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German Pages 635 Year 1978
ALBERT KREBS / FREIHEITSENTZUG
FREIHEITSENTZUG Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung
Von
Albert Krebs Herausgegeben von Heinz Müller-Dietz
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
© 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 04108 9
Meiner Frau Doris Krebs zugeeignet, die getreulich die Last und Gefahr mittrug
Vorwort des Herausgebers Der Autor ist durch jahrzehntelange praktische Arbeit im Strafvollzug und wissenschaftliche Tätigkeit auf diesem Feld weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland bekannt geworden. Sein Ruf als Fachmann auf dem Gebiet des Strafvollzuges ist unbestritten. Namentlich zählt er zu den profiliertesten deutschen pönologen. Als Leiter einer thüringischen Strafanstalt hat Albert Krebs bis 1933 umfangreiche praktische Erfahrungen gesammelt, die er dann von 1945 an als Leiter des hessischen Straf- bzw. Jugendvollzuges zwei Jahrzehnte lang vertiefen konnte. Er gehörte nicht nur zu den maßgebenden Verfechtern des Erziehungsstrafvollzuges in der Weimarer Zeit und den "Männern der ersten Stunde", die 1945 daran gingen, den deutschen Strafvollzug neu aufzubauen - von ihm gingen auch wertvolle Impulse zu,r praktischen und rechtlichen Reform des Strafvollzuges, die in den sechziger und siebziger Jahren begonnen wurde, aus. Das ist nicht nur an seiner Tätigkeit als Leiter des hessischen Vollzuges, im "Strafvollzugsausschuß der Länder", am Balthasar-Wagnitz-Seminar in Rockenberg (der Ausbildungsstätte des hessischen Justizvollzuges), als Honorarprofessor an der Universität Marburg, als langjähriger Schriftleiter der "Zeitschrift für Strafvollzug", als Sachverständiger der Strafvollzugskommission und im Rahmen der Straffälligenhilfe (wie etwa des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes) abzulesen; das wird auch an zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen aus seiner Feder sichtbar, die bis zum heutigen Tage von einer ebenso unermüdlichen wie eindrucksvollen Schaffenskraft zeugen. In seinen Veröffentlichungen verbinden sich pädagogisches Ethos und Engagement mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und Genauigkeit. Dabei gilt das Interesse gleichermaßen geschichtlichen wie Gegenwartsfragen des Strafvollzuges. Manches von diesem Gebiet spiegelt sich in den Festschrifteni, die Albert Krebs gewidmet sind, und in den Beil Vgl. Strafvollzug in Hessen. Eine Festgabe für Herrn Min.Rat Prof. Dr. Albert Krebs zum 40jährigen Dienstjubiläum am 12. Juni 1960. 1960 (ungedr.), 255 S.; Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug. Internationale Probleme des Strafvollzugs an jungen Menschen. Als Festgabe gewidmet Prof. Dr. phil. Albert Krebs Ministerialrat a. D. aus Anlaß der Vollendung seines 70. Geburtstages am 7. Oktober 1967. Hrsg. von Max Busch, Gottfried Edel (Jugend im Blickpunkt). Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Berlin 1969. XVIII, 455 S.
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Vorwort des Herausgebers
trägen, die über ihn und sein Werk erschienen sind!. Gerade aus dieser Verknüpfung von (erfahrungs-)geschichtlicher und gegenwartsbezogener Darstellung gewinnen viele Beiträge von Albert Krebs ihren besonderen Reiz. Schon dies wäre Grund genug, wenigstens eine Auswahl seiner Veröffentlichungen in Form eines Sammelbandes neu herauszugeben. Hinzu kommt, daß etliche Arbeiten von Albert Krebs an entlegener oder jedenfalls nicht für jeden leicht zugänglicher Stelle veröffentlicht sind. Wie das Verzeichnis seiner Arbeiten am Schlusse dieses Bandes ausweist, finden sie sich in den verschiedensten Zeitschriften und Sammelwerken. Aufgrund ihrer ausgesprochenen sozialpädagogischen Orientierung stellen sie nicht zuletzt ein wertvolles Anschauungs- und Studienmaterial für den Hochschulunterricht und für die Ausbildung und Fortbildung des Strafvollzugspersonals dar. Gerade das entwicklungs- und erfahrungsgeschichtliche Moment, das diese Arbeiten auszeichnet, hat für die Einführung in die praktischen und theoretischen Probleme des heutigen Strafvollzuges bedeutendes Gewicht. Namentlich kann es dazu beitragen, den Blick für geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge, in die auch der Strafvollzug eingebunden ist, zu schärfen. Diese Überlegungen bestimmen auch die Auswahl und Reihenfolge der Arbeiten, die im Band versammelt sind. Am Anfang steht ein grundsätzlicher Beitrag des Autors zu den Aufgaben des Strafvollzuges. Er liefert gleichsam den ideen- und begriffsgeschichtlichen Rahmen für die folgenden Arbeiten, welche die sowohl von Persönlichkeiten geprägte als auch von Sachfragen bestimmte Entwicklung des Strafvollzuges vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart skizzieren. Dementsprechend gliedert sich der Band in zwei Teile. Im ersten Teil werden bedeutende Theoretiker und Praktiker als "Pioniere des Gefängniswesens" vorgestellt. Sie haben wesentlichen Anteil an der Entwicklung des Strafvollzuges. Von ihnen gingen Anstöße aus, seine Grundpositionen neu zu überdenken, seine Praxis neu zu gestalten. Die zugleich an Werk und Persönlichkeit orientierten Darstellungen umspannen mehr als zwei Jahrhunderte. Da findet sich neben dem Strafrechtler der Theologe und der Pädagoge ebenso wie der engagierte Vollzugspraktiker. Was sie eint, sind darum nicht so sehr bestimmte Auffassungen vom Strafvollzug - die ja auch dem geschichtlichen Wandel unterliegen - als vielmehr Fähigkeit und Bereitschaft, "die Sache des Strafvollzuges" im Interesse der davon Be2 Vgl. etwa Albert Krebs, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 57. Jg. (1977), S.323; Müller-Dietz, Albert Krebs 80 Jahre alt, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Jg. 26 (1977), S. 238 - 240.
Vorwort des Herausgebers
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troffenen, der Gefangenen wie der Bediensteten, und der Allgemeinheit voranzutreiben. Gewiß hätten sich in diesem Zusammenhang auch noch andere Namen nennen lassen. Doch erscheint die hier getroffene Auswahl über weite Strecken repräsentativ für die Vollzugsgeschichte der beiden letzten Jahrhunderte. Der zweite Teil umfaßt Beiträge zu herausragenden Themen des Strafvollzuges, die für Theorie und Praxis seit den zwanziger Jahren bedeutsam waren und sind. Darin sind zunächst Arbeiten zum Erziehungsstrafvollzug aus der Zeit von 1928 bis 1930 vertreten, die vor allem praktische Erfahrungen des Autors aus seiner Tätigkeit im thüringischen Strafvollzug wiedergeben. Sie sind aus der Entwicklung des deutschen Strafvollzuges ebensowenig hinwegzudenken wie die weiteren Beiträge, die bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreichen. Im Zeitraum zwischen 1951 und 1977 erschienen, setzen sich diese Arbeiten mit aktuellen Fragen des Erwachsenen- und Jugendstrafvollzuges, wie etwa Persönlichkeitserforschung, Persönlichkeitsbildung und soziale Hilfe, auseinander. Aber auch hier nimmt der Autor immer wieder den roten Faden der geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung auf, so wenn er beispielsweise in Berichten über internationale kriminologische und Strafvollzugskongresse die Aktualität einstiger Fragestellungen und Forderungen in Erinnerung ruft. Auch im letzten Beitrag des Bandes, der die ersten fünfundzwanzig Jahre der "Zeitschrift für Strafvollzug" schildert, wird noch einmal ein Stück neuerer Geschichte des Strafvollzuges sichtbar. FundsteIlenverzeichnis, Sachregister, Personenregister und ein Verzeichnis der Veröffentlichungen von Albert Krebs schließen den Band ab. Als Hilfen für den Leser gedacht, sollen sie die Benutzung des Bandes erleichtern und zugleich einen überblick über das Werk des Autors vermitteln. Vielleicht wecken sie über die hier abgedruckten Beiträge hinaus Neugier für Autor und Sache des Strafvollzuges. Der Band ist für alle bestimmt, die sich - ob kundig oder nicht, ob Theoretiker oder Praktiker - für den Strafvollzug und seine Fragestellungen interessieren. Er soll in seine Thematik einführen und Verständnis für seine Probleme wecken. Deshalb bleibt zu wünschen und zu hoffen, daß dieser Band, dessen Arbeiten sich durch Stil und Art der Darstellung nicht nur dem Fachmann leicht erschließen, viele Leser findet. Dadurch könnte er zugleich für die "Sache des Strafvollzuges" und damit der Menschen werben, die als Gefangene oder als Mitarbeiter von ihm betroffen sind.
Heinz MülleT-Dietz
Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers ............................... :.............
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Albert Krebs: Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges. Ideen- und begriffsgeschichtliche Bemerkungen ......................................
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens ..................................
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1. John Howard (1726 -1790) .................................. . ......
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2. Johann Heinrich Pestalozzi (1746 -1827) ....................... . . . ..
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3; Heinrich Balthasar Wagnitz (1755 - 1838). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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4. Carl August Zeller (1794 - 1846) .................................... 101 5. Nikolaus Heinrich Julius (1783 - 1862) .............................. 123 6. Theodor Fliedner (1800 -1864) ...................................... 137 7. Franz von Liszt (1861 - 1919) ..................... . .......... . . . .... 155 8. Mathilda Wrede (1864 - 1928) ...................................... 170 9. Robert von Hippel (1866 - 1951) .................................... 181 10. Christian J. Klumker (1868 - 1952) .................................. 206 11. Gustav Radbruch (1878 - 1949). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 217 12. Lothar Frede (1889 - 1970) ....... . ................................. 240
11. Teil: Grundfragen des Strafvollzugs und seiner gesdlidltlldlen Entwicklung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . .. 253 A. Beiträge aus der Zeit von 1928 bis 1930 ............................ 255
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt (1928) .................... 255
2. Die Selbstverwaltung Gefangener in der Strafanstalt (1928) ......... 272 3. Landesstrafanstalt in Untermaßfeld. Wesen, Organisation und Grenzen des Vollzugs (1930) ............................................ 287 4. Volkshochschularbeit im Gefängnis (1930) ..................... , .... 300 5. Bericht über einen jungen Gefangenen (1930) ...................... 314
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Inhaltsverzeichnis
B. Beiträge aus der Zeit von 1951 bis 1977 ............................ 337 1. Kulturnationnen erörtern Strafvollzugsfragen ...................... 337
a) Teil I. Bericht über den Ersten UNO-Kongreß in Genf (1955) .... 337 b) Teil 11. Bericht über den 111. Kongreß der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie in London (1955) ........................ 368 c) Teil 111. Bericht über den zweiten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger in London (1961) ................................................ 387 d) Teil IV. Bericht über den Vierten Internationalen Kongreß für Kriminologie (1961) ............................................. 410 e) Teil V. Bericht über den dritten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung in Stockholm (1965) ............................ . . . . . . . . . . . . . . . . .. 418 Abschnitt 1. Internationale Gefängniskongresse in Stockholm 1878 und 1965 (1965) ..................................... 418 Abschnitt 2. Der Dritte Kongreß in Stockholm (1966) ............. 428 2. Entwicklung der Persönlichkeitserforschung im deutschen Gefängniswesen (1954) ....................................................... 438 3. Die Mitwirkung des Deutschen Vereins an der Straffälligenhilfe (1955) 450 4. Probleme und Erfahrungen bei dem Neubau von Strafanstalten (1964) 482 5. Die GmbH als Betriebsform der Arbeit in der Strafanstalt (1966) .... 498 6. Zur Entwicklung der Erwachsenenbildung in deutschen Strafanstalten (1972) ............................................................. 509 7. Zur Entwicklung des Berufsbildes des Lehrers im Strafvollzug (1973) 532 8. Soziale Hilfe im Freiheitsentzug (1975) .............................. 549 9. Die Behandlung der straffälligen Jugend (1964) .................... 558 10. Die ersten 25 Jahre der Zeitschrift für Strafvollzug (1977) .......... 595 Veröffentlichungen von Albert Krebs (Auswahl)
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Fundstellenverzeichnis ................................................. 617 Personenregister ...................................................... 621
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Sachregister
Berichtigungen Zu S. 388,8. Zeile von unten: Der Name lautet Aulie. Zu S. 418, letzte Zeile: Jahrgang 1973 statt 1965.
Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges Ideen- und begriffsgeschichdiche Bemerkungen * Bei der Bearbeitung des gestellten Themas ergab sich die Notwendigkeit, einmal die Arbeitsergebnisse der bisherigen Verhandlungen der Strafvollzugskommission daraufhin zu überprüfen, was sie zum Thema brachten, und dann zu untersuchen, welcher Begriff geeignet sei, die gegenwärtig den Freiheitsentzug kennzeichnende Aufgabe herauszustellen. Dabei war auf die Tradition im deutschen Gefängniswesen Rücksicht zu nehmen. Auf allen bisherigen Arbeitstagungen wurde deutlich, daß die Teilnehmer eine gemeinsame Grundauffassung über "Aufgabe des Freiheitsentzuges" besitzen. Besonders in den Referaten von Eberhard Schmidt, Grundlagen der Freiheitsstrafe l , von Horst Schüler-Springorum, Die Rechtsstellung des Gefangenen 2 , und von Helga Einsele, Die Behandlung im Strafvollzug3 , samt den anschließenden Aussprachen kam dies zum Ausdruck. Die übereinstimmung ging m. E. weit, aber eine Beschlußfassung über die Aufgabe des Freiheitsentzuges oder eine Einigung auf ein Kennwort erfolgte noch nicht. Soweit aus dem Stand der Verhandlungen erkennbar und aus dem erörterten Zeitplan ersichtlich, geht die Kommission mit ihrer Arbeit in die zweite Hälfte. Eine stillschweigende übereinkunft in der Zielsetzung aller Bemühungen bei den Vorbereitungen eines Strafvollzugsgesetzes genügt aber nicht. Die Strafvollzugskommission hat "die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges" zu präzisieren und, wenn möglich, in
einem leicht verständlichen und den Inhalt richtig umschreibenden Kennwort zu fixieren. Hierzu liegt überreiches Material vor, das zu sichten ist.
* Referat, gehalten auf der 6. Arbeitstagung der Strafvollzugskommission des Bundesjustizministeriums im April 1969. In: Tagungsberichte der Strafvollzugskommission. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz. Bonn, 1969. Bd. VI. BI. 48 - 71. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1970 (53) S. 145 - 159. 1 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Heidelberg, 1967. Bd.l S. 28 - 57. 2 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Hamburg, 1968. Bd.2 S. 48 -75. 3 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Tübingen, 1968. Bd.3 S. 39 - 58.
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Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges
Eine Festlegung der Aufgabe empfiehlt sich aus verschiedenen Gründen, einmal um der Gefangenen, dann um der Vollzugsbeamten und der Mitarbeiter in der Strafrechtspflege und schließlich um der Öffentlichkeit willen. - Die im Freiheitsentzug Lebenden haben den Anspruch darauf zu erfahren, was der Gesetzgeber bezweckt, wenn er Freiheitsentzug als Strafe für Rechtsbruch verhängt. Der Vollzugsbedienstete muß seine Berufsziele klar erkennen können, wenn er im Vollzug ernsthaft mitwirken will. Die Mitarbeiter in der Strafrechtspflege sollen wissen, welche Folgen sich aus ihren Entscheidungen, die .etwa auf Freiheitsentzug lauten, ergeben können. Die Öffentlichkeit, als die vom Rechtsbruch Betroffene, besitzt den Anspruch zu wissen, welche Aufgabe dem Freiheitsentzug gesetzt ist. Alle Gruppen müssen ihr aber auch zustimmen, anderenfalls kann mehr geschadet als genutzt werden. Dies ist vor allem bei der Öffentlichkeit auch deshalb nötig, weil die Wiedereinbeziehung des aus dem Freiheitsentzug Entlassenen nicht nur mit ihrer passiven Duldung, sondern allein durch ihre aktive Mitwirkung erhofft und erreicht werden kann. Der im Freiheitsentzug Lebende muß diese Aufgabe bejahen und ihre Erfüllung selbst mit anstreben, weil nur dann Aussicht auf Erreichen des noch zu klärenden und zu formulierenden Zieles besteht. Es handelt sich bei der versuchten Lösung der im Thema gestellten Verpflichtung aber keineswegs nur um eine philologische Aufgabe, um eine Formulierungshilfe. Es geht um Klärung der Prinzipien, aus denen im Laufe der Entwicklung des deutschen Gefängniswesens jeweils zum Teil verschiedene Aufgaben gewählt wurden'. Einzelheiten des Entwurfs eines Paragraphen: Aufgabe des Vollzuges von Freiheitsstrafen, mit Begründung, wie sie z. B. in der Eingabe der Strafvollzugskommission der Eva,ngelischen Kirche in Deutschland erarbeitet und am 27.10.1966 dem Herrn Bundesminister der Justiz übermittelt wurden5 , sollen hier nicht wiederholt werden. Nicht zuletzt möchte ich betonen, daß meine Ausführungen vor allem als Grundlage für die Aussprache dienen möchten. I
Die "Aufgabe des Freiheitsentzugs" ist aber nicht nur sachlich richtig, sondern auCh jedem Bürger verständlich und zeitgemäß zu formulieren. Von dieser Forderung ausgehend gilt es zunächst, die Bearbeitung des Themas auf den Vollzug der richterlich verhängten Freiheitsstrafe an 4 Fr. Trost: Die Aufbauprinzipien der Erziehungsheime. In: Erziehung im Wandel. Darmstadt, 1955. S. 139 ff. li Abgedruckt in: Zeitschrift für Strafvollzug 1966 (15) S. 259 - 266.
Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges
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Erwachsenen zu begrenzen. Ob die Durchführung des Freiheitsentzuges auf Grund von "Maßregeln der Besserung und Sicherung" mit einbe~ zogen wird, hängt davon ab, welche Bestimmungen das neue StGB hierüber bringt. Die Einsichten, die bei dem bisherigen Vollzug von Freiheitsstrafen gewonnen wurden, sind dabei zu berücksichtigen. Ob und inwieweit etwa Erfahrungen aus der Situation der Kriegsgefangen~ schaft oder der Inhaftierung aus politischen Gründen mit ausgewertet werden sollen oder können, bleibe offen. Die Aufgabe des Jugendstrafvollzugs ist im JGG 1953 in § 91 festgelegt. Aus. der Praxis ist festzuhalten: die Formulierung hat sich bewährt. Es empfiehlt sich, eine vergleichbare gesetzliche Fassung der Aufgaben des Erwachsenenvollzuges in dem neuen StGB zu bringen. Sicher sollte eine solche Präzisierung im Strafvollzugsgesetz enthalten sein. Welche fachlich wichtigen Dokumente, die auf das Thema Bezug nehmen, liegen aus neuerer Zeit vor? 1. Bei Beginn der Arbeiten der "Großen Strafrechtskommission" stellte der Vertreter des Bundesministers der Justiz die Frage: "Besteht übereinstimmung ... darüber, daß für alle Normalfälle das primäre Ziel des Strafvollzuges heute der Resozialisierungsgedanke ist ... ?" Die Frage wurde bejaht6• 2. Der Strafvollzugsausschuß der Länder vereinbarte in der DVollzO von 1961, die als Vorarbeit zum Strafvollzugsgesetz betrachtet werden kann, nach schwierigen Verhandlungen, in Nr.57: "Zweck und Ziel des Strafvollzuges", besteht darin, den Gefangenen zu fördern, ein gesetzmäßiges Leben zu führen. 3. Die EKD legte, wie bereits erwähnt, das Ergebnis der Arbeiten ihrer Strafvollzugskommission zum gleichen Thema in einer Eingabe dem Bundesgesetzgeber am 27.10.1966 vor und unterbreitete den Vorschlag, in einer Novelle zum derzeit geltenden StGB die "Aufgabe von Freiheitsstrafen" zu regeln (siehe Anm. 5). 4. Der Sonderausschuß Strafrecht des Bundestages (5. Wahlperiode) nahm ebenfalls Stellung zu unserem Thema, prüfte die Verwendung des Begriffs "Resozialisierung" und beschloß, ihn zu verwenden1 • 5. Schließlich forderte der Alternativ-EntWurf 1966, daß der Vollzug der Freiheitsstrafe "nicht etwa der Bekräftigung des in der Verurteilung enthaltenen Tadels, sondern allein der Resozialisierung des Täters dienen solle ... "8. Aus dem Aufzählen von Gremien und FundsteIlen mit Formulierungen zum Thema sowie aus den bisherigen Verhandlungen der Kommis8 Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskornmission.1. Bd. Grundsatzfragen. 3. Sitzung vom 30. 6. 1954, S. 55. 7 Niederschriften des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, 115. Sitzung vom 8. 10. 1968, S.2239. 8 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil. Vorgelegt von JiLrgen Baumann u.a. ·Tübingen, 1966. S. 75.
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Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges
sion ergibt sich das Bestreben, eine zeitgemäße Bezeichnung für das genannte Ziel zu finden. Zugleich wird eine weitgehende übereinstimmung in der Zielsetzung deutlich. Drei Kennworte, so möchte ich die in unserer Fachsprache üblichen Vokabeln nennen, "Erziehung", "Resozialisierung" und "Sozialisation" werden als Aufgabe des Freiheitsentzuges am häufigsten genannt. Welche Formulierung wünscht die Kommission dem Gesetzgeber vorzuschlagen? Eine der drei genannten oder etwa eine neue? In letzter Zeit wird häufiger von dem Kennwort "Integration" gesprochen9 • Freilich wäre es falsch zu übersehen, daß die Personenkreise, um derentwillen vor allem eine klare und zugleich für die Sache werbende F;assung angestrebt wird, zum Teil weit davon entfernt sind, die Inhalte der eben erwähnten Begriffe zu bejahen. Als Beispiel für eine völlig andere Ansicht sei aus dem Beschluß des OLG Ramm von 1966 zitiert: "Und dadurch das Abschreckungs-, Vergeltungs-, Sühne- und Besserungsziel der Bestrafung herbeizuführen ...10." EbeThaTd Schmidt nannte ein solches Nebeneinander höchst fragwürdigl l . Dies ist es vor allem auch, weil es nicht die Funktionen bei Verhängung der Strafe durch den Richter und bei dem Vollzug des Freiheitsentzuges durch den Vollzugsbediensteten klar voneinander unterscheidet. In der Kommission bestand aber Einmütigkeit über die Eigenständigkeit des Vollzuges und seiner besonderen, andersartigen Zielsetzung. Bereits in den zwanziger Jahren formulierte HeTman Nohl: "Es ist eine entscheidende Wendung der letzten Jahrzehnte, daß man im Strafvollzug die Prävalenz der pädagogischen Funktion der Strafe erkannte. Die Erziehung ist, wenn nicht der Sinn der Strafe, so doch der Sinn des Strafvollzuges!2." Auf Einzelheiten ist im vorliegenden Rahmen nicht einzugehen. Die in dem Beschluß des OLG Ramm verwendeten Begriffe können aber nicht nur Anlaß geben festzustellen: Ein solches Nebeneinander verschiedener Aufgaben ist bei der künftigen Gefangenenbehandlung nicht mehr zulässig, sondern die Prävalenz einer Aufgabe ist klar herauszustellen. Sie geben auch weiter Anlaß, zumindest an Einzelbeispielen zu klären, was die verwendeten Vokabeln früheren Generationen von Fachleuten sagen wollten. Bei aller gebotenen Beachtung der Tradition ist eine Neubesinnung auf zeitgemäße Begriffe nötig. 9 G. Deimling: "Resozialisierung" im Spannungsfeld von Strafanstalt und Gesellschaft. Zeitschrift für Strafvollzug 1968 (17) S.251. 10 Zeitschrift für Strafvollzug 1967 (16) S. 250 - 254. 11 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Heidelberg, 1967. Bd. i. S.28. 12 H. Nohl: Der Sinn der Strafe. In: Jugendwohlfahrt. Leipzig, 1927. S.95.
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In diesem Zusammenhang sei weiter ganz allgemein darauf verwiesen, wie unsicher und ungenau der Sprachgebrauch in unserem Fachbereich vielfach ist. Während z. B. im JGG 1953 der Gesetzgeber an keiner Stelle von "Gefangener" spricht, er nennt diesen Personenkreis ausschließlich "zu Jugendstrafe Verurteilte", tut es die Praxis noch immer. Das im § 91 JGG angestrebte Ziel wird dadurch in Zweifel gezogen. Dieser Sprachgebrauch, der ja zum Teil einer ablehnenden Gesinnung entspricht, verwischt den ernsthaft nicht mehr bestrittenen Unterschied zwischen dem Vollzug der Jugendstrafe und dem der Erwachsenenstrafe. - Auch der Sprachgebrauch im Bereich der Untersuchungshaft zeigt sprachliche Nachlässigkeiten. Bei der bestehenden grundsätzlichen Verschiedenheit von Untersuchungshaft und Strafhaft, sollte m. E. nur I;esprochen werden von: "Durchführung der Untersuchungshaft" und "Vollzug der Strafhaft". Weiter ist der in Untersuchungshaft Gehaltene "Untersuchungshäftling" zu unterscheiden vom "Strafgefangenen". - Aber auch der Inhalt der Begriffe kann sich wandeln, und zweifellos hat es eine Bedeutung, wenn statt vom "Verbrecher" mehr und mehr vom "Rechtsbrecher" gesprochen wird.
Es ist sicher erlaubt festzuhalten: Unklarheiten in der Formulierung der erwähnten Begriffe und nachlässiger Sprachgebrauch schaden der Sache. Schließlich ist bei dem erörterten Thema ebenfalls nicht unwichtig, wenn unterschieden wird zwischen den Aufgaben des "Strafvollzuges" und denen des "Freiheitsentzuges". In Fachkreisen besteht darin übereinstimmung von "Erziehung" bei den zu Jugendstrafe Verurteilten und von "Behandlung" bei den zu Erwachsenenstrafe Verurteilten zu sprechen. Womit wird dieser verschiedene Sprachgebrauch begründet? Folgert er allein aus der Tatsache, daß die im Jugendstrafvollzug Gehaltenen im Durchschnitt etwa 10 -15 Jahre jünger sind als die im Erwachsenenvollzug? Zwingt und rechtfertigt dieser Altersunterschied eine so weitgehend versChiedene Zielsetzung? Diese Frage wurde bisher stets bejaht, aber häufig wurde, besonders in den zwanziger Jahren, auch die Aufgabe des Strafvollzugs an Erwachsenen mit "Erziehung" gekennzeichnet. - Mir liegt daran, im vorliegenden Zusammenhang festzuhalten, daß hier Generationsunterschiede nicht nur bei den vom Vollzug Betroffenen, sondern bei den am Vollzug beteiligten Freien, die erziehen oder behandeln, zu beachten sind. Es verwenden, von Ausnahmen abgesehen, z. Z. die drei Generationen, zum Teil auch in der Strafvollzugskommission, drei verschiedene Kennworte. Die ältere Generation spricht von "Erziehung", die mittlere von "Resozialisierung" und die jüngere von "Sozialisation". Welchen Sinn hat diese verschiedene Formulierung? Der Versuch, die ideengeschichtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen, kann hierbei zur Klärung beitragen. Es ergibt sich - was noch im einzelnen auszuführen sein wird -, daß in jeder Periode des Vollzugs eine ihn kennzeichnende Fachsprache gesprochen wird. Diese ist zeitgebunden und nur aus der Kenntnis der jeweiligen Grundauffassung, des Prinzips des Strafvollzuges verständlich.
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Die hier angestrebte Klärung erfolgt also nicht etwa um der Geschichte der Sprache willen, sondern ausschließlich in der Absicht herauszufinden, welcher Begriff, ich sprach von Kennwort, zeitgemäß ist und welche Vokabeln bereits "verbraucht" sind. II
a) In den bisherigen Ausführungen habe ich wiederholt unterschieden zwischen Prinzipien, unter denen ich hier die Grund- und Gesamtauffassung einer bestimmten Strafvollzugsperiodeverstehen möchte, und den daraus sich ergebenden· Aufgaben. Ein solcher ideengeschichtlicher Rückblick, wenn dieses anspruchsvolle Wort hier verwendet werden darf, hätte herauszuarbeiten, welches Prinzip welche Ziele setzte. Daraus müßte sich die Verflechtung unseres Themas mit den Gegebenheitengesellschaftlicher, rechtlicher, philosophischer und psychologischer Art ergeben. Da dieStrafrechtspfiege zugleich eine kriminalpolitische Gegebenheit ist, kann die anzustellende Betrachtung nicht die treibenden. Kräfte im politischen Leben unseres Volkes, in seiner Geschichte - ich meine hier die, die mit den Kennworten "Konservativismus", "Liberalismus" und "Sozialismus" liezeichnet werden - übersehen. Die drei genannten Strömungen wirken sich seit der Aufklärung in drei Perioden der Entwicklung des Gefängniswesens in Deutschland aus und prägen ihrerseits jeweils verschiedene Kennworte, mit denen die Aufgaben des Freiheitsentzuges umschrieben werden. Die religiösen und die philosophischen Ideen der Aufklärung, die Auswirkungen der Erweckungsbewegung und das Entstehen eines neuen Rechtsdenkens mit unter dem Einfluß der französischen Revolution, die Bewegung des deutschen Idealismus und weitere Ideen, die das 19. Jahrhundert kennzeichnen, kÖnnen hier nur angedeutet werden. Eine Darstellung der Zusammenhänge von Strafverfolgung, Straferkenntnis und Strafvollzug gibt Eberhard Schmidt in seiner "Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege"13. Bereits in der Anfangsperiode des deutschen Gefängniswesens, die unter dem Einfluß des Amsterdamer Zuchthauses. stand, wird ein Prinzip deutlich. Max Weber wies auf die Bedeutung der Lehre des Calvinismus über die "Arbeit" Ende des 16. Jahrhunderts hin. Gustav Radbruch stellte in seinem Aufsatz: "Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund" heraus, daß die Weltwirkung des erzieherischen Strafvollzugs erst von Amsterdam ausgegangen ist. "Der Erziehungsgedanke, der den Zuchthäusern zugrunde liegt, meint also nicht, wie nach moderner Auffassung, Erziehung im Rahmen des Vollzugs der Strafe, vielmehr, daß die Strafe selbst Erziehung sei - eben 13
111. Auft. Göttingen, 1965.
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Züchtigung sei. Was die früheren Zuchthäuser von der Erziehungsstrafe in ihrem heutigen Sinn unterscheidet, ist also nicht nur die unvollkommene Durchführung, vielmehr eine andere Auffassung des Erziehungsgedankens14 • " über das Wort "Zucht", seine Deutung und seine Verwendung, bringt z. B. das Deutsche Wörterbuch, begonnen von Jakob Grimm, ausführliche Angaben. Eine kurze Betrachtung der angedeuteten Perioden, der Zeiten nach der Hochaufklärung, vermag m. E. Einsichten in unser Problem zu vermitteln, die nicht nur die Lage in der Gegenwart klären, sondern in die Zukunft weisen. Bei Betrachtung unserer neueren politischen Geschichte, soweit sie als Entwicklung unserer Gesellschaft unter den drei Kennworten "Konservativismus", "Liberalismus", "Sozialismus" auch für die Entwicklung des deutschen Gefängniswesens von Bedeutung ist, ergeben sich für unser Fachgebiet drei Perioden. Sie lassen sich nicht scharf voneinander trennen, Gegebenheiten fließen ineinander über, Zwischenformen entstehen. Dennoch empfiehlt sich, begrifflich möglichst klar abzugrenzen und gelegentlich auch schwarz-weiß zu zeichnen. Dabei bleibe ich mir bewußt, in dieser Sitzung der Strafvollzugskommission vor allem Unterlagen zur Aussprache über die Aufgaben des Freiheitsentzugs geben zu sollen. Unter diesen Vorbehalten lassen sich im Laufe der letzten 200 Jahre der Geschichte unseres Freiheitsentzugs drei Perioden unterscheiden: Von 1777 -1871, von 1871-1914 und von 1914 bis heute. Für die Aufgabe des Vollzugs der Freiheitsstrafe während dieser drei Perioden könnten Daten zusammengestellt werden über: 1. Prinzipien und Aufgaben, 2. Gesellschaft und Funktionäre im Vollzug, 3. Vollzugsform und Differenzierung der Anstalten, 4. Geist der Anstalt und Anrede der Gefangenen, 5. Arbeit, Freizeit und Disziplinarmaßnahmen, 6. Forschungsgebiete, Fachorganisationen und Literaturdokumente und 7. übernationale Strömungen und Einflüsse. Bei Zusammenstellung der Tatsachen bietet sich eine Fülle von Stoff, gerade auch bezüglich der Aufgabe des Freiheitsentzugs an. Es bestehen mehrere Möglichkeiten, den Stoff auszubreiten, etwa in Form einer kurzen Skizze der Perioden und Ermittlung der kennzeichnenden Prinzipien und Aufgaben, oder einer Darstellung nach den von 1 - 7 angegebenen Sachbereichen innerhalb der drei Perioden. Ich wähle die erste Möglichkeit. 14 G. Radbruch: Zeitschrift für Strafvollzug 1952 (3) S. 168. L. Frede: Zur Frage des Anfangs eines resozialisierenden Strafvollzugs. Monatsschrift für Kriminalbiologie u. Strafrechtsrefornl 1942 (33) S. 195.
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b) Das Gedankengut, das im Laufe der französischen Revolution eingebracht wurde und das als kennzeichnend für die Hochaufklärung angesehen wird, bestimmt nicht nur die erste Periode, sondern beeinflußt z. T. noch die Gegenwart. Wie lange es dauern kann, bis das Kulturgut eines Zeitabschnittes sich in Strafanstalten auswirkt, ist dabei zu beobachten. Unter Auswertung der geringen Zahl wissenschaftlicher Arbeiten über diese Zeit zum Thema und unter Beachtung der leitenden politischen Idee des Konservativismus in Deutschland sei festgehalten: In Deutschland bewahrte sich im 19. Jahrhundert noch weitgehend die äußere Erscheinungsform einer Gemeinsamkeit der Anschauungen über Staat und Kirche. Die Verantwortlichen im Gefängniswesen hatten als Prinzip für ihr Bestreben während des Freiheitsentzugs die vom Christentum mitgeprägte Ansicht: Verwahren um zu "retten". Dem straffällig Gewordenen, dem Sünder, sollte Hilfestellung geleistet werden, damit er seine Schuld sühne, sich durch Einzelhaft bessere und an Ordnung und Arbeit gewöhne. Das war auch das Ziel von N. H. Julius und J. H. Wichern. Das Kennwort lautete: "moralische Besserung" oder "Moralität" . Die aus privatem Entschluß, vor allem aus religiösen Empfindungen, von John Howard erstmals angestellten und 1777 veröffentlichten Erhebungen über den Zustand der Gefängnisse in seiner näheren und weiteren Umwelt fanden ihre Fortsetzung. In Deutschland veröffentlichte der hallische Gefängnisgeistliche H. B. Wagnitz seine "Historischen Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland" (1791). Diese "Nachrichten" beruhen entweder auf eigenen Beobachtungen oder auf Berichten von Verantwortlichen. Wagnitz teilt uneingeschränkt die Auffassung des am Zuchthaus zu Brieg in Schlesien nebenamtlich tätigen Arztes: "Besserung ist der Hauptgegenstand der Zuchthäuser. Die Züchtlinge sind zur Strafe ihres Verbrechens als übeltäter, aber auch als Menschen, die sich bessern können, zu behandeln. Der Züchtling ist als ein moralisch Kranker anzusehenl5 •" Da der Vollzug in staatlichen Einrichtungen erfolgte, können die dort geltenden Reglements, so vor allem das Rawiczer Reglement von 1835, als Quellen für Ziele und Methoden gelten. Der Gefangene soll sich in sittlicher und religiöser Beziehung "bessern"16. Mit unter dem Einfluß der französischen Revolution beginnt aber das liberale Bürgertum die Gemeinsamkeit dieser Anschauungen anzu15 H. B. Wagnitz: Historische Nachrichten ... Bd. I 1791, S.305. G. Saam: Quellenstudien zur Geschichte des deutschen Zuchthauswesens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Leipzig, 1936, S.17/18. 18 A. Krebs: Auffassungen über die Aufgaben des Strafvollzuges in Deutschland seit der Aufklärung. Zeitschrift für Strafvollzug 1962 (11) S.141.
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zweifeln und zu bekämpfen. So wird im Freiheitsentzug dem Ziele der "Moralität", bald das Ziel der "Legalität" entgegengesetzt17 • Nur an wenigen Strafanstalten in Deutschland wird das aus der Konzeption "Sünder zu retten" eingeführte Einzelhaftsystem folgerichtig durchgeführt. Die Einzelhaft galt als das Mittel der Erziehung, und ihre ideengeschichtliche Bedeutung verdiente eine Sonderstudie. Hier sei mit Radbruch festgehalten: "Die Einzelhaft kann ihre religiöse Konzeption nicht verleugnen18." Auf allen Teilgebieten des Freiheitsentzugs zeigte sich damals die Spannung in der Zielsetzung von Moralität und Legalität. Nicht als ob Spannung unter allen Umständen unfruchtbar und abzulehnen wäre. Im Gegenteil! Aber hier hat sie dazu beigetragen, daß Repression die Praxis beherrschte. Im mißverstandenen autoritären Denken wurde der Vollzug praktiziert. Der Gefangene stand im 19. Jahrhundert vielfach als Objekt auf der untersten Stufe des militärähnlichen Aufbaues des Strafvollzugs. Bedingungsloser Gehorsam wurde gefordert. Gesühnt werden sollte durch Arbeit. Die von Voltaire geprägte Formel (1766): For~es les hommes au travail, vous les rendez honnetes gens19, obwohl von einem Liberalen gesprochen, galt in diesem Zeitabschnitt und wirkt nach bis in unsere Tage. Die damals geltenden Vollzugsziele wurden mit folgenden Kennworten umschrieben: Abschreckung, Besserung, Gewöhnung an Ordnung und Arbeit, Einsicht in Schuld, Sicherheit, Sühne, Vergeltung, Verhütung des Rückfalls, Zucht. Die wichtigsten angewendeten Mittel zur Erreichung der Ziele waren: Arbeit, Einzelhaft, religiöse übungen, Zwang. e) In der Periode des Liberalismus setzten sich seine Ideen in Deutschland vor allem in dem Zeitabschnitt von 1871 bis 1914 durch. Diese Periode kann auch als die zweite des deutschen Gefängniswesens bezeichnet werden. Sie überschneidet sich vielfach mit der ersten Periode, aber deutlich wandelte sich das "Besserungsprinzip" im religiöskirchlichen Sinn zum rechtlichen, zum staatlichen "Legalitätsprinzip" . Die Gründe für diese Wandlung liegen auch in dem neuen, mit vom Idealismus geprägten Prinzip des Rechtsdenkens. Bis in die Gegenwart wirken diese Gegensätze. Unter anderem wird die Frage aufgeworfen, ob der Staat in seinen Vollzugsanstalten das so weitgehende Recht habe, Einfluß auf das Denken und Handeln der Anstaltsinsassen zu nehmen, 17 "Legalität" im Sinne von Beachtung der geltenden Gesetze. Die Motive sind nicht entscheidend. A. H. von Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen. Frankfurt/Leipzig, 1803, S. 8. 18 G. Radbruch: Die Psychologie der Gefangenschaft (1911). Zeitschrift für Strafvollzug 1952 (3) S.143. 18 G. Radbruch: Lesefrüchte. Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 1933 (24) S. 92.
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"darf man Sozialisation auch erzwingen"20? Neben das Prinzip: Retten vor weiterem Verderb,en, tritt immer wieder das: Aufrechterhalten der staatlichen Ordnung durch Verwahren. Damit wird die Erwartung verbunden, daß die Bereitschaft zu straffreiem Verhalten durch Abschrekkung und Gewöhnung an Ordnung und Arbeit wachse. Schuld, Sühne, Vergeltung werden durchaus bejaht, aber nicht mehr vom Religiösen her, vom Wissell um die Sonderung von Gott und seiner Heilslehre, sondern vom Weltlichen her, von der angestrebten rechtsstaatlichen Ordnung der Gesellschaft. Die Gemeinsamkeit der Anschauungen über die Welt und über Gott hat sich weitgehend aufgelöst. Dieser Vorgang, der das liberale Bürgertumerfaßt, muß· sich auch gegenüber der noch stark konservativ bestimmten Strafrechtspflege .besonders im, Freiheitsentzug auswirken und neue Ziele setzen. Der bereits erwähnte Kampf, der im 19. Jahrhundert auf unserem Fachgebiet "tobte" und einen· großen Teil der aufbauwilligen Kräfte absorbierte, ging um Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft. Eine Klärung der Prinzipien brachte Franz von Liszt: Die Strafe sollte nach dem Gedanken der Spezialprävention ausgerichtet und gegebenenfalls durch "Maßnahmen der Sicherung und Besserung" ergänzt werden. Folgerichtig wurde auch die "unbestimmte Verurteilung" gefordert. Erwähnenswert ist, daß dies bereits im Jahre 1880 der Psychiater KraepeUn in seiner Veröffentlichung: "Abschaffung des Strafmaßes" getan hatte. Das Lisztsche Marburger Programm von 1882 kann als das Dokument dieser zweiten Periode gelten. Die klassische Formulierung der Aufgaben lautete: 1. Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher, 2. Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher, 3. Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher. Der von Franz von Liszt verwendete Begriff der "Besserung" wird von ihm definiert: "Einpflanzung und Kräftigung altruistischer sozialer Motive" und "Abschreckung", "Einpflanzung und Kräftigung egoistischer, aber in der Wirkung mit den altruistischen zusammenfa:llender Motive"u.
Was das Kennwort "Besserung" anlangt, so ist festzuhalten, das z; B. J. H. Wiehern es in seiner berühmt gewordenen Rede als Vortragender Rat im Ministerium des Innern in Angelegenheiten der Strafanstalten und des Armenwesens in der 57. Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses am 2.10. 1862 ablehnte. Mit diesem Wort bleibe immer der Begriff des Künstlichen von außen Gemachten verbunden. Die Menschen20 H. Schüler-Springorum: Die Rechtsstellung des Gefangenen. In: Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Hamburg. Bd.2, 1968, S.74. 21 Fr. von Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882). In: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Berlin, 1905, S.163.
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natur lasse sich nicht wie ein Kleid stückweise "bessern", es komme vielmehr auf die Schöpfung eines neuen Lebens an, und dieses Leben könne nur geboren werden aus der Freiheit des christlichen Glaubeng22. Aus diesem Gedankengang folgerte Wiehern: "Besserungsanstalt ist ein Wort, das überhaupt nicht existieren müßte23 ." In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts schrieb Walter Rathenau an das Präsidium des Berliner "Vereins zur Besserung der Strafgefangenen", aus liberaler Gesinnung heraus: "Ich kann es nicht unterlassen ... , darauf hinzuweisen, daß der Name Ihres Vereins mein Empfinden verletzt. Es entspricht nicht meiner Auffassung, daß ein Teil der Menschen von sich aussagt, daß· er die Bestimmung habe, einen anderen Teil zu bessern24 ." Gustav Radbrueh. äußerte 1932 zu dem Begrüf der "bürgerlichen Besserung": In der Tat würde ein solcher nur auf das rechtmäßige äußere Verhalten ohne Rücksicht auf die zugrundeliegende Gesinnung gerichteter Strafvollzug nicht sowohl eine Besserung als eine bloße Witzigung des Rechtsbrechers bedeuten. Nur Weckung und Festigung der Rechtsgesinnung . vermag eine zuverlässige Gewähr rechtlichen Verhaltens zu schaffen. Deshalb brauchen wir heute nicht mehr gern das überdies allzu pharisäische Wort "Besserung", sondern lieber den zugleich innerlicher gerichteten und weniger überheblichen· Namen "Erziehung"2'5. Aus diesen Bekenntnissen wird der Wandel der Begriffe der Aufgabe des Freiheitsentzuges deutlich. Sie verpflichten zu besonderer Sorgfalt in Unserem Sprachgebrauch. Der Gesetzgeber sollte, das darf schon hier festgehalten werden, die Folgerung ziehen und z. B. die Formel "Maßregeln der Sicherung und· Besserung" vermeiden. Es stellt sich die Frage, wie wirkte sich in der Praxis des Vollzuges diese Auseinandersetzung zwischen konservativ-christlichem und liberalnaturwissenschaftlich orientiertem Denken aus? Eine eingehende Antwort würde die Grenzen des Themas überschreiten. Dennoch möchte ich auf einige Symptome der Auseinandersetzung in der Entwicklung des deutschen Gefängniswesens hinweisen. Nach. dem Scheitern des Aufbegehrens 1848/49 ~orderte Bischof Ketteler - Mainz im Jahre 1858 von der Regierung des GroßherzogtumsHessen die Trennung der 22 J. H. Wiehern: Rede, gehalten in der· 57. Sitzung des preuß. Abgeordnetenhauses, am 2.10.1862. In: Ges. Schriften. Bd.4. Hamburg, 1905, S.362. 23 J. H. Wiehern: Die Gestaltungen der Gefangenenfrage in Deutschland, Amerika, England und Frankreich seit dem· Ende des vorigen Jahrhunderts (1857). In: Ges. Schriften. Bd.4. Hamburg, 1905, S. 119. 24 G. Radbrueh: Lesefrüchte. Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 1933 (24) S.97. 25. G. Radbrueh: Der Erziehungsgedanke im Strafwesen (1932). Zeitschrift für Strafvollzug 1952 (3) S.154/155.
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staatlichen Anstalten nach Konfessionen und die übergabe der katholischen Strafanstalten an geistliche Korporationen26 • Von Staats wegen erfolgte nichts auf diese Forderung. Der Gegensatz der Prinzipien wurde auch von der protestantischen Seite her sichtbar. J. H. Wiehern hatte, obwohl noch nicht Referent für das preußische Gefängniswesen (erst seit 1857), seit 1856 in seinem Rettungshaus in Hamburg-Horn Aufseher und andere Vollzugsbedienstete ausbilden lassen. Sie wurden im gleichen Jahre in der Strafanstalt Berlin-Moabit tätig. Das Mißlingen dieses Versuchs ist bekannt. Einzelne Bedienstete waren ihren Aufgaben nicht gewachsen. Nach dem Versagen wendete sich der liberale Gefängnisreformer Franz von Holtzendorff als Mitglied des Preußischen Landtags im Jahre 1861 entschieden gegen die Mitarbeit von Vertretern eines "protestantischen Ordens im preußischen Strafvollzug"Z7. Der Abgeordnete bewirkte mit ein Scheitern der Pläne Wieherns bezüglich der Beamtenausbildung. So unterlagen zwar die Vertreter der konservativen Kräfte, Bischof Kettele,' und J. H. Wiehern, die das Ziel: "Retten" mit religiösen, kirchlichen Mitteln anstrebten, den liberalen Tendenzen. Aber es kam dennoch nicht zu einer klaren Zielsetzung der Aufgaben, auch nicht im Sinne der Vorschläge Franz von Liszts. Der Streit der Prinzipien ging weiter. Eine Klärung wurde mit dadurch erschwert, daß sich mehr und mehr neue Ideen, die von der Bewegung des Sozialismus getragen waren, herausbildeten und auch auf den Freiheitsentzug ihre Wirkung ausübten. Zusammenfassend seien nochmals die Kennworte, mit denen die Vertreter des liberalen Rechtsstaats die hier zu erörternden Aufgaben umschrieben, zusammengestellt. Zunächst übernahmen sie weitgehend die während der ersten Periode verwendeten Begriffe. Dann ergänzten sie diese mit: Erziehung, besonders zu Rechtsgesinnung, Resozialisierung, sittliche Wandlung. Als Mittel galten weitgehend die auch während der ersten Periode bevorzugten: dazu kamen Fortbildung der Gefangenen, Lockerung des Vollzuges (z. B. Außenarbeiten), Persönlichkeitserforschung (kriminalbiologischer Dienst), Progression (Stufenstrafvollzug), Wahrung der Autorität. d) Welche Prinzipien entwickelte die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ständig wachsende soziale Bewegung auf unserem Fachgebiet? Welche Ziele stellte sie der hier zu erörternden Aufgabe während der Periode ihres Mitwirkens an der staatlichen Führung? Diese dritte Periode kann von 1918 bis in die Gegenwart datiert werden28 • 26 E. E. Hoffmann: Das Gefängniswesen in Hessen. Heidelberg, 1899 (Sonderheft der "Blätter für Gefängniskunde"), S. 26. 27 H. Kriegsmann: Einführung in die Gefängniskunde. Heidelberg, 1912,
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Ursprünglich von den herrschenden Gesellschaftsklassen verfolgt, die zwar selbst untereinander im Bereich Aufgabe des Freiheitsentzugs uneins waren, propagierten die Sozialisten eine völlige Änderung durch revolutionäre Akte. Als überzeugungstäter erlebte ein Teil von ihnen den Strafvollzug, in dem "Besserung" im christlichen oder im staatlichen Sinne aufgefaßt miteinander um Vorherrschaft stritten. Eines der eindrucksvollsten Dokumente über die Aufgaben des Strafvollzuges aus der Sicht eines Sozialisten ist der Text von KarL Liebknecht: "Gegen die Freiheitsstrafe." Der "Entwurf" enthält Vorschläge, die er auf Grund seiner Hafteriebnisse während des ersten Weltkrieges im Frühjahr 1918 formulierte. Er forderte u. a.: Erregen der Selbständigkeit, Gewöhnen an freien Verkehr mit pädagogisch gewandten Menschen, Behüten der Rudimente des Selbstvertrauens und deren Ausbau, enges Ketten an die Familie, Ebnen aller Wege nach der Entlassung. Kurz: die soziale Schwächung der Kriminellen beheben oder mildern. So (wie jetzt) bleiben alle Versuche der Resozialisierung des Verbrechers durch die Freiheitsstrafe fruchtloses, aussichtsloses Bemühen. Liebknecht schließt mit dem Satze: "Dabei kann alle Erziehung und psychischgeistige Einwirkung nur dann ein ernstes, bleibendes Resultat zeitigen, wenn die sozialen Vorbedingungen dazu geschaffen werden29 ." Auch bei den Kämpfen um die dritte Lehre gesellschaftlicher Ordnung gab es übergänge wie christlichen Sozialismus oder wie bürgerliche Aktivität im Sinne sozialistischer Anschauungen. Bei Betrachtung der Gegenwart besteht Gefahr allzu subjektiver Anschauungsweise. Die Zeit der NS-Herrschaft klammere ich hier aus. Ihre Bedeutung für den heutigen Strafvollzug ist außerordentlich. Die Entwicklung auch auf dem Gebiet des Gefängniswesens wurde durch sie ungewöhnlich verzögert. Ein großer Teil der Mängel im heutigen Vollzug, insbesondere auch die relative Unklarheit in der AufgabensteIlung, ist mit darauf zurückzuführen. Die Gefahr subjektiver Berichterstattung erkennen, bedeutet die Bereitschaft zum Versuch, Fehler subjektiver Betrachtung möglichst zu vermeiden. Außerdem ist in unserem Kreise der Wille zur gemeinsamen überwindung der Notstände in unseren Vollzugsanstalten so stark, daß gar kein Zweifel darüber entstehen kann, wie sehr es gilt, alle Kräfte, die bereit sind, an der Erneuerung mitzuwirken, ausfindig zu machen und zu aktivieren. e) Die Prinzipien über Strafe und Strafvollzug in unserer Zeit lassen sich m. E. unschwer herausstellen. Allgemein gesagt scheint mir, daß 28 A. Behrle: Die Stellung der deutschen Sozialdemokraten zum Strafvollzug von 1870 bis zur Gegenwart. Berlin/Leipzig, 1931. 29 K. Liebknecht: Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus. Berlin, 1920, S. 127 - 131.
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konstruktive Vorschläge dieser Art für den Strafvollzug aber nicht mehr wie in früheren Perioden von Einzelpersonen auszugehen haben und ausgehen. Die Gemeinschaft Gesinnungsverwandter formuliert die Aufgaben und prägt sie mit. So sind die "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen von 1923", insbesondere § 48: "Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden, daß sie nicht wieder rückfällig werden", wohl entscheidend beeinflußt von Gustav Radbruch. Aber ohne die Mitwirkung vieler Ungenannter, ohne das Anknüpfen an die positive Tradition und schließlich ohne die Mitarbeit der Volksvertretung wären sie nicht denkbar. Der Vollzug in den zwanziger Jahren stand stark unter ihrem Einfluß. Als Gemeinschaft Gesinnungsverwandter in den zwanziger Jahren sei die von Lothar Frede mit Max Griinhut angeregte und geleitete "Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvollzugs" erwähnt. Sie umfaßte einen großen Teil aufbauwilliger Kräfte jener Zeit30 • Nach 1945 entstand das Grundgesetz. Die Formulierung seines Art. 1 enthält mit die Grundkonzeption, von der wir bei Formulierung der künftigen Aufgaben des Freiheitsentzuges, bei aller Scheu vor so gewichtigen Worten wie "Würde des Menschen" auszugehen haben. Welche Kompromisse mit Repräsentanten der früheren Prinzipien geschlossen werden, mag hier offenbleiben. Ebenso bleibe auch offen, ob und inwieweit Gedankengut der "defense sociale", das ebenfalls nicht einheitlich vertreten wird31 , einbezogen werden soll. Schließlich ist auch noch das weitere Prinzip, das des "Heilens", das neben das des "Rettens", des "Wahrens der Rechtsordnung durch Ertüchtigung", der "Beachtung der Menschenwürde" und der daraus folgenden Hilfestellung bei der Eingliederung tritt, hervorzuheben. Die Strafvollzugskommission hat zu diesem vierten Prinzip des Heilens von Personen, die etwa aus krankhafter Psyche straffällig wurden; aber für ihr Tun verantwortlich blieben, bereits Stellung genommen. Sie hat für diesen Personenkreis, vor allem auch für die daraus kommenden Rückfälligen, die Einrichtung sozialtherapeutischer Anstalten empfohlen32 • Bei aller Bedeutung der Vorbilder von therapeutischen Anstalten in Herstedvester und Utrecht möchte ich auf Arbeiten von AZexander MitscherZich hinweisen. Einzelne Stellen aus seinen Veröffentlichungen können als Anweisungen für die Behandlung Straffälliger 30 H. Kühler. Strafvollzug und Strafrechtsreform. Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft f. Reform des Strafvollzuges zum Entwurf des Strafgesetzbuches 1959. Zeitschrift für Strafvollzug 1958/59 (8) S. 233 - 239. 31 Th. Würtenberger: Defense sociale. Ziele und Wege einer neuen kriminalpolitischen Bewegung. Monatsschrift für Kriminologie u. Strafrechtsreform 1957, S. 60 - 65. 32 Zeitschrift für Strafvollzug. 1968 (17) S. 111 - 113.
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in den sozialtherapeutischen Anstalten gelten. Sie. enthalten außerdem Material zum Thema: Aufgabe d~s Freiheitsentzuges33 ; .
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Ausgehend von· der Würde des Menschen, auch des Rechtsbrechers, sind die gegenwärtig verwendeten· Begriffe darauf zu prüfen, ob sie zeitgemäß sind. Dabei ist festzuhalten,. daß gelegentlich die Vokabeln die Aufgaben umschreiben und gleichzeitig das Mittel kennzeichnen, mit dem sie gelöst werden sollen. Es sind dies: Abschreckung, Behan" deIn nicht ohne Liebe, Besserung, Bewährung nach Entlassung, Be.. wältigung der· Freizeit, Bildung, Einfügung in, die sozialstaatliche Ordnung, Erziehung, Erziehung zur Demokratie, Gerechtigkeit, Heranziehen zur Mitverantwortung, Heilen statt Strafen, Lebenshilfe zur Selbsthilfe, Persönlichkeitsbildung, Rechtsgesinnung, Rechtschaffenheit, Schuldeinsicht, Schutz und Sicherung der Öffentlichkeit, Sozialisation, Sühne, Verhütung des Rückfalls, Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtsordnung. f) Zusammenfassend sei festgehalten: Bei der bisher angestellten Betrachtung wurde davon ausgegangen, daß es sich bei Durchführung des Freiheitsentzugs um eine Aufgabe der Gesellschaft handelt. Nach den Prinzipien, durch die sie selbst beeinflußt wird, strebt sie an, auch den Vollzug des Freiheitsentzuges zu gestalten. Die erste skizzierte Periode ist gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat im Ringen um Einfluß im Strafvollzug. Dies geschah, obwohl eine' rel'ativ einheitliche christliche Ge.;. seIlschaft in Erscheinung trat und "mötalische Besserung" auf christlicher Basis als Prinzip guthieß. In der zweiten Periode wird deutlich, wie sich die staatlichen Forderungen durchsetzen und der gesellschaftliche Maßstab, der an Verbrechen und· Strafe, an Rechtsbrecher . und Strafgefangene angelegt wird, sich wandelt. Aus der Einsicht, jede Störung der gesellschaftlichen Ordnung bedeutet Gefahr, wird Verhütung des Rückfalls Ziel des Freiheitsentzuges. Das Individuum hat die gesellschaftlichen Kräfte, Ordnung und· Sicherheit zu unterstützen und nicht zu sabotieren.. Das "Legalitätsprinzip" sollte sich durchsetzen. Bis heute sind in der dritten näher betrachteten Periode seit 1918 noch immer nicht klare Prinzipien 'herausgearbeitet bzw. in der Praxis des Vollzugs anerkannt. Der Umbruch, in dem die gesamte Ordnung unserer pluralistischen Gesellschaft steht, läßt die Spannung zwischen Vergeltung und Hilfestellung ungelÖst. Das Fehlen eines klar gesetzten Akzentes, eines gesetzlich fixierten Zieles analog JGG. § 91, wirkt sich nicht nur in der Praxis des Vollzuges aus, d. h. bei Gefangenen und 33 A. Mitscherlich: Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin. Frankfurt/Main. Bd. 1, 1966, S.74 f;' Bd. 2; 1967, S. 150.
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Vollzugsbediensteten, sondern auch bei Strafentlassenen. Die fehlende klare Zielsetzung hindert wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit und erschwert die Eingliederung des erwachsenen Rechtsbrechers in die Gesellschaft, d. h. seine anthropologische und soziale Integration. Mit diesem Kennwort "Integration" scheint mir die künftige Au~gabe des Freiheitsentzuges am treffendsten gekennzeichnet. Es spricht m. E. für sich selbst und bedarf kaum weiterer Erklärung und Begründung. Auf die drei zum Teil heute verwendeten Begriffe: "Erziehung", "Resozialisierung", "Sozialisation" möchte ich dennoch nochmals kurz eingehen. Das Wort "Erziehung" sollte dem Vollzug an jungen Straffälligen vorbehalten bleiben. Die beiden anderen Vokabeln betonen m. E. zu stark einen mechanischen, technisierten Vorgang und Ablauf. Der "Horror vor dem Fremdwort" "Resozialisierung" kann wohl abgeschüttelt werden34 • Die Formulierung "Sozialisation" klingt an an wirtschaftliche Probleme. Die Umschreibung: Bildung und Festigung der Einzelpersönlichkeit sowie ihre Eingliederung in das soziale Leben, d. h. anthropologische und soziale Integration, kurzgefaßt "Integration", scheint mir treffender. Dies vor allem, weil dabei ein stärkerer Appell an die Eigenleistung der Einzelpersönlichkeit mitklingt, ohne die Umwelt zu übersehen35 • Das während dieser dritten Periode sich mehr und mehr andeutende und allmählich sich durchsetzende Prinzip des Heilens für einen näher bezeichneten Personenkreis von Straffälligen setzt wieder andersartige Aufgaben, die auch die Einführung neuer Methoden fordern. Welche ersten Folgerungen die Strafvollzugskommission daraus mit der Empfehlung: sozialtherapeutische Anstalten einzurichten, gezogen hat, wurde bereits erwähnt. Bei dem Versuch, um der gedanklichen Klärung willen eine Periodeneinteilung vorzunehmen, ergibt sich freilich der mit solchen Bemühungen stets verbundene Mangel. Das Leben ist ein Ganzes, es läßt sich schwer unterteilen, alle Grenzen sind fließend, und die geistigen Strömungen, die Ideen kreuzen sich. Dennoch sollte versucht werden, Idealforderungen heraruszuarbeiten.
111 Bei der weiteren Betrachtung gehe ich davon aus, daß in den verantwortlichen Gremien ernsthaft Bereitschaft besteht, das Prinzip der Würde des Menschen auch auf den bereits gegenwärtig praktizierten 34 Niederschriften des Sonderausschusses für Strafrechtsreform. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, 115. Sitzung vom 8. 10. 1968, S.2239. 35 G. Deimling: "Resozialisierung" im Spannungsfeld von Strafanstalt und Gesellschaft. Zeitschrift für Strafvollzug 1968 (17) S. 259.
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Vollzug des Freiheitsentzugs anzuwenden. Inwieweit taktische Erwägungen in diesem Zusammenhang angestellt werden müssen, bleibe hier offen. Jedenfalls sollte in echter Teamarbeit ein fachlich geeignetes, zukunftsweisendes und zugleich werbendes Kennwort gefunden werden. Zahlreiche Einzelheiten aus den Referaten und den Aussprachen unseres Kreises gaben und geben eine Fülle von Anregungen zum Thema. Die bisher von der Strafvollzugskommission ausgearbeiteten "Grundsätze" und "Empfehlungen", z. B. auf Einführung der Einheitsstrafe3ll, Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe37 , Einrichtung von sozialtherapeutischen Anstalten38 , und schließlich die Anwendung bestimmter Vollzugsmethoden 39 sowie die überlegungen bei den Beratungen der Strafrechtskommission, die für Einführung der relativ unbestimmten Verurteilung sprechen4.0 , lassen erkennen, daß es sich um eine weitgehende Reform handelt, um eine radikale Erneuerung. Die Verwirklichung, auch jede teilweise, bedingt m. E. einen völligen Neuaufbau der Organisation der Einzelanstalt, vor allem aber fordert das Mitarbeiterproblem eine Neuregelung. Ausgehend von dem Prinzip "Würde des Menschen" sind zunächst einmal die "Mindestgrundsätze für die Gefangenenbehandlung von 1955" zu verwirklichen. Diese Absicht kann m. E. nur mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden, wenn eine sorgfältige Erhebung - etwa nach dem kanadischen Muster'l - über den Stand des gegenwärtigen Strafvollzugs in der Bundesrepublik vorliegt. Erst danach kann im einzelnen geplant werden. Immer bleibt zu bedenken, daß der Umbau vorgenommen werden muß, ohne den Ablauf des bestehenden Vollzugs allzu sehr zu belasten. In Anbetracht des föderalistischen Aufbaus unseres Staatswesens wird auch die Frage des Verhältnisses von Bund und Ländern bei Erfüllung der Aufgabe des Freiheitsentzugs erneut zu durchdenken sein. Ist, bei allen Vorbehalten, Strafvollzugsreform nicht vergleichbar mit der Bildungsreform? M. E. folgert aus dem Bundesstrafvollzugsgesetz, wie immer die Bestimmungen im einzelnen lauten mögen, eine Mitwirkung des Bundes bei der Durchführung. Die Kompetenzen des Bundes werden erweitert werden müssen. 88 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Heidelberg, 1967. Bd.1 S.145. 87 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Heidelberg, 1967. Bd.1 S.146/147. 38 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Heidelberg, 1967. Bd.1 S.155. 311 Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Tübingen, 1968. Bd.3 S.101-104. 40 Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) E 1962 mit Begründung. Bundesrat. Drucksache 200/62. S.97. 41 Report of the Royal Commission to investigate the penal system of Canada. Ottawa, 1938.
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Wenn die Strafvollzugskommission im Rahmen des Themas "Aufgabe des Freiheitsentzugs" solche Erwägungen anstellt, wird man kaum mit Recht behaupten können, sie überschreite die ihr gesetzten Grenzen. Eine Kommission von· Sachverständigen hat die Pflicht, Prograrrime, ja "Idealprogramme" aufzustellen. Die gesetzgebenden Gremien haben das Recht, dazu Stellung zu nehmen und je nach der getroffenen Entscheidung daraus Wirklichkeit werden zu lassen. Etwa auftretende Schwierigkeiterimüßten sich leichtübeiwillden lassen, weil im Prinzip Einmütigkeit besteht. Es gilt die rechte Formulierung zu finden, unbeirrt die Folgerungen daraus zu ziehen und sie in rechter Weise .zuvertreten.
Thesen 1. Bei den zuständigen Vertretern von Legislative und Exekutive besteht weitgehende übereinstimmung über das im Freiheitsentzug geltende Prinzip der Wahrung der Würde des Menschen nach Art. 1 des GG. Das Kennwort, das die daraus zu folgernde Aufgabe umschreibt, ist noch nicht festgelegt. 2.. Die kennwortartige Bezeichnung soll erfolgen im Interesse: a) der Gefangenen, denn eine' eindeutige Zielsetzung klärt in der Regel das 'Verhalten, b) der MItwirkenden in der Strafrechtspftege: der strafverfolgen. den, - . erkennenden und - vollstreckenden Instanzen, zur klaren Einsicht in die eigene berufliche Tatigkeit, ' . . . c) vor allem der Strafvollzugsbediensteten, die lernen müssen, ihre Berufsaufgaben zu erkennen und zu erfassen, d) .der Öffentlichkeit, nicht nur deren berufene Vertreter in den Parlamenten, sondern der gesamten' Öffentlichkeit, von deren Verständnis und Zustimmung, das Geschick der Familie des Verurteilten während des Freiheitsentzuges und die Wiederaufnahme des Straffälligen in der Freiheit mit abhängt. '
,
'
3. Bei der Formulierung. ist zu beachten, daß auch die Sprache eine sich wandelnde gesellschaftliche Erscheinung, 'also ·an Zeit und Ort gebunden, ist. Das Kennwort muß deshalb möglichst allgemeinverständlich und werbend, zeitnah und doch überzeitlich sein. Die,sist besonders zu beachten, weil zum 'reil noch heute Begriffe aus früheren Perioden des Gefängniswesens verwendet werden; selbst wenn ihr Inhalt sich wandelte (z.B. das Wort "Zuchthaus"). 4. .Bei Festlegung des Kennwortes ist zu unterscheiden zwischen dem Prinzip - heute der "Würde des Menschen" nach Art. 1 GG - und der daraus sich ergebenden "Aufgabe des Freiheitsentzuges". Es geht darum, mit legalen Mitteln Einsicht in soziales und dieser Würde entspreChendes Verhalten zu erreichen~
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5. Als Prinzipien. bzw. als Kennworte der Aufgaben des Freiheits.entzugs erscheinen: a) "verbraucht": Abschreckung, Besserung, Erziehung, Gewöhnung an Ordnung und Arbeit, Legalität, Moralität, sittliche Wandlung, Sühne, Vergeltung, Zucht, b) weiter von Bedeutung: Arbeit,Autorität, Bewährung,Bildung, Einzelfallhilfe, Einzelhaft, Freizeit, FÜdorge, Gruppenbehandlung, Lebenshilfe zur Selbsthilfe, Mitverantwortung, Persönlichkeit, Rechtsgesinnung, Rechtsordnung, Rechtsstaat, Resozialisierung, Rückfallverhütung, Schuldeinsicht, Selbstverantwortung, Sicherheit, Sozialisation, Strafe, Stufenstrafvollzug, Therapie, Tiefenpsychologie, vorbeugende Hilfsmaßnahmen, c) geeignet: als Kennwort für die künftigen Aufgaben des Freiheitsentzugs "Eingliederung der Einzelpersönlichkeit in das soziale Leben", nach ihrer Bildung und Festigung, d. h. "Integration". 6. Gerade bei Beachtung der Tradition im deutschen Gefängniswesen kommt der Formulierung erhöhte Bedeutung zu. Vielleicht sollte bei der Bezeichnung des Gesetzes das Kennwort, das die Aufgabe des Freiheitsentzugs umschreiben soll, mitgenannt werden, z. B. gesetzliche Regelung des Strafvollzugs, der Integration zur Aufgabe hat. 7. Bei den Beratungen von Einzelheiten der "Aufgaben des Vollzuges von Freiheitsstrafen" empfehle ich, die Eingabe der Strafvollzugskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 7.10. 1966 zugrunde zu legen. Sie wurde am 27.10.1966 dem Herrn Bundesminister der Justiz übermittelt. 8. Vor Abschluß der Beratungen über den von der Strafvollzugskommission vorzubereitenden Vorschlag einer Formulierung sollten in einer baldmöglichst einberufenen Versammlung die Leiter der Erwachsenenvollzugsanstalten (nicht die der Untersuchungshaftanstalten) hierzu gehört werden. 9. Es empfiehlt sich m. E. weiter, zu klären, ob durch eine Umfrage unter Gefangenen, etwa den Insassen offener Anstalten, oder den Angehörigen der obersten Führungsstufe eines Progressivsystems oder den an einer Vollzugsgruppenarbeit Beteiligten Gelegenheit gegeben werden sollte, sich zu dem zu bestimmenden Kennwort zu äußern. 10. Nur bei Zustimmung zu einem Kennwort durch möglichst weite Kreise, insbesondere der Vollzugsbediensteten und der Öffentlichkeit, besteht Aussicht, die gestellte "Aufgabe des Freiheitsentzugs" bestmöglich zu erfüllen.
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11. Exekutive und Legislative müssen beim Vollzug des Freiheitsentzugs enger zusammenwirken. Das Verhältnis der Länder zum Bund ist hinsichtlich der noch zu vereinbarenden Aufgabe des Freiheitsentzuges zu überprüfen. 12. Die Verwirklichung der "Aufgabe des Freiheitsentzuges" darf nicht an finanziellen Erwägungen scheitern.
Erster Teil
Pioniere des Gefängniswesens
1. J ohn Howard Zur Wiederkehr seines 200. Geburtstages (2. September 1726)* Ein zeitgenössiger Stich stellt ihn dar, gekleidet nach damaliger Sitte, aber unter der vorne und hinten aufgeschlagenen breitrandigen Kopfbedeckung schaut ein offenes, gerades Gesicht ruhig in die Welt. Perücke, langschößiger Rock fehlen nicht und stempeln ihn zum Kind seiner Zeit: dennoch ist er darüber hinaus in die unsere gewachsen. Äußere Umstände treffen einen Menschen mit seltener innerer Spannkraft, die bis zu einer Härte und Verranntheit anwachsen kann. Nicht übereilend, sondern langsam prüfend und dann, koste es was es wolle, am notwendig Erkannten festhaltend, so ging Howard durch seine Zeit, durch die Kulturnationen der Erde und noch durch unsere Tage. Untrennlich ist sein persönliches Leben mit "der Aufgabe", die seine Lebensarbeit wurde, verbunden. Alle Merkwürdigkeiten, wie die erste Ehe mit seiner noch einmal so alten Amme, erscheint, im großen Rahmen seines Lebens gesehen, diktiert von seinem Wesen in der Absicht: dankbar zu sein und helfen zu wollen. Auch die zweite Ehe zeigt ihn als den zurückhaltenden, vorsichtigen Familienvorsteher. Daneben aber als Despoten und unbeugsamen Puritaner. Er schließt vor Erneuerung der durch den Tod seiner ersten Frau beendeten Ehe einen förmlichen Vertrag mit seiner zweiten Frau und legt fest: "daß er allein stets entscheide, um allen Schwierigkeiten vorzubeugen, die aus kleinen Anlässen heranwachsen können, und die er als Hauptgrund jeglicher Familienzwistigkeiten erkannt habe." Innere Notwendigkeit ließ ihn zur Hilfeleistung nach Lissabon aufbrechen. Auf der Reise dorthin zum tätigen Beistand für die, durch das Erdbeben notleidende Bevölkerung (1755), wird er durch französische Piraten gefangen genommen und lernt das Gefangenendasein kennen. Nach seiner endlichen Befreiung, nachdem er viel erfahren hatte, gibt er seinen ersten Plan nicht auf, sondern zieht weiter durch Europa, um dann nach seiner Heimat zurückzukehren. Dort 1773 zum Sheriff von Bedfordshire gewählt, erarbeitete er sich eine genaue Kenntnis seines Aufgabenfeldes und wurde durch die dabei gefundenen
* Erschienen in: Meininger Tageblatt vom 2. September 1926. 3 Freiheitsentzug
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Mängel in der Verwaltung der Gefängnisse angeregt, deren Ursachen nachzuspüren. Sie waren bald gefunden: die Beamtenfrage. Die Gefängniswärter, die einzigen Verwalter und Strafvollzugsbeamten, bezogen für ihre Tätigkeit kein Gehalt, sondern mußten ihren Lebensunterhalt aus den ihnen zur Verfügung gestellten Gefangenen herausholen. So kam es vor, daß, wer nicht seine täglichen Unkosten bezahlte, nicht eher entlassen wurde, trotz Strafablauf, bis er alles dem Wärter beglichen hatte. Die Schließer waren Unternehmer eines Gefängnisses, um das sich niemand kümmerte, - bis auf John Howard. Seine scharfe Forderung auf Abstellung der Mißstände, d. h. Bewilligung von Gehalt an die Wärter und geordnete Vollstreckung der Strafe, wurde aus materiellen Gründen abgelehnt. Die Behörden antworteten ihm dagegen, er solle ein Beispiel bringen, daß eine Grafschaft die Lasten des Gefängnisses selbst trage. Und Howard suchte das Beispiel. Landauf, landab in England, Wales, Schottland, Irland, Spanien, Italien, Deutschland, Rußland, Schweden und den Niederlanden. Er fand anderes, eine Fülle von Not und konnte, seinem Wesen entsprechend, nicht mehr aufhören zu suchen. Immer neue Kreise zog der ins Wasser geworfene Stein. So suchte er bis zu seinem Tode aus eigener Kraft und Antrieb. 30 000 Pfund Sterling soll er verbraucht haben, 50 000 englische Meilen (1 Meile gleich 259 Kilometer) soll er gereist sein, und was hat er gehört, gesehen und geschildert! Wie in seinem .l\usgabenbuch reiht er ganz nüchtern Zahl an Zahl und Tatsache ari Tatsache über Gefangene, Beamte, Gehälter, Arbeit, Kontrolle, schreibt eine Einleitung dazu und veröffentlicht so 1777 die Frucht seiner großen Reisen. "Die Zustände in den Gefängnissen von England und Wales, mit einleitendem Vorwort und einem Bericht über einige ausländische Gefängnisse und Hospitäler." Zehn Jahre später berichtet er nochmals speziell über die Hauptlazarette Europas. Das Notizbuch hat ihn bei seiner Reise nie verlassen. Ganz unpersönlich zunächst, steht die Sache im Vordergrund. Begebenheiten, die wohl aus der Zeit zu verstehen sind, aber dennoch den Abgrund zeigen, in denen die unteren Schichten der europäischen Gesellschaft, sei es in Nürnberg oder London, in Paris oder Liverpool, in Italien (Leghorn Fortress) oder Holland (Gent), lebten. Aber vorzugsweise schildert er die Gefängnisse seiner Heimat und entwirft ein erschütterndes Bild des Strafvollzugs seiner Zeit. Die gewaltige Gährung der französischen Revolution in Ursache und Wirkung wird mit dadurch verständlich und zeigt die Verbundenheit von Verbrechen und Gefängniswesen mit den politischen Fragen. Der "Willkomm" bei der Einlieferung, der sich nicht auf Schläge beschränkt, sondern den rohen Scherz des dreimaligen Eintauchens in ein Wasserbecken des auf einem Sitz am Ende eines langen Pfahls angeschnallten
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l. John Howard, zur Wiederkehr seines 200. Geburtstages
Neueingelieferten zur Regel hatte, der gemeinsame Aufenthalt beider Geschlechter und aller Altersstufen in einem Raum, der infolge der Fensterlosigkeit lichtlos und kaum lüftbar bleibt, ausgesetzt den Wärtern, die ohne Kontrolle nach ihrem Belieben die Strafe vollzogen, dabei Wein, Bier usw. gegen teures Geld verabreichten, vergingen Tag und Nacht. Untätigkeit war die Regel, da Arbeitsbeschaffung den Wärtern Arbeit kostete und erst bei guter Organisation Profit versprach. Diese Wunden der Gesellschaftsordnung deckte Howard auf. Schonungslos und doch sanft und ruhig. Niemand konnte ihm übertreibungen oder Unwahrheiten vorwerfen. Er war gewissenhaft! Und Howard weckte auf. Bald nach der Veröffentlichung (1778, 1782) ergehen Gefängnisgesetze, nachdem er bereits vorher vor einer Kommission referiert hatte, und schon 1774 im Unterhaus Abhilfsmaßnahmen beschlossen waren. Nicht in negativer Kritik erschöpfte Howard sich, und darin liegt seine überragende Bedeutung, sondern auf Grund seiner Kenntnis der Dinge im Strafvollzug und Anstaltswesen fordert er, wie bereits erwähnt, für die Beamten Gehälter, d. h. reinliche Scheidung zwischen Staats- und Privatinteressen. Weiter wünschte er äußere Reinlichkeit und kommt damit auf architektonische Fragen, denn Trennung nach Altersstufen und Geschlecht ist für ihn erste Notwendigkeit, wie auch luftige und lichterfüllte Räume (gegen Fenstersteuer). Er verlangt für alle Gefangenen Arbeitsmöglichkeit, und zuletzt darauf aufbauend: Erziehung. Howard ahnt etwas von der Pflicht der Gesellschaft gegen ihre gefangenen Glieder, empfindet eine Verpflichtung, aber nicht nur aus einem Rechtsverhältnis heraus. "Schuldner und Verbrecher sowohl wie auch Kriegsgefangene sind Menschen, und durch Menschen sollten sie wie Menschen behandelt werden", und ganz offen fügte er hinzu: "vielleicht lassen meine Erlebnisse in der Gefangenschaft (1756) meine Sympathien für dieses unglückliche Volk noch größer werden." - Hierin hat er sich selbst erkannt. Der angeborenen Konsequenz folgend, unschöpferisch, handwerksmäßig vielleicht, aber sich selbst treu, wird er durch eigene Erfahrungen darin bestärkt. Nie nimmt Howard, was er nicht selbst gesehen, für wahr an. Der Durchschnittsmensch wächst über sich hinaus zum Wegweiser seines Volkes. Es ist müßig, darüber zu sprechen, wie das Beispiel Frankreichs (1789) in England gewirkt hätte, ohne daß ein Howard einen sehr wichtigen Anlaß zur Empörung beseitigt hatte. Noch heute ist sein klarer Satz nicht erfüllt: "Ich weiß keinen stichhaltigen Grund, warum ein Zuchthaus nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit geleitet werden soll, wie irgend ein anderes Haus, wo die Familie ebenso zahlreich ist." Sein pädagogischer Grundsatz: "Die Aufrechterhaltung der Disziplin geschieht in der Regel wirksamer durch Freundlichkeit, als durch Strenge", kommt nicht aus Schwäche, er 3·
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kann auch fordern, "wer sich nicht einordnen will, soll mit einsamer Einsperrung bei Wasser und Brot bestraft werden". Wesentliche Voraussetzung für diese Behandlung scheint ihm die Möglichkeit sinnvoller Arbeitsleistung zu sein. Make the men diligent and they will be honest, ist die heute oftmals zitierte Forderung. Wenn er sieht, daß die Gefangenen keine Gelegenheit haben, an die frische Luft zu kommen, weil Spaziergang im Hof wegen zerfallener Außenmauer und erhöhter Fluchtgefahr einfach eingestellt wird, da kann er eifern: "Warum werden diese Schäden nicht ausgebessert. Geld ist doch zu Tausenden verfügbar für den Bau von Bezirksämtern und Rathäusern. Diese sehen wir oft aufs großartigste und eleganteste hingestellt, warum sollte gespart werden, wenn die Sitte und das Leben von vielen auf dem Spiele steht, und wenn es unmöglich ist, sollte der Gesetzentwurf ohne dies genehmigt werden? Ich meine, die Lage der kleinen Verbrecher zu verbessern, das Anwachsen von Verbrechen zu verhindern und das Weiterverbreiten dieser Ubel zu verhindern ist Pflicht. Daß dies anstatt verhindert, durch die gegenwärtig bestehenden Unregelmäßigkeiten in den Zuchthäusern gefördert wird, ist allgemein bekannt." Wer solche Worte wagen durfte, mußte doch eine besondere Stellung einnehmen, und so war es auch. überall, wo es die Sache zu verteidigen galt, war er groß. Mögen auch die Familienverhältnisse neben der Beharrlichkeit den Zug des Mißtrauens tragen und lächerlich erscheinen. Howard wuchs in seiner Arbeit und die Arbeit durch ihn. Bis zu seinem Tode, den er in Süd-Rußland beim Besuch von Pestkranken fand (Cherson 12. 1. 1790). Seine Wirkung auf unsere Tage ist verkörpert in der Howard-League, einer Vereinigung von Menschen, die nicht nur die gleichen Ziele im Strafvollzug verfolgen, sondern die das Organ ist, das Howard wünschte zur ständigen privaten Kontrolle der behördlicherseits vernachlässigten Gefängnisse. Howard selbst war kein Gefängnisreformer, das kann nur der Praktiker im Strafvollzug sein, aber er war einer der Ersten, der durch ständigen Besuch der Gefängnisse und der Gefangenen selbst die Grundlagen eines Gefängniswesens erforschte. Er ist das nimmer ruhende Gewissen seiner Zeit geworden und es bis heute geblieben.
John Howard Aus Berichten und Dokumenten· über die Leistungen von John Howard ist bei seinen Lebzeiten und bis in die Gegenwart viel geschrieben worden. Eine sorgfältige Studie von Max Grünhut "John Howard" enthält eine Reihe von Formulierungen, die Howard's Persönlichkeit treffend kennzeichnen. Nach Grünhut besaß Howard drei Eigenschaften, die gewissermaßen die Voraussetzungen für seine Leistungen boten: 1. Er hatte ein lebendiges Interesse an der Beobachtung praktischer Vorgänge, 2. er reiste gerne, 3. er war ein Mann von echter sozialer Verantwortung. Grünhut stellt weiter fest: Das Vermächtnis John Howard's für unsere Zeit besteht 1. in seinem nüchternen Einblick in die wirkliche Auffassung und das Wesen des Lebens im Gefängnis, 2. in dem Gedanken von enger und gegenseitiger Zusammenarbeit von Vertretern wissenschaftlicher Forschung und praktischem sozialem Wirken, 3. in dem Wissen, menschliche Not und Trübsal, wie sie in den Gefängnissen zu Howard's Zeit bestand, konnte endlich gewandelt werden in eine vernünftige Aufgabe sozialen Dienstes und der Wiederaufrichtung. (In: The Howard Journal, Vol. VI, Nov. 1941 p. 34 - 44). Bei einem Aufenthalt in einem alten Patrizierhaus in England, Herbst 1960, fielen mir die Bände von "The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle" in die Hände. Im 67. Band aus dem Jahre 1787 sind zwei Briefe von J ohn Howard abgedruckt, die, wie der damalige Herausgeber mit Recht vermutet, das Wesen John Howard's besonders kennzeichnen. Der erste Brief stammt aus Wien und ist datiert vom 15. 12. 1786. John Howard hatte gelegentlich dieses Wiener Aufenthalts die Ehre gehabt, eine lange Aussprache mit Kaiser Joseph 11. zu führen, in welcher er den Zustand der Gefängnisse und Hospitäler im Kaiserreich Österreich offen darlegte. Er hatte dem Kaiser vorgetragen, daß er im Vergleich zu früheren Aufenthalten eine wesentliche Veränderung zum Guten seit dem Regierungsantritt vorfand. John Howard verfehlte damals nicht, auf Mängel hinzuweisen, die eine Behebung forderten. Seine Majestät sei sehr befriedigt gewesen von den Gedanken dieses echten Freundes der menschlichen Natur und, so wird in der Chronik fortgefahren, "es sei schwer zu sagen, auf welcher Seite Philanthropie
* Erschienen in:
Zeitschrift für Strafvollzug, Jg. 10 (1961). S.193 -196.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
mit mehr Brillanz dargeboten worden war. Derjenige, der die Wahrheit spricht, verdient Anerkennung, aber ein Fürst, der mit Zustimmung zuhört und der bestrebt ist, diese Wahrheit zu finden, verdient die Liebe der Menschheit". John Howard schrieb dem Herausgeber von "The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle", der sich in einem Aufruf um Spenden dafür eingesetzt hatte, dem Gefängnisreformer ein Denkmal zu setzen, aus Wien am 15. 12. 1786 folgenden Brief: "Es wird mir immer eine Ehre sein, daß meine schwachen Bemühungen durch so zahlreiche würdige Persönlichkeiten Zustimmung erhalten, die ihre Zeit dafür hergegeben haben und großzügig für einen Fonds Mittel sammelten, um Gefangenen zu helfen und Gefängnisse zu reformieren. Aber gestatten Sie mir, in der klarsten und unzweideutigsten Form zu erklären, daß die Errichtung eines Denkmals nicht meine Zustimmung findet und daß die etwaige Durchführung des Planes eine Strafe für mich wäre. Deshalb ist es, meine Herren, mein besonderes und ernstes Verlangen, daß von einer solchen mir zugedachten Auszeichnung für immer Abstand genommen werden sollte. Mit großem Dank bin ich, meine Herren, Ihr gehorsamer Diener John Howard."
Noch in einem zweiten Brief vom 12.2. 1787 nahm Howard zu der Frage der Errichtung eines Denkmals Stellung. Er dankte für die ihm zugedachte Ehre, betonte jedoch: "Aber zur gleichen Zeit müssen Sie mir erlauben, Ihnen mitzuteilen, daß ich nicht ohne meine Gefühle zu vergewaltigen, in den Plan einwilligen kann und daß die Durchführung Ihres Vorhabens eine grausame Strafe für mich wäre. Es ist deshalb meine ernste Bitte, daß diejenigen meiner Freunde, die mein Glück und mein Wohlergehen für die Zukunft wünschen, ihre Namen von der Liste betreffend Errichtung des Denkmals für mich zurückziehen und daß die Durchführung der Pläne für immer beiseite gelegt werden möchte." John Howard fährt dann fort: "Ich denke immer daran, daß die jetzt eingeleiteten Reformen in verschiedenen Gefängnissen des Königreichs, die, wie ich hoffe, allgemein durchgeführt werden, die größte Ehre und der reichste Lohn sind, den ich möglicherweise erhalten kann. Ich muß Sie weiter davon unterrichten, daß ich nicht gestatten kann, daß die Stiftung, die in meiner Abwesenheit und ohne meine Einwilligung den Namen: ,The Howardian Fund' erhalten hat, in Zukunft diesen Namen trägt und daß ich in keiner Weise über die gestifteten Mittel verfügen möchte. Meine Lage und verschiedene andere Gründe machen es mir unmöglich, einem solchen allgemeinen Plan irgendwelche Aufmerksam-
John Howard. aus Berichten und Dokumenten
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keiten zu widmen, der nur durch ständige Beachtung und überwachung in die Wirklichkeit umgesetzt werden könnte~" Diese eindrucksvolle Ablehnung jeder persönlichen Ehrung, so darf wohl in Anbetracht des gesamten Lebens von Howard gefolgert werden, beruht auf dem echten Empfinden seiner sozialen Verantwortung, die letzten Endes untrennbar mit Bescheidenheit verbunden bleibt. Bei dem Tode von John Howard 1790 wurde im 70. Band von "The Gentleman's Magazine and Historical Chronicle" ausführlich über das Leben dieses Mannes berichtet und seine Leistung dankbar gewürdigt. Auf dem Obelisk, der an dem Orte, an dem Howard starb, in Cherson auf der Krim, aufgestellt und auf dem Denkmal, das, freilich entgegen dem ausdrücklichen Wunsche des Verstorbenen dennoch in der St. Pauls Kathedrale errichtet wurde, wurden Worte des Dankes eingemeißelt. Auf der rechten Seite des Sockels des Monuments von John Howard in der St. Pauls Kathedrale steht folgender Text: "Dieser außerordentliche Mann hatte das Glück, bei Lebzeiten geehrt zu werden, in dem Maße, wie es seine Tugenden verdienten. Er erhielt den Dank beider Häuser des Britischen und Irischen Parlaments für seine großen Dienste, die er seinem Lande und der Menschheit geleistet hatte. Unsere nationalen Gefängnisse und Hospitäler, verbessert auf Grund seiner weisheitsvollen Anregungen, legen Zeugnis ab von der Gründlichkeit seines Urteils und der Achtung, die er erfuhr. In jedem Teile der zivilisierten Welt, die er bereist hatte, um die Fülle menschlicher Not zu mindern, von den Thronen bis zu den Kerkern, wurde sein Name mit Achtung, Dankbarkeit und Bewunderung genannt. Allein seine Bescheidenheit besiegte zahlreiche Bestrebungen, die bei seinen Lebzeiten gemacht waren, dieses Denkmal zu errichten, das dennoch jetzt die Öffentlichkeit zu seinem Gedächtnis schaffen ließ. Er war geboren in Hackney in der Grafschaft Middleessex am 2. September 1726. Seine Jugend verbrachte er in Zurückgezogenheit. Er lebte vor allem auf dem väterlichen Gut in Cardington in Bedfordshire. Für diese Grafschaft diente er in dem Amte eines Sheriffs im Jahre 1773, er starb in Cherson in der russischen Tartary am 20.1.1790, ein Opfer des gefährlichen und mutigen Versuchs, die Pest und ihre Ursachen zu erforschen und ein wirksames Heilmittel gegen diese Seuche zu finden. Er ging einen offenen aber unbegangenen Pfad zur Unsterblichkeit, den der eifrigen und ununterbrochenen Ausführung christlicher Nächstenliebe. Möge dieser Beitrag zu seinem Ruhm eine seinen Bestrebungen würdige Anerkennung auslösen." Ein lebendes Denkmal setzten die englischen Philanthropen John Howard, indem sie die Vereinigung all der Staatsbürger, die an einer
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Gefängnisreform interessiert sind, "The Howard League for Penal Reform" nannten. Diese Howard League entfaltete eine besonders intensive Tätigkeit, sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten Weltkrieg, von ihr ging in den zwanziger Jahren die Anregung aus, im Völkerbund Fragen der Gefangenenbehandlung in "Mindestgrundsätzen" zu bearbeiten. Die Howard League for Penal Reform legte hierzu den Entwurf vor, dessen Beratung alsbald in Ang.riff genommen wurde. Die weltpolitischen Ereignisse hinderten zunächst Entschließungen. Erst im Jahre 1955 auf dem "Ersten Internationalen Kongreß der Vereinten Nationen zur Verhütung von Verbrechen und zur Behandlung von Rechtsbrechern", in Genf wurde der Entwurf der "Mindestgrundsätze für die Gefangenenbehandlung" beraten. Er schließt sich eng an den vor fünfundzwanzig Jahren gemachten Vorschlag der Howard League an. In unwesentlichen Einzelheiten abgeändert, nahm ihn die Vollversammlung des Kongresses an. Der zuständige Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen billigte diese Entschließungen vom 31. Juli 1957. Die Howard League for Penal Reform arbeitet eng mit den amtlichen englischen Gefängnisbehörden zusammen und hat, besonders in den letzten Jahren, Forschungsarbeiten angeregt, unterstützt und zum Teil selbst übernommen. Sie folgt damit der noblen Tradition, die John Howard begründet hatte, wonach Laien entscheidend im englischen Gefängniswesen mitarbeiten.
John Howards Einfluss auf das Gefängniswesen Europas vor allem Deutschlands* To reform prisoners, or to make them better as to their morals, should always be the leading view in every house of correction, and their earnings should only be a secondary object. John Howard. The State of Prisons ...1.
I. Was strebte John Howard im Gefängniswesen seiner Zeit an? Am 5. April 1777 unterzeichnete John Howard die Widmung seines Werkes "Der Zustand der Gefängnisse in England und Wales mit einleitenden Beobachtungen und einem Bericht über einige ausländische Gefängnisse" an das Englische Unterhaus2 • Die Veröffentlichung wirkte zu ihrer Zeit, wie ein schwerer Stein, der ins Wasser geworfen, weite Kreise zieht. Die Zweihundertjahrfeier aus Anlaß der Veröffentlichung dieses Werkes fordert auch zur überlegung heraus, welche Bedeutung dieser Vorgang für die Gegenwart besitzt. Die erste der drei Sektionen der einberufenen Konferenz befaßt sich mit John Howard und der Entwicklung des Gefängniswesens seit jenem Tage. Ihre Aufgabe besteht darin, herauszuarbeiten, welche seiner Anregungen sich in der Vergangenheit bis in die Gegenwart auswirkten. - Mir ist die Aufgabe gestellt zu versuchen, die durch den Steinwurf entstandenen Kreise im Gefängniswesen Europas nachzuzeichnen.
* Erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten am 29. Juli 1977 in Canterbury auf dei Internationalen Konferenz zum Gedenken der zweihundertjährigen Wiederkehr der Veröffentlichung des Werkes: "Der Zustand der Gefängnisse ..." Der englische Text erschien in: John C. Freeman (Ed.) , Prisons past and future, P. 35 - 41, London 1978. Der deutsche Text erschien in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1978 (27), S. 41 - 51. 1 John Howard. The state of the prisons in England and Wales, with preliminary observations, and an account of some foreign prisons. Warrington. Ist ed. 1777 (cit. = JHI). - IIIrd ed., 1784, (cit. = JHIII). - JHIIIj40. - Deutsche Übersetzung: Über Gefängnisse und Zuchthäuser. Ein Auszug aus dem Englischen des William(!) Howard. Mit Zusätzen und Anmerkungen von Gottlieb Ludotf Withetm Köster, Leipzig, 1780. Französische Übersetzung: Etat des prisons, des hopitaux et des maisons de force. Traduit de langlois. Tome 1 et 2. Paris, 1788. 2 JH I/L Einzlheiten über die Berichte vor dem Unterhaus, März 1774, s. D. John Aikin. Leben, Charakter und Verdienste John Howards, des Menschenfreundes. Übersetzt von J oh. Christian Fick, Leipzig, 1792, S. 56.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Das Leben John Howards ist mitbestimmt durch die Zeitereignisse, wie die Ausstrahlungen der Aufklärung, das Werden der Vormachtstellung Englands in der Welt und die Signale der französischen Revolution. Ein Wissen um seine Person und sein Leben wird vorausgesetzt. Das vorangestellte Motto: Leitender Gesichtspunkt in jedem Zuchthaus sollte sein, die Gefangenen zu bessern, das heißt sie in ihrer Moral und in ihrem Verhalten zu fördern; die Erträgnisse ihrer Arbeit besitzen zweitrangige Bedeutung, gibt den Schlüssel zum Verständnis für sein Wirken auf dem Fachgebiet. - Er selbst kennzeichnete sein Lebenswerk mit den Worten: Ich arbeite, um die Fackel der Menschenliebe auch in entfernte Regionen zu bringen, denn in Gottes Händen ist kein Werkzeug zu schwach!. Das Motiv seines Wirkens ist, wie schon aus diesem "Bekenntnis" hervorgeht, durch seine religiöse Haltung bestimmt. Im Mannesalter (1770) schloß er seinen "Bund mit Gott" und erneuerte ihn kurz vor seinem Lebensende4• Diese Glaubenshaltung kann hier nur angedeutet werden. Sie allein trieb ihn an und befähigte ihn, trotz aller Risiken und Gefahren, nach übernahme des Sheriffs-Amtes (1773) bis zu seinem Tode in Cherson auf der Krim (1790), die ihm als von Gott zugewiesenen Aufgaben getreulich zu erfüllen. Er empfand als Auftrag, die Zustände in den Gefängnissen und Hospitälern - diese, weil Krankheiten und Seuchen in den Gefängnissen grassierten - gründlich zu untersuchen, dann auf den Ergebnissen eine Bestandsaufnahme mit exakten Daten aufzubauen, weiter, furchtlos eine Abstellung der Mängel zu fordern und schließlich, eine Neuordnung vorzuschlagen. In der religiösen Unterweisung sah er die Chance nachhaltigen Einfluß auf eine innere Wandlung herbeizuführen. Religion allein könne das erstrebenswerte Werk der Besserung zu Ende führen 5• In Bescheidenheit bekannte er, die Reform solle anderen "genialen Menschen" überlassen bleiben8 • Er sah sich als Vorläufer und nicht als Vollender7 • Auf sieben größeren Reisen im Vielstaatenkontinent Europa suchte er von 1775 - 1790 die ihm wichtigen Staaten und deren bedeutendsten 8
Hepworth Dixon. John Howard and the prison world of Europe. London,
1850. p. 379.
4 Dixon. s. Anm.3. p.116. James Baldwin Brown. Memoirs of the public and private life of John Howard, the Philanthropist. London, 1823. lInd. ed. p.576. - Theodor Fliedner, John Howard. In: Buch der Märtyrer. Düsseldorf-Kaiserswerth, 1859. Bd. IV. S.1032. 6 JH 1II/41. 8 Brown. s. Anm. 4. p. 607. I do not pretend to be qualified for drawing up a perfect system of ... proper regulations. - JH III/43. 7 Prinz Oskar von Schweden und Norwegen. über Strafanstalten. Aus dem Schwedischen übers. von A. von Treskow. Mit Einl. und Anmerkungen von N. H. Julius. "wie ein Apostel gelebt, wie ein Märtyrer gestorben." Leipzig, 1841, S. 120.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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Gefängnisse und Hospitäler auf. Die Erfahrungen der beiden ersten Reisen legte er in dem 1777 veröffentlichten Werke nieder. Nach drei weiteren Reisen ergänzte er es um die dabei gemachten Beobachtungen (1784)8. Auf der sechsten Reise, die ihn bis in den Nahen Osten führte (1785), erforschte er besonders sorgfältig die Pesthäuser und beschrieb danach in seinem zweiten großen Werke: "Nachrichten von den vorzüglichsten Krankenhäusern und Pesthäusern in Europa" (1789), auch die in Venedig 42 Tage lang erlebte Pest-Quarantänestation9 • Die letzte, die siebente Reise bis zur Krim, gelegentlich der J ohn Howard am 20. Januar 1790 in Cherson an der Pest starb10 , galt ebenfalls dem Studium der Krankenhauseinrichtungen und dem Ausarbeiten von Vorschlägen zur Bekämpfung der verschiedenen Seuchen, zum Besten einer leidenden Menschheit. 11. Welche "Grundsatzfragen" waren John Howard wesentlich? Bei der mir gestellten Aufgabe über den Einfluß von J ohn Howard auf das Gefängniswesen Europas, vor allem Deutschlands, zu berichten, kann es sich nur darum handeln, seinen Ideen nachzuspüren. Ein Anspruch auf umfassende Berichterstattung über sein Wirken und seine Leistung wird nicht erhoben. Bei meinem Vorhaben sind auch die von ihm angegebenen Mittel einer "moralischen Besserung" zu skizzieren. Seine, der Realität des Gefängniswesens der Zeit entsprechend formulierten "general heads of regulations" (1784), erweisen großes Fachwissen, folgerichtige Gedankengänge und ungewöhnliche Kraft des Wollens. Er wußte: Gefängnisreform muß ein dynamischer Prozeß bleiben! Während der Reisen im Inselreich und auf dem Vielstaatenkontinent ermittelte er frei vOn lllusionen. Da er diese Unternehmen aus eigenen Mitteln finanziertet, konnte er volle Unabhängigkeit wahren. Seine 8
JH s. Anm. l.
John Howard. An account of the principal lazarettos in Europe, with various papers relative to the plague, together with further obserVations on some foreign prisons and hospitals, and additional remarks on the present state of those in Great Britain and Ireland. Warrington, 1789. - Deutsche Übers.: John Howards Nachrichten von den vorzüglichsten Krankenhäusern und Pesthäusern in Europa. Nebst einigen Beobachtungen über die Pest und fortgesetzten Bemerkungen über Gefängnisse und Krankenhäuser. Aus dem Englischen. Mit Zusätzen des deutschen Herausgebers Christian Friedrich Ludwig, welche besonders die Krankenhäuser angehen, Leipzig, 1791. (cit. = Nachrichten). Venedig, s. S. 22 - 24. 10 Brown s. Anm. 4. p. 586. - Dixon. s. Anm. 3. p. 390. 1 D. L. Howard. John Howard: Prison Reformer. With a foreword by Hugh J. Klare. London, 1958, p.60; Negley K. Teeters, They were in prison. A history of the Pennsylvania Prison Society 1787 -1937. Chicago/Philadelphia/Toronto, 1937, p.34 and pp. 36/37. D
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
erregenden Erlebnisse fanden außer in den beiden Werken ihren Niederschlag in Tagebuchaufzeichnungen und Briefen2 • Alle Dokumente lassen erkennen, welche Anstrengungen und Gefahren er auf sich nehmen mußte, um die selbstgestellten Aufgaben, die er zugleich als göttlichen Auftrag empfand, körperlich, geistig und seelisch zu bewältigen. Aus seinen Werken lassen sich Grundsatzfragen erarbeiten, von denen im Folgenden acht näher gekennzeichnet werden sollen. - Sie betreffen: 1. Lebenshaltung im Freiheitsentzug - 2. Haftform - 3. Zwangsmaßnahmen - 4. Aufnahme und Entlassung - 5. Arbeit der Gefangenen. Es folgen 6. Forderungen an Gefängnisbedienstete und 7. an Aufsichtsbehörden. Seine Angaben über 8. Wahrung der Menschenrechte in den von ihm untersuchten Institutionen aller Art, spiegeln zugleich seine Persönlichkeit eindrucksvoll wieder'. Die Reihenfolge bedeutet keine Rangordnung, sie richtet sich nach dem systematischen Aufbau eines geordneten Gefängniswesens in der Gegenwart. 1. Lebenshaltung
Die gesamte Lebenshaltung in einer Anstalt wertete John Howard neben den hygienischen Einrichtungen, als bedeutenden Faktor. Einzelheiten, wie den Bau von Gefängnissen an Flüssen4, das regelmäßige Tünchen der Innenräume aus Reinlichkeitsgründen5 , der gelegentlich angetroffene Einbau von Bädern und Lüftungsanlagen6 werden registriert und die Notwendigkeit der Anwendung dieser technischen Mittel mit dem nüchternen Hinweis begründet: Ich bin davon überzeugt, daß gegenwärtig in England mehr Gefangene durch Krankheiten, die sie sich im Gefängnis zuzogen, als durch Hinrichtungen zu Tode kommen7• Dabei war die Todesstrafe noch weitgehend Regelstrafe. - Nur durch umsichtiges Verhalten bei den Reisen und den Anstaltsbesuchen, gerade auch während des lebensbedrohenden Aufenthaltes in der Quarantäne zu Venedig 8 , hielt sich John Howard überhaupt am Leben. Welches Echo fanden solche Feststellungen und Forderungen? - In England leitete das Unterhaus Gegenmaßnahmen im Sinne des Kritikers ein9 • Mit der einsetzenden allgemeinen Hebung des Lebensstan2 Biographien: Aikin, s. Anm.I/2; Brown, s. Anm.I/4; Dixon, s. Anm. I/3; Howard, s. Anm. II/l. 3 General Heads of Regulations. JH. III/470 - 472; Aikin, s. Anm.I/2, S.197. 4 Cleanliness, JH. III/30, 66.
J.H. III/66; JH. Nachrichten, s. Anm.I/9, S.280. JH. III/39. 7 JH.I/20. 8 JH. Nachrichten, s. Anm.I/9, S. 22 - 24; D. L. Howard, s. Anm. II/1, p.144. 9 Aug. Christ. Heinr. Niemann. Bruchstücke zur Geschichte der Gefängnisse und der Verhandlung über die Verbesserung derselben seit Howards Zeit. 5 6
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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dards der Freien, hob sich im Laufe der Entwicklung allmählich auch der in Gefängnissen und Hospitälern. In jedem Falle bleibt es sein Verdienst erstmals als Mahner, als Ankläger auf die verheerenden Zustände dieser öffentlichen Einrichtungen mit angemessener Öffentlichkeitsarbeit hingewiesen zu haben10 • 2. Baftform
Mit der Problematik der Haftform mußte sich John Howard immer wieder befassen. In der Mehrzahl der von ihm besuchten Gefängnisse bestand "Gemeinschaftshaft". Die Nachteile der möglichen negativen Beeinflussung waren ihm bewußt. Diese zu unterbinden, wurde sein und späterer Reformer dringender Wunsch. Hinzu kam die -überlegung, daß getrennte Unterbringung in "Einzelhaft" zugleich die gesteigerte Möglichkeit einer "moralischen Besserung" biete und damit auch für den Einzelnen eine erhöhte Chance zu sich selbst zu finden. Gleichzeitig wußte er aber auch um den Sinn des später so formulierten Schlagwortes: Die Gemeinschaft macht schlechter - die Einzelhaft macht schwächer (Radbruch). Folgerichtig war deshalb auch die weitere Erkenntnis seiner Anstaltsüberprüfungen: Nur in der Gesellschaft kann man für die Gesellschaft erziehenl l . Ging es John Howard dabei wirklich um Klärung des Verhältnisses des Einzelnen zum Ganzen? Die Frage ist zu bejahen! Bei der Beschreibung der Anstalt in Gent, die ihn sehr beeindruckte, bewertete er die dort getroffenen Vorkehrungen, die Inhaftierten künftig für die Gesellschaft "nützlich" zu machen, sehr positiv und formulierte "making them for the future useful in society" 12. Auf die drei Haftsysteme, die sich z. T. im Laufe des XVIII. Jahrhunderts im Philadelphischen oder Pennsylvanischen, im Auburnschen oder New Yorkschen, zuletzt im Irischen System, einer Art Kombination der beiden ersten, ausbildeten, ist hier nicht einzugehen. Wohl aber ist zur Frage eines möglichen Einflusses von John Howard auf das System der "Einzelhaft" in einem folgenden Abschnitt Stellung zu nehmen, zumal dieses Thema die Fachkräfte allp.T Kulturnationen immer wieder beschäftigte13• In: Kieler Blätter, 1819, Bd.2, S. 170; S. und B. Webb, English Prisons under Local Government. London, 1922, p. 53. 10 Dazu auch der von J ohn Howard herausgegebene Text: Historical Remarks and Anecdotes on the Castle of the Bastille, translated from the French, published in 1774. Warrington, 1779. Ferner der von John Howard herausgegebene Text: Translation of the Penal Code of the Grand Duke of Tuscany, Warrington, 1783. 11 Gustav Radbruch, Die Psychologie der Gefangenschaft. Wieder abgedruckt in: Zeitschrift für Strafvollzug 1952 (3) 15l. 12 JH. III/147.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
3. Zwangsmaßnahmen
Zwangsmaßnahmen, wie der Inquisitionsprozeß und mit ihm die Folter als legale Einrichtung sind dem englischen Recht fremd geblieben (Radbruch). Deshalb konnte es mit seinen Parteiprozessen der Welt zum Vorbild dienen, als seit der Aufklärung Inquisition und Folter in ihrer Gefährlichkeit mehr und mehr erkannt wurden14 • Schon aus diesem Grunde mußte die Praktizierung dieses Mittels J ohn Howard bei seinen Beobachtungen auf dem Kontinent immer wieder besonders beeindrucken. Sein Bericht über den Besuch im Inquisitionsgefängnis Valladolid läßt die seelische Anspannung des Besuchers erkennen. Da ihm dort einzelne Bereiche verschlossen blieben, es hieß: nur Gefangene betreten diese Räume, antwortete er frustriert und provozierend: Ich möchte für die Dauer eines Monats eingesperrt werden, um meine Neugier zu befriedigen! Er erhielt zur Antwort: Niemand kommt unter drei Jahren hier heraus und muß zusätzlich einen Eid leisten, stets über seine Erlebnisse zu schweigen16 • Bereits vor seiner Berufung zum Sheriff hatte er sich gelegentlich einer Italienreise sein Urteil über die grausamste aller Erfindungen, die Folter, gebildet. Er hatte Gott gedankt in einem Lande geboren zu sein, in dem jetzt Religionsfreiheit bestehe16• Bei dieser Ablehnung bezog er sich auch auf die Ansichten von Beccaria17• - Der Entscheidung des preußischen Königs Friedrich 11., der die Folter verboten (1740) und damit Deutschland zugleich ein Beispiel der Verwerfung dieser grausamen Praxis gegeben hatte, stimmte John Howard vorbehaltlos ZU18 • Über eine besonders qualvolle Art der Folterung, die er in der Stadt Osnabrück beobachtete, entsetzte er sichle, ebenso auch über ähnliche Methoden, die in den Freien Reichsstädten Hamburg20 und Nürnberg angewendet wurden 21 •
13 Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, 1847. S.171 u. 175. Dazu: Paul Freßle, Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal. jur. Diss., Freiburg i. Br., 1970. S. 103. Die Einzelhaft wurde dort, erstmals in Deutschland, ab 16. X. 1848 durchgeführt. 14 Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts. Heidelberg, 1946, S.24. 15 JH. 111/160. 16 Brown, s. Anm. 1/4 p. 91. 17 JH.1I1/72 note; Cesare Beccaria, über Verbrechen und Strafen, übers. vonKarl Esselbotn, Leipzig, 1905. S.88. 18 JH. 111/99; auch Schweden hatte die Folter verworfen = JH.1I1/82. 11 JH. 111/67. 20 JH. 111/72. 21 JH. 111/130.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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4. Aufnahme und Entlassung
Welche Probleme in den damaligen Anstalten die einfachsten Routinevorgänge z. B. die "Aufnahme" mit sich brachten, wird an der grausamen Gepflogenheit deutlich, daß Mitgefangene dem Neuankömmling "Geld oder Kleider", "pay or strip" abfordern. Der Kerkermeister lieferte dafür Branntwein, der zum "Einstand" genossen wurde. John Howard nannte das Ganze angewiedert "fatal", zumal der Mangel a.n Kleidung bei dem Beraubten zu Krankheiten, häufig mit Todesfolge führen könne!!. Eine andere im Zuchthaus zu Mannheim festgestellte Unsitte stieß ihn ebenso heftig ab. In dem im Allgemeinen nicht ungünstig beurteilten Strafhause wurde der Neuankömmling mit einem "Willkomm" empfangen, d. h. mit einem eigens dafür konstruierten Instrument geprügelt23 • Offiziell unterschied man dabei einen "kleinen", einen "mittleren" und einen "großen Willkomm". Die gleiche Praxis wurde gelegentlich beim "Abschied" angewendet24• Der in diesen Methoden erkennbare Gedanke der Abschreckung übte in dem Maße, wie sich die "Zuchthäuser" zu "Strafanstalten" wandelten, immer stärker werdenden Einfluß aus26• Sie bewirkten aber auch Gegenmaßnahmen. Der Prediger am Zuchthaus von Halle, H. B. Wagnitz, der das Wirken von J ohn Howard stets dankbar würdigte, verurteilte diese Art der Abschreckung als "barbarisch" und forderte bei der Aufnahme Gefangener eine systematische Persönlichkeitsforschung einzuleiten und im Anschluß daran, eine individuelle Behandlung vorzunehmen 28 • Auch bei der Vorbereitung und Durchführung der Entlassung sind bei J ohn Howard Ansätze zu einer neuartigen Betrachtung und Hinweise für eine sinnvolle Praxis zu finden. Er kannte "unsere Gefängnisse, diese Schauplätze und Seminarien von Müßiggang und Laster" und setzte das neue Ziel, Gefangenen in ihrer moralischen Haltung Anreiz zum Wohlverhalten zu geben. Die Willigen und die Fleißigen sollten bei ihrer Unterbringung und Ernährung begünstigt werden. Hier klingt eine Differenzierung, ja eine Art von Progression an. Die so Herausgehobenen sollte bei ihrer Entlassung ein "guter Ruf" be22
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24
JH.I/25. JH. HI/129. JH. HI/135.
Hermann Kriegsmann. Einführung in die Gefängniskunde, Heidelberg, 1912, S. 20 f. 26 H. B.Wagnitz. Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Halle, 1791. Bd. H. Teil 1, S.54; Albert Krebs, Heinrich Balthasar Wagnitz. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 1961 (10) 171 ff. 25
I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
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gleiten27• Ein solches Zeugnis stärke einmal den Selbstwert, besonders den eines mittellosen Entlassenen, der sonst vergeblich von Tür zu Tür gehen werde, um Arbeit zu erbitten. Es mache auch den Arbeitgeber bereiter, es mit dem Entlassenen zu versuchen. Wenn dies nicht geschähe, laufe auch der Bereuende Gefahr, durch einen kaum zu überwindenden Zwang, zum Rückfall in die Lebensart getrieben zu werden, aus der er gerade kommel8• Auf die möglichen Zusammenhänge dieser Pläne mit den Bestrebungen einer Entlassenenfürsorge durch die "Philadelphische Gesellschaft zur Verringerung des Elends in den öffentlichen Gefängnissen" ist zurückzukommen. Es gehörte mit zu ihren Aufgaben, unter allen Umständen die Bindungen, die das ganze menschliche Geschlecht verbunden halten, unzertrennt zu bewahren. Auch der Gefangene sollte Mensch bleiben. - Spätere Generationen waren bereit, diese Folgerungen, zumindest in der Theorie, nachzuvollziehen. Schon H. B. Wagnitz erwog eingehend in seinen "Historischen Nachrichten ... " (1791), wie "man sich gegen die Entlassenen lind ihr zukünftiges Schicksal" zu benehmen habel 9 • - Eine systematische Entlassenenfürsorge begann erst mit der Gründung von "Gefängnisgesellschaften". 1805 wurde in London eine Gesellschaft gegründet, die Zufluchtsorte für Entlassene einrichtete3°. Elizabeth Fry fand freilich zu Beginn ihres Wirkens in Newgate zu London (1813) die Gefängnisbedingungen noch unverändert, so, wie sie John Howard erlebt hatte31 • Sie begründete "The British Society for promoting the Reform of female Prisoners" (1815)32. Im Sinne dieses englischen Vorbildes setzte sich Theodor Fliedner für die Gründung der "Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft" (1823) ein33• Mit hierdurch angeregt beteiligte sich der Mediziner N. H. Julius an der Gründung des "Berliner Vereins für die Besserung der Strafgefangenen" (1828)34. - Diesen ersten Hilfsvereinen folgten dann im XIX. Jahrhundert zahlreiche weitere in allen Kulturnationen.
27 28
29 30
JH. 1I1/40. JH. 1139, JH. 111/20. H. B. Wagnitz, s. Anm. 1I/26. Bd.1. s. 205 - 222. Nik. HeinT. Julius. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, Berlin, 1828,
S.264. 31 N. H. Julius, s. Anm. 1I/30. S.281; D. L. HowaTd, s. Anm. lI/I, p.168; ATthuT L. GaTdneT.
The John Howard Bi-Centenary. The Howard Journal,
1926, Vol. 2. No. 1, p.24. 32 N. H. Julius, s. Anm. 1I/30, S.244, 255. 33
MaTtin GeThaTdt, TheodoT FliedneT,
Bd. I, S. 157.
Düsseldorf-Kaiserswerth, 1937,
U AlbeTt KTebs, N. H. Julius. Vorlesungen über die Gefängniskunde. In: Monatsschrift für Kriminologie, 1937 (56) 311.
J ohn Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
49
5. Arbeit der Gefangenen
Der Zeitabschnitt, in dem z. B. ein James Watt die Dampfmaschine erfand und ein Adam Smith seine "Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern" veröffentlichte (1776)35, leitete sowohl in der freien Gesellschaft als auch in den Gefängnissen eine neue Wertung der Arbeit ein. - Wohl war seit der Gründung des Amsterdamer Zuchthauses (1595) die BedeutUng der Arbeit im Freiheitsentzug erkannt und ausreichende Arbeitsmöglichkeiten den Inhaftierten geboten worden, aber dieses Beispiel hatte an Wirkungskraft aus verschiedenen Gründen eingebüßt. In England, so hatte John Howard bei seinen Besichtigungen festgestellt, sei wohl das Grafschaftsgefängnis in der Regel gleichzeitig ein Bridewell, ein Arbeitshaus, und deshalb sollte niemand, er sei denn krank, ohne Arbeit seinst • Aber die Wirklichkeit war anders, nur selten wurde in englischen Arbeitshäusern damals Arbeit geleistet37• Während seiner Reisen auf dem Vielstaatenkontinent beobachtete J ohn Howard, daß dort in der Regel alle arbeitsfähigen Gefangenen auch zur Arbeit angehalten wurden. Diesem Grundsatz stimmte er vorbehaltlos zu und verwarf die Ansicht, ein ausgeübter Arbeitszwang widerspreche dem englischen Prinzip der Freiheit und weiter, die Arbeit sei ausschließlich ein Privileg der Freien38• Mit aus dieser Einstellung heraus beschrieb er besonders detailliert als Modell das Zuchthaus in Gent. Dort werde das Vollzugsziel, die Gefangenen für die Gesellschaft durch ihre Arbeit nützlich zu machen, vorbildlich angestrebt und durchgeführt". An diesem Genter Gefängnis erlebte er Blüte und Verfall. Letzteren als Folge des Verbotes der Arbeit durch die Aufsichtsbehörde. Die freien Unternehmer fühlten sich durch die Konkurrenz der Anstalt in ihrer Existenz bedroht. Letzten Endes spielten aber politische Gründe eine ausschlaggebende Rolle". So sehr J ohn Howard auch die "Arbeit" in den Anstalten propagierte, so wußte er doch um deren Grenzen, wie das dem Text vorangestellte Motto erkennen läßt. Wenn im Laufe von fast 200 Jahren dennoch 35 Adam Smith. Untersuchungen der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern. Aus dem Englischen. Bd. I u. 11, Leipzig, 1776. 36 JH 111/38. 37 JH.11I/4. 38 JH.11I/147. "labour was a privilege that honest people were often seeking", H. W. Bellows, John HowaTd. His life, character and service. Chicago, 1948, p.37. 88 L. A. Gosse. Das Pönitentiarsystem medicinisch, rechtlich und philosophisch geprüft unter Mitwirkung des Verfassers, übersetzt und vermehrt von Adolf MaTtiny. Weimar, 1839, S.103; ThoTsten SeUin, Pioneerlng in Penology. Philadelphia, 1944, p. 103. 40 JH. 1111148.
4 Freiheitsentzug
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
"earnings" vielerorts erstes Ziel in Gefängnissen wurde, so ist dies keinesfalls ihm oder seinen Bestrebungen anzulasten. Vor fast 100 Jahren kennzeichnete der damalige Referent für das Gefängniswesen in Preußen, Karl Krohne, im Sinne J ohn Howards diese Entwicklung: "Die Arbeit in den Gefängnissen muß unter einem dreifachen Gesichtspunkt betrachtet werden, unter dem sittlichen, dem strafrechtlichen und dem wirtschaftlichen... Das sittliche Recht auf Arbeit verpflichtet, sie so zu gestalten, daß sie nicht zur Qual wird oder den Gefangenen zum Arbeitssklaven herabwürdigt. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist zu verlangen, daß die Arbeit der Gefangenen wirkliche Werte schaffe, einen möglichst hohen Ertrag bringe und dabei die freie Arbeit und den freien Arbeiter nicht schädige41 ." Schon John Howard trat nach Einblick in die Realität des Anstaltslebens auch für eine entsprechende Anerkennung der Arbeitsleistung ein4l!. Die internationalen Gefängniskongresse befaßten sich wiederholt mit diesen Problemen im Laufe des XIX. Jahrhunderts. Es war folgerichtig, daß gerade die Howard League for Penal Reform in den zwanziger Jahren "Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen", die auch Empfehlungen bezüglich der "Arbeit" enthielten, anregte. Auf dem ersten Kongreß der Vereinten Nationen in Genf, über "Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger" (1955), wurden gründlich durchdachte und mit allen Zuständigen erörterte Empfehlungen, auch über die Arbeit der Gefangenen beschlossen43 • 6. Gefängnisbedienstete
Bereits im Standardwerk: "The State of the Prisons ... " war gefordert, die erste Aufgabe der Gefängnisleitung müsse darin bestehen, einen guten Mann als Gefangenenwärter ausfindig zu machen, einen, der ehrlich, aktiv und menschlich sei44 • An dieser Forderung hielt John Howard stets fest45 und seine Beobachtungen in den über 300 besuchten Gefängnissen bestärkten ihn darin. Wie aber war damals die Lage? Aus dem Jahre 1729 ist ein Kupferstich von William Hogarth, dem englischen Künstler und Gesellschaftskritiker erhalten, der die Inschrift 41 42
47l.
KarZ Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde. Stuttgart, 1889. S.389.
"Employment ... proportion of profit to be allowed to prisoners. JH. III!
43 Den Strafvollzug betreffende Beschlüsse und Empfehlungen des Ersten Kongresses der Vereinten Nationen, abgehalten in Genf vom 22. VIII. bis 3. IX. 1955 über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger. Sonderdruck: Zeitschrift für Strafvollzug, 1958 (8) 196 ff. 44 "The first care roust be to find a good man for a goaler, one that 1s honest, active and human. JH. 1/49. 45 JH. III/25.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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trug: "Der Gefangenenwärter Bambridge im Verhör vor dem Ausschuß des Unterhauses". Der Bedienstete wurde beschuldigt mehrere Schuldgefangene bei ihrer Flucht begünstigt, dagegen andere ungesetzlich mit Fesseln beladen und sie zusätzlich derart in einem Kerker eingesperrt zu haben, daß sie sterben mußten. Bambridge wurde seines Amtes enthoben und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt46 • Bambridge soll hier als ein Beispiel für den möglichen Mißbrauch der Macht gelten. J ohn Howard wußte, daß nach Erfüllung der von ihm geforderten Voraussetzungen zur Bestellung als "Wärter", auch ihre Arbeitsbedingungen angemessen festgelegt und verbindlich eingehalten werden müssen. Er war sich der mit dem Amte verbundenen Gefahr, die Macht zu mißbrauchen, voll bewußt. - Seine Forderung auf "Reinlichkeit" schloß wohl auch die nach "innerer Sauberkeit" ein47 • Die sichere Verwahrung bei geringstmöglichem Aufwand an Härte blieb für ihn Voraussetzung geordneter Untersuchungs- und Strafhaft. Dies abzumessen ist noch heute eine schwierige und stets von Neuem zu lösende Aufgabe. - Eine überbewertung der Sicherheitsfragen vermerkte er in Rußland, wo ausschließlich das Militär die Aufsichtsführenden stellte. In sämtlichen übrigen besuchten Staaten des Kontinents waren bezahlte Zivilpersonen in diesen Aufgaben tätig 48 • - Aber nicht nur aus Sicherheits-, sondern aus Zweckmäßigkeitsgründen konnte es im Laufe der Entwicklung z. B. in Preußen dazu kommen, daß die gesamte Anstalt ein militärisches Gepräge erhielt, das gelegentlich noch heute nachwirkt. Die nach Beendigung der Kriege um 1813 freigewordenen und in den Gefängnisdienst berufenen Kräfte, organisierten "eine solche Anstalt wie ein Bataillon, der Direktor den Kommandeur, die Inspektoren die Offiziere, die Unterbeamten die Unteroffiziere und die Gefangenen die Mannschaften". Kar! Krohne, der dies berichtete, wußte aber um die innewohnenden Gefahren. ""Dieser soldatische Zug brachte es aber mit sich, daß die Beamten und vor allem der Direktor mit einer Machtfülle ausgestattet wurden, die die Gefahr des Willkürregimentes nur allzusehr in sich barg 49 ." Die Entwicklung des Berufsstandes der Gefängnisbediensteten hat bis heute noch keinen Abschluß gefunden. Neue Mitarbeitergruppen sind zum "Wärter" und "Verwahrer" von 1777 gestoßen und nehmen 46 William HogaTth, LichtenbeTg. Hrsg. von
S. 771 ff.
Zeichnungen. Mit vollst. Erklärungen von G. ehT. Fr. Kottenkamp. Stuttgart, 1840. Bd. 1. BI. 64, Bd. H.
47 GunnaT Dybwad. Social work in prison. A review of a decade of prison reform at Untermassfeld (Thuringia). The Howard Journal, 1937 (VoI. IV. No. 4) p. 375 f. 48 JH. HI/48, 57, 85. 48 K. KTohne, s. Anm. II/41. S. 159.
4'
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
die alten und neuhinzugekommenen Aufgaben im Vollzug des Freiheitsentzuges wahrSo. Gerade hier muß Dynamik gewahrt bleiben. 7. Aufsidltsbehörde
Zu John Howards Grundeinsichten gehörte weiter: bei jedem Gefängnis muß ein Inspektor entweder aus den Reihen seiner Kollegen in den Stadtverwaltungen oder durch das Parlament bestellt werden. Sheriffs und Stadträte besaßen bereits solche Vollmacht. Aber "einzelne Sherüfs entbinden sich selbst von diesem Teil ihrer Aufgaben ... offensichtlich auch wegen der damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren"G1. Die Vorschriften der Aufsichtsbehörden für Gefängnisbedienstete auf dem Kontinent betrafen zuerst Bestimmungen über das allgemeine Verhalten und dann über Pflichten gegenüber den Gefangenen. Die allgemeinen Weisungen gingen aus von der Residenzpflichf.li!, der Wahrung der Sicherheit durch sorgfältige ZellenkontroUenG3, der strikten Einhaltung des vorgeschriebenen Tagesablaufes, bis hin zur Androhung von Strafen bei Verstößen gegen diese AnordnungenG4 . - Die Weisungen hinsichtlich der Pflichten gegenüber den Gefangenen gingen aus von einer Treuepflicht und sprachen auch ein Verbot aus, Geschenke anzunehmen, um Abhängigkeiten zu vermeiden55• Bestimmungen über das Verhalten bei der Aufnahme, der Behandlung bei der Arbeit, bis hin zur Regelung der überwachten Freizeit, z. B. ein Verbot von Kartenspielen, schloß sich anli6 • Eine Art Dienstanweisung an Aufsichtsführende vermerkte J ohn Howard in seinem Bericht über Gefängnisse in Paris57• Besonderes Verständnis zeigte er für das in Amsterdam bestehende "College van Regente", das in den Hansestädten übernommen worden war58 • In all diesen Angaben und Vorschlägen schwingt eine gewisse Bitterkeit mit, bei Erfüllung der Aufgaben als Sheriff allein gelassen zu sein. Schon die Widmung des Werkes von 1777 an das Unterhaus klang wie ein Notschrei! Der Ernst dieser Frage, gerade auch in der Gegenwart, ist nicht zu bestreiten. Die weitere Entwicklung knüpft wohl an diese Gedankengänge an, aber die prinzipiellen Fragen stellen sich doch jeder Generation neu.50 AlbeTt KTebs. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1928 (49) 65. G1 JH. IH/36. u JH. HI/57. G8
14 55 Ge
57 58
JH. HI/65. JH. III/57. JH. HI/57. JH. III/1l9. JH. IH/36, 84, 170. JH. III/57.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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In dem Entwurf eines Gesetzes über die Verbesserung der Gefängnisse und der in ihnen einzuführenden Zucht, erarbeitet für den Staat Louisiana, dem "Livingston-Code" (1827), werden die Pflichten und Rechte aller Verantwortlichen, der Bediensteten in den Gefängnissen und der Aufsichtsbehörden festgelegt, und in der Einleitung die seitdem berühmt gewordene Frage aufgeworfen: "Custodes ipsos quis custodiet?S8". 8.~eDsCheDreChte
Aus welchen Motiven drängte John Howard auf gründlich durchdachte Verhaltensvorschriften, die selbstverständlich den Gefangenen bekannt sein müßten? Ist es berechtigt bereits 1777 von einer RechtssteIlung Gefangener zu sprechen? - Der ihm innewohnende Tatsachensinn und seine religiös bedingte Einstellung zum Menschen erklärt solche Forderungen". In den über 300 besuchten Anstalten fand er in mehr als einem Drittel wohl "Gebührentafeln" mit Angaben der Preise für Verpflegung vor, andere Vorschriften waren nur in etwa 20 Gefängnissen durch Anschlag bekanntgegeben61 • In der Zusammenfassung seines Werkes in der IH. Auflage von 1784 fordert er unter "conclusion"8Z diese Bekanntgabe und dazu auch Strafe für unerlaubtes Entfernen der Anschlägells • Ihm galt es Zucht und Ordnung zu fördern, um damit den Anstaltsfrieden und die Menschenrechte zu wahren. - Noch trennte er nicht die "Verhaltensvorschriften CI· der Gefangenen von den "Dienstvorschriften" für die Bediensteten84 • Eine Lösungdieser Frage bleibt schwierig, weil der Gedanke der Einheit des Rechts für beide Gruppen gewahrt bleiben muß. Die Entwicklung der Menschenrechte, die seit der Bill of Rights von Virginia (1776) auch die der Gefangenen einschließt, ist überschaubar65• Es ist eine Erfahrungstatsache, daß ein Anstalts-Mikrokosmos nicht bestehen kann, wenn die Ausgewogenheit von Pflichten und Rechten fehlt. Für die deutsche Entwicklung war wichtig, daß das Rechts511 Livingston's Gesetzbuch über die Verbesserung und die innere Einrichtung des Gefängnisses nebst dessen Einleitung und den Anmerkungen des Herrn earl Lucas ... Übers. von Konrad Samhaber. Darmstadt, 1838. 5.186. 80 G. Radbruch, s. Anm. !I/14, 5. 12. 61 Günther Saam. Quellenstudien zur Geschichte des deutschen Zuchthauswesens bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts. Berlin, 1936. 5.69 f.. 62 jH Ill/469. 113 JH 111/168. 84 Saam s. Anm. !I/6l. 5. 71. 85 Fritz Hartung. Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerechte von 1776 bis zur Gegenwart. Göttingen, 1966. 5. 43. - Virginia Bill of Rights. June 12th 1776. In: Great Political Documents of the United States of America. Sammlung Pandora. No. 52. p. 50 - 52.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
verhältnis der Gefangenen bereits 1909 herausgestellt wurde68 • Die bereits erwähnten " Mindestgrundsätze " , für alle Kulturnationen verbindlich, regeln die Materie seit 1955 im Sinne von John Howard87•
In. Wie wirkten sich die Bestrebungen von John Howard auf dem Kontinent aus? 1. Die angewendeten Methoden
Die " Grundsatzfragen" , die John Howard im Laufe seiner Inspektionsreisen im Inselreich und bei den Studienfahrten auf dem Kontinent als wesentlich erkannt hatte, deuten bereits die Richtung der weiteren Probleme im Gefängniswesen im Laufe des XVIII. Jahrhunderts an. Eine eingehende Darstellung würde den Rahmen des Vortrags sprengen. Zunächst ist herauszuarbeiten, ob von einer Methode gesprochen werden kann mit der er versuchte, seinen Bestrebungen Geltung zu verschaffen. Zu seinen Funktionen als Sheriff in Bedfordshire gehörte die überwachung des Grafschaftsgefängnisses. Die dort bestehenden Zustände veranlaßten eine Bestandsaufnahme in den Gefängnissen der engeren Umgebung, dann im gesamten Inselreich und zuletzt auf dem Vielstaatenkontinent. Sie brachten auch die Einsichten, die in den acht "Grundsatzfragen" skizziert wurden. Es lag in der Art der Erhebungen und in der Natur des unbestechlichen Ermittlers, daß John Howard die Ergebnisse der öffentlichkeit unterbreitete. Bereits 1774 suchte und erhielt er Gelegenheit, seine Erfahrungen als Sachverständiger vor dem Parlament vorzutrageni. Wenig später gelang es ihm, mit Unterstützung von Freunden, seine Bestandsaufnahme in dem Werk "The State of the Prisons ... " zu veröffentlichen und sie dem House of Commons zu widmen. Diese Tatsache gibt den Anlaß zur gegenwärtigen Würdigung. "The State of the Prisons ... " erschien in vier Auflagen, die letzte gibt Bericht über rund 300 besuchte Gefängnisse2 • Schon während der Erhebungen ergab sich die Möglichkeit auf die Gefängnisbediensteten einzuwirken. Allein schon der etwa in Aussicht stehende Besuch schaffte wohl gelegentlich Wandel. Auch die Gefangenen erkannten den Sinn solchen Tuns3 • 66 Berthold Freudenthal. Die staatsrechtliche Stellung des Gefangenen. Rektoratsrede vom 3. X. 1909. Jena, 1910. 67 Einheitliche Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen. Zeitschrift für Strafvollzug. 1958 (8) 147 ff. 1 Dixon. s. Anm. I/3. p.144. 2 JH III/2. - Aikin. s. Anm. I/2. S. 59. - Dixon. s. Anm. 1/3. p. 209, 228. 3 JH iiijl02 - Brown. s. Anm. I/4. p.312.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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Eine weitere Möglichkeit gelegentlich der Reisen auf dem Kontinent Einfluß zu nehmen, ergab sich für John Howard bei seinen Besuchen führender Persönlichkeiten. Die Mächtigen dieser Erde luden ihn zu Audienzen ein, in deren Verlauf der "kleine Engländer" unerschrocken seine Anliegen vorbrachte 4 • In Österreich sprach er zuerst mit der Kaiserin Maria Theresia (1778)5 und später (1786) mit Kaiser Joseph Ir. über die beobachteten Mißstände im Gefängniswesen ihrer Länder6 • - In Preußen empfing ihn Prinz Heinrich, der Bruder Friedrich H.7. - In Rußland lehnte er (1781) die Einladung von Katharina H. ab mit der Bemerkung: ich bin hierher gereist, um Gefängnisse zu besuchen und nicht Höfe oder Paläste von Fürsten8 • Die Ablehnung erfolgte wohl auch in der Erkenntnis, daß trotz abgeschaffter Todesstrafe Tausende unter der Knute starben9 • Eine Begegnung mit dem Fürsten Leopold von Toscana kaum zum Bedauern beider Männer nicht zustande lO • Auch Persönlichkeiten, die in der Wissenschaft oder Verwaltung Rang und Namen besaßen, suchte er bei seinen Reisen auf. Es waren dies z. B. der Gelehrte G. ehr. Lichtenberg in Göttingen (1789)11 und der Stadtarzt Dr. Duntze in der Freien Stadt Bremen (um 1776)1!. Diese planmäßig angestrebte Breitenwirkung seiner Reisen verdiente eine besondere Untersuchung. 2. Entstanden die Baftsysteme in Nordamerika unter dem Einfiuß von John Boward?
Die geographischen Bereiche in denen Howards Bestrebungen zunächst zur Auswirkung kamen, waren England, Nordamerika und Europa. Zu beachten bleibt, daß diese Bereiche einer Kultur zugehören und darin, wenn auch mit Vorbehalten, im Gefängniswesen eine Einheit bildeten. Deshalb sind die folgenden Einzelangaben zugleich kennzeichnend für das Ganze. Unter Aussparen von England ist hier kurz auf die Entwicklung in Nordamerika einzugehen, weil die dort möglicherweise mit von J ohn Howard beeinflußten Ideen über Haftsysteme im ganzen XIX. Jahrhundert in Europa und vor allem in Deutschland weiterwirkten. - Auch das Gefängniswesen in Frankreich ist hier zu skizzieren. JH Nachrichten. s. Anm. I/9. S. 164 - D. L. Howard. s. Anm.II/l. p. 113. JH III/104. e JH Nachrichten. s. Anm. I/9. S. 164. 7 Dixon. s. Anm. I/3. p. 245 D. L. Howard. s. Anm. II/l. p. 66. 8 Brown. s. Anm. 1/4. p. 319. 11 JHIII/86. 10 Dixon. s. Anm. I/3. p. 325. 11 G. Christian Lichtenberg. Gesammelte Werke. Hrsg. u. eingeleitet von Wilhelm Grenzmann. Baden-Baden. o. J. Bd. I. S.44. 12 JH 1/118. 4
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
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Der weitgereiste Philanthrop hat nicht, wie später zahlreiche Fachleute, Nordamerika aufgesucht. Dennoch befaßte er sich mit den aktuellen politischen und kriminalpolitischen Problemen der "Neuen Welt". Zur Unabhängigkeitsbewegung in den sich bildenden dreizehn Staaten, die er noch vor Veröffentlichung seines Standardwerkes miterlebte, hatte er ein positives Verhältnis. Er gehörte zu denen, die sich freuten, daß "Amerika sich widersetzte" die Forderungen des Mutterlandes zu erfüllen, und "beim Ausgang triumphierte"13. Die Rückwirkungen dieses sich Widersetzens auch auf das Gefängniswesen des Inselreiches z. B. durch Unterbrechung der Transportation14, vermehrten die schon bestehenden Mißstände durch überbelegung der Gefängnisse. Wie aber stellten sich die Männer in "Neuengland" vor allem in den Staaten Pennsylvanien mit Philadelphia und New York mit Auburn zu den aufgeworfenen "Grundsatzfragen"? - John Howards Wirken war dort wohl bekannt. Ein Schreiben an ihn von William White, dem Präsidenten der "Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons" (1788), blieb erhalten1&. Darin heißt es, die "Gesellschaft wisse sich mit den Freunden der Humanität in Europa einig im Dank dafür", daß John Howard die in den Gefängnissen inhaftierten Unglücklichen zum Gegenstand erhöhter allgemeiner Aufmerksamkeit und des Mitleids gemacht habe. Außerdem dankte ihm White, daß er auf Mittel hingewiesen habe, nicht allein die Leiden zu lindern, sondern den Verbrechen und anderen unglücklichen Umständen, die deren Ursachen sind, vorzubeugen. Der Brief schließt mit herzlichen Wünschen, daß er sich noch lange nutzbringend betätigen möchte, damit er auch in dieser Sache der Humanität die Freude erleben könne, den Erfolg seiner Arbeit auf jedem Teile des Globus zu erkennen. - Eine Antwort auf dieses Schreiben ist nicht bekannt. Falls es den vorgesehenen Empfänger überhaupt erreichte, so war dieser im Frühjahr 1788 mit der Auswertung der Ergebnisse seiner sechsten Reise und der Herausgabe seines zweiten großen Werkes, der "Nachrichten ... " überlastet. Eben diesen "Nachrichten ... " ist aber eine indirekte Antwort zu entnehmen. John Howard wußte um das Wirken der Philadelphischen Gesellschaft1G und legte fest: sollte bei meinen Lebzeiten der Plan dauernder Hilfeleistungen etwa unter einem ähnlichen Zeichen wie in Philadelphia verwirklicht werden, nämlich die Gründung einer Gesellschaft zur Behebung der Leiden Gefangener in öffentlichen Gefängnissen, und sollten Jahresbeiträge hierfür angesetzt werden, so wäre ich sehr 13 Aikin. s. Anm. I/2. S. 197. 14 15 11
JH lII/42 note. Teeters. s. Anm. lI/I. p. 40. Teeters. s. Anm. lI/I. p. 40.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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gerne bereit, am Schlusse einer Liste als Unterzeichner mit 1: 500 zu stehen17• über seine Beziehungen zum Gefängniswesen "Neuenglands" sind noch weitere Einzelheiten überliefert. Ein französischer Zeitgenosse, de la Rochefoucauld-Liancourt, hielt am Anfang seiner Reisebeschreibung über die Gefängnisse in Philadelphia (1795) fest: Howard der Philosoph und Wohltäter, der sein ganzes Leben sich beharrlich in hochherzigen Anstrengungen für Erleichterungen der Leiden der Menschheit einsetzte, wird, dank der Weisheit des Staates Pennsylvanien, von jetzt ab als ein Weiser angesehen werden, dessen Geist sich sowohl bei seinen Beobachtungen als auch bei seinen Ratschlägen ebenso erleuchtet erwies, wie bei seiner gesamten tugendhaften Menschenfreundlichkeit. Seine Lehre und sein System sind seit vielen Jahren in Philadephia sorgfältig übernommen worden. Der Erfolg krönte dieses Unternehmen in der Art und Weise, wie es unser Wohltäter der leidenden Menschheit vorausgesagt hatte18 • de la Rochefoucauld-Liancourt geht dann weiter auf die Einführung der neuen, auf Vernunft und Gerechtigkeit gegründeten Gesetzgebung Pennsylvaniens ein, die anstelle der Todesstrafe, den Vollzug des Freiheitsentzuges in Einzelhaft festgelegt habe 19 • Sein Reisebericht trägt in der deutschen Ausgabe den Titel: "Howards praktisches System auf die Gefängnisse in Philadelphia angewandt, zum Besten der Menschheit und als Beispiel für andere Staatenzci ." . Der Forscher, der sich in unserer Zeit wohl am Intensivsten mit dem Entstehen des Gefängniswesens in Pennsylvanien befaßte: Negley K. Teeters, hielt in verschiedenen Veröffentlichungen ebenfalls fest, in welcher Weise die Ansichten von John Howard sich in Philadelphia auswirkten. N. K. Teeters geht von der These aus: Howard war ein ernsthafter Befürworter der Einzelhaft als Mittel der Besserung und er verweist dazu auch auf die beiden englischen Gefängnisse Wymondham und Gloucester, die nach Howards Ideen im Sinne eines solitary imprisonment eingerichtet gewesen seien!l. "Dort schliefen, assen und 17 Teeters. s. Anm. lI/I. p.40. Brown. s. Anm. I/4. p.522. Justus Gruner. Versuch über Strafen in vorzüglicher Hinsicht auf Todes- und
Gefängnisstrafen. Göttingen, 1799. S. 119 Anm. 18 Fr. de la Rochefoucauld-Liancourt. Desprisons de Philadelphie par un Europeen. Sec. ed. Amsterdam, 1799. Aus dem Englischen. übers. (ohne Namensangabe) mit dem Titel: Howards praktisches System auf die Gefängnisse in Philadelphia angewandt, zum Besten der Menschheit und als Beispiel für andere Staaten. Leipzig, 1797. S. 3 ff. de 1a Rochefoucau1d-Liancourt. s. Anm.IlI/18. p.61. 20 de 1a Rochefoucau1d-Liancourt. s. Anm. IlI/18. Gruner. s. Anm. 1II/17. S. 111 f. Zl Neg1ey K. Teeters. The cradle of the penitentiary. The Walnut Street Jail at Philadelphia 1773 -1835. Philadelphia, 1935. p.31 - F. H. Wines. Punishment and Reformation. New York, 1923. p. 150.
