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German Pages 164 Year 2014
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen
Edition Kulturwissenschaft | Band 6
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.)
Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 Performance, Performanz, Performativität Einige Unterscheidungen zur Aus differenzierung eines Theoriefeldes Klaus W. Hempfer | 13
Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus linguistischer Perspektive Ekkehard König | 43
Text und Performativität Bernd Häsner, Henning S. Hufnagel, Irmgard Maassen, Anita Traninger | 69
Zum Zusammenspiel von Medialität und Performativität Oder: Warum noch Hoffnung für das Theater besteht Torsten Jost | 97
Performativität und Wissen(schaft)sgeschichte Viktoria Tkaczyk | 115
Zur Performativität des Sozialen Jörg Volbers | 141
Autorinnen und Autoren | 161
Vorwort
Die Stichwörter des ›Performativen‹ und der ›Performanz‹ sind in den beiden letzten Jahrzehnten in zahlreichen Disziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften zu Schlüsselbegriffen avanciert. Im Resultat zeigen diese Begriffe, wie auch immer wieder beklagt wurde, aus heutiger Perspektive Anzeichen einer konzeptionellen ›Überdehnung‹. Ein kurzer Blick auf die Geschichte verdeutlicht die Dynamik dieser schnellen Verbreitung: Von Austin als Neologismus geprägt, bezog sich ›performativ‹ zunächst nur auf einen bestimmten Typus von Äußerungen, die im Vollzug einer sprachlichen Handlung das konstituieren, was sie sprachlich äußern (›ich verspreche dir zu kommen‹). Die hieraus abgeleitete Grundidee einer ›performativen‹ Konstitution von Wirklichkeit wurde dann über die Sprache hinaus auf sinnhafte Kulturphänomene aller Art übertragen. In Verbindung mit Konzepten aus anderen Theoriebildungen wie dem Performanzkonzept der Sprachwissenschaft und dem theaterwissenschaftlichen Konzept der performance (›Aufführung‹) rückte so als gemeinsamer Bezugspunkt die irreduzible Prozesshaftigkeit kultureller Phänomene in den Fokus. Eine Fülle von Publikationen erkundete die Konsequenzen dieser Perspektive und füllte die Buchregale mit Studien zur ›Performanz‹ und ›Performativität‹ so unterschiedlicher Felder wie des Rituals, des Theaters, des Geschlechts, des Textes, der Lektüre und der Sprache. So entstand die Rede von einem performative turn, der eine (weitere) neue, grundsätzliche Umorientierung der Kulturwissenschaften einschließlich der Geisteswissenschaften im engeren Sinne versprach. Die breite Diskussion um ›das Performative‹ hat nun einen Punkt erreicht, der eine Zwischenbilanz möglich und auch erforderlich macht. Die in diesem Band versammelten Beiträge versuchen, nach mehr als zwanzig Jahren Performativitätsforschung die potenziellen
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Gewinne und auch die Risiken auszuloten, die sich aus der Orientierung am Begriff des Performativen ergeben haben. Dabei soll erst gar nicht der Anschein erweckt werden, es ließe sich eine umfassende, alle Disziplinen abdeckende Metatheorie ›des‹ Performativen entwickeln. Die Beiträge erkunden das Thema der Performativität vielmehr am konkreten Material, wie es sich aus der jeweiligen Perspektive so unterschiedlicher Disziplinen wie der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Wissenschaftsforschung, der Theaterwissenschaft und der Sozialphilosophie präsentiert. Ein Leitgedanke der folgenden Beiträge ist entsprechend, dass ›das Performative‹ kein geschlossenes Forschungsprogramm darstellt. Die vielfach konstatierten Schwierigkeiten, die zahlreichen Verwendungsweisen von ›Performativität‹ und ›Performanz‹ auf einen einheitlichen Begriff zu bringen, werden vielmehr als ein wichtiger Grund für die Fruchtbarkeit und weite Verbreitung des Konzepts angesehen. Der Begriff des ›Performativen‹ markiert einen Forschungsansatz, dessen ›rhizomatische‹ Struktur (Beitrag Hempfer) keine einheitliche Theorie, aber ein plurales Feld der Theorien aufspannt. Das schließt keineswegs aus – wie dies Ekkehard König im vorliegenden Band aus linguistischer Sicht unternimmt – dem Begriff des Perfomativen eine stärker umgrenzte, klar identifizierbare Kontur zu verleihen. Die Differenzen zu anderen Auffassungen des ›Performativen‹ treten auf diese Weise deutlicher hervor. Die abweichenden Konzeptionen des ›Performativen‹ verweisen auf die Zugehörigkeit des Begriffs zu einem umfassenderen, über einzelne Fachdisziplinen hinausgehenden theoriegeschichtlichen Kontext, der die unterschiedlichen Anschlussmöglichkeiten erklärt und dieser Forschungsperspektive über ihre internen Differenzen hinaus Substanz verleiht. Die Begriffskarriere des ›Performativen‹ fügt sich, wie sich aus heutiger Perspektive deutlich erkennen lässt, ein in den umfassenderen cultural turn der Geisteswissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert. Es wäre ein Missverständnis, das ›Performative‹ ausschließlich an den Poststrukturalismus zu binden, wiewohl der Begriff gerade in diesem Umfeld auf besonders fruchtbaren Boden fiel. Die Grundidee, dass Sinn oder symbolische Bedeutung konstitutiv an den materialen Vollzug ihrer (Wieder-)Aufführung gebunden sind, partizipiert an der übergreifenderen Tendenz zum Antiessentialismus, die die Theoriegeschichte des vergangenen Jahrhunderts in der Philosophie, in den Sozialwissenschaften oder eben auch in den humanities entscheidend prägte. An die Stelle eines idealisieren-
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den Begriffs des ›Geistes‹, dem zunehmend mit Misstrauen begegnet wurde, trat die Perspektive der sozialen, symbolischen und pragmatischen Einbettung von Sinn und Bedeutung. Diese Analysen wendeten sich ab von dem Primat eines ideellen Substrats, das sich in den Texten, Handlungen oder Praktiken lediglich äußert. An seiner Stelle tritt eine verstärkte Aufmerksamkeit für die situierte, materielle und ereignishafte Dimension der ›geistigen‹ Phänomene. Diese ›Erscheinungsformen‹ des Sinns gelten nicht mehr als bloßer Äußerungsmodus, ihnen wird vielmehr eine eigene, konstitutive Rolle zugesprochen. Austins ursprünglicher Begriff der performative utterance wirkte vielleicht deshalb so produktiv, weil er einen zentralen Aspekt dieser Umorientierung leicht fasslich auf den Punkt bringt: Die Äußerung wird aus der Abhängigkeit befreit, von der Welt nur ›konstativ‹ zu berichten, und als eine wirkende Kraft anerkannt, die als situiertes Ereignis in die Welt eingreift und sie zu verändern vermag. Der Beitrag von Klaus W. Hempfer geht auf die einleitend behauptete Pluralität der Performativitätsforschung ein und rekonstruiert ihren thematischen Zusammenhang. Er zeichnet nach, wie sich aus den drei distinkten Theorien der Sprachphilosphie, der Sprachwissenschaft und der perfomance studies über unterschiedliche ›Mischverhältnisse‹ und Wechselbeziehungen ein umfassendes Theoriefeld konstituiert. Dieses ist nicht auf ein konzeptuelles Zentrum rückführbar, sondern kann adäquater mit dem von Deleuze und Guattari geprägten Begriff des ›Rhizoms‹ beschrieben werden. Es wird im Detail gezeigt, wie sich die Ausweitung des ursprünglich sprachphilosophischen Konzepts vollzog, so dass die dabei aufgetretenen Verschiebungen im Verständnis und die produktiven Aneignungen aus anderen Theoriefeldern sichtbar werden. Diese Dynamik in der Theorieentwicklung reicht bis hin zu kontradiktorischen Bestimmungen des Performanz- und Performativitätskonzepts. Dennoch führt die ›rhizomatische Proliferation‹ nicht zu einem rein kontingenten ›Wurzelwerk‹, weil die drei Kerntheorien in unterschiedlicher Weise als Prototypen fungieren, zu denen die Proliferationen je unterschiedliche Ähnlichkeitsrelationen konstituieren. Ekkehard König verfolgt die gegensätzliche Strategie, den konzeptuellen Kern einer Theorie des Performativen freizulegen und plädiert entsprechend dafür, die Begriffe ›performativ‹ und ›Performativität‹ »relativ restriktiv zu handhaben« (S. 45). Drei maßgebliche Quellen einer solchermaßen verstandenen Theorie des Performativen werden von ihm identifiziert: Die sprechakttheoretische Auffas-
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sung der wirklichkeitskonstitutiven Macht sprachlicher Handlungen; zweitens die theaterwissenschaftliche Aufwertung der konkreten Aufführung gegenüber dem Werk oder Skript, was zu einer »Rehabilitierung« (König) der sinnlich dargebotenen ›Oberfläche‹ führte; und schließlich die wirklichkeitstransformierende Kraft symbolischer Praktiken, die im Mittelpunkt der Ritualforschung steht. Abschließend zeigt Ekkehard König, inwiefern neuere Konzeptionen von Sprache und Sprachwandel in den usage-based theories bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen auch ausgehen von einem Primat des Gebrauchs und die Vorrangstellung der Tiefenstruktur gegenüber der ›Oberfläche‹ aufgeben. Ohne expliziten Rekurs auf den Begriff des Performativen vollzieht sich damit in der neueren Sprachwissenschaft ein analoger Perspektivwechsel wie in der Theaterwissenschaft und anderen Bereichen expliziter Performativitätstheorie. Die weiteren Beiträge behandeln die Ausbildung von Performativitätstheorien im Hinblick auf bestimmte Disziplinen und Gegenstandsbereiche. So stellen sich Bernd Häsner, Henning Hufnagel, Irmgard Maassen und Anita Traninger in ihrem Beitrag die Frage, inwiefern Texte als ›performativ‹ begriffen werden können. War im Zuge des linguistic turn der Text als genuiner Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft zur forschungsleitenden Metapher der Kulturwissenschaften insgesamt geworden (»Kultur als Text«), so stellt der diesem entgegengesetzte performative turn gerade die Textwissenschaften vor ganz neue methodische Probleme. Können Texte lediglich in außertextuellen Funktions- und Wirkungszusammenhängen ›performativ‹ werden – oder weisen Texte selbst spezifische Strukturen auf, die sie als ›performativ‹ qualifizieren? Der Beitrag untersucht die unterschiedlichen Antwortstrategien auf dieses Problem und macht deutlich, dass jeweils nur bestimmte Aspekte der Teiltheorien aufgegriffen werden, die das Performativitätsparadigma fundieren. Daraus wurden Auffassungen des performativen Texts gewonnen, die sich, wie gezeigt wird, jeweils nicht zur Gänze und auch nicht immer unproblematisch in die jeweils beanspruchten Theorierahmen einpassen lassen. Die Anwendung des Performativitätsparadigmas in der Textanalyse war (und ist) daher auf die Modifikation und Weiterentwicklung der zugrundeliegenden Theorieansätze angewiesen. Für die Systematisierung der verschiedenen in diesem Zusammenhang entwickelten Modelle bietet sich, so argumentieren die Autoren, das Modell der Interdependenz funktionaler und struktureller Performativität von Texten als eine Herangehensweise an, die auf eine Ver-
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schränkung von performativen Textwirkungen und Textstrukturen abzielt. Torsten Jost untersucht das Beziehungsgeflecht zwischen dem Medialen und dem Performativen, das geraume Zeit bereits im Fokus sowohl der kunst- und kulturwissenschaftlichen wie medienphilosophischen Aufmerksamkeit steht. Anhand von Plays, einem der wohl bekanntesten Texte Gertrude Steins über das Theater, wird zum einen gezeigt, dass und wie die Avantgardekünstlerin bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts das Zusammenspiel des Medialen mit dem Performativen untersucht und avant la lettre beschreibt. Zum anderen wird dargestellt, inwiefern die mediale Forschungsarbeit der Autorin auf ihre schriftstellerische Tätigkeit für das Theater Einfluss nahm. Der Aufsatz ist daher ein Beitrag sowohl zur Historisierung der aktuellen Medialitätsdebatte als auch zur Forschung über Gertrude Stein und die historische Theateravantgarde. Viktoria Tkaczyk legt dar, inwiefern die ›wissenshistorische Performanzanalyse‹ in theoretisch-methodischer Hinsicht an die Sprechakttheorie, die Diskursanalyse und die Laboratory Studies anschließt, durch ihren Fokus auf performative Prozesse der Erkenntnis- und Evidenzproduktion diese Ansätze jedoch systematisch erweitert. Dabei wird herausgearbeitet, auf welche Weise die Performanzanalyse humane, materielle und immaterielle Aktanten der Wissensproduktion in den Blick nimmt und die Konstitution epistemischer Gegenwärtigkeit ebenso wie die damit stets einhergehende Neukonstitution der Wissensgeschichte zum Gegenstand hat. Als Fallstudie fungiert ein Vortrag, mit dem Ernst Florens Chladni 1808 in Paris die neue Disziplin der Akustik offiziell begründet hat. Abschließend wird die Frage diskutiert, welche Rolle und Verantwortung wissenschaftlichen Akteuren in Prozessen der Wissensproduktion im Hinblick auf die Theorien des Performativen zugeschrieben werden kann. In dem abschließenden Beitrag von Jörg Volbers wird der Ertrag des Performativen innerhalb der Sozialphilosophie und der Philosophie der Praxis diskutiert. Dabei wird bewusst auf eine weitere diskursanalytische Skizze der Theorieentwicklung verzichtet, um auf diese Weise den konzeptuellen Kern einer performativen Sicht auf das Soziale konturierter hervortreten zu lassen. Der Beitrag isoliert wesentliche Merkmale einer performativen Analytik sozialer Phänomene und lässt auf diese Weise ein Analyseraster sichtbar werden, das im zwanzigsten Jahrhundert auch von Philosophen und Soziologen geteilt worden ist, die in einer Geschichte des Performativen ge-
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wöhnlich keine Aufmerksamkeit erhalten. Der amerikanische Pragmatismus, der praxistheoretische Ansatz in den Sozialwissenschaften oder auch die Tradition der deutschen Wissenssoziologie zeigen somit deutliche Züge einer ›Performativität avant la lettre‹, die neue Anschlüsse und erweiterte Theorieoptionen bereitstellt. Unser Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die im Rahmen des SFB »Kulturen des Performativen« Entstehung und Druck des vorliegenden Bandes gefördert hat. Herzlich danken möchten wir schließlich auch Şirin Dadaş, Sissina Eilbracht und Daniel Garbe, die mit Akribie das druckfertige Manuskript erstellten. Berlin, im Dezember 2010 Klaus W. Hempfer Jörg Volbers
Performance, Performanz, Performativität Einige Unterscheidungen zur Aus differenzierung eines Theoriefeldes Klaus W. Hempfer
Mein Titel versucht, die drei Kerntheorien, auf die es mir im Folgenden ankommt, synekdochisch zu benennen – performance steht dabei für das Theatermodell, Performanz für das Modell der generativen Grammatik und Performativität für die sprachphilosophische Sprechakttheorie – und diese als Konstituenten eines Theoriefeldes auszuweisen, das sich durch Binnendifferenzierung der einzelnen ›Kerntheorien‹ und durch vielfältige Interpenetrationen der je unterschiedlich modifizierten ›Kerne‹ zu einem insgesamt überaus divergenten Theoriefeld ausdifferenziert. Dieses Theoriefeld kann seinerseits nicht mehr auf einen ›Kern‹ zurückgeführt werden, sondern ist am ehesten wohl mit dem von Deleuze und Guattari geprägten Begriff des ›Rhizoms‹ zu erfassen (vgl. hierzu Deleuze/Guattari 1976 [wieder abgedruckt in Deleuze/Guattari 1980: 9-37]). Wie ich im Folgenden zeigen möchte, führt die rhizomatische Proliferation jedoch deshalb nicht zu einem rein kontingenten ›Wurzelwerk‹, weil die drei Kerntheorien in unterschiedlicher Weise als Prototypen fungieren, zu denen die Proliferationen je unterschiedliche Ähnlichkeitsrelationen konstituieren. Diese Proliferationen vollziehen sich wesentlich im poststrukturalistischen Theoriediskurs, so dass es nahe liegend erscheint, zu ihrer Beschreibung auf ein in eben diesem Diskurs entwickeltes Konzept zu rekurrieren.
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1. P ERFORMANCE IST NICHT GLEICH PERFORMANCE ODER DAS LINGUISTISCHE
›P ERFORMANZMODELL‹
In Searles vielzitiertem Aufsatz »How Performatives Work« findet sich ein nicht so vielzitierter Satz, der einen expliziten Unterschied zwischen performance und performative macht: […] though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives. (Searle 1989: 536)
Dass alle Äußerungen »performances« sind, darf nun freilich nicht dergestalt verstanden werden, dass sich »alle Äußerungen immer auch als Inszenierungen, das heißt als Performances betrachten lassen« (Wirth 2002: 39) und dass bei Searle der Begriff der performance zu einem »umbrella term [wird], der sowohl Performativa als auch Inszenierungen einschließt« (ebd.). Das genaue Gegenteil ist richtig: Searle möchte die Performativa in ihrer Spezifität aus den performances nach der klassisch-logischen Unterscheidung von genus und differentia specifica als species des genus performance ausgrenzen, und er versteht, wie aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, performance nicht als Inszenierung oder Aufführung, sondern im weitesten normalsprachlichen Sinn als Ausführung einer Handlung im Rahmen seiner handlungstheoretisch fundierten Sprechakttheorie, in der das Äußern eines Satzes die Ausführung (nicht: die Aufführung) eines illokutionären Aktes ist.1 In dem obigen Zitat bedeutet performance also gerade nicht ›Inszenierung‹, sondern schlicht ›Ausführung‹, ›Vollzug‹, und Searles Ziel ist, wie aus dem gesamten Aufsatz eindeutig hervorgeht, alles andere als eine Verbindung von Sprechakttheorie und performance studies, vielmehr geht es ihm ganz schlicht darum, den Handlungs1 | Vgl. Searle 1989: 536: »I believe the correct way to situate the notion of performatives within a general theory of speech acts is as follows: some illocutionary acts can be performed by uttering a sentence containing an expression that names the type of speech act, as in for example, ›I order you to leave the room.‹ These utterances, and only these, are correctly described as performative utterances. On my usage, the only performatives are what Austin called ›explicit performatives‹. Thus, though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives.« Vgl. hierzu auch König in diesem Band (A. 8).
P ERFORMANCE , P ERFORMANZ , P ERFORMATIVITÄT
charakter aller sprachlicher Äußerungen von dem spezifisch performativen Charakter einer bestimmten Gruppe von Äußerungen zu unterscheiden, wodurch sich allererst die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Terme (performances vs. performatives) rechtfertigt. Wirth missversteht Searle, weil er die Ambiguität des normalsprachlichen Wortes ›performance‹ kontextuell falsch disambiguisiert, aus der von Searle intendierten ›Ausführung‹ im Deutschen eine ›Aufführung‹ macht und damit allererst den umbrella term erzeugt, den Searle gerade durch die Differenzierung von performance im Allgemeinen und performative im Besonderen zu vermeiden sucht, denn wäre jede Äußerung ›performativ‹, wäre der Begriff schlicht »useless« (Searle 1989: 536). Die Diskussion um Performanz und Performativität der letzten beiden Jahrzehnte ist nun freilich gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie die von Searle angemahnte Differenzierung nicht aufnimmt, sondern ›Performanz‹ und ›Performativität‹ als mehr oder weniger synonym begreift und dabei auch noch ganz unterschiedliche Performanzkonzepte vermengt. Dies gilt selbst von Autoren, die durchaus erkennen, dass »der Terminus performance im Rahmen von Chomskys universalgrammatischem Ansatz eine ganz andere Systemstelle […] als bei Austin« einnimmt (Wirth 2002: 11). Zunächst ist einmal festzuhalten, dass Austin nicht den Begriff der performance einführt, sondern denjenigen der ›performativen Äußerung‹, wobei das Adjektiv ›performativ‹ explizit als Neologismus ausgewiesen wird, wohingegen performance im Englischen natürlich kein Neologismus ist und bei Austin beständig normalsprachlich verwendet wird. Viel entscheidender ist natürlich, dass die unterschiedlichen Termini nicht nur unterschiedliche ›Systemstellen‹, sondern gänzlich unterschiedliche Theoriebildungen benennen. Die ursprünglich auf Chomsky (1965) zurückgehende linguistische Unterscheidung von competence und performance, die auf anderer theoretischer Grundlage die Saussure’sche Dichotomie von langue und parole aufgreift, hat in den letzten Jahrzehnten eine vielfältige und unterschiedliche Diskussion erfahren, die nicht immer angemessen rezipiert worden zu sein scheint, die für eine adäquate Theoretisierung des Performativitätskonzepts aber zentral ist. Zum einen gilt nach wie vor die grundsätzliche Unterscheidung, wobei mit ›Kompetenz‹ »die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache« gemeint ist und mit ›Performanz‹ »der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen« (Chomsky 1969: 14). Die nähere Bestim-
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mung dieser Opposition hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch grundsätzlich geändert und bei Chomsky selbst und anderen zur Herausbildung einer »kommunikativen«, »pragmatischen« oder »Diskurskompetenz« geführt, die die ›Systematizität‹ von Sprache nicht mehr an den Satz als oberste Einheit bindet, wie dies ursprünglich bei Chomsky der Fall war, sondern auch und gerade die ›Regelhaftigkeit‹ von Äußerungen, Diskursen oder Texten in den Blick nimmt.2 Was den theoretischen Status der Sprechakte betrifft, so hat Searle seine Theorie explizit dem Bereich der langue, also der Kompetenz im Chomsky’schen Sinne, zugeordnet: It still might seem that my approach is simply, in Saussurian terms, a study of ›parole‹ rather than ›langue‹. I am arguing, however, that an adequate study of speech acts is a study of langue. (Searle 1969: 17)
Und Habermas entwickelt von hier aus sein Konzept der kommunikativen Kompetenz: Diese allgemeinen Strukturen möglicher Redesituationen sind Gegenstand der Universalpragmatik oder einer, wie ich vorschlagen möchte, Theorie der kommunikativen Kompetenz. (Habermas 1971: 102)
D.h. bei der Untersuchung von Typen von Sprechakten, Sprechsituationen usw. handelt es sich gerade nicht um eine Performanztheorie, sondern um eine Kompetenztheorie, weil es nicht um die einzelne konkrete Äußerung, das Vorkommen (token), sondern den Typ (type) von Äußerung geht.3 Mit den Termini ›Performanz‹ und ›Performativität‹ wird also auf grundsätzlich unterschiedliche Theoriebildungen mit grundsätzlich unterschiedlicher Zielsetzung abgehoben: Während mit dem Term ›performativ‹ Typen von Äußerungsakten von anderen Typen von Äußerungsakten unterschieden werden (sollen), ist die Opposition von Kompetenz vs. Performanz eine methodologische Unterscheidung, die alle sprachlichen bzw. generell semiotischen Einheiten von der 2 | Zu einem Überblick vgl. Lehmann 2007. 3 | Vgl. hierzu auch Krämer 2002: 326-329, die trotz der Feststellung, dass es sich bei der Sprechakttheorie eigentlich um eine Kompetenztheorie handelt, die Begriffe »Performativität« und »Performanz« mehr oder weniger synonym verwendet und vermischt.
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Ebene der Laute bis zum Text umfasst. Performativ sind also nur bestimmte Äußerungen, während alle konkreten, aktualisierten sprachlichen Äußerungen, ob sie dem Typus der performativen oder nicht zugehören, auf der Ebene der Performanz anzusiedeln sind. Um noch ein weiteres Beispiel zu geben: Jeder konkrete literarische oder nichtliterarische Text und jede konkrete Äußerung, die wir in einer bestimmten Situation machen, gehört der Ebene der Performanz an, zur Ebene der Kompetenz gehören die Typen von Sprechakten, die der einzelnen Äußerung oder dem einzelnen Text zugrunde liegen genauso wie die Typen von Sprechsituationen, die Typen von Diskursen usw. Auch in diesem Sinne lässt sich mit Searle sagen: »though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives« (Searle 1989: 536). Ein möglicher Ansatz zur Lösung des Problems, dass die ›Performanz‹ im Sinne Chomskys als aktuelle Sprachverwendung und ›Performativität‹ als Differenzierungskriterium für Typen von Sprechakten im Rahmen einer kommunikativen Kompetenz zunächst einmal wenig gemeinsam haben, könnte in der Dekonstruktion der Dichotomie von Kompetenz und Performanz liegen. So kann Sybille Krämer zeigen, dass die Präsupposition des von ihr sogenannten »ZweiWelten-Modells«, nämlich dass sich bei der Sprachbeschreibung »sinnvoll zwischen Schema/Muster/Regel einerseits und Gebrauch/ Aktualisierung/Anwendung andererseits unterscheiden lasse« (Krämer 2001: 263), in einer Reihe neuerer sprachtheoretischer Positionen zugunsten der Maxime aufgehoben werde, dass es gerade nicht sinnvoll sei, »zwischen Schema und Gebrauch kategorisch, also im Sinn verschiedener Seinsmodalitäten zu unterscheiden« (ebd.: 264). Nun ließe sich sicherlich darüber streiten, ob eine methodologische Unterscheidung so ohne Weiteres ontologisiert werden kann, auch wenn Chomsky selbst wohl ontologischer Realist ist,4 entscheidender scheint mir freilich, dass Krämers ›Gewährsleute‹ allesamt keine Linguisten, sondern Philosophen, Soziologen, Psychoanalytiker oder Kulturwissenschaftler sind. In der Linguistik ist die Situation völlig anders: Auch für die kognitive Linguistik, die sich als ›das‹ Gegenmodell zur generativen Grammatik begreift, ist die Unterscheidung von »knowledge of language (competence)« und »use of language (per4 | Vgl. die Aufsätze in Chomsky 2000: insb. 75-105, wo er allerdings beiläufig bestreitet, die »innateness hypothesis« je vertreten zu haben (S. 100f.).
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formance)«, grundlegend, nur dass das Verhältnis zwischen diesen beiden ›Ebenen‹ genau umgekehrt bestimmt wird. Während in der generativen Grammatik Kompetenz die Performanz determiniert, argumentieren kognitive Linguisten, dass »knowledge of language is derived from and informed by language use«. Es gehe nicht um die Aktivierung eines Systems sprachlichen Wissens, sondern um the extraction of linguistic units or constructions from patterns in the usage events experienced by the child. This process relies upon general cognitive abilities, and the set of units or constructions eventually build up the inventory that represents the speaker’s language system or knowledge of language. (Alle Zitate Evans/Green 2007: 111, Herv. v. mir)
Auch die kognitive Linguistik unterscheidet also zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch, rehierarchisiert die verschiedenen Ebenen jedoch und modelliert zugleich den Spracherwerbsprozess wesentlich anders.5 Im vorliegenden Kontext ist freilich nur die Tatsache von Interesse, dass in den beiden avanciertesten linguistischen Theoriebildungen die Unterscheidung von Kompetenz (= knowledge of language) und Performanz (= language use) nach wie vor valide ist und dass infolge dessen auch eine Performativitätstheorie auf die Unterscheidung von Typen von Sprechakten und deren konkreter Verwendung als je unterschiedliches token rekurrieren darf. Dass Performanz verstanden als language use im Allgemeinen nicht zugleich bestimmte Formen eben dieses Sprachgebrauchs ausdifferenzieren kann, ist folglich trivial. Die einzige Frage, die sich sinnvoll stellen lässt, ist diejenige, ob die Dichotomie von Performanz und Kompetenz sich auch für eine Beschreibung performativer Äußerungen bzw. performativer Prozesse im Allgemeinen fruchtbar machen lässt oder gar notwendig ist. Hierauf ist zurückzukommen.
5 | Zu gebrauchsorientierten Sprachtheorien vgl. ausführlich König in diesem Band.
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2. D IE PERFORMATIVE Ä USSERUNG ALS P ROTOT YP DES ›P ERFORMATIVEN ‹ Der Begriff des Performativen – nicht der Performanz – wird, wie gesagt, von Austin explizit als Neologismus eingeführt6 und zunächst über die Unterscheidung von performativen und konstativen Äußerungen bestimmt. Es gehört zum Gemeingut der Austin-Exegese festzustellen, dass Austin diese anfängliche Dichotomie aufgebe und in eine allgemeine Theorie der Sprechakte überführe, die dann von Searle 1969 systematisch fundiert und ausgebaut worden sei.7 Dies scheint nur partiell richtig, insofern Austin zwar die Dichotomie von konstativ vs. performativ in die Trias von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten überführt, abschließend aber ausdrücklich feststellt: The old distinction, however, between primary and explicit performatives will survive the sea-change from the performative/constative distinction to the theory of speech acts quite successfully. (Austin 1962: 149)
Mit den »explicit performatives« sind Äußerungen wie ›I promise that I shall be there‹ gemeint, »primary performatives« sind dagegen Äußerungen wie ›I shall be there‹ (ebd.: 69). Mir geht es hier nicht um diesen Unterschied, entscheidend für meine Argumentation ist, dass Austin an dem spezifischen Status der expliziten Performativa festhält, dass er nur »the notion of the purity of the performatives« einschränkt: this was essentially based upon a belief in the dichotomy of performatives and constatives, which we see has to be abandoned in favour of more general families of related and overlapping speech acts. (Ebd.: 149; Kursivierung im Original)
6 | Vgl. oben und Austin 1962: 7. Performance im normalsprachlichen Sinn verwendet Austin genau wie Searle in der Bedeutung von ›Ausführung (einer Handlung usw.)‹, etwa ebd.: 60: »We said that the idea of a performa tive utterance was that it was to be (or to be included as part of) the performance of an action.« 7 | Vgl. zu dieser Lesart von Austin etwa Krämer 2001: 132-153 oder Wirth 2002: 12f.
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Eine solche Typologie mehr oder weniger performativer Sprechakte liefert Austin am Schluss seines Buches, wobei der Rekurs auf den Familienbegriff ganz offensichtlich das Wittgenstein’sche Konzept der Familienähnlichkeit anzitiert.8 Es ist nun dieses Konzept, das in der kognitiven Psychologie und Linguistik zur Formulierung des Prototypenbegriffs geführt hat, der seinerseits Grundlage für eine wesentliche Modifikation unserer Auffassung vom begrifflichen Status normalsprachlicher und in erheblichem Maße auch wissenschaftlicher Kategorienbildung wurde, die nicht auf disjunkten Klassen, wie traditionell angenommen, sondern auf einem Typenbegriff basiert, der klassifikatorische und skalare Eigenschaften verbindet und als abstrakte Repräsentation der zentralen Attribute einer Kategorie verstanden wird.9 Ich glaube nun, dass Austin seinen Begriff des Performativen als prototypischen Begriff avant la lettre einführt und dass dessen Proliferation in ganz unterschiedliche disziplinäre, methodologische und epistemologische Kontexte auf der Tatsache beruht, dass Phänomene aus diesen anderen Kontexten über Ähnlichkeitsrelationen auf der Basis von skalaren »judgements of prototypicality« (Rosch 1978: 40) unter diesen Begriff subsumiert wurden bzw. werden können. Der Grad an Akzeptabilität der Begriffserweiterung und/oder -übertragung bestimmt sich damit über den Grad an Ähnlichkeit zum prototypischen Kern. Um diesen zu präzisieren, ist nochmals auf Austins klassische Definition der performativen Äußerung zurückzukommen: There is something which is at the moment of uttering being done by the person uttering. (Austin 1962: 60; Kursivierung im Original)
Mit dieser Definition, in der jedes einzelne Wort von Bedeutung ist, zielt Austin primär auf die sogenannten expliziten performativen Äußerungen der Art ›ich verspreche hiermit, morgen zu kommen‹ 8 | Vgl. Wittgenstein 2001: insb. Abs. 65-71; zu einer Explikation dieses Konzepts und zur Auseinandersetzung mit einem möglichen Missverständnis vgl. Hempfer 2010: 18-20. 9 |Zur Entwicklung und Definition des Prototypenbegriffs vgl. Taylor 32003 sowie die knappe Zusammenfassung in Hempfer 2010: 20-23. Wittgenstein parallelisiert explizit die Begriffe aus Ethik und Ästhetik mit normalsprachlichen Prädikaten wie ›Spiel‹, an denen er das Konzept der Familienähnlichkeit entwickelt hat. Vgl. Wittgenstein 2001: 793 (§ 77).
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oder ›ich ernenne Sie hiermit zum Präsidenten der Freien Universität Berlin‹. Demgegenüber haben Äußerungen wie ›ich zerschlage hiermit das Ei‹ keine performative Kraft, weil mit der Äußerung nicht zugleich der Akt des Eizerschlagens vollzogen wird, wie dies etwa bei einem Versprechen der Fall ist. Analoges gilt, wenn Verben wie ›versprechen‹ nicht in der ersten Person oder nicht im Präsens verwendet werden: ›Er verspricht zu kommen‹ ist genauso wenig performativ wie ›ich versprach zu kommen‹ – im ersten Fall fehlt die Identität von Sprechendem und Handelndem, im zweiten die Simultaneität von Sprechakt und mit diesem vollzogener Handlung.10 Austin bindet die Besonderheit performativer Äußerungen zunächst an bestimmte grammatikalische Strukturen, nämlich dass das Verb in der ersten Person Singular Präsens Indikativ Aktiv gebraucht werde, um dann festzustellen, dass in solchen Äußerungen »[the] implicit feature of the speech-situation is made explicit« (ebd.: 61). Diese Einsicht in den Zusammenhang von Sprechsituation und Verbbedeutung bei der Konstitution performativer Äußerungen bleibt jedoch Episode, weil Austin die Sprechsituation schlicht als grammatikalische ›Oberflächenstruktur‹ begreift, in Wirklichkeit sind es jedoch bestimmte Merkmale der Sprechsituation, der Ebene der énonciation und nicht des énoncé, wie bereits Benveniste erkannt hat,11 die in Verbindung mit einer bestimmten Verbsemantik eine Äußerung zu einer performativen machen. Auf eben diesem Merkmal der Sprechsituation basiert Austins Definition, indem er (a) die Identität von utterer und performer, die nur in der ersten Person Singular – und Plural! – möglich ist, festhält und (b) die Simultaneität von Äußerungshandlung und der hiermit zugleich konstituierten ›anderen‹ Handlung, die nur im hic et nunc der Äußerungssituation realisiert werden kann und damit das Präsens als grammatisches Tempus verlangt. Damit nun aber der Äußerungsakt und der Handlungsakt sich simultan vollziehen können, bedarf es einer bestimmten Verbsemantik, die unter den Bedingungen von (a) und (b) den Sprechakt autoreflexiv werden lässt. Dass eine Eigenschaft des Performativen dessen Autoreflexivität ist, hat als erster wiederum Benveniste 1966 – und nicht Åqvist 1972, wie
10 | Vgl. hierzu auch die Beispiele in Austin 1962: 63. 11 | Vgl. hierzu Benveniste 1966/74: I, 273, der freilich das Performative zu stark an eine Autorität bindet, die das Recht hat, den Akt zu vollziehen. Vgl. auch unten S. 23.
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Searle glaubt12 – erkannt. Auch wenn Autoreflexivität als solche keine singuläre Eigenschaft des Performativen ist, so basiert doch die »propriété particulière, celle d’être sui-référentielle« des Peformativen darauf, »de se référer à une réalité qu’il [sc. le performatif ] constitue luimême« (Benveniste 1966/74: I, 274). Die spezifische Autoreflexivität der performativen Äußerung besteht also darin, dass die Bedeutung des Verbs eine Referenz hat, die durch diese allererst konstituiert wird: L’acte s’identifie donc avec l’énoncé de l’acte. Le signifié est identique au référent. C’est ce dont témoigne la clausule ›par la présente‹ [sc. in offiziellen Dokumenten]. L’énoncé qui se prend lui-même pour référence est bien sui-référentiel. (Ebd.)
Entscheidend ist ferner die Feststellung Benvenistes, dass es bei performativen Äußerungen nicht um irgendwelche ›Konsequenzen‹ bzw. ›Ergebnisse‹ geht, die Austin im Kontext seiner Definition des perlokutionären Aktes einführt (Austin 1962: 102). Es ist nun genau bei dem Versuch der Unterscheidung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten, dass Austin 1958 in seinem Vorlesungsmanuskript anmerkt: all this is not clear […] won’t all utterances be performative? (Ebd.: 103, A. 1)
Wo Austin also ins ›Trudeln kommt‹, ist nicht so sehr bei der Unterscheidung von konstativ vs. performativ, sondern bei der Ausdifferenzierung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten und deren jeweiligen Unterschieden zu performativen Äußerungen. Benveniste stellt demgegenüber fest, dass die Unterscheidung von performativ und konstativ »justifiée et nécessaire« sei, »sans faire intervenir la considération du ›résultat obtenu ›qui est source de confusion«; des Weiteren sei der Unterschied von Referenz und Bedeutung strikt zu beachten (Benveniste 1966/74: I, 276).13 12 | Searle 1989: 544, A. 9. Wie in englischsprachigen Publikationen vielfach üblich, werden Veröffentlichungen in anderen Sprachen nicht berücksichtigt, selbst wenn sie in höchstem Maße einschlägig sind. 13 | Demgegenüber kritisiert Wirth sowohl Searle wie Habermas für die »Marginalisierung des Perlokutionären« (Wirth 2002: 13) bzw. für dessen »Ausschluss« (ebd.: 14).
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Auch Searle 1989 hebt auf die zentrale Bedeutung der Simultaneität von Sprechen und Handeln ab, die in einem Hier und Jetzt von einem Ich-Sprecher vollzogen werden muss,14 d.h. auch für Searle ist eine spezifische pragmatische Struktur notwendige Bedingung für eine performative Äußerung. Auch wenn es damit keine »semantic property« gibt, »which defines performative verbs« (Searle 1989: 557; Herv. v. mir), so müssen die Verben über eine bestimmte Semantik verfügen, die zusammen mit einer spezifischen Pragmatik die Performativität der Äußerung konstituiert. Keine notwendige Bedingung, wie vielfach postuliert, sind demgegenüber spezifische institutionelle Voraussetzungen; diese sind nur notwendig, wenn es sich um »actes d’autorité« (Benveniste 1966/74: I, 272) handelt wie etwa Ernennungen, Proklamationen u.ä., Versprechen, Wetten u.ä. setzen demgegenüber keinen institutionellen Rahmen voraus.15 Auf der Grundlage von Austin 1962, Benveniste 1966 und Searle 1989 lässt sich ein Prototyp der performativen Äußerung definieren, der über folgende Attribute verfügen muss, um distinktiv zu sein: 1. eine Sprechsituation mit ich-hier-jetzt-Deixis; 2. die notwendige Verbindung einer sprachlichen mit einer ›anderen‹ Handlung, wobei die ›andere‹ Handlung durch die sprachliche Handlung konstituiert wird;
14 | Vgl. hierzu Searle 1989: 556f., insb. 557: »Now, because the performative utterance is both self-referential and executive, the present present is ideally suited to it. ›I promise to come and see you‹ marks an event which is right then and there, simultaneous with the utterance, because the event is achieved by way of making the utterance« (Herv. v. mir). Ekkehard König hat in der Diskussion einer früheren Fassung vorgeschlagen, nicht von einer Simultaneitäts-, sondern einer ›indem‹-Relation zu sprechen, und Wolfgang Raible fand den Koschmieder’schen Begriff der ›Koinzidenz‹ treffender. Aufgrund der Tatsache, dass sowohl Austin (»at the moment […]« wie Searle (»simultaneous«) von ›Gleichzeitigkeit‹ sprechen, möchte ich diesen Begriff beibehalten, wobei durch die weiteren Kriterien sichergestellt wird, dass es sich nicht um ein beliebiges ›Nebeneinander‹ handelt, sondern um eine Gleichzeitigkeit, die eine ›indem‹-Relation impliziert. 15 | Vgl. hierzu die Unterscheidung von Searle zwischen »extra-linguistic declarations« und »linguistic declarations« (Searle 1989: 549f.; Kursivierung im Original).
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3. die Simultaneität zwischen diesen beiden Handlungen auf der Grundlage der Identität von Sprecher und Handelndem; 4. eine autoreflexive Semantik, bei der die sprachliche Äußerung, das énoncé, zugleich den Akt konstituiert, den sie bedeutet. Es ist die je unterschiedliche Generalisierung und Modifikation dieser vier Attribute, die die Theoriebildung im Übergang von performativen Äußerungen zu ›dem‹ Performativen bestimmen und die zu der wiederholt beklagten »ubiquitären Ausweitung« (Wirth 2002: 39) des PP-Begriffs16 in den Kulturwissenschaften führten.
