Wiederherstellung der Ordnung aus, ja noch mehr: "Das Volk, entzückt über den glücklichen Verlauf der Revolution, zog wohlgelaunt umher."zo Dieser Schluß macht deutlich, daß Thomas Mann weniger daran gelegen war, die Vorgehensweise des Konsuls anzuprangern als das unbeholfene Verhalten des Volkes. Auf die Revolutionsjahre folgt "draußen in seinem weiteren Vaterlande (... ) eine Periode der Erschlaffung, des Stillstandes und der Umkehr", und Konsul Buddenbrook beschließt, im "kleinen Gemeinwesen" zu wirken. 21 Er wird Senator und leistet einen Eid, der das Idealbild des Staatsdieners umschreibt: "Ich will meinem Amte gewissenhaft vorstehen, das Wohl des Staates nach allen meinen Kräften erstreben, die Verfassung desselben getreu befolgen, das öffentliche Gut redlich verwalten und bei meiner Amtsführung, namentlich auch bei allen Wahlen, weder auf eigenen Vorteil noch auf Verwandtschaft oder Freundschaft Rücksicht nehmen. Ich will die Gesetze des Staates handhaben und Gerechtigkeit üben gegen jeden, er sei reich oder arm. ( .. .)"22
Diese Eidesformel stimmt wörtlich mit dem in Art. 10 der Verfassung der freien und Hansestadt Lübeck aus dem Jahre 1875 für ein neu gewähltes Mitglied des Senates vorgesehenen Eid überein,23 was exemplarisch Manns exakte Arbeitsweise belegt. In der Praxis hat der Senator allerdings andere Kriterien. In einem Gespräch erwähnt Senator Buddenbrook, warum er bei einer Senatswahl einem bestimmten Kandidaten seine Stimme nicht gegeben hat. Dieser "sei ein ehrenfester Mensch und ein vortrefflicher Kaufmann, 18 GW I S. 193. 19 GW I S. 193. 20
GW I S. 195.
21 GW I S. 362. 22
GW I S. 418; zum Eid im lübischen Recht Ebel S. 241 ff.
23 Binding S. 9.
24
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
ohne Frage; aber er sei Mittelstand, guter Mittelstand, sein Vater habe noch eigenhändig den Dienstmädchen die sauren Heringe aus der Tonne geholt und eingewickelt ... " und er fährt fort: "Aber das Niveau sinkt, ja das gesellschaftliche Niveau des Senats ist im Sinken begriffen, der Senat wird demokratisiert (... ) und das ist nicht gUt."24 Thomas Mann verwendet den Begriff der Demokratie hier in einem sehr weiten Sinne. Mit Demokratisierung ist nicht eine Änderung des Wahlrechts oder ein Verlust von Privilegien der Senatoren gemeint, sondern schlicht der Niveauverlust. Wie kritisch Thomas Mann damals dem auf "Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere" gegründeten preußischen Staatswesen gegenüberstand, ergibt sich indirekt aus den Äußerungen über die Schule: "Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schiller sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen ... ,,25
Thomas Mann bezeichnet diese Stelle selbst später als "Kritik an der Verpreußung und Enthumanisierung des neudeutschen Gymnasiums".26 Fragen der Herrschaftsausübung im Staat sind bereits in Thomas Manns erstem Roman mehrfach angeschnitten, wobei Mann sich um Wirklichkeitstreue bemüht, wie die Übereinstimmung der Eidesformel im Roman und in der Verfassung zeigt. 3. Mit dem Verhältnis von Adel zum Volk setzt sich Thomas Mann eindringlich in der 1904 erschienenen Studie "E i n G / ü c k" auseinander. Dort nimmt ein Baron einem Bäckerjungen einen Korb Semmeln mit dem Befehl "Hergeben!" ab und wirft ihn ins Wasser. Nachdem er und die ihn begleitenden Offiziere sich an der "kindischen Angst" des Jungen "ergötzt" haben, glauben sie das geschehene Unrecht mit einem Geldstück ausgleichen zu können und setzen ihren Weg lachend fort. Daß Thomas Mann diesen scheinbar gottgegebenen Zustand, bei dem "die Kraft und das starke Glück auf Erden im Rechte sind",27 nicht reChtfertigt, ergibt sich aus dem bitteren Schluß der Episode: "Da begriff der Knabe, daß er es mit Edelleuten zu tun ge-
24 GW I S. 667. 25
GW I S. 722.
26 GW XII S. 239, vergl. S. 278. 27 GW VIII S. 356.
4. "Fiorenza"
25
habt habe, und verstummte... " Auch die "Leute" nahmen die Geschichte vom Baron und seinen Kameraden hin "Herren waren sie!", lautet die einzige Begründung. 28 Bei aller Distanziertheit zum Volk als Gesamtheit prangert Thomas Mann immer wieder soziale Ungerechtigkeiten individueller Schicksale an. In der Erzählung "Der Weg zum Friedhof' findet sich das treffend formuliert: "Ihr müßt nämlich wissen, daß das Unglück des Menschen Würde ertötet".29 4. Das 1905 erstmals erschienene, 1907 uraufgeführte Drama und einzige Schauspiel Thomas Manns "F i 0 ren z a" setzt sich intensiv mit Fragen der Macht und Herrschaft auseinander. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" hat der Autor "Fiorenza" als Satire auf die Demokratisierung des Künstlerischen bezeichnet. 3O Aufschlußreich, daß hier, wie in vielen der späteren Werke, mehrere der Gestalten nach absoluter politischer Macht streben. Besonders auffallend ist das bei Piero, dem Sohn Lorenzos di Medici: "Laß mich erst Herr sein! laß mich nur erst Herr sein! Es soll kein Gesetz stehen bleiben, das dem Volke einen Schatten von Recht U!ßt und unseren Willen auch nur zum Scheine beschränkt. Es soll kein Adel mehr sein neben uns. Konfiskationen! Todesstrafen... Lorenzo hat diese Mittel nicht entschlossen genug gehandhabt. Er hat auch kleinmütig darauf verzichtet, unserer Stellung den Namen zu geben, den sie verdient. Ich will nicht der Erste der Bürgerschaft sein von Florenz; Großherzog, König soll man mich heißen über Toskana!"31 "Bald bin ich Herr; und dann soll die Welt knirschend und jubelnd einen Fürsten sehen! ( ... ) die Menge des festtollen Pöbels ( ... ) im Triumphe Piero's des Göttlichen ( ... ) ich! die drehende Weltkugel zu Füßen".32
Den übertriebenen und plumpen Machtgelüsten Pieros steht das geschickte Taktieren seines Vaters um Macht gegenüber, der den Sohn nach seinen Vorstellungen unterweist: "Deine Anwartschaft auf die Gewalt ist groß und wohlbegründet, doch nicht sicher, nicht unantastbar. Du darfst nicht Illssig darauf ruhen. Wir sind nicht Könige, nicht Fürsten in Florenz. Kein Pergament verbrieft uns unsere Größe. Wir herrschen ohne Krone, von Natur, aus uns... Wir wurden groß in uns,
GW 29 GW 30 GW 31 GW 32 GW 28
VIII S. 352 ff.; vergl. Michael S. 28 f.; Reiß S. 67 ff. VIII S. 190 (1900). XII S. 382. VIII S. 1014. VIII S. 1015.
26
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich durch Heiß, durch Kampf, durch Zucht: da staunte die trage Menge und fiel uns zu. Doch solche Herrschaft, mein Sohn, will tagliCh neu errungen sein.,,33
Es ist eine Erziehung zu elitärem Bewußtsein, die er seinem Sohn angedeihen läßt: "Bewahre dir die schmerzliche Verachtung der tragen Jubler. Du stehst für dich, ganz allein für dich (... )",
und er warnt seinen Sohn vor den Versuchungen der Macht: "AChte den außeren Schein der Macht für nichts. Cosimo der Große entzog sich den Augen des Volkes und seinen Huldigungen, damit die Liebe sich niemals austobe und erschöpfe."34
Lorenzo verachtet zwar das Volk: "Cosimo, mein Vorfahr (... ) er war ein kluger und kalter Tyrann ... Sie brachten ihm den Titel: Vater des Vaterlandes. Er nahm ihn und lachelte und dankte nicht einmal. ( ... ) Wie muß er sie verachten - dacht' ich. Und seitdem hab' ich das Volk verachtet.,,35
Doch ist er sich bewußt, daß er seine Macht nur dem Volke verdankt und sie verliert, wenn das Volk ihn nicht mehr stützt: "Bedenke auch, daß wir aus dem Bürgerstande, nicht aus dem Adel hervorgegangen; daß wir nur von Volkes wegen sind, was wir sind; daß nur, wer des Volkes Seele abwendig zu machen trachtete, unser Feind und Nebenbuhler ware ... "36
Wie Lorenzo es ahnt, so geschieht es auch und der Prior Savonarola, der das Volk mit seinen Predigten zu gewinnen weiß,37 kann sich rühmen, die Macht über Florenz errungen zu haben: "Meine Kunst gewann das Volk! Florenz ist mein".38 Später charakterisiert Thomas Mann diesen Machtkampf als den von "Diesseitsgeist des Humanismus gegen den totalen Gottesstaat".39 Dem "Triumph des Geistes,,4Q möchte
33 GW Vlll S. 1037. GW GW 36 G W 37 Z.B. 38 GW 34
35
VIII S. 1037. VIII S. 1064f. VIII S. 1038. GW VIII S. 1030. VIII S. 1066.
39 "On Myse/f' GW XIII S. mann vom 17.2.1941, Briefe 11 des asketischen Kritikers gegen nicht über meinen Glauben an schen".
145; siehe aber auch den Brief an Fritz KaufS. 181: "daß ich dort [in 'Fiorenza'] die Partei ein Künstlerturn fideler Üppigkeit nehme, darf die Kunst als menSChheitsführende Kraft tau-
5. "Versuch über das Theater"
27
Lorenzo die Kunst entziehen. Sein Vermächtnis an Piero lautet, seine Sammlung, den "Schatz von Schönheit", den er mit öffentlichen Mitteln erworben hat, zu schützen: ,,( ... ) ich setzte nicht nur Geld und Sammeleifer - auch meine Bürgertugend setzte ich daran. (... ) Ich stand nicht an, das Eigentum des Staates anzugreifen, wenn mir's an Geld gebrach, die schönen Sachen und unsre Feste zu bezahlen. - Unrechtes Gut? - Geschwätz! Der Staat war ich. Auch Perikles griff ohne Zögern nach öffentlichen Geldern, wenn er ihrer bedurfte. Und die Schönheit ist über Gesetz und Tugend."41
Wird in 'Fiorenza' einerseits der primitive Herrschaftstrieb in Schranken gewiesen, so ist andererseits die Verführbarkeit des Volkes offenkundig, das sich dem jeweils geschicktesten Demagogen ausliefert. 5. In dem frühen Essay " Ver s u eh übe r das T he a te r" aus dem Jahre 1908 wird das Wort 'Demokratie' auf die Sphäre des Theaters bezogen. Handelt es sich somit zwar um eine 'unpolitisch gemeinte Demokratie'42, wie dies bei Mann noch lange der Fall sein sollte, so ist doch der politische Bezug nicht unterdrückt.
Ideales Theaterpublikum ist für Mann das Volk. Es wird gegenüber der "Bourgeoisie" und von der "Masse" abgegrenzt. Verloren scheine das Theater erst, seitdem es "zum Zeitvertreib der Bourgeoisie geworden" sei, "welche die antiromantische, die unvolkstümliche Demokratie recht eigentlich repräsentiert, und zu welcher Bürgertum sich verhält wie das »wirkliche, wahre« Volk zur modernen Masse.,,43
Wie die höfische sei die bourgeoise Epoche des Theaters vorüber. Das Theater wolle wieder "Volksanstalt, Volksveranstaltung" werden. 44 Die schönste Aufgabe des Theaters sei es, die 'Masse zum Volke zu weihen'.45 Beispiel für eine Reform des Theaters "im volkstümlichen Geist"46 ist ihm Wagner, "der die Demokratisierung des ZuschauerrauGW VIII S. 1066. 41 GW VIII S. 1038; vergl. "Der Tod in Venedig" (1911), in dem es heißt, fast in jedem Künstlernaturell sei ein Hang eingeboren, "Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen" (GW VIII S. 470). 42 Viktor Mann S. 412. 43 GW X S. 55. 40
44
GW X S. 58.
45 GW X S. 62. 46 GW X S. 56.
28
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
mes, seine nigsfreund" als zu den Tatsachen" habe. 47
Nivellierung" wieder vollzog. Daß sich Wagner, der "Köin dieser Weise als "romantischer Demokrat" erweist, wird "die Kategorien verwirrenden, die Antithesen aufhebenden gehörig gezählt, an denen der freie Geist seine Freude
Die von Thomas Mann hier getroffene Unterscheidung von Volk und Masse, von Bourgeoisie und Bürgertum gilt es im Auge zu behalten, vor allem bei der Analyse der "Betrachtungen eines Unpolitischen ", um nicht Massefeindlichkeit mit Volksfeindlichkeit zu verwechseln. Der "unvolkstümlichen Demokratie" wird Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" die Idee der "Volksdemokratie" entgegenstellen, eine heute kaum mehr nachvollziehbare Unterscheidung, die aus einem mythischen Volksbegriff resultiert. In dem Essay wird die Demokratie als nicht volkstümlich qualifiziert, ist also negativ belegt, wobei der Begriff nicht in einem eng staatsrechlichen Sinne gebraucht wird. Vom Roman schreibt Mann, er sei "entweder vom demokratisch-mondllnen Typ, sozialkritischpsychologisch, international, Produkt eines europllischen Künstlerturns, Instrument der Zivilisation, Angelegenheit einer abendillndisch nivellierten Öffentlichkeit"
und habe mit 'Volk' überhaupt nichts zu tun. Oder er sei, "in einem höheren, ( ... ) deutscheren Fall, persönliches Ethos, Bekenntnis, Gewissen (... ) individualistische Moral-Problematik, Erziehung, Entwicklung, Bildung... ,,48
und sei auf dieser Stufe volksnäher, wenn man auch das Volk nicht sein Publikum nennen könne. Die Begriffe und ihre Zweiteilung in rangmäßig unterschiedene Kategorien behalten noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ihre Gültigkeit. Umso interessanter die Erkenntnis, daß Thomas Mann hier noch eine dritte Kategorie einführt, die "ganz seltenen und wunderbaren" Fälle, in denen der Roman "in der Tat einmal zum MythOS und zur Volksbibel" wird. 49 Die, im literarischen Bereich von Thomas Mann
47 GW X S. 55; im Brief vom 4.6.1920 (Bertram-Briefe S. 92 f.) heißt es über Wagner: "Das Verhaltnis dieses schon demokratischen Europllers zum Deutschtum war romantisch, wie sein Verhllitnis zu Volk und Volkstümlichkeit (... ). Nun, es ist eine Erscheinungsform der Demokratie, die ich mir früh gefallen ließ, die deutsche Form offenbar. Anders wird sie sich hierzulande kaum verwirklichen lassen". 48 GW X S. 61. 49 GW X S. 61.
6. "Das EisenbahnunglUck"
29
mit sicherem Urteilsvermögen umrissene dritte Kategorie tritt im Eifer der pOlitischen Argumentation am Ende dieser essayistischen Phase in den Hintergrund. In der dritten Phase seines Demokratieverständnisses kommt eine solche Synthese zur vollen Entfaltung.
6. Die ein Jahr später erschienene Erzählung" Das Eis e nb ahn u n g I ü c k" enthält eine weitere Personifikation des Staates, diesmal in Gestalt eines Schlafwagenschaffners: "Das ist der Staat, unser Vater, die Autorität und die Sicherheit. Man verkehrt nicht gern mit ihm, er ist streng, er ist wohl gar rauh, aber Verlaß, Verlaß ist auf ihn {... ).,,50 Noch mehrfach findet sich die Gleichsetzung: ,,( ... ) es ist der Schaffner (... ), der Staat, unser Vater".51 Verlaß ist vor allem dann auf ihn, wenn es darum geht, eine alte Frau anzuherrschen, die in die zweite Klasse (statt in die dritte) einsteigen will. 52 Hingegen dankt er einem Herrn in Gamaschen mit zusammengeschlagenen Hacken, die Hand an der Mütze, als dieser ihm das Fahrscheinheft ins Gesicht wirft. 53 Ohne Mütze und ohne Haltung jedoch beachtet ihn niemand. Haltung und Ansehen gewinnt er erst wieder, als "etwas wie Ordnung in die Sache" kam. Hier zeigt sich ein zwiespältiges Verhältnis Manns zum Staat. Einerseits wird er als lästig und persönlich bedrohlich empfunden, andererseits wird von ihm die Aufrechterhaltung einer existenziell notwendigen Ordnung erwartet. Offenbar ist das Wilhelminische Kaiserreich nicht mehr fähig, die Ordnung selbst aufrechtzuerhalten, vielmehr ist es für seine Existenz der Ruhe bedürftig. Ob mit dieser Erzählung tatSächlich nur das "biedere Beamtenturn" vom "Spott des Dichters" getroffen werden soll, wie Michael 54 behauptet, ist fraglich. Der Staat als solcher kann hier ebenso gemeint sein,s5 verhält Thomas Mann sich
50 GW X S. 417. 51 GW X S. 423 und 425; s.a. Michael S. 29 ff. 52 GW X S. 417. 53 GW X S. 419; vergl. außerdem die Ertilhlung "Das Wunderkind" (1903), in der es von einem Offizier heißt, er zolle dem Wunderkind den Respekt, "den er allen bestehenden Mächten zollt" (GW VIII S. 60); sowie als Beispiel eines weiteren Staatsträgers die Charakterisierung des Verwaltungsbeamten von Beckerath in "Wä/sungenblut" (1906) mit seiner "Leidenschaft des Dienens", G W VIII S.383. 54 Michael S. 29.
55 Dafür spricht schon zu Beginn der Ertilhlung die Formulierung: "Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge; man ist nicht umsonst ein Untertan Wilhelm II", GW VlII S. 416.
30
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
zum Kaiserreich in seinen Erzählungen doch keineswegs so loyal, wie die "Betrachtungen eines Unpolitischen" dies erwarten ließen. 56 7. Aufschlußreiche Hinweise auf Thomas Manns Haltung zur Demokratie in diesen Jahren finden sich in einem B r i e fan sei ne n B r ud e r vom 30.9.1909, in dem er sich über dessen Roman "Die kleine Stadt" äußert: "Das Ganze liest sich wie ein hohes Lied der Demokratie, und man gewinnt den Eindruck, daß eigentlich nur in einer Demokratie große Männer möglich sind. Das ist nicht wahr, aber unter dem Eindruck Deiner Dichtung glaubt man es. Auch an die »Gerechtigkeit des Volkes« ist man unter diesem Eindruck zu glauben geneigt, obgleich sie wohl noch weniger wahr ist, - es sei denn, daß man für »Volk« »Zeit« oder »Geschichte« setZl.,,57
Die Gegensätze in der Beurteilung der Demokratie zwischen beiden Brüdern, die letztlich zu den "Betrachtungen eines Unpolitischen" führen, sind hier bereits in voller Klarheit ausgeprägt und werden von Thomas Mann zum Ausdruck gebracht. 58 8. Der Roman "K ö ni g' ich e Ho he i t" aus dem Jahre 1909 enthält angesichts seines Sujets vergleichsweise wenig Material zu staatsrechtlichen Fragen. 59 Es ist mehr Thomas Manns Freude am ,Prinzenspiel' (wie er es selbst in seiner Jugend so gern gespielt hat und dies im Hochstapler Felix Krull wieder aufnimmt),60 als politische Ambition, die hier zum Tragen kommt. 61 Einige Jahre früher schreibt
56 Recht abschätzig klingt beispielsweise die Stelle in der Erzählung" Tristan" im Brief Spinells an Klöterjahn, wo es über dessen Sohn heißt, er werde "das Leben seines Vaters fortführen, ein handeltreibender, Steuern zahlender und gut speisender Bürger werden; vielleicht ein Soldat oder Beamter, eine unwissende und tÜChtige Stütze des Staates ( ... )" (GW VIII S. 254); Klöterjahn droht denn auch (GW VIII S. 259): "Gegen Sie muß man gesetzlich vorgehen!" 57 TM - HM Briefwechsel S. 100 f. 58 Nach Vogtmeier S. 180 hat Thomas Mann sich nach 1901 als Bürger jenes Reiches etabliert, das sein Bruder Heinrich in seinen Grundfesten angriff. 59 "Nichts hat mir ferner gelegen als der Wunsch, eine objektive Kritik des modernen Prinzenturns ( ... ) zu schreiben", "Über >Königliche HoheitKönigliche HoheitEr ist ein Mensch ... Er ist mehr als dasÜber Königliche HoheitFührerLehrer< liebe ich nicht, zum Beispiel >Lehrer der DemokratiePolitik< und >DemokratieObrigkeitsstaat< die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.,,143 Der staatsrechtliche und der ideologische Demokratiebegriff sind in den 'Betrachtungen' untrennbar miteinander verquickt. So enthält der Unterschied von Geist und Politik nicht nur den von Kultur und Zivilisation, sondern auch den von Freiheit und Stimmrecht. 144 Die Gegensätze werden bald personifiziert (wie es schon mit der Gestalt des "General Dr. von Staat" Thomas Manns Methode war). Dem demokratischen und internationalen Bourgeois, der im übrigen Werk meist 'Zivilisationsliterat'145 genannt wird, steht der Bürger gegenüber, der kosmopolitisch ist, weil er deutsch ist, deutscher als Fürsten und >VolkMenschheit< als humanitarer Internationalismus ( ... )", GW XII
S.29.
143 GW XII S. 30. 144 GW XII S. 31. 145 Der Begriff findet sich auch im 10. Notizbuch: ,,( ... ) was mich anwidert, ist die gefestigte Tugend. die doktrinare, selbstgerechte und tyrannische Hartstirnigkeit des Civilisationsliteraten, der ( ... ) verkündigt, daß jedes Talent verkümmern müsse, das sich nicht der Demokratie verschreibt", zitiert nach TM-HM Briefwechsel S. IL.
46
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
>Mitte< als Träger deutscher Geistigkeit, Menschlichkeit und AntiPolitik charakterisiert wird. l46 Der Widerstreit beider Auffassungen, besser: der Angriff der Demokratie-Ideologie auf den unpolitischen Deutschen ist die geistige Auseinandersetzung, die nach Thomas Manns Auffassung hinter dem militärischen Kampf des Ersten Weltkriegs steht. "Deutschlands Feind im geistigsten ( ... ) Sinn", der ,,>pazifistische< (... ) >republikanische< RhetorBourgeois und fils de la Revolution"147 hat "Verbündete innerhalb der Mauern, Verräter aus Edelmut"l48 in Deutschland selbst, "Verfechter der >menschlichen ZivilisationDemokratisierung< nennt, werde es bei »uns« nun so herrlich unterhaltsam wie in Frankreich zugehen!"151 Der deutsche Mensch, "und lege er sich noch so viel »Demokratie«
zu", werde demzufolge nie "unter dem »Leben« die Gesellschaft ver-
stehen, nie das soziale Problem dem moralischen, dem inneren Erlebnis überordnen". 152 Die Demokratie wird von Anfang an nicht als ein innerstaatliches Problem gesehen, sondern als Kulturphänomen in einen globalen Zusammenhang gestellt. Erst durch den Krieg habe Deutschland von dem politischen Haß der Mitvölker erfahren: "Unsere gutmütige unpolitische Menschlichkeit ließ uns besUindig wahnen, >VerstandigungNeuenVermenschlichung< im lateinischpolitischen Sinne und seine Enthumanisierung im deutschen ( ... ) es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassen und auf den Generalnenner zu bringen: es gilt seine Entdeutschung... ,,178
171 GW XII S. 58. GW GW 174 GW 175 GW 176 GW 172 173
XII XII XII XII XII
S. S. S. S. S.
56 f. 60. 61.
62 f. 65.
GW XII S. 67. 178 GW XII S. 68; vergl. "Der autobiographische Roman" (1916) GW XI S. 700 ff.; Demokratisierung aller Lebensbereiche siehe GW XII S. 266. Verschiedene Stellen hierzu finden sich in den Amann-Briefen S. 41, 43 (Brief vom 15.4.1916): "den »Civilisationsliteraten« ( ... ) der die Literarisierung, Radikalisierung, Intellektualisierung, Politisierung, kurz: Demokratisierung Deutschlands betreibt", S. 44 im Brief vom Ostersonntag 1916 Ober Nietzsche, dessen Haß sich "gegen die Politisierung, Enthumanisierung, Demokratisierung Deutschlands" gerichtet habe; gegen Manns Gleichsetzung von Demokratisierung und Politisierung siehe Hilfer S. 72. I77
13. "Betrachtungen eines Unpolitischen"
51
Den Widerspruch, mit seinem Tun den Fortschritt, die Demokratie, zu fördern, obwohl man ihm willentlich Opposition bereiten möchte, den Widerstreit zwischen Wille und Wirkung,l79 beobachtet Thomas Mann nicht nur bei sich selbst,l80 sondern u.a. auch bei Nietzsche und Bismarck. Wird Nietzsches Antidemokratismus mehrfach hervorgehoben l81 und seine Äußerung, er sei der letzte unpolitische Deutsche l82, erwähnt, heißt es an anderer Stelle, Nietzsche habe zur Demokratisierung Deutschlands stärker beigetragen als irgendjemand l83, er habe Fortschritt im bedenklichsten, politischen Sinn, im Sinne der > VermenschlichungSchwedische Tagblattfreien Gesellschaft der Staatendemokratischen Völkerbunddemokratischen FriedenDemokratie< ist der Begriff des Herrschens enthalten, und man weiß, daß nicht das Volk es ist, daß es Personen sind, die auch im demokratischen Staate >herrschenVolksstaatfrei< aber nicht >gleichVolksstaatDemokratie< sagen, so ist es von vornherein wahrscheinlich, daß sie etwas sehr Verschiedenes meinen (... )".258 Vor allem unterscheiden sich der Zivilisationsliterat und der 'demokratische Patriot' oder 'patriotische Demokrat'.259 Letzterem, dem Volksstaatmann, erscheine ,,( ... ) die Demokratisierung des Staates, eine VOlkstümliChe innere Politik hauptsachlieh als das praktiSChe und zeitgemäße Mittel zu einer starken äußeren POlitik."y,o Der und Für und
Zivilisationsliterat hingegen meine mit Politik nur innere Politik sehe >äußere Politik< oder Machtpolitik lediglich als Unrecht an. 261 Deutschland hält Thomas Mann eine Verbindung von Demokratie Imperialismus für unmöglich:
"Demokratie und Imperialismus, - diese Verbindung mag anderswo statthaft, mag in Frankreich und England eine geistig mögliche Verbindung sein - und zwar so, daß die Demokratie den Imperialismus heiligt -: in Deutschland ist sie nicht statthaft und schlechterdings nicht möglich.,,262 In der inneren Politik sei dem Zivilisations literaten und -demokraten der Bürgerkrieg höchst erwünscht,263 er fordere die Politisierung, denn "Politisierung, das ist die Erziehung zur Revolte".264 Vermittelst "Aufwieglertum und Wohlredenheit" erziehe der Zivilisationsliterat zur Demokratie, dem "amüsanten Staat der Romanschriftsteller",265 in dem dieser jeden Tag Minister werden könne: "Die Demokratie, das heißt der vermenschlichte, literaturfahige, zur Gesellschaft - und zwar zur amüsanten Gesellschaft - gewordene Staat C••• )". ,,Ja, wir werden sie haben, die Demokratie, den Staat für Romanschriftsteller."266
258 259 y,o 261 262 263 264 265 266
GW GW GW GW GW GW GW GW
XII XII XII XII XII XII XII XII
S. 283. S. 283. S. 289. S. 289 f.
S. S. S. S.
288. 295 f.
294. 300, 303. G W XII S. 300, 301.
Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
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In diesem Staat würden besondere Kenntnisse und Begabung, eine berufsmäßige Vorbereitung für die Bekleidung eines Amtes nicht mehr als unerläßlich erachtet werden. Das Berufsbeamtentum werde zur Sage: "Wer Lust hat und zwei gute Ellenbogen, soll irgendwann einmal an die Staatskrippe herankommen, Vorkenntnisse unnötig. Jedes Amt (... ) steht jedem BOrger offen (... )".267 In dieser Darstellung schwingt sich der demokratische Politiker zum Überwinder des >Fachmanns< auf: "Demokratie, das bedeutet Herrschaft der Politik; POlitik, das bedeutet ein Minimum von Sachlichkeit. Der Fachmann aber ist sachlich, das heißt unpolitisch, das heißt undemokratisch. (... ) Seine Nachfolger sind der Advokat als Wochenschriftbesitzer, der Journalist, der rhetorisch begabte Künstler. Wir werden sie haben, die Demokratie, - als welche Gleichheit ist und also Haß, unauslöschlicher und eifersüchtiger R;rublikanerhaß auf jede Überlegenheit, jede sachverständige Autorität (... )". Welche Rolle Thomas Mann dem Fachmann in seiner Staatsvorstellung einräumt, ergibt sich nicht nur aus dem zuvor erwähnten Bild der Staatsmaschine, sondern auch aus einem Zitat Paul de Lagardes, das er anführt. Lagarde fordert, mit wirklicher Bildung für wenige, nicht nach der Geburt, sondern nach der ethischen und intellektuellen Befähigung ausgewählten Menschen eine Klasse zu schaffen, die "als beamtet von diesem Volke und für dieses Volk arbeitend und um dieser freiwilligen Arbeit angesehen, sich frei aus der Tiefe ergänzend, dereinst die Selbstverwaltung in die Hand nehmen könne", die auch die "äußeren, sie unabhängig machenden Mittel" besitzen müsse. 269 Die Fachleute, die die Staatsmaschine in Gang halten, gehören zwar keiner festen Schicht an, stellen aber, modern ausgedrückt, eine FÜhrungselite dar. Thomas Mann unterscheidet zwei Phasen bei der Verwirklichpng von Volkssouveränität und Demokratie. Die erste sei die revolutionäre, in der die Leidenschaft der Politik von jedem, auch von dem 'törichtsten und unbelehrtesten Hirn' Besitz ergreife. 270 Die zweite sei eine Ordnung "verzicht reicher Art", in der sich die große Mehrzahl der Bürger hüten werde, dem allgemeinen politischen Aufgebot Folge zu leisten,271
267 268 269 270 271
GW GW GW GW GW
XII XII XII XII XII
S. S. S. S. S.
301. 302. 275 f. 305. 306.
13. "Betrachtungen eines Unpolitischen"
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ein vermenschlichter Staat. Jede Sache und Frage werde dort sofort im Lichte der Parteipolitik stehen und zur Machtprobe der Parteien entarten. ln Die Verwaltung werde "im Geiste der gerade herrschenden Kammermajorität" geübt, die Justiz "politisch verseucht".273 So verwundert nicht Thomas Manns Feststellung, die Demokratie bedeute im Verhältnis zur Monarchie zwar den politischen, wenn auch nicht immer den historischen Fortschriu. 274 Dem Zivilisationsliteraten ist diese Entwicklung erwünscht, denn er sei "Politiker gegen den Staat", der wisse, daß "die Demokratie die Verfalls form des Staates" sei. 275 Die Demokratie sei dem Zivilisationsliteraten nur ein Mittel und Übergang, um Verfall und Tod des Staates herbeizuführen. 276 Letztlich sei es ihm um die Entnationalisierung Deutschlands, um seine Einordnung in das Weltimperium der Zivilisation zu tun. 277 Das Prinzip der demokratischen Aufklärung, einmal inthronisiert, dulde nicht, daß seiner Herrschaft Schranken gesetzt würden: "Laßt es das Reich eines individualistischen Massensozialismus verwirklicht haben, es wird revoltieren gegen den Druck und Zwang, den auch dann noch - und gerade dann - das Einzelwesen zu erleiden haben wird, und es wird zum Anarchismus fortschreiten ( ... )".218
Immer wieder betont Thomas Mann, daß es das Unterfangen des Zivilisationsliteraten sei, "Geist und Kunst auf eine demokratische Heilslehre zu verpflichten",279 seine Lehre vom »höheren moralischen Niveau der Demokratie«.280 Auf sich bezogen hebt er hervor: ,,( ... ) ich bin nicht Partei, wahrhaftig, ich bekämpfe nicht die Demokratie. 281 Nicht die kommende Demokratie, die hoffentlich in leidlich deutscher, in nicht allzu humbughafter Gestalt erscheinen wird, nicht die Verwirklichung irgendeines deutschen Volksstaates, der ja, ruhig überlegt, weder ein Pöbel-
272 273 274
215 276 271 278
GW XII S. 307. GW XII S. 307. GW XII S. 322. GW XII S. 308, in Anlehnung an Nietzsche. GW XII S. 309. GW XII S. 319. GW XII S. 327.
279 GW XII S. 331. Im Brief an Albert Ehrenstein vom 11.11.1915 (Briefe I S. 118) nennt Mann es eine "Anmaßung, wenn die Demokratie den »Geist« für sich in Anspruch nimmt ( ... )" und schreibt weiterhin, die Demokratie fingiere eine Gleichung von Presse und Geist. 280 GW XII S. 331, 353. 281 GW XII S. 329.
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staat noch ein Literatenstaat wird sein müssen, ist es, wogegen ich mich auflehne. ,,282
Er erkennt an, daß die Entwicklung der politischen Ordnung Deutschlands, die seit dem "patriarchalischen Polizei- und Untertanenstaat des siebzehnten Jahrhunderts" bereits viele Wandlungen durchlaufen habe, weiter fortschreiten müsse. Vieles in der staatlichen Ordnung sei mit der Zeit zur Unordnung geworden. Aus vielen Veränderungen sozialer, wirtschaftlicher und weltpolitischer Natur seien FOlgerungen zu ziehen, und er bekennt weiter seine Überzeugung, daß "aus den demokratischen Erziehungsinstitutionen der allgemeinen Schul- und Wehrpflicht Rechte sich ergeben, Selbst- und Mitbestimmungsrechte des Volkes, die einer politisch-ordnungsmSßigen AusprSgung bedürfen, und daß der Staat zu Falle kommen müßte, der sich sperrte, die Wirklichkeit anzuerkennen."
Die Mängel des Kaiserreichs spielt er herab. Ihm sei Deutschland frei erschienen,283 und er fragt, was der deutsche Literat politisch zu leiden gehabt habe: "Unbehelligt, ohne etwas zu wagen, ohne an irgendein Sibirien auch nur denken zu müssen, hat der Politiker seine radikalen Manifeste zugunsten der Republik ( ... ) erlassen ( ... ).,,284
Er glaube, daß das Volk, gesetzt den Fall, in Deutschland würde eine Verfassungsänderung vom Umfang einer Revolution vorgenommen, auf neue Freiheiten durch die, die es schon besaß, gut vorbereitet sei und wenig Gefahr liefe, in die Hände von Theoretikern und "Inquisitionsdemokraten" zu fallen. 285 Der Zivilisationsliterat lebe geistig in der Zeit der Französischen Revolution,286 Übertrage die damaligen Verhältnisse auf Deutschland und glaube an eine Fremdherrschaft von "Herren" in Deutschland,287 unter der das Volk leide, "Henker der Demokratie", die den Krieg zur Unterdrückung des eigenen Volkes angezettelt hätten. 288 Thomas Mann stellt dem entgegen, jedes Volk habe "die Führer, die es >verdientGerechtigkeit< und unter den Lobsprüchen der demokratischen Welt durch Militarisierung und Flottenbau zur Großmacht stärkt.,,301
Praktischer Materialismus, Plutokratie und Wohlstandsbegeisterung bildeten den Grundcharakter demokratischer Epochen. 302 Der Krieg stellt sich ihm als "Konkurrenzkampf der Demokratien um Wohlstand" dar. In Deutschland sei die Geldherrschaft weniger vollkommen gewesen als in den anderen Ländern, weil "ein paar wankende Mächte der Vollendung der Demokratie entgegenstanden".303 Es werde aber gelingen, es sei schon gelungen, die Deutschen "von der Lebensnotwendigkeit jener psychologischen Versöhnung von Tugend und Nutzen, Moral und Geschäft, kurz von der Notwendigkeit der Demokratie zu überzeugen". Aus der Einsicht, daß ohne Demokratie in der Welt keine Geschäfte mehr zu machen sind, stamme der opportunistische Wille zur deutschen Demokratie. 304 Diesem materialistischen Bereich hält Thomas Mann den von "Geist und Kunst" entgegen, den auf eine alleinseligmachende demokratische Heilslehre zu verpflichten schwerlich gelingen werde: 30S ,,( ... ) nie mehr wird es eine politische Macht geben, die den Geist knebelt ( ... ) und am allerwenigsten wird die demokratische Heilslehre das vermögen. ,,306
Eine Erweiterung der Freiheit ist für Thomas Mann mit der Verbreitung der "demokratischen Doktrin" nicht verbunden: "Vor dem Kriege war es als Unsinn erkannt, daß die Demokratie mehr Freiheit gewährleiste. Man hatte begriffen, daß die Herrschaft des Volkes die Öffentlichkeit des Lebens vollende, nur durch Gesetze und Regeln aller Art vertreten werden könne; daß sie folglich Einschränkung der Freiheit, Steigerung des Bureaukratismus,307 ständige Kontrolliertheit, Gewalt der Majorität über die Minorität, der wahrscheinlich Dummen über die wahrscheinlich Klugen also, bedeute."308
301 GW 302 GW 303 GW 304 GW 305 GW
XII s. 359. XII S. 36l. XII S. 360. XII S. 361 f. XII S. 362.
GW XII S. 364. 307 Die Frage der Kontrolle und der Entscheidungsmacht der Bürokratie bezeichnete 1971 von Simson S. 36 als das wichtigste Problem, vor dem das Verfassungsrecht heute stehe. 308 GW XII S. 364; eine der Formulierungen, die Thomas Mann von Hammacher übernommen haben dürfte, für den ebenfalls die Herrschaft des Volkes die "Gewalt der Majoritat über die Minoritat, d.h. der Ungebildeten über die 306
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Im Gegenteil stehe fest, daß Gleichheit nicht nur nicht Freiheit bedeute, sondern geradezu die BasisJ09 des Tyrannen sei. 310 Der Wunsch des Zivilisationsliteraten, den 'großen Mann' 'abzuschaffen', ihn 'auszurotten',3l1 wird nach Thomas Manns Darstellung nicht durch die demokratische Republik erfüllt. Er bezweifelt, "daß Gleichheit, Nivellierung das Entstehen des Herrn" verhindere, im Gegenteil sei es nicht etwa ein Mittel gegen den »großen Mann«, sondern geradezu dessen Mutterboden. 312 Der aus der Gleichheit erwachsende Cäsarismus wird als Staatsform von der Monarchie abgesetzt. 313 Thomas Mann glaubt den Gefahren der Tyrannis begegnen zu können, wenn dem von ihm intendierten 'Volksstaat' eine starke Kontrollinstanz vorsteht. Hätte er den Gedanken einer Kontrollinstanz so konstruiert, daß diese in einem verfassungsrechtlichen Gefüge selbst nur über eine beschränkte Macht verfügt, hätte er hier ein diskutables System entworfen. Mit der Machtkonzentration in einer Person ist die Katastrophe vorgezeichnet: ,,( ... ) nur unter einem Führer, der Züge des Großen Mannes von deutschem Schlage trägt, wird der >Volksstaat< einen erträgliChen Anblick bieten und etwas anderes sein als die Humbug-Demokratie, die wir nicht >meinenDeutsche Volk< als solches. Es sei - im Vergleich zu anderen Völkern - "am wenigsten zur Klasse und Masse entartet", daher "bei dem Worte >Volksstaat< sympathisch aufhorchen mag, wem beim Schrei nach Demokratie sich der Instinkt empört" und es einem Deutschen wenig anstehe, "dem deutschen Volk, dem Helden dieses Krieges, das Recht bestreiten zu wollen, am Leben der Nation mitzuwirken, mitzubestimmen.,,316 Sobald aber die Rede auf die Urteilskraft des Volkes kommt, ist von dessen Heiligkeit keine Rede mehr: von Verstand nicht zu "Mein GOll, das Volk! Hat es denn Ehre, Stolz reden? Das Volk ist es, das auf den PUltzen singt und schreit, wenn es Krieg gibt, aber zu murren, zu greinen beginnt und den Krieg fOr SChwindel erklärt, wenn er lange dauert und Entbehrungen auferlegt. Womöglich macht es dann Revolution; aber nicht aus sich; denn zu Revolutionen gehört Geist, und das Volk ist absolut geistlos. Es hat nichts als die Gewalt, verbunden mit Unwissenheit, Dummheit und Unrechtlichkeit." Gerechtigkeit sei dann Tugend, wenn sie von einer herrschenden Klasse geübt werde, die sich aus Anstand entschließt, der unterworfenen Klasse gleiche Rechte einzugestehen; werde die Gerechtigkeit hingegen gefordert, so heiße sie Neid und Begehrlichkeit. Das Volk sei nicht fortschrittlich gesonnen, sondern träge. 317 Es empfinde nicht eigentlich demokratisch, es besitze vielmehr "das natürliche Gefühl für Abstand und Rangordnung".318 Thomas Mann bezweifelt, daß Volksherrschaft Frieden und Rechtlichkeit verbürge, die >demokratische Kontrolle< die sicherste Gewähr für den Frieden biete und die Entscheidung über Krieg und Frieden in den Händen der Masse besser aufgehoben sei als in denen eines qualifizierten Ministers. 319 Durch die Aufteilung der Verantwortlichkeit kom-
315 GW XII S. 366. 316 GW XII S. 367; zum folgenden ebd. S. 349. 317 GW XII S. 370. 318 GW XII S. 371. 319 Wörtlich: eines Ministers vom Schlage des Herrn von Bethmann Hollweg, GW XII S. 371.
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me diese abhanden, statt an Ernst und Schwere zu gewinnen. 320 Das Volk wird als Wesen gesehen, "das weder herrschen kann, noch sich beherrschen läßt", selbst die "Führerschaft ihrer Gewählten" lasse es sich nicht gefallen, sondern wolle auch diese noch zur Rechenschaft ziehen. 321 e) Das Kapitel "V 0 n der Tu gen d" ist für das vorliegende Thema weniger ertragreich als das vorhergehende. Fast alle relevanten Gedanken sind zuvor schon ausgesprochen worden. Wieder steht der Zivilisationsliterat im Mittelpunkt der Angriffe. Er ist es, der die "Tugend in politischer Gestalt"322 vertritt und bei dem moral-philosophische Abstrakta wie "Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit" rein politische Bedeutung annehmen und "alles in allem ganz einfach die radikale Republik bedeuten".323 Er kümmere sich mehr um die politische Seite der Dinge, nicht ihre moralische, mehr um Rechte als um Pflichten. 324 Dabei komme es dem Zivilisationsliteraten nicht auf Politik im Sinne einer Verständigung zwischen >Recht< und der >Klugheit< an,325 sondern auf die "Demolierung des Staates, den permanenten Pöbelaufstand, die Revolution".326 Dem Zivilisationsliteraten wird - als Rousseauit - mangelnde Differenzierungsfähigkeit zwischen den europäischen Nationen vorgeworfen. 327 Seine Weltanschauung sei die des "demokratischen InternationaIismus",328 sein Ziel "die demokratische Einebnung und Einordnung Deutschlands", dessen "Einordnung in die Weltdemokratie".329 Hervorgehoben wird seine Rechthaberei, den Dünkel, andere schlechter zu finden als sich selbst. 330 Der "demokratische Humanist" sei ein "Tu-
320 GW XII S. 372; bereits bei Hammacher, auf den Thomas Mann sich verschiedentlich stUtzt, findet sich (S. 114) der Gedanke, das Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen sinke, weil es mehr Menschen gibt, auf die er seine Pflicht abschieben könne. 321 GW XII S. 373. 322 GW XII S. 382. 323 GW XII S. 383. 324 G W XII S. 386 f. 325 Mit Adam Müller. 326 GW XII S. 384. 327 Vergl. GW XII S. 386. 328 GW XII S. 387. 329 GW XII S. 391 f. 330 GW XII S. 389, siehe ebd. S. 387.
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gendbold",331 der das junge Geschlecht in der Demokratie unterweise, ohne sich zu schämen,332 und es für erlaubt halte, Politik gegen den Staat zu betreiben. 333 Seine "politisch-demokratische Tugendphrase" habe die "demokratische öffentliche Weltmeinung" für sich;334 um nur einige der Mannschen Schlagworte zu nennen. Thomas Mann lehnt es ab, den Freiheilsgedanken im Politischen aufgehen zu lassen. Er möchte nicht leben in einer Welt, in der Feiheil sich auf das allgemeine und gleiche Wahlrecht beschränkt. 335 Es gebe nichts Wichtigeres "als das, was hoch und gut ist, und sollte es auch dem Fortschritt und dem preußischen Wahlrecht nicht unmittelbar zustatten kommen.,,336
Gegengewicht zum Demokratismus ist die Kunst, die ihm reaktiound als konservative Mache38 erscheint. Solange sie existiere, werde die Demokratie auf Erden nicht gesichert sein. 339 Doch gibt es, vor allem seit der Krieg die Probleme >demokratisiertemas Mann auf die >M e n s chi ich k e i t < ein, "das größte Schlag- und Tugendwort, das
331 GW XII S. 402. 332 G W XII S. 403 f. 333 GW XII S. 404.
334 GW XII S. 390
f.
335 Vergl. GW XII S. 393, Mann verweist mit Treitschke auf das Beispiel mancher Klöster, in denen die Oberen durch das allgemeine Stimmrecht gewählt werden. 336 G W XII S. 406. 331 G W XII S. 396. 338
GW XII S. 397.
339 GW XII S. 398. GW XII S. 416. 341 GW XII S. 425. 342 GW XII S. 417. 340
343 GW XII S. 417. 344
"Einiges über Menschlichkeit".
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die Demokratie im Munde führte".345 Während ihm selbstverständlich erschien, daß >Menschlichkeit< "den Gegensatz aller Politik", menschlich denken und betrachten, unpolitisch denken und betrachten bedeute, dringe die Demokratie darauf, alles Menschliche politisch zu betrachten. Die Demokratie neige allerdings dazu, das Politische dann menschlich zu betrachten, wenn es ihr nützlich und rätlich scheine,346 was vor allem in der Außenpolitik der Fall sei. 347 Dem setzt Thomas Mann - nüchterner - entgegen, gerade in der Außenpolitik müsse die menschlich-kulturelle gegenüber der politisch-historischen Seite der Dinge zurücktreten: 348 "Denn in der Politik herrschen mechanische, außermenschliche, außermoralische und also weder gut noch böse zu nennende Gesetze (... ).,,349 Menschlichkeit und Politik könnten nie "in einern attributiven Verhältnis zueinander" stehen/so das Menschliche vom Politischen nie auch nur berührt werden.3S! In der Politik seien "gehässige Einseitigkeit, Ungerechtigkeit, Lüge, Fälschung, Verdrehung und Verhetzung gang und gäbe".3S2 Unberührt von der Politik bleibe auch, was man Menschenwürde nenne. Die Menschenwürde wird also bereits in den 'Betrachtungen' herausgestellt und vor der 'Demokratie' in Schutz genommen: ,,( ... ) es ist eine Albernheit, zu glauben, daß unter einer Republik >menschenwürdiger< gelebt werde, als unter einer Monarchie.,,353 Der Begriff des Menschlichen, die Vorstellung von dem, was in sozialer Hinsicht menschenwürdig ist, sei auch innerhalb der zivilisierten Welt sehr schwankend. 354 Die Gleichheit sieht er als fingierten und
345 GW XII S. 428. 346 GW XII S. 428. 347 GW XII S. 432 f. (,llußere Politik'). 348 Vergl. GW XII S. 433. 349 GW XlI S. 431. 350 G W XII S. 434. 351 GW XII S. 435 f. 352 GW XII S. 434. 353 GW XII S. 436. 354 GW XlI S. 436. Als Beispiel führt Thomas Mann den Russen an - "aus einem Lande kommend, wo despotische und demokratische Korruption sich vermischen" - dem es an einem Schalter nicht gelingt, durch Hinreichung eines Geldscheins früher als die vor ihm Gekommenen abgefertigt zu werden. Die antikorruptionistische Gerechtigkeit verletzte also seine Menschenwürde, seine Art von Freiheit, G W XII S. 436.
