Theorie als Lehrgedicht: Systemtheoretische Essays I. hrsg. von Marie-Christin Fuchs [1. Aufl.] 9783839402009

Theorie als Lehrgedicht - Im Titel des ersten Bandes dieser Aufsatzsammlung wird auf den oft gegen den Autor und gegen d

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German Pages 212 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Statt eines Vorwortes oder einer Einleitung oder dergleichen – eine allgemeine Sinn-Verzettelung
Die Skepsis der Systeme – Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis
Vom Unbeobachtbaren
Autopoiesis, Mikrodiversität, Interaktion
Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein
Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes
Vom Zeitzauber der Musik – Eine Diskussionsanregung
Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung
Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch
Literatur
Textnachweise
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Theorie als Lehrgedicht: Systemtheoretische Essays I. hrsg. von Marie-Christin Fuchs [1. Aufl.]
 9783839402009

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Theorie als Lehrgedicht

2004-06-08 14-12-19 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 54824657392

Peter Fuchs ist seit 1992 Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der FH Neubrandenburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. »Reden und Schweigen« (mit Niklas Luhmann), Frankfurt a.M. 1989, zuletzt: »Die Metapher des Systems. Studie zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer unterscheiden lasse«, Weilerswist 2001, und »Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person – die Psyche – die Signatur«, Bielefeld 2003.

2004-06-08 14-12-20 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S.

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) T00_02 autor.p 54824657400

Peter Fuchs

Theorie als Lehrgedicht Systemtheoretische Essays I hg. von Marie-Christin Fuchs

2004-06-08 14-12-20 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S.

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) T00_03 innentitel.p 54824657424

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-200-7

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 54824657456

Inhalt

Statt eines Vorwortes oder einer Einleitung oder dergleichen – eine allgemeine Sinn-Verzettelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Die Skepsis der Systeme – Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vom Unbeobachtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Autopoiesis, Mikrodiversität, Interaktion

73

......................

Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes . . . . . 121 Vom Zeitzauber der Musik – Eine Diskussionsanregung . . . . . . . . . 147 Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung

. . . . . . . . . . . 167

Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch . . . . . . . . . . 179 Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Textnachweise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

2005-05-10 14-05-21 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 023383740505290|(S.

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) T00_05 inhalt.p 83740505450

2004-06-08 14-12-21 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S.

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) vakat 006.p 54824657520

Eine allgemeine Sinnverzettelung | 7

Statt eines Vorwortes oder einer Einleitung oder dergleichen – eine allgemeine Sinn-Verzettelung

M.F. Papa, ich habe jetzt alles zusammen, alle Texte für den ersten Band. P.F. Schön, aber wenn wir nicht privat miteinander reden, solltest Du wenigstens ›Vater‹ zu mir sagen. M.F. Ach Papa … Laß uns ernsthaft sein. Ich muß das Manuskript jetzt an den Verlag schicken. Du mußt ein Vorwort schreiben. P.F. Das ist Deine Sache. Du hast mir versprochen, daß ich mich um nichts kümmern muß. M.F. Mußtest Du ja auch nicht … Aber die Leute erwarten ein Vorwort von Dir – ein kleines, dichtes Stück Rhetorik, irgend so ein Kabinettstückchen. P.F. Deine Mutter hat morgen Geburtstag, da ist keine Zeit für Rhetorik und Poesie. M.F. Das habe ich schon alles erledigt. Du wirst mit ihr morgen abend ins St. Pauli-Theater gehen. Tolles Stück. Boulevardesk. Frau Bleibtreu, Herr Wöhlers … Ihr werdet Spaß haben. Sechs Tanzstunden in sechs Wochen. P.F. Ich habe trotzdem keine Lust oder keine Zeit, ganz wie Du willst. Ich sitze gerade an einer Stelle meines neuen Buches, an der ich das Bewußtsein zum Verdampfen bringen muß. Da kann ich mich nicht ablenken lassen. M.F. Du könntest mir wenigstens ein paar Fragen beantworten, bevor Dein Bewußtsein verschwindet. P.F. (knurrt) M.F. Du weißt ja, daß ich dem Band den Titel »Theorie als Lehrgedicht« gegeben habe. Zuerst hast Du ihn als Titel für einen Aufsatz bei Luhmann geklaut, und jetzt ich ihn bei Dir. Mein Diebstahl hat wohl doch etwas weniger Gewicht …

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8 | Theorie als Lehrgedicht P.F. Stimmt, Luhmann hat verschiedentlich darüber gesprochen, daß er sich vorstellen könne, Theorie in ihrer Abschlußform wäre ein Lehrgedicht. Das hat mich fasziniert. Der Gedanke ist in gewisser Weise unordentlich – jedenfalls für klassische Wissenschaftler. M.F. Was meinst Du mit ›unordentlich‹? P.F. Er vermischt – auf den ersten Blick – Formen, die sich ausschließen, Wissenschaft und Kunst beispielsweise. Oder er kalkuliert nicht-argumentative, ästhetische Strategien für Textgestaltung ein, die wissenschaftlich nicht so geschätzt werden. Aber ich habe das mit dem Unordentlichen nicht pejorativ gemeint. Mir hat der Gedanke gefallen, weil er Theorie als etwas auffaßt, das mit dem Inkommensurablen zu tun hat. So ganz furchtbar neu ist das natürlich nicht. Daß Theorien elegant sein sollen oder können, das man hat schon vor langer Zeit gefordert, und diese Forderung ist sicher die nach einer nicht nur sachlichen, sondern auch ästhetisch überzeugenden Theorie. Schade ist, daß der Aufsatz von mir, auf den Du Dich im Titel beziehst, gar nicht in diesem ersten Band enthalten ist. M.F. Der Verlag hat ihn albernerweise nicht frei gegeben. P.F. Das macht nichts … Wenn man so will, ist dieser Titel ja auch Moment eines Programmes. M.F. Wobei wir da ja wieder beim Diebstahl wären … Was unterscheidet das Programm des theoretischen Lehrgedichts von einer einfachen Übernahme ästhetischer oder poetischer Mittel in einen theoretischen Text? P.F. Vielleicht ist ja auch das Wort ›Programm‹ nicht so gut gewählt. Woran ich nicht denke, das ist so eine Art kosmologischer Mythopoesie. Eher kommt mir in den Sinn, daß es um Hochabstraktionen geht, die von ihrer Versprachlichung kontaminiert werden. Und je mehr man versucht, von diesem Ballast einer Sprache wegzukommen, die zum Beispiel Subjekte, Prädikate, Objekte, Attribute, Nomen und Adjektive vorsieht, desto mehr kann man auf die Idee kommen, die Sprache zu überspannen. Man könnte ja Poesie leicht als eine extrem überspannte, beinahe hysterische Sprache auffassen, die – vor allem in dem, was ich als moderne Lyrik begreife – mit Mitteln der Sprache sprachtilgend operiert oder es jedenfalls sehr schwer macht, noch Fremdreferenzen zu identifizieren. So müßte eine moderne Theorie ebenfalls sprachlich sprachtilgend arbeiten können, also auch mit den Mitteln der Evokation, der Allusion, der Metapher. Der Textduktus könnte ornamental und labyrinthisch werden, und doch müßte gelten, daß die Klarheit nicht verlorengeht. Du siehst, daß ich mich da entferne von Parmenides und anderen Autoren, die Lehrgedichte verfertigt haben. Übrigens kann man das Problem, das in der Formel »Theorie als Lehrgedicht« metaphorisch appräsentiert ist, auch in die Frage umformulieren, wie denn Sinnsysteme, zum Beispiel psychische und soziale Systeme, die immerfort Zitate zitieren, die Zitate zitieren, die Zitate zitieren, wie solche ›diebi-

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Eine allgemeine Sinnverzettelung | 9

schen‹, konstitutiv Plagiat betreibende Systeme an ›Neuheit‹ und ›Originalität‹ kommen. Sprache zitiert immer, Theorien müssen Sprachen benutzen und zugleich dementieren, daß sie dabei unoriginell werden. Also das ist schon eine schwierige Kiste. M.F. Meinst Du, daß die Systemtheorie durch einen besonderen Umstand prädestiniert ist, in ein Lehrgedicht umzuschlagen? P.F. Ja und Nein. Nein, weil ich ja nicht glaube, daß es zu der Form des Lehrgedichts in einem praktischen Sinn kommen wird. Das Wort ›Lehrgedicht‹ ist schließlich selbst eine dicht geballte Metapher. Ja, insoweit ich meine, daß die Abstraktionsleistungen dieser Theorie eine eigentümliche Drift zum Rand des nicht Sagbaren entwickeln, wie man klassisch vielleicht gesagt hätte; zum Rand des Inkommunikablen, wie ich es sagen würde. Man müßte aber gleich hinzufügen, daß es sehr schwer ist, von der Systemtheorie zu reden. Die Variante, die ich betreibe, bezieht sich auf jene Drift, die ich in den verschiedenen Theoriefiguren angelegt finde. Man kann also Systemtheorie auch robuster betreiben, als ich es tue. M.F. Was heißt hier ›robuster‹? P.F. Soviel wie: mit gedämpftem Problembewußtsein für das Differenzenspiel der Theorie und dessen Nebenwirkungen. M.F. Hast du ein Beispiel? P.F. Nimm einmal die System/Umwelt-Unterscheidung. Sie ist bislang konstitutiv für die Theorie, und sie scheint locker einsetzbar zu sein. Da ist ein System und sein Drumrum. Also da ist jetzt das ›Ding‹ Bewußtsein, das Du in Deinem Körper spazieren führst, und um dieses Ding herum ist ein Gehirn, Flüssigkeiten, die Schädelkalotte, die Haut, die Luft, die anderen Leute, die ganze Welt geklebt – mit Ausnahme eben dieses einen Dinges. Damit kann man schon allerlei anfangen, wenn man auf Tiefenschärfe nicht sehr viel Wert legt und eher pragmatisch denkt. Mich interessiert aber, wieso die Einheit der Differenz System/Umwelt das System ist, das sich irgendwie in die Unterscheidung einschleicht, also sich merkwürdig verdoppelt: System = System/Umwelt. Das ist keine normale Gleichung. Denn das Ergebnis hinter dem Gleichheitszeichen ist eine Differenz, die sich im Zeichen der Barre ausdrückt. Aber eine Barre, das ist kein Ding, das ist kein Subjekt, kein Objekt. Ihr entspricht – nichts. Also muß man den Beobachter suchen, der mit dieser Unterscheidung und dem seltsamen Wiedereintritt der Unterscheidung in das, was sie unterscheidet, arbeitet. Man findet ihn jedoch nicht, denn er wäre selbst das Produkt derselben Unterscheidung, wäre das, was ich Un-jekt genannt habe, eine Metapher, die zum Ausdruck bringt, daß ein Denken, das damit noch umgehen kann, auf klassische Denkstrategien, auf eine zweiwertige Logik zum Beispiel, verzichten müßte. Der Beobachter ist imaginär, er steckt nirgendwo drin oder irgendwie dahinter. Die Figur dieser Unterscheidung führt demnach, wenn

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10 | Theorie als Lehrgedicht man auf sie achtet und nicht vorschnell reifiziert, automatisch an den Rand des im Moment Denk- und Sagbaren. Sie zwingt dazu, wie ich glaube, Denkgewohnheiten aufzugeben, die wir im Alltag unentwegt benutzen. Das mag einer der Gründe dafür sein, daß man solche Überlegungen als ›Glasperlenspiel‹ diffamiert, ein ganz typischer Vorgang … Gefragt wird, wozu so etwas gut sein soll, und heute natürlich: was man damit anfangen kann. Du kennst diesen Anwendungswahn. M.F. Aber die Frage ist doch berechtigt. Wodurch gewinnt eine Theorie, die in diese Richtung läuft, dann noch so etwas wie Überzeugungskraft, Durchschlagevermögen, warum sollte sie mir einleuchten, und vor allem: einleuchtender als andere sein? Darum geht es doch, wenn Theoretiker basteln, oder? P.F. Ich könnte da ganz persönlich antworten, als fränkischer Norddeutscher: Wat mutt, dat mutt. Oder in lutherischer Prägnanz: Hier stehe ich und kann nicht anders. Aber Du hast ja nicht mich gefragt. Deshalb würde ich hier antworten, daß Theorien, wie ich sie verstehe, niemals anwendbar sind und gerade deshalb multipel anwendbar. Sie haben – hinreichend Abstraktion vorausgesetzt, und das heißt ja: hinreichend Konkretionsabzug – keinen handlungsinstruierenden Wert. Keine Schulklasse kommt aus ihren Problemen heraus, wenn sie zum Beispiel Informationen darüber hätte, wie das Interaktionssystem ›Unterricht‹ funktioniert. Ein Bereich, in dem Theorien zwar umstritten, aber als Theorien so abstrakt, wie es nur geht, sein dürfen, nämlich die Physik, fragt sich unter anderem nach dem Anfang der Welt, baut eine Theorie des Urknalls oder Theorien schwarzer Löcher. Damit ist weder einer Hebamme oder einem Hundepsychologen noch einem Sozialpädagogen geholfen. Selbst wenn herausgefunden würde, wie die Welt ans Laufen gekommen ist, ließe sich damit nicht die Welt befrieden, das Problem der Arbeitslosigkeit lösen oder eine einzige Liebesbeziehung aus den naheliegenden Möglichkeiten ihres Scheiterns herausziehen. Theorien wirken, wie ich glaube, ganz anders. Aber ich muß zugeben, daß ich auch dann, wenn sie nichts bewirken würden und ich das auch noch theoretisch begründen könnte, trotzdem Theorie machen würde. Just for fun, einfach so – wie andere Leute Fußball spielen oder in Swingerclubs gehen. In dieser Lage bin ich aber nicht, und deshalb sehe ich ›Theoretisieren‹ als ein überaus ernstes Spiel an. Übrigens leidet die Theorie ja nicht daran, daß sie unbeachtet bliebe. Das Gegenteil ist der Fall. M.F. Die Theorie lebt ja von dieser Beobachtung … P.F. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Aber richtig ist sicher, daß die Leute, die sich mit der Theorie auch publizierend befassen, nicht unter Einsamkeit oder Aufmerksamkeitsdefiziten leiden. M.F. Was meinst Du mit niemals anwendbar und gerade deshalb multipel anwendbar? Wie wirken Theorien?

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P.F. Mit der Nicht-Anwendbarkeit meine ich, daß die zentralen Figuren so abstrakt sind, daß man sie nicht als Rezeptur für angemessenes oder zu verbesserndes Verhalten oder für eine Optimierung der Gesellschaft nehmen kann. Niemand kommt schließlich auf die Idee, Plato, Spinoza, Kant, Fichte, Hegel oder Schelling in dieser Weise anzuwenden. Mit ebendiesem Abstraktionsgrad hängt aber auch die multiple Anwendbarkeit zusammen. Die Ordnungsleistungen und Irritationen, die die Theorie produziert, wirken sich auf die Theologie, die Erziehung, auf die Psychotherapie, auf Archäologie, Juristerei … also auf viele denkbare Felder aus. Wenn Du dann nach der Wirkung von Theorien fragst, gäbe es eine einfache Antwort, wenn man die Wissenschaft zugrundelegt. Da gilt schlicht, daß Theorien als Instruktoren für Forschungsprogramme aufgefaßt werden, deren Ergebnisse im Gegenzug wieder die Theorien beeinflussen. Etwas genereller, das läge mir näher, scheint es mir, daß Theorien einfach eingeschliffene Beobachtungsroutinen stören. Gute Theorien wären große Irritatoren, sogar massiv außerhalb der Wissenschaft, und diesen Gedanken finde ich, wie man heute mitunter zu sagen pflegt, charmant, oder vielleicht besser: charming – oder provokativer: bezaubernd. M.F. Swinging … P.F. Oh ja … Swinging ist gut. Das bringt das Musikalische hinein … und so eine Beschwingtheit wie beim Tanzen im Regen. Übrigens arbeite ich an Texten tatsächlich wie an Partituren. Das scheint mir in der Arbeitsweise sehr verwandt. Und wenn ich mich mit ausgezeichneten Theorietexten befasse, dann habe ich auch den Eindruck, daß ich sie lese wie andere Leute Partituren. M.F. Okay, okay … aber in der Ausbildung Deiner Studierenden … da hast Du es ja nicht mit diesen Tänzen zu tun, sondern eben mit Leuten, die Sozialarbeiter, Sozialpädagogen werden wollen und die Du ja auch auf eine Praxis vorbereiten sollst, in der swinging theories irgendwie kontraindiziert sind. Dennoch machst Du, wie ich weiß, niemals Abstriche von der Komplexität der Theorie in der Lehre … da müßten doch nur stöhnende Studierende herauskommen. P.F. Ach, so ein bißchen Tanz ist immer dabei. Ich würde mich sonst selbst langweilen, und ein gelangweilter Lehrer ist für die Studierenden wie für sich selbst eine Katastrophe. Da können mir die Hochschuldidaktiker sagen, was sie wollen … man erreicht die studierenden Leute, wenn die Sachen, die man vorträgt oder anbietet, selbst swingen, so daß man die Füße nicht stillhalten kann. Du hast das ja da und dort mal erlebt, wie ungeduldig ich werde, wenn dieses Moment wegfällt. M.F. Das ist aber keine Antwort auf meine Frage? P.F. Stimmt … Aber ich denke da so ähnlich, wie ich es oben gesagt habe …

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12 | Theorie als Lehrgedicht ich störe mit der Theorie, ich pumpe Skepsis in das, was die Leute so Praxis nennen. M.F. Läßt sich das die Praxis gefallen? P.F. Sie ›skepst‹ zurück, und das ist das Beste, was mir dabei passieren kann. M.F. Ich weiß nicht, ob Du da ausweichst … Ich mache einfach ein Beispiel. Du konfrontierst Deine Studierenden meinetwegen mit dem Begriff der Autopoiesis. Irgendwann hast Du einmal gesagt, daß dieser Begriff beinahe metaphysisch sei – ohne empirische Referenzen, ja nicht einmal mit der Aussicht, des Phänomens, das damit bezeichnet sein soll, irgendwann einmal ansichtig zu werden. Ein luftiger Begriff, würde ich meinen. Was fängt denn einer damit an, der später mit Behinderten arbeiten soll oder in der Arbeit mit Suchtkranken steht oder einfach nur im Sozialamt so herumverwaltet? P.F. Sie – wir haben nämlich überwiegend weibliche Studierende – könnte wenig direkt damit anfangen. Aber, um nur ein Beispiel zu machen: Wenn man mit Hilfe des Begriffs Autopoiesis eine Kommunikationstheorie konstruieren kann, die deutlich macht, was eigentlich so etwas wie Integration unter modernen Denkbedingungen bedeuten kann, das wäre schon was. Dazu kommt ja immer die Leistung der Distanzierung, die im Wort Theorie schon vorgezeichnet ist … Eröffnung einer Fernsicht, der Möglichkeit, vom Dach her zu schauen. Oder auch, was ich für zentral halte, die Leistung der Beobachtungsebene der zweiten Ordnung … und so weiter. Also ich könnte jetzt stundenlang nur aufzählen, was man mit derart abstrakten Begriffen anfangen kann. Und by the way, der Systembegriff ist kein Iota weniger abstrakt als der der Autopoiesis. M.F. Man wird aber doch nicht sagen können, daß diese Leistungen für Dich das zentrale Movens sind. Ich habe immer das Gefühl, daß das alles irgendwie abfällt, irgendwie auch zustande kommt, ex margine, wenn man so will. P.F. Ich habe schon ein ausgeprägtes Interesse am – sagen wir – Naheliegenden, am ›vollen Menschenleben‹, wie es ein von mir sehr geschätzter Autor einmal formuliert hat, am Hineingreifen … Ich will aber nicht bestreiten, daß die Arbeit an theoretischen Figuren so etwas wie die Achse ist, um die dieses Rad läuft. M.F. Ich würde sonst auch nicht verstehen, warum Du so viele, mitunter völlig heterogene Phänomenbereiche bearbeitest, sie gleichsam aufzupfst und dann wieder hinlegst. P.F. Ja, da ist was dran. Meistens probiere ich Figuren, mit denen ich mich beschäftige, an mitunter sehr exotischen Themen aus. Das ist so eine Art Vergewisserung, eine Funktionsprobe, aber das Thema selbst kann ich lokker wieder weglegen. Es war Mittel zum Zweck. Manchmal haben diese

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kleinen Arbeiten dann schon weit streuende Effekte wie etwa die Arbeiten über die Musik oder die zum Internet, aber das ergibt sich einfach so und ist nie geplant. Ich überlege gar nicht, was ich oder irgend jemand damit anfangen könnte. Diese Themen werden mir biographisch zugespült, ich stürze mich dann Hals über Kopf in den Kelch des jeweiligen Problems … und tauche prustend wieder auf, ausgestattet mit weiteren Anregungen für meine eigentliche Arbeit. M.F. Und die wäre …? P.F. Ich glaube, das Projekt trägt eigentlich immer noch den Namen Umschrift. So hieß ja auch ein Buch von mir. Einerseits geht es um das Umschreiben für psychisch gehaltener Prozesse auf Kommunikation, und andererseits um eine Rückschrift von Kommunikation auf das, was man so unter Psyche verstanden hat. Im Laufe der Jahre hat es sich ergeben, daß ich mehr und mehr von diesem Um und Rück … zur Idee der konditionierten Koproduktion gekommen bin, und an dieser Stelle bin ich eigentlich jetzt … Wie kann man das denken, die ZWEI der EINS? Oder die EINS der ZWEI? – In all dies hineingeknotet ist dann ein zunehmendes Interesse an der Lücke, am Riß … aber das führt hier zu weit. M.F. Dann lassen wir das. Mich würde auch interessieren, ob Du mit der Auswahl dieser Aufsätze für den ersten Band zufrieden bist. P.F. Ja, natürlich, oder hätte ich jetzt eine andere Wahl? Du bist schließlich die Herausgeberin … M.F. Du könntest unzufrieden sein, nur würde ich nichts mehr ändern können … P.F. Ja, dann lassen wir es eben so. M.F. Was mich erstaunt hat, war die … mir fehlt jetzt der richtige Ausdruck … Kontinuität der Texte. Auch die frühen Aufsätze sind bis auf einige Begriffsänderungen sehr gut einbaubar gewesen, ich meine, ich konnte nirgendwo einen Bruch zu Deinen heutigen Arbeiten markieren. Deswegen konnte ich auf eine chronologische Reihenfolge verzichten. Und gerade bei dieser deutlichen Lust am Experiment, am Bruch, an Sabotage hätte ich Diskontinuität erwartet … Statt dessen: 16 Jahre: Differenz. Ein bißchen unheimlich. P.F. Findest Du? – Vielleicht liegt Dein Eindruck daran, daß ich im Grunde, wenn man von meinen Arbeiten zur linken Hand einmal absieht, nicht an Texten schreibe, sondern an einem Text, der hin und wieder notdürftig unterbrochen wird … aus biographischen Gründen oder auch nur, weil die Abnehmer immer wieder ein Finis erwarten, die Markierung einer Lücke. M.F. Was meinst Du mit ›zur linken Hand‹? P.F. Das ist meine Privatmetapher für die Arbeiten, mit denen ich so eine Art Transferleistung versuche, das Einspeisen systemtheoretischer Motive in den eher nicht streng wissenschaftlich gebundenen, intellektuellen Dis-

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14 | Theorie als Lehrgedicht kurs. Das sind so Ablenkungsmanöver, die mir aber auch großen Spaß machen. M.F. Würdest Du Dich in irgendeine Tradition einordnen wollen? P.F. Es ist nur ein halber Scherz, wenn ich sage, das könnte die Tradition der negativen Theologie sein. M.F. Nicht die der negativen Soziologie? P.F. Das ist heiter … ganz am Anfang, nach dem Erscheinen der »Erreichbarkeit der Gesellschaft« … hat die FAZ genau diesen Zusammenhang hergestellt. Mir geht es aber eigentlich nur darum, daß starke Abstraktionsleistungen der Theorie immer diese Notwendigkeit des Konkretheitsabzuges mit sich führen, die laufende Bereitschaft zur Negation des sinnlich scheinbar Evidenten. M.F. Ich habe Dich ja schon ein bißchen in eine Tradition eingeordnet, indem ich der Reihe den Titel »Systemtheoretische Essays« gegeben habe. Essay – da schwingt ja nicht nur die von Dir erwähnte Vorstellung von Partitur mit, sondern auch etwas sehr grüblerisch Alteuropäisches? P.F. Das ist eigentlich eine Doppelfrage. Was den Untertitel anbetrifft, war ich sehr zufrieden. Ich lege keinen Wert auf Abschluß, auf gültige Erkenntnis. Essay, das trifft die Sache schon. Mir gefällt daran, daß in dieser Bezeichnung das Tentative, das Spielerische, der Genuß traditionell eingebaut sind, aber wenn man dem Wort nachschmeckt, auch das exigere, dessen Partizip Perfekt Passiv exactum ist. Mir fällt dabei immer die Musilsche Genauigkeit der Seele ein. Ich selbst habe mir wieder das Privatbild der exakten Phantasie gemacht. Jedenfalls ist diese Kombination von gleichsam schriftlichen Experimenten im Medium der Präzision dasjenige, was mir Freude bereitet und mich entlangweilt. Übrigens würde ich diese Bezeichnung ebenso für meine Bücher wählen. Auch sie sind Essays in diesem Sinne des Wortes. M.F. Das hört sich sehr zurückhaltend und brav an, aber für mich steckt auch eine gewisse Arroganz darin. Es geht nicht nur um wissenschaftliche Abhandlungen. Die Bescheidenheit des Essayistischen … Also das würde ich Dir schon privat nicht abnehmen. Außerdem … keinen Wert auf Abschluß, auf Gültigkeit zu legen … das hat schon eine eigentümliche Arroganz. P.F. Danke. Ich habe das auch tatsächlich gar nicht so bescheiden oder zurückhaltend gemeint. Spielen, das muß man sich sozusagen erlauben können und wollen. Dazu paßt ja auch, daß man vom Essayisten mehr erwartet als nur die Fertigkeit im Schreiben, sondern auch, daß er die Sache, über die er schreibt, so beherrscht, daß er locker genug sein kann, um sein präzises Spiel zu spielen, das dann wieder sehr nahe am Künstlerischen liegt. Sagen wir einfach, da ist auch was von desinvolture drin. M.F. Könnte man nicht eher sagen: ein generalisiertes Desinteresse?

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Eine allgemeine Sinnverzettelung | 15

P.F. (schweigt) M.F. Hast Du mich nicht gehört? Ich weiß, daß Du nicht besonders gut hörst, aber … P.F. Schon gut. Ich habe nur nachgedacht. Deine Frage ist extrem geballt. Und Du hast sie nicht ohne ein Quentchen Gemeinheit gestellt. Es ist jedenfalls etwas daran. M.F. Und was? P.F. Bestimmte Dinge kann man nur in den Blick nehmen, wenn so etwas immer mitläuft wie ein Manko an Verwickeltheit, eine eingebaute Fremdheit oder Distanz, eine kognitive Absprungbereitschaft … Andererseits ist das Desinteresse, was Du da so inquisitorisch auf den Tisch geworfen hast, zugleich ein hoch angespanntes Interesse. Vielleicht sieht man das in dem Text über das Unbeobachtbare oder auch in dem über die konditionierte Koproduktion etwas deutlicher. Es stimmt sicher, daß ich gewisse Lebensdichtheiten sozusagen nur mitspielen kann, also wenig verschmelzungsbereit oder -fähig bin. M.F. Das ist ja regelrecht ein Metapherngestöber. P.F. Ja, gewiß … das ist bei solchen Fragen erwartbar. M.F. Auf diese Gefahr hin … Kannst Du auch die Theorie nur mitspielen? P.F. Laß es gut sein. Es ist ja bezeichnend, daß Dirk Baecker die Theorie wie einen Joker einsetzt. Das hat mir, obwohl ich seine Argumentation jetzt stark pointiere, sehr gut gefallen. Es geht nicht allein um die Theorie. Im übrigen: Wir verzetteln uns. M.F. Wie Meister Niklas? P.F. (lacht) Ja, warum nicht … wenn wir ein Bewußtsein hätten, würde es sich in einem fort verzetteln. Das wäre ein schöner Titel für eine weitere Arbeit … die allgemeine Sinn-Verzettelung … Ich denke darüber nach. M.F. Aber ich bin jetzt nicht nur ein Zettelkonvolut? P.F. Nicht? Das wird schwer zu entscheiden sein. Mir kommt es so vor, als bist Du jetzt irgendwie ein Gelesenes. Aber da kennst Du Dich besser aus. M.F. Der Verlag will ein ›Finis‹, wenigstens bis zu den nächsten Bänden. P.F. Dann laß mich wieder an meine Arbeit. M.F. Wir sehen uns … morgen im Theater. P.F. Ach ja … Sechs Tanzstunden in sechs Wochen? Richtig? Das ist wohl auch so ein Stückchen? M.F. Ist es … Ich nehme Oliver mit runter. P.F. Ja, schmeiß’ den Kater raus. Der hat ein bißchen zuviel Desinteresse. M.F. Hat man Dich früher im Internat nicht ›Pussi‹ genannt? P.F. Raus!

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Die Skepsis der Systeme – Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis

»Pánta theorías ephíesthai« Alles verlangt nach Betrachtung. (Plotin – ein Pan-Theoretiker)

Immer wieder wird die Forderung laut, daß eine Theorie (jedenfalls wenn sie als sehr abstrakt, wenn sie als Höhenkammtheorie gelten möchte) nützlich und in diesem Sinne wertvoll, jedoch auf keinen Fall abgehoben zu sein habe.1 Sie dürfe sich nicht nur im Bereich des gerade eben noch Denkund Formulierbaren bewegen, sich nicht nur einem ungezügelten und individuellen Interesse an Erkenntnis verdanken.2 Sie solle zu etwas taugen, die Praxis instruieren, ihr cui bono vorführen. Jenes Immer-wieder, das soll heißen: seit mehr als zwei Jahrtausenden in der uns unmittelbar angehenden Tradition, seit der Zeit, da Mägde über Philosophen lachten, die in den 1 | Außerdem sei zu viel Theorie immer schädlich. Da wir jedoch Theorie und Praxis in diesem Text als Unterscheidung (als ein Schema) behandeln wollen, ist es erfreulich, daß es die Gegenrichtung der Kritik ebenso gibt: zu viel Praxis, zu wenig Theorie. So jedenfalls zeitgenössische Einwendungen gegen Kant und Rousseau. Vgl. Rhia, R., Reale Geschehnisse der Freiheit. Zur Kritik der Urteilskraft in Lacanscher Absicht, Wo Es war 3, Wien 1993, S. 39. Für die Kritikfigur des Zuviel an Theorie siehe Philonenko, A., Théorie et praxis dans la pensée morale et politique de Kant et de Fichte, Paris 1988. 2 | Sonst wäre sie eine Angelegenheit von »Theorienschmidten«, die Systeme wie die Spinnen ihre Netze bauen oder wie die Vögel ihre Nester. So jedenfalls Hamann, hier zit. nach Ritter, J./Gründer, K. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1989, Sp. 1136.

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18 | Theorie als Lehrgedicht Brunnen fielen, weil sie vor lauter Über- und Fernsicht das Naheliegende und in der Nähe Gefährliche übersahen. Diese Tradition ist so gewaltig, daß es schwer fällt, an sie anzuschließen, ohne sie einfach nur in winzigen Segmenten zu wiederholen. Und weitaus dramatischer: Jeder Anschluß reproduziert die Differenz, die eigentlich geklärt werden soll, eben die Unterscheidung von Theorie und Praxis. Diese Differenz leitet offenbar die Beobachtung, die sich auf sie selbst richtet. Sie ist eine in sich verwickelte, verfaltete (im genauen Sinne: komplizierte) Unterscheidung, die im übrigen eine Kontextur aufzuspannen scheint, einen zweiwertigen, kontinenten (also geschlossenen) Bereich, dem sich nicht entkommen läßt – denn was läge jenseits von Theorie und Praxis?3 Dies alles riecht stark nach dem Schwefel eines infiniten Regresses, nach einer in sich zirkulierenden und sich gleichwohl in alle Theorien und Praxen erneut hinauf und hinunter verschachtelnden Unterscheidung. Die folgenden Überlegungen (ziemlich theoretisch, ziemlich praktisch) begeben sich in diese Zirkulationen und Verschachtelungen hinein.

I Zunächst soll festgehalten werden, daß beide in Frage stehenden Begriffe (Theorie; Praxis) hier ihren spezifischen Sinn nur machen als Teil einer Differenz (Theorie/Praxis), die ein Beobachter (der nur ein Sinnsystem sein kann) einsetzt.4 Entscheidend ist also nicht, ob den Seiten der Unterscheidung Domänen in der Welt entsprechen, ob es Theorie oder Praxis 3 | Siehe zu dieser Denkfigur Günther, G., Life as Poly-Contexturality, in: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. II, Hamburg 1979, S. 283ff.; ferner zu gesellschaftstheoretischen Konsequenzen Fuchs, P., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a.M. 1992. 4 | Es gäbe andere Differenzen: Theorie/Methode oder gute Praxis/schlechte Praxis oder praktischer Tierarzt und theoretischer Tierarzt. Aber hier dreht es sich um die Spezifik, die nur durch diese Differenz Theorie/Praxis ins Spiel kommt. Kant hätte an die Stelle der Barre wahrscheinlich eine dritte Größe gesetzt: die Urteilskraft. Jedenfalls bestritt er energisch den Sinn der Annahme, zwischen Theorie und Praxis gebe es einen Abgrund, der unüberbrückbar sei. Und er hat immer aus den Negativeffekten, die sich in einer Praxis als Ergebnis einer Theorie ergeben, geschlossen, daß also noch mehr Theorie getrieben werden müsse. Vgl. etwa Kant, I., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), hier zit. nach Rhia, a.a.O., S. 44.

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gibt, ob es sich um trennbare Phänomene handelt, ob man eine Ontologie der Theorie oder eine Ontologie der Praxis benötigt, weil sich in der Welt (da draußen) Seinsverhältnisse dieses Typs finden lassen, die man nur aufspüren muß, um sie dann säuberlich zu analysieren. Bedeutsam ist vielmehr, daß die Anwendung dieser Unterscheidung als beobachtungsleitende Perspektive eine Welt erzeugt, in der jede Sinnserie auf der einen Seite der Unterscheidung Sinnserien auf der anderen Seite mitdirigiert. Oder anders: Sinnproduktionen auf der Seite der Theorie variieren, was als Praxis – Sinnproduktionen auf der Seite der Praxis, was als Theorie beobachtet werden kann.5 In beiden (zusammenhängenden) Fällen geht es jedenfalls um Sinn. Man wird kaum sagen können, daß Geißeltierchen, Küchenschaben, Maggikräuter oder Mammutbäume eine Praxis vollziehen oder Theorien bauen. Sie sind indifferent gegenüber der Unterscheidung.6 Theorie/Praxis ist dagegen offensichtlich eine Unterscheidung (eine Form) im Medium Sinn. Sie unterscheidet, wie man in einem ersten Zugriff sagen könnte, eine Fernsicht (theoria) von einer Nahsicht (Handlungsansicht) – desselben.7 Und Dasselbe – das ist, wenn von Sinn die Rede ist, keinesfalls ein Gegenstand, eine Substanz, irgendeine Entität, im Blick auf die Theorie und Praxis nur zwei Weisen einer Einstellung wären, zwei Perspektiven, die von einer gegenüberliegenden (da draußen befindlichen) Ontik geführt würden. Das Medium Sinn ist extrem flüssig, es hält nicht still.8 In dieser Redeweise steckt aber noch etwas Befremdliches. Sinn ist schließlich nichts, was sich selbst betreibt, flüssig erhält, sich selbst verschiebt. Sinn ist nicht autopoietisch. Er ist kein System. Er verdient nicht die Bezeichnung Er.9 Sinn, wenn hier ein Heideggerscher Anklang erlaubt ist, sinnt nicht ohne Sinnsysteme. Er (und ich kann das Subjekt hier nicht 5 | Siehe dazu Fuchs, P., Theorie als Lehrgedicht, in: Pfeiffer, K.L./Kray, R./ Städtke, K. (Hrsg.), Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin, New York 2001, S. 62-74. 6 | Sie sind in diesem Sinne Natur. Vgl. Schelling, F.W.J., Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Schriften von 1799-1801, Darmstadt 1982, S. 309. 7 | Theorie (theoría) ist ursprünglich soviel wie Anschauen oder Erkennen. Siehe zur Geschichte des Begriffes Praxis Ritter/Gründer (Hrsg.), a.a.O., Bd. 7, Sp. 1277-1307, zu der des Begriffes Theorie Bd. 10, Sp. 1128-1151. 8 | Wie die Walser/Bubis-Debatte zeigte, läßt sich das Medium nicht stillstellen – auch dann nicht, wenn es um Auschwitz geht. 9 | Allenfalls die Bezeichnung ES, aber so wie in: ES regnet, ES blitzt. Siehe für das Beispiel Watts, A., Der Lauf des Wassers. Eine Einführung in den Taoismus. Die chinesische Weisheitsleere als Weg zum Verständnis unserer Zeit, Bern, München, Wien 1976, S. 33. Bekannt ist natürlich auch das Lichtenbergsche: Es denkt – wie es blitzt.

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20 | Theorie als Lehrgedicht vermeiden, so gern ich es täte) ist unaufhebbar an das Bewußtsein und das Sozialsystem geknüpft, an die konditionierte Co-Produktion der Sinnwelt.10 Es geht also um Operationen, die Sinn gebrauchen, wir könnten auch sagen: um Operationen der Beobachtung in sinngesättigten (im Blick auf dieses Medium alternativlosen) Systemen. Das gestattet es, festzuhalten, daß das Aufspannen und Anwenden der Theorie/Praxis-Unterscheidung die Operation eines Sinn-Systems ist – nichts also, was dazu vorgängig oder jenseitig wäre, kein Sachverhalt, keine Tatsache, keine Realität, die unabhängig wäre von der Operation, durch die sie imaginiert und kommuniziert wird. Jede Redeweise, die die Existenz einer Praxis oder die Existenz einer Theorie behauptet, ist fahrlässig. Sie reifiziert die Seiten eines Beobachtungsschemas. Sie verwechselt die Realität der Operation mit dem, was durch die Operation gesehen wird, die Sicht (um mit der Freudschen Metapher zu arbeiten) mit der Projektion. Damit lassen sich gegenüber jeder Tradition, die ein In-der-Praxis-Sein oder ein In-der-Theorie-Sein für möglich halten, nicht unerhebliche Freiheitsgrade gewinnen. Wer sagt, er sei ein Praktiker (er wolle Praxis vermitteln, er sei dafür, daß eine Sache praktisch aufgefaßt werde etc.), sagt etwas über die Weise, wie er die Theorie/Praxis-Unterscheidung konditioniert. Er legt sozusagen ein Geständnis ab. Und eben dasselbe gilt für jemanden, der sich Theoretiker nennt und die Leute, die die andere Seite der ihn konstituierenden Unterscheidung bezeichnen, als bloße Praktiker auffaßt.11 In beiden Fällen ist das Beobachtungsschema identisch. Und das bedeutet, daß man sich durch den blinden Einsatz des Schemas nicht unentwegt erschrecken lassen muß. Es ist, wie wir sagen könnten, sozial fungibel, es konveniert bei bestimmten Gelegenheiten, es ist convenient, wie der kaum übersetzbare englische Ausdruck lautet.12 Das Schema Theorie/Praxis hat schließlich seine eigene, in Jahrtausen10 | Vgl. Spencer-Brown, G., A Lion’s Teeth. The Tales of One Who Came Thus, Lübeck 1995, etwa S. 20: »How we, and all appearance that appears with us, appear to appear is by conditioned coproduction.« Wir nehmen diese Formulierung auf als geglückte Metapher eines mitunter eher mystisch gesonnenen Mathematikers, mit der sich das System als Differenz bezeichnen läßt. Siehe dazu Fuchs, P., Intervention und Erfahrung, Frankfurt a.M. 1999. Vgl. auch Spencer-Brown, G., Gesetze der Form, Lübeck 1997, Vorstellung der internationalen Ausgabe, S. ixf. Siehe zur strukturellen Kopplung im Medium Sinn Luhmann, N., Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Gumbrecht, H.U./Pfeiffer, K.L. (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 884-905. 11 | Damit verortet er sich selbst (dies ist seine Beichte) auf der Seite der vita contemplativa. Theoría wird ja auch übersetzt mit contemplatio bzw. meditatio. 12 | Und es ist wie jedes Schema historisch und eben nicht transzendental.

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den sedimentierte Rhetorik, deren Überzeugungskraft so stark ist, daß ihr Wahrnehmungen (und dann auch Motive) nachgeführt werden. Man kann meinen, die Praxis zu sehen, zu ihr hingehen, sich in sie verwickeln, sie anbieten zu können, ohne daß jemals jemand gesehen hätte, was man Praxis nennt.13 An dieser Rhetorik fallen, darauf kommt es uns hier an, vor allem jene Momente auf, die mit der Metaphorik von Blindheit und Sicht gesetzt sind.

II Im Falle der Praxis denkt man typisch an Operationen, die quasi natural (erfahrungsgesättigt, also teilweise blind) ablaufen, man hat also ein Nahsicht-Phänomen vor Augen.14 Im Falle der Theorie kommt die Schau, die Fernsicht ins Spiel, die aber gerade, weil sie Fernsicht ist, das, was sozusagen klein in die Welt eingebettet ist, übersieht – aus Mangel an Auflösungsvermögen.15 Auf beiden Seiten der Unterscheidung findet sich ein Arrangement des Sehens und Nicht-Sehens, das die Form eines Chiasmus annimmt: Die Theorie sieht, was sie sieht, weil sie nicht sieht, was die Praxis sieht, und die Praxis sieht, was sie sieht, weil sie nicht sieht, was die Theorie sieht. Die Unterscheidung erzeugt mithin im Moment ihres Einsatzes (gleichsam autogenetisch) eine Doppelblindheit. Man könnte auch sagen: Die Unterscheidung stützt sich intern auf Sichtverlusten ab. Wenn ein Sinn-System Praxis bezeichnet, bekommt es nicht zu sehen, was die Theorie sehen würde, wenn sie zur Bezeichnung derselben Lage benutzt würde – und vice versa. Dieses Blindheits- und Sicht-Verquickungssyndrom läßt sich in einem ersten Schritt auflösen, wenn die Beobachtungsebene der ersten Ordnung deutlich unterschieden wird von der Beobachtungsebene der zweiten Ordnung.16 13 | Das gilt ebenso für Theorie. Auf die systematische Täuschung, die sich darin verbirgt, komme ich zurück. 14 | Siehe für die Annahme, Praxis sei (als proximaler Term eines impliziten Wissens) eine Domäne des Vergessens Polanyi, M., Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985, S. 24f. 15 | Siehe zur Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen Junge, K., Zur räumlichen Einbettung sozialer Strukturen. Einleitende Überlegungen zu einer Topologie sozialer Systeme, Diss. Gießen 1993, Kap. II. Die Vorstellung der Ferne kommt deutlich ins Spiel, wenn man mitsieht, daß schon sehr früh das Theo bzw. Thea des Kompositums auf Theós (Gott) bezogen wurde. 16 | Vgl. etwa Luhmann, N., Identität – was oder wie?, in: Soziologische Aufklä-

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22 | Theorie als Lehrgedicht Die Beobachtung erster Ordnung sieht, was sie sieht, durch die Unterscheidung, in deren Rahmen sie eine Seite bezeichnet. Sie ist in gewisser Weise natural. Sie arbeitet, indem sie ein Schema fungieren läßt.17 Der Beobachter erster Ordnung wird eben dadurch, daß er nur eine Seite der Differenz bezeichnet (ohne im Moment die Form der Differenz zu sehen), ein monokularer oder monoskopischer Beobachter, dem die Unterscheidung selbst entgeht, durch die er erkennt, was er erkennt.18 Die Beobachtungsebene zweiter Ordnung (die, versteht sich, immer auch eine Unterscheidung benutzt, also auch eine der ersten Ordnung ist) beobachtet dagegen Beobachtungen. Sie unterscheidet Unterscheidungen, die der Beobachter erster Ordnung einsetzt, und sieht deswegen, in welchem Rahmen die Bezeichnungen dieses Beobachters gewählt werden. Sie erzeugt mithin Kontingenz, die Sicht auf ein Auch-anders-möglich-Sein.19 Beziehen wir diese Überlegung auf die Unterscheidung Theorie/ Praxis, ergibt sich, daß der Beobachter erster Ordnung die eine oder die andere Seite der Unterscheidung markiert und dabei Seinslagen (Dinge, Tatsachen etc.) erzeugt, denen dann entsprechende Institutionen nachentwickelt werden, zum Beispiel Universitäten und Fachhochschulen20, Praxisfelder und Praktika, Elfenbeintürme, grüngoldene Bäume und graue Theorien, die grünen praxisfernen Tische und die an Realität satten Bezirke der Praxis. rung Bd. 5, Opladen 1990, S. 14-30. Siehe für eine Anwendung Fuchs, P., Die archaische Second-Order Society, Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 2/1, 1996, S. 113-130. Die Berechtigung, das Schema auf einen Beobachter zu beziehen, holen wir uns ebenfalls aus der Antike: Theorós – das war ursprünglich derjenige, der eine Schau sieht. Er war einer, den die Polis aussandte (ein Abgesandter), die Götterfeste und Orakel zu beobachten. 17 | Dadurch wird vieles möglich, sogar die Selbstanschauung des ICH. So etwa Chr. Fr. Krause: »Aufgabe: die Selbstanschauung ›Ich‹ ausführen. Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus.«, zit. nach Mach, E., Die Analyse der Empfindungen, Darmstadt 1991 [Jena 1922], S. 16, Anm. 2. 18 | Er unterliegt der Asymmetrie allen Beobachtens. »Existence is a selective blindness«, formuliert Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. 194. 19 | Diese Form der Beobachtung kennzeichnet die Moderne. Siehe Luhmann, N., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992. Vgl. auch Fuchs, P., Moderne Kommunikation, Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a.M. 1993; ders., Die moderne Beobachtung kommunikativer Ereignisse: Eine heuristische Vorbereitung, in: Balke, F./Méchoulan, E./Wagner, B. (Hrsg.), Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte?, München 1992, S. 111-128. 20 | Neuerdings heißen diese Hochschulen in einer flotten Strategie der Verwischung: Universities of Applied Sciences. So hat man es jedenfalls auf meine Visitenkarte geschrieben.

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Das (in kontinenten Unterscheidungen leichtgängige) Kreuzen der Seite der Unterscheidung eröffnet dann die Möglichkeit der oszillierenden Dauerkommunikation eines Vorbehaltes, eines: Ja, aber – theoretisch gesehen … / Ja, aber – praktisch gesehen. Dies könnte man die Kommunikation einer Dauerskepsis nennen.21 Weil nämlich die Unterscheidung kontinent ist (also geschlossen), führt jedes Verlassen der einen Seite auf die Gegenseite derselben Unterscheidung. Jede Veränderung von Sinngegebenheiten auf der einen Seite erzeugt Sinn-Variationen auf der anderen Seite. Die Unterscheidung-im-Einsatz reichert sich selbst mit Informationen an, sie ist autokatalytisch. Sie ist, so darf man vermuten, deshalb eine der wirksamsten Leitunterscheidungen der Moderne.22 Sie stimuliert den fortlaufenden Seitenwechsel. Sie bricht jede Art von Verfestigung auf, aber nur, weil sie eine kontinente Unterscheidung ist und nicht etwa der Spiegel irgendwelcher zugrundeliegender Seinsverhältnisse. Es geht nicht um die Praxis oder die Theorie, sondern vielmehr um die Möglichkeit der Oszillation zwischen den Seiten dieser Unterscheidung und dem dabei anfallenden (gleitenden) Aufbau bzw. den dabei anfallenden (gleitenden) Destruktionen von Strukturen.23 Eine andere Formulierung dafür wäre: Diese Unterscheidung-im-Einsatz ist ein weiterer Ausdruck extrem temporalisierter Weltverhältnisse, durch die die Moderne gekennzeichnet zu sein scheint.24 Wenn man von dieser Lage her zurückschaut, wird man annehmen dürfen, daß sich die uralte Unterscheidung des Theoretischen und des Praktischen (als Bezeichnung zweier Sinnwelten, zum Beispiel der Welt der alétheia im Gegensatz zur Welt der dóxai) im eigentlichen Sinne modernisiert, als die Ko-Variation der Unterscheidungsseiten frei gegeben, also die Dauerkommunikation jenes Vorbehalts möglich wird. Es ist wahrscheinlich 21 | Auch hier trifft es sich, daß das griechische sképesthai so etwas wie spähendes Umherblicken bedeutet. Auf der Hand liegt, daß die Polykontexturalität der modernen Gesellschaft in der Skepsis eine wichtige Beobachtungskondition hat. Skeptizismus ist insofern ein wichtiges Thema, das wir hier nicht ausarbeiten können, wiewohl schon Änesidemus unter den 10 Tropen der Skepsis die allgemeine Relativität der Weltverhältnisse nennt. 22 | Der Nachweis kann hier nicht geleistet werden, aber ich zweifle nicht daran, daß es eine gesättigte (dichte) Erzählung des Fungierens dieser Unterscheidung geben könnte. 23 | Ich würde tatsächlich gern von einem Strukturaufbau/-abbau in modo glissandi sprechen. 24 | Vgl. Fuchs, P., The Time of Communication, in: Das gepfefferte Ferkel – Online Journal für systemisches Denken und Handeln, Juli 2002. Vgl. für einen Anwendungsfall ders., The Modernity of Psychoanalysis, in: Germanic Review 74/1, Winter 1999, S. 14-29.

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24 | Theorie als Lehrgedicht nicht sehr schwierig, diese Freiheit (und den daran gebundenen Strukturaufbau) an die De-Ontologisierung der Weltbeobachtung zu binden.25 Es darf jedenfalls keinen Meta-Beobachter mehr geben (zum Beispiel einen Gott), der die Wahrheit der Welt kennt und deswegen zu sagen wüßte, woran die Praxen oder die Theorien scheitern.26 Und es darf dergleichen nicht mehr geben, weil sonst Theorien oder Praxen auf eine Konvergenz zugetrieben würden (die Wahrheit, das Sein, die Offenbarung), die die Auto-mobilität der Unterscheidung blockieren könnten. In einer eher soziologischen Perspektive wäre diese Ausschaltung eines Super-Beobachters direkt geknüpft an die Ausprägung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, für die gilt, daß sie jeden Anspruch auf Super-Unterscheidungen (von legalen Super-Beobachtern der Einheit der Gesellschaft) ausräumt. Sie ist eine polykontexturale Gesellschaft.27 In dieser Form eliminiert sie jeden Anspruch, richtig zu beobachten, oder anders: Sie duldet nicht die Festschreibung irgendwelcher Beobachtungen als in irgendeinem ontologischen (oder gar anthropologischen) Sinne gültig. Sie könnte nichts anfangen mit wahren Theorien oder korrekten Praxen. Und gerade deshalb ist die Theorie/Praxis-Unterscheidung sehr erfolgreich: Sie ist eine automatisch die Welt verflüssigende Unterscheidung, indem sie immer – gleich, wo der Beobachter sich befindet und von wo aus er schaut – die Kommunikation einer Skepsis gestattet: im Schema einer einzigen, operativ genutzten Unterscheidung. Die Rhetorik von Blindheit und Sicht verdeckt gewöhnlich diese Funktion.

III Für diese Einschätzung spricht, daß die Unterscheidung Theorie/Praxis sich auch dann merkwürdig verhält, wenn sie beobachtet wird, wenn man also auf die Beobachtungsebene der zweiten Ordnung übergeht. Auf ihr müßte sich der quasi naturale Gebrauch des Schemas (die Bezeichnung der einen oder anderen Seite, nicht des Schemas selbst) als artifiziell, als anders möglich, als kontingent entlarven lassen, aber die Frage ist, welches Schema zur Verfügung stünde, um diese Demaskierung vorzunehmen, die eine Dekonstruktion im genauesten Sinne des Wortes wäre. Wo liegt das Weder/ Noch der Theorie/Praxis-Unterscheidung? Was wäre weder Praxis noch Theorie? Was wäre ein Schema, mit dem sich die Differenz Theorie/Praxis

25 | Das heißt auch Abkopplung von Wertbezügen. Ich komme darauf zurück. 26 | Dies ist der soziologische Sinn des Nietzsche-Diktums, Gott sei tot. 27 | Vgl. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, a.a.O.

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beobachten ließe, ohne daß das Beobachtungsschema selbst wieder qualifizierbar erschiene als theoretisch oder praktisch? Als erstes kann man festhalten, daß die Theorie/Praxis-Unterscheidung tatsächlich eine All-Unterscheidung ist.28 Sie ist universal, und das heißt, sie kann jederzeit zur Rückbeobachtung oder Gegenbeobachtung eingesetzt werden, wenn sie selbst sich beobachtet findet. Immer kann gesagt werden, daß der Beobachter der Unterscheidung selbst eine Sicht (nah oder fern, praktisch oder theoretisch) aufspannt, die sich dem Schema Theorie/Praxis subordinieren läßt, gleichgültig, wovon er die Unterscheidung unterscheidet. Er könnte das Schema ja an beobachtende (also sinnorientierte) Systeme binden, und es damit von Natur oder Leben, von Indifferenz, von Tao oder Satori, von Nirvana und Zweitlosigkeit unterscheiden, aber eben unterscheiden.29 Und daß dies geschieht, läßt sofort die Gegenfrage zu: praktisch oder theoretisch?30 Distanzierung zum Schema Theorie/Praxis ist dann vermutlich nur möglich, wenn auf eine Unterscheidung umgesetzt wird, die noch genereller ist.31 Das würde ein Umsetzen auf den Realitätsunterbau erfordern, auf dem die Unterscheidung als fungibel erkennbar wird und damit als funktional plazierbar. Das schließt nicht aus, daß das Verfahren selbst wiederum als theoretisch beobachtet werden kann, aber erst nach dem Durchlaufen einer Art von Externalisierungsschleife, erst nachdem Informationen über die Stelle der Unterscheidung gewonnen wurden. Für uns ist die generellere Unterscheidung naheliegenderweise die System/Umwelt-Differenz. Ferner gehen wir von Sinn-Systemen aus, die nicht nur Unterschiede prozessieren, sondern Unterschiede unterscheiden können. Solche Systeme erzeugen sich Repräsentationen der Welt – in sich, und das heißt, genau besehn: Sie verfügen über die Möglichkeit, ihre eigene

28 | Dies wäre jedenfalls eine moderne Fassung des Platonischen »theoría pantós mén chrónou, páses dé ousías«, der Vorstellung des All-Überblicks, was die Zeit und die Wesen anbetrifft. 29 | Siehe zu einschlägigen Analysen Luhmann, N./Fuchs, P., Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1989; Fuchs, P., Vom Unbeobachtbaren, in diesem Band auf S. 37ff. 30 | Es ist klar, daß die Unterscheidung im Zen-Buddhismus dem Scholaren ausgetrieben wird, aber das geschieht praktisch oder wie oder was? 31 | Ein Beispiel für eine philosophisch bedeutsame Umsetzung dieser Art (also für diese Technik) ist, daß das alteuropäische Schema Sein/Nichts dekonstruiert werden konnte im Moment, in dem der Beobachter auftauchte, der beobachtet wurde als derjenige, der das Schema einsetzt, der also Motive hat und anders optieren könnte. Die Umlagerung setzt mithin die Einführung des Systembegriffes voraus.

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26 | Theorie als Lehrgedicht Unterscheidung zu beobachten. Sie können ihren Innen/Außen-Unterschied operativ einsetzen, oder sie können diesen Unterschied registrieren. In jenem Fall ließe sich formulieren, daß sie ihren Unterschied praktizieren, in diesem Fall, daß sie eine Beschreibung dieses Praktizierens anfertigen und zur weiteren Orientierung benutzen. In beiden Fällen praktizieren sie als Sinn-Systeme den Unterschied, den sie machen, aber nur im zweiten Fall entsteht eine Beschreibung. Praktizieren und Beschreiben (das ein Praktizieren voraussetzt) verhalten sich zueinander wie die Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Und die These ist, daß das System, indem es darauf aufmerksam wird, diesen Unterschied (zwischen Praktizieren ohne Beschreiben und dem Praktizieren eines Beschreibens) bezeichnen kann. Eben dafür steht ihm heute das Theorie/Praxis-Schema zu Gebote. Mit seiner Hilfe kann es sich als System begreifen, das Beobachtungsoperationen der ersten und der zweiten Ordnung durchführt, ferner einsehen: daß in beiden Fällen ein Praktizieren (Operieren) zugrundeliegt (Erzeugen einer Sicht), daß aber das Praktizieren einer Beschreibung (ebenfalls Erzeugen einer Sicht) die Sicht auf eine Sicht generiert. Es kann zugleich sehen, daß die Sicht auf eine Sicht selbstverständlich auch nur eine Sicht ist, also kontingent und ohne jeden Anspruch auf eine seinsmäßige Priorität. Systeme, die dies beherrschen (mithin unterscheiden können, daß sie Beobachter erster und zweiter Ordnung sind) nennen wir hyperkomplexe, heterarche und polykontexturale Systeme.32 Mit wenig Anspruch auf Tiefenschärfe, aber dafür um so plakativer, werden sie typischerweise der Postmoderne zugeschlagen. Hier genügt es, zu sehen, daß sowohl die operative Verwendung der Theorie/Praxis-Unterscheidung als die Beobachtung des Schemas selbst auf der Ebene zweiter Ordnung zu hoch skeptischen Systemen führen. Das umfassendste dieser Systeme ist die moderne Gesellschaft.

IV Das Theorie-Praxis-Schema als Skepsis-Generator auf allen Ebenen seines Einsatzes – das ist eine Sache. Eine andere ist, wie das Schema, in dem die Beobachter die Seiten laufend kreuzen und mit Skepsis für die je andere Seite desselben Schemas aufgeladen werden, wie dieses Schema und gerade dieses in sich so unwahrscheinliche Schema, dem keine Seinsdomäne entspricht, sozial plausibilisiert wird. Welcher Mechanismus stabilisiert es in der soziokulturellen Evolution? Man könnte auch fragen: Wo hat es seine Fraglosigkeitsstelle? Wo ist das Moment, durch das seine Rhetorik überzeugt? Eine Antwort erfordert die Korrektur einer geringen Sinnverschiebung, 32 | Vgl. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, a.a.O.

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die darin lag, daß wir Theorie und Praxis wie Fernsicht und Nahsicht unterschieden haben. Tatsächlich ist diese Metaphorik im Blick auf Praxis (praxis, prattein) nur gerechtfertigt, wenn man die Metaphern der Nähe/Ferne mit dem Begriff der Handlung (des Handelns) kombiniert. Praxis ist (klassisch) ein handlungsbezogenes Weltverhältnis, praktisch entsprechend das, was dem Handeln dienlich ist.33 Die Nähe ist Handlungsnähe, ist Anschaulichkeit. Theorie dagegen ist handlungsfern und unanschaulich. Diese (eingeführte und alltagsnahe) Beschreibung läßt sich mit der Unterscheidung von Handlung und Kommunikation verbinden.34 Kommunikation wird in der hier zugrundegelegten soziologischen Systemtheorie als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen aufgefaßt und (das ist das radikal neue an dieser Theorie) nicht an Bewußtseinszustände geknüpft. Es gibt aus dieser Perspektive keine kommunizierenden Bewußtseine, Körper, Weltgegebenheiten – außer Kommunikation selbst, die in einer eigenen Autopoiesis Ereignisse so aufeinander einstellt, daß sie füreinander etwas besagen.35 Die dafür in Anspruch genommene Zeit ist die der différance (Derrida), der Sinnverzögerung, des gleitenden Nachtrags, und der dafür in Kauf genommene Verlust ist der jeglicher Ontologie, die an Präsenz geklammert ist, damit auch der vollständige Verlust an Anschaulichkeit bzw. Beobachtbarkeit.36 Die Synthesen der Kommunikation sind, wie

33 | Praktische Philosophie ist bekanntlich: Ethik. Man sieht hier schon, wie diese alte Bestimmung der Praxis das Schema auf der einen Seite mit der Kraft ausstattet, von der anderen Seite Nützlichkeit, Brauchbarkeit einfordern zu können. Kant nennt im übrigen praktische Vernunft das Kompendium der Prinzipien (Regeln, Gesetze), die sich auf das Handeln ausrichten. 34 | Vgl. dazu das Kapitel über Kommunikation und Handlung in Luhmann, N., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. Siehe zu einer Vorstufe, die Handlung noch ins Zentrum rückt, aber schon zeitlich auflöst, ders., Zeit und Handlung – eine vergessene Theorie, in: Zeitschrift für Soziologie 8, 1979, S. 63-81; zum Übergang zu Kommunikation als Grundbegriff vgl. ders., Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, in: Zeitschrift für Soziologie 11, 1982, S. 366-379. Siehe als Präzisierung und Ausarbeitung Fuchs, P., Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme 3/1, 1997, S. 57-79. 35 | Vgl. dazu Fuchs, Intervention und Erfahrung, a.a.O. Siehe auch das Kapitel über die Kommunikationsmaschine in: Die Umschrift, Zwei kommunikationstheoretische Studien, Frankfurt a.M. 1995; ders., The Time of Communication, a.a.O. 36 | Die retrospektive Konstruktion der Differenz von Information und Mitteilung, die Errechnung des Verstehens quillt gleichsam aus der Verschobenheit, der belatedness.

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28 | Theorie als Lehrgedicht man auch sagen könnte, so wenig empiriefähig wie etwa der Begriff der Autopoiesis. Wie immer es sich damit verhalten mag, hier entscheidend ist, daß Kommunikation weder in sich Ankerpunkte hätte noch überhaupt in der Welt registriert werden könnte, wenn sie nicht Wege der Selbstsimplifikation für sich selbst und Rückwege zur Wahrnehmung für das Bewußtsein in ihrer Umwelt fände.37 Sie muß sich für sich selbst und für ihre Umwelt aus-stellen, exhibieren, ex cella gehen, also excellieren.38 Diese Inkorporation des Unanschaulichen, diese Materialisierung des Immateriellen (nur an Sinn und Zeit geknüpften) läuft operativ über die Konstruktion der Mitteilung, und das heißt unter anderem: über Handlungszurechnung.39 Handlungszurechnung, das ist zugleich die Ermittlung (die Konstruktion) eines Mitteilenden und in diesem Sinne Handelnden.40 Kommunikation vereinfacht sich auf diese Weise, sie liefert eine Simplifikation, sie inszeniert eine Handlungsansicht. Es ist diese Inszenierung, die sich den Bewußtseinssystemen der Umwelt aufdrängt – im Modus der Unabweisbarkeit. Kommunikation verschafft der bewußten Umwelt einen massiven Realitätseindruck, aber als Simplifikation, und das heißt: als Praxis, die jedoch (sozusagen in der Form einer ständigen Mitwisserschaft) sabotiert wird durch die Selektivität der Vereinfachung, der Unvollständigkeit dessen, was im Moment durch die Simplifikation präsentiert wird.

V Kaum jemand wird jedoch bezweifeln, daß die Theorie/Praxis-Unterscheidung im Blick darauf, welche ihrer Seiten die eigentliche Realität mar37 | Das Bewußtsein kann sich dann daran gewöhnen, daß Geräusche auf Mitteilungen zurechenbar sind. Winnie-the-Pooh, konfrontiert mit »a loud buzzingnoise« unter einer Eiche, denkt: »That buzzing-noise means something. You don’t get a buzzing-noise like that, just buzzing and buzzing, without its meaning something. If there’s a buzzing-noise, somebody’s making a buzzing-noise …«. Milne, A.A., Winnie-the-Pooh, o.O., o.J., S. 4. 38 | Für die Möglichkeit dieser Metapher bedanke ich mich bei Enrico Mahler. 39 | Siehe für sehr früh schon auf dieses Problem bezogene Studien die Aufsätze in Gumbrecht, H.U./Pfeiffer, K.L. (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M., 1988. 40 | Práxis und Léxis, die Handlung und die Rede, hängen auch aus diesem Grunde systematisch zusammen. Vgl. grundsätzlich Fuchs, Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, a.a.O.

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kiert, asymmetrisch ist. Die Praxis erscheint real, welt- und lebensnah, sie ist erfahrungsgesättigt. Sie hat die Aura der Fraglosigkeit, der Selbstverständlichkeit, der Weltlichkeit. Diese Markierung wird eingesetzt, als bezeichne sie das Apriori jeder möglichen Theorie, die vor dem Hintergrund dieser scharfen Auslenkung sich gedankenblaß, weltfremd, abgehoben darstellt. Die Theorie ist kalt, sie wird von überbezahlten egg-heads betrieben, die in Elfenbeintürmen hausen und kalte Füße haben oder wenigstens wie Blaise Pascal: Zahnschmerzen. Die Frage ist, wie es zu dieser Asymmetrie kommt, wenn wir hier voraussetzen, daß alle Theorie und alle Praxis Artefakte von Beobachtern sind, die mit dieser Unterscheidung arbeiten. Der zentrale Grund dafür erschließt sich, wenn wir darauf achten, wie Realitätseindrücke überhaupt entstehen. Sie sind zunächst an sinnprozessierende Systeme gebunden.41 Solche Systeme haben Infra-Strukturen, durch die sie ermöglicht werden, an die sie aber weder in der Weise einer Registratur noch eines wie immer gearteten Bearbeitens herankommen. So konstituiert sich das Bewußtsein auf der Basis neurophysiologischer Prozesse, die ihm Wahrnehmungen liefern – ohne daß die Prozesse der Herstellung und Lieferung von Wahrnehmung von ihm selbst wahrgenommen werden könnten.42 Das Bewußtsein arbeitet also mit Ergebnissen, deren Herkunft und Beschaffenheit es selbst nicht kontrollieren kann. Es richtet sich, wie man sagen könnte, in Resultaten ein. Alles, worüber es verfügt, was es verketten und prozessieren kann, ist immer schon vorhanden, so daß das Bewußtsein auch hier im Debakel (oder im Glück) des Zu-Spät existiert.43 Es sitzt sozusagen einer primordialen Prozeßsphäre auf, gegen die es nicht opponieren kann. Es ist eben diese Nichtverfügbarkeit, die den Realitätseindruck erzeugt.44 Die Bedingung der Möglichkeit des Bewußtseins ist: Resultieren. Es realisiert seine Autopoiesis, indem es ein Verketten von Resultaten betreibt. Das, was im Resultieren als Zeitschema eingebaut ist (dieses danach und nachdem) ist identisch mit der unentwegt mitlaufenden Realitätsgewißheit.45 41 | Auch hier gilt, daß es nur schwer vorstellbar ist, daß Seehunde, Azaleen oder Viren ihr Weltverhältnis als ein reales bezeichnen. 42 | Vgl. zu diesen Überlegungen grundsätzlich Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 244ff. 43 | Dies ist eine besondere Art der Verspätung, die nur der Beobachter bemerkt, der das System und die Infra-Struktur unterscheiden kann. Es geht also nicht um die différance im Sinne Derridas. 44 | Wir argumentieren gewissermaßen fundamentaler als Descartes. 45 | Die nur in Sonderfällen bestritten wird, zum Beispiel durch Dichter, oder durch elementare Phänomene wie Träume.