3. D AS ›THE ATERMODELL‹: P ERFORMATIVITÄT ALS K ONSTITUENS DER THE ATR ALEN A UFFÜHRUNG Gerade keine ubiquitäre Ausweitung ist bei Fischer-Lichte zu konstatieren, wenn sie das Theater als »performative Kunst schlechthin« (Fischer-Lichte 2002: 291) bezeichnet. Ich möchte im Folgenden skizzieren, wie eine Differenzierung von Performanz im linguistischen Sinn und Performativität als transmediale Generalisierung eines zunächst sprachlich gebundenen Konzepts das Theater in der Tat als »performative Kunst schlechthin« ausweist. Fischer-Lichte geht bei ihrer Grundlegung einer Ästhetik des Performativen von der Zentralität der ›Aufführung‹ aus und entwickelt im Anschluss an Max Herrmann einen Aufführungsbegriff, für den die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern konstitutiv ist (Fischer-Lichte 2004: 58-126). Aus dieser leiblichen Ko-Präsenz ergibt sich eine erste für das Theater konstitutive Simultaneitätsrelation, nämlich diejenige zwischen Produktion und Rezeption des Artefakts: Die Produktion des Artefakts vollzieht sich in einem Prozess, den die Zuschauer simultan zu dessen Konstitution rezipieren und in den sie in historisch unterschiedlicher Weise als Mithandelnde einbezogen werden können. Unmittelbare Konsequenz ist die Plurimedialität des Theaters (Pfister 1977: 24-29), die eine Handlungs- bzw. Geschehenskonstitution über mehrere ›Medien‹, semiotische Systeme und/oder ›Kanäle‹ ermöglicht, die jeweils eine Simultaneität von Produktion 16 | Da ›Performanz‹ und ›Performativität‹ höchst unterschiedliche Bedeutungen haben, spreche ich von dem Performanz- und Performativitätsbegriff (= PP-Begriff).
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und Rezeption voraussetzen wie etwa Gestik, Mimik, Bühnenbild und Beleuchtung, Klangeffekte, Gerüche bis hin zum wechselseitigen ›Anfassen‹ von Schauspielern und Publikum als Nutzung des haptischen Kanals. Hinzu kommt eine zweite Simultaneitätsrelation auf der Ebene der Konstitution des Artefakts selbst: Handlung – bzw. allgemeiner formuliert – ›Geschehen‹ konstituiert sich allererst im und durch den Prozess des Sprechens der dramatis personae sowie den simultanen Einsatz nichtverbaler Medien. Solchermaßen wird im Akt des Sprechens zugleich Geschehen konstituiert, weswegen bereits Pirandello den dramatischen Dialog als »azione parlata« bezeichnet hat.17 Diese Simultaneität von Sprechen und Handeln ist nun nicht auf einzelne Sprechakte beschränkt, sondern es ist der theatrale Diskurs insgesamt einschließlich der nichtverbalen Medien und semiotischen Systeme, der simultan zu seiner eigenen Konstitution zugleich eine ›Geschichte‹ bzw. ›Geschehen‹ konstituiert. Auf der Diskursebene sind dann natürlich weiterhin performative Sprechakte möglich: So kann man auch auf der Bühne versprechen und wetten, Kinder taufen und Ehen schließen, alles unter dem Vorzeichen der Fiktion – getauft wird offenkundig die durch den fiktionalen Diskurs konstituierte Figur, nicht der reale Schauspieler. Austin schließt den fiktionalen Gebrauch von Sprechakten als »void« bzw. »parasitic« explizit aus seinen Überlegungen aus (Austin 1962: 21f.), doch funktionieren diese auch in fiktionalen Texten, so dass ihre Glückensbedingungen nicht an Sprecherintentionen und den faktischen Vollzug einer Handlung in der aktualen Welt zu binden sind. Derridas Kritik setzt an diesem Punkt ein – hierauf ist zurückzukommen. Die spezifische Performativität des Theaters ließe sich in meinem Verständnis also zum einen darauf gründen, dass die Simultaneitätsrelation von den einzelnen Sprechakten auf die plurimediale Diskursstruktur insgesamt als Gleichzeitigkeit der Konstitution von ›Diskurs‹ und ›Geschichte‹ generalisiert ist,18 und dass zum anderen durch die Kopräsenz von Schauspielern und Zuschauern eine weitere Simultaneitätsrelation zwischen Produktion und Rezeption installiert wird, die jeden noch so kontingenten Akt auf der Bühne für den Rezipienten funktionalisiert und damit aus einer wie auch immer 17 | Vgl. hierzu Pfister 1977: 24. Zum generellen Zusammenhang von Performativität und theatraler Kommunikation vgl. Hempfer 1973: 160-164. 18 | Grundlage ist dabei ein transmedialer Diskursbegriff.
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gearteten Handlung die Aufführung einer Handlung macht. Dies bedeutet zum einen natürlich bereits eine Übertragung des Begriffs des Performativen von Sprechakten auf größere sprachliche Einheiten,19 zum anderen lässt sich durch die Ähnlichkeitsrelation zum Prototyp des Performativen begründen, warum das Theater als »performative Kunst schlechthin« begriffen wurde und seinerseits in den cultural und social performance studies oder auch in den gender studies zum prototypischen Bezugspunkt wurde.20 Konstituiert die Aufführungssituation die spezifische mediale Struktur theatraler Kommunikation, die ihrerseits diachron und diatop unterschiedlich realisiert sein kann (z.B. ›Shakespeare-Bühne‹ vs. ›Guckkastenbühne‹), so lässt sich auf theatrale Kommunikation nun auch das linguistische Performanzkonzept anwenden, insofern jede einzelne Aufführung als Performanz begriffen werden kann, die mit den generellen ›Bedingungen‹ von Aufführung in je spezifischer Weise umgeht. Die konkrete Aufführung qua Performanz muss dabei keineswegs nur als Aktualisierung der Bedingungen der Möglichkeit von ›Aufführung‹ begriffen werden, es kann sich genauso gut um deren modifizierende Transformation im und durch den aktuellen Vollzug handeln, die die Bedingungen der Möglichkeit von Aufführung als solche verändert. Ein paradigmatischer Fall hierfür wäre etwa das Aufkommen der performance-Kunst, die die generelle Performativität des Theaters in historisch spezifischer Weise transformiert (vgl. hierzu Fischer-Lichte 2004). In diesem Sinne lässt sich von der je spezifischen Performanz theatraler Performativität sprechen, was einmal mehr deutlich macht, warum zwischen ›Performanz‹ und ›Performativität‹ unterschieden werden muss.
4. V ON A USTIN ÜBER D ERRIDA ZU PAUL DE M AN UND C ULLER ODER › OPPOSITIVE P ROLIFER ATION ‹ Durch Derrida werden zwei Begriffe zu zentralen Kategorien der Performativitätsdebatte, die weder in der Sprechakttheorie noch im 19 | Zu grundlegenden Fragen des Verhältnisses von »Text und Performativität« vgl. den Beitrag in diesem Band. 20 | Zu den Filiationen im Einzelnen vgl. Carlson 1996, insb. den Abschnitt »Performance and the social sciences« (13-75), zu Butlers Rekurs auf das Theatermodell unten, S. 34f.
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Theatermodell eine Rolle gespielt haben: Iterabilität und Zitathaftigkeit. Das Verblüffende ist dabei, dass die poststrukturalistische Wende der PP-Theorie auf zwei Begriffen basiert, die gerade nicht die Spezifität des Performativen bestimmen, sondern der Fundierung einer generellen Zeichen- und Sprachtheorie dienen, die auf der empirisch leeren Behauptung des primär graphematischen Charakters von Sprache gründet.21 Der zentrale Text Derridas »Signature Événement Contexte« wurde zunächst als Vortrag auf dem internationalen Kongress der frankophonen Philosophen 1971 zum Thema der »Communication« gehalten und 1972 in Marges – de la philosophie publiziert; 1977 erschien eine englische Übersetzung in der ersten Nummer von Glyph, auf die Searle in der zweiten Nummer derselben Zeitschrift replizierte und damit eine entsprechend breite Rezeption auslöste, auf die dann Derrida nochmals mit Limited Inc replizierte.22 Der Vortrag Derridas ist in seinem ersten Teil eine knappe Zusammenfassung der in De la grammatologie (1967), L’écriture et la différence (1967) oder La dissémination (1972) entwickelten Sprachtheorie, d.h. seines Verständnisses von écriture, das wesentlich auf den Begriffen absence, trace, différance (sic!), dérive, dissémination, espacement usw. basiert, wobei es ihm im vorliegenden Kontext vor allem um die essenzielle citationnalité und itérabilité des sprachlichen Zeichens geht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Postulat, dass der Niederschlag (= marque) der Schrift (= écriture) dadurch charakterisiert sei, dass sie abgetrennt von ihrem Produzenten und ihrem Adressaten sowie von jeglichem Kontext gelesen bzw. verstanden werden könne. Aus diesem Postulat, dessen ›Aberwitz‹ hier nicht diskutiert zu werden braucht, leitet Derrida folgende Bestimmung des Zeichens ab: Tout signe, linguistique ou non linguistique, parlé ou écrit (au sens courant de cette opposition), en petite ou en grande unité, peut être cité, mis en guillemets; par là il peut rompre avec tout contexte donné, engendrer à l’infini de nouveaux contextes, de façon absolument non saturable. Cela ne suppose pas que la marque vaut hors contexte, mais au contraire qu’il n’y a que des contextes sans aucun centre d’ancrage absolu. Cette citationnali21 | Vgl. hierzu Searle 1977: 203: »Derrida has a distressing penchant for saying things that are obviously false.« Vgl. hierzu bereits Hempfer 1976: 14-26. 22 | Zur komplexen Publikationsgeschichte dieses Beitrags vgl. Derrida 1990: 9-14.
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té, cette duplication ou duplicité, cette itérabilité de la marque n’est pas un accident ou une anomalie, c’est ce (normal/anormal) sans quoi une marque ne pourrait même plus avoir de fonctionnement dit ›normal‹. Que serait une marque que l’on ne pourrait pas citer? Et dont l’origine ne saurait être perdue en chemin? (Derrida 1990: 36)
Hier fallen die beiden zentralen Begriffe der itérabilité und der citationnalité, die nun freilich auch ihrerseits ein sprachtheoretisches Problem darstellen: Wie Searle gezeigt hat, identifiziert Derrida zum einen schlicht mention und use sprachlicher Zeichen – wenn in einer deutsch geschriebenen Grammatik des Englischen anhand eines englischen Satzes der Gebrauch der continuous form erläutert wird, dann gebraucht man diesen Satz ganz offenkundig nicht, sondern er wird erwähnt bzw. zitiert23 –, und zum anderen funktioniert Sprache gerade nicht auf der Basis von Iteration »qui lie la répétition à l’altérité«,24 d.h. von der mehr oder weniger starken Abwandlung vorgegebener Äußerungen, sondern die menschliche Sprachfähigkeit ist wesentlich kreativer, indem sie, wie Chomsky, Wilhelm von Humboldt zitierend, sagt, »von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch« macht.25 Für den vorliegenden Zusammenhang ist es letztendlich bedeutungslos, ob Derrida die beiden zentralen Begriffe seiner Zeichendefinition adäquat bestimmt oder nicht, entscheidend ist, dass für ihn jedes Zeichen (»tout signe«) durch Iterabilität und Zitathaftigkeit charakterisiert ist, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Spezifität von 23 | Vgl. hierzu Searle 1977: insb. 203. Zur Unhintergehbarkeit der Unterscheidung von ›Gebrauch‹ und ›Erwähnung‹ vgl. Stegmüller 1969: I, 30-32. 24 | Derrida 1990: 26. Äußerungen wie die zitierte machen klar, dass Derrida ›Iterabilität‹ als Relation zwischen einzelnen Äußerungsakten, nicht aber als type-token-Relation versteht, wie dies Searle tut (vgl. Searle 1977: 206), der damit an Derridas Argumentation etwas akzeptiert, was dieser gar nicht gemeint hat. (Nur beiläufig sei hier angemerkt, dass meine Argumentation voraussetzt, dass man zwischen der Intention des Autors und der Bedeutung seines Textes gegen Searles eigene Auffassung unterscheiden kann und muss, weil sich sonst nicht sagen ließe, dass Searle in diesem Punkt Derrida missversteht, da es schwerlich seine Intention gewesen sein kann, dass er ihm – fälschlicherweise – recht gibt, indem er den Iterabilitätsbegriff anders versteht als Derrida.) 25 | Vgl. Chomsky 1969: 9 und 14f. In diesem Sinn versteht Searle ›Iterabilität‹ (vgl. Searle 1977: insb. 199).
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performativen Äußerungen bzw. des Performativen nicht mit diesen beiden Begriffen begründet werden kann, ganz im Gegenteil. Derrida weitet nämlich seine über iterative und zitathafte Zeichen bestimmte écriture aus zu einer Aussage über die ›Erfahrung des Seins‹: […] je voudrais démontrer que les traits qu’on peut reconnaître dans le concept classique et étroitement défini d’écriture sont généralisables. Ils vaudraient non seulement pour tous les ordres de ›signes‹ et pour tous les langages en général mais même, au-delà de la communication sémio-linguistique, pour tout le champ de ce que la philosophie appellerait l’expérience, voire l’expérience de l’être: ladite ›présence‹. (Derrida 1990: 29f.)
Wenn somit auch die ›transsemiotische‹ Erfahrung, ja ›die Erfahrung des Seins‹ schlechthin über die Begriffe ›Iterabilität‹ und ›Zitathaftigkeit‹ qua Konstituenten der écriture bestimmt werden, dann könnte hier der Anschlusspunkt für die Übernahme dieser Begriffe in Butlers zunächst auf ganz anderer theoretischer Basis entwickeltem gender-Konzept liegen. Doch hierzu später. Zunächst ist noch knapp zu skizzieren, warum sich Derrida überhaupt auf die »problématique du performatif« einlässt, die er zugleich als zu überwindende ausweist.26 Derrida kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es gerade performative Äußerungen sind, die die von ihm postulierte Struktur der écriture im Allgemeinen aufweisen: La différance [sic!], l’absence irréductible de l’intention ou de l’assistance à l’énoncé performatif, l’énoncé le plus ›événementiel‹ qui soit, c’est ce qui m’autorise, compte tenu des prédicats que j’ai rappelés tout à l’heure, à poser la structure graphématique générale de toute ›communication‹. (Derrida 1990: 46f.) 27
Mir geht es einzig darum, dass Derrida gerade an Austins Bestimmungsversuch des Performativen die Gültigkeit seiner allumfassen26 | Vgl. Derrida 1990: 36: »Je propose maintenant d’élaborer un peu plus cette question en prenant appui – mais pour la traverser aussi bien – sur la problématique du performatif« (Herv. v. mir). 27 | Searle hat sicherlich recht, wenn er Derridas Austin-Lektüre als Missverständnis »in several crucial ways« einstuft (Searle 1977: 203). Searles eigener Rekurs auf das Intentionalitätsargument schwächt jedoch erheblich die ›Durchschlagskraft‹ seiner Einwände.
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den écriture-Konzeption zu belegen versucht: Austins Schwierigkeiten, das Performative zu erfassen, habe eine gemeinsame Wurzel (»une racine commune«): Celle-ci: Austin n’a pas pris en compte ce qui, dans la structure de la locution (donc avant toute détermination illocutoire ou perlocutoire), comporte déjà ce système de prédicats que j’appelle graphématiques en général et brouille de ce fait toutes les oppositions ultérieures dont Austin a en vain cherché à fixer la pertinence, la pureté, la rigueur. (Derrida 1990: 38)
Iterabilität und Zitathaftigkeit sind für Derrida also gerade keine Merkmale des Performativen, sondern generelle Kennzeichen einer écriture, die als graphematische ›Struktur‹ – Derrida vermeidet natürlich den Begriff ›Struktur‹ und spricht von »ce système de prédicats que j’appelle graphématiques en général« – jeglicher énonciation vorgeordnet ist. Keine Rolle in der weiteren Diskussion spielt Derridas Andeutung, dass eine Typologie von Modalitäten der Iterabilität entwickelt werden müsste (Derrida 1990: 45), eine Typologie, die es ggf. erlaubt hätte, die für performative Prozesse spezifische Iterabilität von anderen Ausprägungen zu unterscheiden. Aufgrund der skizzierten Sachlage ist es zunächst nicht so ohne Weiteres einsichtig, warum ausgerechnet Derrida zum Anschlusspunkt späterer Verständnisse von Performativität wurde. Die ›Verästelungen‹ des ›Wurzelwerks‹ können hierbei jedoch weiterhelfen. In einem für den vorliegenden Problemzusammenhang geradezu beglückend klaren Aufsatz hat Culler skizziert, wie bei Paul de Man das Konstative und das Performative zu jeweils unhintergehbaren Bedingungen des philosophischen wie des literarischen Diskurses werden. In de Mans Aufsätzen über Rousseau, Nietzsche oder Proust the constative is the inescapable claim of language to transparency […]; and the performative […] is the rhetorical operations, the acts of language, that undermine this claim by imposing linguistic categories, organizing the world rather than simply representing what it is. (Culler 2000: 511)
Hieraus folge nun, dass die einzige Möglichkeit zu behaupten, dass Sprache performativ funktioniere, indem sie Welt hervorbringe, der Gebrauch einer konstativen Äußerung wie etwa ›Sprache bringt Welt hervor‹ sei, während umgekehrt die Behauptung der konstativen
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Transparenz von Sprache nur in einem Sprechakt möglich sei, nämlich im Sprechakt des Konstatierens, der für de Man qua Akt eine performative Äußerung konstituiert. De Man verschiebt auf diese Weise natürlich völlig die ursprüngliche Opposition von ›konstativ‹ vs. ›performativ‹, die in keiner Weise auf der Opposition von ›Transparenz‹ vs. ›Unterminierung‹ basierte, und ermöglicht deren Einbeziehung in das Paradoxon der Dekonstruktion: The deconstruction […] states the fallacy of reference in a necessarily referential mode. (De Man 1979: 125)
Paul de Mans Argumentation steht und fällt mit der den rhetorischen Verfahren grundsätzlich zugeschriebenen ›unterminierenden‹ Funktion – ein Rhetorikverständnis, das Andreas Kablitz unlängst einer grundlegenden Kritik unterzogen hat28 –, doch kommt es mir auch hierauf wiederum gar nicht an. Entscheidend für meine Argumentation ist die Tatsache, dass bei Paul de Man die ursprüngliche Opposition von zwei Sprechakttypen, die in der Alltagssprache mit unterschiedlichen Funktionen gleichermaßen Verwendung finden, in eine Sprachmetaphysik überführt wird, die Sprache einer unhintergehbaren Dichotomie von transparent-konstativ vs. unterminierend-performativ ›ausgeliefert‹ sieht, wodurch das mit rhetorischen Verfahren identifizierte Performative zum Vehikel der Dekonstruktion wird. Eine mögliche Ähnlichkeitsrelation zum Prototyp des Performativen ist solchermaßen weitestgehend aufgehoben und die Dekonstruktion dekonstruiert sich hier selbst, weil sie auf eine unhintergehbare Dichotomie gegründet wird, obgleich die Dekonstruktion ja gerade alle Dichotomien dekonstruieren will. Culler selbst geht es nicht um die fundamentale »aporia between performative and constative language«, die de Man etwa in Nietzsches Kritik der Metaphysik erkennen zu können glaubt (de Man 1979: 131), sondern um die Frage, was passiert, »when literature is construed as fundamentally performative« (Culler 2000: 503). Im Unterschied etwa zu Fischer-Lichte geht es Culler also nicht mehr um die idealtypische Performativität eines bestimmten Typs literarischer Kommuni28 | Vgl. hierzu Kablitz 2008: insb. 75-79 und 125-128, wo als Fazit aus detaillierten Textanalysen festgestellt wird, »dass die rhetorischen Ordnungen der Rede wesentlich an jenen sprachlogischen Operationen partizipieren, welche die Regeln der Grammatik definieren« (127).
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kation – des Theaters –, sondern um die Performativität von Literatur generell. Auch wenn Culler explizit an Paul de Man anschließt (ebd.: 510), steht bei ihm nicht die unüberwindbare Dichotomie bzw. Aporie von konstativ vs. performativ im Mittelpunkt, sondern die wirklichkeitskonstitutive Funktion von Literatur: Since literary criticism involves attending to what literary language does as much as to what it says, the concept of the performative seems to provide a linguistic and philosophical justification for this idea. (Ebd.: 506)
Wie eine performative wäre auch eine literarische Äußerung weder wahr noch falsch und würde den Sachverhalt allererst erschaffen, auf den sie sich bezieht (ebd.). Insgesamt kommt Culler zu dem Schluss, dass das Performative »an active world-making use of language« begründe, der »literature as act« verstehbar mache (ebd.: 507). Hinter Cullers wirklichkeitskonstitutiver Auffassung von Literatur generell steht Austins erste Annäherung an das Performative über dessen tentative Bestimmung als »Can saying make it so?« (Austin 1962: 7-11), eine Bestimmung, die als solche, d.h. isoliert von weiteren Kriterien offenkundig zu weit ist, um die spezifisch performative Wirklichkeitskonstitution von anderen »ways of world making«, wie sie etwa von Nelson Goodman entwickelt werden, abzugrenzen.29 Schließlich ist bereits in der Aristotelischen Mimesiskonzeption die wirklichkeitskonstitutive Funktion künstlerischer Fiktion impliziert. Damit das Performative also nicht mit dem Fiktionalen zusammenfällt, bedürfte es einer näheren Bestimmung von deren jeweils spezifischer Wirklichkeitskonstitution. Doch auch wenn man von dieser Problematik absieht, gelangen wir zu dem wenig befriedigenden Resultat, dass dem Performativen zum einen eine grundsätzlich konstitutiv-konstruktive (Culler) und zum anderen eine unterminierend-dekonstruktive (de Man) Funktion zugeschrieben wird. Diese unterschiedliche Funktionalisierung resultiert aus der je unterschiedlichen Isolierung und Generalisierung unterschiedlicher Einzelattribute des performativen Prototyps, so dass letztendlich derselbe Term eine oppositive Bedeutung erhält: 29 | Vgl. hierzu Goodman 1978 und Nünning 2009, der mit explizitem Anschluss an Goodman auf die »Funktionen von Literatur als fiktionaler Generierung von Weltbildern« abhebt (67, Herv. v. mir). Vgl. hierzu auch den Beitrag von König in diesem Band.
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Bei Culler fungiert er als Explanans für Literatur qua wirklichkeitskonstituierender Fiktion, während er bei de Man als Explanans für die Unmöglichkeit der Konstitution transparenten Sinns und damit notwendig einer wie auch immer gearteten ›Wirklichkeitskonstitution‹ dient. Damit gerät die ›rhizomatische Proliferation‹ des Konzepts sicherlich an ihre Grenzen, gleichwohl ist im Hinblick auf den Prototyp rekonstruierbar, wie es zu diesen ›äußersten Verästelungen‹ kommen konnte. Aber auch zwischen Austin und Culler ist das Verhältnis komplexer, als ich es bisher dargestellt habe, denn schließlich hat Austin den ›literarischen‹ Gebrauch von performativen Äußerungen aus seinen Überlegungen gänzlich ausgeschlossen, um das Funktionieren dieser Äußerungen adäquat bestimmen zu können, während bei Culler und anderen die performativen Äußerungen gerade zum Modell von Literatur werden. Dieser grundsätzlichen ›Umkehrung‹, die das zunächst Ausgegrenzte zum Kern des Konzepts macht, ist sich Culler bewusst: For Austin, literature had to be excluded in order to get at the fundamental nature of the performative; for literary theorists, literature is a primary example of the performative functioning of language. This is no small mutation. (Culler 2000: 508)
Aber auch diese ›Mutation‹ ist wiederum nur ein ›Ast‹ des ›Wurzelwerks‹, der sich von Austins Konzeption genauso unterscheidet wie von derjenigen Derridas. Während bei Culler mit dem Performativen als Konstituens des Literarisch-Fiktionalen ›Literatur‹ von ›NichtLiteratur‹ unterschieden werden soll, entzieht Derrida dem Begriff jegliche distinktive Funktion, insofern performative Äußerungen nur besonders ›auffällige‹ Realisationsmodi der écriture als ›Grundstruktur‹ transmedialer ›Sprachlichkeit‹ darstellen. Ich möchte abschließend zu zeigen versuchen, wie sich Judith Butler in diese rhizomatische Struktur einschreibt.
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5. V ON P HÄNOMENOLOGIE UND THE ATER ZU S PRECHAK T THEORIE UND D ERRIDA ODER VON B UTLER 1 ZU B UTLER 2 Wenn in neueren Verwendungsweisen des Performativitätsbegriffs auf Derrida rekurriert wird, ist dieser Rekurs meist über Butler vermittelt. Butler bezieht sich zunächst nun freilich überhaupt nicht auf Derrida. In ihrem bahnbrechenden Aufsatz zur konstruktivistischen Fundierung der gender-Kategorie von 1988 sind ihre beiden Bezugsfelder das Theatermodell und »the phenomenological theory of ›acts‹, espoused by Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty and George Herbert Mead, among others«, um solchermaßen die Art und Weise zu erklären, »in which social agents constitute social reality through language, gesture, and all manner of symbolic social sign« (Butler 1988: 519). Der Rekurs auf die Phänomenologie – ob zu Recht oder unrecht, sei hier dahingestellt – dient Butler dazu, die soziale Konstruktion30 von Geschlechteridentität einer essenzialistischen Auffassung entgegenzustellen. Versteht sich dieser frühe Aufsatz explizit als »phenomenological point of departure for a feminist description of gender« (ebd.: 522), so wird diese näher als ein ›Akt‹ charakterisiert, der zugleich intentional und performativ ist, »where ›performative‹ itself carries the double-meaning of ›dramatic‹ and ›non-referential‹« (ebd.). Wenn man das Intentionalitätsproblem einmal beiseite lässt, so ist dieses Zitat in doppelter Weise signifikant: Zum einen wird das Performative mit dem ›Dramatischen‹ identifiziert, d.h. das Theater fungiert als Prototyp des Performativen, und zum anderen rekurriert Butler hier auf die Opposition von performativ vs. referenziell, die später vielfach aufgenommen werden sollte und die nicht der Austin’schen Opposition von performativ vs. konstativ entspricht31 – 30 | Dass sich Butler hierzu nicht ausreichend auf die neuere sozialwissenschaftliche Theoriebildung bezieht, wird in Krämer/Stahlhut 2001: insb. 50f., kritisiert. 31 | Während mit ›referenziell‹ der außersprachliche Bezug von Sprache im Allgemeinen gemeint ist, stellen konstative Äußerungen einen bestimmten Typus sprachlicher Äußerungen dar, nämlich Aussagen (statements), denen ein Wahrheitswert zugeordnet werden kann. Eine prototypisch konstative Äußerung ist etwa ›Eis schwimmt auf dem Wasser‹. Alter 1990 bestimmt das Theater generell über die Funktionen des Referenziellen und des Performativen. Zum Weiterwirken dieser Opposition vgl. Fischer-Lichte 2002.
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Austin scheint von Butler zu jenem Zeitpunkt noch nicht rezipiert worden zu sein, auf jeden Fall bezieht sie sich nicht auf ihn. Demgegenüber ist für sie das Theatermodell zentral, mit dem sie durchgängig die Konstitution von gender umschreibt.32 Dabei greift sie explizit auf Victor Turners Konzept der Wiederholung zurück, wonach »social action requires a performance which is repeated« (ebd.: 526). Die Wiederholung von Akten konstituiert dabei keine »seamless identity«, im Gegenteil: […] the possibilities of gender transformation are to be found in the arbitrary relation between such acts, in the possibility of a different sort of repeating, in the breaking or subversive repetition of that style. (Ebd.: 520)
Auch noch in Gender Trouble (1990) rekurriert Butler weder auf Austin noch auf Derridas Iterationskonzept, sondern bezieht ihren Wiederholungsbegriff erneut explizit auf die mit dem Theatermodell arbeitenden Ritualtheorien von Turner und Geertz.33 Der Rekurs auf Derrida und Austin erfolgt erst in Bodies That Matter (1993), in dem es nicht mehr nur darum geht, gender, sondern das biologische Geschlecht (sex) als »an ideal construct« zu bestimmen, das sich durch die Wiederholung (»reiteration«) regulativer Normen in Form von Praktiken über die Zeit hinweg materialisiert, wobei jede Wiederholung der Norm nach Butler immer schon eine Abweichung impliziert (Butler 1993: 1f.). Die regulativen Normen von sex wirken »in a performative fashion.« ›Performativität‹ wird dabei nicht verstanden »as a singular or deliberate ›act‹«, sondern vielmehr
32 | Vgl. etwa Butler 1988: 520: »Significantly, if gender is instituted through acts which are internally dis continuous, then the appearance of substance is precisely that, a constructed identity, a performative accomplishment which the mundane social audience, including the actors themselves, come to believe and to perform in the mode of belief.« 33 | Vgl. Butler 1990, 140: »In what senses, then, is gender an act? As in other ritual social dramas, the action of gender requires a performance that is repeated. This repetition is at once a reenactment and reexperiencing of a set of meanings already socially established; and it is the mundane and ritualized form of their legitimation.« In der Anmerkung zu dieser Stelle wird auf Turner und Geertz verwiesen (Butler 1990: 169, A. 71).
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[…] as the reiterative and citational practice by which discourse produces the effects that it names. (Ebd.: 2)
Verweist der Schluss des Zitats ganz eindeutig auf das Verständnis des Performativen, wie es Austin zu Beginn von How to Do Things with Words entwickelt hat34 – d.h. es geht nicht um ›Akte‹ im Sinn der Phänomenologie, sondern um den konstitutiven Charakter von Sprechakten –, so signalisiert auch der Beginn einen neuen Theoriehorizont: Der Wiederholungsbegriff wird nun nicht mehr theatralisch-ritualtheoretisch fundiert, sondern unter Rekurs primär auf Lacan und sekundär auf Derrida, wobei das Merkmal der Zitathaftigkeit eindeutig Derridas écriture-Konzeption aufruft.35 Bei Butler werden die Kategorien der ›Iterabilität‹ und der ›Zitathaftigkeit‹ nun allerdings zum Merkmal des Performativen und Derrida implicite zu einem Performativitätstheoretiker. Wie ich zu zeigen versucht habe, geht es Derrida um mehr und anderes als eine »critical reformulation of the performative« (Butler 1993: 13), so dass die so wirkungsmächtige Bindung des Performativitätsbegriffs an ›Iterabilität‹ und ›Zitathaftigkeit‹ nicht Derrida, sondern der Derrida-Rezeption Butlers zuzuschreiben ist, die mit Hilfe dieser Begriffe, wie schon Derrida selbst, die intentionalistische Fundierung der Sprachtheorie im Allgemeinen und der Sprechakttheorie im Besonderen zu überwinden versucht, sich damit aber das sprach34 | Vgl. hierzu auch folgende explizite Bezugnahme: »Within speech act theory, a performative is that discursive practice that enacts or produces what it names.« (Butler 1993: 13) 35 | Butler selbst macht ihre Theoriebezüge folgendermaßen explizit: »In what follows, I make use of the Lacanian notion that every act is to be construed as a repetition, the repetition of what cannot be recollected, of the irrecoverable, and is thus the haunting spectre of the subject’s deconstitution. The Derridean notion of iterability, formulated in response to the theorization of speech acts by John Searle and J. L. Austin, also implies that every act is itself a recitation, the citing of a prior chain of acts which are implied in a present act and which perpetually drain any ›present‹ act of its presentness.« (Butler 1993: 244, A. 7) Der gleichzeitige Bezug auf Lacan und Derrida scheint freilich nicht unproblematisch zu sein, denn wenn nach Lacan jeder Akt als »repetition of […] the irrecoverable« zu verstehen ist, dann kann er schwerlich zugleich ›zitierbar‹ im Derrida’schen Sinne sein – das, woran man sich nicht erinnern kann, kann man auch nicht zitieren.
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theoretisch problematische Konzept der Zitathaftigkeit ›einhandelt‹, über das diskursive Praktiken aufgrund der Verwechslung von ›Erwähnung‹ und ›Gebrauch‹ diskursiver Einheiten nicht adäquat beschrieben werden können. An Derrida anschließbar ist auch die Ausweitung des Iterationsund Zitathaftigkeitskonzepts auf soziale Praktiken, insofern Derrida selbst, wie wir gesehen haben, seine Charakterisierung der écriture auf die Erfahrung in toto, »voire l’expérience de l’être: ladite ›présence‹« (Derrida 1990: 30) ausweitet. Butlers neues Theoriedesign in Bodies That Matter verdankt sie einerseits, wie sie selbst explizit feststellt,36 dem Aufsatz von Sedgwick 1993, die zum einen kritisiert, dass Performativität in der zu jener Zeit aktuellen Diskussion zu ausschließlich mit theatraler Performanz identifiziert werde und die zum anderen wohl als erste einen Zusammenhang von Sprechakttheorie und Dekonstruktion herstellt, auf den sie in Parker/Sedgwick 1995 wiederum verzichtet. Hier geht es nur um die Opposition von Theatermodell einerseits und Dekonstruktion andererseits hinsichtlich des Verständnisses von ›Performativität‹: […] while philosophy and theater now share ›performative‹ as a common lexical item, the term has hardly come to mean ›the same thing‹ for each. Indeed, the stretch between theatrical and deconstructive meanings of ›performative‹ seems to span the polarities of, at either extreme, the extroversion of the actor, the introversion of the signifier. (Parker/Sedgwick 1995: 2)
Was auch immer mit der ›Introversion des Signifikanten‹ gemeint sein mag, offenkundig ist, dass Parker/Sedgwick ein grundlegend verschiedenes Verständnis von ›performativ‹ im Rahmen des Theatermodells einerseits und der Dekonstruktion andererseits konstatieren, das seinen Ursprung in der dekonstruktivistischen Lektüre Austins hat: He [sc. Austin] disowns or dismantles ›performativity‹, that is, as the name of a distinct category or field of utterances (that might be opposed to the 36 | Vgl. Butler 1993: 281, A. 3: »I am indebted to her [sc. Sedgwick’s] provocative work and for prompting me to rethink the relationship between gender and performativity.«
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›constative‹); and indeed the use that deconstruction has had for ›performativity‹ begins with the recognition of it as a property common to all utterance. (Sedgwick 1993/2006: 607)
Die dekonstruktivistische Lektüre von Austin geht dabei auf Felman 1983 zurück, die als erste How to Do Things dergestalt interpretierte, »dass das, was Austin in seiner Theorie der Sprechakte sagt, und das, was Austin im Rahmen seiner Untersuchung der Sprechakte tut, auseinanderklafft« (Wirth 2002: 24).37 Solchermaßen wird in Austins Text jene »aporia between performative and constative language« ›hineingelesen‹, die für das dekonstruktivistische Sprach- und Textverständnis, wie wir gesehen haben, grundlegend ist. Dass Austins Text auch anders gelesen werden kann, habe ich gleichfalls anzudeuten versucht. Ich will die Doxographie des Performativen hier nicht weitertreiben. Worauf es mir ankam, war, die fundamental ›rhizomatische Struktur‹ des Konzepts herauszuarbeiten, die mir allein schon deswegen nicht auf einen wie auch immer gearteten ›Kern‹ zurückführbar scheint, weil es im Rahmen der ›Verästelungen‹ der Theorie zu kontradiktorischen Bestimmungen des PP-Konzepts kommt. Die Fruchtbarkeit des Konzepts scheint nun gerade darauf zu beruhen, dass es durch seine rhizomatische Struktur eine ungewöhnliche Vielfalt von Anschlussmöglichkeiten bot, die die Theoriebildung in einer Mehrzahl von Disziplinen wesentlich befördert hat, auch wenn es z.T. zu ›Überdehnungen‹ kam, die die Distinktivität des Konzepts und damit dessen deskriptive Leistungsfähigkeit einschränkten.
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Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus linguistischer Perspektive Ekkehard König
0. E INLEITUNG In der aktuellen Theoriediskussion1 vieler Geistes- und Sozialwissenschaften spielen die Begriffe ›performativ‹, ›Performanz‹ und ›Performativität‹ eine wesentliche Rolle (vgl. Parker/Sedgwick 1995; Wirth 2002; Fischer-Lichte 2004; Bachmann-Medick 2006; Loxley 2007). Der hohe Gebrauchswert dieser Begriffe wird jedoch selten durch geeignete Begriffsexplikationen oder Ausführungen zu einer kohärenten Theorie des Performativen unterfüttert. Viele Diskussionen berufen sich auf Theorien von J. L. Austin, von Judith Butler und auf neuere Theorien des Theaters, ohne jedoch klare Vorstellungen davon zu haben, was an diesen Theorien die wesentlichen Fundamente für eine Theorie des Performativen sind. Es wird auf »verschiedene, durchaus gegenläufige Lesarten« der Performanz/Performance-Begriffe in verschiedenen Disziplinen hingewiesen, die »keine bruchlos gemischte Gemengelage« erzeugten (Schuhmacher 2002: 383; Bachmann-Medick 2006: 109).2 Dieser Diskussionsstand ist der 1 | Dieser Aufsatz hat viel von Diskussionen mit Sybille Krämer und mit Irmgard Maassen profitiert, denen ich an dieser Stelle danken möchte. 2 | Als Beispiel dafür, wie schwer sich einzelne Autor/inn/en tun, den Kern (einer Theorie) des Performativen in einem Satz zu charakterisieren, sei der Eingangssatz eines an sich eindrucksvollen Kapitels über die performative Wende in den Kulturwissenschaften zitiert: »Der performative turn lenkt die
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Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag, der eine rückblickende Aufarbeitung der verschiedenen Theoriekonzepte des Performativen unternehmen möchte. Auf der Grundlage einer klaren Begriffsexplikation soll versucht werden, Bausteine für eine übergreifende Theorie des Performativen zu liefern. Diese Theorieskizze soll den folgenden Anforderungen gerecht werden: a. Sie muss sich an der Begriffsgeschichte orientieren, ohne unbedingt dem Anspruch zu genügen, diese exakt nachzuzeichnen. Eine genaue Untersuchung der häufig zitierten Quellen für eine Theorie des Performativen (vgl. Hempfer, in diesem Band) zeigt, dass diese Quellen häufig unzulänglich aufgearbeitet und verstanden wurden. b. Sie sollte als allgemeine Theorie für eine Vielzahl von Disziplinen relevant sein und gegebenenfalls auch Theorien einbeziehen, die nicht unter dem Etikett »Performativität« laufen.3 Die Auffassung, verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen hätten unterschiedliche Konzeptionen des Performativen, die lediglich durch »Familienähnlichkeit von Fall zu Fall« (Wittengenstein) miteinander verwandt sind, steckt m.E. ihre Ziele zu eng, da sie von vornherein auf jeden Versuch verzichtet, klare Konturen für die Theorie zu schaffen. Zudem mag die Annahme einer Prototypenstruktur für Alltagsbegriffe gerechtfertigt sein, sie ist es m.E. allerdings nicht für wissenschaftliche Begriffe. c. Die grundlegenden Sätze der Theorie müssen so allgemein gehalten sein, dass sie die intuitiv relevanten Phänomene einzelner Disziplinen subsumieren können. Die einzelnen Elemente der Theorie müssen in einem klaren, kohärenten Zusammenhang stehen. Das bedeutet einmal, dass nicht alles, was in einzelnen Disziplinen als Charakteristikum des Performativen angesehen Aufmerksamkeit auf die Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen bis hin zur sozialen Inszenierungskultur« (Bachmann-Medick, 2006: 104). Auf einen Nenner gebracht, ginge es also um Ausdrucksformen und Inszenierung sowie um Fokussierung dieser Inszenierung von (allen möglichen) Handlungsereignissen, d.h. um einen eher marginalen Aspekt. 3 | Das gilt, wie später gezeigt wird, insbesondere für Sprachtheorien, die unter der Bezeichnung ›usage-based theories‹ diskutiert werden.
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wird, in eine allgemeine Theorie aufgenommen werden kann, und andererseits, dass die einzelnen Aussagen über Eigenschaften nicht widersprüchlich sein dürfen, sondern miteinander vereinbar sein müssen. So ist es absolut sinnvoll und verständlich, dass aus der Sicht der Theaterwissenschaft das »Ereignishafte« (der Aufführung) als fundamental für Performativität angesehen wird (vgl. Fischer-Lichte 2004) und dass J. Butler das Prozesshafte der performativen Identitätskonstitution betont. In einer Typologie von Situationen, die letztlich auf Aristoteles zurückgeht (vgl. Mourelatos 1978), sind Prozesse und Ereignisse allerdings gegensätzliche Typen von Situationen: Ereignisse haben klare zeitliche Konturen und enthalten eine Zustandsänderung, während dies für Prozesse nicht gilt. Daher können das Prozesshafte und das Ereignishafte nicht zugleich zu den zentralen Eigenschaften des Performativen gerechnet werden. d. Dabei sind die Begriffe ›performativ‹ und ›Performativität‹ relativ restriktiv zu handhaben. Eine metonymische Ausweitung der Begriffe für verwandte Phänomene ist nicht unbedingt sinnvoll, wenn für die jeweiligen Phänomene bereits andere, wohletablierte Begriffe zur Verfügung stehen, beispielsweise etwa ›Deixis‹, ›Illokution‹, ›Gestik‹, ›dialogisch‹, ›Inszenierung‹ etc. Diese aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive formulierten Anforderungen lassen es sicherlich nicht zu, alle Ideen und Ansätze zu integrieren, die als »Theorien der Performativität« diskutiert werden. Dieser Nachteil wird – so hoffe ich – dadurch ausgeglichen, dass die Konturen der Theorie deutlicher werden.