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
künstlichen Zustand, bei dem die wirkliche und natürliche Kräfteverteilung möglichst verleugnet und oberflächlich außer Kraft gesetzt werde. "Gleichheit und Freiheit schließen einander selbstverständlich aus",355 ist die zentrale Aussage Thomas Manns zum Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Die "wahre, das heißt menschliche Demokratie" ist ihm eben keine Sache von "Freiheit >und< Gleichheit", sondern von "Brüderlichkeit"; nicht Politik, sondern "eine Sache des Herzens". Diese "Demokratie des Herzens", die seine spätere Vorstellung einer der 'sozialen Demokratie' vorwegnimmt, sei "der Demokratie des Prinzips und der humanen Rhetorik", der "theoretischen Liebe und doktrinären Menschlichkeit" des Zivilisationsliteraten menschlich weit überlegen. 356 An dieser Stelle macht Thomas Mann deutlich, daß in seiner Staatsvorstellung die rechtsprechende Gewalt unabdingbar ist. Über einen Mitmenschen nicht (im christlichen Sinne) "zu richten" (wozu Jurist wie Laie unvermögend seien), ist für ihn etwas ganz anderes, als "Recht sprechen "; "wenn anders es ein gesellschaftliches Kulturleben, irgend etwas wie Staat also, geben soll, Recht s~rechen müssen wir ja wohl, diese soziale Last will am Ende getragen sein.,,35
Er, der sehr gern Gerichtssäle besuche und dabei Schriftsteller genug sei, die menschliche Kritisierbarkeit aller Justiz zu beobachten, habe sich kaum jemals zur lustizsatire aufgelegt gefühlt. 358 Der angeblich so sehr um Menschenwürde besorgte Zivilisationsliterat bringe (mit seiner entschuldigenden Milieutheorie)359 das Leben "um allen Ernst, alle Würde, alle Schwere und Verantwortlichkeit", statt "des Menschen
355 GW XII S. 436 f. 350 GW XII S. 437. 357 GW XII S. 442.
358 GW XII S. 442 f. ("es sei denn, das Schwurgericht als solches hätte Anlaß zu dieser Stimmung gegeben"). Im Gegenteil: "Die wissenschaftliche Akribie und ärztlich pflegsame Gewissenhaftigkeit, mit der da der menschlich abstoßende Fall irgendeiner unmöglichen Willensindividuation traktiert wurde, hat mir jedesmal Achtung, ja Bewunderung eingeflößt und Genugtuung darüber, mit welchem Maß von Scharfsinn und Anstandigkeitsbedürfnis der Mensch als gesellschaftliches Wesen auch dieses Gebiet kultiviert hat". Weshalb es auch nicht human sei, einen Verbrecher aus Mitleid freizusprechen oder aus der Erwägung, auch nicht besser zu sein als dieser, selbst wenn der Schuldspruch seinen Tod bedeute. 359 Vergl. GW XII S. 443 f.; Worte von mir.
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Schwäche, Ratlosigkeit und Erbärmlichkeit" zu sehen, wie sein Verhältnis zur Justiz, zur Schuldfrage und zur Todesstrafe zeige.3(,O Wenn Thomas Mann sich gegen die >MenschlichkeitGleichheit der Menschenach tet Aristokratie< oder >Demokratie< nur noch ein Achselzucken haben".375 g) Wenn Thomas Mann im folgenden Kapitel" Vom GI au ben" schreibt, so ist damit der Glaube an die "Demokratie",376 an die "demokratische Moral"m gemeint, die der Zivilisationsliterat in intoleranter Weise, ja fanatisch vertrete. Der Zivilisationsliterat nenne die Demokratie Religion. 378 Die moralische Gegenmacht des Fanatismus ist für Mann die Gerechtigkeit379 und neben dieser die Bildung. 380 Die Kunst kann beides als >bildende Gerechtigkeit< vereinigen. 381 Die Bildung wird auch für das .,tief unpolitische, antiradikale und antirevolutionäre Wesen der Deutschen" verantwortlich gemacht, weshalb "das zivilisatorische Unternehmen, in diesem Volke eine demokratische, das heißt: literarisch-politische Atmosphäre zu schaffen, zum Scheitern verurteilt ist".382
Kaum einige Seiten entfernt heißt es dagegen: "Was zum Beispiel die Demokratie in Deutschland betrifft, so glaube ich durchaus an ihre Verwirklichung: darin eben besteht mein Pessimismus. Denn die Demokratie ist es, und nicht ihre Verwirklichung, an die ich nicht glaube.,,383
Dem Glauben an die Demokratie stellt Mann den 'wahren Glauben' entgegen. Dieser ist für ihn
374 375 376 377 378 379
GW GW GW GW
380
382
GW XII S. 501. GW XlI S. 501. G W XII S. 506.
383
GW XII S. 494.
381
XII XII XII XII
S. 485. S. 488; vergl. Baeumler S. 1119. S. 517. S. 492.
GW XII S. 535. GW XII S. 498.
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich "nicht der Glaube an irgendwelche Grundsatze, Worte und Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt. Es ist der Glaube an Gott."3S4
Schon an anderer Stelle hat er bemerkt, "ohne metaphysische Religiosität, diese Sphäre wahrer Menschlichkeit" sei soziale Versöhnung auf immer unmöglich.3&S Für ihn steht fest, "daß der Menschheit der Glaube an Gott nötiger wäre als der an die Demokratie".386 Hier begegnen wir bereits den Ansätzen seines 'christlichen Humanismus', die sich vor allem in der dritten und vierten Phase seiner Demokratievorstellungen ausformuliert finden. Im Trachten nach Gebundenheit sieht Thomas Mann ein Trachten nach Kultur, demgegenüber die Mehrzahl der Menschen, wenn sie nach Freiheit schreie, die Freiheit von Scham und Anstand meine. 381 Der Zweifel erscheint ihm moralischer als ein Optimismus, der durch den Glauben an die Demokratie selig werden wolle. 388 Der Krieg habe den Glauben an "ein irdisches Reich Gottes und der Liebe, ein Reich der Freiheit, Gleichheit [und] Brüderlichkeit" mächtig verstärkt. "Die Menschen des Friedensschlusses werden >glaubenDemokratisierung< Deutschlands. 395 Damit wird der AntiNationalismus des 'belles-Iettres-Politikers' hervorgehoben, der in Frankreich das "Reich der Wahrheit, der Freiheit (... ), der Demokratie und des Geistes" sehe. 396 Thomas Mann beruft sich diesem Idealbild gegenüber auf die soziale Wirklichkeit Frankreichs, die zur Kenntnis zu nehmen der 'belles-lettres-Politiker' sich weigere. 397 Der "demokratische Fortschritt" habe es "dortzulande zwar bis zur Trennung von Staat und Kirche gebracht, aber vor dem tilhen Interesse der Rentnerbourgeoisie die Waffen gestreckt (oder sie auch gegen das Volk gekehrt) (. .. ), sobald es die einfachsten Forderungen des sozialen Anstandes zu erfüllen galt. ,,398 Thomas Manns Empörung richtet sich gegen "die UnverscMmtheit, womit der Geistespolitiker die Identit!lt von Politik und Moral statuiert, gegen den Dünkel, womit er jede Moralitat verneint und infamiert, die der Frage des Menschen auf anderem, seelischerem Weg nachgeht, als dem der Politik (... ).,,399 Thomas Mann stellt fest, es sei nun "die hysterische Demokratie"400 gegeben. i) Auch im Kapitel "I r 0 nie und Rad i kai i s mus" steht der Künstler im Mittelpunkt. Thomas Mann beschreibt den Künstler als 391 GW XII S. 544 f. 392 GW XII S. 547. "Künstlertum ist etwas, wohinter man sich zurückzieht, wenn es mit dem Sachlichen ein wenig drunter und drüber geht( ... )", ebd.
S.546. 393
394 395 396 397
398 399 400
GW XII GW XII GW XII GW XII GW XII GW XII G W XII GW XII
S. 547. S. 563. S. 549. S. 555. S. 561. S. 555.
S. 566. S. 544, 567.
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Erste Phase: Wilhelminisches Kaiserreich
ein "dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan", den man nicht deshalb zum Politiker machen dürfe, weil die Kunst auch politische Folgen haben könne. 401 Für die Kunst sei "keine bestimmte Staatsform Lebensbedingung", sie habe unter den verschiedensten Bedingungen auf Erden geblüht. 402 Der deutsche Geist werde konservativ bleiben, "sofern er nämlich selber bleibt und nicht demokratisiert, das heißt abgeschafft wird".403 Doch werde der Konservativismus erst 'witzig', wenn ein Einschlag von Demokratie sein Wesen kompliziere,404 es sei möglich, daß er die Demokratie fördere durch die Art, in der er ihn bekämpfe: 40S "Die Demokratie. Wir haben sie ja schon! Die >VeredelungVermenschlichungRäte geistiger Arbeiter< wird tatsächlich sehr viel später im 'Faustus' aufgenommen, GW VI S. 453. 16 TB I S. 115, 138, 326, 492, 547; doch auch im Kaiserreich gehörte Thomas Mann schon einem "Censur-Beirat" an, siehe dazu Brief an Frank Wedekind vom 7.12.1912, Briefe I S. 98, wo er äußert, seine Aufgabe als Mitglied des Censur-Beirates darin zu sehen, "die Aufseher der öffentlichen Ordnung vor Eingriffen in Werke von Dichtungsrang zu warnen (... ) Auch heute habe ich die Gelegenheit nicht versäumt, dem Polizeipräsidenten die Freigabe des von ihm beanstandeten Satzes zu empfehlen"; Brief an Kurt Martens vom 26.5.1913, Briefe I S. 103: "Aus dem Censur-Beirat trete ich natürlich aus, weil ich mich nicht der liebenswürdigen Unterstellung aussetzen will, ich hätte mich gegen Geist, Freiheit und Kollegenschaft auf die Seite der Polizei gestellt. Als Unbeamteter und Unorganisierter ist mir schließlich am wohlsten"; Brief an Wedekind vom 29.5.1913, Briefe I S. 104: Das Bürgerliche in seinem Werk habe den bürgerlichen Ordungsmächten ein täppisches Vertrauen zu ihm eingeflößt, "warum sollte ich dieses Vertrauen nicht benutzen, um zwischen Genie und Ordnung politisch zu vermitteln? ( ... ) ganz ohne Amt ist mir schließlich am wohlsten".
1. Tagebücher 1918-1921
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Reichsministeriums des Innern zur Rechtschreibungsreform teil,17 nachdem er einen Aufruf gegen den "geplanten Umsturz der Rechtschreibung, die ein bolschewistischer Unfug wäre" unterschrieben hat. 18 Er beteiligt sich an der Wahl zur bayerischen Nationalversammlung. Die Reichstagswahl am 6. Juni 192019 verfolgt er zwar, wie auch andere Wahlen und Volksabstimmungen,20 mit Interesse, gibt aber seine Stimme nicht ab: ,,( ... ) K[ atja] will mich bereden, bei der bevorstehenden Reichstagswahl meine Stimme abzugeben und zwar für die Demokraten, um das Bürgertum zu stützen. Ich würde allenfalls für die Deutsche VOlkspartei stimmen. Wie aber die Dinge in Bayern liegen, wo die Mittelparteien keinesfalls Aussichten haben und die Waage nur zwischen Sozialismus und Katholiken schwankt, werde ich mich uninteressiert verhalten:Betrachtungen< ein Zukunftsrecht ab, das sie als »Rückzugsgefecht« nicht unbedingt hauen. Demokratie und sozialistischen Etatismus verwirft er. Dagegen glaubt er in Individualismus und Partikularismus die »Grundlagen jeder deutschen Entwicklung« erkennen zu können, Briefe an Autoren S. 23l. 67 GW XII S. 603. 66
Im "Schnee,,-Kapitel. daß der Geist sich entschließe, fortan dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen, daß er zur Weisheit werde. ( ... ) alle Zeichen lehren, daß es der äußerste Augenblick ist und daß das Chaos hereinbricht, wenn es versäumt wird", GW XII S. 602. 68
69 ,,( ... )
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Zweite Phase: Weimarer Republik
würde" zu finden, in übertragener Weise in der Erzählung "Herr und Hund" wieder. 70 Dort ist auch das Charakterbild zweier gegensätzlicher Hunde gezeichnet; der eine ein 'harmlos geisteskranker Aristokrat', dessen feste und stolze Seele und dessen Selbstzucht der 'ordinären Feigheit' des "Bäuerlein" gegenübergestellt wird, der 'keine Ehre, keine Strenge gegen sich selbst' kennt. Selbst die Humanität wird wieder bemüht, wenn der Herr über knifflige Fragen wie den Ahnenbaum seines Hundes 'mit zarter Humanität' hinweggeht. Aus "Unordnung und frühes Leid" (1925) läßt sich der Haß gegen die als gesetzlos empfundenen Umwälzungen ablesen, wie auch der 'revolutionäre Künstler' als Widerspruch empfunden wird. Gerechtigkeit wird in historisch-staatsrechtlichem Zusammenhang bestimmt, nicht als "Jugendhitze und frisch-fromm-fröhliche Entschlossenheit", sondern als "Melancholie", womit wohl die Notwendigkeit einer emotionalen Distanz zur Bestimmung der Gerechtigkeit umschrieben wird. Wie wenig auch die poetischsten Äußerungen Thomas Manns von Politik frei sind, zeigt die Idylle "Gesang vom Kindchen" (1919). Nicht anders als im Friedrich-Essay werden militärischer Sieg und Recht gleichgesetzt: Deutschland liege "zerbrochenen Rechtes",71 "Denn den Feinden zugunsten / Lautete ehern der Richterspruch, der ohne Berufung/lst und über Recht und Unrecht gültig entscheidet".72
Doch erscheint der Sieg jetzt fragwürdig. 73 Über das Schicksal Deutschlands ist der Autor hoffnungsvoll, zu einer konkreten Aussage entschließt er sich indessen nicht: "Weiß denn ein Volk auch wohl, zu welchem Ende es aufsteht,/Wie dein Deutschland tat, und wozu es also ergriffen? / Nur daß Gott es ergriff, das fühlt es mit Recht in der Seele".74
4. Zur Ergänzung der "Betrachtungen eines Unpolitischen" ist das 1924 erschienene Werk "D erZ au b erb erg" heranzuziehen. 75 Der
70
GW VIII S. 541 (1919).
71 GW VIII S. 1096.
72 GW VIII S. 1098; an die Gestalt des Taufpalen sind Gedanken über Deutschland geknüpft. Jener habe sich Deutschland "angelobt, Blulsbürgerschaft /Ihm zu leisten und seinem Recht, das ihn heilig bedünkte", GW VIII S. 1096. 73 Einzelheiten GW VIII S. 1097 f. 74 GW VIII S. 1098. 75 Thomas Mann selbst hat die 'Betrachtungen' als ein Buch bezeichnet, das zur Vorbereitung auf den 'Zauberberg' geworden sei, der zum Kunstwerk nur
4. "Der Zauberberg"
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scheinbar auf den Ort der weltfernen Lungenheilanstalt 76 beschränkte Roman läßt die These zu, das Sanatorium stelle ein Modell der politischen Verhältnisse Deutschlands vor dem europäischen Hintergrund dar. 77 Diese These findet sowohl im Roman selbst, als auch in den Äußerungen Thomas Manns 78 ihre Bestätigung. a) In seiner Rede "E i n f ü h run gin den > Z a u b erb erg< " sagt Thomas Mann, die Figuren des Romans seien "lauter Exponenten, Repräsentanten und Sendboten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten".79 Der Roman stützt die These mit Stellen, in denen die Sanatoriumsleitung als "Obrigkeit" bezeichnet wird,so oder von den "Kurprinzipien" gesagt wird, sie stimmten mit den "ökonomischen Interessen der Gewalthaber" überein. 81 Settembrini und Naphta sind konsequenhabe werden können "durch die materielle Entlastung, die es durch die vorangegangene analytisch-polemische Arbeit erfuhr"; "Einführung in den >ZauberbergZauberbergZauberbergZauberberg< S. 107 zeichnen sich in Settembrinis Wertungen und Umwertungen alle Wandlungen ab, die Thomas Mann während der Niederschrift des Romans selbst durchgemacht hat. 113 GW III S. 144, 210. 114 GW III S. 144. 115 GW III S. 562. 116 GW III S. 527. 117 GW III S. 342. 118 GW III S. 217; er hatte "etwas wie einen politiSChen Agitator, Redner und Zeitschriften-Mitarbeiter vorgestellt (... ) auch er ein Oppositionsmann (... )", GW III S. 214. 119 GW III S. 218. 110
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Settembrinis Haltung bestimmt sich im Bekenntnis zum Humanismus und zur Demokratie. l20 Selbst bezeichnet er sich als Humanist,l21 als »homo humanus«,l22 der die Vernunft gegen die Mächte der Finsternis l23 einsetzt und als obersten Grundsatz der Menschensittlichkeit ansieht, der wissenschaftlichen Wahrheit nachzustreben. 124 Die "Fahne der Aufklärung, Bildung und Freiheit"l25 ist auch sein Feldzeichen. Als die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung feiert er Persönlichkeit, Menschenrecht und Freiheit. l26 Bis zu seinem letzten Atemzug werde er der Sache der Menschheit dienen. 127 Den Humanismus bestimmt Settembrini als "Liebe zum Menschen (... ) nichts weiter, und damit sei er auch Politik, sei er auch Rebellion gegen alles, was die Idee des Menschen besudele und entwOrdige."128 Konkret ist es die "Würde des Menschen",t29 um die es dem Humanismus geht eine der Übereinstimmungen mit Manns Vorstellungen. Die Literatur umschreibt Settembrini als die Vereinigung von Humanismus und Politik, welche sich umso zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Politik Humanismus sei. 130 Alle "Menschenwürde" sei mit Literatur untrennbar verbunden, denn das schöne Wort erzeuge die schöne Tat. l3l Sprechen und schreiben ist ihm eine "hervorragend humanistisch-republikanische Angelegenheit".132 Republik und Schönheit hängen für ihn eng zusammen,133 deshalb schützt und preist er die Literatur. 134 Eine Staatsform wird - wohl
120 Zu letzterem z.B. GW III S. 814 (indirekt). 121 GW III S. 92. 122 GW III S. 2109. 123
124 125 126 127 128
129 130 131 132 133
134
GW GW GW GW GW GW
III S. 89. III S. 645. III S. 219.
III S. 553; ebd. S. 646: Freiheit als das Gesetz der Menschenliebe. III S. 347. III S. 222. Vergl. GW III S. 642. GW III S. 223, vergl. S. 563. GW III S. 224, vergl. S. 723. GW III S. 492 (indirekt). GW III S. 347. GW III S. 723, 724.
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auch von Mann selbst - an ästhetischen Kriterien gemessen. Anschaulich wird dies am Beispiel der Ordnung, die über ihre reine Zweckhaftigkeit hinaus den Schönheitssinn befriedigen kann. Settembrini spricht sich "unter Anrufung der Menschenwürde" gegen die Prügelstrafe in Schule und Rechtspflege aus,13S wie auch gegen die Todesstrafe. l36 Er verweist auf die Möglichkeit des Rechtsirrtums, des Justizmordes, sowie die niemals fahrenzulassende Hoffnung auf Besserung. Der Staat, wenn es ihm um Veredelung und nicht um Gewalt zu tun sei, dürfe nicht Böses mit Bösem vergelten. 137 Die Technik ist ihm nur Mittel für "die moralische Vervollkommnung der Menschen", um "die Völker einander nahe zu bringen ( ... ), menschlichen Ausgleich zwischen ihnen anzubahnen, ihre Vorurteile zu zerstören und endlich ihre allgemeine Vereinigung herbeizuführen."I38
Settembrini lobt vor allem die Erfindung der Druckerpresse, "denn diese habe die demokratische Verbreitung der Ideen Verbreitung der demokratischen Ideen ermöglicht."139
das heiße: die
Der Heiland des Christentums habe das Prinzip der Gleichheit und der Vereinigung zuerst offenbart, worauf die Druckerpresse die Verbreitung dieses Prinzips mächtig gefördert und endlich die große französische Staatsumwälzung es zum Gesetz erhoben habe. l40 Was mit dem Heiland geboren worden sei "und seinen bis heute ununterbrochenen Siegeslauf begonnen habe, das sei die Idee des Wertes der Einzelseele, zusammen mit der der Gleichheit gewesen, - mit einem Worte die individualistische Demokratie.,,141
Der Ausgleich des Gegensatzes von Freiheit und Gleichheit im Christentum wird in der dritten und vierten Phase von Thomas Mann in verschiedenen Essays gefordert.
135
GW III S. 629.
136 Er gehört einer internationalen Liga an, deren Ziel die gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe in allen gesitteten Landern ist. 137 GW III S. 637. 138 GW III S. 219. 139 GW III S. 219. 140 GW III S. 219. 141 GW III S. 403.
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Was an "demokratischem Individualismus" der Lehre Luthers zugrundeliege, nimmt Settembrini in Schutz gegen "geistlich-feudale Herrschaftsgelüste" der Kirche,t42 deren Ziel es sei, "Freiheit, Bildung und Demokratie durch Pöbeldiktatur und Barbarei zu ersetzen".143 Er will dagegen den Geist auf den demokratischen Fortschritt festlegen. l44 Für Settembrini ist, Manns Bild des Demokraten entsprechend, alles Politik,145 wie er beim Gespräch über seine Freimaurerloge erklärt: "Der Zweck aller ist einer, das Beste des Ganzen das Grundgesetz der Verbrüderung ( ... ). Der kunstgerechte gesellschaftliche Bau, die Vollendung der Menschheit, das neue Jerusalem. Was in aller Welt soll da Politik oder Machtpolitik? Das gesellschaftliche Probe1m, das Problem der Koexistenz selbst ist Politik, durch und durch Politik, nichts weiter als Politik. Wer sich ihm weiht - und den Menschennamen verdiente nicht, wer sich dieser Weihe entzöge, - gehört der Politik, der inneren wie der äußeren, er versteht, daß die Kunst des freien Maurers Regierungskunst ist".I46 Settembrini wendet sich gegen den politischen Pragmatismus, der verkündet, gut, wahr und gerecht sei, was dem Staate frommt, eine Formulierung, mit der weitsichtig die nationalsozialistische Doktrin vorweggenommen ist. Jedem Verbrechen sei dadurch Tür und Tor geöffnet, die individuelle GereChtigkeit, die Demokratie gefährdet. 147 Damit wird der Zweck des Staates nicht zum Gesetz des Sittlichen;l48 der moderne Staat bedeute nicht die Teufelsknechtschaft des Individuums: "Die Demokratie hat keinen anderen Sinn als den einer individualistischen Korrektur jedes Staatsabsolutismus. Wahrheit und Gerechtigkeit sind Kronjuwelen individueller Sittlichkeit, und im Falle des Konflikts mit dem Staatsinteresse mögen sie wohl sogar den Anschein staatsfeindlicher Mächte gewinnen, während sie in der Tat das höhere, sagen wir es doch: das überirdische Wohl des Staates im Auge haben.,,149 Diese Funktion wird Mann der Demokratie in seiner dritten Phase im Kampf gegen den Nationalsozialismus einräumen. Ebenso ist die Wurzel der Forderung einer wehrhaften Demokratie schon hier zu finden:
142
143 144 145 146 147 148 149
GW III S. 816. GW III S. 814. So Hans Castorp über Settembrini, GW III S. 646. GW III S. 71l. GW III S. 712. GW III S. 552. Vergl. GW III S. 421. G W III S. 553.
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Die Toleranz werde zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gelte/so heißt es im 'Zauberberg'. Im internationalen Bereich tritt Settembrini zwar einerseits dafür ein, die Nationen gleich und frei zu machen, die kleineren und schwachen vor Unterdrückung zu sChützen,lsl doch kennzeichnet ihm der Nationalstaat nicht den Endzustand der Menschheitsentwicklung. Im Völkerrecht bleibe der Gedanke des Naturrechts lebendig. ls2 Über den positiven Rechten der Nationalstaaten erhebe sich ein höher-gültiges, allgemeines Recht, das die Schlichtung strittiger Interessenfragen durch Schiedsgerichte ermögliche. 1S3 Er glaubt an den Fortschritt in diese Richtung. Das Menschengeschlecht bewege sich einem .,Endzustande der Sympathie, der inneren Helligkeit, der Güte und des Glücks entgegen".154 Nach Settembrinis Vorstellungen liegen .,zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit (... )". Kein Zweifel bestehe, welcher der beiden Mächte der Sieg zufallen werde, nämlich der .,der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung".lss Europa nimmt dabei die Seite der Rebellion, des Fortschritts ein gegen die Unbeweglichkeit des östlichen Erdteils. IS6 Der Sieg . bei dem die Monarchien und Religionen zusammenstürzen würden - werde .,die Morgenröte der allgemeinen Völkerverbrüderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechts" bringen;157 .,die heilige Allianz der bürgerlichen Demokratie"158 als GegenstÜCk zur .,infamen Allianz der Fürsten und Kabinette".159 Dies alles faßt Settembrini - nicht anders als früher der Zivilisationsliterat und später Thomas Mann selbst - in dem Wort der ., Weltrepublik" zusammen. l60 Die GW III S. 713. 151 GW III S. 529; S. 834: Settembrini sei ein "demokratischer Patriot"; eine aus den 'Betrachtungen' S. 283 her bekannte Wortverbindung. 152 G W 1II S. 532. 153 GW III S. 532. 154 GW III S. 219. Zu dieser Entwicklung gehört auch der Gedanke eines Welt bundes der Freimaurer, filr Settembrini ein revolutionär-republikanischer Gedanke, GW III S. 715 f. ISS GW III S. 22l. 156 GW III S. 221; so daß Settembrini filr Castorp zum Gegenspieler Clawdia Chauchats wird, vergl. GW III S. 226. 157 GW III S. 22l. 158 GW III S. 221, s.a. S. 986. 159 GW III S. 22l. 160 G W III S. 222. ISO
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"bürgerliche Weltrepublik",161 die "glückliche Weltrepublik,,162 bedeutet für ihn den Endzustand des Menschengeschlechts. l63 d) Der Jesuit l64 Na p h ta, "zugleich Revolutionär und Aristokrat",I65 verachtet den "bürgerlichen Sicherheitsstaat"l66 und nimmt den antithetischen Standpunkt zu Settembrini ein. Er wirft Settembrini vor, er mache aus der Politik "einen Beutel voll Wind ( ... ), nämlich voll Rhetorik und schöner Literatur, was in der Parteisprache Radikalismus und Demokratie heiße" .161
Der Fortschritt sei reiner Nihilismus,l68 der "liberale Bürger" ein "Mann des Teufels";I69 der Glaube an Vernunft, Freiheit und Menschheitsfortschritt eine "Mottenkiste klassizistisch-bourgeoiser Tugendideologie"Yo Der "voraussetzungslosen Wissenschaft" setzt er den Glauben als Organ der Erkenntnis entgegen: "Wahr ist, was dem Menschen frommt ( ... ). Er ist das Maß aller Dinge und sein Heil das Kriterium der Wahrheit.,,111
Naphtas Staatstheorie geht, an Rousseausche Vorstellungen anknüpfend, von einem idealen Urzustand der Menschheit aus,112 gekennzeich-
161 GW III S. 535 (indirekt). 162 GW III s. 530 (indirekt). 163 Vergl. GW III S. 219. 164 GW III S. 566, 617; S. 645: "Hatten nicht Staatskunst und Erziehung immer das spezielle Betätigungsfeld von Naphta's Orden abgegeben?" 165 GW III S. 613 L, über den Zusammenhang zwischen Naphta und Georg (von) Lukacs informiere man sich bei Marcus-Tar S. 61 fL, sowie Anm. TB I S. 702 zu S. 314. 166 GW III S. 959. 161 GW III S. 721. 168 GW III S. 725. 169 GW III S. 725.
110 GW III S. 701. Es stellt sich ihm die Frage, ob die mediterran-klassischhumanistische Überlieferung eine Menschheitssache und darum menschlich-ewig oder ob sie allenfalls nur Geistesform und Zubehör einer Epoche, der bürgerlich-liberalen, gewesen sei und mit ihr sterben könne, GW III S. 720; diese Frage übernimmt Thomas Mann fast wörtlich in "Deutschland und die Demokratie" GW XIII S. 571 f. Die Volksschule bezeichnet er als "Instrument bourgeoiser Klassendiktatur", GW III S. 720. Die Aufklärung habe die Entwürdigung des Menschen gefördert, GW III S. 549. \11 GW III S. 551. 112 GW III S. 555.
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net von Staat- und Gewalt- und Justizlosigkeit, der durch den Sündenfall verlorenging. Der Staat nun sei auf einen zum Schutz gegen das Unrecht geschlossenen Gesellschaftsvertrag zurückzuführen, wie ihn Hobbes entwickelt hat. Aus der "Tatsache, daß alle Herrschaft und Gewalt ursprünglich beim Volke war und daß dieses sein Recht an der Gesetzgebung und seine ganze Gewalt dem Staate, dem Fürsten übertrug", leitet Naphta den Vorrang der Kirche vor dem weltlichen Staat ab und widerspricht damit Settembrini, der hieraus das "revolutionäre Recht des Volkes vor dem Königtum" folgere. 173 Da der Staat auf den Willen des Volkes, nicht auf göttliche Stiftung zurückzuführen sei, erweise er sich als Veranstaltung der "sündhaften Unzulänglichkeit". Settembrini korrigiere den durch >grenzenlose Ruhmesgier< gekennzeichneten nationalen Staat "durch etwas liberalen Individualismus" und das sei die Demokratie. Ziel der politischen Ideologie der Bürgerlichkeit sei "das demokratische Imperium, die Selbstübersteigerung des nationalen Staatsprinzips ins Universelle, der Weltstaat".174 Der Kaiser dieses Imperiums sei das Geld. 115 Die Sache der Freiheit sei historisch verbunden "mit der unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral".176 Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen Französischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat. !TI Dieser 'kapitalistischen Weltrepublik,178 stellt Naphta den Endzustand des "himmlischen Reiches" gegenüber, zu welchem die "stellvertretende Diktatur" des Papstes Mittel und Weg sei. Gotteseifer könne nicht pazifistisch sein, lautet Naphtas Argumentation. Es müsse, wenn das Reich kommen solle, der "Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht ( ... ) vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt."I79
Das begründet für Naphta die "Notwendigkeit des Terrors".I80 Nach der Interpretation Wolfs verteidigt Naphta die Notwendigkeit des politi-
173
GW III S. 556, auch zum folgenden.
174 GW III S. 557. 175
GW III S. 557 (indirekt).
!TI
GW III S. 958.
176 GW III S. 561. 178 GW III S. 557. 179 GW III S. 557.
180 GW III S. 557.
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sehen Terrors als Mittel der Beherrschung der Massen,181 was Thomas Manns Intention trifft. Das Prinzip der Freiheit habe sich überlebt, argumentiert Naphta, Liberalismus, Individualismus und humanistische Bürgerlichkeit seien tote Ideale, die Jugend finde ihre Lust nicht in der Freiheit, sondern im Gehorsam, sie brauche, verlange und schaffe sich den Terror. 182 Die Diktatur des Proletariats habe nicht den Sinn der Herrschaft um ihrer selbst willen, sondern den "einer zeitweiligen Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes, den Sinn der WeltOberwindung durch das Mittel der Weltherrschaft (... ) den Sinn des Reiches."I83
Das Proletariat solle seine Hand nicht zurückhalten vom Blute. l84 Es sei der allein menschenwürdige Zustand, daß das Einzelleben dem höheren Gedanken ohne Federlesen geopfert bzw. vom Individuum freiwillig in die Schanze geSChlagen werde. Ziel der Kirche ist nach Naphtas Vorstellung "die Auflösung aller bestehenden weltlichen Ordnungen und die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des kommunistischen Gottesstaates. ,,185
Festzuhalten ist schließlich, daß auch Naphta sich des Wortes 'Demokratie' für seine Zwecke bedient, so beispielsweise, wenn er die Kirche in Schutz nimmt, soweit man ihr "einen Mangel an Demokratismus, an Sinn für den Wert der menschlichen Persönlichkeit unterstellen" wolle. l86 Von Hans Castorps 'Erziehern', Settembrini und Naphta, heißt es denn auch, sie seien "demokratische Erzieher - beide von Natur demokratisch, obwohl der eine sich sträubte es zu sein _ (... )".187 Will man von einer Ablehung der Gedanken Naphtas durch Thomas Mann sprechen, so läßt sich diese Ansicht darauf stützen, daß für 181
Wolf S. 242.
182 GW III S. 554 f. 183 GW III S. 559. Wie schon die Kirchenväter das "Privateigentum Usurpation und Diebstahl" (GW III S. 557) genannt hatten und Handel unter Einbezie-
hung eines Nutzens, aber ohne Verbesserung des wirtschaftlichen Gutes ein "schimpfliches Gewerbe" (GW III S. 558), so hielten diese Maßstäbe ihre Auferstehung in der modernen Bewegung des Kommunismus, GW III S. 559. 184 Vergl. GW III S. 568, 620, 637. 185 GW III S. 814. 186 GW III S. 815. 187 GW III S. 785.
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Naphta der Tod eine begrüßenswerte Erscheinung ist l88 und er sich das Leben nimmt, Thomas Mann aber im "Schnee"-Kapitel dem Leben den Vorrang vor dem Tode einräumt. Ebenso lehnt er in späteren Jahren ab, seine Meinung mit der Settembrinis gleichsetzen zu lassen. l89 e) Ein letzter Abschnitt läßt sich mit D i k tat ur umschreiben, die durch Peeperkorn personifiziert wird. Thomas Mann führt die Person des Mynheer Peeperkorn ein, um den Ideenstreit zwischen Naphta und Settembrini zu relativieren, wie dies schon im "Schnee"-Kapitel geschehen war. Doch während dort nur die Ungewißheit einer staatlichen Fortentwicklung dargestellt war, fällt nun eine machtpolitische Entscheidung, die allerdings nicht auf die Überzeugungskraft der Argumentationen Peeperkorns zurückzuführen ist, sondern lediglich auf dessen "Persönlichkeitswirkung"l90 und seiner Verehrung von Stärke und Gewalt. 191 Leitmotivisch wird Peeperkorn das Adjektiv 'königlich,l92 beigegeben, er wird als "Herrschernatur"l93 dargestellt, der es versteht, ähnlich wie später Cipolla,l94 aufgrund seiner Wirkung, die Zügel in die Hand zu nehmen l95 und andere für sich arbeiten zu lassen. Hans Castorp erscheint Peeperkorn als "demokratischer Schwätzer", der die "demokratische Unverschämtheit" hat, sich mit ihm in einem Atemzug zu nennen. l96 Sind es auch nur symbolische Kleinigkeiten, bei denen Peeperkorn seine Herrschaft demonstriert, deuten doch die Formulie-
188
G W III S. 633.
189 Brief an Siegfried Marck vom 19.9.1941, Briefe II S. 207 f., in dem Mann
sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, "gänzlich zur Partei des Herrn Settembrini Obergegangen" zu sein. "Das bin ich nicht. (... ) Vor allem aber bin ich ein Mann des Gleichgewichts, der im schieflaufenden Boot sich instinktiv auf die hochliegende Bank setzt. Sie dOrfen nicht vergessen, daß meine politiSChen Exkurse nicht, wie Ihre Schriften, unter dem Gesichtspunkt absoluter Philosophie verfaßt sind, sondern daß sie eine Art von höherer Propaganda darstellen und einen polemisch-pädagogischen Charakter haben"; s.a. Brief an Pierre-Paul Sagave, Briefe I S. 350. 190 GW III S. 813. 191 Vergl. GW III S. 82l.
192 GW III z.B. S. 865: "königliche ZOge", vergl. S. 786, "Königsmaske" S. 818, "Königsantlitz" S. 862. Auch Gerhart Hauptmann, das Urbild Peeperkorns, wird in der Rede "Von deutscher Republik" als "König der Republik" bezeichnet (weitere Stellen in der Rede siehe Märchen S. 38). 193 GW III S. 779. 194 In der Erzählung "Mario und der Zauberer". 195 Vergl. GW III S. 788. 196 GW III S. 786.
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rungen über den einzelnen Anlaß hinaus: "In solchen Regierungsfragen war er Herr und Befehlshaber".197 Die "Wucht seiner Persönlichkeit" gibt in Zweifelsfragen den Ausschlag, und Settembrini sieht "die Möglichkeit menschlichen Austausches, eines demokratisch-distinkten Geplauders oder auch Disputes abgeschnitten".I98 Peeperkorns Erscheinen läßt den Streit zwischen Naphta und Settembrini zu belangloser theoretischer Auseinandersetzung herabsinken, den Streit in dem Thomas Mann möglicherweise - ganz im Geiste der 'Betrachtungen' - die Sinnlosigkeit parlamentarischer Debatten karikieren wollte:
"C ... ) für
Naphta's und Settembrini's Antinomien war es getan."I99
f) Peeperkorn steht somit für die Diktatur, die auf keine Ideen, außer der der Macht gestützt ist. Nachdem Peeperkorn die Zügel aus der Hand gelegt hat, gewinnt das eh a 0 s die Oberhand, das durch Seancen200 symbolisiert wird. Nun kommt es zu erbittertem Streit und zügellosem Hin- und Hergeschrei; es herrscht eine allgemeine Neigung zum Handgemenge 201 und "wer nicht die Kraft zur Flucht in die Einsamkeit besaß, wurde unrettbar in den Strudel gezogen".202 Dies alles spielt sich ab "vor dem Angesicht der schlichtungsbemühten, aber brüllender Grobheit selbst erschreckend leicht verfallender Obrigkeit. 203 In dem Chaos taucht auch ein "Judengegner, Antisemit" auf, der sich eine Zeitschrift >Die arische Leuchte< hält 204 und sich schließlich mit einem Juden prügelt. 205
Diese Andeutungen gehen über den Beginn des Ersten Weltkrieges hinaus, mit dem der Roman endet. Da er 1924 erschienen ist, nimmt dies nicht Wunder. Damit kann auch die Bemerkung:
197 GW III S. 86l. 198 GW III S. 86l. 199 GW III S. 82l. 200 Brief an Richard Braungart vom 7.11.1947, Briefe 11 S. 566 f.: Hans Castorp habe das in den Seancen Geschehene als unwürdig, sündhaft und widerwärtig empfunden. 201 G W III S. 948.
202 G W III S. 948.
203 GW III S. 948; ,,( ... ) der Triumph rauschhafter Unordnung über ein der höchsten Ordnung geweihtes Leben, die im >Tod in Venedig< geschildert ist, sollte auf eine humoristische Ebene übertragen werden", "On Myself', GW XIII S. 155. 204 GW III S. 950. 205 GW III S. 951.
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"Es gab keine irgendwie greifbaren Vor- und Nachteile, unter den sieben Tischen. Es war eine Demokratie von Ehrentischen, kahn gesagt",206
als Hinweis auf die spätere Staatsform Deutschlands gedeutet werden. Doch versuchte Thomas Mann dem Roman in späteren Jahren noch weiterreichende Bedeutung zuzusprechen. Im Tagebuch aus dem Jahr 1940 heißt es (bezüglich einer Vorlesung): "Ließ mich heute verleiten, den Jungen zu sagen, der Zauberberg sei Prophetie und der gegenwärtige Krieg gewissermaßen die weltpolitische Verwirklichung der dialektischen Streitigkeiten Naphta's und Settembrini's.,,207
Nachvollziehbar ist diese Aussage jedenfalls insoweit, als in und nach dem Zweiten Weltkrieg die Auseinandersetzung der demokratischen und der kommunistischen Idee um die Weltherrschaft ausgetragen wurde. Ist der Roman "Der Zauberberg" in weiten Teilen noch von der ambivalenten Haltung seines Autors zur Demokratie gekennzeichnet, so tritt Mann mit der im folgenden behandelten Rede "Von deutscher Republik" erstmals eindeutig und öffentlich für die Demokratie ein. 5. Mit der im Jahr 1922 in Berlin gehaltenen Rede" Von d e u tsc her Re pub' i k" erklärt sich Thomas Mann offen für die Demokratie. Deutet sich die Hinwendung zur Demokratie bereits ein halbes Jahr vorher an, ist die Rede doch die erste ausführliche Stellungnahme für die neue Staatsform, die sich von seiner Haltung in den 'Betrachtungen' und selbst den Tagebüchern 1918 bis 1921 auffällig unterscheidet. 208 Thomas Mann selbst verwahrt sich in dem aus demselben Jahr stammenden" Vorwort" zu der Rede gegen die Vorwürfe einer Sinnesänderung; die Rede setze die Linie der 'Betrachtungen' genau und ohne Bruch fort. 209 In der Sekundärliteratur ist bis heute umstritten, ob Tho-
206 GW III S. 982. TB V S. 64 zum 24.4.1940.
207
208 Thomas Mann hat die Rede später als unmittelbaren Ableger des 'Zauberberg' angesehen, ,,Lebensabriß", GW XI S. 129. 209 GW XI S. 810. Sehr aufschlußreich zu diesen Fragen ist der Brief vom 8.7.1922 Bertram-Briefe S. 112 f.: "Ich denke daran, einen Geburtstagsartikel über Hauptmann zu einer Art von Manifest zu gestalten, worin ich der Jugend, die auf mich hört, ins Gewissen rede. Ich verleugne die »Betrachtungen« nicht und bin der Letzte, von der Jugend Enthusiasmus für Dinge zu verlangen, über die sie innerlich hinaus ist, wie Sozialismus und Demokratie. Aber die mechanische Reaktion habe ich schon einmal sentimentale Roheit genannt, und die neue Humanität mag denn doch auf dem Boden der Demokratie nicht schlechter gedeihen, als auf dem des alten Deutschland. Es ist ein Scheuen und Ausbre-
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mas Mann eine "Wandlung" vollzogen hat. Erforderlich erscheint folgende Differenzierung: Was die Einstellung zur Demokratie als Staatsform betrifft, liegt eine Kehrtwendung Thomas Manns vor. Sein Bekenntnis zur Monarchie ist in den 'Betrachtungen' so eindeutig und der Aufruf zur Demokratie 1922 ebenfalls, daß hier ein Widerspruch nicht geleugnet werden kann. Andererseits hat sich die Demokratie in der staatlichen Wirklichkeit anders entwickelt als von Thomas Mann vorgestellt. Konsequent verteidigt er den Inhalt, der für ihn hinter dem Begriff der Demokratie steht - und zwar die Humanität - in den 'Betrachtungen' ebenso wie in der Rede" Von deutscher Republik" oder den Reden im amerikanischen Exil. Heutige Demokratiebegriffe gewohnt, fällt es schwer zu verstehen, daß Thomas Mann seine Vorstellungen von Humanität zu verschiedenen Zeiten einmal in dieser, dann wieder in einer anderen Staatsform besser verwirklicht sah. Diese Erkenntnis ist indessen der Schlüssel für das Verständnis seiner 'Wandlungen,.210 Anlaß der Rede dürfte neben der Ermordung Rathenaus 2l1 auch die Aufforderung des Reichsministeriums des Innern gewesen sein, die Republik durch eine öffentliche Äußerung zu stützen. 212 Einem allgemeinen Trend ist Thomas Mann mit der Rede jedenfalls nicht gefolgt,213 die Intellektuellen standen der Demokratie damals eher ablehnend gegenüber.
chen vor Worten. A1sob nicht »die Republik« immer noch das deutsche Reich wäre, das thatsächlich heute weit mehr, als zur Zeit, da ins banal Theatralische entartete historische Mächte darüber thronten, in unser Aller Hände gelegt ist, und das eben ist die Demokratie. Auch Minister zu erschießen, ist Demokratie. Wie wenig liegt auch an einer geschriebenen Verfassung. Zu wie geringem Teil umschreibt sie das eigentliche Leben des Volkes. Die jungen Leute sollen teils geistig-unpolitischer, teils vernünftig-politischer sein und sich ein wenig unbefangen-positiv zu den Gegebenheiten verhalten"; Brief an Ida Boy-Ed vom 21.7.1924, GrautofflBoy-Ed-Briefe S. 228: ,,( ... ) die Zeit wird lehren, daß ich nie aufgehört habe, mir selber treu zu sein". 210 Näher dazu unten Kapitel V 2 (S. 295 ff.). 211 Siehe etwa den Brief vom 5.6.1922, Bertram-Briefe S. 112. 212 Aufschlußreich dazu HUbinger S. 84, Fn. 202, der auf Ministerialdirektor Brechts Äußerung verweist, das Ministerium habe versucht, Mann zu einem öffentlichen Bekenntnis für die Republik zu gewinnen; auch die Begegnung mit Reichspräsident Ebert im Februar 1922 und weitere Einzelheiten zu der Rede bei HUbinger aaO; nach Diersen S. 138 war es "ganz sein eigener Entschluß", die Gelegenheit zu einem politischen Bekenntnis zu nutzen. 213 Scharfe Kritik an Manns neuer demokratischer AusriChtung äußerten bereits am 15.10.1922 Hussong sowie Wemer, der Mann vorwirft, auf die Demokratie hereingefallen zu sein.
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Es sind zunächst die veränderten Umstände, die Thomas Mann für die Demokratie eintreten lassen. Er stellt dar, wie früher die staatlichen Dinge in fremden Händen lagen und man sich der politischen Enthaltsamkeit hingab, obwohl man wußte, daß sie in sehr zweifelhaften Händen lagen. Nun sei der Staat allen zugefallen und als Angelegenheit und Aufgabe aller mit Verantwortlichkeit anzunehmen: ,,( ... ) der Staat, ob wir ihn wollten oder nicht, - er ist uns zugefallen. In unsere Hande ist er gelegt, in die jedes einzelnen; er ist unsere Sache geworden, die wir gut zu machen haben, und das eben ist die Republik, - etwas anderes ist sie nicht. ,,214 ,,( ... ) der Staat ist unser aller Angelegenheit geworden, wir sind der Staat (.. .)"215 Mann hat 1922 erkannt, daß die Demokratie nicht nur eine Chance, sondern auch eine Verantwortung für den Bürger darstellt. Daneben sind die Republik, die Demokratie für ihn innere Tatsachen, so daß es absurd sei, sie sich im Wirklichen nicht ausprägen lassen zu wollen. 216 Die unzweifelhaft höchste Stufe des Menschlichen sei der Staat. "Wer aber so spricht, der ist Republikaner (... )", schreibt Thomas Mann mit Blick auf sich selbst. Den Zugang zur Republik versucht er zu erleichtern, indem er die Demokratie aus der Romantik ableitet,217 ein Versuch, der sicher mehr durch seinen Zweck als durch seine Richtigkeit Rechtfertigung erfährt. In den Gedanken von Novalis 218 entdeckt Thomas Mann die Demokratie 219 und seine Verwandtschaft zu Whitman,22o dem "Künder athletischer Demokratie".221 Demokratie, Republik könnten das Niveau der
214 215 216 217
GW XI S. 821 f. GW XI S. 822. GW XI S. 821. GW XI S. 832; auf der Ansichtskarte vom 23.8.1922, Bertram-Briefe S. 113 heißt es: "Sie schwelgen da in Feudalismus, wahrend ich der Jugend die Republik mundgerecht zu machen suche, indem ich sie zur deutschen Romantik in Beziehung setze"; vergl. GW XI S. 825: die 'Meistersinger' seien deutsche Demokratie; dem Studenten turn fehle es keineswegs an demokratischer Überlieferung, GW XI S. 819. 218 Z.B. das Völkerrecht sei der Anfang zur universellen Gesetzgebung, zum universellen Staate, GW XI S. 843. 219 G W XI S. 840. 220 Z.B. GW XI S. 837, 844. 221 GW XI S. 850.
5. "Von deutscher Republik"
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deutschen Romantik haben. 222 Im übrigen beruhigt er das deutsche Bürgertum, daß auch die Republik noch immer Deutschland sei. Er greift den in den 'Betrachtungen' geprägten Begriff 'deutsche Demokratie' und 'deutsche Republik,22) wieder auf. Es wird - nicht so sehr in der Rede selbst als im Vorwort zu ihr - deutlich, daß er hiermit einen erst zukünftigen Staat meint: ,,( ... ) ich ( ... ) die Republik nicht habe hochleben lassen, bevor ich sie definiert hatte, - nicht als etwas was sei, sondern als etwas, was zu schaffen sei. ,,224
Es ist weniger die staatsrechtliche Fixierung der Republik, um die es ihm geht, als um die Republik als innere Tatsache. 225 In der Einheit des geistig-nationalen und des staatlichen Lebens 226 sieht er die Republik. Die Verfassung von Weimar sei nicht ideal und vollkommen. "Man sollte Geschriebenes nicht allzu wichtig nehmen" äußert der Literat; das nationale Leben rage darüber hinaus, das Nationale sei lebensbestimmender als "der staatsrechtliche Buchstabe".227 Damit drohen sich die Begriffe von Staat und Demokratie wieder aufzulösen: "Ist nicht Republik nur ein Name für das volkstümliche Glück der Einheit von Staat und Kulwr?"228
Schließlich mündet die begriffliche Weite in die Gleichsetzung von Demokratie und Humanität ein, womit Thomas Manns Weltbild scheinbar ohne Bruch gerettet ist: "Mein Vorsatz ist C••• ) euch C... ) für die Republik zu gewinnen und für das, was Demokratie genannt wird und was ich Humanität nenne ...229
Humanität sei nur ein klassizistisch altmodischer Name für die Demokratie. 23O Humanität stellt ihm "die deutsche Mitte" dar, 222 223
GW XI S. 836. GW XI S. 825.