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30 | Theorie als Lehrgedicht Die Resultate derjenigen neurophysiologischen Operationen, die das Bewußtsein fundieren, sind Wahrnehmungen. Soziale Systeme dagegen sind wahrnehmungsunfähig, sie stützen sich eben deshalb in der wahrnehmungsfähigen (bewußten) Umwelt ab. Nur so funktioniert die oben diskutierte Selbstverkürzung in eine Handlungsansicht der Kommunikation hinein. Kommunikation macht sich (aber nicht für sich) wahrnehmbar, sie drängt sich darin als Realität auf. Sie begegnet den Bewußtseinen in der Form von Hörbarkeit, Sichtbarkeit, also in der Form der Exzellenz. Genau das macht die Handlungsansicht (die Praxis) so evident. Sie drängt sich ubiquitär und in jeder Kommunikation auf.46 Und das erklärt den Realitäts-Bias der Unterscheidung. Die Praxisseite des Schemas Theorie/Praxis bestätigt sich im Einsatz unentwegt selbst – als Realität, die wahrgenommen wird und nicht bestritten werden darf, schon gar nicht von Leuten, die sicht- und hörbar in die Brunnen dieser Welt fallen. Praxis, so können wir formulieren, ist die Handlungsansicht der Kommunikation. Sie ist mithin eine Perspektive, eine Ein-Stellung. Das laufende Mitwissen ihrer Unvollständigkeit ist wie die Registratur einer Dämonie, eines Überschusses an Möglichkeiten, einer Unkontrollierbarkeit.47 Die Praxis kann sich nicht mehr an sich selbst beruhigen, und vielleicht kann eben deswegen die Theorie alle Tatsachen weglassen.48 Die Aufmerksamkeit, die sich auf diese Unvollständigkeit richtet, ist Anhaltspunkt für die Konstruktion von Theorie, für die Konstruktion der Sicht auf das, was die Praxis nur sehen kann, weil sie nicht sieht, was die Theorie sieht. Der Erfolg des Schemas findet damit eine seiner wesentlichen Erklärungen in der Struktur von Kommunikation selbst. Sie zerfällt in eine Unbeobachtbarkeit und eine Simplifikation, und je deutlicher es wird (zum Beispiel mit der Ausdifferenzierung von Wissenschaft oder Massenmedien), daß die Handlungs- und damit auch Kausalzurechnungen kontin-

46 | Das macht dann alle Prozesse spannend, in denen Kommunikation hyperautonom wird. Vgl. Fuchs, P., Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes, in diesem Band auf S. 121ff. 47 | Siehe für den Zeitraum, in dem dies besonders deutlich wird, Fuchs, P., Die Form der Romantik, in: Behler, E. et al. (Hrsg.), Athenäum, Jahrbuch für Romantik 3, Paderborn, München, Wien, Zürich 1993, S. 199-222; im Blick auf die Praxis der Liebe vgl. ders., Die kleinen Verschiebungen. Zur romantischen Codierung von Intimität, in: Hinderer, W. (Hrsg.), Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997, S. 49-62. 48 | So jedenfalls Rousseau in seinem zweiten Diskurs. Vgl. dazu Benoist, J.M., Facetten der Identität, in: ders. (Hrsg.), Identität, ein interdisziplinäres Seminar unter Leitung von Claude Lévi-Strauss, Stuttgart 1980, S. 11-21, hier S. 16f.

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gent sind, desto mehr empfiehlt sich das Theorie/Praxis-Schema für die laufende Auflösung von Festigkeiten – also für die Introjektion von Skepsis. Die Auflösung von Festigkeiten allerdings, die Möglichkeit zur Kommunikation einer Dauerskepsis, die ständig hinüber- und herübergeschoben wird zwischen den Seiten des Theorie/Praxis-Schemas, die alles, was als Theorie oder Praxis gilt bzw. sich selbst so beschreibt, durchsetzt, kann negativ aufgefaßt, kann höchst kritisch behandelt werden. Denn der Ausfall jedes Superbeobachters der Welt steigert für irdische (kontingente) Beobachter die Komplexität dessen, was im Durchblick durch das Schema konstruiert werden kann. Die Ko-Variation der Sinnserien auf beiden Seiten des Schemas begünstigt zwar den schnellen Auf- und Abbau von Strukturen, aber sie erzeugt damit auch Kontingenz und Komplexität. Die Praxis (als Handlungsansicht) wird laufend mit Unabwägbarkeiten überlastet.49 Gerade deshalb wirft sie in einem fort das Steuerungsproblem auf, und in einem Zug damit: das Begehren nach Beratung.50 Das zwingt die andere Seite des Schemas, die Theorie, sich auf Komplexität und Kontingenz einzustellen in dem Maße, in dem sich die Praxis darauf einlassen muß.51 Ein entscheidender Faktor für diese Einstellung ist, daß Theorien als Kommunikationen erkennbar werden. Theorien werden natürlich kommuniziert. Sie werden nicht als Kopfzustände irgendwelcher Beobachter irgendwelchen anderen Beobachtern übermittelt, sondern sie sind genuin (sonst wüßte man nichts von ihnen) sozial, also kommunikativ verfaßt. Sie fallen unter jenen Selbstzerlegungszwang, den wir oben diskutiert haben: Sie haben eine unbeobachtbare Fas-

49 | Insbesondere durch Beobachtungen, die sie mit anderen Deutungsmöglichkeiten ihrer selbst ausstatten. In manchen Behinderteneinrichtungen ist Hygiene oberstes Prinzip und die einschlägige Praxis heißt dann: Baden, Waschen, Putzen, Tag für Tag. Das kann dann als Ausdruck starker Hilflosigkeit gedeutet werden, und wenn die Praxis damit konfrontiert wird, gerät sie unter die bezeichnete Überlast – und blockiert. 50 | Vgl. Fuchs, P., Die Form beratender Kommunikation, Zur Struktur einer kommunikativen Gattung, in: Fuchs, P./Pankoke, E., Beratungsgesellschaft (Hrsg. Gerhard Krems), Veröffentlichungen der Katholischen Akademie Schwerte 42, Schwerte 1994, S. 13-25; ders., Und wer berät die Gesellschaft? Gesellschaftstheorie und Beratungsphänomen in soziologischer Sicht, in: ebd., S. 67-77. Siehe auch Mahler, E., Beratungskommunikation. Ansätze ihrer Bestimmung, Diplomarbeit Neubrandenburg 1999. 51 | Vgl. Luhmann, N., Die Praxis der Theorie, in: Soziologische Aufklärung Bd. 1, Opladen 1970, S. 253-267.

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32 | Theorie als Lehrgedicht sung52 und eine beobachtbare Fassung.53 Sie fallen selbst unter die Strategie der Selbstsimplifikation, der Zurechnung auf Handlungen/Mitteilende, und das bedeutet (in bekannt plakativer Formulierung): Theorie ist selbst eine Praxis.54 Sie kann gar nicht anders beobachtet werden (und kann sich selbst nicht anders beobachten) unter der Bedingung, daß die Moderne keine beobachtungsunabhängigen Seinsgarantien zu vergeben hat, keine gesellschaftsweit fungierende Metaphysik, keine Transzendentalität und daraus sich ableitende Geltungsansprüche, keine Art systemübergreifende Vernunft. Theorien sind, seitdem die Gesellschaft in diesem Sinne modern geworden ist, (komplexe) Äußerungen, die als Handlungen in einem sehr genauen Sinne begriffen werden. Sie sind selbst dóxai. Sie haben eine Handlungsansicht (eben Praxis). Sie sind damit als Selektionen (also als anders möglich) beobachtbar geworden. Sie können kritisiert und verworfen werden, mehr oder weniger befristet gültig sein, mehr oder weniger große Reichweiten haben, und sie können verglichen werden mit anderen Theorien, und das bedeutet: unter Gesichtspunkte der Austauschbarkeit zu geraten. Daraus folgt unter anderem, daß die Moderne (die wir durch das Stichwort Polykontexturalität beschrieben haben) keine andere Wahl hat, als die Praxis der Theorie zu pluralisieren.55 Theorienpluralität und Theorienkontingenz werden längst und bis zum Überdruß als Symptome der (Post)Moderne behandelt, die keine wahre Theorie verkraften könnte. Jede Praxis kann sich entsprechend passende Theorien auf einem Markt von Theorien besorgen, und marktfähig sind Theorien, die die Kriterien, derenthalben sie gewählt werden, geschickt als nicht-kontingent behandeln. Und theorieberatungsfähig ist jede Praxis, die es ebenso geschickt vermei-

52 | Die Bedeutung und die Art der Anschlüsse sind nicht berechenbar, sie kommen aus der Zukunft. 53 | Einer der Gründe für die Leistungsfähigkeit der Systemtheorie ist, daß sie diesen offenkundigen Zirkel erträgt: sich als etwas zu beobachten, das sie selbst konstruiert hat. 54 | Das wäre, hätten wir die Sache nicht kommunikationstheoretisch aufgelöst, nichts weiter als trivial und im übrigen ein alter Topos, der schon bei Aristoteles soweit ausgearbeitet ist, daß die Theorie als die höchste Form der Praxis erscheint. 55 | Ein dafür sehr deutlicher Beleg ist, daß der Theoriebegriff sich im 18. Jahrhundert erheblich pluralisiert. Es werden immer mehr Bücher geschrieben, die in ihrem Titel das Wort Theorie führen: Theorie der empfindsamen Gartenkunst etwa oder Theorie der Kunst zu zanken. Vgl. Ritter/Gründer (Hrsg.), a.a.O., Bd. 10, Sp. 1136.

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det, selbst zu sehen, weswegen sie bestimmte Theorien heranzieht und andere ausblendet.56

VI Wenn dies so zutrifft, wenn die Praxis unter Komplexitäts- und Kontingenzüberlasten gerät und sich deswegen ein Markt prinzipiell kontingenter (austauschbarer) Theorien bildet, dann ist klar, daß jeder Anspruch auf Universalität einer bestimmten Theorie nicht anders denn als Skandalon begriffen werden kann, als das Ärgernis, das sich einstellt, wenn in der Moderne Totalfernsichten aufgespannt werden sollen. Es ist ja nicht entscheidend, ob wir (irgendwelche Bewußtseine) dies nicht mehr wollen oder nicht mehr ertragen können. Immerhin haben wir ja immer noch Erfahrungen mit universalen Ethik-, Vernunft- oder Moralansprüchen. Es ist beileibe nicht so, daß wir (diese Bewußtseine) nicht zu leben wüßten mit dem einfachen Umstand, daß viele Leute zu wissen vermeinen, wie die Welt beschaffen ist und wie sie beschaffen zu sein hat. Der Punkt ist vielmehr, daß die Form der Gesellschaft, ihre Polykontexturalität, zwar die Kommunikation aller möglichen Sinnofferten zuläßt, also auch die universaler Prätentionen, daß aber damit auch die Kommunikation allen möglichen Gegensinns, also auch den des Ausschlusses universaler Prätentionen, nicht verhindert werden kann. Deshalb wirkt der Anspruch auf die Durchsetzung universaler Geltung einer Theorie nolens volens totalitaristisch.57 Andererseits zeigt eine schnelle Überlegung, daß hier eine paradoxe Denksperre eingebaut ist. Schließlich tritt jede Theorie, die behauptet, daß es keine universalen Theorien mehr geben könne, selbst an mit eben dieser universal adressierten Behauptung. Sie hat sich allem Anschein nach in den Netzen eines performativen Widerspruches verheddert. Wer etwa sagt, es gebe keine großen Erzählungen der Welt mehr, liefert selbst eine weitere Erzählung, formuliert: uni-vers – und das in einem durch dieselbe Erzählung vorgeführten Pluri-versum. Die Ursache haben wir dem Grunde nach schon benannt: Das Theorie/Praxis-Schema ist im Moment seiner Anwendung auch schon uni-versal. Wenn man es einsetzt, trifft man überall auf Theorien und Praxen, und dieses Überall-und-wo-auch-immer, das ist die Be-

56 | Vgl. zu diesem Argument den Aufsatz über Unternehmensberatung in: Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. 57 | In meinem bescheidenen, aber täglichen Kampf um diese Theorie kann ich gar nicht soviel Höflichkeit, Zurückhaltung, Vorsicht, soviel Kautelen exerzieren, um nicht doch als Theorie-Imperialist beobachtet zu werden.

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34 | Theorie als Lehrgedicht zeichnung einer, sagen wir, nicht abschließbaren Multiplizität des Schemas selbst. Jede erreichte Ordnungsebene kann ihrerseits wieder mit dem Schema beobachtet werden, durch das sie etabliert wird. Es gibt sozusagen immer noch fernere Fernen und noch nähere Nähen. Wir haben gesagt, daß dies ein typisches Merkmal oder gar Symptom der Moderne ist, eine nachzeichenbare Folge funktionaler Differenzierung. Man darf annehmen, daß die Auflösung dieser Denksperre unter Beibehaltung von Polykontexturalität als Struktur einer Welt, die keinen universalen Beobachter zuläßt (und dies ist selbst ein universal gemeinter Satz), solche Theorien, die diesen Anspruch erheben, unter hohe morphogenetische Drücke setzt. Ich nenne in spekulativer Weise58 einige wenige Eigenschaften, die solche Theorien haben müßten: 1.

2.

3.

Sie dürfen trotz Universalität keine Absolutheitsansprüche in puncto Wahrheitsgeltung durchsetzen wollen. Sie müssen entsprechend ihre eigene Kontingenz mitsignalisieren. Folglich fallen sie nicht mehr ohne weiteres in den Einzugsbereich des Mediums Wahrheit in der Wissenschaft. Sie konditionieren das Medium um auf so etwas wie Leistungsfähigkeit, Tauglichkeit, Fitness. Sie setzen sich damit der Evolution aus (die sie ohnehin nicht vermeiden könnten). Damit entstehen womöglich Formen der Kognition, die sich im Medium der Intelligenz stärker als im Medium der Wahrheit bewähren müssen und weniger interdisziplinär als transdisziplinär wären.59 Sie kommen in sich als ein Gegenstand unter anderen Gegenständen vor. Sie sind, wie man im Anschluß an Spencer-Brown sagen könnte: re-entry-mächtig. Um es ein wenig zugespitzt zu formulieren: Sie formulieren mit Universalitätsansprüchen ihre eigene Lokalität und Kontingenz. Sie sind deswegen im hohen Maße nicht anders denkbar als in einer nicht apodiktischen, durch und durch anti-dogmatischen Form. Die Härte läge (und liegt) auf der Seite der Konsistenzverpflichtung auf der Ebene der Begriffe. Aber eben diese Verpflichtung können solche Theorien noch selbst als kontingent beschreiben – konsistent kontingent, wenn man so will. Die Zentralbegriffe solcher Theorien können nur funktionieren (und deswegen ist das Konsistenzerfordernis so entscheidend) auf Grund ihres Nihilismus. Sie sind nicht empirie-fähig, so sehr sie als heuristi-

58 | Es trifft sich, daß eine der lateinischen Übersetzungen von Theoria auch speculatio ist. 59 | Praktisch heißt das, daß nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler, Pädagogen, Psychoanalytiker, Juristen und – horribile dictu – sogar Philosophen mit solchen Theorien arbeiten. Wie man weiß, geschieht das tatsächlich.

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sche Schemata empirische Forschungen ordnen können.60 Vermutlich werden es conjectural theories sein, die nicht von den Dingen oder den Phänomenen handeln, sondern eine Kombinatorik von (äquivalenten, äquifinalen) Besetzbarkeiten von Stellen (Plätzen, Orten) inszenieren.61 Solche Theorien werden nicht sachhaltige (sozusagen gefüllte) Theorien sein, sondern einen Horizont für wechselnde sachhaltige Erzählungen aufspannen. Sie sind nicht im Direktzugriff anwendbar, sondern eher paramount-förmig gebaut. Sie bieten einen Auswahlbereich für Beobachtungsoptionen, in dem mitformuliert ist, daß es sich um Beobachtungen handelt, also in einem sehr präzisen Sinne um Optionen. Ich mache kein Hehl daraus, daß die Systemtheorie der Bielefelder Schule eine Theorie dieses Typs zu sein scheint. Zu klären wäre, was die eben aufgelisteten (keineswegs vollständigen) Merkmale universaler Theorie für Sinnvariationen auf der anderen Seite ihrer selbst (also der Praxis) bewirken.

VII Festzuhalten ist, daß das Schema Theorie/Praxis ein beobachtungsleitendes Schema ist. Nach wie vor gilt also, daß das Schema nicht über Seinszustände befindet, die etwa Theorie oder Praxis hießen. In der Moderne, so war die These, und unter dem Druck funktionaler Differenzierung gerät das Schema in Bewegung. Wir haben von der unausweichbaren Möglichkeit einer Skepsis gesprochen, die sozusagen in der Unterscheidung zirkuliert. Es gibt nicht mehr skepsisfreie Theorie und folglich keine Auszeichnung ir60 | Hier versagt, auch das ist instruktiv, der symbiotische Mechanismus des Wissenschaftssystems, die Wahrnehmung als Letztinstanz. Weder Autopoiesis noch Kommunikation, strukturelle Kopplung nicht und auch nicht das System selbst, sind in irgendeiner Form wahrnehmungszugänglich. Ich wundere mich darüber allerdings nicht, weil dies für alle Theorien großen Zuschnitts gilt, daß ihre Zentralbegriffe inhaltsleer sind. Das gilt nicht für die Erzählungen, die sie produzieren. Es würde mir Spaß machen, zu sagen, daß jedenfalls für die Systemtheorie es keine Beleidigung wäre, eine der Form nach platonische Theorie genannt zu werden. 61 | In genau diesem Sinne ist das eigentliche Theoriebuch Luhmanns »Soziale Systeme« (1984, a.a.O.). Wir modifizieren hier im übrigen Lacans Vorstellungen von konjekturalen Theorien. Vgl. dazu Elmer, J., Blinded Me with Science: Motifs of Observation and Temporality in Lacan and Luhmann, in: Cultural Critique, 1, Spring 1995, S. 101-136.

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36 | Theorie als Lehrgedicht gendeiner Praxis im Sinne einer Unbezweifelbarkeit. Wenn mithin Theorien die eben skizzierte Form annehmen, wird die andere Seite der Unterscheidung mitbetroffen, und vice versa. Das heißt unter anderem, daß die Beobachtungsleistungen hoch skeptischer Theorien ko-variieren mit den eben dadurch inszenierten hoch skeptischen Beobachtungsleistungen von Praxen. Wenn wir die eben skizzierten Merkmale universal adressierter Theorien hinüberrechnen in die Gegenseite der Unterscheidung, ergibt sich: 1.

2.

3.

In der Moderne kann nichts, was als Praxis beschrieben wird, kontingenzfreie Geltung beanspruchen. Die Praxis ist keine Seinsdomäne sui generis, sie ist selbst ein Beobachtungsartefakt. Sie hat als Effekt eines spezifischen Schema-Einsatzes keine wie immer geartete Priorität, ihr kommt keine Sonderkraft oder Sonderrealität zu. Es geht nicht mehr, mit der Praxis gegen die Theorie theoriefrei zu argumentieren, so wenig, wie die Theorie praxisfrei gegen die Praxis andiskutieren könnte.62 Damit hängt zusammen, daß mit dem Verlust an dogmatischen Möglichkeiten auf der Theorieseite des Schemas unmittelbar der Verlust an dogmatischen Möglichkeiten auf der Praxisseite einhergeht. Fundamentalistische (dogmatische, apodiktische) Selbstbeschreibungen von Praxen können in der funktional differenzierten Gesellschaft nur befristet aufrechterhalten werden.63 Wir werden es mehr und mehr mit conjectural practicies zu tun bekommen mit einem hohen Anteil von Kombinatorik, die an eine laufend mitgeführte second-order observation geknüpft ist, also etwa an permanente Supervision.

Entscheidend dürfte sein, daß der Umgang mit dem Theorie/Praxis-Schema selbst in den Blick gerät, daß gesehen wird, daß eine Entkopplung der Schemaseiten sofort in die Reifikationen eben dieser Seiten führt. Ob dies nun nützlich oder schädlich ist, kann nicht von Theorien entschieden werden. Darüber befindet die Evolution. Es scheint aber, daß die epochale Lage der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems jene Entkopplung mehr und mehr ausschließt. Und darauf müßte man sich so theoretisch wie praktisch einstellen. 62 | Als Hochschullehrer an einer Fachhochschule kenne ich sehr gut die fatalen Wirkungen eines ungezügelten (und second-order-observation-freien) Umgangs mit dem Praxisargument. Mein Eindruck ist, daß diese Weise des Argumentierens mittlerweile normativ ist und keinesfalls mehr lernbereit. 63 | Leicht angelehnt an Roman Herzog, könnte man von einer unverkrampften Praxis sprechen.

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Vom Unbeobachtbaren

In Worten wie Unbeobachtbarkeit und Unbeobachtbares überwintert das ontologische Weltverhältnis. Im Unterschied zu vielleicht geläufigen Einschätzungen täuschen sie darüber hinweg, daß in ihnen die Idee des Seins residiert. Es geht ja offenbar nicht darum, daß sich das Nichts nicht beobachten läßt, sondern darum, daß Etwas (was immer das sein mag) sich der Beobachtung entzieht, und dies dann so gründlich, daß es für keinerlei Form der Beobachtung erreichbar ist. Damit ist der Beobachter, der dennoch über das Unbeobachtbare redet (er könnte es auch einfach lassen und im Geviert des Seins getröstet existieren), ein Sonderbeobachter. Schließlich lugt er noch durch, so eben noch gerade, und kehrt vom Beobachten und Durchlugen glanzüberschüttet zurück (und deswegen läßt er es vielleicht nicht). Er kann dann all den anderen sagen, daß etwas existiert, was sich nicht beschreiben läßt. Damit rangiert er in eine eigentümliche Würde hinein, und das scheint ein Vorgang, der noch heute funktioniert, wenn man vom Unbeobachtbaren spricht. Die Soziologie steht nicht im Verdacht, solche Würde brauchen zu müssen.1 Sie muß auf diese Würde verzichten, wenn und insoweit sie jedenfalls Worte durch Begriffe ersetzt, wenn und insoweit sie also theoretische Soziologie ist.2 Sie stellt Fragen, die für den ambitionierten Beobachter des Unbeobachtbaren lästig sind. Gesetzt etwa, der Beobachter sei ein (psychisches oder soziales)3 System, dann müßte doch gelten, daß es

1 | Auch nicht in dem der Höhlengängerei. Unser Sonderbeobachter ist mit Sicherheit ein platonischer Beobachter. 2 | Darin steckt die kleine, aber instruktive Paradoxie, daß das Wort theoria selbst mit der Metapher der (Fern)Sicht gearbeitet ist. 3 | Klar ist damit, daß alles Weitere an die Prämissen (und Anregungen) der

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38 | Theorie als Lehrgedicht immer sieht, was es sieht, und nicht sieht, daß es etwas nicht sieht, oder anders ausgedrückt: daß es ein vollständiger Unterscheider ist, eine vollständig gleitende Perspektive. Systeme sind offenbar (ich rede jetzt von Sinnsystemen, also von autopoietischen Systemen) dem Begriff nach nicht ek-statisch. Sie sind nie außer sich, sie sind auf keinen Fall mystisch. Sie können dem Außer-Sich, der Ek-Stase nachdenken, nachkommunizieren, aber das tun sie auf der linken Seite der Unterscheidung, deren Einheit sie formulieren: als System in der System/Umwelt-Unterscheidung. Der Fall kommt nicht vor, daß ein System dieser Art operativen Kontakt mit dem Unbeobachtbaren pflegen könnte, denn es beobachtet immer. Das Bewußtsein kettet Projektion an Projektion, die Gesellschaft Kommunikation an Kommunikation, und es gibt nicht den Ort, an dem sie beide nicht tun, was sie tun. Es gibt sie nicht anders als operierend. Sie sind durch und durch positiv. Alles, was solche Systeme beobachten, können sie beobachten. Auch wenn sie denken oder kommunizieren, daß da ein Rest bleibt, ein Drittes, ein Unzugängliches, verlassen sie sich nicht einmal ansatzweise selbst.4 Man könnte sagen: daß sie das Unbeobachtbare beobachten, indem sie diese Unterscheidung nutzen (sie denken, sie thematisieren), aber dabei tun sie nur das für sie Selbstverständliche – in perfekter Immanenz. Will man unter diesen Voraussetzungen noch vom Unbeobachtbaren sprechen und etwas Gehaltvolles damit verbinden5, bleibt also fast nichts übrig als die Vorstellung, daß Beobachtbarkeit identisch sein muß mit Unbeobachtbarkeit, oder: daß die Operation des Beobachtens zugleich die Operation des Unbeobachtens ist.6 Eben damit befassen sich die folgenden Überlegungen. Sie sind, ich gebe das gern zu, sehr abstrakt. Aber das wird sich, wie einleuchten wird, kaum vermeiden lassen, wenn vom Unbeobachtbaren nun doch die Rede sein soll.

soziologischen Systemtheorie (wie sie durch Niklas Luhmann installiert wurde) geknüpft ist. 4 | Vgl. als einschlägige Fallstudien die Aufsätze in: Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. 5 | In meinem Fall: eine operative Analyse, und nicht: eine Analyse der Weise, wie Unbeobachtbares thematisiert oder gedacht wird. Das wäre eine Analyse des sozialen Fungierens solcher Konzepte. 6 | Man sehe mir diese mystische Formulierung nach. Ich hoffe, diese Gleichung wird noch verständlich werden.

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I Es geht um Systeme – damit um eine bestimmte Differenz (System/Umwelt), deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß die Einheit der Differenz in der Differenz formuliert ist: Das System ist die Einheit der Unterscheidung von System und Umwelt. Oder: Es ist kein Es. Es ist weder Subjekt noch Objekt. Es kann keine Eigenschaften haben. Es ist ein differentielles Phänomen, man könnte auch sagen: ein Un-jekt.7 Das System ist, um auf eine Formulierung von George Spencer-Brown zurückzugreifen, konditionierte Co-Produktion.8 Es ist auf keiner Seite der Differenz, die es (ohne es, ohne diese Bezeichnung auf der linken Seite) gar nicht gäbe. Das bedeutet, so ärgerlich das für jedes voreilige, auf Anschluß versessene Denken ist, daß sich ein System dieser Art nicht isolieren und herauspräparieren läßt aus seiner Umwelt. Denn es ist ja gerade das CO, jenes ZUGLEICH, jene ZWEIHEIT, die sich nicht zur EINS fügen will.9 Deshalb wird es schwierig, diese Verhältnisse noch mit einer cartesischen Sprache abbilden zu wollen; ebenso fallen alle zweiwertigen logischen Mittel aus.10 Das Menschenmögliche unter solchen Voraussetzungen ist ein spezifischer Zeitgebrauch. Man setzt auf das Nacheinander und auf die Oszillation des Beobachters zwischen System und Umwelt. Er pendelt in einer Sequenz zwischen dem angepeilten System und seiner Umwelt. Er dehnt die Zeit, und dann zerhackt er sie in Portionen: erst dies, dann das, dann wieder dies, dann wieder das. Dabei kondensiert das System als Objekt und die Umwelt als sein Co-Objekt. Das System, so beobachtet, ist das Resultat einer besonderen (interpunktierten) Aufmerksamkeitsverteilung. Diese Beobachtung und Verteilung setzt einen Beobachter voraus, der selbst ein Sy7 | Vgl. dazu umfangreich Fuchs, Intervention und Erfahrung, a.a.O. 8 | Vgl. Fn. 10 auf S. 20. 9 | Dies ist, so sperrig es klingen mag, eindeutig und klar die Lehre Luhmanns: Das System ist die Differenz. 10 | Vgl. als ein Beispiel im Rahmen eines anderen Kontexts, aber im Duktus des gleichen Sprachproblems Hegel, G.W.F., Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Georg Lasson, Leipzig 1991, 2. Auflage, S. 109f.: »Sie [die einfache Unendlichkeit oder der absolute Begriff, P.F.] ist sichselbstgleich, denn die Unterschiede sind tautologisch; es sind Unterschiede, die keine sind. Dieses sichselbstgleiche Wesen bezieht sich daher nur auf sich selbst. Auf sich selbst: so ist dies ein Anderes, worauf die Beziehung geht, und das Beziehen auf sich selbst ist vielmehr das Entzweien, oder eben jene Sichselbstgleichheit ist innerer Unterschied. Diese Entzweiten sind somit an und für sich selbst, jedes ein Gegenteil – eines Anderen, so ist darin schon das Andere mit ihm zugleich ausgesprochen; oder es ist nicht das Gegenteil eines Anderen, sondern nur das reine Gegenteil; so ist es also an ihm selbst das Gegenteil seiner.«

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40 | Theorie als Lehrgedicht stem ist, also eine Koproduktion, die ein weiterer Beobachter (wieder ein System) zeitlich dehnen und zerhacken könnte. Wir wollen sagen, daß dies der Normalfall ist. So wird immer verfahren, wenn man von Systemen spricht. Die Bedingungsmöglichkeit der Sicht ist eine aus der Zeitdehnung genommene Metaphorik des Raumes: Hüben und drüben, erst dies und dann das, erst Innen, dann Außen.11 Das System wird dabei in der Unterscheidung präferiert, vielleicht auch deswegen, weil der Beobachter selbst auf seiner Seite steht, sich also als ein System begreifen muß, also selbst als Innen, als etwas, das in sich zirkuliert.12 Die Kompaktheit unseres Welterlebens wird, so gebietet es die lebensweltliche Erfahrung, immer innen eingerichtet, obwohl die Bedingung der Möglichkeit dieser Innen-Einrichtung das Außen oder die andere Seite ist. Will man dies noch auflösen, wird man einige der mit dem Systembegriff verbundenen Annahmen rekapitulieren und reformulieren müssen. 11 | Siehe dazu Baecker, D., Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur, in: Luhmann, N./Bunsen, F.D./Baecker, D., Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 67-104. 12 | Ich glaube, man müßte das nicht. Andere haben das gewittert. Ulrich denkt: »Es ist eine nicht zu übersehende Eigentümlichkeit der europäischen Kultur, daß in ihr alle naslang die ›Welt des Inneren‹ für das Schönste und Tiefste erklärt wird, was das Leben birgt, desungeachtet diese innere Welt aber doch bloß als ein Anbau der äußeren behandelt wird. Und es ist geradezu das Bilanzgeheimnis dieser Kultur, wie das gemacht wird, wenn es ein öffentliches Geheimnis ist: Man stellt die äußere Welt und die ›Persönlichkeit‹ einander gegenüber; man nimmt an, daß die äußere Welt in einer Person innere Vorgänge erregt, die sie befähigen müssen, zweckentsprechend zu erwidern; und indem man in Gedanken diese Bahn herstellt, die von einer Veränderung der Welt durch die Veränderung einer Person wieder auf eine Veränderung der Welt führt, gewinnt man jene eigentümliche Zweideutigkeit, die es uns gestattet, die Welt des Innern als den eigentlichen menschlichen Hoheitsbereich zu ehren, und doch von ihr vorauszusetzen, daß alles, was in ihr vorgeht, zuletzt die Aufgabe habe, wieder in eine ordentliche Wirkung nach außen zu münden.« Musil, R., Der Mann ohne Eigenschaften (hrsg. von Adolf Frisé), Bd. II, aus dem Nachlaß, Hamburg 1994, S. 1200. »Dies bedeutet nicht nur die Anerkennung des Umstandes, daß die Randzone sich drinnen und draußen befindet. Die Philosophie sagt das ja auch: drinnen, weil der philosophische Diskurs seine Randzone kennen und beherrschen, die Linie definieren, die Seite einrahmen, in seinem Volumen umfassen will. Draußen, weil die Randzone, seine Randzone, sein Draußen leer sind, draußen sind: ein Negativ, mit dem sie nichts anzufangen wüßte, ein Negativ ohne Wirkung im Text oder ein Negativ im Dienste des Sinns […]« Derrida, J., Tympanon, in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 23. Auch hier ist die Raummetaphorik schon vorausgesetzt, aber ihre Umkehrungsmöglichkeit geahnt.

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II Die Unterscheidung des Systems (System/Umwelt) ist eine vollständige Unterscheidung.13 Sie bezeichnet die Welt, insofern sich System und Umwelt zur Welt addieren.14 Sie läßt von der Welt nichts aus. Klassisch wird dann das System durch Subtraktion erzeugt: Man ziehe die Umwelt von der Welt ab, und man erhält das System. Und: Man ziehe das System von der Welt ab, und man erhält die Umwelt. Benötigt wird nichts weiter als ein Weltbegriff der Vollständigkeit: Welt muß alles sein, was der Fall ist. Und sie darf keine dritte Größe sein, etwas jenseits der Unterscheidung, etwas, das sich durch zurückweichende Horizonte vor der Unterscheidung verstecken könnte. Das drückt sich in diesem einfachen Umrechnungsmodell darin aus, daß negative Vorzeichen nur für System und Umwelt möglich sind, nicht für die Welt. Sie ist super-positiv. Man kann sie von nichts abziehen, also auch nicht vom System oder von der Umwelt. Das ist sehr praktisch, denn auf diese Weise kann das System herauspräpariert werden als eine umgrenzte Einheit, als Resultat einer Subtraktion. Der Rest, die Umwelt, ist dasjenige, worin sich andere Systeme eingeschrieben denken lassen mit anderen Umwelten. Jeder Beobachter (der natürlich selbst ein System sein muß) hat es dann mit einem Entweder/Oder zu tun. Er referiert entweder auf ein System oder auf die Umwelt bzw. auf Systeme in Umwelten von Systemen, die eigene Umwelten unterhalten, in denen auch der Beobachter als System vorkommt. Das alles kann sehr komplex werden, aber komplex in der Weise vielfach verschachtelter Subtraktionen mit Vor- und Rück- und Zwischenschritten, mit wechselnden Perspektiven. Der Vorteil ist, daß sich die Einheiten (Bewußtseine, Sozialsysteme) als Einheiten ansteuern lassen, als Ergebnis von Subtraktionen, als Abzugsbeträge, eben als: Differenzen. Es wird keine krasse Fehleinschätzung sein, wenn man sagt, daß sehr viel von dem, was auf dem Markt der Systemtheorien gehandelt wird, seine Solidität, seine Attraktion eben dadurch gewinnt, daß in der Idee des Abzugs (dieser Differenz) ein Rest von Ontologie, von Substanzdenken überwintert. Man könnte geradezu von einem mengentheoretischen Systemsyndrom sprechen. Das System ist die Menge, die bleibt (die einen in sich zurücklaufenden Rand stabilisiert), wenn die Umwelt von der Weltmenge entfernt wird. Die Systemmenge liegt wie die 13 | Sie markiert also im Sinne Gotthard Günthers eine Kontextur, einen Unüberschreitbarkeitsbereich. Die Frage ist, ob die Differenz verworfen werden kann, im Sinne einer Transjunktion. 14 | Nur vorsichtshalber schon jetzt die Kautele, daß ich kein Anhänger so einfacher Verhältnisse wie denen des Subtraktionsmodelles bin.

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42 | Theorie als Lehrgedicht Umweltmenge in der Weltmenge: Viele Kreise liegen in vielen Kreisen in einem Superkreis, oder (um eine weitere Jahrhundertmetapher zu bemühen) viele Felder in vielen Feldern in einem Superfeld.15 In manchen Theorien sind Überschneidungen und Vermengungen zugelassen, in anderen nicht, aber das entstehende Bild ist schlichtweg immer räumlich. Da gibt es Grenzen, Ränder, Innen und Außen, Eingeschlossenes und Ausgeschlossenes, Übergangszonen und Verschmelzungen, und wenn diese nicht, dann Kopplungen, Penetrationen und Interpenetrationen. Daran ist zunächst nichts Fatales. Schließlich dürfte eine der zentralen Leistungen des Wahrnehmungs- und Bewußtseinssystems Externalisierung sein, Entäußerung, Ek-stasis, Ek-sistenz. Das Bewußtsein kann nur tun, was es tut, und irgendwie erzeugt es Raum, wiewohl es selbst kein Raum zu sein scheint. Es projiziert (in der Metapher Freuds) Oberflächen, es ist die Projektion einer Oberfläche durch einen selbst nicht räumlichen Projektor. Und deshalb inszeniert es (auch wenn es von Systemen, sogar von sich selbst spricht) räumliche Konfigurationen. Die Differenz ist (auch dann, wenn sie nicht nur als Abzugsbetrag, als Ergebnis einer Subtraktion gedacht wird) ohne Distanz, ohne ein Klaffen, ohne die eine Seite und die andere Seite schlechterdings nicht vorstellbar. Selbst dann, wenn Zeit entschieden eingebaut wird (wie im Kalkül von George Spencer-Brown), werden Unterschiede/Unterscheidungen gezogen, Grenzen gekreuzt, vollziehen sich Wiedereintritte, hat man es mit marked und unmarked space zu tun, mit Untertunnelungen und Grabungswerken16, mit richtungsweisenden Häkchen, mit Kenogrammen (bei Gotthard Günther), mit spezifischen Leerstellen, kurzum: immer mit der Metaphorik des Raumes.

15 | Das findet sich bestätigt im Kontext ideengeschichtlicher Forschung, vom soma periéchon bis hin zum environment oder ambiente. Vgl. Luhmann, N., Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, S. 22f. 16 | Es gibt nichts Wichtigeres als die Möglichkeit von Untergrabung, Umleitung, Umgehung. Wesen in einer zweidimensionalen Welt hätten diese Möglichkeit nicht. Sie hätten statt dessen mit der ästhetischen Widerwärtigkeit zu leben, durch den gleichen Kanal Nahrung aufnehmen und ausscheiden zu müssen. Jede andere Form des Verdauungskanals würde sie in (mindestens) zwei Wesen zerlegen. Ich skizziere unbeholfen eines dieser tragischen Geschöpfe (siehe die Zeichnung in Abbildung 1). Ich meine, eine ähnliche Zeichnung bei Hawking, St.W., Eine kleine Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg 1988, gesehen zu haben.

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Abbildung 1: Schismatiker

Und wenn das so ist, weil das Bewußtsein so arbeitet, wie es arbeitet, dann ist diese Metaphorik unübersteigbar, dann ist sie conditio humana. Man müßte sich mit dem Kreis begnügen, der auf diese Weise ausgeschritten werden kann. Das ließe sich auch damit begründen, daß der Versuch, das Unterschiedene (System und Umwelt) zu fassen, identisch ist mit dem Versuch, Gleichzeitigkeit von Verschiedenem zu denken. Und genau dies erzwingt den Raum, in dem das Verschiedene an verschiedenen Stellen lagert – zugleich.17 Genauer: Der Raum ist das Schema der Verschiedenheit des Gleichzeitigen oder der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, kurz: der simultanen Beinhaltung. Und da die System/Umwelt-Differenz eben diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen (System und Umwelt) voraussetzt, ist jede theoretische Arbeit mit ihr an Raumvorstellungen gebunden. Aber das heißt auch: an das Problem, daß sich das Gleichzeitige nicht beobachten läßt, es sei denn: im Nacheinander.18 Im Moment, in dem man mit der Unterscheidung von System/Um17 | Ein alter philosophischer Topos. Vgl. etwa Simon, J., Philosophie des Zeichens, Berlin, New York 1989, S. 98. Siehe auch Jokisch, R., Logik der Distinktionen. Zur Protologik einer Theorie der Gesellschaft, Opladen 1996, S. 48ff. 18 | Es gibt, soweit ich sehe, keinen Test auf die Gleichzeitigkeit. Entsprechende Gedankenexperimente haben in die Relativitätstheorie geführt.

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44 | Theorie als Lehrgedicht welt arbeiten will, ist Raum so impliziert, daß die Zeit der Aufeinanderfolge von Referenzen entsteht. Das Verschiedene in der Gleichzeitigkeit kann nur nacheinander angesteuert werden. So kondensiert das Objekt System, so kann es zur Vorstellung von Kausalitäten kommen, die zwischen Umwelt und System laufen, und nur so ist es möglich, daß Systemtheorie System/ Umwelt-Relationen analysiert, sich auf Organisationen, Funktionssysteme, Gesellschaft, auf Interaktionen oder auf psychische Systeme richtet. Man könnte auch sagen: Es gibt keine Sprache des Zuvors von Raum und Zeit, von Kausalität und Kopplung. Aber das würde das Problem nicht treffen, weil jenes Zuvor selbst zeitlich formuliert ist, aber es sich gerade darum dreht, daß das System (diese Differenz) immer in jeder Aktualität die Zeit (seine Zeit) konstruiert. Das Zuvor entsteht jederzeit mit dem Einsatz der Unterscheidung des Systems. Konditionierte Koproduktion, das Zugleich des Verschiedenen, entzieht sich, wenn der Beobachter (der selbst Effekt dieser Produktion ist) zu beobachten beginnt. Er ›verdinglicht‹ sich selbst und das Andere, er ist schon ein oszillierender Beobachter, der Selbst- und Fremdreferenz sukzessiv einsetzt. Er ist immer schon ein System, das auch dann ein Etwas intendiert, wenn es sich selbst bezeichnet.19 Er ist in diesem Sinne Authypostase. Mit dem vergeblichen Blick auf das Zuvor, auf den Ursprung wird das Ko der Koproduktion verdeckt. Und selbst in dieser Formulierung wird der Blick als von irgendwoher kommend bezeichnet, das System auf die eine Seite der Differenz gebracht, von wo aus es seine Sicht aufspannt. Es scheint unmöglich, zu sagen, daß die Sicht nicht die von jemandem/von etwas sei, sondern eine Koproduktion, bei der Innen und Außen, hüben und drüben sich nicht oder nur seltsam unterscheiden lassen. Und doch ist es möglich, Fälle zu finden, in denen eben diese Nicht-Unterscheidbarkeit sozial unterschieden wird, und sei es nur dadurch, daß ein Erleben bezeichnet wird, von dem sozial anschlußfähig behauptet wird, es sei das Erleben des Innen und Außen zugleich, eine Transgressio, eine Art Epiphanie. »Und seltsam nur, daß an diesem Punkt eine Kleinigkeit reichte, ihn von dem eigenmächtigen Thron zu kippen. Angesichts des Passanten, der, 19 | Sagt jedenfalls die Phänomenologie. Schon im platonischen Sophistes (237a-e) findet sich: légein = légein tí – Sagen ist Etwas Sagen. Parmenides weist als erster auf die Intentionalität des Denkens hin (dóxai – dokoûnta – Annehmen/Angenommenes). So jedenfalls Thanassas, P., Die erste »zweite Fahrt«. Sein des Seienden und Erscheinen der Welt bei Parmenides, München 1997, S. 45f. Vor Brentano und Husserl findet sich der Topos komplex ausgearbeitet bei Hegel. Siehe dazu Kreß, A., Reflexion als Erfahrung. Hegels Phänomenologie der Subjektivität, Würzburg 1996, S. 33ff. et passim.

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aus der Seitenstraße geschlendert, den Mantel über dem Arm, einhielt, sich die Taschen abklopfte und schnell wieder umkehrte, sprang sein Mitgehen um ins Außersichsein. Aufhören! Doch einmal in der Ekstase, fand er nicht mehr in sich zurück: Da, der gelbe Schnabel der Amsel! Und am Ende der Allee der bräunliche Rand der allein noch blühenden Malve! Und das im Fallen an einer unsichtbaren Schnur ruckende und zum Schein wieder auf in die Sonne steigende Blatt als ein leuchtfarbiger Drachen! Und der Horizont schwarz von einem Schwarm so monumentaler wie nichtssagender Wörter! Aufhören, Ruhe! (Ekstase hieß für ihn Panik.) Aber Punkt, Schluß, es – das Lesen, das Schauen, das Mit-im-Bild-Sein, der Tag – ging nicht mehr weiter. Was jetzt? Und Unversehens, nach der Springprozession der Formen und Farben in der Ekstase, verlegte, lang vor dem Abend, der Tod den Weg durch diesen Tag.«20 Dies ist, fraglos, kein Ausschnitt aus einem wissenschaftlichen Text, sondern nicht mehr als eine extrem sinnliche Illustration. Aber es gibt soziologisch nicht unwichtige Figuren, die helfen können, zu zeigen, daß wir uns nicht völlig im Bizarren verlieren, wenn es um das Problem der Einheit der Zweiheit geht.

III Die vorangehenden Überlegungen geben uns gerade soviel Spielraum, die Innen/Außen-Unterscheidung für nicht selbstverständlich21 halten zu dürfen. Sie wird damit frei für soziale Besetzungen und wird wie der Raum abgekoppelt von einer Ontologie der Lagen, der Bewegungen, der Kräfte, des Enthalten- oder des Diesseits/Jenseits-von-etwas-Seins. Man könnte sich sogar mit dem Gedanken befreunden, daß es eine Soziologie selbst noch dieser fundamentalen Differenz des Innen/Außen geben könnte, und dies müßte eine faszinierende (sozusagen nicht-euklidische) Soziologie sein22, 20 | Handke, P., Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum, Frankfurt 1991, S. 52f. Ich habe unter vielen möglichen Beispielen erst einmal dieses gewählt, vor allem auch, weil es sofort den Topos der Zeitlosigkeit bewegt, wenn Innen und Außen ins Gleiten geraten. Außerdem war das Buch zur Hand. 21 | Die Kursivierung verweist auf die Diskussion einer weiteren Nicht-Selbstverständlichkeit, nämlich der des Selbst. Ich komme darauf zurück. Ein Ergebnis jedenfalls des Nicht-für-selbstverständlich-Haltens ist die außerordentlich bedeutsame Studie von Baecker, Die Dekonstruktion der Schachtel, Innen und Außen in der Architektur, a.a.O. 22 | Vgl. als eine erste Fallstudie dazu den Text über japanische Kommunikation in Fuchs, P., Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien, a.a.O.

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46 | Theorie als Lehrgedicht aber wir wollen uns hier mit der Frage befassen, ob sich überhaupt Fälle der Verwischung der Klarheit des Innen/Außen finden lassen, Fälle, in denen der Sinnraum, der durch diese Unterscheidung aufgespannt wird, seine Selbstverständlichkeit verliert, in seiner Integrität bedroht ist oder gar kollabiert.23 Die Vermutung ist, daß in solchen Fällen ein zumindest rudimentärer, vielleicht noch nicht immer mitbeobachteter, aber operativ vollzogener Wiedereintritt der Unterscheidung in sich selbst stattfindet, ein re-entry des Innen/Außen im Innen oder (gemäß des Spielraums, den wir uns erarbeitet haben) des Innen/Außen im Außen. Bei dem Versuch, dergleichen zu beobachten, zeigt sich aber sofort die in diese Unterscheidung eingebaute Präferenz für einen Beobachter, der innen angesiedelt ist, für einen erlebenden Beobachter (und spät in der Geschichte: für einen Erleben erlebenden Beobachter). Oder, um noch behutsamer zu sein: Derjenige, der den Versuch startet, so zu beobachten, ist schon in die Folgen dieser Präferenz eingebaut, die selbst historisch ist.24 Er ist ein moderner Beobachter, dem Zustände des Außer-Sich, der Ek-Stase, der Entäußerung als künstliche oder pathologische Zustände gelten, als psychische Grenzphänomene etwa beim Sterbenmüssen, als Ergebnis eines intern wirksamen Drogengebrauchs25, als Aufhebung jenes Innen/Außen-Unterscheidens in Sonderfällen durch religiöse Virtuosen wie Mystiker oder Zenbuddhisten. Dieser Beobachter (und auch hier wollen wir ganz vorsichtig erst einmal von einem westlich orientierten Beobachter reden) hat eine hohe Aufmerksamkeit für die Bewandtnisse des Innen der Innen/Außen-Unterscheidung entwickelt.26 Psychoanalyse und PhänomenoSiehe dazu, wie es die Systemtheorie ansonsten mit dem Raum hält, Stichweh, R., Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie, in: Soziale Systeme 4/2, 1998, S. 341-358. 23 | Mit der Modifikation, daß wir auch Sozialsysteme für sinnförmige Beobachter halten, geht es um den Topos der distance vécue (Minkowski), um den gelebten, erlebten Raum (K. von Dürckheim). Siehe dazu Ströker, E., Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1965. Vgl. ferner (von mir stark in Anspruch genommen) die Beiträge in Michel, P. (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum (Schriften zur Symbolforschung Bd. 11), Berlin u.a.O. 1997. 24 | Die Rede von »ihm« ist selbst eine präferentielle Rede. Das wird noch weiter unten deutlich werden. Hier behelfen wir uns mit dieser Anmerkungskautele und verfahren so, als sei es vollkommen klar, daß es, wenn es um Beobachtungen geht, auch um einen Unterscheider gehe. 25 | Dabei müßten wir schon hier die Kautele einziehen, daß die Droge, welche auch immer, externe Wirkungen für ein Bewußtsein hat, das strukturell gekoppelt ist mit einem drogenempfindlichen Nervensystem. Das wird m.E. selten bedacht. 26 | Die Präferenz für das Interieur ist identisch mit dem, was wir in überaus

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logie mögen dafür hinreichende Beispiele sein.27 Diese Aufmerksamkeit erzeugte, bezogen auf unser Thema, Steigerungsformen dort, wo das Innen (bei Descartes noch ausdehnungslose res cogitans) seinerseits als Spezialraum behandelt wurde (und noch wird), als subjektiver Erlebnisraum, als distance vécue, als espace vital und gelebter Raum. 28 Aber schon sehr früh findet sich ein strategischer Umgang mit dem re-entry des Innen/Außen im Innen, vorzüglich zu beobachten im Kontext der antiken Gedächtniskunst, die das, was memoriert werden muß, in einem Innenraum ansiedelt, an Innenorte (loci) bindet, die wie Außenorte sind.29 Ein Raum wird im Innen besiedelt, man kann hindurchgehen, findet Gegenstände, darf nichts beliebig verschieben, auch keinen Sturm einlassen, der alles durcheinanderwirbeln könnte. So wird man (im Blick auf die Rede) exzellente Außenwirkung erzielen, gebunden an eine topologische (euklidischen Raumverhältnissen abgewonnene) Organisation des Innen.30 Dagegen (oder parallel damit) lassen sich dann Formen beobachten (in archaischen Gesellschaften so gut wie in der modernen Gesellschaft), in denen das Außen symbolisch organisiert wird, die Orientierung da draußen ihre Prägnanz gewinnt an üblicherweise dem Innen zugemuteten Eigenschaften. Als Beispiel ließe sich die totemistische Geographie der Aborigines nennen31, aber auch die Weise, in der viele von uns das ›Innenleben‹ von Computern oder ähnlichen Geräten imaginieren.32 loser Analogie zu Heidegger Außenvergessenheit nennen wollen. Auch das begründet die Wichtigkeit der Entdeckung der Umwelt. 27 | Nach wie vor wollen wir also behaupten, daß diese Sonderaufmerksamkeit modern, also an die Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung geknüpft ist. 28 | Vgl. Ströker, a.a.O.; vgl. Kruse, L., Räumliche Umwelt, Berlin 1974. 29 | Vgl. Cicero, De Oratore II, 255-351; vgl. umfangreich Yates, F.A., Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1991. 30 | Und diese Topologie wird sich auflösen, wenn sie im Moment, in dem Schriftgebrauch es ermöglicht, Gedächtnis zu externalisieren, funktionslos wird. Daß dabei dann eine neue Räumlichkeit, die die Verräumlichung der Schrift nutzt, entsteht, wird man nach Derrida nicht mehr eigens groß belegen müssen. 31 | Mich beeindruckt etwa das Beispiel musikalisch determinierter, räumlicher Distanzen. Ein älterer Aborigine ist »auf dem Weg zu dessen Klan-Domäne des Tjilpa-Totems […], die er zuvor noch nie besucht hatte. Old Limpy – so der Name des Aborigine – hatte den Gesang seines Totems für die Laufgeschwindigkeit von 5 Meilen pro Stunde gelernt. Jetzt aber, in Chatwins Jeep mit einer Geschwindigkeit von 25 Meilen pro Stunde, musste er sein Lied viel schneller Singen, um sich in der Landschaft, die an ihm vorbeizog, zu orientieren und den Ort seines Klan-Totems zu erreichen. Er musste sozusagen eine musikalische Maßstabskorrektur vornehmen,

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48 | Theorie als Lehrgedicht So oder so, man darf annehmen, daß die Prozesse, in denen das Innen/Außen ins Innen (oder ins Außen) kopiert werden, vor allem Grenzmarkierungsprozesse sind, Prozesse der sozialen Auszeichnung einer Linie des Wederdrinnennochdraußen, der sozialen Hervorhebung einer Umgürtung, Abschirmung, Schutzzone, die nicht dem Geschützten (dem Innen) und nicht dem Bedrohlichen (dem Außen) zugerechnet werden kann und das Vertraute vom Unvertrauten separiert.33 Weniges kann dafür genügen: ein Leibriemen, Perlenkettchen, Menschenhaarschnüre.34 Dabei geht es nicht unbedingt um so etwas wie minimierte Kleidung. Mitunter genügt eine Tätowierung, die den Körper umzirkelt und die ersichtlich auf dem Körper weder innen noch außen ist.35 Jedenfalls gewährt die Markierung der was ihn offensichtlich verwirrte. Die totemistischen Gesänge enthalten also nicht nur Informationen über Orte, sondern auch über relative Distanzen. Es scheint zudem eine strenge Entsprechung zwischen musikalischen Tonfolgen der Gesänge und bestimmten topographischen Eigenschaften der Landschaft zu geben. Folgt ein Aborigine den Tonfolgen, vermag er Flussbetten, Sandhügel, Felsen, Baumgruppen, Mulga-Gestrüppe etc. zu identifizieren, die das entsprechende Traumzeitwesen passierte. Diese Entsprechungen gehen soweit, dass ein Eingeborener, der den Melodien eines Liedes folgt, sich die betreffende Landschaft ziemlich genau vorstellen kann, auch wenn er selbst noch nie da war.« Heibling, J., Die Organisation des sozialen und natürlichen Raumes bei den australischen Aborigines, in: Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum, a.a.O., S. 281-303, hier S. 289f., seinerseits Chatwin zitierend, der dieses Erlebnis berichtet. Interessant ist dann, daß wir ebenfalls Musik (dieses Zeitphänomen) räumlich organisiert wahrnehmen können. Siehe dazu (theoretisch unscharf, aber beispielreich) Meierhofer, H., Raumvorstellung in der Musik, in: Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum, a.a.O., S. 433-450. Siehe ferner die Beiträge in Bräm, Th. (Hrsg.), Musik und Raum. Eine Sammlung von Beiträgen aus historischer und künstlerischer Sicht zur Bedeutung des Begriffes ›Raum‹ als Klangträger für die Musik, Basel 1986. 32 | Vgl. Young, R.M., The Machine Inside the Machine: User’s Models of Pocket Calculators, in: International Journal of Man-Machine Studies 15, 1981, S. 5185. Vgl. zu Konsequenzen Fuchs, P., Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologia Internationalis 29/1, 1991, S. 1-30. 33 | Vgl. zur Konstruktion dieser Grenze Fuchs, Die archaische Second-Order Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, a.a.O. 34 | Vgl. Müller, K.E., Der magische Kreis, in: Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum, a.a.O., S. 451-468, hier S. 451. Die meisten Beispiele im weiteren verdanke ich diesem Text. 35 | Ebenda. Ich erinnere hier an das verschiedentlich von mir erwähnte, kleine blaue ägyptische Nilpferd, dessen Umwelt auf seine Oberfläche aufgebracht (eingeritzt) ist, Lilien und Vögel und dergleichen. »Praecinge me, Domine, cingulo puritatis

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Grenze Schutz.36 Sie muß dabei nicht um den Körper laufen, sie kann Winkel des Hauses, das Haus selbst fadenförmig umspannen, Bräute umschleiern, Brautpaare gemeinsam einwickeln und abschirmen, Wöchnerinnenbetten und Wiegen umschließen.37 Entscheidend ist die Kreisgestalt der Grenze.38 Nicht nur, weil sie die perfekte Grenze symbolisiert, die Eindringlinge und Ausdringlinge überschreiten, überwinden müssen, wenn sie das Innen oder Außen verlassen wollen, sondern auch, weil sich die Kreisgestalt zur Scheibe verräumlichen läßt, innerhalb und außerhalb derer ein Näher oder Entfernter von der Grenze dargestellt werden kann: Zentrum und Peripherie und die outbacks. Zur Grenze hin (von Innen her gesehen) wird die Luft kälter, nehmen die Lebenschancen ab, wächst die Gefahr, von außen eindringenden, subversiven Kräften zu begegnen, aber auch den gefährdeten und gefährdenden (Rand-) Bewohnern der Scheibe selbst, den Buckligen, Rothaarigen, den Müllern und den Zöllnern, den Juden, den Zigeunern.39 Gegen die subversiven Kräfte des Außen hilft dann nur noch die verstärkte Markierung des Randes der Scheibe, Palisaden, Hecken, Ringmauern, magische Handlungen, apotropäische Signaturen, die in die Grenzlinie eingelegt, eingeschrieben werden, rotgepunktete Zusatzlinien um die Gehöfte (wie bei den Bisa in Burkina Faso) oder Schnüre, die ganze Dörfer umspannen (wie bei den Loango im südlichen Kongogebiet), oder Furchen, die rituell um die Siedlungen gepflügt werden (wie in Europa).40 Die Kreisgestalt (die Scheibe) kann zur Sphäre erweitert werden, die weitere Sphären beinhaltet und selbst in anderen Sphären beinhaltet ist.41 […] ut maneat in me virtus continentiae et castitatis«, betet der Priester, wenn er mit dem cingulum umgürtet wird. 36 | Und diese Grenze läßt sich invertieren, zum Beispiel, wenn es um den Schutz vor Hexen, vor verkehrten Existenzen geht. Im schottischen Hochland werden Hanfstricke mit der linken Hand (umgedreht, verkehrt) geflochten und den Tieren des Abends um den Hals geknüpft. 37 | Vgl. Scheftolowitz, I., Das Schlingen und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker, Gießen 1912. Wer denkt, dies sei alles vorüber und vergessen, möge an die Ringe, Halsketten, Armbänder, Freundschaftsreifen etc. denken, die er oder sie selbst trägt. 38 | Vgl. Thornton, R.J., Space, Time, and Culture among the Iraqw of Tanzania, New York 1980. 39 | Vgl. für das Mittelalter Fuchs, P., Weder Herd noch Heimstatt – Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte Differenzierung im Mittelalter und in der Moderne, in: Soziale Systeme 3/2, 1997, S. 413-437. 40 | Vgl. Müller, Der magische Kreis, a.a.O., S. 455. 41 | Nur Gott ist davon ausgenommen. Deus est sphaera cuius centrum ubique,

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50 | Theorie als Lehrgedicht All das kann man beliebig ausbauen und als Anwendung der Markierung der Innen/Außen-Unterscheidung mit reichlich vorhandenem Material unterfüttern; aber uns sind die Fälle des Verschwimmens der Unterscheidung selbst wichtig. Einer davon, der auf dem Hintergrund dieser Überlegungen spannend wird, läßt sich illustrieren mit der berühmten »inneren Burg« der Teresa von Àvila.42

IV Teresa von Àvila ist für unsere Untersuchungen einschlägig: Sie wird ausnahmslos als eine Mystikerin des Innen aufgefaßt, so sehr ihr Lebensgang geprägt war durch das, was diesem Innen äußerlich scheint: durch Pragmatismus.43 Darin ist sie von Augustinus geprägt, stärker als Johannes vom Kreuz, ihr geistlich-geistiger Gefährte, der der Schule des Aeropagiten verpflichtet war und den Weg zu Gott als Weg zum Gipfel aller Gipfel symbolicircumferentia nusquam. So formuliert jedenfalls das in dieser Hinsicht überaus scharfsinnige Mittelalter. 42 | Wir nehmen erst einmal die Mystik als Beispiel, die ein leidenschaftliches Innen-Interesse verfolgt oder von ihm verfolgt wird. Dieses Interesse wird seinerseits gespeist aus der paulinischen homo interior/homo exterior-Unterscheidung (Röm 7,22; 2 Kor 4,16), die ihrerseits auf ähnliche antike Unterscheidungen zurückgreifen kann. Vgl. zu diesem Hinweis Keller, H.E., înlougen, Blicke in symbolische Räume an Beispielen aus der mystischen Literatur des 12.-14. Jahrhunderts, in: Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum, a.a.O., S. 353-376, hier S. 353. 43 | Nur für diejenigen, die sich nicht für außerordentlich interessante Frauen interessieren: Teresa de Ahumada y Cepeda wurde 1515 in Àvila geboren. Nach dem Tod der Mutter folgen Aufenthalte in einem Internat der Augustinerinnen, nach schweren Erkrankungen Rückkehr ins Elternhaus, dann 1535 Eintritt in ein Kloster der Karmeliterinnen, im Alter von 22 Jahren die Gelübde. Nach weiteren schweren Erkrankungen, nach Visionen (die ihr als Besessenheit vom Teufel ausgelegt werden), nach einem Wechsel des Beichtvaters verfaßt sie 1562 eine Autobiographie. Ihr wichtigstes Werk ist »Moradas del Castillo interior«. Sie stirbt nach einer Vielzahl von Ordensgründungen, Reisen, Reformen 1582. 1622 erfolgt die Heiligsprechung, 1970 wird sie (als erste Frau) zur Kirchenlehrerin ernannt. Ich selbst liebe sie vor allem wegen ihres wundervollen (göttlichen) Humors. Vgl. als Einführung Herbstrith, W. (Teresia a Matre Dei OCD), Teresa von Àvila. Die erste Kirchenlehrerin. Meditation – Mystik – Menschlichkeit, Frankfurt (Bergen-Enkheim) 1971. Siehe ferner Àvila, Th. de, Die innere Burg, hrsg. von Vogelgsang, F., Zürich 1979; Sämtliche Werke der heiligen Theresia von Jesu, übertragen von Alkhofer, A./Hofmeister, A., 6 Bde., München 1931ff.; Renault, E., Ste Thérèse d’Ávila et l’experience mystique, Paris 1970.

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sierte, wohingegen Teresa von Àvila diesen Weg als Weg durch das Innen in ein innerstes Innen (die Mitte der Seele, das ist Gott) beschrieb, als Weg durch einen Kristall, durch die innere Burg mit ihren sieben Wohnungen. Der Camino de Perfección (Der Weg der Vollkommenheit) ist zutiefst der Weg in ein Zentrum.44 Die innere Burg ist eine gegliederte Binnenwelt.45 Sie ist eine innere Welt, eine Ausgedehntheit mit eigentümlicher Topographie.46 Dabei ist sie jedoch nicht einfach nur Innen. Sie ist in dem, worin ihr Innerstes (Gott) ist, das Umschließende und das Eingeschlossene zugleich. Die Burg (in anderen Vergleichen: der Palast) ist mithin omnipräsent.47 Die Gemächer der Burg sind in gewisser Weise elastisch, in dieser Hinsicht psychischen Kräften analog gedacht, die von anderen (seelischen) Kräften (den Burgvögten oder Verwaltern in der Terminologie der Ávila) nicht zur Gänze beherrscht werden.48 Bei alledem ist das Modell ein Modell, eine kommunikative Vorlage, eine soziale (schriftlich vorliegende) Externität, die zum Anlaß und zum Vorbild genommen werden soll, die je eigene Seele (des Lesers, der Leserin) auf eine höhere Stufe zu transformieren. Die Burg ist der Seele, die sie symbolisiert, äußerlich. Und doch muß die Seele gedacht werden als etwas, in dem die Dinge in »Fülle und Weite und Grösse« vorkommen.49

44 | Durch ein Außen in diesem Fall. Dieses Buch der Ávila ist auch eine Kampf- und Praxisschrift. 45 | Wir orientieren uns im weiteren an Bossard, R., Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, in: Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum, S. 93-106. 46 | Im Vorübergehen erinnere ich an das, was oben über die antike Mnemotechnik gesagt wurde, und weise voraus darauf, daß weiter unten die Welt als Begriff genauer beleuchten werden wird. 47 | Diese Symbolik ist nichts, worin Teresa allein stünde: Meister Eckhart nennt den mit Gott gleichförmigen Teil der Seele bürglin (Bürglein); bei Luther findet sich die Gleichsetzung Gottes mit der Burg (Eine feste Burg ist unser Gott). In der Queste del Saint Graal ist die Suche nach dem Graal (der sich in einer Burg befindet) identisch mit dem Ausloten der innersten Geheimnisse des höchsten Herrn. In den Mythen Irlands gibt es den Palast von Connaught, dessen sieben Wohnungen um ein Zentralfeuer gelegen sind. Vgl. Bossard, R., Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, a.a.O., S. 95f. Man muß aber nur hinreichend oft cartoon network schauen, um sich zu vergewissern, daß die Burg auch in Comics noch immer und eindringlich ein Symbol ist, vorzugsweise ein unheimliches: die finstere, von schwarzen Mächten erfüllte Burg. 48 | Wer mag, sieht eine der geschichtlichen Vor-Spurungen des Freudschen Strukturmodells. 49 | Ávila, Die innere Burg, a.a.O., S. 29.

