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German Pages [228] Year 1985
V&R
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler
Band 66
Josef Meran Theorien in der Geschichtswissenschaft
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Theorien in der Geschichtswissenschaft Die Diskussion über die Wissenschaftlichkeit der Geschichte
von
JosefMeran
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
M E I N E M VATER IN DANKBARER VEREHRUNG
CIP-Kurztitelaußiahme Meran,
der Deutschen
Bibliothek
Josef:
T h e o r i e n in d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t / v o n J o s e f M e r a n . G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k u n d R u p r e c h t , 1985 ( K r i t i s c h e S t u d i e n z u r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ; B d . 66) I S B N 3-525-35725-7
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985. - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfältigung und der Übersetzung vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie, Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
Inhalt
Vorbemerkungen
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I. Einleitung
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II. Historisches und theoretisches Wissen: Zu den begrifflichen Voraussetzungen, die für den Gegensatz verantwortlich sind . . . 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Die Bedeutungen des Begriffs >Geschichte< als reales Geschehen Geschichte steht für die konkreten» res factae« Geschichte als vergangenes und allzeitliches Geschehen Geschichte als unumkehrbares und unwiederholbares Geschehen Geschichte-Geschehnisse von einzigartigem Wert Geschichte als Tat Geschichte ais »Widerfahrnis« Geschichte als zufälliges Geschehen Von den vielen Geschichten zu der einen Geschichte Die Bedeutungen des Begriffs >Geschichte< als Darstellung eines Geschehens Geschichte als gewußtes und erinnerungswertes Geschehen . . . Geschichte als chronologisch geordnetes und erzählend dargestelltes Geschehen Die Bedeutung des Begriffs >Theorie< Theorie als abstraktiver und konstruktiver Systematisierungsvorgang Die Merkmale von Theorie nach dem aristotelischen Modell der Erkenntnisgewinnung Z u m Verhältnis von Wissenschaftlichkeit und Theoriefähigkeit der Geschichtsschreibung-vier Positionen Die Historie ist weder theoriefähig noch wissenschaftlich (Aristotelismus) Die Historie ist sowohl theoriefähig als auch wissenschaftlich (Aufklärung) Die Historie ist theoriefähig, jedoch nicht erfahrungswissenschaftlich (Deutscher Idealismus) Die Historie ist nicht theoriefähig, jedoch wissenschaftlich (Historismus)
28 28 28 29 29 31 32 32 33 33 34 34 35 36 36 37 41 42 42 45 46 5
III. Der Theoriebegriff, die Herkunft und Verwendungsweise von Theorien in der Geschichtswissenschaft 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2
Theoretizität und Theoriekonzepte Z u r Unterscheidung der Gegensatzpaare t h e o r e t i s c h :nichttheoretischi und t h e o r e t i s c h : historisch< Das >historische< Wissen als zusammenfassender Ausdruck für das ganze Wissen der Historie Drei Arten v o n Theoriekonzepten Angebot und Gebrauch v o n Theorien für die Geschichtswissenschaft Theorien über die Geschichtswissenschaft Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaftstheorie. . . Konstitutionstheorien der Geschichte Regulative Theorien der Geschichte Theorien in der Geschichtswissenschaft Nicht-geschichtswissenschaftliche Theorien Vorwissenschaftliche Alltagstheorien Sozialwissenschaftliche Theorien Geschichtswissenschaftliche Theorien Retrospektive Theorien Gegenwartsbezogene genetische Theorien
49 49 51 52 56 56 57 58 60 63 64 64 66 71 72 76
IV. Die Rolle des theoretischen Wissens in den Phasen der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2
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Von der »Heuristik« zur Datenerhebung J. G. Droysens »historische Frage« im Lichte empiristischer und konstruktivistischer Geschichtsforschung Traditionelle heuristische M e t h o d e n und Arten des historischen Materials M o d e r n e explorative Verfahren und Arten v o n Daten in den Historischen Sozialwissenschaften V o n der »Kritik« zur Datenauswertung D e r instrumentelle, skeptische und konstruktive Charakter der Kritischen M e t h o d e Die F o r m e n der »Kritik« nach J. G. Droysen und ihr implizites Theorieelement Z w e i Modelle der historischen Tatsachenfeststellung V o n der »Interpretation« zur Theoriebildung Aufgaben der »Interpretation« nach J. G. Droysen und das P r o blem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisziele Interpretation und erläuternde Erklärungen Z u r Kritik des historischen Individualitätsprinzip: (A) Die T h e se v o m Eigenwert einer j e d e n geschichtlichen Erscheinung . . . Z u r Entstehungsgeschichte des Individualitätsprinzips Ü b e r die Problematik einer >quellennahen< Begrifflichkeit am Beispiel von Feudalismuskonzepten
81 81 84 85 87 87 90 93 96 96 99 101 102 104
3.3.3
Generalisierung und Typisierung in geschichtswissenschaftlichen Vergangenheitsbeschreibungen 3.4 Arten begründender Erklärungen 3.5 Das Grundproblem historischer Erklärungen 3.5.1 Ereignisse, Handlungen, Prozesse und Strukturen oder: Was ist Gegenstand historischer Erklärungen? 3.5.2 Kausalität in der Geschichte oder: Wie erfolgt eine historische Erklärung? 3.5.2.1 Multikausalität und kausale Bedeutsamkeit 3.5.2.2 Die Unzulänglichkeit des deduktiv-nomologischen Modells kausaler Erklärungen in der Geschichtswissenschaft 3.5.3 Rationalität in der Geschichte oder: Wie erfolgt eine historische Erklärung noch? 3.5.3.1 Das teleologische Modell historischer Erklärungen - eine Alternative? 3.6 Zur Kritik des historischen Individualitätsprinzips: (B) Die These von der Einmaligkeit einer jeden geschichtlichen Erscheinung 3.6.1 Voraussagekraft und Lehrgehalt der Geschichtswissenschaft . . 3.6.2 Gesetze der Geschichte oder historische Gesetze? 4. J. G. Droysens »Topik« und die Grenzen der historischen Erzählung 4.1 Formen der historischen Darstellung nachj. G. Droysen 4.2 Positionen des Narrativismus
V. Schluß
107 112 115 116 118 119 121 126 127
130 130 134 136 140 150
163
Abkürzungs Verzeichnis
173
Anmerkungen
174
Literaturverzeichnis
199
Register
223
7
»All historians are b o u n d . . . to have general ideas about history . . . W i t h o u t ideas, they couldn't think a t h o u g h t , speak a sentence or w r i t e a line on their subjects. This is so obvious that I find it hard to have patience w i t h historians w h o boast, . . . that they keep entirely to the facts of history and d o n ' t go in for theories.« A r n o l d T o y n b e e , 1948
»Keine T h e o r i e gibt uns oder erklärt uns oder entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit.« Golo M a n n , 1979
Vorbemerkung Diese Studie ist eine stark überarbeitete Fassung meiner 1982 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg angenommenen Dissertation mit dem Titel »Hypothetische Geschichte? Untersuchung zur Konstruktion und Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft«. Für die intensive Betreuung meiner Dissertation danke ich Prof. Herbert Schnädelbach. Er hat mir auch die Möglichkeit gegeben, meine Arbeit in einem zweisemestrigen Seminar und in einem interdisziplinären Kolloquium zur Diskussion zu stellen. Durch seine kritische Lektüre und anregenden Verbesserungsvorschläge hat besonders Herr Prof. Jürgen Kocka zum Zustandekommen dieser überarbeiteten Fassung beigetragen. Er hat vor allem daraufhingewirkt, daß meine philosophische Darstellung auch dem Interesse einer vorwiegend an der Geschichtswissenschaft orientierten Leserschaft entgegenkommt. Auf dem langen Weg meines Studiums haben mich schließlich meine Eltern, Johann Josef und Wendula Meran, und meine Tante Jelka A. Eichmann in jeder Hinsicht unterstützt. Auch ohne die Geduld und Hilfe meiner Frau wäre diese Arbeit nicht zustandegekommen; ihnen gilt mein besonders herzlicher Dank.
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I. Einleitung
»Die Geschichte ist das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbstgewißheit.« 1 Mit diesem Satz hatte einst J. G. Droysen (1808-1886) auf p r o g r a m matische Weise kundgetan, worin er die Sonderstellung der Historie i m Bereich der kulturellen Leistungen des Menschen sah. Anspruchsvoll genug war seine Überzeugung, daß der Mensch zur Selbsterkenntnis fähig sei, w o d u r c h er sich vor allen anderen Lebewesen auszeichne. U m w ä l z e n d aber mutete seine Auffassung an, daß die Frage des Menschen nach sich selbst nur als Frage nach der Geschichtlichkeit seines Wesens gestellt w e r den könnte. Nicht der religiöse Glaube oder die philosophische Einsicht sollten es sein, die dem Menschen seine N a t u r z u m Bewußtsein brächten, sondern die historische Erfahrung. Sic aber schien den Gedanken zu zerstören, daß der Mensch in den Instanzen des Gewissens und der Vernunft eine ewig unveränderliche N a t u r besitze, und zeigte statt dessen nur, zu welchen Entwicklungsformen der Mensch seine N a t u r bis jetzt schon ausgebildet hatte. Befand sich also diese über den Bereich des Organischen hinausragende, höhere N a t u r des Menschen in stetem Wandel, so mußte an die Stelle systematischen Denkens die historische Betrachtungsweise als Mittel der Selbsterkenntnis treten. Aber nicht nur in der Überzeugung, daß dem Menschen die Erkenntnis seiner selbst möglich sei, und in der A n n a h me, daß diese sich nur auf dem Wege der historischen Erfahrung verwirklichen lasse, lag der bedeutsame Gehalt von Droysens Grundsatz. Von ebenso großer Tragweite war die in ihm auszumachende Verschmelzung der beiden unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs der Geschichte, der einerseits das objektive Geschehen selbst (»res gestae«), andererseits die subjektive Erfassung dieses Geschehens (»historia rcrum gestarum«) meinte. 2 So w u r d e für Droysen die Geschichte zum Wissen ihrer selbst. Sein Satz bildete hierbei den formelhaften Abschluß einer seit dem 18. J a h r h u n dert zu beobachtenden terminologischen Entwicklung, in der sich die seit alters unterscheidenden Wörter >Geschichte< und >Historie< zu einem einzigen Sinngebilde vereinigt hatten. Z u dieser Verbindung der objektiven und subjektiven Bedeutung von Geschichten war es jedoch nicht durch Zufall g e k o m m e n . Vielmehr m u ß in ihr der Versuch gesehen werden, den sich in jenen Epochen in allen Lcbensbercichen beschleunigenden Wandel auf einen Begriff zu bringen. Dies leistete der philosophische Begriff der Geschichte an sich, der somit zu einem »Regulativ für alle zu machende Erfahrungen«, zu einem Reflexions- und Wirklichkeitsbegriff in einem 13
geworden war; ». . . alles wird seitdem durch das historische Bewußtsein vermittelt«. 3 Auch die Historie der Gegenwart besinnt sich meist dann dieses Ausspruchs Droysens von der Geschichtlichkeit unserer Selbsterkenntnis, wenn an sie die Frage nach ihrem Nutzen für das Leben des Menschen gerichtet wird. Denn diese nach einer Rechtfertigung verlangende Frage versucht die Historie fast regelmäßig mit dem Hinweis auf ihre Bildungsfunktion zu beantworten. 4 Gerade damit aber unterstellt sie den von Droysen behaupteten Zusammenhang der menschlichen Selbsterkenntnis mit dem historischen Wissen. Nicht erst seit heute sieht sich jedoch diese Auffassung, die dem Menschen in seinem historischen Bewußtsein die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis zuspricht, einer Reihe von skeptischen Argumenten gegenüber. Die eine Art von Einwänden läßt sich zu dem Vorwurf zusammenfassen, daß der historische Standpunkt wissenschaftlich zum Relativismus, praktisch aber zur Orientierungslosigkeit führe. Selbsterkenntnis sei das Geschäft der Vernunft, diese aber lasse sich nicht restlos aus Geschichte erklären. 5 Denn mit Vernunft meinen wir letztlich ein von allem Wandel und Zufall abgelöstes Allgemeines und Notwendiges. Und daß es so etwas gibt, zeigt sich auch darin, daß die von Droysen zum Grundsatz erhobene Einsicht der Geschichtlichkeit unseres Selbstbewußtseins selber nicht nur geschichtliche, d. h. vorübergehende Geltung besitzen kann. Zu diesem Einwand, der die völlige Historizität der Selbsterkenntnis bestreitet, gesellt sich ein ganz anderer, der es nicht für möglich hält, daß sich der Mensch übersieh selbst mit wissenschaftlichen Mitteln Rechenschaft verschaffen kann. Wirkungsvoll ist dieser wissenschaftsskeptische Einwand von der Lebensphilosophie, von der Psychoanalyse und den von einem Dezisionismus geprägten Sozialwissenschaften vorgetragen und variiert worden. 6 Sie alle vermochten einen Bezirk im menschlichen Denken, Fühlen und Handeln zu lokalisieren, der sich einer wissenschaftlichen Objektivation zu entziehen scheint, wenngleich er für das menschliche Dasein als wesentlich bestimmend anerkannt werden muß. Gegen diesen Einwand müssen sich freilich nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch alle anderen nichthistorischen Disziplinen behaupten, die an dem Anspruch festhalten, der Selbsterkenntnis des Menschen zu dienen. Es verbleibt in diesem Zusammenhang allerdings ein Problem, das die Historie ganz allein betrifft. Dieses besteht in dem Umstand, daß wir uns zum Zwecke der geschichtlichen Selbstvergewisserung unserer Vergangenheit heutzutage nicht mehr auf naive, sondern nur auf wissenschaftliche Weise erinnern können. Die Geschichtsschreibung kann nur durch die wissenschaftlich vermittelte Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens zu einem historischen Selbstbewußtsein gelangen. Die Formel von der Geschichte als dem Wissen der Menschen von sich selbst besagt also zweierlei: (a) Erkenntnis der vom Menschen geschaffenen Wirklichkeit als Ausdruck seines geschichtlichen Wesens und (b) Erkenntnis der kognitiven Bedingungen, denen jede Erfahrung von Ge-
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schichte unterliegt, mithin Erkenntnis des Wissenschaftscharakters der H i storie. N u r w e n n sich die Historie i m E r k e n n e n der geschichtlichen W i r k lichkeit zugleich über die Wissenschaftlichkeit ihrer Erkenntnisweise Klarheit verschafft hat, v e r m a g sie uns i m vollen Sinne des Wortes zur historischen Selbsterkenntnis zu f u h r e n . Die in D r o y s e n s Begriff der Geschichte als Wissen ihrer selbst ausgesprochene Einheit v o n geschichtlichem Geschehen u n d dessen historischer Erfassung stellt sich uns folglich als Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Wissenschaftlichkeit dar. D a m i t zeigt sich aber, daß die f u n d a m e n t a l e Frage, o b die Geschichte einen geeigneten Z u g a n g zur menschlichen Selbsterkenntnis bieten kann, sich n u r dann b e a n t w o r t e n läßt, w e n n das spezielle P r o b l e m , ob u n d in welcher Weise sich das Interesse a m Geschichtlichen mit den Intentionen v o n Wissenschaft z u s a m m e n f u h r e n läßt, gelöst w o r d e n ist. Von der Vereinbarkeit der historischen u n d wissenschaftlichen B e t r a c h t u n g s w e i s e h ä n g t es also ab, ob uns die Historie ein geschichtliches Selbstbewußtsein vermitteln kann, da sie f ü r uns doch n u r als Wissenschaft w i r d auftreten k ö n n e n . So steht d e n n die Frage nach d e m Verhältnis v o n historischem u n d w i s senschaftlichem Wissen i m Z e n t r u m der Selbsterkenntnis der Geschichtswissenschaft. Sie b e r ü h r t damit eine v o r r a n g i g e A u f g a b e heutigen Philosophierens, die der Wissenschaftsanalyse. Vorliegende A b h a n d l u n g versteht sich als eine U n t e r s u c h u n g i m Bereich der speziellen Wissenschaftsphilosophie, hier der Wissenschaftstheorie der Historie. Z w a r sah sich die Historie schon seit ältester Zeit mit der Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit k o n f r o n t i e r t , 7 doch scheint es erst in der j ü n g e r e n Vergangenheit mit den Mitteln der avancierten Wissenschaftstheorie gelungen zu sein, diese Frage auf das entscheidende P r o b l e m z u r ü c k z u f u h r e n . So sieht m a n in der aktuellen m e t h o d o l o g i s c h e n D e b a t t e das P r o b l e m der Wissenschaftlichkeit der Historie in d e m der Vereinbarkeit v o n Historie u n d Theorie. Diese zwischen Historikern, Sozialwissenschaftlern u n d Geschichtsphilosophen n o c h andauernde Diskussion läßt sich daher a m besten d u r c h die Frage spezifizieren, ob die Historie theorießhig ist, das heißt, ob in der Geschichtswissenschaft Theorien überhaupt eine Rolle spielen, sei es, daß die Geschichtswissenschaft selber Theorien bildet oder daß sie nicht-geschichtswissenschaftliche Theorien nur verwendet. In einer ersten A n n ä h e r u n g scheinen in dieser D e b a t t e offensichtlich zwei gegensätzliche Positionen aufeinander zu treffen. Was theorieorientierte Historiker f u r verträglich halten - nämlich die V e r b i n d u n g v o n Historie u n d T h e o r i e zu Gebilden einer t h e o r e t i s c h e n Historie< oder h i s t o r i s c h e n T h e o rieverstehende< Erfassung historischer Tatbestände als die angemessene Methode. Verstehen hieß hier, Handlungen als Mittel zur Verwirklichung von Zwecken zu begreifen. Waren erst einmal das geschichtliche Geschehen als Handlungszusammenhang, Handlungen wiederum als zweckvoll aufgefaßt, so bot sich die Erzählung als die geeignete, weil anschauliche Darstellungsweise der Historie an. Eine in dieser Weise auf die staatliche Sphäre eingeengte Historie konnte 17
die genannten, in A b g r e n z u n g z u m theoretischen Wissen g e w o n n e n e n B e s t i m m u n g e n des historischen Wissens deswegen so selbstevident erscheinen lassen, weil das politische Geschehen unter der Perspektive des M a c h t k a m p fes u n d des Persönlichkeitsprinzips v o n sich aus anschaulich dramatische, einmalig episodenhafte u n d indeterminiert vielfältige Z ü g e tragen m u ß t e . 2 2 Für eine T h e o r i e b i l d u n g fehlt folglich ein durch Gleichförmigkeit, W i e d e r holbarkeit u n d N o t w e n d i g k e i t geprägtes Geschehen. Wegen der relativen Kurzlebigkeit, Plötzlichkeit u n d U n b e s t ä n d i g k e i t des politischen Geschehens ist die Politikgeschichte daher, w e n n auch in destruktiver Absicht, als Ereignisgeschichte bezeichnet w o r d e n . 2 3 Die Theoriefeindlichkeit der H i s t o rie ist, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, genau dann a m stärksten g e wesen, als der Gegenstand v o n Geschichte ü b e r h a u p t ausschließlich i m politischen Geschehen gesehen w u r d e , die allgemeine Geschichtswissenschaft Politikgeschichte w a r . In Auseinandersetzung m i t der v o n Karl L a m p r e c h t entwickelten Kulturgeschichte versuchte G e o r g v o n B e l o w (1858-1937), den P r i m a t des Politischen f ü r die Geschichtswissenschaft zu verteidigen. Für ihn w a r »das politische M o m e n t i m irdischen M e n s c h e n dasein das allgemeinste u n d umfassendste, das sich entdecken läßt«, w e s w e gen auch »die allgemeine Geschichte in der politischen ihren M i t t e l p u n k t hat: Sie gipfelt in i h r . « 2 4 Als wesentlich abgeschwächte Variante dieser Position trat sodann eine A u f f a s s u n g in Erscheinung, die besagt, daß die Politikgeschichte als eine Darstellungsform u n d zwar als die einzig angemessene des geschichtlichen Teilbereichs >Politik< zu gelten habe. Diese »spezielle Perspektive«, in der die politische Geschichte gesehen w i r d , b e t o n t »das M o m e n t der E n t s c h e i d u n g e n gegenüber der Vorstellung v o m P r o z e ß c h a rakter der Geschichte«. 2 5 Die D o k t r i n e n der A u t o n o m i e , H e g e m o n i e u n d des Gleichgewichts der K r ä f t e glaubt A. Hillgruber allerdings n u r n o c h f ü r die Politikgeschichte, sofern sie »auf die Staaten u n d ihre Beziehungen untereinander« gerichtet ist, in A n s p r u c h n e h m e n zu k ö n n e n . 2 6 Diese Position schließt aus, daß es eine historische Betrachtungsweise geben kann, die o h n e das »Paradigma des M ä c h t e k a m p f e s oder der Hegemonialanläufe« das internationale Staatensystem angemessen zu beschreiben v e r m a g . 2 7 Für die Innenpolitik freilich g e n ü g e diese Perspektive nicht, wenngleich auch die Geschichte der Innenpolitik e b e n s o w e n i g wie die der Außenpolitik dadurch zu einem »Derivat der Sozial- u n d Strukturgeschichte« w e r d e . 2 8 Z w a r erlaube »die U n v o r h e r s e h b a r k e i t allen . . . politischen Handelns, die U n g e wißheit über das Eintreten dessen, was erstrebt w u r d e , kurz: die O f f e n h e i t der Z u k u n f t . . . n u r retrospektive Teilwahrheiten . . ,«. 2 9 A b e r sofern diese Position d o c h wenigstens die Möglichkeit einer nicht-politikgeschichtlichen, also ζ. B. k u l t u r - oder wirtschaftsgeschichtlichen E r f a s s u n g anderer historischer Teilbereiche (Kultur, Wirtschaft etc.) nicht f ü r unzulässig hält, ist über die Theoriefähigkeit dieser Realitätsbereiche nicht v o n vornherein negativ entschieden. Schließlich reduzierte sich der »Absolutheitsanspruch einer M e t h o d e u n d Disziplin« auf eine Position, die Politikge-
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schichte nur noch als eine, wenn auch unverzichtbare Teildisziplin einer allgemeinen Geschichtswissenschaft begriff, da über den inhaltlichen Zusammenhang aller historischen Wissenschaften nichts mehr auszumachen war. 3 0 Die Möglichkeit, die staatlichen Beziehungen etwa rein wirtschaftsgeschichtlich und damit unter Umständen mittels Theorien zu analysieren, wurde durch diese Position nicht ausgeschlossen. So hat sich denn die Politikgeschichte, einst Herrscherin der Historie, auf ein unprätentiöses Dasein in den Reihen der historischen Disziplinen eingerichtet. Mit der in Reaktion auf die >soziale Frage< und die Formierung sozialer Bewegungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch an deutschen Hochschulen sich entfaltenden sozialgeschichtlichen Forschung ist das zunächst noch zaghafte Bedürfnis verbunden gewesen, Theorie in die Historie zu tragen. Diese Affinität zur Theorie zeigte sich schon darin, daß die historische Behandlung des Sozialen nicht einem immanenten Interesse der Historie, sondern einer Historisierung systematischer Sozialwissenschaften entstammte. 3 1 Zunächst zielte jedoch die sozialgeschichtliche Betrachtungsweise nur auf eine Ergänzung der allgemeinen Historie, anfangs vornehmlich im Bereich der alten und mittelalterlichen Geschichte und der historischen Landeskunde. 32 Im Sinne einer solchen historischen Teildisziplin beschäftigte sich die Sozialgeschichte mit der Geschichte der sozialen Konflikte, Prozesse und Strukturen, also mit Problemen der Arbeitsverhältnisse und der Berufsstruktur, der Familie und Sozialisation, der (Aus-)bildung, der Interessengruppen und Verbände, der kollektiven Lebensformen usw. 3 3 Die offenkundig enge Verbindung mit wirtschaftlichen Fragen, die nicht selten erlaubt, von Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte als einer Disziplin zu reden, deutet darauf hin, daß sich die Sozialgeschichte als historische Wissenschaft von der vom Staat getrennten Wirtschaftsgesellschaft konstituiert hatte. Sie reflektierte damit den seit Mitte des 18. Jahrhunderts voranschreitenden Auflösungsprozeß des alteuropäischen Topos der »societas civilis sive res publica«. 34 Über die Bestimmung als besondere Disziplin eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs hinaus ist die Sozialgeschichte jedoch gerade aufgrund jener geschichtlichen Erfahrung gesellschaftlicher Umwälzungen auch als die Grundform der Historie überhaupt aufgefaßt worden. Als eine nunmehr »integrale Aspektwissenschaft«, d. h. als Versuch, die allgemeine Geschichte unter bestimmten integrierenden Gesichtspunkten zu interpretieren, 35 hat die Sozialgeschichte gewissermaßen die Leitfunktion der traditionellen Politikgeschichte übernommen. Auf eine solche Ablösung der Politikgeschichte durch ein sozialgeschichtliches >Paradigma< zielte zuerst K. Lamprechts Konzept einer kulturpsychologischen »Zustandsgeschichte«. 36 Geschah dies in einer eher formalen Weise, so wurde die Sozialgeschichte zur Strukturgeschichte.37 Als solche hat sie den »Menschen in seiner Vergesellschaftung überhaupt«, »den inneren Bau und das Gefuge menschlicher Verbände« zu ihrem Gegenstand. 38 Strukturen tragen jedoch das Merkmal der Beständig19
keit. Sie dienen d e s w e g e n d e m Historiker meist zur K e n n z e i c h n u n g eines Geschehens oder Z u s t a n d s v o n langer oder sehr langer D a u e r i m U n t e r schied zur Veränderlichkeit kurzfristiger B e g e b e n h e i t e n . 3 9 F. Braudel n a n n te die S t r u k t u r - oder Zustandsgeschichte daher eine »histoire q u a s i - i m m o b i le«. N u n ist die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise zwar kein M o n o pol der Sozialgeschichte, e b e n s o w e n i g wie eine ereignisgeschichtliche n u r die Politikgeschichte auszeichnet. 4 0 S t r u k t u r e n u n d Ereignisse sind in allen geschichtlichen Wirklichkeitsbereichen auszumachen. Die S t r u k t u r g e schichte k a n n sich also a u f g r u n d ihres f o r m a l e n Charakters mit unterschiedlichen inhaltlichen Interpretationen der allgemeinen Geschichte verbinden. Tatsache bleibt j e d o c h , daß sich die strukturgeschichtliche B e t r a c h t u n g s weise erst m i t der W e n d u n g zur Sozialgeschichte hin durchgesetzt hat. Sozialgeschichte strukturgeschichtlich betrieben begreift n u n die relativ statischen »>Verhältnisse< u n d >Zuständesozial-< schon an, wie diese Art der Historie die inhaltliche Synthese aller geschichtlicher Wirklichkeitsbereiche zustandebringen will. Da ein solcher Zusammenhang nun nicht bedeuten kann, daß alle denkbaren und existierenden Merkmale dieser geschichtlichen Teilbereiche in ihrem Verhältnis zueinander aufgewiesen werden, sondern nur ihre konstitutiven Beziehungen, so wird die Gesellschaftsgeschichte dazu genötigt, einen Bezugspunkt der Zusammenhanganalyse auszuzeichnen, der die Kriterien der Auswahl, Verknüpfung und Gewichtung der einzelnen Wirklichkeitsbereiche bereitstellt. Dieser Bezugspunkt weist inhaltlich auf einen Teilbereich der historischen Wirklichkeit, welcher zum dominierenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung erklärt wird. Wer sich heute dem Programm der Gesellschaftsgeschichte verschreibt, betreibt Geschichte von der Gesellschaft her. Wenn sich also die Gesellschaftsgeschichte mit der Gesellschaft befaßt, heißt das weder, daß sie sich auf einen Sektor der geschichtlichen Wirklichkeit bezieht noch, daß sie den Gegenstand von Geschichte überhaupt, statt ihn etwa >Volk< zu nennen, einfach durch den Ausdruck Gesellschaft kennzeichnet. Sie macht vielmehr »jenes Teilsystem von sozialökonomischen Bedürfnissen, Interessen, Abhängigkeiten, Kooperationen und Konflikten« zum Strukturierungskern der historischen Analyse. Diese Auszeichnung der materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse beruht aber auf einer theoretischen Leistung. Diese hat die Gesellschaftsgeschichte ohne Zweifel aus der marxistischen Sozial- und Geschichtsphilosophie entlehnt. Die verschiedenen Formen, in denen sich heute die Gesellschaftsgeschichte realisiert, lassen sich geradezu im Hinblick darauf unterteilen, wie rigide oder differenziert sie Marxens >Basis-ÜberbauGeschichte< nicht nur von der Politikgeschichte oder der Sozialgeschichte ausgefüllt wird, sondern die S u m m e der historischen Wissenschaften bildet, liegt ihre Integrationsleistung eher auf der disziplinären Ebene. Sie interessiert sich nicht nur fiir die Ergebnisse der historischen und nicht-historischen Forschung, sondern auch für die Ansätze, Methoden und besonders Theorien der systematischen Nachbarwissenschaften. N e b e n der strukturgeschichtlichen Ausrichtung macht also der explizite Bezug auf Theorien das zweite wesentliche Merkmal der Historischen Sozialwissenschaft aus. Geschichte als Historische Sozialwissenschaft will sich hierbei nicht damit begnügen, vorwissenschaftliche >commonsensePsychologisierungSoziologisierungÖkonomisierung< usw. der Geschichtswissenschaft. Aber durch ihre Kennzeichnung als historische Disziplin will die Historische Sozialwissenschaft zugleich deutlich machen, daß sie nicht nur sozialwissenschaftliche
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Theorien verwendet, sondern auch auf die Bildung eigener Theorien abzielt. Zu einer genuin historischen Theoriebildung k o m m t es genau dann, wenn die Historie einerseits systematisch klarmacht, worin die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandsbereichs liegt, wenn sie andererseits über ein zeitlich begrenztes, vergangenes oder in die Gegenwart hineinreichendes Geschehen Aussagen bildet, die nur für diesen historischen Zeitabschnitt allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. So treffen wir also in einer theorieorientierten Historischen Sozialwissenschaft auf zwei Hauptgruppen von Theorien: (a) nicht-geschichtswissenschaftliche Theorien aus den systematischen Sozialwissenschaften und (b) geschichtswissenschaftliche Theorien, die ihrerseits entweder Konstitutionstheorien der Geschichte oder Theorien mit zeitspezifischem Anwendungsbereich sein können. Die Theoretisierung der Historie stellt sich daher als Folge des Übergangs der Historie von der politischen Ereignisgeschichte über die soziale Strukturgeschichte zur integrierten Historischen Sozialwissenschaft dar. Allerdings gibt es in jüngerer Zeit auch bemerkenswerte Versuche, S o zialgeschichte in bewußter Abgrenzung zu einer theorieorientierten Gesellschaftsgeschichte oder Historischen Sozialwissenschaft zu betreiben. Diese habe, in den Worten M . Broszats, durch »das Deduzieren aus dem (theoretisch vorwegbestimmten) >Systemcharakter< einer erst zu untersuchenden Gesellschaft« eine »bestimmte Richtung der neueren sozialwissenschaftlichen Historie in Verruf gebracht«. 5 0 Die Sozialgeschichte dürfe nicht bloß »Ergänzung der aus theoretischer Einsicht gewonnenen gesellschaftlichen Strukturgeschichte« sein. 5 1 Unter der Bezeichnung Alltagsgeschichte ist diese jeder übergreifenden Theoriebildung reserviert gegenüberstehende historische Richtung bekannt geworden. Gegenstand der Alltagsgeschichte ist der einzelne Mensch und die ihn umgebenden elementaren Gemeinschaftsformen. Anders als die traditionelle Politikgeschichte interessiert sie sich nicht für die geschichtliche Persönlichkeit, also für den Fall, da ein Einzelner sich aus der Menge seiner Mitmenschen erhob und geschichtswirksame Bedeutung erlangte; anders aber auch als eine der Quantifizierung zugetane Sozialgeschichte (»histoire serielle«) nicht für die massenhaften Erscheinungen und Relationen zwischen anonymen Individuen. Die Alltagsgeschichte richtet ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die unverwechselbaren und vielfältigen Geschehnisse in der Welt der kleinen Leute, also vorzugsweise des Arbeiters, Bauern, Kleinbürgers, Handwerkers, der Hausfrauen usw. Da deren »Lebensweiten« j e nach Epoche, Region und Schicht so unendlich verschieden und exklusiv sind, kann die Alltagsgeschichte nur »kleinräumig angelegt« sein. Sie wird zur »Mikrogeschichte«, genauer gesagt zur Darstellung von »Ausschnitts-Geschichten«. 5 2 Zur Legitimierung ihres Interesses und zum Zweck der Kritik sowohl an dem groß männischen Zug der Politik-Historie als auch an dem Systemdenken der theoriebestimmten Gesellschaftsgeschichte behauptet sie, daß der Alltag als Bereich der »individuellen R e 23
Produktion« (Α. Heller) »das Fundament der gesamten weltgeschichtlichen Entwicklung darstellt«. 5 3 Diese Feststellung wird freilich dann zweifelhaft, wenn mit ihr nicht nur die triviale Wahrheit gemeint ist, daß es ohne die Selbsterhaltung und Fortpflanzung des Einzelnen keine Geschichte der Menschheit geben kann, sondern daß sich die Prozesse und Strukturen, die auf der k o m p l e x e n Ebene von Gesellschaften angesiedelt sind, auf diejenigen der » M i k r o e b e n e « der Alltagshandlungen zurückfuhren lassen. Die Bedeutung, die hier die Alltagsgeschichte der Lebenswelt zuspricht, dürfte aber eher politisch als wissenschaftlich motiviert sein. Denn die Alltagshistorie versteht sich als eine »solidarische Geschichtsschreibung . . ., in der sich (die) Subjekte auch wiederfinden (und ohne B e f r e m d e n lesen) k ö n n e n « . 5 4 Die Alltagsgeschichte will die bisher vernachlässigte Geschichte derjenigen schreiben, die die große Geschichte zwar nicht gemacht haben, aber u m s o m e h r von ihr betroffen waren. Sic richtet ihren Blick »von unten« auf das geschichtliche Geschehen, beschreibt und deutet dieses aus der Perspektive des Volkes, seines Lebens und Leidens. D i e Alltagsgeschichte liefert daher die F o r m v o n H i s t o rie, über die auch die kleinen Leute zu einem geschichtlichen Selbstbewußtsein und zu ihrer eigenen Identität gelangen können und die die h e r k ö m m l i che Politik- und Sozialgeschichte bisher nicht bereitstellen konnte. D a die Alltagsgeschichte sich überwiegend mit den täglich wiederkehrenden Handlungen und Abläufen, mit den sich routinemäßig und pragmatisch vollziehenden Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten des Menschen in seinem Alltag beschäftigt, 5 5 läge in dieser strukturellen Beschaffenheit ihres Gegenstandsberciches eine ideale Voraussetzung dafür vor, auch über geschichtliche F o r m e n des Alltagshandelns zu Verallgemeinerungen und T y pisierungen zu gelangen. Tatsächlich fordern manche Anhänger der Alltagsgeschichte, daß diese, »soll sie sich nicht in Anekdoten erschöpfen, problematisierend sein m u ß « . ». . . Sie muß interdisziplinär arbeiten, theorieorientiert vorgehen, auf eine globale Sicht der D i n g e ausgerichtet und im Ansatz der >longue duree< verankert sein, da es nur so möglich ist, D a u e r h a f tigkeit und gleichzeitigen Wandel zu erklären. « S 6 Woher resultiert dann aber der doch vorherrschende antitheoretische Z u g der Alltagsgeschichte? Erläßt sich nicht aus der Ausschnitthaftigkeit des Gegenstandes der Alltagsgeschichte, die sich als »qualitative Sozialgeschichte in der Regel nur im Rahmen begrenzter sozialer Einheiten überzeugend verwirklichen« läßt, herleiten. 5 7 D i e Theorieunfähigkeit der Alltagsgeschichte ergibt sich vielmehr aus einem methodischen Prinzip. Für die Alltagsgeschichte ist entscheidend, wie die in Geschichten verstrickten Menschen politische G e schehnisse, soziale Prozesse und Strukturen, ö k o n o m i s c h e Verhältnisse etc. subjektiv erleben und individuell verarbeiten. D i e s e m Interesse paßt sich die Alltagsgeschichte methodisch zunächst in der Weise an, daß sie den S c h w e r punkt ihrer Q u e l l e n a u s w a h l auf all diejenigen Z e u g n i s s e legt, die Aufschluß über die Mentalitäten, das Gefühlsleben, die Sitten und Gebräuche etc. der 24
Menschen geben. Wie die Materialbasis so erweitern sich dadurch auch die Forschungstechniken der Historie. Die Alltagsgeschichte wird nur dann zu einer der Theorie nicht fähigen Disziplin, wenn sie den Standpunkt des distanzierten Beobachters verläßt und den des von einer Geschichte Betroffenen in unmittelbarer Weise einzunehmen trachtet. Sie will die sozialen Prozesse und Strukturen »aus besonderer Nähe zur historischen Wirklichkeit . . . hervortreten lassen«. 58 Das subjektive Erleben und die »milieugebundene >Erfahrungnatürliche< Einstellung derjenigen Menschen, die den Gegenstandsbereich der Alltagshistorie bevölkern, soll nicht durch ein analytisches Instrumentarium zerstört, sondern protokollierend beschrieben und erzählt werden. Es liegt auf der Hand, weswegen es die Alltagsgeschichte bei »ihren bildnerischen Fähigkeiten« belassen muß und nicht zur Theoriebildung voranschreiten kann. Indem sie Geschichte aus der Perspektive der Alltagsmenschen zu schreiben beabsichtigt, verzichtet sie auf das Kriterium wissenschaftlicher Objektivität, die die Naivität dieser Einstellung durchbricht, und indem sie die überindividuellen Prozesse und Strukturen nur in ihrer individuellen Verarbeitung schildert, wird sie gewissermaßen zu einer sozialen Ereignisgeschichte. Denn so sehr »Mythen, Rituale, Feste, Gebräuche, Emotionen, Affekte, Sexualität, Ernährung usw.« immer wiederkehrende, fast stereotype Geschehnisse sind, die nur einem langsamen Strukturwandel unterliegen, 59 so sehr nehmen sie sich vom Standpunkt des geschichtlichen Teilnehmers oder Betroffenen als ereignishaft aus. Die Ereignisgeschichte machte aber gerade jenen Typus von Historie aus, der der Theoriebildung am wenigsten zugänglich ist. 60 Die Tatsache, daß ungeachtet des Phänomens der Alltagsgeschichte der Ansatz der Historischen Sozialwissenschaft aus dem gegenwärtigen Forschungsbetrieb nicht mehr wegzudenken ist, muß die Frage erlauben, ob die herkömmliche, dualistische Bestimmung des historischen und theoretischen Wissens noch Überzeugungskraft besitzt. Interessanterweise hat der traditionelle Dualismus von Historie und Theorie auch außerhalb der Geschichtswissenschaft seinen Universalitätsanspruch eingebüßt. So kennt die Physik, spätestens seit sie sich in der Wärmelehre mit den Problemen der Wärmeausbreitung in festen Körpern (J. J. Fourier, S. Carnot) beschäftigt, Vorgänge, die durch Eigenschaften bestimmt sind, welche sich dem traditionellen Theoriebegriff nicht fugen. Für die klassische Dynamik von N e w ton bis Hamilton waren die unter dem Gesichtspunkt der Bewegungsänderung interessanten Naturvorgänge durch Merkmale wie Regelmäßigkeit, Unabänderlichkeit, Stabilität, Harmonie, Einfachheit, Reversibilität, Determiniertheit usw. gekennzeichnet. Nur über ein so geartetes Verhalten von Körpern konnte es nach Ansicht der Vertreter der klassischen Mechanik ein theoretisches Wissen, d. h. ein gesetzmäßiges, zeitunabhängiges Wissen 25
geben. 6 1 Die mit der Wärmeausbreitung verbundenen Prozesse sind jedoch dadurch ausgezeichnet, daß sie geradezu die gegenteiligen Bestimmungen annehmen. Ihre auffälligsten Eigenschaften, nämlich die aus dem Zusammenspiel mechanischer (Druck), thermischer (Temperatur) und chemischer (Reaktion/Diffusion) Parameter resultierende Komplexität und die aufgrund der nicht vollständigen Überführbarkeit von Wärme in kinetische Energie zustandekommende Irreversibilität, werden in der Thermodynamik behandelt. Deren zweiter Hauptsatz besagt, daß die Entropie (= nicht mehr arbeitsfähige Wärmeenergie) eines abgeschlossenen Systems zunehmen oder konstant bleiben, nicht aber anehmen kann. C. F. v. Weizsäcker bezeichnet daher dieses thermodynamische Gesetz als »den Satz von der Geschichtlichkeit der Natur«. 6 2 Besonders bei chemischen Reaktions-Diffusions-Prozessen, die neben der Wärmeleitung den Prototyp solcher von der Zeitrichtung abhängiger, irreversibler Vorgänge darstellen, zeigt sich sodann, wie natürliche Prozesse, die fernab vom Gleichgewicht sich befinden, d. h. die (noch) nicht den erstrebten Endzustand eines Aktivitätsminimums (Ruhe, Temperaturausgleich, stationäre Mengenverhältnisse) erreicht haben, sich instabil und spontan verhalten, wenn bestimmte Parameter kritische Werte annehmen. Die Schwankungen können aber ihrerseits zu völlig neuen sogenannten »dissipativen«, d. h. Energie zerstreuenden Strukturen führen, die den Charakter der »Selbstorganisation« tragen. 6 3 Dadurch aber, daß die singulären Punkte, an denen Schwankungen erneut in O r d nung übergehen, durch den besonderen Anfangszustand des Systems und durch allgemeine Gesetze nicht determiniert sind, werden solche gleichgewichtsfernen Systeme hochgradig individuell. Ihr Verhalten »hängt von ihrer Geschichte ab«. 64 Obgleich aber diese, für die thermodynamischen Abläufe bis hin zur biologischen Morphogenese grundlegenden Prozesse 65 durch solch >historische< Merkmale wie Komplexität, Instabilität, Irreversibilität und Indeterminiertheit gekennzeichnet sind, haben - und das ist in unserem Zusammenhang der ausschlaggebende Tatbestand - die betreffenden physikalischen, chemischen, mathematischen und biologischen Disziplinen keineswegs den Anspruch auf Theoriebildung preisgegeben. So hat man sich etwa in der »Theorie der Verzweigungen« (Bifurkation) 66 darum bemüht, das sowohl deterministische als auch probalistische Verhalten solcher Prozesse in der Nähe von Verzweigungspunkten, an denen die Wahlmöglichkeit zwischen alternativen, stabilen Mustern besteht, genauer zu bestimmen. Die entscheidende Rolle, die die räumliche Inhomogenität und zeitliche Irreversibilität bei jenen Naturvorgängen spielt, hat daher keineswegs zur Folge, daß eine geschichtliche Betrachtungsweise hier natürlicher Phänomene heißt, sie »durch Erzählen einer Geschichte erklärbar« zu machen. 67 Nicht weniger deplaciert nähme sich eine naturgeschichtliche U n tersuchung aus, die beispielsweise die Entstehung der Kontinente oder die Geschichte der Erdatmosphäre erzählen wollte. Vielmehr sind die Erklärungsversuche der Kontinentalverschiebung von A. Wegener bis hin zur
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modernen Plattentektonik 68 oder die Modelle der Uratmosphäre 6 9 Beispiele echter historischer Theoriebildung. Auch G. Vollmer irrt, wenn er im Hinblick auf die Biologie und Kosmologie den Eindruck erwecken will, daß die Wissenschaftlichkeit dieser Disziplinen gerade darin zu sehen sei, daß sie sich im Gegensatz zum Vorbild der klassischen Mechanik auf einmalige und einzigartige Ereignisse und Prozesse (Urknall, kosmische Expansion, organische Evolution) beziehen. 70 Wenn es in diesen Bereichen trotz der Individualität ihrer Gegenstände nicht zur Theoriebildung gekommen wäre (ζ. B. Evolutionstheorie, Relativitätstheorie), wären diese Disziplinen niemals als vollwertige Wissenschaften empfunden worden. So kann denn die moderne Naturgeschichte einen möglichen Anhaltspunkt für die Kongruenz von Historie und Theorie bieten. U m diesen Tatbestand auch für Humangeschichte zu klären, möchte ich in der vorliegenden Untersuchung zunächst (II) den Gegensatz von historischem und theoretischem Wissen, wie er sich in der bisherigen methodologischen Diskussion ausnimmt, nachzuzeichnen versuchen. Dazu gehört einerseits eine Analyse des Bedeutungsfeldes der Begriffe >Historie< (Geschichte) und >TheorieTheorie< im Zusammenhang mit Historie heute legitimerweise meinen kann. Daran schließt sich die Frage, woher die Geschichtswissenschaft ihre Theorien bezieht und wie sie diese gebraucht, also welcher Herkunft Theorien in der Geschichtswissenschaft entstammen und welcher Verwendungsweise sie unterliegen. Zuletzt (IV) möchte ich versuchen, die Rolle, die das theoretische Wissen in jeder Phase des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses spielt, detailliert anzugeben. Als Leitfaden meiner Suche nach den Theorienanteilen wähle ich J. G. Droysens Ablaufschema der Historischen Methode, wie er sie in seiner »Historik« (1858-1883) entwickelt hat. Da bis heute nicht mehr der Versuch unternommen worden ist, eine dem gewandelten Geschichtsverständnis und den fortgeschrittenen Forschungspraktiken angepaßtes Kompendium der Historischen Methode zu verfassen, das dem Niveau des Droysenschen Entwurfs entspräche, 71 scheint es mir immer noch am geeignetsten zu sein, den Wandel in der Rollenverteilung zwischen theoretischen und nicht-theoretischen Erkenntnissen im Vergleich mit Droysens Historischer Methode zu beschreiben.
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II. Historisches und theoretisches Wissen: Zu den begrifflichen Voraussetzungen, die für den Gegensatz verantwortlich sind Die gegenwärtige Debatte über die Theoriefähigkeit der Historie gehört zu jener Art wissenschaftstheoretischer Diskussion, in der nicht selten althergebrachte Argumente in allenfalls neuem Sprachgewand vertreten werden. Es ist daher zunächst erforderlich, sich den traditionellen Gegensatz von Historie und Theorie im Einzelnen zu vergegenwärtigen. Häufiger als das Wort >Historie< verwenden wir im Deutschen das Wort >GeschichteGeschichte< im Auge behaltend, betrachten wir zuerst die Bedeutung von Geschichte als realem Geschehen.
1. Die Bedeutungen des Begriffs >Geschichte< als reales Geschehen 1.1 Geschichte steht für die konkreten »res factae« Das Wort >Geschichte< können wir aus der Etymologie von >geschehen< ableiten. Im Althochdeutschen bedeutet »scehan« soviel wie >sich ereignensich plötzlich wenden< oder einfach >entstehenwerdenGeschichte< also zunächst und im allgemeinsten Sinn des Wortes für das, was geschieht. Genauer ist damit aber gemeint, daß Geschichte nicht in dem bloß möglichen oder erdachten, sondern in dem wirklichen oder faktischen Verlaufeines Geschehens besteht. Mit den einprägsamen Worten einer seit dem Mittelalter immer wieder verwendeten Formel 2 steht >Geschichte< näherhin für die von den »res fictae«, dem erdachten und konstruierten Geschehen unterschiedenen »res factae«, für das tatsächliche, wirkliche Geschehen. Unter einem wirklichen Geschichtsgeschehen verstehen wir eine Reihe räumlich und zeitlich fixierter Begebenheiten, Ereignisse, Vorgänge in der Welt. Solche realen Geschehnisse zeigen nach den WortenJ. Huizingas eine »greifbar deutliche Form«, tragen »scharf umrissene Züge«, sie lassen sich sozusagen »malen und prägen sich dem 28
Gedächtnis ein«. Sie besitzen also auch in der Weise Form und Gestalt, daß sie sich immer wieder zu gleichsam epischen Bildern oder dramatischen Szenen verdichten. 3 Deswegen steht >Geschichte< auch für das anschauliche, konkrete Geschehen.
1.2 Geschichte als vergangenes und allzeitliches Geschehen Die Geschichte umfaßt nun entweder nur das vergangene Geschehen oder aber sowohl das, was in der Vergangenheit geschehen ist, was gegenwärtig geschieht aber auch das, was in der Z u k u n f t geschehen wird. Im ersten Fall ist ein geschichtliches Geschehen nur in der Weise veränderlich, daß es zunehmend von der Gegenwart zurückweicht, immer tiefer in die Vergangenheit eintaucht. Geschichtliche Ereignisse der Vergangenheit unterliegen weder in ihrer Reihenfolge noch in ihrer Faktizität einer Modifikation. 4 Demgegenüber erweist sich das zukünftige Gcschichtsgeschchen in jeder Hinsicht als veränderlich und offen, enthält es doch die Menge aller möglichen, zumindest aller nicht durch die Wirkungen vergangener Geschehnisse bereits ausgcschiedcnen Ereignisse. Da uns aber die ganze, Vergangenheit und Z u k u n f t einschließende, omnitemporalc Geschichte nicht faktisch gegeben ist, bleibt sie allenfalls eine regulative Idee. 5
1.3 Geschichtc als unumkehrbares und unwicderholbares Geschehen Von allem Geschehen können wir stets auch sagen, daß es sich in der Zeit vollzieht, d. h. dauert. Seine Zeitlichkeit erfahren wir allerdings nur dadurch, daß das, was geschieht, sich verändert, indem es Anfang und Ende hat und von unterschiedlicher Dauer ist. »Es ist das Erlebnis der Zeit, welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu k o m m e n droht«, bemerkt T h . Mann in seinem Exkurs über den Zeitsinn. 6 O h n e Veränderung gäbe es also für uns keine Zeit. 7 Wenn Geschichte das ist, was geschieht, alles Geschehen aber in der Zeit verläuft, Zeit wiederum nur durch Veränderung besteht, so ist Geschichte auch das, was sich verändert. Können wir aber auch umgekehrt sagen, daß alles, was sich verändert, auch geschichtlich ist? Im ersten Fall würden wir Veränderung nur als eine notwendige Bedingung von Geschichte, mithin Geschichte nur als einen Teil des Geschehens in der Zeit, im zweiten Fall aber Veränderung als eine hinreichende Bedingung von Geschichte, mithin Geschichte als die Gesamtheit des Geschehens in der Zeit betrachten. In diesem letzten Sinne hätte dann auch die N a t u r eine Geschichte, denn sie verläuft und verändert sich ja in der Zeit. 8 In welcher Weise Veränderung nun Bedingung von Geschichte ist, hängt offenbar davon ab, ob 29
wir verschiedene Arten von Veränderung unterscheiden können. Welcher Art von Veränderung erkennt die traditionelle Auffassung aber geschichtliche Qualität zu? N u n wird jede Veränderung im Hinblick auf eine Zeitordnung und ein Zeitmaß bestimmt. So können Veränderungen auf zweierlei Weise zeitlich geordnet sein: (1) indem die verschiedenen Zustände eines Geschehens nach den asymmetrischen Beziehungen > früher alsspäter als< geordnet werden; (2) indem die verschiedenen Zustände eines Geschehens als >vergangengegenwärtig< oder >zukünftig< bezeichnet werden. Im ersten Fall ist die Zeitordnung in dem Sinne unveränderlich, daß ein Z u stand, der früher als ein anderer ist, nicht später sein kann als dieser und umgekehrt, bzw. daß von drei Zeitpunkten einer stets zwischen den beiden anderen liegt. Daraus ergibt sich eine, wenn auch einfache Richtung der Zeit. Nicht festgelegt ist damit, ob ein Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, (der zwar früher oder später als ein anderer sein kann), tatsächlich schon eingetreten ist, jetzt gerade eintritt oder noch nicht eingetreten ist. 9 Dies läßt sich erst im Hinblick auf die zweite Zeitordnung ausmachen, in der der Bezug auf eine jeweilige Gegenwart wesentlich ist und einen eindeutigen Sinn bekommt. In dieser Zeitordnung >fließt< die Zeit aus der Vergangenheit in Richtung auf die Zukunft. 1 0 Ein geschichtliches Geschehen ist nun im Hinblick auf die ihm zugrundeliegende Zeitordnung ein solches, das gemäß der zweiten topologischen Struktur der Zeit (Vergangenheit-GegenwartZukunft) unumkehrbar gerichtet ist und damit sich unwiderruflich verändert. Die zeitliche Messung einer Veränderung erfolgt in der Weise, daß man sie mit einer anderen Veränderung, (die man zu diesem Zweck als elementarer ansieht), vergleicht. 1 1 Unter dem Gesichtspunkt ihres Verlaufs lassen sich aber aus der Vielfalt der Veränderungen vier Formen unterscheiden, die als Maßstab dienen: (1) Ein Geschehen verändert sich gleichförmig oder kontinuierlich, wenn es während gleicher Zeitspannen (-Intervalle) gleiche Z u standsänderungen vollzieht. In dieser Weise hatte die Antike die ewige Bewegung der Himmelskugel als Zeitmaß ausgezeichnet. 1 2 (2) Ein Geschehen verändert sich ungleichförmig oder diskontinuierlich, wenn es während gleicher Zeitintervalle ungleiche Zustandsänderungen vollzieht. In dieser Weise hatte der Darwinismus die biologische Evolution der Arten als einen Zeitmaßstab ausgezeichnet. 1 3 (3) Ein Geschehen verändert sich periodisch oder repititiv, wenn es eine bestimmte Aufeinanderfolge von Zuständen immer wieder durchläuft. In dieser Weise hatte die klassische Dynamik die Pendelschwingung als Zeitmaß ausgezeichnet. 1 4 (4) Ein Geschehen verändert sich monoton oder linear, wenn es eine bestimmte Aufeinanderfolge von Zuständen nur einmal durchläuft. In dieser Weise zeichnet die K o s m o logie die Entropie des Weltalls als ein Zeitmaß aus. 1 5 Es bildet nun genau dasjenige temporale Verständnis von Geschichte eine Voraussetzung für den Gegensatz von historischem und theoretischem Wissen, welches ein ge30
schichtliches Geschehen nach der ersten und vierten metrischen Struktur der Zeit auffaßt. Als Geschichte bezeichnet es folglich ein Geschehen, das sich kontinuierlich und linear verändert, das also ein stetig sich entwickelndes und einmaliges Geschehen ist. In diesem Sinne charakterisierte e t w a j . G. Droysen die Geschichte als »stetes Werden«, »steigernde Weiterführung«, »rastloses Fortschreiten« u. ä. 1 6 Freilich bestehen neben dieser seit der Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaft dominierenden Auffassung auch Konzepte von Geschichte, in denen das geschichtliche Geschehen als periodisch wiederkehrendes oder chaotisch diskontinuierliches gesehen wird. Gerade in der Epoche, in der sich das Entwicklungsdenken in der Historie durchsetzte, haben bedeutende Autoren immer wieder versucht, den antiken Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu beleben. So bemerkte Goethe: »Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug, . . . sie hat ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend zurück, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtüm e r . « 1 7 Für Fr. Schlegel galt das »ontologische Gesetz . . . des ewigen Kreislaufs . . . für die einzelnen Gedanken der einzelnen Geister, wie für die Entwicklung ganzer Nationen, Geschlechter und Zeitalter«. 1 8 J . G. Fichte äußerte sich in seinen »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« (1808), daß »der gesamte Weg aber, den . . . die Menschheit hinieden macht, nichts anderes als ein Zurückgehen zu dem Punkte ist, auf welchem sie gleich anfangs stand«. 1 9 A m umfassendsten entwickelte schließlich Fr. Nietzsche den ethischen (»Die fröhliche Wissenschaft«, 1882) und geschichtsphilosophischen Gedanken (»Also sprach Zarathustra«, 1883-91) der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 2 0 In einer v o m Individualismus geprägten Geschichtsauffassung fand sich die eher pessimistische Uberzeugung, daß die »Weltgeschichte wie ein Chaos zufälliger Ereignisse [aussieht], - im Ganzen ein Durcheinander wie die Wirbel einer Wasserflut. Es geht immer weiter, von einer Verwirrung in die andere, von einem Unheil in das andere, mit kurzen Lichtblicken des Glücks, mit Inseln, die v o m Strom eine Weile verschont bleiben, bis auch sie überflutet werden . . . « 2 1 Schon beij. Burckhardt kündigte sich in der Metapher v o m »Wellenmeer der Weltgeschichte« eine Grundorientierung an, 2 2 die M. Weber für seine historische Sozialwissenschaft präsent hielt. Er sprach v o m »stets gleich unendlichen Strom des Individuellen« und v o m »ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt«. 2 3
1.4 Geschichte - Geschehnisse von einzigartigem Wert D e m temporalen Aspekt der Unumkehrbarkeit und NichtWiederholbarkeit des geschichtlichen Geschehens entspricht nach herkömmlichem Verständ31
nis ein qualitativer Aspekt geschichtlicher Veränderung. Danach unterscheiden sich zwei historische Ereignisse nicht nur in ihrer temporalen Punktualität, durch die sie innerhalb unseres Zeitsystems an verschiedenen Stellen verortet sind, sondern auch in ihrer inhaltlichen Beschaffenheit, durch die sie innerhalb des ganzen Geschichtsgeschehens einzigartig und unverwechselbar werden. Die eine Schlacht fand um 1410, die andere um 1914 bei Tannenberg statt; beides waren Schlachten, beide fanden am selben Ort statt, in beiden trafen die gleichen Völker aufeinander, gleichwohl waren sie von ungleicher Beschaffenheit. Ein geschichtliches Gesehehen ist daher auch in dem Sinne individuell, daß es einzigartig ist. Dem Gedanken von der temporalen und qualitativen Individualität des geschichtlichen Geschehens gewann die historistische Geschichtsschreibung näherhin den normativen Standpunkt ab, daß jede historische Erscheinung ihr eigenes Daseinsrecht und ihre eigene Vollkommenheit besitzen muß. Jedes geschichtliche Geschehen trägt daher seinen eigenen, keinem allgemeinverbindlichen und unveränderlichen Richtmaß zugänglichen Wert in sich.