224 GW XI S. 811; ähnlich distanziert von den Ereignissen des Jahres 1918 sieht Mann die Republik auch im Brief an Ida Boy-Ed vom 5.12.1922, Briefe I S. 202: "Ich habe die Republik niCht von 1918, von 1914 habe ich sie datiert". 225 GW XI S. 824; Brief an Emil Liefmann vom 7.12.1922, Briefe I S. 203: "Man muß sich schon in dem Reizungszustand unseres armen Volkes befinden, um dem Versuch, diesem jammervollen Staat ohne Bürger etwas wie Idee, Seele, Lebensgeist einzuflößen, mit Schimpf und Wut zu begegnen". 226 GW XI S. 834; von Staat und Kultur, S. 848. 227 GW XI S. 825.
228 GW XI S. 827. 229 230
GW XI S. 819. GW XI S. 831.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
,,zwischen asthetischer Vereinzelung und würdelosem Untergange des Individuums im Allgemeinen; ( ... ) Innerlichkeit und Staatlichkeit".231
Die "positive Rechtsform" der Humanität sei die Republik. 232 Auch die Idee einer europäischen Union klingt in der Rede an. Thomas Mann denkt dabei aber - was für ihn erstaunlich ist - nicht an ein multilaterales Abkommen gleichgestellter Nationalstaaten, sondern an Verhandlungen "zwischen den einzelnen Nationalstaaten und einer europäischen Oberhoheit".233 6. Welche Bedeutung Reisigers 1922 erschienene Übersetzung von Wal t Wh i t man s Werk "Demokratische Ausblicke" hatte, ergibt sich neben den angeführten Passagen der Rede "Von deutscher Republik" aus einem offenen Brief Thomas Manns an Reisiger, der bereits ein halbes Jahr vor der Rede geschrieben wurde. 234 Die überschwenglichen Dankesworte dieses Briefes sind kein hohles Pathos, sie zeigen vielmehr, wie es Thomas Mann gelungen ist, seine bisherigen Bemühungen um die Humanität in der neuen demokratischen Wirklichkeit fortsetzen zu können. Ein scheinbar unüberbrückbarer Gegensatz hat sich aufgelöst: ,,( ... ) für mich ist dies Werk ein wahres Gottesgeschenk, denn ich sehe wohl, daß, was Whitman 'Demokratie' nennt, nichts anderes ist, als was wir, altmodischer, 'Humanitat' nennen."m
Daß Whitman eine so starke Wirkung auf Thomas Mann ausüben konnte, liegt m.E. an einer Reihe von Übereinstimmungen zwischen beiden Persönlichkeiten, die sich keineswegs nur auf die Äußerlichkeit des gemeinsamen Schriftstellerberufs beschränkt oder auf die Bedeutung, die Whitman der Literatur in seiner theoretischen Schrift ein-
231 GW XI S. 852; vergl. die Empfindungen Hans Castorps zwischen Settembrini und Naphta, dem schien, "als ob irgendwo inmitten zwischen den strittigen Unleidlichkeiten, zwischen rednerischem Humanismus und analphabetischer Barbarei das gelegen sein müsse, was man als das Menschliche oder Humane versöhnlich ansprechen durfte", GW III S. 722. 232 GW XI S. 852. 233 GW XI S. 835. 234 "Hans Reisigers Whitman-Werk" GW X S. 626 f. Erstmals in Frankfurter Zeitung vom 16.4.1922; die Rede wurde am 15.10.1922 gehalten; siehe auch die Intervievs in 'Frage und Antwort' S. 71: Whitmans Einfluß forme die deutsche Demokratie, sowie S. 72, wo Whitman als größter Amerikaner bezeichnet wird, der der Nietzsche Amerikas sei: "Unter dem gemeinsamen Einfluß von Whitman und Nietzsche wird Deutschland eine wahre Demokratie werden". 235 GW X S. 627.
6. "Hans Reisigers Whitman-Werk" /Exkurs Ober Wall Whitman
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räumt. 236 Vielmehr geht Whitman auf Bedenken gegenüber der Demokratie ein, die in Manns 'Betrachtungen' ebenfalls ihren Niederschlag gefunden haben. Whitman sieht die furchtbaren Gefahren im allgemeinen Wahlrecht,237 spricht von "diesem unwissenden Stimmvieh" ebenso wie von den "untauglichen Gewählten" und den "wilden, wölfischen Parteien", die ihn beunruhigen. Sein Bekenntnis zur Demokratie beruht auf der Überzeugung, daß trotz dieser Gefahren und Mißstände der Weg der amerikanischen Demokratie der richtige Weg ist. 238 Die Entwicklung zur Demokratie sagt Whitman auch für Europa in seinem 1871 veröffentlichten Werk voraus. Sein Bild der Demokratie ist ein ganz anderes als das von Mann in den 'Betrachtungen' entworfene. Angesichts dieser neuen, von Thomas Mann aufgegriffenen Demokratievorstellung besteht tatsächlich, wie er immer betont, kein Widerspruch mehr zwischen Demokratie und den wiChtigsten in den 'Betrachtungen' geäußerten Gedanken: a) Für Walt Whitman steht die Demokratie nicht im Widerspruch zur Nation. Er hat ein ausgesprochenes Nationalbewußtsein, sieht aber auch die Krönung der Demokratie darin, daß sie alle Nationen zu einer Bruderschaft vereinigen kann. 239 b) Wall Whitmans Demokratievorstellung ist nicht losgelöst vom Prinzip des Individualismus, das für ihn vielmehr eine "Lebensnotwendigkeit" darstellt, wie auch die "Züchtung reicher, überquellender, vielfältiger Persönlichkeiten" für ihn im Mittelpunkt steht, wobei der Literatur die Aufgabe zukommt, die Persönlichkeitsbildung anzuregen. 240 c) Whitman wendet sich gegen den "Irrtum", Demokratie bedeute "Abschaffung des Gesetzes und Aufruhr" und setzt dagegen die Aussage: "Demokratie bedeutet Gesetz" und zwar "das höhere Gesetz des Geistes, das das Gesetz der physischen Kraft, des Körpers, verdrängt".241 Dies kann als Gleichsetzung von Demokratie mit Rechtsstaat angesehen werden und kommt Thomas Manns Ordnungsgedanken entgegen.
236 237
238 239 240 241
Whitman S. 23. Whitman S. 21. Whitman Whitman Whitman Whitman
S. S. S. S.
56. 40. 49 f. 40.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
d) Ebenso wie die Demokratie für Whitman mit dem Gesetz verbunden ist, ist sie es mit dem Gewissen des Menschen. 242 Dieser "intuitive Sinn der Menschheit für Redlichkeit, Männlichkeit, Anstand usf' halte in Wahrheit die soziale und politische Welt mehr im Gleichgewicht als "Gesetzgebung, Polizei, Verträge und Furcht vor Strafe".243 Die "beständige Regulierung, Kontrolle und Aufsicht auf dem Wege der Selbsthilfe" aus diesem Geiste heraus hält Whitman für die "conditio si ne qua non der Demokratie".244 e) Schließlich steht die Demokratie bei Whitman auch nicht beziehungslos zur Religion. Zum einen leitet Whitman die Gleichheit in der Demokratie von der - christlichem Gedankengut entnommenen Lehre von der absoluten Seele des Individuums ab, von der aus gesehen alle Wesen auf derselben Höhe stehen und alle Unterschiede belanglos werden. Zum anderen ist die Religion Teil der Demokratie selbst. Im Herzen der Demokratie ruhe letzten Endes das religiöse Element, schreibt Whitman, wobei er die Religion als unabhängig von Kirchen und Glaubensbekenntnissen ansieht. 245 Whitmans Gedanken gipfeln darin, einen Geist zu verkünden, der durch die religiöse Demokratie die Gesellschaft neu aufbaut und demokratisiert. 246 Wie die Gedanken Whitmans Thomas Manns Haltung beeinflußt haben, ist vor allem von Cosentino untersucht worden. In dem hier relevanten Zusammenhang sind drei Aspekte von vorrangigem Interesse. Zunächst die Haltung des Künstlers zur Politik. Während Thomas Mann in den 'Betrachtungen' die Meinung vertritt, wenn sich der Künstler auf die Politik einlasse, bleibe ihm keine Zeit für sein künstlerisches Werk, neigt er später der Meinung Whitmans zu, gerade der Künstler müsse sich für die Demokratie engagieren. 247 Weiterhin die Bevorzugung des demokratischen Pluralismus vor der homogenen Gesellschaft2-48 in den 'Betrachtungen' und drittens der Gedanke der internationalen Demokratie, der bei Thomas Mann die Oberhand gewinnen sollte gegenüber der absoluten Souveränität der einzelnen Nationen. 249 242 Whitman S. 54. 243 Whitman S. 8I. 244 Whitman S. 8I. Whitman S. 55. 246 Whitman S. 69. 247 Cosentino S. 238 f. 245
2-48 'culture'. 249
Cosentino S. 239.
8. "Bekenntnis und Erziehung"
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Die hier angedeuteten Gedanken Whitmans sollten Thomas Manns Demokratievorstellungen noch auf Jahrzehnte beeinflussen. 7. In dem Aufsatz "Das Problem der deutsch-[ranz6sis ehe n Be z i e h u n gen" (1922) verteidigt Thomas Mann seine 'Betrachtungen' zum einen gegen den Artikel Pierre Milles mit der 'alar-
mierenden Überschrift': "Un romancier allemand contre la d~mocra tie"250 und verharrt bei der Ansicht, der Geist des offiziellen, kriegführenden Frankreich wie der Entente überhaupt, sei "der vom Schlagwort >Demokratie< gedeckte Geist des Westens, bourgeoise Aufklärungs-Ideologie".251 Die "humanitäre Demokratie" wird noch immer als "Ideologie des Rhetor-Bourgeois" bezeichnet,2S2 "Chauvinismus und humanitäre Demokratie" seien in dessen Seele nicht auseinanderzuhalten. 2S3 Auf dem "lrr- und Sündenweg" Deutschlands wird als eine Station unter anderen die "Demokratie" aufgeführt. 254 8. Die enge Verknüpfung von Politik und Erziehung hat Thomas Mann 1922 in dem Aufsatz "Bekenntnis und Erziehung" ausgesprochen. An den Beispielen Rousseaus und 'Rousseaus deutschem Schüler und Erben Goethe' zeigt Thomas Mann, daß der Mensch, "vom Sozialen angerührt, der unzweifelhaft höchsten Stufe des Menschlichen, des Staates nämlich", ansichtig werde, wie also das Problem des Staates das politische Problem, als ein Problem der Erziehung, eine Angelegenheit des inneren Menschen zu begreifen sei. 255 Während jedoch bei Goethe das Politische von der Bildungsidee aufgenommen werde, und eben hierin und hierdurch als die Sphäre der Humanität sich bewähre,256 sei Rousseau, dem die Idee der Bildung
250 Mille (1921); GW XII S. 608; s.a. »Comme il exprime son degout pour les democraties, il I'exprime egalement pour la justice et la verite (... )«, ebd. S. 610. Verg!. die Kritik der 'Betrachtungen' von Mau'Y, ebenfalls aus dem Jahr 1921. 251 GW XII S. 614. 252 GW XII S. 620. 253 GW XII S. 621. 254 GW XII S. 623. Wie nationalistisch Thomas Mann 1923 eingestellt ist, zeigt beispielsweise die Schrift "Der >autonome Rheinstaat< des Herrn Barres", GW XII S. 626, in der Mann Barres Heuchelei vorwirft, wenn dieser ein autonomes Rheinland für notwendig erklare, was doch nur die "Vorbereitung der Annexion dieses Landes durch Frankreich sein werde". 255 GW XIII S. 2.';5. 256 GW XIII S. 255; die 'Wanderjahre' hatten sich zum "sozialen Roman" ausgeweitet, ebd. S. 257.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
fehle, deswegen notwendig radikal, statt menschlich zu sein. 257 Von Rousseaus Staatsphilosophie leite sich aller humanitärer (nicht humaner!) Radikalismus in der Politik her. 258 Dieser Radikalismus fehle bei Goethe, dessen "Begriff der Menschlichkeit, der Menschenwürde" mit der feierlichsten Ordnung und Stufung zusammenfalle,259 wie auch sein "europäischer Gedanke" nicht mit einem "rationalen Internationalismus" gleich sei, der lehre, daß alle Völker im Grunde gut seien und man nur gute Institutionen einführen müsse. uo
9. Der erste der nach Amerika gerichteten "B r i e f e aus D e u t sc h la n d ,,261 befaßt sich u.a. mit der Demokratie in Deutschland. Der Umsturz der Monarchie262 sei nie für möglich gehalten worden. 263 Jetzt sei Deutschland eine Demokratie, wenn jener Staatsmann recht hatte, der erklärt habe: Demokratie, das sei Diskussion. "Selbst Republikaner, in einem Sinn, der tiefer und wichtiger ist als der staatsrechtliche, dürfen wir uns heute nennen, gesetzt, daß Republikanerturn Verantwortung, Verantwortlichkeitsgefühl bedeutet (... ),,264. Auch im internationalen Bereich sei (in der Kunst) "die demokratische Einebnung beinahe erreicht".265 In dem dritten der "Briefe aus Deutschland"266 schreibt Thomas Mann, in München sei der "literarisch-kritizistische Geist europäischer Demokratie" nicht vorhanden. 267 Diese Art von Demokratie setzt er von der dortigen ab: "Bayern und München im besonderen war demokratisch, lange bevor in Deutschland von »Demokratie« in irgendeinem revolutionären Sinne die Rede war. Es war und ist demokratisch in volkhaft-volkstümlichem, das heißt also: in konservativem Geiste, und hierauf beruht sein Gegensatz zum sozialisti-
257 Vergl. GW XIII S. 255. 258 GW XIII S. 256. 259 GW XIII S. 257; die nachfolgenden Einzelheiten sind mit "Goethe und Tolstoi" identisch, GW IX S. 159. uo GW XIII S. 258. 261 Datiert November 1922. 262 "eines Staatssystems, das aere perennius schien". 263 G W XIII S. 264. 264 GW XIII S. 565. 265 GW XlII S. 262. 266 Vom Juni 1923. 267 GW XIII S. 288.
10. "Geist und Wesen der deutschen Republik"
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schen Norden, sein Antisemitismus, seine dynastische Treue, seine Widerspenstigkeit in Sachen der Republik."268 Im fünften der "Briefe aus Deutschland't2b9 spricht Thomas Mann von "faktischer, wenn auch nicht gewünschter und nicht anerkannter Demokratie".270
10. In " Gei s tun d Wes end erD e u t s ehe n R e pub Li k " 271 (1923) stellt der Autor dar, daß das republikanische Prinzip als Idee unendliche Werbekraft bewahre,272 wie unzulänglich und verderbt es sich in seinen Verwirklichungen auch ausgenommen habe und er findet wieder eine der für ihn so charakteristischen Bestimmungen der Republik: "denn diese Idee ist diejenige menschlicher Ganzheit und Vollstllndigkeil. Die Republik, das ist, wenn Sie mir die Definition freigeben wollen, die Einheit von Staat und Kultur".273 Es gebe kdnen höheren politischen Gedanken. Politik höre in ihm auf, bloße Politik zu sein; sie erhebe sich darin zur Humanität. 274 Wieder beruhigt Thomas Mann seine Zeitgenossen: die Republik könne "mit Deutschem herrlich erfüllt werden, ja die Erfüllung deutscher Menschlichkeit" bedeuten. Der tiefste Widerstand, dem der republikanische Gedanke in Deutschland begegne, beruhe darauf, daß der deutsche Bürger und Mensch das politische Element niemals in seinen Bildungsbegriff aufgenommen habe;275 ein Gedanke, den Thomas Mann später
268 GW XIII S. 288. - Der vierte Brief vom September 192..1 stimmt in den hier entscheidenden Passagen mit den Aufsatzen "Hans Reisigers WhitmanWerk", GW X S. 626-627 (GW XIII S. 296 f.) bzw. "Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik", GW XII S. 627 ff. (GW XIII S. 297 ff.) überein. U9 Vom September 1925. Der Bruder Heinrich Mann wird in diesem Brief als derjenige geschildert, "der, als wir noch im Glanze lebten, an der ideellen Stagnation unseres Staatslebens am tiefsten gelitten und unsere Führer in literarischen Manifesten, deren fulminante Ungerechtigkeit dennoch einem höheren Rechte entsprang, vor das Forum des Geistes gezogen hat"; er habe zudem den Untergang des kaiserlichen Deutschland in seinem Roman "Der Untertan" prophezeit, GW XIII S. 310. 270 GW XIII S. 312. 271 Mit dem Untertitel: "Dem Gedächtnis Walther Rathenaus". 272 "Wo immer Stand und Staat des Menschen, seine Ehre, sein Anstand als höchste und letzte Herzens- und Geistesangelegenheit empfunden werden." 273 GW XI S. 853 f. 274 GW XI S. 855. 275 GW XI S. 855.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
wieder aufgreifen wird, wenn er die Entstehung des Nationalsozialismus seinen amerikanischen Zuhörern und Lesern erklären wird. 276 Der deutsche Bürger und Mensch habe seinen "Bildungs- Kultur- und Humanitätsbegriff zu früh geschlossen", als er "das politische Element, den Gedanken der Freiheit, den republikanischen Gedanken" daraus ausgeschlossen habe: "Laßt ihm Zeit zu der durchdringenden Erkenntnis, daß jene Einheit von Staat und Kultur, die den Grundgedanken der Republik ausmacht, nicht nur von ihm, sondern von allen Völkern (... ) erstrebt und erzielt werden muß, wenn Europa nicht verlieren und verkommen soll."277 Da Humanität ebenfalls nichts anderes sei als "die Einheit von Kultur und Staat", fOlgert Thomas Mann, daß "Republik, ideell genommen und von mangelhaften Wirklichkeiten abgesehen, nichts anderes ist als der politische Name der Humanitat.,,278 Interessanterweise bestimmt Thomas Mann schon 1923 die Demokratie als Gegenpol des Faschismus, wie aus seiner eindringlichen Warnung vor dieser totalitären Staatsform hervorgeht. Ebenso sieht er den Bolschewismus im Zusammenhang mit der von ihm beobachteten Stimmung der "depressiven Antihumanität", weil auch dieser "jedenfalls nicht Demokratie, nicht Freiheit und Menschlichkeit ist, sondern Diktatur und Terror; und die diktatorisch-terroristische Tendenz eben ist es, was diese Weltbewegung als Ganzes kennzeichnet.,,279 Dieser Bewegung stellt Thomas Mann "das Dritte Reich einer religiösen Humanität" entgegen, von dem schon Goethe, Hölderlin und Nietzsche gesungen hätten. 28O Ein "Drittes Reich", das zwar denselben Namen trägt wie das später entstandene, inhaltlich indessen vollkommen gegensätzlich dazu konzipiert war.
11. In Thomas Manns" Tischrede in Amsterdam" (1924), die ein Jahr später unter dem Titel" Dem 0 k rat i e und Leb e n " erschienen ist,281 verbindet er die Gedanken des Romans "Der Zauberberg" mit denen der Rede "Von deutscher Republik", indem er Leben
276 So sieht Mann es als ein Fortschreiten "von der Innerlichkeit zum Objektiven, zum Politischen, zum Republikanertum" an, GW XI S. 856. 277 G W XI S. 856. 278 GW XI S. 857. 279 G W XI S. 858. 280 GW XI S. 860. 281 Vossische Zeitung (Berlio) vom 23.5.1925.
12. "Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik"
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und Demokratie gleichsetzt und damit jedenfalls im Nachhinein die Demokratie als die zukunftsweisende Idee Hans Castorps kennzeichnet. 282 Thomas Mann betont, es müsse "dem aristokratischen Todesprinzip, das demokratische Prinzip des Lebens und der Zukunft die Waage halten, damit das allein und endgilltig Vornehme, damit Humanität entstehe.',283
Interessanterweise räumt er dem demokratischen vor dem aristokratischen Prinzip nicht den absoluten Vorrang ein, sondern will es nur als temporäres Regulativ im Dienste der Humanität verstanden wissen: ,)a, es ist sogar der europäische Augenblick gekommen, wo eine bewußte Überbetonung der demokratischen Lebensidee vor dem aristokratischen Todesprinzip zur vitalen Notwendigkeit geworden ist. ,,284
Diese der Demokratie lediglich zeitweilig zugebilligte Bedeutung zeigt, daß Mann die Demokratie nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck vertritt. 12. In " Na t u r r e c h tun d H u man il ä tin der Welt p 0 Li ti k" (1925) befaßt Thomas Mann sich mit dem gleichlautenden Vortrag des Kulturphilosophen Ernst Troeltsch, der für seine Demokratievorstellungen ebenfalls von großer Bedeutung war. Während in Deutschland unter 'Demokratie' gewöhnlich nichts weiter als eine Staatsform 285 verstanden werde, sei in Ernst Troeltschs Broschüre ausgesprochen, "was also in Wahrheit Demokratie" sei, und von Mann mit "gewisse geistige Notwendigkeiten" umschrieben wird. 286 Er weist zunächst auf Troeltschs Unterscheidung zwischen dem "deutschen politisch-geschichtlich-moralischen Denken" und dem "westeuropäischamerikanischen" Denken hin. Letzteres besteht für Troeltsch in der Vorstellung einer ewigen, Moral und Recht gemeinsam begründenden rationalen und gottgewollten Ordnung. Der westeuropäischen Gedankenwelt hänge an, wer an das göttliche Naturrecht, die Gleichartigkeit des Menschen, die Einheitsbestimmung der Menschheit glaube und darin das Wesen der Humanität sehe, hingegen beruhe die deutsche 282 Vergl. auch die "Tischrede bei der Feier des Fünfzigsten Geburtstags" GW XI S. 368: "Wenn ich einen Wunsch filr den Nachruhm meines Werkes habe,
so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß". 283 G W XI S. 354. 284
GW XI S. 354.
285 ,,_
286
die Republik also -" schreibt Thomas Mann.
GW XII S. 627.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
Lehre auf der Vorstellung einer immer neuen und lebendigen, individuellen Verkörperung des historisch-produktiven Geistes. 287 Troeltsch verharrt nicht in der Darstellung der unterschiedlichen Denkweisen, sondern fordert eine "Kultursynthese", was Thomas Mann als "pädagogische Forderung" Troeltschs erscheint und von ihm als Erfordernis einer Wiederannäherung des deutschen Gedankens an den westeuropäischen dargestellt wird. Wichtig ist für Thomas Mann dabei, daß die Wiederannäherung ohne jede grundsätzliche Verleugnung der deutschen Eigenart vonstatten gehen könne. 288 Für Thomas Mann sollte - vor allem in den Essays in und nach dem Zweiten Weltkrieg - der "Gedanke der Menschheitsorganisation" von Bedeutung werden, der der "Idealwelt der naturrechtlieh bestimmten europäischen Humanität" zugeordnet wird. 289 Troeltsch stellt "das Ideal der Einheitsorganisation der Menschheit",290 den Völkerbund,291 aus der Sicht der westeuropäischen Vorstellung als Forderung Gottes, der Natur und der Menschheit dar und erkennt darin einen unverlierbaren moralischen Kern, der nicht grundsätzlich verleugnet werden dürfe,292 andernfalls - so die Ergänzung Thomas Manns - ein Volk an seinem Menschentum Schaden nehmen werde. 293 13. In dem 1925 veröffentlichten Artikel "D e u I s chi an dun d die Dem 0 k rat i e" wird deutlich, daß Thomas Mann sich auf die Seite der Demokratie stellt, um der Gefahr faschistischer Diktatur entgegenzuwirken. Über ganz Europa gehe eine nationalistisch-antiliberale, ja antihumane Welle hin. 294 Der antiliberale Rückschlag "äußert sich politiSCh in der überdrußvollen Abkehr von Demokratie und Parlamentarismus, in einer mit finsteren Brauen vollzogenen Wendung mr Diktatur und zum Terror."29S
Beispiel ist ihm der Faschismus Italiens, dessen Humanitätsfeindlichkeit er hervorhebt und als Gegenstück den russischen Bolschewismus an-
Troeltsch S. 7. 288 GW XII S. 629. 289 GW XII S. 629. 290 Troeltsch S. 8. 291 Troeltsch S. 11. 292 Troeltsch S. 22. 293 GW XII S. 629. 294 GW XIII S. 577. 29S GW XIII S. 577.
287
13. "Deutschland und die Demokratie"
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sieht,296 doch weist er auch auf die Gefahr eines "deutschen Faschismus" hin,m die er u.a. auf den verlorenen Krieg zurückführt. 298 Deswegen sieht er den Augenblick für gekommen, die humanen Überlieferungen zu pflegen, zu denen er auch den Sozialismus rechnet. 299 Wiederum ist es ihm darum zu tun, den richtigen Mittelweg zu finden: "Es handelt sich um ein Balanceproblem, um eine Frage der Gewichtsverteilung nach wechselnden Umständen."3OO
Der Begriff der Humanität müsse mit neuem, mit nationalem Inhalt gefüllt werden; und wieder lautet die Gleichsetzung: "Demokratie ist nur der moderne ~litische Name für den älteren, den klassizistischen Begriff der Humanität." 1
Diese Synthese von antiker und christlicher Welt habe bereits Nietzsche als das »Dritte Reich« prophezeit. So wird der Geist Nietzsches als "ideologische Grundlage" einer "deutschen Demokratie" herangezogen: "Ist er es nicht, der die DemOkratie zur Vorbedingung erklärt hat eines neuen Adels ( ... ) der Prophet eines neuen Bundes von Erde und Mensch? Was aber wäre Demokratie im höchsten Sinne, wenn nicht dieser neue Bund?"302
Einigten die Deutschen sich mit den Völkern in Ost und West dahin, dieses Reich, das Thomas Mann das "Reich der Humanität" nennt, oder doch die Vorkehrungen zu diesem Reich, mit dem Namen der Demokratie zu benennen, so würden die Deutschen zu seiner Verwirklichung beitragen. Hergeleitet wird diese Behauptung aus dem Kantisehen Pflichtgedanken und 'Lebensbefehl':
296 GW XIII S. 572. 291 298 299
GW XIII S. 577. vergl. GW XIII S. 575 ff. GW XIII S. 578.
GW XIII S. 578. - "Die Politik der »freien Hand« zwischen Ost und West" werde in geistiger und kultureller Beziehung die Deutschland vorgeschriebene bleiben. 301 GW XIII S. 580. 300
302 GW XIII S. 580; vergl. das Fragment "Von Europäischer Humanität" GW XII S. 638, wo Nietzsches Humanismus dem "Hakenkreuz froher Entmenschung" gegenübergestellt wird; im Brief an Walter Rehm vom 26.6.1930, Briefe I S. 301, formuliert Mann den Gedanken so: "Die besten Dinge von damals [19. Jhd.] sind verhunzt, der Humanismus ist erniedrigt oder tot. Konsequenz: Man muß einen neuen gründen".
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Zweite Phase: Weimarer Republik
"Dienst am Leben aber, zu dem wir Deutschen immer wahrhaft bereit waren, ist heute Dienst an der Demokratie, ohne die Europa des Todes ist ( ... ).,,3(}3
Die Schwierigkeiten, "die sich der Einordnung Deutschlands in die Weltdemokratie entgegenstellen", unterschätzt er nicht, zumal sie den Deutschen im eigenen Inneren zu schaffen machten. 14. Der Vortrag" Go e t heu n d To Ist 0 i" mit dem Untertitel " Fra gm e nt e zum Pro b I emd e r H um a n i t ä t" wurde 1921 gehalten; die erweiterte Form des Textes erschien erstmals 1925. In diesem Vortrag wird die Vermischung wie auch der Widerstreit von aristokratischen und demokratischen Elementen sowohl bei Goethe als auch bei Tolstoi geschildert. 304 Als Gemeinsamkeit beider Schriftsteller wird ihre Beschäftigung mit der richtigen Form der Erziehung und Schulbildung genannt. 30S Das Aristokratische im Wesen beider Schriftstelle~ betrifft nicht nur das Wesen beider, sondern etwa auch Goethes Dienerschaft für seinen Fürsten, die mit der Bismarcks gegenüber Kaiser Wilhelm verglichen wird. 307 Jedoch habe sich im autObiographischen Triebe "der aristokratisch-gotteskind liehe Liebesanspruch" Goethes mit "christlich-demokratischen Elementen" vermischt. 308 Die "aristokratische Echtheit" beider Schriftsteller sei von "ethischer Volkhaftigkeit" umschlossen gewesen:
303 GW XlII S. 580; s.a. die Ansprache an den Bruder Heinrich Mann "Vom Beruf des deutschen Schriftstellers in unserer Zeit" (1931), TM-HM Briefwechsel S. 161 f.: ,,Nur deutsch, das ist klein-deutsch, das ist nicht welt-deutsch ( ... )
Nietzsche's neu klassische Synthesese heißt: der gute Europaer"; vergl. den Brief an Hermann Graf Keyserling vom 30.7.1932, Briefe I S. 321: "Was ist übrigens der Sinn für gerechten Ausgleich und Toleranz, den Sie an Deutschland rühmen, anderes als demokratischer Sinn? Sollten sich die Deutschen ihren Antidemokratismus nur einbilden?" 304 Allgemein zur Verbindung des Aristokraten und des Demokraten in einer Person siehe die Bemerkung über A1exander v. Villers in den Briefen I S. 374: "Ein sympathischer, vornehmer Mann und Europaer, der tatsächlich noch etwas von .. Zielen der Menschheit« weiß und in diesem weitesten Sinn Demokrat ist, obgleich im engeren Aristokrat." 30S GW lX S. 149ff; der "Unterordnung des Ich unter eine edle, schlllzenswerte Gemeinschaft", GW IX S. 159; vergl. "Bekenntnis und Erziehung" GW XIII S. 256. Es ist von Toistois "demokratischen Gleichheitslehren seines Alters" die Rede, GW lX S. 156, Tolstois "demokratische Massenhaftigkeit" ist angesprochen in "Leiden und Größe Richard Wagners" GW IX S. 365; Gorki zu folge habe Toistoi den »behaglichen Demokraten« gespielt, GW IX S. 105 f. 306 GW lX S. 95 f. 307 GW IX S. 137. 308
GW IX S. 121.
14. "Goethe und Tolstoi"
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,,( ... ) das völkisch Echte ist natur-aristokratisch; Christentum, Humanität, Zivilisation bilden hier ein und dasselbe geistesdemokratische Gegenprinzip, und der Prozeß der Vergeistigung ist zugleich ein solcher der Demokratisierung."309 Unter 'Demokratisierung' wird hier weniger ein verfassungsrechtliches System verstanden, als die Tendenz, sich unter die Menschen zu mischen, ein Leben "auf dem Markt, im Volk"310 zu führen. Goethes Aristokratismus stehe im Gegensatz "zu der ahnungsvolldemokratischen Geste Schillers"311 und dies wohl nicht nur, weil er durch die politische Praxis dem Idealismus verlorengegangen sei, denn er sei "von vornherein dem historischen Demokratismus, der Bestimmung der Geschichte als Entwicklung der Idee in den Massen" wenig zugängliCh gewesen und habe nicht an "Verfassungsartikel und Eintrachtsfeste" geglaubt. 312 Über sein "strikt negatives Verhältnis zur Französischen Revolution" gebe es kein Wort zu verlieren. 313 Vor allem ist es Goethes Humanismus, auf den Thomas Mann Wert legt. Goethe, der 'Humanistengott,314 sei in seinem Bewußtsein "Humanist und Weltbürger"315 gewesen. Seine Idee der Menschlichkeit beruhe auf »ruhiger Bildung«.316 Sein Humanismus wird nicht als ein solcher in philologischem Sinne verstanden,317 was für die Kenntnis des Thomas Mannsehen Humanismusbegriffs wichtig iSt. 318 Thomas Mann, der in den 'Betrachtungen' nicht gezögert hatte, einen Schriftsteller innerhalb oder außerhalb der Gruppe der Demokraten anzusiedeln, entdeckt nun in ein und derselben Person sowohl aristo309 GW IX S. 125. 310
m
312
GW GW GW GW GW GW GW
IX S. 125. IX S. 132 f.
IX S. 133. IX S. 133. 314 IX S. 131. 315 IX S. 120. 316 IX S. 134. 317 GW IX S. 164. 318 Vergl. "Der Humanismus und Europa" GW XIII S. 633 ff. Einige der Abschnitte gegen Ende des Vortrags, in denen die "Abkehr von Demokratie und Parlamentarismus" und die "Wendung zur Diktatur und zum Terror" (GW IX S. 166) in Europa beschrieben werden, bedürfen hier keiner Erwähnung, da sie - von wenigen stilistischen Änderungen abgesehen - in erweiterter Form in "Deutschland und die Demokratie" stehen und im Zusammenhang dieses Textes behandelt werden. 313
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Zweite Phase: Weimarer Republik
kratische wie demokratische Züge. 319 Das läßt den Eindruck entstehen, Thomas Mann projiziere die eigene Zwiespältigkeit in seine Vorbilder hinein, so wie er sie zuvor als seine 'Eideshelfer' für sein antidemokratisches Bekenntnis herangezogen haue. 32O Interessant, daß er jetzt auch das deutsche Volk als zwischen den Extremen stehend empfindet: "Das Volk, das in bürgerlicher Weltmitte siedelt, ist das tauschende Volk, das Volk der Verschlagenheit und des ironischen Vorbehaltes nach beiden Seiten, dessen Sinn mit unverbindlicher Herzlichkeit zwischen den Gegensatzen spielt und mit der Moralitat, nein, der Frömmigkeit dieses tauschenden »Zwischen« dem Glauben an Erkennen und Einsicht, an weltbürgerliche Bildung."321 15. Im Jahre 1926 reist Thomas Mann nach Paris. In dem ManuSkript der Pariser Rede 'D i e gei s t i gen Te n den zen des heutigen Deutschlands >322 findet sich die Versicherung der "Kameradschaft zwischen den Völkern",323 was zwar eine selbstverständliche Höflichkeit ist, aber in Erinnerung der 'Betrachtungen' eine Meinungsänderung zeigt. Die Unmöglichkeit geistiger Verständigung zwischen den Völkern Europas hält er wegen der "Schicksalseinheit des abendländischen Geistes" kaum für denkbar. 324 Auf der anderen Seite betont Mann die Besonderheiten des deutschen Charakters, seine Neigung zu den Mächten des Unbewußten und zum Chaos,325 den Widerständen, die das deutsche Wesen historisch dem entgegensetzt, was man »die Demokratie« nennt",326 so daß man sich im Ausland den "Prozeß der Rückeroberung der demokratischen Idee durch Deutschland", die Annäherung an die europäische Humanitätsidee mit dem Gedanken der Menschheitsorganisation 327 nicht allzu leicht vorstellen dürfe. 328 Die ehemaligen Gegner Deutschlands indessen seien inzwischen nicht ohne Einsicht in die Korruptionsmöglichkeiten, die auch den "Ideen ihrer
319 In "Contrasts de Goethe", "Gegensätze bei Goethe" heißt es, Goethes Natur schwinge zwischen zwei Polen: gegenüber Deutschland habe er sich als Europaer gezeigt, gegen Europa als Deutscher (GW XIII S. 317 bzw. 319). 320 Hingegen "Kultur und Sozialismus" GW XII S. 644: "keine Demokraten". 321 GW IX S. 171. 322 Rede vom 20.1.1926. 323 GW XIII S. 593. 324 GW XlII S. 586. 325 GW XlII S. 587, 592. 326 G W XlII S. 588. 327 Vergl. zu der Passage S. 589 f. den Aufsatz "Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik", GW XII S. 629 mit z.T. wörtlichen Übereinstimmungen. 328 GW XIII S. 590.
16. "Pariser Rechenschaft"
123
eigenen Überlieferung, den demokratischen Ideen eingeboren waren".329 Thomas Mann hat die Schwächen der Demokratie trotz deren grundsätzlicher Anerkennung nicht aus den Augen verloren. 16. In der "Pariser Rechenschaft" berichtet Thomas Mann über den eben erwähnten Aufenthalt in Paris im Jahre 1926. Obwohl Thomas Mann wegen seiner Äußerungen auf dieser Reise von rechtsradikalen Blättern angegriffen und u.a. als "Commis voyageur der deutschen Demokratie" bezeichnet wurde,33O ist ein negativer Unterton gegen die Demokratie nicht zu überhören. Der Deutsche verhalte sich zur Demokratie wie der alte Germane zum Christentum: er fürchte und müsse vielleicht fürchten, durch die Demokratie national geschwächt zu werden. Der Grundgedanke der 'Betrachtungen " daß Demokratie und Politik ein und dasselbe seien, bleibe ihm wahr und unanfechtbar. 331 Der Antrieb zu dem Buch sei nicht politisch, sondern rein geistiger Art gewesen: "es war der Protest gegen die moralische Weltvereinfachung durch die demokratische Tugendpropaganda."332 Ihm sei es recht, wenn "die fade Tyrannei" des demokratischen Pazifismus,m "gegen die ich reizbarer Tor die ganzen >Betrachtungen< glaubte schleudern zu müssen", bereits 'literarischer vieux jeu' seL 334 Gegenüber dem deutschen Botschafter spricht er sich ohne Umschweife gegen die Demokratie aus und fordert die aufgeklärte Diktatur. Offenbar hat Thomas Mann nicht gefürchtet, durch dieses Eingeständnis alle Demokratiebekenntnisse zunichte zu machen, ist doch die "Pariser Rechenschaft" bereits 1926 in einer Buchausgabe erschienen. Diese Zeilen sprechen eher gegen eine 'Wandlung' Thomas Manns zur Demokratie hin: "Über Demokratie. Ich sagte, was jeder denkt, sie sei in gewissem Sinne ja heute eher ein Hindernis. »Wenn die Regierungen könnten, wie sie möchten, wenn sie feststünden, freier handeln dürften, nicht durch hundert demagogische Rücksichten gebunden waren und ihren Nationalisten um den Bart gehen müßten, so waren wir weiter. Was heute für Europa not tate, ware die aufgeklarte Diktatur.',335
329 GW XIII S. 589. 330
Vergl. "Gegen die >Berliner NachtausgabeDemokratie< verstanden wird. ,,345
Es sei ein "Rückzugsgefecht" gegen die Politik und die Demokratie gewesen, geführt "im vollen Bewußtsein seiner Aussichtslosigkeit".346 Die Grunderkenntnis der 'Betrachtungen' sei die "Einerleiheit von Politik und Demokratie" und die "Fremdheit des deutschen Geistes gegen die Welt der Politik oder Demokratie".347 Als Deutschland den Krieg verlor, sei es von der "ideellen Gegenwelt, der Welt der demokratischen Zivilisation", auch geistig geschlagen worden. Doch sei Deutschland, indem es die republikanische Staatsform einführte, nicht >demokratisiert< worden. 348 Die Schwierigkeiten, die sich einer "wirklichen, inneren - und nicht nur staatsrechtlichen >Demokratisierung< Deutschlands" entgegenstellten/49 seien die, daß "fast alle seelischen Vorbedingungen zu ihrem Gelingen fehlen".350 Erst die "Politisierung der Volksidee" (das Wort >Volk< entspreche einem "unpolitisch-antigesellschaftlichen Gedanken", der Begriff der Nation sei historisch dem der Demokratie verbunden)3S1, das Hinüberleiten des Gemeinschaftsbegriffes 352 ins Gesellschaftlich-Sozialistische, würde die wirkliche >Demokratisierung< bedeuten. 353 Wer in Deutschland der Demokratie das Wort rede,
343 hatte. 344 345 346 347
In der er vor allem die schärfsten Angriffe gegen seinen Bruder gestrichen
GW XII S. 639; der Vorwurf findet sich bei Brehm S. 194. GW XII S. 639. GW XII S. 641. GW XII S. 641. 348 GW XII S. 643. 349 GW XII S. 646, s.a. S. 643. 350 GW XII S. 693, 644. 351 GW XII S. 645. 352 Der stark aristokratisch und kultisch betont und von dem profanen Gesellschaftsbegriff der demokratischen Gesittung unterschieden sei, GW XII S. 645. 353 GW XII S. 648.
126
Zweite Phase: Weimarer Republik
"meint nicht eigentlich Pöbelei, Korruption und Parteiwirtschaft, wie es populärerweise verstanden wird, sondern er empfiehlt damit der Kulturidee weitgehende zeitgemäße Zugeständnisse an die sozialistische Gesellschaftsidee (... ). ,,354 Wenn Thomas Mann den "Bund und Pakt der konservativen Kulturidee mit dem revolutionären Gesellschaftsgedanken, zwischen Griechenland und Moskau ( .. .)"355 vertritt, so weist er doch darauf hin, daß dies kein politischer Radikalismus, nämlich nicht "die Hingabe an die kommunistische Heilslehre" sei. 356
18. Der Vortrag "Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte", den Thomas Mann im Mai 1929 auf Einladung des 'Clubs demokratischer Studenten' im Auditorium Maximum der Universität München gehalten hat, ist eine klare Stellungnahme gegen die als Revolution getarnte Reaktion. Daß diese "Gefahr des Tages und der Stunde,,357 von den Nationalsozialisten ausgeht, daran lassen die Formulierungen des Vortrags keinen Zweifel. 358 Im Gegensatz zur deutschen Romantik 359 handle es sich nun um eine "Revolution wider den Geist".36O Der "antiidealistische und antiintellektualistische"361 Zeitwille, der versuche, den "Primat des Geistes und der Vernunft zu brechen" und dafür das Irrationale wieder in sein Lebensrecht einzusetzen, sei "heute fast überall, am besten in Deutschland"
354 GW XII S. 648. 355 GW XII S. 649. 356 GW XII S. 648 f. - Interessant in diesem Jahr zudem ein Hinweis in dem möglicherweise an Oskar Loerke gerichteten Brief vom 10.10.1928, Briefwechsel mit Autoren S. 339, in dem er die Berliner Mitglieder [der Preußischen Akademie der Künste] dazu auffordert, nochmals zu beraten. ob die "Durchbrechung des Prinzips der brieflichen Wahlbeteiligung" richtig sei. 357 GW X S. 270. 358 Z.B. GW X S. 273: "den Arm zum römischen Gruß erhoben"; Mann wird tatsächlich verschiedentlich von nationalsozialistischer Seite wegen seiner Demokratiefreundlichkeit kritisiert, siehe z.B. HOlzel (Thomas Mann »politiSCh«, S. 177 ff. und ders., Thomas Manns Kampf gegen das Leben, S. 179), für den Mann "ein erledigter Fall" war. 359 Die mit ihrem Willen zur Zukunft (GW X S. 265) als "revolutionärste und radikalste Bewegung des deutschen Geistes" bezeichnet werden könne (GW X S. 266), da in jeder geistigen Haltung das Politische latent sei, GW X S. 267. 360 G W X S. 271; im Brief vom 12.1.1929 (an Unbekannt). Briefe I S. 286 heißt es: ,,( ... ) wir seit mindestens zehn Jahren in einer Atmospb1lre leben, in der die Idee des reinen Rechts zu verkümmern droht" und von der» Vertrauenskrise der Justiz« die Rede ist. 361 GW X S. 267 f.
19. "Deutsche Ansprache"
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zu Hause. 362 Erneut sieht sich Thomas Mann gegenüber dieser Entwicklung mit seinen Appellen auf verlorenem Posten: ,,( ... ) und wer von Ideen spricht, von Freiheit elWa, von Gerechtigkeit, der versteht nicht die Zeichen der Zeit und gehört der »zurilckbleibenden Humanitllt«.,,363
19. 1m Oktober 1930, einen Monat nach den Reichstagswahlen, hält Thomas Mann den Vortrag "Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Ver nun ft ". Ist sein Bekenntnis zur Demokratie auch immer noch halbherzig, so stellt diese Staatsform doch die einzige Alternative dar. Als Gegengewicht zur erfolgreichen NSDAP wird in der Zeit scheinbar noch funktionsfähiger demokratischer Wahlmethoden eine andere politische Partei, die Sozialdemokratie, empfohlen. 1m amerikanischen Exil fordert Mann hingegen, die Diktatur mit dem demokratischen System als solchem zu bekämpfen. Thomas Mann, in der deutschen antiparlamentarischen Tradition stehend, verhehlt nicht die Ungewißheit, "ob die im westeuropllischen Stil parlamentarische Verfassung, die Deutschland nach dem Zusammenbruch des feudalen Systems als das gewissermaßen historisch Bereitliegende übernahm, seinem Wesen vollstllndig angemessen ist ( ... )".364
Allerdings seien "die bisher unternommenen Versuche, den demokratischen Parlamentarismus zu überwinden, der ost- und südeuropllische, die Diktatur einer Klasse also und die des demokratisch erzeugten cllsarischen Abenteurers, der Natur des deutschen Volkes noch viel blutsfremder.,,365
Der Nationalsozialismus wird als Gegner der Demokratie offen angegriffen. Dieser vermische sich "mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsrohheit", die über
362 GW X S. 268. - Wie sehr Thomas Mann trotz der EntwiCklungen in Deutschland sich im Ausland mit seinem Volk identifiziert, geht aus seiner 'Rede in Stockholm zur Verleihung des Nobel-Preises', GW XI S. 407-411 (1929) hervor, in der er "den Weltpreis, der mehr oder weniger zufallig auf meinen Namen lautet", seinem "Lande und Volke zu Füßen" legt, GW XI S. 409. 363 GW X S. 272. Diesen Kulturzustand betrachte Freud als Verdrllngungsneurose, dessen Sozialismus wurzle in seiner Neurosenlehre, GW X S. 279; bereits im Brief vom 11.7.1918, Amann-Briefe S. 61 fragt Mann ,,( ... ) was ist demokratischer, als Psychologie"? 364 GW XI S. 876. 365
GW XI S. 876.
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Zweite Phase: Weimarer Republik
die Welt geheJ66 und wolle nichts anderes als die Macht ergreifen. 367 Thomas Mann spricht davon, Politik werde zum "Massenopiat des Dritten Reiches",368 schreibt von "Diktatur der Gewalt" und erwähnt, die Geheimnisse faschistischer Kerker seien nicht ganz Geheimnis geblieben. 369 Als Alternative für das deutsche Bürgertum - soweit es nicht politisch im Schoß der katholischen Kirche geborgen sei - wird die Sozialdemokratie angepriesen, denn sie wolle "die doppelt bedrohte demokratische Staatsform erhalten" und "die aus dem demokratischen Staatsgeist sich ergebende Außenpolitik der Verständigung und des Friedens verteidigen".310 Ihr "wirtschaftliches Sonderinteresse" stelle sie inzwischen "hinter dem staatspolitischen Interesse der Erhaltung der Demokratie" zurück und sei darauf bedacht, "den Gefahren zu begegnen, die sich aus der Lähmung der parlamentarischen Arbeiten und dem Überhandnehmen wirtschaftlichen Massenelends ergäben".371 Sie sei es auch gewesen, die dem Reich eine Verfassung gegeben habe, die zwar "sowenig die unantastbare Magna Carta für Deutschland" zu sein brauche, wie der Versailler Vertrag es für Europa sein werde; Deutschland habe aber unter ihr leben "und die ersten Schritte zu seiner Befreiung und Wiedererhebung" tun können. Unter der Sozialdemokratie sieht er nicht nur eine deutsch-französische Verständigung geWährleistet, sondern die einzige Lebensmöglichkeit für bürgerliche Glücksansprüche wie die Freiheit. 372 20. Die Rede für Pan-Europa: "Die Bäume im Garte n" (1930) ist für Thomas Manns Politikversländnis insoweit interessant, als er hier auch die Politik auf den 'Weltgegensatz' von Sonnenprinzip (das u.a. von der Freiheit geprägt sei, einer gesellschaftlichen, einer politischen Welt)373 und dem Mondprinzip (in dem nicht Freiheit,
J66 GW XI S. 878; s.a. die Ansprache an den Bruder Heinrich Mann" Vom Beruf des deutschen Schriftstellers in unserer Zeit", (TM - HM Briefwechsel S. 159), die er in "einer Zeit verbreiteter Abkehr vom Universellen und Humanen" hlUt. 367 GW XI S. 885.
368 G W XI 369 GW XI 310 G W XI 371 GW XI 372 373
S. 880. S. 879. S. 882. S. 883.
Vergl. GW XI S. 890. GW XI S. 826.
21. "Mario und der Zauberer"
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sondern Demut und Gebundenheit maßgebende Prinzipien seien)374 zurückführt. In Deutschland sieht Thomas Mann das Mondprinzip überwiegen. Das "Problem der menschlichen Koexistenz, das soziale, das politische Problem", das "im Vordergrunde des Weltinteresses" stehe, sieht er hier von der Geisteswissenschaft nicht ihrer "nationalpädagogischen Verpflichtung" entsprechend vertreten und verwehrt sich dagegen, daß man einem Volke, "das ohnehin zu einem gewissen heroischen Sklavensinn" neige,375 "die Idee der Freiheit vollends ausredet".376 Thomas Mann sieht den Gegensatz von "Leben" und "Geist" aber nicht als endgültig und zwingend an. Vielmehr verweist er auf die Möglichkeit, über ihn hinauszukommen, wie dies bei Goethe der Fall gewesen seen und hofft aus diesem, dem Gegensatzpaar enthobenen Geist auf ein zukünftiges Europa.