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52 | Theorie als Lehrgedicht Teresa von Ávila ist sich dieser Verwischungen und seltsamen Vertauschungen der Innen/Außen-Unterscheidungsseiten bewußt: »Es scheint, als sagte ich einen Unsinn: denn wenn diese Burg die Seele ist, so ist doch klar, daß man nicht hineingehen muß, da man selbst die Burg ist. Genauso ungereimt erschiene es, wenn man jemandem sagte, er möge in ein Zimmer gehen, in dem er sich bereits befindet. Doch ihr müßt verstehen, daß zwischen Darinnensein und Darinnensein ein großer Unterschied besteht.«50 Sie formuliert paradox, indem sie die Verschiedenheit desselben behauptet. Man könnte auch sagen: Sie überspitzt die Paradoxie jeder Tautologie, die zur Behauptung der Selbigkeit notwendige Behauptung der Verschiedenheit.51 In einem ihrer Gedichte zeigt sich, wie die Paradoxie als Chiasmus motorisierend wirkt:52 »Alma, buscarte has en Mí, Y a Mí, buscarte has en ti … Fuera de ti no hay buscarme, Porque para hallarme a Mí, Bastará sólo llamarme, Que a ti iré sin tardarme Y a Mí buscarme has en ti.« »Seele, suche dich in mir, Suche mich in dir … Suche mich nicht draußen, Denn um mich zu finden, Ist ein Ruf genug. Ohne Zögern werd’ ich zu dir gehn, – Suche mich in dir.«53 50 | Zit. nach Herbstrith, Teresa von Ávila. Die erste Kirchenlehrerin, a.a.O., S. 45. 51 | Das Zitat wird verständlicher, wenn man mitsieht, daß Seele hier nicht dualistisch gemeint ist. Sie ist der Mensch. 52 | Im Sinne einer sprachlichen Entfaltung des Einfältigen der Tautologie. Vgl. zu solchen Entfaltungen die Beiträge in Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. 53 | Teresa von Ávila, hier zit. nach Herbstrith, Teresa von Ávila, a.a.O., S. 148. Vgl. zum Motiv (aus literaturgeschichtlicher Perspektive) Ohly, F., Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich, in: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung (hrsg. von Ruberg, U./Peil, D.), Stuttgart, Leipzig 1995, S. 145-176.

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Die Auflösung dessen, was wir behelfsweise die euklidische Organisation der Innen/Außen-Unterscheidung nennen können, spiegelt sich im Aufbau der inneren Burg.54 Das Durchschreiten ihrer sieben Gemächer (das Durchlaufen ihrer Stationen) ist, versteht sich, an Zeit gebunden, an ein geordnetes (nur in den Einzelwohnungen störbares) Nacheinander, das Bezifferung gestattet. Wir haben eine Art Zwiebelschalen- oder Sphärenmodell, in dem man sich in den Schalen (Sphären) verirren oder überflüssigerweise aufhalten kann, jedenfalls solange man sich in den Zonen niedriger Ziffern befindet. Die erste, die zweite und die dritte Wohnung sind die Stationen der via purgativa, des Reinigungs- und Läuterungsweges. Sie sind voll widerwärtiger Insassen: Dämonen, Teufel, Ungeziefer, die für die Irritationsmöglichkeiten des Heilsweges nach Innen stehen.55 Die Seele ist noch bedroht, sie hat sich noch nicht gelöst aus den irdischen Bewandtnissen.56 Die vierte und fünfte Wohnung (via illuminativa) dagegen sind erleuchtungsnah. Die Seele ist in einem Zustand des Weder/Noch: weder wach noch schlafend.57 Sie kommt dem Zentrum näher, und auch das wird mit der Raummetapher des Anschwellens, des Ausweitens eben dieser Seele bezeichnet. Es gibt ein mit Qualen verbundenes, durch Versuchungen immer noch gefährdetes Absterben der Seele, gegen das (und wieder nur paradox) ein Aufbäumen der Seele hilft, um es zugleich zu ermöglichen. Teresa von Àvila fordert Werke und Taten, die vita activa, das Martha-Leben zugleich mit dem der Maria. Das Ich, das doch suspendiert werden soll, muß zu diesem Zweck zu höchsten Leistungen gelangen: hic et nunc.58 54 | Bossard, Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, a.a.O., S. 101f. zeigt, daß die scala mystica des Raja-Yoga (200 v. Chr.) deutliche Entsprechungen zum Bau der inneren Burg aufweist. Wohnung 1-3 ist das, was yama und niyama im achtgliedrigen Pfad sind; die 4. und 5. Wohnung sind analog zu dharana und dhyana, 6. und 7. zu samadhi. Die 7. Wohnung darf (mit Ausnahme der personalen Bestandteile des Christentums) als Vereinigung mit dem brahman gedacht werden. 55 | Mir scheint, daß eine ganze Reihe von Computerspielen eben dies noch nachspielen, den Weg des Helden, der Heldin durch die Finsternis zur Erlösung und auf dem Weg den Kampf gegen die Ausgeburten der Finsternis. Häufig geht es dabei auch noch um Burgen, Schlösser, verborgene mächtige Orte. Der moderne Mythos Perry Rhodan tut desgleichen. Man achte etwa auf den Meister-der-Insel-Zyklus. 56 | Auch hier ist die Paradoxie überaus deutlich: Was hier durch die Gemächer sich kämpft, ist die Seele, also gleichzeitig das, was sich selbst erreichen soll, aber doch wohl schon hat, daß sich selbst aufgeben muß, um sich zu erhalten. Die Innen/Außen-Unterscheidung zerspringt an diesem kuriosen Raum. 57 | Vgl. Bossard, Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, a.a.O., S. 99. 58 | Ebenda.

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54 | Theorie als Lehrgedicht Die Konzentration auf das Innen läuft über die Konzentration auf das Außen. Die Innen/Außen-Unterscheidung ist gearbeitet wie das berühmte Band von August Ferdinand Möbius, in der ein Papierstreifen an den Schmalseiten nach einer halben Drehung so zusammengeklebt wird, daß eine einseitige Fläche entsteht. Die Unterscheidung kollabiert (sie ist am Band nicht mehr unterscheidbar) und unterscheidet nur noch die seltsam einseitige Schleife von anderem, das sich nicht so leicht auf Einseitigkeit trimmen läßt.59 Die sechste Wohnung (via unitiva), die Wohnung der guten Verrücktheit, ist noch nicht die der Vereinigung (Vermählung) mit dem Zentrum, sie ist die der »niederen Ekstasen« einer Verlobung.60 Der Körper (die äußerste Ringmauer der Burg) leidet, wird in den Ekstasen verrenkt, hingeschleudert, des Atems beraubt. Es gibt Offenbarungen, Wonnen, Informationen über das göttliche Geheimnis, geknüpft an Auditionen zum Beispiel, also an ein Hören von außen (Ohren) wie von innen. Gefährliche Geistesflüge sind möglich, Reisen der Seele, die die Unterscheidung von Innen und Außen erneut in die Unkenntlichkeit treiben.61 In der siebten Wohnung schließlich kommt die via unitiva zum Ziel, zur unio mystica, zur höchsten Ekstase (Ent-Äußerung): Jede Unterscheidung erlischt, die Erkenntnis der heiligen Trinität wird unmittelbar.62 Wir wollen festhalten, daß der Weg durch die innere Burg der Teresa von Ávila gleichsam euklidisch (in den gewohnten Raumvorstellungen) startet, aber dabei seltsam verändert wird. Die niedrigen Ekstasen (auch sie sind eigentlich nur für religiöse Virtuosen erreichbar) flexibilisieren, dynamisieren den Raum im Sinne einer Verwischung dessen, was Innen, was außen

59 | Es sei denn, man optiert dafür, die Welt als Möbiusband aufzufassen, in der jede Stelle ein Innen/Außen zugleich ist (immanent und transzendent simultan). Teresa würde womöglich zustimmen. Spencer-Brown desgleichen. Es ist im übrigen kein Zufall, daß dort, wo vom Hyperrealen die Rede ist, ebenfalls das Möbiusband auftaucht. Vgl. nur Baudrillard, J., Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 29ff. 60 | Ávila, Die innere Burg, a.a.O., S. 190; Bossard, Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, a.a.O., S. 100. 61 | Bossard (ebenda) verweist darauf, daß diese Seelenreisen ein in der indischen Mystik so gut wie im Schamanismus bekanntes Phänomen sind. 62 | Bei Spencer-Brown ist dies der Tod. Ich selbst würde diese Unmittelbarkeit vergleichen wollen mit dem Zustand eines Systems vor (oder nach) jeder in ihm getroffenen Innen/Außen-Unterscheidung, also auch mit dem Zustand eines Babys oder einer Anemone. Ich komme sehr viel später darauf zurück, daß der Nichtgebrauch einer Unterscheidung nicht identisch ist mit dem Nicht-Vorliegen eines Unterschieds.

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ist.63 Die einseitige Fläche der Möbius-Schleife war ein Beispiel dafür; ein anderes ist der Torus, der mit einer Grenze nur eine Seite unterscheidet.64 Danach fällt alle Unterscheidung (auch die von Innen/Außen, auch die Unterscheidung der einen Seite oder der einen Fläche) weg.65 Die höchste Ek63 | Dieselben Motive dann in der Moderne: »Die Sonne war unterdessen höhergestiegen; die Stühle hatten sie wie gestrandete Boote in dem flachen Schatten beim Haus zurückgelassen, und lagen auf einer Wiese im Garten unter der vollen Tiefe des Sommertags. Sie taten es schon eine ganze Weile […]. Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. ›Da ward mir das Herz aus der Brust genommen‹, hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich dessen. […] Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein Öffnen und Schließen des Auges, sie war ans tausendjährige Reich gelangt, Gott gar gab sich vielleicht zu fühlen. Und während sie, obwohl es doch die Zeit nicht mehr geben sollte, eins nach dem andern das empfand; und während ihr Bruder, damit sie bei diesem Traum nicht Angst leide, neben ihr war, obwohl es auch keinen Raum mehr zu geben schien: schien die Welt, unerachtet dieser Widersprüche, in allen Stücken erfüllt von Verklärung zu sein.« Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., die Fassung S. 1232f. 64 | Vgl. Fuchs, Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, a.a.O. Man denke sich nur einen Gartenschlauch, in dem ein beliebiger Querschnitt gehärtet würde: er unterschiede nur einen Bereich mit einer doppelseitigen Grenze. 65 | »Ich habe etwann gesagt, es gäbe im Geiste eine Kraft, die sei allein frei; ein andermal habe ich gesagt, es gäbe in der Seele eine Festung; und wieder ein andermal, eben das sei ein Licht; und noch ein andermal nannte ich es ein Fünklein. Ich sage aber nun: es ist zwar weder dies noch das, immerhin ist es ein Was, das höher ragt über allem Dies und Das als der Himmel über der Erde. Darum benenn ich’s nun in einer vornehmeren Weise, als ich es je getan: doch da lacht es schon der ›Vornehmheit‹ wie der ›Weise‹ und ist auch darüber weit hinaus. Es ist von allen Namen frei, und aller Formen bar, ein durchaus Lediges und Freies, wie nur Gott ledig und frei ist. Und rein nur in sich.« Meister Eckharts Schriften und Predigten (hrsg. von Büttner, H.), 2 Bde., Jena 1923, Bd. 2, S. 128.

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56 | Theorie als Lehrgedicht stase (die des asam prajnata-samadhi so wie die der innersten Region der innersten Burg) kennt keinen Raum und keine Zeit (damit auch nicht: das Verschiedene, das sie erzwingt oder durch sie erzwungen wird). Sie kennt nur (nichtkennt müßte man sagen) die All-Einheit, die Nicht-Unterschiedenheit, den Verlust aller Bilder, »nicht mehr Bilder der Wirklichkeit, sondern diese Wirklichkeit selbst«.66 Soviel können wir jedenfalls sagen, wenn denn die Bezeichnung des Systems eine Innen/Außen-Unterscheidung voraussetzt: Das System ist kein mystischer Gegenstand. Oder: Wenn die Mystik von Wirklichkeit redet, sprengt sie jeden denkbaren Systembegriff.

V Das im Blick auf die Innen/Außen-Differenz eigentlich Spannende an der Mystik ist, daß sie einen außerordentlich raffinierten re-entry dieser für sie zentralen Unterscheidung vollzieht. Im Innen wird die Unterscheidung Innen/Außen noch einmal aufgegriffen, aber so, daß das Innen wie ein Außen erscheint, wie ein Raum, in dem sich jemand, zum Beispiel Gott, treffen läßt. Das Abgeschlossene par excellence, dieser Innenraum, ist paradoxerweise unbegrenzt, unendlich, nicht auslotbar, sonst könnte er nicht der Einwohnung des unendlichen Gottes dienen.67

66 | Ignatius von Loyola, zit. nach Bossard, Die »Innere Burg« der Teresa von Ávila, a.a.O., S. 104f. Vgl. auch Johannes vom Kreuz, IV. Kapitel, »Unsere für die mystische Theologie notwendige Zubereitung« (Abschnitt 5) in: »Kurze Abhandlung über die dunkle, bejahende und verneinende Erkenntnis Gottes sowie über die Art der Liebesvereinigung mit Gott«, hier zit. nach einer E-Mail von Robert Krokowski am 22.12.1998: »[…] beachte man, daß die Seele, wenn sie mit dem Leibe vereinigt wird, wie eine unbemalte Leinwand ist, die noch kein Bild an sich trägt. Hat sie sich aber mit dem Leibe vereinigt, dann nimmt sie mittels der Sinne und geistigen Vermögen Formen und Bilder von Dingen in sich auf, die sie allen Vermögen aufdrückt und einprägt. Solange nun die Seele diese Formen und Bilder in sich trägt, kann sie keine Befähigung für die reine und bilderlose Beschauung haben. Denn die Erkenntnistätigkeit der Sinne hindert und schädigt diese Beschauung, die an sich übernatürlich ist, sowie auch die Vereinigung der Seele mit Gott […].« 67 | »Tu autem eras interior intimo meo.« So formuliert Augustinus, Confessiones III, vi, 11, hier zit. nach Keller, înlougen. Blicke in symbolische Räume an Beispielen aus der mystischen Literatur des 12.-14. Jahrhunderts, a.a.O., S. 354, deren Argumentation wir uns im weiteren so anschmiegen, daß wir es nicht jedesmal nachweisen.

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»Danabe sprach sant Augustinus: ›gús uz, daz du múgest erfúllet werden; ganz uz, uf daz du múgest ingon‹; und sprach ouch anderswo: ›o du edele sele, o edele creature, waz gest du uz dir suchen den der allzuomole und aller werlichest und blœslichest in dir ist, und sit das du bist teilhaftig goetlicher nature, waz hest du denne zuo tuonde oder zuo schaffende mit allen creaturen?‹ Wenne der mensche alsus die stat, den grunt bereitete, so ist kein Zwifel do an, gott müesse do alzuomole erfúllen …«68 Passagen wie diese desorientieren den euklidischen Raum. Zwar macht er die Innen/Außen-Unterscheidung möglich (oder: wird durch sie auf der Ebene naturaler Beobachtung installiert), aber mit der Mystik kommt es zu einen abweichenden Gebrauch, zu einer Semantik der Vertauschung und Verwischung, der Invagination und Intumeszenz, der Ein- und Ausstülpung, der Erfüllung und Entleerung, kurz: einer Semantik, in der es keine einfachen Linien im Raum gibt, keine Wege, die klar gezeichnet sind.69 Daraus resultiert eine maximale Vorstellungsüberforderung, die aber, wenn man so will, sozial zugelassen ist70: Die Mystik darf (daran ist sie nachgerade zu erkennen) den Raum aus seinen wahrnehmungstechnischen Vor-

68 | Johannes Tauler, in vereinfachter Schreibweise, zit. nach ebenda, S. 355. 69 | Wir haben im Moment die Mystik im Blick als ein Beispiel, nicht: als den einzigen Fall. Im übrigen finden sich die theoretischen Raumverhältnisse gespiegelt in den Inklusions/Exklusions-Verhältnissen der meist in Klöstern lebenden Mystikern. Vgl. ebenda; ferner Fuchs, P., Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: Zeitschrift für Soziologie 15/6, 1986, S. 393-405, in geringfügig erweiterter Fassung abgedruckt auch in: Luhmann/ Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. 70 | Sie hat Vorbilder, die Vorbilder haben. Schon Paulus kann offenbar mitteilen, was sich jeder Mitteilung entzieht, und er kann es nur, insofern er erwarten darf, verstanden zu werden. Die folgende Passage enthält zugleich die Verdoppelung des Menschen in einer glänzenden rhetorischen Figur: »Si gloriari opportet (non expedit quidem), veniam autem ad visiones, et relevationes Domini. Scio hominem in Christo ante annos quatuordecim, sive in corpore nescio, sive extra corpus nescio, Deus scit, raptum hujusmodi usque ad tertium caelum. Et scio hujusmodi hominem, sive in corpore, sive extra corpus nescio, Deus scit : quoniam raptus est in paradisum : et auditivit arcana verba, quae non licet homini loqui.« 2 Kor. 11, 19-33. (Jener Mensch ist Paulus.) Diese Verdoppelungen scheinen mir typisch für die Paulinische Theologie. Sie führen in den wunderbaren Tausch hinein. Im Brief an die Galater (2,20): »Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat […].« Siehe dazu, daß dieser Tausch »Schlüssel zum Allerheiligsten der paulinischen Christusmystik« genannt werden darf, Biser, E., Der Zeuge, Graz 1981, S. 51.

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58 | Theorie als Lehrgedicht aussetzungen nehmen und kann ihn deshalb als ein Arrangement von Unterscheidungen (also tatsächlich: theoretisch) behandeln.71 Sie kann begriffen werden als eine perfekte De-Ontologisierung des Raumes und damit als Musterbeispiel einer frühen konstruktivistischen Theorie.72 Mystische Innerlichkeitspraxis, das ist die Konstruktion eines gleichsam taumelnden, sich unentwegt auflösenden, sich verschachtelnden Raumes, in dem die Materie das Immaterielle (der Leib die Seele) enthalten kann, aber das Immaterielle zum »Ort einer Fülle« wird.73 Das Kleid des Leibes (lih-hamo im Althochdeutschen)74 hegt ein, umfriedet Beinhaltungen, und das Arrangement aller Beinhaltungen stürzt im Innersten in den Abgrund der Abgründe. Der Mensch bewohnt sich selbst, aber mit ihm wohnen in ihm andere, insbesondere Gott, durch den dieser Weltinnenraum inszeniert ist, in dem wiederum die Menschen beinhaltet sind, unter denen dann Gott inkarniert.75 Der Topos der wechselseitigen Immanenz be71 | Sie ist darin direkte semantische Wegbereiterin dessen, was dann die moderne Physik treiben wird. Sie ist ja auch nur möglich, weil man ihr das Verlassen aller Wahrnehmungsvoraussetzungen konzediert, wenn sie von ihren »Objekten« redet (nicht im Blick auf die Messungen, die diesem Reden vorangehen oder es begleiten). Dasselbe gilt für die Psychoanalyse, insbesondere in der Form, die ihr Lacan gegeben hat. 72 | Nicht der frühesten. Das wäre vielleicht die Theorie des Parmenides. Siehe jedenfalls Fuchs, Theorie als Lehrgedicht, a.a.O. 73 | Siehe für das Taumeln der Metaphern folgendes Beispiel: »Durchbohre, o liebreichster Jesus, das Innerste meines Herzens mit der süßen und heilsamen Wunde Deiner Liebe […]. Laß meiner Seele Seufzen und Verlangen ganz allein auf Dich gerichtet sein. Dich begehre sie und sie schmachte nach Deinen Vorhöfen; Sie verlange aufgelöst und bei Dir zu sein. Laß meine Seele allezeit nach Dir hungern, Du Brot der Engel, Du Erquickung frommer Seelen […]. Ja, laß mein Herz hungern nach Dir, den zu schauen die Engel verlangen, und Dich verkosten; laß mein Innerstes von Deinem süßen Wohlgeschmack erfüllt werden. Meine Seele dürste nach Dir, dem Quell des Lebens, der Weisheit und Wissenschaft, dem Quell des ewigen Lichtes, dem Strom der Wonne, dem Ueberfluß des Hauses Gottes […].« Gebet des Heiligen Bonaventura, zit. nach: Das vollständige Meßbuch der katholischen Kirche, nach der Originalausgabe der Benediktiner von Affligem, bearbeitet von den Benediktinern zu Ilbenstadt, 11.-20. Tausend, Dülmen 1931, S. 49f. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es im Kontext der Kommunion steht, im Kontext der Verzehrung Gottes in der Hostie. 74 | Vgl. Keller, înlougen. Blicke in symbolische Räume an Beispielen aus der mystischen Literatur des 12.-14. Jahrhunderts, a.a.O., S. 356. 75 | Wer häufig in die Messe geht, kennt die Formel: Und mit ihm und in ihm und durch ihn …

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zeichnet diese schwierigen (mit Hilfe wahrnehmungsförmiger Vorstellungen nicht nachvollziehbaren) räumlicher Verhältnisse.76 Eine der zentral gelegenen Modellbildungen der Mystik ist deswegen auch die Gottesgebärerin (Genetrix Dei): Maria. Sie wird, gleichsam physisch, zum Ort der Einwohnung des Unendlichen in der Immanenz. Die Metaphern, die für sie einstehen, sind sehr häufig spatial, etwa in der lauretanischen Litanei: »… Heilige Gottesgebärerin, … Du Spiegel der Gerechtigkeit, Du Sitz der Weisheit … Du geistliches Gefäß, Du ehrwürdiges Gefäß, Du vortreffliches Gefäß der Andacht, Du geheimnisvolle Rose, Du Turm Davids, Du elfenbeinerner Turm, Du goldenes Haus, Du Arche des Bundes, Du Pforte des Himmels, Du Morgenstern …«77

Maria ist die »Ur-Wohnstatt Gottes«, die »verschlossene Kammer«. »Sú waz ingeslossen«, von »allem abegescheiden«.78 Sie ist selbst die Klausur in der Klause, in der die Verkündigung der doppelten Geburt geschieht: der geistlichen Geburt des Gottes und der physischen Niederkunft.79 Maria liefert das perfekte Modell80: Gott kann im Innen hausen, stärker noch: im innersten Innern, in Räumen der Intimität, in der »chawmbre of thi sowle«.81 76 | Es fällt mir daher schwer, hier von allegorischen Raumgestaltungen zu reden. Wir haben es mit einer Begriffsssprache zu tun, also mit einer Theorie. 77 | Das vollständige Meßbuch, a.a.O., S. 1359f. 78 | Keller, înlougen, a.a.O., S. 357f. 79 | Nur so am Rande: Ein wundervoller Nachklang dieser Symbolik findet sich in Goethes Wahlverwandtschaften. Siehe dazu Staroste, W., Raumgestaltung und Raumsymbolik in Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: Etudes Germaniques 16/3, 1961, S. 209-222. Im übrigen ist dieser Roman ein Paradebeispiel für die Vertauschungen und Verwischungen, um deren Plausibilisierung es uns hier geht. 80 | Wiederum nicht: das erste Modell. Keller, înlougen, a.a.O., S. 360, weist daraufhin, daß auch diese Symbolik diabolisch werden kann. Die Frau kann Wohnstatt des Bösen sein. Das ist ein theoretisches Präludium der Hexenverfolgungen. 81 | Margery Kempe, zit. nach ebenda, S. 359. Daß es hier um die Semantik

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60 | Theorie als Lehrgedicht Aber dieses Modell, das noch konkret (nach der Weise einer Allegorie, eines übersetzbaren Bildes) verstanden werden kann (und verstanden wurde), wird im eigentlichen Sinne mystisch, wenn die Raumvorstellung, die es ermöglicht, noch einmal aufgelöst wird, wenn das innerste Innen des Menschen (dieses receptaculum), das ihm selbst nicht zugänglich ist, weil es ausschließlich dem Gotte vorbehalten ist, wenn dieses innerste Intimität auch für Gott nicht mehr (oder nur einer Sonderbedingung) geöffnet ist. Dieser innerste Ort ist (für Meister Eckhart) ein Nicht-Ort82, der weder zit noch vleisch kennt, kein kategoriales Sein ist – das bürgelîn, der Seelengrund – Sein ohne Differenz, mithin ohne Zeit, ohne Raum.83 Entscheidend ist, daß auch Gott (und ich benutze jetzt die moderne Terminologie) keinen Zutritt zum Seelengrund hat, wenn und insoweit er ein Beobachter ist, also unterscheidet und bezeichnet, sich unterscheidet und bezeichnet, insoweit er »sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner personen«. Gott als jemand, der einen Namen trägt (trinitarisch entfaltet ist), sieht nichts im bürgelîn: »Mit guoter wârheit und alsô waerlîche, als daz got lebet! Got selber luoget dâ niemer în einem ougenblik und geluogete noch nie darîn, als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner personen. Diz ist guot ze merkenne, wan diz einic ein ist sunder wîse und sunder eigenschaft.« 84 Jede räumliche Repräsentation wird unmöglich, die Innen/Außen-Unterscheidung vernichtet, wenn Gott so etwas wie schiere Gottheit wird im Zuvor und im Jenseits allen Unterscheidens.85 »Und dar umbe; sol got iemer dar în geluogen, es muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft; daz muoz er alzemâle hier vor lâzen, so er iemer dar în geluogen. Sunder als er ist einvaltic ein, âne alle wîse und eigenschaft; dâ enist er vater noch sun noch hei-

der Intimität geht, dürfte kaum bestritten werden. Für unser Thema ist wichtig, daß hier zwei Beispielsbereiche aufeinanderklappen, bei denen es um die Verwischung oder Vertauschung der Innen/Außen-Unterscheidung geht. 82 | »Rien n’aura eu lieu que le lieu excepté peut-être une constellation«, formuliert Mallarmé Jahrhunderte später. 83 | Wir orientieren uns hier weiterhin an Keller, înlougen, a.a.O., S. 361f. 84 | Ebenda, S. 361. Hervorhebung durch mich. 85 | Gottheit als absolute Transzendenz, als En Sof, wie es in der kabbalistischen Gotteslehre heißt. Vgl. dazu und zu den reichen Strukturen der Kabbala, die sich aus diesem Ausgangsparadox ergeben, Maier, J., Kabbala. Jüdische Mystik des Mittelalters, in: Böhme, W. (Hrsg.), Zu Dir hin, Über mystische Lebenserfahrung von Meister Eckhart bis Paul Celan, Frankfurt 1987, S. 43-62.

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liger geist in disem sinne und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz.«86 Dies waren Beispiele. Ich möchte schließen mit der Diskussion der Frage, wie diese Verwischung des Innen/Außen in der Systemtheorie erklärt oder jedenfalls angesteuert werden kann. Ich wähle einen unter mehreren möglichen Wegen, wenn ich bei diesem Versuch vom (UM)WELTBegriff der Theorie ausgehe.

VI In herkömmlicher Redeweise klingt es zumindest merkwürdig, wenn man sagen wollte, daß die Umwelt eines auf der Form von Sinn gegründeten Systems selbst ein Etwas sei, in das andere Sinnsysteme eingestreut sind, die diese Umwelt je für sich anders arrangieren.87 Ein solches Etwas wäre selbst nicht ein System, es wäre das genaue Gegenbild, aber eben eines, das sehr opak, sehr diffus ist, ein Etwas, das über sich nichts aussagt, keine Selbstreflexion unterhält, keine Identität hat88, es sei denn: durch die Differenz zum System, im einfachsten Fall also wiederum als Betrag des Abzugs des Systems von der Welt. Die Umwelt ist alles, was nicht das System ist, aber das System wie die Umwelt sind Teil der Welt, die ihrerseits (sonst würde die mathematische Analogie nicht funktionieren) keine Umwelt hat, weil sie kein System ist, und sie ist kein System, weil sie keine angebbare Umwelt hat.89 Ohne Umwelt kein System, ohne System keine Umwelt. Andererseits sind Systeme Umweltgegebenheiten für andere Systeme. Unklar ist also, wie in der Unterscheidung von System und Umwelt diese Um-Welt gedacht sein kann. Die Welt steckt schon drin im Spiel der Unterscheidung, und wenn wir darauf verzichten, dieses Um (peri) ohne

86 | Keller, înlougen, a.a.O., S. 362. Zu den philosophischen Hintergründen des Dies und das (esse hoc et hoc) vgl. Albert, K., »Das Sein ist Gott«. Zur philosophischen Mystik Meister Eckharts, in Böhme (Hrsg.), Zu Dir hin, a.a.O., S. 65-77. 87 | Es klingt nur dann nicht seltsam, wenn man den Beobachter einführt, der in oszillierenden Sequenzen System und Umwelt reifiziert. 88 | Also eine Art Magma, das Paradox einer ununterschiedenen Mannigfaltigkeit, im Sinne Castoradis’, hier zit. nach Oberheber, U., Spiel der Ordnungen. Einführung in die Philosophie Gotthard Günthers, Endbericht zum Projekt »Technologische Zivilisation und transklassische Logik« (= Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion, Heft 33), Klagenfurt/Wien 1990, S. 9. 89 | Vgl. etwa Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, a.a.O., S. 36

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62 | Theorie als Lehrgedicht weiteres räumlich zu nehmen (und das wollen wir nun einmal nicht), als Einhüllung eines Kerns, als Äther, in dem die Systeme kondensieren, als Umgreifendes, in das die Systeme einbegriffen sind, dann müssen wir den Weltbegriff prüfen, der es gestattet (oder auch mißverstehensanfällig macht), von Umwelt zu reden.90 Wir ziehen also eine theoretische Seitenlinie aus, wenn wir den Umwelt-Begriff vom Welt-Begriff her angehen.91 Die Frage, was die Welt in der Umwelt von Systemen zu suchen hat, warum man also nicht einfach von einer Um-Gebung, einem Drumrum, einer enveloppe spricht, wird man (wie wir es auch gleich tun werden) von Sinnsystemen her zu beantworten versuchen, Systemen also, die intern eine Innen/Außen-Unterscheidung nicht nur praktizieren, sondern auch noch beobachten, mithin für sich selbst so ein Innen sind, daß sie Innen/ Außen in sich noch einmal unterscheiden. Für solche Systeme ist (um mit der berühmten Definition Batesons zu spielen) eine Information nicht einfach ein Unterschied, der einen Unterschied macht.92 Sie ist ein Unterschied, der unterschieden wird. Sie ist der Unterschied als Unterscheidung, die sich von anderen Unterscheidungen unterscheiden läßt.

90 | Dabei bleibt nichts, als selbst in jenem Nacheinander zu arbeiten, also jetzt (zuerst) die Seite der Umwelt anzusteuern, so als müßte nicht zugleich vom System die Rede sein. Wir stecken in der Falle, auf die wir aufmerksam machen wollen, und müssen deshalb warnen vor dem eigenen Text, und der einzige Trost ist, daß sich um etliches später zeigen wird, daß dieser Text kein Objekt ist, das fehlerhaft sein könnte. Kein Text ist anders zu begreifen denn als konditionierte Koproduktion von Bewußtsein und Kommunikation. Es mag also sein, daß sich der Text von später her umschreibt, umversteht. 91 | Vgl. aber dazu, daß diese Seitenlinie durchaus unter das heterarchische Bauprinzip der Systemtheorie fällt und als theorie-architektonisch bedeutsam beobachtet werden kann, Pfeiffer, R., Philosophie und Systemtheorie. Die Architektonik der Luhmannschen Theorie, Wiesbaden 1998, S. 55ff. et passim. Es ist daneben instruktiv, daß Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, den Begriff Umwelt im Register einmal aufführt, den der Welt und entsprechender Komposita aber entschieden häufiger. 92 | Vgl. aber zum Versuch, einen Informationsbegriff für sinnfreie Systeme zu schaffen, Bastide, M./Lagache, A./Lemaire-Misonne, C., Le paradigme des signifiants: Schème d’information applicable en Immunologie et en Homeopathie, in: Revue internationale de systèmique 9, 1995, S. 237-249. Wir unterscheiden nur den Fall, daß ein Unterschied einen Unterschied macht in einem informationsverarbeitenden System (Information erster Ordnung), vom dem Fall, daß eine Unterscheidung einen Unterschied macht (Information zweiter Ordnung). Und sagen dann: daß Sinnsysteme Informationen zweiter Ordnung prozessieren.

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Sinnsysteme sind unterscheidende Systeme. Sie beobachten Unterscheidungen, und unter anderem unterscheiden sie in sich selbst Innen und Außen, und selbst diese Unterscheidung können sie, ohne es zu müssen, noch einmal unterscheiden, wie wir es gerade tun.93 Sie schreiben, wie man sagen könnte, in die Welt der Unterschiede eine eigene Welt der Unterscheidungen ein. Nur sie unterscheiden Unterschiede. Sie sind in dieser Hinsicht konkurrenzlos.94 Nur sie lassen die Frage zu, wie die Umwelt von ihnen unterschieden wird. Und nur für sie gilt, daß die Antwort tautologisch ist: Sinnförmige Systeme spannen sinnförmige Umwelten auf. Sie können, was immer sie beobachten, nur in der Form der Wahl aus Überschüssen registrieren. Fatal ist, daß ausschließlich diese Form für Weltbeobachtung zur Verfügung steht. Beobachtete Welt hat ihre Epiphanie in der konditionierten Koproduktion psychischer und sozialer Systeme, auch dann, wenn die Beobachtung sich auf Gegebenheiten bezieht, die von Sinnsystemen her als nicht sinnförmig operierend begriffen werden: auf Steine, Viren, Krokodile, Schreibtischlampen, Computer, auf die nicht sinnförmig gedachte (aber nur in der universalen Kategorie des Sinns bezeichenbare) Staffage jener Koproduktion.95 Nicht-Sinn (also auch das nicht sinnförmige System) begeg-

93 | Das sind sehr voraussetzungsvolle Leistungen. Siehe zu Mutmaßungen über den Erwerb dieser Fähigkeit bei Säuglingen Fuchs, P., Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt 1998. Vgl. zur Annahme, daß Beobachtungen »logisch mächtig genug« sein müssen, um diesen re-entry zu vollziehen, Luhmann, N., Die Soziologie und der Mensch. Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, S. 48. 94 | So könnte man jedenfalls damit beginnen, die Unterscheidung von Natur und Kultur zu reformulieren. Natur wäre dann nach der Schellingschen Wendung die Indifferenz gegenüber Identität und Differenz, und wir würden sagen: Sie wäre die Unterscheidungslosigkeit, wieviel an Unterschieden auch immer ein sinngeführter Beobachter an ihr unterscheiden kann. Im übrigen ist wichtig, daß wir mit der These der Konkurrenzlosigkeit nicht die einer Hierarchie verbinden, nicht die einer Superiorität. Aber das erhellt schon, denke ich, daraus, daß jene Einzigartigkeit nicht auf psychische Systeme ausschließlich bezogen wird, sondern ebenso auf soziale Systeme, die selbst weder (er-)leben noch wahrnehmen. Bei einer ethischen Diskussion käme es mir eher auf (er-)lebende Systeme an, und dann in der großen Bandbreite (er-)lebender Systeme auf jene, die dadurch ausgezeichnet sind, daß sie Erleben erleben. 95 | Daß man dann Sinn verlassen müßte unter dem Gesichtspunkt einer totalen Abstraktion und dorthin zu gehen hätte, wo die Nicht-Prädikation, die Prä-Signi-

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64 | Theorie als Lehrgedicht net immer nur sinnförmig, begegnet unterscheidenden Beobachtern, für die Unterschiede nicht (sozusagen reißverschlußförmig) einfach in Unterschiede einhaken, sondern unterschieden werden. So kann man denken (oder darüber reden), daß es Hinter-Sinn-Schichten des Seins gebe, das indifferente Spiel der Natur, einen Saum des Nichtsinnhaften96, der den Horizont des Sinns trägt und erhält, ohne selbst Sinn zu sein, die Domäne des Präsignikativen97, aber man denkt (und redet) auch dies: in der Form von Sinn. Daran scheint sich nichts zu ändern, wenn der System- und damit auch der Beobachtungsbegriff so abstrahiert wird, daß er es gestattet, über (allopoietische oder autopoietische) Systeme, die nicht sinnförmig operieren (zum Beispiel lebende Systeme, Maschinen im weitesten Sinn etc.) Aussagen zu treffen. Auch dies geschieht in der Form von Sinn, in der Form von Überschuß und Selektion, oder, wie wir lieber sagen, in der einzigartigen Form des zeitlichen Nachtrags, in der das, was aktuell geschieht, erst geschehen ist, wenn es durch ein weiteres Ereignis identifiziert wird, in der Ereigniskonstruktion post festum, in der différance. Um dafür einen bündigen Ausdruck zu haben, kann man die Sinnzeit von der Naturzeit unterscheiden.98 Die Sinnzeit ist retrokonstruktiv, in jeder Aktualität die Produzentin jenes fundamentalen Aufschubs, der Identität und Differenz different hält und kein Ereignis mit seiner Aktualität zusammenklappen läßt. Die Sinnzeit ist die Zeit des Zu-spät. Und des Immer-zuSpät.99 Weder sozial noch psychisch (also auch nicht: für die konditionierte Koproduktion, die letztlich unser Thema ist) gibt es ein hic et nunc, ein hic Rhodos, hic salta.100 Jede Gegenwart ist für Sinnsysteme konstruierte Gefikation herrscht, über den Saum des Sinns hinaus, das ist das Gotthard Günthersche Projekt. Vgl. Ditterich, J./Kaehr, R., Einübung in eine andere Lektüre. Diagramm einer Rekonstruktion der Güntherschen Theorie der Negativsprachen, in: Philosophisches Jahrbuch 86/2, 1979, S. 385-408, hier S. 386. 96 | Siehe zur Metapher des Saumes (der dann das Leben bezeichnet, insofern es über die Sphäre des Intellektes hinausschwillt) Bergson, H., Schöpferische Entwicklung, Jena 1912, S. 52-59. 97 | Ebenda. 98 | Angeregt durch Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, a.a.O., S. 309. Die Naturzeit wäre dann die der Indifferenz von Identität und Differenz. Ich komme noch umfangreicher darauf zurück. 99 | Wundervoll paradox bei Handke, P., Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg, Wien 1982, S. 29: »Kurz bevor der Schmerz tatsächlich einsetzte, wurde er schon gedacht, an der späteren Schmerzstelle.« 100 | Siehe als einschlägige Analyse Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.

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genwart.101 Und es gibt keine Aktualität, die für solche Systeme anders als in dieser Konstruktion beobachtet werden könnte.102 Die Folge ist, daß nicht-sinnförmige Systeme in sinnförmiger Beobachtung nur verkannt auftauchen.103 Oder, um uns die hier mögliche Referenz auf ein Original zu ersparen, das verkannt werden könnte: Es gibt keinen Zugriff auf nichtsinnförmige Systeme.104 Auch nicht, wie man vielleicht hinzufügen sollte, auf das, was an sinnförmigen Systemen die nicht-sinnförmige Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Darüber können wir nachdenken, darüber läßt sich reden, aber eben nur dies, nie etwas anderes.105 101 | Das neuronale System, das selbst nicht als Sinnsystem gilt, liefert in jeder Aktualität das, wofür das Bewußtsein immer zu spät kommt: Realität. 102 | Jeder Versuch, ohne Beobachtung zu beobachten (denn das hieße: ohne Konstruktion), würde sinnhafte Existenz auslöschen. »›Wir‹ erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie wieder zusammenfügen. Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen.« Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. xviii. 103 | Dies, scheint mir, gilt auch für die subatomare Physik, jedenfalls immer dann, wenn sie die Paradoxien, auf die sie trifft, dem Gegenstandsbereich zuordnet und nicht sich selbst als sinnlimitierter Beobachterin. 104 | Das klingt kontraintuitiv, aber auch der Kontakt mit dem Körper wird bewußt unterschieden. Der Schmerz ist nicht einfach nur ein Unterschied. Wir wissen nicht, wie es ist, bezeichnungsfrei zu leiden, Lust zu empfinden oder zu sterben. Wir beobachten Tiere (oder wir reden darüber) und denken, sagen, sie hätten Schmerzen oder Lust oder Todesangst. Aber worauf es hier ankommt, ist, daß wir dies nicht wissen – außer in der Form von Sinn. Das für mich wichtigste Beispiel ist in diesem Kontext Franz Kafkas »Die Verwandlung«, eine der schönsten und hier instruktiven Stellen darin: »Trotz aller Not konnte er bei diesem Gedanken ein Lächeln nicht unterdrücken.« Wir haben es mit dem Lächeln eines ungeheuren Ungeziefers zu tun, ein Lächeln jenseits jeder Vorstellung – und gleichwohl auf der Basis von Sinn gesagt. Vgl. dazu Schlingmann, C., Die Verwandlung, in: Hirschauer, R./Weber, A. (Hrsg.), Interpretationen zu Franz Kafka, München 1973, S. 81-105, hier S. 95. 105 | Dagegen könnte Wahrnehmung eingewandt werden. Aber soweit ich sehe, kann man heute von nicht sinnförmigen Wahrnehmungen kaum sinnvoll reden. Der Wolf sieht kein Rotkäppchen, der Hund wittert kein Kaninchen, die Katze spielt nicht mit der Maus. Der Wolf ist kein Wolf, der Hund kein Hund, die Katze keine Katze, und die Maus keine Maus – für eine Wahrnehmung, die die Registratur von Unterschieden ist oder die Projektion einer bezeichnungsfreien Nahwelt und nicht: aufgeladen mit Signifikation im Medium Sinn. Übrigens gelten diese Sätze selbst nur aus der Sinnwelt heraus. Nichts läßt sich gegenwärtig darüber sagen, ob es in psychi-

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66 | Theorie als Lehrgedicht Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man Spencer-Browns »Existence is a selective blindness« sehr genau nimmt.106 Existenz kommt ins Spiel durch den Einsatz von Unterscheidungen, bei denen jeweils eine Seite stärker in Anspruch genommen wird als die andere. Gesehen wird das Loch, nicht das Nicht-Loch, die Masche, nicht die Nicht-Masche, oder im Beispiel Spencer-Browns: Wir spülen nicht das Geschirr, sondern kratzen das Universum ab, »um dem Geschirr eine saubere Grenze zu geben.«107 Würde dafür Aufmerksamkeit abgezweigt (würde die Aufmerksamkeit gleich verteilt), würde man also versuchen können, gleichzeitig Loch/ Nicht-Loch, Masche/Nicht-Masche, Geschirr/Nicht-Geschirr zu beobachten, verschwände die Grenze, gäbe es keine Unterscheidung mehr, löste sich Innen und Außen auf.108 Die Welt schnurrt auf die Nicht-Unterscheidung zusammen.109 schen Systemen von Wölfen (was immer das sein mag) Sinnäquivalente gibt. Impulse dazu müßte man aus der Artificial Intelligence-Forschung beziehen können, die genau aus dem Grund darniederliegt, daß sie all die bizarren Überlegungen, die wir uns gerade gönnen, nicht nachvollzieht. 106 | Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. 194. 107 | Ebenda, S. 191, Anmerkung *. Spencer-Brown wählt zwar ein ökotrophologisches Beispiel, aber im Versteck dieses Beispiels sagt er auch, daß es keine Tätigkeit gibt, die nicht das Universum moduliert. Ich finde darin etwas sehr Tröstliches. Im übrigen sind weder die Beispiele Spencer-Browns noch meine sonderlich originell: »Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: Durch ihr Loch in der Mitte wird das Rad brauchbar. Forme Ton und bilde ein Gefäß: Es ist die Leere, die es brauchbar macht. Schneide Tür und Fenster aus, damit ein Raum entsteht: Es sind die Löcher, die ihn brauchbar machen. Also kommt Gewinn durch das, was da ist, Brauchbarkeit durch das, was nicht da ist.« Lao-Tse, zit. nach Watts, a.a.O., S. 48f. In der Übersetzung von Victor von Strauss (Lao-Tse, Tao Te King, Zürich 1959, S. 68) ist »Leere« durch »Nicht-Sein«, und »das, was da ist« durch »Sein« übersetzt. Nelly Sachs dichtet (Gedichte, Zürich 1966, S. 359): »Nichtstun merkbar Verwelken Meine Hände gehören einem fortgeraubten Flügelschlag Ich nähe mit ihnen an einem Loch aber sie seufzen an diesem offenen Abgrund –« 108 | Ich zitiere aus diesem unglaublichen Last word, vgl. Spencer-Brown, Ge-

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Diese Einschätzung kann man kaum noch tiefer legen, allenfalls festhalten, daß sie für die Sinnwelt gilt, in der Unterscheidungen und Bezeichnungen vorgenommen werden, in der den Anweisungen Spencer-Browns gefolgt werden kann, so daß sich auch sagen ließe: Meaning is a selective blindness.110 Aber das ist selbst sinnförmig gesagt und fällt deshalb unter das eigene Gesetz. Der Satz formuliert seine eigene Blindheit. Er sagt nicht, wogegen er sich unterscheidet (eher schon, wogegen er sich entscheidet), setze der Form, a.a.O., S. 194: »We do exactly the same with ourselves. When we die the self-boundary eventually disappears. Before it did so, we ascribed a huge value to what we called ›inside‹ of ourselves, and comparatively little value to what we called ›outside‹. The death experience is thus ultimately the loss of the selective blindness to see both sides of every distinction equally. This by definition is absolute knowledge or omniscience, which is mathematically impossible except as equated with no knowledge at all. In the ascription of equal values to all sides, existence has ceased altogether, and the knowledge of everything has become knowledge of nothing.« Von hier aus läßt sich auch eine Theorie gewinnen, die die Logik der Auflösung von Symptomen nachzeichnet als Logik einer Unterscheidungsvernichtung. 109 | Siehe auch die Studie über Zen-Buddhismus in Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. Der abstrakte Expressionismus verlangt bei den Ergebnissen des action painting, daß der Beobachter ganz nahe an die Bildfläche herangeht. Das Reale entsteht dann als Nahezu-Löschung der Unterscheidungsfähigkeiten des Beobachters, als Angriff, als Befall des Vermögens zur Unterscheidung. Vgl. Zizek, S., MehrGeniessen. Lacan in der Populärkultur, Wo Es war 1, Wien 1992, S. 66, Anm. 19. Wenn die Nicht-Unterscheidung geschähe, hätte man es mit dem Großen Tod zu tun, der Auflösung jeder Zentrik, etwas Positivem in den buddhistischen Traditionen, natürlich auch in der chinesischen Philosophie. Die Symbole Yin und Yang stehen für eine Polarität ein, in der nicht eine Seite der Unterscheidung verschwinden kann, ohne daß die andere verschwindet. In James Joyce Erzählung »The Dead« (Frankfurt a.M. 1990, S. 115) heißt es am Ende: »A few light taps upton the pane made him turn to the window. It had begun so snow again. He watched sleepily the flakes silver and dark, falling obliquely against the lamp-light […] It was falling on every part of the dark central plain, on the treeless hills, falling softly upon the Bog of Allen and, farther westward, softly falling into the dark mutinous Shannon waves. It was falling, too, upon every part of the lonely churchyard on the hill where Michael Furey lay buried. It lay thickly drifted on the crooked crosses and headstones, on the spears of the little gate, on the barren thorns. His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead.« 110 | »Ich fülle meine Welt bis zum Rand aus; mein Gesichtsfeld als ›universales Seinsmilieu‹«, formuliert Merleau-Ponty, M., Die Prosa der Welt, München 1993, S. 151.

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68 | Theorie als Lehrgedicht und wollte man auf dieses Wogegen die Aufmerksamkeit gleichzeitig richten, verschwände sein Sinn.111 Wir folgern, daß der Weltbegriff (also auch der Um-Weltbegriff) auf Sinnsysteme bezogen werden muß, auf soziale und psychische Systeme. Jenseits von Sinn macht der Systembegriff keinen Sinn, gibt es keine Unterscheidungen, ist schiere Indifferenz gegenüber Identität und Differenz.112 Über alles da draußen, darunter, dahinter läßt sich reden – auf der Innenseite von Sinn.113 Wir schränken damit den Systembegriff entschieden ein, und nur deshalb können wir über eine Um-Welt reden. Streng genommen, behaupten wir damit, daß der Satz Es gibt Systeme nur dann Sinn macht, wenn er selbst selektiv blind, also sinnhaft ist. Er müßte lauten: Es gibt Sinnsysteme.114 Und nur Sinnsysteme beobachten. Denn nur sie sind blind-inHinsicht-auf. Der Rest ist Weder/Noch: weder tot noch lebendig, weder Innen noch Außen.115 111 | In gewisser Weise schützt Sinn vor Realität. Auf deren Destruktionseigenschaften komme ich zurück. Das Sinn-Verschwinden kann religiös geschätzt werden. »Das ganze Sein hat sich auf dieser Stufe in einen ausgedehnten, grenzenlosen Raum der Leere verwandelt, in dem nichts als etwas Bestimmtes begriffen werden kann. Der Mensch erfährt in dieser Situation unmittelbar die ganze Welt des Seins als Nichts«, kann im Rahmen des Zen formuliert werden. Vgl. Izutsu, T., Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg 1979, S. 35. 112 | Dies ist nicht selbst wieder eine ontologische Aussage. Sie beschreibt den Effekt sinngeladener Operationen. Ich komme auch darauf zurück. 113 | Wir können damit (aber ohne entsprechend weitreichende Ambitionen) sagen, daß die geistige Situation einer Zeit ihre Sinn-Situation ist und die Sinn-Situation die konditionierte Koproduktion sozialer und psychischer Systeme. Damit ließe sich Jaspers, K., Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1933 (5., zum Teil neu bearbeitete Auflage) entschieden schärfer stellen. 114 | Dies ist nur eine leichte Zuspitzung dessen, was Niklas Luhmann (Soziale Systeme, a.a.O., S. 283f.) selbst dazu sagt. 115 | Auch solche Formulierungen sind nicht neuartig. Ich denke, weil es sich in dieser Arbeit so fügt, an den mittleren Weg der achtfachen Verneinung der japanischen Sanron-Schule, hier zit. nach Brüll, L., Die japanische Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt 1989, S. 30: »Weder Entstehen noch Aufhebung – Weder Vernichtung noch Ewigkeit – Weder Einheit noch Vielheit – Weder Kommen noch Gehen -«. Die Nirvana-Idee ist nicht anders: »Es gibt, ihr Mönche, einen Bereich, wo weder Festes noch Flüssiges ist, weder Hitze noch Bewegung, weder diese Welt noch jene Welt, weder Sonne noch Mond. Das, ihr

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Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, daß der Weltbegriff der Theorie, in deren Faserwerk wir uns bewegen, in aller Regel auch vom Sinnbegriff her erläutert wird. Die Welt ist der Name für die Einheit der Differenz von System und Umwelt, und sie ist Welt für Sinnsysteme, die diese Unterscheidung benutzen.116 Sie ist überhaupt nur als Welt für Sinnsysteme aktuell, weil solche Systeme den Unterschied, den sie machen, unterscheiden.117 Dabei tritt ein interessantes Phänomen auf: Im Unterschied zu einer Tradition, die die Welt als singuläre Differenzlosigkeit (als plenum) begreift, als dasjenige, in das sich jede Beobachtung hineinrechnen muß, weil jeder Versuch, die Unterscheidung der Welt zu finden, in die Welt fällt, im Unterschied dazu ist der Weltbegriff der Systemtheorie plural, ist mithin ein (weil er Sinnsysteme voraussetzt) Weltenbegriff.118 Mönche, nenne ich weder ein Kommen noch ein Gehen, noch ein Stillestehen, weder ein Geboren-werden noch ein Sterben. Es ist ohne Grundlage, ohne Entwicklung, ohne Stützpunkt.« Udana VIII, zit. nach Kraus, F., Erlösung durch Erleuchtung. Einführung zu Daisetz Teitaro Suzuki. Der Weg zur Erleuchtung. Die Übung des Koan als Mittel, Satori zu verwirklichen oder Erleuchtung zu erlangen, Baden-Baden, o.J., S. 7ff., hier S. 19. Nur impressionistisch zitiere ich eine interessante Parallele, die die Ubiquität dieser Intuitionen belegt: »Ich habe gesehen die Leiber, nicht die Leiber; ich will sagen die Körper, nicht die Körper; ich will sagen die Beiner, nicht die Beiner; ich will sagen den Staub, nicht den Staub […]« formuliert Abraham a Santa Clara, hier zit. nach Waldenfels, H., Zen und Philosophie, in: Zen Buddhism Today, Annual Report of the Kyoto Zen Syposium, No. 2, 1984 (published by the Kyoto Seminar for Religious Philosophy), S. 1-28, hier S. 5. – Das ist nicht nur, wie Brüll (ebenda) sagt, ein Substitut für die Totalität aller Verneinungen, sondern die Verneinungsverneinung schlechthin. Dieses Weder/Noch scheint in der Logik als »Nicodscher Junktor« (aber auch als Peirce-Pfeil) aufzutauchen. Vgl. dazu Mann, Ch., A universe comes into being, in: Mind & Logic, Colour, Vagueness, Semiotics, Acta Analytica 10, 1993, S. 93-120, hier S. 101, Anm. 13. 116 | Nur deshalb kann Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 112, sagen, daß die Sinndimensionen auch »Weltdimensionen« heißen könnten. 117 | Ebenda, S. 284. 118 | Wir werden das gleich wieder in gewisser Weise einschränken und halten hier nur fest, daß mit dem Plural Welten auch ein Begriff der Pluralität von Ontologien möglich wird. Siehe etwa Rombach, H., Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel 1983. Das ist auch nicht unerheblich für die Physik und ihre Vorstellung einer großen einheitlichen Welttheorie. Vgl. Rohrlich, F., Pluralistic Ontology and Theory Reduction in the Physical Sciences, in: British Journal of the Philosophy of Science 39, 1988, S. 295-312. Am Rande noch der Hinweis, daß der Weltbegriff (als Arsenal der Dinge und Vorkommnisse) schon durch die Transzendentalphilosophie ausgehebelt wurde, die ihrerseits als Reaktion

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70 | Theorie als Lehrgedicht Denn da Sinn immer systemrelativ ist, spannt jedes Sinnsystem seine Welt auf als Einheit der Differenz, die es selbst macht, und: Es spannt seine Welt als Singularität auf, als Gegenbegriffslosigkeit119, der paradoxerweise andere Gegenbegriffslosigkeiten (Welten) anderer Systeme gegenüberstehen, die aber als durch Beobachtung in das je beobachtende System eingeschlossen sind. Unter der Voraussetzung geschlossener (autopoietischer) Systeme ergibt sich dann Polykontexturalität, eine Vielheit von Kontexturen, die nicht zur Einheit einer Welt addiert werden können.120 Für die Sinnwelt jedes Systems bleibt der Weltbegriff der Begriff des Plenums, oder besser: des Randlosen – was immer und wie immer das System beobachtet, es kommt nicht an seinen Rand heran, es konstituiert immer sich selbst, und wenn es über andere Gegenbegriffs- oder Randlosigkeiten nachdenkt, sie einrechnet, errechnet es seine Welt.121 Es gibt für solche Systeme keine transkontexturalen Operationen.122 Denn dazu müßte es einen empirischen Beobachter geben, der einen Welt-von-Welten-Begriff zu bilden wüßte, also doch einen ptolemäischen Randüber- oder Durchblicker, der sich die Schachteln der Sinnwelten je konkreter Systeme in immer größere Schachteln hineindenkt – bis hin zur Superschachtel, die alle Schachteln enthält, aber selbst in keiner Schachtel mehr enthalten ist.123 auf die Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktional differenzierte Weltgesellschaft gedeutet werden könnte. 119 | Das stimmt ausgezeichnet zu der These, daß Sinn selbst Gegenbegrifflosigkeit ist. Denn auch Unsinn oder Nichtsinn macht nur sinnhaft Sinn. 120 | Vgl. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, a.a.O. 121 | »In […] auf Wittgenstein zurückgehender Formulierung kann man […] sagen: Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann. Das verbirgt sich für das System ›hinter‹ dem Horizont, der für das System kein ›dahinter‹ hat. Das, was man ›cognized model‹ genannt hat, ist für das System absolute Realität. Es hat Seinsqualität, oder, logisch gesprochen: Einwertigkeit. Es ist, was es ist […]«. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 52. 122 | Man könnte an dieser Stelle Kommunikation einwenden, nachgerade als Paradigma der Transkontexturalität, aber eine der wesentlichen Axiome der hier bewegten Theorie ist ja gerade, daß Kommunikation kein trans oder inter erzeugt, sondern Systeme sui generis. 123 | In gewisser Weise die ungeschachtelte Schachtel, wenn wir parallel zum Gottesbeweis des unbewegten Bewegers argumentieren dürfen. Interessanterweise wird im großen Epos Perry Rhodan immer wieder mit der Idee des Strukturrisses gespielt, es gibt gleichsam Nebenschachteln (Raum- und Zeitblasen), Neben- und Hinterwelten, jedenfalls keinen definitiven Abschluß, keine plenitudo entis. Und

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Tatsächlich aber scheint es im Rahmen der Systemtheorie möglich zu sein, die Superschachtel (den Abschluß, den Horizont aller Horizonte) zu konzipieren, den »Welthorizont«, der »jeder Differenz ihre eigene Einheit als Differenz garantiert«, die »tragende Metagewißheit, daß die Welt irgendwie alles Auflösen und alles Einführen von Unterscheidungen konvergieren läßt.«124 Diese Möglichkeit eröffnet sich aber nicht durch die Voraussetzung einer Einheit, einer Identität, die ein Zuvor des Spiels der Differenzen wäre, ein selbst differenzloses Medium, in das die Spur gegraben werden könnte, sondern nichts mehr als eine »Hintergrundsunbestimmtheit« einer Gesellschaft, die aus eben diesem Grunde Weltgesellschaft heißt, daß jede Operation, die sie realisiert, Unterscheidungen prozessiert, die anders unterschieden werden könnten. Alles Bestimmen (jede Signifikation) wirft sozusagen auf der Gegenseite Unbestimmtheit aus.125 Oder, wie wir im Rekurs auf Spencer-Browns Geschirrspülkomplex sagen könnten: Jede Unterscheidung verteilt Aufmerksamkeit asymmetrisch. Sie rückt etwas ins Licht, unterscheidet irgendetwas nicht. So wird die Welt als Potentialisation, als Unvermeidbarkeit der Virtualisierung (durch die Sinnform selbst) erzeugt.126 Die Markierung evoziert den unmarked space. Es gibt nichts, was markiert werden könnte – ohne die Markierung selbst. Oder: Jede Unterscheidung im Medium Sinn ruft mit dem aktuellen Sinnzentrum die Potentialität der Sinnverweisungsschläge auf. Die Welt ist für sinnorientierte Unterscheider (oder vorsichtshalber: beim Einsatz sinnorientierter Operationen) ein unvermeidlicher Begleiteffekt des Operierens, aber zugleich nicht bezeichenbarer Paramount.127 nicht einen auktorialen Erzähler (Beobachter), sondern deren viele. In den Romanen tauchen Wesen auf, die aus Welten stammen, über die sie nicht berichten können. Kurz: Die volle Modernität dieses Epos ist nicht ansatzweise wissenschaftlich erfaßt. 124 | Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 106. Vgl. auch Pfeiffer, Philosophie und Systemtheorie, S. 59ff. Ferner Thomas, G., Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont? Zur Azentrizität des Weltbegriffs, in: Krawietz, W./Welker, M. (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a.M. 1992, S. 327-354. 125 | Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 147f. 126 | Ebenda, S. 142 mit Verweis auf Yves Barels »[…] un système s’actualise, les autres, de ce fait, se potentialisent.« 127 | Überflüssig vielleicht, es noch zu betonen: Sie ist nicht der Globus oder das Universum. Weltgesellschaft ist nicht Globalgesellschaft, Globalisierung ist nicht identisch mit der Verweltlichung der modernen Gesellschaft. Die Welt der modernen Gesellschaft erscheint in dem Umstand, daß die andere Seite alles Unterscheidens (die immer anderen Seiten) nicht mehr ignoriert werden kann. Es geht also nicht darum, daß alles alles auf einem Globus beeinflussen kann und beeinflußt, vielmehr

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72 | Theorie als Lehrgedicht Oder in den Worten Luhmanns: Die Welt »ist ein nicht formfähiges Korrelat endlicher Operationen«.128 Sie ist keine Form, insofern Form immer Zwei-Seiten-Form ist, also schon unterschiedene Unterscheidung, die – selbst wenn sie die allererste Unterscheidung wäre – kein Zuvor des Nichtunterschiedenen oder Gegenbegriffslosen hätte, da dies erst mit ihr entsteht. Wenn Form Zwei-Seiten-Form ist, dann kann die Einheit der Form nur durch andere Unterscheidungen bezeichnet werden, für die dasselbe gilt, daß ihre Einheit wieder nur durch den Gebrauch und Einsatz anderer Formen bezeichnet werden kann. Kurz: Unterscheidungsgebrauch schließt das Absolute aus.129 Die Welt, die durch Unterscheiden/Bezeichnen erzeugt wird, gleitet in ihrer Erzeugung unter jedem Bezeichnungsversuch davon. Sie ist keine Wesenheit. Auch hier findet sich: Existence is a selective blindness. Aber eben dies haben wir eingangs vermutet. Unbeobachtbarkeit ist direkt an Beobachtung geknüpft. Sie ist nicht selbst: mystisch. Sie ist, wenn ich so sagen darf, ein ordentliches Phänomen. Und die Mystiker/innen, die ich als Beispiele gewählt habe, sind, genau besehn, ordentlich aufmerksame Leute.

um die Nicht-Stillstellbarkeit von Horizonten welchen Unterscheidungsgebrauchs auch immer. 128 | Vgl. Luhmann, N., Weltkunst, in: ders. et al., Unbeobachtbare Welt, a.a.O., S. 7-45, hier S. 8. 129 | Ebenda, S. 12.

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Autopoiesis, Mikrodiversität, Interaktion

Es gibt Begriffe, deren Allgemeinheit und Inhaltsleere verführerisch wirkt. Einer davon ist Autopoiesis, der nichts weiter bezeichnet als die Weise der Selbstverfertigung sozialer und psychischer Systeme, jedenfalls dann, wenn man die Assimilation des Begriffes durch die Systemtheorie der Bielefelder Schule vor Augen hat, eine Einverleibung, die nicht mehr sehr viel übrig gelassen hat von dem, was einst die Biologie Maturanas und Varelas mit ihm gedacht und gewollt hatte.1 Wie für alle Über-Setzungen eines Begriffs aus einer in eine andere Domäne gilt auch hier, daß die Übersetzung sich längst nicht mehr aufs Original zurückübersetzen läßt.2 Die besondere Modifikation (das nicht Zurücksetzbare) liegt darin, daß der Begriff auf Sinnsysteme angewandt wird (und nicht auf: Leben) und daß er dabei eine Fassung gewinnt, die ihn zeitlich komplex gestaltet.3 1 | Siehe in Auswahl zum Ausgangskontext und zur Differenz Varela, F.J./Maturana, H.R./Uribe, R.B., Autopoiesis: The Organization of Living Systems. Its Characteristics and a Model, in: Biosystems 5, 1974, S. 187-196; Zeleny, M. (Hrsg.), Autopoiesis. A Theory of Living Organization, New York, Oxford 1981; Zeleny, M./Pierre, N.A., Simulation of Self-Renewing Systems, in: Jantsch, E./Waddington, C.H. (Hrsg.), Evolution and Consciousness. Human Systems in Transition, London 1976, S. 150-165; Maturana, H.R./Varela, F.J., Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living, in: Boston Studies in the Philosophy of Science 42, Boston, Dordrecht 1980; Benseler, F. et al. (Hrsg.), Autopoiesis, Communication and Society. The Theory of Autopoietic System in the Social Sciences, Frankfurt a.M. 1980; Luhmann, Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, a.a.O.; siehe zur grundlegenden Ausarbeitung Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O. 2 | Vgl. dazu die Beiträge in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion (Reihe Aestetica, hrsg. von Karl Heinz Bohrer), Frankfurt a.M. 1997. 3 | Siehe dazu Fuchs, Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen

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74 | Theorie als Lehrgedicht Im Augenblick, in dem Sinnsysteme und Autopoiesis begrifflich zusammengeschlossen werden, entsteht eine Doppelzeit, eine, die man die Naturzeit nennen könnte, in der nichts, was geschieht, etwas ausmacht für das, was schon geschehen ist, eine Zeit der Indifferenz also,4 und eine, die Sinnzeit heißen könnte, die Zeit der Autopoiesis, in der jede Sinnstiftung im Nachtrag geschieht, jede Identität reversibel ist. Diese Sinnzeit ist naturzeitgegenläufig, und sie findet sich offenbar nur in Sinnsystemen und eben nicht in der Natur, also auch nicht: im Leben.5 Beide Zeiten sind aber vorausgesetzt, implizieren sich wechselseitig, wenn von existierenden Sinnsystemen gesprochen wird. Denn eben dann muß der Naturzeit (der indifferenten Folge) die Zeit der Differenz von Identität und Differenz abgewonnen werden, und dazu bedarf es der Operation eines Lesekopfes, der, wenn ich so sagen darf, seine eben dadurch selbsterzeugte Spur rückwärts lesen kann – zugleich! Denn auch dies wäre bei sinnhafter Autopoiesis vorausgesetzt, daß alles, was geschieht, aktuell geschieht, also auch: die Produktion der Spur und (wie man in einer gewichtigen Tradition formulieren könnte) ihre lesende Lege, mit Heidegger also (und ihn locker nehmend): ihr Logos. Man sieht schnell, daß solche Überlegungen soziologiefremd zu sein scheinen, eine Art philosophischer Nebelkerzen, der Inhaltsleere von Höchstbegriffen geschuldet, weitab von dem, worum es der Soziologie eigentlich gehen könnte, um die Analyse sozialer Systeme. Die folgende (und im genauen Sinne: essayistische) Denkarbeit scheut sich gleichwohl nicht, die Tragweite solcher Abstraktionen im Blick auf soziale und psychische Systeme zu erproben. Es geht dabei, seltsam genug, um die Arbeit an einer Konkretion. Displacements, a.a.O.; vgl. auch das Kapitel über die Kommunikationsmaschine in ders., Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien, a.a.O.; ders., Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Zur Herrschaft der Verlautbarung und zur Erreichbarkeit des Bewußtseins, a.a.O.; ders., Intervention und Erfahrung, a.a.O. 4 | Deshalb Naturzeit im Sinne von Indifferenz gegenüber Identität und Differenz. Vgl. Schelling, F.W.J., Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, a.a.O., S. 309. 5 | Es wäre sehr instruktiv, der Metapher von Gegenläufigkeit unter der Fragestellung nachzugehen, wie sehr sie schon an Schrift (an der Linksrechts-Richtung des Zeitstrahls) geknüpft ist. Würde man unter Bedingungen einer umgekehrten Schriftrichtung (Japan etwa) sozusagen nur die Metapher umdrehen müssen, oder zwingt die Umkehrung dazu, feinere Metaphern finden zu müssen? Ich vermute, daß es zur Neufindung feinerer Metaphern kommen müßte. Einschlägige Untersuchungen stehen meines Wissens aber noch aus.