1.5 Geschichte als Tat Wenn Geschichte ein Geschehen ist, das sich auf irreversible, einmalige und einzigartige Weise verändert, ist sodann zu fragen, wodurch eine solche Art von Veränderung zustande kommt. In seiner allgemeinen Wendung als sich in der Zeit vollziehendes Geschehen trägt das Wort >Geschichte< sowohl eine aktive als auch eine passive Bedeutung. Wortgeschichtlich ergibt sich der aktive Sinn aus der Übersetzung der gebräuchlichsten Wörter, die das Lateinische zur Bezeichnung der realen Geschehnisse besitzt, nämlich »res factae«, »facta«, »res gestae«, »gesta«, »acta« etc. 24 Hierfür findet sich im Deutschen der zusammenfassende Ausdruck »die Geschichten«. 25 Das Wort >Geschichte< steht also für ein von Menschen hervorgebrachtes, gemachtes Geschehen. Zwar findet jede Tat, jedes Werk zweifellos zugleich als ein innerweltliches Ereignis statt, doch wird hier der ereignishafte Aspekt des geschichtlichen Geschehens zugunsten des tathaften Aspekts ausgeblendet, unter dem geschichtliche Vorgänge als Akte des Bauens, Schaffens, Produzierens, freilich auch des Abreißens, Zerstörens, Modifzierens erscheinen. 26 Deswegen ist Geschichte auch das, was getan wird. 2 7
1.6 Geschichte als »Widerfahrnis« Der passive Sinn von >Geschichte< tritt besonders an dem meist nur mit einer Vorsilbe verbundenen (ahd) Substantiv »gisciht« hervor, das ein Ereignis, einen Hergang, eine Begebenheit genauer als ein solches Geschehen charakterisiert, welches entweder durch uneinsehbare Schickung oder durch blin32
den Zufall eintritt. 28 Während mit dem (nicht v o m Menschen, sondern) von Gott, der Natur, einem Weltgeist etc. herrührenden Schicksal bzw. mit dem zwar v o m Menschen initiierten, aber dann außer Kontrolle geratenen »Machsal« 2 9 ein lebenslanges, unvermeidliches Los gemeint ist, tritt der blinde Zufall eher als unerwarteter, plötzlicher Schicksalsschlag auf. Gemeinsam ist aber sowohl dem schicksalhaften wie auch zufälligen Geschehen, daß es einfach passiert, uns unverfügbar trifft und überkommt, also gerade nicht von uns gewählt, gemacht, beeinflußt werden kann. Bekannt sind die Metaphern der orientierungslosen Irrfahrt, des reißenden Stromes, der auf einer Welle dahintreibenden Schiffbrüchigen, 3 0 die das geschichtliche Geschehen veranschaulichen sollen, insofern es eben einfach passiert, uns zustößt, überkommt und keine handelnde Einflußnahme zuläßt. Hier gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. 3 1 Deswegen ist Geschichte auch das, was einem widerfährt.
1.7 Geschichte als zufälliges Geschehen In dieser letzten Bedeutung erweist sich das Wort >Geschichte< als Übersetzung des lateinischen »casus«, das eine Angelegenheit, einen Vorfall, Zufall oder den Eintritt oder Ausgang eines solchen Geschehens meint. 3 2 Kennzeichnend für diese Art von Geschehen ist, daß es auf momenthafte, gegenwärtige oder kurz vorhergegangene Begebenheiten beschränkt ist; daß es an einen vereinzelten Schauplatz und wenige Betroffene gebunden bleibt; daß es somit auf keinen übergreifenden Zusammenhang verweist, der es erlauben würde, geschichtliche Geschehnisse aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erwartungen für die Zukunft ableiten zu können. 3 3 Geschichte ist daher auch das, was durch Zufall geschieht.
1.8 Von den vielen Geschichten zu der einen Geschichte Bei der vorangegangenen Zusammenstellung der Merkmale von Geschichte blieb bisher eine Unterscheidung unbehandelt, die für die Frage nach der Vereinbarkeit von Historie und Theorie von großer Wichtigkeit ist. Es handelt sich um die schon kurz angemerkte Differenz zwischen den Geschichten und der Geschichte. 3 4 Der Ausdruck » Geschichten « bezeichnet die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geläufige Pluralform der Singularformen »das geschichte« und »die geschieht«. »Die Geschichte bestand also früher aus einer S u m m e von Einzelgeschichten.« 3 5 Diese waren charakterisiert durch den Bezug auf das konkrete Subjekt einer Person, einer Gruppe, einer Institution etc. und durch ihre exemplarische Bedeutung, die es erlaubte, aus den vielen ähnlichen Geschichten zu lernen. 3 6 Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich gegenüber diesen episodenhaften und unverbundenen Ge33
schichten der Gedanke einer diese Einzelgeschichten so untereinander verbindenden Geschichte durch, daß darin die gemeinsamen Eigenschaften aller Geschichten überhaupt zusammengefaßt werden konnten. Terminologisch kam dieser Tatbestand in Wendungen wie »die Geschichte an sich«, »als solche«, »selbst«, »schlechthin« usw. zum Ausdruck. Mit dieser Geschichte im Kollektivsingular sollte also ein die einzelnen geschichtlichen Tatsachen übergreifender Zusammenhang geschichtlicher Veränderung erfaßt werden. Sie war damit nicht mehr die begrenzte Geschichte von etwas oder jemandem, sondern die Geschichte wurde sowohl zu ihrem eigenen Subjekt, zum »eigenständigen Agens«, als auch zur »Bedingung der M ö g lichkeit aller Einzelgeschichten«. 3 7 Diese, wie Droysen sich später ausdrückte, 3 8 »über den Geschichten« waltende »Geschichte« brachte somit nichts anderes als die neuzeitlichen Erfahrungen der »Veränderlichkeit, (der) Beschleunigung, (der) offenen Zukunft, (der) revolutionären Trends und ihrer überraschenden Einmaligkeit, (der) sich überholenden Modernität« auf ihren B e g r i f f . 3 9 Indem W. v. Humboldt vom Geschichtsschreiber verlangte, daß er »jede Begebenheit als Teil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form der Geschichte überhaupt darstellen« sollte, 4 0 verwies er auf eine theoretische Anstrengung, der sich die Historie nunmehr zu unterziehen hatte.
2. Die Bedeutungen des Begriffs >Geschichte< als Darstellung eines Geschehens 2.1 Geschichte als gewußtes und erinnerungswertes Geschehen Durch die mittelhochdeutsche Ubersetzung des lateinischen »historia« erhält das Wort >Geschichte< auch die Bedeutung von Geschichtsdarstellung. Denn »historia«, seinerseits ein griechisches Lehnwort, 4 1 meint in erster Linie die gedankliche Aneignung und Verarbeitung von Geschehnissen durch Erforschung, Wissen und Darstellung. Demgemäß steht das in die deutsche Schreibweise übertragene »historje« als Sammelname für Quellen aller Art (buoch, liet, maere, schrift, rede), bedeutet also Geschichtsschreibung, Geschichtserzählung, Geschichtsbuch, 4 2 wobei der Forschungsaspekt von »historia« zunächst kaum übernommen wird. Seit dem 18. Jahrhundert k o m m t es jedoch zu der schon kurz erläuterten, 4 3 allmählichen Verschmelzung von »Historie« und »Geschichte«, so daß unter Berücksichtigung der angedeuteten Pluralbildung mit »Historien« auch die Ereignisse, mit »Geschichte« auch die Darstellungen gemeint sein können. 4 4 Stößt man also auf Redewendungen wie die von den »lehrreichen und nützlichen Geschichten«, den »deutschen Geschichten« oder den »historien und geschichten der alten Vorfahren« etc., 4 5 so liegen Fälle der Wiedergabe des 34
Wortes >Historie< durch das Wort >Geschichte< vor. Dieser begriffsgeschichtliche Vorgang läßt sich im Lichte der überkommenen Trennung von »historia« und »res factae« (= historiae) auch so deuten, daß die historische Darstellung zur geschichtlichen Realität erklärt wird. Geschehnisse sind nicht mehr in ihrer Wirklichkeit, sondern nur noch als erforschte, gewußte und dargestellte geschichtlich faßbar. Geschichte gewinnt nur in der Weise Realität, wie sie kognitiv, sei es in der Erinnerung von Vergangenem, sei es in der Erwartung von Zukünftigem gegenwärtig ist. Geschichte ist, wie Droysen sagt, »das Wissen ihrer selbst«. 46 Das Wort >Geschichte< steht für das gewußte Geschehen, das uns im Hinblick auf unsere gegenwärtigen Interessen entweder als erinnerungswert oder überholt erscheint.
2.2 Geschichte als chronologisch geordnetes und erzählend dargestelltes Geschehen Die Assimilation von Geschichte an Historie hat noch die weitere Konsequenz, daß Geschichte in den Einflußbereich der methodischen Prinzipien der Historie gerät. Ursprünglich waren es diejenigen Prinzipien, die die »historia« als eine gegenüber der Dichtung (»poesia«) eigenständige Darstellungsgattung auszeichneten. Da die Historie als propädeutische Kunst bis ins 18. Jahrhundert weitgehend der humanistischen Rhetorik angehörte, 4 7 sind es vor allem die in der Rhetorik getroffenen, kanonischen Unterscheidungen gewesen, die auf diesem Wege der Angleichung von Geschichte an Historie dem geschichtlichen Gegenstandsbereich seine Form gaben. Grundlegend war hierbei die für die Anordnung (dispositio) des zu traktierenden Stoffes maßgebliche Unterscheidung zwischen dem auf die künstlerische Sinnstiftung ausgehenden »ordo artificialis« und dem die zeitliche Aufeinanderfolge bloß verzeichnenden »ordo naturalis«. 48 In Erfüllung ihrer Aufgabe, zu berichten, was wirklich geschehen war, verpflichtete man folglich die Historie dazu, die Geschehnisse rein in ihrem zeitlichen Nacheinander zu rekonstruieren. Nur so konnte sie den Gang der Dinge ohne Pathos und affekterregende Mittel (»sine ira et studio«) darstellen. Die Geschichte ist daher auch das chronologisch geordnete und erzählend dargestellte Geschehen.
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3. Die Bedeutungen des Begriffs >Theorie< 3.1 Theorie als abstraktiver und konstruktiver Systematisierungsvorgang Gemäß meiner Absicht, die begrifflichen Voraussetzungen herauszuarbeiten, die für den Gegensatz des historischen und theoretischen Wissens verantwortlich zu sein scheinen, läßt sich auch der Begriff >Theorie< logisch und begriffsgeschichtlich analysieren. Das Wort >Theorie< entstammt dem griechischen »theoria«. Bevor letzteres zu einem Grundbegriff der platonischaristotelischen Philosophie wurde, meinte es in seiner verbalisierten Form »theorein« zunächst und ganz allgemein »anschauen«, »zusehen«, »beobachten«, »betrachten«, »erwägen«. In diesem Sinne hob es sich von Wörtern ab, die ein eingreifendes Machen und Herstellen (»poiein«) oder ein aktives Tun und Handeln (»prattein«) bezeichneten. Kaum läßt sich aber in dieser altumgangssprachlichen Verwendungsweise ein ausgesprochener Gegensatz zum Wort »istorein«, dem »Bezeugen« oder »Erforschen« finden.49 Erst als die Tatsache, daß mit »theoria« ursprünglich das andächtige Z u schauen der sakralen Festgesandtschaft (»theoria«, »theoroi«) bei kultischreligiösen Festspielen gemeint war, 5 0 einen systematischen Stellenwert in der Philosophie bekam, erhielt das Wort >Theorie< einen die Wirklichkeit transzendierenden, >metaphysischen< Sinn. Theorie wurde zur Anschauung des Göttlichen und darin selbst zu einer göttlichen Tätigkeit. 5 1 Deswegen konnte später im Lateinischen das Wort »contemplatio« auch als Übersetzungsbegriff von »theoria« auftreten, denn seiner Etymologie zufolge bezog sich dieses Wort auf die Himmelsbetrachtung des Auguren, der an einem ausgegrenzten und heiligen Bezirk (templum) den Vogelflug als Zeichen der Götter anschaute. Im Zuge des unter dem Titel »Vom Mythos zum Logos« oft beschriebenen Vorgangs 52 erblickte die Theorie zwar bald nicht mehr in einem abgetrennt, jenseitigen Geschehen, sondern in den dem wirklichen, diesseitigen Geschehen zugrundeliegenden Ordnungsprinzipien ihren Gegenstand. Gleichwohl fallen auch die »Gründe« und »Ursachen« des weltlichen Geschehens nicht zusammen mit den naheliegenden, konkreten und anschaulich gegebenen Dingen. So steht >Theorie< für die Erfassung fundamentaler, für das Auge nicht schlicht wahrnehmbarer und also aus der Wirklichkeit als solcher nicht evidenter, abstrakter Ordnungsschemata. 5 3 Da theoretische Erkenntnis über das jeweils unmittelbar Gegebene hinausgeht, ist sodann zu fragen, worin dieser Abstraktionsvorgang besteht. Hier gibt die bereits von Aristoteles (384—322 v. Chr.) in seiner POETIK entwickelte Unterscheidung zwischen den Aufgaben der Geschichtsschreibung einerseits und der Dichtung andererseits eine grundlegende Auskunft. Danach sei es angesichts des oft gleichen Stoffes, den menschlichen Taten und Ereignissen, und der gleichen Darstellungsart, der Erzählung und des Verses, von Historie und Poesie die Aufgabe des Historikers, »zu erzählen, was geschehen ist« (»ta genomena legein«), des Dichters aber, »was gesche36
hen könnte und was möglich wäre nach Wahrscheinlichkeit oder N o t w e n digkeit« (»oia an genoito kai ta dunata kata to eikos ä to anagkaion«). 54 Gemäß der besonders in Kap. 6-8 und 23 skizzierten Theorie der tragischen und epischen Dichtung bedeutet dies, daß die Dichtkunst nicht, wie die Geschichtsschreibung, alles, was sich während eines bestimmten Zeitabschnittes ereignet hat, in seinem Nebeneinander und in seiner Aufeinanderfolge nachzuerzählen hat, 5 5 sondern die Ereignisse und Handlungen zu einem geordneten »Ganzen, was Anfang, Mitte und Ende besitzt«, zusammenfügen soll. 56 Dazu wählt die dichterische Darstellung zunächst die wesentlichen Handlungen und Ereignisse aus 57 und stellt sie dann zu einem wahrscheinlichen, d. h. vernünftigerweise zu erwartenden oder notwendigen Ablaufgefuge zusammen. 5 8 Die Einheit der dichterischen Darstellung beruht daher keineswegs darauf, daß dem beschriebenen Geschehen ein Subjekt zugrundeliegt, noch, daß es an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit passiert, sondern darauf, daß die Ereignisse und Handlungen in einen konstruierten Sinnzusammenhang gebracht werden, in dem alle Teile eine festgelegte Funktion erfüllen. 59 Gerade weil die Dichtung in dieser Weise konstruktiv verfährt, nennt sie Aristoteles auch »philosophischerund bedeutsamer« (»philosophoteron kai spoudaioteron«) 60 als die Geschichtsschreibung. Daraus ergibt sich aber, daß die philosophische, sprich theoretische Erkenntnis auf die »res fictae« zielt oder, modern gesprochen, daß das theoretische Wissen konstruktiven Charakter besitzt.
3.2 Die Merkmale von Theorie nach dem aristotelisch-klassischen Modell der Erkenntnisgewinnung (A)
Die Allgemeinheit
theoretischen
Wissens
Eine Steigerung des konstruktiven Elements von Theorie läßt sich auch als ein Vorgang zunehmender Systematisierung begreifen. Systematisierungen treten in dem von Aristoteles entwickelten, klassischen Modell der Erkenntnisgewinnung 6 1 bereits dort auf, wo die Erfahrung mittels Vergleich die zuvor von der Wahrnehmung identifizierten Gegenstände im Hinblick auf ähnliche oder gemeinsame Eigenschaften zu klassifizieren beginnt und sich dabei mit zunehmendem Abstraktionsgrad zur Kunstfertigkeit (»techne«) fortentwickelt. Obgleich Aristoteles bereits bei dieser elementaren Art der Informationsaufbereitung und -erweiterung den Ansatz zu einem verallgemeinernden Denken erblickt, 62 setzt flir ihn die Theorie erst dort ein, wo (a) die Verallgeminerung singulärer Tatsachen soweit fortgeschritten ist, daß ein solchermaßen allgemeines Wissen auf keinen besonderen Anwendungsbereich mehr beschränkt ist. Theoretisch heißt hier also ein Wissen, das universal ist. Aber auch in einem temporalen Sinn versteht sich das theoretische Wissen als allgemein. Denn die allgemeine Theorie wird im Idealfall in 37
ihrem Geltungsanspruch zeitlos sein. Da nach Aristoteles die Theorie die unveränderlichen, ewigen Prinzipien allen Geschehens erkennt, muß folglich ihr Wissen abgeschlossen und allgemeingültig sein. 6 3 Theoretisch heißt hier ein Wissen, das zeitlich nicht relativiert, sondern immer gültig ist.
(B) Die Begründbarkeit
theoretischen
Wissens
Die allgemeine Theorie unterscheidet sich (b) sowohl von der besonderen Erfahrung als auch vom bloßen Glauben und Meinen dadurch, daß ihre Behauptungen begründet sind. Während empirische Sätze nach klassischer Auffassung nur die Faktizität der Dinge, das »daßetwas der Fall ist«, konstatieren können, vermögen theoretische Sätze die Ursachen der Dinge, das »warum etwas der Fall ist«, anzugeben. 6 4 Theoretische Aussagen besitzen daher explanatorische Kraft. Nicht nur die von Aristoteles getroffene U n terscheidung dieser beiden Arten der kognitiven Verarbeitung von Wirklichem, sondern auch seine Kennzeichnung von Wissenschaft als diejenige intellektuelle Leistung, die systematisch nach den Ursachen fragt, ist bis heute eine Grundüberzeugung der Wissenschaftsphilosophie geblieben.
(C)
Die Notwendigkeit
theoretischen
Wissens
Theoretische Aussagen sind, und das zeichnet sie vor allem gegenüber dem Glauben und Meinen aus, in der Weise erklärend, daß sie sich nicht damit begnügen, nur zu sagen, daß etwas vermutlich, möglicherweise, wahrscheinlich u. ä. geschieht, sondern daß das, was geschieht, notwendigerweise so und nicht anders geschieht. Dies zu behaupten, impliziert aber, über die Kenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge zu verfugen. Theoretisches Wissen ist daher in seinem Kern nomologischer Natur. A u f dem Hintergrund dieser Bestimmung zeigt sich, daß in einer Historie, die sich nicht als eine erklärende, sondern als eine verstehende Disziplin begreift, zugleich beabsichtigt ist, sich dadurch von der theoretischen Erkenntnis abzugrenzen. 6 5
(D) Die Reproduzierbarkeit
theoretischen
Wissens
Im sechsten Buch seiner »Metaphysik« stellte Aristoteles fest: »Daß es aber keine Wissenschaft des Akzidentellen gibt, ist offenbar. Denn jede Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstand das, was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet.« 6 6 Mit der Formel »de singularium non est scientia« verschaffte später Duns Scotus (1266-1308) der kanonischen Geltung der aristotelischen Feststellung einen einprägsamen Ausdruck. Weil Wissenschaft im wesentlichen Theorie, für die Theorie das Einmalige, Unregelmä38
ßige, Kontingente etc. in seiner Individualität aber nicht thematisierbar war, konnte es keine Wissenschaft vom Einzelnen geben. Wissenschaft erkennt als Theorie nur die wiederkehrenden, regelmäßigen und invarianten Eigenschaften ihrer Gegenstände. Obwohl die Theorie wegen ihrer Allgemeinheit den Einzelfall nicht vollständig erfaßte, bildete sie doch andererseits die Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich überhaupt in der Welt zurechtfand. Eine Welt, in der sich nichts wiederholt, wäre fur niemanden erkennbar. 6 7 So müssen es denn nach Aristoteles unveränderliche Prinzipien sein, die dem Erkennen der Wirklichkeit, genauer gesagt, den Regelmäßigkeiten und Gleichartigkeiten in ihr zugrundeliegen. Der Gedanke von der Reproduzierbarkeit des theoretischen Wissens diente Aristoteles aber auch zur >ontologischen< Abgrenzung zweier Wirklichkeitsbereiche. Denn die ewig gleichbleibenden Prinzipien fanden sich seiner Auffassung nach nur in einem Realitätsbereich, nämlich dem der unveränderlichen Natur. Der Bereich der menschlichen »Praxis«, sprich der Kultur, zeichnete sich demgegenüber durch Wandlungsfähigkeit und Kontingenz, seine Regeln als veränderlich aus. 68 Ganz in diesem Sinne meinte denn auch Droysen, daß im Bereich der Natur »die Formen sich wiederholen, und das Einerlei ihrer periodischen Wiederkehr das Zeitliche ihrer Bewegung zu einem sekundären Moment herabsetzt«. Im Bereich der menschlichen Geschichte bemerkten wir aber »das im Gleichen Wechselnde«, »die immer neuen Formen . . ., in der jede neue Form eine individuell andere ist« usw. 6 9 Nicht anders sah es etwa noch G. Ritter, wenn er die Geschichte als ein »Reich der schöpferischen Spontaneität des Menschen, also der Freiheit im Gegensatz zur Gebundenheit der Natur« bezeichnete. 70 Aus all diesem folgt, daß das theoretische Wissen an den Gegenständen unserer Erkenntnis nur die gleichartigen, regelmäßigen und sich wiederholenden Eigenschaften erfaßt, und daß es dort offenbar an seine Grenze stößt, wo das Einzelne in seiner Ungleichartigkeit und Unwiederholbarkeit thematisiert werden soll.
(E) Der Systemcharakter
theoretischen
Wissens
Der Gedanke der Allgemeinheit, der Begründbarkeit und der Abgeschlossenheit findet beispielhaft seinen Ausdruck in der klassischen, letztlich auf die formale Komposition der Euklidischen Geometrie zurückgehenden Auffassung von Theorie als einer Menge von Aussagen, die in der Weise geordnet ist, daß ihre Aussagen in einem festgelegten Bedingungsverhältnis zueinanderstehen. Keine Aussage ist von den anderen völlig isoliert; anderenfalls gehört sie nicht zur Theorie. Alle Aussagen bilden daher ein deduktives System. Darin finden sich (a) Sätze, von denen Folgerungsbeziehungen ausgehen, bei denen aber keine ankommen (Axiome, Prinzipien); (b) Sätze, bei denen Folgerungsbeziehungen ankommen, von denen aber keine ausgehen (Theoreme); (c) Sätze, von denen Folgerungsbeziehungen sowohl aus39
gehen als auch ankommen (Deduktionen). 7 1 Während die Theoreme und Deduktionen durch Ableitung bewiesen werden können, ist dies bei den Prinzipien und Axiomen, da sie kein Ableitungsprodukt sind, nicht möglich. Sie werden vielmehr entweder aufgrund von intuitiver Evidenz oder konstruktiver Festsetzung für wahr gehalten bzw. erklärt. Ihre strengste, systematische Ausprägung erfährt eine Theorie somit als axiomatisch-deduktives Aussagesystem, in dem es anzustreben gilt, mit möglichst wenig Prämissen möglichst viele Schlußfolgerungen ziehen zu können, wodurch möglichst viele, zuvor als disparat angesehene Aspekte der Wirklichkeit in Zusammenhang gebracht werden können. Auch hier hatte in Abgrenzung zu dieser durch das klassische Modell der Theorie zugeschriebenen Eigenschaft der Deduktion, die historische Zunft, so etwa bei Ranke, der Geschichtswissenschaft allenfalls gestattet, »vom Besonderen bedachtsam und kühn zum Allgemeinen aufzusteigen«, um damit entschieden festzuhalten, daß es »aus der allgemeinen Theorie . . . keinen Weg zur Anschauung des Besonderen gibt«. 72 Vor allem aber hatte J. Burckhardt den Gegensatz zwischen historischem und theoretischem, d. h. für ihn philosophischem Wissen mit dem Unterschied von »Koordinieren« und »Subordinieren« ineinsgesetzt. 73
(G)
Die Lehrbarkeit
theoretischen
Wissens
Die Eigenschaft, sich auf universale und allgemeingültige Sachverhalte zu beziehen, ist schließlich die notwendige Bedingung für die Anwendbarkeit eines Wissens. Denn was nützt ein Wissen, das, da es sich nur auf jeweils besondere und vergängliche Einzelfälle stützt, gar nichts über analoge, bestehende oder zu erwartende Fälle besagt? Anwendbarkeit von Wissen ist aber wiederum eine Voraussetzung für dessen Lehrbarkeit und damit Tradierbarkeit. Lehrbar sind daher nur allgemeine, d. h. wiederholbare und gleichartige Wissensinhalte. 74 Diese sind aber nach der geschilderten Auffassung nur in der theoretischen Erkenntnis greifbar. Von daher wird es verständlich, daß, seitdem die Historie nicht mehr mit Konstanten wie der der gleichbleibenden »Stetigkeit der menschlichen Natur«, des »vermeintlich kontinuierlichen Erfahrungsraums«, kurzum nicht mehr mit der Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit historischer Geschehnisse rechnete, 75 der anwendungsorientierte Lehrgehalt der Historie rapide abnahm. »Mit der Verabschiedung (dieses) Topos der >historia magistra vitaeverzeitlichte< Natur gewährleistet. 93 Denn um einen entwicklungsmäßigen und sinnvollen Zusammenhang zu stiften, bedurfte es einer theoretischen Anstrengung. Nicht anders dachten die Vertreter der Aufklärungshistorie über die Menschheitsgeschichte. Sie forderten wie etwa Voltaire, Condorcet und Rousseau eine »histoire hypothetique«, wie Hume und die Adam SmithSchule eine »theoretical history«, wie Lessing, Iselin, Chladenius, Schiller und die Göttinger Schule eine »philosophische Geschichte«. 94 Die Geschichte wurde zur Zeit der Aufklärung zur selbständigen Wissenschaft erhoben, woraus unter der Prämisse von der Theoretizität der Wissenschaft folgte, daß die Geschichte theoriefähig war. Ihre Verwissenschaftlichung, also ihre Theoretisierung verdankte sie aber in Abhebung zur aristotelischen und 44
historistischen Methodologie auch dem Vorgang der Verzeitlichung ihres Gegenstandes. In der Aufklärungshistorie wurden daher Geschichte und Theorie kompatibel. Eine geschichtliche Betrachtungsweise war dabei nach wie vor von allen Realitätsbereichen möglich, denn sie zielte auf die entwicklungsmäßige Erklärung jeglicher irreversibler Veränderungen, wie das Beispiel der Kantschen Naturgeschichte zeigte.
4.3 Die Historie ist theoriefähig, jedoch nicht erfahrungswissenschaftlich (Deutscher Idealismus) Die dritte Position verwirft die Prämisse, wonach Theoretizität ein wesentliches Merkmal von Erfahrungswissenschaft ist. Sie ist aber durchaus der Meinung, daß die Geschichte theoriefähig ist und muß daher folgern, daß die Geschichte keine Erfahrungswissenschaft ist. Diese befremdliche Ansicht hat der Deutsche Idealismus, vornehmlich Hegel vertreten. Sie wird jedoch ein wenig verständlicher, wenn wir das zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierende, empiristische Wissenschaftsverständnis in Rechnung stellen. Hegel registrierte nämlich, daß sich die sogenannte »kritische Geschichtsschreibung«, indem sie sich zu den Erfahrungswissenschaften zählte, in einem engen Sinne als induktiv verfaßt sah. Allerdings kam es in Hegels Augen vielfach erst gar nicht zu den im Rankeschen Sinne einzig zulässigen Verallgemeinerungen, sondern die Geschichtswissenschaft verharrte in einem antiquarischen Positivismus, »unfähig ein Ganzes, einen allgemeinen Zweck zu erkennen«. 9 5 Der tiefere Grund, weswegen es diese Art der Geschichtsschreibung nicht zur Theorie brachte, lag aber für Hegel in der Reduktion der Geschichtswissenschaft auf die sogenannte »höhere Kritik«, deren Aufgabe nach Fr. A. Wolf (1759-1824) und B . G. Niehbuhr (17761831) darin bestand, die verlorene Quellenbasis historischer Darstellungen und ihre literarische Verwendung zu rekonstruieren. Deswegen »ist es nicht die Geschichte selbst, welche hier vorgetragen wird, sondern eine Geschichte der Geschichte und eine Beurteilung der geschichtlichen Erzählungen und Untersuchung ihrer Wahrheit und Glaubwürdigkeit«. 9 6 Die Materialsammlung und philologische Textkritik wurde damit bereits für das Ganze der Geschichtsschreibung ausgegeben. Während also die kritische Geschichtsschreibung als bestenfalls induktive Disziplin von Hegel für nicht theoriefähig gehalten wird, entwarf er eine »philosophische Weltgeschichte«, die mit dem Anspruch auftrat, »eine denkende Betrachtung« der Geschichte zu sein. 9 7 Der Gedanke, den die Philosophie vorab bewiesen habe 9 8 und dann an die Geschichte herantrüge, ist aber der, »daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist«. 9 9 »Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen . . . Wir müssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den (absoluten) Endzweck der Welt«. 1 0 0 Hegel kannte
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freilich den V o r w u r f der e m p i r i s c h e n Geschichtswissenschaft, der lautete, daß eine >philosophische< Geschichte o h n e R ü c k s i c h t »auf das, w a s ist, G e d a n k e n h e r v o r b r i n g e u n d m i t solchen an die Geschichte gehe, sie als ein Material behandle, sie nicht lasse, w i e sie ist, s o n d e r n sie nach d e m G e d a n ken einrichte, eine Geschichte a priori k o n s t r u i e r e « . 1 0 1 G l e i c h w o h l hielt er an der U n a b k ö m m l i c h k e i t eines solchen apriorischen Z u g r i f f s fest, d e n n u m »das Substantielle . . . zu e r k e n n e n , m u ß m a n das B e w u ß t s e i n der V e r n u n f t m i t b r i n g e n , keine p h y s i s c h e n A u g e n , keinen endlichen Verstand, s o n d e r n das A u g e des Begriffs, der V e r n u n f t , das die O b e r f l ä c h e d u r c h d r i n g t u n d sich d u r c h die M a n n i g f a l t i g k e i t e n des b u n t e n G e w ü h l s der B e g e b e n h e i t e n h i n d u r c h d r i n g t « . 1 0 2 M o d e r n g e s p r o c h e n zeigte Hegel, daß f ü r eine ü b e r b l o ß e D o k u m e n t a t i o n h i n a u s g e h e n d e , i n t e r p r e t i e r e n d e Geschichte T h e o r i e s o w o h l eine k o n s t i t u t i v e als auch regulative F u n k t i o n trage. Inhaltlich b e sagte seine T h e o r i e , daß die Weltgeschichte u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t des » F o r t g a n g s z u m Besseren, V o l l k o m m e n e r e n « betrachtet w e r d e n müsse, dieser bestehe i m »Fortschritt i m B e w u ß t s e i n der Freiheit«. 1 0 3 D i e A u s d r ü k ke »Freiheit«, » B e w u ß t s e i n « , » V o l l k o m m e n h e i t « u s w . deuteten an, daß geistige P h ä n o m e n e d e n G e g e n s t a n d der p h i l o s o p h i s c h e n Geschichtsschreib u n g a u s m a c h t e n . Geist h a b e n j e d o c h n u r menschliche Wesen, u n d seine M e r k m a l e , die i m K o n t r a s t zu natürlichen P h ä n o m e n e n b e s t i m m t w u r d e n , w a r e n auch d a f ü r v e r a n t w o r t l i c h , daß die idealistische Geschichtsschreib u n g in erster Linie daran interessiert w a r , die individuelle H a n d l u n g s f r e i heit historischer A k t e u r e u n d den E n t s c h e i d u n g s c h a r a k t e r v o n geschichtlichen Ereignissen aufzuzeigen. D i e dritte, d u r c h H e g e l repräsentierte P o s i tion k o m m t d a h e r zu d e m Schluß, daß die w a h r e p h i l o s o p h i s c h e Geschichte keine Wissenschaft i m Sinne einer e m p i r i s c h - i n d u k t i v e n Disziplin ist, da sie als p h i l o s o p h i s c h e Weltgeschichte auf T h e o r i e a n g e w i e s e n ist. G e g e n s t a n d der p h i l o s o p h i s c h e n H i s t o r i e ist aber der Geist, der sich in der M e n s c h e n w e l t manifestiert.
4.4 D i e H i s t o r i e ist nicht theoriefähig, j e d o c h wissenschaftlich (Historismus) D i e vierte P o s i t i o n v e r w i r f t die A n n a h m e v o n d e m n o t w e n d i g e n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n Wissenschaftlichkeit u n d Theoretizität, statt dessen rechnet sie m i t der M ö g l i c h k e i t einer theoriefreien Wissenschaft. Sie k a n n d a h e r die Geschichte f ü r nicht theoriefähig u n d g l e i c h w o h l f u r w i s s e n s c h a f t lich ausgeben. Dies ist die A u f f a s s u n g des Historismus. Z w a r b e s t e h t in der u m f a n g r e i c h e n Literatur z u m B e g r i f f u n d zur Geschichte des H i s t o r i s m u s kein definitiver K o n s e n s d a r ü b e r , w a s m a n u n t e r >Historismus( zu v e r s t e h e n habe. In v o r l i e g e n d e m Z u s a m m e n h a n g g e n ü g t es aber, auf drei w e s e n t l i c h e A s p e k t e dieses Begriffs h i n z u w e i s e n . 1 0 4 W i e schon a n g e d e u t e t , k a n n m a n den H i s t o r i s m u s (a) ganz allgemein als die A u f f a s s u n g bezeichnen, die die 46
Geschichte z u m Prinzip allen Geschehens und seines Erkennens erhebt. Häufig wird der Satz K. Heussis zitiert, daß der Historismus die Forderung aufstellt, daß ». . . alles und jedes, auch sich selbst als geschichtlich g e w o r den und als im fortgesetzten geschichtlichen Werden begriffen betrachtet . . .« werden m u ß . 1 0 5 Der Historismus bildet hier also das Gegenprinzip zum Naturalismus. Mit diesem Bewußtsein des »Allwandels« (K. M a n n heim), der Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Weiterentwicklung hängt sodann (b) die weitere Bedeutung von Historismus als Form des Relativismus zusammen. Er gibt damit der Ü b e r z e u g u n g Ausdruck, daß sich aufgrund des geschichtlichen Bedingtseins und der historischen Verschiedenheit aller kultureller Äußerungen des Menschen keine »absoluten Geltungsansprüche - seien sie wissenschaftlicher, normativer oder ästhetischer Art« gewinnen lassen. 1 0 6 Schließlich tritt der Historismus (c) auch als methodologisches Prinzip im engeren Sinne, nämlich als das des Positivismus im Bereich der Geisteswissenschaften auf. Es ist vor allem diese Bedeutung des Historismus, die der hier zu behandelnden Position zugrundeliegt. Ihren Kern bildet das sogenannte Individualitätsprinzip (IP). Die Individualitätsthese enthält drei Teilargumente: (1) Der Unterschied zwischen historischem und theoretischem Wissen entspricht genau dem Unterschied von Empirie und T h e o rie. Die Historie hat es mit konkreten, die Theorie mit abstrakten Entitäten zu tun. (2) Das historische Wissen unterscheidet sich v o m theoretischen Wissen durch den Primat der Zeitvorstellung von dem der R a u m v o r stellung. 1 0 7 N u r über zeitlos rekurrente, einfache und gleichartige, nicht aber über zeitlich einmalige, komplexe und ungleichartige Tatbestände kann es Theoriebildung geben. (3) Das historische Wissen unterscheidet sich v o m theoretischen Wissen dadurch, daß dieses ein Geschehen als gesetzmäßig, jenes aber als werthaftes betrachtet. Individuell wird ein Einzelgeschehen unter d e m Wertgesichtspunkt erst dann, w e n n es einen eigenen Wert besitzt. Dieser Aspekt des IP leugnet daher die Theoriefähigkeit der Geschichte, indem er sich gegen die Verallgemeinerungsfähigkeit und transhistorische Gültigkeit geschichtlicher Begriffe, N o r m e n und Werte richtet. Die v o m IP angezeigte Beschaffenheit geschichtlicher Phänomene verpflichtet schließlich den Historiker, nur dem Menschen eine Geschichte im eigentlichen Sinne zuzusprechen. 1 0 8 Denn nach Droysen besitzt nur der »menschliche Wille« diese Signatur der konkreten, zeitlich sich entwickelnden und werthaft einzigartigen Individualität. Den »zusammenwirkenden Willen Vieler«, der in verschiedenen Formen der Gemeinschaft »gleichsam ein gemeinsames Ichsein« hat, nennt Droysen »sittliche Welt«, weil solche Gemeinschaften, wie Familie, Volk, Staat, Glaube usw. erziehende Kräfte besitzen. Die Aufgabe des Historikers besteht demzufolge darin, die »Bewegung«, d . h . das »Werden und Wachsen« dieser sittlichen Welt zu erforschen. 1 0 9 Gemäß seinem empiristischen Wissenschaftsverständnisses hält also der Historismus Theoriebildung und - a n w e n d u n g nicht für ein konstitutives M e r k m a l von Wissenschaft; gemäß d e m Individualitätsprinzip aber 47
erklärt er die Geschichte für nicht theoriefähig. Sie sei vielmehr eine individualisierende Wissenschaft. Aufgrund der durch das IP bestimmten Beschaffenheit geschichtlicher Phänomene glaubt er schließlich, diese Merkmale nur in der Menschenwelt vorzufinden.
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III. Der Theoriebegriff, die Herkunft und Verwendungsweise von Theorien in der Geschichtswissenschaft 1. Theoretizität und Theoriekonzepte An den Positionen, für die sich eine historische und eine theoretische Betrachtungsweise gegenseitig ausschließen, fällt nun auf, daß dies sowohl aus unterschiedlichen als auch gemeinsamen Motiven heraus geschieht. So treten Historie und Theorie zum einen aufgrund eines unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisses auseinander, zum anderen aufgrund der gemeinsamen Ansicht, daß der Gegensatz von theoretischem und nicht-theoretischem Wissen gleichzusetzen ist mit dem zwischen theoretischem und historischem Wissen. Dies ergibt sich aus den dargelegten, gegensätzlichen Merkmalszuschreibungen der historischen und theoretischen Erkenntnis.
1.1 Zur Unterscheidung der Gegensatzpaare theoretisch : nicht-theoretisch< und theoretisch : historisch< Die eine Möglichkeit, den Gegensatz von Historie und Theorie aufzulösen, besteht darin zu zeigen, daß wir heute das theoretische Wissen nicht mehr strikt in der aristotelisch-klassischen Sichtweise bestimmen und daher umgekehrt auch nicht mehr gezwungen sind, das historische Wissen mit den traditionellen Prädikaten zu belegen. Vor allem besitzt die theoretische Erkenntnis für uns nicht mehr nur eine strenge Begründungsdimension, also keineswegs eine ausschließlich explanatorische Funktion. Bei der Suche nach den theoretischen Elementen in den einzelnen Phasen des historischen Erkenntnisprozesses wird sich später zeigen, daß bereits bei der Auswahl der Quellen(arten) und der Feststellung der historischen Tatsachen, die der Erklärung eines geschichtlichen Geschehens vorangehen, theoretisches Wissen verwendet wird. 1 Theoretisches Wissen dient neben Erklärungszwekken auch der Beschreibung von Dingen, der Erläuterung von Ausdrücken, der Bewertung von Vorstellungen. 2 Sodann verbietet uns das allgegenwärtige, fallibilistische Wissenschaftsverständnis, jegliche realitätsbezogene Erkenntnis als unumstößlich notwendig und zeitlos allgemeingültig anzuerkennen. 3 Damit aber erlangt auch das theoretische Wissen nur einen hypothetischen, wenn auch im Vergleich zum historischen Wissen recht stabilen 49
Status. Weiter sehen w i r h e u t e gerade in der technischen V e r w e n d b a r k e i t , nicht aber in der nutzlosen Z w e c k f r e i h e i t einen Vorteil v o n T h e o r i e u s w . D i e andere Möglichkeit, die traditionelle U n v e r e i n b a r k e i t v o n Historie u n d T h e o r i e zu ü b e r w i n d e n , besteht darin, die Identifikation der Gegensatzpaare t h e o r e t i s c h : nichttheoretisch< u n d t h e o r e t i s c h : historisch< selbst zu kritisieren. Es zeigt sich nämlich, daß die erste U n t e r s c h e i d u n g v o n theoretis c h e m u n d nicht-theoretischem Wissen eine völlig andere ist als die zweite v o n theoretischem u n d historischem Wissen. Einer neueren u n d sich schnell verbreitenden Sicht v o n T h e o r i e zufolge nennen w i r ein Wissen genau d a n n theoretisch, w e n n die in i h m v e r w e n d e t e n Begriffe u n d Aussagen ihre B e d e u t u n g erst i m R a h m e n einer b e s t i m m t e n T h e o r i e erhalten. 4 Theoretisch w e r d e n also solche Wissenselemente erst unter H e r a n z i e h u n g der G r u n d a n n a h m e n einer Theorie. B e z o g e n auf den Bereich der Kulturwissenschaften heißt dies, daß ζ. B. die Begriffe »Status«, »Klasse«, »Stand« erst i m R a h m e n etwa einer soziologischen Schichtungstheorie, die T e r m e »Attitüde«, »Ideologie«, »Kollektivbewußtsein« erst i m Z u s a m m e n h a n g etwa einer sozialpsychologischen T h e o r i e der Mentalitäten, die A u s d r ü c k e » W a c h s t u m s z y k lus«, »Strukturbruch« erst durch eine wirtschaftsgeschichtliche K o n j u n k turtheorie u s w . ihren wissenschaftlich präzisen Sinn b e k o m m e n . D i e meist unterschiedliche B e d e u t u n g dieser Begriffe resultiert n u n offensichtlich gerade daher, daß diese g e m ä ß ihrer Z u o r d n u n g zu verschiedenen, vielleicht k o n k u r r i e r e n d e n T h e o r i e n unterschiedlich definiert sind. Dies w i e d e r u m schließt aber nicht aus, daß solche Begriffe auch außerhalb jeglicher w i s s e n schaftlichen T h e o r i e n eine B e d e u t u n g tragen k ö n n e n , w e n n g l e i c h es auch Begriffe gibt w i e ζ. B. den der historischen Familienforschung e n t s t a m m e n der Begriff »Sekundärpatriarchalismus« 5 oder den erstmals in der j ü n g e r e n Wirtschaftsgeschichte gebildeten A u s d r u c k »Protoindustrialisierung«, 6 die n u r in diesen T h e o r i e k o n t e x t e n etwas bedeuten. Die A r t e n v o n Begriffen b z w . Aussagen, die nicht in diesem strikten Sinne t h e o r i e g e b u n d e n sind, fallen d a m i t aber nicht m i t den historischen Begriffen b z w . Aussagen z u s a m m e n . Die G r u p p e der n i c h t - t h e o r i e g e b u n denen A u s d r ü c k e ist umfassender als letztere. Z u ihr gehören zunächst Begriffe b z w . Aussagen, die m a n vortheoretisch n e n n e n k ö n n t e . Eine solche vortheoretische V e r w e n d u n g s w e i s e v o n A u s d r ü c k e n k o m m t d a d u r c h z u stande, daß sich z u m einen die relevante B e d e u t u n g eines A u s d r u c k s nicht erst d u r c h seine Z u g e h ö r i g k e i t zu einer T h e o r i e ergibt, z u m anderen, daß der A u s d r u c k , in einem n o c h zu erläuternden Sinne, nicht empirisch ist. Solche vortheoretischen Sprachbestandteile k ö n n e n aber jederzeit in einen strengen T h e o r i e z u s a m m e n h a n g treten. D e r Begriff des E i g e n t u m s ist ein solcher nicht-empirischer, vortheoretischer Begriff. Von verschiedenen theoretischen S t a n d p u n k t e n aus k a n n seine intuitive B e d e u t u n g i m Sinne v o n Besitzrechten, Vermögensrechten, V e r f ü g u n g s r e c h t e n etc. eingegrenzt werden.7 Z w a r k ö n n e n w i r heute den Versuch des f r ü h e n Positivismus des »Wiener 50
Kreises«, wissenschaftliche Aussagen in letzter Instanz an sogenannte » P r o tokollsätze«, die die sinnlichen W a h r n e h m u n g e n des Forschers bloß sprachlich verzeichnen, als gescheitert ansehen, 8 doch w ä r e es d e s w e g e n w e n i g sinnvoll, auf die Rede v o n empirischen Begriffen b z w . Aussagen ü b e r h a u p t zu verzichten. Wenn auch j e d e r Begriff gegenüber der W a h r n e h m u n g s m a n nigfaltigkeit abstrakt bleibt, w i r d w o h l n i e m a n d leugnen k ö n n e n , daß es Begriffe gibt, die d e m K o n k r e t e n näherstehen als andere. So m a c h t es durchaus einen Sinn, diejenigen Begriffe als empirisch zu bezeichnen, die Gegenständen b z w . Sachverhalten w e i t g e h e n d a u f g r u n d e r f a h r u n g s g e m ä ßer E v i d e n z zugeschrieben w e r d e n u n d über deren A n g e m e s s e n h e i t w e i t g e h e n d die B e o b a c h t u n g entscheidet. M i t d e m einschränkenden Zusatz w e i t gehende m e i n e ich, daß uns kein D i n g der E r f a h r u n g schlicht gegeben, sondern i m m e r schon v o n uns gedeutet ist. Gleichwohl k a n n m a n beispielsweise die A u s d r ü c k e >über ein H a u s verfugen< u n d >männlichen Geschlechts sein< als empirischer bezeichnen als den A u s d r u c k >PolisbürgerBesitz v o n Vieh< als k o n k r e t e r als den des >Wohlstandes< ansehen. Diese Beispiele zeigen jedenfalls, daß mittels solcher empirischer A u s d r ü c k e abstrakte, vortheoretische oder theoretische Begriffe z u m Z w e c k e ihrer Ü b e r p r ü f u n g »operationalisiert« w e r d e n . N a t ü r l i c h besagt dies nicht, daß j e d e r v o r - / t h e o r e t i s c h e Begriff o h n e Bedeutungsverlust in eine M e n g e e m pirischer Begriffe ü b e r f u h r t w e r d e n kann. Schließlich k a n n m a n n o c h solche Begriffe b z w . Aussagen v o n theoretischen Gebilden unterscheiden, die der B e s t i m m u n g des »Erkenntniszieles u n d -fortschritts«, der »Art der zulässigen P r o b l e m l ö s u n g e n u n d der relevanten T e s t a r r a n g e m e n t s . . . (der) A n w e i s u n g f ü r die K o n s t r u k t i o n , Interpretation u n d Kritik v o n Theorien« dienen. 9 Sie gehören zu den metatheoretischen Wissenselementen, die einen ausgesprochenen, n o r m a t i v e n C h a r a k t e r tragen k ö n n e n . A u f den besonderen C h a r a k t e r dieser Begriffsart a u f m e r k sam zu m a c h e n , ist schon deswegen wichtig, weil v o n m a n c h e n H i s t o r i k e r n der T h e o r i e g e b r a u c h in der Geschichtswissenschaft allein in Begriffen u n d Aussagen dieser A r t gesehen w i r d . 1 0
1.2 Das >historische< Wissen als z u s a m m e n f a s s e n d e r A u s d r u c k f ü r das ganze Wissen der Historie Aus dieser B e s t i m m u n g der Wissensarten ergibt sich, daß der Gegensatz t h e o r e t i s c h : nicht-theoretisch< hier nicht als k o n t r a d i k t o r i s c h verstanden w e r d e n darf. D e n n w e n n ein Begriff e n t w e d e r nicht vortheoretisch oder nicht empirisch u s w . ist, heißt dies nicht, daß er n u r theoretisch sein kann. A u c h w e n n m a n das historische Wissen mit d e m empirischen Wissen ineinssetzen wollte, gälte dies nicht weniger. D i e These, d u r c h den ich den Gegensatz v o n Historie u n d T h e o r i e aufzuheben gedenke, lautet daher hier, 51
daß das historische Wissen, anders als das theoretische, vortheoretische, metatheoretische und empirische Wissen gar keine selbständige Art des Wissens ist. Das historische Wissen setzt sich gar nicht in der Form eines nicht-theoretischen Wissens in einen Gegensatz zum theoretischen Wissen, sondern sein Name muß als abgekürzter Ausdruck für das ganze Wissen der Historie betrachtet werden. Als solches ist es aber vielschichtig und komplex in der Weise, daß es alle genannten Arten des Wissens beinhaltet. Der Übergang von der traditionellen, kontradiktorischem zur hier vorgetragenen Auffassung läßt sich daher schematisch folgendermaßen veranschaulichen: Die traditionelle Einschätzung des historischen Wissens als selbständiger
1.3 Drei Arten von Theoriekonzepten Die Ausdrücke >theoretischvortheoretischmetatheoretisch< geben an, wie Begriffe bzw. Aussagen sich zu einer Theorie verhalten. Wie sieht nun eine Theorie selber aus? U m zu erläutern, was eine Theorie ist, lassen sich drei Wege einschlagen. (1) Die Mikroanalyse befragt Theorien danach, auf welche Weise Erkenntnisse in ihnen Zustandekommen. (2) Die Mesoanalyse beschreibt Theorien nach ihrer inneren Struktur. (3) Die Makroanalyse versucht Theorien über ihre Verwendungsweise näher zu bestimmen. 52
Das gewandelte Verständnis des historischen Wissens als Wissenskonglomerat
(A)
Das
Aussagemodell
Ähnlich wie etwa derjenige Betriebswirt, dem die Aufgabe zufiele, einem Laien zu erläutern, was ein Unternehmen sei, auch versuchen könnte, darzulegen, wodurch das unternehmerische Handeln sich im Einzelnen auszeichnet, indem er die Grundzüge der betrieblichen Finanz-, Markt- und Personalpolitik nachzeichnet, läßt sich auch eine Theorie durch die Prinzipien und Verfahrensweisen, durch die sie zur Erkenntnis gelangt, darstellen. Diese Mittel aufzuzeigen, liegt in der Absicht der als >Aussagemodell< bezeichneten Auffassung von Theorien. Danach bilden Theorien einerseits ein konsistentes System von (Grund-)begriffen, andererseits ein System von interdependenten Hypothesen. Im ersten Fall geben uns Theorien klassifizierende, komparative und quantitative Begriffe an die Hand, im zweiten Fall aber ermöglichen sie uns, singulare und generelle Aussagen über den Zusammenhang von Sachverhalten zu machen. In dieser Hinsicht berück53
sichtigt die Arbeitsdefinition von >Theorievon außen< zu klassifizieren versucht, also beispielsweise angibt, welcher Branche es angehört, welche Märkte es beliefert, in welcher Konkurrenz es mit anderen Firmen steht usw. Auch eine Theorie kann von einer solchen >Umweltperspektive< aus (also etwa i m Hinblick darauf, welche >Verbraucherwünsche< sie erfüllen soll) beschrieben werden. Das Kontextmodell kennzeichnet somit Theorien mit Blick auf ihren Verwendungszusammenhang, fur den sie konzipiert wurden und in den sie eintreten. Diese Vorgehensweise eignet sich gut herauszufinden, was eine historische Theorie ist. Es ist daher zweckmäßig, die durch ihre Verwendungsweise unterschiedenen Theoriearten in einem eigenen Abschnitt zu behandeln.