1.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
arbeiteten Gefangene in Einzelzellen." Er faßte die Ergebnisse dieser Studien in dem Satz zusammen: Der Einfluß Howards ist überall wahrzunehmen22 ! Wie auch immer der Einfluß dieses großen Mannes auf das Gefängniswesen in Nordamerika gewertet werden mag, die Reformer Neuenglands besaßen eingehende Kenntnisse über die Entwicklung in Altengland. Sie kannten John Howards unbestreitbaren Eifer und sein Sendungsbewußtsein. Sie allein konnten ermessen, wie sein Wollen sich in ihrem Gefängniswesen auswirkte. Sie kannten Howards sachliche Bestandsaufnahme, die aufgedeckten Mängel und die Verbesserungsvorschläge23 . Mit F. H. Wines ist deshalb auch festzuhalten: die modernen humanitären Bewegungen auf unserem Fachgebiet, die mit dem Denker Beccaria und dem Täter des Wortes Howard begannen, lenkten mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen auf die Menschen im Freiheitsentzug!4. Dieses Ziel strebte John Howard mit allen legalen Mitteln an. 3. Vom Widerhall der Bestrebungen in Frankreich
Der große Gegensatz zwischen dem um die Weltmacht ringenden England und der damaligen europäischen Führungsmacht Frankreich, wirkte sich auch im Einzelleben der Staatsbürger aus. Die Ambivalenz im Verhalten von John Howard zu diesem Lande war offensichtlich. Abgesehen von seinen schweren Erlebnissen in französischer Kriegsgefangenschaft, in die er 1756 geraten war bei dem Versuch die Folgen des großen Erdbebens in Lissabon (1755) an Ort und Stelle kennen zu lernen, und vielleicht zu helfen 25, sammelte er auf wiederholten Studienreisen in Frankreich nachhaltige Eindrücke positiver Art. Sie sind in seinen beiden Standardwerken völlig sachlich niedergelegt26. In der im Jahre 1788 herausgebrachten französischen übersetzung des ersten Werkes von John Howard: "Etat des Prisons ... ", enthielt sich der anonym bleibende übersetzer jeglicher Stellungnahme zum Inhalt oder von Ergänzungen aus dem französischen Bereich27 . Dies, ganz im Gegensatz zum übersetzer und Herausgeber der deutschen 22 Teeters. s. Anm. 111/21. p. 126. 23 S. u. B. Webb. s. Anm.II/9. p. 50 - 65. 24 Wines. s. Anm.III/21. p. 126. ebenda: Declaration of Principles. Cincinati
Congress (1870) p.205. Deutsche Übersetzung: J. H. Baernreither. Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika. Leipzig, 1905. S.91. 25 JH. III/ll note. 26 JH 111/164 - 183. 27 Etat des prisons, des hopitaux et des maisons de force; par John Howard. Traduit de langlois. Paris, 1788. 2 Vol.
J ohn Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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Ausgabe 28 . Da damals die französische Sprache die der gesamten kontinentalen Oberschicht war, vermittelte diese Übersetzung allen Interessierten die Möglichkeit, von seinen Erhebungen und seinen Vorschlägen Kenntnis zu nehmen. In der erwähnten Veröffentlichung von de la Rochefoucauld-Liancourt: Des prisons de Philadelphie par un Europeen, wurde ganz im Sinne J ohn Howards festgehalten : der Endzweck beim Bestrafen der Verbrechen muß nicht allein die Züchtigung des Verbrechers, sondern seine Besserung sein29 . Eine Beschreibung der "abgesonderten Einschließung" schloß sich an und es wurde gefolgert, daß der Fortgang des neuen Systems zu einem weit vollkommeneren Grade gediehen sei, als Howard es je zu erwarten gewagt hätte30 . - Das Interesse an diesen Fragen muß im damaligen Frankreich groß gewesen sein, denn sogar der Finanzminister Ludwigs XVI., Jacques Necker, entwickelte Pläne für Gefängnisse und deren Verwaltung31 . Außerdem wurden Preise für Untersuchungen über die zweckmäßigsten Verbesserungen der Zuchthäuser ausgeschrieben. Dies war ein Vorgang, der sich in Deutschland wiederholte 32 . über die Entwicklung in Frankreich berichtete, ebenfalls unter Bezug auf den englischen Philanthropen, der Mediziner L. R. Villerme in seinem Werke: "Des prisons teIles qu'elles sont et teIles qu'elles devraient etre" (1820)33. Er widmete diese Schrift de la RochefoucauldLiancourt und handelte darin ab über Gefängnisbauten, Hygiene, Moralität und politische Ökonomie. Ganz im Stile seines großen englischen Vorbildes, beschrieb er auch verschiedene französische Gefängnisse. Die von John Howard in: "The State of Prisons ... " zitierten Kennworte, die über dem Tore von San MicheIe in Rom, dem ersten Jugendgefängnis überhaupt, stehen: "Parum est coercere improbos poena nisi probos efficias disciplina"34 "C'est peu de reprimer les mechans par des punitions, si on ne les rend bons par une sage JH I/l. JH III/40. 30 de la Rochefoucauld-Liancourt. s. Anm.III/6. franz. Text p.37. 31 Franz von Holtzendorff. Wesen, Verhältnisbestimmungen und allgemeine Literatur der Gefängniskunde. In: Handbuch des Gefängniswesens. Hrsg. von Franz von Holtzendorff u. Eugen von Jagemann. Hamburg, 1888. Bd. I. S.20. 32 August Friedrich Rulffs. Über die Preisfrage der König!. Societät der Wissenschaften zu Göttingen: Von der vorteilhaftesten Einrichtung der Werk- und Zuchthäuser. I. Aufl. 1783. 11. Aufl. 1785. 93 Louis Rene Villerme. Des prisons telles qu'elles sont et telles qu'elles devraient etre. Ouvrage dans lequel on les considere par rapport a l'hygiene, a la morale et a l'economie politique. Paris, 1820. (Gewidmet:) Fr. de la Rochefoucauld-Liancourt. pp. 9, 11, 17, 109, 118, 176. 34 JH III/114. 28
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
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discipline"36, wurden auch das Motto von Villerme. Den Folgerungen von de la Rochefoucauld-Liancourt, der ganz im Sinne der in Philadelphia geltenden Gesetze, die Einzelhaft, vor allem für Schwerkriminelle forderte, schloß er sich mit der Feststellung an: obwohl diese Art des Vollzugs in Europa auch erst selten üblich sei. Dabei sollte die Zeitdauer der Einzelhaft von Fall zu Fall festgesetzt werden. Weiter befürwortete Villerme den Einsatz von ehrenamtlichen Inspektoren, die mit darauf einwirken sollten, die in der Regel in den Gefängnissen angewendete Strenge zu mildern38 • Die Entwicklung der Einzelhaft ging in Frankreich, wie im übrigen Europa, nach dem philadelphischen Vorbild weiter. So hielt der deutsche Richter Noellner in seiner Schrift: "Die Fortschritte des Pönitentiarsystems in Frankreich" (1841) fest, daß unter den europäischen "Commissarien", die zur Prüfung der Haftform nach Nordamerika ausgesendet worden waren, nicht ein Einziger zurückgekommen sei, der nicht dem philadelphischen System den Vorzug gegeben hätte37 • Die erste internationale Versammlung für Gefängnisreform, die im Jahre 1846 in Frankfurt am Main ebenfalls diese Frage behandelte, befürwortete mit den Stimmen der französischen Fachvertreter, bei nur wenigen Gegenstimmen, ebenfalls die Einzelhaft38 • Wenn hier auch nicht über Wert oder Unwert dieses Systems zu entscheiden ist, so steht doch fest, daß eine gewisse übereinstimmung auf dem Fachgebietder Gefängnisreform unter den Kulturnationen bereits erreicht war. 4. Erste Spuren des Wlrkens In Deutsdlland
Gerade auch in Deutschland herrschte im 17. und 18. Jahrhundert während der ersten Aufklärung echte Aufbruchstimmung. Ein leidenschaftliches Suchen nach dem Selbstverständnis des sich mündig fühlenden Menschen machte sich bemerkbar. Die Abschaffung der Tortur, der Hexenprozesse usw. waren erste Folgen. Die Anforderungen, die durch die neu entstehende Freiheitsstrafe gestellt wurden, forderten Klärung. Die Gründung des Rheinbundes führte mit die förmliche Auflösung des Deutschen Reiches (1806) herbei. Die kriegerisChen Ereignisse der folgenden Jahre konnten die Entwicklung des Gefängniswesens wohl beeinflussen, aber nicht aufhalten. In Deutschland und in anderen mitteleuropäischen Ländern vollzog sie sich in drei Perioden, von 1777 bis 1871, von 1871 bis 1918 und von 1918 bis heute39 • JH. franz. Übers. Vol. I. p.282. Villerme s. Anm.III/33. p. 176. 37 FTiedrich Nöllner. Die Fortschritte des Pönitentiarsystems in Frankreich. Darmstadt, 1841. S. VIII. 38 Verhandlungen ... s. Anm. II/13. S.I71. 35
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John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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Für die erste Periode, gekennzeichnet durch den Begriff "Moralität", die mit der Veröffentlichung von John Howards Standardwerk ihren Anfang nahm, kann am Beispiel der deutschen Entwicklung, der grundlegende Einfluß dieses Pioniers auf die zunächst einsetzenden literarischen Bestrebungen für Gefängnisreform nachgewiesen werden. Das Werk John Howards "The State of Prisons ..." wurde bereits im Jahre 1780 in Leipzig, von dem in Göttingen lebenden Gelehrten G. L. Wilhelm Köster, unter dem Titel: "über Gefängnisse und Zuchthäuser. Ein Auszug aus dem Englischen des William(!) Howard, ... mit Zusätzen und Anmerkungen", herausgebracht. - Das im Jahre 1789 von John Howard veröffentlichte zweite große Werk "An Account of the Principal Lazarettos in Europe ... " übersetzte der Leipziger Mediziner ehr. Friedrich Ludwig und gab es heraus unter dem Titel "John Howard's ... Nachrichten von den vorzüglichsten Krankenhäusern und Pesthäusern in Europa, nebst einigen Beobachtungen über Gefängnisse und Krankenhäuser, mit Zusätzen des deutschen Herausgebers, welche besonders die Krankenhäuser angehen". Dies geschah: Leipzig 1792. Die deutsche Fachwelt wurde so auch durch diese beiden vorbildlichen Bestandsaufnahmen auf die bestehenden Mängel hingewiesen. Die nachgenannten deutschen Publikationen erweisen die deutsche Re-Aktion. - Wenn auch in der zweiten und dritten Periode das Weiterwirken nicht mit der gleichen Exaktheit belegbar ist, so steht doch fest, daß seitdem jede Generation gewisserhafter Fachkräfte sich verpflichtet fühlte, auf den Erfahrungen, der vor ihr tätigen Praktiker und Theoretiker des Gefängniswesens aufzubauen. Sie blieben auch bemüht, stets ein positives Lebensbild von John Howard nachzuzeichnen40 • Kurz nach dem Tode von John Howard veröffentlichte der bereits erwähnte Hallenser Gefängnisgeistliche H. B. Wagnitz seine: "Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland" (1791) und widmete sie "dem Geiste Howards und denen, die er umschwebt". In der Vorrede äußerte er "wünschenswert wäre es, wenn ein Deutscher mit eben dem Forscherauge und mit eben dem warmen Gefühl für die Leiden seiner Mitmenschen, die Gefängnisse, Zucht-, Toll- und Krankenhäuser seines Vaterlandes bereiste SI Albert Krebs. Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges. Ideen- und begriffsgeschichtliche Bemerkungen. In: Monatsschrüt für Kriminologie.
1970 (53) 148 ff.
40 Erwähnt seien: H. B. Wagnitz. s. Anm. III/26 - Th. Fliedner. s. Anm. I/4 - N. H. Julius. s. Anm. II/30. S. 358 - 360 - Fr. v. Holtzendorff. John Howard
der Gefängnisreformer und Menschenfreund. In: Kunst und Leben. Stuttgart, 1877. S. 216 - 241 - K. Krohne.s. Anm. II/41. S. 32 - 37 - M. GTÜnhut. John Howard. A memorial lecture '" In: The Howard Journal, 1941 (Vol. VI) No. 1. p. 34 - 44.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
und durchspähte, wie der Engländer die seinigen". Ganz zeitnahe fährt er fort: "man wird überall aufmerksamer auf Menschenrechte, und gewiß kommt auch an gefangene Menschen die Reihe, und Fürsten, die's bisher nicht getan, würdigen einst auch diese ihrer väterlichen Fürsorgeu." Die Gliederung des Werkes von Wagnitz entspricht weitgehend der des Vorbildes. Während aber Howard ausschließlich über Einrichtungen berichtet, die er selbst kennen gelernt hatte, entlehnte Wagnitz auch Berichte "aus gedruckten Büchern" das heißt aus zweiter Hand42 • Fragen der Kostendeckung, der allgemeinen Verwaltung und der Gefangenenbehandlung wurden, dem gegebenen Muster vergleichbar, zusammengestellt. Nach Anregungen von Howard entwickelte Wagnitz die Persönlichkeitserforschung weiter. Dabei trat er, ganz im Sinne Herders für Anerkennung der Vielfalt, der Individualisierung ein und wendete sich auch gegen eine von Joseph 11. beabsichtigte Verschmelzung der Erziehung zu einem einzigen System in allen seinen verschiedenen Staaten43 • Die von Howard so eingehend behandelte Grundsatzfrage "Gefängnisbedienstete", erkannte auch Wagnitz als eine zentrale Frage an. Er forderte darum, und dies geschah zum ersten Male, eine systematische Ausbildung der im "Officianten"-Dienst, als "Zuchthausverwalter, Lazarethväter und Gefängniswärter" Tätigen, auf einem " Seminarium "44. Durch Wagnitz wirkte Howard auf das preußische und damit zumindest literarisch auf das deutsche Gefängniswesen auch insofern ein, als der preußische Justizminister von Arnim in ihm einen Mann der Praxis hoch schätzte45 • Von Arnim selbst beeinflußte den preußischen "Generalplan" von 1804, der freilich nicht alsbald zur Auswirkung kam, weil die Abwehr Napoleons alle Kräfte beanspruchte 48 • Weiter ist hier Justus Gruner, der nach 1813 zum Generalgouverneur in den rheinischen Gebietsteilen Preußens aufgestiegen war, zu nennen. Er veröffentlichte drei Werke zum Thema Gefängniswesen47 • 41 42
43
Wagnitz. s. Anm. H/26. Bd. I. S. IV. Wagnitz. s. Anm. H/26. Bd. H. Zweyte Hälfte. S. H. Wagnitz. s. Anm. HI/26. Bd. II. Zweyte Hälfte. S.196 Anm. Albert Krebs. Die Vorschläge von H. B. Wagnitz zur Ausbildung
der Strafanstaltsbediensteten in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Festschrift für Eberhardt Schmidt. Göttingen, 1961. S. 70 - 89. 45 A. H. 'Von Arnim. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen ... Frankfurt u. Leipzig, 1803. Bd. H. S.229. 4S K. Krohne. s. Anm. II/41. S. 151 E. Schmidt. Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen, 1965. S. 255 - Lothar Frede. Gefängnisgeschichte. Handwörterbuch der Kriminologie. Berlin/ Leipzig, 1933. I. Aufl. S. 537 - 552 und H. Aufl. Berlin, 1975 S. 253 - 268. '7 J. Gruner. s. Anm. III/4 - Justus Gruner. Versuch über Strafen in vorzüglicher Hinsicht auf Todes- und Gefängnisstrafen. Nebst einer, aus dem 44
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
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Bei seiner Bestandsaufnahme der Gefängnisse Westfalens nach dem Muster John Howards (1802), berief er sich wiederholt auf den "edlen Briten", der zum "Trost und Schutzengel der unglücklichen Gefangenen" geworden sei. Dabei hätten sich die wohltätigen Folgen seines Wirkens auf mehrere Länder Europas erstreckt. Gruner knüpft an die Berichterstattung über Besuche in deutschen Gefängnissen, gerade auch dem in Osnabrück an, und bemerkt, wenn auch voller Respekt, so doch recht kritisch: "Der edle Brite hat dieser Anstalt - wenn sie nicht, was ich jedoch bezweifle, nach seinem Besuch verbessert sein sollte unrecht getan, wenigstens verdiente sie jetzt bei allen Mängeln, eine solche Rüge nicht48 ." Seinem "Versuch über die recht- und zweckmässigste Einrichtung öffentlicher Sicherungsinstitute ... ", stellte Gruner allgemeine Ausführungen voran und äußerte: "könnte ich dazu einen richtigeren und besseren Weg einschlagen, als den Howard einst zuerst betrat? Musste ich dies nicht umso mehr, als ich häufig gefunden habe, daß Wagnitz schätzbare Nachrichten oft mangelhaft sind, weil sie - eingesandt wurden? Es gibt in der Tat zu einer richtigen Beurteilung öffentlicher Anstalten, kein anderes Mittel, als sie selbst zu sehen und zu untersuchen49 ." So ist denn seine Untersuchung, wie die von Wagnitz, nach dem Modell des "edlen Briten" aufgebaut: a) allgemeine Betrachtung der Notlage, b) schlechte Gepflogenheiten, c) vorgeschlagene Verbesserungen. Erst danach folgen d) die Ergebnisse der Besuche in den Anstalten. - Einen persönlich gehaltenen Reisebericht ließ Gruner diesem Fachbericht folgen (1802)50, und besaß die Künheit, sein Fachbuch dem regierenden König von Preußen, Friedrich Wilhelm 111., und seinen Reisebericht der Königin Luise zu widmen. - Die Widmungen wurden angenommen und das bedeutet, der Inhalt fand Zustimmung! In den beiden folgenden Perioden wurden in England und auf dem Kontinent, gelegentlich mit großem Kräfteeinsatz, die überlegungen fortgeführt, ob und wie die Freiheitsstrafe als Mittel der VerbrechensEnglischen angehängten Nachricht über die Strafgesetze und Gefängnisse Pennsylvaniens. Göttingen, 1799. - Justus GTuneT. Versuch über die recht- und zweckmässigste Einrichtung öffentlicher Sicherungsinstitute, deren jetzigen Mängel und Verbesserungen. Nebst einer Darstellung der Gefangen-, Zuchtund Besserungshäuser Westphalens. Frankfurt am Main, 1802. S.8, 34 ff., 84 f., 182 Anm. - Justus GruneT. Meine Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung oder Schilderung der sittlichen und bürgerlichen Zustände Westphalens am Ende des XVIII. Jahrhunderts. 2 Teile. Frankfurt am Main, 1802 - FTanz Ktemens WebeT. Gefängniswesen zwischen Rhein und Weser um 1800. Hrsg. vom Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands. Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V., 1965. 48 GTuneT. s. Anm. Ill/5. S.103. 4' GruneT. s. Anm. III/29. Vorrede S.8. Versuch ... 1802. 50 GTuneT. s. Anm. III/29. Meine Wallfahrt ... 1802.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
bekämpfung am Besten dienen könne. - Besonders in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts untersuchten zahlreiche Fachkräfte, welche Anregungen etwa auch die nordamerikanischen Erfahrungen bieten könnten. Die Gefängnisse von Philadelphia und Auburn wurden häufig aufgesuchte Reiseziele. Die dabei gemachten Erfahrungen fanden in der Literatur ihren Niederschlag und auch in Anstaltsneubauten ihre Verwirklichung. Im Jahre 1848 wurde das Männerzuchthaus Bruchsal, ein Zweckbau eröffnet, in dem "jeder Sträfling in eine besondere Zelle verbracht und bei Tag und Nacht ausser Gemeinschaft mit anderen Sträflingen gehalten werde"51. Zu einem entschiedenen Wortführer im Streit um das System der Einzelhaft wurde der Mediziner N. H. Julius5!, dem der spätere Referent für das Gefängniswesen in Preußen, J. H. Wichern, den Ehrennamen des "deutschen Howard" gabllI. Der Ehrentitel eines "holländischen Howard" wurde dem damals für internationale Gefängnisreform eintretenden Kaufmann Suringar zugeteilt54 . Die in dieser Bezeichnung enthaltene Anerkennung sollte sowohl John Howard als auch die Genannten ehren. 5. Zusammenfassung
Im Rahmen dieser Studie kann weder eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung das Gefängniswesen in Europa, noch in Deutschland nach der ersten Periode, die offensichtlich stark von John Howards Wirken beeinflußt war, gegeben werden. Festgehalten sei aber nochmals, daß sämtliche deutschen Fachkräfte von Rang, in ihm den Initiator und Förderer aller einschlägigen Bestrebungen, insbesondere der Gefängniswissenschaft, auch in den beiden folgenden Perioden sahen und sehen. Der Referent für das Gefängniswesen in Preußen, Kar! Krohne, der an leitender Stelle auch durch Mitarbeit bei den großen internationalen Strafrechts- und Gefängniskongressen, das Reformwerk fortsetzen konnte55, schloß eine Würdigung John Howards in seinem "Lehrbuch der Gefängniskunde ... " (1889) mit folgenden Sätzen, die auch diese Studie abschließen sollen: 51 J. Fueßlin. Das neue Männerzuchthaus Bruchsal nach dem System der Einzelhaft in seinen baulichen Einrichtungen. Bruchsal 1854, S. 4 - Paul FTeßle. Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal. jur. Diss. Freiburg 1. Br., 1970. 52 Albert KTebs. Nikolaus Heinrich Julius. Vorlesungen über die Gefängniskunde ... Gehalten 1827 zu Berlin. Eine Studie. In: Monatsschrift für Kriminologie. 1973 (56) 307 - 315. 53 MaTtin GeThaTdt. Johann Hinrich Wichern. Hamburg, 1931. Bd. IIr. S.22. 5' II1aTtin GeThaTdt. s. Anm. II/33. Bd. I. S. 176. 55
KTiegsmann. s. Anm. II/25. S. 83.
John Howards Einfluß auf das Gefängniswesen
65
"Durch die Art seiner Arbeit, noch mehr aber durch seinen persönlichen Charakter ist Howard das Vorbild für Alle, welche sich mit der Reform des Gefängniswesens befassen, geworden. Kein Philanthrop gewöhnlichen Schlages, frei von aller Sentimentalität und Romantik, die den Verbrecher zum Gegenstand schwächlichen Mitleids macht, festhaltend an dem sittlichen Ernste und gerechter Strenge der Strafe, will er als schlicht rechtlicher und religiöser Mann von der Strafe und dem Strafvollzuge Alles fern halten, was dem Rechte und der Menschenwürde des Strafenden und Bestraften widersprichtH ."
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Krohne, s.
5 Freiheitsentzu,
Anm. II/41. S.37.
2. Johann Heinrich Pestalozzi und das Strafvollzugsproblem·) I
Die äußeren Lebensstationen und das geistige Wirken von J. H. Pestalozzi, der am 12.1.1746 in Zürich geboren wurde und am 17.2.1827 in Brugg starb, gibt seine Grabinschrift eindrucksvoll wieder:
Retter der Armen auf Neuhof, Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud, Zu Stans Vater der Waisen, Zu Burgdorf und Münchenbuchsee Gründer der neuen Volksschule, In Iferten Erzieher der Menschheit, Mensch, Christ, Bürger. Alles für andere, für sich nichts! Segen seinem Namen! Zwei Hauptaufgaben erkennt Pestalozzi für sein Leben als wichtig an: Einmal bewegt ihn, in welchem Geist und nach welchen Grundsätzen sollen wir unsere Kinder erziehen? Dieser Kindererziehung hat ja Pestalozzi denn auch vorwiegend sein von Mühsal und mancherlei Mißerfolg heimgesuchtes Leben, insbesondere während der Perioden "auf Neuhof", "zu Stans", "in Burgdorf und Münchenbuchsee" geweiht. Zum anderen ist er erfüllt von der Aufgabe, mitzuwirken am Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung, und hierin schließt er das Strafvollzugsproblem ein! - Beide Fragenkreise, der der Kindererziehung und der des Zusammenlebens Erwachsener, vereinen sich für Pestalozzi in der "Menschenbildung" . Was Pestalozzi darunter verstand, wird aus der Anekdote, die Wilh. Schäfer in seinem Pestalozzi-Roman "Lebenstag eines Menschenfreundes"1 erzählt, deutlich. Pestalozzi sitzt mit einigen seiner Helfer auf der Mauer unterm Lindenbaum im Schloßhof zu Burgdorf, wo er als Gründer der neuen Volksschule wirkte. Sie sehen, wie die Sonnenröte die
* Aus einem Vortrag zum gleichen Thema, gehalten vor Sozialarbeitern in Marburg a. d. Lahn im Gedenken an die 125. Wiederkehr von Pestalozzis Todestag. Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug Jg.3 (1952/53) S.17 - 28. 1 Wilhelm Schäfer. Lebenstag eines Menschenfreundes. München, 1915. S. 296 f.
2. Johann Heinrich Pestalozzi und das Strafvollzugsproblem
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Alpen herrlich überschüttet, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe? Die Luken im Gewölbe, zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein. Obwohl es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem Haus, so daß die Herren in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben darunter könnten nicht hinaus, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an der Luke! So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft gebaut. Drum hab ich mich bemüht mein Leben lang und bin ein Narr geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die Treppe der Menschenbildung baute. Die letzten drei Jahrzehnte des XVIII. Jahrhunderts gehören zu den "Sternstunden" auf dem Gebiet des Gefängniswesens und geben den Hintergrund für Pestalozzis Gutachten zur Kriminalgesetzgebung ab. Im Jahre 1777 veröffentlichte John Howard, ein englischer Philanthrop, einen Reisebericht über den Zustand der europäischen Gefängnisse, die er in den vorangegangenen Jahren gründlich besichtigt hatte: "The state of the prisons in England and Wales with preliminary observations and an account of some foreign prisons and hospitals"!. Eine deutsche Übersetzung erschien bereits 1780, und dieser sorgfältig zusammengestellte Tatsachenbericht zeigte dem aufgeklärten Bürgertum, in welchem Ausmaße auf diesem Gebiet vielfach Idee und Wirklicheit auseinander klafften. In den späteren Auflagen (1780 und 1784) berichtete Howard auch eingehend über die Gefängnisse der Schweiz, insbesondere in Basel, Bern, Lausanne und ZürichS. Nachweislich leitete Howard mit seinem Bericht eine Gesamtreform des Gefängniswesens ein und leistete aus echter sozialer Verantwortung der Strafrechtspflege einen entscheidenden Dienst4 • ! John HowaTd. The State of the prisons in England and Wales, with preliminary observations and an account of some foreign prisons and hospitals. Ist ed. 1777. HIrd ed. 1784. 3 John HowaTd. s. Anm.2. HIrd ed. p.124 -128. 4 John HowaTd wurde Vorbild z. B. für HeinTich BalthasaT Wagnitz, Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser Deutschlands, Nebst einem Anhang über die zweckmässigste Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten. Halle, Bd. I, 1791. Bd. H. 1. Hälfte, 1793, 2. Hälfte, 1794. Wagnitz widmete diese Veröffentlichung: "Dem Geiste Howards und denen, die er umschwebt." - HeTmann KTiegsmann. Einführung in die Gefängniskunde. Heidelberg, 1912. S. 26 f. 6·
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Hier wird vor allem wichtig: Pestalozzi kannte und beschäftigte sich mit Howards Bemühungen, und wenn auch keine Aussage überliefert wird, daß er von Howard angeregt ist, so atmet doch "Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung" von 1782 den gleichen Geist. Inwieweit Howard oder Pestalozzi etwa das Berner Gefängnisreglement von 1783, das auch anderen Kantonen als Wegleiter diente, beeinHußten, läßt sich nicht nachweisen5 • Die Zeit zu einer Gefängnisreform war erfüllt! 11 Pestalozzi hatte in den Jahren, als er auf dem Neuhof versuchte ein "Retter der Armen" zu werden, versagt; das Gut war verschuldet, und die dort eingerichtete Armenerziehungsanstalt mußte 1780 aufgelöst werden. Der Wunsch, wenigstens "der Idee nach" neu zu gestalten, was in der Praxis so völlig verworren und weit von dem Ziele der "Menschenbildung" entfernt war, bestimmte ihn entscheidend bei der Abfassung aller seiner Schriften nach 1780. Einen durchgreifenden Erfolg, der ihn mit einem Male zum berühmten Manne machte, hatte Pestalozzi 1781 mit seinem sozialpädagogischen Bauernroman "Lienhard und Gertrud" errungen. Reich an Gedanken und Gestalten, schildert er die damaligen Verhältnisse der Bauernbevölkerung. Überall ist dem Zusammenhang zwischen dem leiblichen Leben und den irdischen Verhältnissen einerseits und dem Geist und dem Ideal andererseits Rechnung getragen. Man spürt es der Darstellung an, wie der Erzähler aus eigener Erfahrung alle die Schwierigkeiten und Bitternisse kennt, die dem Kämpfer für Wahrheit und Fortschritt in der Wirklichkeit des Lebens beschieden sind. Aber auch das spürt man auf jeder Seite, daß der Erzähler von der lautersten Menschenliebe, besonders gegenüber den Armen, Schwachen und Unterdrückten, getrieben ist und nur ein Ziel unverrückt vor Augen hat: sein Land durch wahre "Volksbildung" glücklich zu machen6 • Während sich "Lienhard und Gertrud" an die breiten Lesermassen wendet, richtet Pestalozzi sein "Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung" , das er in seiner Wochenschrift "Ein Schweizer-Blatt" veröffentlichte, an einen einzelnen und bewahrt dabei die gleiche innere Einstellung1• Wer war der einzelne? Kein anderer als der Bruder des Kaisers Joseph 11., der Großherzog Leopold von Toskana, nachmals Kaiser Leopold 11. 6 Schweizerische Gefängniskunde. Hrsg. von Karl Hafner u. Emil Zürcher. Bern, 1925. S. 13/14, 275. t Wilhelm Bornemann. Geistesgeschichtliche Bedeutung Pestalozzis. In: Pestalozzi in Frankfurt am Main. Ein Gedenkbuch zum hundertsten Todestage JHP's. Frankfurt am Main, 1927. S.9. 7 Pestalozzi's sämtliche Werke. Hrsg. von L. W. Seyfarth. Liegnitz, 1901. (cit. = PSW/S.) Bd. VI. S.106 -136.
2. Johann Heinrich Pestalozzi und das Strafvollzugsproblem
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Um "der Idee nach" wirken zu können, hatte sich Pestalozzi 1781 dem in Wien gegründeten Illuminaten-Orden angeschlossen8 • Dieser radikale und aktivistische Freimaurerorden entfaltete eine vielseitige Tätigkeit9 • Seine Mitglieder errangen u. a. beträchtlichen Einfluß auf die Strafrechtspflege, so z. B. auch auf die Abschaffung der Folter in Österreich. Der Orden suchte besonders auf Fürsten zu wirken, und Pestalozzi, der nicht nur Mitglied, sondern auch Haupt der Illuminaten in der Schweiz wurde, kam in eine Menge neuer Verbindungen. Auch zu Goethe kam er in Beziehung, der ebenfalls Mitglied dieses Ordens warlO . Es ist bekannt, daß "Arners Gutachten" zur großen Gruppe der Memorialliteratur gehört, deren Zweck für Pestalozzi darin bestand, sich durch Stellungnahme zu wichtigen Fragen für die Dienste irgendeines Staates zu empfehlen. Der Anlaß zum "Gutachten" selbst war folgender: Leopold von Toskana, Fürst in einem Staate, auf den sich der weitgehenden Reform halber aller Blicke richteten, hatte einen Preis für die Bearbeitung der Fragen der Verbrecherbehandlung ausgeschrieben11 • Daß sich die beiden regierenden Habsburger mit den Fragen der Gefängnisreform befaßten und daß sich auch Pestalozzi in dieser Zeit an solchen Wettbewerben beteiligte, bedeutet nichts Außergewöhnliches. Die Mutter der beiden Fürsten, Kaiserin Maria Theresia, hatte im Sinne der Aufklärung bereits im Jahre 1772 einen Plan des Statthalters von Österreich-Flandern, des Grafen Villain XIV., zum Ausbau des Gefängnisses zu Gent genehmigtl! und dadurch mit das modernste Gefängnis der Zeit geschaffenl3. - Pestalozzi hatte sich bereits an der Lösung einer anderen Preisfrage, die im Jahre 1780 von Mannheim aus gestellt worden war: "Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindesmorde Einhalt zu tun?", beteiligtl4 • Gegen 400 Bearbeitungen wurden eingereicht, aber die wohl bedeutendste unter ihnen, Pestalozzis "llber Gesetzgebung und Kindermord", blieb ungekröntl5. 8 Herbert Schönebaum. Pestalozzi, die Illuminaten und Wien. Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 23. H. 1928. Berlin, 1928. S. 86 - 106. I Geheime Gesellschaften. In: Geschichte des Verbrechens. Hrsg. von Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner. Stuttgart, 1951. S. 253/254. - Gustav Radbruch. Die Kriminalität der Goethe-Zeit. In: Geschichte des Verbrechens. S.262. 10 Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, StuttgartlBerlin, Bd.19 (0. J.) Teil 1. S. XXII. 11 Pestalozzis sämtliche Werke. Hrsg. von A. Busemann, E. Spranger, H. Stettbacher. Berlin/Leipzig (cit: PSWIB), Bd.8, 1927. S.135 -174 u. S. 450 f. 12 Nikolaus Heinrich Julius. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflingen usw. Berlin, 1828. S.147, 367. 13 John Howard. s. Anm.2. p.145 -148. 14 PSW/S. Bd. V. S. 345 - 498. 15 Gustav Radbruch. Kindsmord. In: Geschichte des Verbrechens, s. Anm.9 S.243.
I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
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Nachdem so der Empfänger des Gutachtens und die allgemeine Situation gekennzeichnet sind, bleibt, bevor der Inhalt im einzelnen erörtert wird, noch festzustellen, daß "Arner" der von Pestalozzi verehrte Landvogt Tscharner von Wildenstein warl6 • In dem "Gutachten" stellt sich Pestalozzi zunächst so, als sei er von einem Landesfürsten beauftragt, ein Expose über die Kriminalgesetzgebung auszuarbeiten. "Da mein Herz von Natur weich und zu aller möglichen Schonung und Liebe gegen Elende und Unglückliche geneigt ist, so war natürlich, daß ich mich (bei meinen Erkundungen) zuerst ganz auf die Meinung der meistens jüngeren und unerfahreneren Beamten hinlenkte. Es schien unwidersprechlich, daß die Gefangenschaft nicht eine Strafe, sondern nur Verwahrung und Sicherstellung der Person des Verbrechers sein sollte; es schien mir auch upzweideutig, daß Qual und Leiden der Gefangenen der Gesellschaft an sich keinen Vorteil bringen und die öffentliche Sicherheit nicht befördern. - Ich fand die Gefahren der alten Manier, die Gefangenen durch Angst und Marter zu falschen, sich selbst anklagenden Aussagen zu verleiten, fast unvermeidlich, und das Gemälde von der kalten Hartherzigkeit der älteren Justizbeamten, welches sich die Herren von der neueren Manier einige Zeit allgemein zu machen erlaubt, empörte mein Herz so, daß ich in meinen Partikulargesinnungen völlig für die Meinungen und Grundsätze der jüngeren Beamten entschieden war17." Aber Pestalozzi prüfte auch die Gegenpartei und fand "unter den Leuten, die diese hartscheinenden Grundsätze hegen, Männer von edelsten Herzen und den menschenfreundlichsten Gesinnungen". Aber bei aller Prüfung konnte er sich doch nicht enthalten, "immer auf die Seite der Milde und Schonung der Gefangenen hinzulenken"18. Die Vertreter einer härteren Behandlung, zwei Vögte, äußerten: "Die meisten Kriminalgefangenen in unserm Land sind Gauner, Bettel- und Strolchenvolk, ohne Heimat, ohne Eigentum, ohne Gewerb und Beruf, Leute, die von einem Land ins andere gejagt werden, Leute, die in Ställen und Scheunen schlafen und in Wäldern und Höhlen ihre Nester haben; andere sind tief verlumpte Landleute, ein Pack, das mit Spielen, Saufen, Schlägeln, mit Leugnen, Händelmachen, mit Nachtschwärmen, Freveln, Frechheiten und allem, was tiefe Hartherzigkeit ausbildet, so bekannt sind, als brave Leute mit den Werkzeugen ihres Berufs I9 ." Der menschenfreundliche Edle von Berg folgerte, daß es unumgänglich notwendig sei, den Abscheu des Volkes gegen alles, was sowohl die 18 PSW/B, s. Anm.ll. Bd.8. 1927. S.451. 17
PSW/S, s. Anm.7. Bd. VI. S.108.
18 PSW/S. S.109. 18 PSW/S. S. 109.
2. Johann Heinrich Pestalozzi Und das Strafvollzugsproblem
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Landes- als Kriminalgesetze behandeln müssen, allgemein rein und stark zu erhalten, daß er niemals von seinem Urteil abgehen werde, daß das Widrige der Gefängnisse und die Furcht vor körperlichen Leiden ein zwar unglückliches, aber im ganzen der Lage und Umstände ein für die öffentliche Sicherheit notwendiges Bedürfnis der KriminalUntersuchungen St!i20. Der außerdem befragte "brutale" Vogt von Till sieht Verbrechen gegen die Landesgesetze nur wie "eine Branche" der rechtmäßigen Einkünfte adeliger Personen an, über welche er eine vollkommen regulierte Ökonomie und Buchhaltung führt und vor deren Verminderung er zittert. Seine Grundsätze über diesen ganzen Punkt sind rein haushälterisch; er braucht Gefängnis und Schwert, damit seine Gerichtsstelle einträglich bleibe, wie der Holländer Beil und Karst braucht, die Nelkenbäume auf den Gewürzinseln auszurotten, damit die Ware im Preis bleibe. Die Entdeckung aller straf- und bußwürdigen Handlungen und aller Menschen, die den entferntesten Anteil daran haben möchten, sind ihm so wichtig, daß es ihm unmöglich ist, den Gedanken, die Schreckgefängnisse von Ungeziefer zu reinigen und den Gebrauch der Folter zu mindern, für etwas anderes anzusehen, als für einen unzweideutigen Beweis des Einflusses, den die Bürgerlichen bei Hof haben, welche natürlicherweise den Adeligen ihre Einkünfte immer zu schmälern suchen 21 • Hier arbeitet Pestalozzi ganz scharf heraus: a) wie von Berg aus Gründen der Staatsräson - Ideen der Aufklärung klingen an -, der Generalprävention, eine strenge Gefangenenbehandlung wünscht, b) wie von Till aber diese aus Egoismus, aus Gewinnstreben fordert, wobei er den Verbrecher als Sache betrachtet und jede Menschenwürde mißachtet. Dabei schöpft Pestalozzi aus seinem besonders reichen Schatz an Erfahrungen und Beobachtungen! Welche Stellung nimmt Pestalozzi-Arner selbst zur Strafe und zur Gefangenenbehandlung ein? Allgemein sagt Pestalozzi: Gesetzgebung und Polizei müssen durch ihre Realwirkungen den Staat in den Stand setzen, ohne Gefahr schonend und menschlich gegen Verbrecher handeln zu können, man muß immer trachten, von oben herab zu helfen, wo man mit einem auf Tausende wirkt, damit die echte Aufgabe des. Staatsmannes und Gesetzgebers verwirklicht wird, und man darf nicht ewig zurückstehen in der Armseligkeit, den Verbrecher-Wust nur in einzelnen Winkeln aufzuräumen!2. Der Staat, der Verbrecher fürchten muß, kann Verbrecher nicht schonen. Nur da, wo Krankheiten nicht für gefährlich ansteckend 20 21 22
PSW/S. S. 113. PSW/S. S.114. PSW/S. S. 120.
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
gehalten werden, kann man die einzelnen Kranken mit ganzer Sorgfalt und Schonung behandeln, aber wo Lage und Luft, Umstände, Diät und Sitten sämtlich zusammenstimmen, eine allgemeine Ansteckung besorgt zu machen, da muß auch eine weise und fromme Regierung oft unausspreChlich harte Verfügungen gegen die einzelnen Kranken treffen, und dieser Umstand ist's wahrscheinlich auch, der das Schicksal der Gefangenen in der Hand des weisesten und besten Richters hart und elend machen kann!:!. Man wird nach dem Hören dieser Sätze Pestalozzi nicht der Weltfremdheit zeihen können, sondern feststellen müssen, daß er echte Einflußnahme auf den einzelnen Gefangenen, d. h. Fürsorge, gewollt hat. Die Behandlung der Gefangenen gehört nach Pestalozzi mit zu den Mitteln des Staates, den Quellen der Verbrechen Einhalt zu tun. Deshalb soll das Problem der Gefangenenbehandlung, so wie es Pestalozzi sah, im folgenden weitgehend mit seinen eigenen Worten dargestellt werden. Das Ziel der Einrichtung "Gefängnis" ist klar umschrieben: Gefängnis, Zucht- und Arbeitshaus ist nichts anderes und soll nichts anderes sein als rückführende Schule des verirrten Menschen in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre ohne seine Verirrungu . Der lange gesicherte Aufenthalt der verurteilten Verbrecher muß in aller Absicht geschickt sein, die Kräfte des Leibes und der Seele zu stärken. Gemütsruhe, Zufriedenheit, Erquickungsstunden, Unterschied im Grad der Freiheit und Lebensgenießungen nach Maßgabe ihres Verhaltens, Genuß der Folgen einer voreifemden Tätigkeit, Anstellung und Ordnung, kurz Belohnungen guter Sitten und wohlangewandter Kräfte und Kenntnisse müssen in dieser Wohnung der Trauer dem elenden Gefangenen gesichert sein, wie sie allen Menschen, die man in Ordnung halten und zu guten Sitten emporheben will, versichert sein müssen". In diesen Formulierungen von Pestalozzi sind z. T. auch schon eine Reihe von Mitteln genannt, mit deren Hilfe neben der Arbeit das Ziel erreicht werden kann: sinnvolle Freizeitgestaltung und eine Art Progressivsystem. Wieder an anderer Stelle faßt Pestalozzi nochmals das Ziel des Strafvollzugs zusammen: den Verbrecher durch Gefangenschaft und Strafe wieder in den Zustand gebesserter und durch Erfahrung weiser gemachter Menschen emporzuhebenH • Wesentlich bleibt aber, daß nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe nachteilige Rechtsfolgen nicht mehr eintreten! Diese Forderung ist nur im Zusammenhang mit der vorangehenden Z3 P5W/5. !, P5W15. !5 P5W/5. !I P5W15.
5.122. 5. 128. 5.129. 5. 132/3.
2. Johann Heinrich Pestalozzi und das Sttafvollzugsproblem
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verständlich, denn erst nach Bewährung in der Anstalt soll überhaupt eine Entlassung erfolgen. Revolutionär sind aber die Mittel, die zur Erreichung des Zieles empfohlen werden, zunächst hinsichtlich der Örtlichkeit der Gefängnisse. Die Verwirklichung der von Pestalozzi festgelegten Grundsätze würde zu einer völligen Änderung der Gesamtlage der Gefängnishäuser führen. Große weitläufige Bezirke, er nennt sie "Festungen", sind nach seiner Ansicht allein geeignet, eine Anzahl gefangener Menschen aufzunehmen, damit sie "menschlich und zweckmäßig behandelt werden können". Dabei erkennt Pestalozzi, daß die Zusammenballung von Gefangenen an sich stets zu neuen Schwierigkeiten aller Art führen muß, und er fordert deshalb so zahlreiche freie Einwohner auf der Festung, daß nicht die Gefangenen das Leben in diesem Bereiche bestimmen. Weiter fordert er: "Diejenigen Einwohner, welche durch Rat und Tat die Verbesserung der Umstände der Gefangenen und ihre sittliche Emporhebung befördern; diejenigen, welche durch vorzügliche :Einrichtung ihrer Gewerbe oder durch Etablierung neuer, dem Lokal und den Gefangenen besonders angemessener Erwerbszweige, sich um das Allgemeine des Instituts oder um viele einzelne Gefangene verdient machen, wären die einzigen Personen, welche der Regierung zur Wahl für die bürgerliche Ortsobrigkeit auf der Festung könnten vorgeschlagen werden." Dieser Vorschlag weicht ab von der damals zeitgemäßen äußeren oder inneren Kolonisation durch Verbrecher, wie sie z. B. von England in Australien und von Holland in seinen Nordostprovinzen verwirklicht wurde 27• Die "Festung", in welcher der Verurteilte zwar unter Freiheitsentzug leben muß, aber dennoch größere Bewegungsfreiheit als in einem Gefängnis hat, stellt eine Zwischenform dar. Sie ist in gewissem Sinne vergleichbar mit der Unterstellung unter Bewährungsaufsicht in einer besonders ausgewählten Umgebung. Insbesondere wird schon hierbei das Anliegen Pestalozzis deutlich, durch Arbeit zu erziehen. Das Problem der Arbeit war für alle Gefängnisreformer seit der Amsterdamer Zuchthausgründung (1595) wesentlich! Voltaire, Howard u. a. zur Zeit des Merkantilismus lebende Erneuerer stellten sie in den Mittelpunkt resozialisierender Gefangenenbehandlung. - Max Weber hat in seinem berühmt gewordenen. Aufsatz über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus die Sozialethik des Calvinismus, insbesondere die Stellung zur Arbeit, erschlossenz8 • Radbruch hat in seiner Studie: "Die ersten Zuchthäuser und 17 Adalbert Freiher von Buol-Bernberg.Die holländischen Armenkolonien und die Strafanstalten in Berlin, Gent, Bruchsal und Genf ... Wien, 1853. S.1ff. 28 Max Weber. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft. 1905 (20) 1 - 54 u. 1 -110.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund"29 den Zusammenhang zwischen Zuchthausgründungen und calvinistischer Lehre von Amsterdam aus über Bremen auch in der Schweiz dargestellt. - Zu den Forderungen Pestalozzis gehört weiter: Der Gefangene soll Gelegenheit erhalten, einige Wochen alle Arten von Arbeitsamkeit, die auf der "Festung" etabliert sind, zu erforschen und seine Fähigkeiten darin genugsam zu probieren, ehe er sich zu einer Arbeit entschließen muß. Das ist echte Zugangsbehandlung. - Die Gefangenen haben sogar die Freiheit, unter allen Meistern, welche Arbeiter brauchen, den selber auszuwählen, unter dem sie zu stehen wünschen. Ja, man soll ihnen Gelegenheit geben, auch auf der Festung noch nicht eingeführter Arbeiten zu gestatten. Im Bedarfsfalle sind dann Rohstoffe und Werkzeuge von Anstalts wegen zu stellen30 . Dabei sind die freien Einwohner auf der Festung "gemeine Arbeiter", die sich jeweils nur um wenige einzelne, bei ihnen beschäftigte Gefangene kümmern, denn es "weiß der gemeine Mensch immer am besten mit seinesgleichen umzugehen"31. Im StGB klingen diese Gedanken im § 16 an: auf ihr Verlangen sind die zu Gefängnis Verurteilten in einer ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessenen Weise zu beschäftigen32 • Ja, Pestalozzi hält sogar für möglich, daß es den Gefangenen erlaubt wird, "durch Anstrengung ihrer Kräfte sich in Umstände zu setzen, Weib und Kind selbst am Ort ihrer Gefangenschaft erhalten zu können" 33. Auch selbständige Arbeit soll der Gefangene leisten, aber den Ertrag nicht ohne sorgfältige Anleitung verwenden dürfen. Er muß genaue Rechenschaft ablegen34 • Was folgert Pestalozzi aus seinen Forderungen? Der Umfang der Festung muß ausreichend groß sein; - die Gefangenen müssen z. B. ihre "Gemüsegärten und ihre Erdäpfel selber pflanzen"; es muß in der Festung "Freiheit, Gewerbsamkeit, Anstelligkeit herrschen, welche überfluß erzeugen, die Bedürfnisse wohlfeil machen und das ganze Ideal, welches jetzt so sehr ein Traumgesicht scheint, zur dauerhaftesten Menschenfreundlichkeit und sichersten Anstalt erheben"35. 29 Gustav Radbruch. Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund. In: Elegantiae juris criminalis. Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts. Basel, 1950. S. 116 ff. ao PSW/S. Bd. VI. 1901. S. 129. 81 PSW!S. S.130. 32 Franz von Liszt und Eberhard Schmidt. Lehrbuch des deutschen Strafrechts. 26. Aufl. Berlin!Leipzig, 1932. S. 386. 33 PSW!S. Bd. VI. 1901. S.131. 34 PSW!S. S.132. 35 PSW!S. S.131.
2. Johann Heinrich Pestalozzi und das Strafvollzugsproblem
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Pestalozzi rechnet aber, trotz aller utopischer Gedankengänge immer mit der menschlichen Psyche. Ebenso wie er Gefangenen die Möglichkeit geben will, innerhalb der Festung ein neues, geordnetes Familienleben aufzubauen, sieht er vor, Gefangene, die sich in den Familien der freien Einwohner nicht wohl verhalten, in ein echtes "Gefängnis" zu verlegen, wo sie durch Strenge und Strafe zur Arbeit und zu einem ordentlichen Leben gezwungen werden könnten. "Dieses Haus müßte den ganzen Air der tiefsten unberatensten Sklaverei tragen, um den Wunsch, aus demselben errettet und in ,Privatdienste' genommen zu werden, bei den Gefangenen lebhaft zu unterhalten." Auch aus der folgenden Bemerkung spricht der Menschenkenner: "Alle Gefangenen müßten sich einige Tage in diesem Hause aufhalten, um das Elend zu sehen, welches sie sich durch übles Verhalten in den Privatdiensten zuziehen würdenH ." Hiernach besteht innerhalb der kriminalpädagogischen Gefangenenprovinz eine Progression nach oben und durch die Möglichkeit des Absinkens auch nach unten, eine Art Stufensystem, wie es später vielfach in deutschen Gefangenenanstalten angewendet wurde37 • Die Helfer bei dieser Hauptarbeit sind z. T. von Pestalozzi erwähnt. Wenn Zwang ausgeübt und eine Sicherung der Festung vorgenommen werden kann und muß, dann gehören auch in der Idealanstalt Aufsichtsbeamte in den Dienst. Bei der Wichtigkeit der Persönlichkeitsforschung werden Fachkräfte benötigt, die möglichst tiefe Zusammenhänge aufdecken sollen. Sie sind ausdrücklich genannt. Ebenso unentbehrlich sind bei der Bedeutung der Arbeitstherapie die freien Meister, die an den bei ihnen vereinzelt lebenden Gefangenen zugleich die Aufgaben des "Hausvaters" übernehmen. Weiter fordert Pestalozzi: es müssen Männer als Lehrer auf der Festung angestellt werden, welche vorzügliche Fähigkeiten haben, mit dem Volk umzugehen und dem Endzweck des Instituts sowohl im allgemeinen als in Beziehung auf die einzelnen Gefangenen entsprechen38 • Sie erfüllen also die Aufgaben der heute "Sozialarbeiter" (Strafanstaltsfürsorger) genannten Mitarbeiter9 • Nicht besonders erwähnt von Pestalozzi sind z. B. die Geistlichen, die Ärzte, der Anstaltsleiter, was keineswegs eine Mißachtung diesen Gruppen gegenüber bedeutet, sondern offenbar wird ihre Mitwirkung als selbstverständlich angesehen. 38
PSW/S. S.131.
Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 RGBl. H. 263 ff. (Abgedruckt in: Erwin Bumke [Hrsg.] Deutsches Gefängniswesen. Berlin, 1928. S. 511- 529.) - Lothar Frede. Gefängnisgeschichte. In: Handwörterbuch der Kriminologie. BerlinjLeipzig. Bd. I., 1933. S. 551. 38 PSWIS. Bd. VI. S. 132. 39 Albert Krebs. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt. In: Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft. 1928 (49)65 - 83. 37
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Auch über die Dauer dieser Art von Inhaftierung hat Pestalozzi seine Gedanken. Ohne höchst dringende Staatsbedürfnisse muß niemand für hundert und ein Jahr eingesperrt werden; Hoffnung auf Erlösung muß bei allen Gefangenen die Grundtriebe der Ehre, der Selbstliebe und der Menschenliebe wieder entwickeln, die sie bei ihrem lasterhaften Leben geschwächt und verloren; sie müssen im Leiden ihres Zustandes zum Gefühl gebracht werden, daß sie auch noch jetzt zu etwas Gutem brauchbar, und daß ein rechtschaffenes, gutes Betragen ihnen auch in ihrem gegenwärtigen Zustand heilsam und nützlich ist. Die Dauer des Aufenthalts auf der Festung kann also nicht kurzfristig sein, und lange Gefangenschaften werden auf diese Weise unumgänglich nötig! Voraussetzung der Entlassung ist für Pestalozzi aber eine gründliche Persönlichkeitsforschung. "Man muß keine Gefangenen aus den Händen der Gerechtigkeit lassen, ohne auf das sorgfältigste zu versuchen, durch sie den Quellen ihrer Verbrechen im allgemeinen nachzuspüren und von ihnen selber Handbietung und Anleitung zu suchen, denselben Einhalt zu tun." Hier verweist Pestalozzi auf die Notwendigkeit, den Ursachen der Kriminalität in jedem Falle nachzuspüren, aber auch dann eine echte Kriminalpolitik zu treiben, wobei Pestalozzi erkennen läßt, daß er weiß: eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik! Nach Pestalozzi sind die Verbrecher oft Menschen mit den "größten Anlagen", und er ist davon überzeugt, daß selbst in der niedersten Klasse von Menschen die Verbrechen und Taten der Gefangenen fast immer mit den wichtigsten und verborgensten Staatsgebrechen tief verflochten und verbunden, also z. T. zeitbedingt sind. Pestalozzi wünscht deshalb, daß zu diesem Zweck besoldete, d. h. hauptamtlich tätige Männer, die zu aller Freiheit im Nachforschen und Rapportgeben berechtigt und bestimmt werden möchten, beauftragt werden sollten, die sicherlich beachtlichen Zusammenhänge besonders in Beziehung zur Nationalsittlichkeit herauszufinden·o• An anderer Stelle äußert Pestalozzi erneut die Auffassung: es ist selten ein äußerst ausgezeichneter Grad von Hartherzigkeit bei den Verbrechern, sondern es sind oft von sehr zufälligen Umständen abhängende Verführungen und selbst im Innern des Gouvernements liegende Fehler, Nachlässigkeiten, Unordnungen, Anmaßungen und Schwächen dasjenige, was die meisten Gefangenen in obrigkeitliche Bande bringt; und die Gefangenen können so gut wie andere Klassen von Menschen zur Empfindung dessen, was schön, edel und gut ist, zurückgebracht werden41 • 40
41
PSW/S. Bd. VI. 1901. S.127. PSWIS. S. 134.
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Die Entlassung aus der Gefangenschaft bedarf ebenfalls sorgfältiger Vorbereitung. Auf Grund eingehender Persönlichkeitsforschung soll sie in Form eines allmählichen überganges unter Bewährungshilfe erfolgen. Man muß die Verbrecher ungebessert nicht leicht wieder in Freiheit lassen, ihre Gefangenschaft und Strafe muß Rückruf zu einer Lebensart sein, die ihrer Natur nach den inneren Quellen ihrer Verbrechen entgegenarbeitet, und auch nach ihrer Entlassung müssen sie weit mehr und genauer unter Aufsicht des Staates bleiben als alle unverdächtigen Einwohner des Staates. Allenthalben muß man den Oberamtsleuten detaillierte, jährliche Rechenschaft von ihrem ganzen Betragen, ihrer Unterhaltungsweise und ihrer Hausordnung ablegen, und diese müssen die ersten Spuren der sich wieder erneuernden Ursachen ihrer Verbrechen an die oberen Justizgerichte schleunigst berichten. Dieser Satz enthält in gewissem Sinne u. a. die Forderung auf unbestimmte Verurteilung aller Rechtsbrecher. Für die Jugendlichen ist sie im deutschen Jugendgerichtsgesetz verwirklicht; für die Erwachsenen bedeutet z. T. die Sicherungsverwahrung ein Mittel im Sinne von Pestalozzi. Es entspricht seinen Grundanschauungen völlig, wenn er weiter fordert, daß die Kinder der Verbrecher unter der Aufsicht des Staates erzogen werden, denn der Geist der Verbrecher vervielfältigt sich im Leben der Kinder, welche von ungebesserten Verbrechern erzogen werden. Sie gehören unter die Aufsicht des Staates, "Sie sind in der Hand eines weisen Fürsten das sicherste Mittel, die inneren Endzwecke der Strafgesetzgebung bei ihren Eltern zu erreichen", sie sind das Pfand, das der Staat in seiner Hand hat, die Herzen der Gefangenen aus dem Grund wiederherzustellen und sie zu allem Guten zurückzuführen. Hier mündet die Sonderbetrachtung wieder ein in das Gesamtlebenswerk von Pestalozzi: "die Menschenbildung" . Die Forderungen Pestalozzis für das Gefängniswesen sind mannigfaltig und enthalten ein vollkommenes System der Gefangenenbehandlung im Rahmen einer "Strafanstalt, die als Erziehungsanstalt bessern will". Pestalozzi spricht nur dann der Strafe eine Berechtigung zu, wenn sie als Ziel der Resozialisierung "die Menschenbildung" hat. Der Vergeltungszweck hat dabei in seinem Strafbegrüf keinen Raum, aber auf die Abschreckung verzichtet er keinesfalls4!. Der Unterschied der Menschenbildung des Gefangenen von der des Freien besteht demnach für Pestalozzi ausschließlich darin, daß der Gefangene gezwungen wird, 42 Franz Zeugner. Pestalozzis Kriminalpädagogik. BerlinlLangensalza/ Leipzig. o. J. S. 1 - 70. - Franz Zeugner. Pestalozzis Stellung zur Kriminalpädagogik. In: Blätter für Gefängniskunde, 1929 (60) Heft 2. Sonderdruck
S.1-10.
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sich in die kriminalpädagogische Provinz zu begeben und dort zu verweilen bis zur Entlassung in die Freiheit oder der Zurückverweisung in das strenge Gefängnis. Das ist eine Frage des Willens, und völlig unsentimental muß der Gefangene die Folgerungen aus seinem Verhalten in der pädagogischen Provinz auf sich nehmen. Gerade dabei wird deutlich, wie sehr Pestalozzi zu den Erziehern gehört, bei denen die mütterlichen Motive vorwiegen und deren Autorität auf ihrem Sinn für das Zueinander, für das Verwobensein des Natürlichen, des Sittlichen und des Geistigen im Menschen beruht. Aus der Bedrohung der menschlichen Gemeinschaft, aus der Sorge um den Geist, der die Gemeinschaft bis in ihre natürlichen Grundlagen hinunter erhält, entsteht ein "sozialer" Typ von Erziehern, der sich mit seiner mütterlichen Kraft den Kleinsten wie den Erwachsenen in gleicher Gerechtigkeit zuwendet. Seine Liebe ist darum jedem Menschen gegenüber zur Hinwendung bereit, dem Begabten wie dem Unbegabten, dem Psychopathen und dem Verbrecher'8. Die Erkenntnis der Gründe für die Verwahrlosung und auch für das Verbrechen sind in einer Art Kriminologie in "Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung" zusammengestellt, aber bewußt werden auch die politisch-sozialen Reformen gefordert und vor allem die sozialpädagogischen Heilmittel aufgedeckt«. Bei allen überzeitlichen Forderungen bleibt Pestalozzi darin aber immer seiner Zeit verbunden.
In Im Rahmen dieser Abhandlung kann es nicht Aufgabe sein, Pestalozzi kritisch zu würdigen oder seine Pläne in weiteren Einzelheiten zu behandeln, sondern nur noch zu versuchen festzustellen, welche Wirkung er auf das Gefängniswesen seiner Zeit bzw. späterer Zeiten ausgeübt hat. So schwierig es auch sein mag, seine unmittelbare Wirkung auf das Gefängniswesen festzustellen, so ist doch erwiesen, daß er Gesichtspunkte der Gefangenenbehandlung erörterte, die bis heute noch nicht erschöpfend geklärt sind. Sein "Gutachten" stellt eine Art Rohstoff dar, der auf seine Verwertbarkeit in der Gegenwart und erst recht in der Zukunft sorgfältig überprüft und ausgewertet werden sollte. Unmittelbar nach der Veröffentlichung scheint "Arners Gutachten" im allgemeinen kaum Beachtung gefunden zu haben; aus der Schweizer Gefängnis-Reformbewegung ist jedenfalls darüber nichts bekannt geworden. Das Berner Reglement aus dem Jahre 1783 läßt dies jedenfalls 4S WilheZm FZitner. Allgemeine Pädagogik. Stuttgart, 1950. S.79. 4' WiZheZm FZitner. s. Anm.43. S. 101/102.
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nicht erkennen. Erst C. A. Zeller (1774 - 1846), ein Schüler Pestalozzis, baut seinen "Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will" 45, auf Pestalozzis Gedanken auf, wenn er auch, an seine Zeit gebunden, nicht von dem gleichen Gedankenschwung wie Pestalozzi beseelt ist und relativ einfachere und leichter realisierbare Forderungen erhebt. Ob Pestalozzis Ideen, wie er sie in "Arners Gutachten" niederlegt, an irgendeiner . Stelle in gesamtem Umfange erprobt wurden, ist nicht bekannt. Aber der Kenner des Gefängniswesens weiß, daß nach Pestalozzi manche Reformer einzelne Teile des gesamten Programms von 1782 verwirklichten. Insbesondere erscheint wichtig, daß festgestellt werden kann: das schöpferische Prinzip, dem Gefangenen während seines Anstaltsaufenthaltes "Hilfe zur Selbsthilfe" zu gewähren, hat heute allgemeine Anerkennung gefunden. In der Strafanstalt Untermaßfeld in Thüringen wurde diese "Hilfe zur Selbsthilfe" in den Jahren 19231933 im Rahmen eines Progressivsystems verwirklicht, wobei die Angehörigen der obersten Stufe weitgehend ihr Leben in der Anstalt selbst gestalteten. Hier war bewußt an diese pestalozzischen Gedanken angeknüpft worden46 . Zwar war die Wirkung Pestalozzis, z. B. auf dem Gebiete der Jugenderziehung und der Arbeitsschule sowie der Anstaltserziehung47, zu seiner Zeit (z. B. Chr. H. Zeller in Beuggen und Fellenberg in Hofwil) und auch im XIX. Jahrhundert (z. B. Wichern im Rauhen Hause in Hamburg)48 zweifellos von größerer Bedeutung als auf dem des Gefängniswesens, aber gerade "Arners Gutachten" zeigt, daß Pestalozzi in einem besonders kritischen Lebensabschnitt - eben der Zeit nach dem Zusammenbruch aller Neuhofpläne im Jahre 1780 -, die Bedeutung der Gefängnisreform in ihrem vollen Umfange erkannt hatte und gewillt war, die "Treppe der Menschenbildung" auch aus den Kellern dieses Hauses des gesellschaftlichen Unrechts zu bauen. 45 Cart August Zelter. Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will. Stuttgart, 1824. - Ernst Feucht. Cart August Zelt er, ein württembergischer Pestalozzianer (1774 - 1846). Ein Beitrag zur Geschichte des Pestalozzianismus in Württemberg und Preussen. Stuttgart, 1928. (Nach Abfassung des Textes bekannt geworden: Brief von J. H. Pestalozzi an C. A. Zeller von Ende Februar 1808. In: Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Hrsg. vom Pestalozzianum und der Zentralbibliothek Zürich. Zürich, 1962. Bd. 6. S. 34 - 40. 48 Atbert Krebs. Die Selbstverwaltung Gefangener in der Strafanstalt. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie ... 1928 (19) 152 - 164. 47 Christian Jasper Ktumker. Pestalozzi und die deutsche Kinderfürsorge. Festrede zum 100. Todestage Pestalozzis 14. 11. 1927. Frankfurter Universitätsreden. XXVI. Frankfurt am Main, 1927. S. 3 - 18. 48 Wilhetm Backhausen. Die Geschichte der evangelischen Anstaltspädagogik. In: Die evangelische Anstaltserziehung. Hannover, 1922. S. 274 - 330. Hermann Noht, Gedanken zur Pestalozzifeier. In: Die Erziehung 1927 (2) S.644.
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I. Teil: Pioniere des Getängniswesens
Für die Praxis der Gefangenenbehandlung in Gegenwart und Zukunft aber bleibt sein Wort entscheidend: "Gefängnis, Zucht- und Arbeitshaus ist nichts anderes und soll nichts anderes sein, als rückführende Schule des verirrten Menschen in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre ohne seine Verirrung; deshalb müssen die Häuser alle den allgemeinen Bedürfnissen des Menschenherzens, wenn selbiges zu allem Guten zurückgeführt werden soll, angemessen sein und im ganzen ihres Tons den Bedürfnissen dieses wesentlichen Endzwecks der Sache selber entsprechen"."
'11 PSWjS. Bd. VI. 1901. S.126 (Nr.25) u. 128.
3. Die Vorschläge von Heinrich Balthasar Wagnitz zur Aushildung der Strafanstaltshediensteten in ibrer Bedeutung für die Gegenwart* I
Heinrich Balthasar Wagnitz lebte von 1755 bis 1838 in Halle a./S. Im Laufe seiner Tätigkeit als Prediger am Zuchthaus dieser Stadt, von 1784 bis 1817, stellte er drei Veröffentlichungen zusammen, die sein Wirken während der Zeit der Erneuerung des gesamten gesellschaftlichen Lebens in Europa und den damit verbundenen Reformen auf dem Gebiete des Gefängniswesens erkennen lassen1 • Diese Veröffentlichungen sind die wichtigsten Unterlagen zu der vorliegenden Darstellung. Die Durchsicht der Wagnitz betreffenden Archivalien des Stadtarchivs Halle ergab keine wesentlichen Daten zusätzlich. Die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts erschienene Fachliteratur wurde ebenfalls ausgewertet, außerdem die Arbeiten zur Geschichte des preußischen Gefängniswesens von Eberhard Schmidt, insbesondere "Preußische Gefängnisreformversuche bis 1806. Ein Beitrag zur Geschichte der Kriminalpolitik2 ." Die geistige und religiöse Situation um 1800 war bestimmt durch die Aufklärung. Rationalismus und Pietismus wirkten sich aus. Die preußischen Regenten dieses Zeitabschnittes: Friedrich 11., Friedrich Wilhelm 11. und Friedrich Wilhelm 111. sowie auch die Kaiser Joseph 11. und Leopold 11. vertraten mehr oder minder stark die Ideen der Zeit. Die Erklärung der Rechte des Menschen und die Französische Revolution mit den Wirkungen, die anschließend von Napoleon ausgingen und alle Kulturnationen berührten, bestimmte die allgemeine
* Erschienen in: Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag. Göttingen 1961. S. 70 - 89. 1 Heinrich BalthaBar Wagnitz, Über die moralische Verbesserung der Zuchthaus-Gefangenen, 1787; derB., Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Nebst einem Anhang über die Zweckmäßigste Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten, 1791; derB., Ideen und Plane zur Verbesserung der Policey- und Criminalanstalten. Erste Sammlung 1801. Zweite Sammlung 1802. Dritte Sammlung 1803. 2 Eberhard Schmidt, Entwicklung und Vollzug der Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 1915; derB., Preußische Gefängnis-Reformversuche bis 1806. Goltd.Arch.67 (1919), 351- 372; derB., Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1951. 6 Freiheitsentzug
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politische Situation in Europa und dem von ihm beeinfiußten Nordamerika. Auch auf dem Gebiete des Strafrechts und des Gefängniswesens bereitete sich ein Wandel vor. Es ist die Periode, in der die Verantwortlichen den Inhalt des Begriffspaares: über Verbrechen und Strafen3 besonders sorgfältig durchdenken. Die Schattenseiten dieser Bestrebungen waren Wagnitz bekannt. Er wußte um die "Gefahr der Heuchelei" im Pietismus' und alle bedenklichen übergangsschwierigkeiten im öffentlichen Leben. Er war sich auch klar über die Folgen der Feststellung: "der Ton unseres Zeitalters ist auf Gelindigkeit im Strafen abgestellt"5 und überblickte, wie stark die großen politischen Bewegungen der Zeit die Gefangenenfrage berührten. Das Interesse der Regierenden wurde dankbar gewürdigt: wie "wohltätig" wirkte sich der Besuch Kaiser Leopolds n. in den Gefängnissen seiner Länder aus·! Wie brennend die Frage der Gefängnisreform an den Höfen in Wien und Berlin empfunden wurde, geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß John HowaTd, der englische Gefängnis'reformer, Gelegenheit erhielt, mit Freimütigkeit über seine Beobachtungen in den dem Kaiser Joseph n. unterstehenden Ländern zu berichten, wobei er "alles was zu tadeln war, tadelte"7. Auch die preußischen Könige ließen sich über das übliche Maß hinaus gerade über Fragen des Freiheitsentzuges unterrichten. So hielt eaTl GottZieb Svarez dem Kronprinzen (nachmals Friedrich Wilhelm In.) Vorträge über die "Neuanlegung von Arbeitshäusern zur Vollziehung der korrektionellen Nachhaft"8 und Nikolaus HeinTich JuZius in Anwesenheit des Kronprinzen (nachmals Friedrich Wilhelm IV.) in Berlin "Vorlesungen über Gefängniskunde". Die 1827 veröffentlichten Vorlesungen widmete er "mit gnädigster Erlaubniß" dem "Kronprinzen von Preußen, Friedrich Wilhelm"D. Nach EberhaTd Schmidt lassen sich als älteste Arten der Freiheitsstrafen nachweisen "die Festungsarbeit" und "das Gefängnis". Dazu kam um die Wende des 17. Jahrhunderts "die Zuchthaus-, Arbeitshausoder Spinnhausstrafe" und schließlich tauchte gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch eine vierte Art der Freiheitsstrafe auf, nämlich "das Cesare Beccaria, Ober Verbrechen und Strafen, 1905, S.7. Wagnitz, Ideen, 1. Slg., S. 64. 5 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 2, S.150. I Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 2, S.17. 7 John Howard, Account of the Principal Lazarettos in Europe (erschienen 1789). Im Auszug mit Zusätzen des deutschen Herausgebers D. Chr. Fr. Ludwig, 1791, S.164 Anm. 8 Eb. Schmidt, PreuBische Gefängnis-Reformversuche, S. 358. , Nikolaus Heinrich Julius, Vorlesung über Gefängniskunde oder Ober 3 4
die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der gefangenen, entlassenen Sträflinge USW., gehalten im Frühlinge 1827 zu Berlin. 1828.
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Arbeitshaus" in einem gewandelten neuen Sinne10• Unter "buntschekkiger" Kennzeichnung bildeten sich Schattierungen heraus, wie Spinnhaus, Zucht- und Arbeitshaus, Zucht- und Leihhaus, Zucht- und Waisenhaus und Zucht- und Tollhaus, Correktionshaus, Sclavenhaus (in Kopenhagen), Stock- und Schindehaus (in Prag) und Raspelhaus u . Die Zahl solcher Anstalten allein im "deutschen Vaterland" berechnete earl Eberhard Wächter auf wenigstens sechzig12, ihre Einrichtung entsprach in der Regel noch nicht einmal den damaligen bescheidenen Mindestanforderungen, und die Kritik der Fachleute war denn auch äußerst scharf. Sie ging von der Bezeichnung "Unzuchthaus" (von Lichtenberg)13 bis "Verführungspepinieren" (von Arnim)l'. Die Veröffentlichungen des englischen Philanthropen John Howard, der die Gefängnisse seiner Heimat und eines großen Teiles von Europa besuchte, die des "Strafvollzugspraktikers" Wagnitz15 und die des preußischen Justizministers von Arnim haben neben der sachlichen Darstellung der Mängel ein Wesentliches gemeinsam: sie versuchen, die Aufgaben dieser Anstalten zu klären und Reformen anzuregen. Wagnitz ging in dieser Richtung am weitesten. Die Ziele der damaligen Gefangenenbehandlung widerstreiten untereinander. Die Fragestellung lautete: "Moralische Besserung" oder "Bürgerliche Besserung"? Wie unklar sich selbst die Fachleute aber über die Erneuerungsbestrebungen waren, geht z. B. aus der Behandlung der Frage des "Willkomm" und des "Abschieds" hervor18 • Auch sie war letzten Endes begründet in den umstrittenen Ansichten über das Ausmaß, das die Abschreckung einnehmen sollte. Dazu gehörte auch die Frage der Hausstrafen bei Ordnungswidrigkeiten Gefangener, die in der Regel als Leibesstrafen, mit Staupenschlag und Stockhieben und Am-Pranger-Stehen vollzogen wurde und Anlaß zu eindeutiger Kritik gab 17• Einmütigkeit herrschte bei allen, die sich um die Wende des Eb. Schmidt, Entwicklung und Vollzug, S. 11. G. von Lichtenberg, Die Zuchthausstrafe in ihrem progressiven Vollzug, 1873, S.10. 12 earl Eberhard Wächter, Ober Zuchthäuser und Zuchthausstrafen, wie jene zweckmäßig einzurichten und diese solcher Einrichtung gemäß zu bestimmen und anzuwenden seyen? 1786, S. 21. 13 von Lichtenberg, Die Zuchthausstrafe, S. 10. 14 Albrecht Hermann von Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafen oder Gedanken über die in den Preußischen Staaten bemerkte Vermehrung der Verbrecher gegen das Eigenthum, nebst Vorschlägen, wie derselben durch zweckmäßige Einrichtung der Gefangenanstalten zu steuern seyn dürfte. Zum Gebrauch der höheren Behörden. 1803, Bd. I, S. 95. 15 Eb. Schmidt, Preußische Gefängnis-Reformversuche, S.354. 18 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.53 und 97. 17 Theodor Fliedner, Collectenreise nach Holland und England, nebst einer ausführlichen Darstellung des Kirchen-, Schul-, Armen- und Gefängniswesens beider Länder, mit vergleichender Hinweisung auf Deutschland, vorzüglich Preußen, 1831, S. 18. 10 U
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18. zwn 19. Jahrhundert zur Frage der Gefängnisreform in Deutsch"'" land äußerten, hinsichtlich einiger organisatorischer Fragen.
In der gleichen Zeit kündeten sich aber schon Wandlungen an. Die Veröffentlichungen von John Howard brachten eine kräftige Erneuerungsbewegung in Fluß. Ebenfalls wichtig waren die Veröffentlichungen von earl Eberhard Wächter18 und August Friedrich Rulffs19. Wie stark diese Probleme die geistig bewegliche Öffentlichkeit der Zeit erfaßt hatten, geht auch aus "Preisfragen" hervor, die von Gelehrten Gesellschaften gestellt wurden, z. B. Hamburg 1770 "Welche Arbeiten für Waisen-, Zucht- und Werk-Häuser ... angemessen seyn mögten...?"20, Mannheim 1780 "Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindsmorde Einhalt zu tun?"21 und Göttingen 1782 über "Die vorteilhafteste Einrichtung der Werk- und Zuchthäuser"2!. Das Interesse der Öffentlichkeit war so groß, daß von der Stellungnahme zur Göttinger Preisfrage, die von Rulffs bearbeitet, im Jahre 1783 erschien, innerhalb kurzer Zeit zweitausend Exemplare abgesetzt wurden. Um die Frage: "Warum werden so wenige Sträflinge im Zuchthaus gebessert?"23 beantworten zu können, wurden die Einrichtungen der bestehenden Anstalten überprüft. - Die so wichtige Frage, wer den Alltag des Strafvollzuges entscheidend gestaltet, d. h. die nach dem "Officianten", wurde zunächst nur sehr vorsichtig und vereinzelt aufgeworfen, dann aber von Wagnitz 1787 eindeutig gestellt und 1791 wegweisend beantwortet24 • 11
Die Lebensdaten von Wagnitz lassen das Schicksal eines geistigen Menschen seiner Zeit erkennen. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns 1775 in Halle a.!Saale geboren, auf der berühmten Schule seiner Vaterstadt, in den Franckeschen Stiftungen, unterrichtet und an der dortigen Universität ausgebildet, übernahm er nach zweijähriger Tätigkeit als Hauslehrer auf einem unfern der Stadt gelegenen Gute, im Jahre 1777 den Dienst eines Geistlichen an der Oberpfarrkirche und im Jahre 1784 das Amt des Predigers am Zuchthaus. Die nächsten dreiWächter, Über Zuchthäuser, s. Anm. 12. August FriedTich Rulffs, Über die Preisfrage der Kgl. Soc. der Wissenschaften zu Göttingen von der vorteilhaftesten Einrichtung der Werk- und Zuchthäuser, 1783. 20 Rulffs, Über die Preisfrage, S. 243. 21 Gustav Radbruch u. Heinrich Gwinner, Geschichte des Verbrechens, 1951, S.43. 22 Rulffs, Über die Preisfrage. 23 Wächter, über Zuchthäuser, S.59, u. Wagnitz, Ideen, 3. Sig., S.41. 24 Wagnitz, Über die moralische Verbesserung, S.211; ders., Historische Nachrichten, Bd.1, S.87. 18
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ßig Jahre waren die seiner größten Schaffenskraft, zwanzig Jahre befaßte er sich mit der ihn bewegenden "moralischen Verbesserung" der Gefangenen. Seine Interessen wirkten sich darüber hinaus in der Mitarbeit im öffentlichen Leben aus, er erhielt als Universitätslehrer wissenschaftliche, als Superintendent geistliche und, wie sich insbesondere gelegentlich seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums erwies, auch alle üblichen bürgerlichen Ehrungen. Nachrufe in dem von ihm mitbegründeten und über dreißig Jahre lang herausgegebenen "Halleschen Patriotischen Wochenblatt" (vom 24.8.1838, S.525) und im "Neuen Nekrolog der Deutschen" (XVII. Jg. 1838, S.277) lassen seine Anerkennung durch die Zeitgenossen erkennen. Für spätere Generationen geriet er in Vergessenheit, auch die "Allgemeine Deutsche Biographie" nennt ihn nicht. Eine kurze Erwähnung seiner theologischen Schriften findet sich in "Religion in Geschichte und Gegenwart" und seine Bemühungen um eine Reform des Strafvollzuges werden im "Handwörterbuch für Kriminologie" anerkannt!5. Auch die angemessene Würdigung seiner Leistungen, wie sie z. B. bei den Verhandlungen des Internationalen Gefängniskongresses in Stockholm 187826 und später des Internationalen Gefängniskongresses in Rom 188527 erfolgte, vermochte nicht die Fachwelt anzuregen, sich stärker mit seinen Reformvorschlägen, insbesondere seinen "Planen und Ideen ... " zur Heranbildung geeigneten Beamtennachwuchses zu befassen28 • Wagnitz fühlte sich zunächst durch seine Tätigkeit als Zuchthausprediger gedrängt, über die "Verbesserung der Gefängnisse" seiner Zeit zu schreiben. Auf Grund weiterer Anregungen aus der Arbeit stellte er sein Hauptwerk zusammen, das er "dem Geiste Howards und denen, die er umschwebt", widmete!9. Die Materialsammlung für diese "Historischen Nachrichten ... "30 erfolgte in der Weise, daß er sich von zahlreichen verantwortlichen Persönlichkeiten schriftliche Nachrichten über die Zucht- und Arbeitshäuser, vor allem die deutschen, die John Howard während seiner Reisen nicht besucht hatte, erbat und auswertete, außerdem aber persönlich eine Reihe von Strafanstalten aufsuchte. Er besuchte z. B. die 25 Lothar Frede, Gefängnisgeschichte. Beitrag in: Handwörterbuch der Kriminologie, 1931, Bd.1, S.542; ders., Heinrich Balthasar Wagnitz. Ein deutscher Gefängnisreformer. Zur Erinnerung an seinen 100. Todestag (28. Februar 1938). In: MschrKrim. 29 (1938), 629 - 633. 26 Congres penitentiaire international de Stockholm. Comptes rendus des seances. 1879. Vol I, p.44. 27 Congres penitentiaire international de Rome. 1885. Actes du congres. 1886. Vol I, p.427. 28 Wagnitz, Ideen, 3. Slg., S. 73. 29 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd. I, S.l. 30 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.1.
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in Bremen3!, Magdeburg32, Weimar3 und auch in Berns4 und Zürich35 • Der preußische Justizminister von Arnim zitierte in seiner Veröffentlichung "Bruchstücke über Verbrechen und Strafen" bei Gefängnisfragen ausschließlich Wagnitz38 , so daß an der Richtigkeit der Darstellung kaum gezweifelt werden kann. "Wer kennt", so frug von Arnim, "nicht den Prediger Wagnitz, seine Verdienste um die Gefangenenanstalten überhaupt und seinen rastlosen, unermüdeten Eifer für die zweckmäßige Behandlung der seiner Vorsorge mit anvertrauten Gefangenen im Zuchthaus zu Halle?"37. Durch die intensive Beschäftigung mit diesen Themen war Wagnitz gezwungen, sich auch mit organisatorischen Fragen, wie Zweckbauten38, Klassifikation39 , Arbeitszuweisunlt° sowie Vorbereitung und Durchführung der Entlassung41 zu beschäftigen. Auch zur Deportation, die in Preußen gerade um die Jahrhundertwende durchgeführt wurde, nahm er Stellunlt2• Immer wieder erwähnte er mit besonderem Stolz als "Muster" das Zucht- und Arbeitshaus in Halle43 • Der Freiheitsentzug soll vor allem so wirken, daß "der Verbrecher moralisch außer Stand gesetzt wird, künftig dem Staate schädlich" zu werden. Wagnitz nannte die Freiheitsstrafe "ein wirksames Mittel zur Erreichung mehrerer Zwecke" zugleich, "es wird ein unnützes Glied aus der menschlichen Gesellschaft entfernt (1.), der Staat in Sicherheit gestellt (2.), andere werden gewarnt (3.) und nicht zuletzt wird dem Verbrecher auf mancherlei Art Gelegenheit und Ermunterung zur Besserung gegeben (4.)"(4. "Mag doch immerhin die Sicherheit des Staates Strafzweck bleiben, indem der Verbrecher gebessert wird, wird dadurch zugleich die Sicherheit des Staates gefördert und andere nicht nur gewarnt, sondern auch erbaut45 ." Gerade in dieser Tendenz ist der durch die französische Revolution proklamierte Geist der Menschenrechte spürbar: Man hat sich zu wenig um diese Anstalten bekümmert und sie daher Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teill, S.50. Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil I, S.196. 33 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil I, S.223. 34 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil I, S.278. 35 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.237. la von Arnim, Bruchstücke, Bd. 1, S. 88 u. Bd. 2, S. 43. S7 von Arnim, Bruchstücke, Bd.2, S.229. 38 Wagnitz, Ideen, 1. SIg., S.30. 38 Wagnitz, Ideen, 1. SIg., S.121. 40 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, S.164. 41 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil2, S.175. 42 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.150. 41 Wagnitz, Über die moralische Verbesserung. S.292. 44 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, S.24 u. 25. 45 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd. I, S.20. 11
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immer in der Form gelassen, die ihnen die älteren Zeiten gaben, wo man das große Kapitel von Rechten der Menschheit noch wenig durchdacht hatte. Die Instruktionen stammen gemeiniglich noch aus einem Jahrhundert, wo Menschenrechte nur wenig geschätzt und Zuchthäuser unter die Behälter der Vergessenheit gerechnet wurden. Selbst in den zum Kriminalzuchthaus oder zu Festungsarbeit verurteilten Verbrechern müßte die Menschlichkeit doch immer mehr respektiert und nicht nur der strengen Verwahrung und Bändigung durch allerhand Schärfe gedacht, sondern auch. für ihre Zurückführung vom Wege des Lasters gewirkt und mehr getan werden als jetzt geschieht48 ." Dennoch sah er auch die Grenzen der zu seiner Zeit möglichen Reformen und warnte vor aller Übertreibung, besonders vor dem "überspringen zu den der vorigen Härte entgegengesetzten Extremen der Empfindeley und Schlaffheit"47. Zuchthäuser sind für ihn nicht Anstalten falsch verstandener "Philanthropie"48. Die "moralische Verbesserung" erkannte Wagnitz als besondere Aufgabe des Zuchthauspredigers an und stellte die Forderung auf, es müsse, bevor mit ihr begonnen werde, mit dem Gefangenen ein "psychologisches Verhör"49 angestellt werden. Hierzu gehöre die Klärung verschiedener Einzelfragen - in der nachgenannten Reihenfolge - "Über die sittliche Beschaffenheit der Eltern und der Geschwister - Erziehung, physische und moralische - Begriffe von Recht und Unrecht, von Religion - Gesellschaft und Umgang und Verbindungen - Art der Beschäftigung - Aufsuchung der Prinzipien und Vorurtheile- Motive und Reizungen zur Beschließung der gesetzwidrigen Tat - Reihe der Vorstellungen bis zum letzten Entschluß - Conkurrenz der Umstände zur Vollendung derselben - Gedanken und Empfindungen der Seele vor; bei und nach der That .,.,..- frühere und jetzige Urtheile über dieselben" usw. Solche Persönlichkeitserforschung, wie diese Art von Erhebungen bereits genannt zu werden verdient, ergäben dann Daten, zu einem "moralischen Barometer"5o. Auch die Aufgaben, die nach dem Ermitteln der "moralischen Bedürfnisse"51 zu erfüllen sind, sah Wagnitz und wußte um die notwendige Mitarbeit der übrigen Officianten sowie deren Grenzen bei der Klassifikation und Gefangenenbehandlung. Er mahnte auch zur Vorsicht bei Ausfertigung von einem "Zeugniß", aus dem entnommen werden könne, "was sich für den Gefangenen hoffen läßt, oder was zu fürchten sey"5!. Er erkannte die Gefahren der Wagnitz, 47 Wagnitz, 48 Wagnitz, 411 Wagnitz, 60 Wagnitz, 51 Wagnitz, 52 Wagnitz, 46
Historische Nachrichten, Bd.1, S. 29 ff. Ideen, 1. Slg., S.65. Ideen, 1. Slg., S.71. über die moralische Verbesserung, S.50. über die moralische Verbesserung, S.5I. über die moralische Verbesserung, S.47. Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.235 Anm.
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Prognose. In Anbetracht der Mängel der Mitarbeiter wünschte er z. B. bei der Klassifikation, nicht ein einzelner, sondern ein Kollegium solle "über die ,Translokation' vor- oder rückwärts von einer in die andere Klasse" mit entscheiden53 • Ein weiteres Mittel, die Officianten und die Gefangenen zur Erfüllung ihrer Aufgaben anzuhalten, sah Wagnitz darin, den Gefangenen durch "Verhaltensvorschriften" Pflichten und Rechte zu geben; die Notwendigkeit, diese schriftlich und mündlich bekanntzumachen, wurde von ihm wiederholt betont, ja er erklärte sich sogar bereit, diese von der Kanzel abzukündigen, um ihnen dadurch den notwendigen Nachdruck zu verleihenll4 • Auf Grund der Erfahrungen in dem neu erbauten Zucht- und Arbeitshaus zu Halle und Beobachtungen in Anstalten, die in Gebäuden untergebracht wurden, die ursprünglich für andere Zwecke errichtet waren, forderte der "Strafvollzugspraktiker" Zweckbauten und weiter Baulichkeiten, die nicht für mehrere Zwecke zugleich Verwendung finden sollten55 • - Die Frage der Entlassung wurde für Preußen in einem "Reglement wie es bei der Entlassung ... gehalten werden soll" vom 27. März 1797 geregelt. Wagnitz "erwartete" bereits dieses Reglement, weil er die Notwendigkeit solcher Regelung unbedingt bejahte56 • Zahlreiche Textstellen lassen erkennen, daß er wußte, wie abhängig die Verwirklichung seiner "Ideen und Plane" von entsprechend geschulten Officianten war. Die Beamtenfrage bleibt stets ein Kernproblem und zwingt die an einer Gefängnisreform Interessierten zu allen Zeiten, die Aufgaben neu zu durchdenken und notwendig werdende Maßnahmen so durchzuführen, daß bei aller Abhängigkeit von der Leistung der einzelnen Beamtenpersönlichkeit doch möglichst weitgehend ein Zusammenwirken aller erreicht wird. Aus den Berichten von John Howard und anderen Zeitgenossen geht hervor, daß die Bedeutung geeigneter Beamter bereits um 1780 klar erkannt worden warli7• Hingewiesen wird insbesondere auf die Aufsichtsbeamten, auf deren ausreichende Zahl und die angemessene Besoldung. Aber erst Wagnitz griff diese Forderungen in vollem Umfange auf. Ideen, 2. Slg., S.122. Historische Nachrichten, Bd.1, S.106. 55 Historische Nachrichten, Bd.1, S.33. 58 Historische Nachrichten, Bd.2, Teil2, S.191, u. Ernst Rosenfeld, 200 Jahre Fürsorge der preußischen Staatsregierung für die entlassenen Gefangenen, 1905, S. 19. 57 "The first care must be to find a good man for a goaler; one that is honest, active and human." In: John Howard, The State of Prisons in England and Wales, with Preliminary Observations, and an Account of some Foreign Prisons (erschienen 1777). In der Ausgabe: Everyman's Library Nr.835 und im Auszug: über Gefängnisse und Zuchthäuser. Mit Zusätzen und Anmerkungen von G. L. Köster. 1780. In: Everyman's Libr., p.25. 113
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Wagnitz, Wagnitz, Wagnitz, Wagnitz,
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In seiner Predigt beim Antritt des Pastorats am Zuchthaus zu Halle am Sonntag Judica 1784 über den Text "Lasset Euch versöhnen mit Gott" (2. Kor. 5, Vers 20) sprach Wagnitz auch bei dem Gottesdienst der Gefangenen die anwesenden "Officianten" an. "Doch ich wende mich nun zu euch, die ihr nicht Gefangene seid, aber zu diesem Hause gehört. Ihr seid zur Aufsicht über diese Gefangene bestellt, ihr seid um sie, sollt sie mit regieren und mit verbessern helfen, denn dazu sind sie in dieses Haus gebracht, um besser zu werden, und auch von euch wird Gott in dieser Rücksicht einst Rechenschaft fordern. Und wenn ihr nun durch eure Worte und euer Beispiel meine Worte und mein Beispiel fruchtlos macht, und das durch eure Werke und euer Verhalten wieder einreißet, was gebauet worden ist, und eben den Lastern, nur nicht so offenbar dient, die diese Elenden· ins Verderben gebracht haben, ach, was soll man da sagen, und wie wirds dann einmal am großen Wiedersehenstage aussehen. Und darum rufe ich auch euch zu, lasset euch versöhnen mit Gott und denket und wandelt als Freunde Gottes und gebet denen, die eurer Aufsicht anvertraut sind, ein gutes Beyspiel und zeiget ihnen durch euer Verhalten, wie ein Mensch gesinnet sein und handeln müsse, der mit Gott ausgesöhnt ist58 ." Aus den wenige Jahre später veröffentlichten "Historische Nachrichten ... " wird ersichtlich, welche Erfahrungen er weiterhin in Halle gemacht hatte und wie er die Beobachtungen bei Besuchen anderer Anstalten sowie beim Auswerten der Berichte über die "merkwürdigsten Zuchthäuser" verwendete. Ein längerer Abschnitt ist dem Thema: "Zuchthausbediente, Zuchthaus-Officianten" gewidmet und in pädagogisch geschickter Weise zunächst das Idealbild eines Officianten an dem Zuchthaus-Vater am Zuchthaus zu Wien herausgestellt. Er fuhr dann fort, "wie ganz anders war die Gestalt der mehresten Haus-Väter, die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte und gerade das Gegenteil waren, von dem, was der Name. anzudeuten scheint und was jener in Wien wirklich war". Mit allem Freimut nannte er die von ihm beobachteten Hauptfehler der Zuchthausbedienten, wie "das wenige Gefühl und die Unempfindlichkeit gegenüber den Gefangenen (a), ein gewisser unedler bäurischer Stolz und brutales Wesen, das sich durch die Verachtung, mit der sie auf ihre untergebenen Züchtlinge herabsehen, durch die anhaltend-unfreundliche und schnöde Begegnung ... äußert (b), ein schmutziger Eigennutz, der sie öfters verleitet, die gröbsten Betrügereien ungescheut zu begehen und dadurch den armen Gefangenen lästig zu werden; der diesen z. B. die bestimmte Quantität Brot verkleinert (c), das Laster der Trunkenheit scheint fast allen Officianten eigen zu sein. Was für Zerrüttung und nachtheilige Folgen für die Anstalt daraus entstehen müssen, kann man sich leicht denken. Da werden die armen Züchtlinge bald tyrannisiert, bald kön58
Wagnitz, über die moralische Verbesserung, S.211.
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
nen sie die größten Unordnungen ungestraft. begehen (d), auch findet man oft, daß diese Officianten gegen Gottesverehrung und Religionsübungen sehr gleichgültig sind und nicht mit einem guten Beyspiel vorangehen (e)59." Mit solcher Klarheit hatte bisher niemand Schwächen und Mängel "Bedienter" an Zuchthäusern aufgezeigt. Wagnitz wandte sich dann der Frage zu, worin die Ursache der so nachlässigen Besetzung der Stellen liege, insbesondere, ob Invalide zu Zuchthaus-Officianten tauglich seien oder nicht, und äußert Bedenken, die Übernahme von Invaliden in den Zivildienst auch auf die Besetzung der Stellen in den Gefangenenanstalten auszudehnen. Bei aller Dringlichkeit der Versorgung ehemaliger Militärpersonen möchte er gerne bei "Zuchthaus-Vätern" eine Ausnahme von der Pflicht zur Einstellung Invalider machen. Er begründet dies mit der Tatsache, daß "die Auswahl für diese Ämter unter den Invaliden zu gering" sei, außerdem "habe Alter und Lage diese Art von Menschen fast immer grämlich, hart und rauh gemacht und die ihnen bis dahin eigentümlich gewesene Pünktlichkeit und Accuratesse in Befolgung der Befehle der Vorgesetzten sei insoweit hinderlich, als sie höchstens dem Buchstaben der ihnen zugefertigten Instruktionen nachkommen, aber ihren Geist verkennen"60. Seine Bedenken über die bisherige Auswahl und auch die Form der Ausbildung der Invalide-Gewordenen für das Affit des Aufsehers, die ja nur darin bestand, den Neueingestellten unter Anleitung eines älteren Officianten sich einarbeiten zu lassen, sind erheblich. Hier sei völliger Wandel nötig: "Weit wirksamer würde den Klagen über schlechte Officianten abgeholfen werden, wenn man für Zuchthausverwalter, Lazarethväter und Gefangenenwärter, in jeder Provinz und an dem Orte, wo ein Zuchthaus und Lazareth ist, ein Seminarium anlegte, in dem nicht nur, welches wol die Hauptsache wäre, ihr moralischer Charakter· und· ihre Geisteskräfte geprüft, sondern in welchem sie auch zu ihrem künftigen Dienste vorbereitet werden könnten, so weit eine solche Vorbereitung im Allgemeinen möglich ist. In dieses Seminarium könnten sowol taugliche Invaliden, als auch Bürger, die schon einen guten Ruf für sich haben, aufgenommen, und die Direction desselben und die Bildung dieser Leute. dem Zuchthaus- und Hospitalprediger, dem irgend ein Mitglied aus der Rathsversammlung beygefügt würde, übertragen werden. In diesem Seminarium würden sie nicht nur mit den Rechnungen, wie sie bey diesen Anstalten geführt werden müssen, bekanntgemacht, sondern es würde ihnen auch ein zweclanäßiger .und faßliCher Unterricht von der Behandlung ihrer Untergebenen theoretisch ertheilt, und, indem sie selbst die Anstalt öfters besuchen müßten, Gelegenheit gegeben, mit dem Geist, der da69 60
Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, S.94. Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, S.96.
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selbst herrscht, mit den noch etwa daseyenden Mängeln, mit der etwa möglichen Art, sie allmählich durch ihre Mitwirkung zu verbessern U.S.w. bekannt und vertraut zu werden. Mit solchen Seminaristenwürden dann jedes Mal die erledigten Stellen besetzt, und, indem ihnen die Obrigkeit ein hinlängliches und nicht gar zu karg zugemessenes Salarium gäbe, theils ein Verlangen nach diesen erweckt, theils den Unordnungen vorgebeugt, die Mangel und gar zu kärgliches Einkonimen verursachen muß81." Zu diesen Feststellungen und Anderungsvorschlägen kommen noch andere, wie z. B. das Hervorheben der Notwendigkeit, die Bedienten nach Verlauf einiger Zeit den Arbeitsplatz wechseln zu lassen und sie auf andere Posten zu versetzen, weiter ein "Collegium" einzuberufen, das die Aufgabe hätte, Unordnungen, die "so leicht durch Officianten bei solchen Anstalten verursacht werden, vorzubeugen oder wenn sie schon da sind, wieder in gewisse Ordnung zu bringen". Dieses "Collegium" sollte sich aus dem Obervorsteher oder einer anderen obrigkeitlichen Person, dem Prediger, dem Hausverwalter und dem Werkmeister, dazu einem unparteiischen aber erfahrenen Manne als Protokollführer zusammensetzen. Es sollte "sich gewöhnlich alle vierzehn Tage versammeln" und alle Fragen, die die Organisation des Hauses, die Zusammenarbeit der Officianten und die Behandlung der Gefangenen betreffen, erörtern82 . Darüber hinaus macht Wagnitz noch einen weiteren geradezu revolutionären, aber inhaltlich unanfechtbaren Vorschlag. "Es wäre auch wol gut, wenn die Pflichten der Officianten gegen die Gefangenen in Gegenwart jener sowol als dieser öfters, sollte es auch nur alle Monate seyn, vorgelesen würden; weil diese Gefangene als Menschen doch immer gewisse Rechte behalten, die jedem Aufseher heilig sein müssen und nicht verletzt werden dürfen, wenn man sich anders nicht an jenen versündigenwi1183 ." Diese Thesen stellen einmal die Bedeutung der Beamtenfrage im Strafvollzug als solche klar heraus, weisen für die Auswahl, die Ausund Fortbildung neue Wege und ordnen sie dem ersten Problem, der Behandlung der Gefangenen als Menschen, zu. Die Wahrheit dieser Sätze mit ihrem überzeitlichen Inhalt konnte vor Wagnitz kaum in dieser Form ausgesagt werden. - Wie wirkten sich diese Forderungen aus? III
Der seit 1798 im Amt befindliche preußische Justizminister von Arnim befaßte sich in seinem 1803 erschienenen Buche "Bruchstücke über Verbrechen und Strafen" als Jurist und Verwaltungsfachmann mit den 81 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, 8.99. 82 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.l, 8.101. 83
Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.. l, 8.102.
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gleichen Problemen, die den Theologen und Zuchthausprediger bewegten. von Arnim ging dabei von der Kabinettsorder vom 1. Februar 1791 aus, wonach die Gefangenenanstalten überhaupt verbessert und insonderheit zweckmäßige "Besserungsanstalten" angelegt werden sollen. Die Trennung zwischen Zucht- und Arbeitshaus und Besserungsanstalten sollte eine Unterscheidung bedeuten zwischen den Aufuewahrungsund Strafgefängnissen, die nichts anderes seien, als "Verführungspepinieren", und den Anstalten, in denen die "moralische Besserung" der Verbrecher zum Hauptzweck gemacht werden so1l84. Hierbei ist von Bedeutung, daß der Jurist bei den Zielen des Vollzuges unterscheidet zwischen der "moralischen Besserung" und der "physischen Besserung" der Verbrecher und diese Unterscheidung damit begründet, daß er bekennt: "Auf die Moralität eines moralischen Wesens wirken zu wollen, ist überhaupt und unter allen Umständen etwas sehr Mißliches und Gewagtes85." Er sieht darin einen zu weitgehenden Eingriff des Staates in das Leben des einzelnen und läßt dies Bestreben nur im Verhältnis eines Vaters zu seinen Kindern gelten. Vor allem fürchtet er, "indem man also zu weit geht und moralisch bessern will, wird man Heuchler bilden"66. Diese Argumente des liberal-rechtsstaatlich eingestellten Denkers stehen z. T. im Gegensatz zu denen des vom Besserungsgedanken erfüllten Zuchthauspredigers. - Dennoch decken sich verschiedentlich die Reformbestrebungen von Arnims mit denen von Wagnitz, z. B. in der Unterscheidung verschiedener Anstaltstypen, in der Klassifikation der Anstaltsinsassen und vor allem in der Forderung der ausreichenden Zahl und der zureichenden Besoldung von Officianten. Freilich hält von Arnim, wohl aus finanziellen Erwägungen, an der Indienststellung von Invaliden fest. Das Problem der Auswahl und· der Aus- und Fortbildung der Officianten wurde aber von ihm nicht erwähnt. Mit der Aufteilung der Aufgaben in die der "physischen" und die der "moralischen Besserung" wurde aber das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstrafe und Erziehungshilfe als angebotene Hilfe zur Selbsthilfe offenkundig. Waren bei Wagnitz bereits die ersten Ansätze für eine angestrebte Aufteilung der Funktionen zwischen Vorsteher und Prediger in dem Sinne vorhanden, daß der Vorsteher in allen Fragen der äußeren Ordnung, wie z. B. der Reinlichkeit und der Arbeit, und der Prediger mehr bei denen der inneren Ordnung, wie z. B. in persönlichen Angelegenheiten des Gefangenen, entscheiden soll, so prägte sich im Laufe. der weiteren Entwicklung der Beamtenfrage diese Zweiteilung schärfer aus. Dies war z. T. wohl mitbegründet durch die Tatsache, daß nach den napoleonischen Kriegen in verschiedenen preußi84 von Arnim, Bruchstücke, Bd. 1, S.95. 85 von Arnim, Bruchstücke, Bd.2, S.23. 68 von Arnim, Bruchstücke, Bd.2, S.27.
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schen Vollzugsanstalten überwiegend ehemalige Militärs tätig wurden und diese Anstalten "ein wesentlich militärisches Gepräge" erhielten87 • Die von Wagnitz vertretene Idee nach "moralischer Verbesserung" wirkte weiter. Gelegentlich des Internationalen Gefängniskongresses in Stockholm 1879 kennzeichnete ein Wort des spanischen Anstaltsleiters Montesinos dieses Problem: "Das Ziel der militärischen Disziplin ist, Menschen zu formen, die in der Masse zu handeln wissen, während die Disziplin in den Strafanstalten sich zum Ziele setzen muß, Menschen zu bilden, die geeignet sind, ihre Pflichten im privaten Leben als einzelne Bürger zu erfüllen und lernen sollten, die Pflichten zu erfüllen, die sie auf den Weg der Tugend und Ehre zurückführen sollen88 ." Ein Höhepunkt der Aussprache über die Zweiteilung der Funktionen von Beamten im Strafvollzug wurde in dem Zeitpunkt erreicht, in dem die Probleme Einzelhaft und Gemeinschaftshaft besonders heftig umstritten waren. Die Teilnehmer des ersten Internationalen Gefängniskongresses, der 1846 in Frankfurt a. M. stattfand, bekannten sich in der Mehrzahl zum System der Einzelhaft bei Tag und Nacht, sie waren hierzu vor allem mit angeregt durch die nordamerikanischen Erfahrungen in Philadelphia69 • Die wenigen Befürworter der Gemeinschaftshaft: ein Mann wie Obermaier, wurden damals abgetan mit der Bemerkung: "Das System des Herrn Obermaier ist Herr Obermaier selbst70 ." Auf dem zweiten Internationalen Gefängniskongreß in BrüsseI, 1847, wurde die Beamtenfrage erörtert und in Anbetracht der Zweiteilung der Aufgaben der "physischen" und der "psychischen Besserung" die Zweiteilung der Beamtenschaft befürwortet. Dabei wurden die Ziele des pennsylvanischen Systems deutlich herausgearbeitet. Dieses System wollte u. a. den Gefangenen während der vorgesehenen Einzelhaft nicht sich und seinen Trieben allein überlassen, sondern dafür sorgen, daß Bürger der Stadt, vor allem die Quäker, den Gefangenen in der Zelle aufsuchten und sich als ehrenamtliche Mitarbeiter regelmäßig um seine "moralische Besserung" bemühten71 • Während der Verhandlungen auf dem Brüsseler Kongreß wurde aber offen erklärt, in der Regel gibt es bei den europäischen Kulturnationen in den beiden christlichen Kirchen nicht vergleichbare religiös bestimmte Kräfte, die solche Aufgaben übernehmen könnten. Diese Feststellung führte mit zu dem Beschluß: "Es ist unabweisbar, daß der innere Dienst in den Zellenstrafanstalten von zwei verschiedenen Gruppen von MitKarl Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde, 1889, S.157. Congres penitentiaire international de Stockholm, Vol I, p.229. 611 Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform 1846 in Frankfurt a. M. 1847. S.144. 70 Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform, S.125. 71 Negley K. Teeters, They were in prison. A History of the Pennsylvania Prison Society. 1787 -1937. 1937, p.122. 87
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
arbeitern, den ,agents moraux' und den ,agents materiels', geleistet werden muß7!." Die Durchführung dieser Pläne wäre bei der beabsichtigten übernahme des. pennsylvanischen Systems der Einzelhaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine folgerichtige Forderung gewesen. Sie wurde auch von Johann Hinrich Wiehern in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, freilich vergeblich, versucht7ll, aber die Einzelhaft wurde nicht zum System weder in den preußischen noch in den übrigen deutschen Vollzugsanstalten gemacht. Selbst Vertreter der Auffassung von einer notwendigen Gefängnisreform, die mancherlei Ideen mit Wiehern gemeinsam hatten, lehnten die Mitwirkung der· von Wiehern im Rauhen Hause in Hamburg vorgebildeten Aufsichtskräfte als "Vertreter eines protestantischen Ordens im Strafvollzug" ab n . Auch hierbei entschieden letzten Endes rechtsstaatliche Ideen, wie sie seinerzeit ähnlich vori dem Justizminister 'Von Arnim vertreten worden waren, gegenüber den vorwiegend religiös bestimmten Bestrebungen, wie sie Wagnitz verwirklicht wissen wollte. Diese Entwicklung war auch nicht aufzuhalten durch den von dem Philanthropen Varrentrapp gemachten Einwand: "Weniger, bessere und geliebtere Wärter" seien im pennsylvanischen System nötig. Varrentrapp errechnete völlig nüchtern, "bei dem auburnschen System (Gemeinschaft der Gefangenen bei Tage und Trennung bei Nacht) ist ein Wärter auf fünfzehn bis zwanzig, bei dem philadelphischen (Trennung bei Tag und Nacht) ein Wärter auf dreißig bis fünfunddreißig Gefangene notwendig"71S. Die Perioden, während denen sich die beiden Systeme um den Vorrang stritten, lassen sich auch in Preußen nicht klar abgrenzen. Während Friedrich Wilhelm 111. und sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. die Idee der Einzelhaft als Voraussetzung wirksamer Trennung besserungsfähiger von den nichtbesserungsfähigen Gefangenen für richtig hielten und in Preußen, angeregt vor allem durch Ju.lius und Wiehern, den Bau von Zellengefängnissen, auch dem von Moabit, vorantrieben ~ dort wurden die im Rauhen Hause vorgebildeten Beamten tätig -, blieb es in den meisten preußischen Vollzugsanstalten bei der gemeinsamen Unterbringung der Gefangenen bei Tag und Nacht. Wie die lex Wentzel, die seit 1854 Voraussetzung für die Außenarbeit Gefangener bildete, zeigt, wurde die Gemeinschaftshaft durch den Preußischen Landtag als Gesetzgeber gefördert7'. 72 73
Debats du eongres penitentiaire de Bruxelles. Session de 1847, p.175.
Johann Hinrieh Wiehern, Zur Gefängnis-Reform, Ges. Schriften, Bd.4,
1905, S. 122.
74 Wiehern versuchte vergeblich zu klären, daß die im Rauben Hause zu Hamburg vorgebildeten Aufsichtskräfte Glieder einer .. Genossenschaft" und nicht eines religiösen .. Ordens" sind...Jede Einmischung des Vorstehers im Rauben Hause in die amtliche Tätigkeit der Brüder ist ausgeschlossen." Wiehern, Ges. Schriften, Bd. 4, 1905, S. 62 Anm. 75 Georg VaTTentrapp, Über Pönitentiarsysteme, 1841, S.40.
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Mit der 1864 erfolgten Gründung des "Vereins der Deutschen Strafanstaltsbeamten", dessen Hauptzweck "die Förderung gemeinsamer Normen auf dem Gebiet des Gefängniswesens" war, gewann die Frage der Ausbildung der Beamten aller Sparten einen neuen Auftrieb. Freilich waren dem Geist der Zeit entsprechend die Mitglieder des "Vereins" ausschließlich höhere Beamte, die in den Gefangenenanstalten tätigen Juristen, Theologen und Mediziner. Dies blieb auch so bis zu seinem Ende nach 1933. In seinem Organ, den "Blättern für Gefängniskunde", wurde bereits im 2. Jahrgang ein Vortrag zur Aufseherfrage gedruckt, den der Direktor der Strafanstalt Köln, von Götzen, gelegentlich der Jahrestagung der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft 1865 gehalten hatte. Darin wurde hervorgehoben "die außerordentliche Wichtigkeit der den Gefängnisbeamten angewiesenen Stellung wird leider noch immer nicht so gewürdigt, wie es der wahrlich nicht zu unterschätzende Einfluß verdient" und weiter darauf hingewiesen, "die Aufseher bilden den wesentlichsten Bestandteil des ganzen Anstaltsbeamtenpersonals", sie "stehen dem Gefangenen zunächst!". "Welches Unheil kann nicht allein schon von einem ungeeigneten Aufseher ausgehen, nicht etwa bloß hinsichtlich der äußeren Zucht und Ordnung, sondern in Bezug auf moralische und religiöse Haltung und sittliche Besserung einzelner Gefangenen, ja ganzer Gefangenen-Abteilungen." von Götzen übte ferner Kritik an der Tatsache, daß sich die Einstellung von Aufsehern vorzugsweise auf die mit Zivil- oder Anstellungsberechtigung versehenen ehemaligen Militärpersonen beschränke und forderte eine freiere Auswahl. Nicht übersehen wurde auch hervorzuheben, daß in der unzureichenden Besoldung aller Anstaltbeamten vorzugsweise eine der Ursachen zu suchen sei, weshalb so viele Stellen ganz ungeeignet besetzt seien und, solange in ersterer keine Änderung erfolge, auch nur in dieser Weise besetzt werden könnten, dem Staate dadurch aber die allerwesentlichsten Nachteile erwüchsen77 • Unter diesen Umständen blieb damals den Anstalten nichts anderes übrig, als durch Selbsthilfe den Versuch zu machen, die Nachwuchsfrage zu lösen. So wurde 1859 zu Lüneburg eine Beamtenschule, die in gewissem Sinne mit dem von Wagnitz vorgeschlagenen "Seminarium" verglichen werden kann, errichtet78 • Sie regte zu zahlreichen Erörterungen an, fand aber keinen Nachfolger. Man beschränkte sich darauf, 78 Albert Krebs, "Lex Wentzel". Gesetz betreffend die Beschäftigung der Strafgefangenen außerhalb der Anstalt vom 11. April 1854. In: Zeitschrift für Strafvollzug 4 (1954), 100 ff. 77 von Götzen, Über die bestehenden Aufseherverhältnisse, und was muß geschehen, um deren höchst bedauerlichen Zustand abzuhelfen? In: Blätter für Gefängniskunde, 2 (1867), 1 - 43. 78 Hoyns, Das Aufseher-Aspiranten-Institut in Lüneburg. In: Blätter für Gefängniskunde, 9 (1875), 49- 63.
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Anwärter für diesen Dienst durch erfahrene Aufsichtbeamte in der Praxis anzuleiten. Das Problem der Strafanstalts-Beamtenausbildung forderte bei allen Kulturnationen, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine systematische Lösung. Gelegentlich des Internationalen Gefängniskongresses von Stockholm 1879, bei dem auch eine Delegation aus Deutschland, darunter der spätere Referent für das Preußische Gefängniswesen, Geheimrat Krohne, anwesend war, wurde die Frage gestellt: "Ist eine Gründung von Schulen zur Vorbereitung der Aufsichtsbeamten und Aufsichtsbeamtinnen für die Erfüllung ihrer Berufsaufgaben in den Gefängnissen wünschenswert oder nützlich? Welches sind die bisherigen Erfahrungen?" Der Berichterstatter zu dieser Frage, der Generaldirektor des italienischen Gefängniswesens Martino Beltrani-Scalia, begann mit einem geschichtlichen Rückblick, hob dann die beiden Elemente, das "Religiöse" und das "Militärische" als Mittel der Besserung der Gefangenen heraus und forderte zuletzt eine Ausbildungsstätte, ein "Seminarium". In seinem Bericht fuhr er fort: "Indessen wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß diese Idee neuesten Datums sei. In einem Buch, das gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts abgefaßt wurde, habe ich die Grundgedanken gefunden und bin erfreut, diese Tatsache, die bisher mit Stillschweigen übergangen wurde, ins rechte Licht setzen zu können." Martino Beltrani-Scalia zitierte78 dann aus Wagnitz "Historische Nachrichten ... " die entscheidende Stelle, die mit dem Satze beginnt: "Weit wirksamer würde den Klagen über schlechte Officianten abgeholfen werden, wenn man ... ein Seminarium anlegte ...80." Die sich anschließende lebhafte Aussprache der Kongreßteilnehmer ließ den gesamten Notstand deutlich werden. Krohne erklärte in deren Verlauf, in Preußen beständen keine Schulen für Aufsichtsbeamte, diese würden unter den ausgedienten Soldaten und vor allem den Unteroffizieren, die acht bis zwölf Jahre Dienst geleistet hätten, ausgewählt. Er bekannte, nach seiner Ansicht wären zu viele ehemalige Soldaten unter den Aufsehern tätig, und er forderte, man solle die Kräfte für den Werkdienst aus dem Arbeiterstande wählen, weil diese aber bereits eine Berufsausbildung hätten, sei eine besondere Schule überflüssig, diese Bediensteten könnten in kurzer Zeit für ihre besonderen Aufgaben nachgeschult werden. Die Ansichten der übrigen Teilnehmer zu dem von Beltrani aufgegriffenen Vorschlag waren geteilt, die Resolution läßt deutlich den Kompromiß erkennen: "Der Kongreß ist der Meinung, daß es wichtig ist, den Aufsichtsbeamten, ehe sie endgültig eingestellt werden, eine theoretische und praktische Ausbildung zu er78 80
Congres penitentiaire international de Stockholm. Vol I, Num.2, p.45. Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd. 1, S.99.
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teilen. Er ist auch der Ansicht, daß die HauptbedingUngen für die Gewinnung von gUten Aufsichtsbeamten sind, Dienstbezüge zu gewähren, die fähige Elemente anziehen und· festhalten, sowie gewisse Garantien tür die Dauerhaftigkeit ihrer Lage gegeben81 ." - Immer noch fehlte bei der Mehrheit der Mut, die Ausbildung von Vollzugsbeamten auf Fachschulen zu fordern. Die Reform der Gefangenenbehandlung im letzten Drittel des 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts blieb in Einzelversuchen stecken. Teilaufgaben wurden sorgfältig geprüft und insbesondere die Frage der Behandlung jugendlicher Straffälliger in Vollzugsanstalten gefördert. Das Beamtenproblem gewann aber auch auf dem ersten Deutschen Jugendgerichtstag nicht die ihm zukommende Bedeutung, erst spätere Jugendgerichtstage griffen es auf. Im Jugendgerichtsgesetz von 1953 wurde in § 91 geregelt: "Die Beamten müssen für die Erziehungsaufgabe des Vollzugs geeignet und ausgebildet sein" (JGG vom 4.8.1953 § 91 [4]). Es ist kennzeichnend für den Zeitabschnitt von 1871 bis 1914, daß kein Reichsgesetz über den Strafvollzug beschlossen werden konnte und ,es bezüglich dieses Aufgabenbereiches nur bei lockeren "Vereinbarungen" der Länder blieb . . . Wenn es auch nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein kann, die Geschichte der Beamtenfrage ausführlich darzustellen, so sei doch weiter auf einige Einzelheiten,die zum Verständnis der heutigen Situation wesentlich erscheinen, hingewiesen. IV Die sich nach 1918 anbahnende ErneuerungsbewegUng im deutschen Gefängniswesen, die mit der Einführung des Progressivsystems versuchte, eine systematische und für alle deutschen Länder verbindliche Gefangenenbehandlung zu erreichen, fand ihren sichtbaren Ausdruck in den "Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitstsrafen" vom 7.6.1923 (RGBl. 11 S. 263 ff.). Die Bedeutung, die darin den Anstaltsbeamten zugemessen wird, geht schon daraus hervor, daß ihre Angelegenheiten im ersten Abschnitt behandelt werden. Es wird wohl festgestellt: "Das 'Interesse der Beamten am Strafvollzug und am Schicksal der einzelnen Gefangenen ist zu wecken und zu stärken", aber über die Auswahl, Aus- und Fortbildung wird auch dort noch nichts vermerkt. Beachtlich und für den eingetretenen Wandel von der Monarchie zur Demokratie kennzeichnend war, daß neben dem "Verein der Deutschen Strafanstaltsbeamten", der die höheren Beamten erfaßte, ein Zusammenschluß der Aufsichtsbeamten im Strafvollzug in dem "Bund der 81
Congres plmitentiaire international de Stockholm, Vol I, p.231.
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Gefängnis-, Strafanstalts- und Erziehungsanstaltsbeamten und -beamtinnen Deutschlands" erfolgte. In einer Veröffentlichung erläuterten Beauftragte dieses "Bundes" sorgfältig die allgemeinen Voraussetzungen für die Eignung zum Vollzugsbeamten, beschrieben die erforderlichen geistigen und moralischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Eigenschaften und wiesen auch auf die körperlichen Gefahren und Anstrengungen des Dienstes und nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Ausbildung hin 82 • Die Ausführungen ließen den Ernst erkennen, mit dem diese Männer und Frauen ihre Berufsaufgaben ansahen. Wohl wurden in Anbetracht der Notwendigkeit, diese Gruppen von Mitarbeitern ausund fortzubilden, in den zwanziger Jahren gelegentlich einzelne Kurse veranstaltet, aber immer noch fehlte die Ausbildung auf einem "Seminarium". Erst die Zeit nach 1945 brachte die Erfüllung der von Wagnitz gestellten Forderungen bezüglich der Beamtenausbildung. Nach Konsolidierung der zunächst chaotischen Zustände in den deutschen Vollzugsanstalten wurde im Jahre 1953 die "Gesellschaft für Fortbildung der Strafvollzugsbediensteten e.V." gegründet. In § 2 ihrer Satzung ist festgelegt: "Die Gesellschaft hat die Aufgabe, die Aus~ und Fortbildung der Angehörigen des Strafvollzugsdienstes zu fördern. Zu diesem Zweck gibt die Gesellschaft die ,Zeitschrift für Strafvollzug' heraus83 ." Diese Zeitschrift beginnt jetzt ihren zehnten Jahrgang. Durch die bisher gebrachten Beiträge über die Gefangenenbehandlung, die Bedeutung der einzelnen Mitarbeitergruppen, vor allem durch Erfahrungsberichte aus der Praxis, nicht zuletzt aber auch durch Darstellung der Erneuerungsbestrebungen auf dem Gebiet des Gefängniswesens anderer Kulturnationen soll der einzelne Mitarbeiter in der Strafanstalt angesprochen und in seinen positiven Bemühungen bestätigt werden; er soll erkennen, daß er in seiner schweren Arbeit mitgetragen wird von vielen, die sich für den einzelnen und das Ganze mitverantwortlich fühlen. Mit dem Wiederaufbau des Gefängniswesens im Rahmen der einzelnen Länder war in den von den vier Besatzungsmächten besetzten Teilen Deutschlands alsbald begonnen worden. Die Direktive Nr.19, von den vier Besatzungsmächten gemeinsam erarbeitet84, stellte heraus, daß die Wiedereingliederung des Straffälliggewordenen während des 82 Probleme der Strafvollzugsreform. Der Bund der Gefängnis-, Straf- und Erziehungsanstaltsbeamten und -beamtinnen Deutschlands zur Denkschrift des Reichsjustizministers über Auslese, Ausbildung und Fortbildung der Strafvollzugsbeamten. 1930, S. 44 ff. 83 Satzung der "Gesellschaft für Fortbildung der Strafvollzugsbediensteten e.V.". In: Zeitschrift für Strafvollzug, 4 (1954), 3. 8' Albert Krebs, Die Durchführung der Kontrollratsdirektive Nr. 19 in den vier Besatzungszonen Deutschlands. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 1 (1950) 3, S. 17 ff.
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Strafvollzugs mit den zulässigen Mitteln der Arbeit und der Bildung vorangetrieben werden sollte. Jetzt schufen auch die einzelnen Länder die notwendigen Ausbildungsstätten für ihre Mitarbeiter, insbesondere auch für ihre Aufsichtsbeamten. Zahlreiche Berichte in der "Zeitschrift für Strafvollzug" geben davon Kenntnis85• Gefördert durch die Aufnahme übernationaler Beziehungen auf dem Gebiet des Gefängniswesens wurden wiederum - wie 1878 zu Stockholm - die Probleme der Auswahl und Ausbildung der Strafvollzugsbediensteten zu einem besonders wichtigen Besprechungsthema. Der erste Kongreß der Vereinten Nationen zur Verhütung von Verbrechen und zur Behandlung von Straffälligen, der die Nachfolge der Internationalen Gefängniskongresse antrat, erörterte 1955 in Genf u. a. das Thema "Der Strafvollzugsbedienstete" . In eingehenden Empfehlungen betreffend deren Auswahl und Ausbildung wurde die zeitgemäße Auffassung vom Strafanstaltsdienst, die Stellung der heutigen Strafanstaltsbediensteten und ihre Anstellungsbedingungen, ihre Auswahl, ihre Berufsausbildung usw. festgelegt und den am Kongreß teilnehmenden Staaten empfohlen, sich in der Praxis und bei dem Ausarbeiten von gesetzlichen oder verwaltungsmäßigen Reformen nach ihnen zu richten86 • Dabei wurde vorgeschlagen, die Ausbildung in zwei Abschnitte zu unterteilen. Der erste Abschnitt, in einer Vollzugsanstalt, habe die Aufgabe, den Berufsanwärter mit den besonderen Problemen seines Berufes vertraut zu machen und zur gleichen Zeit die Feststellung zu ermöglichen, ob er die notwendigen Voraussetzungen erfülle. Während des zweiten Abschnitts solle der Bewerber eine Schule besuchen oder an einem Lehrgang teilnehmen. Besondere Aufmerksamkeit müsse der Ausbildung bei dem Umgang mit den Gefangenen, wobei die elementaren Grundsätze der Psychologie und Kriminologie zugrunde zu legen seien, gewidmet werden. In allen Kulturnationen hat sich mehr oder weniger deutlich die Gliederung der Strafanstaltsbeamten in vier verschiedene Sparten als förderlich erwiesen. Neben den Verwaltungsbeamten stehen die Aufsichtsbeamten, dazu kommen die Werkbeamten und die Erziehungsbeamten. Über allen vier Gruppen steht der Anstaltsleiter. In dieser Vierteilung, die im Prinzip eine Zweiteilung darstellt, kehrt der von 85 Franz Zeugner, Bericht über die Fortbildungsarbeit an Strafvollzugsbeamten in Hamburg; Gustav Weiß, Erfahrungen aus dem Fortbildungsunterricht an Aufsichtsbeamten im Lande Hessen; Hansgeorg Hildebrandt, Fortbildung der Aufsichtsbeamten, Ein Erfahrungsbericht; Franz Werner, Die neue Strafvollzugsschule für das Land Niedersachsen in Wolfenbüttel. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 4 (1954), 70 ff., 76 ff., 82 ff., 117 ff. 86 Beschlüsse des ersten Kongresses der Vereinten Nationen zur Verhütung von Verbrechen und Behandlung von Straffälligen zum Thema: Auswahl und Ausbildung der Strafvollzugsbediensteten. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 6. (1956), 257 ff.
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Wagnitz und den Anhängern seiner Ideen betonte Grundsatz der Zweiteilung in klar herausgearbeiteter Form wieder. Neben den überwiegend für die "physische" stehen vor allem die für die "psychische Besserung" der Gefangenen Verantwortlichen. Ihre sorgfältige Auswahl aus den verschiedenen Fakultäten und Disziplinen, ihre ständige Fortbildung und ihr enges Zusammenwirken im Interesse des Gefangenen ist heute als unbedingt notwendig anerkannt. Das "Collegium" von Wagnitz führt heute die Bezeichnung "Beamtenbesprechung" und das Zusammenwirken der Vertreter der vier verschiedenen Sparten im "Team" ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen zur Erfüllung der Aufgabe des Strafvollzugs87 • Wenn sich auch seit 1784 die Formen in unserem Gefängniswesen gewandelt haben, so bleibt stets die Beamtenfrage wesentlich und der Grundsatz wichtig, daß das Beispiel der Beamten über das Verhalten der Gefangenen entscheidet, denn "nur da, wo verständige und gute Officianten angestellt sind, läßt sich Besserung der Gefangenen hoffen"88.
87 Einheitliche Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen. Ziffer 58 und 59. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 8 (1959), 169. 88 Wagnitz, Historische Nachrichten, Bd.2, Teil 1, S.79 Anm.
4. Von den Anfängen des Progres8iv~ystems und den Vofschlägen earl August Zellers* A sober judgement on the merits and faults of a Progressive Stage System has to avoid fallacious extremes. M. Grünhutl "Eine nüchterne Beurteilung der Vorzüge und Nachteile eines Stufensystems hat irreführende äußerste Folgerungen zu vermeiden." Mit diesem Satz anerkennt Grünhut die "Vorzüge" eines Stufensystems, übersieht aber auch nicht seine "Nachteile" und fordert auf, "eine nüchterne Beurteilung" vorzunehmen. In diesem Sinne soll versucht werden, die Frage nach den Prinzipien, nach den Systemen und nach den Methoden in der Gefangenenbehandlung zu stellen, die Entwicklung des Progressivsystems bis zur Veröffentlichung der Vorschläge hierzu zu kennzeichnen! und den Sinn seiner "Klasseneintheilung" herauszuarbeiten. Die Ursachen, warum die Gedanken Zellers nicht in seiner Zeit weiter durchdacht oder gar verwirklicht wurden, können hier nur angedeutet werden. I
I. Methoden und Systeme Mit der Errichtung von Anstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen stellte sich die Frage, nach welchen Systemen und Methoden vorzugehen sei, um das angestrebte Prinzip zu erreichen. Ohne auf die Ursachen der Errichtung des Bridewell (1553) und des Amsterdamer Zuchthauses (1595) hier näher einzugehen, sei festgehalten, daß als Motiv für die Einrichtung des Amsterdamer Zuchthauses "die Abneigung gegen das bisherige blutige Strafensystem" war*. Aber diese "Abneigung" forderte eine positive Konzeption heraus, sie lautete: "ein Haus zu gründen ... wo man alle Vagabunden, Übeltäter, Spitzbuben
* Erschienen in: Erinnerungsausgabe für Max Grünhut (1893 -1954), Marburg 1965, S. 93 - 110. 1 Max aTÜnhut. Penal reform. A comparative study, 1948. p. 189. 2 earl August Zelter. GrundriB der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will. Mit einer Einleitung über die Ausscheidung sowohl der leichten als schweren Verbrecher. Ein Beitrag zur Verbesserung der Strafanstalten. Stuttgart und Tübingen 1824. 3 Robert von Hippel. Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und des Erziehungs-Strafvollzugs. Schriften der Thür. Gefängnisgesellschaft. Heft 2, 1931. S. 5.
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
und dergleichen zur Züchtigung einsperren und arbeiten lassen könnte"'. Das Prinzip war damit begründet, und das aufkommende neue System des Einsperrens zur Züchtigung, auch durch das Mittel der schweren Arbeit, forderte folgerichtig eine Methode dieser Gefangenenarbeit. Sie wurde in Amsterdam entwickeltll• In der englischen und der holländischen Anstalt waren verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten der Insassen vorgesehen. Im Bridewell, so hält Grünhut fest, wurden "the worst men at the mill or in the bakehouse" beschäftigt, "with the possibility of being removed to a better occupation" und bemerkt dazu "a first attempt at a Progressive Stage Organization!"I. Auch Amsterdam hielt an besonders schweren Arbeitsmethoden bei dem Raspeln des Farbholzes fest. Radbruch bemerkt dazu: "Jedoch wurde der fleißige Gefangene von der schweren Arbeit zu leichterer Arbeit versetzt", ein erster Ansatz zu einem progressiven Strafvollzug7• Was besagt "a first attempt at a Progressive Stage Organization" und was "ein erster Ansatz zu einem progressiven Strafvollzug"? Grünhut meint: Die progressive Wiederherstellung (im Sinne einer gesellschaftlichen Ertüchtigung) des Gefangenen müßte zur Hauptaufgabe des gesamten Vollzuges gemacht und das stufenweise Fortschreiten vom striktesten Zwang zu überwachter Freiheit durch klare und einfache Grundsätze so geregelt werden, daß das Ziel für den Durchschnittsgefangenen sowohl verständlich als auch erreichbar wird8 • Die unter Reichsjustizminister Radbruch ausgearbeiteten "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. VI. 1923"9 enthalten den § 130, der besagt: Eine allmähliche Lockerung des Strafzwanges soll stufenweise eine wachsende Annäherung an die Lebensbedingungen der Freiheit schaffen und dadurch die Gefangenen freiheitsreif machen, Dieser Progressivparagraph gilt als Schlüssel zum Verständnis des ganzen Werkes, und FinkeInburg vertrat die Ansicht: Das Reichsjustizministerium, das den Entwurf zu den Reichsratsgrundsätzen ausgearbeitet und durchgesetzt hat, hat eine wirkliche Kulturtat vollbracht. Der Herr Justizminister Radbruch, von Herrn Ministerialdirektor Bumke ... 4 11
von Hippel. a.a.O. S. 4. vonHippel. a.a.O. S. 23 ff. und Thorsten SeUin. Pioneering in penology.
The Amsterdam houses of correction in the sixteenth and seventeellth centuries. Philadelphia 1944. p. 80. I GTÜnhut, a.a.O. p. 16. 7 Gustav Radbruch. Die ersten Zuchthäuser und ihr geistiger Hintergrund. In: Elegantiae Juris Criminalis. H. Aufl. 1950 S. 116 ff. Abgedruckt: Zeitschrift für Strafvollzug 1952/53 (3) 165/6. 8 GTÜnhut. a.a.O. p. 83. 11 Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 RGBl. H. 263 ff.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 103 verständnisvol1st unterstützt, hat sich durch diese geistige Vaterschaft ein glänzendes Verdienst erworben10 • Radbruch erkannte aber auch die Grenzen des Progressiv-Systems: Kein System kann aus eigener Kraft, jedes kann nur als ein Rahmen für die Tätigkeit tüchtiger Erzieher dem Erziehungszweck dienen11 • Die Anfänge der Bestrebungen, den Vollzug der Freiheitsstrafe nach einem System durchzuführen, gehen, wie aus den angeführten Beispielen Bridewell und Amsterdam ersichtlich ist, bis auf die Einrichtungen der ersten europäischen Vollzugsanstalten zurück. In der weiteren Entwicklung wurde durch Einführung verschiedener Systeme, z. B. der Einzelhaft (nach dem Vorbild des Quäkerstaates Pennsylvanien), dem der Gemeinschaftshaft (nach dem Beispiel Obermaiers in Kaiserslautern und München) oder dem der Vereinigung von Einzelund Gemeinschaftshaft (im Sinne des irischen Systems), der Versuch gemacht, das Prinzip der "Besserung" zu verwirklichen. Dabei wurde unter "Besserung" eine Abkehr von der Haltung verstanden, die zu Straffälligkeit und damit Freiheitsentzug führte. Die Methoden solcher Gefangenenbehandlung wechselten z. B. vom Schweigegebot zur Trennung bei Nacht, von Arbeitszwang zur Gewährung beruflicher Ausbildung, von der Pflicht zur Anwesenheit bei Gottesdiensten und Unterrichten zur freiwilligen Teilnahme, insbesondere auch zur Ermöglichung der Aus- und Fortbildung durch geeignete Einrichtungen. In jedem System und in jeder Methode lagen und liegen Möglichkeiten der Störung oder der Förderung des Persönlichkeitsaufbaues, dennoch sind Systeme und Methoden im Strafvollzug unentbehrlich. Bevor auf die Vorschläge Zellers eingegangen werden kann, ist die Entwicklung des Progressivsystems, früher gelegentlich "Klassensystem" genannt, zunächst nach der Fachliteratur in dem Zeitabschnitt von Howard bis Wagnitz, d. h. 1777 bis 1790, und dann in der Praxis einzelner deutscher Staaten zu skizzieren. 11. Literarische Zeugnisse für die Ausbildung des Progressivsystems Bei Skizzierung der Anfänge des Progressivsystems als eines besonders wichtigen Abschnittes der gesamten Entwicklungsgeschichte des Strafvollzugs ist festzustellen, daß die Motive solcher Systematisierung 10 K. FinkelnbuTg. Die Grundsätze über den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923. In: Bericht auf der 19. Versammlung der IKV zu Hamburg vom 11. bis 13. Juni 1924. Mitteilungen der Deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung. 1924. S.62. 11 Gustav RadbTuch. Der Erziehungsgedanke im Strafwesen. In: Monatsblätter des deutschen Reichszusammenschlusses. 1932, H. 7 - 8, S. 6 - 12. Abgedruckt: Zeitschrift für Strafvollzug 1952/53 (3) 161 ff.
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verschiedener Art sein könnten, z. B. der Abschreckung, der Besserung, der Nützlichkeitserwägungen, der Ausnutzung der Arbeitskraft. Im Prinzip strebten sie an, die Einordnung in das gesellschaftliche Leben vorzubereiten. Die folgenden Angaben stützen sich auf gedruckte zeitgenössische Quellen. Waren bereits in den Anfängen der Freiheitsstrafe im 16. Jahrhundert Ansätze eines Progressivsystems erkennbar, so wurde doch erst im Zeitalter der Aufklärung und unter der Nachwirkung der gewonnenen Erkenntnisse vom Menschen und seiner Umwelt der Gedanke, Systeme und Methoden im Strafvollzug anzuwenden, weiter durchdacht. Wenn auch die Praxis der Strafrechtspflege, z. B. durch C. B. Beccaria, insbesondere seine Schrüt "Über Verbrechen und Strafen", Anregungen zur Reform erhielt, so enthält dieses Werk nur gelegentliche Hinweise auf eine notwendige Änderung der Organisation von Strafanstalteni!. Die Anstöße zu einer Reform der Gefangenenbehandlung gingen in geringerem Maße von Vertretern der Strafrechtspflege aus als vielmehr von Persönlichkeiten, die sich aus Religiosität und Humanität darum bemühten. "Ah! little think the gay ... whom pleasure, power and affluencesurround; how many pine in want, and dungeon -glooms" (Thomson), das war das Leitwort, das J ohn Howard unter den Titel seines die neuzeitliche Strafvollzugsreform einleitenden Werkes "The state of the prisons in England and Wales" drucken ließl8. Dieses Werk wurde von Köster auszugsweise ins Deutsche übersetzt, mit Zusätzen und Anmerkungen versehen und veröffentlicht. Der § 102: Einteilung der Gefangenen in Classen, Hinaufrücken und Degradierung" ist offenbar ein Zusatz von Köster, der'vorschlägt, "die Gefangenen können in gewisse, etwa drei, dem Vorzuge und Range nach verschiedene Classen eingetheilt werden. Jeder Züchtling bleibt eine gewisse Zeit in jeder Classe, und zwar in der einen so lange als in der andern. So wie er aus der einen in die andere hinaufsteigt, muß die Haft und Arbeit stufenmäßig gelinder und erträglicher werden. Hinaufrückung in eine höhere Classe und Hinuntersetzung in eine niedrigere würden vielleicht die wirksamsten Belohnungen des Verdienstes, und Strafen des Lasters, der Widerspenstigkeit und des Unfleißes sein". Köster gibt dazu noch einige Einzelheiten. Vor allem ist seine Begründung wichtig "Eine solche Einrichtung würde notwendig dazu dienen, Wetteüer unter den Züchtlingen zu erregen, einen beständigen und recht in die Augen 1% Thomas Wiirtenberger. Cesare Beccaria (1738 -1794) und sein Buch "Von Verbrechen und Strafen" (1764). In: Zeitschrift für Strafvollzug 1964
(13) 127 - 134. 18 John Howard. The state of the prisons in England and Wales, with
preliminary observations, and an account of· some foreign prisons. I. Auf!. 1777. - Max Griinhut. John Howard. In:The Howard Journal. 1941. Vol. VI. No 1 p. 34 - 44. __ William Howard (!). Ueber Gefängnisse und Zuchthäuser. Ein Auszug aus dem Englischen. Mit Zusätzen und Anmerkungen von G. L. W. Köster. 1780.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 105 fallenden Unterschied zwischen guter und schlechter Aufführung fest.,. zustellen; und Furcht und Hoffnung beständig rege zu halten"u. Unabhängig von einer kritischen Stellungnahme sei zunächst festgestellt, der Gefangene beginnt "Subjekt" zu werden, und es werden ihm Ziele gesetzt. Einer der ersten, der als Pädagoge bei der Menschenbildung methodisch vorzugehen bestrebt blieb und auch Anregungen für einen progressiven Vollzug im Freiheitsentzug empfahl, war Pestalozzi. In "Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung" eritwickelte er 1782 im Vierten Abschnitt: "Die wahre Staatsweisheit in Behandlung der Gefangenen" verschiedene "Grundsätze". "Der lange versicherte Aufenthalt der verurtheilten Verbrecher muß in der Absicht geschickt sein, die Kräfte des Leibes und der Seele zu stärken ..., Unterschied im Grad der Freiheit und der Lebensgenießungen nach Maßgabe ihres Verhaltens ... kurz Belohnungen guter Sitten ... müssen in dieser Wohnung der Trauer dem elenden Gefangenen gesichert sein16." Pestalozzi fordert damit - ob von Howard und Köster beeinflußt oder nicht - den progressiven Vollzug18 • Unter Howards Einfluß waren in Englandneue den Vollzug betreffende Gesetze erlassen und neue Gefängnisse gebaut worden. Krohne berichtet über ein englisches Gesetz vom Jahre 1784, wonach in jedem Gefängnis die Gefangenen in fünf Klassen eingeteilt werden, die sowohl untereinander als nach den Geschlechtern vollständig getrennt gehalten werden mußten. Krohne meint "Das ist der erste Anfang des Klassensystems; von dieser Klassifikation nach der juristischen Eigenschaft der Gefangenen schritt man später, zuerst in Milbank, fort zur Klassifikation nach ihren moralischen Eigenschaften"!? und damit zu Ansätzen eines Progressivsystems. Als zweites Dokument der W,itkung John Howards auf die englische Öffentlichkeit, die sich unter seinem Einfluß intensiv mit dem Problem der Zuchthäuser befaßte, sei auf Macfarlan und sein Werk:· "Untersuchungen über die Armuth, die Ursachen derselben und die Mittel ihr abzuhelfen" verwiesen. Von Christian Garveübersetzt und mit einigen Anmerkungen und Zusätzen begleitet,. erschien es 1785. Garve forderte u. a. "so wie Strafen müssen auch Belohnungen im Zuchthaus selbst seyn: daß es also verschiedene Classen gebe ... Wer sich in der untern 14 Howard / Köster. a.a.O.S. 162 ff. 15 J. H. Pestalozzi. Sämtliche Werke. Hrsg. von L. W. Seyffarth. Bd. 6, 1901, &Wft . . . 16 Anne-Eva Brauneck, Pestalozzis Stellung zu den Strafrechtsproblemen. 1936; nimmt an, daß Pestalozzi das Werk Howards kannte (S.68) und sich . für einen progressiven Strafvollzug aussprach (S. 78). 17 Karl· Krohne. Lehrbuch der Gefängniskunde. 1889. S. 62/63, Anm. 20.
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wohl aufführte ... würde in die höhere gesetzt: und die, welche in der oberen unartig würden, mit der Herabsetzung bestraft"18. Einen weiteren Beitrag zur Entwicklung des Progressivsystems gibt Wächter, der Verfasser von: "Ueber Zuchthäuser und Zuchthausstrafen, wie jene zweckmäßig einzurichten, und diese solcher Einrichtungen gemäß zu bestimmen und anzuwenden seyen." Er teilt nicht nur mit, "unser deutsches Vaterland ist nun im Stande, wenigstens in die 60 Zucht- und Arbeitshäuser aufzuweisen", nimmt nicht nur Bezug auf die Ausführungen Kösters, des Herausgebers von J ohn Howards Standardwerk, und Garves, des von Macfarlan, sondern unterstreicht die Bedeutungder "Hinaufrückung in eine höhere Classe und der Erniedrigung zur Strafe ... ". Für wesentlich erachtet Wächter: "die Bestimmung dieser Vorzüge und Belohnungen ist übrigens em Vorbehalt des höheren Direktoriums, und solche wesentlichen Veränderungen der Strafe sind zu wichtig, um einem Zuchthaus-Vorsteher allein zu seiner Willkür überlassen werden zu können"19. Hier ist die Bedeutung des Progressivsystems erkannt, und es werden Garantien für Ausschluß von Willkür, für Beachtung der Rechtsstaatlichkeit gefordert. Die von John Howard angeregten Erneuerungsbestrebungen wirken in seinem Heimatland und, mitbedingt durch Köster, auch in Deutschland weiter. Literarischer Träger dieser Gedanken wurde, wie bereits erwähnt, im englischen Sprachbereich u. a. Macfarlan, dessen Werk Garve ins Deutsche übertrug und durch Anmerkungen ergänzte. Aber auch Männer wie Pestalozzi und Wächter nahmen die Gedankengänge John Howards im deutschen Sprachbereich auf. Stellte Macfarlan den Fleiß, die Arbeitsleistung als Kriterium für die Einordnung in die Klassen auf, so entwickelte Wagnitz das Progressivsystem weiter und machte das "moralische Verhalten" zum Angelpunkt (1787)."Bei den Belohnungen sieht Macfarlan immer mehr auf Fleiß, ich dächte, das moralische Verhalten müßte noch mehr für sie entscheiden20 • " 18 Johann Macfarlans, Predigers in Edinburg, Untersuchungen über die Armuth, die Ursachen· derselben und die Mittel ihr abzuhelfen. Aus dem Englischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen und Zusätzen begleitet von Christian Garve. 1785. Anhang 8.195. 19 Wächter, earl Eberhard. "Ober Zuchthäuser und Zuchthausstrafen, wie jene zweckmässig einzurichten und diese solcher Einrichtung gemäß zu bestimmen und anzuwenden seyen? 1786. S.14O/47. 20 Heinrich Balthasar Wagnitz .. Prediger am Zucht- und Arbeitshause in Halle. Ueber die moralische Verbesserung der Zuchthausgefangenen. 1787. S.7. Dazu: Albert Krebs. Heinrich Balthasar Wagnitz. In: Zeitschrift für Strafvollzug 1961 (10) S. 169 ff. - Albert Krebs. Die Vorschläge von Heinrich Balthasar Wagnitz zur Ausbildung der Strafanstaltsbediensteten in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. In: Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag. 1961 S. 70 ff.