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I Soziale und psychische Systeme, so der Lehrsatz, sind autopoietische Systeme. Der Lehrsatz verschweigt, daß Systeme keine Objekte sind, denen Eigenschaften angesonnen werden können.6 Sie sind keine aristotelischen Substanzen, sie sind auch nicht Subjekte, die als Objekte von anderen Subjekten beobachtet werden können, die selbst Objekte für andere Beobachtungssubjekte sind. Sie sind weder Subjekte noch Objekte, sie sind ein Weder/Noch.7 Man könnte sie Un-jekte nennen und würde sich damit nicht im mindesten von einer Systemtheorie entfernen, die das System von allem Anfang an (und wieder: in der Bielefelder Schule) als Differenz bestimmt: Das System ist die System/Umwelt-Differenz. Es läßt sich deshalb formal bezeichnen durch den Schied, die Barre, das »/« des Unter-schieds, und eine der wesentlichen Folgen dieser Annahme war und ist, daß keine Systemreferenz durchgehalten werden kann, die das System als Objekt begreift, aber auch keine Referenz, die die Umwelt als weiteres Objekt nimmt oder Systeme in Umwelten als weitere Objekte, die sich auf ein Subjektsystem beziehen. Die Anweisung ist streng: Nimm das System als Differenz, bezeichne den Unterschied des Systems, und kalkuliere ein, daß du dann in die Probleme nicht-artistotelischer Logik und in die Probleme nicht-cartesischer Arrangements gerätst.8 Die Anweisung ist ferner, daß die Beobachtung solcher Arrangements von Beobachtern durchgeführt wird, die sich selbst fixieren müssen als ein Arrangement desselben Typs, was bedeutet, daß die Beobachtung in einer Sprache stattfindet, die ein technisiertes Medium ist, mithin eine cartesische Simplifikation.9 Wir entnehmen diesen vertrackten Verhältnissen die Einsicht, daß auch Autopoiesis an die ökologische Differenz gebunden, also alles andere als ei6 | Eigentlich verschweigt er das nicht, aber er wird sehr oft in arg verkürzter Form genommen. 7 | Ich bin dafür nicht zuständig, aber dieses Weder/Noch scheint in der Logik als »Nicodscher Junktor« (aber auch als Peirce-Pfeil) aufzutauchen. Vgl. dazu Mann, A universe comes into being, a.a.O., S. 101, Anm. 13. 8 | Deshalb das Interesse der Theorie an George Spencer-Brown, an Gotthard Günther, aber auch an Zenbuddhismus. 9 | Sie ist es, wie man jetzt schon sehen kann, systematisch, denn sie spielt ihr Spiel ja schon in der Differenz des Sozialsystems, also aufgefüllt mit Effekten der psychischen und der sozialen Domäne. Das erklärt dann bizarre Sätze, die als Zumutung empfunden werden können. Vgl. dazu Marius, B./Jahraus, O., Systemtheorie und Dekonstruktion. Die Supertheorien Niklas Luhmanns und Jacques Derridas im Vergleich, Siegen 1997, S. 17f., Anm. 24.

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76 | Theorie als Lehrgedicht ne Eigenschaft des psychischen oder des sozialen Systems ist. Sie kann nichts anderes sein als konditionierte Co-Produktion.10 Sie ist in gewisser Weise janus-förmig, oder auch: Sie ist wie das System selbst keine Einseitenform.11 Daraus folgt selbstverständlich auch, daß Autopoiesis so wenig wie das System (oder irgendein Phänomen, das in diesem Kontext diskutiert werden könnte) ein Objekt ist, und dies bedeutet definitiv, daß sie wie die anderen Un-jekte (System, strukturelle Kopplung, Umwelt etc.) sich empirischer Direktbeobachtung entzieht.12 Was oben als leere Allgemeinheit bezeichnet wurde, ist aus dieser Sicht rekonstruierbar: Es handelt sich nicht um eine logische Allgemeinheit, sondern um den Effekt des Versuches, Differenzen (und nicht Einheiten) beobachten zu wollen. Autopoiesis ist der Begriff (ein Wort) für eine betriebene Differenz. Auch das macht deutlich, daß die Rede von autopoietischen Systemen aufklärungsbedürftig ist, solange und soweit sie die Hypostasierung von Objekten begünstigt. Weder das System noch die Umwelt, weder strukturelle Kopplung noch Autopoiesis selbst sind – Gegenstände. Sie sind aber auch keine Artefakte (denn auch dann wären sie Objekte gleichsam zweiter Ordnung), sie sind, strictissime, arbeitende Unterschiede, beobachtet durch einen Unterscheider, der gleichfalls nur als arbeitender Unterschied, als betriebene Differenz konzipiert ist. Die Besonderheit dieses Betreibens, dieser Arbeit ist offenbar, daß sie sich im Medium Sinn vollzieht, in der, wie man vielleicht sagen könnte, Projektivität von Sinn, in (um eine Freudsche Metapher aufzugreifen) der Projektion von Oberflächen. Was immer die Operationen sinnorientierter Systeme sein mögen, sie führen immer Sichten vor und nicht NichtSichten, sie zeigen etwas, sie be-deuten etwas im Webewerk von Sinnverweisungen, sie besagen etwas für etwas.13 Für einen Beobachter heißt das: Ihm begegnen Systeme (und er sich selbst ebenfalls) immer nur als Konnexität von Projektionen, als Sinnverweisungsschläge, die auf Sinnverweisungsschläge verweisen – und nie als Nicht-Sinn oder Nicht-Bedeutung. 10 | Vgl. das Zitat von Spencer-Brown in Fn. 10 auf S. 20. 11 | Vgl. Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S.ixf. 12 | Ebenso wie der Begriff der différance bei Derrida. Im übrigen gibt es unter diversen Namen Versuche, die Umwelt als Kontext zu hypostasieren und daran Steuerung zu knüpfen. 13 | Vgl. Fn. 19 auf S. 44. Ulrich Pothast (Philosophisches Buch, Schrift unter der aus der Entfernung leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein, Frankfurt a.M. 1988, S. 55ff.) würde hier vermutlich von einer Intentionalitätsdoktrin sprechen. Aber er muß das tun, weil er dem Konzept des Spürens eine ungeheure theoretische Last aufgeladen hat, die ihn dann kurioserweise in die phänomenologische Anekdote treibt.

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Der Sinn verdeckt dabei seine Operation, er zeigt sich, nicht den Projektor.14 Und da Sinn für Sinnsysteme ein universales (nicht negierbares) Medium ist, fehlt es an der Möglichkeit, ein Dahinter des Sinns, einen Nichtsinn zu kommunizieren bzw. zu erleben.15 Solcher Sinn wäre etwas für Hinterweltler und deren besonderen, auch in der Soziologie nicht unbekannten Wahn.16 Nichts hindert mithin daran, das System (diese Differenz) als die konditionierte Koproduktion von Projektionen aufzufassen, deren Verkettung (chaining) in irgendeiner Form Beobachter generiert, die aus der Analyse nicht wegzudenken sind, weil Sinn als Medium jemanden/etwas voraussetzt, der dem Medium Formen abgewinnt: als Epiphanien eines bestimmten (und sofort wieder auflösbaren) Sinns. Diese Beobachter nutzen Sinn, sie sind im genauen Sinn randvoll mit Sinn aufgefüllt. Sie haben keinen Spalt, durch den ohne Sinn auf Nicht-Sinn geblickt werden könnte. Nur aus den Augenwinkeln können sie (in der Weise (hoch kommentarbedürftigen Sinnes) die Möglichkeit von Nicht-Sinn in der Form von Sinn andeuten. Solche Beobachter sind eingerichtet im Hause der Bedeutung, der Projektion. Sie sind Sinnverkettungsmaschinen. Folglich müßte, was Autopoiesis genannt wird, die Mechanik der Verkettung sein, ein selbst sinnfreier Operator, ein Zusammenhang von Operationen, oder, wie wir sagen wollen, von operativen Kopplungen. Wir verraten nicht zuviel, wenn wir vorab sagen, daß hierfür einzig und allein Zeit in Frage kommt.

II Jedenfalls soviel ist klar, daß die Operation autopoietischer Systeme nicht als Vollzug, als Tat, als Tathandlung, als Akt gedacht werden kann.17 Solche Systeme tun nichts tun, sie sind nicht im cartesischen Dual qualifizier14 | Dies wird erst ganz verständlich, wenn das, was Operation bedeutet, näher bestimmt sein wird. 15 | Die Behauptung von Ausnahmen ist dabei hoch instruktiv. Vgl. etwa Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O., dort dann insbesondere die Studien über Mystik und Zen. 16 | Vgl. jedenfalls Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra. Die Reden Zarathustras: Von den Hinterweltlern, Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1955, S. 297f. 17 | Vgl. so nebenbei die nachgerade kasuistischen Probleme, die im Rechtssystem auftreten, wenn von Handlung, Tat oder gar entsprechenden Kausalitäten ausgegangen werden muß, die Beck’schen Kurz-Kommentare, Bd. 10, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 47. Auflage, München 1995, S. 69ff. et passim.

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78 | Theorie als Lehrgedicht bar, sie sind keine Vollbringer.18 Eben deshalb wird die Konstruktion von Handlung zum soziologisch bearbeitbaren Problem. Handlung ist gerade nicht eine ontologische oder anthropologische Grundgegebenheit. Daraus folgt auch, daß die Operationen autopoietischer Systeme nicht an die uns bekannte Physik gebunden sind, obgleich sie sie infrastrukturell voraussetzen. Deutlicher wird das, wenn man die Operation als operative Kopplung begreift.19 Dieser Begriff bezeichnet die Verknüpfung von Sichten (Projektionen) in der Zeit durch die Zeit. Was immer ein Ereignis in der physischen Welt gewesen sein mag, Schallwelle, Körperbewegung, Lichtgravure auf einem Monitor, schwarzes Zeichen auf einem weißen Papier, die Sicht, die darin vorgeführt, vor-gestellt wird, entsteht durch operative Kopplung, durch den Nachtrag von Sinn, durch différance.20 Jedes psychische und soziale Ereignis hat seine Epiphanie (seine appearance) in einem Anschluß, für den dasselbe gilt, also in einer Umkehrung der Naturzeit. Wir könnten fast sagen: Das System ist die Zeit, in der etwas für etwas folgen kann, und die operative Kopplung bezeichnet genau diesen Sachverhalt, dieses Zeitverhältnis der Verschiebung und des Aufschubs. Deswegen kann man autopoietische Systeme nicht sehen, sie exponieren sich der Beobachtung als die Dissemination ihrer Effekte, und die Beobachtung kommt immer zu spät. Die Welt mag vollgestopft sein mit unentwegt passierenden Unterschieden, aber das System (diese Differenz) entsteht im Moment, in dem es zur Inversion der Naturzeit kommt, zur operativen Kopplung, in der etwas im Blick auf etwas in ein Besagen-für transformiert wird. Die eigentlichen Ereignisse des Systems sind zeitgebundene Kopplungen, also wiederum nicht: Entitäten. Die Kopplung ist die Zeitinversion, nicht: selbst eine Tat oder eine Handlung. Ein Unterschied folgt auf einen Unterschied, der seinen Vorgänger unterscheidet – in der Form von Sinn. 18 | Ich gebe gern zu, daß sehr oft der Eindruck entsteht, Systeme seien wie Täter/-innen beschreibbar. Die Ursache für diesen Eindruck ist (nimmt man Fälle unterkomplexer Rezeption der Theorie aus) die cartesisch organisierte Sprache selbst. 19 | Ich beziehe mich hier auf die Variante I operativer Kopplung, die durch das Autopoiesistheorem selbst vorausgesetzt ist. Vgl. Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 440f. Davon zu unterscheiden ist die operative Kopplung zwischen Systemen. Ich mache nur am Rande darauf aufmerksam, daß in der Unterscheidung dieser Unterscheidungen eine starke theoretische Herausforderung liegt. 20 | Es würde mir gefallen, wenn man im Vorgriff auf die Unterscheidung von Anlaß und Ereignis hier von einem Antrag auf Sinn sprechen würde, dem eine Sinnzuweisung, also ein Nachtrag folgt.

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Damit ist (auf dem Abstraktionsniveau, das wir gewählt haben) noch nichts darüber ausgesagt, wie spezifische Systeme das Problem dieser Kopplung lösen.21 Festgehalten ist nur, daß Autopoiesis, sieht man von dem aus dieser Perspektive äußerst strittigen Fall lebender Systeme ab, die Bezeichnung für eine inverse Zeitfolge ist, die selbst kein Subjekt oder ein Objekt ist. Autopoietisch sind entsprechend Systeme, die über ein Medium verfügen, das jenes Besagen-für, jene Be-Deutung-von-etwas-für-etwas ermöglicht. Dieses Medium ist Sinn, und das erklärt und erhärtet die exzeptionelle Position von Sinn im Gefüge der Theorie.22 Dieses Medium (das sich nicht selbst betreibt, sondern betrieben werden muß) wird wirksam nur durch die Zeit. Der phänomenologischen Einstellung zeigt sich Sinn als Simultanappräsentation von aktueller Wahl und dem Horizont der Auswahl; aus genetischer Perspektive entsteht Sinn durch die Nicht-Identität von Wiederholungen.23 Was Sinn dabei selbst nicht leistet, ist die Folge, die Sequenz – so wenig, wie die Sprache spricht, wenn sie nicht benutzt wird. Weder Sprache noch Sinn sind selbst Systeme. Sie sind in einem gewissen Sinne geräuschlos.24 Sinn, heißt das, ist nur im Betrieb, wenn etwas für etwas etwas besagt, also in der Zeit der Differenz von Identität und Differenz. Wenn Autopoiesis genau diese Kopplung bezeichnet, dann ist sie auf Prozessoren angewiesen, die der Geräuschlosigkeit des Mediums instruktionsfähigen Lärm abgewinnen können, ordnungsfähiges, mithin sinnförmiges Rauschen. Auch das impliziert, daß Autopoiesis nicht isolierbar ist von der Differenz, in der sie angesiedelt ist, von der Differenz des Systems. Sie spielt in der Differenz von System und Umwelt, die das System ist. Autopoiesis ist also auch nicht die Eigenschaft eines Gegenstandes, schon gar nicht die eines durch sie in die Luft gebauten Gegenstandes – eines, wie man sagen könnte: Münchhausen-Objektes.25 Autopoiesis ist konkret angewiesen auf 21 | Darauf komme ich zurück. 22 | Man sieht damit auch, um mich zu wiederholen, die exorbitante Bedeutung von Sinnanalysen (Hermeneutik im weitesten Sinne) für die Analyse von Systemprozessen. 23 | Vgl. Luhmann, Identität – was oder wie?, a.a.O. 24 | Ich beziehe mich hier auf das order-from-noise-Prinzip, bin aber der Auffassung, daß aus der noiselessness des Mediums erst einmal noise gewonnen werden muß, ehe von order die Rede sein kann. Damit plädiere ich für ein order-from-noiselessness-Prinzip. Vgl. dazu Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O. Anregungsreich dazu Heider, F., The Notebooks, Vol. 1, Methods, Principles and Philosophy of Science, hrsg. von Benesh-Weiner, M., München, Weinheim 1987, S. 229: »Things are noise, the medium is noiseless.« 25 | Für mich sind Münchhausen-Objekte soziologisch (aber auch sonst) völlig

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80 | Theorie als Lehrgedicht Lärmproduzenten, deren Lärm als ein Nacheinander genommen werden kann, dem ein Aufeinander-Reagieren ablauschbar ist. Autopoiesis ist die Bezeichnung dieser Transformation, und typischerweise wird hier dann von Anschlußmanagement oder Anschlußselektivität gesprochen, eine ihrerseits verkürzende (wiewohl mitunter sinnvolle) Redeweise, weil man im Blick auf die Zeitinversion von Nachtragsmanagement oder Nachtragsselektivität reden sollte.

III Autopoiesis ist die Form der Inversion von Naturzeit (nacheinander anfallenden Unterschieden) zur Sinnzeit. Sie setzt eine diskontinuierliche Infrastruktur von Prozessoren voraus, die jenes Nacheinander herstellen, dessen Inversion sie bewerkstelligt. Sie setzt also in ihrer Umwelt weitere Systeme des gleichen Typs voraus, mithin: andere Autopoiesis. Etwas muß sich anbieten, das als diskontinuierliches (in der Zeit diskretes) Material für diese Transformation genutzt werden kann. Es bedarf, wie wir sagen wollen, der Produktion von Anlässen. Wir unterscheiden damit Anlaß und Ereignis. Autopoiesis läßt sich dann auffassen als die Transformation von Anlässen in Ereignisse. Auch hier gilt, daß die Unterscheidung Anlaß/Ereignis sich selbst trägt: Kein Unterschied in der Welt ist Anlaß ohne seine Umbildung zum Ereignis, und kein Ereignis wäre ohne Anlaß möglich. Aber diese sich selbst stützende Unterscheidung wird durchaus in empirischer Absicht eingeführt. Jede Äußerung, jede Geste (ja auch nur die Zurechnung, daß ein Unterschied in der Welt als Anlaß für ein Ereignis genommen werden kann) ist nur Äußerung oder signifikante Geste, wenn sie als Anlaß für den Nachtrag, für die operative Kopplung gedient hat. Ohne dieses Nehmen-für und Dienen-als wäre, was immer geschieht: sound and fury.26 Es geht also, insofern wir uns auf die soziale Autopoiesis einlassen, darum, daß Anlässe als Beiträge zur Kommunikation entziffert werden. Die Anlässe müssen sinnhafte Verlautbarungen sein oder zumindest mit Bedeutung überzogen werden können.27 Sie sind aus dieser Sicht bestimmunergiebig. Alle Systeme, von denen ich reden kann, sind Moment eines Realitätskontinuums, das keine geheimnisvollen Emergenzsprünge zuläßt. Sonst wäre Systemtheorie als Wissenschaft nicht möglich, schon gar nicht als Soziologie. Ich oute mich hier also als Einsteinianer. 26 | Wenn wir das jedenfalls mit Schall und Wahn übersetzen dürfen. 27 | Man sieht hier, und Luhmann hat das ja oft genug betont, welche Leichtgängigkeit durch Sprache eingeführt wird. Ihr Gebrauch legt nahe, daß ein Anlaß

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barer Lärm im Medium Sinn. Die operative Kopplung nimmt den Anlaß auf und trägt ihm seinen kommunikativen Sinn nach. Eben das ist soziales Verstehen.28 Der Anlaß ist nichts (ist nicht einmal Anlaß gewesen), wenn er nicht in die operativen Kopplungen des Sozialsystems einrückt. Dabei kann er, das ist sehr wichtig, Sinn machen für ein psychisches System, das intern weiterdenkt oder aus den Augenwinkeln wahrnimmt, daß jemand eine Äußerung produzierte, auf die kein Nachtrag erfolgte. Es kann dann lernen, wie man vermeidet, ignoriert zu werden. Entscheidend ist, daß die Verlautbarungen (Anlässe) im Medium Sinn Sinn machen. Damit sind sie per definitionem immer polyvalent. Jeder Sinngebrauch führt einen Mehrwert mit sich, einen Überschuß an Möglichkeiten, und das ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Autopoiesis immer selektiv wirkt. Jeder Nachtrag (also jedes soziale und dann auch psychische Ereignis) ist nolens volens Auswahl.29 Das Problem der Formulierung dieses Sachverhalts liegt darin, daß die Spieler in diesem Spiel auf eine äußerst schwer zu entzerrende Weise kooperieren. Das psychische System (diese Differenz) reagiert auf eigene und fremde Anlässe selbst sinngeführt und im Modus der Nachträglichkeit; das Sozialsystem (diese Differenz) erzeugt seine Ereignisse, indem es Anlässe in der Zeit staffelt und es dabei zuwege bringt, eine Art zerlegender Beobachtung zu implementieren, die zwischen Information und Mitteilung unterscheidet – aber nur durch einen Nachtrag (Verstehen), der selbst auf die gleiche Weise zerlegt wird. Und beide, Bewußtsein und Sozialsystem, stabilisieren ihre Differentialität (ihre systemness) in der Differenz psychisch/ sozial. Vielleicht ist es nützlich, diese konditionierte Koproduktion in einer ausgebauten Metapher schärfer zu stellen.30

vorliegt, und ihr Nichtgebrauch schafft Möglichkeiten des Bestreitens, daß ein Anlaß ein Anlaß gewesen sei. Siehe neuerdings für subtile Analysen Kieserling, A., Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a.M. 1999. 28 | Dies genau wäre der Ansatzpunkt für eine systemtheoretisch inspirierte Hermeneutik bzw. Konversationsanalyse. Siehe für entsprechende Experimente Sutter, T. (Hrsg.), Beobachtung verstehen – Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik, Opladen 1997. 29 | Und wieder: nicht Auswahl durch jemanden. Das wird gleich noch klarer werden. 30 | Sie ist wohl eher eine Allegorie.

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82 | Theorie als Lehrgedicht

IV Wir vereinfachen zunächst psychische Systeme zu Monitoren und stellen uns den Fall vor, daß zwei dieser Geräte interagieren. In unserem Modell ist (getreu einem fundamentum inconcussum der Bielefelder Systemtheorie) die Aufnahme des Kontaktes zwischen beiden Monitoren identisch mit der Entstehung eines Drittsystems, dessen Umwelt die beiden Ausgangsmonitore darstellen.31 Dieses Drittsystem, das in unserer Vereinfachung für das Sozialsystem steht, wäre also ein eigener, ein dritter Monitor. Die Ausgangsmonitore erzeugen auf der Basis von Innenzuständen, die nicht sichtbar werden, sichtbare Nachrichten: Botschaften auf ihren Schirmen. Im Innern dieser Monitore gibt es Innenmonitore, die Innen- und Außenverhältnisse innen projizieren. Innen kann also gesehen werden, welche Botschaften außen erscheinen (nicht, wie sie für den anderen Monitor erscheint) und welche Nachrichten der andere Monitor außen aufleuchten läßt (nicht aber, was sie für ihn innen bedeuten). Wir haben es demnach mit klassischen Re-entry-Maschinen zu tun, die ihre Innen-/Außenverhältnisse im Innen produzieren und kontrollieren. Der Innen-Monitor beider Ausgangmonitore scheint darüber hinaus über die Fähigkeit der Oszillation zwischen den Seiten der internen Unterscheidung von Innen/Außen zu verfügen, über dynamische Bi-Referentialität.32 Beide Seiten der Unterscheidung liegen aber ausschließlich als Projektion vor; auch die Referenz auf das Innen ist Referenz auf etwas.33 Wichtig ist, daß diese Monitore nur nach innen sehen, wiewohl sie vermeinen, ein Außen wahrzunehmen. Das zwingt sie zu internen Mutmaßungen darüber, wie die eigenen Botschaften vom je anderen Monitor verstanden werden bzw. wie die fremden Botschaften sich verstanden wissen wollen. Beide (psychischen) Monitore ruhen bei alledem auf einem für sie selbst nicht zugänglichen technischen Unterbau auf, der immerzu Ereignisse ausschüttet, durch die das, was sie sehen, vorentschieden wird, so

31 | Siehe dazu ausführlicher Fuchs, Intervention und Erfahrung, a.a.O., ein Text, der sich unter anderem entschieden gegen die absurde Idee wendet, es komme mitunter nicht, wenn zwei Systeme Kontakt aufnehmen, zur Ausprägung eines (wie immer zeitlich kurzen) Drittsystems sui generis. 32 | Wir formulieren damit analog zur dynamischen Bi-Stabilität des Bewußtseins. Vgl. Luhmann, N., Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Hahn, A./Kapp, V. (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 25-94. 33 | Vgl. dazu umfangreich Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.

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daß sich diese Monitore einer starken Realitätsunterstellung nicht entziehen können.34 Das Drittsystem (das soziale System) imaginieren wir als einen Supermonitor. Er besteht aus nichts weiter als der zeitlichen Folge des Aufleuchtens der Nachrichten auf den Ausgangsmonitoren, aber so, daß der Sinn einer Nachricht für den Sinn einer vorangegangenen Nachricht etwas besagt, unabhängig davon, wie dieses Besagen in den psychischen Monitoren intern ergriffen wird. Es gibt keinen Kontakt zwischen dem Supermonitor und diesem inneren Ergreifen von Sinn. Der Supermonitor kommt nicht an das Innen der Prozessoren in seiner Umwelt heran. Er wirft einzig und allein psychisch nicht völlig prognostizierbare Differenzen aus.35 Und er kann das wegen des Mehrwerts von Sinn, wegen jener Verzweigungsmöglichkeiten, die wir oben Überschuß genannt haben. Er kappt Sinnmöglichkeiten durch Nichtzugriff, greift Verweisungen auf, fügt weitere Proliferationsmöglichkeiten hinzu. Keine Äußerung deckt den Sinnhorizont der vorangegangenen ab. Jede Äußerung ist (im Zeitschema der différance) notgedrungen selektiv. Die Selektivität ist aber selbst nicht, wie dieses Modell zeigt, auf ein Subjekt angewiesen. Sie ist Resultat der Inversion der Sequenz.36 Sie ist die pure Ordnung, die durch Sinn entsteht, der ein Besagen-für erlaubt. Ein Maulwurf, der eine Sequenz hört, vernimmt keine Botschaften, er hört in der Naturzeit. Erst Sinngebrauch ordnet – umgekehrt. Dieses Ordnen, diese Umkehrung, dieses Besagen-für als operative Kopplung markiert die Autopoiesis des Sozialsystems, und es ist von sehr großer Bedeutung, daß dieses Besagen nicht identisch ist mit dem, was eine Nachricht für ein psychisches System besagen mag.37 Nur von dieser Differenz aus ist die Rede vom Sozialsystem als emergentem System begreifbar. Es zeigt sich als Phä-

34 | Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 115f. Realität ist schon nach Bachelard an einen coefficient d’adversité geknüpft. Vgl. Waldenfels, B., Intentionalität und Kausalität, in: Métraux, A./Graumann, C.F. (Hrsg.), Versuche über Erfahrung, Bern, Stuttgart, Wien 1975, S. 113-135, hier S. 132, Anm. 1. 35 | Eben deshalb ist Theater, insofern in einem dramatischen Stück der Text vorgegeben ist, ein Sonderfall. Vgl. dazu Fuchs, Die moderne Beobachtung kommunikativer Ereignisse, a.a.O. 36 | Mir schwebt vage vor, daß es hier einen Zusammenhang gibt mit der Technik hermeneutischer Analyse des Oevermannschen Typs, mit der Produktion von Lesarten und der Selektion plausibler Lesarten. Die Idee ist, daß diese Kunstlehre auf Inversion hin durchgecheckt werden könnte. 37 | Es klingt arrogant, aber jede Analyse, die auf diesen Feinheitsgrad und diese Umständlichkeit verzichtet (die im übrigen ihre eigene Eleganz hat), neigt zur Hypostasierung, erzeugt neue Subjekte und Objekte.

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84 | Theorie als Lehrgedicht nomen einer punktuellen Doppelauslegung, die immer nur momentane Gültigkeit hat und dann wieder zerfällt und erneut aufgebaut werden muß.38 Die operative Kopplung ist Sinnselektion und Sinnlimitation auf dem sozialen Monitor, der eine Folge verzeichnet, die er (nur durch Sinn) verkehrt, und die psychischen Monitore müssen sich von Moment zu Moment mit den dabei entstehenden Lagen arrangieren, selbst dann, wenn sie rückfragen, auf bestimmter Bedeutung insistieren, Metakommunikation einzufädeln trachten etc. Die Unverzichtbarkeit des Bewußtseins (irgendeines Bewußtseins) hängt an jener Differenz, an diesem Sich-Arrangieren, durch das weitere Anlässe notwendig werden, die als Ereignis erscheinen können in der invertierenden Verklammerung durch operative Kopplung.39 Von hier aus gewinnt auch die Rede von der Verkettung der Projektionen ihren genauen Sinn (und insofern ist auch die Monitor-Allegorie präzise): Das selektive Besagen-für ist die Projektion eines Sinns auf ein selektives Besagen-für in nicht zu löschender Differenz zu dem, was psychische Systeme mit ihren Verlautbarungen intendieren bzw. was sie den Verlautbarungen anderer psychischer Systeme entnehmen. Zugleich kann man sehen, daß die systemness des Sozialsystems nur beobachtet werden kann durch einen Beobachter, der diese Differenz von Anlaß und Ereignis benutzt und auf die Verzweigungen und Einschränkungen achtet, die in der Inversion der Naturzeit zustande kommen. Dies ist ein Beobachter mit Sonderaufmerksamkeit, der – insofern er beteiligt ist – die Ergebnisse seiner Beobachtung nicht mitteilen kann, ohne in das Spiel des Sozialsystems verwickelt zu werden, dem nichts auffällt als Ereignisse, die es Anlässen abgewinnt, die durch dieses Auffallen erst zu Anlässen werden.

V Autopoiesis ist die Inversion der Naturzeit. Das ist möglich, weil jeder Nachtrag Sinn selektiv einem Anlaß zuweist, der dadurch zum Ereignis wird, zum Element, wie typisch formuliert wird, eines Systems, das sich auf der Basis gleichartiger Elemente kurzschließt. Auf allgemeinster Ebene sind 38 | Das Problem einer konstruktivistischen Hermeneutik (etwa im Sinne Tilmann Sutters, Beobachtung verstehen – Verstehen Beobachten, a.a.O.) bestünde dann darin, diese Doppelauslegung ihrerseits doppelt auslegen zu müssen, insofern sie ersichtlich selbst in die Struktur des Nachtrags eingebunden ist. Sie läuft damit, aber das ist faszinierend, auf das Problem des Übersetzens auf. Vgl. dazu die Beiträge in Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, a.a.O. 39 | Um es erneut zu betonen: Hier kann man wirklich nicht mehr von einer biologisch gefärbten Autopoiesis-Analogie reden.

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die Operationen, die diese Inversion und Transformation leisten (damit auch den Kurzschluß): Kopplungen. Die Operation des autopoietischen Systems ist die Kopplung und nicht: ein Akt. Entsprechend sind Kommunikationen (Sozialsystem) bzw. Intentionen (Bewußtsein) operative Kopplungen. Deswegen lassen sich weder Kommunikationen noch Intentionen wie Entitäten isolieren oder stillstellen. Sie sind nicht präparierbar, auch dann nicht, wenn man eine protokollierte Sequenz von Äußerungen vor sich hat, denn jeder, der sich dazu äußert, unterliegt schon dem Gesetz des Nachtrags. Er produziert Addenda. Auch die soziologische Analyse ist diesem Gesetz subordiniert. Sie kann Kommunikation nicht beobachten, ohne sich an Kommunikation zu beteiligen, aber das rückt die Analyse in die systematische méconnaissance, in die Position des Nachtrags. Sie befindet sich (und hat das eigentlich immer gewußt) wie ihr Gegenstand auf der Seite der doxai, nicht auf der Seite der Wahrheit.40 Spannend ist, daß autopoietische Systeme (insofern ihre Elemente operative Kopplungen, also selektiv sind) auch im Blick auf ihren Selbstzugang gebrochene Systeme sind. Sie erreichen sich nur als Abbreviatur, als Simplifikation, als Imagination, als Epigramm.41 Solche Systeme können über sich nachdenken oder über sich reden, aber eben in der Form der Autopoiesis, und das heißt: im Modus der Inkomplettheit, im Modus der unvollständigen Information.42 Sie können sich als Objekt oder als Subjekt behandeln, jedoch nur in der Form jener cartesischen Verkennung und Unvollständigkeit, die den (paradoxen) Selbstbezug von Un-jekten kennzeichnen. Das, was das System als Selbst auffaßt, ist, Autopoiesis vorausgesetzt, fun40 | Vgl. Fuchs, Theorie als Lehrgedicht, a.a.O. 41 | Man könnte hier mit dem Epigrammbegriff von Markowitz, J., Verhalten im Systemkontext. Zum Begriff des sozialen Epigramms, diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt a.M. 1986, arbeiten, wenn er ein bißchen umgemodelt würde. Dieser Begriff reagiert auf die Differenz des Systems dadurch, daß er die Selbstsimplifikation des Systems (die Zone seiner partiellen Selbsttransparenz, die Selbstbeschreibung) als nach Innen und nach Außen funktional begreift. Das System orientiert sich an seiner Simplifikation, es nimmt, wie man sagen könnte, einen Pars-pro-toto-Kurs, aber es muß gleichzeitig dafür sorgen, daß seine Umwelt sich am selben Kurs orientiert. Es muß sich der psychischen Orientierung zu erkennen geben, mithin Formen (und Formeln) ausgeprägt haben, die es als Verkürzung des Systems für seine Umwelt in gewisser Weise lesbar machen – trotz seiner für es selbst nicht einholbaren und von niemandem rekonstruierbaren Komplexität. Eben dafür steht der Begriff des Epigramms ein. Er referiert auf die spezifischen Strukturen, die das System für Psychen andockfähig und buchstabierbar machen. 42 | Derselbe Sachverhalt läßt sich selbstverständlich auch komplexitätstheoretisch reformulieren.

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86 | Theorie als Lehrgedicht damental partiell, wiewohl eben dieses Auffassen für das System total ist, da es nur sieht, was es sieht, und nicht sieht, was es nicht sieht. Keine Organisation ist das, was sie über sich weiß; kein Bewußtsein ist, was es denkt, daß es sei; und auch die Gesellschaft ist nicht eine ihrer Beschreibungen, auch nicht: deren Summe.43 Denselben Punkt erreicht man, wenn man von der Simultaneität aller Ereignisse des Systems ausgeht, also davon, daß es sich in Aktualität vollzieht (und nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit). Das, was das System im Rahmen konditionierter Koproduktion als Sicht aufbaut, ist im Blick auf Simultaneität strikt selektiv, ist im gewissen Sinne jene Vertikalisierung (Sequentialisierung), die die Horizontale, den Rahmen, die Gleichzeitigkeit aller Ereignisse nicht miterfassen kann.44 Das autopoietische System ist, so schließen wir, für sich gleichsam eine Hervorhebung, eine Teilbeleuchtung, ein minimaler Anblick, ein Aspekt. Es ist für sich totale Erscheinung.45 Aber diese Totalität ist imaginär, da das totum des Systems wegen des simul aller Systemereignisse nicht für es zugänglich ist. Die Verhältnisse komplizieren sich weiter, wenn man zumindest für Sozialsysteme annimmt (und dies für Bewußtsein vermutet), daß die Projektionen von Oberflächen nicht die Projektion von Punkten sind. Die Gesellschaft als konditionierte Koproduktion ist in jedem Moment ein Geflakker und Geflimmer unendlich vieler Kommunikationen, und wenn man von der Projektion der Gesellschaft reden wollte, müßte man deshalb von einer pluriversen Projektion sprechen, ebenso, wenn man sich auf Funktionssysteme konzentriert. Korrekt müßte man mithin sagen, daß solche Systeme eine Pluralität (und auf der Ebene primärer Differenzierung in 43 | Diese Partialität ist im übrigen funktional als Bedingung der Möglichkeit der Überraschung des Systems durch sich selbst (Lernen). Vgl. Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O. 44 | Vgl. dazu die Parabel von der kleinen Spinne in: Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. 36f., ferner den Kommentar S. 81. Ich nehme mir die Freiheit dieser Interpretation, die mir auch der Autor gibt. Ich könnte auch formulieren, daß das System von epischer Breite ist und im Selbstzugang immer Impression, oder: daß das System episch ist, sein Selbstzugriff epigrammatisch. Vgl. dazu, daß die epische Bewegungsform mit der Metapher des Horizontalen belegt werden kann, Blumenberg, H., Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a.M. 1997, S. 42. Im Blick auf Autopoiesis wird bekanntlich schon in der Definition von der Netzwerkmetapher Gebrauch gemacht. 45 | Ich zitiere noch einmal Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O, S. 20, Anm. 6: »The first clearance is to see that there is no evidence for the appearance of anything but appearance, that appearance is the only evidence we have for appearance, and that nothing other that appearance has ever been known to appear.«

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Funktionssysteme: eine Polykontexturalität) von Hervorhebungen, von Teilbeleuchtungen, von Minimalanblicken, von Aspekten sind. Und nur Organisationen (vielleicht Familien, vielleicht auch Bewußtsein) hätten eine Art Primäraspekt, eine konturierte Adresse, eine Selbstbeschreibung – aber auch nur als pars pro toto, wobei das totum selbst vom System her nicht erfaßbar ist. Wahrscheinlich würde sich hier die romantische (paradoxe) Redeweise von Fragmenten empfehlen, die sich nicht zur Einheit des Systems aufrunden lassen.46 Jedenfalls wird es unter diesen Voraussetzungen extrem schwer, sich weit ausgreifende Ordnungsbildungen vorzustellen, nicht nur eine flimmernde Autopoiesis, sondern Selbstorganisation, die bereichsdeckend Dasselbe zu dem Selben rechnet, die nicht unter laufender Zerfaserungsgefahr betrieben wird, die es (wenn auch unter theoretischen Präzisionsverlusten) gestattet, von einem System der Gesellschaft und von ihren Funktionssystemen zu sprechen und im engeren Rahmen von adressenfähigen Einheiten wie Organisationen. In einem gewissen Sinne muß die konditionierte Koproduktion, die die Produktion von pluriverser Verschiedenheit ist (trotz der nihilistischen Codes, die dazu zwingen, die Welt, also unaufhebbare Diversität, über Programme bzw. in Organisationen über informale Kommunikation zu re-implementieren), gebändigt erscheinen und unter Einheitsgesichtspunkte gebracht werden können. Dabei kommt überraschend der Irritator, der Abweichungsproduzent, der Kontaminateur par excellence ins Spiel: das Individuum – jedenfalls wenn man wiederum auf Differenz (und nicht auf Subjekte, Objekte) setzt, nämlich auf die Differenz von Selbstordnung und Mikrodiversität.47

VI Soziale wie psychische Autopoiesis erzeugt in jedem Moment Sinnüberschüsse. Wenn die Operationen autopoietischer Systeme operative Kopplungen in der Zeit sind, dann bedeutet das immer auch: Sie erzeugen die 46 | Vgl. Fuchs, Die Form der Romantik, a.a.O. Wir zögern nicht, festzuhalten, daß die Romantik gerade hier (und dann mit der Reaktionsform der Ironie) ausgesprochen tiefe Intuitionen hatte, die wir heute als preadaptive advances für moderne Gesellschaftstheorie begreifen können. 47 | Vgl. Luhmann, N., Selbstorganisation und Mikrodiversität. Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus, in: Soziale Systeme 3/1, 1997, S. 23-32, der selbst zurückgreift auf Mai, St. N./Raybaut, A., Microdiversity and Macro-Order: Toward a Self-Organization Approach, in: Revue Internationale de Systémique 10, 1996, S. 223-239.

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88 | Theorie als Lehrgedicht Möglichkeit von überflüssigen, von mäandernden, von devianten Nachträgen oder Anschlüssen.48 Das ist in Sozialsystemen nicht weiter tragisch, schließlich gibt es Sozialformen, die strenge Thematizität ausschließen, ja negativ sanktionieren, etwa die Form der Geselligkeit oder des Schwatzens schlechthin, das sich nicht selten mit dem Genuß am Ungebändigten verbindet, bar jeder aufklärerischen Vernunft.49 Problematisch werden Sinnüberschüsse (und die darin implizierte Möglichkeit, operativ ins Unpassende, ins nicht Geheure zu geraten), wenn man mitsieht, daß soziale Formationen wie die Funktionssysteme oder Organisationen durch scharfe (im Fall der Funktionssysteme geradezu nihilistische) Selektivität gekennzeichnet sind. Sie müssen gegen Ausuferungsund Sinnzerfransungsmöglichkeiten von Kommunikation Prozesse der Selbstordnung setzen können, ein klar konturiertes Anschlußmanagement, Strategien der Exstirpation von Überfluß.50 Im Umkehrschluß formuliert: Sie können ihre Ordnungsgewinne der Gesellschaft nur einschreiben, weil in ihr Überschuß an Sinn, Überschüsse an Verzweigungsmöglichkeiten produziert werden.51 Jene oben benutzte Metapher von flimmernder, flackernder Autopoiesis läßt sich auf diesem Hintergrund auflösen dahin, daß die Ordnungsgewinne sozialer Systeme, insbesondere die Ordnungsgewinne von Funktionssystemen und Organisationen, der Welt mikrodiverser Lagen entspringen.52 Die These ist, daß Selbstordnung notwendig und möglich ist auf der Basis von Mikrodiversität.53 Alles mögliche kann geschehen (und vieles geschieht), und die Systeme der Gesellschaft, die wir anpeilen, sind eben des48 | Für das Bewußtsein ist dies unmittelbar einleuchtend; es produziert selbstverständlich immer nur Bewußtsein, aber ist in dieser Reproduktion nicht oder nur unter hohem Aufwand festlegbar auf bestimmte Intentionen. Das Bewußtsein schweift vorzugsweise ab. 49 | Die ja auch die Selbstverständigung des Individuums mit sich selbst forderte, ehe es sich der disziplinierten Kommunikation aussetzen konnte. Vgl. dazu die Überlegungen zum aufklärerischen Displacement in Fuchs, Die Form der Romantik, a.a.O. 50 | Anders als Luhmann, Selbstorganisation und Mikrodiversität, a.a.O., würde ich nicht von Selbstorganisationsprozessen sprechen, weil der Begriff in hohem Maße ambivalent wird, wenn von Funktionssystemen die Rede sein soll. 51 | Vgl. (ohne den direkt systemtheoretischen Bezug) Waldenfels, B., Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a.M. 1983, S. 507. 52 | Wir würden das auch geltend machen wollen für das Bewußtsein, dann jedoch in Differenz zu den Mikrogewittern des neuronalen Systems. 53 | In einer Paraphrase Durkheimscher Überlegungen zur Anomie könnte man auch sagen: Mikrodiversität ist nützlich und notwendig.

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halb damit befaßt, diese in jedem Moment erneut sich re-animierende polymorphe Perversität abzufangen. Sie sind, wenn man so sagen darf, Überschußentsorgungsmaschinen, die den Überfluß brauchen (und laufend herstellen), der sie (diese Abfangvorrichtungen) erzwingt.54 Die Figur ist unaufhebbar zirkulär, und gerade dies ist ein Hinweis darauf, daß sie als Differenz wirkt. Mikrodiversität (in der Fassung, die wir ihr hier geben) ist nicht kontrollierbar, weil sie in jeder Kontrolle (und deshalb kommt es auf die Differenz an) weiter in Betrieb bleibt. Wir können das zuspitzen und sagen: daß die Ordnung der Systeme an einer basalen und unauslöschbaren Unordnungsmöglichkeit hängt.55 Die Unifikationsleistungen der Funktionssysteme (und von Organisationen) sind extrem artifiziell, sie sind »fixierte Unruhe«,56 gegründet auf inquiétude, auf Mikrodiversität, die man sich wie die Brownsche Molekularbewegung vorstellen kann57 – und evolutionstheoretisch als den eigentlichen Pool für Varietät. In dieser Form ist Mikrodiversität von der Ordnung her (von den bereinigten Anschlüssen der Funktionssysteme und Organisationen aus gesehen) der laufende Neuanfall von Verschmutzung, also auch: von Entropie.58 Beobachtet man die Unterscheidung von Mikrodiversität und Selbstordnung mit der Unterscheidung von Medium und Form,59 läßt sich erkennen, daß diese Form (die Unterscheidung Mikrodiversität/Selbstordnung) selbst als Element eines Mediums begriffen werden kann. Mikrodiverse Lagen in ihrer unendlichen Reproduzierbarkeit und Zerfallsfähigkeit können als Medium für Formbildungen in Anspruch genommen werden, 54 | Mit Jürgen Markowitz würde ich dann Wert darauf legen, daß die Entsorgung ein Euphemismus ist. Die Sorge um das Entsorgte ist schließlich das eigentliche Problem, auch in der Welt des Sinns, in der sich offenbar nichts ent-sorgen läßt. 55 | Das läßt sich selbstverständlich komplexitätstheoretisch reformulieren. 56 | Schlegel, zit. nach Luhmann, Selbstorganisation und Mikrodiversität, a.a.O., S. 31. 57 | Mit dieser exotischen Analogie ist angedeutet, daß die Differenz Mikrodiversität/Selbstordnung ähnlich fundamental sein könnte wie die theorietechnische von Medium und Form. 58 | Hausmänner und Familienfrauen werden keine Probleme haben, diese Thesen zu verstehen. 59 | Vgl. Heider, F., Ding und Medium, in: Symposion 1, 1926, S. 109-157. Vgl. zu Ausarbeitungen in Auswahl Fuchs, P., Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, in: ders./Göbel, A. (Hrsg.), Der Mensch – Das Medium der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1994, S. 15-39; Luhmann, N., Das Kind als Medium der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik 37/1, 1991, S. 19-40; ders., Das Medium der Kunst, in: Delfin 4, 1986, S. 6-15.

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90 | Theorie als Lehrgedicht und dies gerade in Funktionssystemen und Organisationen. Beide Systemtypen verfügen über spezifische Operationen und sind im Blick auf diese Spezifik tautologisch: Wissenschaftliche Anschlüsse sind Nachträge an wissenschaftliche, rechtliche an rechtliche, künstlerische an künstlerische, wirtschaftliche an wirtschaftliche Anschlüsse, und Entscheidungen in Organisationen schließen an Entscheidungen derselben Organisationen an.60 Aber wie das im einzelnen geschieht, welche Zufälle, aktuelle Konstellationen, Stimmungen, Kontinuitäts- und Kausalitätsbrüche, Selbstverstärkungs- oder Selbstabschwächungsprozesse etc. die jeweilig spezifische Operation kontextieren (zur Selektion machen), das spielt sich in mikrodiversen Lagen, mithin kontrollbedürftig ab. Dieses Spiel setzt, und das ist das Entscheidende, Individuen voraus, die nicht mehr essentielle Eigenschaften haben, sich in keiner Art von Wesenhaftigkeit und anthropologischer Festgelegtheit beschreiben lassen, sondern nur die Doppelmöglichkeit von prinzipieller Unbestimmtheit, Offenheit, Unvorhersehbarkeit des Verhaltens, schlicht: von Dämonie offerieren und zugleich Bestimmbarkeit im Sinne dessen, daß sie sich trotz und wegen ihrer Unbestimmbarkeit konditionieren lassen.61 Individuen (diese Beschreibung der Menschen) sind in dieser Doppelmöglichkeit simultan Produzenten von Mikrodiversität und diejenigen, die auf mikrodiverse Lagen reagieren, also Entscheidungen unter Unentscheidbarkeitsbedingungen treffen, strategisch operieren, Sanktionen veranlassen, Abweichungen registrieren etc. In gewisser Weise sind sie domestizierte Dompteure. Die Freiheit des Individuums wird unter diesen Voraussetzungen zu einem kognitiven Sachverhalt.62 Sie wird zur systembedingten Projektion von mikrodiverser Alternativität, zur Trägerin von jederzeit möglicher Verschiedenheit (diversitas), zur Bedingung der Möglichkeit basaler Unruhe, durch die Selbstordnungsprozesse (als Rekurs auf die Einheit des Systems = Rekurs auf unitas) erzwungen werden. Sie sind damit auch die Irritationsquellen, die in der Differenz des Systems (System/Umwelt) sozusagen strukturierte Überraschungsmöglichkeiten bereithalten, mit denen das System sich selbst überraschen kann, indem es sich (sein Selbst, die Zone der Eigentransparenz) durch Erfahrung ausbaut, durch die Entdeckung dessen, wozu es fähig ist.

60 | Solche Systeme haben also die Form von: a rose is a rose is a rose … 61 | Gerade Organisationen müssen offenkundig diese Konditionierbarkeit voraussetzen und deswegen laufend mit dem Problem der Nichtbestimmbarkeit rechnen oder in den Folgen dieser Nichtberechenbarkeit (zum Beispiel informaler Kommunikation) existieren. 62 | Luhmann, Das Kind als Medium der Erziehung, a.a.O., S. 29f.

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Bei alledem geht es selbstverständlich nicht darum, daß die Individuen so sind, wie sie konstruiert werden müssen, damit Selbstordnungsprozesse funktionieren. Für die Konstruktion ist es unerheblich, ob die Individuen determinierte oder nicht determinierte Systeme sind. Mikrodiversität leitet sich ab aus der Differenz der Individuen (aus purer diversitas), und im Kontext von Selbstordnungsprozessen kann diese diversitas als Freiheit und Unbestimmbarkeit gelesen, aber gerade nicht als ontologische Eigenschaft des Menschen fixiert werden.63 Dabei ist es auch gleichgültig, ob Individuen sich als dämonisch oder machtlos, als unfrei oder frei erleben; die Form der Differenz, die wir diskutieren, sinnt ihnen Unbestimmbarkeit an. Es genügt, daß das soziale System unterstellen kann, daß Individuen auf die durch sie induzierte diversitas divers reagieren. Wichtig ist, daß das System in seiner tautologischen Reproduktion differentiell geknüpft ist an unentwegt mitreproduzierte Mikrodiversität, an eine Unkontrollierbarkeit, die jede Selbstordnung initiiert und strukturiert – bis hin zu Selbstordnungen, die auf das Scheitern der Ordnung selbst antworten und dann von Beobachtern als illusorisch, als Täuschung, als Selbstbetrug oder Selbstverwechslung gebrandmarkt werden können, also als Pathologie. Von hier aus könnte ein Abzweig genommen werden zu einer Theorie ›wahnsinniger‹ Autopoiesis; wir halten nur fest, daß die Notwendigkeit von Mikrodiversität für eine sich ordnende (strukturierende) Autopoiesis erklärt, warum Sozialsysteme (unter modernen Bedingungen) Individuen in die Doppelform der Dämonie und der Konditionierbarkeit bringen. Das ändert jedoch nichts daran (und gerade dieses Mißverständnis ist zu vermeiden), daß Individuen keine sozialen Einheiten sind.64 Soziale Autopoiesis setzt

63 | Diese Versuche gibt es, und sie waren für die Soziologie alles andere als folgenlos. Man denke nur an die Wirkung der Thesen über die Instinktoffenheit des Menschen, über seine Plastizität in der Soziologie und die daran anschließenden Vorstellungen von der soziokulturellen (zweiten) Geburt des Menschen. Eine wissenssoziologische Beobachtung der Soziologie könnte hier mitsehen, daß sich die Disziplin selbst in die Unbestimmbarkeitsprojektion mit begleitender Idee der Konditionierbarkeit sauber einreiht, die im Kontext funktionaler Differenzierung notwendig wird. 64 | Das erhellt schon daraus, daß Individuen nicht immer in dieser Form unterstellt waren. Siehe allgemein Luhmann, N., Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in: Olk, Th./Otto, H.-U. (Hrsg.), Soziale Dienste im Wandel 1. Helfen im Sozialstaat, Neuwied, Darmstadt 1987, S. 121-137. Siehe für einen instruktiven Fall Stanitzek, G., Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989.

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92 | Theorie als Lehrgedicht zwar selbstverständlich Bewußtsein voraus,65 aber damit ist noch nichts darüber entschieden, in welcher Form Bewußtsein sozial unterstellt wird. Wahrscheinlich wird man sich schnell darauf verständigen können, daß solche Unterstellungen mit der soziokulturellen Evolution variieren. Das eine wäre dann, wie Bewußtsein unter wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen in Anspruch genommen wird; das andere wäre, wie Mikrodiversität sozial überhaupt abgreifbar wird, wenn kein Bewußtsein für soziale Autopoiesis verfügbar ist. Benötigt wurde eine soziale Unruhe-Ebene, eine hoch empfindliche, abweichungsanfällige Systemebene, die in allen gesellschaftlichen Prozessen differentiell wirkt im Sinne potentieller Abweichungs- oder Überraschungsproduktion. Die These ist, daß für diese Funktion einzig und allein Interaktion zur Verfügung steht.66 Interaktion, darauf wird man sich verständigen können, realisiert ja ihre eigene Autopoiesis. Sie schreibt der Gesellschaft eigenständige Formen ein, indem sie etwa ihre Grenze über das Schema anwesend/abwesend unter Anwesenden reguliert. Das ist ein hinreichend bekannter Sachverhalt. Seltener aber wird die Konsequenz gezogen, daß die eigene Autopoiesis von Interaktionssystemen ausschließt, daß diese Systeme durch andere autopoietische Formationen in der Gesellschaft instruiert werden könnten. Sie können sich zwar instruieren lassen, aber nur in der Weise der Selbstinstruktion, und das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß diese Autopoiesis wie jede andere sich irritieren lassen kann, aber die Irritation nur nach Maßgabe der eigenen Strukturalität bearbeitet – oder auch nicht. Das heißt zum Beispiel, daß die Funktionssysteme der Gesellschaft keinen wahlfreien Zugriff auf Interaktionen haben, die eher selbstbeweglich, eher »automobil« sind.67 Interaktionssysteme können sich durch funktionssystemspezifische Codes und Programme leiten lassen, sie können sie gleichsam anklicken, aber sie eben auch abschalten, zu anderen Codes und Programmen übergehen oder zur Form freier, vagabundierender, decodierter Kommunikation. Sie sind extrem plastische Systeme, die diese Führungswechsel verkraften, ohne ihre eigene Autopoiesis zu gefährden. Sonst könnte ein Gespräch über Geld nicht unversehens (ja sogar simultan) in die Anbahnung von Intimität konvertiert werden. Und wenn diese Anbahnung ersichtlich scheitert, kann dasselbe Gespräch blitzschnell wieder 65 | In wie immer auch ausgedünnter Form. Vgl. dazu Fuchs, Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes, in diesem Band auf S. 121ff. 66 | Und interaktionskopierende Formen. Ich orientiere mich im weiteren in einigen Hinsichten pointierend an Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, a.a.O. Im übrigen habe ich schon durch die Formulierung mikrodiverse Lage implizit an dieser These orientiert. 67 | Ebenda, S. 116.

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eines über Geld oder ein anderes über Kunst oder eines über andere Personen werden. Funktionssysteme haben damit (übrigens wie Organisationen) das Problem der Rekrutierbarkeit von Interaktionen, die sich nicht dauerhaft inkludieren lassen, weil ihre Autopoiesis Selbstexklusion jederzeit zuläßt.68 Dazu kommt, daß Interaktionen (anders als Organisationen, aber wie die Gesellschaft und die Funktionssysteme) nicht-adressable Systeme sind.69 Man kann sich nicht an sie wenden, man kann sie nur stören. Auch aus dieser Perspektive ziehen Interaktionssysteme der Gesellschaft eine Ebene der Unbestimmtheit ein, die zur Konditionierung zwingt, also zu Strategien der Ordnung dessen, was sich selbst nicht ordnen kann. Damit rückt Interaktion in die Funktion der Produktion von Mikrodiversität ein, woraus folgt, daß kein scharfer Durchgriff auf gleichsam harte Individuen notwendig ist, um die soziale Erzeugung von ordnungsstiftender Unordnung zu begründen. Interaktionen sind, wie man sagen könnte, jederzeit funktionsfähige Interdependenz-Unterbrecher. Sie sind von den Funktionssystemen und den Organisationen her potentielle (katalytisch wirkende) diversitas. In einer räumlichen (von daher prekären) Redeweise können Interaktionen die Grenzen der Funktionssysteme und Organisationen (und nicht: der Gesellschaft) jederzeit passieren – durch Decodierung, Umcodierung oder durch den Verzicht auf das Prozessieren von Entscheidungen. Sie sind in einem gewissen Sinne transversal und eben deshalb geeignet, Funktionssysteme und Organisationen mit Störungen (das heißt: mit Nachrichten über sonst-noch-etwas in der Welt) zu versorgen. Funktionssysteme sind schließlich tautologische Systeme, sie produzieren Mehr-desselben: Recht Recht, Wissenschaft Wissenschaft, Kunst Kunst, Wirtschaft Wirtschaft etc. Das verhält sich nicht anders mit Organisationen, die Entscheidungen aus Entscheidungen hervorgehen lassen. So gesehen, sind Interaktionen Weltund damit auch Strukturimporteure für autopoietische Systeme.

68 | Ebenda, S. 115. 69 | Vgl. zum Begriff Fuchs, Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, a.a.O.

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Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein

Die beobachtungsdirigierende Leitunterscheidung der neueren (soziologischen) Systemtheorie ist die von System und Umwelt.1 Die skandalisierende Kraft dieser (soziologisch verstandenen) Differenz lag darin, daß mit ihr psychische und soziale Operationen in ein wechselseitiges System/Umwelt-Verhältnis hineinarrangiert werden konnten.2 Die Theorie trennte kategorisch soziale und psychische Systeme und mußte dann Theoriestücke (nach)entwickeln bzw. importieren, die die Einheit des so Geschiedenen zu bearbeiten in der Lage waren, zum Beispiel die Theoriestücke der Interpenetration und der strukturellen Kopplung. Im Effekt ergab sich jedenfalls eine Strategie, durch die soziale Systeme bewußtseinsfrei und psychische Systeme kommunikationsfrei gestellt wurden. Damit gelang es, die am klassischen Ganzes/Teil-Schema verankerten und intellektuell ärgerlichen Beinhaltungsverhältnisse (etwa: Menschen sind Teile sozialer Systeme) zu sprengen. Der Preis war (im präzisen Sinne) die Exkommunikation des Menschen, des Individuums, des Bewußtseins, des Subjekts, der Leute.3 Der 1 | Siehe grundlegend Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, a.a.O.; vgl. zur Auflösung der in der Unterscheidung angelegten Raummetapher Fuchs, P., Die Metapher des Systems. Studien zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse, Weilerswist 2001. 2 | Ich benutze hier das Imperfekt, obwohl sich noch immer einschlägige Skandalisierungsstrategien beobachten lassen, aber es fällt mir schwer, sie noch ernst zu nehmen. 3 | Diese Exkommunikation konnte dann von pathetisch gesonnenen (ein wenig dämpfigen) Beobachtern als Expropriation gedeutet werden.

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96 | Theorie als Lehrgedicht Gewinn war die Eröffnung neuartiger Analysemöglichkeiten, die nicht mehr auf die epistemologischen Blockaden des Ganzes/Teil- und des Subjekt-Schemas angewiesen waren. Als Folgeproblem ergab sich aber, daß die Spezifikation der relevanten psychischen Umwelt sozialer Systeme nicht recht gelingen wollte. Terminologisch läßt sich diese Schwierigkeit nachzeichnen an der historischen Folge von Begriffen wie personales System, psychisches System, System des Bewußtseins. Noch heute geistern alle diese Begriffe und Anrainerbegriffe wie das kuriose psychophysische System in der einschlägigen Literatur herum.4 Es ist von personaler, psychischer, bewußter Umwelt die Rede, und schon ganz unklar dabei ist, was es mit dem Körper auf sich hat, der ja (jedenfalls in klassischer Vorstellung) irgendwie Träger (Beinhalter) des Psychischen wäre. Klar war nur, daß das Kompaktwort Mensch für die Auszeichnung der relevanten Umwelt sozialer Systeme so gut wie nichts leistete, ebensowenig übrigens wie die semantisch diffusen Begriffe des Individuums oder des Subjekts. Diese Verwirrungen und Unschärfen kann man den Turbulenzen in paradigmatischen Verwerfungszonen zuordnen. Sie wären dann nicht weiter tragisch, insofern die begrifflichen Instrumente, die einstweilen fehlen, geduldig entwickelt werden könnten. Es gibt aber auch die Möglichkeit, Verwirrungen dieser Art auf tiefer liegende Theorieprobleme zurückzuführen, die noch vor dem Splitting der Systemwelt in psychische und soziale Systeme eine eigentümlich subversive Rolle spielen, die mit dem Systembegriff selbst zu tun haben, Paradoxieprobleme, durch die ein viel massiver wirksames Skandalon bezeichnet wird. Wir nennen solche Probleme vorläufig EINS=ZWEI=EINS-Probleme.

I Die Kombination von systemtheoretischen, differenztheoretischen und schließlich beobachtungstheoretischen Motiven, als die die soziologische Systemtheorie heute angesehen werden kann, läßt es nicht mehr zu, die System/Umwelt-Differenz als Differenz von Lagen-in-der-Welt, als Kon-Stellationen zu begreifen, als ein Dies (System) und Das (Umwelt) in einer Art räumlicher Konfiguration. Dieses Modell hatte seine Berechtigung, insofern es gestattete, Erkenntnisinteressen nach Systemreferenzen zu ordnen. Man konnte sich auf Sozialsysteme oder auf psychische Systeme konzentrieren, 4 | Siehe zu dem Versuch, wenigstens das psychische und das bewußte System deutlich zu trennen, Fuchs, P., Das psychische System und die Funktion des Bewußtseins, in: Jahraus, O./Ort, N. (Hrsg.), Theorie, Prozeß, Selbstreferenz. Systemtheorie und transdisziplinäre Theoriebildung, Konstanz 2003, S. 25-47.

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das dabei jeweils Ausgeschlossene als Moment der Umwelt vorübergehend dahingestellt sein lassen und bei Bedarf die Referenzen wechseln, erst Dies, dann Das, dann wieder Dies … und in dieser Oszillation fielen dann aufeinander beziehbare Erkenntnisse an, die sich sequentiell darstellen ließen. Dieses Verfahren war leistungsfähig (und ist es bei Bedarf immer noch), aber es konnte nicht berücksichtigen, daß die Oszillation zwischen System und Umwelt (und Systemen in der Umwelt) System und Umwelt gleichsam kondensieren läßt wie Gegenstände, auf die man sich ausrichten kann.5 Der Gegenstand der Systemtheorie war dann das System-in-einer-Umwelt. Man hatte es mit der Gesellschaft, der Politik, dem Recht, der Kunst, der Wissenschaft, der Wirtschaft zu tun, mit den Organisationen und auf der Gegenseite mit den psychischen (bewußten) Systemen. All diese Systeme ›lagen‹ sozusagen vor in wechselseitigen Verschachtelungsverhältnissen (etwa Unternehmen als Subsysteme der Wirtschaft, Kirchen als Subsysteme der Religion), alle diese Systeme ›hatten‹ Umwelten, die wie ›Umlagen‹ gehandhabt wurden, als eine Art ›Ambiente‹. Daran änderte sich, beinahe unbemerkt und eher zaghaft, erst dann etwas, als man herging, das System als Differenz zu begreifen. Das System, so lautet die kanonische Formel, ist die Differenz von System und Umwelt. Es ist weder die eine noch die andere Seite der Differenz, die insofern kompliziert ist, als der Einheitsbegriff der Unterscheidung (Das System ist die Differenz System/Umwelt) in der Differenz noch einmal unterschieden ist (System/Umwelt). Das ist nicht einfach der Fall eines klassischen Wiedereintritts eines Unterschiedenen in die Unterscheidung, durch die es unterschieden ist, nicht einfach nur ein re-entry wie etwa in dem Fall, daß jemand System und Umwelt unterscheidet und dann auf der Seite des Systems prüft, wie dort ebendiese Unterscheidung behandelt wird. Statt dessen haben wir es mit dem kruden Problem einer sich selbst dementierenden Unterscheidung zu tun, die – einmal serviert – ihre Einheit (System) so ›verzweit‹, daß genau diese Einheit als eine Seite einer Zweiheit auftritt, in der sie dann die Einheit (sozusagen trotz Hälftigkeit) vertritt. Vielleicht kann man auch (für Liebhaber von Metaphern) von einer ›kreisenden‹ Unterscheidung sprechen, bei der jede Bezeichnung des Systems die Differenz aufruft, innerhalb derer die Bezeichnung wieder auftaucht, die – ihrerseits bezeichnet – als Einheitszeichen fungiert, das die Differenz aufruft etc. Damit wird der Begriff des Systems endogen unruhig. In pointierter 5 | Dazu beigetragen hat, daß der Begriff Beobachtung in Richtung seiner visualistischen Komponenten ausgearbeitet wurde, nicht von jedem und jeder, aber doch häufig. Siehe dazu, wie man anders verfahren könnte, die Vorlesung über das Beobachtungssyndrom in: Fuchs, P., Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, Konstanz 2001.

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98 | Theorie als Lehrgedicht Wendung: Er hat die Form einer Selbst-Dekonstruktion. Er ist nicht stillstellbar und erzeugt für einen Beobachter, der mit ihm arbeitet, fortlaufende Informationsverluste, indem er ihn in die Quasi-Ontologie von Objekt-Systemen hineinnötigt. Im Repertoire der Rhetorik ist die Metapher der Ausdruck für eine Sinnfigur, die sich nicht auf Information hin ›linearisieren‹ läßt. Und auch in diesem Sinne könnte man sagen, daß das Wort System eine im Augenblick unüberbietbare Metapher ist, insofern sie es als Abbreviatur (mit sozusagen innerer Unabschließbarkeit) gestattet, Forschungen durchzuführen, die von ebendieser Unabschließbarkeit absehen.6 Kommt es aber auf diese Unabschließbarkeit an, geht es also um das, was man theoretische Grundlagenforschung nennt, bietet sich für das im Systembegriff eingezeichnete EINS=ZWEI=EINS-Problem der Ausdruck konditionierte Koproduktion an.7 Er besagt (in der Lesart, die ich wähle), daß – erstens – alles, was erscheint, seine Epiphanie historisch (das bedeutet das Adjektiv ›konditioniert‹8) erwirtschaftet, und – zweitens –, daß diese Erwirtschaftung an die Ökonomie einer Einheit gebunden ist, die nur für einen Beobachter eine Zweiheit ist. So wenig es den Herrn ohne den Knecht gibt, den Knecht ohne den Herrn, so wenig es also weder Herren noch Knechte gibt, so wenig ›gibt‹ es die eine Seite der Differenz (das System) ohne die andere Seite (die Umwelt). Die Metaphern der Verschränkung, der Verzahnung, der Kopplung, der Interpenetration, aber auch der Grenze sind im Blick darauf unzureichend.9 Sie sind schon im Rahmen einer okkulten Ontologie des Raumes gearbeitet. Davon muß man sich jedoch nicht erschrecken lassen, insofern man Fragen der Einheit, der Zweiheit, der Dreiheit an die Philosophie bzw. an Zeichentheorien delegieren kann.10 Schrecken tritt eher auf, wenn man als Soziologe mit der System/Umwelt-Unterscheidung operiert und dabei be-

6 | Das ist eine zentrale These in Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O. Die These sagt zugleich, daß man über den Systembegriff nur mit dem Systembegriff hinauskommt. Diese Anregung verdanke ich Dirk Baecker. 7 | Vgl. Fn. 10 auf S. 20. 8 | Ich betone noch einmal, daß dies meine Lesart darstellt, die ihrerseits strategisch konditioniert ist. 9 | Die Metapher des All-Einen, wie sie sich vor allem aus asiatischen Religions- und Philosophiekontexten beziehen läßt, stellt sozusagen die Verzweiung still und begünstigt so eher Meditation als Forschung, die ja nicht auf Beschaulichkeit ausgelegt ist. 10 | Siehe zur einschlägigen Diskussion Jahraus, O./Ort, N. (Hrsg.), Bewußtsein – Kommunikation – Zeichen. Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie, Tübingen 2001.