2. Angebot und Gebrauch von Theorien für die Geschichtswissenschaft 2.1 Theorien über die Geschichtswissenschaft Die grundlegende Unterscheidung, die man bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Historie und Theorie zunächst treffen m u ß , ist die Unterscheidung von Theorien über die Geschichtswissenschaft und Theorien in der Geschichtswissenschaft. Im ersten Fall ist die Historie, d. h. die Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, Gegenstand theoretischer Reflexion, im zweiten Fall ist ein geschichtliches Geschehen, d. h. ein realer Ereigniszusammenhang, Gegenstand von Theoriebildung und - a n w e n d u n g . Die bereits erörterte Verschmelzung von Geschichte und Historie 1 4 zeigt jedoch an, daß ein Nachdenken über die Geschichtswissenschaft nicht unabhängig von einem Nachdenken über Geschichte und umgekehrt eine Darstellung von Geschichte nicht unabhängig von A n n a h m e n über die ideale Form von Geschichtswissenschaft erfolgen kann. Diese Unterscheidung zweier T h e o riearten meint aber nicht so sehr eine Differenzierung im Hinblick auf den Gegenstand, sondern eher eine im Hinblick auf die Betrachtungsweise, nämlich im ersten Fall eine geschichtsphilosophische, im zweiten Fall eine geschichtswissenschaftliche. Freilich wird diese Theoriendifferenzierung nur denjenigen Historikern plausibel erscheinen, die Historie und Theorie für vereinbar halten. Für diejenigen Historiker, die beide gerade nicht für kompatibel halten, läßt sich der Unterschied zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft nicht an dem jener beiden Theoriearten festmachen, da es für sie keine Theorie in der Historie geben kann. Jeglicher 56
Theoriegebrauch verfällt für sie somit dem Vorwurf der geschichtsphilosophischen Spekulation. Hier sei a n j . Burckhardts Warnung ». . . vor allem keine Geschichtsphilosophie« erinnert. 1 5
2.1.1 Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaftstheorie Der doppelte, sei es explizite, sei es implizite Bezug von Theorien über die Geschichtswissenschaft sowohl auf Wissenschaft als auch auf Geschichte ergibt sich aus den beiden Bedeutungsdimensionen von Geschichtsphilosophie. Der ältere Typus von Geschichtsphilosophie 1 6 versteht sich als eine Theorie des Ganzen der Geschichte, das sowohl das vergangene als auch das zukünftige Geschehen umfaßt. Geschichtsphilosophie geht daher notwendigerweise über eine Erfahrungswissenschaft hinaus. Der zweite T y pus von Geschichtsphilosophie 1 7 versteht sich als eine Theorie der E r kenntnis (möglichkeit) von Geschichte. Indem die Geschichtsphilosophie die formalen Voraussetzungen herauszufinden versucht, aufgrund deren wir ein Geschehen als Geschichte erfahren und darstellen können, ist auch sie keine empirische Disziplin. Beide Typen von Geschichtsphilosophie stehen jedoch heute keineswegs gleichbereichtigt zur Disposition. Mit der Wende der Philosophie von der Ontologie zur Erkenntnistheorie, erst recht mit der von der Erkenntnistheorie zur Sprachphilosophie 1 8 wird der Weg einer Geschichtsphilosophie des ersten Typs nicht mehr für gangbar gehalten. Entsprechend ablehnend nehmen sich die von der gegenwärtigen Philosophie geprägten Bezeichnungen für diese ältere Art von Geschichtsphilosophie aus. So nennt A. Danto sie »substantialistisch«, weil sie »damit befaßt ist, eine Beschreibung dessen zu geben, was in der Vergangenheit geschehen ist . . . und (noch) etwas mehr zu tun als nur dies«. Er entwirft anstelle der verworfenen substantialistischen Geschichtsphilosophie eine »analytische Philosophie der Geschichte . . ., die auf spezielle begriffliche Probleme angewandt wird, die sich aus der Praxis der Historiker ebenso ergeben, wie aus der substantialistischen Philosophie der Geschichte«. 1 9 H. Schnädelbach belegt j e n e ältere Geschichtsphilosophie mit der von Kant gebrauchten Bezeichnung »dogmatisch« (siehe K R V 1. Vorrede), weil sie die »Einheit der rerum gestarum memoria auf die der res gestae zurückführt, d. h. (weil) sie die Systematisierbarkeit von Geschichte für garantiert hält allein durch objektive Bedingungen im geschichtlichen Material selbst«. »Kritisch hingegen ist eine Geschichtsphilosophie dann, wenn sie . . . untersucht, ob und in welchem Sinne der Eindruck, daß es geschichtliche Ereigniszusammenhänge gibt, von unserer Art und Weise abhängt, Geschichte aufzufassen.« 2 0 A m verbreitetsten sind jedoch die trennenden Bezeichnungen »Philosophie der Geschichte« und »Theorie der Geschichtswissenschaft« zu finden. Auch sie verweisen aufjenen Abschied von einem scheinbar naiven Realismus in der Theoriebildung. So bleibt
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d e n n hier allein die spezielle Wissenschaftstheorie der H i s t o r i e ein legitimes Anliegen.21 T r o t z dieser A b k o p p e l u n g der W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e der Geschichte v o n der ü b e r k o m m e n e n G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e enthalten T h e o r i e n ü b e r die G e schichtswissenschaft n e b e n einer f o r m a l e n g l e i c h w o h l a u c h eine inhaltliche K o m p o n e n t e . In i h r e m f o r m a l e n Teil g e b e n solche T h e o r i e n an, w o r i n die Wissenschaftlichkeit der H i s t o r i e besteht. In w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h e n D e b a t t e n u m die E i g e n a r t der H i s t o r i s c h e n M e t h o d e g e h ö r e n daher Fragen w i e e t w a die, o b u n d w i e sich die H i s t o r i e einer q u e l l e n n a h e n o d e r aktuellen Begrifflichkeit bedienen soll; w i e sie ü b e r h a u p t zur Tatsachenfeststellung ü b e r nicht w a h r n e h m b a r e , v e r g a n g e n e Ereignisse k o m m t ; o b geschichtliche Sachverhalte g e d e u t e t o d e r erklärt w e r d e n sollen u n d w i e eine geschichtswissenschaftlich a n g e m e s s e n e D e u t u n g b z w . E r k l ä r u n g auszusehen hat; o b sie n u r beschreiben o d e r auch b e w e r t e n soll; o b sie selbst T h e o r i e n bildet o d e r n u r a n w e n d e t etc. A u f diesem Felde der f o r m a l e n Analyse der g e schichtswissenschaftlichen E r k e n n t n i s g e w i n n u n g ist es in den v e r g a n g e n e n J a h r z e h n t e n zu intensiven D e b a t t e n g e k o m m e n , deren p r o m i n e n t e s t e u n t e r d e m Titel »Erklären versus Verstehen«, deren j ü n g s t e u n t e r d e m Titel » T h e o r i e n in der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t - p r o u n d contra« a u s g e t r a g e n wurde.
2 . 1 . 2 K o n s t i t u t i o n s t h e o r i e n der Geschichte In i h r e m inhaltlichen Teil b e s t i m m e n T h e o r i e n ü b e r die G e s c h i c h t s w i s s e n schaft, w a s als Geschichte ü b e r h a u p t anzusehen ist. Sie b e a n t w o r t e n beispielsweise so g r u n d s ä t z l i c h e Fragen wie, o b n u r die M e n s c h e n w e l t o d e r auch die N a t u r eine Geschichte hat; o b es n u r die vielen Geschichten o d e r auch die eine Geschichte gibt; o b das geschichtliche G e s c h e h e n n u r aus I n d i v i d u e n u n d deren B e z i e h u n g e n o d e r auch aus ü b e r i n d i v i d u e l l e n S t r u k t u r e n besteht etc. D a n a c h >kritischem< Verständnis Geschichte j e d o c h n u r als »Wissen ihrer selbst« (J. G. D r o y s e n ) zu h a b e n ist, n i m m t dieses m a t e r i e l le V o r v e r s t ä n d n i s ü b e r die g r u n d l e g e n d e Beschaffenheit des historischen G e g e n s t a n d s b e r e i c h s die Gestalt einer K o n s t i t u t i o n s t h e o r i e der Geschichte a n . 2 2 D e n n hier w i r d m i t B e z u g auf ein E r k e n n t n i s s u b j e k t u n d eine W i s s e n schaft ein E r k e n n t n i s o b j e k t allererst b e s t i m m t , >erzeugtexemplarischen< Geschichtsschreibung zugrunde, in der der Lehrgehalt der Historie von den Konstanten einer gleichbleibenden Menschennatur u n d der Kontinuität der geschichtlichen Handlungsbedingungen abhing. Schließlich k o m m t es im Rahmen des zyklischen Paradigmas auch zu einer Bewertung des geschichtlichen Geschehens, in der die Kreisbewegung entweder als Symbol der Vollkommenheit oder der Sinnlosigkeit e m p f u n d e n wird.
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(Β) Das teleologische Paradigma Die zweite, die zyklische Betrachtungsweise teils ergänzende, teils ü b e r w i n dende Leitvorstellung historischer Interpretation ist der Gedanke der Zielgerichtetheit.Die teleologische (finale) Anschauung der Geschichte macht eines der beiden T y p e n linearen Wandels aus. Denn Linearität besagt zunächst nur, daß eine Aufeinanderfolge von Ereignissen aufgrund der Richtung der Zeit u n u m k e h r b a r und unwiederholbar ist. 3 4 O f f e n bleibt damit jedoch, ob das geschichtliche Geschehen auf ein bestimmtes Ziel zusteuert oder ob die geschichtliche Z u k u n f t Alternativen zuläßt. Allerdings gibt es auch im ersten Fall von Linearität, also im teleologischen Geschichtskonzept zwei Möglichkeiten, Zielgerichtetheit in geschichtliche Verläufe zu bringen. Entweder nämlich streben (a) alle Vorgänge auf einen gemeinsamen Z w e c k zu, oder (b) jedes geschichtliche Geschehen verwirklicht seinen eigenen Zweck. Die erste Variante findet sich in all den weltgeschichtlichen E n t w ü r fen, in die zumindest implizit die Säkularprodukte der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte eingegangen sind, 3 5 also die »Theodizee« (Leibniz), der Fortschrittsgedanke (Aufklärung), die »Naturabsicht« (Kant), die klassenlose Gesellschaft (Marx) usw. Solche Regulative erlauben dann, einzelne geschichtliche Vorgänge daraufhin zu vergleichen, welche Stufe sie in der Realisierung des allgemeinen Geschichtszwecks bereits erreicht haben. Sie ermöglichen es, geschichtliche Geschehnisse in ihrem positiv-förderlichen oder negativ-hinderlichen Beitrag zur Durchsetzung dieses Gesamtzwecks zu bewerten. Das Vergangene wird somit als zweckmäßige oder unzweckmäßige Vorbereitung der Z u k u n f t aufgefaßt. Die zweite Variante der teleologischen Betrachtungsweise, die mit der Vielheit der Zwecke rechnet, hat vor allem den beginnenden Historismus und die romantische Geschichtsschreibung geprägt. 3 6 Es ist das historische Individualitätsprinzip, 3 7 welches hier fordert, daß jede geschichtliche Erscheinung als zeitlich einmalig und werthaft einzigartig angesehen werden soll, das den teleologischen Ansatz diversifiziert. Für Deutsche wie J. Moser, J. G. Herder, J. v. Müller, J. W. v. Goethe, Fr. Schlegel, W. v. H u m b o l d t u. a. unterscheiden sich Epochen, Kulturen, Nationen, Menschen gerade darin, daß sie ihre j e eigenen Z w e c k e verfolgen, die also keine universalhistorische Gültigkeit beanspruchen und damit eine allgemeine B e w e r t u n g zulassen. Die Geschichte bildet ein Konglomerat »individueller Totalitäten« (E. Troeltsch).
(C) Das evolutive Paradigma Der dritte Leitgesichtspunkt, unter den Theorien die Historie stellen, ist der Gedanke der Entwicklung. Solange dieser freilich nur die Entfaltung von bereits keimhaft angelegten und ausdifferenzierten Eigenschaften meint (Präformationstheorie), 3 8 verbleibt dieser Ansatz völlig im Bannkreis des 62
teleologischen Modells. Evolution i m Sinne jener zweiten Dimension von Linearität als einem m o n o t o n e n Bewegungsverlauf ohne Ziel läßt sich j e doch durch folgende Merkmale näher charakterisieren. Entwicklung meint (a) in temporaler Hinsicht eine u n u m k e h r b a r e (lineare) Veränderung von meist langer Dauer. 3 9 In ihrer (b) D y n a m i k besitzen Entwicklungen prozeßhafte Eigenschaften; wir sehen in ihnen einen mitreißenden Wirkungszusammenhang, einen dominierenden Trend, ein Geschehen von eigengesetzlicher N o t w e n d i g k e i t . 4 0 Ein sich so entwickelndes Geschehen setzt sich ohne das Z u t u n oder das Widerstreben der Betroffenen durch. Entwicklungen folgen daher nicht b e w u ß t e m Planen und Handeln, fügen sich nicht einem Willen oder einer »Rationalitätserwartung«. 4 1 Es bietet sich folglich an, ein so beschaffenes Geschehen, will man es nicht für gänzlich unsystematisierbar halten, in eine »Entwicklungslogik« zu bringen. Als (c) Subjekt liegen einer Entwicklung kollektive, massenhafte, überindividuelle Gebilde zugrunde, an denen sich die Entwicklung vollzieht. Daher eignen sich zu ihrer Beschreibung auch k a u m Aktions- oder Handlungsbegriffe, sondern funktionale und statistische Ausdrücke. Ähnlich aber, wie wir bei der T h e matisierung zeitlicher Aspekte eines Geschehens i m m e r wieder gezwungen sind, zu räumlichen Begriffen und Metaphern Zuflucht zu nehmen, lassen sich auch bei der Darstellung von Entwicklungen teleologische R e d e w e n dungen nicht völlig vermeiden. Darin liegt in der Tat die Hauptschwierigkeit, evolutive von teleologischen Regulationstheorien zu unterscheiden. Gleichwohl b e m ü h e n sich etwa die aktuellen Ansätze, die von einer Evolution der Weltbilder, 4 2 der Moral- u n d Rechtsvorstellungen, 4 3 von einer Entwicklung der Technik, 4 4 einer Theorie der sozialen Evolution 4 5 usw. sprechen, keine inhaltlichen Ziele in die Geschichte hineinzutragen. In A n lehnung an das biologische Verständnis von Evolution sind Entwicklungen allenfalls in einem formalen Sinne zielgerichtet, sofern sich nämlich an ihnen die Tendenz ablesen läßt, zu (a) i m m e r komplexeren und differenzierteren Zuständen zu gelangen, (b) durch stufenweise Integration von unabhängig nebeneinander Existierendem i m m e r schneller zu wachsen u n d (c) durch Selektion die Möglichkeit von Veränderbarkeit in alle Richtungen wenigstens einzuschränken. 4 6
2.2 Theorien in der Geschichtswissenschaft Während also Theorien über die Geschichtswissenschaft einerseits in der Form von Konstitutions- und Regulationstheorien das konzeptuelle Fundament, andererseits in der Form von wissenschaftstheoretischen Formalkriterien die methodischen Prinzipien für die Historie festlegen, dienen Theorien in der Geschichtswissenschaft der historischen Tatsachenfeststellung selbst. Mit ihrer Hilfe sollen geschichtliche Erscheinungen identifiziert und beschrieben, der kausale Verlauf und funktionelle Z u s a m m e n h a n g von ge63
schichtlichen Ereignissen u n d Z u s t ä n d e n erklärt, überlieferte, s y m b o l i s c h e Gebilde erläutert, schließlich das so R e k o n s t r u i e r t e b e w e r t e t w e r d e n . T h e o rien in der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ü b e n daher eine darstellende Funktion aus.
2.2.1 N i c h t - g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e T h e o r i e n Es stellt sich die Frage, ü b e r w e l c h e A r t e n v o n darstellenden T h e o r i e n die H i s t o r i e v e r f u g t . Worin besteht das T h e o r i e n a n g e b o t in der G e s c h i c h t s w i s senschaft? G r u n d l e g e n d scheint m i r z u n ä c h s t die U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n n i c h t - g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n u n d geschichtswissenschaftlichen T h e o r i e t y p e n zu sein. N i c h t - g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h n e n n e ich T h e o r i e n , die nicht eigenständig v o n der H i s t o r i e h e r v o r g e b r a c h t , s o n d e r n n u r v o n ihr verwendet w e r d e n . D i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t g e b r a u c h t solche T h e o r i e n bloß, sie k o n s t r u i e r t sie nicht. N i c h t - g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e T h e o r i e n sind ganz allgemein d a d u r c h ausgezeichnet, daß (a) ihre D a t e n aus g e g e n w ä r t i g e n E r s c h e i n u n g e n extrahiert w e r d e n u n d daß (b) ihre A u s s a g e n j e d e r zeit u n d überall G e l t u n g b e a n s p r u c h e n . D i e in der H i s t o r i e v e r w e n d e t e n nicht-geschichtswissenschaftlichen Theorien entstammen entweder d e m v o r w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r k e n n t n i s b e r e i c h , o d e r sie sind wissenschaftlichen Nachbardisziplinen e n t n o m m e n .
2.2.1.1 Vorwisscnschaftliche Alltagstheorien D i e erste A r t nicht-geschichtswissenschaftlicher T h e o r i e n läßt sich m i t d e m verbreiteten B e g r i f f >Alltagstheorien< u m s c h r e i b e n . U n t e r A l l t a g s t h e o r i c n versteht die i m A n s c h l u ß an Ed. Husserls P h i l o s o p h i e der »Lebenswelt« entfaltete p h ä n o m e n o l o g i s c h e Sozialwissenschaft die Wissensbestände, m i t tels der sich die M e n s c h e n in i h r e m gesellschaftlichen Alltag z u r e c h t f i n d e n . 4 7 Alltäglich heißen diese relativ stabilen D e n k - u n d H a n d l u n g s o r i e n t i e r u n g e n , weil sie das Leben in d e n >natürlichen< G e m e i n s c h a f t e n der Familie, a m W o h n o r t , a m Arbeitsplatz, i m Verein u s w . b e s t i m m e n . Als theoretisch w e r d e n sie bezeichnet, weil sie (a) aus einer Fülle allgemeiner, d e n einzelnen sozialen K o n t a k t ü b e r s c h r e i t e n d e r S u p p o s i t i o n e n bestehen, m i t d e n e n sich der Einzelne einen R e i m auf das tagtägliche, natürliche u n d gesellschaftliche G e s c h e h e n zu m a c h e n versucht; weil (b) diese Ü b e r z e u g u n g e n , N o r m e n u n d Regeln k o g n i t i v e O r i e n t i e r u n g e n darstellen, u n d weil diese (c) zu e i n e m relativ k o n s i s t e n t e n S y s t e m z u s a m m e n g e f ü g t w e r d e n . E n t s c h e i d e n d aber ist die Tatsache, daß mit Alltagstheorien hier T h e o r i e n g e m e i n t sind, die v o n den gesellschaftlichen A k t e u r e n selber gebildet w o r d e n sind. D a h e r m ü s s e n w i r v o n dieser B e d e u t u n g v o n Alltagstheorie die w e i t e r e u n t e r s c h e i d e n , die die wissenschaftlichen S y s t e m a t i s i e r u n g e n u n d D e u t u n g dieser gesellschaftlichen A l l t a g s t h e o r i e n m e i n t . H i e r steht der B e g r i f f »Alltagstheorie« also f ü r 64
die wissenschaftliche Theoriebildung über die Phänomene des Alltagswissens. Diese Richtung der Sozialwissenschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine aus der »symbolischen Interaktion« hervorgehende Konstruktion zu erfassen. In der Form der Ethnomethodologie und der Wissenssoziologie rechnet sie sich zu einer »verstehenden« Sozialwissenschaft. 48 Schließlich muß von diesem auf der phänomenologischen Sozialphilosophie basierenden Ansatz der Versuch unterschieden werden, Theorien in die Disziplin der Alltagsgeschichte hineinzutragen. Er soll nach P. Borscheid den »Hauptverdienst« der phänomenologischen Alltagssoziologie, »eine Grundsicht gesellschaftlicher Wirklichkeit thematisiert zu haben«, aufgreifen, aber gleichzeitig den Fehler vermeiden, »die Grundstrukturen des Alltäglichen zu enthistorisieren«. 49 Wenn von der Möglichkeit, Theorien auch in der Alltagsgeschichte zu verwenden, die Rede ist, liegt man damit allerdings auf Kollisionskurs mit dem weitläufigen Selbstverständnis der Alltagshistorie, die sich gerade als eine theorieabstinente Form von Sozialgeschichte begreift. Auf diese Problematik habe ich schon in der Einleitung aufmerksam gemacht. 5 0 Da die Theorien, die für die Alltagsgeschichte in Frage kommen, jedenfalls wissenschaftlicher, meist sozialwissenschaftlicher Art sind, ich an dieser Stelle aber an vorwissenschaftlichen Alltagstheorien und ihrer Rolle in der Geschichtswissenschaft interessiert bin, soll jenes Problem hier nicht noch einmal aufgegriffen werden. Wer nun vorwissenschaftliche Alltagstheorien zur Beschreibung und Interpretation geschichtlicher Phänomene heranzieht, läßt sich von seinem alltäglichen, gesellschaftlichen Wissen, das aus seiner eigenen Gegenwart stammt, leiten. Da solche alltagstheoretischen Systeme von Verallgemeinerungen eher implizit als explizit in Anschlag gebracht, eher vage als präzise formuliert, eher aus wahrscheinlichen als aus notwendigen Gründen behauptet werden, lassen sie sich nicht in einem strikten, sondern nur vorwissenschaftlichen Sinne als Theorien bezeichnen. Mit dieser Einschränkung nenne ich sie hier vorwissenschaftliche Alltagstheorien. Alltagstheorien finden vor allem in der narrativ ausgerichteten Historie Verbreitung. Der geschichtswissenschaftlich relevante Inhalt ihres Wissens speist sich aus zwei Quellen: aus (a) mehr oder weniger popularisierten Kenntnissen über allgemeine, naturgesetzliche Zusammenhänge aus den Bereichen der Physik, der Physiologie und Verhaltenslehre und (b) aus Kenntnissen über kulturelle Selbstverständlichkeiten, die die Gattung des Menschen als soziales Lebewesen allgemein auszeichnen sollen. Die unentbehrliche Funktion der ersten Komponente wird vor allem von den Vertretern einer »einheitswissenschaftlichen« Position herausgestellt, 51 wonach in allen wissenschaftlichen Kausalerklärungen, mithin auch in historischen Erklärungen, von solchen Naturgesetzen Gebrauch gemacht werden muß. Zugleich räumen die >Naturalisten< jedoch ein, daß, obwohl solche Gesetze für gültige Erklärungen unabkömmlich sind, ihr Auftreten in geschichtswissenschaftlichen Kontexten trivial ist. Da die These von der Einheit der 65
Wissenschaft an späterer Stelle ausfuhrlich behandelt wird, 5 2 bleibt hier nach der zweiten Komponente zu fragen. Bei der Interpretation geschichtlicher Vorgänge machen Historiker vorwiegend in der Weise von Alltagstheorien Gebrauch, daß sie jene Vorgänge als Beispiele universaler menschlicher Denk- und Handlungsgewohnheiten behandeln. Ein historisches Ereignis oder eine historische Handlung verlieren genau dann ihre Unverständlichkeit, wenn sie als Fälle einer überhistorischen, allgemeinen Erscheinung oder Verhaltensweise erfaßt werden. Solche vom alltagstheoretischen Verständnis für alle Gesellschaften und alle Epochen für gültig gehaltenen Verallgemeinerungen >sine anno et loco< reichen von elementaren psychologischen Standardreaktionen über sittlich und sozial institutionalisierte Regeln bis hin zu politischen und ökonomischen Maximen und Sachzwängen. So lassen sich Ereignisse wie etwa der Ausbruch eines Krieges durch verletzten Nationalstolz, präventive Sicherung gefährdeten Besitzstandes, Hegemoniestreben usw. analog psychologischer Basisbedürfnisse der Selbsterhaltung, der Satisfaktion, des Ehrgeizes usw. erklären; da führt eine provokativ zur Schau gestellte Machtfülle bald zum Sturz, weil ja Hochmut vor dem Fall kommt; da schnellen die Preise empor, weil die Nachfrage steigt; da müssen Außenseiter, Fremde, Ketzer regelmäßig mit Diskriminierung rechnen; da warten diejenigen, die nach einem Friedensschluß leer ausgehen, auf die nächstbeste Gelegenheit, sich ihren Anteil zurückzuholen etc. Auf diesem alltagstheoretischen Niveau quasi-natürlicher Erklärungen verbleiben in der Tat eine Menge historischer Darstellungen, vornehmlich im Bereich der Politikgeschichte. 53 Von deren Theorie kann man mit G. Mann sagen, daß sie allenfalls »die Summe von menschlichen Erfahrungen, die schon im Geiste (des Historikers) präsent (sind, bilden): Erfahrungen seiner eigenen Zeit und seines eigenen Lebens . . .«. 54 Daß diese allgemeinen Kenntnisse keineswegs selbstverständlich und kulturinvariant sein müssen, zeigt uns immer wieder die Ideologiekritik, die in Alltagstheorien ein vorzügliches Untersuchungsfeld findet.
2.2.1.2 Sozialwissenschaftliche Theorien Neben den Alltagstheorien bilden sozialwissenschaftliche Theorien die zweite Art nicht-geschichtswissenschaftlicher Theorien. Für sozialwissenschaftliche Theorien müssen folglich die Kriterien von Theoretizität angelegt werden, die für wissenschaftliche Theorien überhaupt gelten. Neben solchen formalen Bedingungen wie Allgemeinheit, Kohärenz, Widerspruchsfreiheit 55 sind dies die genannten, sich aus den beiden Theoriemodellen ergebenden Aufgaben. 5 6 Angesichts der Verwendung auch von sozialwissenschaftlichen Theorien in der Historie scheinen Alltagstheorien auf einer weniger expliziten, reflektierten und kontrollierbaren Erkenntnisstufe zu liegen als jene. Der zunehmende Gebrauch sozialwissenschaftlicher 66
Theorien ist daher auch als ein Zeichen der voranschreitenden Verwissenschaftlichung der Historie gesehen worden. 5 7 Zu sozialwissenschaftlichen Theorien rechne ich hier soziologische, sozialpsychologische, politologische, ökonomische und ethnologische Theorien, letztere, sofern sie dem strukturalistischen Ansatz verpflichtet sind. Es sei nochmal betont, daß sozialwissenschaftliche Theorien als Teil nicht-geschichtswissenschaftlicher Theorien ihre Daten aus gegenwärtigen Erscheinungen gewinnen und fur ihre Aussagen universale, wenn auch nicht determinstische Geltung beanspruchen. Sie erforschen diejenigen Faktoren, die das soziale, psychische, ökonomische etc. Verhalten des Menschen generell und nicht nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten leiten. Sozialwissenschaftliche Theorien kommen in der Geschichtswissenschaft auf verschiedene Weise zum Einsatz. Nach H. Schnädelbach lassen sich drei Arten der instrumentellen Theorienverwendung unterscheiden: (a) heuristisch »können Theorien die Proliferation von Fakten, Ereignissen und deren Verknüpfung anleiten«; (b) darstellend im engeren Sinne dienen sie der »Beschreibung historischer Gegenstände mit Hilfe theorieimprägnierter Termini . . . wie deren verstehende Interpretation und kausale Erklärung . . .«; (c) validierend zielen sie darauf ab, »historische Beschreibungen, Erzählungen, Interpretationen und Erklärungen . . . für zutreffend (zu halten), weil (diese) sich als Anwendungsfälle von theoretischen Annahmen darstellen lassen, die man ihrerseits für zutreffend hält«. 58 Keine Theorie ist von vornherein auf eine dieser Funktionen festgelegt. Das zeigt sich ζ. B. in Kurt Kluxens Versuch, die Geschichte des Parlamentarismus 5 9 »auf analytisch-kritischer Grundlage« zu rekonstruieren. Zwar erweckt Kluxen zunächst den Eindruck, als ließe sich die »geschichtliche Entwicklung des englischen Parlamentarismus« unabhängig von einer »Theorie des Parlamentarismus« erzählen. Jedenfalls geht sein historischer »Traktat I« über die »Genese« seinem analytischen »Traktat II« über die »Problematik des parlamentaristischen Systems« voran. Doch schon bei der Frage, weswegen sich seine Geschichte des Parlamentarismus auf die englische Entwicklung beschränkt, zeigt sich, daß jene Reihenfolge allenfalls einem darstellerischen Zweck folgt. Denn es ist in Wirklichkeit die »Parlamentarismustheorie im engeren Sinne«, die eine Beschränkung auf die englische Geschichte »ohnehin nahelegt«. 60 Diese Theorie verwendet Kluxen vorwiegend in heuristischem Sinne. Die Feststellung, »daß der Parlamentarismus ein einzigartiges Phänomen ist, dem man nur gerecht werden kann, wenn man seine einmalige und einzigartige Entstehungsgeschichte im Auge behält«, zeigt an, daß die allgemeine Parlamentarismustheorie auf den historischen Fall angewendet werden soll. »Es gibt eine solche Geschichte nur an einer Stelle und nur in einem einzigen Land. Die meisten Länder sind nicht über Ansätze oder Fragmente hinausgekommen oder haben in jüngerer Zeit erst parlamentarische Formen nachträglich übernommen. N u r England hat eine kontinuierliche Geschichte des Parlamentarismus aus eigenen 67
Wurzeln und eigener Gegenwart hervorgebracht, die sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart erstreckt und sogar den Umbruch zur industriellen Massengesellschaft überdauert hat.« 6 1 Die theoretischen Intentionen dieser historischen Verwendungsweise eines Parlamentarismus-Modells liegen daher darin, daß sich an der Geschichte Englands ablesen lassen soll, »welche Voraussetzungen und Bedingungen notwendig waren, um einen lebensund wandlungsfähigen Parlamentarismus zu entwickeln«. 62 In Auseinandersetzung mit der neueren Parlamentarismusdiskussion, vornehmlich mit Carl Schmitt, Gerhard Leibholz, Wolfgang Abendroth undjohannes Agnoli sowie Hans Kelsen, Joseph A. Schumpeter, Ernst Fraenkel und Wilhelm Hennis 6 3 gelangt Kluxen zu seiner die historische Untersuchung leitenden »Auffassung, daß die Chance fur die Bewahrung von Freiheit unter dem Dach eines funktionierenden Parlamentarismus nur dann gegeben ist, wenn der legitimierende Konsens sich auf politische Maßnahmen beschränkt, also auf Fragen, welche die menschliche Existenz, Selbstbehauptung und Freiheitsbehauptung betreffen. Staat und Regierung haben sich um die nächsten Daseinsfragen zu kümmern. Die genuine Ordnungsleistung eines modernen Staates ist die Ausklammerung des Nicht-Politischen, das seinem Schutz untersteht, aber nicht seiner Kompetenz. Religion, Kirchen, Weltanschauungen, Wissenschaft, Kultur und Kunst werden von ihm gefordert, stehen aber außerhalb seiner unmittelbaren Verfügbarkeit. Dies gilt auch für die Substanz des Rechts, das nicht nur Leben, Sicherheit und Wohlergehen sichert, sondern auch das Eigentum, welches eine individuelle Lebensführung ermöglicht.« 64 Dieses theoretische Konzept ist damit verantwortlich (a) für die Auszeichnung des englischen Parlamentarismus als Prototyp eines parlamentarischen Systems überhaupt und damit für die Ausgrenzung anderer, ζ. B. »identitätsdemokratischer« Formen des Parlamentarismus (Rousseau); (b) für die idealtypische Überhöhung derjenigen >liberalen< Tendenzen in der englischen Entwicklung, die das Parlament auf Kontroll- und Diskussionsfunktionen beschränkte; (c) für die Bereitstellung einer Fülle politologischer, verfassungsrechtlicher und sozialphilosophischer Termini (ζ. B. Legalismus, Konstitutionalismus, individuelle Rechtssphäre, Volkssouveränität etc.), die schon die Beschreibung derjenigen Epochen anleitet, in denen sie noch gar nicht geprägt waren; (d) für die Richtung, in der die Erklärung von politischen Konflikten zu suchen sind, insofern sich letztere aus der Entfernung von vier grundlegenden Erhaltungsbedingungen eines parlamentarisch-demokratischen Systems ergeben, nämlich (1) »der Herstellung des inneren Friedens durch Monopolisierung von Gewalt«, (2) der »Grundregel, daß Freiheitsbeschränkungen in jedem Fall begründungsbedürftig sind«, (3) »der Gewaltenteilung«, (4) »der Gleichberechtigung eines jeden«. 6 5 Ein Beispiel, das sozialwissenschaftliche Theorien auch zu darstellendem Zweck in der Geschichtswissenschaft verwendet, findet man i n j . Kockas Versuch, ein »letztlich aus der Marxschen Klassentheorie abgeleitetes, aller68
dings stark stilisiertes und aus dem Kontext des Marxschen geschichtsphilosophischen Denkens weitgehend herausgelöstes, durch neuere Erkenntnisse der Konfliktanalyse ergänztes und in einer fur uns brauchbaren Weise operationalisiertes klassengesellschaftliches Modell als Ausgangspunkt« der historischen Analyse der deutschen Gesellschaft während des ersten Weltkriegs zu wählen. 6 6 Hauptbestandteile dieses Modells sind zunächst die Definition der »Klassenlage« als die Position, die von Individuen und Gruppen »im System der kapitalistisch organisierten Produktion (eingenommen wird), nämlich durch ihren Anteil oder Nicht-Anteil an Privatbesitz und Verfligungsmacht über die Produktionsmittel«; 67 sodann die Ableitung des »Klassengegensatzes zwischen Produktionsmittelbesitzern und lohn- bzw. gehaltsabhängigen Arbeitnehmern«, der »in der sozioökonomischen Struktur, in der Eigentums-, Verfiigungs- und Herrschaftsverteilung gründet und den Beteiligten als solcher nicht notwendig bewußt ist«; 68 schließlich der Aufweis der »Transformation von Klassengegensätzen in Klassenspannungen«, d. h. in die bewußten Formen von »Unzufriedenheiten, Hoffnungen, Ressentiments, Protesten, Forderungen usw.«. 6 9 Den Schlußstein dieses Struktur- und Ablaufmodells bildet dann der durch die Klassenlage, den Klassengegensatz und die Klassenspannung hervorgerufene »Klassenkonflikt, in dem - immer dem Modell nach - der Staat im Dienst der ökonomisch herrschenden Klasse und zum Nachteil der beherrschten Bevölkerungsmehrheit eingesetzt wird«. 7 0 Dieses sozialwissenschaftliche Modell dient nun nicht dazu, von den nicht-klassengesellschaftlich geprägten Gegensätzen, etwa den religiösen, generativen oder regionalen Spannungen und Konflikten, die ebenfalls in der zu untersuchenden Zeit auftraten, einfach abzulenken, sondern »es formuliert . . . die (zu überprüfende) Erwartung, daß das Merkmal der Klassenzugehörigkeit und die daraus folgenden Gliederungs- und Frontlinien im Untersuchungszeitraum jene anderen Differenzierungen zunehmend in den Hintergrund drängten. Anders ausgedrückt: Es formuliert die (zu überprüfende) Erwartung, daß jene Fronten und Differenzierungslinien, die quer durch die Klassen verliefen, objektiv und . . . subjektiv in ihrer Bedeutung zurücktragen, tendenziell eingeebnet oder verwischt werden; daß die Klassen damit homogener wurden; und daß die dichotomische Klassenstruktur somit im Krieg immer klarer und immer dominanter hervortrat. « 71 Kocka behandelt daher die verfeinerte Marxsche Klassentheorie wie einen Weberschen Idealtyp. Die Klassentheorie soll aber nicht nur die geschichtswissenschaftliche Hypothesenbildung allererst anregen und ihr den Weg weisen, mithin nicht nur eine heuristische Funktion in der historischen Untersuchung übernehmen, sondern sie soll mit der geschichtlichen Wirklichkeit in Vergleich gesetzt werden, um zu bestimmen, »ob, in welchem Maße und in welcher Hinsicht diese [ihr] entspricht, bzw. nicht entspricht, und: ob, in welchem Maße, in welcher Hinsicht und warum die Wirklichkeit sich [ihr] ([ihren] Hypothesen entsprechend) annäherte bzw. sich (wider [ihren] Hypothesen) doch von [ihr] entfernte«. 72 69
Resümierend und zur Charakterisierung der von ihm intendierten geschichtswissenschaftlichen Verwendungsweise dieser Theorie stellt J. Kokka fest: ». . . das Modell (diente) als Instrument zur analytischen Identifikation, erklärenden Verknüpfung und plausiblen Darstellung von Elementen und Faktoren einer historischen Wirklichkeit, die ohne einen solchen . . . Zugriff entweder der Aufmerksamkeit des Forschenden überhaupt entgeht . . . oder doch in ihrer anscheinenden Disparatheit nur schwer zu synthetisieren und nachvollziehbar darzustellen sein würde. Das Modell war Instrument zur Abgrenzung und Auswahl des Wissens- und Darstellenswerten; es verhalf zu dessen strukturierender Gliederung und Verknüpfung.« 7 3 Auch wenn sich das Klassenmodell nicht im Sinne einer empirischen Verallgemeinerung durch die Realität widerlegen oder bestätigen läßt, erfüllt es doch seine in den Akten der »erklärenden Verknüpfung und plausiblen Darstellung« zum Ausdruck kommende darstellende Funktion, nicht zuletzt weil es zur empirischen Bestimmung »des Abstandes zwischen Wirklichkeit und Modell gebraucht« wird. 7 4 Neben der heuristischen und darstellenden Verwendungsweise sozialwissenschaftlicher Theorien in der Geschichtswissenschaft läßt sich noch das Bedürfnis ausmachen, solchen Theorien auch eine überprüfende Funktion zukommen zu lassen. Geschichtswissenschaftliche Beschreibungen und Hypothesen können sich im Lichte einer sozialwissenschaftlichen Theorie als zutreffend bzw. nicht-zutreffend erweisen. Damit würde in der Tat der unbefriedigende Zustand überwunden, daß »die Präzision bestimmter Aussagen und Urteile, wie sie allein eine klare Theorie ermöglicht, durch den Verzicht auf die . . . Absicht [die] Komplexität [der geschichtlichen Wirklichkeit] voll erfassen zu wollen, erkauft werden (muß)«. 75 Denn da es zu jeder Theorie meist auch eine oder mehrere Alternativtheorien gibt, haftet der geschichtswissenschaftlichen Theorienverwendung eine gewisse Willkür an. Diesen Eklektizismus der Theorienwahl und die Ausschnitthaftigkeit der jeweiligen Theorie zu überwinden, wäre Aufgabe einer »gesamtgesellschaftlich-historischen Theorie«; 76 sie aber steht bis heute nicht wirklich zur Verfügung. Zwar gibt es beispielsweise den Versuch, mittels einer »Theorie der sozialen Evolution«, die den Übergang zur Moderne erklären soll, eine rationale Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien über entwickelte, kapitalistische Gesellschaften herbeizuführen, etwa zwischen einer »Theorie des Noch-Kapitalismus« und einer »Theorie des erst durchzusetzenden Kapitalismus«. 77 In diesem Fall dient die Supertheorie der sozialen Evolution also der Validierung rivalisierender historischer Interpretationen. Die Theorie der sozialen Evolution ist aber sowohl wegen ihres spekulativen Charakters als auch wegen ihrer dogmatischen Elemente bisher nicht von der Historie aufgegriffen worden. Leichter tut sich da die dem Historischen Materialismus marxistisch-leninistischer Prägung verpflichtete Geschichtswissenschaft im kommunistischen Lehr- und Forschungsbereich. Für diejenigen Historiker, die diese Geschichtsauffassung nicht als ein 70
überzeugendes Beispiel fur die überprüfende Funktion sozialwissenschaftlicher Theorien in der Geschichtswissenschaft gelten lassen wollen, bleibt ein solches vorerst ein Desiderat. Weitere erfolgreiche Beispiele der noch keineswegs voll ausgeschöpften Anwendungsmöglichkeiten sozialwissenschaftlicher Theorien in der Historie sind etwa im Bereich der Geschichte der kollektiven Mentalitäten 7 8 die Verwendung sozialpsychologischer Theorien kognitivistischer, interaktionistischer, ethnomethodologischer und ethnographischer Provenienz 7 9 und psychoanalytische Theorien. 8 0 Im Bereich der historischen Schichtungsanalyse 8 1 die Verwendung soziologischer Theorien der Anomie, des Rollenverhaltens, der Mobilität. 8 2 Im Bereich der Geschichte der Internationalen Beziehungen 8 3 die Verwendung von politologischen Konflikttheorien entscheidungs-, system- u n d kommunikationstheoretischer A r t . 8 4 Im Bereich der Geschichte des wirtschaftlichen Wachstums 8 5 die Verwendung ö k o n o mischer Konjunkturtheorien und der »property rights «-Theorie. 8 6
2.2.2 Geschichtswissenschaftliche Theorien Geschichtswissenschaftliche oder historische Theorien unterscheiden sich, wie angedeutet, 8 7 von nicht-geschichtswissenschaftlichen Theorien zunächst dadurch, daß sie von der Historie selber hervorgebracht werden. Neben der A n w e n d u n g von Theorien gibt es also auch die Konstruktion von Theorien in der Geschichtswissenschaft. Anders als es eine theorieskeptische Position sieht, 8 8 sind Theorien daher nicht nur Mittel, sondern auch Ziel historischer Erkenntnisgewinnung. Im Gegensatz zu vorwissenschaftlichen Alltagstheorien und sozialwissenschaftlichen Theorien beziehen historische Theorien ihre Daten aus vergangenem Geschehen, genauer gesagt, aus den überlieferten oder rekonstruierbaren Zeugnissen vergangenen Geschehens. Die mit der geschichtswissenschaftlichen Datenerhebung verbundenen P r o bleme sollen jedoch erst i m Rahmen der Auseinandersetzung mit Droysens »Heuristik« behandelt w e r d e n . 8 9 Wenn sich auch sozialwissenschaftliche Theorien gelegentlich auf Datenmaterial der Vergangenheit beziehen, so geschieht dies v o m Standpunkt historischer Theorien aus nur zu ü b e r p r ü fenden, nicht aber zu konstruktiven Z w e c k e n . 9 0 Eine allgemeine Sozialtheorie kann also anhand historischen Materials verifiziert bzw. falsifiziert werden. U n t e r d e m Gesichtspunkt des Erkenntnisziels scheint es nun zwei Arten von historischen Theorien zu geben. So kann Theoriebildung einerseits dadurch zu einer geschichtswissenschaftlichen werden, daß sie generelle und typisierende Aussagen über ein für allemal vergangene Geschehensarten macht. Wichtig ist hierbei, von vergangenen Arten von Geschehen zu reden, denn natürlich wird jedes Einzelereignis i m nächsten Augenblick zu einem unwiederbringlichen, vergangenen Ereignis und tritt als dieses, raumzeitlich fixierte Ereignis nie wieder ein. 9 1 Würden also singuläre Ereig71
nisse oder Zustände Gegenstand von Theoriebildung sein, wären alle wissenschaftlichen Theorien historische Theorien. Theorien über einmalig vergangene Geschehensarten nenne ich daher vergangenheitsbezogene, retrospektive Theorien der Geschichte. Die Geschichtswissenschaft wendet sich aber auch der Gegenwart und Zukunft zu. Hier werden Theorien zu historischen, wenn sie gegenwärtige Ereignisse und Zustände als geschichtlich entstandene begreifen. Das Ziel der historischen Wissenschaften liegt hier in der Erforschung der Prozesse, durch die gegenwärtige Erscheinungen zu dem geworden sind, was sie sind. 92 Geschichtswissenschaftliche Theorien rücken natürliche und kulturelle Geschehnisse in einen Entwicklungszusammenhang ein. Ich nenne daher solche Theorien gegenwartsbezogene, genetische Theorien. Natürlich schließen sich die retrospektive und gegenwartsbezogene Betrachtungsweise nicht gegenseitig aus. Vielmehr liegt die genetische Methode beiden Blickrichtungen zugrunde. Im Gegensatz zur strukturellen Analyse sozialwissenschaftlicher Theorien unterziehen retrospektive Theorien »vergangene Gegenwarten«, präsentistische Theorien »gegenwärtige Vergangenheiten« einer genetischen Analyse. 93
2.2.2.1 Retrospektive Theorien Vergangenheitbezogene, retrospektive Theorien der Historie beziehen sich auf unwiderrufliche Vergangenheit und thematisieren die nur für sie zutreffenden, allgemeinen Eigenschaften und Zusammenhänge. Retrospektive Theorien gehen davon aus, daß es Gleichförmigkeiten gibt, die sich von Epoche zu Epoche ändern, daß es auch Verallgemeinerungen gibt, die auf konkrete historische Perioden beschränkt sind. 94 Mit historischen Theorien verhält es sich daher gerade nicht wie etwa mit der >historischen< Disziplin der Paläozoologie, die beispielsweise bezüglich der Saurier davon ausgeht, daß, obgleich diese Art von Lebewesen vergangen ist und nicht wiederkehren wird, diese »prinzipiell denselben organischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen wie heute lebende vergleichbare Tierarten«. Rechnet man mit der Möglichkeit, daß Gesetze auch in den historischen Wissenschaften auftreten, finden in der Historie neben universalen Naturgesetzen und allgemeinen sozialwissenschaftlichen Gesetzen auch historische Gesetzmäßigkeiten mit begrenztem Geltungsbereich Verwendung. Da ich die Frage nach der Möglichkeit historischer Gesetzmäßigkeiten eingehend im Zusammenhang mit dem Problem der Erklärung in der Geschichtswissenschaft behandeln möchte, 9 5 beschränke ich mich hier auf folgendes Beispiel einer retrospektiven Theorie. Ein solches findet man in C. Meiers Versuch, zu einer »umfassenden Strukturanalyse der späten Republik (Roms) zu gelangen«. 95 Der Gegenstand dieser Analyse stellt also ein Stück abgeschlossener Vergangenheit dar, das keine Wirkung auf unsere Gegenwart mehr ausübt. Aber nicht nur 72
der Gegenstand, sondern auch die Theorie, mit der dieser Gegenstand erfaßt wird, sind historischer Natur. Denn nach C. Meier kann der Althistoriker »im allgemeinen nicht auf Theorien zurückgreifen, die ihm andere Wissenschaften anbieten, etwa Soziologie, Nationalökonomie, Politikwissenschaft . . .«. ». . . Diese Wissenschaften beschäftigen sich im allgemeinen mit den Erscheinungen und Erscheinungszusammenhängen der Moderne oder der jüngeren Neuzeit . . . Was sie dafür an theoretischen Möglichkeiten anbieten - etwa zur Interdependenz von wirtschaftlichem und politischem System, zum Zusammenhang von Differenzierung und Evolution, zum Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft ist auf antike Äquivalente, wenn man diesen keine Gewalt antun will, kaum anwendbar. Die Theorien, mit denen der Althistoriker wesentliches an seinem Gegenstandsbereich erschließen kann, muß er also allererst selbst erarbeiten. Sie gehören nicht nur zu den Instrumenten, sondern auch zu den Zielen seiner Wissenschaft.« 97 Solche historische Theorien müssen zweierlei leisten: Sie müssen einerseits die zu untersuchenden Vergangenheiten in ihrem »zeitübergreifenden«, d.h. weltgeschichtlichen Aspekt, andererseits »die fur die je verschiedenen Epochen spezifischen Zusammenhänge begreifen können«. 98 Die rein vergangenheitsbezogene Betrachtungsweise impliziert gemäß der oben vorgeschlagenen Einteilung auch die genetische. 99 Im Zusammenhang mit seinem Vorhaben, Caesars Leben vorrangig auf dem Hintergrund seiner Zeit und seiner Gesellschaft zu erzählen, entwirft C. Meier eine historische »Theorie der Krise ohne Alternative«. 100 Er beschreibt mit ihrer Hilfe zunächst den »spezifischen Typ der damaligen Krise«: »So sehr das politische System der Republik oder doch wenigstens seiner Teile sowie seiner komplexen Voraussetzungen seit den Gracchen zunehmend versagten, seine Institutionen überfordert wurden, so viele Mißstände es gab: es hat sich gleichwohl keine irgend nenneswerte gesellschaftliche Kraft gegen den Senat gebildet, innerhalb derer das Herkömmliche in Zweifel gezogen worden wäre; keine Kraft, auf die sich ein Versuch grundlegender Reform hätte stützen können; kein Anknüpfungspunkt für grundlegende Änderung, keine Basis für eine neue Legitimität, eben keine Alternative. Der Senat blieb nach allgemeiner Auffassung das Zentrum der Republik, die Stelle, an der sich Legitimität und Verantwortung für das Ganze konzentrierten.« 101 An anderer Stelle heißt es: »Es war, kurz gesagt, das klassische Muster einer Krise ohne Alterantive, das sich hier abspielte. Das heißt, es fehlte an der gesellschaftlichen Kraft, die die Disposition gehabt hätte, ausgehend von handfesten Interessen und Meinungen die Dinge in eine neue Richtung zu treiben, um in einem Bewußtseinsbildungsprozeß und schließlich als politische Kraft alternativen Gedanken Resonanz, Materie, Intensität, Richtung zu geben.« 1 0 2 Die Begriffe »Krise«, »Alternative«, »Basis für neue Legitimität« usw. gehören aber zu einer Theorie, die politische und gesellschaftliche Prozesse und Zustände als Vorgänge in einem System deuten. »Gemeint ist die Krise von politischen Systemen, und die Lagerung von Kräften in ihr 73
soll unter dem Aspekt der Bildung von Möglichkeiten zur Begründung legitimer Neuordnung im Inneren des Systems betrachtet werden. « 103 »Krise ohne Alternative ist also eine Antwort auf die Frage nach der Relation zwischen der Art der Parteiungen und der Art der Strukturprobleme in einem System.« »Unter Alternative sei dabei . . . eine in der Breite der Gesellschaft wirksame Kraft verstanden, die sich darin äußert, daß Überzeugungen von der Notwendigkeit einer neuen Ordnung sich derart institutionalisieren, daß sie in nennenswertem Ausmaß zu realisieren sind.« »Es geht also darum, daß gleichsam ein Zentrum entsteht, von dem her auf die Dauer einerseits die Legitimität des bestehenden Systems (in wesentlichen Zügen) wirksam in Zweifel gerät, andererseits eine neue positive Orientierung ausgeht. « 104 »Die Entstehung einer solchen Alternative kann nur prozessual erfolgen: . . . Bestimmte Konstellationen treiben aus den je naheliegenden Handlungen der Beteiligten Nebenwirkungen heraus, die sich zu einem Prozeß kumulieren . . .« 105 Ohne daß es hier erforderlich wäre, weiter ins Detail zu gehen, läßt sich also sagen, daß C. Meier zunächst versucht, die von anderen Wissenschaften aufgezeigten grundlegenden Eigenschaften von Systemen, wie ζ. B. Funktionszusammenhang, Erhaltungsanforderungen, Grenzbestimmung, Selbstregulation, kritischer Wert, alternative Realisation von festgelegten Funktionen etc. teils explizit, teils implizit auf die spätrepublikanische Gesellschaft Roms anzuwenden. Zu einer historischen Systembestimmung wird seine Analyse aber dann, wenn er gewissermaßen die epochenspezifischen Werte anzugeben vermag, die diese Systemelemente in jener Zeit annehmen konnten. Diese sind teils spezieller, teils allgemeiner Natur. Zur ersten Art der Bedingungen gehört »die spezifische Lagerung der unmittelbaren Interessen zu dieser Zeit [= in der späten Republik]«. 106 Hier beschreibt Meier die Interessenlage aller Schichten des römischen Volkes und gelangt zu der Feststellung: »Es herrschte also, aufs Ganze gesehen, Zufriedenheit aller auch nur potentiell Mächtigen und Machtlosigkeit aller Unzufriedenen. Was sich dieser Formel nicht fugte, blieb vereinzelt.« 107 Die daran anschließende Frage, ob angesichts des Versagens der überkommenen Institutionen »damals keine Ausweitung des Interessenhorizonts möglich war«, fuhrt zu der zweiten Art von Bedingungen, die eine strukturelle Gemeinsamkeit antiker Gesellschaften beschreibt, nämlich die, »daß es in der Antike in Hinsicht auf die Struktur der Gemeinwesen keinen Erwartungshorizont über eine gewisse Verbesserung der eigenen politischen Stellung hinaus gab«. »In dieser Beschränkung der Ordnungsprogramme auf den Anteil der einzelnen Schichten an den politischen Rechten besteht bei allen Unterschieden im einzelnen eine Gemeinsamkeit zwischen Griechen und Römern. Das hing zugleich mit ihrer besonderen Art gesellschaftlicher Identität zusammen, in der die politische Zusammengehörigkeit mehr oder weniger zentral und beherrschend war.« 1 0 8 Da sowohl die schichtenspezifische Beschreibung der spätrepublikanischen Gesellschaft als auch die strukturelle Analyse des Typus der antiken »societas civilis« nur
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mittels bestimmter theoretischer Termini sich durchführen läßt, spricht C. Meier im ersten Fall von einer historischen »Parteiungstheorie«, im zweiten Fall von einer historischen »Theorie gesellschaftlicher Identität«. Besonders letztere läßt sich nur auf dem Hintergrund und in Abgrenzung von Verallgemeinerungen und Typisierungen über neuzeitliche Gesellschaften bilden. 109 Dadurch wird der Bezug historischer Theoriebildung auf Geschichte überhaupt, also ihr weltgeschichtlicher Aspekt berücksichtigt. Aufgrund der »Parteiungstheorie« und der »Theorie gesellschaftlicher Identität« gelangt C. Meier zu der schon skizzierten Beschreibung des Zustands der spätrepublikanischen Gesellschaft Roms als »Krise ohne Alternative«: ». . . Es blieb dabei, daß sich Politik, politische Verantwortung, politisches Denken im Senat konzentrierten. Der aber war seinerseits so sehr mit der überkommenen Ordnung verknüpft, daß er sie den allgemeinen Erwartungen entsprechend nur verteidigen konnte. Unter diesen Umständen hätten auch bei größten Anstrengungen keine Kräfte einfach mobilisiert werden können, um eine Alternative zu bilden. Es konnte ja nicht einmal Einsicht in das Ungenügen der Verfassung aufkommen. Das Fehlen der Einsicht war also nicht einfach ein intellektuelles Manko oder konservative Borniertheit, sondern tief in der Struktur der damaligen Republik verankert. « 110 Es sei noch ein Beispiel für retrospektive Theoriebildung aus dem Bereich der Frühgeschichte angefügt. Wir finden es in den Theorieentwürfen über die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften seit dem vierten Jahrtausend v. Chr. Wenn man davon ausgeht, daß sich keine solchen politischen Formationsprozesse heute mehr beobachten lassen, somit diese geschichtliche Entwicklungsstufe ein für allemal hinter uns liegt, so handelt es sich auch bei diesem Makrovorgang um ein Stück abgeschlossener Vergangenheit, das keine Wirkung mehr auf unsere Gegenwart ausübt. 1 1 1 Für den Übergang von vorhochkulturellen Gemeinschaften (Hirten-, Bauern-, Handwerkergemeinschaften) zu hochkulturellen, politischen Gesellschaften liegen nach einer Zusammenschau v o n j . Habermas 1 1 2 folgende, teils konkurrierende Theorien vor. Die »Überlagerungstheorie« erklärt die Entstehung politischer Herrschaft aus der Unterwerfung seßhafter Ackerbauen und Viehzüchtern durch nomadische Hirtenstämme, die ein Erobererregiment errichteten. Die »Arbeitsteilungstheorie« tut dies, indem sie aus der (ökonomisch und demographisch bedingten) Freisetzung von Arbeitskraft gesellschaftliche Arbeitsteilung entstehen sieht, durch die sich verschiedene soziale Gruppen den gesellschaftlichen Reichtum differentiell aneignen und eine herrschende soziale Klasse bilden. Ähnlich führt die »Ungleichheitstheorie« die Entstehung des Staates auf Verteilungsprobleme zurück, denen die überkommene egalitäre Verwandtschaftsorganisation nicht mehr gewachsen war. Die »Bewässerungshypothese« erklärt den Zusammenschluß von Dorfgemeinschaften zu einer politischen Einheit aus dem funktionalen Erfordernis einer Verwaltung der Wasserversorgung. Die »Theorie der Bevölkerungsdichte« meint, daß aus ökologischem und demographischem 75
Zwang heraus andere Stammesgebiete unterworfen wurden und dieser Vorgang zur politischen Herrschaft führte. K. Eder hat demgegenüber eine Theorie entwickelt, die den Übergang von neolithischen Dorfkulturen zu hochkulturellen, staatlich organisierten Gesellschaften durch einen »Prozeß der Moralisierung des Rechts« hervorgerufen deutet. 113 Die in allen retrospektiven Theorien aufgestellten Annahmen über die gesetzmäßigen Z u sammenhänge zwischen den politischen, sozialen, ökonomischen Aspekten dieser Ubergangsgesellschaften sind in der Weise historisch, daß sie nur für den vergangenen Typus »verwandtschaftlich organisierte Gesellschaft« und den Typus »staatlich organisierte Gesellschaft« gelten.