1. Z UR GESCHICHTE DES B EGRIFFS 1.1 Sprachphilosophie Geprägt wurde der Begriff ›performative‹ von J. L. Austin im Rahmen seiner posthum veröffentlichten Vorlesungen »How to Do Things with Words«, in denen er die heute allgemein akzeptierte Auffassung vertrat, dass Sprechen immer auch eine Art des Handelns ist. Die Unterscheidung zwischen ›konstativen‹ (weltbeschreibenden, nach wahr oder falsch beurteilbaren) und ›performativen‹ (weltverändernden) Äußerungen bzw. Handlungen, die glücken oder missglücken
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können, die Austin in diesem Zusammenhang einführte, wurde im Laufe der Vorlesungen mit der Feststellung aufgegeben, dass sich keine klaren grammatischen Kriterien für diese Unterscheidung finden lassen, dass auch die sogenannten ›konstativen‹ Äußerungen glücken oder missglücken können und dass folglich die Handlungsdimension von Äußerungen (›die Illokution‹ neben dem Weltbezug der ›Lokution‹) ein Aspekt jeder Äußerung ist. Nur eine kleine Klasse von Äußerungen wird von Austin und einigen Sprachphilosophen nach ihm (vgl. Austin 1967: 149; Searle 1969, 1989) weiterhin als (explizit) performative Äußerungen ausgezeichnet, nämlich Äußerungen der Form »Ich eröffne hiermit die Sitzung«, »Ich erteile Ihnen hiermit eine Abmahnung« oder »Ich ernenne Sie kraft meines Amtes zum Minister«. Nur durch solche Äußerungen (typische Form: Subjekt der 1. Person, Präsens, Objekt der 2. Person, Adverb hiermit), die das, was sie besagen, zugleich vollziehen,4 wird die Wirklichkeit entsprechend den geäußerten Worten verändert. Dazu ist allerdings ihre Einbettung in den Kontext menschlicher Kulturen und Institutionen nötig, in denen z.B. Zuständigkeiten, Rechte, Verpflichtungen und rituelle Formen von Handlungsvollzügen geregelt werden. Nur in diesen Fällen gilt »saying makes it so«. Durch Äußerungen, in denen der Handlungstyp nicht durch das entsprechende Kommunikationsverb (wie z.B. taufen, ernennen, befehlen, gratulieren, beantragen, eröffnen, garantieren, entlassen) explizit gekennzeichnet ist und die nicht in den Kontext formaler oder auch informeller Institutionen eingebettet sind, kann zwar auch eine soziale Situation zwischen Gesprächspartnern verändert werden: Die sogenannten ›Illokutionen‹, die eine Dimension jeder Äußerung sind, können Verpflichtungen für Sprecher (Versprechen, Garantien, Einladungen, Behauptungen etc.) oder Hörer (Ratschläge, Anweisungen, Fragen, Bitten etc.) einführen und positive oder negative Wirkungen auf Hörer/innen ausüben (Komplimente, Lob, Würdigung vs. Drohungen, Beschimpfungen, Kritik). Eine wirklich4 | Es handelt sich hier um mehr als Gleichzeitigkeit. Die relevante Relation ist am treffendsten als eine INDEM-Beziehung zu charakterisieren (Indem man p äußert, tut man q), die als grundlegende Relation jeder Handlungstheorie nicht durch elementarere Relationen expliziert werden kann (vgl. Searle 1969: 24; Goldman 1971). E. Koschmieder (1945), der als erster auf die besondere Form und Funktion von explizit performativen Äußerungen aufmerksam gemacht hat, spricht hier vom »Koinzidenzfall«.
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keitskonstituierende Kraft im Sinne eines »saying makes it so« haben solche Äußerungen allerdings nicht. S. Krämer (2010) spricht hier von einem schwachen Performativitätskonzept. Darunter wäre dann eventuell auch das subsumierbar, was in der Sprechakttheorie als ›perlokutionäre Akte‹ bezeichnet wird, d.h. nicht-simultane Wirkungen von Äußerungen auf die Addressat/inn/en, die mit Verben wie überraschen, erstaunen, verärgern, trösten, betroffen machen, überzeugen, betören, anregen etc. bezeichnet werden. In der Literaturwissenschaft werden solche Wirkungen, also die emotionale oder sinnliche Affizierung von Leser/inne/n durch den Text, als ›funktionale Performativität‹ zum Kernbereich des Performativen gerechnet (vgl. Häsner/ Hufnagel/Maassen/Traninger in diesem Band). Dass damit der Begriff erheblich weiter in seiner Extension und somit schwächer in seinen Konturen wird, ist offensichtlich. Der auf Austin zurückführbare Begriff des Performativen kann also durch folgenden Satz ausbuchstabiert werden: i. Durch sprachliche Äußerungen einer spezifischen Form kann im Kontext (formaler und informeller) gesellschaftlicher Institutionen eine neue Wirklichkeit konstituiert werden. Damit steht ein bestimmter Gebrauch von Sprache und nicht ihre Struktur oder ihre Repräsentationsfunktion im Vordergrund. Durch die o.g. Bedingungen (explizite performative Formeln, Einbettung in institutionelle Kontexte) werden schon von Austin klare und enge Grenzen für diese wirklichkeitskonstituierende Kraft von Äußerungen formuliert. Dass die Erschaffung der Welt oder verschiedener Weltzustände Gott vorbehalten bleibt (»Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.«), bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Einen vergleichbaren Wirkungsradius haben explizit performative Äußerungen höchstens noch in Spielen von Kindern (»Ich bin jetzt die Polizei, und das ist ein Polizeiauto.«).5
5 | Virtuelle Welten können natürlich auch durch Literatur oder sogar durch elementarere sprachliche Strukturen wie kontrafaktische Bedingungssätze (Wenn ich der Papst wäre …) oder durch Satzeinbettung nach welterschaffenden Verben (Ich träumte/stellte mir vor, dass …) erzeugt werden. Wenn Austin den Vollzug von Sprechakten im Theater für »void« (leer) erklärt, übersieht er ihre wirklichkeitskonstituierende bzw. illokutionäre Kraft, die
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Von Relevanz sind diese Grenzen dort, wo bestimmte Behauptungen über andere Menschen oder über geschichtliche Ereignisse als kriminelle Handlungen (Verleumdungen, Beleidigungen, üble Nachrede, Diffamierungen, Holocaust-Lüge) mit Strafen belegt werden, obwohl sie in keiner Weise eine wirklichkeitskonstituierende Wirkung haben und durch Konfrontation mit historischen Fakten als unhaltbar nachweisbar sind. Das Problem besteht hier wohl nicht in der Etablierung einer neuen Sicht der Geschichte, sondern im Tatbestand der Diffamierung. Hier gibt es allerdings einen Übergangsbereich, zu dem nicht nur die Aussagen über erlebte Wirklichkeit in einem psychotherapeutischen Diskurs oder auch die self-fulfilling prophecies gehören, sondern auch Werturteile und Bewertungen, wenn sie wiederholt getroffen werden6 (etwas schlecht/schön reden, jemanden kriminalisieren etc.) und somit die Wirkung erzielen, die durch den lateinischen Satz ›semper aliquid haeret‹ in ihrer negativen Spielart treffend gekennzeichnet wird. Hier wird vielleicht keine neue Wirklichkeit geschaffen, aber eine neue Sicht etabliert. Ein interessanter Fall sind hier auch die Tatsachenentscheidungen von Schiedsrichtern, die zwar durch Videoaufnahmen in ihrer faktischen Basis widerlegt sein können, aber dennoch die für den Rest eines Spiels und einen Wettbewerb insgesamt relevanten Tatsachen und Folgen etablieren. Für die weitere Diskussion und den weiteren Ausbau dieser Grundgedanken waren die Arbeiten von Judith Butler von großer Bedeutung. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren primär Butlers Ideen zur Sprachphilosophie, d.h. zur Performativität der Sprache. Gegenüber den Grundgedanken Austins hat Butler die Bereiche, in denen sprachliche und andere symbolische Praktiken die Wirklichkeit konstituieren, in mehrfacher Weise ausgeweitet:7 (a) sprachlich gesehen, von einzelnen Sprechakten auf Diskurse und die damit verfür die fiktionale Welt der konkreten Aufführung gilt (vgl. Hempfer in diesem Band). 6 | Auf die Rolle von Wiederholung (Iteration) wird besonders in den sprachphilosophischen Arbeiten von Derrida (1988) und Butler (1990, 1995, 1998) hingewiesen. Für Derrida ist Iterabilität allerdings kein Merkmal des Performativen (vgl. Hempfer in diesem Band). 7 | Dass sich J. Butler erst in ihrem Buch Excitable Speech (1997) detailliert mit Austin auseinandersetzt, ist für die hier vorgenommene systematische Einordnung nicht von Belang.
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bundenen Unterscheidungen, (b) auf nicht-sprachliche symbolische Praktiken des Verhaltens, insbesondere auf Verkörperungen, und (c) referenziell, auf Phänomene der Identitätskonstitution und damit verbundene Bezeichnungen und Kategorisierungen. Indem Butler die Foucault’sche Diskurstheorie durch Anleihen bei der Sprechakttheorie erweitert, richtet sie den Blick nicht nur, wie die Poststrukturalisten vor ihr, auf die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Diskursen – darauf, ›wie die Sprache uns spricht‹. Vielmehr bietet sie durch die Hereinnahme der Konzepte der Zitation und Iteration ein Modell an, wie sprachliche bzw. diskursive Praxis wirklichkeitsverändernd wirken kann – nämlich durch die Möglichkeit der Variation oder parodistischen Subversion vorgegebener Handlungs- oder Identitätsskripte.8 Ihre Fokussierung auf die Konstitution von gender identity führt zu einer Akzentverschiebung auf ›bodily acts‹ – körperliches Handeln – und auf die Inszenierung von Alltagshandlungen. Beides wird nun, in Analogiebildung zu performativen Sprechakten, den wirklichkeitskonstituierenden symbolischen Praktiken zugeschlagen. Geschlecht – tatsächlich jegliche Identität − ist nicht ontologisch vorgegeben, sondern Ergebnis kultureller Praxis (performing/doing gender).9 Dabei ist besonders die subversive Re-Signifikation von ›gendered acts‹ auf ständige Wiederholung angewiesen und führt stets nur zu einer Annäherung an ein Ideal und nie zu einem Abschluss. Butler revidiert damit die konventionelle Vorstellung von Identität: Anstatt Identität als naturgegebenen Zustand (K. ist ein Mann/eine Frau) zu be8 | Das Gemeinsame von Austin und Butler darin zu sehen, dass beide den »Vollzug performativer Akte als ritualisierte Aufführungen« begreifen und dass »Aufführungen sowohl Austin als auch Butler geradezu als Inbegriff des Performativen erscheinen« (Fischer-Lichte 2004: 41), halte ich nicht für gerechtfertigt. Bei Austin ist performance eher als ›Ausführung‹ und nicht als ›Aufführung‹ zu übersetzen, und für diese Ausführungen gibt es konventionelle Verfahren. Das gilt nicht in gleichem Maße für die gendered acts oder re-significations von Butler, aber bei Butler liegt die unterminierende Kraft der gendered acts (eigentlich ›gendering acts‹) in ihrem parodistischen Potenzial – das Zitieren, Nachahmen wird bewusst gemacht. Das geht nur mit ostentativer Einhaltung und Übersteigerung der Konventionen. 9 | »Gender identity is performative, which means […] that it is real only to the extent that it is performed. […] If gender attributes, however, are not expressive but performative, then these attributes effectively constitute the identity they are said to express and reveal.« (Butler 1990: 278f.)
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trachten, wird sie als Produkt einer Strukturierung durch wiederholte Handlungen definiert, d.h. als ein Prozess aufgefasst, der sich seinem Ziel immer nur annähert. Es erfolgt eine Umkehr der Fokussierung von einer zugrundeliegenden Essenz oder Tiefe (biologisch gegebenes Sein) auf die Oberfläche (Verhalten). Der wesentliche Beitrag von Butler zur Theorie der Performativität kann in etwa folgendermaßen zusammengefasst werden: ii. Die wirklichkeitskonstituierende Wirkung sprachlicher Handlungen zeigt sich auch in Diskursen und symbolischen Praktiken allgemein und betrifft auch als ›essenziell‹ oder naturgegeben begriffene kategoriale Unterscheidungen und damit verbundene Normen. Die in dominanten Diskursen konventionalisierten Unterscheidungen und Bewertungen können jedoch nur durch Wiederholung, durch Iteration gegenläufiger Handlungen verändert werden. Die zahlreichen neueren Untersuchungen zu verbalen Aggressionen (›hate speech‹, ›harmful speech‹, ›verbal aggression‹) berufen sich z.T. auch auf Austin und Butler (1997), soweit sie an den anthropologischen Voraussetzungen und den rhetorischen Strategien interessiert sind10 (vgl. Herrmann/Krämer/Kuch [Hg.] 2007; Krämer/Koch [Hg.] 2007). Im Mittelpunkt steht hier das Phänomen, dass verbale Akte zu seelischen, psychosomatischen und sogar körperlich manifesten Verletzungen führen können. Bei Austin und in der Sprechakttheorie allgemein wird diese Thematik über die perlokutionären Akte, die zeitlich versetzten Wirkungen von sprachlichen Handlungen, angesprochen, die positiv (Trost, Ermunterung), aber auch negativ und destruktiv (Beleidigung, Spott, Demütigung) sein können. Butler widmet sich dem Thema verbale Aggression vor allem in dem Buch Excitable Speech (1997) und diskutiert primär Fragen diskriminierender Kategorisierung. Zu den zentralen Aussagen des Buches gehört auch die These, dass diskriminierende und beleidigende Konnotationen aus Bezeichnungen eliminiert werden können, wenn die entsprechenden Termini wie z.B. queer, gay, homosexual in positiven Kontexten iterativ 10 | In den zahlreichen Arbeiten der Sozialwissenschaften zu dieser Thematik geht es vor allem um Gefährdung des Zusammenhalts in einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft durch rassistische, sexistische und altersbezogene verbale Aggressionen.
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umkodiert werden. Durch Iteration in positiv konnotierten Kontexten erfolge eine ›Re-inskription‹. Auch hier zeigt sich die Macht des Performativen in der Überschreitung des Symbolischen zum Realen, entweder mit verletzender oder mit wohltuender Wirkung. Sprache und andere symbolische Praktiken sind Instrumente, die für beide Zwecke eingesetzt werden können.
1.2 Theater wissenschaft Der Begriff des ›Performativen‹ als Kernbegriff der Theaterwissenschaft ist, wie die Ausführungen von Fischer-Lichte (2004) zur Ästhetik des Performativen zeigen, m.E. nicht geradlinig mit Austin oder Butler verknüpfbar oder vermittelbar und entstammt einem anderen Diskurszusammenhang. In Analogie zu den Thesen der beiden Philosophen könnte man natürlich sagen, dass das Theater fiktive Welten erzeugt. Aber dies wäre eine Analogie, die keine neuen Horizonte eröffnet. Um die Verbindung zwischen philosophischen Sprachreflexionen und theaterwissenschaftlichen Performanzdebatten herzustellen, ist nach meiner Überzeugung eine sprachwissenschaftliche Unterscheidung als Bindeglied wichtig, die in den fünfziger und sechziger Jahren zusammen mit der Theorie der generativen Grammatik, in die sie eingebettet war, ein großes Echo in den Geisteswissenschaften fand: Chomskys Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz. Nach Auffassung Chomskys liegt jeder Äußerung, jedem Sprechen oder konkreten Sprachgebrauch, was durch die Theatermetapher Performanz bezeichnet wird, unsere Kompetenz zugrunde, d.h. unser unbewusstes Wissen über die Prinzipien der Kombinatorik unserer Sprache. Performanz ist für Chomsky die durch kontingente Faktoren wie Aufmerksamkeit, Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses, körperliche Verfassung, emotionale Involviertheit etc. beeinflusste Aktualisierung des zugrunde liegenden Regelsystems. In der theaterwissenschaftlichen Performativitätsdiskussion spielt allerdings nicht das von Chomsky beschriebene Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz eine Rolle, sondern die Unterscheidung selbst, und zwar unter genauer Umkehrung der hierarchischen Ordnung zwischen Kompetenz und Performanz, wie sie in der generativen Grammatik Chomskys postuliert wird. Hier ist der Ausgangspunkt der Performativitätsdebatte in der Theaterwissenschaft zu sehen: Es geht um die Inversion der traditionellen Sichtweise, die dem Dramentext gegenüber seiner Insze-
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nierung und Aufführung den Primat einräumt, im Sinne einer Akzentverlagerung, die die räumlich und zeitlich situierte und damit flüchtige Aufführung in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig wird die Kategorie der Aufführung von der Domäne des Theaters auf andere kulturelle Praktiken und sogar Alltagsphänomene ausgeweitet. Für diese als zentral betrachtete Aufführung sind nach Fischer-Lichte (2004) u.a. folgende Bedingungen konstitutiv: die Ko-präsenz und Interaktion von Akteuren und Zuschauern, die Erfahrung eines Ereignisses als gegenwärtig und flüchtig, sowie das Hervorbringen einer nicht andernorts vorgegebenen Bedeutung im Verlauf des Aufführens. Diese Konzeption des Theaters kann sich m.E. nicht einfach auf die sprachphilosophischen Reflexionen von Austin und Butler berufen, sondern sie beruht grundsätzlich auf einer Umkehrung des traditionellen Verhältnisses zwischen ›Tiefenstruktur‹ (Text des Kunstwerkes) und ›Oberfläche‹ (im hic et nunc verankerte Aufführung) und wird dann durch die genannten Eigenschaften für die Ästhetik des Theaters weiter spezifiziert. Analoges gilt für das Musiktheater und das Konzert, bei denen eine performative Perspektive all das in den Mittelpunkt rückt, was nicht in einer Partitur festgeschrieben ist (vgl. Risi 2010). Die Aufzeichnung einer Aufführung ist demgegenüber keine Aufführung, ebenso wenig wie im Englischen die im Präteritum oder im Präsens des progressiven Aspekts gegebene Erklärung einer explizit performativen Äußerung eine explizit performative Äußerung ist.11 Bevor ich auf eine bei aller Unterschiedlichkeit des untersuchten Gegenstandes vergleichbare Auffassung von Sprache und Sprachwissenschaft eingehe, soll wiederum der Beitrag der Theaterwissenschaft zur Theorie der Performativität in der Sicht von Fischer-Lichte (2004) festgehalten werden: 11 | Das wird z.B. im folgenden Dialog aus J. M. Coetzee, Disgrace (1999: 58) veranschaulicht, in dem es um die Interpretation bzw. Typisierung des Entwurfs einer Erklärung geht, die ein ›Angeklagter‹ (D) abgeben soll. M: »You are not being instructed to repent. […] You are being asked to issue a statement« – D: »Am I being asked to issue an apology about which I may not be sincere?« – M: »[…] The criterion is whether you are prepared to acknowledge your fault in a public manner and take steps to remedy it.« Dieser Erklärungsversuch für einen im Textentwurf vorgesehenen Sprechakt wird im Englischen nicht im einfachen Präsens, sondern in der Progressivform des Präsens ausgedrückt.
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iii. Performative Theorien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Wirkungsrichtung zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur, zwischen Regel und Anwendung oder zwischen Text und Aufführung umkehren oder zumindest durch eine bidirektionale Dynamik ersetzen. Sie tendieren so zu einer Fokussierung der Oberfläche, der Realisierung bzw. der Aufführung. Gegenüber traditionellen essenzialistischen Auffassungen, nach denen der innere Kern die Bedeutung enthalte, erfolgt eine Rehabilitierung der Oberfläche. Den allgemeinen Kern des Performativbegriffes sehe ich also in der Umkehrung der traditionellen Sicht vom Primat des zeitlosen Werkes gegenüber seiner Aufführung und nicht in den Bedingungen, die als konstitutiv für eine Aufführung gesehen werden. Auf andere Disziplinen sind die zuletzt genannten Bedingungen ebenso wenig übertragbar wie die Bedingungen des Glückens von Sprechakten Austins und Searles auf die Theaterwissenschaft. Wie aus der vorausgehenden These (iii) hervorgeht, handelt es sich bei der Rehabilitierung der Oberfläche primär um eine Akzentverschiebung, um eine bidirektionale Dynamik zwischen Tiefe und Oberfläche oder auch um die Betonung der Wirkungsrichtung von der Oberfläche auf die Tiefe. Nur im Extremfall wird man auf diese begriffliche Opposition ganz verzichten können, so wie bei der Performance-Kunst oder beim happening, wo es kein zugrunde liegendes Skript gibt. Gelegentlich ist von der Möglichkeit einer flachen Ontologie, d.h. einer völligen Aufgabe der Unterscheidung zwischen Sprache und Sprechen, auch in der Sprachphilosophie die Rede (vgl. Krämer/König 2002). Über die Problematik dieser Position wird später zu reden sein. Hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass etliche Schlüsselbegriffe in der Performativitätsforschung selbst da noch implizit die Annahme von einer zugrunde liegenden Struktur bewahren, wo sie den Akzent auf die von der Struktur losgelöste Manifestation verschieben. Sowohl die ›Inszenierung‹ als auch die Rede von ›performance‹ im Sinne von ›Leistung‹ oder Virtuosität (›remarkable for its performance‹) beziehen sich auf die Realisierung oder Aufführung eines Schemas oder Textes. Als ›Emergenz‹ werden Effekte und Resultate bezeichnet, die von zugrunde liegenden Schemata und ihrer Realisierung nicht völlig determiniert werden, und als ›serendipity‹ unerwartete ›Funde‹ im Prozess einer Ausführung und Suche darstellen. Ebenso kann man von ›Transgressionen‹ nur bezogen auf ein Schema bzw. eine vorgegebene Struktur sprechen. Und
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nach einer weitverbreiteten Auffassung sind viele Veränderungen das Resultat einer Reihe von minimalen Überschreitungen, die dann als Makroeffekt einen kreativen Akzent setzen können. An dieser Stelle soll nur noch an einigen Beispielen verdeutlicht werden, welche Konsequenzen die Akzentverschiebung von einer als essenziell begriffenen, zugrunde liegenden ›Tiefenstruktur‹ (Schema, System, Ontologie) zu einer Manifestation (Anwendung, Gebrauch) für einzelne Begriffe und Phänomene hat. So steht z.B. einem essenzialistischen Begriff kollektiver Identität, der durch ethnischen Hintergrund, Geschichte, Religion, Kultur, Sprache etc. bestimmt ist, eine Konzeption gegenüber, die im Wesentlichen durch Handlungen der Identifikation mit bestimmten kulturellen Werten oder auch mit sprachlichen Normen (in Dialekten, in der Jugendsprache etc.) bestimmt wird. An die Stelle einer Konzeption von Räumen als durch geographische oder bauliche Gegebenheiten begrenzt kann eine Konzeption treten, in der Räume durch die Bewegung eines handelnden Subjekts oder durch sprachliche Raumdeixis erschlossen und etabliert werden. Gegen Konzeptionen von Gefühlen als mentale und/oder körperliche Zustände kann eine Konzeption gestellt werden, die Gefühlshandlungen bzw. die rituelle Produktion von Gefühlen (Trauerrituale, Rituale des Liebeswerbens etc.) betont. In der Literaturwissenschaft lässt sich die Auffassung, dass Textbedeutung im Text verankert und durch geeignete Methodik zu eruieren sei, einer Auffassung gegenüberstellen, die die historisch und kulturell situierte Rezeption durch Leseakte in den Mittelpunkt der Interpretation rückt. Bei Gemäldeausstellungen könnte man die Aufmerksamkeit weniger auf die Menge und Qualität der Exponate als vielmehr auf ihre kontextuelle Einbettung und Anordnung richten. Irit Rogoff spricht in diesem Zusammenhang in verschiedenen Publikationen von Ereignissen des Wissens auf der Bühne der Ausstellung. In den Sozialwissenschaften, um ein letztes Beispiel zu nennen, löst die Vorstellung einer durch Rituale sich selbst in ständigem Prozess definierenden Gemeinschaft die Vorstellung ab, dass Gemeinschaft durch essenzielle Eigenschaften (Verwandtschaft, gemeinsame Religion, Ethnie) definiert sei.
1.3 Ritualtheorie Damit ist neben Sprachphilosophie und Theaterwissenschaft eine weitere Quelle für die Entwicklung von Konzeptionen und Theo-
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rien der Performativität angesprochen, die Ethnologie und Soziologie. Insofern sich diese Disziplinen mit Ritualen beschäftigen, hat der Begriff der ›performance‹ für sie schon lange eine zentrale Rolle gespielt. Systematisch betrachtet, steht die Ritualforschung als Ausgangspunkt für eine Theorie des Performativen zwischen den beiden anderen Quellen, da es ihr einerseits um Schaffung einer veränderten Wirklichkeit geht (Regelungen und Transformationen an Übergängen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens), andererseits aber ein zugrunde liegendes Skript – sofern es existiert – eher eine marginale Rolle spielt. Rituale regeln mit individuellen Statusänderungen und gesellschaftlichen Übergängen verbundene Gefährdungen oder Bedrohungen der sozialen Ordnung. Von Zeremonien unterscheiden sie sich dadurch, dass sie verändern, transformieren. In der Literatur werden häufig zwei Grundfunktionen von Ritualen unterschieden: (i) zeitliche und räumliche Übergänge im Leben von Individuen und Gemeinschaften zu regeln – zu solchen rites de passage (vgl. van Gennep 1960; Bourdieu 1982) sind z.B. Ernennungen, Beförderungen, Konfirmation, Heirat, Beerdigung etc. zu rechnen. Und (ii) Gemeinschaften zu stiften, zu stabilisieren und zu erneuern, was sich in Umzügen, Paraden, Gottesdiensten, Festen, Unterricht, aber auch in gemeinsamen Mahlzeiten und einem Schwatz mit den Nachbarn manifestieren kann. Bei der Struktur von Ritualen werden durch van Gennep (1960) und Turner (1987, 2005) drei Phasen unterschieden: (a) die Trennungsphase (rites de séparation), die der Auflösung der alten Ordnung dient, (b) die Schwellen- oder Transformationsphase (rites de marge), die durch Liminalität und eine labile Zwischenexistenz gekennzeichnet ist, und (c) die Inkorporationsphase (rites d’agrégation), die die neue Ordnung herstellt (vgl. BachmannMedick 2006: 115). Zusammenhänge zwischen Theater und Ritualen zeigen sich besonders dann, wenn einerseits der Aufführungscharakter von Ritualen betont wird und andererseits die ästhetische Erfahrung im Theater als Schwellenerfahrung charakterisiert wird. Dabei spielt natürlich auch das Moment der Inszenierung in beiden Bereichen eine Rolle. Vergleiche mit neueren usage-based Sprachtheorien, auf die ich noch eingehen werde, zeigen, dass die in Anthropologie und Ethnologie vom linguistischen Strukturalismus übernommene Unterscheidung zwischen ›emisch‹ (phonemisch) und ›etisch‹ (phonetisch), also zwischen beobachtbaren Handlungsvollzügen und dem dahinter liegenden System (›emisch‹), zu einer klaren Verlagerung auf die beobachtbaren Handlungsvollzüge führt. Diese Ansätze ver-
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meiden vorschnelle Deutungen, voreilige Formulierung von theoretischen Konzepten für die empirische Arbeit und werden so eher der Vielfalt möglicher Erscheinungsweisen sozialer Phänomene gerecht. Besonders deutlich zeigt sich die marginale Rolle eines bedeutungstragenden Skripts auch bei ritueller (phatischer) Kommunikation, bei der nicht der Austausch von Informationen, sondern die Beziehungen zu den Adressat/inn/en im Vordergrund stehen. Beim Erlernen einer Fremdsprache gehört dieser Aspekt zu den schwierigsten, weil er nur zu einem geringen Teil über erlaubte bzw. auszuschließende Inhalte (Tabus, ›Fettnäpfchen‹) und vor allem über Praxis gelernt werden kann. iv. Zu den Quellen einer allgemeinen Theorie der Performativität gehört auch die Ritualtheorie der Sozialwissenschaften, in der die wirklichkeitstransformierende Kraft symbolischer Praktiken im Mittelpunkt der Diskussion steht und die körperlichen und verkörperten Vollzüge eine zentrale Rolle einnehmen, während die Vorstellung von einem zugrunde liegenden, bedeutungstragenden Skript eher von marginaler Bedeutung ist. Mit den eben skizzierten Theorien, Konzeptionen und Thesen sind die wichtigsten Wurzeln und konzeptuellen Grundlagen einer allgemeinen Theorie der Performativität genannt. Dabei sind die sprachphilosophischen Wurzeln und diejenigen, die aus den theaterwissenschaftlichen Performativitätsdebatten hervorgegangen sind, durchaus zu unterscheiden. Die Wurzeln aus der Ritualforschung nehmen dagegen eine Mittlerstellung ein. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass keine übergreifenden Gemeinsamkeiten bestehen. Das, was nach Austin wirklichkeitskonstituierend ist, sind Äußerungen, also in bestimmte Situationen eingebettete Sätze (Sprechakte, parole). Jeder explizit performative Sprechakt ist eine Performanz, dessen Bedeutung in erster Linie in der dadurch vollzogenen Handlung zu suchen ist. Auf die Umkehrung der traditionellen Sicht von einer essenziell gegebenen Identität und den Manifestationen dieser Identität wurde schon oben hingewiesen. Andererseits betonen die referierten Thesen von Fischer-Lichte das Hervorbringen von Bedeutungen und Schwellenerfahrungen durch zeitlich-räumlich situierte Aufführungen. Eine Fokussierung auf die Form von Aufführungen führt zum Konzept der Inszenierung.
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2. M ANIFESTATIONEN VON PERFORMANZ Weitere Aspekte des Performativen kommen dadurch in den Blick, dass jede Performanz, jede Aufführung, Realisierung etc. in einem Medium stattfindet, während man diesen Aspekt bei dem zugrunde liegenden Werk, Schema oder ›Skript‹ vernachlässigen kann. Durch diese Ausweitung der Perspektive erfolgt eine ›Aisthetisierung‹ des Performativitätskonzepts (Krämer 2004, 2009). Aus der Sicht der Sprachwissenschaft und sicher auch der Theaterwissenschaft geht es bei dieser Medialität um alle Systeme des Signalisierens von Bedeutung durch körperliche Instrumente der Sprecher/innen und die Wahrnehmung dieser Signale: Stimme, Gestik, Mimik, Körpersprache (vgl. Clark 1966). In diesem Sinne ist Sprechen verkörperte Sprache, und die erwähnten Medien sind Spuren von Körpern. Nun ist allerdings auch bei verkörperten Signalen und Zeichen ein systematischer Aspekt von einem Gebrauchsaspekt zu unterscheiden. Die Stimme ist einmal ein Potenzial (Unterscheidung von Typen nach Stimmlage: eine Altstimme, eine Bassstimme, eine tiefe, dunkle Stimme; nach Wirkungen: eine beruhigende Stimme, aufregende Stimme etc.), andererseits wird dieses Potenzial in konkreten Situationen des Sprechens, oder des Singens, von einem Individuum eingesetzt und signalisiert eine Fülle von Informationen als Teil der jeweiligen Mitteilung (z.B. durch Intonation12), aber auch über den Besitzer/die Besitzerin der jeweiligen Stimme. Insofern ist es lediglich der unsystematische, individuelle Überschuss, der zu dem eigentlich Performativen an der Stimme gerechnet werden kann. Abstrahiert von jeder Individualität ist die Stimme ein Medium in Opposition zu Schrift oder Gebärde. Analoges gilt für Gesten, die in der Form von Gebärdensprachen vollständig konventionalisiert sein können, als Gestik im engeren Sinn jedoch nur zum geringen Teil konventionalisierte Elemente enthalten (die sogenannten Embleme, wie z.B. der sogenannte deutsche Gruß, das Hin- und Herbewegen des Zeigefingers mit der nach außen gekehrten inneren Handfläche zum Ausdruck der Negation etc.) und trotz einiger genereller Formeigenschaften (Ikonizität) und Verwendungsbedingungen zum großen Teil individueller und nationaler 12 | Bei der Intonation sind sprachspezifische, systematische Aspekte von nicht-konventionalisierten paralinguistischen Verwendungen zu unterscheiden.
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Variation unterliegt. Ob bei der Interaktion von Sprechen und Gestikulieren ein modularer Ansatz (Kenyon) einem nicht-modularen Ansatz (D. McNeill) überlegen ist und was genau Gestik zur Bedeutung und zur Genese einer Äußerung beiträgt, bedarf noch eingehender Untersuchung. Klar ist dagegen, dass die Möglichkeit, Gesten in der Kommunikation einzusetzen, die Formulierung schwieriger Tatbestände erleichtert. Versuche haben gezeigt, dass Menschen, deren Hände gefesselt sind, größere Schwierigkeiten haben, sich adäquat auszudrücken. Überindividuelle Variation bei der Gestik gibt es in der Größe des Raumes, der durch Gestik eingenommen wird (Raum vor dem Oberkörper oder darüber hinaus). Bei Südeuropäern ist dieser Raum im Allgemeinen größer als bei Nordeuropäern. In Aufführungen und Performances tritt all das, was man als Körpersprache im weitesten Sinn des Wortes bezeichnen kann, in den Blickpunkt des Interesses und wird zum sichtbaren Träger und Auslöser von Sinn, Bedeutung und ästhetischer Qualität. Gesichtsausdruck (Mimik) und Körperhaltung (Körpersprache) sind ebenfalls Instrumente der Kommunikation, wenn auch mit geringerer Ausdruckskraft als die beiden vorher erwähnten, wobei Mimik eher zum Ausdruck von Gefühlen und Körperhaltung eher zum Ausdruck bzw. zur Erzeugung von sozialen Beziehungen, insbesondere von Machtverhältnissen, eingesetzt wird. In der Sprachwissenschaft stehen seit jeher das Instrument der Stimme und die von ihr hervorgebrachte gesprochene Sprache im Mittelpunkt des Interesses. Schrift wird demgegenüber als mangelhafte Repräsentationsform angesehen, in der Intonation und Fokussierung nur z.T. durch die sogenannten Satzzeichen, durch Fettdruck oder durch Großbuchstaben gekennzeichnet werden können. Gestik, Mimik und Körperhaltung haben allerdings in der Praxis linguistischer Analysen eine eher marginale Rolle gespielt und werden heute vor allem in Teilbereichen (Gestikforschung, Konversationsanalyse) intensiver untersucht. Nachdem nun im vorausgehenden Absatz gezeigt wurde, dass bei allen Modalitäten des Signalisierens von Bedeutung, also auch bei Gestik, Mimik und Körpersprache zwischen systemhaften Eigenschaften und Performation mit individueller Variation zu unterscheiden ist, ist im Rahmen einer Theorie noch einmal die Frage zu stellen, ob bei Gestik, Mimik und Körpersprache das Systemhafte eine geringere Rolle spielt als bei dem durch das Instrument der Stimme und Artikulation hervorgebrachten Sprechen. Ist Gestik, Mimik und Körpersprache im größeren Maße der Oberfläche, der spontanen
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Emergenz von Bedeutung zuzurechnen als gesprochene Sprache? Ich neige zur Auffassung, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den vier genannten Modalitäten der Erzeugung von Bedeutung gibt. Anders ausgedrückt, Gestik, Mimik und Körpersprache sind nicht »performativer« als Sprechen. Wie könnte auch Bedeutung überindividuell erzeugt und verstanden werden, wenn es keinen systematischen Anteil an den verwendeten Formen gäbe? Allerdings ist das Systemhafte bei Gestik, Mimik und Körpersprache wesentlich schwieriger zu fassen als bei gesprochener Sprache und als weiteres zentrales Problem kommt hinzu, dass die genannten Modalitäten beim Sprechen in komplexer Weise interagieren. Dabei bilden in der nicht-modularen Auffassung von David McNeill (1992) Artikulationseinheiten und Gestiksequenzen komplexe, nicht voneinander trennbare Einheiten, die seiner Auffassung nach ganzheitlich zu analysieren sind. In diesem Zusammenhang muss auch die in der Literaturwissenschaft verbreitete Auffassung erwähnt werden, dass der Körper sich gegenüber der Sprache (als Schema oder Norm) subversiv verhalte, weil er einen Überschuss an Bedeutung mit einbringt, der die Proposition übersteigt, konterkariert oder parodiert. Irreführend an dieser Auffassung ist, dass diese Gegenläufigkeit der Normalfall ist, richtig ist, dass diese Möglichkeit besteht. Allerdings besteht diese Möglichkeit des Subversiven bereits bei den zwei Aspekten der Artikulation von Stimme, bei den segmentalen Einheiten (Wörter, Sätze) und den damit verbundenen prosodischen Einheiten, der Intonation. Auch Intonation kann z.B. als Ironiesignal eine Proposition, die sie begleitet, konterkarieren und untergraben.
3. P ERFORMATIVE K ONZEP TIONEN VON S PR ACHE Nur eine allgemeine Explikation des Begriffs ›performativ‹ und eine allgemeine Theorie der ›Performativität‹ lassen erkennen, dass es auch in der Sprachwissenschaft, über die Auffassung von dem Handlungscharakter von Äußerungen hinaus, Diskussionen und Konzeptionen von Sprache und Sprachwandel gibt, die sich unter diese Begriffe subsumieren lassen. Der Terminus ›performativ‹ wird hier allerdings nicht verwendet, sondern man spricht von ›usage-based theories‹, oder ›performance-based theories‹, von ›frequency effects‹ und von Graden des ›entrenchments‹. Diese usage-based theories wenden sich gegen die Auffassung, dass Sprachstruktur vom Sprachge-
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brauch unabhängig sei, wie sie in der strikten Trennung von langue und parole des Strukturalismus und der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz der generativen Grammatik zum Ausdruck kommen. Allerdings wird nicht von allen Vertretern gebrauchsorientierter Sprachtheorien die Unterscheidung von ›System (langue, competence)‹ und ›Gebrauch (parole, performance, Sprechen)‹ völlig aufgegeben, aber die Auffassung, dass die performative Perspektive die Möglichkeit einer flachen Ontologie einschließt, in der diese Opposition aufgegeben werden kann (vgl. Krämer 2002), findet in der Sprachwissenschaft und m.E. auch in der Sprachphilosophie zunehmend mehr Befürworter. Nach dieser Auffassung sind Strukturen einem ständigen Prozess der Strukturation bzw. Adaption an Erfordernisse von Sprachgebrauch und verbaler Interaktion unterworfen. Sie sind fließend, instabil und z.T. emergent (vgl. Hopper 1987) und keine vom Sprachgebrauch unabhängig existierende Matrix (vgl. Bybee/Hopper 2001). Wesentliche Grundlagen von gebrauchsorientierten Sprachtheorien wurden in den 80er Jahren von P. Hopper (1987), J. Bybee (Bybee/Hopper 2001), von J. Dubois (1985) und T. Givon (1979, 1983) entwickelt, die sich ihrerseits auf ein grundlegendes Werk von P. Zipf berufen (Zipf 1965).13 Was aber in allen diesen Ansätzen betont wird, ist der Primat des Gebrauchs, der Oberfläche und die Wirkungsrichtung vom Gebrauch (performance, parole) zum System (competence, langue), oder anders ausgedrückt, vom Gebrauch zur Verfestigung und Konventionalisierung in einem System.14 Erfahrung von Sprachgebrauch und somit Frequenzeffekte sind ein wesentlicher Bestandteil der gebrauchsorientierten (usage-based) Theorien, die Grammatik als die kognitive Organisation der sprachlichen Erfahrung von Sprechern betrachten (»grammar is the cognitive organization of one’s experience with language«, Bybee 2006: 711). Dabei spielt die Tokenfrequenz von sprachlichen Elementen (v.a. 13 | Die Entwicklung der Korpuslinguistik seit Anfang der 90er Jahre illustriert diese Tendenz. 14 | Dass man auch im Theater von einer Wirkungsrichtung ›Aufführung Text‹ sprechen kann, in Analogie zur Sprache, wird bei Fischer-Lichte (2004) nicht ins Auge gefasst, erscheint mir aber durchaus bedenkenswert. Nach bestimmten stark innovativen, pointierten und provokanten Inszenierungen und Aufführungen kann sich auch unsere Sicht eines Dramas radikal verändern.