21. Die Erzählung " M ar i 0 und der Z a u be re r. Ein t r a gisches Reiseerlebnis " (1930) muß bei der Erörterung des
totalitären Staates erwähnt werden, wenn auch bezweifelt wurde, ob Thomas Mann den aufkommenden Faschismus bewußt in der Erzählung demaskieren wollte. 378 Jedenfalls betont der Ich-Erzähler seine Sensibilität in Sachen der Gerechtigkeit und gesteht:
374 GW XI S. 863. 375 GW XI S. 867. 376 In Frageform GW XI S. 867. 377 GW XI S. 869. 378 So spater Thomas Mann selbst: "Die politisch-moralische Anspielung, in Worten nirgends ausgesprochen, wurde damals in Deutschland, lange vor 1933, recht wohl verstanden ( ... ), die Warnung vor der Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen (... )", "On Myself' GW XIII S. 167; und an anderer Stelle: ,,( ... ) >Mario und der ZaubererFreiheitAltes und Neues6 und "die berufene Führerin der Demokratie und Wahrerin demokratischer Ideale".7 1. Die Tag e b ach er sind ab dem Beginn der mehr zufällig zustandegekommenen EmigrationS 1 933 wieder erhalten. Die ersten Jahre sind gekennzeichnet von Thomas Manns schwankender Haltung zur deutschen EntwickIung.9 Auf der einen Seite bindet ihn seine Liebe zu Deutschland, das wirtschaftliche Interesse an der deutschen Leserschaft lO und die Sorge um Haus und Vermögen,!1 auf der anderen Seite
4 Brief vom 7.2.1939, Faesi-Briefe S. 38; in "Gruss an Prag" GW XIII S. 629 (1935) bezeichnet Mann die Demokratie als einen Völkerstaat, in dem verschiedene Volksteile friedlich unter demselben staatlichen Dach zusammenwohnen, einen Pfeiler der demokratisch-europäischen Staats- und Weltgesinnung; in der 'Dankesrede bei der Verleihung des Ehrendoktors der Universität Princeton' in Texte TB IV S. 902 nennt er die Schweiz "eine kleine Demokratie von Sprachen und Nationalitaten, die sich mitten in Europa tapfer erhalt". S 'Brief über die Schweiz', Texte TB IV S. 1035 (1940), in dem deutsch sprechenden Teil der Schweiz sei "die Fühlung mit westeuropäischem Denken, mit der revolutionaren Ideenwelt des Naturrechts, der Humanitat und des Fortschritts" niemals verloren gegangen. 6 'Dinner Speech for Federal Union, Beverly Hills Hotel', Texte TB V S. 1054; in dem Vorwort zum zweiten Jahrgang von >Maß und Wert< GW XII S. 817 schreibt er von Amerika als lIder großen Demokratie jenseits des Meeres". 7 Brief an Hamilton Armstrong vom 26.6.1940, Briefe II S. 147; vergl. Brief an CordeIl Hull vom 25.10.1938, Briefe I S. 61: ,,( ... ) wahrend ich selbst das Glück habe, den Schutz der amerikanischen Demokratie zu genießen ( ... )"; vergI.: "das große Amerika das Land Lincolns, Whitmans und FrankIin Roosevelts", Brief an Erika Mann, 9.3.1937, Briefe 11 S. 18. 8 Vergl. TB 11 S. 27, sowie den Brief an Lavinia Mazzucchetti vom 13.3.1933, Briefe I S. 328: "Nur ganz zufllllig bin ich außerhalb Deutschlands ( ... ) Wir hatten auf Bayern gerechnet und erwartet, daß dank der Starke der katholischen Volkspartei dort jedenfalls alles so ziemlich beim Alten bleiben werde. Ein WahlResultat wie es auch dort und gerade dort tatsachlich zustande gekommen, hatten die kundigsten Leute sich nicht im Entferntesten traumen lassen", in dem er auch die "terroristischen Einzelaktionen" erwahnt, die "die Machthaber ihren Leuten nach allen Versprechungen in gewissem Umfang konzedieren" müßten. - Thomas Mann rechnet sich selbst "im Grunde" der inneren Emigration zu, TB 11 S. 243; in der Gestalt des Serenus Zeitbiom stellt er die Gedanken eines Humanisten in der inneren Emigration dar, wohl mit dem Gedanken, daß dies sein Schicksal hatte sein kOnnen. 9 Siehe z.B. TB 11 S. 11, 32; zum Gedanken an Rückkehr z.B. TB 11 S. 251, 346. 10 Siehe z.B. TB 11 S. 267; Brief an Lavinia Mazzucchetti vom 13.3.1933, Briefe I S. 329: "Ich bin ein viel zu guter Deutscher, mit den Kultur-Überliefe-
1. TagebOcher 1933
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fordert sein Haß gegen das nationalsozialistische Regime, an dessen Ablehnung die Tagebücher keinen Zweifel lassen, eine Abkehr von Deutschland. 12 Zu einer öffentlichen Stellungnahme gegen die Machthaber kann er sich nicht durchringen, \3 obwohl er von verschiedenen Seiten dazu gedrängt wird, sich zu äußern,14 und selbst spürt, daß er dazu berufen wäre. 15 Allzulang bleibt er der Idee treu, auch das "unselig-verworrenste Deutschland" sei noch eine "große Angelegenheit" .16
rungen und der Sprache meines Landes viel zu eng verbunden, als daß nicht der Gedanke eines jahrelangen oder auch lebenslänglichen Exils eine sehr schwere, verhänghnisvolle Bedeutung fOr mich haben mOßte"; Brief an Albert Einstein vom 15.5.1933 und Brief an Mr. Gray vom 12.10.1947, Briefe 11 S. 557, wo er - nach dem Zweiten Weltkrieg - Verständnis fOr die Ansicht zeigt, daß "wir deutsche Schriftsteller ein Interesse an der politischen Existenz Deutschlands" haben, da eine Sprache nicht ohne Rückhalt von Volk und Staat in der Luft stehen könne; daß Manns Sorge nicht unberechtigt war, zeigt das "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" vom Oktober 1933, "Mitteilung der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums" abgedruckt bei Schröter S. 206 ff., 207. 11 Siehe z.B. TB 11 S. 54, 66, 74, 114; in der ,,Antwort an Hans P/itzner" schreibt Thomas Mann, die "Handlungen heimatlich-amtlicher Feindseligkeit" gegen seine Person und sein Eigentum, die sich an den "Protest" reihten, hätten ihn darüber belehrt, daß er "in Deutschland heute ein Bürger minderen Rechtes" und dort "vogelfrei" sei, GW XIII S. 91; zum Vorschlag Hanns Johsts an Heinrich Himmler, Thomas Mann ins Konzentrationslager Dachau zu verschleppen, Pätzold S. 339. 12 Klaus Mann zufolge (S. 297) sei es bekannt gewesen, daß Mann das deutsche Regime greulich war, auch als er sich noch nicht öffentlich darüber geäußert hatte. Von seiner "Verpflanzung ins Europäische" erwartet Thomas Mann sich zuweilen auch belebende und steigernde Wirkungen auf sein KOnstlertum, TB 11 S. 184. \3 Ein ManUSkript vom August 1933 '»Ich kann dem Befehl nicht gehorchen«' GW XIII S. 92-95, das begründet, warum er der amtlichen Aufforderung, nach Deutschland zurückzukehren, nicht Folge leistet, ist nicht veröffentlicht worden, Anm. GW XIII S. 875. 14 Z.B. TB 11 S. 118, 2..13 f.; nicht aber von seinem Verleger: vergl. TB 11 Anm S. 651, TB 11 S. 176 sowie S. 211: "Kein Laut darf Ober unsere Lippen kommen". 15 TB 11 S. 54, 162, 261; siehe auch Brief an A. M. Frey vom 12.6.1933, Briefe I S. 333: "Ich kann es dem alten Hauptmann nicht übelnehmen, daß er schweigt. Was soll er sich um Habe und Vaterland reden? Ich schweige auch einfach weil ich geWOhnt bin, die Dinge lange mit mir herumzutragen und zu obgleich zu Subjektivitäten in meinem Fall verarbeiten, d.h. zu objektivieren, viel Anlaß wäre". 16 TB 11 S. 70.
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Früh ahnt er ein Ende der Herrschaft,17 glaubt jedoch nicht wie sein Bruder Heinrich an ein rasches Ende. t8 Die Umgestaltung als solche hält er für nicht mehr rückgängig zu machen; es sei nichts da, was an die Stelle des Bestehenden treten könne. t9 Der Nationalsozialismus ist für ihn Teil einer längeren Entwicklung, "die wütende Vollendung einer Gegenrevolution", in der man schon seit 1919 lebe. 20 Diese Revolution richte sich gegen Freiheit, Wahrheit und Recht. 21 Deutschland sei die Durchsetzung seiner Ideen im Kriege mißlungen; es sei durch die Niederlage »demokratisiert« worden. Die »deutsche Revolution« sei nun der Revanche-Krieg nach innen: 22 "Dabei ungeheurer Jubel der Massen, die glauben, dies wirklich gewollt zu haben, wahrend sie nur mit verrückter Schlauheit betrogen wurden, was sie sich noch nicht eingestehen können.,,2J "Die Diktatur wird geleugnet, es wird die Redensart »germanische Demokratie« dafür eingesetzt, die Regierung wolle »im Volke wurzeln« und thue es auch, sie sei nur die Vollstrekkerin des Volkswillens etc. Diktatur sei Herrschaft gegen den Volkswillen. Woher die Definition. Dabei wird die Herrschaft einer »edlen Minoritat« proklamiert... ,,24
Die Machthaber fingierten gegenüber dem Ausland, ein glückliches, einiges Volk hinter sich zu haben. 25 Thomas Mann sieht sich in seiner These des verführbaren Volkes ohne eigenen Willen bestätigt.
17 TB II S. 21, 37; Brief an A M. Frey vom 27.7.1933, Briefe I S. 334: "Das Gegenwartige muß sich mit der Zeit selbst ad absurdum führen und sich als ein graßlich überflüssiger Umweg zur Vernunft erweisen". 18 TB II S. 128; "Man sollte an einen Wut- und Verzweiflungsaufstand gegen das Regime, in Bälde, glauben. Ich wollte ich könnte es", TB II S. 45. 19 TB II S. 42, vergl. S. 67. 20 Vergl. TB II S. 11, sowie den Brief vom 9.1.1934, Bertram-Briefe S. 180: ,,( ... ) die Machte, unter deren Druck und Drohung wir seit mehr als zehn Jahren leben, sind ja jetzt nur zur absoluten Alleinherrschaft gelangt", ahnlich schon der Brief an Unbekannt vom 12.1.1929, Briefe I S. 286: man lebe seit mindestens zehn Jahren in einer Atmosphare, in der die Idee des reinen Rechts zu verkümmern drohe. 21 TB II S. 21, die "Rebarbarisierung" sei willentlich als »Revolution« vorgenommen, der mittelstandisch-humane Geist ausgetrieben worden, TB II S. 54. 22 TB II S. 43. 2J TB II S. 21. 24 TB II S. 120. 25 TB II S. 198; Rede Goebbels in Genf.
1. TagebOcher 1933
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Den nationalen Rausch hält er für ein Ablenkungsmanöver, wodurch das Problem des Kapitals und der Arbeit, der Güterverteilung, das vom Nationalen her nicht zu lösen sei, aus dem Bewußtsein verdrängt werde. 26 Immer wieder beklagt er "die zum Ersticken geknebelte Gerechtigkeit".27 Er kritisiert die Ungerechtigkeiten, die zugunsten von Parteimitgliedern geschehen,28 erwähnt mißbilligend die neuen Akte der Gesetzgebung29 und verzweifelt darüber an der "Obrigkeit".3O Die "vereinfachende Gewalt" der Nationalsozialisten mache im Grunde alles Rechtsleben überflüssig. 31 Er beklagt die "schändliche Lakaienhaftigkeit der gleichgeschalteten Richter,,32 und erwähnt vielfach die ,,JustizSchweinerei" des Reichstagsbrand-Prozesses,33 mit dem man vor dem Ausland Gerechtigkeit markiere. 34 »Recht ist, was Deutschland nützt«35 lautet die Devise, die Mann ein Jahrzehnt zuvor Naphta hat aussprechen lassen; das Propaganda-Ministerium lege Wert darauf, daß Deutschland als Rechtsstaat erscheine. 36 Weiterhin beklagt er die "an den Haaren herbeigezogenen Korruptionsprozesse, die Viele in den Tod getrieben haben und von denen dann und wann einer denn doch so gegenstandslos ist, daß er eingestellt werden muß, eine juristische Blamage, die
26
TB 11 S. 69.
27 TB 11 S. 14. 28 TB 11 S. 45. 29 Z.B. "die närrischen Schulerlasse des »Kultusministers«", TB II S. 56; "die vollständige Zerstörung der Strafreform" durch Goering, der die während der Republik ausgesetzten Todesurteile vollstrecken ließ, TB II S. 101; Gesetz gegen den »Rasseverrat« ebd. S. 220; weiteres ebd. S. 110, 143, 154. 30 TB 11 S. 81. 31 Wenn ein Nazi eine Wohnung wolle, so warte er nicht erst den anwaltlichen Schriftsatz des Wohnungsinhabers ab, sondern lasse sie durch einen "Sturm" einfach wegnehmen, TB 11 S. 202; verg\. "Leiden an Deutschland", GW XII S. 718. 32 TB 11 S. 103; verg\. die Rundfunkansprache "Deutsche Hörer" vom 18.1.1943, GW XIII S. 740, in der er schreibt, jedes Rechtsgefilhl sei zu Boden getreten, "der deutsche Rechtsrichter ein Knecht des Parteiinteresses". 33 TB 11 S. 179; verg\. S. 197, 205, 232 f., 238 f.; TB II S. 239: ,,( ... ) was dieses elende Gericht an krasser Unglaubwordigkeit hinnimmt, um zu dem Urteil zu gelangen, das ein verbrecherisches System verlangt". 34 TB 11 S. 188. 35 TB 11 S. 277.
36
TB 11 S. 274.
142
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
im Rechtsstaate das Ende der Carriere der öffentlichen Ankläger bedeutet hätte.,,31
Gegen Manipulationen des Rechts ist Thomas Mann immer empfindlich, so, als die Diktatoren beschließen, die "Reichstagswahlen einfach als Maßstab für die Volksvertretung in den Ländern dienen zu lassen".38 Gegen die "radikale Reichscentralisierung" wendet er ein, diese bekunde wenig Respekt vor geschichtlicher Tradition und »Stammeseigenart«.39 Der schon von Montesquieu geäußerte Gedanke, jedes Volk müsse sein eigenes Recht haben, der sich auch in den 'Betrachtungen' findet, ist hier auf die Verhältnisse innerhalb des Staates übertragen. Er entspricht einer der noch heute anerkannten Begründungen des Föderalismus. Thomas Mann erkennt die Tendenz des Regimes "der Nation möglichst alle Bildungsmiuel abzuschneiden, um die Menschen besser beherrschen zu können": "Bildung und Denken ist selbstverständlich nicht erwünscht, sondern gewollt wird die Massenverdummung zum Zweck mechanistisch einförmiger Beherrschung mit Hilfe der modernen Suggestionstechnik.,,40
Im Geschichtsunterricht in den Schulen werde eine "Verfälschung der Gehirne"41 durchgeführt. Nie zuvor habe ein MäChtiger "vom Katheder herab der Nation eine Kulturtheorie, ein Kulturprogramm dozierend vorgeschrieben. 42 Der »totale Staat« sei eben nicht nur eine Machtgrundlage, sondern alles umfassend und kommandiere auch die Kultur: 43
31 TB II S. 203. 38 TB II S. 9. 39 TB II S. 45. 40 TB II S. 7 f.; vergl. den Brief an Robert Faesi vom 16.11.1933, Briefe I S. 339: "Aber meine eingeborene Skepsis gegen das Organisatorisch-Korporative wird durch die Anarchie der Zeiten mehr und mehr verstärkt. Ich finde, man wird durch diese zum Individualismus gedrängt. Wo es keine maßgebende Bildung mehr gibt, kommt es darauf an und bleibt nichts übrig, als: selbst ein Stück Bildung, ein »Bild« zu sein". 41 TB II S. 36. 42 TB II S. 173. 43 Jeder Kirchgang bedeute eine oppositionelle Handlung gegen die »Totalität«, die in ihrer etatistischen Diesseitigkeit ausgemacht »marxistisch« sei, TB II S. 204, S. 174.
1. Tagebücher 1933
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"Erinnert man sich, mit welcher bescheidenen Ehrerbietung der Gewerkschaftler Ebert sich den kulturellen Dingen näherte, so erkennt man, welchen grausigen Weg die Demokratie seitdem genommen hal.,,44
Wieder zeigt sich, daß Mann seinen Demokratiebegriff nicht präzis genug gefaßt hat und ihn selbst zu dieser Zeit auf den totalitären Staat bezieht. Erst später erkennt er, daß es sich um einen Mißbrauch des Begriffs handelt. Er beklagt den Mangel an Ordnung und Rechtsklarheit: "Niemand weiß (... ) was für ihn gilt, was nicht".45 Man erhoffe und ersehne das Chaos. 46 Thomas Mann dagegen erwartet eine Militärdiktatur, "die Ordnung stiften müßte",47 die er offenbar auch bejahen würde. Er berichtet von einem Gespräch "über die Diktatur als Staatsform des 20. Jahrhunderts und die Belastung der Idee durch groben, welt beleidigenden Unfug in Deutschland. Sie ist in unmöglichen Händen und wenn auch die parlamentarische Demokratie nicht wiederkommen kann, diese Menschen werden scheitern. ,,48
Daß das Staatsleben sich ändere während eines 60-jährigen Lebens, sei klar. Überall begännen faschistische, autoritäre Methoden, national betont, die alten, klassischen Formen der Demokratie abzulösen. 49 In der Fehlentwicklung des Staates sieht er seine früheren Bedenken gegen die Demokratie bestätigt. "Staatlich-historisch genommen" bewertet er sie indessen positiv: 50 "Die Republik wollte - im Tiefsten - Staat und Kultur in Deutschland versöhnen, Elemente und Sphären einander fremd bei uns seit je. Es mißlang gänzlich. Geist und Macht, Kultur und Staat sind heute weiter auseinander als je; aber man muß erkennen, daß die Mlichte der geist feindlichen Roheit die
44 TB 11 S. 174.
45 TB 11 S. 31, vergl. S. 33. 46
TB 11 S. 171, 149.
47 TB 11 S. 33 f. 48
TB 11 S. 37.
49 TB 11 S. 170, vergl. S. 187. So schreibt er auch vom möglicherweise richtigen sozialen Kern der deutschen »Bewegung«: Das Ende der parlamentarischen Parteien, die Vereinigung der proletarisierten Kleinbürgermassen zur Verwirklichung des Sozialismus, TB 11 S. 100. Die Gedanken und Gesinnungen der Menschen seien weitgehend abhängig von den wirtschaftlichen Umständen, ptlichtet Thomas Mann im Aufsatz "Zur Besinnung" GW XIII S. 632 (1936)., dem Marxismus bei, verwehrt sich zugleich gegen das "Geschwätz von der »Uberwindung des Christentums«". 50 TB 11 S. 83.
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
historischen Aufgaben an sich genommen haben und mit einer Energie, an der es der Republik vollkommen gebrach, durchführen.',51
Schon mit der Reichstagswahl 1933 scheinen sich seine früheren Bedenken gegen die Mehrheitsentscheidung zu bewahrheiten. Die "Propaganda-Sieger" nutzten ihren Sieg und suchten ihn für immer zu sichern, die unterlegenen 49 Prozent des Volkes seien dadurch mißhandelt und gedemütigt. 52 Dann wieder erwartet er den Durchbruch der Demokratie. Wenn auch niemand Deutschland zwingen könne, die Demokratie anzunehmen,53 so hofft er doch, daß "ihre menschlich unveräußerlichen Bestandteile" sich allmählich in einem Land mit der Überlieferung Deutschlands durchsetzen. 54 Schon 1933 vermerkt Thomas Mann, daß er nur den Krieg für ein womit bereits wirksames Mittel zum Sturze der Machthaber halte55 hier eine Wurzel seiner Vorstellung der 'streitbaren Demokratie' gefunden ist. Die Weststaaten erscheinen ihm allerdings zu schwach und kriegsängstlich für diese Aufgabe. 56 Die Deutschen hingegen würden sich "ebenso unwissend und überzeugt wie 1914" in den nächsten Krieg führen lassen. 57 Man müsse der deutschen Kriegsfertigkeit zuvorkommen,s8 warnt er 1933. 2. 1 93 4 notiert Thomas Mann im Tag e b u c h die Fortsetzung des "politischen Bergrutsches" in Frankreich, der auch dort aus dem "Überdruß an der ermatteten und fruchtlosen parlamentarischen Parteien-Geschäftemacherei" resultiere. 59 Noch immer zögert er eine klare Stellungnahme hinaus,60 denkt an Rückkehr und "an ein friedliches 51 TB II S. 84; vergl. S. 124. 52 TB II S. 9.
TB TB 55 TB 56 TB 57 TB 58 TB 59 TB 53
54
II S. 43. II S. 43. II S. 47 (13.4.1933); vergl. S. 48. II S. 150. II S. 183.
II S. 223, vergl. S. 250. II S. 315. Er wundert sich, daß in Österreich eine dem Naziturn gegnerische Regierung ihren natürlichen Verbündeten, den Marxismus, bekämpft, TB 11 S. 324, 326. Die Weltphobie gegen den Kommunismus sei absurd, TB 11 S. 591. Hingegen TB II S. 255: Nationalsozialismus und Kommunismus seien brüderlich-verschiedene Ausdrücke derselben politischen Welt. 60 TB II z.B. S. 488, 498, 500, 504; Brief an Ferdinand Lion vom 3.9.1934,
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Arrangement mit dem Lande",61 eine Haltung, die oftmals in Resignation endet:
"C ... ) die Neigung, eine Welt, die zu beurteilen man vielleicht seinen Jahren nach nicht mehr berufen ist, ihren Gang gehen zu lassen.,,62 Die Manipulierbarkeit der Masse ist für Thomas Mann nichts Neues: "RiUer kündigt C... ) eine alljährliche Volksbefragung an. Lautet sie unbefriedigend für die Regierung, so erfolgt - ein neuer Propagandafeldzug,,;63
ebensowenig wie die Fragwürdigkeit der Wahlen. Als Hitler äußert, jetzt gelte es die Gewinnung des deutschen Menschen für die Macht des Staates, schreibt Thomas Mann nur: "Die »Wahlen« haben also nicht bewiesen, daß er schon gewonnen ist?"64 Als "billigen Scheindemokratismus" brandmarkt er das Sammeln der »hohen« Führerschaft für die Winterhilfe und die Massenvereidigung von 'Führern'.65 Ob es gelingen werde, Deutschland in ein europäisches System einzuspannen, zu neutralisieren, bezweifelt Thomas Mann angesichts der deutschen "Geschichtsversessenheit". Wie schon in den 'Betrachtungen' denkt er, die "gewaltsame Entpolitisierung würde eine große seelische Entlastung für dies Volk bedeuten."66 Statt sich zu überlegen, wie die Demokratie durch institutionelle Sicherungen und politiSChe Bildung der Bürger befestigt werden kann, kehrt er hier zur alten Utopie eines liberalen Obrigkeitsstaates zurück.
Briefe I S. 371: "Ich schame mich öfters, daß ich Allotria treibe und die wahrscheinlich mir auferlegte Pflicht nicht erfülle, dies und das Zugehörige der Welt zu sagen. Ich tue es noch nicht". 61 TB 11 S. 361; dagegen Brief an Karl Kerenyi vom 18.2.1941, GW XI S. 652: "Das Exil ist etwas ganz anderes geworden, als es früher war; es ist kein Warte-Zustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf die Vereinheitlichung der Welt". 62 TB 11 S. 321, 497 f. und den Brief an Rudolf Kayser vom 1.11.1933, Briefe I S. 334: "Sich um Zukunftssorgen nicht zu kümmern, ist heute die einzig mögliche Lebenstechnik" . 63 TB 11 S. 342. 64 TB 11 S. 342. 65 TB 11 S. 341.
66 TB 11 S. 472; Brief vom 30.7.1934, Bertram-Briefe S. 185: "Unglückliches, unglückliches Volk! Ich bin längst so weit, den Weltgeist zu bitten, er möge es von der Politik befreien, es auflösen und in einer neuen Welt zerstreuen gleich den Juden, mit denen so viel verwandte Tragik es verbindet".
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Die Deutschen hätten die Republik nicht gewollt, weil ihr ideologischer Gehalt zu dünn gewesen sei.67 Wieder bedauert er "die fehlgeschlagene sozialistisch-bürgerliche Lösung in Deutschland, die die humane und europäische gewesen wäre,,68 und wirft dem Bürgertum Versagen vor. 69 Auch das schweizer Bürgertum lerne nichts aus dem Schicksal des deutschen: "Es gab eine demokratische Partei, die wie in Deutschland die Brücke zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft hätte schlagen können. Auch hier ist sie im Schwinden begriffen",70
Das nationalsozialistische Regime in Deutschland werde bleiben und sich befestigen. Es stelle ein »geistiges« System dar, das im deutschen Denken Wurzel geschlagen habe;71 eine in den dreißiger Jahren weitverbreitete Auffassung. Der Nationalsozialismus stehe nicht nur zu >Liberalismus< und »westlicher Demokratie« im Gegensatz, sondern zur Zivilisation schlechthin. 72 Mit dem verlogenen' Begriff» Volk« zu arbeiten, bedeute nicht »Demokratie«, sondern elende Unterworfenheit. 73 Noch im Mai 1934 berichtet Thomas Mann über Gerüchte von der HinriChtung Hitlers, einer Militärdiktatur, ja sogar der Monarchie. 74 Auch nimmt er an, die wirkliche Macht habe schon die Reichswehr, die Hitler nur noch als Aushängeschild brauche. 75 Im Falle des wirtschaftlichen Zusammenbruchs könne die Reichswehr das Chaos abfan67 TB 11 S. 486; Brief an Rene Schickeie vom 2.4.1934, Briefe I S. 357: ,,Aber das deutsche Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, weshalb sie ihm denn auch wirklich gewissermaßen zur Verwahrlosung gereicht, so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinaren Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch "glücklicher« sein als unter der Republik". 68 TB 11 S. 359. 69 TB 11 S. 388. 70 TB 11 S. 410, vergl. S. 575. 71 TB 11 S. 529. 72 TB 11 S. 520; die nahezu wörtlich gleiche Stelle im Brief an Ferdinand Lion vom 3.9.1934, Briefe I S. 371, in dem es kurz zuvor heißt: "Diese Schandgarnitur muß erst weg sein, damit etwas Welt- und Menschenmögliches entstehen kann". 73 TB 11 S. 526; siehe auch Brief an Ferdinand Lion vom 13.9.1934, Briefe I S. 373: "Als ob es heute "demokratisch« ware, von "Volk« zu reden und nicht vielmehr Unterworfenheit und elendes Renegatenturn ( ... )". 74 TB 11 S. 421. 75 TB 11 S. 461.
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gen und Ordnung auf der Straße halten, aber sie könne nicht regieren und den neuen Staat organisieren, heißt es an anderer Stelle. 76 Das Ereignis des Roehm-Putsches, mit dem die "Fiktion der »Totalität« und der einigen Volksgemeinschaft" in die Brüche gegangen sei, entlarvt Thomas Mann als "Verbrecherschwindel von der Art des Reichstagsbrandes und der kommunistischen Gefahr vom vorigen Jahr". Es scheine so, daß die Kleinbürgermassen wieder "auf die mit dreckiger Seelenkunde auf sie zugeschnittene Moralität hineinfallen".TI Bald macht ihm die Möglichkeit der "Inthronisierung" Hitlers als Reichspräsident Sorge. 78 Die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers 79 nach dem Tode Hindenburgs (dem er vorwirft, sich als Präsident an die Stelle des Kaisers gesetzt zu haben, obwohl er dem Kaiser abgeraten habe, mit den noch nicht aufgelösten Truppen nach Deutschland zu ziehen, um die Revolution niederzuschlagen)80 beurteilt Thomas Mann klar: "Von einer verfassungsmäßigen Übernahme der Präsidentschaft kann nicht die Rede sein.,,81
Wenn Hitler daraufhin eine Volksbefragung ausschreibe, "die in der Überzeugung geschehe, daß alle Gewalt vom Volke ausgehe", so entlarvt Thomas Mann auch dies als Lüge: "Das Volk wird vor vollendete Tatsachen gestellt, es wird »schlagartig« und »mit fanatischer Brutalität« überrumpelt, und dann aufgefordert, sich dazu zu äußern ( ... ).,,82
Andererseits wirft er dem Volk vor, gegenüber den Ungerechtigkeiten der Nationalsozialisten abzustumpfen, wie sich aus folgender Briefstelle ergibt: "Wie rasch ein Volk dazu zu bringen ist, überhaupt gar nichts mehr himmelschreiend zu finden, wußte man in jenen bürgerlich gesicherten Zeiten nicht ( ... )".83
TB TI TB 78 TB 79 TB 80 TB 81 TB 82 TB 76
83
II S. 520. II S. 458. 1I S. 490.
II 11 11 II
S. S. S. S.
491. 496. 492. 493. Brief vom 1.8.1934, Faesi-Briefe S. 29.
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3. Der Brief" A n das R eie h sm in ist e r i u m des In n er e n , Be r I in" stellt noch einen Versuch Thomas Manns dar, sich mit dem nationalsozialistischen Regime zu arrangieren. Zwar macht Thomas Mann im Brief aus dem Frühjahr 1934 keinen Hehl aus seiner "inneren angeborenen und naturnotwendigen Abneigung gegen das nationalsozialistische Staats- und Weltbild" und bestätigt seinen Entschluß, in vollkommener Zurückgezogenheit seinen persönlichen Aufgaben zu leben. 84 Seine Emigration faßt er nicht als eine dauernde Trennung von Deutschland auf, sondern als eine "Beurlaubung (... ) aus der VOlksgemeinschaft,,:85 "Eine bürgerlich-sozialistische Frontbildung zur Herstellung einer wirklichen sozialen und demokratischen Republik ware ( ... ) die humane, die friedliche und die europaische Lösung der deutschen Frage ( ... ) gewesen."u
Das Schicksal sei jedoch über seine Wünsche hinweggegangen. 4. Aus einer kurzen Notiz in den Ta ge ba ehe rn 1935 wird deutlich, daß Demokratie und allgemeines Wahlrecht für Thomas Mann zwei völlig getrennte Dinge sind: "Gespräche über ( ... ) die Demokratie in Italien vor Einführung des Allgemeinen Wahlrechts, mit dessen Hilfe sie zerstört wurde."s7
Sein Mißtrauen gegen das allgemeine Wahlrecht ist unüberhörbar. Das Ergebnis der Saarwahlen führt er auf "die Überwältigung der Saarmensehen durch die Reichspropaganda" zurück 88 und beklagt die Politisierung des Volkes durch die Nazis. 89 Es sei nichts mit dem Glauben "an die Massen, die vernunftmäßig und ihrem Interesse gemäß zu leiten und zu heben seien":90 "Eine Zeit der Masse, die zugleich eine der Massen- und Menschenverachtung ist, bricht an. ,,91
Ein Volk findet indessen sein Lob, wenn es seinen Vorstellungen entsprechend Entscheidungen fällt; so nennt er die Schweizer, als sie die
84
GW XIII S. 104.
85 GW XIII S. 105. U G W XIII S. 103 f. 87 TB III S. 11 zum 11.1.1935. 88 TB III S. 16, vergl. S. 77. 89 TB III S. 144. 90 TB III S. 15. Damit stellt sich ihm die Frage, ob nicht der Marxismus aus
Mangel an Glauben an sich selbst langsam dahinsterbe. 91 TB III S. 15.
4. Tagebücher 1935
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Totalrevision ihrer Verfassung ablehnen, "ein vernünftiges Volk, das sich nicht zügellos in die Zeit stürzt".92 Im Zusammenhang mit einern "Gesetz über die Wiederzulassung der Habsburger und Rückgabe alles Hausvermögens" in Österreich reflektiert er die Wiederkehr des Monarchismus in Europa und kommt zu dem Schluß: "etwas kläglich, aber bequem".93 Als die Regierung in Wien "ohne Basis" ist, schreibt er: "Was helfen könnte, ware nur die Monarchie (... ).,,94
Er rechnet nicht damit, daß es mit dem Regime in Deutschland in absehbarer Zeit ein Ende finden werde. 9S Mehr und mehr setzt sich der Wunsch "nun doch endlich alle Beziehungen zu diesem Lande zu lösen" durch. 96 Alles »Europäische«, das vom deutschen Regime geäußert werde, sei nur heuchlerisch-taktische Anpassung,97 es scheine, daß man ein Volksfest aus einer neuen und endgültigen Trennung von der Völkergemeinschaft machen wolle. 98 Er zweifelt daran, daß die Idee des Rechts in Europa noch gelte. 99 Der Völkerbund stellt sich für Thomas Mann nicht als Gegner Hitlers dar. Als er von der Nachricht hört, Deutschland wolle "im Besitze der vollen Gleichberechtigung in den Völkerbund zurückkehren", schreibt er: ,,( ... ) Hitler wird ein großer Mann werden, er wird am Ende mit Zustimmung des Völkerbundes Österreich, das Memelland und Danzig gewinnen, und ein deutscher Friede wird über Europa walten."loo
92 TB III S. 171. TB III S. 143. 94 TB III S. 190. 9S TB III S. 4; im Brief an Ferdinand Lion vom 29.4.1935, Briefe I S. 387, schreibt er bezüglich der Politik: "lch bin au fond und a 1a longue optimistisch. Diese Menschen begehen zwanghaft und selbst wider besseres Wissen und Vorhaben alle Fehler (von den Verbrechen zu schweigen), die sie ins Verderben führen müssen". 96 TB III S. 63 zum 23.3.1935; vergl. S. 168, 226. 97 TB III S. SO. 93
98
TB III S. 83.
TB III S. 71: "Deutschland ist überzeugt, daß sie nicht mehr gilt und ist damit am »modernsten«. Die anderen wissen es noch nicht so, aber etwas blaß und schwach kommt sie ihnen auch schon vor, und man kann neugierig sein, mit wieviel Überzeugung sie sie noch verfechten werden." 100 TB III S. 60 zum 18. 10.1935. 99
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Mann bedauert den Mangel einer Handhabe des Völkerbundes, gegen Deutschland zu intervenieren. Im Zusammenhang mit der Ausrottung der Juden schreibt er: "Aber der § 16 konnte ja schon gegen die Aufrüstung nicht angewandt werden, weil sein Kriterium das »zum Kriege schreiten« ist. (... ) die Einmischung in »innere Angelegenheiten« eines souveränen Staates ist unzulässig. Hier herrscht dieselbe Plumpheit wie in den Strafgesetzbüchern, die ihre höchsten Strafen auf Mord und Totschlag setzen, aber den Seelen mord, alle elendfeineren Arten des Verbrechens am Menschen nicht kennen, mit keinem Paragraphen erfassen."lol
Die Schonung Deutschlands durch die anderen Mächte kann Thomas Mann nicht verstehen. Jedes pazifistische Wort scheint ihm in dieser Situation unmöglich. Europa sei noch unter den Krieg gesunken, in den "Frieden aus Demoralisation".I02 Dagegen verurteilt er die Kriegsbegeisterung in Deutschland lO3 und fragt schon am 27.III.1935: "Ist denn nicht eigentlich schon Krieg?"I04 Auf einer Reise in die Vereinigten Staaten ist Thomas Mann bei Roosevelt im Weißen Haus eingeladen l65 und singt der Presse ein "Loblied auf den Präsidenten"; "aufrichtig", wie er im Tagebuch vermerkt. 106 Die Bekanntschaft mit Roosevelt hat weitreichende Folgen, im politischen wie im literarischen Bereich. \07 In Roosevelt findet Thomas Mann die pOlitisch starke Persönlichkeit, die ihm schon lange als ideales Staatsoberhaupt vorschwebt,l08 und sieht sich in dessen "Geringschätzung der degenerierenden Demokratie und der wilden Regierungsstürzerei"l09 bestätigt. Bereits bei den ersten Begegnungen mit Amerika
TB III S. 189. 102 TB III S. 72. 103 TB III S. 64. 104 TB III S. 67. 165 TB III S. 126. 106 TB III S. 133; verg\. Brief an Rene Schickeie vom 25.7.1935, Briefe I S. 387: "Er hat mir Eindruck gemacht. (... ) diese C... ) revolutionare Kühnheit. Er hat viele Feinde, unter den Reichen, denen er zu Leibe geht, und unter den Hütern der constitution wegen seiner diktatorischen Züge. Aber kann man gegen eine aufgeklärte Diktatur heute noch viel einwenden?" 101 Siehe unten S. 220 ff. zu "Joseph und seine Brüder". 108 "Prime Minister and President, they can't get me out"; "Ich bin Regierungschef und Staatsoberhaupt in einer Person, mich können sie nicht hinaussetzen" (TB III S. BI, Anm. S. 504, als Ausspruch des Prasidenten vermerkt). 109 TB III S. 131. 101
5. "Achtung Europa"
151
bringt Thomas Mann zum Ausdruck, daß er sich von diesem Land einen Beitrag für die Ausbildung eines "neuen Humanismus" gegen die Barbarei erhofft, "in dem das religiöse Gefühl für die Idee des Menschen und seine Würde zu neuem Leben erwachsen wird"Yo 5. Der 1935 entstandene Text" Ach tun g Eu r 0 pa! ,,111 stellt die erste Forderung Thomas Manns nach einem 'militanten Humanismus' dar, später konkretisiert durch die nach einer 'militanten Demokratie'. Grund dieser Forderung ist die Furcht, die "neuen Massen"112 könnten die Zivilisation zerstören. Thomas Mann konstatiert eine fast jähe Niveausenkung, eine "Riesenwelle (... ) primitiv-massen demokratischer Jahrmarktsroheit", die über die Welt gehe. 113 Während das 19. Jahrhundert nicht nur an den "Segen der liberalen Demokratie" geglaubt habe, "sondern auch an den Sozialismus ( ... ), der die Massen zu heben, sie zu belehren, Wissenschaft, Bildung, Kunst, die Güter der Kultur an sie heranzubringen wünschte", 114
lasse man jetzt Propaganda für Erziehung eintreten und dies "nicht ohne die innere Zustimmung der Massen"Ys Mutet ihn auch das Phänomen eigentümlich an, "daß eine Massenversammlung armer Schlucker im Geiste voll krankhaften Entzückens der Abschaffung der Menschenrechte zujubelte, die jemand von der Tribüne herab durch den Lautsprecher verkündete",116
so macht er doch die "neuen Massen" für das Zerstörungswerk an der Demokratie verantwortlich: "Ein Beispiel für ihr Verhalten zu den Bedingungen, denen sie ihr Leben verdanken, ist es, daß sie die liberale Demokratie zertrampeln, genauer gesagt, benützen, um sie zu zerstören.,,117
110 So in der 'Rundfunkansprache an das amerikanische Publikum' GW XIII S.628. 111 Gedacht als Beitrag für die Tagung des >Comite de la Cooperation Intellectuelle< in Nizza, Anm. GW XII S. 980. 112 GW XII S. 770. 113 GW XII S. 771.
GW XII S. 772. 115 GW XII S. 772. 116 GW XII S. 776. 117 GW XII S. 770; "Sie verachteten den Idealismus und alles, was mit ihm zu tun hat, also Freiheit und Wahrheit", GW XII S. 771. 114
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Sie seien dankbar für jede Organisation, ungleich, welchen Geistes sie sei und sei es der Geist der Gewalt. Gerade die Gewalt finde als außerordentlich vereinfachendes Prinzip das Verständnis der MassenY8 Der "gegen die Vernunft philosophierende Massenmensch" habe das Recht zu denken, zu reden und zu schreiben für sich usurpiert, so daß "man die liberale Demokratie verfluchen möchte, die jedermann Lesen und Schreiben gelehrt hat.,,119
Die "Philosophie des an Denkwut erkrankten Kleinbürgers" halte die 'europäischen Ideen': 'Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit' für erledigtYo Ergebnis der aktiven Philosophie dieses Massentypus l21 könne nur der Krieg, der Untergang der Zivilisation sein. 122 Mann wirft der 'gebildeten Welt' vor, nur zurückzuweichen und Position für Position zu räumen. Erforderlich sei ein ,,militanter Humanismus".123 Das Adjektiv 'militant' zu betonen, ist ihm wichtig, da in allem Humanismus ein Element der Schwäche liege, das "mit seiner Verachtung des Fanatismus, seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zum Zweifel" zusammenhänge und dem Humanismus zum Verhängnis werden könne. Das Prinzip "der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels" dürfe sich aber nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel sei, ausbeuten und überrennen lassen: "Ist der europäische Humanismus einer streitbaren Wiedergeburt seiner Ideen unfahig geworden, ( ... ) so wird er zugrunde gehen."124
6. In der Dan k sag u n g bei der F eie r des sec h z i g s t e n Ge bur t s tag s (1935) versucht Thomas Mann die Vereinbarkeit von demokratischer Haltung und Ablehnung der Masse darzulegen: "man kann sehr demokratisch, sozial, ja revolution!lr gesonnen sein und dabei konservativ in dem Sinn, daß man den Geist selbst (. .. ) zu erhalten wUnscht und es zu verteidigen gesonnen ist gegen die Verödung und Verblödung durch den neuen Massengeist.,,125
118 119
GW XII S. 772. GW XII S. 775.
120 vergL GW XII S. 776 f. 121 Den Thomas Mann allerdings nicht mit dem >modernen Menschen< selbst gleichsetzt. 122 GW XII S. 778. 123 124
GW XII S. 779. GW XII S. 779.
125 GW XI S. 449. Volk sei oft ein "Euphemismus für Masse und Pöbel", GW XI S. 448.
7. Briefwechsel mit Bonn
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7. Der offen e Brie fan E d u a r d K 0 rr 0 d i, in dem der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Oktober 1933 als Symbol des Versuchs einer Abschüttelung zivilisatorischer Bindungen angesehen wird,l26 stellt Thomas Manns erste öffentliche Absage an NaziDeutschland dar. 127 Thomas Mann ist sich im Tag e b u chI 936 der Tragweite des Schrittes bewußt: "Ich habe nach 3 Jahren des Zögerns mein Gewissen und meine feste Überzeugung sprechen lassen."I28
Und fügt selbstbewußt hinzu: "Mein Wort wird nicht ohne Eindruck bleiben."
Seine Zurückhaltung ist damit nicht völlig gebrochen. Wozu solle er sich den Mund verbrennen, schreibt er im März: "Die Welt will vom »Emigrantenhaß« nicht belehrt sein."I29
Auch versucht sein Verleger weiterhin, ihn politisch zu "neutralisieren"Yo Eine Äußerung über die Konzentrationslager bleibt unveröffentlicht. 131 Der zweite Jahres ist die die ihm schon dazu erfOlgte
für Thomas Mann persönlich wichtige Schritt dieses Annahme der tschechoslowakischen StaatSbürgerschaft, 132 im Jahr zuvor angeboten worden war lJ\ und die parallel Ausbürgerung durch die deutsche Regierung. l34 Gegen-
126 GW XI S. 793. 127 TB III Anm. S. 569. 128 TB III S. 250 zum 31.1.1936. 129 TB III S. 274 zum 14.3.1936. 130 TB III S. 331; als Thomas Mann emen Brief an das Innenministerium die StaatsbürgerSChaft betreffend schreiben will, fordert Bermann ihn zunächst auf, bis Neujahr damit zu warten, um das Weihnachtsgeschäft nicht zu gefahrden, wie Thomas Mann selbst sieht, TB III S. 402. 131 TB III S. 400, Anm. S. 646. 132 Am 18.8.1936, Schröter, Thomas Mann [Biographie] S. 111; im Tagebuch III erwähnt am 1.10.1936, S. 375 f.; Vereidigung auf die neue Staatsangehörigkeit: 19.11.1936, TB III S. 396. 133 TB III S. 202, vergl. S. 218; zu Beginn seiner Emigration hatte sich Thomas Mann, als sein deutscher Paß abgelaufen war, um eine Legitimation durch den Völkerbund (TB 11 S. 18, 21), bzw. den 'Nansen-Paß' (TB 11 S. 35) bemüht, tatsächlich macht er von einer Völkerbundsbescheinigung Gebrauch, wie sich aus TB 11 S. 445 ergibt. 134 Am 2.12.1936, Anm. TB III S.647; TB III S.303 f. (5.12.1936); Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit siehe Schröter, Thomas Mann [Bio-
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über der Presse erklärt Mann, dieser Akt entbehre jeder rechtlichen Bedeutung, "da ich schon seit 14 Tagen tschechoslowakischer Staatsangehöriger bin und damit automatisch aus dem deutschen Staatsverband ausgeschieden bin."m Schließlich fällt auch die Aberkennung der Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät Bonn ins Jahr 1936. 136 Thomas Mann antwortet mit einem Brief an den Dekan,131 der als der entscheidende Bruch mit Nazideutschland angesehen und von Thomas Mann selbst als beglückender Schritt empfunden wird. l38 Unter dem Titel" B r i e fw e c h sei mit Bon n" veröffentlicht, erfährt Manns Erklärung weite Verbreitung und politischen Einfluß auch in Deutschland. 139 In dem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät Bonn wird nicht nur den deutschen Universitäten vorgeworfen, sich "zum Nährboden der verworfenen Mächte" gemacht zu haben,!40 sondern auch das nationalsozialistische Staatssystem als solches angegriffen, dessen Sinn und Zweck einzig der sei, aus dem deutschen Volk ein "grenzenlos willfähriges, von keinem kritischen Gedanken angekränkeltes, in blinde und fanatische Unwissenheit gebanntes Kriegsinstrument" zu machen. 141 Das graphie] s. 280; siehe auch Brief an Konrad Engelmann vom 15.12.1936, Briefe I S. 432: "Aber der Zorn über all das Herzeleid und Menschenelend, das jene niederträchtigen Machthaber angerichtet haben und weiter anrichten, hat mir die Worte und Handlungen abgezwungen, denen ich meine »Ausbürgerung« zu danken habe". 135 TB III S. 647 Anm. zum 5.12.36; vergl. §§ 16 Ziff. 2, 25 Abs. 1 RuStAG vom 22.7.1913; auch nach Lehnert S. % mit Hinweis auf Gertrude Albrecht, "Thomas Mann - Staatsbürger der Tschechoslowakei", hat die Annahme der tschechoslowakischen StaatSbürgerschaft noch vor der offiziellen Ausbürgerung stattgefunden; abweichend hiervon nimmt Inge Jens in Anm. 1 zum 25.7.1944 in TB VI an, Thomas Mann sei im Zeitpunkt der Annahme der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft staatenlos gewesen. 136 TB III S. 413. 131 "Neujahr 1937" (Briefe 11 S. 9); in den die "besten Teile der Äußerung zur Ausbürgerung" übernommen worden sind, TB III S. 414. 138 TB IV S. 3, s. aber auch S. 6; im Vorwort zu >Altes und Neues< GW XI S. 698 schreibt Mann, er habe nie glücklicher gegen Hitler vom Leder gezogen als in diesem Brief. 139 Siehe etwa TB IV S. 406 (1939): Bonner Brief "illegaler Best-Seiler in Deutschland"; Beispiel für die erbitterte Reaktion der Nationalsozialisten: Krieck S. 290 f.