2.2.2.2 Gegenwartsbezogene genetische Theorien Gegenwartsbezogene, genetische Theorien der Geschichtswissenschaft beziehen sich demgegenüber auf jetztzeitige Erscheinungen und betrachten diese als Resultat eines Entwicklungsprozesses, der noch nicht abgeschlossen sein muß. Zwar blicken zu diesem Zweck Entwicklungstheorien in die Vergangenheit zurück, aber im Unterschied zu retrospektiven Theorien von der Gegenwart, nicht aber von einer Vergangenheit aus. Freilich thematisieren gegenwartsbezogene Theorien in ihrer Eigenschaft als Theorie die allgemeinen Aspekte einer Entwicklung. Die von ihnen formulierten Gesetzmäßigkeiten dürfen, soweit sie sich als historische verstehen, nur für die Dauer der von ihr bestimmten Entwicklung als gültig angesehen werden. Als ein erfolgreiches Beispiel für eine geschichtswissenschaftlich begründete, gegenwartsbezogene, genetische Theorie kann K. D. Brachers »Theorie des Totalitarismus« herangezogen werden. 1 1 4 Sie zielt zunächst darauf ab, den Totalitarismus als ein »Phänomen des 20. Jahrhunderts« auszuzeichnen. 115 »Sein Aufstieg hat sich durchweg im Gefolge des ersten Weltkriegs und jener ihn begleitenden politischen und sozialökonomischen Katastrophen, jener geistig-ideologischen Krisengefühle vollzogen, deren Erforschung den Historiker wie den Soziologen und Politikwissenschaftler mit augenscheinlich neuartigen, geschichtlich unvergleichlichen Entwicklungsformen politischgesellschaftlicher Wirklichkeit konfrontiert.« In den Entwicklungen, die von der russischen Oktoberrevolution von 1917, der Machtesgreifung des italienischen Faschismus von 1922 und derjenigen des deutschen Nationalsozialismus von 1933 ausgingen, »steht man einem neuartigen, ganz unserem Jahrhundert der industriellen Massengesellschaft angehörenden Prozeß der Staats- und Herrschaftsgestaltung gegenüber, der sich historischen Vergleichsmöglichkeiten weitgehend zu entziehen scheint. Der totale Staat ist die konsequenteste Ausprägung der Tendenz zur Zentralisierung, Uniformierung und einseitigen Reglementierung nicht nur des politischen, sondern auch des gesellschaftlichen und geistigen Lebens . . . und er strebt deshalb auch weit über die älteren Formen autokratischer und diktatorischer 76
Herrschaft hinaus.« 116 Unter Totalitarismus faßt Bracher all diejenigen Herrschaftssysteme zusammen, die sich bewußt gegen »die liberal-demokratische Rechtsstaatidee« richten. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem Marxismus, Faschismus und Nationalsozialismus vergleichbar werden. 1 1 7 Aber obgleich der Totalitarismus im Lichte dieser Theorie »ein Phänomen sui generis« ist, gilt er nicht als bereits überwunden und einer vergangenen Periode zugehörig, sondern »die Analyse des Totalitären bleibt weiterhin unentbehrlich als Instrument zur Erklärung und Einordnung der umfassenden Tendenzen und pseudodemokratischen Ansprüche moderner Diktatur«. 1 1 8 Denn mindestens in den Ländern, die in dem Herrschaftsbereich des sowjetischen und internationalen Kommunismus liegen, sowie in den Ideologien des (westlichen) Neomarxismus dauerte nach wie vor der Totalitarismus als zeitgeschichtliche Erscheinung an. Damit kann aber der Gegenstand der Totalitarismustheorie als ein historischer, im Sinne eines zu einem bestimmten Zeitpunkt entstandenen und sich bis in unsere Gegenwart fortentwickelnden bezeichnet werden. Worin besteht aber der theoretische Gehalt dieses historischen Totalitarismuskonzepts? Bracher ist der Ansicht, daß »erst auf dem empirischen Weg historisch differenzierender Bestandsaufnahme und durch die Analyse konkreter Erscheinungsformen bestimmte Grundelemente totaler Herrschaft erschlossen (werden können), die allgemeinere Aussagen über Bedingungen, Wesen und Grenzen des Totalitarismus erlauben«. 119 Theoriebildung soll hier offensichtlich auf induktive Weise Zustandekommen. Doch diese Selbsteinschätzung trifft nicht auf alle allgemeinen Aussagen der Totalitarismustheorie zu. Darauf macht schon der Umstand aufmerksam, daß die Totalitarismustheorie sich in erster Linie als ein Gegenentwurf zu einer anderen Theorie, der Faschismustheorie, versteht. 120 Zwar bilden sicherlich politische Absichten den Ausgangspunkt für diese entgegengesetzten Interpretationsversuche. Anhänger der Totalitarismustheorie wenden sich gegen jede Form des Sozialismus, während die Anhänger der Faschismustheorie als Warner vor den »kapitalismusimmanenten Konfliktherden« (J. Kocka) und den fortwirkenden vordemokratischen Traditionen auftreten. Ist dieser politische Gegensatz aber erst einmal auf die Ebene seiner wissenschaftlichen Verarbeitung gehoben, so sind es theoretische Überlegungen, die für oder gegen den einen oder anderen Ansatz ins Spiel gebracht werden. »Die Verwendbarkeit des Totalitarismusbegriffs steht und fällt mit der Anerkennung der primären Unterscheidung von Demokratie und Diktatur, von repräsentativer und identitärer Herrschaftsform - im Zweifel vor allen anderen Unterscheidungen ideologischer, sozialer, ökonomischer, institutioneller Art«. »Räumt man ideologischen und sozio-ökonomischen Kriterien den Vorrang ein vor der Frage nach der politischen Ordnung und den menschlichen Grundrechten, dann allerdings fallen auch die fundamentalen Unterscheidungen zwischen gewaltenteiliger Demokratie und monokratischer Diktatur, auf denen der Totalitarismusbegriff beruht.« 1 2 1 Das Faschismuskonzept betont demge77
genüber am Phänomen des Nationalsozialismus die »sozialgeschichtlichen Bedingungen, Inhalte und Funktionen, vor allem seine Bedingtheit durch Krisenerscheinungen kapitalistisch-bürgerlicher Systeme seit dem Ersten Weltkrieg, seine in Klassen- und Schichtungskategorien beschreibbare »soziale Basis«, in der unter Druck geratene Mittelschichten vorwiegen, die Abhängigkeit seines Durchbruchs von der Hilfestellung beziehungsweise Koalition bisheriger, sich durch Parlamentarisierung, Demokratisierung oder soziale Reformen in Frage gestellt sehender Führungsgruppen . . ., seine antisozialistische, antikommunistische Stoßrichtung in Entstehungsund Systemphasen sowie seinen jedenfalls kurz- und mittelfristig unbestreitbaren Beitrag zur Stabilisierung kapitalistischer Grundprinzipien«. 122 Erst nach jener theoretischen Vorentscheidung - theoretisch, weil sie durch das historische Material keineswegs schlicht gegeben ist und nur durch rationale Argumente verteidigt werden kann - gelangt die Totalitarismustheorie zu den Grundbestimmungen totalitärer Herrschaftsgestaltung. Bracher nennt in Anlehnung an eine Reihe historisch-systematischer Studien über totalitäre Diktaturen 1 2 3 besonders die Merkmale der allumfassenden Ideologie, des Einparteien- und Führerprinzips, des terroristischen Polizeisystems, der Technik der Massenbeeinflussung, der zentralen Lenkung und Planung der Wirtschaft u. a. Diese überwiegend politikwissenschaftlichen Begrifflichkeiten erfahren im Rahmen der geschichtswissenschaftlichen Totalitarismustheorie ihre historische Konkretion. Auf ein weiteres instruktives Beispiel einer gegenwartsbezogenen, genetischen Theoriebildung sei abschließend noch kurz hingewiesen. Es läßt sich in den Bemühungen andeuten, die vielfältigen politischen, sozialen, ökonomischen usw. Probleme und Krisen sogenannter mnterentwickelter Länden in der Weise wissenschaftlich zu analysieren, daß man sie als Ausdruck eines geschichtlichen Transformationsprozesses versteht: des der Modernisierung. 1 2 4 In Modernisierungstheorien werden Gegenwartsphänomene als (Spät-) Folgen einer epochalen, langfristigen und eigendynamischen Entwicklung behandelt. Auch wenn sich hierbei die Modernisierungsforschung zu einem großen Teil dem Beginn dieses Transformationsprozesses im 18. und 19. Jahrhundert zuwendet, 1 2 5 geschieht dies doch meist im Hinblick auf die Gegenwärtigkeit jener auslösenden Probleme und eingeschlagenen Wege. Die Modernisierungstheorie ist hierbei in der glücklichen Lage, für die Bildung und Überprüfung ihrer Theorien über zeitgeschichtliche Erscheinungen den Vergleichspunkt der Entwicklung der europäischen Industrieländer zu besitzen. Das Modernisierungskonzept stiftet nun nicht nur einen diachronischen, sondern auch einen strukturellen Zusammenhang von zuvor als disparat angesehenen Vorgängen im Bereich des wirtschaftlichen Wachstums, der gesellschaftlichen Differenzierung und Mobilisierung, des kulturellen Wertewandels. Sie faßt diese Interdependenzen als »Ausweitung der Steuerungs- und Leistungskapazitäten« des Menschen über ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt auf. 1 2 6 78
Gemeinsam ist den zweifellos noch vagen Ansätzen der Modernisierungstheorie oftmals die Interpretation geschichtlicher Wandlungen anhand sogenannter »Rationalmodelle«. NachJ. Habermas versteht man darunter »jedes Verfahren, das historische Vorgänge auf idealisierten Pfaden der Problemlösung anordnet«. »Der Ausgangspunkt einer derart rationalisierten Geschichte ist durch eine Problemstellung definiert, für die wir eine endliche Zahl von Lösungen (und funktional äquivalenten Lösungswegen) systematisch angeben können. Die Geschichte selbst besteht dann aus Episoden, die anhand des zugrundegelegten Problemlösungsmusters bewertet werden. Sie endet mit einer Episode, die die glückliche Lösung herbeifuhrt oder ein Mißlingen der Problemlösungsversuche bedeutet.« Habermas unterscheidet im Einzelnen (a) »Modelle rationaler Wahl«. Das »Problem« könnte hier etwa in der Ausbildung geeigneter politischer Institutionen zur Einbindung der modernen Wirtschaftsgesellschaft bestehen; die konstitutionellen, demokratischen, liberalistischen etc. Alternativen ließen sich dann als »Lösungsweg« begreifen, (b) »Modelle rationaler Nachkonstruktion«, in denen »zu einer innovativen Leistung mindestens ein komplexer Lernvorgang systematisch angegeben werden kann«. (Habermas nennt u.a. als Beispiel die problemgeschichtliche Darstellung der Philosophiehistorie), (c) »System-Umwelt Modelle« durch die ζ. B. ein Staat als ein »grenzerhaltendes System, das sich im Austausch mit einer kontingent veränderlichen und überkomplexen Umwelt erhält«, betrachtet werden soll. 127 Die Arten und die Rolle von Theorien über die und in der Geschichtswissenschaft lassen sich daher abschließend folgendermaßen darstellen: Theorieangebot und Verwendungsweise von Theorien an und in der Geschichtswissenschaft THEORIEN
der Geschichtswissenschaft
Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft
Konstitutionstheorien der Geschichte
materielles V o r verständnis
regulative Theorien der Geschichte
vorwissenschaftliche Alltagstheorien
nicht-geschichtswissenschaftlich
sozialwissenschaftliehe T h e o rien
geschichtswissenschaftlich
retrospekgenetische tive T h e o Theorien rien (Gegenwart) (Vergangenheit) 79
IV. Die Rolle des theoretischen Wissens in den Phasen der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung N a c h d e m ich m i c h im zweiten Teil mit d e m P r o b l e m der Vereinbarkeit v o n Historie u n d T h e o r i e befaßt habe, i m dritten Teil dann versucht habe, den Begriff der T h e o r i e in seinen f ü r die Geschichtswissenschaft relevanten Aspekten genauer zu analysieren, will ich i m folgenden, letzten Teil die Frage b e a n t w o r t e n , welche Rolle das theoretische Wissen in den einzelnen Phasen des historischen Erkenntnisprozesses e i n n i m m t . Als Leitfaden der Suche nach den Theorieelementen w ä h l e ich J. G. D r o y s e n s A b l a u f s c h e m a der Historischen M e t h o d e . D e n n i m Vergleich mit D r o y s e n s A u s f ü h r u n g e n läßt sich, wie schon a n g e f ü h r t , 1 a m eindrucksvollsten der Wandel in der Rollenverteilung zwischen d e m theoretischen u n d nicht-theoretischen W i s sen beschreiben. N a c h D r o y s e n arbeitet die historische M e t h o d e i m Viertakt. Sie hebt an mit der »Heuristik«, »der K u n s t des Suchens der nötigen Materialien« f ü r die historische A r b e i t . 2 »Sie ist die B e r g m a n n s k u n s t , zu finden u n d ans Licht zu h o l e n . « 3 Ihr folgt sodann die »Kritik«, die zuerst nach der »Echtheit« dieses Materials frägt, dann nach den Veränderungen, denen es in der Ü b e r l i e f e r u n g möglicherweise unterlag (»diakritisches Verfahren«); weiter nach seiner »Richtigkeit«, d. h. o b es wirklich f ü r das steht, w o f ü r es ein Beleg sein soll (eigentliche »Quellenkritik«); schließlich nach der Vollständigkeit des verifizierten Materials. 4 Hierauf setzt die »Interpretation« ein. Als » p r a g m a t i sche« rekonstruiert sie die d u r c h die Quellenkritik gesicherten Ereignis- u n d H a n d l u n g s z u s a m m e n h ä n g e in ihren kausalen A b l ä u f e n . 5 Als »Interpretation der B e d i n g u n g e n « e r k u n d e t sie die räumlichen, zeitlichen u n d materiellen U m s t ä n d e , unter denen sich das v e r g a n g e n e Geschehen vollzog. Als »psychologische« Interpretation aber e r g r ü n d e t sie die M o t i v e u n d Z w e c k e der geschichtlichen Akteure. »In die Lücke (jedoch), welche die p s y c h o l o g i sche Interpretation läßt, tritt zuletzt die »Interpretation der Ideen«, d. s. die geistigen S c h ö p f u n g e n der Menschen. D e m (a) A u f f i n d e n des historischen Materials, (b) seiner kritischen A u f b e r e i t u n g u n d (c) seiner interpretatorischen A u s w e r t u n g folgt schließlich, die Arbeit des Historikers vollendend, (d) die »Darstellung« des geschichtswissenschaftlich E n t d e c k t e n . 6 D r o y s e n unterscheidet vier A r t e n der Darstellung: (1) die »untersuchende« Darstellung, die so »verfährt, als sei das in der U n t e r s u c h u n g endlich G e f u n d e n e n o c h erst zu finden oder zu suchen«; (2) die »erzählende« Darstellung - »sie 80
stellt das Erforschte als einen Sachverlauf in der Mimesis seines Werdens dar«; (3) die »didaktische« Darstellung - sie »faßt das Erforschte in den Gedanken der großen geschichtlichen Kontinuität, nach seiner für die G e genwart lehrhaften Bedeutung«; (4) die »diskussive« ( = erörternde) Darstellung - sie dient der Klarstellung einer gegenwärtigen Lage und bietet eine Entscheidungshilfe. D i e entdeckenden, überprüfenden und deutenden T ä tigkeiten des Historikers faßt Droysen mit dem Ausdruck »Methodik« zusammen, die darstellenden Tätigkeiten aber mit dem B e g r i f f »Topik«. An die Stelle dieser Sammelbegriffe treten heute zuweilen die Ausdrücke » G e schichtsforschung« und »Geschichtsschreibung«. 7 »Heuristik« »Kritik« »Interpretation« »Darstellung«
Geschichtsforschung
}
Geschichtsschreibung
1. Von der »Heuristik« zur Datenerhebung U m den Anteil des theoretischen Wissens auf der Stufe der »Heuristik« zu bestimmen, müssen wir die Frage stellen, wie denn der Historiker zu seinem Material k o m m t . A u f der Grundlage »des ersten großen Fundamentalsatzes« der Geschichtswissenschaft, der besagt, »daß (das), was sie über die Vergangenheiten erfahren will, sie nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgend mehr vorhanden, sondern in dem, was von ihnen noch, in welcher Gestalt i m m e r , vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist« (20), 8 sieht Droysen richtig, daß die geschichtliche Forschung bei der Suche nach den »noch gegenwärtigen Materialien«, »nicht auf ein zufälliges Finden« gestellt sein kann, sondern sie m u ß schon »wissen, was sie suchen will, erst dann findet sie etwas« (35). 9
1.1 J . G. Droysens »historische Frage« im Lichte empiristischer und konstruktivistischer Geschichtsforschung Ausgangspunkt der Geschichtsforschung bildet daher nach Droysen die sogenannte »historische Frage«, hierauf »das Suchen aus (dieser) Frage«. Diese Frage richtet sich zunächst kritisch gegen das eigene Vorverständnis, das wir von einem vergangenen Geschehen haben, indem sie fragt, »ob es sich wirklich so verhält, wie wir fragend ahnten, ob es sich beweisen l ä ß t « . 1 0 Die historische Frage macht daher ein bestimmtes Vorverständnis eines vergangenen Geschehens zu einer Hypothese, zu einer nunmehr zu bewei81
senden A n n a h m e . Die heuristische Forschung setzt also s t r e n g g e n o m m e n mit einem A k t der Ü b e r p r ü f u n g schon vorliegender B e h a u p t u n g e n ein. 1 1 D e s w e g e n »wird m a n darangehen, die dazu [ = zu B e w e i s z w e c k e n ] n ö t i g e n Materialien zu suchen, f ü r diese Frage zu durcharbeiten, zu sehen, o b sich der G e d a n k e b e w ä h r t , den w i r ahnten« (33). Die A r t der historischen Frage b e s t i m m t daher auf diesem Wege, was jeweils als relevantes Material anzusehen ist, 1 2 nämlich f ü r den beweisenden Versuch, das Vorliegen u n d die Beschaffenheit des historischen Materials durch eben jenes zur H y p o t h e s e g e w o r d e n e s Vorverständnis (des v e r g a n g e n e n Geschehens) begreiflich zu m a c h e n . 1 3 Wenn m a n aber weiter fragt, w o die historische Frage h e r r ü h r t , w i r d m a n bei D r o y s e n n u r den allgemeinen H i n w e i s finden, daß diese, m o d e r n gesprochen, e n t w e d e r einem vorwissenschaftlichen Interesse oder aber einem jeweiligen fachwissenschaftlichen Diskussionsstand e n t s t a m m t . Für die m e t h o d i s c h e B e a n t w o r t u n g der in ihrer H e r k u n f t zwar nicht weiter problematisierten historischen Frage stellt D r o y s e n j e d o c h f o l g e n d e heuristische Regeln a u f . 1 4 Die erste Regel (a) besteht in d e m nicht selten v o m Zufall begünstigten »divinatorischen Suchen u n d Entdecken«, also »in der Art, daß m a n d e m Verlauf, den die betreffende Sache g e n o m m e n hat, gleichsam n a c h g e h t 1 5 (81), oder (b) in der »Kombination«, durch die das, was nicht historisches Material zu sein scheint, d u r c h richtige E i n r e i h u n g dazu g e m a c h t w i r d (335), 1 6 oder (c) in der B i l d u n g einer »Analogie«, i n d e m m a n eine b e k a n n t e E r s c h e i n u n g als m i t d e m fraglichen historischen Material ähnlich erkennt u n d sie so z u m Vergleich heranzieht (88), 1 7 oder (d) in der B i l d u n g v o n »Hypothesen«, deren Beweis die Evidenz des historischen Materials ist (88). 1 8 D r o y s e n s heuristische Regeln basieren d a m i t w e i t g e hend auf der »Genialität des Forschers« (85), die in einer intuitiven »Kunst« des »divinatorischen Suchens«, i m »kundigen Blick«, in einer s p o n t a n e n K o m b i n a t i o n s g a b e , zuletzt aber in einer die Analogie- u n d H y p o t h e s e n b i l d u n g t r a g e n d e n »freien u n d g r o ß e n Gesamtauffassung« der D i n g e besteht. D i e »Heuristik« standardisiert nicht die explorativen Regeln einer kollektiv organisierten Geschichtsforschung, sie orientiert sich vielmehr n o c h a m Leitbild des individuell gebildeten Gelehrten. O b g l e i c h D r o y s e n s o w o h l das A u f t a u c h e n heuristischer Fragen als auch deren B e a n t w o r t u n g w e i t g e h e n d d e m glücklichen Zufall u n d der genialen E i n g e b u n g überlassen hat, m u ß d o c h allein seine E n t d e c k u n g u n d R o l l e n z u w e i s u n g der »historischen Frage« als entscheidender m e t h o d o l o g i s c h e r G e w i n n angesehen w e r d e n . Seine »Heuristik« verfährt daher nach f o l g e n d e m Schema:
Historische Frage —> Historische A n n a h m e —> Historisches Material D r o y s e n s heuristisches K o n z e p t der geschichtswissenschaftlichen M a t e r i a l g e w i n n u n g k a n n daher der empiristischen Auffassung der Geschichtsforschung kritisch gegenübergestellt w e r d e n . D e n n nach dieser A u f f a s s u n g s a m m e l t u n d sichtet zuerst der Historiker ganz u n v e r m i t t e l t möglichst 82
vollständig die in seinem Arbeitsgebiet liegenden Quellen, um dann »gewissermaßen von diesen Quellen (aus) auf das Geschehen >zurückzuschließen Daten
1.2 Traditionelle heuristische Methoden und Arten historischen Materials Die Eigenart der heuristischen Methode Droysens gewinnt noch deutlichere Umrisse, wenn wir, die Rolle der »historischen Frage« im Auge behaltend, nun fragen, welche möglichen Arten von historischem Material uns nach Droysen gegeben sein können. Das historische Material besteht nach D r o y sen zunächst aus »allerlei Dingen (der Vergangenheit), die noch erhalten und entweder mannigfach umgestaltet oder trümmerhaft und um so unkenntlicher noch in unserer Gegenwart da sind« (37). Soweit für diese Dinge nur gilt, daß sie »die Spur von Menschengeist und Menschenhand« an sich tragen und von der Forschung als Gegenstand herangezogen werden (38), spricht Droysen näherhin von Überresten. 2 4 Sie zeichnen sich durch einen Bezug auf (a) menschliche Lebensäußerungen und auf (b) ein geschichtswissenschaftliches Interesse aus. »In der Fülle der Überreste kann man (dann) unterscheiden: Werke menschlicher Formgebung . . ., Zustände sittlicher Gemeinsamkeiten . . ., Darlegungen von geistigen Vorgängen aller Art . . . und . . . geschäftliche Papiere« (333). Gegenwärtig vorhandene Relikte von Vergangenheit aber, die (a) den »Vorstellungen der Menschen« entspringen und die (b) zum »Zwecke der Erinnerung« absichtsvoll überliefert werden, nennt Droysen »Quellen« (333, 37, § 2 4 ) . 2 5 Sie können weiter in »mündliche« oder »schriftliche«, eher »subjektiv-bewertende« oder »pragmatisch-sachliche«, mehr »referierende« oder »kombinierende« Quellen eingeteilt werden. 2 6 Dasjenige historische Material schließlich, das sowohl zu den »Überresten einer vergangenen Zeit« zu rechnen als auch dadurch gekennzeichnet ist, daß bei dessen »Hervorbringung zu anderen Zwecken die Absicht der Erinnerung«, wenn auch nur implizit, mitwirkte, nennt Droysen, ob ihres »monumentalen Charakters willen«, »Denkmäler« (38). Bei ihnen handelt es sich meist um Urkunden aller Art (51 f.), Inschriften (53), monumentale B a u - und Kunstwerke (53f.), Münzen (55f.), Wappen (59f.) usw. Wie sich noch deutlicher auf der Stufe der »Interpretation« zeigen wird, scheinen diese historischen Materialien dadurch ausgezeichnet zu sein, daß sie weitgehend in Objektivationen menschlicher Absichten, im Idealfall in geistigen Produkten bestehen. Droysens Arten historischen Materials bilden daher in der Weise einen Ausschnitt aus der Fülle möglicher Gegebenheiten, daß nur sie dem Verstehen, genauer dem Sinnverstehen zugänglich sind. An die konstitutive Rolle der historischen Frage erinnernd, läßt sich also sagen, daß es ein hermeneutisches Auswahlprinzip ist, das bei Droysen dem Historiker sein Material verschafft und damit den Bereich möglicher Quellen drastisch einschränkt.
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1.3 Moderne explorative Verfahren und Arten von Daten in den Historischen Sozialwissenschaften Das sichtbarste Zeichen dafür, wie Theorien schon die Suche nach Daten bestimmen, liegt in der Tatsache, daß eine Reihe von theoretisch hochentwickelten, teils naturwissenschaftlichen Disziplinen sich auch als historische Teilwissenschaften etabliert haben. Dieser historischen Rückwendung systematischer Disziplinen verdanken sich die zur Zeit sich schnell ausweitenden Gebiete beispielsweise der historischen Klimatologie, der retrospektiven Epidemiologie, der historischen Ernährungsphysiologie oder Ernährungsgeschichte, der historischen Demographie und Bevölkerungsgeschichte, der historischen Anthropologie und Verhaltensforschung, der historischen Familiensoziologie, der historischen Kulturgeographie, der sozialpsychologischen Mentalitätsgeschichte, der historischen Konjunkturtheorie, der retrospektiven Ökonometrie, der historischen Arbeitsmarktforschung usw. 2 7 Mit dieser Teilhistorisierung theoretischer Wissenschaften hat sich einerseits der Bereich der geschichtswissenschaftlich interessanten Quellen exponentiell vergrößert, andererseits ein interdisziplinärer Zusammenhang in einem nicht gekannten Maße aufgetan. Beide Merkmale lassen immer schneller immer mehr neue Spezialdisziplinen entstehen. Wie die theoriegeleitete Sammlung von Daten im einzelnen vor sich geht, zeigt sich ζ. B. im Falle der Historischen Demographie, die sich fur das generative Verhalten einer bestimmten Bevölkerung über vergangene Zeitspannen hinweg interessiert. Dieser Untersuchungsgegenstand legt es nahe, daß auch eine Reihe anderer Disziplinen, vor allem die Klimatologie, Sozialmedizin, Ernährungswissenschaft, Sozialpsychologie etc. in historischer Einstellung sich der entsprechenden Wirkfaktoren annehmen. Daher kann zunächst »einfach alles, von dem wir Informationen über geschichtliche Fakten ableiten oder ableiten können«, eine Quelle der Geschichtsforschung sein, d. h. alles, was aufgrund theoretischer Kenntnisse über Mechanismen und Zusammenhänge als Anzeichen (= Quelle) für klimatische, nahrungsphysiologische, psychische usw. Ursachen in Frage kommt. Die diese Erkenntnisse zwar mit berücksichtigende Historische Demographie hat aber vor allem Kirchenbücher, Stammtafeln und für die neuere Zeit Ortssippenund Familienbücher besonders erfolgreich als Quelle behandelt. Diese Aufzeichnungen enthalten Eintragungen über Geburten, Taufen, Vermählungen und Sterbefälle, oft auch solche über Herkunft, Beruf und Migration von Pfarrei-, Gemeinde- oder Dorfangehörigen. Aus diesen Angaben, die im vorliegenden Fall das greifbare historische Material ausmachen, versucht die Historische Demographie nun vitalstatistische Daten zu erheben. Für die Frage nach dem Ausgangspunkt der Geschichtsforschung ist es daher wichtig, zwischen dem Material, also den Quellen und Daten der historischen Forschung zu unterscheiden. Für die moderne Geschichtswissenschaft können, wie betont, potentiell alle Relikte zur Quelle werden, so 85
daß eine Klassifikation der historischen Materialien im Droysenschen Sinne, angesichts der noch unbekannten und prinzipiell unbegrenzten Quellenarten wenig nutzbringend sein dürfte. Die Historischen Sozialwissenschaften würden daher nur in den gleichen Fehler der »Heuristik« verfallen, wenn sie das hermeneutische Auswahlprinzip bloß durch ein anderes, ζ. B . ein materielles ersetzen würden. Was an dieser Stelle die historischen Wissenschaften voneinander unterscheidet, sind vielmehr die Daten, die sie aus dem Material erheben. Daten sind elementare Beschreibungen oder Definitionen von Gegenständen, die der Wissenschaft vorliegen. Daher kann es auch verschiedene Daten über dieselben historischen Materialien geben! Ein sehr altes, doch gut erhaltenes, bearbeitetes Stück Holz kann zu einem Träger sowohl klimatologischer, dendochronologischer, ergonomischer wie auch kulturgeographischer etc. Daten werden. 2 8 Da es sich aber zeigt, daß es kein zu wissenschaftlichen Aussagen herangezogenes »Weltding« gibt, das ohne eine Beschreibung, d.h. eben als Datum gegeben ist, 2 9 werden nicht die »historischen Materialien«, sondern die historischen Daten zum Ausgangspunkt der Geschichtsforschung zu zählen sein. Die datenmäßige Beschreibung der Quellen ist aber wiederum nicht selbstevident, sondern abhängig von einer Methode und schließlich einer Theorie. U m also dem demographischen Material vitalstatistische Daten zu entnehmen, bedient sich die Historische Demographie vor allem der sogenannten Familienrekonstitutionsmethode, die aus den Quellen die Zusammenstellung von Kleinfamilien (Mann, Frau, Kind) erlaubt. Sie verwendet aber auch die sogenannte nichtnamentliche, aggregative Methode, die zu einer anonym-statistischen Auswertung z . B . von Kirchenbüchern fuhrt. 3 0 U m beispielsweise die »innereheliche Fruchtbarkeit in historischer Zeit« zu erfassen, werden folgende Daten zusammengestellt: Alter von Mann und Frau bei der Heirat, Anzahl der Kinder, Abstand (in Monaten) zwischen der Heirat und der Geburt des ersten Kindes bzw. zwischen den folgenden Geburten, Alter der Mutter, bei den einzelnen Geburten etc. 3 1 Nun lassen sich aber keineswegs alle Daten in der Historischen Demographie in dieser direkten Weise erheben. Denn abgesehen davon, daß solche Daten meisterst in Form quantifizierter Durchschnitts-, Prozent- oder anderer Zahlenwerte der eigentlich historisch-demographischen Analyse zugrundeliegen, 3 2 gibt es auch Daten, die erst aufgrund eines bestimmten theoretischen Vorverständnisses des Gegenstands aus dem Material (ζ. B . Kirchenbüchern) extrahiert, gewissermaßen >erzeugt< werden können. J e nachdem, ob man sich von den demographischen Angaben gruppen-, schichtspezifische, ökotypische, biotypische u. a. Auskünfte über das generative Populationsverhalten erhofft, wird sich die Beschaffenheit der Daten ändern. Unter einem sozioökonomischen Gesichtspunkt wird man Datenträger etwa als Dienstvolk, Abhängige, Arbeitnehmer, Bauern, Arme, Selbständige, Mittelständische, Reiche, (Groß)grundbesitzer etc. identifizieren. Von einem ökotypischen Gesichtspunkt aus aber wird man die Datenträger als Bewohner eines be86
stimmten Lebensraumes, ζ. Β. einer isolierten Insel, eines domänenorientierten Dorfes, einer Großstadt-Hinterlandregion etc. auffassen. Unter einer biotypischen Perspektive wird man sie schließlich als Ausprägung biologisch-physiologischer Variablen, wie ζ. B . Säuglingssterblichkeit, A m mungsgewohnheit, Ernährungslage etc. festhalten. 3 3 Eine nur geschlechtsspezifische Erfassung ζ. B. von Mortilitäts- oder Zivilstandsdaten unterscheidet sich aber von einer schichtenspezifischen, umweltspezifischen, rassenspezifischen etc. Trotz des gleichen historisch-demographischen Q u e l lenangebots (hier: Kirchenbücher) werden aufgrund von, wenn auch nicht >fertigen< Theorien, so doch theoretischen Vorüberlegungen über den generellen Zusammenhang zwischen generativem Verhalten einerseits und etwa schichtspezifischer Familiengröße und -struktur oder individuellem Hygieneverhalten andererseits nicht dieselben Daten erschlossen!
2. Von der »Kritik« zur Datenauswertung Mit der kritischen Feststellung, daß einerseits nicht das »historische Material«, sondern Daten von diesem Material den eigentlichen Ausgangspunkt der Geschichtsforschung bilden, und daß andererseits die Daten für die Geschichtsforschung nicht ein erstes Gegebenes, sondern bereits eine aus der Menge der Relikte extrahierte Information sind, gelangen wir schon in den Problembereich der zweiten, von Droysen einst »Kritik« genannten Erkenntnisstufe. Aufgrund der von der Historischen Sozialwissenschaft angestrebten Verwendung sozialwissenschaftlicher Methoden und Theorien ließe sie sich auch als die Stufe der Datenauswertung bezeichnen.
2.1 Der instrumenteile, skeptische und konstruktive Charakter der Kritischen Methode Schon der sowohl positive als auch negative Sinn des Wortes >Kritik< legt es nahe, daß mit Kritik Verschiedenes erzielt werden kann. Kritisch ist j a Droysens heuristische Methode zunächst in der Weise, daß sie den Primat der historischen Frage gegenüber dem historischen Material herausstellt und darin einem naiven Quellenpositivismus entgegenwirkt. Die kritische Methode beinhaltet also ein instrumentalistisches Moment. Kritisch ist D r o y sens Heuristik aber auch qua wissenschaftlicher Methode, sofern sie einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen jegliche historiographische Autoritäten und Vorurteile, gegen Anerkanntes und Geglaubtes geltend macht. An die Stelle des Glaubens an die Wahrheit der Überlieferung tritt der Zweifel an der Richtigkeit des Berichteten; Tradiertes wird zur bloßen »Quelle«. Historisch gesehen war dies, nach den Worten M. Blochs, der Augenblick, »als 87
der Zweifler zum Prüfer wurde . . . mit anderen Worten: als allmählich Regeln erarbeitet wurden, nach denen man Lüge von Wahrheit unterscheiden konnte«. 3 4 Die kritische Methode beinhaltet daher auch ein skeptisches Moment. Allerdings verharrt sie nicht in der Haltung jenes Zweiflers, der angesichts einer unzuverlässigen und widerspruchsvollen Überlieferung die Möglichkeit einer Erkenntnis der Vergangenheit überhaupt in Frage stellt. Vielmehr zeigt sie dem Historiker inmitten skeptischen Areals Mittel und Wege auf, wie sich trotzdem die Wahrheit über historische Sachverhalte herausbringen läßt. Die kritische Methode beinhaltet daher nicht so sehr ein destruktives, sondern vielmehr ein konstruktives Moment. Es ist nun genau dieser Bedeutungssinn von >kritischWirklichkeitsstückProduktion< von Heiligenreliquien über die professionelle Falschmünzerei, Gemäldefälschungen bis hin zur Fälschung und Fingierung von U r k u n d e n . Es war dieses, historisch keineswegs zufällige, sondern mit der Ü b e r w i n d u n g des historischen Pyrrhonismus< 4 0 in Verbindung stehende Interesse an der Echtheit historischer Quellen, das zur Entfaltung einer Reihe von historischen Grund- oder Hilfsdisziplinen führte, mittels deren M e thoden diese Authentizitätsprüfung erst erfolgreich durchgeführt werden k o n n t e . 4 1 Schon die Verfahrensweisen der ältesten und klassischen Disziplinen, wie die N u m i s m a t i k , Diplomatik, Epigraphik, Ikonographik, Heraldik usw. sind außerordentlich vielfältig, teils hermeneutischer teils empirischer Natur, betont typisierend, nicht selten von hypothetischem Wissen geprägt. Der Charakter und die Rolle der Hilfswissenschaften wird jedoch nicht i m m e r richtig gesehen. Zunächst m u ß man betonen, daß es nicht die Hilfswissenschaften schlechthin gibt. Vielmehr kann prinzipiell jede Wissenschaft Hilfsdisziplin für eine andere Wissenschaft werden. Daraus folgt, daß mit jeder neuen Wissenschaft auch potentiell eine neue Hilfsdisziplin entstanden ist. Dazu gehört auch, daß wir mit einer steten Vermehrung und wahrscheinlich auch Verbesserung (hilfs-)wissenschaftlicher M e t h o d e n rechnen können. D a m i t läßt sich aber die Frage, ob auf dieser Stufe der »Kritik« ein theoretisches Element die Geschichtsforschung bestimmt, zunächst so beantworten: D u r c h die zugegebene Abhängigkeit der Historischen M e t h o d e von hilfswissenschaftlichen Erkenntnissen und Verfahren in der Phase der Echtheitskritik, und die überwiegende Zugehörigkeit der Hilfsdisziplinen zu den (theoretisch-)systematischen Wissenschaften überhaupt, macht die »Kritik« allemal Gebrauch von theoretischem Wissen. Bereits die Kritik der Echtheit der Relikte führt nicht selten zu einem »diakritischen Resultat, d. h. zu der Einsicht, daß mit dem Ursprünglichen und Echten Späteres oder Unechtes verbunden ist . . .« (114). Die zweite Form der »Kritik« besteht nun gerade in diesem Unterscheidungsverfahren des »Früheren oder Späteren«. Auch ihr liegt ein »historisches Material« vor. Da m a n jedoch damit rechnen m u ß , daß es seit seiner Entstehung erweitert, verändert, korrumpiert wurde, stellt sich für die diachronische Kritik zunächst die Frage, »ob das, was uns vorliegt, noch unversehrt das ist und sein kann, was es war und sein wollte, und welche Veränderung zu erkennen und für den Z w e c k der historischen Aufgabe außer Rechnung zu 90
bringen sind« (115). So geht es beispielsweise darum, an einem klassischen Text (Horaz, Ovid) das anläßlich seiner späteren Abschriften Hinzugefugte oder Abgeänderte auszusondern und die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen. Dies gilt aber auch fur Schöpfungen, deren Zweck es nie war, unverändert zu bleiben, wie ζ. B. Volks- und Kirchenlieder, Verfassungen, Baulichkeiten etc. Es ist also erst die historische Betrachtungsweise, die (a) Überreste zu historischem Material macht und (b) den Stand seiner »Entwicklung in einem bestimmten Zeitpunkt und unter dessen Gleichzeitigkeit zu fassen sucht« (116). »Zu diesem Zweck scheiden wir für die Forschung und in ihr das Frühere vom Späteren, restituieren diese früheren Gestaltungen, indem wir sie aus der ununterbrochenen Reihe der Umbildungen aussondern und sie gleichsam isolieren. So diakritisch erneuern wir uns aus dem noch gegenwärtigen Material ein Gedankenbild, zu dem wesentliche Züge noch in der Gegenwart zu empirischen Anschauung vorliegen« (116). Aufgrund dieser methodischen Verfahrensweise, der diachronischen Kritik, vermag der Historiker an einem Material ζ. B. zu unterscheiden, welche Teile eines Bauwerks dem »republikanischen Rom«, der »Zeit Raffaels und Michelangelos« zugehören; oder in der Etymologie der Sprachen ζ. B. die alt-, mittel- oder neuindogermanischen, semitischen u. ä. gemeinsamen Urformen und differenzierten Abformungen von Wörtern zu rekonstruieren; oder in der Rechtsgeschichte die »Anschichtungen von Jahrhunderten zu unterscheiden lernen« und so das rechtliche Material zu historischen Typen wie ζ. B. dem römischen Recht, der normannischen Verfassung etc. zusammenzufassen. Bereits aus Droysens Analyse der zweiten Phase der Kritik, der diachronischen Kritik, wird klar, daß (a) es erst ein Entwicklungsgedanke ist, der uns ein historisches Material durch seine Zuordnung zu einem Früher oder Später verifiziert; 42 daß (b) dabei die »Kritik« geradezu fordert, über das hic et nunc Gegebene (des historischen Materials) hinauszugehen. Diese Forderung aber weitgehend nur hypothetisch erfüllbar ist, da man nur »künstlich und . . . in der Regel nur theoretisch das der Zeit nach Verschiedene herauspräparieren und sondern kann« (117), so daß (c) der Entwicklungsstandpunkt der diachronischen Kritik sich als ein theoretisch-systematisches Instrument der Verifizierung erweist. Im Unterschied zu den ersten beiden Formen der »Kritik«, der Authentizitäts- und Entwicklungskritik, bezieht sich die »Kritik der Richtigkeit« nicht »(auf) die Form, sondern (auf) den Inhalt, (auf) die in dem Material dargelegte Auffassung des einst Wirklichen, von dem es Zeugnis geben will« (122). Dieser dritten Art der Kritik geht es um die Frage, ob es das, wofür das vorliegende historische Material ein Beleg, ein Zeugnis sein soll, wirklich gegeben hat. Stimmt das, ist es richtig, was da behauptet wird? U m also die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit eines durch das historische Material scheinbar nahegelegten Sachverhaltes festzustellen, >befragt< 91
die Geschichtsforschung das vermeintliche Geschehen unter vier allgemeinen Gesichtspunkten: (1) »Ist die Richtigkeit dessen, was unser Material angibt, nach dem Maß menschlicher Erfahrungen und Erkenntnis an sich möglich? (So ζ. B. im Falle von Hexenerscheinungen) (2) »Ist sie unter den Bedingungen und Umständen, unter denen der Bericht geschrieben ist, möglich?« (So ζ. B. im Falle der »Verherrlichung« von Persönlichkeiten durch bestellte Biographen oder Lobredner) (3) »Ist in den Motiven, in den Zwecken, in den persönlichen Verhältnissen des Berichtenden eine T r ü b u n g der Auffassung indiziert und erkennbar?« (So ζ. B. im Falle von zu propagandistischen oder diplomatischen Zwecken vereinseitigenden oder beschönigenden D o k u m e n t e n , Berichten etc.) (4) »Ist in der Unzulänglichkeit der Mittel des Beobachtens und Auffassens, in der Art und Form der Erhebung Unrichtigkeit unvermeidlich?« (So z . B . bei »statistischen Erhebungen«, die zum Z w e c k e der »praktischen Politik« entstanden sind.) Mit der »Kritik der Richtigkeit« versucht Droysen strenggenommen zwei Arten von Geltungsansprüchen des historisch Überlieferten zu sichern, nämlich (a) die Objektivität, die Tatsächlichkeit des überlieferten Geschehens und (b) die Wahrhaftigkeit, die ehrliche Intention des Autors festzustellen. Da für ihn aber beide Aspekte in der Realität (des Materials) verquickt sind, liegt diesem Teil der Kritik, das »verifizierte Material« meist nur »in seinem relativen Wert« vor, d. h. »es sagt: das ist der Standpunkt der Berichtenden . . ., von diesem zeigen sich die Dinge, s o u n d s o . . .« (131). Den drei kritischen Fragen nach der Echtheit, der Entwicklung und der Richtigkeit des historischen Materials fügt Droysen noch eine vierte hinzu, die nämlich, »ob das Material, wie es uns vorliegt, noch alle M o m e n t e enthält, für die wir Zeugnis suchen, oder in welchem M a ß es unvollständig ist« (144). Ihre A n t w o r t liegt in der »kritischen O r d n u n g « des Materials. Die Kritik ist sich zunächst bewußt, daß alles Wissen, so auch das historische, »Stückwerk, . . . unvollständig« und in diesem Sinne selektiv ist. Die Geschichtsforschung m u ß jedoch »vor allem darüber ins klare zu k o m m e n suchen, in welchem Maße ihr Material lückenhaft ist. Denn es ist klar, daß, j e weniger feste Punkte ich habe, desto willkürlicher die Linien sein können, mit denen ich sie verbinde, und damit das Bild, das ich nach ihnen gebe« (145). U m sich also über das Ausmaß der Unvollständigkeit des Materials in Kenntnis zu setzen, empfiehlt Droysen, sich zunächst des Leitfadens der O r d n u n g nach der Zeitfolge zu bedienen. Doch nicht allein der chronologische, sondern möglichst viele Gesichtspunkte werden helfen, die Materialien genauer zu lokalisieren. Es liegt auf der Hand, daß die Wahl dieser Ordnungsschemata keineswegs gegeben, sondern meist theoriegeleitet sein wird.