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Der Edinburger und der Hallenser Prediger scheinen mit typische Vertreter für das Problem des Progressivsystems in ihrer Zeit zu sein. Aber nach welchem Maßstab ist zu messen, wann, warum soll auf- und abgestuft werden21 ? Wagnitz bietet weiterführende Gedanken an und geht davon aus: "Zuchthäuser sind und sollen seyn Erziehungshäuser erwachsener aber noch einiger Besserung fähiger Auswüchse· des menschlichen GeschlechtsH ." "Auch der scheußlichste Auswuchs des menschlichen Geschlechts bleibt Mensch und verdient Nachsicht, wenn er aus Schwachheit strauchelt23 ." Aus dieser GrundeinsteIlung heraus ist er bestrebt, die "moralischen" Bedürfnisse der Gefangenen kennen zu lernen und entwickelt Vorschläge für ein "psychologisches Verhör" mit eingehender Persönlichkeitserforschung24 • Das gäbe dann Data zu einem "moralischen Barometer", so wie Herr Köster in den Anmerkungen zum Howard einen politischen zum Vorschlag bringt25. Aber ... "auch bei diesem "auf die Probe stellen" (ist) besonders bei Zuchthausgefangenen, viel Behutsamkeit nöthig"26. Von da aus wird eine Forderung verständlich: "Es versteht sich auch wohl von selbst, daß. es im Erproben Stufen und Grade gebe. Man muß ihn (den Gefangenen) gleichsam durch mehrere Stufen durchgeführt haben, ehe man das höchste, das den mehrsten Kampf und Opfer kostet, fordert27 ." Im Zuchthaus in Halle, an welchem H. B. Wagnitz als Geistlicher tätig war, wirkten sich diese Gedanken aus. Zwei Arbeitsstuben wurden eingerichtet, "die Arbeitsstube zwei ist für die moralisch schlechtere Klasse . . . . Wer in dieser Stube sich gut verhält und Besserung von sich hoffen läßt, kommt in die erstere und wird unter die moralisch bessern aufgenommen, gegen die weniger streng bei der Arbeit verfahren wird, und die überall den übrigen vorgezogen werden"28. Dabei versteht Wagnitz unter "Verbesserung der Moralität", die "billig eine der ersten Absichten solcher Anstalten (der Zucht- und Arbeitshäuser) seyn sollte,Menschen, die sich selbst und der menschlichen Gesellschaft unnütz und schädlich worden sind, auch, für die Zukunft sich und der menschlichen Gesellschaft weniger schädlich, ja nützlich zu machen, und zu dem Ende ihrer Denkungsart und Neigungen eine glücklichere Richtung zu geben"!II. 21 22
!3 24 25 26
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Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz. Wagnitz.
a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O.
S. 69 ff. S.16. S.26.
S.49, 50. S.5I. S.76. S.77. S.282 Anm. S. V.
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In seinem 1791 erschienenen Werk: "Historische Nachrichten ... " setzt sich Wagnitz mit Einwänden gegen seine Pläne: "Träumerey ist's, wenn man von Classification nach moralischen Characteren, und ähnlichen Sächelchen schwatzen will" auseinander, fordert die Einrichtung von drei Klassen, "so groß auch die Abstufungen unter den Verbrechern seyn mögen ... die der bessern, der schlechtem, und dann eine Prüfungsc1asse, die jeden ankommenden zweydeutigen Character aufnimmt, und übrigens mit der schlechtem gleiche Einrichtung hat, nur daß sie honorabler ist"30.
Wagnitz gibt weiter Einzelheiten: für die Behandlung, die Versetzung von einer Klasse in die andere, den Unterschied der Klassen untereinander, der nicht in dem aufgegebenen Pensum der Arbeit bestehen darf. Zu den im einzelnen genannten Unterschieden gehört "nie muß die Classe der schlechtern ohne Aufsicht gelassen, und zu dem Ende selbst einer oder eine aus der Classe der besseren über sie bestellt werden, die dann die Stelle des Officianten ... " vertreten31 • Die "Kennzeichen der erfolgten Besserung" sind weiter Voraussetzung bei Prüfung von Gnadenerweisen, wobei Wagnitz· fordert, "daß die Criterien der Besserung wirklich mehr als scheinbar seyn müssen, oder daß ein solcher, den man vor der Zeit entlassen will, sich schon längst des ersten Platzes in der Classe der bessern werth gemacht hat"M.
m. Ansätze zur Einführung des Progressivsystemsin der Praxis Diese literarischen Zeugnisse aus den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts beweisen das Bestreben in England, in der Schweiz und in Deutschland, die Praxis des Strafvollzugs nach einem System, dem Progressivsystem, zu ordnen und bestimmte Methoden als Voraussetzung der Behandlung, z. B. Persönlichkeitserforschung, anzuwenden. Auch in Nordamerika gewinnen - möglicherweise ebenfalls unter dem Einfluß der Veröffentlichung des Werkes von John Howard - die Gedanken vergleichbarer Gefangenenbehandlung an Raum. Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wird im Walnut Street .Jail in Philadelphia eine Klassifikation angeregt, aber nicht vor 1797 finden wir "a more refined system actually set up and mentioned in the minutes of the Board"·. 30 H. B. Wagnitz. Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Bd. I, 1791. S. 48 und S.82. 31 Wagnitz. Historische Nachrichten ... Bd.1 S. 82 - 85. 3! Wagnitz. Historische Nachrichten ... Bd.l S.202. 33 Negley K. Teeters. The cradle of the penitentiary. The Walnut Street Jail at Philadelphia 1777 - 1835. 1955. p.58.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 109 Die Entwicklung der Gefangenenbehandlung in Deutschland in den Jahren von 1791 - Wagnitz hatte über seine Erfahrungen insbesondere auch seine Gedanken zu einer"classification" in dem Hallenser Zuchthaus berichtet - bis 1824 - Zeller veröffentlichte in diesem Jahre seine Vorschläge und befaßte sich dabei mit einer Kernfrage, dem Progressivsystem, - verlief nicht einheitlich. Obwohl sozialkritische Probleme die Zeitgeschehnisse beherrschten, traten die Fragen unseres Sondergebietes zurück, gefördert wurden aber alle Bestrebungen einer allgemeinen Erziehung. Bedeutung gewann dieser Zeitabschnitt, weil die verantwortlichen Behörden in verschiedenen deutschen Staaten versuchten, Vollzugsreformen, insbesondere auch die Einführung eines Progressivsystems, einzuleiten. Den "unsagbar üblen Zuständen", die aus den von den preußischen Strafanstalten mit Kabinettsorder vom 25. VI. 1799 eingeforderten Berichten ersichtlich waren34 , sollte u. a. durch Reformen nach dem "General-Plan" von 1804 entgegengewirkt werden. In seinem "vierten Abschnitt: Von der Errichtung der Straf-Anstalten" wurde eine Klassifikation in drei Klassen, der Straf-Klasse, der Probe-Klasse und der Besserungs-Klasse angeordnet. "Die ~rei Klassen unterscheiden sich durch Kleidung, Lebensweise und Behandlung ... ". "Besseres oder schlechteres Betragen bewürken Ascension oder Degradation, alles nichts anders, als mit Zustimmung der Direction und mit einer feierlichen Publicitätu." Dieser " Generalplan" konnte infolge der Napoieonischen Wirren nicht verwirklicht werden, erst im Jahre 1809 erfolgte die Wiederaufnahme der ReformarbeitenM. In seinem im Jahre 1803 anonym veröffentlichten Werk hatte sich der preußische Justizminister von Arnim gegen eine solche Klassifikation ausgesprochen. Er vertrat die Ansicht, "daß die äußere scheinbare Moralität der Verbrecher in den Gefangenenanstalten ein ganz falsches, irriges und zweckwidriges Classificationsprinzip sei"37. Es kann hier festgehalten werden, daß sich die Anregungen von Wagnitz, dessen U EbeThaTd Schmidt. Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. II. Aufl. 1951. S. 243. U General-Plan zur allgemeinen Einführung einer besseren CriminalGerichts-Verfassung und zur Verbesserung der Gefängniß- und Straf-Anstalten vom 16. September 1804. In: Die Strafanstalten und. Gefängnisse in Preußen. Teil I: Anstalten in der Verwaltung des Ministeriums des Innern. Hrsg. von K. Krohne und R. Uber. 1901. So XLVI. 38 KTohne I UbeT. a.a.O. S. XIII. 37 Bruchstücke über Verbrechen und Strafen oder Gedanken über die in den Preußischen Staaten bemerkte Vermehrung der Verbrecher gegen die Sicherheit des Eigenthums; nebst Vorschlägen, wie derselben durch zweckmäßige Einrichtung der Gefangenenanstalten zu steuern. seyndürfte. Zum Gebrauch der höheren Behörden. Teil II, 1803. (Verfasser ist A. H. von Arnim). S.116/17.
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Dienstvorgesetzter von Arnim war, gerade auch in den Bestimmungen des "Generalplanes" durchsetzten38 • Die Bestrebungen eines anderen deutschen Staates im gleichen Zeitabschnitt sind hier erwähnenswert. Im Königreich Sachsen wurden bereits 1'795 in der Strafanstalt Waldheim ebenfalls Erwägungen angestellt, ob die Einführung einer Klasseneinteilung nach bestimmten Grundsätzen zu empfehlen sei. Damals konnte sich die Aufsichtsbehörde hierzu nicht entschließen, setzte aber dann 1809 (25. XI.) ein Regulativ in Kraft: "die Klassifikation der Züchtlinge und deren Behandlung so.,. wohl überhaupt, als nach Unterschied der Klassen insonderheit betr.". Es wurden zwei Klassen, eine "härtere" und eine "gelindere" gebildet und die Zugehörig~eit zur einen oder andern auf Grund eines richterlichen Urteils angeordnet. Innerhalb der Klassen bestanden bei der Behandlung grundlegende Unterschiede. - Weiter sollte die Versetzung von Züchtlingen aus der einen in die andere Klasse wohl zulässig sein, jedoch nur nach gutachtlichem Vortrag und darauf getroffener Entschließung erfolgen39 • Als Ergebnis der an wenigen Beispielen vorgenommenen Betrachtung des Beginns der Entwicklung des Progressivsystems sei festgehalten, daß wohl die Bemühungen um eine Rückfallverhütung Zu einer geplanten Unterscheidung der Anstaltsinsassen entweder auf Grund ihrer Strafen oder ihres Verhaltens im Vollzuge oder beider Gegebenheiten hinausliefen. Der dann in Klassen oder Stufen in Aussicht genommenen Unterscheidung sollte eine angemessene Behandlung während des Vollzugs folgen. Dabei war wesentlich, daß in allen Fällen, wenn auch unter Vorbehalten, eine Auf- und Abstufung vorgesehen und damit die individuelle Leistung des Gefangenen gefordert und anerkannt werden sollte. - So lauteten die Forderungen, die in der Fachliteratur erhoben werden, in der Praxis des Vollzugs wurden sie, soweit bekannt, nur selten (z. B. in Halle) verwirklicht4°. IV. Zellers Vorschläge für Einführung des Progressivsystems Die Zeitgeschehnisse im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinderten in den deutschen Staaten, vor allem auch in Preußen, die Weiterentwicklung der im "Generalplan" vorgesehenen Reformbestrebungen, insbesondere fehlten Mittel zu Anstaltsneubauten. Aber noch ein weiteres Problem kam z. T. erschwerend hlnzu. "Für die Verwaltung dieser 38 39
Wagnitz. Historische Nachrichten ... Bd.1. S.48. M. Koppel. Die Vorgeschichte des Zuchthauses zu Waldheim ... mit
Ausblicken auf die verschiedenen kursächsischen Zucht- und Arbeitshäuser. Leipzig. 1934. S. 94 - 96. 40 Wagnitz. Ueber die moralische Verbesserung ... S.282 Anm.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge Carl August Zellers 111 (preußischen) Anstalten stand in den vielen nach Beendigung des Krieges verabschiedeten Offizieren und Unteroffizieren ein ausreichendes, brauchbares. und billiges Beamtenmaterial zur Verfügung. Es ist begreiflich, daß dadurch der ganze Zuschnitt dieser großen Strafanstalten ein wesentliches militärisches Gepräge erhielt'1." Die im Laufe der dreissiger Jahre in den preußischen Strafanstalten eingeführte Klassifizierung, die "sich indessen rein schablonenhaft auf zwei Klassen beschränkte, von denen· die erste alle zum erstenmal mit Zuchthaus Bestraften, die zweite alle rückfälligen Eigentumsverbrecher umfaßte, ist "auch eine militärische Erinnerung an die erste und zweite Klasse des Soldatenstandes"42. In dieser gesamtdeutsch wohl vergleichbaren Anstaltssituation schlug Zeller 1824 in seinem "Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will" eine Neuordnung vor. In der Einleitung. des "Grundrisses ... " unterbreitete er seine Gedanken "über die Ausscheidung SOWQhl der leichten als schweren Verbrecher, so daß nur noch. eine kleinere Minderzahl der mittlern Verbrecher der als Erzieh-Anstalt einzurichtenden Strafanstalt verbleiben würde". Die "leichteren Verbrecher" sollten unter einer Art Bewährungsaufsicht unter Pflegern leben43 , die "schweren" in "Verbannung" gehen44 .Ohne auf diesbezügliche Einzelheiten einzugehen, sei die besondere Behandlung der "mittlern Ver.brecher" in der Strafanstalt "die als Erziehanstalt bessern will" kurz dargestellt und vor allem auf Zellers Gedanken zur "Klassifikation", hier einem echten Progressivsystem, und einigen weiteren Besonderheiten eingegangen. Bei der vorgeschlagenen Neuordnung berief sich Zeller darauf, daß sein hier "beschriebenes Erziehungsverfahren sich in einer Strafanstalt eines Staates einmal bewährt hat"46 und nimmt auf die westpreußische Strafanstalt Graudenz Bezug. (Es gelang nicht, in den 1938 befragten Staatsarchiven Berlin und Königsberg nähere Einzelheiten zu ermitteln.) - Zunächst sei zu klären versucht: Was befähigte Zeller zu solchen Vorschlägen? Zeller'6, 1774 auf Schloß Hohenentringen in Württemberg geboren, erhielt seine Ausbildung an den theologischen Landesanstalten und 41 Krohne, Lehrbuch. S.157. 42 Reglement für die Straf-Anstalt zu Rawicz vom 4. November 1835 §§ 26 ff. und Krohne. Lehrbuch. S.161 Anm.7. 43 Zeller. Grundriß. S. 3 u. 4. 44 Zeller. Grundriß. S.18. 46 Zeller. Grundriß. S. VIII. 46 Sander, K. A. Zeller. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd.45. 1900. S. 28 - 32 und . Hegter. K. A. Zeller. In: Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Hrsg. von K. A. Schmid. Bd. X. 1875. S. 629 - 632.
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wirkte anschließend als Prediger fünf Jahre lang in Bi"ünn (Mähren), wo er auch in der Erwachsenenbildung tätig wurde. Im Jahre 1803 nahm er Verbindung mit Pestalozzi auf, besuchte ihn 1805 in Yverdon und befaßte sich während der nächsten Jahre intensiv mit Fragen der Elementarschule und schulmeisterlichen Themen, die er auch in Veröffentlichungen behandelte47 • In dieser Zeit gewann er Fühlung mit bedeutenden. pädagogischen Fachkräften seiner Zeit, wie Fellenberg in Hofwil48 und Salzmann im Philanthropin Schnepfenthal in Thüringen48 • Zeller bereitete sich systematisch vor, in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit eine Rolle zu übernehmen, zunächst als Mitarbeiter im Sinne der Methoden Pestalozzis, dies auch noch bei der Erneuerung des preußischen Volksschulwesensin den Jahren 1809 und 1810, später mehr im Sinne einer eigenen Methode. Diese Tätigkeit in Preußen, am Normalinstitut zu Königsberg, mußte Zeller z. T. aus eigener Unzulänglichkeit und überheblichkeit, auch aus Mangel an Takt, vor allem aber unter dem Druck des Zeitgeschehens bald wieder beenden. Wohl mit Rechtwird von ihm gesagt, daß er mehr zum Anregen und ersten Organisieren, als zum ruhigen Fortführen eines Werkes geeignet war. Mit ein Grund seines Scheiterns lag in dem "unablässigen Dringen auf Methode", die er statt zum Mittel zum Selbstzweck erhoblO • Zeller stellt eingangs in dem "Grundriß ... " folgende Thesen auf, die für das Verständnis seiner Reformvorschläge grundlegend wichtig sind61 • § 1 Der Sträfling ist ein Mensch, der seine bisherige bürgerliche Freiheit zum Schaden seiner Mitbürger mißbraucht hat. Um sie davor
C. A. Zeller, Die Schulmeisterschule. 1807. C. A. Zeller. Das Ziel der Elementarschule. 1809. C. A. Zeller. Beiträge zur Beförderung der preußischen Nationalerziehung. 1810. C. A. Zeller. Historische Nachricht von einem Versuch über die Anwendbarkeit der Pestalozzischen Lehrart in Volksschulen und von zweckmäßiger Einrichtung einer Sonntagsschule für Handwerker. 1810. C. A. Zeller. Unsere Kinderwelt. In: Archiv Deutscher Nationalbildung. Hrsg. von R. B. Jachmann u. Fr. Passow. 1812. S. 46 ~ 60. C. A. Zell er. Die Elementarschule, ihr Personal, ihr Local und ihre Verfassung mit einer Einleitung über das Wesen der Elementarbildung und der Schule ... 1814. 48 Ernst Feucht. Carl August Zeller, ein Württembergischer Pestalozzianer (1774 -1846). Ein Beitrag zur Geschichte des Pestalozzianismus in Württemberg und Preußen. 1928. S. 18. 48 Otto Bastian. Soziologie und Sozialpädagogik bei Chr. G. Salzmann. 1926. S. 172. 60 Preuß. Das Kgl. Waisenhaus zu Königsberg als Normalinstitut UIiter Herrn Oberschulrat Zeller. In: Volksfreund, eine Zeitschrift für die Volksschullehrer, zunächst der Provinz Königsberg. 1850. S.172 ff. Die Anmerkungen 51 - 86 sind entnommen Zeller, Grundriß ... 47
61
S. 31 ff.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 113 zusichern, beraubt ihn der Staat derselben und sorgt durch seinen Vertreter, die Hausobrigkeit, daß der Sträfling nicht entweichen könne. Solche Anstalt muß also ein wohl verwahrtes Gefängnisz seyn. § 2 lIßitdieser Absonderung kann seinen Mitbürgern indeß nur wenig gedient seyn, wenn der Gefangene nach Ablauf einiger Jahre in Freiheit gesetzt werden muß, ohne daß er indeß besser, d. h. daß . er dahin gebracht worden wäre, einen vernünftigen gesetzmäßigen Gebrauch davon zu machen ... Die Strafanstalt muß daher noch etwas mehr, als bloßes Gefängnis seyn. § 3 Dieses Mehr, von welchem die meisten Strafanstalten so wohlthätige Wirkungen erwarten, ist strenge Ordnung, Reinlichkeit und anhaltende Beschäftigung. Wohl sind diese Mittel besser, als ihre Gegensätze, Unordnung, Unreinlichkeit und Müßiggang. Aber sie reichen nicht aus für den höheren Zweck ... §.4 Die Sträflinge sollen sich also ändern, bessern wollen; und, indeß . dem Staate, als bürgerlichem Verein, zur eigenen Sicherheit das Gefängnis und die Absonderung des Sträflings genügt, so verlangt er als sittlich-religiöser Verein, daß er gebessert, und die Gesellschaft durch seine Sinnänderung sichernd, dahin zurückkehre. § 5 Diese Sinnänderung kann nur eine Frucht der christlichen Freiheit seyn ... § 6 Wenn wir einerseits mit Bewunderung und Teilnahme von den Erfolgen hören, die einzelnen Edeln oder auch Christenvereinen in dieser oder jener Strafanstalt gelungen sind, ... so müssen wir andererseits (diejenigen) Anstalten (bedauern), die vergebens solcher edlen, für das Werk der Sünderbesserung begeisterten Pfleger und Pflegevereine warten.
§ 7 Es muß daher noch ein anderes, nicht von der Persönlichkeit ihrer Pfleger bedingtes, Verfahren geben, wodurch die Sträflinge zum Bewußtseyn ihres Zustandes und seiner Veranlassung ... (kommen) ... Dieses Verfahren ist und kann kein anderes seyn, als die Erhebung eines Haufens von nebeneinander lebenden Menschen zu einer Gesellschaft von mit und durch und durch füreinander Wirkenden ... Ein Verfahren, das, für Strafanstalten bestimmt, ... du Verfahren der wechselseitigen Erziehung - im Gegensatz der von der Persönlichkeit der Erzieher bedingten - heißen mag. § 8 Bewirkt (ein Strafanstaltsvorsteher) in der That, was er soll, daß nämlich sein Gefangener sich ernsthaft bessern will, 0 so kann ihm nicht gleichgültig seyn, ob der, welcher nach ihm kommt, mit derselben Kraft und Liebe oder ohne sie fortfahre .... 8 Freiheitsentzug
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Allgemein wünscht Zeller, das in § 7 angedeutete Verfahren' der wechselseitigen Erziehung soll in der Kinderschule verhüten, was sonst bei Vielen inder Strafanstalt nachgeholt werden muß 52 • Hierbei nimmt er Bezug auf die Lancaster-Methode. Weiter geht er auf die Ursachen, die Quellen der Verbrechen, die er in "Übervölkerung und übermäßiger Verteilung des Grundeigentums, bei Mangel an Fabriken und Absatz" sieht, kurz ein53 • Schließlich stellt er dar, wie "das Wesen einer Strafanstalt, die eine Erziehanstalt" werden will, durch die darin handelnden Personen, die Sträflinge54, die Hausobrigkeit und deren Gehilfen5li und nicht zuletzt durch Örtlichkeit, die Zellen, nebst den weiteren Räumen, auch das Schulzimmer58 bestimmt wird. Der Abschnitt: Die Verfassung der Anstalt51 behandelt das "Lebensdrama eines Sträflings", das sich uns in drei Akten oder Handlungen darstellt: dem Akt der Aufnahme, dem Akt seiner Behandlung - "er mahlt uns den Kampf seiner verdorbenen Natur mit den Bemühungen seiner Erzieher und den Wirkungen ihrer Heilmittel" - und dem letzten Akt, seine Entlassung58. In dem AbschnJtt: "Behandlung des Zöglings"59 ,bringt Zeller das Kernstück: Einrichtungen der GesetzesvollziehungeG (I) durch Klasseneinteilung (2), durch Unterbeamte (die Ordner und die Aufseher) und (3) durch das Hausrecht, die für sein Progressivsystem wichtigsten Bestimmungen. Dabei bezieht er sich wiederum auf seine in der Strafanstalt Graudenz gewonnenen Erfahrungen61 • Wenn auch mit überschwänglichkeit, stark gefühlsbetonter Sprache, so doch im Prinzip nüchtern, entwickelte Zeller eine "Klasseneintheilung" derjenigen, die ohne Gesetz nur "einen furchtbaren Haufen ausmachen"8!. Soweit ersichtlich, wirkt sich die "Klasseneintheilung" nicht aus im Bereich der Arbeit, sondern ausschließlich in dem der Freizeit und der Unterbringung bei Nacht. Dabei soll die "Behandlung" das wohlberechnete, jegliche Willkür ausschließende Zusammenwirken aller Hausverhältnisse zu dem einen S.39. S.44. 54 46 f. 55 S. 47 - 89. 52
53
58 51
58 51 60
61 82
S. 90 - 91.
S. 94 - 165. S.94. S. 101 ff. S. 123 - 143. S.119. S.123.
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 115
Ziele sein, "daß der Zögling seines Zwecks sich bewußt werde, der Freiheit würdig, in die Gesellschaft zurückzukehren"63. Mittel hierzu sind für Zeller "a) Gewöhnung an nützliche Thätigkeit und Arbeitsamkeit; durch b) erhöhte Einsicht, durch gesammelte Elementarkenntnisse und Fertigkeiten und endlich durch c) Anwendung derselben zu einem wohlgeordneten, die künftige Selbständigkeit vorbereitenden Geldverkehr". Dabei ist "Geldverkehr" im Wortsinne zu nehmen, denn64 Zeller schlägt die Einführung von besonders geprägtem Anstaltsgeld vor, das anstelle des "Verdienstbüchleins"65 dem Gefangenen Kenntnis von seinem Verdienst geben soll. Während den Angehörigen der Probe- und der Bewährklasse freisteht, wie sie ihre Abrechnung vornehmen lassen wollen, ist der Vorbereitklasse vorgeschrieben, sich des Geldes zu ... bedienen". Zu der damals besonders brennenden Frage des "Sprechens in den Strafanstalten" wird entschieden: "auch im Zuchthaus muß der Sprache ihr Recht eingeräumt werden" und begrenztes Sprechen bei den "Mitgliedern der beiden unteren Klassen" erlaubt, während der Vorbereitklasse zu bestimmten Zeiten darüber hinaus "ein anständiges und bescheidenes Sprechen unverboten" ist67. Als besondere Richtlinie für das Progressivsystem gilt "Jeder, sey er wer er wolle, fängt von unten", d. h. in der Probeklasse an, Abweichungen von dieser Regel kann nur durch "richterliche Erkenntnis" entschieden werden68 .
Die Angehörigen der Probeklasse leben - soweit ersichtlich - wie angegeben, nur außerhalb der Arbeitszeit von den übrigen Klassen getrennt, sie tragen eine sie von diesen unterscheidende Kleidung89 und werden zunächst als "Ankömmling" in "Absonderung" genommen. Diese dauert für den Nichtvorbestraften bis zu einer Woche, den Rückfälligen bis zu einer "vier- bis sechswöchigen Einsamkeit". Während dieser Zeit erfolgt eingehende Belehrung über die Pflichten und die Aufstellung eines Planes für seine weitere Behandlung70 - auch Unterricht71 . Bei der "feierlichen Einführung dieser Verfassung" mit der 63
64 e5 8G
87 88 GI
70 71 8·
5.10l. 5.109. 5.112. 5.117. 5.12l. 5. 124 u. Anm. 5.92. 5.97. 5. 105 u. 106.
116
I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Klasseneintheilung werden außer den neueintretenden diejenigen Sträflinge in die Probeklasse aufgenommen, die nicht "Spuren der Reue" und "gute Vorsätze" erkennen ließen72 . Für die Dauer des Aufenthaltes in der Probeklasse "entbehren die Gefangenen derjenigen Achtung, die sich nur an ein gesetzliches Leben und an Beweise von Selbstbeschäftigung knüpft", das bedeutet gegebenenfalls strengere Hausstrafen, auch "bewirken" ihre zeuglichen Aussagen in Hausangelegenheiten keinen Glauben73 . - Fristen für eine Aufstufung, d. h. die Dauer des Aufenthaltes in der Probeklasse werden nicht genannt. Die Angehörigen der Bewährklasse "genießen des vorläufigen Vertrauens"74, sie sollen eine Gelegenheit zur Bewährung im Anstaltsleben in ihrem Bereich erhalten. Zwar tragen sie noch die Kleidung wie die zur Probeklasse gehörenden, haben begrenzte Sprecherlaubnis75, aber doch werden ihnen "Rechte" eingeräumt. "Wenn sie wegen (Haus-)Gesetzübertretung angefochten werden, (ist ihnen) zur Erweisung ihrer Unschuld und der genauen Abmessung ihrer Strafbarkeit, ein Hausrecht gestattet, das in einem besonderen "Hausrechtsverfahren" geregelt ist. Außerdem können, als Zeichen des "vorläufigen Vertrauens", "aus ihrer Mitte, und zwar aus den Bewährtesten, die Ordner ernannt werden78 , deren Aufgaben ebenfalls genau vorgeschrieben sind77 . Äußere Zeichen des Wohlverhaltens sind, zuerst von Woche zu Woche, dann von Monat zu Monat ausgefertigte und feierlich verliehene "Zeugnisse", die einen "Maßstab der redlichen und ausdauernden Anstrengung ihres Inhabers erkennen lassen" sollen. Bei Verletzung der Hausgesetze wird der Gefangene des oder der "Zeichen beraubt". Hat er als Folge die Ausstoßung aus der Bewährklasse in die Probeklasse verwirkt, so wird ihm Berufung auf das Hausrecht gestattet78. . Gefangene, die ununterbrochen vier Wochen- und dann fünf Monatszeugnisse erworben haben, also nach sechs Monaten, werden in die Vorbereitklasse aufgenommen. Außer der sechsmonatigen Bewährung in der "Bewährklasse" werden noch andere Voraussetzungen an die Zugehörigkeit zur "Vorbereitklasse" gestellt, deren Bezeichnung "für sich klar" ist. Diese Klasse besitzt ein Privileg, nur ihre Angehörigen werden "der vorgesetzten Staatsbehörde zur Begnadigung empfohlen"79. 72 S.123. 73 S.125.
S.126. S.121. 78 S.126. 17 S. 133 ff. 78 S.127. 78 S.130. 74
75
4. Anfänge des Progressivsystems und Vorschläge earl August Zellers 117
In diesem Zusammenhang legt Zeller seine Ansichten über das Progressivsystem im Sinne einer Vereinigung seiner Anschauungen von Aufklärung und christlicher Überzeugung grundsätzlich dar. "Die Natur macht in ihrer Entwicklung keine Sprünge. Diese ist an eine Stufenfolge gebunden, die der Entwickelnde, der Erzieher, der jene zu seiner Führerin erkoren, auch den Sträfling durchlaufen lassen muß, damit er würdig werde, wieder Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu seyn . . .. Die Vorbereitklasse verhütet jenen Sprung (von der Gebundenheit in die Freiheit) und seine übeln Folgen, sie vermittelt den übergang in die Verhältnisse der bürgerlichen Freiheit, indem sie die wesentlichen bürgerlichen Verhältnisse in ihre Anstaltswelt aufnimmt und als Erziehmittel benutzt8o." An welche Kleinigkeiten Zeller dabei denkt, die vom Freien als geringfügig angesehen werden können, geht u. a. daraus hervor, daß er, wie bereits erwähnt, die Verwendung von Anstaltsgeld "auf jeden Fall für die Vorbereitklasse" zur Pflicht macht81 . Die von den Angehörigen der übrigen Stufen getrennte Unterbringung, die Möglichkeit des Gedankenaustausches untereinander, ein "bescheidenes Sprechen ist unverboten"8!. Alle diese Bestimmungen sprechen für Sachverständnis. Nochmals sei auf die von Zeller vorgeschlagenen Einrichtungen der "Ordner" und das "Hausrecht" hingewiesen. Die Dienstzeit der Ordner ist auf jeweils vier Wochen bemessen, sie werden zuerst vom Vorsteher nach Beratung mit sämtlichen Hausbeamten bestimmt, für weitere Zeitabschnitte wählen die Angehörigen der Bewähr- und der Vorbereitklasse die "Ordner" selbst. Bei dem Vorsteher bleibt aber die Entscheidung ihrer Bestätigung", solange er findet, daß die Wahl nur auf die Würdigsten falle"83. Bei weiterer Bewährung kann der Ordner zum "Aufseher" einer Genossenschaft (d. h. der Gruppe) aufrücken, der nicht mehr als neun Sträflinge angehören sollen. Eine besondere Dienstanweisung regelt Einzelheiten ihrer Funktionen84 . Das "Hausrecht", das ein "Zögling der Bewähr- und der Vorbereitklasse ansprechen darf, wenn er in Gefahr ist, ... wohl gar in die Probeklasse herabgesetzt zu werden", bedeutet ein wichtiges Erziehmittel für beide, den Schuldigen wie für den Schuldlosen. "Der Schuldlose fühlt sich vor Willkür, Verfolgung eines Unterbeamten und vor Übereilung gesichert. Solche ,Sicherheit' weckt in ihm Lust und Mut, dem Gesetz gemäß zu leben." "Der Schuldige erblickt sein Vergehen 80
8.131.
81 8.117. 82
83
B4
8.12l. 8.133. 8.133 - 143.
I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
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erst dann in seinem wahren Licht, wenn sogar seinesgleichen das Schuldig über ihn aussprechen85." - Das "Hausrechtsverfahren" unter dem Vorsitz des Vorstehers, mit dem Hausverwalter als Ankläger und dem Katecheten als Verteidiger, läßt u. a. erkennen, welche Aufgaben Zeller dieser Gruppe von Mitarbeitern zusätzlich zuweistst . V. Anregungen und Vorbilder für die Vorschläge zu einem Progressivsystem Manche Einzelheiten des Zeller'schen Systems sind in der Gegenwart durchaus verständlich, so z. B. die Einteilung in drei Stufen, die Mitwirkung der Angehörigen der obersten Stufe bei der Ausgestaltung der Freizeit und dem Hausstrafverfahren sowie das Hausstrafverfahren selbst. Zeller erkennt, soweit ersichtlich, erstmals in dieser Form die Notwendigkeit einer Rechtsstellung des Gefangenen, wie sie später von Freudenthai wieder gefordert wurde87• Andere Vorschläge sind nur aus der gesamten philosophischen und pädagogischen Situation im Deutschland um 1824, im Zusammenhang mit den Folgen der napoleonischen Wirren und vor allem der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1813 zu erklären. Schließlich läßt sich ein volles Verständnis Zellers allein bei Berücksichtigung seiner Herkunft aus der württembergischen Stütsumwelt, aus seiner Begegnung mit dem Philanthropismus und der Wirkung von Leben und Lehre Pestalozzis auf den hochbegabten, aber gelegentlich auch ohne rechte Harmonie lebenden Menschen gewinnen. Wohl die einzige Periode im Leben Zellers, in der er, wenn auch nur für verhältnismäßig kurze Zeit, seine Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen und Wesentliches fördern konnte, umschließt seine bereits erwähnte Tätigkeit von Herbst 1809 bis Herbst 1810 als Leiter des Waisenhauses in Königsberg und Begründer eines National-Instituts für Lehrerausbildung für die Provinz Ostpreußen88• Seine Berufung nach Preußen verdankt Zeller den Empfehlungen von Pestalozzi88 und den Bemü86 811
S.143. S. 144 - 145.
87 Berthold FreudenthaI. Die staatsrechtliche Stellung des Gefangenen. Rede. 1910. Abgedruckt in: Zeitschrift für Strafvollzug 1955 (5) S. 157 - 166. 88 Emil Hollack u. Friedrich Tromnau. Geschichte des Schulwesens der Kgl. Haupt- und Residenzstadt Königsberg i. Pr. mit besonderer Berücksichtigung der niederen Schulen. 1899. S. 467 ff. 88 Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Pestalozzi an Zeller (gegen Ende Februar 1808) schreibt u. a.: Ich liebe, Zeller, ich achte Sie. Sie sind eines großen Tagwerks fähig. Man hat Sie erkannt, man will Ihre Arbeit. Bd. VI, 1962, S. 34 - 40. Pestalozzi an Nicolovius (April 1809) schreibt u. a .... Zeller hat Euren Ruf angenommen ... Ich habe gewöhnlich große Achtung für Zeller, er ist
4. Anfänge des Progressivsystemsund Vorschläge Carl August Zellers 119 hungen von Staatsrat Nicolovius90 • Pestalozzi's Lehre hatte gerade in Preußen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Widerhall gefunden und war durch Fichtes Reden an die deutsche Nation91 besonders bekannt geworden. Der zur Mitarbeit an dem Neuaufbau des preußischen Bildungswesens durch Friedrich Wilhelm IIL Berufene knüpfte während seiner Tätigkeit in Königsberg Beziehungen zu zahlreichen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, darunter zu Mitgliedern des Königshauses, zu Freiherrn vom Stein, zu Wilhelm von Humboldt, zu Theodor von Schön, dem späteren Regierungspräsidenten Ostpreußens und anderen9!. Aus seinen Königsberger Erfahrungen im Waisenhaus nahm Zeller offensichtlich mancherlei Anregungen in seinen "Grundriß ... ". Er hatte in dieser Anstalt einen "Kinderstaat"93 aufgebaut, war bestrebt, ein bis in alle - oft lächerliche - Kleinigkeiten geregeltes Internatsleben zu verwirklichen und die "Methode" der Anstalt zu entwicke1n94 . Im Sinne der gegenseitigen Erziehung war folgerichtig dem "Helfersystem" eine beachtliche Stellung eingeräumt96, die Zeller später auch auf das Leben in der Strafanstalt zu übertragen versuchte. Seine Pädagogik stand damit im Gegensatz zu der Familienerziehung, wie sie in den ersten Rettungshäusern geübt wurde98 . Zeller hatte wohl den Wunsch, seine Zöglinge möchten in ihm den "Vater", das Leitbild, sehen und übertrug diesen mit der Autoritätsperson verbundenen Respekt auf den Vorsteher der Strafanstalt97 • Keinesfalls unterschätzte er die Bedeutung der Werker der Nationen für Bildung, (aber kein) Bildner selber? Bd. VI, 1962. S. 165 - 167 (Pestalozzi kennt Zellers Schwächen). 90 Fritz FischeT. Ludwig Nicoloviwt. In: Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte. 1939 ... denn nicht eigentlich die Berufung Zellers war ein Mißgriff, als vielmehr der Modus dieser Berufung, und der geht direkt zurück auf Nicolovius. S. 277. 81 Johann Gottlieb Fichte. Reden an die deutsche Nation. 1808. Wir geben auf diese Frage (an welches vorliegende Glied die neue Erziehung anknüpfen solle) zur Antwort: an den von Johann Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausübung befindlichen Unterrichtsgang sol1 sie sich anschließen. Wir wollen diese unsre Entscheidung tiefer begründen und näher bestimmen. 9. Rede. 02 Feucht. eaTl August ZelleT .•. S. 35. 03 Preuß. Das Kgl. Waisenhaus zu Königsberg ... a.a.O. S. 166. 04 ZelleT. Unsere Kinderwelt. S. 49 ff. 95 ZelleT. Unsere Kinderwelt S. 164. Zeller nennt diese Helfer "Kinderbeamte", "kleine Lehrer", "Schulmeister". Dazu auch: G. A. Riecke. Artikel "Helfersystem". In: Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bd. 3, 1862. S.396. 06 Heinrich W. J. ThieTsch. Christian Heinrich Zeller'sLeben. Bd.l, 1876. S. 250 f. (C. H. Zeller ist der ältere Bruder von C. A. Zeller und der Begründer der Rettungsanstalt Beuggen.) Es geht C. H. Zeller darum "mit dem Anstaltsleben die Vorzüge des Familienlebens so viel wie möglich zu vereinigen". 07 ZelleT. Grundriß ... S. 47 - 52.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Persönlichkeit des Erziehers in der Erziehung, aber er war bestrebt, die Ablösung von diesem Vaterbild und die Selbsterziehung - unabhängig von einer Leitfigur - voranzutreiben88• Die von Zeller innerhalb seines Progressivsystems als Erziehmittel verwendeten "Meritentafeln" sind ebenso wie die "Wochen- und Monatsfeiern", die Benennung von "Ordnern" und "Aufsehern" mit aus den Einrichtungen des Internatslebens der Philantropisten verständlich. Da Basedow und Salzmann, die Führer dieser pädagogischen Richtung, Mitglieder freimaurerischer Organisationen waren oder wie Pestalozzi in enger Verbindung zu diesen Gesellschaften standen99, mögen diese Bezeichnungen aus dem diesbezüglichen Sprachgebrauch genommen sein 100 • Gerade mit dem Abdruck von "Arners Gutachten über KriminalGesetzgebung" versuchte Pestalozzi,das schwierige soziale Problem: "Verbrecher und Gesellschaft", "Behandlung der GefangenEm und Fürsorge für deren Angehörige" diesen Kreisen nahezubringen101 • Die Mitgliedschaft zu einer Loge hat sich bei Zeller nicht nachweisen lassen. VI. Beurteilung der Vorschläge von Zeller in bezug auf das Progressivsystem als Mittel der Gefangenenbehandlung durch Zeitgenossen. Der Ende des Jahres 1823 ausgedruckte "Grundriß ... " wurde von Zeller alsbald König Wilhelm I. von Württemberg überreicht, denn Zeller fühlte sich seiner Heimat eng verbunden, obwohl er während seiner langen Wanderjahre vor allem in der Schweiz und in Preußen tätig geworden war. Der König nahm die Gabe huldvoll entgegenlOI • Wie aber war das Echo in der Öffentlichkeit, vor allem in den Kreisen der am Strafvollzug Interessierten? Darüber ist wenig bekannt. Ein "Seelsorger einer Strafanstalt", der Stadtpfarrer Jäger aus SchwäbischGemünd, unterbreitete alsbald nach Erscheinen der Zeller'schen Veröffentlichung dem König Wilhelm I. von Württemberg "eine kurze Prüfung" der Zeller'schen Vorschläge in Buchform103 und begründet dies 88 Wilhelm un.d Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd.III S.283. Brief von Wilhelm von Humboldt vom 27. XI. 1809~ 19 Herbert Schönebaum. Pestalozzi, die Illuminaten und Wien. In: Sitzungsberichte der preuß. Akademie der Wissenschaften. Philosoph, hist. Klasse vom 23. Februar 1928 (VI) S. 86 - 106. 100 Gustav Radbruch. Das Strafrecht der Zauberfiöte. In: Geistige Welt. 1946 (1) S. 23 - 30. (Zu dem Einfluß dieser Bewegung auf das Strafrecht.) 101 Albert Krebs. Johann Heinrich Pestalozzi und das Strafvollzugsproblem. In: Zeitschrift für Strafvollzug. 1952/53 (3) S.19. 102 Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Archivalien L. O. III. 77/9. 103 Viktor August Jäger. Die Strafanstalt, wie sie seyn soll nach den Vorschlägen des Herrn C. A. Zeller. Königl. preußischen Ober-Schul-Raths, dargestellt und geprüft von V. A.. Jäger, evangel. Stadt-Pfarrer in Gemünd und Seelsorger an der Königl. württemb. Strafanstalt zu Gotteszell. 1824.
4. Anfänge des Progressivsystem:s und Vorschläge earl August Zellers 121 damit, daß;,sozweckmäßig die meisten sind, doch manche derselben eine Berichtigung zu bedürfen scheinen"tO'. Jäger faßte in seiner Schrift auch die Gedanken Zellers zum Stufenstrafvollzug in wenigen Seiten zusammen und verwendete dabei vor allem Worte und Sätze aus Zellers Sprachschatz, eine Kritik fügt er hierbei nicht an, obwohl er andere Stellen freimütig kritisiertetOll. Das Hauptanliegen Jägers ist offensichtlich, die Praxis der Entlassenenfürsorge im Königreich Württemberg zu fördern, hierzu unterbreitet er unter Bezug auf die diesbezüglichen Vorschläge im "Grundriß ... " seinem Könige im wesentlichen nur ergänzende Hinweise lO8. - Weitere PUblikationen zum "Grundriß ... " aus den zwanziger Jahren sind nicht bekannt. In einer, auch die Veröffentlichungen zur "Gefängnißkunde" erfassenden zeitgenössischen Bibliographie druckte Ristelhueber sowohl den Titel von Zellers "Grundriß ... " als auch von Jägers "Die Strafanstalt ..• " ohne Kommentarab l07 . Zwei weitere Stellen sollen hier erwähnt werden, aus denen hervorgeht, wie Zeller von Persönlichkeiten, die auf dem Gebiet des Gefängniswesens zur gleichen Zeit eine führende Rolle innehatten, sei es als Mensch, sei es als Sachkenner gewertet wurde. Der Biograph von Theodor Fliedner, dem Begründer der RheinischWestfälischen Gefängnisgesellschaft im Jahre 1824, dem Erscheinungsjahr des "Grundrisses ... , berichtet, wie an Fliedner "noch einmal die Versuchung heran(trat), das Pfarramt aufzugeben. Als er Anfang Dezember 1822 nach Köln kam, um auch hier für seine Gemeinde (Kaiserswerth) zu werben, hielt gerade der frühere preußische Oberschulrat earl August Zeller Vorlesungen für Lehrer über das Volksschulwesen. Fliedner wohnte seinem Vortrag am 11. Dezember bei. Die Begeisterung, mit der Zeller aus seinem Leben und Wirken erzählte, packte ihn so, daß er (der Zweiundzwanzigjährige) unwillkürlich von dem Gedanken ergriffen wurde, "ob nicht das Lehramt an einem Schullehrerseminar von weiterer größerer Wirksamkeit wäre, als mein Pfarramt"108. Wie weit mögen ihn aber die Ansichten Zellers über Gefangenenbehandlung beeinflußt haben? Diese Frage bleibt offen. Noch ein anderer Gefängnisreformer, Nicolaus Heinrich Julius, der sich als Philanthrop in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem 104 Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Archivalien. L. O. ur 77/9. A 5, 105 Jäger. Die Strafanstalt. S. 30 - 34. 108 Jäger. Die Strafanstalt. S. 41 - 50. 107 J. B. RistelhuebeT. Wegweiser zur Literatur der' Waisenpftege, des Volks-Erziehungswesens, der Armenfürsorge, des Bettlerwesens und der Gefängniskunde. Bd. 1. 1831, S. 182 u. S. 185. 108 Martin GeThaTdt. Theodor FliedneT. Bd. 1. 1933, S.107/108.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Gebiet des deutschen Gefängniswesens und darüber hinaus einen Namen gemacht hatte, anerkennt Zeller als Sachverständigen. In den Vorlesungen über Gefängniskunde109, die N. H. Julius Frühjahr 1827 vor dem Kronprinzen von Preußen hielt, erwähnt er verschiedentlich die "Klassenabtheilung der Gefangenen" und betont: "In den Besserungshäusern giebt es nur drei Klassen, die sich am besten, nach des vortrefflichen Zeller's Vorgang, durch die Benennungen Probeklasse, Bewährklasse und Vorbereitklasse unterscheiden lassen110 ." N. H. Julius bezieht sich tin seinen weiteren Vorlesungen wiederholt auf Zellers Vorschläge "wie die Einrichtung dieser (Besserungshäuser) aber zu treffen sey, ergiebt sich bereits aus dem Vorstehenden .zur Genüge, und ich kann daher, nochmals auf das Zeller'sche Buch zur Ergänzung des in gegenwärtiger Vorlesung Enthaltenen verweisend, dieselbe schließen" 111. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß ein Auswerten theoretischer Erkenntnisse bei der Behandlung von Gefangenen mit dem Ziele ihrer gesellschaftlichen Ertüchtigung hinsichtlich der praktischen Reformarbeit zweierlei bedingt. Einmal muß eine Konzeption, ein Prinzip herausgearbeitet und dann ein System mit Methoden entwickelt werden. Zum anderen bleibt die Verwirklichung jeglicher Systematik abhängig VOn den Personen, die sie noch einmal durchdenkend übernehmen.
109 Nikolaus Heinrich Julius. Vorlesungen über die Gefängnißkunde oder über die Verbesserung der Gefängnisse und die sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge usw., gehalten im Frühlinge 1827 zu Berlin. 1828. ~ Beneke. Nikolaus Heinrich Julius. Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 14, 1881. S. 686 - 689. 110 Jutius. Vorlesungen ... S. 119. 111 Jutius. Vorlesungen ... S.225.
5. Nikolaus Heinrich Juliusl "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde .•."2 gehalten 1827 zu Berlin. Eine Studie* I. Mit den "Vorlesungen" trat eine Persönlichkeit vor die Öffentlichkeit, die auf dem Fachgebiet bisher unbekannt war. Sie legte, erstmals in der Entwicklung d~ Gefängniswesens in Deutschland, eine systematische Darstellung der "Gefängnis-Kunde" als Teil einer Gefängniswissenschaft vor. Die 1827 gehaltenen und 1828 veröffentlichten Vorlesungen befassen sich mit einem Gegenstand, für den JuZius die Bezeichnung "Gefängniß-Kunde" anwendete .. Er bekannte später, daß ihm damit "das Glück: geworden ist, für das bereits lang und vielartig empfundene Bedürfniß einer Wissenschaft der Gefängnisse, das freundlichst aufgenommene Wort zu finden ... "3.
* Erschienen in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 56. Jg. (1973), S. 307 - 315. 1 'über Julius äußerte sich auch Rudolf Sieverts, der Jubilar, dem diese Studie vom Verfasser aus fast fünfzigjährigem Zusammenwirken an den Zielen einer Erneuerung der Gefängniskunde gewidmet ist, gelegentlich der Herausgabe der "Schriften zur Gefängnisreform Johann Hinrieh Wiehern's". Er stellte fest: "Eine Monographie über das Leben, Wirken und den WiderundNachhall von Julius sowie eine in die Einzelheiten gehende Untersuchung des Umfangs und die Tiefe seines Einflusses auf Wiehern steht noch aus." In der vorliegenden Studie wird nicht versucht, diese Monographie zu schreiben, wohl aber, aus jahrzehntelanger Befassung mit dem Thema, besonders in eigenen Vorlesungen, Unterlagen hierfür zusammenzustellen. Johann Hinrich Wichern. AuSgewählte Schriften. Bd.3: Schriften zur GefängniSreform. Hrsg. von Rudolf Sieverts.. Gütersloh, 1962, S. 9, Anm. 2. 2 Das Titelblatt der im Druck erschienenen Vorlesungen gibt zugleich Aufschluß über Inhalt und Vorgeschichte. Der Text lautet: "Vorlesungen über die Gefängniß-Kunde, oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge u; s. w., gehalten im Frühlinge 1827 zu Berlin, von Nikolaus Heinrich Julius d(er) A(rzneikunde) Dr. Erweitert herausgegeben, nebst einer Einleitung über die Zahlen, Arten· und Ursachen der Verbrechen in verschiedenen europäischen und amerikanischen Staaten u. s. w. (CLXVIII u. 368 S.) mit acht und dreißig Beilagen und vier Steindrücken, BERLIN in der Stuhrschen .Buchhandlung, 1828." - Die dem Text vorangestellte Widmung lautet: "Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen von Preußen, Friedrich Wilhelm, mit gnädigster Erlaubniß ehrfurchtsvoll gewidmet von dem Verfasser." - Eine französische 'übersetzung des Werkes erschien 1831 in Paris: "Lec;ons sur les prisons presentes en forme de cours au public de Berlin en l'annee 1827, ouvrage traduit de l'allemand par H. Lagarmitte, avocat, accompagne de plusieurs notes du tradueteur et de M. Mittermaier, professeur." In: Archiv des Criminalrechts Bd. XII. 1830. S. 668.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
11. Bei den Forschungen nach der Vorgeschichte dieser Vorlesungen ergab sich eine enge Verflechtung des Einzelschicksals des Autors mit den Bewegungen seiner Zeit. Die klassischen Werke über Gefängniskunde geben einen überblick hierüber. K. Krohne (1889) kennzeichnet Julius: Er drängte seit 1827 in Wort und Schrift auf eine Gefängnisreform in Preußen4 , Kriegsmann (1912) nennt ihn "Pionier der Gefängnisreform"li, Mittermaier (1954) erwähnt ihn bei Gefängnisbau6 und E. Schmidt spricht in seiner Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (1965) davon, daß Julius viel beachtete, auch vom Kronprinzen, dem nachmaligen Friedrich Wilhelm IV., besuchte Vorlesungen über Gefängniskunde hielt7• In seinem Referat "Die Aufgaben des Freiheitsstrafvollzugs. Ideen - und begriffsgeschichtliche Bemerkungen", gehalten auf der 6. Arbeitstagung der Strafvollzugskommission des Bundesjustizministeriums im April 1969, deren Vorsitz der Jubilar führte, versuchte Verfasser das Ziel der Gefangenenbehandlung herauszuarbeiten. Er erwähnte dabei Julius, der "moralische Besserung", d. h. Moralität, gefordert hatte8 • Wenn auch auf die Zeitgeschichte, insbesondere die der zwanziger Jahre des XIX. Jahrhunderts, hier nicht näher eingegangen werden kann, so sei doch versucht, in großen Zügen das Leben von Julius zu umschreiben. Die erste Auflage der "Allgemeinen Deutschen Biographie" enthält einen Beitrag über Julius von Beneke. Eine Neubearbeitung für die zweite Auflage erfolgte vom Verfasser des vorliegenden Textes'. Nikolaus Heinrich Julius, der einzige Sohn des Bankiers Isaak Julius, wurde am 3. Oktober 1783 zu Altona geboren und erlebte, wie auch 3 Nikolaus Heinrich Julius. Besprechung von: Lindpaintner. über das pennsylvanische Gefängnissystem. In: Jahrbücher der Gefängnislrunde und Besserungsanstalten. Hrsg. von N. H. Julius, Fr. Noellner u. G. Varrentrapp. Frankfurt am Main, Bd. 1, 1842, S. 315. 4 Karl Krohne. Lehrbuch der Gefängniskunde ... Stuttgart, 1889. S.161, Anm.6. Ii Hermann Kriegsmann. Einführung in die Gefängnislrunde. Heidelberg, 1912. S.59 . • Wolfgang Mittermaier. Gefängniskunde. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Berlin, 1954. S. 42. Anm. 5. 7 Eberhard Schmidt. Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. III. Auft. Göttingen, 1965. S. 350. 8 Albert Krebs. Die Aufgaben des Freiheitsstrafvollzuges. Ideen- und begriffsgeschichtliche Bemerkungen. Tagungsberichte der Strafvollzugskommission. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz. Bd. VI. Bonn, 1969, S. 48 - 7l. Abgedruckt: Monatsschrift für Kriminologie ..., 1970 (53) 150 ff. 9 Otto Beneke. Nikolaus Heinrich Julius. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Leipzig, 1881, S. 686 - 689. - Albert Krebs, Nikolaus Heinrich Julius. In: Neue Deutsche Biographie. München. 1974. S. 656 - 658.
5. Nikolaus Heinrich Julius "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" 125 seine ihm nahestehende einzige Schwester Henriette, im Elternhaus eine im jüdischen Glaubensleben wurzelnde sorgfältige Erziehung. Nach Abschluß der Schulzeit am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin (1803) began er eine kaufmännische Lehre. Er brach sie ab und bezog im Sommersemester 1805 die Universität Heidelberg. Dort studierte er bis einschließlich Sommersemester 1808 Arzneikunde lO • Im Wintersemester 1808 ließ er sich in Würzburg einschreiben, wo ihm im April 1809 die "medicinische Doktorwürde" erteilt wurde11 • . Die Heidelberger Zeit bedeutete. für den wachen Studenten nicht nur eine Periode der Aufnahme des Wissensstoffes seines Studienbereichs, sondern das Miterleben des Daseins eines Heidelberger Studen., ten, mitbedingt durch die Heidelberger Romantik. Sie war damals durch J. Görres repräsentiert, dessen Vorlesungen Julius ebenfalls besuchte. In diese Lebensperiode fallen auch, wie Briefwechsel es belegen, die wichtigen Begegnungen mit J. von Eichendorff und C. I. A. Mittermaier. EichendoTff ist dabei der Partner, der die Interessengebiete Fremdsprachen und Literaturkunde fördert, während Mittermaier Anregungen aus dem Gebiet der Strafrechtspflege gibtlZ• Eine tiefe Gläubigkeit, wohl auch Bindungen an die Romantik und die Freundschaft mit Eichendorff, mögen bei dem Entschluß mitgewirkt haben, wenige Wochen nach der Promotion, in Würzburg, vom jüdischen Glauben zur römisch-katholischen Kirche überzutreten". Julius blieb ihr sein Leben lang treu. Seine Schwester schloß sich der evangelisch-lutherischen Kirche an. Wie aus einem späteren Briefwechsel der Geschwister hervorgeht, bedeutete der übertritt zu einem der beiden christlichen Bekenntnisse nicht eine materiell bedingte Zweckhandlung. Religion war für Julius die Basis des Lebens. Eine Behinderung bei der Ausübung seines Berufes als Jude hätte er in Kauf genommen. Allein in Kenntnis von diesen inneren und äußeren Gegebenheiten wird sein weiterer Lebensweg verständlich. Nach Beendigung dieser Ausbildungs- und Entfaltungsperiode kehrte
Julius nach Hamburg zurück und widmete sich als Distriktsarmenarzt
Matrikel der Universität Heidelberg. S. 4. Matrikel der Universität Würzburg. 1922. S. 889. - Fränkische Chronik. 1809. S. 254. 12 Hans Brandenburg. Joseph von Eichendorff. München, 1922. S. 116, 121, 135. - Walter Reiprich. Eichendorff in Heidelberg. In: Heidelberger Jahrbücher. Hrsg. von der Universitätsgesellschaft. Bd.12. Heidelberg/Berlin, 1968. S. 112 - 134 - Götz Landwehr. Karl Joseph Anton Mittermaier. In: Heidelberger Jahrbücher. Bd. XII. S. 29 - 55. 13 Domstiftspfarrei Würzburg. Eintrag. Bd. 83. 1809. Nach Mitteilungen der Universitätsbibliothek vom 24. November 1973. - David August Rosenthal. Dr. Nikolaus Heinrich Julius. In: Convertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert. Bd. I. Deutschland. Schaffhausen, 1866, S. 139 -144. 10
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
der ärztlichen Praxis in seiner Vaterstadt. Dies blieb ihm Hamburg lebenslang, wohin es ihn auf seinen Studienreisen auch trieb. Dabei knüpfte er daheim und in der Fremde vielfache Beziehungen an und fand zahlreiche Freunde und Förderer wie in Hamburg HudtwalekeT, Sieveking und Wiehern und in Berlin Bettina von Arnim und Hitzig. In den durch Napoleon mitbedingten Wirren der Zeit nahm er auch Verbindung zu PeTthes auf, in dessen "Vaterländischem Museum" er 1810 seine "Betrachtungen über Amerika" veräffentlichte14 • Dabei ging er als Naturwissenschaftler von Betrachtungen über geologische und geographische Gegebenheiten aus, tim dann die Bevölkerung in ihrer politischen und religiösen Haltung zu kennzeichnen. Schließlich kommt er auf Deutschland und dessen geopolitische Probleme zu sprechen, .er betont demonstrativ: "Deutschland, dem noch itzt anzugehören, unser höchster Stolz ist15." Hatte ihn das erste Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts als Helfer der Kranken und als Christ geprägt; so glaubte er, sich nach 1810 seinen Pflichten als Bürger nicht entziehen zu können. Das kriegerische Geschehen der Zeit erlebte er in der Hanseatischen Legion als Freiwilliger in der Eigenschaft eines Stabs- und Brigadearztes mit16• Danach widmete sich JuZius wieder seinen fachlichen Aufgaben in Praxis und Theorie. Von 1821-1835 redigierte er mit einem Kollegen das "Magazin der ausländischen Literatur der gesamten Heilkunde", wozu ibn auch seine Kenntnis verschiedener Sprachen besonders befähigte. Daneben befaßte er sich, wohl im Nachklang der in Heidelberg erlebten Romantik, mit dem Studium der "Altertümer und Sprachen aller Völker germanischen Ursprungs" und veröffentlichte im Jahre 1817 deren Ergebnisse. In einer späteren Betrachtung "Mildtätigkeit und Freiheit" folgerte er: "Der nämliche germanische Geist nun, welcher als Frucht der Freiheit die Werke der Milde hervorrief, dessen Wirklichkeit in Holland und England so herrlich emporleuchtet, hat auch in der neuen blühenden, vom letztgenannten Reiche ausgegangenen Schöpfung der nordamerikanischen Freistaaten, ähnliche Früchte getragen .. .17." - So stehen Sprachforschung, Armenwesen und später Gefängniswesen für Julius in einem engen, aber zugleich weltweiten Zusammenhang, und er bleibt bestrebt, die wechselseitigen Bedingungen zu kliiren18 • 14 Nikolaus Heinrich Julius. Betrachtungen über Amerika. In: Vaterländisches Museum. Hrsg.. von Friedrich Perthes. Gotha, 1810. S. 288 - 298. 16 Julius. s. Anm.14. S.294. 18 Beneke. s. Anm. 9. S. 686. 17 Nikolaus Heinrich Julius. Mildtätigkeit und Freiheit. In: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten. Bd. 8. Frankfurt am Main, 1846. S. 3 - 13.
5. Nikolaus Heinrich Julius "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" 127 In die Periode der zwanziger Jahre fällt für Julius die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem "Gefängnis". Wer sie anregte, gibt Julius später selbst, und zwar in einer ausführlichen Widmung zu einer Publikation, an Dr. Hufeland in Berlin bekannt: "Sie waren es, der, als ich im Begriffe stehend, von Hamburg zur Untersuchung der britischen Wohltätigkeitsanstalten aller Art über das Meer zu schiffen, zu Anfang des Jahres 1825 bei Ihnen anfragte, inwiefern es mir vielleicht möglich sein dürfte, bei dieser Untersuchungsreise dem Preußischen Staate nützlich zu werden, meine Aufmerksamkeit insbesondere auf Britanniens große Verbesserungen im Gefängniswesen hinlenkte .... Ihnen, dem Kenner und Forscher der menschlichen Natur, verdanke ich also den Ruf zur Arbeit für eine Wissenschaft, die, so Gott will, Inhalt und Zweck des mir noch übrigen Lebens abgeben wird l9 ." Julius berichtet von dieser ersten Studienreise nach England, Irland und Schottland, er habe dabei das Glück gehabt, mit einer seltenen und unbeschränkten Offenheit, Güte upd Freundlichkeit aufgenommen und in seinen Forschungen von zahlreichen Männern aus allen Ständen unterstützt und geleitet zu werden!o. Zu diesen Persönlichkeiten gehörten u. a. Elisabeth Fry, die Begl-ünderin der Besuchsvereine für Gefangene, und WiUiam Crawford, der spätere Generalinspektor der Großbritaruiischen Gefängnisse, ein Mitstreiter für das pennsylvanische System. Noch mit der Auswertung der gelegentlich dieser Studienreise gesammelten Unterlagen befaßt, erhielt Julius in Hamburg den Besuch von Hitzig, Kriminalrat aus Berlin und Herausgeber der "Annalen der deutschen und ausländischen Criminalrechtspflege". Darin berichtet Hitzig, wie er Gelegenheit gehabt, einen Blick in den Schatz von Materialien zu tun, den Julius von seiner Reise heimbrachte. Er machte den zur Stiftung eines Vereins für die Besserung der Strafgefangenen in Berlin zusammengekommenen Männern den Vorschlag, "Herrn Julius für eine Reihe von Vorlesungen über dasjenige, was er auf seinen Reisen gesehen und erfahren, hierher (nach Berlin) zu berufen". Julius folgte "willig" und "hielt dort vor einem glänzenden Auditorium zwölf Vorträge über das Gefängniswesen"!I. 18 Nikolaus Heinrich Julius. Das Werk- und Armenhaus in Hamburg. In: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten. Bd.9. Frankfurt am Main, 1846. S. 128 - 134. . . l' Nikolaus Heinrich Julius. "Vorrede" zu: Amerika's Besserungssystem und dessen Anwendung auf Europa. Aus dem Französischen der Herren G. v. Beaumont und A. v. Tocqueville, nebst Erörterungen und Zusätzen. Berlin, 1833. S. V. 20 Julius. s. Anm.2. Einleitung S. XI. 21 Annalen des deutschen und ausländischen· Criminalrechts-Pflege. Hrsg. von Hitzig. Bd. H. Berlin, 1828. S. 425.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens III.
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in den zwölf Vorlesungen bot JuliuS seinen Hörern, unter denen sich,
wie. erwähnt, der spätere König FTiedrich Wilhel~ IV. befand, sein Wissen an, über "die.Verbe~serung der Gefängnisse, sittliche Beiiser\mg der Gefangenen, entlassenen und jugendlichen Verbrecher, Verbrecher';' kinder usw., mit einem Worte über eine dereinst zu begrilndende Ge,. fängniswissenschaft, für welche ich tief fühle, nur erst die· Bauhütte hingestellt zu haben"2!. Weiter kündigte er an, er werde, "da die:Erfahrting auch hier den sichersten Leitfaden durch dieses DädaliSche Labyrinth des Elendes und der Sünde gewähren muß, Angaben über die Zahlen und Arten der Verbrechen und über die, aus mancherlei stets anzuführenden amtlich~n Quellen gesammelten Anklagen und Verurteilungen im Verhältnisse zur Bevölkerung verSchiedener Staa-:ten, zusammenstellen, sie riickschauend. mit dem Zustande der religiösen, sittlichen und wissenschaftlichen Bildung der Völker, so wie ihres Wohlstandes vergleichen und endlich ... eine anerkennende AUf... zählung der Zahl und Beschaffenheit im jenen, so wie der bereits beste... hendEm oder im Werden begriffenen Gefängnisgesellschaften" anschließen23 . Mit den Zahlenangaben über Straftaten, den Ursachenforschungen und Lagedarstellungen in Gefängnissen setzte sich JuliiLs Ziele der Moralstatistik, der Kriminologie und der Gefängnisktinde, wobei er alle Daten und überlegungen in den Oberbegriff "Gefängniswissenschaft" einordnete. Bei der Wiedergabe des Wesentlichsten aus den zwölf Vorlesungen ist hier keinesfalls Vollständigkeit angestrebt. Das Ziel von Julius war, die Grundtendenzen der Gefängniswissenschaft herauszuarbeiten und damit zugleich Richtlinien für sein Wirken auf diesem Aufgabengebiet zu gewinnen. Mit dem einschränkenden Hinweis auf die Zeitdistanz von rund 150 Jahren kann gesagt werden, daß seine Programmpunkte ihren Platz in der Entwicklung behielten. Nach einer ausführlichen Einleitung werden zwölf Themen behandelt. Das Gewicht der Ausführungen liegt in dem Hinführen zum Verständnis .des Gewordenen. Der geschulte Doktor der Arzneikunde hatte, so.,. weit aus seinen eigenen mündlich oder scl1rütlich geäußerten Ansichten und aus dem Zeugnis Dritter hervorgeht, keine praktische Erfahrung in der Gefangenenbehandlung. Wohl aber besaß er besonders ausgeprägtes Einfühlungsvermögen in die Sondersituation, gerade auch in England. In der Einleitung, die rund 150 Seiten umfaßt, behandelt Julius die Themen: Zahl und Art der begangenen Verbrechen und deren Ver22 23
Julius. s. Anm. 2. S. XIII. Julius. s. Anm. 2. S. XIV.
5. Nikolaus Heinrich Julius "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" 129
hältnis zur Volksmenge in den damaligen europäischen und amerikanischen Kulturnationen. Der Abschnitt über Verhältnis der Verbrechen zum Glauben, zum Wissen und zum Haben der verschiedenen Völker fügt sich an. Den Abschluß bilden Zahlenangaben über Gefängnisse in den erwähnten Staaten. Die vier ersten Vorlesungen, die, wie auch die restlichen acht, je rund 20 Druckseiten beanspruchen, geben die historische Rückschau auf das Problem "Gefängnis als Strafanstalt". Dabei werden die Fragen der Entwicklung des Strafrechts der Griechen und der Römer sowie der Angelsachsen gekennzeichnet. Julius legt die Tätigkeit von John Howard dar. Dabei wird deutlich, daß dieser ihm selbst als Vorbild diente. Howard trug durch seine Gefängnisbesuche, durch die Veröffentlichung der dabei gewonnenen Einsichten (1777) und die anschließende Öffentlichkeitsarbeit, auch im Parlament, mit dazu bei, daß in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts von einem "durch ganz Europa gehenden Geist der Milderung der Strafen" gesprochen werden konnte 24• In der vierten Vorlesung verweist JuZius auf die "menschenfreundliche" Tätigkeit der Quäker in den Gefängnissen Pennsylvaniens und legt die Form der Mitwirkung dieser freigesellschaftlichen Kräfte offen. Schließlich berichtet er über Neuerscheinungen auf dem Fachgebiet der Gefängniskunde. Dabei wird auch die eigene Grundhaltung zum Gefängnis deutlich. Später schrieb er: "Es steht fest, daß die Gefangenschaft ein widernatürlicher Zustand ist, mithin, abgesehen von weiterhinzutretenden Einflüssen schon an und für sich nachteilig auf den Körper wirkt25." Aus dieser Grundhaltung heraus befaßt sich die fünfte Vorlesung mit den äußeren Bedingungen eines "guten Gefängnisses", der Gesundheit der Gefangenen und den allgemeinen Pflichten des Gefängnisarztes. Die sechste und siebte Vorlesung behandeln interne Anstaltsfragen, wie die der Aufsicht, der Sicherheit, der Trennung nach Geschlecht und Alter, der Differenzierung und der Klassifizierung. Dabei empfiehlt JuZius, nach den Prinzipien von C. A. ZelZer, die Einrichtung einer Beobachtungs-, einer Bewähr- und einer Vorbereit- oder Besserungsklasse. Schließlich behandelt er das Problem der Arbeit und Fragen des "religiös-sittlichen" Unterrichts26• - In der achten und neunten Vorlesung werden Fragen der Gefängnisbaukunst von ihren Anfängen bis zur Gegenwart erörtert und darauf verwiesen, daß eine besondere 24 25
Julius. s. Anm. 2. S.25. Nikolaus Heinrich Julius. Bericht über den Gesundheitszustand des
Correktionshauses St. Bernhard (bei Antwerpen). In: Jahrbücher ... s. Anm. 17, S.179. 28 Albert Krebs. Von den Anfängen des Progressivsystems und den Vorschlägen earl August Zellers. In: Erinnerungsgabe für Max Grunhut. Hrsg. von H. Kaufmann, E. Schwinge u. H. Welzel. Marburg, 1965. S. 93 - 110. 9 Freiheitsentzug
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Art der Behandlung auch eine spezielle Form der Bauwerke erfordere. - Gerade für die Klärung dieser Fragen setzte sich Julius später mit aller Kraft ein. Die beiden anschließenden Vorlesungen, zehn und elf, gaben ihm Gelegenheit, die Darstellung der "Besserungsmittel", wie sie in der fünften und sechsten erörtert wurden, zu vertiefen. Insbesondere weist Julius auf die Bedeutung der "Besuchsvereine" hin und widmete diesem Thema überwiegend die zwölfte und letzte seiner Vorlesungen. Eine Äußerung von John Howard bildet den Abschluß: "Auf meinen Reisen zur Untersuchung fremder Gefängnisse war ich zuweilen genötigt, für mein Vaterland zu erröten." Es folgt dann die Mahnung: "Die unsrigen Gefängnisse verbessert zu sehen, nicht bloß träumerisch abzunehmen." Darin liegt .die Aufforderung zur Mitarbeit, z. B. in den Besucbsvereinen. Howard verweist weiter darauf, er wolle weder unbedingte Bewunderung alles Ausländischen, noch Freude am Tadel alles dessen, was wir in unserem Lande besitzen. Er schließt mit dem Satze: "Dort, wo ich empfohlen habe, da habe ich auch meine Gründe angeführt, warum ich es tat, und ich habe vielleicht länger bei den Einzelheiten ausländischer Gefängnisse verweilt, weil es erfreulicher ist zu loben als zu tadeln27." - Seinen gedruckten Vorlesungen fügt Julius noch rund 100 Seiten Beilagen und Anmerkungen an. Am Schlusse dieser knappen Wiedergabe des Inhaltes des Werkes, das den Titel dieser Studie gibt, stellen sich für die Gegenwart verschiedene Fragen. Einmal: wie haben diese Vorlesungen auf die Hörer, auf die "Gesellschaft", auf den Monarchen, der durch seinen Sohn vertreten war, und nach Drucklegung über diese Kreise hinaus gewirkt? Dann: welche Grundhaltung zu den Problemen der Zeit läßt sich weiter herausarbeiten?
IV.
Mit den "Vorlesungen über die Gefängniskunde" hatte sich Julius für die Mitarbeit an der Reform des Gefängniswesens entschieden. Er blieb bestrebt, als "Seelenarzt, Christ und Bürger" darin tätig zu bleiben28 • In seinem Berufsleben, das 1849 ein Ende fand, hielt er an den 1827 entwickelten Leitgedanken fest, ohne abzulehnen, hinzuzulernen. Nicht immer ist zu erkennen, wie seine Entscheidungen die der Fachwelt und der Öffentlichkeit mitbestimmten. Sein Wirken sei an einigen Beispielen dargestellt. 27 John Howard. The state of the prisons in England and Wales, with preliminary observations and an account of some foreign prisons. Warrington, 1777. p.146. 28 Nikolaus Heinrich Julius. Beiträge zur Britischen Irrenheilkunde aus eigenen Anschauungen im Jahre 1841. Berlin, 1844. Widmung.
5. Nikolaus Heinrich Julius "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" 131 Wie aus dem Bericht von Hitzig, der 1827 die Einladung zu den Vorlesungen nach Berlin veraniaßt hatte, weiter hervorgeht, konnte die Gründung des "Berliner Vereins für die Besserung der Strafgefangenen" 1828 erfolgen29 • Es war dies der zweite Verein in Preußen, der vor rund 150 Jahren die heute mit "Straffälligenhilfe" bezeichneten Aufgaben übernahm. Dank der Initiative von Theodor Fliedner bestand seit 1826 die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft mit Sitz Düsseldorf30 • Beide Vereine mit ihren Tochtergesellschaften leisteten im Westen und Osten der preußischen Monarchie Straffälligenhilfe31 • FZiedner und Julius hatten den Anstoß zu Besuchsvereinen von EZisa.beth Fry erhalten und hielten untereinander Verbindungs2• In den Jahren 1828 -1833 gab Julius zehn Bände "Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge, und anderer Werke der christlichen Liebe" heraus. Es geschah dies mit der Absicht, die Reform in all den im Titel genannten Bereichen voranzutreiben. Im Schlußwort zum letzten Bande teilt er den Lesern mit, daß die "hoffentlich nicht spurlos vorübergegangenen Jahrbücher" ihr Erscheinen einstellten, weil ihr Herausgeber eine Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika antreten wolle. "Möchte es ihm dann vergönnt sein, einst bei seiner Rückkehr, das vorgefundene Nützliche und Bewährte aus der Fremde in die Heimat herüberzubringen und in deutscher Sprache die Lehren und Beispiele des Guten wiederklingen zu lassen, welche dem Auslande zu verdanken, unser Volk bisher niemals verschmäht hat33 ." Die Reise war nicht nur durch gründliches Studium der Fachberichte anderer Reisender nach Nordamerika sorgfältig vorbereitet, sondern auch durch übersetzen des Werkes von G. v. Bea.umont und A. v. Tocqueville: "Amerika's Besserungs-System und dessen Anwendung auf Europa 34 ." - Seinen eigenen Reisebericht veröffentlichte Julius 1839 in zwei Bänden unter dem Titel: "Nordamerika's sittliche Zustände. Nach eigenen Anschauungen in den Jahren 1834, 1835 und 1836." Er211
30
Hitzig, s. Anm. 21. S. 425. Martin Gerhardt. Theodor Fliedner. Bd. I. Düsseldorf-Kaiserwerth,
1933, S. 181.
31 Ernst Rosenfeld. Geschichte des Berliner Vereins zur Besserung der Strafgefangenen, Berlin, 1901. S.222. - Ernst Ros'enfeld. Zweihundert Jahre Fürsorge der Preuss. Staatsregierung für die entlassenen Gefangenen. Berlin, 1905. - Walter Rathenau. Zum Begriff "Besserung". In: Gustav Radbruch. Lesefrüchte. Zeitschrift für Strafvollzug, 1952/53 (3) S. 179 f. 32 Gerhardt. s. Anm.30. S. 256. - Brief von N. H. J. an Th. Fliedner, Berlin, 12. Januar 1833. Fliedner-Archiv. Düsseldorf-Kaiserswerth. SI Nikolaus Heinrich Julius "Schlußwort". In: Jahrbücher der Straf- und Besserungsanstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge und anderer Werke der christlichen Liebe. Hrsg. N. .H. Julius. Berlin, 1833. S.382. 34 Julius. s. Anm. 19.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
neut erwies er darin seine Meisterschaft bei der Fühlungnahme mit Fachvertretern, den Besuchen von Gefängnissen, der kritischen Beobachtung, der Sammlung und Auswertung von Unterlagen35 • Ein Brief von dieser Reise an seinen Studienfreund Mittermaier sei Beleg für die stets sachliche Haltung von Julius. In diesem Schreiben nahm er Stellung zu einem der damaligen Hauptstreitpunkte, der Anwendung des pennsylvanischen (oder philadelphischen) und des newyorkschen (oder auburnschen) Systems. Das erstere forderte bei Tag und Nacht Trennung der Gefangenen voneinander bei Arbeitszwang, das zweite die Trennung bei Nacht, aber Gemeinsamkeit bei Tage während der Arbeitszeit bei streng durchgeführtem Schweige gebot. Die Fachwelt anerkannte einstimmig das Prinzip der Trennung zur Vermeidung negativer Beeinflussung der Gefangenen untereinander. Meinungsstreit bestand über Art und Dauer der Trennung. - JuZius schrieb: "über die beiden Systeme will ich mich, ehe ich Alles gesehen habe, nicht aussprechen38." Nachdem er "Alles" gesehen hatte, bekannte er wiederum Mittermaier gegenüber: "Das auburnsche System, welches ich, wie Du weißt, selbst ehe ich sah, für das Beste hielt, nimmt sich nur auf dem Papiere gut aus, in der Wirklichkeit ist es schon in Amerika unausführbar ... , weil ... das Schweigen oder vielmehr die Mitteilung, sobald Menschen (noch dazu schlaue und böse) beisammen sind, nicht gehindert werden kann31 ." Kurz nach der Thronbesteigung 1840 berief Friedrieh WiZheZm IV. den Fachmann JuZius nach Berlin, "obwohl er sonst einen starken Widerwillen gegen alles Jüdische besaß". Der Biograph H. von Petersdorf! fährt fort: Der König war, "vorurteilslos genug ... , den um die Gefängnisreformbestrebungen verdienten Hamburger Juden JuZius als Hilfsarbeiter in sein Kabinett zu berufen38." Bis zur Revolution von 1848 fand Julius dort begrenzte Möglichkeiten mitzuwirken. So konnte er z. B. den von ihm hochgeachteten Johann Hinrieh Wiehern zum Dienste an den Gefangenen anregen und mit ihm 1846, für Wiehern erstmals, das Zellengefängnis Moabit besuchen39 , das später in des Besuchers Leben eine so entscheidende Rolle spielen sollte. - Damit war jene Entwicklung eingeleitet, die 1857 zu einem amtlichen Wirken 35 Nikolaus Heinrieh Julius. Nordamerikas sittliche Zustände. Nach eigenen Anschauungen in den Jahren 1834, 1835 und 1836. Bd. I u. H. Leipzig, 1839. 38 Brief von N. H. Julius an C. J. A. Mittermaier. Baltimore, 5. Mai 1835. Heidelberg, Universitäts-Bibliothek. S7 Brief von N. H. Julius an C. J. A. Mittermaier. Hamburg, 27. Juli 1836. Heidelberg, Universitäts-Bibliothek. S8 Hermann Petersdorff. König Friedrich Wilhelm der Vierte. Stuttgart, 1900. S.57. 39 Martin Gerhardt. Johann Hinrich Wiehern. Ein Lebensbild. 3 Bde. Hamburg, 1928. Bd.2. S. 29. (Datum des Besuchs = 11. Juni 1846.)
5. Nikolaus Heinrich JuIius "Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" 133
Wieherns als Vortragendem Rat im Preußischen Ministerium des Innern in Angelegenheiten der Strafanstalten und des Armenwesens führte 40 . Nach einer Reise von Julius zum Kennenlernen des damals bei London geplanten und 1842 fertiggestellten Modell-Gefängnisses Pentonville, besuchte auch Friedrieh Wilhelm IV. den Neubau, in dem ein freilich abgewandeltes pennsylvanisches System durchgeführt wurde". Auch der König wurde, wie später Wiehern, Anhänger dieser Vollzugsform. Die bereits genannten klassischen Werke der Gefängniskunde berichten hierüber und auch über die sich ergebende Problematik, die sich bis in die Gegenwart hinein auswirkt. - Julius selbst konnte den Bau von Zellengefängnissen in Preußen fördern 4!. In einer längeren Abhandlung "Englands Strafrechtspflege seit 1842, zur Nutzanwendung für Deutschland", die Julius 1846 in seinen Jahrbüchern veröffentlichte, befaßte er sich eingehend mit Fragen des Verhältnisses von Verbrechen zur Beschäftigung. Dabei verwies er wiederholt auf das Werk von Friedrieh Engels "Die Lage der arbeitenden Klassen in England" und äußerte dazu: "Ein bereits genannter, statt der Liebe leider vom Haß beseelter deutscher Schriftsteller, dessen eines besseren Zweckes würdige Ausdauer und Genauigkeit in Zahlenangaben über die britischen Manufakturzustände ich bereitwillig anerkenne, wenn ich gleich die entsetzlichen Schlußfolgerungen, die er aus ihnen gegen den ganzen englischen Mittelstand, den Kern der Nation, zieht, und die sich daran knüpfende unverholene Aufreizung zur Empörung, zum Umsturz des Bestehenden und zur Eigentumsplünderung mit Abscheu von mir weisen muß43." Seine, wenn auch kritische Aufgeschlossenheit zu den sozialen Fragen brachte Julius in mancherlei Verbindungen, so auch zu Bettina von Arnim, die ihn in ihrer freimütigen Art einmal als den "Gefängnisschwärmer" bezeichnete44 . Die in Bettina von Arnim's 1843 veröffentlichten: "Dies Buch gehört dem König" geäußerten Gedanken über 40 Johann Hinrich Wiehern. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Dr. J. Wichern. Bd. IV. Hamburg, 1905. S.457. 41 Krohne, s. Anm.4. S. 60 ff. Nikolaus Heinrich Julius. Englands Mustergefängnis in Pentonville, in seiner Bauart, Einrichtung und Verwaltung abgebildet und beschrieben. Aus den Berichten des Major's Jebb, Ober-Bau-Aufseher der· Britischen Gefängnisse und des Pentonvilleschen Verwaltungsrates. Berlin, 1846. S. V. 42 Krohne, s. Anm.4. S. 161. 43 Nikolaus Heinrich Julius. Englands Strafrechtspflege seit 1842, zur Nutzanwendung für Deutschland. In: Jahrbücher s. Anm.3. Bd.8, 1846, S.352. 44 Bettina von Arnim. Werke und Briefe. Hrsg. von Gustav Conrad. Bd.2, Darmstadt, 1959. S. 562 - Brief von N. H. Julius an B. von Arnim. Hamburg, 20. September 1839 - Brief von B. von Arnim an N. H. Julius. (ohne Ortsangabe) 1841. In: Freies Deutsches Hochstift Frankfurt am Main.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Verbrechen und Strafen sind wohl mit angeregt von Julius. Der Bearbeiter ihres "Armenbuches" (W. Vordtriege) hält fest: "Die Gedanken über Gefängnisreform waren ihr schon seit den dreißiger Jahren und ihrem freundschaftlichen Verkehr mit Dr. N.H. Julius vertraut'5." Während der Berliner Zeit erstrebte Julius Einwirkungen auf die Fachwelt und Öffentlichkeit durch erneute Herausgabe von Jahrbüchern. Von 1842 -1848 erschienen elf Bände der "Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten", von ihm herausgegeben mit Friedrieh Noellner und Georg VaTTentrapp. Sie trugen zur Vorberei:'" tung der Verhandlungen der ersten internationalen Versammlung für Gefängniseform in Frankfurt am Main im Jahre 1846 mit bei 4t1 • Die Julius immer wieder bewegende Frage der Beamten und ihrer Ausbildung konnte er in seinen neun Dienstjahren nur wenig vorantreiben. An der später durchgeführten Schulung von Aufsichtsbeamten im Rahmen der Brüderschaft des Rauhen Hauses in Hamburg-Horn nahm er, Wiehern zustimmend, lebhaften Anteil. Ein entscheidender Gegner des Tätigwerdens von Angehörigen dieses "protestantischen Ordens im Staatsdienst" der Strafanstalten war von Holtzendorff. Er bekämpfte diesen Plan mit allen Mitteln. - Noch in den letzten Jahren seines Lebens, vor allem Sommer 1861, versuchte Julius vermittelnd in den heftigen Streit zwischen von Holtzendorff und Wiehern einzugreifen47 • Im Jahre 1849 mußte Julius seine behördliche Tätigkeit in Berlin einstellen. Er wurde entlassen und kehrte nach Hamburg zurück, wo er bis an sein Lebensende am 20. August 1862 unverbittert als "Seelenarzt, Christ und Bürger" tätig blieb'8. Bei der Rückschau auf das Leben von Julius, insbesondere während der Berliner Zeit, stellt sich die Frage nach dem Sinn. Sie kann hier nicht in vollem Umfa~g beantwortet werden. Möglicherweise erleichtern einige weitere Hinweise eine Antwort. Kurz nach der Heimkehr von Nordamerika, noch ganz unter dem Einfluß seiner Reiseerlebnisse, schrieb Julius, ausgehend vom Streit um die Systeme, an Mittermaier u. a.: "Ist das Volk, ja selbst Richter usw., gegen das absolute Isoliersystem, so isi das die Folge der Erbsünde 45 Werner VordtTiede. Bettina von Arnim. Armenbuch. Frankfurt am Main, 1969. S.58 - Gustav Radbruch. Lesefrüchte. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 1952/53 (3) 177. 48 Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, 1847. 47 Franz von HoZtzendorff. Der Brüderorden des Rauhen Hauses und sein Wirken in den Strafanstalten. Berlin, 1862. S. 68 -75. 48 s. Anm. 28.
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unserer Zeit, der verfluchten falschen Philanthropie und Humanität, die auch die Todesstrafe vernichten will und vor lauter Erbarmen gegen die Spitzbuben gar kein Mitleid mit den ehrlichen Leuten hat. Ich rechne mir zur Ehre, noch zur alten Schule zu gehören, die für Verbrechen, weil es Sünde ist, auch Rache für unerläßlich hält. Wir wollen mal sehen, wie weit die neue Schule mit ihrem Evangelium kommt und wohin sie es in Staat, Kirche und Familie bereits gebracht hat, das zeigt, Gott sei es geklagt, der Augenschein. Vor lauter Emanzipationen will kein Mensch, er stehe so niedrig wie er wolle, mehr gehorchen. Nun, was in dieser Welt versäumt wird, das muß in jener, die ewig währt, nachgeholt werden. Ihr Lehrer auf den Universitäten habt den hohen und schönen Beruf, gegen dergleichen Zeitschäume zu donnern, ja zu zeigen, wie sie aus nichts als wässrigen Luftblasen bestehen, und die Jugend vor dem bösen Beispiel zu retten49 ." - Gibt dieses Selbstbekenntnis des Verfassers der "Vorlesungen ... ", das auch zu JuZius gehört, einen Schlüssel zum Verständnis, warum seine langjährige Tätigkeit bei der Aufsichtsbehörde in Berlin wenig erfolgreich war? Lag dies mit an dem Gegensatz der mehr "konservativen" auf dem Moralitätsprinzip beruhenden und der "liberalen" auf das Legalitätsprinzip sich stützenden Erneuerungsbestrebungen im Fachbereich? Lag es an der Eigenart der Organisation des preußischen Gefängniswesens, dem "Dualismus" in der Verwaltung der Vollzugsanstalten und den dadurch mitbedingten Spannungen50? - Lag es an der Eigenart von JuZius selbst? In dem Nachruf auf einen in der gleichen Berliner Behörde tätigen Beamten wird von JuZius und seiner Tätigkeit gesprochen als dem "Wirken eines gotterg~benen, treuen Christen, eines anspruchslosen, bescheidenen, ja schüchternen Mannes"51. Vielleicht ist aus diesen Wesenszügen zu erklären, warum Julius im Jahre 1840 nicht die angebotene Beamtenstelle im Preußischen Innenministerium annahm, wie dies z. B. der mit ihm befreundete Eichendorff im Preußischen Kultusministerium früher getan hatte. - Ist letztlich zu vermuten, daß trotz aller Fähigkeiten und Leistungen, auch trotz seines Übertrittes zum Katholizismus, die jüdische Herkunft seinem Wirken unvorhergesehene Grenzen setzte? Diese und zahlreiche andere Fragen müssen in der vorliegenden Studie offen bleiben. Sie fordern eine weitere Befassung mit dem Leben und Wirken von Nikolaus Heinrich Julius heraus. 48 Brief von N. H. Julius an C. J. A. Mittermaier. Hamburg, 6. November 1837. In: Heidelberg, Universitäts-Bibliothek. 10 Zu "Dualismus" s. Krohne, s. Anm. 4. S. 150 ff. 61 Carl Heinrich Julius Gerhard. Nekrolog auf Nikolaus Heinrich Julius. In: Blätter für Gefängniskunde, 1868 (4) S. 134 ff.
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
Zusammenfassung Der 1783 als Sohn eines jüdischen Bankiers in Altona geborene N. H. Julius beendete 1809 in Würzburg sein medizinisches Studium mit Erlangung der Doktorwürde. Fremdsprachenkenntnisse ermöglichten es ihm, auf Reisen ins - insbesondere angelsächsische - Ausland detaillierte Erfahrungen im ausländischen Anstalts- und Gefängniswesen zu sammeln. Diese verarbeitete er in den 1827 gehaltenen und ein Jahr später veröffentlichten zwölf "Vorlesungen über die Gefängniß-Kunde ... ", mit denen erstmals eine systematische Darstellung über einen Teilbereich der Gefängniswissenschaft vorgelegt wurde. Die Vorlesungen behandeln zahlreiche auch heute noch aktuelle Fragen und schließen mit der Aufforderung zur Reform und Verbesserung des Gefängniswesens. Daß Julius, obwohl 1840 von Friedrich Wilhelm IV. in sein Kabinett gerufen, keinen durchschlagenden Erfolg mit seinen Reformbestrebungen hatte, mag an seiner dennoch konservativen, auf dem Moralitätsprinzip beruhenden Grundhaltung, der Eigenart der Organisation des preußischen Gefängniswesens und nicht zuletzt auch an seiner jüdischen Herkunft gelegen haben.
Summary N. H. Julius, the son of a Jewish banker, was born in Altona in 1783. In 1809 he completed his medical studies in Würzburg with a doctorate. On his journeys abroad, particularly in the Anglo-Saxon countries, his knowledge of languages enabled him to gather detailed insights in foreign prisons and correctional establishments. From his notes on his experiences he prepared aseries of twelve "Lectures on penal establishments ...", which were held in 1827 and were published one year later. It was these lectures which presented for the first time a systematic survey of one aspect of penology. The lectures cover a number of questions which are still topical today and conclude with a demand for the reform and improvement of the penal system. Julius, although appointed by Frederick William IV as a member of his cabinet, had no signal success with his efforts at reform. This may have been due to his still conservative attitude based on moral principles, the peculiarity of the organisation of the Prussian penal system as well as to his J ewish origin.
6. Darf die von Theodor Fliedner vor 150 Jahren angeregte Gefängnisreform als abgeschlossen gelten?* I. Der Anlaß zur ThemensteIlung Die Formulierung des Themas meines Beitrages anläßlich der 150. Wiederkehr der Gründung der Rheinisch-Westfälischen GefängnisGesellschaft bedarf einer Erklärung. - Bei der Jahrhundertfeier dieser Gesellschaft im Jahre 1926 referierte Strafanstaltsdirektor Ellger über: Darf die von Pastor D. Fliedner vor 100 Jahren angeregte Gefängnisreform als abgeschlossen gelten? Er verneinte diese Fraget. Welche Antwort kann heute, unter Abwägung der Entwicklung seit dem 18. Juni 1826, auf die gleiche Frage gegeben werden? Dies darzulegen ist meine Aufgabe. Das Ingangsetzen einer Gefängnisreform, d. h. den Anstoß geben zu einem Wandel der inneren und äußeren Ordnung eines Systems, in dessen Institutionen Freiheitsstrafen vollzogen werden, bedeutet immer zugleich, daß es gilt, das Ganze der Einrichtung "Gefängnis" in seiner Zeit zu beachten. Solche Reform wirkt sich, wenn echt, an den Insassen, den Bediensteten und der Öffentlichkeit aus. Dabei ist keineswegs entscheidend, ob die Programmpunkte ausschließlich neue Ideen enthalten. Ausschlaggebend ist vielmehr die sie tragende Gesinnung, das Motiv, und die Effektivität. Wesentlich bleibt dabei zu erspüren, ob die Zeit für eine Reform reü ist. Bevor behauptet werden kann, Fliedner regte eine Gefängnisreform an, gilt es nachzuweisen, daß sein Programm, wie es am 18. Juni 1826 vorlag!, so zu bewerten ist, und weiter, welche Teile er verwirklichen konnte, nachdem er dazu das Organ, die Schutzgesellschaft, geschaffen hatte. Vor Beantwortung der Frage selbst werden dabei am zweck-
* Erschienen in: Straffälligenhilfe. Aktuelle und historische Aspekte der Strafvollzugsreform durch staat und engagierte Bürger (Wuppertaler Beiträge zur Straffälligenpädagogik, Delinquenzprophylaxe·und Rehabilitation Bd.2). Wuppertal 1977, S. 153 - 169, 207 - 210. t 97. Jahresbericht über das Jahr 1925 der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, S. 34 - 50. 2 Grundgesetze der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, Plan der Wirksamkeit; Wirksamkeitsplan der Werdener Tochtergesellschaft, in: Just, von Rohden: Hundert Jahre Geschichte der Rheinisch-Westfälischen . Gefängnis-Gesellschaft 1826 - 1926, Düsseldorf 1926, S. 145 - 161.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
mäßigsten die einzelnen Komponenten mit den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes von 1976 und den 1879 und 1927 erarbeiteten Entwürfen zu einem solchen Gesetz verglichen. Gestatten Sie mir an dieser Stelle, den Initiatoren dieser Ringvorlesung dafür zu danken, daß mit. diesem Gedenken an die Leistung Fliedners und der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, zugleich auch das Spannungsverhältnis zwischen freier christlicher Liebestätigkeit und staatlich gelenktem Freiheitsentzug erneut aufgezeigt werden kann. 11. Das Wesen und der Sinn der Gefängnisreform: von Theodor FIiedner 1. Der zeitgesclllcbtlldte Hintergrund
Auf welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund entwickeln und vollziehen sich die von Fliedner entworfenen und von der Schutzgesellschaft getragenen Erneuerungsvorschläge in der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen während der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts'? Die nach der französischen Revolution, nach den auf ganz Europa übergreifenden napoleonischen Wirren, und nach den damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen erfolgende Wandlung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung wir.d zusätzlich mit bedingt durch den Einbruch der Teclmik. Arbeitsteilung und Maschine bewirken mit die Auflösung der aufgebauten Ordnung, fördern die Bildung einer Schicht besitzloser Lohnarbeiter und damit letzten Endes die Gefahr der Entwurzelung und der Straffälligkeit. - Wenn es richtig ist, daß Gefangenenanstalten in ihrer Belegschaft und ihren Bediensteten ein Spiegelbild der freien Gesellschaft geben, dann zeigen sie für wache Zeitgenossen in diesem Zeitabschnitt ungewöhnliche Mängel auf, die zu Rückschlüssen auf das Versagen der Verantwortlichen zwingen. Die Flucht einzelner gesellschaftlicher Gruppen in das Biedermeier' war z. T. sicher auch Folge der Erschöpfung. - Fliedner wurde dennoch offensiv. Zunächst, soweit es seine Pfarrgemeinde betraf und dann nach Kennenlernen der herrschenden Mißstände in den Gefangenenanstalten seiner engeren und weiteren Umgebung in diesem Aufgabenbereich. - Befürworter und Mitarbeiter bei diesen eingeleiteten Gegenmaßnahmen fand er sowohl in den führenden Schichten als auch bei den "Stillen im Lande". 3 Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV, Die religiösen Kräfte, H. Aufl. Freiburg 1951, S. 211 ff. , Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 - 1848, Bd. I, Tübingen 1971,
S.17, 121.
6. Darf die Gefängnisreform als abgeschlossen gelten?
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2. Die Motivation von Theodor Fliedner
Wer war Theodor Fliedner, was strebte er in seinem Leben an, welche Bedeutung besitzt sein Wirken für die Gefangenensache? - Lassen Sie mich einige Daten nennen. Als Sohn eines evangelischen Geistlichen am 21. Januar 1800 zu Eppstein im Taunus geboren, erlebte er die Not des Krieges. Nach dem Schulabschluß besuchte er zum Studium der Theologie von 1817 - 1820 die Universitäten Gießen und Göttingen. Der Einundzwanzigjährige wird nach seiner Ordination Hauslehrer in Köln, begegnet dort auch dem Pädagogen und Theoretiker eines progressiven Strafvollzugs: earl August Zeller5• Er leistet einen ersten Predigerdienst am Arresthaus zu Köln, ohne aber die dort bestehenden Notstände ganz zu erfassen. 1822 erfolgt der Antritt des Pfarramtes inder kleinen evangelischen Diasporagemeinde Kaiserswerth. Der dort miterlebte wirtschaftliche Zusammenbruch der einzigen Erwerbsquelle der ansässigen evangelischen Arbeiter, einer Samtfabrik, bedroht nicht nur deren Existenz, sondern auch. die seiner Kirchengemeinde. Fliedner flieht nicht, sondern plant durch "Kollektieren" die nötigen Mittel zu ihrer Erhaltung zu bekommen. Im Wuppertal, am Niederrhein, in Holland und in England "erbettelt" er hierfür ein Kapital, dessen Zinsen den Fortbestand der Kirchengemeinde sichern6 • Von seinen Lehr- und Wanderjahren 1823/24 bringt Fliedner weiter eine ungewöhnliche Kenntnis der Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mit, dazu ein Wissen über. Schul- und Erziehungsanstalten, Armen-, Waisen- und Krankenhäuser, Gefängnisse und Gesellschaften zur Besserung von Gefangenen, Bibelgesellschaften und Missionsanstalten. Zum größten Gewinn der Reise wird jedoch seine "Erweckung" zu einem lebendigen christlichen Glauben. Hier liegt seine Motivation und die Quelle der Kraft für sein gesamtes zukünftiges Wirken7 • 3. Das Ziel der Initiative In der Gefangenensame
Fliedners Initiativen in der Gefangenensache haben "religiös-sittliche Besserung" zum Ziel und erkennen als Mittel hierzu an: die Seelsorge, den Unterricht, die Klassifikation, gemeint ist Trennung nach Alter, Geschlecht usw., und die Arbeit der Gefangenen8.Nach seinen Beobachtungen ist ein fünfter Mangel in allen rheinpreußischen Gefängnissen "die schlechte sittliche Beschaffenheit sehr vieler Schließer oder 5
Martin Gerhardt:
Bd. I, S. 107 f.
Theodor Fliedner. Ein Lebensbild, Düsseldorf 1933,
7
Martin Gerhardt, Anm. 5, Bd. I, S. AnnaSticker: Theodor Fliedner,
8
Just, von Rohden, Anm. 2, S. 7 ff.
8
1950, S.24.
138. der Diakonissenvater, Kaiserswerth
140
I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Gefangenenwärter". Nach seiner Meinung gehört zu deren Berufsbild "ein ebenso milder, als fester Charakter, nicht weniger Besonnenheit als Gottesfurcht, daß man diese Eigenschaften gewiß nicht leicht vereinigt treffen wird"9. Fliedner weiß, "der Staat vermag nur für Sicherheit, Ordnung und Aufsicht zu sorgen, guten Willen zu schaffen, Menschen zu suchen, die aus innerem Berufe der Besserung ihrer verwahr.,. losten Brüder sich weihen, vermag er nicht". Hier wird der Notstand deutlich, der später Wichern ebenfalls veranlaßte, die Ausbildung von Anstaltsbeamten voranzutreiben10 • Die Ergebnisse seiner Erhebungen während der "Kollektenreise" zwingen Fliedner weiter zur Feststellung: "Unter den großen Mängeln, woran die meisten preußischen Gefängnisse leiden, steht der Mangel an Isolierung der Gefangenen oben an." - Mit Mut und Eifer bringt er diese überlegungen vor und beginnt seinen Kampf für die Einzelhaft, gegen die Gemeinschaftshaftll . 9 Theodor Fliedner: Collektenreise nach Holland und England nebst einer ausführlichen Darstellung des Kirchen-, Schul-, Armen- und Gefängniswesens beider Länder, mit vergleichender Hinweisung auf Deutschland, vorzüglich Preussen, 2 Bände, Essen 1831, Bd. I, S. 379 ff. 10 Theodor Fliedner, Anm.9, Bd.lI, S.197. Karl Krohne: Lehrbuch der Gefängniskunde, 1889, S. 157 ff. n Theodor Fliedner, Anm.9, Bd. I, S.362/363: "Der Mangel an Isolierung der Gefangenen des Nachts und des Sonntags. An den Werktagen hat der Gefangene, wenn er fortwährend beschäftigt ist, meist an der Arbeit wenigstens einiges Hindernis, die Mitgefangenen mit dem Gift seiner Zunge zu inficiren. Aber des Sonntags fällt auch dieses Hindernis weg. Dann wird Karten gespielt, Branntwein gesoffen, den man sich, trotz aller Verbote, oft durch bestechliche Schließer selbst, zu verschaffen weiß; unzüchtige Lieder werden gesungen, alle möglichen Bubenstücke erzählt, und damit geprahlt, geflucht, verläumdet und alles Heilige gelästert. Wer am öftersten gesessen und die frechste Stirne hat, führt das Commando. Haben Manche im Gottesdienst gute Eindrücke erhalten, und wollen sie in sich befestigen, so wird ihnen dazu weder Zeit noch Ruhe. Setzen sie sich bei Seite, um ihre Gedanken zum Nachdenken über sich zu sammeln, um in der Bibel oder einem anderen Erbauungsbuche zu lesen, so werden sie verlacht, verspottet, und nicht bloß Zielscheibe des Witzes, sondern auch der Verfolgung. Man stiehlt ihnen unterdessen ihre kleineren Kleidungsstücke, Esswaren u. dgl., und theilt vor ihren Augen den Raub aus, man reisst ihnen unter allerhand Vorwänden die Bücher weg, man prügelt sie, scheinbar im Scherz, mit den Holzschuhen etc. Und wehe ihnen, wenn sie nicht gute Miene zum bösen Spiele machen, wenn sie murren, oder nur drohen, bei der Verwaltung zu klagen! Dann bricht in der Nacht ein noch viel heftigerer Sturm gegen sie los. Man reisst ihnen die Decken und Kissen weg, sticht sie mit Nadeln, mishandelt und quält sie mit Teufelslust, und lässt sie ihres Lebens nicht sicher sein. Klagen sie endlich, was hilfts ihnen? Da stehen Alle für Einen, zeugen einstimmig gegen den Kläger, und wissen ihm durch ihre Verläumdungen wohl noch obendrein eine Strafe zuzuziehen. Durch diese Erfahrungen gewitzigt schweigen die anderen Gutgesinnten, suchen die Rädelsführer durch kleine Geschenke zu gewinnen, und halten es aus Menschenfurcht mit ihnen, anfangs freilich nur zum Schein. Aber bald werden jene Menschengefälligen, - wie denn Sünde, wenn man ihr nachgibt, nie bei Einem Punkte stehen bleibt, - durch die beständige Gesellschaft und das Anhören der Schlechten
6. Darf die Gefängnisreform als abgeschlossen gelten?
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Hinzu kommt das von Fliedner in der Geschichte des deutschen Gefängniswesens erstmals herausgestellte Ziel, durch Schutzgesellschaften den Entlassenen zu helfen und dadurch zu versuchen, dem Rückfall vorzubeugen!!. Die harte, aber gerechte Anklage, "die Kirche hatte die Gefangenen vergessen und der Staat nicht minder, soweit er für die geistlichen Bedürfnisse derselben mitzusorgen übernommen hatte"!3, ist eine verständliche Folgerung aus .aufrüttelnden Einsichten. 4, Das Kennzeiclmen der Mittel
Zielstrebig greift er die Gefangenensache, die er nicht gesucht hatte, auf, übernimmt 1825 freiwillig das Predigtamt im benachbarten Arresthause Düsseldorf!4 und treibt durch Knüpfen von Verbindungen zu Gefangenen und Beamten, zu den zuständigen Aufsichtsbehörden und der interessierten Öffentlichkeit, zu den Seelenhirten beider christlicher Konfessionen am 18. Juni 1826 die Gründung der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft weiter voran. Die Wirksamkeit beginnt, mit Unterstützung der in der Zwischenzeit gewonnenen Mitstreiter, alsbald in den ins Leben gerufenen Ortsvereinen. Vorbilder für diese Vereinsgründung waren vergleichbare gesellschaftliche Einrichtungen in Philadelphia 1771 bzw. 1783, in London 1817 und in den Niederlanden 1823. - Der bereits erwähnte Zeller, den Fliedner in Köln kennengelernt hatte, formulierte 1824: "was des Einzelnen Kräfte - und wäre er auch ein Howard - übersteigt, das vermag die vis unita, der Verein"15, Die erste Generalversammlung der nach zweijähriger Wartezeit behördlich genehmigten Gesellschaft tagte am 12. Juni 1828 in Düsseldorf. Die Wartezeit hatte Fliedner keineswegs passiv verbracht, eine zweite Studienreise hatte ihn erneut in die Gefängnisse in Holland geführt. Das literarische Gesamtergebnis: "Collektenreise nach Holland und England nebst einer ausführlichen Darstellung des Kirchen-, Schul-, Armenund Gefängniswesens beider Länder, mit vergleichender Hinweisung in deren Kreis hineingezogen, und gewinnen Lust am Bösen; was sie des Tags nicht gelehrt werden dürfen, lernen sie des Nachts, und so wetteifern sie bald mit ihren Meistern. Auf diese Art werden jährlich Hunderte und aber Hunderte systematisch zum Laster erzogen, die eine passende Isolirung vor dem Versinken bewahrt, und ihrem Gott wieder näher gebracht hätte,gleich dem verlorenen Sohn, welcher auch erst in der unfreiwilligen Einsamkeit zur Einkehr und Busse kam." 12 Just, von Rohden, Anm.2, S. 153. 13 Just, von Rohden, Anm.2, S. 145 ff. 14 MaTtin GeThaTdt, Anm.7, Bd. I, S. 148. 111 eaTl August ZeHeT: Grundriss der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will, Stuttgart/Tübingen 1824, S.161. MaTtin GeThaTdt, Anm.7, Bd. I, S. 108.
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auf Deutschland, vorzüglich Preußen", zwei Bände, konnte er erst 1831 vorlegen18. Der Abschnitt über das preußische Gefängniswesen stellt eine einzigartige Dokumentation dar17 • Auf den darin niedergelegten Erkenntnissen baut er seine Reformbestrebungen auf. Erstmals wird den Entlassenen gebührend Beachtung geschenkt und nach einer Begegnung mit Elisabeth Fry, ein Asyl für strafentlassene Frauen eingerichtet. Die erste Asylistin wurde am 17. September 1833 im Gartenhäuschen des Kaiserswerther Pfarrhauses untergebracht. "So wurde das kleine Gebäude die· Wiege der großen Kaiserswerther Anstalten18." 5. Das Sendungsbewußtsein Flleclners
Nach seinen Biographen wird Fliedners Gesamthaltung bestimmt "von wissenschaftlicher Arbeit, fröhlicher Praxis und zugleich innerster Hinführung zu dem Herrn mit der Zielsetzung des dankbaren Dienstes für ihn"19. - "Die christliche Erziehung im Sinne des Evangeliums, die den Gefangenen zur Buße führte, um ihn durch die Verkündigung der in Christus geoffenbarten vergebenden Gnade Gottes auf die Bahn eines neuen Lebens zu leiten war Kern und Stern von Fliedners Gefängnisarbeit2o." Er selbst erkennt seine Aufgabe: "ich darf von diesem Missionsberuf nicht lassen"!l. Im Worte "Missionsberuf" klingt bereits der später von Wichern formulierte Begriff "Innere Mission" an. Wichern bezieht auch die Gefangenensache darin ein!!. Das Verhältnis Fliedners zu den zuständigen Aufsichtsbehörden, auch zu dem Ministerium des Inneren in Berlin und zu den Königen Friedrich Wilhelm 111. und Friedrich Wilhelm IV. war gekennzeichnet durch eine Haltung, die einer scheinbaren Naivität nicht zu entbehren schien. Frei von Menschenfurcht richtet er z. B. am Schlusse seiner heftigen Kritik aJ!lJ>reußischen Gefängniswesen in seiner "Kollektenreise" an König Friedrich Wilhelm 111. den Anruf: ,,0 lieber König! möge Gott Dir ins Herz geben, diesem heiligen Werke Deine volle Kraft und Liebe zu schenken! Wenn Du dann einst vor den Richterstuhl des Königs aller Könige trittest, und vor ihm Deine Krone niederlegst, dann wird auch Dich die Friedensstimme erquicken: Ich bin gefangen gewesen, und Du 18 Theodor. Fliedner, Anm. 9, Bd. I, S. 357 - 385. 17
Martin Gerhardt, Anm. 5, Bd. I, S. 243 ff.
20
Martin Gerhardt, Anm. 5, Bd. H, S. 288.
18 Martin Gerhardt, Anm.5, Bd. I, S. 260 f. 18 Anna Sticker, Anm.7, S.46.
!1 Anna Sticker: Friederike Fliedner und die Anfänge·der Frauendiakonie,
Neunkirchen 1961, S.14 (Brief vom 14. Januar 1828). 2l! Johann Hinrich Wiehern: Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche.· Eine Denkschrift an die Deutsche Nation, Hrsg. Martin Gerhardt, 5. Aufl. 1933, S. 33 ff., 234.
6. Darf die Gefängnisreform als abgeschlossen gelten?
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hast Mich besucht23." - Wiederholt wurde Fliedner später auch in Sachen Gefängnisreform nach Berlin gerufen. "Majestät, ich passe nicht für Berlin", hatte er geantwortet, als Friedrich Wilhelm IV. ihn ganz in seine Hauptstadt Ziehen wollte. Durch diese kluge Ablehnung bewahrte er sich seine Unabhängigkeit und BewegungsfreiheitU. Nikolaus Heinrich J ulius, der Verfasser der "Vorlesungen über GefängnisKunde ... " (1828) und Fliedner wohlbekannt, folgte 1840 dem Rufe des Königs, konnte aber auf Dauer seine Ideen zu einer Gefängnisreform nicht durchsetzen25 • Wichern ging später bewußt den schweren Weg. Er wagte es, dem königlichen Ruf zu folgen, in der Hoffnung, der Gefangenensache dadurch besser dienen zu können26 • Das Ergebnis seines Wirkens blieb umstritten. 6. Zum zentralen Problem: Gemeinsdlaftshaft. Einzelhaft
Vor Erörterung der Betätigung der Schutzgesellschaften auf den Teilgebieten der Seelsorge, des Unterrichts, der Klassifikation, der Arbeit und der Entlassenenfürsorge, sei hier auf den von Fliedner festgestellten "großen Mangel an Isolierung der Gefangenen" hingewiesen. Aufgrund seiner Beobachtungen hatte er in bezug auf die Gemeinschaftshaft gefragt: "Haben da die Nordamerikaner so ganz Unrecht, wenn sie uns Europäern vorwerfen, daß wir die Psychologie auf dem Katheder und nicht in der Praxis lehrten und daß unsere Gefangenenhäuser moralische Pesthäuser seien27 ?" Die damals führenden Gefängnisreformer forderten fast ausnahmslos die Einführung der Einzelhaft als Gegenmaßnahme gegen die Gemeinschaftshaft. Einen Höhepunkt fand die Kontroverse in den Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreformer im September 1846 zu Frankfurt am Main28 • Der Repräsentant der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft29 bekannte sich zum pennsylvanischen System, d. h. dem der Einzelhaft, "jedoch, was nach meiner Ansicht besonders wichtig ist, mit einem reichlichen religiösen Zuspruch"30. - Rund hun23 !4
Theodor Fliedner, Arun. 9, Bd. I, S. 385. Martin Gerhardt: Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild, Hamburg
1931, Bd.III, S.137.
25 Albert Krebs: Nikolaus Heinrich Julius "Vorlesungen über die Gefängniskunde ... ", gehalten 1827 zu Berlin, in: Mschr. Krim. 1973 (56), S. 312 ff. 26 Martin Gerhardt, Anm.24, Bd.III, S.137. 27 Martin Gerhardt, Anm. 5, Bd. I, S. 155. 28 Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1847, S.113 - 214. 28 Just, von Rohden, Anm. 2, S.38. 30 Verhandlungen ..., Anm.28,S.142.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
dert Jahre später stellte Radbruch fest: "Die Einzelhaft kann ihre religiöse ... Konzeption nicht verleugnen, auch ihrer säkularisierten Gestalt innewohnt noch ein verborgenes Depot religiöser Heilskraft31 ." An anderer Stelle formuliert er: "Gemeinschaftshaft verschlechtert, Einzelhaft macht schwächer!." Ein eindrucksvolles Lehrstück zum Thema Gemeinschaftshaft heute bot der kürzlich gezeigte Film: "Die Verrohung des Franz Blum33 ". - Ohne hier weiter auf diese Problematik eingehen zu wollen, sei festgehalten, daß diese Konzeptionen auch die Anstaltsbauten bestimmten und sich damit sowohl positiv als auch negativ auf Reformen auswirken können3'. 111. Die wichtigsten Dokumente der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft 1. Das Grund,esetz
Die beiden wichtigsten Dokumente, die auf Anregung und unter ständiger Mitwirkung von Fliedner von einem reformbereiten Mitarbeiterstab ausgearbeitet wurden: "Grundgesetze und Wirksamkeitsplan", wurden am 18. Juni 1826 abgeschlossen. Zu den Förderern dieser Bestrebungen gehörten auch Reichsfreiherr vom Stein, die beiden Oberpräsidenten der beiden preußischen Rheinprovinzen und die Geistlichkeit beider christlicher Konfessionen. Ehrenamtliche Helfer waren bereit, die Arbeit zu leisten. - Die behördliche Bestätigung erfolgte am 15. Dezember 1827. "Der "Wirkungsplan zur Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen in der Strafanstalt zu Werden" fand am 18. Mai 1829 behördliche Zustimmung. Alle drei Dokumente ermöglichen Einblicke in die geplante Durchführung der Leitgedanken3s• Bereits zu seiner Zeit verlangte die Formulierung in § 1 des Grundgesetzes: "es wird eine Gesellschaft zur Verbesserung der Gefangenen Anstalten gestiftet" eine Klärung. Um jedes Mißverständnis der Einmischung eines privaten Vereins in die staatliche Befugnisse zu vermeiden, wurde ausdrücklich betont: "Die Besserung der Gefangenen ist das Hauptzie}36." - Immer bedeutet aber auch die Verwirklichung von Programmpunkten wie: Seelsorge, Unterricht, Klassifikation, BeschäfZur Psychologie der Gefangenschaft, in: ZfStr.
11
Gustav RadbTuch:
32
Gustav Radbruch, Anm. 31, S. 151. BUTkhaTd DTiest: Die Verrohung des Franz Blum, WDR, 1. Programm,
Vollz 1952 (3), S.143. 31
11. Juni 1976.
34 AlbeTt KTebs: Probleme und Erfahrungen bei dem Neubau von Strafanstalten, in: Berliner Universitätstage 1964, Berlin 1964, S. 143 ff. IS Just, von Rohden, Anm.2, S. 145 - 161. le MaTtin GeThaTdt, Anm. 5, Bd. I, S. 174.
6. Darf die Gefängnisreform als abgeschlossen gelten?
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tigung im Sinne Fliedners eine Verbesserung der gesamten pädagogischen Atmosphäre der Anstalt. Und das sollte im ersten Paragraphen des Grundgesetzes wohl auch zum Ausdruck gebracht werden. Die wichtigsten. Bestimmungen· der genannten Dokumente seien hier wiedergegeben. Die Grundgesetze halten in § 2 fest: "Der Gegenstand die$er Gesellschaft ist eine mit den Staatsgesetzen übereinstimmende Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen durch Beseitigung nachteiliger und Vermehrung wohltätiger Einwirkung auf dieselben, sowohl während der Haft, als naCh der Entlassung." Die weiteren Paragraphen sehen vor, daß die Gesellschaft eigene Hausgeistliche für jede christliche Konfession, desgleichen Lehrer für den Elementarunterricht erwählen, .anstellen, besolden und unter Aufsicht halten wird (§ 3). Sie wird die Klassifikation der Gefangenen befördern (§ 4) und hierdurch sowie durch Darreichung· der Heiligen Schrift und anderer nützlicher religiöser Bücher eine wohltätige Bildung und geistige Beschäftigung veranlassen (§ 5). Zur Beförderung der leiblichen Beschäftigung während der Haft wird die Gesellschaft, wo es nötig, hilfreiche Hand leisten (§ 6). Den Entlassenen wird sie Quellen ehrlichen Erwerbs zu eröffnen und sie in angemessene Verhältnisse zu bringen suchen, um hierdurch sowie durch Aufsicht christlich gesinnter Menschen den Rückfällen zu neuen Vergehen möglichst vorzubeugen (§ 7). 2. Der Wirksamkeitsplan
Ein ebensolches Engagement spricht aus dem "Plan der Wirksamkeit", der auf alle im Grundgesetz genannten Themen eingeht und sie begründet. Weiter erfolgt darin eine Registrierung des Standes der Hygiene, der Ordnung und Aufsicht der Arbeit und geistigen Beschäftigung in den Gefängnissen der beiden Provinzen. Zusätzliche Angaben über deren Gesamtbelegung, über Analphabeten und über das Zusammenbringen bis zu 50 Menschen in ·einem Raume veranlassen Fliedner zu einer unerbittlichen Kritik37 • In den Worten: "Jeder Menschenfreund, dem die Sicherheit der Mitbürger und das Heil der verirrten Brüder teuer ist, bleibt aufgerufen, alle Kräfte anzuwenden, dem Übel entgegenzuwirken"38 liegt Aufforderung zur aktiven Mitbeteiligung an den Aufgaben der Schutzgesellschaften. Die vier Hauptbesserungsmittel: Unterricht im Christentum und in den ersten Schulkenntnissen, Klassifikation und Beschäftigung finden, fachmännisch geschickt, ihre Begründung. - Die Feststellung: zum Unterricht und Erziehung böser Menschen zu guten ... mit der ganzen 17
TheodorFliedner, Anm.9,
18
Just, von Rohden,
5.138.
10 Freiheitsentzug
Bd. I, 5.357 tl.; Just, von Rohden, Anm. 2,
Anm. 2, 5. 151 (mit statistischen Angaben).
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Liebe ... seines Berufes, bedarf es eines eigenen Hausgeistlichen39 , gibt zugleich Gesichtspunkte zu einem Berufsbild der Strafanstaltsgeistlichen jener Zeit. - Hierbei ist auch die Frage aufzuwerfen: In welcher Position wird dabei der Gefangene gesehen? Aus dem Reglement der Strafanstalt zu Rawicz, das zehn Jahre später für sämtliche preußische Strafanstalten als verbindlich in Kraft gesetzt wurde und im wesentlichen bis 1902 galt, geht u. a. hervor, daß ein starker Zwang zur Teilnahme an den Veranstaltungen aus "Sorge für die sittliche und religiöse Besserung der Sträflinge" ausgeübt wurde40 • Dies lag nicht im Sinne der Fliednerschen Reformen. Der Präsident der Bonner Tochtergesellschaft, Prof. Nitzsch, hielt in einem Werbeflugblatt für seinen Gefängnisverein vom 23. Februar 1832 fest: "Der Katechismus läßt sich aber nur mit dem Fleiß der Liebe lehren, in das Herz läßt er sich nicht einpeitschen 41 ." Die so erkannte, mit dem Zwang verbundene Gefahr wurde aber von den Behörden gegenüber einem möglichen Positiven für geringer erachtet. Das Menschenbild dieser Zeit ist nicht ohne weiteres mit dem unserer Zeit vergleichbar! Zum zweiten Programmpunkt: Unterricht in Schqlkenntnissen, ist festzuhalten: "Die Unwissenheit hat auf die Roheit und Verwilderung des Geistes und Herzens allzu nachteiligen Einfluß, als daß die Gesellschaft nicht mit dem größten Eifer auch zur allgemeinen Verbreitung dieser Elemente der Bildung beitragen sollte. Hierdurch gewinnen die Gefangenen an Kraft zum Guten und erweitern auch ihre Aussicht auf besseres Fortkommen im bürgerlichen Leben." In dem Abschnitt Klassifikation wird der Begriff erklärt und ausgeführt: Die höchstmögliche Einsamhaltung der Untersuchungsgefangenen, ihre gänzliche Trennung von den Verurteilten, die Klassifikation nicht bloß nach Geschlecht, sondern auch nach dem Alter und Vergehen, sind so bedeutende tiefgreifende Besserungsmittel, daß die Gesellschaft alle ihre Kräfte anwenden wird, den Verwaltungsbehörden die Schwierigkeiten wegräumen zu helfen, welche an den meisten Gefängnisorten bisher die vollkommene Einführung dieser Mittel verhinderten4!.
Auch der vierte Programmpunkt: Arbeit, verdient seiner Aktualität wegen besondere Beachtung. Die Gesellschaft bietet dem Staate an, die Just, von Rohden, Anm.2, S. 152. Reglement für die Straf-Anstalt zu Rawicz. Genehmigt Berlin, den 4. November 1835. Ministerium des Innern und der Polizei. Karl Krohne, Anm. 10, S.467. AlbeTt KTebs: Behandlungsziele des Vollzugs der Freiheitsstrafe in Deutschland seit der Aufklärung, in: Wuppertaler Beiträge zur Straffälligenpädagogik, Delinquenzprophylaxe und Rehabilitation (WBS), Hrsg. Gerhard Deimling, Josef M. Häußling, Wuppertal 1974, Bd. I, S. 89 ff. 41 Just, von Rohden, Anm. 2, S. 22. AlbeTt KTebs: Es begann mit Religionsunterricht. Zur Entwicklung des Berufsbildes des Lehrers im Strafvollzug, in: ZfStrVollz; 973 (22), S. 1 ff. 42 Just, von Rohden, Anm. 2, S. 153. 811
40
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Anstrengungen der Behörden zur durchgängigen Anwendung dieses für das physische und geistige Wohl der Gefangenen wirksamste Mittel überall, wo es nötig erachtet wird, möglichst zu unterstützen, auch den Absatz der Arbeitsgegenstände zu befördern. - Nach Fliedners Reiseberichten wurden in den niederländischen Anstalten keine Arbeiten mehr für den Debit, d. h. den Kleinhandelsvertrieb von Privaten, geleistet, sondern nur für den Bedarf der Gefängnisverwaltung und der Ministerien des Krieges, der Marine und der Kolonien. Dabei erfolgten fabrikmäßige Arbeiten fast bloß an einem einzigen Gegenstand und ohne Rücksicht auf die frühere handwerkliche Tätigkeit des gefangenen Arbeiters, seinen gesundheitlichen Zustand und seine Anlagen 43 • Die Entwicklung der Anstaltsarbeit war somit der aus England kommenden Entwicklung zur Rationalisierung der Arbeitsvorgänge und Arbeitsteilung - so, wie sie Adam Smith bereits 50 Jahre vorher beschrieben hatte - angepaßt44 • Zugleich war dort ausschließlich Regiebetrieb eingeführt. In seiner Bestandsaufnahme hält Fliedner weiter fest: den Verdienstanteil, "der den Gefangenen in die Hand gegeben wird, erhalten sie nicht in courantem Geld, sondern in eigens für das Haus geprägten Münzen von Zink oder Blei, auf deren einen Seite der Namen des Hauses, und auf der anderen 1 Cent, 5 Cents usw. steht. Damit können sie ihre kleinen Bedürfnisse in einem besonderen Kramladen, Cantine genannt, während der verschiedenen täglichen Freistunden kaufen 46. " Von diesem Anstaltsgeld ist später nicht mehr die Rede. Das Einbeziehen der Entlassenenfürsorge in die Aufgaben der SchutzgeseIlschaft wird nur aus der nüchternen Einsicht verständlich: Ob die Besserung eines Gefangenen rechter Art sei, bewährt sich erst in dem wiedererlangten Freiheitszustande. Der Plan der Wirksamkeit schließt mit dem Bekenntnis: "überhaupt wird der Gesellschaft nichts fremd sein, was das geistige und leibliche Wohl der Gefangenen betrüft, und diese wird sich stets zur Pflicht machen, mit strengster Beachtung der Gesetze des Staates, auf allen Punkten einzuwirken, wo Religion, Gerechtigkeit und Menschenliebe sie auffordern46 ." Dieses Dokument christlicher Hilfsbereitschaft an der Sache der Gefangenen verdient in der Gegenwart Beachtung!
43 Theodor Fliedner, Anm.9, Bd. I, S.230. " Adam Smith: Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichtum. Aus dem Englischen, Leipzig 1776, Bd. I, S. 7 f. Nikolaus Heinrich Julius: Die Gefängnis-Arbeiten und deren Einfluß auf freie Arbeiter, in:
Jahrbücher der Gefängniskunde ... , Bd. XI, 1848, S.98. 45 Theodor Fliedner, Anm. 9, Bd. I, S. 332. 41 Just, von Rohden, Anm. 2, S. 153.
10·
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens 3. Der Wirkungsplan für die Strafanstalt zu Werden
.A.uctl der "Wirkungsplan der Rheinisch-:-Westfälischen GefängnisGesellschaft zur Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen in der Strafanstalt zu Werden", genehmigt am 18. Mai 182947 , klärt auf über die Ziele dieser lokalen Schutzgesellschaft. Erwähnenswert ist besonders der Versuch, eine Persönlichkeitserforschung vorzunehmen. Die Zuweisung in vier "Klassen", eine bessere, je eine gute und eine schlechte Mittelklasse und eine schlechte Klasse, sollte nach dem Strafmaß, der Art des Verbrechens, der Wiederholung und nach den begleitenden Umständen erfolgen. Diese Klassifikation wollte dem Täter gerecht werden, die nötige Hilfsbereitschaft erkennen lassen, seinen Ehrtrieb und sein sittliches Gefühl anregen und auch die räumliche Trennung der "Besseren" von den "Schlechteren" begründen helfen48 • Den im Laufe der Entwicklung immer wieder aufkommenden Bestrebungen zu einer Differenzierung in "Klassen" oder in "Stufen" liegt der Gedanke der Progression bei Rückgewinnung innerer und äußerer Freiheit zugrunde. Der Hinweis auf die bereits von Fliedner initiierte Differenzierung kann nur die Problematik dieses Sonderthemas, die es bis heute besitzt, andeuten. 4. Zwisrhenbilanz
Lassen Sie mich an dieser Stelle das bisher Vorgetragene zusammenfassend kennzeichnen und das Wirken Fliedners für die Gefangenensache in den gesamten Rahmen seines Lebens stellen. - Fliedner handelte unter dem Druck der Einsichten seiner sorgfältig gesicherten Beobachtung während der Studienreisen. Als er begann, mit jugendlichem Mut und getrieben von dem brennenden Eifer im Sinne der Worte: "Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen" den zuständigen Stellen mit Geduld und Geschick Reformvorschläge zu unterbreiten, fand er anspornende Zustimmung und Unterstützung aller Art. Die "christlich gesinnten Menschen", zusammengeschlossen in den Schutzgesellschaften, sollten und wollten helfen, den Rückfällen in neue V~rgehen möglichst vorzubeugen49 • Die zur Erreichung dieses Zieles als notwendig erachteten Voraussetzungen wurden in den "Grundgesetzen" und den "Wirkungsplänen" niedergelegt und z. T. auch verwirklicht. Das Asyl wurde die Keimzelle der Diakonissensache. Von Kaiserswerth aus hatte Fliedner in seinen drei Hauptarbeitsgebieten: dem Gemeindeamt, der Gefangenen- und der Diakonissen47 Just, von Rohden, Anm.2, S. 154 - 161. Solbach: Aus der Geschichte des Zuchthauses zu Werden, in: ZfStrVollz 1957 (7), S. 32 ff. 48 Just, von Rohden, Anm. 2, 158. 48 Just, von Rohden, Anm.2, S. 145.
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sache bis zu seinem Tode am 4. Oktober 1864 gewirkt und seinen Lebensauftrag erfüllt. IV. Maßstäbe für die Beantwortung der im Thema gestellten Frage 1. Die behördlichen Stellungnahmen: E 1879, E 1927, StVollzG 1976 Vor dem Versuch einer Beantwortung der im Thema gestellten Frage gilt es m. E., möglichst objektive Maßstäbe zur Beurteilung zu ermitteln. - Aus der Fülle der Dokumente zur Klärung bieten sich an drei amtlich verfaßte. Es sind dies die Texte zweier Entwürfe eines Strafvollzugsgesetzes und der eines solchen Gesetzes. Die drei Texte erschienen jeweils in Abständen von rund 50 Jahren. Der "Entwurf eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen" im Jahre 187960 , der "Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes" im Jahre 192761 und dazu das "Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung" vom 16. März 197652 • Diese Texte enthalten die Maßstäbe zur Beurteilung des Gewollten und Erreichten. Die von Fliedner 1826 aufgeworfenen Hauptfragen betrafen einmal das Gesamtziel des Vollzugs und dann die der Mittel: Seelsorge, Unterricht, Klassifikation, Beschäftigung und Entlassenenfürsorge. Eine knappe Wiedergabe der einschlägigen Bestimmungen aus den genannten Unterlagen von 1826, 1879, 1927 und 1976 sei versucht. Aber das besonders schwierige Thema: Wer ist der Träger all dieser Funktionen, d. h. das der Bediensteten und auch der ehrenamtlichen Mitarbeiter, kann hier nur gestreift werden. Das Gesamtziel der Reformen: der Schutz der Allgemeinheit wird immer wieder gefordert, wandelt sich von dem der sittlichen Besserung (Moralität) über das der Gewöhnung an Arbeit und sittliche Festigung (Legalität) zu dem Vollzugsziel: Der Gefangene soll fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Sozietät).
60 Karl Krohne, Anm. 10, S. 553 - 561. Eberhard Schmidt: Zuchthäuser und Gefängnisse, Göttingen 1960, S. 22. 61 Amtlidler Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst Begründung, Berlin 1927. Lothar Frede, Max arünhut (Hrsg.): Reform des Strafvollzuges. Kritisdle Beiträge zu dem Amtlidlen Entwurf ... , Berlin/Leipzig 1927. 52 Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sidlerung - Strafvollzugsgesetz (StVollzG) - vom 16. März 1976 (BGBl. I S. 581 - 612) - Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Bd. I - XII, Bonn 1967 -1971.
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens 2. Die einzelnen Mittel bei der Gefängnisreform seit 1826
Die Seelsorge während des Freiheitsentzuges wird in allen vier Texten als selbstverständlich gewährt anerkannt. Das Grundgesetz von 1826 sieht dabei die Teilnahme der Gefangenen an seelsorgerischen Handlungen stillschweigend als Pflicht vor53. Nach dem Entwurf 1879 darf kein Sträfling mehr zur Teilnahme an den kirchlichen Heilsmitteln gezwungen werden (§ 33). Das Gesetz von 1976 übernimmt in § 53 sinngemäß die Bestimmung des Entwurfs von 1927: Keinem Gefangenen wird der Zuspruch eines Geistlichen seines Bekenntnisses versagt (§ 54). Die feinen Nuancen in der Formulierung scheinen der Beachtung wert. - Die Position des Anstaltsgeistlichen wandelte sich aber wesentlich durch die Art seiner Bestellung. Während nach dem Grundgesetz von 1826 die Schutzgesellschaft selbst plante, für jede christliche Konfession Hausgeistliche in den Gefängnissen zu bestellen (§ 3), und dieses Ziel teilweise auch jahrelang verwirklichteM, sieht das Gesetz von 1976 vor: Seelsorger werden im Einvernehmen mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hauptamt bestellt oder vertraglich verpflichtet (§ 157 Abs. 1). - über die "Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge" in der Gegenwart äußerte sich unter anderen eingehend Kar! Barth65 • Die Gesellschaft plante auf gleiche Weise, Elementarlehrer einzustellen. Auch dieser Plan konnte aus finanziellen Gründen, z. B. am Düsseldorfer Arresthaus, nur etwa zehn Jahre lang verwirklicht werden. Danach übernahm der Staat die Anstellung und Besoldung von Geistlichen und Lehrern58 • Es bleibt aber: die Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft hat diese Berufe im Vollzug institutionalisiert. Der Entwurf 1879 sah Unterricht als Regel vor für jugendliche Personen, für erwachsene Sträflinge nur soweit sie des Unterrichts bedürfen (§ 34). "Lehrer und Fürsorger sind nach Bedarf im Haupt- oder Nebenamt zu bestellen oder durch Vertrag zu verpflichten" (§ 2), empfahl der Entwurf 1927. Erstmals in der Geschichte wurde hier die neue Berufsgruppe der Fürsorger, der Sozialarbeiter, als Anstaltsbedienstete vorgesehen. Dies gesChah, nachdem im Lande Thüringen ihre Mitwirkung am Ziel der Resozialisierung voll anerkannt worden warli7 • Im Strafvollzugsgesetz wird die Stellung der beiden Mitarbeitergruppen, der Pädagogen und der Sozialarbeiter, ausgebaut (§ 155). Reglement der Strafanstalt zu Rawicz, Anm.40, § 90. Just, von Rohden, Anm. 2, S. 25. 15 Karl Barth: Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge (Sommer 1960), in: ZfStrVollz, 1969 (18), S. 5 - U. 58 Theodor Just: Die Stellung des evangelischen Strafanstaltspfarrers zur &8
I'
Inneren Mission, in: A. Stahl (Hrsg.): Grenzfragen zwischen Strafrecht, Seelsorge und Fürsorge, Berlin 1928, S. 5l. 57 Albert Krebs: Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt, in: ZStW 1928 (49), S. 65 - 83.
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Mit dem lapidaren Satz: Die Schutzgesellschaft wird die Klassifikation befördern (§ 4), zog Fliedner weitere Folgerungen aus seinen Erhebungen. Wenn auch das Wort Klassifikation in der deutschen Gesetzessprache weder 1879, noch 1927, noch 1976 vorkommt, so erfolgt sie z. B. im Strafvollzugsgesetz nach den wiederholt genannten Kriterien: Alter, Geschlecht, Rückfall, Geisteszustand58 • Der Strafvollzug in Stufen, im Entwurf 1927 vorgesehen und im Detail geregelt, gab seinerzeit Anlaß zu Kontroversen59 , die m. E. auch heute noch keineswegs ausdiskutiert sind. Wesentlich bleibt nach den neuen Bestimmungen, daß eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung gewährleistet ist (§ 14). Deshalb wird nach dem Aufnahmeverfahren eine Behandlungsuntersuchung vorgeschrieben (§ 6). Es ist zu fordern, daß die weiter folgende Bestimmung: "dem kriminologischen Dienst obliegt es, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung, den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen" (§ 166), bald verwirklicht wird. - Immer sollte aber beachtet werden, daß die Praxis des Vollzugs nicht von der Theorie überfordert werden darf. Ein großes Selbstvertrauen spricht aus dem 1826 formulierten Satz: "Zur Beförderung der leiblichen Beschäftigung während der Haft wird die Gesellschaft, wo es nötig ist, hilfreiche Hand leisten" (§ 6). Ob es berechtigt war, ist im einzelnen nicht bekannt. Jedenfalls befaßten sich alle Gefängnisreformer mit dem Problem: Arbeit der Gefangenen. Der Entwurf 1879 widmet diesem Thema sechs von insgesamt 44 Paragraphen und verpflichtet die Anstaltsleitung u. a., Rücksicht zu nehmen auf den Gesundheitszustand, die Kenntnisse und das künftige Fortkommen (§ 23), er regelt die Arbeitszeit (§ 24) und bestimmt, der Ertrag aus der Arbeit der Sträflinge fließt der Staatskasse zu. Den Sträflingen wird ein Teil des Verdienstes als Arbeitsbelohnung gutgeschrieben (§ 25), wobei die Verwendung eines Teiles zur Beschaffung von Genußmitteln gestattet werden kann (§ 29). - Auch der Entwurf 1927 versucht für "Arbeit" eine eingehende gesetzliche Regelung zu finden (§§ 70 - 91). Er bereitet damit zugleich die einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes vor. Danach dient Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung insbesondere dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern (§ 37). Eine Neuregelung des 58
Stefan Paetow: Die Klassifizierung im Erwachsenenvollzug, Stuttgart
1972, S.6.
58 Lothar Frede: Strafvollzug Geschichte, in: Handwörterbuch der Kriminologie, H. Aufi. Berlin 1975, Bd. IH, S. 261.
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Arbeitsentgeltes ist vorgesehen (§ 43). Trotz aller Bemühungen istm: E. dieses Arbeitsproblem unbefriedigend gelöst. Der Programmpunkt der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis~Gesel1" schaft, der wohl ihre wichtigste Aufgabe darstellte: Den Entlassenen Quellen ehrlichen Erwerbs zu eröffnen und sie in angemessene Verhältnisse zu bringen suchen, um hierdurch sowie durCh. Aufsicht christlich gesinnter Menschen, den Rückfällen zu neuen Vergehen möglichst vorzubeugen (§ 7), erweist den Weitblick Fliedners. Die Verwirklichung dieser Aufgabe durch die hingebungsvolle Tätigkeit der Mitglieder der Tochtergesellschaften begründen den Ruf dieser Schutzgesellschaft als Modelleinrichtung für alle vergleichbaren Neugründungenin Deutsch~ land. Diese "Wirksamkeit" sicherte zugleich ihr Bestehen alsselbständige Organisation der christlichen Liebestätigkeit, der freien Wohlfahrtspflege bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Der. Entwurf 1879 erwähnt die Problematik, dem Rückfall- vorzu~ beugen, nicht. Wohl aber wird im Entwurf 1927 die Entlassung aus der Strafhaft (§§ 222 - 234) und die Fürsorge für Entlassene (§§232 - 238) eingehend behandelt. Der Satz: "Die Fürsorgearbeit für Entlassene ist eine gemeinsame Angelegenheit des Staates und der Gesellschaft. Ihr Ziel, den Bestraften einem gesetzmäßigen Leben in der Freiheit zuzuführen" (§ 232) macht zugleich den Wandel der Ansichten nach hundert~ jähriger Erfahrung deutlich. - Die eigenen finanziellen Kräfte der Schutzgesellschaften reichten aber auch hier nicht aus, -um den Notständen abzuhelfen. - Welches waren die Gründe für das Nachlassen der Opferbereitschaft und damit der Intensität des Wirkens? WeIche Bedeutung besaßen und besitzen sie im Rahmen des sich anbahnenden Wohlfahrtsstaates? Das sind die zentralen Fragen! Das Vollzugsgesetz 1976 wertet in seinen einschlägigen Bestimmungen weitere, in der Zwischenzeit neu gewonnene Einsichten aus, wie z. B.: Um die Entlassung vorzubereiten; ist der Gefangene bei der Ordnung seiner persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten zu beraten (§ 74), der Vollzug soll vor der Entlassung gelockert werden (§ 15 Abs.l), Urlaub und Freigang kann gewährt werden (§ 15 Abs. 3 u. 4), der zur Entlassung Kommende kann bei Bedarf eine überbrückungsbeihilfe erhalten (§ 75 Abs. 1) . ....:.... Das Umsetzen dieser Bestimmungen in die Wirklichkeit kann echte Hilfe bedeuten. 3. Die untersdliedlidlen Antriebskräfte
Aus den bisherigen Ausführungen mag vor allem deutlich geworden sein, daß die Reformbestrebungen im Laufe der 150 Jahre von zwei verschiedenen Grundhaltungen beeinflußt wurden. Dies erklärt auch die andauernden Kontroversen über Strafe und Strafvollzug. Die geistigen
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Führer der Aufklärung, die die menschliche Natur für unverdorben gehalten hatten, die von der freien Selbstentfaltung der Anlagen alles erwarteten, mußten hinsichtlich Strafe und Strafvollzug andere Folgerungen ziehen als die Verfechter der christlichen Auffassung. Sie betonten die Kraft des Gebetes und die Notwendigkeit heilsamen Zwanges. Erst aus dem Bewußtsein von Sünde und Gnade ergab sich ihnen die sittliche Bildung zur Menschlichkeit". Die Repräsentanten beider Richtungen strebten im Freiheitsentzug "Besserung" an. Nach dem Miterleben einer Zurschaustellung von Verurteilten am Pranger und deren Brandmarkung auf dem Markte zu Amsterdam gelegentlich der ersten Kollektenreise hatte Fliedner gefragt: Wozu diese gräßliche Weise des Strafens? Wird sie den Sträfling bessern? Und doch ist Besserung, wenn schon nicht der einzige, doch der höchste Zweck allen Strafens'l. Nicht anders als wohltätig kann es daher für sie sein, wenn man mit ernster Liebe sie in ihr Herz blicken lehrt, ihnen ein klares Bewußtsein von Gottes Heiligkeit und ihrer Strafwürdigkeit gibt, ihren Willen aufs Bessere lenkt und stärkt durch das Wort Gottes'!. Rein humanitäre Bestrebungen machten sich gelegentlich auch in der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft geltend. In einem interkonfessionellen Verein schien naturgemäß die Verwischung der Bekenntnisse erwünscht, auch in der Meinung, daß die geistige Erziehung der zu Rettenden "bloß eine allgemein sittliche und nicht eine konfesllIionell religiöse sein dürfe". So formulierte es der Verfasser der Geschichte der ersten hundert Jahre der Schutzgesellschaft83 • Etwa in der gleichen Zeit führte Radbruch aus: Strafen bedeutet absichtlich ein Übel zufügen. Wer in diesem Sinne strafen will, muß sich. eines hohen Auftrags zuversichtlich bewußt sein. Nur solange das Strafrecht im Namen göttlicher oder sittlicher Gesetze ausgeübt wurde, konnte man mit gutem Gewissen strafen. Folgerichtig ist deshalb weiter seine Frage: Aber vermag die Strafe, insbesondere die Freiheitsstrafe, neben Sicherung, der Erziehung, der Resozialisierung überhaupt zu dienen? Es bleibt der Zweifel, ob nicht Freiheitsstrafe ihrem Wesen nach für den Erziehungszweck ungeeignet sei". Mit aus diesen Zweüeln heraus ist auch die Unsicherheit in der Gefängnisreform unserer Zeit zu deuten. - Aber der Notstand: Freiheitsentzug in der Strafanstalt besteht! Was ist zu tun? Auf die Frage, hat die staatliche Gemeinschaft das Recht, Zwangsmaßnahmen einem Franz Schnabel, Anm. 3, Bd. IV, S. 411. Theodor Fliedner, Anm.9, Bd. I, S.227. 62 Martin Gerhardt, Anm.5, Bd. I, S.147. 83 Just, von Rohden, Anm. 2, S. 42. 84 Gustav Radbruch: Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Auti. Stuttgart 1952, S. 132 f. 80
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ihrer Mitglieder gegenüber zu ergreifen, versuchte Karl Barth in seinen "Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge" eine Antwort zu geben. "Der Staat ist keine Gemeinschaft von Göttern, sondern von Menschen, menschlich sind Gesetz und Strafe, menschlich begrenzt ist auch die der staatlichen Gemeinschaft durch Gottes Gnade zugewiesene Aufgabe des Strafvollzugs. Nur als Fürsorgemaßnahme kann Strafe - nicht als Sühne - vollzogen werden, nicht als Wiedergutmachung des zugefügten Übels. Sühne ist keine menschliche Möglichkeit, sondern Gottes in Jesus Christus vollzogene Tat. Das muß von uns Christen dem Staat gegenüber klar gesagt werden6l5 ." V. Die Antwort
Diese Grundhaltung prägte auch das Wirken Fliedners in seiner Gefangenensache. Seine Antriebskräfte unterschieden sich von denen der Aufklärung und damit wohl auch von denen, die in den Entwürfen von 1879 und 1927 sowie in dem Gesetz von 1976 erkennbar sind. Inwieweit einzelne Mitwirkende an der Reform als Bedienstete oder nebenamtliche Helfer im Sinne Fliedners in ihrem Wirken motiviert sind, mag offenbleiben. Nach diesen Ausführungen ist m. E. eine Antwort auf die im Thema gestellte Frage möglich. Sie kann nur lauten: Die von Fliedner angeregte Gefängnisreform muß als abgeschlossen gelten. Die Reformbestrebungen sind nicht mehr von der gleichen christlichen Grundhaltung getragen, die Fliedner und die in der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft Mitwirkenden motivierte. Unabhängig davon gilt es aber festzuhalten, daß die empfohlenen Mittel der Seelsorge, des Unterrichts, der Trennung nach bestimmten Kriterien, der Arbeit und der Fürsorge für Haftentlassene weiter gelten. Theodor Fliedner strebte als gläubiger Christ eine Gefängnisreform an. Zu fragen bleibt: Welche Antriebskräfte bewegen die Gefängnisreform und die Menschen, die sie tragen, in der Gegenwart? Von der Motivation hängt das Er~ebnis ab.