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von Konstruktionen) eine entscheidende Rolle, weil die wiederholte Erfahrung mit ihnen unser sprachliches Wissen (schon im Spracherwerb) prägt, dessen wichtigstes Merkmal die Unterscheidung von konventionalisierten und nicht-konventionalisierten Mustern und Strukturen ist. Unter Frequenzeffekten versteht man das Phänomen, dass die Erscheinungsfrequenz sprachlicher Elemente aller Ebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik etc.) eine enorme Auswirkung auf die Sprachstruktur hat (vgl. Haspelmath 2006). Nach weit verbreiteter Auffassung hat die Tokenfrequenz eines sprachlichen Elements drei Effekte auf die Benutzer von Sprache, die die Sprachverarbeitung beeinflussen: a) Vorhersagbarkeit: häufige Ausdrücke sind vorhersagbarer, weil ihr Vorkommen wahrscheinlicher ist, b) stärkere Erinnerung (memory strength): häufige Ausdrücke werden besser memoriert, c) schnellerer Abruf (fast retrieval): häufige Ausdrücke werden schneller abgerufen als seltene Ausdrücke. Diese Auswirkungen von Häufigkeit auf die Sprachverarbeitung haben ihrerseits Rückwirkungen auf die Sprachstruktur bzw. sprachliche Form: Einerseits werden häufig gebrauchte Ausdrücke formal reduziert und in ihrem Verwendungsradius stark erweitert. Andererseits bleiben morphologische Unregelmäßigkeiten, wie man sie z.B. bei den unregelmäßigen (starken) Verben der germanischen Sprachen findet (gehen – ging – gegangen vs. glauben – glaubte – geglaubt), oder Suppletivformen wie engl. went nur bei hochfrequenten Ausdrücken, d.h. dem alltäglichen Wortschatz, erhalten, um nur zwei klare Beispiele zu nennen. Aus diesen Eigenschaften ergibt sich die Möglichkeit, Frequenz zur Erklärung von wesentlichen Eigenschaften sprachlicher Strukturen heranzuziehen, auch wenn dieses Phänomen nicht als letzte Erklärung gelten kann, sondern z.T. selbst als explanandum betrachtet werden muss. Welche Konsequenzen diese Auffassung in der sprachwissenschaftlichen Theoriediskussion hat, soll hier im Zusammenhang mit zwei weiteren zentralen Themen der Sprachwissenschaft erläutert werden: (a) dem Phänomen des Sprachwandels, und (b) dem Thema Sprachvergleich und Sprachtypologie. Bei der Untersuchung des Sprachwandels stand in den letzten Jahrzehnten vor allem die Genese und Entwicklung von Grammatik im Mittelpunkt des Interesses. In der relevanten Theoriediskussion stehen sich zwei Auffassungen von den Ursachen des Wandels im Bereich Grammatik gegenüber. Nach Auffassung der von Chomsky geprägten generativen Theorie entsteht Sprachwandel im Spracherwerb. Im Erwerb der Muttersprache können die Regelsysteme des
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Sprachgebrauchs der Elterngeneration durch die Kinder anders rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktion ermöglicht zwar immer noch die bei den Eltern beobachteten Äußerungen, lässt aber als Folge von Re-analysen auch neue Strukturen und Konstruktionen zu. Demgegenüber betonen Funktionalisten und Anhänger gebrauchsorientierter Theorien des Sprachwandels, dass die Veränderung von Sprache Folge des Sprachgebrauchs ist. Sprachhandlungen auf der individuellen Ebene sind nach dieser Auffassung zwar zielgerichtet, der sich daraus entwickelnde häufige Gebrauch bestimmter Sprachformen folgt jedoch anderen, übergeordneten Gesetzmäßigkeiten, denen selbst keinerlei Absicht zugrunde liegt. Im Bestreben, innovativ und kreativ zu sein, werden die Regeln des zugrunde liegenden Systems überdehnt, und als Folge vieler Mikroereignisse dieses Typs entsteht als Makroeffekt allgemeiner Sprachwandel, gleichsam als Wirkung der unsichtbaren Hand (vgl. Keller 1994). Diese Transgressionen im Gebrauch sind dabei immer relativ subtil, relativ geringfügig und fallen somit kaum ins Auge. Sie unterscheiden sich darin von den deutlichen, weitgehenden Transgressionen experimenteller Dichtung, wie man sie in der englischen Literatur besonders bei e.e. cummings oder Emily Dickinson findet (vgl. König 2007), d.h. von eklatanten Überschreitungen von Normen, die nach weitverbreiteter Auffassung von Soziologen eher zu deren Stabilisierung als zu Veränderungen führen (vgl. Hahn 2002). Als Beispiel sei hier die Entwicklung in der Verwendung des Verbs gehören genannt, von einem Verb zum Ausdruck des Besitzes (Dieses Fahrrad gehört Paul) zu einem Hilfsverb zum Ausdruck von Normen bezogen auf negativ bewertete Zustände (Dieser Mann gehört bestraft). Dabei spielt als ein Zwischenschritt die Verwendung eine Rolle, die die Zugehörigkeit zu einem Ort ausdrückt (Dieser Mann gehört ins Gefängnis) bzw. von den entsprechenden Transporten an diese Orte (Der Mann gehört ins Gefängnis eingesperrt), die dann in Richtung von Zuständen ausgeweitet wurde: Der Mann gehört eingesperrt (vgl. Stathi 2007). Durch die Häufigkeit der Verwendung wird die kontextuelle Bedeutung konventionalisiert. Performative Perspektiven in der vergleichenden Sprachwissenschaft berufen sich vor allem auf J. Du Bois (1985) und die Kernaussage seines Aufsatzes »Grammars do best, what speakers do most«. Aufbauend auf einer Vielzahl von vergleichend typologischen Beobachtungen hat J. Hawkins (2004, 2009) gezeigt, dass Sprachen, die mehrere Optionen (A, B, C) für eine grammatische Strategie (Wortstellung, morphologische Markierung etc.) zulassen, anderen Spra-
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chen, in denen nur eine Option (A) gegeben ist, darin ähnlich sind, dass diese eine Option (A) in den flexibleren Sprachen die weitaus häufigste ist. Diese Häufigkeit beruht auf funktionalen Faktoren, die für die Sprachverwendung von Belang sind, wie z.B. leichtere Verarbeitbarkeit (Verständlichkeit) oder Ökonomie. Diese Beobachtungen entsprechen der oben zitierten Aussage von Du Bois (1985) und werden von Hawkins in seiner »Performance-Grammar Correspondence Hypothesis« (2004: 3) wie folgt zusammengefasst: Performance-Grammar Correspondence Hypothesis: »Grammars have conventionalized syntactic structures in proportion to their degree of preference in performance, as evidenced by patterns of selection in corpora and by ease of processing in psycholinguistic experiments.«
Durch diese Hypothese, die durch Daten aus einer Vielzahl von Sprachen untermauert wird, werden Gebrauch, Häufigkeit und die zugrunde liegenden Mechanismen der Verarbeitung auch zur Erklärung von zwischensprachlicher Variation, von Sprachtypen und von Universalien herangezogen.
4. Z USAMMENFASSUNG In den vorausgegangenen Ausführungen wurde der Versuch unternommen, allgemeine Grundzüge einer Theorie des Performativen zu skizzieren, die auf den Ursprung und daran anschließende Verwendungen des Terminus performativ zurückblickten, sowie auf zentrale Diskussionen, die mit dem Begriff performance geführt wurden. Der Nominalausdruck performativity (Performativität) steht mit beiden Begriffen im Zusammenhang. Die angestrebte Theorieskizze sollte bestimmten Anforderungen genügen, die Gemeinsamkeiten theoretischer Ansätze und damit verbundenen Veränderungen der Perspektive in verschiedenen Disziplinen in klaren Konturen erkennen lassen. Als Folge der gewählten Perspektive ist es möglich, eine allgemeine Theorie des Performativen mit wenigen Kernsätzen zu formulieren. Als zentrale Elemente einer solchen Theorie aus sprachtheoretischer Sicht haben sich herausgestellt: die wirklichkeitskonstituierende Kraft symbolischer Praktiken und die Umkehrung der traditionellen Sicht auf das Verhältnis zwischen Implementierung, Aufführung,
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Realisierung zu einem Schema, einem Werk, einer Regel, und somit um »die Rehabilitierung der Oberfläche« (Krämer 2010) gegenüber einer essenzialistisch angenommenen »Tiefenstruktur«. Eine solche enge Konzeption von Performativität verfolgt natürlich keinerlei normative Zielsetzung. Sie ist allerdings sinnvoll, wenn für die verschiedenen Disziplinen klare Konturen für die elementaren Bausteine einer generellen Theorie des Performativen herausgearbeitet werden sollen. Weitere Verwendungen des Begriffs sind an diese Kernsätze mühelos anschließbar, da sie allgemeinen Prinzipien semantischer, insbesondere metonymischer Erweiterungen folgen. So ist z.B. die Verwendung von performance im Sinne von dt. ›Leistung‹ und von performativity im Sinne von dt. ›Leistungsfähigkeit‹ eine Erweiterung des Begriffs durch Selbstunterordnung (Autohyponymie), d.h. ein Begriff wird auch für eine saliente, qualitativ ausgezeichnete Untermenge einer Menge verwendet. Ein analoges Beispiel wäre etwa die Präsenz (presence) als ›Anwesenheit‹ und die (Bühnen-)Präsenz als besondere Qualität einer ›Anwesenheit‹. Andere Verwendungen sind dagegen als metonymische Erweiterungen zu analysieren, d.h. als Begriffe für Manifestationen des Performativen in spezifischen Kontexten. Eine skalare Verwendung des Begriffs performativ (A ist performativer als B) schöpft dagegen die Möglichkeiten aus, die die Wissenschaftstheorie für Begriffe generell bereitstellt (klassifikatorisch, skalar, metrisch etc.). Abschließend muss noch einmal betont werden, dass die hier herausgearbeiteten Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus der Sicht der Sprachwissenschaft entwickelt wurden. Es ist Teil der Zielsetzungen dieser Skizze, Kontroversen in der Theoriediskussion der Sprachwissenschaft mit der Theoriediskussion anderer Disziplinen in Zusammenhang zu bringen. Der Perspektivenwechsel, der mit einem performativen Theorieansatz verbunden ist, ist in einigen Disziplinen (z.B. Theaterwissenschaft, Sprachwissenschaft) sicherlich radikaler als in anderen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Diskussionen werden nur dann deutlich werden, wenn man die Grundlagen einer Theorie des Performativen relativ restriktiv und eng fasst.
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Text und Performativität Bernd Häsner, Henning S. Hufnagel, Irmgard Maassen, Anita Traninger
1. Die Geschichte der Kulturwissenschaften wird in manchen Narrativen als eine Folge von Paradigmenwechseln präsentiert. Als ein solcher turn des forschungsleitenden Interesses wird gemeinhin auch das Verhältnis von Textualität und Performativität beschrieben: Die Metapher von »Kultur als Text« hatte im Anschluss an Max Weber und Clifford Geertz auf das vom Menschen ›selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‹ abgezielt, das Kultur ausmache (Weber 1968: 180f; Geertz 1983: 9; Posner 1991; Bachmann-Medick [Hg.] 2004). Kultur wird dabei als ein Gefüge von Zeichensystemen verstanden, das wie ein Text gelesen und interpretiert werden kann. Ab den 1970er Jahren wurde im Zuge des sogenannten performative turn dagegengehalten, dass Kultur nicht als Gewebe distinkter, decodierbarer Einzelelemente, sondern als performance zu verstehen sei. Die »Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen bis hin zur sozialen Inszenierungskultur« wird nun in den Fokus gerückt, aus »Ereignissen, Praktiken, materiellen Verkörperungen und medialen Ausgestaltungen werden die Hervorbringungs- und Veränderungsmomente des Kulturellen erschlossen« (Bachmann-Medick 2007: 104-143, die Zitate auf S. 104). Das Textuelle erscheint gegenüber dem Performativen als das Fixierte gegenüber dem Fluiden, das Geschlossene gegenüber dem Offenen, das Festgefügte gegenüber dem Prozess. Mit diesem Perspektivwechsel verschob sich das Interesse von der Bedeutungsebene hin zur Inszenierungs- und Erlebnisdimension gesellschaftlichen und kulturellen Handelns, ohne dass jedoch
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von einer strikten Oppositionssetzung oder gar einer völligen Preisgabe des Textmodells zu sprechen wäre. Allerdings wurde einer Dichotomisierung der Begriffe Textualität und Performativität dadurch Vorschub geleistet, dass das Begriffspaar als Raster sowohl für die Beschreibung epochaler Umbruchssituationen als auch kultureller Diversität herangezogen wurde. In diesem Sinn wurde die Forschungsperspektive auf die Objektebene projiziert, und es kamen eine diachrone und eine diatopische Modellierung des Performativen ins Spiel. Den modernen westlichen Gesellschaften, die Texte und Monumente in der kulturellen Gedächtnisbildung privilegieren, wurden sowohl vormoderne europäische als auch außereuropäische Kulturen gegenübergestellt, deren Selbstverständnis sich vorrangig in ›cultural performances‹ ausbilde (erstmals geprägt in Singer [Hg.] 1959), also in performativen Prozessen wie Ritualen, Zeremonien, Festen, Spielen oder Wettkämpfen. Diese Oppositionsbildung erscheint insofern problematisch, als die vermeintlichen performative turns der Kulturgeschichte irritierende Ambiguitäten aufweisen: Die Intensivierung von performativen kulturellen Praktiken ging und geht keineswegs zwangsläufig mit einer Abschwächung textueller Medien einher, so wie umgekehrt auch Schriftkulturen, selbst wenn sie privilegiert sind, immer auch in performative Praktiken eingebunden, ja von ihnen geprägt sind. Der Ansatz des Berliner Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« bei seiner Einrichtung 1999 war es daher, die beiden Terme Textualität und Performativität nicht als Dichotomie zu fassen, sondern sie in ihrem oszillierenden Spannungsverhältnis zu betrachten. Der Versuch der Überwindung dieses Oppositionsmodells übersetzte sich in ein Forschungsprogramm, das untersuchen sollte, welche performativen Prozesse sich in Kulturen auffinden lassen, die üblicherweise als textdominiert begriffen werden (vgl. Sonderforschungsbereich 447 1998: 3-23). Ein solches Verständnis konvergiert mit generellen Tendenzen der Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen der Text selbst dynamisiert, seine Offenheit betont und Textbedeutung als Resultat von Lese-Praktiken, historischen Prozessen und soziokulturellen Verhandlungen begriffen wird. Für die mehrheitlich textbasierten historischen Wissenschaften impliziert diese Forschungsperspektive allerdings komplexe und bislang kaum reflektierte methodische Probleme, und zwar nicht nur, weil sie es vorwiegend mit textuell vermittelten performativen Phänomenen zu tun haben. Vielmehr können Texte selbst als ›Aktanten‹ in
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Vollzüge eingebunden sein bzw. ›aufgeführt‹ werden; sie können als Vehikel der »Zirkulation sozialer Energie« (S. Greenblatt) fungieren, und sie können eine wesentliche Rolle im kulturellen identity fashioning spielen. Gleichzeitig ergibt sich für die Literaturwissenschaft die Aufgabe, den Textbegriff, nachdem er von den Kulturwissenschaften als Etikett für bestimmte Forschungszugriffe metaphorisiert wurde, auf ihr eigenes Gebiet zurückzuwenden: Wie verhält es sich mit dem Performativen als Untersuchungsperspektive für ›echte‹ Texte?
2. Vor diesem Hintergrund stellt sich zunächst die Frage, ob Texte lediglich in außertextuelle Funktions- und Wirkungszusammenhänge eintreten, diese modifizieren bzw. überhaupt erst generieren – oder aber, ob Texte selbst spezifische Strukturen aufweisen können, die sie als ›performativ‹ qualifizieren. Anders gefragt: Kann man, in Analogie zu den ›performativen Äußerungen‹ im Sinne Austins, von ›performativen Texten‹ sprechen? Oder ist der oben angesprochene ›dynamische‹ Zusammenhang von Textualität und Performativität ausschließlich Funktion einer ›performativen‹ Perspektive auf diesen Zusammenhang? Für die Analyse von Textstrukturen wäre die Kategorie des Performativen in diesem letzten Fall ohne Relevanz. Die Frage nach performativen Textstrukturen stellt sich aber auch im Hinblick auf die Spezifizierung performativer Effekte und Funktionen innerhalb einer Gesamtheit von Effekten und Funktionen, die Texten attestiert werden können. Denn dass Texte in komplexer Weise auf die außertextuelle Welt einwirken und sie verändern können, wäre in der Tat keine neue Erkenntnis, die sich erst im Fokus des Performativitätsparadigmas erschlossen hätte.1 Wenn Texten aber spezifisch performative Effekte zuzuordnen sein sollen, müssten diese 1 | Wir weisen nur beiläufig auf die antiken Poetiken hin – z.B. Horaz’ Ars poetica – in denen die zivilisatorische und kulturstiftende Potenz der Dichtung beschworen wird, ein apologetischer Topos, der in den humanistischen Poetiken der Renaissance aufgenommen und ausgebaut wird. Auch ist die antike Rhetorik bekanntlich eine normative Wirkungsästhetik, gewissermaßen eine Einwirkungsästhetik, die ein Wissen um die wirklichkeitsverändernde Macht von Sprachhandlungen bereits als selbstverständlich voraussetzt.
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auch auf ebenso spezifische Äußerungsstrukturen rückführbar sein; eben ein solcher unauflösbarer Nexus steht ja auch im Zentrum des Austin’schen Konzepts der performativen Äußerung. Mit Austins Sprachphilosophie ist eine der zentralen Referenztheorien benannt, in denen das Konzept des Performativen überhaupt zuerst geprägt wurde bzw. Konturen angenommen hat. Bekanntlich belegt Austin mit dem Attribut ›performativ‹ einen Äußerungstypus, bei dem die Äußerung – z.B. »Hiermit taufe ich dich auf den Namen ›Queen Mary‹« – und die von ihrem Verb identifizierte Handlung unter definierten, z.T. außersprachlichen Voraussetzungen zusammenfallen.2 Die Faszination und Verführungskraft dieses Ansatzes beruht vor allem darauf, dass er die wirklichkeitskonstitutive Leistung von Sprache, die nachzuweisen gerade Literaturwissenschaftler (und natürlich Dichter) stets bestrebt waren, als Koinzidenz von Sprache und Welt exemplifiziert. Die Geltungsbedingungen und formalen Kriterien, die für diese spektakuläre Konstellation zu formulieren sind, sind freilich so restriktiv und exklusiv, dass ihre unmittelbare Applikation auf größere Äußerungsformate – sprich: auf mehr oder weniger komplexe schriftliche Texte – als problematisch erscheint und jedenfalls mit Verlusten an Distinktivität einhergeht. Verloren geht insbesondere die spezifische Zeitlichkeit des performativen Sprechakts, die Wort und Tat, Ereignis und Effekt in eins fallen lässt. Denn die Generierung lebensweltlicher Fakten durch Texte ist in der Regel eine zeitlich zerdehnte und entspricht insofern dem, was Austin und später Searle als ›perlokutionäre‹ Dimension jeglicher Sprachhandlung beschreiben.3 Konzeptualisierungen textueller Performativität kompensieren diesen Mangel, indem sie auf textuelle Strategien der Simulation von Präsenz oder Kopräsenz fokussieren. Zugleich werden diese Konzeptualisierungen damit an den theaterwissenschaftlichen Performanzbegriff anschließbar. Darauf wird zurückzukommen sein. 2 | S. hierzu die Ausführungen in den Beiträgen von E. König und K. W. Hempfer in diesem Band. 3 | Vgl. die knappe Zusammenfassung in Austin 1975: 121: »Thus we distinguished the locutionary act […] which has a meaning; the illocutionary act which has a certain force in saying something; the perlocutionary act which is the achieving of certain effects by saying something.« Searle lehnt Austins Begriff der Lokution insgesamt ab und beschränkt seine Diskussion auf Illokution und Perlokution, vgl. Searle 1971: bes. 40, Anm. 1.
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Generell verfährt die auf Austin sich berufende Theoriebildung eher assoziativ; einzelne Elemente der Austin’schen Definition der performativen Äußerung fungieren als Kristallisationskerne für oft metaphorische Extrapolationen, die in der Regel als solche nicht mehr mitreflektiert werden, sich aber gleichwohl als fruchtbar und perspektivenreich erweisen können. Dies gilt auch für den einzigen Fall, in dem der Austin’sche Performativitätsbegriff unmittelbar auf Texte applizierbar zu sein scheint, nämlich den textueller Selbstreferenzialität: Der Text wird selbst als die von ihm konstituierte Handlung aufgefasst. Als Beispiel sei ein Aufsatz von Sibylle Krämer und Marco Stahlhut angeführt, der zunächst sehr luzide verschiedene Momente der Theoriebildung Austins herausarbeitet, um dann die Kategorie des Performativen auf Austin selbst, d.h. auf seine das Theoriefeld begründenden Vorlesungen, die unter dem Titel How to do Things with Words publiziert wurden (Austin 1975), anzuwenden. Diese Vorlesungen sollen sich einer Lektüre fügen, die unterscheidet zwischen dem, was Austin sagt, und dem, was Austin tut, indem er etwas sagt.4 Zwischen beidem wird eine Diskrepanz festgestellt, die offenbar – die Ausführungen der beiden Autoren sind hier nicht ganz eindeutig – nicht als Inkohärenz zu verbuchen ist, sondern als auktoriale Strategie: »[Austins] Text kann im konstatierenden Modus als ein System behauptender Aussagen, im performativen Modus jedoch als die Inszenierung des Zusammenbrechens gewisser Aussagen gelesen werden. Diese ›Zweistimmigkeit‹ von Sagen und Zeigen in Austins Text wahrzunehmen, heißt nicht nur auf das zu hören, was Austin sagt, sondern auch auf das zu schauen, was Austin, indem er etwas sagt, zugleich auch tut« (Krämer/Stahlhut 2001: 36f.).
Der semantische Interferenzeffekt, auf den hier abgehoben wird, beruht also darauf, dass Austins Text als Makroproposition etwas sagt, was nicht mit den in ihm formulierten Teilpropositionen zum Abgleich gebracht werden kann. Krämer/Stahlhut resümieren diesen Effekt folgendermaßen: »[I]n der performativen Perspektive dessen, was Austin macht, indem er etwas sagt, sind seine Texte Aufführungen des Scheiterns einer philoso4 | Krämer/Stahlhut folgen damit einer von Shoshana Felman vorgeschlagenen Lektüre Austins (s. Felman 1983).
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phischen Begriffsarbeit und geben so einen Kommentar ab zu den Grenzen philosophischer Rationalisierung von Sprechereignissen.« (Ebd.: 42)
Die »Zweistimmigkeit« oder Mehrschichtigkeit, die hier ins Auge gefasst wird, ist aber gerade eine Funktion textueller Komplexität, d.h. syntagmatischer und paradigmatischer Konjunktionen und Disjunktionen, die für die originären Austin’schen Performativa ausgeschlossen ist. Aus der Austin-Analyse Krämers und Stahlhuts ›emergiert‹ also ein Konzept des performativen Textes, das sich selbst nicht mehr auf Austin berufen kann.5 Die Form ›performativer‹ Selbstreferenzialität, auf die Krämer/ Stahlhut abheben und bei der die Makrostruktur eines Textes seine Teilstrukturen ›spiegelt‹ oder ›kommentiert‹ (und in diesem, natürlich metaphorischen, Sinn der Text etwas anderes ›tut‹, ›zeigt‹ oder ›aufführt‹, als er ›sagt‹), erscheint in allen Konzeptualisierungen textueller Performativität als ein zentrales Element. Allerdings hat die Austin’sche Selbstreferenzialität dabei ihre Vorzeichen umgekehrt. Austins performative Äußerungen sind durch ihre restriktiven Gültigkeitsbedingungen als ein Redetypus gekennzeichnet, der zunächst als formelhaft beschrieben wurde und der gerade keine Verstehensund Referenzialisierungsspielräume zulässt. In Äußerungen vom Typ »I promise you never to be late again«, die das originäre Austin’sche Konzept der performativen Äußerung illustrieren, kommen Ausdrucksform und -gehalt zu restloser, nämlich selbstgarantierender Deckung. Der selbstreferenzielle Bezug von ›Sagen‹ und ›Tun‹ ist bei Austin also gerade extrem affirmativ. Dagegen privilegieren – wie auch bei Krämer/Stahlhut deutlich werden konnte – die textbezogenen Adaptionen und Extrapolationen der Austin’schen Performativi5 | Krämer/Stahlhut vermeiden es allerdings, von einem ›performativen Text‹ zu sprechen. An die Stelle einer performativen Äußerungsstruktur tritt bei ihnen ein performativer »Modus« oder eine performative »Perspektive« der Lektüre. Die Möglichkeit einer solchen performativen Lektüre setzt aber eine bestimmte Äußerungsstruktur voraus. Auch Krämer/Stahlhut scheinen einzuräumen, dass eine performative Lektüre nicht für alle Texte möglich ist: »Wo eine solche ›Doppelbelichtung‹ [die zwischen dem ›Sagen‹ und ›Zeigen‹, zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ unterscheidet] möglich ist, kann das, was in der ›konstativen Lesart‹ eines Textes behauptet wird, in seiner ›performativen Lesart‹ zugleich in Frage gestellt bzw. kritisch kommentiert werden.« (Ebd.: 56).
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tät gerade den umgekehrten Fall, also Dekonstruktion und Negation statt Konstitution und Affirmation. Der Text ›tut‹ eben gerade nicht, was er sagt, sondern er dementiert oder subvertiert das Gesagte.6 So postuliert etwa auch Manfred Pfister, dass eine »Äußerung, deren Ausdrucksform ihren eigenen propositionalen Gehalt in Frage stellt oder untergräbt […] performativer [ist] als eine, in der Ausdrucksform und propositionaler Gehalt einander decken« (Pfister 2001: 302). Gegenüber der Setzung neuer Wirklichkeit, die bei Austin die zentrale Funktion performativer Sprechakte ist, wird so, ohne dies als Widerspruch zu reflektieren, die Zersetzung, die Infragestellung, von Propositionen oder Geltungsansprüchen privilegiert.7
6 | Dieser Sichtweise liegt wohl eine postmodern inspirierte Disposition zugrunde, die gegenüber der semantischen Tiefe des Textes seine elokutionäre Oberfläche akzentuiert; wenn diese sich gegenüber jener verschiebt, gerät sie überhaupt erst als solche in den Blick; die ›Transparenz‹ des Textes wird dadurch getrübt. Diese Vorstellung dürfte maßgeblich auf Paul de Man zurückgehen; s. hierzu den Aufsatz von K. W. Hempfer im vorliegenden Band, S. 30f. Wenn man von dieser Konzeption absieht, die sich zumindest auf Austin schwerlich berufen kann, bleibt fraglich, weshalb selbstreferenzielle Negations- oder Dekonstruktionsverhältnisse performativer sein sollten als entsprechende affirmative Relationen. Letztere können natürlich ebenfalls in größeren und komplexeren Äußerungsformaten realisiert sein. Um einige Beispiele anzuführen: Die numerischen Relationen, die der Makrostruktur von Dantes Commedia zugrunde liegen, negieren oder unterlaufen deren propositionale Gehalte keineswegs, sondern sollen sie gerade bekräftigen und mit zusätzlichen Bedeutungsschichten anreichern. Oder, als ein etwas banaleres Beispiel: Wenn Georges Perec in seinem Roman La disparition, der vollständig ohne den fünften Buchstaben des Alphabets, das e, auskommt, zugleich das fünfte Kapitel (in dem auch der Protagonist des Romans ›verschwindet‹) einspart, ist dies sowohl ›performativ‹ als auch eine Bestätigung des basalen Kompositionsprinzips des ganzen Textes. 7 | Pfisters Wertung gründet allerdings, zumindest implizit, weniger auf linguistischen als vielmehr auf theatralischen Performativitätskonzepten, indem sie auf das Auseinanderfallen von Tiefenbedeutung (›Sein‹) und Oberflächenerscheinung (›Aufführung‹) abhebt, wodurch das Bewusstsein für die Artifizialität der Äußerung als intensiviert angesehen wird. Als ›performativer‹ in diesem Sinne gilt, was als simulierte Realität oder als vorgetäuschte Authentizität erkennbar wird.
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Dieses Postulat Pfisters ist Teil eines Versuchs, die Performativität eines Textes als skalar zu bestimmen und damit nicht zuletzt einige der genannten Probleme zu umgehen, insbesondere den binären Schematismus aufzulösen, nach dem Texte entweder ›performativ‹ sind oder nicht. Pfister fasst seinen Ansatz in einen Katalog von Maximen, die exemplarische Kriterien von Performativität markieren. Diese Aspekte können, entsprechend der Gradation des Performativitätsbegriffs, in einem Text insgesamt oder teilweise und in unterschiedlicher Intensität realisiert sein. Auch hier wird allerdings implizit ein strukturelles Substrat für ›Performativität‹ vorausgesetzt, denn wenn eine Eigenschaft skalierbar sein soll, muss sie zuallererst in irgendeiner Weise gegeben sein. Als Merkmale von Performativität, die unterschiedlich stark ausgeprägt auftreten können, gelten neben der bereits angesprochenen Selbstbezüglichkeit, also der Ausstellung von Denk- und Artikulationsprozessen, z.B. Indexikalisierung im Sinne der Markierung des Aussagesubjekts oder einer präsentischen Deixis, fingierte oder tatsächliche Oralität, dialogische Struktur, Plurimedialität oder auch die Fokussierung auf den verkörperten Äußerungsakt.8 Viele dieser Merkmale orientieren sich an der Kommunikationssituation der theatralen Aufführung als Modellfall des Performativen.9 Demgemäß werden Aspekte wie Publikumsbezug und direkte (An-) Rede, Evokation von Körperlichkeit, vorgetäuschte Mündlichkeit und Multiperspektivierung hervorgehoben. Ein in diesem Sinne ›theatralisierter‹ Text wird weniger in seiner Referenzfunktion gesehen als vielmehr auf seine Simulationsfunktion hin befragt – es zählt weniger, was der Text darstellt, als was er aus- oder vorstellt. Beide eben diskutierten Ansätze sind durchaus charakteristisch für eine generelle Tendenz: Konzeptualisierungen des ›performativen Textes‹ knüpfen nicht an die Merkmalskomplexe an, die eine performative Äußerung im Sinne Austins definieren sollen, sondern 8 | Pfister 2001a: 302. 9 | Das hier zugrundeliegende Theater-Modell ist allerdings ein historisch spezifisches: Es verdankt sich nur zu geringem Teil der neueren theaterwissenschaftlichen Perfor mativitätstheorie, wie sie etwa Fischer-Lichte 2004 vertritt und auf die unten näher eingegangen wird, sondern ist an das frühneuzeitliche bzw. barocke Theater angelehnt, das die Theatralität von Autoritätsrepräsentationen modelliert und problematisierend ausstellt und unter dessen medialem Einfluss die Theatralität gesellschaftlicher Realität sichtbar wird, s. Sonderforschungsbereich 447 1998: 120.
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an isolierte Elemente oder einzelne Implikationen dieser Merkmalskomplexe, die dann an und in Texten oder als Leistung von Texten wiedererkannt und als ›performativ‹ bestimmt werden. Ganz analog verhält es sich mit Rekursen auf andere Theoretisierungen des Performativen, etwa den einschlägigen Konzepten, die innerhalb der Theaterwissenschaften oder der ethnographischen Ritualforschung formuliert wurden.
3. Im Hinblick auf die Frage des Verhältnisses von Textualität und Performativität ist dementsprechend stets präsent zu halten, dass es durchaus unterschiedliche Aspekte sein können, auf die Bezug genommen wird, wenn ein Text als ›performativ‹ bezeichnet wird. Der Aspekt der wirklichkeitskonstituierenden Kraft symbolischer Prozesse, wie er aus Austin abgeleitet wurde, prägt beispielsweise Versuche, dem literarischen Text schlechthin das Prädikat des Performativen zuzuweisen.10 Sofern man unter ›konstituierten Wirklichkeiten‹ auch die imaginären Welten, die von literarischen Texten geschaffen werden, subsumiert, ergibt sich für Theorien der literarischen Fiktionalität ein neuer Anschlusshorizont: Fiktionale Texte können nicht als konstativ gelten, weil sie sich auf eine Realität beziehen, die sie selbst erst konstituieren. Ebenso ist die Frage von wahr oder falsch suspendiert, was als Analogie zu Austin gedeutet wurde, der vom Glücken oder Missglücken der performativen Äußerung spricht. Fiktionale Texte bringen ihre Figuren und ihre Szenarien allererst hervor, »they build the boat under their own feet while rowing in the sea« (Harshav 1984: 232). Darüber hinaus, so wurde argumentiert, haben literarische Texte Konzepte hervorgebracht wie beispielsweise jenes der romantischen Liebe, die gleichsam zu anthropologischen Konstanten naturalisiert wurden und denen damit wirklichkeitsstiftende Kraft zukomme (vgl. Culler 2000: 507). Wenngleich eine solche Aufwertung der Wirkmächtigkeit des literarischen Texts seinen Apologeten entgegenkommt (vgl. ebd.), ist doch in zweierlei Hinsicht Differenzierung angebracht: hinsichtlich 10 | Vgl. Pratt 1977, Petrey 1990. Austin selbst hat den Bereich der Fiktion bei der Bestimmung der performativen Äußerung explizit ausgeschlossen, s. Austin 1975: 9.
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des Realitätsstatus der im literarischen Text erzeugten Welt und der Zeitdimension ihrer Hervorbringung. Austins Konzept der performativen Äußerung sieht vor, dass sie eine lebensweltlich gültige Realität stiftet. Er modelliert dies so, dass eine solche Äußerung ihren Urheber spezifisch affiziert, indem sie ihn einer sozialen Verpflichtung unterwirft und präzise über diese gesellschaftliche Bindung wechselseitig anerkannte Realität erschafft.11 Diese Bedingung der Wirklichkeitsstiftung ist für die kreative Hervorbringung neuer Ideen, die in der Folge gesellschaftliche Wandelprozesse zeitigen, nicht erfüllt. Zwar erscheint es sinnvoll, die wirklichkeitsstiftende Kraft des Konzeptuellen zu unterstreichen, jedoch wird gleichzeitig der Begriff des Performativen überstrapaziert, wenn er für alle »ways of worldmaking« einstehen soll.12 In Anlehnung an Austins strikte Beschränkung seines Modells auf die lebensweltliche Wirklichkeitsstiftung ließe sich allenfalls für eine temporäre Wirklichkeitsstiftung unter dem Signum des Als Ob argumentieren; darauf scheinen jedenfalls Konzeptionen von literarischer Fiktion abzuzielen, die einen stillschweigenden Kontrakt zwischen Autor und Leser ansetzen, demzufolge für die Dauer des Leseakts das Gelesene als ›wirklich‹ geglaubt werde. Coleridge hat dafür bekanntlich die Formel der willing suspension of disbelief gefunden, das willentliche Aussetzen der Skepsis, das die Konstituierung imaginärer Welten beim Lesen erst ermöglichen soll (Coleridge 1817: Kap. XIV, S. 169). Cullers Beispiel der romantischen Liebe wiederum, die textuell generiert und in der Folge so rezipiert wurde, dass sie heute als authentisches Gefühl wahrgenommen und erlebt werden kann, ist gewiss ein Fall der Kristallisation von literarischer Fiktion zu sozialer Wirklichkeit. Daran schließt sich allerdings die zweite angesprochene Problematik an: Ausgeblendet bleibt bei dieser Lesart, dass es sich um – von literarischen Texten (mit-)initiierte – Prozesse des kulturellen Wandels handelt, die im Hinblick auf ihre Zeitlichkeit gerade nicht mit der Instantaneität des Austin’schen Modells des Performativen konvergieren. Selbst das wesentlich losere Konzept
11 | Die performative Äußerung »puts on record [our] spiritual assumption of a spiritual shackle«, s. Austin 1975: 10. Vgl. auch: »Our word is our bond«, ebd. 12 | Vgl. Goodman 1978. Goodman interessiert sich freilich in erster Linie für die Erzeugung verschiedener Weltsichten oder Weltversionen und nicht für die Konstituierung sozialer Realitäten.
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des ›Perlokutionären‹ scheint solche langfristigen Prozesse kaum adäquat erfassen zu können. Während Austins Sprechakttheorie vielfältig produktiv gesetzt wurde, ist Chomskys Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz dagegen in der textwissenschaftlichen Diskussion kaum je als Referenzmodell für einen Begriff des Performativen herangezogen worden. Zwar sieht Ekkehard König gerade in der Chomsky’schen Konzeption die Quelle der für die ›performative Wende‹ charakteristischen Verlagerung des Interesses von der Tiefenstruktur (der Kompetenz, dem zugrunde liegenden Schema) hin zur Oberflächenstruktur (der Performanz, der Ausführung des Schemas).13 Und es trifft zu, dass auch die textuelle Performativitätsforschung ihr Augenmerk auf die Oberflächenphänomene, die Materialität bzw. das dynamische Erscheinungsbild des Textes richtet, während die Vorstellung von einer in der Tiefe des Textes verankerten Bedeutungsstruktur an Kurrenz verloren hat. Insgesamt jedoch ist die Opposition von Kompetenz und Performanz selbst über diese allgemeine Akzentverschiebung hinaus für die Theoretisierung der Performativität des Textes nicht fruchtbar gemacht worden. Zentral für textwissenschaftliche Konzepte des Performativen ist hingegen der Anschluss an das vielfach favorisierte und referenzierte theaterwissenschaftliche Modell – die Aufführung soll schließlich, wie Erika Fischer-Lichte unter Berufung auf Austin und Judith Butler argumentiert, als Inbegriff des Performativen verstanden werden.14 Allerdings ist auch er nicht unproblematisch, weil zwei Konstituenten des Aufführungsbegriffs, nämlich die Bedingung leiblicher Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern sowie die Simultaneität von Produktions- und Rezeptionsakt auf schriftliche Texte nicht zutreffen. Der Aufführungsbegriff theaterwissenschaftlicher Provenienz tendiert dazu, den Text oder das Skript als Vorlage der Bühnenrealisierung ganz auszublenden, und hält gerade damit weitgehend an der oben charakterisierten Text-Performanz-Dichotomie fest.15 Deshalb 13 | S. hierzu seinen Beitrag im vorliegenden Band, S. 51. 14 | Vgl. Fischer-Lichte 2004a: 11. Zu einer Kritik dieser Auffassung vgl. den Beitrag von Ekkehard König im vorliegenden Band, der das theaterwissenschaftliche Aufführungsmodell an Chomskys Kompetenz-PerformanzUnterscheidung rückbindet. 15 | In besonders entschiedener Weise bei Fischer-Lichte 2004, deren Theoretisierung des Performativen von der performance ausgeht, einem Ex-
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wird im Hinblick auf textwissenschaftliche Nutzungen des Performativitätsbegriffs ein weiter gefasster Aufführungsbegriff in Anschlag gebracht, der auf die medialen Realisierungen sowie die kulturellen und sozialen Einbettungen und Wirkungen von Texten abzielt. Für die Analyse performativer Phänomene im Binnenraum des Textes hat sich darüber hinaus der Begriff der ›Inszenierung‹ als fruchtbar erwiesen, der, ebenso wie das der Aufführung zugrunde liegende Skript, aus dem engeren theaterwissenschaftlichen Definitionsrahmen des Performativen herausfällt, für die Diskussion von textuellen Strategien des In-Szene-Setzens, des Präsentierens und Vorführens der textuellen Propositionen aber hilfreich ist. Der strikt auf der theatralen performance basierende Begriff des Performativen bleibt allenfalls als Referenzkonzept für die Bestimmung all dessen von Bedeutung, was über die konstative oder repräsentative Funktion des Textes hinaus auf seine ›präsentative‹ Funktion hinweist, also z.B. für Dimensionen wie Verkörperung, Medialität oder Ereignishaftigkeit. Ansätze, die die Performativität von Texten darüber zu bestimmen suchen, wie diese individuelle und kollektive Identitäten konstituieren, Mentalitäten modellieren und Normen setzen bzw. umkehren oder unterlaufen, knüpfen darüber hinaus vielfach an anthropologische bzw. ritualtheoretische Konzeptualisierungen an, die das kreative, Wirklichkeit konstituierende Potenzial von Performativität betonen. Hierzu gehören etwa Milton Singers Konzept der »cultural performances«, in denen eine Gesellschaft ihre Identität hervorbringt (vgl. Pfister 2001: 497; vgl. Singer [Hg.] 1959), oder Victor Turners Konzept des »sozialen Dramas« (seinerseits eine literarische Metapher), mit dem ein Raum geschaffen wird, um kollektive Konflikte zu verhandeln und auszuagieren (vgl. Turner 1982). Vor diesem Hintergrund rückt auch die Rolle von schriftlichen Texten im Zivilisationsprozess oder der Entwicklung von Emotionskulturen in den Blick. Texte können unter dieser Perspektive sowohl als vorgängiges Skript der kulturellen performance fungieren als auch Bräuche bzw. Zeremonien dokumentieren oder abbilden. Im letzteren Fall verschiebt tremfall der Aufführung, die ohne vorgängigen Text auskommen kann und für die spontan emergierende, sich aus der Logik der Körperlichkeit ergebende Aktionen sowie die Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern konstitutiv sind. Der Text kommt lediglich implizit, als Gegenpol des Performativen, ins Spiel.
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sich durch die Vertextung freilich die Funktion des Rituals von der Stiftung einer communio zwischen Zelebranten und Gemeinde hin zur communicatio, die auf der Ebene der Repräsentation angesiedelt ist: Wo der Text Rituale appropriiert – beispielsweise als Vorführung von Trauerritualen oder Memorialpraktiken im Drama (vgl. Maassen 2000) –, geschieht das im Wege der zitierenden Darstellung; damit stellt er sie aber aus, unterminiert ihre Geltung und gibt sie zur kulturellen Verhandlung frei (vgl. Maassen 2001: 299). Partizipanten an zeremoniellen Praktiken werden zu Zuschauern oder Lesern, deren identity fashioning anderen, komplexeren und potenziell offeneren Mechanismen folgt. Wenngleich die ritualtheoretische Verschiebung des Akzents vom Werk bzw. Text auf die kulturellen Praktiken – z.B. die Textverwendungen – für die Arbeit an Texten selbst wenig ergiebig ist, liefert sie doch einen wichtigen Anstoß für eine Neubetrachtung der kulturellen Einbettung und Funktion von Literatur. Die Vorstellung vom ›sozialen Drama‹ ist da produktiv, wo sie die Interdependenz von Text, gesellschaftlichen Normen und sozialem Handeln unterstreicht und damit die Rolle des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes für die Textbetrachtung aufwertet.