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2.3 Zwei Modelle der historischen Tatsachenfeststellung Droysens »Kritik« zeigt, daß die Geschichtswissenschaft in ihrem Bemühen, vergangenes Geschehen zu rekonstruieren, weder die Quellen selber sprechen lassenwenn dieses oder jenes Ereignis stattgefunden hat oder diese oder jene Situation existierte, dann ist über diesen Teil oder Komplex der Quellen Rechenschaft abgelegt; wenn dieses oder jenes Ereignis, Ding oder Situation (aber) nicht eingetreten ist oder existiert hat, dann kann das Vorliegen dieses Materials nicht erklärt werden.« 4 5 Droysens »Verständnis der Vergangenheit« ist aber auch (b) in der Weise konstruktivistisch, insofern es gilt, dieses »zu erweitern, zu ergänzen, zu berichtigen, nach immer neuen Gesichtspunkten zu entwickeln und zu steigern«(27). Schon W. v. Humboldt hatte den Historiker darauf aufmerksam gemacht, daß »das Geschehen nur zum Teil in der Sinnenwelt sichtbar (ist), das Übrige hinzuempfunden, geschlossen, erraten werden (muß) . . .; was das Stückwerk verbindet, bleibt der unmittelbaren Beobachtung entrückt«. 46 Auch historische Erkenntnisse sind provisorisch und im Zuge weiterer Forschung widerlegbar. Gleichwohl können die Quellen nicht Beweismaterial schlechthin, sondern dies einzig hinsichtlich einer Frage bzw. Hypothese sein. Droysen zufolge liegt nach Abschluß der »Kritik« der Geschichtsforschung das »verifizierte«, historische Material vor Augen, das nunmehr der »Interpretation« zur weiteren Bearbeitung offensteht. Droysens Modell der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung läßt sich vereinfacht als ein Reduktionsprozeß auffassen, der (a) zunächst festhält, daß die unendliche Fülle der »historischen Tatsachen« nicht mehr greifbar ist, deren vorhandene 93
Reste sodann (b) nur noch in Form des »historischen Materials« der Geschichtsforschung verfügbar sind, von denen im weiteren (c) die »Kritik« nur noch die »verifizierten« Teile desselben übrigläßt, von denen schließlich (d) die »Interpretation« nur noch das »Stückchen Vergangenheit« behalten wird, das verstehbar ist. Wenn auch Droysen sieht, daß die herkömmliche geschichtswissenschaftliche Absicht, festzustellen, was wirklich der Fall war, (»wie es eigentlich gewesen ist«), und diese Fragestellung, soweit es geht, durch Quellenmaterial zu belegen, nur in der Weise sich realisieren läßt, daß eine historische Frage beantwortet bzw. ein Problem gelöst wird oder, anders formuliert, die Quellen zur Bestätigung einer historischen Hypothese verwendet werden, so erkennt er doch nicht, daß diese kritische Rekonstruktion einer Erklärung gleichkommt, in der das »historische Material« als Explanandum, das »Verständnis der Vergangenheiten« aber als Explanans auftritt. So könnte man beispielsweise im Falle der historischen Lutherinterpretation 47 die im Streit miteinander liegenden katholischen, protestantischen oder sozialkritischen Deutungen der Person Luthers und der Reformation bzw. die aus ihnen hervorgehenden Teileinschätzungen, etwa der Bedeutung von Luthers Auftritt auf dem Reichstag von Worms im Jahre 1521, als die unterschiedlichen »Verständnisse der Vergangenheit« (J. G. Droysen) ansprechen, von denen in der wissenschaftlichen Diskussion wohl diejenigen am besten abschneiden werden, die das vorliegende Quellenmaterial am umfassendsten erklären können. Ein solcher Erklärungsversuch gelingt nur dann, wenn auch Klarheit darüber besteht, daß jede Erklärung auf ein allgemeines Wissen zurückgreifen muß, bei dessen Anwendung auf das angenommene Geschehen sich die gegenwärtige Quellenlage erst überhaupt ergibt. 4 8 Solches allgemeines Wissen reicht in vorliegendem Fall von den Historische Erkenntnis und Tatsachenfeststellung nachj. G. Droysen
HISTORISCHE TATSACHEN
HISTORISCHES MATERIAL
VERIFIZIERTES M A T E R I A L
VERSTANDENES MATERIAL
HEURISTIK
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KRITIK
INTERPRETATION
verschiedenen Ansätzen eines ideengeschichtlichen oder gesamtgesellschaftlichen Zugangs (Reformation oder frühbürgerliche Revolution?) über generelle Kenntnisse der menschlichen Psyche bis hin zu epochenspezifischen >Gesetzmäßigkeiten< wie ζ. B. der des für das ausgehende Mittelalter noch bezeichnenden >osmotischen< Übergangs von weltlichem und transzendentem Bereich. Die Behauptung eines bestimmten vergangenen Geschehens ist daher hypothetisch, da sie nur dann wahr ist, wenn auch die zu unterstellenden Verallgemeinerungen wahr sind. Aus diesen, die erkenntnistheoretischen Implikationen der Droysenschen Historischen Methode weiterfuhrenden Überlegungen ergibt sich jedoch eine alternative Auffassung der historischen Tatsachen. Im Gegensatz zu Droysen 4 9 verstehe ich unter einer historischen Tatsache nicht ein wirkliches Ereignis, sondern einen Satz, der einen wahren Sachverhalt ausdrückt, wobei mit Sachverhalt eine sprachlich vorgenommene Eigenschaftszuschreibung gemeint ist, die wahr insofern ist, als ihr in der Realität eine Gegebenheit entspricht«. Tatsachen können also nur in Gestalt von Sätzen erfaßt werden; »sie sind genau das, was wahre Sätze ausdrücken«. 50 Dies besteht in der wahren Zuschreibung von Eigenschaften und Relationen. Es können daher zwei verschieden wahre Sätze sich zwar auf dasselbe Ereignis beziehen, gleichwohl aber verschiedene Tatsachen an diesem zur Darstellung bringen. Nachdem also historische Tatsachen nicht mehr mit den vergangenen Geschehnissen gleichgesetzt werden dürfen und es daher auch keinen Sinn mehr macht, sie in die Vergangenheit zu verlegen und von gegenwärtigen Überresten etc. solcher Tatsachen zu sprechen, bleibt nur übrig, sie als gegenwärtige, geschichtswissenschaftliche (Re-)Konstrukte zu bezeichnen, die, solange sie nicht die erhobenen Daten befriedigend erklären können, strenggenommen nur historische Sachverhaltsbehauptungen sind. Im Gegensatz zu Droysens Modell der historischen Erkenntnisgewinnung bildet Historische Erkenntnis und Tatsachenfeststellung in den Historischen Sozialwissenschaften
HISTORISCHE D A T E N
HISTORISCHE TATSACHEN
ERKLÄRTE TATSACHEN
EXPLORATION
REKONSTRUKTION
EXPLANATION
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nunmehr die historische Tatsachenbehauptung das Mittelglied zwischen der explorativen Phase der Datenerhebung und der eigentlichen Erklärung der geschichtlichen Ereignisse, deren Faktizität eben die »Kritik« bzw. Rekonstruktion behauptet. Das m. E. den Historischen Sozialwissenschaften zugrundeliegende Modell der historischen Erkenntnisgewinnung verfährt daher nach dem Schema auf S. 95.
3. Von der »Interpretation« zur Theoriebildung Mit den von der »Kritik« erbrachten Leistungen sind für Droysen die Aufgaben der Geschichtsforschung jedoch noch nicht erfüllt. Wäre dies der Fall, so bliebe es bei einer rein kompilatorisch-dokumentarischen Historie, die Droysen in der Form der Regesten und Quellensammlungen vorlag. In ihr forscht der Historiker zuerst nach Dokumenten und Berichten von Beteiligten, Augenzeugen oder deren Gewährsmännern. Er exzerpiert sodann das für seine Zwecke Wichtige, konfrontiert einander widersprechende Aussagen, entscheidet sich wohl für oder gegen den einen oder anderen Bericht, gibt aber, falls ihm dies nicht möglich erscheint, entweder beide Zeugnisse wieder oder verwirft sie. Im Idealfall strebt er eine vollständige Dokumentation an, vermeidet daher selektive Abwägung, jede Verallgemeinerung, ja eigentlich jedes kommentierende Wort. 5 1 Collingwood nennt diese »aus Quellenauszügen und aus Kombination verschiedener Quellenzeugnisse zusammengesetzte Geschichtsschreibung«, eine solche »der Schere-undKleistermethode« (»scissors-and-paste-history«). 52 Droysen versucht nun die irrige »Gewissenhaftigkeit« dieser kompilatorisch-editorischen Auffassung, die »über die Resultate der Kritik nicht hinausgehen will«, da jedes Arbeiten mit ihnen allein der Phantasie überlassen wäre, zu widerlegen, indem er »für die weitere Arbeit Regeln zu finden (versucht), die ihre Korrektheit sichern« (339). Diese Regeln aber sind nach Droysen solche der Interpretation.
3.1 Aufgaben der »Interpretation« nach J. G. Droysen und das Problem der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisziele Worin die Aufgaben der interpretatorischen Geschichtsforschung bestehen, beschreibt Droysen zunächst auf negative Weise: a) Sie »interpretiert nicht die sogenannte historische Tatsache . . . um aus ihr die Umstände und Bedingungen abzuleiten, als deren notwendiges Resultat wir sie entwickeln könnten«, (152). b) Sie will nicht erklären, d. h. aus dem Früheren das Spätere, aus Gesetzen 96
die Erscheinungen als notwendig, als bloße Wirkung und Entwicklung ableiten« (339). c) Sie will nicht »zu einem Punkt gelangen, der in vollem und eminenten Sinn der Anfang, das unvermittelt Erste wäre« (150), nicht zu »ersten Keimen und Ursprüngen« (151). Daraus läßt sich ersehen, daß wir nach Droysen - »die uns noch vorliegenden Materialien interpretieren, um aus deren Erläuterung und Deutung, aus deren möglichst eingehendem Verständnis zu erforschen, was in ihnen noch über die Tatsachen, von denen sie Zeugnis geben, zu erkennen ist« (152). - »die Erinnerungen und Uberlieferungen, die Überreste und Monumente einer Vergangenheit so verstehen, wie der Hörende den Sprechenden versteht, daß wir aus jenen uns noch vorliegenden Materialien forschend zu erkennen suchen, was die so Formenden, Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen Ausdrücken und Abdrükken ihres Seins aussprechen wollten« (26). - »nicht weiter als bis zu relativen Anfängen, d.h. solchen, die wir im Verhältnis zu dem daraus Gewordenen als Anfang setzen. Erst aus dem Gewordenen finden, setzen wir den relativen Anfang« (150). Sobald Droysen nun in die Diskussion der »Formen der Interpretation« eintritt, zeigt sich jedoch, daß er sich nicht strikt an diese vorab aufgestellten Kriterien der Interpretation hält. Es fragt sich daher überhaupt, ob die Geschichtswissenschaft denn wirklich entgegen (a) auf die Analyse realgeschichtlicher Vorgänge, entgegen (b) auf Erklärungen und entgegen (c) auf eine Hierarchisierung von Ursachen verzichten kann. Wir sahen bereits in Anlehnung an Gedanken von L. Goldstein, daß der noch zur »Kritik« gehörende Vorgang der Rekonstruktion des vergangenen Geschehens aus den Quellen als ein solcher der Erklärung aufgefaßt werden kann, nämlich einer Erklärung des Vorliegens bestimmter Quellen durch die Annahme eines bestimmten vergangenen Geschehens. Wenn Droysen mit der Quellenkritik den Zweck der Geschichtsforschung noch nicht erfüllt sieht, könnten wir daraus entnehmen, daß er über die kritische Analyse des historischen Materials hinaus eine Analyse des überlieferten Geschehens selber anstrebt. Genau diese Möglichkeit verneint er aber (152)! Mit seiner Umschreibung der Interpretation als »gleichsam ein Auflockern und Auseinanderlegen dieser wie ausgetrockneten und eingeschrumpften Materialien« verbleibt Droysen strenggenommen im Bereich der »Kritik«, genauer der »Kritik der Richtigkeit«. 53 Auf die (in unserer Terminologie) Erklärung der Quellenlage d a r f - nimmt man diesen Satz ernst - somit keine Erklärung des historischen Geschehens selbst folgen! Gerade in dieser Untersuchung des aus den historischen Daten rekonstruierten Geschehens - mittels welcher Methoden auch immer - wird heute jedoch ,wie selbstverständlich, die eigentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft gesehen. In fast jeder beliebigen methodischen Einführung in die Historie werden sich, ungeachtet der 97
unterschiedlichsten theoretischen Standpunkte, Aussagen der folgenden Art finden: »Die geschichtswissenschaftliche Grundfrage ist also immer die: Wie kann ich ein geschichtliches Phänomen mit meiner Vorstellungskraft erfassen, wie kann ich es in seiner Entstehung, seiner inneren Struktur, seiner historischen Bedeutung verständlich machen oder, kurz gesagt, verstehen?« 5 4 »Historische Erkenntnis ist unabdingbar fur das Verständnis, die Erklärung und damit fur die richtige praktische Behandlung einzelner Gegenwartsprobleme, indem sie deren (historische) Ursachen und Entwicklung aufdeckt. Sie kann an vergangenen Gegenstandsbereichen . . . modellhaft Kategorien und Einsichten vermitteln, die der Erkenntnis und der Orientierung in der sozialen und politischen Gegenwart dienen können . . ., z . B . an zurückliegenden Fällen . . . zentrale Kategorien politischer Entscheidungsprozesse. « s s »Eine solche Bedingung ( = des Geschichtsbewußtseins) ist etwa die durch immer neue Analysen vergangener menschlicher Praxis und ihrer Ergebnisse zu gewinnende Einsicht in die Grenzen der Machbarkeit der Geschichte . . . « 5 6 »Außer den Ereignissen hat die Geschichtswissenschaft immer Einrichtungen der Verfassung im weitesten Sinne behandelt.« 5 7 Wenn der Historiker »sich genötigt sieht, die Ursachen gewisser Ereignisse festzustellen . . ., (dann) schreibt er ein und demselben Ereignis gewöhnlich mehrere Ursachen zu«; »Jedes historische Argument dreht sich um die Frage, welchen Ursachen der Vorrang zukommt« u s w . 5 8 Daß Droysen auch seinerseits nicht bei seinem Vorsatz bleibt, durch die Kunst der Interpretation die Materialien nur »Sprache gewinnen zu lassen«, zeigt sich bereits bei der ersten Form der Interpretation, der sog. »pragmatischen Interpretation«. 5 9 Denn diese »faßt den kritischen Tatbestand, d.h. die in der Kritik verifizierten und geordneten Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverlaufes nach dem in der Natur dieses Verlaufes liegenden Kausalnexus auf, um den Gang des einst wirklichen Sachverlaufes zu rekonstruieren« (340); »Ihr Verfahren ist, daß sie die Zusammenhänge und Zusammengehörigkeiten, von denen sie in ihren Materialien die Spuren erkennt, nach diesen Spuren ergänzt, die in ihnen angedeuteten Motive fortfuhrt, aus dem Abstrakten ins Konkrete übersetzt« (156). U m also die Voraussetzungen, Bedeutung und Auswirkungen etwa einer alexandrinischen Schlacht angesichts einer bruchstückhaften Quellenlage zu erkennen, bedarf es des Rückgriffs auf ein quellenexternes Wissen über allgemeine strategische, taktische, geographische, psychologische Zusammenhänge etc., so daß Droysen schließlich anerkennt, daß »dieser Kausalzusammenhang, dieses pragmatische Motiv, ob sie in unseren Quellen stehen oder nicht, sich aus der Natur der Sache ergibt« (157). Ähnlich beschaffen sind die Quellen zur deutschen Rechtsgeschichte, die uns »nicht eine Ahnung« über den Zusammenhang der (verfassungsrechtlichen) Reformbewegung« (158) geben. Die Interpretation muß sich daher analogisierender, komparativer und hypothetischer Verfahren bedienen (161, 340). 98
3.2 Interpretation und erläuternde Erklärungen Folgt also aus Droysens Darlegungen zur (pragmatischen) Interpretation, daß die Geschichtsforschung sich weder auf die Deutung der Quellen zu beschränken habe, noch, daß sie sich jeder Erklärungsleistung zu enthalten habe? Die Geschichtswissenschaft hat es, so meine ich, mit Tatsachen, die erklärt werden wollen, zu tun. Im Gegensatz zu Droysen ist zunächst nicht einzusehen, warum Interpretation und Erklärung in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander stehen sollen (§§ 8, 14), setzt doch nicht nur die Interpretation, sondern auch die Erklärung einen Zustand des Nicht-Verstehens voraus, der durch diese kognitiven Tätigkeiten behoben werden soll. Denn ethymologisch verweist das Wort >Erklären, Erklärung< auf die lateinische Wurzel »clarus« und bedeutet, »laut, hell, klar (deutlich) machen; bereinigen«. 6 0 Schon die Wortgeschichte zeigt damit den O r t an, wo mit Erklärungen zu rechnen ist. Der Bedarf nach Erklärungen stellt sich genau dort ein, w o Selbstverständliches in Frage gestellt oder unbegreiflich geworden, Erwartungen enttäuscht, Vertrauen gestört worden ist. Indem Erklärungen solche Situationen des Erstaunens, des Unverständnisses, der Verunsicherung zur Voraussetzung haben, 6 1 gilt ihr Interesse gerade jenen außergewöhnlichen, unverständlichen und befremdlichen Erscheinungen, die diese Situation hervorgerufen haben, nicht aber dem (Selbst-) Verständlichen und Vertrauten. Die Rede vom Nicht-Verstehen und Unbekannten setzt aber ebenso einen Zustand des Verstehens und der Vertrautheit voraus, in dessen Licht Neues erst als Abweichendes, Fremdes, Unverständliches empfunden und erfaßt wird. Geschehnisse sind daher nicht als solche, sondern stets in bezug auf einen jeweiligen Informationsstand, jeweilige Erwartungen unbekannt oder unerwartet. Der Ausgangspunkt von Erklärungen besteht folglich einerseits im störenden Auftreten von Unbekanntem, andererseits im tragenden Vorhandensein von Bekanntem. 6 2 Denn wie es in einer vollständig bekannten Welt keine Erklärungen geben kann, weil siejeglicher verständnissuchender Fragen entbehrt, so auch keine in einer vollständig unbekannten Welt, weil siejeglicher bekannter Antworten entbehrt. Es ist somit weder erforderlich noch möglich, für Alles und Jedes eine Erklärung zu geben. 6 3 Die Funktion von Erklärungen besteht darin, Unverständliches zu begreifen, Verwirrung zu beheben, Rätselhaftes zu lösen. Diese Wiederherstellung der Normalität erfolgt in der Weise, daß Unbekanntes auf B e kanntes zurückgeführt wird. Eine zufriedenstellende Erklärung ist etwas, was uns zu sagen erlaubt, »Ja, ich habe verstanden. Was mir zuvor konfus und dunkel erschien, ist mir jetzt klar.« Erklärung und Interpretation sind sich nun genau darin gleich, daß sie (a) einen Zustand des Nicht-Verstehens beheben wollen, in der Weise, daß (b) das Nicht-Verstandene eingliedernd in Beziehung gesetzt wird zu dem (schon) Verstandenen, 6 4 so daß dieser Vorgang 99
(c) das Verstehen des zuvor Nicht-Verstandenen z u m Ergebnis hat. U m herauszufinden, worin sich die Erklärung und Interpretation unterscheiden können, wird es nötig sein, Formen und Muster beider Erkenntnisarten im Einzelnen zu untersuchen. 6 5 So liefert etwa derjenige, der einen vagen Begriff, wie ζ. B. den der »Sozialstruktur« erläutert, eine explikative Erklärung. Wer einen Fachausdruck, wie z . B . den börsentechnischen des » D o w Johns Index« präzise umschreibt, vermag eine definitorische Erklärung zu geben. Sodann läßt sich ein komplexer (empirischer) Vorgang oder Zustand, wie ζ. B. der des thermischen Gleichgewichts an einem einfacheren Beispiel (Modell), etwa d e m Ehrenfestschen Urnenspiel, veranschaulichen. 6 6 Hier handelt es sich u m eine exemplifizierende Erklärung. Explikation, Definition und Exemplifikation erklären, indem sie erläutern. Erläuternde Erklärungen können aber als A n t w o r t e n auf was-Fragen aufgefaßt werden. Sie bedienen sich dabei identifizierender und klassifizierender Ausdrucksweisen. Diese erläuternde Bedeutungsdimension des Erklärungsbegriffs war es nun, der einst die scholastische Logik keinen Unterschied zwischen Erklärung und Interpretation machen ließ. Danach hieß eine Sache oder einen Ausdruck erklären gleichermaßen, »einen Begriff >klar< u n d >deutlich< gebrauchen oder auf seine einfachen, intuitiv gewissen Elemente zurückfuhren«. 6 7 Es bereitete deswegen der v o r m o d e r n e n Hermeneutik auch keine Schwierigkeiten, das h e r m e n e u tische Verstehen auch als »Erklärungskunst« zu bezeichnen (F. A. Wolf). Auch heute noch halten Synonym-Wörterbücher das Wort »Erklärung« mit den Wörtern »Erläuterung, Interpretation, D e u t u n g , Verdeutlichung, Auslegung, Verkündigung« u . a . für sinnverwandt. 6 8 Als Folge der noch zu behandelnden Einengung des Erklärungsbegriffs auf eine rein kausale Bedeutung glaubte die Hermeneutik nun diese erläuternde Funktion allein unter dem Titel »Interpretation« w a h r n e h m e n zu können. U n t e r Interpretation verstand man daher zunächst die D e u t u n g des Sinns eines sprachlichen Gebildes (Text, Äußerung) oder anderer mit einer Bedeutung versehener menschlicher Artefakte (Kunstwerke). Für Droysen besitzt diese im »historischen Verstehen« verkörperte Art der Interpretation ganz dieselbe Struktur wie die des Verstehens eines »mit uns Sprechenden« (25). Wir verstehen die Relikte der Vergangenheit, »wie der H ö r e n d e den Sprechenden versteht« (26). Im Falle der Interpretation als Sinndeutung heißt dies, daß wir »das einzelne Wort, den einzelnen Satz« in seiner Bedeutung erfassen (25). N u n m u ß aber gleich gesagt werden, daß Droysen mit der historischen Interpretation nicht nur die Erläuterung des semantischen Sinns eines überlieferten Textes u. ä. meint, sondern auch das Verstehen der A b sichten, des Zwecks, der M o t i v e einer Äußerung, einer Handlung, genauer eines Sichäußernden oder Handelnden. »Wir verstehen (eine Äußerung) als von (einem) Innern Zeugnis gebend« (25); »Wir suchen aus jenen uns noch vorliegenden Materialien forschend zu erkennen, was die so Formenden, Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen 100
Ausdrücken und Abdrücken ihres Seins wollten« (26). In Anlehnung an die linguistische Terminologie können wir in diesem Fall des Motivverstehens i. w. S. von einem Verstehen desperformativen Sinns einer Äußerung (Sprachhandlung) sprechen. 6 9 Wenn wir aber die Bedeutung und den Z w e c k einer Äußerung auseinanderhalten, müssen wir auch die methodischen Verstehensweisen dieser Zeichendimensionen unterscheiden. Es ist nun die erste Art der Interpretation, das Sinnverstehen, das Droysen w o h l letztlich dazu nötigt, die interpretatorischen Aufgaben der Geschichtswissenschaft mit der Quellenauslegung ineinszusetzen, denn die zweite Frage nach d e m Z w e c k , Motiv etc. der U r h e b e r historischer Zeugnisse überschreitet ja gerade die immanente Textanalyse. An dieser Stelle soll uns daher nur die Frage beschäftigen, welche Rolle Theorieelemente i m Verstehen des Sinns eines historischen Textes etc. spielen. An einem obersten Punkt ist die Interpretation in der Weise theoriebestimmt, daß sie durch die Hermeneutik als Theorie des Verstehens zu einem methodischen Instrument der Textauslegung gemacht wurde. Sie enthält allgemeine Regeln des Verstehens, die die Hermeneutik in metatheoretischer Perspektive aufstellt oder thematisiert. 7 0 Das Verstehen wird zu einem theoretisch disziplinierten Mittel der Erkenntnisgewinnung. Eine solche »technologische Disziplin für einen bestimmten Problembereich ist«, wie H. Albert bemerkt, »nur dann möglich, wenn es in diesem Bereich bestimmte Gesetzmäßigkeiten gibt, auch wenn diese noch nicht voll erfaßt wurden. Die betreffenden P h ä n o m e n e sind dann prinzipiell einer Erklärung auf theoretischer Grundlage zugänglich.« 7 1 Auf dieser metatheoretischen Ebene deutet sich bereits ein Konflikt an zwischen der die Eigenständigkeit der historischen Wissenschaften methodisch absichernden Hermeneutik und d e m schon angeführten methodologischen Individualitätsprinzip der Geschichtswissenschaft, denn letzteres schließt »die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten für den Bereich aus, auf den sich die M e t h o d e des Verstehens anwenden läßt«. 7 2
3.3 Z u r Kritik des historischen Individualitätsprinzips: (A) Die These v o m Eigenwert einer jeden geschichtlichen Erscheinung Gemäß dem Individualitätsprinzip (IP) m u ß jede geschichtliche Erschein u n g als nicht nur zeitlich, sondern auch wertmäßig einmalig aufgefaßt werden. Das vollendete historische Denken gewinnt der neuzeitlichen Vorstellung von der U n u m k e h r b a r k e i t und Unwiederholbarkeit des Geschichtsprozesses, in dem jede Begebenheit eine einmalige Raum-Zeit-Stelle einnimmt, den moralisch-praktischen Standpunkt ab, daß jede historische Erscheinung ihr eigenes Daseinsrecht und ihre eigene Vollkommenheit besitzen m u ß . Kennt die Geschichte nichts gleichartig Wiederkehrendes, nur heterogene Einzelphasen und deren immanentes Recht, so kann es aber 101
auch kein allgemeinverbindliches Richtmaß, sondern nur je besondere und wandelbare Maßstäbe zur Beurteilung dieser Mannigfaltigkeit historischer Erscheinungen geben. »Wertrelativität ist« daher, nach F. Meineckes Worten, »nichts anderes als Individualität im historischen Sinne . . . « 73 Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft kann folglich nur darin bestehen, die individuellen Werte vergangener Zeiten zu entdecken und sie allein als die adäquaten Maßstäbe zur Beurteilung des jeweiligen historischen Geschehens zu betrachten.
3.3.1 Zur Entstehungsgeschichte des Individualitätsprinzips Daß eine theoriefeindliche Historie sich auf dem Boden dieser wertrelativistischen Fassung 74 des IP bewegt, wird deutlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wogegen sich einst die dem Individualitätsgedanken verpflichtete Geschichtsauffassung wandte. Mit diesen wertrelativistischen Intentionen setzt seit Ende des 18. Jahrhunderts die Kritik an der philosophisch-theoretischen Aufklärungshistorie in Deutschland ein, 75 indem sie deren allgemeine und abstrakte Deutungsprinzipien der Geschichte zu destruieren suchte, von denen sie meinte, daß diese den Historiker blind und unempfindsam gegenüber der Vielfalt menschlicher Lebensäußerungen, ja den Menschen überhaupt sich der konkreten Lebenswelt zu entfremden geneigt machen würde. Diese Prinzipien bestanden nun vornehmlich in dem Leitgedanken der kontinuierlichen Vervollkommnung der Menschheit (Fortschritt), der durchgängigen Gesetzmäßigkeit alles natürlichen und geistigen Seienden und der Universalität der diese Gesetzmäßigkeiten erkennenden diskursiven Vernunft. Sie alle aber waren in der Gestalt des sogenannten rationalen Naturrechts verkörpert, das somit in den Mittelpunkt des Streits zwischen der >historischen< und >aufklärerischen< Weltsicht gelangte. 76 Als dauernde Frage des Menschen nach der ihm naturgemäßen Art der Vergesellschaftung war das Naturrecht jedoch nicht nur im engeren Sinne das System rechtlicher Normen, die überall und jederzeit für alle Menschen als vernünftige Lebewesen verbindlich waren (Recht auf Leben, Rechtsgleichheit, Eigentum), sondern im weiteren Sinne eine Sozialphilosophie, die nach den universalen und unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens suchte. 77 Das rationale Naturrecht kennzeichnete demgemäß die Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts, in der einerseits die klassische Lehre von der Politik überhaupt einen Strukturwandel vollzog, andererseits diese im eigentlich rechtspolitischen Bereich als Theorie des Vernunftrechts ihren Ausdruck fand. Der fundamentale Wandel der praktischen Philosophie äußerte sich zunächst darin, daß die Grundsätze des rationalen Naturrechts nicht mehr einer unveränderlichen, letztlich göttlichen Weltordnung (Kosmos; Schöpfung) angehörten, sondern aus der Trieb- und Vernunftnatur des autonomen Menschen hergeleitet wurden. Die Prämisse der natur102
rechtlichen Argumentation bestand somit in der Annahme einer überhistorischen und universalen psycho-physischen Menschennatur, 7 8 deren Wesensbestimmung durch die Vernunft erkennbar war. 7 9 Aus ihr Schloß sie sodann auf universale und allgemeingültige, der menschlichen Natur gemäße Normen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, die daher weder auf konventioneller Vereinbarung noch auf einem übernatürlichen Gebot beruhen konnten. 8 0 Diese Überzeugung versuchten nun die Kritiker durch den Hinweis auf die historische Vielfalt der Rechtsvorstellungen und der tatsächlichen Veränderlichkeit der Gerechtigkeitsprinzipien zu widerlegen. Die Art des Schlusses selbst empfanden sie jedoch nicht als fragwürdig, schien ihnen doch das Natürliche und folglich das Normative einfach individuell, statt allgemein zu sein. Ihre Verwerfung des Naturrechts im Namen der Geschichte bezog sich aber auch auf seine Verbindung mit einer teleologischen Kosmologie, die der naturrechtlichen Annahme einer natürlichen Hinordnung alles Lebendigen auf seine ihm wesensgemäße Vollkommenheit entsprang. 8 1 Denn gemäß dem kritisierten Perfektionierungsschema der Aufklärungshistorie schritt die Geschichte wie ein kontinuierlicher Strom zu immer vollkommeneren Zuständen fort. Der philosophische Leitfaden dieser Deutung der Weltgeschichte bestand in dem Prinzip, das Ganze der Geschichte von einem Endzustand, d. h. letzten Sinn her zu denken. Dieser Zustand wurde als das Stadium letztendlicher Erfüllung und Verwirklichung wahrhaft menschlicher Lebensformen, humaner Ideen und Werte betrachtet. Für die aufgeklärte Beurteilung der Vergangenheit ergab sich daher die Möglichkeit, fortschrittsfordernde von hemmenden Faktoren und Geschehnissen zu unterscheiden. Dagegen, »daß doch alles hübsch in gerader Linie ginge, undjeder folgende Mensch und jedes folgende Geschlecht in schöner Progression . . . zu solcher Aufklärung, Tugend, Glückseligkeit . . . gestiegen« sei, 82 hatte J. G. Herder (1744-1803) seinen wirkungsvollen Grundsatz gestellt, daß jedes Volk und Zeitalter »den Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich (hat), wie jede Kugel ihren Schwerpunkt«. 8 3 Noch eingängiger verwarf später L. v. Ranke (1795-1886) die Vorstellung, daß »jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte wäre, (erstere also nur etwas bedeuten (würde), als sie Stufe der nachfolgenden . . . wäre« und behauptete statt dessen, daß »jede Epoche unmittelbar zu Gott (sei), und ihr Wert gar nicht auf dem (beruht), was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst«, daß also »jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß«. 8 4 Ranke gab schließlich, wie H. G. Gadamer zeigt, 85 dem Eigenwertgedanken eine Art theologisches Fundament, indem er sich »die Gottheit . . . (so dachte), daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleich wert findet«.86 »Je mehr es (also dem Historiker) gelingt, den eigenen unzerstörbaren Wert einer jeden Erscheinung zu erkennen, und das heißt: 103
historisch zu denken, desto gottähnlicher denkt er«, 87 sind doch vor Gott alle geschichtlichen Erscheinungen gleichberechtigt. Freilich standen sich die aufklärerischen und die (früh)historistischen Positionen unter dem hier erörterten epochenspezifischen Wertgesichtspunkt nur teilweise gegensätzlich gegenüber, denn beide schienen eine gemeinsame organische Betrachtungsweise der Geschichte nur verschieden zum Ausdruck zu bringen. 8 8 So könnte fur sie gleichermaßen W. v. Humboldts Feststellung gelten, daß »alle lebendigen Kräfte, der Mensch wie die Pflanzen, die Natur wie das Individuum, das Menschengeschlecht wie die einzelnen Völker, ja selbst die Erzeugnisse des Geistes . . . Beschaffenheit, Entwicklungen, Gesetze miteinander gemeinsam (haben)«. 89 Werden aber geschichtliche Epochen mit biologischen Altersstufen gleichgesetzt, können diese Lebensalter sowohl als Entwicklungsphasen auf dem Wege des Erwachsenwerdens 90 als auch als Stufen von eigenständiger Erfülltheit thematisiert werden. 9 1 Der Historiker wird damit für Herder zum »Naturforscher der Menschheit«, da dieser »keine Rangordnung unter den Geschöpfen voraussetzt, die er betrachtet; alle sind ihm gleich lieb und wert«. 9 2
3.3.2 Über die Problematik einer >quellennahen< Begrifflichkeit am Beispiel von Feudalismus-Konzepten Wie sich der Eigenwertgedanke als These über eine angemessene historische Begriffsbildung im Einzelnen ausnimmt, läßt sich besonders deutlich am Beispiel der Verwendung des Feudalismusbegriffs zeigen. Wie nicht wenige andere wissenschaftliche Begriffe entstammt auch der Begriff» Feudalismus« der politisch-polemischen Sprache. Im Anklang an das französische »feodalite«, ein bereits im 18. Jahrhundert verbreiteter »Verfassungsty penbegriff mit geschichtsphilosophischer Wertung«, 93 wird das Wort »Feudalismus* während der Französischen Revolution eingedeutscht, um auch hierzulande die durch die Revolution für aufgehoben erklärten gesellschaftlichen und politischen Institutionen des >Ancien Regime< in ablehnender oder kritischer Weise zu kennzeichnen. Während also auf der einen Seite feudalistisch solche gesellschaftlichen Einrichtungen genannt werden, die als unzeitgemäß, antiprogressiv, ja reaktionär empfunden werden, können diese auf der anderen Seite, wohl mit einem nostalgischen Unterton, als vornehm, großartig, herrschaftlich in Erinnerung behalten werden. In beiden Fällen geht es um einen Begriff, der auch heute noch affektiv und normativ besetzt ist. Davon nun bleibt die eigentlich geschichtswissenschaftliche Begriffsbildung keineswegs unberührt. Denn die Quellen selber sprechen nicht zu uns, vielmehr bewahrheitet sich die alte Einsicht, daß ein Begriff etwas ist, das zu dem historischen Material hinzukommen muß. Woher kommt aber der Begriff? Nachdem die historischen Begriffe schon deswegen nicht aus der Anschauung stammen können, weil die Vergangenheit als wahrnehmbares 104
Geschehen für uns nicht mehr vorhanden ist, bleibt nur die Möglichkeit, sie aus anderen Begriffen zu erzeugen. Welches sind aber diese anderen Begriffe? In B e a n t w o r t u n g dieser Frage fordert nun die Eigenwertthese, daß der Historiker sich unter der Prämisse, daß die Geschichtswissenschaft allein zu berichten habe, wie es eigentlich gewesen ist, möglichst nur der Begriffe bedienen soll, die er in den Quellen vorfindet. Die unter dem Diktat des Individualitätsprinzips (IP) stehende Position besagt daher, daß geschichtswissenschaftliche Begriffe Quellenbegriffe sein sollen. Diese ζ. B. durch die Arbeiten von F. L. Ganshof, H. Mitteis und O . Brunner repräsentierte Richtung der quellengemäßen Begriffssprache gerät nun vorab in die Schwierigkeit, daß sich in den Quellen nur die mittelalterlichen Worte »feudum«, »feus«, »fief« u.a. finden, die ein verliehenes Gut, das sogenannte Lehen, meinen und sich wahrscheinlich v o m fränkischen »fehu«, Vieh, Geld, Vermögen ableiten lassen. 9 4 Seit dem 12. Jahrhundert treten mit »feudum« verbundene Ausdrücke dann vorwiegend in rechtlichen Z u s a m m e n h ä n g e n und Schriften auf (»libri feudorum«). Während sich der Begriff »feodalite« zwar in einer ebenfalls juristischen Bedeutung bereits im 16. Jahrhundert findet, gewinnt er zusammen mit den Worten »gouvernement feodal«, »regime feodal« u. ä., wie angeführt, erst im 18. J a h r h u n dert eine allgemeine Verbreitung. Wer also bestrebt ist, dem geschichtswissenschaftlichen Begriff >Feudalismus< eine im Sinne des IP entsprechende Bedeutung zu verleihen, sieht sich vor d e m Problem, daß er die in den Quellen verzeichneten, vertraglichen Akte zwischen Vasall und Herr in ihrem die gesamte geschichtliche Wirklichkeit bestimmenden Wirkungsgrad deuten m u ß . U m aber herauszufinden, ob das Lehenswesen nur von (privat-)rechtlicher oder auch politischer, sozialer, ökonomischer, (sozial)psychologischer Relevanz war, und dementsprechend ein >engerer< oder >weiterer< Feudalismusbegriff angemessen ist, m u ß der Historiker schon wissen, was er als rein rechtliche, politische, ökonomische etc. Beziehung, Institution gelten lassen will. Hier hat der Eigenwertansatz, besonders bei O . Brunner, zunächst einmal eindrucksvoll gezeigt, von welchem Vorverständnis, ja von welchen T h e o rien aus der Feudalismus geschichtswissenschaftlich gedeutet bzw. mißdeutet w o r d e n ist. Da »die moderne Geschichtswissenschaft wie auch die Sozialwissenschaften, in engstem Z u s a m m e n h a n g mit dem Durchbruch zur modernen Welt ausgebildet worden sind, . . . sprechen sie weithin deren Sprache«. 9 5 Die Historie tritt daher zwangsläufig mit Fragestellungen an die Epoche des Feudalismus heran, die der eigenen Zeit entsprungen sind. Hier war es seit dem 19. Jahrhundert vor allem die Leiterfahrung und der sozialphilosophische Gedanke der Differenzierung von Staat und Gesellschaft, auf der die Einschätzung des Feudalismus beruhte. 9 6 Unter Gesellschaft verstand das 19. Jahrhundert einerseits die vorrangig ethisch-kulturell begriffene N a t i o n als eine vor den Gesetzen des Staates gleiche und dadurch freie Bürgergemeinschaft (»staatsbürgerliche Gesellschaft«) andererseits die 105
Wirtschaft als Gesamtheit der a m volkswirtschaftlichen P r o d u k t i o n s p r o z e ß beteiligten Privatleute (Wirtschaftsgesellschaft). A u f g r u n d des M o d e l l c h a rakters dieser »societas civilis sine imperio« (L. A. v. Schlözer) gelangte die Geschichtswissenschaft zu einem VerfassungsVerständnis, in d e m eine private einer öffentlichen Rechtssphäre gegenüberstand, f ü r die m a n n u n auch i m Feudalismus eine E n t s p r e c h u n g zu suchen b e m ü h t w a r . D a d u r c h m u ß t e m a n in i h m eine alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens politisch-herrschaftlich d u r c h d r i n g e n d e E r s c h e i n u n g sehen u n d d e m g e m ä ß die >Vermengung< beider Rechtssphären als N e g a t i v u m e m p f i n d e n . Dieser, die T r e n n u n g v o n Staat u n d Gesellschaft u n d den m o d e r n e n Volkssouveränitätsbegriff r ü c k p r o j e k t i e r e n d e n D e u t u n g ist besonders die liberal-konstitutionelle Geschichtsschreibung aufgesessen, f ü r die das System des Feudalismus »die Folge der widerrechtlichen Z e r s t ö r u n g der altgermanischen >Gemeinfreiheit< u n d der auf der Ü b e r e i n k u n f t freier M ä n n e r b e r u h e n d e n , genossenschaftlichen Verfassung des f r ü h e n Mittelalters« w a r . 9 7 D e m freien E i g e n t u m , d e m öffentlichen S t i m m r e c h t (betreffend Volkswehr, Steuerbewillig u n g , Gerichtsbarkeit) u n d der Gleichheit i m Genossenschaftsverein standen die herrschaftliche B e l e h n u n g , die ständischen F u n k t i o n e n u n d Privilegien, die privaten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen U n g l e i c h e n g e g e n über. D e r N i e d e r g a n g j e n e r »Volksfreiheiten« w u r d e z u r ü c k g e f ü h r t auf die feudalistische » U s u r p a t i o n staatlicher Hoheitsrechte«, d . h . die Veräußer u n g dieser an Lehensträger, w o d u r c h eine »ursprünglich privatrechtliche Institution in eine herrschaftliche« v e r w a n d e l t w u r d e . Dieser Tatbestand fand in den A u s d r ü c k e n »Lehensstaat« (G. Waitz) u n d »Feudalstaat« (G. v. Below) seinen Niederschlag. Die Vielfalt a u t o n o m e r Gewalten u n d Instanzen w u r d e als ein Zeichen der Zersplitterung einer einst einheitlichen Staatsbürgerschaftsgesellschaft, als » D u r c h b r e c h u n g des U n t e r t a n e n v e r b a n d e s « (G. v. Below) gedeutet. D e r Feudalismus w u r d e zu einer Zerfallsepoche. 9 8 Z u dieser (verfassungs-)rechtlich-politischen Interpretation des Feudalismus k a m es a u f g r u n d eines theoretischen Bezugsrahmens, f ü r den O . B r u n n e r u. a. den entscheidenden Einfluß v o n sozialphilosophisch-naturrechtlichen Elem e n t e n u n d v o n b e s t i m m t e n nachrevolutionären, gesellschaftspolitischen E r f a h r u n g e n ausmachen k o n n t e , k a u m aber d u r c h eine A n e i g n u n g der zeitgenössischen Quellensprache. Expliziter als bei der rechtlich-politischen Interpretation treten die t h e o r e tischen A n n a h m e n bei der sozioökonomischen Interpretation des Feudalismus zu Tage. D e r Feudalismus w i r d hierbei v o n einer rechtlichen, politischen O r g a n i s a t i o n s f o r m innerhalb des mittelalterlichen Staates (Lehenswesen) zu einer weitverbreiteten, e n t w i c k l u n g s m ä ß i g zu d u r c h l a u f e n d e n Gesells c h a f t s f o r m . In dieser auf M o n t e s q u i e u (1689-1755), Voltaire (1694-1778) u n d die französischen Frühsozialisten (erstes Drittel des 19. J h d . ) z u r ü c k g e h e n d e n Begriffstradition v o n >feodalite< geht es d a r u m , allgemeine u n d typische M e r k m a l e der feudalistischen Sozialstruktur aufzufinden. Aus den dieser R i c h t u n g z u z u r e c h n e n d e n g r u n d l e g e n d e n U n t e r s u c h u n g e n lassen 106
sich im wesentlichen folgende Merkmale der feudalen Gesellschaftsordnung anfuhren: (a) die Vasallität, d. h. die nicht auf Sippen- oder Verwandtschaftsbanden, sondern auf vertragliche Übereinkunft gegründeten, persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse; 9 9 (b) die Hierarchie, d. h. die pyramidenartige, ständisch abgestufte R a n g o r d n u n g der Feudalmitglieder; 1 0 0 (c) die Belehnung, d. h. die einerseits d e m reinen Lebensunterhalt, andererseits der Gefolgschafts- und Arbeitskraftbeschaffung dienende Landverteilung; 1 0 1 (d) die Grundherrschaft, d . h . die sich aus dem Recht auf Bodenrente (siehe c) ergebende Chance (Recht) zur lokalen Regierungsgewalt (Privilegien). 1 0 2 Diese generellen Eigenschaften werden jedoch dadurch eingeschränkt, daß entgegen (a) »in keinem Land die Bevölkerung voll und ganz in die Bande einer persönlichen u n d erblichen Abhängigkeit geraten war« 1 0 3 und daß, obgleich allgemein festgestellt wird, daß (wie b sagt) »in der Feudalgesellschaft das Verhältnis der U n t e r o r d n u n g unter den nächsten Führer die charakteristische Verbindung zwischen den Menschen darstellte«, 1 0 4 » U n regelmäßigkeiten« die Feudalhierarchie begleiteten, so »hatten (doch in der Tat) viele Vasallen mehrere Lehen von verschiedenen Herren, befanden sich viele Herren durch mehrere Lehen gleichzeitig auf verschiedenen Stufen des Systems, (oder es hatten) gelegentlich Herren . . . Lehen von Herren, die durch andere Lehen ihre eigenen Vasallen waren«. 1 0 5 Wenn sodann das feudale Lehen par excellence im Grundbesitz, also in Ländereien von verschiedener Größe bestand, konnten jedoch, hier von (c) abweichend, auch Gebäude, Würden, Ämter, (Einkommens-, Herrschafts-, Wohn-)Rechte etc. Gegenstand der Belehnung sein. 1 0 6 Wenn schließlich generell behauptet wird, daß »alle Feudalsysteme, über die wir etwas wissen, . . . nach d e m Zerfall eines Reiches oder eines anderen großen politischen Organismus entstanden sind«, 1 0 7 daß die »Zersplitterung der Macht«, 1 0 8 »das Ü b e r w i e gen der persönlichen Herrschaftsmittel über die anstaltlichen«, 1 0 9 die Feudalgesellschaft auszeichneten, so gilt jedoch gleichzeitig, daß »inmitten all dessen . . . andere Formen des Zusammenschlusses, der Familie und des Staates« überlebten und daß »der Staatsbegriff niemals vollständig verschwand«. 1 1 0
3.3.3 Generalisierung und Typisierung in geschichtswissenschaftlichen Vergangenheitsbeschreibungen Die Tatsache, daß jene allgemeinen Merkmale des Feudalismus nicht überall nachgewiesen werden können, ja daß sie z u m Teil einzelnen Realitäten widersprechen, lassen sie uns als Typisierungen erkennen. D e n n fur Typisierungen gilt, daß ihre Abstraktionen auf der »vereinseitigenden, gedanklichen Steigerung signifikanter Elemente« (M. Weber) beruhen. T y p e n wie ζ. B. »Ständegesellschaft«, »Lehen- und Pfründefeudalismus«, »Personenverbandstaat«, »Grundherrschaft« etc. sind nicht Allgemeinbegriffe in d e m 107
Sinne, daß sie alle gattungsmäßig möglichen Merkmale unter sich begreifen, sondern Grenzbegriffe, 1 1 1 die gemäß einer bestimmten Frageintention charakteristische Eigenschaften zu einem konstruierten Gedankengebilde zusammenfassen. Zwar muß der »Idealtypus auf Grund der individuellen historischen Erscheinungen ermittelt werden, . . . also der feudalen Verfassung des fränkischen Reiches und seiner Nachfolge- und Nachbarstaaten, des romanisch-germanischen Völkerkreises des Mittelalters. Er ist aber natürlich etwas anderes als die einfache Beschreibung eines individuellen Tatbestandes. Man kann ihn substantiell und statisch fassen, als ein geschlossenes, in sich zusammenhängendes System von Einrichtungen . . .; man kann ihn aber auch funktionell und dynamisch fassen, als eine mehr oder minder vollständig sich auswirkende Tendenz, als ein typisches Prinzip der Staats- und Ständebildung . . . « 1 1 2 Jedenfalls darf man den Typus nicht als Durchschnitts- oder Häufigkeitsbegriff auffassen, da er durch Akzentuierung und Komprimierung der als wichtig erachteten Eigenschaften gewonnen wird. Diese so der geschichtlichen Wirklichkeit entnommenen Merkmale werden hierauf zu einem eindeutigen und in sich widerspruchsfreien Schema zusammengefügt, das in solch einer begrifflichen Reinheit empirisch nicht vorfindlich ist. In seiner Anwendung auf die geschichtliche Realität dient der Typus deswegen aber nicht als Vorbild, wie das die Eigenwertthese zu unterstellen scheint, ist er doch aufgrund der Vielfalt von möglichen theoretischen Gesichtspunkten beliebig konstruierbar. Sein Maßstabscharakter besteht allein darin, daß die Wirklichkeit mit Hilfe der »Kategorie der objektiv (denkbaren) Möglichkeiten« (M. Weber) zum Zwecke der Verdeutlichung ihrer bedeutsamen Bestandteile mit ihm verglichen werden soll, nicht zuletzt u m »Abweichungen« kenntlich zu machen (Methode der kontrafaktischen Annahmen). Ein Typus läßt sich daher nicht als wahr oder falsch, sondern nur als brauchbar oder unbrauchbar bezeichnen. Wie besonders der historische Typus Elemente der Wirklichkeit aufgreift und sie synthetisiert, zeigt sich beispielsweise am Begriff des »Untertanen«. Die in Zedlers Universallexikon auffindbare Umschreibung von »Unterthanen« als »diejenigen, welche einer Obrigkeit unterworffen und deren Gesetzen und Befehlen zu gehorchen verbunden sind«, 1 1 3 erweckt den Eindruck einer einfachen Definition. Freilich muß man in dieser rekursiven Definition schon wissen, was »Obrigkeit« bedeutet. Deswegen fuhrt P. Blickle den Begriff »Untertan« zunächst so ein, daß er »nicht mehr aussagt, als daß es in der politisch-staatlichen oder in der soziopolitischen Sphäre ein funktional bedingtes Oben und Unten gibt. Untertan in diesem Sinne ist ein funktional-verfassungsmäßiger Begriff.« 1 1 4 Wie sehr diese Begriffsbestimmung bereits die schlichte Beschreibung einer geschichtlichen Realität überschreitet, zeigt sich vor allem darin, daß mit den Prädikaten »politischstaatlich«, »sozio-politisch«, »verfassungsmäßig« inhaltliche Ordnungsvorstellungen in sie hineingetragen werden, die sich nicht von den 108
Q u e l l e n einfach ablesen lassen, s o n d e r n theoretischen Ü b e r l e g u n g e n e n t s t a m m e n . So heißt es bei P. Blickle w e i t e r , » U n t e r t a n ist eine B e z e i c h n u n g , die per d e f i n i t i o n e m z u m v o r k o n s t i t u t i o n e l l e n Staat g e h ö r t « ; 1 1 5 ». . . das T h e m a U n t e r t a n m u ß i m B e z u g s r a h m e n der Territorialstaatlichkeit a n g e siedelt u n d p r o b l e m a t i s i e r t w e r d e n « . 1 1 6 Was v o r k o n s t i t u t i o n e l l e u n d territoriale Staatlichkeit heißen soll, m u ß aber v o r a b in einer » m o d e l l h a f t e n K o n s t r u k t i o n « festgelegt sein. H i e r a u f b e z o g e n b e d e u t e t »hierarchisch g e staffelt« d a n n : »Die G u t s - u n d G r u n d h e r r s c h a f t w i r d ü b e r d a c h t v o n der L a n d e s h e r r s c h a f t , die L a n d e s h e r r s c h a f t v o m Reich. In der D r e i e r k o n s t c l l a u ion G u t s h e r r / G r u n d h e r r - L a n d e s h e r r - Kaiser ist die L a n d e s h e r r s c h a f t in der Regel die stärkste K o m p o n e n t e u n d das e n t w i c k l u n g s f ä h i g e E l e m e n t . D a m i t spitzt sich die Frage nach den U n t e r t a n e n auf das P r o b l e m U n t e r t a n Territorialstaat zu. D a s ist ein p r i m ä r politisches T h e m a . « 1 1 7 Erst i m A n schluß an diesen A u f b a u einer typisierenden T e r m i n o l o g i e k a n n es d a n n zu V e r a l l g e m e i n e r u n g e n f o l g e n d e r A r t k o m m e n : »Bezieht m a n U n t e r t a n auf Territorialstaat, so ist das dualpolare Verhältnis O b r i g k e i t - U n t e r t a n eine E r s c h e i n u n g , die v o m 14. J a h r h u n d e r t bis z u m E n d e des Alten Reiches 1806 reicht«, o d e r »die ländliche u n d städtische B e v ö l k e r u n g i m f r ü h m o d e r n e n Staat sind die U n t e r t a n e n . (Grosso m o d o gilt das auch f ü r den reichsstädtischen T e r r i t o r i a l s t a a t ) . « 1 1 8 D a m i t sind aber schon Beispiele g e n a n n t , die eine z w e i t e A r t systematischer B e s c h r e i b u n g e n v o n V e r g a n g e n e m anzeigen. V o n diesen T y p i s i e r u n g e n lassen sich die geschichtswissenschaftlichen Generalisierungen u n t e r s c h e i d e n , die nicht w e n i g e r auf theoretisches Wissen gestützt sein k ö n n e n . 1 1 9 Sic fallen z u m Teil m i t d e m z u s a m m e n , w a s auch »Realtyp« g e n a n n t w o r d e n i s t . 1 2 0 Z w a r ist j e d e r T y p u s in d e m einfachen Sinne allgemein, als er einigen G e g e n s t ä n d e n g e m e i n s a m e E i g e n s c h a f t e n zuschreibt u n d hierin d e f i n i t i o n s g e m ä ß b e h a u p t e t , daß f ü r jeden T y p u s X gilt, daß er stets die E l e m e n t e x, y, ζ e n t h ä l t . 1 2 1 Ü b e r diese t e r m i n o l o g i s c h e F u n k t i o n hinaus, in der die T y p e n b i l d u n g einfach der G e w i n n u n g eines begrifflichen I n s t r u m e n t a r i u m s dient, zielt sie n u r n o c h in e i n e m heuristischen Sinne auf V e r a l l g e m e i n e r u n g . 1 2 2 So, w e n n M . Weber » U n i v e r s a l g e schichte a m Leitfaden des v o m T y p u s des >Zweckrationalen Handelns< b e s t i m m t e n okzidentalen Rationalisierungsprozesses« b e t r e i b t . 1 2 3 A u s s a gen w i e e t w a die, »Feudalismus i m vollen Sinne stellt sich in der Regel n u r da ein, w o die n o r m a l e , direkte E n t w i c k l u n g v o m S t a m m a b g e l e n k t w i r d d u r c h eine weltgeschichtliche Konstellation, die zu e i n e m ü b e r s t ü r z t e n I m perialismus f ü h r t « , o d e r »der F e u d a l i s m u s ist nicht das G e s c h ö p f einer i m m a n e n t e n nationalen E n t w i c k l u n g , s o n d e r n einer weltgeschichtlichen Konstellation, w i e sie n u r in g r ö ß e r e n K u l t u r k r e i s e n v o r k o m m t « , 1 2 4 sind zunächst aber Fälle i n d u k t i v e r V e r a l l g e m e i n e r u n g . Besitzt diese A r t der V e r a l l g e m e i n e r u n g n u r Gültigkeit f ü r einen b e s t i m m t e n O r t u n d eine b e s t i m m t e Zeit, bezeichnet m a n sie als individuelle T r e n d a u s s a g e . So gelangt e t w a J. H u i z i n g a zu solch einer, m i t e i n e m O r t s - u n d Z e i t i n d e x v e r s e h e n e n B e h a u p t u n g , daß »alle h ö h e r e n F o r m e n des b ü r g e r l i c h e n Lebens der n e u e 109
ren Zeit auf Nachahmung adeliger Lebensformen beruhen« oder, daß »im mittelalterlichen Geist alle höheren, reineren Gefühle in der Religion aufgehen, während die natürlichen, sinnlichen Triebe, bewußt verworfen, auf das Niveau einer als sündig verachteten Weltlichkeit herabsinken mußten«. 1 2 5 Mit Einschränkung hält Th. Nipperdey die Behauptung für richtig, »daß langfristig, mit zunehmendem Wohlstand wie auch zunehmend schärferen Klassenkämpfen, das Bürgertum (des deutschen Reiches) konservativer wurde«. 1 2 6 Generalisierungen werdenjedoch zu allgemeinen Gesetzesaussagen, wenn sie in Form einer omnitemporalen Allaussage behauptet werden und eine regelmäßig eintretende Abhängigkeit zwischen dem Auftreten einer Antecedenz- und einer Succedenzbedingung konstatieren. Sie unterstellen damit auch die Richtigkeit der kontrafaktischen Behauptung, daß wenn Α nicht gewesen wäre, dann wäre auch nicht Β eingetreten. Gesetzesartige Aussagen gelten also jederzeit. So behauptet etwa K. Marx, daß »das industriell entwickeltere Land dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft zeigt«. 127 O. Hintze wagt die Hypothese, »es liegt in der Natur des geschichtlichen Lebens, daß die Hochblüte der Kulturen von ausgeprägter Eigenart nur verhältnismäßig kurze Zeit dauert, während ihr Entstehen wie ihr Vergehen weit längere Zeiträume erfüllt«. 128 Es ist lcicht zu sehen, daß solche gesetzmäßigen Aussagen, ungeachtet ihrer Richtigkeit oder Falschheit, statistischen, d. h. auch Ausnahmen nicht ausschließenden Charakter besitzen. Verallgemeinerungen können schließlich nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer, d. h. zahlenmäßige Verhältnisse wiedergebender Form auftreten. 1 2 9 Wie theoretische Annahmen diese Art geschichtswissenschaftlichc Gencralisicrungen bedingen, zeigt sich besonders bei der ökonomischen Interpretation des Feudalismus. Hier ist es vor allem die von Marx und Engels begründete Ökonomie, die zu einer Auffassung des Feudalismus als Produktionsweise bzw. einer durch eine bestimmte Produktionsweise charakterisierten Gesellschaftsformation gefuhrt hat. Eine Produktionsweise ist gemäß der Marxschen Theorie definiert durch einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte und durch bestimmte Produktionsverhältnisse. Zu den Produktivkräften sind sowohl die Arbeitskraft der Produzenten, die Produktionstechniken, als auch ein organisatorisches Wissen zu zählen. Die Produktionsverhältnisse bringen die Art und Weise, in der die Arbeitskräfte, bei einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte, mit den verfügbaren Produktionsmittel kombiniert werden, zum Ausdruck. 1 3 0 Indem sie also festlegen, wer und wie über die Produktionsmittel verfügt, bestimmen sie auch indirekt die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums. Als Eigentumsverhältnisse zeigen sie die Distribution sozialer Macht auf. Innerhalb dieses Theoriegebäudes kommt es zu folgender Einschätzung des Feudalismus: Der Feudalismus beruht auf Naturalwirtschaft; der Boden ist das hauptsächliche Produktionsmittel. Die Produktionstechniken (Pro110
duktivkräfte) liegen in der Landwirtschaft und Gewerbe auf niedrigem Niveau. Da der Besitz der Produktionsmittel nach dem ökonomischen Verständnis stets das gesellschaftliche Machtmittel ist, besteht das feudale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis im Grundbesitz der Lehensherren. Die konkrete Form, in der sich das feudale Grundeigentum realisiert, wird die Rente genannt. Sie wiederum ist das Produkt von Mehrarbeit, welches zur Mehrwertbildung fuhrt. Die bekannte Zersplitterung der politischen Herrschaft hat ihre Ursachen in den kleinen Produktionseinheiten der Leh e n . 1 3 1 Im Rahmen der historisch-materialistischen Theorie über den generellen Ablauf von Gesellschaftsformationen, der sich mit Hilfe der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären lassen soll, nimmt der Feudalismus die Entwicklungsstufe zwischen der »Sklavenhaltergesellschaft« (antike Produktionsweise) und dem »Kapitalismus« e i n . 1 3 2 Gegenüber der ersten Stufe erscheint die feudale Gesellschaftsordnung als fortschrittlich, da in ihr der Produzent (Vasall, Bauer) schon über einige Produktionsmittel verfugt (Vieh, Gebäude) und die Möglichkeit hat, einen eigenen Anteil an dem Produkt zu erwirtschaften. A u f der anderen Seite aber bildet der Feudalismus nur die Vorstufe zum Kapitalismus. Aus der stark von Generalisierungen und Typisierungen Gebrauch machenden ökonomischen Deutung des Feudalismus ergibt sich schließlich die Notwendigkeit, den Feudalismus als universales Phänomen anzuerkennen. Feudalistisch sind daher nicht nur die zwischen »Rhein und Loire« (M. Bloch), vom 9. bis 13. Jahrhundert vorfindlichen Gesellschaften der »Nachfolgestaaten des fränkischen Reichs« (O. Hintze), sondern j e nach dem theoretischen Standpunkt und daraus folgender Definition auch das Japan vom 14. bis 19. J a h r hundert (J. W. Hall), auch das Chou-Reich Chinas vom 10. bis 7. vorchristlichen Jahrhundert (R. Coulborn), das frühe Byzanz, Rußland in der K i e w Muskowiter- und Reichszeit, das parthisch-sassanidische Iran, das osmanisch-türkische Reich (M. Weber; O . Hintze) usw. Sowohl M . Webers typisierender 1 3 3 als auch Marxens generalisierender Ansatz 1 3 4 lassen daher kaum eine Gesellschaft ohne eine feudalistische Periode und Struktur sich entwickeln. Der Gesichtspunkt, unter dem O . Brunner u. a. diese Feudalismuskonzepte und darüber hinaus den sozialwissenschaftlichen Ansatz überhaupt kritisieren, liegt in dem Verbot, daß »die Sozialgeschichte nicht ihre Begriffe fertig aus irgendeinem Stadium der Soziologie, auch nicht aus dem gegenwärtigen beziehen« darf, und in der Aufforderung, »ihre Begrifflichkeit am U r m a t e rial, an den Quellen selbst (zu) erarbeiten«. 1 3 5 Im Einzelnen besagt das Argument, »daß >Gesellschaft< im engeren Sinne, als »societas civilis sine imperio< . . . ein Produkt der neueren europäischen Geschichte ist«, daß damit aber auch der »Übergangscharakter« dieser Gesellschaftsform »immer deutlicher« wird und daß darum ein »durch Typisierung . . . an diesen konkreten Verhältnissen entwickelter Begriff (der Sozialstruktur) nicht zum Modell der Sozialgeschichte überhaupt« dienen kann. »Es liegt kein Grund 111
vor, dieses geschichtlich genau umschriebene Stadium als allgemeingültig hinzunehmen.« 1 3 6 An Brunners Kritik läßt sich somit zunächst die Frage stellen, ob sich seine »neuen Wege der Sozialgeschichte« von einer nicht nur zeitgenössischen Interpretationsperspektive freihalten können. In der Tat zeigt sich, daß an die Stelle eines in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts befangenen Gesellschaftsbegriffes nun der alteuropäische Topos der »societas civilis sive res publica« tritt. In dieser Gesellschaftsform bildeten Herrschaft und Gesellschaft auf der Grundlage einer ethischen Auffassung von der Politik noch eine Einheit. 137 Die wirtschaftlichen Angelegenheiten jedoch waren dem privaten Bereich des unter der Alleinherrschaft des Oikosdespoten stehenden »ganzen Haus« zugeordnet. 1 3 8 Erst die hier zu erzielende wirtschaftliche Autarkie erlaubte es dann, als freier Bürger aktiv an der politischen Gemeinschaft teilzunehmen. Das feudalistische Gegenstück zum bürgerlichen Leben in der »Polis« war das adelig-herrschaftliche Landleben. 139 Es verwundert kaum, daß in den Augen O. Brunners, wie auch in denen aller Traditionalisten der aristotelischen, politischen Theorie, 140 die Entstehung der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und die vertragliche Begründung des neuzeitlichen Staates, ebenso wie die damit einhergehende Ausbildung der modernen Sozialwissenschaften, sich als ein Zerfallsprozeß darstellen muß. 1 4 1 Entscheidend in unserem Zusammenhang ist jedenfalls die Tatsache, daß auch Brunners sozial- und verfassungsgeschichtlicher Ansatz seinem eigenen Anspruch einer quellengemäßen Begriffssprache und damit dem Anliegen der Eigenwertthese nicht genügt. Brunners >Theorie< steckt in den Begriffs- und Wertvorstellungen der klassischen Lehre von der Politik. 142 Aber auch unter einem eher formalen Aspekt läßt sich der Geschichtswissenschaft nicht verbieten, ihre sei es aus dieser, sei es aus jener Epoche entlehnten Begriffe generell zu verwenden. Denn es bedeutet, den Vorgang der Typisierung mißzuverstehen, wenn man ihm unterstellt, damit einen historisch individuellen Tatbestand zu einem »allgemeingültigen« zu machen. Typisierungen dienen immer bestimmten, d.h. variablen Forschungszwecken und theoretischen Interessen; sie zielen auf den Vergleich. In dieser Hinsicht kann sich auch eine am Leitfaden der modernen Wirtschaftsgesellschaft ausgerichtete, ökonomische Deutung des Feudalismus als fruchtbar erweisen, nämlich beispielsweise zur komparativen Überzeichnung der Andersartigkeit der feudalen Gesellschaftsordnung.