85
Karl Barth,
Anm. 55, S. 6 ff.
7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe* "Die Kriminalpolitik, wie ich sie verstehe, hat die Aufgabe, die Freiheitsstrafe in ihre Schranken zurückzuweisen und die Gefängnisreform als einen Teil des Ganzen ins Auge zu fassen l - 3." Für Liszt bedeutet Kriminalpolitik den systematischen Inbegriff derjenigen Grundsätze, nach welchen der Staat den Kampf gegen das Verbrechen mittels der Strafe und der ihr verwandten Einrichtungen zu führen hat4 ; sie ist ein Zweig der inneren Politik des Staates5 • Die Richtigkeit, daß die Kriminalpolitik einer der wichtigsten Zweige der Sozialpolitik sei, setzt Liszt als anerkannt voraus' und will damit zugleich sagen, daß eine auf Hebung der gesamten Lage der arbeitenden Klassen ruhig aber sicher abzielende Sozialpolitik, zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik darstellt7 • Weiter sei eingangs festgehalten, daß nach Liszt die Strafrechtswissenschaft dem Wortlaute nach nur die rechtliche Betrachtung von Verbrechen und Strafe umfasse und erst ein zusammenfassender Ausdruck gefunden werden müsse, der Strafrecht und Kriminalpolitik um• Erschienen in: Kultur - Kriminalität - Strafrecht. Festschrift zum 70. Geburtstag von Thomas Würtenberger, Berlin, 1977 S. 397 - 411. Eine Biographie von Franz von Liszt (1851 -1919) liegt noch nicht vor. Dies wird mit Recht als eine "empfindliche Lücke" gewertet!. Von einer Selbstdarstellung Liszts ist bisher nichts bekannt geworden2• Seine zahlreichen Veröffentlichungen zu Fragen der "Gesamten Strafrechtswissenschaft", die den Vollzug der Freiheitsstrafen (Zuchthaus und Gefängnis) einschließen, liegen vor. Dazu kommen eine Fülle von Abhandlungen von Freunden, Anhängern und auch Gegnern dieses Mannes, die sein Wesen kennzeichnen. Erwähnt seien hier auch die beiden Franz von Liszt gewidmeten Sondethefte, der "Revue Internationale De Droit Plmale" a l'occasion du centenaire de la naissance (1951 (22) Nos 2 et 3, p.169 - 349) und der "Zeitschrift Für Die Gesamte Strafrechtswissenschaft" , zur 50. Wiederkehr seines Todestages (1969 (81) Heft 3, S. 543 - 829) .mit einer Abhandlung von Rudolf Sieverts, Franz von Liszt und die Reform des Strafvollzuges (S. 650 ff;). 1 Jannis A. Georgakis, Geistesgeschichtliche Studien zur Kriminalpolitik und Dogmatik Franz von Liszts. Leipzig, 1940, S. 3. . . 2 Brief von Eberhard Schmidt an den Verfasser vom 16. August 1976. 3 Franz von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Erster Band: 1875 -1891. Zweiter Band: 1892 -1904. B.erlin, 1905 = AuV 1/296. 4 AuVI/291. 5 Franz von Liszt, Kulturfortschritt und Strafgesetzgebung. In "März", Heft 1, 1907. S. 83. s AuVlIj95. 7 AuV II/246 und lI/8.
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schließe. Er entscheidet sich dafür, durch Beifügung des Wortes "Gesamte" Strafrechtswissenschaft, den Ausdruck seiner engeren Bedeutung zu entkleiden8 • In diesen Rahmen stellt Liszt den Vollzug der Freiheitsstrafe und bestreitet, daß es eine "Gefängniswissenschaft" gebe. Was man so nenne, sei ein Teil des Strafrechts im engeren Sinne oder der Kriminalpolitik. Denn die Freiheitsstrafe ist nur ein Glied in der Kette der Strafmittel und daß man von einer besonderen Gefängniswissenschaft spricht, hat seinen Grund in der fast ausschließlichen Herrschaft der Freiheitsstrafe, wie diese in der einseitigen Betonung des Besserungszweckes ihre tiefste Wurzel findet'. An dieser Auffassung hielt Liszt sein Leben lang fest, übte hieraus seine aufbauende Kritik und stellte weiter fest: unzweifelhaft ist mir, daß Strafrechtswissenschaft, Straf· gesetzgebung und Strafrechtspflege, d. h. Gesetzgeber, Richter und Vollzugsbeamter, ihrer großen Aufgabe dem Leben gegenüber bisher in keiner Weise genügt haben. Mit der Erkenntnis dieser Tatsache ist der Weg der inneren Reform vorgezeichnet. Möge die unausbleibliche Revision unseres Strafgesetzbuches, die unerläßliche Regelung des Strafvollzuges uns nicht unvorbereitet treffen10• - Was gab Liszt die Vollmacht mit solcher Eindringlichkeit auch über den Vollzug der Freiheitsstrafe zu sprechen? Seine Haltung wird nur verständlich, wenn versucht wird, sie im Rahmen der Zeitgeschichte zu betrachten. I
"Allmählich löst sich das Rechtsdenken von einem ethisch bestimmten Sühne- und Vergeltungsgedanken und wendet sich einer rational begründeten, sozialen Strafrechtspflege zu. Jetzt tritt die seit Ende des 19. Jahrhunderts und vor 1933 lebendige Gedankenwelt der Soziologischen Strafrechtsschule eines Franz von Liszt in den Vordergrund. Mächtig setzen sich heute Ideen der Resozialisierung und Erziehung des Rechtsbrechers im Raume des Strafrechts durchl1." Dieser Satz von Thomas Würtenberger kennzeichnet auch die vollzugsgeschichtliche Situation in der Liszt lebte und wirkte. Er steht auf der Grenze, die zwei Denkperioden scheidet1 2 • So ist auch seine Stellung 8 AuV I/293 f. , AuvI/295. 10 AuV 1/179.
11 Thomas WilTtenbeTgeT, Die Reform des Deutschen Strafvollzuges im Geiste des sozialen Rechtsstaates. In: Festschrift für O. A. Germann. Bern.
1969. S. 310.
12 EduaTd KohlTauseh, Die geistesgeschichtliche Krise des Strafrechts. Rede zum Antritt des Rektorats der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1932. Berlin, 1932. S.16.
7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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im Rahmen der Entwicklung des deutschen Gefängniswesens seit der Aufklärung doppeigesichtig. Er wendet sich ab von dem in der ersten Periode (1777 - 1871) leitenden Prinzip der "Moralität", der sittlichen Besserung, und vertritt in der zweiten Periode (1871 - 1914), die sich fast ganz mit seinem individuellen Wirken deckt, den Standpunkt der "Legalität", der rechtlichen Besserung. Gleichzeitig erkennt Liszt die Tendenz zu einer Sozialisation in einer, im Laufe der dritten Periode (seit 1918) sich entwickelnden "Societät"18. Mit dem Satze: der liberale Individualismus, der die Interessen des ein:i:elnengegenüber jenen .der Gesamtheit in erster Linie betonte, der Geist der Aufklärungszeit und der aus ihr hervorgegangenen französischen· Revolution hat uns die scharfe Begrenzung der staatlichen Strafgewalt gebracht14, charakterisiert Liszt seine Haltung. "Staat und Recht sind um der Menschen willen da15." - So wird Liszt von seinen Schülern als der Liberale mit einem sozialen Ideal im Herzen gesehen16 und festgehalten: er betätigte auch in der allgemeinen Politik einen entschiedenen Liberalismus17 • Seit 1909 war Liszt freisinniger Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und seit 1912 Abgeordneter im Reichstag18. In diesem Sinne sieht Liszt als mögliche Wirkung der Strafe an: Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung, die in drei Strafformen, die wiederum drei Kategorien von Verbrechern entsprechen müssen, zu vollziehen sind. Im Kampf gegen das Gewohnheitsverbrecherturn bedeutet der Strafvollzug die Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher11. Die zweite Gruppe, die der Besserungsbedürftigen soll in eine Besserungsanstalt eingewiesen werden. Dort beginnt auf unbestimmte Zeit, die Strafe mit Einzelhaft. Bei guter Führung kann widerrufliche Versetzung in progressive Gemeinschaft ausgesprochen werden. Nach der Entlassung müssen Privatvereine für Unterbringung und Unterstützung Sorge tragen. Für die dritte Gruppe, 13 Albert Krebs, Die Aufgabe des Freiheitsstrafvollzuges. Ideen- und begriffsgeschichtliche Bemerkungen. In: Tagungsberichte der Strafvollzugskommission. Hrsg. Bundesministerium der Justiz. Bd. VI. Bonn, 1969. BI. 48 bis 7l. Auch abgedruckt in: Monatsschrift für Kriminologie. 1970 (53). S.145 bis 159. 14 Franz von Liszt, Einflüsse der neuen Anschauungen auf die strafrechtlichen Grundbegriffe. In: Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 1893 (4) S.l77. 15 Franz von Liszt, Das Deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichsstrafgesetzbuches und der übrigen strafrechtlichen Reichsgesetze. BerlinLeipzig, 188l. S. 2. 11 Eduard Kohlrausch, s. Anm. 12. S. 16. 17 Gustav Radbrnch, Sicherungstheorie und Rechtssicherheit. In: Deutsche Juristenzeitung, 1925. Heft 17. Sp.1290. 18 Eberhard Schmidt, Franz von Liszt (1851 -1919). In: Die Großen Deutschen. Hrsg. v. L. Heimpel u. Th. Heuss. Berlin, 1957. Bd.5, S.413. 11 AuV 1/166 und Franz von Liszt s. Anm.5. S. 84 f.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
die der Gelegenheitsverbrecher, soll Abschreckung, eine gewissermaßen handgreifliche Warnung sein, ein "Denkzettel" für den egoistischen Trieb des Verbrechers 20 • - Unter "Besserung" versteht Liszt nicht die sittliche, sondern die· rechtliche Besserung, als Erziehung zu rechtlicher Lebensführung21 , d. h. Einpflanzung und Kräftigung altruistischer sozialer Motive. Abschreckung strebt an: Einpflanzung und Kräftigung egoistischer, aber in der Wirkung mit den altruistischen zusammenfallenden Motive22 . Während des Vollzugs hält Liszt nach österreichischem Vorbild, die Mitwirkung von Strafvollzugskommissionen oder Aufsichtsräten für beachtenswert. Sie sollten bei der Festsetzung des Entlassungstermins der auf unbestimmte Zeit Eingewiesenen mitwirkenlS• Grundsätzlich wendet sich Liszt gegen das Prinzip der Vergeltung. In allen seinen Äußerungen über Strafe und Strafvollzug lehnt er "Vergeltung" ab und betont: nicht Vergeltung sondern Sicherung ist die Aufgabe!'. Dem Vergeltungsstrafrecht hat Liszt schon immer Kampf angesagt25 • 11
"Seit einem Jahrzehnt beginnen auch weitere Kreise der Strafrechtswissenschaft sich mit dem Gefängniswesen zu beschäftigen und jetzt gibt es wohl keinen Lehrer des Strafrechts, der nicht das Gefängniswesen in den Kreis seiner systematischen Darstellung gezogen oder monographisch behandelt hätte. Unter ihnen besonders von Liszt, sowohl in seinem Lehrbuch, wie in seiner Zeitschrift", hält Krohne 1889 fest28• Die Beziehungen dieser beiden großen Männer auf dem Arbeitsfeld der "Gesamten Strafrechtspflege", Liszt und Krohne, vor allem auf dem des Vollzugs von Freiheitsstrafen, verdiente eingehendere Würdigung27. In der Grundfrage besteht übereinstimmung. Krohne lehnt "Vergeltung" ab, wenn er auch, im Gegensatz zu Liszt, den sittlichen UnterAuV 1/172. AuV 1I/209. 22 AuV I/163. 23 AuV 1/171 und Handbuch des Gefängniswesens. Hrsg. von Franz von Holtzendorff u. Eugen von Jagemann. Hamburg, 1888. S. 161 ff. und 246 ff. Hans Joachim Schneider, Franz von Holtzendorff, seine Persönlichkeit und sein Wirken im Strafvollzug. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 1964 (13), 63 -70. 24 AuV 1I/457. 25 Felix Pfenninger, Franz von Liszt, ein deutscher Kriminalpolitiker. In: Schweizerische Juristenzeitung, 1966 (62) 8.136. 28 Karl Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde ... Stuttgart, 1889. S.143. 27 Krohne war u. a. Mitglied des Vorstandes der Deutschen Landesgruppe der IKV (AuV 1I/429); Liszt war u. a. Mitglied des Vereins der Deutschen Strafanstaltsbeamten. (Bl. für Gefängniskunde, 1897 [31) S. 159 und ebenda 1912 [46] S.4.) 20
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7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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grund der Strafe betont28 und mit dem Motto: "Die Rache ist mein. Ich will vergelten, spricht der Herr" auf dem Titelblatt seines Lehrbuches zugleich seine religiöse Bindung bekennt. Meinungsverschiedenheiten bestanden auch über den Begriff "Unverbesserlich", den Krohne ablehnte29 und über die einheitliche in Einzelhaft zu vollziehende Freiheitsstrafe, von der Liszt bekannte: ich halte den Gedanken der einheitlichen Freiheitsstrafe für gänzlich verkehrtSo. Nicht zuletzt war Krohne ein Verfechter der "Gefängniswissenschaft" über die er ausführlich in der Lisztschen Zeitschrift abhandeln konnte31 . Dies, obwohl wie eingangs erwähnt, Liszt energisch bestritt, daß es eine solche gibt3!. Liszt, wohl schon durch die Tätigkeit des Vaters angeregt, der sich "um den Strafvollzug in Österreich sehr große Verdienste erworben" hatte33 , wurde während seines Studiums in Wien auch mit den Arbeiten des Strafrechtlers Wahlberg über das Gefängniswesen in Österreich und seine Geschichte bekannt und zugleich mit dessen Unterscheiden von "Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrechern" vertraut". Bereits in der ersten Auflage seines "Deutschen Reichsstrafrechts" (1881) widmete Liszt dem Vollzug der Freiheitsstrafe und seiner Geschichte eine systematische DarstellungSs . Diese Ausführungen wurden in der zweiten Auflage ergänzt36 • In einer Studie über den Stand der Gefängnisreform in verschiedenen europäischen Ländern, über die weiter unten berichtet wird, befaßte sich Liszt bereits 1888 ausführlich mit dem Thema und seiner Geschichte37 • Die Zeitenwende, auch Liszts kriminalpolitisches Programm ist in diesem Sinne zu würdigen, erlebte er sehr bewußt als Liberaler. 28 29
Kart Krohne s. Anm.26. S.220 Anm. Franz 'Von Liszt, Die Gefängnisarbeit. Vortrag, geh. am 26. Juli 1900
Berlin, 1900. S.16. 30 AuV 1/398. S1 Kart Krohne, Der gegenwärtige Stand der Gefängniswissenschaft. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1888 (1) S. 53 ff. und Jürgen Btühdorn, Beiträge zur Entwicklung und Pflege der Gefängniswissenschaft an den deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahrhunderts. jur. Diss. Münster, Stettin, 1964. S. 233 ff. und Heinz MüUer-Dietz, Strafvollzugskunde als Lehrfach. Bad Homburg v. d. H. 1969. S. 10. 32 AuV 1/295. 33 Kart 'Von Litienthat, Franz von Liszt t. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1919 (40) S. 535. 34 Reinhard Moos, Franz von Liszt als Österreicher. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1969 (81) S. 666 f. und Lammasch, Wilhelm Emil Wahlberg t 3l. Januar 1901. In: BI. für Gefängniskunde, 1901 (35) S. 520 ff. 36 Franz von Liszt. s. Anm. 15. S. 186 ff. 36 Franz 'Von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. 11. Aufl. BerlinLeipzig, 1884. S. 247 ff. 31 Handbuch des Gefängniswesens. s. Anm. 23, Bd. I. S. 161 ff. u. S. 246 ff.
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I. Teil: Pioiliere des Gefängniswesens
Das Jahr 1878 war ein Schicksalsjahr, wohl das entscheidungsvollste Jahr zwischen 1871 und 19143!1. Das ist zugleich, wie bereitsgekennzeichnet, die zweite Periode des Gefängniswesens in Deutschland. In seiner Programm$chrift: Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882), stellt Liszt schon die drei Kategorien von Verbrechern heraus3e, denen. drei Strafformen entsprechen sollen~o. Weiter fordert er, daß sich die Grundgedanken des Strafvollzuges den Zwecken anpassen müssen, welche der Gesetzgeber mit der Strafe überhaupt verfolge'1. Dies geschieht nach der Feststellung: ,;wir beachten nicht, daß das Strafurteilerst.durch sei,. nen Vollzug Inhalt und J3edeutung gewinnt. Nicht der Richter, sondern der Leiter.der Strafanstalt bestimmt Bedeutung und Inhalt des richterlichen Urteils, und der Leiter der Strafanstalt, nicht der Gesetzgeber, verleiht den leeren Strafandrohungen des Gesetzbuches Leben Und Kraft. Die Fülle der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt ist in seiner Person vereinigt Daß ein derartiger Zustand unhaltbar ist, 'bedarf keines Nachweises'!." - Bei aller Würdigung dieser Bedenken bleibt die Tatsache unabänderlich, daß allgemein gesprochen, der 'Vollzugsbeamte den Vollzug der Freiheitsstrafe zwangsläufig entscheidend bestimmt. Er muß ihn auch bestimmen, schon um ein Chaos zu vermeiden. Dabei hat sich das Verhalten der Beamten selbstverständlich im gesetzten rechtlichen Rahmen zu halten. Die Forderungen, dieLisztan den Vollzug stellt sind vielgestaltig43 • Bereits im "Strafrechtslehrbuch" (1881) wird festgehalten: Aber noch während die Zellenhaft ihrenSiegeszug durch Europa hielt, war ihr ein gefährlicher Gegner entstanden in dem von Crofton aufgestellten "Progressivsystem". "Auf dem Gedanken allmählicher Wiederherstellung des sittlichen (!) Gleichgewichts im Sträflinge, allmählicher Wie';' dereinführung desselben in die bürgerliche Gesellschaft aufgebaut, besteht dasselbe im Wesentlichen auf folgenden, von dem Verurteilten zu durchlaufenden Stadien: a) strenge neunmonatliche Einzelhaft; b) gemeinsame Arbeit· in vier progressiven Abteilungn (Maconochis Markensystem); c) Aufenthalt in der Zwischenanstalt (intermediate prison) in welcher den Sträflingen freierer Verkehr mit der Außenwelt gestattet ist; d) bedingte Entlassung mit der Möglichkeit des Widerrufes. Noch heute ist der Streit zwischen Anhängern der Einzelhaft und den .Freunden des progressiven Strafvollzuges nicht zum Abschluß gebracht"." 38 Gustav Radbruch, Franz von Liszt - Anlage und Umwelt. In: Elegantiae juris .criminalis. Basel, 1950. S. 22l. ae AuV 1/126 f. 40 AuV I/165. 41 AuV I/329. 4! AuV I/328. 41 AuV II/398.
7. Franzvon· Lisztzum Vollzug der Freiheitsstrafe
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Zu den Anhängern des progressiven Strafvollzugs - wie Liszt selbst -. gehörte in Deutschland vor allem Franz von Holtzendorff, der in zahlreichen Abhandlungen· zum "lrischen System" Stellung nahm und dessen "bleibendes Verdienst" für seine kriminalpolitischen Anregungen und Bestrebungen Liszt würdigt41 . Vermerkt sei hier, daß Radbrueh einmal äußerte: Liszt habe sich anscheinend Holtzendorff zum Vorbild genommen". Auf den Kampf gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe, den Liszt hartnäckig führte und sein Eintreten für die "Sichernden Maßnahmen" sei hier nur verwiesen; Erstere wirke sich "schädlicher aus als völlige Straflosigkeit"41. Letztere sei von "reizvoller Bedeutung"48. - Eine der Voraussetzungen zur Bekämpfung des Verbrechens auch im Freiheitsentzug,sleht Liszt in Wissenschaftlicher Ursachenforschung. Dabei erschien ihm die Bedeutung der Naturwissenschaften so überragend, daß er "wisSenschaftliches Denken mit naturwissenschaftlichem recht eigentlich identüizierte"". Mit aus diesem Motiv heraus behandelt er die Kriminalität der Jugendlichen, deren Ursachen und die damit zusammenhängenden Fragenso• In einem Vortrag spricht er den anwesenden Krohrie an: "schaffen Sie uns den Rechtsboden, auf dem Staat und Gesellschaft ihre Kräfte vereinigen können, um, soweit es Menschenhand vermag, jene eiternde Wunde zu heilen, die den im übrigen so gesunden, so lebenskräftigen Organismus unsere deutschen Volkes entstellt und, was auch die Optimisten sagen mögen, auf das ärgste gefährdet11 • " Die Organe, die sich Liszt zur Verbreitung seiner Ideen Schuf, waren vielgestaltig, so z. B. seine Lehrtätigkeit an der Universität und sein "Kriminalistisches Seminar",· seine Publikationen,· auch die Herausgabe der "Zeitschrift Für Die Gesamte Strafrechtswissenschaft" (seit 1881), das Forum. der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (seit 1888) in welcher er vor allem mit Hamel- Amsterdam und mit PrinsBrüssel, dem Generalinspektor des belgischen Gefängniswesens eng zusammenwirktel2 • Hingewiesen sei auch erneut auf sein Wirken als Abgeordneter in der Politik. 44 Franz von Liszt. s. Anm. 36. S. 244 f. 41 AuV 1/352. 41 Gustav Radbruch. s. Anm. 38. S. 215. 47 AuV 1/353. 48 Franz von Liszt, Die "Sichernden Masnalunen'~ in den drei neuen Strafgesetzentwürfen. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 1909/10
(3) S.613.
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Eberhard Schmidt, Anselm von Feuerbach und Franz von Liszt. In: Monatsschrift für Kriminalbiologie ... 1942 (33) S.214: 10. AuV lI/331 U. 11 AuV lI/355. 12 Handbuch des Gefängniswesens. s. Anm. 23. Bd. I. S. 278. 49
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Freiheitsentzug
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
m "Ich verstehe unter Besserung nicht die sittliche, sondern die rechtliche Besserung, also die Erziehung zu rechtlicher Lebensführung. Und ich behaupte, daß die Freiheitsstrafe erziehend nur insoweit zu wirken vermag, als es sich um Gewöhnung an regelmäßige, ehrliche Arbeit handelt53 •" Die Verwendung der Begriffe: sittliche und rechtliche Besserung, Erziehung zu rechtlicher Lebensführung, Gewöhnung an regelmäßige Arbeit, Individualisierung, Spezialprävention usw. kennzeichnet zugleich die Grundhaltung zum gesamten Problem. Liszts Bedeutung als Wortführer in der zweiten Periode der Geschichte des Gefängniswesens in Deutschland, vor allem mitgetragen von Krohne, während der Jahre 1871 - 1914 kann nicht überschätzt werden. Sein Wirken unterbaut zugleich seine Anregungen für den dritten Zeitabschnitt nach 1918. Sein geistiges Erbe wirkte im Bereich des Freiheitsentzuges durch die "Liszt'sche Schule" weiteru. An zahlreichen Stellen seiner Werke, Aufsätze und Vorträge nimmt dieser Forscher und Lehrer die Themen der "Gesamten Strafrechtswissenschaft" auf. Besonders wichtig erscheint der bereits erwähnte Beitrag zur Geschichte55 und dann der erfreulicherweise gedruckt überlieferte Vortrag: "Die Gefängnisarbeit"5e, der zugleich einen Teil des Lehrstoffes der im Sommerhalbjahr 1900 gleichzeitig laufenden Vorlesung: über Gefängniswesen, wiedergibt57 . Eine dritte Veröffentlichung, aus dem letzten Lebensjahr, "Die Rückwirkung der November-Revolution auf Strafrecht und Strafverfahren" enthält ein wissenschaftliches Testament und weist dabei auch dem Vollzug der Freiheitsstrafe die gebührende Stellung ein58• In "Geschichte und Stand der Gefängnisreform in Europa seit 1830"51, stellt Liszt das Gefängniswesen in den politischen Bereichen: Preußen, Sachsen, Hessen, Mecklenburg, Oldenburg, den thüringischen Staaten, Anhalt, Braunschweig, den Fürstentümern außerhalb Thüringens und den Hansastädten dar. Weiter beschreibt er das Gefängniswesen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Frankreich, Belgien und den Niederlanden. AuV II/209. Gustav Radbruch, Drei Strafrechtslehrbücher des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift für Heinrich Rosenfeld. Berlin, 1949. S. 26 f. 55 Handbuch des Gefängniswesens. s. Anm. 23. Bd. I. S. 161 - 186 u. 247 - 292. 51 Franz von Liszt. s. Anm. 29. S. 1 - 20. 57 Franz von Liszt. s. Anm. 29 und Jürgen Blühdorn. s. Anm. 31. S. 130. 58 Franz von Liszt, Die Rückwirkung der November-Revolution auf Strafrecht und Strafverfahren. In: Juristische Wochenschrift 1918 (17) S. 785 ff. 51 Handbuch des Gefängniswesens. s. Anm. 37 Bd. I. S. 161 ff. 63
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7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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Aus der umfangreichen Darstellung lassen sich nicht nur Folgerungen für die Sache als solche ziehen, wie es seit Ranke die Aufgabe einer geschichtlichen Abhandlung ja ist, sondern zugleich für die zwar vorsichtige und sorgfältige Arbeitsweise, bei dennoch klarer Stellungnahme. Mir scheint es darf daraus, kennzeichnend für seine Technik der geistigen Arbeit, ein Schema gewonnen werden, das die Gewissenhaftigkeit des Sammelns von informierenden Unterlagen erkennen läßt, die verbunden bleibt mit nie ermüdender Darstellungsweise. Unter Verwendung der von Liszt gebrauchten Fachworte sei es zusammengestellt: 1. Die geschichtliche Entwicklung. 2. Der gegenwärtige Zustand; a) Strafanstalten; I. Gesetzgebung; 11. Haftform; 111. Strafanstalten; b) Gerichtsgefängnisse; e) Neueste Reformbestrebungen. 3. Die Gefängnisbehörde: I. Zentralleitung; 11. Lokalbehörden; 111. Gefängnis-Kommissionen. 4. Die Verwaltung: I. Rechtliche Grundlagen; 11. Der Grundgedanke des Gefängniswesens; 111. Die Arbeit; IV. Seelsorge und Unterricht; V. Ernährung und Bekleidung; VI. Selbstbeköstigung; VII. Disziplinarstrafen; VIII. Entlassung, Schutzfürsorge, Polizeiaufsicht. 5. Die Spezialanstalten, Zwangs.. und Besserungsanstalten. Die Besonderheiten des Gefängniswesens in jedem der genannten Länder werden aufgezählt und imhler wieder die Kernfragen des Vollzugswesens der zweiten Periode: Einzelhaft, Gemeinschaftshaft, Progression, auch nach dem "Irischen System", erörtert. Im letzten Abschnitt: Preußen von 1871 bis zur Gegenwart, wird das lebhafte Interesse erwähnt, das das zuständige Ministerium des Inneren, den Arbeitsbetrieben in den Anstalten, die damals überwiegend auf dem Unternehmersystem beruhten, entgegenbrachte. "Auch die Arbeitsverdienstanteile der Sträflinge wurden geregelt"IO und damit im Prinzip anerkannt. Wie brennend die Frage der Arbeit der Gefangenen in Fachkreisen angesehen wurde, zeigt auch das von den deutschen Handelskammern abgegebene Gutachten über den Einfluß der Gefängnisarbeit auf den freien Arbeitsbetrieb81 • Die Beschlüsse der von dem Deutschen Handelstag eingesetzten Kommission aus Vertretern der zuständigen Behörden und der freien Wirtschaft, lassen beachtenswerte Fachkenntnisse und Sorgfalt bei den Erhebungen erkennen. Die damals für wesentlich erachteten Gesichtspunkte sind in fünf Thesen zusammengefaßt. Hier sei nur die dritte wiedergegeben: Es erscheint zweckmäßig, die Herstellung von Bedarfsartikeln für öffentliche Zwecke den Gefangenenanstalten zuzuweisen. Dahin zählen beispielsweise Lieferungen für VerkehrsHandbuch des Gefängniswesens. s. Anm. 37 Bd. I. S. 165. Deutscher Handelstag. Hrsg. Enquete über den Einfluß der Gefängnisarbeit auf den freien Gewerbebetrieb. Berlin, 1878 und Karl Krohne, s. Anm. 26. S. 393 Anm. 8. 10 81
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I. Teil: Pioniere des Gefängriiswesens
anstalten, Gerichts- und andere Verwaltungsbehörden, Militär usw. t2 • Auch der kompetenteste Vertreter der Fachwelt, Krohne, stimmte dem Inhalt dieser Vorschläge zuss . Beachtenswert ist besonders, daß diese Empfehlung erfolgte trotz des "allgemeinen wirtschaftlichen Mißbeha;.. gens" im Deutschen Reich in der Mitte der siebenziger Jahre" . . In seinem vor der Berliner Firikenschaft Sommer 1900 gehaltenen Vortrag "Die Gefängnisarbeit"65; ist Liszt zunächst bestrebt das Problem "in das Licht der allgemeinen Betrachtungen zu stellen und zuzeigen, daß es keine scheinbar noch so kleine Frage der Strafgesetzgebung, Strafrechtspflege, . des Strafvollzuges gibt, die lllit Sicherheit anders gelöst· werden könnte, als vom prinzipiellen Standpunkt aus, d. h. auf Grund einer klaren und sicheren Auffassung dessen, was wir mit der Strafe eigentlich woilen"". Diese These wird sorgfältig untermauert. Unter Bezug auf die· geschichtliche Entwicklung und die derzeitigen Gegebenheiten wird .festgehalten: "Dieser organisierte Arbeitszwang bildet das Wesen der Freiheitsstrafe, ist ihr Lebenselement mit dem sie steht und fällt·7." Weiter werden die verschiedenen Betriebsformeri gekennzeichnet: Regiebetrieb ist Arbeit für eigene Rechnung der Anstalt, Kundenbetrieb Jst Arbeit der Anstalt für private Kunden und im Unternehmerbetrieb wird die Arbeitskraft der Gefangenen einer Anstalt an einen oder mehrere Unternehmer "verpachtet"88; Dabei wird das Für und Wider der verschiedenen· Systeme erörtert. Auf das Ergebnis der . "Enquete" des Deutschen Handelstages, das den Regiebetrieb empfiehlt, wird zustimmend Bezug genommen". Wieder erwähnt Liszt hierbei den Mann, der seit 1878 dem neuen, d. h. hier dem empfohlenen Prinzip in den preußischen Anstalten "zum Siege verholfen hat", den Geheimrat Krohne, "wohl der verdienteste von allen preußischen Beamten auf dem Gebiete des Gefängniswesens, unser jetziger Referent für das Gefängniswesen im Preußischen Ministerium des Inneren"70. - Liszt scheut sich keineswegs neben seinen fachlichen Ansichten auch seine persönliche Meinung offen zu äußern. Es geschieht dies im Falle Krohne so eindrucksvoll, gerade weil Krohne (nach 1895), obwohl prinzipieller Anhänger der 62 Deutscher Handelstag. s. Anm. 61. Die Enquete ist nicht paginiert. Die Thesen sind auf den beiden letzten Seiten abgedtuckt. es. Kar! Krohne, s. Anm. 26. S. 396 Anm. 12. 04 A. Sartorius von Waltershaus'en, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815 bis 1914. Jena, 1920. S.291. 85 Franz von Liszt. s. Anm.29. " Franz von Liszt.s. Anm. 29. S. 3. 87 Franz von Liszt. s. Anm. 29. s. 5. 18 Franz von Liszt. s. Anm; 29. S. 7 f. 88. Fi"anz von Liszt. s. Anm. 29. S. 11. 70 Franz von Liszt. s. Anm.29. S.l1.
7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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Einzelhaft, der Entwicklung zu gemeinsamer Arbeit der Gefangenen bei der Kultivierung von Moor- und Odländereien zugestimmt hatte71 • Wie ernst und grundsätzlich Liszt diese Einzelfrage behandelte; zeigt seine vorangestellte Frage: was wollen wir mit dieser Strafe dem einzelnen Gefangenen gegenüber? - Mit seinen Freunden nimmt er den Standpunkt ein: Individualisierung auch im Strafvollzug. Zwar können wir nicht ein besonderes Reglement für jeden von ihnen aufstellen, für jeden einen besonderen Arbeitsbetrieb . einrichten. Was wir durchführen können und müssen ist zunächst eine Gruppierung. der Gefangenen72. In der Dreiteilung der straffällig Gewördenen, die er. bereits in seinem Marburger Universitätsprogramm 1882 vorgesehen hatte7S und stets beibehielt,erfolgt auch die Unterscheidung bei· der "Arbeit". Die absolut Unverbesserlichen stehen neben der Gruppe "bei der ein erkennbarer Hang zum Verbrechen da ist, bei der aber Hoffnung auf Besserung vorhanden ist". Drittens besteht eine Gruppe, bei der es sich lediglich darum handelt, "die Macht der Rechtsordnung zu Gemüte zu führen" und sagen, daß sich niemand "ungestraft·auflehnen darf gegen die Gesamtheit"7'. Ohne auf den Begriff "unverbesserlich" nochmals einzugehen, sei festgehalten: Liszt weiß bei der Einteilung der Gefangenen zur Arbeit sehr wohl zu unterscheiden. "Gute Führung und Besserung sind durchaus verschiedene Begriffe. Die gute Führung ist kein Beweis fiir Besserung und die ,Unverbesserlichen' sind von Landeskulturarbeiten notwendig auszuschließen7'." - Liszts Interesse gilt hier wie im Allgemeinen den "Besserungsbedürftigen und Besserungsfähigen", die weil sie aus Arbeitscheu zu Verbrechern geworden sind, wir zu erziehen gedenken, und sie dann hinaus geben wollen in die Freiheit. In diesem Sinne, so folgert er weiter, müssen wir den Strafvollzug auch bezüglich der Arbeit progressiv gestalten, "mit einer etwa 6 bis 9 Monate umfassenden Einzelhaft, in der der Gefangene mürbe (I) werden soll. Dann muß gemeinschaftliche Tagesarbeit mit anderen Verbrechern eintreten, dann die bedingte Entlassung sich anschließen ... Hier würde sich die Beschäftigung dieser Leute im Freien durchaus naturgemäß dem progressiv gestalteten Strafvollzug eingliedern lassen: nach der gemeinsch~tlichen Haft und als Zwischenstufen zwisChen dieser und der bedingten Entlassung, als Mittelglied, etwa der irischen Zwischenanstalt entsprechend78." 71 Franz von Liszt. 72 Franz von Liszt. . 78. AuV 1/165 ff. 74 Franz von Liszt. 75 Franz von Liszt. 78 Franz von Liszt.
s. Anm. 29. S. 13. s. Anm. 29. S. 15 f . s. Anm. 29. S. 16. s. Anm.29. 5.17. s. Anm. 29. 5. 18.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Die didaktische Geübtheit wird in ihrer Eleganz auch in den Schlußsätzen des Vortrags deutlich. Unter nochmaligem Hinweis auf die Kardinalfrage: Was wollen wir mit der Freiheitsstrafe überhaupt und diesem Individuum gegenüber?, kommt Liszt zu einer sein Wesen kennzeichnenden "Nutzanwendung". "Daß wir an alle Fragen der Wissenschaft wie des praktischen Lebens herantreten müssen ohne Voreingenommenheit und ohne Schlagworte und Redensarten. Die Methode, die wir bei der Lösung der uns gestellten Probleme zur Anwendung zu bringen haben, ist stets dieselbe: ruhige, gewissenhafte Beobachtung der Tatsachen, wie sie das Leben uns gibt, und nicht eine Beurteilung der Zweckmäßigkeitsfrage77 ." "So von Grund aus Politiker Liszt auch ist, hat er doch seine Kriminalitätspolitik, wenigstens bei ihrer Konzeption, nicht politisch motiviert, ist sich ihrer politischen Motivation, wenigstens zu Anfang, vielleicht sogar nicht einmal voll bewußt geworden ... Dahin gehört, daß Liszt nur an dem praktischen Ergebnis gelegen ist, nicht an der theoretischen Begründung, die leichten Herzens preisgegeben und ausgewechselt wird"78, meinte Gustav Radbruch. IV
"Liszt ist Zeit seines Lebens Politiker gewesen. Schon als Student hat er einen politischen Verein gegründet und geleitet. So ist er prädesti... niert gewesen, der Begründer der Kriminalpolitik zu werden. Seine strafrechtlichen Vorlesungen bekamen dadurch ihre spezifische Note. Dogmatische Starrheit gab es da nicht"711, schreibt Eberhard Schmidt. "Die freie Diskussion und mit ihr die restlose Toleranz gegen Andersdenkende ist Liszts Lebenselement. Auf beides, auf das menschlich verbindliche Wesen der Aussprache und auf Achtung vor jeder Überzeugung, gründete sich die ,Liszt'sche Strafrechtsschule', in welcher Kriminalisten sehr verschiedener strafrechtlicher Färbung vertreten waren"80, stellt Gustav Radbruch fest. Unabhängig von dem rein Fachlichen wird m. E. aus der Methode der Erörterung der "Gefängnisarbeit", gewiß einem Teilproblem, deutlich, mit welcher Festigkeit, mit welchen klaren, schneidigen Begriffen81 , Liszt seinen Hörern gegenübertritt. Daß er dabei, sein Leben für die Kriminalpolitik einsetzend, auch auf heftigen Widerstand stieß (Wach 77 Franz von Liszt. s. Anm.29. S. 19 f. - Ein Rezensent des Vortrages: Heinrich Gerland-Strassburg, hebt besonders die "weiten Ausblicke" des Textes hervor. In: Der Gerichtssaal. 1901 (51) S.66. 78 Gustav Radbruch. s. Anm. 38. S. 212. 711 Eberhard Schmidt in einem Brief an den Verfasser vom 3. September 1976. 80 Gustav Radbruch. s. Anm. 54. S. 26 f. 81 Franz von Liszt. s. Anm.15. S. V.
7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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und Binding) und welches Ausmaß der "Schulenstreit" annahm, ist ausführlich überliefert8!. Auch über seine Grundhaltung mit Gegnern, Anhängern und Freunden, sind wir durch zahlreiche Zeugnisse unterrichtet. Welche Achtung und Zuneigung lassen allein die Nekrologe erkennen8S ! Ein halbes Jahr vor seinem Tode erlebte Liszt: "Die Rückwirkung der November-Revolution auf Strafrecht und Strafverfahren8'." Wieder bleibt er Mahner und Lehrer: "meine Zeilen verfolgen keinen anderen Zweck, als auf dem Teilgebiete des Strafrechts und des Strafverfahrens eine erste Anregung zu geben86 ." So wiederholte er, was er 30 Jahre vorher bekannte: "Anregen möchte ich, nicht belehren86 ." Zum Thema Strafvollzug hält er fest: Die Grundlagen zu den Bestimmungen über den Vollzug der Freiheitsstrafen gehöre~ in das Strafgesetzbuch selbst. Dies ist bis heute nicht geschehen. Die, soweit bekannt letzte Anregung hierzu in einer Denkschrift der EKD vom 7. Oktober 1966, fand keinen Widerha1l87 • Liszt fährt fort: "Auch hier mag auf das Vorbild hingewiesen werden, das der GE aufgestellt hat88• Will man sie zusammen mit den mehr ins Einzelne gehenden Vorschriften lieber in einem besonderen Gesetz zusammenfassen, so ist dagegen ernster Widerspruch nicht zu erheben, vorausgesetzt, daß die beiden Entwürfe miteinander vorgelegt und als einheitliches Ganzes behandelt werden." Das schließt m. E. nicht aus, daß sowohl im Strafvollzugsgesetz als auch im Strafgesetzbuch die Aufgabe des Strafvollzuges an Erwachsenen festgelegt wird. "In beiden Fällen aber muß der mit der Freiheitsstrafe verfolgte Zweck ihre Vollstreckung bestimmen, und der, namentlich von FreudenthaI scharf betonte Gedanke, daß die Strafgefangenschaft ein Rechtsverhältnis zwischen dem Gefangenen und der Staatsgewalt begründet, ist unbedingt festzuhalten, damit der Gefangene nicht der schrankenlosen Willkür der Verwaltung preisgegeben bleibt." Zum Thema "Gefängnisrecht" hatte Liszt bereits der These FreudenthaIs im Prinzip zugestimmt, aber bemerkt: "Dieses Zweckmoment scheint mir FreudenthaI nicht genügend gewürdigt zu haben ... , gewiß ist auch 82 Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 111. Auf!. Göttingen, 1965. S. 386 ff. 8S Robert von Hippel, Franz von Liszt t. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1919 (40) S. 529 ff. und Karl von LilienthaI. s. Anm. 33. S. 535 ff. 84 Franz von Liszt. s. Anm. 58. S. 785 ff. 85 Franz von Liszt. s. Anm. 58. S. 785. 86 AuV 1/290. 87 Eingabe der Strafvollzugskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema: Aufgabe des Vollzugs von Freiheitsstrafen. In: Zeitschrift für Strafvollzug, 1966 (15) S. 259 - 266. 88 Siehe dazu die Ausführungen des Bundesministeriums der Justiz in: Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln ... Oktober 1972. S. 66.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
die Gefangenschaft im Jugendgefängnis ein Rechtsverhältnis; aber sie ist unendlich mehr als ein Rechtsverhältnis: sie ist Erziehung,auf Grund und innerhalb der Schranken von Rechtsnormen'89." - Damit sind von Liszt neue Perspektiven angesprochen, die sich im Vollzug der Freiheitsstrafen an Erwachsenen ebenfalls auswirken müssen. Allein die dies~m Schluß abschnitt vorangestellten Worte von Radbruch und Schmidt lassen erkennen, welche Ausstrahlung, welches Charisma Franz von Liszt besaß. Strafvollzugspraktiker sind in der Regel, auch durch ihre berufliche Tätigkeit bestärkt, kritische, aber auch im positiven Sinne skeptische Menschen. Sie fordern von allen, die ihnen Rat und Hilfe bei ihren schwierigen Berufsaufgaben anbieten, eine übereinstiInmung von Leben und Lehre des Ratgebenden. So wurde der wiederholt erwähnte Krohne in seiner Zeit unbedingt von den Praktikern angenommen90. Die Eigenschaften, die Liszt so glaubwürdig machten, um ebenfalls vergleichbare Anerkennung in Vollzugskreisen zU gewinnen, ist in meinen Ausführungen anzudeuten versucht. Liszt hat sich durch sein Leben, seine Lehre und sein Wirken in. die kleine Schat: ganz freier Geister eingereiht81 . Wer, wie der Verfasser, besonders in den zwanziger Jahren, die Männer die zur"Lisztschen Strafrechtsschule" zählten, gelegentlich der z. T. glanzvollen Tagungen der Deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung erleben konnte, von ihrer Fachkenntnis, auch auf dem Gebiet des Vollzugs beeindruckt wurde, spürte darin auch das Weiterwirken von Franz von Liszt. - Schmidt würdigt eingehend das Lebenswerk dieses MannesO! und nennt die Namen derer. "die von Liszts Seminar aus selbst auf deutsche Katheder gelangten"os. Alle Genannten befaßten sich auch mit Fragen des Vollzugs von Freiheitsstrafen. Als Zeugnisse des Weiterwirkens seien die "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen" von 1923 erwähnt und der Praxis des progressiven Strafvollzugs im Lande Thüringen von 1922 - 1933 im Sinne Liszts gedacht". Auch das bundes einheitliche Strafvo~lzugsgesetz 80 Franz von Liszt. "Gefängnisrecht". In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1914 (35) S. ß58. 00 Paul Pollitz, Zum Andenken an den Wirklichen Geheimen· Oberregierungsrat Dr. jur h. c. Karl Krohne, gestorben am 19. Februar 1913. In: Bl. für Gefängniskunde, 1913 (47) S.3 - 6. 01 Gustav Radbruch. s. Anm. 38. S. 232. 82 Eberhard Schmidt. s. Anm.82. S. 357. 08 Es sind dies: Robert von Hippel, Ernst Rosenfeld, Eduard Kohlrausch, Moritz Liepmann, Alexander Graf zu Dohna, Ernst Hafter, Franz Exner,
Ernst Delaquis, Gustav Radbruch, Herbert Engelhard,. Eberhard Schmidt. In: Eberhard Schmidt. s. Anm.82. S.359. 04 Lothar Frede (Hrsg.). Gefängnisse in Thüringen. Weimar 1930.
7. Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe
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vom 16. März 197605 ist mitgeprägt von Franz von Liszt und seinen " Schülern". Im Rahmen dieser Studie konnte, dem Thema folgend, die Aufgabe ausschließlich darin gesehen werden, Liszts Vertrautheit mit der Materie des Freiheitsentzuges, so wie er sich ihm in seiner Zeit darbot, andeutungsweise zu behandeln. Es konnte nicht versucht werden, zu dem gesamten Lebenswerk oder zu Einzelfragen über das erfolgte Maß hinaus Stellung zu nehmen", . Dem Verfasser lag weiter daran, . neben der Darlegung der Einzelfrage: Franz von Liszt zum Vollzug der Freiheitsstrafe, die Bedeutung der eingangs wiedergegebenen Worte des Jubilars, als Zeichen des Dankes an ihn von einem Gefängnispraktiker zu unterstreichen.
In: Bundesgesetzblatt, 1976. Nr.28. S. 581 - 612. Zu der in Ländern mit sozialistischer Gesellschaftsordnung an Franz von Liszt nach 1945 erhobenen Kritik, siehe: Joachim Renneberg. Die kriminalsoziologischen und die kriminalbiologischen Lehren und Strafrechtsreformvorschläge Liszts und die Zerstörung der Gesetzlichkeit im bürgerlichen Strafrecht. Berlin. 1956. S. 47 ff. 8' 88
8. Mathilda Wrede zum hundertsten Geburtstag* Viele Menschen sprechen die Gefangenen an, was diese aber brauchen, ist, daß jemand dem zuhört, was sie zu sagen haben. Mathilda Wrede I
In diesem Jahre, am 8. März 1964, jährt sich zum hundertsten Male Mathilda Wredes Geburtstag. Aus diesem Anlaß sei ihrer Arbeit ausführlicher gedacht. Durch verschiedene Veröffentlichungen in deutscher Sprache, wie: Evy Fogelberg: "Unter Gefangenen und Freien", "Mathilda Wredes letzte Jahre", Ingeborg Maria Siek: "Mathilda Wrede, ein Engel der Gefangenen" und Ester Stahlberg: "Mathilda Wredes Vermächtnis" war der Name Mathilda Wrede in Deutschland seit den zwanziger Jahren bekannt. So begrüßte die Schriftleitung unserer Zeitschrift auch dankbar, daß Frau Dr. Elisabeth Rotten bereits 1951 kurz über die Tätigkeit von Mathilda Wrede in finnischen Gefängnissen berichtete. 11
Als ich letzten Herbst zu einer Tagung über straffällige Jugendliche nach Helsinki reiste, war es für mich selbstverständlich zu versuchen, an Ort und Stelle weitere Einzelheiten über Mathilda Wredes Wirken und vielleicht auch ihren Einfluß auf das finnische Gefängniswesen zu erfahren. Sowohl bei den Verwandten als auch bei den Persönlichkeiten, die in irgendeiner Weise den Nachlaß behüten, fand ich großes Entgegenkommen. Durch den Strafrechtler an der Universität Helsinki, Herrn Professor Dr. Honkasalo, wurde ich bei der Nichte Mathilda Wredes, Frau Anna Wegelius, eingeführt und erhielt eine Einladung, nach Anjala, dem Stammsitz der Familie, und auch nach Rabbelugn, dem elterlichen Gutshause, zu kommen. Das Wesentliche aus den Veröffentlichungen und den Besprechungen anläßlich des Besuchs fasse ich zusammen.
* Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, Jg.13 (1964) S. 1 - 8. Private Initiative im finnischen Jugendstrafvollzug, S. 8 -11.
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Wer war Mathilda Wrede und wie wirkte sie in finnischen Gefängnissen? Die erste bewußte Berührung mit dem Problem Gefangenschaft und Gefangenenbehandlung ergab sich im väterlichen Hausa zu Vasa. Der Vater war Gouverneur des Vasa-Bezirkes und in dieser Eigenschaft unterstanden ihm die Gefängnisse seines Dienstbereichs. Einmal hatte ein Gefangener im Hause des ob seiner Gerechtigkeit hochgeachteten Gouverneurs den Auftrag erhalten, einen verlorengegangenen Schlüssel nachzuarbeiten. Dabei kam es zu einem Gespräch mit der Tochter des Gouverneurs, Baronesse Mathilda, das bald die zentralen Lebensfragen berührte und damit endete, daß der Gefangene bat: "Sie sollten zu uns ins Gefängnis kommen und auch mit den Anderen sprechen." - Mit Erlaubnis des Vaters geschah dies. Die ersten Besuche begannen im Jahre 1884; Mathilda Wrede erhielt später die Erlaubnis, weitere und anschließend alle finnischen Gefängnisse aufzusuchen und es wurde daraus ein. Gespräch mit Gefangenen über drei Jahrzehnte hin, wobei sie die Erkenntnis: "Viele Menschen sprechen die Gefangenen an, was sie aber brauchen, ist jemand, der dem zuhört, was sie sagen" in die Tat umsetzte. Diese selbstgewählte Aufgabe füllte ihr Leben, solange es ihre Gesundheit zuließ, aus. Was war der tiefere Anlaß zum ersten Besuch und später zu den ungezählten Aufenthalten in den Frauen- und Männer-Anstalten Finnlands? Mathilda Wrede erlebte im Jahre 1883 nach der Predigt eines Mitarbeiters der von Amerika über England auf den Kontinent und auch nach Finnland übergreifenden "Allianz-Erweckungsbewegung" den Tag ihrer "geistigen Geburt". Sie empfand die Erfüllung des Wortes: "Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen" als Gebot, als Lebensaufgabe. Auch ihre Angehörigen erlebten diesen Anruf und folgten ihm, jedes Familienmitglied in seiner Weise. In ihrer Tätigkeit entwickelte Mathilda Wrede aber kein neues System zu einer Gefängnisreform, sie sah ihre Aufgabe darin: Männer und Frauen anzuhören, und in jedem Menschen achtete sie eine ein-, malige Persönlichkeit. Besonders häufig suchte sie das Gefängnis Kakola bei Abo (Turku) auf, denn die dort untergebrachten etwa fünfhundert langfristig Verurteilten stellten ihr die schwierigsten Aufgaben. Bis 1917, der Unabhängigkeit Finnlands, wurde nach russischem Recht auch als besonders harte Strafe die Deportation nach Sibirien verhängt, und wiederholt stellte man Transporte von Kakola aus nach dort zusammen. Stets lag Mathilda Wrede daran, ihre Schutzbefohlenen wenigstens bis an die finnische Landesgrenze zu begleiten und sie zu ermutigen. Mit großem Ernst nahm sie ihre selbstgewählte Aufgabe wahr und versuchte auch ihre Lebenshaltung - sie kleidete sich ganz schlicht, lebte eine Zeitlang mit der gleichen Ration, die die Gefangenen erhielten - entsprechend einzurichten, ohne jedoch in Unduldsamkeit
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
und Übereifer zu verfallen. Zweifellos gewährten ihr die Behörden dank ihrer Herkunft alle nur möglichen Erleichterungen, wie z. B. einen Freifahrtschein auf den finnischen Bahnen zum Besuch Entlassener und der Familien Inhaftierter. Unter dem Eindruck der damals wie heute bestehenden Schwierigkeiten für den Entlassenen, in der Freiheit rechtmäßig leben zu können, nahm Mathilda Wrede im Frühjahr 1886 dankbar das Angebot ihres Vaters an, ein kleines Hofgut unweit des Familiensitzes Rabbelugn bei Anjala als Übergangsheim einzurichten. Die Familie nannte es Toivala = die Hoffnung Vieler. Mit ihrem Bruder Heinrich führte sie dieses Heim bis 1898. Ihre Arbeit, ihr Name wurde bekannt und Mathilda Wrede erhielt eine offizielle Einladung, an den Verhandlungen des Internationalen Gefängniskongresses in St. Petersburg vom 15. - 24. Juni 1890 teilzunehmen. Die sechsundzwanzigjährige Baronesse Wrede war in der 11. Sektion "Strafvollzug" unter etwa fünfzig Herren die einzige Dame. Die dort behandelte sechste Frage der Sektion lautete: Kann man zugeben, daß manche Kriminelle als unverbesserlich betrachtet werden? Im bejahenden Falle, welche Mittel können angewandt werden, um die Gesellschaft vor dieser Gruppe von Tätern zu schützen? In Anbetracht der Bedeutung dieses Themas hielt ein Delegierter sogar einen Vortrag in einer der Vollversammlungen über "Die Behandlung unverbesserlicher Verbrecher". Baronesse Wrede konnte seinen Ausführungen nicht zustimmen, meldete sich in der Aussprache zum Wort und trug folgende Sätze vor: "Meine Herren! Es gibt ein Mittel, das jeden Rechtsbrecher, auch den sogenannten Unverbesserlichen, moralisch ändern kann. Das ist die Kraft Gottes. Die Gesetze und die Gefängnissysteme können nicht das Herz eines einzigen Straffälligen verändern, aber Gott kann es. Ich bin überzeugt, daß man sich intensiver und vor allem anderen mit der Seele der Gefangenen und ihrem geistlichen Leben befassen sollte." Nur aus dieser Einstellung ist zu verstehen, wie Mathilda Wrede den einzelnen ansprach, seine Persönlichkeit achtete, Geduld zeigte, nach Einfühlen in die Lage des anderen ihn verstand und gelegentlich auch schlagfertig, humorvoll parierte. Die Gefangenen verhielten sich verständlicherweise ganz verschieden. Einige lehnten ihre Besuche ab, andere begrüßten sie d~nkbar. Achtung brachte man ihr aber allgemein entgegen. Es ist nicht beabsichtigt, die religiösen Beziehungen, die sich zum Teil in schweren seelischen Erschütterungen der Gefangenen aus,. wirkten, hier zu beleuchten, wohl aber soll über die Wirkung der Haltung von Mathild.a Wrede berichtet werden. Einmal wollte ein Gefangener die Baronesse auf die Probe stellen und drohte im Sprechzimmer, wo sie allein mit den Gefangenen zu sprechen pflegte, tätlich zu werden. Als er merkte, wie überlegen ihre Haltung blieb, gestand er: ich wollte
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sehen, was eine Christin anstellt, wenn sie einen richtigen Schreck kriegt, Ein ander Mal äußerte ein Gefangener: Als wir sahen, daß sie keine Angst vor uns hatte, bekamen wir Vertrauen zu ihrer Religion. Wer im Umfang mit Gefangenen erfahren ist, weiß, daß viele von ihnen in Angst vor sich selbst und vor ihrer Umwelt haltlos dahinleben. Mathilda Wredes Haltung war nicht von Ehrgeiz bestimmt, sie gab von dem ihr geschenkten inneren Reichtum weiter. Wie bezeichnend ist eine ihrer Feststellungen: "Sie sind nicht viel wert, die bloßen Worte, auch nicht das sogenannte fromme Leben. Arbeit muß es sein!"
III An einem Wochentag im September 1963 fuhr mein Autobus von Helsinki frühmorgens nach dem über hundertdreißig Kilom.eter von Helsinki entfernten Anjala, dem Bezirk, in dem Mathilda Wrede großgeworden war und der auch bis zu ihrer Übersiedlung nach Helsinki ihre Heimat blieb. Herr Professor Dr. Honkasalo hatte mich zum Bus begleitet und dem Fahrer mein Reiseziel erklärt. Vorsichtig steuerte der Bus ostwärts durch die finnische Hauptstadt, vorbei an den neuen Satelliten-Städten, hinaus in die leichtgewellte, baumbestandene. einsame Landschaft. Nach einer Fahrt, die sicher nicht zu vergleichen ist mit den Reisen zu Lebzeiten von Mathilda Wrede, hielt der Bus in Anjala. Ein Personenwagen wartete schon auf den Gast aus Saksa (Deutschland) und brachte mich in einer knappen Viertelstunde zu dem hinter Birken, Kiefern und Tannen leuchtenden Landhaus, in dem ich für diesen Tag Gast sein durfte. Frau Wegelius, eine Nichte von Mathilda Wrede, empfing mich in ihrem Hause, zeigte mir in einem großen Bücherzimmer alle über Mathilda Wrede erschienenen Veröffentlichungen in der verschiedensten Sprachen und erzählte lebhaft in fließendem Deutsch von ihrem Erleben vor dem ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren in Deutschland, von den Geschicken Finnlands, und dem Leben Mathilda Wredes. Dort wurde ich auch Frau Rudbäck:, einer anderen Nichte Mathilda Wredes vorgestellt, und beide Damen vervollständigten durch ihre Erzählungen den vorher gewonnenen Einblick. Immer wieder stellte ich mir dabei die Frage: Wie kam dieser Edelmann und Gouverneur Wrede in Vasa als Vater und Beamter dazu, seiner Tochter in solcher Toleranz zuzustimmen, die Gefangenen der Strafanstalt Vasa und später in anderen Gefängnissen des Landes zu besuchen? Sehr eindrucksvoll war auch, welchen unmittelbaren Anteil die gesamte Familie an dem Erleben von Mathilda Wrede nahm und heute noch nimmt, aber auch, daß sie keinerlei Personenkult getrieben hat und auch jetzt, wenn sich ihr Geburtstag zum hundersten Male jährt, zu treiben gedenkt.
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Mit auf Anregung der Familie Wrede, die seit langem in der Gemeinde Anjala ansässig ist, wurde ein Ortsmuseum mit ausgewählten Gegenständen aus der Geschichte dieses Platzes eingerichtet. Auch ein Mathilda Wrede-Zimmer zeigte der mit der Leitung dieses Museums beauftragte Landeskonservator, Herr Dr. K. U. Niimisalo. In diesem Raume lag auch die stark zerlesene Bibel, die in Cellophan eingepackt werden mußte, weil Touristen begonnen hatten, aus ihr Blätter als Souvernir herauszureißen. Weiter stand im Mathilda Wrede-Zimmer auch ihr breites Schreibpult, denn die Baronesse pflegte ihre Korrespondenz im Stehen zu erledigen. Ich sah einige ihrer Briefe bei Frau Wegelius, der Gastgeberin, und staunte, wie die Schrüt über vier Seiten lang gleichmäßig und kräftig von Anfang bis Ende durchgeführt war. Im Museum selbst waren eine ganze Reihe von Gegenständen, die Mathilda Wrede täglich benutzte, auch Broschen, die sie getragen hatte und in die eingraviert war: "ARMO JA RAUHA" = "Gnade und Friede". Eine der Broschen hatte ein Gefangener nachgearbeitet, um seinen Dank zu bezeugen und Freude zumachen. Unweit des Museums liegt auf dem Begräbnisplatz der Familie auch das Grab von Mathilda Wrede. Der schlanke, etwa 5 Meter hohe Obelisk trägt die Inschrüt: Mathilda Wrede 18 8/111. 64, 19 25/XII. 28 Kakola Prängar Hogg Stenen = Die Gefangenen von Kakola arbeiteten diesen Stein. Von dort war es nicht weit zu dem der Familie gehörenden Gut Rabbelugn, in dem heute zwei alleinstehende Nichten, die Damen Eva und Helene Wrede, leben. In dieser Umwelt wurde mir die Hingabe Mathilda Wredes an ihre Mission besonders deutlich und verständlich. Der Vater duldete die Handlungsweise seiner Tochter, weil er volles Vertrauen zu seinem Kinde besaß, von der Erweckungsbewegung selbst stark ergrüfen war und wußte, daß seine Tochter in .Erfüllung ihrer einmal erkannten Lebensaufgabe "Gefangene anzuhören" die Hindernisse überwinden komite. Dabei schloß sich Baronesse Wrede in ihrem Leben weder einer Gruppe, etwa der Heilsarmee, noch einem Gefängnisfürsorgeverein näher an. Sie lebte dabei aber nicht in der Vereinzelung,sondern hatte zahlreiche Freunde bei allen Organisationen und Institutionen: auf Grund ihrer Herkunft bei Hochgestellten und auf Grund ihrer Tätigkeit bei Gefangenen und deren notleidenden Angehörigen. Ich versuchte mir klarzumachen, wie Mathilda Wrede heute etwa in einem deutschen Lande aufgenommen werden würde, wenn sie bei ihren Gefangenenbesuchen als ehrenamtliche Helferin die Forderungen stellen würde, die sie offenbar in Finnland gestellt hatte. Zweifellos würde es den im Strafvollzug hauptberuflich Tätigen nicht leicht fallen, ihrer Liebestätigkeit den entsprechenden Raum zu geben und· sicherlich würden sich Hemmungen bürokratischer Art auswirken. Offenbar kann diese ganz persönlich gegebene Bereitschaft, den Gefangenen zu
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helfen, keine Schule machen, sie kann nicht wiederholt werden. Viele Fragen, die an diesem Tage im Gespräch mit den Angehörigen aufgeworfen wurden, können aber kaum eine angemessene knappe Beantwortung finden. In Rabbelugn sah ich u. a. ein großes Ölgemälde, von einem Gefangenen primitiv gemalt, auf· dem das Gefängnis Kakola in Abo (Turku) dargestellt war mit einem großen kuppelförmigen Zentralbau so wie auch in Deutschland Zuchthäuser, und zwar zuerst die Strafanstalt Bruchsal gebaut worden waren. Vor den um den gesamten Bereich errichteten Mauern hielt ein Wagen, in den gerade eine Dame getragen wurde. Der Gefangene hatte eine Szene festgehalten, die sich nach ge':' druckten Berichten so ereignete: Mathilda Wrede hatte eines Sonntags Morgens Gefangenen in Kakola zugesagt, zu ihnen zu sprechen. Auf dem Wege glitt sie aus und verletzte sich den fuß, wollte aber unter keinen Umständen ihr gegebenes Versprechen brechen. Sie erfüllte trotz der schweren Verletzung ihre selbstgewählte Aufgabe und blieb den Tag über im Gefängnis. Hinterher konnte sie freilich nicht mehr allein zur notwendigen Behandlung gehen. Dies Geschehen habe auf sämtliche Insassen Kakolas einen tief~n Eindruck gemacht. Das ganze Haus Rabbelugn, ein großzügig ausgestattetes Herrenhaus mit zahlreichem wertvollen Hausrat und schönen Gegenständen, strömt Lebensbejahung und Lebensfreude aus. Die beiden Damen, die das Haus führen, fanden trotz der drängenden Feldarbeit Zeit, sich mit dem Gast aus Deutschland zu unterhalten.. Auf dem Balkon des einst von Mathilda Wrede bewohnten Zimmers im ersten Stockwerk mit dem Blick auf den mit treibenden Holzstämmen randvoll gefüllten Fluß Kymmene erzählte mir Fräulein Helene Wrede von ihrem Vater, dem Bruder Mathildas. Er war Richter und auch wie die übrigen Familienmitglieder voller Verständnis und Humor. Das auf dem Gute großgewordene "Fräulein" habe besonders auch die Pferde geliebt und in den Ställen in Rabbelugn sei immer ihr Lieblingspferd eingestellt gewesen. Wenn Mathilda Wrede dringend Geld für ihre Gefangenen benötigte, mußte ihr der Bruder das Pferd "abkaufen", denn es sollte ja nicht in fremde Hände kommen und Mittel mußten herbei zur Linderung der verschiedensten Notstände bei den Gefangenen und ihren Familien. Das geschah dreimal so, aber immer wieder mit Liebeswürdigkeit und Verständnis. Wiederholt habe ich auf die Tatsache hingewiesen, wie viel Humor Mathilda Wrede selbst gehabt habe und wie sie dank dieser Gabe merkwürdige Lebenslagen bestehen konnte. Darüber sei ja in den verschiedensten Büchern ausführlich berichtet. - Einmal, so erzählte Fräulein Helene Wrede weiter, habe der Bruder an einem Gerichtstag in Mittelfinnland einen schon vorher wiederholt bestraften Mann, der
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Mathilda Wrede von früher her bekannt war, erneut verurteilen müssen. Das .. Fräulein" habe bei der Verhandlung zugehört und dann weiter zu Entlassenen und Angehörigen Gefangener nach Norden fahren wollen, während der Bruder nach Süden zu reisen hatte. Am Bahnhof des Gerichtsortes standen die beiden Züge, dem nach Süden fahrenden war der Gefangenentransportwagen angehängt. Mathilda Wrede habe ihren Bruder, den Richter, der soeben eine mehrjährige Freiheitsstrafe über den Angeklagten verhängt hatte, aufgefordert, .. der Mann muß eine Tasse 1{affee haben, bitte sorge dafür, ich kann es nicht mehr tun, weil mein Zug sofort abfährt" und voller Humor habe der Richter lächelnd als ihr Bruder, dem von ihm gerade Verurteilten den 1{affee besorgt. Diese kleine Szene, die in der Gegenwart kaum denkbar ist, scheint mir kennzeichnend für den Freimut, aber auch die Demut dieser Familie, die souverän den Lebensfragen gegenübersteht und zusammen.. hält. Die Landschaft und der Fluß sind kaum verändert, seitdem Mathilda Wrede hier lebte, aber die Anschauungen über Gefangenenbehandlung in Finnland und in der weiten Welt haben sich gewandelt. Es gibt j.etzt überall Menschen, die sich bemühen, dem zuzuhören, was Gefangene zu sagen haben. Freilich, ob es genug sind? Diese knappe Zusammenfassung eines längeren Reiseberichts und gedruckter Nachrichten möchte die Leser der Zeitschrift erneut anregen, sich mit dem Lebensbild dieser Frau zu beschäftigen. Ihr ehrenamtliches Mitwirken an der Gefangenenbehandlung ist zweifellos nur unter den besonderen geschichtlichen Bedingungen Finnlands um die Jahrhundertwende verständlich, aber es erscheint wesentlich, immer wieder darauf hinzuweisen, wie es im Gefängniswesen aller Kulturnationen einzelne, nicht amtlich tätige Persönlichkeiten waren, die dem notwendigerweise bürokratischen Gefängniswesen neue Anregungen vermittelten. Es ist nicht meine Aufgabe, lückenlos zu beweisen, daß Mathilda Wredes Tätigkeit noch heute in dem so eindrucksvoll geordneten finnischen Vollzug nachwirkt, wohl aber glaube ich, daß dieses Land dankbar für die Arbeit dieser Frau sein kann und daß alle diejenigen, die im Gefängniswesen ihrer Länder einsatzbereit stehen, an der hundersten Wiederkehr des Geburtstages von Mathilda Wrede mit Dank und Ehrfurcht dieser Persönlichkeit gedenken sollen.
Private Initiative im finnischen Jugendstrafvollzug Einer Gegebenheit im finnischen Gefängniswesen glaube ich entnehmen zu können, wie bis in die Gegenwart das Beispiel Mathilda Wredes, weiterwirkte. Bei dem Besuch der finnischen Strafanstalt Riihimäki mit Frau Osterholm, der Vertreterin des Direktors des finnischen Gefängniswesens, Herrn Soine, konnte ich in der großen Anstalt eine hervorragend ausgestattete und geleitete Anlernwerkstatt für männliche junge Gefangene kennen lernen. Dabei erfuhr ich, daß ein großer Teil des Maschinenparks auf Veranlassung und unter Mithilfe des Industriellen Petter Forsström, dessen Frau eine Verwandte von Mathilda Wrede ist, beschafft werden konnte. Herr Forsström war nach Kriegsende 1945 vorübergehend aus politischen Gründen in Riihimäki inhaftiert. In dem Jahresbericht der Anstalt fand ich einen Text, den Herr Forsström am 5. V.1947 einigen skandinavischen Industriellen zugeschickt hatte. Die übersetzung des so einzigartigen Rundschreibens aus dem Finnischen ins Deutsche besorgte freundlicherweise Herr W. Fritze, der Leiter des Goethe-Instituts in Tampere, sie soll im vollen Wortlaut wiedergegeben werden. Bergrat Petter Forsström sandte folgenden Text am 5. 5. 1957 einigen bekannten Industriellen: Während meiner Haftzeit wurde in mir sehr stark der Wunsch lebendig, die weitgehende und für den Häftling schädliche Untätigkeit, insbesondere bei den jungen Gefangenen, durch eine nützliche berufliche Ausbildung zu beseitigen. Eine erschreckend große Zahl der insgesamt 8000 bis 10000 Häftlinge des Landes befinden sich im Alter zwischen 15 und 21 Jahren. Der Sachverständige für Maschinenbauschulen der Fabriken, Dipl.-Ing. Aarne Levander, der im Dienst der Holzveredlungsindustrie zusammen mit den Mitgliedern des Rationalisierungskomitees, Dipl.-Ing. Urho Peltonen, und dem Rektor der Maschinenbauschule der Lohja-Kalkwerke, Dipl.-Ing. Arvi Katajavuoren, die Möglichkeit zur Errichtung einer Ausbildungswerkstatt für Häftlinge prüfte, kam zu dem Ergebnis, daß man ein solches Institut in den größtenteils schon fertiggestellten Gebäuden des Zentralgefängnisses von Riihimäki einriChten könne, wo sich bereits ein großer Teil der jugendlichen·Häftlinge befindet. 12 Freiheitsentzug
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Sowohl das Amt für Gefangenenfürsorge als auch die Leitung des Zentralgefängnisses von Riihimäki waren befürwortend an der Errichtung einer für sechzig Metallarbeiter eingerichteten Ausbildungsstätte interessiert. Das Amt für Gefängnisfürsorge verpflichtete sich, alle Umzugs- und Neubauarbeiten vorzunehmen, da bereits ein Teil der für diesen Zweck erforderlichen Baulichkeiten für andere Aufgaben vorgesehen war. Entsprechenden Nachrichten zufolge kann der Staat möglicherweise die gesamte Bezahlung der Lehrkräfte und der praktischen Anleitung übernehmen. Für die Anschaffung der unbedingt erforderlichen Maschinen, deren Kosten sich auf einen beachtlichen Betrag belaufen, kann gleichfalls staatliche Hilfe in Aussicht genommen werden. Wegen eventueller Unterstützung wandte ich mich an zwei mir bekannte Industrielle aus Schweden, von denen ich auch eine Antwort erhielt. Der Fabrikbesitzer Nils Danielsen teilt mir mit, daß die Uddenholm Aktiengesellschaft unserer Gefangenenausbildungsstätte folgende Gegenstände zur Verfügung gestellt habe: eine Spitzendrehbank, Spitzenlänge 1500 mm eine Bohrmaschine, 20 mm maximum eine Flächenschleifmaschine von 400 mm Schleiflänge und eine Motorsäge, Schnittlänge 150 mm. Diese Maschinen sind gebraucht, werden aber überholt und franko nach Helsinki geschickt. Zusätzlich stiftet die Gesellschaft 5000 Kronen zu unserem Gebrauch für den Ankauf neuer Maschinen aus Schweden. Direktor Ernst Weht je teilt mit, daß die Skane-Zement-Aktiengesellschaft Anordnungen getroffen habe, uns einen noch vorerst unbestimmten Satz guter Maschinen sowie voraussichtlich 5000 Kronen zur Verfügung zu stellen. Wenn ich mich nunmehr mit der höflichen Bitte an die finnische Industrie wende, daß diese auf fühlbare Weise die Anschaffung der Maschinen und Werkzeuge dieser Metall-Ausbildungsstätte für sechzig Männer unterstützen möge - man schätzt, daß der Ankauf der Maschinen etwa zehn bis zwölf Millionen Finnmark erfordern würde -, dann ist mir bewußt, daß viele dieses Ersuchen als für die jetzigen Verhältnisse übertrieben betrachten könnten. Unter anderem kann gegen diese Einwände folgendes vorgebracht werden: 1. Zumindest die Industriebranche, die für Soteva arbeitet, hat keinen Grund, sich über schlechte Zeiten zu beklagen. Zur Zeit herrscht Mangel an Metallarbeitern. 2. Es ist zu bemerken, daß sich in der großen Zahl der Gefangenen, auf die sich die Auswahl erstrecken könnte, ein beachtlicher Prozentsatz von solchen befindet, die noch zu ordentlichen Staats-
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bürgern gemacht werden könnten. Außerdem besteht während der Haftzeit ausreichende und gute Gelegenheit, Ungeeignete auszuscheiden. Es ist noch hinzuzufügen, daß die Häftlinge nach Ende der Strafzeit in vielen Fällen, ja sogar wohl in den meisten, bei der Industrie eine Arbeit aufnehmen könnten. Soweit ein Gefangener etwas gelernt hat, besitzt er bestimmt eine weitaus größere Widerstandskraft gegen erneute Versuchungen und Unsicherheiten. Der Dipl.-Ing. Peltonen hat auf Veranlassung von Chefdirektor Soine vom Strafvollzugsamt auf Grund seiner allgemeinen Beobachtungen während seiner Besuche in den größten Strafanstalten einen Bericht verfaßt, der hier beigefügt wird. Daraus ist zu ersehen, daß das vom Staat während der Notzeit eingesetzte Notkomitee eine Veröffentlichung herausgab, wonach die Gefangenen möglichst häufig einfache Handarbeit verrichten sollten. Dies widerspricht der von mir vertretenen Idee, die von der Meinung ausgeht, daß, wenn man aus einem Straffälligen wieder einen vertrauenswürdigen Staatsbürger machen will, man ihm während seiner Strafverbüßung die Gelegenheit geben sollte, sich ein Fachwissen zu erwerben oder dieses Fachwissen weiterzubilden. Die Erzeugnisse aus diesen Lehrwerkstätten der Strafanstalt können leicht in Einrichtungen des Staates untergebracht werden. Es wäre wünschenswert, wenn der Staat seinerseits dem Beispiel der Industrie folgen und weitere Ausbildungsstätten in Haftanstalten einrichten würde. Die Werkstätten könnten sich auch ohne weiteres auf die Herstellung solcher Artikel verlegen, die im eigenen Land bisher noch nicht angefertigt wurden. Die auf dieser Basis geplante Maschinenbauschule ist bei weitem zu klein, um auch nur im entferntesten die Wünsche aller Gefangenen erfüllen zu können, die eine fachmännische Ausbildung erstreben und die Voraussetzungen dazu erfüllen. Diese Schule könnte lediglich als Vorbild und Beispiel dafür dienen, was persönlicher Unternehmungsgeist auch in staatlichen Haftanstalten zuwege bringen kann. So kann diese Einrichtung auch gleichzeitig Wegweiser für die Ausbildung von Häftlingen in anderen Berufszweigen sein. Ausgehend von der Tatsache, daß sich die Anschaffungskosten für die notwendigsten Maschinen und Werkzeuge auf zehn bis zwölf Millionen belaufen, habe ich damit gerechnet, daß ausländische Hilfe mit 2,5 bis 3 Millionen vertreten sein werde und die Hilfe des Staates sich ebenfalls auf 2,5 bis 3 Millionen belaufen würde. In diesem Fall blieben 5 bis 6 Millionen, die auf andere Weise zu beschaffen wären, weil die vorgeschlagene Ausbildung der Gefangenen beste Aussichten hätte, zum Erfolg zu gelangen. 12°
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In der Hoffnung, daß die finnische Industrie uns bei dieser bedauerlicherweise noch zurückgebliebenen Entwicklung einer verbesserten Gefangenenfürsorge helfen wird, schlage ich vor, daß diejenigen Persönlichkeiten, die dieses Schreiben erhalten und an der Sache interessiert sind, sich über die Abhaltung einer beratenden Sitzung einigen, die im Büro der Finnischen Industrievereinigung stattfinden könnte. Dort wäre es möglich, die Auffassungen in dieser Angelegenheit zu besprechen. Ich schlage außerdem vor, daß Bergrat Solin freundlicherweise die Aufgabe übernehmen möge, eine derartige Konferenz einzuberufen. Turku, Länskrankenhaus, 5. Mai 1947
Petter Forsström
9. Die Forschungen Rohert von Hippels üher die Entwicklung der modernen Freiheitsstrafe und ihre Bedeutung für das deutsche Gefängniswesen* Die wissenschaftlichen Arbeiten von Robert von Hippel über die moderne Freiheitsstrafe verdienen auch heute Beachtung. Die Ergebnisse seiner Studien, die er im Jahre 1898 in der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" , herausgegeben von seinem verehrten Lehrer Franz von Liszt, veröffentlichte, behandeln in Einzeldarstellungen die Entstehung und in größeren Zügen die Entwicklung der Zuchthäuser in England, in Holland und in den norddeutschen Hansestädten im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts. Diese Leistung bedeutet, über die reine Forschungsarbeit hinaus, die Grundlage seiner Lehre als eines Kriminalisten und Strafrechtsdogmatikers; sie betrifft den Sinn der Strafe und die Behandlung Straffälliger im Freiheitsentzug. Dabei wird der Hochschullehrer von HippeZ in Forschung und Lehre auf diesem Sondergebiet zum Repräsentanten seiner Generation. Die Stellungnahme der Fachwelt zu den Forschungsergebnissen erhellt gleichzeitig den Stand des Wissens auf diesem Sondergebiet um die Wende des 19. Jahrhunderts und gewährt einen ergänzenden Einblick in die gesamte Kulturgeschichte Nord-West-Europas im Zeitalter der Reformation. Die Ergebnisse der Forschungen und die daran geübte Kritik, die aber die Thesen von HippeZs nicht erschüttern konnten, vermögen zugleich Hinweise für eine in der Gegenwart notwendige Reform des Gefängniswesens im Rahmen des Strafrechts zu geben. I
In seiner Abhandlung "Beiträge zur Geschichte der Freiheitsstrafe"1 stellt von Hippel u. a. fest: 1. Die englischen Zuchthäuser sind seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gleichzeitig und in organischem Zusammenhang mit der dortigen Ar-
* Erschienen in: Zeitschrüt für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 79. Bd. (1967) S. 1 - 27. Robert von Hippel zum Gedächtnis nach Wiederkehr seines 100. Geburtstages und Fritz von Hippel als Freundesgabe aus Anlaß seines 70. Ge-
burtstages. 1 R. von Hippel. Beiträge zur Geschichte der Freiheitsstrafe. In: ZStW 1898 (18) S. 419 - 494 u. S. 608 - 666, abgekürzt: Beiträge.
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
mengesetzgebung als Mittel zur Bekämpfung des in gefahrdrohender Weise anwachsenden Vagantentums entstanden!. 2. Die Anstalt Bridewell sollte allerhand müßiggehendes Volk zwangsweise zur Arbeit anhalten und dadurch nicht nur abschreckend sondern auch bessernd einwirken. Damit haben wir in diesem ältesten englischen Zuchthaus im Prinzip diejenige Art des Strafvollzugs anerkannt, welche für die moderne Freiheitsstrafe überhaupt charakteristisch ist und sie von dem Strafvollzug des Mittelalters unterscheidet. Zwangsweise Erziehung und Besserung durch Arbeit anstatt bloß äußerlich brutaler Abschreckung und Unschädlichmachung3 • 3. Die Gründung der Amsterdamer Zuchthäuser ist allem Anschein nach durchaus selbständig und ohne Anlehnung an ein auswärtiges Muster erfolgt. Für die Entstehung der weiteren Anstalten aber hat nachweislich Amsterdam als Vorbild gedient. In Amsterdam und nicht in England finden wir auch zum ersten Male einen vortrefflicl1en, unseren heutigen Auffassungen im wesentlichen entsprechenden Vollzug der Freiheitsstrafe4 • 4. Das Männerzuchthaus in Amsterdam verdankt seine Entstehung der Abneigung gegen das bisherige blutige Strafensystem'. 5. In eingehender und peinlicher Weise regelt die Zuchthausordnung in Amsterdam in ihrem zweiten Teil die gesamte Lebensführung der Gefangenen'. 6. Die Hauptbedeutung der alten Zuchthäuser und vor allen Dingen Amsterdams liegt in der Gestaltung des Strafvollzugs7 • 7. In dem Amsterdamer Zuchthaus haben wir das Vorbild für die Anstalten der Hansestädte und damit für die weitere Ausbreitung der Freiheitsstrafe in Deutschland. Diese früher bereits in der literatur vertretene Ansicht entbehrte bisher des sicheren Beweises. "Ich glaube denselben nunmehr geführt zu habens." 8. Den äußeren Anlaß für die Entstehung der Zuchthäuser gab einerseits Abneigung gegen die Grausamkeit des bisherigen Strafensystems, andererseits wachsende Einsicht in die Nutzlosigkeit dieser Methode, insbesondere im Kampf gegen das immer drohender anwachsende Heer der Bettler und Müßiggänger. Der erste Faktor tritt uns mit besonderer Deutlichkeit bei Gründung des Amsterdamer MännerzuchtI Beiträge a Beiträge 4 Beiträge 5 Beiträge , Beiträge 7 Beiträge S Beiträge
S. 423. S. 425, 426. S.429. S.44l. S. 464. S. 655. S. 648.
9. Die Forschungen Robert von Hippels
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hauses entgegen; der zweite läßt sich in England, Holland und Deutschland gleichermaßen wahrnehmen. Zu den bisherigen Zwecken der Abschreckung und Unschädlichmachung tritt der Besserungszweck hinzUlI. 9. Diese neue Auffassung erklärt sich durch den nahen Zusammenhang, in welchem die Gründung der Zuchthäuser mit der damaligen Armen- und Wohltätigkeitspftege standlO • 10. Die Schaffung und technisch vorzügliche Durchführimg solcher Grundsätze zu einer Zeit, wo das bestehende Strafrecht unter dem Zeichen der Abschreckung und Unschädlichmachung stand, das ist die epochemachende Tat, welche dem Amsterdamer Zuchthaus für alle Zeit eine hervorragende Stellung in der Geschichte der Strafzwecke und des Gefängniswesens sichertl1 • 11. Der größte Fortschritt der letzten Jahhrunderte auf dem Gebiet des Strafensystems, der Ersatz der Leibes- und Lebensstrafen durch die Freiheitsstrafe, charakterisiert sich danach als der Sieg eines Strafmittels, welches in früher ungeahntem Umfang die Zwecke der Spezialprävention zu fördern und mit denjenigen der Generalprävention zu vereinigen verstand. "Diese geschichtliche Tatsache bezeichnet nach meiner Überzeugung zugleich das kriminalpolitische Programm der Zukunfti!." Diese Sätze aus den "Beiträgen" werden hier z. T. im Wortlaut wiedergegeben, weil damit nicht nur die gesamte Problemstellung, sondern auch die Methode der Forschung deutlich wird. Die Begründung der einzelnen Thesen gibt von Rippet, nach sorgfältigem Quellen- und Literaturstuditim, in seinen "Beiträgen" selbst. Was veranlaßte und was· befähigte von Rippet zu diesen und weiteren Forschungen auf dem Sondergebiet? Die kriminalpolitische Situation in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert ist stark beeinftußt durch Franz von Liszt, seine Lehre und die sich daraus bildende "Schule"13. In dem berühmt gewordenen Marburger Universitätsprogramm aus dem Jahre 188214 : "Der Zweckgedanke im Strafrecht" betont von Liszt eingangs: "Alle Entwicklung im Strafensystem, im guten wie im schlimmen Sinne, ·insbesondere die ganze Ausbildung und Verbildung des charakteristischen Merkmals Beiträge S.649, 650. 10 Beiträge S.651. 11 Beiträge S. 650. 12 Beiträge S. 662. 13 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der DeutsChen· Strafrechtspflege. II!. Aufl. 1965, S. 359. 14 Franz von Liszt. Der Zweckgedanke im Strafrecht. In: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Bd. I, 1905, S.126 -179. 9
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der modernen Strafrechtspflege, der Freiheitsstrafe, ist im Kampfe der relativen mit den absoluten Theorien, sowie jener untereinander, also durch die Betonung der Strafzwecke ermöglicht, eingeleitet und durchgeführt worden15." von Liszt schließt mit der Mahnung: "Möge die unausbleibliche Revision unseres StGB, die unerläßliche reichsrechtliche Regelung des Strafvollzuges uns nicht unvorbereitet treffen 16." In seiner "Selbstdarstellung" beschreibt von Hippel sein wissenschaftliches "Leben und Streben"17 und legt dar, wie die beiden Marburger Semester 1887/1888 den Wendepunkt seiner juristischen Entwicklung brachten: "Ich ging dorthin, um bei von Liszt zu lernen und so wurde ich Kriminalist18." In Marburg hörte er auch von Liszts Vorlesungen über das Gefängniswesen. Gleichzeitig bildete er sich im Schulenstreit zwar andere Ansichten als die seines Lehrers und Freundes; er hielt eine einseitige Vertretung der Spezialprävention für ebensowenig richtig, wie die der Vergeltung, er vertrat die Vereinigungstheorie18. Seine Dissertation "Die korrektionelle Nachhaft" war die Bearbeitung einer von Liszt gestellten Preisaufgabe!o. von Hippel habilitierte sich 1891 in Kiel und folgte 1892 dem Rufe nach Straßburg. Dort führte er u. a. die Vorlesung über Gefängniswesen neu ein und erarbeitete, von einem "glücklichen Funde" in der dortigen Bibliothek begünstigt, seine "Beiträge zur Geschichte der Freiheitsstrafe"21. Bei ihrer Veröffentlichung betonte er: "Ich unternahm diese Untersuchungen zunächst, um meinen Vorlesungen über Gefängniswesen eine möglichst gesicherte historische Grundlage zu geben. Da das Resultat aber auch für manchen Fachgenossen von Interesse sein dürfte, übergebe ich dieselben der Öffentlichkeit2!." In seiner "Selbstdarstellung" schätzt er die Bedeutung der "Beiträge" höher ein. "Richtiger hätte ich sie genannt: Entstehung und Bedeutung der modernen Freiheitsstrafe, denn darum handelt es sich28 ." Dem im Jahre 1931 erfolgenden Neuabdruck des Hauptabschnittes über Amsterdam mit der Ergänzung über Bremen gab er die überschrift: "Die 15 Franz von Liszt. Der Zweckgedanke im Strafrecht. a.a.O. 5.127. 18 Franz von Liszt. Der Zweckgedanke im Strafrecht. a.a.O. S. 179. 17 R. von Hippe!. Selbstdarstellung. In: Die Rechtswissenschaft der Gegen-
wart in Selbstdarstellungen. Bd. 11 1924, S. 123 - 151, abgekürzt: Selbstdarstellung. 18 Selbstdarstellung S.126; R. von Hippe!. Franz von Liszt. In: ZSTW 1919 (40) S.529/534. 18 Selbstdarstellung S. 133. 20 Selbstdarstellung S. 128. 21 Selbstdarstellung S.137. 22 Beiträge S.422 (22). 23 Selbstdarstellung S.137.
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Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und des Erziehungs-Strafvollzuges!'. " Von seiner Arbeitsmethode sagt von Hippel weiter: "Hatte ich mich ausgiebig für die Vorlesung vorbereitet und mir die nötigen sachlichen Aufzeichnungen gemacht, so stellte ich mir scharf vor, wie das Ganze im freien Vortrag für den Studenten möglichst anschaulich und klar zu gestalten sei25 ." "Eine absolut beste Methode gibt es nicht. Forschung und Lehre haben gleichberechtigt Hand in Hand zu gehen26 ." Und unter Bezug auf den glücklichen Fund in der Straßburger Bibliothek meint er in aller Bescheidenheit: "Das Verdienst des Forschers besteht in solchem Falle in Fleiß und Methode. Ob sich aber ausreichendes geschichtliches Material erhalten hat, das ist GlÜckssache27 ." In Göttingen begann von Hippel seine Lehrtätigkeit 1899 und las alsbald u. a. auch über Gefängniswesen28 • An dieser Universität blieb er sein Leben lang. Was den Inhalt der "Beiträge" anlangt, so wird aus den Thesen 1 und 2 die Stellung des Londoner Zuchthauses Bridewell im Rahmen der Zuchthausgründungen deutlich. Wenn auch Teilergebnisse anderer Forscher schon vorlagen, so war es von Hippel, der neben der Beschreibung auch den Zusammenhang dieser Gründung mit denjenigen auf dem Kontinent zu klären anstrebte. - Die gewandelten sozialen Verhältnisse in England im 14. und 15. Jahrhundert forderten eine neue Lösung des Problems "Armut und Verbrechen", die Unterstützung hilfsbedürftiger Personen und vordringlich eine Bekämpfung des Bettler- und Vagantentums. König Eduard VI. schenkte im Jahre 1553 der Stadt London zur Unterbringung von Vagabunden, Huren und Müßiggängern den alten Palast Bridewell. Ähnlich wie in unseren heutigen Arbeitshäusern sollte dort allerhand müßiggehendes Volk zwangsweise zur Arbeit angehalten und dadurch nicht nur abgeschreckt, sondern auch gebessert werden2'. Alle vergleichbaren englischen Anstaltsgründupgen trugen zur Bezeichnung ihrer ideenmäßigen Herkunft den Namen "Bridewell"30. Die übernahme der Bezeichnung einer Einrichtung - hier "Bridewell" - auf vergleichbare Neugründungen, d. h. gleichzeitig die Erhebung des Erst- bzw. Einmaligen zum Typ, 24 R. von Hippel. Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und des Erziehungs-Strafvollzugs. Heft 2 der Schriftenreihe der Thür. Gefängnisgesellschaft. Hrsg. von L. Frede u. R. Sieverts. 1931. 26 Selbstdarstellung S. 134. 26 Selbstdarstellung S. 139. 27 Selbstdarstellung S.137. 28 Selbstdarstellung S.137. 28 Beiträge S. 424, 425. 30 Beiträge S.425; D. von DolspeTg, Die Entstehung der Freiheitsstrafe mit besonderer Berücksichtigung des Auftretens moderner Freiheitsstrafe in England. 1928, S.117.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
erfolgte in England später auch bei "Borstal", einem Anstaltstyp zur Durchführung einer gelockerten Fürsorgeerziehung, genannt nach dem Gründungsort. Die im Londoner Bridewell ausgebildeten Lehrlinge wurden "Bridewellboys", die (Jahrhunderte später) in den Borstals Untergebrachten "Borstalboys" genannt. Die Thesen 3 und 4 befassen sich mit dem Kernstück der "Beiträge", der Wiedergabe der Forschungsergebnisse über die Gründung des Amsterdamer Zuchthauses und den dort geübten Vollzug. Sie erfolgte nach den Worten von Hippels, weil eine wirklich fachmännische Beschreibung "bisher fehlte"31. - Die Zeitumstände und Anlässe dieser Gründung sind mannigfaltig. Die Errichtung fällt in das "goldene Zeitalter" dieser Stadt. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft Albas (1573) erfolgte auch die ungehinderte Einführung der Reformation. Damit waren Grundlagen für die Vereinigten Staaten der protestantischen Niederlande durch Zusammenfassung der nördlichen Provinzen gegeben. Die sozialen Verhältnisse Amsterdams lagen dank der Initiative der Bürgerschaft anders als in London; hier wurde Armenpftege intensiv ausgeübt. Wenn auch die Strafrechtspftege zunächst noch mit Abschreckung und Unschädlichmachung der Täter der Zeit entsprach, so trat darin ein Wandel ein, als die Schöffen 1589'2 "gelegentlich des Falles eines 16jährigen Diebes und Einbrechers beschlossen, mit Bürgermeister und Rat in überlegung zu treten, um ein geeignetes Mittel zu finden, derartige Bürgerskinder in dauernder Arbeit zu halten und womöglich zu einem besseren Lebenswandel zu erziehen"la. Die Einrichtung des "tuchthuis" wurde beschlossen und 1596 die ersten 12 Gefangenen in das zum Zuchthaus umgebaute Klarissenkloster eingewiesen34 • Zu These 5 und 6: von Hippel bezeichnet mit Recht die Zuchthausordnung von Amsterdam als einen historisch besonders erfreulichen fund's. Er kam ihm nicht von der Stadt ihrer Entstehung zu - das gesamte Zuchthausarchiv ging verloren -, sondern wurde ihm in Abschrift vom Danziger Stadtarchiv übersandt. An ihrer Echtheit ist nicht zu zweifeln, ihre Entstehung wird auf die Zeit zwischen 1599 und 1603 festgelegt'·. Auf Grund dieser Ordnung und anderer literarischer 31 Beiträge S. 437 - 494. 12 Der Beschluß erfolgte nicht, wie von Hippel, Beiträge S. 440 angibt, im Jahre 1588, sondern im Jahre 1589. Nach Th. Sellin, Pioneering in penelogy. The Amsterdam houses of correction in the sixteenth and seventeenth centuries. 1944, p.25 (7). aa Beiträge S. 440. 34 Beiträge S. 441. 35 Beiträge S.472. Bei der Gründung des Zuchthauses in Danzig im Jahre 1629 wird unter den beachteten Mustern Amsterdam besonders erwähnt. Beiträge S.474 (3) und G. Pietsch. Das Zuchthauswesen Alt-Danzigs. Göttingen. Jur. Diss. v.
3.
1931, S.22.
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Quellen gelang es, das Werden und Wirken der drei sich aus einem Zuchthaus differenzierenden Anstalten zu klären. Nach dem Zuchthaus für Männer, dem Rasphuis (1596), "wo man alle Vagabunden, Übeltäter, Spitzbuben u. dgl. zur Züchtigung einsperren und arbeiten lassen konnte, solange es die Schöffen nach den Delikten für angemessen befanden"37, wurde 1597 das Zuchthaus für Frauen, das Spinhuis, eingerichtet. Dort wurden "junge Mädchen und andere, welche sich an Betteln und Müßiggang gewöhnen, mit Wollespinnen beschäftigt und konnten den Unterhalt verdienen"38. Schließlich entstand 1603 das Separate oder Secrete Zuchthaus "für Söhne anständiger Bürger", die von den Spitzbuben und Übeltätern abgesondert werden sollten3'. Die Aufnahme in diese Häuser erfolgte auf gerichtliche Anordnung'°. Anschließend folgt bei von Hippel eine eingehende Beschreibung des Gefangenenalltags. Bei den Erwachsenen herrscht, besonders während der Arbeitszeit, eine strenge Ordnung. Die Leistung des festgesetzten Arbeitspensums wird bereits als "Besserung" gewertet und versucht, sie dort, wo es nicht erfüllt wird, mit allen Mitteln, notfalls durch Zwang, zu erreichen. - Die knappe Freizeit, ist ebenfalls überwacht und die Teilnahme am Gottesdienst und am Schulunterricht Pflicht. Dabei ist von der Feststellung Huizinga's auszugehen: "Die geistige Diät eines überwiegenden Teils des Volkes beschränkte sich mehr und mehr fast völlig auf die Predigt41 ." Die Unterbringung der erwachsenen Insassen während der Nacht erfolgte in Gefangenenzimmern mit 4, auch 8 oder 12 Züchtlingen. Wesentlich bleibt, daß die Detention in einem der drei Häuser nicht als entehrend galt'!. Vertieftes Verständnis für die Situation im Freiheitsentzug vermag u. a. die Beschreibung der Lage der freien Menschen aus der vergleichbaren Gesellschaftsschicht, das bereits zitierte Werk von Huizinga "Holländische Kultur im 17. Jahrhundert", zu vermitteln. Das Secrete Zuchthaus nahm von Anfang an eine Sonderstellung ein. Es kann, mit aller durch die Entstehungszeit bedingten Einschränkung, als Beginn eines Jugendstrafvollzugs gelten. Soweit in die Anstalt ungeratene Söhne von ihren Angehörigen zur Besserung geschickt wurden'3, gewinnt sie den Charakter der freiwilligen FÜrsorgeerziehung. Das Fehlen gesicherter Unterlagen erschwert bei einzelnen Fragen, z. B. der Art der Arbeit der Insassen im "Secreten 37 Beiträge S. 440. 38
3' 40 41 42
43
Beiträge S. 443. Beiträge S. 442. Beiträge S. 444. J. Huizinga. Holländische Kultur im siebzehnten Jahrhundert. 1961, S.56. Beiträge S. 441. Beiträge S.471/472 (269).
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1. Teil:
Pioniere des Gefängniswesens
Zuchthaus", volle Klärung der Aufgaben. So fehlen Unterlagen für die Annahme, daß in dieser Abteilung gearbeitet oder gar eine Berufsausbildung getrieben wurde. Ein Besucher des Zuchthauses berichtet 1664 - wobei offen bleibt, ob er auch das "Secrete Zuchthaus" besuchen konnte -: "dort befinden sich diejenigen, welche von niemand wollen gesehen sein" (bei den Erwachsenen wurde Besichtigung gegen Zahlung einer Gebühr gestattet), "als da sind die ungeratenen unbändigen Kinder, welche ihre Eltern selbst auf eine zeitlang in diese Zuchtschule gesetzt, damit ihnen der kützel verginge, und dasjenige, was sie in den bubenschulen gelernt, wieder abgelehrt würde. Diese haben alle ihre sonderliche Kammer, und thun keine Arbeit, weil die eltern ihr kostgeld bezahlen"". von HippeZ bezweifelt, ob die Bemerkung, "sie tun keine Arbeit", selbst für die Zeit, als von Zesen das Haus besuchte, zutreffend war, und meint, bejahendenfalls hätten wir es dann mit einer Periode des Niedergangs im Strafvollzug des "Separaten Zuchthauses", mit einer gründlichen Verkennung des Zweckes, zu tun. "Daß in älterer Zeit auch in der separaten Abteilung die Arbeit Grundlage des Strafvollzuges war, halte ich für sicher45 ." Die Frage, Arbeit oder nicht, spielte bei den späteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen noch eine Rolle. Der Verfasser der Monographie über die Zuchthäuser von Amsterdam in englischer Sprache, Thorsten Sellin, meint, "that the boys were probably given vocational training is quite unfounded"41. Mit der These 7 wirft von HippeZ die Frage nach der Originalität der Amsterdamer und der weiteren Zuchthausgründungen innerhalb und außerhalb Hollands auf. Nach dem heutigen Stand der Forschung kann angenommen werden, daß die Gründung aus der Initiative der Amsterdamer Verantwortlichen erfolgte, zumal auch der "leiseste Hinweis" auf auswärtige Einflüsse fehlt47 • Wenn auch von DoZsperg, ein Schüler von HippeZs, meint, es seien gewichtige Gründe vorhanden, die das Vorliegen solcher Einflüsse wahrscheinlich machten, so muß er weiter zugestehen, ein Beweis könne aber nicht sicher geführt werden48 • SeZZin vertritt eine ähnliche Auffassung49 • Zeitlich erfolgte die nächste Gründung eines Zuchthauses außerhalb Hollands in Bremen, die Zuchthausordnung ist vom 26. Januar 1609 datiert50 • Die allgemeine Situation der Hansestadt Bremen war damals in vielem vergleichbar mit derjenigen der Hansestadt Amsterdam51 • 44 45
48 47 48 49
F. von Zesen. Beschreibung der Stadt Amsterdam ... 1664, S.304. Beiträge S. 462 (213). SeIlin a.a.O. p.85. Beiträge S. 429 (51). von Dolsperg a.a.O. S. 131 - 135. SeIlin a.a.O. p. 21/22; 37.
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Anhand der vorhandenen Unterlagen läßt sich nachweisen, daß das Zuchthaus in Bremen nach dem Muster von Amsterdam Anfang des 17. Jahrhunderts eingerichtet und betrieben wurde. Das ist im vorliegenden Zusammenhang wichtig, weil es zum Muster für Zuchthäuser in weiteren deutschen Städten wurde52 • Über Sinn und Zweck des Freiheitsentzugs in Amsterdam und Bremen unterrichtet eine von von Hippel wieder entdeckte Flugschrift aus dem Jahre 1617: "Miracula San Raspini Redivivi, das ist: Historische Beschreibung der wunderlichen Mirakel oder Wunderwerck, so in der weitberühmbten Kauff- und Handels-Statt Amsterdam, an einem Orth auff dem heiligen Weg gelegen, so gemeiniglich das Zuchthaus genannt wirdt, an vielen fürgangen und noch täglich fürgehen. Mit zugefügter Beschreibung eines wunderbaren Mirakles, so von der Heiligen Justicia geschehen. Jetzo auffs new in Truck verfertigt und mit der Statt Bremen Zuchthaus vermehrt." Die erste Auflage dieser Schrift erschien 1613 ohne den Beitrag von Bremen, Verfasser und Verlagsort sind unbekannt53 . Eine weitere Quelle für die Entwicklung in den ersten Jahrzehnten bietet die 1685 verfaßte Chronik von Peter Koster: "Warhafte Kurtze und Einfältige Beschreibung dessen was sich von Anno 1600 bishero in der Kayserlichen Freyen Reichs- und Hansestadt Bremen Merkwürdiges ... zugetragen.'1 Die genannten Unterlagen sind, wie bereits angegeben, weitgehend zur Beschreibung der Vollzugseinrichtungen Bremens ausgewertet54 • Die beiden Zuchthausordnungen, von Amsterdam und von Bremen, gewähren im Vergleich ein lebendiges Bild55 . Ein Licht auf die durchaus vergleichbare Einstellung der Bevölkerung beider Städte zu den Problemen Hilfsbedürftiger aller Art, wirft die Tatsache, daß in Amsterdam bei Gründung des Irrenhauses (1596), und bei Erweiterung des alten Männerhauses (1601) eine Lotterie zur Mittelbeschaffung bewilligt wurde58. Bei dem Wiederaufbau des 1647 zerstörten Werk- und Zuchthauses in Bremen wurde die "nöthige Verordnung gethan ... zu einer aufrichtigen unverdächtigen Lotterey oder GlÜckhaven"57. Beiträge S.614. Beiträge S. 654/655. 62 .Beiträge S. 612 (18); bei seinen Studien im Staats archiv Bremen im Jahre 1966 fand der Verfasser dieses Beitrags die auch von R. von Hippel ausgewerteten Archivalien gebündelt und mit dem Vermerk versehen: ad D. 18 d. i. a. enthält 1 - 18 von Prof Dr. v. Hippel in Rostock benutzt. 1897 Juli. Die gleichen Unterlagen dienten offensichtlich von Hippels Schüler: O. GTambow, bei seiner Diss. Das Gefängniswesen Bremens. 1910, S.19. 53 Beiträge S.480. 54 Original Staatsarchiv Bremen P. i. s. 22 C.I. 55 Beiträge S.473, 614. 56 G. UhlhOTn. Die christliche Liebestätigkeit seit der Reformation. Bd.III. 1890, S. 160. 50 51
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Die Erforschung dieser Tatsachen bei der Gründung der genannten Zuchthäuser war bei von Hippel ausgelöst durch seine Neigung, die geschichtlichen Zusammenhänge zu untersuchen und nach geistiger Durchdringung in anschaulichen Bildern darzustellen58• In den unter 8 und 9 angegebenen Thesen hebt von Hippel die beiden Wurzeln der Erneuerung einer Armen- und Wohltätigkeitspflege und einer zeitgemäßen Strafrechtspflege hervor51 • "Das Strafrecht wurde in Amsterdam auf die sittliche Natur des Menschen gegründet, und es zeigte sich, daß diese neue Strafe humaner und wirksamer war'o." Die weiteren Thesen 10 und 11 enthalten die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse. Bemerkenswert ist, daß die Ausführungen in den "Beiträgen" von 1898 in der späteren Abhandlung: "Die geschichtliche Entwicklung der Freiheitsstrafe" VOn 1928 bestätigt werden konntenl1 • II
Die Aufnahme der Arbeitsergebnisse und damit der Thesen von Hippels in der Fachwelt läßt die dem Thema zugemessene Bedeutung und
die Anstrengungen erkennen, deren es bedarf, um Behauptungen von solcher Tragweite wissenschaftlich nicht nur abzusichern, sondern zu vertiefen und auszuwerten. Daran beteiligten sich eine Reihe von Persönlichkeiten, deren kritische Betrachtungen teilweise den Thesen zustimmten oder sie teilweise ablehnten. Immer ließen sie erkennen, daß der Wunsch, die Zusammenhänge zu klären, ausschlaggebend blieb und die Sache, nicht die Person im Mittelpunkt stand. Sowohl in seiner Selbstdarstellung6!, als auch in dem Nachruf auf seinen Lehrer, Franz von LisztSl, verweist von Hippel eindrucksvoll auf die freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Lehrer und dem Schüler; die Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Arbeiten sind freilich nicht auszumessen. Beachtlich ist, daß von Liszt in den "Kriminalpolitischen Aufgaben" (1889) in dem Abschnitt IV: "Strafrechtspflege und Strafvollzug" betonte: "es ist nicht überflüssig, sich der sprunghaften, willkürlichen, des inneren Zusammenhanges entbehrenden Entwicklungen zu erinnern, welche die Geschichte des Gefängniswesens von den ersten Anfängen bis zum heutigen Tage kennzeichF. Peters. Freimarkt in Bremen. 1962, S. 153. R. von Hippel. Deutsches Strafrecht. Bd. I. 1925, S. VI. 51 Beiträge S. 650. 10 R. von Hippel. Die geschichtliche Entwicklung der Freiheitsstrafe. In: Deutsches Gefängniswesen. Hrsg. von E. Bumke. 1928, S. 11. 81 R. von Hippel. Die geschichtliche Entwicklung ... a.a.O. S. 11. 12 Selbstdarstellung S. 128. SI R. von Hippel. Franz von Liszt t. In: ZStW 1919 (40) S. 529 - 534. 57
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nen"." Dabei war für von Liszt die geschichtliche Betrachtung kein selbständiger Zweig der Wissenschaft, sondern ihr unentbehrliches Hilfsmittel in allen ihren Zweigen65 • Ihn bewegte die Klärung der Relation zwischen Strafgesetz und Strafvollzug, wobei er feststellte: "Unabhängig von der Strafgesetzgebung haben sich die Zuchthäuser des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelt"." Es darf gefolgert werden, daß solche Ansichten von Liszts den angehenden Kriminalisten von Hippel, zumal dieser zur Klärung geschichtlicher Zusammenhänge neigte, in dieser Richtung bestärkten und anregten. Die Aufnahme der Beiträge in die von Lisztsche Zeitschrift bedeutete letzten Endes Zustimmung des Herausgebers! Bemerkenswert scheint weiter, daß sich von 11 Persönlichkeiten "die von Liszts Seminar aus selbst auf deutsche Katheder gelangten"17, vier mit der Geschichte des Gefängniswesens, ausgehend von Amsterdam, intensiv befaßten. - Robert von Hippel, Ernst Rosen/eId, Gustav Radbruch und EberhaTd Schmidt. Drei der Genannten nahmen auch an dem wissenschaftlichen Disput, den die Thesen von Hippels auslösten, teil: sie stimmten seinen Auffassungen zu. Ernst Rosen/eId, der sich eingehend mit der Geschichte des Gefängniswesens befaßte, veröffentlichte 1906 eine Abhandlung "Zur Geschichte der ältesten Zuchthäuser"18 und hob dabei hervor, daß von Hippel in den "Beiträgen" viel Material zusammengetragen habe. Im Jahre 1910 ergänzte Rosen/eId es in der gleichen Zeitschrift: "Weiteres zur Geschichte der älteren Zuchthäuser zu Amsterdam 811." Seine Gegenstimme erhob HeTmann KTiegsmann in seiner 1912 veröffentlichten "Einführung in die Gefängniskunde" . Darin legte er di~ Bedeutung der Verurteilung zu öffentlicher Zwangsarbeit als Ersatz für den Staupenschlag aus und behauptete: "Hier liegen die Anfänge der modernen Freiheitsstrafe, als condemnatio ad operas publicas hat sie sich zuerst einen großen Teil ihres späteren Anwendungsgebietes erobert." KTiegsmann sieht denn auch die geschichtliche Bedeutung der Zuchthäuser nicht darin, daß sie die Vorherrschaft der Freiheitsstrafe heraufgeführt hätten, sie bestehe darin, daß hier die Freiheitsentziehung energisch erzieherisch ausgestaltet wurde70. - Der Tendenz, 84 Fr. von Liszt. Kriminalpolitische Aufgaben. In: Strafrechtliche Aufsätze u. Vorträge. Bd. I, 1905, S.326. 85 Fr. v. Liszt a.a.O. Bd. I, S.296. II Fr. v. Liszt a.a.O. Bd. I, S.326. 17 E. Schmidt. Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege. III. Aufl. 1965, S. 359. 68 In: ZStW 1906 (26) S. 1 - 18. aD In: ZStW 1910 (30) S. 806 - 808. 70 H. Kriegsmann. Einführung in die Gefängniskunde. 1912, S.7.
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die Bedeutung der Amsterdamer Zuchthäuser abzuwandeln, trat alsbald Eberhard Schmidt in seiner Dissertation: "Zur Kriminalpolitik Preussens unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II." entgegen71 • Eingehend befaßte sich E. Schmidt dann in seiner 1915 erschienenen Arbeit "Entwicklung und Vollzug der Freiheitsstrafen in BrandenburgPreußen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts" mit den von Kriegsmann aufgeworfenen Fragen. Für ihn ist die Festungsstrafe eine Art der Leibesstrafe in einer für die Gesamtheit nutzbringenden Form. Bei der Zuchthausstrafe kehre das Moment der Zwangsarbeit wieder, aber in wesentlich veränderter Gestalt. Die nutzenschaffende Arbeit soll mit Seelsorge und Unterricht hier erzieherisch wirken. Die Arbeit wird von dem Charakter der Leibesqual befreit, das Strafübel auf ein anderes in der Zuchthausstrafe enthaltenes Moment, das der Freiheitsentziehung im weitesten Sinne des Wortes, verlagert; sie wird das eigentliche Strafübel. "Damit ist der Berührungspunkt mit den Ideen unseres modernen Gefängniswesens erreicht72 ." Schmidt lehnt die Theorie Kriegsmanns ab. Eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung konnte nicht erfolgen, Kriegsmann fiel im Frankreichfeldzug, Herbst 1914. Die von Schmidt vorgebrachten Gesichtspunkte verwendet auch Berthold Freudenthal, der Anreger der Einrichtung besonderer Jugendstrafanstalten. "Auch der bis dahin der öffentlichen Zwangsarbeitsstrafe unterliegende Grundgedanke, den Verbrecher un i seine Arbeit für die Allgemeinheit ökonomisch zu verwerten, tritt zurück hinter den Zweck der zwangsweisen Erziehung zu Ordnung und Arbeit (von Hippel) und damit der Umwandlung des sozialen Schädlings in einen brauchbaren Menschen73." Nach dem ersten Weltkriege wurde die Auseinandersetzung mit der "Lehre" von Hippels erneut, und zwar von Gotthold Bohne, aufgenommen. Bohne stimmt nicht nur Kriegsmann zu, wenn er in der condemnatio ad operas publicas die ersten Anfänge der modernen Freiheitsstrafe sieht, sondern ist weiter der Ansicht: "an der Ausbildung des modernen Zuchthauses ist auch dem italienischen Statutarrecht ein nicht unerheblicher Anteil zuzuschreiben und man kann nicht, wie es bis jetzt allgemein geschehen, allein Holland dieses Verdienst zubilligen74." Wieder ist es Schmidt, der bereits 1924 auf Bohnes These, 71 E. Schmidt, Die Kriminalpolitik Preußens unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. Diss. Göttingen, 1914, S.49 (4). 72 E. Schmidt. Entwicklun,q; und Vollzug der Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen bis zum Ausga."lg des 18. Jahrhunderts. 1915, S.78/79. 74 G. Bohne. Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des Enzyklopädie der Rechtswissenschaft Bd. V. VII. Auf!.. 1914, S.85. 73 B. Freudenthal. Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung. In: 12. -16. Jahrhunderts Teil 1. Das Aufkommen der Freiheitsstraft. 1922, S.174.
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nicht in Holland, sondern in Italien soll die Wiege der modernen Freiheitsstrafe gestanden haben, eingeht und sie ablehnt15• Zu den darauffolgenden Erwiderungen Bohnes antwortet Schmidt: "Ich bin unter eingehender Begründung zu dem Ergebnis gelangt, daß Bohne das Statutarische Strafrecht Italiens nicht als Ursprungsboden für die moderne Freiheitsstrafe nachgewiesen habe, daß mithin durch seine Untersuchungen die von Hippelsche Lehre nicht erschüttert worden seF8." Fast gleichzeitig lehnt auch von Hippel selbst die von Bohne vorgetragenen Auffassungen ab11 • Aber auch im Ursprungsland der modernen Freiheitsstrafe gaben die Forschungen von Hippels Anstöße zu weiteren Studien. A. Hallema untersuchte 1927 in der Abhandlung: "Merkwaardige Voorstellen tot oprichtung van het erste nederlandische tuchthuis te Amsterdam uit de Jaren ± 1589 - 1595" auch die Lehren von Hippels. Hallema zitiert wiederholt dessen Ausführungen im Wortlaut und vertieft die Kenntnisse um die Vorgänge der Gründung der Zuchthäuser in Amsterdam18• Wichtig erscheint die Feststellung von Th. SelZin: "HalZema's excellent researches into the history of the Dutch houses of Correction might never have made without the stimulus of Hippels investigations18 ." Ohne anzustreben, sämtliche Stimmen in diesen wissenschaftlichen Streit um die Richtigkeit der von Hippelschen Lehren hier zu nennen, sei weiter auf die Arbeit von Wilhelm Ebel: "Die Rostocker Urfehden" (1938) eingegangen. Ebel erklärt die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe aus der Gefängnisstrafe; das Bestrafen nach Gnade habe zu steigender Anwendung der Gefängnisstrafe an Stelle von Lebensund Leibesstrafen geführt. Bei der (1724) erfolgenden Gründung des Zucht- und Werkhauses in Rostock sei "Besserung" keineswegs der Zweck der Einsperrung gewesen. Die Arbeit habe der Bestreitung der Haftkosten gedient80 • Wieder nimmt Schmidt zu den Behauptungen Ebels Stellung, er ist nicht davon überzeugt, daß diese Gefängnisstrafe mit. der modernen Freiheitsstrafe entwicklungsgeschichtlich zusammenhängt81 • 15 E. Schmidt bespricht: G. Bohne. Die Freiheitsstrafe ... im Literaturbericht der ZStW 1925 (45) S. 309 - 320. 18 E. Schmidt. Zur Geschichte der Strafhaft im italienischen Statutarrecht (12. bis 16. Jahrhundert). In: ZStW 1925 (46) S. 152 - 177. 11 R. von Hippet Deutsches Strafrecht. Bd. I. 1925, S. 100 (2). 18 A. HaHema. In: Jaarbook van het Genootshap Amsteldamm. 1927 (25) S. 63 -132. 19 Th. SeZZin. Pioneering in criminology, 1944, p. VII. 80 W. Ebel. Die Rostocker Urfehden. Untersuchungen zur Geschichte des Deutschen Strafrechts. 1938, S.138. 81 E. Schmidt. Neue Forschungen über den Ursprung der modernen Freiheitsstrafe. In: Schweiz. Z. Strafrecht 1947 (62) S.176 - 178.
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In seinen "Beiträgen" hat von Hippel vor allem eingehend über den äußeren Anlaß für die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe berichtet und damit als "Kriminalist" in seiner nüchternen Art, Ablehnung und Zustimmung, aber vor allem Vertiefung, herausgefordert. Wieder war es ein Schüler von Liszts, der seinen rechtsphilosophischen Neigungen folgend, das Thema: "Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund" aufgriff. Gustav Radbruch veröffentlichte auf von Hippels Thesen aufbauend, seine Studie (1938). Für Radbruch wurde zur Kernfrage, welches Ziel setzte man sich bei der Gründung der Zuchthäuser? Er gab die Antwort: "Es dürfte als Haus der Züchtigung verstanden werden" und betonte weiter: "Was die früheren Zuchthäuser von der Erziehungsstrafe in ihrem heutigen Sinne unterscheidet, ist nicht nur die unvollkommene Durchführung, vielmehr eine andere Auffassung des Erziehungsgedankens. " Er meint nicht, wie nach moderner Auffassung, Erziehung im Rahmen des Vollzugs der Strafe, vielmehr daß die Strafe selbst Erziehungsmittel sei - eben - Züchtigung. "Zum Verstehen bedarf es einer Besinnung auf den religiösen Hintergrund der ersten Zuchthäuser. Sie beruhen auf der neuenBerufsauffassung des Calvinismus, es ist der düstere Ernst, die unerbittliche Strenge des Calvinismus, die in den ersten Zuchthäusern lebt." Diese Ansicht begründet Radbruch eingehend mit Ausführungen über die Sozialethik des Calvinismus und verweist auf die von Max Weber herausgearbeiteten Zusammenhänge in dem Werk: "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus." Entscheidend ist: Askese ist mehr als ein bloßes Mittel zur Besserung, sie trägt ihren Wert in sich, die Unterwerfung unter die Askese bewirkt nicht etwa Sinnesänderung, sie beweist, daß die Sinnesänderung innerlich bereits vollzogen ist. Diese Haltung wirkt sich z. B. im Zuchthaus mit der Leistung der Arbeit und Erfüllung des Pensums ausS!. - Heinrich Gwinner, Mitarbeiter Radbruchs an der "Geschichte des Verbrechens, Versuch einer historischen Kriminologie" (1951), unterstreicht in einem Aufsatz, der das Thema Radbruchs aufnimmt, dessen Ansichten. Gwinner kommt zum Ergebnis: "Der Zuchthäusler sollte nicht in einem langwierigen und allmählichen Prozeß gebessert werden, sondern in einem Akt: dem Durchbruch sich verstockender Menschen aus ihrer TrotzhaltungSS. " In der Studie: "Die Entwicklung des Zuchthauswesens in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert" stimmt Hellmuth von Weber der Ansicht Radbruchs über die Bedeutung der Sozialethik des Calvinismus für die Entstehung der Zuchthäuser zu84, ebenso auch zu den von von 82 G. Radbruch. Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund. In: Elegantiae juris criminalis. 11. Aufl. 1950, 5.116 -129. Erneut abgedruckt in: Zf5trVo. 1952 (3) 5. 163 - 174. 83 H. Gwinner. In: MschrKrim. 1941 (32) 5.171 -173.
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Hippet festgestellten ausgezeichneten Besserungserfolgen im Amsterdamer Zuchthaus85• von Weber ist aber der Auffassung, es liege dem Calvinismus fern, die Strafe oder sonst eine staatliche Maßnahme zur inneren moralischen Besserung des Täters zu verwenden". Er kommt weiter zu dem Schluß, das Amsterdamer Zuchthaus sei in seiner Entstehungszeit keine Strafanstalt, es verwirkliche auch nicht einen erziehlichen Vollzug. Allerdings sei der Schritt bis zu diesem Ziel nicht mehr weit gewesen87 • Außerdem wendet sich von Weber gegen die Deutung der Zuchthausstrafe als einer Besserungsstrafe und vertritt die Auffassung: Nur für die Dauer des Aufenthalts im Zuchthaus solle der Insasse gezwungen werden, durch Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, an eine Arbeitstherapie für die Zeit nach der Entlassung sei nicht gedacht88• Nach Auffassung der Zeit sei das Zuchthaus nicht Freiheits-, sondern öffentliche Zwangsarbeitsstrafe. - Die gleiche Ansicht vertrat bereits Kriegsmann 89 • An dem durch von Weber neu angefachten wissenschaftlichen Streit beteiligte sich, soweit feststellbar, von Hippet, wohl aus gesundheitlichen Gründen, nicht. Den Ausführungen von Webers hält Lothar Frede in dem Beitrag: "Zur Frage des Anfangs eines resozialisierenden Strafvollzugs", nach Herausarbeiten der Ansichten Webers u. a. folgende Fragestellung entgegen: Was hat man zur Zeit der Zuchthausgründungen in Amsterdam unter Erziehung verstanden? Frede regt eine "sicher sehr interessant werdende Auseinandersetzung der Fachleute darüber" an. Weiter sieht er von HipeIs Lehre, daß im Amsterdamer Zuchthaus der erste epochemachende Versuch erblickt werden darf, einem resozialisierenden Erziehungsziel mit einer bestimmten Erziehungsmethode zuzustreben und daß sich dieses Bestreben auch auf einer Ebene abgespielt hat, die der Strafrechtspflege jener Zeit mitzugehört, als nicht erschüttert an90 • In einer ausführlichen, die Gesichtspunkte von Webers sorgfältig abwägenden Stellungsnabme, die wohl als Abschluß der Disputation gelten kann, arbeitet Schmidt wesentliche Grundsätze heraus und vertieft damit die Aussprache'l. Die Armenpflege im weitesten Sinne hat zur Errichtung der Amsterdamer Zuchthäuser geführt, ihre Ordnung '" H. von Weber. Die Entwicklung des Zuchthauswesens in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. In: Festschrift Adolf Zycha. 1941, S. 427 - 486; G. Radbruch. Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hinter-
grund a.a.O. S.129 (44). 85 R. von Hippet. Deutsches Strafrecht. Bd. I, 1925, S. 246. 8. H. von Weber a.a.O. S.443. 87 H. von Weber a.a.O. S.445. 88H. von Weber a.a.O. S.442/443. 81 H. v. Weber a.a.O. S.457 (26). 10 L. Frede. In: MschrKrim. 1942 (33) S.191 fi. 11 E. Schmidt. Neue Forschungen a.a.O. S.I71-193. 13·
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und ihren Zweck bestimmt. Armenpflege umfaßt aber auch die Bekämpfung des Bettlerunwesens! Insoweit enthalten von Webers Darlegungen nichts, das neu wäre und die bisher herrschende Lehre erschüttern müßte. Erschüttert wäre sie durch den Nachweis, daß das Zuchthaus ursprünglich überhaupt kein Strafmittel gewesen seil!. Die mutwillige Bettelei ist schon seit dem 16. Jahrhundert zur strafbaren Handlung gewordenl3, und die Zuchthäuser Englands und des Kontinents haben von Anfang an auch der Aufnahme von bestraften Kriminellen gedient. Auch die im Zuchthaus zu Bremen geübte Arbeitstherapie, die aus dem Colloquium: Sebastian und Friedrich deutlich wird, verdient Beachtung94• In den Amsterdamer Anstalten sind die ersten modernen Strafanstalten auf dem Kontinent zu sehen95• Für die Art des gelehrten, öffentlichen Streitgesprächs bezeichnend scheint die Tatsache, daß von Weber in der Festschrift für E. Schmidt einen Beitrag "Calvinismus und Strafrecht" gibt. Darin geht er auch nochmals kurz auf die Bedeutung der Amsterdamer Zuchthäuser ein und bringt erneut vor, eine strafbare Handlung sei nicht Voraussetzung der Einweisung gewesen, aber es sei natürlich naheliegend gewesen, auch kriminelle Elemente in die Anstalten aufzunehmen. von Weber verweist dabei "zu dieser viel behandelten Frage" u. a. auf den erwähnten Aufsatz von Radbruch und "zusammenfassend" auf Schmidt98 • Bei der Zusammenstellung von ablehnenden, zustimmenden und ergänzenden Äußerungen zu den Thesen Robert von Hippels mag auffallen, daß bisher ausschließlich deutsche Rechtshistoriker und keine Vertreter anderer Disziplinen, z. B. der Geschichte des Fürsorgewesens erwähnt wurden. Bereits Frede hatte auf Beachtung der pädagogischen und soziologischen Probleme verwiesen. Das Thema "Arbeit und Armenpflege" verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. Christian J. Klumker betont, daß Fürsorgearbeit weder aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen noch aus dem Geiste einer Zeit herausgelöst werden könne und daß die Geschichte von der Entwicklung der Fürsorge in den Rahmen der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gehöre. Ansätze, die Armenpflege in dieser Weise geschichtlich einzuordnen, sind, auch unter Berücksichtigung der Probleme des Gefängniswesens, gemacht worden97 • Neue Forschungen a.a.O. S. 18I. Neue Forschungen a.a.O. S. 184. 84 Neue Forschungen a.a.O. S.187. 85 Neue Forschungen a.a.O. S. 188/193. 11 H. von Weber. Calvinismus und Strafrecht. In: Festschrift für Eberhard Schmidt. 1961, S. 39 - 53. 87 Chr. J. Klumker. Arbeit und Armenpflege. In: Die Verwertung der Arbeitskraft als Problem der Fürsorge. 1927, S. 179 -199. 92
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E. E. E. E.
Schmidt. Schmidt. Schmidt. Schmidt.
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Ein Schüler Klumkers, Hans Scherpner, befaßt sich in seiner "Theorie der Fürsorge" (1962) auch mit den durch Gründung der Amsterdamer Zuchthäuser aufgeworfenen Fragen und geht u. a. auf die bereits von von Weber beachteten Gedankengänge eines möglichen Einflusses der Humanisten ein. Auf Grund von Studien in Amsterdam selbst kommt Scherpner zu dem Ergebnis, daß der Humanist Vives den Gedanken der Arbeitsversorgung aus Gründen der General- und Spezialprävention, den Gedanken der "Zucht" also, wohl erkannte, der dann "einige Menschenalter später in England und in den Niederlanden die ersten Zwangsarbeitsanstalten, die Zucht- und Werkhäuser hervorgebracht hat"98. Die bei Einrichtung des Amsterdamer Zuchthauses maßgebenden Personen hätten zum großen Teil der Richtung der "Libertijnen" angehört, so wurden die nicht streng calvinistischen, weil humanistisch beeinflußten Angehörigen der führenden städtischen Geschlechter genannt99 • Dabei war von Weber der Ansicht, daß aus den von Vives und anderen Humanisten vertretenen literarischen Anschauungen nicht unmittelbar ein Antrieb für die Entstehung der Zuchthäuser erwachsen wäre, "aber sie stellen doch die ,Denkfigur' bereit, mit der das entstandene Zuchthaus begrifflich erfaßt wurde"lOO. Scherpner ist der Ansicht, "für die holländischen Zuchthäuser ist der Zusammenhang, wenn auch nicht direkt mit Vives, so doch mit der humanistischen Tradition nachweisbar." Er demonstriert an den arbeitsfähigen Armen in Gestalt des kräftigen Bettlers weiter, wie sich der Typus der Armen mit der Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse wandelt. Dabei habe sich die Gesellschaft seiner durch polizeiliche Unterdrückung und grausame Strafjustiz zu erwehren gesucht. Daneben seien aber auch die von Fürsorgegedanken getragenen Bestrebungen gelaufen, ihn durch eine seinem Charakter entsprechende erziehliche Behandlung in Form des Arbeitszwanges (Zucht- und Werkhaus) einzuordnen101. Eine umfassende Studie: "Pioneering in penology. The Amsterdam houses of correction in the sixteenth and seventeenth centuries" legte Thorsten Sellin bereits 1944 vor, weil es keine, den "splendid article" von Hippels "adaequate description of the Amsterdam houses of correction in the English language" gab l02 • Allgemein stellt Sellin auf Grund der Forschungen von Hippels, der Disputation und eigener Studien heraus: Hippel established oncefor all the contribution of the 18 H. Scherpner. Theorie der Fürsorge. 1962, S. 98. H. Scherpner a.a.O. S. 216. 100 H. von Weber. Die Entwicklung des Zuchthauswesens. S.438/39. 101 Scherpner a.a.O. S. 216, S. 148. 102 Sellin a.a.O. p. VII.
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Dutch municipalities of the late 16th and early 17th centui-ies to the rise of correctional imprisonmentt03 ." Wenn Sellin auCh in Einzelfragen z. B. die Annahme von Hippels, die Einzelhaft erfolgte aus erziehlichen Erwägungen, als unberechtigt ablehnt lO ', so bejaht er im Ganzen dessen Arbeitsergebnisse lO&. Wie vorbehaltlos und gesichert die Thesen von Hippels heute von der Fachwissenschaft aufgenommen sind, geht z. B. aus einer Arbeit Max Grünhuts: "Penal reform" (1948) hervor. GT'Ünhut betont "While almost everywhere the prevailing social conditions called for new ways in dealing with the destitute and wayward, the first houses of correction bear the marks of a new spiritual impulse, to organize wordly affairs in accordance with Divine commandments"loe.
111 Die Wirkung der Arbeiten von Hippels beschränkt sich aber nicht auf die wissenschaftliche Leistung der Erforschung der Anfänge des modernen Gefängniswesens und auf die durch seine Thesen veranlaßte Disputation der Fachwelt. Die Wirkung geht weiter auf die gesamte Wissenschaft vom Gefängnis, auf die vertiefte Einsicht in das Verflochtensein von Strafrecht und Strafvollzug mit der Forderung· des Neudurchdenkens aller sich darauf beziehender Reformbestrebungen in der Gegenwart, einschließlich auch etwa einer Festlegung der Aufgaben des Vollzugs von Freiheitsstrafen im geltenden StrafgesetzbuChl07. Es liegt im Wesen der Gefängniskunde, die es vor allem mit dem Wissen um den einzelnen Menschen im Freizeitentzug zu tun hat, daß sie den Blick auf die Probleme der Spezialprävention lenktlOB. Hiervon ausgehend gibt von Hippel Anregungen, das gesamte Gebiet wissenschaftlich zu durchdringen l09 , um den eigenen Platz in der Gegenwart zu klären. - Mit dem RStGB von 1871 wird das Gefängniswesen in der deutschen Geschichte zum ersten Male vor einheitliche Aufgaben gestellt110. Eine Besinnung auf die wissenschaftlichen Grundlagen wurde nötig, aber schon die versuchte Klärung des Begdffs"Gefängniswis103 Sellin a.a.O. p. VII. 104 Sellin a.a.O. p. 88. 10& Sellin a.a.O. p. 104. 101 M. Grilnhut. Penal reform. 1948, p. 20. 107 Aufgabe des Vollzugs von Freiheitsstrafen. Eingabe der Strafvollzugskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland. In: ZfStrV'o. 1966 (15)
S. 259 - 266. lOB R. von Hippel. Deutsches Strafrecht. I. 1925, S. 480. 108 R. von Hippel. Deutsches Strafrecht. I. 1925, S. 339. 110 R. von Hippel. Deutsches Strafrecht. I. 1925, S. 369.
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senschaft" gab Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten. von Liszt äußerte in seiner Abhandlung "Kriminalpolitische Aufgaben (1889): "Ich bestreite, daß es eine Gefängniswissenschaft gibt und fordere die Gefängnisreform als einen Teil des Ganzen der Strafrechtspflege, der Kriminalpolitik und nicht als Sondergebiet aufzufassen111 ." Aber, so muß festgestellt werden, die Entwicklung des Gefängniswesens blieb bis heute isoliert112 , und wird es bleiben, solange keine angemessene gesetzliche Regelung erfolgt. Vorher müssen die Aufgaben, die Möglichkeiten und die Grenzen des Vollzugs von Freiheitsstrafen erkannt und berücksichtigt werden. Alle Ansätze seit 1871, eine sinnvolle Relation zwischen der Strafgesetzgebung und dem Strafvollzug zu finden, blieben ohne das gewünschte Ergebnis. Wie wesentlich aber dieses Problem für von Liszt und seine Schule im weitesten Sinne war, geht aus dem Beitrag von Karl Krohne: "Der gegenwärtige Stand der Gefängniswissenschaft" in dem ersten Heft der 1881 neu gegründeten Lisztschen "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" hervor. Krohne, damals Strafanstaltsdirektor in Kassel-Wehlheiden, später Referent für das Gefängniswesen im Preußischen Innenministerium, ließ darin die Problematik der Gefängniswissenschaft wie in einem Kaleidoskop aufleuchten. Ein Teilproblem, das der Haftform, erhielt damals den Vorrang. Die von Krohne nach einem geschichtlichen Rückblick vertretene Ansicht: Die Einzelhaft ist die Freiheitsstrafe par excellence l13 , war bezeichnend für die damalige Grundhaltung. Rückschauend stellte von Hippel (1925) fest, im Vordergrund steht der Streit um die HaftsystemelU. Mit diesem Streit wurde aber im Ganzen die Sicht auf andere Probleme des Strafvollzugs verstellt. Zu der nicht ausreichend geklärten Relation von Strafrecht und Strafvollzug führte Krohne aus: "Es ist grundfalsch, das Strafrecht und den Strafprozeß zu ordnen, ohne die Strafen zu definieren und den Strafvollzug zu regeln115." Der "Entwurf eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen" (von 1879)116 "enthält ungefähr alle Details in sorgfältiger Genauigkeit, nur eines enthält er nicht, das System und das Prinzip"117. Mit welcher Nüchternheit, aber auch mit F. 'Von Liszt. In: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. I. S.295. F. 'Von Liszt. In: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. I. S.326. 113 K. Krohne. Der gegenwärtige Stand der Gefängniswissenschaft. In:
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ZStW 1881 (1) S. 63. 114
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R. 'Von Hippet Deutsches Strafrecht I. 1925, S. 339 (3). K. Krohne a.a.O. S. 71.
m Abgedruckt: K. Krohne. Lehrbuch der Gefängniskunde. 1889, S.553 bis 564. 117 K. Krohne. Der gegenwärtige Stand der Gefängniswissenschaft. In: ZStW 1881 (1) S. 73.
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welcher Leidenschaft sich Krohne einsetzt, wird aus seinem Bekenntnis deutlich: "es ist wohl der Mühe wert, sich in den Dienst dieser Wissenschaft zu stellen und ihr neue Jünger zu werben118." Aus der "Selbstdarstellung" von Hippels spricht ebenfalls das Spannungsverhältnis: Strafrechtsreform und Strafvollzugsreform. 1897 werden die "Beiträge" abgeschlossen, in den Jahren 1903 bis 1913 nimmt die Strafrechtsreform die "beste Arbeitskraft" in Anspruch. Aus dieser Zeit liegen größere Beiträge von Hippels für die wissenschaftliche Vorbereitung der Strafrechtsreform vor. "Als Fachmann an der Aufstellung des Strafgesetzentwurfs mitwirken zu dürfen, bei der größten Aufgabe, die dem Kriminalisten gestellt werden konnte ..., das war einzig schön und lehrreich zugleich119." Neben den Vorlesungen über Gefängniswesen zeugen Vorträge und Aufsätze und sein Einfluß auf die fachliche Haltung der nachwachsenden akademischen Generation von seinem Wirken. "Many scholars abroad were equally inspired by it and a number of monographie studies of local German penal institutions by Hippels own students at Göttingen resulted from it1!o." In den Jahren 1902 -1932 fertigen, bei Betreuung durch von Hippel, 19 Doktoranden Dissertationen zum Thema Strafvollzug. Elf seiner "Schüler" arbeiteten über die Entwicklung des Gefängniswesens in England und in einzelnen deutschen Städten oder Landschaften; acht andere befaßten sich mit den Themen: Haftsystem, Strafvollzug in Stufen, Außenarbeit, Disziplinarstrafen und Kirche im Strafvollzug121 . Eine lückenlose Zusammenfassung der Ansichten von Hippels über die Behandlung der Gefangenen, die Organisation der Vollzugsanstalten, die Beamtenschaft und ihre Aus- und Fortbildung, ist nicht überliefert. Eine Drucklegung der Vorlesung "Gefängniskunde" erfolgte nicht, auch "die geplante Darstellung des Strafvollzugs hat leider das hohe Alter verhindert und damit eine für die Wissenschaft kaum auszufüllende Lücke gelassen"122. Dennoch finden sich in seinen literarischen Arbeiten Stellungnahmen zu den angegebenen Themen. Zunächst geben die Beiträge von 1898 einen allgemeinen Einblick in seine Ansichten über die Gefangenenbehandlung. Die fast 25 Jahre später erfolgende Anerkennung der "wertvollen" Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923123 lassen die unveränderte Zustimmung zu 118
K. Krohne a.a.O. S. 92.
R. von Hippels Beiträge zur vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts behandelten u. a. Bettel, Landstreicherei, Arbeitsscheu. Selbstdarstellung S. 142. 120 Sellin a.a.O. p. VII. 121 Zusammengestellt aus: Jahresverzeichnis der aus den Deutschen Universitäten erschienenen Schriften. 1901 (17) -1932 (48). 122 H. Welzel. Robert von Hippel t. Juristenzeitung. 1951, S.536. 123 R. von Hippel. Deutsches Strafrecht I. 1925, S. 375. 119
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den konstruktiven Zielen des Strafvollzugs und auch zu bestimmten Methoden, hier z. B. dem Progressivsystem, erkennen124. Dabei würdigte er auch die geschichtliche Bedeutung des englischen Gedankens, die Einzelhaft nur als Stadium eines progressiven Strafvollzugs zu benutzen125. Zur Frage der Organisation des Gefängniswesens, hier der Aufsichtsbehörde, äußert sich von Hippel gelegentlich der Vereinheitlichung in Preußen im Jahre 1917, als die bisher dem Minister des Innern zugeordneten Zuchthäuser und Gefängnisse (mit Ausnahme der Polizeigefängnisse) dem Justizministerium unterstellt wurden. Der bis dahin geltende Zustand des Dualismus lasse sich sachlich nicht rechtfertigen, nur historisch erklären. Aber, so betont er, "entscheidend für die Zuweisung an- das Justizministerium waren weniger historische und prinzipielle, als Zweckmäßigkeitsgründe"126. Zwei äußere Faktoren veranlaßten wohl die getroffene Neuregelung: die Tatsache, daß die Stelle des Referenten für das Gefängniswesen im Innenministerium seit dem Tode von Krohne (1913) noch nicht wieder besetzt war und notwendig gewordene Sparmaßnahmen während der Kriegszeit. Von Hippel sieht aber das Kernproblem: "Für den Kriminalisten handelt es sich hier um weit höhere Fragen als um einzelne Zweckmäßigkeitsrücksichten, was wir brauchen, ist engstes Zusammenwirken von Strafrecht und Strafvollzug, der seinem Wesen nach nichts anderes ist, als die Durchführung des Strafrechts im Einzelfalle." - Wie gering die Bereitschaft zum Zusammenwirken ist, geht daraus hervor, daß die "wichtige Frage, wie die Verbreitung der Kenntnis des Gefängniswesens bei den an der Strafrechtspflege beteiligten Juristen"127, weder durch ausreichende Vorlesungen und übungen an der Universität, noch durch Ausbildung der Referendare in den Vollzugsanstalten während des Vorbereitungsdienstes128, noch durch sinngemäße Einführung in die Probleme des Freiheitsentzugs für die in der Praxis lIder Strafrechtspflege beteiligten Juristen" befriedigend gelöst ist. Eine im Rahmen der Entlassenenfürsorge bedeutsame Einzelfrage, die der Aufenthaltsbeschränkung bestrafter Personen, sie wurde durch den Fall des "Hauptmanns von Köpenick" (1906)129 gestellt, veranlaßte von Hippel zur Feststellung: "Das Köpenicker Delikt wäre unterblie124 R. von Hippel. In: Blätter für Gefängniskunde. 1927 (58) S. 197 ff. 126 R. von Hippel. Deutsches Strafrecht I. 1925, S.338 (4). 128 R. von Hippel. Einheitlichkeit des Gefängniswesens in Preußen. In: ZStW 1918 (39), S. 462 - 465. 127 R. von Hippel. Einheitlichkeit ... a.a.O. S. 464. 128 H. Dahlke. Ausbildung der hessischen Gerichtsreferendere im Strafvollzug. In: Festgabe für Albert Krebs. 1960, S. 159 - 164. 129 R. von Hippel. Der Hauptmann von Köpenick und die Aufenthaltsbeschränkung bestrafter Personen. DJZ 1906 (11) S. 1303.
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ben und Vogt voraussichtlich ein ehrlicher Mensch geworden, wenn man· die Ausweisung unterlassen hätte." Er forderte die Beseitigung aller Aufenthaltsbeschränkungen bestrafter Personen, soweit sie dem ehrlichen Fortkommen hindernd im Wege stehen. In der Gegenwart bereitet die Ausländergesetzgebung mit der Aufenthaltsbeschränkung Vorbestrafter gelegentlich vergleichbare Schwierigkeiten. Die Begebenheiten der zwanziger Jahre forderten die Verantwonlichen erneut zur Klärung des Sinnes der Strafe heraus.· So wird lIder Sinn der Strafe" in den Jahren 1925/26 zum Thema, das drei Hochschullehrer, der Kriminalist von Hippel, der Strafrechtler FTeudenthal und der Pädagoge Nahl in Vorträgen im Kreise von Vertretern der Gefangenenfürsorge abhandeln130 • Die vor allem interessierenden Kernfragen sind bei van Hippel "Das Strafrecht ist Interessenschutz gegen menschliche Angriffe ... die modeme Freiheitsstrafe bringt als entscheidenden Fortschritt den Besserungszweck und kombiniert ihn zugleich in wertvoller Weise mit anderen Strafzweeken." - FTeudenthaI folgert, Strafrecht ist Schutzrecht, die Strafe eine Schutzniaßregel. Wir schützen damit die Gesellschaft gegen gefährliches Tun gefährlicher Menschen. Der Begriff der Gefährlichkeit tritt als Voraussetzung der Strafe an die Stelle des Begriffs der Schuld. Das ist der springende Punkt. - Bei Nahl heißt es: Die Freiheitsstrafe, diese vergeistigte Strafe, hat große Bedeutung, da sie geeignet ist, alle Funktionen der Strafen zu übernehmen, wie sie den Menschen in allen Schichten seiner Seele zu treffen vermag. Die Vereinigungstheorie .will an der Mannigfaltigkeit der Theorien und Gesichtspunkte eklektisch das "Praktisch Verwertbare" herausheben, aber sie gerät dann in die Schwierigkeit, daß sich diese Theorien nicht vereinigen lassen, weil der eine Zweck dem anderen widerspricht. Es zeigt sich dann, daß solche Vereinigungstheorien, selbst in einer so reifen Form wie der von Hippe1s, im Grunde den Boden der Aufklärung noch nicht verlassen haben, nur daß diese der rationalistischen Konstruktion der anderen die Empirie des gesunden Menschenverstandes entgegenstellt, statt diese gegensätzliche Mannigfaltigkeit wirklich geisteswissenschaftlich zu verstehen". - Wenn auch hier die Grundlagen der drei voneinander abweichenden Ansichtenüber den Sinn der Strafe nicht zu behandeln sind, so bleibt wesentlich, welcher Sinn dem Vollzug der Freiheitsstrafe gegeben wird. Nahl erklärt: "Die Erziehung ist, wenn nicht der Sinn der Strafe, so doch der des Strafvollzugs, der Strafvollzugsbeamte hat ein eigenes 130 R. von Hippel. Der Sinn der Strafe. Vortrag. In: Monatsblätter des Deutschen Reichsverbandes für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge. 1926 (1) Heft 8/9, S. 11 - 18; B. Freudenthal. Der Sinn der Strafe. Vortrag. In: 41. Jahrbuch der Gefängnisgesellschaft der Provinz Sachsen und Anhalt. 1925, S. 81 - 91; H. Nohl. Der Sinn der Strafe. Vortrag. In: Jugendwohlfahrt. 1927, S. 84 - 100.