4. Die Auseinandersetzung mit den sprechakttheoretischen, theaterwissenschaftlichen und ritualtheoretischen Konzepten des Performativen und deren partielle Fusionierung hat eine Dynamik der Theoriebildung initiiert, die zu unterschiedlichen, z.T. stark divergierenden Applikationen dieser Konzepte auf Texte und auf Literatur geführt hat. Das Spektrum reicht von Theorien begrenzter Reichweite, die lediglich bestimmte Textelemente und -strategien als ›performativ‹ ausweisen wollen, bis zu solchen, die Literatur generell mit diesem Prädikat belegen. Mit Culler wurde bereits ein einflussreicher Vertreter dieses zuletzt genannten, weit gefassten Konzepts textueller Performativität genannt. Während es dabei weniger um spezifische Textstrukturen geht, sondern vielmehr um Verwendungsweisen von Texten und um Wirkungen, die mit ihnen erzielt werden, soll in seinen restriktiveren Applikationen das Attribut ›performativ‹ gerade eine Differenzqualität einzelner Gattungen oder Schreibweisen benennen. So wurden etwa Montaignes Essais als idealtypische Reali-
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sation eines ›performativen‹ Diskurses beschrieben, der sich von anderen Formen theoretischer Prosa, z.B. dem Traktat, dadurch unterscheidet, dass er Subjekt-, Text- und Argumentkonstitution scheinbar koinzidieren lässt – ein Zusammenhang, den Montaigne selbst avant la lettre als einen ›performativen‹ pointiert, wenn er schreibt: »Je n’ay plus faict mon livre que mon livre m’a faict, livre consubstantiel à son autheur« (Montaigne 1962: 647f. [Essais II, 18]; s. hierzu Pfister 2005; Häsner 2006). Eine ebenfalls restriktive Anwendung des Begriffs liegt auch dem Ansatz einer performativen Lyriktheorie zugrunde, die in der Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation das prototypische Merkmal lyrischen Sprechens erkennt und damit eine zentrale Bedingung für performative Äußerungen im Sinne Austins erfüllt sieht.16 Offensichtlich besteht hier durchaus ein Spannungsverhältnis zu den weiter gefassten ›performativen‹ Literaturtheorien; denn wenn – wie diese postulieren – Literatur überhaupt performativ sein soll, wäre die Qualifizierung einer essayistischen Schreibweise oder die lyrischen Sprechens als ›performativ‹ nicht mehr distinktiv. Angesichts der unbestreitbaren Produktivität aller Varianten textbezogener Performativitätsforschung drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass es gerade die Elastizität oder ›rhizomatische‹ Dynamik der einschlägigen Theoriebildung sind, die sie hat fruchtbar werden lassen. Eine geschlossene und in sich widerspruchsfreie Theorie textueller Performativität könnte deshalb nicht nur als wenig aussichtsreich, sondern sogar als nicht erstrebenswert erscheinen. Um dennoch zwischen restriktiven und weiter gefassten Ansätzen eine pragmatische Vermittlung zu finden, wurde eine Unterscheidung zwischen struktureller und funktionaler Performativität vorgeschlagen, die darauf zielt, Performativität nicht allein als Bezug eines Textes zu seiner Aufführung oder Wirkung, sondern zugleich als ein den Texten selbst inhärentes Merkmal zu bestimmen.17 Strukturelle und
16 | S. hierzu Pfister 2004 sowie K.W. Hempfer, »Überlegungen zu einer performativen Lyriktheorie« (in Vorbereitung). 17 | Diese Terminologie wurde zuerst in dem Band Theorien des Performativen der Zeitschrift Paragrana (Fischer-Lichte/Wulf [Hg.] 2001) eingeführt, und zwar in den Beiträgen Hempfer/Häsner/Müller/Föcking 2001: 68 und Maassen 2001: 289ff. Die Unterscheidung wird aufgegriffen in Velten 2009: 552.
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funktionale Performativität sollen dabei nicht als einander ausschließende Perspektiven, sondern als interdependent gedacht werden. Strukturelle Performativität verweist im engeren Sinne auf die Machart eines Textes und bezeichnet die textuellen Strategien und Strukturen, die der Inszenierung von Körperlichkeit, sinnlicher Präsenz oder ereignishaftem Vollzug dienen. Unter den Begriff der strukturellen Performativität fallen damit streng genommen Strukturen, die auf Kompensation eines Defizits zielen – eines Defizits jedenfalls aus einer ›performativen‹, Präsenzrelationen privilegierenden Perspektive. Dieses Defizit besteht darin, dass schriftliche Texte die jeweiligen Simultaneitäts- oder Koinzidenzrelationen, die sowohl für die performative Äußerung im Sinne Austins als auch für theatrale Performanz konstitutiv sind, in der Regel eben nicht aufweisen und auch nicht aufweisen können. Dementsprechend werden als strukturell performativ solche Textelemente und Textstrategien bezeichnet, die der Simulation derartiger Gleichzeitigkeitsrelationen dienen – der Simulation, Suggestion oder Beschwörung von Präsenz respektive Kopräsenz, Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit im Medium des Textes. Hierzu zählen etwa Indexikalisierungsstrategien (auf die wir unten noch näher eingehen werden), das Fingieren von Mündlichkeit, Verfahren der Blicklenkung und Visualisierung, showing statt telling (die Unterscheidung stammt von Booth 1983: Kap. 1), das Vor-Augen-Stellen von Geschehenszusammenhängen18 sowie Apostrophierungen des Lesers als anwesenden Kommunikationspartner und generell Modellierungen des Rezipienten. Ein hochartifizielles Instrument der Präsenzsimulation oder -suggestion sind Metalepsen,19 die erzählende und erzählte Welt als ein Kontinuum präsentieren, in dem unmittelbare Interaktion von Autor, Figur und Leser möglich sein soll. Von herausgehobener Bedeutung sind in diesem Zusammenhang ferner jene autoreflexiven oder autoreferenziellen Textstra18 | Diese sind bereits in der antiken Rhetorik unter dem Stichwort der enargeia oder evidentia als Verfahren beschrieben worden, die im – schriftlichen oder mündlichen – Text »dramatische Mimesis figurativ nachstell[en]« (Campe 1997: 216). »Es ist nicht, als ob die Dinge erzählt, sondern als ob sie aufgeführt würden«, formuliert bereits Quintilian (Quint. Inst. orat. IX, 2, 43). 19 | Zum Begriff der Metalepse s. Genette 1972 sowie Häsner 2011, wo Metalepsen als eine »performative Erzählweise« näher bestimmt werden. S. hierzu auch Hempfer 1999.
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tegien, auf die bereits hingewiesen wurde und in denen sich ebenfalls strukturelle Performativität manifestieren kann: Der Autor bzw. Erzähler reflektiert seinen Schreibakt oder generell die Modi seines Diskurses in dessen Vollzug und konstituiert (oder dekonstruiert) darüber sich selbst als Autor; der Text stellt seine eigene Medialität aus oder er ›führt vor‹, wovon er spricht bzw. er ›macht‹ etwas, was nicht in den in ihm explizierten propositionalen Gehalten aufgeht, sondern diese übersteigt oder auch konterkariert. In dem so generierten semantischen Überschuss kann sich ein kritisches oder parodistisches Potenzial entfalten, es kann aber durchaus auch affirmativ wirksam werden. In diesen Kontext performativer Selbstreferenzialität gehört auch die Metaphorik des Textes als einer ›Bühne‹, auf der sein Diskurs inszeniert wird. Strukturelle Performativität, so wie eben beschrieben, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ebene des discours, des Erzählens, also die Vermittlungsebene zwischen Text und Leser. Zu unterscheiden hiervon ist ein schwächerer Begriff von struktureller Performativität, der sich auf die Ebene der histoire, also die erzählte Geschichte selbst, bezieht. Darunter fällt beispielsweise die Textualisierung von verkörperten symbolischen Praktiken wie Karnevalsbräuchen oder Herrschaftsspektakeln, aber auch die Darstellung von Emotionsausbrüchen. Im Grunde handelt es sich dabei nicht um Textstrukturen, sondern um performative Strukturen oder Phänomene dargestellter Welten – oder eben um ›dargestellte Performativität‹. Da fiktionale Texte Welten oder Weltausschnitte fingieren, ist es nicht überraschend, dass es in diesen fiktiven ›Welten‹ prinzipiell all jene Phänomene – vom performativen Sprechakt bis zur Theateraufführung – geben kann, die auch in der realen Welt als ›performativ‹ charakterisiert werden. Es geht hier somit weniger um die ›Performativität des Textes‹ als vielmehr um ›Performativität im Text‹, meist also um textuelle Darstellung von Performanzen. Der Aspekt der funktionalen Performativität hingegen verschiebt den Akzent von der Machart des Textes auf seine kulturelle Wirkmächtigkeit. Während die Frage nach struktureller Performativität darauf fokussiert, wie der Text das macht, wovon er spricht, oder gegebenenfalls etwas anderes macht, als er behauptet, zielt der Begriff der funktionalen Performativität auf das ab, was ein Text auslöst. Funktionale Performativität bezeichnet zunächst die Wirkungen und Dynamiken, die ein Text an der Schnittstelle mit seinen Rezipienten entfaltet. Das Konzept der funktionalen Performativität verlagert den Fokus vom
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Autor auf den Leser, vom Werk auf den Rezeptionsakt, einschließlich der nicht-intendierten Emergenzeffekte und semantischen Überschüsse, die bei der Textrezeption auftreten können, sowie von der intellektuellen Dekodierung der Zeichen auf die sinnlichen und emotionalen Effekte, die durch den materiellen Zeichencharakter (Klang, Bild) erzeugt werden. In dieser Verschiebung trifft sich das Interesse an funktionaler Performativität mit der allgemein in den Literaturwissenschaften zu beobachtenden Umorientierung auf Rezeptionsprozesse und Kontextbezüge. Darüber hinausgehend und in Abgrenzung von diskurstheoretisch fundierten Ansätzen aber privilegiert das Konzept der funktionalen Performativität insbesondere die aisthetische Dimension, also die sinnlich erfahrbare Form des Textes – seine ›Textur‹ –, indem es Texte in den Horizont der verkörperten, medialen und materiellen Praktiken der Kultur einstellt. Des Weiteren zielt der Begriff der funktionalen Performativität auf die gesellschaftliche Zirkulation von Texten, durch die Produkte der schriftlichen Kultur in performative Kulturpraktiken eingebunden werden. Dies beinhaltet beispielsweise Prozesse des Aufführens und Ausstellens, Zueignens, Austauschens oder Übertragens. Funktionale Performativität betont sowohl die Materialität des Textes – der Text als Ding, als Gabe oder als Ware – als auch seine medialen Transformationen. Im Mittelpunkt steht die den Texten eigene materielle Existenzform, die sie in die unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Funktionszusammenhänge stellt. Zugleich wird in der Betonung der intertextuellen Iterationen und transmedialen Übergänge Textbedeutung dynamisiert und als Ergebnis auch außerliterarischer kultureller Verhandlungsprozesse erkennbar (vgl. Maassen 2001: 289f.). Das Konzept funktionaler Performativität führt auch die – kulturanthropologische Erkenntnisse auf Texte beziehende – Programmatik des New Historicism weiter, wie sie Stephen Greenblatt formuliert, auch wenn er selbst nicht das Begriffsarsenal des Performativen verwendet. Zum einen macht Greenblatt die Grenzen zwischen Text und Gesellschaft durchlässig, wenn er Texte als Instrument der »Zirkulation sozialer Energie« (Greenblatt 1990: 7) betrachtet, als kulturelle Praxis, solche ›Energieströme‹ in die Rezipienten einzuspeisen, in ihnen »Empfindungen hervorzurufen, und diese zu gestalten und zu ordnen« (ebd.: 12). Zum anderen prägt er mit dem Konzept des self-fashioning einen Begriff, der auf die Konstruktion individueller Identitäten zielt, und zwar zentriert auf deren sprachlich-textuelle
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Dimension.20 Texte werden hier vorrangig nicht als Ausdrucksmittel des Individuums verstanden, sondern werden zur Bühne und zum Medium der Identitätskonstitution selbst. In diesem Zusammenhang ist auch auf Judith Butlers Konzeption der performativen Konstruktion von Geschlechteridentität zu verweisen. Nach Butler konstituiert sich Geschlechteridentität »durch eine stilisierte Wiederholung von Akten« (Butler 2002: 302; Hervorhebung im Original), d.h. durch vornehmlich nicht sprachliche, sondern körperliche Handlungen – Butler spricht von »bodily gestures« (Butler 1999: 179) –, die den »gendered body« im Laufe der Zeit geradezu ›materialisieren‹. Diese Argumentation dehnt den Diskursbegriff auf verkörperte Handlungen aus und verknüpft so die von Greenblatt präferierte sprachlich-textuelle Dimension wiederum mit einer aisthetischen Dimension. Butler erweitert damit zum einen die wirklichkeitskonstituierenden symbolischen Praktiken um die Inszenierung von Alltagshandeln, und zum anderen bringt sie über ihre Konzepte von Wiederholung, Zeitlichkeit und Zitation die Möglichkeit der Wirklichkeitsveränderung – durch Variation, Parodie und Subversion sowie durch ›re-signification‹ von Normen und Identitätsskripten – in ihren Performativitätsbegriff ein.21 Allerdings geht Butlers methodische Verschleifung von Körperpraktiken mit Sprachhandeln und ihre Fokussierung auf die politische Funktion des Sprachgebrauchs auf Kosten der Analyse der diese Funktionen ermöglichenden Sprachstrukturen. Greenblatt dagegen bindet das weltschaffende Potenzial von Diskursen zwar an Texte, doch fragt auch er kaum nach textuellen Strategien, die sie in dieser Weise wirksam werden lassen. Tatsächlich wird aber gerade hier die Interdependenz von struktureller und funktionaler Performativität deutlich, denn häufig sind es eben jene unter dem Begriff der strukturellen Performativität analysierten Strategien und Textstrukturen, die eine – indessen nicht vollends determinierbare – außertextuelle Wirkung und wirklichkeitsverändernde Dynamik entfalten können. Indem strukturelle und funktionale Performativität als interdependent betrachtet werden, gerät nicht zuletzt der Übergang, der liminale Raum zwischen Text und Welt in den Fokus. Im Grenzbe20 | Vgl. Greenblatt 1980: 9: »self-fashioning is always, though not exclusively, in language«. 21 | Vgl. auch die Herleitung und Zusammenfassung von Butlers Performativitätsbegriff durch Klaus W. Hempfer und Ekkehard König in diesem Band.
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reich der Textualität zu situierende Phänomene wie das Schweigen, das Lachen und Weinen oder die Geste können vor diesem Hintergrund als performative Handlungen sui generis beschrieben werden, die gleichsam zwischen Text und Körper, verbaler und non-verbaler Kommunikation, Sprache und Ritual oszillieren. So kann etwa das Lachen der Figuren im Text mit dem Lachen der Rezipienten über den Text koinzidieren. Sowohl das Lachen wie auch das Weinen vermögen durch ›Gefühlsansteckung‹ die Textgrenzen zu überschreiten. Die Figuren der Textwelt und deren lebensweltliche Rezipienten können als eine Lach- oder Trauergemeinschaft verstanden werden, die erst unter einer das Innen und das Außen des Textes zusammenhaltenden Perspektive als solche in den Blick gerät. Unter performativitätstheoretischen Vorzeichen sollen also nicht nur konzeptuelle, sondern auch emotionale und aisthetische sowie soziale Wirkungen von Texten systematisch berücksichtigt und adäquat beschreibbar werden.22 Indem dieses Verständnis von textueller Performativität Textgrenzen, Zwischenräume und Übergänge in die Interpretation miteinbezieht, schließt es an ritualtheoretische und soziologische Positionen an, die das transgressive und transformative Potenzial von liminalen Phasen und Schwellenerfahrungen betonen.23
5. Die Interdependenz zwischen struktureller und funktionaler Performativität des Textes sei etwas ausführlicher an jenen Textelementen erläutert, die wir im Zusammenhang mit der ›strukturellen Performativität‹ als Indexikalisierungsstrategien hervorgehoben haben: Unter dem Terminus ›Deixis‹ oder eben auch unter dem der ›Indexikalität‹ behandeln die sprachwissenschaftliche Semantik und Pragmatik bekanntlich bestimmte Pronominalisierungen, Demonstrativpronomen, Zeit- und Ortsadverbien sowie Tempusmorpheme, durch die Aspekte des Äußerungskontextes oder des Sprechereignisses innerhalb der Äußerung selbst encodiert oder grammatikalisiert werden 22 | S. Bachorski (u.a.) 2001. Vgl. ferner die ausführliche Diskussion der einschlägigen Theoriebildung in Koch 2006. 23 | Vgl. van Gennep 1960 und Turner 1982; vgl. auch den Beitrag von Jörg Volbers in diesem Band. – Zum Zusammenhang von Ritualisierung, non-verbaler Kommunikation und Emotions-modelling vgl. auch Maassen 2003.
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(Levinson 1990: 55). Indexikalität gewährleistet – um eine emphatische Formulierung Helmut Papes aufzugreifen – die »Anwesenheit der Welt in der Sprache« (Pape 2002: 93). Exemplifiziert wird die Deixis oder Indexikalität aber fast stets nur an Äußerungen im Satzformat, obwohl sie eine grundlegende Eigenschaft von Sprachsystem und Sprachgebrauch darstellen soll und auch bereits ein »indexical discourse« postuliert wurde (Bar-Hillel 1970: 84). Um auf Texte anwendbar zu sein, muss das Konzept in analoger Weise umformuliert und erweitert werden wie das Austin’sche der performativen Äußerung, mit dem es im Übrigen in einem systematischen Zusammenhang steht, insofern sich letztere nur mittels indexikalischer Ausdrücke formulieren lassen; Indexikalität ist also eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Performativität (s. Hempfer/ Häsner/Rajewsky 2004). Die Gewinn-/Verlustbilanz einer Erweiterung des Indexikalitätskonzept fällt ähnlich aus wie im Falle der Austin’schen ursprünglichen Performativa: Einer Einbuße an Distinktivität steht eine Erweiterung des Anwendungsbereichs gegenüber und eine Fokussierung und Akzentuierung eher unterbelichteter Zusammenhänge, insbesondere solcher, die das Verhältnis von textinterner und textexterner Pragmatik betreffen. Auf Textformate übertragen, ließe sich sagen: Indexikalisch sind Elemente oder Organisationsebenen des Textes, die auf Aspekte des Äußerungskontextes oder der Äußerungssituation verweisen und deren spezifische Bedeutung oder bedeutungskonstitutive Funktion nur dann aktualisierbar ist, wenn eben diese Referenz adäquat erkannt wird. Äußerungskontext meint dabei die personalen, zeitlichen und räumlichen Koordinaten der Textgenerierung – also deren unmittelbare lebensweltliche Voraussetzungen; es geht, anders gesagt, um den empirischen Autor in der Situation und im Moment oder während der Zeitspanne der Textproduktion und um deren empirische – mediale, soziale, ökonomische, psychologische, mentale etc. – Konditionen, und zwar insoweit diese im Text selber indiziert werden (s. hierzu Häsner 2008). Während der Begriff der Indexikalität auf ›Spuren‹ des Subjekts und des Kontextes zielt, die Äußerungen auch dann an sich tragen, wenn sie bemüht sind, diese Spuren systematisch zu tilgen,24 meint 24 | Pape spricht von einer »Irreduzibilität des Indexikalischen« (Pape 1999: 3). S. hierzu auch Hempfer/Traninger 2007: 12ff. sowie Häsner 2008: 69.
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›Indexikalisierung‹ eine diskursive Strategie, die das Subjekt und den Kontext von Aussagen gerade ostentativ herausstellt. Indem nominelle, faktische oder biographische Identität zwischen textexternen und textinternen Größen postuliert wird, werden Personen und Kontexte der Lebenswelt gleichsam in den Text ›hineingeholt‹. Indexikalisierung kann darauf zielen, die Grenze zwischen Text und Welt zu schleifen oder zu verschleifen. Zugleich bleibt aber ein Darstellungsspielraum erhalten, der es erlaubt, die extratextuellen Entitäten im Text alternativ zu modellieren und zu manipulieren. Der Text lädt damit ein, textinterne und textexterne Welt zu vergleichen und ermöglicht dem zwischen beiden Welten oszillierenden Blick die Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten. Im Kontext des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« wurde dieses wirklichkeitsstiftende Potenzial von Indexikalisierungen u.a. am Beispiel der Textgattung des Dialogs und insbesondere des Renaissancedialogs als einem besonders aufschlussreichen Fall herausgearbeitet (s. hierzu und zum Folgenden Häsner 2002; Häsner 2004; Hufnagel 2009). Dialoge – dies unterscheidet sie von anderen Textgattungen des theoretischen oder argumentativen Diskurses – machen nicht nur Aussagen über die Welt, sondern stellen zugleich eine ›Welt‹ dar, nämlich eine Gemeinschaft mehrerer mündlich miteinander kommunizierender Subjekte. Seit jeher, d.h. seit Platon, bestand dabei für den Dialog die Möglichkeit, seine Gesprächsfiktion mit Personen auszustatten, die mit dem Personenkreis referenz- oder sogar namensidentisch sind, innerhalb dessen sich der empirische Autor bewegt und in dem er seine primären Adressaten sucht. Im Idealfall, der indessen in vielen humanistischen und höfischen Dialogen des 15. und 16. Jahrhunderts realisiert ist, sind der Autor des Textes und seine primären Leser, die in der Regel demselben lebensweltlichen – gelehrten oder höfischen – Sozium angehören, auch die Protagonisten der Gesprächsfiktion. Gerade in dieser extremen Indexikalisierung, die textinterne und textexterne Pragmatik kurzzuschließen scheint, liegt ein operatives Potenzial der Wirklichkeitsmodellierung oder des self- und community-fashioning, das auch anderen fiktionalen und nichtfiktionalen Gattungen prinzipiell zur Verfügung steht, den Dialog aber innerhalb der Genera der theoretischen Prosa in besonderer Weise auszeichnet.25 Denn das Milieu, das 25 | Es sei jedoch angemerkt, dass auch diskreteren und weniger transparenten Indexikalisierungen ein wirklichkeitsstiftendes Potenzial eignen
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in der Dialogfiktion zur Darstellung kommt und mit dem intendierten Rezipientenmilieu oft referenzidentisch ist, unterliegt zumeist rigoroser Modellierung, die von enkomiastischer Überhöhung bis zu satirischer Demontage reichen kann. Solchermaßen zugerichtet wird das Abbild einer Diskursgemeinschaft wieder in diese Diskursgemeinschaft eingespeist, um von dieser rezipiert und rezensiert zu werden und eventuell zu ihrem Vorbild zu avancieren oder aber in ihr zu Turbulenzen und Verwerfungen zu führen.26 Text und Welt bilden hier gleichsam ein Kontinuum, in dem, wie der russische Historiker Leonid Batkin dies pointiert hat, Kopie und Original, Fiktion und Wirklichkeit die Plätze tauschen können (s. Batkin 1981: 267). Die Grenzen zwischen Text und Welt verschwimmen: Der Dialogtext erscheint ebenso als ein literarisches Abbild der Welt, in der er rezipiert wird, wie diese Welt als Abbild des Textes, der sie porträtiert. Als ein komplexes Beispiel sei hier Giordano Brunos La cena de le Ceneri (Das Aschermittwochsmahl) angeführt – komplex nicht zuletzt deshalb, weil man es mit einer Dialog-im-Dialog-Struktur zu tun hat und die Indexikalisierung gleichsam zwei Text-Welt-Grenzen betrifft, eine textinterne und eine textexterne. Auf der einen Gesprächsebekann. Zeigen ließe sich dies sogar an modernen (natur)wissenschaftlichen Textsorten, deren Diskursmaximen gerade weitgehende Tilgung jeglicher Spuren des Redesubjekts und -kontextes empfehlen bzw. vorschreiben. Freilich ist diese Strategie der Deindexikalisierung selbst noch indexikalisch; sie indiziert einen bestimmten disziplinären Habitus – und indiziert ihn nicht nur, sondern erzeugt ihn zugleich und dient damit gleichfalls dem self- und community-fashioning von Wissenschaftlern (s. Hempfer/Häsner/ Rajewsky 2004: 90f.). Wie über solche Selbstinszenierungen des Wissenschaftlers nicht nur Identitäten gestiftet, sondern darüber hinaus auch neue Forschungsgegenstände ›wissenschaftsfähig‹ gemacht werden sollen, zeigt am Beispiel des Spiritismus Hufnagel 2007. Zum Verhältnis von Performativität und Wissen(schaft) s. ausführlich den Beitrag von Viktoria Tkaczyk in diesem Band. 26 | Welche destabilisierenden Effekte das oftmals maliziöse fashioning von Protagonisten des porträtierten Soziums in diesem selbst haben konnte, zeigt eindringlich Gernot M. Müller am Beispiel von Lorenzo Vallas De voluptate, einem Dialog, der nicht zuletzt unter dem Druck der von ihm selbst hervorgerufenen Irritationen im humanistischen Milieu von seinem Autor zu einer zweiten Fassung mit vollständig ausgetauschter Rollenbesetzung umgearbeitet wurde (s. Müller 2002).
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ne seines Dialogs schildert Bruno einen Disput um die Richtigkeit des kopernikanischen Weltbilds. Dieser Disput soll in London, am Aschermittwoch 1584 stattgefunden haben. Dabei treten zwei aristotelische Gelehrte aus Oxford gegen Brunos textuellen Doppelgänger an, den er nach seinem süditalienischen Heimatort als »Nolano«, als Mann aus Nola, apostrophiert. Diesen Nolano stattet Bruno, der im Elisabethanischen England tatsächlich über keinerlei Machtressourcen verfügt, mit einer überwältigenden intellektuellen Macht aus – mit dem Ziel, dass ein Teil dieser Macht sich über die Textgrenzen hinaus auf ihn, Bruno, übertrage und er im höfischen Milieu als philosophische Autorität anerkannt und entsprechend behandelt werde. Dazu inszeniert er auf der zweiten Dialogebene ein weiteres Gespräch, das den Verlauf des Disputs zwischen den Aristotelikern und dem Nolano kommentiert. In diesem Gespräch durchläuft ein englischer Höfling, also die primäre Identifikationsfigur des von Bruno anvisierten Lesepublikums, einen Lernprozess, in dessen Verlauf er sich von einem Skeptiker in einen begeisterten Anhänger des Nolano verwandelt. Wenn die englischen Adligen, die er repräsentiert, nun extratextuell seinen Lernprozess nachvollziehen, wird aus Bruno in der Tat der Nolano: Protegieren sie Bruno wie erhofft, erhält die intellektuelle Macht des Nolano ihren materiellen Abglanz in Gestalt einer Gelehrtenstelle, die Bruno institutionalisiert (s. Hufnagel 2009: 31-102, v.a. 90-93). So kann das fashioning einer Rezipientenfigur auf einer Textebene bewirken, dass das auf der anderen Ebene projektierte self-fashioning eines Autors außertextuell reüssiert, ja sich materialisiert – dann nämlich, wenn der extratextuelle Rezipient sich mit dem dargebotenen Verhaltensmodell identifiziert.
6. Um zusammenzufassen: Der literaturwissenschaftliche Performativitätsbegriff ist eng assoziiert mit einem verstärkten Interesse an Präsenzeffekten, Prozessualität, an der Materialität und Medialität von Kommunikation und insbesondere mit einer Akzentuierung von agency, sowohl textintern als auch bezogen auf die textexterne Kommunikation zwischen Autor/in und Rezipient/in. Die dominante Vorstellung von der Transparenz des Textes und seiner semantischen Funktion wird damit relativiert zugunsten eines Oszillierens zwischen Repräsentation und Präsenz, zwischen referenziellen und
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handlungsbezogenen, semiotischen und nichtsemiotischen, mimetischen und poietischen Dimensionen. Vor diesem Horizont rücken nicht-intendierte Emergenzeffekte, kontingente Wirkungen und sinnlich-körperliche Rezeptionsweisen in den Blick. Literatur wird also nicht mehr nur als diskursive Praxis gedacht, sondern auch als »Teil einer somatisch-sinnlichen« (vgl. Velten 2009: 551) kulturellen Praxis verstanden. Der Begriff des Performativen fungiert nicht zuletzt als eine Linse, die Theorieentwicklungen seit dem Strukturalismus bündelt, aber auch bricht. Insgesamt hat das Paradigma des Performativen dazu beigetragen, die Wechselbeziehungen zwischen Text und Welt auf eine neue theoretische Grundlage zu stellen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass damit zugleich zentrale Begriffe der Literaturanalyse einer Revision unterzogen werden müssen (vgl. Velten 2009: 552f.). Dieser Prozess freilich steht erst ganz am Anfang.
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Zum Zusammenspiel von Medialität und Performativität Oder: Warum noch Hoffnung für das Theater besteht Torsten Jost
Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Zusammenspiel von Medialität und Performativität – einem Beziehungsgeflecht, das geraume Zeit bereits im Fokus sowohl der kunst- und kulturwissenschaftlichen wie medienphilosophischen Aufmerksamkeit steht.1 Ich werde mich diesem aus historischer Perspektive nähern und somit einen Weg einschlagen, den Jutta Eming und andere in ihrem Band Mediale Performanzen aufgezeigt haben (Eming/Lehmann/Maassen [Hg.] 2002). Dafür wende ich mich Plays zu, einem Text der US-amerikanischen Avantgardekünstlerin Gertrude Stein, verfasst im Jahr 1934 (Stein 1971: 59-83). Mein Blick zurück zu einer Künstlerin der historischen Avantgarde ist keine Willkür, im Gegenteil. In Unter Verdacht, seiner Phänomenologie der Medien, zeigt Boris Groys, dass die historischen Avantgarden großen Einfluss auf die Entwicklungen der Medientheorie im 20. Jahrhundert ausübten (vgl. Groys 2000: 88-101). Zugleich stellt er fest, dass »gerade in unserer Zeit, in der die Medientheorie ausgesprochen en vogue ist, eine Tendenz [besteht], diese entscheiden1 | Einen ersten Einblick in die Forschungslage bietet ein Bericht der Arbeitsgruppe Medien des Sonderforschungsbereichs 447 Kulturen des Performativen, der sowohl medienphilosophische als auch kunst- und kulturwissenschaftliche Ansätze zusammenführt (Arbeitsgruppe Medien 2004: 129-185). Zugleich ist hier auf den von Sybille Krämer (2004) herausgegebenen Band Performativität und Medialität zu verweisen.
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den Anfänge der Beschäftigung mit dem Medialen zu verdrängen« (ebd.: 95). Eine Folge dieses Verdrängens, für das Groys namentlich Marshall McLuhan mitverantwortlich macht, sei das Ignorieren einer »avantgardistischen Grundfigur« – nämlich die der aktiven Arbeit an der »Freilegung des Medialen« (ebd.: 96). Diese avantgardistische Figur, wie sie beispielsweise die kubistische Malerei voll- und vorführte, sei zwar von »McLuhan auf die ganze Bilderwelt der modernen Medien übertragen« worden, jedoch ohne diese den gleichen »Foltermethoden« (ebd.) der Reduktion, der Fragmentierung, der Zerschneidung und der Collagierung zu unterziehen. Dadurch entstehe leider der Eindruck, als ob eine solche Arbeit völlig überflüssig wäre und die Medien von Anfang an und immer schon ihre Botschaft verkündet hätten – ohne durch künstlerische Strategien dazu gebracht werden zu müssen. Die aktive, offensive künstlerische Praxis der Avantgarde wurde von McLuhan zu einer rein interpretativen Praxis umfunktioniert, die ihm ausreichend zu sein schien, um die anonymen Botschaften der Massenmedien vernehmen zu können […]. (Ebd.: 97)
Ich teile Groys’ Kritik an der Ignoranz gegenüber dieser zentralen Figur der Avantgarde, halte es aber für unzureichend, sie ausschließlich im Licht der ihr angeblich unterliegenden Intention zu betrachten, im »Endergebnis die reine Form des Mediums«2 entdecken zu wollen, wie Groys es tut. Denn in Wirklichkeit verkündet diese Grundfigur der Avantgarde ganz offen eine vollkommen andere Botschaft als die der sie vermeintlich antreibenden Intention: Sie führt nämlich vor und stellt aus, dass es ›reine‹ Medienformen überhaupt nicht gibt, sondern nur ›unreine‹ – solche, die unweigerlich immer schon in unterschiedlichste Formen des Gebrauchs, der Arbeit und der Auseinandersetzung eingespannt und verwickelt sind. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Künstlerin Gertrude Stein mit ihrem Text Plays entschieden an der medialen Forschungsarbeit der Avantgar2 | »Die klassische Avantgarde, wie sie sich am Anfang dieses Jahrhunderts konstituiert hat, definiert sich bekanntlich gerade durch ein reduktionistisches Verfahren: Sie will vom Text oder vom Bild alles Inhaltliche, bewusst Intendierte, Mitteilende abziehen, um im Endergebnis die reine Form des Mediums oder, wie McLuhan sagt, die eigene Botschaft des Mediums freizulegen.« (Ebd.: 93)
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de partizipiert. Dabei offenbart sie die »Botschaften der Medien« jedoch keineswegs als ihre ›reinen‹ Formen, sondern vielmehr als ihre unterschiedlichen Formen und Weisen, in Auseinandersetzungen mit Menschen zu agieren und dabei Wirkungen zu entfalten. Gertrude Stein legt in und mit ihrem Text nichts weniger als das unabwendbare Zusammenspiel des Medialen mit dem Performativen frei: Dieses wird nicht nur an unterschiedlichen medialen Darstellungen avant la lettre erforscht, sondern auch mithilfe des Textes selbst in Szene gesetzt und vorgeführt. Auf diese Weise macht die Avantgardekünstlerin sowohl bewusst als auch erfahrbar, dass die »Botschaften der Medien« nur in den und nur durch die Auseinandersetzungen mit den Medien zu erfahren und zu ›haben‹ sind – und zwar als ihre je besondere Art und Weise, im Gebrauch zu ›performen‹. Doch bevor ich mich tatsächlich Steins Plays zuwende, sind vorab einige theoretische Zusammenhänge zwischen den Konzepten Medialität und Performativität zu explizieren.
1. Z WEI K ONZEP TE : M EDIALITÄT UND P ERFORMATIVITÄT Sybille Krämer hat gezeigt, dass die Möglichkeit, Beziehungen zwischen Medialität und Performativität zu untersuchen, durch die kunst- und kulturwissenschaftliche »Wiederentdeckung« (Krämer 2004a: 13) und Weiterentwicklung des Konzepts der Performativität eröffnet wurde. Diese wurde wiederum vor allem durch die künstlerischen Interventionen der Avantgarden und Neoavantgarden provoziert. Sie führten vor, dass jeder Akt der Repräsentation stets die Präsentation von etwas sinnlich Erfahrbarem einschließt. Zugleich machten sie mit ihren Arbeiten fühlbar, dass dieses Sinnliche Wahrnehmungen und Erfahrungen ermöglicht und provoziert, die im Semiotischen nie gänzlich aufgehen. Vor diesem Hintergrund war es notwendig, ein Konzept von Performativität auszudehnen, welches das Performative in erster Linie als diskursive Praxis begreift. In Erweiterung dazu wurde ein Verständnis des Performativen entwickelt, das auch die sinnlichen Qualitäten von kulturellen Praktiken in den Blick nimmt, das heißt ihre Materialität und Korporalität, und dabei zugleich die Bedeutung und den Handlungscharakter der Prozesse
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ihrer Wahrnehmung und Erfahrung betont.3 Das Performative bezeichnet hier Konstitutionsleistungen, die hervorgehen aus dem Spannungsverhältnis zwischen kulturellen Praktiken einerseits, die in einer je spezifischen Phänomenalität in Erscheinung treten, und den aktiven, dynamischen Prozessen ihrer Wahrnehmung und Erfahrung andererseits, die sich im Dekodieren von Zeichenhaftem eben nicht vollkommen erschöpfen. Hier kommt die mediale Dimension von kulturellen Praktiken ins Spiel, auf die das Konzept Medialität zielt. Sybille Krämer hat zu dessen Konturierung wesentlich beigetragen, weshalb ich insbesondere auf ihre Ausführungen zurückgreife (vgl. neben den bereits zitierten Publikationen auch Krämer 2004b). Medialität betont, dass kulturelle Praktiken der Darstellung oder Vermittlung von Sinn und Bedeutung fundamental auf Medien angewiesen sind, welche stets eine spezifische Materialität besitzen – seien dies nun Körper, Stimmen, Schriften, Bilder oder Filme. Mit den Worten Krämers: »Alles, was Menschen beim Wahrnehmen, Kommunizieren und Erkennen ›gegeben ist‹, ist in Medien gegeben« (Krämer 2003: 83). Sinn, Geist, Ideen, Theorien oder Wissen werden durch materialisierende Verkörperungspraktiken erst wahrnehmbar gemacht und verhandelbar. Medien stellen für diese Praktiken »historisch konfigurierte Potentiale« (ebd.: 85) bereit. Krämer betont jedoch, dass Akte der »›Verkörperung‹ nicht nach dem Vorbild der ›Fleischwerdung des Geistes‹« zu begreifen sind. Vielmehr sei zu beachten, dass durch die je spezifische »Verkörperung das dabei Verkörperte nicht bloß realisiert, sondern immer auch verändert und unterminiert werden kann« (ebd.: 84). Es ist die Materialität und Korporalität der Medien, die die Grundlage für diese potenzielle Veränderung liefert. Zur Entfaltung kommt dieses Potenzial aber nur im Zusammenspiel mit Rezeptionsprozessen: Nur im raumzeitlich situierten Ereignis des rezipierenden Umgangs 3 | »Die Frage, was das Performative an Darstellungsformen – sei es im Film, Text oder Aufführungen – ausmacht, ist zugleich die Frage danach, welchen Anteil das Sensorische an ihnen hat. Was immer als performativ bezeichnet werden kann, ist ohne Wahrnehmung nicht denkbar, denn konstitutiv für das Performative ist ihre Zweipoligkeit. Sie erstreckt sich zwischen dem, was greifbar, hörbar und sichtbar vorliegt, und demjenigen, der dadurch ›angesprochen‹ wird, dem es durch die Wahrnehmung zum Ereignis werden kann. […] Eine Ästhetik des Performativen ist insofern nicht vom Aisthetischen zu trennen« (Arbeitsgruppe Wahrnehmung 2004: 15).
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mit einer (medialen) Darstellung kann deren sinnlich-materielle Dimension ihre transformierende oder unterminierende Wirksamkeit entfalten.4 Deutlich wird, wie eng die Konzepte der Medialität und Performativität aufeinander bezogen sind, dass sie sich gegenseitig inspirieren und kaum voneinander zu trennen sind. Das Konzept der Performativität stößt auf Medialität bei der Betonung der sinnlich-materiellen Qualitäten von Darstellungen. Das Konzept der Medialität stößt auf Performativität bei der Betonung des aisthetischen Charakters von Darstellungen, das heißt bei der Betonung ihrer Angewiesenheit auf Prozesse der Wahrnehmung. Denn das, was medial je spezifisch realisierte Darstellungen verkörpern, ist eben keine »stabile Entität«, wie Krämer betont, sondern existiert »nur in der flüchtigen und prozessualen Gegenwärtigkeit des Medienumgangs« (Krämer 2004a: 25). Was heißt es also, aus der Perspektive des Konzepts der Performativität die Medialität einer Darstellung zu untersuchen? Es heißt, erstens, ihr Erscheinen in einer je spezifischen Phänomenalität zu thematisieren. Zweitens bedeutet es, die flüchtigen und vielschichtigen Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse zu untersuchen, die den rezipierenden Umgang mit ihr prägen und erst hervorbringen, was in diesem Vermittlungsprozess an Bedeutungen und Erfahrungen entsteht. Hierbei gilt es, sich insbesondere für diejenigen Dimensionen der Rezeption zu sensibilisieren, die einen erfahrbaren ›Überschuss‹ generieren gegenüber den Repräsentations- und Ausdruckseigen4 | Medial steht hier in Klammern, weil der Darstellungsbegriff immer schon eine mediale Dimension impliziert. Denn »[n]ie nur meint nämlich der Ausdruck ›Darstellung‹ die Modalitäten des Darstellens, sondern immer zugleich auch deren Ausstellung, ihr Zeigen, Vorführen oder Vollbringen. Anders ausgedrückt: Darstellungen performieren ihr Dargestelltes. Ihnen inhäriert ein Selbstverweis, was auch der Sprachgebrauch nahe legt, denn ›darstellen‹ bedeutet – neben ›herstellen‹ – vor allem etwas hinstellen – dorthin, wo es zur Sichtbarkeit gelangt, wo es wahrgenommen werden kann. […] Der Umstand lässt sich auch so ausdrücken: Was an Darstellungen interessiert ist, dass sie ihr Dargestelltes ver-körpern. Mit der Seite ihrer Exsistenz, ihres Erscheinens wird zugleich die Seite der ›Verkörperung‹ relevant. Man könnte sagen: Verkörperungen bildet die eigentliche Arbeit der Darstellung. Mit ihr gelangt anderes in die Sicht als nur ihr Sinn, die Ordnungen ihres Bedeutens, nämlich deren nichtrepräsentierbare Präsentation« (Mersch 2010).