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wußte Operationen psychischer Systeme von kommunikativen Operationen sozialer Systeme trennt. In eingeführter Diktion hätte man es in der Umwelt sozialer Systeme mit relevanten Prozessoren (psychischen Systemen) zu tun, in deren Umwelt als relevante Prozessoren soziale Systeme fungieren. Die System/Umwelt-Differenz, die zwischen sozialen und psychischen Systemen verläuft, wäre dann eine Differenz von Differenzen derselben Art (eben: System/Umwelt), die einer absonderlichen Verschleifung unterläge, die graphisch nicht mehr darstellbar ist: Das psychische System ist die Differenz von System/Umwelt, es hat also keinen Selbststand, keine Sui-Suffizienz, denn in der Differenz, durch die es (?) bezeichnet ist, sind die Umweltprozessoren (soziale Systeme) mitbezeichnet; das soziale System ist die Differenz von System/Umwelt, es hat also keinen Selbststand, keine Sui-Suffizienz, denn in der Differenz, durch die es (?) bezeichnet ist, sind die Umweltprozessoren (psychische Systeme) mitbezeichnet. Das sind äußerst vertrackte Verhältnisse, die gewöhnlich (ohne sonderlich mitreflektiert zu werden) dazu führen, daß die beiden Differenzen (System/Umwelt – sozial // System/Umwelt – psychisch) in einer Differenz zusammengezogen werden (Soziales System/Psychisches System). Diese Kontraktur erzeugt die Kontrahenten Kommunikation und Bewußtsein, die, wenn man so will, direkte Gegenspieler werden. Sie sind dann füreinander unmittelbare (relevante) Umwelt. Keine Seite dieser Differenz kann die andere beinhalten, sondern nur in je eigener Autopoiesis bezeichnen. Es gibt keine Überlappungsverhältnisse, sonst hätte man ein Amalgam und keine Differenz. Und deshalb muß ein Medium hinzugedacht werden, das weder das eine noch das andere System, ja überhaupt kein System ist. Dieses Medium wird in seiner abstraktesten Form Sinn genannt. Es ist, wenn man so will, eine Art Einheitsfunktor, weil es Formbildung auf beiden Seiten der einen Differenz instruiert durch Modalisierung jeder Bezeichnung, die im Rahmen psychischer oder sozialer Operationen anfällt, oder, in einer etwas anderen Wendung: durch den Einsatz der für jede Beobachtung unverzichtbaren Differenz von Aktualität/Potentialität. Oder – in mnemotechnisch schlichterer Formulierung: Sinn ist diese Modalisierung. Aber wie dem im einzelnen sein mag: Wenn das, was wir gerade konditionierte Koproduktion genannt haben, eine triftige Beschreibung ist, dann sind die Antagonisten in der Differenz (Kommunikation/Bewußtsein) die Als-Zwei-Beobachtung-eines-Einheitsgeschehens. Das ist nun in der Tat kein Spaß mehr, denn eine erste Konsequenz dieser Überlegung wäre es, bestreiten zu müssen, daß die Antagonisten ein Eigenspiel spielen könnten, etwas an-und-für-sich wären.11 Manch einem wird diese Annahme leicht

11 | Verfährt man so, muß man nicht das deprimierende Spiel mitspielen, daß

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100 | Theorie als Lehrgedicht fallen, wenn es um Kommunikation geht, aber in der Logik konditionierter Koproduktion würde dasselbe für die Gegenseite, für das psychische (bewußte) System gelten. Wenn gestrickt wird, fallen die Nichtmaschen mit den Maschen an; tilgt man die Nichtmaschen, verschwindet das Strickwerk im Zuge der Tilgung mit.12 Jedenfalls würde das Bild der herumschweifenden singulären Bewußtseine, denen die Sozialsysteme gegenüber liegen, nicht ganz umstandslos stimmen, wenn die einen wie die anderen nur sind, als was sie in der Differenz aufspringen, ohne die nicht einmal die Rede von ihnen sein könnte.

II Das damit bezeichnete Problem müßte sich daran zeigen, daß die Singularität der Bewußtseine nicht beobachtet werden kann.13 Sie wäre kein empirisch ansteuerbarer Tatbestand.14 In sozialer Systemreferenz ist diese These (den hier diskutierten theoretischen Apparat vorausgesetzt) evident. Es ist möglich, über singuläres, individuelles, idiosynkratisches Bewußtsein zu reden, seine Existenz zu behaupten, Romane zu schreiben, die dies alles vorführen, aber ob nun darüber geredet oder geschrieben wird, in jedem Fall ist die Inszenierung geknüpft an die Allgemeinheit des dabei benutzten

darin besteht, das Phänomen Geist als etwas zu behandeln, in dem etwas drin ist oder in dem nicht etwas drin ist (Eliminativismus). Siehe dazu Searle, J., Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt a.M. 1996, S. 276. 12 | Ein sehr schönes Beispiel für diese Koproduktion ist auch das Assimilations/Akkommodations-Schema. Vgl. etwa Piaget, J., Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1973. Piaget spielt übrigens dabei auch mit dem EINS=ZWEI=EINS-Problem, etwa, wenn er sagt, daß (in einer bestimmten Beobachtungslage) »die vitale und die mentale Organisation nur noch ein und dasselbe« darstellen (S. 56), oder wenn er das Licht als die Nahrung des Auges bezeichnet (S. 52f.). 13 | Hinter dieser Formulierung verbirgt sich das Problem, daß man ja auch sagen könnte, daß das Bewußtsein genau dann beobachtet wird, wenn ein Beobachter mit dem Begriff Bewußtsein und entsprechenden Unterscheidungen arbeitet. Es entstünde, wenn man so will, dann als Beobachtetes, Bezeichnetes oder als Signifikat unter einem Signifikanten, der historisch gleiten kann. Wir spielen aber vorläufig noch das Spiel, in dem angenommen wird, daß es ein Korrelat Bewußtsein gebe. Dasselbe Spiel spielt, wie man annehmen könnte, Luhmann, wenn er sagt, es gebe Systeme oder Kommunikation sei unbeobachtbar. 14 | Das gilt nicht minder für Sozialsysteme, aber wir greifen den der psychischen Systemreferenz zuerst heraus.

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Zeichenreservoirs und nur möglich, wenn ein Minimum an Standardisierung im Spiel ist. Für Sozialsysteme ist nämlich Einzigartigkeit eine zwar paradoxe, aber gleichsam lässig fungierende (semantisch mittlerweile reich ausgestattete) Markierung, die nur deshalb funktioniert, weil sie nicht funktioniert. Wäre Einzigartigkeit kommunikabel (im Sinne der Mitteilung echter, wirklicher, ontischer Singularität), könnte nicht verstanden werden, was angezeigt, gesagt, geschrieben worden ist. Kommunikation würde kollabieren, aber muß es nicht, weil ohnehin nicht geht, was dabei intendiert wurde. Es kommt statt dessen zu beobachtbaren (!) Formen des (historisch differenten) Umgangs mit dem Reden über Singularität und all ihren Derivaten.15 In psychischer Systemreferenz bleibt das Problem erhalten. Es ist vollkommen klar, daß die Produktion von Anlässen (Lärm), die von Kommunikation als Äußerungen aufgegriffen werden können, ebenfalls an die Allgemeinheitsbedingungen (oder in eher Wittgensteinschem Duktus: an die Unmöglichkeit einer Privatsprache) von Sozialität geknüpft sind. Selbst für die Spitzenleistungen der idiosynkratischen Verrätselung von Anlässen (Kunstwerke, moderne Lyrik, Musik der Avantgarde) gilt, daß ein Minimum am Fremdreferenz installiert sein muß, damit ein wie immer auch restringiertes Verstehen zustande kommt.16 Die Auszeichnung von Individualität (hier immer im Verständnis von Singularität) muß dann historisch nachzeichenbare Wege suchen, beispielsweise das Paradox kommunizierter Singularität im Mittelalter aufspüren17 oder die Quellengattung autobiographischer Texte entdecken und

15 | Vgl. dazu die Studien in Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. 16 | Vgl. etwa die Auseinandersetzung in Fuchs, P./Schmatz, F., »Lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz«. Eine Korrespondenz zwischen Dichtung und Systemtheorie, Opladen 1997. Spitzenleistungen dieser Art finden sich auch in kalligraphischen Kontexten, die (via Kopie) Individualität löschen und (via minimaler Abweichung) hervorzaubern. Vgl. die Studie über Japan (Shodo) in Fuchs, Die Umschrift, a.a.O. Siehe als Diskussion eines Kontrastfalles ders., Die Schrift bricht nicht das Schweigen – oder doch? Anmerkungen zum Schriftgebrauch der Zisterzienser, in: Buchmalerei der Zisterzienser. Kulturelle Schätze aus sechs Jahrhunderten. Katalog zur Ausstellung »Libri Cistersienses« im Ordensmuseum Abtei Kamp, Stuttgart, Zürich 1998, S. 35-39. 17 | Siehe für entsprechende Fallstudien Aertsen, J.A./Speer, A. (Hrsg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Bd. 24 der Miscellanea Mediaevalia), Berlin, New York 1996. Vgl. auch Fuchs, P., Moderne Identität – im Blick auf das europäische Mittelalter, in: Hahn, A./Willems, H. (Hrsg.), Identität und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, S. 273-297.

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102 | Theorie als Lehrgedicht auswerten, die vielleicht ebenfalls im Mittelalter im Kontext von Haushaltsund Kaufmannsbüchern entstanden sind.18 Nicht minder wichtig wäre es, darauf zu achten, wie es die sich einspielende Differenz von Lebenslauf und Biographie gestattet, den Lebenslauf durch Bezeichnung der Biographie (in der das Schreiben ja schon etymologisch eingeschrieben ist) thematisch zu machen und ins Narrative zu wenden.19 Die Narration wird dann (etwa im Roman) mehr und mehr zum Mittel, Ereignisse so miteinander zu verknüpfen, daß einleuchtet, daß sie auf diese Weise nur einem oder einer zugestoßen sein können.20 Bei dieser (hier nur äußerst knapp skizzierten) Ausdifferenzierung von Möglichkeiten, die Singularität von Bewußtseinen zu bezeichnen (unter welchen Titeln auch immer), bleibt das Prinzip erhalten, daß jeder Versuch, der dies unternimmt, sich in einem Medium der Allgemeinheit vollzieht. Man muß bei dieser These nicht schon davon ausgehen, daß es keine Privatissima des Bewußtseins gäbe; es genügt, zu sagen, daß sie entweder mitgeteilt werden (und dann verdampft das Bewußtseinsprivate in der Allgemeinheit der Kommunikation und der Medien, in denen sie sich realisiert) oder verschwiegen wird (und dann weiß niemand etwas davon). Derjenige, der schweigt, kann dann noch immer sagen, daß in ihm Unaussprechliches wallt und gärt, er kann sein je ne sais quoi verkünden, aber das ist dann alles, was das Unaussprechliche ist – nichts als eine verstehbare Nachricht, die nichts mitbringt, was nicht allgemein wäre, wie virtuos auch immer die Form der Mitteilung sein mag. Gleichwohl findet sich diese Nachricht, und üblicherweise ist man geneigt dazu, ihr Glauben zu schenken. Dieser Glaube speist sich aus Binnenevidenzen, über die jedes Bewußtsein verfügt, nämlich, daß es etwas bei sich behalten, verschweigen kann und daß es mitunter Zustände in sich registriert, für die ihm die Worte fehlen, und wenn sich die Worte für kom-

18 | Vgl. Weiand, Ch., »Libri di famiglia« und Autobiographie in Italien zwischen Tre- und Cinquecento. Studien zur Entwicklung des Schreibens über sich selbst, Tübingen 1993. Siehe auch Schulze, W., Vorüberlegungen für die Tagung über »EGO-DOKUMENTE«, in: ders. (Hrsg.), Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 17. Vgl. ferner Fuchs, P., Individualisierung im System, in: Kron, Th. (Hrsg.), Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 69-87. 19 | Vgl. dazu Hahn, A., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 101ff. et passim. 20 | Das ist nicht unser Thema, aber man könnte es durchziehen bis zur Psychoanalyse, aber ebenso gut den Alltag daraufhin durchprüfen, wie er immer dann, wenn es um Individualität geht, von Geschichten durchsetzt wird.

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plizierte Bewußtseinslagen doch einstellen, kann man gleichzeitig wissen, daß sie nicht in jedem Fall richtig verstanden werden oder möglicherweise – wenn ausgesprochen, niedergeschrieben – Peinlichkeiten, die Gefahr von seelischen Verletzungen, Schädigungen der sozialen Adresse evozieren könnten.21 Beinahe ist es so, als käme das Bewußtsein durch häufig in dieser Weise anfallende Resignationen zur Idee, daß es einzigartig sei.22 Aber damit ist dann der eigentliche Testfall benannt. Wenn die Singularität der Bewußtseine nicht beobachtbar ist, verbleibt ja noch der Fall der Selbstbeobachtung. Wenigstens in dieser Hinsicht müßte so etwas wie Eigentümlichkeit, Selbstheit, Einzigartigkeit zu Tage treten, und sei es nur in der verschwiegensten Innenschau, der Introspektion.23

III Die zentrale Subversion dieser Evidenz, daß der Eigenstand des Bewußtseins in seiner Selbstbeobachtung angetroffen werde, ergibt sich daraus, daß in der Bezeichnung dieser Operation die Bezeichnung der Operation Beobachtung eingebaut ist. Diese Operation ist ja nicht definiert als das aufmerkund achtsame Im-Blick-Haben und Verfolgen eines sozusagen ›drüben‹ befindlichen und irgendwie agierenden (oder auch ruhenden) Gegenübers. Sie ist nicht in die Relation Subjekt/Objekt eingespannt, sie ist weder cartesisch noch euklidisch. Sie wird begriffen als Operation eines unterscheidenden Bezeichnens oder eines bezeichnenden Unterscheidens, aber in

21 | Das Bewußtsein dafür scheint sich aber langsam zu verflüchtigen, jedenfalls, wenn man auf die Selbstdarstellungen von Leuten in mittäglichen Talksshows achtet, etwa zu Themen wie »Ich trage keine Unterwäsche … na und?« oder »Hilfe … ich habe Scheidenkrämpfe.« Hier deuten sich massive und soziologisch beachtliche Umstellungen dessen an, was noch kommuniziert werden kann, und damit dann auch die Frage, was noch als verschweigenswert (also peinlich) gilt. 22 | Diese Vermutung ließe sich leicht in eine Hypothese übersetzen, mit der sich historisch-semantisches Material, das im Zuge der Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung entsteht, ordnen ließe – bis hin zu Lord Chandos. Interessant ist, daß die Ursprungsbedeutung von conscientia (cum – scire) mitbeinhaltet, daß zwei gemeinsam etwas über etwas wissen, aber genau daran bemerken, daß sie bestimmte Dinge nicht voneinander wissen, Peinlichkeiten, Schandbares etc. Das eigene würde durch Scham entdeckt, also gleich im Kontext von Moral. 23 | Das Problem ist (jenseits dessen, worum es uns hier geht), daß Introspektion eigentlich Retrospektion ist. Siehe jedenfalls schon James, W., The Principles of Psychology, Cambridge 1993 [1890], S. 187ff.

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104 | Theorie als Lehrgedicht jedem Fall (wie immer dann die zeitlichen Akzente gesetzt werden) als Operation, in der Unterscheidung und Bezeichnung in einer Aktualität kombiniert sind. In leichter Modulation hier einschlägiger Formulierungen gehe ich davon aus, daß die Operation des Beobachtens die Verkettung von Bezeichnungen ist, an die durch jede weitere Bezeichnung sozusagen ein Auswahlbereich möglicher (die Bezeichnung situierender) Unterscheidungen herangetragen wird, und zwar genau dadurch, daß die weitere Bezeichnung als Wahl beobachtet werden kann. Das gestattet es, zu sagen, daß die Operation schon die Form von Sinn hat, insofern sie Selektivität installiert – für weitere Beobachtungen, für die dasselbe gilt. Daraus folgt unter anderem, daß es keine singulären Operationen gibt, sie sind (und sei es nur durch diese Definition) immer: systemisch. Die eine Beobachtung ohne Katenation von Beobachtungen ist weder psychisch noch sozial denkbar. Unabhängig davon, wie man hier die Akzente setzt, wichtig ist, daß es um ein Unterscheiden geht und um ein Bezeichnen. Dabei ist das Unterscheiden nicht identisch mit dem Passieren von Unterschieden, von denen niemand etwas wissen kann, wenn sie nicht unterschieden (besser wäre, wenn es die deutsche Sprache zuließe: unterscheidet) werden. Das Unterscheiden von Unterschieden (uno actu mit der Bezeichnung der einen oder anderen Seite der Unterscheidung) ist schon sinnförmig, ist schon an die Möglichkeit des Bedeutens geknüpft, an die Aufblendung eines Auswahlbereiches durch die Bezeichnung, und letztlich, wie wir annehmen wollen, an Zeichengebrauch.24 Die Externalisierungsleistung des neuronalen Systems (die Erzeugung einer Welt da draußen) würde nur zu einer gleitendkompakten Folge, einem super-dichten Rauschen führen, wenn nicht das Bewußtsein Bilder und Ereignisse kreieren würde, durch die etwa Innen/ Außen oder Vorher/Nachher zustande käme, oder kurz: eine fortwährende Modalisierung, die zeichenfrei bzw. sinnfrei nicht vorstellbar wäre.25 24 | Wir wollen also nicht annehmen, daß die Katze die Maus unterscheidet und bezeichnet, also in diesem Sinne: beobachtet. Vermutlich ist sie zur dazu notwendigen Virtualisierungsleistung nicht befähigt. Das schließt nicht aus, daß Katzen, Pflanzen, Viren eine psychische Organisation hätten (die ist schon durch schiere Wahrnehmung impliziert), sondern nur nicht: Bewußtsein, das beobachtet, also Zeichen in Anspruch nimmt. Das läge anders, wenn man Bewußtsein als Wahrnehmungsorgan auffaßt, das äquivalent operiert zu den anderen Sinnesorganen. Beispiel für diese Theorie wäre etwa die hinduistische Idee des manas. Vgl. Smart, N., Doctrine and Argument in Indian Philosophy, London 1964. 25 | Im Blick auf Wahrnehmung, die zeichenfrei arbeitet, könnte man sich rudimentäre (aber für Sinnsysteme eben nicht mehr vorstellbare) Modalisierungen vorstellen. Ein Analysegegenstand könnten spielende Tiere sein, Scheinbisse etc. – dies

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Wenn es so ist, daß die Operation der Beobachtung durch Zeichengebrauch Zäsuren und Ereignisse schafft (das wäre sogar ihre Funktion), dann würde das in unserem experimentellen Kontext bedeuten, daß Selbstbeobachtung exakt dieselbe Operation ist, also Unterscheidungen und Bezeichnungen kombiniert, die durch Zeichengebrauch konditioniert sind. Das Bewußtsein würde diese Operation nur nicht-privat durchführen können.26 Es bezöge das ›Material‹ zur Selbstbeobachtung nicht aus sich selbst, sondern wäre in dieser Hinsicht komplett sozial konditioniert. Es müßte bei dieser Operation immer weitere Zeichen einsetzen (wie sublim und differenziert es das auch immer anfangen mag), und im Moment, in dem es gleichsam zeichenfreie Momente seiner selbst bezeichnen (unterscheiden wollte), würde es das tun, was es dabei nicht will und doch will: bezeichnen und unterscheiden.27 Damit ist nicht sofort ausgeschlossen, daß es zeichenfreie Zustände des psychischen Systems (im wesentlichen: Wahrnehmung) geben könnte, aber nachdrücklich festgehalten, daß solche Zustände und Prozesse sich der Selbstbeobachtung strikt entzögen. Das Modell dafür liefert die Idee des Unbewußten, für das gilt, daß es genau nicht beobachtet wird, es sei denn: an Effekten, die wieder nur unter Einsatz von Zeichen (deutend) abgegriffen werden. In spitzer Wendung: Das Bewußtsein ist im Blick auf das, was in seinen Beobachtungen verkettet wird, durch und durch: allgemein, das heißt: sozial konditioniert.28 Es ist die Einschreibung des Nicht-Privaten in das

alles aber schon für sinnförmig instruierte Beobachter, also äußerst problematisch. Vgl. zur erkenntnistheoretischen Diskussion dieser Frage Bieri, P. (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 24ff. Vgl. ferner den Grundlagenaufsatz von Nagel, Th., Wie ist es, eine Fledermaus zu sein, in: Frank, M. (Hrsg.), Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, Frankfurt a.M. 1994, S. 135-152. 26 | Das ist eine der zentralen Thesen in Fuchs, P., Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, a.a.O.; ders. (als gedrängte Fassung), Die Dominanz der Verlautbarungswelt und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, in: texte, psychoanalyse, ästhetik, kulturkritik 17/3, 1997, S. 58-66; ders., The Modernity of Psychoanalysis, a.a.O. 27 | Wenn man das noch vermeiden will, muß man Unterscheidungsvermeidung praktizieren, also ›Leerheit‹ anstreben. So etwas findet sich im Zen-Buddhismus. Vgl. dazu die entsprechende Studie in Luhmann/ Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. In diesem Kontext wird dann interessant, daß die Meister gegenüber langjährigen Adepten absurde Nichtzeichen-Zeichen einsetzen, um die Kandidaten sozusagen ins Satori zu schubsen. 28 | Das heißt nicht sofort determiniert. Hier müßte eine gesonderte Diskussi-

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106 | Theorie als Lehrgedicht psychische System und in diesem Sinne nicht mono-produziert, sondern ko-produziert. Es operiert auf sozial angelieferten Beständen.29 Was in einer langen Geschichte als Proprium des Menschen gehandelt wurde (die Verfügung über Bewußtsein), ist nicht das Proprium, sondern das Nicht-Eigene.30 Insofern waren Intuitionen, die besagten, der Mensch sei eigentlich ein soziales Tier, alles andere als falsch. Die Metapher von der soziokulturellen (zweiten) Geburt des Menschen (oder die seiner Plastizität, seiner Instinktabkopplung) ist ebenfalls durch und durch instruktiv.31 Jenes Nicht-Eigene (der Koproduzent) ist aber, wie wir sagten, das Soziale. Es müßte auch koproduziert sein.

IV Das Basistheorem, das auf diese Koproduktion verweist, lautet: Keine Kommunikation ohne Beteiligung von Bewußtsein.32 Nimmt man diesen on einsetzen, die vermutlich mit dem Gedanken starten würde, daß Sinn (die Verweisungsschläge, das Gleiten der Bedeutungen etc.) nicht determinierbar ist. 29 | Siehe dazu, wie tief dies greift (bis hin zur Konstruktion scheinbar eigener Ereignisse als Gedanken im Zuge der Schriftentwicklung), Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O. 30 | Wodurch man zu dem Umkehrschluß gelangen kann: je weniger Bewußtsein, desto mehr Eigenheit oder – modischer – Authentizität. Das kann man in Theorien der (schweren) geistigen Behinderung bzw. schwerer psychopathologischer Störungen nutzbar machen, aber es besagt natürlich auch: die Eigenheit wird im Tod erreicht. 31 | Die eigentliche Wissenschaft, die sich mit dem, was man Bewußtsein genannt hat, auseinanderzusetzen hätte, das wäre demnach die Soziologie, und siehe da, seitdem es diese Art von Systemtheorie gibt, ist Bewußtsein (als Gegenseite der Differenz Bewußtsein/Kommunikation) prominentes Thema des Faches oder dieses Zweiges des Faches oder wie auch immer. Vgl. nur Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, a.a.O.; Baecker, D., Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein, in: Krohn, W./Küppers, G. (Hrsg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 217268. Grundlegend war: Luhmann, N., Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt 36, 1985, S. 402-446, auch in: Hahn, A./Kapp, V. (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 25-94. 32 | Allerdings kann man heute über Grenzfälle diskutieren, etwa über den der hyperautonomen Kommunikation des WWW, die Bewußtsein nur in äußerst minimierter Form in Anspruch nimmt: als klickende Instanz. Siehe dazu Fuchs, Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes, in diesem Band auf S. 121ff.

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Satz wörtlich, so ist mit ihm definitiv ausgeschlossen, daß Bücher mit Büchern, Kunstwerke mit Kunstwerken, Geldscheine mit Geldscheinen kommunizieren. Impliziert ist ebenso deutlich, daß Kommunikation immer nur aktuelle Kommunikation ist, weil das Bewußtsein, das in der Umwelt vorausgesetzt ist, immer nur aktuelles Bewußtsein ist.33 Weder Bewußtsein noch Kommunikation existieren in Vergangenheiten oder Zukünften, so sehr sie sich auch damit befassen mögen, darüber nachzudenken oder zu reden. Sie sind immer nur: gegenwärtig.34 Eine ganz entscheidende Konsequenz ist, daß zwischen Verschiedenem-in-Gleichzeitigkeit keine Kausalitäten laufen können.35 Nur das rechtfertigt es für einen Beobachter, das Verschiedene (Kommunikation/ Bewußtsein) in jeder Aktualität für kausal autonom gegenüber der je anderen Seite der Unterscheidung zu halten. Und nur das erklärt, warum ein Beobachter um Raumvorstellungen nicht herumkommt (und in der Folge nicht um den Einsatz einer zwischen den Seiten dessen, was er unterscheidet, oszillierenden Zeit), sobald er System und Umwelt als etwas Verschiedenes-in-Gleichzeitigkeit auffaßt. Damit ist jedenfalls klar, daß tradierte Modelle der Kausalität, die vom Beobachter abstrahieren, der Kausalitäten attribuiert, nicht geeignet sind, die Rolle von Bewußtsein für Kommunikation zu präzisieren, geschweige denn, den ›Verschweißungsmodus‹ konditionierter Koproduktion zu erfassen. Wenn man unter solchen Voraussetzungen mit Kausalität nicht weiterkommt, bietet es sich an, den Funktionsbegriff in der Form einzusetzen, die für die neuere Systemtheorie typisch ist.36 Hier mag es genügen, in einer gegenüber der Komplexität des Begriffes sehr selektiven Weise zu sagen, daß die Bestimmung der Funktion gebunden ist an einen Beobachter, der mit dem Schema Problem/Problemlösung arbeitet und ein Bezugsproblem so konstruiert, daß auf der Gegenseite der Konstruktion verschiedene Problemlösungen instruktiv vergleichbar werden.37 Das Problem, das hier 33 | Ich denke, es ist klar, daß konditionierte Koproduktion ein Schlüsselausdruck für diese Gleichzeitigkeit ist. 34 | Man könnte auch sagen: sie definieren laufend Gegenwarten. Ebendeshalb ist der Gesichtspunkt der Operativität von entscheidender Bedeutung. 35 | Vgl. dazu, schon auf Kommunikation und Bewußtsein bezogen und die Luhmannsche Vorstellung darüber aufgreifend, Baecker, D., Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein, a.a.O., S. 227ff. 36 | Vgl. Luhmann, N., Funktion und Kausalität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 1962, S. 617-644; ders., Funktionale Methode und Systemtheorie, in: Soziale Welt 15, 1964, S. 1-25; ders., Kapitel »System und Funktion« in: Soziale Systeme, a.a.O. 37 | Nur sicherheitshalber: Die Rede ist nicht von Phänomenen, die eine Funk-

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108 | Theorie als Lehrgedicht konstruiert werden soll, läßt sich als Frage formulieren: Warum würde Kommunikation sofort verschwinden, wenn in ihrer Umwelt die bewußten Prozessoren ausfallen? Oder: Was würde mit dem Bewußtsein so verschwinden, daß Kommunikation sofort erlischt? Eine (übliche) Antwort könnte sein, daß mit dem Bewußtsein der Lärmproduzent eliminiert wäre, der das Rauschen exponiert, das durch Kommunikation geordnet wird. Das Bewußtsein stellt, wenn man so will, die Anlässe zur Verfügung, die durch die Zeitform der Kommunikation in einen selektiven Zusammenhang gebracht werden, der dann nicht mehr auf bestimmtes (empirisches) Bewußtsein angewiesen wäre, aber sehr wohl darauf, daß immer weiterer Lärm hergestellt wird.38 Man könnte also sagen, daß das Bewußtsein die Kommunikation ›unterhält‹ durch Zufuhr von Anlässen, auf die zeittechnisch so zugegriffen wird, daß sie sich als Mitteilungen von Informationen beobachten lassen, als Äußerungen, die durch Folgeäußerungen (durch Anschlüsse) verstanden bzw. als Anschluß derselben Art auf vorangegangene Äußerungen definiert werden. Das Bewußtsein würde das ›Material‹ zu dieser Transformation in aufeinander selektiv bezogene Äußerungen liefern und in diesem Sinne unverzichtbarer ›Unterhalter‹ sein. Dabei bliebe die Idee bestehen, daß es dies nur sein kann, wenn es seinerseits durch Kommunikation auf die gleiche Weise ›unterhalten‹ wird. Das Problem ist, daß man gedankenexperimentell einen Rahmen schaffen kann, in dem beispielsweise Computer an die Stelle bewußter Systeme treten und programmgesteuert Anlässe (Zeichen) liefern, die in eine Sequenz geraten, in denen Äußerungen auf Äußerungen folgen. Bastelt man dieses Arrangement so, daß kein bewußter Beobachter beteiligt ist, könnte dann die Frage sein, ob dort (in dieser Kammer) Kommunikationen ablaufen, obwohl in deren Umwelt die Leistung bewußter Beobachter nicht vorkommt. Man könnte sich nach Science Fiction-Weise zusätzlich denken, daß es überhaupt kein Bewußtsein mehr in der Welt gäbe, aber die Maschinen ihr Spiel gleichwohl fortspielen, Ewigkeiten lang.39 Betrachtet man das Experiment, so stellt sich intuitiv der Eindruck ein, daß die Aussage, dort drinnen fände im Stelldichein der Computer Kommunikation statt, seltsam schief und gekünstelt klingt. Irgendeine Leistung tion ›haben‹. Der Funktionsbegriff ist komplett an einen Beobachter geknüpft, der Interesse daran hat, tradierte Kausalitätsmodelle zu vermeiden. 38 | Ein für mich ungelöstes Problem dabei ist schon die Frage, ob das Bewußtsein überhaupt lärmen (sprechen/schreiben) kann. 39 | Ich variiere damit die Zombie-Gedankenexperimente der neueren Bewußtseinsdiskussion, beziehe mich aber auch auf das Mary-Experiment. Vgl. Jackson, F., Epiphenomenal qualia, in: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127-136.

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scheint zu fehlen. Zwar erzeugen die Computer Lärm, der in der Sequenz eine eigentümliche Ordnung gewinnt (es fehlt also nicht an ›Unterhaltung‹), und wenn man in das Experiment einbaut, daß die entstehenden Sequenzen die Computer zu weiterer Eigentätigkeit stimulieren, dann fehlt es auch nicht an der Wechselseitigkeit der ›Unterhaltung‹. Auch die maschinelle Konstellation kann sich in der Zeit voran propellieren. Aber dennoch, etwas scheint zu fehlen, eine Leistung, die das Bewußtsein zur Verfügung stellt und die nur dieses Bewußtsein zur Verfügung stellt. Schaut man auf die Autopoiesis der Kommunikation, findet man zunächst, daß Kommunikation nicht wahrnehmen kann. Sie ist in dieser Hinsicht völlig tot oder besser: indifferent. Sie kann zweifelsfrei Wahrnehmungen zum Thema machen, und dabei kann es zu Rückschlageffekten für bewußte Systeme kommen, die auf der Basis solcher Thematisierungen ihre eigenen Wahrnehmungen und Attentionalitäten umstellen.40 Aber sie kann selbst weder sehen noch hören, weder schnuppern noch Berührungen spüren, und auch nicht: sich selbst wahrnehmen. Das ist mittlerweile auch häufig gesagt und zum Ausgangspunkt wichtiger Analysen gemacht worden.41 Eine Konsequenz, die seltener bedacht wird, ist aber die, daß Kommunikation deshalb auch keine Zeichen wahrnehmen kann. Sie sagt oder schreibt keine Wörter, sie liest auch nicht. Sie hält keine Fahnen hoch, schmettert keine Fanfaren, sie hat kein Gesicht, in dem Augenbrauen hochgezogen werden.42 Der Sinn, den die Zeichen stiften, ist ihr gänzlich unbekannt. Die Operation Kommunikation zerlegt, wenn man so will, kompakte Verhaltensströme in die Selektionen Information, Mitteilung, Verstehen, und indem sie Selektionen erzeugt (zeittechnisch, durch unentwegte Nachträge, die die Selektivität von Vorträgen konstituieren), realisiert sie die Form von Sinn, aber die Zeichen, die dabei zum Einsatz kommen, gestreut, aufgegriffen, verworfen oder vergessen werden durch Nichtaufgriff, diese Zeichen versteht sie nicht, ihre Bedeutung wird ihr nicht appräsentiert. Sie ist genau nicht: bewußt. Die Operation projiziert, um es in leichter Variation einer von Sigmund Freud auf Bewußtsein bezogenen Metapher zu sagen, eine Oberfläche von Bedeutungen, die nichts für die Kommunikation bedeuten. Aber diese Metapher funktioniert nur, wenn man sie in gewisser Weise ›zirkularisiert‹: Die Operation projiziert diese Oberfläche nur unter Beteili40 | Die Analyse dieser Umstellungen findet etwa im Rahmen der Mediengeschichte/Medienanalyse statt. 41 | Vgl. insbesondere Luhmann, N., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. 42 | Sie ist auch kein SIE, sondern eher ein »es« wie in »Es regnet.«

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110 | Theorie als Lehrgedicht gung von Bewußtsein, das diese Oberfläche durch eine Art ›Auslesen‹ so erzeugt, daß geordneter Lärm entsteht, der durch Kommunikation erneut zeittechnisch so zerlegt werden kann, daß ein erneutes ›Auslesen‹ möglich wird. Bei dieser Überlegung kommt uns der Doppelsinn des ›Auslesens‹ zupaß. Es bezieht sich auf ein Lesen (etwa in dem Sinne, wie eine Datei ausgelesen wird) und auf die dadurch bedingte Wahl (etwa in dem Sinn, in dem man von einer Auslese spricht). In spielerischer Gesinnung könnte man sagen, daß man es mit einer lesenden Lege (Heidegger) zu tun hätte, vielleicht sogar mit der tiefen Bedeutung von Logos. Ernsthafter genommen, stellt sich die Frage, wie dieses Auslesen (das wäre ja dann die Sonderleistung der Schemaseite Bewußtsein in der Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein) funktioniert. Wir haben ja, wenn man diese Überlegungen zuspitzt, gesagt, daß das Bewußtsein, indem es Zeichen ausliest, Sinn stiftet, den Kommunikation nicht stiften kann, weil sie Zeichen nicht wahrnimmt. Andererseits hat das Bewußtsein (wenn wir es als zeichengebrauchende, dezidierte Operativität auffassen43) diese Zeichen aus dem Von-wo-anders-her der sozialen Sphäre, oder – weniger räumlich – aus der Gegenseite der Unterscheidung, aus dem Ko der Produktion. Es stiftet also nicht seinen Sinn. Und wenn doch, wie sollte das überhaupt funktionieren: Sinnstiftung?

V Bevor sich dieses Ko der Produktion konkretisieren läßt, muß zunächst klargestellt werden, daß das Bewußtsein nicht unbedingt, ja nicht einmal typisch Zeichen als Zeichen wahrnimmt. Es prozessiert, wie man gewöhnlich sagt, Zeichen, aber das heißt keineswegs, daß es die Zeichenhaftigkeit der Zeichen registriert. Jemand klopft, man sagt »Herein!«, und es scheint überhaupt nicht erforderlich, daß dabei in irgendeiner expliziten Form das Klopfen oder das Wort »Herein« als Zeichen erkannt werden. Der Zeichensinn muß nicht eigens erinnert werden, der Zeicheneinsatz verläuft im

43 | Genau als das: als Zeichenverkettung. »Alles Denken muß daher ein Denken in Zeichen sein […]. Aus der These, daß jeder Gedanke ein Zeichen ist, folgt, daß jeder Gedanke sich an einen anderen wenden muß, denn das ist das Wesen eines Zeichens.« Und: »Daß das Denken nicht in einem Zeitpunkt zustande kommen kann, sondern eine Zeit verlangt, heißt daher nur, daß jeder Gedanke durch einen anderen interpretiert werden muß oder daß alles Denken in Zeichen geschieht.« So schon Peirce, Ch.S., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a.M. 1991, S. 31.

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wesentlichen schematisch.44 Jedes Sprechen (mit Ausnahme der Fälle, in denen es auf jedes Wort ankommt, beispielsweise in der Diplomatie) funktioniert in dieser Hinsicht rücksichtsfrei, es spricht (es denkt) etwa im Sinne einer cognitio caeca (Leibniz), einer blinden Kognition, die sich im Vollzug der Verkettung von Zeichen nicht erhellen muß.45 Das entspricht weitgehend der systemtheoretischen Vorstellung, daß jede Beobachtungsoperation (auch und gerade dann, wenn sie als Beobachtung zweiter Ordnung die Unterscheidungen von Beobachtern zu beobachten unternimmt) in actu immer unzugänglich, weil nicht selbstbezeichnungsfähig ist. Wenn man in eingeführter Diktion sagt, daß das Zeichen die Einheit von signifiant und signifié darstellt, so könnte man denselben Sachverhalt als das Prozessieren von Einheiten beschreiben, die als Zweiheit (eben als Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem) nicht in Erscheinung treten müssen. Die Zeichen funktionieren in der Katenation auch ohne Referenz auf ihre fundamentale Unterscheidung. In Wittgensteinscher Manier: Die Zeichen sind ihr Gebrauch. Die Bedeutung käme ins Spiel, wenn die Erklärung des Zeichens notwendig wird. Die Bedeutung wäre erst das erklärte Zeichen. Die Erklärung benötigt weitere Zeichen, die gegebenenfalls erklärt werden müssen durch wieder weitere Zeichen, unter anderem mit dem Zeichen für »Zeichen«. Geht man davon aus (und dies ist schon ein Anwendungsfall), daß Struktur der Ausdruck für Irritabilität ist46, dann kommt das Zeichen zur Bedeutung durch soziale Prozesse der Störung, dadurch, daß es nicht so funktioniert wie erwartet und deswegen Anlaß gibt zu Nachfragen, Explikationen, Definitionen, Umschreibungen, Kontextverweisen, Konstruktionen erläuternder Beispiele, zu Reparaturprozessen und Spezifikationen.47 Auf 44 | Also gedächtnisförmig! Siehe jedenfalls Luhmann, N., Zeit und Gedächtnis, in: Soziale Systeme 2/2, 1996, S. 307-330; vgl. auch Baecker, D., Überlegungen zur Form des Gedächtnisses, in: Schmidt, S.J. (Hrsg.), Gedächtnis, Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a.M. 1991, S. 337359. 45 | Ein schönes Beispiel ist die Operation des Zählens, die sich nicht im mindesten des Sinns von Zahlen vergewissern muß. Täte sie es, so stürzte sie in die Abgründe der Mathematikphilosophie. Wer Kinder beim Sprechen-Lernen beobachtet, wozu ich häufig Gelegenheit hatte, sieht, daß Sprachzeichen (aber auch Körperzeichen) von Kindern eingesetzt werden, lange bevor sie in der Lage sind, Rechenschaft über die Bedeutung dieser Zeichen zu geben. Eine meiner Töchter hat im zarten Alter von vier Jahren immer wieder (und aus mir unerfindlichen Gründen) gesagt: »Hängt vom Beobachter ab!« 46 | Vgl. dazu Fuchs, Intervention und Erfahrung, a.a.O. 47 | Die Störung wirkt, wie man auch sagen könnte, amplifizierend. Siehe je-

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112 | Theorie als Lehrgedicht diese Weise entsteht die Unterscheidung, deren Einheitsmarkierung das Zeichen ist, die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat, von Bezeichnendem und Bezeichnetem. In beobachtungstheoretischer Formulierung: Die Beobachtungsebene zweiter Ordnung wird eingeführt, auf der Beobachtungen möglich werden, die nicht einfach nur Zeichen in der Bezeichnungsfunktion (als Dinge) einsetzen, sondern Unterscheidungen (eben die des Zeichens) beobachten. Aber zur Bezeichnung dieser Unterscheidungen sind weitere Zeichen notwendig, die auf der Beobachtungsebene erster Ordnung spielen. Ein besonders raffinierter (schöner) Fall von Störung ist der, daß das, was durch das Bezeichnende bezeichnet wird, »operativ unzugänglich ist.«48 Das ist ersichtlich der Fall mit der Verkettung von Zeichen selbst, der sich operativ keine Nichtzeichen einfügen lassen. In Zeichensequenzen sind keine lebenden Elefanten oder Zwergkaninchen eingebettet, und auch die »Unendliche Geschichte«, die formal damit spielt, verknüpft Wörter/Bilder – nichts sonst. Operativ Unzugängliches dieser Art kann dann symbolisiert werden, und Symbole sind damit Zeichen, die dies (diese Unmöglichkeit) bezeichnen und sich selbst damit als Zeichen ›outen‹, deren Signifikate kollabiert sind, so daß sie für nicht bezeichenbaren Sinn einstehen.49 Hübsch daran ist, daß das Bewußtsein aus genau diesem Grunde nur symbolisiert werden kann, denn es fällt (als Operation) aus jedem Zeichen heraus.50 Daran läßt sich die Theorie symbolischer Generalisierung anschließen. Hier genügt es, im Kontext unserer Untersuchung dieses operativen Chiasmus der konditionierten Koproduktion festzuhalten, daß die Möglichkeit des Bewußtseins, Zeichen wahrzunehmen, ersichtlich daran geknüpft ist, daß sozial Störungen der Zeichenfunktion auftreten, die Anlaß zu Konsistenzprüfungen geben und Beobachtungen zweiter Ordnung stimulieren, in deren Vollzug Zeichen als Zeichen imponieren. Wenn man mystische Formulierungen bevorzugt, so böte sich an, Kommunikation und Bewußtdenfalls im Blick auf die Sinngenese beim Kleinkind Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O. 48 | Luhmann, N., Zeichen als Form, in: Baecker, D. (Hrsg.), Probleme der Form, Frankfurt a.M. 1993, S. 45-69, hier S. 67f. 49 | Ein weiterer, hoch getriebener Fall ist der der différance selbst, also der Umstand, daß keine Unterscheidung-im-Einsatz anders als im Nachtrag fixiert wird, der selbst eines Nachtrags bedarf, für den wiederum dasselbe gilt. Als Störung macht sich das dann aber nur für Sonderinteressen geltend (Philosophie, Literaturwissenschaft etc.), aber dort dann nachhaltig. 50 | Dasselbe gilt (eben weil wir von Koproduktion ausgehen) auch für Kommunikation, die nur symbolisiert werden kann, da sie aus jedem Zeichengebrauch nicht minder herausfällt – als Gebrauch, mithin als Operation.

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sein als die Ränder einer Spur aufzufassen, die durch ein Rad (konditionierte Koproduktion) gezogen wird – in einer Welt, die durch die Spur gleichsam ausgelegt wird. So oder so, man kann, diese Überlegungen vorausgesetzt, das SeinsSchema nicht anwenden, wenn man von Kommunikation und Bewußtsein spricht. Weder die eine Seite der Unterscheidung noch die andere läßt sich in terms des Wesens, der Essenz, des Eigenstandes beschreiben.51 Es gibt, das ist die zutiefst skandalöse Konsequenz, nicht das Bewußtsein, nicht die Kommunikation – außer für Beobachtungen, die auf die ZWEI der EINS von Koproduktion achten oder schon auf die Folgen der Verzweiung eingerichtet sind. Skandalös ist diese Einschätzung, weil wir uns mit jeder nur erdenklichen Evidenz im Laufe der Evolution daran gewöhnt haben, zumindest Bewußtseine als in sich zirkulierende Einheiten aufzufassen, als mein oder dein Bewußtsein, jedenfalls als Etwasse, die an ihrer Stelle sie selbst sind und denen deswegen alles andere gegenüber liegt.52 Und selbst die Soziologie geriete in entschiedene Schwierigkeiten, wenn sie ihr Basistheorem (daß es nämlich soziale Tatbestände sui generis gebe) verwerfen müßte, darin vergleichbar der Psychologie, die abzulassen hätte von der Vorstellung, sie hätte irgendeinen (rekonstruierbaren) Gegenstand.53 Man kann sich im Blick auf diese Fachdisziplinen helfen, indem man sie selbst als evolutionäre Verstärker jener Verzweiung auffaßt. Sie bilden sich heraus, weil sich die EINS der ZWEI nicht simultan beobachten läßt, weswegen dann im Zuge alternierender Aufmerksamkeit für die eine oder andere Seite der Unterscheidung (Bewußtsein/Kommunikation) Systeme wie Dinge kondensieren, die getrennt ansteuerbar erscheinen.54 Daß dabei Informationsverluste anfallen, ist weiter nicht wichtig, insofern die Wissen51 | Daß dies nicht absurd gedacht ist, belegt unter anderem die buddhistische Tradition. Ebenso klar ist, daß eine konsequente Anwendung dieses Gedankens auf eine Ethik führt, die die Welt (wegen der Koproduktion) schont. 52 | Aber schon der Umstand, daß das Bewußtsein sich selbst gegenüberliegt, müßte bedenklich stimmen, insbesondere, weil eine lange Tradition es so gefaßt hat. Vgl. Fn. 19 auf S. 44. 53 | Die Aporien der Bewußtseinsphilosophie(n) weisen in die gleiche Richtung, und – genau besehen – die der Sozialphilosophie(n) auch. Vgl. zur Auslaugung der Bewußtseinsphilosophie Mauersberg, B., Der lange Abschied von der Bewusstseinsphilosophie. Theorie der Subjektivität bei Habermas und Tugendhat nach dem Paradigmenwechsel zur Sprache, Frankfurt a.M. u.a.O. 2000. 54 | Hier gewinnen dann Begriffe wie alternierende Attentionalität eine tiefer liegende und nicht so sehr phänomenologische Bedeutung. Vgl. jedenfalls (eher in phänomenologischer Einstellung) Markowitz, Verhalten im Systemkontext. Zum Begriff des sozialen Epigramms, a.a.O.

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114 | Theorie als Lehrgedicht schaft unter Ceteris-paribus-Bedingungen zu arbeiten pflegt und (sozusagen fundierende) Ignoranzen gegenüber Abschluß- bzw. Einheitsformeln systematisch aufrechterhält.55 Dennoch läßt sich die Frage stellen (im Rahmen kontrollierter Randspekulationen und in eindeutig experimenteller Haltung), wie die Idee, es existierten singuläre (einzigartige, selbstständige, geschlossene) Bewußtseinssysteme oder gar homines clausi, so erfolgreich werden konnte, daß jeder Zweifel an dieser Annahme sich lange wie von selbst verbot.56 Zur Vorbereitung einer Antwort muß die Aufmerksamkeit noch einmal kurz der Frage gewidmet werden, warum nichts anderes übrigbleibt, als für jeden Beobachter anzunehmen, daß er immer ein kompletter Insider-seinerselbst ist.

VI Mit dem Konzept der konditionierten Koproduktion ist das Seins-Schema als Fundierung von Analysemöglichkeiten abgewiesen. Es geht dann nicht einmal mehr um die Frage, ob etwas nicht ist, wovon man glaubte, daß es sei. Das Schema selbst wird verworfen. »The very choice is rejected.«57 Ob Bewußtsein die Wahrnehmung dessen ist, was im Geist des Menschen ›passiert‹ (Locke), ob zwischen perception (Externalisierungsfunktion der Monade) oder apperception (Wissen, Reflektion dessen, was in der Perzeption appräsentiert ist) unterschieden wird (Leibniz), ob Descartes herangezogen wird oder Kant, Brentano, Husserl, Sartre, ob es um Zombies geht 55 | Das erklärt auch die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Disziplinen, weil die eine ausblendet, was die andere beobachtet, und vice versa. Zwitter wie Sozialpsychologie helfen kaum weiter. Sie bearbeiten nicht das Problem der Einheit des Psychischen und Sozialen, sondern Gemengelagen, die für Beobachter auftreten, die nicht scharf unterscheiden. Ein instruktiver Vergleichfall wäre die Psychosomatik. 56 | Wohingegen der Zweifel daran, daß geschlossene, autonome Sozialsysteme existierten, überaus erlaubt und geradezu modisch ist, so als ob dies ein evident anderer Fall wäre. Im übrigen kommen Zweifel an der Selbstgegebenheit des Bewußtseins in nicht-operativen Theorien (analytischer Sprachphilosophie etwa) durchaus und prominent vor und entsprechende Gegenzweifel sowieso. Man denke etwa an Searle versus Tugendhat oder an Henrich. Soziologen wird im Zusammenhang mit dem homo clausus Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1969, Bd. 1, S. XLVIIff. einfallen. 57 | Günther, G., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg 1976, S. 287.

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oder um die Qualia-Frage – im Moment, in dem konsequent von betriebener Differenz, von Koproduktion die Rede ist, fallen Objekte aus und fallen Unjekte an. Ebendies drückt Niklas Luhmann aus, wenn er darauf insistiert, daß die WAS-Frage durch die WIE-Frage ersetzt werden müsse. Das dabei auftretende Problem haben wir schon benannt. Es gibt keine Möglichkeit der Simultanbeobachtung der Seiten einer Form. Masche und Nicht-Masche, Figur und Grund, Kommunikation und Bewußtsein lassen nicht die Bezeichnung der Innenseite und der Außenseite der Unterscheidung zugleich zu. Schlimmer noch: Kreuzt man die Seite, verschwindet für den Beobachter die Seite, die er nicht bezeichnet, gleichsam übergangslos.58 Eine Ursache dafür ist, daß der Beobachter (die Beobachtung) immer und immer nur positiv operiert, also bezeichnet und nicht: nichtbezeichnet. So wird erzwungen, daß der Beobachter nur nacheinander, nur in Sequenzen zu Auffassungen über Verschiedenes in der Welt kommen kann, er operiert, um es mit Spencer-Brown zu sagen, selektiv blind, sonst käme er nur zu Nichts. Man riecht nur einen Geruch, nicht den Nichtgeruch, nicht die besondere Abwesenheit, durch die der Geruch imponiert; man bemerkt den Schmerz, nicht den Nichtschmerz, diese besondere Abwesenheit, die sich invers zum Schmerz verhält. Und natürlich hört man das Sprechen jemandes, und nicht: die ›strukturierte‹ Stille, die das Sprechen auf seiner Gegenseite hervorbringt. Das klingt absonderlich, aber eröffnet eine denkwürdige Analysechance. Die Operation der Beobachtung ist offenbar immer seitenplaziert, sie ist, wie man sagen könnte, nie anders als superpositiv zu haben. Was immer in ihr markiert wird, ist, wenn man die geläufige Ausdrucksweise wählt, die Innenseite der Form. Insofern ist die Operation jederzeit akut. Der Seitenwechsel (crossing) führt nicht auf die Gegenseite der Form (auf die in jeder aktuellen Operation anfallende Aussparung), sondern erzeugt nur die Zeit (diesen Brownschen Tunnel), die es im Nacheinander gestattet, auf eine weitere Innenseite zu kommen, also zu markieren – zum Beispiel die vorab akut ausgesperrte Seite. Bezogen auf unsere Fragestellung, hilft unter diesen Umständen Spencer-Brown weiter, der seinen imperatorisch startenden Kalkül (»Draw a distinction«) abschließt mit der (anhand des re-entrys der Form in die Form gewonnenen) Einsicht, »daß die erste Unterscheidung, die Markierung und 58 | Das kann man sehr instruktiv studieren an den berühmten multistabilen Kippfiguren. Vgl. Hansch, D., Psychoenergetik – Neue Perspektiven für die Neuropsychologie. Grundriß einer psychosynergetischen Theorie emotionaler und motivationaler Prozesse, in: Zeitschrift für Psychologie 196, 1988, S. 421-436, hier S. 422f. Vgl. ferner Kruse, P., Stabilität – Instabilität – Multistabilität. Selbstorganisation und Selbstreferentialität in kognitiven Systemen, in: Delfin XI, 6/3, 1988, S. 35-57.

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116 | Theorie als Lehrgedicht der Beobachter nicht nur austauschbar sind, sondern, in der Form, identisch.«59 Nach dem Durchlaufen des Kalküls kann erst (soll erst) erkannt werden, daß die erste Markierung mit dem Beobachter ›verwechselt‹ worden ist.60 Die Konstruktion des Anfangs durch »Triff eine Unterscheidung« muß im Nachhinein, am Ende (am Anfang) substituiert werden durch: »Sei ein Beobachter!«61 Oder besser im Futur II: Bezeichne, und du wirst ein Beobachter geworden sein, der du schon warst. Und: Du wirst gesehen haben, daß du in der ersten Markierung (die niemals die erste war, nachdem das Spiel des Kalküls wird gespielt worden sein) schon auf der Innenseite der Form verankert warst. Du hast als Innenspieler, du hast innig begonnen. 62 So seltsam das klingt, dies alles kann genommen werden als ein kalkülförmiger Ausdruck für die Autopoiesis sinnbasierter Systeme. Solche Systeme (das ist ihre Definition, ihre Abgrenzung) arbeiten mit Operationen, die immer positiv anschließen. Sie sind perfekte Beinhaltung, insofern sie niemals auf das Ko der Produktion zugreifen können. Es läßt sich ihnen nicht einschreiben, weil (wie man auch sagen könnte) in jeder Operation das unwritten cross (das ungeschriebene Kreuz) nicht bezeichnet werden kann, ohne daß es verschwindet: also geschrieben wird. Das ist der Preis, den der Beobachter zahlt. Er führt sich, wenn wir von Spencer-Brown ausgehen, dadurch ein, daß er eingeführt wurde, aber ebendies entdeckt im re-entry seiner selbst auf seiner Seite. Er entdeckt sich dabei seltsam doppelt, denn indem er sich selbst (im Nachtrag) unterscheidet, beobachtet er sich – als Anderes.63 Im re-entry ändert die Unterscheidung ihren Sinn.64 Diese Andersheit, das ist die These, wird (wenn es um die Konstruktion des Bewußtseins geht) sozial konditioniert, sie wird durch Kommunikation im genauen Sinne ausgezeichnet.

59 | Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. 66. 60 | Vgl. Lau, F., Die Logik des Radikalen Konstruktivismus. Eine Untersuchung zu den Laws of Form von George Spencer-Brown. Hausarbeit im Rahmen der ersten Staatsprüfung für Lehrämter an Hamburger Schulen (Prüfungsfach Philosophie), Hamburg 1999, S. 50. 61 | Ebenda. 62 | Man könnte mit Rilke sagen: im Weltinnenraum. 63 | Hier könnte eine mystikfreie Beobachtung der Konstruktion von Alterität ansetzen. 64 | Auch das berücksichtigt Spencer-Brown, Gesetze der Form, a.a.O., S. x, wenn er festhält, daß die Unterscheidung des Anfangs im Durchspiel des Kalküls sich ändern wird. Der Beobachter wird zum unwritten cross der ersten Unterscheidung. Er ist schon in ihrem Zuvor.

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VII Koproduktion wirft mithin als EINS zweierlei aus, in diesem Fall: Bewußtsein und Kommunikation, die – im Zuge der Zeit – beginnen können, sich als Beobachter zu registrieren. Im Zuge der Zeit, das soll heißen, daß sie eine Geschichte (eine endlose Serie von Konditionierungen) hinter sich gebracht haben, in deren Verlauf diese Registratur ausgearbeitet wird.65 Diese Ausarbeitung setzt gemäß dem Theorem der Koproduktion doppelt an, innen und außen.66 Die Skizze in Abbildung 2 mag das verdeutlichen. Abbildung 2: Konditionierte Koproduktion

Konditionierte Koproduktion Bewußtsein

Bewußtsein

Kommunikation

Kommunikation Kommunikation

interne Entdeckung von Bewußtsein an der internen Schemaseite Kommunikation

Bewußtsein

interne Entdeckung von Kommunikation an der internen Schemaseite Bewußtsein

Da es uns im Augenblick auf die Schemaseite Bewußtsein ankommt, liegt es nahe, den Mechanismus dieser Ausarbeitung zunächst in der Kommunikation zu suchen, die wir begreifen als zeitbasierte (différance-basierte) Zerlegung von Umweltlärm in die Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen. Die Komponente der Mitteilung ist diejenige Selektion, die in diesem Zerlegungs- und Syntheseprozeß als Wiedereintrittsstelle der Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein in der Kommunikation begrif65 | Diese Geschichte ist kein Kalkül, aber sie kann mit diesem Kalkül interpretiert werden. Sonst würde in der Soziologie kaum Interesse für Spencer-Brown akquiriert werden können. 66 | Man muß hinzufügen: für beide Kontrahenten doppelt.

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118 | Theorie als Lehrgedicht fen wird. Dabei diffundiert keinerlei Bewußtsein in das Sozialsystem. In der Mitteilung wird der Prozessor (re-)konstruiert, dem Äußerungshandlungen zugerechnet werden.67 Aus diesem Grund kann man formulieren, daß in der Mitteilung Fremd- und Selbstreferenz kombiniert werden – in einem Zug, durch den das relevant Andere der Kommunikation (Bewußtsein) im Kommunikationsprozeß operativ erscheint: als Unterstellung einer handelnden Instanz, als deren Imagination. Aber genau dadurch wird das Bewußtsein darüber in-formiert, in welcher Form es anschlußfähig ist. Wie die Kommunikation kombiniert es Selbst- und Fremdreferenz, Bewußtsein und Kommunikation – in einem Zug und in sich selbst. Was es nicht ist, ergibt sich aus der internen Imagination von Kommunikation, und was es jeweils ist, welche Selbstbeschreibungen auf der Basis sozialer Zuschreibungsstrategien intern als Realität überzeugen, resultiert aus den Operationen, die im Blick auf diese Strategien nicht anschlußfähig sind.68 Sie werden, wenn man so will, gelöscht oder ausgewaschen, so daß das Bewußtsein gleichsam als das Stehengebliebene in einem Auswaschungsprozeß imponiert, den man sich historisch und damit unentwegt variierend und prinzipiell kontingent vorstellen muß. Das ist die eigentlich soziologische Zugriffschance. Es ist nicht nötig, zu wissen, was das Bewußtsein an und für sich ist. Statt dessen kann gefragt werden, welche Beschreibungen des Bewußtseins unter je sozialhistorischen und sozialstrukturellen Bedingungen anschlußfähig sind und welche sich wie von selbst und scharf als idiosynkratisch verbieten, so sehr, daß Exklusionsprozesse der beispielsweise von Michel Foucault analysierten Weise greifen. Wenn man will, kann man hier einen eigentümlichen Terror wittern, der nicht verhindert, daß das Bewußtsein arbiträre oder gar idiosynkratische Selbstbeschreibungen entwickelt69, aber mit äußerster Rigidi67 | Vgl. dazu Fuchs, P., Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, a.a.O. 68 | Dieser Theorie zufolge wird der Realitätseindruck durch die Widerständigkeit von Operationen gegen Operationen erzeugt. Dazu kommt, daß das Bewußtsein sich immer schon in einer Form vorfindet, also seinen Anfang nicht kennen kann, der dann, wie wir seit Freud wissen, Anlaß zu ungetrübter Spekulationsfreude gibt. Mit Heidegger läßt sich sagen: das Bewußtsein ist in die Welt geworfen, die es (wie ein konstruktivistisches Addendum lauten müßte) im Geworfen-sein entwirft. 69 | Daß es dies könnte, liegt daran, daß es zwar schwer ist, zu sagen, daß das Bewußtsein lebt, aber leicht, es an einen lebenden Unterbau zu binden, der eine Selbstversorgung mit Reizen garantiert auch dann, wenn gerade keine Kommunikation im Spiel ist. Im Unterschied zur Kommunikation, die ohne Bewußtsein sofort zusammenbricht, wird das Bewußtsein eine Weile aufrechterhalten, sehr befristet,

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tät Anschlußmöglichkeiten kappt, die nicht allgemein, sondern im eigentlichen Sinne privat wären. Dies ließe sich wahrscheinlich mit Gewinn studieren, wenn man sich auf die wissenschaftliche Konstruktion von Psychopathologien konzentriert, die die ausgeschlossene Privatheit, sie entprivatisierend, einschließt in die Moderne.

wie man weiß, aber immerhin so, daß man sich einen letzten Menschen vorstellen kann, der noch denkt – bis in den Wahnsinn.

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) vakat 120.p 54824657704

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Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes

I Kommunikation verfügt seit einiger Zeit über neue Möglichkeiten. Jedenfalls sagt man das, seitdem es die elektronische Datenverarbeitung in einer Form gibt, die weltweite Austauschprozesse zuläßt unter Beteiligung von Privatpersonen. Diese Form, das ist jenes nahezu mystisch erscheinende Netz, diese globale Verschlingung, die die Eigenschaft des Unkontrollierbaren hat, eine Art neuer dunkler Gott, dem geziemenderweise Tribut gezollt wird in einer unabsehbaren Fülle von wissenschaftlichen, artistischen, intellektuellen Beschwörungen.1 Dies gibt es also wieder, das Numinosum, und weil die Begriffe fehlen, stellen sich Worte in Fülle ein, solche wie die, die im ersten Teil des Titels unserer Überlegungen stehen, bei denen aber offengelassen ist, ob die Unterscheidung durch einen Genitiv oder durch einen Dativ arrangiert ist. Jene Fülle jedenfalls macht es schwer, einfach zu werden, also Begriffe zu nutzen und nicht nur Wörter. Der erste Schritt zur Einfachheit ist gemeinhin eine Einschränkung. Die Einschränkung in diesem Fall liegt in der zunächst vagen Einschätzung, das World Wide Web, das Netz, sei ein soziales Phänomen. Eine zweite Einschränkung ergibt sich daraus, daß aus den 1 | Wir reden von dem Netz, das zum Sammelausdruck aller Netze in der Weltgesellschaft geworden ist. Das Netz »ist ein Meta-Netzwerk«, dessen Verbindungen über Gateways laufen. Vgl. Faßler, M./Halbach, W.R., CyberModerne: Digitale Ferne und die Renaissance der Nahwelt, in: dies. (Hrsg.), Cyberspace, Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten, München 1994, S. 21-93, bes. S. 33ff. et passim.

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122 | Theorie als Lehrgedicht Theorien, die sich in der Disziplin, die für soziale Phänomene zuständig ist, finden, eine ausgewählt wird, deren Anspruch es ist, universaler Erklärungsansatz für alle sozialen Phänomene zu sein: die soziologische Systemtheorie.2 Der Grad an Allgemeinheit, der durch die zweite Einschränkung entsteht, schließt aus, daß es im weiteren um Techniksoziologie geht. Es geht um weniger, aber damit auch um mehr.

II Wir haben das Wort Netz kursiv gesetzt. Denn die Systemtheorie ist keine Netztheorie. Sie handelt von Systemen. Wenn das Netz ein Netz ist, sind alle folgenden Überlegungen hinfällig. Wenn nicht, greift die zentrale Unterscheidung der Theorie, die Unterscheidung des Systems, also die Differenz von System und Umwelt. Nur dann wird man fragen können, wie sich ein Zusammenhang von Kommunikationen in einer Gesellschaft, die sich selbst kommunikativ verfertigt, ausdifferenziert, wie also ein solcher Zusammenhang, der aus nicht spezifischem ›Material‹ besteht (Kommunikationen) sich dennoch spezifiziert und ein Diskriminierungsvermögen entwickelt, mit dem er Dasselbe von Demselben unterscheidet.3 Anders ausgedrückt: Wenn das Netz ein System ist, dann muß es über eine Grenze verfügen, über einen Innen/Außen-Unterschied, der von Innen kontrolliert wird. Blickt man auf das, was in diesem Netz an Kommunikation läuft, scheint eine Grenzbestimmung (die ja immer zugleich eine Unifikation ist) nahezu unmöglich. Was immer kommunikativ behandelt werden kann, findet sich auch dort, kein Thema ist ausgeschlossen. Die Kommunikationen aller Funktionssysteme durchkreuzen das Netz. Sogar intime Kommunikation kann gepflegt werden und die alte Form der Fernstenliebe oder die neue Form der Fernstensexualität annehmen. Die Themen liefern mithin keine Anhaltspunkte für Grenzen des Systems. Was aber dann? 2 | Ich bedanke mich bei meiner Neubrandenburger Arbeitsgruppe »Systemtheorie«, die sich so anregungsreich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, daß ich die Trivialitätsvermutung aufgab, die mich angesichts so vieler raunender Beschwörungen befallen hatte. Insbesondere die Studentin Evelyn Theil hatte im Blick auf die gesellschaftlichen Implikationen entscheidende Intuitionen. Siehe zum Theoriehintergrund obligatorisch Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O. Im übrigen schließen wir lose an Versuche an, eine Soziologie des Netzes (WWW) zu begründen. Siehe etwa Gräf, L./Krajewski, M. (Hrsg.), Zur Soziologie des Internet, Frankfurt a.M. 1997. 3 | Die operative Unterscheidung Desselben in Demselben, eben das ist Differenzierung.

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Nun muß nicht alles, was ein System genannt wird, auch autopoietisch organisiert sein. Man könnte ja erst einmal vom Einfachsten, von der Technik ausgehen, also vom Betriebsmodus einer Maschine, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie immer angeschaltet ist von irgend jemanden (also unentwegt Umweltkontakte unterhält), aber genau deswegen immer im Blick auf die Umwelt zwei Zustände unterscheiden muß: Eingeschaltet/Ausgeschaltet oder Drinnen/Draußen oder Angeschlossen/Nichtangeschlossen. Das kann man, ohne gleich in Abgründe der Theorielosigkeit zu fallen, durchaus in einem physischen Sinne verstehen. Dann sähe man nämlich, daß das System Netz eine seltsame, ja beunruhigende Eigentümlichkeit hätte. Es wäre im Blick auf seine Grenze allopoietisch verfaßt, es disponierte nicht selbst über seine Innen/Außen-Differenz. Die Grenze wäre also tatsächlich in gewisser Weise technisch. Das System könnte nicht (wie etwa Interaktionssysteme, Organisationen oder Funktionssysteme) darüber befinden, welche Kommunikation als Innenereignis verbucht werden kann, welche nicht. Es könnte auch keine Entscheidungen fällen im Blick darauf, wer oder was als soziale Adresse im Netz zulässig ist oder was an Kommunikabilien eingeschlossen, was ausgeschlossen wird. Es wäre, wie man auch sagen könnte, genau nicht indifferent codiert.4 Wenn die Grenze allopoietisch definiert wird, dann erscheint das System registerförmig zu werden. Die Umwelt hängt, wenn ich so sagen darf, in das Register des Systems Mitteilungen ein,5 alle möglichen Formen gesellschaftlicher Kommunikation, ohne daß das System eine Kontrolle darüber hätte, und die Frage ist dann sofort, ob es dann nicht Sinn macht, den Begriff Sozialsystem zu vermeiden. Das Sozialsystem ist schließlich unter modernen Theoriebedingungen keine bloße Registratur, obwohl der Begriff seine Karriere in solchen Zusammenhängen begonnen hat. Wenn man aber darauf insistieren will, daß das Netz ein soziales System sei, dann muß das Register in sich selbst auf sich selbst reagieren können. Es müßte eine Art von Eigensensibilität entwickeln können, mit der es sich unabhängig vom An/Aus prozessiert, mit der Kommunikationen (woher immer sie eingespeist werden) auf spezifische Anschlüsse hingetrimmt werden, die nur solche des Systems und nicht auch solche der Umwelt wären. Es dürfte sich nicht einfach nur darum handeln, daß ungezählte Mitteilungen in einem technoiden Medium ungezählten Beobachtern zur Beobachtung exponiert würden. 4 | Das verweist auf die Diskussionen über die demokratisierende Funktion des Netzes. Vgl. dazu das Interview mit mir »Ich ist jenseits von Kommunikation ein lärmender Kasper«, in: Bardmann, Th./Weinbach, Ch. (Hrsg.), Zirkuläre Positionen, Bd. 2, S. 43-53. 5 | Die übliche Formulierung ist: Man stellt etwas (einen Text) ins Netz.