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positives Ziel, das seine Idealität ausmacht: den Wideraufbau dieses Menschen." - Nach Freudenthal ist die Erziehung das erste und vornehmste Strafziel, nichts dient dem Staate mehr, sie allein adelt den Strafvollzug. Erziehung ist die äußere, staatliche, bürgerliche, meinetwegen staatsbürgerliche, mit dem Ziele der Umbildung des Verbrechers in einen gesetzmäßig lebenden Bürger. - von Hippel meint zum Beruf des Vollzugsbeamten, er müßte verzweifeln vor der Aufgabe, jeden Verbrecher bessern zu sollen. Denn er wisse ja genau, daß diese Aufgabe oft, insbesondere bei vielen Vorbestraften, unlösbar ist. "Dann weiß ich weiter: Ich strafe auch dann nicht zwecklos, sondern im Interesse gerechter Vergeltung und Verbrechensverhütung, und damit stehe ich auf den Grundlagen, auf denen allein die Rechtssicherheit in Staat und Volk gedeihen kann, auf denen allein ein geordnetes soziales Leben möglich ist." Das Verhältnis von Rechtsstrafe und Erziehung ("Besserung") bleibt stets ein Spannungsverhältnis. Der Alltag des Vollzugs der Freiheitsstrafe - das wird aus den drei Vorträgen ersichtlich, ohne daß zu Einzelheiten Stellung genommen werden kann - stellt ungewöhnlich schwierige Aufgaben. Verdienstvoll bleibt, dies erkannt, darauf hingewiesen und Möglichkeiten des Verstehens aufgewiesen zu haben. Wie eine Krönung der wissenschaftlichen Lebensarbeit Robertvon Hippels zum Thema " Freiheitsstrafe " mutet die Abhandlung "Die geschichtliche Entwicklung der Freiheitsstrafe" an. Dabei wird die Bedeutung der Ausführungen zum gleichen Thema in seinen Lehrbüchern nicht übersehen. Besonders wichtig wird der kurze Text, weil hier der Rechtshistoriker eine Einteilung in Perioden unternimmt, die Fülle der Einzelgeschehnisse systematisch ordnet und Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheidet. Die Sinngebung der Einzeltatsachen kann für die deutsche Entwicklung in den Abschnitten: I. von 1595 bis 1777, 11. von 1777 bis 1870, 111. von 1870 bis zur Gegenwart, erfolgenl3l • Es ist selbstverständlich, daß von Hippel dabei auch auf den nicht zahlreichen Vorarbeiten zu diesem Thema aufbaut. Die Forschungsergebnisse von Hippels über die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und die Periodeneinteilung ihrer Entwicklung sind heute. selbstverständliche Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Arbeiten a11 derer, die sich um den Ausbau des Gefängniswesens in den deutschen Ländern bemühen. Auch das Ausland erkannte, wie berichtet, von Hippels Leistungen an. Die Ergebnisse der Forschungen bis in die jüngste Gegenwart faßte Schmidt in seirler "Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspfiege" zusammen und stellte fest: 131 R. von Hippet. Die geschichtliche Entwicklung der Freiheitsstrafe a.a.O. S.1-15.
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"von Hippel hat in seinem Werk über das Deutsche Strafrecht eine umfassende Darstellung der gesamten deutschen Strafrechtsgeschichte geboten, die sich als tragfähige Grundlage weiteren rechtsgeschichtlichen Arbeitens bestens bewährt13Z."
Aber auch die Praktiker des Gefängniswesens in Deutschland nahmen im Laufe der zwanziger Jahre enge Beziehungen zu von Hippet auf. Der damalige Berufszusammenschluß: der "Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten", gegründet 1864, und gleichgeschaltet 1934133 , wählte von Hippel gelegentlich seiner 19. Mitgliederversammlung in Augsburg (1927) und ebenso bei der 20. in Kassel (1930) zum Präsidenten der Tagungen. Darüber hinaus ernannte ihn die Kasseler Versammlung nicht nur zum Ehrenmitglied, sondern auch zum Ehrenvorsitzenden134 • Die Niederschriften der beiden Tagungen lassen bei von Hippet eine ungewöhnliche Sachkenntnis und Aufgeschlossenheit für die Fachfragen der Praktiker erkennen. Gelegentlich der Augsburger Tagung des "Vereins der Deutschen Strafanstaltsbeamten" wurde eine Kommission zur Beratung des Entwurfs eines deutschen Strafvollzugsgesetzes (von 1927) unter dem Vorsitz von Hippets gebildet. Das Ergebnis der Beratungen der Kommission, die aus sieben Strafanstaltsdirektoren, einem Arzt und einem Verwaltungsbeamten unter dem Kriminalisten gebildet worden war, wurde als "Göttinger Beschlüsse" veröffentlichtlsI. Die weiteren Geschehnisse in Deutschland versagten freilich dieser Arbeit den Erfolg. Wie gründlich von Hippet arbeitete und wie er die Bestrebungen des "Vereins der Deutschen Strafanstaltsbeamten" auch in dem Vereinsorgan, den "Blättern für Gefängniskunde", lange vor dem ersten Weltkrieg verfolgt hatte, geht aus einem handschriftlichen Aktenvermerk gelegentlich der Erörterung von "Bücher- und Zeitschriftenbeschaffung" - hier des weiteren Bezugs der "Blätter für Gefängniskunde" - für das Juristische Seminar der Universität Göttingen hervor: "Wenn auf der Bibliothek nicht vorhanden, ist Abschaffung völlig untunlich. Aber auch sonst bitte ich, wenn irgend möglich, um Beibehaltung. Es wird jährlich 1/4 bis 1/s Million Menschen in Deutschland zu Freiheitsstrafen verurteilt, das Gebiet ist also von eminenter praktischer und wissenschaftlicher Bedeutung. Die zusammenfassenden Darstellungen (Krohne, Lehrbuch, Holtzendorff, Handbuch), sind vor zwanzig Jahren 132 E. Schmidt. Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege a.a.O. S. 369. 188 O. Rudolph. Aus dem Erbe des Vereins der Deutschen Strafanstaltsbeamten e.V. In: ZfStrVo. 1964 (13) S. 311 - 327. 134 Laudatio. In: Blätter für Gefängniskunde. 1933 (64) S. 215 - 217. 131 In: Blätter für Gefängniskunde. 1927 (58) S. 391 - 414.
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erschienen. Fortlaufende neuere Orientierung bietet gerade allein diese Zeitschriftl36 • " Wohl einer der letzten Beiträge zum Thema Freiheitsentzug für eine Fachzeitschrift aus der Feder von Hippels ist seine in den "Blättern für Gefängniskunde" erschienene Abhandlung: Zum Reichsgesetz vom 24.11.1933 (... gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung). In seiner Stellungnahme bezeichnet er sich als "Wissenschaftlicher Spezialist auf diesem Arbeitsgebiet" und knüpft damit an seine erste wissenschaftliche Arbeit, die Dissertation, wieder an. Seine Ausführungen lassen erkennen, daß er im Ganzen der getroffenen Regelung zustimmt. Freilich läßt der letzte Satz aufhorchen: "Vorurteilslose Nachprüfung von Bedenken in manchen Punkten wird die Aufgabe der Zukunft seinIS7 ." Welche Bedenken darin auch eingeschlossen sein mögen, der Sinn dieses Wortes war von Hippels wissenschaftliche Richtschnur. Als Ergebnis dieses Überblicks sei festgehalten: 1. Die Anregungen, die von den Beiträgen ausgingen, waren derart, daß aus von Hippels Schule und der anderer Hochschullehrer neben Abhandlungen über allgemeine Vollzugsprobleme zahlreiche Studien über die Entstehung und Entwicklung einzelner Strafanstalten oder mehrerer Einrichtungen in einem geographischen Bereich hervorgingen. Sie lassenu. a. erkennen, daß der Aufbau des deutschen Gefängniswesens auf föderalistischer Grundlage erfolgte. Es blieb auch weitgehend unabhängig von den strafrechtlichen Regelungen, selbst denen des StGB von 1871. - Die Bestrebungen nach Vereinheitlichung finden zudem heute im Grundgesetz ihre Grenze.
2. Der Kriminalist von Hippel strebte die Klärung des Sinnes der Strafe und folgerichtig auch des Strafvollzugs an. Dabei wurden die beiden Wurzeln der Vollzugsanstalten, die Armenpflege und die Strafrechtspflege klargelegt. Weiter ergab sich, daß nur durch Zusammenwirken aller wissenschaftlichen Disziplinen die Lebensform "Strafanstalt" erforscht und verstanden werden kann. Die Ergebnisse sind zugleich Voraussetzung für ein konstruktives Wirken der Strafvollzugsbediensteten. 3. An der Schaffung gesetzlicher Grundlagen auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafvollzugs arbeitete von Hippel mit. Auf dem Gebiet des Strafvollzugs ist dieses Ziel bisher noch nicht erreicht. Es fehlen noch einige Voraussetzungen: es ist die gegenwärtige Lage des Vollzugs zu klären und weiter, es ist zu erheben, was der Strafvollzug, vom Strafrecht her gesehen, leisten kann. 138 In: Akten der Juristischen Fakultät (der Universität Göttingen) IV. Seminar 11. 35. 2. Jur. Sem. 1888 - 1932. IS7 In: Blätter für Gefängniskunde. 1934 (65) 5.1-16.
10. Christian Jasper Klumker und seine sozialpädagogische Einstellung zum Straffälligen* I
Ein, Verfasser und Thema kennzeichnender Text, erschien als Abhandlung zuerst in dem Handbuch "Jugendfürsorge", das der Direktor der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, Dr. Petersen - Hamburg, im Jahre 1913 zusammengestellt hatte. Der Sammelband wurde nach Petersens Tod 1915 von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge herausgegeben. Fast gleichzeitig erfolgte ein Abdruck des gleichen Textes, der in dem Handbuch den Titel "Die kriminellen Jugendlichen" trug, in der Zeitschrift für das Armenwesen (1915 [16] 59 ff.) mit dem geänderten Titel "Die straffälligen Jugendlichen". Was mag den Verfasser zur Titeländerung veranlaßt haben? Die Gründe hierfür sind im einzelnen· nicht bekannt. Wohl aber vertrat Klumker in den zwanziger Jahren dem Verfasser dieser Zeilen gegenüber die Auffassung, daß zwischen "Straffälligkeit" und "Kriminalität" unterschieden werden müsse. Minderjährige sollten in der Regel nicht als "Kriminelle" bezeichnet werden. Die weiter mögliche Frage, welche Forderungen aus den Ausführungen Klumkers gezogen wurden, ist dahingehend zu beantworten: Dies ist nicht im einzelnen nachzuweisen, obwohl die Fachwelt ihnen große Bedeutung beimaß. Die Beachtung wird ersichtlich z. B. aus den Aufsätzen über Jugendzeit und Strafmündigkeit von: Noppel, von Düring, Francke und Kramer (Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohfahrt 1927 [19] 200 ff.). - Wesentlich ist, daß in der Abhandlung das Problem Rechtsstrafe und Erziehungsstrafe erkannt und zu klären versucht wird. Jede Generation hat die ihr gemäßen Folgerungen aus solcher Spannung zu ziehen. Damals lautete der Vorschlag zu einer Lösung: Erhöhung der Strafmündigkeitsgrenze. Wie ist es möglich, Klumkers Anschauungen noch eingehender, als es durch das Studium des Aufsatzes "Die straffälligen Jugendlichen" geschehen kann, kennenzulernen? Die knappe Zahl seiner Buchveröffentlichungen, aber die große Zahl seiner Aufsätze in Sammelwerken und Zeitschriften läßt dies zu. Leider sind seine wichtigsten Abhandlungen noch nicht gesammelt und neu herausgegeben. Ein Teil hatte zweüellos
*
Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, Jg.18 (1969), S. 222 - 23l.
10.
ehr. J. Klumker und seine Einstellung zum Straffälligen
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vor allem für die Zeit Bedeutung, in der die Veröffentlichung erfolgte; Es fehlt weiter eine Biographie Klumkers und auch eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Fürsorge im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, aus der deutlich wird, welche Stellung Klumker als Anreger, als Organisator und als Wissenschaftler darin einnahm. Zum 100. Geburtstag Klumkers (am 22. 12. 1968) traf dankenswerterweise Gerd Neises eine Auswahl aus den Veröffentlichungen, die, mit einer längeren Einleitung versehen, in der Reihe "Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge", Schrift 243, erschien. Eine weitere Quelle der Unterrichtung sind die von Freunden und Schülern als "Festgabe" zum 60. Geburtstag zusammengestellten Abhandlungen. Die Festgabe trägt den die Lebensarbeit des Geehrten kennzeichnenden Titel "Fürsorge als persönliche Hilfe". Mit diesem Kennwort über das Wesen der Aufgabe zur Überwindung der Hilfsbedürftigkeit, das heute allgemein gültig ist, sagt Klumker aus: "Die Fürsorge will den Armen, soweit irgend möglich, wieder selbständig machen. Hilfe zur Selbsthilfe ist eine der ältesten Forderungen der Fürsorge." Die Stellung Klumkers im Rahmen der Fürsorgebestrebungen in Frankfurt am Main, die auf das gesamte Reichsgebiet ausstrahlten, geht auch aus dem Werke von Hans Achinger "Wilhelm Merton in seiner Zeit" (1965) hervor. Achinger beschreibt darin das Leben einer Persönlichkeit, die sowohl als Wirtschaftsführer vor und im ersten Weltkrieg erfolgreiche Unternehmungen begründete und leitete als auch die Entstehung sozialer Einrichtungen und deren Ausbau förderte. Klumker gehörte zu den Fachkräften, die Merton in seinem sozialen Handeln berieten und in den von ihm mitbegründeten Institutionen tätig wurden. In den anläßlich der 10. Wiederkehr des Todestages von Wilhelm Merton veröffentlichten Gedenkworten (1926) schreibt Klumker u. a.: "Während führende Männer der Fürsorge in ihr nur noch technische Probleme sahen, fühlte er, der so sehr auf Technik, Organisation eingestellt war, daß hier tiefe sachliche Probleme vorlagen. Daher sein Sinn für wissenschaftliche Bearbeitungen dieser Fragen, die er als Erster in Deutschland wiedergefördert hat." Die Bedeutung Klumkers für das im bereits oben erwähnten Text behandelte Fachgebiet des Freiheitsentzuges an Minderjährigen geht weit über die im Text erkennbaren Feststellungen hinaus. Klumker befaßte sich immer wieder mit den Fragen des Anstaltswesens als solchem und vor allem mit den Fachkräften - seien sie ehrenamtlich oder hauptberuflich tätig -, die in der Jugendfürsorge, auch in der Jugendgerichtshilfe, in der Erwachsenenfürsorge, auch in den Straf;" anstalten tätig wurden. Bereits 1902 regte er Ausbildungskurse in allgemein fürsorgerischen Aufgaben an und förderte folgerichtig in den
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zwanziger Jahren auch die Ausbildung des "Erziehungsbeamten in der Strafanstalt" . Zweifellos war für sein Wirken von Bedeutung, daß das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert in Deutschland, und gerade auch in Frankfurt am Main, wie schon betont, mitgefördert durch Wilhelm Merton, für die Entwicklung des Fürsorgewesens und für seine wissenschaftliche Durchdringung günstige Voraussetzungen bot. Wieweit Klumker an der Einrichtung des ersten deutschen Jugendgefängnisses in Wittlich an der Mosel um 1910 - die Anregung hierzu ging von Frankfurt am Main aus - beteiligt war, ist im einzelnen nicht nachzuweisen. Wichtig bleibt jedenfalls: in Wittlich wurde 1912 der erste deutsche Fürsorger im Strafvollzug (heute Sozialarbeiter genannt) tätig. - An der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main, an der Klumker seit Wintersemester 190111902 Vorlesungen hielt, wirkte auch Professor B. FreudenthaI, der Verfasser der "Denkschrift betreffend die Errichtung eines Jugendgefängnisses" (ZfStrVo 1958/59 [8] 22-25) .. Die Beteiligung Klumkers an der Entstehung der Jugendgerichtshilfe steht dagegen fest. Der "Verein Kinderschutz" war in Frankfurt am Main in den Jahren 1903/1904 im Rahmen der Centrale für private Fürsorge mit auf sein Betreiben gegründet worden. Zu den Aufgaben des Kinderschutzes gehörten die Jugendgerichtshilfe und die Berufsvormundschaft. Aus diesem Verein Kinderschutz ist auch das "Archiv Deutscher Berufsvormünder" (1906) hervorgegangen. 11
Im beruflichen Leben Klumkers ist trotz mancher Rückschläge ein folgerichtiges Fortschreiten zur Verwirklichung von Fürsorge im Sinne der kennwortartigen Bezeichnung als Hilfe zur Selbsthilfe zu beobachten. Von den Daten, die allgemein für das Verständnis seines Lebens und im besonderen für das seines Wirkens im Interesse der Straffälligen von Bedeutung sind, seien folgende festgehalten: Christian Jasper Klumker wurde am 22.12.1868 in Juist geboren. Nach dem Studium der Theologie, der Geschichte, der Nationalökonomie und der Statistik - er legte die theologischen Prüfungen ab - wurde er 1897 durch die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig zum Dr. phil. promoviert. In seinem der Fürsorge gewidmeten Leben wirkte er vor allem von Frankfurt am Main aus. In seiner äußeren Existenz war er zunächst in von ihm zum Teil mitbegründeten Organisationen der privaten Fürsorge tätig, so dem "Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit", dem "Archiv Deutscher Berufsvormünder" und dem "Verein Kinderschutz". Im Verein Kinderschutz regte er u. a. die Grün-
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dung der "Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle" an, unweit von Frankfurt am Main. Nach der Mitgliederliste des Frankfurter Gefängnisvereins im Bericht über das Jahr 1902 bezeichnete sich Klumker als Privatgelehrter. Im gleichen Jahr begann er, Vorlesungen an der neueröffneten Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften zu halten. Das Thema der ersten Vorlesung lautete: "Theorien und Systeme der Armenfürsorge". Unter Beibehaltung der Mitwirkung in den genannten Vereinigungen bis in die zwanziger Jahre wirkte er von Frankfurt am Main aus, vor allem nachdem er 1920 zum ordentlichen Professor für Fürsorgewesen und Sozialpädagogik ernannt und gleichzeitig zum Leiter des "Forschungsinstituts für Fürsorgewesen und Sozialpädagogik" bestellt worden war. Dieses Institut war das erste seiner Art an einer deutschen Universität. - Die Emeritierung Klumkers erfolgte im Jahre 1934 mit unter dem Druck der Zeitereignisse. Er starb am 19.7.1942 in Hedemünden. Ein Satz, der die Ansichten Klumkers kennzeichnet, soll hier angeführt werden: "Die wirtschaftliche Unselbständigkeit des Armen ist durch das Zusammenwirken äußerer und innerer Ursachen hervorgerufen. .. Persönliche Mängel irgendwelcher Art, ob rein wirtschaftlicher Natur, ob zugleich in Fehlern des Charakters, Willensschwäche, Trägheit und anderen begründet, finden sich so ziemlich bei jedem Armen, wobei immer wieder festzuhalten ist, daß die Frage der Schuld damit gar nichts zu tun hat" (Fürsorgewesen, 1918, S. 80 f.). Achinger, Schüler und Mitarbeiter Klumkers, kennzeichnet die Verlagerung der Gewichte der Aufgaben in dessen Leben wie folgt: Sein übergang in die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften und später in die Universität war nicht nur ein Aufstieg, sondern auch ein Abschied von einer geliebten Arbeit an Menschen, obgleich Klumker leidenschaftlich gern diskutierte und in seinen wenigen Schriften wissenschaftliches Denken mit einer vollendeten Beherrschung des Ausdrucks verband (Achinger a. a. o. S. 293). - In diesem Zusammenhang sei auf zwei wichtige Veröffentlichungen aus der Schule Klumkers, auf die seines Schülers und Assistenten Hans Scherpner verwiesen, des 1959 verstorbenen Direktors des Seminars für Fürsorgewesen und Sozialpädagogik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main. Es handelt sich um die "Theorie der Fürsorge" (1962) und um die "Geschichte der Jugendfürsorge" (1966).
111 Bei all seinen Bestrebungen blieb Klumker im Interesse der ihm besonders hilfsbedürftig erscheinenden Minderjährigen innerlich unab14 Freiheitsentzug
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hängig von Bindungen an Parteien und Kirchen. Aber er übersah keineswegs ihre Bedeutung. Vor allem erkannte er deren Zusammenhänge mit der allgemeinen Armenfürsorge, die den Erwachsenen zuteil wurde. - Bald nach Aufnahme seiner Tätigkeit an der 1899 geschaffenen "Centrale für private Fürsorge" war er bestrebt, eine umfassende Bestandsaufnahme der in Frankfurt am Main bestehenden Einrichtungen der privaten Fürsorge - im Unterschied zu der öffentlichen, d. h. behördlichen Fürsorge - zu erheben. Das Ergebnis, ein Hand-und Nachschlagebuch mit dem Titel "Die private Fürsorge in Frankfurt am Main" (1901), enthält Angaben über Aufgabe, Entstehung und damaligen Stand von 222 Vereinen und Wohltätigkeitsanstalten Frankfurts. Die aufgewendete große Sorgfalt bei der notwendigen Kleinarbeit ist unverkennbar und beispielhaft. Das Handexemplar Klumkers, das in den Besitz des Verfassers dieser Zeilen kam, läßt aus den handschrütlichen Eintragungen erkennen, wie z. B. eine geplante Neuauflage vorbereitet wurde. Erst auf den so gewonnenen Grundlagen, am Beispiel der privaten Fürsorge in Frankfurt am Main, konnte die wissenschaftliche Durchdringung der Probleme gewagt werden. Auch bei später aufgegrüfenen Aufgaben, vor allem denen, die mit der Fürsorge für die unehelichen Kinder zusammenhingen, wendete Klumker die gleiche Arbeitsweise an. Bei der allgemeinen Betrachtung der Methoden Klumkers wird auch deutlich, wie sehr die Studienfächer seinen Neigungen entsprachen bzw. wie sie ihn wiederum prägten und zu seinen Leistungen befähigten. So sind die historischen Forschungen vor allem Ermittlungen von Ursachen und für Klumker eine Notwendigkeit. Es war selbstverständlich, daß er seine Schüler ebenfalls hierzu anregte. Er will aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen, um Folgerungen für das Fürsorgewesen der Zukunft zu ziehen. In seinen Vorlesungen spürte er immer wieder den wirtschaftlichen, aber auch den geistesgeschichtlichen Grundlagen nach. Die wiederholt erwähnte Studie ist auch aus diesen Zusammenhängen heraus zu verstehen. Nachdem sich Klumker mit der Erforschung der Lage der unehelichen Kinder befaßt und die Berufsvormundschaft als geeignetes Mittel der Fürsorge organisiert hatte, wurde ihm das Problem "Berufsvormundschaft und Jugendgericht" wichtig. In einem mit dieser Überschrift versehenen Abschnitt der Veröffentlichung "Vom Werden deutscher Jugendfürsorge" (1931, S. 91- 93) erörterte er diesen Fragenbereich. überwiegend mit seinen Worten seien die Gedankengänge wiedergegeben. Die Wiederbelebung vormundschaftlicher Tätigkeit am Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich auch darin, daß Versuche unternommen wurden, das Strafverfahren gegen Jugendliche zu ändern und zunächst die Verbindung mit der Vormundschaft zu suchen. In diese Richtung
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deutet es, wenn nach 1900 die alte Zwangserziehung aus dem Strafgesetzbuch (§ 56) zurücktritt und mehr und mehr von den Erziehungsmaßnahmen (aus § 1666 BGB) verdrängt wird - ein wesentlicher Zug der neuen Zwangs- oder Fürsorgeerziehung. Auf diesem Wege wäre allmählich das Strafrecht aus der Behandlung Jugendlicher ausgeschaltet und diese ganz dem Erziehungs-Vormundschaftsgericht zugewiesen worden. Wie stark dieser Zug zur Mitwirkung der Berufsvormünder bei den Jugendgerichten bei uns war, zeigt auch der Eindruck von der Entwicklung der amerikanischen Jugendgerichte. Dort entwickelte sich der probation officer zum Berufsvormund. Mit anderen Worten, die deutsche Entwicklung war der amerikanischen bereits einen Schritt voraus. Dennoch haben diese Versuche keinen Erfolg gehabt. Mit dem Jugendgericht, das doch damals (1931!) wie heute mehr als zur Hälfte im Strafrecht wurzelte, traten Kräfte auf, die die Bewegung nach dieser Seite umbogen. Das Jugendgerichtsgesetz von 1923 ist daher auf halbem Wege stehengeblieben, ja hinter manchem, was damals greifbar nahe schien, zurückgeblieben. Es ist ja nicht einmal die Verknüpfung mit dem Vormundschaftsgericht im Gesetz verankert worden, sondern dieses wesentliche Stück des deutschen Jugendgerichts ist noch heute Sache der Geschäftsverteilung der Gerichte. Deutlicher noch zeigt sich dieser Rücklauf der Entwicklung darin, daß im Jugendgerichtsgesetz von 1923 wieder eine Verurteilung zur Fürsorgeerziehung durch das Strafgericht auftaucht, nachdem allmählich die alte Verurteilung zur Zwangs- oder Fürsorgeerziehung verschwunden war. Die Lage in der Gegenwart wurde bei Erörterung der Funktion des Jugendgerichtes unter Bezug auf Bestimmungen des dritten Jugendgerichtsgesetzes von 1953 m. E. treffend im Sinne Klumkers gekennzeichnet: "Der Jugendrichter ist und bleibt Richter. Daher ist er nicht berufen, das Herz der Fürsorge in seiner Stadt zu sein, sondern der Hort der Gerechtigkeit." "Das ist auch eine pädagogische Aufgabe, aber eine andere als die der Fürsorge" (Neue Wege zur Bekämpfung der Jugendkriminalität. Verhandlungen des 9. Deutschen Jugendgerichtstages in München 1953, S. 163 und S. 214). - Klumker strebte zu seiner Zeit eine Änderung an, freilich ohne damit Erfolg zu haben.
IV Aus solchen überlegungen heraus mußte aber nicht nur versucht werden, die rechtlichen Fragen, sondern auch die der Praxis allgemein bei der Anstaltsunterbringung und im besonderen bei der Beobachtung der straffälligen Jugendlichen zu klären. Klumker wirkte bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten aller dieser Aufgaben mit. Er vertrat z. B. die Forderung auf Erhöhung der Strafmündigkeitsgrenze auf das voll-
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endete 17. Lebensjahr bei dem Jugendgerichtstag in Jena 1920. Weiter wünschte er sorgfältige "Beobachtung" und deren Auswertung im Rahmen der Jugendgerichtshilfe. Schließlich erstreckte sich sein Interesse auf Anstalten aller Art, besonders die der Jugendfürsorge, auch auf Jugendgefängnisse und Erwachsenenstrafanstalten. Folgerichtig wurde an den Anfang der Behandlung in Anstalten aller Art die Beobachtung gestellt, die damals mit Persönlichkeitsforschung bezeichnet wurde. Auf Klumkers Anregung war im Jahre 1903 der "Verein Kinderschutz" und von diesem um 1906 die "Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle bei Obererlenbach" gegründet worden. Dort sollten sowohl an schwierigen Jugendlichen psychiatrische Erhebungen angestellt als auch durch ausgewählte Erzieher, die überwiegend der Jugendbewegung angehörten, neue sozialpädagogisch durchdachte Behandlungsmethoden verwirklicht werden. Klumker selbst bezeugte stets ein ungewöhnliches Verständnis für die Jugendbewegung seiner Zeit. - So wirkten denn auch die Mitarbeiter des Vereins Kinderschutz als Vertreter der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren unter dem Frankfurter Jugendrichter Allmenröder mit. Sie werteten dabei ihre eigenen Erhebungen in der "Umwelt" der Angeklagten und auch die Ergebnisse der Untersuchungen der "Steinmühle" als Unterlage für ihre Sachverständigenberichte mit Erfolg aus. Weiter wußte Klumker aufgrund seiner Studien und zahlreicher Anstaltsbesuche im In- und Ausland um das Wesen der Anstalt als solcher. "Jede hat etwas vom Kloster an sich, sie ist eine besondere Welt für sich, ein künstliches Leben. Zu ihrem Wesen gehört ein Stück Weltfremdheit, das bald kleiner sein mag, von dem aber ein Rest unlöslich mit jeder Anstalt verbunden ist" (Kinderfürsorge und Erziehung 1931, Neises, a. a. o. S. 58). Die dann von Klumker gestellte Frage, ob in einer Anstalt ein Leben, ein Geist der Gemeinschaft geschaffen werden kann, ist wichtig. Denn: Kommen doch die Zöglinge einer Anstalt ohne irgendeinen inneren Zusammenhang auf richterliche Anordnung dahin, ja werden nicht selten durch äußeren Zwang dahin gebracht. Klumker vertritt die Auffassung, daß Gemeinschaft am ehesten in Anstalten wachsen kann, die selbst aus einer Gemeinschaft entstanden sind, von einem Gebilde geschaffen wurden, das durch gemeinsamen Glauben, gemeinsame Gesinnung zusammengehalten wurde. Freilich, in der kleinen Gruppe von Erzieher und Zögling kann sich am ehesten ein gemeinsames Leben entfalten, wenn es auch noch sehr im Rahmen der persönlichen Wirkung des einzelnen Erziehers bleibt und von dessen Geschicklichkeit wesentlich abhängt (Neises, a.a.O. S.59). Hier berühren sich Gedanken Klumkers eng mit denen seiner Zeitgenossen. Radbruch, der als Reichsjustizminister die Probleme des
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ersten deutschen Jugendgerichtsgesetzes und die des Jugendstrafvollzugsmit durchdacht hatte, nahm auch zu dieser Sonderfrage Stellung. Im Zusammenhang mit der Erörterung "Zwang und Freiheit in der Erziehung" hält er fest: "Zwischen staatlicher Strafe, auch wenn sie als Besserungsstrafe aufgefaßt wird, und Erziehungsstrafe scheint mir ein sehr wesentlicher Unterschied zu bestehen. Die Erziehungsstrafe ist Strafe im Rahmen der Erziehung, .die als Besserungsstrafe aufgefaßte Kriminalstrafe ist Erziehung im Rahmen der Strafe. Dort liegt der Strafe ein persönliches Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling zugrunde, hier wird das Erziehungsverhältnis erst durch die Strafe begründet und hat deshalb zunächst die schwierige Aufgabe, die Trotzhaltung des Zöglings zu überwinden. Daher die Problematik des Erziehungs-Strafvollzugs" (Meng, Zwang und Freiheiten der Erziehung, 2. Auflage 1953, S. 210 f.). Insbesondere befaßte sich Klumker auch mit dem Problem der Arbeit in Anstalten. Im Zusammenhang mit der Fürsorge für Nichtseßhafte weist er darauf hin, daß "die Zurückführung in das notwendige Leben und all die schönen Dinge nur auf einen kleinen Teil der Arbeiterkolonisten zutreffen". Die ganze Behandlung, auf der das Arbeitshaus und der Strafvollzug basiert sei, gehe, wie er dem· Verfasser dieser Zeilen einmal sagte, von einer falschen Grundlage aus. Dadurch, daß wir jemanden in einer Anstalt arbeiten lassen, gewöhnen Wir ihn gar nicht an Arbeit der Art, wie er sie draußen leisten soll. Arbeit drinnen und Arbeit draußen - das ist für diese Leute himmelweit verschieden. Wenn sie das eine - Arbeit drinnen - können (sie können es, ohne daß wir sie viel daran gewöhnen), so haben sie damit nicht das andere - freie Arbeit draußen - gelernt. Das kann man sie in der Anstalt gar nicht lehren (Bericht der 31. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Dresden 1911, Neises, a.a.O. S.63). über die Frage des Erziehungs-Strafvollzugs, auch im Sinne von Radbruch, und über die Arbeit der Gefangenen wurde bei dem Besuch Klumkers mit Teilnehmern seines Fürsorgeseminars in der Landesstrafanstalt Untermaß feld in Thüringen, Sommer 1930, deren Leiter der Verfasser dieser Zeilen damals war, eingehend gesprochen. Auf die besonders lebensnahe Arbeit der Gefangenen im Rahmen der Thüringischen Gesellschaft für Werkarbeit wurde dabei verwiesen (Krebs, Die GmbH als Betriebsform der Arbeit in der Strafanstalt, ZfStrVo 1966 [15] S. 204 ff.).
V Für Klumker war es nur folgerichtig, wenn er sich weiter auch um Aus- und Fortbildung der Kräfte bemühte, die in der Fürsorge tätig
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werden sollten oder bereits tätig waren. Schon 1902 begann er, wie bereits erwähnt, im Rahmen der Centrale für private Fürsorge mit einer planvollen Ausbildungsarbeit. "Das Bedürfnis nach praktischer Ausbildung besteht ebenso bei denen, die unentgeltlich ihre Arbeit der Fürsorge widmen wollen, besonders wo neue Organisationen gegründet oder bestehende umgestaltet werden sollen. Je ernster es jemandem um eine wirkliche Leistung zu tun ist, umso mehr wird er sich nach einer gründlichen Einführung sehnen ... Für solche Ausbildung fehlt es an einer passenden Einrichtung" (Achinger, a.a.O. S. 168 f.). Klumker ist bestrebt, Stätten der Aus- und Fortbildung für Mitarbeiter in den Einrichtungen der Fürsorge zu schaffen. Seine Tätigkeit als Universitätslehrer bezeugt ebenfalls dieses Wollen. Seine systematische Aus- und Fortbildungsarbeit auf sozialem Gebiet wurde beispielhaft. "Zunächst gilt es für alle Kräfte, die wir aus den verschiedensten Gebieten des Lebens für die Fürsorgearbeit gewinnen sollen, eine sachkundige Beratung zu sichern, die jedem den besten und einfachsten Weg zeigt, um sich gerade das anzueignen, was er für seine Arbeit braucht. Vor allem aber gilt es in der praktischen Fürsorgearbeit viel mehr als bisher, Gelegenheit zur Schulung und Ausbildung zu schaffen. Gewiß ist es für eine regelmäßige Arbeit (von Verantwortlichen, die den Neuling anleiten sollen) recht lästig, einen Neuling einzuführen und mitarbeiten zu lassen, aber gerade diese Mitarbeit ist der beste Weg, einen Einblick in das Wesen der Fürsorge zu erhalten und ein Stück ihres wirklichen Lebensgeistes zu spüren" (Die Ausbildung von Beamten für die Wohlfahrtspflege 1918, Neises, a.a.O. S.74). Klumker erwähnt weiter: "Wer also beruflich in der Fürsorge arbeiten will, der soll stets andere Menschen erziehlich beeinflussen. Dazu sind vor allem zwei Eigenschaften unerläßlich, die allen Erzieherberufen gemeinsam sind. Das erste ist die Fähigkeit, andere Menschen in ihrer besonderen Art zu verstehen, sich in andere Menschen, auch ganz andere als wir selbst, ganz anders empfindende Menschen einzufühlen; das ist die Voraussetzung jeder Einwirkung auf sie. Zum zweiten aber bedarf man uneigennütziger Liebe zum anderen Menschen, die ganz verschieden von uns sind. Das ist nur möglich mit einem großen Maß von Güte. Diese Güte ist wohl das, was alle Fürsorgearbeit in allererster Linie kennzeichnen muß. Es gilt nicht, die eigene Weisheit dem anderen aufzudrängen, sondern aus ihm selbst heraus seine eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, es gilt ihm zu helfen, seine besondere Stellung in der Welt zu finden, die von meiner eigenen Welt abweichen mag" (Die Ausbildung von Beamten für die Wohlfahrtspflege 1918, Neises, a.a.O. S.72). Bei Würdigung aller Bestrebungen Klumkers um bestmögliche fachliche Bildung ist aber auch wichtig, sich an eine andere seiner Äußerun-
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gen zu erinnern, die so lautete: "Man wird zugeben müssen, daß wissenschaftliche Ausbildung zum Fürsorger keineswegs unbedingt nötig ist. Man kann eine hervorragende menschliche Persönlichkeit, so auch ein ausgezeichneter Fürsorger sein, ohne irgend wissenschaftliche Neigungen zu besitzen oder wissenschaftlichen Erörterungen irgend Teilnahme entgegenzubringen" (Hochschule und soziale Ausbildung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1929 [12], Bd. 62, S. 592). Wie vertraut Klumker diese Einsichten aus seiner gesamten Arbeit auf dem Gebiet der Fürsorge sind, geht auch aus seiner Festrede zum 100. Todestage Pestalozzis hervor: "Pestalozzi und die deutsche Jugendfürsorge". Dort stellt er fest: "Einem Pestalozzi steht bei all seinen Erziehungsversuchen die Wirklichkeit des Lebens vor Augen, in der seine Zöglinge einstmals leben und sich bewähren müssen. Er verlangte, wer Arme auferziehen wolle, müsse tiefe, genaue Kenntnis der eigenen Bedürfnisse, Hemmungen und Lagen der Armut und Kenntnisse der Details der wahrscheinlichen Lage ihrer künftigen Tage besitzen. Die Anstalt müsse an die künftigen Bedürfnisse und Lagen der Kinder denken und die Fertigkeiten entwickeln, die diesen künftigen Lagen angemessen sind" (Frankfurter Universitätsreden 1927, S. 4). Wie Pestalozzi, so wandte sich auch Klumker an seine Zeitgenossen durch Mitwirken bei der Gründung verschiedenster Arten von Einrichtungen auf dem Gebiet der Fürsorge und durch Weitergabe der Forschungsergebnisse als Lehre in Schrift und Sprache. VI
Wie wenig aber das Leben gestattet, "große Worte" zu machen, sondern auf die Probe stellt und Bewährung fordert, das mag abschließend die folgende Anekdote erkennen lassen, die Klumker gelegentlich der Feier seines 60. Geburtstages seinen Gästen erzählte. Sie sei hier mit den Worten von Fritz Trost wiedergegeben, mit denen er seinen Lehrer an dessen 10. Todestag, dem 19.7.1952, würdigte (Evangelische Jugendhilfe, September 1952, Heft 5, S. 31). Klumker wohnte in der Nähe Frankfurts. "Als er eines Abends spät vom Seminar nach Hause kam, überraschte er in der Garderobe seines Hauses einen Mann, der dabei war, Mäntel und Schuhe an sich zu nehmen. Was tat er? Er sagte zu dem Einbrecher: ,Das ist mein Mantel, den brauche ich noch dringend, hängen Sie ihn mal wieder hin! Das ist der Mantel meiner Frau, sie kann ihn nicht entbehren, den müssen Sie auch wieder hinhängen', und so von allen Kleidungsstücken. Schließlich lud er den Fremden ein, mit in die Wohnung zu kommen, versorgte ihn mit einem Abendessen und erkundete seine Lebensgeschichte. Es
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stellte sich heraus, daß der Mann in bitterster Not zum erstenmal versucht hatte, etwas zu stehlen. Er war seit Jahren arbeitslos. Klumker stellte ihm für die Nacht das Gästezimmer zur Verfügung, weil es für den Mann zu spät geworden war, nach Frankfurt am Main zu fahren, richtete ein Frühstück für ihn vor, weil er selber früher als der Gast das Haus verlassen mußte, gab ihm Anweisung, wie er mit dem Hausschlüssel verfahren sollte, und bestellte ihn zum Mittag des anderen Tages in das Cafe Hauptwache. Bis dahin hatte er ihm eine Stelle in einem bekannten großen Geschäft vermittelt." Nur wenn die gedankliche Leistung und die praktische Betätigung sich durchdringen und dabei - ohne Bruch - die schöpferische Persönlichkeit spürbar wird, dann erwächst Hilfe zur Selbsthilfe.
ll. Gustav Radhruch* Welchen Weg mußte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch gegen Schuldige gelind, gegen Verbrecher schonend, gegen Unmenschliche menschlich zu sein. Gewiß waren es Männer göttlicher Natur, die dies zuerst lehrten, die ihr Leben damit zubrachten, die Ausübung möglich zu machen und zu beschleunigen. Goethe
Lebensweg Gustav Radbruch hat von 1878 bis 1949 gelebt. Äußere Stationen dieses Lebensweges sind die Professuren an den Universitäten Heidelberg, Königsberg, Kiel und dann wieder Heidelberg. Dazwischen liegt die zweimalige Übernahme des Amtes als Reichsjustizminister unter Wirth (1921 - 1923) und Stresemann (1923), nachdem Radbruch bereits um die Jahrhundertwende vom Miterleben der sozialen Probleme her zum "Sozialisten geprägt" wurde und von 1920 bis 1924 Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion war. Aus seinem innersten Wesen heraus erstrebte er besonders in den Jahren politischer Betätigung die Erneuerung der Strafrechtspflege und eine Änderung des Strafgesetzbuches sowie eine Gesetzgebung auf dem Gebiete des Strafvollzuges. Trotz der nach 1933 einsetzenden politischen Verfolgungen blieb seine Haltung allen einmal gewonnenen grundsätzlichen Erkenntnissen getreu, klar und unerschüttert. - Galten die Jahre bis gegen 1910 der Vorbereitung, so brachten die bis 1933 die seinen Ruf begründenden, entscheidenden Leistungen. Die Zeiten bis 1949 gaben seinem Leben die Krönung in Weisheit, Unbestechlichkeit und Güte.
Becbtsphilosophie und Strafrechtsreform Bei Rückschau auf das Leben dieses echten Rechtsgelehrten, dieses aufrichtigen Bekenners, dieses reinen Menschen, wird deutlich, wie der Geist den Körper baut und wie von dem Tage an, seit welchem er in die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit trat bis zu seinem Tode, sein Dasein einem stets in gleicher Stärke leuchtenden Sterne erster Größe glich. Als Rechtslehrer beschäftigte ihn die Rechtsphilosophie als wertende und fordernde Betrachtung, als bekennender Pro-
* Erschienen in:
Zeitschrift für Strafvollzug, Jg.l (1950), S. 26 - 32.
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
fessor ihre Ausstrahlung im täglichen Leben einer nach sozialistischen Grundsätzen gestalteten Gesellschaft, als Mensch das Einzelwesen, das sich, aus was für Gründen auch immer, außerhalb der Rechtsordnung stellte und durch das Strafrecht in den Strafvollzug geriet. Dabei erkannte Radbruch den Strafvollzug als die entscheidende gesellschaftliche Behandlungsform für den Rechtsbrecher und hierzu soll im folgenden -überwiegend mit seinen eigenen Worten - Grundsätzliches gesagt werden. In der Einstellung, die auf eine Gesamtreform des Strafrechts gerichtet war, betonte Radbruch stets auch die besonderen Anlässe solchen Bemühens. Es waren dies die Probleme: Strafzumessung, bedingter Straferlaß, sichernde Maßnahmen, Strafvollzugsreform und soziale Gerichtshilfe. Dabei übersah die von ihm entscheidend beeinflußte Reform nicht die Zwecke einer jeden Rechtsordnung: sie will Gerechtigkeit gewähren, das Gemeinwohl fördern, und Rechtssicherheit schaffen. Es ist für ihn folgerichtig gewesen zu betonen: die Entwicklungsrichtung des Strafrechts muß dahin gehen, die dem heutigen Strafrecht entsprechende Gegenwirkung mehr auf die Kerntruppe des Verbrechertums zu beschränken, der mit keinerlei Sozialpolitik beizukommen ist. Drei Zwecke wohnen der Strafe inne, so wie es drei Typen von Rechtsbrechern gibt, die Strafe will den Augenblicksverbrecher abschrecken, den besserungsfähigen Zufallsverbrecher bessern, den unverbesserlichen Verbrecher unschädlich machen. Diese Lehre ist zugleich ein Bekenntnis zu seinem großen Lehrer Franz von Liszt. Zwangsläufig mußte sich Radbruch immer wieder mit der Problematik des Freiheitsentzuges befassen und zwar in der ebenfalls gewonnenen Erkenntnis, daß hinter dem Satze: nicht die Tat, sondern der Täter! sich schon ein anderer Satz erhebt: nicht der Täter, sondern der Mensch! Zur Erfassung des Bildes der Täterpersönlichkeit aber gibt es zwei Wege, der des Psychologen führt von der Persönlichkeit zur Tat, der des Strafrichters von der Tat zur Persönlichkeit.
Probleme des Strafvollzuges Damit ist das Problem des Strafvollzuges, die Persönlichkeit, berührt und der konstitutionelle Fehler der Freiheitsstrafe schlechthin aufgedeckt. Erziehung durch Freiheitsstrafe ist Zwangserziehung, Zwangserziehung aber ein Widerspruch in sich, da zu jeglicher Erziehung nicht nur liebende Hingabe auf Seiten des Erziehers, sondern willige Hingabe auch auf Seiten des Erzogenen gehört. Schon die Gefängnisbauten führen nach Radbruch dem Bestraften als Zwingburgen gegen lauter präsumtive Ausbrecher, den Zwangscharakter der Strafe in jedem Augenblick zum Bewußtsein. Erziehung kann aber, wenn überhaupt,
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nur geleistet werden in Anstalten, die weit mehr dem Pavillonsystem gleichen als der bisherigen festungsartigen Bauweise. Weiter gehören zu einer Umgestaltung unseres Strafvollzuges geldliche Mittel in einem Umfange, wie wir sie heute nicht besitzen, gehören Menschen mit geradezu mönchischer Opferwilligkeit, gehört eine Einstellung der Allgemeinheit, von der wir noch weit entfernt sind. Allgemeine Grundsätze beim Strafvollzug In dieser Gesinnung hatte Radbruch in den Jahren, in welchen er zusätzlich politische Verantwortung trug, die Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen aus dem Jahre 1923 mit beeinflußt. Unverändert in seiner Grundhaltung würdigte er fast 25 Jahre später die Direktive 19 des Kontrollrats in ihrem eindrucksvollen Ausklang: Es ist darauf zu bestehen, daß das Personal und die Insassen den allgemeinen Maßstab der Ehrlichkeit und der Rechte Anderer fest einhalten und den Grundsatz anerkennen, daß kein menschliches Wesen als so verloren und verderbt angesehen werden soll, daß es unrettbar ist. Bezüglich der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 erklärte Radbruch während seiner Amtszeit als Leiter des Reichsjustizministeriums im Jahre 1922: die sogenannten Bundesratsgrundsätze über den Strafvollzug (von 1897), welche die Grundlage des künftigen Gesetzes bilden werden, sind in der Umarbeitung begriffen. - Gelegentlich der ehrenden Worte eines Redners anläßlich der Hamburger Tagung der IKV (1924): "Der Herr Reichsjustizminister Radbruch hat sich durch diese geistige Vaterschaft ein großes Verdienst erworben" antwortete der also Geehrte: "Die Grundsätze sind zwar in meiner Ministerzeit angefangen und ausgearbeitet worden, ihre Durchführung aber lag bei meinem sehr verehrten Nachfolger." - Jedenfalls ist der Geist der Grundsätze von ihm entscheidend beeinflußt. Radbruch wußte im Sinne der Grundsätze für den Vollzug der Freiheitsstrafe, daß durch den Vollzug die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden sollen, daß sie nicht wieder rückfällig werden und weiter, daß die Gefangenen ernst, gerecht und menschlich zu behandeln sind, ihr Ehrgefühl zu schonen und zu stärken ist. Mit aller Nüchternheit warnte er aber, an das damals gleichzeitig verkündete Allheilmittel, den Stufenstrafvollzug zu glauben. Er wies darauf hin, früher sei es die Anstaltsarbeit und dann die Einzelhaft gewesen, die als Allheilmittel galten.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens Vorschläge für die Praxis
Welches sind aber, außer den allgemeinen Grundsätzen, die mehr ins Einzelne gehenden Vorschläge Radbruchs für den Praktiker im Strafvollzug? In der Abhandlung "Die Psychologie der Gefangenschaft", abgedruckt in der Festschrift für seinen Lehrer Franz von Liszt (1911), bekämpfte Radbruch mit allen wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit zunächst das damals verkündete Allheilmittel: die Einzelhaft. Aber er ließ es nicht bei dieser Kritik bewenden, seine positiven Vorschläge sind ein bis heute noch nicht erfülltes Programm der rechten Straffälligenfürsorge und befassen sich - im Hinblick auf sein gesamtes Lebenswerk gesehen - mit ihren vier Erscheinungsformen: Ermittlungshilfe, d. h. der sozialen Gerichtshilfe, der Gefangenenbehandlung, der Angehörigenbetreuung und der Entlassenenfürsorge. Radbruchs Auffassung über die Notwendigkeit der Überwindung von Festungsbauten ist bereits erwähnt, seine Worte bezüglich der Beamten, die insbesondere die Verantwortung für eine solche resozialisierende und rehabilitierende Behandlung tragen, werden zu dem bereits Gesagten noch ergänzt. Soziale Gerichtshilfe Von dem Wesen des Strafrechts und seinem Zwecke ausgehend, prüfte Radbruch die Frage der sozialen Gerichtshilfe: Ist sie Organ des Gerichts oder was sonst? Voraussetzung zur Antwort ist freilich dann die Einsicht, daß die wesentliche Aufgabe der Gerichtshilfe nicht sein soll, das Prozeßmaterial herbeizuschaffen, sondern das Prozeßmaterial unter bestimmte Beleuchtung zu stellen und unter bestimmten Gesichtspunkten zu würdigen. In dieser Form würde sich die soziale Gerichtshilfe einer Entwicklung einfügen, die auch auf anderen Rechtsgebieten beobachtet werden konnte. Neben dem Staat beginnt die Gesellschaft sich in den mannigfachsten Formen des öffentlichen Rechts zu verfassen (Betriebsräte, Gewerkschaften) und der Vertreter der Gerichtshilfe ist Vertreter der Gesellschaft. Es gilt dabei nicht im Laufe der Verhandlung das für den Beschuldigten prozessual Günstigste herauszuholen, sondern das für ihn und die Gesellschaft Heilsamste. Probleme der Gefangenenbehandlung Dem Problem der Gefangenenbehandlung galt Radbruchs besondere Sorge. Ausgehend von der Psychologie der Gefangenschaft erkannte er zunächst, "wer jahrelang nur zu wollen braucht, was die Strafanstaltsordnung oder der Befehl der Strafanstaltsbeamten für ihn will, muß das Wollen verlernen, wer wie ein unmündiges Kind behandelt wird,
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zum Kinde werden". Aus diesem Grunde sind die Lebensbedingungen im Freiheitsentzug denen in der Freiheit nach Möglichkeit anzuähneln und die tägliche Arbeit der Gefangenen in Gemeinschaft bei Anstreben genossenschaftlicher Form lebensecht durchzuführen. Die Freizeit dagegen ist in einzelnen Gruppen mit beliebigen Aufgaben und auch Arbeitsgemeinschaften erziehlich wertvoll zu gestalten. In diesem Sinne begrüßte er u. a. auch die Durchführung der Selbstverwaltung, die er in der thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld eingehend kennen lernte (1931) und bejahte freudig, daß "im Strafvollzuge neue Gedanken und Kräfte stürmisch am Werke sind". "Besserung" oder Erziehung Radbruch wußte auch um die Hindernisse solcher Reformbestrebungen, so um das Problem der Schwersterziehbaren. Seine Folgerungen aus allem Beobachteten waren bei aller Lebensnähe und Menschlichkeit doch stets wieder orientiert an der Rechtsordnung und dem Gedanken des Schutzes der Gesellschaft. Aus der gleichen Gesinnung wendete er sich gegen "den pharisäischen Begriff der Besserung", er ersetzte ihn durch "Erziehung". Weiter bekannte er: Vergeltung ist sinnvoll nur, wenn auf der Seite des Bestraften Sühne und Buße freiwillig entgegen kommen. Eine Vergeltung, die in Sühne und Buße ihr Ziel sucht, ist aber nichts anderes als Erziehung. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß zu jeder Erziehung zunächst liebende Hingabe des Erziehers gehört und folgerichtig war, wenn Radbruch durchaus im Sinne des Pestalozziwortes, Erziehung ist Beispiel und Liebe, vom Verantwortlichen auch das saubere Beispiel in der vorbildlichen Lebensführung fordert. Kein System an sich kann also aus eigener Kraft im Sinne der Erziehung wirken, es kann nur dem tüchtigen Erzieher als Rahmen für sein Wirken dienen. Das gilt auch für den Strafvollzug in Stufen. Bei den freimütigen Aussprachen gelegentlich des Untermaßfelder Aufenthaltes mit den Beamten und den Gefangenen kam stets der Grundgedanke zum Ausdruck, daß es allein die rechte Menschenbehandlung ist, die letzten Endes das Ziel des Strafvollzugs sein muß. In dieser Erkenntnis neigten sich auch Gefangene und Freie diesem Lehrer wahrer menschlicher Tugend als einer in sich geschlossenen Persönlichkeit zu. Denn das zeichnete Professor Radbruch vor manchen anderen Besuchern aus, daß die Fülle seines Wissens den weniger Geschulten oder geringer Begabten nicht erdrückte, sondern das Gefühl des Gehobenseins, des Bereichert- und Beschenktwerdens sich bei jeder Begegnung mehr und mehr festigte. Das ist wohl das Entscheidende bei dem echten Pädagogen, daß es ihm gelingt, den Verschlossenen aufzuschließen, den
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Störrischen, Gespannten zu entspannen, den Mißtrauischen zum Vertrauen zu bringen und im Verzagten das Selbstvertrauen letzten Endes zur Selbsterziehung zu stärken. Die Erlaubnis zur erstmaligen Veröffentlichung seines Vortrages "Ein Menschenleben: Goethe" 1932 in der Goethenummer der Untermaßfelder Gefangenen-Zeitschrift "Die Brücke", die dem Gedankenaustausch zwischen Gefangenen und Freien bis 1933 zu dienen bestrebt blieb, war die Gabe Professor Radbruchs zur Erinnerung an jene Tage.
Angehörigenbetreuung und Entlassenenfürsorge Die Angehörigenbetreuung und die Entlassenenfürsorge galten auch für Radbruch als "komplementäre Liebespflicht der Gesellschaft" (Kahl). Wie die Strafe den persönlichen Faktor, so sollte die Entlassenenfürsorge den Umweltfaktor des Verbrechens im Sinne der Verhütung eines Rückfalles zu ändern suchen.
Ablehnung der Todesstrafe Die letzte Folgerung aus seinen Anschauungen über Strafe und Strafvollzug zog Radbruch, als er sich entschieden gegen die Todesstrafe aussprach. Für ihn war sie, wie alle Leibesstrafen, insbesondere auch die heute ebenfalls wieder beseitigte Entmannung vom Standpunkt der Humanität aus verwerflich, weil sie den Menschen zu einem rein leiblichen Wesen erniedrigte. Gegen die schärfste Form gemeingefährlicher Kriminalität sind seiner Meinung nach entsprechend den heutigen kriminalpolitischen Forderungen unbestimmte Verurteilung und Sicherungsverwahrung die zu treffenden Maßnahmen. Radbruch stellte in einer Zeit ernstester Krise (1931) fest: Der Todesstrafe bedarf es nicht, ihre Beibehaltung würde einen verhängnisvollen Widerspruch gegen die Ansätze bedeuten, die auch im Strafrecht an die inneren Kräfte eines sozialen Wiederaufbaues anknüpfen. Er hat Artikel 102 des Bonner-Grundgesetzes: "Die Todesstrafe ist abgeschafft" erlebt als eine Wende! Die neue Verfassungsbestimmung will unter die nationalsozialistische Vergangenheit einen dicken Strich ziehen, sie wagt es, den Sprung zu tun von einer unmenschlichen Vergangenheit zur Humanität einer neuen Zeit. In diesem Sinne wurde an der Bahre Radbruchs seiner Kämpfe um die Verwirklichung dieser Idee gedacht und die Abschaffung der Todesstrafe als Auswirkung seiner Lehren besonders hervorgehoben.
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Das Leben dieses Mannes, dem alle Begegnungen und auch die schwersten Erlebnisse Bausteine seiner geistigen Existenz bedeuten, war begnadet. Im Sinne des vorangestellten Goethewortes blieb Radbruch in seinen Erkenntnissen wirklichkeitsnahe. Folgende Worte sind Ausdruck hierfür: Jede Verkündigung sittlicher Werte kann durch den höhnischen Hinweis auf ihre Ohnmacht und Geltungslosigkeit im sozialen und ökonomischen Leben sofort entwertet werden. Der Wiederaufbau des Glaubens an gültige Werte setzt den Willen zu einer neuen gerechteren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung voraus. - Dies war seine weitestgehende Forderung! So leuchtet sein Beispiel in unserer schweren Zeit und verpflichtet auch alle im Strafvollzug arbeitenden Männer und Frauen. Anm.: An dem Tage, dem 23.11.1949, an dem in Heidelberg Herr Professor Gustav Radbruch, ein Vorkämpfer des humanen Strafvollzugs in Deutschland, starb, fand in Bad Nauheim die grundlegende Besprechung über die Herausgabe der "Zeitschrift für Strafvollzug" statt.
Der Strafvollzug in der Gedankenwelt Gustav Radbruchs* (Ansprache gelegentlich einer Feierstunde aus Anlaß der zehnjährigen Wiederkehr des Todestages von Prof. Dr. Gustav Radbruch in der neu errichteten Strafanstalt für Männer Frankfurt am Main-Preungesheim - Gustav Radbruch-Haus - am 23. 11. 1959) Als Leiter der Abteilung Strafvollzug im Hessischen Justizministerium habe ich die Ehre, Sie heute in der neu errichteten Strafanstalt für Männer in Frankfurt am Main-Preungesheim zu einer Feierstunde im Gedanken an Gustav Radbruch begrüßen zu dürfen. Mit diesem Gruß verbinde ich zugleich den herzlichen Dank für Ihr Erscheinen und die Bitte um Verständnis, wenn Sie in einem noch nicht vollendeten Gebäude empfangen werden. Der Dank gilt Ihnen auch deshalb, weil Sie fast alle in irgendeiner Weise, sei es durch Geschick, Beruf oder Neigung, mit den Problemen dieser neu errichteten Anstalt in engerer oder entfernterer Weise in Verbindung stehen. Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, haben durch ihre Zustimmung oder durch ihre Mitarbeit dazu beigetragen, daß diese Übergangsanstalt entstehen konnte. über die Aufgaben im einzelnen und über die Bedeutung dieser Anstalt im größeren Zusammenhang der Strafrechtspftege unserer Zeit werden die Herren Ministerpräsident Dr. h. c. Zinn und Prof. Dr. Eberhard Schmidt zu Ihnen sprechen. Dabei wird des unvergessenen Reichsjustizministers und Strafrechtlers, Gustav Radbruch, dessen Todestag sich heute zum zehnten Male jährt, gedacht werden. Im Rahmen dieser Begrüßung sei mir gestattet, kurz über Begegnungen mit Herrn Prof. Radbruch zu sprechen, die innere Beziehung zu diesem neuen Anstaltsbau haben. Vor rund 30 Jahren weilte Herr Prof. Radbruch, damals Strafrechtslehrer in Heidelberg, mehrere Tage in der von mir geleiteten thüringischen Strafanstalt Untermaßfeld bei Meiningen. Bei Tagungen des deutschen Zweiges der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung und der Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvollzuges war dies vereinbart worden. Im Laufe des Besuchs beeindruckten den überaus scharf beobachtenden Gast vor allem die Bestrebungen zur Verwirklichung des von ihm als Reichsjustizminister in den Jahren 1921 und 1922 geforderten Stufenstrafvollzuges, wie er in den Grundsätzen für den • Erschienen in: Zeitschrift für StrafvOllzug, Jg.9 (1959/60), S. 69 -71.
Der Strafvollzug in der Gedankenwelt Gustav Radbruchs
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Vollzug von Freiheitsstrafen 1923 geregelt worden war. Hierzu gehörte in der Strafanstalt Untermaßfeld die Selbstverwaltung der Gefangenen der obersten (UI.) Stufe und· die Lockerung nach erfolgter Bewährung im Rahmen dieser Stufe in einer Abteilung, die außerhalb der geschlossenen Anstalt auf einem Gutshof "Grimmenthal" eingerichtet worden war. - Heute würde ich die Selbstverwaltung richtiger mit Mitverwaltung und den gelockerten Vollzug in der Zweiganstalt als den in einer "Offenen Anstalt" bezeichnen. Seinerzeit bestärkte mich Herr Prof. Radbruch in dem Ausbau der beiden Einrichtungen, ohne daß wir das Mittel des Stufenstrafvollzuges überbewerten. Lassen Sie mich bitte das, was den Verlauf dieses Besuches besonders kennzeichnete, kurz hervorheben. In welch gütiger Weise sprach Herr Prof. Radbruch mit den Gefangenen, besonders an verschiedenen Abenden mit denen der Selbstverwaltungsgruppe, welch nachhaltigen Eindruck machte dies auch auf sämtliche Mitarbeiter der Anstalt. Alle spürten im Gespräch, daß sie durch das außergewöhnliche Wissen des Gastes nicht bedrückt, sondern durch die Güte erhoben und durch die gesamte Haltung von Herrn Prof. Radbruch angeregt und ausgezeichnet wurden. - Noch lange bildete der Besuch das Tagesgespräch in der Anstalt. Aber wozu trage ich Ihnen, meine Damen und Herren, dies hier und in dieser Stunde vor? Nach 1945, als es galt, bei völlig unzureichenden äußeren Bedingungen einen umfassenden Auf- und Neubau des gesamten hessischen Gefängniswesens durchzuführen, wurde mit unter dem Druck der großen überbelegung der geschlossenen Strafanstalten des Landes Hessen die "Offene Anstalt Frankfurt am Main-Rudolfschule" für den Vollzug an kurzfristig Verurteilten eingerichtet, zumal wir hier auch ausreichend Arbeitsmöglichkeiten fanden. Neben Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, war es Herr Prof. Radbruch, den ich in den Not jahren als väterlichen Freund verehren durfte, der diesen - nicht risikolosen - Plänen uneingeschränkt zustimmte. Auch die außerdeutsche Entwicklung auf dem Gebiete des Strafvollzugs war vorangeschritten und es galt jetzt, unter Auswertung der Erfahrungen die Folgerungen für den Bau, die Einrichtung und die Verwaltung der neuen Hessischen Anstalt in Frankfurt am Main-Preungesheim zu ziehen. Vor allem war dabei zu berücksichtigen, daß die Gefangenenbehandlung in einer völlig gewandelten Gesellschaft neue Formen annehmen mußte. 15 Freiheitsentzug
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Bei der Errichtung dieses "Offenen Hauses" glauben wir, an die beste deutsche Tradition auf dem Gebiete des Strafrechts und des Gefängniswesens angeknüpft und die Notwendigkeiten der Gegenwart berücksichtigt zu haben. Diese Feierstunde verträgt keine großen Worte, sie verlangt das Bekenntnis zur rechten Tat im Alltag. Bei allem Dank - und hier spreche ich besonders für meine Mitarbeiter in der "Offenen Anstalt" unter der Leitung von Herrn Oberamtmann Meffert - sind wir uns der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem einzelnen bewußt. Wir wissen, es geht hier, um mit einem Worte Gustav Radbruchs zu schließen, um den "Menschen im Recht".
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer in Frankfurt am Main-Preungesheim* I Das Gustav-Radbruch-Haus ist eine selbständige Strafanstalt mit einem Mindestmaß von Sicherungsvorkehrungen, eine "offene" Anstalt, im Sinne der "Empfehlungen des Genfer Kongresses der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger" von 19551• Aufgenommen werden bis zu 340 erwachsene, rechtskräftig Verurteilte, arbeitsfähige Männer, die nach ihrer Persönlichkeit geeignet erscheinen, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. An ihnen ist bereits ein Teil der Freiheitsstrafe in den "geschlossenen" Anstalten des Landes Hessen vollzogen. Der Tagesablauf in der "offenen" Anstalt ist weitgehend dem im freien Leben angeglichen. Er verläuft im Rhythmus von Arbeit, Freizeit und Ruhezeit. Mit Ausnahme der Kräfte für die Hauswirtschaft gehen die Insassen täglich zur Außenarbeit in Betriebe der Industrie und der Landwirtschaft oder auch zu Bauunternehmungen. Einem Teil wird gestattet, als "Erntehelfer" bei Landwirten in der näheren Umgebung der Anstalt zu arbeiten. Die Arbeitgeber sind zur Aufsicht verpflichtet. - Auf regelmäßige Zuweisung sinnvoller Arbeit und auf Erfüllung der geforderten Leistung wird geachtet. Eine Entlohnung erfolgt nicht. Die Arbeitsbelohnung kann zur Hälfte zur Beschaffung von Gegenständen des täglichen Bedarfs oder zur Unterstützung der Familie verwendet werden, aus der anderen Hälfte wird eine Rücklage für die Entlassung gebildet. Nach Beendigung der Arbeit und Rückkehr in die Anstalt steht es jedem Insassen frei, an den vorgesehenen Veranstaltungen für Erwachsenenbildung: Unterrichten, Lehrgängen, Vorträgen, Filmdarbietungen teilzunehmen, oder er kann Bücher aus der Anstaltsbibliothek, Zeitungen und Zeitschriften lesen, Rundfunk hören oder sich an Gemeinschaftsspielen, an Bastelarbeiten und am Sport beteiligen. Seine berufliche Fortbildung wird, soweit mit den Zielen des Vollzugs vereinbar,
* Erschienen in: Gedädltnissdlrift für Gustav Radbrudl. 21. 11. 1878 - 23. XI. 1949. Göttingen, 1968. S. 344 - 355. 1 "Zeitsdlrift für Strafvollzug" (abgekürzt: ZfStrVO.), 1958/59 (8), S.192. 15"
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
gefördert. Während der Freizeit erfolgt auch die Beratung in persönlichen Angelegenheiten durch die hauptamtlich tätigen Sozialarbeiter. Dem zur Entlassung Kommenden werden, soweit nötig, Papiere und Kleidung gegeben, auch Arbeit und Unterkunft besorgt. - Jeder Neuling ist gepackt von dem Gegensatz: der Enge der zusammengedrängten meist vielstöckigen Baumassen in der "geschlossen" Anstalt, aus der er kommt, und der Weite der aufgelockerten nur aus Keller, Erdgeschoß und erstem Stock bestehenden Einzelbauten. Das Erstaunen beim ersten Anblick des rasenbestandenen großen Spielfeldes (siehe Grundriß) befällt jeden.
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In der freien Zeit ist es jedem gestattet, sich entweder in seinem Einzelraum, der auch sein Schlafraum ist, oder im Gemeinschaftssaal, der jeweils einer Gruppe zur Verfügung steht, aufzuhalten. Die Hauptmahlzeiten werden im Speisesaal, der auch als Mehrzweckraum dient, eingenommen. Das Fenster des für die Ruhezeit zur Verfügung stehenden Einzelraums ist nicht vergittert, seine Türe nicht abgeschlossen. Bei Nacht werden nur die Haustüren der im Pavillonsystem errichteten Unterkunftsbauten verschlossen. Die gesamte Anlage ist mit einem Drahtzatin umgeben, der weniger der Sicherung dienen kann, als vielmehr unerwünschtes Eindringen in den Bereich hindern soll.
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer
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Ein auf diese Weise gelockerter Vollzug der Freiheitsstrafe ist Vorschule für ein geordnetes Leben in der Freiheit. Es sei hervorgehoben, daß die Lockerungen des Vollzuges nicht leichte Bewährungsauflagen bedeuten. Sie werden in der Regel sinnvoll genutzt: Mißbrauch - auch Entweichungen - sind selten. Die Beamten der "offenen" Vollzugsanstalt haben ihre besondere Aufgabe erkannt und wissen, daß jeder Mitarbeiter, gerade weil äußere Sicherungsmaßnahmen fehlen, mit besonderem natürlichen Geschick, größerer Umsicht und gründlicher Menschenkenntnis tätig werden muß. Die Öffentlichkeit zeigte im Laufe der Jahre Verständnis für diese gelockerte Form des Freiheitsentzuges und leistete damit einen Beitrag zur sozialen Eingliederung des Bestraften nach Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe. Diese hessische Vollzugsanstalt wurde im Rahmen einer Feierstunde aus Anlaß der 10jährigen Wiederkehr des Todestages von Prof. Dr. Gustav Radbruch am 23. XI. 1959, mit Zustimmung von Frau Radbruch, ,;Gustav-Radbruch-Haus" genannt!. 11
Eine solche "offene" Vollzugsanstalt kommt nur als Ergebnis sorg,.. fältiger Planung zustande. Es gehört einmal dazu ein Wissen um die Erkenntnisse früherer Generationen, besonders von Einzelpersönlichkeiten, die an der Durchführung des Freiheitsentzuges unmittelbar Anteil nahmen. Unabdingbar notwendig sind weiter eigene Erfahrungen, gewonnen aus langjähriger Berufsarbeit und drittens eine gründliche Kenntnis der allgemeinen Situation der gesamten Umwelt, vor allem der Öffentlichkeit mit ihrer Einstellung zu Verbrechen und Strafe. Zu den Erkenntnissen der ersten Kategorie zählt z. B. auch ein Wissen um die Gedankenwelt Radbruchs über Gefangenschaft und Gefängniswesen. Es gehört, bei nüchterner Betrachtung von Idee und Wirklichkeit, weiter dazu der Wille, eine erarbeitete Konzeption vom Freiheitsentzug in gelockerten Formen mit allen legalen Mitteln zu verwirklichen und bei Hindernissen und Rückschlägen das Prinzip der Hoffnung nicht aufzugeben. Es muß ferner ein unablässiges Bemühen dazukommen, den freien und den gefangenen Menschen von heute zu erkennen und die Möglichkeiten sinnvoll abzuwägen, welcher Belastung der Einzelne im Freiheitsentzug unterworfen werden kann. Das heißt: es gilt zu ermitteln, welche inneren Anforderungen, welche Bewährungsauflage er zu 2 Die Ansprachen mit dem Gesamtthema: "Der Strafvollzug in der Gedankenwelt Gustav Radbruchs" sind abgedruckt in: ZfStrVO., 1960 (9), S.69 bis 85.
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tragen imstande ist. Schließlich ist laufend festzustellen, wie weit die differenzierte öffentliche Meinung in unserer Gesellschaft eine solche Umwandlung der Formen des Freiheitsentzuges nicht nur duldet, sondern aufnimmt und mitträgt. Eine Einrichtung wie das Gustav-Radbruch-Haus wird in ihrer Bedeutung nur verständlich, wenn sie im Ablauf der Geschichte gesehen und bewertet wird. Von den ersten Zuchthäusern und ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund3 bis zur "offenen" Anstalt führt eine Entwicklung, selbst wenn die positive Tradition in gewissen Zeitabschnitten, wie in den Jahren von 1933 bis 1945, abriß bzw. abzureißen drohte4 • Auszugehen ist bei der Betrachtung immer von der Aufgabe der Strafe im allgemeinen und der des Strafvollzuges im besonderen. Seit der Aufklärung - Radbruch schrieb über "Das Strafrecht der Zauberflöte" und ging auch kurz auf das Problem der Erziehungsstrafe bei der Freimaurerei einS - entbrannte mit besonderer Heftigkeit der Streit um die Methode der Gefangenenbehandlung. Verschiedene Systeme wurden empfohlen, "erst war es die Gefängnisarbeit, dann die Einzelhaft" und auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bezogen "schien es der Stufenstrafvollzug sein zu sollen". Aber "kein System kann aus eigener Kraft, jedes kann nur als ein Rahmen für die Tätigkeit tüchtiger Erzieher dem Erziehungszweck dienen"6. Dabei ist weiter zu beachten, daß die Geschichte der Strafrechtspftege mit der des Gefängniswesens ein Teil der Kulturgeschichte ist. Wie z. B. bei dem preußischen Gesetz betr. die "Beschäftigung der Strafgefangenen außerhalb der Anstalt" vom 11. April 1854, der Lex Wentzel, die überbelegung der preußischen Strafanstalten nach 1848 eine Rolle spielte7, so auch bei Einrichtung eines Vorläufers des Gustav-RadbruchHauses in Hessen nach 1945, der "Rudolfschule" in Frankfurt am Main8• 3 ~adbTUch, Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund (1938), in: Elegantiae Juris Criminalis, II. Aufl., 1950, S. 116 - 129. Wieder abgedruckt in: ZfStrVO., 1952 (3), S. 163 -174. 4 Radbruch, Kriminalistische Zeitbetrachtung. In: Rhein-Neckar-Zeitung, Osterausgabe 1947. 5 RadbTUch Das Strafrecht der Zauberflöte, in: Geistige Welt, 1946 (1), S. 23 - 30. I Radbruch, Der Erziehungsgedanke im Strafwesen, in: Monatsblätter des Deutschen Reichszusammenschlusses. Sonderdruck 1932, Heft 7/8, S. 6 - 9. Wieder abgedruckt in: ZfStrVO., 1952 (3), S.154 -162. 7 Krebs, "Lex Wentzel", Gesetz betreffend die Beschäftigung der Strafgefangenen außerhalb der Anstalt vom 11. April 1854, in: ZfStrVO., 1954 (4), S.100 -104. 8 Krebs, Die hessische Strafanstalt Frankfurt/Main Rudolfschule (Ausgangsanstalt für Männer mit minimum security), in: Tribunal, 1950 (1), S. 24 - 28.
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer
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Aber die Gründe für die Einrichtung einer "offenen" Anstalt lagen tiefer! Wentzel strebte an, in Preußen drei Ziele der Gefangenenbehandlung zu verwirklichen: die Beschäftigung der Strafgefangenen außerhalb der Anstalt sicherzustellen, das Verhalten der Gefangenen durch das "Markensystem" zu bewerten und das "Beurlaubungssystem" zur Abkürzung der Strafen einzuführen. Zu Lebzeiten von Wentzel wurde nur die Außenarbeit gesetzlich geregelt, das "Markensystem" Maconochis, nach dem irischen Vorbild, nicht im Gefängniswesen der deutschen Länder eingeführt. Wohl aber gewann der Gedanke der Progression, der in der allgemeinen Erziehung schon in Anstalten verschiedener Art seit Pestalozzi verwirklicht, empfohlen wurde, auch bei der Behandlung von Gefangenen, z. B. in Sachsen im 19. Jahrhundert, an Bedeutung. Der nicht ohne weiteres mit Progression gleichzusetzende Strafvollzug in Stufen fand in Preußen erst bei Einrichtung des ersten Jugendgefängnisses in Wittlich 1912 Zustimmung9 • - Die dritte von Wentzel vorgeschlagene Neuerung, die seine Systematik abrunden sollte, setzte sich als "bedingte Strafaussetzung" erst kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts durch10. Der Strafvollzug in Stufen wurde von Radbruch, während er das Amt des Reichsjustizministers innehatte, in die "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen" vom 7. Juni 1923 aufgenommen und den Landesregierungen zur Einführung empfohlen. § 130 bestimmt: "Bei längeren Strafen ist der Strafvollzug in Stufen anzustreben11 ." Es ist noch später auf die Einstellung Radbruchs zum Strafvollzug in Stufen zurückzukommen, hier sei sein Bekenntnis festgehalten, an den Reichsratsgrundsätzen "hatte ich besonders stark mitgearbeitet"12. - Eine späte Erfüllung zur Verwirklichung solcher progressiven Gefangenenbehandlung ist das Gustav-Radbruch-Haus. Zunächst soll versucht werden, zu klären, wie der Strafrechtslehrer und Rechtsphilosoph dazu kam, Erneuerungsbestrebungen auf dem Gebiet der Gefangenenbehanqlung zu durchdenken, eine solche Gesetzgebung voranzutreiben und damit die Humanisierung des Freiheitsentzuges zu fördern. Radbruch entwarf nicht eine vollständige Systematik der Gefangenenbehandlung. -'- Es ist nicht beabsichtigt, eine lückenlose Darstellung der Geschichte einer solchen Gefangenenbehandlung zu geben, wohl aber sollen einige Einzelheiten, in den größeren Zusammenhang gestellt, erwähnt werden. 9 Krebs, Von den Anfängen des Progressivsystems und den Vorschlägen earl August Zellers, in: Erinnerungsgabe für Max Grunhut, 1965, S. 93 -110. 10 s. Anm.7. a.a.O. S. 103. 11 Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen. Vom 7. Juni 1923. In: RGBl. II, S. 263 ff. 12 Radbruch, Der innere Weg, 1954, S. 154.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
In der ersten Heidelberger Zeit vor 1914 wirkte Radbruch außer in seiner Lehrtätigkeit im Dienste der Gemeinde und schon damals beschäftigte ihn "stark das Problem einer durchgreifenden Reform des Freiheitsstrafvollzuges; um sich ein eigenes Urteil zu bilden, arbeitete er in der Zeit von Anfang April bis Anfang Mai 1906 im Männerzuchthaus in Bruchsal"ls. Zudem besuchte er im Sommersemester 1906 mit Hörern seiner Vorlesung das Arbeitshaus Kißlau u . Wohl mit aus den Beobachtungen anläßlich solcher Aufenthalte in Vollzugsanstalten, vor allem aber aufgrund der Anregungen seines Lehrers Franz von Liszt, formulierte Radbruch in seiner "Einführung in die Rechtswissenschaft" im Jahre 1910: "Die Strafe will den Augenblicksverbrecher abschrecken, den besserungsfähigen Zustandsverbrecher bessern, den unverbesserlichen Zustandsverbrecher unschädlich machen11." Aus den verschiedenen Veröffentlichungen Radbruchs zum Thema: Vollzug der Freiheitsstrafe, aus Unterredungen und aus dem geführten Briefwechsel scheinen mir - und dies sei völlig subjektiv bekannt vier Manifestationen besonders eindrucksvoll für seine Haltung zum Problem der Gefangenenbehandlung. Einmal ist es der Beitrag: "Die Psychologie der Gefangenschaft" zur Festschrift für Franz von Lisztl8. Dann die mit der Frage der Progression, hier des Strafvollzuges in Stufen, in den zwanziger Jahren entwickelten Gedanken, die sich in den Grundsätzen von 1923, in den Verhandlungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung und der Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvollzugs niederschlagen und für mich persönlich weiter vor allem seine Ansichten in den Unterredungen gelegentlich des mehrtägigen Besuchs in der von mir geleiteten Strafanstalt Untermaßfeld im Jahre 1931. Schließlich sind es die in der "Kriminalistischen Zeitbetrachtung" 194717 und die in weiteren vorangegangenen und anschließenden Unterredungen vorgebrachten Auffassungen. Die bereits 1911 in "Die Psychologie der Gefangenschaft" geäußerten Ansichten über die Einzelhaft und ergänzend über die Soziologie der Gemeinschaftshaft mit ihren Begleiterscheinungen, und über die Aufgaben der Beamtenschaftl8, geben ebenso Einblick in die Denkweise, wie 13 . Radbruch, Rechtsphilosophie, IV. Aufl. Biographisch eingeleitet von Erik Wolf, 1950, S. 43. 14 RadbTuch, Briefe, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Konrad Zweigert. Sonderdruck aus Juristen-Jahrbuch, 1962/63 (3), S. 4. 15 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1910, S. 55. 18 RadbTuch, Die Psychologie der Gefangenschaft, ZSTW, 1911 (32), S. 339 bis 354. Wieder abgedruckt in: ZfStrVO., 1952 (3), S. 140 - 153. 17 s.Anm.4. 18 s. Anm. 16. a.a.O. S. 151 Anm.26.
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer
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die Abhandlungen "Der Erziehungsgedanke im Strafwesen"19 und"Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund"20. Aus der Abhandlung: "Der Erziehungsgedanke ... " ist die Stellungnahme Radbruchs zum Stufenstrafvollzug ebenso bemerkenswert wie die zur gleichen Frage in der von ihm betreuten Heidelberger Dissertation von Mühlenbach 1947. Auch die Beurteilung dieser Dissertation in einem Briefe an mich vom 9. Dezember 1946 läßt eine positive Einstellung zum Strafvollzug in Stufen erkennen21 . - In dem bei meiner thüringischen Anstalt vorhandenen Übergangshaus gab es bereits "keine Festungsmauern und keine Gitterfenster"!!. Die weiter genannte "Kriminalistische Zeitbetrachtung" (1947) stellt u. a. für den Strafvollzug die Verbindung mit der Tradition vor 1933 wieder her. In diesem Aufsatz wie auch in den damals geführten Gesprächen steht erneut das Beamtenproblem im Vordergrund: "Es muß ein fast völlig neues Anstaltspersonal erst berufen und geschult werden - geschult werden vor allem in der Auffassung seines Verhältnisses zu den Gefangenen, die nicht mehr als rechtlose Objekte obrigkeitlicher Zwangsmaßnahmen zu gelten haben, sondern als Rechtspersonen und MitmenschenU. " Aber zum vollen Verstehen einer Einrichtung wie der "offenen" Anstalt in Frankfurt gehört ein Wissen um die Einrichtung der Strafanstalt Untermaßfeld in Thüringen in den zwanziger Jahren!'. Der dort seit 1922 unter dem Leiter der Strafvollzugsabteilung im Thüringischen Justizministerium, Lothar Frede, eingeführte Strafvollzug in Stufen war bis 1932 im Sinne einer Progression ausgebaut. In Untermaßfeld war ich ab April 1923 als Fürsorger und seit August 1928 als Direktor tätig. Von Herbst 1923 bis Herbst 1928 wirkte dort als Direktor Otto Krebs. - Während bei der Anwendung des Stufenstrafvollzugs häufig äußere Ordnung und Sicherheit in den Vordergrund gestellt und dieser Stufenstrafvollzug zu einem guten Disziplinarmittel umgebildet wird, hat das Prinzip der Progression, seinem sozialpädagogischen Ursprung entsprechend, vor allem "innere Wandlung", "sittliche Hebung" - so lauten die Begriffe aus den Grundsätzen von 1923 - zum Ziel. Diese 11 s. Anm. 6. 2os.Anm.3.
21 Alexander Miihlenbach, Zur Frage des Stufenstrafvollzugs in Deutschland, Jur. Diss. Heidelberg vom 9.5. 1947, dazu Brief vom 9. 12. 1946. !2 Krebs, Landestrafanstalt in Untermaßfeld. Wesen, Organisation und Grenzen des Vollzugs, S.77. FTiedTich Rösch, Die III. Stufe als Selbstverwaltungsgruppe, S.118. Beide Texte in: Gefängnisse in Thüringen, 1930. 23 s. Anm.4. 24 Frede, Der Strafvollzug in Thüringen, in: ZSTW., 1925 (46), S. 233 - 248. Gunnar Dybwad, Social work in prison. A review of a decade of prison reform at Untermaßfeld (Thuringia), in: The Howard Journal, 1937, Vol. IV, No. 4, S. 375 - 384.
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Pioniere des Gefängniswesens
Probleme waren Gegenstand der Besprechungen anläßlich der Begegnungen des Verfassers mit Radbruch in dieser Zeit, vor allem bei seinem mehrtägigen Besuch, und Radbruch sprach mit Bedenken vom Disziplinarmittel, aber mit Zustimmung vom Erziehungsmittel. Für die Gefangenen und die Bediensteten sowie für den an Lebensjahren noch jungen Anstaltsleiter war die Begegnung in Untermaßfeld von beson':' derer Bedeutung25 • Auf Anfrage bei Frau Radbruch, ob im Nachlaß ihres Gatten Aufzeichnungen aus dieser Zeit vorhanden seien, kam am 18. März 1968 die Antwort: "G. R. hat mir zweifellos von dort geschrieben, aber wie soll ich das jetzt finden? Ich erinnere mich genau, daß er ganz erfüllt war von den Tagen dort und mir genau und begeistert davon erzählt hat. z. B. von einem Sonntagvormittag-Spaziergang, den Sie mit einer Anzahl von Gefangenen machten, an dem auch G. R. teilnahm. Sie sagten damals: Nie bräche bei der Gelegenheit einer aus, das stände auf einem ganz anderen Blatt. Er erzählte mir auch viel von den handwerklichen Arbeiten der Gefangenen ... " Ein anderer von Radbruch abgefaßter handschriftlicher Text, zur Zeit in meinem Besitz, wohl Notizen zu einem Vortrag, der auf die Strafanstalt Untermaßfeld Bezug nimmt, enthält folgende Formulierung: "Nur radikalste Umgestaltung des Geistes der Fr.[eiheits] Str.[afe] kann sie vielleicht zu einer wirklichen Erziehung machen. [Daneben mit Bleistift] Umgestaltung mehr der Gesinnung als der Organisation. Du.[rch] 3 Stadien 1. Vertrauen. Mißtrauen macht die Menschen schlecht, Vertrauen ermutigt sie, sich seiner würdig zu zeigen. Zwei Beispiele: a) Geschichte des U Rs L. in Hamburg [?] b) Sonntagsspaziergang in Untermaßfeld. Vertrauen fordert Mut und Mut ist ganz unbürokratisch. Gefängnisgebäude als versteinertes Mißtrauen. Nicht jeder ein präsumtiver Ausreißer und seine Entweichung nicht eine Katastrophe ... " Die Leitung des Strafvollzugs in Hessen wurde nach 1945 dem Verfasser übertragen. Die damals mit Radbruch geführten Gespräche über brennende Vollzugsprobleme waren erfüllt von Hoffnung und Zuversicht. Nur aus dem Geist der Zeit heraus ist verständlich, wenn nach einem Zwanzigjahresplan der äußere Aufbau und der innere Ausbau des Gefängniswesens in Hessen gewagt wurden. Der damalige hessische Justizminister Zinn, der, nach kurzer Unterbrechung, als Ministerpräsident des Landes Hessen in Personalunion das Amt des Justizministers weiterführte, bezeugte in seiner Ansprache am 23. November 1959 bei der Namengebung der neuen Vollzugsanstalt in Frankfurt am MainPreungesheim, des Gustav-Radbruch-Hauses, seine hohe Achtung vor Radbruch. Der Dank, den Eberhard Schmidt aus dem gleichen Anlaß 25
Krebs, Gustav Radbruch, in: ZfStrVO., 1950 (1), S.30.
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer
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auch als Amtsnachfolger Radbruchs den Verantwortlichen für den Strafvollzug des Landes Hessen aussprach, verpflichtete26 • Der Aufbau des hessischen Gefängniswesens nach 1945 litt nicht nur - abgesehen von der heute kaum mehr vorstellbaren allgemeinen Notlage - unter dem bereits erwähnten Fehlen einer geeigneten Beamtenschaft, sondern auch an einer ungewöhnlichen überbelegung in den zum Teil durch den Krieg geschädigten Vollzugsbauten. Auf die Parallele zu Wentzels Situation nach 1848 wurde bereits verwiesen. In einem Provisorium, dem durch Fliegereinwirkung teilzerstörten Volksschulgebäude in unmittelbarer Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofes, mußte eine "offene" Vollzugsanstalt, bewußt mit dem alten Namen "Rudolfschule" bezeichnet, eingerichtet und zehn Jahre geführt werden. Hierbei erwarb sich ihr Leiter, Heinrich Meffert, der später die Leitung des Gustav.,. Radbruch-Hauses übernahm, besondere Verdienste2 7• In dieser "Modellanstalt" Rudolfschule, die freilich der Zeit entsprechend in ihrer äußeren Form alles andere denn ein Muster darstellte, wurden vor allem vier Ziele angestrebt: 1. in den geschlossenen Vollzugsanstalten des Landes Hessen, in denen durch fachlich vorgebildete Mitarbeiter, in der Regel Psychologen, geeignete Insassen für die offene Anstalt ausgewählt und verlegt wurden, eine spürbare Entlastung eintreten zu lassen; 2. mit den in der· offenen Anstalt tätigen Kräften, die vorzugsweise in der Landwirtschaft beschäftigt wurden, die Volksernährung sichern zu helfen; 3. bei dem Wiederaufbau der erheblich kriegszerstörten Stadt Frankfurt am Main durch Beseitigung der Trümmer mitzuwirken; 4. den Insassen schon während des Freiheitsentzuges eine, wenn auch überwachte, verstärkte Beziehung zur freien Umwelt zu ermöglichen und ihnen dadurch den geordneten übergang in die Freiheit zu erleichtern. Die rechte Würdigung der Leitgedanken und die dort in der Rudolfschule erzielten Leistungen beeindruckten u. a~ die Mitglieder der "Gefängniskommission", einem Unterausschuß des Rechtsausschusses des Hessischen Landtages, so, daß diese Abgeordneten in ihren Fraktionen im Parlament, trotz der finanziellen Notlage in den fünfziger Jahren, die Bewilligung von Mitteln zum Anstaltsneubau, der den Namen Gustav-Radbruch-Haus erhielt,erreichten. Die neue offene Anstalt verfolgt im Prinzip die gleichen überzeitlichen Ziele wie die Rudolfschule. Die gesamte Anlage der .Baulichkeiten, ihre Einteilung in verschiedene Bereiche für die Unterkünfte s. Anm. 2, Zinn., a.a.O. S. 71/76 und Schmidt, a.a.O. S. 76/85. s. Anm. 8, weiter: Meffert, 10 Jahre "offene Strafanstalt" Frankfurt am Main - Rudolfschule, 1948/58, in: ZfStr.VO., 1957 (7), S. 193 - 203. Ders., 20 Jahre "offene Strafanstalt" für Männer - Gustav-Radbruch-Haus - in Frankfurt am Main, 1948/1968, in: ZfStrVO., 1968 (17), S. 29 - 42. 26
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1. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
von rund 350 Insassen, die Bauten für die Hauswirtschaft, die Verwaltung und die Hauswerkstätten konnten mit der zuständigen Staatsbauverwaltung zweckmäßig errichtet werden. Dabei stellte sich auch heraus, daß sich kein Widerspruch ergab zu den 1931 gemeinsam erwogenen Gedanken über das Pavillonsystem, wie Radbruch sie in seinem Vortrag: "Der Erziehungsgedanke im Strafwesen" 1932 formuliert hatte 28 • Noch entscheidender war aber der innere Ausbau! Das in Untermaßfeld entwickelte Übergangshaus am Ende des Vollzuges beim Anstaltsgut in Grimmenthai hatte sich in Frankfurt am Main zu einer mittelgroßen selbständigen Vollzugsanstalt erweitert. Ein Stufensystem ist nicht eingeführt, bei Wertung nach ihrer Persönlichkeit leben alle dort Untergebrachten mit den gleichen Rechten und Pflichten. Die von Radbruch in seinem Briefe an Heinrich Meng (Heidelberg, den 31. August 1938) getroffenen Feststellung muß gerade in einer offenen Anstalt Beachtung finden. "Zwischen staatlicher Strafe, auch wenn sie als Besserungsstrafe aufgefaßt wird, und Erziehungsstrafe scheint mir ein sehr wesentlicher Unterschied zu bestehen; die Erziehungsstrafe ist Strafe im Rahmen der Erziehung, die als Besserungsstrafe aufgefaßte Kriminalstrafe ist Erziehung im Rahmen der Strafe. Dort liegt der Strafe ein persönliches Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling zugrunde, hier wird das Erziehungsverhältnis erst durch die Strafe begründet und hat deshalb zunächst die schwierige Aufgabe, die Trotzhaltung des Zöglings zu überwinden. Daher die Problematik des Erziehungs-Strafvollzugs ...29." Gerade in der offenen Anstalt wird versucht, in der Gesellschaft für die Gesellschaft zu erziehen. "Das Rezept, den Antisozialen sozial zu machen, indem man ihn asozial macht, d. h.ihn auf dem Trockenen schwimmen zu lehren, hat versagt ... "30, er muß sich in der Gemeinschaft bewähren. Zu beachten ist, daß die Gemeinschaftshaft im GustavRadbruch-Haus nicht mit der in einer geschlossenen Anstalt verglichen werden kann. Abgesehen VOn der Verbindung mit der Außenwelt bei der Arbeit ist die Verbindung mit der Innenwelt in der Freizeit eine ganz spezifische. Die Trennung bei Nacht in Einzelräumen wurde bereits erwähnt. Wohl besteht beim Aufenthalt im Speisesaal, im Gemeinschaftsraum, beim Sport usw. Überwachung, aber alles ist gelockerter. Die bauliche Anlage und die Auswahl der Insassen erfordert vom Aufsichtsbeamten mehr die Beobachtung der inneren Einstellung als die des äußeren Wohlverhaltens. Von einer Rufanlage im Bedarfsfalle herangeholt, geht der Einzelne allein seine Wege - etwa vom Unterkunftsgebäude zur Verwaltung oder zu anderen Stellen im Hause. Auch 28
29 30
s. Anm. 6. s. Anm. 14, a.a.O. S. 15. s. Anm. 16, a.a.O. S. 150.
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bei den gemeinsamen Veranstaltungen gilt das gleiche. Dabei wird bewußt die Eigeninitiative angeregt, die Aktivität gefördert, es ist vorbei mit der lebensunwahren "Windstille". Das Gustav-Radbruch-Haus darf nicht getrennt von den übrigen Vollzugseinrichtungen des Gefängniswesens des Landes Hessen gesehen werden. Es ist konzipiert als ein wesentlicher Bestandteil, als die auf den Vollzug in einer geschlossenen Strafanstalt folgende "offene" Vollzugseinrichtung. Verständlicherweise steht sie mehr unter Beobachtung der Öffentlichkeit, da ja bewußt - nach überprüfung und Abschneiden der alten Fäden - die neuen Bindungen mit der Umwelt geknüpft werden (Pestalozzi). Durch die Arbeit außerhalb der Anstalt entsteht bereits eine ungewöhnliche Öffentlichkeitswirkung. Täglich erscheinen die Arbeiter aus dem Gustav-Radbruch-Haus in den freien Betrieben. In der Regel arbeiten sie einem erfahrenen Vorarbeiter zugeordnet, haben Berührung mit der übrigen Belegschaft und erleben ihren Freiheitsentzug vor allem während der Freizeit und der Ruhezeit. Im allgemeinen wird ihre Mitarbeit geschätzt, ihre Leistungen entsprechen mindestens dem Durchschnitt. In den vergangenen Jahren - abgesehen von der Zeit während der Wirtschaftskrise - verlangte die freie Wirtschaft Arbeitskräfte. Die Unternehmer waren zufrieden, "Gefangene" zu beschäftigen. Die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften widersetzten sich dem nicht. Diese freie Form der Arbeit trug zum Verständnis der Lage der Inhaftierten bei und öffnete diesen den Blick für die Notwendigkeiten und Erfordernisse, den Arbeitsplatz zu behaupten. Traten dennoch Schwierigkeiten ein, so konnte in der Regel durch rechtzeitiges Eingreifen eine ernste Gefährdung der Resozialisierung vermieden und weitere Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. - In einem "Übergangsheim" nach erfolgter Entlassung ist dies alles bedeutend schwieriger, wenn es in Einzelfällen nicht gar unmöglich ist, Hilfestellung zu .leisten. Der Freiheitsentzug während der Freizeit und der Ruhezeit bleibt mit zahlreichen Problemen belastet und für die Bediensteten wie für die Insassen schwierig. Entweichungen erfolgen verhältnismäßig selten, da es sich ja um ausgewählte Insassen handelt. Wenn, dann sind es Kurzschlußhandlungen, die zum Weglaufen führen. Gelegentlich bitten Insassen den Anstaltsleiter, wieder in die geschlossene Anstalt zurückverlegt zu werden, da die Belastung zu groß sei. Die Frage der Entweichung aus der offenen Anstalt und von der Außenarbeit wurde auch mit Radbruch erörtert. Er lehnte eine Strafbestimmung ab31 • Das Problem des Vertrauensbruches aber bleibt bestehen! Wie bereits erwähnt, wurde es für mich bei den Sonntagsspaziergängen in Untermaßfeld vor 31
Brief vom 18.7.48.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
1933 nicht akut, da keine Entweichung erfolgte. Im Zusammenhang mit der verstärkten Fühlungnahme der Insassen mit der freien Umwelt ist an die verstärkte Mitwirkung freier Kräfte als Helfer und Berater, als Vortragende und Darbietende, zu denken. Auch sie vermögen über die Einzelfallhilfe hinaus, neue positive Bindungen allgemeiner Art zu knüpfen.
111 Es wurde bereits hervorgehoben, daß die Einrichtung der offenen Anstalt nicht isoliert vom gesamten System des Vollzugs gesehen werden kann. Selbst wenn nicht sämtliche Gefängnis-Gefangene aus den geschlossenen Vollzugsanstalten des Landes vor ihrer Entlassung das Gustav-Radbruch-Haus erleben, so wirkt sich sein Bestehen dennoch beachtlich als stimulierender Faktor auf das Ganze aus. Im Prinzip hat jeder eine Chance, in diesem Hause den übergang von der Gebundenheit in die Freiheit zu erleben. Die zu Zuchthaus Verurteilten blieben bisher ausgeschlossen. Die Gründe hierfür - obwohl auch für sie eine vergleichbare übergangseinrichtung geplant war- liegen in der Notwendigkeit begründet, solche Reformen nur schrittweise vorzunehmen. Das Verstehen des Vollzuges der Freiheitsstrafe unter den skizzierten Bedingungen erfordert ein radikales Umdenken. "Immer wieder stößt sich. in Strafrechtspflege und Strafvollzug der Erziehungsgedanke an dem Begriff der Strafe, in den man ihn einschließen will. Ich meinerseits" - so betont Radbruch - " gestehe, daß mir am Begriff der Strafe gar nichts, aber an einer zweckmäßigen Behandlung des Rechtsbrechers alles gelegen ist32 ." In diesen Worten leuchtet der Gedanke wider, der eine Reform des Strafvollzugs durchdringen muß. Bei aller Wichtigkeit der rechtlichen und sichernden Bestimmungen über den Vollzug in seiner äußeren Ordnung bleibt entscheidend, welche geistigen Kräfte ihn beseelen. Experimente sind im Freiheitsentzug nicht erlaubt, wohl aber, neue Wege zu suchen, sie mit den Methoden, die uns die Menschenbehandlung zu geben vermag, zu beschreiten und dem straffällig Gewordenen ein Prinzip, das der "Hoffnung", nahezubringen, wenn alle Voraussetzungen zum Gelingen sorgfältig durchdacht, geplant und geschaffen sind. Den im Freiheitsentzug Lebenden, nach Einordnung in das Ganze Strebenden, kann letzten Endes nur der verstehen, der mit Radbruch weiß: "Denn vergönnt ein Problem zu überwinden ist niemandem, der nicht zuvor seine Problematik bis zur Verzweiflung empfunden hattesa." 32
33
s. Anm. 6, a.a.O. 5.159. Radbruch, Juristen -
bis 130.
böse Christen, in: Die Argonauten, 1916 (1), 5. 128
Das "Gustav-Radbruch-Haus" Strafanstalt für Männer
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Radbruch weiß aus eigener Erfahrung, es ist "alles Unheil meines Lebens so fest verflochten mit heilbringenden Gegenwirkungen, daß es undankbar wäre, mein Leben unglücklich zu nennen"34. Das Erleben von "heilbringenden Gegenwirkungen" zu ermöglichen, wird im Gustav-Radbruch-Haus angestrebt.
34
Radbruch, Der innere Weg, 1951, S.194.
12. Lothar Frede, Leiter des Gefängniswesens in Thüringen von 1912-1933* In dem schriftlichen Nachlaß von Frede, geboren am 7. Juni 1889 zu Weimar, verstorben am 20. Februar 1970 zu Bad Godesberg, befindet sich ein Blatt, auf dem der hier zu Würdigende in seiner klaren Handschrift in großen kräftigen Buchstaben niederschrieb: "Der Strafvollzug in Stufen in Thüringen. Siehe, da Themis nun nach gefälltem Spruch ruhig die Waage zur Seite legt und die Binde rüstig sich von den forschenden Augen streift staunend erkenne ich sie als Caritas' herzhafte Schwester." Die Hüterin des göttlichen Rechts, die Göttin der Sitte und Ordnung, wird zur Verkörperung christlicher Nächstenliebe. Dem Kenner der neueren Entwicklung des deutschen Gefängniswesens ist der Name "Frede" wohl in Erinerung. Er ist verknüpft mit der Tätigkeit dieses Mannes für den Strafvollzug in Thüringen im Verlaufe der zwanziger Jahre. Er ist auch bekannt durch die literarische Betätigung auf diesem Fachgebiet, so z. B. durch die Gemeinschaftsarbeit Frede / Grünhut, "Reform des Strafvollzugs" mit zahlreichen kritischen Beiträgen verschiedener Verfasser zu dem Amtlichen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1927 (L 6). - Das praktische Wirken und die literarische Betätigung auf dem Gebiet des Gefängniswesens in diesen Jahren geben im Rahmen der Gesamtentwicklung ein Zeugnis für Frede, das nicht bestritten und nicht übersehen werden kann. I
Lebensdaten und Lebensstationen dieser Persönlichkeit zeigen in allen Perioden die Verflochtenheit dieses Einzellebens mit der Gesamtgeschichte seines Volkes. Vor dem ersten Weltkrieg erlebte der bürgerlich erzogene junge Mensch seine Heimatstadt und bei dem anschließenden Universitätsstudium das gärende Werden einer neuen Zeit. Während der juristischen Ausbildung wurde bereits das Spannungsverhältnis zwischen den Neigungen zur Kunst- und Kulturgeschichte und dem Pflichtstudium • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, Jg.19 (1970), S. 313 - 323.
12. Lothar Frede, Leiter des Gefängniswesens in Thüringen
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lebhaft empfunden. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen folgte die Periode der prägenden Kriegszeit bei einem thüringischen Regiment an der West- und an der Ostfront. Sie vermittelte die Beziehung zu Menschen aller Schichten gerade auch aus seiner Heimat. Die entscheidenden Jahre der Aufbauarbeit auf dem Gebiet des Gefängniswesens von 1922 - 1932 erlebte Frede ebenfalls in Thüringen als Referent für das Gefängniswesen des Landes im Justizministerium zu Weimar. Sie bedeuten den Höhepunkt seiner Berufsarbeit, bei ungewöhnlicher Hingabe an die selbstgewählten Aufgaben. Hierdurch wurden Anregungen und Anstöße für eine Gefängnisreform auch weit über Thüringen hinaus vermittelt. Auch Frede wurde 1933 ein Opfer der trüben Flutwelle des Nationalsozialismus. Diese Periode brachte bis 1945 die Entfernung aus dem sorgsam verwalteten Arbeitsbereich und die zwangsweise Übertragung richterlicher Aufgaben am Oberlandesgericht in Jena. Aus diesem Zeitabschnitt hält Frede in seiner Niederschrift, aus der im folgenden wiederholt zitiert wird, u. a. fest: "Ich bin glücklich, feststellen zu können, daß unter meiner Mitwirkung niemals ein Todesurteil gefällt worden ist." Der grundsätzliche Gegner der Todesstrafe, die Persönlichkeit, die um die Not des Menschen weiß, verleugnete auch damals nicht ihre Grundsätze. ·Den Zusammenbruch im Jahre 1945 überlebte Frede zunächst bis 1949 als Rechtsanwalt und Notar in Weimar, danach von 1950 -1954 als Richter in Stuttgart. Er zog später, nach der Versetzung in den Ruhestand, nach Bad Godesberg. Aus den Angaben über das Leben nach 1945 wird ersichtlich, daß es Frede nicht gelang, einen Wirkungsbereich im Rahmen des neuen deutschen Gefängniswesens zu erhalten, der seinen früheren Leistungen auf diesem Fachgebiet in Thüringen entsprach. Wie dringend hätte der Strafvollzug in der BRD einer solchen Kraft bedurft! Dennoch, wie lebhaft blieb Fredes Interesse an diesen Fachfragen. Die Liste der Veröffentlichungen, die auch für die Zeit nach 1945 wiederholt neben kunst- und kulturgeschichtlichen literarischen Arbeiten auch Beiträge zum Gefängniswesen nachweist - zwei davon erschienen in dieser Zeitschrift -, bestätigt dies (L 29 und L 30). Schon diese knappen Angaben möchten deutlich werden lassen, daß es Frede um zwei aber nur scheinbar getrennte Fachbereiche ging, einmal um den strafrechtlichen, strafvollzugskundlichen und dann um den kulturund kunstgeschichtlichen. Das Menschliche verband! Die hier vor allem zu beachtenden Leistungen auf dem Gebiete des Gefängniswesens in Thüringen und darüber hinaus in der ganzen Weimarer Republik sollen kurz dargelegt werden. Immer wieder stellt sich dabei die wohl verständliche Frage, welchen Ertrag die Arbeit Fredes und seiner engeren 16 Freiheitsentzug
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Mitarbeiter in den zwanziger Jahren, die ja einer Aussaat vergleichbar war, bei ungestörter Entwicklung wohl erbracht hätte. Fredes Geschick ist mit ein Beispiel für die tragische Entwicklung des deutschen Gefängniswesens seit der Aufklärung. Vielfach wurden die verheißungsvollen Ansätze zur Erneuerung zerstört durch kriegerische Auseinandersetzungen. Das allmähliche Fortschreiten solcher Reform, als Teil der gesellschaftlichen Ordnung, blieb behindert. 11
Der berufliche Auftrag an Lothar Frede in den Jahren von 1922 bis 1933, der als Vortragender Rat im thüringischen Justizministerium in Weimar wirkte, umfaßte "alle mit der Strafjustiz zusammenhängenden Sachen". "Zu meinem Arbeitsgebiet gehörte auch von Anfang an die Aufsicht über die thüringischen Strafanstalten und Gefängnisse." Die wichtigsten waren das Jugendgefängnis Eisenach, das Erwachsenengefängnis Ichtershausen und das Männerzuchthaus Untermaßfeld. Welche Möglichkeiten und welche Grenzen waren dieser "Aufsicht" in dem genannten Zeitraum sowohl von der Person als auch von den Zeitumständen her gesetzt? Diese Frage kann hier nicht erschöpfend beantwortet, wohl aber bedacht werden. Durch Angabe einiger Einzelheiten wird angestrebt, die Leistung zu würdigen. Der Verfasser vorliegender Skizze erlebte die entscheidenden Berufsjahre von Frede mit, von 1923 - 1933, zuerst als Erzieher und dann als Direktor der thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld bei Meiningen. Nahm er also als "Nachgeordneter" teil an den Reformen in Thüringen, so lernte er von 1945 - 1965 ebenfalls die Aufgaben des V(!rtreters einer Aufsichtsbehörde als "Vorgesetzter", und zwar als Leiter des Gefängniswesens im Lande Hessen kennen. Wenn auch, wie bereits angegeben, das Zusammenspiel von Vorgesetztem und Nachgeordnetem im Gefängniswesen eines deutschen Landes hier nicht umfassend geklärt werden kann, so sei doch auf einige Probleme hingewiesen. Sie lassen die Schwierigkeiten der Aufgabe von F'rede, auch überzeitlich gesehen, deutlich werden. Zur Voraussetzung der rechten Durchführung der Aufgaben des Vorgesetzten gehört, daß er gründliche Sachkenntnis besitzt. Auf dem Gebiet des Gefängniswesens kann diese in der Regel nur durch praktische Betätigung in der Vollzugsanstalt selbst erworben werden. Der Nachgeordnete erwartet von seinem Vorgesetzten, und dies mit Recht, die Klärung von Schwierigkeiten durch Aussprachen, das Anregen neuer Möglichkeiten und das Beraten auf der Ebene als Partner. Beide Teile, der Vertreter der Aufsichtsbehörde und der Nachgeordnete in der Vollzugsanstalt, sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Nicht nur ihre persön-
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lichen Geschicke, sondern vor allem die Entwicklung ihres gemeinsamen Aufgabenbereiches hängen offensichtlich voneinander ab. Frede hatte dies erkannt und voll gewürdigt. Die fehlende praktische Anstaltserfahrung, begründet in dem völligen Neuaufbau der behördlichen Einrichtungen in seiner Zeit, konnte in den besonderen Zeitverhältnissen nach 1918 ausgeglichen werden. Im einzelnen wird darauf in dieser Studie Bezug genommen. Das systematische Vorgehen von Frede, der mit seinen Mitarbeitern praktisch aus dem Nichts ein Neues geschaffen hatte, ist für die behutsame, aber zugleich energische Art dieser Persönlichkeit kennzeichnend. Über den Neubeginn sagte er aus: "Zu meinem Arbeitsgebiet gehörte auch von Anfang an die Aufsicht über die thüringischen Strafanstalten und Gefängnisse. Deren bei meinem Amtsantritt (1922) in jeder Beziehung vernachlässigter Zustand ergriff mich tief. Ich dachte über die Probleme des Gefängniswesens nach. Es war nicht nur der miserable äußere Zustand der Zuchthäuser und Gefängnisse, der nach Verbesserung schrie. Der dort geübte Strafvollzug bestand in einem ,windstillen Absitzen der Strafe', bei dem die Sträflinge meist moralisch verderbter aus der Anstalt entlassen wurden, als sie eingeliefert worden waren. Das erschien mir völlig sinnlos. Ich dachte darüber nach, wie man den Strafvollzug sinnvoll gestalten könnte, um eine Resozialisierung der noch besserungsfähigen Rechtsbrecher zu erzielen. Ich hatte schon auf der Universität von früheren Versuchen in England-Irland mit einem auf dem ,Besserungsgedanken' beruhenden ,Progressivsystem' gehört und beschloß, damit einen Versuch zu machen." War dies die Situation im Jahre 1922, so begann sie sich bereits im Jahre 1923 wesentlich zu wandeln. Zunächst wurde die Zielsetzung noch strenger durchdacht, wobei die Wahrung der Rechtsstellung des Gefangenen eine besondere Aufgabe stellte, dann die Klärung der Personalfragen versucht und schließlich die Methode der Gefangenenbehandlung im "Stufensystem" entworfen. Die "Dienst- und Vollzugsordnung für die thüringischen Landesstrafanstalten vom 24. Mai 1924" enthält die Ergebnisse dieser Überlegungen (L 1). Sie kamen in eingehenden Beratungen und in engem Zusammenwirken mit den in der Zwischenzeit neugewonnenen Mitarbeitern unter der Federführung von Frede zustande. Dazu kam, wie bereits bemerkt, daß die gesamten Zeitumstände nach Erneuerung drängten. Es galt für alle Beteiligten die Stunde wahrzunehmen. Frede, der sich in geschliffener Sprache mündlich und schriftlich zu den Vollzugsproblemen äußerte, war - und dies kennzeichnet ihn in hervorragendem Maße - bereit, zuzuhören, Vorschläge der N achge16·
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ordneten aufzugreifen und in Partnerschaft Entscheidungen vorzubereiten. Es ist wohl immer ein Wesentliches, auch im erfolgreichen Tätigsein die eigenen Grenzen zu erkennen und zu wissen, wie befähigte Mitarbeiter genommen werden müssen. Einsame Beschlüsse hätten keinesfalls ein so positives Echo in der Beamtenschaft der unterstellten Anstalten ausgelöst. Aus seinen Studien wußte Frede sehr wohl um die Wandlung des Begriffs "Erziehung" als Zielsetzung aller Bemühungen im Freiheitsentzug. In seiner Stellungnahme zur Frage des Anfangs eines resozialisierenden Strafvollzugs schlägt er vor zu klären, was man zur Zeit der Zuchthausgründung in Amsterdam unter "Erziehung" verstanden habe, und regte eine "sicher sehr interessant werdende Auseinandersetzung der Fachleute darüber" an (L 24 S. 191). Seine eigene Ansicht dazu war: "Bei der Erziehung im Strafvollzug handelt es sich um Massenerziehung, und zwar um Massenerziehung unter besonderen Schwierigkeiten." Diese These begründete er eingehend (L 7 S.106). Er befand sich dabei in Übereinstimmung mit zahlreichen Reformern. Unter Hinweis auf das Verdienst Freudenthals, der die Klärung der Rechtsstellung der Gefangenen seit 1910 vorantrieb (s. Geerds, Berthold Freudenthal, in ZfStrVo. 1969 [18] 251 ff.), strebte auch Frede an, das Rechtsverhältnis in der Anstaltspraxis stärker zu betonen und Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß eine planvolle Verwirklichung vorangetrieben werden konnte. Frede meinte: "Es handelt sich nicht bloß um die verwaltungsmäßige Ausgestaltung eines einseitigen Gewaltverhältnisses (diese Erkenntnis verdanken wir Freudenthai). Wie jedes Rechtsverhältnis bedarf auch dieses rechtlich geordneter Grenzen und rechtlich fundierter Garantien, und zwar - was bisher wenig beachtet ist - für beide gegenüberstehenden Teile. Gerade durch die Schaffung solcher beiderseitigen rechtlichen Garantien ist überhaupt der Charakter der Beziehungen zwischen Staat und Gefangenen als eines Rechtsverhältnisses in Erscheinung getreten" (L 5 S. 619). In dieser Einsicht liegt schon der Ansatz zur Entwicklung hin zum "Mitwirkungsverhältnis" mit dem Gefangenen und weg vom besonderen "Gewaltverhältnis" . Das praktizierte der Strafvollzug in Untermassfeld in den zwanziger Jahren z. B. in der sorgsam aufgebauten Selbstverwaltung Gefangener (L 7 S. 127) und dem Anstaltsgericht (L 11 § 165). Diese Erkenntnis war es auch, die Frede veranlaßte, in engem Zusammenwirken mit seinen Mitarbeitern in den Vollzugsanstalten die Methoden des Strafvollzugs in Stufen auszubauen. Drei Gründe wareIi dafür entscheidend. Einmal sollte die Masse der Gefangenen in den Anstalten unterteilt werden. dann sollten "Erleichterungen", "Lockerungen" aufgrund der Leistung der Einzelnen eintreten (Frede wandte
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sich gegen die Verwendung der Vokabel "Vergünstigung" in diesem Zusammenhang, die er als "Zuckerbrotbegriff" kennzeichnete; (L 7 S.107), und schließlich sollte jede einzelne Stufe besondere Aufgaben erfüllen. Die erste Stufe wurde zur Beobachtungsstufe, die zweite zur Behandlungsstufe und die dritte Bewährungsstufe (L 1 § 41). Dabei war selbstverständlich, daß die zweite und die dritte Stufe ebenfalls der Beobachtung dienten, die erste und dritte auch eine Behandlung wahrzunehmen hatten und die erste und zweite gleichfalls Aufgaben der Bewährung setzten. Entscheidend war die steigende Belastung der Stufenangehörigen mit Vertrauen, die von den Anstaltsbeamten besonders beachtet werden mußte. Dies manifestierte sich in mancherlei Formen. Besonders bekannt wurde der Öffentlichkeit solches Vorgehen - in vollem Einverständnis mit Frede - bei der Durchführung des Sonntagsspazierganges der dritten Stufe außerhalb der Anstalt ohne bewaffnete Beamte, nur in Begleitung des Anstaltsleiters und des Fürsorgers dieser Stufe (L 7 S. 132). Darin liegt der Beginn der Lockerungen im Freiheitsentzug, die Mauern wurden durchlässig und der Ansatz zu einer offenen Anstalt konnte daraus entwickelt werden. Dabei ist selbstverständlich, und das hat der Verfasser als Nachgeordneter und als Vorgesetzter eindrucksvoll selbst erlebt, daß eine solche Lockerung nicht durch die Aufsichtsbehörde angeordnet werden kann. Wesentlich blieb, daß der Vertreter des Ministers diesen und anderen Lockerungen zustimmte. Dies gilt für die gesamte Erziehungsarbeit. So konnte der ganze Anstaltsorganismus während der Arbeits- und der Freizeit freiheitsähnlicher aufgebaut werden. Frede befürwortete dringend solche Ausgestaltungen und verfocht diese Prinzipien bei Angriffen aus der Öffentlichkeit und aus dem Parlament. Auch strebte er weitestmögliche fachliche Unterrichtung der Öffentlichkeit durch hierfür geeignete Mitarbeiter an. Nach solchen Vorarbeiten im Gefängniswesen seines Dienstbereiches, der von zahlreichen Fachkräften des In- und Auslandes besucht wurde, konnte für die Methode des Strafvollzugs in Stufen geworben werden. So gelang es, bei der Vorbereitung der "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923" die Aufnahme der Formulierung, die auch von Reichsjustizminister Radbruch gewünscht wurde, zu erreichen: "Bei längeren Strafen ist der Vollzug in Stufen anzustreben ... " (§ 130). In dem Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1927 ist ebenfalls mit auf Fredes Veranlassung in den §§ 162 -179 "Der Strafvollzug in Stufen" als wichtige Methode mit aufgenommen. Die eingehende Begründung in diesem Entwurf zu den genannten Paragraphen enthält u. a. die Gesichtspunkte, die in der Praxis der thüringischen Strafanstalten erarbeitet und auch von Frede herausgestellt worden waren.
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Freilich lag in diesen "Erfolgen" - denn die deutschen Länder übernahmen nach und nach diese Methode - auch eine Gefahr. Während in den thüringischen Vollzugsanstalten eine beachtliche Zahl von Erziehern (bei rund 900 Gefangenen bis zu 12) tätig waren, fehlten in der Regel in den außerthüringischen diese für die Aufgabe eines individualisierenden Vollzuges geschulten Kräfte. Die dadurch bedingten Fehlschläge in den Jahren vor 1933 belasten meines Erachtens völlig zu Unrecht das System des Stufenstrafvollzuges, gerade auch das thüringische, bis in die Gegenwart. Befürworter des Stufensystems war auch der damalige Reichsjustizminister Prof. Radbruch (Gustav Radbruch, Briefe, 1968, S. 250/251). III Bei allen Bemühungen um Klärung der Begriffe bei der Zielsetzung (L 7 S. 105 ff.), bei dem Herausarbeiten der Rechtsstellung des Gefangenen und nicht zuletzt bei der Entwicklung der Methode des thüringischen Strafvollzugs in Stufen, wurde klar erkannt, daß Gefängnisreform vorzugsweise ein Mitarbeiterproblem darstellt. Folgerichtig mußte Frede die Reform des Gefängniswesens in Thüringen mit dem Versuch beginnen, die Beamtenfrage zu lösen. "Ein guter Strafanstaltsbau gewährleistet noch nicht ohne weiteres einen guten Strafvollzug. Auch das beste Strafvollzugsgesetz und die verständnisvollste Dienstvorschrift können das nicht. Das Entscheidende sind die Beamten, die den Strafvollzug handhaben" (L 6 S.46). Frede verstand unter Beamten die Vertreter aller vier Sparten im Verwaltungs-, Aufsichts-, Werk- und Erziehungsdienst unter dem Anstaltsleiter. Bereits 1924 forderte die unter Fredes Federführung erarbeitete Vorschrift: "Damit fruchtbare, erziehlich wirksame Arbeit an den Gefangenen geleistet werden kann, muß ein einheitlicher erzieherischer Geist alle Beamten, vom Direktor bis zum jüngsten Aufsichtsbeamten beherrschen" (L 1 § 17). Dieser Satz blieb nicht Programm, er wurde in den thüringischen Strafanstalten bis 1932 zur Wirklichkeit. Dabei gewann der "Erziehungsbeamte" besondere Bedeutung. Frede stellt fest: Die Zielsetzung Erziehung erfordert Erzieher! Er bekannte: "Die Reform hätte sich auch nicht durchführen lassen, wenn wir nicht in der glücklichen Lage gewesen wären, wissenschaftlich gut vorgebildete Erzieher - sie haben die nicht ganz treffende Bezeichnung ,Fürsorger' erhalten - einzustellen. Damit hat ein ganz neuer Beamtentyp seinen Einzug in die Strafanstalt gehalten. Er ist von entscheidender Bedeutung für die Durchführung des Erziehungsstrafvollzugs geworden. Denn ohne Erzieher ist keine Erziehung möglich" (L 16 S.5/6). Die Dienst- und Vollzugsordnung 1924 legte fest: "Den Fürsorgern liegt das gesamte Gebiet der Gefangenenfürsorge, der weltlichen Seel-
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sorge sowie der Unterricht ob" (L 1 § 14), und weiter: "Die Fürsorger haben durch fortgesetzte verständnisvolle Einwirkung beim Zellenbesuch und im Einzelgespräch auf Bildung des Charakters, insbesondere auf Stärkung des Willens des Gefangenen zum Guten und auf sittliche Festigung hinzuarbeiten" (L 1 § 98). Die Formulierungen der Aufgaben klingen heute nach fast 50 Jahren vielleicht weltfremd. Immerhin bewirkten sie in den genannten Anstalten für ein Jahrzehnt das Werden einer Atmosphäre gegenseitigen Verstehens von Gefangenen und Beamten, das Zurücktreten des Einflusses von Störern und einer Subkultur. Dies bezeugten Strafentlassene und viele in- und ausländische Fachkräfte, die die thüringischen Strafanstalten damals besuchten, nicht zuletzt der frühere Reichsjustizminister Prof. Radbruch nach seinem mehrere Tage währenden Aufenthalt in der Strafanstalt Untermaßfeld. Für Frede war es selbstverständlich, daß auch die übrigen Beamtensparten gebührende ideelle und materielle Beachtung fanden. Aus der Zeit des Kriegsdienstes waren diesem Vertreter der Aufsichtsbehörde ein Teil der Aufsichtsbeamten in den Anstalten bekannt. Bei den gelegentlichen Besichtigungen konnte jeder Beamte Wünsche vortragen und dabei immer auf verständnisvolles Gehör rechnen. Es versteht sich von selbst, daß die Beziehungen zu den Anstaltsleitern, bei Wahrung aller gebotenen Distanz, besonders eng wurden. Denn, wie bereits betont, vertrat Frede das "Konferenzprinzip" , d. h. den Grundsatz von der Notwendigkeit eines intensiven Gedankenaustausches mit den Personen, denen schwierige sachliche Aufgaben gestellt und ungewöhnliche Verpflichtungen auferlegt wurden. Erst nach gemeinsamer Erwägung aller denkbaren Möglichkeiten erfolgten bindende Anordnungen. Frede kannte die Bedeutung und den Wert solcher Methode einer Wechselwirkung, wobei gewährtes Vertrauen, neben echter sachlicher Klärung, in der Regel erhöhte Bereitschaft zu Dienstleistungen auslöste. In der Rückschau wird diese Periode des Strafvollzugs in Thüringen unter der Aufsichtsführung von Frede auch deshalb so besonders bemerkenswert, weil in diesen zehn Jahren in dem kleinen Lande sich neun Minister, aus den verschiedensten Parteien kommend, ablösten. Fast alljährlich wurden damit die Zielsetzungen und die Methoden der Gefangenenbehandlung schonungslos zur Erörterung gestellt. Die Verantwortlichen in den Strafanstalten konnten entscheidend dazu beitragen, daß die Prüfungsaktionen der neun Minister positiv verliefen. Die mit dem erfahrenen zuständigen Sachbearbeiter Frede von den neuen Ministern vorgenommenen Anstaltsbesichtigungen endeten jedesmal in der Abschlußbesprechung mit der Feststellung: "Ich bitte, in der bisherigen Weise weiterzuarbeiten." Damit war die Zustimmung ge-
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
geben, die vollzugspolitischen Fern- und Nahziele auch künftig anzustreben und nach den bewährten Methoden in der Vollzugspraxis weiter zu wirken. Die Kontinuität der Verantwortlichen trug wesentlich mit zu dem Erfolg der gemeinsamen Bemühungen bei. Mit einer gewissen Genugtuung konnte Frede im Jahre 1930 feststellen: Der dem Reichstag vorliegende Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes "sieht eine Regelung des Strafvollzugs von Reichswegen vor, wie er seit 1922 in Thüringen gestaltet worden ist. Formulierungen grundlegender Bestimmungen, die der Entwurf nach den Erfahrungen und Erkenntnissen der Praxis gewählt hat, hat Thüringen bei der unterm 24. September 1929 erlassenen Neufassung der Dienst- und Vollzugsordnung (L 11) schon aufgenommen. Die besondere Bedeutung und - wie ich hoffe - der besondere Fortschritt des neuen Reglements liegt vor allem darin, daß es - unter überzeugungsvoller Beibehaltung des Stufenprinzips als des äußeren Rahmens für die ganze Erziehungsarbeit - die individuelle, auf gewissenhafter Persönlichkeitsforschung sich aufbauende Erziehung betont, die als reine Erziehungsmittel anzusehenden Maßnahmen von den rein stufenweise gestaffelten bloßen ,Vergünstigungen' mehr sondert und die dynamischen Erziehungsmittel, insbesondere die so wichtige Selbstverwaltung der dritten Stufe weiter ausbaut. Bemerkenswert ist auch noch, daß das neue Reglement erhöhte rechtliche Garantien im Hausstrafenverfahren durch Regelung des Verfahrens vor dem in der Praxis bewährten Anstaltsgericht schafft" (L 16 S.5). IV
Es war selbstverständlich, daß das Wirken dieses Mannes nicht nur in Thüringen und im Reich, sondern darüber hinaus Beachtung fand. Seine Mitwirkung an den Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923, seine geradezu beschwörende Darstellung "Der Stufenstrafvollzug in Thüringen" vor den Referenten des Reichs und der Länder am 20./21. November 1924 in Würzburg (L 3) machten Frede zunächst in den deutschen Fachkreisen bekannt. Die mit auf seine Anregung 1925 gegründete Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvoll.,. zugs, die Reformer aus ganz Deutschland erfaßte, bildete das geeignete Forum für die Erörterung von Fachfragen aller Art. Die Themen umfaßten alle Fachgebiete: Gefangenenbehandlung und Beamtenfragen, Strafanstaltsneubauten und Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Stellungnahmen zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes. Der Lehrauftrag für Gefängniskunde an der Universität Jena, den Frede von 1926 bis 1933 wahrnehmen konnte, forderte die wissenschaftliche Durchdringung des gesamten Aufgabenbereiches.Eine Reihe von Veröffentlichungen legen davon Zeugnis ab (L 18, L 19, L20). Im
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Jahre 1929 wurde Frede in den Vorstand der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung gewählt (s. E. Schmidt, Franz von Liszt, ZfStrVo 1965 [14] 127 - 134). Im Jahre 1930 folgte er einer Einladung zu einem Vortrag über die "Reform des Gefängniswesens in Thüringen" auf dem International Congress On Mental Hygiene in Washington (L 12). Der Unterstützung von Frede ist schließlich auch der Ausbau der Entlassenenfürsorge im Rahmen der thüringischen Gefängnisgesellschaft zu danken. Diese positive Würdigung der Bestrebungen durch die Fachwelt und auch eines Teils der Öffentlichkeit wandelte sich 1933 schlagartig in negative Entehrungen. Darauf wurde bereits bei dem Erwähnen der Lebensdaten hingewiesen. Sie trafen den feinempfindenden Menschen zutiefst. Um so erstaunlicher bleibt die· innere Beziehung zu der gewählten Arbeit der Gefängnisreform, die Frede ja nur 10 Jahre lang, aber während dieser Zeit mit allem Einsatz und aller Freudigkeit leistete. Wieder legt die Liste der Veröffentlichungen Zeugnis ab von den Gegenständen, die den von der Praxis nunmehr völlig Ausgeschlossenen beschäftigten. Es ist wichtig festzuhalten, daß sich in seinen Veröffentlichungen aus dieser Lebensperiode nicht eine Spur von Verbitterung niederschlägt. Die lebenslange Beschäftigung mit dem Thema "Goethe" mag mit zu solch souveräner Haltung beigetragen haben (L 26). In den letzten Zeilen des kurz vor seinem Tode erschienenen Essays "Goethe der Sammler" läßt Frede die Worte des Lynkeus-Türmers noch einmal aufklingen: "Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehen, es sei, wie es wolle, es war doch so schön." Frede fährt dann fort: "Für den Augenmenschen Goethe endet die Gnade des Schauenkönnens aber nicht mit der sichtbaren Welt. Nach dem ,Höheren' strebt der letzte Flug zu einem ,Höchsten' hinaus: ,Bis im Anschauen ewger Liebe, wir verschweben, wir verschwinden'" (L 32 S.68). Darin klingt auch der Gedanke an, der in dem am. Anfang erwähnten Worte bereits seinen Ausdruck fand: Themis Wird herzhafte Schwester der Caritas.
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I. Teil: Pioniere des Gefängniswesens
Liste der Veröffentlichungen von Lothar Frede (Auswahl) 1. Dienst- und Vollzugsordnung für die thüringischen Landesstrafanstalten vom 24. Mai 1924. 2. Der Strafvollzug in Thüringen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1925 (46) 233 - 248. 3. Der Stufenstrafvollzug in Thüringen, in: Der Strafvollzug in Stufen, Hamburgische Schriften zum modernen Strafvollzug Nr.3, 1926, 36 - 53. 4. Baupläne für eine moderne Strafanstalt, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie, 1926 (17) 10 - 17. 5. Gefängnisrecht. Handwörterbuch der Rechtswissenschaften, Bd. II, Berlin u. Leipzig, W. de Gruyter & Co., 1926, 613 - 630. 6. Der Strafvollzug als Gegenstand staatlicher. Verwaltung, in: Reform des Strafvollzuges. Kritische Beiträge zu dem Amtlichen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes unter Mitwirkung (v. a.) von Lothar Frede und Max Grünhut, Berlin u. Leipzig, W. de Gruyter & Co., 1927, 31- 54. 7. Der Strafvollzug in Stufen, in: Reform des Strafvollzuges (s. L.6) 102 bi!l 1~6. 8. Geistige und seelische Hebung der Gefangenen, in: Deutsches Gefängniswesen, hrsg. von Erwin Bumke, Berlin, Fr. Vahlen, 1928, 294 - 309. 9. Todesstrafe und Sicherungsverwahrung, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1928 (19) 738 - 741. 10. Strafrechtspftege in Thüringen. Sammlung landesrechtlicher Bestimmungen, hrsg. u. erl., Weimar, Panses, 1928. 11. Dienst- und Vollzugsordnung für die thüringischen Landesstrafanstalten vom 24. Mai in der Fassung vom 24. September 1929. 12. The educational system in the penal institutions of Thuringia, in: Mental Hygiene, Vol. XIV, 1930, 610 - 627. 13. Anfang eines internationalen Gefängnisrechts, in: Recht und Leben, Vossische Zeitung vom 19. VI. 1930. 14. Weimarer Gefängnisverhältnisse zur Zeit Goethes, in: Thüringen, Monatsschrift, 1930 (6) 154 - 158. 15. Die Reform des Strafvollzuges in Thüringen, in: Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht 1930, 1 - 42. 16. Gefängnisse in Thüringen. Berichte über die Reform des Strafvollzuges. Von thüringischen Strafanstaltsdirektoren und Fürsorgern, hrsg. von Lothar Frede, Weimar, Panse, 1930. Zur Einführung, 1 - 8. 17. Besuch in nordamerikanischen Gefängnissen. I. u. II. Philadelphia, III. Sing-Sing, in: Weimarisches Sonntagsblatt der Thüringischen Landeszeitung Deutschland, 1931 (26) Nr. 8, 9 u. 10. 18. Die Beschlüsse der Internationalen Gefängniskongresse 1872 - 1930, hrsg. von Lothar Frede u. Rudolf Sieverts, Jena, Frommansche Buchhandlung, 1932 (Schriften der Thüringischen GefängnisgesellSchaft, Heft 1). 19. Gefängnisgeschichte, in: Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. von Alexander Elster u. Heinrich Lingemann, Berlin u. Leipzig, W. de Gruyter & Co., Bd. I. 537 - 552.
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20. Beiträge zur Geschichte des Gefängnisbaues. 1. Das Turmgefängnis zu Saalfeld. 2. Der Schachtelbau in Lüneburg, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie, 1937 (28) 406 - 412. 21. Gefängnisrecht. Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VIII, Berlin u. Leipzig, W. de Gruyter & Co., 1937, 210 - 213. 22. Heinrich Balthasar Wagnitz. Ein deutscher Gefängnisreformer. Zur Erinnerung an seinen 100. Todestag am 28. Februar 1938, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie, 1938 (29) 129 - 133. 23. Ein neu aufgefundener zeitgenössischer Bericht über den bayrischen Gefängnisreformer Georg Michael (von) Obermaier und seine Strafanstalt in Kaiserslautern, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie, 1939 (30) 38 - 45. 24. Zur Frage des Anfangs eines resozialisierenden Strafvollzuges, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie, 1942 (33) 191 - 195. 25. Gefängniswesen. I. Rechtlich. 1. Strafanstalten, 2. Vollzug, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Bd. II., 1958, 1246 - 1248. 26. Das klassische Weimar in Medaillen, hrsg. von der Direktion der staatlichen Kunstsammlungen in Weimar, Leipzig u. Wiesbaden, Insel 1959 (Weimarer Beiträge zur Kunst, Bd.2). 27. Vademecum Latinum für Juristen und andere Humanisten. Rechtswörter, Begriffe, Sentenzen, zusammengestellt u. erläutert, Stuttgart, W. Kohlhammer, 1959. 28. Kindesmord und Kirchenbuße bei Goethe, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1966 (78) 420 - 431. 29. Die GmbH. als Betriebsform der Arbeit in der Strafanstalt. Dargestellt an dem Beispiel der Thüringischen Gesellschaft für Werkarbeit. Ergänzung, in: ZfStrVo 1967 (16) 24/25. 30. Das Gefängnis bei Goethe. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1967 (79) 817 - 821. Erneut abgedruckt und mit einigen über das Thema hinausreichenden Zusätzen versehen in ZfStrVo 1968 (17) 319 - 325. 31. Die Tod~strafe bei Goethe, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1968 (80) 385 - 388. 32. Goethe der Sammler. Ein Essay, Köln u. Berlin, G. Grote, 1969. 33. Winckelmanns Tod, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1969 (81) 329 - 344.
Zweiter Teil
Grundfragen des Strafvollzugs und seiner geschichtlichen Entwicklung
A. Beiträge aus der Zeit von 1928 bis 1930 1. Der Erziehungsheamte in der Strafanstalt* (Erfahrungen aus der Arbeit in der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld bei Meiningen und dem Thüringischen Landesjugendgefängnis Eisenach von 1923 - 1933)
Die Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 halten an einer Trennung der Funktionen einer Erziehungsarbeit fest und kennen Lehrer, Seelsorger und Fürsorger. Auch der amtliche Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes schlägt eine ähnliche Regelung vor und will die einheitliche Erziehungsarbeit drei Sonderbeamtengruppen übertragen. Thüringen ist eins der wenigen Länder, in denen die besondere Aufgabe der Erziehungsarbeit in der Strafanstalt, neben der Mitwirkung aller in der Strafanstalt tätigen Beamten, einem Erziehungsbeamten übertragen ist. "Den Fürsorgern liegt das gesamte Gebiet der Gefangenenfürsorge, die weltliche Seelsorge sowie der Unterricht ... ob", sagt der § 14 der Dienst- und Vollzugsordnung für die Thüringischen Landesstrafanstalten vom 24. Mai 1924. Gefangenenfürsorge, Unterricht und weltliche Seelsorge sind in einer Hand vereinigt, dabei wird betont: "damit fruchtbare, erziehlich wirksame Arbeit an den Gefangenen geleistet werden kann, muß ein einheitlicher erzieherischer Geist alle Beamten '" beherrschen" (Thür. DuVO. § 17). Aus diesen Bestimmungen geht hervor, daß erkannt ist, die Aufgabe der Erziehung kann nur geleistet werden, wenn der gesamte Strafvollzug in einer erziehlichen Atmosphäre sich auswirkt, und die Sonderaufgabe von einem Beamten verantwortlich geleistet wird.
In der Praxis wirken sich diese Erkenntnisse in den Thür. Landesstrafanstalten seit Herbst 1922 aus, indem mit Einführung eines Progressivsystems pädagogische Fachbeamte als "Erzieher" zur Mitwirkung im Strafvollzug herangezogen werden. Ihr Aufgabenkreis hatte sich bis zur Einführung der Dienst- und Vollzugsordnung vom Mai 1924 so herausgebildet, wie er im oben zitierten Paragraphen formuliert werden konnte. Damals wurde die Dienstbezeichnung "Erzieher" • Erschienen in: Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft 1928
(49) 65 - 83.
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
umgewandelt in "Fürsorger", heute aber scheint die erste Bezeichnung für die Arbeit des Erziehungsbeamten charakteristischer. Wie die Indienststellung von diesen Erziehungsbeamten erweist, machte die pädagogische Bewegung der letzten Jahre nicht vor den Strafanstalten Halt und erhob unter Betonung der Aufgabe des Strafvollzugs: Die Erziehung des Gesellschaftsuntüchtigen zum Gesellschaftstüchtigen, Forderungen, wie sie ähnlich bereits früher von Strafvollzugspraktikern und Theoretikern erhoben wurden. Aber das Problem Erziehung ist. durchaus nicht geklärt. Nicht zu bestreiten ist zwar die Tatsache, daß ein Freimachen von Kräften im Zögling eine wesentliche Aufgabe der Erziehung, wenn auch gleichzeitig erst ihre Voraussetzung ist1• Erst die bewußte Einwirkung auf diese Kräfte und ihre gewollte Gestaltung bleiben Absicht der Erziehung im allgemeinen und auch der Erziehung im Strafvollzug. Ist das Freiwerden positiver Kräfte Voraussetzung einer Erziehungsarbeit, so ist damit schon die gesamte Schwierigkeit einer Erziehung unter dem Zwange des Strafvollzuges berührt. Gelingt es diese Voraussetzung einmal zu schaffen, dann bleibt die Durchführung der Erziehungsabsicht in der Strafanstalt immer noch durch die Schwierigkeiten, die der Freiheitsentzug mit sich bringt, gehindert. Aus der anscheinend unversöhnlichen Gegensätzlichkeit von Zwang (verstärkt durch den Entzug der körperlichen Bewegungsmöglichkeit in der Strafanstalt) und Freiheit (als Zeichen dieser Möglichkeit außerhalb der Strafanstalt, ideell und materiell) führt allein die Erkenntnis: "Der Gegenpol von Zwang ist nicht Freiheit sondern Verbundenheit". Denn: "Zwang in der Erziehung, d. i. das Nichtverbundensein, das ist Geducktheit und Aufgelehntheit; Verbundenheit in der Erziehung, d. i. 4~geschlossen- lUld Einbezogensein; Freiheit in der Erziehung, d. i. Verbundenwerdenkönnen!. " Ist so die allgemeine und spezielle Situation der Erziehung letzten Endes innerhalb wie außerhalb der Strafanstalt nur eine einzige, so ist auch die Lage des Erziehers einheitlich in ihrer Aufgabe, und einzig die Komplikation eines verstärkten "Nichtverbundenseins" charakterisiert die Sonderstellung der Erziehungsarbeit in der Strafanstalt. Hinzu kommt als weiterer erschwerender Faktor die Tatsache, daß in der Regel an den Gefangenen sich bereits eine, wenn auch verfehlte Erziehung auswirkte. Aus diesem Grunde wird eine "Umerziehung, d. i. eine Heilerziehung" zu vollbringen seina• Diese Heilpädagogik hat Martin Buber, Rede Buber, a.a.O. S.22. a KarlLandauer. Das 1 2
über das Erzieherische, Berlin 1926, S. 21.
Strafvollzugsgesetz, in Almanach für das Jahr 1928, Internationaler Psychoanalytischer Verlag Wien, S.202.
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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dann weder "Anpassung an das wirtschaftliche Leben" allein, oder "soziale Eingliederung" allein zum Ziel, sondern ihr Ziel ist die Förderung der Verbundenheit'. Als weitere schwere Hemmung einer Erziehungsarbeit in der Strafanstalt ist folgende Tatsache zu berücksichtigen. Liegt der Sinn der Strafe in dem Wiedereinordnen in die Gesellschaft, in dem Gewinnen einer inneren Bindung aus Moralität und nicht nur aus Legalität, denn erst dann ist es Erziehung, so ist die Ursache der Strafe, das aus der Bindung gelöst sein, das Gesondertsein oder wie oben genannt "die Unfähigkeit in Freiheit d. i. in Verbundenheit leben zu können". Hierbei ist nicht die Frage nach der Ursächlichkeit der Sonderung berührt. Diese Frage nach der Ursächlichkeit der Sonderung ist für den Erzieher die entscheidenste, denn sie ist letzten Endes die Voraussetzung für das Verbundenwerdenkönnen. Diese Feststellungen aber sind ohne jede Wertung vorzunehmen, und hierher gehört die Frage der Schwererziehbaren. Gibt es so letztlich nur eine Erziehung als Lösen der Sonderung und Knüpfen der Verbundenheit, so entsteht eine ständige Wechselwirkung zwischen der Erziehung als absolutem Faktor, dem Erzieher und dem Zögling. Diese Wechselwirkung kann nur individuell und einmalig sein, wenn auch das Ziel ständig das Gleiche bleibt. Der Zögling stellt die Aufgabe und die Erziehung hat sie durch den Erzieher zu lösen. Diese Bedeutung ist grundsätzlich unumstritten, wenn auch in den seltensten Fällen zutiefst erkannt in dem neuen wahrhaft tragischen Konflikt, den der Erzieher mit wenigen anderen Berufsgruppen gemeinsam hat, diese Aufgabe als Amt auf sich nehmen zu müssen! Das ist der Unterschied zu den "Aucherziehern ", der nicht scharf genug, freilich ohne jede Wertung zu betonen ist. Kann wirklich in einem Erziehungsstrafrecht (Erziehung-Straf-Recht) jeder "Richter, Staatsanwalt, Helfer und Arzt" an seiner Stelle praktischer Pädagoge sein5 ? Nur dann, wenn jeder Vertreter der genannten Berufsgruppen sich denobenerwähnten Gedanken der Erziehung als Aufhebung der Sonderung auch als Beamter unterordnet! Damit vollzieht der Aucherzieher eine Rückkehr zum Ausgangspunkt des Nurerziehers, zu den Zeiten, "wo es keine spezüische Berufung des Erziehers gab und die Zöglinge im Zusammenleben mit dem Meister (Erzieher) lernten ohne es zu merken, das Leben in Freiheit"•. 4 Hans Ellferth, Zur Lage in der Heilerziehung, in "Die Erziehung", Jahrgang 2 (1927) S.557. 6 Max Griinhut, Der gegenwärtige Stand der Jugendgerichtsbewegung, in "Die Erziehung", Jahrgang 3 (1928) S.127. • Buber a.a.O. S. 18/19.