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schaften der Darstellungen und so die Transformation oder die Veränderung realisieren, auf die Krämer abhebt. Denn im Vollzug der Rezeption von Darstellungen sind Erfahrungen und Wirkungen der körperlichen Auseinandersetzung mit ihrer Materialität geradezu untrennbar verknüpft mit den Wirkungen der kognitiven Prozesse des Dekodierens von Zeichenhaftem. Dabei ist zu betonen, dass dieses Ineinander von phänomenalen und semiotischen Aspekten im Umgang mit Darstellungen sowohl harmonisch als auch äußerst konfliktreich verlaufen kann. Insbesondere im Fall des Letzteren wird die Medialität einer Darstellung besonders auffällig – das heißt sowohl ihre phänomenale Dimension als auch die vielschichtigen Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse, die den Umgang mit ihr prägen. Es war gerade dieses Phänomen des konfliktreichen Zusammenwirkens von Semiotischem und Phänomenalem – bei der Rezeption von Dramenaufführungen –, das Gertrude Stein in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts dazu veranlasste, sich grundsätzlich mit den verschiedenen Medialitäten von plays auseinander zu setzen.
2. P LAYS Plays ist in die Theatergeschichte als der Text Gertrude Steins eingegangen, in dem die Avantgardekünstlerin ihre einflussreiche Konzeption des landscape play vorstellt – einer Form von nicht-dramatischen Theatertexten, die Stein zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren verfasste und publizierte. Im selben Jahr der Entstehung von Plays, also 1934, erlebte eines ihrer landscape plays – Four Saints In Three Acts – in New York sogar gerade seine erfolgreiche Uraufführung (vgl. hierzu Watson 1998). Dass Stein in Plays aber nicht nur die interne Struktur ihrer avantgardistischen Theatertexte erläutert, sondern in den vorderen Passagen des Textes auch die Notwendigkeit ihrer Erfindung geradezu medien- und performanztheoretisch begründet, wird von der bisherigen theaterwissenschaftlichen Steinforschung kaum reflektiert (vgl. etwa Stricker 2007; Poole 1996). Ein möglicher Grund für dieses Versäumnis könnte sein, dass das Theater in den besagten Passagen eine unmissverständliche Kritik erfährt. Was ist der Anlass für Steins Theaterkritik? Um es kurz zu machen: Das Theater nervt Gertrude Stein und ihrer Meinung nach auch noch viele andere Zuschauer! Dramenaufführungen machen nervös,
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so die Schriftstellerin, mit dem Effekt, »that for a long time I did not go to the theatre at all« (Stein 1971: 74). Das Merkwürdige ist jedoch: Beim Lesen von plays, also von Dramentexten, ist das Gegenteil der Fall. Ihre Lektüre bereitet Stein sogar Freude oder Genuss. Wie kommt es zu diesem merkwürdigen, emotionalen Unterschied? Werden nicht in Dramentexten wie in Theateraufführungen einfach ›nur‹ dramatische Handlungen dargestellt und rezipiert – sogar ein und dieselben? Ein solches Theaterverständnis, das die Aufgabe einer Theateraufführung darin sieht, im Dramentext vorgegebene Bedeutungen werkgetreu zum Ausdruck und zur Darstellung zu bringen, war zu dieser Zeit noch lange nicht obsolet. Die Frage ist nun, warum dem Theater – so spürbar – diese Repräsentationsaufgabe nicht gelingt. Warum ersetzen Theateraufführungen nicht Dramenlektüren? Warum und wie verursachen sie statt dessen Nervosität? Die Antworten, die Stein auf diese Fragen in Plays liefert, treffen – so möchte ich zeigen – ins Herz einer Diskussion über die ›Botschaften der Medien‹ und enthüllen diese als das unabwendbare Zusammenspiel des Medialen mit dem Performativen.
2.1 How to do things with … plays Stein zufolge ist ein play für gewöhnlich zunächst einmal nichts anderes als eine aufregende Handlung – »exciting action« (ebd.: 61). Was aufregende Handlungen jedoch voneinander unterscheidet, sind die medialen Formen ihres Erscheinens. Auf diese richtet die Autorin in Plays ihr analytisches Augenmerk. Im Rahmen dieser avantgardistischen Forschungsarbeit interessieren sie aber weniger ›reine‹ Medienformen, als vielmehr die spezifischen Möglichkeiten und Probleme, die sich für sie als Rezipientin von aufregenden Handlungen aus deren unterschiedlichen medialen Erscheinungsweisen ergeben. Drei Formen des Erscheinens von aufregenden Handlungen nimmt sie in den Blick: ihr Auftreten im Alltag, ihre Darstellung in der Literatur und »third the theatre at which one sees an exciting action in which one does not take part« (ebd.). Hier soll vor allem ihr Vergleich zwischen Texten und Aufführungen interessieren. Zunächst zum Buch – womit »any book that is exciting« (ebd.) gemeint ist – und seiner Art, aufregende Handlungen wahrnehmbar und erfahrbar zu machen.
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Now when you read a book how is it. […] In the first place one can always look at the end of the book and so quiet down one’s excitement. The excitement having been quieted down one can enjoy the excitement […]. (Ebd.: 63)
Dieser Befund mag auf den ersten Blick banal erscheinen, doch für Steins Überlegungen ist er zentral: Beim Lesen von aufregenden Handlungen in Büchern muss keine Nervosität entstehen, weil man stets ans Ende blättern könne, um die Auflösung vorwegzunehmen. Gleich zu Beginn ihres Texts liefert Stein folgende Definition von Nervosität: »Nervousness is the certain proof that the emotion of the one seeing and the emotion of the thing seen do not progress together« (ebd.: 60f.). Als Medien der Darstellung von aufregenden Handlungen ist Büchern beinahe immer die Möglichkeit eingefaltet, sie mit Rücksicht auf das eigene emotionale Erleben und Verlangen zu gebrauchen. Man kann bei der Lektüre von Büchern nicht nur blättern, sondern auch innehalten oder Passagen wieder und wieder lesen. Die Gefahr einer Nervosität verursachenden, emotionalen Asynchronität zwischen »the thing seen« und »the one seeing« kann beim Buch also durch ganz unterschiedliche Rezeptionsstrategien vermieden werden. »Lesen ist Handeln von Menschen«, schreibt Erich Schön in seiner Geschichte des Lesens, die »in der kognitiven Dimension des Lesens aus einem Text Sinn bilden und in seinen sinnlichen und emotiven Dimensionen sich durch ihr Tun ein Erleben selbst bereiten« (Schön 1999: 1). Vollzogen wird dieses individuelle Tun und Handeln von Rezipienten jedoch, und darauf kommt es hier an, im Rahmen der Möglichkeiten, welche ihnen das materielle In-Erscheinung-Treten der Texte bietet. Blättern wird durch die Materialität des Buchs möglich und erweist sich für die emotionale Erfahrung der Lektüre der darin dargestellten, aufregenden Handlung als höchst wirkungsvoll. Festzuhalten ist, dass das Vergnügen, das Stein bei der Lektüre von aufregenden Handlungen in Büchern empfindet, nicht zuletzt hervorgeht aus dem Zusammenspiel der spezifischen Materialität des Buchs und dem Gebrauch, den die Künstlerin im Vollzug der Lektüre von ihr macht. Es ist diese (selten bewusst wahrgenommene) Interaktion zwischen Buch und Rezipientin, durch die hier performativ Vergnügen entsteht. Die Erfahrungen, die die Rezeption einer Darstellung zeitigen, sind untrennbar verknüpft mit ihrer Medialität, das heißt mit ihrem sinnlich-materiellen In-Erscheinung-Treten und ihrer damit verbun-
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denen spezifischen Art und Weise, Rezipienten Spielräume der Wahrnehmung und des Erlebens zu eröffnen. Dass dies nicht nur für die Lektüre von aufregenden Handlungen in Büchern zutrifft, sondern – besonders wahrnehmbar – auch für die Rezeption von plays, also von Dramentexten, machen Steins Ausführungen über ihre Erfahrungen mit dieser Textgattung deutlich. I also read plays a great deal. I rather liked reading plays, I very much liked reading plays. In the first place there was in reading plays as I have said the necessity of going forward and back to the list of characters to find out which was which and then insensibly to know. (Stein 1971: 70)
Stein macht darüber hinaus auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Büchern im Allgemeinen und Dramentexten im Besonderen aufmerksam: Während man bei Büchern mit den zentralen Charakteren eher allmählich vertraut gemacht werde (vgl. ebd.: 67ff.), seien die Protagonisten im Dramentext sofort präsent – »they are there right away« (ebd.: 69). Umso prominenter wird in Steins Darstellung ihrer Lektüre-Erfahrung von Dramentexten die »necessity« des Blätterns: Sie steht sogar an erster Stelle! Die sinnlich-körperliche Dimension dieses Tuns wird durch die Erwähnung eines dafür unverzichtbaren Körperteils, des Fingers, noch hervorgehoben. When one reads a play and very often one does read a play, anyway one did read Shakespeare’s play a great deal at least I did, it was always necessary to keep one’s finger in the list of characters for at least the whole first act […]. (Ebd.: 69)
Für das Lesen von plays ist die Erfahrung des Blätterns besonders prägend. Bei diesem wird nicht nur die zumeist papierne Materialität des Texts, sondern auch die Sinnlichkeit des eigenen Körpers besonders erfahrbar (vgl. hierzu auch die Einleitung der Herausgeber in Gunia/ Hermann 2002). Der Vollzug des Lesens von aufregenden Handlungen in Dramentexten erzeugt also einen fühlbaren Überschuss, der in den Ausdrucks- und Repräsentationseigenschaften der Darstellung nicht aufgeht und gleichwohl die Freude oder den Genuss mit hervorruft, welche die Lektüre von Dramentexten Stein bereitet. Sie findet ihren Grund nicht zuletzt in der Tatsache, dass Stein bei ihrer Lektüre häufig blättert.
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Abschließend zum dramatischen Theater und der Merkwürdigkeit, dass hier im Vollzug der Rezeption der aufregenden Handlung nicht Freude, sondern vielmehr Nervosität entsteht. You can with an exciting story find out the end and so begin over again just as you can in remembering an exciting scene, but the stage is different, it is not real and yet it is not within your control as the memory of an exciting thing is or the reading of an exciting book. No matter how well you know the end of the stage story it is nevertheless not within your control […]. (Stein 1971: 62)
Unter Theater versteht Stein offensichtlich ein historisch spezifisches theatrales Arrangement: Sie problematisiert hier das psychologischrealistische Illusionstheater. Aufgrund einer gesellschaftlichen Konvention, der vierten Wand, untersagen sich hier Zuschauer zumeist Interventionen. Dieses Unterlassen ist ein Grund, weshalb es laut Stein zur Nervosität im Zuschauersaal kommt: Weil subjektive Momente der Antizipation oder des Erinnerns zwar in die emotionale Erfahrung einfließen, aber in der persönlichen Erfahrungsgestaltung keine Entsprechung finden. Steins Finger kommt hier also nicht zum Einsatz. Obendrein gibt es noch ein weiteres Problem: [M]oreover I became fairly consciously troubled by the things over which one stumbles over which one stumbled to such an extend that the time of one’s emotion in relation to the scene was always interrupted. The things over which one stumbled and there it was a matter of both seeing and hearing were clothes, voices, what they the actors said, how they were dressed and how that related itself to their moving around. (Ebd.: 72)
Es sind die Schauspieler selbst, ihre Stimmen, ihre Kleidung und ihre Art, sich im Raum zu bewegen, die zu Stolperfallen werden. Die Wahrnehmung der dargestellten, fiktiven Handlung und die Einfühlung in sie wird durch die ›überschüssige‹ Wahrnehmung und Erfahrung der Darstellungen selbst, in ihrer Phänomenalität, immer wieder gestört. Dies ist zwar auch schon bei der Lektüre von Dramentexten der Fall, wo der abrupte Auftritt der Figuren das Blättern zum Figurenverzeichnis besonders nötig und auffällig werden lässt, aber im Theater kommt noch das Problem hinzu »of never being able to begin over again« (ebd.). Außerdem sei da noch das Publikum »and the fact that they are or will be or will not be in the way when the
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curtain goes up that too makes for nervousness« (ebd.: 60). Stein macht darauf aufmerksam, dass sich die Medialität einer Dramenaufführung nicht im Repräsentationsgeschehen einer aufregenden, dramatischen Handlung erschöpft, sondern die Wahrnehmung und Erfahrung der Schauspieler in ihrer Phänomenalität ebenso einschließt wie die Wahrnehmung und Erfahrung der anderen Zuschauer und ihrer Reaktionen auf das Geschehen. Ebenso fließen die Konventionen der Theatersituation in die emotionale Erfahrung ein, indem sie zum Beispiel als ein Zaudern zu intervenieren unangenehm spürbar werden. All diese ›überschüssigen‹ Wahrnehmungen und Erfahrungen bewirken ein emotionales Erleben, das in deutlich wahrnehmbarer Diskrepanz steht zur dargestellten, emotionalen Handlung. Sie bringen die Einfühlung ins Stolpern und sind ein zusätzlicher Grund, weshalb die Emotionen von »the one seeing« und »the thing seen« im dramatischen Theater unkompensierbar auseinanderdriften. Es ist diese wahrnehmbare Diskrepanz zwischen eigenem, emotionalen Erleben und aufgeführter, emotionaler Handlung, die laut Stein in Dramenaufführungen Nervosität erzeugt. Deswegen ist Stein nur »relieved« (ebd.: 73), wenn sich der Vorhang für diese spezifische Theaterform endlich schließt, die offensichtlich vergeblich versucht, in Dramentexten dargestellte, aufregende Handlungen ›werkgetreu‹ zu re-präsentieren.
2.2 Warum noch Hoffnung für das Theater besteht An diesem Punkt möchte ich meine Lektüre von Plays abbrechen. In aller Kürze sei jedoch umrissen, warum Gertrude Stein hofft und glaubt, das Theater könnte durch die Aufführung ihrer eigenen Theatertexte – ihrer landscape plays – zu einem Ort der performativen Hervorbringung von Freude und Genuss avancieren. Ich habe gezeigt, dass die ehemalige Psychologie- und Medizinstudentin ihre jahrzehntelange schriftstellerische Tätigkeit für das Theater in ihrem Text Plays ausdrücklich im Rahmen ihres Bestrebens präsentiert und reflektiert, die ›Zuschauerkrankheit‹ Nervosität von der Wurzel her zu kurieren – nämlich ansetzend am dramatischen Theatertext und seiner vermeintlich ›werkgetreuen‹ Verkörperung (Aufführung) durch Theaterschaffende. Wie versucht die Theaterreformerin dieses ›therapeutische‹ Vorhaben mithilfe ihrer Theatertexte umzusetzen? Auf der einen Seite fordern Steins zahlreiche Theatertexte ihre Auf-
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führung nachdrücklich ein5 – oftmals, indem sie bereits im Titel explizit auf den Theaterkontext anspielen.6 Auf der anderen Seite widersetzen sie sich jedoch vehement allen Lektüre-, Inszenierungs- oder Aufführungspraktiken, die den Konventionen der dramatischen Literatur oder des dramatischen Theaters folgen.7 Zum einen, indem sie die Trennung von Haupt- und Nebentext systematisch ad absurdum führen. Zum anderen, indem hier Sprache insgesamt kaum mehr dazu dient, etwa durch Mono- oder Dialoge Figuren darzustellen, geschweige denn Handlungen (vgl. hierzu auch Worthen 2005: insb. 57-72). Auf diese Weise versucht die Avantgardekünstlerin offensichtlich zu verhindern – und zwar mit allen ihr als Autorin zur Verfügung stehenden Mitteln –, dass mithilfe ihrer plays der Sprache (und allen anderen Theatermitteln) im Theater so beschriebene Funktionen zukommen. Betrachtet man Steins schriftstellerische Tätigkeit für das Theater im Licht ihrer Ausführungen in Plays, so wird deutlich, dass ihre Theatertexte in erster Linie auf die Verunmöglichung der Repräsentation von fiktionalen Dramenhandlungen auf Theaterbühnen abzielen und somit zugleich auf die nachhaltige Bekämpfung der vornehmlich durch sie hervorgerufenen ›Zuschauerkrankheit‹ Nervosität.8 Aber Steins innovative, radikal anti-dramatische Weise der 5 | Sarah Bay-Cheng listet im Anhang ihrer Monographie 110 Theatertexte der Schriftstellerin auf (Bay-Cheng 2005: 141-146). Siehe zum grundsätzlichen Problem der Identifizierung und Differenzierung der plays Gertrude Steins Storr 2003: 151f. 6 | So trägt das eingangs bereits erwähnte landscape play »Four Saints In Three Acts« zum Beispiel den Untertitel »An Opera To Be Sung«, schreibt darüber hinaus aber weder Rezitative, Arien, Monologe oder Dialoge vor, noch weist es eine schlüssige Akt- und Szeneneinteilung auf – geschweige denn eine Handlung oder gar nachvollziehbare Regieanweisungen. Vgl. Stein 1949: 440-480. 7 | Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Storr: »Steins unterschiedliche ›plays‹, aus den Jahren 1909 bis 1946, lassen sich nicht, auch nicht im entferntesten, lesen wie ›Stücke‹. Alle Lektüreerfahrung versagt, will man eine Dramen- oder Theaterkonvention oder eine andere, von diesen Bezeichnungen konturierte, funktionale Ordnung in den Texten erkennen.« (Storr 2003: 141) 8 | Der Zusammenhang zwischen der ›Zuschauerkrankheit‹ Nervosität und Steins schriftstellerischer Tätigkeit für das Theater kann hier nur angedeutet werden. Er wird im Rahmen meines Dissertationsprojekts eingehend
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Präsentation von Theatertexten verhindert nicht nur konventionell eingespielte Formen des Textgebrauchs durch Theaterschaffende, sie fordert und befördert zugleich auch andere: Steins plays stellen Theaterschaffende vor die Herausforderung, die in ihnen durch- und vorgeführte Befreiung der Sprache vom Zwang, fiktive Handlungen, Figuren oder Situationen konstituieren zu müssen, aufzugreifen und zu nutzen, um der Sprache und allen anderen Theatermitteln auch auf den Theaterbühnen neue Funktionen und neue Wirkungsmöglichkeiten zukommen zu lassen. Steins plays versuchen Theaterschaffende gleichsam dazu zu zwingen, sowohl neue Formen des Umgangs mit Texten zu entwickeln, um Inszenierungen hervorzubringen, als auch dazu, das Sprechen und alle anderen Theatermittel in Aufführungen in neuen Funktionen, Formen und Konstellationen zu präsentieren und erfahrbar werden zu lassen – und zwar am besten solche, zumindest ist dies die Hoffnung der Theaterreformerin, welche das Publikum nicht nur nicht nervös machen, sondern ihm vielleicht sogar Freude und Genuss bereiten. Stein liefert also keine schon fertige Medizin gegen Zuschauernervosität, sondern fordert vielmehr deren Entwicklung in Theater(laboratorie)n heraus. Die vor allem literaturwissenschaftliche Stein-Forschung kommt, in Anbetracht der in den plays so konsequent vollzogenen Missachtung aller etablierten Gattungsmerkmale der Dramatik, fast einstimmig zu dem Schluss, dass diese Texte mehrheitlich nicht für das Theater geschrieben sind. Am deutlichsten hat dieser Position wohl Jane Palatini Bowers Ausdruck verliehen, die festhält: Stein’s plays […] do not emphasize or even facilitate the physical realization of the play on the stage. In fact, Stein’s plays oppose the physicality of performance. Stein’s is a theater of language: her plays are adamantly and self-consciously ›literary‹. (Bowers 1991: 2; siehe auch Bay-Cheng 2005: 50 u. 141f.)
Ich behaupte das Gegenteil: Gerade aufgrund der von Bowers so treffend beschriebenen Immunität der Stein’schen plays gegenüber etablierten Lektüre- und Verkörperungspraktiken des dramatischen Theaters handelt es sich bei ihnen um Texte für Theaterschaffende, für analysiert. Vgl. für einen ersten Einblick in den Zusammenhang zwischen den Reformbemühungen der Theateravantgarde und der »Zeitkrankheit« Nervosität Warstat 2008.
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Theateraufführungen und für Theaterzuschauer – und nicht um ›reine‹ Lesedramen. Bis heute bieten sie die Chance, die seit Jahrhunderten eingespielte und eingeübte intermediale Verflechtung zwischen Literatur und Theater (samt ihren ›Risiken und Nebenwirkungen‹ für das Theaterpublikum) sowohl sichtbar als auch zu einer Sache des endlosen Forschens und Experimentierens werden zu lassen.
3. Z UM F A ZIT Z WEI V ERMUTUNGEN , WARUM M RS . C OLBY IN V ORTR ÄGEN MURRT Meine Hinwendung zu Gertrude Steins Text Plays im Kontext der aktuellen Diskussion über das Zusammenspiel von Medialität und Performativität hatte mehrere Gründe. Zum einen ging es mir darum, mithilfe ihrer Analysen unterschiedliche Spielformen des Zusammenwirkens von Medialem und Performativem aufzuzeigen, die reichen können von einem transparenten Gewirk der Gewohnheit und des Genusses einerseits, wie im Fall der Stein’schen Buchlektüre, bis hin zu einem opaken Gewirk der Irritation und der Strapaze andererseits, wie im Fall der Erfahrungen Steins beim Besuch dramatischer Theateraufführungen. Zum anderen machen ihre Ausführungen deutlich, dass ein Nachdenken über dieses Beziehungsgeflecht die Frage nach den Spielräumen und Grenzen menschlicher agency aufwirft. Steins Analysen enthüllen den Doppelcharakter von performativen Prozessen, in denen Akte des Gestaltens, des Eingreifens und Manipulierens stets einhergehen und verbunden sind mit solchen des Sich-Einfügens, des Geschehenlassens und Erleidens. So wie Mediales unterschiedliche Spielräume des Gestaltens, Wahrnehmens und Erfahrens eröffnet, so schränkt es diese Spielräume auf der anderen Seite immer auch ein und forciert spezifische Gebrauchsweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Es ist das besondere Potenzial der Überblendung der Konzepte von Medialität und Performativität, die unterschiedlichen Weisen offenzulegen und analysierbar zu machen, in denen Mediales in Auseinandersetzung mit Menschen (re)agiert und wirkt. Zugleich zeigen Steins Ausführungen, dass Medien nicht nur ›õunreineã‹ Phänomene sind, weil sie immer schon in unterschiedlichste Formen des Gebrauchs, der Arbeit und der Auseinandersetzung eingespannt und verwickelt sind, sondern auch, weil sie untereinander in Beziehung stehen und gegenüber Produzenten wie Rezipienten häufig als Verflechtungen auftreten und wirken (vgl.
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hierzu vor allem Rajewsky 2010). Steins avantgardistische Freilegungsarbeit am Medialen enthüllt demzufolge nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Forschung zur Performativität der Intermedialität. Abschließend möchte ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf den Text Plays selbst lenken: Bisher habe ich verschwiegen, dass es sich hierbei um einen Vortrag handelt. Stein verfasste diesen 1934 anlässlich ihrer ersten und einzigen Lecture Tour durch ihr Geburtsland USA.9 Der abgedruckte Text verhüllt seine ursprüngliche Funktion nicht: Vielmehr simuliert er die Form des mündlichen Vortrags. Argumente werden mit persönlichen Ansprachen ans Publikum, mit vielen erklärenden Einschüben, Rückgriffen und Wiederholungen präsentiert. Der Text stellt eine intermediale Bezugnahme dar: Plays fingiert einen mündlichen Vortrag, was nicht zuletzt den Effekt zeitigt, dass seine druckschriftliche Verfasstheit besonders erfahrbar wird. Unter anderem deswegen, weil den vielen Verweisen auf vorab Definiertes oder Gesagtes, die Steins Vortragsstil grundlegend prägen, bei der Lektüre durch beständiges Blättern im Text entsprochen werden kann. Stein erklärt in Plays also nicht nur, dass es einen fühlbaren Unterschied macht, ob man einen Text liest oder seiner Aufführung beiwohnt, dieser Unterschied wird mit dem Vortragstext selbst auch besonders erfahrbar gemacht. Das wirft natürlich die Frage auf, wie das US-amerikanische Publikum die Stein’sche Lecture Performance erlebte: Der Organisator der Uraufführung von Plays, die am 30. Oktober 1934 in New York City stattfand, beschreibt in einem Brief an seine Mutter seine Erfahrungen wie folgt: She read the lecture & it was not always easy to follow. Some of it was in her nearly vague style & always she uses simple words with fresh emphases that are difficult to catch as they go quickly by. […] There was considerable complicated and subtle development I couldn’t begin to give you here, but most of us came away with a sympathetic approach, much more understanding. Not Mrs. Colby, she groaned I’m told & afterward was quietly scathing, but she always gauges her reactions to claim an audience for herself.10 9 | Vgl. zu den Umständen der Entstehung des Texts und Steins Vortragsreise Rice 1996. 10 | Brief v. Prentiss Taylor an seine Mutter vom 1. November 1934. Ohne Quellenangaben abgedruckt in Rice 1996: 335.
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Vielleicht kann man Mrs. Colbys Unmutsäußerungen während der Lecture aber auch noch anders deuten denn als ein Heischen nach Aufmerksamkeit. Vielleicht wurden hier ja die Symptome einer akuten Nervosität laut, die durch die »nicht immer leicht zu folgende« Performance der Autorin entstand. Dann hätten die Akteurin Gertrude Stein und die Zuschauerin Mrs. Colby gemeinsam den Beweis erbracht, dass Aufführungen, in denen es vermeintlich bloß um die Re-Präsentation von zuvor in Schriften niedergelegten Erzählungen geht, in der Tat einfach nur nervös machen …
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Performativität und Wissen(schaft)sgeschichte Viktoria Tkaczyk
Ernst Florens Friedrich Chladni gilt als Begründer der experimentellen Akustik. Zwar hatten sich zuvor bereits zahlreiche Wissenschaftler akustischen Phänomenen zugewandt – so z.B. Joseph Sauveur, hoch renommierter Mathematiker an der Académie des sciences in Paris, der 1701 dafür plädierte, die Wissenschaft vom Schall unter dem Titel der Akustik zu systematisieren.1 Doch zählt es zu Chladnis Verdiensten, die seinerzeit zirkulierenden Erkenntnisse 1802 in dem Lehrbuch Die Akustik zusammen- und fortgeführt zu haben. Als ›revolutionär‹ ließe sich zudem Chladnis Erkenntnis bezeichnen, dass Schallwellen sich nicht nur, wie bis dahin angenommen, in Gasen und Flüssigkeiten ausbreiten, sondern ebenso in Festkörpern (Holz, Metall etc.). Damit war die Akustik nicht länger unter die Lehre von der Luft subsumierbar und wurde schließlich als ordentliche Teildisziplin der Physik anerkannt (vgl. Ullmann 1996). Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es allein Chladnis wissenschaftliche Synthese- und Forschungsleistung war, welche die experimentelle Akustik um 1800 in den Rang einer akademischen Disziplin erhoben hat. Weshalb bildet sich zu einem spezifischen Zeitpunkt eine neue Wissenschaft heraus? Wie avanciert ein Akteur zur Grün-
1 | Sauveur spricht von der »science supérieure à la musique, que j’ai appelé acoustique, qui a pour objet le son en général, au lieu que la musique a pour objet le son en tant qu’il est agréable à l’ouïe.«(Sauveur 1701: 297) Zur Akustikgeschichte vgl. Lindsay 1966; Beyer 1998.
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dungsfigur einer Wissenschaft? Welche diskursiven, medialen und materiellen Bedingungen zeichnen dafür verantwortlich? Fragen wie diese wurden seitens der Wissenschaftsgeschichte wiederholt gestellt und verschiedentlich beantwortet. Nach wie vor wenig Beachtung finden hingegen die performativen Prozesse, die in der Wissensproduktion wirksam werden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher aufzuzeigen, wo eine (wie ich sie nennen möchte) wissenshistorische Performanzanalyse ansetzen kann und was sie zu leisten vermag. Im Folgenden gilt es zunächst näher zu klären, was unter der ›Performanz von Wissen‹ zu verstehen ist und wie sich ein entsprechender wissen(schaft)shistoriographischer Forschungsansatz gestaltet.2 Exemplarisch wird das Vorgehen der Performanzanalyse daraufhin anhand eines Vortrags skizziert, den Chladni 1808 in Paris gehalten hat. Abschließend soll dargelegt werden, welche Probleme und Fragen sich der wissenshistorisch ausgerichteten Performanztheoriebildung nach wie vor stellen.
I. P ERFORMANZ VON W ISSEN Wenn sich die Performativitätsforschung auf Gegenstände der Wissenschaftsgeschichte konzentriert, vermag sie Prozesse in den Blick zu nehmen, die durch Ansätze wie die Sprechakttheorie, die Diskursanalyse und die Laboratory Studies zwar am Rande mitbedacht, aber keiner expliziten Analyse unterzogen werden. Der Begriff des Performativen steht in der Sprechakttheorie Austin’scher Provenienz für die Konstitution von Wirklichkeit.3 Das Interesse der wissenshistorischen Performanzanalyse ist hingegen spezifischer. Es gilt der Konstitution von Wissen – wobei zwischen ungleichen Wissenstypen zu differenzieren ist wie z.B. zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, Kenntnissen (im Sinne von Fertigkeiten) und 2 | Der Fokus des Beitrags liegt auf der Wissen(schaft)shistoriographie. Nicht explizit berücksichtigt wird daher die aktuell viel diskutierte Form der »künstlerischen Forschung«, die sich selbst auch als »performative science« versteht; vgl. bspw. Diebner 2006. 3 | Zur Sprechakttheorie sowie zu Differenzen zwischen Austins, Searles und Chomskys Ansätzen vgl. die Beiträge von Klaus W. Hempfer und Ekkehard König in diesem Band.
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kognitiven Leidenschaften.4 Die Performanzanalyse interessiert sich jedoch nicht allein für diese Wissenstypen, sondern vor allem für diejenigen Handlungsakte, die überhaupt erst zur Herausbildung oder zum Wandel von Wissensnormen, von Disziplinen und von Wissenskulturen beitragen. Dabei wird die Wissenskonstitution explizit als eine Ereigniskategorie begriffen, welche die Produktion ebenso wie die Rezeption (bzw. die Erfahrung) einschließt: D.h. Sprech- und Hörakte, Schreib- und Leseakte, Bild- und Blickakte sind in ihrer jeweiligen wissenskonstitutiven Interdependenz und Interaktion zu untersuchen. Zentral wird die Rezeptionsfrage vor allem auch dort, wo sich die Analyse auf wissenschaftliche Gemeinschaften bezieht und danach fragt, auf welche Weise Erkenntnisse dort in wissenschaftliche Tatsachen übergehen, wie Kenntnisse einen Denk- und Darstellungsstil kennzeichnen, wie Akteure in die Gemeinschaft eingeführt und als Experten legitimiert werden oder wie Institutionen, Disziplinen und Forschungsfelder begründet werden. Damit wird die Austin’sche Frage nach den Gelingensbedingungen des Performativen ins Historiographische gewendet. Von Interesse ist, unter welchen historischen Bedingungen welche Handlungsvollzüge welche Formen des Wissens konstituieren. Die Analyse geht davon aus, dass sich Performativität nicht abstrahieren, sondern nur in ihrer Historizität und Gebundenheit an historische Kontexte untersuchen lässt. Handlungsvollzüge können als indexikalisierend interpretiert werden, wenn durch sie entsprechende Kontexte indiziert, konstituiert, negiert oder modifiziert werden. Somit lässt sich Indexikalität als eine Voraussetzung und/oder als ein Effekt des Performativen ansehen.5 Verschiedentlich wurde auch von der Skalierbarkeit des Performativen und dementsprechend von starken und 4 | Die durch Gilbert Ryle vorgenommene Differenzierung in die Wissenstypen knowing that (Erkenntnis) und knowing how (Kenntnis) wurden unter performanztheoretischem Vorzeichen reflektiert in: Hempfer/Traninger (Hg.) 2007. Zur Erkenntnisproduktion durch kognitive Leidenschaften vgl. Daston/Park 1998. Aus performanztheoretischer Sicht vgl. bspw. Kolesch 2006. 5 | Rekurriert wird dabei auf Yehoshua Bar-Hillels Forderung, das linguistische Indexikalitätskonzept von »indexical expressions« auf »indexical discourses« auszuweiten; vgl. Hempfer/Häsner/Rajewsky 2004 sowie Baisch/ Friedlein/Lozar 2004; Häsner 2008.
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schwachen Performanzen des Wissens gesprochen (vgl. Pfister 2001; Krämer/Stahlhut 2001: insb. 55f.). Mit dem Fokus auf wissenskonstitutive Handlungsvollzüge schließt die Performanzanalyse an die Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne an. Letztere versteht sich jedoch als eine Archäologie des Exemplarischen. Jede Handlung oder Äußerung gilt als exemplarisch für ein Diskursregime, womit ihr zwar ein repräsentatives und den Diskurs prägendes Potenzial zugeschrieben wird – nicht aber das Potenzial, einen Paradigmenwechsel zu bewirken, wie Thomas Kuhn es in The Structure of Scientific Revolutions (1962) postuliert. Beziehungsweise: Für Foucault ist der Paradigmenwechsel weniger auf der epistemischen Ebene (in Form faktischer Aussagen) angesiedelt als vielmehr auf derjenigen des gesamten Diskursregimes.6 Die wissenshistorische Performanzanalyse nimmt diesbezüglich eine dritte Position ein, indem sie zwar nicht länger an einer Historiographie festhält, die einzelnen Aussagen eine revolutionäre Kraft im Kuhn’schen Sinne attestiert. Sie siedelt Äußerungen aber auch nicht durchweg auf der exemplarischen Ebene an, wie dies die Diskursanalyse vorführt. Stattdessen widmet sie sich Handlungsvollzügen, um deren Wirkmacht innerhalb eines Diskursfeldes im Detail zu untersuchen. Auf welche Weise, so lautet die entsprechende Frage, tragen Handlungen zur Fabrikation von Wissen oder zur Begründung einer Wissenschaft bei? Integrieren sie sich restlos in einen epochalen Diskurs oder weisen sie über diesen hinaus, indem sie interdiskursive Spannungsverhältnisse provozieren? Wo wird Handeln als eine Kraft der Inklusion, der Exklusion oder des Transfers in und zwischen Diskursfeldern wirksam?7 Es hat sich dabei als sinnvoll erwiesen, die Analyse weniger auf weit gefasste epochale Diskurse als vielmehr auf Wissenskulturen im engeren Sinne temporal und lokal begrenzter Mikrokulturen des Wissens zu beziehen: auf »Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was 6 | Zu Foucaults Verlegung des Kuhn’schen Paradigmenbegriffs aus der Epistemologie (bzw. aus einem weitgehend ideengeschichtlichen Revolutionsmodell) in die Politik (d.h. in ein Geschichtsmodell diskursiver Kontinuitäten und Brüche) vgl. Agamben 2009. 7 | Zum Verhältnis von Diskurs- und Performanzanalyse vgl. auch Felfe/ Schwarte 2004.
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wir wissen« (Knorr Cetina 2002: 11). Teilweise wurde auch der Ansatz einer »kulturhistorischen Komparatistik« verfolgt, um ausgewählte Wissenskulturen in synchroner wie diachroner Perspektive zu kontrastieren.8 Mit dem Begriff der Wissenskultur sieht sich die Performanzanalyse einmal mehr mit der Frage konfrontiert, inwieweit sie Kultur als Praxis verstehen und auch der materiellen Kultur ein performatives Potenzial zugestehen will, wie dies Vertreter der Laboratory Studies einfordern. Andrew Pickering hat bereits in den 1990er Jahren, in Reaktion auf die »actor-network-theory« (Michel Callon, Bruno Latour, John Law u.a.), auf die »Performance« als Schnittstelle humaner und materieller Aktanten hingewiesen. Die Begriffe der Performance und des Performativen verwendet Pickering allerdings relativ undefiniert, um stattdessen eine allgemeine Theorie wissenschaftlicher Vollzugslogiken zu formulieren.9 Die wissenshistorische Performanzanalyse hingegen versucht, unterschiedliche Handlungsvollzüge zunächst gesondert und erst im zweiten Schritt in ihrem Zusammenspiel zu untersuchen. Sie versteht auch die materielle Kultur weniger als eine diskursive Einheit; vielmehr geht sie von intermedialen und intermateriellen Spannungsgefügen aus. Es wird erforscht, inwiefern Schrift- und Bildmedien, aber auch Objekte, Instrumente oder Architekturen innerhalb einer Wissenskultur eine jeweils eigene Performativität entfalten. Das Ziel 8 | Vgl. dazu insbesondere das Teilprojekt 6 »Theatrum Scientiarum. Performanz von Wissen als Agens kulturellen Wandels« (Prof. Dr. Helmar Schramm) des Sfb Kulturen des Performativen. 9 | Latour gebraucht den »performance«-Begriff lediglich im Chomsky’schen Sinne zur Beschreibung eines Handelns, das (letztlich doch) auf subjektgebundenen Kompetenzen basiert (vgl. Latour 1987: 89). Dies wird Pickering zwar zum Anlass, um sich von der »actor-network-theory« durch das »performative ideom« abzugrenzen, er rekurriert in der Definition des Ideoms aber weder explizit auf die performance studies noch auf die Performanztheorie – mit Ausnahme eines Verweises auf Barbara Herrnstein Smith‹ Konzept des »doing without meaning« (Pickering 1995: 7). In späteren Arbeiten stützt er das gleichwohl gegen die Akteurzentriertheit gerichtete »dance of agency«Konzept gar nicht mehr performanztheoretisch, sondern weist es gänzlich als »ontology of becoming« aus (vgl. Pickering 2008). Nah an das für die wissenshistorische Performanzanalyse relevante Konzept des Performativen reicht Knorr Cetina 1991.
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der Analyse liegt mitunter darin, epistemische Bruchlinien und Barrieren auf der Ebene der Darstellung und Handhabung auszumachen, indem sie etwa aufzeigt, wo und weshalb sich eine Erkenntnis visualisieren, aber nicht verbalisieren lässt oder inwiefern der Wissenstransfer zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen auch mit Modifikationen auf der Darstellungsebene einhergeht.10 Das Augenmerk der wissenshistorischen Performanzanalyse gilt neben humanen und materiellen Aktanten auch der immateriellen Kultur, also dem kulturellen Gedächtnis an Bedeutungs- und Imaginationskonventionen. Damit setzt sie nicht allein bei der Austin’schen Frage an, ob das Gelingen performativer Akte von institutionellen oder sozialen Rahmenbedingungen der Gegenwart abhängt. Weitaus zentraler ist stattdessen die Frage, ob und wie sich das Gedächtnis materieller und immaterieller Kulturen im singulären Handlungsakt artikuliert. Diese bei Austin vernachlässigte Frage nach dem Gedächtnis des Performativen ist durch Jacques Derrida nachdrücklich gestellt worden: Derrida wirft Austins Sprechakttheorie vor, die Frage der Wirklichkeitskonstitution auf eine irreduzible Gegenwärtigkeit zu beschränken. Damit bleibe »kein Rest, weder in der Definition der erforderlichen Konventionen noch in der grammatikalischen Form oder in der semantischen Bestimmung der angewandten Wörter; keine irreduzible Polysemie, will sagen, keine dem Horizont der Einheit des Sinns entgehende ›Dissemination‹ » (Derrida 1999: 341f.). Derrida führt vor diesem Hintergrund die Iterabilität und Zitathaftigkeit als zusätzliche Kriterien des Performativen an. Nennt Derrida damit jene zwei Kriterien, die er prinzipiell jedem Sprechakt zugesteht, so folgt daraus notwendigerweise, dass für ihn auch jeder Sprechakt performativ ist – wie dies Austin in seinen späteren Vorlesungen zur Thematik des Performativen ebenfalls postuliert. Mit dem Unterschied allerdings, dass das Performative im Derrida’schen Sinne stets eine doppelte Kraft darstellt, indem es Gegenwärtigkeit konstituiert und diese zugleich disseminiert. Demnach artikulieren 10 | Dass Visualisierungsverfahren gegenüber sprachlichen Verfahren eine irreduzible Eigenqualität der Wissenskonstitution aufweisen, hat bspw. Robert Felfe (2006, 2008) herausgestellt. Das spezifisch wissenskonstitutive Potenzial von Architekturen, Maschinen und Instrumenten wurde untersucht in: Schramm/Schwarte/Lazardzig (Hg.) 2003; Schramm/Schwarte/ Lazardzig (Hg.) 2006; Schramm/Schwarte/Lazardzig (Hg.) 2007.