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124 | Theorie als Lehrgedicht Mir scheint, daß jene Spezifik und diese Eigensensibilität ihre Quelle haben könnten in der Struktur der (Hyper)links, also in der Möglichkeit, von jedem Text/Bild aus gleichsam durchzustechen in andere Texte/Bilder mit weiteren links. Eben dies macht die Metapher des Surfens so plastisch. Das Register hat, so könnte man formulieren, die Form von Sinn, die Struktur eines offenen Verweisungshorizontes, wobei die Verweisung aber ein unmittelbares Durchstoßen auf das, worauf verwiesen ist, darstellt.6 Man könnte das ein operatives Verweisen nennen. Wenn das so ist, liegt es nahe, die Autopoiesis des Systems, dem wir eben eine allopoietische Grenze zugemutet haben, in der Produktion und Reproduktion von Operationen zu vermuten, die Verweisungen sind, oder genauer noch: Die elementare Einheit des Systems wäre die Operation (und ich bitte um Vergebung für die seltsame Ambiguität des Wortes) des linkens.7 Aber wir müssen uns an dieser Stelle noch nicht festlegen, denn jenseits der Frage, ob dieses linken die Elementaroperation eines sozialen Systems sei oder nicht, können wir mit der Unterscheidung von Form und Medium arbeiten und versuchsweise sagen, daß das Netz auf einer lose gekoppelten Menge von Elementen (Mitteilungen, utterances) arbeitet, also auf einem Heider-Medium, und in dieses Medium durch die Technik des operativen Verweisens Formen einschreibt, also strengere Kopplungen.8 Die links, das linken, das sind die Strukturen bzw. Prozesse, durch die die Metapher des Netzes gerechtfertigt erscheint, durch die sie aber zugleich obsolet wird, wenn man nicht geneigt ist, die Netzmetapher als gelungenes Bild für die Selbsttransformation eines Systems aufzufassen, das in jeder (gedankenexperimentell angesetzten) Zeitscheibe seine Spezifik in den durchgeführten Verweisoperationen hat und sicher nicht: in den kommunikativ behandelten Themen selbst.9 Denn die sind (und wir werden sehen, daß das nicht unwichtig ist) eben von jener Heterogenität oder Heterotopie, die für die Gesellschaft typisch sind, und liefern deshalb kein Merkmal einer Unterscheidung von Netz und Gesellschaft.

6 | Darauf komme ich zurück. 7 | Das Wort ›Durchstechen‹ ist ja auch nicht frei von seltsamer Zweideutigkeit, wenn man an das Wort ›Durchstecherei‹ denkt. Aber ich halte fest, daß ich im Augenblick nicht kulturkritisch gesonnen bin – trotz der operativen Dekonstruktion, die sich einschleicht. 8 | Siehe zur theoretischen Ausgangskonstellation und zu Anwendungen die Literaturhinweise in Fn. 59 auf S. 89. 9 | Das ist übrigens auch eines der zentralen Theorieprobleme Freuds gewesen, das ihn schließlich in eine Art widerwillig ertragene Topologie trieb. Vgl. dazu Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.

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III Das Medium, das sind Mitteilungen von Informationen in großer Menge. Das sind die in das Register gehängten Mitteilungen, die sich (unter nahezu vollständigem Verzicht auf Intimitätsmöglichkeiten) einer ubiquitären Beobachtung aussetzen, psychischer Beobachtung ohnehin, aber auch der sozialen Beobachtung, das heißt: der Produktion von Anschlußereignissen. Auf das Einhängen kann mit weiteren Einhängungen reagiert werden. Und es ist schwer zu sehen, worin hier ein Unterschied zwischen den Verfahren gesellschaftlicher Kommunikation und der Netzkommunikation gefunden werden könnte. Gewiß stößt man auf Unterschiede zwischen dem, was an Interaktion gewöhnlich geschieht, also auf Unterschiede zwischen der Präsenz und der Nichtpräsenz von Körpern, Unterschiede also im Blick auf Wahrnehmungsmanagement, aber auf diese Unterschiede kommt man auch dann, wenn man sich klar macht, daß gerade diese Unterschiede die Ebenendifferenz von Interaktion und Gesellschaft markieren und so sonderlich überraschend nicht sind. Sicher ist es eine interessante Frage, wie diese Ebenendifferenz im Netz ausgearbeitet wird, welche Modifikationen sachlicher, zeitlicher, sozialer Art sich einstellen, aber dies alles gibt noch keinen Anlaß, eben dieses Netz für etwas so anderes zu halten, daß die Analyseinstrumente geändert werden müßten. Man könnte aber auch überlegen, daß die Anschlüsse im Netz, die die klassische Form von Kommunikation kopieren (jemand sagt etwas, fragt etwas, schreibt etwas, zeigt etwas, und jemand anderer produziert Lärm, der vom Sozialsystem als Anschluß begriffen wird), möglicherweise so etwas wie Restbestände konventioneller Kommunikation sind, eine Art anachronistisches Parasitentum, und gerade nicht das, wodurch sich das System spezifiziert und eine andere als rein technische oder allopoietische Innen/ Außen-Differenz erzeugt.10 Wenn wir dabei bleiben, daß die besondere Operation das linken ist, dann müßte aber eben dieses operative Verweisen, dieses Durchstechen, Moment der Kommunikation sein (sonst könnten wir nicht von einem Sozialsystem sprechen), und die Frage ist dann, in welcher Weise denn die Syndosis von Information, Mitteilung und Verstehen (also Kommunikation) in der Weise des linkens nichtklassisch oder nichtkonventionell geformt sein kann. Die Autopoiesis der Kommunikation ist ein Zeitphänomen. Eine Mitteilung ist sozial verstanden, wenn ein Anschlußereignis sie als bestimmte identifiziert, als bestimmt gemeint, als über Bestimmtes informierend. Die 10 | Parasit im Sinne von Serres, M., Der Parasit, Frankfurt a.M. 1981. Seltsames Parasitentum insofern, als das System startet mit dem, was später an ihm parasitiert.

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126 | Theorie als Lehrgedicht Zeitform ist dann die der Verschiebung, des Nachtrags, des Aufschubs, der différance.11 Im Netz ist, wenn wir hier erst einmal asketisch argumentieren dürfen, der operative Verweis der Vorgang, durch den eine Mitteilung an eine andere gebunden wird, die in der Zeit des Benutzers auf sie folgt, aber dann gerade nicht die vorangegangene Mitteilung spezifiziert oder identifiziert, so als ginge es um sie, sondern als ginge es um den operativen Verweis selbst.12 Oder anders gesagt: Das Anschlußereignis schließt an einer Mitteilung in der Mitteilung an. Die operative Ebene des Systems Netz liegt nicht auf der Ebene der Dokumente, sondern auf der Ebene eines Dokumentes im Dokument, einer Sinnofferte sui generis, die in weitere Dokumente desselben Typs führt. Die Dokumente der ersten Ebene (diese Mitteilungen) sind im Blick auf den operativen Verweis völlig arbiträr. Auf den Dokumenten der zweiten Ebene wird die Information mitgeteilt, daß man und wohin man durchschalten kann, und das Durchschalten ist das Ereignis, die basale Operation des linkens, in der verstanden (durchgeschaltet) wird im Rahmen eines Selektionsraums weiterer Verweise oder nicht verstanden (ausgeschaltet) wird.13 Das ist nun ein sehr wichtiger Befund: Die Mitteilungen (Dokumente) des Netzes eröffnen auf der Ebene ihrer Faktur zeichenhafte Durchgriffsmöglichkeiten auf andere Dokumente mit zeichenhaften Durchgriffsmöglichkeiten auf andere Dokumente …14 Über die Mitteilungen, die ins Netz 11 | Siehe dazu das Kapitel zur »Kommunikationsmaschine« in Fuchs, Die Umschrift, a.a.O. Wegen dieser Zeitstruktur ist die im Blick auf Autopoiesis isomorphe Zeit der Musik interessant. Vgl. ders., Vom Zeitzauber der Musik, in diesem Band auf S. 147ff.; ders., Die soziale Funktion der Musik, in: Lipp, W. (Hrsg.), Gesellschaft und Musik, Wege zur Musiksoziologie, in: Sociologia Internationalis, Beiheft 1, 1992, S. 67-86; ders., Musik und Systemtheorie – Ein Problemaufriß, in: Richtsteig, T./Hager, U./Polaschegg, N. (Hrsg.), Diskurse zur gegenwärtigen Musikkultur, Regensburg 1996, S. 49-55. 12 | Ich komme darauf zurück. 13 | Siehe zum Kommunikationsbegriff, mit dem so formuliert werden kann Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O.; Fuchs, Moderne Kommunikation, a.a.O. Zum Verstehen insbesondere Luhmann, N., Systeme verstehen Systeme, in: ders./Schorr, K.E. (Hrsg.), Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1986, S. 72-117. Vgl. als gründliche Ausarbeitung Schneider, W.L., Objektives Verstehen. Rekonstruktion eines Paradigmas: Gadamer, Popper, Toulmin, Luhmann, Opladen 1991. 14 | Wir verwenden eine Formulierung, die in sich selbst auf Saussure, F. de, Cours de linguistique générale, Paris 1982, verweist. Es geht um eine Struktur, die ganz ähnlich gebaut ist wie das System der Sprache.

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gehängt werden, stülpt sich ein zweiter Kombinationsspielraum, für den dann genau gilt, daß er seine Kombinationen ausschließlich systemintern produziert. Diese Prozesse laufen nur auf der Innenseite des Systems, sie laufen nicht aus dem Netz heraus, sie erfüllen mithin die Bedingung operativer Geschlossenheit.15 Und diese Prozesse sind nun genau in dem Sinne Kommunikationen, daß sie aus gleichsam sehr kleinräumigen, in die Dokumente eingestreuten Mitteilungen bestehen (die durchaus mehr oder weniger forciert erscheinen können), deren Sinnofferte das Durchschalten zu weiteren Mitteilungen desselben Formtyps und deren Information jenes Minimum an Fremdreferenz darstellt, das notwendig ist, um aus der Differenz das Verstehen zu errechnen. Das Erzeugen von Verstehen ist die Operation des linkens, dies und nicht mehr und nicht weniger. Das ist nun die Stelle, wo wir (aufatmend) die Metaphorik des Netzes endgültig verlassen können. Wir haben es mit einem sozialen System zu tun, das mit eigenen Operationen (Kommunikationen) weitere Operationen produziert, die weitere Operationen produzieren, und dies in autopoietischer Geschlossenheit, die es sich leisten kann, indifferent gegenüber dem zu sein, was die psychische Umwelt ins Register als Dokument der ersten Ebene einklinkt.

IV Aber das Aufatmen ist im Falle systemtheoretischer Argumentation immer zu früh, vor allem dann, wenn man spekulativ gesonnen ist.16 Wenn man sagt, daß die Operationen des Sozialsystems WWW (Hyper)links sind, kann man schnell sehen, daß es sich einerseits um minimale Mitteilungen in Mitteilungen handelt, aber daß andererseits diese Operationen abzuweichen scheinen von dem, was wir üblicherweise unter Operationen verstehen. Das sind Ereignisse, die immer neu reproduziert werden müssen, weil sie schnell zerfallen, und es sind Ereignisse, die in irgendeiner Art mit Bindungsfähigkeit ausgestattet sein müssen. Eigentlich ist die Bindung das entscheidende Ereignis des Systems. Sie wird durch die Form der operativen Kopplung bezeichnet.17 Diese Form ist die Operation der Beobachtung, je15 | Oder anders gesagt: Wohin ein link führt, da ist auch das System. 16 | Allerdings, wie es sich geziemt, im Hegelschen Sinne – gesonnen zur Destruktion von Vorstellungen durch spekulative Sätze. Vgl. dazu Röttges, H., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, Königstein 1981, S. 63ff. 17 | Ich beziehe mich auf die Variante I operativer Kopplung, die durch das Autopoiesistheorem selbst vorausgesetzt ist. Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., S. 440f. Davon zu unterscheiden ist die operative Kopplung zwischen Syste-

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128 | Theorie als Lehrgedicht ne rekursive (zeitverschobene) Aufblendung einer Sicht, die voraussetzt, daß die Operationen gerade dies, die Möglichkeit einer wie immer kurzen Registratur, eines Aufleuchtens, einer Repräsentation gerade passierender (passierter) Ereignisse haben.18 Die Operationen müssen in einem gewissen Sinne spekulativ sein, also so spiegeln können, daß das Gespiegelte sich in weiteren (selbst durchlässigen) Spiegeln spiegelt. Das ist eine sehr schwierige Metapher,19 aber sie genügt hier, um zu verdeutlichen, daß die Operationen des Systems Projektionen einer Oberfläche sind, immer nur Projektionen, in operativer Schreibweise: operative Kopplungen, die ihrerseits die Form der différance haben. Die Metapher des Spiegelns gestattet außerdem die Vorstellung, daß im Durchsatz der Spiegelungen Erhaltungen gedacht werden können, Kopie und Varianz der Kopie. In jeder Kopplung werden Effekte vorangegangener Kopplungen durchgespiegelt – ohne substantiell mitgeführt zu werden. Die Dauern des Systems sind Durchspiegelungen. Wie auch immer dies infrastrukturell ermöglicht wird, ohne diese Dauern würde das System flackern und irrlichtern.20 Wichtig ist (und häufig verkannt), daß operative Kopplung durch ein Zeitverhältnis (eben durch die différance, die Verschiebung) formuliert wird. Sie ist kein Vollzug, keine Tat, kein Akt, keine Tathandlung. Operative men. Ich mache nur am Rande darauf aufmerksam, daß in der Unterscheidung dieser Unterscheidungen eine starke theoretische Herausforderung liegt. Wenn im weiteren von operativer Kopplung die Rede ist, dann ist immer die Variante I gemeint. 18 | Das ist bekanntlich das zentrale Theorem von Husserl, E., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana Bd. 10, Den Haag 1966. 19 | Denn es gibt immer nur einen Spiegel. 20 | Wenn wir sehr langsame Beobachter wären (wahrnehmende Steine oder Bäume oder Sterne), dann würde sich dieser Zeitraffer-Effekt einstellen. Sub specie aeternitatis würde man nicht einmal ein Flackern wahrnehmen, allenfalls jenes berühmte: Nunc stans. Kant übrigens formuliert im Rahmen seiner Diskussion der reproduktiven Synthesis: »Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigeleget, oder eben dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne das hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden.« Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, A 100, hier zit. nach Söffler, D., Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit, Frankfurt a.M. u.a.O. 1994, S. 248.

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Kopplungen sind überhaupt nicht an die uns bekannte Physik gebunden, so sehr sie sie voraussetzen. Eben deswegen kann man weder operative Kopplungen noch Systeme sehen, sie sind Un-jekte, Schied und Barre. Das wird ja gerade klar gestellt durch das Axiom: Das System ist die Differenz.21 Erst die Zeit, in der etwas für etwas folgen kann, also die normalzeitgegenläufige Zeit der operativen Kopplungen spannt den Schirm systemischer (semiotischer) Realität auf. Und das geht nur, wenn in den Kopplungen Dauer konstruiert werden kann.22 Bezieht man diese sehr abstrakten Erwägungen auf die links, ist zunächst auffällig, daß sie als Operationen sehr bindungsarm sind. Sie leisten nur in äußerst geringem Umfang das, was wir durch die Metapher des Durchspiegelns bezeichnen wollten. Ganz offensichtlich sind sie Kopplungen, aber in den Kopplungen wird sehr wenig mitgeführt von vorangegangenen Kopplungen und nur sehr wenig antizipiert von möglichen Folgeoperationen. Das hat unter anderem zur Folge, daß ein System, daß diese Form operativer Kopplungen begünstigt, wenig oder gar nicht strukturdeterminiert erscheint. Natürlich kann es nur auf den links arbeiten, die es hat, aber diese Einschränkung schränkt nicht ein, in welchen virtuellen Reihen die Dokumente erster Ordnung im System gekoppelt werden.23 Tatsächlich ist das Netz, von seinen Operationen her gesehen, ein extrem flackerndes System. Das mag daran liegen, daß es in gewisser Weise ›jung‹ ist. Es könnte sich noch ausarbeiten in Richtung stärkerer Bindungsfähigkeit, in Richtung eines Gedächtnisses also. Aber, und ich lasse das ausdrücklich offen, es könnte genau in diesem Flackern die Garantien seines Erfolges finden.

21 | Siehe zur spielerischen Ausarbeitung des Arguments Fuchs, Theorie als Lehrgedicht, a.a.O. 22 | Vgl. zum Versuch, Tempodifferenzen in dieser Hinsicht für die Bedingung der Möglichkeit von Dauer zu untersuchen, das entsprechende Kapitel in Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.; ferner ders., Wie lernen autopoietische Systeme und Wie ändert sich dieses Lernen, wenn sich die Zeiten ändern, in: Soziale Wirklichkeit. Jenaer Blätter für Sozialpsychologie und angrenzende Wissenschaften 1/2, 1997, S. 119-134. 23 | Darauf komme ich zurück. Mir scheint, daß Andreas Brill in der Diskussion genau diesen Punkt im Auge hat. In gewisser Weise sind die links frei, nicht gebunden und damit nur schwer rückrechenbar auf Operateure, die sie eingeführt haben. Das steht natürlich in einem sehr klaren Analogieverhältnis zu Kommunikationen überhaupt.

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V Das Netz ist ein soziales System.24 Das gestattet es, seine Analyse mit den Mitteln fortzusetzen, die der soziologischen Systemtheorie zur Verfügung stehen. Zum Beispiel hindert uns nichts mehr daran, zu fragen, ob dieses eigentümliche System eine Funktion hat. Schließlich liegt es nahe, daß der nachgerade drastische und globale Erfolg des Systems mit seinen explodierenden Zuwachsraten einen weltgesellschaftlichen Bedarf befriedigt, so sehr, daß selbst das Erziehungssystem dafür plädieren muß, die das Netz fundierende Kommunikationstechnik Schulkindern verfügbar zu machen (als ob die das Problem hätten, das viele Lehrer noch haben). Im Sinne einer gleichsam listigen Freiheit gegenüber theoretischer Orthodoxie koppeln wir uns bei der Bearbeitung dieser Frage davon ab, ob sich das System als Funktionssystem durch einen binären Code oder durch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, durch symbiotische Mechanismen oder durch Selbstbefriedigungsverbote zu erkennen gebe.25 Statt dessen nehmen wir das Fehlen all dieser Merkmale als das, wodurch wir uns überraschen lassen. Wir finden beim besten Willen keinen Code, keine totalisierende Unterscheidung, sondern nur eine spezifische Operation. Wir finden kein Medium, mit dessen Hilfe sich unwahrscheinliche Sinnzumutungen ratifizieren lassen.26 Statt dessen zeigt sich ein System, das thematisch nichts ausschließt, das (wenn man so will: an seiner allopoietischen Seite) gerade nicht indifferent codiert ist und eine nahezu absolute Permeabilität für alles, was kommunikabel ist, anbietet. Das System ist gesellschaftsoffen und erreicht, wie wir gesehen haben, operative Geschlos24 | In der Diskussion habe ich den Eindruck gewonnen, man könnte meinen, ich will das Netz mit aller Gewalt zum sozialen System machen. Ich fände es vernünftig, man würde auf die Konsequenzen schauen, die der Versuch hat, auszuprobieren, was geschieht, wenn man die Unterscheidungen der soziologischen Systemtheorie auf ein bislang wenig klares Phänomen anwendet. Auf dieser Ebene kann man dann die Idee abweisen. 25 | Es ist dieselbe listige Freiheit, die sich findet in dem Versuch, das System Soziale Hilfe als ein primäres Sekundärsystem zu begreifen. Vgl. Fuchs, P./ Schneider, D., Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung, in: Soziale Systeme 2, 1995, S. 203-224. Diese kleine Studie steht im gleichen gesellschaftstheoretischen Kontext wie diese hier. 26 | Das heißt nicht, daß es dies alles nicht geben könnte, nur, daß ich es nicht sehe, und das will nicht viel bedeuten. Allerdings meine ich, daß Luhmann alles andere als eine orthodoxe Theorie begründet hat, in der schon klar ist, was vorkommen kann und was nicht. Ich habe eher den Eindruck, er hat mit der Theorie neue Freiheitsmöglichkeiten geschaffen.

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senheit nur in der operativen Verweisung, die den Dokumenten der ersten Ordnung implementiert ist. Es ist, wie man sagen könnte, beinahe wie die Gesellschaft, und es ist nur im Blick auf seine Operativität anders als die Gesellschaft in der Gesellschaft. Eben das kann zu der Vermutung führen, daß das System nicht ein Partialproblem der Gesellschaft bedient, sondern an einem Problem kondensiert, das genuin mit der Form der modernen Gesellschaft zusammenhängt. Diese Form, das ist die der funktionalen Differenzierung, die innergesellschaftliche Ausprägung von Funktionssystemen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Politik etc., deren Besonderheit darin besteht, daß sie (jedes für sich) einen totalisierenden Weltzugriff unterhalten, das dann mittels eines binären Codes, der ihre Exklusivität sichert im Blick auf ihre jeweiligen Funktionen. Die Welt wird zerlegt in wahr/unwahr, Haben/Nichthaben (Zahlung/Nichtzahlung), Recht/Unrecht, Immanenz/ Transzendenz, Kunst/Nichtkunst, Innehaben-von-Ämtern/Nicht-Innehaben-von-Ämtern etc.27 Diese primäre Form der Differenzierung löst das Problem aus, daß über all diese totalisierenden Weltzugriffe keine ihrerseits jene Totalisierungen totalisierende Supercodierung gelegt ist.28 Das ist das Problem der Polykontexturalität der Gesellschaft, das in zwei Richtungen ausgearbeitet werden kann, die eng miteinander zusammenhängen. Die eine Richtung bezieht sich darauf, daß die moderne Gesellschaft keinen superlegalen Beobachter kennt. Jede Beobachtung, die in ihr geschieht, kann von anderen Stellen aus anders beobachtet werden, und nirgends ist eine Rangordnung des Besser-Beobachtens eingezogen. Es gibt, wie man auch gesagt hat, keine Einfachereignisse, über deren Ontologie oder Identität eine zutreffende Aussage gemacht werden könnte, sondern nur mehr Mehrfachereignisse, deren (revidierbare) Konturen perspektivengebunden entstehen, und zwar so, daß die Perspektivität oder der Ort der Projektion mitgesehen werden kann. Alle Beobachtungen sind kontingent geworden, auch die, die im Rahmen einer hinreichend komplexen Theorie diesen Befund selbstreferentiell bezeichnet im Rahmen eines dezidierten, weil instruktiven performativen Widerspruchs. Die zweite Richtung nimmt diesen Befund auf und formuliert, daß auch die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft kon27 | Vgl. in Auswahl zu dieser Form der Gesellschaft Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O.; ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. Als Einführung vgl. das heitere Dramolett Fuchs, P., Niklas Luhmann – beobachtet, a.a.O.; weniger heiter, aber sehr sauber: Kneer, G./Nassehi, A., Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München 1993. 28 | Vgl. umfangreicher Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, a.a.O.

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132 | Theorie als Lehrgedicht tingent geworden ist. Das sieht man deutlich an jener operativ mitlaufenden Selbstbeobachtung der Gesellschaft, die durch die Massenmedien exerziert wird.29 Entscheidend ist, daß unter diesen Voraussetzungen auch nicht die Beobachtung der Einheit der Gesellschaft gelingen kann, also kein Instrument (kein Syndrom von Unterscheidungen) existiert, mit dessen Hilfe sich angeben ließe, wie die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft nichtkontingent kommuniziert werden könnte – außer als unabschließbare Vielheit oder als bloße Referenz auf die basale gesellschaftliche Operation, die Autopoiesis der Kommunikationen, die eine Welt von Sinnheterotopien erzeugt, mithin auch den systematischen Ausfall von Weltbildern und Weltanschauungen, die die auseinanderlaufenden Linien zusammenziehen könnten, ohne zugleich auf drastische Weise Simplifikation zu sein, und zwar offenkundige Simplifikation ohne die Chance globaler Durchsetzungsmöglichkeiten, allenfalls mit der Chance befristeter Stabilisierung totalitärer Segmente der Weltgesellschaft. Diese neuartige (und deshalb moderne) Lage ist aber nicht unbedingt ein Problem der Gesellschaft.30 Die Kommunikation läuft, und sie läuft im Ausfall genereller Limitationen immer leichter, geradezu unbeschwerter, und wenn in ihr mitgeteilt wird, daß Krisenhaftes geschehe, dann augmentiert und amplifiziert sie sich: Sie schwillt an und differenziert im Anschwellen Differenzen.31 Und es gibt keine Instanz, keinen Begrenzer, keine repraesentatio identitatis, die sie stoppen könnten – bis auf eine Kleinigkeit: daß sie nämlich den Lärm benötigt, den die psychische Umwelt produziert. Das ist strukturierter Lärm historischer Maschinen mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität, mit im Blick auf die Gesellschaft geradezu abenteuerlich geringer Komplexität, die sich nicht additiv behandeln läßt, denn der Verbindungsmodus dieser Singularitäten, das ist ja schon Kommunikation – also der Komplexitätsaufbau einer sozialen Sphäre, die sich gerade nicht an wirklichem Bewußtsein, sondern an dem, worin und in welchen Formen sie es unterstellen kann, orientiert. Und gerade dann, wenn die Gesellschaft polykontextural wird, kann sie sich nicht mehr stützen auf die Unterstellung verläßlicher, typenfester, parallelisierbarer Bewußtseine. Sie kann kein Modell einheitlichen Bewußtseins (etwa in der Form universaler Vernunft) erzeugen und aufrechterhalten, das nicht ge-

29 | Vgl. Luhmann, N., Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. 30 | Zur hier einschlägigen Differenz von Problemen für die Gesellschaft/Problemen für die Menschheit siehe Fuchs, P., Das seltsame Problem der Weltgesellschaft, Konstanz 2001. 31 | Siehe zu diesen Begriffen und ihrer Einsatzmöglichkeit in einer Entwicklungstheorie Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.

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gen- oder fremdbeobachtet würde. Alle diesbezüglichen Modelle sind offenbar gescheitert und mit ihnen alle universalen Moralprätentionen. Die Folge ist, daß die Kommunikation entweder individuelles Bewußtsein überberücksichtigen muß (entsprechende zeitlangsame Formen haben sich etwa in der Psychoanalyse und allem, was ihr nachkam, eingestellt, Formen, die aber Bewußtsein in seiner Eigenmacht unterbrechen)32 oder Formen begünstigt, in denen es auf idiosynkratisches Bewußtsein kaum noch ankommt. Das wären hyperautonome Formen der Kommunikation, und die These lautet dann: Das Netz, das ein soziales System ist, ist die vorab ultimate Begünstigung dieser Form. Es ist das Sozialsystem in der Weltgesellschaft, das die Unterstellung idiosynkratischen Bewußtseins minimiert trotz laufender Berücksichtigung des Lärms, den ungezählte Bewußtseine produzieren.

VI Kommunikation ohne Bewußtsein ist nicht möglich, heißt es. Wenn man so formuliert, wird eine Asymmetrie zwischen Kommunikation und Bewußtsein fixiert, die auf Anhieb (ausgenommen für den gesunden Menschenverstand) nicht einleuchtet. Beide Systemtypen sind via Sinn, via Sprache strukturell gekoppelt, sie stehen im Verhältnis der Interpenetration, also in einer Relation, die das Fortexistieren dieser Systeme an wechselseitig zur Verfügung gestellte (im jeweiligen System vorkonstituierte) Eigenkomplexität bindet. Das Verhältnis erscheint komplett reziprok. Dennoch ist es asymmetrisch, was ja die psychisch aufgeladene Sprache, in der wir dies beobachten, schnell plausibilisiert. Schließlich sind nahezu alle Metaphern, in denen wir soziale Systeme beobachten, Metaphern aus dem Bereich der Wahrnehmung, und schließlich ist die Organisation der Sprache fundamental an das cartesische Dual geknüpft, also an Subjekte, Prädikate, Objekte. Eine Ursache dafür findet sich, wenn man die Unterscheidung von Kommunikation/Bewußtsein spezifiziert. Bewußtsein, wenn es denn auf evolutionärem Wege zustande gekommen ist, kann, wenn es läuft, fern jeder Kommunikation laufen – im Wald, auf dem See, in der stillen Kammer. Kommunikation kann offenbar nicht fern von jedem Bewußtsein laufen. Sie setzt kein bestimmtes Bewußtsein voraus, aber immer Bewußtsein. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, daß alles Bewußtsein schweigt, nicht

32 | Siehe dazu den Aufsatz über Psychoanalyse in Luhmann/Fuchs, Reden und Schweigen, a.a.O. Vgl. umfangreicher dazu Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, a.a.O.

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134 | Theorie als Lehrgedicht schreibt, nicht liest etc. und dennoch Kommunikation stattfände. Im Moment, in dem das Bewußtsein weggezogen würde (durch eine schlagartige Katastrophe etwa), gäbe es nicht mehr Kommunikation. Wenn wir uns gedankenexperimentell vorstellen, daß eine Kommunikationskatastrophe, eine babylonische Verwirrung, stattfände, dann fiele es nicht schwer, gleichwohl noch denkende, wahrnehmende, fühlende Bewußtseine in das Szenario einer stummen Welt zu plazieren, wenn auch nicht für lange. Das Bewußtsein, so könnte man sagen, ist gegenüber Kommunikation befristet selbststand-fähig.33 In dieser Selbst-subsistenz steckt einer der Gründe für die Asymmetrie, die das Erscheinen der Welt, dieser Oberfläche, an Psychen bindet. Will man diese Asymmetrie nicht nur in der Form eines argumentum ad hominem erläutern, sondern auf der Ebene des Zusammenspiels beider Systemtypen diskutieren, lohnt es sich, zunächst die Figur, um die es geht, an einem parallel gelagerten Fall vorzuführen, an Saussures Unterscheidung von syntagmatisch und assoziativ.34 Die syntagmatischen Beziehungen referieren auf die Linearität der Sprache (langue): auf die Verkettung (chaîne de la parole), durch die ausgeschlossen wird, daß ein Sprachelement an derselben Zeitstelle steht wie ein anderes. Diese Elemente kommen nur in der Folge vor, sie sind in gewisser Weise an eine Verräumlichung (etwa im Sinne Derridas), an eine Ausdehnung, an Reihung geknüpft. Es geht damit um Sequenzen, in der der Wert (mark) eines Wortes ermittelt wird durch seine Beziehung zu den Werten der Worte, die in der Kette zuvor oder danach liegen.35 Die Beziehung der Assoziativität ordnet den Wörtern (unabhängig von der Reihe, in der sie erscheinen) familienähnliche Begriffe (Freund – Kumpel, Partner, Bekannter, Busenfreund, Geliebter etc.) zu oder von der Form her vergleichbare Wörter (Abmagerung – Beleidigung, Entstellung, Verwerfung etc.). Diese Assoziativität ist also nicht an Verräumlichung oder Linearität gebunden. Entscheidend ist, daß die assoziativen Beziehungen nicht in die syntagmatische Verkettung hineingedacht werden können. Sie residieren nicht 33 | Es ist an Leben geknüpft, wohingegen Sozialsysteme nicht leben, oder genauer: weder tot noch lebendig sind. 34 | Ich orientierte mich an Saussure, F. de, Cours de linguistique générale, a.a.O., ferner an Fehr, J., Saussure. Zwischen Linguistik und Semiologie, Ein einleitender Kommentar, in: Saussure, F. de, Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß, Texte, Briefe und Dokumente (gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Fehr, J.), Frankfurt a.M. 1997, S. 17-226., S. 168ff. et passim. Da es mir um diese Figur geht, werde ich auf Einzelnachweise im wesentlichen verzichten. 35 | Kommunikationstheoretisch würde man sagen müssen, daß das nahezu gleichzeitig Gesprochene (Gehörte) ebenfalls strukturelle Effekte zeitigt.

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in der Reihe der Wörter, sondern woanders, außerhalb. Sie sind nicht lokalisierbar im Geschehen der Sequenzen selbst. Der ›Ort‹ der Assoziativität liegt, wie man vielleicht heute sagen würde, jenseits der Texturen. Er ist im Gedächtnis, im Unbewußten vor dem Geist, im Gehirn, »Teile jenes inneres Schatzes, der bei jedem Individuum die Sprache (langue) bildet«.36 Das, was sich als Sprache realisiert, hat einen ex-zentrischen Gegenpart: das Subjekt, das spricht, in dem sich die assoziativen Beziehungen ereignen. Syntagmatische Beziehungen sind der Sprache immanent, assoziative Beziehungen transzendent.37 Formuliert man das Verhältnis von syntagmatischer und assoziativer Beziehung in terms der An- bzw. Abwesenheit, dann ist die Beziehung der Sukzession eine in praesentia, die der Assoziativität eine in absentia, und insofern eine »virtuelle Gedächtnisreihe«38. Präsenz ist der Ausdruck für die gleichsam harte Reihe des faktisch Gesprochenen (Geschriebenen etc.), Nicht-Präsenz der Ausdruck dafür, daß die virtuellen Reihen des Gedächtnisses nicht in der harten Reihe erscheinen. Dabei gilt, daß diese virtuellen Reihen in gewisser Weise individualisiert sind: Welche Assoziationen sich einstellen, wieviele und mit welcher Art von Ähnlichkeiten, ist nicht vorgeschrieben. Saussure kann unter diesen Voraussetzungen von zwei Existenzorten der Wörter sprechen, von denen der eine die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens offeriert (die Assoziativität) und ins Subjekt verlegt ist, deren andere durch die Gruppe der Syntagmen bezeichnet ist, also durch den realen Diskurs. Die Assoziativität hat nämlich, wie wir heute hinzufügen müßten, die Form von Sinn. Der reale Diskurs gewinnt seine Verstehbarkeit aus der Simultanappräsentation von Selektion und Verweisungshorizont, von Aktualität und Potentialität. Für Saussure ist die Sprache nur möglich, wenn um jedes Wort in der syntagmatischen Reihe die bewußten Assoziationen ko-präsent sind, ohne in der Sprache präsent zu sein. Daß es, wenn der Diskurs läuft, nebenher denkt, ohne daß dieses Denken im Diskurs ist, kann man als eine der zentralen Figuren der Saussureschen Sprachkonzeption begreifen. In der Sprache gibt es nur Differenzen, aber diese Differentialität gibt es nur im Blick auf die für sie nichtpräsente Ko-Präsenz der assoziativen Reihen im Bewußtsein (Subjekt).39 Die Terme selbst sind »null und 36 | Vgl. Fehr, Saussure. Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 169f. 37 | Wir könnten direkt von System/Umwelt sprechen, wenn Sprache ein System wäre in irgendeinem operativen Sinne. 38 | Vgl. Fehr, Saussure. Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 170. 39 | Es gibt ein wundervolles Beispiel einer allerdings kommunizierten Assoziativität, das von Saussure selbst stammt und anonym veröffentlicht ist in Flournoy, Th., Des phénomènes de synopsie (audition colorée), Paris, Genf 1893, hier zit. nach

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136 | Theorie als Lehrgedicht nichtig«, sie sind nichts als Unterschiede, die durch die Assoziationen des Subjekts besetzt werden.40 Fehr, Saussure. Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 179f. Flournoy und sein Kollege Claparède hatten eine Untersuchung durchgeführt an vielen Personen im Blick auf die Frage, welche Farbeindrücke sich bei ihnen mit bestimmten Vokalen verbinden. Saussure liefert ein Musterbeispiel von Assoziativität (dem sich allenfalls entsprechende Untersuchungen von Ernst Jünger beigesellen lassen), das ich hier trotz seines Umfanges und wegen seiner Schönheit zitiere: »Ich glaube nicht in den Begriffen auf die Frage (zur Farbe der Vokale) antworten zu können, in denen sie gestellt wurde. Und zwar wegen des folgenden Umstandes, der mich erstaunt: Wir schreiben auf Französisch denselben Laut auf vier verschiedene Arten in terrain, plein, matin, chien. Wenn nun dieser Vokal ain geschrieben wird, dann sehe ich ihn in einem bleichen Gelb, wie einen im Ofen schlecht gebackenen Ziegelstein; wenn er ein geschrieben wird, macht er mir den Eindruck eines Geflechts rotvioletter Venen; wenn er in geschrieben wird, weiß ich überhaupt nicht mehr, welchen Farbeindruck er in meinem Geist hervorruft, und neige dazu zu glauben, daß er keinen Farbeindruck hervorruft; wenn er endlich en geschrieben wird (was nur nach einem vorhergehenden i vorkommt), erinnert mich die Gruppe, als Ganzes, ziemlich an einen Knäuel noch frischer Hanfschnüre, der noch nicht den weißlichen Ton der gebrauchten Schnur angenommen hat. – Es ist somit offenbar nicht der Vokal als solcher, das heißt so, wie er für das Ohr existiert, der einen entsprechenden visuellen Eindruck hervorruft. Andersherum ist es aber nicht der Anblick eines bestimmten Buchstabens oder einer bestimmten Gruppe von Buchstaben, der diesen Eindruck hervorruft. Vielmehr ist es der Vokal in dem Maße, wie er im graphischen Ausdruck enthalten ist, ist es das imaginäre Wesen, welches diese erste Vorstellungsassoziation bildet, das, durch eine andere Assoziation mir so erscheint, als habe es eine gewisse Konsistenz, eine bestimme Farbe, manchmal auch eine bestimmte Form und einen bestimmten Geruch. – Diese Farbe und andere Merkmale beziehen sich, anders gesagt, nicht auf akustische Werte, sondern auf orthographische Werte, von welchen ich unwillkürlich Substanzen mache … Auf Französisch ist a … weißlich, gegen gelb gehend; als Konsistenz ist es etwas Solides, aber wenig Dichtes, das leicht unter einem Stoß kracht, zum Beispiel ein in einem Rahmen aufgespanntes Papier (vergilbt von der Zeit), eine dünne Türe (aus nicht lackiertem, weiß gebliebenem Holz), von der man spürt, daß sie beim geringsten Stoß, den man ihr gäbe, mit Krachen zerspringen würde; eine schon zerschlagene Eierschale, welche man weiter unter dem Druck der Finger knacken lassen kann. Besser noch: Die Schale eines rohen Eies ist a (und zwar hinsichtlich der Farbe und der Konsistenz des Objektes), aber die Schale eines gekochten Eis ist nicht a, weil man das Gefühl hat, das Objekt sei kompakt und widerstandsfähig. Eine gelbliche Glasscheibe ist a; eine Glasscheibe von gewöhnlicher Farbe, mit bläulichen Reflexen, ist das genaue Gegenteil von a, wegen ihrer Farbe, und obwohl die Konsistenz genau paßt.«

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Die Figur jedenfalls, derenthalben wir Saussure erwähnt haben, ist die einer Asymmetrie, in der eine reine Differentialität, die syntagmatisch ist, einer Subjektität gegenübergestellt wird, die die Differenzen assoziativ (durch Einbetten in einen Horizont der Verweisungen) markiert. Ohne Bewußtsein, ohne irgendein Bewußtsein wäre Sprache indifferent. Wie die sozialen Systeme, über die wir reden, stünde sie nicht für Bedeutungen zur Verfügung, gäbe es nicht Bewußtsein, das nebenher oder außerhalb denkt. Auch für die Autopoiesis sozialer Systeme gilt, daß sie syntagmatisch organisiert ist, daß sie an jeder Zeitstelle nur ein Ereignis zuläßt, das durch sein Danach und sein Zuvor identifiziert wird in reiner Sukzessivität, also in jener Verräumlichung oder Ausdehnung, die es nicht zuläßt, daß an einer Zeitstelle etwas anderes geschieht als das Geschehende.41 Da das System aber die Differenz von System/Umwelt ist, gewinnt es, worüber es selbst nicht verfügt (Gedächtnis, Variabilität, Bedeutungszuweisungen), durch die Kopräsenz zeitschneller Bewußtseinssysteme. Mit dem Wort zeitschnell wird verwiesen auf Tempodifferenzen zwischen Systemen in einer je gegebenen Aktualität, etwa auf die Differenzen zwischen Nervensystem, Bewußtseinssystem, Kommunikationssystem.42 Das Erleben des Bewußtseins ist in jeder Aktualität kompakt oder intensiv, aber ihm liegen Sequenzen neuronaler Impulse zugrunde, auf die es selbst keinen Zugriff hat. Es ist in gewisser Weise nachträglich, es ist interpretativ im Blick auf infrastrukturelle Ereignisse. Es hält schon Geschehenes fest, und dieselbe Struktur gilt im Blick auf das, was sich gerade in der Kommunikation begibt: Das Bewußtsein referiert auf schon Entschiedenes, auf gerade Fixiertes, und erlebt das im Modus der Gleichzeitigkeit: als Realität, die gegeben ist, und nicht als Realität, die imaginär ist. Es liegt immer schon Etwas vor, für Bewußtsein, aber auch für Kommunikation. Und dieses Vorliegen, das ist das Ergebnis jener Nachträglichkeit, jener zeitlichen Verschiebung, die selbst nicht registriert wird. All dies, und das ist der Sinn dieses kuriosen Exkurses, zeigt, worum es 40 | Fehr, Saussure. Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., Saussure zitierend, S. 182. Fehr weist im übrigen daraufhin, daß sich im Cours selbst kaum entsprechende Ausarbeitungen finden, und vermutet die Ursache dafür, daß diese Kombination von Bedeutungslosigkeit der Terme und ihrer subjektiven assoziativen Besetzung ihn eher blockierte, da er ja eine reine Sprachwissenschaft zu begründen suchte. 41 | Wichtig ist, daß es parallele Sukzessivität gibt, also viele Sukzessionen gleichzeitig in einem System. Dies ist bislang wenig untersucht. Siehe aber für eine Anregung Fuchs, Wie lernen autopoietische Systeme und Wie ändert sich dieses Lernen, wenn sich die Zeiten ändern, a.a.O. 42 | Vgl. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, a.a.O., S. 115f.

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138 | Theorie als Lehrgedicht dramatisch geht, wenn man im Blick auf das Netz von einer bewußtseinsausdünnenden Funktion spricht.

VII Anders als die Massenmedien, die im gleichen Trend liegen (insofern sie sich an unspezifizierte Vielheiten wenden), aber es noch nicht geschafft haben, Interaktivität in einem mehr als rudimentären Sinne einzuführen,43 ist das System, von dem wir reden, so gebaut, daß es jeden beliebigen Lärm an seiner offenen allopoietischen Grenze durchläßt, vor allem auch privaten Lärm, also den vieler Leute. In diesem Sinne haben wir von einem Register gesprochen, in das jeder Dokumente der ersten Ordnung einhängen kann, von der Luhmann-Liste bis zur Kinderpornographie, der Papst ebenso gut wie Mandy Küstrin aus Mecklenburg-Vorpommern. Auf diese Weise realisiert das System Gesellschaft, ihr Und-so-und-immer-weiter, ihre Moden, ihre Themen, die Kommunikation von aktuellen Befindlichkeiten oder nostalgischen Sehnsüchten.44 Der Entzug von Bewußtsein, er findet auf der Ebene des operativen Verweises statt, auf den links über den Dokumenten, auf der Ebene eigener (schalterförmiger) Mitteilungen in den Mitteilungen, und Entzug, das heißt im Prinzip, daß die Kommunikation auf dieser Ebene im Grunde nur noch einen gleichförmigen (schalterbedienungsfähigen) psychischen Hintergrund voraussetzen muß, der nicht spezifisch wird, der nicht idiosynkratisch gerinnt. Man kann sich den Vorgang verdeutlichen, wenn man mitsieht, daß auf der Ebene der Kommunikation unentwegt das katalytische Problem anfällt, wer denn als Verfertiger einer Mitteilung in Frage kommt, wer oder was als soziale Adresse konstruiert werden kann.45 Die Kommunikation ist offenkundig darauf angewiesen, daß sie genau diese Selbstsimplifikation vornimmt, indem sie Akteure (Mitteilende) identifiziert, ihre invisible Synthese gleichsam in einem Material ausbremst, an dem die psychischen Systeme Kommunikation beobachten können und an dem sie selbst (in der Folge 43 | Dafür gibt es gute Gründe. Vgl. Wehner, J., Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation?, in: Zeitschrift für Soziologie 26/2, 1997, S. 96-114. 44 | Siehe zu dieser Et-cetera-These Stichweh, R., Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Mayntz, R. et al. (Hrsg.), Differenzierung und Verselbstständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt a.M., New York 1988, S. 261-293, hier S. 36. 45 | Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Fuchs, Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, a.a.O.

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ihrer Konstruktion) Struktur gewinnt.46 Diese Konstruktionen, auch das wird jedem Soziologen einleuchten, variieren diachron und synchron erheblich, sie ko-variieren aber vor allem und entschieden mit dem Wechsel der Differenzierungsformen der Gesellschaft in der sozialen Evolution. So kann man zeigen, daß archaische Gesellschaften sich in hoher Unsicherheit darüber befinden, wer adressabel ist, weil das auch Geister, Tiere, Bäume sein können. Sie mußten also Umgang pflegen mit unplausibler Selbstreferenz.47 Die stratifizierte Gesellschaft des europäischen Mittelalters entwickelt etwas, was man die flache oder kontinente Adresse nennen könnte, einen relativ orientierungssicheren Zusammenhang, der über Schichtzugehörigkeit reguliert wird.48 Und die funktional differenzierte Gesellschaft schafft sich inkontinente Adressen, die nur noch über Namen gebündelt werden und in dieser Bündelung heterogene Adressierungssegmente zusammenfügen, virtuell und befristet, wenn man so will und gegen alle Identitätszumutungen, die auf Dauer setzen wie etwa das Konzept des Charakters oder der Persönlichkeit. Das soziale System, von dem wir hier reden, benötigt keinerlei Strategien der Identitätszumutung. Von den Dokumenten erster Ordnung kann ein Beobachter noch durchschließen auf denjenigen, der mitteilt. Text kann gelesen, Bilder können betrachtet, beides in Kombination goutiert werden. Die auf Kulturtechniken basierenden Kommunikationsinstrumente funktionieren, wie sie es auch in einer Bibliothek tun, in einer Videothek, in einer Mediothek. Aber im Augenblick, in dem der operative Verweis ins Spiel kommt, geht die kommunikative Unterstellung von relevanter Selbstreferenz eines Mitteilenden gegen Null. Sie ist, um die Metapher noch einmal heranzuziehen, für die Autopoiesis des Systems so unwichtig wie für die Wogen des Meeres der Surfer. Es bedarf keiner transsozialen Identität, um Hyperlinks zu betätigen, keiner aufwendig durch Kommunikation elaborierten Adresse, sondern nur eines lautlosen Anklicklärms, der zu einem weiteren Dokument durchsticht, in dem weitere links die Möglichkeit offerieren, weitere links in weiteren Dokumenten zu erreichen. Das Problem der Adresse (jener Selbstsimplifikation von Kommunikation) fällt für diese leicht gleitende Autopoiesis nahezu ganz aus und wird allenfalls auf der Ebene der Dokumente erster Ordnung noch bearbeitet. Diese Kommunikation ist mithin nicht mehr oder kaum noch angewie46 | Vgl. insbesondere Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 229ff. Mit dem Moment der Materialisierung haben es meinen Erachtens die Beiträge in Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.), a.a.O., zu tun. 47 | Vgl. Fuchs, Die archaische Second-Order Society, a.a.O. 48 | Vgl. Fuchs, Weder Herd noch Heimstatt – Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte Differenzierung im Mittelalter und in der Moderne, a.a.O.

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140 | Theorie als Lehrgedicht sen auf elaboriertes Bewußtsein, auf elaborierte Identität, auf eine irgendwie kontinente Adresse. Vielleicht könnte man von einer flachen Kommunikation reden, die nicht in die Tiefe bewußter Selbstreferenz hineinrechnen, hineininterpolieren muß. Deshalb ist das System (der Tendenz nach) all-inklusiv.49

VIII All-Inklusivität, das soll zunächst bedeuten, daß niemand prinzipiell vom System als relevante Lärmquelle ausgeschlossen wird. Die flache Kommunikation, die wir beschrieben haben, wirft keine Verbotsspielräume, kein interdit, keine Strategie der Exklusion aus, die systematisch begründet wäre und sich durchhalten ließe, ohne daß Umwege begangen werden könnten. Zweifelsfrei gibt es in der Umwelt des Systems Restriktionen, infrastrukturelle Blockaden wie fehlende Technik, fehlendes Geld, fehlende Instruktionen, sogar ideologische bzw. fundamentalistische Verbote, aber darüber verfügt nicht das System, dessen Form ausschließt, daß soziale Adressen ausgeschlossen werden. Es nimmt sie, wenn wir pointiert formulieren, auf der Ebene seiner Autopoiesis nicht zur Kenntnis, und da es (wiederum wie die Gesellschaft) keine Einheitsrepräsentation in sich selbst hat (es gibt keinen superlink), können alle Versuche, links abzuschneiden, die operativen Verweise zu kappen, immer nur lokal sein, und gerade das erlaubt die Struktur der Umwegigkeit. Interessant ist dieser Punkt, weil auch mit ihm eine sehr allgemeine Formkonsequenz der Gesellschaft befriedigt wird. Die funktionale Differenzierung bezieht schließlich ihre Legitimität aus der Gleichheitsforderung im Blick auf den Inklusionsmechanismus: Jeder muß an allen Funktionssystemen partizipieren können, niemandem darf die Bahn der Inklusion verlegt werden – eine extrem kontrafaktische Forderung, die im Inklusionsbereich der Gesellschaft Ungleichheiten ausfällt und erst im Exklu49 | Siehe zum Schema Inklusion/Exklusion, daß dieser Formulierung zugrundeliegt, Luhmann, N., Inklusion und Exklusion, in: Berding, H. (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins der Neuzeit 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 15-45; Stichweh, R., Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, a.a.O.; Fuchs, P./Buhrow, D./Krüger, M., Die Widerständigkeit der Behinderten. Zu Problemen der Inklusion/Exklusion von Behinderten in der ehemaligen DDR, in: Fuchs, P./Göbel, A. (Hrsg.), Der Mensch – Das Medium der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1994, S. 239-263; Fuchs/ Schneider, Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom, Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung, a.a.O.

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sionsbereich eine hoch integrierte Gleichheit, weil es dort auf Unterschiede nicht mehr so sehr ankommt. Das können wir hier nicht näher erörtern. Entscheidend für unsere Argumentation ist, daß an der Stelle, wo der blinde Fleck der modernen Gesellschaft auftritt (die Paradoxie der Gleichheit, die Ungleichheiten erzeugt, die wieder gleich gemacht werden müssen), daß an dieser Stelle ein System parasitiert, daß in weltweitem Maßstab gänzlich absieht von der Ungleichheit der Chancen, der Kulturen, der Bildungen, der Individualitäten. Es investiert keine Mühe in die Frage, wer in welcher Form an welchen links partizipiert, und wenn sich doch jemand dafür interessiert, dann sind aufwendige Untersuchungen erforderlich, die irgendwann auf die sozialen Adressen treffen, also auf das, wodurch das System selbst kaum tangiert wird. Bedenkenswert ist, daß Inklusion Part des Schemas Inklusion/Exklusion ist, daß also auch die Frage zulässig ist, was denn, wenn das System all-inklusiv ist, mit der Schemaseite der Exklusion geschieht. Was wird denn ausgeschlossen, wenn niemand ausgeschlossen wird? Die Antwort liegt jetzt nahe: Exkludiert wird die idiosynkratische oder singuläre Adresse der Benutzer. Kehrseite der Reduktion der sozialen Adresse auf Anklickfähigkeit ist die Exklusion von Adressen, denen tiefe Selbstreferenz unterstellt wird. Das wären die Benutzer, die auf der Ebene der Dokumente erster Ordnung verweilen, oder sagen wir: die Benutzer, die sich mit diesen Dokumenten auseinandersetzen. Oder, wenn wir weniger auf die Adressen achten, diejenige Kommunikation, die klassisch orientiert ist, also genötigt ist, in Rede und Gegenrede, Schrift und Gegenschrift, Bild und Gegenbild Bewußtsein so auszuarbeiten, daß es als Instanz der Mitteilung erscheinen kann. Das E-Mailing ist eine solche klassische Form oder auch die Form der Konferenz50, die wir auf der Basis von Dokumenten erster Ordnung durchgeführt haben. Dies alles geschieht, aber es geschieht im Register, in gewisser Weise in einer Erststufigkeit, die ihre emergente Zweitstufe dann erreicht, wenn irgend jemand (ohne jede Kontur) im operativen Verweis diese Dokumente anpeilt und sich der operativen Verweise in eben diesen Dokumenten bedient, um an weitere operative Verweise zu kommen. Und typisch für die Vorbereitung dieser Konferenz war, daß nach möglichen links gefragt wurde – zum Beispiel in meine Hochschule oder in eine private homepage oder was auch immer. Festhalten läßt sich, daß das System des World Wide Web auch im Moment der All-Inklusivität direkt auf die Form der Gesellschaft bezogen ist,

50 | Dieser Aufsatz entstand anläßlich einer Tagung mit dem Titel »Virtuelle Konferenz«, die 1997 von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Witten-Herdecke veranstaltet wurde.

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142 | Theorie als Lehrgedicht und das sollte niemanden wundern. Wie sonst sollte es prosperieren können?

IX All-Inklusivität, das könnte man auch als den Hintergrund der psychischen Faszination auffassen, die das System des World Wide Web auszulösen scheint. Es konstruiert Beobachter (Adressen), die mit marginalen Unterscheidungsmöglichkeiten auskommen, aber es eröffnet für die psychischen Systeme (die ja nicht diese Unterscheidungsmöglichkeit sind) die Möglichkeit, Weltgesellschaft in der Form des et cetera zu erleben, in der Form der arbiträren (hoch kontingenten) Verweisungsschläge, die das System anbietet. In gewisser Weise dupliziert das System diese Weltgesellschaft, stellt es (um eine Luhmann-typische Wendung zu gebrauchen) eine Zweitfassung der Gesellschaft in der Gesellschaft dar, von der dann üblicherweise gesagt wird, sie sei virtuell, üblicherweise auch ohne Angabe dessen, was denn nun als nichtvirtuelle Realität angesehen werden müsse. Wir wollen diese Unterscheidung von Virtualität und Realität gegenüber typischen (und mystischen) Anwendungen schützen, indem wir sie wie alles im Gesamtduktus der Argumentation strikt auf Kommunikation beziehen. Wir suchen also einen Unterschied, der, sagen wir, klassische Kommunikation von der des Systems, das in Rede steht, so unterscheidet, daß der Begriff Virtualität Konturen gewinnt. Wir haben schon angedeutet, daß die Zeit der Autopoiesis die Zeit des Nachtrags, des Aufschubs, der différance ist. Die Identität eines Ereignisses wird durch ein weiteres Ereignis im Nachtrag ermittelt, dessen Identität auf die gleiche Weise ermittelt wird. Das Systemische des Systems, wenn es erlaubt ist, so zu formulieren, ergibt sich aus dieser Verschobenheit, die alle sinnorientierten Prozesse kennzeichnet. Die Kontrolle über Identität ist in keiner Aktualität zugänglich, und das gesamte System hat keine Aktualität außer in diesem Versetzt-sein. Das System, sei es psychisch, sei es sozial, hat kein ontisches Präsens, und eben deshalb ist der Anschluß, die Spezifikation, die Post-festum-Selektivität das entscheidende Moment aller Autopoiesis. Die Strukturen des Systems sind die Bindungswirkungen, durch die fallende (weitere) Ereignisse durch fallende (weitere) Ereignisse als dazugehörig, als passend, als unpassend, als nicht dazugehörig diskriminiert werden – bis auf den jederzeit möglichen Widerruf. Jene Bindungen, das sind Konsistenzanforderungen, die nur gewisse Grade an Überraschungen zulassen, nur soviel Überraschung, daß sie noch registrabel ist – ohne Panik. Das ist zunächst nicht anders in der Autopoiesis des Systems WWW. Es geht nur um eine minimale Offerte in einem Netzwerk minimaler Offer-

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ten. Das System konsolidiert sich an kleinräumigen (kleinsinnigen) Angeboten, die weitere kleinräumige (kleinsinnige) Angebote aufrufen. Der operative Verweis spezifiziert den vorangegangenen operativen Verweis nur dadurch, daß er zustande gekommen ist, und wenn er nicht zustande kommt, dann ist ein technischer Fehler im Spiel oder etwas im Dokument erster Ordnung hat eine Durchgriffsmöglichkeit vorgetäuscht. Aber wie kleinräumig oder wie kleinsinnig auch immer, die Zeitmodalität ist hier die der Verschobenheit, wie wir sie kennen. Das ist aber anders bei den Dokumenten, die im operativen Verweis aufgeblendet oder erreicht werden. Sie werden in der Normalzeitrichtung (die es für Sinnsysteme nicht gibt) aufgestaffelt, sie sind im Nacheinander nicht struktur-arrangiert, sie sind nicht die Beschreibungen ihrer Vorgänger in der Zeit des Benutzers. Die Autopoiesis des Systems ist indifferent gegenüber dem, was sie verknüpft. Sie inszeniert gleichsam im Modus des Desinteresses eine Szenenfolge, in der es auf Konsistenz nicht ankommt. Oder genauer noch: Sie inszeniert simultan beliebig viele Szenenfolgen, in denen es nicht um Konsistenz geht.51 Sie verzweigt Angebote für Beobachtungsmöglichkeiten, sie ist pure Proliferation. Sie realisiert die Form von Sinn selbst, ohne für den Sinn, den sie aufblättert, Verantwortung zu übernehmen. Und: Sie hat irgendwo die Szenen (die Dokumente) zur Verfügung, aber sie verfügt nicht über die Szenenfolgen.52 Diese Sequenzen, die im operativen Verweis auf operative Verweise entstehen, haben kein Beharrungsvermögen, keine Trägheit (Hysteresis). Die operativen Verweise bauen Horizonte auf, die für das System im Aufbau zusammenstürzen. Es entstehen keine Spuren, keine Bahnungen. Der Benutzer schreibt seine Strategien des linkens nicht in das System ein, er legt nichts fest.53 Das System produziert in genau diesem Verständnis Virtualität. Wiederum trifft die Metapher des Surfens sehr präzise zu. Die Operation des Systems führt Sinnangebote zusammen, deren Konnexität für es selbst arbiträr ist. Das System ist, wie wir auch sagen könnten, unempfindlich gegen bestimmten Sinn, der auf der Ebene der Dokumente traktiert wird. Gerade deshalb muß es auch nicht ein Bewußtsein konstruieren, das sensibel ist, idosynkratisch oder singulär. Wir haben es im Blick auf die Autopoiesis des 51 | Auch darin kopiert sie, auch wenn dies schwer zu fassen ist, die Gesellschaft. 52 | Der Benutzer kann sein Zugriffssystem, seinen Computer dazu veranlassen, die Folge zu speichern, aber diese Folge (die Reihe der angesteuerten Dokumente) ist keine Struktur des WWW. 53 | Außer, um es noch einmal festzuhalten, indem er schreibt, indem er ein Dokument in das Register hängt, aber dieses Einhängen ist nicht die Autopoiesis des Systems.

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144 | Theorie als Lehrgedicht Systems mit der Produktion nomadisierender Sinnverteilungen zu tun, mit virtuellen Konstellationen, die nicht als Realität im System (also nicht als Struktur) sedimentieren.54 Wir haben es insofern nicht mit virtuellen Kommunikationen zu tun, sondern mit einer harten, robusten Autopoiesis, die für sie irrelevanten Sinn disseminiert.

X Das sind nun bizarre Überlegungen, die dem System des WWW die Funktion zutrauen, Bewußtsein in der Form, in der es sonst unterstellt wird, auszudünnen und auf äußerst flache Adressen zu reduzieren. Vor allem können diese Überlegungen kontraintuitiv erscheinen angesichts der häufig vorzufindenden Einschätzung, das System müsse im Blick auf Kommunikation als eine neue Chance der Wiedergewinnung des Anderen, als Chance zur Dialogisierung begriffen werden.55 Schließlich falle es ja auf, wieviel an klassischer Kommunikation das System ermögliche, wieviel Formen es entwickelt habe, die dem Informationsaustausch dienten oder auch einfach nur dem just for fun einer thematisch bindungsfreien Geselligkeit. Es könnte angesichts dieser Enthusiasmen deshalb nützlich sein, die kühleren Einschätzungen der Lage, die sich mittlerweile finden, auf unseren Kerngedanken zu beziehen, also kurz noch den Versuch zu unternehmen, die kuriose Autopoiesis dieses Systems und die daran geknüpften gesellschaftstheoretischen Überlegungen zu plausibilisieren.56 Das, was als Kontingenzsteigerung der Kommunikation durch die Einführung interaktiver Medien verstanden wurde,57 läßt sich begreifen als jene Virtualisierung des Systemregisters durch die elementare Einheit des Systems, den operativen Verweis. Es kommt mithin weniger darauf an, daß die infrastrukturelle Technik Unberechenbarkeiten erzeugt, die die Benut54 | Siehe zu dieser Metapher, die das Nomadische zurückbindet an die griechische Ausgangsbedeutung von nomos (im Sinne eines besetzten, aber nicht aufgeteilten Landes), Deleuze, G., Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 60 und auf dieser Seite Anmerkung 7. 55 | Vgl. kritisch dazu Wehner, Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation?, a.a.O., S. 96f. et passim mit weiteren Belegen. 56 | Ich verweise noch einmal auf Wehner, Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation?, a.a.O., der dem Grunde nach diese Plausibilisierung im Abschnitt 4 seines Aufsatzes geleistet hat. Ich folge im wesentlichen dem Gang seiner Argumentation und den Pfaden seiner Rezeptionsstrategie. 57 | Esposito, E., Der Computer als Medium und Maschine, in: Zeitschrift für Soziologie 22, 1993, S. 338-354.

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Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes | 145

zer irritieren, sondern darauf, daß das soziale System eine Einheit prozessiert, die gegen psychische Irritabilitäten unempfindlich ist, und daß eben deswegen virtuelle Arrangements aus den Dokumenten der ersten Ebene gezogen werden, die hoch kontingent sind. Das System schließt (anders als die Massenmedien) die Parallelisierung der Beobachter (user) aus, es spiegelt in dieser Hinsicht die Polykontexturalität der modernen Gesellschaft. Es geht tatsächlich um das »Fehlen einer gemeinsamen thematischen Referenz und Bündelung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit«.58 Der negative Ausdruck täuscht darüber hinweg, daß dieses ›Fehlen‹ das Proprium des Systems, seine Leistung ist. Die Nichtverallgemeinerbarkeit der HypertextPfade, der Ausfall generalisierbarer Themen, die Verhinderung einer Wirkperspektive, das sind unmittelbare Effekte der Autopoiesis des WWW.59 Ihre Kontextneutralität ist (gegen alle uns bis heute bekannten Kommunikationsgepflogenheit) de-konstruktiv, oder anders gesagt: Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, eine supermultiple (nomadisierende) Konstruktion der Realität zu erzeugen, die keine Einfachereignisse kennt und nicht einmal mehr zu einer Art quasi-ontologischer Vision einer Realität hinter der Realität verdichtet werden kann. Jener Eindruck von Geselligkeit im System verkennt das Maß an Anonymisierung, an Tilgung ›tiefer‹ Selbstreferenz, von dem wir angenommen haben, daß sie nicht allein (nicht einmal vorwiegend) Ergebnis infrastruktureller elektronischer Prozeduren sind, die intermediäre Instanzen aufbauen, die Interaktivität nur simulieren. Wir haben statt dessen ein Sozialsystem in den Blick genommen, das seine Erfolgsbedingungen aus der polykontexturalen Konstitution der Gesellschaft bezieht, indem es erprobt, wieviel Bewußtsein der Kommunikation entzogen werden kann, ohne sie in den Kollaps zu treiben. Es geht nicht um die Übermacht der Maschinen, es geht um das Experiment hyperautonomer Kommunikation. Vielleicht darf man sagen (jenseits kulturkritischer Ambitionen), daß Kommunikation (und wir haben nur über einen einschlägigen Testfall spekuliert) in eine Substitutionskonkurrenz operativ einzutreten beginnt, in der der Anspruch des Bewußtseins, Subjekt zu sein, nicht mehr nur theoretisch konterkariert wird. Aber dann, und das haben wir eingangs festgehalten, geht es um sehr viel mehr als um die Soziologie einer Technik. Wenn wir sie denn hätten, müßten wir jetzt nach Philosophen schreien. 58 | Wehner, Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation?, a.a.O., S. 107 (im Original kursiv). 59 | Rötzer, zit. nach Wehner, Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation?, a.a.O., S. 108.