17 Freiheitsentzug
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die Folgerungen aus diesen überlegungen müssen zu der Erkenntnis führen, es besteht die Notwendigkeit, daß Nurerzieher mit bestimmter Absichtlichkeit in die Strafanstalten hineingehen und zu wirken versuchen. Das Vorhandensein dieser dem Strafvollzug als selbständige Beamtenkategorie neben den Sicherheits-, Werk- und Verwaltungsbeamten bis dahin fremden Gruppe (Pfarrer - Lehrer - Arzt arbeiteten neben und nur selten miteinander) hat nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Geisteswissenschaften ihre theoretische Notwendigkeit und Begründung gefunden. Wenn bei aller Problematik des Strafvollzugs das positive Ziel, das Wiederaufrichten, das Wiedereinbeziehen des Menschen ist, so liegt "die sittliche Entwickelung zu einem großen Teile darin, daß eine selbständige Funktion, in dem sie sich als solche erkennt, auch von einem eigenen Vertreter übernommen wird, der für sie einsteht"7. Dieser Zeitpunkt scheint für den Strafvollzug gekommen zu sein, wie die Einstellung der Erziehungsbeamten erweist. Sie schaffen in der Strafanstalt wie in jeder Art von Schule, Erziehungs- oder Lehrstätte, die erziehliche Atmosphäre in der bei "Freiheit" "Verbundenheit" wächst und ein "pädagogischer Bezug" möglich wird. Die praktische Folgerung aus diesen kurz skizzierten Leitgedanken wird bisher in den seltensten Fällen in den deutschen Strafanstalten zu ziehen versucht, wenn auch das Wort "Erziehungsstrafvollzug" üblich ist. Die Konsequenz dieser Ausführungen bedeutet beim gegenwärtigen Stand des deutschen Gefängniswesens trotz vielversprechender Ansätze in verschiedenen Strafanstalten mehr wie eine "Reform des Strafvollzuges", eine Neuschaffung der gesamten Grundlagen des Strafrechts. Leider zeigt auch der amtliche Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes (1927) nicht, daß eine konsequente Leitlinie vorliegt, sondern immer wieder dominiert der Gedanke des Vergeltens, des "Verstärkens der Sonderung" und nicht der durch Hilfe aus dieser Sonderung herauszuführen. Es ist unbestreitbar, daß längere Einzelhaft, körperliche Strafen und Arrest, Maßnahmen sind, die nur eine Seite des Menschen treffen, in der Regel fördern sie nicht die erziehlichen Ziele, wenn auch vielleicht organisatorische (Disziplin) zeitweise damit erreicht werden können. Soll also mit dem Gedanken der Erziehung als Wiederherstellung einer Verbundenheit während des Strafvollzuges Ernst gemacht werden, so gehören Sondererziehungsbeamte zu den bereits vorhandenen Spezialbeamten in die Strafanstalten. Die Aufgabengebiete dieser Er7 HeTmann Noht, Sinn der Strafe, in "Jugendwohlfahrt", Leipzig 1927, S.95/ 96 und ähnlich MOTitz Liepmann, Die Problematik des progressiven Strafvollzuges in "Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform", Beiheft I, Festgabe zum 60. Geburtstage von Gustav Aschaffenburg, Heidelberg 1926, S. 59.
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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ziehungsbeamten in der Strafanstalt sind dann: Gefangenenfürsorge, Unterricht und weltliche Seelsorge. Das gesamte Gebiet der Gefangenenfürsorge erfaßt den Gefangenen in allen Stadien des Strafvollzugs und unter den verschiedenen Bedingungen, wie sie Arbeits-, Frei- und Ruhezeit im Rahmen der Anstalt geben. Darüber hinaus berührt sie seine Bindungen zur Außenwelt. Ihr Ziel ist nicht nur Vermittelung materieller Güter, sie muß die Schaffung materieller Bedingungen zu einer pädagogischen Einwirkung wollen. Es geht daraus bereits weiter hervor, daß Gefangenenfürsorge nicht isoliert gesehen werden kann, sondern in vielfältiger Weise mit dem Gesamtproblem der Wiedereinbeziehung, der Erziehung verknüpft ist. Die Fürsorge im obigen Zusammenhange neben Unterricht und weltlicher Seelsorge befaßt sich demnach wie jede erziehliche Einwirkung von Mensch zu Mensch mit dem ganzen Menschen, insbesondere aber in seiner wirtschaftlichen Verknüpfung über ihn hinaus8 • Diese Fürsorge wird auch die materiellen Voraussetzungen einer ideellen Einwirkung, die körperliche Gesundheit festzustellen, und während des Strafvollzuges ev. die Gesundung zu fördern haben. In diesem Sinne gehören der Arzt und die fachlich vorgebildeten Pfleger notwendig zu den Erziehungsbeamten9 • Unmittelbar nach Einlieferung in die Strafanstalt beginnt die Fürsorge. Bei der Aufnahme des Neuankommenden zeigt sich wiederum ihre Verbundenheit mit der gesamten pädagogischen Funktion. Bei den zu treffenden Feststellungen über alles Persönliche des Zuganges ist es ihre Teilaufgabe zu erkunden, welche materiellen Bedingungen vorhanden, und ob etwa Forderungen oder Verpflichtungen bestehen bzw. einzulösen sind. Ihre Aufgabe ist es, in Zusammenarbeit mit den Fürsorgeinstitutionen außerhalb der Anstalt, die Störungen, die das Ausscheiden aus dem Familienverband und der Eintritt in die Strafanstalt verursachte, zu erkennen und zu beheben, sowohl hinsichtlich der Verbundenen (Familie), als auch des Verbindenden, als wirtschaftenden Menschen. 8 Max Grünhut, Fortschritte und Hemmungen in der Gefängnisreform, in "Die Erziehung" 2. Jahrgang (1927) S. 290 ff. Margarete Sommer, Die Fürsorge im Strafrecht, Berlin 1925, S. 9, verallgemeinert und setzt den sekundären Gesichtspunkt "Fürsorge" über, bzw. statt Erziehung. Max Grünhut, Art. "Gefangenenfürsorge" in Handwörterbuch der Staatswissenschaften 1926 S. 677 ff. A. Starke, Gefangenen- und Entlassungsfürsorge in "Reform des Strafvollzuges", herausgegeben von Frede und Grünhut, Berlin 1927, S. 203 ff., sieht in Fürsorge im wesentlichen Entlassenenfürsorge, die bereits im Gefängnis seelische Bindungen zwischen dem zu Entlassenden und einer ihm vertrauten Persönlichkeit zu knüpfen hat, besonders S. 204, 209. 11 Schilderung eines Arztes in Karl Hau: Lebenslänglich, Berlin 1925, S. 28 bis 31. Beatrice Kent, Geschulte Krankenpflege in Gefängnissen in "Unterm Lazaruskreuz", Blatt der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands, Berlin 1927, Januar, Nr. 1, Jahrgang XXII.
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die Bedeutung der sorgfältigen Erforschung dieser Bindungen, die mit größerer oder geringerer Wucht zerrissen sind, sie aufrecht zu erhalten, sie neu zu knüpfen oder vorsichtig ganz zu lösen, das erscheint vielleicht weniger wichtig für den Augenblick - obwohl diese Art der Fürsorge die Psyche des Gefangenen und sein Verhalten in der Anstalt wesentlich bestimmt und Voraussetzungen einer möglichen Erziehung schafft - als für die Vorbereitung der Entlassung des eben Eingelieferten unbestreitbar notwendig. Eine weitere Aufgabe, die unmittelbar nach der Einlieferung sich erhebt, ist die ärztliche Untersuchung. Ein Zusammenarbeiten des Erziehers mit dem Psychiater und prakt. Arzte ist, wie bereits betont, unbedingtes Erfordernis, denn von allem Anfang an muß festgestellt werden, welche Kräfte in dem neuen Zöglinge liegen. Eine Entscheidung auf Grund dieser Untersuchung zu fällen, ob es ihm gelingen wird die Verbundenheit zurückzuerlangen oder in Sonderung zu beharren ("erziehbar oder unerziehbar", "verbesserlich oder unverbesserlich") ist selbst nach noch so eingehender Beobachtung zum Beginn des Strafvollzugs in der Regel nicht möglich1o• Es muß ferner berücksichtigt werden, daß bereits vor der Verurteilung eine Scheidung der zu Verurteilenden vorgenommen wurde. Erst nach Ablauf der, durch das bestimmte Strafmaß unpädagogisch gesetzten Grenze, wird man in der Regel daran denken müssen, auf Grund der Beobachtung, der Führung während des Strafvollzugs, ein Gutachten über das wahrscheinliche Verhalten außerhalb der Anstalt abzugeben. Auch hierbei werden die engen Beziehungen der Fürsorge mit dem Unterricht und der weltlichen Seelsorge als Teilgebiete der Erziehungsmaßnahmen ersichtlich. Die Gefangenenfürsorge setzt sich während des Aufenthaltes in der Strafanstalt ständig fort, regelt z. B. die Beziehungen der Unterhaltsverpflichteten zu ihren Angehörigen, zu den Behörden und hat ebenso, wie die freie Wohlfahrtspflege in ihrem Bereich, für all die Dinge zu sorgen, die als ein individuelles, materielles Minimum zum Aufbau einer ideellen Existenz angesehen werden müssen. Besondere Bedeutung gewinnt diese Art der Fürsorge bei der Vorbereitung der Entlassung und der Entlassung selbst. Die Verbindung zu den Arbeitsämtern, zu den staatlichen bzw. privaten Stellen der Gefangenenfürsorge außerhalb der Strafanstalt muß dabei hergestellt werden. Nur intensivstes Kennenlernen der materiellen Bedingtheit des Rechtsbrechers, der "Fürsorge" bedarf, läßt Erfolg erhoffen. Nicht gelegentlich und nebenbei geleistete Arbeit darf getan werden, sondern 10 Zu erwähnen sind hier die kriminalbiologischen Untersuchungen von Viernstein in Straubing.
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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systematische Pflichterfüllung für den hauptamtlichen Fürsorger innerhalb wie außerhalb der Anstalt, ist Voraussetzung eines Erfolges. Beide Instanzen, die naturgemäß am geeignetsten staatlich sind, aber die ehrenamtliche, private Mitarbeit einbeziehen und zu schätzen wissen, müssen Hand in Hand arbeiten. Der Fürsorger in der Strafanstalt bereitet das Arbeitsgebiet für den Fürsorger außerhalb der Strafanstalt vor, nachdem bereits von der Einlieferung ab ständige Fühlungnahme zwischen beiden Organen bestehen muß. Der Unterricht als weiteres Aufgabengebiet des Erziehungsbeamten in der Strafanstalt, ist in verschiedenen Bestandteilen dem Unterricht außerhalb der Anstalt fremd, wenn er auch in starkem Maße Wesen und Ziele der Erwachsenenbildung in sich trägt. Grundsätzlich sei darauf hingewiesen, daß allgemein ein Konflikt zwischen Unterricht und Gesamterziehung besteht, der nur gelöst werden kann, wenn das Ziel des Unterrichts, Erziehung des Menschen und nicht allein objektive Leistung ist und die Form ebenfalls vom Erziehungszwecke bestimmt wird11 • Die Bedeutung des Mitgehens der Schüler im Unterricht besteht gleicherweise innerhalb wie außerhalb der Strafanstalt, denn das Interesse des Schülers am Stoff entscheidet die Intensität seiner Teilnahme und diese beeinflußt seine Leistung. Die rein pädagogische Folge "der Kraftbewährung" und damit verbundenen Erweiterung und Entwickelung des eigenen Ich kommt hinzu1%. Auch die Form der Darbietung wirkt entscheidend. Diese Aufgabe mit dem Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe, kennzeichnet wieder wie auch in der Fürsorge den Dreiklang: Fürsorge, Unterricht, Seelsorge, unter dem Gesichtspunkt der Erziehung als Herstellen einer Verbundenheit. Für die Bewältigung der Aufgabe, Unterricht in der Strafanstalt zu erteilen, ist die Kenntnis des Intellekts und die Kenntnis der soziologischen Bedingtheit des Schülers außerhalb der Anstalt notwendig. Besonders wichtig wird die Berücksichtigung der Arbeit als Broterwerb sein müssen. Die Methodik des Unterrichts in der Strafanstalt hat sich aber vielleicht noch stärker als die Schulpädagogik nach den Schülern zu richten. Es entscheiden hier nicht nur die verschiedenen geistigen Fähigkeiten wie Intellekt und Lebenswissen, sondern weiter rein äußere Gesichtspunkte, wie Strafdauer und Verschiedenartigkeit der Vor11 Georg Simmel, Das grundsätzliche Verhältnis zwischen Erziehung und Unterricht in "Schulpädagogik", Osterwieck-Harz 1922, S.15, 32 H. 12 Simmet, a.a.O. S.17.
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
kenntnisse. Die Aufnahme hat bereits die Einzelheiten zu beobachten und die Praxis hat sie dann zu berücksichtigen. Es ist selbstverständlich, daß die Unterrichtseinteilung sich nach der intellektuellen Begabung richtet, wenn auch hier der Erziehungszweck letztlich bestimmt und eine Zuteilung zu einer anderen Gruppe aus allgemein-pädagogischen Rücksichten erfolgen kann. Schwer zu überwinden sind die Gegensätze der Vorbildung, die, wenn auch in der Regel einheitlich proletarisch, so doch z. B. durch den Gegensatz von Stadt und Land gekennzeichnet sind. Das nicht zu überwindende Hindernis ist die zeitlich bestimmte Verurteilung, die selten einen Unterrichtsstoff mit einer durch mehrere Stunden hindurch gleichbleibenden Schülergruppe erledigen läßt. In der Regel stören Neueinlieferungen und Entlassungen jegliche Kontinuität und lassen die Unterrichtsstunden in der Strafanstalt kaum vergleichen mit der Unterrichtsstunde in der Schule, die gerade die Notwendigkeit der Kontinuität betont. Trotzdem bleibt der Unterricht ein Erfordernis. Neben naturwissenschaftlichen Fragen bewegen geisteswissenschaftliche Probleme die Schüler der Strafanstalt und die Anforderung an die Lehrkraft sind vielfältig und hoch. Hierbei wächst methodisch die Klasse unter Umständen über sich hinaus zur Arbeitsgemeinschaft und ist geistig verbunden mit dem großen pädagogischen Strom der Erwachsenenbildung, der auch das Leben in der Strafanstalt berühren sollte. Waren die Teilaufgaben in Fürsorge und Unterricht teilweise bereits vor der beabsichtigten Durchführung der Resozialisierung durch Erziehung erkannt und zu lösen versucht, so fehlte ihnen doch der übergeordnete Gesichtspunkt, unter dem Fürsorge oder Unterricht gegeben wurde. Auch die geistliche Seelsorge hat nicht von sich aus diese Synthese im Sinne einer Erziehung als Verbundenheit zustande gebracht, wenn auch ein Wichern dies beispielsweise versuchte. Die Aufgabe der "weltlichen Seelsorge" ist für die Strafanstalten neu, wenn auch schon seit längerer Zeit allgemein als Lehre begründet18 und z. B. in den Fürsorgeerziehungsanstalten durchzuführen versucht14 • Es wird hier nicht als Aufgabe angesehen, den Gegensatz zwischen weltlicher und kirchlicher Seelsorge zu behandeln, sondern es soll versucht werden, das Grundsätzliche der Seelsorge herauszustellen. Es wird von theologischer Seite betont: "Wir unterscheiden also an jeglicher Seelsorge die beiden grundlegenden und wesentlichen Seiten: Wilhelm Börner, Weltliche Seelsorge, Leipzig 1912. P. Backhausen, Lebensgemeinschaft als Grundlage der Anstaltserziehung, Blätter für innere Mission in Bayern 38 (1923) 27 ff. (Heft 7/8), Walter Herrmann, Probleme der Fürsorgeerziehung, in: Die Erziehung Jahrgang 1 (1926) S. 268 ff. und Jahrgang 2 (1927) S. 171 ff. Erich Weniger, Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung, in: Die Erziehung, 2. Jahrgang (1927) S.I71 ff. 13
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1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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Die pneumatisch-transzendente ("vorwiegend geistliche") und die psychologisch-irdische Seite15• Bei der weltlichen Seelsorge wird vorzugsweise die psychologische Seite betont und die geistliche Seite dem Zögling als stets neues Problem beim Erzieher und sich selbst aufgezeigt, ohne es aber durch den Erzieher lösen zu wollen. Diese Lösung bleibt den kirchlichen Seelsorgern überlassen, deren Berufung es ist, diese Seite der Verbundenheit im Zögling zu erziehen. Zweifellos bedarf das Sein des Menschen, durch das die Persönlichkeit wächst, einer Pflege und Förderung. Dieses ist das Ziel der Seelsorge. Aus diesem inneren Vermögen heraus, das vor allem durch den einzelnen Menschen bestimmt wird, entscheidet sich sein Tun und Lassen. Die Gegensätzlichkeit in den Lebensäußerungen dieses Seins sind es gewesen, die dem Zögling außerhalb der Anstalt Schwierigkeiten bereiteten. "Dieweltliche Seelsorge hat den Zweck, die vielen Gegensatzfragen untereinander, sowie die Gegensätze selbst, planmäßig zu harmonisieren" und "dem seelischen Prinzip im Menschen zur Herrschaft zu verhelfen"16. Bei diesem theoretisch erkannten Ziele ist es wichtig nach Anhaltspunkten im Leben des Gefangenen zu suchen und festzustellen, ob in der Strafanstalt weltliche Seelsorge zu treiben ist. Die Voraussetzung einer tieferen seelsorgerischen Einwirkung als sie durch Gewähren materieller Fürsorge und Unterrichtsstundenerteilung zur Hebung der Intellekts gegeben werden kann, ist die hier entscheidende innere Gleichstellung des Seelsorgers mit dem Rechtsbrecher. Dabei ist aber nicht daran gedacht, daß hieraus eine schwächliche Haltung und ein übersehen tatsächlich vorhandener Schäden folgen sollte, sondern allein eine verstärkte innere Bereitschaft für den anderen kann dann erst möglich werden. Eine genaue Kenntnis des "Nächsten", seiner Eigenarten und Verhaltensweisen gehört deshalb weiter dazu, eine tiefere Erkenntnis, wie sie bereits weiter oben für die Fürsorge und auch den Unterricht als notwendig bezeichnet wurde. Gerade die Aufnahme, verbunden mit der ständigen späteren Beobachtung während des Aufenthalts in der Strafanstalt, hat die Gesetzmäßigkeit der vorangegangenen Sonderung aus der der Gefangene heraus zum Rechtsbrecher wurde, so sorgsam wie möglich zu ergründen. Erst wenn der Zögling spürt, daß er zutiefst erkannt wurde, spürt er auch, ob Hilfsbereitschaft in dem Erzieher lebt oder ob andere Motive wie z. B. persönliche Interessen des Beobachters, Anlaß von Erörterungen und Besprechungen gaben und weitergeben. Drei gleichwertige Stadien sind es, die durchlaufen werden müssen, um dieser notwendig zu erkennenden Gesetzmäßigkeit der Sonderung, 15 WalteT GTuehn, Seelsorge im Licht der gegenwärtigen Psychologie, in: Schriftenreihe: "Arzt und Seelsorge", Heft 7, Schwerin 1926, S.15. 18 BÖTneT a.a.O. S. 22.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
eine Gesetzmäßigkeit der Bindung aufzeigen zu können. Ohne Überwinden des Mißtrauens, das trennend zwischen dem Erzieher und dem Rechtsbrecher - wie auch allen übrigen Beamten gegenüber - besteht, ist kein Verstehen möglich. Nur ein ganz persönliches Eingehen auf alle persönlichen Nöte bahnt Vertrauen an. Aber auch das Kennen der Massenstimmung, die eine positive aber auch eine negative Erziehungsatmosphäre schaffen kann, ist notwendig. Erst wenn Vertrauen gewonnen ist, schwindet Haß aus Bosheit, Ablehnung aus Entmutigung, Geringschätzung und Gleichgültigkeit aus seelischer Gebrochenheit, und der Zögling gewinnt Selbstvertrauen. Es gilt dann weiter das Vertrauen zu bewahren. Wenn auch im allgemeinen dem Erziehungsbeamten in der Strafanstalt Vertrauen vielleicht leichter als den anderen Beamten geschenkt wird, es bleibt immer ein nicht erzwingbares Geschenk, so steht er doch auch unter stärkerer und ständigerer Kritik. Kein geistiges und körperliches Müdesein oder Müdewerden darf den in diesem Frontdienst Stehenden ankommen. Zuletzt aber sollen, und das ist die letzte Bindung und das dritte Stadium, die Gefangenen teilhaben an der Not des Erziehers um sie selbst, besonders um einzelne unter ihnen. Wie wichtig kann dabei das Wecken von Verständnis für den einzelnen Mitgefangenen für den vertrauenswerten Gefangenen selbst werden und damit Verständnis für die eigenen echten Nöte anbahnen und Möglichkeiten einer überpersönlichen Aufgabe sogar in der Strafanstalt zeigen. Die besondere Form, in der sich Vertrauen im Rahmen der Strafanstalt von den Beamten zu den Gefangenen und den Gefangenen zu den Beamten zeigen kann, ist die Selbstverwaltung. Sie hat nach erfolgter pädagogischer Einwirkung den Versuch zu machen, die erhoffte, erworbene Bindung zu prüfen. Nur nach längerer sorgfältiger Sichtung kann dieser Gruppe ihr Wirken ermöglicht werden, ihr Leben in der Freizeit selbst zu gestalten. Thr geistiger Führer ist der durch Vertrauen mit ihr verbundene Erzieher. Unter diesen inneren Voraussetzungen, die sich zusammenfassen lassen im Begriffe, Vertrauengeben und Vertrauennehmen (gleich in welcher Form) und unter den vorangehenden äußeren Voraussetzungen sinnvoller Einrichtungen während der Arbeits- und der Ruhezeit kann weltliche Seelsorge unter dem Gesichtspunkt der Erziehung als Hilfe zur Verbundenheit zu gelangen, wirksam werden. Äußerungen dieser Erziehungsarbeit, der weltlichen Seelsorge, sind vor allem in verständnisvoller Würdigung der Gemütsbewegungen des Gefangenen und besonders desjenigen, der Familie hat, ersichtlich. Nicht nur in Förderung des Briefverkehrs oder in fürsorgerischer Unterstützung, sondern durch innere Anteilnahme und Bindung ist da
1. Der Erziehungsbeamte in der strafanstalt
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vom weltlichen Seelsorger aus mitzuarbeiten und aufzurichten, gelegentlich auch zu trennen und zurückzuweisen. Gerade diese feinsten und persönlichsten Empfindungen bleiben entscheidend für das Verhalten in der Anstalt und in der Gesellschaft. So ist es denn selbstverständlich, daß der Erzieher versucht, im Rahmen seiner Tätigkeit und Mittel, die Familien der Inhaftierten· kennenzulernen und auch die öffentliche Fürsorge unter Umständen auf entstehende Mängel z. B. in der Kindererziehung durch Abwesenheit des Vaters, hinzuweisen. Seine Anwesenheit bei den Besuchen der Angehörigen in der Anstalt, nicht als Sicherheitsbeamter, sondern als Berater und Helfer, wird dann weniger als Zwang und Beeinträchtigung eines Gedankenaustauschs empfunden. Wie weit dann in der Anstalt bereits dieser pädagogische Bezug im Zeichen innerer Freiheit gehen kann, zeigen beispielsweise die Spaziergänge der Angehörigen der III. Stufe "unter Führung des Direktors und der Fürsorger, ohne Bedeckung durch bewaffnete Aufsichtsbeamte außerhalb der Anstalt" (Thür. DuVO. § 109 Abs. 3). Der Spaziergang ist dabei nicht. nur eine äußere schematische Angelegenheit, denn sonst würde er mißlingen, sondern im Rahmen der Strafanstalt eine Manifestierung des wiedergefundenen Vertrauens in sich selbst und der gezeigten Bereitwilligkeit zur Bekundung einer Verbundenheit. Es bleibt zuletzt die Frage, was wird mit denen, die sich nicht an den Erzieher anschließen, die ihn ablehnen, nicht weil sie allein ihren Weg fänden, auch das ist in Betracht zu ziehen, sondern mit denen, die sich außerhalb der gesamten Tendenz stellen? Bei Hausstrafen soll grundsätzlich der Gedanke richtunggebend sein, durch diese Maßnahme sowohl den Einzelnen als auch die Gesamtheit zu fördern. Freilich wird am ehesten gefördert durch Verhüten derartiger Schwierigkeiten, aber wenn kein Verhüten möglich, so soll der weltliche Seelsorger nicht unbeteiligt außerhalb stehen. Er hat mitzuberaten beim Anstaltsgericht, wenn er vielleicht auch zweckmäßigerweise nicht mit stimmberechtigt ist. Sein Gutachten muß bei dies.er Verhandlung wie auch bei der Entlassung ebenso gewertet werden, wie das des Arztes und es sollte in der Regel in Zusammenarbeit beider entstehen. In diesem Zusammenhang, der aufzuzeigen versucht, wie während des Freiheitsentzuges die Erziehungsabsicht durchgeführt werden kann, muß ein System berührt werden, das z. T. mit äußeren Mitteln und nach äußeren Gesichtspunkten versucht, das gleiche Problem zu lösen und eine Sonderung der Masse der Gefangenen in kleinere Gruppen zur Einzelbehandlung erstrebt. Die Wirkung des Progressiv- oder Stufensystems ist nur in Verbindung mit Anstellung geeigneter Kräfte zur Erziehungsarbeit innerhalb der Gruppen oder Stufen, nicht nur in disziplinärer, sondern dann auch in erziehlicher Hinsicht sinnvoll.
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Bei der Einlieferung wird der Gefangene in der Regel der 1. Stufe zugeteilt. Hier findet die sorgsame Beobachtung statt, wie sie bereits die geschilderten, zu treffenden Maßnahmen der Fürsorge, des Unterrichts und der weltlichen Seelsorge notwendig machen. Ist nach Ablauf einer im Verhältnis zur Gesamtstrafzeit festgelegten Frist ein teilweises Bild gewonnen, und sind nicht besondere Schwierigkeiten bei dem Einzelnen eingetreten, so rückt der Gefangene nach der 11. Stufe auf. Diese Normalstufe soll sinngemäß prozentual die größte Zahl der Inhaftierten vereinigen und ihnen im Rahmen des Zwanges sinnvolle Betätigungsmöglichkeiten für die Freizeit geben. In dieser Behandlungsstufe wird mit all den bezeichneten Mitteln der Gefangenenfürsorge, dem Unterricht und der weltlichen Seelsorge systematische Einwirkung versucht. Gerade hierbei muß das Prinzip: Streben nach Legalität, bereichert werden durch das Prinzip: Streben nach Erneuerung der Gesinnung. Nur bei den Gefangenen, bei denen wirklich eine eigene Tätigkeit geweckt oder gefördert ist und bei denen der Erziehungsbeamte glaubt, eine günstige Diagnose stellen zu können, wird an eine Bewährung dieser Gesamthaltung bereits in der Strafanstalt durch Aufstufung nach der IH. Stufe gedacht17• Die IH. Stufe, mit der Sonderaufgabe Bewährungsstufe zu sein, muß besondere Einrichtungen haben, die Bewährung zu ermöglichen. Die bereits weiter oben skizzierte Selbstverwaltung mit allen Belastungen und Belohnungen gibt dieser Möglichkeit den Rahmen. Es wird demnach den Angehörigen dieser Stufe ein Vertrauen entgegengebracht, das bisher nicht mißbraucht wurde. Von hier aus wird eine vorzeitige Entlassung vorgeschlagen oder befürwortet werden können, während von den anderen Stufen in der Regel nur Entlassungen nach Strafablauf eintreten. Gerade hier werden sich aber auch alle inneren Schwierigkeiten eines Strafvollzugs, der sich dem Erziehungsgedanken unterordnen möchte, besonders deutlich zeigen. Die Strafzeit in der Strafanstalt ist besonders hierAufgabe und Vorbereitung für die Zukunft. Sind alle genannten Voraussetzungen erfüllt, so ist berechtigte Hoffnung gegeben, daß der Entlassene nicht nur der Forderung entspricht, nicht schlechter aus der Anstalt zu kommen wie er hineinkam, sondern durch innere Bindung den Angehörigen zur Freude und der Mitwelt zum Gewinn zu werden. Die Erreichung dieses Ziels ist neben den oben geschilderten Voraussetzungen abhängig von der zeitlichen Mög17 "Diese ,innere Einkehr' festzustellen, wird nicht leicht, oft außerordentlich schwer sein. Deshalb ist es nötig, daß psychologisch und pädagogisch gut ausgebildete Beamte - bei uns sind es die Fürsorger - in genügender Zahl zur Verfügung stehen und sich fortgesetzt um die Gefangenen bekümmern." Lothar Frede, Der Strafvollzug in Stufen in Thüringen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 46 (1925) S.237.
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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lichkeit einer intensiven Einwirkung. Nur längere Freiheitsstrafen können im geschilderten Sinne der Erziehung dienen. Neben dem Verhältnis des Erziehungsbeamten zu dem Inhaftierten, ist seine Stellung im Rahmen der gesamten Beamtenschaft und sein Verhältnis zu ihr, von größter Wichtigkeit für das Gelingen seiner Sonderaufgaben. Charakterbildung und Willensstärkung an den Gefangenen, das ist nicht nur das Ziel der Fürsorger (Thür. DuVO. § 98) sondern jedes Beamten, der, ganz gleich in welcher Eigenschaft, in der Strafanstalt wirkt. Trotz des Wissens von allen Schwierigkeiten der Zusammenarbeit, muß diese versucht werden und dem speziellen Träger des Erziehungsgedankens wird durch sein Beispiel auf Gefangene und Mitbeamte eine große Verantwortung gegeben. Die Aufgabe an der Ausbildung der Aufsichtsbeamten in besonderen Unterrichtsstunden für diese Beamten mitzuarbeiten, bringt neue Möglichkeiten der Übermittelung grundsätzlicher Einstellung, und Austausch von Meinungen in wissenschaftlicher Form, neben freier Aussprache über Zweck und Sinn der gemeinsamen Aufgabe. Die Unterrichtsstunden bedeuten eine Bereicherung für den Erziehungsbeamten. Hierbei muß beachtet werden, daß der Gefangene ständig unter der Aufsicht des Sicherheitsbeamten steht, denn der Gefangenentag vollzieht sich zu je einem Drittel in Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit. Während der Arbeitszeit fällt dem Werkbeamten und während der Freizeit dem Erziehungsbeamten die Sorge um den Gefangenen zu. Die Einstellung des Gefangenen zu der ihm aufgetragenen Arbeit, die Betonung der Notwendigkeit geregelter sinnvoller Arbeitsmöglichkeit als Grundlage aller Einwirkung, und der Hinweis auf die wichtige Stellung des Werkbeamten, muß entscheidend auf den Erziehungsbeamten in seinem Verhältnis zum Werkbeamten wirken. Die Berührung des Erziehungsbeamten mit dem Verwaltungsbeamten bringt für den Strafvollzug keine besondere Stellungnahme, sondern setzt nur voraus, daß neben der allgemeinen sachlich ernsten Berufsauffassung bei der gelegentlichen Beziehung zu Gefangenen, die gleiche Grundhaltung erziehungsfördernd wirkt. Am wenigsten eindeutig sind die Beziehungen des Erziehers zu den speziellen Erziehungsbeamten, zum Fürsorger, Lehrer, Arzt und Geistlichen. Eine Zusammenarbeit während des Gesamtstrafvollzugs versteht sich von selbst. Nach dem amtlichen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes werden nach dem sächsischen Vorbild Fürsorger mit der wirtschaftlichen Fürsorge besonders nach der Entlassung der Gefangenen betraut (§§ 33 und 242). Der Lehrer in außerthüringischen Anstalten hat seine wesent-
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
lichste Aufgabe im Unterricht als Wissensübermittler, während in den thüringischen Landesstrafanstalten die Einheit der Beeinflussung notwendig erachtet wird. Eine sinnvolle Zusammenarbeit mit dem Anstaltsarzt bleibt nach den vorhergegangenen Ausführungen eine selbstverständliche Folgerung. Grundsätzliche Schwierigkeiten können und haben sich aus dieser Vereinigung zweier Gebiete, Wissensübermittlung und Fürsorge im Zusammenhang mit weltlicher Seelsorge nicht ergeben, vielmehr halten die derzeitigen Fürsorger, die bei ihnen getroffene Regelung für außerordentlich günstig. Die Stellung des Erziehers zum Geistlichen ist nicht restlos geklärt. Wenn, dann ist hier eine formale Bestimmung notwendig, die versucht, beide Gebiete abzugrenzen, die sich freilich aber auch bewußt ist, daß das Gebiet der Seelsorge ein Ganzes ist. Die Grenze läßt sich vielleicht so finden "Gottesdienst und religiöse Seelsorge in der Anstalt sind Angelegenheiten der Religionsgesellschaften" (Thür. DuVO. § 16), wobei statt "religiöser Seelsorge", "kirchliche Seelsorge" gesetzt werden müßte. Diese Bestimmung gibt den Anstaltsgeistlichen volle Betätigungsmöglichkeit im Sinn ihrer konfessionellen Interessen. Die Stellung des Geistlichen außerhalb der Anstalt in der Freiheit der bürgerlichen Welt, ist der in einer Anstalt, die das Ziel hat, den Gefangenen für diese Zeit in der Freiheit vorzubereiten, ähnlich. Unter Berücksichtigung der durch die Strafanstalt bedingten Verhältnisse, ist die Verkündigung der Lehre der betreffenden Religionsgesellschaften den gleichen Bedingungen inner- wie außerhalb der Anstalt unterworfen. Die Beziehungen der Erzieher werden zu den Strafanstaltsgeistlichen aller Bekenntnisse sehr eng sein müssen, da ja das Ziel der Erziehung gemeinsam ist, wenn auch die Mittel teilweise verschieden bleiben. Es ist selbstverständlich, daß der Erziehungsbeamte wie alle übrigen Beamten der Anstalt dem Leiter der Strafanstalt untersteht und mit diesem das pädagogische Gewissen bilden soll. Was die Anforderungen an den Erziehungsbeamten in der Strafanstalt anlangen, so ist zu unterscheiden zwischen den charakterlichen Eigenschaften und seinen Kenntnissen. Ist eine Beschreibung seiner charakterlichen Eigenschaften auch nicht möglich, so sei doch betont, der Erzieher darf nicht in. einen Fanatismus und unter seine Aufgabe kommen, wenn er auch wissen muß, daß es seine Aufgabe ist, da zu sein und durch sein Dasein das Gewissen zu vertretenl8 • Bezüglich der Vorbildung der Fürsorger in den Strafanstalten, die bereits jetzt im Amte sind, wenn auch wie schon betont, eine von dem thür. Fürsorger "Erzieher" verschiedene Tätigkeit ausüben, ließ sich feststellen, daß sie verschiedenartig ist. In einzelnen Ländern sind 18
Walter Hoffmann,
Die Reifezeit, Leipzig 1926, S.297.
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grundsätzlich nur Akademiker zugelassen (z. B. Sachsen), in anderen Ländern sind neben akademisch gebildeten Lehrern, Sozialpädagogen und Theologen auch Volks- und Berufsschullehrer als Fürsorger im Amte (z. B. Thüringen und Hamburg). Eine Entscheidung, welche Vorbildung die geeignetste ist, wird nicht leicht zu fällen sein, aber es läßt sich der Stoff, den ein Fürsorger in den Grundzügen beherrschen muß, wohl bezeichnen19 • Das Wichtigste bleibt, daß der Erzieher "gebildet" ist, aber nicht nur weiß, wo er das findet, was er nicht weiß (Simmel), sondern, daß er Herzensbildung besitzt. Das Gesamtbild des Fürsorgers muß sich so darstellen, daß er, neben der aktiven Arbeitskraft und Freudigkeit in ihrer Auswirkung, die passive Fähigkeit hat, Menschen auf sich wirken zu lassen und diese Synthese seiner Aufgabe zu finden. Gleichzeitig muß er sittliche und geistige Kraftquellen kennen und auswerten, die ihm die ungeheure Schwere seiner Aufgaben überhaupt zu tragen ermöglichen. Wenn heute noch der Erziehungsbeamte als Träger des Erziehungsgedankens in der Strafanstalt und als Zwischenglied zwischen der Fürsorge vor der Urteilsfällung (Gerichtshilfe) und dem Aufenthalt im Gerichtsgefängnis, sowie der Zeit nach der Entlassung auch nicht überall einen festumrissenen Aufgabenkreis sich geschaffen hat, so steht doch fest, daß er Funktionen ausübt, die keines der bisher im Strafvollzug vorhandenen Organe ausübte. Seine Eigenart muß anerkannt werden und er muß von sich aus die weiteren Voraussetzungen zu seiner Arbeit fordern. Diese Voraussetzungen werden nicht in einer veränderten Einstellung der Gefangenen oder dem Gefangenen gegenüber liegen, sondern vielmehr in der grundsätzlichen Einstellung gegenüber den Behörden. Es muß immer wieder betont werden, daß die praktische Konsequenz des Erziehungsgedankens im Strafvollzug erfordert, an Stelle äußerer Anpassung an die soziale Ordnung, das höhere Ziel sittlicher Erneuerung zu setzen20• Diese Arbeit kann nur von Fachbeamten geleistet werden. In den thür. Landesstrafanstalten sind dementsprechend bei einem Gefangenenbestand von ungefähr 800 Personen, 8 staatliche Fürsorger, "Erzieher", als Erziehungsbeamte angestellt. Eine Vertretung dieser mit der Sonderaufgabe der Erziehung im Strafvollzug betrauten Beamten den obersten Landesbehörden gegenüber, haben bereits Hamburg und Sachsen geschaffen. In Hamburg ist es der Leiter der Abteilung für soziale Angelegenheiten der Hamburgischen Strafanstalten und in Sachsen der Staatsbeauftragte für die Strafentlassenenpflege. In Thüringen kommen die Fürsorger zur Bera11 A. Starke, Akademisch gebildete Gefängnisfürsorger, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, XIX. Jahrgang (1927) S.24. 20 Walter Hoffmann, a.a.O. S.290.
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tung ihrer Aufgaben in Arbeitsgemeinschaften zusammen. Wird, wie aus dem Strafvollzugsgesetz hervorgeht, der Fürsorger (hier nicht Erzieher) gesetzlich gefordert und sollen bereits in Preußen an jedem Landgericht und in den Strafanstalten Fürsorger eingestellt werden!1, so ist bei jedem Strafvollzugsamt bzw. den, den Strafanstalten übergeordneten Justizbehörden ein pädagogisches Referat zu schaffen. Dieser Referent hätte dann freilich alle pädagogischen Angelegenheiten im Strafvollzug der übergeordneten Behörde gegenüber zu vertreten (Fürsorge, Unterricht, weltliche Seelsorge). Er würde gleichberechtigt neben den Referenten für die technischen Angelegenheiten, neben den für die polizeilichen Maßnahmen, neben den für die juristischen und allgemeinen Verwaltungsfragen und neben den für das Gesundheitswesen Verantwortlichen stehen. Unter anderen Aufgaben wäre es seine besondere Pflicht, die Beziehungen zu den wissenschaftlichen Instituten seines Landes aufzunehmen und intensiv zu gestalten. Weiterhin gehörte in seinen Aufgabenkreis die Anlage einer Sammelstelle, die Auskunft über die kriminellen Persönlichkeiten eines Landes bzw. des Bereichs eines Strafvollzugsamts geben könnte. Die Notwendigkeit der Betonung einer solchen Forderung zeigt der amtliche Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, der die bedeutsame Frage der Anstaltsbeamten in 6 kurzen Paragraphen behandelt. Der Erziehungsbeamte im Strafvollzug, der die Bezeichnung "Erzieher" erhalten sollte, wird, wenn er seine Aufgabe ernst auffaßt, stets vor diese letzten Fragen eines Strafvollzuges, dem Sinn der gerichtlichen Strafe überhaupt gestellt. Er kann unter den schweren Bedingungen trotz aller Enttäuschungen nur aushalten und wirken, wenn er weiß, entsprechend dem Willen des Gesetzgebers und der Öffentlichkeit ist der Sinn des Strafvollzugs "Erziehung". Diese Erziehung wird nicht nur als Erziehung zum gesetzmäßigen Leben verstanden, denn das ist Dressur, sondern im Sinne wahrer geistiger Bildung und seelischer Bindung beim Helfen zur Schaffung materieller Voraussetzungen zum Leben in der "Freiheit". Die Dienst- und Vollzugsordnung für die thür. Landesstrafanstalten vom 24. Mai 1924 regelt zurzeit die Aufgaben der Fürsorger wie folgt: A.
Allgemeiner Aufgabenkreis
1. Arbeitsgebiet der Fürsorger .................... Thür. DuVO. § 14
2. Arbeitsziel in der Freizeit ......................"
§ 98
21 Max GTÜnhut, Fortschritte und Hemmungen in der Gefängnisreform, in "Die Erziehung", 2. Jahrgang (1927), S.290, Anm.3.
1. Der Erziehungsbeamte in der Strafanstalt
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B. B e s 0 n der e Auf gab e n 1. Bei Einlieferung: Unterbringung von
mitgebrachten Kindern ....................... . Thür. DuVO. § 33, 1 Kennenlernen des Zugangs, Aufnahme ....... . § 34, 1, 2, 3 Angabe von Erziehungsrichtlinien, Mitteilung an Wohlfahrtsamt und Gefängnisgesellschaft .... § 32, 5
2. Während des Strafvollzugs: Ständige Fühlungnahme mit Gefangenen (Erkennen von Perioden) a) Gefangenenfürsorge: Rat bei Schriftverkehr b) Unterricht: Analphabeten ................. . Bücherausgabe ............................. . Zeitungen .................................. . Musik, Turnen, Geschmacksbildung ......... . Vorträge ................................... . c) Weltliche Seelsorge: Bindung an Familie ... . Anwesenheit bei Besuch ................... . Briefkontrolle .............................. . Spaziergang ............................... . Selbstverwaltung ........................... . (Hausstrafen, Anstaltsgericht) 3. Bei Entlassung: Gutachten (Schutzaufs,icht? Verwahrung?) ................................ . Vorbereitung der Entlassung .................. . (Unterrichtsvermittlung) 4. Betr. aller Beamten: Unterricht der Aufsichtsbeamten ............................. . Teilnahme an der Beamtenbesprechung ....... . Teilnahme am Anstaltsrat ..................... .
" "
"
§ 48,1,2 § 122 § 122,3 § 102 § 103 § 60 § 105 § 107 § 116,2 § 121,2 § 109,3 § 112 § 164, 198 § 164
§ 23, 2 § 25, 2 § 28
5. Aus der Praxis hat sich eine Wirkung über die Anstalt hinaus ergeben: a) durch jeden entlassenen Gefangenen, b) durch jede Beziehung (Briefwechsel bei Einlieferung, während des Aufenthaltes und bei der Entlassung) mit den Angehörigen, c) durch jeden innerlich erfaßten Beamten, d) durch jede Beziehung (Briefwechsel bei Einlieferung, während des Aufenthaltes und bei der Entlassung) mit Organen der öffentlichen und privaten Fürsorge, e) durch öffentliches Wirken im Sinne der Aufgaben, f) durch Vorträge, wissenschaftliche Abhandlungen.
2. Die Selbstverwaltung Gefangener in der Strafanstalt· Nach Einführung des Progressivsystems in der Thür. Landesstrafanstalt Untermaßfeld bei Meiningen im Oktober 1922 bildete sich innerhalb der obersten (IH.) Führungsstufe das Bestreben, das Zusammensein in der Gemeinschaftshaft während der Freizeit selbst zu regeln. Nachdem im Sommer und Herbst 1923 die Freizeit in teilweiser Selbstverwaltung zugebracht worden war, wurde im Winter 1923 die Verfassung zur Selbstverwaltung der IH. Stufe - aufgestellt von dieser sich selbstverwaltenden Gruppe Gefangener in der Strafanstalt - von der Anstaltsleitung bestätigt. Die Probleme, die sich aus dem Bestehen dieser Gruppe mit dieser Verfassung ergeben, berühren nicht nur das geistige, sondern auch das materielle Moment im Gefängnis und im Zusammenleben mit anderen. Die Freiwilligkeit im Bekunden einer positiven Gesinnung als Gemeinschaft wirkt auf die Gesamtheit der Inhaftierten anregend. Sie knüpft bei der Einwirkung auf die Arbeit eine Genossenschaft, klärt aber auch gleichzeitig bewußt die Stellung der Selbstverwaltungsgruppe im Rahmen der Gesellschaft der übrigen Gefangenen. Das Erfassen dieser dreifachen Problemstellung zeigt den Ansatz eines künftigen Bestrebens zum Sichbewähren im geistigen Rahmen einer Gemeinschaft, im wirtschaftlichen Rahmen einer Genossenschaft und im rechtlichen Rahmen der Gesellschaft. -Die bewußte, tätige Förderung des Rechtsbrechers während des Strafvollzugs in diesen Gedanken ist Erziehung, und dies der Sinn des Strafvollzugs unserer Zeit. Die Verfassung selbst lautet in ihrem wesentlichen Inhalt zusammengefaßt im ersten Punkte: "Die gewährten Erleichterungen verpflichten". Im zweiten Punkte: "Der selbstgewählte Obmann ist Verbindungsglied zur Anstaltsleitung und hat die Ordnung in der Selbstverwaltungsgruppe aufrecht zu erhalten". Sie betont im dritten Punkt: "Zur Unterstützung des Obmanns wird aus den Reihen der Selbstverwaltungsgruppe ein Ausschuß gewählt". Die weiteren Punkte bis 9 regeln die Wahl des Obmannes und des Ausschusses (Punkt 4), die Form der Aufnahme (Punkt 5), die Art der Mitbeteiligung bei der Aufstufung (punkt 6), die besonderen Aufgaben • Erschienen in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechts-
reform 1928 (19) 152 - 164.
2. Die Selbstverwaltung Gefangener in der Strafanstalt
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und das Zusammenarbeiten von Obmann und Ausschuß (punkt 7), das Zusammenwirken aller Angehörigen der Selbstverwaltungsgruppe bei der Wochenversammlung, dem Unterricht und dem Spaziergang (Punkt 8), sowie die Maßnahmen bei Widersetzlichkeit gegen die gemeinsam gegebenen Anordnungen (Punkt 9). Der Punkt 10 der Verfassung ist besonders wichtig, weil er, über den damaligen Stand der Dinge hinaus, den Willen zur Mitarbeit am Gesamtstrafvollzug in der Strafanstalt dartut. Das Bestreben einer solchen Selbstverwaltungsgruppe hat verschiedene Voraussetzungen, die in den Menschen und Einrichtungen begründet sind. Die Voraussetzung zur Förderung der Bestrebung war die grundsätzliche Genehmigung des Thüringischen Justizministeriums, alle ernsthaften Ansätze der Selbsterziehung der Gefangenen zu fördern. Ohne dieses weitgehende Verständnis wäre es für die verantwortlichen Beamten besonders in den ersten beiden Jahren des Bestehens dieser Gruppe nur schwer möglich gewesen, zu wirken. Nächst diesell' geistigen Bereitschaft war es die tatkräftige Unterstützung von Aufsichts- und Werkbeamten, eine Unterstützung, die ernstlich vorhanden sein mußte, um den Gefangenen Vorbild sein zu können. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen der gefaßten Absichten war, die Träger der Idee der Selbstverwaltung unter den Angehörigen der III. Stufe zu finden und dabei zu halten. Entschlossene Persönlichkeiten mußten von außen her der oft sich wandelnden Gruppe ihren Rat und Anregungen geben und im vollsten Einvernehmen von den Gefangenen als Berater geachtet sein. Die Wahrung der Stetigkeit in der Entwicklung bei dem vorkommenden Wechsel in der Selbstverwaltungsgruppe - durch Entlassung bei Strafablauf oder Begnadigung oder auch Zurückversetzung in niedere Stufen - und die besonders enge Verbindung zur Anstaltsleitung waren die Aufgaben dieser Persönlichkeiten. Was die behördliche und beamtliche Unterstützung anlangt, so kann nur betont werden, wie stark und ernst sie vorhanden war, trotz vielfacher Gegenarbeit. Das überwinden des im Gefangenen wirkenden Mißtrauens gegen jeden Nichtgefangenen in der Anstalt verlangte Beweise von Opferwilligkeit und Bereitschaft. Bei unbedingter Anerkennung der eigenen Fehler und des Unberechtigtseins jeder negativen Kritik wußten die Gefangenen auf Grund ihrer längeren und gemeinsamen Beobachtung sehr genau, wie die Beamten, insbesondere die Werk- und Aufsichtsbeamten, sich innerlich zu ihnen stellten. Neben ernstlich zur Hilfe Bereiten gab es passiv Eingestellte und auch Gegner dieser Art der Gefangenenbehandlung. Durch ihr einwandfreies Verhalten als Selbstverwaltungsgruppe gelang es aber den Gefangenen, dazu beizutragen, daß ernstliche Schwierigkeiten vermieden wurden. 18 Freiheitsentzug
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U. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die räumliche Voraussetzung der 111. Stufe, d. h. möglichst vereinigte Unterbringung in einem Gemeinschaftsraum und den entsprechenden Schlaf- und Nebenräumen (Zellen, Schreibzimmer, Waschgelegenheit us~.) erforderte eine bestimmte Anlage der Räume, die in einem Flügel der Anstalt auch gefunden wurden. Da kein Aufenthaltszwang im Gemeinschaftssaal bestand, so mußten die Zellen in der Nähe sein, auch mit aus dem Grunde, um den Einschluß durch die Nachtwache bei verlängertem Aufbleiben der 111. Stufe zu erleichtern. Die Mög...; lichkeit, bis zu einer gewissen Stunde in der Freizeit zwischen Zelle und Aufenthaltssaal wählen zu können, ließ jeder Neigung eine Beweg~gsfreiheit, die größer als in der I. und 11. Stufe war. Selten kam bei ständig geöffneten und somit leicht zugänglichen Zellen Entwendungen von Nahrungsmitteln oder Beschädigungen vor. Der Obmann u~cl die Ausschußmitglieder sowie jedes Mitglied der Selbstverwal.., tungsgruppe sorgte für Ordnung im eigenen und im Interesse der Gesamtheit. Weitere äußere Voraussetzungen der pädagogischen Wirkung war die wohnliche Ausgestaltung des Saales, des Flures sowie der Schlafund Nebenräume. Ganz bewußt sollte hier bei dieser Stufe eine erhöhte Sorgfalt auf Anstrich und Ausstattung, aber ohne jede Verschwendung gegeben werden. Die Bildsamkeit des Geistes wird gerade beim einfachen Menschen wesentlich durch Reinheit der Form beeinflußt, wie überhaupt viel weniger intellektuelle Spekulation als vielmehr Vertrauen das Verhältnis untereinander und zur Anstaltsleitung beherrschte. Die Angehörigen der 111. Stufe hoben sich als Mitglieder der Selbstverwaltungsgruppe in ihren gesamten soziologischen Voraussetzungen und ihrem Verhalten deutlich von den übrigen Gefangenen ab, ohne aber ihrerseits eine Kaste zu bilden. Die geschichtlichen Voraussetzungen für die Tatsache, daß im Laufe eines Jahres (vom Winter 1922 bis zum Winter 1923) aus einer nach unpädagogischen Gesichtspunkten zusammengebrachten Führungsklasse eine Selbstverwaltungsgruppe werden konnte, sind für das Gesamtverständnis des Wachsens dieser Sondergruppe von Gefangenen wichtig. Mit Einführung der drei Stufen, anfänglich Klassen geheißen, wurden alle Gefangenen in die zweite Stufe eingereiht. Neuzugänge und wegen schlechter Führung Bestrafte bildeten nach drei Monaten eine I. Stufe, die wegen längerer straffreier Führung als geeignet erachteten Gefangenen rückten in die 111. Stufe auf. So kam es, daß zahlreiche Gefangene mit verhältnismäßig langen Strafen schon nach kürzerem Aufenthalt in der Strafanstalt mit aufgestuft wurden. Da der Stufenstrafvollzug in der Thür. Landesstrafanstalt Untermaßfeld aus sich heraus ohne Anlehnung an fremde Vorbilder wuchs, mußten Feh-
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ler dieser Art mit in Kauf genommen werden. Die Hochspannung außerhalb der Anstalt in den Sommermonaten 1923 brachte in der Anstalt den Versuch der Meuterei und anschließend daran, die Notwendigkeit und Möglichkeit einer sinnvollen Neueinteilung der Stufen. Mit der Herabsetzung der Zahl der Angehörigen der IH. Stufe sowie der Einweisung in einen Sonderflügei, setzte die Differenzierung innerhalb der drei Stufen und die erhöhte Tätigkeit der Selbstverwaltungsgruppe ein. Neben diesen Vorausetzungen und Aufgaben an die äußeren Einrichtungen, an das Vorhandensein geeigneter Erziehungs-, Aufsichts- und Werkbeamten, stellt die Idee der Selbstverwaltung in der Strafanstalt besondere Anforderungen an die speziellen Träger der Selbstverwaltung, an die Gefangenen der IH. Stufe. Es ist im Rahmen dieses kurzen Berichts nicht möglich, alle Bedingungen der Menschen, die im Laufe der Jahre 1923 -1925 die Selbstverwaltungsgruppe bildeten, zu schildern. Dennoch sollen einige zahlenmäßige Angaben das Bild der genannten Gemeinschaft lebendig machen. Von den ungefähr 300 Gefangenen im Monatsdurchschnitt in den Jahren 1923 -1925 waren etwa 50 in der IH. Stufe, 180 in der 11. Stufe, 60 in der I. Stufe und 10 in der sog. Strafstufe. Was die Gesamtzahl der Angehörigen der IH. Stufe anlangt, so sind seit der Gründung der HI. Stufe im Januar 1923 bis zum Mai 1925 159 Gefangene hindurchgegangen. Im Mai 1925 waren 47 Gefangene Mitglieder der IH. Stufe. Von diesen insgesamt 206 Gefangenen standen sich 113 Gefangene im Alter von 20 bis 34 Jahren und 86 im Alter von 34 bis über 50 Jahren gegenüber. Diese überwiegende Zahl von jüngeren Elementen bestimmte die Intensität der ganzen Lebenshaltung. Ein offensichtlicher Gegensatz zwischen jüngeren und älteren Gefangenen in dieser Gruppe ist aber niemals ernstlich in Erscheinung getreten, vielmehr wurden der Obmann und die Mitglieder des Ausschusses nur nach ihrer erwarteten Leistung gewählt, und alle Altersstufen hatten an dieser Art gemeinsamer Leistung teil. . Was das soziale Herkommen und damit das gesamte kulturelle bzw. zivilisatorische Niveau der Gruppe anlangte und bestimmte, so waren alle durch die Volksschule gegangen bis auf einen, der eine Mittelschule, und einen, der eine höhere Schule besucht hatte. Ganz allgemein ließ sich aber hier und an den übrigen Nichtangehörigen der IH. Stufe die Beobachtung machen, daß ein besseres soziales Herkommen in der Regel einen besonders schwierigen Typ des Rechtsbrechers mit sich brachte. Auch die Angehörigen der IH. Stufe aus "besseren Kreisen" hatten den Sturz aus ihrer relativen Höhe viel entschiedener getan als die übrigen Rechtsbrecher. Eine verhältnismäßig geringe Zahl der Angehörigen der IH. Stufe (26) war unehelich geboren. 18·
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II. Teil: Grundfragen des strafvollzuges
Die erziehliche und berufliche Ausbildung läßt sich nur teilweise aus den folgenden Angaben erkennen: 21 waren in Fürsorge-Erziehungsanstalten untergebracht gewesen. Nur wenige hatten aber das Glück eines geordneten Elternhauses erlebt. Die berufliche Sichtung erwies eine vorwiegend proletarische Zusammensetzung. Gelernte Arbeiter waren: 68, ungelernte Arbeiter: 83, Kaufleute und aus ähnlichen Berufen: 31 und Knechte: 29. Hierbei ist besonders zu beachten, daß fast alle gelernten Arbeiter, die überhaupt in die Strafanstalt kamen, in der raschest möglichen Frist in die III. Stufe aufrückten. Die Berufsausbildung hatte eine Gesamtlebenshaltung erzeugt, die selbst in der Strafanstalt noch deutlich blieb. Ein weiteres wesentliches Merkmal dieser Gruppe war die Tatsache, daß 150 ihrer Angehörigen vorbestraft waren. Wiederum ist auch hier wie bei den gelernten Arbeitern bemerkenswert für den Gesamtcharakter der in Frage kommenden Strafanstalt in den Jahren 1923 bis 1925, daß die restlichen 56 Angehörigen der III. Stufe fast die einzigen Nichtvorbestraften aus der Gesamtheit der Inhaftierten in der Strafanstalt waren. Es war das Vorhandensein dieser Selbstverwaltungsgruppe, das die zur Einlieferung gekommenen noch nicht Vorbestraften und die noch beeinflußbaren Vorbestraften in hohem Maße zu einwandfreier Führung anspornte. Die längere Beobachtung und der damit verbundene längere Aufenthalt auf der I. und 11. Stufe mußten beweisen, inwieweit der Aufzustufende seine grundsätzliche Ablehnung gegen die gesellschaftlichen Einrichtungen fallen gelassen hatte. Gerade wertvollere Veranlagungen gingen oft nicht so rasch aus sich heraus und bewahrten ihre Zurückhaltung länger. Bei Erziehungsarbeit im allgemeinen muß die Dauer der Einwirkung des öfteren die Intensität ersetzen. Allein die langfristige Freiheitsstrafe kann, wenn überhaupt als Strafe, erziehlich wirksam werden für die Dauer des Aufenthalts in der Anstalt und darüber hinaus für das Leben in der Freiheit. Unter den oben geschilderten Voraussetzungen, in einer Atmosphäre die nach Betätigung in der Selbsterziehung drängte und sich im Laufe eines Jahres gefestigt und gereinigt hatte, entstanden so auf Grund einzelner rechtlicher Bindungen, wie sie bereits die Hausordnung vorsah, die einzelnen Punkte der Verfassung. Es war von Bedeutung, daß die Gefangenen als Rechtssubjekte geachtet wurden. Aber entscheidend blieb, daß ein großer Teil der Gefangenen und insbesondere die Angehörigen der III. Stufe es stark empfanden, nicht mehr Rechtsobjekte sondern Rechtssubjekte zu sein. Jede behördliche Regelung, die sich nicht nur auf allgemeine Festsetzungen beschränkt, bedeutet ja für den Gefangenen nicht immer
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nur ein Festsetzen zu seinen Gunsten oder Ungunsten, sondern zugleich eine Bindung für die Beamten. Die Aufrückungsfristen im Rahmen des Stufenstrafvollzugs, die Fristenregelung bei Besuch, Briefwechsel und Bücherempfang, je nach Stufenzugehörigkeit, entsprach durchaus einer psychologischen Notwendigkeit, da es galt - und immer wieder gilt - nicht das Gefühl der Willkür bei den Gefangenen wachwerden zu lassen. Gerade für die Gefangenen, die den früheren Strafvollzug kannten, bestand die Überzeugung, daß persönliche Motive der Beamten bei fast allen Entscheidungen im Anstaltsleben insbesondere bei Begnadigungen ausschlaggebend gewesen seien. Nicht verwunderlich, sondern durchaus verständlich und dem Leben in der Freiheit entsprechend war es daher, wenn bei der ersten Gelegenheit auch das Leben der Selbstverwaltungsgruppe selbst in rechtliche Formen gebracht wurde. Das präzise Wissen, wie man sich äußerlich zu verhalten habe, um dieser oder jener Erleichterung teilhaftig zu werden, fand man einesteils im Stufenstrafvollzug. Die Selbstverwaltungsgruppe wollte aber auch im Rahmen selbst eine bestimmte Ordnung, wie sie in der weiter oben erwähnten Verfassung niedergelegt ist, einführen. Nicht zuletzt sah man in der Genehmigung der Verfassung, mit welchem Ernst von seiten der Anstaltsleitung dieser Versuch der Selbsterziehung in der Gemeinschaft während der Freizeit gewürdigt wurde. Diese Selbstverwaltung hatte aber nicht nur das Ziel, den Gefangenen nach der Entlassung aus der Strafanstalt geistig und seelisch gekräftigt sein Leben in Freiheit neu beginnen zu lassen, sondern verband damit die Aufgabe, bereits in der Strafanstalt die vorhandenen Voraussetzungen und das zukünftige Ziel zu einer wertvollen Gegenwartsleistung zu vereinen. Die Auswirkung der Gesinnung der Selbstverwaltung zeigte sich in den täglichen Funktionen und Leistungen dieser Gruppe, ließ sich nachweisen in der rechtlichen Organisation und wird auch ersichtlich in der geistigen Fortentwicklung und in der Arbeit. Jede Arbeitsleistung erwächst, wenn sie erziehlich wertvoll sein soll, aus einer Arbeitsgesinnung. Diese Gesinnung setzt sich zusammen aus der Forderung nach Bereitstellung technisch einwandfreier Produktionsmittel und der inneren Grundstimmung, die sich entsprechend der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse gestalten kann. Gerade im Gefängnis ist solche Stimmung selten. Auch die Schaffung eines Gleichmaßes im Wechsel von Arbeit, Erholung und Ruhe sowie die Befriedigung des Nahrungstriebes und geistig seelischer Anforderungen lassen den Entzug der Freiheit mit a11 den unbefriedigten Bedürfnissen nicht schwächer empfinden. Dieses Nichtbefriedigtsein darf aber im Vollzug der Freiheitsstrafe nicht als absichtliches, sondern nur als ein mit ihr notgedrungen vorhandenes Strafübel angesehen werden.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Neben dem versuchten Ausgleich durch Schaffung des sinnvollen Rhythmus zwischen Arbeit, Freizeit und Ruhe sei auf die Tatsache hingewiesen, daß eine Reihe von Angehörigen dieser IH. Stufe den Aufenthalt in der Anstalt als Pause in ihrem Leben auffaßten und mit dadurch aus ihrer Ablehnung heraustraten. Nicht in allen Fällen gelang es, die weitere Voraussetzung zu erfüllen und den Gedanken der instruktiven Arbeit, der dem einer qualitativ guten Arbeit entspricht, mit dem Gedanken der produktiven Leistung restlos zu verbinden, da nur bei genügender Konsumtion eine sinnvolle Produktion möglich war. An den Schwierigkeiten des Warenabsatzes hat die Gefangenenarbeit schon seit langem gelitten. Gerade die Angehörigen der IH. Stufe waren es, die erkannten, was die Absicht der Anstaltsleitung bei Schaffung moderner Produktions~ mittel und Einführung moderner Produktionsmethoden war. Diese Gefangenen empfanden dabei ihre Arbeit nicht nur als zeitfüllende Beschäftigung, sondern als Mittel zum Anknüpfen innerer Bindungen, die den ganzen Menschen über den Anstaltsaufenthalt hinaus an "seine Arbeit" fesselten und neue Fähigkeiten körperlicher und geistiger Art förderten. Die proletarische Herkunft und die dadurch bedingte klassenkämpferische Einstellung brachte in den Strafanstaltsbetrieben eine langsame aber stetig fortschreitende verstärkte Ablehnung der Unternehmerarbeit. Es trafen hier staatliches Interesse: Inanspruchnahme der vorhandenen Arbeitskräfte zu ihrer Bedürfnisbefriedigung in der Anstalt und das Interesse des Gefangenen zusammen. Trotz des erfolgten Ausschlusses aus der Sozietas zählte sich der Gefangene zum Staate gehörig und arbeitete lieber für den Staat als den Privatunternehmer. Bemerkenswert war die Tatsache, daß zur Zeit der geplanten Meuterei ein Teil der Arbeiter in einem mittleren Staatsbetrieb der Anstalt nicht zu "streiken" beabsichtigte. Gerade in diesem Betrieb, der in der Hauptsache gelernte Arbeiter benötigte und auch fast durchweg mit Angehörigen der IH. Stufe besetzt war, empfand jeder das, was ein Besucher treffend kennzeichnete: "Es ist eine Stimmung in diesem Betriebe, als arbeite jeder in eigener Sache!" Auch die restlichen vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten in den Fabrik-, Haus- und Landwirtschaftsbetrieben förderten aus der Reihe der Gefangenen stets die gelernten Arbeitskräfte, und diese gehörten in der Regel nach der Mindestaufstufungsfrist zu den Anwärtern der Selbstverwaltungsgruppe. Dennoch war diese nicht den ungelernten Arbeitern verschlossen, wie die zahlenmäßigen Angaben weiter oben erweisen. Vielfach trafen Arbeitsleistung und Führung in ihrer Auswirkung zusammen, wenn es auch hie und da, besonders in der Schlosserei am häufigsten, zu Konflikten in dieser Hinsicht kam.
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Wie sehr gerade die Arbeitsleistung unter dem Energieverbrauch für Fluchtpläne leidet, ist verständlich; nur rein menschliche Einwirkung oder aber der Versuch von Zuweisung einer Arbeit, entsprechend der Neigung und Vorbildung konnten versuchen, hier sinngemäß zu kompensieren. Eine andere Tatsache, die wesentlich auf das Verhalten der Gefangenen zur Arbeit einwirkte, war die Art ihrer Beziehung zur Außenwelt. Einmal waren es die Beziehungen zu den Angehörigen und die Sorge um diese und dann die Sorge um die eigene Zukunft nach der Entlassung, die einen mächtigen Antrieb hinsichtlich der Arbeitsleistung bildeten. Ein ständiger Gedankenaustausch zwischen dem zuständigen Werkbeamten ließen in persönlicher Aussprache eine Reihe von Schäden beseitigen. Wie gerade die 111. Stufe hier ihre volle Bedeutung, vergleichbar mit einer Genossenschaft in der Arbeit und mit einer Gemeinschaft in dem Leben in der Freizeit, zeigte und zu besonderer Leistung anregte, ist erkenntlich aus der Tatsache, daß die Angehörigen der 111. Stufe die in Not befindliche Frau eines Mitgefangenen bei dem Besuch ihres Mannes in der Anstalt mit Geldmitteln unterstützten. Ersichtlich ist hier die Folge einer Arbeitsgesinnung als Ansporn zu erhöhter Arbeitsleistung und zur gegenseitigen Hilfe. Es ist im allgemeinen üblich, den "Wert der Arbeit" nach seiner materiellen Entlohnung zu bemessen, und diesem Maß entspricht die gesellschaftliche Klasseneinteilung. In der Anstalt sollte ebenfalls die Leistung, nicht aber sie allein, sondern auch die Arbeitsgesinnung entscheiden. Die Entlohnung selbst wurde nur nach der Leistung gewährt, und es bestand das Bestreben, den Gefangenenlohn dem Lohn des freien Arbeiters anzugleichen nach Abzug der Haftkosten. Es ist bedauerlich, daß der § 83 Abs. 1 in dem dem Reichstag zugegangenen Entwurf eines Strafvol1zugsgesetzes, der jedem Gefangenen, der nach besten Kräften arbeitete, die Haftkosten erließ, nicht mit angenommen wurde. Die Angleichung deS Lohnes des gefangenen Arbeiters an den Lohn des freien Arbeiters war einer der Wünsche der Gefangenen der Irr. Stufe, nach dem sie in Selbstverwaltung lebten und durch ihre Arbeitsleistung die Berechtigung dieser Bitte erwiesen hatten. Das Selbsterarbeitete wurde gerade von den Angehörigen dieser Stufe höher geschätzt als das von. Staatswegen Gegebene. So verband den Familienvater, der monatlich einen Betrag an seine Familie senden konnte, oder den zur Entlassung Kommenden, der sich mit seinem eigenen Geld einkleiden konnte, oder den Lernbegierigen und Bücherfreudigen durch Beschaffung von Unterrichtsmitteln der Lohn der Arbeit mit dieser selbst. Die Verantwortung wuchs mit den so gewonnenen Ergebnissen der Arbeit und förderte weitere Betätigung. Niemand
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
konnte darüber klagen, daß ihm nicht Gelegenheit gegeben sei, sich zu betätigen, und keiner konnte Gesinnungsänderung heucheln, wenn er nicht durch erhöhte und wertvolle Arbeit erwies, daß beispielsweise die Sorge um seine und seiner Angehörigen Zukunft echt war. Niemals wurde aber auch der Gedanke der Arbeit um der Arbeit willen propagiert, sondern vor allem ihr ethischer Wert in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft - neben dem materiellen - betont. Solche Werte lassen sich aber nicht erkenntnismäßig erfassen oder übermitteln. Ein Beweis, daß letzteres gerade wieder von den Mitgliedern der Selbstverwaltungsgruppe erkannt wurde, ist die Tatsache, daß in dieser Gruppe aus eigenem Antrieb der Wunsch kam, elternlosen Kindern während der Freizeit Spielzeuge herzustellen, um damit eine Weihnachtsfreude zu bereiten. Dieser Brauch hatte sich sehr wertvoll gezeigt und dem traurigen Ernst der Weihnacht im Zuchthaus einen neuen frohen Sinn gegeben. Alle Mitarbeitenden wuchsen über sich selbst hinaus und dieser Ausdruck einer Arbeitsgesinnung ist zugleich Ausdruck einer Freude und das Zeichen eines Strebens nach Verbundenheit mit der Gesellschaft. Gegenseitige Hilfe bei der Arbeit, gemeinsame Arbeit für notleidende Angehörige und Anfertigung von Bekleidung und Spielzeug für diese und die Kinder, angestrengter Erwerb von Mitteln zur Unterstützung der Familie, Arbeit für andere Notleidende und Entbehrende und nicht zuletzt gewollte positive Arbeitsleistung für die Gesamtheit im Sinne der Einlösung einer Verpflichtung über sich selbst hinaus, sind die Folgen dieser Selbstentfaltung in der Selbstverwaltung bei der Arbeit gewesen. .nie größte Schwierigkeit, die einer Erziehungsarbeit in einer Strafanstalt entgegensteht, ist neben dem mit dem Freiheitsentzug verbundenen Zwang, die ebenfalls damit verbundene unnatürliche Lebensweise. In der Regel werden nicht nur die physischen, sondern auch die psychischen Lebensbedingungen des Gefangenen in ihrer Gesamtheit gewaltsam geändert und die Freiheitsstrafe bleibt somit der Entzug jeder Art von Freiheit. Dennoch gibt es Möglichkeiten, eine Reihe von Schwierigkeiten zu verringern, sie erfordern freilich von den Einrichtungen, den Beamten und den Gefangenen eine weitgehende Bereitschaft. Nicht nur die unbedingt durchgeführte nächtliche Trennung, die Einführung eines sinnvollen Wechsels von Freizeit, Ruhezeit und Arbeitszeit nach pädagogischen Gesichtspunkten bleibt notwendig, sondern der Gefangene muß auch sehen, daß er Vertrauen genießt.
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Neben der Genehmigung, allmählich alle Abende der Woche und zuletzt die gesamte Freizeit in dem Aufenthaltsraum größtenteils ohne Aufsicht eines Beamten verbringen zu dürfen, wurde ebenso allmählich gestattet, daß die Glieder der Selbstverwaltungsgruppe an Sonntagen ohne bewaffnete Beamte allein in Begleitung des Anstaltsleiters und des Erziehers "Spaziergänge" unternahmen. Es waren dies keinerlei Versuche, da die Begleiter der IH. Stufe wußten, wie weit sie erziehliche Forderungen stellen konnten. So ist denn auch in den ersten beiden Jahren - von denen hier berichtet wird - niemals ein Mißbrauch dieser Spaziergänge vorgekommen, und im Laufe der Jahre seit dem Bestehen dieser Einrichtung nur in einem Falle die Anforderung an einen Angehörigen der IH. Stufe zu groß gewesen, insofern, als er für kurze Zeit vom Spaziergang entweichen konnte. Äußerst wesentlich waren die positiven Ergebnisse dieses Vertrauens. Diese teilweise gewährte Freiheit nahm alle wertvollen Kräfte in Anspruch und ließ die mit dem Spaziergang verbundenen Schwierigkeiten für den einzelnen Gefangenen geringer als den inneren Gewinn er.., scheinen. Immer wieder wurde versichert, daß seit den Spaziergängen "alles nun viel besser sei". Ebenfalls mit unter dem Eindruck der Schwierigkeiten des "normalen" Strafvollzugs wurde der Versuch unternommen, durch Wecken und Inanspruchnahme höherer Interessen die Kräfte aller Inhaftierten und besonders wieder die der Selbstverwaltungsgruppe anzuspannen und zu verbrauchen. Brachte auch die Notwendigkeit der Wahrung des Sicherheitsprinzips mancherlei Schwierigkeiten, so wurde doch der Versuch unternommen und zuerst mit der Ausgestaltung der Freizeit während der Sonntage begonnen. In der Regel wirkte die persönliche Berührung weit stärker als die mittelbare durch Bücher, Bilder und Schrtlten. An Werktagen verbot die Einzelhaft der I. Stufe und die nur kurz dauernde Gemeinschaft der H. Stufe nach der Arbeitszeit eine weitere Ausgestaltung der Freizeit. Zudem war auch für einen einzigen Erziehungsbeamten die Vielfältigkeit der Aufgaben bei aller Unterstützung durch die übrige Beamtenschaft bei durchschnittlich 300 Anstaltsinsassen kaum zu bewältigen. Es verdient hier bemerkt zu werden, daß alle persönlichen Angelegenheiten der Gefangenen jeder Stufe in der Regel nach der durchgehenden Arbeitszeit besprochen und geordnet wurden, also während der Arbeitszeit kein Unterricht und Spaziergang, keine Vorführung usw. stattfanden. Das Anstaltsleben sollte auch in diesem Punkte dem Leben außerhalb der Anstalt möglichst angeglichen sein. Auf der anderen Seite wurde und mußte gefordert werden, daß der verantwortliche
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Beamte über alle Beziehungen der Menschen, mit denen er sich zu befassen hatte, eingehend unterrichtet war und selbstverständlich auch ihre Arbeit mit ihren Leistungen kannte und zu würdigen verstand. Nur der völlig erfaßte Mensch konnte zu einem Menschen Vertrauen fassen und behalten. Wurde so der Erziehungsgedanke in allen Einzelheiten und in allen Stufen betont, so entwickelte sich aber vorzugsweise in der Selbstverwaltungsgruppe eine geistige Haltung, die zeitweise alle Angehörigen dieser Stufe in ihren Bann zog, zu einer Mitarbeit anspornte und über schwierige Situationen hinweghalf. Die materielle Herkunft und die ideelle Einstellung ist, wie weiter oben betont, vorwiegend proletarisch gewesen. Gerade eine erziehliche Arbeit mußte dies besonders berücksichtigen. Die aus allen resultierende geistige Unsicherheit ließ es schwer erscheinen, die Selbstverwaltung durch wache Menschen erhalten und getragen zu wissen. Die anfänglich geschlossene Abwehr sämtlicher Gefangenen konnte nur geistig überwunden werden, wenn auch immer wieder offenbar blieb, daß jedes verständnisvolle Eingehen auf die Bedürfnisse verschiedenster Art Vertrauen erweckte. Eine Neuregelung des Tageslaufs, der Versuch zur Beschaffung geeigneter Winterkleidung, die in Angriff genommene Einrichtung einer fast überall fehlenden Zellenbeleuchtung und Heizung. brachten trotz der teilweisen Erfolglosigkeit in der Durchführung eine verstärkende Erkenntnis: Man sorgt für uns. Wie entscheidend für die Erziehungsarbeit die Beseitigung dieser materiellen Mängel wurde, erhellt ein Wort: "Jetzt, wo man sich nicht mehr mit den äußeren Dingen befassen muß, fällt einem die Strafe doppelt schwer, weil man an innere Fragen kommt." Ein Strafvollzug, der menschenwürdige Voraussetzungen schafft, kann nicht verzärteln und schwächen. Er ist im gewissen Sinne viel härter, er zerstört nicht nur eine "windstille Gefängniszucht", sondern erfaßt die Menschen tiefer und scheidet damit die Gefangenen nach ihrer inneren Einstellung. So wuchs die Selbstkritik, nachdem die Kritik an den Einrichtungen nicht mehr zu Recht bestand. Aber auch hier durfte keine lähmende und zersetzende .Kritik wuchern und Resignation nicht aufkommen, sondern hier mußten alle Maßnahmen erkannt werden, die den Gefangenen förderten und wachsen ließen. Zu den verschiedensten Möglichkeiten einer erziehlichen Beeinflussung gehört der Unterricht. In der Strafanstalt hat er. vor allem die Aufgabe, dem Hörer Gelegenheit zu geben, Vertrauen zu den Unter":' richtenden zu fassen. Bei der in Thüringen besonderen Aufgabenzuteilung an die Erzieher (Fürsorger), wo diesen neben Unterricht die Fürsorge und auch die "weltliche Seelsorge" zugewiesen ist, vereinigen
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diese Erziehungsbeamten alle pädagogischen Funktionen in ihrer Person. Der Unterricht wurde nicht obligatorisch den Angehörigen der verschiedenen Stufen getrennt erteilt, aber die IH. Stufe als Vorbereitungsstufe für die Entlassung war bewußt intensiver dazu herangezogen. Die Themen wurden von den Unterrichtsgruppengewählt, und es war wieder die Selbstverwaltungsgruppe, die hier freiwillig geschlossen den Unterricht durch lebendige Anteilnahme, zur Arbeitsgemeinschaft machte. Neben Kulturgeschichte im engeren Sinne, trat die politische Geschichte und daneben Kunst und Literaturbetrachtung. Es wurde stets Wert darauf gelegt, auf Grund der geographischen Begebenheiten einen Unterbau zu gewinnen und auf diesen Unterbau z. B. bei der Besprechung einer Landschaft durch Einbeziehen ihrer politischen, sozialen und künstlerischen Wandlungen und Geschicke aufzubauen. Die Kenntnis ihres allgemein geistigen Gehalts wurde so aufs möglichste vertieft. Die freiwillige übernahme verschiedener Referate gaben die Grundlagen zu einer Besprechung, die sich in der Regel auf mehrere Abende der Woche verteilte. Gerade durch die freie Form,den selbstgewählten Stoff und die gemeinsame Durcharbeit wuchs der einzelne in seinen Grenzen. Diese Steigerung seines Selbstgefühls und der Gewinn einer verhältnismäßig gründlichen Erkenntnis eines Problems sicherte einen Ausgangspunkt für eigene Beobachtung und Betrachtungen. Es bildete sich auch in den größeren Kreisen der Selbstverwaltungsgruppe wieder während des Unterrichts eine ihrer Intelligenz nach zusammengehörende Gruppe, die innerhalb der IH. Stufe führend wurde und damit letztlich für die Gesamtzahl der Inhaftierten den Unterricht wichtig werden ließ. Hier ist die Person des Obmanns bedeutsam, der nicht nur mit gutem Willen der Gemeinschaft vorstehen muß, sondern auch durch eine gewisse Geistigkeit anregend und versöhnend wirken soll. Die Mitwirkung von außenstehenden Freunden dieser Art von Erziehungsarbeit .im Unterricht, bei Feiern und anderen Anlässen wirkte bereits belebend auf die Gesamtheit der Anstaltsinsassen, denn es lag für sie in dieser Tatsache eine Wertschätzung und Achtung ihrer Einzelperson. An ihren Festen und Feiern sind Menschen zu erkennen. Wurden auch die Feierstunden der Gefangenen nicht immer allen künstlerischen Anforderungen gerecht, so entsprangen sie doch einem unmittelbaren Bedürfnis. Nicht allein die Tatsache, daß etwa 7 -10 °/0 der Inhaftierten (in der Regel die Gefangenen der Einzelhaft) den Gottesdienst besuchten, sondern der Wunsch nach Unterhaltung und Freude war ausschlaggebend für ihre Durchführung.
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Besondere Gedenktage gaben Anlaß zu geschlossenen Vortragsfolgen, und wie überhaupt, so wurde auch hier mit den vorhandenen Mitteln im Gefangenenchor und Orchester versucht, eine einheitliche Behandlung der Themen durchzuführen. Wie hier der Chor und das Orchester wieder anregend auf die IH. Stufe wirkten, erweist die Tatsache, daß aus ihren Reihen die meisten Mitwirkenden kamen. Allein der H. Stufe war ebenfalls die Teilnahme an Chor und Orchester gestattet. Daneben bildete sich ein kleiner Chor von Sängern aus der IH. Stufe, der in vielem Anregung für die Gesamtheit brachte. Ein weiteres Gebiet, das der IH. Stufe allein blieb, aber ihre geistige Fortentwicklung zu innerlich freieren Menschen zeigte, waren die Anfänge von "Spielen". Begonnen wurde mit Wiedergabe von Hans-SachsSpielen, dem Schattenspiele verschiedener Art folgten. Zuletzt war das Urnerspiel von Wilhelm Tell über die selbstgefertigte Bühne gegangen und andere Stücke in Vorbereitung. Es erübrigt sich, die pädagogische Bedeutung dieser Art von Beeinflussung zu würdigen; festgestellt werden muß aber, wie entscheidend diese gemeinsamen Angelegenheiten jeden einzelnen beeinflußten. Ohne daß der Ernst des Sicherungsgedankens verwischt wurde, blieb die Tatsache, daß gerade die Angehörigen der Selbstverwaltungsgruppe sich gaben wie sie waren, und auch in dem gegenseitigen Freudebereiten über sich hinauswuchsen. Nur aus Freude lassen sich Ansätze zu einem Eigenleben gestalten, und dies bleibt die Aufgabe der Erziehung, wo und unter welchen Umständen auch immer erzogen wird. Aber auch die Hemmungen dieser Arbeit sollen hier kurz erwähnt werden. Eine Fülle törichter Gesichtspunkte und Vorurteile galt es im Unterricht, in der gemeinsamen Feier und in der gesamten Ausgestaltung der Freizeit zu beseitigen. Etwa 10 010 der H. Stufe weigerten sich, in den ersten gemeinsamen Feierstunden den zur Abhaltung bestimmten Raum, den einzig möglichen in der Anstalt, die Kirche, zu betreten. Sie lehnten alles "Kirchliche" als unvereinbar mit ihrer Weltanschauung ab. Andere Hemmungen bildete neben der allgemeinen Unkenntnis einfachster Volkslieder die völlige Verbildung des Geschmacks. Nur ganz langsam gewann man Freude an einfachen, klaren Formen, an ebensolchen Büchern und Bildern, und vor allem war es die Berührung mit der Natur in den Sonntagsstunden, die gerade die Angehörigen der m. Stufe für das Beobachten der Außenwelt, ihre Wandlung im Laufe der Jahreszeiten und vor allem der Schöpfung als solcher offen machte. Da in der geistigen Fortentwicklung die Gefangenenbibliothek eine Sonderstellung einnimmt, so ist eine Erörterung hierüber nicht notwendig. Ihre Stellung als Erziehungsmittel, als Mittel zur Freude und Unterhaltung wird nicht mehr umstritten.
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Die Selbstverwaltungsgruppe hatte ein unbeschränktes Bücherbenutzungsrecht, das erweitert wurde zum Entleihen von wissenschaftlichen Werken aus öffentlichen Bibliotheken. Weiterhin kamen alle Bücherneueingänge zuerst für einige Zeit in die III. Stufe, die diese dann prüfen konnte. Bücherkataloge waren jedem einzelnen zugänglich. Der Helfer in der Bibliothek, in der Regel ein Angehöriger der Selbstverwaltungsgruppe, arbeitete mit im Sinne gemeinsamen Aufbaues. Die Möglichkeit des Erwerbs eigener Bücher war allein der III. Stufe vorbehalten, die davon entsprechend ihren Mitteln Gebrauch machte. Neben Wörterbüchern, technischen Werken, stenographischen und anderen Lehrbüchern waren auch unterhaltende Schriften aus preiswerten Buchreihen besonders begehrt. In jedem Falle bei Beschaffung eigener oder bei Entleihung fremder Bücher war persönliche Beratung vorhanden und nötig in dem Bestreben, nicht nur diese Werke äußerlich heranzubringen, sondern auch das innere Ergreifen zu ermöglichen und zu erleichtern. Eng mit diesem gesamten Gebiet der geistigen Fortentwicklung ist die Selbstbeschäftigung verbunden, die allein in der Selbstverwaltungsgruppe sich weitestgehend auswirken konnte. Die Möglichkeit, nach eigenen Plänen zu gestalten und ganz für sich etwas schaffen zu können, regte vielfach an, zu tischlern, schnitzen, buchbindern, zeichnen, zur Blumen- und Pflanzenpflege, zum Instandhalten eines Aquariums und zur Schaffung von Geschenken für eigene und fremde Kinder. Gesellschaftsspiele wurden eingeführt, und eine Gemeinschaft, die anders war als die WICHERNsche Verbrechergemeinschaft durch die Gemeinschaftshaft, bildete sich langsam im Rahmen der Selbstverwaltungsgruppe. Die strenge Folgerichtigkeit der Angehörigen dieser Stufe ging sogar soweit, im Gemeinschaftssaal das Kartenspielen zu verbieten, "da es sinnlos, störend und nicht dem Zwecke der Bereitstellung eines besonderen Raums für die Freizeit entsprechend" sei. Die Wirkungen der Selbstverwaltung in der Strafanstalt über den Rahmen dieser Gruppe selbst hinaus sind für das gesamte Leben aller Gefangener und ihre spätere Einstellung zur Gesellschaft von Bedeutung geworden. Ein Überblick über die tatsächliche Bewährung der Angehörigen der Selbstverwaltungsgruppe in der Freiheit wird erst nach mehreren Jahren möglich sein. Jeder neuankommende Gefangene stand in der Regel den gesamten Einrichtungen der Anstalt durchaus ablehnend gegenüber. Auch noch zum Beginne des Werdens dieser Gruppe hatten alle Zweifler und Nörgler immer das Bestreben, die III. Stufe möglichst herabzusetzen und gegen diese "Klasseneinteilung" anzurennen. Erst nachdem ein
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. II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
äußeres Zeichen -- die Verfassung - aufgestellt war, änderte sich diese Haltung. Alle sahen, daß es ernst war mit der neuen Einstellung bei den Beamten und den Angehörigen der III. Stufe, und daß alle Teile sich bemühten,jedem der guten Willens war, ein Wiedereinordnen in seinen Lebenskreis zu erleichtern. Die Relieren der II. Stufe suchten. ebenfalls nach Regeln, in denen sie z. B. bei Chor und Orchester . zu einem freiwilligen Unterordnen im Interesse des Ganzen gelangten. Die III. Stufe wurde zum Anreiz und zum Zeugnis für ehrliches Streben, besonders nachdem die neue Hausordnung ein Bewähren in der III. Stufe zur Voraussetzung einer vorzeitigen Entlassung gemacht hatte. Wenn auch der Bestand der III. Stufe seit 1923 ein veränderter wurde, so wirkten doch gerade die Formen der rechtlichen Organisation und die gesamte Einstellung als Voraussetzung der Zugehörigkeit immer weiter. Die ursprüngliche Frische und Bedeutung der ganzen Maßnahme tritt regelmäßig bei den monatlichen Neuaufstufungen, die in feierlicher Form bei Anwesenheit aller Glieder der Selbstverwaltungsgruppe vor sich geht, in Erscheinung. Nur ein ununterbrochener Ansporn ist es ja, der den Menschen zu einem völligen Wachwerden bringt und ihn wach bleiben läßt. Jeder der Gefangenen, besonders die mit längerer Strafdauer, spürten diese Gefahr des Müdewerdens, des Zurückfaliens in den früheren Zustand der "windstillen Gefängniszucht", und es war geistiger Selbsterhaltungstrieb, der so nach sinnvoller Betätigung auch in dem Rahmen der Strafanstalt drängte. Wenn überhaupt eine Möglichkeit der Einwirkung auf Gefangene durch den Strafvollzug besteht, dann kann es nur im Rahmen des Strafvollzugs sein, wie er zu schildern versucht wurde. Erfolge werden nicht vor der Zeit erwartet werden dürfen und können auch nicht allein der Maßstab für Wandlungen oder Verharrung eines Rechtsbrechers, gesehen auf seine Einstellung vor der Straftat, sein. Nur wenn nach der Entlassung aus ähnlicher Einstellung heraus - wie oben geschildert - unter staatlicher Förderung bei privater Mitarbeit das Bestreben durch Erziehung zur Selbsterziehung zu kommen, gefördert wird, besteht Aussicht, den Strafvollzug zu einer Hilfe für den vormals Straffälligen werden zu lassen.
3. LaIidesstrafanstalt in Untermaifeld* Wesen, Organisation und Grenzen des Vollzugs In der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld werden Zuchthausstrafen an Männern vollzogen. Dieser Vollzug, der im Laufe von acht. Jahren ein besonderes Gepräge erhielt, bezweckt, den rechten Gebrauch künftiger Freiheit vorzubereiten und ist im wesentlichen charakterisiert durch mannigfaltige Abhängigkeit von den Gefangenen, den Beamten und den materiellen Bedingungen der Anstalt. Bei unserer Arbeit rückt vor allem in den letzten Jahren der Gedanke in den Vordergrund, aus dem Einzelfall zu lernen, ohne dabei die Gesamtaufgabe aus dem Auge zu verlieren. Letzten Endes gilt es dabei, eine Methode im Strafvollzug zu finden, die uns einem pädagogischen Ziel näher bringt. Dabei muß vor Behandlung der gesamten Frage auf den Sondercharakter des Zuchthauses hingewiesen werden, das sich von den übrigen thüringischen Strafanstalten vor allem durch die Art der Gefangenen in der Regel mehrfach wegen Verbrechen vorbestrafter Menschen, und die Dauer ihrer Strafzeit, die im Durchschnitt fünf Jahre beträgt, und den 10 % Lebenslänglichen unterscheidet. Bei aller Eindeutigkeit und Straffheit im Vollzug wird stets versucht, dem Willigen im Aufbau eines neuen Lebens zu helfen. Der Rechtsbrecher hat sich durch seine Straftat außerhalb der Gesellschaft und ihrer Gesetze gestellt und damit von ihr in irgendeiner Weise gesondert. Diese Sonderung kann dabei Ursache und Folge der straf"'; baren Handlung sein. Ihr unterliegen zur Zeit in der Strafanstalt Untermaßfeld 230 zu "Zuchthaus" verurteilte Gefangene, die neben den Schwierigkeiten, in denen auch der freie Mensch unserer Zeit lebt, die Sonderaufgaben in der Anstalt zu erfüllen verpflichtet sind. Der Aufenthalt in der Strafanstalt bedingt Sonderung. Die Trennung von der Familie, den Kindern, die Lösung von der Arbeit, ihren Möglichkeiten und Pflichten greift im weitgehenden Maße in das Eigenleben der kriminellen Persönlichkeit ein. Die Beziehungen zur Welt finden mit dem Eintritt in die Strafanstalt im gewissen Sinne ein Ende, die
* Erschienen in: Gefängnisse in Thüringen. Berichte über die Reform des Strafvollzugs. Von thüringischen Strafanstaltsdirektoren und Fürsorgern. Hrsg. von Lothar Frede. Weimar, 1930. S.69 - 82.
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11. Teil: Grundfragen des
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letzten Bindungen in der Regel allerpersönlichster Art können sich nicht in der früheren Weise auswirken. Selbst wenn auf die Trennung, Lösung, Beendigung, Unterbrechung, Hemmung wieder eine neue Anbahnung von Beziehungen erfolgt, bleibt diese im Strafvollzug beobachtet und überwacht. Dem Außenstehenden gelingt es kaum, diese Lage nachzuempfinden und ihre Wirkung auf den gefangenen Menschen zu verstehen, zumal diese Sonderung, dem Gesetz der Trägheit folgend, sich ständig erschwerend verstärkt. Dieser Trennung von allem, was dem Menschen lebens- und liebenswert erscheint, steht eine starke, erzwungene Gemeinsamkeit gegenüber. Aber auch diese Gemeinsamkeit besitzt ihre Sonderschwierigkeiten je nach den Einzelpersönlichkeiten. Für einen großen Teil der Gefangenen bedeutet das Zusammensein mit Mitgefangenen aller Art, mit denen sich selten innere, positive Beziehungen anspinnen, erneute Belastung. Eine weitere Gemeinsamkeit, die der Natur der Sache nach ebenfalls Schwierigkeiten gibt, liegt in der ständigen Berührung mit den Beamten des Hauses. Dabei ist auszugehen von der Tatsache, daß der Gefangene in der Regel den Beamten nur als Vertreter der Gesellschaft ansieht, die ihn bestrafte, und dementsprechend bleibt er zunächst ablehnend. Nicht zuletzt kommen in der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld reichlich Schwierigkeiten aus emem Aufenthalt in Gebäuden, die baulichen Anforderungen vielfach nicht entsprechen, so daß viele gute Absichten versagen. Steht so der geschilderten Sonderung eine derartige Gemeinsamkeit gegenüber, so kommt noch ein letzter Gesichtspunkt, der die Lage für den Gefangenen und damit auch für die Beamten erschwert. Dieser liegt in der Tatsache begründet, daß der Gefangene, insbesondere während des ersten Teiles seiner Freiheitsstrafe, sich selbst überlassen in semer Zelle verbleibt. Gedanken der Schuld der Gesellschaft gegenüber, zumeist Gedanken der Verfehlung gegen die Angehörigen, ohne Wissen um Hilfsmöglichkeit, zumindest Gedanken des Ärgers über die vor ihm stehende Tatsache der Gefangenschaft, also Ärger über sich selbst, bleibt er preisgegeben. Selbst wenn ein gesellschaftliches Empfinden oder Denken sich nicht wach zeigt, so weiß und fühlt ein großer Teil der Gefangenen, in welcher Weise ein verändertes Verhalten in der Freiheit den Entzug der Freiheit erübrigt hätte. Es bleibt aber eine ebenso große Zahl von Gefangenen, die dies nicht erkennen und immer ihren persönlichen Standpunkt betonen. Dadurch steigern sie aber gerade diese Schwierigkeiten und versenken sich selbst in den Gedanken des überlassen- und Preisgegebenseins. Der überwindung solcher überlassenheit in innerer und äußerer Einsamkeit stehen im Verhältnis nur knappe Mittel gegenüber, insbesondere dem letzten, großen, schweren Alleinsein im Triebleben. Gerade
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bei jüngeren Menschen in der Anstalt hat diese Frage ihre ernste Bedeutung. Die Erziehungsbeamten "Fürsorger" sind neben allen anderen Beamten ganz besonders berufen, den Gefangenen in der Sonderung, Gemeinsamkeit und überlassenheit zu helfen. Es ergibt sich aus dem Beobachteten, wie das Sich-außerhalb-derRechtsordnung-Stellen durch den Aufenthalt in der Strafanstalt zu einer verstärkten Sonderung und einer schwierigeren Gemeinsamkeit führt bei einer gefahrvollen überlassenheit, die den Gefangenen überfällt. Die Wirkung dieser nicht allein hier beobachteten Tatsache auf die Einzelnaturen ist verschieden. Einer Gruppe, die sich krankhaft in Schwierigkeiten steigert, steht eine Gruppe gegenüber, die sich bewußt einordnet. Zwischen beiden Arten kommt die Gruppe derer, die infolge Gewöhnung oder Gleichgültigkeit alles hinnimmt. Es bleibt schwer, in Sonderlagen den einzelnen Gefangenen zu dieser oder jener Art :ru zählen, da er ja als Einzelwesen seine Sonderreaktion behält. Trotz dieser Schwierigkeiten, die im Vollzug der Freiheitsstrafe insbesondere im "Zuchthaus" liegen, muß versucht werden, zum Ziel des Strafvollzugs "der Erziehung zum rechten Gebrauch der Freiheit in einem gesetzmäßigen Leben" zu kommen. Der Weg zu diesem Ziel ist weit, der Wegbereiter hat zu versuchen, aus jeder Situation das Beste zu finden. Er beginnt damit, die Sonderung zum Erkennen der Einzelpersönlichkeit zu benutzen, er versucht, die Gemeinsamkeit positiv zu einer freiheitähnlichen Situation umzuschaffen und die überlassenheit zur Besinnungsmöglichkeit und Belastung des persönlichsten Einzelbezirks wertvoll zu gestalten. Der ernsthaft durchgeführte Versuch den Gefangenen zu erkennen, gibt gleichzeitig die Erkenntnis der inneren Grenze dessen, was man von ihm verlangen kann. Die biologischen, soziologischen und psychologischen Bedingtheiten gilt es dabei zu erforschen. Bei Betrachtung der Altersstufen in der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld ergibt sich ein Durchschnittsalter von 34 Jahren. Die Straftaten fallen zu 55 Ufo ins Gebiet der Eigentumsdelikte, denen Meineide mit 5 Ufo, Sittlichkeitsdelikte mit 10 Ufo, Brandstiftung mit 6 Ufo, Bedrohung von Personen mit 11 Ufo, Morde mit 12 Ufo und Sonstiges mit 1 Ufo gegenüberstehen. Von hier aus geht es zu der schwierigeren Beobachtung, wie die Belastung im Strafvollzug wirkt. Dabei scheiden sich "minderwertige" Menschen, die den in der Strafanstalt "normalen" Anforderungen ständig nicht genügen, von denen, die periodisch besondere Schwierigkeiten erleben. Seien es dann Zustände des Niedergedrücktseins oder der besonderen Erreg- und Reizbarkeit, so darf gesagt werden, daß ein Gipfelpunkt der EntwickLung mit solchem negativen Ziele auch für den "Normalen" ungefähr im fünften Anstaltsjahre liegt. 19 Freiheitsentzug
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge bedarf es jedes Mittels, nicht nur einer genauen Registrierung in jedem Stadium des Vollzugs durch jeden Beamten, insbesondere den "Erziehungsbeamten". Es muß auch mit den außerhalb der Einzelpersönlichkeit sich auswirkenden Ereignissen gerechnet werden, die sich entsprechend der Stimmung der freien Bevölkerung in "Fernwirkung" äußern. Es brauchen dabei nicht Briefe, Besuche oder Zeitungen an den Gefangenen heranzukommen. Insbesondere wichtig ist auch der Versuch zur Beobachtung der Witterung in ihrer etwaigen Wirkung auf den freien und insbesondere den gefangenen Menschen, wie er hier in Zusammenarbeit mit der Thüringischen Landeswetterwarte künftig vor sich geht. Es gilt bei allen diesen Absichten, mit den Gefangenen in Berührung zu kommen, ihn denken zu lehren, ihn zu aktivieren, ihn zu einem bewußteren Willensleben zu bringen, um Einblick in seine so oder so geartete Konstitution zu gewinnen. Darin liegt gleichzeitig eine Gegenwirkung, besonders gegen die bestehende Sonderung und im allgemeinen gegen jede Art der Anstaltssituation, eingeschlossen. Nicht nur im Anfange des Anstaltslebens (auf der 1. Stufe), sondern dauernd während der Strafzeit, müssen zur Erreichung dieses großen Zieles Zwischenziele dienen, die "es dem Gefangenen wert erscheinen lassen, seinen Willen anzuspannen und zu beherrschen". Ein überwinden von Hemmungen ist dabei zu üben, die Versuchungen aber nicht unüberwindlich zu steigern. Weiter bleibt notwendig, die Anleitung zu geben, wie vielleicht ein neues Verhältnis zur Strafe gewonnen werden kann, um damit aus der Sonderung im negativen Sinne zu einer Besinnung im positiven zu wachsen. Im Rahmen des Versuchs, den Gefangenen zu erkennen, tritt deutlich hervor, wie das tadelfreie Verhalten in der Strafanstalt allein nicht ein gesetzmäßiges Leben in der Freiheit verbürgt. Bei einem großen Teil der Gefangenen gehört zur Voraussetzung künftiger Straffreiheit ein inneres Bereitwerden zu positiver Gemeinsamkeit, eine innere Wandlung. Damit ist noch nicht gesagt, daß der innerlich bereite Mensch auch den äußeren Schwierigkeiten nach der Entlassung standzuhalten vermag. Wie alle pädagogischen Belange bleibt solche Feststellung mit dem Maße objektiver Wertung nicht meßbar. Wenn die Sonderung wirklich durch den Versuch des Erkennens eine positive Bedeutung gewinnt, so bestehen neben ihren Gefahren vor allem die Grenzen der menschlichen Erkenntnis im Verstehen des anderen. An dieser menschlichen Unvollkommenheit, die sowohl den Beobachter, als auch den Beobachteten in gleicher Weise in Wechselwirkung hemmt, scheitert der Versuch vielfach und muß dennoch immer wieder unternommen werden.
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Die Schaffung einer freiheitähnlichen Situation stellt die positive Aufgabe der geschilderten Gemeinsamkeit dar. Dabei bleibt vor allem darauf zu achten, daß in physischer Hinsicht ein Existenzminimwn geboten wird. Aus diesem Wissen von der Abhängigkeit des Menschen von seinem Körper sollte die Körperpflege auch in der Strafanstalt besondere Beachtung finden. In der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld gilt es, dabei besondere Aufgaben zu lösen. Die Ernährung hat für den Menschen in den verschiedenen Bezirken Sonderung oder Gemeinsamkeit ihre Bedeutung. Nicht nur auf den Gehalt des Dargereichten, einer Kost, die dem erwachsenen Manne entspricht, sondern auch auf die Form kommt es wesentlich an. Die vorhandene Freizeit muß im Interesse der Gesundung oder Gesunderhaltung Möglichkeiten für Turnen und Sport bieten, aber zumindest Licht und Luft während der Freistunde an den Körper lassen. Im Sommer dürfen daher die Angehörigen aller Stufen, nur mit der Hose bekleidet, ihren Spaziergang je nach ihrer Zugehörigkeit zur 1., 2. oder 3. Stufe zu zweien oder dreien bei Sprecherlaubnis nehmen. Auch die Kleidung muß einfach und sauber sein. Sie erfüllt neben dem Schutze des Körpers auch eine psychische Aufgabe und läßt den Ordnungssinn oder das Schmuckbedürfnis ihres Trägers erkennen. Überwacher dieser körperlichen Erfordernisse ist der Arzt, der aber nicht nur Körperarzt, sondern Menschenkenner sein muß. Kranke Gefangene, deren es im Zuchthaus infolge der längeren Strafzeit, der größeren körperlichen und geistigen Mängel stets mehrere gibt, scheiden während ihres Lazarettaufenthaltes aus dem allgemeinen Strafvollzug aus. Während in ärztlicher Hinsicht eine Betreuung geregelt ist, bleibt es die Sonderaufgabe der Fürsorger, für die kranken Glieder ihrer Gruppe pädagogisch zu sorgen. Die Gestaltung der Arbeit in der Strafanstalt Untermaßfeld hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab. Vor allem muß auf die Fähigkeiten der vorhandenen Arbeitskräfte Rücksicht genommen werden. Die Berufsgliederung der Gefangenen gleicht im Durchschnitt der Berufsgliederung der freien Bevölkerung in Thüringen. Ein geringer Teil der Häftlinge hat außer der Volksschule keine weitere Bildungseinrichtungen besucht. Die ländliche Bevölkerung überwiegt dabei mit 60 Prozent, während der Rest durchaus stadtgebunden erscheint. Es macht sich bei den bäuerlichen Gefangenen aber ebenfalls der Zug nach der Stadt bemerkbar, obwohl gerade im allgemeinen Siedlungs- und im besonderen Entlassungsfürsorgeinteresse die Hinwendung oder der Verbleib in Landarbeit als erste und vielleicht auch ständig beste Möglichkeit, in der Freiheit wieder festen fuß zu fassen, besteht. Eine ganze Reihe von Gefangenen ist wurzellos, und es gelingt selten, einen solchen Wurzellosen zur Seßhaftigkeit zu bringen. 19'
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11. Teil: Grundfragen des
Strafvollzuges
Weiter bleibt von großer Bedeutung die Entscheidung, welche Aufgabe die Gefangenenarbeit haben soll. Soll sie möglichst hohe Erträge bringen, um den Staatszuschuß zu vermindern und damit die Kosten des Strafvollzugs zu ermäßigen? Soll sie die Aufgabe eines Lehr- und damit Zuschußbetriebs erhalten? Oder soll sie versuchen, beiden Aufgaben, dem nicht rentablen Lehr- und dem rentablen Produktionsbe-trieb, zu entsprechen? Soll die Arbeit endlich als nebensächliches Ausfüllen der Zeit oder als ein wichtiges Mittel zur Erreichung des gesteckten Gesamtzieles dienen? Zur Durchführung des Arbeitsprogramms wurde im Jahre 1924 auf Anregung des damaligen Leiters der Anstalt, Reg.-Rat Otto Krebs, die Thüringische Gesellschaft für Werkarbeit mbH gegründet. Ihr Zweck besteht vor allem darin, die Gefangenen möglichst ihrer Eignung entsprechend in Betrieben nach wirtschaftlichen Grundsätzen und gewinnbringend im Gesamtinteresse des aufbauenden Strafvollzuges zu beschäftigen. Der Thüringische Staat ist jetzt der alleinige Gesellschafter. Die Gesellschaft hat also in ihrer Produktion nicht die Absicht der Bereicherung einzelner Privatunternehmer, sondern sinnvolle Verwertung der vorhandenen Arbeitskräfte im Interesse der Allgemeinheit. Sie will dem Gefangenen Möglichkeit geben, sich neue Betriebsmethoden anzueignen, ein Handwerk auszulernen oder sich in verschiedenen Fabrikationszweigen produktiv zu beschäftigen. Die Arbeit steht durchaus unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. An Fabrikationsbetrieben sind in der Strafanstalt Untermaßfeld von der Gesellschaft eingerichtet: Kartonnagen- und Mattenfabrikation, an Handwerksbetrieben bestehen: Tischlerei und Holzbildhauerei, Schneiderei mit Stickerei, Schlosserei, Installation und Wagnerei, Schuhmacherei, Druckerei und Buchbinderei. Es besteht für geeignete Kräfte weiter die Möglichkeit, sich zum Teil bei der Gesellschaft für Werkarbeit oder im Rahmen der Anstalt als Haus- oder Betriebshelfer zu betätigen. Auch die Bauarbeiter finden infolge der stets notwendigen Ausbau- und Unterhaltungsarbeiten ihren Platz. Eine wertvolle Arbeitsmöglichkeit und zugleich einen Ausgleich für die Saisonarbeit in der Mattenfabrikation bietet die ebenfalls durch die GmbH betriebene, etwa 370 Morgen große Landwirtschaft mit zwei Gutshöfen. Es läßt diese landwirtschaftliche Schulung weiterhin die Möglichkeit offen, Arbeitsgruppen an Landwirte der näheren und weiteren Umgebung gegen eine entsprechende Bezahlung zur Verfügung zu stellen, wobei der Transport mit Lastwagen vor sich geht. Die verschiedenen Betätigungsmöglichkeiten bilden verschiedene Berufsgruppen und Typen. Der Mensch mit Formsinn und Hingabe an sorgfältige Kleinarbeit strebt zum Handwerk, der robustere und un-
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gewandtere zur Fabrik. In den handwerklichen Betrieben, die Lehrund Produktionsbetriebe bleiben, müssen Langfristige beschäftigt werden, wobei, ähnlich wie in der Freiheit, während der Lehrzeit geringere Löhne sich ergeben. Der landwirtschaftliche Arbeiter folgt gerne seiner Neigung und oftmals ,auch ärztlicher Anordnung 2lU körperlicher Gesundung bei Arbeit im Freien. Jede Gruppe läßt gewisse Möglichkeiten der Charakterisierung ähnlich wie im Freien, wobei aber zu betonen ist, daß in der Regel kaum fachlich gewandte Kräfte hierher kommen. Alle Arbeitskräfte müssen hier langsam geschult werden. Die schweren Aufgaben der Arbeitsbeamten lassen sich aus diesen Tatsachen ermessen. Den Anreiz zur Arbeit gibt vielfach, wie im freien Leben, so auch in der Strafanstalt der Lohn, der für die Leistung bezahlt wird. In diesem Zusammenhange ist es wichtig, darauf hiIl7lUweisen, daß der Lohn keineswegs vom Gefangenen allein für persönliche Bedürfnisse in Anspruch genommen wird, sondern in starkem Maße Mittel ist, sich in der ersten Zeit nach der Entlassung über Wasser zu halten. Gerade diese unmittelbar auf die Anstaltszeit folgende Periode ist die gefährlichste, um den Übergang zu finden. Weiterhin unterstützen Gefangene ihre Angehörigen aus dem verdienten Geld. Im Geschäftsjahre 1929 erhielten bei einer Durchschnittsbelegung von etwa 240 Gefangenen etwa 220 arbeitende Gefangene eine Gesamtarbeits- und Fleißbelohnung in Höhe von rund 40 000 M. Die nicht arbeitenden Gefangenen waren zum Teil krank oder auf Transport, einer Hausstrafe unterworfen oder aus Arbeitsmangel unbeschäftigt. Ein Teil der genannten Summe wurde entsprechend der geltenden Ordnung gespart (24 000 M), ein anderer Teil zur Verfügung gegeben und davon ungefähr 12000 M in der Kantine, die unter Selbstverwaltung steht, umgesetzt. Ungefähr 2000 M von dem zur Verfügung Gegebenen und weitere 2000 M vom Gesparten wurden den Angehörigen auf Wunsch überwiesen. Jeder Gefangene spart also durchschnittlich jährlich 100 M und verbraucht 50 M. Es ist zu beachten, daß im Verhältnis wenige, etwa nur ein Drittel der Belegschaft, so enge Bindung außerhalb der Anstalt haben, daß sie Geld überweisen, etwa 80 Gefangene sandten im Durchschnitt 50 M. Die Durchschnittszahl des Verbrauchs in der Anstalt ist beeinflußt durch die Tatsache, daß eine Reihe von Gefangenen Lehr- und Fortbildungsmittel, Bücher und auch Musikinstrumente erstehen. Unter diesem Gesichtspunkt bleibt erstrebt, eine möglichst hohe Arbeitsbelohnung zu zahlen und dabei eine Arbeit zu geben, die nicht durch ihre Gestaltung abschreckt und in der Abneigung gegen die Arbeit stärkt, sondern den Gefangenen interessiert. Gerade hierin sind in früheren Zeiten vielfach grundsätzliche Fehler gemacht worden,
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
zweifellos zum Schaden des einzelnen und zum Schaden der Gesamtheit, der Gesellschaft. Die Arbeitszeit selbst ist für alle Betriebe, bis auf die landwirtschaftlichen, wochentags, außer Samstag, von 6.30 bis 15.45 Uhr mit einer Freiübungs- und Mittagessenspause von 11.10 bis 12 Uhr geregelt. An Samstagen endet die Arbeit um 12.30 Uhr, an Sonn- und Feiertagen ruht sie. Diese Ordnung hat sich ausgezeichnet bewährt. Die Bedenken, die etwa im Rahmen der Erörterung des Arbeitsproblems in der Strafanstalt Untermaßfeld auftauchen könnten, liegen vorzugsweise in der Frage der Konkurrenz. Hierzu kann nach Prüfung des gesamten thüringischen statistischen Materials nur gesagt werden, daß einmal wegen der Kleinheit der Betriebe keine nennenswerte Konkurrenz besteht und weiter, daß auch die Gefangenen als freie Menschen einen Arbeitsplatz inne hätten, beanspruchten oder Unterstützung bezögen. Trotzdem wird leider die Gefängnisarbeit von verschiedenen Wirtschaftsgruppen wegen Arbeitsmangels außerhalb der Anstalt bekämpft. Dieser Arbeitsmangel wirkt sich aber ebenfalls in der Strafanstalt aus und gibt dann erneute Aufgaben und große Schwierigkeiten. Die Gestaltung der Arbeitsbetriebe in der Anstalt ist in hervorragendem Maße abhängig von der Forderung der Sicherheit gegenüber der Gesellschaft durch sorgfältige Auswahl der Arbeitskräfte zu den bestimmten Einzelaufgaben. Das Arbeitsproblem abschließend, haben wir noch zwei Forderungen zu erheben: Bei fleißiger Arbeit in der Strafanstalt sollten die nach der Entlassung erhobenen Haftkosten wegfallen, weiter sollte fleißige Arbeit während der Strafzeit den Anspruch auf Erwerbslosenunterstützung nach der Entlassung begründen. Gerade die letztere Forderung kommt aus Erwägungen heraus, wie sie die praktische Arbeit während und nach dem Strafvollzug aufdrängt. Die Durchführung des Strafvollzugs während der Freizeit, die sich bei der I. und n. Stufe über vier, bei der In. Stufe bis zu sechs Stunden erstreckt, steht unter dem Gedanken der Selbstgestaltung entsprechend der Zugehörigkeit zu den einzelnen Entwicklungs-Führungsstufen. In diesen Stufen wird eine stete Anreizpolitik getrieben und der Aufstieg von der einen zu der anderen sinnfällig gestaltet. Die I. Stufe kennt Einzelhaft, vollzieht sich aber fast ausschließlich in Zellenhaft, ohne oder mit gemeinsamer Arbeit in den Werkstätten. Auch in die Zelle wird, soweit vorhanden, Arbeit gegeben. Die Erlaubnis zur Teilnahme am Unterricht, Wochenbericht oder Freiübungen bedeutet schrittweise Lockerung zur Zellenhaftform der 11. Stufe, die sich fast ausschließlich in gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Freizeit äußert. Aus erziehlichen Gründen kann der Wegschluß nach Spaziergang, Unterricht oder
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Turnen und Sport angeordnet werden. Die III. Stufe kennt nur Zellenhaft mit gemeinsamer Arbeit, staffelt sich aber auch weiter durch Erlaubniserteilung der Gartenpflege im Hinterhof der Anstalt und durch Teilnahme an den sonntäglichen Spaziergängen außerhalb der Anstalt. Die Einweisung für Tag und Nacht in das "Schäferhaus" auf dem von der G. m. b. H. bewirtschafteten Gute Grimmenthai bei Untermaßfeld bedeutet den größten Fortschritt des Einzelnen im Rahmen der III. Stufe während des Strafvollzugs. Die pädagogischen Sonderaufgaben in den einzelnen Stufen lassen sich für die I. Stufe bei 36 bis 38 010 der Belegung mit Einzelpädagogik, für die 11. Stufe bei 50 bis 52 0/0 der Belegung mit Massenpädagogik und in der 111. Stufe bei 10 bis 12 0/0 der Belegung mit Gruppenpädagogik charakterisieren. Es bleibt dabei natürlich zu beachten, wie diese drei Formen der Menschenbehandlung sich überschneiden und kein Schema bedeuten sollen. Die Erörterung der Sonderaufgaben der einzelnen Stufen, die Pflege der geistigen Entwicklung durch Unterricht und Arbeitsgemeinschaften, der Beziehung zur Außenwelt durch Briefe, Besuche, Tageszeitungen, Musik, Lichtbilder, Radio, selbst einstudierte Bühnenspiele und Feierstunden erfolgt in den anschließenden Berichten der verantwortlichen Stufenfürsorger. Neben diesen Sonderaufgaben bleibt die gesamte Stimmung des Hauses von entscheidender Bedeutung. Die neue Raumgestaltung durch bunte Farbe bei schlichter Form, soweit es die III. Stufe betrifft, von dieser in der .Freizeit freiwillig geschaffen, und die Erlaubnis zur Pflege von Blumen im Garten und in der Zelle ist wichtig. Auch die Haltung von Tieren, Kaninchen, einem Hunde in der III. Stufe, Fischen im Wasserbecken im Gartenhof, aus freiwillig von den Gefangenen gegebenen Mitteln, bringen Freude. Die Genehmigung zur Aufstellung von Photographien Angehöriger, - in den oberen Stufen auch von guten Bildern -, weckt und steigert die pädagogische Intensität. Gerade diese kleinen Mittel müssen bei der Erwachsenenbildung im Zuchthaus Anwendung finden. In keiner Weise wird dadurch der volle Ernst des Strafvollzugs gemindert oder die Sicherheit der Anstalt herabgesetzt. Immer wieder muß die Aktivierung der Gefangenen erstrebt und ihnen möglichst wenig "geschenkt" werden. Wer Bücher lesen mag, geht zur zentral gelegenen Bücherei und sucht dort unter fachmännischer Beratung aus; wer ihm begehrenswerte Dinge erstehen will, kauft diese in der Kantine gegen Wertmarken, die nur in der Anstalt gelten; in der Friseurstube kann er sich die Haare schneiden oder rasieren lassen. Dies geschieht alles selbstverständlich während der Freizeit, da die durchgehende Arbeitszeit nicht unterbrochen werden darf.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die Einrichtung der Gefangenenbesprechung aus verschiedenen Anlässen, manchmal mit Angehörigen aller Stufen, dann wieder mit Beschränkung auf die Angehörigen der II. oder gar nur auf die der III. Stufe, geben Gelegenheit zur Vertiefung. Insbesondere geben die Vorbesprechungen zu den neuen Nummern der Hauszeitschrift "Brücke" in ausgiebigen Erörterungen fruchtbare Anregungen und Aussprachemöglichkeiten. Sie erfüllen teilweise die eine Aufgabe der "Brücke", eine Beziehung zu finden zwischen Beamten und Gefangenen, während die andere durch Versendung nach außen zu freien Menschen, die ein Interesse am Strafvollzug besitzen, zu lösen versucht wird. Da der Gefangene seinen Mitgefangenen in der Regel gut kennt, und vielfach richtig beurteilt, wird zur Erledigung von Hausstrafsachen je ein von der II. Stufe vorgeschlagener und von der Direktion bestätigter Vertrauensmann hinzugezogen. Als Beisitzer geben sie mit den verantwortlichen Beamten ihre Äußerung und vertiefen das Bild über die Persönlichkeit des Täters, der zur Meldung gebracht werden mußte. Unter Rechtsgarantien nimmt der angezeigte Gefangene vor dem Entscheid mündlich Stellung zu seiner Verfehlung. Die Krönung der Arbeit, die auf ein gesetzmäßiges Verhalten nach der Strafzeit hinzielt, bleibt die Selbstverwaltung im Rahmen der III. Stufe. Sie hat ihre Entwicklung genommen vom Sport unter Selbstbeaufsichtigung im Gruppenraum hin zum entscheidenden Faktor in der gesamtpädagogischen Gestaltung nicht nur der Freizeit, sondern des Strafvollzugs. Diese Selbstverwaltungsgruppe, die III. Stufe, hat neben einer Reihe von Erleichterungen vielleicht als wesentlichsten Anreiz die einzige Möglichkeit zur Strafverkürzung nach Verfügung des Thüringischen Justizministeriums zu bieten. Auch die Durchführung des Strafvollzugs in der Freizeit hat ihre Grenzen. Soweit nicht materielle Dinge sie veranlassen, sind es Hemmungen in dem Menschen selbst. Beim Gefangenen fehlt oftmals der gute Wille, beim Beamten das Verständnis für eine fremde Psyche. Hier, wie auch späterhin bei Erörterung des Beamtenproblems, kann nur betont werden, alle theoretische Erfassung der Strafvollzugsprobleme nutzt nichts, wenn nicht der Mensch dahinter steht, der den anderen "anspricht" und ihm in dessen persönlichen Interesse zum Wohle des Ganzen hilft. Das sollen in der Freizeit der Gefangenen insbesondere die Fürsorger der Stufen, im übrigen aber alle Beamten. Im Gegensatz zu der inneren Grenze beim Erkennen und Behandeln der Gefangenen, geben die im Strafvollzug geltenden Verwaltungsbestimmungen die äußere Grenze. Insbesondere hindert das starre Strafmaß eine pädagogische Zielsetzung, da es unabhängig von der Entwicklung des Täters in der Strafanstalt diesen frühzeitig wieder heraus-
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läßt, oder auch manchmal, - weil nach den Aufrückungsfristen noch zu früh, - nicht vorzeitig herauslassen darf. Je intensiver sich die Einwirkungsbestrebungen im Strafvollzug gestalten, um so stärker geht der Ruf nach der unbestimmten Verurteilung und der Möglichkeit der Verwahrung über die Strafzeit hinaus. Dabei sollten durch Sonderkommissionen wiederum dem Gefangenen vor Verfügung der Verwahrung sämtliche nur möglichen Rechtsgarantien gegeben werden. Dem Strafvollzug und vor allem der Gesellschaft wäre damit wesentlich geholfen. Weiter erscheint im Interesse des Gefangenen die Belassung eines Eigenbezirks als sehr wichtig. Dies bedeutet dann die Umkehrung der zwangsweisen überlassenheit ins Positive. Einen solchen Einzelbereich bietet die Einzelzelle, die infolge vorhandenen Raums jedem Gefangenen gegeben werden kann. In engem Zusammenhang mit hygienischen Fragen ist diese vorhandene Möglichkeit äußerst günstig und läßt eine Reihe großer baulicher Schwierigkeiten in der Strafanstalt Untermaßfeld in den Hintergrund treten. Das sexuelle Problem, das bereits berührt wurde, und das beim Strafvollzug überhaupt nicht vollkommen gelöst werden kann, erfordert diese Trennung bei Nacht ebenso sehr, wie die Tatsache des Bedürfnisses nach dem Alleinseinkönnen im Ablauf des Tages. Die Tatsache der ununterbrochenen Beaufsichtigung, des teilweise ständigen Lebens in der Gemeinschaft, bedeutet im Gefangenenleben, ähnlich wie beim Militär, eine starke Belastung. Nicht nur die Tatsache, daß in der Strafanstalt diese "Verbrechergemeinschaft" des nachts nur schädigend wirkt, müßte bei künftigen Neubauten auch in der Fürsorgeerziehung den Einbau genügender Einzelzellen, und seien es nur kleinere für die Ruhezeit, weil erziehungsfördernd, bedingen. Hier kann der Gefangene sich persönlich geben. Die Einzelzelle und ihre Ausgestaltung gehört zu den wenigen Einrichtungen, die von fast allen Gefangenen der II. und III. Stufe hier dankbar gewürdigt werden. Einen inneren Einzelbezirk muß man weiterhin jedem Menschen lassen, wenn er nicht gerade in persönlichem Vertrauen um ein Beteiligtsein bittet. Kein Zwang soll angewandt werden, um den Gefangenen zum Sprechen von sich zu bringen. Lieber soll man verzichten, als Zwang anwenden. Jeder Mensch schreckt zurück, wenn er aus allen Maßnahmen nur den Willen des anderen, ihm etwas aufzuzwingen, und sei es selbst noch so gut für ihn, spürt. Dann setzt die Trotzhaltung ein, die eine Beeinflussung stets noch stärker hemmt. Die Anstalt selbst trägt daher den Charakter eines Dorfes, ihre Weitläufigkeit, die in Fragen der Sicherheit nachteilig ist, gewinnt in pädagogischen Fragen besondere Bedeutung.
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die Mitarbeiter dieses Strafvollzugs in der Strafanstalt Untermaßfeld, die trotz aller Hemmungen aus materiellen und ideellen Gründen, an sich und den Gefangenen immer wieder täglich von neuem die Arbeit beginnen, gliedern sich in vier Gruppen: Einmal die Werkbeamten: Werkmeister, Vorarbeiter, landwirtschaftlicher Inspektor, kaufmännische Angestellte, dann die Aufsichtsbeamten: Hilfs-, Ober- und Hauptwachtmeister, weiter die Verwaltungsbeamten: im Sekretariat, Kasse und der übrigen Verwaltung, zuletzt die Erziehungsbeamten: Fürsorger, Arzt und Geistliche. Jeder Gruppe fällt eine Sonderaufgabe zu, ohne daß es möglich wäre, auf die Mitwirkung der einen oder anderen irgendwie zu verzichten. Es steht ihr weiter je ein Verantwortlicher vor, der dem Direktor als Leiter der Anstalt und Geschäftsführer der G. m. b. H. verantwortlich ist. Ein gemeinsamer Wille, das Ziel des Strafvollzugs zu fördern, soll alle beseelen, und dieser Wille hat sich oft auch in schwierigen Aufgaben dankenswert bewiesen. Es bewährte sich die für Thüringen charakteristische Mitwirkung speziell ausgebildeter Erziehungsbeamter, die die Bezeichnung Fürsorger tragen. Die Fürsorger sorgen nicht nur für die pädagogischen Erfordernisse während der Freizeit, sondern auch für die Angehörigen der Gefangenen und betreiben, soweit wie es möglich, auch die Fürsorge nach der Entlassung. Sie haben einen Arbeitskreis, der weitgehenden persönlichen Einsatz fordert. Der Fürsorger muß immer offen sein für alle positiven Regungen beim Gefangenen und ein Anbieten der Mitarbeit von seiten der übrigen Beamten. Die Beziehungen zum Geistlichen, zum Arzt und zu jedem einzelnen Menschen, der mit den Gefangenen ihrer Stufe zusammenkommt, haben sie im Interesse der Sache sorgfältig zu pflegen. Der Aus- und Fortbildung aller Beamten bleibt ständig ein besonderes Interesse gewidmet. Dabei muß aber betont werden, daß das Bestehen von Prüfungen aller Art und der Nachweis aller wissenschaftlichen Befähigungen nur Voraussetzungen für den Strafvollzugsdienst sind. Die schärfsten Prüfer der Beamten bleiben die Gefangenen, die ständig beobachten und mit wachen Sinnen spüren. Insbesondere der Zuchthausgefangene hat in der Regel reichlich Erlebnisse negativer Art hinter sich. Vielfach ist ja das Zuchthaus die letzte Station und darum die Stimmung gegen sich selbst gleichgültig. Bestärkt wird diese Stimmung durch einen primitiven Glauben an ein unumstößliches Schicksal, wie er insbesondere unter der Belastung des Krieges wuchs. Der Gefangene selbst ist dabei akonfessionell. Um so schärfer aber wachen die Sinne, die sich im engen Rahmen des Hauses nicht auswirken können. Es werden statt Worten Taten und stete Hilfsbereitschaft erwartet, wobei aber mit reichlich viel Mißverständnissen gerechnet werden muß.
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Der Strafanstaltsbeamte geht in jeder Sonderfunktion zwischen vielen Fährnissen seinen Weg. Größte allgemeine Aufgaben im Beruf hat er zu leisten. Insbesondere muß er sich darüber klar bleiben, daß gegen den Willen des Einzelnen und der Gesamtheit nicht im positiven Sinne eingewirkt werden kann. Es gilt daher für ihn, alle Mitarbeiter täglich neu zu gewinnen. Auf der anderen Seite muß der Beamte sich sehr klar darüber sein, daß er nur Vorbereiter ist, aber nichts selbst ins Werk setzt, denn erziehliche Beeinflussung Erwachsener bleibt Anregung zur Selbsterziehung. Eine weitere Voraussetzung des "Erfolges", von dem aus vielen Gründen, insbesondere der schwierigen Situation des entlassenen Gefangenen auf dem Arbeitsmarkt, kaum gesprochen werden darf, bleibt die Wirtschaftskrise und die öffentliche Meinung. Die gesellschaftliche Auffassung, die allein Zweckmäßigkeitsgründe und nicht irgend welche innere Verpflichtung anerkennt, steht im Widerspruch zu den Absichten einer "erziehlichen" Einwirkung während der Strafzeit. Unter allen Umständen wird ein Bewerber um Arbeit, der ehrlich seinen letzten Aufenthaltsort mit "Zuchthaus" angibt, zurückgewiesen, selbst wenn Arbeit vorhanden und er fachlich tüchtig ist. Die Thüringische Gefängnisgesellschaft versucht die Schwierigkeiten nach der Entlassung möglichst zu beseitigen. Die Aufklärung der dem Strafvollzug ungünstigen öffentlichen Meinung bleibt Aufgabe all derer, denen der Strafvollzug eine gesellschaftliche Verpflichtung bedeutet. Auch hier hat die Strafanstaltsleitung ihre Sonderaufgabe; sie läßt mit Genehmigung des Thüringischen Justizministeriums zur Besichtigung der Strafanstalt zugelassene Besuche von allen Dingen im Strafvollzug Kenntnis nehmen. Sie versucht durch die "Brücke" ein Interesse zu wecken oder zu festigen. Insbesondere wird erhofft, daß unter den Juristen durch die jetzt obligatorische vierzehntägige Beschäftigung der Referendare in einer Landesstrafanstalt die Kenntnis vom Strafvollzug, seiner Aufgabe und seiner Schwierigkeit Verbreitung findet. Zuletzt wäre zur Sicherung der Erziehungserfolge der Strafanstalt zu fordern, daß alle Maßnahmen aus dem Gesetz verschwinden, die den Verurteilten über die Strafzeit hinaus in seiner Freiheit beschränken und am Vorwärtskommen hindern. Diese Forderung bezieht sich natürlich nicht auf Maßnahmen, denen sich der Entlassene - wie z. B. der Schutzaufsicht. - freiwillig unterwirft. Wenn auch erst die unbestimmte Verurteilung den erwünschten Zustand bringt, so sollten doch schon jetzt die Ehrenstrafen, die nach der Entlassung den einzelnen Gefangenen zum Staatsbürger minderer Art machen, fallen. Mit den Aufgaben der Entlassenenfürsorge schließt sich der Kreis, der vom Rechtsbrecher zum Glied der Gesellschaft führen soll.
4. Volkshochschularbeit im Gefängnis* (Beobachtungen aus der Thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld von 1923 - 1930) Die Voraussetzung zum Verständnis jeglicher Absicht und Durchführung von Bildungsarbeit im Gefängnis ist das Verstehen der Situation des Gefangenseins. Das Vollziehen der Freiheitsstrafe nach richterlichem Urteile bedingt eine Reihe von Besonderheiten, gleichmäßig für Menschen aller Schichten, wenn sie zu diesem Zwecke in die Strafanstalt kommen. Im Vordergrunde der Geist und Körper erschütternden Faktoren steht das Moment der Trennung. Es ist nicht nur das gewaltsame Scheiden von der Familie, vielleicht das Herausgerissenwerden aus einer Arbeit, sondern das Getrenntwerden von der Welt insgesamt, die etwa in Organisation und Politik einen Inhalt hatte oder im Genuß: Weib und Alkohol ihre Erfüllung fand. Jedenfalls bedeutet diese Trennung einen scharfen Schnitt von Vergangenheit und Gegenwart, wie er entscheidender kaum wieder getan werden kann, zumal er oft auch recht plötzlich und unvorbereitet eintritt. - Und ebenso wie die gewaltsame Sonderung schmerzt die neue, erzwungene Gemeinsamkeit, die oftmals sogar noch schwieriger ist. Sie bedeutet ein Zusammensein mit Mitgefangenen, von denen ein Teil geistig nicht ganz gesund, in ihrem Gebahren und in ihren Anschauungen gerade dem erstmalig ins Gefängnis Kommenden Scheu und Abscheu einflößen. Dazu kommt die Gemeinsamkeit mit Beamten, die den Neuling aufsuchen wegen seiner Strafsache, seiner Bekleidung und Ernährung, wegen seiner Arbeit und seiner persönlichen Angelegenheiten. Dies kann an sich eine Erleichterung sein, aber ebensogut bei schlechter Verständigungsmöglichkeit noch mehr Schwierigkeiten und das Gefühl des Herausgefordertwerdens bringen. Nicht zuletzt bestimmen die Einrichtungen und die Räume, in welche die "Zugänge" gebracht werden, Empfindungen und Wünsche, die sich in solcher Not zaghaft oder vordringlich äußern. Aber die Not beginnt erst in der Einsamkeit. Dieses letzte sich in der Einsamkeit Überlassensein bringt, neben dem möglicherweise erschwerenden Schuldgefühl, eine Auslieferung an die Triebe, ein gesteigertes
* Erschienen in: Freie Volksbildung. N.F. des "Archivs für Erwachsenenbildung" 1930 (5) 329 - 344.
4. Volkshochschularbeit im Gefängnis
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oder geschwächtes Willensleben, zu dem vielfach ein ungeschulter oder krankhaft verbogener Intellekt kommt. Jeder Gefangene hat mehr oder weniger unter diesen Trennungen, Gemeinsamkeiten und überlassenheiten zu leiden. Das Empfinden der Intensität solchen Leides und seine Schäden gerade hinsichtlich einer Bildungsarbeit ist abhängig vom Gefangenen selbst. In der Regel sind es proletarische Menschen, die in den Strafvollzug kommen. Sie gleichen kaum in einer Weise den in Romanen geschilderten willensstarken Verbrechern, die nur Ausnahmefälle sind. Aus diesen ersten Erlebnissen im Gefängnis, die vielfach zerstörend sein können, erwachsen also Gefahren, die den Gefangenen einmal körperlich schwächen und krank machen können, die sich aber vor allem geistig auswirken. Die Sonderung in der Anstalt bestärkt vielfach den Rechtsbrecher in seiner falschen Haltung und, statt zu lösen, verhärtet oft die erste Gefängniszeit. Die Einstellung zur Gesellschaft, die den Gefangenen in diese besonderen Umstände bringt und hält, wirkt ablehnend und kehrt sich gegen die Beamten, die als Willensvollstrecker dieser Gesellschaft erscheinen. Als günstig muß noch die Haltung der Gleichgültigkeit bezeichnet werden, die vielfach bei Menschen zu finden ist, die sich außerhalb der Anstalt ähnlich hielten. Je älter der eingelieferte Gefangene, um so weniger stürzen sich im allgemeinen diese Schwierigkeiten auf ihn, während den Jüngeren eine gleichgültige Haltung nur selten überfällt. Weit eher nimmt der junge Mensch Stellung, vielleicht verrennt er sich krampfhaft, wütet gegen sich selbst, oder aber er besinnt sich und versucht neue Möglichkeiten. Diese neuen Möglichkeiten sollten in der versuchten Bildungsarbeit enthalten sein, und eine Chance sollte jedem, besonders dem Willigen, gegeben werden. Der Versuch der Bildungsarbeit im Gefängnis bedarf der Rechtfertigung vom Standpunkte der Gesellschaft aus, nachdem versucht wurde, die Situation des Gefangen-Seins zu skizzieren. Warum muß Bildungsarbeit im Gefängnis geleistet werden, wird die Frage sein, von deren Beantwortung jede weitere Stellungnahme zum Problem abhängt. Damit ist die Frage berührt nach dem Sinn von "Gefängnis", seinen möglichen Aufgaben und Grenzen. Die Gesellschaft hat dem Rechtsbrecher gegenüber ein großes Recht in Anspruch genommen, was dieser durch seine Tat verwirkt hat: das Recht, über sich zu bestimmen. Sie sondert den Rechtsbrecher und nimmt ihm damit hart und eindeutig zuerst einmal die Möglichkeit, weiter ihr Interesse zu schädigen. Hierdurch wird aber auch der Rechtsbrecher an erneuter Straftat gehindert und auf den inneren Schaden, den er bereits genommen hat, zunächst beschränkt. In diesem Zustand der Sonderung soll der Gefangene aber nicht dauernd belassen bleiben,
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
denn seine Strafzeit ist begrenzt, und es kommt daher darauf an zu finden, was es für Mittel gibt, den Rechtsbrecher nach seiner Entlassung von erneutem Rechtsbruch abzuhalten. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Gesellschaft den Gefangenen im eigene Interesse zumindest nicht materiell und ideell verkommen lassen, sie wird im Gegenteil alle Art Bildungsarbeit versuchen. Damit diese Maßnahmen sich, wenn auch persönlich, nicht willkürlich zeigen, ist es notwendig Richtlinien zu finden. Der deutsche Strafvollzug hat dies in "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. VI. 23" getan, indem er dem Sinne nach sagt: die Aufgabe des Strafvollzuges ist, die Gefangenen im Zwange zur Freiheit vorzubereiten. Mit dem Gefangenen soll in seinem und im Gesellschafts-Interesse etwas geschehen. Es muß die Erkenntnis wachwerden, nach der der Rechtsbrecher und die Gesellschaft gemeinsam an einer Nichtwiederholung des Rechtsbruches interessiert sind. Aus der Passivität früherer Betrachtung ist jetzt eine Aktivität, ein Vorbereitungsvorgang getreten. Die Dynamik hat auch hier die Statik überwunden. Ein grundsätzlicher Einwand taucht immer wieder auf: Weiß man, ob es lohnt, Arbeit, Bildungsarbeit auf den Rechtsbrecher zu verwenden? Die Antwort kann nur sein, man weiß es nicht. Wohl aber steht fest, daß der Gefangene eines Tages wieder frei wird und wieder in die Gesellschaft zurückkehrt. Ist er dann besser gerüstet? Im Interesse der Gesellschaft muß also unbeschadet von Erfolg oder Mißerfolg versucht werden, Einfluß zu gewinnen, denn Rechtsbrecher belasten den Staat. Es muß also mit Arbeit auf lange Sicht begonnen werden. Diese Arbeit hat mit dem Beobachten und Erkennen des Gefangenen zu beginnen und festzustellen: wie kam es zum Rechtsbruch. In welcher biologischen, psychologischen und soziologischen Situation befand sich der Betreffende, als er kriminell wurde und die Ursache seines Freiheitsentzuges, seine Straftat, sich ereignete. Bei dieser Erforschung der Täterpersönlichkeit können wir den Weg zur möglichen Heilung gewinnen. Grundsätzlich bleibt es falsch, einen "normalen" Menschen als unerziehbar anzusprechen. Auf welch lange Sicht gearbeitet werden muß, erweist die tägliche Erfahrung. Bei diesen Beobachtungen stellt sich oft heraus, daß nicht Mangel an Arbeit allein, sondern oft die Unfähigkeit der Freizeitgestaltung, der ein Inhalt und damit eine Befriedigung fehlte, den Fehltritt förderte. Solche Mängel muß die Bildungsarbeit in der Anstalt zu beheben versuchen. Aber diese Bildungsarbeit darf dann nicht im Gefängnis als Zusatz erscheinen, sondern sie muß das entscheidende Prinzip bedeuten. Sie soll versuchen, aus den in Not zusammengewürfelten Menschen nicht eine Verbrechergemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft Verbreche-
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rischer, die künftig ihr Leben aufbauen wollen, zu gestalten. Wie schwierig die Lösung dieser Aufgabe ist, wie sie aber trotzdem versucht werden muß, wird in Folgendem zu zeigen versucht. Die wesentlichste Grenze bei dem Versuche, Bildungsarbeit im Gefängnis im Sinne der Volkshochschule durchzuführen, gibt die Verpflichtung zur Sicherung der Gesellschaft. Es ist schon verschiedentlich betont, daß Erziehung nur in Freiheit wachsen kann, und gerade in der Strafanstalt als dem Ort strengster Gebundenheit ist dieser Mangel an Freiheit am stärksten erziehungshemmend. Es geht nicht an, unter Gefährdung der Sicherheit Erziehungsrnaßnahmen anzuregen, die bei Mißlingen den Einzelnen und die Gesamtatmosphäre weit mehr schädigen als wenige, geglückte Unternehmen. Erziehung kann nur langsame Aufbauarbeit sein, bei der versucht wird, organisch am Einzelnen und der Gesamtheit zu wirken. Bei der Einlieferung in das Gefängnis wird der Neuling in ein Gebilde eingegliedert, dem er naturgemäß ablehnend gegenübersteht. Nur wenige Gefangene kommen mit einer inneren Bereitschaft, im Strafvollzuge sich einzuordnen, um ein künftiges Leben vorzubereiten und aufzubauen, im völligen Gegensatz zu der normalen Bereitschaft eines Volkshochschülers, der in sein Volkshochschulheim freudig gespannt einzieht. Jede scheinbare Kleinigkeit trägt in der Strafanstalt dazu bei, diese Stimmung zu stärken oder abzubauen. Aus diesem Grunde müssen die drei Perioden des Gefangenentages: Ruhe-, Arbeits-, Freizeit klar hervortreten und möglichst sinnvoll gestaltet werden. Die Ruhezeit gibt die Voraussetzung für jede Betätigung, sei sie geistiger oder körperlicher Art. Sie bleibt mit den beiden weiteren Perioden in innigster Wechselwirkung verbunden und sollte die Aufmerksamkeit im Strafvollzug, der Bildungsarbeit leisten will, auf sich ziehen. Die Einrichtungen im früheren Strafvollzug gestalteten sich entsprechend den extremen Anschauungen. Man glaubte einmal, die Einzelzelle bei Tag und bei Nacht könne allein den Gefangenen zur Abschreckung, Schulderkenntnis und Reue führen, oder man lehnte zum anderen diesen Gedanken ab und schuf, auch aus fiskalischen Gründen, Massenunterkünfte in Schlafsälen, die nach Gemeinschaftshaft bei Tage bezogen wurden, und ebenfalls als Aufenthaltsräume für die Freizeit dienten. Die heutige Auffassung geht unter dem Zwange der pädagogischen Erkenntnis mehr und mehr dahin, nächtliche Trennung in Einzelräumen ist hygienisch und erziehlich förderlich. Man hat oftmals die geistige Krise unseres Volkes mit den Fragen der Wohnungsnot und dadurch gesteigerter Möglichkeit sittlicher Konflikte in Zusammenhang gebracht und sollte in den Gefängnissen auch schon aus Sicherheitsgründen diese nächtliche Trennung unter allen Umständen für Menschen jeglichen Alters und Geschlechts herbeiführen. Die Einzelzelle
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sollte im Gefängnis der Raum sein, in dem sich der gefangene Mensch am Tagesende entspannen kann, in dem er sich trotz aller Fremdheit zu Hause weiß und seinen persönlichen Bereich, den er vielleicht mit Blumen, Bildern von Angehörigen usw. schmücken darf, erkennt. Man kann ohne übertreibung aus der Erfahrung heraus sagen, daß die Mehrzahl der gefangenen Menschen diese nächtliche Trennung als Annehmlichkeit empfindet, ohne daß dabei der Ernst der Strafe gelockert wird oder gar ein Luxus gestattet sei. Wenn im Gefängnis mit Schlafsälen tagsüber wirklich Aufbauendes geleistet werden konnte, so muß es der Schlafsaal des Nachts zerstören. Gerade bei Häufung Verbrecherischer darf die Gesinnung der Kasernenschlafsäle, die noch harmlos bleibt im Vergleich zum Gefängnisschlafsaal, nicht geduldet werden. Die weiteren Perioden des Gefangenentages, Arbeits- und Freizeit haben in weitem Umfange pädagogische Aufgaben. Die Einstellung des freien Menschen zum Begriff der Arbeit ist in unserer Zeit in stetigem Wandel begriffen. Arbeit bedeutet im Gegensatz zum früheren Schaffen und schöpferischen Tätigsein in der Regel Fron und Betriebsamkeit zum Zwecke des Erwerbs materieller Güter. Wenn diese auch im Minimum in der Strafanstalt gegeben werden, so bleibt darüber hinaus doch noch das Bedürfnis nach Arbeit als Auswirkung des Betätigungsdranges, als Mittel, innere Schwierigkeiten zu überwinden, und nicht zuletzt zum Erwerb von Mitteln für die künftige Existenz oder die Bedürfnisse Angehöriger in der Freiheit. Es ist schon betont, daß die meisten der im Gefängnis Gehaltenen aus proletarischen Kreisen kommen, die entweder gewohnt sind, in ihrem Betriebe ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder als Erwerbslose mehr oder weniger lange hieran gehindert, ausgesperrt waren. Es fordert der Mensch in seiner Not die Möglichkeit zu erkennen, an welcher Stelle und mit welchem Recht er in den Betrieb eingespannt sei, und hieran entzündet sich bei den geistig Regsamen der Drang nach Bildung als Mittel zur Macht, über diese kümmerliche Existenz herauszuwachsen. Neben den Fabrikarbeitern ist die Zahl der Handwerker gering. Ihre Einstellung zur Arbeit ist schwankend, vorwiegend aber freudlos als Erwerb des Existenzminimums. Im Gegensatz dazu ist die Einstellung des Landarbeiters weit erdgebundener, und noch verwachsener mit dem Werden der Natur lebt der bäuerliche Mensch. Diese Unterscheidung in Bauer und Landarbeiter ist selbstverständlich zu machen, jener erfüllt von ideellen Werten oder sattem Zufriedensein, dieser ebenso ungestillt in seinen Wünschen wie der Industriearbeiter und leicht bereit, nach dieser Kategorie zu wechseln, falls sich Gelegenheit bietet. So kommt der Kreis der straffällig gewordenen Menschen meist aus der Schicht der Industrie- und Landarbeiter. Damit muß gerechnet und die Arbeitsmöglichkeiten in der Anstalt bedacht werden, die dann die Bil-
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dungsarbeit fördern, zum mindesten aber nicht hemmen sollen. Neben der Möglichkeit zur Betätigung in der Landwirtschaft sollte jede Anstalt Handwerkstätten und Fabrikbetriebe haben. Die Einteilung der Gefangenen zur Arbeit sollte möglichst nicht gegen ihren Willen und entsprechend ihrer Befähigung erfolgen, dabei aber auch Gelegenheit zur Lehre als Schulung und Aufstiegsmöglichkeit in künftiger Freiheit geben. Es ergibt sich aus solcher Aufzeigung sofort, wie Menschen mit kurzen Freiheitsstrafen (es seien denn gelernte Handwerker) den Fabrikbetrieben, solche mit längeren Strafen den Handwerkslehrstätten zugewiesen werden müssen. Bei landwirtschaftlich geschulten Kräften entscheidet die Frage der Sicherheit vor allen anderen. Muß so versucht werden, organisatorisch der Masse der Gefangenen einigermaßen gerecht zu werden, so bleibt als weitere Voraussetzung für die Beamten, die genaue Kenntnis der Lebensbedingungen freier Arbeiter unerläßlich. Die erziehliche Bedeutung recht vielfältiger Arbeitseinrichtungen in einer Strafanstalt, die vom Staate in privatwirtschaftlicher Form betrieben werden können, ist gewiß. Die Arbeitsgelegenheiten sollten vom Staat gegeben werden, um eine Ausbeutung der Arbeitskräfte durch Private zu vermeiden, dagegen sollen diese Betriebe privatwirtschaftlich geführt sein, damit sie in der heutigen Wirtschaftsform konkurrenzfähig bleiben. Spüren die Gefangenen so die Beziehung von Strafe zur Arbeit, als Möglichkeit im Gesellschafts- und persönlichen Interesse (bei gegebener Verdienstmöglichkeit) sich zu betätigen, so kommt es im günstigen Falle zu einer durchaus positiven Einstellung zum Betrieb, zur Werkstätte und erst recht zum landwirtschaftlichen Betätigungsfeld. Es wächst eine Stimmung cooperativen Zusammenwirkens, die jeden verpflichtet, "als ob er in eigener Sache arbeite", wie dies Besucher solcher Arbeitsstellen äußerten. Die Gestalt der Arbeit bedingt die Gestaltung der Freizeit. Hier kann das Hauptgewicht auf die Aufbauarbeit gelegt werden, die nach einem achtstündigen Arbeitstag nicht nur in der Strafanstalt Inhalt gibt, sondern auch darüber hinaus für die Zeit in der Freiheit anregt. Die Zubereitung der Speisen, für deren Kosten äußerst geringe Mittel zur Verfügung stehen, muß bei der körperlichen Erholung berücksichtigt werden, und man sollte sich nicht scheuen, beim Einnehmen der Mahlzeiten, besonders bei den erziehlich zugänglichen Gruppen auch äußere Formen zu fördern. Der Spaziergang, "die Bewegung im Freien", muß, soweit nicht Sicherheitsbedenken bestehen, so zwanglos als angängig stattfinden. In Höfen, die durch gärtnerische Anlagen, vieles Grün, Wasserflächen, das Auge ruhen lassen, entspannend und anregend wirken, ist körperliche Erholung möglich. Es sollte weiter selbstverständlich sein, daß auch den hygienischen Forderungen unserer Zeit in jeder Weise entsprochen wird. 20 Freiheitsentzug
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Die weitere Freizeit, deren Ausgestaltung teilweise geregelt, teilweise freiwillig vom Einzelnen eingeteilt ist, kann dem Leitgedanken der Berufsschulung oder der Bildung unterstellt werden. Neben der Verpflichtung zur Teilnahme an bestimmtem Unterricht besteht die Möglichkeit, freiwillig an Arbeitsgemeinschaften teilzunehmen, gemeinsame oder Einzellektüre zu treiben, an Gesellschaftsspielen, auch Bühnenspielen sich zu erfreuen, in körperlicher Selbstbetätigung im Sport und im Garten sich zu stärken, an Musik und nicht zuletzt am Aufbau der Strafanstalt als Organismus sich zu betätigen. Letzteres kann sich äußern in Beteiligung an gemeinsamen Aussprachen über das Gefängnisleben, in Vorschlägen von Verbesserungsmöglichkeiten, im Mitwirken an der Selbstverwaltung, in der eine bestimmte Gruppe lebt, oder durch Arbeit an einem Blatte, das von den Gefangenen "Die Brücke" genannt, die Aufgabe hat, Verbindung zu gewinnen mit einsichtsvollen Menschen außerhalb der Anstalt. In dieser Vielfältigkeit geistiger Betätigung, die Volksbildungsarbeit sein möchte, liegt die Wahrscheinlichkeit, daß der Masse der Gefangenen, den verschiedenen Gruppen und dem Einzelnen eine Möglichkeit zur geistigen Entwicklung gegeben wird. Vor Erörterung der Art, wie diese teils geforderte, teils freiwillig getragene Schulungs- und Bildungsarbeit vor sich geht, bleibt noch hinzuweisen auf die Einrichtung der Trennung der Gefangenen in Gruppen (Stufen), die vor allem eine individualisierende, erziehliche Scheidung vornimmt. Diese Einteilung in Stufen, die von den Ländern freiwillig durchgeführt wird, ("Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen v. 7. VI. 23"), kann nicht an sich mit Erziehung gleichgesetzt werden, wenn sie auch ein wesentliches Mittel der Bildungsarbeit bedeutet. In der ersten Stufe, in die der Gefangene bei seiner Einlieferung kommt, steht bei verhältnismäßig starker Trennung von den Mitgefangenen, die Einzelberatung und persönliche Hilfe im Vordergrund. Bereits in dieser Gruppe nimmt der Gefangene an bestimmten Bildungseinrichtungen, etwa dem Unterricht oder der Bibliothek teil, er bleibt aber im übrigen von einer Reihe von Bildungsmöglichkeiten solange ausgeschlossen, bis man seine Bildungsgeneigtheit erkannt zu haben glaubt. Dann rückt der Gefangene in die zweite Stufe auf. Auch hier bleibt, wie auch später, die Einzelberatung wichtig. Weiter wird dieser Gruppe, die die große Masse der Gefangenen aufnimmt, eine Reihe besonderer Möglichkeiten entsprechend der Bereitschaft zur Mitarbeit am Aufbau gegeben. Der dritten Stufe bleibt die durchgebildetste Form der Betätigung in Freiwilligkeit vorbehalten in der Selbstverwaltung, die in ihrem Bildungswert entscheidend und in ihrer Lebensform der eines Volkshochschulheims ähnlich ist.