3.4 Arten begründender Erklärungen Neben jenen zuerst behandelten, erläuternden Aufgaben 1 4 3 tragen wissenschaftliche Erklärungen vorwiegend eine begründende Funktion. Begründende Erklärungen lassen sich als Antwort auf warum-Fragen im weitesten Sinne verstehen. Wer für das (unerwartete) Eintreten oder Ausbleiben eines 112
Ereignisses eine Erklärung sucht, der wird nach dessen Ursachen forschen. In solchen kausalen Erklärungen wird demnach ein Nachher und Hier mit einem Vorher und D o r t in Beziehung gesetzt. Sie lassen sich in die Form einer >wenn-dann-Aussage< bringen. Kausale Erklärungen setzen Ereignisse in ihrer Aufeinanderfolge (Sukzession) in Beziehung. Sie unterscheiden sich daher von logischen Erklärungen bzw. Begründungen, in denen zwischen dem Antecedenz und d e m Korsequenz nicht eine temporale und räumliche, sondern eine analytische Beziehung behauptet wird, die sich entweder aus der Bedeutung der verwendeten Begriffe (»deskriptive Ausdrücke«) ergibt oder aus der der logischen Ausdrücke (Junktoren, Q u a n t o r e n ) . 1 4 4 Von logischen >wenndannwenn-danndannSystembedürfnis< in der a r t g e m ä ß e n Weiterentwicklung ( Ü b e r leben), die f u n k t i o n a l e n Äquivalente in der arbeitsteiligen Spezialisierung v o n O r g a n e n , w ä h r e n d evolutionärer Krisen in den z u m N o t b e h e l f e n t w i k kelten E r s a t z f u n k t i o n e n , die ausgleichenden M e c h a n i s m e n schließlich in den F o r m e n der Selektion (Gegenselektion, Substitutionsselektion). U m - ,
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N e u - u n d sogar R ü c k b i l d u n g v o n O r g a n e n , elementaren u n d auch k o m p l e xen Verhaltensweisen w e r d e n so d u r c h Einbeziehung in ein F u n k t i o n s s y stem erklärbar.
3.5 Das G r u n d p r o b l e m historischer E r k l ä r u n g e n Es ist n u n gerade diese Vielfalt v o n Erklärungsarten, die das wissenschaftstheoretische P r o b l e m der historischen E r k l ä r u n g entstehen läßt. D e n n es fragt sich, ob die Geschichtswissenschaft alle oder n u r einige dieser E r k l ä rungsarten v e r w e n d e t oder selber einen eigenen T y p u s h i s t o r i s c h e E r k l ä rung< bildet. Bei der B e a n t w o r t u n g dieser Fragen w u r d e n in der bisherigen Diskussion i m g r o ß e n u n d ganzen drei Wege eingeschlagen. Das E r k l ä r u n g s p r o b l e m in der Historie w u r d e d e m n a c h e n t w e d e r d u r c h strikte Vereinheitlichung oder d u r c h strikte D i f f e r e n z i e r u n g der Bedeutungsfelder des b e g r ü n d e n d e n Erklärungsbegriffs oder durch A u f w e i s der geschichtswissenschaftlichen Irrelevanz dieses P r o b l e m s >gelöstTheoretizität< von Erklärungen liegt folglich zunächst in der, durch eine vorgängige Frage (intention) bestimmten, Art der Beschreibung des zu erklärenden Ereignisses, also im Grad der Abstraktheit des Explanandums.
3.5.2.1 Multikausalität und kausale Bedeutsamkeit Ed. H. Carr nennt »das Studium der Geschichte . . . ein Studium der Ursachen«, um letzteres sogleich durch ein doppeltes Erkenntnisziel genauer bestimmt zu sehen: (a) der Historiker schreibt »ein und demselben Ereignis gewöhnlich mehrere Ursachen zu« und (b) »jedes historische Argument dreht sich um die Frage, welchen Ursachen der Vorrang zukommt«. 1 6 9 Diese Charakterisierung der historischen Kausalanalyse erweist sich jedoch noch als zu grob, bedenkt man, welche Kausalbeziehungen zwischen dem verursachenden und dem bewirkten Ereignis überhaupt bestehen können. Sie lassen sich durch Pfeile, die von der Ursache (U) zur Wirkung (E) zeigen, so schematisieren:
Ein Ereignis (E) wird u n a b h ä n g i g s o w o h l von einer U r s a c h e (Uj) als auch von einer Ursache (U 2 ) bewirkt; zwischen U | u n d U 2 besteht aber keine kausale Beziehung. Beispiel: Der Z u s a m m e n b r u c h des deutschen Kaiserreichs 1918 w a r s o w o h l eine Folge der militärischen Niederlage als auch eine gesellschaftlicher Erschütterungen; militärische Niederlagen müssen aber nicht zu revolutionären Situationen fuhren. Das g e m e i n s a m e Auftreten zweier Ereignisse (E,, E 2 ) weist das eine nicht als die Ursache des anderen aus, vielmehr haben beide eine g e m e i n s a m e Ursache. Beispiel: Die 1806 von N a p o l e o n verhängte Kontinentalsperre hatte s o w o h l eine empfindliche Schädigung der englischen Wirtschaft als auch die E n t s t e h u n g eigenständiger Industriezweige in Preußen zur Folge; die britische Wirtschaftskrise ist aber nicht die direkte U r s a c h e der d e u t schen Prosperität.
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Eine Ursache (U) bewirkt, daß ein Ereignis Ej in einer Art Kettenreaktion wiederum zu einer Ursache für ein Ereignis E 2 wird, und so fort. Beispiel: Der nordkoreanische Überfall auf Südkorea 1950 löste das Eingreifen amerikanischer Truppen, somit den Koreakrieg aus; dies wiederum führte zu einer Steigerung der Weltmarktpreise usw. Ein Ereignis Ε wird durch ein anderes Ereignis U verursacht; dies jedoch nur bei Hinzutreten (Intervention) eines weiteren Faktors U t , andernfalls zeitigt U eine andere Wirkung U 2 . Beispiel: Die durch markante Minima/Maxima gekennzeichnete Bevölkerungsentwicklung Islands (9.-18. Jhd.) läßt sich nicht allein durch das Auftreten von Seuchen erklären; erst bei Berücksichtigung des weiteren Umstands der großen Isoliertheit der Insel, wird erkennbar, daß eine damit einhergehende Immunitätsschwäche jenen Verlauf bewirkt.
D e m Historiker geht es n u n besonders u m die G e w i c h t u n g der einzelnen U r s a c h e n in einer M e n g e v o n Ursachen, die ein b e s t i m m t e s Ereignis h e r v o r r u f e n . E r spricht daher v o n den relevanten, den mittelbaren, den u n m i t telbaren, den entscheidenden, den Teil-Ursachen u s w . Das geschichtswissenschaftliche Interesse herauszufinden, w o d u r c h geschichtliche Erschein u n g e n zu d e m g e w o r d e n sind, was sie sind, findet daher in der a b w ä g e n d e n Frage nach der kausalen Bedeutsamkeit v o n (Teil-) U r s a c h e n ihren angemessenen A u s d r u c k . M i t dieser Erkenntnisabsicht versucht der Historiker ein Geschehen d u r c h A u f w e i s seiner relevanten U r s a c h e n zu erklären, die f ü r ihn einerseits in den g r u n d l e g e n d e n , andererseits in den auslösenden M o m e n t e n f ü r ein geschichtliches Ereignis bestehen. Es bietet sich daher an, d e m Vorschlag v o n G. H . v. W r i g h t zu f o l g e n , 1 7 0 u n d den Begriff der U r s a c h e m i t Hilfe des Begriffs der B e d i n g u n g zu definieren. D e m n a c h k a n n m i t der Rede v o n der U r s a c h e (p) eines geschichtlichen Ereignisses (q) folgendes g e m e i n t sein: (a) ρ ist eine hinreichende Bedingung v o n q (conditio per qua), d. h. w a n n i m m e r ρ vorliegt, liegt auch q v o r b z w . w e n n q nicht v o r h a n d e n wäre, dann w ü r d e auch ρ nicht v o r h a n d e n sein. (b) ρ ist eine notwendige Bedingung v o n q (conditio sine qua non), d . h . w a n n i m m e r q vorliegt, liegt auch ρ v o r b z w . w e n n ρ nicht v o r h a n d e n wäre, dann w ü r d e auch q nicht v o r h a n d e n sein. (c) ρ ist eine hinreichende und notwendige Bedingung v o n q, d. h. w a n n i m m e r , u n d n u r w a n n i m m e r , ρ vorliegt, liegt auch q vor. (d) ρ ist f ü r q eine mitwirkende Bedingung (contributory condition), w e n n ρ eine n o t w e n d i g e B e d i n g u n g f ü r wenigstens eine hinreichende B e d i n g u n g v o n q ist. (e) ρ ist f ü r q eine unerläßlich mitwirkende Bedingung (indispensable contrib u t o r y condition), w e n n ρ eine n o t w e n d i g e B e d i n g u n g f ü r alle hinreichenden B e d i n g u n g e n v o n q ist. (f) ρ ist f ü r q eine stellvertretende Bedingung (substitutable requirement), 120
wenn ρ eine hinreichende Bedingung für wenigstens eine notwendige Bedingung von q ist. (g) ρ ist fur q eine entgegenwirkende Bedingung (counteracting condition), wenn n o n - p eine mitwirkende Bedingung von q bzw. ρ eine stellvertretende Bedingung von n o n - p ist. Mit Hilfe dieser Klassifikation von Bedingungen läßt sich m. E. ein weitaus besserer Eindruck gewinnen von dem, was historische Kausalanalyse meint, als es die monistische und dualistische Position erlauben. Näherhin besagt die These von der kausalen Bedeutsamkeit geschichtlicher Ereignisse, - daß die Rede von der hinreichenden Bedingung eines geschichtlichen Ereignisses (q) impliziert, daß prinzipiell zahllos andere hinreichende Bedingungen für dieses q existieren können, so daß ρ nur eine mögliche, nicht aber die wahre Ursache von q sein könnte. N a c h J . L. Mackie ist ein Ereignis ρ genau dann eine Ursache eines Ereignisses q, wenn ρ ein unerläßlicher Teil der hinreichenden Bedingung von q ist, und ρ zugleich eine notwendige Bedingung von q darstellt (247). - daß die Rede von den notwendigen Bedingungen einer geschichtlichen Erscheinung nicht schlechtweg, sondern erst >post factum< festzustellen ist, dann also, wenn sichergestellt ist, »daß kein anderes Ereignis tatsächlich vorhanden war, das den Anspruch (von p), eine notwendige Beding u n g zu sein, fraglich machen könnte«. 1 7 1 Da aber die notwendige Bedingung von q eine logische Folgerung aus q darstellt, hängt die kausale Gewichtung (von p) von der Beschreibungsweise von q ab. - daß die Ursache (p) eines geschichtlichen Ereignisses (q) nur ein M o m e n t der Gesamtheit der zureichenden Bedingungen von q, genauer »ein M o ment der kleinsten zureichenden Bedingung« von q ist. 3.5.2.2 Die Unzulänglichkeit des deduktiv-nomologischen Modells kausaler Erklärungen in der Geschichtswissenschaft Auch das deduktiv-nomologische Modell der Kausalerklärung bedient sich, wenn auch in einem wenig differenzierten Sinne, der Sprache der Bedingungsrelationen. Denn nach einer klassischen Formulierung von K. P o p per 1 7 2 heißt »einen Vorgang >kausal< erklären, einen Satz, der ihn beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen deduktiv ableiten«. Das empirische Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung wird daher von Popper zunächst (a) als eine Beziehung zwischen einem zu erklärenden Satz (Explanandum) und mindestens zwei erklärenden Sätzen (Explanans) in das E r k l ä r u n g s m o dell eingeführt. Sodann (b) näherhin als eine logische Relation zwischen Grund und Folge gedeutet. Denn nur zwischen Sätzen kann eine Folgebeziehung bestehen, und nur von behaupteten Sätzen, d. s. Aussagen, läßt sich sagen, daß sie wahr oder falsch sind. Das D N - E r k l ä r u n g s m o d e l l besitzt daher folgende, bekannte Ableitungsstruktur: 121
Explanans
Prämissen
Die Struktur des deduktiv-nomologischen Modells kausaler Erklärung (I)
Sätze, die die Randbedingungen beschreiben (Antecedensbedingungen)
(II)
Sätze, die die gesetzmäßigen Zusammenhänge beschreiben (Gesetze)
c ,.2 s ε (III) Satz, der das zu erklärende Ereignis beschreibt w «
sx A x (Sx
>HX)
Hx
C wennWirkungdannFunkens im PulverfaßGesetz< »jede Revolution hebt die alte Gesellschaft auf«, 1 7 7 für wahr unterstellt u n d verwendet wird, sowohl dem üblichen Sprachgebrauch als auch d e m historischen Erkenntnisziel widerspricht. Die Feststellung der Ursache eines geschichtlichen Ereignisses ist, wie dargelegt, eine Frage nach der kausalen Bedeutsamkeit eines vorangegangenen Ereignisses, nicht aber eine danach, ob das Ereignis Fall eines allgemeinen Gesetzes ist. Das D N Modell der Erklärung sollte daher allenfalls als ein möglicher Vorschlag zur D e u t u n g der kausalen Verbindung zweier, bereits beschreibend erfaßter Ereignisse aufgefaßt werden. Deswegen k o m m t bei der historischen Erklärung denn auch der Theoriebezug nicht erst durch die A n w e n d u n g von Gesetzmäßigkeiten, sondern bereits durch den Gebrauch von Beschreibungskriterien zustande, in deren Licht ein ν historischer Tatbestand allererst sowohl als erklärungsbedürftig beurteilt als auch einer bestimmten Erklärung zugänglich gemacht werden kann. 1 7 9 Bei der Feststellung der Ursache eines historischen Ereignisses rangiert daher die forschungspragmatische Frage, was denn in einem bestimmten Begründungskontext überhaupt erklärt werden soll, und w o folglich die Ursachen jenes Ereignisses zu suchen sind, vor der logischsystematischen Frage nach d e m Vorliegen allgemeiner Gesetze. Das eigentliche Problem der Erklärung eines geschichtlichen Geschehens besteht eben darin, herauszufinden, (a) welche Sachverhalte i m Hinblick auf ein Forschungsziel (Argumentation) relevant, (b) welches die möglichst hierarchisch gewichteten Ursachen des zu erklärenden Geschehens sind. Erst dann aber darin anzugeben (c), mittels welcher Gesetzmäßigkeiten die erklärungsbedürftigen Sachverhalte mit den Ursachen in Verbindung gebracht werden können. Der Historiker ist daher zunächst gezwungen, eine seinem leitenden Begründungszusammenhang angemessene Beschreibung des zu erklärenden Geschehens zu geben. Das Explanandum m u ß hierfür in die Terminologie, in der die vorgängigen A n n a h m e n (>Diskussionsstandmaterialistischen< Kausalkonzept in der »Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens«, 1 8 0 für eine >idealistische< Auffassung aber in »geistigen Wesenheiten« (Ranke), »sittlichen Mächten« (Droysen) etc. liegen. Aus der Verbindung dieser Verortung geschichtlicher >Kräfte< mit jenen unterschiedlichen A u f fassungen über geschichtliche Determiniertheit ergibt sich schließlich, ob und wie streng der Historiker Politik-, Sozial- und Wirtschafts-, Kulturgeschichte usw. für ein historisches >Paradigma< hält. Freilich darf bei dieser Herausarbeitung der theoretischen Elemente in kausalen Erklärungen nicht völlig davon abgesehen werden, daß bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Wahl von Erklärungen und Ursachen(arten) im konkreten Fall das historische Material als Prüfstein auftritt. Wenngleich die Daten und Quellen zwar erst im Lichte einer geschichtswissenschaftlichen Frage bzw. Problemstellung zusammengetragen werden können, so legen sie doch ihrerseits fest, was keinesfalls behauptet werden darf und welche Erklärungen sehr unwahrscheinlich sind. 1 8 1
(B) Das nomologische Wissen Das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell erweist sich nicht nur darin als unzulänglich, die historisch relevanten Ursachen eines Ereignisses festzustellen, sondern auch darin, die historisch relevante Kausalverbindung zwischen Ursache und Wirkung verständlich zu machen. Die v o m deduktivnomologischen Modell ins Z e n t r u m der kausalen Erklärungsproblematik gestellte These von der gesetzmäßigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist für den Fall der historischen Erklärung in verschiedener Weise in Frage gestellt worden. Im ersten Fall wird kritisiert, daß das D N - E r k l ä rungsmodell zwar mit Gesetzen, nicht aber mit historischen Gesetzen rechnet. Im zweiten Fall wird an d e m Gesetzescharakter der nomologischen Prämisse überhaupt gezweifelt. Die erste Art der Kritik wendet sich also gegen die Auffassung, wonach es keine genuin historischen Gesetze gibt, mit deren Hilfe geschichtswissenschaftliche Erklärungen zustandegebracht werden können. Vielmehr soll es sich bei diesen vermeintlich historischen Gesetzen in Wirklichkeit u m allgemeine Erfahrungsregeln handeln, die sich auf Naturgesetze stützen, nicht aber eben u m gehaltvolle, historische Gesetzmäßigkeiten. Mit welcher Art von Gesetzen dieser monistischen Auffassung zufolge der Historiker umgeht, faßt W. Stegmüller folgendermaßen zusammen: »Es kann sich u m Gesetzmäßigkeiten über Vorgänge im menschlichen Bereich handeln (Gesetze der Individual- und Massenpsychologie, der Soziologie, ökonomischen Gesetzmäßigkeiten), aber auch u m Naturgesetze im Sinne physikalischer, chemischer oder biologischer Gesetzmäßigkeiten. Daß in vorgeschichtlicher Zeit eine Kultur vernichtet w o r d e n ist, mag ζ. B. 124
darauf b e r u h e n , daß das H e e r des einen Volkes m i t B r o n z e w a f f e n a u s g e r ü stet w a r , w ä h r e n d das andere bereits über E i s e n w a f f e n v e r f ü g t e . Für den A u s g a n g dieses geschichtlichen Ereignisses ist also w e d e r die physische Ü b e r m a c h t der einen n o c h ζ. B. die bessere Strategie ihrer Feldherren v e r antwortlich zu machen, sondern physikalisch-chemische Beschaffenheit der B r o n z e i m Verhältnis zu der des Eisens. Für den A u s g a n g eines K a m p f e s m a g die E r n ä h r u n g s a n l a g e der miteinander r i n g e n d e n A r m e e n m a ß g e b e n d gewesen sein. Das Resultat einer Seeschlacht (ζ. B. der Schlacht v o n Salamis) k a n n u. U . vielleicht n u r d u r c h Berücksichtigung der S c h i f f s k o n s t r u k t i o nen, also n u r v o n T e c h n i k e r n zu beurteilenden M e r k m a l e , erklärt w e r d e n ; in einem anderen Fall (ζ. B. b e i m Sieg der englischen Flotte über die spanische A r m a d a ) m a g der A u s g a n g vielleicht durch die R i c h t u n g des Seewindes, also d u r c h ein meteorologisch zu erklärendes F a k t u m , verursacht w o r d e n sein. Das A u f t r e t e n u n d Verschwinden v o n Seuchen, wie der Pest, die f ü r die soziale, ö k o n o m i s c h e u n d d a m i t indirekt auch f ü r die politische E n t w i c k l u n g v o n g r ö ß t e r B e d e u t u n g gewesen sind, ist zweifellos ein rein biologisch zu erklärendes P h ä n o m e n « . Die Tätigkeit des Historikers u n t e r scheidet sich daher v o n der des Naturwissenschaftlers, »daß nämlich die Gesetze e i n e m anderen Bereich e n t n o m m e n w e r d e n , w ä h r e n d die n a t u r w i s senschaftlichen Disziplinen Gesetze s o w o h l finden wie a n w e n d e n « . 1 8 2 So sehr die Vertreter dieser monistischen Position s o w o h l an der d o m i n i e renden Rolle naturwissenschaftlicher Gesetze in allen wissenschaftlichen E r k l ä r u n g e n festhalten, so sehr geben sie auch zu, daß die Historie n u r einen trivialen Gebrauch v o n ihnen machen. Wie w e n i g b e d e u t s a m die Rolle solcher naturwissenschaftlicher Gesetze f u r die historische E r k l ä r u n g ist, zeigt H . G. v. W r i g h t a m Beispiel eines A r c h ä o l o g e n , 1 8 3 den die Besichtigung der R u i n e n einer antiken Stadt zu der A n n a h m e bringt, daß » i m J a h r e X eine K a t a s t r o p h e (über sie) hereingebrochen sein m u ß » . Wollte er n u n herausfinden, o b diese Z e r s t ö r u n g durch »ein E r d b e b e n , . . . eine Flutkatastrophe, . . . eine feindliche E r o b e r u n g « verursacht w u r d e , so hätte er in seiner E r k l ä r u n g v o n einem gesetzmäßigen Wissen G e b r a u c h zu machen, das sich w e i t g e h e n d auf generelle, physikalisch-statische Z u s a m m e n h ä n g e u n d w i e derholt machbare, alltägliche E r f a h r u n g e n bezöge. A b e r gerade dieser Z u s a m m e n h a n g zwischen den zerstörenden K r ä f t e n ( » H u m e s c h e Ursache«) u n d d e m Einsturz v o n Häusern, M a u e r n etc. ( » H u m e s c h e W i r k u n g « ) interessiert den Historiker allenfalls a m Rande. Wichtiger w ä r e f ü r ihn vielmehr, etwa die k o m m e r z i e l l e n Folgen dieser Katastrophe ( » N i c h t - H u m e s c h e W i r kung«) f ü r das H i n t e r l a n d zu erforschen. Im Z u s a m m e n h a n g einer solchen historischen E r k l ä r u n g sind dann j e n e N a t u r g e s e t z e u n d allgemeinen E r f a h rungsregeln als trivial u n d belanglos f ü r den Historiker anzusehen. N e b e n der Möglichkeit, in historischen E r k l ä r u n g e n den Ü b e r g a n g v o n der U r s a c h e zur W i r k u n g durch physikalische, chemische, biologische etc. Gesetze, also N a t u r g e s e t z e i m engeren Sinne zu bewerkstelligen, erlaubt uns das D N - M o d e l l auch, Gesetze, die das gattungsspezifische Verhalten des 125
M e n s c h e n b e s t i m m e n , also Verhaltensgesetze, zu diesem Z w e c k e zu v e r w e n den. W ä h r e n d aber N a t u r g e s e t z e einerseits a u f g r u n d der K o m p l e x i t ä t u n d K o n t i n g e n z des geschichtswissenschaftlichen Gegenstandsbereichs, andererseits w e g e n eines völlig anders gelagerten, nicht-naturwissenschaftlichen Erkenntnisziels der Historie n u r eine u n t e r g e o r d n e t e Rolle in historischen E r k l ä r u n g e n spielen, erweisen sich die Verhaltensgesetze insofern als trivial, weil sie nicht m e h r als bereits vorwissenschaftlich plausible, empirische Verallgemeinerungen sind. Ein anschauliches Beispiel f ü r die Trivialität solcher Gesetze stellen G. H . H o m a n s ' verhaltenspsychologische H y p o t h e sen d a r , 1 8 4 die der E r k l ä r u n g des »Verhaltens v o n M e n s c h e n als G a t t u n g s wesen« dienen sollen, v o n denen V. Vanberg erläuternd h i n z u f u g t , daß sie das Verhalten des M e n s c h e n »in u n d gegenüber seiner sozialen U m w e l t « in gleicher Weise b e s t i m m e n , wie »gegenüber seiner nicht-sozialen U m w e l t « . 1 8 5 So besagt also die »Erfolgshypothese«, daß »je häufiger die A k t i v i tät einer Person belohnt w i r d , m i t u m so größerer Wahrscheinlichkeit diese Person die Aktivität a u s f ü h r e n wird«; oder die »Werthypothese«, daß »je g r ö ß e r der Wert der B e l o h n u n g in Bezug auf eine gegebene Alternative ist, u m so g r ö ß e r die Handlungswahrscheinlichkeit ist«. D a ß diese B e h a u p t u n gen n u r unter sehr eingeschränkten B e d i n g u n g e n gelten oder einfach t a u t o logisch w e r d e n , d ü r f t e auf der H a n d liegen. N i c h t w e n i g e r problematisch n i m m t sich der n o m o l o g i s c h e S t a n d p u n k t aus, w e n n die z w a r allgemein formulierten, nicht-historischen Gesetze, in Wirklichkeit aber n u r auf einen Fall anwendbar sind. Das zeigt sich besonders an d e m Beispiel, mit d e m C . G. H e m p e l einst den Gesetzesstandpunkt auch f ü r die Historie verdeutlichen w o l l t e . 1 8 6 D o r t w i r d eine E r k l ä r u n g f ü r den Sachverhalt verlangt, daß L u d w i g X I V . (1643-1715) unbeliebt starb,. 1 8 7 Wie W. D r a y zeigte, 1 8 8 m u ß j e d o c h das zu diesem Z w e c k v o n H e m p e l aufgestellte Gesetz »Herrscher, die eine d e m Interesse ihrer U n t e r t a n e n schädliche Politik verfolgen, sterben unbeliebt« näher spezifiziert w e r d e n , soll es nicht sogleich d u r c h Gegenbeispiele als falsch erwiesen w e r d e n . U m dieses Gesetz also hinreichend d u r c h historische Fakten bestätigt zu sehen, w i r d m a n zuletzt g e z w u n g e n sein, i h m etwa folgende Fassung zu geben: »Jeder Herrscher, der eine Politik genau wie L u d w i g X I V . u n d unter eben denselben U m s t ä n d e n wie er verfolgt, w i r d unbeliebt sterben.« D u r c h diese Spezifikation w i r d aber dieses Gesetz zu einem »Gesetz mit n u r e i n e m Fall«. D a es den individuellen A u s d r u c k >ein Sachverhalt genau v o n dieser Art< ( = gleicher Sachverhalt) enthält, ist es eben kein allgemeines Gesetz m e h r . 1 8 9
3.5.3 Rationalität in der Geschichte oder: Wie erfolgt eine historische E r k l ä r u n g noch? Wenngleich die dualistische Position zwar nicht bestreitet, daß der G e schichtswissenschaft erklärende A u f g a b e n z u k o m m e n , glaubt sie j e d o c h 126
nicht, daß solche Erklärungen kausal zu bewältigen sind. Indem sie also das geschichtliche Geschehen nicht aus Ursachen, sondern aus Zwecksetzungen zu erklären fordert, n i m m t sie einen antikausalen Standpunkt ein. (Die skeptische Position* teilt zwangsläufig auch diesen Standpunkt, dies allerdings, weil sie überhaupt mit keiner Erklärung in der Historie rechnet.) Das teleologische Erklärungsmodell zieht also ebenso wie das D N - M o d e l l die Möglichkeit von historischen Gesetzen in Zweifel, nicht aber weil es an deren Stelle N a t u r - oder Verhaltensgesetze verwendet sehen möchte, sondern weil es überhaupt keine Gesetze zu Erklärungszwecken in Anspruch nehmen will. Ist damit aber das teleologische Konzept historischer Erklärungen von den Unzulänglichkeiten, die an D N - E r k l ä r u n g e n auftraten, befreit?
3.5.3.1 Das teleologische Modell historischer Erklärungen - eine Alternative? Der teleologische/finale Erklärungsstandpunkt geht von der, nicht selten nur implizit vertretenen, A n n a h m e aus, daß geschichtliche Tatbestände aus Handlungen bestehen, daß also die Historie ihre explanatorischen Aufgaben durch Handlungserklärungen erfüllt. Die Überzeugungskraft des antinomologischen Standpunkts hängt daher auch von dieser v o r w e g g e n o m m e nen Einschränkung des geschichtswissenschaftlichen Gegenstandsbereichs ab. Solche Erklärungen von Handlungen erfolgen nun nach Ansicht der intentionalistischen Position 1 9 0 in der Weise, daß m a n einerseits die Z w e c k e eines Handelnden herauszufinden, andererseits die Handlungen als geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks aufzuzeigen versucht. Der Erklärende trachtet daher den Standpunkt eines die Mittel abwägenden H a n delnden einzunehmen, u m damit die Gründe des Handelnden erkennen zu können. Derartige Handlungserklärungen werden daher auch als zweckrationale Erklärungen bezeichnet. Sie besitzen nach den beiden verbreitetsten Modellen näherhin folgende Struktur (siehe S. 128): In der kritischen Diskussion sind nun neben mancherlei Detailproblemen besonders zwei Dinge eingewendet worden: Z u m einen, daß es in beiden Erklärungsvorschlägen nicht gelungen sei, eine Gesetzmäßigkeit zu f o r m u lieren, die die Ableitung des Explanandums erlaube. Denn wie Drays allgemeine Prämisse P2 nur in einem »normativen Handlungsprinzip« (C. G. Hempel) bestehe, so führe v. Wright explizit bloß eine individuell für gültig e m p f u n d e n e Einschätzung einer Situation auf, die sich implizit allerdings auf ein intuitives Wissen von gesetzmäßigen Z u s a m m e n h ä n g e n stützen müsse. Während die d e m D N - E r k l ä r u n g s m o d e l l verpflichtete monistische Position jedoch b e m ü h t ist, solche Handlungserklärungen in gesetzmäßige, dispositionelle Erklärungen 1 9 3 umzuwandeln, sehen sich die Vertreter der dualistischen Position darin bestätigt, daß es in Handlungserklärungen nicht sinn127
voll sei, Gesetze aufzustellen. D a aber, wie unterstellt, historische E r k l ä r u n g e n H a n d l u n g s e r k l ä r u n g e n sein sollen, k o m m e n folglich geschichtswissenschaftliche E r k l ä r u n g e n ohne, d a m i t auch o h n e historische Gesetze aus. Die v o n den einen bemängelte, v o n den anderen b e f ü r w o r t e t e G e s e t z l o s i g k e i t der historischen H a n d l u n g s e r k l ä r u n g e n ist aber n u r A u s d r u c k dafür, daß hier ü b e r h a u p t keine Kausalerklärung v o n H a n d l u n g e n vorliegt. U n d in der Tat hat besonders C . G. H e m p e l darauf a u f m e r k s a m gemacht, daß aus D r a y s rationaler E r k l ä r u n g allenfalls folge, daß es f ü r eine Person Ρ richtig sei, Η zu tun, nicht aber, daß Ρ tatsächlich Η t a t . 1 9 4 Rationale E r k l ä r u n g e n geben daher s t r e n g g e n o m m e n keine A n t w o r t auf die Frage, w a r u m j e m a n d etwas b e s t i m m t e s getan hat. D r a y u n d ebenso v o n W r i g h t haben j e d o c h aus dieser N o t eine T u g e n d g e m a c h t u n d die A u f g a b e v o n H a n d l u n g s e r k l ä r u n gen so festgelegt, daß sie die zu erklärenden H a n d l u n g e n als f ü r die Erreichung der v o m H a n d e l n d e n verfolgten Z w e c k e n o t w e n d i g e Mittel aufzeigen sollen. Für v. W r i g h t unterscheiden sich überdies teleologische (zweckrationale) v o n kausalen E r k l ä r u n g e n besonders dadurch, daß die Explananda beider Erklärungsarten nicht dasselbe besagen. »Das E x p l a n a n d u m einer teleologischen E r k l ä r u n g ist eine H a n d l u n g , das einer kausalen E r k l ä r u n g ein intentionalistisch nicht interpretiertes Verhalten, d. h. eine B e w e g u n g b z w . ein Z u s t a n d eines K ö r p e r s « ; 1 9 5 z u m anderen aber k a n n in intentionalistischen E r k l ä r u n g e n die Beschreibung eines V o r g a n g s als H a n d l u n g nicht (logisch) u n a b h ä n g i g v o n der B e h a u p t u n g gesetzter Z w e c k e erfolgen. D a also H a n d lungsaussagen ( E x p l a n a n d u m ) u n d Z w e c k a u s s a g e n (Explanans) in logischer A b h ä n g i g k e i t zueinanderstehen, k ö n n e n sie nicht als Antecedens ( U r sache) u n d Succedens (Wirkung) empirischer B e h a u p t u n g e n auftreten, dieja u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r aufweisbar sein müssen. Z w i s c h e n der logischen Relation u n d der kausalen Relation besteht aber seinerseits keine n o t w e n d i g e Beziehung, die beide ineins zu setzen erlaubte. »Daß ein Fall, w o sich m e i n
(A) Das Dray-Modell der rationalen Handlungserklärung 191
(B) Das v. Wright-Modell der intentionalen Handlungserklärung (»praktischer Schluß«) 192
P,
Eine Person Ρ befand sich in einer Situation v o m T y p S.
Eine Person Ρ will (beabsichtigt), daß der Sachverhalt Α besteht (A herbeiführen).
P2
In einer Situation v o m T y p S ist es angemessen (vernünftig), Η zu tun.
Ρ glaubt, daß in der Situation S die A u s f ü h r u n g der H a n d l u n g Η eine Bed i n g u n g f ü r das Eintreten v o n Α ist u n d daß S besteht.
Κ
Also w a r es angemessen (gab er gute Gründe) für Ρ, Η zu tun.
Also macht sich Ρ daran, Η auszuüben
128
Arm hebt, auch ein Fall ist, wo ich meinen Arm heben, ist durch die Wirkung der Ursache (sofern eine solche vorhanden ist), die meinen Arm nach oben gehen läßt, weder notwendig gemacht noch ausgeschlossen«. 196 Die These von der Unvereinbarkeit der kausalen und der intentionalen Erklärungsart hat zusammen mit der Annahme, daß geschichtliche Tatbestände aus Handlungen bestehen, zur Folge, daß das geschichtliche Geschehen sich als Ergebnis von Zwecksetzungen und rationaler Mittelwahl oder aber gar nicht darstellen läßt. Somit sind geschichtliche Geschehnisse entweder handlungsrational, d.h. als absichtsvoll verwirklichte, nicht aber als verursacht zu begreifen; oder sie lassen sich nicht auf diese nachvollziehenden Akte der Zwecksetzung und Mittelwahl zurückfuhren. Dann aber sind die geschichtlichen Geschehnisse als indeterminiert anzusehen, was im Einzelnen heißen kann, daß sie entweder nicht verursacht oder nicht notwendig oder nicht vorhersagbar sind. An diesem Punkt steht daher der Historiker vor der wissenschaftlich betrüblichen Alternative, sich statt der Kausalanalyse der Methode des einfühlenden Verstehens zu verschreiben oder aber bei der, weder kausale noch intentionale Erklärungsansprüche erfüllenden, historischen Erzählung Zuflucht zu suchen. Wenn also etwa R. G. Collingwood fordert, daß der »Historiker die Vergangenheit in seinem eigenen Geiste nachvollziehen muß«, um so die »historische Bedeutung« 1 9 7 einer uns dokumentierten Tat, Ereignisses etc. erkennen zu können, so verpflichtet er ihn auf den Kunstgriff, gleichsam in die Haut der Vorfahren zu schlüpfen und auf der Basis der Quellen ihre Absichten, Gedanken, Kalkulationen und Taten nachzuerleben. Wer folglich weder einen kausalen noch einen intentional-verstehenden Erklärungsstandpunkt einnimmt, muß sagen, daß die Geschichte sich nicht auf die »Handlungsrationalität der Beteiligten« reduzieren läßt. Diese Irreduzibilität besteht nach H. Lübbe genauer darin, daß Handlungen sich überkreuzen, sich überlagern und »in solchem Aufeinanderwirken nicht ihrerseits einem Willen entsprechend absichtsvoll aufeinander bezogen sind«. 198 Die Historie beschreibt daher »Handlungsinterferenzen«, die sich aus der Perspektive der absichtsvoll Handelnden als »unbeabsichtigte Nebenwirkungen« ausnehmen. Damit bedient sich die Geschichtswissenschaft eines Begriffs von Zufall, der die »zeitliche Koinzidenz und Durchkreuzung von Kausalreihen« oder die »Kreuzung verschiedener, heterogener, keine gemeinsame Wurzel besitzender Gesetzessysteme« meint. 1 9 9 »Zufall« nennt H. Lübbe demgemäß »die Wirkung von Handlungen aufeinander, die intentional nicht aufeinander bezogen waren«. 2 0 0 Und L. Strauß resümiert schwarzmalend: »Dem vorurteilslosen Historiker offenbart sich der >Geschichtsprozeß< als ein sinnloses Gewebe, welches ebenso sehr durch die Taten, Schöpfungen und Gedanken der Menschen gesponnen wurde, wie durch reinen Zufall - ein Märchen, von einem Idioten erzählt. « 201 Wenn es aber der Zufall ist, »was aus Handlungszusammenhängen eine Geschichte macht«, dann gerät die handlungssprachlich orientierte Historie 129
bei dem Versuch, diese Zufallsgeschichten zu beschreiben, in eine aporetische Situation. Denn wenn sie feststellen muß, daß die geschichtliche Wirklichkeit weitgehend in »Widerfahrnissen« (W. Kamiah), also in einem von keinem Akteur beabsichtigten, planvollen Geschehen besteht, wird die methodische Forderung nach einer intentionalen, zweckrationalen Erklärung sinnlos. Sind geschichtliche Ereignisse, Prozesse, Zustände aber kausal verursacht, erübrigt sich ebenfalls, eine intentionale, zweckrationale Erklärung hierfür zu suchen. U m geschichtliche Tatbestände also nicht doch kausal erklären zu müssen, bleibt nur der Ausweg, sie als nichtverursacht anzusehen. Wenn nun aber weder eine teleologische noch eine kausale Erklärung in Frage kommt, dann scheidet wohl jeder Erklärungsversuch in der Historie aus. U n d in der Tat scheint dies die letzte Konsequenz des antikausalen, handlungsorientierten Interpretationsstandpunkts zu sein: eine skeptische (agnostische) Position, in der die Geschichtswissenschaft allein bei einer Beschreibung zufälliger Situationsabfolgen, bei der historischen Erzählung, verbleibt. 2 0 2
3.6 Zur Kritik des historischen Individualitätsprinzips: (B) Die These von der Einmaligkeit einer jeden geschichtlichen Erscheinung Die tiefliegende Wurzel aller antinomologischen Argumente in historischen Erklärungen besteht letztlich in der These des Individualitätsprinzips (IP), die besagt, daß jedes geschichtliche Geschehen einmalig ist. Aus diesem Einmaligkeitsaxiom ergeben sich zwei Wege, die Möglichkeit historischer Gesetze zu bestreiten. Das erste Argument versucht die Unmöglichkeit historischer Voraussagen zu erweisen und daraus auf die Gesetz- und Theorielosigkeit der Historie zu schließen. Das zweite Argument will die Unwissenschaftlichkeit historischer Gesetze aufzeigen, indem es an ihrer Überprüfbarkeit zweifelt. Entscheidend für die Plausibilität beider Argumente ist hierbei der Gebrauch, den sie von der Einmaligkeitsthese machen.