GW XII S. 785. GW XII S. 790. - Gegen das "restlose Aufgehen der Kultur im Staatlichen", die "Einschnürung der Kultur ins Politische" erhebt sich in Thomas 140 141
7. Briefwechsel mit Bonn
155
Regime verhindere eine Einfügung Deutschlands "in ein europäisches Friedenssystem,,;142 es verneine das Menschenrecht in Wort und Tat, es wolle nichts weiter als an der Macht bleiben, lauten Thomas Manns Anschuldigungen, die als indirektes Eintreten für die Demokratie verstanden werden können. In den Tagebuchbläuern des Jahres 1936 fällt vor allem eine Stelle auf, in der er den Gedanken der Demokratie mit dem der Diktatur verknüpft, was an die zehn Jahre zuvor entwickelte Vorstellung einer 'aufgeklärten Diktatur' erinnert. Wie Thomas Mann überhaupt an eine 'demokratische Diktatur' oder 'diktatorische Demokratie' glauben konnte und was er sich darunter vorgestellt hat, bleibt offen. Ausgangspunkt ist der Gedanke der 'streitbaren Demokratie': "Die Demokratie darf nur für Demokraten gelten, oder es ist aus mit ihr. Ich habe in Budapest schon das richtige Wort gesagt, als ich von »militantem Humanismus« sprach ( ... ).,,143
Allerdings sind die Maßnahmen, die er zu diesem Zweck zu ergreifen rät, nicht nachvollziehbar. Das Tagebuch vermerkt, die Faschisten jedes Landes seien jeden Augenblick bereit, der eigenen Regierung, wenn sie links sei, in den Rücken zu fallen: "Nur die Freiheit ermöglicht ihnen das. Sie, wenn sie an der Macht sind, werden dafür sorgen, daß ihnen nichts Ähnliches passiert. Was bleibt also übrig als die Linksdiktatur?"I44
Mann ein Protest, den er als "etwas sehr Deutsches" empfindet und in dem Brief an den Herausgeber der >New York TimesRing des Nibelungen Maß und Wert< (1937) bezeichnet der Autor Wahrheit und Recht als ein und dasselbe, das Recht nur als Anwendung der Wahrheit. l98 Von diesem Ausgangspunkt scheint ihm der Satz der Nationalsozialisten: »Recht ist, was dem Volke nützt« überaus schändlich. l99 Der Deutsche verachte die Politik so sehr, daß es ihm unglaubhaft erscheine, daß es "zwischen Politik und Moral, zwischen Macht und Recht irgendeine Brücke gäbe".200 Der Deutsche sei wieder von einem Extrem ins andere gefallen und totalisiere nun die Politik und den Staat. 201 Es gebe aber nur die Totalität
GW GW 195 GW 196 GW 197 GW 198 GW 193
194
IX S. 510. IX S. 511.
IX S. 525. IX S. 526. IX S. 526. XII S. 803.
199
Bereits Settembrini war gegen diesen Satz zu Felde gezogen, GW III
201
GW XII S. 805; vergl. Ansprache auf dem >Wellkongreß der Schriftsteller
Europa< verdiene, Machtbewußtsein und Anziehungskraft zurück. 203 14. In den Tag e b ü ehe rn kratiedefinition:
1 938 204 findet sich eine neue Demo-
"Demokratie als Gleichgewicht von Individuum und Collectiv gegen Fascismus und Bolschewismus."ws Das Wahlergebnis mit 99% für Hitler wird notiert. 206 Anläßlich einer Propaganda-Aktion des Regimes gegen die Juden schreibt er: "Sicher hat das Volk genug."207 Der Anschluß der Tschechoslowakei sei nur die Fortsetzung der Annexion Österreichs: 208
in New York, Texte TB IV S. 897: "Dem Faschismus gelang es, sogar die Politik totalitär zu machen. All sein Sinnen und Trachten war auf den Triumph der rohen Staatsgewalt gerichtet (... ) Der Deutsche wurde zum Sklaven des faschistischen Staates, bloßer Funktionsträger der totalitären Politik". 202 GW XII S. 811. 203 GW XII S. 810. 204 In diesem Jahr wird Thomas Mann vom New Yorker "Union College" der juristische Ehrendoktor angeboten, TB IV S. 321. Nach einer Buchlektüre erscheint ihm das Hauptphllnomen des Untergangs der antiken Kulturen "die allmähliche Absorbierung der gebildeten Schichten durch die Massen, »Vereinfachung« aller Funktionen des politischen, sozialen, wirtschaftl. u. geistigen Lebens: Barbarisierung", TB IV S. 334. ws TB IV S. 320. 206 TB IV S. 206. 207 TB IV S. 324; im Brief an Anna Jacobson vom 30.11.1938, Briefe II S. 66: "Man sollte doch nicht vergessen, daß große Teile des deutschen Volkes in notgedrungen stummer und leidvoller Opposition gegen das nationalsozialistische Regime leben, und daß die Greuel und Missetaten, die in den letzten Wochen dort geschahen, keineswegs als Taten des Volkes betrachtet werden dürfen, so sehr das Regime sich bemüht, sie dafür auszugeben". 208 "Schwachköpfe, die nicht sahen, daß, wenn man Österreich zuließ, kein Halten war. Das großdeutsche 100 Millionen Reich kommt gewalttätig zustande. Welcher Triumph der Gewalt-Majestät! Welche Folgen für das Europäische Denken ... ", TB IV S. 193; dazu auch S. 291 f. zur Nazi-Umbildung des Wiener Kabinetts siehe TB IV S. 177, 179; Okkupation TB IV S. 191 (18.3.1938) und die Bemerkung: "Das Plebiscit wird folgen", TB IV S. 188.
164
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
"Stimmung in den Demokratieen (... ) unbekannt. Es ist die vollständige Niederlage der Demokratie und allen Rechtes. Die Auflösung eines lebenswilligen, civilisationsdienlichen Staates auf das erpresserische Verlangen einer die Civilisation verhöhnenden Macht ist nicht erhört. ,,20') Schon jetzt denkt er daran, wie der faschistischen Propaganda in Amerika Widerstand entgegengesetzt werden könne. 21o Er hält es für sehr wahrscheinlich, daß der Faschismus nach Amerika hinübergelangen werde. 211 Thomas Mann versteht nicht, wie man es Hitler überlassen kann, die Ordnung der Dinge nach seinem Sinn zu gestalten,212 die "Unfähigkeit der politischen Convenienz, bei Zeiten das Notwendige zu tun und die völlig seltsame Bereitschaft, in der vertrauten Münze des Krieges 100 mal so hoch zu zahlen als man bei etwas mehr Mut zum Außergewöhnlichen hatte zahlen müssen.,,213 Seiner Meinung nach ist es die Furcht vor dem Bolschewismus, die daran hindert, Hitler die Stirn zu bieten. 214 Der Pazifismus sei für den 'Tiefstand die große Gelegenheit'.215 Die Wahrscheinlichkeit des Krieges rückt für Mann allerdings immer näher. 216 Damit stellt sich die Frage
20') TB IV S. 292; siehe auch Vorwort zu >Altes und NeuesBildungWeltkongreß der Schriftsteller< in New York, Texte TB IV S. 896: "Die politische Seite des Geistes ist das Wichtigste für die Demokratie (... )". 332 GW XIII S. 854; zum Ganzen auch: Ansprache auf dem >Weltkongreß der Schriftsteller< in New York, Texte TB IV S. 896. 333 GW XIII S. 856. 330
331
180
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
tie zu Recht dem totalen Staae34 des Nationalsozialismus entgegen. Wenn Demokratie bedeute, das Politische und Soziale als ein Zubehör der humanen Totalität anzuerkennen und "die sittliche Freiheit zu wahren, indem man für die bürgerliche eintritt",335 so sei das Gegenteil davon jene Theorie und widermenschliche Praxis, "die ein Teilgebiet des Menschlichen, eben das Politische selbst zur Totalität erhebt, nichts mehr kennt als den Staats-und Machtgedanken, ihm den Menschen und alles Menschliche opfert und jeder Freiheit ein Ende macht." Das politische Vakuum des Geistes in Europa, die hoffärtige Stellung des Kultur-Bürgers zur Demokratie, seine Geringschätzung der Freiheit, habe ihn zum Staats- und Machtsklaven, zur bloßen Funktion der totalen Politik gemacht.3~ Das Paradox des Untergangs des deutschen Geistes - der politikfrei habe sein wollen - im Terror der Politik vollende sich darin, daß der Anti-Revolutionär zum Träger der maßlosesten Revolution gepreßt worden sei, die die Welt je gesehen habe. 337 Der deutsche Geist sei nun mit der "Politik-Verachtung, dem kulturstolzen Anti-Demokratismus" zum "Feind der Menschheit,,338 geworden. Jener habe sich antidemokratisch gebärden können, weil er nicht gewußt habe, daß Demokratie "nichts ist als die politische Ausprägung abendlandischer Christlichkeit und Politik selbst nichts anderes als die Moralität des Geistes, ohne die er verdirbt."339 Damit ist die Form der "christlichen Demokratie" angedeutet; ebenso sein Gedanke der kämpferischen Demokratie. Es sei wieder möglich, Gut und Böse zu unterscheiden; Worte wie Freiheit, Wahrheit und Recht in den Mund zu nehmen und sie dem Feinde der Menschheit entgegenzuhalten. 34O
334 G W XIII S. 860. 335 G W XIII S. 856. 3~ GW XIII S. 857. 337 G W XIII S. 858. 338 GW XIII S. 859. 339 GW XIII S. 860. 340 GW XIII S. 860; "Wahrheit, Freiheit und Recht sind keine »Mittelstandsideen«, keine historischen Sterblichkeiten ( ... ) Es sind menschliche Tatsachen hartesten Stoffs (... ) und mit ihrer Z1lhigkeit wird die »neue Welt« zuletzt noch ihr blaues Wunder erleben", Brief an Gerhart Seger vom 4.6.1940, Briefe II
S. 143.
24. Vorwort zum drinen Jahrgang von >Maß und Wert
Wo r I deo n g res S 0 f Writers< als "der politische Aspekt des Geistes, (... ) die Anerkenntnis des Politischen durch den Geist"J52 bestimmt, kann er zwar einen
GW XII S. 819. 348 Eng damit zusammen hangt die Vorstellung, die Demokratie sei noch nirgendwo auf der Welt in ihrer reinen Form verwirklicht worden und könne es vielleicht nie werden, Ansprache beim >Book and Author LuncheonAmerikanerNeuen Volkszeitung", Texte TB V S. 1075. 428 VergI.: "The Rebirth of Democracy. The Growing Unification of the English Speaking World" (1941), Rückübersetzung: "Die Wiedergeburt der Demokratie", wo auch die Gedanken der 'sozialen Demokratie' und der 'internationalen Demokratie' wieder erwahnt sind, GW XIII S. 699. 429 Siehe auch "Two VISions of Peace" TB V Texte S. 1027.
29. "Dieser Krieg"
195
Die "soziale Demokratie" propagiert Thomas Mann sowohl "innerhalb der Völker", als auch "zwischen ihnen", denn er postuliert, das "innere Leben der Völker" stehe in genauer Entsprechung "zu ihrem Verhalten innerhalb der Völkergemeinschaft".43O Den Begriff der Freiheit als eines sozial gebundenen und eingeschränkten Individualismus überträgt Thomas Mann auf das Völkerrecht und fordert einen "Abbau an der Idee der Staatssouveränität". Nur durch den "Sieg der Freiheitsidee, der Idee übernationaler Demokratie, ist Glück, Friede und Ordnung für Europa zu gewinnen. ,,431
Von einer Übereinstimmung der "Staatsmänner der Demokratien",432 könne bezüglich des Abbaus der Staatssouveränität nicht gesprochen werden. Problematisch erscheint Thomas Manns Gedanke der Gemeinschaft "einander verantwortlicher Völker",433 einer europäischen Konföderation, wenn er einerseits ein Opfer an staatlicher Souveränität und nationalem Selbstbestimmungsrecht verlangt,434 sich jedoch keine Gedanken bezüglich einer übergeordneten Rechtssetzungsinstanz macht, es vielmehr für ausreichend ansieht, wenn seine Gemeinschaft der Völker "unter einem alle bindenden Sittengesetze,,435 steht. Offenbar geht er von keiner engeren Bindung aus, wofür auch die Bezeichnungen freie "Interessengemeinschaft,,436 und "Staatenverband,,437 sprechen. Konkret geht Thomas Mann auf die zukünftige "staatliche Form" Deutschlands ein. Eine föderalistische Lockerung der Reichsstruktur scheint ihm angemessen, er stellt seine Konstruktion in den Zusammenhang einer europäischen Konföderation:
430 GW XII S. 887; vergl. Brief an Franz Silberstein vom 28.12.1941, Briefe 11 S. 228: "Beim Nachdenken über »Freiheit" war mir immer merkwürdig, wie sehr die innen- und außenpolitischen Notwendigkeiten und Zeitforderungen einander entsprechen und eins das andere spiegelt. Es ist ja klar, daß Freiheit ein anarchisches Element enthalt, wie die Gleichheit ein tyrannisches. Auf einen menschlichen Ausgleich zwischen beiden Prinzipien kommt es an, intra muros et extra, auf soziale Zugeständnisse des »souveränen" Individuums an die Collectivität, eine Vereinigung von Sozialismus und Demokratie, von »Rußland" und »Amerika,,". 431 GW XII S. 888. 432 GW XII S. 886. 433 GW XII S. 888.
434 435 436 437
GW GW GW GW
XII XII XII XII
S. S. S. S.
894. 888. 897. 898.
196
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
,,( ... ) es wäre vieIleicht das Vernünftigste und deutscher Vielfaltigkeit Gemaßeste, wenn der deutsche Staatenverband einem europaischen eingegliedert ware (... )".438 Innerhalb eines "politisch entgifteten" Europas hält er "das politikfremde Volk der Deutschen"439 für am besten aufgehoben. 440 Den freien Willen des Volkes hält er zur Konstituierung des deutschen Staatenverbandes ebenso für maßgeblich wie für eine zukünftige europäische Verfassung. 441 Wie dieser Wille festgestellt werden könnte, beschreibt Thomas Mann indessen nicht. Wenn Thomas Mann vom deutschen Volk eine Erhebung gegen das Regime erwartet,442 so erscheint dies inkonsequent, hat er bisher dem Volk doch jede Fähigkeit zur Eigeninitiative abgesprochen. Kein Schreckenssystem, kein Maschinengewehr vermöge etwas "gegen ein Volk, das die Straßen der StMte füllt und »Schluß!« ruft, »Fort mit dem blutigen Narren-Tyrannen!«",443 was mir eine überzogene Forderung, eine Verkennung der Realität in einem totalitären Staat zu sein scheint. 30. In Thomas Manns Red e vor dem > A m er i c a n Res c u e Co m mit tee< vertritt er zum einen die Interessen der Emigranten. In Amerika könne niemand als Fremder gelten, der für Demokratie und Freiheit stehe und gelitten habe. 444 Zum anderen beklagt er den Mangel an Solidarität in der "demokratischen Welt".445 Für bestimmte Interessengruppen sei Hitler ein Bundesgenosse gegen die Rechte der
438 GW XII S. 898. 439 GW XII S. 897. 440 Vergl. den Brief an Graf Carlo Sforza vom 13.7.1941, Briefe 11 S. 205. 441 GW XII S. 898; in der 'Radioansprache anläßlich der rnssischen Invasion Ostpreußens' bezeichnet er den "Verbrecher-Staat" als den schlimmsten, ja einzigen Feind des deutschen Volkes, Texte TB VI S. 813 (1944), zieht also eine scharfe Trennung zwischen Staat und Volk. Er stellt das .,Volk" dem "Machtpöbel" gegenüber, GW XII S. 897. 442 S.a. Brief an Franz Werfel vom 26.5.1939, Briefe 11 S. 94. 443 GW XII S. 897. 444 GW XI S. 978, .,als Zeugen demokratischen Glaubens und als Opfer der Freiheitsmörder". - Das .,Emergency Rescue Commitlee" wurde nach dem Zusammenbruch u.a. von Thomas Mann gegründet, um den in Lebensgefahr schwebenden antifaschistischen Künstlern und Intellektuellen zu helfen, s. TB V Anm. S. 758.
445 G W XI S. 973, 977.
32. "The City of Man. A Declaration on World Democracy"
197
Völker und gegen die Vervollkommnung der Demokratie gewesen. 446 Am Ende des Kampfes stehe die Vernichtung der Demokratie oder ihre Verjüngung, ihr "Heranwachsen zur weltordnenden Autorität".447 In dieser Weltsituation gingen Ehre und Selbsterhaltung, Moral und höhere Nützlichkeit Hand in Hand, sagt Thomas Mann: "So ist es amerikanisch und so ist es demokratisch. Denn immer war die Essenz der Demokratie jener gute Pragmatismus, der im Denken und Handeln Idealismus und Sinn filr wahren Vorteil vereinigt.,,448
Auch dieser Pragmatismus-Gedanke ist von den 'Betrachtungen' her bekannt; damals wurde er noch als Argument gegen die Demokratie eingesetzt. 31. In der Rundfunkansprache an die Bewohner L 0 nd 0 n s (1940) überträgt Mann den Gedanken der 'sozialen Demokratie' auf die internationale Ebene und hält die Gegner Hitlers zum Durchhalten an, mit der Aussicht auf "die neue und bessere Weltordnung, die kommen muß, eine soziale Demokratie der Völker, eine Welt verantwortlicher Freiheit und des gerechten Friedens für alle. ,,449
Offen bleibt, ob damit eine einheitliche demokratische Weltordnung gemeint ist oder nicht vielmehr nur eine Gleichordnung der Staaten untereinander. 32. Die im November 1940 erschienene, von Thomas Mann mitunterzeichnete Erklärung " T he Ci t y 0 f Man. ADe cl ara ti 0 n on Wo r I d Dem 0 c ra c y ,,450 fällt vor allem durch die Verbindung des Gedankens der Demokratie mit dem einer Weltregierung auf; eine Konstruktion, die uns von Thomas Mann schon lang unter dem Begriff
446 GW XI S. 974; s.a. Brief an A1fred A Knopf (Ende Feb. 1942, Briefe 11 S. 243) in dem es heißt, der Faschismus sei die letzte Entartungsform des kapitalistischen Imperialismus, der in seinem demokratischen Stadium noch christliche Werte im Prinzip bewahrt habe. 447 GW XI S. 977.
448 GW XI S. 979. 449 G W XIII S. 688. 450 Dazu die Anmerkungen im Tagebuch TB V S. 496; TB V S. 596: "Brief an Borgese; Anregung zu einer englischen Ausgabe der »City of Man«", s.a. TB V S. 631 (1943): "Fascistischer Angriff auf »City of Man«. (Wie seit dem Erscheinen Haß und Dummheit gewachsen sind.)"; in TB V S. 183 bezeichnet er das Buch als erfreulich, im Brief an Eleanor Roosevelt vom 28.1.1941 u.a. als "an attempt 10 outline the future world democracy".
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
der 'Weltdemokratie' bekannt ist. Der Weltstaat wird in der Erklärung als Voraussetzung für einen universellen Frieden angesehen. 451 Offenbar wird der Weltstaat hier nicht als eine über den Einzelstaaten stehende Organisation gedacht, sondern als ein einheitliches Staatsgebilde anstelle der Einzelstaaten. 452 Dieser allzu idealistisch konzipierte Weltstaat solle eine neu begründete Demokratie verwirklichen,453 mit einem Parlament, das die Menschen und nicht die Staaten repräsentiert,454 geführt vom 'Präsidenten der Menschheit'.4SS Offenbar glaubten die Unterzeichner der Erklärung an die Möglichkeit einer moralischen Führerschaft durch eine Einzelperson und dies trotz Hitlers negativem Beispiel. Der Demokratie als Staatsform wurde kein hinreichendes Vertrauen eingeräumt.
33. Eine erneute Begegnung mit Präsident Roosevelt, verzeichnet in den Tag e b ü ehe rn 1 941 , belegt die bewundernde Haltung Manns gegenüber der Politik des Präsidenten,456 indessen nicht ohne die für Mann charakteristische Relativierung des Gesprächspartners gegenüber der eigenen Person: "Ergriffen von seiner [RooseveltsJ Gegenwart. Der politisch-moralische Gesichtspunkt vor dem oekonomischen. ( ... ) Naivet:!t, Gläubigkeit, Schlauheit, Schauspielerei, Liebenswürdigkeit. Ermißt man die Macht u. Bedeutung, ist es sehr interessant an seiner Seite zu sitzen. ,,457
451 Vergl. "The City of Man" S. 23 f. 452 Zweideutig: "the Universal State, the State of States", aaO S. 24, aber S. 23: "the unity of man under one law and one government". 453 "universal and total democracy", aaO S. 27; "Democracy must be redefined", S. 33, 31; "a constitutional reform of democracy cannot be found but on the spirit of a new religion", S. 80; "universal religion of Democracy", S. 80, ebd. S. 94.
454 "there will be a Universal Parliament, representing people, not states", aaO S. 27. 455 President of Mankind, aaO S. 27; offenbar geht Thomas Mann davon aus, nach dem Kriege werde Washington die "Hauptstadt der Welt", Brief vom 23.8.1942, Faesi-Briefe S. 50. 456 Vergl. TB V S. 339. Die Ansprache 'nach Amerikas Eintritt in den Krieg' (1941) ist ein erneutes Lob auf Roosevelt, der die schwere Bürde auf sich genommen habe, die amerikanische Demokratie im Krieg zu führen, GW XIII S. 716. in dem die englisch-sprechenden Nationen dazu auserwählt seien, die Menschenwerte zu verteidigen, die in der Bill of Rights niedergelegt seien, GW XIII S. 718 und betont zugleich, daß es, um den Krieg gegen einen unmenschlichen Feind zu gewinnen für demokratische Menschen nicht nötig sei, selbst unmenschlich zu werden, GW XIll S. 718. 457 TB V S. 210; er überreicht dem Präsidenten ein Exemplar von "War and
33. Tagebücher 1941
199
In Berkeley erhält Thomas Mann den juristischen Ehrendoktor,458 was in einer rechtswissenschaft lichen Arbeit über Thomas Mann nicht unerwähnt bleiben darf. Wegen Amerikas innenpolitischer Entwicklung macht er sich Sorgen, da er den Bürgerkrieg fürchtet und sich an das Deutschland von 1932 erinnert fühlt: "Dieses Land ist nicht weit von bürgerkriegsähnlicher Verfassung. Alles erinnert höchst unheimlich an das Deutschland von 32.,,459 Mit der Versicherung amerikanischer Einigkeit in einer Rede des Präsidenten seien die Mahnungen gegen »überflüssige Strikes« und Sabotage nicht in Einklang gestanden. 460 Thomas Mann lehnt Streiks ab: ,,Aber der Strike als klassen-diktatorisches Erpressungsmittel -nicht nur als Sabotage - ist nicht länger zu dulden. Man schafft damit nur noch Argumente für den Fascismus.,,461 Wenn zwischen Kommunismus, Faschismus und Katholizismus überhaupt entschieden sein müsse, so entscheide er sich für das Driue. 462 Losgelöst von seiner Idee der Humanität muß Mann der Ordnungsbegriff mißbraucht erscheinen; schwer erträglich "die deutsche Fiktion, als sei die »Neue Ordnung« etwas legitim Stabilisiertes und Wirkliches, gegen das sich zu stellen ein Verbrechen sei.,,463 Die "Nichtigkeit der sogenannten sozialen Revolution" in Deutschland faßt Thomas Mann in die folgenden Worte: "Reste des Feudalismus beseitigt, einige vor Neid halbverrückte Kleinbürger werden Millionäre und Schloßbesitzer. Dem Sozialismus durch die >,volksgemeinschaft« den Hals umgedreht. Das heißt Revolution.,,464
Es handle sich zwar um die Beseitigung äußerer feudaler Reste, aber es werde nichts gegen die Junker und den Großgrundbesitz getan. Hitler
Demoeraey«,
das er mit der Widmung versieht: »To F.D.R. President of the
V.S. and of a coming better world.«, TB V S. 214.
458 Verg!. TB V S. 242, 25l. 459 TB V S. 2..10, s.a. TB V S. 227, 277. 460 TB V S. 235. 461 TB V S. 278, ebd. S. 279: "Wer weiß, ob den Leuten Unrecht geschieht. Die Behauptung, die Strikes seien politisch, braucht nicht wahr zu sein, und doch kann man heute schwer glauben, daß etwas nielli politiSCh ist." 462 TB V S. 234. 463 TB V S. 248. 464 TB V S. 276.
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
200
sei ein Revolutionär, der "es immer mit der Macht, der Groß-Industrie, der Armee" gehalten habe. 465 An sozialen 'Fortschritten' zählt er auf: "Lehrlingsbezahlung. "Kraft durch Freude«, eine Art von an alphabetischer Massen-Demokratie, dumpf, rassenstolz, unwissend-glücklich, ohne Individuum ( ... )".466
Wieder wird der Begriff Demokratie auf die nationalsozialistische Diktatur angewandt, die Ablehnung dieser Staatsform lediglich durch das Beiwort angedeutet. Der Begriff wird auch in dieser Phase nicht staatstechnisch benutzt. Die Kenntnis hinsichtlich der Demokratie hat sich seit den 'Betrachtungen' trotz der Begegnung mit der amerikanischen Verfassung kaum verbessert, jedoch ist das Wissen um ihren geistesgeschichtlichen Inhalt reicher geworden. Er stellt die Revolution zur »Organisierung« "auf niedrigstem Herden-Niveau", der in Rußland zur "Hebung der Masse" gegenüber. Die Deutschen seien ein "Volk von Amokläufern".467 Besser werde alles ohne Ausnahme sein, was an die Stelle des Regimes treten könne. 468 An eine "revolutionäre Demokratie" und die Invasion Europas glaubt er kaum. 469 Das Verhängnis werde seinen Gang gehen, er hoffe nur, daß einiges Individuelle sich dagegen durchsetze. 47o Amerika werde zu spät kommen, wenn es überhaupt komme, schreibt er, als sich in der Türkei ein Sieg der Deutschen abzeichnet: "Daß aber Hitler nicht siegen und nicht als verklilrter Friedensfürst die von ihm geordnete Welt regieren wird, bleibt irrationale Überzeugung."471 Er kann sich die "unbegreifliche Zurückhaltung Roosevelts" nicht erklären. m Das Argument, Krieg zerstöre die Demokratie, hält er für falsch oder zumindest für nicht ausschlaggebend. 473 Auf die Frage, ob Amerika in den Krieg eintreten solle, antwortet Mann mit dem Roosevelt-Zitat, eine Nation könne Frieden mit den Nazis nur um den Preis
465
TB V S. 351.
466 TB V S. 351.
467 TB V S. 272, nach der Nachricht, der Kommandant der "Bismarck" habe vor dem Untergang des Schiffes "Lang lebe der Führer" gefunkt. 468 TB V S. 286. 469 TB V S. 275. 470 TB V S. 288. 471 TB V S. 255. 472 TB V S. 264, s.a. elx1. S. 274; elx1. S. 305: "Worauf wartet Amerika?". 473 vergl. TB V S. 302.
33. Tagebücher 1941
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totaler Übergabe haben. 474 Die Eroberung des Kontinents sei eine Notwendigkeit. 475 Die Reaktion "des Landes, der Arbeiter,,476 ist ihm bei der Frage der Beteiligung am Krieg wichtig. Doch sei die Bereitwilligkeit des amerikanischen Volkes "von dem stupiden und bösen Interesse von 500 Schurken und Dummköpfen" gelähmt. 477 Die Kriegserklärung Hitlers an Rußland hält er für eine im wesentlichen erfreuliche Wendung, weil es das Ende des kommunistischen Pazifismus sei und die Friedensforderungen vor dem Weißen Haus verstummten. In einer "Message" für Tass und die Sowjet-Presse nennt er "die Waffeneinheit des russischen Sozialismus und der Demokratie des Westens das glilcklichste und hoffnungsvollste Ereignis".418
Er stellt bald darauf jedoch fest, Rußland sei "sehr feindlich gegen die Verbindung von Sozialismus und Demokratie, wie sie von den Angelsachsen versucht wird". 479
Als Amerika den Krieg erklärt, sieht er in der Einigung des Landes einen Gewinn. 48O Thomas Mann ist in diesem Jahr am »German American Congress for Democracy« beteiligt,481 die Ehrenpräsidentschaft des >German American Council for the Liberation from Nazism< lehnt er hingegen ab. 482 Es handle sich dabei um eine "Vereinigung ehemaliger Funktionäre der deutschen Republik und Mitgliedern des Reichstags, die so etwas wie ein > Free Germany< vorstellen wollen und in einem zukünftigen Deutschland eine Rolle spielen möchten.,,483
474 TB V S. 307. 475 TB V S. 309. 476 TB V S. 272. 477
TB V S. 264.
478 Zitiert nach der Rückübersetzung in TB V Anm. S. 872. TB V S. 352. TB V S. 359, zur Kriegserklärung s.a. ebd. S. 360; über Roosevelts Rede: ,,( ... ) meisterhafte, höchst würdige, klare und wohltuende Radioanspraehe Roosevelts, die ( ... ) auf Kriegserklärung auch an Deutschland und Italien hinauslief (... )" verg!. ebd. S. 367; Thomas Mann setzt sich darauthin für Roosevelt ein, so bei der "Bill of Rights-Feier" des "Committee for Freedom": "Ich sprach ca. 4 Uhr und erregte große Demonstration für Roosevelt" , TB IV S. 362. 481 TB V S. 292, 302, 315, 317. 482 TB V S. 305. 483 Brief an Agnes E. Meyer, Anm. TB V S. 853. 479 480
202
Drille Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Alle politischen Anstrengungen Thomas Manns werden durch kurze Bemerkungen relativiert, die die persönlichen Motive des Autors in den Vordergrund rücken: "Ich neige zur Genügsamkeit. Für mein Leben wäre ich mit der Austilgung des Gelichters zufrieden, auch wenn die Welt recht schlecht bleibt.,,484
Dies mag zugleich eine Erklärung für Thomas Manns Desinteresse bezüglich einer künftigen Staatsform nach der nationalsozialistischen Diktatur sein. 34. In der Niederschrift "D e u t s chi a n d" aus dem Jahre 1941 schreibt Thomas Mann, die Zukunft gehöre einem neuen Weltzustande der Vereinheitlichung und des Erlöschens nationaler Souveränitäten und Autonomien.4&S Dabei hält er auch >Europa< bereits für einen "Provinzialismus". Der Gedanke des Reiches der Erde sei geboren und werde nicht ruhen, bis er verwirklicht sei. Deutschland sei für eine solche Welt geradezu geboren. Es werde nie glücklicher sein "denn als Glied einer in Freiheit befriedeten und durch die Verflüchtigung nationalstaatlicher Autonomien entpolitisierten Einheitswelt.,,4&i
484 TB V S. 363 f. 4&S GW XII S. 905. 4&i GW XII S. 909, so wörtlich auch in "Deutsche Hörer!" vom August 1941, GW XI S. 1013; s.a. Brief vom 23.9.1945, Kerenyi-Briefe S. 121; in der Rundfunkansprache "Deutsche Hörer!" vom 31.1.1945 (GW XI S. 1112) fragt Mann seine Hörer denn auch, ob nicht Friede, Rechtssicherheit und Zusammenarbeit mit den Völkern des gemeinsamen Kulturkreises nicht das sei, wonach die Deutschen sich in tiefster Seele sehnten? Ähnliche Gedanken einer Vereinheitlichung finden sich in der Ansprache zu Heinrich Manns siebzigstem Gebunstag (gehalten am 2.5.1941, TM-HM Briefwechsel S. 292): "Die Welt ist klein und intim geworden, sie ist überall derselbe Schauplatz ein und desselben Kampfes: der Welt-Bürgerkrieg, in dem wir stehen, in dem wir unseren Mann zu stehen haben, hat nichts mit Nationen und National-Kulturen zu tun, er ist zugleich Ursache und Folge, er ist einfach Ausdruck der Vereinheitlichung der Welt; und wenn es vor einem MenSChenalter noch hieß: Europa will eins werden, so heißt es heute schon unmißverständlich und unüberhörbar: die Welt will eins werden. ( ... ) Man hört heute viel vom totalen oder totalitären Staat. Daß er nichts ist, als der totale Krieg, wußten wir immer schon, und es hat sich erwiesen. ( ... ) Was wir dem Unfug des totalen Staates entgegenstellen, ist der totale Mensch". Damit gibt er der Vorstellung Ausdruck, daß das Problem der Humanität umfassend ist und die politische Frage einschließt. Ebd. S. 2% erkennt Mann an, sein Bruder habe "die neue Situation des Geistes früher geschaut und erfaßt, als wohl wir alle; du hast das Wort "Demokratie« gesprochen, als wir alle noch wenig damit anzufangen wußten, und die Totalitat des Menschlichen, die das Politische einschließt, in Werken verkündet ( ... )".
36. "Ich bin Amerikaner"
203
Allerdings zweifelt er, ob die "Wiederkehr von culture and learning alten Stils genügen würde, um Deutschland für eine demokratische Völkergemeinschaft reif zu machen.',487
Noch immer glaubt Mann irrig, eine unpolitische Welt sei den Gefahren der Politik enthoben. 35. Den Weg eines Unpolitischen zum politischen Agitator beschreibt Thomas Mann am Beispiel des Pastors Nie m Ö 11 er. Dieser, zwar bereit, »dem Kaiser« zu geben was »des Kaisers« ist, hätte widersprechen müssen bei dem Ausruf (Hitlers): »Staat und Volk sind Gott, und ich bin Volk und Staat, folglich bin ich Gott!«488 und gegen die "Vergottung des Staates".489 Die Grenze und der Unterschied zwischen Religion und Politik seien plötzlich aufgehoben gewesen. Der Freispruch Niemöllers durch das "Hitler-Volksgericht" erstaunt Thomas Mann: "Von Recht ist da nicht lange die Rede; es wird >kurzer Prozeß< gemacht.,,490
Die Richter seien "gegen Unrecht längst verhärtete Juristen".491 Das Regime habe die Eigentümlichkeit, den "Bestialismus mit Legalität zu umkleiden".492 Wenn Niemöller an der Hintertür des Gerichtsgebäudes auf Hitlers Befehl von der Geheimen Staatspolizei aufs neue verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht wurde, so sei dies eine der "himmelschreienden WiIIkür- und Untaten, der schamlosen Rechtsbesudelungen", die die Welt dazu hätten veranlassen müssen, die Souveränität Deutschlands nicht mehr anzuerkennen und das Regime zu beseitigen. 493 36. In einer Rundfunkansprache weist Thomas Mann darauf hin, die Idee der Demokratie sei zwar ewig, ihre Formen indessen seien veränderlich und bedürften auch der Veränderung. 494 So fordert
487 GW XII S. 907. 488 .. Niemöller"
(1941), GW XII S. 91l.
489 GW XII S. 910.
490 GW XII S. 913. 491 GW XII S. 911 f. 492 .. Deutsche Hörer!" vom Februar 1942, GW XI S. 1027; so auch in ",Warum Hit/er nicht siegen kann«, GW XIII S. 723 (1941/42).
493 Vergl. GW XII S. 913. 494 '/ am an American' / 'Ich bin Amerikaner', gehalten am 8.6.1941, GW XII S. 711.
204
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
er in der Zeit, in der es mehr denn je Aufgabe der Demokratie sei, die Zivilisation gegen die Barbarei zu verteidigen, sie solle das Volk mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aufklären, selbst mit den Mitteln der Propaganda. 495 Auch der Begriff der Freiheit sei in Wandlung begriffen. Es müßten die Ansprüche des einzelnen "durch freundschaftliche und willige Zugeständnisse" an die Ansprüche aller angepaßt werden. 496 Wie sehen solche Anpassungen ohne juristische Zwangsmittel möglich sind, verkennt Mann offenbar. Den Gedanken der 'streitbaren Demokratie' überträgt Mann in dieser Rundfunkansprache - wohl erstmals ausdrücklich - auf den innerstaatlichen Bereich, womit belegt ist, daß er den Begriff zumindest auch im heutigen Sinne verwendet hat. Der Freiheitsbegriff der Demokratie dürfe, so schreibt er, niemals die Freiheit sie zu vernichten umschließen. Es dürfe etwa die Redefreiheit jenen nicht gewährt werden, die sie zum Schaden der Demokratie verwendeten. 497 Allerdings versäumt Mann, eine Kontrollinstanz zu benennen, die darüber entscheidet, in welchen Fällen und in welchem Umfang eine Beschränkung ausgesprochen werden so11.498 37. Bei der souveränen Handhabung seiner Begrifflichkeit fällt es Thomas Mann nicht schwer, fremde Gedanken in sein Ideensystem einzubauen, es mit einem fremden Motto zu identifizieren. Letzteres ist der Fall bei der Ans pr ach e a n I ä ß Ii c h der Auf nah m ein den >Phi-Bela-KappaOrder of the Day< drukken ließ. Dort hebt er hervor, es seien die freiwilligen Opfer, von denen eine echte Demokratie lebe. Während hinter den Opfern der Deutschen die Gestapo und das Konzentrationslager stünden, sei in Amerika und den anderen Demokratien die Freiwilligkeit ein zentrales Elemenl. S2S Es verzichte etwa "der demokratisch disziplinierte Bürger freiwillig auf einiges von dem, was er nicht notwendig haben muß, um so die Inflation während des Krieges zu verhindern".526 Die Anleihen zählt er aber zu den wenigen Dingen, "die wir, indem wir sie dem Staat erweisen, zugleich auch ganz unmittelbar uns selbst erweisen: Leistungen, bei denen der eigene praktische Vorteil mit dem des Staates zusammenfallt".S27
43. Die Besonderheit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, derzufolge in Amerika das Streben nach Glück zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wird, begrüßt Mann ausdrücklich. Das
S22 GW XIII S. 729 (1942); s.a. Ansprache beim >Book and Author LuncheonJoseph und seine Brüder< in einem Bande', GW XI s. 672; auf die Parallelen zur deutschen GeSChichte und Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre macht vor allem Cunningham S. 208 aufmerksam, S. 203: der gesamte agyptische Abschnitt des Werks sei "something Iike an allegory of Germany between 1918 and 1933"; Rychner, Thomas Mann und die Politik, vergleicht S. 388 Joseph mit Rathenau.
48. ,,Joseph und seine Brüder"
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"Was willst du machen mit Räuberkönigen, die brennen und brandschatzen? Den Frieden Gottes kannst du ihnen nicht beibringen, sie sind zu dumm und böse dazu. Du kannst ihnen nur beibringen, indem du sie schlägst, daß sie spuren: der Friede Gottes hat starke Hände. Bist du doch auch Gott Verantwortung schuldig dafür, daß es auf Erden halbwegs nach seinem Willen geht und nicht ganz und gar nach den Köpfen der Mordbrenner."6OO
Deutet dieser Hinweis bereits auf Thomas Manns Vorstellung streitbarer Demokratie, so ist vornehmlich die soziale Innenpolitik Josephs, des 'Wirtschaftsministers' für das vorliegende Thema aussagekräftig. Hier sind Manns Gedanken einer sozialen Demokratie verwoben mit seinen Eindrücken des New Deal in Amerika. Ausgangspunkt ist wie in vielen seiner anderem Werke die Abhängigkeit des Volkes von einer Persönlichkeit, die es pOlitisch führt. Josephs Art die Wirtschaft zu lenken, wird nicht nur gegen den Vorwurf, Joseph habe mit "ausbeuterischer Härte" die Leute zu "Staatssklaven" gemacht, in Schutz genommen,601 sondern auch gegen die Angriffe der Zeitgenossen des Autors. Das Urteil des Volkes Pharaos, bei dem Joseph eine "mythische Popularität" genoß, habe sich gar sehr von dem Urteil unterschieden, "das heutige Staats-Moralisten" über ihn "fällen zu müssen meinen".602 So verwundert es nicht, wenn in der Sekundärliteratur Thomas Manns eigenes Staatsideal in dem von Joseph geleiteten Staatswesen gesehen wird. 603 Joseph habe. die Leute nicht nur 'ernährt', sondern er 'leitete sie', ,,- ein eigentümlicher Ausdruck und absichtsvoll gewählt, denn er ist der Hirtensprache entnommen und bedeutet >hütenLombardierung< bezeichnet, GW V S. 1762. 617 GW V S. 1764. 618 GW V S. 1762. 619 GW V S. 1763; s. aber S. 1007. 620 GW V S. 1765; Brief an Iwan Schmeljow vom 16.11.1928, Briefe I: "Welch Unsinn und welch unanständige Unlogik von beiden Seiten! Das Kommunistische Rußland, das enteignetes Gut an ausillndischen Kapitalismus verkauft, und Deutschland, wo der Begriff des Privateigentums noch sehr heilig ist, das aber trotzdem den Verkauf enteigneten Gutes in seinen Grenzen gestattet"; Brief an Klaus Mann vom 22.7.1939, Briefe Il S. 107: ,,( ... ) zu erben muß man auch verstehen, erben, das ist am Ende Kultur". 621 GW V S. 1762.
222
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Bodens" betrachten und haben eine "Steuergebühr" zu entrichten. 622 In der "Steuerbindung" liegt eine Einschränkung der Freiheit der Bürger zugunsten des Staates, weil "die mit Saatfrucht Beliehenen nicht mehr ausschließlich für sich selbst, sondern teilweise für Pharao, das heißt: den Staat, die öffentliche Hand arbeiteten.,,623 Diese Einschränkung der Freiheit wird der im modernen Staat gleichgestellt: "Zu diesem Teil also war ihre Arbeit der Frondienst von Leibeigenen, - der Name steht jedem Freunde der Menschlichkeit und Bürger einer humanen Neuzeit frei, der ihn logischerweise auch auf sich selbst anzuwenden bereit ist. ..624 Die Formulierung: "Josephs Wirtschaftssystem war eine überraschende Verbindung von Vergesellschaftung und Inhaberfreiheit des einzelnen ( ... )",625 löst die Ambivalenz Thomas Mannscher Essayistik zwischen Konservativismus und sozialem Fortschritt vielleicht besser auf, als manche seiner theoretischen Ausführungen. Für den Autor selbst war der sozial ausgerichtete Roman ein humanistisches o26 und ein demokratisches Werk. Josephs Künstler-Ich sei in der Jugend von sträflicher Egozentrizität;627 aber
622 So kündigt Jaakob an, wenn er "zum Haufen Volkes werde geworden sein, dem eine Verfassung niedergelegt werden müsse"; GW V S. 1765. 623 GW V S. 1764. 624 GW V S. 1764. 625 GW V S. 1762. 626 Da Lukacs in >Joseph< Ausflucht und Gegenrevolution gesehen habe und auch die katholische Kirche es nicht möge, bleibe dem Werk "nur eine kleine Humanistengemeinde, welche sich die Sympathie mit dem Menschlichen frei gefallen läßt" schreibt Thomas Mann in der "Entstehung des Doktor Faustus" GW XI S. 240. 627 Im Brief an Ernst Bertram vom 28.12.1926, Briefe I S. 262 bezeichnet Thomas Mann den Joseph als eine Art von "mythischem Hochstapler", bzw. "religiösen Hochstaplerchens" im Brief an Kate Hamburger vom 4.5.1934, Briefe I S. 358; zur religiösen Komponente, die auch an Mose 10 "Das Gesetz" erinnert, vergl. den Brief vom 19.1.1954, Kerenyi-Briefe S. 189: "Ich glaube doch, daß Hadrian, der nichts Wahnsinniges hatte, sich nicht nur redensartIich als »divus«, sondern ganz ernstlich als Gott und Weltenordner und auch bei der Vergöttlichung seines bithynischen Ganymed ganz als Jupiter gefühlt hat. Gewiß nur ein würdevoll und weise-wissentliches Spiel; aber man kann nicht sagen, daß es mit Göttlichem nichts mehr zu tun hatte."
49. Tagebücher 1944
223
"kraft seiner Sympathie und Freundlichkeit, die es denn doch niemals verleugnet, findet es reifend seinen Weg ins Soziale, wird zum Wohltäter und Ernährer fremden Volkes und seiner Nächsten: in Joseph mündet das Ich aus übermütiger Absolutheit zurück ins Kollektive, Gemeinsame, und der Gegensatz von Künstlerturn und Bürgerlichkeit, von Vereinzelung und Gemeinschaft, Individuum und Kollektiv hebt sich im Märchen auf, wie er sich nach unserer Hoffnung, unserem Willen aufheben soll in der Demokratie der Zukunft, dem Zusammenwirken freier und unterschiedener Nationen unter dem Gleichheitszepter des Rechts. u62B
Eine der hervorstechenden Aussagen des Romans ist der in der Literatur häufig wiederkehrende Gedanke, es müsse die Gerechtigkeit mit der Liebe verbunden werden, um menschlich zu sein. 629 49. In diesem Jahr 1 944 erhält Thomas Mann, wie die Tag e b u ehe r bekunden, wieder Gelegenheit, Vorstellungen über die zukünftige Staatsform für Deutschland bekannt zu machen. Da er sich selbst im Unklaren ist, läßt er die Chance ungenutzt verstreichen. Über die deutsche Frage sei im Grunde jedermann ratlos. 6w Nach der Aufforderung, einen Artikel über die Frage "WhaL to do with Germany" zu schreiben, notierL er ins Tagebuch: "Prekär, verantwortlich - und interessiert es mich auch nur genug? Auch möglich, daß man der Sorge durch unvorhersehbare Entwicklungen überhoben sein wird. Mit was für einer revolutionierten, proletarisierten, umgestülpten, nackt und bloßen, zerrütteten, glaubenslosen, ruinierten Volksbande wird man es zu tun haben. Die Ausrufung eines National-Bolschewismus und der Anschluß an Rußland ist immer noch nicht unmöglich. Für eine dezente liberal-demokratische Republik ist das Land verloren.,,63!
62B "Joseph und seine Brüder. Ein Vonrag" GW XI S. 667; Brief an Erwin Schralter vom 11.1.1951, Briefe III S. 182: "(00') wird ein Mensch (Joseph) von großer natürlicher Begabung, aber von einer gewissen selbst-zentrierten künstlerischen Veranlagung zum Mitmenschen, zum sozialen Diener einer Gesellschaft und zum »Ernährer« erzogen. Über diese Erziehung Josephs durch sein Leben (00') ließe sich wohl etwas Pädagogisches schreiben". 629 GW IV S. 243, 393; GW V S. 1448, 1558.
TB VI S. 114. TB VI S. 7 (9.1.1944), Absage S. 8; TB VI S. 82, 119, 92. - Über Thomas Manns eigene Rolle: »Idealists dream of Thomas Mann as the president of the second German Republic, a post which he hirnself would most prabably most decidedly refuse«, in einem Buch von Felix Langer: »Stepping Stones Lo peace«, TB VI S. 9 f.; TB VI S. 49: "Begegnung mit Bauunternehmer X., der fragt, ob ich President of Germany sein werdeoo.", TB VI S. 46: "Hohn-Artikel des »Schwarzen Korps« über die Wiederkehr der Weimarer Republik und die mögliche Rückkehr von Brüning (00') und Th. M. Idiotisch". - Das Manifest des >Council for a Democratic Germany< [das sich zwar für die Demokratie einsetzt, 630
631
224
Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
Was Deutschlands demokratische Zukunft betrifft, äußert er sich dahingehend, er halte es für unverantwortlich gewagt, "wenn deutsche Emigranten heute die Bürgschaft für das künftige demokratische Wohlverhalten Deutschlands ( ... ) auf sich nehmen"; er will sich andererseits aber auch nicht zum Ankläger seines "verwirrten und schuldbeladenen Landes vor dem Welt-Tribunal" aufwerfen. Welche Entscheidungen für Deutschland zu treffen sind, sei "Sache der verantwortlichen Staatsmänner der Welt".632 Der für Staatsgeschäfte zuständige 'Fachmann', der in den 'Betrachtungen' für die Politik des einzelnen Staates zuständig war, wird hier nun auch für den internationalen Bereich herangezogen. Dessen Rat folgend, fühlt sich Thomas Mann einer eigenverantwortlichen Entscheidung enthoben. Thomas Mann hält die ,.Auflösung des Reiches im Rahmen einer europ. wirtschaftlichen Föderation" für sehr denkbar,633 ebenso aber die "Inthronisierung Carls von Habsburg mit Coudenhove als Außen minister".634 Zeitweise glaubt er an ein national-demokratisches Reich im Bündnis mit Rußland, es werde nichts mehr zu 'erziehen' geben. 635 Auch im Falle eines militärischen Sieges werde Deutschland nicht kapitulieren, das Volk seine Niederlage nicht akzeptieren. b36 Daß die Deutschen selbst um ihre Freiheit kämpfen, hält er für unmöglich. 637 Man dürfe nicht vergessen, daß der Nationalsozialismus eine Revolution,
aber an der Einheit Deutschlands festhält, Anm TB VI S. 4101 unterschreibt Thomas Mann nicht, aber auch nicht eine Gegendarstellung, zu der er aufgefordert worden war, TB VI S. 60 und Anm. S. 429. 632 Brief an Clifton Fadiman vom 29.5.1944, Briefe 11 S. :'67. 633 TB VI S. 6, ebd. S. 19: "Plan zur Zerteilung Deutschlands. Entrüstung, die ich nicht teilen kann, obgleich ich nicht weiß, was in diesem Fall Weisheit ist"; TB VI S. 89: "Über den deutschen Bankrott; die wahrscheinliche Verhinderung der Einigung Europas. Zerschlagung Deutschlands ebenfalls wahrscheinlich. Frage, ob sie wirtschaftlich haltbar"; TB VI S. 84: "Möglichkeit. einer rationellen und hergebrachten Aufgabe des verlorenen Krieges und einer Übergabe Deutschlands als Ganzem verstellt. Der Schluß wird nicht in konventionell-vernünftigen, sondern in revolutionären Formen kommen und das Reich sprengen"; Deutschland müsse verkleinert werden, TB VI S. 74. 634 TB VI S. 6; gemeint ist offenbar Otto von Habsburg; Anm.; s. TB VI S. 102: "Inzwischen fahren die Nazis fort, alles umzubringen, was für die Nachfolge in Betracht kommen könnte". 635 TB VI S. 12; ebd. S. 37: "Wahrscheinlichkeit eines geeinigten SowjetEuropas". 636 TB VI S. 114. 637 TB VI S. 29 f.: "Brief eines Amerikaners ( ... ) es sei Zeit, daß die Deutschen selbst für ihre Freiheit kämpften und stürben (... ). Hat der eine Ahnung".