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Nicht mit Unrecht heißt es, wie die Schüler, so das Heim, wie die Hörer, so die Volkshochschule und wie die Angehörigen der einzelnen Stufen, so die Gruppen. Bildung macht im tiefsten Sinne frei trot= äußerer Hemmungen des Gefängnisses, Bildung gibt Hilfe zur Selbsthilfe.
Der Unterricht für alle geistig irgendwie tätigen Gefangenen, die nicht durch Gestaltung ihrer Arbeit, z. B. Feldarbeit oder Sonderauftrag in Küche, Haus und Verwaltung daran gehindert sind, ist "Regel" für die Leitung der Anstalt, aber "Zwang" für eine Reihe von Gefangenen insbesondere der ersten und auch noch. der zweiten Stufe. Er hat selbstverständlich seine Sonderaufgaben und seine Methodik. Die Einteilung in Hilfs-, Elementar- und Fortbildungsschüler, unabhängig vom sonstigen Verhalten, läßt dies erkennen. In der Hilfsschülergruppe gilt es vor allem, das etwa noch vorhandene Schulwissen in straffster Methodik zu erneuern; die Elementargruppen haben dies zu festigen und zu ergänzen, während die Fortbildungsgruppen hierauf aufbauen. Die in der Volksschule üblichen Fächer sollen möglichst in freier und eigener Erarbeitung durchdrungen werden, und Methoden der Arbeitsschule ihre Anwendung finden. Alles Lebens- und Schulwissen muß der Unterricht klären und ein Verhältnis anzubahnen suchen zur intellektuell erfaßbaren Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft und umgekehrt. Hindernd bleiben eine Reihe stumpfer Menschen, die sich vielleicht nur auf besondere Anregung hin oder gar nicht beteiligen können. Der Unterricht bei den Gefangenen hat aber zu allen Schwierigkeiten des Erwachsenenunterrichts noch die des Wechsels der Teilnehmer in der Strafanstalt durch Einlieferung bezw. Entlassung. Vorteilhaft an dieser Regelung dagegen ist die Tatsache, daß alle kommen, daß die Schule nicht Sport ist und daß die Hoffnung besteht, dieser oder jener wird dennoch in irgend einer erzieherischen Weise berührt. Ein völliges Weigern der Mitarbeit wird als mangelhafte Erkenntnis der Notwendigkeiten und mangelhafte Führung bewertet. Freier in den Einzelwillen gestellt ist die Lektüre. Die Zusammenstellung solcher Gefängnis-Büchereien sollte nach dem Muster guter Büchereien des Landes, in der die Strafanstalt liegt, geschehen. Der Charakter der Bevölkerung, ihre Betätigung im Wirtschaftsprozeß und ihre Sonderneigungen bedingen die Bücherwahl. Diese "öffentliche" Bibliothek muß aber nicht nur offen sein für jede wesentliche Literatur aller Gebiete - ihre Grenze sollte nur fiskalisch sein dürfen -, sondern sie muß auch dem Gefangenen wirklich zur Verfügung stehen, um ein Mittel der Bildung sein zu können. Eine der letzten Nummern des Anstaltsblattes "Die Brücke" schilderte zum Tag des Buches unter dem Motto "Kommst Du zu mir, bist Du bei Dir" (Inschrift über dem Eingang einer deutschen Bücherei) die besondere Bedeutung des Bu20·
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ches im Gefangenenleben. Wesentlich ist dabei, daß die Bücher, die in der Freiheit aktuell sind (in den letzten Jahren z. B. die Kriegsbücher) auch für das Gefängnis die gleiche Bedeutung haben. Die Gefangenen in der ersten Stufe, getrennt von den anderen, haben den stärksten Lesehunger, die in Gemeinschaft lebenden Gefangenen haben der Statistik nach geringeres Lesebedürfnis, da sie auch eine Reihe anderer sinnvoller Freizeitbetätigungen haben. Die weiteren speziellen Bildungsmöglichkeiten sind bewußt den beiden Gruppen der zweiten und dritten Stufe überlassen. Dies bedeutet, da jeder irgendwie zugängige Gefangene nach bestimmter Frist dorthin aufrücken kann, keine allzugroße Härte. Ganz werden sich Härten und Fehler bei dieser Einteilung trotzdem nicht vermeiden lassen, wohl aber scheinen die Vorteile solcher Gruppenbildung nicht nur disziplinarisch, sondern auch volksbildnerisch ungleich größer als die genannten Nachteile. Die Arbeitsgemeinschaften, deren Teilnehmer sich in reiner Freiwilligkeit zusammenfinden, haben einen lebhaften Charakter volkshochschulmäßiger Betätigung. Der Leiter der Arbeitsgemeinschaft ist nicht mehr ein Vertreter der dienstlichen Funktionen, es kann ein Mitgefangener Leiter sein, sondern es ist der Mensch, der auf Grund besonderer Erfahrungen, größeren Wissens und reicherer Möglichkeiten den Gang durch ein bestimmtes Wissensgebiet zu führen hat. Man befaßt sich besonders gern mit Fragen der Wirtschaft, Geographie und Politik. "Die Biologie des Krieges" nach Nicolai's Buch, "Rohstoffe der Erde", nach Reichwein's Buch, "Holland in Geschichte, Kultur und Kunst", "Südosteuropa ", "Erziehungsfragen", "Arbeiterschaft und Kirche", "Die Entwicklung des Geldes", "Photographieren" und andere waren z. B. Themen solcher Arbeitsgemeinschaften. Die Form ist das Rundgespräch, das nach einleitendem Referat eines Teilnehmers beginnt. Es ist klar, daß in dieser freien, geistigen Betätigung Hemmungen fallen, Lockerungen entstehen und geistige Selbständigkeit wächst. Eine solche Arbeitsgemeinschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von einer solchen in der Freiheit, es sei denn, daß die vielfach größere und verbitternde Lebenserfahrung der gefangenen Teilnehmer wirke. Ebenso sinnfällig, wie für den gefangenen Schüler und den Lehrer Schulunterricht Zwang und Gefängnis bedeuten, bedeutete die Arbeitsgemeinschaft für beide Teile Freiheit und Volkshochschule bereits im Gefängnis. Die Musik ist als wichtiger Faktor in der Pädagogik erkannt. Viele empfindsame Menschen werten sie. Auch dieses Heilmittel muß gesellschaftlich Kranken gegeben werden. Es hilft aber noch weit mehr, wenn Musik nicht nur aufgenommen, sondern selbst ausgeübt wird. Chor, Streich- und Blasorchester zeigen die Möglichkeit für Menschen jeden Temperamentes in der Anstalt, auch darin eine Betätigungsfreude zu
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finden. Ihren gesellschaftlichen Wert findet diese Bildungsmöglichkeit in Darbietungen bei besonderen Anlässen an Sonntagen oder Festen, die wiederum anspornend wirken. Wer von den Gefangenen sich an der Musik mit einem gewissen Erfolg beteiligt, der lernt auch größere Schwierigkeiten zu überwinden. Wer dann aber weiter vor anderen etwas leistet, gewinnt einen Teil jener Selbstachtung zurück, die er zur Behauptung der geistigen Eigenexistenz im Leben braucht. Diese psychologische Wirkung auf den Spieler selbst gilt nicht nur für die Musik, sondern für jede andere Art von freiwilliger Betätigung im Bildungsaufbau, bei Bühnenspielen, Sport und Gesellschaftsspielen (Schachwettspielen usw.). Das Bühnenspiel hat in der Strafanstalt seine besondere Bedeutung. Es kann vielleicht in ganz anderer Weise als das Laienspiel außerhalb des Gefängnisses wirken. Wenn im allgemeinen beim Theater fragwürdig wurde, ob es noch als Bildungsstätte zu gelten hat, so ist dies im besonderen für die Anstalt unbedingt zu bejahen. Das Theater in der Freiheit bringt Stücke, die irgendwie unsere Zeit berühren. Das könnte auch im Gefängnis gebracht werden, dann aber nicht von gefangenen Laienspielern. Selbst wenn die schauspielerischen Kräfte vorhanden sind, so ist in der Regel zu viel verschüttet, und die Gestaltung der Not schon Beruf, sie ist Alltag. Der Primitive sucht im Theater nicht seine Zeit, sondern überzeitliches, er sucht den Gegensatz: das Frohmachende. Das Spiel von Laienspielgruppen mag Selbsthilfe sein, aber es bleibt die Hingabe wichtig, die dabei herrscht. So wurden in den letzten Jahren gespielt: von Sachs "Das Narrenschneiden", "Das Urner Spiel", von Wilhelm Tell, "Scherz, Satire, Ironie und ihre tiefere Bedeutung" von Grabbe, "Meister Andrea" von Geibel, "Der Arzt als Liebhaber" von Moliere, "Der zerbrochene Krug" von Kleist, "Der Nachtwächter" von Körner. Das gemeinsame Spiel bindet alle Beteiligten im guten Sinne und verpflichtet, es fördert durch Überwinden von persönlichen und technischen Schwierigkeiten, und der Einzelne sieht sich sinnvoll im Rahmen des Ganzen eingeordnet. Neben diesen Veranstaltungen, die den Einzelnen ernsthaft und im Interesse des Ganzen regelmäßig in Anspruch nehmen, ist das Gesellschaftsspiel eine Quelle menschenbindender Möglichkeit. Brettspiele sind dabei besonders beliebt, ihr Wert ist erhöht durch die Tatsache, daß sie selbst in der Anstalt gefertigt wurden. Wenn gerade Kriminalität wächst durch Mangel um ein Wissen, wie die Zeit sinnvoll verbracht werden kann, so ergibt das Gesellschaftsspiel eine beschauliche Möglichkeit dazu. Bei Einführung der dritten Stufe war das Kartenspiel gestattet, in dem Maße, wie die Selbstverwaltung innerhalb dieser Gruppe wuchs, wurde es als störend im Gemeinschaftsraum emp-
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funden und durch Abstimmung aus der Reihe der erlaubten Spiele selbst ausgeschieden. Die körperliche Betätigung bei Sport und Spiel ist im größtmöglichen Umfang gestattet. In der Freizeit können verschiedene Gruppen an Geräten turnen oder sich im Handball, dem beliebtesten Spiel, üben. Höhepunkte solcher Betätigung sind die Sportfeste, an denen neben turnerischen Vorführungen und Kämpfen um Preise volkstümliche übungen und Spiele gezeigt werden. Ein Handballwettkampf zwischen der zweiten und dritten Stufe um das Ehrenschild bildet remäßig die höchste Steigerung des Festes. Eine Art Zusammenfassung der Aufbauarbeit im Gefängnis sind die Feierstunden, die allsonntäglich stattfinden. Sie geben die Möglichkeit, alles, was in der Freizeit Wertvolles und Wichtiges erarbeitet wird, vor einem größeren Kreis zu zeigen und dann zu besprechen. Hier besteht auch die Möglichkeit, Anregung durch Außenstehende zu erhalten, die einen Zustand der Befriedigung über das Erreichte vermeiden läßt. Hier zeigt sich beim gefangenen Menschen eine besondere Note. Die in der Absperrung auf wenige Eindrücke beschränkten Sinne sind kritischer, aber sie zeigen auch eine erhöhte Bereitschaft zur Aufnahme. Wie die freien Künstler und Darbietenden diese erhöhte Bereitschaft ihrer gefangenen Hörer empfinden, beweist die Freiwilligkeit ihres Helfens in dem Empfinden einer Mitarbeit an der Aufgabe des Strafvollzugs. Es sollte selbstverständlich sein, daß für diese pädagogische Arbeit Mittel, und seien sie auch in Anbetracht der wirtschaftlichen Not der Zeit beschränkt, zur Verfügung stehen. Leider ist dem nicht so, und hier hat eine erweiterte Form der Arbeitsgemeinschaft eingesetzt, indem alle Interessierten ihre Pfennige in Anstaltgeld - wer und wieviel bleibt unbekannt - in die Kasse zahlen zum Erwerb eines Radio." und wenn möglich eines einfachen Filmapparates. Hier zeigt sich beim persönlichen Opfer der Wert .einer Gruppe, die trotz vieler, vieler Män..., gel aus dem Strafhaus zur Freiheit strebt. Eine weitere Bindung zur Außenwelt bedeutet die Zeitungslektüre. Sie läßt den Leser vielleicht erkennen, welche Stellung er· im großen Weltgeschehen einnimmt. Vielfach nehmen natürlich primitive Interes": sen nach Sensation vielleicht nur der Gerichtsteil den Leser in Anspruch. Aber auch hierbei kann eine Anleitung, Vergleichung, kritische Stellungnahme zur Erkenntnis verhelfen. Neben diesen, der persönlichen Freude zustrebenden Betätigungen, kommt noch das Mitwirken an der Gesamtaufgabe durch Beteiligung an den Gefangenenbesprechungen, der Durchführung der Selbstverwaltung der dritten Stufe und der Mitredaktion von "Die Brücke". Die
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Gefangenenbesprechungen werden von Fall zu Fall zur Erörterung dringender Fragen im Anstaltsleben einberufen. Sie dienen der gegenseitigen Beratung. Sie bedeuten in keiner Weise eine Gefährdung der Disziplin, da sie ganz im Gegenteil zu Formen der Erörterungen auch gegensätzlicher Meinungen erziehen. Nicht zu verkennen ist dabei die natürliche überlegenheit der Beamten den Gefangenen gegenüber, die niemals, insbesondere nicht hierbei, auch nur zu dem geringsten Mißbrauch führen darf. Beratende Stimmen von Mitgefangenen gewählter Angehöriger der zweiten und dritten Stufe bei Hausstrafsachen erweisen die Ernsthaftigkeit dieser Absichten. Die Selbstverwaltung im Rahmen der dritten Stufe hat ihre Bedeutung als das zentrale Element im Strafvollzug, dem Zwischenziel zur Freiheit, auf die ja alle Bildungsarbeit gerichtet bleibt. Hilfe zur Selbsthilfe muß den Organismus der Strafanstalt durchdringen und auch die gefangenen Menschen, die sich aus Dummheit oder Unkenntnis gegen dieses Prinzip auflehnen, zu gewinnen suchen. Selbstverwaltung in der Strafanstalt bedeutet während der Freizeit ein Zurücktreten der Beamten, eigene Ordnung im eigenen Bereiche und eine Reihe von Erleichterungen, die nur durch ernsthafte Leistung, nach Ablauf bestimmter Fristen, verdient werden kann. Das begreift jeder: Rechte geben Pflichten, und so gelingt es in der Regel, den Appell an das Vertrauen mit Erfolg an die Angehörigen der dritten Stufe zu richten. Die empfindlichste Strafe im Gefängnis ist Zurückstufung wegen Hausordnungswidrigkeiten, der größte Erfolg ist die gewährte vorzeitige Haftentlassung, die von der Bewährung des Gefangenen im Rahmen der dritten Stufe abhängig gemacht wird. "Die Brücke" zwischen Gefangenen und Freien ist schwer zu schlagen. Verständnislosigkeit auf der einen Seite steht haßerfüllter Ablehnung auf der anderen Seite gegenüber. Und doch muß eine Verbindung gefunden werden, damit jede der beiden Seiten keinen weiteren Schaden, sondern möglichst Nutzen voneinander hat. Diese Abhängigkeit voneinander spürt vielleicht am stärksten das Glied der Gesellschaft, das unbestraft, freiwillig im Gefängnis an Volksbildungsarbeit mitwirkt: der Beamte. Daher sollte sich die Öffentlichkeit seinen Mahnungen weniger verschließen, als sie es vielfach tut. "Die Brücke", das Anstaltsblatt, möchte zum Verständnis beider Seiten beitragen. Gefangene und Freie versuchen darin ihre Situation, die Lage der Zeit, die Fragen des Tages und der Ewigkeit darzustellen. Die Überlegenheit des Freien ist auch hier zu spüren und sollte verpflichten. Die letzte Art der Hilfe bleibt, wie in der Volkshochschule, die persönliche Beratung. Hier muß genaue Kenntnis der beiden Teile von einander bestehen, damit eine pädagogische Beziehung entstehen kann. Hier spürt der sinnengeschärfte Gefangene, ob sein Berater ihn bejaht, so wie er ist und ihm hilft, die Fehler zu bekämpfen, oder ob er ihn
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mißachtet. An dieser Stelle ist die Frage brennend, wer leistet solche Volksbildungsarbeit im Gefängnis. Von den vier Beamtengruppen, den Verwaltungs-, Sicherheits-, Werk- und Erziehungsbeamten·ist die letzte Gruppe insbesondere berufen, in der geschilderten Weise zu wirken. Wertvolle Beispiele sind es, wenn Beamte anderer Gruppen sich durch Teilnahme an Sport oder Musik bereitfinden, führend an der Aufgabe mitzuhelfen. Der bestmöglich vorgebildete Erziehungsbeamte bleibt der charakterlich Geeignete, in Volksbildungsarbeit erfahrene Mensch, der mit dem Bildungsgute unserer Zeit vertraut, nicht dilettantisch, sondern wissenschaftlich zu arbeiten weiß. Entscheidend bleibt, daß dieser Erziehungsbeamte "Fürsorger" nicht nur Wissensübermittler, also Lehrer, sondern persönlicher Berater bei Sorge des Gefangenen um die eigene Person, um Angehörige, bei Fragen der Entlassung und über die Strafzeit hinaus Helfer, Kamerad ist. Die Hemmungen der Bildungsarbeit sind mannigfaltig. Die besondere Situation des gefangenen Menschen bringt ein gesteigertes Mißtrauen gegen alles, was ihn im Gefängnis betrifft. Das Gebundensein und Sichausgeliefertwissen erhöhen die Unsicherheit. Nicht zuletzt ist vom Gefangenen aus erschwerend, daß er zur Außenwelt in seiner Abgeschiedenheit eine völlig falsche Einstellung gewinnt. Die allgemein schwierige Geisteslage unserer Zeit mit den schwankenden Maßstäben und der Verkehrung von Wahrheit und Unwahrheit, der Duldung, ja Belohnung von Verlogenheit, macht ihm dies noch schwerer. Aber auch die Träger der Idee der Volksbildungsarbeit haben zu kämpfen, um ihren geistigen Platz zu behaupten angesichts all der Schwächen und Fehler. Es gehört in der Tat etwas dazu "die Welt kennen und doch lieben", erst recht die Zuchthauswelt, die nur durch Liebe auf einen neuen Weg gezogen werden kann. Die weiteren Hemmungen der Bildungsabsicht liegen im Einzelwesen selbst. Nur ein Hinweis auf die körperlichen und geistigen Mängel sei gegeben. Man rechnet im Gefängnis mit 10 Ofo geistig Minderwertigen, die besser nicht mehr in die Gesellschaft kommen sollten, weil ihnen ein Eingliedern kaum gelingt. Man rechnet weiter mit etwa 40 Ofo von Menschen, die in ihrem geistigen Stand so schwankend sind, daß außerordentliche Gefahren sie bei ihrer Entlassung erwarten. Aber dennoch muß um ihret- - und des Restes - willen die Arbeit versucht werden, freilich in dem Wissen, daß nicht jahrelange Erziehungsfehler durch Bildungsarbeit, die zeitlich begrenzt ist, im Gefängnis aufgehoben werden können. Ein richterliches Urteil, das ein Zeitmaß festsetzen zu müssen glaubt, kann, wenn es zu kurze oder zu lange Freiheitsstrafe ausspricht, gleicherweise schwer schaden. Aus diesem Grunde sollte die unbestimmte Verurteilung einen Teil der Schwierigkeiten beseitigen.
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Die so begonnene Schulungsarbeit sollte ihre Fortsetzung nach der Entlassung finden. Die Volkshochschulgemeinden sind es, die besonders den freiheitsbereiten Entlassenen durch die Möglichkeit einer geistigen Wiedereinordnung in das gesellschaftliche Leben helfen sollten. Sie würden damit ihre Verbundenheit zur gesamten sozialen Frage erweisen. - Dies ist ja nicht nur die Aufgabe unserer Zeit! Bereits Pestalozzi hat in seinen Schriften über Volkserziehung und in denen über Gefangenenbehandlung so gedacht. Seine Nachfolger, insbesondere ein Pädagoge auf dem Gebiet des Strafvollzugs, earl August Zeller, hat bereits 1824 abgehandelt über: "Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will" . An diese vergessene und vielfach totgeschwiegene Bewegung sollte heute wieder angeknüpft werden und aus ihrem Inhalt eine neue Entschlossenheit zur Arbeit kommen.
5. Bericht über einen jungen Gefangenen* I. Der Lebenslauf a) Herkunft und Jugend
Ernst L. ist Ende des Jahres 1909 in einem ostthüringischen Dorfe, nicht weit von der Universitätsstadt des Landes, geboren. In diesem, teils von dörflichen, teils von ,städtischen Antrieben (die Geschwister arbeiten in der Stadt) durchpulsten Jugendleben blieb er bis nach Beendigung der Schulzeit, ging in einer ebenfalls benachbarten Industriestadt zur Lehre (Mechanikier) und wurde dann straffällig. Die Fälle (Eigentumsdelikte) wiederholte er noch als Jugendlicher, und k!am, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, nach dem Jugendgefängnis in E. Nach der Entlassung von dort sollte die vorher nicht vollendete Lehrzeit zu Ende geführt werden. Alle äußeren Bedingungen waren durch Arbeitsmöglichkeit, Unterkunft bei den Angehörigen und Schutzaufsicht durch eine geeignete Persönlichkeit, gegeben. Vier Monate nach der Entlassung aus dem Jugendgefängnis tötete Ernst L. seine Tante in der Absicht, in den Besitz von Geldmitteln zu gelangen. Im Februar 1929 wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem schweren Raub zu 12 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust mit Zulässigkieit von Polizeiaufsicht verurteilt, kam er im März 1929 in die Landesstrafanstalt in U. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Beobachteten ergeben sich vor allem aus der Betrachtung seiner Familie. Der Vater, 1865 in einem kleinen südthüringischen Dorfe geboren, besuchte dort die Volksschule und ergriff nach der Entlassung den entsprechend der lokalen Industrie einzig im Ort möglichen Beruf eines Porzellanarbeiters. Später zog er weg nach dem Geburtsort von Ernst, um bessere Erwerbsverhältnisse zu finden und anscheinend um körperlich gesundere Verdienstmöglichkeit (er war lungenkrank geworden) zu haben. Der Vater muß ein rechtschaffener Mensch gewesen sein, der sich redlich um seine Familie mühte und ihr bei seinem frühen Tode (er starb 1917 an Lungenschwindsucht) ein eigenes Häuschen, das die Mutter und einige Geschwister noch heute bewohnen, hinterließ. Von den Großeltern väterlicherseits war wenig in Erfahrung zu bringen. Während Ernst aufwuchs, waren sie schon längst tot. Der Großvater war ebenfalls Porzellanarbeiter gewesen. Ein Bruder des Vaters lebt
* Erschienen in: Zeitschrift für Kinderforschung
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noch; er wanderte nach Südamerika aus, wo er eine Verbesserung seiner Heimatindustrie (porzellanherstellung) auswertet. Die Mutter, 1868 unweit des väterlichen Geburtsortes geboren, kam ebenfalls wenig über ,ihren engen Lebenskreis hinaus. Noch nach der Geburt von sechs Kindern war sie gesund gewesen, aber seit Ernsts Geburt machten sich Herzbeschwerden bemerkbar. - Die Großeltern mütterlicherseits lebten in gehobeneren Verhältnissen. Der Großvater war selbständiger Schneidemüller und auch Ernst scheint nach, dieser Familie geartet zu sein. Die Mutter der Mutter kam nach verschiedenen Geburten in Krankheit, sie soll dann "tiefsinnig" gewesen sein "und ihr Zustand von unglücklicher Liebe herrühren". Im Alter von 27 Jahren starb sie in einer thüringischen Irrenanstalt am Nervenfieber. Zwei Schwestern der Mutter lebten unverehelicht in R., wo Ernst eine der Tanten in Abwesenheit der anderen tötete. Die Mutter selbst ist eine tüchtige, strebsame Frau, die den Kampf ums Dasein nach des Vaters Tode energisch aufnahm. Die Eltern Ernsts hielten 1890 Hochzeit. Im Jahre 1917 waren sieben Kinder dieser Verbindung entsprossen, bis auf Ernst lauter Mädchen. Der Knabe ist das jüngste Glied in der Geschwisterreihe. Die Mädchen sind geboren: EI. 1891, Ma. 1894, Fr. 1895, Em. 1897, Pa. 1904, Er. 1906 - Ernst 1907. Sie lebten alle in sehr geordneten Verhältnissen und sind bis auf' die Schwester Pa. verheiratet. Die Schwäger von Ernst haben ordentliche Positionen. Die Schwestern hatten alle etwas gelernt, entweder als Naherin, Stenotypistin oder in ähnlichen Berufen und nehmen ihren Platz im Leben' ohne Tadel ein. Niemand von den Angehörigen .ist, soweit dies festgestellt wurde, je kriminell geworden. Alle wurden mit ihren Lebensaufgaben fertig, ohne die Gesellschaft zu stören . . Die gesamte F1amilie steht an der Grenze vom klein-bürgerlichen zum "bürgerlichen" Leben. Insbesondere sind die jüngeren Töchter, die mit ihren "Gatten" in den gesellschaftlichen Schichten weiter steigen wollen, den älteren Schwestern, deren ;,Männern" 1.md Kindern in jeder Weise überlegen. Durch die gesamte Familie geht ein gesundes Streben, das dem Beobachter deutlich erkennbar sich aus Besuchen und Briefen eindrucksvoll erweist. Körperliche und geistige Pflege wird getrieben, Klavier und Geige sind selbstverständlich im Hause und die Mutter versteht es, ihre Kinder an sich zu fesseln, ohne sie zu hemmen. Die Persönlichkeit des Beobachteten ist schwer zu erforschen und darzustellen. Die Angaben der Familie, die sich immer wieder hinter Ernst stellt und darin eine bewundernswerte Aufopferung zeigt; wenden alle Berichte, auch die für Ernst ungünstigen, nach der günstigen
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Seite. Man versteht ihr Bestreben, denn nicht nur Ernst wird von solcher Feststellung getroffen, sondern die Gesamtgruppe, der er angehört. Sachliche Berichte sind nicht sehr zahlreich, die wesentlichsten geben als "Beleg" Einblick in die Persönlichkeit. Wichtig erscheint, daß Ernst als letztes Kind von sieben Geschwistern geboren wird. Die Eltern wünschten sich noch einen Jungen und waren bei der Geburt des Knaben erfreut, ihren Wunsch erfüllt zu sehen. Die Mutter gibt an, "nachdem mit den Nerven total fertig und so schwach" gewesen zu sein, daß sie "ganz von Sinnen war". Sie hat Ernst gestillt und sagt, "ich denke, daß er da alles weggetrunken hat". Ernst hatte nicht stark unter gesundheitlichen Beschwerden zu leiden. An Kinderkrankheiten erlebte er die Masern. In den Pubertätsjahren zeigte sich bei ihm ein starker sexueller Trieb, den er anscheinend selbst stark zu bekämpfen versuchte. Im 16. Lebensjahre, im Juli eines heißen Sommers, wurde er von seinen Angehörigen: Schwestern und Schwägern, angehalten, "doch nicht so dösig immer daheim herum zu sitzen", sondern sich gleich seinen Altersgenossen, auf dem Tan7Jboden und sonstwo 7JU ergehen. Er ging zum Turnerball mit, fiel einem 26jährigen Mädchen, das bereits zwei uneheliche Kinder hatte, auf und wurde von ihr "verführt und wahrscheinlich in alles eingeweiht". Übereinstimmend nehmen die Geschwister an, daß seitdem das Verhalten Ernsts sich in jeder Weise geändert hat, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Dieses sexuelle Erlebnis kann sehr wohl stark auf ihn ein- und nachgewirkt haben. "Die Frauen haben ihn so weit gebracht", richtig: seine hemmungslose Sinnlichkeit bringt ihn in dauernde Schwierigkeiten. Auch in der Strafanstalt leidet er glaubhaft sehr stark unter dem Entbehren eines Verkehrs mit dem anderen Geschlecht, der ja nicht immer Geschlechtsverkehr zu sein braucht. Das physische Bild gibt wenig Besonderheiten. Der medizinische Befund ist einwandfrei günstig. Dagegen muß für die psychische Entwicklung nach der Schulzeit die körperliche Reife als belastend beobachtet werden. Sie beeinflußte ihn in einem übernormalen Maße. Dabei sind seine geistigen Funktionen ausgezeichnet, er selbst aufnahmefähig und bei geistiger Arbeit konzentriert, wenn auch manchmal etwas Spielerisches in seinem Wesen stört. Bis heute haben sich keine körperlichen Beschwerden ergeben. Ein Sonderzeichen dieser Disharmonie gibt die Tatsache, daß der fein und kräftig gebaute Körper mit gut geschnittenem Gesicht Hände hat, die in ihrer Massigkeit in starkem Gegensatz zum sonstigen Habitus stehen. Intelligenz und Lebenswissen sind gut, weitere Beobachtungen psychischer Art, die auf ein Abweichen von der Norm schließen lassen, konnten bisher auch vom Psychiater nicht gemacht werden.
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Das Verhalten Ernsts zu seiner natürlichen Umgebung, in die er hineingeboren ist, wurde schon angedeutet. Die Familie hängt an ihm und er an ihr. Die Schwestern sowie die Mutter wollen sich trotz aller Angst um ihn und vor seiner Zukunft nicht von ihm lossa~n. Ernst hat mit 10 Jahren (nach Kriegsende), als die allgemeine Tanzreaktion einbrach, schon auf seine jüngeren Schwestern erzieherisch einzuwirken versucht, mit Ermahnungen und gar mit Ohrfeigen. Er lebte sich dabei in den Gedanken hinein, als einziges männliches Glied in der Familie Vertreter des Vaters zu sein. Sein Verhalten zum anderen Geschlecht ist bereits als stärkstens körperlich bestimmt angedeutet. Anscheinend durch Enttäuschungen in seinem "Liebeserlebnis" kommt er mit Frauen aller Art zusammen, gelangt aber erst nach der dritten Straftat ins Bordell (Sommer 1927). Zu Kameraden - während der Eisenbahnfahrten zur Arbeitsstelle, bei der Arbeit, in der Berufsschule usw. - hatte er anscheinend bis zu seinem besonderen Erlebnis gute Beziehungen. Ein guter und tüchtiger Schulfreund starb früh, mit dem anderen "Freund" beging er seine 3. Straftat (Einbruch beim Schwager). Ein begüterter Bekannter, den er auf seinen Vergnügungsfahrten kennen lernte, spornte ihn zu AUlSgaben aller Art an; sein großer Wunsch war, wie dieser ein Motorrad zu haben. Die Mutter hatte dies lange verhindert, konnte aber nach dem 16. Lebensjahre kaum mehr ernsten Einfluß auf die Freundschaften und Ernst selbst erwecken. Zu Menschen, die ihm vorgesetzt sind, kann er an bestimmten Tagen offen, ebenso an anderen verschlossen sein. Er vermag jede Situation verhältnismäßig rasch und gut zu überschauen und stellt sich darauf ein. Er erstrebt ein Ziel und ordnet dem vieles unter. Im Anfang seines Aufenthaltes hatte er unerwünschte Beziehungen zu einer Reihe Mitgefangener. Nach einer herbeigeführten Trennung, die unauffällig und für ihn im übrigen vorteilhaft war, hält er sich mehr zurück. Er ist froh, einen kleinen Teil der Freizeit neben der Ruhezeit in der Zelle veJ'lbringen zu dürfen und dabei doch Erleichterungen, wie Zeitungslesen, Teilnahme an Sport und Spiel, Unterricht und Arbeitsgemeinschaften, Feierstunden usw. nehmen zu können. Ernst kam mit dem 6. Lebensjahre zur Schule. Er war von Ostern 1916 bis Ostern 1920 in der Volksschule und von Ostern 1920 bis Ostern 1924 in einer Sondergruppe, die gründliche Ausbildung, u. a. auch in einer Fremdsprache, erhielt. Er war ein guter Schüler. Von Ostern 1924 bis Ostern 1926 war er in der Schlosserlehre in G. Zu seinem und der Familie Leidwesen konnte er nicht in das große optische Werk der anderen Nachbarstadt oder, wie er es sich wünschte, in eine Autoschlosser-Lehre. Obwohl seine erste Lehre nicht gut war - der Meister
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
arbeitete selbst nicht mit und beutete die Lehrlinge aus -, blieb Ernst dort in der Stadt wegen des ausgezeichneten Berufsschulunterrichts. Hier glaubt er technisch das Wertvollste gelernt zu haben. Infolge Betriebsumstellung kam er unter Schwierigkeiten aus dem 1. Lehrverhältnis in das 2., wo er aber nochmals 2 Jahre weiter lernen sollte. Hier sei die Arbeit sehr gut, dagegen der Fortbildungsschulunterricht sehr schlecht gewesen. (Seine Beziehungen zu Frauen können bei diesem Lehrwechsel Ursache und Wirkung zugleich gewesen sein.) Im Januar 1926 fand dieser Wechsel statt. Ernst hielt sich trotz verschiedener Schwierigkeiten bis April 1927 in der 2. Lehre. Erst erneute und entdeckte Straffälligkeit setzte der Ausbildung vorläufig ein Ende. b) Frühe strafbare Handlungen
Die strafbaren Handlungen Ernsts bestanden, soweit bekannt, zuerst in Kleinigkeiten: Ein Taschenspiegel vom Arbeitskameraden, ein Kursbuch und später dann Lebensmittel machen den Anfang. Weiter steuerte er einmal, seiner Leidenschaft gehorchend, unerlaubterweise ein Motorrad und kam zur Anzeige. Anscheinend wurden diese Sachen immer wieder beigelegt. Da die Mutter aber die Vormundschaft über Ernst doch nicht mehr zu führen vermochte, beantragten die Schwestern beim Amtsgericht Zwangserziehung, zu der sich auch die Mutter letzten Endes bereit fand. Seine Neigung zum Chauffieren ist auch heute noch außerordentlich. Im Dezember 1926 wird über Ernst Schutzaufsicht ausgesprochen. Während der Zeit, die Ernst in J. arbeitete, konnte er zu den Mittagsmahlzeiten nicht nach Hause kommen. Er nahm diese vielmehr im Haushalt seiner Schwester Ern. ein. Um sein flottes, seit Sommer 1926 erworbenes Auftreten fortzusetzen, entwendete Ernst im Haushalt seiner Schwester verschiedene kleinere Gegenstände, die er zur Deckung seiner Schulden verwendete. Wesentlich ist dabei die Tatsache, daß die Schwester Ern. hinterher feststellt: "Mein Mann hat Ernst von den interessanten Möglichkeiten eines Nachtlebens erzählt und ihn in dem Gedanken eines leichten Lebenswandels gefördert. Mein Mann trägt daher den größten Teil der Schuld ,selbst." Das Gericht erkannte den Mangel an erforderlicher Aufsicht an und urteilte sehr milde mit 4 Wochen Gefängnis für den Nähtischkastendiebstahl und 1 Woche Gefängnis für den Brieftaschendiebstahl. Die nächste strafbare Handlung erfolgte kaum zwei Monate nach der Verurteilung. Ernst hat die Gewohnheiten seines Schwagers weiter kennen gelernt und wußte dessen AuLbewahrungsplatz im Vertiko für Versicherungsgelder, die vorher vom Schwager einkassiert waren. Mit Nachschlüsseln drang Ernst zu einer Zeit, wo er die Wohnung bestimmt
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leer wußte, dort ein, öffnete die Behälter und nahm, was er wollte: Beim erstenmal 50 RM, dann 5 RM und beim drittenmal 1200 RM. Wie wenig sich nach Ansicht der Mutter und der jüngeren Schwester der Schwager um Ernst gekümmert hat, geht aus einer Erzählung der Angehörigen, die Ernst unabhängig davon ähnlich gab, hervor. Nach dem dritten Diebstahl wollte Ernst raschestens zum Vergnügen und fuhr mit einem Mietauto vom Tatort zum Oafe. Der vor wenigen Minuten bestohlene Schwager ging zufällig mit seiner Frau, der Schwester Ern., an dem aus dem Auto stürzenden Ernst vorbei, ohne ihn aber anzusprechen und zu fragen, woher er außer seinem Lehrlingstaschengeld Mittel zu Autofahrten und Cafebesuchen habe. Bei dieser Begegnung hatte Ernst noch die volle gestohlene Summe bei sich. Sie war in lustiger Gesellschaft und nach mehrstündiger Autofahrt mit anschließendem längeren Bordell- und später Hotelaufenthalt rasch vermindert. Bezeichnend war noch ein Vorwurf der Angehörigen, den man Ernst machte, wieso er das "schöne Geld" - es waren fast 1000 RMso leichtsinnig habe ausgeben können. c) Verhängte Strafen
Das Gericht setzte sein Urteil auf 1 Jahr Gefängnis fest. Die Strafe wurde bis auf einen zweimonatigen Rest, der unter Setzung einer Bewährungsfrist aufgeschoben wurde, vollstreckt. Die letzte bekannte Straftat, die Ernst wenige Monate nach der Entlassung aus dem Jugendgefängnis beging, war die, derentwegen er zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Nach der Entlassung aus dem Jugendgefängnis führte er zunächst ein zurückgezogenes Leben und nahm Beziehungen zu einem einfachen, netten Mädchen auf. Eine frühere Bekannte drängte sich dazwischen und veranlaßte ihn, die alten Beziehungen von neuem einzugehen. Der Verkehr mit der früheren Bekannten war ungehemmt, Ernst wurde krank (weicher Schanker), kam in Behandlung und erfuhr hier aber die HeHbarkeit seiner Erkrankung. Aus nicht ganz klaren Motiven kamen dann die Selbstmordabsichten und die Wünsche, sich noch einmal auszuleben. Zu letzteren gehörte Geld. Das sollte die Tante freiwillig oder gezwungen geben, "wenn sie dabei drauf ginge, sei es ihm egal". Das Mädchen scheint Ernst recht bearbeitet zu haben. Bemerkenswert erscheint eine ihrer Äußerungen ihm gegenüber, als er nach dem ersten Besuch ohne Vollendung der Tat wieder zurückkommt: "Du hast wohl keinen Mut?" Selbst wenn die Tante S. kleinlich war, wie dies später erörtert wurde, und wenn sie vielleicht auch töricht Ernst Geld verweigerte, so ändert dies nichts an der Tat.
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Der bisherige Bericht stützt sich im wesentlichen auf die in der Anlage beigegebenen Belege und läßt sich aus diesen weiter ergänzen. Diese Belege decken sich fast restlos mit den Angaben, die der Beobachtete über sich selbst macht. Diese Angaben werden auch teilweise aus den Belegen, bei Briefen, Auszügen usw., ersichtlich. In einer umf,angreichen Niederschrift, die auch auszugsweise nicht wiedergegeben zu werden braucht, versucht der Beobachtete naturgemäß seine Situation als möglichst günstig zu unterbauen. Er tut dies nicht mit ausgesprochener Absicht, aber er stellt doch in einigen Punkten gewissermaßen seine These gegen die der sachlichen Feststellung. Eindrucksvoll war für ihn die Haltung seines Lehrmeisters um Weihnachten 1925. Der Meister konnte seinen Betrieb der Rentabilität halber kaum mehr halten und suchte neue Produktionsgebiete sowie Ersparnismöglichkeiten. Vor Weihnachten inszenierte er nach Auffassung Ernsts ein Theater, indem er behauptete, eine Radnabe sei ihm von den Lehrjungen gestohlen worden. Der Meister wollte sie nicht eher fortlassen, bis das Ding wieder da sei. "Jetzt fuhr es mir wie ein Blitz durch den Kopf, paar Tage vor Weihnachten, er hat kein Geld, ein guter Grund, uns das Geldgeschenk zu versagen." Im Verlauf der Sache drohte der Meister mit Polizei und schlug die Lehrjungen; nur mit Mühe will sich Ernst beim Denken an seine Mutter beherrscht haben. Einige Monate später wechselte er aus diesem und arbeitstechnischen Gründen die Lehre. Im folgenden Sommer 1926 kam die Berührung mit dem anderen Geschlecht. Der E1all, der ihn mit der 10 Jahre älteren Frau zusammenführte, ist erwähnt. Ein gleichaltriges Mädchen lehnte ihn wegen seiner Uneriiahrenheitab: "Du müßtest nur ein Gymnasiast sein", ohne daß ihm der Doppelsinn des Wortes dabei klar wurde. Er fand Gefährten aller Art, jeder wollte ihn ausbeuten und einmal sollte er gar zum außerehelichen Erzeuger eines Kindes gemacht werden. Das gab ihm einen schweren Stoß und vorübergehende Besinnung, die indes nicht lange anhielt. Die 3. Straftat, die er selbst als aus Abenteuerlust und Sensationsbedürfnis gekommen ansieht, folgt rasch. Der Aufenthalt im Jugendgefängnis berührte ihn innerlich wenig. Die 4. Straftat, Tötung der Tante, sieht er als Akt der Verzweiflung an. Vielleicht war er trotz der aufklärenden Worte des behandelnden Arztes nicht restlos von der Heilbarkeit seiner Geschlechtskrankheit überzeugt. Zur Tat selbst kann er nur sagen, "daß die entstandene Todesfolge nicht und nie gewollt war, sondern mehr unglücklicherweise so gekommen ist". Die Zukunftspläne drehen sich schon wieder um vieles, obwohl das Strafende noch weit in der Ferne liegt. Die Stellungnahme des Beobachtenden, der die Tatsachen, die Äußerungen der Umwelt und Ernsts selbst hierzu wiederzugeben versuchte,
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kiann nur ohne Wertung und zusammenfassend sein. Ernst ist dem Berichterstatter seit .4 Jahren bekannt. Er hat im Grunde genommen immer den gleichen, innerlich vom äußeren Geschehen unberührten Eindruck gemacht. Bemerkenswert erscheinen trotzdem verschiedene Tatsachen. Ernst hat Bindungen an seine Familie, er kennt nicht nur die Geburtsdaten seiner Geschwister, sondern vermag über das rein Intellektuelle hinaus auch Schilderungen ihrer Persönlichkeiten zu geben, die der Berichterstatter aus eigener Beobachtung bestätigen kann. Insbesondere gilt das Zeigen eines Gefühls auch gegenüber der Mutter, die Ernst schätzt, aber trotzdem während seiner Handlungen vergiBt. Erschütternde Tatsachen sind da außer dem Tode des Vaters bis zum ersten großen Streit mit dem Lehrmeister Weihnachten 1925 nicht bekannt. Die Kriegszeit selbst hat er hingenommen, ohne unmittelbar davon betroffen zu sein, weil der Vater ja nicht Soldat war und die Lebenshaltung im Dorfe nicht unter den gleichen Schwierigkeiten wie in den Städten litt. Später kommen dann, im Sommer 1926, die ersten Beziehungen zu Frauen, die so völlig mißglückten und der äußerst starken Sinnlichkeit Ernsts nicht die Möglichkeit des Abreagierens gaben. - Zweifellos spielt seine Stellung als einziger Knabe in der Geschwisterreihe als Letzter, unter 6 Mädchen, eine besondere Rolle. Seine Erziehung wurde wesentlich von Frauen geleitet, denn mit 8 Jahren starb der Vater bereits. Die Beziehungen der Schwestern zu ihm sind fast alle sehr gut, sie erblicken in ihm wohl, ohne sich darüber klar zu sein, ihr Wunschbild des Mannes, und vielleicht auch des Vaters. Die Beziehungen der Schwestern zu ihren "Gatten" und "Männern" scheinen nicht mehr Schwierigkeiten zu bieten, als sie die Regel sind. Das Geschick von Ernst bestimmt gedanklich zweifellos stark die Situation der sonst gut beleumundeten Familie, wenn man sich auch im Leben damit abgefunden hat. Die Haltung der Außenwelt zu ihm selbst spürt Ernst sehr fein beobachtend. Sein Werkmeister hatte ihm nach der Entlassung nicht getraut, weil er nur wenig Papiere hatte. Der frühere Werkmeister hatte ihn einen Dieb geheißen und geschlagen, obwohl er sich unschuldig fühlte. Vielleicht hat auch dies Erlebnis den leicht erregbaren Menschen außerordentlich stark bestimmt. Der übertriebene Ehrgeiz kann ihn aber Zweifel nur als Kränkung empfinden lassen. Er zeigt dies auch im Anstaltsleben. Das Schlagen und Würgen des Schwächeren (sein Erlebnis als Lehrjunge und seine Tat mit der Tante) kann einen inneren Bezug haben. (Leonhard FI"ank, Die Ursache.) Wichtig ist weiterhin, daß die Straftaten nur an verhältnismäßig gut Bekannten oder Verwandten vorkamen. Jedes Risiko entdeckt zu werden, war also auf ein Minimum beschränkt. Trotzdem a'ber ist der Intellekt nicht stark genug, die Hem21 Freiheitsentzug
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
mungslosigkeit der Triebe zu zähmen und es kommt für die verfolgende Kriminalpolizei leicht zur Sicherung der Spur und Feststellung. Die Komplizen sind ebenfals einmal "der" Freund und einmal "das" Mädchen. Das Gesamtverhalten auch in der Anstalt gibt ohne viele Ansatzpunkte äußerst schwierige Aufgaben. Konnte man ilm vor dem Zuchthaus bewahren? Ob Erziehungseinflüsse gel'lade hier irgendwie den Menschen beeindrucken, bleibt fraglich. Im Grunde hält er sich anscheinend für ein Opfer, für einen Spielball des Schicksals und resigniert. Seine religiösen Motive erscheinen unecht. VieHeicht kommt bei abgeschlossener Geschlechtsreife - Ernst war zur Zeit der Begehung der Tat etwas über 183/4 Jahr alt und wäre beinahe noch vor dem Jugendgericht zur Aburteilung gekommen eine festere Haltung. Die freilich unnatürlichen Bedingungen, an denen gerade er sich nicht bewähren kann, in seiner Stellung zum anderen Geschlecht, muß er vorläufig durchleben. Ernst wird zurzeit als Tischler angelernt und leistet bereits nach einjähriger Lehrzeit Gutes und Beachtliches. In der Freizeit versuchte er sich korrekt zu halten, kam aber bereits zu Torheiten, die seine Unrei:lie erwiesen. Sein Innenleben spricht zum Teil aus seinen Briefen. Musikalisch nicht unbegabt, könnte er hierin einiges leisten. Von hier aus ergeben sich für den Beobachter, der hier berichtet, Anknüpfungspunkte, die eine ersthafte Betreuung erfordern, mit dem Ziel, die Schwierigkeiten der Stellung hier und die persönlichen Schwierigkeiten der Konstitution überwinden zu helfen. Eine eindeutige Prognose kann nicht gegeben werden. Die Beobachtungen werden weiter fortgesetzt. 11. Fremd- und Selbstzeugnisse zur Jugendstrafe a) Beurteilung vor und nach den Straftaten
Ernst, L., geb. 26. 12. 09. 25. Juli 1925. Bericht der Berufsschule in G.: "Ernst L. hat während seiner Schulzeit durch sein vorlautes, vorwitziges und auch mitunter dreistes Wesen öfter zu Tadel Anlaß gegeben. Gut veranlagt, zeigten seine Arbeiten doch häufig Oberflächlichkeiten und Leichtfertigkeit. Dabei hat er keinen schlechten Charakter, sondern war gutwillig, entgegenkommend und interessiert an allem Neuen." 12. November 1926. Bericht der gewerblichen Berufsschule in J.: Ernst L. ist Mechanikerlehrling und besuchte die Mechanikerldasse 11 c der gewerblichen Berufsschule. Den Unterricht in dieser Klasse erteilen die Herren Berufsschullehrer R. S. und lng. A. R. S. Die genannten Lehrer haben sich über Ernst L. in folgender Weise geäußert:
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"L. ist ein sehr flatteriger Mensch, der sich im Unterricht des öfteren schnodderige Bemerkungen erlaubt. Er hat aus G. und H., wo er die Berufsschulen besuchte, gute Zeugnisse mitgebracht, die sich allerdings jetzt nicht mehr mit seinen Leistungen decken. Über seine Führung außerhalb der Schule ist mir bisher nichts Nachteiliges bekannt geworden." gez. R. S. "Ich halte L. für einen eitlen, von sich sehr eingenommenen Menschen, der durchaus kein offener Charakter ist. Da L. bezüglich der Erscheinung ein hübscher Mensch ist, so vermute ich, daß er mit der Weiblichkeit öfters in Berührung kommt und dadurch zu Geldverbrauch veranlaßt wird und auf Abwege gekommen ist. L. bedarf einer energischen Hand, sonst kommt er sicher auf die Rutschbahn. Er ist mir persönlich daher durchaus nicht angenehm und wundert mich sein Vergehen nicht. Dies ist meine Meinung über L. Er hat bei mir Fachzeichnen; Leistungen 3 - 4." gez. Ing. A. R. S. 12. November 1926. Bericht des Lehrherrn P. L. in J.: Zeugnis
"Der Mechanikerlehrling Ernst L., geb. 26. Dezember 1909 in H. steht seit
1. April 1926 bei mir in der Lehre. Während dieser Zeit waren seine Leistun-
gen, Fleiß und Betragen zufriedenstellend. " 7. Dezember 1926. Stellungnahme des Landrats des Landkreises St.: "Seit Ostern 1924 ist er als Schlosserlehrling in der Kunst- und Bauschlosserei X. in G. in Arbeit und wohnt bei seiner Mutter in H. Seinen Lehrmeister habe ich nicht befragen können. Nach Angabe der Mutter spricht derselbe sich lobend über seine Arbeit und seinen Eüer aus. Auch soll er sich zu Hause gut führen und ordentlich sein. Der Vater ist schon seit 1917 tot, die Mutter wohnt in H. in einem Hause, ist Rentenempfängerin und handelt etwas (Butter, Eier usw.). Es wohnt zurzeit noch eine unverheiratete Tochter mit bei der Mutter. Weiter wohnt der Schwiegersohn der Frau L. (nicht der Besitzer des Motorrades) mit seiner Familie im Hause, der meines Erachtens geeignet wäre, die Vaterstelle an dem Jungen mit zu vertreten. Der Leumund der Mutter ist ein guter, den Töchtern sagt man etwas großtuerische Art nach. Das trifft nach meiner Beurteilung auch auf Ernst L. zu. In diesen geschilderten Verhältnissen würde der eventuell Verurteilte während seiner Probezeit zu leben haben. Im ganzen bin ich der Ansicht, daß nicht verbrecherische Neigungen und Verdorbenheit, sondern Leichtsinn, Unbesonnenheit und Leichtfertigkeit, wohl auch die Absicht, auf dem Motorrad zu fahren und groß zu tun, den Jungen zu dem Fehltritt veranlaßte. Die Fähigkeit, daß er wissen konnte, daß er etwas Strafbares tat, hat meines Erachtens E. L. Muß nicht auch ein gut Teil Schuld dem Besitzer des Motorrades zugemessen werden, der doch genau wußte, daß der Junge keinen Führerschein besitzt? Ich beantrage, den Jugendlichen unter Schutzaufsicht zu stellen. Ein geeigneter, tüchtiger Helfer wird meines Erachtens bei der Charakterveranlagung des Jugendlichen den erforderlichen Einfluß auf diesen ausüben können. Eine Verwarnung durch das Vormundschaftsgericht halte ich außerdem für erforderlich. " 21"
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4. Februar 1927. Urteil des Jugend-Schöffengerichts in J. (Auszug): Erkenntnis der strafbaren Handlungen besteht und deshalb für Straftat verantwortlich. Mit Rücksicht, daß es dem Angeklagten offenbar an der erforderlidlen Aufsicht fehlt, hat man als Erziehungsmaßregel Sdlutzaufsicht bei ihm für am Platze eradltet. Mit Erziehungsmaßregeln allein glaubt man jedoch nicht auszukommen. Der Angeklagte hat eine derartig niedrige Gesinnung an den Tag gelegt, indem er Guttaten, die er bei seinem Schwager genoß und das ihm von diesem entgegengebradlte Vertrauen in schmählidlster Weise mißbraudlt hat, daß eine Gefängnisstrafe am Platze erschien, zumal er aus keiner Notlage heraus gehandelt, das Geld in liederlidler Gesellschaft verpraßt hat und er ein sehr hohler, wankelmütiger, leidlt beeinflußbarer Mensch ist. Die Schwere der Verfehlungen soll nadldrücklichst zu Gemüt geführt werden, um vor künftigen Fehltritten zu bewahren. Deshalb 1 Monat Gefängnis. 3. Juli 1927. Urteil des Jugendschöffengeridlts in J. (Auszug): "In J. hat E. in der letzten Zeit bei einer Schwester, die mit dem Maler J. verheiratet ist, gegessen. Abends fuhr er zu seiner Mutter nadl H. Bei der Sdlwester hat er in Erfahrung gebracht, daß der Schwager größere Geldbeträge in seinem Vertiko aufbewahrte. Obwohl er ausreidlend Geld von zu Hause hatte, aber fortgesetzt in Geldverlegenheit war, entstand in ihm der Entschluß, den Sdlwager zu bestehlen. Weiter wußte er, daß die Sdlwester bei einem Besuch der Mutter in H. den Hausschlüssel hatte liegen lassen. Ferner war ihm bekannt, daß Schwester und Schwager Sonntagnachmittags und -abends regelmäßig von zu Hause weg waren. Den Entsdlluß, das Geld aus der Wohnung zu holen, faßte er und setzte ihn am 1. Osterfeiertag 1927 in die Tat um. Er vergewisserte sidl durdl Klingeln, daß die Verwandten nidlt zu Hause waren, sdlloß mit dem gefundenen Schlüssel die Wohnung auf, entnahm einem auf dem Vertiko stehenden Kasten 50 RM. Dieses Geld hat er an den beiden Osterfeiertagen mit seinem Freund R. durdlgebracht. Am folgenden Sonntag verschaffte er sidl ähnlidl Eingang in die verschlossene Wohnung, konnte aber nur 5 RM aus der Tasdle seiner Sdlwester entwenden, weil er nicht mehr vorfand. Zwei Sonntage später drang er zum dritten Male in die Wohnung ein, erbradl das versdllossene Vertiko gewaltsam .und entwendete daraus über 1200 RM. Mit dem Geld flüchtete er in einem Mietauto noch am gleidlen Abend nadl G. und vergeudete hier in 3 Tagen fast 1000 RM mit Dirnen und Zuhältern. Bei seiner Festnahme besaß er nodl 285 RM, die er durch die Verhaftung nidlt mehr ausgeben konnte. Im Urteil heißt es weiter: L. ist erst kürzlidl (4. Februar 1927) wegen Diebstahls zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Er hat einem anderen Schwager, bei dem er gleichfalls Gastfreundschaft genossen, nadl und nadl über 200 RM entwendet, und bei einer Autofahrt eine Geldtasdle von 20 RM gestohlen. Die ihm damals zugebilligte Bewährungsfrist hat den erhofften Erfolg nidlt gebradlt. Bewährungsfrist wird abgelehnt und der im früheren Urteil vom 4. Februar 1927 zugebilligte Strafaufschub widerrufen." b) Beurteilung durm die Jugendstrafanstalt und eigene Stellungnahme 21. Juni 1927. Niedersdlrift bei Einlieferung im Landesjugendgefängnis zu E. (Auszug): "Selbst in der Gefangenenkleidung macht er einen vorteilhaften Eindruck. Aus seinen Straftaten geht hervor, daß er äußerst leidltsinnig gehandelt hat. Trotzdem macht er nicht den Eindruck, als ob er im Grunde genommen ganz
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verdorben sei. Beachtlich ist die Tatsache, daß er der Jüngste von 7 Geschwistern und außerdem der einzige Junge ist. Er hat Schlosser gelernt. Seine im auffallenden Gegensatz zum übrigen Körper stehenden groben Hände und seine Lust auch an diesen schweren Arbeiten werden ihn zum Anstaltsschlosser befähigen. Besondere Beobachtung bezüglich Anfertigung etwaiger Nachschlüssel bleibt wichtig. Seinen geistigen Fähigkeiten entsprechend wird er in die Fortbildungsgruppe eingeteilt." 14. Juli 1927. Brief von Schwester P. an Bekannten, der in loser Beziehung zum Jug. Gef. stand und den Briefinhalt im wesentlichen zur Kenntnis gab. "Mein einziger Bruder, das jüngste Kind von uns 7 Geschwistern, ist leider sehr schwer auf Abwege geraten. Sie werden aus den Akten entnehmen können, welch schwerer Kummer durch ihn über die ganze Familie gebracht wurde. Trotz ausgezeichneter Anlagen und Fähigkeiten, die der Junge hat und die in uns allen die Hoffnung erweckten, daß er einmal der Halt und die Stütze unserer armen Mutter sein wird, hat er sich durch Leichtsinn und wahrscheinlich in gewissem Sinne auch krankhafte Veranlagung zu sehr schweren Verfehlungen hinreißen lassen, so daß er nun seine gerechte Strafe verbüßen muß. Für die arme Mutter ist das Ereignis eine furchtbar schwere Prüfung. Wir setzen alle Hoffnung auf den Aufenthalt im Jugendgefängnis. Vielleicht entwickelt sich der Junge doch noch zum Guten. Während seines Aufenthaltes im hiesigen Untersuchungsgefängnis haben wir nicht ersehen können, ob der Junge seine Taten bereut oder ob er in Haß und Bitterkeit an seinem alten Wege festhalten wird. Für unsere Familie ist jeder Beistand, der dazu beitragen könnte, den Jungen wieder auf den rechten Weg zu bringen, ein dringendes und herzliches Bedürfnis." 21. Juli 1927. Aufnahme-Niederschrift im Jugendgefängnis. "Zusammenfassung. L. ist über den Durchschnitt intelligent. So ist auch seine Straffälligkeit zu erklären. Als Grund zur Tat gibt er bezeichnenderweise Abenteuerlust und Sensationsbedürfnis an. Der Bericht des Kreisjugendamts St. gibt im wesentlichen auch meinen Eindruck wieder. Nach seiner Entlassung muß unter allen Umständen für L. eine Schutzaufsicht bestellt werdE'!n. Im übrigen war es höchste Zeit, daß er scharf angefaßt wurde. Bereits nach der ersten Verurteilung im Februar des Jahres hätte für L. eine Schutzaufsicht bestellt werden müssen." 9. Oktober 1927. Brief an Mutter (Auszug): "Ich glaube bestimmt, ein Brief erleichtert einem sein Los. Zu Deiner Freude (vielleicht) kann ich Dir mitteilen, daß ich jetzt auf die 2. Stufe versetzt bin. Ich will mich auch weiter gut führen, daß ich recht vorwärts komme und vielleicht doch noch etwas auf Bewährung bekomme. Liebe Mutter, mein Vergehen war zwar hoch bezw. groß, aber meine Strafe ist doch zu hoch für den Fall. Bedenke immer, es ist ein grundsätzlich verlorenes Jahr, stelle Dir vor was es heißt, aus meiner vergnügungsreichen Vergangenheit herausgerissen, ins Gefängnis gesperrt und bewacht wie ein wildes Tier, wenn Du Dich in meine Lage versetzt, kannst Du Dir ja ungefähr denken, was ich bisher schon gelitten habe und noch leiden muß. Ihr werdet nun 'sagen: "Das glauben wir schon, aber Du hast es ja nicht anders gewollt." In gewissem Sinn oder überhaupt ist das wohl richtig, aber glaubt, daß ich in dieser Zeit richtig bereut und eingesehen habe. Das Schmerzlichste kommt aber noch, Weihnachten im Gefängnis, Ostern Werners Konfirmation und
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ich im Gefängnis und wieder Pfingsten und immer noch im Gefängnis, stelle Dir vor was das heißt. Glaubt bestimmt nicht daß ich Euch das alles schreibe um mich von Euch bedauert zu sehen, nein nicht deshalb, sondern ich möchte nur recht bald wieder frei sein um nun, zur Erkenntnis gekommen, alles Verlorene wieder gut zu machen an Euch und mir." 31. Oktober 1927. Brief der Mutter an die Direktion des Jugendgefängnisses (Auszug): "Bitte um Aufklärung. Sie werden sich denken können, daß ich mit großer banger Sorge um meinen einzigen Sohn in die Zukunft sehe und es mir deshalb sehr am Herzen liegt inwieweit es bis heute gelungen ist, den Jungen zur Einsicht und Erkenntnis seiner schweren Verfehlungen zu bringen und ob die Reue darüber bereits die Tiefe erreicht hat, die notwendig ist, um ihn zu einem ernsthaften Lebenswandel zu bringen und nach Möglichkeit vom Schlechten abzuhalten, oder ob man wenigstens die Zuversicht haben kann, daß dieses Ziel durch die großen Bemühungen während seiner Strafzeit bei ihm erreicht werden wird. Aus seinem Brief ist unklar ob er gewisse Reue hat, ob er die Strafe als Sühne seines schweren Vergehens ansieht oder ob ihm nur die Behinderung seiner Freiheit Unbequemlichkeiten schafft, unter denen er leidet." Frage der Mutter, ob sie zu Weihnachten und zum Geburtstag sich zurückhalten oder schenken bezw. besuchen soll. Weitere Frage der Mutter, ob sie ein Begnadigungsgesuch einreichen soll. "Ich glaube aber, daß, wie hart er auch im Gefängnis angefaßt werden mag, die Strafe noch nicht die tiefe und bessere Wirkung gehabt hat, welche notwendig ist, um mich auf ihn verlassen zu können." - Die größte Sorge ist die Zukunft, besonders liegt die Gefahr in seiner starken Sinnlichkeit. Er schrieb, daß er in die 2. Stufe versetzt sei. "Ich hoffe sehr, daß diese gute Führung auf eine Sinnesänderung zurückzuführen und nicht allein in dem Ziel, eine Erleichterung zu bekommen, begründet ist." Was wird aus Zukunft? "Die früheren Erfahrungen haben zu gut gelehrt, daß der Einfluß der Familie auf meinen Sohn außerordentlich gering war. Bitte helfen Sie." 8. November 1927. Antwort von Direktion des Jugendgefängnisses (Auszug): . "Zum Helfen nach besten Kräften bereit. Auch hier besteht die Auffassung, daß er mehr unter den äußeren als unter den inneren Bedingungen des Gefangenseins leidet. Er steht vielfach dem Leben noch recht hemmungslos gegenüber. Es ist ja zweifellos so, daß vielen jungen Menschen bei einer ähnlich guten intellektuellen Veranlagung das Leben leichter erscheint, als es wirklich ist. Wenn er versucht hat, sein Geltungsbedürfnis auf unredliche Weise zu befriedigen, so ist das unter allen Umständen verwerflich und' besonders schwerwiegend, weil er seine nächsten Angehörigen dabei schädigte. An sich ist dieses Streben nach Geltung, das ein gesundes Ehrgefühl sein kann, vielleicht gerade bei Ernst die Stütze, auf die man aufbauen kann. Wegen der daraus ergebenden Einzelheiten möchte ich sehr gerne mit Ihnen sprechen und werde Sie aufsuchen." 22. November 1927. Bericht vom Besuch bei der Mutter in H. (Auszug): "Die Mutter, die kleinste Schwester und deren Bräutigam, die älteste Schwester, im gleichen Hause wohnend, und einige Enkel sowie die Schwester P. in der mütterlichen Wohnung angetroffen. Die Meinungen der Geschwister über Ernst sind einheitlich. Alle glauben, daß er durch die Mutter sehr verwöhnt sei und diese ausgenutzt habe. Die
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Mutter selbst hatte Freude an dem flotten Auftreten ihres Jungen und sparte nicht an ihm. Aus einem Nebenverdienst (Marktgänge nach G.) schaffte sie für E. Sachen. Ernst hat dann weitere Bedürfnisse, die legal nicht befriedigt werden konnten, durch Diebereien bei den Geschwistern und Schwägern gedeckt. Die Schwäger hätten sich zu wenig um E. gekümmert. Selbst als E. nach dem 3. Diebstahl in der 2. Diebstahlsperiode (dem 4. Sonntag nach Ostern 1927) zufällig vor der auf der Straße gehenden Schwester und dem Schwager aus dem Mietauto ausgestiegen sei, habe der Schwager und die Schwester, die E. vor einer halben Stunde bestohlen hatte, nicht die Energie gehabt, ihn anzusprechen und eventuell festzuhalten. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch den ganzen Betrag (1200 RM) in seiner Tasche. Die Angehörigen glauben auch an schlechten Umgang. Die Familie selbst macht einen sehr gehobenen Eindruck. Haltung, Kleidung, Einrichtung zeigen das Bestreben, etwas aus sich zu machen. Ernst übersteigert nun das, was an gesunden Bestrebungen im allgemeinen in der Familie liegt. Die Mutter hing sehr an E. und kam bei dem Bericht über ihn zum Weinen. Sie will ihn an Weihnachten besuchen und ein Paket mitbringen." 4. Dezember 1927. Brief von E. an Mutter (Auszug): "Bitte macht keinen Besuch. Als ihr das letzte mal bei mir wart und ich Euch wieder gehen sehen mußte bin ich bald verrückt geworden die nächsten Wochen. Solchen Eindruck hinterläßt ein Besuch und dann fällt mir meine Strafe paar mal so schwer." 6. Dezember 1927. Briefchen von einer Nikolausfeier im Jugendgefängnis. Faulheit ist eine große Krankheit, Bringt den Menschen gar nicht weit. Bilde deine Fähigkeiten aus, Dann kommst du kaum wieder in so ein Haus. Von 6 m Bast darfst du nicht bloß 5 cm flechten, Macht keinen guten Eindruck, sondern einen schlechten." (Ernsts Arbeitsleistung im Bastflechten zu Teppichen, Hausschuhen usw. war mangelhaft.) 12. März 1928. Brief der Schwester P. an die Direktion des Jugendgefängnisses: "Mein Bruder schrieb neulich, daß er in die 3. Stufe versetzt worden wäre, woraus wir erfreut entnommen haben, daß er sich zu einer guten Führung bemüht hat. Der Bruder deutete vorzeitige Entlassung an; besteht die Möglichkeit? Wir müßten ja sein Unterkommen hier vorbereiten, damit er irgendwo einen Platz findet, wo er, leider, seine so schroff unterbrochene Lehrzeit fortsetzen und beenden könnte. Meine Mutter wiirde, trotz Geldknappheit, die Mittel für die Lehrzeit aufbringen. Mein Bruder schreibt, daß er zu jeder Arbeit bereit sein würde und wir freuen uns, daß er den festen Entschluß zu einem gediegenen Lebensaufbau zu haben scheint. Wir fürchten aber, daß ein Leben als ungelernter Arbeiter seiner Veranlagung nach, ihm unerträglich werden wiirde und er dann dadurch wieder auf die falsche Bahn kommen würde. Ist Festigung des Charakters so, daß man auch eine gewisse Bürgschaft für sein Verhalten für die Zukunft übernehmen könnte? Aus seinen Briefen spricht guter Wille, aber es ist die große Gefahr bei seinem Leichtsinn und seiner überreizten Sinnlichkeit, daß er doch wieder entgleist."
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4. April 1928. Zweite Antwort der Direktion an Schwester P.: "Der Wunsch Ihres Bruders ist schon immer gewesen, als Chauffeur zu arbeiten. Seine Mutter hat es früher nicht gewollt und er glaube jetzt, daß dieser Beruf für ihn der richtige sei. Nach einem Brief an seine Mutter sieht er diese Möglichkeit, in einer Auto-Garage zu arbeiten, schon als ziemlich sicher, obwohl diesbezüglich noch keinerlei Vorbesprechungen stattgefunden haben. Bezüglich der Festigung seines Charakters möchte ich betonen, daß erst das Verhalten in der Freiheit erkennen läßt, wie es mit ihm steht. Zweifellos ist es so, daß er klüger geworden ist und schon aus diesem Grunde sich hüten wird, erneut straffällig zu werden. Er hat zweifellos einen guten Willen, auch seine starke Sinnlichkeit zu bekämpfen und zu begrenzen. Gut wäre jedenfalls ein Besuch Ihrerseits am 2. Ostersonntag." 5. April 1928. Beschluß des Anstaltsrats des Jugendgefängnisses: "L., Ernst hat sich hier so geführt, daß er am 1. März auf die 3. Stufe gehoben werden konnte. Unter der Voraussetzung weiterer guter Führung schlägt der Anstaltsrat vor, L. den Strafrest von 2 Monaten mit Bewährungsfrist und unter der Bedingung zu erlassen, daß er sich einer Schutzaufsicht unterwirft. " 26. Apri11928. Stellungnahme des Jugendgerichtshelfers des Heimatortes H.: "Vorweg betone ich, daß meine nachfolgende Äußerung zu dem Gesuch davon absieht, zu beurteilen, ob die Führung L.s im Gefängnis eine vorzeitige Entlassung begründet. Das ist wohl Sache der Gefängnisdirektion. Auf Grund des Verhaltens vonL., seinen Straftaten und seinem Lebenswandel kann ich eine Milde ihm· gegenüber, die in Erlaß der Reststrafe bestehen würde, nicht befürworten.. Ich könnte mich lediglich für eine Aussetzung der Strafe mit Bewährungsfrist aussprechen, mit Drohung der Verbüßung der Reststrafe. " . c) Entlassung auf Bewährung 6. Mai. 1928. Brief nach der Entlassung an die Direktion des Jugendgefän.gnisses (Auszug):. "Durch meine innere Überzeugung, durch Sie auf die richtigen Wege geleitet worden zu sein, fühle .ich mich veranlaßt, Ihnen nochmals von ganzem Herzen für alles Gute zu danken. Erst heute, nachdem ich zu Hause bin empfinde ich die Herrlichkeit was es bedeutet, Freiheit. Zu Hause gute Aufnahme. Nach einem Jahr das erste mal wieder zu Haus. Aber nach und nach kommt das alte Vertraute wieder und dann erst, als es ins. Federbett ging; Herr D., das Gefühl, mir wars immer als fiele ich mitten durch, so weich. Es ist mein fester Entschluß, dieses Bett in meinem Leben nie wieder mit einem anderen zu vertauschen. Wegen Arbeit kann ich noch nicht schreiben, werde es aber sofort tun, wenn ich dort in meiner neuen Stelle geschafft habe. Ich freue mich schon riesig auf den ersten Tag, an welchem· ich als freier Mensch dort arbeiten kann. Grüßen Sie bitte ..." 29. August 1928. Bericht des Schutzaufsichtsführenden C. B. an das Thür. Amtsgericht in E .. (Auszug) : "Bezugnahme auf mündliche Unterredung: L. fand sofort nach seiner Entlassung Beschäftigung als· Streckenarbeiter bei der Eisenbahn, wo er bei
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auskömmlichem Lohn etwa 4 Wochen arbeitete. Danach gelang es, für ihn in der Kunstschmiede und Bauschlosserei der Firma X. in J. eine Stellung als Hilfsarbeiter zu finden, wo er Gelegenheit hat, in seinem ursprünglichen Beruf zu arbeiten und sich beruflich bestmöglichst weiter zu bilden. Die Lehrzeit soll zu einem vorschriftsmäßigen Abschluß gebracht werden. Er erhält auskömmlichen Lohn für Lebensunterhalt und Kleidung. Der Inhaber der Firma hat überaus wohlwollendes Verständnis für die Sachlage. Nach L.s bisheriger Tätigkeit wird ihm ein sehr gutes Zeugnis über Leistung und Führung gegeben. In den Abendstunden besucht er von jetzt an die neu gegründete berufliche Mittelschule, in der er sich eine gute berufliche und Allgemeinbildung erwerben kann. L. wohnte bei einer streng christlichen, außerordentlich soliden Arbeiterfamilie, die ihn mit einer freundschaftlichelterlichen Fürsorge umgab. Aus verschiedenen Gründen hat er jetzt die Wohnung gewechselt und wohnt mit einem sehr ordentlichen, strebsamen jungen Mann zusammen. Ernstliche Verfehlungen bisher nicht. Er ist im Grunde gutartig und voll guter Vorsätze. Bedarf strenger Aufsicht und Kontrolle, da völlig amoralisch und krankhaft willensschwach. Eine Schwäche, die bereits durch geringe Mengen Alkohol katastrophal werden kann. Hier zeigen sich unverkennbare Auswirkungen erblicher Belastung und es liegt hierin der schwierigste Punkt für seine Erziehung. Systematische Beeinflussung fördert, wenngleich immer mit periodischen Störungen gerechnet werden muß. Es geschieht alles, um ihn auf den rechten Weg zu bringen und zu halten." 26. September 1928. Erklärung des Schutzaufsichtsführenden vor dem Amtsgericht in S.: "Mein Schutzbefohlener hat ein Verhältnis mit einem Mädchen und ist mit dieser am Sonntag nach R. gefahren und von dort bisher nicht nach hier zurückgekehrt. Wohl aber hat das Mädchen - Tochter eines Postbeamten - an ihre Eltern geschrieben, daß sie nicht zurückkehre und daß sie beide aus dem Leben scheiden wollten. Die Kripo in R. ist verständigt. Grund für die Absicht, aus dem Leben zu scheiden, könnte nur darin zu suchen sein, daß beide geschlechtskrank sind (Schanker, den er sich von dem Mädchen geholt hat)."
111. Fremd- und Selbstzeugnisse zur Zuchthausstrafe a) Gutachten 27. September 1928. Tötung der Tante. 29. September 1928. Erhebung der Anklage mit eingehenden Ermittlungen. 13. Oktober 1928. Erklärung des Vorarbeiters des Arbeitgebers zu E. L. nach der Tat: "L. hat auf mich gleich vom ersten Tage an keinen guten Eindruck gemacht. Er hatte außer seiner Invalidenkarte keine Ausweispapiere. Er zeigte hier unaufrichtigen Charakter; dies äußerte sich darin, daß er öfters seine Arbeitskollegen bei mir anschwärzen und sich herausheben wollte. Er versuchte sogar, mich bei der Firma in ein schlechtes Licht zu stellen. Er mußte gemerkt haben, daß ich davon erfahren hatte, denn er kam 14 Tage vor seinem Wegbleiben und frug mich, ob ich etwas gegen ihn habe. Hier habe ich ihm auch unverblümt erklärt, daß ich mit seinem ganzen Benehmen nicht zufrieden sei. über seine Arbeitsleistung bin ich zufrieden gewesen. Ich habe nicht
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gesehen, daß er sich gewalttätig zeigte. In letzter Zeit hat er, so weit mir bekannt geworden, Selbstmordgedanken geäußert." 16. November 1928. Gerichtsärztliches Gutachten (Auszug): "Befund. L. ist ein kräftiger, etwas blaß aussehender Mensch. Er hat einen unruhigen Blick. An beiden Halsseiten finden sich frisch verheilte Narben vor. Die Bindehaut beider Augen ist etwas gerötet. Das Gebiß ist in Ordnung. Die sichtbaren Schleimhäute sind gut durchblutet. Die Lunge erweist sich als gesund, die Herzgrenzen sind regelrecht, die Herztöne rein. Der Puls ist regelmäßig, kräftig und macht 76 Schläge in der Minute. Der Unterleib ist weich, nirgends druckempfindlich. Auf dem Rücken der Eichel befindet sich eine deutliche Narbe. Im Sulcus reichliche Smegma-Absonderungen. Die Pupillen sind rund, gleichweit und reagieren prompt auf Lichteinfälle und bei Konvergenz. Die Patelarsehnenreflexe sind regelrecht. Der Romberg ist negativ. Tricipsund Radiusreflexe sind gleichfalls regelrecht, ebenso Bauchdecken und Cremasterreflexe. Kein Babinski. Bei Intelligenzprüfung zeigt sich, daß L. ein gutes Schulwissen hat und daß er gut rechnet. Seine Intelligenz erscheint seinem Alter und seinem Bildungsniveau entsprechend. Sein Gemütszustand ist ruhig und zeigt weder Niedergeschlagenheit noch Erregung. Gutachten: Der Gesundheitszustand ist zurzeit ein guter. Die Symptome seiner syphilitischen Erkrankung sind durch bisherige Kur vollkommen zur Abheilung gebracht. Es ist bei dem kurzen Bestand der Erkrankung anzunehmen, daß er nach dieser Kur völlig geheilt ist. Weder der Geisteszustand bei der Untersuchung noch der Gemütszustand gaben Anlaß zu der Vermutung, daß er in seiner freien Willensbestimmung irgendwie behindert sein könnte. Er machte im Gegenteil den Eindruck eines geistig und gemütlich vollkommen gesunden Menschen. Ebensowenig ist anzunehmen, daß L. zur Zeit der Tat geisteskrank oder geistesgestört gewesen sei. Er ist im Gegenteil ein völlig ruhiger, kalt überlegender Mensch, der allerdings irgendwelche moralischen Hemmungen überhaupt nicht kennt. Das ergibt sich aus den meisten Berichten über seine bisherige Führung." (Es wird kein Bezug auf die Geisteskrankheit der Schwester der Mutter genommen.) Bezugnahme auf verschiedene Berichte: "Weiter hat L. seinem Arbeitskollegen K. H. nach dessen Angaben Lebensmittel, einen Taschenspiegel und ein Kursbuch entwendet. Seine Wirtin bezeugt, daß er ihr 20 RM entwendet hat. Der Gastwirt E. in L. gibt in seiner Aussage an, daß L. am Abend vor der Tat, als die S. schon zu Bett war, noch mit den gerade in seiner Wirtschaft anwesenden Burschen gesungen habe und sehr lustig gewesen sei. Es fehlt ihm jede edlere Regung. Selbst seine Liebe zu der S., die vielleicht gegen meine Ansicht sprechen könnte, halte ich nur für den Ausfluß einer sexuellen, erotischen Veranlagung und nicht einer tieferen seelischen Anteilnahme. Er ist ein rücksichtsloser Egoist, dem es auch gar nicht darauf ankommt, zur Befriedigung seiner Begierden ein Menschenleben zu vernichten. Das Motiv seines Selbstmordversuchs ist nicht in der Reue über die Tat oder einer sonstigen Regung des Gewissens zu suchen, sondern lediglich in der Furcht vor der Strafe und vor den Folgen seiner Erkrankung zu finden. Seine kalte, reuelose und egozentrische Gemütslage ist immer wieder aufgefallen. Die Frage, ob seine geschlechtliche Erkrankung auf seinen Geisteszustand von einem wesentlichen, im Sinne des § 51 in Frage kommenden Einfluß ist, möchte ich verneinen. Nicht die Sorge um seine Angehörigen oder um seine
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zu erwartende Nachkommenschaft ist es, die bei ihm diese Selbstmordgedanken aufkommen läßt, sondern nur die Befürchtung, daß das Mädchen krank war und sie beide bis zur Heilung den Geschlechtsverkehr hätten aufgeben müssen. Zudem war ihm ja vom Arzt gesagt worden, daß seine Krankheit heilbar sei. Zusammenfassung: L. ist geradezu der Typ eines haltlosen, egoistischen, genußsüchtigen, rücksichtslosen, jugendlichen Menschen. Seine Intelligenz ist gut. Durchaus in der Lage, das Strafbare seiner Handlungsweise zu erkennen. Der anfänglich durch die Geschlechtskrankheit zu erregende Depressionszustand ist durch die Auskunft des Arztes sicherlich beseitigt worden. Die überzeugung von der Unheilbarkeit seines Leidens wird ja von dem Untersuchten nicht mehr als Selbstmordmotiv angegeben. Die bestehende moralische Haltlosigkeit ist ja schon längst vor der syphilitischen Erkrankung vorhanden gewesen. Er ist voll verantwortlich und für den Arzt ist kein zwingender Grund gegeben, für eine mildere Beurteilung der Tat einzutreten." b) Das Urteil
19. Februar 1929. Urteil des Schwurgerichts beim gemeinschaftlichen Landgericht in R. (Auszug): "Der Angeklagte wird wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem schwerem Raub im Sinne des § 251 StGB. zu 12 Jahren Zuchthaus und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihm auf 10 Jahre aberkannt, auf Zulässigkeit der Polizeiaufsicht wird erkannt. Gründe: Reiste mit der S., der Verlobten, zur Tante. Der Angeklagte beobachtete dann mit der S. von einer an dem Wege nach dem Bahnhof gelegenen Gastwirtschaft aus wie die eine Tante zur Bahn ging und machte sich dann alsbald auf, um die Tante S. allein zu Hause anzutreffen. Er brachte aber, als er in der Wohnung war, nicht den Mut auf, den Plan, die Tante zu erschrecken und ihr Geld abzunehmen, auszuführen, und kam unverrichteter Dinge wieder in die Gastwirtschaft zurück. Die S. sagte darauf: "Du hast wohl keinen Mut." Die Absicht des Angeklagten war nun, zu warten, bis die zweite Tante A. wieder weg von zu Hause war. Er mietete für den geplanten Tag des überfalls einen Kraftwagen, damit sie möglichst schnell wegkommen und dann in den Schnellzug nach M. steigen konnten. Am Abend vor der Tat war er noch sehr lustig. Als er am Tag der Tat morgens wach wurde, sagte er zur 5., in deren Bett er mit geschlafen hatte, "heute geschieht's, heute kommt's darauf an, ich stecke meiner Tante ein Taschentuch in den Mund". Als die S. ihm erklärte, die Tante könnte dabei ersticken, sagte er: "Das ist mir egal." Er erklärte dann noch, er wollte dann die Tante aufs Bett legen als ob sie schliefe. Im Laufe des Vormittags sagte er weiter zur S.: "Wenn ich aufgeregt bin, weiß ich nicht, was ich tue. In mir kocht's schon; es wird schon gelingen." Er sprach auch davon, er wollte auf sie zustürzen, daß sie hinfalle. Er wollte ihr eine runter hauen. Wenn sie dabei drauf ginge, sei es ihm egal. Im Laufe des Vormittags kaufte er sich noch ein Vorhängeschloß. Damit wollte er nach der Tat die Falltür über der zur Wohnung der Tanten führenden Treppe verschließen.
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Während nun die S. am Donnerstag in der Gastwirtschaft wartete, ging der Angeklagte gegen 12 Uhr in die Wohnung. Die Tante saß in der Scheune und schnippelte Pflaumen. Er erklärte, er wolle sich verabschieden. Die Tante machte zunächst ruhig ihre Arbeit weiter, dann ging sie in die Wohnung. Die Tante wollte Essen kochen; aber nur für sich. Nachdem sie sich über belanglose Dinge unterhalten hatten, sagte der Angeklagte: "Tante, ich brauche Geld." Die Tante erklärte, daß sie selbst nicht viel habe. Sie könne ihm keines geben. Er erwiderte: "Ich brauche aber Geld", ging auf sie zu und packte sie. Sie fiel dabei aufs Sofa, vor dem sie gestanden hatte, und rief: "Ach Ernst, ach Ernst." Da nahm er ein Kissen und drückte es vors Gesicht. Wie er sagt, 2 - 3 Minuten lang. Möglicherweise hat der Angeklagte mit der Hand Mund und Nase zugehalten. Während der Angeklagte Mund und Nase zuhielt, gab die Tante Gurgellaute von sich. Als er sie losließ, blieb sie leblos liegen. Der Angeklagte hatte sie erstickt. Sodann ging der Angeklagte in das Schlafzimmer nebenan, um nach Geld zu suchen. Während er suchte, rief es unten. Der Angeklagte bekam es mit der Angst zu tun und versuchte, die Tante durch Wasser wieder zum Leben zurückzubringen. Als das nichts half, nahm er ein Messer, um sich die Halsader durchzuschneiden. Er schnitt sich am Hals und am Arm. Danach schrieb er am Boden liegend, einige Zettelbriefe an die S. und seine Mutter. Er suchte ein anderes Messer, schnitt sich wieder und blieb auf dem Fußboden liegen. Seine Verletzungen waren jedoch nicht erheblich. Nach einiger Zeit fand man ihn und die Tante S. Der Angeklagte bestreitet, daß er seine Tante habe töten wollen. Er habe sie nur erschrecken wollen, so daß sie ohnmächtig würde. So ist es jedoch nicht. Allerdings ging der Angeklagte nicht darauf aus, die Tante umzubringen, ihm war es um das Geld zu tun. Wenn er es nicht gutwillig bekam, was er selber nicht erwartete, wollte er es ihr mit Gewalt wegnehmen. (Zu den Angaben der S. wird in längeren Ausführungen Stellung genommen.) Der Plan war genau vorbereitet. Er hatte ihn mit klarem Verstand gefaßt und umsichtige Vorkehrungen getroffen, daß er schnell vom Tatort fortkam und daß die Tat nicht gleich entdeckt würde. Zweüel daran, ob er während der Tat mit voller 'überlegung gehandelt hat, ist nur deshalb, weil die Tante nach Ernst, ach Ernst" gerufen hat. Das war ein Umstand, den er wohl nicht in Betracht gezogen hatte. Das Rufen hat ihn nicht aus der Ruhe gebracht. Deshalb kommt nicht § 211 StGB., sondern nur § 212 in Frage. Er ist schuldig, die Tante vorsätzlich getötet zu haben. In Tateinheit damit hat er sich aber eines versuchten schweren Raubes im Sinne des § 251 StGB. schuldig gemacht. Der Angeklagte ist zwar noch jung, er hat auch die Tat vielleicht nicht aus reiner Neigung zum Verbrechen, sondern aus unglaublichem Leichtsinn und zu einem guten Teil wohl auch aus der Sucht, dem von ihm geliebten Mädchen zu imponieren, begangen. Andererseits grenzt aber die Tat ganz nahe an Tötung mit 'überlegung, worauf die Todesstrafe steht. Dazu kommt die Kaltblütigkeit, mit der er zu Werke gegangen ist und der vollkommene Mangel an Reue über die Tat. Deshalb war es geboten, nur wenig unter die Höchststrafe von 15 Jahren herunterzugehen. Eine Zuchthausstrafe von 12 Jahren usw. erschien gerechtfertigt."
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c) Verbalten im Zudltbaus 27. März 1929. Lebenslauf bei Einlieferung in die Landesstrafanstalt (Auszug): "Unglücklicherweise wurde ich schon im 2. Schuljahr vaterlos und mußte von meiner Mutter weiter erzogen werden. ... Bisher habe ich gelebt als anständiger Lehrjunge. Hier begann durch weniger liebsamen Umgang ein lustiges Leben. Dieses sollte mein Verderb werden. Ich wurde leichtsinnig, vergnügungssüchtig und durch Trinken und viehisches Sinnenleben, was ich heute erst einsehe, total willenlos. Dazu kamen noch Frauen der richtigen Art, welche es verstanden mich auszunützen und mich für sich zu gewinnen. So kam es, daß ich meine ersten Fehler beging und so kam ich auch zu dieser Tat, alle guten Meinungen und Zuredungen nicht achtend. Was die Tat anbetrifft, wegen welcher ich hier bin, kann ich nur sagen, daß die entstandene Todesfolge nicht und niemals gewollt war, sondern mehr unglücklicherweise so gekommen ist. Ich bereue mein Vergehen von ganzem Herzen und habe nur den einen Wunsch noch im Leben ein ordentlicher Mensch zu werden; um meiner lieben alten Mutter, an welche ich zwar zur Zeit der Tat wenig gedacht habe (die Getötete war die Schwester der Mutter!), sowie meinen Geschwistern doch noch einmal ein wenig Freude zu machen." 7. April 1929. Aufnahme durch den zuständigen Fürsorger (Auszug): Zu Ziffer 13. Eindrucksschilderung: "Bei der Aufnahme ist ersichtlich, daß L. die ganze Schwere seiner Tat und der Strafe noch nicht übersieht. Er macht, wenn darauf die Rede kommt, zwar einen geknickten Eindruck, der aber sehr schnell wieder verschwinden kann. Die Hauptschuld an dem Verbrechen schiebt er heute auf seine Braut. Anspornende (L. interessierende) Arbeit (von Beruf Mechaniker). Dabei könnte vielleicht seiner Verweichlichung etwas entgegengearbeitet werden." 22. April 1929. Schwester P. erscheint bei der Staatsanwaltschaft in J. und gibt u. a. zu Protokoll (Auszug): Es wären bei ihr und ihren Angehörigen 2 Männer gewesen, die ihren Bruder aus der Strafanstalt befreien wollten. Der eine sei in der Anstalt dort inhaftiert gewesen, der andere habe den Bruder in R. kennengelernt. Es wird später davon nicht mehr gesprochen. 23. Mai 1929. Ermittlungsbericht vom Gemeindevorsteher: Bis zur Lehrzeit alles ordentlich. Während der Lehrzeit in J. und in den folgenden Jahren entwickelte sich L. als ein recht eingebildeter frecher Junge. Dies ist jedenfalls auf den Umgang seiner Gesellschaft in J. zurückzuführen. 2. August 1929. Brief an Schwester M. "Non scholae sed vitae discimus, nicht die Schule, das Leben macht klug. Teure Schwester! Dank für Brief. Gott weiß es, was ich seit jener Zeit für sentimentale Anwandlungen habe, die ich in den letzten Jahren meines Lebens nicht der Ahnung nach mehr gekannt habe. Ich sage nochmals liebe Schwester, was sind Worte aus meinem Munde, der ich früher schamlos gesprochen und gehandelt habe. Aber dennoch weiß ich, war auch die Tat viehisch! so mußte es doch so kommen, es war providentiell von der Vorsehung bestimmt. Diese Worte klingen absurd aus dem Munde eines dummen Burschen, aber es ist so. Es würde noch manches dummer klingen, wenn man meine Person wie
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Ihr sie kennt und schätzen müßt, daneben stellt. Aber Gottes Wege sind wunderbar und hier ist ein solcher, von Herzen danke ich meinem Gott, daß er mich errettet hat vor völliger Vertierung, ja wie es auch klingen mag, ich war wirklich nicht mehr weit vom Tier entfernt. Strebt ein Tier vorwärts? ... Ich war noch niedriger gesunken, allegorisch genommen, als ein Tier, denn ich habe nur frevelnd genossen, ohne Rücksicht auf meine mir durch Gottes Güte gegebene Mutter und Geschwister und Bekannte, noch auf meine Gesundheit, noch, und das am abscheulichsten, auf mein Seelenleben. Nun dieser Ausbruch sei genug. Gott hat in mir durch dieses grausame Werk etwas in mir geweckt. Etwas Köstliches, das Alles des Menschen, den Willen ...." Am Briefende kurze Anfrage wie es ginge und Dank, daß sie noch an ihn dächten. 27. September 1929. Kassiber an Mitgefangenen (Auszug): Ausdruck der Hoffnung durch Befreiung auf eine geheimnisvolle Art. "Am Montag Schlag auf Schlag muß sitzen. Hurra, welch eine Lust zu leben. Wie wird sich mein liebes Muttel freuen, endlich ein paar Zeilen von mir, ihrem Stromer und Taugenichts, zu bekommen." 1. Oktober 1929. Hausstrafkonferenz.
"Das Ganze sieht sich wie ein Dummerjungenstreich an. L. wurde mißbraucht von einem gerissenen Mitgefangenen. " 13. November 1929. Brief an Schwester P. (Auszug): "Liebe Schwester P.! Eine kleine Impertinenz muß ich mir gestatten, wenn ich ehrlich sein soll. Ich wundere mich, daß Du mir so lange nicht schreibst, weil ich immer daran denken muß, Du warst trotz meiner unverzeihlichen Schwächen die Nachsichtigste und Beste (außer Mutter mir gegenüber). Dies soll genügen, Du darfst ruhig daran glauben, daß ein E. L. trotz allem sehr platonisch sein kann. Bittet um Musikalien-Noten und Instrument. Gesund bin ich bis auf eine krankhafte Sehnsucht nach ... ! die wohl niemals gestillt werden wird, vielleicht nicht eher als sie einen Menschen wie mich total zerrüttet hat. Sie zu unterdrücken gelingt mir nicht, weil es direkt gegen das Natürliche wäre und so wuchert sie denn und wächst und bringt mich zu Zeiten fast aus der Fasson. Du wirst es nicht glauben, richtiger gesagt fassen können, daß irgendein Schuh, den ich zufällig sehe, imstande ist, mich dermaßen aufzuregen, daß ich wie ein Wahnsinniger für mich hinphantasiere und allerlei Dummes sinne und grübele. - So bin ich nun, möge man darüber sagen, was man will, es wird sich bald genug alles beweisen, Sonnabends ists am schlimmsten. Verzeih diesen Blödsinn und sei wieder gut Deinem elenden Bruder Ernst." 4. Januar 1930. Brief an Schwester M. (Auszug): "Liebe Schwester! Dank für Weihnachtspaket. Das Paket nun war nötig, stelle Dir vor, um einen Menschen wie mir deutlich zu machen, was Du, was Ihr für mich übrig habt. Was war ich für ein hirnverbrannter Tor, ja warum? "Gottes Will hat kein Warumb" sagt Agnes Günther. Es ist schrecklich jetzt in meiner Lage, nun man muß es tragen, es vergeht auch wieder.
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Nun komme ich auf eine Frage von Dir zurück. Du sagst - was hast Du für ein Gefühl, wenn ich Dir schreibe? Wir fürchten uns jetzt alle vor Dir usw. IDas Gräßliche was Du weiter schreibst lasse ich fort. Zu dem Sinn Deines Satzes möchte ich sagen, ist die Angst bei der formellen Lage der Angelegenheit nur berechtigt. Auch mir würde es nicht anders gehen. Die Wirklichkeit aber sollten Euch meine Worte "ich bin kein Dieb und kein Mörder" geben, wenn Ihr es fertig bringt an die pure Wahrheit und den tatsächlichen Ernst dieser Worte zu glauben, ... es kostet mir viel, diese Zeilen zu schreiben, ich muß Dir nochmal sagen, auch ich bin ein Mensch von Begriffen, das scheint Ihr bei allem, wie logisch, außer acht zu lassen. Und trage mehr, tausendmal mehr als sonst ein Durchschnittsmensch. Ich bitte nicht um Glauben, denn das tut weh, aber um eins bitte ich, fragt nicht weiter, es quält mich zu schanden, andernfalls bin ich gezwungen, alles zu ignorieren. Glaubt an das mehr, was Euch Euer Inneres sagt, als das, was die Gerichte urteilen. Für Deine guten Ratschläge danke ich Dir recht herzlich, ich befolge sie schon lange. Gute Wünsche fürs neue Jahr." 30. Januar 1930. Fürsorger 1. Stufe bei Aufstufung zur 2. Stufe: "L. hat sich äußerlich sehr korrekt geführt. Sein unzertrennlicher Verkehr mit W. S. zeigt, daß sein äußeres Verhalten nicht ganz seiner inneren Einstellung entspricht. L. ist großer Schauspieler, besitzt starken Geltungstrieb und kaum etwas Gemüt." 23. Februar 1930. Brief an Schwester E. (Auszug): "Bin fest entschlossen, mein Leben selbst zu gestalten und dazu gehört vor allem, daß man alles peinlich überlegt und ausführt. Deshalb hat es keinen Wert, indirekt von mir eine Aufklärung der Affäre zu verlangen. Ein Teil des Makels bleibt auch dann zurück auf mir wie zum Teil auch auf Euch und so sage ich mir, auch Pietät hat ihre Grenzen, sobald die Vernunft es gebietet. Hiermit endgültig Schluß. Nun einiges Allgemeines. Du wirst wissen, daß ich hier als Tischler arbeite, nicht wahr, hätte ich diese Arbeit nicht, so wäre ich schon wahnsinnig, das darfst Du glauben. Wir haben hier einen außerordentlich tüchtigen Obermeister, der mir viel zeigt und erklärt und mit seiner Hilfe und meinem ganzen Willen habe ich schon allerhand gelernt; werde aber vor allem etwas Ordentliches leisten können, wenn ich noch ein Jahr gearbeitet habe. Vorausgesetzt, daß es mir im Interesse der Gesunderhaltung meiner Nerven möglich ist, dies auszuhalten. Meine Strafe wird mir zum Wahnsinn schwer. Das völlige Entbehren von Frauen, das soll nicht heißen, ich habe nun wollüstige Gedanken, nein und nochmals nein, aber ohne Frauen ein steter aufreibender Kampf mit sich selbst treibt zu sogenannter Torheit, zum Wahnsinn oder aber Stumpfsinn; ja abgestumpft sind sie, die langjährigen Sträflinge oder sittlich entgleist, das sind meine drückendsten Sorgen. -" 17. April 1930. Antwort der Schwester P. (Auszug): "Der erste Schritt zur Besserung soll die Reue sein. Die ist es gerade, die ich bei Dir vermisse. Du stellst Dich immer noch als unschuldig hin, schreibst sogar "ich bin kein Mörder und kein Dieb", wie willst Du einem das erklären? Wenn Du Dich unschuldig verurteilt siehst, warum unternimmst Du nichts dagegen? ... Deine Briefe sind immer furchtbar unklar und zerrissen, kannst Du Dich nicht für kurze Zeit konzentrieren und mal etwas sachlich schreiben? Um Mutter mach Dir keine Sorge, sie ist ein gefestigter Mensch. Hättest Du
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früher einmal an Mutter und überhaupt an uns alle gedacht, dann hättest Du uns und vor allem Dir viel Schweres erspart. Daß Du Dein Los immer mit Schicksal bezeichnest ist grundverkehrt, jeder Mensch baut sich sein Schicksal selbst. " . Damals als S. bei uns war, sah man hoffnungsfreudig in die Zukunft und wünschte Dir alles Gute und Schöne und was ist uns geblieben: einen Brief ins Zuchthaus darf man Dir schreiben." 18. April 1930. Hausstrafsache, weil L. die Feierstunde am Karfreitag, in der durch Radioübertragung ein Vortrag über Parsival geboten wurde, störte. 18. Mai 1930. Brief an Schwester P. (Auszug): "Mit dem größten Teil des Inhalts bin ich zufrieden, wenn auch mit einigem nicht ganz einverstanden. Dank für Offenheit. Alle meine Zukunftspläne sind mit von Euch abhängig." 14. Juni 1930. Brief an Onkel in Chile (Auszug): Schreibt nichts von der Straftat. Nur allgemein: "Ich habe gefehlt. Solltest Du schon unterrichtet sein, so bitte ich Dich um so mehr, verstoße mich nicht endgültig, denn Du nimmst mir damit die letzte Hoffnung, für mein zukünftiges Leben, inwiefern davon später; beherzige bitte diese Bitte eines Fehlgegangenen, welcher nicht verloren sein möchte, sondern der endgültig wieder gut machen will, was er versäumt, soweit möglich."
B. Beiträge aus der Zeit von 1951 bis 1977 1. Kulturnationen erörtern Strafvollzugsfragen* Teil l: Bericht über den Ersten UNO-Gefängniskongreß in Genf a) Teil I: Bericht über den Ersten UNO-Kongreß in Genf vom 22. August bis 3. September 1955 Einleitung: Die beiden übernationalen Strafvollzugskongresse 1955 In der Zeit vom 22. August bis 3. September 1955 fand in Genf im Gebäude des europäischen Büros der Vereinten Nationen, dem "Palais des Nations", der Erste Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Straffälligenbehandlung statt. Er war einberufen worden auf Grund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 1. 12. 1955, alle fünf Jahre auf einem Weltkongreß über diese Fragen zu verhandeln. Dabei sollten die Fachfragen zur Erörterung kommen, die von auserwählten Korrespondenten des Generalsekretariats der Vereinten Nationen in verschiedenen Regionen der Welt für erörterungswert gehalten werden. Das Programm für 1955 wurde vom Generalsekretariat beschlossen, nachdem es die Aufgaben der "Internationalen Strafrechts- und Gefängniskommission", die 1950 aufgelöst wurde, übernommen hatte. Die Themen des Genfer Kongresses 1955 befaßten sich ausschließlich mit Fragen der Strafvollzugspraxis und der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet der Jugendkriminalität. Damit knüpfte die Weltorganisation der Vereinten Nationen zugleich an die Tradition der 1846 begonnenen übernationalen Tagungen an, auf denen vor allem Fragen des Gefängniswesens, der Verbrechensverhütung und der Entlassenenfürsorge behandelt worden waren. In der Zeit vom 12. bis 18. September 1955 fand in London im Bedford College der Dritte Internationale Kongreß für Kriminologie statt. Er war einberufen von der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie. Das Hauptthema, das in mehreren Vollversammlungen und zahlreichen Arbeitsgemeinschaften von den verschiedensten Gesichtspunkten aus im Rahmen kriminalpolitischer und sozialpädagogischer· Fragen behandelt wurde, war: Der Rückfall.
* Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1955 (5) 282 - 312. 22 Freiheitsentzug
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Wenn dieser Kriminologenkongreß auch nicht auf eine so lange Tradition zurückblicken kann wie der erstgenannte, so gingen ihm doch bereits zwei Internationale Kongresse für Kriminologie: in Rom 1938 und in Paris 1950, voraus. Einleitend kann allgemein gesagt werden, solange die Fachkräfte des Gefängniswesens sowie der vorbeugenden und nachgehenden Fürsorge zusammen ernsthaft ihre Fachfragen und Berufsprobleme beraten und es dabei auch zu echten Gesprächen zwischen den Beratenden kommt, besteht immer die Aussicht auf Verständigung zwischen den einzelnen Teilnehmern. Damit wächst zugleich die Wahrscheinlichkeit, die gemeinsamen Aufgaben auf den einzelnen Teilgebieten besser lösen zu können. Teil I: Der Genfer Kongreß 1. Das Programm der Verantworilldlen Das Generalsekretariat der Vereinten Nationen hatte nach Auflösung der Commission Internationale Penitentiaire et Penale (CIPP, Internationale Strafrechts- und Gefängniskommission) deren Aufgaben übernommen und ihrer Abteilung Soziale Fragen (Department of social affaires) mit der Unterabteilung für Soziale Verteidigung (Seetion of social affaires) zur verantwortlichen Weiterbearbeitung zugewiesen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hatte den Leiter der Abteilung für Soziale Verteidigung, Herrn Dr. Manuel L6pez-Rey, zu seinem Vertreter bei dem Kongreß ernannt. Dem regionalen Vertreter für Europa auf dem Gebiet der Sozialen Verteidigung, Herrn Paul Amor, war das Amt des geschäftsführenden Sekretärs und Herrn Paul Berthoud, einem Mitarbeiter in der Abteilung für Soziale Verteidigung, das des stellvertretenden Sekretärs des Kongresses übertragen worden. Frau Dr. Helene Pfander, frühere Mitarbeiterin der CIPP und jetzt des Sekretariats, wirkte an den Aufgaben dieses Kongresses entscheidend mit. Den Vorsitz des Genfer Kongresses übernahm der Deutsch-Schweizer Dr. Eduard von Steiger, Altbundespräsident der Schweiz. In diesem Zusammenhang soll auch des 1951 verstorbenen letzten Generalsekretärs der CIPP, des Herrn Prof. Delaquis aus Bern, der den deutschen Fachleuten durch diese Tätigkeit und auch durch seine Lehrtätigkeit an den Universitäten Frankfurt (M), Hamburg und Bern wohlbekannt geworden war, in Dankbarkeit gedacht werden. Der Kongreß beriet fünf Themen: 1. Einheitliche Mindestvorschriften für die Behandlung von Gefangenen. Leiter der Aussprache war Herr James V. Bennett, Direktor des
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Gefängniswesens im Bundesjustizministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. 2. Auswahl und Ausbildung der Strafvollzugsbediensteten. Leiter der Aussprache war Herr Roberto Pettinato, Direktor des Gefängniswesens im Justizministerium in Argentinien. 3. Offene Vollzugsanstalten. Leiter der Aussprache war Herr Dr. Jorgo Bocobo, Vorsitzender der Strafrechtskommission der Philippinen. 4. Arbeit der Gefangenen. Leiter der Aussprache war Herr Charles Germain, vormals Leiter der Abteilung Strafvollzug im französischen Justizministerium. 5. Jugendkriminalität. Leiter der Aussprache war Herr John Rott, stellvertretender Unterstaatssekretär im Horne Office im Vereinigten Königreich. Allen genannten und zahlreichen ungenannten Helfern neben den in diesem Bericht noch zu nennenden Persönlichkeiten schulden die Teilnehmer an der Genfer Tagung besonderen Dank. Zur Beratung dieser Einzelfragen wurden drei Abteilungen gebildet, wobei die Abteilung I die Themen 1 und 2, Abteilung 11 die Themen 3 und 4 und Abteilung 111 das Thema 5 erörterten. Die Kongreßteilnehmer konnten je nach ihren Interessengebieten an den Beratungen in den einzelnen Abteilungen teilnehmen. Das Ergebnis der Beratungen in den Abteilungen wurde in den Sitzungen der Vollversammlung von den beauftragten Berichterstattern vorgetragen, nochmals erörtert und zur Abstimmung gebracht. Diese Beratungen in den Abteilungen waren durch das geschäftsführende Sekretariat des Kongresses unter Verwertung der Arbeitsergebnisse regionaler Vorkonferenzen in Europa, Südamerika, im Vorderen Orient sowie im Fernen Osten vorbereitet worden. Ergänzt wurden die so gewonnenen Unterlagen zu den Einzelthemen durch mündlich vorgetragene oder auch gedruckt vorgelegte Berichte von Einzelpersönlichkeiten sowie von Ausarbeitungen nichtstaatlicher Organisationen, die ebenfalls im Druck vorlagen. Der Kongreßteilnehmer erhielt vor und während der Tagung laufend eine Fülle von wichtigen Unterlagen, die, vor allem in französischem und englischem Text, mit einem regelmäßig erscheinenden "Journal", das Ankündigungen für den Ausgabetag und Berichte über den Vortag enthielt, zur Verteilung kamen.
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges 2. Beginn und Wesen übernationaler Beratungen in drei Zeitabsdmitten
Wie in der Einleitung bereits betont, begann das übernationale Gespräch über Fragen des Gefängniswesens bereits vor mehr als 100 Jahren. "Brieflich und durch die Zeitungen" war im Sommer 1846 von Frankfurt (Main) aus auf Anregung des Frankfurter Arztes und Philanthropen Dr. Georg Varrentrapp zu einer Zusammenkunft aller Pönitentiarreformfreunde eingeladen worden. Der Aufruf beginnt: "Mehrere für Gefängnisreform lebhaft sich interessierende Männer hatten seit längerer Zeit das Bedürfnis erkannt, auf einige Tage eine Zusammenkunft zu veranstalten, um sich ihre Erfahrungen mitzuteilen, über einzelne noch unklare Punkte ihre Ansichten auszutauschen und sich gegenseitig näher kennenzulernen. Man hält gerade die jetzige Zeit zu einer solchen Versammlung (welcher vielleicht in regelmäßigen Zeiträumen ähnliche folgen möchten) für besonders geeignet, weil die Gefängnisreform in einigen Ländern bereits in einem größeren Maßstabe begonnen ist, in den meisten anderen wenigstens die Vorarbeiten dazu gemacht sind, in allen aber die Frage der Pönitentiarreform lebhaft verhandelt wird." Der Einladung zu dem 1. Frankfurter Gefängniskongreß 1846 folgten 75 Fachleute aus 12 Staaten. Das Thema betraf vor allem die Einzelhaft. Der Präsident der Versammlung, der berühmteste deutsche Strafrechtler seiner Zeit, Prof. K. J. Mittermaier, Großvater des Verfassers der neuesten Gefängniskunde (1954) Prof. W. Mittermaier, äußerte sich über das Ergebnis der Verhandlungen wie folgt: "Kein Unparteiischer kann den großen Gewinn, welchen die Gefängniskunde schon aus der ersten Versammlung erhielt, verkennen. Eine Fülle von Materialien über den Zustand der Gefängnisse einzelner Länder, eine große Masse von Erfahrungen liegen in den jetzt erscheinenden Protokollen vor. Eine Wahrheit darf als anerkannt angenommen werden, die, daß das System der vereinzelten Haft der Sträflinge als zweckmäßig, als das einzige, das allen Regeln zugrunde gelegt werden muß, als das Ausführbare von der überwiegenden Mehrzahl derjenigen, welche in Frankfurt versammelt waren, ausgesprochen worden ist. Nur wenige Stimmen sind dagegen laut geworden. Demjenigen, welcher redlich die Wahrheit sucht und will, darf keine Stimme der Gegner gleichgültig sein. Auch die feurigsten Verteidiger der Isolierung werden die Gründe der entgegengesetzten Meinung gewissenhaft würdigen." Der zweite in Brüssel 1847 abgehaltene Kongreß erörterte neben F,ragen der Behandlung jugendlicher Gefangener vor allem vom Standpunkt der Einzelhaft aus, Probleme des Gefängnisbaues.
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Der Ur. Kongreß, der von dem gleichen Personenkreis für 1857 erneut nach Frankfurt (Main) eingeladen worden war, nannte sich, einer Anregung des Brüsseler Kongresses von 1847 folgend, "Congres Internationale de Bienfaisance de Francfort sur le Mein 1857", Frankfurter Internationaler Wohltätigkeitskongreß 1857. Seine Arbeit erledigte er in 3 Abteilungen: a) Wohltätigkeit (Bienfaisance), b) Erziehung (Education) und c) Gefängnisreform (Reforme Pt'mitentiaire). Mit dem neuen Namen des Kongresses zeigte sich eine Veränderung der gesamten Arbeitsrichtung an. Die Verhandlung in der IU. Abteilung, wieder unter der Leitung von K. J. Mittermaier, ließ ebenfalls erkennen, daß die Gesamtlage sich gewandelt hatte. Von insgesamt 170 Kongreßteilnehmern gehörten der Abteilung Gefängnisreform nur noch 38 an. Mit Mittermaier schlossen sich die meisten dieser Abteilung der während des Kongresses gegründeten "Association internationale de Bienfaisance" an. Ohne weitere Einzelheiten hier erörtern zu können, läßt sich feststellen, das Schwergewicht der Kongresse hatte sich von der Gefängnisreform auf die gesamte Sozialreform verschoben. Immerhin hatten die 3 Kongresse privater Philantropen drei Aufgaben vorangetrieben: Zum ersten kämpften sie ernstlich um die zweckmäßigste Behandlungsmethode der Gefangenen; dies ist gekennzeichnet durch die Begriffe: Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft. Zum zweiten warben sie um Verständnis für diese Probleme bei der Öffentlichkeit und den Behörden. Schon im Jahre 1846 sagte Präsident Mittermaier: "Bahnhöfe können wir erbauen, die Millionen kosten, aber wenn es ... die Sache der Humanität auch den Gefangenen gegenüber angeht, da geizen die Staatsmänner, die sonst verschwenden." Zum dritten wünschte diese Gruppe von Philanthropen dringend das übernationale Gespräch, um den besten Weg der Reform zu finden. Von dieser Gruppe wurde eine vierte Versammlung zur Gefängnisreform nicht mehr einberufen, obwohl noch 1857 die Absicht geäußert worden war, in zwei Jahren wieder zu tagen. Die Gründe dafür sind im einzelnen nicht bekannt. Es mag sein, daß neben dem allgemeinen politischen Geschehen, die kriegerischen Verwicklungen, die über Europa hereinbrachen, die Fortsetzung solcher Veranstaltungen hinderten. Es mögen vor allem die Wandlungen in der Auffassung von der Einzelhaft mit eine der Ursachen für die Unterbrechung gewesen sein. Die drei Gefängniskongresse in Frankfurt a. M. 1846, in Brüssel1847 und wiederum in Frankfurt a. M. 1857, waren also durch den Wagemut einzelner Privatpersonen zustande gekommen. Erst nach dem deutschfranzösischen Krieg wurde der Wunsch zur Fortsetzung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gefängniswesens in der Form übernationaler
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Verhandlungen wieder so lebendig, daß es dem amerikanischen Gefängnisreformer E. Wines gelang, den ersten internationalen Gefängniskongreß im Jahre 1872 nach London einzuberufen und mit rd. 100 Teilnehmern aus 22 Staaten erfolgreich durchzuführen. Damit beginnt eine neue, die zweite Periode der Gefängniskongresse. Wieder ist dieser Fortschritt der tatkräftigen Anregung eines Einzelnen zu verdanken. Die Durchführung selbst wird aber von Nationalkomitees einzelner Kulturstaaten vorbereitet und getragen. Das Neue an diesem Londoner Kongreß von 1872 und den folgenden bis 1950, war die amtliche Beteiligung zahlreicher Regierungen, die einen ständigen Ausschuß bildeten, aus dem später die "Internationale Gefängniskommission" hervorging. Bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1951 führte sie insgesamt 12 Kongresse durch: London 1872, Stockholm 1878, Rom 1885, Petersburg 1890, Paris 1895, Brüssel 1900, Budapest 1905, Washington 1910, London 1925, Prag 1930, Berlin 1935, Den Haag 1950. Nach einer Neuordnung im Jahre 1929 hatte sich die Internationale Strafrechts- und Gefängniskommission eine Form geschaffen, die dauernden Bestand zu haben schien. Die 1929 erlassenen Satzungen änderten sowohl die Bezeichnung der Kommission als auch der Kongresse durch Zufügen des Wortes "Strafrecht" in "Internationale Strafrechtsund Gefängniskommission" und "Internationale Strafrechts- und Gefängniskongresse" um. Zweifellos hatten die neun Kongresse von 1872 bis 1925 bereits zahlreiche Fragen des Strafrechts behandelt, aber stets lag der Schwerpunkt auf dem Gebiet des Gefängniswesens und seiner Eigenständigkeit. So eng auch die Verbindung der beiden Gebiete Strafrecht und Gefängniswesen sein mag, so klar muß doch immer wieder zum Ausdruck kommen, daß das Gefängniswesen ein selbständiger Teil der staatlichen Strafrechtspflege ist. Die völlig veränderte Gesamtlage aller Nationen nach dem zweiten Weltkriege mußte zwangsläufig auch eine Veränderung in der Organisation der CIPP nach sich ziehen. Die Entwicklung der übernationalen Aussprache über Fragen des Gefängniswesens ging deshalb folgerichtig weiter von Verhandlungen interessierter Einzelpersonen (1846 bis 1857) über Kongresse aus offiziellen Vertretern der beteiligten Regierungen (1872 -1950), zu dem ersten Weltkongreß der UNO 1955. Auf Einladung dieser Weltorganisation nahmen in Genf sowohl Vertreter der Mitgliedstaaten der UNO als auch solcher Staaten teil, die nicht Mitglieder sind. Es ist m. E. zu begrüßen, daß der Genfer Kongreß 1955 sich ausschließlich mit Fragen des Gefängniswesens und der Jugendkriminalität befaßte. Damit knüpfte er dem Inhalt nach an die Tradition der ersten übernationalen Versammlungen an, freilich in völlig veränderter
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Form. Die Bedeutung dieser Welt-Tagung wird erst zu erkennen sein, wenn die gedruckten Verhandlungsberichte vorliegen. Dann werden sich auch die parlamentarischen Gremien mit Einzelfragen, wie z. B. den "Mindestregeln der Gefangenenbehandlung" befassen müssen, da diese ja internationale Geltung haben sollen. Da die wichtigsten Dokumente eine Reihe von Empfehlungen enthalten, deren Erfüllung sich keine Kulturnation entziehen wird, erscheint dann zweifellos eine amtliche deutsche übersetzung. Das Generalsekretariat der UNO hatte 85 Regierungen eingeladen, sich durch Entsendung von solchen Delegierten an dem Kongreß zu beteiligen, die "Sachverständige auf dem Gebiet der Verbrechensverhütung und Straffälligenbehandlung sind, sowie Spezialwissen oder Spezialerfahrung in bezug auf die Fragen der Tagesordnung besitzen". Ausdrücklich wurde hervorgehoben: "Im Hinblick auf die Natur des Kongresses werden von den Delegierten geäußerte Ansichten als ihre persönliche Ansicht gewertet". - Die Geladenen waren also einerseits Beauftragte ihrer Regierungen und als solche diesen verantwortlich, aber andererseits Einzelsachverständige und nur ihrer eigenen fachlichen überzeugung verantwortlich. Weiter waren Sonderorganisationen und zwischenstaatliche Organisationen, wie z. B. die Internationalen Arbeitsorganisationen, die Weltgesundheitsorganisationen und die UNESCO gebeten worden, Vertreter zu entsenden. Ferner waren nichtstaatliche Organisationen mit ähnlichen bzw. verwandten Aufgaben und Einzelteilnehmer als Fachleute auf den zur Besprechung anstehenden Arbeitsgebieten eingeladen. Aus dem nachstehend abgedruckten Verzeichnis der Staaten und der Teilnehmer ist der Wandel der teilnehmenden Staaten innerhalb der drei Entwicklungsperioden von 1846 -1955 ersichtlich. W~ren es 1846 = 75 Einzelteilnehmer aus 12 Ländern, so beteiligten sich 1872 22 Staaten mit rd. 100 Delegierten und am Kongreß der Weltorganisation 1955 insgesamt 53 Regierungen mit rd. 200 Einzelvertretern. Allein die Tatsache, daß Teilnehmer aus aller Welt in Genf erschienen, bürgt für eine Behandlung der Fachfragen auf internationaler Basis. Dabei wurde besonders eindrucksvoll, wie die Vertreter der abendländischen Regierungen durch die aufstrebenden Völker der weiten Welt nicht in den Hintergrund gedrängt, wohl aber an einen Platz in Reih und Glied aller Nationen verwiesen wurden. Die Emanzipation der Völker der Welt von Europa wurde eindrucksvoll demonstriert. 3. Die äußere Ordnung eines Genfer Kongreßtages
Im gleichen Maße wie von 1846 - 1955 die Zahl der Teilnehmer aus den verschiedenen Staaten anstieg, mußte auch die Organisationsform
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der Kongresse entwickelt und ständig verbessert werden. Der Genfer Kongreß genoß u. a. den Vorzug, die hochmodernen technischen Einrichtungen des "Palais des Nations" mitbenutzen zu können. Wenn auch als Kongreß-Sprachen nur Französisch, Englisch und Spanisch zugelassen waren, so gelang es doch, durch Simultanübertragung dieser Sprachen ein Nebeneinander der Übersetzungen zu ermöglichen, so daß eine ununterbrochene Verständigung in einer der drei Sprachen gewährleistet blieb. Waren im Plenarsaal die Empfangsgeräte an den Pulten montiert, von denen bei entsprechender Schaltung mittels Kopfhörer die gewünschte Sprache abgehört werden konnte, so war es z. B. für die Mitglieder der Abteilung I möglich, die gewünschte Sprache mittels eines kleinen Empfangsgerätes, das wie ein Photogerät umgehängt werden konnte, abzuhören, ohne dabei ständig an einen festen Platz gebunden zu sein. Vom Organisatorischen her gesehen, verlief ein normaler Kongreßtag für den Delegierten nach dem Anmarsch oder der Anfahrt durch das sommerliche Genf zum außerhalb der Stadt liegenden Tagungsgebäude in verschiedenen Abschnitten. In der großen Vorhalle des "Palais des Nations" mit Auskunftstellen aller Art, Zeitungskiosken, Verkaufsständen von Photos, die während der Sitzungen und der Pausen verschwenderisch zahlreich gefertigt worden waren, standen bezifferte Wandschränke, aus welchen jeder Teilnehmer nach der Nummer seiner Teilnehmerkarte täglich mehrere Male die für ihn zur Verteilung gebrachten Druckschriften und sonstigen Einzelheiten sowie Postsachen entnehmen konnte. Selbstverständlich bildete die Vorhalle einen Treffpunkt vor allen Hauptverhandlungen und in den Pausen. Das Besondere des vielfältigen Sprachengewirrs wurde erhöht durch die z. T. farbenfreudigen Nationaltrachten von Männern und Frauen aus allen Erdteilen. Im Plenarsaal mit Klimaanlage hatten im Mittelteil die Delegierten der Nationen ihren Platz, an den Seiten saßen die Mitglieder der geladenen Organisationen und die Einzelteilnehmer. Das Problem der Sitzordnung war für uns Deutsche insofern angenehm gelöst, als nicht "Allemagne" uns in die vorderste Reihe versetzte, sondern die Vertreter der "Republique Federale de l'Allemagne" ihre Plätze in der Mitte des Plenarsaals erhielten. Gegenüber dem Mittelteil der Sitzplätze nahmen der Präsident, der Vertreter der UNO, die Mitarbeiter des Generalsekretariats und des Sekretariats, der Generalberichterstatter sowie die Sprecher und andere Persönlichkeiten Platz. Der lichtdurchflutete Raum bot zu allen Sitzungen ein Bild emsiger Arbeit, aber auch bei Meinungsverschiedenheiten niemals des Streitens. Das Bestreben der geübten Verhandlungsleiter wurde eindrucksvoll deutlich: Es gilt nicht nur, die rechte
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und zeitgemäße Lösung für jedes Problem, sondern auch die freiwillige Zustimmung möglichst bei allen stimmberechtigten Regierungsvertretern zu finden! Das Weltparlament des Gefängniswesens wurde weise gelenkt, aber nie vergewaltigt. Die Organisation blieb tatsächlich nur Mittel zum Zweck. War der Plenarsaal der Ort, an welchem der Kongreß seine Arbeiten begann und beendete und auch zu Zwischenberichten und Vorträgen usw. zusammenkam, so wurde die Hauptarbeit in den Räumen der einzelnen Abteilungen geleistet. Obwohl zahlreiche regionale Besprechungen und ein lebhafter schriftlicher Meinungsaustausch zwischen den Beteiligten vorangegangen waren, wurde dort erneut und ernstlich um Klären der eigenen Ansicht und um überzeugen des Andersdenkenden gerungen. Die Räume für die Abteilungen I und I! waren kleiner - ohne klein zu sein - und gewährten eine günstige Atmosphäre für die Verhandlungen. Hier arbeiteten durchschnittlich rd. je 1/6 der Teilnehmer. Die II!. Abteilung tagte, der großen Teilnehmerzahl wegen (rd. 2/3 der Mitglieder), im Plenarsaal. Sie hatte damit wohl mehr technische Mittel der Verständigung zur Verfügung, entbehrte aber jener Intimität, die eine Arbeit innerhalb von kleineren Abteilungen fördert. Die Raumausmaße dort waren zu groß, außerdem das Thema: "Die Vorbeugung der Jugendkriminalität und ihre Bekämpfung" zu umfangreich. Die Ansichten der Teilnehmer zu diesem Problem waren auf Grund der jeweiligen nationalen Bedingungen zu verschieden, um eine gleiche Arbeitsstimmung wie in den beiden ersten Abteilungen zustandekommen zu lassen. Eine kritische Schweizer Stimme äußerte zu diesen Verhandlungen in der II!. Abteilung, obwohl deren Verantwortliche ihr Bestes versuchten: "Es reichten ihre Kräfte nicht aus, um die Flut der Interventionen zum Stehen zu bringen, da jeder seine Auffassung zu diesem allgemein gefaßten Thema bekannt zu geben wünschte, unbesorgt um das, was der Vorredner sagte". Wenn hierüber berichtet wird, so nicht um Kritik zu üben, sondern darauf hinzuweisen, wie wichtig für die Arbeit in den Abteilungen u. a. die Begrenzung der Teilnehmerzahl und die rechten räumlichen Voraussetzungen sind. In allen drei Abteilungen führte in den angegebenen Grenzen vielfach erst die Einzelaussprache zum rechten Sich-Verständigen. Das konnte naturgemäß nicht einfach sein, weil sogar innerhalb der nationalen Vertretungen z. T. verschiedene Auffassungen nebeneinander standen. Dies ist von dem jeweiligen fachlichen Standpunkt aus verständlich; denn weder von dem Blickfeld des reinen Verwaltungsbeamten, dem des praktischen Vollzugsbeamten, dem des Mitarbeiters in einer caritativen Organisation oder dem des Philanthropen aus ge-
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II: Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
sehen, hatte der Kongreß nicht eine rein wissenschaftliche Aufgabe, sondern zugleich eine Mission. Selbst wenn manche "Arbeitsergebnisse" selbstverständlich sind und ihre Aufzählung für uns Europäer überflüssig erscheinen könnte, so sollten wir uns doch hüten, überheblich zu werden. Ein solcher Kongreß ist, wie bereits betont, gleichzeitig ein großes Seminar, eine Stätte der übung, an der bewußt auf Weltebene Erfahrungen ausgetauscht werden. Nichts wäre verkehrter als überheblichkeit. Hierüber ist bei den Schlußbemerkungen noch einiges zu sagen. Neben allen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit bot das "Palais des Nations" selbstverständlich auch Gelegenheit zur Erfrischung und Entspannung in den Restaurants, den Kaffee- und Teeräumen sowie den Schreibzimmern. Die spätsommerliche Witterung förderte ebenfalls die gesamte Arbeitsatmosphäre. 4. Fünf Vortragende beridlten über den Strafvollzug In Ihren Kulturbereidlen
Neben den Verhandlungen in den einzelnen Abteilungen und den damit zusammenhängenden Beratungen in den Vollversammlungen wurden den Teilnehmern weitere Möglichkeiten geboten, Gedankenaustausch zu pflegen, Vorschläge zu unterbreiten und so die Fachkenntnisse zu erweitern. Vor allem sind die fünf Vorträge über die hauptsächlichsten Entwicklungstendenzen der Verbrechensverhütung und -bekämpfung in Europa, in Nordamerika, im fernen Osten, im mittleren Osten und in Südamerika von Bedeutung. Der Inhalt der einzelnen Vorträge wird im folgenden kurz nach dem fremdsprachigen Text des "Journal" wiedergegeben. über "Moderne Bestrebungen auf dem Gebiet der Verbrechensverhütung und der Behandlung der Rechtsbrecher in Europa" sprach Herr M. Ancel, Frankreich, Conseiller a la Cour de Cassation: Secretaire general du Centre franc;ais de droit compare (Berater am Kassationshof, Generalsekretär bei der franz. Zentralstelle für Rechtsvergleichung). Er führte u. a. folgendes aus: Die Bestrebungen auf diesem Gebiet sind mannigfach und scheinen sich gelegentlich zu widersprechen. Deshalb soll zunächst eine kurze Analyse gegeben werden. Die Geburtsstunde der beiden Ansichten: a) Verbrechensverhütung und b) Behandlung der Rechtsbrecher, kennzeichnet die geschichtliche Wende zum modernen Strafrecht. Sie erwächst aus der wissenschaftlichen Revolution gegen Ende des letzten Jahrhunderts, die mit hervorgerufen wurde durch die italienische Schule. Diese Schule schlug vor, das Studium des Verbrechers anstelle des Studiums des Verbrechens zu setzen und damit der Persönlichkeitserforschung die ihr zukommende Stellung zu geben.
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Das erste Ziel vorbeugender Arbeit ist der Schutz der Gesellschaft. Der Schutz beginnt mit dem Herausnehmen aus der normalen Umgebung und geht, beeinflußt von der Jugendstrafrechtspflege und der Gefängnisreform, bis hin zu Maßnahmen der Resozialisierung durch besondere Behandlung. Herr Ancel verwies dabei auf die Sicherungsverwahrung von unbestimmter Dauer und auf die Idee der Verhütung durch Hilfestellung nach der Haftentlassung, d. h. Probation und Entlassenenfürsorge. Es dauerte längere Zeit, bis der Gedanke der Behandlung des Rechtsbrechers in das positive Recht aufgenommen wurde. Ihre Grundlage wurde im letzten Jahrhundert und vor allem damit gelegt, daß individuelle Strafzumessung und Behandlung in "Reformatory" gefordert wurde. Im xx. Jahrhundert ist diese Einrichtung der Schlüssel zum Verständnis aller Gefängniserneuerungen. Daneben entwickelte sich eine neue Auffassung von den Pflichten des Richters, der nicht länger unpersönliche abstrakte Urteile fällt. Beides zusammen führte zu einer allmählichen Änderung des Strafrechtssystems, weg vom starren Festhalten am "legalism" hin zu beweglicheren Maßnahmen. Solche Reformen sind häufig auf empirischen Grundlagen aufgebaut und nicht immer sofort überschaubar, so daß· der Eindruck von einer Krise im Strafrecht bzw. einem gesetzgeberischen Chaos entstehen kann. In der Tat sind es aber nur Wachstumsbeschwerden und Geburtswehen eines modernen Strafrechts, das sich selbst sucht und sich schrittweise seiner selbst vergewissert. Aus diesem scheinbaren Chaos kann eine neue Welt entstehen, beeinflußt von einer rationalen Kriminalpolitik, die ihre Aufgabe im Vorbeugen von Verbrechen und in der Behandlung des Rechtsbrechers erkennt. über moderne Bestrebungen auf dem gleichen Arbeitsgebiet im amerikanischen GefängnisweseIi sprach Herr Sanford Bates, vormals Prison-Commissioner im Staate New Jersey. Herr Bates berichtete zunächst von dem Beitrag der USA zu diesen Bestrebungen. Er verwies auf die Entwicklung der Jugendgerichte, des Probation- und des Parolesystems sowie der Klassifikation in den Strafanstalten. Dann ging Herr Bates auf neuere Fortschritte im Gefängnisneubau in einigen nordamerikanischen Staaten ein und erwähnte insbesondere die Jugendbeobachtungsanstalten in Oregon, Philadelphia und New York-City. Dabei kam weiter die überzeugung zum Ausdruck, daß sich die Beamtenschaft, insbesondere in den leitenden Stellen, gut entwickelt habe und Fortschritte auch in der Gesetzgebung sowie in der Verwaltung, z. B. bei der unbestimmten Verurteilung, bei der Parole, bei den Klassifizierungsmethoden und bei den Hausstrafen in den Strafanstalten ge-
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macht worden seien. Herr Bates glaubte sagen zu können, daß die Bemühungen, den Gefangenen wieder in die Gesellschaft einzuordnen, erfolgreich beurteilt werden können. Umso schwieriger aber sei der zweite Teil, den Gefangenen zu lehren, sich bei rechter Selbstdisziplin selbst zu überwachen und zu erziehen. Dies sei von entscheidender Bedeutung für die Rückkehr in die Gesellschaft. Während Herr Bates die kürzlich aufgetretenen Gefängnismeutereien in Nordamerika bedauerte, arbeitete er heraus, daß diese Meutereien in der Regel nur von kleinen Gruppen psychopathischer Gefangener veranlaßt worden seien. Durch organisatorische Mittel sollten künftig ähnliche Vorkommnisse unmöglich gemacht werden. Er bezeichnete diese Störungen als Geburtswehen eines neuen "rehabilitation prison system" und unterbreitete einen Plan zur besseren Kontrolle und zur Vorbeugung. Weiter wurde dargelegt, daß ein zeitweises Ansteigen von Verbrechen und Jugendvergehen in Nordamerika nicht ohne weiteres mit der Behandlung im Gefängnis in Zusammenhang gebracht werden könne. Im Gegenteil lasse sich feststellen, daß in den Staaten mit einem hochentwickelten Gefängnissystem und verstärkter Anwendung von Probation und Parole, der Polizei eine wesentlich geringere Zahl von Verbrechen als vordem bekannt geworden sei. Herr Bates schloß mit einem Hinweis auf die Tatsache, daß das US Federal Prison System ein äußerst fortschrittliches und angemessen finanziertes System der Gefangenenbehandlung ist. über die modernen Bestrebungen im gleichen Aufgabengebiet in Asien und im femen Osten sprach Herr Dr. Bocobo, Vorsitzender der Strafrechtskommission der Philippinen. Zunächst umschrieb Herr Bocobo die Lage auf den Philippinen, vor allem die offene Kolonie von Iwahig, wo die Verurteilten mit ihren Familien leben können und wo jeder Kolonist ein Stück Land erhält, das er während seiner Strafzeit bebauen kann. Damit erhält er einen verbürgten Anspruch auf ein anderes Grundstück im Ausmaß von nicht weniger als 12 acres, falls er den Wunsch hat, sich dauernd auf der Insel niederzulassen, auf der diese Kolonie eingerichtet ist, so daß er mit seiner Familie von der Bebauung dieses Landes leben kann. Die Regierung stellt weiter dem Strafentlassenen ein Haus und landwirtschaftliches Gerät zur Verfügung und gibt ihm auch Lebensunterhalt und Kleidung, bis sich der Kolonist selbst erhalten kann. Den religiösen übungen wird ebenso wie der Kindererziehung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. - Die Zahl der Fluchtversuche beläuft sich jährlich auf nur 1 vom Tausend. Ähnliche offene Anstalten befinden sich in Dawan und Sablayn. Insgesamt sind 48 010 der 14000 Strafgefangenen auf den Philippinen in offenen Anstalten untergebracht.
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Für Rebellen, die sich der Regierung unterwerfen, sind vier landwirtschaftliche Colleges, "edcor" genannt, eingerichtet. Jeder einzelne erhält Land und die notwendige Ausrüstung auf Abschlagzahlung. Eine Neuerung im Strafgesetzbuch der Philippinen, die von der ständigen Strafrechtskommission geplant ist, soll darin bestehen, daß jede Geldstrafe im Verhältnis zum Tageslohn des Schuldigen steht. Dies scheine richtiger zu sein als die Festsetzung einer einheitlichen Geldstrafe für Arme und Reiche. Die Gelder, die auf diese Weise eingehen, sollen durch die Finanzabteilung bei der Entlassenenfürsorge und Angehörigenbetreuung verwendet werden. über die gleichen Bestrebungen im mittleren Osten, vor allem in Ägypten, sprach EI Said Mustafa, Strafrechtslehrer und Richter der Universität Alexandria. Der Redner hob hervor, daß die ägyptische Strafgesetzgebung von heute zwei charakteristische Merkmale aufweise: einmal das Streben nach einer gerechten Strafzumessung für den Einzelverbrecher sowie dann die Berücksichtigung humaner und sozialer Gegebenheiten bei der Verbrechensverhütung und der Verbrecherbehandlung. In der Behandlung Erwachsener würden sich diese Bestrebungen in Gewährung mildernder Umstände auswirken, ebenso im Aussetzen von verhängten Strafen, in der Verurteilung einzelner Rückfälliger auf unbestimmte Zeit, in der Verbesserung der Bedingungen im Gefängnis, insbesondere für einige Gefangene auf Grund ihres früheren Lebensstandards, ihrer sozialen Stellung und der Art ihres Vergehens. Weiter wirken sich diese Bestrebungen aus, im Vermeiden nicht zu rechtfertigender Grausamkeiten bei Durchführung der Strafe, wie z. B. dem Aneinanderketten, in der Organisation der Erziehung und der bezahlten Arbeit für den Gefangenen, in der bedingten Entlassung vor Strafende bei Strafen, die über fünf Jahre dauern, in finanzieller Unterstützung der Angehörigen Gefangener und entlassener Strafgefangener. Nicht zuletzt fördern diese Bestrebungen auch die Zusammenarbeit zwischen behördlichen und freien Organisationen zur Arbeitsvermittlung nach der Entlassung, die vorsichtige Handhabung der überwachung bei auf Parole Entlassenen, im Gegensatz zu der früheren Polizeiaufsicht, und den Verzicht auf einen Eintrag geringfügiger Verurteilungen in das Strafregister. Die Gesetze sehen eine ähnliche Behandlung jugendlicher Verbrecher vor, wie sie gefährdeten und schutzbedürftig umherstreunenden Jugendlichen, die noch kein Verbrechen begingen, zuteil wird. Das Gesetz untersagt entweder teilweise oder ganz die Verhängung von Strafen für Jugendliche unter einer bestimmten Altersgrenze.