3.6.1 Voraussagekraft und Lehrgehalt der Geschichtswissenschaft Nach K. Popper kann es deswegen keine theoretische Geschichtswissenschaft geben, weil es keine historischen Gesetze gibt. Theoretizität setzt Gesetzmäßigkeit voraus. Warum es aber keine historischen Gesetze geben kann, wird von Popper auf indirekte Weise zu begründen versucht. Sein erstes Argument geht von folgenden Annahmen aus: (a) »Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflußt.« 130
(b) »Wir können mit rational-wissenschaftlichen M e t h o d e n das zukünftige Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnis nicht vorhersagen.« Hieraus folgt für Popper nun, (c) daß eine Vorhersage über den »künftigen Verlauf der menschlichen Geschichte« nicht möglich sein k a n n . 2 0 3 Diese Widerlegung der Vorhersagbarkeit der geschichtlichen E n t w i c k lung bedeutet also, »daß wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft verneinen müssen . . . Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist u n möglich.« 2 0 4 Auch Vorhersagekraft ist folglich eine Bedingung von T h e o retizität. Aus diesem »Beweis« wird n u n deutlich, daß Popper das historische IP i m Sinne der Auffassung des epistemischen Indeterminismus verwendet. Denn der epistemische Indeterminismus besagt, daß künftige Ereignisse deswegen als nicht-determiniert zu betrachten sind, weil sie auf der Basis unseres gegenwärtigen Wissens von uns nicht vorausgesagt werden k ö n nen. 2 0 5 Liegen aber wissenschaftlichen Vorhersagen Gesetze zugrunde, kann sich die Unmöglichkeit der Ableitbarkeit nur aus zwei Gründen ergeben: so verfugen wir entweder nicht über die erforderlichen Gesetze, sie bleiben uns unbekannt, oder wir besitzen keine vollständigen Informationen über die relevanten Randbedingungen. Z u r Erfassung von geschichtlichen Begebenheiten, fur deren Abfolge wir keine Regel angeben können, e m p fiehlt daher H . Lübbe konsequenterweise, sich nicht der Erklärung, sondern der Erzählung als Erkenntnismittel zu bedienen. Eine Theorie der Geschichte kann es somit für Lübbe deswegen nicht geben, weil »keine Regel zur Verfügung steht, nach der wir das Ende einer Geschichte aus ihrem Anfang ableiten können«. 2 0 6 Die von Popper »aus streng logischen Gründen« vorgebrachte Widerlegung des »Historizismus«, also der »Lehre von der geschichtlichen N o t w e n digkeit«, überzeugt jedoch nur in eingeschränkter Weise. D e n n Poppers Konklusion der NichtVorhersagbarkeit folgt nur dann aus seinen epistemischen Prämissen (a, b), wenn sie den Zusatz enthält, daß die Geschichte v o m Anwachsen unseres wissenschaftlichen Wissens beeinflußt w i r d . 2 0 7 Die U n möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft bleibt daher für den Bereich, der sich unabhängig von unserer rationalen Einflußnahme e n t w i k kelt, unbewiesen. 2 0 8 Zumindest für dieses >bewußtlose< Reich des Geschehens können wir vorab nicht ausschließen, daß es Voraussagen zuläßt, es somit historische Gesetzmäßigkeiten und erfaßbare Randbedingungen gibt. Bedeutende historische Disziplinen halten aber gerade diese von der wissenschaftlichen Rationalität wenig durchdrungenen Wirklichkeitsbereiche, wie etwa das generative, das routiniert >alltäglicheZukunft< und die >Vergangenheit< auswechselbar Zeitdimensionen sind, den Begriff der »Vorhersage« zu verwenden. Es macht daher wenig Sinn, Prognosen mit Verweis auf einen solchen epistemischen Determinismus für die Geschichtswissenschaft zu leugnen. Während das triviale Mißverständnis von Vorhersage zeigt, daß das prognostische Wissen nicht ein v o r w e g g e n o m menes Wissen ist, so zeigt das deterministische Mißverständnis, daß das prognostische Wissen auch nicht ein zu allen Zeiten verfugbares Wissen ist. Das prognostische Wissen besteht vielmehr in einem impliziten Wissen, das wir aus unserem gegenwärtigen Wissen nur extrahieren und damit zugleich explizit machen können. Indem es also aus einem anderen Wissen hervorgeht, m u ß das prognostische Wissen auch als ein bedingtes Wissen bezeichnet werden. Näherhin heißt dies, daß entgegen Poppers Einschätzung die Möglichkeit von historischen Prognosen nicht in erster Linie von einem allgemeinen Gesetzeswissen, sondern von der hinreichenden Kenntnis der besonderen Randbedingungen abhängt. Aus einer vermeintlich fehlenden Voraussagekraft der Historie kann daher nicht sogleich geschlossen werden, daß die Geschichtswissenschaft über keine historischen Gesetze verfügt. K o m m e n Prognosen über das Eintreten von Ereignissen, Zuständen, Entwicklungen etc. nur bedingt zustande, so heißt dies, daß sie auf der Basis von singulären Randbedingungen gefällt werden. Sie unterscheiden sich von unbedingten historischen Prophetien, 2 1 0 die Zukünftiges unter logisch nicht statthafter Vernachlässigung von einschränkenden Bedingungen voraussagen. Ein U n g e n ü g e n historischer Voraussagen dürfte vorwiegend in der Komplexität und Veränderlichkeit der Randbedingungen liegen. Denn nur w e n n die Randbedingungen sich auch in der Z u k u n f t in ähnlicher Weise wie in der 132
Gegenwart verhalten, läßt sich mit Hilfe gültiger Gesetzmäßigkeiten auch ein zukünftiges Geschehen voraussagen. Die Einfachheit und Stabilität der Randbedingungen scheint somit eine wesentliche Voraussetzung fur die Theoriefähigkeit der Geschichtswissenschaft zu sein. Dies zeigt sich besonders dann, wenn man beachtet, wovon der Lehrgehalt der Historie, als sozusagen anwendungsbezogener Test ihrer prognostischen Kraft, abhängt: nämlich von einer gewissen Kontinuität des geschichtlichen »Erfahrungsraumes«, 2 1 1 durch die sich die erwartete Zukunft an die erinnerte Vergangenheit ankoppeln läßt. Sie beruht u. a. auf der Annahme einer gewissen Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit des geschichtlichen Geschehens und auf der Stetigkeit der menschlichen Natur. Diese Konstanz der Randbedingung war es, die einst den alteuropäischen T o p o s 2 1 2 von der »historia magistra vitae« bewahrheitete. Folglich sah man genau dann den Lehrgehalt der Historie schwinden, als die Beschleunigung des geschichtlichen Wandels die strukturelle Ähnlichkeit zwischen jenen vergangenen und diesen gegenwärtigen Handlungs- und Erfahrungsbedingungen zunehmend geringer werden ließ. Das historische Individualitätsprinzip schien demgemäß die Historie nur methodisch an die gewandelte Realitätserfahrung anzupassen. Wenn es wahr bleibt, daß nur allgemeine Wissensinhalte die Lehrbarkeit und Voraussagbarkeit der Historie garantieren, die Bedingungen, unter denen die Geschichtswissenschaft diese kognitiven Leistungen erbringt, tatsächlich aber immer partikularer und kontingenter werden, so stellt sich die Frage, wo heute jene allgemeinen Inhalte aufzufinden sind, deren Allgemeinheit sie der Theoriebildung zugänglich machen könnte. Mit R. Koselleck 2 1 3 läßt sich fragen, »auf welcher Ebene die Historie lehrt, lehren kann oder soll«. Wegen der rapiden Veränderlichkeit des Bereichs des anschaulich-konkreten und ereignishaften Tagesgeschehens k o m m t die Ebene der »kurzfristigen Handlungszusammenhänge und ihrer situationsbezogener Moral« nicht als Basis historischer Lehren und Voraussagen in Frage. Mit anderen Worten: im Rahmen einer traditionellerweise politisch orientierten Ereignisgeschichte wird es aufgrund der Komplexität und extremen Wandelbarkeit der zu berücksichtigenden Randbedingungen keine Möglichkeit der Vorhersage singulärer Ereignisse und der lehrenden Anweisung zu konkretem Handeln mehr geben. So verbleiben hier einerseits Aussagen, die der »Ebene mittelfristiger Abläufe, aus denen sich Trends in die Zukunft extrapolieren lassen«, andererseits die, die der »Ebene metahistorischer Dauer, die deshalb noch nicht zeitlos (sind)«, angehören. Im ersten Fall »belehrt die Historie über Bedingungen möglicher Zukunft, ohne diese selbst zu prognostizieren«, im zweiten über »dauerhafte Strukturen gleichsam naturaler Art«. D e m ersten Erkenntnisziel hat sich die »histoire conjuncturelle« und ihre Theorien, dem zweiten aber die Historie der »longue duree» verschrieben. Für beide strukturgeschichtlich orientierten Ansätze könnte aber eine Feststellung L. v. Steins gelten: »Es ist möglich, das 133
K o m m e n d e vorherzusagen, nur daß man das Einzelne nicht prophezeien wolle. « 2 1 4
3.6.2 Gesetze der Geschichte oder historische Gesetze? Mit seiner Feststellung, daß der Historiker über keine Gesetze des Verlaufs der Geschichte verfugt, sieht Popper den Beweisgrund für die Theorielosigkeit der Historie gegeben. Unter den vermeintlich historischen Gesetzen versteht Popper daher »universale Gesetze« (85) 2 1 5 über den Verlauf der Geschichte als Ganzes, also »Bewegungsgesetze der Gesellschaft« (90). Gemäß einer von M . Mandelbaum vorgeschlagenen Klassifikation sozialwissenschaftlicher Gesetze können wir die von Popper in Frage gestellten, historischen Gesetze näherhin als »direktional-globale« Gesetze bezeichnen. 2 1 6 Direktional sind sie, weil sie Aussagen über die richtungsmäßig festgelegte Abfolge von Zuständen machen. Folglich handelt es sich bei ihnen um diachrone Sukzessionsgesetze. Global nennt Mandelbaum solche Gesetze der Geschichte, weil sie sich auf die ganzheitlichen Eigenschaften eines Prozesses beziehen. Globale Eigenschaften lassen sich einem System (Kollektiv, Zustand) als Ganzem zusprechen, unabhängig davon, welche Informationen wir über die Eigenschaften seiner einzelnen Teile besitzen. Es handelt sich bei diesen Gesetzen der Geschichte auch u m holistische Makrogesetze. Popper nennt als Beispiel solcher, von uns als >direktional-global< eingestuften, Geschichtsgesetze vor allem Τ. H. Huxley's Gesetz der Entwicklung organischer Formen, A. Comte's sogenanntes »Dreistadiengesetz« der sozialen Gattungsgeschichte und E. Toynbee's Lehre von den kulturellen Lebenszyklen. Diesen >Gesetzen der Geschichte< spricht er sodann ihren nomologischen Charakter ab. Denn ebenso wie die sozialkulturellen Aussagen besteht die »Evolutionshypothese« nicht in einem »universellen Naturgesetz, sondern lediglich (in) einem singulären historischen Satz«, nämlich »über die Abstammung einer Anzahl irdischer Pflanzen und Tiere« (84). »Historische Hypothesen sind in der Regel nicht universale, sondern singuläre Sätze über ein Einzelereignis oder eine Anzahl solcher Ereignisse« (85). Geschichtswissenschaftliche Sukzessionsaussagen bestehen daher nach Popper bestenfalls in einer singulären Trendaussage, in einem »Es-gibt-Satz«, der »die Existenz eines Trends zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort« behauptet, nicht aber in einem gesetzmäßigen »Allsatz«, der jederzeit und überall gilt« (91). Die Suche nach Geschichtsgesetzen ist für Popper aber auch deswegen ein vergebliches Unterfangen, weil es keine Möglichkeit zu geben scheint, diese Gesetze zu überprüfen. Sie müssen daher als unwissenschaftlich gelten. Denn für die Überprüfung von Geschichtsgesetzen bleiben wir gemäß dem IP aufweinen einzigartigen historischen Prozeß« angewiesen (85). »Wir können aber nicht hoffen, eine universale Hypothese prüfen und 134
ein fur die Wissenschaft annehmbares Naturgesetz finden zu können, wenn wir dauernd auf die Beobachtung eines einzigartigen Prozesses beschränkt sind. Auch kann uns die Beobachtung dieses einzigartigen Prozesses nicht bei der Voraussicht einer zukünftigen Entwicklung helfen« (86). Poppers methodischem Fallibilismus zufolge muß jedoch eine Hypothese, um als wissenschaftlich anerkannt zu werden, an mehreren Instanzen überprüft werden (können). Wie immer man es mit diesem wissenschaftstheoretischen Grundsatz halten mag, trifft doch Poppers Argument nur einen Theoriestandpunkt, der glaubt, Gesetze über den Gesamtverlauf des Geschichtsprozesses, also über Gesetze der Geschichte aufstellen zu können. Einen solchen Anspruch erhebt aber heute außerhalb des östlichen Schulmarxismus kaum jemand in einem inhaltlichen Sinne. Statt sich also auf die Geschichte als einmaligeinzigartigen Prozeß zu beziehen, nehmen historische Gesetze vielmehr auf solche Prozesse Bezug, die im Verlauf der Geschichte als Gesamtprozeß immer wieder auftauchen und zu beobachten sind. 2 1 7 Da der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit des Experiments zur Überprüfung ihrer H y p o thesen weitgehend fehlt, bildet der interkulturelle Vergleich das Validierungsmittel der Historie. 2 1 8 Die auf Theoriebildung angewiesene komparative Methode der Geschichtswissenschaft zeichnet sich näherhin dadurch aus, daß sie »primär nach möglichst universalen Strukturen frägt . . .«, wobei der tatsächliche, räumliche und zeitliche Zusammenhang der zu vergleichenden geschichtlichen Phänomene nicht unbedingt eine Rolle spielt. Sie unterscheidet sich daher von einer weiteren, vergleichenden »Grundform der universalhistorischen Betrachtungsweise«, bei der »primär nach dem, wenn schon nicht die ganze Welt umfassende, so doch größten nachweisbaren Zusammenhang der jeweiligen Geschichtsperiode gefragt und die Behandlung der Umfangs- und Interdependenzfaktoren vorwiegend deskriptiv durchgeführt« wird. 2 1 9 Unter kritischer Berücksichtigung von Poppers Einwänden läßt sich nun zusammenfassend sagen, daß geschichtswissenschaftliche (historische) Gesetzmäßigkeiten - sich auf (bisher) einmalige, vergangene Erscheinungen beziehen; Beispiel: »In neolithischen Gesellschaften wird die kollektive Identität dadurch gesichert, daß die Individuen ihre Abstammung auf die Figur eines gemeinsamen Ahnen zurückführen und sich damit im Rahmen ihres mythischen Weltbildes, eines gemeinsamen kosmischen Ursprungs vergewissern.« 2 2 0 - sich aber auch (unter einer Entwicklungsperspektive) auf noch gegenwärtige Erscheinungen beziehen; Beispiel: »In allen modernen Formen des Imperialismus dienen die expansiven Maßnahmen letztlich einer Politik der Verteidigung der privilegierten Stellung etablierter Eliten in einer sich unter dem Einfluß der Industrialisierung verändernden Gesellschaft. « 2 2 1 - sowohl Aussagen über den Verlauf eines geschichtlichen Geschehens 135
machen; Beispiel: »Der individuellen Kunst und Dichtung gehen anonyme Volkskunst und Volksdichtung voraus, den signierten Bildern und Skulpturen nicht signierte Arbeiten. « 2 2 2 - als auch über den funktionalen Zusammenhang vergangener Erscheinungen; Beispiel: »In der konfuzianischen Tradition ist es Ziel der religiösen Riten aufjeder gesellschaftlichen Stufe, >die Harmonie zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen aufrechtzuerhalten*. « 2 2 3 Von ihrem logischen Charakter her ist die Gesetzmäßigkeit historischer Gesetze in der Weise gegeben, daß sie stets die allgemeinen (kollektiven) Eigenschaften und Zusammenhänge an geschichtlichen Erscheinungen thematisieren. Letztere sind wiederum meist Makrophänomene, wie politische Institutionen, kollektive Mentalitäten, ökonomische Strukturen etc. Historische Gesetze können freilich nur mit der eingeschränkten Allgemeinheit behauptet werden, daß sie >fast immer*, >typischerweiseim Normalfall·, >im Durchschnitt* usw. gelten. Es handelt sich bei ihnen somit um statistische Gesetze, die das Eintreffen oder die Koinzidenz von Ereignisarten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aussagen. Freilich wird damit in geschichtswissenschaftlichen Erklärungen die Suche nach allen für das Explanandum statistisch relevanter Faktoren, die im Explanans aufgeführt werden müssen, zur vorrangigen Aufgabe. Unter diesem Aspekt können historischen Gesetzen wohl nur von einem strengen Determinismus aus, der nur dann einen Ereigniszusammenhang als gesetzmäßig gelten läßt, wenn die Ereignisse, die wirklich eingetreten sind, auch unausweichlich waren, ihre Gesetzmäßigkeit abgesprochen werden. Ihre Gesetze müßten also stets notwendig sein. Die Historizität historischer Gesetze liegt aber darin, daß sie, soweit sie in retrospektiven Theorien 2 2 4 auftreten, nur für einen bestimmten Vergangenheitsbereich (Epoche, Gesellschaftsform) anwendbar und gültig sind.
4. J . G. Droysens »Topik« und die Grenzen der historischen Erzählung Mit der Analyse der »Interpretation«, der dritten Erkenntnisphase der uns als kontrastierender Leitfaden dienenden Historischen Methode Droysens, haben wir den Bereich der Geschichtsforschung durchschritten. An Herodots berühmte Formel erinnernd stellt Droysen jedoch fest, »daß das historisch Erforschte (auch der) Formen der Darlegung bedarf«. 2 2 5 Damit betreten wir aber das Feld der Geschichtsschreibung. Wenngleich mit der »Interpretation« die höchste Form der wissenschaftlichen Verarbeitung des geschichtlichen Geschehens erreicht ist, so darf sie doch nicht als Endpunkt des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses aufgefaßt werden. Sie bildet vielmehr das Bindeglied zwischen der Geschichtsforschung und der Geschichtsschreibung. Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von 136
Droysens Historischer Methode liegt nicht zuletzt darin, daß er als erster den Zusammenhang von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung methodisch herausgearbeitet hat. Sein Versuch, Formen der »Darlegung des in der Forschung Gewonnenen« (2 1 9 ) 2 2 6 auszumachen und zu systematisieren, muß dabei als die gültige Abrechnung mit den zwei gleichermaßen unakzeptablen Einschätzungen der Geschichtsschreibung, wie sie Droysen in der Methodendiskussion der Tradition vorlagen, angesehen werden: nämlich einerseits mit der von der Moralphilosophie und Rhetorik seit dem Mittelalter immer wieder vorgenommenen Zuordnung der Geschichtsschreibung zu der Gattung der »schönen Literatur«, andererseits mit der Ausklammerung des Darstellungsaspekts aus der historischen Methodik durch »diejenigen, die die höchste Aufgabe des Historikers darin sehen, daß er nichts von dem Seinigen hinzufüge, sondern einfach die Tatsachen sprechen lasse . . .« (218). In Abgrenzung zu der älteren Auffassung, wonach die Historie zusammen mit der Grammatik, Dichtung, Redekunst u.a. zu den propädeutischen Künsten zählte, also keine Wissenschaften, sondern nur Hilfsmittel waren, um den Inhalten der echten Wissenschaften »zum passenden Ausdruck zu verhelfen und sie damit wirksam zu machen«, 2 2 7 erklärt Droysen gleich zu Beginn seiner Ausführungen über »Wesen und Form der Darstellung« die Irrelevanz des rhetorischen Modells der Geschichtsschreibung. »Ich wüßte nicht, was uns ferner liegen müßte, als in der Historik, wie es schon von Isokrates getan und von Gervinus wiederholt ist, die Theorie der künstlerischen Behandlung der Geschichte, eine Untersuchung über den Kunstcharakter der Geschichtsschreibung zu sehen. Es würde in meinen Augen das ungefähr soviel sein, als wenn die Logik die Kunst, philosophische Bücher zu schreiben, lehren wollte. Es stände kläglich um unsere Wissenschaft, wenn Ästhetiker oder die Rhetoriker ihr Maß und Ziel zu bestimmen hätten«. Während sich die Historie in der rhetorischen Tradition von Aristoteles bis zur Aufklärung unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstandsbezuges durch die Verifizierung der »res factae« von anderen Disziplinen unterschied, unter dem hier zu erörternden Gesichtspunkt ihrer Darstellungsart ihre Eigentümlichkeit aber in der indirekten Rede der Erzählung, der chronologischen Anordnung des Stoffes (»ordo naturalis«) und der prosaischen Sprache bestand, kann Droysen nur sehen, daß dieser »Gesichtspunkt der historischen Kunst, derjenige (ist), welcher in diesem Gebiete ( = Darstellungslehre) alles verwischt und schief gemacht hat« (217). Denn für ihn findet das künstlerisch-poetische, d . h . fiktionale Gestaltungsmoment der Geschichtsschreibung seine Grenze an den bereits in der Geschichtsforschung ermittelten Tatsachen. Nach der Wende der Historie zur empirischen Wissenschaft 2 2 8 gibt es für Droysen, ebenso wie schon vor ihm fur H u m boldt und Ranke, kein Zurück zu einer Geschichtsschreibung, die um der effektiven Darstellung willen der dichterischen Phantasie den Vorzug einräumt. 137
Freilich ist es D r o y s e n s Anliegen, u n d dies m a c h t die zweite S t o ß r i c h t u n g seiner Kritik der traditionellen A u f f a s s u n g e n der historischen Darstellung aus, nicht in das andere E x t r e m zu verfallen, nämlich in die objektivistische Ansicht, daß der Historiker sich aller über die E r f o r s c h u n g u n d W i e d e r g a b e der geschichtlichen Fakten hinausgehender Gestaltungen zu enthalten habe. D e n n es gilt das, was D r o y s e n schon i m R a h m e n der »kritischen« E r k e n n t nisphase ausführte, hier nicht zu übersehen, »daß die Tatsachen ü b e r h a u p t nicht sprechen, außer d u r c h den M u n d dessen, der sie aufgefaßt u n d verstanden hat, daß die Tatsachen gar nicht als solche vorliegen, s o n d e r n e n t w e d e r in Ü b e r r e s t e n , in denen w i r sie als die b e w i r k e n d e n U r s a c h e n w i e d e r e r k e n nen, oder in der F o r m v o n E r i n n e r u n g e n , d. h. Auffassungen, die ja schon die subjektiven M o m e n t e , die m a n d e m Historiker verbietet, in h o h e m M a ß an sich tragen« (218). Es schließt daher »der einfache Begriff der historischen Darstellung das, was m a n allein mit vollem Recht objektiv n e n n e n k ö n n t e , aus . . .«; ». . . wirklich objektiv ist n u r das Gedankenlose« (218). Hier n i m m t D r o y s e n offensichtlich H u m b o l d t zu seinem.Mitstreiter, den er j a als den »Gründer . . . einer Wissenschaftslehre der Geschichte« betrachtet (53). D e n n in seiner Schrift » Ü b e r die A u f g a b e des Geschichtsschreibers« (1821) hatte H u m b o l d t besonders eindringlich dargelegt, daß der Historiker in seiner Darstellung z w a r einerseits das »wirkliche Geschehen . . . n u r auffassend u n d wiedergebend« darstellen soll, 2 2 9 daß er andererseits d a d u r c h aber n u r »die n o t w e n d i g e G r u n d l a g e der Geschichte, den Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst« erhält. »Die Wahrheit alles Geschehens b e r u h t auf d e m H i n z u k o m m e n jenes o b e n e r w ä h n t e n unsichtbaren Teils j e d e r Tatsache [ = alles das, was z u m sinnlich w a h r n e h m b a r e n Quellenmaterial »hinzu e m p f u n d e n , geschlossen, erraten w e r d e n m u ß « , u m » d e m Ganzen Gestalt« zu geben], u n d diesen m u ß der Geschichtsschreiber h i n z u f ü g e n . Von dieser Seite betrachtet, ist er selbsttätig, u n d sogar schöpferisch, zwar nicht i n d e m er h e r v o r b r i n g t , was nicht v o r h a n d e n ist, aber i n d e m er aus eigener K r a f t bildet, was er wie es wirklich ist, nicht mit bloßer E m p f ä n g lichkeit w a h r n e h m e n k o n n t e . A u f verschiedene Weise, aber e b e n s o w o h l , als der Dichter, m u ß er das zerstreut G e s a m m e l t e in sich zu einem Ganzen verarbeiten. « 2 3 0 Das in der Darstellung zu diesem »Gerippe der Begebenheiten« h i n z u k o m m e n d e M o m e n t n e n n t H u m b o l d t »Phantasie«, die bei den Geschichtsschreibern freilich »der E r f a h r u n g u n d E r g r ü n d u n g der W i r k lichkeit u n t e r g e o r d n e t « ist (ebenda). H u m b o l d t s u n d D r o y s e n s Kritik traf daher die zeitgenössische Geschichtswissenschaft, sofern sie in R e a k t i o n auf die dichterische Verselbständigung der Geschichtsschreibung das Geschäft des Historikers auf das der Geschichtsforschung reduzierte. Hier w a r e n v o r allem D r o y s e n B e s t r e b u n g e n gegenwärtig, denen R a n k e durch seine F o r d e r u n g , daß die Historie »bloß zeigen (sollte), wie es eigentlich gewesen (sei)« 2 3 1 oder die, daß die »nackte Wahrheit ohne allen Schmuck« zu e r f o r schen sei, 2 3 2 j a schließlich d u r c h seinen Wunsch, sein »Selbst gleichsam auszulöschen u n d n u r die D i n g e . . . reden zu lassen« 2 3 3 begrifflich A u s -
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druck verliehen hatte. Für diese Formen des bloßen Sichtbarmachens und die damit verbundene »bloß passive oder rein ästhetische Einstellung des Historikers« hatte später Paul Y o r c k von Wartenburg den trefflichen Begriff »Okularismus« geprägt. 2 3 4 Für Droysen steht daher zweierlei fest: Wer die Geschichtsschreibung von der Geschichtsforschung löst und sie nur den Imperativen der moralischen Belehrung oder der sublimen Erbauung unterstellt, der überfuhrt Wahrheit in Dichtung, macht die Geschichtsschreibung zum historischen Roman. Wer umgekehrt die Aufgabe des Geschichtsschreibers auf die des Geschichtsforschers reduziert, also wie J . Rüsen bemerkt, »die Prinzipien der guten Rede restlos durch die Prinzipien der Quellenkritik ersetzt, bringt die Historiographie zum Verstummen«. 2 3 5 Indem Droysen nun seine eigenen methodischen Ausführungen zum Problem der historischen Darstellung unter dem Titel »Topik« zusammenfaßt, scheint bei ihm jener Zusammenhang von Historie und Rhetorik doch nochmals anzuklingen. Zwar sind die Bedeutungen des Begriffs >Topik< vielfältig, 2 3 6 gemeinsam ist ihnen jedoch der aus der antiken Logik stammende Bezug auf ein System der Kunstregeln der sublimen und überzeugenden Rede - der Dialektik. »Topoi« waren die in dieser Hinsicht bewährten und tradierten Ausdrucksschemata (Metaphern, Redewendungen, dialektische Schlußfiguren). Obgleich für D r o y sen eine erneute Vereinnahmung der Historie durch die Literatur und Dichtungstheorie ausgeschlossen bleibt, ergibt sich sein kritisches Interesse für die ältere Theorie doch allein schon deswegen, weil die auf Niebuhr und Ranke zurückgehende empirische Geschichtswissenschaft gar keine Darstellungslehre entwickelt hatte. Gerade dieser Mangel ist es ja, den Droysen zu beheben beabsichtigt. Droysens E n t w u r f einer historischen Darstellungslehre sehe ich daher als den Versuch an, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schnell vorangeschrittenen Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung nun auch die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung folgen zu lassen. Droysens Vorhaben führt uns damit wieder zu meiner Hauptthese zurück, daß Wissenschaft notwendigerweise Theoriebildung einschließt, so daß, wenn die Historie Wissenschaft sein will, sie auch Theorien bilden und anwenden muß. Von daher ergibt sich, daß uns nur diejenigen Argumente Droysens hier interessieren sollen, die einer Klärung der Rolle von Theorien im Rahmen der darstellenden Aufgabe der Geschichtsschreibung dienen. Es sind besonders zwei Beobachtungen Droysens in diesem Zusammenhang wichtig. (A) Droysen geht es zunächst darum, die von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung für ausgemacht erklärte Annahme zu widerlegen, daß die Erzählung die einzige Form der historischen Darstellung sei. Diese »populärste Form« bildet nur »eine Art, das in der historischen Forschung Gewonnene darzustellen«. Droysens »Topik« eignet sich daher auch heute noch dazu, die überzogenen Ansprüche der historischen Erzählung, wie sie in der gegenwärtigen Debatte verschiedentlich erhoben worden sind, einzugrenzen. Z u m anderen (B) begnügt sich Droysen nicht damit, nur de facto 139
festzustellen, daß es mehrere Arten der historischen Darstellung gibt, sondern er begründet vielmehr, w a r u m mit verschiedenen Typen der Darstellung gerechnet werden m u ß . Er hält es für notwendig, neben der erzählenden auch nicht-narrative Darstellungsarten zu fordern, einerseits wegen der unterschiedlichen Verwendungszwecke, denen die Historie in der Welt dient, andererseits wegen der unterschiedlichen Interpretationsgesichtspunkten, denen die Geschichtsschreibung aufgrund ihrer unverzichtbaren Abhängigkeit von der Geschichtsforschung unterliegt. Hier ergeben sich also »die Gesichtspunkte, unter denen sich unser apodeiktische Teil [ = Geschichtsschreibung] uns darstellt, aus den bereits nachgewiesenen M o m e n t e n unserer Methode« [= der Geschichtsforschung] (219). Erst aus der Kombination von darstellerischem Verwendungs- u n d b e g r ü n d e n d e m Forschungszusammenhang resultiert Droysens Schema der historischen Darstellungsformen. Wenn es nun auch auf dieser Stufe des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gelingt, die Schlüsselstellung des theoretischen Wissens nachzuweisen, dann führt auch hier die U n t e r s u c h u n g auf die schon oben vorgeschlagene Theorieneinteilung, 2 3 7 nämlich im Hinblick auf den Verwendungszusammenhang auf die Unterscheidung von retrospektiven (vergangenheitsbezogenen) und genetischen (gegenwartsbezogenen) Theorien, i m Hinblick auf den Begründungszusammenhang auf die Unterscheidung von kausalen, finalen und funktionalen Theorien. 2 3 8
4.1 Formen der historischen Darstellung nach J. G. Droysen Wenn wir uns bei der Frage, welche Rolle Theorien in der Phase der Darstellung geschichtlicher Tatbestände spielen, w i e d e r u m von Droysens Verlaufsmodell der Historischen M e t h o d e leiten lassen, müssen wir uns zunächst fragen, aufgrund welcher Unterscheidungskriterien Droysen zu seiner Typologie der historischen Darstellungsformen gelangt. Z w e i systematische Gesichtspunkt sind hier grundlegend. Die erste Unterscheidung resultiert aus der Doppelaufgabe der Geschichtswissenschaft, nämlich einerseits die Vergangenheit aus den gegenwärtig vorhandenen Quellen zu rekonstruieren, andererseits die Gegenwart über ihre geschichtlichen Voraussetzungen aufzuklären. Sie kann entweder den »Standpunkt annehmen, daß sie Dinge, die einmal waren, aber vergangen sind, soweit es möglich ist i m Geist, in der Vorstellung wiedererstehen läßt« oder den, »daß sie die Gegenwart und das Bewußtsein über sie und ihren Inhalt tiefer entwickelt und begründet«. Die Historie dient somit zwei Erkenntniszielen, sowohl der »Aufschließung und Aufklärung von Vergangenheiten« als auch der »Bereicherung der Gegenwart« (219). Diese erste Aufgabentrennung (a) der Vergegenwärtigung der Vergangenheit u n d (b) die Historisierung der Gegenwart beantwortet die Frage, welche Art von Erkenntnissen wir von der Geschichtswissenschaft erwarten dürfen, worin ihre Relevanz besteht. In die140
sem Sinne läßt sich Droysens Unterscheidung auch durch H . Lübbes U n t e r scheidung von Geschichte als »Relikterklärung« und Geschichte als »Identitätspräsentation« umschreiben. Im ersten Falle werden »funktionslose Elemente . . . durch Rekurs auf die Geschichte des Untergangs der Funktionen . . . historisch erklärbar«, 2 3 9 im zweiten Fall aber vergegenwärtigt die Historie »die Individualität von Individuen durch Darstellung ihrer Geschichte «. Das eben »macht Geschichte dazu geeignet, sich selbst und andere über sie zu identifizieren«. 2 4 0 Von diesem ersten Kriterium, das sich aus den verschiedenen »Motiven der Forschung oder des Forschers« ergibt (405), m u ß ein zweites Kriterium unterschieden werden, welches ermöglicht zu fragen, in welcher Weise »die verschiedenen Aufgaben der historischen Forschung« darstellerisch realisiert werden können (221). Z u der Frage, was der Historiker wissen will, nämlich welches die »vergangenen Gegenwarten« waren und welches die »gegenwärtigen Vergangenheiten« sind, 2 4 1 tritt bei Droysen die weitere Frage hinzu, wie der Historiker diese Erkenntnisziele erfüllen will. »Zweierlei ist . . . ins Auge zu fassen, das Ziel und der Weg zum Ziel und hieraus ergeben sich . . . die möglichen Formen« (225). Droysen unterscheidet folglich vier verschiedene Darstellungsarten der Historie: die untersuchende, erzählende, didaktiksche und diskussive (erörternde). Von ihnen behauptet er, daß sie eine vollständige Klassifikation bilden (221). Auf die Frage, wie Droysen gerade zu diesen Darstellungsformen gelangt, die den »Kreis historischer Darstellungen erschöpft«, hat die Droysenforschung bisher nur umrißhafte A n t w o r t e n gegeben. Während W. Schiffer in seiner umfangreichen Studie über die »Theorie der Geschichtsschreibung« den Weg zu der Einsicht gebahnt hat, daß »>die Gesichtspunkte^ nach denen die geeignete Form der Darstellung jeweils zu benennen ist, vor allem in der Phase der >Interpretation< hervortreten«, 2 4 2 versuchte J. Rüsen in seinen »Bemerkungen zu Droysens Typologie der Geschichtsschreibung«, 2 4 3 die von Schiffer aufgewiesenen Bestimmungsgründe, von denen alle historischen Darstellungsformen abhängen, inhaltlich näher zu charakterisieren. Im Hinblick auf den lesenden Rezipienten entfaltet danach Droysens T y p o logie »die Darstellungsformen als Realisationschancen von Bildungsabsichten«; »geht es (Droysen) u m die methodische Rationalität im historischen Denken seines Publikums, wählt er die Form der untersuchenden Darstellung, will er die ästhetische Rezeptivität vornehmlich ansprechen, die Form der erzählenden Darstellung, bei der theoretischen Reflexivität die Form der didaktischen Darstellung, bei der praktischen Aktivität schließlich die F o r m der diskursiven Darstellung. M a n könnte auch von einer unterschiedlichen Akzentuierung der rationalen, ästhetischen, ethischen und politischen K o m ponente in der Orientierungsfunktion der historischen Erkenntnis sprechen, denen sich die vier Darstellungsformen verdanken . . .« 2 4 4 Im Hinblick auf die Abhängigkeit der Geschichtsschreibung von der Geschichtsforschung k o m m e n die vier Darstellungsformen aber durch die unterschiedliche Ge141
w i c h t u n g folgender Tätigkeiten der historischen M e t h o d e zustande: »das Rückschließen aus den Quellen auf das, was tatsächlich der Fall war«, kleidet er in die u n t e r s u c h e n d e Darstellung; »die zeitliche V e r k n ü p f u n g quellenkritisch ermittelter Tatsachen zu Verläufen« in die erzählende Darstellung; »die D e u t u n g zeitlicher Verläufe m i t A n n a h m e n über allgemeine S i n n z u s a m m e n h ä n g e der geschichtlichen E n t w i c k l u n g « in die didaktische Darstellung; »den aktualisierenden Bezug v o n gedeuteten Verläufen auf P r o b l e m e aktueller Praxis« in die diskussive D a r s t e l l u n g . 2 4 5 Im Gegensatz zu Schiffers u n d Rüsens D e u t u n g m ö c h t e ich den Z u s a m m e n h a n g der historischen Darstellungsweise mit wesentlichen M o m e n t e n der historischen E r k e n n t n i s g e w i n n u n g auf einen P u n k t konzentrieren. M i r scheint, daß D r o y s e n seine vier Darstellungstypen mit seinen vier Interpretationsarten parallelisiert. Einen A n h a l t s p u n k t f ü r meine B e h a u p t u n g ergibt sich aus zwei Vorgehensweisen, denen sich der Historiker nach D r o y s e n s o w o h l bei der Interpretation als auch bei der Darstellung geschichtlicher Sachverhalte bedient. N a c h d e m ersten Prinzip sucht der Historiker sich ein Geschehen in der Weise v e r s t ä n d lich zu machen, daß er das Gesamtgeschehen g e w i s s e r m a ß e n in die A b f o l g e seiner Teilgeschehnisse zerlegt; nach d e m zweiten Prinzip beschreitet er den u m g e k e h r t e n Weg, i n d e m er die Teilgeschehnisse zu einem G e s a m t g e s c h e hen z u s a m m e n z u f ü g e n versucht. Freilich stehen die hier g e t r e n n t e n E r kenntnisschritte i m k o n k r e t e n Forschungsprozeß in einem k o m p l e m e n t ä r e n Verhältnis zueinander. N u n ist die zerlegende Vorgehensweise s o w o h l der »untersuchenden« u n d »erörternden« D a r s t e l l u n g s f o r m als auch der »Interpretation der B e d i n g u n g e n « u n d der »psychologischen Interpretation« gem e i n s a m ; die einheitsstiftende Vorgehensweise aber s o w o h l der »erzählenden« u n d »didaktischen« D a r s t e l l u n g s f o r m als auch der »pragmatischen Interpretation« u n d der »Interpretation der Ideen« g e m e i n s a m . I m Einzelnen ergibt sich dies aus der n o c h folgenden E r ö r t e r u n g der jeweiligen Darstellungsart. Aus der Z u o r d n u n g der beiden unterschiedlichen Erkenntnisziele, nämlich d e m Interesse an der V e r g e g e n w ä r t i g u n g v o n V e r g a n g e n heiten u n d d e m an der Historisierung der G e g e n w a r t , zu den beiden u n t e r schiedlichen Erkenntnismitteln, nämlich der analytischen u n d synthetischen Vorgehensweise, ergibt sich folglich, daß es vier A r t e n der Darstellung geben m u ß , deren j e d e d e m jeweils E r k a n n t e n seine angemessene A u s d r u c k s f o r m gibt. Schematisch läßt sich also D r o y s e n s M o d e l l der historischen Darstellung f o l g e n d e r m a ß e n festhalten: A d I: Untersuchend n e n n t D r o y s e n eine historische Darstellung, die den Verlauf der Geschichtsforschung auch z u m f o r m g e b e n d e n Prinzip der G e schichtsschreibung macht. Sie tut so, als o b f ü r sie »nicht das G e f u n d e n e , sondern das Finden die H a u p t a u f g a b e « sei (274, H ü b . ) , 2 4 6 nicht das f o r schend schließlich Erkannte, sondern der e r k e n n e n d e Prozeß des Forschens. Gleichwohl gibt die u n t e r s u c h e n d e Darstellung »nicht ein Referat oder Protokoll v o n d e m Verlauf der wirklichen U n t e r s u c h u n g , m i t Einschluß ihrer Fehlgriffe, Verirrungen u n d Erfolglosigkeiten, sondern sie verfährt, als 142
Arten historischer Darstellung n a c h j . G. Droysen Vergegenwärtigung der Vergangenheit
"u 1t/1 'S 4-> c c pragmatische Geschichte< des 18. Jahrhunderts tat, darüber belehren, »wie man sich in ähnlichen Fällen benehmen müsse« (299, Hüb.); sie soll auch nicht »große Muster menschlicher Natur, Charaktere, Taten aufstellen«, denen »es gilt nachzueifern«. Das heißt zusammengenommen also, daß »es der Zweck der Geschichte weder sein kann, Muster zur Nachahmung noch Regeln zur Wiederanwendung zu geben« (300, Hüb.). Auch an diesen älteren, von Droysen kritisierten Formen der didaktischen Darstellung zeigt sich, was für die belehrende Geschichtsschreibung überhaupt gilt: es sind allgemeine Wissensinhalte, die das zu Lehrzwecken Erzählte zum Vorbild, Exempel, zur Handlungsanweisung machen. In der >pragmatischen< Historie dienen die Beispiele zur Veranschaulichung von Tugenden und Lastern. Die >Moral< solcher Lehrgeschichten trägt daher einen statischen und überzeitlichen Charakter. Auf der Grundlage des vom Individualitätsprinzip geprägten Geschichtsverständnisses verlieren aber solche >exempla< ihre didaktische Verwendbarkeit. Denn aufgrund der Einmaligkeit des geschichtlichen Geschehens können wir nicht mehr mit unerläßlich ähnlichen Anwendungssituationen rechnen. Der Lehrgehalt der Historie muß daher nach Droysen in der Dynamik dieses geschichtlichen Geschehens selber aufzusuchen sein. Diese Bewegtheit der Geschichte charakterisiert Droysen bekanntlich als »geschichtliche Kontinuität« oder »Entwicklung «. 248 Lehren kann demnach der Historiker aus der Geschichte nur in der Weise ziehen, daß er (a) die geschichtlichen »Entwicklungsstufen, welche 146
das Menschengeschlecht durchgemacht hat« und »wie sie die Gegenwart summiert umfaßt« (308, 301, Hüb.), »geistig nacherlebt«; und (b) daß er »selbst mit in die Reihe tretend sie (= die Entwicklungsstufen) verwirklich^) und förder(t)«.249 »Diese durchgemachte geistige Übung« nennt Droysen aber Bildung. Es sind also »nicht (mehr) die einzelnen Vorbilder«, sondern »der ganze, hohe ethische Zug der Geschichte«, der der Geschichtsdarstellung ihre erziehende Kraft gibt. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß die »didaktische Darstellung« die Aufgabe hat, den in der »Interpretation der Ideen« jeweils aufgewiesenen »ethischen Horizont«, innerhalb dessen alles steht, was in einer bestimmten Zeit geschieht (343, Hüb.), und die dort erfaßte »Bewegung« »der sittlichen Mächte« (ebenda) nur zur Darstellung zu bringen. Hier ist die Verbindung von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung besonders eng. Neben den eher formalen Mitteln, Theorie in die historische Darstellung hineinzutragen, also den geschichtlichen Stoff hypothetisch, selektiv und argumentativ zu behandeln, tritt in der »didaktischen Darstellung« eine Theorie bestimmten Inhalts auf. Die »didaktische Darstellung« offenbart Droysens materiale Geschichtsphilosophie. Zwar galt schon für die Erzählung, daß sie in dem empirisch gegebenen, »bunten Allerlei der Geschehnisse . . . irgendeinen bedeutenden Gedanken erkenn(en)« sollte (238), aber sie beschränkte sich damit »auf den Bereich eines Gedankens oder Gedankenkomplexes«, ζ. B. eines Staates, einer Epoche, einer Persönlichkeit etc. (234, 254). In der »didaktischen Darstellung« ist aber gerade »nicht der einzelne Gedanke und sein Bereich zu befassen, sondern (hier ist entscheidend), daß die Totalität dargelegt, daß der einzelne Gedanke als wesentlich auf das Ganze bezüglich und als dessen integrierter Teil gefaßt werde«. (254) Aufgabe der »didaktischen Darstellung« ist daher die Konstruktion der Geschichte »über den Geschichten« (354, Hüb.). 2 5 0 Der Standpunkt, den eine Universalgeschichte solchen Typs einnimmt, liegt aber strenggenommen »gar nicht mehr in der Ebene der dargestellten Wirklichkeiten, denn nicht die Wirklichkeiten, sondern die Gedanken der Wirklichkeiten sind das Material dieser Darstellung« (254). Auf dieser theoretischen Ebene der »Gesamtbetrachtung« können wir uns »von dem inneren Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung, von ihren Gliederungen, ihrem Rhythmus und ihrer Richtung« vergewissern (264). Unter einem formalen Aspekt besteht die Geschichte als Ganzes, gemäß der oben vorgeschlagenen Klassifikation möglicher Veränderungen, 2 5 1 in einem kontinuierlichen und sich steigernden Prozeß. Jede Gegenwart gilt als ein geschichtlich gewordenes und sich weiter entwickelndes Geschehen. Unter einem inhaltlichen Aspekt aber besteht sie in dem »Gedanken der Erziehung des Menschengeschlechts«, d. h. in der Idee, daß »es (der) Zweck (der Geschichte) sei, . . . ethische Ideale und in ihnen eine fortschreitende Gestaltung der sittlichen Welt zu erzeugen« (253). »Das Wesen der sittlichen Welt ist die rastlose Entwicklung . . . und die Bildung, d. h. der Inbegriff der didaktischen Macht der Geschichte, ist ohne stetes 147
Weiterschreiten und Fortschreiten sinnlos.« Es ist nun leicht zu erkennen, daß solche Aussagen in den Bereich von Konstitutions- bzw. regulativen Theorien der Geschichte gemäß unserer obigen Theorienklassifikation (Kap. 2.1.2 und 2.1.3) gehören. U n d es ist letztlich dieser Theorietypus, der für Droysens Ansicht ausschlaggebend ist, daß die »didaktische Darstellung« nicht so sehr eine nur neben die anderen Darstellungsarten tretende Form ist, sondern diesen vielmehr zugrundeliegt und sie u m f a ß t (254). Ad IV: Mit der sogenannten diskussiven Darstellungsart bezieht sich D r o y sen w i e d e r u m auf die Gegenwart und die Aufgabe, diese über ihre geschichtlichen Voraussetzungen aufzuklären. »Hier ist das Neue, erst Werdende problematisch, nicht, wie in der untersuchenden Darstellung, das Vergangene« (279, 314, H ü b . ) . Im Unterschied zur didaktischen Darstellung bedient sich die diskussive Darstellung nicht einer synthetisierenden, sondern einer analysierenden Vorgehensweise. Dies, weil die diskussive Darstellung dort benötigt wird, w o »auf eine Frage, die zu entscheiden, eine Alternative, in der ein Entschluß zu fassen, eine neue Entscheidung, deren Verständnis zu erschließen ist« (363, Hüb.), ein historischer Rat erwünscht ist. Diediskussive Darstellung steht daher in einem argumentativen Z u s a m m e n h a n g , in dem es gilt, sich der Richtigkeit (Angemessenheit) einer das öffentliche Leben betreffenden Entscheidung durch historische A r g u m e n t e zu versichern. In einer solchen Situation steht nach Droysen, prinzipiell gesehen, aber nicht nur ein historischer Weg der Entscheidungsfindung, sondern auch ein theoretischer Weg offen. Das historische und das theoretische Wissen bilden seiner Ansicht nach hier eine Alternative, die er im R a h m e n der »diskussiven« Darstellungsform zugunsten der historischen Vorgehensweise entscheidet. Denn die theoretische A n t w o r t auf die Frage nach der richtigen Entscheidung in einer konkreten geschichtlichen Situation ist i m m e r »spekulativ« und »doktrinär« zugleich. Spekulativ, weil sie sich nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf ein Ideal bezieht (ζ. B. auf den Rechtsstaat), für das die richtigen Lösungen begrifflich i m m e r schon festgelegt sind. Doktrinär, weil hier einerseits »nur das vor der Vernunft Gerechtfertigte, nur das der Idee Entsprechende zur Geltung k o m m e n « soll (268) und weil andererseits eine Theorie verabsolutiert wird, obgleich sich doch auch im gesellschaftlich-politischen Leben auch »entgegengesetzte Grundsätze« theoretisch begründen lassen. Von d e m von Droysen eingenommenen »historischen Standpunkt« aus aber verschärft sich dieser Einwand zu der Überzeugung, daß Theorien, »Spekulationen . . . auch nur historisch gewordene, nur der gesuchte und versuchte Ausdruck für das bis jetzt und so weit erkannte Absolute (sind) und gerade in diesem bis jetzt liegt aller Nachdruck. Das Wesen der Theorie ist, daß sie dem Resultat der summierten bisherigen Gestaltungen die Form des Postulats gibt; j e weniger sie alle M o m e n t e in ihre S u m m i e r u n g mit a u f n i m m t , j e einseitiger sie die einen oder anderen hervorhebt, desto doktrinärer ist sie und desto gefährlicher wird dieser theoretische Weg.« (269) D e m U n g e n ü g e n , welches in geschichtlichen E n t -
148
scheidungssituationen theoretische Lösungsvorschläge hinterlassen, glaubt die diskussive Darlegung durch den »zuverlässigeren Weg« der historischen Betrachtungsweise zu begegnen. Denn sie zeigt auf, daß (a) das abschließende normative Urteil einer Theorie oder Doktrin in Wirklichkeit nicht absolut, sondern nur relativ gelten kann, insofern es nur die bisherige Vergangenheit abschließt und zu »einem Schritt weiter fuhrt« (269), und (b) »nur das weiterfuhrt, was sich den Gegebenheiten anschließt, das in ihnen Heranreifende und Reifgewordene erfaßt und verwirklicht« (313, Hüb.). Das »Bewußtsein über dies Verhältnis, das Gegenwärtig-Behalten, das geistige Durchlebt-Haben der Vergangenheiten« (269), das Droysen in der »didaktischen Darstellung« gebildet sehen möchte, kommt hier in der erörternden Darstellungsform an einem einzelnen Gegenwartspunkt zur Anwendung. Neben der analytischen Vorgehensweise sowohl der »diskussiven Darstellung« als auch der »psychologischen Interpretation« haben diese Darstellungsweise und Erkenntnisweise auch den gleichen Bezugspunkt gemein. Beide beziehen sich auf den Menschen in einer geschichtlichen Entscheidungssituation. Beide versuchen, wenn auch auf komplementäre Weise , anzugeben, durch welche Momente eine historische Entscheidung und Tat grundsätzlich bestimmt ist. Während sich die »psychologische Interpretation« darauf konzentriert, in einem geschichtlichen »Sachverhalt die Willensakte, die ihn hervorbrachten«, aufzuzeigen (341, Hüb.), geht es der »diskussiven Darstellung« darum, die Bedeutung der überindividuellen »sittlichen Gemeinsamkeiten« herauszustellen. Jedoch schränkt Droysen die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte schon im Rahmen der »psychologischen Interpretation« auf nur ein »Moment in dieser Bewegung der sittlichen Mächte« ein. Die historische Forschung ist nicht an der Person als solcher interessiert, sondern nur an ihrer »Stellung und Arbeit in dieser (= Bewegung), jener der sittlichen Mächte, um der Idee willen, deren Träger (sie) war« (342, Hüb.). Daß der von Droysen in der »diskussiven Darstellung« verfolgte historische Weg nicht weniger dogmatisch ist als der theoretische, zeigt sich daran, daß zu der, wie auch immer wissenschaftlich zu treffenden Feststellung eines bestimmten geschichtlichen Trends, in dem eine jeweilige Gegenwart zu liegen scheint (ζ. B. ein sich zur Nation formierender Staat), die positive (oder negative) Wertung dieses Trends und die Aufforderung, ihn zu verstärken (bzw. zu bremsen) hinzutreten muß. Es liegt auf der Hand, daß die Bewertung eines »Gedankens«, der eine Epoche bewegt, nicht aus dem empirischen Aufweis dieses Gedankens ableitbar ist. Ebenso deutlich zeigt sich hier ferner der Theoriegehalt, der sich auch aus dem historischen Standpunkt nicht eliminieren läßt. Es ist ja gerade die eminent philosophische Idee der »Bildung«, der allgemeine Gedanke des Zusammenhangs der vielen Geschichten in der »rastlosen Weiterführung« des einen Geschichtsprozesses, der hier in der diskussiven Darstellung die historische 149
Urteilskraft leitet. Der »praktische Historiker«, als welcher sich Droysen den Staatsmann vorstellt, ist als solcher somit auch praktischer Theoretiker.
4.2 Positionen des Narrativismus Wenn in Weiterführung von Droysens Überlegungen die allgemeine Frage nach dem Theoriegehalt der Geschichtsschreibung nicht mit der speziellen Frage nach dem Theoriegehalt der Erzählung ineinsfällt, da ja nach Droysen die Erzählung nur eine von mehreren Formen der Darstellung ist, so wird im Unterschied zu dieser Auffassung die gegenwärtige Theoriedebatte in der Historie meist unter dem Titel >Theorie und Erzählung< gefuhrt. Ohne diesen Tatbestand sogleich zu problematisieren, möchte ich zunächst klären, in welcher Weise sich das Verhältnis von Erzählung und Theorie darstellt. Verhält es sich wirklich so, wie die Herausgeber eines Diskussionsbandes über »Theorie und Erzählung in der Geschichte« feststellen, daß »wie die Forderung nach >mehr Theorie< in aller Regel die Ablehnung einer rein narrativen Geschichtswissenschaft implizier(e), so . . . das Plädoyer fur >Erzählung< in der Geschichtswissenschaft zumeist ein Stück Skepsis gegenüber theoretischen Geschichtswissenschaft (ausdrücke)?« 2 5 2 Jedenfalls gibt es Anzeichen dafür, daß die gegensätzliche Rolleneinschätzung von Theorien in der Geschichtswissenschaft durch diejenigen Historiker, die sich für Theorienbildung und -Verwendung aussprechen bzw. durch diejenigen, die hierin nicht die Aufgabe der Historie sehen, nicht unbedingt zusammenfällt mit den sich unterscheidenden Ansichten, daß Erzählung und Theorie in einem Gegensatz bzw. nicht in einem Gegensatz zueinander stehen. So gesteht etwa G. Mann, der sich grundsätzlich zu einer erzählenden Historie bekennt, durchaus zu, daß »auch erzählende Geschichtsschreibung sehr theoriebewußt sein kann«, j a daß »formal Erzählung und Theoriebewußtsein nicht im Gegensatz zueinander stehen«. 2 5 3 Ebenso konzediert H. U . Wehler, der sich grundsätzlich zu einer theoriegeleiteten Geschichtsschreibung bekennt, daß »eine schroffe Dichotomie von theorieorientiertem Vorgehen und Narratio zu behaupten, zu einer unproduktiven, rigoristischen Polarisierung fuhrt«. Denn »Theorienverwendung scheint durchaus vereinbar zu sein mit dem Ziel des Historikers, die Prozesse und Strukturen in ihrer Bewegung durch die Zeit zu erfassen. Anfang, Verlauf und Ende einer Trendperiode der Konjunktur; Beginn, Herrschaftsphase und Ende eines politischen Regimes; Auftauchen, volle Entfaltung und Auflösung von Formen der sozialen Ungleichheit können narrativ berichtet werden«. 2 5 4 Wenn also die Nähe bzw. Distanz zu Theorien nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein kann, die Rolle der Erzählung in der Historie unterschiedlich zu bestimmen, worin liegt dann die Ursache für die »starke Spannung . . ., in (der) Erzählung und Theorie zueinanderstehen«? 2 5 5 Hier kann Droysens Typologie der historischen Darstellungsformen den Weg zu einer 150
Beantwortung dieser Frage weisen. Denn im Ausgang von seinen Überlegungen lassen sich Positionen aufweisen, in denen die Rolle der Erzählung in der Geschichtswissenschaft überschätzt wird. Aufgrund ihres vereinseitigenden Charakters nenne ich sie Positionen des Narrativismus. Im Hinblick auf das Verhältnis von Theorie und Erzählung scheinen sich drei Formen eines narrativistischen Standpunktes unterscheiden zu lassen. Die erste Position (A) verhält sich indifferent gegenüber der Unterscheidung von Erzählung und Theorie, solange nur die Erzählung zu ihrem Recht kommt. Die zweite Position (B) läßt Erzählung und Theorie ineinsfallen, insofern die Erzählung die möglichen Theorieansprüche in der Geschichtswissenschaft immer schon erfüllt. Die dritte Position (C) führt die Theorie auf die Erzählung zurück, indem sie die Erzählung zu einem Bezugsschema der geschichtlichen Wirklichkeit macht, von der jegliche Theorien ihren Ausgangspunkt nehmen müssen.