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sich in Sprechakten stets und unabdingbar auch Spuren des NichtGegenwärtigen: Spuren, die darauf hindeuten, dass der Sprechakt, als Teil eines raum-zeitlichen Sprachsystems, in anderen Räumen und zu anderen Zeiten mannigfache andere Gegenwärtigkeiten zu generieren vermag. Das so verstandene Performative ist also jenes Potenzial des Sprechakts, welches die Wirklichkeit als ein dynamisches Gefüge von Präsentischem und Absentem konstituiert und erfahrbar macht. Derridas Beitrag zur Debatte um das Performative wird für die Wissenschaftsgeschichte etwa dann interessant, wenn sie sich an die durch den New Historicism geprägte Methodik der Spurensuche anlehnt: Stephen Greenblatt ersetzt Derridas Rede von der abstrakten Nicht-Gegenwärtigkeit eines Zeichens durch die sehr viel konkretere Vergangenheit literarischer Verhandlungsprozesse. Greenblatt zufolge hinterlassen historische Verhandlungen um bestimmte Themenkomplexe soziale Energien, die sich als irreduzible Spuren (in Form von Metaphern, Metonymien etc.) in die Literatur einschreiben. Im Leseakt werden diese Energien gewissermaßen erfahrbar und erlauben Rückschlüsse auf historische Tauschprozesse, welche im Text in metaphorischer oder metonymischer Form archiviert sind (Greenblatt 1988). Die Performanzanalyse kann dem New Historicism (wenn sie will) folgen, indem sie Performanz ebenfalls als ein energetisches Potenzial versteht, das aufgeladen ist mit historisch zurückliegenden Zirkulationen, Aneignungen und Bedeutungsverschiebungen kultureller Praktiken und Forschungsobjekte. Die Analyse geht dann davon aus, dass die Spuren dieser Transferprozesse sich im Moment eines Handlungsvollzugs artikulieren und diesem eine besondere Intensität verleihen.11 Festzuhalten gilt es also zunächst, dass die wissenshistorische Performanzanalyse sich auf humane, materielle und immaterielle Aktanten konzentriert, um deren wissenskonstitutives Potenzial zu ergründen. Sie geht davon aus, dass sich Wissenskulturen als Kulturen des Performativen auszeichnen, weil sich auf allen drei genannten Aktantenebenen entsprechende Vollzüge ausmachen lassen, welche die in den Blick genommene Kultur zu repräsentieren, zu prägen, aber auch 11 | Zur Relevanz des New Historicism für die Wissenschaftsgeschichte und seiner möglichen Weiterentwicklung vgl. auch Tkaczyk 2011 (im Erscheinen).
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zu überschreiten vermögen. Unter der Performanz von Wissen wird dabei die Konstitution einer epistemischen Gegenwärtigkeit ebenso verstanden wie die permanente Neukonstitution einer Vergangenheit des Wissens.
II. D IE P ERFORMANCE DES E XPERTEN Napoléon-Le-Grand A daigné Agréer la dédicace de cet ouvrage, après en avoir vu les expériences fondamentales
Auf diese Widmung trifft, wer die erste Seite von Ernst Florens Friedrich Chladnis Traité d’acoustique (1809) aufschlägt. Gelenkt wird der Blick auf eine Performance, die sich aus folgendem Grund ereignet hat: Chladni, ein promovierter Rechtswissenschaftler aus Wittenberg, beschäftigte sich als Privatgelehrter mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen. Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, trug er sein Wissen, unterlegt mit spektakulären Experimenten, vor akademischem wie außerakademischem Publikum in ganz Europa vor. 1808 reiste Chladni nach Paris, um für sein oben bereits erwähntes Lehrbuch Die Akustik (1802) zu werben. Vom Institut de France erbat er sich dafür eine gemischte Gutachterkommission aus Naturforschern und Musikern. Die Kommission kam dem ungewöhnlichen Wunsch nach, reagierte auf Chladnis Vortrag mit großer Euphorie und bat ihn, sein Buch ins Französische zu übersetzen.12 Um dafür auch die finanzielle Unterstützung gewährleisten zu können, wurde er dem Kaiser empfohlen. Chladnis äußerst detailliertem Bericht über die Audienz zufolge fand diese am 7. Februar 1809, von 19 bis 21 Uhr, in den petits appartements der Tuilerien statt. Hier soll Napoleon – darauf spielt auch die oben zitierte Widmung an – Chladnis innovative Forschung umgehend zu seiner persönlichen Angelegenheit erklärt und der experimentellen Akustik damit zum wissenschaftlichen Durchbruch verholfen haben (Chladni 1826). 12 | Vgl. die Berichte von Vertretern beider Klassen in den Mémoires de la classe des sciences mathématiques et physiques de l’Institut de France (1808): 358-375.
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Die wissenshistorische Performanzanalyse fragt nun weniger nach Chladnis Forschungsleistung. Sie interessiert sich dafür, wie genau zirkulierendes Wissen in institutionalisierte Wissenschaften übergeht – wie also die Performanz einer Wissenschaft glücken kann. Welche Rolle spielt dabei z.B. eine Performance wie diejenige, mit der Chladni 1808 selbst Napoleon von sich überzeugte? Die Frage, ob eine Performance performative Qualitäten hat, ist keineswegs tautologisch. Die Begriffe ›cultural performance‹ und das ›Performative‹ entstammen zunächst unterschiedlichen Theoriefeldern: Der in den 1970er Jahren geprägte Begriff der ›cultural performance‹ gelangte über die Soziologie und Ritualtheorie (Milton Singer, Victor Turner u.a.) ins Blickfeld der US-amerikanischen Performance Studies (Richard Schechner u.a.) – wobei hier das Interesse im Vordergrund stand, den Gegenstandsbereich der Theater Studies zu erweitern auf ausgewählte, als rituell angesehene Alltags- und Festtagssituationen. Die deutschsprachige Performativitätsforschung hingegen unternimmt eine Neudefinition der cultural performance mithilfe der Sprechakttheorie. Erika Fischer-Lichte zufolge bedarf es dafür einer Rekonzeptualisierung der Austin’schen Gelingensbedingungen von Performanz. Sie erweitert Austins Konzept um die Frage nach: (1) der Verkörperung im Sinne eines (an Judith Butler angelehnten) Verständnisses von Verkörperung als Identitätsstiftung sowie (2) der leiblichen Ko-Präsenz, verstanden als spezifischer Modus der Erfahrung in einer Situation, in welcher sich mehrere Personen (im phänomenologischen Sinne) gegenseitig Aufmerksamkeit schenken. Das ästhetische Moment der Performancekunst (als spezifischer Fall einer cultural performance) knüpft Fischer-Lichte darüber hinaus (3) an das »verschobene re-enactment«, d.h. die Modifikation von Darstellungs- und Wahrnehmungsmustern, durch die Performance (vgl. Fischer-Lichte 2004: 40f.). Der wissenschaftliche Vortrag ließe sich ebenfalls als cultural performance interpretieren: Auch hier schenken sich mehrere Personen über einen begrenzten Zeitraum gegenseitig Aufmerksamkeit und verkörpern ein bestimmtes Wissen bzw. einen Diskurs. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass jeder wissenschaftliche Vortrag auch unweigerlich diejenigen performativen Qualitäten aufweist, die zur Überzeugung der Zuhörer beitragen. Ein wesentliches Kriterium ist auch hier die Modifikation der wissenskulturellen Praxis durch die Performance – wobei wiederum auch nicht jede Modifikation zum Erfolg führt. Demnach gilt es stets genau zu analysieren, unter wel-
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chen historischen Bedingungen die Wissenskonstitution überhaupt im Rahmen eines Vortrags glücken kann. Mit dieser Fragestellung unterscheidet sich die wissenshistorische Performanzanalyse auch von der wissenschaftshistorisch orientierten Theatralitätsforschung und deren Fokus auf Theaterbegrifflichkeiten – gleichwohl lassen sich beide Ansätze auch auf fruchtbare Weise engführen.13 Chladni gelingt es, mithilfe eines Vortrags eine neue Disziplin zu etablieren. Dies setzt einerseits voraus, dass der Vortrag seinerzeit überhaupt ein legitimes Medium zur Wissensproduktion, -distribution und -verfestigung darstellte; andererseits musste mit Vortragskonventionen auch gebrochen werden, um der neuen Disziplin zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Frage, die hinsichtlich des Chladni’schen Vortragstils dabei als besonders relevant erscheint, ist diejenige nach der »Vortragsanordnung«, worunter ich vorschlage so unterschiedliche Komponenten zu fassen wie (1) die Verkörperung von Wissen (2) die Materialien und Medien des Vortrags (3) die Validierung durch das Publikum (4) die Nacherzählung des Vortrags. Der Begriff der Vortragsanordnung soll darauf verweisen, dass Chladni seine Vorträge im Verlauf seiner rund 40-jährigen Reisetätigkeit sehr systematisch gestaltete und nur geringfügig, aber doch stetig modifizierte. Zur Diskussion stellen möchte ich dabei, ob die genannten Komponenten in Chladnis Vor13 | Die Theatralitätsforschung steht zunächst in einer gewissen Nähe zu den US-amerikanischen Performance Studies (s.o.). Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der durch den russischen Theatertheoretiker Nikolaj Evreinov geprägte Begriff der Theatralität ebenfalls auf ausgewählte Kulturphänomene übertragen. Als die Theatralitätsdiskussion im deutschsprachigen Raum in den 1980er Jahren (durch Rudolf Münz, Joachim Fiebach u.a.) wieder aufgenommen wurde, erhob sie mitunter den Anspruch einer Enttarnung gesellschaftlicher und historischer Prozesse über den Begriff des Theatralen. Gegenwärtig setzt sich die Theatralitäts- von der Performativitätsforschung vor allem durch ein konzept- und begriffsgeschichtliches Vorgehen ab. Theatralität wird teilweise explizit als ein Phänomen der Moderne begriffen (vgl. z.B. Balme/Fischer-Lichte/Gräzel [Hg.] 2003). Teilweise werden auch vormodernde Diskursfelder daraufhin befragt, was jeweils unter »Theater« verstanden wurde und welche kulturprägende und epistemische Funktion »Theater« dabei einnahm (vgl. z.B. Schramm 2005 sowie die Buchreihe Theatrum Scientiarum I-VII, hg. v. Schramm, Helmar et al. Berlin/New York 2003-2011).
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trägen eine vergleichbare Eigendynamik entfalteten, wie es Elementen von Experimentalsystemen seitens der Laborstudien attestiert wird – und wenn dem so ist, welche Rolle Chladni im Prozess der Wissensproduktion gegebenenfalls zuzuschreiben wäre.
II.1 Verkörperung von Wissen Ein Anliegen der Performanzanalyse ist es zu verdeutlichen, dass Forscher keine neutralen Wissensproduzenten sind, sondern einen Körper haben, der ihrem Wissen besonderes Gewicht verleiht.14 Mit Blick auf Chladni fällt diesbezüglich auf, wie bewusst er mit Strategien der Indexikalisierung und Deindexikalisierung arbeitete, um stets im rechten Licht zu erscheinen. In den Neuen Beyträgen zur Akustik (1817) gibt Chladni beispielsweise an, er habe auf seinen Reisen kaum einmal über sein Privatleben, umso mehr jedoch über professionelle Bekanntschaften gesprochen (wie etwa über diejenige zum Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg; Chladni 1817: XII). Demnach wog der Forscher sehr strategisch ab, in welche Kontexte er seine Person stellte. Zugleich war Chladni bemüht, auch sein Publikum emotional an seine Forschung zu binden. Selbst vor Napoleon gab er sich keineswegs reserviert: »Ich fühlte«, berichtet er, »nicht die mindeste Spur von Schüchternheit […]. Es schien dem Kaiser meine Unbefangenheit zu gefallen« (Chladni 1826: 139). Der schüchtern-sachliche Gelehrtentypus war in Chladnis virtuosen Vorträgen also lediglich über die Spur seiner Abwesenheit zugegen. Dies erstaunt zunächst umso mehr, als die auf Virtuosität setzende Vortragskunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits einer anderen Zeit angehörte: In der Experimentalwissenschaft des 17. Jahrhunderts stand der unterhaltsame Vortrag noch für einen neuen, handlungsorientierten Gelehrtentypus, der den als pedantisch und der Welt abgewandt geltenden Gelehrten der scholastischen Tradition ablösen sollte. Experimentalwissenschaftler hatten sich dabei an den artes mechanicae (am handwerklichen Virtuosentum) sowie an künst-
14 | Robert M. Erdbeer und Christina Wessely (2009: 165) haben diesbezüglich den Neologismus der »epistemischen Resonanz« eingeführt, um die Rückkoppelung des Wissens an den Forscherkörper zu unterstreichen.
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lerischen Performances (Schaustellerei, Schauspielerei) orientiert.15 An der Wende zum 18. Jahrhundert hingegen geriet der mit kuriosen Experimenten bestückte Vortrag bereits in den Verdacht der Scharlatanerie. Mit der akademischen Etablierung der Experimentalwissenschaften (der Schaffung von Lehrstühlen, Bibliothekars- und Kuratorenstellen) waren selbst die aus weniger wohlhabenden Verhältnissen stammenden Gelehrten größtenteils nicht länger auf die stetige Vermarktung ihres Wissens angewiesen. Zugleich geriet der publikumswirksame Vortrag auch in klassischen Disziplinen (wie etwa der Jurisprudenz) unter Kritik und wurde als »Marcktschreyerei« bezeichnet. Man forderte einen zurückhaltenden Gelehrtenhabitus, der den Ansprüchen eines objektiven, spezialisierten Vortragstils gerecht werden sollte.16 Damit kristallisierte sich um 1800 ein sachlicher Gelehrtentypus heraus, den Chladni aber gerade nicht verkörperte, wenn er in seiner Person (wieder) den marktschreierischen Juristen und den passionierten Experimentalwissenschaftler vereinte. Der Forscher situierte sich zwischen experimenteller Physik und dem Virtuosentum der Musiker und Instrumentenmacher, wie auch das Beispiel der 1808 vom Institut de France für ihn bereitgestellten, aus den zwei Klassen der »Physik und Mathematik« und der »Literatur und schönen Künste« bestückten Expertenkommission zeigt. Chladni fand seinen Platz zudem zwischen Gelehrtenwelt und Populärwissenschaft, indem er vor dem kunst- und wissenschaftsinteressierten Bürgertum ebenso wie vor akademischen Zuhörerkreisen vortrug und jeweils Elemente einer Wissenskultur in die andere hineintrug. Durch seine Vortragsreisen überwand Chladni darüber hinaus auch ganz physisch die Grenzen, die zwischen national geprägten Disziplinen wie seinerzeit etwa zwischen der französischen und deutschsprachigen Physik herrschten.17 Die Vermittlerrolle zwischen den Kulturen nutzte er mithin bewusst – so etwa, wenn er betonte, 15 | Zurück ging diese Entwicklung ihrerseits auf den Eintritt des Adels und des wohlhabenden Bürgertums in das Universitätssystem und deren Anspruch auf eine der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Praxis nahen, handlungsorientierten Wissenschaft; vgl. Shapin 1991: insb. 293295; Taylor 1988. 16 | Vgl. Tkaczyk 2011a (in Vorbereitung). Zur allgemeinen Geschichte wissenschaftlicher Vortragskunst vgl. Clark 2006; Waquet 2003. 17 | Differenzen zeichnen sich zu Chladnis Zeit vor allem zwischen der deutschen spekulativen Naturphilosophie und der exakten (physikalisch-
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es handle sich bei der französischen Fassung seines Lehrbuchs keineswegs um eine Übersetzung, sondern um eine »Umarbeitung«;18 habe ihn die andere Kultur doch veranlasst, seine Experimente und theoretischen Überzeugungen zu überdenken und in sprachlicher Hinsicht zu präzisieren, Neues hinzuzufügen und Unzweckmäßiges wegzulassen. Für die deutschen Begriffe Schall, Klang und Ton zum Beispiel steht im Französischen lediglich das Wort »son« zur Verfügung, weshalb Chladni die in der Akustik (1802) vorgenommene Differenzierung dieser drei Termini im Französischen klarer zu erläutern hatte (ebd.: VII). Transferprozesse zwischen verschiedenen Nationen, zwischen ungleichen wissenschaftlichen Disziplinen sowie zwischen Instrumentenbau, Musik und Wissenschaft bildeten demnach die Voraussetzung für den Erfolg der Chladni’schen Performances. Der Forschungsreisende verkörperte in seiner Person die Spuren von (wenn man so will) Verhandlungen um Vortragspraktiken zwischen äußerst disparaten Wissenskulturen. Es mag diese Spur des Nichtgegenwärtigen – der Anschein, stets auch anderen Wissenskulturen zuzugehören – gewesen sein, die im Vortrag eine besonders überzeugende Wirkung, einen hohen Grad an Performanz, entfaltete.
II.2 Materialien und Medien des Vortrags Seiner Selbstbiographie von 1818 zufolge hatte Chladni bald erkannt, dass sein Publikum durch wissenschaftliche Kompetenz weitaus weniger zu beeindrucken war als durch die Präsentation neuartiger Instrumente (Chladni 1826a: 304). Eines seiner deshalb erfundenen Instrumente erlangte später große Prominenz: Durch eine mit Sand bestreute und von einem Geigenbogen angestrichene Holzplatte erzeugte Chladni so genannte Klangfiguren. Fast verleiten die experimentell hergestellten Klangfiguren dazu, diese und nicht ihren Erfinder selbst als Gründungsfiguren der Akustik auszuweisen. Denn die Klangfiguren dienten dazu, eine der zentralsten Erkenntnisse der neuen Disziplin zu visualisieren: das Vibrationspotenzial und die Eigenschwingung von Festkörpern. mathematischen) und im akademischen Betrieb bereits weit etablierten Naturwissenschaft Frankreichs ab (vgl. Kleinert 1988). 18 | Dies schreibt Chladni rückblickend in den »Neue[n] Beiträge[n] zur Akustik« 1817: VII.
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Zwei heute beinahe vergessene Musikinstrumente, Euphon und Clavicylinder, gehören ebenfalls zu Chladnis viel gezeigten Erfindungen. Deren Funktion basiert auf seiner Entdeckung der Differenz zwischen (in unterschiedlichen Materialien wirksam werdenden) Transversal- und Longitudinalwellen (vgl. die Instrumentenbeschreibung bei Ullmann 1996: 41-45, 83-86). Durch seine Reise- und Vortragstätigkeit, so schreibt Chladni, sei er gezwungen gewesen, diese Instrumente permanent umzubauen und weiterzuentwickeln. Darüber gelangte er zu neuen Erkenntnissen: »Die neuen Resultate der Untersuchungen nöthigten mich, das, was ich vorher um nichts untergehen zu lassen, über die verschiedenen Bauarten solcher Instrumente niedergeschrieben hatte, nebst den dazugehörigen Zeichnungen noch einmal umzuarbeiten« (Chladni 1817: X). Dies mag zunächst als ein klares Indiz dafür gewertet werden, dass die technischen Dinge innerhalb der Chladni’schen Vortragsserie ein »Eigenleben« entfalteten und zur Emergenz neuen Wissens führten.19 Allerdings lagen Chladnis Erkenntnisse und Erfindungen bereits einige Jahre zurück, bevor sie ihm zum wissenschaftlichen Erfolg verhelfen sollten. Chladni selbst führt das Gelingen seiner Vorführungen auch weniger auf seine Instrumente zurück, sondern darauf, wie er sie präsentierte: Mir scheint […] das Spielen und das Hören des Clavicylinders mehr mit einer gesunden nahrhaften Speise zu vergleichen zu seyn, von der man viel und oft genießen kann; das Spielen und das Hören des Euphons aber mehr mit einer Leckerey, von der man weniger und seltener, etwa zum Desert, einiges genießen muß. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß von Personen, die Kenntniß der Tonkunst und Sinn für edlere harmonische Sätze haben, gewöhnlich der Clavicylinder, aber von Andern, die diese Kenntnisse und diesen Sinn nicht haben, und die alles nur nach dem augenblicklichen Eindrucke beurtheilen, gewöhnlich das Euphon vorgezogen worden ist, und daß, 19 | Vergleichbares wird für die Elemente in Experimentalsystemen der modernen Lebenswissenschaften beschrieben: Insbesondere Hans-Jörg Rheinberger (1992: 25; 2001: 20) betont, dass sich technische Dinge hier eigenzeitlich substituieren und verändern. Daraus gehen graphemische Dispositionen hervor; nur durch sie emergiert das epistemische Ding der Forschung. Das System überschreitet sich also in seiner differenziellen Reproduktion selbst, es produziert unvorhersehbare Ergebnisse jenseits des Primats der Theorie. Der Begriff des »Eigenlebens« geht zurück auf Hacking 1983.
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wenn beyde Instrumente sollen gehört werden, und keinem von beyden in der Beurtheilung oder Vergleichung soll Unrecht gethan werden, es rathsam ist, erst auf dem Clavicylinder einiges zu spielen, und hernach auf dem Euphon, nicht aber in umgekehrter Ordnung.« (Chladni 1821: 12)
Dass der Forschungsreisende die Ökonomie der Aufmerksamkeit seines Publikums eingehend studierte, ist für die Performanzanalyse bedeutsam. Seitens der Wissenschaftsgeschichte ist in den vergangenen Jahren wiederholt gezeigt worden, wie sich die Formen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit innerhalb der Geschichte gewandelt haben und ganz unterschiedlichen Objekten gelten konnten (vgl. bspw. Daston 2001). Die Performanzanalyse vermag diesen Forschungsansatz zu ergänzen, indem sie nach den Strategien fragt, durch welche diese Aufmerksamkeiten überhaupt erst geweckt und gelenkt werden. So betont Chladni rückblickend auch, er habe stets darauf verzichtet, die Funktion der Instrumente und das entsprechende physikalische Wissen restlos preiszugeben. Nur dadurch sei es ihm gelungen, die Neugierde der Zuhörer zu steigern. Selbst Napoleon habe sich während der Audienz an den Physiker Pierre-Simon Laplace gewandt. Er fragte diesen »ganz leise, so, dass ich es nicht hören sollte, (wiewohl ich es doch hörte), ob er nicht auch das Innere des Instrumentes sehen könne, (welches ich damahls, weil es noch nicht zur Bekanntmachung reif war, und um Ideenkapereyen zu verhüten, noch geheim hielt), worauf dieser auch ganz leise erwiederte, ich hielte es noch geheim; er unterdrückte also diesen Wunsch, […]« (Chladni 1826: 140).
II.3 Validierung (Publikum) Neben dem gezielten Umgang mit Instrumenten und Apparaturen tragen auch räumliche Gegebenheiten zur Performanz von Wissen bei – so ist in jüngerer Zeit vielfach gezeigt worden, dass Wunderkammern, Bibliotheken, Lehrsäle, Observatorien oder Laboratorien erheblichen Einfluss auf die Ordnung und Distribution von Wissen und die Etablierung neuer Wissenschaften haben (vgl. Felfe/Wagner [Hg.] 2010). Dies gilt auch für dynamische Architekturen, d.h. für Handelsvollzüge, die zunächst eine gewisse Räumlichkeit herstellen und damit im zweiten Schritt die Wissensproduktion bewirken (vgl. Lazardzig/Wagner 2007). Wenn Chladni z.B. äußerst genau schildert, wer bei der Audienz zugegen war und wie sich die Anwesenden im Raum verhielten – dass Napoleon an einem Tisch saß, seine Frau links
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von ihm, dazwischen etwa einen Schritt zurückgesetzt seine Mutter, während andere Personen im Raum standen und zuweilen ihre Position veränderten – so mag diese räumliche Verteilung des Publikums als ein weiterer Aspekt für das Gelingen des Vortrags gewertet werden (Chladni 1826: 139). Da die Performanz von Wissen sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsseite mit einschließt, ist zudem nicht unerheblich, dass Chladni seine Reise nach Paris damit begründet, er wollte dasjenige, was er »für die Theorie und deren Anwendung gethan hatte, nicht gern von manchen über alles absprechenden Nichtkennern beurtheilen lassen; wohl aber sehr gern dem Urtheile achtungswerther Personen unterwerfen, denen man eben sowohl Gerechtigkeitsliebe als Sachkenntnis zutrauen konnte« (Chladni 1817: VI). Auf diese Sachkenntnis sei er nicht zuletzt auch bei Napoleon getroffen, der es ihm als »Kenner mathematischer Gegenstände« (Chladni 1826: 141) nicht leicht machen wollte. Der Kaiser habe aber erkannt, dass »die Versuche ein Mittel seyn würden, um manche Resultate der Theorie mit Resultaten der Erfahrung zu vergleichen« (ebd.). Napoleon ließ auch umgehend einen Preis ausschreiben, um den von Chladni experimentell erbrachten Nachweis der Vibrationsfähigkeit von Festkörpern mathematisch begründen zu lassen. Somit konnte der Experimentalwissenschaftler den französischen Kaiser nicht nur als Instanz anführen, um seine Person und Expertise aufzuwerten, sondern auch als Befürworter der neu zu begründenden Disziplin der »practischen Akustik« (wie Chladni sie nannte).
II.4 Nacherzählung Die Performanz von Wissen ist stets nur über jene Spuren beschreibbar, die sie in den heute überlieferten Quellen hinterlassen hat. Schrift- und Bildquellen lassen sich jedoch weniger als neutrale Zeugnisse historischer Ereignisse verstehen; vielmehr sind sie Medien der Nacherzählung, die eine eigene Performanz von Wissen und Wissenschaft zu entfalten vermögen.20
20 | Zur Erkenntniskonstitution durch literarische Verfahren vgl. Lenoir 1998. Zur literaturwissenschaftlichen Performanztheorie vgl. den Beitrag von Bernd Häsner, Henning Hufnagel, Irmgard Maassen und Anita Traninger in diesem Band.
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Dies zeigt sich an Chladnis Worten deutlich: »Bald nachdem mein Buch erschienen war«, berichtet er etwa, »übergab ich es Napoléon, an einem Sonntag Vormittag bey einer Cour, zu welcher mich Herr Graf de la Place mitgenommen hatte, und wobey, ausser dem ganzen Hofe, auch verschiedene auswärtige Regenten zugegen waren. Er kannte mich sogleich wieder, und nachdem ich das Buch ihm übergeben hatte, sagte er: c’est bon, c’est bon, und behielt es in der ganzen Zeit, wo er die Runde machte und nach der gewöhnlichen Sitte mit jedem der Anwesenden ein Paar Worte sprach, unter seinem Arme« (Chladni 1826: 143)
Die positive Evaluation des Chladni’schen Wissens erfolgte also durch den Napoleon, dem Chladni die Karriere der neuen Disziplin in die Hand gab, beziehungsweise förmlich in die Hand schrieb. Der Gründungsakt der Akustik vollzog sich demnach nicht allein in der kaiserlichen Audienz, sondern ebenso im Akt des Schreibens und Nacherzählens. Chladni beteuert zwar rückblickend, die Bezeichnung »Napoléon le Grand« in der Widmung des Traité d’acoustique sei seinerzeit in Frankreich unumgänglich gewesen; sie zeuge keineswegs von einer vorbehaltlosen Bewunderung des französischen Souverän und bringe lediglich den Dank für die finanzielle Unterstützung zum Ausdruck. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Napoleon in den Schriften des Forschers eine erhebliche Legitimations- und Validierungsfunktion einnimmt. Chladni war sich seiner narrativen Strategien auch bewusst und setzte deren gefährdeten Wahrheitscharakter daher erst recht in Szene. In der Schilderung seiner Aufnahme bei Napoléon und sonst in Paris heißt es: »Wenn übrigens diese Erzählung auch sonst nicht viel Gutes haben sollte, so hat sie doch wenigstens das, dass sie ganz treu ist, ohne irgend etwas hinzu oder hinweg zu dichten.« (Chladni 1826: 143f.). Bewusst hinterließ Chladni auch Leerstellen und Auslassungen in seinen Schriften. Die Machart seiner Musikinstrumente etwa hielt er auch nach dem Aufenthalt in Frankreich, bis ins Jahr 1821 geheim. Zwar veröffentliche er bereits 1790 einen kurzen Bericht zum Euphon und zeigte das Instrument auf einem Kupferstich (Chladni 1790: 201f.). Erst 30 Jahre später aber enthüllte er dessen Funktionsund Konstruktionsweise (Chladni 1821; Chladni 1822). Diese Strategie des Andeutens, Zeigens und gleichzeitigen Verhüllens ist aus technischen Traktaten der Frühen Neuzeit bekannt: Schon die Künstler-Ingenieure der Renaissance warben mit Maschinenbüchern um Aufträ-
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ge oder die dauerhafte Anstellung an einem Hof, ohne ihren Kollegen die Möglichkeit geben zu wollen, ihre Erfindungen tatsächlich nachahmen zu können (vgl. Popplow 1998). Später hatten Experimentalwissenschaftler diese Strategie übernommen, um ihre Stellung in akademischen Gesellschaften zu stärken – so versprach etwa Robert Hooke auf zahlreichen Themengebieten, seine Entdeckungen preiszugeben, ohne dieses Versprechen je einzulösen und sicherte sich damit seine Stelle als Experimentator der Royal Society of London (vgl. Tkaczyk 2007). Chladni wählte diesbezüglich einen nochmals anderen Weg, indem er seine Erfindungen zwar öffentlich vorführte und deren Mechanismus teilweise erläuterte, die genaue Instrumentenbeschreibung dann aber (den frühneuzeitlichen Ingenieuren wieder ähnlich) zurückhielt, um Kapital daraus zu schlagen. Er werde seine Erfindungen, so verkündete er, »unter keiner anderen Bedingung das mindeste bekannt machen, ausser, wenn mir die sowohl auf diese Erfindung, als auch auf meine übrigen akustischen Versuche gewendete Mühe, Zeit und Unkosten hinlänglich vergütet werden.« (Chladni 1790) Eine Professur sollte also her oder zumindest eine finanzielle Zuwendung von staatlicher Seite. Da dieser Wunsch aber unerfüllt blieb, häuften sich Veröffentlichungen, in denen Chladni die Instrumente wiederholt umschrieben, aber nicht exakt beschrieben hat. Besonders in späteren Jahren verlagerte sich der Forscher zunehmend auf das Medium der Schrift – was sogar dahin führte, dass er seine Autobiographie seit 1818 jährlich weiter ausdifferenzierte und bei einem Verleger hinterlegte, damit dieser sie 1826 als Nachruf in der aktuellsten Fassung publizieren konnte. Über die Schriften verlängerte Chladni seine Vortragsanordnung also gewissermaßen in die Zukunft und erleichterte es damit auch seinen Biographen, ihn nach seinem Ableben tatsächlich als Gründungsvater der Akustik auszuweisen.
III. A NORDNUNGEN DES E NT WERFENS Dass Chladni in und mit seinen Schriften neben der Produktion wissenschaftlicher Tatsachen noch weitere Ziele verfolgte, gestand er bereits 1802 in der Vorrede zur Akustik ganz unverblümt ein: »Ich trage kein Bedenken, einiges von der Geschichte meiner Entdeckungen zu erzählen, hauptsächlich um zu zeigen, daß alles schlechterdings
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keine Folge des Zufalls sondern eines anhaltenden Strebens gewesen ist.« (Chladni 1802: 1)
Diese Bemerkung zum Anlass nehmend, möchte ich abschließend fragen, wo das »anhaltende Streben«, das Chladni sich selbst bescheinigt, in einer Performanzanalyse anzusiedeln wäre. Unter theoretischem Blickwinkel würde heute wohl keiner mehr so weit gehen, Chladni tatsächlich als Gründungsvater der Akustik oder gar als Autoren seiner Vortragsanordnung auszuweisen. Jüngere Ansätze der Medien- und Wissenschaftsgeschichte lenken den Blick verstärkt auf spezifische Konfigurationen der Wissensproduktion wie etwa auf Experimentalsysteme, die in den Lebenswissenschaften als »Maschinerien zur Herstellung von Zukunft«21 beschrieben werden. Unterstrichen werden dabei die weitgehend depersonalisierten, materiell und medial bedingten Anordnungen und Prozesse des Entdeckens, Erfindens und Erkennens. Den Maschinerien wird ein hohes Maß an Kontingenz zugesprochen: Ihre Funktion ist gebunden an die Unvorhersehbarkeit der Resultate. Einzelne Elemente der Maschinerie entfalten (wie es heißt) ein Eigenleben, das sich aufgrund komplexer Zusammenhänge und Dynamiken als unkalkulierbar und arbiträr erweist. D.h. die Akteure kommen im Rahmen von Experimentalsystemen ohne eine klare Vorstellung vom Ziel ihrer Tätigkeit aus, gerade damit gelangen sie zu unvorhersehbaren neuen Ergebnissen. Eine ähnliche Stoßrichtung zeichnet sich in der Diskussion um die »Ästhetik des Performativen« ab, wo ebenfalls auf die Kontingenz, die offene Zukunft von cultural performances verwiesen und der aus den Naturwissenschaften entstammende Begriff der Emergenz in diesem Sinne zur Analyse von Kulturen des Performativen ausgeweitet wird.22 Vor diesem Hintergrund ist ein pathischer Handlungsbegriff konturiert und die paradoxe Produktivität des Zauderns, Zögerns und Unterlassens beleuchtet worden (vgl. bspw. Gronau/ Lagaay [Hg.] 2008; Gronau/Lagaay [Hg.] 2010).
21 | François Jacob spricht von »une machine à fabriquer de l’avenir« (Jacob 1987: 13). Hans-Jörg Rheinberger übersetzt dies mit »Maschinerie[n] zur Herstellung von Zukunft« (Rheinberger 2001: 22). 22 | Vgl. zum so verstandenen Emergenzbegriff: Fischer-Lichte 2004: 240280. Dass der Emergenzbegriff diskurshistorisch besehen aber vielschichtiger ist, wurde gezeigt durch: Traninger 2011 (im Druck).
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Das Performative stellt für die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichte ebenso wie die Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaften demnach vor allem dort einen brauchbaren Begriff dar, wo Dynamiken beschrieben werden, die sich jenseits von menschlicher agency und den Grenzen des Intentionalen entfalten. Das damit einhergehende Postulat der eingeschränkten Handlungsfreiheit kann in gewissem Sinn auch für Chladnis Forschungsund Vortragstätigkeit geltend gemacht werden. Chladnis Arbeitsprozess zeugt ebenfalls von einer gewissen Zufälligkeit: Wie oben skizziert, entfalten die medialen und materiellen Komponenten seiner Vortragsanordnung eine Eigendynamik, die ihre Spuren in den überlieferten Dokumenten hinterlassen haben. Die gezielte Verkörperung eines bestimmten Gelehrtentypus und die Interaktion mit dem Publikum, die permanente Weiterentwicklung und Demonstration von Versuchsanordnungen und schließlich die Nacherzählung seiner Tätigkeit im Rahmen der Schriften taten das ihrige, um Chladnis Forschung voranzutreiben und die nötige Aufmerksamkeit zu erzielen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob sich mit Blick auf die Performanztheorien der Satz unterschreiben lässt, dass Wissenschaftler nur bedingt wissen, was sie tun, weil sich die Performanz ihres Wissen jenseits von Kalkulier- und Planbarkeit ereignet und zu einem beträchtlichen Teil in der Macht nicht-humaner Maschinerien (medialer, materieller und semiotischer Systeme) liegt. Denn damit werden Wissenschaftler ein Stück weit aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen. Zwar sind die Resultate der Chladni’schen Forschung keineswegs als riskant einzuschätzen und die Frage nach der Verantwortung stellt sich hier kaum. Doch lassen sich in der Wissenschaftsgeschichte durchaus Beispiele dafür finden, dass kontingente Forschungsprozesse mitunter ein destruktives, gewaltsames Potenzial entfalten und zu kontrovers diskutierten und in ethischer Hinsicht umstrittenen Ergebnissen führen können.23 Zwar möchte ich gewiss nicht für die Wiedereinführung einer subjektzentrierten Wissenshistoriographie plädieren. Die Konzentration auf eine Vortragskunst, wie Chladni sie beherrschte, lädt aber zumindest ein darüber nachzudenken, welche Aktions- und Spielräume der Forschende seinem Handeln auch setzen kann. Im Falle Chladnis scheinen Emergenzen zumindest partiell evoziert und performative 23 | Destruktive Dynamiken des Performativen beleuchten: Lagaay/Lorber 2011 (im Erscheinen).
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Akte auch ein Stück weit gesteuert und gezielt eingesetzt worden zu sein. Man könnte Chladni folglich, wenn schon nicht als Erfinder der Akustik, doch zumindest als Entwerfer einer wirkmächtigen Vortragskunst rühmen, in der angelegt war, in welche Zukunft die Forschung steuern sollte. Vielleicht also lohnt sich in wissenschaftshistorischen Forschungen zuweilen eine leichte Blickverschiebung, um neben den unkontrollierbaren Prozessen auch noch einmal genau in Augenschein zu nehmen, wie die Maschinerien – die Anordnungen des Entdeckens, Erfindens und Darstellens – beschaffen waren und von wem sie unter welchen Voraussetzungen geschaffen wurden, um neues Wissen oder gar eine neue Disziplin zu etablieren.
L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2009): Signatura rerum. Zur Methode, übers. v. Anton Schütz, Frankfurt a.M. Baisch, Martin/Friedlein, Roger/Lozar, Angelika (2004): »Historizität und Performativität von Wissen und Wissenschaften in der Frühen Neuzeit«, in: Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.), Praktiken des Performativen, Berlin, 92-100 (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13/1). Balme, Christopher/Fischer-Lichte, Erika/Gräzel, Stephan (Hg.) (2003): Theater als Paradigma der Moderne, Tübingen. Beyer, Robert T. (1998): Sounds of our Times. Two Hundred Years of Acoustics, Berlin. Chladni, Ernst Florens Friedrich (1790): »Von dem Euphon, einem neuerfundenen musikalischen Instrumente«, in: Journal von und für Deutschland 7/3, 201-202. Chladni, Ernst Florens Friedrich (1802): »Einleitung«, in: ders., Die Akustik, Leipzig, 1-4. Chladni, Ernst Florens Friedrich (1809): Traité d’acoustique, Paris, Wiederabdruck Ann Arbor 2009. Chladni, Ernst Florens Friedrich (1817): »Vorrede, zur Fortsetzung der Geschichte meiner akustischen Entdeckungen«, in: ders., Neue Beyträge zur Akustik, Leipzig, V-XII. Chladni, Ernst Florens Friedrich (1821): Beyträge zur praktischen Akustik und zur Lehre vom Instrumentenbau, enthaltend die Theorie und Anleitung zum Bau des Clavicylinders und damit verwandter Instrumente, Leipzig 1821, Wiederabdruck Leipzig 1980.
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Zur Performativität des Sozialen Jörg Volbers
In den Geistes- und Kulturwissenschaften hat der Begriff des Performativen spätestens seit den 1990er Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Stichwort der Performativität tauchte in den Theaterwissenschaften, bei den Ethnologen oder bei den Medienwissenschaftlern auf, wie es auch unter Einfluss der Dekonstruktion in den Literaturwissenschaften und in der Philosophie diskutiert wurde.1 Für eine solche breite Rezeption war es erforderlich, dass der Begriff nicht mehr allein unter den engeren sprachphilosophischen Prämissen diskutiert wurde, die noch John L. Austins Kennzeichnung der Äußerungsform der perfomatives dominierte. Austin interessierte primär, dass Sätze wie »Ich erkläre euch zu Mann und Frau« nicht dadurch wahr werden, dass sie den Tatsachen entsprechen. Diese Äußerungen beziehen sich selbstreferenziell auf einen Sachverhalt, der durch sie überhaupt erst ins Leben gerufen wurde – womit sie einer immer wieder verbreiteten reduktiven Sicht auf Sprache ein Dorn im Auge sind, die nur das Reden über sprachunabhängige Sachverhalte kennt. Die spätere Rezeption verallgemeinerte Austins Beobachtung und rückte die performative Konstruktion von Sinnzusammenhängen überhaupt in den Vordergrund. Dabei entwickelte sich der Begriff der Performativität, wie Uwe Wirth feststellt, zu einem »umbrella term der Kulturwissenschaften« (2002: 10), mit dessen Hilfe so unterschiedliche Phänomene wie Theateraufführungen, Geschlechterkonstruktion, Fiktionalität und Universalpragmatik analysiert werden konnten. 1 | Eine einschlägige Übersicht der Positionen der Performativität bietet nach wie vor Wirth 2002.
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Im Folgenden soll diskutiert werden, ob und wie sich die Idee der Performativität auch im Bereich der Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie verorten lässt. Der heutzutage eher unübliche Begriff der Idee ist dabei mit Bedacht gewählt. Angesichts der breiten, teilweise widersprüchlich erscheinenden Verwendung des Begriffs der ›Performativität‹ legen sich zwei Methoden nahe, um der Spur des Performativen in der Sozialforschung zu folgen. Ein diskursanalytisch orientiertes Vorgehen müsste die konkreten diskursiven Kontexte rekonstruieren, in denen dieser Begriff auftaucht und auf je spezifische Weise angeeignet und transformiert wurde. Solche übersichtlichen Darstellungen der Verästelungen und Verformungen, die der Begriff im Laufe seiner (im Grunde noch sehr kurzen) Geschichte erfuhr, liegen jedoch bereits vor und sollen hier nicht wiederholt werden.2 Stattdessen wird hier der Versuch unternommen, das Wort ›Performativität‹ und seine Verwandten als diskursive Marker zu deuten, die ein Problem umkreisen, das nicht auf die in ihrem Namen geführte Debatte im engeren Sinne beschränkt bleibt. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werde ich vorschlagen, die Idee des Performativen als den Gedanken einer Strukturierung im Vollzug zu fassen. Eine performative Sicht auf Prozesse und Ereignisse gesteht diesen eine Eigenlogik zu und versucht zu zeigen, wie scheinbar fest etablierte Sinn- und Ordnungsstrukturen an diese performative Dynamik gebunden sind. Dieser Grundgedanke findet sich, wie ich zeigen werde, auch in der Sozialforschung und der Sozialphilosophie wieder. Innerhalb des Paradigmas der sogenannten ›Praxistheorien‹, auf das ich mich konzentrieren werde, erfüllt der Begriff der Praxis dieselbe Funktion. Auch hier geht es darum, die Konstruktion von Sinnzusammenhängen an eine Logik des Vollzugs zu binden, die nun aber als eine wesentlich ›praktische‹ Logik angesprochen wird. Es scheint mir daher sinnvoller, weniger von möglichen Einflüssen der beiden Theoriefamilien zu reden, als umgekehrt ihre Familienähnlichkeit hervorzuheben, die auf eine geteilte Problemwahrnehmung hinweist. Aus dieser Perspektive reiht sich die Debatte um das Performative in eine allgemeine Entwicklung ein, die die Theorien der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften spätestens seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zunehmend erfasste. Es wird immer stärker ver2 | Vgl. dazu Wirth 2002: 9-60; sowie den Aufsatz von Hempfer in diesem Band.