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) vakat 146.p 54824657720

Vom Zeitzauber der Musik – Eine Diskussionsanregung | 147

Vom Zeitzauber der Musik – Eine Diskussionsanregung

Wer »Musik« sagt, sagt in einem Zuge sehr viel und sehr wenig: sehr viel per Evokation, durch das Heraufbeschwören eines ubiquitär anfallenden Phänomens, des musikalischen Universums mit seinen nicht auslotbaren psychischen und sozialen Effekten; sehr wenig, weil Evokation, Anmutung, träumerisch ungenaue Andeutung trockenerem Präzisionsbegehren hartnäckig auszuweichen pflegen. Wissenschaft dagegen grenzt ein, beobachtet punktuell, was sie je in Frage stellt, blendet assoziativ sich einstellende Randverwaschenheiten aus. Im Falle der Musik scheint es aber so, als werde bei diesem Versuch immer abgedunkelt, was konstitutiv ist für den Gegenstand, den man beobachten will, als nehme, wer Musik »sehen« will, sie immer nur aus den »Augenwinkeln« wahr, als verberge sich das Eigentliche der Musik stets hinter dem Rücken des Beobachters. Wer ernsthaft die ehrwürdige Quid-sit-musica-Frage zu beantworten sucht, erlebt eine sonderbare Ohnmacht, wenigstens dann, wenn mehr intendiert ist als die (übliche) vage poetische Beschreibung psychischer Zustände als Folge bestimmt gearteter Klang- oder Geräuschkombinationen, wenn es um mehr geht als um die Rekonstruktion mathematischer Zusammenhänge zwischen Tonhöhen und Tondauern bzw. Nichttondauern in kulturspezifisch ausdifferenzierten Tonalitäts-Systemen. Musik scheint sich gegen Beobachtung zu sperren, scheint, wie jede alltägliche Erfahrung schnell bestätigt, immun zu sein gegen den Versuch zu sagen, was sich abspielt, wenn sie sich abspielt. Wenn diese These zutrifft, sich aber zumindest die Unbeobachtbarkeit von Musik in bestimmten Hinsichten beobachten läßt, so könnte man die weitere These probieren, daß

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148 | Theorie als Lehrgedicht gerade die Unbeobachtbarkeit konstitutiv für die Funktion von Musik ist oder ein quasi unvermeidlicher Effekt ihrer Beschaffenheit. Die folgende Arbeit ist nichts weiter als der angesichts des musikalischen Universums selektiv hochverengte Versuch, hierüber etwas Triftiges auszumachen.

I Die These, daß Musik unbeobachtbar in bestimmten Hinsichten sei und daß gerade dieser »Defekt« zentrale Funktionsbedingungen von Musik markiere, soll anhand des Autopoiesis-Konzeptes plausibilisiert werden. Dieses Konzept, um 1975 in biologischen Zusammenhängen vorgestellt,1 besagt, daß es Systeme gibt, die die Elemente, die für sie als Einheit fungieren, im rekursiven Zugriff auf diese Elemente reproduzieren, zirkulär operierende Systeme also, die sich in dieser speziellen, selbstreferentiellen Reproduktionsweise »[…] von einer Umwelt abgrenzen – sei es in der Form von Leben, in der Form von Bewußtsein oder (im Falle sozialer Systeme) in der Form von Kommunikation«.2 Solche Systeme, schon früh definiert »[…] as unities through the basic circularity of their production of their components«,3 rücken ins Zentrum der Analyse den Begriff des Elementes, der – soll die autopoietische Reproduktion zumindest psychischer und sozialer Systeme begreifbar, soll sie als in Wirklichkeit möglich und tatsächlich vorkommend gedacht werden – in radikaler Verzeitlichung angesetzt werden muß, losgelöst von jeglichen substantialistischen Implikaten und gekoppelt an Momenthaftigkeit.4 Die Elemente sozialer und psychischer Systeme (wir klammern Zellen, Organismen etc. hier aus) sind so flüchtig, daß sie ständig reproduziert werden müssen, soll das System nicht übergangslos aufhören zu existieren: Systeme dieses Typs sind genötigt, ihr Dasein von Moment zu Moment zu kontinuieren,5 sich also der Irreversibilität der Zeit anzupassen durch eine Verzeitlichung der Elemente, die eben

1 | Vgl. Fn. 1 auf S. 73 für Literaturhinweise. 2 | Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O.; vgl. ders., Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, a.a.O.; ders., Soziale Systeme, a.a.O., etwa S. 57ff. 3 | Maturana/Varela, Autopoiesis and Cognition, a.a.O., S. XIV. 4 | Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 28. 5 | Vgl. Luhmann, N., Temporalisierung von Komplexität, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 235-300; ders., Zeit und Handlung – eine vergessene Theorie, a.a.O.

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nicht in Richtung Duration, Beständigkeit, Stabilität geht, sondern in Richtung auf Vergehen, Vergänglichkeit, Momenthaftigkeit.6 Damit ist gesagt, daß autopoietische Systeme über die Fähigkeit verfügen, die Zeitdimension zur Steigerung ihrer Binnenkomplexität zu nutzen und nur noch solche Strukturen zu entwickeln, die mit dem unaufhörlichen Vorüber und Vorbei der Elemente arbeiten können. Derart temporalisierte Elemente sind Ereignisse und also zeitpunktfixiert.7 Was an einer Zeitstelle und nur dort vorkommt, ist nicht mehr verfügbar, wenn es vorgekommen ist. Diese eigentümliche Temporalität impliziert zugleich, daß Ereignisse, da sie vergehen, sich nicht verstärken lassen, daß sie nicht festgehalten, stabilisiert, vorübergehend stillgestellt werden können (was natürlich Selektivitätsverstärkung etwa durch Prozesse nicht ausschließt). Ihre unentwegte Auflösung zwingt zur Produktion immer neuer ereignishafter Elemente, zum nicht enden dürfenden und selbsttätig nicht enden könnenden Prozedere der Produktion von Produkten, das konstitutiv ist für soziale und psychische Systeme. Das Problem der Interdependenz von stetiger Auflösung und dem Erfordernis, immer irgendwie neue Elemente anzuschließen (soll das System nicht übergangslos aufhören zu sein), das Problem der Simultankonstitution von Stabilität und basaler Instabilität, der Verknüpfung temporal miniaturisierter Elemente zu Strukturen und Prozessen, an die sich Erwartungen binden lassen, führt auf das differenztheoretische Theorem, daß Identität nur durch Differenz möglich ist, das heißt hier: Ereignisse nur »[…] mit einem Mindestmaß an Überraschung, nämlich in Abhebung vom Bisherigen«8 erscheinen können. Neuheit in Differenz zu vorangehenden, erwarteten oder eigentlich zu erwartenden Ereignissen erzeugt erst den Eindruck der Singularität (ansonsten herrschte undefinierbare Einerleiheit). Die durch jedes Ereignis quasi neu aufgespannte Zeit ist es, gegen die sich wie in einem Zuge das Ereignis als singulär profiliert, und es ist eben dieses an Differenz abgreifbare Singu-

6 | Entscheidende Vorarbeit hat hier Whitehead geleistet. Vgl. Whitehead, A.N., Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1979; Wiehl, R., Zeit und Zeitlosigkeit in der Philosophie A.N. Whiteheads, in: Braun, H./Riedel, M., (Hrsg.), Natur und Geschichte. Festschrift für Karl Löwith, Stuttgart 1967, S. 373-394, bes. S. 385. 7 | Vgl. Luhmann, Temporalisierung von Komplexität, a.a.O., S. 243f. 8 | Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 390. Vgl. für umfangreichere Thematisierung des Ereignisbegriffes im Hinblick auf Geschichte Koselleck, R./Stempel, W. (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973.

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150 | Theorie als Lehrgedicht laritätsprofil, das eine bestimmt geartete Kombination von self-identity und self-diversity in den Blick geraten läßt, die das Problem des Anschlusses je neuer Ereignisse klären helfen soll, eine Kombination, die von Luhmann unter dem Begriff der »basalen Selbstreferenz« diskutiert wurde. Dabei meint Selbstreferenz denjenigen Spezialfall einer Referenz, bei der zu dem, was bezeichnet wird, die Operation der Bezeichnung zu rechnen ist, also das, worauf Bezug genommen wird, auch dasjenige ist, das dieses Bezugnehmen durchführt. Basal ist Selbstreferenz dann, wenn Elemente selbstreferentiell operieren,9 beispielsweise Kommunikationen in Sozialsystemen, Gedanken in Bewußtseinen, auf jeden Fall nicht weiter unterschreitbare, nicht weiter auflösbare Einheiten autopoietischer Systeme. Etwas für-sich-sein oder (weniger ontologieverdächtig): für sich selbst Bedeutung haben, können Elemente ausschließlich in der Form der Einheit einer Differenz, in der Form der »Einheit von Differenz und Identität«.10 Das ist eine Kombination, die – pointiert formuliert – Identität durch Nichtidentität (durch »Differenz zu sich selbst«) konstituiert. Ereignisse als temporal instabile Elemente sind überhaupt nur diskriminierbar, wenn sie sind, was sie sind, gegen das, was sie nicht sind. Sie wären andernfalls nicht bestimmbar und als Unbestimmtes nicht kontextfähig, wenn man nicht gerade – metaphysisch – eine durchgängige, aber eben unbeobachtbare, autoreferentielle Bestimmtheit der Welt postuliert. Element kann nur Einheit sein, wenn Differenz sich findet, oder – weitläufiger formuliert –: »A universe comes into being, when a space is severed into two. A unity is defined.«11 Mit der Erkenntnis, daß sich basale Selbstreferenz, daß sich Selbstbezug elementarer Ereignisse durch eine Kombination von Identität und Differenz verwirklicht, ist der theoretische Ort erreicht, von dem aus zur Musik umgeschaltet werden kann. Die Frage ist: Was hat Musik mit dem eben entwickelten AutopoiesisKonzept zu tun, wenn man – zunächst – nicht das Musiksystem als soziales System in den Blick nimmt, sondern nur jene akustischen Arrangements, die konsensuell als Musik identifiziert werden? Die Antwort kann nicht sein, Musik in diesem Sinne sei ein autopoietisches System. Sie wird schließlich immer betrieben und betreibt sich nicht selbst. Die These, die hier probiert wird, lautet im ersten Zugriff: Musik habe die Form der Autopoiesis, habe sie ähnlich wie, aber doch anders als Sprache. 9 | Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 600. 10 | Vgl. Luhmann, Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, a.a.O., S. 370. 11 | Maturana/Varela, Autopoiesis and Cognition, a.a.O. S. 73. Vgl. auch Spencer-Brown, G., Laws of Form, London 1971, S. V.

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II Was die Einheit der Musik sei, ist umstritten, und oft ist es nicht diese Frage, die im Zentrum musiktheoretischen Interesses steht. Eher sind es ungemein komplexe Anschlußfragen, die man findet nach einem geschickten Überspielen der ersten Frage. Sie wird überspielt durch Präsentation von »Bausteinen« der Musik, häufig Klängen oder Tönen, aus denen sich das eigentlich Musikalische erst zusammensetze, etwa in der Form von Motiven, eine Entscheidung, die direkt zur musikalischen Formenlehre überzugehen gestattet.12 Während in der Akustik Ton als Sinuston im komplexeren Gebilde Klang begriffen wird, findet sich in der Musiktheorie Ton gemeinhin so definiert wie in der Akustik Klang: als ein singuläres Schallereignis, das durch die Parameter Tonhöhe (Frequenz), Tonfarbe (Obertöne), Tondauer, Tonstärke und Tonortung (Topik) hinreichend bestimmt werden kann und bestimmt ist. Für die Zwecke unserer Analyse ist es vielleicht wichtig, an die etymologisch abgreifbare Bedeutung des Wortes Ton zu erinnern, an tonos nämlich, das soviel wie Spannung heißt. Spannung aber ist ein differenzkonstituiertes Phänomen und ausschließlich differenztheoretisch zu begreifen. Ein Konzept, das Töne als Singularitäten, als mehr oder minder temporal ausgedehnte akustische Entitäten behandelt, kommt notgedrungen auf die Bausteinvorstellung, muß sich beispielsweise ein Musikstück als Serie von 12 | Für Klang als Einheit der Musik plädiert etwa Schaper, H.Ch., Gestaltungselemente der Musik. Strukturen – Analysen – Übungen, München 1978, S. 2. Interessant dabei ist, daß er Klang immer als auf Umgebung bezogen begreift. Es hätte in seinem Fall nahegelegen, sofort auf Differenz statt auf bausteinartige Identität abzustellen. Vgl. auch Barnes-Ostrander, M., Music: Reflections on Sound, San Francisco 1976, S. 5. Zu Motiv als kleinste sinnvolle Einheit vgl. Stockmeier, W., Musikalische Formprinzipien, Formenlehre, Bd. 3, Köln 1977, S. 12. Ton als unteilbares Element taucht schon in Tetraktys auf, in dem die Reihe Ton, Intervall, System, Melos parallel zur sprachbezogenen Reihe Buchstabe, Silbe, Verba und Nomina gebaut ist. Vgl. dazu Schäfke, R., Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, Bd. 2, Tutzing 1964, S. 82. Ton als Einheit von Identität und Differenz wird zwar wahrgenommen, aber mangels präziser Theorie mystisch formuliert. »Aber dieser Ton hört plötzlich auf, meßbar zu sein. In ihm erstehen zeugende Kräfte, Spannungen. Sie setzen gleichsam in seiner dunklen Mitte an und sprengen seine Grenzen.« Mersmann, H., Musikhören, Hamburg 1964, S. 19. Ebenda auch die Annahme, daß aus den »Eigenschaften« des Tons die anderen Elemente der Musik entstünden, aus der Folge Melodik, aus der Gleichzeitigkeit Harmonik, aus der Tondauer Metrum und Rhythmik, aus der Tonstärke Dynamik und aus der Tonfarbe Kolorit.

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152 | Theorie als Lehrgedicht nacheinander, aber getrennt auftretenden Punktualitäten denken und die Bewegung von Punkt zu Punkt als gesondert erklärungsbedürftig hinzufügen. Die Kombination von Spannung und Ruhelage, die typisch und topisch für Musik in Anspruch genommen wird, kann dann nur noch deskriptiv thematisiert werden. Hier wird vorgeschlagen, Ton direkt intervallförmig, das heißt: differenztheoretisch zu begreifen, als eine auf Differenz gestimmte Einheit der Musik, so daß Selbstbezug eines Tons nur über die Einheit von Identität und Differenz – formal analog zu basaler Selbstreferenz – erfaßt werden kann.13 Wie eine Kommunikation an sich, ein Gedanke an sich keinen fixierbaren Sinn hätte, so auch nicht eine als sinusförmige Schwingung plus anderer Parameter konzipierte, singuläre Größe Ton.14 Ton als Intervall gewinnt seine Identität durch die Differenz zu gerade verklungenen, gerade zu erwartenden Tönen (oder spezieller, aber bestimmt geregelter Abweichung von Erwartungen): seine Qualität ist diastatisch reguliert, ergibt sich aus der mehr oder weniger großen Distanz im Intervall, wobei die Prime als Null-Distanz mitfungiert. Dabei spielt es in unserem Kontext eine nur untergeordnete Rolle, daß Intervalle nach herkömmlichem Verständnis horizontal oder vertikal auftreten können. Die verikale Schichtung läßt sich beschreiben als ein »›Nacheinander‹ der Töne im Zeitabstand Null« und eine »Tonfolge als ›Gleichzeitiges‹ in die Zeit verschoben«.15 Es kommt mehr darauf an zu sehen, daß Töne, intervallförmig konzipiert, analog basaler Selbstreferenz gebaut sind: der Sinn eines Tones ist durch die Differenz, in der er sich findet, bestimmt und nicht an sich selbst. 13 | Glissandi gelten als Sonderfälle und werden mitunter im Zusammenhang der Differenz Sprache/Musik behandelt: Glissando als Eigentümlichkeit der Sprache, feste Tonhöhen als Kennzeichen der Musik. (Man wird sich hier auch daran erinnern, daß Serenus Zeitblom dem Glissando unmusikalische, infernalische Effekte zuspricht.) Siehe etwa Husmann, H., Einführung in die Musikwissenschaft, Wilhelmshaven 1975, 14. Aufl. Auf S. 96ff. finden sich Erläuterungen zu physikalischen Hintergründen des Intervallhörens. Psychologische Überlegungen zum Begriff des Intervalls bietet Farnsworth, P.R., Sozialpsychologie der Musik, Stuttgart 1976, S. 23ff. Zur Bedeutungslosigkeit des singulären Tons siehe als Beleg schon früher Erkenntnisse hierzu Leichentritt, H., Musikalische Formenlehre, Bd. 8, Wiesbaden 1971, S. 2. 14 | Typisch wird ein gleichförmiger Sirenenton nicht als Musik empfunden. Die entscheidende Differenz ist anders gelagert. 15 | Vgl. Zimmermann, B.A. Intervall und Zeit, in: Bitter, Ch. (Hrsg.), Bernd Alois Zimmermann. Aufsätze und Schriften zum Werk, Mainz 1974, S. 11ff., hier S. 11.

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Daß sich das so verhält, läßt sich überzeugend demonstrieren am Beispiel der enharmonischen Verwechslung,16 bei der ein Ton (im klassischen Sinne), etwa auf der Tastatur eines Klavieres isoliert angeschlagen, verschiedene Funktionen erfüllt, verschiedene Anschlußselektivitäten impliziert und dann auch je nach Fall verschiedene Namen trägt. Die Taste es ist identisch mit der Taste dis, der aus dem Anschlag resultierende Klang physikalisch gleich, und doch macht es einen gewaltigen Unterschied für den Charakter einer Musikpassage aus, ob sie es mit es oder dis zu tun hat.17 Die Identität dieses Tons (dieser Töne, müßte man sagen) bestimmt sich bei quasi-ontologischer Gleichheit durch die Differenz, in der er sich je findet. Die Möglichkeit enharmonischer Verwechslung ist dabei selbst hochvoraussetzungsvoll, keineswegs naturwüchsig, und mußte eigens kreiert werden im Kontext einer Problemlage, die sich schon auf Ausdifferenzierung und Autonomisierung der Musik und des Musiksystems bezieht. Es war das Problem der akustischen Reinheit, auf das Andreas Werckmeister und andere mit der Entwicklung einer gleichschwebenden Temperatur reagierten: zwölf pythagoräische Quinten (2:3) ergeben einen Ton, der nicht mit der siebten Oktave (1:2) identisch ist. Die Differenz (Terminus: pythagoräisches Komma) wird im temperierten System durch raffinierte Verteilungstechniken unsichtbar gemacht, auf die hier nicht eigens eingegangen werden kann. Genau diese Differenz ist es aber, wie man sich erinnern wird, an der Max Weber seine Theorie der Rationalisierung im Hinblick auf Musik exemplifiziert, ein Beleg auch dafür, wie wichtige evolutionäre Veränderungen an scheinbaren Nichtigkeiten kondensieren können.18 Unter der Bedingung einer mitteltönigen Temperatur kann es zur en16 | Jedes modulatorische Phänomen könnte natürlich ebensogut als Beispiel dienen für die Unterschiede, die hier Unterschiede machen. 17 | Zur Theorie der enharmonischen Verwechslung siehe etwa Grabner, H., Allgemeine Musiklehre, Bd. 10, Basel, Paris, London 1970, S. 57. 18 | Aristoxenos von Tarent, der als der bedeutendste Musiktheoretiker der Antike gilt, soll der reinen pythagoreischen Stimmung schon eine temperierte gegenübergestellt haben. Vgl. Adler, G. (Hrsg.), Handbuch der Musikgeschichte, Berlin 1980. Zum Versuch, mathematisch exakt ein meantone temperament zu bestimmen, siehe auch Smith, R., Harmonics or the Philosophy of Musical Sounds, Cambridge 1949. Für eine soziologische Deutung des Temperaturproblems siehe Weber, M., Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, Tübingen 1972, etwa S. 5ff. und S. 61ff. Zur Berechnung des pythagoräischen Kommas (Oktav-Quint-Komma) und des syntonischen oder didymischen Kommas (ähnlich gelagerten Differenzen) und anderen Kommastörungen vgl. Leib, W., Die Entwicklung unseres Tonsystems. Studium Musicale Ed. Nr. 528, Stuttgart 1968, S. 9ff., zur mitteltönigen Temperatur siehe ebenda S. 22ff. und S. 14ff.

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154 | Theorie als Lehrgedicht harmonischen (trickreich nutzbaren) Verwechslung kommen, die uns hier nur als Beleg für Unterschiede, die Unterschiede machen, dient, für die strukturabhängige und nur so feststellbare, erlebbare Identität eines Tones. Sieht man von diesem instruktiven Sonderfall ab, so wird, was belegt werden soll, nicht minder deutlich, wenn man sich klarmacht, daß etwa der Kammerton a (wie alle anderen fixierten und fixierbaren Töne westlich orientierter Musik) mit seiner historisch variierenden Stimmung19 das, was er gerade ist, nur sein kann in einer Skala, in einem Kontext, als Intervall. Das kann er frappierenderweise (empirisch nachweisbar) auch dann sein, wenn tatsächlich nur ein Einzelton erklingt. Er »[…] erzeugt ein klar definierbares, harmonisch-tonales Kräftefeld, er wird als Tonika einer Durskala aufgefaßt«.20 Tonika (als derjenige konsonierende Dreiklang, der die Harmonie eines Musikstückes dominiert, fundiert auf der Tonartbasis), Dominante und Subdominante (Funktionen der Tonart nach Riemann) definieren Tonalität, sind als Strukturen schon Möglichkeitsräume, in die elementare Ereignisse der Musik fallen können, spannen Erwartungshorizonte auf, die als Bedingung der Anschlußfähigkeit nächster Ereignisse fungieren, als Bedingung dafür, daß Töne situiert werden können. Der Selbstbezug elementarer musikalischer Ereignisse steht wie der ereignishafter Elemente in autopoietischen Systemen in einer komplementären Beziehung zu Strukturen. Rückkehr zu oder Entfernung von der Tonika bestimmten und regulieren zentral Spannungs- und Ruhelagen (von denen noch in klarerer Weise zu sprechen sein wird), Konflikte, deren Lösung sich in der Rückkehr zur Tonika zu finden pflegt. Auf die damit zusammenhängende Ausdifferenzierung der Musik um Klauseln, Schlußwendungen, Kadenzen kommen wir noch zurück.21 Es genügt im Interesse der Durchführung unseres Themas, hier um die 19 | Pariser Stimmung 1788: 409 Hz; Ältere Mozartstimmung: 409 Hz; Wiener und Berliner Stimmung 1850: 442 Hz; Pariser Kommission 1858: 435 Hz; Internationale Vereinbarung 1939: 440 Hz …usw. 20 | Abraham, L.U., Harmonielehre. Der homophone Satz, Köln 1965, S. 15. 21 | Wir klammern hier avantgardistische oder klassisch-moderne Entwicklungen aus, die in den Kontext der Aus- oder Entdifferenzierung von Musik und Musiksystem gehören. Die Naturtonreihe führt auf ganz eigene Probleme (auf die Nichtableitbarkeit eines Molldreiklangs beispielsweise), und die Schönbergsche Emanzipation der Dissonanz kann nur begriffen werden im Gegenzug zu einer hochausdifferenzierten Tonalität, als deren kontrollierte Nutzung per Nichtübereinstimmung. Mit der Ausklammerung solcher Zusammenhänge ist die Notwendigkeit anschließender weiterer Forschung impliziert. Zu Struktur und Ereignis in der Musik vgl. auch Rövenstrunck, B., Die Musik. Ein Schlüssel zum Verständnis musikalischer Ereignisse, Stuttgart 1972.

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immense Vielfalt derjenigen Strukturen und Prozesse abzukürzen, die an die basale Selbstreferenz musikalischer Elementarereignisse anschließen. Die Isomorphie der Reproduktionsweise autopoietischer Systeme mit der inneren Motorik von Musik dürfte plausibel geworden sein. Wenn man die Form der Musik so beschreibt – dies die Anschlußthese –, wird es möglich, ihre eigentümliche Relevanz für psychische und soziale Systeme zu erklären.

III Daß Musik eine kaum zu unterschätzende Relevanz für psychische und soziale Systeme und für deren Interpenetration haben kann, wird kaum bestritten werden, und bestritten werden wird wohl auch nicht, daß sie diese Relevanz in den unterschiedlichsten Kontexten entfaltet. Die Antwort auf die Frage, wie sie das kann, steht aber noch immer aus. Sieht man einmal von Erklärungsversuchen neurophysiologischen Typs ab, die eigentlich die Substratebene des Bewußtseins betreffen, wird man weitaus eher Poetizismen und Mystizismen finden als präzise Auskünfte. Die Musikwissenschaft und Musiktheorie befriedigen jegliches Bedürfnis nach Genauigkeit an Punkten jenseits dieser Ausgangsfrage und beginnen (wie auch anders?) stets dort, wo Musik schon ist. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß Musik im Zuge ihrer Evolution in die sonderbare Lage gerät, daß die Theorie, die sich auf sie bezieht, den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, immer mehr zu konstituieren beginnt, ein Vorgang, der die Oszillation des Begriffes »Musik« zwischen Praxis- und Theoriebedeutung miterklärt,22 vielleicht sogar die im Mittelalter quadriviale Position der Musik innerhalb der sieben freien Künste zwischen Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Zumindest wird deutlich, daß bei einem derart intrikaten Konfundierungsverhältnis eine verzerrungsfreie Beobachtung der Punktionsbedingungen 22 | Vgl. etwa zum problematischen Verhältnis von Musikwissenschaft zur musikalischen Tradition im Hinblick auf die Konstitution des Faches Zaminer, F. (Hrsg.), Ideen zu einer Geschichte der Musiktheorie, Darmstadt 1985, S. 119f. Abgreifbar wird die wechselseitige Konstitution von Disziplin und Gegenstand auch an der Diskussion um den normativen Charakter musiktheoretischer Terminologie. Vgl. Seidel, W., Musikalische Terminologie. Eigenart und Wandel, in: Zaminer (Hrsg.), a.a.O., S. 96ff., hier S. 105. (Das wäre so, als ob die Soziologie der Gesellschaft vorschreiben wollte, wie sie zu sein hat, ein natürlich undenkbarer Fall.) Gefragt werden kann hier auch, inwiefern und ob Musik im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Theorie ein Sonderfall ist im Vergleich mit Theorien im Bereich anderer kultureller Produktion.

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156 | Theorie als Lehrgedicht von Musik nur schwer möglich ist (als Beobachtung dessen, in welchen Hinsichten Musik nicht beobachtbar ist). Beobachtbar aber von einer ganz anderen Position aus war die autopoiesis-isomorphe Struktur der Musik, und wenn man der These zustimmt, daß sowohl psychische wie soziale Systeme autopoietische Systeme sind, zwingt sich die Anschlußfrage auf, ob es nicht gerade diese Struktur ist, die sich auf eine anzugebende Weise in die Reproduktionsweise dieser Systeme »einzuklinken« vermag, das heißt: Resonanz im nahezu korrekten physikalischen Sinne erzeugt. Eine Analyse, die diese Abstraktionsebene nutzt, macht es erst einmal gleichgültig, ob sie sich auf psychische oder soziale Systeme bezieht. Wenn hier die Autopoiesis des Bewußtseins erörtert wird, wird festgehalten werden müssen, daß das, was für Bewußtsein gilt, mutatis mutandis (im Hinblick auf die Elemente) auch für Sozialsysteme Geltung beansprucht, und daß eine Anschlußuntersuchung zu zeigen hätte, wie genau das, was an Bewußtseinen demonstrabel ist, demonstriert werden kann an Sozialsystemen. Bewußtseine sind also autopoietische Systeme im oben diskutierten Sinne.23 Sie spezifizieren sich (und alles, was sie ausmacht) auf der Basis einer Reproduktionstechnik, die die Elemente des Systems durch die Elemente des Systems produziert und reproduziert. Die Elemente selbst sind zeitlich instabil, ereignishaft, entstehen und vergehen unaufhörlich, woraus der Zwang zu laufendem Neuanschluß nächster Elemente resultiert. Damit ist Zeit basal involviert. Für Bewußtsein wie für Sozialsysteme ist »Dauerzerfall« ihrer Elemente conditio sine qua non ihres »Systembestandes«,24 und in dem einem wie dem anderen Fall ist die Nichtwiederholbarkeit zeitpunktfixierter Ereignisse Ursache dafür, daß der Anschluß nächster Ereignisse über Differenz und Identität geregelt werden muß. Ein Ereignis an sich kommt beobachtbar nicht vor. Im Falle von Bewußtsein sind solche ereignishaften Elemente: Gedanken. Gedanken, hieße das, produzieren Gedanken, und was immer im Bewußtsein vorkommt, kommt als Gedanke vor, aber nicht in einer gewissermaßen allopoietisch induzierten Sequentialität, als punktförmig aufgereihte Kette von singulären Ereignissen, sondern in einer durch das spezifische Reproduktionsverhältnis autopoietischer Systeme regulierten Weise. Der Begriff der Beobachtung ermöglicht es, dieses spezifische Verhältnis zu rekonstruieren.

23 | Vgl. zur Begründung dieser These und für die wesentlichen Überlegungen im folgenden Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, a.a.O. Siehe ferner ders., Soziale Systeme, a.a.O., S. 356ff. 24 | Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, a.a.O., S. 404.

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Wenn man den Beobachtungsbegriff in der Fassung von Niklas Luhmann (die auf logischen Untersuchungen Spencer Browns basieren) zugrunde legt und Beobachtung als eine Operation begreift, die mit einer Unterscheidung arbeitet, von der je eine Seite bezeichnet (indiziert) werden kann, sieht man, daß eine »dynamisch stabile« Sequentialisierung der Gedanken observationstechnisch geleistet wird: mit Hilfe der »Identifizierung« eines Gedankens durch Differentsetzung gegen andere (frühere). Ein Gedanke, will das heißen, beobachtet einen anderen, legt im strengen Sinne eine Unterscheidung an, die den beobachteten Gedanken gleichsam stillstellt, als differenten lokalisiert. Der beobachtete Gedanke heißt Vorstellung, »[…] und das Beobachten selbst kann daher auch als das Vorstellen einer Vorstellung beschrieben werden«.25 Diejenige Differenz, die die Beobachtung leitet, mit deren Hilfe die Autopoiesis des Bewußtseins betrieben wird, ist die von Selbst- und Fremdreferenz. »Andere Gedanken werden als genau diese Differenz beobachtet, das heißt als Vorstellung von etwas.«26 Für uns wichtig ist an dieser Stelle, daß derjenige Gedanke, der mit dieser Unterscheidung arbeitet, selbst darin nicht vorkommt: er ist der Operateur, der sich als Beobachtender nicht beobachten kann, selbst unsichtbar bleibt bis zu dem Augenblick, in dem er selbst beobachtet wird und schon verschwunden ist, weil das Beobachten des eben selbst noch beobachtenden Gedankens schon ein neuer Gedanke ist. Man kann formulieren, daß die Aktualität eines Gedankens, gewissermaßen sein Vorkommen an und für sich, dadurch gekennzeichnet ist, daß er sich nicht sich selbst vorstellen kann, sondern nur den gerade gewesenen. Die Aktualität des Bewußtseins auf operativer Ebene ist konstitutiv intransparent. Das System ist blind für das, was jetzt läuft, hingegen hellsichtig für das, was gewesen ist. Hier zeigt sich eine »reflexive«, in der Zeit durch Rückblick, Rückbezogenheit und deswegen zukunftsblind voranarbeitende Temporalität, gekoppelt an operative Intransparenz, die hochvoraussetzungsvoll ist und begreiflich macht, daß »Entlastungsmöglichkeiten« wie Sprache genutzt werden. Sprache gestattet dem Bewußtsein, sich an ihr entlangzuhangeln, weil ein Wort sich ans andere fügt und weil Sprache in ihren nicht minder an elementare Lautereignisse angebundenen Strukturen und Prozessen Mittel zum Aufbau strukturierter Komplexität zur Verfügung stellt, die Engführung des Bewußtseins erheblich erleichtert und sich den Reproduktionsbewandtnissen des Bewußtseins mühelos anschmiegt. Wer A sagt oder denkt,

25 | Ebenda, S. 407. 26 | Ebenda, S. 409.

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158 | Theorie als Lehrgedicht muß auch B sagen oder denken: das Problem des nächsten Gedankens ist elegant gelöst, und Abweichungen vom Erwarteten, Erwartungsdurchbrüche, Überraschungen sind, indem sie registriert werden, Initialzündungen für ganze Ketten sich anschließender Gedanken. Typisch für Sprache dabei ist (und hier dreht es sich darum, einen entscheidenden Unterschied zur Musik zu bezeichnen),27 daß die operationsleitende Differenz für Bewußtsein, die von Fremd- und Selbstreferenz, durch Sprachförmigkeit von Gedanken eigentümlich pointiert wird. Im Prinzip besteht ja immer die Möglichkeit, daß einem Gedanken, der einen Gedanken beobachtet, eine Operation folgt, die entweder an der Fremdoder Selbstreferenz einer Vorstellung ansetzt (Bistabilität), und diese Möglichkeit wird mit jedem neuen Gedanken regeneriert. Es läßt sich vermuten, daß sprachförmige Gedanken, wenn sie beobachtet werden, den Waagenarm der Differenz an der Seite der Fremdreferenz senken: das »Etwas« der Vorstellung wird pointiert, und an dieser Pointierung schließen nächste Gedanken an, kondensieren und disziplinieren sich Strukturen. Der Spielraum für den Wechsel zur Selbstreferenz wird kleiner, obgleich er jederzeit möglich bleibt. Wenn das Bewußtsein mit Sprache hantiert, hat es einen schwereren, man könnte sagen, welthaltigeren Gang, wobei man sich durchaus vorstellen kann, daß jeder sprachförmige Gedanke von einem Geflimmer nicht sprachförmiger, frei flottierender Gedanken umspielt wird.28 Anders verhält es sich, wenn Bewußtsein auf Musik stößt. Einerseits liegt nahe, daß psychische Systeme sich der ihrer Reproduktionsweise so ähnlichen Struktur von Musik bedienen können und sich damit von Reproduktionsdrücken entlasten; andererseits tritt ein nahezu unlösbares Problem dabei auf, ein Problem, das eingangs als Unmöglichkeit der Beobach27 | Eine Differenz, die es interessant macht, den Zusammengang von Musik und Sprache gesondert zu thematisieren. Simmel etwa steht für die Theorie, die Sprache ins Vorfeld der Evolution von Musik plaziert. Gesang sei »[…] die nach der Seite des Rhythmus und der Modulation hin gesteigerte Sprache«. Vgl. Simmel, G., Psychologische und ethnologische Studien über Musik, in: Kneif, T. (Hrsg.), Texte zur Musiksoziologie, Köln 1975, S. 110-139, hier S. 111. Zur Toposdiskussion Sprache/ Musik vgl. auch Plessner, H. Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks, in: Gadamer, H.-G. (Hrsg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S. 555-566. Vgl. ferner Lehrdahl, F./Jackendoff, R., A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge (MA), London 1983, S. 314ff. Der Topos, so läßt sich hier vorwegnehmen, ist im Kontext der Ausdifferenzierung und Autonomisierung der Musik von entscheidender Bedeutung. 28 | Der Tempounterschied sprachgesteuerter Operationen zu nicht sprachabhängigen Bewußtseinsoperationen wird hier relevant.

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tung von Musik in bestimmten Hinsichten erwähnt worden ist und nun in die Form einer Paradoxie gekleidet wird. Die These ist: Man kann Musik nicht hören, wenn man sie hört.

IV Daß Musik nicht gehört werden kann, wenn man sie hören will, ist eine befremdliche Behauptung, offenbar aber so befremdlich nicht, daß sich nicht fixierte Überlegungen ähnlichen Typs finden ließen, etwa daß der »[…] Blick in die Musik […] durch Klänge verhängt« sei.29 Phänomenologische Analyse ist in anderen Zusammenhängen auf affine Problemlagen gestoßen und nutzt zu ihrer Klärung erstaunlich oft musikalische Exempel.30 Beispielsweise wird als Ausgangspunkt subtiler Analysen notiert, daß man einen Ton zwar hören könne, aber das Hören selbst nicht, das wiederum nur erlebbar sei.31 Wenn Hanslick von Musik als einer »[…] unübersetzbaren Ursprache« spricht,32 verweist das negierende Präfix auf die Unmöglichkeit der Beobachtung von Musik, die als quasi immer ursprünglich und authentisch erscheint und in dieser Authentizität sich dem begrifflichen Zugriff entzieht. Seine leidenschaftliche Attacke gegen den Topos »Musik als Gefühl, Musik als Gefühlserzeugung«33 bedient sich eines Arguments, das unserer Vorstellung sehr nahe kommt. Gefühle werden, wenn man sie beobachtet (also eine Differenz anlegt), begrifflich und sind dann genau nicht mehr: Gefühle. Oder anders: Gefühle geraten immer nur in den Blick als das, was sie nicht sind.34 Musik hingegen hat im Hanslickschen Gedankengang gerade 29 | Kurth, E., in: Pfrogner, H., Musik, Geschichte ihrer Deutung, München 1974 (Quellentextsammlung), S. 359. 30 | Bekannt ist der Rückgriff Husserls auf Musik als Plausibilitätsressource. Siehe etwa Husserl, E., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana Bd. 10, Den Haag 1966. Im Kontext unserer Arbeit läßt sich erkennen, daß das Nutzungsverhältnis nicht zufällig zustande kommt. 31 | Vgl. Rothschild, F.S., Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges, Bale (Suisse), New York 1950, S. 2. 32 | Hanslick, E., Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Tonkunst, Wiesbaden 1971, S. 103. 33 | Aber schon die Tatsache, daß es diesen Topos prominent gab und gibt, ist aufschlußreich. Gefühle sind aktuell unbeobachtbar. 34 | Eine Vorstellung, an die sich eine Theorie des Gefühls hängen läßt, die Gefühl als etwas begreift, das dazu dient, die Autopoiesis des Bewußtseins fortzusetzen, wenn sie in eine Krise gerät: Gefühl als Krisenmanager.

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160 | Theorie als Lehrgedicht nichts mit Begriffen zu tun und kann deshalb allenfalls das Dynamische der Gefühle zum Inhalt haben. Beleg dafür ist einmal die Tatsache, daß sich »identische« Melodien in völlig unterschiedlichen Kontexten nicht nur halten können, sondern auch beim Hörer unterschiedliche kontext-, aber nicht musikgebundene Gefühle auslösen.35 Ferner kann aber instruktiv auf ein Problem hingewiesen werden, auf das die Affektenlehre des Barock stieß: die psychischen Systeme reagierten auf Musik nicht so, wie sie es der Affektenlehre nach hätten tun müssen. Die Lösung, die den Widerspruch invisibilisierte, bestand darin, Affektenlehre und eine grob zugeschnittene Temperamentenlehre miteinander so zu koppeln, daß sie in ein wechselseitiges Stützungsverhältnis geraten: Wer anders fühlt, als er fühlen sollte, hat eben ein anderes Temperament. Notierenswert ist bei dieser Strategie, daß sie die Vorstellung einer Beziehung zwischen motus harmonicus und motus antriae bewegt und damit der hier vertretenen These von der Isomorphie der Musik mit der Reproduktionsweise autopoietischer Systeme präludiert, verkürzt, könnte man sagen, um den motus societatis.36 Formuliert man probeweise parallel zu der Auffassung, daß Gefühle ins Bewußtsein immer nur als das geraten, was sie nicht sind, erhält man den Satz: Musik werde im Bewußtsein prozessiert als etwas, was sie nicht sei, und so merkwürdig sich das anhört: diese These ist angesichts einer Theorie autopoietischer Systeme nichts weniger als von trivialer Richtigkeit. Denn wenn zutrifft, daß Bewußtseine autopoietische, selbstreferentiell geschlossene Systeme sind, daß Bewußtsein ausschließlich eine Selbsttransformation von Gedanken mit Hilfe von Gedanken ist, dann bedeutet das: Musik kann im psychischen System nur als Gedanke bewegt werden. Sowenig, wie Elefanten im Bewußtsein zu spazieren pflegen, sowenig klingt und tönt es dort. Das Problem der Unbeobachtbarkeit von Musik in der für sie wesentlichen Hinsicht liegt tiefer. Musik drängt sich wegen ihrer organisierten Unterschiedenheit von anderen akustischen Ereignissen, wegen ihrer spezifischen Sequentialität dem Bewußtsein auf (weswegen ihr Kant einen Mangel an Urbanität vorwarf), aber ist nicht Bewußtsein. Anders als bei Sprache ist es nicht das Etwas einer Vorstellung, an das weiteres angeschlossen werden könnte, sondern es ist einzig die musikinvolvierte Zeitlichkeit selbst, die mit ihren 35 | Händels Messias adoptiert durch Textlichkeit (!) weltlich erotisch gefärbte Melodien. Bach verfuhr nicht selten ebenso. Vgl. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, a.a.O., S. 41f. 36 | Vgl. als Überblick Thieme, U., Die Affektenlehre im philosophischen und musikalischen Denken des Barock. Vorgeschichte, Ästhetik, Physiologie, Celle 1984.

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komplizierten Strukturen und Prozessen, mit ihren durch jeden Ton aufgeblendeten Erwartungshorizonten die Anschlußselektivität beinahe nolens volens determiniert. Was immer folgt, ist nicht beliebig (sieht man hier einmal von aleatorischen Experimenten ab, die ihren Sinn gegen diese Nichtbeliebigkeit gewinnen). Wenn das Bewußtsein versucht, die Referenz zu wechseln und Gedanken auf das Was des akustischen Ereignisses fokussiert, verstolpert es auf der Ebene seiner Operationen und gerät »außer Takt«. Genau diejenige hochorganisierte Temporalität, die das Entlasten von Reproduktionsdrücken ermöglicht (was dann alltäglich als Abschalten, Versinken, Wegtreten etc. erfahren wird), wird durch Fremdreferenz markierende Beobachtung – dies ist ein fis! –, durch auf der Ebene des Musikmaterials und der Musikorganisation diskriminierende Operationen verzerrt. Die Musik läuft weiter, und das Bewußtsein »vertritt«. Man kann, um eine andere Vergleichsebene zu bemühen, nicht tanzen, wenn man die dazu notwendigen Körperoperationen unter dem Schema richtig/falsch beobachtet, kann nicht wirklich Klavierspielen, wenn man ein as suchen muß, sein Musizieren nicht abstimmen mit dem anderer, wenn man sie auf das hin, was sie gerade tun, beobachten muß. Und ebenso schwierig ist es, im Wechsel der Referenz Gedanken darauf zu richten, was man erlebt, wenn man Musik erlebt, weil man damit die Eigenzeit des reflektierenden Bewußtseins gegen die Zeitlichkeit des gerade laufenden Stückes verschiebt. Musik ist Zeitkunst, sagt ein alter und gültiger Topos,37 bei dem wir nur die Prämissen umkehren und schon auf der Ebene der Elemente die basale Inhärenz von Zeit im Dauerzerfall der Elemente entdeckten. Musik bietet dem Bewußtsein komplex organisierte Zeit an, und die Organisation dieser Zeit ist »[…] isomorphic with or analogous to, or reminiscent of, or capable of giving rise to intuitions of or insights into some very deep and basic facets of life and reality«.38 Basal und tief, läßt sich hinzufügen, ist 37 | Zum Thema temps musicale gibt es Unmengen von Literatur. Vgl. Dahlhaus, C., Musikästhetik, Köln 1967, S. 112. Vgl. ferner als kleine Auswahl: Dietrich, F., Musik und Zeit, Kassel 1933; Brelet, G., Le temps musicale, Paris 1949; Briner, A., Der Wandel der Musik als Zeitkunst, Zürich 1955; Wiora, W., Musik als Zeitkunst, in: Die Musikforschung 10, 1957, S. 23-64; Klugmann, F., Die Kategorie der Zeit in der Musik, Diss. Bonn 1961; Ernst, A., Philosophische Untersuchungen zum Zeitbegriff in der Musik, Aachen 1973; für Notenbeispiele siehe Neumann, F., Die Zeitgestalt. Eine Lehre vom musikalischen Rhythmus in zwei Bänden, Beispielband, Wien 1955. 38 | Reimer, B., Information Theory and the Analysis of Musical Meaning, Council for Research in Music Education, Bulletins, 2, Winter 1964, S. 17.

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162 | Theorie als Lehrgedicht die Isomorphie der Temporalität von Musik mit der Temporalität autopoietischer Systeme, ihre organisatorische Affinität mit Leben, Geist und Sozialität. Musik erweist sich als perfekte Kopie eines der wesentlichen Organisationsprinzipien der psychischen und sozialen Welt: der Autopoiesis. Wenn behauptet wird, daß »musical intuition« nicht gelernt werden müsse, sondern Sache der »inherent organization of the mind« und »determined by the human genetic inheritance«,39 sei, dann wird es leicht sein, diese Aussage im Hinblick auf Autopoiesis zu reformulieren. Beobachtung von Musik im beschriebenen Sinne durchkreuzt gewissermaßen das Gesetz, nach dem Musik angetreten ist. Die Blindheit für das, was sich abspielt, wenn sich Musik abspielt, ist bedingt dadurch, daß Musik nur dann Relevanz gewinnen kann, wenn sie ihre Zeitlichkeit beobachtungsfrei im Hinblick auf diese Zeitlichkeit in den Dienst des Bewußtseins stellen kann. Die Reproduktion des Bewußtseins wird nicht substituiert durch die Reproduktion der Musik, sondern nur »festgehalten« auf der Ebene ihrer aktuellen Operationen, auf einer Ebene der Intransparenz. Wenn das Bewußtsein mit Musik arbeitet, kommt es sich selbst nicht in den Blick, und wenn es dies dennoch will oder soll (jemand hustet, im Radio knattert’s), weicht die Musik in die Zone des Rauschens zurück. Die Fatalität von Hintergrundmusik bei geselligen Gelegenheiten ist jedem Musikliebhaber nur allzu bekannt. Daß man aber wieder zurückkehren kann in die Musik nach einer Störung, läßt vermuten, daß Musik hinreichend redundant gebaut sein muß: die je versäumten musikalischen Ereignisse können durch plausible Hypothesen ersetzt werden.40 Das Bewußtsein arbeitet, wenn es mit Musik arbeitet, für einige Zeit indifferent gegen die Unterscheidung von Fremd- und Selbstreferenz und muß, wenn Musik aufhört, geradezu geweckt werden. Die Arbeit des Umschaltens ist dabei nicht einfach und wird mitunter als schmerzlich, als ein Sich-aufrappeln-Müssen, als eine sonderbare Öde empfunden, wenn ein Lied verklingt, ein Tanz beendet ist oder das Licht im Konzertsaal aufleuchtet. Es ist eben diese Umschaltarbeit, an die wir eine These zu Plausibilisierungszwecken anschließen, die in historischer Perspektive die Ausdifferenzierung von Musik zentral betrifft.

39 | Lehrdahl/Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, a.a.O., S. 281. 40 | Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Stichweh.

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V Wenn etwas kennzeichnend für Musik ist, wie sie alltäglich mehr oder minder elaboriert, mehr oder minder gepflegt begegnet (und wir klammern Avantgardismen hier bewußt aus), dann gewiß die Beziehung zwischen Spannung und Ruhelagen. Das Vorkommen dieser Relation wird typisch als Definitionsmerkmal von Musik gehandelt und an Tonalität geknüpft. Sie spannt das Gravitationsfeld auf, in das akustische Ereignisse als musikalische fallen können und in dem und gegen das überhaupt erst Spannungen aufgebaut, Spannungen gelöst werden können.41 Tonalität wird im Prinzip bestimmt durch die Tonika, und Spannung und Ruhelage profilieren sich an der Entfernung von oder Nähe zur tonikalen Grundkonstellation. Die Rückkehr zur Tonika wird (wie komplex und raffiniert auch immer gestaltet) als Ausschwingen aus Spannungslagen begriffen. Die Haupttonart eines Werkes wird mit Nachdruck versehen durch das Einmünden in den Akkord der I. Stufe, und dieser Nachdruck wird nachdrücklicher dann, wenn der Tonika die Dominante vorausgeht. Man hat dann die evolutionär folgenreiche Figur des authentischen Schlusses,42 die – um die Subdominante erweitert – zur Kadenz wird, zur Folge Tonika, Subdominante, Dominante, Tonika (I-IV-V-I). Man wird nicht fehlgehen (und nichts Neues sagen), wenn man feststellt, daß für ausdifferenzierte Musik die Komposition eines Werkes teleologisch, als Angelegenheit beendungslogischer Natur verstanden werden kann: es geht um das Fortspinnen und Entwickeln von Motiven, Themen, Perioden, und in jedem Anfang immer schon um das Ende. 43 Es liegt nahe, von der Position aus, die in dieser Arbeit diskutiert wurde, die vom Ende her bestimmten Anfänge, die von Anfängen her implizierten Schlußformeln als Pointierungen von Umschaltpunkten zu lesen. »Structural beginnings and endings of groups form significant articulation 41 | Für Tonalität als einziges echtes Definitionsmerkmal europäischer und europäisch angeregter Musik vgl. Blume, F., Was ist Musik?, in: Syntagma Musicologicum. Gesammelte Reden und Schriften, Kassel u.a. 1963, S. 872-886, hier S. 877f. 42 | Grabner, Allgemeine Musiklehre, a.a.O., S. 108, Anm. 36, weist mit Recht darauf hin, daß wir es hier mit tonalen Schlußformen zu tun haben, Schlußeffekte können beispielsweise auch durch Trommelwirbel etc., also rein rhythmisch erzielt werden. 43 | Die Komplexität der Anfangs-Ende-Relation diskutiert in anderen Zusammenhängen auch Schorr, K.E., Zur Konstruktion/Rekonstruktion pädagogischer Grundgedanken. Beitrag zur Tagung der Kornmission für Wissenschaftsforschung der DGfE in Nordhelle, Ms. Hamburg 1986, S. 2f. et passim.

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164 | Theorie als Lehrgedicht of a piece’s structure; structural endings are marked by conventional formulas (cadences of some kind)«.44 Kadenzen, Schlußformeln, erweisen sich bei näherem Hinsehen als Stop- und Startregeln in einem, als elaborierte Regelwerke für Übergänge, die es psychischen wie sozialen Systemen möglich machen, sich in die strenge Eigentemporalität musikalischer Werke ein- oder auszuklinken. Die Vorstellung, daß an Kadenzen sich Tonräume fixierten, wird von uns begriffen als eine raffinierte Konzeptualisierung des Umgangs mit Zeitlichkeit, als Ergebnis der Notwendigkeit, Zonen der Desimultanisierung oder Simultanisierung von Musikzeit und Bewußtseins- bzw. Sozialsystemzeit zu bekräftigen. Es läßt sich vermuten, daß an dieser Annehmlichkeit von Simultanisierungs- und Desimultanisierungsbereichen sich musikalische Evolution verdichtete. »Unter dem historischen Gesichtswinkel erscheinen die Intervalle als Klauseln, als typische Schlußwendungen von Einzelstimmen im mehrstimmigen Satz, deren immer gleichzeitiges Auftreten an Schlüssen nach langem Gebrauch ihr Zusammenwachsen zu einem typischen Schlußgebilde der Mehrstimmigkeit, der Kadenzen, ermöglicht oder erzwungen hat.«45 An Figuren des Schlusses – so eine These, die hier nicht mehr belegt werden kann – forcierten sich harmonische und späterhin kontrapunktische Entwicklungen, die in die hochkomplexe, gepflegte europäische Musik einmündeten. Im Gegenzug dazu läßt sich der beobachtbare Verlust an spezifischen Schlußwendungen bei modernerer Musik als Entdifferenzierung lesen, möglicherweise als (eigens zu begründende) Rechaotisierung. Hier soll nur festgehalten werden, daß das, was sich an Anfangs-/Ende-Markierungen demonstrieren ließ, auch noch für die durch diese Relation bestimmte Binnenmotorik musikalischer Werke gilt: Spannungs- und Ruhelagen, induziert durch Trugschlüsse (!), unaufgelöste Akkorde, rhythmische Abenteuerlichkeiten wie Synkopen etc., sind Temporalregionen drohender, aber nicht durchgeführter Desimultanisierung bzw. perfekter Simultanisierung, und es ist sicher kein Zufall, daß bei zunehmender temporaler Komplexität der Werke die Gestaltung von Schlüssen ein immer 44 | Lehrdahl/Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, a.a.O., S. 280. Hier muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß von europäischer und europäisch angeregter Musik die Rede ist. Es gibt selbstverständlich improvisatorische Formen etwa orientalischer Musik, die nicht anfangs- und endmarkiert sind. Vgl. Lissa, Z., Neue Aufsätze zur Musikästhetik, Wilhelmshaven 1975, S. 19. In diesem Zusammenhang und damit unsere Grundthese bestätigend führt Lissa das Boulezsche Diktum vom »vivre a l’interieur de la musique« an. 45 | Abraham, Harmonielehre. Der homophone Satz, a.a.O., S. 12.

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langwierigeres, ein immer artistischeres Unterfangen wird, wie umgekehrt Neue Musik Erwartungsdurchbrüche und Originalitäten nicht selten an Mangelschlüssen oder an Techniken der Desillusionierung (lies: Desimultanisierung) praktiziert. Möglicherweise verstößt sie damit (guten Rechts, aber mit Einbußen am Auditorium) gegen die Funktionsbedingungen von Musik und findet darin dann den Grund für die Rückkehr zu Archaischem – das kann aber und muß im Rahmen dieser Arbeit unentschieden bleiben. Sie konzentrierte sich auf Funktionsbedingungen von Musik und diskutierte sie am Beispiel der Funktionsweise psychischer Systeme. Treffen die Thesen zu, steht noch viel Arbeit ins musiksoziologische Haus. Wird sie aber geleistet, läßt sich vermuten, daß von ihr aus dann Raffinierungen der Theorie autopoietischer, sinnidentifizierter Systeme erwartet werden können.

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Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung

Die Medium/Form-Unterscheidung, wie sie Niklas Luhmann aus der Ding/Medium-Differenz von Fritz Heider abgezogen und für eigene Theoriezwecke präpariert hat1, ist bemerkenswert einfach gebaut. Es geht um den Unterschied von losen und festen Kopplungen in einer ›Materialität‹ gleichartiger Elemente, um die Notwendigkeit, daß die festen Kopplungen hinreichend zerfallsanfällig oder zerfallsfähig sind, damit neue enge Kopplungen möglich werden, dann um den Aufwand, der erforderlich ist, damit sich jene festeren Bindungen erzeugen und befristet stabilisieren lassen, schließlich um die ›Körnigkeit‹ der elementaren Einheiten selbst (also um die Form des Mediums) etc. Es genügt, über Sand und Fußabdrücke zu reden, um die Figur dieser Unterscheidung plausibel zu machen, und hat man dann die Figur verstanden, kann man eigentlich schon anfangen, mit ihr zu arbeiten. Es wäre daher kaum einzusehen, warum bei solcher Simplizität eigens Tagungen installiert werden, die sich nur mit dieser Figur auseinandersetzen, wenn es nicht eine Einfachheitsstörung gäbe, die sich aus dem dann wieder leicht verständlichen und eigentlich unstrittigen Tatbestand herleiten, daß jene Unterscheidung die eines Beobachters ist und nur die eines Beobachters sein kann.2 Selbst derjenige Beobachter, der mutmaßt, die 1 | Der Basistext ist Heider, Ding und Medium, a.a.O. Vgl. zur Anwendung in der modernen Systemtheorie die Literaturangaben in Fn. 59 auf S. 89 2 | Nur vorsichtshalber: Mit der Abbreviatur ›der Beobachter‹ ist hier in jedem Fall immer eine Abstraktionsebene instituiert, die nicht einen psychischen Beobachter meint, sondern eine spezifische Operativität, die Sinnsystemen zur Verfügung steht, seien sie sozial oder bewußt.

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168 | Theorie als Lehrgedicht Unterscheidung bezeichne einen Unterschied in der Welt, also so etwas wie vorkommende Medien und vorkommende Formen, äußert sich – als Beobachter: Er widerlegt sich im Moment, in dem er die beobachtungsfreie Existenz von Medien und Formen behauptet, weil er sagt (oder denkt), was er sagt (oder denkt).3 Es gibt in der Tat keine epistemologische Möglichkeit mehr, Äußerungen beobachtungsfrei zu stellen. Wenn man sich daran hält (und bei einiger Ernsthaftigkeit bleibt in dieser Hinsicht keine Wahl), dann zeigt sich sofort, daß die Medium/Form-Unterscheidung allerlei an Komplexität zu bieten hat.

I Unter der Voraussetzung, daß die Medium/Form-Unterscheidung die eines Beobachters ist, kann man sich darüber wundern, daß überhaupt (und wie) ein Beobachter auf diese Unterscheidung kommt. Denn es ist im Rahmen der hier zugrundegelegten Theorie weitgehend ausgemacht, daß alle sinnorientierten Beobachter bezeichnende Operationen durchführen, sich mithin immer (sei es befristet oder nicht) durch eine Bezeichnung auf die eine oder andere Seite einer Unterscheidung festlegen. Auch wenn man bei dieser Einschätzung die temporalen Verhältnisse so legt, daß die Unterscheidungen, die diese Situierung erlauben, durch weitere Bezeichnungsleistungen gleichsam nachträglich angesonnen werden4, daß sie also eine Virtualisierungsleistung beobachtender Systeme darstellen, bleibt es dabei, daß jede Beobachtung durch Bezeichnung Dinge und Verhältnisse erzeugt und nicht Nicht-Dinge und Nicht-Verhältnisse. Das gilt auch für die sogenannten Beobachtungsoperationen der zweiten Ordnung, die zwar nicht mehr Dinge bezeichnen, sondern Unterscheidungen, aber dies natürlich trotzdem tun: Unterscheidungen bezeichnen, sie also wie Dinge behandeln, die nur eine eigentümliche Struktur haben. Genau das ist ausgedrückt im beobachtungstheoretischen Basistheorem, das besagt, daß jede Beobachtung zweiter Ordnung auch eine Beobachtung der ersten Ordnung sei, oder besser: daß die Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung nur rein analytisch vorgenommen werden könne. In diesem Sinne verläßt keine Beobachtung die Immanenz, sie ist verdammt dazu, an der Welt zu kleben, eben weil sie die Bezeichnungsleistung nicht vermeiden kann. Daraus erklärt sich leicht, daß auch derjenige, 3 | Das gilt gerade für die Heidersche Konzeption, wie ich weiter unten zeigen will. 4 | Siehe zu dieser Verschiebung Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O.; ders., Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, a.a.O.

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der ein Medium bezeichnet, eine Form bezeichnet, nämlich die des Mediums, und daß derjenige, der die Unterscheidung Medium/Form bezeichnet, eine Form signiert und nicht ein Medium. Ein Beobachter kann, so scheint es, das Medium nur als Form entdekken. Und wenn das so ist, läßt sich die Frage formulieren, wie sich ihm das Medium ent-deckt, wenn es in der Bezeichnung seiner Form verschwindet, wenn das Oszillieren in der Unterscheidung von Form und Medium ein Oszillieren zwischen Form und Form ist. Wahrscheinlich bedarf es einer Störung, etwa der, daß ein Film plötzlich langsamer läuft, bis er zu ›rukkeln‹ anfängt und in einem gleichsam stoßenden, kaum merklichen Übergang zu einer Serie von Einzelbildern wird, die nicht der Film sind, oder der alkoholbedingten Wahrnehmungsstörung, die aus Texten nach und nach einen Tanz von Buchstaben macht – eines Übergangs jedenfalls, in dem (nirgends fixierbar) eine Form in eine andere rutscht oder kippt, wobei die Störung nicht auf der Seite des Beobachteten liegt, sondern irgendwie (klärungsbedürftig) auf der Seite des Beobachters, der plötzlich keinen Film mehr sieht oder keine Wörter und dann Erklärungen sucht für den Moment des Rutschens oder Kippens. Das Paradigma dafür mögen multistabile Kippfiguren sein.5 Man kann aber auch vermuten, daß das Interesse und der Zweifel an Emergenzphänomenen der gleichen Quelle entspringt, insofern Emergenz die Erklärung (oder besser: der Name für) eine Lücke ist, die ein Beobachter registriert, der sich an dem Problem stößt, daß er eben gerade die eine Form, dann die andere sah und zwischen beiden Formen – nichts. Interessant ist, daß diese Irritation nicht die eines gestörten, irgendwie defekten Beobachters ist. Daß die Bezeichnungsfunktion momentweise nicht funktioniert (sie kann nicht Zweierlei zugleich bezeichnen), kann leicht (und muß typischerweise) ignoriert werden. Man prüft den Filmprojektor oder trinkt einige Kannen Kaffee und geht dann zur Tagesordnung über. Solche Irritationen sind alltäglich und werden schnell bewältigt. Ein Problem tritt erst dann auf, wenn der Beobachter Sonderaufmerksamkeit für jenen Übergang oder für die Zeit dazwischen (zwischen der einen Form und der anderen) reserviert.6 Dafür muß es einen Bedarf geben, soziale Anlässe und Anreize, und eine Vermutung wäre es, daß die Erosion des Seins5 | Ich habe den Eindruck, daß diese Figuren (und vergleichbare Phänomene) aus diesem Grund seit etlicher Zeit thematisiert werden. Vgl. die Literaturangaben in Fn. 58 auf S. 115. Man kann zusätzlich an die Bénard-Instabilität denken, Escher heranassoziieren und ferner daran erinnern, daß in der frühen Gestaltforschung (etwa Köhler) jenes Kippen als Aufmerksamkeitserlahmungen des Beobachters diskutiert wird. 6 | Besonders interessant ist, solche Aufmerksamkeit auf den Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf zu adressieren. Das Problem wird sofort griffig.

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170 | Theorie als Lehrgedicht und Dingschemas, die mit der Neuzeit beginnt (sie gleichsam markiert) und sich ausmünzt als zunehmende Kontingenz jeder Beobachtung, mehr und mehr solche Anlässe schafft (und begünstigt), in denen es unklar ist, ob das alte tertium non datur noch in Kraft ist oder nicht. Erst dann könnte es notwendig werden, die Dinge und Verhältnisse (die Formen) als gleichsam aufspringend und zurückspringend aufzufassen, ein Auf/Zurück, das dazu zwingt, nach dem zwischenzeitlichen Verbleib zu fragen, nach einem Ort, von dem aus die Formen in die Sicht und aus der Sicht eines Beobachters springen.7 Dieses Meanwhile (die Supposition eines Hintergrundes, eines Woraus der Form) erhält dann irgendwann den Titel des Mediums (oder entsprechender Äquivalente wie Substrat, Materie) – ein Prozeß, der eigener Würdigungen bedürfte. Hier genügt, daß die Heidersche Ding/Medium- und die Luhmannsche Medium/Form-Unterscheidung im 20./21. Jahrhundert zur Verfügung stehen, und zwar als Unterscheidungen, die bezeichnet werden können.

II Im Moment, in dem die Unterscheidung Medium/Form bezeichnet werden kann, fallen massiv Naivitätsverluste an. Der quasi naturale Einsatz des Schemas (es gibt Medien, es gibt Formen) wird unterlaufen dadurch, daß eine Unterscheidung beobachtet wird, die genau deshalb, weil sie beobachtet wird, als anders möglich, als artifiziell erscheinen muß. Man kann die Unterscheidung nicht bezeichnen, ohne sie von anderen Unterscheidungen zu unterscheiden, etwa von Substanz/Akzidens, Chaos/Ordnung, Form/ Inhalt etc. Heider (und dann in viel bewußterem Ausmaß Luhmann) führen mit Ding/Medium bzw. Medium/Form die Kontingenz ihrer Unterscheidungen selbst ein, indem sie sie als Unterscheidungen signieren.8 Sie hieven Formen und Medien, die bis dahin natural beobachtet wurden, auf das Beobachtungsniveau zweiter Ordnung. Die Beobachtung dieser Unterscheidung beobachtet, daß mit dieser Unterscheidung beobachtet werden kann, nicht: muß. Man könnte, wenn man Lust auf Zuspitzungen hat, sagen, daß die Bezeichnung des Schemas identisch ist mit einer Verwendungs- oder Anwen7 | Und wenn man dieses Aufspringen (déhiscence) nicht will, weil die Dinge dauern, benötigt man Zusatzannahmen über die creatio continua beispielsweise oder einen Berkeleyschen Beobachter (Gott), der die Dinge im Sein hält auch dann, wenn sie gerade nicht beobachtet werden. 8 | Ich werde weiter unten zeigen, daß Heider – bei Licht besehen – keine Kontingenzvermutung hegt.

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dungskatastrophe ebendieses Schemas.9 Im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung werden schließlich nicht Unterschiede bezeichnet, die in der Welt (da draußen) Unterschiede machen, sondern Unterscheidungen bezeichnet, die sich von anderen (und anders möglichen) Unterscheidungen unterscheiden. Insofern kann man schon an dieser Stelle behaupten, daß die Beobachtung des Schemas keineswegs die Qualitäten des Formhaften oder Medialen als beobachtungsexterne Größen vorfindet.10 Die Medium/Form-Unterscheidung wirkt (beobachtet) komplett de-ontologisierend, und das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß sie auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung situiert ist. Darin liegt für diejenigen, die sich mit Medien und Formen in Medien beschäftigen, eine eigentümliche Sprengkraft. Sie können das Schema heuristisch einsetzen, aber sie müssen auf ein Heureka-Erlebnis verzichten, jedenfalls dann, wenn die Heuristik dem Zweck dienen sollte, etwas zu finden. In gewisser Weise findet sich das Schema immer selbst, es verweist (weil es als Schema bezeichnet wird) auf sich zurück. Oder anders gesagt: Ein Beobachter, der es zugrundelegt, landet – bei sich.11 Er kann das Schema nicht gleichzeitig beobachten und benutzen, und wenn er dies nacheinander versucht, kann er die Information, daß er es mit einem Schema zu tun hat, nicht oder nur mühsam unterdrücken. Er lernt, wenn man so will, daß es eine Entscheidung ist (und immer nur die Entscheidung eines Beobachters), was jeweils als Medium und was jeweils als darin eingeschriebene Formenwelten behandelt werden soll, und: daß es die Entscheidung weiterer Beobachter ist, ob sie an dieser Entscheidung anschließen oder nicht. Entscheidungen sind (wenn man sich nicht dazu entschließt, sie tautologisch als Wahl einer Alternativenseite aufzufassen) gekennzeichnet dadurch, daß sich an ihnen ein Vorher/Nachher beobachten läßt, ein Vorher, das als Möglichkeitsspielraum erscheint, ein Nachher, das diese Möglichkeiten fixiert, also Kontingenz gleichsam sichtbar macht in dem Sinne, daß 9 | Die Kontingenz der modernen Gesellschaft könnte genauso als Verwendungs- und Anwendungskatastrophe gedeutet werden, die durch die Beobachtung zweiter Ordnung nolens volens ins Spiel kommt. 10 | Das schließt nicht aus, daß man beobachten kann, wie jemand (ein Beobachter erster Ordnung) die eine oder andere Seite des Schemas bezeichnet. Aber das ist ja eben der Beobachter, der im Schema wohnt, so daß es für ihn verschwindet. 11 | Im Normalfall (und das war auch mein Eindruck bei dieser Tagung) muß er sich darum bemühen, zu vergessen, daß er ein Schema beobachtet hat, das er nun plötzlich anwendet als ein Beobachter erster Ordnung. Er gerät sozusagen in ein beobachtungstechnisches Oszillieren, aus dem er sich mitunter heraushilft durch ständig angezeigte Gänsefüßchen.