(A)
Die Erzählung
als einzige Darstellungsform
der Historie
Eine gemäßigte Position des Narrativismus besteht naheliegender Weise darin, daß die Erzählung für die einzige Darstellungsform der Historie gehalten wird. Sie anerkennt nicht die von Droysen gemachten Unterscheidungen und folglich keine anderen Darstellungsarten neben sich. So stellt J. Fest in Auseinandersetzung mit der »sozialgeschichtlichen Schule«, in der die »erzählende Darstellung . . . äußerste Geringschätzung« erfahren habe, fest, daß »aber wirkliche Geschichtsschreibung immer erzählend, alles andere nur Material- und Schlepperdienst (ist)«. 256 O. Borst spricht von dem »heillosesten Irrtum«, der darin liegt, »daß man den Erzählcharakter alles Geschichtlichen bewußt verniedlicht oder sicherlich in weit größerem Maß überhaupt nicht verstanden hat. Man kann Geschichte nicht auch erzählen, sondern man kann sie letztlich nur erzählen. Wem diese >Erzählung< zu naiv geraten ist, redet gern vom >narrativen Charakten der Geschichte«. 257 Wie selbstverständlich und ohne polemische Absicht behandelt K. Kluxen in seiner Vorlesung zur Geschichtstheorie die Erzählung in der Geschichte als das Darstellungsproblem der Historie überhaupt. »Geschichte gibt es nur als geschriebene, erzählte und sprachlich gestiftete Geschichte«. 2S8 »Geschichtliche Erzählung . . . ist oft die Nacherzählung eines bereits Erzählten, meist aber die Entdeckung oder Auffindung der Geschichte eines erzählbaren Ereignisses, die über etwas berichtet, was in tausend möglichen Variationen anders berichtet werden könnte, ohne deswegen falsch zu sein«. Wie in vielen Sätzen, so läßt sich auch in folgendem Satz von Kluxen, »daß vielerlei Geschichten über denselben Gegenstand und dasselbe Ereignis möglich sind und die »Erzählbarkeit« eben diese zahlreichen Möglichkeiten bezeichnet«, das Wort »Erzählbarkeit« durch >Darstellbarkeit< einfach ersetzen. 259 Die Probleme der Geschichtsschreibung sind die der Erzählform. Die hier illu151
strierte Position des Narrativismus, die die Erzählung zur einzigen Darstellungsform der Historie macht, wird jedoch weniger in einem methodologischen Sinne vertreten, sondern vielmehr einfach praktiziert. Nach wie vor ist ein großer Teil der deutschsprachigen Geschichtsdarstellung erzählend abgefaßt. Nicht nur die Tatsache, daß es in zunehmendem Maße neben der erzählenden Form auch nicht-erzählende, analysierende und strukturell beschreibende Formen der historischen Darstellung gibt, widerlegt die von Borst u. a. aufgestellte allgemeine Behauptung dieser narrativistischen Position. Schon Droysen hatte formale Bedingungen aufgeführt, unter denen ein geschichtliches Geschehen nicht sinnvollerweise erzählt werden kann. Zunächst (a) wird der Historiker keine Geschichte über einen Vorgang erzählen können, über den das historische Material extrem bruchstückhaft und unzuverlässig ist. Es fehlt hier einfach an der »Kontinuität des Materials, in der sich die Phasen der Entwicklung ausgeprägt zeigen«. 2 6 0 So hält es Droysen beispielsweise für unmöglich, »die attische Verfassungsgeschichte bis Solon erzählend darzustellen«. Auch wenn sich heute die Quellenlage aufgrund zusätzlicher Funde und verfeinerter Methoden für manche Bereiche der Geschichtsforschung verbessert hat, gilt doch Droysens Feststellung besonders für die wissenschaftliche Behandlung von solchen geschichtlichen Erscheinungen, denen das Interesse der Historie bislang kaum gegolten hat und über die es folglich kaum darstellende Quellen gibt, wie etwa das Alltagsleben, die »kollektiven Mentalitäten«, das generative Verhalten u. ä. der sozial und politisch wenig einflußreichen Schichten der Bauern, Kleinbürger, Leibeigenen, Frauen, usw. Neben dieser Einschränkung des Universalitätsanspruchs der erzählenden Darstellung durch die Beschaffenheit des historischen Quellenmaterials sieht Droysen sodann (b) auch eine Einschränkung, die durch die Art eines geschichtlichen Geschehens selbst bedingt ist. Da, »wo ein sozusagen stilles Geschehen die Dinge werden läßt, wo also die Wandlungen unmerklich vor sich gehen, die bedingenden und bestimmenden Einflüsse gleichsam latent wirken«, wird keine erzählende Darstellung möglich sein. U n d zur Verdeutlichung dieser Beobachtung fährt Droysen fort: »Ich wüßte nicht, wie man die Geschichte einer Sprache, die Geschichte einer Rechtsinstitution oder zum Exempel der Dreifelderwirtschaft erzählen sollte.« 2 6 1 Droysens Argument gilt heute unverändert für die Gegenstände der Strukturgeschichte, die sich nur in langen und sehr langen Zeiträumen wandeln, wie z . B . die »Wirtschaftsstile«, religiösen Überzeugungen, Paradigmen der Wissenschaft. Schließlich findet sich bei Droysen (c) noch ein weiteres, die Erzählung einschränkendes Argument angedeutet. Er bezieht sich hierbei auf die »oft geäußerte Ansicht, daß man nur von bereits abgelaufenen Zeiten, von schon geschlossenen Entwicklungsreihen Geschichte schreiben könne; daß die der Gegenwart, unserer Zeit, die miterlebte Zeit, noch gar nicht unter den Gesichtskreis der Geschichte falle«. Diese Grenze besteht aber nach Droysen für den Historiker 152
nur, insofern er sich der einen Darstellungsform bedient: der Erzählung. »Allerdings wird man die unmittelbar werdende Gegenwart in der Form der erzählenden Darstellung nicht wohl behandeln wollen; aber unter der diskussiven [= erörternden] Form tritt auch sie in den Bereich der historischen Wissenschaft . . . « 262 Da ich dieses Argument erst im Zusammenhang mit der dritten Positin des Narrativismus aufgreifen möchte, können wir somit zum zweiten narrativistischen Standpunkt übergehen.
(B) Die Erzählung
als historische
Erklärung
Der Narrativismus erfährt nun dadurch eine erste Verschärfung, daß er in der Erzählung nicht nur die einzige Form der Geschichtsschreibung, sondern auch das ausgezeichnete Mittel der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung sieht. Die Erzählung soll nicht ein schon rekonstruiertes und interpretiertes Geschehen zur Darstellung bringen, sondern bereits der Geschichtsforschung selber dienen. Von der Geschichtsforschung wird aber nicht nur die Feststellung, sondern auch die Erklärung der geschichtlichen Tatsachen erwartet. Während früher der Narrativismus eher in enger Verbindung mit einer einfühlend, verstehend ausgerichteten Historie, die sich damit überhaupt von erklärenden Aufgaben distanzierte, auftrat, 2 6 3 findet man seit A. Danto und H. W. Walsh die hier zu behandelnde Auffassung, daß die Historie als erzählende Disziplin immer schon eine erklärende Funktion übernommen und erfüllt hat. Als narrativistisch zeichnet sich dieser Standpunkt dadurch aus, daß er im Lichte der historischen Erzählung der wissenschaftlichen Erklärung keine eigenständige Systematisierungsleistung zuerkennt. Indem dieser Narrativismus Erklärungen auf Erzählungen zurückfuhrt, erweist er sich als eine Form des Reduktionismus. Inwiefern er damit auch wesentliche Theoriegehalte der Geschichtswissenschaft zum Verschwinden bringt, soll im Folgenden miterörtert werden. Zu dieser Einschätzung der historischen Erzählung gelangt der >explanatorische< Narrativismus, (wie man ihn in Abgrenzung zum >elocutionären< (= formgebenden) Narrativismus der ersten Position nennen könnte), vornehmlich durch eine Ausweitung des Erzählbegriffs. Für Danto ist es zunächst eine »schlichte Tatsache, daß der Historiker in einer Vielzahl von Fällen, d. h. solange er nicht einer allgemeinen historischen Theorie wie etwa dem Marxismus verpflichtet ist, uns auf unsere Bitte hin, ein bestimmtes Vorkommnis näher zu erklären, spontan mit einer Erzählung aufwarten würde; und daß er selbst, sobald es ihn drängt, eine Erklärung fur ein Geschehnis zu finden, sogleich den Versuch machen wird, dasjenige zu ermitteln, was wir gelegentlich die >Story< nennen — das heißt, er wird, grob gesprochen, jene Ereignisse feststellen wollen, die zu dem in Frage stehenden Ereignis geführt haben«. »Es hat demnach einige Berechtigung für sich, wenn man versucht ist zu sagen, daß historische Erklärungen schlicht aus Erzählungen bestehen, 153
und wenn man daran festhält, daß dies bereits alles aussage, was mit dem Wort >Erklärung< im historischen Kontext gemeint sein könne. D a eine Erzählung allem Anschein nach nicht nur ein Vorkommnis erklärt, sondern Auskunft darüber gibt, was innerhalb einer gewissen Zeitspanne vorgefallen ist, besteht weiterhin die Neigung zu sagen, daß die Mitteilung desjenigen, was geschehen ist, und die nähere Erklärung dazu Dinge seien, die gleichzeitig ausgeführt werden, daß also eine Erzählung, insoweit sie erklärt, zugleich genau angibt, was geschehen ist, und daß sie, insofern sie genau wiedergibt, was geschehen ist, zugleich auch erklärt. In dieser Weise also bilden erzählende Beschreibung und historische Erklärung ein unauflösbares Ganzes.« 2 6 4 Allerdings räumt Danto schon auf dieser Stufe der bloßen Beschreibung einer verbreiteten Ansicht von Historikern ein, daß eine derartige Sicht nur von dem Historiker zu erwarten ist, »der nicht einer allgemeinen Theorie wie etwa dem Marxismus verpflichtet ist«. Diese Nebenbemerkung Dantos kann wohl nur so verstanden werden, daß für ihn, obwohl es ihm u m die wissenschaftliche Aufwertung der Erzählung durch Integration der Erklärungsaufgabe geht, doch ein unauflöslicher Restgegensatz zwischen Erzählung und Theorie bestehen bleibt. Wie sich diese Verschiedenheit zwischen den narrativen und theoretischen Elementen der Historie äußert, greift Danto schon an dieser Stelle auf, u m diese allerdings sogleich einzuebnen. Es »könnte allerdings zu Recht eingewendet werden, daß nichts Widersprüchliches in der Klage darüber liege, daß man zwar wisse, was geschehen sei, jedoch außerstande sei, zu erklären, was sich ereignet habe. Gewöhnlich heißt dies nur, daß nach einer ganzen Ereignisfolge ein abschließendes Ereignis eingetreten ist, man jedoch die genaue Abfolge der Ereignisse nicht kennt, deren Schlußpunkt jenes darstellt. Wollte man beispielsweise die Frage eines Polizeibeamten >Was ist geschehen?< mit dem Satz beantworten: >Es hat einen Unfall gegebene so würde dieser selbstverständlich sagen, daß er dies sehr wohl wisse, doch daß es nicht das sei, was ihn bei seiner Frage >Was ist geschehen?< eigentlich interessiert habe. Er möchte die ganze Vorgeschichte des Unfalls wissen; er will zugleich wissen, was geschehen ist und warum es geschehen ist. « 2 6 s Daß eine historische Erzählung eine Form der Erklärung ist, begründet Danto, grob skizziert, folgendermaßen: (a) »Wir verlangen von Geschichten ( = Erzählungen), daß sie einen Anfang (1), einen mittleren Teil (2) und ein Ende (3) haben« (372, 376) 2 6 6 (b) »Das explanandum (einer historischen Erklärung) beschreibt . . . eine Veränderung« (371). Jede Veränderung hat einen Anfang und ein Ende. »Die Form eines Explanandum in der Geschichtswissenschaft kann daher folgendermaßen wiedergegeben werden: >x ist F in t-1 und χ ist G in t-3enthaltezu bewegenWertfreiheit< der soziologischen u n d ö k o n o m i s c h e n Wissenschaften« v o n 1918 u n d C. Schmitts Schrift »Der Begriff des Politischen« v o n 1932. 7 So ζ. B. in der F o r m der Frage nach der Objektivität historischer Aussagen - ein Aspekt v o n Wissenschaftlichkeit der Historie, der besonders den Streit mit d e m h i s t o r i s c h e n P y r r o n i s mus< im 17. J a h r h u n d e r t ausmachte (Descartes, La M o t h e le Vayer, Balye). Vgl. dazu Ed. Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, M ü n c h e n 1911; M. Scheele, Wissen u n d Glauben in der Geschichtswissenschaft. Studien z u m historischen P y r r o n i s m u s in Frankreich u n d Deutschland, Heidelberg 1930; oder ζ. B. die Frage nach d e m Lehr- u n d Voraussagegehalt der H i s t o r i e - ein Aspekt von Wissenschaftlichkeit, der v o r allem die Diskussion u m eine >exemplarische< Geschichtsschreibung w ä h r e n d des H u m a n i s m u s b e s t i m m t e (Valla, Isidor, Lucanus). Vgl. dazu G . H. Nadel, Philosophy o f H i s t o r y before Historicism, in: H T , Bd. 3, 1964, S. 2 9 1 315; R. Koselleck, Historia magister vitae. Ü b e r die A u f l ö s u n g des T o p o s im H o r i z o n t neuzeitlich b e w e g t e r Geschichte, jetzt in: ders., Vergangene Z u k u n f t . Z u r Semantik geschichtlicher Zeiten, F r a n k f u r t 1979, S. 38-66; K. Heitmann, Das Verhältnis von D i c h t u n g u n d Geschichtsschreibung in älterer Theorie, in: Archiv f u r Kulturgeschichte, Bd. 52, 1970, S. 244-279; E . Keßler, Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung, M ü n c h e n 1971; oder ζ. B. die Frage nach d e m spezifischen Forschungsgegenstand der Historie - ein Aspekt von Wissenschaftlichkeit, der besonders a m E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s i m Mittelpunkt leidenschaftlicher Auseinandersetzung u m die Rolle der Sozialgeschichte stand (Lamprecht-Streit). Vgl. dazu G. Oestreich, Die Fachhistorie u n d die A n f ä n g e der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: H Z , Bd. 208, 1969, S. 320-363; B. v. Brocke, K u r t Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen H i storismus u n d Soziologie, Lübeck 1971; Th. Schieder (Hg.), H u n d e r t Jahre Historische Zeitschrift, in: H Z , S o n d e r b a n d 189, 1959. 8 Vgl. J. Romein,
174
Theoretical History, in: J H I , Bd. IX, 1948, S. 53-64; O . F.
Anderle,
Anmerkungen
zu S.
13-18
Theoretische Geschichte, in: H Z , Bd. 185, 1959, S. 1-59; F. Wagner, Die E n t s t e h u n g der Geschichte, in: B W G , Bd. 1, 1978, ders., Die A n f ä n g e der m o d e r n e n Geschichtswissenschaft i m 17. J a h r h u n d e r t , in: Sb. d. Bayerischen A k a d e m i e d. Wissenschaften, M ü n c h e n 1979; J. Rüsen u. H. Süssmuth (Hg.), T h e o r i e n in der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1980; die Beiträge der Vertreter einer historischen T h e o r i e b i l d u n g in den Bänden der S t u d i e n g r u p p e »Theorie der Geschichte«, 4 Bde., M ü n c h e n 1977-1982. 9 So trägt etwa f ü r Lübbe, Geschichtsbegriff, S. 28 die »prädikative V e r w e n d u n g v o n >Historie< u n d >TheorieNeue< u n d traditionelle M e t h o d e n in der Wirtschaftsgeschichte, in: H. U. Wehler (Hg.), Geschichte u n d Ö k o n o m i e , K ö l n 1973, S. 247, wenngleich er auch schon als Obertitel für die V o r w ü r f e Rankes u n d B u r c k h a r d t s gegen die (Hegeische) Geschichtsphilosophie stehen k ö n n t e . 14 Vgl. die Beiträge v o n R. Vierhaus u n d G. List, in: B. Faulenbach (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland, M ü n c h e n 1974. 15 G. Ritter, G e g e n w ä r t i g e u n d Z u k u n f t s a u f g a b e n deutscher Geschichtswissenschaft, in: M. Asendorf (Hg.), Aus der A u f k l ä r u n g in die p e r m a n e n t e Restauration. Geschichtswissenschaft in Deutschland, H a m b u r g 1972, S. 350-364. 16 H. v. Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v o n M . Comicelius, Leibzig 1899, B d . I, S. 101. 17 Treitschke, Politik, S. 70. 18 Ders., Politik, S. 103. 19 Ders., Politik, S. 63. 20 Ders., Historische u n d politische Aufsätze, Bd. 4, Leibzig 1897, S. 498. Vgl. z u T r e i t s c h kes Position D . Fischer, Die deutsche Geschichtswissenschaft v o n J. G. D r o y s e n bis O . H i n t z e in ihrem Verhältnis zur Soziologie, Diss. Köln 1966. 21 G . Ritter, P r o b l e m e u n d A u f g a b e n der internationalen Geschichtsschreibung, in: Asendorf, A u f k l ä r u n g , S. 365. 22 Vgl. J. Huizinga, U b e r eine F o r m v e r w a n d l u n g der Geschichte seit der M i t t e des X I X .
175
Anmerkungen
zu S. 18—21
Jahrhunderts, in: ders., Im Banne der Geschichte, Betrachtungen u n d Gestaltungen, A m sterdam 1942, S. 107-128. 23 D e r Begriff »histoire evenementielle« diente F. Simiand u n d H. Beer, M e t h o d e h i s t o rique et sciences sociales (1903), N D in: A E S C , Bd. 15, 1960 zur ablehnenden Kennzeichn u n g der herrschenden Fachhistorie als einer Geschichte einzelner politischer Begebenheiten u n d g r o ß e r politischer Persönlichkeiten. 24 G. v. Below, Ü b e r historische Periodisierung, in: ders., Einzelschriften zur Politik u n d Geschichte, hg. v o n H . Roesseier, Berlin 1925, S. 18. 25 A. Hillgruber, Politische Geschichte in m o d e r n e r Sicht, in: G . K. Kaltenbrunner (Hg.), Die Z u k u n f t der Vergangenheit, Freiburg 1975, S. 77. 26 Hillgruber, Geschichte, S. 77. 27 E b d . , S. 79. 28 E b d . , S. 87. 29 E b d . , S. 87. 30 K. Hildebrand bezieht diesen Standpunkt f u r eine »Geschichte der internationalen Beziehungen«, Geschichte oder Gesellschaftsgeschichte?, in: H Z , Bd. 223, S. 328-357. 31 D a r a u f verweist O . Brunner, Das Fach »Geschichte« u n d die historischen Wissenschaften, in: ders., N e u e Wege der Sozial- u n d Verfassungsgeschichte, G ö t t i n g e n 1968 2 , S. 19 hin. So etwa bei der G r ü n d u n g der »Historischen Schule der N a t i o n a l ö k o n o m i e « (W. Roscher, D . Hildebrand, K. Knies). 32 Dazu Oestreich, Fachhistorie. 33 J. Kocka, in: ders., (Hg.), T h e o r i e n in der Praxis des Historikers, in: G G , S o n d e r heft 3, 1977, S. 82. 34 O . Brunner, Das P r o b l e m einer europäischen Sozialgeschichte, in: ders., Wege, S. 7 32. 35 K. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte?, in: ders., A u s g e w ä h l t e Schriften, hg. v o n H . S c h ö n e m a n n , Aalen 1974. Die materialistische Geschichtsschreibung v o r n e h m l i c h der A u s tromarxisten ( H a r t m a n n , G r ü n b e r g , Bauer, Szanto) k o n n t e hierbei n u r gelegentlich E i n fluß auf die Geschichtswissenschaft ausüben. 37 Z u r Strukturgeschichte vgl. allgemein: D. Groh, Strukturgeschichte als >totale G e schichteerweisenGeschichteextensiv/transitiv< (C. D . Broad, J. E. M c T a g g a r t ) ; >dimensional/ekstatisch< (M. Heidegger). 11 Hierzu P. Mittelstaedt, D e r Zeitbegriff in der Physik, Berlin 1976. 12 A. Momigliano, T i m e in Ancient History, in: H T , Beiheft 6, 1966, S. 1-23; R. Wendorff, Zeit u n d K u l t u r . Geschichte des Zeitbewußtseins in E u r o p a , O p l a d e n 1980, Kap. 5. 13 Vgl. C. Bresch, Z w i s c h e n s t u f e Leben. E v o l u t i o n o h n e Z i e l ? , F r a n k f u r t 1 9 8 1 ; H . K.Erben, Die E n t w i c k l u n g der Lebewesen. Spielregeln der Evolution, M ü n c h e n 1976. 14 Dazu Mittelstaedt. 15 Dazu Weizsäcker, Geschichte; St. Weinberg, Die ersten drei M i n u t e n . D e r U r s p r u n g des U n i v e r s u m s , M ü n c h e n 1980. 16 Droysen, H ü b n e r , S. 12, 29, 346; ders., Texte zur Geschichtstheorie, hg. v o n C . Britsch u. J. Rüsen, G ö t t i n g e n 1972, S. 17. 17 J. W. Goethe, Z u r Geschichte, in: K. Roßmann (Hg.), Deutsche Geschichtsphilosophie v o n Lessing bis Jaspers, B r e m e n 1959, S. 112, zitiert bei .A. Demant, M e t a p h e r n f ü r Geschichte, M ü n c h e n 1978, S. 252. 18 Fr. Schlegel, Philosophische Vorlesungen, in: Kritische Ausgabe, hg. v o n E. Behler u. a., F r a n k f u r t 1 9 5 9 f f , S. 283.
178
Anmerkungen
zu S. 31—35
19 J. G. Fichte, S ä m m t l i c h e Werke, Bd. VII, Berlin 1845/46, S. 12. 20 Vgl. dazu K. Löwith, Weltgeschichte u n d Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1973 6 , ders., Nietzsches Philosophie der e w i g e n W i e d e r k u n f t des Gleichen, Berlin 1935. 21 K.Jaspers, V o m U r s p r u n g u n d Ziel der Geschichte, M ü n c h e n 1983®, S. 332. 22 J. Burckhardt, Historische Fragmente, hg. v o n E. D ü r r , Stuttgart 1957, S. 197 f. 23 M. Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, hg. v o n j . W i n c k e l m a n n , Stuttgart 1968 4 , S. 227, 262; zu diesen u n d weiteren Verweisen auf die verschiedenen Arten des G e schichtsverständnisses siehe Demandt. 24 So auch bereits im Griechischen: »praxis«, »pragmata«, »ta genomena« etc. 25 Das Wort >Geschichte< trägt daher ursprünglich n u r die plurale B e d e u t u n g einer Reihe von Begebenheiten, Z u s t ä n d e n b z w . die singulare B e d e u t u n g einer einzelnen Begebenheit, »das geschieht«; k a u m aber findet sich der m o d e r n e , uns geläufige Kollektivsingular der »Geschichte an sich«; vgl. dazu Hennig, S. 517, Koselleck, Geschichte, S. 651. 26 Z u den Sprachbildern der >aktiven< Geschichte vgl. Demandt, Kap. V. 27 Siehe beispielsweise G . Vicos Grundsatz, daß »diese geschichtliche Welt ganz gewiß v o n den M e n s c h e n g e m a c h t w o r d e n ist . . .«, Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen N a t u r der Völker (1744), hg. v o n E. Auerbach, Berlin 1924, S. 125 u n d K. Marxens A u s s p r u c h , daß die Geschichte ». . . nichts ist, als die Tätigkeit des seine Z w e c k e verfolgenden Menschen«, in: M E W , Bd. 2, S. 98. 28 Ζ . B. »anaseiht« (Ereignis), »misseseiht« (Mißgeschick), »niusseiht« (Verhängnis), N a c h w e i s e bei Hennig, S. 511. 29 O . Marquard, Abschied v o m Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 68. 30 Vgl. dazu H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauern, F r a n k f u r t 1979. 31 So H. G . Gadamer, Wahrheit u n d M e t h o d e , T ü b i n g e n 1972, S. 261. 32 Rupp u. Köhler, S. 629. 33 Siehe dazu Kosellecks Analyse des Zufallsbegriffs, in: ders., Z u k u n f t , S. 158f. 34 siehe Teil II, A n m . 25. 35 Koselleck, Historie, S. 23. 36 Z u Beispielen dieses älteren Geschichtsverständnisses siehe Koselleck, Geschichte, S. 648 f. 37 Koselleck, Historie, S. 23, ders., Geschichte, S. 652; L. Lübbe, Art. »Geschichten«, in: H W b P h , Bd. 2, S. 403/404. 38 Droysen, H ü b n e r , S. 354. 39 Koselleck, Historie, S. 23. 40 IV. v. Humboldt, Ü b e r die A u f g a b e des Geschichtsschreibers (1821), in: Werke, hg. v o n A. Flitner, Bd. I, D a r m s t a d t 1960, S. 590. 41 Das griechische Wort »istorein« e n t s t a m m t d e m Bereich der Rechtssprechung u n d meint, durch eigenes Sehen u n d H ö r e n bezeugen k ö n n e n ; »istor« ist der Augenzeuge. Im P r o e m i u m seiner »Bücher der Geschichte« meint H e r o d o t (700-647 v. C h r . ) mit d e m A u s d r u c k »istoriäs apodeixis« die D a r l e g u n g seiner E r f o r s c h u n g e n dessen, was wirklich geschehen ist. Vgl. dazu K. Deichgräber, Das griechische Geschichtsbild in seiner E n t w i c k l u n g zur wissenschaftlichen Historiographie, in: ders., D e r listensinnende T r u g Gottes. Vier T h e m e n des griechischen Denkens, G ö t t i n g e n 1951, S. 19fT. 42 43 44 45 46 47 48
Rupp u. Köhler, S. 633; Hennig, S.514. Siehe o b e n S. 13. Koselleck, Geschichte, S. 653-658. Dieser u n d weitere Belege bei Hennig, S. 515; Koselleck, Geschichte, A n m . 310. Droysen, H ü b n e r , S. 325. D a z u Heitmann; Koselleck, Historia, S. 204. Heitmann, S. 252 f.
179
Anmerkungen
zu S. 36—41
49 Siehe A n m . 41. 50 Dazu Art. »Theoria«, in: P R E , S. 2228-2233;J. Ritter, Die Lehre v o m U r s p r u n g u n d Sinn der T h e o r i e bei Aristoteles, in: ders., M e t h a p h y s i k u n d Politik, F r a n k f u r t 1969, S. 9 - 3 3 . 51 So Aristoteles, M e t a p h y s i k , Buch 1,2, 983a 5f. 52 Seit W. Nestle, V o m M y t h o s z u m Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen D e n k e n s v o n H o m e r bis auf die Sophistik u n d Sokrates, Stuttgart 1940; E. Topitsch, V o m U r s p r u n g u n d E n d e der M e t h a p h y s i k , M ü n c h e n 1958. 53 Die Suche nach solchen abstrakten O r d n u n g s p r i n z i p i e n kann dabei auch den p r o b l e m a t i schen Weg einer A r t geistigen Wesenschau einschlagen, wobei m a n das Wesen einer Sache in ihren n o t w e n d i g e n M e r k m a l e n u n d daher in ihrem Begriff zu finden glaubt. Das angebliche Wesen einer Sache ergibt sich also aus d e m defmitorischen Gebrauch der Sprache, anstatt über die Realität zu informieren. 54 Aristoteles, Poetik 1451 b 1 - 3 ; dazu K. v. Fritz, Die B e d e u t u n g des Aristoteles für die Geschichtsschreibung, Genf 1954; R. Zoepffel, Historia u n d Geschichte bei Aristoteles, Heidelberg 1975. 55 Aristoteles, Poetik 1459 a 21-29. 56 E b d . , 1450 b 26. 57 E b d . , 1451 a 25-30. 58 E b d . , 1450 b 32-34. 59 E b d . , 1451 a 3 3 f . 60 E b d . , 1451 b 8 - 1 1 . 61 Z u r Aktualität dieses Modells siehe E. Tugendhat, E i n f u h r u n g in die sprachanalytische Philosophie, F r a n k f u r t 1976, S. 26 ff. 62 »Das Allgemeine (katholou)«, so heißt es in der Poetik, »besteht in den charakteristischen Reden u n d H a n d l u n g e n , die einem b e s t i m m t e n M e n s c h e n t y p wahrscheinlicher oder n o t w e n diger Weise z u k o m m e n ; . . . das Einzelne (to kath ekaston) aber ist (all) das, was Alkibiades tat oder erlitt« (1451 b 8-11). 63 Obgleich nach d e m m o d e r n e n Konzept v o n Wissenschaft als Forschungsprozeß dieses statische Verständnis v o n T h e o r i e weitgehend zugunsten eines d y n a m i s c h e n aufgegeben w u r de, in d e m auch alle theoretischen Erkenntnisse letzlich n u r hypothetische Gültigkeit besitzen, findet sich der G e d a n k e des zeitlichen invarianten Charakters v o n T h e o r i e in der a b g e s c h w ä c h ten F o r m des w e i t g e h e n d resistenten, sogenannten »Strukturkerns« wieder. Z u diesem »strukturalistischen Theoriemodell« vgl. W. Stegmüller, N e u e Wege der Wissenschaftsphilosophie, Berlin 1980, Kap. IV. 64 Aristoteles, Metaphysik, B u c h I, 981 a 28-30. 65 Droysen, H ü b n e r , §§ 8, 14; W. Dilthey, Texte zur Kritik der historischen V e r n u n f t , hg. v o n H . U . Lessing, Göttingen 1983, bes. Kap. V. 66 Aristoteles, M e t a p h y s i k , B u c h VI, 1027 a 20-23. 67 Vollmer, S. 181. 68 Aristoteles, N i k o m a c h i s c h e Ethik, Buch VI. 69 Droysen, H ü b n e r , S. 411 f. 70 Ritter, P r o b l e m e , S. 365. 71 Mit dieser F o r m u l i e r u n g folge ich J. Galtungs Darstellung der klassischen T h e o r i e k o n struktion, in: ders., M e t h o d o l o g i e u n d Ideologie, F r a n k f u r t 1978, S. 411 f. 72 L . v. Ranke, Z u r Geschichte Deutschlands u n d Frankreichs i m 19. J a h r h u n d e r t , S ä m m t liche Werke, Bd. 49, S. 7. 73 Burckhardt, Betrachtungen, Einleitung. 74 Aristoteles, M e t h a p h y s i k , B u c h VI, 1027 a 22 u n d oben S. 37 f. 75 Koselleck, Historia, S. 197. 76 Lübbe, Geschichtsbegriff, S. 242. 77 igogine u. Stengers, Dialog, S. 67.
180
Anmerkungen
zu S.
42-44
78 Siehe oben Abs. 3.2. 79 In den Einleitungssätzen v o n »De partibus animalium« weist Aristoteles d a r a u f h i n , daß die Beschreibung u n d Klassifikation der Lebewesen g e m ä ß ihren O r g a n e n u n d Verhaltensweisen in »den Historien ü b e r die Lebewesen« genauer behandelt w o r d e n seien, w ä h r e n d es n u n m e h r Gegenstand einer »von der Historie abgetrennten« A b h a n d l u n g sei, »aus welchen U r s a c h e n sich jedes (Lebewesen) auf die beschiebene Weise verhält«, zu untersuchen (PA 2,1, 646 a 8-12). Die naturkundliche Historie beschränkt sich also auf das S a m m e l n u n d O r d n e n von Beobachtungsmaterial, überschreitet daher nicht den Bereich des Tatsachenwissens (to hoti) auf eine E r f o r s c h u n g der U r s a c h e n (to dioti) hin. Vgl. dazu ausführlich Zoepffel. 80 Vgl. auch den begriffsgeschichtlichen E x k u r s bei F. Kambartel, >EmpirieHistorie< u n d >Philosophie< - zwei begriffsgeschichtliche E x k u r s e i m A u s g a n g v o n Aristoteles, in: ders., E r f a h r u n g u n d Struktur. Bausteine zu einer Kritik des E m p i r i s m u s , F r a n k f u r t 1967, S. 50-86. 81 Bestand die Tätigkeit des Historikers darin, Tatsachen zu berichten, Fakten zu beschreiben u n d Ereignisse zu erzählen, so k o n n t e es ein solches Tatsachenwissen ü b e r alle Realitätsbereiche geben, g e m ä ß einem schulphilosophischen Einteilungssystem also ü b e r den ü b e r n a türlichen, den natürlichen u n d den menschlichen Bereich. In der G a t t u n g der Heilsgeschichte (historia divina) w a r d e m g e m ä ß d e m Historiker das Geschäft der Sicherung des wörtlichen Schriftsinnes u n d das der Z u s a m m e n s t e l l u n g kirchenväterlicher Lehrsätze überlassen; das Erarbeitete k o n n t e dann in dogmatisch-konfessionelle K o n t e x t e treten. In der G a t t u n g der N a t u r g e s c h i c h t e (historia naturalis) sodann w a r i h m die Beschreibung u n d Klassifizierung v o n botanischem, zoologischem, medizinischem, a s t r o n o m i s c h e m etc. B e o b a c h t u n g s m a t e rial anvertraut, das als Induktionsbasis f ü r naturphilosophische Spekulationen dienen k o n n t e . In der G a t t u n g der Menschengeschichte (historia h u m a n a , h. civilis) schließlich w a r i h m aufgetragen, e r i n n e r u n g s w e r t e Taten u n d Ereignisse chronologisch aufzuzeichnen, die der M o r a l p h i l o s o p h i e u n d R h e t o r i k die belehrenden »exempla« erschlossen. D e r J u r i s p r u d e n z aber gewährleistete die Geschichte die Verifizierbarkeit historisch b e g r ü n d e t e r R e c h t s a n s p r ü che (»mos gallicus«). Vgl. dazu u. a. F. v. Bezold, Z u r Entstehungsgeschichte der historischen M e t h o d i k , in: ders., A u s Mittelalter u n d Renaissance. Kurlturgeschichtliche Studien, M ü n chen 1918; K. Deichgräber, Die griechische Empirikerschule. S a m m l u n g der F r a g m e n t e u n d Darstellung der Lehre, Berlin 1930; A. Momigliano Ancient H i s t o r y and the Antiquarian, in: J o u r n a l of the W a r b u r g and C o u r t a u l d Institutes, Bd. 13, 1950, S. 285-315; A. Seifert, C o g n i tio historica. D i e Geschichte als N a m e n s g e b e r i n der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976; Wagner, Anfänge. 82 Die E n t t ä u s c h u n g über die konfessionell oder politisch verzerrte Geschichtsschreibung u n d die B e w u n d e r u n g für die exakten N a t u r w i s s e n s c h a f t e n f ü h r t e seit der M i t t e des 17. J a h r hunderts z u m »historischen P y r r o n i s m u s « . Dieser übertraf d u r c h A n w e n d u n g des cartesianischen u n d spinozistischen Methodenideals auf die Historie n o c h deren aristotelische G e r i n g schätzung. N a c h La M o t h e le Vayer's Schrift »Du peu de certitude qu'il y a dans l'histoire« (1668) k ü n d i g t e sich m i t R. Simons »Histoire critique d u vieux testament« (1678), J. Eisenhardts »De fide historia commentarius« (1679), J. Mabillions »De re diplomatica« (1681), P. Balye »Dictionaire historique et critique« (1695/97), Fr. W . Bierlings »De P y r r o h n i s m o historico« (1707) u n d nicht zuletzt mit Leibniz (1646-1716) die U b e r w i n d u n g dieses Skeptizism u s ' in vielen historischen Disziplinen an. Vgl. dazu die H i n w e i s e in G . Scholz, Art. »Geschichte«, in: H W b P h , Bd. II, S. 355 ff. u n d bes. Scheele. 83 84 85 86 87 88 89
Momigliano, H i s t o r y . Koselleck, Geschichte, S. 653. Vico, S. 79. E b d . , S. 49, 139. E b d . , S. 125. E b d . , S. 134, 424/25. E b d . , S. 134.
181
Anmerkungen
zu S.
44-51
90 Siehe dazu W. Lepenies, Das E n d e der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. u n d 19. Jahrhunderts, F r a n k f u r t 1978. 91 I. Kant, Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775), A k a d e m i e A u s g a b e (AA), Bd. II, S. 434; Ü b e r den G e b r a u c h teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1786), A A , Bd. VIII, S. 161 f. »Allein n u r der Z u s a m m e n h a n g gewisser jetziger Beschaffenheiten der N a t u r d i n g e mit ihren Ursachen in der älteren Zeit nach Wirkungsgesetzen, die w i r . . . aus den K r ä f t e n der N a t u r , wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, n u r bloß so weit z u r ü c k v e r folgen, als es die Analogie erlaubt, das wäre Naturgeschichte«, A A , Bd. II, S. 434. 92 Koselleck, Geschichte, S. 681. 93 Schon i m Titel seiner A b h a n d l u n g »Allgemeine Naturgeschichte und T h e o r i e des H i m mels. . .« (1755) deutete Kant den systematischen Z u s a m m e n h a n g v o n Geschichte u n d T h e o rie an. Vgl. dazu M. Riedel, Historie oder Geschichte? Sprachkritik u n d Begriffsbildung in Kants T h e o r i e der historischen Erkenntnis, in: J. Mittelstraß u. M. Riedel (Hg.), Vernünftiges D e n k e n . FS für W . Kamiah, Berlin 1978, bes. S. 264f. 94 Siehe oben S. 16. 95 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I: D i e Vern u n f t in der Geschichte, hg. v o n j . H o f f m e i s t e r , H a m b u r g 1970, S. 15. 96 E b d . , S. 20. 97 E b d . , S. 25. 98 E b d . , S. 29. 99 E b d . , S. 28. 100 E b d . , S. 29. 101 E b d . , S. 25. 102 E b d . , S. 32. 103 E b d . , S. 63. 104 Ich lehne mich hier an die p r ä g n a n t e Z u s a m m e n f a s s u n g v o n H. Schnädelbach, G e schichtsphilosophie nach Hegel. Die P r o b l e m e des Historismus, Freiburg 1974, Einleitung an. 105 K. Heussi, Die Krise des Historismus, T ü b i n g e n 1932. 106 Schnädelbach, Geschichtsphilosophie, S. 21 u n d ders., Philosophie in Deutschland 1831-1933, F r a n k f u r t 1983, S. 52. 107 Droysen, H ü b n e r , S. 409/410. 108 E b d . , § 15 u n d S. 13. 109 E b d . , S. 192.
III.
Der Theoriebegriff, die Herkunft und Verwendungsweise von Theorien in der Geschichtswissenschaft
1 Siehe unten Teil IV, Abs. I u n d 2 . 2 Siehe unten S. 54. 3 Siehe K. Popper, Logik der Forschung, T ü b i n g e n 1982 7 , Kap. IV, X I V (Anhang). 4 Dazu z u s a m m e n f a s s e n d W. Stegmüller, T h e o r i e n s t r u k t u r u n d T h e o r i e n d y n a m i k , Berlin 1973; ders., Wege. 5 M. Mitterauer u. R. Sieder, V o m Patriarchat zur Partnerschaft. Z u m S t r u k t u r w a n d e l der Familie, M ü n c h e n 1977, S. 92. 6 F. F. Mendels, Proto-industrialization: T h e first phase of the industrialization process, in: J E H , Bd. 32, S. 241-261. 7 Vgl. etwa R. Brand, E i g e n t u m s t h e o r i e n v o n Grotius bis Kant, Stuttgart 1974; R. Schlatter, Privat P r o p e r t y . T h e H i s t o r y of an Idea, L o n d o n 1951. 8 R. Carnap, D e r logische A u f b a u der Welt, H a m b u r g 1966 3 ; ders., O. Hahn u. O . Neurath
182
Anmerkungen
zu S. 51—59
(Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung: D e r Wiener Kreis, Wien 1929; V. Kraft, D e r Wiener Kreis, W i e n l 9 6 8 2 . 9 H. F. Spinner, Art. »Theorie«, in: H P h G , Bd. 5, S. 1486-1514. 10 Vgl. dazu U. Muhlack, Theorie oder Praxis der Geschichtsschreibung, in: R. Koselleck u . a . (Hg.), F o r m e n der Geschichtsschreibung ( = T h e o r i e der Geschichte, Bd. 4), M ü n c h e n 1982, S. 607-620. 11 V g l . J . Kockau. Th. Nipperdey, Theorie, S. 9; Kocka, Theorien, S. 10. 12 Siehe Stegmüller, T h e o r i e n s t r u k t u r e n ; ders., Wege. 13 Ein Beispiel für die Aussagekraft dieses T h e o r i e n m o d e l l s auch f u r die K u l t u r w i s s e n schaften k ö n n t e etwa K. M a r x ' Kapitalismusanalyse bilden, in der die werttheoretische B e s t i m m u n g des Verhältnisses v o n Lohnarbeit u n d Kapital ein Fundamentalgesetz ausmacht (Kapital I, Kap. 5, in: M E W , Bd. 23, S. 192ff.); die intendierte A n w e n d u n g die »kapitalistische Produktionsweise« w ä r e (ebd., S. 184; Grundrisse, S. 396ff, 403 F u ß n o t e u. a.); w ä h r e n d schließlich die A n n a h m e , daß der »Produktionsprozeß . . . als die G r u n d l a g e der ganzen Geschichte anzusehen . . . ist« als g r u n d l e g e n d e N e b e n b e d i n g u n g auftritt ( M E W , Bd. 3, S. 37/38). 14 Siehe o b e n S. 13, 34. 15 Burckhard, S. 2. 16 Vgl. dazu Nadel; W. Oelmüller u. a., Diskurs: Geschichte, P a d e r b o r n 1980; H. G. Gadamer, Art. »Geschichtsphilosophie«, in: H W b . f . T h e o l o g i e u n d Religionswissenschaft, S. 1488-1498; R. G. Collingwood, T h e Idea of H i s t o r y , O x f o r d 1946. 17 Vgl. dazu H. Fain, B e t w e e n Philosophy and H i s t o r y . T h e Resurection of Speculative Philosophy of H i s t o r y within the Analytic Tradition, Princeton 1970; W. H. Walsh, A n Introduction to Philosophy of History, L o n d o n 1977 10 ; Danto, Philosophie; P. Gardiner (Hg.), P h i l o s o p h y of H i s t o r y , O x f o r d 1974; J. Topolski, M e t h o d o l o g y of History, D o d r e c h t 1976; H. Meyerhoff (Hg.), T h e Philosophy of H i s t o r y in o u r T i m e : A n A n t h o l o g y , Garden C i t y 1959; A. Donogan, Philosophy of History, New York 1965; K. F. Faber, T h e o r i e der Geschichtswissenschaft, M ü n c h e n 1971; Κ. Acham. Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische E i n f ü h r u n g , Freiburg 1974. 18 Dazu K. O. Apel, Transcendental Semiotics and the P a r a d i g m s of First Philosophy, in: Philosophic Exchange, Bd. 2/4, 1978. 19 Danto, Philosophie, S. 11; Acham, Geschichtsphilosophie. 20 Schnädelbach, Geschichtsphilosophie, S. 15; Κ. Weyand, Kants Geschichtsphilosophie. Ihre E n t w i c k l u n g u n d ihr Verhältnis zur A u f k l ä r u n g , in: Kant-Studien, E r g ä n z u n g s h e f t 85, 1963. 21 Allerdings ist im Gegensatz zur philosophischen Ü b e r z e u g u n g die U n t e r s c h e i d u n g u n d nachfolgende A b l e h n u n g v o n Geschichtsphilosophie i m traditionellen Sinne unter H i s t o r i kern keineswegs allgemein akzeptiert. Vgl. R. Wittram, Z u k u n f t in der Geschichte, G ö t t i n g e n 1966; ders., Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1968. 22 Z u r Geschichte des Begriffs >Konstitution< siehe W. Hogrebe, Art. »Konstitution«, in: H W b P h , Bd. III, S. 992-1004. 23 Wenngleich Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften keine transzendentale Konstitutionstheorie der Historie vorgelegt hat, so ließe sich doch in A n l e h n u n g an »Kritik der reinen Vernunft«, Β 25 diese Definition aufstellen. 24 Η. M. Baumgartner, Thesen zur G r u n d l e g u n g einer transzendentalen Historik, in: ders., u. Rüsen, S. 278. 25 P r o m i n e n t e Vertreter der geschichtswissenschaftlichen Sprachanalyse sind: Danto, P h i losophie; W. B. Gallie, T h e Historical U n d e r s t a n d i n g , in: H T , Bd. 3, 1964, S. 149-202; M. C. White, T h e Logic of Historical N a r r a t i o n , in: S. Hook (Hg.), Philosophy and H i s t o r y : Α S y m p o s i o n , N e w Y o r k 1963, S. 3-31. 26 Besonders Danto, Philosophie, Kap. VIII.
183
Anmerkungen zu S. 59—65 27 Baumgartner, Thesen, S. 279; Zur Position von Erzählung als Konstitution siehe unten S. 160 ff. 28 Zur phänomenologischen Geschichts- und Sozialphilosophie vgl. sekundär: A. Schöpf, Su&jektivität und Sozietät. Zum sozialphilosophischen Ansatz bei Fichte, Hegel und Husserl, Habil. München 1973; H. Hohl, Lebenswelt und Geschichte, Stuttgart 1962; E. Fink, Welt und Geschichte, Freiburg 1959; L. Landgrehe, Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, in: B. Waidenfels u. a. (Hg.), Phänomenologie und Marxismus, Bd. 2, Frankfurt 1977, S. 13-58; P.Janssen, Geschichte und Lebenswelt, Den Haag 1970. 29 Vgl. G. Bauer, Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963; L. v. Renthe-Fink, Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und York, Göttingen 1964. 30 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 221 fl dazu St. G. French, Kant's constitutiveregulative distinction, in: The Monist, Bd. 51, 1967, S. 623-639. 31 Siehe zu den historischen Metaphern der Kreisbewegung Demandt, Kap. IV,3. 32 Ebd., S. 242. 33 Vgl. M. Landmann, Kreis und Pfeil. Die zwei Quellen der Geschichtsphilosophie, in: ders., Ursprungsbild und Schöpfertat, München 1966, S. 223-241; R. Spaemannu. R. Low, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981. 34 Siehe oben S. 29 f. 35 Vgl. Löwith, Weltgeschichte; A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960; Marquard, Schwierigkeiten. 36 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1965 4 ; E. Schulin, Der Einfluß der Romantik auf die deutsche Geschichtsforschung, in: G W U , Bd. 13, 1962, S. 404-423; R. Stadelmann, Die Romantik und die Geschichte, in: Th. Steinbüchel (Hg.), Romantik, Tübingen 1948, S. 153-175; E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, N D Aalen 1961. 37 Siehe oben S. 47 und unten S. 101 f.; 130f. 38 Dazu W. Wieland, Art. »Evolution«, in: Brunneru. a., Grundbegriffe, Bd. II, S. 199-228. 39 Siehe unten S. 117. 40 Dazu C. Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: K. C. Faber u. C. Meier (Hg.), Historische Prozesse ( = Theorie der Geschichte, Bd. 2), München 1978, S. 11-66; N. Luhmann, Geschichte als Prozeß und die Theorie soziokultureller Evolution, in: Faber u. Meier, S. 413-440; und unten S. 117. 41 Lübbe, Geschichtsbegriff, S. 14, 39. 42 Dazu G. Dux, Die Logik der Weltbilder, Frankfurt 1982. 43 Dazu K. Eder, Zur Rationalisierungsproblematik des modernen Rechts, in: Soziale Welt, Bd. 29, 1978; J. Habermas, Evolutionärer Stellenwert des modernen Rechts, in: ders., Rekonstruktion, S. 260 f. 44 K. Hausen u. R. Rürup (Hg.), Moderne Technikgeschichte, Köln 1975; U. Troitzschu. G. Wohlauf (Hg.), Technikgeschichte - Historische Beiträge und neuere Ansätze, Frankfurt 1980; F. Rapp u. a., Determinanten der technischen Entwicklung, Berlin 1980. 45 J. Habermas, Geschichte und Evolution, in: ders., Rekonstruktion, S. 200-259. 46 Dazu ikesch; Erben. 47 Grundlegend: A. Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971; ders., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt 1974; P. L. Berger u. Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1969. 48 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, 2 Bde., Reinbek 1973. In neuerer Zeit ist der Alltag auch Thema einer materialistischen Soziologie und Sozialphilosophie geworden, vgl. J. Habermas, Arbeit und Interaktion, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt 1973; H. Lefebvre, Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt 1972; A. Heller, Alltag und Geschichte, Neuwied 1970. 184
Anmerkungen
zu S. 65—71
49 Borscheid, S. 6. 50 Siehe o b e n S. 23 f. 51 Z u r T h e s e von der Einheit der Wissenschaften unter naturwissenschaftlicher O b e r h e r r schaft siehe G . Radnitzky, C o n t e m p o r a r y Schools of Metasciences, C h i c a g o 1973, Kap. IV, Β 2b. 52 Siehe u n t e n S. 115. 53 Vgl. e t w a A. Hillgruber, D e r zweite Weltkrieg. Kriegsziele u n d Strategien der g r o ß e n Mächte, Stuttgart 1982; Η. P. Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1956, Wiesbaden 1982. 54 Mann, Plädoyer, S. 53. 55 Spinner, Theorie, S. 1492. 56 Siehe oben S. 52f. 57 Koselleck, Ü b e r die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: W. Conze (Hg.), T h e o r i e der Geschichtswissenschaft u n d Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10-28; J. Kocka, Angemessenheitskriterien historischer A r g u m e n t e , in: R. Koselleck, W.J. Mommsen, J. Rüsen (Hg.), Objektivität u n d Parteilichkeit ( = T h e o r i e der Geschichte, Bd. 1), M ü n c h e n 1977, S. 469-476. 58 H. Schnädelbach, Z u m T h e o r i e n g e b r a u c h in den Geschichtswissenschaften, in: Kocka u. Nipperdey, Theorie, S. 225. 59 K. Kluxen, Geschichte u n d Problematik des Parlamentarismus, F r a n k f u r t 1983. 60 E b d . , S. 8, 145. 61 E b d . , Vorspann. 62 E b d . , Vorspann. 63 E b d . , S. 175-196. 64 E b d . , S. 13. 65 E b d . , S. 279. 66 J. Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918, G ö t t i n g e n 1973, S. 3. 67 E b d . , S. 4. 68 E b d . , S. 4. 69 E b d . , S. 4. 70 E b d . , S. 5. 71 E b d . , S. 6. 72 E b d . , S. 6. 73 E b d . , S. 138. 74 E b d . , S. 140. 75 H. U. Wehler, Bismarck u n d der Imperialismus, M ü n c h e n 1976 4 , S. 15. 76 Kocka, Klassengesellschaft, S. 139. 77 Habermas, R e k o n s t r u k t i o n , S. 42. 78 Vgl. dazu E. Schulin, Geistesgeschichte, Intellectual H i s t o r y u n d Histoire des Mentalites seit der J a h r h u n d e r t w e n d e , in: ders., Traditionskritik u n d Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979, S. 144—162; R. Reichardt, »Histoire des mentalites«. Eine neue D i m e n s i o n der Sozialgeschichte a m Beispiel des französischen Ancien Regime, in: Int. Archiv f. Sozialgeschichte d. deutschen Literatur, Bd. 3, 1978, S. 131-166; G. Teilenbach, »Mentalität«, in: E. Hassinger (Hg.), G e s c h i c h t e - W i r t s c h a f t - G e s e l l s c h a f t , FS f. C . Bauer, Berlin 1974, S. 11-30; K. Lenk, Art. »Mentalität«, in: W d S , S. 689-691; N. Elias, Ü b e r den Prozeß der Zivilisation, F r a n k f u r t 1978 s ; Ρ. Η. Hutton, T h e H i s t o r y of Mentalities. T h e N e w M a p of Cultural H i s t o r y , in: H T , H e f t 3, 1981, S. 237-259. 79 Vgl dazu Μ. Deutsch u. R. M. Kraus, T h e o r i e n der Sozialpsychologie, F r a n k f u r t 1976; M. Rose (Hg.), Behavior and Social Proceses. A n Interactionist A p p r o a c h , C h i c a g o 1972; Α. V. Cicourel, C o g n i t i v e Sociology, H a r m o n d s w o r t h 1973; Μ. Auu/ärter u. a. (Hg.), Seminar: K o m m u n i k a t i o n , Interaktion, Identität, F r a n k f u r t 1976; Bielefelder Soziologen, Alltagswissen.
185
Anmerkungen
zu S. 71
80 Vgl. dazu S. Freuds kulturspychologische Schriften; ferner Β. B. Wolman (Hg.), T h e Pychoanalytic Interpretation of H i s t o r y , N e w Y o r k 1971; J. Barzun, Clio and the D o c t o r s . P s y c h o - H i s t o r y , Q u a n t o - H i s t o r y , and History, C h i c a g o 1974; R. Mazlish, Psychoanalysis and H i s t o r y , N e w Y o r k 1971; H. U. Wehler (Hg.), Geschichte u n d Psychoanalyse, Köln 1974. 81 Mitterauer u. Sieder, Patriarchat; G. Lenski, M a c h t u n d Privileg. Eine T h e o r i e der sozialen Schichtung, F r a n k f u r t 1977; B. Moore, Soziale U r s p r ü n g e v o n D i k t a t u r u n d D e m o k r a t i e , Frankfurt 1974; M. Bloch, Die Feudalgesellschaft, F r a n k f u r t 1982; G . Duby, Die drei O r d n u n g e n . Das Weltbild des Feudalismus, F r a n k f u r t 1981; Reichardt, Histoire. 82 Vgl. dazu Η. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden u n d das Leiden an der Gesellschaft, M ü n c h e n 1968; L. Krappmann, Soziologische D i m e n s i o n der Identität, Stuttgart 1972; H.Joas, Die g e g e n w ä r t i g e Lage der soziologischen Rollentheorie, F r a n k f u r t 1975; Κ. M. Bolte, Vertikale Mobilität, in: R. König (Hg.), H b . d. e m p . Sozialforschung, Bd. 2, Stuttgart 1969; M. Tumin, Schichtung u n d Mobilität, M ü n c h e n 1969. 83 Dazu Hillgruber, Geschichte; den., Deutsche Geschichte 1945-1975, F r a n k f u r t 1980; J. Julliard, La Politique, in: J. Le Goff u. P. Nora (Hg.), Faire de l'histoire, Bd. 2, Paris 1974, S. 229-250; H . U. Wehler, M o d e r n e Politikgeschichte oder >große Politik der Kabinette