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sucht, die Stiftung von Ordnung, Sinn und Struktur auf eine Weise zu beschreiben, die so weit wie möglich auf das Postulat stabiler, ahistorischer Fundamente verzichtet. Ob dieser Verzicht auf ordnende transzendentale Entitäten wie »das Subjekt«, »die Sprache« oder »die Vernunft« nun ein nachmetaphysisches Denken ist oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben.3 Entscheidend ist nur, dass die Idee des Performativen einen prominenten, aber bei Weitem nicht exklusiven Zugang zu diesem Gravitationszentrum spätmoderner Theoriebildung darstellt. Der Begriff der Performativität ist somit, wenn diese Beobachtung stimmt, eine Instanz dieser allgemeineren Entwicklung. Ein weiterer methodischer Punkt sollte noch vorab geklärt werden. Wenn im Folgenden von der Sozialforschung und der Sozialphilosophie die Rede sein wird, stellt sich, analog zum Begriff des Performativen, die Frage nach dem spezifischen Gegenstandsbereich des »Sozialen«. Nun sind freilich Definitionen dieses Gegenstandsbereichs noch kontroverser und uneinheitlicher als im Falle der Performativität. Das zeigen bereits die unterschiedlichen Auffassungen in der Soziologie darüber, was ihr spezifischer Gegenstandsbereich ist (vgl. dazu Esser 1999, v.a. Kapitel 2). Nicht gerade erleichtert wird eine Orientierung durch die zusätzlichen Fragen, die anthropologische, politische und philosophische Reflexionen auf das Soziale aufwerfen.4 Am ehesten konturiert sich der Begriff des Sozialen noch durch die negativen Bestimmungen dessen, was nicht sozial genannt werden kann. Historisch haben sich die Sozialwissenschaften vor allem im Kontrast zu den Naturwissenschaften etabliert, als eine Disziplin, die mit dem Sozialen einen wissenschaftlich erschließbaren Reali3 | Der Begriff des Metaphysischen eignet sich nur bedingt als Kontrast, ist »Metaphysik« im zwanzigsten Jahrhundert doch vor allem ein Etikett gewesen, das die jeweiligen theoretischen Bewegungen, die sich als Avantgarde begriffen, ihren Gegnern umhängten. 4 | Zehrt der Begriff des Sozialen nicht von einem theoretisch wie auch politisch fragwürdigen Gegensatz zwischen »Individuum« und »Gesellschaft«? Ist der Mensch nicht von Geburt an ein auf Gesellschaft angewiesenes und damit auch immer schon »soziales« Tier? Oder sollten wir nicht sogar, wie Latour vorschlägt, das Konzept der ›Intersubjektivität‹ und verwandter Grundbegriffe des Sozialen ganz fallenlassen, um sich einer symmetrischen Anthropologie zuzuwenden?
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tätsbereich sui generis für sich reklamiert, der den Wissenschaften von der Natur entgeht.5 Für die hier verfolgte Fragestellung interessiert weniger die Differenz zur Natur als die Abgrenzung zu einem Denken, das in traditionellen geisteswissenschaftlichen Bahnen und Kategorien denkt. Ein solches Denken diskutiert Sinnzusammenhänge, ohne ihre Einbettung und Reproduktion durch soziale Institutionen, Rituale und Machtverhältnisse mitzureflektieren. Umgekehrt steht mit dem Sozialen daher gerade die Frage im Vordergrund, wie die Stabilisierung und Destabilisierung von Sinn- und Ordnungszusammenhängen mit der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse und Interaktionen zusammenhängt. Dass die auf diese Weise gezogene Grenze fließend und ungenau ist – behandeln nicht etwa auch der realistische Roman und die Geschichtsschreibung gesellschaftliche Machtverhältnisse? –, soll kein Nachteil sein. Für die Soziologie als Disziplin mag es wichtig sein, sich einen Gegenstandsbereich und damit eine eigenständige institutionelle Stellung zu erkämpfen. Doch mit der Wahl des Begriff des Sozialen wurde hier bewusst darauf verzichtet, sich einer speziellen Disziplin zu verschreiben.
1. G RUNDMERKMALE DER P ERFORMATIVITÄT DES S OZIALEN In welchem Zusammenhang steht die Idee der Performativität mit sozialen Phänomenen? Bei Austin, der den Begriff des Performativen zur Klassifizierung von Äußerungen einführt, spielt das Soziale nur die Rolle von Hintergrundbedingungen. Das ändert sich auch nicht durch die ausgearbeitete Sprechakttheorie, die mit der Hilfe der »illokutionären«, »perlokutionären« und »lokutionären« Kraft vor allem die Wirkungen und Konsequenzen von Sätzen zu formalisieren versuchte.6 Ein erstes genuin sozial orientiertes Verständnis der Perfor5 | Der locus classicus ist Durkheim 1976; vgl. auch den Kontrast bei Weber (1981: 23) zwischen ›sinnhaftem‹ Handeln und dessen ›sinnlosen‹ Voraussetzungen, die auf sprechende Art von ihm als »Daten« bezeichnet werden. 6 | Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Entwicklung des Denkens von John Searle, der sich zunehmend dem Problem der »Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (Searle 1997) zuwendete und dabei die Hauptlast dieser Konstruktion der Sprache zuschreibt. Searle verbleibt, wie
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mativität dagegen findet sich bei Judith Butler (1991). Sie verortet den paradigmatischen Fall des Performativen in der öffentlichen ›performance‹ von Geschlechteridentitäten, in der aktiven Aufführung und Inszenierung des Geschlechts. Doing gender ist seither eines der unverzichtbaren Stichworte in der kulturwissenschaftlich geprägten Geschlechterforschung. Butler legt in ihrer Auffassung von Performativität den Schwerpunkt auf den sozialen Gebrauch des Körpers zur sichtbaren Markierung (oder Destabilisierung) von Geschlechterzuordnungen. Während Austin somit vor allem hervorhebt, dass wir mit Wörtern symbolische Ordnungen erzeugen, bezieht Butler den ganzen Körper mit in diese performativ-symbolische Praxis ein. Sie untersucht, wie eine »wiederholte Stilisierung des Körpers« (Butler 1991: 60) zur Produktion und Reproduktion von Geschlechteridentität und damit letztlich der Subjektivität beiträgt. Dadurch wird das Konzept des Performativen erheblich ausgeweitet und transformiert. Es bezeichnet keine Eigenschaft sprachlicher Akte mehr, sondern eine konstitutive Komponente sozialer Praxis überhaupt. In Analogie zu Austins Beobachtung, dass performative Äußerungen das, was sie bezeichnen, in eins auch zugleich bewirken, rücken nun spezifisch soziale Kategorien und Zuordnungen als Wirkung und Produkt einer performativen Aufführungspraxis in den Blick. Infolge dieser Perspektivenverschiebung wird der spezifischen Eigenlogik des körperlichen Vollzugs ein großer Stellenwert eingeräumt. Die Stabilität scheinbar naturwüchsiger Kategorien wie des Geschlechts werden von dieser Theorie nicht mehr durch eine logisch primäre soziale Ordnung erklärt, die sich in den fraglichen Aufführungen lediglich manifestiert. Im Gegenteil ist diese Aufführungspraxis, wenn sie ›performativ‹ verstanden wird, eine erneute stabilisierende Wiedereinschreibung der spezifischen kulturellen Codes, die in ihr zur Darstellung kommen. Aus diesem Grund kommt der Performativität in Butlers Sicht auch eine subversive Funktion zu. Wenn sich Geschlechteridentitäten durch ihre ständige performative Wiederaufführung produzieren und reproduzieren, dann kann dieser Wiederholungszwang umgekehrt auch dazu genutzt werden, die scheinbare Stabilität und Naturwüchsigkeit der Geschlechterkategorien mit demselben Mittel performativ aufzulösen. Während für Gebauer (2000) in einem Vergleich der Theorie Searles mit Bourdieu gezeigt hat, noch in einem linguistisch-mentalistischen Paradigma.
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die Sprechakttheorie performative Äußerungen den sozialen Kontext immer voraussetzen, um innerhalb des durch ihn vorgegebenen Rahmens zu »glücken« oder zu misslingen, ist mit Butler der soziale Kontext selbst bereits ein Produkt des Performativen. Trotz dieser Unterschiede zeichnen sich bei der Gegenüberstellung von Austin und Butler bereits zwei Grundmerkmale des Performativen ab, die den Gebrauch desselben Begriffes rechtfertigen. Erstens erzeugt eine performative Äußerung oder ein performativer Akt im Allgemeinen eine Ordnung im Vollzug. Damit ist vor allem gemeint, dass dieser Vollzug – der Akt der Äußerung selbst, die körperliche Aufführung kultureller Codes – eine eigenständige Wirkung entfaltet, die sich nicht allein als eine bloße Aktualisierung einer ihm vorausgehenden Struktur oder Essenz begreifen lässt. Austin bringt diese eigentümliche Vollzugslogik auf den Punkt, wenn er die Klasse der »Performativa«, die etwas bewirken, indem sie gesagt werden, von den »Konstativa« abhebt, die gegebene Sachverhalte nur feststellen (to state). Auch wenn Austin diese Unterscheidung für die von ihm angestrebte Klassifikation von Äußerungen später im Text verwirft, hebt sie doch auf prägnante Weise den Grundgedanken hervor, dass performativen Akten ihre Bedeutung (ihr Wert, ihre Signifikanz) nicht erst durch eine äußerliche Referenz (wie etwa einem vorliegenden Sachverhalt) verliehen wird. Es ist diese relative Autonomie und Selbständigkeit des faktisch vorliegenden Vollzugs, die Austin beim Sprechen, Butler in der körperlichen Inszenierung und andere Ansätze zum Performativen im Text oder in der Praxis theatraler Aufführung verorten. Das zweite Grundmerkmal des Performativen, das hier hervorgehoben werden soll, ist die konstitutive Öffentlichkeit der performativen Vollzüge. Ihre ordnungsstiftende Funktion hängt davon ab, dass sie von anderen wahrgenommen und verstanden werden; erst dann können sie ihre spezifische Wirkung entfalten. Diese Öffentlichkeit ist implizit in Austins sprachphilosophischer Orientierung an alltäglichen Sprechsituationen und in seiner paradigmatischen Erläuterung von Performativa in Ritualen wie der Schiffstaufe. Die Öffentlichkeit performativer Akte wird bei Butler zu einer zentralen Voraussetzung, da sie die zitierte »Stilisierung« des Körpers und damit seine im weitesten Sinne sinnlich-ästhetische Präsentation in den Mittelpunkt der ›performances‹ stellt. Erst im Medium einer öffentlichen Verständlichkeit kann ein performativer Vollzug wirken.
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Die Bedeutung der Öffentlichkeit erschließt sich unter der genannten Voraussetzung, dass die Vollzüge, die hier ›performativ‹ genannt werden, gerade nicht restlos als Aktualisierung einer ihnen vorgängigen Ordnungs- oder Regelstruktur gedacht werden können (oder sollen). Die fehlende ›Rückendeckung‹ durch eine den jeweiligen Vollzug bestimmende Struktur lenkt den Blick auf die konkrete Manifestation des Vollzugs selbst. Ohne die Parallele allzu weit zu treiben, ist für das Gemeinte ein Vergleich zwischen Zeichen und Bild hilfreich. Ein Zeichen verweist als ein Träger von Bedeutungen auf etwas, was von ihm logisch getrennt ist; so kann ein Zeichen auch durch ein anderes Zeichen ersetzt werden, das dieselbe Bedeutung trägt.7 Ein Bild hingegen, oder eine sinnlich-ästhetische Präsentation im Allgemeinen, lässt sich in seinem spezifischen Sinngehalt dagegen nicht vollständig von der eigenen Darstellungsform abstrahieren (vgl. Boehm 2007). Je weniger das Bild als Zeichen gesehen wird, als eine bloße Illustration eines auch auf andere Weise verlustfrei darstellbaren Sachverhalts, desto wichtiger wird das Wie der Präsentation. Die konkrete Sinnlichkeit performativer Akte wird daher in dem Maße bedeutsam, in dem praktische Vollzüge die in ihnen manifestierte Ordnung nicht nur exemplarisch vertreten, sondern unmittelbar selbst zu ihrer Konstitution beitragen. Diese Wirkung können die Vollzüge nur in der exponierten Form als sinnlich-wahrnehmbare und damit öffentliche Vollzüge entfalten, etwa als Sprechakt, Geste oder als Körperinszenierung. Zusammenfassend bedeutet Performativität mit Blick auf soziale Phänomene, auf die öffentliche Logik einer Strukturierung im Vollzug zu insistieren. Dabei erfordert der spezifische Gegenstandsbereich des Sozialen noch eine wichtige Präzisierung. Die bisherigen Beispiele performativer Vollzüge – Sprechakte und Körperinszenierungen – wenden sich an ein Publikum. Sie sind im Wortsinne und auch im übertragenen Sinne sprechend, insofern sie als explizite Äußerung oder als bewusste Inszenierung etwas mitteilen. Doch bereits Butlers Ausweitung des Performativen auf alltägliche Stilisierungen des Körpers überschreitet die Ebene direkt identifizierbarer Mitteilungen. Im Bereich sozialer Praxis richten sich performative Akte 7 | Hier soll vom ›Zeichen‹ in einem relativ untheoretischen Sinne die Rede sein; das »Zeichen« steht hier schlicht für die Möglichkeit konventioneller Bedeutungsbildung, die sich von ihrem materiellen Träger ablöst, oder besser, abzulösen scheint.
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meistens gerade nicht explizit an Adressaten. Die Analyse sozialer Phänomene erfordert eine Ausweitung des Performativen auf Vollzüge, die keinen unmittelbaren Adressaten kennen und dennoch performativ wirksam sind. So rückt die stumme, implizite Kommunikation der Akteure in den Blick, ihre nicht bewusste wechselseitige Abstimmung durch Codes, Blicke und Gesten, welche selbst nie zum Gegenstand direkter Stellungnahmen oder Bezugnahmen werden (vgl. Schmidt 2008). Die Performativität des Sozialen ist im Wesentlichen ein stummes Geschehen, und die von Austin als Sprechakte hervorgehobenen sprechenden Vollzüge sind aus dieser Perspektive eher die Ausnahme denn die Regel.
2. P ERFORMATIVITÄT UND P R A XIS Die Logik des Performativen lässt sich, wenn die bisherigen Überlegungen stimmen, als eine öffentlich operierende Stukturierung im Vollzug beschreiben. Wenn damit tatsächlich unverzichtbare Züge des Performativen erfasst sind, wäre es eine sträfliche Nachlässigkeit, sich bei dem Thema der Performativität des Sozialen ausschließlich an das einzelne Wort des Performativen und verwandter Begriffe zu klammern. Die hier entwickelte Konzeption der Performativität spielt, wenn auch nicht immer unter diesem Namen, im ganzen Bereich der Sozialtheorie und Sozialforschung eine große Rolle. Dies gilt vor allem für den Bereich sozialer Theorie, der sich unter dem Etikett ›Theorien sozialer Praktiken‹ oder auch ›Praxistheorie‹ zusammenfassen lässt.8 Das recht heterogene Feld der Praxistheorie umfasst Soziologen wie Pierre Bourdieu (1987, 1982) oder Anthony Giddens (1997), die beide die Konstitution sozialer Ordnungen als Resultat genuin praktischer Vollzüge beschreiben. Philosophische Referenzen dieser Richtung sind vor allem die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins (1971), aber auch Martin Heideggers (1979) in Sein und Zeit entwickelte Theorie praktischen Verstehens. Wichtig, wenn auch in Deutschland weitestgehend unbeachtet, ist die amerikanische Tradition des 8 | Andreas Reckwitz ist meines Wissens bisher der einzige Autor, der die systematische »unmittelbare Nachbarschaft« (Reckwitz 2006: 708) zwischen den Konzepten des Performativen und dem der Praktik gesehen und auf den Begriff gebracht hat.
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Pragmatismus.9 Konkretere forschungspraktische Ansätze, die sich dem Feld der Praxistheorie zuordnen lassen, bieten schließlich ethnomethodologische Verfahren, wie sie etwa Harold Garfinkel (1967) entwirft.10 Diese Vertreter eines practice turn (vgl. Schatzki [u.a.] 2001) teilen die Grundintuition der Performativitätstheoretiker, dass die Generierung von Sinn und Ordnung an eine Logik des Vollzugs gebunden werden muss. Auch für die Praxistheorie erfordert die Analyse von Bedeutung und Normativität eine Rückbindung der manifesten Ebene der Texte, Zeichen und Symbole an die konkreten Vollzüge, in denen diese in Erscheinung treten. Phänomene wie sprachliche Bedeutung, kognitive Subjektivität und soziale Normen lassen sich nach dieser Auffassung nur unter Berücksichtigung der Praxis angemessen verstehen, in der sie etabliert, angewendet und transformiert werden. Die Art und Weise, wie eine Tätigkeit praktisch ausgeübt wird, tritt damit aus dem Schatten der theoretischen Reflexion.11 Das entscheidende Merkmal der Praxistheorie ist, dass sie darauf beharrt, dass diese praktische Dimension sich nicht wieder in einem zweiten Reflexionsschritt vollständig theoretisch subsumieren lässt. »Die« Praxis ist kein weiteres Element der Theorie, sondern Leitbegriff einer Perspektive, die den praktischen Vollzügen eine relative Autonomie und Eigenständigkeit zuschreibt. Ausdruck dieser Haltung ist das für diese Theoriefamilie zentrale Konzept des ›impliziten Wissens‹. Autoren wie Heidegger, Bourdieu oder Wittgenstein argumentieren für eine spezifisch praktische Form des Wissens, das allein körperlich vorliegt – als ›Habitus‹ (Bourdieu) oder als ›Disposi9 | Die große Ausnahme der lückenhaften deutschsprachigen Rezeption des amerikanischen Pragmatismus ist Hans Joas (1992), der auch immer wieder überzeugend dargelegt hat, mit welchen Vorurteilen und Rezeptionshindernissen diese einzige genuin amerikanische Philosophie in Deutschland zu kämpfen hat. 10 | Eine Übersicht der Grundpositionen der Praxistheorie bietet Reckwitz 2003, sowie außerhalb des deutschsprachigen Raumes vor allem Schatzki u.a. 2001. 11 | In diesem Sinne muss auch Aristoteles’ Ethik als ein praxistheoretischer Beitrag gelten, und tatsächlich ist der Begriff des Habitus, den Bourdieu verwendet, über die scholastische Aristoteles-Rezeption in die philosophische Tradition eingeflossen. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte des Begriffes Nickl 2001.
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tion‹ (Peirce), als ein ›Können‹ (Wittgenstein) oder als ein praktisches ›Sich verstehen auf‹ (Heidegger). Gleichsam im Vorlauf zur gegenwärtigen neurologischen Diskussion um verkörpertes Wissen (vgl. Lakoff/Johnson 1999) arbeitet die Praxistheorie heraus, wie stark der subjektive Erfahrungsraum durch körperliche ›Abrichtung‹ (Wittgenstein) und inkorporierte Handlungs- und Reaktionsweisen geformt wird. Dieses Netz von Wahrnehmungsweisen und praktischen Fähigkeiten wird als ein unhintergehbarer sozial konstituierter Hintergund (vgl. Taylor 1992: 106ff.) angesehen, vor dem allein Zeichen, Symbole und Sinnzusammenhänge ihre spezifische Verständlichkeit gewinnen. Explizite ›theoretische‹ Bedeutungen können sich, so die Vorstellung, dabei nie ohne einen solchen impliziten praktischen Hintergrund manifestieren. Aus diesem Grund fordert Wittgenstein seine Leser dazu auf, das konkret gegebene Sprachspiel – was sich hier als Praktik übersetzen ließe – als ein ›Urphänomen‹ (Wittgenstein 1971: § 654) anzusehen, das nicht noch weiteren theoretischen Erklärungen unterstellt werden kann. Die Praxistheorien bestehen somit darauf, dass die – um Bourdieus treffenden Ausdruck zu gebrauchen – ›Logik der Praxis‹ ein gleichermaßen unverzichtbares wie eigensinniges Element der Konstitution von Sinn und Bedeutung ist. Diese Insistenz rückt sie in unmittelbare Nähe zu Theorien der Performativität. Mit dem Performativen wird betont, dass Ordnungsbildung irreduzibel an konkrete Vollzüge gebunden ist – wir greifen in die symbolische Ordnung ein, indem wir etwas sagen. Mit dem Leitbegriff der Praxis rücken diese Vollzüge in den Kontext sozialer und körperlicher Interaktion – wir greifen in die symbolische Ordnung ein, indem wir etwas tun. So versucht auch die Praxistheorie, die Generierung von Sinn ohne die Annahme einer erklärenden ›Hinterwelt‹ zu analysieren, auf die sich die faktischen Vollzüge beziehen. Unter der Voraussetzung dieser Gemeinsamkeit ergibt sich fast schon ohne weiteres Zutun, dass auch die oben als zweites Grundmerkmal des Performativen herausgehobene Öffentlichkeit der Vollzüge in den Praxistheorien eine große Rolle spielt. Es ist eine der Grundvoraussetzungen dieses Ansatzes, dass die beobachtbaren praktischen Vollzüge der Akteure einen unmittelbaren Sinn manifestieren und diese Tätigkeiten und Handlungen somit prinzipiell immer direkt ›lesbar‹ sind. Die Praxistheorie geht davon aus, dass wir auf der Ebene der Logik der Praxis unmittelbar und doch zugleich sinnhaft (also nicht bloß im Sinne einer Reiz-Reaktions-Kette) aufei-
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nander reagieren. In diesen primär stummen Reaktionsmustern artikulieren sich das implizite Wissen und die körperlichen Fähigkeiten, die den Eigensinn der Praxis bilden. In diesen Kontext ist Wittgensteins bekannte Kritik des Konzepts der sogenannten ›Privatsprache‹ einzuordnen. Das Konstrukt der Privatsprache geht davon aus, dass sich Sinn und Bedeutung auch unabhängig von ihrer kollektiven sozialen Artikulation und Intelligibilität denken lassen. Wittgenstein weist diese Annahme als unhaltbar zurück, womit er nicht nur die kartesische und anti-soziale Konzeption radikal sozial isolierter Subjektivität ablehnt. Damit verbunden ist auch die Zurückweisung der Vorstellung, Menschen seien sich einander prinzipiell in ihren Absichten, Meinungen und Gedanken verschlossen und bedürften, um sich zu verstehen, eines zusätzlichen Aktes der emphatischen ›Einfühlung‹.12 Für den praxistheoretischen Ansatz bedarf es keiner vermittelnden Interpretation, um zu wissen, was die anderen Teilnehmer der Praktiken beabsichtigen, fühlen oder gar denken. Die in solchen Zusammenhängen immer sofort aufgeführten Beispiele des Schauspielers oder des Stoikers, der sein »Innerstes« geschickt zu verbergen weiß, werden daher als ein nicht repräsentativer Spezialfall angesehen. Es ist diese konzeptionelle Aufwertung der alltagspraktischen Wahrnehmung und Erfahrung der Akteure, die zu einem großen Einfluss der praxistheoretischen Ansätze auf dem Gebiet der ethnographischen Forschung führte. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese spontane Wahrnehmung nur scheinbar ›unmittelbar‹ ist. Die Öffentlichkeit der praktischen Vollzüge kann, insofern es hier um sinnhafte Erscheinungen geht, immer nur vor dem Hintergrund der praktisch erworbenen Fertigkeiten und Dispositionen behauptet werden. ›Sichtbar‹ und ›erkennbar‹ ist etwas nur im Rahmen der sozialen und sozial erworbenen Intelligibilität. Von einem Rückfall in 12 | Die Frage, wie direkt oder vermittelt der Zugang zum ›Anderen‹ und dessen intentionalen Zuständen ist, wird in der an Wittgenstein orientierten Literatur unter dem Stichwort des ›Fremdpsychischen‹ diskutiert (Avramides 2001) und unter dem Schlagwort ›theory of mind‹ in den Neurowissenschaften (Saxe 2007). Anschub erhielt die Diskussion durch die Entdeckung der sog. Spiegelneuronen (vgl. Rizzolatti/Sinigaglia 2009), die die von Praxistheorie und Phänomenologie gleichermaßen behauptete Unmittelbarkeit des ›Mit-Seins‹ (Heidegger) biologisch zu fundieren versprechen (vgl. Breithaupt 2009; Gessmann 2009).
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den Positivismus, der die fundamentale Lektion der Theoriegeladenheit der scheinbar unmittelbaren Wahrnehmung ignoriert, kann hier somit nicht die Rede sein.
3. F AMILIENÄHNLICHKEITEN UND D IFFERENZEN Die Praxistheorie und die Theorien des Performativen, insofern sie auf soziale Phänomene rekurrieren, folgen nach dem Bisherigen einer vergleichbaren Logik: Sie untersuchen die öffentliche Strukturierung von Sinn und Bedeutung im (›performativen‹ sowie ›praktischen‹) Vollzug. Diese Beobachtung soll freilich kein Anlass sein, die Unterschiede beider Ansätze zu verwischen. So nehmen Butler und Austin, die beiden hier repräsentativ behandelten Autoren, einen weitestgehend abstrakten Blick auf soziale Phänomene ein. Die Praxistheorie sieht sich dagegen, gerade in ihrer sozialtheoretischen Ausrichtung, vor das Problem gestellt, die konkrete soziale Ordnungsbildung in all ihren Dimensionen zu erklären. Wichtig sind auch die unterschiedlichen Perspektiven: Während Butler die Performativität vor allem als ein Mittel der De(kon)struktion in den Blick nimmt, mithin sich vor allem für die destabilisierende Seite des Performativen interessiert, heben Sozialtheoretiker wie Giddens und Bourdieu den strukturbildenden und strukturerhaltenden Aspekt performativer Praxis hervor. Die aufgezeigte Familienähnlichkeit kommt also nur um den Preis eines größeren Abstandes zustande, der Details großzügig übersieht. Doch auf diese Weise wird sichtbar, dass sich in Bezug auf die Klassiker der Praxistheorie in vielen Hinsichten von einer pragmatischen Performativität avant la lettre reden lässt. So formuliert Dewey in Erfahrung und Natur, im Original 1925 erschienen, dass »Sprache […] immer eine Form der Handlung« (Dewey 1995: 183) ist. Für den Pragmatisten war es selbstverständlich, dass mit dem konstatierenden Sprachgebrauch, gegen den Austin seine Untersuchungen des Performativen richtet, das Register sprachlicher Verwendungsformen bei Weitem nicht erschöpft ist und diese Ausdrücke nicht repräsentativ für die Sprache überhaupt stehen können. Mit dieser im weitesten Sinne positivismuskritischen Haltung war Dewey freilich nicht alleine. In den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelte sich auf dem Kontinent ein regelrechtes Dispositiv der Praxistheorien, eine Hinwendung zur Praxis in dem ›performativen‹ Sinne, der hier entwickelt worden ist. Neben Wittgenstein, der in den 30er Jahren
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in Cambridge die entscheidende ›Wende‹ hin zur Spätphilosophie erfuhr, und neben Heideggers 1927 erschienenem Hauptwerk Sein und Zeit sind vor allem noch die Entwicklung der Wissenssoziologie durch Karl Mannheim (1980) und die breite akademische Auseinandersetzung mit dem Marxismus zu erwähnen.13 Es ist zu vermuten, dass diese Entwicklung auf die im 19. Jahrhundert sich rasant entwickelnde historisch beispiellose Selbstreflexivität und Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft reagiert (vgl. Osterhammel 2009). Unter dem Einfluss von Historismus, Kolonialismus und den historisch neuen Medien der Selbstbeschreibung (wie Zeitung, Reisebericht oder dem realistischen Roman) zeigt sich die später in der Postmoderne gefeierte Pluralität der Sinn- und Ordnungszusammenhänge mit einer unabweisbaren Evidenz, die eine theoretische Artikulation verlangt. Auf diese Wahrnehmung sind die verschiedensten Antworten gefunden worden; der spezifisch praxistheoretische Ansatz bestand darin, das aus dieser Beobachtung sich stellende Problem der Konstitution von Sinn und Bedeutung über den Rückgriff auf konkrete Handlungsformen aufzuklären. Freilich wäre es eine grobe Verkürzung, die Performativität in die Theorie der sozialen Praxis aufgehen zu lassen. Die hier vorgelegte Rekonstruktion zweier Grundmerkmale der Performativität zeigt, dass durch sie ein ganz spezifischer Aspekt besser sichtbar wird, der auch für eine praxisorientierte Explikation sozialer Ordnung entscheidend ist. Der Begriff des Performativen bietet somit eine wertvolle Präzisierung, wenn es darum geht, die für die Praxistheorien entscheidende immanente Logik des Vollzugs zu artikulieren und sprachlich zu fassen. Dies verhindert, letztlich ganz im Sinne der Praxistheorien selbst, eine mögliche Essenzialisierung der pragmatischen Leitbegrifflichkeit. Insbesondere die dekonstruktive Seite des Diskurses der Performativität, die von Butler affirmativ aufgegriffen worden ist, verhilft dabei noch einmal zu einem frischen Blick auf die Grundbegriffe der ›Praxis‹ und der ›Praktiken‹.14 13 | Wittgensteins Denkweg und den Einfluss durch marxistische Anthropologie beleuchtet Gebauer (2009: 75ff. und 139-142). Zu Karl Mannheims ›Praxeologie avant la lettre‹, die inbesondere die Anerkennung eines atheoretischen impliziten Wissens betrifft, vgl. die Ausführungen von Bohnsack 2007. 14 | Derrida (1999) spricht davon, dass »Dekonstruktion […] bestimmte Motive mit dem Pragmatismus teilt« (173), und erwähnt dabei vor allem die
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Wichtig ist hier vor allem die temporale Dimension der Sinnbildung. Mit ihrem Kernkonzept der Iterabilität lenken Dekonstruktion und dekonstruktive Performativitätstheorien die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt sinnhafter Praxis, der sonst gern übersehen wird. Sie erinnern daran, dass Sinn innerhalb der sozialen Praxis nicht einfach präsent ist, sondern allein durch die differierende zeitliche Logik des Erinnerns, Wiedererkennens und Neubeziehens zugänglich wird (vgl. dazu Khurana 2007). In der französischen Soziologie haben sich vor allem das Autorenduo Luc Boltanski und Laurent Thévenot einen Namen dadurch gemacht, dass sie eben diese temporale Seite der Praxis als ein kritisches Korrektiv gegen Bourdieus Sozialtheorie wenden, der sie eine zu einseitige Betonung der sozialen Stabilität und Ordnung vorhalten (vgl. Boltanski/Thévenot 2007; eine Übersicht bietet Celikates 2009). Sie gehen in ihrer theoretischen Rahmung der sozialen Praxis aus von einer »radikalen Ungewißheit in bezug auf das, was es mit dem, was ist, auf sich hat« (Boltanski 2010: 88) und betonen damit – freilich innerhalb eines praxisorientierten Paradigmas – die Dimension der Kontingenz, der Sinnverschiebung und des Sinnentzugs, die auch die Dekonstruktion interessiert. Wieder zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass die klassischen modernen Theoretiker der Praxis diese nach dem zweiten Weltkrieg eher unterschlagene temporale Dimension des Vollzugs bereits im Blick hatten. Boltanski und Thévenot beziehen sich in ihrer Auffassung, soziale Praxis müsse gegen den Hintergrund einer irreduziblen Kontingenz, Ungewissheit und Unplanbarkeit gestellt werden, vor allem auf Dewey. Dieser veröffentlichte 1929 eine Studie, die sämtliche Bemühungen der Theoriebildung unter dem Gesichtspunkt der »Suche nach Gewissheit« (Dewey 2001) vor dem Hintergrund radikaler Kontingenz betrachtete und kritisierte. Die aktuelle Wiederentdeckung des Pragmatismus hebt gerade diesen ›poststrukturalistischen‹ Aspekt hervor (vgl. Hetzel 2008).
4. P R A XIS , P ERFORMATIVITÄT UND R EFLE XIVITÄT Bei aller skizzierten Familienähnlichkeit zwischen den performativen und den praxisorientierten Perspektiven auf das Soziale gibt es noch »performative Dimension« als »einen der Orte der Affinität zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus« (174).
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einen ganz entscheidenden Unterschied, der eine ausführlichere Betrachtung verlangt. Der Begriff des Performativen ist vor allem eine konzeptuelle Neuerung, die erlaubt, einen spezifischen Gegenstand wie ›Sprache‹ oder ›Geschlechteridentität‹ neu zu beschreiben. Diese Vorgehensweise reiht sich weiterhin in die klassische akademische Arbeitsteilung ein, wonach Innovationen auf dem Gebiet der Theorie vor allem dazu dienen, eine neue ›Optik‹ zu installieren, die einen alternativen begrifflichen Zugriff auf einen (meist etablierten) Gegenstandsbereich eröffnet. Auf dieses Verfahren ist wohl auch die einleitend festgestellte breite Rezeption des Begriffs zurückzuführen.15 Unter den selbstbewussteren Vertretern der Praxistheorie herrscht dagegen die Auffassung, dass der Begriff der Praxis mehr darstellt als ein neues Werkzeug zur alternativen Analyse bestimmter Gegenstandsbereiche. Das Primat der Praxis zwinge, so die Auffassung, konsequent gedacht auch zu einer Neuverortung der Rolle und der Möglichkeiten der Theorie. So nennt Dewey seinen Pragmatismus eine »empirische Philosophie«, die sich in ihren Begriffsbildungen und theoretischen Entwürfen immer wieder an die Praxis rückgebunden sieht, die zugleich auch Gegenstand ihrer Reflexion ist (vgl. Dewey 2004). Bei Wittgenstein findet sich die Auffassung, dass die Einsicht in den Vorrang der Praxis befreiend wirke, da sie die Philosophie aus ihrem einseitig theoretischen Selbstverständnis (das von Wittgenstein als existenzielle Belastung empfunden wurde) hinausführe (vgl. Volbers 2009). Einer der prononciertesten Verfechter eines solchen Ansatzes ist sicherlich Bourdieu. Er führt die von ihm entwickelte praxistheoretische Logik des Sozialen zu ihrer letzten Konsequenz, indem er auch die Produktion der Theorie in sie einbettet. In einem Interview beschreibt Bourdieu, dass er diese Perspektive durchaus als eine Ergänzung und in diesem Sinne als eine Radikalisierung der Position Wittgensteins und Austins, seiner »unersetzlichen Verbündeten« (Bourdieu 2004: 44) im Kampf gegen den Strukturalismus und die 15 | Eine wirklich konsequente Selbstanwendung der performativen Logik auch auf die Theorie führt meines Erachtens in die Dekonstruktion; insofern ließe sich die Dekonstruktion als die Totalisierung der Performativität bezeichnen. Derrida scheint mir denselben Aspekt hervorzuheben, wenn er in der Diskussion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Dekonstruktion und Pragmatismus darauf besteht, dass er den Standpunkt der Transzendenz nicht aufgeben wolle (vgl. Derrida 1999: 175).
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Phänomenologie, begreift. Er sieht ihren spezifischen Beitrag darin, dass sie aufzeigen, »daß die Irrtümer der Philosophie […] oft in der scholé und der scholastischen Einstellung wurzeln« (Bourdieu 2004: 44), mithin in einer akademischen Grundhaltung, die das Denken und die Theorie zum Inbegriff der Wirklichkeit überhaupt verkläre. Gleichwohl wirft Bourdieu auch noch Austin vor, zu stark auf der akademischen Betrachtung der Sprache zu beharren; wie auch Wittgensteins Selbsttherapie der Philosophie im »Zustand einer Skizze« (Bourdieu [u.a.] 1991: 26) verbleibe. Bekannt geworden ist Bourdieus »Kritik der scholastischen Vernunft« (Bourdieu 2004), die die Geisteswissenschaften einer soziologischen Analyse unterzieht. Ganz im Sinne der Praxistheorie bettet Bourdieu die Produktion und Reproduktion theoretischer Begriffe und Modelle (die »scholastische Vernunft«, ein Ausdruck, den Bourdieu [2004: 22] übrigens von Austin entlehnt hat) in eine umfassendere soziale Praxis ein. Die impliziten Fähigkeiten und Wahrnehmungsweisen, die diese Praxis strukturieren, verbleiben dabei den Akteuren in ihren expliziten Selbstverständigungen weitgehend verborgen. In diesem Sinne verteidigt Bourdieu bewusst die These, dass die »soziologische Kritik […] keine bloße Präambel [sei], die zu einer radikaleren und spezifischeren, echt philosophischen Kritik lediglich hinführte« (ebd.: 42). Im Gegenteil legt die soziologische Analyse nach Bourdieus Meinung den Kern der Philosophie frei – und zwar dadurch, dass sie die Theorie als Praxis operationalisiert. Sie zeigt, inwiefern die Philosophie »ihre allernormalsten Denkinstrumente, ihre Begriffe, Probleme, Taxonomien, den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer (Re-)Produktion« (Bourdieu/Wacquant 1996: 192) schuldet. Indem Bourdieu dieses Verfahren nicht nur auf eine andere akademische Disziplin, sondern auch auf das eigene Fach und schließlich auf die eigene Person anwendet (vgl. Bourdieu 2002), demonstriert er das Potenzial dieses Ansatzes. Zugespitzt formuliert, präsentiert Bourdieu hiermit eine performative Überbietung des Performativen. Gerade wenn die Grundidee der Performativität des Sozialen die Konzentration auf den faktischen Vollzug ist, muss diese Position, wenn sie konsequent sein will, ihr Selbstverständnis als Theorie neu bedenken. Eine allzu ausschließliche Fixierung auf den Begriff sowie – damit korrespondierend – auf eine Theorie des Performativen läuft immer wieder Gefahr, einer theoretischen Verdinglichung Vorschub zu leisten. Dasselbe gilt jedoch auch für die Theoriefamilie des practice turn. Die hier rekonst-
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ruierte Idee des Performativen erinnert daran, auch bei der Analyse sozialer Praktiken und sozialer Ordnungsbildung nicht in das »scholastische« Selbstverständnis einer rein konstativen Erkenntnisweise zu verfallen. Dieses Problem handelt sich Bourdieu selbst ein, der in seinem Streben nach einer ›objektiven‹ Reflexivität das Bild einer begrifflich vollständig erfassbaren sozialen Ordnung entwirft, das den eigenen Einsichten in die Irreduzibilität und Kreativität des praktischen Handels – und damit seiner performativen Dimension – zuwiderläuft (vgl. Schatzki 1997; King 2000). Die vollständige Destruktion der essenzialistischen Hinterwelt, gegen die sich die Performativitätstheoretiker richten, erfordert daher konsequenterweise eine Abkehr von einem theoretischen und szientistischen Überstandpunkt. Performativität sollte als ein spezifischer Aspekt der sozialen Praxis gesehen werden, als ein wichtiger Blickwinkel, der die konstitutionelle Offenheit und Dynamik des sozialen Handelns hervorhebt und begrifflich zu präzisieren erlaubt.
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Autorinnen und Autoren
Bernd Häsner (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Kulturen des Performativen«. Er hat vor allem zum Dialog und anderen Gattungen des theoretischen Diskurses in der frühen Neuzeit sowie zu ›performativen‹ Erzählweisen publiziert. Klaus W. Hempfer ist Professor für Romanische Philologie und Direktor des Italienzentrums der Freien Universität Berlin. Im SFB »Kulturen des Performativen« leitet er seit 1999 ein Forschungsprojekt zum europäischen Dialog des 15. und 16. Jahrhunderts. Henning S. Hufnagel (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. Er hat im Rahmen des SFB »Kulturen des Performativen« zur Argumentationsstruktur von Giordano Brunos Dialogen promoviert. Torsten Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Kulturen des Performativen«. Seine Dissertation schreibt er über Gertrude Steins Theatertexte und deren Inszenierung seit den dreißiger Jahren. Ekkehard König ist Professor emeritus für Anglistik und Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin und seit April 2010 Honorarprofessor an der Universität Freiburg. Irmgard Maassen lehrt anglistische Literatur- und Kulturwissenschaft in Berlin, Magdeburg und Potsdam. Sie hat im SFB »Kulturen des Performativen« zu Inszenierungen von Liebe und Trauer in der englischen Kultur der frühen Neuzeit gearbeitet.
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Viktoria Tkaczyk (Dr. phil.) ist Feodor Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung (ARIS, CNRS Paris). Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt »Theatrum Scientiarum« des SFB »Kulturen des Performativen«. 2007 promovierte sie mit einer Arbeit zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, für die sie 2008 den Ernst Reuter-Preis erhielt. Anita Traninger (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. Sie hat im Rahmen des SFB ihre Habilitationsschrift zu Medien und Gattungen von Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus erarbeitet. Jörg Volbers (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Er arbeitet über den sozial- und geisteswissenschaftlichen practice turn aus der Perspektive einer postanalytischen Philosophie sprachlicher Normativität.
Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie Februar 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse Januar 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften September 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juni 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de