49. Tagebücher 1944
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"eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung,,638 gewesen sei. Thomas Mann wehrt sich gegen den "Wahn der Deutschen, daß sich um sie die Welt dreht". Es sei nicht so wichtig, was mit Deutschland geschehe: 639 "Der Gedanke, daß Deutschland immer nur übermächtig oder ohnmächtig sein konnte, mit Ausnahme der Bismarck-Epoche, wo es sich leidlich normal in die Völkergemeinschaft einfügte, wenn auch nur scheinbar.,,640
1944 wird Thomas Mann amerikanischer Staatsbürger, die Bürgerprüfung zeigt ihm seine weitgehende Unkenntnis des amerikanischen Staats- und Verwaltungsrechts. 641 Sein Vertrauen in Amerika ist allerdings inzwischen geschwunden; fünf Jahre früher wäre die "Erwerbung der citizenship" für ihn eine erfreulichere Errungenschaft gewesen. 642 Die Angelsachsen würden möglicherweise nach dem Siege aus dem "europäischen Dschungel" fliehen, "besonders, da die faschistisch-sozialistischen »Saalkämpfe« bei ihnen selbst angehen werden. Amerika wenigstens tritt offenkundig in den Geisteszustand Prae-Hitler-Europas
638 TB VI S. 78. 639 TB VI S. 24; bei dem Bombardement von München, der Vernichtung des Braunen Hauses, des Justizpalastes etc. kann Mann "Gefühle der Genugtuung" nicht unterdrücken, TB VI S. 78. 640 TB VI S. 7. 641 TB VI S. 4; zum vorausgehenden Jahr TB V S. 663 f.: "Gelesen in »Lessons in Citizenship«", der offiziellen Broschüre zur Anlellung für die Einbürgerungsprüfung, ebd. Anm. S. 1025; ebd. S. 663: "Die alberne und wenig sympathische Ceremonie der Bürger-Prüfung steht mir bescMmend und argerlich vor"; deren Schilderung findet sich im Brief an Agnes E. Meyer vom 7.1.1944, Briefe 11 S. 345: "Mit der Staatsform, der Constitution und den Regierungs-Ressorts wußte ich so ziemlich Bescheid, als aber die prüfende Dame auf die Verwaltung und Gesetzgebung der Einzelstaaten und Städte zu sprechen kam, hatte ich keine Ahnung mehr und konnte nur großes Erstaunen über die Eigenmachtigkeit dieser Kommunen an den Tag legen - da ich doch irgend etwas an den Tag legen mußte. » What, are you bald enough to make your own laws? I hope very much that they are in full harmony with the Federal laws and the Constitution!« Sie verbiß ein Lächeln über diese Fürsorge faute de mieux. Meinen größten Erfolg hatte ich bei ihr mit der Beantwortung der Frage, warum wir wohl zwei Häuser und nicht nur ein House 01" Representatives hatten. Das sei in erster Linie eine Sache der Gerechtigkeit, sagte ich, damit nämlich die kleineren Staaten, die nur wenige Congressmen entsenden, nicht im Nachteil seien gegen die großen, denn durch zwei Senatoren sei jeder vertreten. »That is a very pervasive answer!" sagte sie, erstaunt über die Mischung von Gerechtigkeit und Ignoranz, die ich darstellte ... ". 642 TB VI S. 69; die Einbürgerung erfolgte am 23.6.1944. TB VI S. 69.
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Dritte Phase: Nationalsozialistische Herrschaft
ein.,,643 Er geht von einer Wiederwahl Roosevelts aus,644 gibt seine Stimme für Roosevelt ab 64s und notiert dessen Wahlsieg als wichtiges Ereignis. 646 Der Druck der öffentlichen Meinung ist oftmals seinen politischen Vorstellungen zuwider. 647 Auch in eigener Person sieht Thomas Mann sich verschiedentlich angegriffen, zum einen wegen seiner 'dunklen pOlitischen Vergangenheit', die "nur schwer begreiflich zu machen,,648 sei, zum andern des Inhalts seiner Romane wegen, was ihn veranlaßt in einem Brief zu schreiben: "Die Demokratie fängt an, mich satt zu bekommen.,,649 Wieder verstärkt sich bei Thomas Mann das Gefühl, seine Vorstellungen würden im Staat trotz demokratischer Verfassung nicht hinreichend verwirklicht. 50. Wenn Thomas Mann von "Welt-Demokratie" spricht, so meint er damit nicht immer einen zukünftigen Zustand. Im Essay " Sc h i c k . sa! und Aufgabe" (1944) schreibt er, die "Welt-Demokratie" sei 1918 im Besitz unumschränkter Macht gewesen. 6SO Sie hätte das Auf-
643 TB VI S. 18, 28; in einem Film sieht er "Groteske Bilder aus der amerik. politischen Demokratie", ebd. S. 103. 644 TB VI S. 76: "Roosevelt stellt sich in einem soldatisch akzentuierten Brief zur Wahl - und wird gewählt werden"; Lob der Wahlreden Roosevelts auch TB VI S. 104 und S. 115; "Pro-Roosevelt-Rede" und "demokratisches Gathering", d.h. Wahlversammlung für Roosevelt, ebd. S. 118 mit Anm. S. 515. 64S TB VI S. 120 (7.11.1944): ,,( ... ) zur Stimmabgabe für Roosevelt. Kabine am Sunset. Kreuzchen mit Gummistempel. Bequeme, schmerzlose Prozedur". 646 TB VI S. 120: "Den Radio-Meldungen zufolge scheint die Wiederwahl Roosevelts gesichert. Ein verwirrender Unsinn, auf den die Deutschen warteten, scheint vermieden" und weiter S. 121: "Dies ist ein wichtiges Ereignis der 11 Jahre, seit ich in Arosa diese täglichen Notizen begann". 647 So könne die Scheu vor Menschenopfern, die von der öffentlichen Meinung erzwungen sei, verhängnisvoll werden, TB VI S. 19. 648 TB VI S. 34 'Friedrich'-Essay ete.; die Frage, wie Mann von seinen "proNazi-Ansichten" zum Glauben an die Demokratie "bekehrt" worden sei, stellte 1944 Peyre S. 325 f. - Thomas Mann wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe durch seine feindselige Haltung gegenüber dem deutschen Regime Amerika in den Krieg gestürzt, TB VI S. 59 mit Anm. S. 428; ebd. S. 72: "( ... ) höhnischer Angriff mit Citaten aus den »Betrachtungen,,'. 649 Brief an Agnes E. Meyer vom 28.6.1944, TB VI S. 444. 650 Vergl. '15 World Security possible or will there be another World War?', Texte TB VI S. 803 f., wo Mann "die kapitalistische Demokratie" der Begünstigung der faschistischen Regime beschuldigt und die soziale Reform der Demo-
50. "Schicksal und Aufgabe"
227
kommen der Diktatoren verhindern können, wenn sie die Befriedung der Welt durch Reformen und Genugtuungen für das menschliche Gerechtigkeitsbedürfnis verwirklicht hätte. 651 Der Krieg sei ein Mittel zum Ausgleich von Sozialismus und Demokratie. 652 Thomas Mann warnt "die ganze bürgerliche Welt des Abendlandes"653 und fordert sie auf, das wirklich Neue in der Welt,654 die 'soziale Demokratie' zu wollen, andernfalls werde "der Glaube der vom Faschismus vergewaltigten Völker Europas an diese Befreier" erschöpft sein, und alle, Deutschland voran, würden sich der Macht des Ostens zuwenden, in deren Sozialismus die Idee bürgerlicher Freiheit keine Stätte mehr finde. Dennoch sieht er in dem "Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus" "die Grundtorheit unserer Epoche",65s denn "unsere Furcht ist die Quelle des Muts für unsere Feinde".6s6 Wenn auch der Kommunismus stark zeitgebunden und auf die "Diktatur einer Klasse" gegründet sei, könne doch die Welt der Zukunft ohne kommunistische Züge schwerlich vorgestellt werden: "das heißt, ohne die Grundidee des gemeinsamen Besitz- und Genußrechtes an den Gütern der Erde, ohne fortschreitende Einebnung der Klassenunterschiede, ohne das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit für alle.,,657
kratie als einzige Alternative zum Faschismus ansieht, diese allein könne einen relativ sicheren Schutz gegen einen Dritten Weltkrieg bieten; vergl. 'Beitrag zu
einem Symposion der Zeitschrift >Argosy< über die Frage >Is World Security Possible?InnerlichkeitAssociation /Ur InterdependenceStudents for Federal World Government< an, die es zu ihrer Sache gemacht hatten, eine "mit wirksamen Machtmitteln" ausgestattete internationale Gewalt zu schaffen, einen 'Überstaat', "an welchen die Nationalstaaten, groß und klein, einen Teil ihrer Souveränität, ihrer »Freiheit« abzutreten haben, einer höchsten den Frieden garantierenden moralischen und politischen Autorität."n
Thomas Mann nennt dieses Ziel zwar eine Utopie,73 jedoch sei der Geist immer der Wirklichkeit voran; es sei vom bloß Nationalen her kein Problem mehr zu lösen. 74 So bejaht auch er den "Weltstaat". Ähnlich wie im innerstaatlichen Bereich eine 'Obrigkeit' Garant der Ordnung ist, gewährleistet ihm der 'Weltstaat' das Ende der Querelen zwischen den Nationalstaaten. Das Gebot sei, "die Demokratie vom Nationalen zu emanzipieren und sie weltweit, universell zu machen, den Frieden auf eine kollektivistische Freiheit zu gründen, deren Ausdruck und Garant der den Nationalregierungen übergeordnete Weltstaat wäre.,,75
Um diesem Ziel näher zu kommen, wirbt Thomas Mann um die Verständigung der westlichen Welt mit Rußland und um die Anerkennung gemeinsamer menschlicher Ziele im bürgerlich-demokratischen und im sozialistischen Prinzip. So kommt es zu der Aussage, der Kommunismus der russischen Revolution sei "im Kern" "eine humanitäre und eine demokratische Bewegung". Handle es sich auch um Tyrannei, sei doch der russische Sozialismus, indem er sich denkende Menschen erziehe, beinahe unweigerlich auf dem Wege zur Freiheit. 76 Amerika andererseits sei unter Roosevelt im Begriffe gewesen "die Formal-Demokratie des bürgerlichen Zeitalters durch friedliche Revolution in einen demokratischen Sozialismus überzuführen". n Doch schien Amerika lediglich "den Völkern der Erde voranzugehen in der ökonomischen n GW XIII S. 776 (15.11.1945); s.a. die Zusicherung seiner Unterstützung dieser Bewegung in TB VII S. 61, 228; sie zielt in eine ähnliche Richtung wie die Entwürfe einer 'World Constitution', dazu Texte TB VII S. 906. 73 Zur Übersch3tzung der Pläne von 'World Government, Common economic administration of the earth und internationalem Völkerparlament' s. die Rede auf einem 'Meeting der United World Federalists' in Los Angeles am 7.4.1947, Texte TB VII S. 891. 74 GW XIII S. 776 f. 75 GW XIII S. 777. 76 GW XIII S. 778 f. n GW XIII S. 779; verg\. Texte TB VII S. 930.
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Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
Erfüllung der Demokratie, sie mit einer neuen Synthese von Freiheit und Gleichheit zu beschenken", sei es doch seit dem Sieg "von einer tiefen Lähmung seiner moralischen Schwungkraft befallen".78 Unter den Republikanern fürchtet er eine Vertiefung des Gegensatzes zwischen Ost und West 79 und eine imperialistische, nicht "von demokratischem Geist" bestimmte Außenpolitik. Er fragt, ob sich in Amerika ebenfalls die "fatale Abfolge von wilder Inflation, Verarmung der die Demokratie tragenden Mittelklassen, Auflösung derselben in verbitterte, irrationale, jeder Demagogie zugängliche Massen" und schließlich Faschismus und Krieg wiederholen würden. Indessen rechnet Mann damit, daß es sich nur um eine vorübergehende "Verdunkelung der moralischen Stimmung des Landes handle". Der "Glaube an Amerika" gründe sich auf dessen "Glaube an Demokratie, der Menschheitsglaube ist und Glaube an den Fortschritt, das heißt an eine diesseitige Bestimmung des Menschen, an seine Berufung zu persönlicher und sozialer Selbstvervollkommnung."so
9. In den Tag e b ü ehe rn 1 946 erwähnt Mann erneut die "Aussichtslosigkeit der Demokratie in Deutschland und das voraussichtliche Auseinanderbrechen des Landes".81 Zu dieser Ansicht veranlassen ihn unter anderem Zeitungsstimmen aus Deutschland, die ihn an 1933 erinnern. 82 Offenbar hält er die europäische Föderation mit deutschen Einzelgliedern statt eines einheitlichen Reiches für wünschenswert. 83 In den USA befürchtet er eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland während der Weimarer Republik. Die Inflation bringe die Verarmung der die Demokratie tragenden Mittelklasse. Die Mittelklasse könne sich daraufhin in irrationale, jeder Demagogie anheimgegebene Massen umwandeln. 84 Ein Revolutionsversuch könne zum Faschismus führen. 85 Das Monopolkapital wolle den Kampf aufs Messer und sei zu jedem Verbrechen bereit, ehe es abdanke. 86 Hingegen könne der GW XIII S. 779. GW XIII S. 780. 80 G W XIII S. 782. 81 TB VI S. 302. 82 TB VI S. 312. 83 TB VII S. 78. 84 Brief an Lavinia Mazzucchetti vom 15.10.1946, TB VII Anm. S. 460. 78 79
85 86
TB VII S. 39. TB VI S. 302. - Aus der konkreten parteipolitischen Situation erklärt sich
wohl die sarkastische Bemerkung, er habe im Wahllokal seine "nutzlose demo-
10. "Doktor Faustus"
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Plan internationaler Atomkontrolle, der auf eine weltgesetzmäßige Verpönung des Krieges hinauslaufe, Amerika zu großer historischer Ehre gereichen. 81 10. Der Roman "D 0 k tor Fa u s t u s . Das Leb end e s deutschen Tonsetzers Adrian Leverkahn erzl1hlt von ein e m Fr e und e greift Zeitgeschehen ohne Verfremdung, ja ohne zeitliche Verschiebung auF und integriert es in die Romanhandlung.89 Mit dieser Eindeutigkeit hat Thomas Mann in keinem der früheren rein literarischen Werke Fragen aktueller Politik9O mitbehandelt. Dazu bedient er sich des Erzählers Dr. phil. Serenus ZeitbIom. Dessen Kennzeichnung als Humanist bzw. Vertreter humaner Ideen legt die Vermutung nahe, Thomas Mann habe durch dessen Feder eigenen Gedanken Ausdruck verliehen. 91 Die Vermutung wird durch Vergleiche ii
kratische Stimme" abgegeben, TB VII S. 60 zum 5.11.1946; (Kongreß- und Gouverneurswahlen), Anm. TB VII S. 471. 81 TB VII S. 10. 88 Der Erzahler Zeitbiom beginnt am selben Tag wie Thomas Mann (am 23.5.1943) zu schreiben; GW VI S. 9, vergl. TB V S. 579 zum 23.5.1943. Das Buch erschien 1947. 89 Eintragung im Tagebuch 1943 TB V S. 572 f.: "Nach Schönberg ist seit 1940 moderne Musik, auch 12 Ton-Musik, in Nazi-Deutschland zugelassen und gewissermaßen begünstigt trotz »entarteter Kunst«. Dem Rechnung zu tragen. Verhältnis des Staates zu Leverkühns Musik kann zwiespältig sein wie das zu Nietzsche". 90 Im Brief vom 8.4.1945, Hesse-Briefe S. 113 und Briefe 11 S. 425 heißt es, auf den 'Faustus' bezogen: "Ist »Geist« das Prinzip, die Macht, die das Gute will (... ) dann ist er politisch (...). Ich glaube, nichts Lebendes kommt heute ums Politische herum. Die Weigerung ist auch Politik; man treibt damit die Politik der bösen Sache"; Brief an Klaus Mann vom 27.4.1943, Briefe II S. 309; Brief an Max Osborn vom 15.10.1944, Briefe II S. 396: "Wir haben gelernt, daß das Gute sich nicht im ästhetisch Kühnen und ReiZVOllen erfüllt; daß eine Kultur der Barbarei ganz nahe wohnt, die »sich nicht für Politik interessiert" und das Soziale aus ihrem GesiChtskreis ausschließt; daß auf einem geistigen Menschen schwerere Verantwortungen liegen, als Probleme der Schönheit"; Brief an Ouo Basler vom 13.3.1949, Briefe III S. 78 über einen Kritiker: "Und wie armselig, daß ihm schließlich das Licht aufgeht, der Teufel solle Hitler sein und es sei ein »politischer« Roman". 91 Siehe vor allem den Aufsatz von Heftrich, Doktor Faustus - Die radikale AutObiographie; nach Wiegand S. 196 handelt es sich bei dem zentralen Thema weniger um ein politiSChes Vermächtnis, als um eine »Lebensbeichte«; vergl. TB VI S. 295, hingegen TB VI S. 5: " ... Äußerungen über den Gegensatz zwischen meinen Äußerungen über Deutschland und der deutschen Fundierung, Tönung u. Thematik des Buches"; Brief an Martin Flinker vom 21.11.1950, Briefe III S. 176, in dem er den "Doktor Faustlls" als "dies Buch meines Herzens, dies
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mit den Tagebüchern und dem essayistischen Werk bestätigt. Damit soll aber weder die Identität mit der Haltung Zeitbioms behauptet, noch die Möglichkeit einer gleichzeitigen Identifikation des Autors mit Adrian Leverkühn geleugnet werden. 92 Vor allem auf den ausgeprägten Sinn Adrian Leverkühns für Ordnung soll hingewiesen werden. 93 Spiegelt Leverkühn eher die künstlerische Seite Manns wider, so kommt in Zeitbiom vornehmlich der bürgerliche Aspekt zum Ausdruck. Daher sind die Äußerungen Zeitbioms für das vorliegende Thema sehr viel aussagekräftiger als die Konsequenzen, die sich aus einer Gleichsetzung des individuellen Schicksals Leverkühns mit dem Untergang Deutschlands ergeben könnten. Zeitbiom geht zudem mit seinen Nebenbemerkungen zum Leben Adrian Leverkühns sowohl auf das deutsche Kaiserreich, als auch auf die Weimarer Republik und den nationalsozialistischen Staat ein. Somit verspricht vor allem die Untersuchung, wie Thomas Mann die Entwicklung Deutschlands im rückschauenden Überblick bewertet, Aufschlüsse über sein Verhältnis zur Demokratie. Im Hinblick auf das vorliegende Thema kann der 'Faustus' als Fortsetzung des 'Zauberberg' angesehen werden, allerdings bezieht der Autor bezüglich der im 'Zauberberg' behandelten Zeit eindeutiger Stel-
Resurne meines Lebens" bezeichnet; Briefkonzept an Irita van Doren vom 28.8. 1951, Briefe III S. 218, in dem Thomas Mann schreibt, er habe den "Doktor Faustus" einem frommen Humanisten "in den Mund gelegt"; Wolf weist (S. 246) darauf hin, Mann habe mit einem Wortspiel seinen Namen in dem das Buch abschließenden Gebet eingefilhrt, und macht (S. 254) auf die Parallele dieses Gebets zu dem am Schluß des "Briefwechsels mit Bonn" aufmerksam; a.A Busch S. 322. - Eintragung im Tagebuch 1943, TB V S. 634: "Über HumaniUIt als das geläuterte Chtonische (... ) Humanität als romantischer Widerspruch gegen die Gesellschaft u. die Conventionen (Rousseau), als Auflehnung (Prosa-Szene im Faust). Die Dialektik des Humanen und Chtonischen (Barbarischen) Thema des »Dr. Faust«". 92 Zu dieser These vergL SOn/heimer, Thomas Mann als politiSCher Schriftsteller S. 33: in Zeitbiom spreche vorzugsweise Thomas Mann; Fest S. 65; Heftrich S. 14, demzufolge alle deutschen Torheiten Thomas Manns an Zeitbiom gingen, S. 15; nach Metzler sind Adrian, Zeitbiom und der Teufel eine Person; vergL TB VI S. 78: "Er [Adrian] ist eigentlich mein Ideal (... )"; Brief vom 21.10. 1948, Amann-Briefe S. 69: "Zeit biom ist eine Parodie meinerselbst. In Adrians Lebensstimmung ist mehr von meiner eigenen, als man glauben sollte - und glauben soll"; Brief an Reisiger vom 4.9.1947, Anm. TB VII S. 609 und TB VII S. 191. 93 GW VI S. 64: "Ordnung ist alles"; GW VI S. 94: "sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine". Beachtung verdient weiterhin der Gedanke Leverkühns, "durch selbstbereiteten Ordnungszwang" sei man frei, GW VI S. 257; s.a. GW VI S. 162, 2..17 sowie Texte TB VII S. 872.
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lung; was die Zukunft anbelangt, enthält er sich wie damals konkreter Aussagen. Bereits der Name der Geburtsstadt Leverkühns und Zeitbioms "Kaisersaschern"94 kann als Symbol für den Untergang des Kaisertums gedeutet werden. 9S Ausdrücklich ist von der Monarchie im Zusammenhang mit der Erörterung des Ersten Weltkriegs die Rede. Die Äußerungen Zeitbioms über die Monarchie lassen keinen Zweifel, daß er diese Staatsform grundsätzlich bejaht. Zwar macht sich Zeitbiom über die Person des Kaisers lustig: das Gebaren des "Tänzers und Komödianten auf dem Kaiserthron" sei dem Gebildeten peinlich gewesen, seine Stellung zur Kultur sei "die eines zurückgebliebenen Dummkopfes" gewesen. 96 In krassem Gegensatz dazu steht die Einschätzung der Monarchie als Staatsform, die angesichts des faschistischen Staates beim Erzähler nostalgische Gefühle weckt: "Recht und Gesetz, das Habeas corpus, Freiheit und Menschenwürde hatten im Lande in leidlichen Ehren gestanden. ,,97
Vor allem sei die Kultur frei und an ihre "völlige Bezugslosigkeit zur Staatsrnacht gewöhnt" gewesen. Der Einfluß des Kaisers habe sich "in leeren Maßregelungsgesetzen erschöpft".98 Es ist das Bild eines "fest gegründeten, autoritätsstarken Staates",99 das Zeitbiom von der Monarchie zeichnet und das seinem Ordnungssinn 100 sehr entgegenkommt. In diesen Zusammenhang gehören auch Zeitbioms Sympathie für die Herrschaftsform Ludwig 11. von Bayern. "Die königliche Daseinsform" sei souverän, "der Kritik und Verantwortung sehr weitgehend enthoben und bei der Entfaltung ihrer Würde zu einem Stil legitimiert, der auch dem reichsten Privatmann verwehrt sei".lol Die völlige Ausnutzung des von ihr gebotenen Spielraums könne leicht als Wahnsinn erscheinen.
94 GW VI S. 14.
9S Dazu Klussmann S. 92 f., demzufolge der Name Kaisersaschern Symbolwert für die deutsche Reichs- und Großmachtidee hat und zugleich Grabstätte aller phantastischen Kaiserträume ist. 96 GW VI S. 400. 97 GW VI S. 400; vergl. hierzu die 'Betrachtungen'. 98 GW VI S. 400; vergl. TB IV S. 252, wo Mann die Einflußnahme des Kaisers auf die Kultur derjenigen Hitiers gegenüberstellt. 99 GW VI S. 414. 100 vergl. GW VI S. 28, 452. 101 GW VI S. 572.
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Dies rechtfertige nicht die Entthronung Ludwigs;102 auch ein "normal gebauter Ministerpräsident könne einen modernen Föderativ-Staat" regieren. 1OJ Dem König kommt nach dieser Vorstellung offenbar eine rein repräsentative Funktion zu, was sich auch aus der Bemerkung ergibt, die Bauern hätten in Ludwig keinen Verrückten, sondern einen König gesehen und wären auch bereit gewesen, ihn "mit Heugabeln und Dreschflegeln gegen Medizin und Politik" zu verteidigen. 104 Ähnlich 'undemokratisch' ist Zeitbioms Kunstauffassung: "Eine Kunst, die >ins Volk gehtDemokratisierungliberalistischen< Republik tatkräftig abholde Elemente, denen das Vorhaben, die deutsche Schmach zu rächen, und das Bewußtsein, eine kommende Welt zu repräsentieren, in dreisten Zeichen an der Stirn geschrieben stand.,,118
Die neue Geisteshaltung politisiert alles, ohne dies einzugestehen. Einer von Zeitbioms Gesprächspartnern 119 bemängelt etwa an einem Dirigenten, er sei ein "Republikaner und als national unzuverlässig bekannt", sein Programm sehe nach "deutsch-französischer Verständigung und Pazifismus aus" und fügt im nächsten Satz hinzu: "Leider sei eben heute alles Politik, es gebe keine geistige Reinheit mehr" .120 Während noch Tocqueville in der Revolution den Ursprung für freie Einrichtungen wie für absolute Macht gesehen habe, sei ersteres damals bei den Anhängern der neuen Geisteshaltung unglaubwürdig geworden. Hebe sich doch die Freiheit, wenn sie zu ihrer Selbstbehauptung gezwungen sei die Freiheit ihrer Gegner einzuschränken, nach Ansicht dieser Leute selbst auf, "wenn nicht von vornherein das Freiheitspathos der Menschenrechte über Bord geworfen werde".121 Ihrer Meinung nach lief ohnehin alles "auf Diktatur, auf Gewalt" hinaus, auf die "despotische Zwangsherrschaft" über "hilflose Massen". 122 Die parlamentarische Diskussion hingegen müsse sich zum Mittel politischer Willensbildung als gänzlich ungeeignet erweisen. l23 Ansichten wie die früher noch vorgetragenen werden nicht mehr diskutiert: der Staat habe im wesentlichen nützliche Funktionen, nicht nur mythische;124 die eines religiösen
111 GW VI S. 485; vergl. "Meine Zeit" GW XI S. 318: "Beinahe vom Augenblick ihrer Geburt an war die Freiheit ihrer selbst müde und spähte aus nach neuer Bindung (... )". 118 G W VI S. 562. 119 Des Kridwiß-Kreises, Symbol nationalsozialistischen Gedankengutes.
GW VI S. 593. 121 GW VI S. 485. 122 GW VI S. 485 f.
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123 GW VI S. 486, unter Berufung auf das Buch >Reflexions sur la violence< von Sore I. 124 GW VI S. 163.
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Sozialismus oder die von Deutschland als eines "verantwortlichen Industrievolkes, einer internationalen Industrie-Nation (... ), die einmal eine echte und rechte europäische Wirtschaftsgesellschaft bilden kann".l25 Voll Entsetzen bemerkt Zeitbiom, daß auch Wissenschaftler und Gelehrte die Gefährlichkeit ihrer Ansichten nicht erkennen und sich etwa "den Spaß" machen, "eine Gerichtsverhandlung zu imaginieren", in welcher "eine jener dem politischen Antrieb, der Unterwühlung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung dienenden Massenmythen" sich gegen den Vorwurf der Lüge zu verteidigen hatte. Zeitbiom, der der Wahrheit den Vorrang einräumen will, wird nicht gehört; ganz andere 'Werte' sind nun gefragt: "Eine Jurisprudenz, die im Volksempfinden zu ruhen und sich nicht von der Gemeinschaft zu isolieren wünschte, durfte es sich nicht erlauben, den Gesichtspunkt der theoretischen, gemeinschaftswidrigen sogenannten Wahrheit zu dem ihren zu machen; sie hatte sich als modern sowohl wie vaterlandisch im modernsten Sinn zu bewahren (... )" .126
Hier zeigt sich "die neue Welt der Anti-Humanität",127 die Zeitbioms wie Thomas Manns Ideen diametral entgegensteht: "Es war eine alt-neue, eine revolutionar rückschlagige Welt, in welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren. ( ... ) Das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen."I28
In dieser Entwicklung setzt sich das "Dämonische"l29 durch, das Zeitbiom aus seinem pädagogisch-humanen 130 Weltbild bisher ausgeschlossen hatte,131 die Bedrohung der "Welt des Geistes" durch die "Geisterwelt",132 vor der nur die Humanität zu schützen vermöge. 133 Die dämonische, "altertümlich-volkstümliche Schicht" gebe es zwar "in uns allen", doch gelte es, sie "unter sicherem Verschluß zu halten".l34 GW VI S. 161. G W VI S. 488. 127 GW VI S. 378. 128 GW VI S. 489. 129 GW VI S. 1Of. 130 GW VI S. 16. 131 GW VI S. 10. 132 GW VI S. 17. 133 Vergl. GW VI S. 32; ein Wort, das allerdings auch von der neuen Geisteshaltung mißbraucht wird, GW VI S. 137 f. 134 GW VI S. 54. 125
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Zeitbioms Verhältnis zu Deutschland ist gespalten. Einerseits weist er auf das Unrecht hin, das in und durch den Nationalsozialistischen Staat, das "Staatsungeheuer,,135 geschieht, und das für ihn "ein Unmaß der Rechtsbeleidigung"l36 darstellt, die "wüste Roheit und SchlagetotGemeinheit", die "Lust am Schänden, Quälen, Erniedrigen",137 die schon der frühe Nationalsozialismus in sich trug und er prangert etwa "die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger" an. l38 Andererseits hält Zeitbiom bis zum Schluß an seiner positiven Einstellung zum deutschen Volk fest, das er als "gutes Volk,,139 bezeichnet und bewundert etwa noch im Unterseeboot-Krieg dessen "nationale Tüchtigkeit".I40 Sind für Leverkühn die Deutschen ein "konfuses Volk",141 so unterstreicht Zeitbiom vor allem deren nationale Sonderart. 142 Im Kriegsgeschehen fürchtet Zeitbiom sich einerseits vor dem "östlich andringenden Verderben", den "russischen Horden", andererseits vor "den westlichen Todfeinde(n) deutscher Ordnung".143 Erstaunt zeigt sich Zeitbiom, daß letztere, nämlich "die entnervten Demokratien"l44 das Kriegsgerät überhaupt zu gebrauchen wissen. Er fürchtet sich vor dem "unermeßlichen Haß, den wir unter den Völkern ringsum gegen uns zu entfachen gewußt haben".145 Trotz des "Mitleids" mit dem "unseligen Volk"l46 und seinem "staatsbürgerlichen Gewissen entgegen",147
135 GW VI S. 668. 136 GW VI S. 449; "Unrecht" s.a. ebd. S. 636. 137 GW VI S. 233. 138 GW VI S. 498. 139 GW VI S. 46. 140 GW VI S. 229, s.a. S. 600. 141 GW VI S. 115. 142 GW VI S. 449, 411; vergl. die Bemerkung Manns im Brief an den Dekan der Philosophischen FakluUIt der Universitat Bonn vom 28.1.1947, Briefe 11 S. 525, in dem er schreibt, er sei sich in der glücklicheren Fremde seines Deutschtums nur desto bewußter geworden. 143 GW VI S. 231 f. 144 GW VI S. 336. 145 GW VI S. 448. 146 GW VI S. 233; zum Vorwurf an das deutsche Volk vergl. in der 'Dankrede bei der Verleihung des EhrendokJors der Universität Princeton " Texte TB IV S. 900: "Ein eigentümlicher Ausfall in der geistigen Mitgift des deutschen Volkes (... ) sein Mangel an politischem Instinkt, brachte es mit sich, daß es verworfenen Führern in die Hände fiel". 147 GW VI S. 45.
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bejaht Zeitbiom die "vaterländische Katastrophe",I48 den "Bankerott",149 wie es ganz buddenbrookisch heißt. Der Untergang stellt sich als Sühne für eine "Schuld",1S0 für Deutschlands "Sünden" dar. 1St "Wir Schuldbeladenen"152 umschreibt Zeitbiom die Deutschen im Untergang des Luftkrieges und betet am Schluß des Buches um Gnade für sein Vaterland. 153 Damit ist die Frage nach der staatsrechtlichen Entwicklung Deutschlands nach der nationalsozialistischen Diktatur aufgeworfen. Erst unter der "Herrschaft kühnster Willkür" dämmere dem deutschen Volk "vielleicht zum erstenmal in seinem Leben ein Begriff davon ( ... ) was es mit der Freiheit auf sich hat".154 Doch scheint nach seinen Ausführungen zweifelhaft, ob das Volk aus dieser Erkenntnis noch Nutzen ziehen kann, umschreibt er doch die Deutschen als das "Volk, das eingestandenermaßen daran verzweifelt, sich selbst zu regieren",1SS dessen "äußerster Versuch, die selbsteigene politische Form zu finden", in gräßlichem Mißlingen untergehe. 156 Wie sich der Erzähler die Staatsform Deutschlands vorstellt, nachdem das Land "frei"157 geworden ist, bleibt im Dunkeln. Immerhin grenzt er indirekt die Extreme aus: Er hege "ein natürliches Entsetzen vor der radikalen Revolution und der Diktatur der Unterklasse, die ich mir von Hause aus schwerlich anders als im Bilde der Anarchie und Pöbelherrschaft, kurz, der Kulturzerstörung vorzustellen vermag."158 Allerdings habe der Nationalsozialismus seine "Begriffe von Pöbel herrschaft" neuartig zurechtgerückt. Im Vergleich zu der - vom Großkapital bezahlten - "Herrschaft des Abschaums", will Zeitbiom, dem "deutschen Bürger", die "Herrschaft der Unterklasse ( ... ) als ein Ideal148 149 150 151 152
GW VI S. 446; vergl. S. 230. GW VI S. 234. GW VI S. 410. GW VI S. 669. GW VI S. 231. 153 GW VI S. 676. 154 GW VI S. 136. 155 GW VI S. 638. 156 GW VI S. 639; Wolf weist S. 246 auf die "pessimistische Grundhaltung" des 'Faustus' hin. 157 GW VI S. 669. 158 GW VI S. 451.
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zustand erscheinen".ls9 Könnte nicht viel eher die Demokratie den Vorstellungen des Erzählers entsprechen? Er zögert, diese Staatsform anzupreisen, wohl aus Furcht vor der Instabilität der Demokratie gegenüber Einzelinteressen: ,,( ... ) gewisse Schichten der bürgerlichen Demokratie schienen und scheinen heute reif tor das, was ich die Herrschaft des Abschaums nannte, - willig zum Bündnis damit, um ihre Privilegien zu fristen."I60
Dennoch räumt er der Demokratie die Möglichkeit ein, die der Zukunft angemessene Staatsform zu sein, ohne dies als sicher gewährleistet anzusehen. Der Erzähler setzt Hoffnung in die Demokratie, weil ihr "Führer" entstanden seien, die ihre Welt zum Kampf gegen die Herrschaft des Abschaums bewogen hätten, womit Roosevelts Krieg gegen den Nationalsozialismus gemeint ist. Dieser Umstand beweise, "daß die Demokratie der Westlander, bei aller Verstocktheit ihres Freiheitsbegriffs gegen das Neue und Notwendige, wesentlich doch auf der Linie des menschlichen Fortschritts, des guten Willens zur Vervollkommnung der Gesellschaft liegt und der Erneuerung, Ausbesserung, Verjüngung, der Überführung in lebensgerechtere Zustande ihrer Natur nach fahig iSt.,,161
Ja zur Demokratie also, jedoch unter der Bedingung, daß sie von den richtigen Persönlichkeiten gelenkt wird, was sie, wenn nicht aufhebt, doch in gravierendem Maße einschränkt. 11. Der "R 0 man ein es Rom ans", "D i e E n t s t e h u n g des D 0 k tor Fa u s t u s" (1949) bestätigt die Technik Thomas Manns, eigene Gedanken durch Zeitbiom zum Ausdruck kommen zu lassen. Das ergibt sich zum einen aus der Rolle, die der Autor dem Erzähler Zeitbiom hat zukommen lassen und zum anderen aus den direkten Äußerungen Thomas Manns zur Politik.
ZeitbIom, den Thomas Mann, wie bereits erwähnt, zeitgleich mit sich arbeiten läßt, dient dazu, "alles Direkte, Persönliche, Bekenntnishafte",162 das dem Charakter des Buches "als Geheimwerk und Lebensbeichte"l63 anhaftet, "ins Indirekte zu schieben" .164 Vielleicht kann es als ein Hinweis gedeutet werden, wenn es heißt, die "beiden Protago-
IS9 GW VI S. 160 GW VI S. 161 GW VI S. 162 GW XI S. 163 GW XI S. 164 GW XI S.
451. 452. 452. 164. 165. 164.
11. "Die Entstehung des Doktor Faustus"
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nisten" hätten "zu viel zu verbergen, nämlich das Geheimnis ihrer Identität".I65 An anderer Stelle räumt Thomas Mann ein, die Empfindungen Zeitbioms für Leverkühn zu teilen. l66 Eine weitere Funktion Zeitbioms ist, "die reizvolle Vermischung der Sphären" von Fiktion und Wirklichkeit zuzulassen,167 wobei die Sphäre der Wirklichkeit hier zumindest auch die Politik umfaßt. Die Verbindung des Politischen mit dem Literarischen, die bereits in einer Reihe von Werken Thomas Manns aufgezeigt werden konnte, findet sich hier als offenes Konstruktionsprinzip. Auf die intensive Beschäftigung mit der Tagespolitik während der Niederschrift des "Doktor Faustus", ja auf die Verquickung der Politik mit seinem Leben, weist Thomas Mann in dem "Roman eines Romans" mehrfach hin. l68 Die "alte Gewohnheit, das Politische neben dem Dichterisch-Menschlichen hergehen zu lassen und zwischen den Sphären hin und her zu wechseln,,,I69 findet sich im "Doktor Faustus" mithilfe der 'doppelten Zeitebene'170 und "Montage-Technik"l71 direkt im Literarischen ausgeprägt. Neben der Schilderung von Tagesereignissen durch Zeitbiom sind viele Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Staat in den Roman eingeflossen, wie etwa die Beschreibung der Hölle nicht möglich gewesen wäre ohne "die innere Erfahrung des Gestapokellers". \72 Der Zwiespalt in der Haltung zu Deutschland entspricht ebenfalls dem von Zeitbiom. Auf der einen Seite steht der Abscheu gegen die Grausamkeit der Nazis. 173 Auf der anderen Seite verteidigt Thomas Mann Deutschland mehrfach; 174 etwa auch "das berüchtigte >Deutsch-
165 GW XI S. 204. 166 GW XI S. 203. 167 GW XI S. 166, s.a. ebd. S. 165. 168 Besonders ausgeprägt GW XI S. 198. 169 GW XI S. 299. 170 GW XI S. 164. 171 GW XI S. 165. m GW XI S. 217. 173 Vergl. GW XI S. 175,221. 174 So schreibt er, sein Deutschtum sei in dem kosmopolitischen Universum Amerikas am besten untergebracht; Brief an Eduard BeneS vom 29.7.1944, Briefe II S. 380; s.a. Brief an Klaus Mann vom 25.6.1944, Briefe II S. 374; Brief an Walter von Molo vom 7.9.1945, Briefe 11 S. 444 f.: ,,( ... ) welche unzerreißbaren Bande mich denn doch mit dem Lande verknüpfen, das mich »ausbürgerte«"; Brief an Martin Flinker vom 21.11.1950, Briefe III S. 176: "Dieser Roman ist deutsch bis zum Exzeß (... ) Mit allen Mitteln suggeriert er das tief -
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land, Deutschland über allesüber alles< herrschen sollte, sondern nur, daß man es werthalten wolle über alles, wenn es einig und frei sei."m Er sieht darin die "Verbundenheit des nationalen und des demokratisch-freiheitlichen Gedankens".176 Der Zwiespalt liegt in der Ablehnung der 'Legende vom >guten< und >bösen< Deutschland' begründet. Nach Manns Auffassung war das böse zugleich auch das gute Deutschland, "das gute auf Irrwegen und im Untergang,,;m eine These, die bei Anhängern der >Inneren Emigration< und einigen heimgekehrten Emigranten Mißfallen erregen mußte. l78 Im Unterschied zu Zeitbiom sieht Thomas Mann noch während der Entstehung des Buches die Gefahr, es könne helfen, "einen neuen deutschen Mythos" zu schaffen, weshalb eine zu emotionale Anteilnahme an dem Werk den Autor bedenklich stimmte und ihn bewog, die "sehr deutsch gefärbte Thematik (... ) so vollkommen wie möglich ins allgemein Epochale und Europäische aufzulösen".l79 Die Vorstellung der "Unantastbarkeit" der Einheit Deutschlands, die sich damals unter den deutschen Emigranten verbreitete, fand Thomas Mann verfrüht. lso Den Emigrationspatriotismus, der Deutschland "schon wieder >frei< und groß wollte" erschien ihm als "Pro-Faschismus"; 181 Zurückhaltung
das gefllhrlich Deutsche"; Brief an A M. Frey vom 19.1.1952, Briefe III S. 241; sowie Brief an Unbekannt vom 21.1.1952, Briefe III S. 243 f., wo Mann betont, dem deutschen Roman ein gewisses europäisches Interesse verschafft zu haben. m GW XI S. 226. 116 GW XI S. 227. m GW XI S. 225; TB VII S. 168; vergl. den Brief an Walter von Molo vom 7.IX.1945 (Briefe an Autoren S. 368 ff., 375), der auch im übrigen gut Thomas Manns Haltung zu Deutschland in dieser Zeit widerspiegelt. 178 GW XI S. 238; Brief an Agnes E. Meyer vom 29.III.1945, Briefe 11 S. 421: "Sie machen sich keine Vorstellung von der Verrücktheit des deutschen Emigranten-Patriotismus, von der Wut, die man erregt, wenn man sich zu der Wahrheit bekennt, daß der »National-Sozialismus« nicht etwas den Deutschen von außen Aufgezwungenes ist, sondern jahrhundertelange Wurzeln in der deutschen Lebensgeschichte hat, ohne natürlich immer so geheißen zu haben und ohne natürlich deshalb unsterblich sein zu müssen". 179 GW XI S. 181. ISO GW XI S. ISO. 181 GW XI S. 197.
11. "Die Entstehung des Doktor Faustus"
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in dieser Richtung eine Frage des "Geschmacks und der Diskretion".I82 Er selbst ist wie Zeitbiom bezüglich der staatlichen Entwicklung Deutschlands unsicher; trotz verschiedener Überlegungen kommt er zu keinem Ergebnis: l83 "Spekulationen über die von Rußland und dem Westen offenbar so verschieden geplante Zukunft Deutschlands beschäftigen uns alle",I84 wird aus dem Tagebuch zitiert. Allenfalls pflichtet er einem Gesprächspartner bei, der "zugunsten der Aufteilung Preußens, einer föderalistischen Lösung überhaupt"l85 das Wort redet, nennt es "einleuchtend, human und wünschenswert" und bedauert, daß die Ereignisse "wie gewöhnlich, den unklugen Weg gegangen" seien. l86 Offenbar sieht Mann sich in seinen früheren Hoffnungen getäuscht, die Deutschen würden sich der Nationalsozialisten durch Revolution entledigen,187 und es werde in einem gereinigten Land ein Aufbau der Demokratie möglich sein. l88
182 GW XI S. 206; vergl. die Rundfunkrede vom 9.12.1943, GW XI S. 1088, in der er sich bei seinen deutschen Hörern dafür entschuldigt, daß die deutschen Emigranten nicht der Schonung von Deutschlands Zukunft, "der Lebensmöglichkeit einer starken deutschen Demokratie" das Wort reden könnten, da das als Affront gegen die Gastlander angesehen würde. 183 Brief an Agnes E. Meyer vom 8.5.1943, Briefe II S. 314: "Wenn die Alliierten nur siegen (... ) Was die Sieger dann mit ihrem Siege anfangen, kümmert mich nicht so sehr. Alles fließt, und was sie falsch machen, wird die Geschichte riChtig stellen". 184 GW XI S. 179; vergl. Brief an Viktor Mann vom 27.3.1947, Briefe II S. 533: "Aber die [Zukunft] liegt ja völlig im Dunkeln und man weiß garnicht, was man wünschen, hoffen, empfehlen soll". 185 GW XI S. 226 (Sumner Welles); Rundfunkansprache "Deutsche Hörer!" vom 16.2.1945, GW XI S. 1114: wahrend bei den Alliierten geringe Neigung bestehe, Deutschland in getrennte, unabhängige Staaten aufzulösen, würden die Machthaber Deutschlands, indem sie das unglückliche Volk zwangen, den Krieg bis ins außerste Verderben fortzusetzen, bewirken, daß Deutschland in StOcke falle, die vielleicht nie wieder zusammenfanden. 186 GW XI S. 226. - Ohne Kommentar notiert er die Bemerkung eines weiteren Gesprachspartners, Dr. Hermann Rauschnig (GW XI S. 295): "Wünschenswert schien ihm eine europaische Föderation mit Einschluß der deutschen Einzellander unter Verzicht auf den Reichsnamen." 187 So etwa in "Über Deutschlands Zukunft", Texte TB V S. 1084. 188 Der Hoffnung, Deutschland wolle aus "eigenem Antriebe, eigenem Gerechtigkeitsgefühl" dazu beitragen, seine Untaten gutzumachen, gibt Thomas Mann noch in der Rundfunkrede "Deutsche Hörer!" vom 1.5.1944, GW XI S. 1100 Ausdruck; ,,An die Redaktion von ,.Freies Deutschland«" vom 6.2.1946, Briefe II S. 477, schreibt Thomas Mann, sein Bruder Heinrich sei auf Deutsch-
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Die Chance, selbst an der Neugestaltung Deutschlands mitzuwirken, nimmt Thomas Mann nicht wahr. Die führende Beteiligung an der >Free GermanyDemokratie< für Hitlers Drittes Reich ein "ungeheuerlicher Mißbrauch" gewesen. 20t Er findet also eine Differenzierung, an die er sich selbst einige Jahre zuvor nicht gehalten hat.
14. In den Tag e b ü ehe r n des Jahres 1 94 7 befaßt Mann sich mit den unterschiedlichen Entwürfen für eine neue deutsche Verfassung. Gegenüber dem russischen Vorschlag, der für die Formen der Weimarer Republik plädiert und dem französischen, der lediglich eine lose Föderation vorsieht, gibt er dem angelsächsischen den Vorzug: "Föderation mit Centralregierung, konstitutioneller Präsident, Supreme Court, 2 Kammern."202 Eine Einigung Europas ist für Mann wünschenswert, allerdings ohne deutsche oder russische Hegemonie. 203 Mann beklagt die schwindende Rechtssicherheit,204 den schwindenden Rechtssinn in Amerika und die Herrschaft faschistischer Gewalt. 205
196 GW XI S. 1150. t99 "Von rassischer und religiöser Toleranz", GW XII S. 900. 200 GW XII S. 901. 20t GW XII S. 901. - Den im Faschismus gepflegten Rassismus bezeichnet Thomas Mann als "Elends-Aristokratismus", ebd. S. 902. 202 TB VII S. 108; Mann beobachtet diesen Aspekt auch weiterhin mit Aufmerksamkeit; TB VII S. 181, 189, 196, 233. 203 TB VII S. 168; dazu auch S. 216. 204 Statement für die Sendung >Hollywood fights backPreliminary Draft of a World Constitution< (Texte TB VII S. 955) werden diese Gedanken und Forderungen nur als die Fortentwicklung und juristische Konkretisierung der liberal-freimaurerischen Idee der Weltrepublik bezeichnet. 231 TB VII S. 224; verg!. Texte TB VII S. 916. 238 Dazu Brief an Hans Reisiger vom 19.12.1948, Briefe III S. 64: ,,( ... ) ich habe bis heute keine Ahnung, wie ich noch einmal etwas Ober den Alten zusammenkratzen soll. Kame darauf an, einen speziellen approach und point of view zu finden, irgend ein »und". »Goethe and Democracy« wie wäre das? Man könnte die Angelsachsen in hObsche Verwirrung damit bringen". 239 GW IX S. 757. 240 Einleitung zum Nietzsche-Vortrag im Rahmen der Zürcher PEN-Tagung, gehalten am 3.7.1947, Texte TB VII S. 898. 241 GW IX S. 757. 242 GW IX S. 759. 243 GW IX S. 765; s.a. S. 759. 244 GW IX S. 761.