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172 | Theorie als Lehrgedicht man jetzt weiß, daß anders hätte entschieden werden können. Und dann kann die Suche danach aufgenommen werden, warum gerade so und nicht anders entschieden wurde. Sieht man dann, daß mit der Einführung der beobachteten Unterscheidung Medium/Form und mit dem Entschluß, sie zu benutzen, Dezisionismus nicht vermieden werden kann, muß man also nicht schon deshalb automatisch auf die Untauglichkeit des Schemas durchschließen. Die Frage ist vielmehr, ob das Schema funktioniert, ob seine Verwendung zu plausiblen (anschlußfähigen) Ergebnissen führt oder nicht. Die Prüfung auf Plausibilität kann sich dabei des Umstandes bedienen, daß das Schema Medium/Form ein konditioniertes Schema ist. Es ist nicht beliebig verwendbar, insofern die Form immer als engere Bindung loser Elemente gedacht ist, das Medium dabei homogen vorgestellt wird (als Menge gleichartiger Elemente). Ferner muß sich ein Moment von outer determination finden, ein Energieaufwand, der die Elemente befristet in eine Verklebung desselben in demselben überführt. Unverzichtbar ist, daß die Formen wieder zerfallen können, also Negentropie nur befristet stabilisiert werden kann etc. Wichtig ist, daß diese Plausibilitätstester sich auf Konditionierungen des Schemas beziehen (mit ihm kann im Rahmen dieser Theorie nur so gedacht werden), nicht aber auf Eigenschaften von Entitäten wie Formen und Medien. Wenn man sich entschließt, Wasser als ein Medium aufzufassen, dann wird einleuchten, daß Wellen für einen Beobachter Formen in diesem Medium sein können. Es wird aber nur unter Bedingungen poetischer Lizenz evident sein, daß Quallen strukturiertes Wasser sind.12 Es ist denkbar, Tondifferenzen im tonalen System als Medium der Musik aufzufassen, aber genau dann wird fraglich, ob sich die Musik der Avantgarde noch in dieses Medium einschreibt – als Form, die Tondifferenzen bindet. Wenn man sagt, daß Film ein Medium sei, werden homogene Elemente konstruiert werden müssen, die zu Formen (Filmen?) gekoppelt werden können etc. Fallen dann Inhomogenitäten an, wird die Ausgangsthese zu prüfen sein.13 Kurz, vielleicht darf man formulieren, daß ein konditioniertes Schema 12 | Vgl. zu dieser Metapher den Artikel von Coniff, R., Giftige Grazien, in: National Geographic Deutschland, Juni 2000, S. 138ff. 13 | Übrigens argumentiert schon Heider, Ding und Medium, a.a.O., S. 123 ganz ähnlich: »Es geht nicht an, willkürlich etwa ein paar Teilchen des Stuhles und ein paar Teilchen der Luft zu einer Einheit zusammenzufassen. Es käme eine sinnlose Einheit heraus.« Aber da Heider noch nicht der beobachtungstheoretischen Subversion ausgesetzt war (oder sich ihr nicht aussetzen ließ), kann er dann sagen, daß die »Einheit des Stuhls« objektiv sei.

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dieses Typs den Beobachter, der es als Schema bezeichnet, kontrolliert bzw. ihn für weitere Beobachter kontrollierbar macht.14 Wenn es so ist, daß die Beobachtung des konditionierten Schemas Medium/Form den Beobachter in gewisser Weise de-arbitrarisiert, dann stellt sich die Frage, wer oder was die Leistung der Konditionierung erbringt. Die Antwort liegt auf der Hand: Ebendies ist die Leistung von Super-Schemata, die gewöhnlich Theorien heißen. Sie liefern ein Kompendium von Unterscheidungen, die (in der Wissenschaft) untereinander logisch konsistent zu sein haben und die Programme orientieren, die als Forschung aufgefaßt werden. Und wenn man das probeweise konzediert, dann könnte man daran denken, daß das Medium/Form-Schema in post-ontologischen Theorien in die Funktionsstelle eintritt, die man klassisch Gegenstandsbezug nennt. Das Schema (erst einmal beobachtet) substituiert so etwas wie die stille Hintergrundsannahme einer korrespondierenden Phänomenalität. Nicht die Gegenstände (die Phänomene) kontrollieren die Theorie, sondern Beobachter Beobachter, oder besser: beobachtende Operationen beobachtende Operationen.15 Die Medium/Form-Heuristik inszeniert nicht Dinge, Verhältnisse, Medien, Formen. Sie aktiviert statt dessen weitere Beobachtungen, die die Effekte des Einsatzes des konditionierten Schemas auf Plausibilität oder Anschlußfähigkeit hin durchprüfen. Die Rejektion einer korrespondierenden Phänomenalität trifft aber nicht nur prämoderne Theorien, sondern hat unmittelbar etwas mit dem Zentralproblem der Beobachtungstheorie zu tun. Wenn nämlich Beobachtungstheorie (und im weiteren Sinne: der Konstruktivismus in seinen diversen Spielarten) nicht als eine mehr oder minder radikale Fortführung des Solipsismus-Problemes aufgefaßt werden soll, dann muß sie in die Welt der Konstruktionen einen selbst nicht konstruierten Ankerpunkt hineinvermuten, etwas, das nicht selbst bedingt ist durch Beobachtung, sondern un-bedingt.16 Das Unbedingte dürfte dabei nicht selbst beobachtet werden können (sonst wäre es bedingt). In der modernen Systemtheorie verschwindet deshalb, wann immer ein Beobachter etwas sagt, der Beobachter. Er kann, genau besehn, nur erschlossen werden durch weitere Beobachtungen, die aber an ihren Zeitstellen selbstblind sind, also ebenfalls: verschwin14 | In etwas kryptischer Formulierung: Das Schema beobachtet – zurück. 15 | Das entspricht auch der allgemein systemtheoretischen Annahme, daß der Realitätseindruck sich als Widerstand von Operationen gegen Operationen einstellt und nicht als die Epiphanie eines Objektes, das anders ist, als erwartet wurde. 16 | Wir reformulieren damit für philosophie-geschulte Ohren die zentrale Aporie des Schellingschen Frühwerkes. Siehe dazu Rudolphi, M., Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk, Schellingiana Bd. 7, Stuttgart 2001.

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174 | Theorie als Lehrgedicht den. In der Sprache Schellings bleibt dann nur ein Dogmatismus (es gibt Systeme, es gibt etwas) oder ein Skeptizismus (es gibt allenfalls den Konstrukteur, das Hirn, den Beobachter). Bezogen auf Konstruktivismus, lassen sich dann pragmatische Varianten unterscheiden (irgendwie gibt es …) und radikale Varianten (eigentlich gibt es nur …). An alle Varianten lassen sich komplizierte erkenntnistheoretische Erwägungen anknüpfen. Die Medium/Form-Unterscheidung stellt sich aber, wie es scheint, weder dem Unbedingtheits- noch dem Bedingtheitsproblem. Sie kennt (und immer wieder: insofern sie bezeichnet wird) keine Gegenstände, keine Subjekte, keine Objekte. Sie ist produktiv (also im Sinne Schellings praktisch), weil sie das Land, auf dem sie geht, selbst erzeugt und es weiteren Beobachtern überläßt, ob der Boden, auf dem zu gehen sie sich entschlossen haben, trägt oder nicht trägt. Man kann nun Niklas Luhmann als einen weiteren Beobachter der Heider-Unterscheidung Medium/Ding auffassen, der hoch selektiv wenige Motive dem Heider-Text entnimmt, man könnte fast sagen: ihn bis zur Unkenntlichkeit filetiert.17 Die Ursache dafür könnte gerade die sein, daß Fritz Heider die Anwendungskatastrophe, die mit der Beobachtung des Schemas auftritt, nicht registriert hat.

III Heiders Fragestellung ist, gemessen an den oben vorgenommenen Überlegungen, ganz anders zugeschnitten. Sie steht im Kontext des Bedingtheitsund deshalb Unbedingtheits-Denkens, das sich genötigt sieht, auf Objekten des Erkennens zu bestehen und dabei eine Außenwelt anzunehmen, die eigene Strukturen und Bewandtnisse hat, die nicht nur erkannt werden können, sondern das Erkennen selbst bedingen. »Gibt es also eine für das Erkennen maßgebende Struktur der Außenwelt und wie ist sie beschaffen?«, lautet die Heidersche Ausgangsfrage. Und die vorweggenommene Antwort ist: »[…] daß eine solche Struktur tatsächlich im Objektiven vorhanden ist […].«18 Wie bekräftigungsbedürftig diese Ontologie ist, zeigt sich an der rhetorisch (und nur so) wirksamen Figur des »tatsächlich« und dem expliziten »vor-

17 | Daß Luhmann die Differenz herausnimmt und anders einsetzt, kann man ihm so wenig oder so viel zum Vorwurf machen, wie man es Habermas vorwerfen oder nicht vorwerfen kann, der sich ebenfalls und eingestandenermaßen »fremde Zungen […] auf brutale Art und Weise zu eigen« macht. Vgl. Habermas, J., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M. 1985, S. 206. 18 | Heider, Ding und Medium, a.a.O., S. 110.

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handen«, kombiniert mit der Raummetapher, die jene Struktur in einer nicht subjektiven (externen) Welt situiert.19 Mit der Frage nach der »maßgebenden Struktur der Außenwelt« wird ein Arrangement von Unterscheidungen möglich, die den Beobachter ausklammern und an Medien und Dingen Eigenschaften adressieren wie an Seinsverhältnisse. So wird unterschieden zwischen Eigenschwingung und aufgezwungener Schwingung.20 Eigenschwingungen sind innenbedingt, die aufgezwungenen Schwingungen unterscheiden sich nach solchen, die komplett außenbedingt sind und sich von dieser Bedingtheit nicht emanzipieren können21, und nach solchen, die auf Anstöße hin ein eigenes Geschehen entfalten. Dieses Geschehen stellt eine Einheit dar, in der jede Schwingung durch den vorangegangenen Zustand erzeugt wird und selbst den nachfolgenden Zustand erzeugt. Die Einheit ist genau darin begründet, daß sich kein Moment des Zusammenhangs herauslösen läßt.22 Die komplett aufgezwungene Schwingung dagegen ist keine Einheit, sondern eine Vielheit, bei der »zwischen den Teilen des Vorganges […] keine wesentliche Kausalverbindung (besteht), da jeder Teil von außen kausuiert wird.«23 Gestaltbildung (i.e. Formbildung im Sinne der Luhmannschen Terminologie) ist nur in solchen Vielheiten möglich, deren Teile weitgehend voneinander unabhängig sind. Mit dem Maß der Unabhängigkeit der Teile nehmen die Genauigkeitsmöglichkeiten der Gestaltung zu. Mit der Unterscheidung von Einheit und Vielheit meldet sich aber ein (heute als Irritation des Beobachters) deutbares Problem: Wie kann die Einheit der angestoßenen Eigenschwingung von der Vielheit der aufgezwungenen Schwingung separiert werden?24 Wie kann jemand erkennen, daß ein schwingendes Medium ›eigenschwingt‹ oder ›fremdschwingt‹?25

19 | Gemessen an dem schon damals grassierenden Problembewußtsein, erscheint die Fragestellung nicht nur retrospektiv seltsam anachronistisch. 20 | Ebenda, S. 117ff. 21 | Heiders Beispiel ist das einer mit der Hand durchgängig geführten Kugel im Unterschied zu einer, die einmal angestoßen wurde, dann aber von selbst läuft. Die Idee der geführten Kugel ist, von heute aus gesehen, unkybernetisch gedacht. Auch Piaget hätte mit seinem Schema der Assimilation/Akkomodation Einwände erhoben. 22 | Heider spricht von Teilen, die voneinander abhängen, und tatsächlich operiert der Text durchgängig auf der Basis der Ganzes/Teil-Unterscheidung. Ich komme darauf zurück. 23 | Ebenda, S. 117. 24 | Ebenda, S. 119f. 25 | Der Beobachter meldet sich in dem Wort »gedanklich«: »[…] wie ist es mög-

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176 | Theorie als Lehrgedicht Die Frage wird überraschend beantwortet. Die Gestalten, die im Medium entstehen, bilden eine Ordnung, die ding-analog, aber kein Ding ist. Was sich zeigt, sind Quasi-Dinge im Modus des Als-ob. Eine erste Konsequenz ist zentral: Die Medium/Ding-Unterscheidung unterscheidet bei Heider keineswegs einen Unterschied-im-Selben.26 Die aufgezwungenen Ordnungen (Gestalten) erscheinen in echten Vielheiten, und sie sind deshalb: falsche Einheiten. Die Unterscheidung echt/falsch ist eindeutig onto-semantisch. Es gibt Dinge und Medien, aber echte Dinge und falsche Dinge, echte Einheiten und falsche Einheiten, echte und falsche Vielheiten.27 Der Gedanke der falschen Einheiten wird benötigt, um die Vorgänge im Medium auf Erkenntnisprozesse beziehen zu können. Diese Vorgänge, bezogen auf Wahrnehmungsprozesse, durch die wir »Kunde von den Dingen« erhalten, sind, wie wir gesehen haben, falsche Einheiten, die nicht in sich begründet sind. Sie sind nicht die Dinge (deswegen sind sie falsch) und verweisen auf Grund dessen, was sie nicht sind, auf eine »einheitliche Ursache«, die ihnen extern ist.28 Insofern fungieren sie als Zeichen, die auf eine Quelle zurückführen, die die echte Vielheit als falsche Einheit erscheinen läßt. Das Medium ist zwar als falsche Einheit strikt geordnet, aber es organisiert sich nicht selbst. Die falsche Einheit ist ein Oktroi. Das Zeichen, als das dieser Oktroi gelesen werden kann, bezeichnet einen mediumexternen Hintergrund, eine Struktur der Welt, die erkannt werden kann: durch Inferenz auf einen ›Zeichengeber‹. Genau in diesem Sinne vermitteln Medien Erkenntnisse und Erkenntnis.29 Die Dinge, das sind die echten Einheiten, die durch Rückschluß durch die falschen Einheiten hindurch errechnet werden können. »Diese großen überelementaren Einheiten haben nun ihre Ganzeigenschaften.«30 Der Sessel ist weicher als ein Stuhl, Tücher auch, Stahlplatten nicht. Das Ding (das echte Ding) hat eine Reihe solcher Eigenschaften, zwischen denen, weil lich, sie gedanklich als Einheit zu behandeln?« (S. 119). Aber er verschwindet sofort wieder. 26 | Wiederum in moderner Terminologie: Sie ist nicht re-entry-fähig. 27 | Vgl. ebenda, S. 129. Es ist, glaube ich, klar, daß Niklas Luhmann die Unterscheidung von echt/falsch nicht übernehmen kann. Das liegt an der deutlich reifizierenden Einstellung Heiders, die (wenn wir an Plausibilitätstests denken) erheblich aus dem Ruder laufende Unterscheidungen produziert. Der Fall liegt genauso wie der, daß ein Wissenschaftler echte und falsche Liebe unterscheiden wollte. 28 | Ebenda, S. 120f. 29 | Dahinter steckt, wie sich leicht zeigen ließe, eine sehr schwache Zeichentheorie. Das sage ich nicht, um Heider anzugreifen, sondern um klar zu machen, warum Luhmann Heider filetiert. 30 | Ebenda, S. 124.

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sie Eigenschaften des Ganzen sind, Beziehungen herrschen, die sich als invariant begreifen lassen gegenüber den Elementen, aus denen sie sich zusammensetzen. Das Heidersche Beispiel ist die Ganzeigenschaft der Kugelförmigkeit. Sie läßt sich aus sehr verschiedenen Elementaritäten bilden, aus Eisen, Holz, Porzellan. Solange die dann entstehenden Kugeln fest sind, haben sie die weitere Ganzeigenschaft der Rollbarkeit, und wiederum ist es (bis auf die Festigkeit) gleich, aus welchem Substrat die Kugeln bestehen. Einheiten, die in dieser Weise verschiedene Ganzeigenschaften kombinieren, sind (und Heider bezieht sich auf Köhler) als Dinge (als Invarianzen gegenüber den Teilen) begreifbar. Heider praktiziert mithin (man muß sagen: bedenkenfrei) die Ganzes/Teil-Unterscheidung. Deshalb kann er die Welt als »Stufenordnung von ineinander geschachtelten Dingen, Einheiten« beschreiben, die sich (und wiederum: »tatsächlich«) in der Welt vorfinden lassen31 und zwischen denen klare (nicht-dämonische) Kausalitäten laufen. Diese Welt enthält die Domäne, in der wir selbst leben, und in dieser Domäne (wesentlich auf der Erdoberfläche) stoßen wir auf die Dinge, die für uns als echtes Einheitsgeschehen wichtig sind, und auf die Medien, die aus Anlaß von Aufzwingungen (outer determinations) ihre Elemente zu falschen Einheiten arrangieren. Die großen Einheiten (die Dinge) inszenieren Geschehnisse, die für uns von entscheidender Bedeutung sind. Die Medien (als nur statistisch erfaßbare Mikrodiversität) sind demgegenüber bedeutungslos. Sie sind »leer in Bezug auf unsere Ordnung«.32 Wichtig sind sie nur in der Funktion, daß sie »Kunde von Dingen« verschaffen. Die Kunde ist nicht das Ding, und Heider bekräftigt diesen Gedanken, wenn er ausführt, daß auch die Weise, wie wir das Ding sehen (die »Lichtwellenmannigfaltigkeit«, die von ihm ausgeht) eine falsche Einheit darstellt. Was ich von einem Stuhl sehe, ist nicht der Stuhl. Der wahre Stuhl (der Zeichengeber, die Quelle) steckt dahinter. Die Mediennachricht vom Ding ist lage- und beleuchtungsabhängig, das Ding ist demgegenüber invariant. Allerdings sortiert sich das Medium (hier: Licht) im Blick auf Festdinge immer ähnlich, weil die Dingeigenschaften es immer auf ähnliche Weise koppeln. »Nun, die Ordnung, die in der einem Ding zugeordneten Lichtwellenmannigfaltigkeit liegt, ist freilich nicht so äußerlich räumlich oder zeitlich. Trotzdem sind diese Lichtwellen irgendwie miteinander gekoppelt, weil die Punkte gekoppelt sind. Diese Lichtwellen treten immer zusammen auf, freilich immer etwas geändert […].«33 Und dann folgt der Schlüsselsatz: »Es ist in ihnen eine Ordnung ent31 | Ebenda, S. 125. 32 | Ebenda, S. 130. 33 | Ebenda, S. 135.

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178 | Theorie als Lehrgedicht halten, die nur durch den Rückgang auf das entsprechende Ding sinnvoll wird.«34 Hier zeigt sich noch einmal deutlich, daß die Ding/Medium-Unterscheidung eigentlich keine Verwandtschaft unterhält mit der Luhmannschen Form/Medium-Unterscheidung, die es an keiner Stelle gestattet, auf Formen und Medien, die es gibt, durchzuschließen, geschweige denn: echte und falsche Formen zu differenzieren.35 Statt dessen findet sich die Form der Form/Medium-Unterscheidung, wie Luhmann sie eingeführt hat, eher in dem Abschnitt Spuren als Vermittlungen.36 Dabei ist der term Spur auf Statisches bezogen, auf Lageveränderungen von Dingen bzw. Veränderungen an weichen Dingen. Die Spur ist eine Unterscheidung desselben-indemselben. Sie wäre, von Luhmann her gesehen, die Form. Heiders Aufsatz schlingt sich noch über viele Unterscheidungen hin. Das Ergebnis: »Es gibt Vermittlung und Vermitteltes.«37 Das Vermittelte, das sind die Dinge, die sich selbst bedingen, eigenschwingende Knoten, an die sich Fremdbedingtes »anschmiegt«. Die Dinge sind echte Einheiten, das Fremdbedingte konstituiert sich auf der Basis von Vielheit. Die Vielheit kleiner, voneinander unabhängiger Teilchen läßt falsche Einheiten, scheinbare Einheiten zu, die aber als falsche Einheiten auf eine »echte einheitliche Ursache« zurückzuführen sind. Die falschen Einheiten sind Zeichen, die Nachricht geben von den »eigenbedingten Kernen«. Diese Kerne sind zumeist »großdingliche Einheiten«, die auf der Erdoberfläche die »Großdingwelt« arrangieren, die für unsere (humane) Lebensbewältigung von Bedeuten erscheinen. Durch die falschen Einheiten hindurch läßt sich das »einheitlich Zugrundeliegende« erkennen.

34 | Ebenda. 35 | Es ist deshalb kein Zufall, daß im Titel des Heider-Textes »Ding und Medium« steht, eine bloße Reihung, die als Unterscheidung beobachtet werden kann, aber nicht als Bezeichnung einer Unterscheidung, die eine Einheit hätte. 36 | Ebenda, S. 139f. 37 | Ebenda, S. 156f.

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Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch

Wenn es um die Frage der Bedingung der Möglichkeit von (soziologischer) Erkenntnis geht, und wenn diese Frage gerichtet wird an die Systemtheorie der Bielefelder Provenienz, dann erhält man ein Antwortpaket, in das verschiedene Motive und Aspekte der Theorie hineinverschlungen sind, die untereinander keine hierarchischen (deduktiven oder induktiven) Beziehungen unterhalten, sondern eher heterarchisch verknotet sind und eine Gemengelage darstellen, in der Führungswechsel leitender Motive vorgesehen sind und in der sich von jedem gerade führenden Motiv aus Re-Arrangements des Erkenntnisproblems ergeben. Deswegen ist jeder (durch Textualität erzwungene) Bau von Sequenzen, in denen bestimmte Theoriemotive auf bestimmte folgen und anderen vorangehen, eigentümlich künstlich. In einer Metapher, die keinen Anspruch auf große Tragweite erhebt, könnte man vielleicht sagen, daß diese Theorie holographisch oder hologrammatisch abgebildet werden müßte, aber vorab nicht so abgebildet werden kann. Alle folgenden Überlegungen sollten unter dieser Kautele gelesen werden.

I Historisch gesehen, startet die Systemtheorie, wie sie durch Niklas Luhmann ausgebaut und zum Teil neu entwickelt wurde, auf den ersten Blick als funktionalistische Theorie. Erst ein zweiter und genauerer Blick zeigt, daß diese Theorie selbst nicht die Eigenschaften eines wie immer gearteten Funktionalismus hat, sondern die funktionale Analyse als Methode reflektiert (also eine Theorie dieser Analyse liefert), die zentral an die Stelle zwischen Theorie und (Re-)Konstruktion des Phänomenbereiches Sozialität plaziert

2004-06-08 14-12-57 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 179-193) T01_09 kap 8.p 54824657768

180 | Theorie als Lehrgedicht wird unter Einschluß der Rekonstruktion der dies rekonstruierenden Theorie.1 Funktionale Analyse ist, so gesehen, eine Theorietechnik, durch die das wissenschaftliche Abtasten von Differenzen, das der Informationsgewinnung dient, in eine besondere Form gebracht wird.2 Mit anderen Worten (bezogen auf ein häufig vorzufindendes Mißverständnis): Die Theorie der Methode ist nicht identisch mit der Methode der Theorie.3 Jene besondere Form ist gekennzeichnet dadurch, daß sie doppelt angreift: Das, was als vorkommend, als gegeben, als Realität behandelt wird, sieht sich dem Licht anderer Möglichkeiten ausgesetzt, es wird – in der modallogischen Bedeutung dieses Wortes – kontingent gesetzt, es unterliegt der Strategie einer Virtualisierung.4 Damit verknüpft wird der Versuch, Verschiedenes und Verschiedenartiges in einen Horizont der Vergleichbarkeit einzurücken. Was immer im Fokus des Erkenntnisinteresses steht, wird dann auf Problemgesichtspunkte bezogen, durch die sich verschiedene Problemlösungen des Problems in eine Reihe funktionaler Äquivalente stellen lassen.5 Das Schema Problem/Problemlösung ist aber nicht in die Luft gebaut, es ist direkt bezogen auf »Problem-Systeme (bzw. Systemprobleme)«.6 Es macht nur Sinn, von Problemen zu reden, wenn sie als strukturgenerierende Momente von Systemen aufgefaßt werden können, deren Kombinationsspielräume für Ereignisse (Strukturen) bzw. Selektivitätsverstärkungsein1 | Ich beziehe mich im weiteren auf Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 83ff. et passim. 2 | Als Technik sei sie, sagt Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 83, mit der Mathematik vergleichbar. 3 | In gewisser Weise kann man sagen, daß die funktionale Analyse die Methode ist, mit deren Hilfe die Theorie die ›Erzählungen‹ generiert, die sich (im Unterschied zu ihr selbst) testen lassen. Siehe dazu Fuchs, Theorie als Lehrgedicht, a.a.O. 4 | Der wichtige Punkt ist: Die Analyse hat die Form von Sinn (welche sonst?), aber im Moment des Setzens anderer Möglichkeiten wird die Form von Sinn auf sich selbst angewandt. 5 | Aufklärungsbedürftig ist dann das WAS dieses Erkenntnisinteresses. In der älteren Form der neueren Systemtheorie ist die Antwort, daß es um wirkliche Systeme geht, die durch erkenntnistheoretische Zweifel nicht tangiert werden. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 30. Später (und wir kommen darauf zurück) wird die Figur des re-entry, die dem Kalkül Spencer-Browns abgewonnen wurde, in eben dieser Hinsicht wichtig, mit ihr zugleich die der Beobachtung, die das System erzeugt, das Beobachtungen erzeugt. Vgl. jedenfalls Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O. 6 | Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 84.

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richtungen (Prozesse) als Problemlösungen (also funktional) zu thematisieren sind. Das System-im-Brennpunkt, heißt das, de-arbitrarisiert die Problemkonstruktion. Es offeriert dem Beobachter nicht beliebige, sondern spezifische Ereignisverkettungen, und die Rekonstruktion dieser Spezifik setzt funktionale Analyse als Methode voraus.7 Dabei geht es kaum darum, ›wirkliche‹ Kausalitäten zu ermitteln (das ist eigentlich seit Kant ausgeschlossen), sondern darum, verschiedene, funktional äquivalente Kausalattributionen zu vergleichen, mithin die Schemata Problem/Problemlösung, Kontingenz/Notwendigkeit und Ursache/Wirkung im Schema des Vergleichs zu kombinieren.8 Die Theorie liefert, wenn man so sagen darf, das begriffliche Arsenal, mit dessen Hilfe Problemkonstruktionen arrangiert werden. Es ist ein Unterschied für Problemdefinitionen, ob eine Theorie mit der System/Umwelt-Differenz arbeitet und auf die Seiten der Differenz bewußte bzw. soziale Systeme so verteilt, daß sie gegeneinander geschlossen und ausschließlich Insider-ihrer-selbst sind, oder ob sie Systeme ansetzt, die neben Kommunikation und Handlung auch noch Bewußtsein enthalten und als diese Gesamheit Bestandserhaltungsprobleme regulieren müssen.9 In dem einen Fall geht es um die Stabilisierung einer Differenz zwischen ereignisbasierten Systemen, die von einem Ereignis zu einem anderen Ereignis (in der Weise einer creatio continua) kommen müssen, in dem anderen Fall um die Stabilisierung eines Systems. Und je nachdem, wie theoretisch optiert wird, entscheiden die theoretischen Rahmenbedingungen, ob Begriffe wie strukturelle Kopplung und Autopoiesis zum Ausgangspunkt der Problemkonstruktionen werden oder nicht. Entscheidet man sich beispielsweise für strukturelle Kopplung, werden Medien, in denen gekoppelt wird, vergleichbar (Sinn? Sprache? Körperverhalten? Musik etc.?), und im Vergleich ergeben sich instruktive Limitationen oder Unterschiede (Musik eher selten, Sinn immer, Sprache meistens, Körperverhalten unter Sonderbedingungen etc.). Die Bewandtnisse der je 7 | Natürlich können Beobachter beliebige Unterscheidungen benutzen, also zum Beispiel Hausfrauen unterstellen, daß sie ein falsches Bewußtsein ihrer Lage hätten, aber das Management von Anschlüssen würde dann sehr schwierig und unkontrollierbar. Man könnte demnach sagen, daß das System den Beobachter (der es selbst sein kann) kontrolliert und nicht umgekehrt. 8 | Siehe dazu schon früh Luhmann, N., Funktion und Kausalität, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1970, S. 9-30. Vgl. ferner als umfangreiche Diskussion Schneider, Objektives Verstehen. Rekonstruktion eines Paradigmas: Gadamer, Popper, Toulmin, Luhmann, Opladen 1991, vor allem S. 199ff. et passim. 9 | Den Schluß dieses Aufsatzes vor Augen, müßte man hier schon sagen: oder ob sie die System/Umwelt-Differenz durch anders mögliche Differenzen ersetzt.

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182 | Theorie als Lehrgedicht beobachteten Medialitäten wirken zurück auf die Vergleichsmöglichkeiten und lassen Spezifikationen zu: Musik koppelt kaum über artikulierte Fremdreferenzen, Sprache aber nahezu ausnahmslos – es sei denn im Falle moderner Lyrik, die Fremdreferenz minimalisiert, und eben deshalb werden Musik und Lyrik vergleichbar bzw. wird die Oper ein instruktiver Sonderfall. Funktionen sind aus dieser Sicht »Vergleichsdirektiven«.10 Die funktionale Methodologie der Systemtheorie überfordert mit der damit erforderlichen Unterstellung von Freiheitsgraden im Gegenstandsbereich systematisch ihre Objekte mit Kontingenzbeobachtung und wird genau an dieser Stelle auf sich selbst als Theorie verwiesen, die es lernen muß (oder sogar dadurch gekennzeichnet ist), eine selbstreferentielle Theorie selbstreferentiell angesetzter Gegenstände zu sein. Es geht – ganz klassisch – darum, daß die Theorie Unterscheidungen liefert, die zentral auf Komplexität bezogen sind und daß sie Komplexität (als Letztbezugsproblem11) in den Gegenstand, den sie wählt, projiziert, das heißt: zugleich durch sich selbst aufbaut. Und erst in dieser Wendung, die Erkenntnis und Gegenstand als Zusammenhang oder Einheit eines Problems begreift, kann mit Luhmann formuliert werden, daß »die funktionale Methode über eine bloße Methodenentscheidung hinaus (geht) und beansprucht, Theorie der Erkenntnis zu sein.«12 Damit ordnet sich die funktionale Analyse als Methode dem systemtheoretischen (und durch Luhmann forcierten) Grundzug der De-Ontologisierung von Erkenntnis zu und insoweit dem weiteren Paradigma des Konstruktivismus.

II De-Ontologisierung ist aber nicht gleichbedeutend damit, Erkenntnismöglichkeiten im klassischen Sinne schlechthin zu bestreiten. Damit würde sich diese Theorie aus der Wissenschaft katapultieren. Statt dessen wird eine Minimalontologie eingeführt, die ich oben schon zitiert habe, nämlich die der dezidiert naiven Präsupposition der Existenz von realen Systemen in einer realen Welt, die – nachdem mit ihr gestartet wurde – einer Post-

10 | Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 87. 11 | Als Problem, das als äußerste Abstraktion gewonnen wird. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt der Transzendentalisierung des ultimaten Bezugsproblemes auch Schneider, Objektives Verstehen, a.a.O., S. 206. 12 | Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 90.

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festum-Entnaivisierung unterzogen wird.13 Dieser Ausgangspunkt führt zu der verblüffend einfachen Konsequenz, daß Erkenntnis zurückgebunden wird an Beobachter (eben: informationsverarbeitende Systeme), die exklusiv Beobachtungen und Beschreibungen anfertigen, von denen einige als erkenntnisorientierte Beobachtungen und Beschreibungen imponieren. Exklusiv, das will besagen, daß die Umwelt keine Erkenntnisse enthält. Die Umwelt eines Systems mag weitere Systeme ›enthalten‹, für die aber dasselbe gilt, daß sie es sind, die beobachten und beschreiben, und: daß ihre Umwelt erkenntnisfrei ist, insofern und weil sie nichts unterscheidet und bezeichnet, nicht einmal sich selbst. Ohne solche unterscheidenden und bezeichnenden Operationen wäre nicht einmal ein System ein System, es verbliebe unbeobachtet, wäre also in einem Unzustand, und gerade das liefert den Grund, von existierenden Systemen auszugehen und nicht von einer Welt, in der Erkenntnis frei flottiert.14 Und im übrigen könnte man nicht einmal Welt bezeichnen ohne eine Bezeichnungsleistung, die einen Beobachter voraussetzt, der (mit Ausnahme Gottes) ein System ist. Erkenntnis ist, wie man deshalb sagen kann, prinzipiell ein InsiderPhänomen, insofern sie an Beobachtern hängt und insoweit man nicht umhinkommt, zu unterstellen, daß Beobachtungs- und Beschreibungsoperationen in Systemen vollzogen werden. Das bedeutet auch (und in typisch zirkulärer Manier), daß die System/Umwelt-Unterscheidung selbst »eine erkenntnisleitende Operation« ist.15 Und: daß Erkenntnistheorie nur als operative Erkenntnistheorie formuliert werden kann, weil sie unterscheiden (!) muß zwischen Operationen, die als Erkenntnisoperationen signiert werden, und allen anderen Operationen, durch die sich Sinnsysteme reproduzieren. Erkenntnisoperationen sind demnach als Erkenntnisleistungen indizierte Operationen, sie müssen eigens markiert werden und fallen keineswegs beiläufig an. Sie lassen sich nur als Bezeichnungen beobachten, die im Rahmen von Unterscheidungen besonderer Art situiert sind, die unterschieden werden müssen, damit diese besondere Art gesehen und zu weiteren Anschlüssen verwendet werden kann.16 Genau dafür wird in der Sy13 | Vgl. dazu Luhmann, N., Erkenntnis als Konstruktion, in: Jahraus, O. (Hrsg.), Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 218-239. 14 | Ebenda, S. 223. Im übrigen ist die Figur nicht ganz so naiv, wie man vermeinen könnte. Sie ist nahezu formgleich mit dem ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury und schließt darin an eine starke philosophische Tradition an. 15 | Ebenda, S. 224. 16 | Vgl. dazu auch Brosziewski, A., Die Beobachtung der Macht. Zum Verhältnis von Macht, Wahrheit und Intelligenz, in: Hellmann, K.-U./Bluhm, H./Fischer, K. (Hrsg.), Das System der Politik, Opladen 2003, S. 49-61.

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184 | Theorie als Lehrgedicht stemtheorie des Zuschnitts, die wir hier diskutieren, der Ausdruck Beobachtungsoperation der zweiten Ordnung verwendet. Der Satz »Die Erde kreist um die Sonne« ist, wenn er geäußert wird, nur dann ein auf Erkenntnis bezogener Satz, wenn er ausgestattet ist mit der Referenz darauf, daß er wahr oder unwahr sein könnte.17 Dabei kommt es nicht im mindesten darauf an, ob Sätze wahr oder nicht wahr sind (sonst gäbe es keine Irrtümer, die durch weitere Operationen als falsche Erkenntnisse behandelt werden könnten), sondern nur darauf, daß die Beobachtung (Die Erde kreist …) als eine unterschieden (beobachtet) wird, die unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit/Unwahrheit thematisierbar wäre, wenn und insofern sie Unsicherheit evoziert. Erkenntnis als Operation wird auf diese Weise in den Anschluß (Beobachtung als Erkenntnis durch weitere Beobachter, für die dasselbe gilt) ›verschoben‹.18 Sie justiert sich nicht an ›Gültigkeiten‹, die durch Approximation an ›Sachverhalte‹, an ein Wesen oder Sein gewonnen werden, wie es Assimilations-, Korrespondenz- und Repräsentationstheorien versucht haben, indem sie Erkenntnis und ihren Gegenstand prinzipiell trennten. Darin koinzidieren systemtheoretische Überlegungen mit epistemologischen Einsichten, die die Konstruktion der Welt an die Vernetzung von Beobachtungen binden, die keinen Außenhalt haben. Beispiele dafür wären die Saussuresche Linguistik, die Dekonstruktion Derridas oder die Quantenphysik, die ersichtlich angesiedelt ist auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung.19 Fremdreferenz (das Außen) wird, so könnte man diese Entwicklung bündeln, im System erwirtschaftet. Außenhalte sind Konstrukte systemischer Beobachter, die Fremdreferenz auf der Innenseite des Schemas Fremd-/Selbstreferenz bezeichnen. Sobald diese Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistung erkenntnisorientiert vollzogen wird, erscheint das Ausgangsschema (Fremd/Selbst) als das Schema Erkennen/Erkanntes,20 dessen Raffinesse darin besteht, daß die Einheit des Schemas (Erkennen) im

17 | Dieser Satz etwa ist unwahr für einen Beobachter, der für wahr hält (als wahr markiert), daß die Erde nicht kreist, sondern ›ellipst‹, oder für einen Beobachter, der (wie ich) der Auffassung huldigt, daß der Satz eine Subjekt/Objekt-Struktur impliziert, die so tut, als könne die Erde etwas tun, etc. 18 | Und zwar auf immer und ewig, also abschlußfrei, solange es sinnorientierte Beobachter gibt. 19 | Vgl. dazu auch die erste Vorlesung in Fuchs, Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, a.a.O. 20 | Wobei es sich schickt, daß diese Unterscheidung baugleich solchen Schemata ist wie signifiant/signifié oder Bezeichnendes/Bezeichnetes etc.

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Schema auftaucht.21 Erkennen ist die Projektion dieser Differenz oder in etwas anderer Formulierung: die Einheit von Erkenntnis und Gegenstand. Und wie beim Zeichen (signifiant/signifié oder Bezeichnendes/Bezeichnetes) ist die Seite des Bezeichneten (des Erkannten, des Gegenstandes) keine schema-externe Größe, die in der Welt darauf wartet, benannt oder erkannt zu werden. Niklas Luhmann legt größten Wert darauf, daß diese Einsicht nicht als Arbitrarität von Erkenntnis ausgelegt wird. Das wäre nur dann der Fall, wenn es singuläre Erkenntnisoperationen gäbe (das wäre eine Paradoxie) und wenn es nicht um im System vernetzte, vom Typ baugleiche Operationen ginge, die sich wechselseitig im Blick auf das Erkannte limitieren. Diese Limitation gelingt offenbar in der Moderne nur noch auf dem Hintergrund der operativen Schließung des Wissenschaftssystems, dessen binäre Codierung (wahr/unwahr) laufend referabel ist: als Leitunterscheidung eines Systems, das Erkenntnis nur noch selbst codiert und in die Form von Theorien und Methoden bringt.22 Der dadurch aufblendbare Zusammenhang interessiert hier aber weniger als die Frage, was mit der klassischen Unterscheidung dessen, was als Gegenstand der Erkenntnis gilt, geschieht, wenn der Gegenstand aus der vorausgesetzten Welt in Systeme fällt, die ihn nicht mehr als erkenntnis-extern behandeln können.

III Die These ist, daß der klassische Gegenstand, das Phänomen, der Sachverhalt etc. neu konditioniert wird. Er ist nicht mehr das Objekt (das Entgegengestellte eines Subjektes), kein Moment einer auch beobachtungsfrei noch irgendwie existierenden Welt, die auf den Kuß des Prinzen wartet, der sie in die Form des Beobachteten bringt. An diese Stelle tritt eine weitere beobachtungsdirigierende Unterscheidung, nämlich die von Medium und Form.23 Sie ist, wenn man sie wie Luhmann aus wahrnehmungspsychologischen Kontexten herauspräpariert, eine außerordentlich komplexe Unter-

21 | Das Schema ist also der System/Umwelt-Unterscheidung isomorph, für die ja auch gilt, daß die Einheit des Schemas das System ist. 22 | Vgl. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O. 23 | Der historische Referenztext auch für Niklas Luhmann ist Heider, Ding und Medium, a.a.O. Vgl. zur Anwendung in der modernen Systemtheorie die exemplarischen Literaturangaben in Fn. 59 auf S. 89.

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186 | Theorie als Lehrgedicht scheidung, und zwar allein schon aus dem Grunde, daß sie nur als Unterscheidung Sinn macht, die es ermöglicht, die eine oder andere Seite zu bezeichnen, nicht aber als eine Zusammenstellung von Unterscheidungsseiten begriffen werden kann, die unabhängig voneinander thematisierbar wären.24 Es gibt weder Medien noch Formen, keine lose gekoppelten Mengen von Elementen, die ohne Form als Medium imponieren, und keine Formen, die ohne Medien als Form auffallen könnten. Und zugleich gilt, daß sie eine Unterscheidung (also Werkzeug eines sinnorientierten Beobachters) ist, und nicht: ein dem Korb der Welt entnommener und dann nur noch bezeichneter Unterschied. Dieses Schema wirkt mithin nolens volens de-ontologisierend, obgleich mit ihm etwas und nicht nichts gesehen wird. Will man die Form dieses beobachtungsleitenden Schemas näherhin bestimmen, fallen folgende Merkmale auf:25 1.

2.

3.

Zunächst fungiert es als Substitution des Ding/Eigenschafts-Schemas bzw. der klassischen Substanz/Akzidenz-Differenz deswegen, weil Medien und Formen von Systemen aus projiziert werden. Es gibt zu diesem Schema (wie beim Erkenntnisschema selbst) keine Umweltentsprechung. Das Schema Medium/Form artikuliert eine Kopplungsdifferenz, die sich auf gleichartige Elemente bezieht, die ein beobachtendes System unterscheidet und die sich nicht (als eine Art Atome oder Individuen) selbst unterscheiden. Die Kopplungsdifferenz wird typisch formuliert als Differenz von enger und loser Bindung solcher Elemente. Diese sehr anschauliche Vorstellung läßt sich jedoch weiter abstrahieren, wenn man das Schema Medium/Form modaltheoretisch rekonstruiert und festhält, daß das Medium »eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen« bezeichnet, »die mit der Einheit eines Elementes noch kompatibel sind«.26 Das impliziert, daß Medien nur indirekt beobachtbar sind – an Formen, die kontingent gebildet sind, also einen Auswahlbereich der Formbildung aufblenden. Man könnte auch sagen, daß Medien als Medien nur in der Form der In-Formation anfallen. Dafür typisch ist dann, daß das Schema ein Wiedereintrittsschema ist: Es hat selbst die Form von Form, einer im Blick auf ihre Seiten nicht entkoppelbaren Zweiseitenunterscheidung, deren eine Seite die Form im re-entry aufgreift. Wenn man das in ein operatives Design über-

24 | Würde man sich nur mit einem Medium beschäftigen, fiele unvermeidbar die Frage nach der Form des Mediums an, et vice versa. 25 | Ich orientiere mich im weiteren ohne Einzelnachweise an Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., S. 165ff. et passim. 26 | Ebenda, S. 168.

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4.

setzt, ergibt sich, daß der Beobachter (ein System) immer nur Formen sieht und nie Nicht-Formen. Soll das Medium beobachtet werden, beobachtet man Elemente, also wiederum: Formen. Das verweist auf eine beobachtungstechnische Asymmetrie. Nur die Formen sind imposant, sie stellen sich mit jeder Beobachtung ein.27 Die Kehrseite dieser Imposanz ist, daß die Gegenseite des Schemas zeitlich stabiler gedacht werden muß – auf Grund ihrer weitgehenden Passivität und Widerstandslosigkeit. Die Form ist stark im Imprägnieren des Mediums, aber zeitschwach, insofern das Zerfallen einer Form nicht zugleich das Medium zerfallen läßt, solange andere Formen im selben Medium erscheinen, für einen Beobachter, wie sich von selbst versteht, der nicht das Medium beobachten kann, sondern nur variable/konstante Formen, die es gestatten, passende Medien zu ›imaginieren‹.28

Wenn man ausgeht von jener Minimalontologie, die – weil Beobachten geschieht – Systeme voraussetzt, die Operationen des Beobachtens durchführen, dann findet man zunächst (wenn auch nur in gewisser Weise) die klassische Idee des Gegenstandes, der der Erkenntnis gegenüberliegt, bestätigt. Jeder Beobachter sieht Formen (nicht: Medien). Noch genauer: Er residiert immer auf der Innenseite der Medium/Form-Unterscheidung. In anderer Formulierung: Er registriert immer etwas.29 Oder noch anders: Nur von der Innenseite dieser Unterscheidung aus (die die re-entry-Seite ist, wenn man auf räumliche Assoziationen verzichten will) werden Anschlüsse/ Nachträge erarbeitet, und zwar (das ist die eigentliche Denkschwierigkeit) gleichgültig, ob man die eine oder andere Seite irgendeines Schemas bezeichnet. Die Sicht ist immer geformt und niemals: chaotisch.30 27 | Deswegen ist es wichtig, im Spencer-Brownschen Kalkül sorgfältig auf die Leistung der Indication oder in Luhmannscher Diktion auf die Bezeichnungsleistung zu achten, durch die ein Unterscheiden evoziert wird und die – gleich auf welcher Seite sie vollzogen wird, immer auf die Innenseite trifft – durch die Markierung einer Form. 28 | Deswegen sind Medienkatastrophen interessant, etwa der Fall, daß ein Film zu langsam läuft oder zu schnell, so daß die Formen kollabieren. Vgl. dazu Fuchs, P., Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung, in diesem Band auf S. 167ff. 29 | Ein uralter Topos, der – bezogen auf Bewußtsein – als Intentionalität formuliert ist, im Blick auf Kommunikation als Kommunikabilie oder Thematizität. Vgl. Fn. 19 auf S. 44. 30 | Deswegen löst das Amorphe Angst aus. Siehe für einen drastischen Fall Benthien, C., Häutungen. Folter – Enthüllung – Gestaltwandel. Zur Kulturgeschichte

2004-06-08 14-13-02 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 179-193) T01_09 kap 8.p 54824657768

188 | Theorie als Lehrgedicht In Parallelargumentation zu Theoremen der second order cybernetics könnte man sagen, daß der Gegenstand (das Ding, das Gegenüber) auf der Erkenntnisebene erster Ordnung illuminiert wird. Dies drückt sich unter anderem im Wort Realität selbst aus, das in der Form real seit dem 17. Jahrhundert auftaucht, im Mittellateinischen realis soviel wie ›wesentlich‹ bedeutet und natürlich zurückführt auf res: die Sache, das Ding. Die Welt erscheint als Welt des Dinghaften und des Ding-Analogen, als universitas rerum, in der die Unvermeidbarkeit des Antreffens von Formen in die Form der Ontologie gebracht wird. Eben deshalb wird die Operation der Erkenntnis dualisiert: als adaequatio von Gegenstand und Einsicht etwa im Sinne des Aquinaten. Es kann dann logische Widersprüche geben, die auf der Seite des Intellekts auftreten, oder Widersprüche zwischen den Dingen (Realrepugnanz), aber immer ist der Beobachter konfrontiert mit der Frage, ob er die Realität richtig oder falsch beurteilt.31 All dies kann, cum grano salis genommen, zu erheblichen Komplexitätsgewinnen führen. Man kann Pumpen konstruieren, Metaphysik inszenieren, Sonnenfinsternistermine exakt berechnen, Pyramiden und Steinwälle punktgenau ausrichten. Aber es ist offensichtlich, daß dabei kein eigenes, ausschließlich auf Erkenntnis spezialisiertes System entsteht, das scharfe Grenzen zu anderen Systemen unterhält und ein Funktionsmonopol realisiert, das ausschließt, daß irgendwo sonst im Felde des Gesellschaftlichen etwas Erkenntnisförmiges legitim formuliert werden könnte.32 Vielleicht kann man sagen, daß in der Antike wie im europäischen Mittelalter33 hoch getriebene Komplexität im Blick auf Erkennen anfiel, aber dabei kein nur auf Erkenntnis eingestelltes, autopoietisch geschlossenes System Wissenschaft zustande kam. Ein System dieses Typs (eben: Wissenschaft) differenziert erst im Mo-

einer ›Entdeckung‹, in: Paragrana 6/1, 1997, S. 197-217. Ich vermute, daß das Unterscheidungslose in der sophischen Lehre von den Adiaphora als das sittlich nicht Bezeichenbare auftaucht, als Indifferenz, aber das wäre zu prüfen unter Hinzuziehung der spannenden (ethikbezogenen) Auseinandersetzung im Adiaphoristenstreit des 16. Jahrhunderts. 31 | Er ist ein T(ertium)-N(on)-D(atur)-Beobachter. Vgl. Fuchs, Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, a.a.O. 32 | Ich erinnere daran, daß die Ausdifferenzierung der Universitäten im 13. Jahrhundert nicht bedeutete, daß der Glaube aus Erkenntnisprozessen ausgeschlossen wurde. Die bedeutendste Universität (die von Paris) hatte einen Kanzler, den der Papst stellte, und zur Mitte des Jahrhunderts waren die bedeutendsten Lehrer der Philosophie und der Theologie Bettelmönche oder ihnen zumindest eng assoziiert. 33 | Und in China und in Japan und in Indien etc.pp.

2004-06-08 14-13-04 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 179-193) T01_09 kap 8.p 54824657768

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ment aus, in dem es gelingt, die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand als Unterscheidung zu beobachten, sie also auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung als Einheit, als Form zu behandeln. Der Gegenstand wird aus der Position der Externalität genommen, er ist nicht mehr ausschließlich und mehr und mehr überhaupt nicht mehr: Angelegenheit einer der Erkenntnis korrespondierenden Phänomenalität. Er wird weniger ›mediatisiert‹ als ›mediumisiert‹. Die Frage danach, ob etwas und wie etwas ETWAS sei und ob dieses ETWAS ein So-Sein habe, das mit Sätzen (Begriffen), die über es reden, zumindest entschiedene Ähnlichkeit aufweise, wird irrelevant.34 Erkenntnis als Operation schreibt statt dessen dem prinzipiell kontingenten Verhältnis von Medium und Form Limitationen ein, und zwar dadurch, daß sie bestimmte engere Kopplungen zwischen medialen Elementen begünstigt und anschlußfähig hält und dabei anders mögliche Kopplungen ausschließt, zum Beispiel Glaubenssätze oder Dogmen oder ästhetische Begründungen. Wissenschaft baut sich in diesem Sinne tatsächlich selbst auf, sie steuert sich nicht an einer vorausgesetzten Welt oder an vorausgesetzten Weltdingen aus, und deswegen wird es möglich, Erkenntnis sogar über prinzipiell Unsichtbares zu produzieren, über kleinste Kleinheiten, größte Größen und über Latenzen, die in Systemen, denen sie zugerechnet werden, Struktureffekte haben, obwohl weniger gewiß ist als dies: daß Latenz von Beobachtern konstruiert wird, also keinen Weltsachverhalt darstellt, über den zu reden unabhängig vom Beobachter Sinn machen würde. Gerade dies ist ein deutlicher Beleg dafür, daß die Wissenschaft (als autopoietisch geschlossenes System) nicht mehr auf durch Wahrnehmung kontrollierbare Evidenzen angewiesen ist.35 Zugleich zeigt sich, daß die Theorie, die dies behauptet und sich selbst einordnet in das System Wissenschaft, das sie beschreibt, selbstreferentiell organisiert ist. Sie substituiert die klassisch angesetzte Frage nach dem Ding und seiner erkenntnisförmigen Repräsentation durch die Konstruktion eines Problems, im Blick auf das verschiedene Lösungen vergleichbar werden (Äquivalenzfunktionalismus) – und entdeckt sich dabei als Kon-

34 | Und gefährlich für das System, das ja beendbar wäre, wenn es mit der richtigen Bezeichnung einer endlichen Zahl von Objekten zu tun hätte. 35 | Im übrigen ist gerade unter empirisch arbeitenden Wissenschaftlern die Auffassung weit verbreitet (ja geradezu ein Gemeinplatz), daß die theoretischen Modelle darüber befinden, was als Ergebnis jeder Untersuchung zustande kommt. Es gibt keine Schichten, Rollen, keine Systeme – außer für Beobachter, die diese Unterscheidungen benutzen und konditionieren. Typisch ist auch, daß die Sorge der Reifikation oder der Hypostasierung eigentlich alle redlichen Wissenschaftler umtreibt.

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190 | Theorie als Lehrgedicht stukteurin, die in eine der Lösungen, die sie konstruiert, selbst eingebettet ist. Dabei sieht sie die Bedingungen der Möglichkeit ihres Sehens (das heißt: die systemischen Limitationen von Erkenntnis) noch mit. In der Sprache Niklas Luhmanns: Sie erreicht die Beobachtungsebene dritter Ordnung. Sie sieht sich plötzlich der (noch weitgehend ungeklärten Möglichkeit) ausgesetzt, Unterscheidungen nicht nur beobachten zu können, sondern die Form des Unterscheidens selbst einkalkulieren zu müssen. Mitte der 1980er Jahre wird jedenfalls die Systemtheorie mehr und mehr angereichert mit differenz- und beobachtungstheoretischen Komponenten. Alles in allem genommen, beginnt sie (und ist darin nichts weniger als zu einem Abschluß gekommen), die Konstruktion ihres Erkenntnisgegenstandes, der ja ohnehin kein klassischer oder cartesischer Gegenstand, kein erkenntnisexternes Objekt war, umzustellen auf zwei Einsichten: Sie hat es nur mit Differenzen zu tun, und sie hat es ausschließlich mit beobachteten Differenzen zu tun. Das zwingt mehr und mehr dazu, sich der ›Logik der Differenz‹ anzunehmen – das dann auf einer Bandbreite, die Namen wie etwa Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Gotthard Günther und vor allem George Spencer-Brown versammelt. Betroffen ist die Mitte der Theorie selbst, der Begriff des Systems, der zwar immer schon als Begriff eines Unterschiedes ventiliert wurde (System und Umwelt), jetzt aber als Einheit einer Differenz begriffen wird, ein Vorgang, der sich darin ausdrückt, daß das ›und‹ zwischen System und Umwelt ersetzt wird durch die Barre ›/‹ des terms: System/Umwelt. Das System ist weder die eine noch die andere Seite dieser Unterscheidung, sondern die Einheit, die ohne die beiden Seiten keine Einheit wäre, aber die als Einheit diese Seiten erst inszeniert – in einem Zuge. Das System residiert in der Barre, aber – und das ist entscheidend – die Barre ist kein Objekt, und sie ist auch nicht die Bezeichnung eines Objektes. Sie ist das Zeichen für eine vom Beobachter zerlegte Einheit, der das, was er beobachten will (das System), nicht als Einheit zu Gesicht bekommt, sondern nur als eine Differenzseite, also – wenn man so will – immer nur und aufhebbar: fragmentarisch.36 Er sieht die Form (das System) und nicht die Nicht-Form (die Umwelt), und das läßt sich zusammenschließen mit dem Befund, daß Beobachter immer auf der Innenseite der Form arbeiten – und das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß der Beobachter im Moment, in dem er Beobachter bezeichnet, Systeme vorfindet, sich selbst dabei einschließend auf der Innenseite der Form des Systems: System/Umwelt.37 Das ›Unjekt‹ System 36 | Das ist einer der Gründe dafür, warum man die Systemtheorie immer wieder in das Denkmodell der Frühromantik einordnet. 37 | Also noch einmal: Wir müssen davon ausgehen, daß es Systeme gibt, weil Beobachtungen beobachtbar sind.

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(die Einheit der Unterscheidung) fällt dabei aus jeder möglichen Beobachtung heraus.38 Dies alles würde nahelegen, zu behaupten, daß die Thematisierung von Unjekten (als empirischen Unzugänglichkeiten) füglich der Philosophie zu überlassen wäre. Es scheint sich um wissenschaftlich müßige Überlegungen zu handeln, die allenfalls geeignet sind, die beliebte Metapher vom ›Glasperlenspiel‹ ein weiteres Mal zu revitalisieren. Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß Theoriearbeit typisch (wenn sie denn gelingt) zu begrifflichen Arrangements und dadurch ermöglichten Distanzierungsgewinnen führt, die als Anleitung zu neuartigen (informativen) Problemkonstruktionen aufgefaßt werden können.39 Die differenz- und beobachtungstheoretischen Komponenten der neueren Systemtheorie lösen den Äquivalenzfunktionalismus nicht auf; im Gegenteil: Sie ordnen sich ihm als feinste Verfeinerungen der Möglichkeit unter, Problemkonstruktionen so anzulegen, daß die erkenntnistheoretische Blockade des cartesischen Typs unterlaufen wird. Die Theorie bleibt – in dieser Hinsicht – bei sich selbst, und dies, obwohl von Einheit auf Differenz umgestellt wird. Die Konsequenzen dieser Umstellung sind jedoch dramatisch.

IV Zunächst entdeckt die Theorie ihre systematische Unvollständigkeit. Das ist auf den ersten Blick nicht sonderlich neu, insofern die Einführung der Theorie des Beobachters in die Systemtheorie sofort deutlich werden ließ, daß das Beobachtungsinstrument selbst (die Theorie) wie jede andere Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistung sich nicht vollständig beobachten und beschreiben kann, und sei es nur, weil die aktuelle Beobachtungs- bzw. Beschreibungsoperation als Operation das ›System‹ kontinuiert, also ›aufbläst‹ und weiteres ›Aufblasen‹ erzwingt, wenn sie überhaupt als Operation gelten soll.40 Ferner (auch das ist schon oft festgehalten worden) ist jede 38 | Vgl. zu diesem Sprachgebrauch Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O. Dieses Herausfallen bedeutet nicht, daß man nicht die eine bzw. andere Seite der Unterscheidung zeittechnisch ansteuern könnte, durch Oszillation, aber das heißt dennoch immer: niemals die Einheit selbst. 39 | Das Neue kann man nicht suchen, es stellt sich sozusagen am Rande ein, als Nebeneffekt eines Denkens/Kommunizierens, das Komplexität steigert – auf Teufel komm raus. Vgl. dazu (wenn ich auch nicht alle Thesen teile) Rheinberger, H.-J., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsysteme im Reagenzglas, Göttingen 2001. 40 | Die Theorie ist, um es vorsichtshalber zu sagen, so wenig ein System wie

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192 | Theorie als Lehrgedicht Beobachtungsleistung selbstblind, insofern sie die Unterscheidung, die sie nutzt (in deren Rahmen sie bezeichnet) nicht mitbezeichnen kann, ohne sich verdoppeln zu müssen. Hinzu kommt aber, daß das ›Objekt‹ der Theorie, das ihr den Namen gibt (Systemtheorie), als intern verschachtelte Differenz, als die es sich jetzt beobachten läßt, ›verschluckt‹ wird. Das System wird zu einer Abbreviatur für eine Einheit, die sich nicht beobachten läßt und sich zu beobachten gibt nur als Hälftigkeit, als die eine Seite der Unterscheidung, deren Einheitsbegriff das System ist. Mit der Bezeichnung ›System‹ (und mit an dieser Seite anschließenden Analysekaskaden) simplifiziert die Theorie ihre eigenen Abstraktionsmöglichkeiten. Sie baut einen Zurechnungspunkt. Mit einer Metapher, die Niklas Luhmann in einem punktgenauen Analogon (nämlich im Blick auf die Simplifikation von Kommunikation durch Zurechnung auf Handlung) gebraucht hat, könnte man sagen: Die Theorie ›flaggt‹ sich als Theorie des Systems aus und gewinnt in diesem Ausflaggen Ordnung, Struktur, Führung, aber kommt nicht umhin, zu bemerken, daß sie sich dabei auf der Innenform der Form System situiert, als wäre das System genau nicht: die Einheit der Differenz System/Umwelt, mithin im präzisen Sinne ein Unjekt. Das ist der Grund dafür, daß die Medium/Form-Differenz in Prozessen der Theoriebildung mehr und mehr an Prominenz gewinnt. Medium/Form und System/Umwelt werden zwar nicht je füreinander substituierbar, aber sie werden, wenn man so sagen darf, in ein Verhältnis wechselseitiger Dauerinstruktion gebracht. Unter Hinzuziehung des Spencer-Brownschen Formkalküls wird es möglich, das System als Zweiseiten-Form aufzufassen, und das heißt, es als Gegenstand nur noch in durchkreuzter Nennung (System) der Erkenntnis zuzuordnen, und zwar unter Einbeziehung des Beobachters, der diese Durchkreuzung vornimmt und selbst nur durchkreuzt gedacht werden kann. Der wissenschaftliche Erkenntnisalltag wird die Durchkreuzung erneut durchkreuzen (also von Organisationen, Funktionssystemen oder Bewußtseinen ausgehen) und kann diese Selbstsimplifikation sehr wohl begründen.41 Auf der Ebene der Theoriearbeit selbst zeigt sich aber, daß eine Theorie der Systemtheorie gedacht werden kann, in der der Systembegriff nicht mehr als Abschlußbegriff fungieren muß. Er wird in seiner Metaphorizität sichtbar, als ein ›Leiter-Begriff‹ von Wittengensteinscher Art, oder – in naheliegender Diktion – als Problembegriff, der als Vergleichsdirektive wirkt und etwa Sprache oder Musik, aber im Moment, in dem sie betrieben wird, fällt das Problem der Vollständigkeit an. 41 | Und nicht nur mit den pragmatischen Zwängen eines projektorientierten Wissenschaftsbetriebes, sondern mit der Unmöglichkeit der Perfektion von Theorien.

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mit dem sich eine Reihe von äquivalenten Unterscheidungen eröffnen läßt, deren Vergleich zu neuen Instruktionen führt, zum Beispiel die Reihe: System/Umwelt, Medium/ Form, Zweiseiten-Form/unmarked space, unmarked space/marked space, unmarked state/marked state. Erahnbar wird, daß durch die Vergleichsleistungen Begriffe reformuliert werden müssen, die räumlich assoziiert sind, etwa strukturelle Kopplung, Geschlossenheit, Offenheit, oder Begriffe, die einen internen Betriebsmodus bezeichnen wie Autopoiesis. Erahnbar wird auch, daß die Zentralantagonisten der soziologischen Systemtheorie, Sozialsystem und Bewußtsein, ihre Isolierbarkeit verlieren, ihren Ort, ihren Selbststand. Sie wären nicht mehr begreifbar als Objektean-Stellen, als Lokalisierbarkeiten, sondern würden mit neuen Theoriemitteln, die noch zu ersinnen sind, bearbeitet werden müssen.42 All das geschähe (und davon ist die ganze Zeit die Rede gewesen) in der Wissenschaft als für sie typische Steigerung und Reduktion von Komplexität – als Erkenntnisproduktion as usual.

42 | Eines dieser Mittel wäre das Theorem konditionierter Koproduktion. Vgl. dazu noch einmal Fuchs, Die Metapher des Systems, a.a.O.

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Literaturnachweis | 209

Textnachweise

Verlag und Herausgeberin danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. Die Skepsis der Systeme, Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis, in: Gripp-Hagelstange, H. (Hg.), Niklas Luhmanns Denken, Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen, Konstanz (UVK) 2000, S. 53-74 Vom Unbeobachtbaren, in: Jahraus, O./Ort, N. (hg. unter Mitwirkung von B.M. Schmidt), Beobachtungen des Unbeobachtbaren, Weilerswist (Velbrück) 2000, S. 39-71 Autopoiesis, Mikrodiversität, Interaktion, in: Jahraus, O./Ort, N. (Hg.), Bewußtsein Kommunikation Zeichen, Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie, Tübingen (Niemeyer) 2001, S. 49-69 Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein, in: Ver-Schiede der Kultur, Aufsätze zur Kippe kulturanthropologischen Nachdenkens (hg. von der Arbeitsgruppe »menschen formen« am Institut für Soziologie der freien Universität Berlin), Marburg (TectumVerlag) 2002, S. 150-175 Realität der Virtualität – Aufklärungen zur Mystik des Netzes, in: Brill, A./ de Vries, M. (Hg.), Virtuelle Wirtschaft, Virtuelle Unternehmen, Virtuelle Produkte, Virtuelles Geld und virtuelle Kommunikation, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1998, S. 301-322 Vom Zeitzauber der Musik, Eine Diskussionsanregung, in: Baecker, D. (Hg.), Theorie als Passion, Frankfurt (Suhrkamp) 1987, S. 214-237

2004-06-08 14-13-20 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 209-210) T01_11 nachweis.p 54824657816

210 | Theorie als Lehrgedicht Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung, in: Brauns, J. (Hg.), Form und Medium, Weimar (Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften) 2002, S. 71-83 Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch, in: Jetzkowitz, J./ Stark, C. (Hg.): Soziologischer Funktionalismus, Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen (Westdeutscher Verlag) 2003, S. 74-87

2004-06-08 14-13-21 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 209-210) T01_11 nachweis.p 54824657816

Die Titel dieser Reihe:

Peter Fuchs Theorie als Lehrgedicht Systemtheoretische Essays I. hg. von Marie-Christin Fuchs Juni 2004, 212 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-200-7

Hannelore Bublitz In der Zerstreuung organisiert Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur Juni 2004, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 3-89942-195-7

Gabriele Klein (Hg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte Juni 2004, 304 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-199-X

Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.) Gender Studies und Systemtheorie Studien zu einem Theorietransfer Mai 2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-197-3

Barbara Zielke Kognition und soziale Praxis Der Soziale Konstruktionismus und die Perspektiven einer postkognitivistischen Psychologie April 2004, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-198-1

Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich April 2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5

Gabriele Klocke Über die Gleichheit vor dem Wort Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug April 2004, 350 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-201-5

Sven Lewandowski Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung Eine systemtheoretische Analyse März 2004, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-210-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-06-08 14-13-23 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 211-212) anzeige sozialtheorie.import.juni 04.p

Weitere Titel dieser Reihe: Sandra Beaufaÿs Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft 2003, 300 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-157-4

Theresa Wobbe (Hg.) Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2003, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-118-3

Peter Fuchs Der Eigen-Sinn des Bewußtseins Die Person – die Psyche – die Signatur

Julia Reuter Ordnungen des Anderen Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden

2003, 122 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-163-9

2002, 314 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-84-X

Martin Ludwig Hofmann Monopole der Gewalt Mafiose Macht, staatliche Souveränität und die Wiederkehr normativer Theorie 2003, 274 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-170-1

Christian Papilloud Bourdieu lesen Einführung in eine Soziologie des Unterschieds Mit einem Nachwort von Loïc Wacquant 2003, 122 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-102-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-06-08 14-13-23 --- Projekt: T200.sozialtheorie.fuchs lehrgedichte I / Dokument: FAX ID 01cc54824657384|(S. 211-212) anzeige sozialtheorie.import.juni 04.p