17. "Goethe und die Demokratie"
265
Die Zweifel daran, ob Goethe sich für die Demokratie usurpieren läßt, die Mann vor allem im Hinblick auf seine Darstellung Goethes in "Lotte in Weimar" haben mußte, werden in diesem Essay wie schon während dessen Entstehung in mehreren Briefen 245 offen angesprochen, was die oben aufgestellte These eines undemokratischen Goethebildes in "Lotte in Weimar" indirekt bestätigt: "Ich weiß wohl, daß man den Dingen sehr auf den Grund gehen und den Begriff des Demokratischen sehr weit fassen muß, um Goethe darin einzubeziehen. Denn im Engeren und gegen die Oberfläche hin spricht beinahe ilberwältigend viel für seine Gegenstellung zur Demokratie (... ).,,246
Um dem zehn Jahre älteren Goethebild in "Lotte in Weimar" nicht untreu zu werden, ist Goethe auch in dem Essay der 'Dichterfürst', und wird "Herrscher, der letzte Repräsentant und geistige Gebieter Europas" genannt. 241 Hieran schließt Mann die Frage, inwieweit Größe sich mit Demokratie verträgt, eine rhetorische Frage, wie Manns Eintreten für Elitenherrschaft und 'demokratische Diktatur' gezeigt hat. Schwerwiegender sind die Bedenken, die sich aus Goethes "Apolitismus" und seiner Haltung "gegen liberale Regierungsformen'-,z48 "gegen Pressefreiheit, gegen das Mitreden der Masse, gegen Konstitution und Majoritätsherrschaft" ergeben. Zudem sei Goethe im Verhältnis zur Masse Aristokrat. 249 Dennoch bleibt bei Mann kein Zweifel, daß die europäische Demokratie Goethe für sich in Anspruch nehmen darf. Ein Argument hierfür ist die Verbindung von Demokratie und Christentum. Das Christentum sei "die Demokratie als Religion", wie man sagen könne, daß die Demokratie der "politische Ausdruck des Christentums" sei. 250 Die Sendung des Christentums sei eine "im tiefsten Wesen demokratische Sendung".251 Insbesondere die religiöse Demokratie, die 245 Brief an Erika Mann vom 8.2.1949, Briefe III S. 72: "Zeitweise wurde mir angst und bange, ob ich den Alten nach soviel aristokratischer Kompromillierung noch wieder würde demokratisch heraushauen können. Aber ich denke, es ist gegangen, und am besten gefallt mir das »to make success of things«, als demokratisches Symbol"; Brief an Viktor Mann vom 11.3.1949: "Man wird ihn in den verschiedenen Zonen in widersprechendem Licht präsentieren. Gewissermaßen tue ich das auch, denn ich habe etwas aufgeschrieben über sein Verhaltnis zur Demokratie, und das ist auch zweideutig und problematisch genug". 246 GW IX S. 762. 241 GW IX S. 765.
248 GW IX S. 769. 249 250 251
G W IX S. 770. GW IX S. 771. GW IX S. 773.
266
Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
Luther gebracht habe, sei von Goethe bejaht worden, wie er auch "die demokratisch-gemeinschaftsbildenden Kräfte katholischen Lebens" bewundert habe. 252 Als demokratischer Zug Goethes wird seine Offenheit gegenüber Amerika hervorgehoben. 253 Goethe habe mit seiner Überzeugung, Revolutionäre, die Freiheit und Gleicheit zugleich versprächen, seien 'Phantasten oder Charlatans', an die Grundschwierigkeit der Demokratie gerührt.25~ Vor allem aber ist es die dem anti-demokratischen Mephistopheles entgegenstehende Lebensbejahung Goethes, die ihn für die Demokratie rette und Mann in Goetheschen Versen "den höchsten Ausdruck aller Demokratie" sehen läßt. 2S5 18. Mit dem Motto" Ein eWe I tod e r k ein e" fordert Thomas Mann im Jahr 1949 dazu auf, sich der "Weltregierungsbewegung"256 anzuschließen. Wer dauernden Frieden wolle, müsse die Welt regierung wollen, denn "solange wir kein Weltgesetz haben und keine Weltpolizei", bleibe Krieg letztlich der einzige Ausweg. Er sieht dabei die "Weltregierung" nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit, werde sich doch die Weltregierung "im übrigen" nicht in die Angelegenheiten der Länder mischen. In diesem Zusammenhang räumt der Autor der Demokratie einen wesentlichen Einfluß ein: "Darin besteht ja gerade das Wesen der Demokratie, daß die Völker ihre Regierungen vorwärts treiben auf dem Wege zum Besseren und Nötigen. Spricht ein Volk nur laut und deutlich genug, dann hört die Regierung zu."m Lange zögert Thomas Mann, Deutschland zu besuchen und wirft den Deutschen vor, "auf ihr Drittes Reich garnichts kommen" zu lassen. 258 Auch brauche man sich über die machtpolitische Zukunft Deutschlands
252 GW IX S. 774. 253 Amerikas Sieg für Recht und Freiheit als 'eine Erleichterung für die Menschheit' zu bezeichnen, ein demokratischer empfundenes Wort gebe es nicht, GW IX S. 778. 254 GW IX S. 766. 2S5 GW IX S. 781, s.a. S. 773. 2S6 GW XIII S. 800. S.a. Brief an Heinz Fredersdorf vom 2.12.1949, Briefe III: "Auf das Ziel einer Einheitswelt, einer gemeinsamen Verwaltung der Erde und ihrer Güter, einer menschlichen Gesellschaft, die ohne die Freiheit zu verleugnen, der Gleichheit den Vorrang vor dieser gibt, auf dieses Ziel strebt ja alles zu, und wenn man sich vor Wortgespenstern nicht fürchtet, so wird man sie kommunistisch nennen müssen". m GW XIII S. 799 f. 258 Brief an VikLOr Mann vom 27.3.1947, Briefe II S. 533.
20. Antwort an Paul Olberg
267
keine Sorge zu machen. 259 Doch würden die Deutschen bereit sein, einem guten Beispiel zu folgen und begierig, ihre Gaben in den Dienst einer neuen Welt zu stellen. zoo 19. In der Ansprache in Weimar (1949) sieht sich Thomas Mann als Repräsentant der Einheit Deutschlands. 261 Ist die Idee der Mitte und des Ausgleichs für Mann auch typisch, so darf bei der Interpretation dieser Rede der finanzielle Faktor ebensowenig unberücksichtigt bleiben wie bei seiner zögernden Abwendung vom nationalsozialistischen Deutschland zu Beginn der Emigration. 262 Seiner Vorstellung eines, von der Demokratie zu haltenden Gleichgewichts zwischen Freiheit und Gleichheit gemäß, bittet er aussprechen zu dürfen, daß "Freiheit, Recht und die Würde des Individuums" bei der Suche nach einem neuen Humanismus nicht untergehen dürften. 263 20. Thomas Mann muß sich wegen der Ansprache in Weimar verschiedener Angriffe erwehren und tut dies etwa in der A n t W 0 r t an Pa u I 0 I be r g .264 Ein tief undemokratischer Zug Thomas Manns, von den 'Betrachtungen' her wohlbekannt, kommt in diesem Brief wieder zutage, wenn er im Zusammenhang mit den "politischen Freiheiten und staatsbürgerlichen Rechten, die in den Westzonen Deutschlands dem Volke gewährt sind" darauf hinweist, daß das Volk einen unver-
259
An Herbert Eulenberg vom 26.4.1947, Briefe 1I S. 546.
zoo An Arnold Bauer vom 4.7.1947, Briefe 1I S. 540. 261 GW XIII S. 793; vergl. über die Annahme der Goethepreise in Frankfurt und in Weimar: "Es war meine Idee, durch diese Geste die Verbundenheit deutscher Kultur zu dOkumentieren. Ich kannte keine Zonen und wollte sie auch nicht kennen, sondern nur ein Deutschland. Der Sinn der Überbrückung lag in dieser Geste." In: "Sehnsucht nach Europa. Ein Gesprach mit Thomas Mann", Stader Tageblatt vom 21.8.1952, wieder abgedruckt in: 'Frage und Antwort' S.327. 262 Im Brief an seinen Verleger vom 4.8.1954, Bermann-Briefe S. 636 f., SChreibt Mann, seine Wünsche gingen auf Zusammenarbeit, "eine Zusammenarbeit von Ost und West, die ideell höchst erfreulich ware und sich künstlerisch wie finanziell (das hangt zusammen) sehr glücklich auswirken könnte". 263
GW XIII S. 794 f.
Brief vom 27.8.1949. Wirft er einerseits der "autokratischen Revolution" Rußlands vor, sich der selben unheimlichen Methoden zu bedienen wie der Polizeistaat der Zaren, weigert er sich andererseits, "an der Hysterie der Kommunistenverfolgung und der Kriegshetze teilzunehmen", GW XIII S. 796 f. Zu starke Sympathie für den Kommunismus bzw. das Stalinistische Regime warfen Mann beispielsweise Lewa/ter S. 405 ff. und Jackson S. 412 ff. vor. 264
268
Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
schämten Gebrauch davon gemacht habe. Der autoritäre Volksstaat265 habe seine schaurigen Seiten, indessen: ,,Die Wohltat bringt er mit sich, daß Dummheit und Frechheit, endlich einmal, darin das Maul zu halten haben. uU6
Die zunächst überraschende Stellungnahme gegen Meinungs- und Pressefreiheit erklärt sich aus der Tatsache, daß Thomas Mann in der DDR nicht mit Kritik an der eigenen Person konfrontiert wurde, er nämlich "keine SChmutzigen Schmähbriefe und blöde Schimpfartikel,,267 zu sehen bekam. Hat er später auch in einem Brief eingeräumt, daß es sich um ein "Stimmungswort" handelte, hält er letztlich doch an Bedenken gegen die Pressefreiheit fest. 268 Im selben Jahr bekennt sich Thomas Mann in einem Interview hingegen "mit Entschiedenheit zu einer demokratisch-föderativen Verfassung" und beantwortet die Frage, ob er das Vorbild der Schweiz mit ihrer starken gemeindebürgerlichen Selbstverwaltung und der politischen Beteiligung eines jeden Bürgers als selbstverantwortlichen Gliedes des Staates auch für Deutschland empfehlen würde .,mit einem klaren Ja", ohne daß sich allerdings klären läßt, inwieweit ihm diese Aussagen von seinem Interviewpartner in den Mund gelegt wurden. 269 21. In dem Vortrag "M ein e Z ei t" (1950) erhebt Mann den Vorwurf, der kalte Krieg lähme das Rechtsgefühl in den großen Nationen und zerstöre das, was er bewahren wolle: die Demokratie. 270 "Die bürgerliche Demokratie" ruft er auf, nicht den Krieg zu riskieren, um
265 Im unten zitierten Brief an Willy Sternfeld ist das Zitat abgewandelt in "autoritären Demokratie", Briefe III S. 108. U6 GW XIII S. 797; Brief an Emil Preetorius vom 20.10.1949, Briefe III S. 106: "Von der Unverschämtheit der Presse machen Sie sich keinen Begriff'; dazu auch oben S. 191 f. zu "Lotte in Weimar". 267 GW XIII S. 797.
268
Brief an Willy Sternfeld vom 3.11.1939, Briefe III S. 108: "Auch das war
so ein Stimmungswort, - nicht recht haltbar natürlich. Denn ich bin ja nicht für
Gewalt und Polizei. Aber war es nicht arger Leichtsinn, die Lizenziierung der deutschen Presse aufzuheben? Wenn es nicht viel Schlimmeres als Leichtsinn war!"; siehe dagegen Brief an Walter H. Perl vom 25.3.1950, Briefe III S. 139: "Die Kritik soll kritisieren, und kein Baum soll in den Himmel wachsen, soweit herrscht noch Demokratie hierzulande". 269 "Wandlung eines Dichters. Ein zweites Gespräch mit Thomas Mann." Neue Zeitung (München) vom 21.6.1949, abgedruckt in: Frage und Antwort S.297. 270 GW XI S. 321.
22. "Der Erwahlte"
269
die Welt zu gewinnen, denn dann bleibe nichts übrig, auch nicht die Demokratie. 271 Der aus der vorhergehenden dritten Phase bekannte Gedanke, die divergierenden Grundprinzipien der Demokratie - Freiheit und Gleichheit - müßten eine neue Verbindung eingehen, kehrt hier wieder. Im Unterschied zu damals wird der Ausgleich zwischen beiden nun mit der Idee der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht. Gerechtigkeit sei die herrschende Idee der Epoche, ihre Verwirklichung eine Angelegenheit des Weltgewissens geworden. Dazu müsse die liberale Demokratie zur sozialen werden. 2n Der Gedanke der 'Weltdemokratie' wird in diesem Vortrag abgewandelt zu einer "universellen Friedenskonferenz", auf der der Plan entworfen werden sollte ,,zu einer umfassenden Finanzierung des Friedens, zu einer Konsolidierung aller ökonomischen Krafte der Völker im Dienst gemeinsamer Verwaltung der Erde und einer Verteilung ihrer Güter (... )".273 Dieses "Werk des Ausgleichs und der Aufhebung von Gegensätzen zu höherer Einheit"z74 wird heute unter dem Stichwort des 'common heritage of mankind' im Rahmen einer neuen Weltwirtschaftsordnung vor allem auf Betreiben der Länder der Dritten Welt diskutiert. 22. Gregorius, der Protagonist des 1951 erschienenen Romans" Der Er w ä hit e ", ist wieder eine der Gestalten Manns, die durch ihre Au-
ßerordentlichkeit zu großer Macht gelangen. Gregorius wird nicht nur Herzog von FIandern-Artois, sondern übertrifft als Papst an Einfluß alle anderen HerrSChergestalten der Romane Thomas Manns. Wie Krull ist Gregorius "aus feinerem Holze geschnitzt".275 Seine Eltern schon empfanden sich als 'völlig exceptionelle Kinder,z76 und erachteten an Feinheit nur einander für ebenbürtig. zn Zum Herrscher ist Gregorius prädestiniert. Die Kunst im Kampf ist ihm angeboren,z78 so daß er schon als Kind dem Geist zum Sieg über die Gewalt verhilft. z79 Ihm fehlt auch nicht die Ausstrahlung, die Krull Z71 Vergl. GW XI S. 321. 2n GW XI S. 322. Z73 G W Xl S. 323. 274 GW Xl S. 324. 275 GW VII S. 83, vergl. S. 94. 276 G W VII S. 28. zn Vergl. GW VII S. 253. 278 G W VII S. 136. 219 Vergl. den Kampf mit seinem Ziehbruder, GW VII S. 94 ff.
270
Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
ebenso wie Joseph auszeichnet. Er war nicht nur "sehr schön zu sehen (... ) ein herrlicher Mann",280 sondern hat etwas, wie die Leute um ihn herum sagen, "was unsereinem das Bücken leicht und fast zur Lust macht".281 Darüber hinaus bringt er die nötige Sachkenntnis mit, hat er doch "de legibus" studiert, "eine Wissenschaft, die vom Gesetze handelt, und zu der ein sehr offener Kopf gehöTt".282 Zudem wird er schon in seiner Jugend ob seiner "Staatsklugheit" gelobt. 283 Das Volk ist demgegenüber offenbar eines Herzogs bedürftig, der es sChützt;284 es kann beispielsweise einen Friedensschluß nur mit den kollektiv gesprochenen Worten: "Ja, ja, so sei es", bestätigen. 28S Gregorius wird ein "sehr guter Herzog",2B6 der nach außen die Sicherheit des Landes schützt und zu Gericht zieht, um Streitfälle und Fehden im Innern zu schlichten, "und da er im Kloster de legibus studiert hatte, wozu noch nie ein Herr sich bemilßigt gefunden, so war er ein besserer Richter, als je einer Tage gesetzt und Ding gehalten, des Rechtes Busenfreund, dabei mild und auf weise Genugtuung bedacht filr all und jeden.,,287 Zweimal kommt es im Zusammenhang mit Gregorius zu einem Machtwechsel. Als auf seine Entscheidung hin ein neuer Herzog die Herrschaft antreten soll, fordert er die "Stände" zusammenzurufen, die einen neuen Herzog "wählen" sollen. 288 Zum Papst wird Gregorius aber gerade nicht durch Wahl. Die Menschen erweisen sich zur Papstwahl nicht als fähig, ist doch "Bestechung mit Geld dabei einschlägig und parteiliches Machtstreben die Triebfeder von allem", so daß es beim "Streit um den Thron der Welt"289 zum Schisma kommt. Letztlich beschließen die Bürger, "die Wahl ganz und gar Gott selbst anheimzustellen",29O der denn auch durch eine "Gnadenerhebung,,291 Gregorius,
280
281 282 283
284 28S
2B6 287 288
289 290
291
GW VII s. 242. GW VII S. 89. GW VII S. 88. GW VII S. 150. GW VII S. 28. GW VII S. 148. GW VII S. 165. GW VII S. 162. GW VII S. 179. GW VII S. 196. GW VII S. 197. So im "Doktor Faustus", GW VI S. 424.
22. .,Der ErwShlte"
271
wie bereits der Titel des Romans andeutet, 'erwählt'. Gregorius wird von Gott "auf den Thron der Throne erhöht".292 Wie in diesem Bild beschreibt ihn der Roman mehrfach als .,König". Er wird von allen Rängen des Volkes begrüßt 293 und feiert seine "Krönungsmesse".294 Darüber hinaus hat er Vorrang vor den weltlichen Herrschern; er ist der König, der 'ob allen Völkern herrscht'.29S Damit wird Gregorius zum denkbar mächtigsten Monokraten und überflügelt die Herrschergestalten in anderen Werken Manns. Gregorius ist ein "sehr großer Papst",296 dessen Werke mit den Taten des Herkules verglichen werden. 297 Er weidet die "Herde der Völker";298 ein ins Überdimensionale übertragenes Bild aus den JosephRomanen. An Joseph erinnert auch seine Politik gegenüber den "Dynasten und trotzigen Barone(n) des flachen Landes", die er "durch gutes Zureden oder durch stärkere Mittel" dazu bestimmt, "ihre Castelle zu übergeben", ohne daß hier mit ebensolcher Deutlichkeit wie in ,,Joseph der Emlihrer" angegeben wäre, welcher Mittel er sich dazu bediente. Ähnlich wie dort werden die Besitztümer "als Lehen" rückübertragen, hier indessen als Lehen der Kirche und zwar an die früheren Eigentümer, also nicht zum Zweck der Umverteilung. Es steht vielmehr die Erziehung dieser Personen zu "Leuten und homines Petri" im Vordergrund.z')9 Wird seine Stärke hervorgehoben, so sind es doch Milde und Demut, aus denen der Ruhm dieses Papstes erblüht. Sie bestimmen auch seine "Entscheidungen und Urteile, die ausgingen von seinem Richterstuhl".300 Deutlich gibt Thomas Mann zu erkennen, daß er das Recht nicht als obersten Wert bestimmt: .,Das Recht ist von schwieliger, harter Hand, die Fleischeswelt aber bedarf einer zwar festen, doch weichen. ,,301
292 GW VII 293 G W VII 294 GW VII 29S GW VII 296 GW VII 297 GW VII 298 GW VII m GW VII 300 GW VII 301 GW VII
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
235. 236. 237. 236. 238 und Überschrift S. 234. 238. 238. 238. 239. 242.
272
Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
Zuweilen gehe die Notwendigkeit vor dem Gesetz,302 erklärt Gregorius, und es tue dem Recht nur wohl, wenn es eine Ausnahme erleide. "Darum ist's große Politik, daß Gnade vor Recht gehe", lautet die Folgerung..J03 Hieraus erwächst die Zuneigung der Untertanen für ihr Oberhaupt, die eine weitere Befestigung seiner Herrschaft nicht notwendig macht. "Der (... ) wird gern gehört, den man liebt",304
beruft sich der Autor auf ein Sprichwort und umschreibt damit, auf welcher Basis die Herrschaft des 'Erwählten' ruht. 305 Demokratische Ansätze finden sich in dieser späten Erzählung nicht. Durch Eignung und Gnadenwahl wird hier ein Individuum zum Alleinherrscher bestimmt. 23. Thomas Manns Kritik an den amerikanischen Verhältnissen und seine Sorge über die Entwicklung der Demokratie nimmt in der folgenden Zeit zu 306 und findet ihren Ausdruck etwa in dem offenen Brief "I eh s tell e fes t . .. " aus dem Jahr 1951. Er betont darin, er wolle mit seinen persönlichen Bemühungen um den Frieden von einer Amerika unliebsamen Propaganda unabhängig bleiben. 307 Jedoch könne er
302 GW VII S. 240. 303 G W VII S. 242. 304 GW VII S. 242. 305 Karst sieht (S. 212) in dem Roman die Versöhnung des Individualismus und der Anhllnglichkeit an die soziale Gemeinschaft. 306 ,,( ••• ) die politische Luft more and more unbreathable wird", Brief an Theodor W. Adorno vom 9.1.1950, Briefe III S. 128; der kalte Krieg ruiniere die Demokratie in Amerika, s. Brief an Agnes E. Meyer vom 27.3.1950, Briefe III S. 141; Brief an Walter H. Perl vom 25.3.1950, Briefe III S. 140; "um die Demokratie steht es schlecht", Brief an Emil Belzner vom 7.10.1950, Briefe III S. 168; im Brief "To the Editors 0/ »The Nation«" vom 3.11.1950, Briefe III S. 173, erwähnt Thomas Mann ebenfalls "die Gefahren, die der amerikanischen Demokratie und der Demokratie überhaupt aus dieser Unglückskonstellation, genannt »der kalte Krieg« erwachsen (... )", und er lobt die Kritik "an den Schwächen und moralischen Inkonsequenzen unserer Innen- und Außenpolitik, an unserer unheimlichen Neigung, die Demokratie zu opfern, indem wir sie zu verteidigen glauben und im Kampfe gegen den Kommunismus zu seinen Methoden kondeszendieren; unserer erschreckenden Bereitwilligkeit, zu Hause das Menschenrecht verkümmern zu lassen, die Gedankenfreiheit aufzugeben, einen unmöglichen Konformismus polizeilich zu erzwingen, der Denunziation freies Spiel zu lassen und Dissidenten erbarmungslos in die ökonomische Wüste zu schicken (... )"; vergl. Brief an Agnes E. Meyer vom 7.12.1951, Briefe III S. 234. 307 GW XI S. 797 (= "An die Redaktion des »Aufbau«").
23. "Ich stelle fest ... "
273
nicht "Reisekamerad" sein, wo die Reise ins Totalitäre gehe. Gegen die in der Presse gegen ihn erhobenen Vorwürfe wehrt er sich: "Exkommunistische Renegaten und frOhere Sowjet-Spione - gelernte Verräter durch die Bank! - werfen sich auf und werden akzeptiert als Hauptverteidiger der Demokratie."»! Die Enttäuschung über die Entwicklung der politiSChen Verhältnisse in Amerika sind schließlich auch motivierend für seine Rückkehr in die Schweiz,309 wenn er sich auch offiziell nicht auf politische Gründe berufen mag. 310 Würde er den Kampf für die Demokratie erneut aufnehmen, diesmal gegen eine totalitäre Tendenz in Amerika, fürchtet er noch einmal zum Märtyrer zu werden. 311 Die Verhältnisse in der Bundesrepublik betreffend, begrüßt Thomas Mann das Streben der Arbeiter nach politischer Mitbestimmung. Soweit es um politische, nicht wirtschaftliche Zwecke geht, hält er den Streik dazu für ein geeignetes Mittel: "Was für eine Dreistigkeit von diesem Adenauer, zu behaupten, nur um der Löhne und der Arbeitszeit willen dOrfe man in Strike treten! Es handelt sich darum, die Ruhr-Barone nicht wieder zur entscheidenden politiSChen Macht werden zu lassen; denn buchstäblich haben diese Raffer und unverbesserlichen Gewaltmenschen Deutschland in zwei ruinöse Kriege gestürzt. Wohl dem Lande, wo die Arbeiter nicht nur an Löhne denken, sondern politisches »Mitbestimmungsrecht« erstreben und erzwingen!,,312
»! GW XI S. 798. 309 Den Gedanken, Amerika wieder zu verlassen, iiußert Thomas Mann bereits im Brief an Theodor W. Adorno vom 11.7.1950, Briefe III S. 158. 310 "Nichts von Politik! Sie spielt dabei keine Rolle. Ich berufe mich darauf, daß ich immer gesagt habe, ich wünschte mir, meinen letzten Lebensabend in der Schweiz zu verbringen", Brief an Duo Basler vom 19.11.1950, Briefe III S. 174.
311 Brief an Walter H. Perl vom 25.3.1950, Briefe III S. 139: ,,( ... ) ich bin nicht im Begriffe, zum Märtyrer für eine Sache zu werden, die nicht die meine ist, nämlich ror den totalen Staat, dessen Parteigänger ich nie sein kann. Aber im Begriffe, zum Märtyrer zu werden, ist hier jeder, der sich gegen die Zerstörnng der Demokratie wendet, die, unter dem Vorwand sie zu schOtzen, in vollem Gange ist (... ). Geht jetzt die Mundt-Nixon-Bill durch, so fliehe ich Hals Ober Kopf mitsamt meinen sieben Ehrendoktoren". 312 Brief an Agnes E. Meyer vom 31.1.1951, Briefe III S. 187; zu Adenauer s.a. Brief vom 10.6.1955, Hesse-Briefe S. 176 und Briefe III S. 402 bez. des SO. Geburtstags: "Aber gesagt will sein, daß auch ein gemessenes Telegramm von dem deutschen Bundesminister für Kultur [in der zweiten Quelle richtig verbessert: des Inneren], Schröder, kam. Er muß die Erlaubnis dazu Adenauern in einer ernsten Unterredung abgerungen haben"; im Brief vom 5.7.1954, Ber-
274
Vierte Phase: Nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Demokratisierung wird hier in einem ihrer Kernbereiche, der Mitbestimmung, bejaht, was in den 'Betrachtungen' noch undenkbar gewesen wäre.
24. In dem Schreiben A n ein e n j u n gen Ja pan e r 313 lehnt Thomas Mann nochmals ausdrücklich den totalen Staat ab: "Der totale Staat und seine Praktiken sind mir in tiefster Seele fremd und unheimlich, und mit Grauen sehe ich dem Heraufkommen einer Massenwelt entgegen, in der die Menschen, unter starre Dogmen gebeugt, auf ärmlichstem geistigen Niveau ein der Freiheit völlig entfremdetes Leben führen."314 Dennoch gesteht er dem Kommunismus als Gegner einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die "durch ein Übermaß von Merkmalen der Korruption und Verrottung" den Namen >Ordnung< mehr und mehr verwirkt habe, ein gewisses moralisches Recht zu. 31S Da er mit seinen Gesinnungen und Gefühlen "zwischen den Lagern" stehe, schlage er sich zur "Partei der Menschheit", beteilige sich an keiner Kollektiv-Aktion mehr und sage "unabhängig und allein", was er zu sagen habe. 316
25. Wie stark Thomas Mann sein öffentliches Eintreten für die Demokratie in dieser letzten Phase selbst relativiert hat, geht aus einer Stelle des Vortrags "Der Künstler und die Gesellschaft" vom September 1952 hervor, in dem Thomas Mann erklärt, der Faschismus habe ihn durch seine Siege und seine Niederlage "mehr und mehr auf die linke Seite der Gesellschaftsphilosophie getrieben und mich tatsächlich teilweise zu einer Art von Wanderredner der Demokratie gemacht (... ), - eine Rolle, für deren Komik ich, selbst zur Zeit meines leidenschaftlichsten Verlangens nach Hitlers Untergang, nie ohne Blick war. ,,317
mann-Briefe S. 623 äußert Mann seinem Verleger gegenüber, daß er das "Adenauer'sche Verdienstkreuz" im Gegensatz zum französischen pour le merite ablehnen würde. 313 1951; zu Japan, "eine konstitutionelle Monarchie mit Parlament und einer sozialistischen Partei, - ein Land, in dem gleichwohl unter der demokratisch angepaßten Oberfläche viel vom alten Ritter-Geist des Samurai-Adels (... ) lebendig geblieben war", das Mann an das deutsche Kaiserreich vor dem ersten Weltkrieg erinnert, s. "Ein Neujahrsgruß an Japan", 4.12.1947, Texte TB VII S. 910, 912.
314 GW XII S. 696. 315 GW XII S. 969 f. 316 GW XII S. 970. 317 GW X S. 397.
275
25. "Der Künstler und die Gesellschaft"
Es stehe fragwürdig um seine Haltung, "um alles, was Optimismus, Demokratismus, Menschheitsgläubigkeit an ihr ist meine> World Citizenship,von deutscher Republik« hervor. Ich hatte einfach etwas gelernt, - was viele andere nicht getan hatten", An C. B. BouteII, Briefkonzept vom 21.1.1944, Briefe II S. 353; vergl. Briefkonzept für Reinhold Niebuhr vom 19.2.1943, Briefe II S. 301: "Wäre ich auf der Stufe der »Betrachtungen eines Unpolitischen«, die schließlich kein antihumanes Buch waren, stehen geblieben, so hätte ich mit derselben Wut und mit derselben Berechtigung gegen diesen Greuel Stellung genommen, wie ich es als »Demokrat« - sit venia verba - heute tue"; siehe auch den Rundbrief in Texte TB IV S. 878, in dem Mann einräumt, er sei ein Schriftsteller, dem Politik lange eine fremde, den KilnstIer nicht kilmmernde Sphäre gewesen sei; die Heimsuchung Deutschlands habe "diesen ursprilnglich unpolitischen Schriftsteller zu einem aus tiefster Seele protestierenden gemacht"; siehe auch "Lebensabriß", GW XI S. 136, in dem er schreibt, er habe den Zwang zum "Übergange aus dem Metaphysisch-Individuellen ins Soziale unter heftigen Kämpfen am eigenen Leibe erfahren". 63 Ansprache auf dem >Weltkongreß der Schriftsteller< in New York, Texte TB IV S. 897; Brief vom 8.2.1947, Hesse-Briefe S. 126 unter Berufung auf Goethe: »Er hat wiederholt seine Meinungen gewechselt, aber nie seine Gesinnungen«. 60 61
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PhasenObergreifende Fragen
grundsätzlich Zweifel,64 so sollte doch die Möglichkeit einer Kontinuität nicht schon aus diesem Grunde ausgeschlossen werden. 65 Allerdings läßt auch die Annahme einer Kontinuität Thomas Mannsehen Politikverständnisses zwei Deutungen zu. Eine Reihe von Vertretern der 'Kontinuitätslehre' nehmen an, Thomas Mann habe schon zur Zeit der 'Betrachtungen' so gedacht wie später, seine Gedanken lediglich in andere Worte gefaßt. 66 Demgegenüber behaupten andere Anhänger dieser Lehre, Thomas Mann habe auch nach dem Bekenntnis zur Demokratie im Grunde noch den alten Gedanken der 'Betrachtungen' angehangen. Deutliches Beispiel der ersten Ansicht ist etwa Martin Flinker, demzufolge Thomas Mann nie ein fortschrittsfeindlicher Reaktionär war, er darum auch keine Wandlung durchzumachen hatte. 67 Sein politisches Denken sei immer geradlinig verlaufen. 68 Diese Ansicht geht allerdings von der überraschenden, kaum nachvollziehbaren These aus, die 'Betrachtungen' seien "das schönste Plaidoyer für die Demokratie"69. Für BitterlfO ist Thomas Manns Entwicklung ebenfalls von erstaunlicher Kontinuität, man sei immer wieder überrascht, mit welcher Konsequenz der Dichter auf frühere Gedanken zurückgreife, sie den Erfordernissen der Aktualität anpasse und so fruchtbar werden lasse. 71 Ein solches Element der Kontinuität ist das der Humanität. Seine Vorstellung von Humanität hat Thomas Mann zu allen Zeiten gegen die verschieden-
64 Schröter S. 452 (Nachwort), der S. 451 auf Luk.ks Äußerung hinweist, es sei immer falsch, bei der Interpretation bedeutender Schriftsteller von deren theoretischen Aussagen auszugehen; vergl. Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen S. 61; Thomas Mann verneint eine 'geschickte Erfolgsorganisation' mit Vehemenz, so im Brief an Friedrich H. Weber vom 18.7.1954, Briefe III S. 349. Gisselbrecht halt S. 313 die Unterscheidung, gewandelt habe sich der »Gedanke«, nicht aber der »Sinn« ror allzu haarspalterisch. 65 de Mendelssohn S. 1043 halt den Satz Thomas Manns: »Ich hatte einfach etwas gelernt« ror richtig und eminent glaubwOrdig. 66 Nach Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen S. 62 hat sich zwar Thomas Manns geistige Grundhaltung nicht geandert, jedoch sei es zur völligen VertaUSChung der Termini gekommen. 67 Flinker S. 21. 68 Flinker S. 95. 69 70
Flinker S. 127. Bitterli S. 102.
Bauer S. 47 findet in den 'Betrachtungen' kein Wort, das sich aus der wunderbaren Geschlossenheit eines Lebenswerkes lösen ließe. 71
2. Wandlung Thomas Manns?
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sten Gegner verteidigt. n Auch für Perl 73 handelt es sich um eine organische Entwicklung, in der von keinem überstürzten Wechsel die Rede sein kann, sondern lediglich von einer immer sich steigernden Vertiefung humanistischer Gesinnung. Lebensschicksal, politisches Bekenntnis und künstlerisches Werk stellten eine Einheit dar. 74 Demgegenüber meint die oben erwähnte Richtung der 'Kontinuitätslehre' bei Thomas Mann auch in späteren Jahren noch die in den 'Betrachtungen' dargelegten Gedanken wiederzuerkennen. Thomas Mann sei seiner in den 'Betrachtungen' geäußerten Grundentscheidung gegen eine »Politisierung der Kunst« bis zum Lebensende treu gewesen,15 er sei Zeit seines Lebens ein Unpolitischer geblieben. 76 Heinrich Mann betonte bereits 1927, sein Bruder sei von seiner angeborenen geistigen Haltung niemals auch nur einen Millimeter abgewichen. TI Noch weitergehend ist für Fest78 fraglich, ob von einem wirklichen Wandel der Grundüberzeugungen gesprochen werden könne und ob die Bekentnisse zur Demokratie nicht nur mühsamer »Gewissensdienst« gewesen seien. 79 Jedenfalls habe die so spektakulär empfundene Wendung von 1922 im gesamten erzählerischen Werk keinen merkbaren Widerhall gefunden. 80 Für Wisskirchen entlarvt die ästhetische Struktur des 'Zauberberg' die Wendung zum Demokratischen endgültig als eine oberflächliche; er spricht von einer Spaltung der Weitsicht in eine öffentliche und eine private. Der »Wanderredner der Demokratie« und der eigentliche Thomas Mann differierten stark. 81 Es gebe bei ihm sein ganzes Leben lang - keine Entwicklung, keine Bekehrung, keinen
n Schröter S. 455 (Nachwort), wobei er allerdings von einem sich wandelnden Humanitätsbegriff ausgeht. 73 Perl S. 8. 74 Perl S. 5. 75 Mörchen S. 29. 76 Nach Berendson S. 142 ist Mann zeitlebens ein unpolitisch denkender Mensch gewesen; vergl. MiJrchen S. 35. TI Heinrich Mann 1927 in einem Gespräch mit Willy Haas, abgedruckt in SchriJter S. 159. 78 Fest S. 21. 79 Fest S. 23. 80 Fest S. 24; vergl. Michael S. 51. 81 WlSskirchen S. 134, der (S. 137) die Kontinuität des Thomas Mannschen Denkens zwischen den beiden Kriegen betont.
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Phasenübergreifende Fragen
Parabelweg. 82 Thomas Mann habe auch seine 'Betrachtungen' nie verleugnet,83 er habe niemals irgend etwas Wichtiges wirklich zurückgenommen. 84 Diese Autoren gehen meist von einem konservativen, ja reaktionären StaatsbegrifflS aus, dem Mann treu gewesen sei. Im Grunde seines Herzens sei Thomas Mann immer Monarchist geblieben, schreibt sein Sohn Golo Mann. 86 Neben den drei Extrempositionen gibt es eine Reihe von Sonderansichten, die weder eine direkte und logische Fortsetzung der Argumentationskette der 'Betrachtungen' in der Rede" Von deutscher Republik" sehen, noch eine strikte Abkehr.87 Walser schreibt, in der Rede " Von deutscher Republik" sehe es so aus, daß Mann sich schlicht in einen Demokraten verwandeln wollte, es sei ihm aber einfach nichts eingefallen für die Demokratie. 88 Kurzke hält es für notwendig, das übliche Entwicklungsschema einer allmählichen Wandlung Thomas Manns vom Unpolitischen zum Demokraten und schließlich zum Sozialisten zu revidieren. Es handle sich weniger um eine kontinuierliche Politisierung als um ein lebenslanges Spannungsverhältnis zwischen ästhetischem Konservativismus als Liebe und Politik als Pflicht. 89 Zu wenig beachtet wird von all diesen Ansichten der Umstand, daß in der Weimarer Republik die Demokratie nicht in der Weise verwirklicht wurde, wie es den Vorstellungen des 'Zivilisationsliteraten' in den 'Betrachtungen' und damit Thomas Manns Befürchtungen entsprach. Da Staat und Gesellschaft auch in der Demokratie getrennt bleiben sollten,90 der Reichskanzler als starke Führungspersönlichkeit ausgestaltet
82
Fest S. 63.
83 Michael S. 50 f. Mayer, Vorwort zu "Heller Zauber" in: Kolbe / Bittel S. 15. 85 Schröter S. 458 (Nachwort). 86 Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken S. 21 f. 87 Eichner, in: Schulte / Chapple S. 14 f.; siehe auch Pringsheim, in: Schulte / Chapple S. 20: "gradual transformation". 88 Walser in: Schulte /Chapple S. 128; verg\. Diersen S. 133 (die Öffentlichkeit habe eine Wandlung annehmen müssen, da sie nur die konservative Seite Manns kennengelernt habe). 89 Kunke, Einleitung zu den Essays S. 18. Bril/ meint (S. 367), drei Stufen der Auffassung der juristiSChen Probleme des Staates erkennen zu können: "Königliche Hoheit" sei die Stufe der geruhigen und besinnlichen Betrachtung, der Roman "Der Zauberberg" die Stufe des krankhaften Aufgewühltseins, der Roman "Doktor Faustus" die Stufe der deutschen Tragödie. 90 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI S. 137. 84
3. Demokratisierung
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war und der Staat gegen Parteienallmacht abgeschirmt, insbesondere Verwaltung und Justiz von Parteieinfluß freigehalten werden sOllten,91 stellten sich Manns Bedenken in diesen Punkten als unbegründet heraus. Indem sich die Weimarer Demokratie für Thomas Mann durchaus akzeptabel präsentierte, ist die 'Wandlung' nicht so weitgehend, wie überwiegend in der Sekundärliteratur angenommen wird. Goethes Formulierung einer 'Dauer im Wechsel'92 scheint mir Thomas Manns Verhältnis zur Demokratie treffend zu bezeichnen. Bei zweifellos wechselnder Haltung zu den Staatsformen sind es gewisse Grundvorstellungen Manns, die er durchgehend von einem Staatswesen hatte. Sie sind, im Widerspruch zu juristischer Methodik, bei ihm nicht an eine bestimmte Begrifflichkeit gebunden. Primär war für Mann der materiale Inhalt eines Staates, sekundär die Staatsform, die formelle Herrschaftsausübung.
3. Demokratisierung Wenn Thomas Mann in den 'Betrachtungen' gegen die "Demokratisierung" Deutschlands kämpft, so lehnt er sich nicht gegen demokratische Verfahrensweisen wie das gleiche Wahlrecht auf, sondern gegen die Durchdringung des gesamten sozialen Lebens mit dem Gedankengut des "Zivilisationsliteraten". 'Demokratisierung' ist bei Thomas Mann das Wort des Zivilisationsliteraten für Vorgänge wie Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung und Radikalisierung Deutschlands. Gegen die "Gesamtpolitisierung des Menschen" hat Thomas Mann sich auch nach der Hinwendung zur Demokratie entschieden eingesetzt. 93 So willkürlich diese Gleichsetzung zunächst erscheint, zeigt ein Blick auf die Demokratiediskussion vor allem Ende der 60er Jahre, wie häufig eine Ausdehnung demokratischer Vorstellungen auf verschiedene gesellschaftliche Lebensbereiche gefordert wird, ja eine umfassende Ausrichtung des gesamten sozialen Lebens nach demokrati-
91 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI S. 137. 92 Das Gedicht Goethes: "Hielte diesen frühen Segen ... " wurde offenbar von Mann selbst geschätzt, wollte er es doch in eine Goethe-Anthologie aufnehmen, Texte TB VII S. 903. 93 So noch der Brief an Heinz-Winfried Sabais vom 9.2.1948, Briefe III S. 19, dessen Sorge um die "Sicherung der Persönlichkeit vor der Übermacht des sozialen Organisationsapparates« er teilt und der "vor der Gesamtpolitisierung des Menschen und dem daraus resultierenden Machiavellismus" er beipfliChtet, "Das menschliche Gewissen sollte nicht ins Polit-Bureau verlegt werden (... )".
298
Phasenübergreifende Fragen
sehen Prinzipien. Damit erscheint Thomas Manns Warnung bei aller Bedenklichkeit seiner Aussage nicht ohne prophetischen Wert. Inzwischen hat die Demokratisierungsdiskussion allerdings an Schärfe wieder verloren. Der moderne Demokratisierungsbegriff hat sich aus der Vorstellung entwickelt, der Staat müsse für das Volk geöffnet werden. Erst später wurde umgekehrt gefordert - und erst hierauf bezieht sich die Warnung Thomas Manns -, die Gesellschaft politischen Grundsätzen zu öffnen. Thoma im Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung versteht unter Demokratisierung noch das "Wagnis der abendländischen Zivilisation, die handarbeitenden Klassen (... ) zu gleichem Rechte in den Staat hineinzunehmen".94 Eine andere Vorstellung von Demokratisierung bezog sich auf die partei pOlitische Durchdringung des ganzen Staatsvolkes, die mit der Entwicklung der Massenparteien parallel ging. 95 Die moderne Vorstellung von Demokratisierung ist dagegen besonders deutlich von Willy Brandt ausgesprochen worden, der Demokratisierung als ein Prinzip definiert, das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinflussen und durchdringen müsse. 96 Gefordert wurde die Demokratisierung hauptsächlich zur "Überwindung des Untertanengeistes,,97. In Anwendung dieses Grundsatzes wurde die Demokratisierung der Schule und Hochschule ebenso gefordert wie die Demokratisierung der Verwaltung,98 die Demokratisierung der Wirtschafts- und Arbeitswelt in der Form der Mitbestimmung, ja selbst die 'Demokratisierung der Demokratie'99 und schließlich die Demokratisierung der Familie. Das Extrem ist erreicht mit dem Gedanken der Demokratie als "Lebensform"loo. Gegen eine Demokratisierung in so umfassendem Sinne hat vor allem Hennis im Sinne Thomas Manns Stellung bezogen. Er unter-
94
Thoma S. 189.
95
Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI S. 130. Brandt S. 46.
96
97 Brandt S. 46. 98 Kelsen / Merkl-Konzept, Pernthaler S. 268, 270 99
f. (auf Österreich bezogen).
Bracher, Zeit der Ideologien S. 332.
100 Zitiert nach Stern S. 630; nachdem die Entwicklung in der politischen Sphäre ihren Endpunkt erreicht habe, würden die unpolitischen Bereiche des Lebens einer radikal-egalitären Entwicklung unterworfen, der Demokratisierungsprozeß wirke aufgrund einer ihm innewohnenden Dynamik weiter fort, schreibt Leibholz, Strukturprobleme S. 149 f.
3. Demokratisierung
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scheidet drei Varianten des Sprachgebrauchs von Demokratisierung. Im ersten Sprachgebrauch ist Demokratisierung nichts als eine leere Parole, ein Synonym für mehr Liberalität, Offenheit, für ein 'besseres Betriebsklima'; 'demokratischer machen' heiße dort nichts anderes als 'besser, freiheitlicher machen'.lol Im zweiten Sprachgebrauch sollen Machtverhältnisse wie z.B. in der Familie oder der Universität im Sinne der pOlitischen Demokratie demokratisiert werden, d.h. die Herrschaftsverhältnisse nicht abgeschafft, aber auf Freiheit und Gleichheit, Verantwortlichkeit und Öffentlichkeit gegründet werden. 102 Letztlich handle es sich hier meist um eine eher ständestaatliche Zuteilung von Einflußsphären nach paritätischen oder proporzmäßigen Kriterien. In einem dritten Sprachgebrauch werde Demokratisierung als ein Prozeß angesehen, in dessen Folge Herrschaft überhaupt abgeschafft werde. Diese "Radikaldemokratisierung" nehme das Prinzip der Gleichheit radikal und verstehe unter Demokratisierung die Beseitigung jeder Herrschaft. Hennis' Bedenken gegen die Demokratisierung, die er übrigens "im Interesse der Demokratie"103 äußert, gründen sich zunächst auf den bedenkenlosen Sprachgebrauch. Der "brave Politiker", der den Begriff im ersten [und zweiten] Sprachgebrauch verwende, leiste damit der "neomarxistischen Demokratisierungsforderung des dritten Sprachgebrauchs" Hilfe. Wer gegen den Begriff der Demokratisierung Zweifel ins Feld führe, laufe Gefahr, "faschistoider" Gesinnung bezichtigt zu werden. 104 Hennis zufolge müssen indessen Zweifel geäußert werden, da das, was sich hinter diesem Begriff verberge, auf die Preisgabe der abendländischen pOlitischen Kultur hinauslaufe. Ist hier schon die Verwandtschaft zu Thomas Mann recht deutlich, so treffen sich beide in der Feststellung, die Demokratisierung eines Sozialbereichs bedeute im strikten Sinn zunächst einmal seine Politisierung. IOS Ganz im Geiste Thomas Manns in den 'Betrachtungen' stellt Hennis fest, die abendländische Sozialordnung sei seit der Antike 101 Hennis S. 15. 102 Hennis S. 16 f. 103 Hennis S. 2l. 104 Hennis S. 2l. lOS Hennis S. 24, worunter er die Unterwerfung des Sozialbereichs unter die im Bereich der Politik maßgeblichen Prinzipien und die Herstellung einer Gleichheit aller im Sozialbereich Tätigen versteht; wobei noch das Prinzip der Mehrheitsentscheidung hinzuzufügen wäre; daß die Demokratisierung auf POlitisierung ziele, schreibt auch Badura, Die politische Freiheit in der Demokratie S. 196.
300
PhasenObergreifende Fragen
durch die Unterscheidung von Politischem und Nichtpolitischem bestimmt;l06 die "abendländische Politik" sei zu verstehen als der Kampf um die Grenze zwischen dem politischen und dem nichtpolitischen Bereich, und er kommt zu dem Ergebnis, der freiheitliche Charakter unserer freiheitlichen politischen Ordnung werde wesentlich durch diese Unterscheidung bestimmt, die sich in modernen Begriffen mit denen des Öffentlichen und des Privaten decke. 107 Stern knüpft an die Gleichsetzung von Demokratisierung und Politisierung bei Hennis an. Demokratisierung bedeute die Unterwerfung dieses Bereichs unter die politischen Gesetzlichkeiten und damit unter das Gleichheits- und Mehrheitsprinzip. Diese Grundsätze eigneten sich für die Willensbildung im Staat. An einer substantiellen Gleichheit wie dort fehle es jedoch für die in funktionaler Differenzierung lebenden Sachbereiche der Kultur und Wirtschaft. lOS Die Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG betreffen nur den Staat bzw. den Staat und kommunale Gebietskörperschaften. 109 Es handle sich um pOlitische Programme, die nicht aus der Verfassung oder aus der Staatsform ableitbar sindYo Zwar verschaffe Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG dem Demokratiegebot auch im gesellschaftlichen Bereich Geltung, wie auch die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht durch einen Zusatz "des Staates" im Grundgesetz auf den staatlichen Bereich beschränkt sei, bestimmte materiale Wertentscheidungen daher auch den Bereich der Gesellschaft erfassen müßtenYI Doch könne dieses Argument nicht über den engen Bereich der politischen Parteien hinaus ausgedehnt werden. 112 Zu Recht wird immer wieder betont, Partizipation als solche stelle noch keinen Wert dar, sie bedürfe vielmehr sowohl der anerkannten Regeln wie auch der geeigneten Strukturbedingungen. 113 Bedenken gegen die Demokratisierung werden vor allem im Zusammenhang mit den jeweiligen Institutionen geltend gemaCht, bei denen sich vielfach sachliche Grenzen einer Demokratisierung ergeben, wie etwa in der
106 Hennis S. 24. 107
Hennis S. 29.
lOS Stern S. 632. 109 Stern S. 631. 110 Badura, Die politische Freiheit in der Demokratie S. 196. m Stern S. 569. 112 113
Battis /Gusy Rdnr. 55. Bracher, Zeit Ideologien S. 245.
3. Demokratisierung
301
Schule, wo in der Entwicklung stehende Menschen betroffen sind. 114 Der Staat dürfe sich durch die Demokratisierung nicht in politisch nicht mehr beeinflußbare Subsysteme auflösen und damit handlungsunfähig werden, m wird als weiteres Gegenargument genannt. Die Demokratisierung der Universität lehnt etwa Thieme als sachfremd ab. Das Wort 'Demokratisierung' passe schon deshalb nicht auf die Universität, weil kein Universitätsmitglied seine Mitgliedschaft kraft demokratischer Legitimation erlangt habe, vielmehr Sachverstand etc. maßgeblich seien. Bei der Verwendung des Begriffs handle es sich um die "Erschleichung höherer Legitimität durch Verwendung des politischen Höchstwertes »Demokratie« auf Prozesse, die nichts damit zu tun haben". 116 In diesem Sinne weist Leibholz darauf hin, die autonomen Lebensbereiche wie Universitäten, Justiz und Kirchen bedürften einer verantwortungsmäßig gebundenen Freiheit, um ihre Funktionen im gesellschaftlichen Bereich zu entfalten. l17 Nicht nur die Demokratisierung einzelner Institutionen, sondern vor allem die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft wird häufig abgelehnt. Grundforderung ist die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Gesellschaft, die von den Gegnern der Demokratisierung als Bedingung der Freiheit angesehen wird. 118 Eine politische Ordnung, die die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht kennt, läßt sich demgegenüber als "totalitäres Regime" bezeichnen. 1l9 Von einigen Autoren wird unter Demokratisierung nicht nur ein ähnlich umfassendes Phänomen verstanden wie in den "Betrachtungen eines Unpolitischen ", vielmehr entspricht auch ihre hiergegen gerichtete Motivation der von Thomas Mann.
Oppermann, Bildung S. 795. m HeckellAvenarius S. 20. 116 Thieme S. 95; vergl. Karpen S. 19: wo die Grenze zwischen repräsentativer Demokratie, "Demokratisierung" und unmittelbarer DemOKratie verlaufe, wisse man heute - gerade in der Hochschule - kaum mehr; sowie Turner S. 30. 111 Leibholz, VVDStRL 29 (1971) S. \05. 118 Stern S. 633; Battis IGusy Rdnr. 50: die Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den Mechanismus der Mehrheitsentscheidung bedeute das Ende individueller Freiheit. 119 Pernthaler S. 192; Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie S. 69: dieser allgemeine Politisierungsprozeß habe dort, wo er zu politischer Wirklichkeit geworden sei, ein radikaleres und zentralistischeres Gepräge geboten als zu Zeiten der Monarchie und des Polizeistaates. 114
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PhasenObergreifende Fragen
Wie sich bei der Berufung der Demokratisierungsgegner auf die Freiheit zeigt, hat die Demokratisierungsdiskussion mit dem Streit um Freiheit und Gleichheit manches gemeinsam. Eine übertriebene Demokratisierung ist zweifellos geeignet, das Gleichgewicht zwischen Freiheit bzw. Individualität und Gleichheit zu zerstören. Letztlich handelt es sich bei der Frage, wie weit die Demokratisierung im jeweiligen Bereich reichen soll, weniger um ein juristisches, als um ein politisches, vom Parlament innerhalb des verfassungsrechtlichen Spielraums zu entscheidendes Problem. Ausgangspunkt muß unter dem Grundgesetz das Individuum sein (Art. 1 Abs. 1 GG), das indessen in die Gesamtheit eingebunden ist. Das Bundesverfassungsgericht sieht das Spannungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft durch das Grundgesetz im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden. 120 4. Wahlen Institutionellen Problemen der demokratischen Staatsform schenkte Thomas Mann wenig Aufmerksamkeit,121 daher kommt dem Wahlrecht als zu den administrativen Formalien gehörig, bei ihm keine große Bedeutung ZU. I22 Thomas Mann hat in der Weimarer Republik und als amerikanischer Staatsbürger im Exil regelmäßig von seinem aktiven Wahlrecht Gebrauch gemaCht, die Bedeutung auch der einzelnen Stimmabgabe für die Entwicklung der Politik und des Staates also zweifellos erkannt. Häufig setzte er sich für eine bestimmte Partei oder Person ein, wie für die Sozialdemokratische Partei gegen die Nationalsozialisten in der Weimarer Republik oder für Roosevelt und später Wallace als Präsidentschaftskandidaten in den USA und beteiligte sich durch seine Reden am Wahlkampf. Die Tagebücher spiegeln die Unruhe, mit der Mann die Ergebnisse der Wahlen in seinem jeweiligen Aufenthaltsstaat erwartete. Vielfach finden sich darüber hinaus Bemerkungen zum Wahlausgang in anderen Ländern. Desungeachtet stellen Wahlen für Thomas Mann keine Grundvoraussetzung der Demokratie dar. Die Zufälligkeit des Ergebnisses, die Wahlen in der Regel kaum abgesprochen werden kann, ist Manns Konstruktion von Machtübertragung fremd. Der Wille des Volkes wäre ihm unmaßgeblich erschienen, 120
BVerfGE 33, 303 ff. (334) m.w.N.
Bitterli S. 67. Ähnlich Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie S. 76; siehe auch Hel/mann S. 171 f., 182. 121
122
4. Wahlen
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wo einzig die Eignung des Amtsinhabers aufgrund Fähigkeit und Ausbildung maßgeblich sein sollte. Eigene Leistungen führen zu den leitenden Staatsämtern, allenfalls kommt noch ein Element der Gnadenwahl, ein dem Fähigen selbstverständliches glückliches Schicksal hinzu. Manns Zurückhaltung gegenüber dem Wahlrecht war, wie auch das Mißtrauen gegen den Parteienstaat l23 und gegen das MehrheitsprinZip,124 keine vereinzelte Ansicht. l25 Bereits Burke trifft die Feststellung, der Wille der großen Anzahl und ihr Interesse seien oft wesentlich verschieden. l26 Bei der Wahlrechtsreform in Preußen erhoben nicht nur die Sprecher der Konservativen und Freikonservativen noch in der ersten Lesung der Reformvorlagen vor dem Abgeordnetenhaus (im Dezember 1917!) Einwendungen gegen die vorgeschlagene Gleichheit des Wahlsystems, sondern auch die Vertreter der Mitte. 127 Später trug Max Weber die Ansicht vor, man könne Demokrat sein, ohne für das gleiche Wahlrecht einzutreten. l28 Tatsächlich büßten ja in der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Zeit die Mehrheitsentscheidungen ihre Autorität und Legitimität ein. l29 Vor allem in der nationalsozialistischen Doktrin findet sich dann die Auffassung, das Volk sei nicht die Summe der Wahl- und Stimmberechtigten, sondern "die geistige Gemeinschaft".13O Daher könne der wahre Wille des Volkes nicht durch parlamentarische Wahlen und Abstimmungen gefunden werden, vielmehr werde "der Wille des Volkes nur durch den Führer rein und unverfälscht hervorgehoben".!3! Selbst in neuerer Zeit wird darauf hingewiesen, daß Wahlen allein nicht das Kriterium der Demokratie sein könnten, wie gerade das Bei-
123 124
ZmarzJik S. 172. Keller S. 79.
125 So hielt etwa auch Hasbach (S. 2137 f., 298-303) das gleiche Wahlrecht für mit dem Liberalismus unvertraglich und forderte seine Abstufung nach Steuerleistung. 126 Burke, Betrachtungen über die französische Revolution S. 95. 127 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. V S. 482. 128 Weber S. 277 (Wahlrecht und Demokratie in Deutschland). 129 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI S. 43. 130 Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland S. 10 f. 131 Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches S. 194, vergl. S. 210; S. 194 unterscheidet Huber zwischen "dem angeblichen Volkswillen der parlamentarischen Demokratie und dem wahren Volkswillen des Führerreichs".
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Phasenübergreifende Fragen
spiel der Führerwahl zeige. \32 Auch das Grundgesetz traut des Volkes Stimme nur bedingt, wie sich aus der Konstruktion der indirekten Demokratie ergibt. Weder der Bundespräsident noch der Bundeskanzler werden direkt vom Volk gewählt. Zudem finden sich im geltenden Recht eine Reihe von Beispielen, in denen das Mehrheitsprinzip zugunsten eines "Qualitätswahlrechts" durchbrachen wird, wie Jacobs insbesondere im Arbeitsrecht, im Gerichtsverfassungs-, im Gesellschafts- und im Hochschulrecht nachgewiesen hat. Der Streit, ob Stimmen nicht nur "gezählt", sondern "gewogen" werden sollen, ist bis heute nicht verstummt; 133 Jacobs rechnet sogar mit einer Zunahme der Einschränkungen des Mehrheitsprinzips.l34
5. Formale oder materiale Demokratie? Charakteristikum einer Demokratie sind für Thomas Mann nicht mechanische Abstimmungen, sondern die inhaltliche Bestimmung des Staates. 135 Für Mann waren formale Elemente der Demokratie unmaßgeblich, ihr materialer Gehalt machte sie anderen Staatsformen gegenüber vorzugswürdig. Der Gegensatz von formaler und materialer Demokratie war damals wie heute umstritten. l36 Ein Ansatz im Sinne rein formaler Demokratie aus den zwanziger Jahren findet sich in Kelsens Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie". Kelsen wirft darin der bolschewistischen Doktrin vor, sie wolle unter dem Namen der Demokratie die Freiheitsideologie durch die Gerechtigkeitsideologie ersetzen. Demokratie bedeutet für ihn eine bestimmte Methode zur Erzeugung der sozialen Ordnung. Es sei daher ein Mißbrauch der Terminologie, das Wort Demokratie für einen Inhalt der sozialen Ordnung zu gebrauchen, der mit ihrer Erzeugungs-
\32
133
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Hättich S. 114. Jacobs S. 3207 mit Nachweisen in Fn. 21. Jacobs S. 3207.
135 Seid/in fOlgerte, an Thomas Mann anknüpfend, die Demokratie habe das Ganze, das Letzte von jedem Einzelnen zu verlangen. Dies habe nichts zu tun mit der Staatssklaverei des Faschismus, weil die Demokratie ihre staatlich-politische Erscheinungsform nie als ein Absolutes, einen Zweck an sich anerkennen werde (S. 123). 136 Für Leibholz (Strukturprobleme S. 154) ist die Frage, ob der Volkswille absolut ist, oder ob es Grenzen material-inhaltlicher Art gibt, letztlich eine glaubensm3ßig bestimmte.
5. Formale oder materiale Demokratie?
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methode in keinem Wesenszusammenhange stehe. 137 Auch bei völliger Vernichtung der individuellen 'Freiheit' sei Demokratie noch möglich. l38 Solche formalen Demokratiekonzeptionen werden für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich gemacht. Selbst betont republikanischen Interpreten der Weimarer Verfassung wird vorgeworfen, sie hätten in demokratischen Institutionen bloße Mechanismen zur Willensbildung des Volkes gesehen und der massiven Gegenfront der Staatsideologen der deutschnationalen Historiker und Juristen keinen substantiellen Demokratiebegriff, nicht eine 'Demokratie als politische Lebensform', entgegenzusetzen gewußt.\39 Auch bei Thomas Mann hat sich der materiale Gehalt des Demokratiebegriffs im Lauf der Zeit eher verstärkt; in den 'Betrachtungen' wird ein vergleichsweise mechanistischer Staatsbegriff vertreten. l40 Als formales Demokratiekonzept aus neuerer Zeit kann die Schumpetersche Definition angesehen werden, derzufolge die demokratische Methode diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen ist, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben}41 Ebenso ist für Forsthoff das demokratische Prinzip, wie es im Grundgesetz enthalten ist, ein reines Verfahrensprinzip, nach dem sich die Staatswillensbildung zu vollziehen hat. Dieses Prinzip habe Grenzen, die in Art. 79 Abs. 3 GG gezogen seien, es habe indessen keinen materiellen Gehalt. 142 Demgegenüber fußt die heutige Grundrechtsdogmatik auf der Vorstellung einer materialen Demokratie. Der Verfassungsgeber hat mit dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung die Demokratie inhaltlich (material) aufgefüllt und damit der relativen Demokratie, wie sie die Weimarer Reichsverfassung verstanden hat, eine Absage erteilt. 143 Die Bezeichnung 'Demokratie' in einem rein formalen Sinne lasse sich schließlich für jede Art der Repräsentation,
Kelsen S. 94. Kelsen S. 11. 139 Bracher, Staatsbegriff s. 82. 140 SeidJin S. 123. 141 Schumpeter S. 428. 142 Forsthoff VVDStRL 12 (1954) S. 127 f. 143 Stern S. 558; vergl. Peters, Demokratie S. 565. \37
138
Phasenübergreifende Fragen
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sogar für die durch einen im Wege der Akklamation von den Volksmassen bestätigten 'Führer' in Anspruch nehmen, heißt es in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. l44 Die Demokratie des Grundgesetzes ist nicht lediglich ein Komplex formaler Spielregeln; vielmehr konstituieren ihre Grundelemente eine Ordnung, in der sachliche Grundprinzipien, nämlich die der Freiheit und Gleichheit, konkreten Inhalt gewinnen. 145 Ausgangspunkt des grundgesetzlichen Rechtsstaatsbegriffes sind, wie bei Thomas Mann, Eigenwert und Eigenständigkeit des Menschen, die unantastbare Würde der menschlichen Persönlichkeit als des zentralen Werts. Stein sieht die Grundsätze der wertgebundenen Demokratie in der Menschenbezogenheit im Bekenntnis zur Würde des Menschen, der Sozialbezogenheit im Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit und der Machtbeschränkung des Staates im Bekenntnis zur allgemeinen Betätigungsfreiheit. l46 Alle drei Punkte wären von Thomas Mann unterschrieben worden. Allerdings hätte er sie nicht isoliert nebeneinandergestellt, sondern die Bedeutung der Demokratie gerade in Abwägung von sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit gesehen. Aus dem Bekenntnis zur wertgebundenen Demokratie habe das Grundgesetz die Folgerung gezogen, den Feinden der Demokratie nicht alle Grundfreiheiten zu gewähren, sondern sie ihnen gegenüber in der Verfassung einzuschränken und entschlossen gegen alle Angriffe zu verteidigen. 147 Die Demokratie läßt sich bei diesen Ansätzen als "normative Wertvorstellung" kennzeichnen. l48 Die Entscheidung für eine materiale Demokratie hat wohl auch Einfluß auf die Frage, inwieweit Staat und Gesellschaft voneinander getrennt werden können und sollen. Für Stern ist eine freiheitliche Demokratie u.a. nur dann geWährleistet, wenn bestimmte materiale Wertentscheidungen unabdingbar gelten, die über das Staatliche hinausreichen und auch den Bereich der Gesellschaft erfassen. Es müsse Werte geben, verbindlich und unantastbar für den einzelnen, die Gesellschaft und den Staat. 149 So sehr eine Durchdringung des gesamten Lebens in der materialen Demokratie durch deren Wertentscheidungen
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145 146 147
148 149
BVerfGE 5, 85 ff. (196) - KPD-Verbot.
Hesse Rdnr. 127. Stein S. 72 ff., 76 f. Stein S. 77. Pernthaler S. 196. Stern S. 569.
6. Freiheit und Gleichheit
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einleuchten mag, besteht hier m.E. die Gefahr, daß Stern mit seinen eigenen Vorstellungen in Konflikt gerät, erklärt er doch an anderer Stelle die verfassungs rechtliche Trennung von Staat und Gesellschaft zur Bedingung der Verfassung der FreiheiL 150 Vor der gewaltsamen Durchdringung der Gesellschaft mit pOlitischer Ideologie hat Thomas Mann gewarnt, noch bevor die faschistische Diktatur die Richtigkeit seiner Warnung offenbar werden ließ. Die Öffnung des Menschen für Werte der Humanität müßte seiner Vorstellung zufolge nicht durch zwangsweise Erziehung erfolgen, sondern durch Bildung des Menschen zu eigenständigem verantwortlichem Handeln.
6. Freiheit und Gleichheit Während die Begriffe Freiheit und Gleichheit für Thomas Mann zunächst im Verhältnis des logischen Widerspruchs zueinander standen, entwickelt er später den Gedanken eines möglichen Ausgleichs zwischen bei den Begriffen. 151 Die Freiheit gehört dabei zu den konstanten Grundwerten des Autors,152 während die Gleichheit erst später als ebenbürtiges Prinzip erkannt wird. Zunächst war ihm die Forderung, alle sollten an der Gestaltung der Politik mitarbeiten, unerträglich. Die Politik erschien ihm selbst als eine seine unpolitische Freiheit einschränkende lästige Pflicht. 153 Das Freisein von Herrschaft, vom Staat überhaupt, der staatsfeindliche Urinstinkt, der das Individuum gegen die Gesellschaft stellt,154 ist von Kelsen als germanische Freiheitsidee der antiken Idee der Freiheit entgegengestellt worden, die Freiheit als politische Selbstbestimmung des Bürgers ansieht. 155 Von seiner individualistisch-freiheitlichen Grundhaltung ist Mann nie ganz abgerückt, wenn er später auch die Verantwortung des einzelnen für das politische Geschehen erkannte und sie in weitem Umfang durch seine politi-
150
Stern S. 633.
Flinker S. 67. 152 Keller S. 59. 153 Keller S. 47; ilberraschenderweise leitet Kelsen S. 9 das Majoritätsprinzip aus dem Prinzip der Freiheit und nicht dem der Gleichheit ab, da es die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit bedeute und möglichst viele Menschen frei sein sollten. 154 Kelsen S. 6. 155 Kelsen S. 5. 151
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PhasenObergreifende Fragen
sehen Reden und Essays auf sich nahm. Vor allem die nationalsozialistische Diktatur hat seine "eingeborene Skepsis gegen das Organisatorisch-Corporative" verstärkt und ihn den Individualismus noch höher schätzen lassen. IS6 Die Forderung nach Gleichheit wurzelt zum einen im christlichen Humanismus, den Thomas Mann verschiedentlich anspricht, und ergibt sich zum anderen aus der Würde des Menschen. ls7 Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit wird bei Mann im Christentum überwunden. lss Demokratischer Geist bedeutet daher für Thomas Mann nicht allein das Wissen um die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit, sondern die aus dieser Einsicht entspringende Bemühung um Ausgleich im praktischen Leben. IS9 Seine späteren Reden sind von der Überzeugung getragen, die Synthese von Freiheit und Gleichheit lasse sich auch im staatlichen Bereich realisiefen und zwar in der von ihm postulierten Idealform, der sozialen Demokratie. Die Fragen nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit sind uralt. Auch Kant hat bereits dem Staat materiale Legitimität nur dann zuerkannt, wenn dieser sich die Erreichung einer Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit aller zum Ziele setze. l60 Bis heute sind die Meinungen kontrovers, wie ein Blick auf die neuere Demokratiediskussion zeigt. Die konträren Positionen sollen durch zwei Autoren veranschaulicht werden. Für Martin Kriele besteht zwischen Freiheit und Gleichheit nur eine Scheinalternative. 161 Wer sich für Freiheit entscheide, wähle in Wirklichkeit die Freiheit für einige und Unfreiheit für andere. Der Gegenbegriff zu Freiheit sei nicht Gleichheit, sondern Privilegien. Wer sich demgegenüber für die Gleichheit entscheide, opfere nicht nur die Freiheit, sondern zugleich auch die Gleichheit für ein Zweiklassen-System von Machthabern und Unterdrückten. Wichtigste Einsicht der politi-
IS6
S.26.
Dies schildert Thomas Mann selbst im Brief vom 16.11.1933, Faesi-Briefe
Vergl. Scharfschwerdt S. 229. ISS Nach Keller S. 59 durch die Verantwortung, die ihren Ausdruck in der "Moral als Gesellschaftsgeist" finde. IS9 Biuerli S. 66, das Spannungsverhältnis von Gedanke und Tat könne so in der demokratischen Staatsform und nur in dieser fruchtbar werden. 160 Zitiert nach Maihofer S. 207. 161 Kriele S. 59. IS7
6. Freiheit und Gleichheit
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sehen Aufklärung sei es gewesen, die Forderungen nach Freiheit und nach Gleichheit als einheitliche Forderung zu sehen. 162 Konträr dazu ist die Auffassung von Gerhard Leibholz. Für ihn stehen liberale Freiheit und demokratische Gleichheit zueinander im Verhältnis einer letzthin unaufhebbaren Spannung. 163 Freiheit erzeuge zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. l64 Dennoch isoliert auch Leibholz die beiden Grundwerte nicht voneinander, unterscheidet aber je nach dem Überwiegen des einen oder des anderen Elements den demokratischen vom liberalen Staat: unter demokratischer Sicht bedürfe die Gleichheit der Hilfestellung durch die Freiheit, während in einem liberalen Staate die Freiheit der Grundwert sei, dem die Gleichheit eingeordnet sei, und die Freiheit nur insoweit begrenzt, als sie allen Individuen die gleichen Rechte einräumen müsse. 165 Dementsprechend sieht er die Gefahr, die Demokratisierung könne auf Kosten der Freiheit und damit zugleich aller autonomen Lebensbereiche erfolgen. l66 Nach Bracher führt der Versuch, die Grundprinzipien von Freiheit und Gleichheit zur Deckung zu bringen, zur Zwangsherrschaft. 167 Die Lehre vom Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit überwiegt sicherlich. l68 Neben den dargestellten Ansichten sind die Meinungen zu erwähnen, die nur einem von beiden Prinzipien Bedeutung für die Demokratie einräumen wollen. Für Kelsen ist es der Freiheitswert und nicht der Gleichheitswert, der die Idee der Demokratie in erster Linie bestimmt. Schließlich findet sich eine quasi vermittelnde Meinung, die - ohne das Spannungsverhältnis zu leugnen - beiden Prinzipien gleichzeitig zu größtmöglicher Wirksamkeit verhelfen will. Besonders ausführlich legt
162
Kriele S. 59
Leibholz, Strukturprobleme S. 88, vergl. S. 152. Leibholz, Strukturprobleme S. 88. 165 Leibholz, Strukturprobleme S. 153, vergl. schon ders., Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland S. 10: Die materialen Werte, an denen sich die Demokratie orientiert, seien die politischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit. 166 Leibholz in der Aussprache auf der Staatsrechtslehrertagung 1971, VVDStRL 29 (1972) S. 105. 167 Bracher, Zeit der Ideologien S. 331 f. 168 Bezeichnend der Titel des von Reinisch herausgegebenen Sammelbandes: "Freiheit und Gleichheit oder Die Quadratur des Kreises". 163
164
310
Phasenü bergreifende Fragen
Maihofer diese Vorstellung dar. l69 Für ihn ist eine auf die Prinzipien der Liberalität wie der Egalität begründete liberale und soziale Demokratie nicht einfach als eine Ordnung der Freiheit und daneben als Ordnung der Gleichheit verfaßt, sie muß vielmehr als Ordnung der Gleichheit in Freiheit aufgefaßt werden. 17o Die Demokratie könne sich nur als zugleich liberale und soziale Demokratie entfalten und vollenden. 171 Auch Bachof hält die Fragestellung nach dem Rangverhältnis zwischen Freiheit und Sozialität für verfehlt, da die Sozialbindung keine äußere Begrenzung der Freiheit, sondern ihr immanent sei. m Der Gedanke Thomas Manns, es müsse in der Demokratie ständig ein Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit gesucht werden, kehrt in der neueren Demokratiediskussion bei Heinz Laufer in verallgemeinerter Form wieder. Für ihn sind Freiheit und Gleichheit nur eines von mehreren Gegensatzpaaren, die für die Demokatie gerade charakteristisch sind. Das freiheitliche demokratische System sei ein politischer System typus der Widersprüche und Gegensätze, kein System der Harmonie und der Konfliktlosigkeit. 173 Da es sich gerade um Voraussetzungen der Demokratie handle, die im Spannungsverhältnis zueinander stehen,174 fordert Laufer nicht dazu auf, die Widersprüche aufzuheben, sondern erklärt, das Spannungsverhältnis müsse erhalten bleiben, wenn der politisChe Systemtypus menschenwürdiger Ordnung in der Bundesrepublik bestehen bleiben solle. 175 Andere Gegensätze stellen für ihn Freiheit und Selbsterhaltung, Wahrheit und Relativität, Freiheit und staatlicher Machtanspruch dar. 176 Thomas Mann steht, indem er den Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit als ständige Aufgabe ansieht, im Gegensatz zu Staatsvorstellungen, die Freiheit und Gleichheit in vollem Umfang in einem zukünftigen Idealstaat verwirklicht sehen wollen. Das Bundesverfassungsgericht hat ebenfalls der Verfolgung eines Staatsideals seine Absage erteilt, das die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit in einer nicht absehbaren Zukunft verspreche, dafür aber das Opfer von GeneMaiho[er S. 204 ff. 170 Maihofer S. 213. 171 Maihofer S. 218. m Bachof, WStRL 12 (1954) S. 45. 173 Laufer S. 16, 25. 174 Laufer S. 16. 175 Reinisch S. 11 (Einleitung). 176 Reinisch S. 12 (Einleitung). 169
7. Soziale Demokratie
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rationen verlange, denen weder Freiheit noch Gleichheit gewährt werden könne. Trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen beiden Werten sieht das Bundesverfassungsgericht die freiheitliche Demokratie von der Auffassung durchdrungen, es könne gelingen, Freiheit und Gleichheit der Bürger zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten. m In genauer Entsprechung zu Thomas Mann handelt es sich auch für das Bundesverfassungsgericht dabei um eine "nie endende Aufgabe", die in Anpassung an die sich wandelnden Tatbestände und Fragen des sozialen und politischen Lebens durch stets erneute WHlensentschließungen gelöst werden müsse. 178 Freiheit und Gleichheit sind auch in anderen EntSCheidungen vom Bundesverfassungsgericht als dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit anerkannt worden. l79 Thomas Manns Gedanke, es sei ständige Aufgabe der Demokratie, das Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit zu erhalten, ist demnach in der Bundesrepublik zu geltendem Verfassungsrecht geworden.
7. Soziale Demokratie Die soziale Demokratie,l80 auf deren Bedeutung Thomas Mann vor allem in der dritten Phase seiner Demokratievorstellungen hingewiesen hat, ist gekennzeichnet durch einen Ausgleich von Freiheit und sozialer Bindung,181 entspringt also seinem Bestreben nach Ausgleich zwischen den Extremen und dient nicht zuletzt zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Manns Gedanke der Synthese findet sich wieder bei Maihofer, für den Demokratie sich nur als zugleich liberale und soziale Demokratie entfalten kann. l82 Soziale Gerechtigkeit soll in erster Linie freiwillig, 'von oben' hergestellt werden. Ähnlich wie Thomas Mann in den 'Betrachtungen', hat auch Bachof gefordert, es müsse die Elite ihre soziale
m BVerfGE 5, 85 ff. (206). 178 BVerfGE 5, 85 ff. (197). 179 BVerfGE 2, 1 ff. (12 f.); 10, 59 ff. (81). 180 Auf den Gedanken des 'sozialen Rechts' ist Mann möglicherweise in dem von ihm gelesenen Buch Baumgartens, Grundzüge der juristiSChen Methodenlehre S. 190 Cf. gestoßen. 181 Die ein Element der Gleichheit enthalt; dem entspricht der Gedanke der sozialen Demokratie als Gleichheit der Wohlfahrt, Maihofer S. 184. 182
Maihofer S. 218, 224.
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Phasenübergreifende Fragen
Verantwortung erkennen, freiwillig übernehmen und tragen. l83 Der Elite kommt bei Mann somit nicht nur Bedeutung für die Leitung des Staates zu, vielmehr ist es ihre Aufgabe, soziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Allerdings ist Thomas Mann selbst nicht bei diesem wOhlklingenden, indessen häufig wirklichkeitsfremden Modell verharrt. Wie das Beispiel der Politik Josephs in Ägypten zeigt, hielt Mann den Staat durchaus für legitimiert, den einzelnen zur Erreichung sozialer Ziele durch entsprechende Marktregelungen und steuerliche Maßnahmen unter Druck zu setzen, also Zwang auszuüben, wenn auch nicht in Form der vis absoluta, so doch der vis compulsiva. Thomas Mann hoffte, diese Politik einer sozialen Demokratie, die er im amerikanischen New Deal kennen lernte, werde eines Tages die Welt erfüllen. l84 Im Grundgesetz ist in den Artikeln 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 S. 1 die soziale Komponente des Rechtsstaats normiert. Das Sozialstaatsprinzip umschreibt nicht lediglich eine Aufgabe des Staates, sondern begrenzt die Freiheit des Individuums. Die sozialgebundene Freiheit wird besonders plastisch bei der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG l85 und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 GG. Andererseits würde eine Übertreibung des Sozialstaatsprinzips in einem Verwaltungsstaat enden, der nicht mehr Rechtsstaat sein könnte. 1&> Die 'soziale Demokratie' ist ein weiterer Aspekt der Vorstellungen Manns, der im Grundgesetz seine Verwirklichung gefunden hat. Wieder stellt sich die ständig wahrzunehmende Aufgabe eines gerechten Ausgleichs.
8. Militante oder wehrhafte Demokratie? Ursprünglich wurden Demokratie und Militarismus von Thomas Mann als Gegensatzpaar angesehen. 187 Seit etwa 1930,188 also mit dem Anwachsen des Nationalsozialismus, entwickelte Thomas Mann die Idee einer militanten Demokratie bzw. eines militanten oder kämpferischen
183
Bachof S. 46.
Andersch formuliert S. 26, Manns Hoffnung sei ein die Welt erfüllender New Deal, die Synthese von Freiheit und Sozialismus in menschlicher Relation gewesen. 185 Bachof S. 42. 184
Forsthoff VVDStRL 12 (1954) S. 30. Rychner, Thomas Mann und die Politik S. 356. 188 So auch BiUerli S. 68; nach Joachim Müller (S. 23) erst seit 1936.
1&>
187
8. Militante oder wehrhafte Demokratie?
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Humanismus. l89 Manns Forderung erwuchs der Befürchtung, die liberale Demokratie werde ihren Niedergang durch die übertriebene Weitherzigkeit in der Interpretation ihrer Prinzipien selbst beschleunigenY~) Tatsächlich hatte es die liberale Demokratie aufgrund ihrer Nachsicht gegenüber staatsfeindlichen Standpunkten versäumt, Hitlers Laufbahn Hindernisse in den Weg zu legen. 191 Hämisch konnte Hitler sagen, er habe die Demokraten mit ihrem eigenen Wahnsinn geschlagen. 1'12 Mann fordert wie etwa auch Hermann Broch 193 die militante Demokratie zum Kampf gegen die Feinde der Demokratie im Innern auf und erhofft sich von ihr darüber hinaus die Rettung Europas vom Faschismus. Der Gedanke Thomas Manns, die Toleranz der Demokratie müsse ihre Grenze dort finden, wo die Demokratie von ihren Feinden zerstört zu werden drohe, kehrt in der Konzeption der wehrhaften, abwehrbereiten oder streitbaren Demokratie l94 wieder, die als Reaktion auf die Weimarer Entwicklung im Grundgesetz in verschiedenen Artikeln l95 ihren Ausdruck gefunden hat. l96 Dieser Konzeption zufolge ist die Demokratie des Bonner Grundgesetzes inhaltlich nicht beliebig bestimmbar, sie darf sich nicht selbst zerstören und hat sich gegenüber Zerstörungsversuchen zu wehren. Sie ist zur wehrhaften, abwehrbereiten, militanten und werthaften Demokratie geworden. 197 Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird vom Bundesverfassungsgericht wegen ihrer Offenheit und mannigfachen Gewährleistung von Freiheiten und Einflüssen als gefährdete Ordnung angesehen, die sich gegen Kräfte, die ihre obersten Grundsätze und ihre Spielregeln prinzipiell vernei-
Siehe auch Perl S. 53. 190 Bitterli S. 68; so auch die Sorge Brachs; vergl. Graf Vitzthum, Brachs demokratie- und völkerbundtheoretische Schriften, S. 296. 191 Bitterli S. 68. 189
1'12 193 194
Zitiert nach Golo Mann, Von Weimar nach Bonn, S. 24. Graf Vitzthum, Hermann Brach und earl Schmitt S. 73. Vergl. Denninger S. 84.
195 Vor allem die Art 18 und 20 Abs. 4 GG; darüber hinaus hat das Prinzip in den Art 5 Abs. 3 S. 2, 9 Abs. 2, 21 Abs. 2 und 98 Abs. 2 GG seinen Niederschlag gefunden. 196 BVerfGE 28, 36 ff. (48); E 25, 88 ff. (100), und vor allem E 63, 266 ff. (308) m.w.N.; Stein S. 77. 197 Stern S. 558; vergl. Popper (zitiert nach Steinberger S. 234): "Wir sollten (... ) im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamkeit nicht zu dulden."
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Phasenübergreifende Fragen
nen, zu erwehren habe. l98 Die Bundesrepublik ist einer anderen Entscheidung dieses Gerichts zu folge eine Demokratie, die von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung erwartet und einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen diese Ordnung nicht hinnimmt. l99 Sind diese von Thomas Mann bereits dargestellten Elemente in der Verfassung der Bundesrepublik zwar angelegt, so wird doch die Sorge ausgesprochen, es komme dieses Element der Verfassung derzeit nicht in genügender Weise zur Geltung. 200
9. Mißtrauen gegeniiber dem Volk Die Furcht vor der Masse 201 ist eines der konstanten Elemente in Thomas Manns staatsrechtlichen Überlegungen. Gegenüber dem Volkswillen und aller Volksherrschaft zeigt er sich mißtrauisch. 202 Allerdings unterscheidet Mann, vor allem in den 'Betrachnmgen', zwischen Masse und Volk. Die Furcht vor der Masse und das Mißtrauen gegenüber den Allzuvielen, die an die Hebel der Macht drängen, besteht zwanzig Jahre später noch fort. 203 Im Mißtrauen gegenüber dem Volk wird der Grund für seine zunächst gegenüber der Demokratie ablehnenden Haltung gesehen. 204 Dem Mißtrauen gegenüber dem Volk entspricht konsequenterweise das Mißtrauen gegenüber einem vom Volk gewählten Parlament. Die Übertragung des Mißtrauens gegenüber dem Volk auf das Parlament konnte Mann bei Le Bon finden. lOS Interessanterweise
BVerfGE 5, 200. BVerfGE 28, 48; vergl. von Simson S. 18. 200 Ipsen S. 298. 201 Dazu Keller S. 57. 202 de Mendelssohn S. 1167. 203 Keller S. 57; im Brief an Stephen H. Fritschman vom 5.12.1954, Briefe III S. 367, bezeichnet Thomas Mann sich als Schriftsteller, "der nicht für die Massen schreibt". 204 Kesting S. 135; vergl. hierzu den Hinweis von Leibholz (Die Auflösung der liberalen Demokratie S. 51) auf das Kommunistische Manifest, demzufolge lIder erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkampfung der Demokratie ist". lOS Le Bon S. 163: "In den Parlamentsversammlungen finden sich die Grundmerkmale der Massen wieder: Einseitigkeit der Ideen, Erregbarkeit, Beeinflußbarkeit, Überschwenglichkeit der Gefühle, Überwiegender Einfluß der Führer"; vergl. ebd. S. 174: "Parlamentsversammlungen gleichen in der Erregung den Massen". 198 199
10. Eliten und monokratische Elemente in der Demokratie
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wird selbst von Rousseau, den Mann in den 'Betrachtungen' heftig angegriffen hatte, die Möglichkeit einer Irreführung des Volkes eingeräumt, das dann, allerdings nur dann, das Schlechte zu wollen scheine. 206 In der von breiten Schichten des Volkes bejubelten Machtergreifung Hitlers konnte Mann seine Furcht bestätigt sehen. Vorwürfe macht er allerdings weniger dem Volk, für das er vorwiegend Mitleid empfindet, als den exponierten Vertretern der öffentlichen Meinung. Angesichts seiner Vorstellung von der Lenkbarkeit der Masse und von der Verantwortung der Elite für den Staat ist dies nur konsequent. Der Angst vor der Masse setzt Mann die Möglichkeit der Bildung und Erziehung der Menschen entgegen. 207 Einige Strukturelemente des Grundgesetzes lassen auf ein Mißtrauen auch des Verfassungsgebers gegenüber den Entscheidungen des Volkes schließen. 208 Solche Strukturen sind das Prinzip der indirekten Demokratie, wie auch die schwache Stellung des Bundespräsidenten als "pouvoir neute"209 im Gegensatz zum volksgewählten, cäsarischen Reichspräsidenten, der allerdings seinerseits als diktaturgewaltiges Gegengewicht gegen die Parlamentsdemokratie und "Ersatzkaiser" verstanden wurde. 210 Schließlich ist im Bundesrat nicht das Volk, sondern es sind dort die Länder repräsentiert. Diese Einrichtungen zur Abschwächung des Volkswillens erklären sich ebenfalls aus den Erfahrungen in und nach der Weimarer Republik.
10. Eliten und monokratische Elemente in der Demokratie Sucht man ungeaChtet wechselnder Begriffsinhalte nach den Konstanten in Manns Staatsvorstellungen, so ist die einer staatstragenden Elite eine der wichtigsten. Inhalt des Elitegedankens ist die Annahme, Vorbedingung eines leistungsfähigen Staatswesens sei die Gewährleistung einer gerechten, ohne Rücksicht auf soziale Herkunft erfolgende Auslese der zum Staatsdienst besonders Befähigten. 2I1 Die Qualität der
206 207
Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kap., 3. und 4. Satz. Siehe auch KeJ/er S. 57.
208 Nach Fetscher S. 73 war "das Mißtrauen gegenüber emotionalisierten Wählermassen" das Motiv für die in zahlreichen Verfassungsbestimmungen zum Ausdruck kommende Option für die repräsentative Demokratie. 209 Gala Mann, Von Weimar nach Bonn S. 24. 210 Bracher, Staatsbegriff S. 82. 211
Bitterli S. 69.
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Phasenübergreifende Fragen
Beamtenschaft ist durch Bildung212 und Erziehung 213 zu garantieren. Eine Spitze der Exekutive in Form einer Regierung tritt bei Mann kaum in Erscheinung. Die den Staat tragenden Fachleute, aus denen sich die Elite zusammensetzt, werden von einem dafür prädestinierten Staatsmann geleitet. Dieses Staatsoberhaupt bestimmt die Richtlinien der Politik und ist mit quasi monarchischen Befugnissen ausgestattet. In seiner Konzeption des Staatslenkers konzentrieren sich Manns Elitevorstellungen auf eine Person. Die Motivation dafür, die Geschicke des Staates ausschließlich in die Hände von Fachleuten zu legen, entspringt dem Mißtrauen gegenüber der Masse, die zur Wahl der geeignetsten Staatsmänner nicht die notwendigen Kenntnisse besitzt. Durch welches Verfahren die Auswahl statt dessen zu erfolgen habe, bleibt bei Mann im Dunkeln. Offenbar geht er davon aus, der Befähigte steche durch seine Qualitäten ohne weiteres aus der Masse hervor. Die Elite ist für Mann nicht zuletzt ein wesentliches Korrektiv der Gleichheit. 214 In ähnlichem Sinne hat zuvor Burke formuliert, das Prinzip der Demokratie verfalle nicht nur, wenn der Geist der Gleichheit verloren gehe, sondern auch, wenn man den Gleichheitsgedanken überspanne und jeder denen gleich sein wolle, die er sich als Regierung gewählt habe. 215 Den Staat in die Hände einer Elite zu legen, sehen einige Autoren als der traditionellen Idee einer unpolitischen Kultur entsprechend an 216 und finden die Erklärung in frühen Eindrücken des Handels- und Großbürgertums seiner Vaterstadt Lübeck. 217 Maßgeblicher dürfte sein Bedürfnis nach Ordnung des staatlichen Lebens sein, die durch eine konstante Elite eher gewährleistet scheint als in parteipolitisehen Machtkämpfen. Schon zur Zeit der 'Betrachtungen' stellt der Führer-Gedanke eine naheliegende Alternative zur parlamentarischen Demokratie dar, gegen
212 Nach Thornet S. 64 zeigt der Begriff der 'Bildung' deutlich "geistesaristokratisch-elitäre Züge", S. 229 unterscheidet er zwischen einem formalen Bi!dungsbegriff bei Thomas Mann, der elitär sei und einer alle betreffenden Menschenbildung zu Toleranz und Güte; zur Prinzenerziehung S. 183. 213
Zur "Erziehungs-Diktatur" in der Ernlhlung "Das Gesetz" siehe Speisberg
214
Biuerli S. 41.
S.43. 215
216 217
Burke, Gedanken über die Revolution S. 156, vergl. S. 158. Vergl. Diersen S. 126. Schöll S. 19.
10. Eliten und monokratische Elemente in der Demokratie
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die sich Thomas Mann damals so vehement wehrte. 218 Zwar sah er die Notwendigkeit zu maßvollen demokratischen Reformen im Kaiserreich, hielt indessen an elitären Gesichtspunkten fest. 219 In den 'Betrachtungen' will Mann die Staatsgeschäfte dafür speziell ausgebildeten Fachleuten übertragen sehen. Es wäre somit irrig, anzunehmen, Thomas Mann habe die Staatsgeschäfte dem Adel überlassen wollen, wie in der Sekundärliteratur behauptet wird,no denn Manns Elite gründet sich nicht auf Herkunft, sondern auf qualitative Vorzüge. Es kann allenfalls von einem Adel eigener Art gesprochen werden, wie er im Roman "Felix Krull" zum Ausdruck kommt. Gemeint ist eine "Herrschaft der Besten" im platonischen Sinn. 22J Die Demokratie wird denn auch als Mittel zur aristokratischen Auslese im Staatsinteresse begrüßt, ähnlich der Forderung Max Webers, das Parlament müsse zur "Auslesestätte von Führern" werden. 222 Dem Fürsten selbst kommt nur noch eine künstlerisch repräsentative, rein formale Aufgabe zu, wie sie das Volk wünscht und brauche23 und wie sie im Roman "Königliche Hoheit" ihre literarische Darstellung gefunden hat. Aus dem mit dem Führergedanken eng zusammenhängenden Elitegedanken fOlgt auch Manns Idealbild einer Erziehungsdemokratie 'von oben'.224 Der Elite kommt dabei die Aufgabe zu, eigenverantwortlich für gerechte soziale Verhältnisse und für eine Verbreitung der Bildung zu sorgen. Aus Manns Elitevorstellung erklärt sich die Verteidigung des Obrigkeitsstaates in den 'Betrachtungen', da in ihm eine Staatslenkung durch den Fachmann geWährleistet scheint. Nach Flinker ist der Führergedanke bei Mann kein Widerspruch, sondern Ergänzung der Demokratie. Neben der formalen, der "Stimmzettel-Demokratie" müsse eine Körperschaft stehen, die darüber wacht, daß die demokratischen Einrichtungen nicht verletzt, verdreht, mißbraucht oder auch ganz aufgehoben werden. 225 Ohne eine solche Körperschaft laufe die Demokratie Gefahr,
Hel/mann S. 175. Zmarzlik S. 170. 220 Gisselbrecht S. 317; ähnlich auch Diersen S. 126: "einer durch Tradition befähigten aristokratischen Oberschicht". 22J Bitterli S. 41. 222 Weber, Parlament und Regierung im neu geordneten DeutSChland, zitiert nach Huber, Verfassungsgeschichte, Bd VI S. 52, Anm. 34. 123 GrütZlTUlcher S. 446. 224 Kesting S. 135, der dies als das Fortschrittlichste bezeichnet, was Thomas Mann zu denken vermocht habe. 225 Flinker S. 90. 218
219
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Phasenübergreifende Fragen
eines Tages zu verschwinden und entweder einer Anarchie oder einer Diktatur zu weichen. Thomas Mann habe diese Körperschaft nicht ganz glücklich 'Obrigkeit' genannt und eine solche Obrigkeit in der Monarchie gesehen. Die Monarchie hätte seiner Vorstellung nach umgebaut werden sollen, ihr wäre die Aufgabe zugefallen, die demokratischen Einrichtungen zu betreuen. 226 Das Schicksal der Vierten Französischen Republik habe gezeigt, wohin das Fehlen einer solchen Institution ein Volk führen könne. Charles de Gaulle habe indessen diesen Fehler erkannt und in der Verfassung der Fünften Republik nicht nur die Position des Präsidenten gestärkt, sondern auch den Conseil Constitutionnel geschaffen und damit - möglicherweise unwissentlich - als einer der ersten an der Realisierung der Thomas Mannsehen Gedanken gearbeitet. 227 Eine ähnliche Aufgabe kommt nach dem Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zu, das unter bestimmten Voraussetzungen die Verfassungsmäßigkeit parlamentarischer Entscheidungen überprüfen kann. Die Funktion der Elite als Korrektiv für Mehrheitsentscheidungen wird für Thomas Mann erst mit dem Aufkommen der Demokratie, in der zweiten Phase seiner Demokratievorstellungen virulent. Trotz des Bekenntnisses zur Demokratie seit 1922 bleibt die Forderung nach einer staatstragenden Elite bzw. Führerpersönlichkeit jedenfalls im literarischen Werk alle Phasen hindurch konstant;228 sie wird also in Thomas Manns Vorstellung eines demokratischen Staatswesens mit übernommen. 229 Gerade nach der Änderung der Staatsform sind die geistigen Führer der Nation dazu berufen, an die Stelle der Fürsten zu treten. 23O In der Fortentwicklung dieses Gedankens kommt es zu der merkwürdigen Idee einer 'demokratischen Diktatur', die indessen einer ideologischen Strömung in der Weimarer Republik entsprach. 231 Die Vorstellung eines überpolitischen, übergesellschaftlichen Staates war in der Weimarer Republik weit verbreitet und auch noch nach dem Hit-
226 227
Flinker s. 90. Flinker S. 91.
228 Und zwar auch im erzahlerischen Werk; siehe SpeIsberg S. 9, der eine Reihe von Protagonisten Thomas Manns als Führergestalten analysiert. 229 Bitterli S. 41 bezeichnet den Elitegedanken als ein Bindeglied zwischen den 'Betrachtungen' und spateren politischen Äußerungen; vergl. Keller S. 57 f.; Schulte S. 125 scheint Manns 'theoretischer Demokratismus' und sein 'künstlerischer Elitismus' widersprüchlich. 230 So schon Grützmacher S. 447 (1925). 231 Sontheimer, Antidemokratisches Denken S. 278.
10. Eliten und monokratische Elemente in der Demokratie
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lerreich anzutreffen. 232 Kerngedanke dieser Ideologie ist das Axiom einer Ordnung und Obrigkeit, die den Konflikten und Schwankungen des sozio-politischen Lebens entzogen ist. 233 Die Notwendigkeit einer Balance des in 'Parteigezänk' verfangenen Parlamentarismus durch die starke Autorität des Staatsoberhauptes oder der Regierung kann als Konsequenz einer idealistischen Repräsentationstheorie angesehen werden, derzufolge der Repräsentant im Gegensatz zum pragmatischen Repräsentationsmodell nicht die von ihm Vertretenen verkörpert, sondern 'ein höheres Sein', eine geistige Einheit darstellt. 234 Auf der Grundlage dieser Theorie wurde der Reichspräsident zum diktaturgewaltigen Gegengewicht gegen die Parlamentsdemokratie, praktisch zu einem Ersatzkaiser erhoben, wodurch die Demokratie durch die 'verführerische Möglichkeit einer Präsidialdiktatur' gefährdet war. 235 Die starke Stellung des Reichskanzlers als Gegengewicht zum Parlament war indessen neben der in der Weimarer Republik schnell eingekehrten Ordnung einer der Hauptfaktoren, die Mann den Zugang zur Demokratie erleichterten. Als Thomas Mann merkt, daß gerade die Gegner der Demokratie wie Rechtsradikale und Nationalsozialisten es auf eine Nivellierung abgesehen hatten, suchte er den Elitegedanken mit der demokratischen Idee zu verknüpfen.l..'6 Interessanterweise führt später das Beispiel Hitlers nicht dazu, den Führergedanken und die Demokratie als unvereinbare Gegensätze anzusehen. Zwar erkennt Mann, daß die Führer Schuld auf die Deutschen häufen,237 doch zieht er daraus nicht die Konsequenz, den Führergedanken zu verdammen. Manns Reaktion auf die von ihm scharf kritisierte Staatsführung Hitlers ist der Entwurf literarischer Gegenbilder. Auch sie sind Monokraten, orientieren ihr Handeln jedoch an den von Mann entwickelten Humanitätsvorstellungen. Neben Moses in der Erzählung "Das Gesetz" ist vor allem Jo-
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Bracher, Staatsbegriff S. 79 f. Bracher, Staatsbegriff S. 81. Pemthaler S. 217 f. Bracher, Staatsbegriff S. 82.
Bitterli S. 67 f.; siehe etwa Manns Ansprache bei der Verleihung des >Cardinal Newrnan Award