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die besonderen Jugendgerichte machen nach Herrn EI Said Mustafa keinen Unterschied zwischen den Jugendlichen dieser beiden Gruppen, sie sind alle dem gleichen Verfahren unterworfen. Der Richter hat die sozialen Besonderheiten jedes Einzelschicksals zu beachten und auch nach dem Urteil die Überwachung von Angehörigen dieser beiden Gruppen durch Fachorganisationen in gleicher Weise vornehmen zu lassen. Der Vortragende betonte, daß der Lebensstandard innerhalb des Gefängnisses keinesfalls höher sein dürfe als außerhalb, damit nicht, wie er sagte, die Furcht vor dem Gefängnis wegfiele und dieses somit eines seiner charakteristischsten Züge beraubt werde. Weiter führte er aus, daß es zwecklos sei, Maßnahmen auf dem Gebiet der Gefangenenbehandlung vorzuschlagen, die in der Praxis im mittleren Osten nicht durchgeführt werden könnten. Der letzte der fünf Vortragenden über moderne Bestrebungen in der Verbrechensverhütung und der Gefangenenbehandlung war Herr Dr. Drapkin, Direktor des kriminologischen Instituts an der Universität Santiago de Chile, der über latein-amerikanische Erfahrungen berichtete. Dabei stellte er zunächst heraus, daß die Verbrechen in LateinAmerika nicht vergleichbar sind mit den organisierten Verbrechen der industriell und ökonomisch entwickelten Länder, wie z. B. in Nordamerika. Das Verbrechen Latein-Amerikas ist gekennzeichnet durch seine primitiven Formen und eine Angriffslust, während es in den kulturell entwickelten Ländern vielfach aus psychopathischer Anlage heraus erfolgt. Diese primitiven Formen sind immer von einem latein-amerikanischen Land zum andern, je nach der nationalen und regionalen Eigenart und den damit verbundenen Bedingungen verschieden. In den meisten Ländern gehört zu den primitiven Formen z. B. auch, daß beim Verbrechen überwiegend das Messer und weniger die Schußwaffe benutzt wird. Die beiden entscheidenden Faktoren der verbrecherischen Anfälligkeit liegen nach Ansicht des Vortragenden begründet in der Armut und im Alkoholismus, verbunden mit der Unwissenheit und einer mangelnden kulturellen Entwicklung. Während der Kolonialperiode galten in Latein-Amerika die Strafgesetze der Eroberer, vor allem die Spaniens und Portugals. Nach Erlangen der Unabhängigkeit in Latein-Amerika beeinfiußten das spanische und das französische Strafgesetz die Gesetzgeber sehr stark. Auch italienische Strafrechtsgedanken, vor allem diejenigen, die den Werken von Cesare Lombroso zugrunde lagen, übten starken Einfluß aus. Auch das Werk von Vervaeck (Belgien) spielte dabei eine besondere Rolle.
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Mit unter diesen Einflüssen wurde das erste Institut für Kriminologie der Welt bei dem Strafgefängnis in Buenos Aires eingerichtet; die meisten latein-amerikanischen Länder folgten diesem Beispiel mit der Einrichtung ähnlicher Institute. Herr Dr. Drapkin ging weiter kurz auf das Sexualproblem der Gefangenen ein, wobei er betonte, daß in den latein-amerikanischen Ländern, vor allem in Mexiko, Argentinien und Columbien, verschiedene Systeme entwickelt worden seien, um den Verurteilten die Befriedigung ihrer fundamentalen menschlichen Triebe zu ermöglichen. Dabei erwähnte der Vortragende, daß die öffentliche Meinung in anderen Ländern solche Bestrebungen ablehne. Er hält aber die Frage für wichtig genug, um: darüber gelegentlich eines künftigen Kongresses zu verhandeln. Weiter berichtete Herr Dr. Drapkin u. a. über Einzelheiten in der Gefangenenbehandlung, in der Beamtenausbildung und in dem Ausbau verschiedener Typen von Vollzugsanstalten. Er schloß seine Ausführungen mit einem Dank an die UNO für ihre ausgezeichnete Arbeit, die entscheidend dazu beigetragen habe, daß moderne Ideen langsam aber stetig in die verschiedenen Gesetze, Statuten und Vorschriften der latein-amerikanischen Länder aufgenommen worden seien. 5. Fünf Hauptthemen stehen zur Erörterung
Die bereits erwähnten fünf Themen wurden in drei Abteilungen behandelt. Ohne das Bedeutsame der Verhandlungen erschöpfend wiedergeben zu können, sei das Wichtigste der Beratungen in den drei Abteilungen kurz herausgestellt.
Das erste Thema: Die Mindestregeln für die Behandlung der Gefangenen, die "Charta" der Gefangenen wurde zuerst eingehend in der ersten Abteilung behandelt. Nach Beratung der Arbeitsergebnisse beschloß der Kongreß von 1955 insgesamt 95 Mindestgrundsätze, nach denen die Gefangenenbehandlung erfolgen solle. Die auf Anregen der englischen Delegation im Jahre 1929 der Internationalen Strafrechts- und Gefängniskommission empfohlenen Grundsätze, die auch in deutscher Fassung erschienen, umfassen nur 55 Mindestgrundsätze. So reizvoll es wäre, den Inhalt dieser fast verdoppelten Zahl miteinander zu vergleichen und festzustellen, welche Probleme hinzukamen, bzw. eingehender erörtert wurden, so muß schon aus Raumgründen das Interesse auf die Genfer Beschlüsse von 1955 beschränkt bleiben. Die Geschichte des ersten Entwurfs von 1929 wurde seinerzeit in deutschen Fachzeitschriften näher beschrieben, ebenso die des zweiten Entwurfs von 1935. Einen dritten Entwurf erarbeitete die CIPP 1949 und bemühte sich in Zusammenarbeit mit der UNO,
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
ihn zur Annahme durch die Weltstaaten zu bringen. Auf dem im folgenden Jahr stattgefundenen XII. Kongreß für Strafrech.ts- und Gefängniswesen im Haag 1950 wurde darüber verhandelt, ebenso auch in der letzten Sitzung der CIPP vor ihrer überleitung in die UNO, von wo er 1951 dem Generalsekretariat der UNO zugeleitet wurde. Nach mancherlei Beratung innerhalb der einzelnen Regierungen - auch die Bundesregierung wurde daran beteiligt - und dem Generalsekretariat wurde der vierte Entwurf vorbereitet, der in Genf zur Verhandlung stand. Die synoptische ZusamensteIlung der vier Entwürfe wäre zweifellos aufschlußreich. Hier sei aber nur hervorgehoben, daß der Entwurf IV in Abweichung von 111 die allgemeinen Grundsätze für die Behandlung der Gefangenen folgerichtig nicht mehr an den Anfang stellte, sondern unter den Abschnitt "Verurteilte Gefangene" (Ziffern 57 - 65) einordnete. In den 95 Ziffern der wichtigen Grundsätze wurden nach grundsätzlichen einleitenden Bemerkungen (1 - 7) folgende Fragen behandelt: Gefangenenbuch (8), Trennen der verschiedenen Gefangenenkategorien (9), Hafträume (10 - 15), Körperpflege (16 - 17), Kleidung und Bettwäsche (18 - 20), Ernährung (21), Bewegung im Freien und Sport (22), ärztlicher Dienst (23 - 27), Anstaltsordnung und Hausstrafen (28 bis 33), Anwendung unmittelbaren Zwanges (34 - 35), Belehrung der Gefangenen und Beschwerderecht (36 - 37), Verkehr mit der Außenwelt (38 - 40), Bücherei (41), kirchliche Seelsorge (42 - 43), Aufbewahren der Habe (44), Benachrichtigung von Angehörigen bei Todes- und Krankheitsfällen (45), Gefangenentransport (46), Anstaltsbedienstete (47 - 55), Besichtigung der Vollzugsanstalten durch Aufsichtsbehörden (56), Leitgrundsätze (57 - 65), Behandlung (66 - 67), Klassüikation (68 bis 69), Individualisierung (70), Bewährungsauflage (71), Arbeit der Gefangenen (72 - 77), Fortbildung und Ausgestaltung der Freizeit (78 - 79), soziale Beziehungen und Entlassungsfürsorge (80 - 82), kranke und abnorme Gefangene (83 - 84), vorläufig Festgenommene und Untersuchungsgefangene (85 - 94), Haftgefangene (95). Wenn auch alle diese Bestimmungen für die künftige Gestaltung des Strafvollzugs der Kulturnationen von Bedeutung sind, so wird z. Z. noch von einer Veröffentlichung in der Zeitschrift für Strafvollzug im vollen Wortlaut Abstand genommen, vor allem, weil noch kein amtlicher Text vorliegt. Allein die leitenden Grundsätze (Ziff. 57/65) erscheinen so bedeutsam, daß schon jetzt eine übersetzung abgedruckt wird. 57 Die Grundsätze haben zum Ziel, den Geist deutlich werden zu lassen, in welchem die Vollzugsanstalten geleitet werden sollen. Sie erstreben dieses in übereinstimmung mit den. einleitenden Bemerkungen in Ziffer 1 des vorliegenden Textes.
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58 Freiheitsentzug und andere Maßnahmen, die den Verbrecher von der Außenwelt trennen, sind ausschließlich dadurch wirksam, daß sie dem Einzelnen das Recht der Selbstbestimmung beschneiden, indem ihm seine Bewegungsfreiheit entzogen wird. Aus diesem Grunde soll die Gefängnisverwaltung keinesfalls die mit solcher Lage verbundenen Leiden verstärken.
59 Ziel und Rechtfertigung von Freiheitsstrafen und Maßnahmen, die mit Freiheitsentzug verbunden sind, ist ausschließlich der Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrechen. Dieses Ziel wird nur erreicht, wenn während des Freiheitsentzuges alle erdenklichen Mittel angewendet werden, um nach Möglichkeit dem Verbrecher bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft nicht nur den guten Willen, sondern auch die Fähigkeit zu vermitteln, ein gesetzestreues Leben zu führen und seinen Lebensunterhalt zu erwerben.
60 Zur Erreichung dieses Zieles soll die Vollzugsverwaltung sich aller heilenden, erzieherischen, moralischen, geistigen und anderen Mittel in allen nur denkbaren Formen sozialer Hilfe, über die sie verfügen kann, bedienen. Sie soll versuchen, diese Mittel den ganz persönlichen Umständen der Gefangenen entsprechend anzuwenden. 61
(1) Die Leitung der Vollzugsanstalt soll versuchen, den Unterschied zwischen dem Leben im Gefängnis und dem in Freiheit auf ein Mindestmaß herabzusetzen und zwar gerade dort, wo Gefahr droht, daß diese Unterschiede im Gefangenen den Sinn für Verantwortung oder die Achtung vor sich selbst mindern. (2) Vor Ende des Vollzugs einer Freiheitsstrafe ist es wünschenswert, daß alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden, um dem Gefangenen die schrittweise Rückkehr ins freie Leben zu sichern. Dieses Ziel kann ganz nach Lage des Einzelschicksals durch Vorbereiten der Entlassung bereits inder Vollzugsanstalt selbst oder in einer anderen geeigneten Anstalt eingeleitet werden. Es kann auch angestrebt werden, dieses Ziel durch bedingte Entlassung unter überwachung zu erreichen, wobei diese aber nicht der Polizei, sondern einer geeigneten sozialen Hilfsorgnisation zu übertragen ist.
23 Freiheitsentzug
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
62 Die Behandlung soll nicht das Schwergewicht auf die Trennung der Gefangenen von ihrer Umwelt legen, sondern im Gegenteil die Tatsache hervorheben, daß sie auch als Gefangene Glieder der Gesellschaft bleiben. Deshalb sollen freie gesellschaftliche Vereinigungen in jedem nur möglichen Umfang zur Mitarbeit herangezogen werden, um den Bediensteten in ihrer Aufgabe, die Gefangenen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, beizustehen. In jeder Vollzugsanstalt sollten Fürsorger daran mitwirken, die Verbindung des Gefangenen mit seiner Familie und den Stellen der Außenwelt, die ihm für die Zukunft nützen können, aufrechtzuerhalten. Deshalb sollten alle Maßnahmen eingeleitet werden, um im Rahmen der allgemeinen gesetzlichen und der besonderen Strafbestimmungen in jedem zu verantwortenden Umfang auch dem Gefangenen die bürgerlichen Rechte, die Ansprüche aus der Sozialversicherung und anderer ihm zustehender sozialer Vorteile zu sichern.
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Der anstaltsärztliche Dienst soll alle physischen und psychischen Mängel und Krankheiten erkennen und behandeln, soweit sie die Eingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft zu hindern vermögen. Jede Behandlung durch den praktischen Arzt, den Chirurgen und den Psychiater soll, falls notwendig, aus dem gleichen Grunde durchgeführt werden. 64 (1) Die Durchführung dieser Grundsätze bedingt individuelle Behandlung und aus diesem Grunde eine Unterteilung der Gefangenen in Gruppen. Es ist wünschenswert, jede Gruppe in einer Vollzugsanstillt für sich unterzubringen, in welcher ihr die Behandlung zuteil wird, deren sie gerade bedarf. (2) Diese Anstalten bedingen aber nicht nur für jede Gruppe die gleichen Sicherungsmaßnahmen. Es empfiehlt sich, diese je nach den Bedürfnissen der verschiedenen Gruppen, verschieden vorzunehmen. Die offenen Anstalten bieten auf Grund der Tatsache, daß sie keine Sicherungsmaßnahmen gegen Entweichungen vorsehen, sondern auf die Selbstdisziplin der Insassen zählen, bei den hierfür sorgfältig ausgewählten Gefangenen, die besten Voraussetzungen für die Wiedereinordnung. (3) In den geschlossenen Anstalten ist es erstrebenswert, die Individualisierung nicht durch eine allzu hohe Belegungsziffer zu hindern. In einzelnen Ländern besteht die Auffassung, daß die Höchstbelegungsziffer von 500 nicht überschritten werden sollte. In den offenen Anstalten sollte die Belegungsziffer so niedrig wie möglich festgesetzt werden.
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Andererseits ist es wenig wünschenswert, Vollzugsanstalten zu unterhalten, die zu klein sind, um befriedigende Möglichkeiten der Organisation zu gewährleisten. 65
Die Pflicht der Gesellschaft endet nicht mit der Entlassung in die Freiheit. Deshalb sollen behördliche und freie Organisationen, die fähig sind, dem Entlassenen beizustehen, eine Entlassenenfürsorge organisieren mit dem Ziel, die Vorurteile, die den Entlassenen außerhalb der Strafanstalt erwarten, zu mindern und außerdem ihm bei seinen Bemühungen zur Wiedereinordnung wirksam zu helfen. Das zweite Thema betraf: Die Auswahl und Ausbildung der Diensttuer in den Vollzugsanstalten. An Hand eines Berichts des Sekretariats befaßte sich die erste Abteilung mit den Fragen der Einstellung, der Ausbildung und überhaupt dem Stand der Bediensteten für Erwachsenen- und Jugendstrafanstalten. Bereits die überschriften der 24 Einzelabschnitte lassen erkennen, wie gründlich in jahrelanger Arbeit die Vorbereitungen zu diesen Genfer Beratungen getroffen wurden. Die Einzelabschnitte sind in vier größeren Abschnitten zusammengefaßt: A. Neue Auffassung des Dienstes im Gefängnis: 1. Der Wandel des Dienstes im Gefängnis zum sozialen Dienst, 2. Spezialisierung der Aufgaben, 3. Zusammenarbeit bei Spezialisierung. B. Die Stellung der Anstaltsbediensteten: 4. Die Stellung der Bedien-
steten als Beamte, 5. hauptberufliche Betätigung, 6. allgemeine dienstliche Betätigungen, 7. Nichtmilitärähnlicher Stand der Bediensteten, 8. Waffentragen.
c. Auswahl der Bediensteten: 9. Zuständigkeit der Behörden und all-
gemeine Dienstrichtlinien, 10. allgemeine Einstellungsbedingungen, 11. Aufsichtsdiensttuer, 12. Verwaltungsbedienstete, 13. Anstaltsleiter und deren Vertreter, 14. Spezial-Verwaltungsbedienstete, 15. Bedienstete in Frauenstrafanstalten.
D. Berufsausbildung: 16. Ausbildung vor der Dienstleistung, 17. Aufsichtsdiensttuer, 18. Anstaltsleiter und deren Vertreter, 19. Spezialbedienstete, 20. Ausbildungsrichtlinien für Strafvollzugsbedienstete, 21. Körperschulung und Unterricht im Waffengebrauch, 22. Fortbildung im Dienst, 23. Aussprachegruppen, Anstaltsbesuche, Seminare für Bedienstete, 24. Konferenzen der Bediensteten und Aussprache sämtlicher Bediensteter.
23·
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Diese Fülle von Themen wurde von hoher Warte aus behandelt. Der Geist, in welchem die Verhandlungen geführt wurden, läßt sich kennzeichnen durch eine Äußerung, die bei den vorbereitenden Arbeiten von der europäischen Gruppe gemacht wurde: Die Gruppe lenkt die Aufmerksamkeit auf den Wandel der Aufgaben der Bediensteten, die sich aus der Entwicklung der Auffassung ihrer Pflichten vom Wächter zum Mitarbeiter in wichtigen sozialen Aufgaben ergibt. Diese Einstellung drückt sich weiter aus in einer steigenden Zahl von fachlich ausgebildeten Mitarbeitern wie Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern, Lehrern und technischen Unterweisern. Die europäische Gruppe ist der Meinung, daß dieser Wandel dem Bedürfnis eines modernen Strafvollzugsgesetzes entspricht. Den Regierungen wird empfohlen, dies anzuerkennen, selbst wenn zusätzliche Mittel hierfür benötigt werden. Dieser Gedanke wurde zum Leitsatz sämtlicher Vorschläge. Dabei wurde eindrucksvoll deutlich, daß keinerlei Monopolstellung bezüglich der Ausbildung, weder für den einfachen noch den mittleren oder den höheren Dienst anerkannt werden soll. Auch politische Gründe sollen weitgehend ausgeschaltet werden und allein die Leistung entscheiden. Das dritte Thema: "Offene Anstalten", wurde in der 11. Abteilung erörtert. Auch dieses Thema hat seine Geschichte. Besonders wichtig waren hierfür die Verhandlungen gelegentlich des XII. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongresses in Den Haag 1950. Dort wurde eine sorgfältig erarbeitete Resolution gefaßt, die eine Grundlage für die Genfer Beratungen in der Abteilung II bildete. Zunächst wurde in einer längeren Aussprache geklärt, was eine "offene Anstalt" ist. Die offene Anstalt ist gekennzeichnet durch das Fehlen von Sicherheitsvorkehrungen, wie z. B. Gittern oder Aufsichtsdiensttuern, die eigens für die Sicherheit der offenen Anstalt eingesetzt sind. Sie ist von anderen Anstalten weiterhin dadurch unterschieden, daß die Leitung sich auf freiwillige Einordnung und das Gefühl der Mitverantwortung der Anstaltsinsassen im Hinblick auf die Lebensgemeinschaft, in der sie sich z. Z. befinden, verlassen kann. Diese Haltung ermutigt die Anstaltsinsassen, die gewährten Freiheiten zu nutzen, ohne sie aber zu mißbrauchen. Wenn dieser Inhalt dem Begriff "Offene Anstalt" zugrunde gelegt wird, dann führen zum mindesten in Europa nicht sehr zahlreiche Strafanstalten mit Recht diese Bezeichnung. Die Praxis hat neben der Idee einer absoluten offenen Anstalt eine relativ offene Anstalt geschaffen, die zweckmäßigerweise als halboffene bezeichnet wird, weil dort noch immer Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen, und sei es nur dadurch, daß einzelne bewaffnete Diensttuer in dem Anstaltsbereich mit tätig sind. Es darf nicht
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verkannt werden, daß besonders in den dicht besiedelten westeuropäischen Ländern aus Gründen der allgemeinen Ordnung kaum darauf verzichtet werden kann, etwa das Eindringen Unberufener in den Bereich der offenen Anstalt durch solche Maßnahmen zu hindern. Diese und andere Bedingungen wurden freimütig erörtert, aber die radikale Ansicht in der Auslegung des Begriffs "Offene Anstalt" setzte sich durch. Erfreulich war u. a., daß in der Aussprache von Vertretern verschiedener Nationen eindringlich auf die Notwendigkeit hingewiesen wurde, auch in der offenen Anstalt eine nächtliche Trennung der Anstaltsinsassen durchzuführen und der Schlafsaal, sei er kleiner oder größer, als unbedingt schädlich abgelehnt wurde. Im einzelnen enthielten die Empfehlungen für die Organisation der offenen Anstalten Ratschläge bezüglich der Lage, der Größe, der Bediensteten und der Lebensbedingungen der Gefangenen. Das vierte Thema, das in der 11. Abteilung behandelt wurde, war: Die Arbeit der Gefangenen. Zahlreiche vorbereitende Stellungnahmen lagen vor, nachdem auch der XII. Internationale Strafrech.ts- und Gefängniskongreß in Den Haag diese Frage erörtert hatte. Wie muß die Gefangenenarbeit organisiert werden, um aus ihr sowohl moralischen Gewinn als auch gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen zu erzielen? - Von allen aus Anlaß des Kongresses vorgelegten Studien war die: Prison Labour, hrsg. United Nations, Department of economic and socia! affairs, New York 1955 ST/SOA/SD/5 eine der umfassendsten und sorgfältigsten. Sie befaßt sich in einzelnen Kapiteln: I. mit den gesetzlichen und verwaltungsrech.tlichen Grundlagen, 11. den verschiedenen Systemen, 111. der Organisationsform der Arbeit der Gefangenen für behördliche Aufgaben, IV. dem Wettbewerb mit der freien Arbeit und der Industrie, V. der Arbeitsbelohnung, VI. den Grundfragen der Arbeit der Gefangenen, VII. dem Arbeitsschutz und der Sozialversicherung. Dabei ist wesentlich, daß in jedem Kapitel die Auffassungen der regionalen beratenden Gruppen der UNO in Europa, Nordamerika, Lateinamerika, Mittlerer Osten, Afrika, Asien und Ferner Osten sowie Ozeanien zum Ausdruck kommen. In engem inneren Zusammenhang mit den Bestimmungen über die Arbeit der Gefangenen in den "Mindestregeln für Gefangenenbehandlung" Ziffer 72 - 77 wurden von der 11. Abteilung des Kongresses neun Grundsätze erarbeitet, die auch in der Vollversammlung angenommen wurden. Da sie besondere Bedeutung besitzen, werden sie im Wortlaut abgedruckt.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges Allgemeine Grundsätze
I. Alle Gefangenen sind unter Beachtung ihrer ärztlich festgestellten körperlichen und geistigen Tauglichkeit zur Arbeit verpflichtet. Die Arbeit in der Strafanstalt soll nicht als eine zusätzliche Strafe, sondern als ein Mittel, die Wiedereinordnung zu erleichtern, betrachtet werden. Die Arbeit soll die Gefangenen auf einen Beruf vorbereiten, an geordnete Leistungen gewöhnen, sowie dem Müßiggang und der Zuchtlosigkeit vorbeugen. Die Gefangenen, die nicht zur Arbeit verpflichtet werden können, sollen trotzdem Arbeitserlaubnis erhalten und gefördert werden.
11. Das berufliche Fortkommen der Gefangenen und ihre Berufsausbildung soll nicht dem Bestreben untergeordnet werden, den Ertrag der Arbeit zugunsten der Strafanstalt ungebührlich zu erhöhen. Der Staat hat die Pflicht, darüber zu wachen, daß die Gefangenen ausreichende und ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit erhalten. Insoweit es nicht möglich ist, Arbeit von anstaltswegen im Zusammenwirken mit der freien Wirtschaft oder durch andere Mittel zu beschaffen, kann eine Regelung, die vorsieht, für den behördlichen Bedarf den Absatz der Arbeitserzeugnisse von staatswegen sicherzustellen, eine befriedigende Lösung darstellen. Das Anerbieten der freien Wirtschaft, den Gefangenen Arbeit zuzuteilen, kann bei Anwendung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln unter der Voraussetzung angenommen werden, daß die Arbeit keine Möglichkeit zur Ausbeutung bietet. 111. Die Arbeit der Gefangenen soll unter den Bedingungen und in dem Betriebsklima durchgeführt werden, daß die Freude und das Interesse an ihr gefördert wird. Die Leitung der Anstalt und die der Werkbetriebe soll sich mit ihren Arbeitsmethoden in der gewerblichen lind landwirtschaftlichen Produktion möglichst denen der freien Wirtschaft angleichen und zwar derart, daß die Gefangenen befähigt werden, sich den Arbeitsbedingungen im freien Wirtschaftsleben anzupassen. IV. Besondere Aufmerksamkeit soll im Rahmen der Arbeit der Gefangenen der Berufsausbildung bei denjenigen gewidmet werden, bei denen sie Erfolg verspricht, vor allem bei jungen Gefangenen. Diese Berufsausbildung soll nach den im freien Wirtschaftsleben des jeweiligen Landes geltenden Methoden und Bedingungen ermöglicht werden. Dies soll in der Weise geschehen, daß der Gefangene Gelegenheit erhält, sich die gleichen Fähigkeiten anzueignen und auch gegebenenfalls einen Befähigungsnachweis (z. B. Lehrzeugnis) zu erwerben, wie dies der entsprechende freie Personenkreis kann. Die Arbeitsmöglichkeiten in der Anstalt sollen so vielgestaltig sein, daß der Gefangene sich für die eine oder andere - entsprechend der
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Lage des Arbeitsmarktes, seines Bildungsstandes, seiner Fähigkeiten und seiner Neigungen - zu entscheiden vermag. Außerhalb der Arbeitszeit sollen die Gefangenen die Möglichkeit erhalten, sich in ihrer Arbeit, die sie bereits verrichten, oder in jeder anderen zulässigen Beschäftigung, die ihnen liegt, zu vervollkommnen, indem sie z. B. an theoretischen und praktischen Lehrgängen teilnehmen. V. Für Gefangene, bei denen ein solches Verfahren sinnvoll angewendet werden kann, empfehlen sich Eignungsprüfungen. Die Ergebnisse dieser Prüfungen sollten bei den Arbeitszuweisungen berücksichtigt werden. In den Grenzen, die durch sinnvolle Berufsberatung und durch Berücksichtigung von Anstaltserfordernissen gesetzt sind, sollte billigerweise auf die Arbeitswünsche der Gefangenen Rücksicht genommen werden. Die zugewiesene Arbeit sollte derart sein, daß sie ihre Fähigkeiten, nach der Strafentlassung ehrlich den Lebensunterhalt zu erwerben, erhält oder gar vermehrt. Vom Standpunkt der Wiedereinordnung der Gefangenen aus sollte geprüft werden, welche Arbeiten innerhalb der Strafanstalten am meisten geeignet sind. VI. Die zur Sicherung und Gesunderhaltung des freien Arbeiters vorgesehenen Maßnahmen sollten gleicherweise in den Strafanstalten gelten. Es ist Vorsorge dafür zu treffen, daß den von einem Betriebsunfall oder einer Berufskrankheit betroffenen Gefangenen die gleichen Entschädigungsbedingungen gewährt werden, wie sie in ähnlichen Fällen für die freie Arbeit gesetzlich festgelegt sind. Im übrigen sollten die Gefangenen im denkbar weitesten Ausmaße an der in Kraft befindlichen Sozialversicherung ihres Landes teilhaben. VII. Die Gefangenen sollen angemessene Belohnung für ihre Arbeit erhalten. Sie soll mindestens so hoch sein, daß sie den Eifer und die Anteilnahme an der Arbeit anspornt. Es ist wünschenswert, die Belohnung so ausreichend zu bemessen, daß die Gefangenen in die Lage versetzt werden, ihre Familien zu unterstützen, in den gesetzten Grenzen ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und eine Rücklage zu bilden, die ihnen bei ihrer Entlassung - in den hierfür geeigneten Fällen unmittelbar oder durch behördliche Vermittlung - ausgezahlt wird. VIII. Beim Planen der Arbeit der Gefangenen ist es empfehlenswert, im weitesten Umfange die offenen Anstalten in diese Planung einzubeziehen. Dies nicht allein, weil diese Anstaltsform eine Vielfalt von Arbeitsmöglichkeiten bietet, sondern auch, weil hierbei sichergestellt
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
ist, daß die Arbeit der Gefangenen unter Bedingungen verrichtet werden kann, die weitgehend denen der freien Wirtschaft entsprechen. IX. Es gilt dabei, für ausgewählte Gefangene, besonders solche mit langen Strafen, Einrichtungen zu schaffen oder auszubauen, die es ermöglichen, daß der Gefangene während der letzten Monate vor seiner Entlassung täglich regelmäßig zur Arbeit bei einem freien Arbeitgeber oder einem öffentlichen Unternehmen die Anstalt verläßt. Damit wird dem vor der Entlassung stehenden Gefangenen die Möglichkeit geboten, in seinem vor oder während der Haft erlernten Beruf zu arbeiten. Diese allgemeinen Grundsätze enthalten eine Fülle von Anregungen auch für den deutschen Strafvollzugsfachmann. Insbesondere sollte dem in Ziffer IX erwähnten Prinzip des "Freigängers" ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, als einem hervorragenden Mittel, den Übergang von der Gebundenheit in der Anstalt zur Freiheit allmählich vorzubereiten und auch hierdurch eines der kriminalpolitischen Ziele der gesamten Strafrechtspflege: Bewahrung vor Rückfall, besser als zuvor zu erreichen. In diesem Zusammenhang sei weiter auf die bereits seit Jahren in Fachkreisen erörterten Probleme betreffend die Auswirkungen der Ratifikation des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation über Zwangs- oder Pflichtarbeit Nr. 29 vom 28. VI. 1930, das jetzt dem Bund vorliegt, kurz eingegangen. Bei einer Reihe von LändeI'Il bestanden Bedenken dahingehend, dieses Übereinkommen gefährde das Bestehen der Unternehmerbetriebe in den Vollzugsanstalten. Neben den Beratungen in Abteilung II und den im Zusammenhang damit eingeholten Auskünften bei der Internationalen Arbeitsorganisation, ist aus dem Begriff "Zwangsarbeit" nicht zu folgern, daß die "Beschäftigung bestimmter Gefangener außerhalb des GefäIignissesunter normalen Arbeitsbedingungen" im Widerspruch zu den Bestimmungen des übereinkommens steht. Als Zwangsoder Pflichtarbeit im Sinne des erwähnten Übereinkommens gilt nicht jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person auf Grund einer gerichtlichen Verurteilung verlangt wird, jedoch nur unter der Bedingung, daß diese Arbeit oder Dienstleistung unter überwachung und Aufsicht der öffentlichen Behörden durchgeführt wird und daß der Verurteilte nicht an Einzelpersonen oder private Gesellschaften und Vereinigungen verdingt oder ihnen sonst zur Verfügung gestellt wird. Hinzu kommt weiter, daß sogar die "Mindestvorschriften" neben den anstaltseigenen Betrieben die Gefangenarbeit für Unternehmer ausdrücklich vorsehen.
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Das fünfte Thema Die Verhandlungen der 111. Abteilung, die, wie bereits kurz erwähnt, unter ungünstigen räumlichen Bedingungen ein sehr schwer abgrenzbares Thema: Die Verhütung der Jugendverwahrlosung und Straffälligkeit (das alles schließt der Begrüf "delinquency" ein) zu erörtern hatte, verliefen dennoch im Endergebnis positiv. Nach langen Vorverhandlungen einigten sich alle Beteiligten darauf, daß Gegenstand künftiger Studien die Lage derjenigen Minderjährigen sein solle, in deren Interesse die Gesellschaft Maßnahmen ergreüen müsse, sie zu einem rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandel zu erziehen. (Die übersetzung erfolgt bewußt unter Verwendung der Begriffe des deutschen Jugendgerichtsgesetzes § 91.) Die Verhandlungen des Kongresses sollten deshalb nicht nur die Jugendlichen einschließen, die eine strafbare Handlung begangen hatten, sondern auch jene, deren soziale Lage oder deren Anlage sie in Gefahr bringen kann, eine solche Tat zu begehen. Auch diejenigen sollten in den Kreis der Beratungen mit aufgenommen werden, die in Not leben und des Schutzes bedürfen. Es wurde die Forderung aufgestellt, daß in allen 3 Fällen vorbeugende Arbeit geleistet werden müsse und die verschiedenen Möglichkeiten, wie dies geschehen könne, erörtert. Im Zusammenhang mit folgenden Themen: a) der Einzelne und die Gemeinschaft, b) der Einzelne in Familie und Schule, c) der Einzelne und die sozialen Dienste, d. h. die behördliche und die freie Fürsorge, d) der Einzelne und die Arbeit sowie e) der Einzelne und andere gesellschaftliche Einrichtungen, sollte die Forschungsarbeit beginnen. Nach dieser Aufstellung von Besprechungsthemen wurde über weitere Einzelfragen verhandelt, die trotz ihrer Bedeutung wegen Raummangels nicht wiedergegeben werden können. Wesentlich blieb das Betonen der Notwendigkeit, in allen Fällen den Einzelnen immer wieder zu eigener Verantwortung zu ermutigen, um so unerwünschte Abhängigkeitsverhältnisse zu vermeiden. Bei der Besprechung erfolgten auch Hinweise auf die Mitarbeit religiöser Körperschaften. Dabei war während der Aussprache in der Vollversammlung deutlich zu spüren, daß hier nicht wie in anderen Fragen völlige Meinungsgleichheit bestand. Wie sollte auch von Angehörigen aller Rassen und zahlreicher Regierungen zu einem so wesentlichen Problem etwas Bindendes gesagt werden ohne vorherige gründliche Behandlung dieses Themas in jedem Lande selbst! Wie zukunftsweisend gerade auch die Arbeit dieser Abteilung war, zeigte sich vor allem daran, daß gefordert wurde, neben der laufenden Verbesserung der Behandlungsmethoden an den jugendlichen Verwahr-
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losten und Straffälligen müsse echte Forschungsarbeit hinsichtlich der Ursachen, der Voraussage und der Vorbeugung geleistet werden. Je genauer die Kenntnis auf diesen Fachgebieten sei, umso wirksamer und wirtschaftlicher könnten die Gegenmaßnahmen geprüft werden. Forschungsarbeit sollte sowohl in Bezug auf die angewendete Strafzumessungpraxis als auch die Verhütung künftiger Straffälligkeit einsetzen. Vergleichende, nebeneinander hergehende und von anderen Disziplinen aus ergänzte Forschung sollte in verschiedenen Ländern durchgeführt werden, um die Wirkung der dort vorangetriebenen Maßnahmen zu ermitteln. Ebenso sollten die Ursachen, die Diagnose und die Behandlung der Verwahrlosten und Straffälliggewordenen untersucht werden. Die UNO wurde gebeten, diese bedeutsamen Forschungsaufgaben weiterhin zu fördern. Diese positive, keineswegs resignierende Einstellung zu dem schwierigen Problem, das offenbar in allen Kulturnationen besonders Beachtung fordert und findet, kennzeichnete die Arbeit dieser Abteilung des Kongresses und ihre Empfehlungen in der Vollversammlung. Beschlüsse und Empfehlungen A. Die Gemeinsdlaft 1. In der Gemeinschaft sollten den Jugendlichen gesunde Vorausset-
zungen für ihre Entwicklung geboten werden. Bei Schwierigkeiten sollten behördliche und freie Organisationen Fürsorgemaßnahmen durchführen. Es werden empfohlen z. B. die Gewährung von Familienbeihilfen, Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen und die Schaffung von Sonderschulen.
2. Im Rahmen der sozialen Hilfsmaßnahmen des einzelnen Landes empfiehlt es sich, in Einzelfällen, zur Verhütung der Kriminalität Jugendlicher Maßnahmen auf behördliche und freie Anregungen zu treffen. 3. Die einzuleitenden Maßnahmen müssen sich im Rahmen des in den betreffenden Ländern üblichen halten und dabei die kulturellen und sozialen Verschiedenheiten berücksichtigen. 4. Bei dem Bemühen, dem Straffälligwerden vorzubeugen, sollten die "delinquency areas" (Bezirke mit überdurchschnittlicher Kriminalität) vor allem beachtet werden, sie erfordern besondere Gegenmaßnahmen. 5. Die Mittel und Programme der allgemeinen Fürsorge genügen nicht immer, um der Kriminalität in geeigneter Form vorzubeugen.
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6. Die Förderung von Wohnungsbauprogrammen gehört mit zur Schaffung besserer Lebensbedingungen. Besonders bei städtischen Wohnungsprojekten sollten Gemeinschaftseinrichtungen berücksichtigt werden. überall dort, wo eine Bevölkerung aus verschiedenen Herkunftsländern zusammenlebt, sollte versucht werden, einen Ausgleich zu finden zwischen den verschiedenen kulturellen und sozialen Schichten. B. Die Familie
7. Bedürftigen Eltern sollte ggf. mit Kinderbeihilfen geholfen werden, um damit die berufliche Tätigkeit der Mutter und eine dadurch bedingte Abwesenheit außerhalb des Hauses überflüssig zu machen. 8. Zum überwinden von Erziehungsschwierigkeiten, mit dem Ziel, das Familienleben harmonisch zu gestalten, sind Einrichtungen zur Beratung der Eltern und Kinder wünschenswert. 9. Insbesondere sollte bei gestörten Familien eine Beratung rechtzeitig einsetzen. 10. Besonderer Wert ist darauf zu legen, das Gefühlsleben der Kinder und ihr Bedürfnis nach echter Gemeinschaft zur sinngemäßen Entfaltung in der Familie kommen zu lassen. 11. Erst beim Versagen dieser Bemühungen soll eine Unterbringung außerhalb der Familie in Heimen aller Art erwogen werden. 12. Jugendliche sollten erst nach Begehen strafbarer Handlungen in Einrichtungen der Strafrechtspflege untergebracht werden. Die Unterbringung verwahrloster und verbrecherischer Jugendlicher sollte in getrennten Anstalten erfolgen. 13. In Gesellschaftsverbänden, in denen die Familie trotz eingetretener Industrialisierung noch eine wirksame Lebenseinheit bedeutet, sollte alles getan werden, um ihre mögliche Schädigung zu vermeiden.
c. Die Sm.ule 14. Die Schulen sollten weitmöglichst die Bedürfnisse des einzelnen Jugendlichen berücksichtigen. 15. Die Schulen sollten eine konstruktive Mitarbeit bei der Entwicklung des Charakters und der Fähigkeiten der Jugendlichen übernehmen. 16. Der Lehrerausbildung ist besondere Beachtung zu widmen, damit sie die gefühlsbedingten und anderen VerhalteIisschwierigkeiten ihrer Schüler verstehen lernen und überwinden helfen.
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17. Das Erziehungsprogramm sollte eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus vorsehen. 18. In Zusammenarbeit mit der Schule sollten fürsorgerische Maßnahmen zur Förderung der Kinder und zur Beratung der Eltern und Lehrer getroffen werden. 19. Insbesondere sollte die Berufsausbildung gefördert werden, um den Schwierigkeiten der Reifezeit bei den Jugendlichen zu begegnen. 20. Die Gesellschaft sollte darauf bedacht sein, mit allen Mitteln eine Ausbeutung der Kinder aus wirtschaftlichen Gründen auf Kosten ihrer Erziehung zu verhindern. D. Soziale Einrichtungen einsdll. Gesundheitsfürsorge
21. Ein lückenloses Netz sozialer und gesundheitlicher Dienste von behördlichen und freien Fürsorgestellen sollte geschaffen werden, um Jugendliche aufzufangen, bei denen die Gefahr besteht, daß sie straffällig werden. Die Hilfseinrichtungen sollten insbesondere psychiatrische Kliniken, Einrichtungen der Familienfürsorge, Erziehungsberatungsstellen, Beobachtungsheime und andere Fürsorgeinrichtungen für Jugendliche umfassen. 22. Der Ausbau bestehender Fürsorgeeinrichtungen im Interesse vorbeugender Maßnahmen ist zu fördern. Dies würde z. T. eine grundsätzliche Neuorganisation solcher Fürsorgeeinrichtungen voraussetzen. 23. Um überschneidungen zu vermeiden, ist eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen fürsorgerischen Dienste notwendig, denn allein eine enge Zusammenarbeit ermöglicht das Erfassen aller hilfsbedürftiger Jugendlicher. 24. Auch kann allein durch dieses Zusammenwirken den Nöten der einzelnen Jugendlichen und ihrer Familie in geeigneter Weise vorgebeugt werden, nicht nur weil es eine angemessene Behandlung ermöglicht, sondern weil es auch wirtschaftlich von Vorteil ist. 25. In jedem Falle, unabhängig davon, ob eine Diagnose oder eine Therapie durchzuführen ist, sind beruflich ausgebildete Kräfte erforderlich. 26. Die Zusammenarbeit von Fachkräften mit Erfahrung auf dem Gebiet der Verbrechensverhütung ist zu fördern. 27. Besondere Maßnahmen sind in den Ländern zu treffen, die noch keine Hilfseinrichtungen haben für unverheiratete Mütter, für Kin-
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der mit besonderen körperlichen oder geistigen Störungen und für Jugendliche mit Pubertätsschwierigkeiten. 28. Die Gründung und Mitarbeit von Hilfseinrichtungen, die unabhängig von staatlichen Maßnahmen tätig werden, ist zu fördern. Diese Einrichtungen sind in den Gesamtplan einzubeziehen. 29. Gründliches Fachwissen und ehrliche Hilfsbereitschaft allein gewähren bei echtem Zusamenwirken Aussicht auf Erfolg. E.Arbelt
30. Dringend empfohlen wird a) die Förderung der Berufsausbildung Jugendlicher b) die verstärkte überprüfung der Arbeitsbedingungen Jugendlicher c) das Inkraftsetzen gesetzlicher Bestimmungen zur Förderung der Berufsausbildung d) das Schaffen von Heimen und Unterkunftshäusern für jugendliche Arbeiter. F. Andere Einrichtungen
31. Die Bedeutung der religiösen Kräfte und der Gemeinschaften wird in verschiedenen Ländern anerkannt. Feste moralische Begriffe wirken den auflösenden Tendenzen eines überstürzten industriellen und sozialen Wandels entgegen. 32. Die Hauptaufgabe der Polizei ist die Sicherung des Eigentums und der Person sowie die Vorbeugung von strafbaren Handlungen insbesondere bei Minderjährigen. Die Polizei ist in diesen Aufgaben zu fördern; eine besondere Jugendpolizei sollte geschaffen und mit fürsorgerischen Fachkräften besetzt werden. 33. Eine Vorbeugungsmaßnahme ist die sinnvolle Gestaltung der Freizeit. Sie gewinnt mit der Verkürzung der Arbeitszeit ihre besondere Bedeutung. Clubs, Jugendverbände, Sportverbände sollten entsprechend dem Bedürfnis des einzelnen Jugendlichen diesen aufnehmen. 34. Aufbauende Maßnahmen unter Einbeziehung der modernen technischen übertragungsmittel wie Kino, Radio, Fernsehen, "comic books" und anderer Veröffentlichungen versprechen größeren Erfolg als strenge und negative Kontrollen und Zensurmaßnahmen. 35. Besonderer Wert ist darauf zu legen, eine enge Zusammenarbeit aller im vorliegenden Zusammenhang genannten Hilfsorganisationen im Interesse der Verbrechensverhütung zu fördern.
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Das Studienprogramm wurde genau umschrieben, und eine Planung auf Weltebene eingeleitet. Dabei empfanden wohl alle Delegierten die nüchterne Sachlichkeit, die auch Grenzen anerkennt, zugleich aber die unbedingte Ehrlichkeit des Wollens, sich diesen Aufgaben zu unterziehen, besonders erfreulich. 6. Am Rande des Kongreßgesmehens und dom In der Mitte der Probleme
Wie eingangs betont, kann diese bruchstückweise Wiedergabe einzelner Geschehnisse, Vorträge, Verhandlungsergebnisse in den Abteilungen und Beschlüsse in den Vollversammlungen kein umfassendes Bild von der Fülle der Eindrücke und Anregungen des Gesamtkongresses geben. Das bisher Erwähnte wurde durch das Darbieten von Fachfilmen, durch Besichtigungen der Strafvollzugsausstellung und von verschiedenen Schweizer Strafanstalten, durch Teilnahme an offiziellen Empfängen und auch den Besuch inoffizieller Begegnungen bereichert. Nicht zuletzt war die Möglichkeit der Aussprache im engen Kreis unter Fachleuten von besonderer Bedeutung. Dies alles stellte in den vierzehn Tagen, die der Genfer Kongreß von 1955 dauerte, eine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe. Besonders eindrucksvoll war der Film, der das Leben in der offenen Strafanstalt "Chino" in Kalifornien darstellte; er lief in einem Genfer Lichtspieltheater und konnte auch von der Öffentlichkeit besucht werden. Der Leiter dieser Anstalt, Herr Kenyon J. Scudder, der als Mitglied der amerikanischen Delegation am Kongreß teilnahm, empfing gelegentlich der Vorführung vor einem geladenen Publikum die ihm gebührenden Ehren. Im Rahmen der Strafvollzugsausstellung zeigten vor allem die USA, England, Frankreich und die Schweiz Bauprojekte und neuere fertige Anstaltsbauten im Bild oder im Modell, ebenso auch die Inneneinrichtung der Räume und die Ausstattung der Gefangenen mit Kleidern, Wäsche usw. Die Zahl der offiziellen gesellschaftlichen Veranstaltungen wurde ergänzt durch Empfänge verschiedener Organisationen, bei denen die Fachkräfte einzelner Sondergebiete die Möglichkeit eines besonders regen engeren Gedankenaustausches erhielten. Weiter bot das Gastland die Möglichkeit, das Verständnis für die Verhandlungen des Kongresses, z. B. über "Mindestregeln", über "Offene Anstalten", über "Arbeit der Gefangenen", und über "Verhütung und Bekämpfung der Jugendverwahrlosung und Kriminalität" durch Kennenlernen einiger typischer Schweizer Anstalten besonders lebendig zu unterstützen.
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Der Kongreß besuchte die Bern'schen Anstalten Witzwil und Thorberg, die im Kanton Fribourg gelegene Anstalt Bellechasse sowie die Anstalten Bochuz und Vennes im Kanton Vaud. Wie sehr verdienten die Besuche eingehender Schilderung, zumal dabei auch wieder deutlich wurde, wie harmonisch sich Menschen aller Nationen immer dann verständigen können, wenn sie hierzu guten Willen haben! Witzwil, eine Anstalt, die sich dem Besucher als im Kerne geschlossen darbietet, mit festen Bauten, aber nach außen hin offen, mit verschiedenen Siedlungsbauten, entwickelte sich im Laufe der letzten 60 Jahre unter der Leitung des genialen Otto Kellerhals aus einer landwirtschaftlichen Kolonie. Heute leitet diese Anstalt sein Sohn, Herr Hans Kellerhals, der, allem Fortschritt offen, den Wandel der Formen des Vollzugs miterlebte. Bei dem Besuch wurde wieder einmal deutlich, wie der Entzug der Freiheit stets das Entscheidende der Freiheitsstrafe bleibt. - Auch die Nachbaranstalt, Bellechasse, ähnlich wie WitzwH durchorganisiert, aber - und das kennzeichnet sie besonders - mit Gefangenen aus dem französisch sprechenden Teil der Schweiz, steht vor den gleichen Problemen, die rechte Progression von der geschlossenen Abteilung zur offenen Anstalt zu finden. Bochuz, in der Ebene des Flusses Orbe, stellt ebenfalls die Vereinigung einer geschlossenen Anstalt mit einer offenen Kolonie dar. - In allen drei Anstalten ähneln sich deshalb zahlreiche Einrichtungen, wobei der Gesamteindruck, daß es sich mehr um relativ offene Anstalten handelt, überwiegt. Die Unterschiede im einzelnen liegen wohl vor allem in den Menschen, sowohl den Gefangenen als auch den Beamten, begründet. Die Anstalt Thorberg unterscheidet sich grundsätzlich von den drei genannten, sie ist eine geschlossene Anstalt. Neben dem festen Hause mit allen Nebengebäuden, dessen Zellenflügel im Jahre 1948 abbrannte, aber wieder aufgebaut wurde, wobei die Schwierigkeiten des Neubaues trotz ungünstiger Lage auf einem Hügel aufs Beste gelöst wurden, steht das ehemalige Herrenhaus, jetzt als Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude mit in den Anstaltsbereich einbezogen. Unweit der Anstalt liegen einzelne Gutshäuser, die in Berner Bauweise gehalten, ermöglichen, einer kleineren Zahl von Gefangenen auch hier eine echte Progression aus der Gebundenheit der Zellen und Arbeitssäle in die Freiheit der Anstaltslandwirtschaft zu gewähren. Im Hofe der Gesamtanlage begrüßte der Anstaltsleiter, Herr Direktor Jacob Werren, die Kongreßteilnehmer aufs Freundlichste in Berner Deutsch. Es war das einzige Mal, daß Deutsch auf diese Weise offizielle Kongreß-Sprache wurde. Die Anstalt Vennes bei Lausanne, eines der wenigen öffentlichen Erziehungsheime für junge Menschen - die meisten gehören privaten Vereinigungen - wirkte nicht minder eindrucksvoll. Hier spürte der
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Besucher den Geist der Fürsorge, der einer Jugendanstalt eigen sein soll, besonders stark und unmittelbar an der offenen Haltung der dort lebenden jungen Männer. Aufrichtiger Dank muß den Schweizer Kollegen für all ihre mit dem Besuch durch den Kongreß aufgewendete Mühe gezollt werden. Diese Männer und ihre Ehefrauen, die, ganz anders als bei uns, sehr stark mit in den Dienst der Anstalt eingespannt sind, erfüllen die grundsätzlichen Forderungen, die im Laufe der Kongreßverhandlungen an die Beamtenschaft einer Strafanstalt gestellt wurden, sie wirken im Sinne der Charta der Gefangenenbehandlung und sind bemüht, Menschen zu sein, die für ihre Schutzbefohlenen jenes Verständnis aufbringen, das - mit Wichern gesprochen - dem Gefangenen nicht das gibt, was er verdient, sondern das, was ihm hilft. - So gewannen die Verhandlungen des Kongresses bei den Besuchern dieser Schweizer Vollzugsanstalten einen lebendigen Inhalt. b) Teil 11. Bericht über den Dritten Kongress der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie in London vom 12. bis 18. September 1955· 1. Der Verlauf des Kongresses
Die Internationale Gesellschaft für Kriminologie hielt in London in der Zeit vom 12. - 18. September 1955 ihren 111. Kongreß ab. Er unterschied sich in mancherlei Hinsicht von dem Genfer Kongreß, den die Vereinten Nationen in der Zeit vom 22. VIII. - 3. IX. 1955 einberufen hatten und über den in Teil I berichtet wurde, sowie auch von den früheren Kriminologenkongressen, von denen der erste im Jahre 1938 in Rom und der zweite 1950 in Paris stattgefunden hatte. Im Gegensatz zudem "Weltparlament des Gefängniswesens", das in Genf getagt hatte, war der Londoner Kongreß ausschließlich eine Angelegenheit der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie. Dementsprechend nahmen nicht Behördenvertreter und nicht Delegierte, sondern Einzelpersonen, die Mitglieder der Gesellschaft sind, an den Verhandlungen teil. Eine gewisse Wirkung ging aber vom Genfer Kongreß zweifellos auf den Londoner Kongreß doch schon insofern aus, als zahlreiche Teilnehmer, insbesondere aus den nichteuropäischen Ländern, an beiden Kongressen teilnahmen. Ausländische Gruppen hatten die 14tägige Pause zwischen Genf und London benutzt, um Strafanstalten in Westeuropa zu besuchen. Auch bei den Verhandlungen wirkte es sich günstig aus, daß sich zahlreiche Kongreßteilnehmer kurz vor London bereits 14 Tage in Genf gemeinsam über Strafvollzugsfragen unterhalten hatten. • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1955 (5) 333 - 350.
1. Kulturnationen erörtern Strafvollzugsfragen
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Kulturnationen beraten Strafvollzugsfragen Zahl der Staaten und Teilnehmer an den jeweils ersten Kongressen der drei Perioden Staat
Kongreß 1846 1872 1955
Abessinien" Ägypten" Aethiopien Mghanistan* Albanien" Argentinien" Äußere Mongolei Australien"
6 2
Staat Großbritan."
Kongreß 1846 1872 1955 5
20
Staat
Uno Pakistan"
King Panama" dom Paraguay*
9 2
Kongreß 1846 1872 1955 3 3
Peru" 1 Philippinen" 2 2 Polen" 1 3 Brit. 6 Portugal· Rwnänien" Ind. Vik- 3 7 salvador* toria Indonesien" 2 SanMarino 3 1 Irak· 2 Saudi 1 Belgien" 3 7 Arabien" Iran· 2 Bolivien" Schweden· 4 3 6 Irland" Brasilien" 1 Schweiz 2 3 6 Island" Bulgarien" Siam" Burma" Israel" 4 Sowjet Ruß!. Ruß!. Camboclscha" 2 Italien 4 Union" 1 7 4 Canada" 2 Japan 6 Spanien· 1 1 Ceylon" 2 Jordanien· Südafr. 1 Chile" 3 2 Union" 4 Jugoslawien" China Syrien" 5 N Korea National" 3 S TchechosloVolksrepubl. . wakei" Laos· Colwnbien" 3 Türkei" 1 Libanon" 1 Costarica" 2 Ungarn" Cuba" 2 Liberia· Dänemark" 1 1 5 Lybien" Uruguay* 1 Deutschland Bun BR LiechtenUkrain. Sowj. desstein" Republik" r.,taa 4 Luxemburg" Vatikan 2 ten 1 5 Venezuela" 3 45 15 21 Mexiko" 3 Ver. Staaten DDR Monaco 1 Nepal" Dominikan. 4 17 v.Amerika" 1 Republik" 1 Neuseeland" 1 Vietnam Süd Ecuador* 1 Nicaragua· N 4 Weißr.VolksFirmland" 1 Niederlande" 5 7 Republik" Frankreich· 1 2 6 11 Norwegen" 2 7 2 Yemen" 1 1 Griechenld." ÖSterreich" Guatemala· Haiti· Honduras" Indien·
" Mitglied der UNO (Ende 1955) Statistik aus: ZfStrVo 1955 (5) 312
24 Freiheitsentzug
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Die Zahl der Londoner Kongreßteilnehmer betrug nach der Teilnehmerliste 385; sie stammten aus insgesamt 49 Staaten. Interessant war u. a., daß im Gegensatz zu dem Pariser Kongreß im Jahre 1950 die Zahl der Teilnehmer aus den südamerikanischen Staaten nicht mehr so groß war. Mancher Teilnehmer wird sich daran erinnert haben, daß gelegentlich der Tagung in Paris die Kriminologen aus Südamerika, insbesondere aus Argentinien, zum III. Kongreß nach Buenos Aires eingeladen hatten. Im Laufe der Vorverhandlungen wurde dann aber dieser Plan aufgegeben. Wäre daran und an dem Datum festgehalten worden, so hätten die Teilnehmer am III. Kriminologenkongreß den Umsturz der Herrschaft des Präsidenten Peron in seiner Hauptstadt miterlebt. Der Londoner Kongreß arbeitete äußerst zielstrebig nach sorgfältiger Vorbereitung durch eine Reihe von Sachverständigen. Die Begrenzung auf das Thema "Der Rückfall", das in fünf Sektionen nach verschiedenen Gesichtspunkten behandelt wurde, wirkte sich zweifellos sehr günstig aus. Eine Reihe von Mitgliedern der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie in verschiedenen Ländern war bereits 1953 und 1954 aufgefordert worden, Vorberichte über die in den Sektionen zu behandelnden Themen an das Kongreßbüro einzusenden. Diese Vorberichte waren an die Leiter der fünf Sektionen weitergeleitet worden und dienten je nach dem Spezialthema den Generalberichterstattern der einzelnen Sektionen als Unterlage für ihren Bericht. In jeder Sektion waren zwei Generalberichterstatter bestellt, die das gleiche Thema von verschiedenen Gesichtspunkten her unter Zugrundelegung der erwähnten Vorberichte bearbeitet hatten. In der Sektion V, die das Thema "Behandlung des Rückfälligen" erörterte, waren beispielsweise Generalberichterstatter ein Jurist, M. Germain-Frankreich, und ein Psychiater, M. Stürup-Dänemark. Diese geschickte Auswahl sicherte die Erörterung aller nur denkbaren Gesichtspunkte und regte die Teilnehmer in den einzelnen Sektionen zu lebhafter Aussprache an. Die Arbeitsergebnisse der einzelnen Sektionen wurden am letzten Tage des Kongresses durch den jeweiligen Leiter der Sektion zusammengefaßt und nacheinander in der Vollversammlung zum Vortrag gebracht. Diese Generalübersicht, bei der gleichzeitig Rechenschaft über das Erarbeitete abgelegt wurde, war besonders eindrucksvoll; hierüber wird im folgenden im Einzelnen berichtet. Mit welchem Eifer soziologische und biologische Prinzipien erörtert wurden, mag aus den mitgeteilten Einzelheiten hervorgehen. Die Krönung der gesamten Arbeit boten aber die Ausführungen des Präsidenten des Kongresses, des Psychiaters Dr. Carroll-London, der noch einmal die Grundgedanken
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zusammenfaßte und bei aller Wissenschaftlichkeit auch das menschliche Problem heraushob. Neben den Arbeiten innerhalb der Sektionen und der Vollversammlung wurden einzelne Vorträge - z. T. in kleinerem, z. T. in größerem Rahmen - gehalten über Themen, die ebenfalls mit dem Problem des Rückfalls in Verbindung standen und den Vortragenden Gelegenheit boten, .über ihre eigene Arbeit· zu referieren. Wenn auch im Vergleich zum Genfer Kongreß gesellschaftliche Veranstaltungen zurücktraten, so muß doch der Empfang durch die Universitätsbehörden besonders dankbar hervorgehoben werden. Außerdem ergaben sich zwanglos eine Reihe von Empfängen von vertretenen Fachgruppen und damit die· Gelegenheit zur Aussprache im kleinsten Kreise. Nicht zuletzt sei erwähnt, daß die englische Gefängnisverwaltung Fahrten zu einzelnen Gefängnissen unternehmen ließ und dem interessierten Fachmann darüber hinaus Gelegenheit bot, beliebig englische Gefangenenanstalten zu besuchen. Besonderer Dank gebührt neben dem Präsidenten der Gesellschaft und zugleich des Kongresses, Herrn Dr. Denis Carroll-London, den für die Vorbereitung und Durchführung des Kongresses Verantwortlichen, von denen die für uns Deutsche besonders wichtigen Herren: Prof. Grunhut-Oxford und Prof. Mannheim-London sowie Herr H. Klare von der Howard League for Penal Reform, der als Sekretär des Kongresses mitwirkte, benannt seien, sowie den Herren Vorsitzenden der Sektionen und den Generalberichterstattern.Dank gilt auch den Vertretern der englischen Gefängnisbehörden, die bei den Anstaltsbesuchen mitwirkten, vor allem dem Leiter des englischen Gefängniswesens, Sir Lionel Fox. 2. Die Arbeiten in den fünf Sektionen und die Berichte in der Vollversammlung am Ende des Kongresses
Wie beim Genfer Kongreß, so entschied sich auch in London der Teilnehmer in der Regel für die Mitarbeit in einer der fünf Sektionen. Durch die gedruckt vorliegenden Arbeiten der Generalberichterstatter in den fünf verschiedenen Sektionen und durch die Berichte über die Arbeiten in den Sektionen und deren Ergebnisse in der abschließenden Vollversammlung, konnten sich alle Kongreßteilnehmer eingehende Kenntnisse von den gesamten Verhandlungen verschaffen. Im folgenden wird zusammenfassend von diesen Sektionsarbeiten berichtet
Sektion 1: Erklärung des Begriffs und statistische Betrachtungen über den Rückfall (Definitions of Recidivism and their Statistical Aspects)
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Der Vorsitzende der Sektion, Prof. Mannheim-Vereinigtes Königreich, trug gelegentlich der Schluß sitzung die in der Sektion I erarbeitete Definition vor und ging näher auf die statistischen Probleme ein. Er bezog sich dabei auf die in dieser Sektion von Prof. GrassbergerÖsterreich und Prof. Morris-Australien erstatteten "Rapports General". Darin hatte Grassberger ausgeführt: Rückfall (Recidivism) ist ein Ausdruck, der nur im Zusammenhang mit der strafbaren Handlung verstanden werden kann. Ein Statistiker wird unter "Recidivism" alle die Rechtsbrecher erfassen, die schon einmal verurteilt wurden. Ein Strafrechtler wird andererseits zwischen verschiedenen Typen des Rückfälligen unterscheiden und z. B. ermitteln, wieviel Zeit zwischen dem letzten und dem vorhergegangenen Rückfall liegt, oder nach der Art des letzten und des vorhergehenden Rechtsbruches fragen, um das kriminelle Streben des Rechtsbrechers zu erkennen. Aus dem Betrachten der ursprünglichen Rechtsverletzung und dem Feststellen der inneren Beziehung zur darauffolgenden Straftat sollte der Gesetzgeber bestimmte Folgerungen ziehen. Die gesetzlichen Bestimmungen hat dann der Richter je nach besonderen Umständen des einzelnen Rückfälligen anzuwenden. Die Statistik über den Rückfall vermag nach Grassberger mancher.;, lei Zwecken zu dienen: durch sie kann der Gesetzgeber u. a. unterrichtet werden über das Ausmaß des Rückfalls in verschiedenen Erscheinungsformen, der Strafvollzugsbeamte kann Erfolg und Mißerfolg seiner Maßnahmen überprüfen, und der Polizeibeamte vermag, bei Vergleich besonders spezialisierter Rechtsbrüche mit größerer Wahrscheinlichkeit den Täter zu ermitteln. Prof. Morris äußerte dazu: man möge sich darüber klar werden, daß es nicht möglich ist, eine erschöpfende Erklärung des Begriffs "Recidivism" zu geben. Entsprechend den möglichen drei verschiedenen Standorten ließen sich mindestens drei nennen. Vom Strafvollzug gesehen wird vorgeschlagen zu sagen: ein Gefangener ist dann rückfällig, wenn er bereits einmal für eine Straftat mit Gefängnis bestraft war. Vom rein juristischen Standpunkt her wird vorgeschlagen festzustellen: ein Rechtsbrecher muß bereits einmal gerichtlich bestraft sein. Dabei sollten alle zusätzlichen Faktoren wie Art, Zahl, Durchführung und Ort der oder des vorangegangenen Verbrechens, weiter die Zeitdauer zwischen den Straftaten, Geschlecht und Lebensalter mit in die Betrachtung einbezogen werden usw. - Als Definition vom Kriminologischen her wird von Morris vorgeschlagen: ein Rückfälliger ist derjenige, der bereits in der Vergangenheit eines Verbrechens für schuldig befunden wurde und erneut ein Verbrechen begeht, gleichgültig ob ermittelt oder nicht. - In der Sektion wurden diese Thesen lebhaft erörtert und ein Unterschied gemacht zwischen "Relapse" und "Reci-
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divisrn" . Vor allem, so wurde festgestellt, sei bei der Begriffserklärung auch das jeweilige gesamte strafrechtliche System eines Landes zu erörtern und seine Bedeutung klarzustellen. Prof. Mannheim erklärte dann weiter: die Statistiken seien bisher rein registrativ geblieben, ohne daß ihre Ergebnisse im allgemeinen zu weiteren Forschungsaufgaben verwendet worden seien. Versuche in dieser Richtung seien zwar vor allem durch das Ehepaar Glueck USA gemacht worden. (Glueck, Sheldon and Eleanor. Five Hundred Criminal Careers. New York, 1930; Five Hundred Delinquents Women; New York, 1934; One Thousend Juvenile Delinquents. Cambridge, (Mass.), 1934; Preventing Crime. New York, 1936; Later Criminal Careers. New York, 1937; Juvenile Delinquents Grown Up. New York, 1940: Criminal Careers in Retrospect. New York, 1943.) Nach Prof. Mannheim fehlen aber völlig noch alle Voraussetzungen zum internationalen Vergleich und darauf lege die Sektion besonderen Wert. In seinen Ausführungen bezog sich Prof. Mannheim abschließend auf die Mindestregeln für die Gefangenenbehandlung, wie sie auf dem Genfer Kongreß beschlossen worden seien, und trug folgende Entschließung vor, die von der Vollversammlung einstimmig gutgeheißen wurde: Der Kongreß möge beschließen, die Einsetzung eines Ausschusses zu empfehlen, der die Angaben über die Rückfälligkeit in den amtlichen Kriminalstatistiken verschiedener Länder prüfen und einen Bericht ausarbeiten soll, in der Mindestziele und Mindestrichtlinien für die Sammlung und Veröffentlichung solcher Angaben vorgeschlagen werden. Die Sektion 2 beriet über das Thema: Beschreibende Studien der Formen des Rückfalls und seiner Entstehung (Descripte study of forms of Recidivism and their evolution) unter dem Vorsitz von Prof. SievertsDeutschland. In der Vollversammlung trug Prof. Sieverts die Arbeitsergebnisse der 2. Sektion vor und betonte, wenn die Sektion auch nur aus 20 Mitgliedern bestanden hätte und wohl die kleinste gewesen sei, so sei ihre Arbeit vielleicht gerade deswegen besonders erfolgreich und angenehm verla:ufen. Den Sektionsberatungen gingen zwei Berichte, erstattet von Dr. Anderson (Belgien) und Prof. Reckless (USA), voraus. Anderson hatte u. a. ausgeführt: Rückfall sei nur eine Form gewohnheitsmäßigen Verhaltens, und das menschliche Verhalten sei bestimmt durch primäre Triebe, die sich mehr oder weniger mit dem sekundären Streben nach Macht, Wohlbefinden und Sicherheit in Harmonie befinden. Diese Begriffe würden aus dem Verhalten der Umgebung abgeleitet. Gewohnheitsmäßige Betätigungen würden primär auf dem Lustempfinden beruhen,
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
das durch soziale und moralische Verbote der Gruppe eingeengt und behindert werde. Ihre Beachtung führe zu einem neuen· gewohnheitsmäßigen Verhalten, dem normalen, ihre Nichtbeachtung dagegen zu kriminellem Verhalten. Diese Beobachtungen könnten in allen Altersstufen vom Jugendlichen an bis zum Erwachsenen gemacht werden, wobei die äußeren Einflüsse ständig wachsen. Eine absolut richtige Prognose werde dabei aber nicht möglich. Weiter führte er aus: die Motive des Rückfalls mögen z. B. in der Konstitution bedingt sein (Hirnschäden). In der Wirklichkeit des Lebens aber zeigten gewohnheitsmäßige Verbrecher, "persistent offenders", häufig auch eine Sonderform mangelnder Reife, denn an den Wendepunkten des Lebens: Kindheit, Jugend, Klimakterium, wurde der Anschluß nicht erreicht. Dennoch könne früher oder später eine NachreUe einsetzen, die dann eine bessere Anpassung an die normalen Gewohnheiten zur Folge habe. Es könne also der Rückfall geheilt oder auf ein erträgliches Maß beschränkt werden. Aber die ReUe könne auch auf dem Sektor des Kriminellen liegen, denn eine wachsende Intelligenz erlaube auch eine steigende Kriminalität. Dr. Anderson führte weiter aus: der Psychologe werde nie. eine vollständige oder völlig klare Diagnose geben können. Für die Zwecke der Praxis in den Strafanstalten schlug er zur DUfere:ilzierung der Gruppen Rückfälliger vor, zU unterscheiden zwischen: 1) der Gruppe derer, die durch ihre erste Strafe weder abgeschreckt (deterred) noch klüger wurden; und 2) der Gruppe jener, die im Gefängnis fühlen, daß sie einen Fehler machten und danach streben, nicht mehr rückfällig zu werden. Psychopathie, Neurose oder mangelnde ReUe würde verschieden auf das Verhalten der Angehörigen dieser beiden Gruppen wirken. Die Analyse der betreffenden Persönlichkeit und der Gruppenfaktoren ermöglichten aber vorbeugende Maßnahmen entweder in der Behandlung der Rückfälligen oder in der Anwendung von Maßnahmen, die kriminogene Situationen unmöglich· machten. Prof; Reckless-USA forderte in seinem Korreferat bezüglich der Technik des Studiums der Einzelfälle, d. h. der Persönlichkeitserforschung, eine Arbeitsgemeinschaft von Fachkräften, die verschiedene Methoden anwenden, sowie die Festlegung von Techniken zur Auswertung der gewonnenen Ergebnisse. Prof. Sieverts trug dann als Vorsitzender der II. Sektion weiter vor, daß auch unter den Rückfälligen zwei Typen zu unterscheiden seien; einmal sei der Rückfällige soziologisch gesehen Mitglied einer "Subculture", zum anderen vermag er, psychologisch gesehen, sein Ego nicht zu kontrollieren und breche deshalb das Recht. Von diesen beiden Typen sei aber der berufsmäßige Verbrecher verschieden, wenn auch Verbindungen mannigfacher Art zwischen diesen Typen bestehen.
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Die Sektion erkannte die Notwendigkeit, die Ermittlungen durch Fallstudien fortzusetzen und dabei auch internationale Vergleiche anzustellen. Die Sektion regte an, das Studium der Symptome von Rechtsbrechern mit gesellschaftsfeindlicher Haltung - antisocial activities und maladaption - fortzusetzen. Prof. Sieverts erklärte, eine typologische Beschreibung des "Rückfälligen" sei nicht möglich, die Forschungsarbeit müsse erst fortgeführt werden. Hierzu werde empfohlen, im Rahmen der internationalen Gesellschaft für Kriminologie eine ständige Unterkommission zu bilden. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Sektion 3 mit dem Thema Ursachen des Rückfalls (Causes of Recidivism) berichtete in der Schluß-Vollversammlung Prof. Andenaes-Norwegen über die Arbeitsergebnisse. Der einzige der Sektion vorliegende Generalbericht stammte von Prof. Baan-Holland, der definierte: ein Rückfälliger ist derjenige, der mehrere Male von Gerichten strafbarer Handlungen überführt wurde oder der mehrere Male strafbare Handlungen beging, er sei überführt oder nicht, der also die Normen des allgemeinen Verhaltens, auf denen sich eine wohlorganisierte Gesellschaft gründet, mehrmals überschritt. Er führte weiter aus, daß auf Grund der bisherigen Erfahrungen 95 °/0 aller menschlichen Wesen nicht mit dem Strafrecht in Berührung kommen, während die Hälfte der übrigen rückfällig wird. Aber es sei wahrscheinlich, daß zahlreiche Menschen gegen die Gesetze verstoßen, ohne mit dem Strafrecht in Berührung zu kommen, wie es der Rückfällige tue ("Dunkelzüfer" oder nach von Hentig: "Dunkelfeld"). Auf Grund einer in Holland angestellten Studie, die rd. 1000 Rückfällige umfaßte, die durch eine equipe, d. h. team oder Arbeitsgruppe, von Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern und Ärzten während der Dauer von mindestens sechs Wochen beobachtet wurden, konnte u. a. festgestellt werden: 1) man überbewertet die endogenen Faktoren, 2) nur 10 Ofo gehörten zu denen, bei welchen die Diagnose "Psychopathie" (im ärztlichen Sinne des Wortes) lautet, 3) anscheinend ist auch falsch anzunehmen, bei mehr als 90 Ofo läge ein geistiger Mangel "deficience mentale" vor, 4) hinter der Maske, die den Rückfälligen vor den Augen der Welt verbergen soll, stecke oft ein verletztes, verwundetes und überempfindsames, mit Minderwertigkeitsgefühlen belastetes Wesen. Es scheine, daß 5) der Berufsverbrecher, ebenso wie der Gewohnheitsverbrecher und die berufsmäßige Prostituierte nur in Romanen existiere, 6) die Dauer der Behandlung wahrscheinlich den Rückfall bestimme, 7) der kriminelle Lebenslauf der Rückfälligen selten homogen sei, wobei außerordentlich schwierig zu entscheiden sei, ob dies eine Krankheit oder eine geistige Unordnung bedinge. - Dieser Bericht gab den entscheidenden Auftakt zu den Sektionsverhandlungen.
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Die ausschlaggebenden Ursachen konnten nicht ermittelt werden, weil sie von Fall zu Fall verschieden sind und wenn überhaupt, nur aus einem schwer erklärbaren Zusammenspiel verschiedener Faktoren verständlich werden können. Auch hier wurde herausgestellt, daß eine weitere Klärung des Problems nötig sei und die Ursache der ersten strafbaren Handlungen ebenso erörtert werden müsse wie die des Rück:falls. Dabei wurde auch gefragt, welche Rolle Presse und Kino spielen. Ferner wurde besprochen, ob ein Rückfall nicht auch das Ergebnis verfehlter gesellschaftlicher Maßnahmen darstellen könne. Als, Arbeitsergebnis wurde nach Erörterung des Problems durch Psychologen, Psychiater und Soziologen folgende Arbeitshypothese aufgestellt: bei der ersten strafbaren Handlung entscheiden vorwiegend gesellschaftliche, beim Rückfall überwiegend individuelle Faktoren. .zu den letzteren gehören z. R geringe Intelligenz und geistige Defekte. Ein weiteres Ergebnis der Sektionsarbeiten, die ohne Resolution abgeschlossen wurden, sind Feststellungen wie z. B.: der Berufsverbrecher, hier etwa der. Taschendieb, der Autoräuber usw., hat keine übernationale einheitliche Struktur; die Berufsverbrecher der einzelnen Länder unterscheiden sich stark voreinander vor allem in ihren emotionalen Antrieben. In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuweisen, daß das Problem der Typen ungewöhnlich schwierig ist, zugleich ist vor jeder unangebrachten Verallgemeinerung zu warnen. Es wird vermutet, daß in bezug auf das Problem des Rückfalls emotionale Faktoren eine besondere Rolle spielen, insbesondere auch z. B. der Alkohol in den skandinavischen Ländern. In Sektion 3 wurde allgemeine Übereinstimmung darüber erzielt, daß es notwendig sei, das gesamte Problem von mehreren Fachrichtungen aus (multidisciplinary) anzugehen. Die Rückfälligkeit müsse ebenso wie andere Formen kriminellen Verhaltens im Zusammenwirken von Psychologen, Psychiatern, Soziologen und Sozial-Anthropologen erforscht werden. Weiter müsse die praktische Erfahrung der Juristert, Polizeibeamten, Vollzugsbeamten, Anstaltsgeistlichen und Sozialarbeiter hinzukommen. Die Sektion 4, in welcher Prof. Frey-Schweiz den Vorsitz führte, bearbeitete: Prognose des Rückfalls (prognosis of Recidivism). Ihr lagen zwei zusammenfassende Berichte vor und zwar von Prof. Drapkin-Chile und von Prof. Sheldon Glueck-USA, die beide das heikle Thema ausführlich behandelten. Eine Prognose des Rückfalls, so trug Prof. Drapkin vor, sei bei einem Rechtsbrecher nach Ermittlung der Wahrscheinlichkeit, sich fortdauernd gegen die Landesgesetze zu vergehen, möglich. Solche Voraussage be-
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ruhe in der Regel einmal auf der Anwendung von sogenannten Voraussage-Tabellen, zum anderen auf den allgemeinen Ergebnissen der klinischen Methode. Prof. Drapkin stellte heraus, daß er sich auf die Erörterung der klinischen Methode beschränke, während Glueck über die "prediction tables" sprechen werde. Er forderte dann: es solle ein ausreichend breites Schema mit drei Gruppen von Faktoren, die eine Prognose ermöglichen, angewendet werden. Die erste Gruppe von Faktoren umfasse die Lebenserfahrung des Rechtsbrechers und schließe Vererbung, Familie und persönlichen "Hintergrund" (background) Sowie die Vorstrafen ein. Die zweite beziehe sich auf die Untersuchungsergebnisse der Persönlichkeit, besonders die morphologischen, physiologischen und neuropsychiatrischen Befunde. Die dritte beschränke sich auf die therapeutischen Möglichkeiten innerhalb oder außerhalb einer Anstaltsbehandlung einschließlich des dort tätigen Personals und der sozialen Bedingungen nach der Entlassung. Prof. Glueck, dessen Gesamtbericht sich auf elf ·Einzelberichten aufbaute, unterteilte in fünf Abschnitte, deren Titel weitgehend kennzeichnend für den Inhalt seiner Ausführungen sind: 1. Art und Ausdehnung des Rückfalls,
2. Vorhersage (prognostic) beruhend auf klinischer Beobachtung, sich stützend auf Vorausschau (prevision) aus Statistiken, 3. Anwendung der Wahrscheinlichkeitstabellen. - Hier betonte Glueck unter anderem, sie wollten keineswegs die Erkenntnisse der Gerichte ersetzen, wohl aber sie erleichtern! Er fuhr dann fort: indessen hat noch kein Gericht darin eingewilligt, sich ihrer zu bedienen, 4. Einwendungen gegen die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstabellen als Mittel der Vorhersage (prognostic). Immer wieder würden hiergegen vier Haupteinwände erhoben, die kurz zusammengefaßt lauteten: a) Die Theorie der Technik der Vorausschau stamme aus einer fatalistischen, zumindest deterministischen Anschauung, b) diese Techniken trügen nicht dem Wandel der persönlichen und sozialen Bedingungen Rechnung, c) sie könnten sich nur auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Tatsachen beziehen, die das menschliche Verhalten beeinflussen, d) sie liefen Gefahr, den einmaligen Charakter des Einzelfalles zu verdunkeln, woraus eine Ungerechtigkeit gegenüber dem einzelnen Rechtsbrecher erwachsen könne. Glueck behauptete, alle diese Einwände seien widerlegt, insbesondere der letzte! Er forderte deshalb im Sinne seines Generalberichts:
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5. Vervollkommnung der Verfahren zur Voraussage: a) Verbesserung der benutzten Unterlagen zur Aufstellung der Wahrscheinlich.keitstafeln, b). Verbesserung der statistischen Erhebungen, c) Bestätigung dieser Tafeln durch Vergleich mit anderen bezeugten Fällen. Die Ergebnisse der Sektionsarbeit trug Prof. Frey-Schweiz abweichend von den übrigen Berichterstattern mit stark persönlicher Note vor. Er ging dabei von der Tatsache aus: bereits 1939 habe Franz Exner in den Schlußworten seiner "Kriminologie" die Frage aufgeworfen, ob eine Prognose des Rückfalls möglich sei. 1951 habe er (Frey) in seinem Buche "Der frühkriminelle Rückfallverbrecher" Basel, 1951 (das dem Andenken VOn Franz Exner gewidmet sei) die gleiche Frage gestellt und zu beantworten versucht. Auf Grund von Wahrscheinlichkeitsrechnungen glaube die Sektion mit ihm, daß eine Prognose jetzt möglich sei. In Deutschland und in den Vereinigten Staaten seien ähnliche Methoden entwickelt worden, in den USA vor allem durch die Gluecks. Er (Frey) sähe eine besondere Bedeutung in der Tatsach~ daß 1955 zum ersten Mal ein internationaler Kongreß Probleme der Prognose diskutiere, und betonte: wenn auch keine endgültigen Ergebnisse bei der Sektion 4 erarbeitet worden seien, so hätten doch einige Folgerungen gezogen werden können. - Im Namen der Sektion schlug Frey dem Kongreß folgende Schlußfolgerungen vor: I. Gesetzgeber, Richter, Vollzugsbeamte, Kliniker und auf kriminologischem Gebiet tätige Wissenschaftler sollten dem Problem der Rückfälligkeit als einem wichtigen Punkt bei der Verbrechensverhütung Und Behandlung Von Straffälligen starke Beachtung schenken. Um diese Ziele zu erreichen, wird empfohlen, in den verschiedenen Ländern geeignete prognostische Dienste einzurichten. 11. Das Stellen einer Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Rückfalles könne durch Anwenden von Vorhersagetabellen verbessert werden, die sich auf eine nachgewiesene starke Beziehung zwischen gewissen Persönlich.keits- und Charakter-, biologischen und sozial-kulturellen Faktoren einerseits sowie verschiedenen Verhaltungsformen andererseits gründen. III. Die Anwendung systematischer prognostischer Methoden, einschließlich der Verwendung VOn durch Kontrolluntersuchungen erhärteten Vorhersagemitteln, sollte unter der Voraussetzung gefördert werden, daß solche Methoden nicht mechanisch angewendet, sondern als Hilfsmittel in Händen von aus fachlich geschulten Wissenschaftlern gebildeten Arbeitsgruppen herangezogen werden. Diese hätten Dienststellen Hilfe zu leisten, die mit der Rechtspflege hinsichtlich jugendlicher un.d erwachsener Straffälliger betraut sind.
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IV. Wegen der engen Beziehung zwischen Rückfälligkeit und Frühkriminalität sei es ratsam, die Entwicklung und Verwendung prognostischer Hilfsmittel einschließlich Vorhersagetabellen zur Vorhersage gerade der Frühkriminalität zu fördern. V. Größte Sorgfalt sei am Platze bei der Bestimmung, Zusammenstellung und überprüfung der Faktoren, die das Grundmaterial bilden, auf das sich prognostische Methoden einschließlich der Vorhersagetabellen aufbauen, und ferner bei der Prüfung der Frage, in welchem Umfang die Rückfälligkeit tatsächlich mit solchen Faktoren im Zusammenhang steht. VI. Ein unerläßlicher Aspekt jeder verbesserten prognostischen Technik sei die überprüfung der Vorhersagemethoden durch Kontrolluntersuchungen an Hand anderer Fälle als derjenigen, auf Grund deren diese Methoden entwickelt worden seien, um diese Methoden soweit wie möglich zu wirksamen Hilfsmitteln der PrognosesteIlung zu gestalten. Darüber hinaus stellte Frey weiter fest, jedes Urteil basiert ohnehin auf einer Prognose. Mindestens 50 % dieser Urteile seien nicht wissenschaftlich fundiert, weil zuverlässige Erhebungen über die soziologischen und biologischen Faktoren fehlten. Die Ermittlungen müßten nach klinischen und statistischen Methoden erfolgen. Man könne die Frage aufwerfen, ob die Diagnose allein eine Prognose ermögliche, aber er bejahe dies unter der Voraussetzung, daß dies systematisch geschehe. Besonderen Wert lege er darauf, daß die biologischen Faktoren neben den soziologischen mehr beachtet werden müßten, als dies mancherorts geschähe. Die kriminelle Laufbahn umfasse jeweils das ganze Leben, auch die Kindheit. Wenn sich auch nach den bisherigen Methoden eine 1000f0ige Voraussage nicht geben lasse und etwa 50 Ofo aller Voraussagen falsch gewesen seien, so verdienten aber die 50 Ofo richtigen Voraussagen Beachtung. Frey betonte, eine systematische Arbeit sei immer besser als eine unsystematische, zumal Wunder in dem Verhalten des Rückfälligen nicht zu erwarten seien. Weiter erörterte Frey die Frage, ob der Richter vor dem Urteil diese Voraussagen kennen solle oder nicht, denn zweifellos werde er für oder gegen den Angeklagten beeinflußt. - Nach Frey bleibt neben diesen Forderungen das Vorbeugen, das Vom-Verbrechen-Abhalten, ein erstrebenswertes Ziel. Im Gegensatz zu den Berichten, Vorschlägen und Empfehlungen der drei ersten Sektionen, die vom Kongreß einstimmig gebilligt wurden, lehnten einige Kongreßteilnehmer die Schlußforderungen Frey's ab, ein anderer Teil enthielt sich der Stimme, die Mehrzahl dagegen
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stimmte zu. Die Ablehnenden waren Prof. Pompe-Holland und der Verfasser des vorliegenden Berichts. Ohne in allen Einzelheiten im vorliegenden Rahmen zu den Problemen der Sektion 4 Stellung nehmen zu können, müssen vom Standpunkt des Strafvollzugs· doch Bedenken hinsichtlich der Schlußfolgerungen angemeldet werden. Zunächst sei festgestellt, daß auch diejenigen, die den Ausführungen von Prof. Frey nicht zustimmten, nicht daran denken, in ein vorwissenschaftliches Stadium bei der Diagnose und der Prognose zurückfallen zu wollen. Soweit aus persönlichen Gesprächen feststellbar war, bewegte die zur Zurückhaltung neigenden Kongreßteilnehmer vor allem der Gedanke, daß ja bisher noch kaum eine echte Diagnose des rückfälligen Rechtsbrechers auf wissenschaftlicher Basis entwickelt worden sei. Eine echte wissenschaftlich begründete Verhaltensvorhersage kann nur auf einer ebenso gründlichen Persönlichkeitserforschung aufbauen. Die Diagnose muß der Prognose vorangehen, daran anzuschließen hat sich eine von Fachkräften überwachte Gefangenenbehandlung - Therapie - und erst der dritte Teil der gesamten Aufgabe kann der Auf- und Ausbau einer Prognose sein. Im gegenwärtigen Zeitpunkt besteht m. E. die Gefahr, daß bei der von Prof. Frey vorgetragenen Art der Prognose jene Unwägbarkeiten, die eine große Rolle spielen und neben den biologischen und soziologischen Gegebenheiten beachtet werden müssen, eine zu geringe Würdigung erfahren. Nicht alles ist rational greifbar, und solange der Mensch "das unbekannte Wesen" ist, sollte die Vorhersage sehr behutsam arbeiten. Vom Standpunkt des gegenwärtigen Strafvollzugs muß zunächst die Gefahr der mangelhaften Persönlichkeits erforschung erkannt und weiter zugegeben werden, daß die Behandlung des rückfälligen Gefangenen noch. nicht den Forderungen entspricht, die die Gegenwart mit Recht stellt und wie sie von Sektion 5 des Londoner Kongresses erarbeitet wurden. -Ein weiterer Gesichtspunkt, der ebenfalls besondere Beachtung verdient, ist die Tatsache, daß u. U. dem rückfälligen Rechtsbrecher bei der Verhandlung durch den Richter die ungünstige Prognose vorgehalten wird. Dies scheint noch gefährlicher als die Tatsache, daß gelegentlich bei Verhandlungen Psychologen oder Psychiater Gutachten dem Angeklagten bekanntgeben und ihr Inhalt dann sein Verhalten bestimmen. So äußerte sich in einer Jugendstrafanstalt ein junger Gefangener, der wegen seines in jeder Weise tadelnswerten Verhaltens zur Rechenschaft gezogen werden mußte, daß er in seiner Verhandlung mit angehört habe, er sei ein hemmungsloser Psychopath; offenbar wollte er das dann beweisen. - Hier muß der Strafvollzug, der mit sozialpädagogischen Mitteln zu arbeiten hat, seine Bedenken gegen die Prognose anmelden! In der Strafanstalt muß der Sozialpädagoge die Hoffnung haben, selbst auf den schwierigst zu behandelnden Gefange-
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nen Einfluß zu gewinnen und ihn vor möglichem Rückfall zu bewahren. Dies bedeutet nicht ein übersehen der Realitäten, eine Sentimentalität, wohl aber eine echte Bereitschaft zur Hilfe einer Selbsthilfe bei der Anpassung an das soziale Leben. Durch eine negative Prognose besteht nicht nur die Gefahr, daß der Richter in seinem Urteil zu erhöhter Strafzumessung veranlaßt wird, daß der Strafvollzugsbeamte im Rückfälligen ein "unverbesserliches Individuum" sieht, sondern auch daß der Rückfällige selbst die Hoffnung auf eine Anpassung an das soziale Leben fahren läßt und alle notwendigen Anstrengungen dazu gar nicht mehr auf sich nimmt. Vom Standpunkt des Strafvollzugs ist zum mindesten große Vorsicht gegenüber den dargestellten Bestrebungen geboten. Die Arbeit der Sektion 5, die das Thema "Behandlung des Rückfalls" (Treatment of Recidivism) erörterte, wurde kurz eingeleitet durch den Vorsitzenden, Prof. di Tullio-Italien. Nach ihm nahmen die Generalberichterstatter M. Germain-Frankreich und M. Stürup-Dänemark das Wort. M. Germain versuchte zunächst, u. a. den Begriff des Rückfalls zu klären, und stellte dann fest, daß bezüglich der Methoden im Gefängnis in den einzelnen Ländern keine verschiedene Behandlung zwischen Erst- und Vorbestraften erfolge. Zwangsläufig kam M. Germain auch auf die Frage der Mitarbeiter zu sprechen und stellte in seinen Ausführungen auch die Bedeutung des Problems der Entlassenenfürsorge heraus. Ebenso betonte er die Notwendigkeit der Vorbeugung als soziales Problem. Nicht zuletzt ging er auf die in Genf beschlossenen Mindestregeln der Behandlung der Gefangenen ein. Dr. Stürup ging im besonderen auf die "Behandlung" ein, wie dies seiner Fachrichtung entspricht. Er überprüfte zunächst, was Rückfall vom Standpunkt der Behandlung bedeutet, welche persönlichen Probleme bei dem Rückfälligen beachtet werden müssen und wie das "Milieu" seinen Einfluß ausübt. Ganz besonderen Wert legte er auf die Diagnose und frug mit Recht: Wer sollte behandelt werden, und wer sollte die Behandlung durchführen? Die erste Frage beantwortete er dahingehend, daß sowohl junge als auch alte Rückfällige, "Hoffnungsvolle" und "Hoffnungslose" eine Behandlung erfahren sollten. Aber er hob hervor, daß diese Behandlung nicht eine gleiche sei, sondern dem Individuum entsprechend verschieden sein und je nach der Schwierigkeit der einzelnen Gefangenen der Psychiater stärker oder weniger stark zur Mitarbeit herangezogen werden müsse. - Die zweite Frage beantwortete er, indem er zur Durchführung der Behandlung neben der Gruppe der Verwaltungs-, Arbeits'"' und Sicherungsbeamten auch die der Erziehungsbeamten stellte und hierzu den Psychologen, Lehrer, Pfarrer und Sozialarbeiter rechnete. Den Praktiker er-
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kannte man eindrucksvoll an seinen Forderungen wie etwa, daß man Zeit haben müsse für den Einzelnen, daß der Einzelne auch als Rechtsbrecher Mensch bleibe und weiter, daß eine Schockbehandlung nur sehr selten notwendig sei. Er schloß seine Ausführungen mit folgenden Worten: "Solange die Freiheitsstrafe die vorherrschende Methode für den Schutz der Gesellschaft bedeutete, konnten die großen Anstalten als zweckmäßig angesehen werden. Wenn aber die Behandlung zum ,Hauptzweck wird, müssen die Anstalten wesentlich kleiner sein." In der Aussprache über die beiden Generalberichte wurde bei aller Verschiedenheit der Behandlung in einzelnen Staaten doch wieder deutlich, wie sehr sich die Behandlung der Rückfälligen in allen Kulturnationen gleicht. - In der Aussprache in Sektion 5 nannte Dr. Stürup einmal den Gefangenen ein Rechtssubjekt und hob hervor, daß er nicht ein Fußball sei, mit dem gespielt werden könne. Diese Achtung vor dem Menschen und die Notwendigkeit, bei allen Maßnahmen innerhalb des Vollzugs hierauf Rücksicht zu nehmen, zeichnete die gesamten Verhandlungen dieser Sektion aus. Wenn im Zusammenhang mit der Sektion 5 auf die Arbeitsergebnisse in den übrigen Sektionen hingewiesen wird, so wurde gerade bei den Berichten in der Vollversammlung am letzten Kongreßtag deutlich, wie notwendig die Mitarbeit der Sektion 5 am Ganzen war, denn sie hatte immer wieder zu betonen: der Gefangene ist nicht Rechtsobjekt sondern Rechtssubjekt, auch wenn er ein "Rückfälliger" ist! In der abschließenden Vollversammlung berichtete Prof. di TullioItalien, der Begründer der "Gesellschaft für Kriminologie" und gleichzeitig der Vorsitzende der 5. Sektion, temperamentvoll über die Sektionsarbeit. Er ging von den Vorberichten der Herren Germain-Frankreich und Stürup-Dänemark aus, deren Inhalt kurz angegeben wurde, und stellte fest: wir haben noch keine ausreichende Erfahrung in der Behandlung Rückfälliger erworben. Auf diesem Arbeitsgebiet ist noch viel zu tun, aber wir tragen die Verantwortung, daß alles getan wird, um den Rückfall unmöglich zu machen. Eine Voraussetzung hierzu sei die Zusammenarbeit aller Personen, die bei der Behandlung beteiligt sind, der Psychologen, der Psychiater, der Sozialpädagogen. In diesem Zusammenhang erwähnte er auch u. a., daß in Ibero-Amerika die Tendenz bestünde, auf Strafe zu verzichten und bei dem Zustand der Gefährdung der Gesellschaft durch den Rückfälligen, dem "etat dangereux" , die Maßnahmen der Sicherung, die ja auch nach deutschem Recht nicht "Strafe" sind, anzuwenden. Prof. di Tullio forderte weiter die medico-psycho-pädagogische Behandlung aller Straffälligen, besonders der Rückfälligen, und eine sorgfältige Ursachenforschung. Vor allem müsse das Erkennen der endoge-
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nen und exogenen Faktoren verangetrieben werden. Er begrüßt die Prophylaxe und verweist darauf, daß der Rückfällige in der Regel bereits in der Jugend kriminelles Verhalten zeige. (Diese Angabe wäre auch bei den Sicherungsverwahrten in Westdeutschland zu überprüfen.) Bei allen Bedenken gegenüber den Rückfälligen wünschte di Tullio, daß ihnen dennoch in einem vorsichtigen und progressiv durchgeführten Vollzug eine psychologische und pädagogische Chance gegeben werden müsse. Weiter empfahl er ein verstärktes Angleichen des Strafrechts und des Strafvollzugs, ein Einbeziehen wissenschaftlicher medizinischer Studien und Forschungen bei allen Kulturnationen. Di Tullio schloß mit echt italienischem Enthusiasmus: Repression und Punition müßten verschwinden und die Todesstrafe in allen Kulturnationen aufgehoben werden, la punition capitale "Todesstrafe" soit eliminee dans tous les pays. Im Anschluß an .die Sektionsberichte faßte der Präsident des Kongresses, Dr. Denis Carroll, die Arbeitsergebnisse der achttägigen Verhandlungen zusammen. Zunächst dankte er allen Helfern am Gelingen des Kongresses und wies darauf hin, daß die General Reports sich als sehr zweckmäßig herausgestellt hätten. An Einzelheiten stellte er heraus, daß nur die 1. Sektion eine Resolution vorgeschlagen habe. Die übrigen Sektionen hätten sich auf Empfehlungen beschränkt, wobei über die Ergebnisse der einzelnen Sektionen bei der Abstimmung im Plenum nicht in allen Fällen restlose Zustimmung erreicht worden sei. Verstärkt worden sei die allgemein geteilte Erkenntnis, daß zahlreiche Ursachen zur Kriminalität führen könnten, aber das Ziel, die sozialen Bedingungen in allen Ländern zu verbessern, den Vorrang behalte. (In diesem Sinne sagte schon Franz von Liszt: Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitikl) In seinen weiteren Ausführungen, die hier nur stichwortartiggebracht werden können, forderte Dr. Carroll, daß die Presse· unter allen Umständen keine Verharmlosung des Kriminellen und der Kriminalität vornehmen soll, und bezog dabei in den Begriff "Presse" die gesamte Unterrichtung der Öffentlichkeit durch Presse, Rundfunk, Film usw. mit ein. Auch unter "legal aspects" betrachtete Dr. Carroll den"Rückfall" und forderte einmal eine unabhängige Rechtsprechung und dann auf Grund der Erfahrungen die notwendigen Maßnahmen der Sicherung. "Harte Strafen" könne er nicht empfehlen, besonders auch nicht erhöhte Strafzumessung bei Rückfall. Immer müsse dem Richter bei der Strafzumessung volle Freiheit gewährt bleiben. In allen Ländern, so stellt Carroll fest, bemühten sich die Gefängnisverwaltungen ernsthaft um das Problem des Rückfalls und des
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Rückfälligen. Vom Standpunkt des Strafrechts aus gesehen, sei das Finden einer Lösung nur möglich bei enger Zusammenarbeit mit den Vollzugsbeamten. Eine vertiefte Kenntnis des Rechtsbrechers müsse dabei vorangehen. Die Schulung aller Mitarbeiter an dieser Aufgabe könne nicht rein theoretisch stattfinden, sie habe in der Praxis zu erfolgen, vor allem auch durch Besprechen von Einzelschicksalen. Dr. Carroll forderte ein solches Studium des Rechtsbrechers, insbesondere auch des Rückfälligen auf lange Sicht und auf internationaler Basis. Während des Vollzugs müsse der Berufsausbildung besondere Beachtung gewidmet werden. Der Einsamkeit des Gefangenen (prisoner in his loneliness) stellte er die Notwendigkeit der Anpassung an das soziale Leben gegenüber, wobei ein wichtiges Mittel die Gruppentherapie sei. Das Verhalten des Kriminellen während des Vollzugs lasse wichtigere Schlüsse zu als die Kenntnis der Vorstrafen, wenn diese natürlich auch zu der Erforschung der Persönlichkeit gehören. Ebenso wichtig für den Erfolg des Vollzugs sei eine genaue Kenntnis der Bedingungen des normalen Lebens im Hinblick auf jeden einzelnen Entlassenen nach dem Vollzug in der neugewonnenen "Freiheit". Abschließend stellte Dr. Carroll fest, daß es nicht das Ziel des Kongresses war, Resolutionen für und an die Öffentlichkeit zu geben, sondern zu vertieftem Studium des Problems anzuregen und eine echte Behandlung der Rückfälligen zu fördern. 3. Abschließende Betrachtungen
Die Darstellung des Genfer und Londoner Kongresses werden bei dem einen oder anderen Leser vielleicht Gedanken haben aufkommen lassen, warum solche Kongresse gehalten werden. Zunächst sei darauf verwiesen, daß geplant ist, diese Kongresse nur alle fünf Jahre durchzuführen. Entscheidend aber wird immer sein, sich zu vergegenwärtigen, daß die Verhandlungen auf übernationaler Ebene mit dazu beitragen sollen zu ermitteln, welche Behandlung der einzelne Verbrecher trotz bzw. wegen seiner Straftaten erfahren soll, um die Gesellschaft dadurch zu schützen und ihm zu helfen, daß nach der Entlassung die Anpassung an das soziale Leben gelingt. War der Genfer Kongreß mit seinen Ergebnissen, die auf verschiedenen Gebieten in die Breite gingen, bedeutsam, so ist von dem Londoner Kongreß festzuhalten, daß er stärker eine Tiefenwirkung anstrebte. Es ist nicht zuviel gesagt: die Ergebnisse beider Kongresse werden die künftige Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs in entscheidender Weise mitbestimmen. Das gibt auch die Pflicht, so eingehend darüber zu berichten.
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über diese Spezialarbeitsergebnisse hinaus ist aber dem Verfasser des Berichts eindrucksvoller als bis dahin klar geworden, daß Europa und die von ihm· beeinftußte Wissenschaft einen ganz neuen Standort den übrigen Kulturnationen gegenüber einnehmen muß. Die Europäer sind nicht mehr die Lehrmeister der nichteuropäischen Nationen; sie stehen in Reih und Glied mit den übrigen Völkern, aber sie haben nach wie vor die Aufgabe, in besonderer Verantwortung dort neue geistige Entscheidungen mit vorzubereiten und voranzutreiben. Wenn man auch versucht ist, "die gegenwärtige Emanzipation der fremden Völker von Europa darauf zurückzuführen, daß sich die Völker Asiens die. moderne Technik angeeignet haben", so ist dies eine außerordentliche Vereinfachung der Weltgeschichte. Man vergiBt dabei, daß das was die abendländischen Völker heute draußen in der Welt erleben, nichts anderes ist als die Erfahrung, die Erzieher sehr oft machen müssen. Man kann Kinder und Völker niederhalten, dann versündigt man sich an den ethischen Grundgesetzen der abendländischen, der christlichen, der menschlichen Kultur. Man kann Kinder und Völker entwickeln, dann aber erzieht man sie zur Freiheit, und sie werden von dieser Freiheit oft einen dem Erzieher höchst unerwünschten Gebrauch machen. Man vergißt also, daß der Einbruch Europas in die alten Kulturen dorthin nicht nur Technik und Zivilisation gebracht hat, sondern im weiteren Verlauf auch einige andere Werte der abendländischen Kultur. Die "educated natives", die in Indien, in China, in Japan, in der türkischen und in der arabischen Welt die Emanzipation ihres Volkes in Gang gebracht haben, hatten an den Universitäten und Technischen Hochschulen Europas nicht nut die moderne exakte Naturwissenschaft und die darauf gegründete moderne Technik kennengelernt, sondern ebenso sehr auch die philosophischen, die ökonomischen, die politischen Lehren der abendländischen Völker, und sie haben sich erfüllt mit dem höchsten und letzten Ergebnis der abendländischen Philosophie, nämlich mit dem Gedanken der Autonomie des Menschen und der Völker (Franz Schnabel). So gesehen wird man den in Genf und London "versammelten Freunden der Gefängnisverbesserung nicht die Anmaßung zutrauen, daß sie ein Gericht hätten bilden wollen, in welchem durch Stimmenmehrheit über die wichtigsten Fragen der Gefängniskunde . so abgestimmt würde, daß nun, wie durch ein gerichtliches Urteil, die in einem gewissen Sinne entschiedene .Frage als rechtskräftig entschiedenbetrachtet werden müßte. Ein Hochmut dieser Art ist den versammelten Männern nicht in den Sinn gekommen. Aufgabe der Versammlung war es, daß diejenigen, welche durch ihre Stellung im Leben, durch Teilnahme an der Leitung von Strafanstalten· oder durch Reisen besondere Gelegenheit hatten, Erfahrungen über die Gefäng25 Freiheitsentzug
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nisse zu machen, so wie diejenigen, welche die Gefängniskunde zum vorzüglichen Gegenstand ihres Nachdenkens machten, sich durch persönliche Zusammenkunft, durch Austausch von Erfahrungen und Ansichten verständigen möchten, daß eine Beratung über die bedeutendsten hierher gehörigen Fragen stattfinden sollte, an deren Schluß durch Abstimmung erforscht werden könnte, welche Ansicht als diejenige angesehen werden dürfte, die von der Mehrheit der Versammlung als die richtige betrachtet werde." Diese Worte aus den "Einleitenden Bemerkungen zu den Verhandlungen der 1. Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt a. Main", erweisen nochmals die Notwendigkeit, immer wieder die wichtigsten Fachfragen gemeinsam zu erörtern und die Ergebnisse dann auch in die Tat umzusetzen. Der Genfer Kongreß hat neben der Klärung einzelner Fragen endlich einheitliche Mindestvorschriften für die Behandlung von Gefangenen gebracht. Darüber hinaus hat er Richtlinien für die Auswahl und Ausbildung der Strafvollzugsbediensteten, für die offene Vollzugsanstalt und für die Arbeit der Gefangenen in den Vollzugsanstalten herausgestellt. Nicht zuletzt hat er Anregungen bezüglich der Erforschung der Jugendkriminalität in allen Kulturnationen gegeben. Der Londoner Kongreß hat die Frage des Rückfalls und alle damit zusammenhängenden Teilfragen behandelt. Keine Kulturnation, die Wert auf eine solche Bezeichnung legt, kann sich den Beschlüssen, Anregungen oder Empfehlungen dieser Gremien entziehen. Insbesondere werden die westdeutschen Länder auf Grund der besonderen geschichtlichen Situationen sich bemühen, hinsichtlich der Gefangenenbehandlung - selbstverständlich unter Beachtung der jeweiligen eigeIl~Il Voraussetzungen - im Sinne der Kongreßergebnisse mitzuarbeiten. Sie werden ihre gegenwärtigen Leistungen überprüfen, die Mängel und Lücken offen erkennen und alles tun müssen, um sie abzustellen und auszufüllen. Der Zweck solcher Aussprachen liegt vor allem selbstverständlich in dem Erarbeiten neuer Wege auf den Fachgebieten, aber daneben sind auch noch andere Ziele zu erstreben. Die Verantwortlichen für die beiden großen Kongresse haben ihre Vorbereitungen von langer Hand her getroffen. Seit Jahren sind die Genfer Tagungspunkte in kleineren und größeren Gremien vorbesprochen worden. Mit dadurch war es gelungen, eine große Zahl von Persönlichkeiten an den Fragen des Kongresses zu interessieren und zu aktivieren. Das gleiche unternahm, wenn auch in etwas anderer Form, die Kriminologische Gesellschaft, die ebenfalls ihre Mitglieder zu Vorberichten aufforderte und dadurch unmittelbar in die Vorbereitungen zum Kongreß mit einbezog, selbst wenn das eine oder andere Mitglied nicht an den Londoner Ver-
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handlungen teilnehmen konnte. Diese in völlig demokratischer Weise durchgeführte Kongreßvorbereitung wirkte sich selbstverständlich auf die Gesamtverhandlungen günstig aus. Wenn auch gelegentlich vielleicht der Eindruck entstehen konnte, daß "viel Köpfe viel Sinne" äußern, so blieb doch immer wieder erstaunlich und gleichzeitig beruhigend, wie sehr die sachlichen Notwendigkeiten auch bei gegnerischen Meinungen die Sprecher zu vornehmen Formen der Auseinandersetzungen veranlaßten. Die Kongreßreform, d. h. auch das Vermeiden von allzu zahlreichen Vollversammlungen, in denen nur Vorträge Einzelner angehört werden müssen, und das Gewähren echter Aussprachemöglichkeit durch die Beratung von Einzelthemen in kleinen Gruppen sowie die anschließende Bekanntgabe der Arbeitsergebnisse in der Vollversammlung, die in meisterhafter Form durchgeführt worden war, hat sich bewährt. Für unsere westdeutschen größeren Fachtagungen kann, selbstverständlich bei gebührender Beachtung der Verhältnisse, sowohl der Genfer als auch der Londoner Kongreß ein Vorbild für die Durchführung von Fachkongressen sein. c) Teil 111. Bericht über den zweiten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger in London vom 8. bis 20. August 1960· I
Unter der gleichen überschrift wurde in dieser Zeitschrift (Jg. 1955 (5) S. 259 ff. und 282 ff.) über zwei Kongresse im Jahre 1955, den Ersten UN-Gefängniskongreß in Genf und den Dritten Kriminologenkongreß in London berichtet. Von dem Zweiten UN-Kongreß in London und dem Vierten Kriminologen-Kongreß im Haag, beide im Jahre 1960, soll ähnlich das Wichtigste hier gebracht werden. Das Generalsekretariat der Vereinten Nationen gab Anfang des Jahres 1960 bekannt, der Zweite Kongreß über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger werde im August 1960 in London stattfinden. In Anbetracht seiner Bedeutung wurde das Programm des Kongresses in unserer Zeitschrift Jg. 1960 (9) S. 125 ff. veröffentlicht. Die Hauptarbeit des Kongresses wurde in drei Sektionen bei Erörterung der Themen: Jugendkriminalität, Verhütung neuer Formen der Kriminalität in Entwicklungsländern, kurze Freiheitsstrafen, Arbeit der Gefangenen und Entlassung geleistet. Dazu kamen noch sechs Vorträge zu Problemen der gesamten Strafrechtspflege von Persönlichkeiten aus Belgien, Großbritannien, Japan, Süd-Amerika und USA. Besonders wertvoll waren die Aussprachen. • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1961 (10) 5 - 26. 25·
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Auf dem Londoner Kongreß waren eintausend Teilnehmer, Vertreter von Regierungen, interessierter Organisationen und Einzelpersonen aus vierundachtzig Ländern anwesend. Hervorzuheben ist, daß SowjetRußland und seine Verbündeten zum ersten Male durch Fachkräfte vertreten, an einer Veranstaltung der UN dieser Art teilnahmen. Wie in Genf im Jahre 1955 waren Fachleute aus allen Erdteilen bereit, den Gedankenaustausch über die von der Kongreßleitung vorgeschlagenen Themen aufzunehmen. - Die Kongreßteilnehmer aus der .Bundesrepublik Deutschland trafen sich bereits zu Beginn des Kongresses zum Kennenlernen in der Deutschen Botschaft. Im Verlaufe der Aussprache wurde vom Unterzeichneten vorgeschlagen, die Beschlüsse des Zweiten UN-Kongresses in deutscher übersetzung herauszugeben. Dadurch sollte verhindert werden, daß die allein in den offiziellen Kongreßsprachen Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch veröffentlichten Beschlüsse eine verschieden lautende deutsche übersetzung erführen. Die von dem Bundesminister der Justiz im Zusammenwirken mit verschiedenen Stellen in Deutschland und den deutschsprachigen Vertretern Österreichs und der Schweiz herausgegebene übersetzung wird im Anhang dieses Berichtes abgedruckt. Am 8. August 1960 eröffnete der Leiter der Abteilung für Soziale Verteidigung bei den Vereinten Nationen, Prof. L6pez-Rey als Vertreter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen den Kongreß. Nach Begrüßung durch den Repräsentanten des gastgebenden Landes, den Lordkanzler, the Right Hon. Viscount Kilmuir, wurde Sir Charles Cunningham, Unterstaatssekretär im Home Office zum Präsidenten des Kongresses und zum Ehrenpräsidenten der Leiter der Prison Commission für England und Wales, Sir Lionel Fox gewählt. Weiter wurden die nachgenannten Persönlichkeiten, in der Regel die Vorsitzenden der wichtigsten ausländischen Delegationen, zu Vizepräsidenten ernannt: Es waren dies die Herren Prof. Leon Radzinowicz, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Cambridge (Großbritannien); James V. Bennett, Direktor des Federal Bureau of Prison (USA), L. N. Smirnow, stellvertretender Sekretär des obersten Gerichtshofs der UdSSR; Nicola Reale, Präsident des obersten italienischen Berufungsgerichts; Herman Kling, Schwedischer Justizminister; Andreas Aulic, Generalstaatsanwalt (Norwegen); Rafael Antonio Carballo, Justizminister von EI Salvador; Hafez Sabek, Generalstaatsanwalt (Vereinigte Arabische Republik) und Juhei Takeuchi, Generaldirektor des Kriminalamtes in Japan. 11
Zur Straffung der Zusammenarbeit in den Vollversammlungen wie auch in den Sektionsverhandlungen waren sowohl als Fachkräfte be-
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währte als auch in internationalen Verhandlungsgepftogenheiten erfahrene Vorsitzende und Vertreter bestimmt. Weiter war für jedes der sechs Verhandlungsthemen ein Generalberichterstatter ernannt. Präsident der ersten Sektion war Prof. Tappan, USA. Der Generalberichterstatter zum ersten Thema (1) Neue Formen der Jugendkriminalität, ihr Ursprung, ihre Verhütung und Behandlung war Dr. Middendorff, Richter in Freiburg/Br., und zum zweiten Thema (2) Besondere Polizeidienststellen für die Verhütung der Jugendkriminalität Mr. Nepote, Vertreter der Internationalen Kriminalpolizei (Frankreich). In der zweiten Sektion wirkte als Präsident mit Charme und großem Verständnis Mr. Acquah (Ghana) seines Amtes. Zum dritten Thema (3) Verhütung von Formen der Kriminalität, die sich aus sozialen Veränderungen ergeben und mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Entwicklungsländern verbunden sind, trug als Generalberichterstatter Mr. Panakal (Indien) und zum vierten Thema (4) "Kurze Freiheitsstrafen" Frau Dr. Pfander (Schweiz) vor. Der dritten Sektion stand als Präsident Prof. Cornil (Belgien) vor. Die Generalberichterstatter zu Thema fünf und sechs waren (5) "Vorbereitung auf die Entlassung und Entlassenenfürsorge sowie Unterstützung der Angehörigen für Gefangene" Mr. Paludan-Müller (Dänemark) (6) "Die Eingliederung der Gefangenenarbeit in die Volkswirtschaft, einschließlich Entlohnung der Gefangenen" Mr. Garcia Basalo (Argentinien). In der vorgesehenen Geschäftsordnung war schriftliche Meldung der Sprecher und Begrenzung der Diskussionszeit auf zehn Minuten festgesetzt, die Präsidenten konnten die Reihenfolge je nach der Angabe, zu welchem Thema der einzelne zu sprechen wünschte, regeln. Der Wert der Diskussionsbeiträge konnte unten den obwaltenden Umständen nur verschieden sein, denn, wie in allen großen Versammlungen gab es auch in London Redner, die die Gelegenheit wahrnahmen, ihre Verdienste gebührend zu betonen. In der Regel aber, und das sei ausdrücklich hervorgehoben, im Gegensatz zu während des Kongresses gelegentlich geäußerten anderen Meinungen, enthielten die Ausführungen der einzelnen Sprecher nicht nur wertvolles Material zu verschiedenen Einzelfragen, sondern sie gaben auch Teilerkenntnisse zu einer vergleichenden Strafvollzugskunde. Wie eindeutig waren z. B. die Ausführungen der Delegierten der UdSSR von Gedanken der staatlichen Lenkung und die der USA von denen der individuellen Freiheit bestimmt. Sehr stark spürte man auch das Temperament der Vertreter der jungen Völker. Die Arbeitsergebnisse der Beratungen in den einzelnen Sektionen in der Vollversammlung in der Regel nach nochmaligem vorherigen kurzen Vortrag des zuständigen Generalberichterstatters zu jeder einzelnen Frage erörtert und die in den Sektionen vorbereiteten Entschließungen zur Abstimmung gebracht. In Anbetracht der Tatsache,
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daß sie am. Ende dieses Berichts im Wortlaut wiedergegeben werden und aus Raumgründen muß auf Einzelerörterung in diesem Zusammenhang verzichtet werden. Nicht verzichtet werden kann freilich auf eine etwas eingehendere Wiedergabe der in der Vollversammlung gehaltenen sechs Vorträge von besonders ausgewählten Fachkräften aus allen Teilen der Welt. Prof. Radzinowicz, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Cambridge (Großbritannien), sprach über Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Krimonologie und der Gefängniskunde (Criminological and Penological Research). Dabei bemühte er sich um eine Klärung der Begriffe, hob die Impulse der italienischen Scuola Positiva hervor und verwies allgemein auf die übernationalen Bestrebungen in der Gegenwart, insbesondere aber auf die Arbeiten an der Universität Cambridge. Dabei stellte er gebührend die Bedeutung des Weißbuches des englischen Innenministeriums "Strafpraxis in einer sich wandelnden Gesellschaft" (Penalpraxis in achanging society) heraus. Leitsatz seiner Ausführungen blieb: Verbrechen kann ohne Kenntnis der Ursachen nicht wirkungsvoll bekämpft werden. - Prof. Sawicki, Strafrechtslehrer an der Universität Warschau, sprach im zweiten Vortrag über die Tendenzen bei der Verbrechensvorbeugung sowie der Behandlung Erwachsener und Jugendlicher in Polen und schilderte die Rechtsgrundlage dieser Behandlung, nachdem er vorher allgemeine Probleme der Strafe erörtert hatte. Auf die Bekämpfung der Jugendkriminalität durch Erziehungseinrichtungen wies er besonders hin. Mr. Bennett, Direktor des Federal Bureau of Prisons in den Vereinigten Staaten, hielt den dritten Vortrag über "Individualisierung des Strafurteils" (The Prevention of crime and the Treatment of Offenders) und stellte die Notwendigkeit eines Ausgleichens im Spannungsverhältnis zwischen den strafrechtlichen Forderungen und den persönlichen Belangen des Rechtsbrechers heraus. Dabei wies er auch kurz auf die Verschiedenheiten in der Strafrechtspflege der einzelnen nordamerikanischen Staaten hin und betonte die Wichtigkeit des vom amerikanischen Law-Institute ausgearbeiteten Modell-Penal-Code. Mr. Takeuchi, Generaldirektor des Kriminalamtes beim Justizministerium in Tokio, unterrichtete die Vollversammlung über die Besonderheiten der Jugendkriminalität in Japan und die Vorbeugungsmaßnahmen. Die vielfältigen Ursachen der Jugendkriminalität in Japan entsprechen weitgehend denen der übrigen Kulturnationen. Besondere Beachtung verdient aber doch der Wandel in der Bindung der jungen Menschen an die Familie durch das Zusammenbrechen des altjapanischen Familiensystems. Wesentlich war auch der Hinweis auf das Bestreben, mit allen wissenschaftlichen Mitteln die in den USA vielfach
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angewendeten Voraussage-Methoden (Prediction Tables as Means of Prophylactic Approach) auch in Japan anzuwenden. Prof. L6pez-Rey, der Leiter der Abteilung Soziale Verteidigung bei den Vereinten Nationen - gleichzeitig die treibende Kraft bei der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten UN-Kongresses -, gab einen Rechenschaftsbericht über die Arbeit der UN auf dem Gebiete der Vorbeugung von Verbrechen und der Behandlung von Verbrechern. Er hob als Aufgabe der UN auf diesem Gebiete hervor: a) das soziale Programm, b) die Führungs- und Koordinationsaufgabe bei diesen Bestrebungen, c) die Notwendigkeit, technische Mittel zum Erreichen der internationalen Kooperation bereitzustellen und d) eine geeignete Organisation dieser Art zu schaffen. Mit Nachdruck verwies er (unter b) auf die mit Hilfe der UN erarbeiteten Mindestgrundsätze für die Behandlung Gefangener (ZfStrVO 1959 (8), S. 141 ff.). Danach stellte Prof. LOpez-Rey das neue Arbeitsprogramm auf, das eine Reihe von Forschungsaufgaben insbesondere in bezug auf die Jugendkriminalität vorsieht. Freilich mußte er bei allem Optimismus bezüglich dieser Pläne mit Bedauern feststellen: "Es muß betont werden, daß die Bedeutung von Verbrechen und Kriminalität noch immer unterbewertet wird" (May be said that the importance of crime and delinquency is still underestimated). Der belgische Jugendrichter Dr. Carlos Verselle hielt den Schlußvortrag über das Thema "Kriminalpolitik und Jugendkriminalität" (Politique Criminelle et Delinquance Juvenile). Er sprach über die Ursache der Jugendkriminalität, die mangelnde Anpassung der Jugendlichen, die Jugendkriminalität in ihren verschiedenen Formen, die Strafmündigkeitsgrenze, die vorbeugenden Maßnahmen sowie über die Möglichkeiten der Bekämpfung mit außerstrafrechtlichen Mitteln. Die Bedeutung der Anstaltserziehung wurde mit besonders ernsten Worten betont und nicht zuletzt wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, mit allen Menschen eines Volkes, die guten Willens zur überwindung der in der Jugendkriminalität lebenden Gefahren sind, zusammenzuarbeiten. Im Aufbau, in den Folgerungen und auch im Vortrag waren die Ausführungen gleicherweise beachtlich. Während der Tagung gab die Leitung des Kongresses, wie dies bereits in Genf 1955 geschehen war, ein täglich erscheinendes "Journal" heraus. Es erschien insgesamt neunmal und unterrichtete die Kongreßteilnehmer, die ja nur an Arbeiten einer Sektion teilnehmen konnten, in großen Zügen über die Verhandlungen in den beiden anderen Sektionen. Weiter gelangten Vervielfältigungen der stichwortartig zusammengefaßten Diskussionsbeiträge, Beschlüsse und Empfehlungen, die in den Sektionen und Vollversammlungen gemacht wurden, zur Verteilung. Schließlich erschien ein Verzeichnis der Kongreßteilnehmer, aufgegliedert nach
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den Delegierten der einzelnen Regierungen, nach von Fachorganisationen entsandten Persönlichkeiten und Einzelpersonen. Außerdem erhielten die Kongreßteilnehmer Dokumente von den verschiedenen Fachorganisationen, die sie über. deren Arbeit unterrichteten. Begrüßt wurde auch die Vorführung von Filmen zum Generalthema des Kongresses aus Canada, Dänemark, Großbritannien, Indien und USA. Eine sehr sorgfältig vorbereitete Ausstellung über das Gefängniswesen der Kulturnationen, mit Grundrissen und Plänen neu errichteter bzw. im Bau befindlicher Strafanstalten mit Einzelzeichnungen von Zellen und Gemeinschaftsräumen, einer Musterkollektion von Beamtenuniformstücken und Gefangenenkleidung, einer Schau von Arbeiten der Gefangenen, vor allem kunstgewerblicher Art, und anderes mehr, nach Ländern getrennt - auch die Bundesrepublik hatte sich an dieser Ausstellung beteiligt - versuchte, ein Bild von der Vielgestaltigkeit des Vollzuges in einzelnen Ländern zu geben. Eine solche "Ausstellung" kann, wenn sie eindrucksvoll gestaltet wird, eine wertvolle Möglichkeit zur Unterrichtung der Öffentlichkeit bieten, zugleich vermag sie Interessierte in die Probleme einzuführen. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil ja der Besuch einer Vollzugsanstalt nicht immer gestattet werden kann. Die Londoner Ausstellung kann bei aller Anerkennung freilich noch nicht als vollkommen gelungen bezeichnet werden. - Gerade auch hier liegen noch wenig bearbeitete Aufgaben. Wie lernt die Öffentlichkeit den Strafvollzug kennen, wie gewinnt sie Verständnis für den Beruf des Strafanstaltsbediensteten und wie wird sie in geeigneter Form immer wieder auf die Notwendigkeit der Eingliederung des Rechtsbrechers hingewiesen? Die Teilnehmer am Londoner Kongreß hatten die Wahl, in kleinen Gruppen an verschiedenen Besuchen teilzunehmen. Es wurden besucht: Fürsorgeerziehungsanstalten (Approved schools), Jugendarrestanstalten (Detention centers), Einrichtungen· des Jugendstrafvollzugs (Borstal Institutions), Gefängnisse für Erwachsene und Jugendliche. Das besondere Interesse auch der deutschen Teilnehmer galt den Detention Centers, die in gewisser Weise ein Gegenstück zu den deutschen Jugendarrestanstalten sind (Grünhut RDJ 1961 (9) 7). Unabhängig von diesen durch den Kongreß organisierten Besuchsreisen war den Fachleuten durch das Entgegenkommen der britischen Gefängnisverwaltung auch der Besuch anderer Anstalten gestattet. Weiter hatte der Kongreß, besonders für die überseeischen Teilnehmer, noch Besuche nach Dänemark, Frankreich und der BRD organisiert. über den Besuch in einem Übergangsheim und einer geschlossenen Anstalt soll getrennt berichtet werden.
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III Der Genfer Kongreß im Jahre 1955 stand vor allem unter dem Zeichen der Erörterung der "Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen". In jahrelangen Vorbereitungen waren die Unterlagen vom zuständigen Sekretariat der Vereinten Nationen zusammengestellt worden, und alle Teilnehmer interessierte die Beratung und deren Ergebnisse. Die übrigen Themen behielten selbstverständlich ihre Bedeutung, wenn sie auch etwas in den Hintergrund traten. Auf dem Londoner Kongreß gab es ein solches Hauptthema nicht, wenn auch das Problem der Jugendkriminalität besonders lebhaft erörtert wurde. Hierbei stellte sich eindringlich dar, welche neuen Formen sie angenommen hat und wie sie gerade in den Staaten mit hochentwickelter Industrie zunimmt. In seinem Generalbericht nannte Dr. Middendorff verschiedene Ursachen, Gefahren, die zum Teil mit der Entwicklung des Kraftfahrzeugs und des· gesteigerten Verkehrs, mit dem Mißbrauch von Alkohol und den Suchtgefahren, mit der Bedrohung des Zusammenhaltes der Familien und anderem zusammenhängen. Es konnte nicht der Wille der Veranstalter des Kongresses sein, hierzu etwas Abschließendes zu sagen, wohl aber wurde ein Vergleich der eigenen Situation mit der in anderen Ländern ermöglicht. Im Laufe des Kongresses gab es wie immer die Möglichkeit, nicht nur während der offiziellen Verhandlungen eine Fülle von neuen Erkenntnissen aller Art zu sammeln, sondern auch sein Wissen von "Land und Leuten" durch Aussprache mit den Teilnehmern von vierundachtzig Nationen zu bereichern. Günstige Gelegenheiten boten die Empfänge, die von einzelnen diplomatischen Ländervertretungen oder den auf dem Kongreß mitanwesenden Organisationen veranstaltet waren. Die Aufnahme oder die Stärkung von Verbindungen von Mensch zu Mensch über Ländergrenzen hinweg stellte eine wertvolle Möglichkeit dar, neue Antriebe für die Arbeit zu gewinnen und zu geben. Gelegentlich geäußerte "kritische" Stimmen über den Kongreß, die darauf hinwiesen, daß nicht alle Ausführungen bei den Aussprachen· hochwissenschaftlich waren und einige Diskussionsredner gelegentlich eine Verständigung erschwerten, kann entgegengehalten werden, daß die völkerverbindende Kraft, die in der Tatsache solcher Tagungen überhaupt liegt, keinesfalls unterschätzt werden darf. Gerade diese Feststellung scheint mir für uns Deutsche von besonderer Wichtigkeit zu sein, weil ja das deutsche Ansehen noch immer stark herabgesetzt ist. Manche ausländischen Teilnehmer ließen gewollt oder ungewollt erkennen, daß sie mit Vorbehalten gegenüber den Deutschen belastet sind, aber auch für die deutschen Teilnehmer konnte die Teilnahme an diesem Kongreß noch eine weitere Belastung bedeuten. Sie spürten u. a. das Fehlen von Erfahrungen über die an-
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gemessene Form der Mitarbeit auf solchen internationalen Kongressen. - Insbesondere die Teilnehmer, die vor 1933 ähnliche Veranstaltungen, z. B. die Internationalen Gefängniskongresse miterlebt hatten, spürten, wie verwandelt die Atmosphäre noch immer blieb. Eindrucksvoll war, das muß im Jahre 1960 erwähnt werden, die Lebhaftigkeit der Vertreter der jungen afrikanischen Staaten. Nicht zuletzt war bemerkenswert, daß die im politischen Leben eine so starke Rolle spielende Spannung zwischen Ost und West kaum in Erscheinung trat und die Vertreter der Vereinigten Staaten von Nordamerika und der SowjetUnion bei voller Herausstellung der zum Teil gegensätzlichen Meinung in angemessener Form entschieden zur sachlichen Bereicherung der Verhandlungen beitrugen. Die Fülle von Ansichten, vorgetragen von Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Temperamente bürgten für eine im guten Sinne ständige Spannung. In der Weltstadt London spielte der vierzehn Tage währende Kongreß, wenn er auch tausend Teilnehmer nach dort zusammenführte, keine das öffentliche Leben bewegende Rolle. Zwei Zeitungsnachrichten mögen die Einstellung der Öffentlichkeit zu den umschriebenen Problemen kennzeichnen. Ein Reporter der "Sunday Times" berichtete in der Ausgabe vom 21. 8. 1960 unter der überschrift: "One Man's World - Die ,eine' Welt": "Während ich an dem Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger teilnahm, kamen mir einige Nebengedanken über die unterschiedliche Bedeutung des Begriffes ,jugendliche Verbrecher' in den verschiedenen Teilen der Welt. Die Delegierten von Süd korea zeigten mir die Statistik der nicht allzu zahlreichen Verbrechen und sagten, daß jugendliche Banden in ihrem Lande nicht viel Kummer bereiten. - Aber erst vor fünf Jahren hatte ich selbst in Pusan an einer der zweimal wöchentlich stattfindenden ,Jagden' auf Waisenkinder teilgenommen. Ich erinnere mich an die dunklen wilden Gesichter der Knaben, die Polizisten und Waisenpfleger zwischen den Gruppen der Flüchtlinge auf den schmutzigen Straßen fingen, dieser Knaben mit verklebten und verlausten Haaren, deren Augenlider mit einer Dreckkruste überzogen waren. Man konnte diese Jungen an jedem beliebigen Morgen zu Dutzenden aufsammeln. 1953 wurde die Zahl der in Korea herumstreunenden Jugendlichen auf eine Million geschätzt. Wahrscheinlich gibt es dort keine ,Banden' im Sinne der New Yorker Gangs, die darauf aus sind, Aufsehen zu erregen und Abenteuer zu erleben. Aber es gibt die berufsmäßigen Banden, die geschickt in der Nähe der Eisenbahnstationen und der Märkte operieren. Ich kann nicht glauben, daß in den letzten fünf Jahren so viele dieser Banden verschwunden sind. Sie sind Kriminelle in einem anderen Sinn; sie sind kriminell, um am Leben zu bleiben."
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Noch eine andere Mitteilung aus der "Times" vom 20. 8. 1960 verdient, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. In einem Leserbrief schreibt ein englischer Bürger: "Gefangene in der Öffentlichkeit Prisoners in Public": Gestern abend fuhr ein Gefangener, der mit Handschellen an seinen militärischen Vorgesetzten gefesselt war, um 18.30 Uhr in dem dichtbesetzten Zug von Liverpool Street nach Ipswich. In unserer aufgeklärten Zeit erscheint es seltsam und meiner Meinung nach unnötig, daß Gefangene - Soldaten oder Zivilisten - in Handschellen vor der Öffentlichkeit erscheinen und dadurch der Demütigung und ihre Begleiter der Verlegenheit ausgesetzt werden. Könnte sich die zuständige Stelle für derartige "Gefangenentransporte" nicht eine "Grüne Minna" zur Verfügung stellen lassen? Diese Zeitungsnotizen geben insofern zu denken, als die Verantwortlichen nach noch so wohl vorbereiteten Kongressen nicht der Aufgabe enthoben sind, im Alltag des Strafvollzugs stets jene Mindestregeln der Würde des Menschen zu beachten, deren Erfüllung die Voraussetzung für eine Eingliederung in die Gesellschaft ist. Entsdlließungen und Empfehlungen des Zweiten Kongresses der Vereinten Nationen
abgehalten in London vom 8. bis 20. August 1960 über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger I
Neue Formen der Jugendkriminalität: ihr Ursprung, ihre Verhütung und Behandlung Die Jugendkriminalität kann nicht unabhängig von der sozialen Struktur des einzelnen Staates betrachtet werden. In vielen Ländern ist sie grundlegend gekennzeichnet entweder durch das Wiederaufleben ihrer traditionellen Erscheinungsarten oder durch das Auftreten "neuer" Formen. Es darf nicht übersehen werden, daß die Zunahme der Jugendkriminalität, über die berichtet worden ist, teilweise auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß heute infolge einer besseren Organisation der Vel'brechensverhütung und -behandlung eine große Zahl der Fälle aufgeklärt wird, sowie auf die weitere Tatsache, daß gewisse Länder eine Reihe leichterer Fälle von Disziplinlosigkeit oder sozialer Nichtanpassung zur Kriminalität rechnen. Die neuen Erscheinungsformen der Jugendkriminalität - ihre Bedeutung wird oft stark übertrieben äußern sich besonders in den Formen von Bandentätigkeit, sinnlosen Rechtsverletzungen, Handlungen aus reiner Zerstörungswut, Auto-
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diebstählen zur Durchführung von Schwarzfahrten und ähnlichem, die vom Standpunkt der öffentlichen Ordnung aus ernst zu nehmen sein können, ohne aber unbedingt ein· Zeichen ernstlichen antisozialen Verhaltens zu sein. Demgemäß werden die folgenden Entschließungen angenommen: Der Kongreß 1. ist der Ansicht, daß der Bereich des Problems der Jugendkriminalität nicht unnötig ausgedehnt werden sollte. Ohne den Versuch zu machen, eine für alle Länder gültige Standarddefinition des Begriffs der Jugendkriminalität aufzustellen, empfiehlt er a) die Bedeutung des Ausdrucks Jugendkriminalität soweit wie möglich auf Verletzungen des Strafrechts zu beschränken und b) keine besonderen Tatbestände - und zwar auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Jugend - zu schaffen, die bei Minderjährigen geringfügige Unregelmäßigkeiten oder soziale Nichtanpassung mit Strafe bedrohen, für die jedoch Erwachsene strafrechtlich nicht belangt würden. 2. stellt fest, daß, wie aus statistischem Material, das veröffentlicht worden ist, hervorgeht, in gewissen Ländern einige Formen der Jugendkriminalität entstanden sind und rasch und bedenklich zugenommen haben, obwohl in diesen Ländern große Anstrengungen zur Verhütung solcher Kriminalität gemacht worden sind; und in dem Bestreben festzustellen, ob diese anscheinende Zunahme auch der Wirklichkeit entspricht, und, wenn ja, welches die Ursachen dafür sind; und um eine bessere Festlegung und Durchführung von Maßnahmen und Programmen zur Verhütung der Jugendkriminalität und zur Behandlung Straffälliger zu ermöglichen, empfiehlt er, diese Frage zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, die in das Arbeitsprogramm der Vereinten Nationen auf dem Gebiete der Sozialen Verteidigung ("deiense sociale") aufgenommen und in Zusammenarbeit mit den an dem Problem unmittelbar interessierten staatlichen Fachorganisationen und nichtstaatlichen Organisationen durchgeführt werden soll. 3. ist der Ansicht, daß dem Problem des Rückfalls Jugendlicher nicht allein durch eine strengere Durchführung und insbesondere eine längere Dauer der Freiheitsentziehung begegnet werden kann. Differenzierte Methoden der Vorbeugung und Behandlung sind erforderlich, und besondere Aufmerksamkeit soll der Vorbereitung auf die Entlassung und der sozialen Wiedereingliederung der Minderjährigen, die in Anstalten untergebracht sind, gewidmet werden. Zu diesem Zwecke ist es wichtig und notwendig, eine Entlassenenfürsorge einzurichten.
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4. kommt zu dem Ergebnis, daß da~ Auftreten "neuer" Formen der Jugendkriminalität ein ständiges Studium und eine um so intensivere Anwendung neuartiger wie herkömmlicher Formen der Verhütung und Behandlung erfordert. Infolgedessen a) ist der Kongreß der Ansicht, daß man sich bei der Behandlung des Problems der Gruppenkriminalität einschließlich der Bandentätigkeit der Bemühungen amtlicher und halbamtlicher Stellen sowie ziviler und sozialer Gruppen bedienen sollte, um die Energien der Jugendlichen in sinnvolle Bahnen lenken zu helfen. Von Einrichtungen wie Gemeinschaftsstätten ("community centers"), Klubheimen für Jugendliche und Heranwachsende und ähnlichem, sowie anderen Mitteln, wie Freizeitbeschäftigung, Sport, kultureller Betätigung, Ferienprogrammen für Familien usw., soll in weiterem Umfang Gebrauch gemacht werden; b) ist er der Ansicht, daß es wünschenswert ist, nicht nur bestimmten Arten der Kriminalität oder der Straffälligen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern auch für eine eingehendere Erforschung der Persönlichkeit und der sozialen Vorgeschichte jugendlicher Rechtsbrecher Vorsorge zu treffen; c) stellt er fest, daß bei den Maßnahmen, die zur Verhütung und Behandlung der Jugendkriminalität getroffen werden können, in den verschiedenen Ländern, je nach ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen, Unterschiede bestehen, ist aber der Ansicht, daß das Problem weitgehend ein Problem der Erziehung durch die Schule und die Familie ist, wobei der Ausruck "Erziehung" in dem Sinne gebraucht wird, daß er sowohl die Aneignung von Wissen als auch die Charakterbildung umfaßt. Wo eine angemessene Anleitung oder Aufsicht durch die Eltern fehlt und die Kinder sich nicht selbst zu disziplinieren wissen, besteht die Notwendigkeit eines verstärkten erzieherischen Eingreifens von außen sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Jugendlichen. Diese Erziehung sollte darauf hinzielen, die Kluft zwischen den Generationen durch Weckung des gegenseitigen Verständnisses und der gegenseitigen Sympathie zu überbrücken und das Gefühl für moralische und soziale Verantwortung zu stärken. d) ist er der Ansicht, daß gewisse Arten von Filmen, Publizität, "comic books", sensationelle Nachrichten über Verbrechen und Kriminalität, minderwertige Literatur und. minderwertige Fernseh- und Radioprogramme und dergleichen in .einigen Ländern als Umstände angesehen werden, die zur Jugendkriminalität
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beitragen. Deshalb möge jedes Land in übereinstimmung mit seinen eigenen politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten und Auffassungen die geeigneten Schritte tun, um die Wirkung dessen zu verhüten oder zu verringern, was als ein Mißbrauch der Publikationsmittel und als mitwirkender Faktor bei der Verursachung der Jugendkriminalität angesehen wird, und um die Produktion erzieherischer und wertvoller Filme und Literatur zu fördern, die die moralischen und staatsbürgerlichen Traditionen eines jeden Landes weiterentwickeln. e) empfiehlt er, bessere Einrichtungen für die Berufsberatung und Berufsausbildung bereitzustellen und Vorsorge zu treffen für Arbeitsmöglichkeiten sowie für eine sinnvolle Beschäftigung der schulentlassenen jungen Menschen. f) empfiehlt er, alles zu tun, die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Fürsorgestellen und zwischen haupt- und ehrenamtlichen Einrichtungen bei ihren. Bemühungen zur Verhütung und Behandlung der Jugendkriminalität zu verbessern. Koordinierungsausschüsse innerhalb der Gemeinden, Vorhaben für bestimmte Gebiete, Jugendbüros, Jugendkommissionen und dergleichen können viel zu einer solchen Zusammenarbeit beitragen.
II
Besondere Polizeidienststellen für die Verhütung der Jugendkriminalität Der Kongreß I. ist der Ansicht, daß die Polizei in Ausübung ihrer allgemeinen
Pflicht, Verbrechen vorzubeugen, der Verhütung neuer Formen der Jugendkriminalität besondere Aufmerksamkeit schenken soll. Sie soll jedoch nicht so weit gehen, besondere Funktionen zu übernehmen, die besser in das Arbeitsgebiet der sozialen, erzieherischen und sonstigen Dienste gehören.
11. ist der Ansicht, daß die vorbeugende Tätigkeit der Polizei auf dem Gebiete der Jugendkriminalität an die Beachtung der Menschenrechte gebunden bleiben soll. III. ist der Ansicht, daß der von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) unter dem Titel "Besondere Polizeidienststellen zur Verhütung der Jugendkriminalität" vorgelegte Bericht unbeschadet von Abweichungen mit Rücksicht auf nationale Bedürfnisse eine gute Grundlage für die Organisation und Errichtung besonderer Polizeidienststellen bildet, wo solche zur Verhütung der Jugendkriminalität empfehlenswert erscheinen.
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IV. macht jedoch gewisse Vorbehalte hinsichtlich der Abnahme von Fingerabdrücken bei jugendlichen Tätern sowie hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Einführung eines Systems durch die Polizei, nach dem sie gutes oder schlechtes Verhalten in der Gemeinschaft beurteilt. V. mißt bei Maßnahmen zur Verhütung der Jugendkriminalität der weitestgehenden Zusammenarbeit der Polizei, der verschiedenen nationalen Sonderorganisationen und der Öffentlichkeit große Bedeutung bei. III
Verhütung von Formen der Kriminalität, die sich aus sozialen Veränderungen ergeben und mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Entwicklungsländern verbunden sind. 1. Die Kriminalität ist keine notwendige Folge sozialer Veränderun-
gen, welche die wirtschaftliche Entwicklung in Entwicklungsländern begleiten. Soziale Veränderungen und wirtschaftliche Entwicklung sind beide willkommen und können unter geeigneten Umständen sogar zu einer Verminderung der Kriminalität beitragen. Der Ausdruck "Entwicklungsländer" bezieht sich nur auf einen Stand wirtschaftlicher Entwicklung.
2. Den Formen der Kriminalität, die mit sozialen Veränderungen verbunden sind und die den wirtschaftlichen Aufschwung in den Entwicklungsländern begleiten, ist bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden; darum liegen über sie nicht genügend zuverlässige Angaben vor. Die Beschlüsse und Empfehlungen zu diesem Punkt sind daher nur als vorläufige zu betrachten und bedürfen noch einer überprüfung durch gründliche Forschungsarbeit. 3. Die Kriminalität, die in Entwicklungsländern mit den die wirtschaftliche Entwicklung begleitenden sozialen Veränderungen in Zusammenhang stehen kann, braucht nicht neu zu sein im Sinne von Verhaltensformen, die vorher nicht beobachtet werden konnten. Daher soll sich die besondere Aufmerksamkeit auf die Zunahme der Kriminalität im allgemeinen richten, soweit sie in Verbindung mit sozialen Veränderungen steht und sich nicht auf die Beschäftigung mit besonderen Formen der Kriminalität beschränken. 4. Kulturelle Unbeständigkeit, das Schwächen wichtigster sozialer Kontrollen und das Aufeinandertreffen gegensätzlicher sozialer Lebensformen, die zur Kriminalität in Beziehung stehen, werden verstärkt, wenn die soziale Veränderung in Unordnung, ihr Aus-
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges maß hoch ist und wenn die Kluft zwischen den zusammengebrochenen alten sozialen Einrichtungen und den neugeschaffenen groß ist.
5." Die soziale Veränderung kann bis zu einem gewissen Grade einer Kontrolle unterstellt werden und soll in die nationale Planung einbezogen werden. 6. Die Abwandertmg, besonders der Zug vom Land in die Stadt oder von einer Provinz in die andere, die in Entwicklungsländern mit den die wirtschaftliche Entwicklung begleitenden sozialen Veränderungen verbunden ist, wird manchmal irrtümlicherweise als eine Ursache der Kriminalität angesehen. Nicht die Abwanderung als solche fördert die Kriminalität, sondern die kulturelle Unbeständigkeit, die Schwächung wichtigster hergebrachter sozialer Kontrollen . und die ständige Konfrontierung mit neuen Lebensgewohnheiten, die mit der Zuwanderung zusammenhängen, sind vielleicht als Verbrechensursachen anzusehen. Die gleiche Schlußfolgerung gilt für die Verstädterung und Industrialisierung. 7.. Man kann den ungünstigen Auswirkungen der schnellen Abwan-
derung zu städtischen Zentren dadurch begegnen, daß in ländlichen Bezirken die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile geboten werden, die der Landbewohner in der Stadt sucht.
8. Im Zusammenhang mit der Abwanderung vom Land zur Stadt ist es zur Aufrechterhaltung der sozialen Integrität des einzelnen wesentlich, daß der Abwandernde auf das, was ihn erwartet, und die Stadtbevölkerung auf seine Aufnahme vorbereitet sind. In beiden Fällen ist die Entwicklung des Gemeinschaftslebens, die heute in der Wirtschafts- und Sozialpolitik in vielen Ländern eine bedeutsame Rolle spielt, von Wichtigkeit. Tatsächlich kann sich die Entwicklung der Stadtgemeinschaft als wichtiges Mittel zur Verhütung der Kriminalität erweisen, die sich in Entwicklungsländern aus sozialen Veränderungen ergibt und die wirtschaftliche Entwicklung begleitet. Im Rahmen der Vorbereitung der Stadtverwaltungen zur Aufnahme Zugewanderter ist Vorsorge zu treffen für Aufnahme- und Beratungsstellen (einschließlich vorübergehender Unterkunft), für Städteplanung einschließlich Unterkunftsmöglichkeiten, für Gelegenheiten zur Erziehung und Berufsausbildung für die neue Bevölkerung und für Familien':' und Kinderfürsorge. 9. Die Programme zur Verhütung der Kriminalität sollen sorgfältig aufeinander abgestimmt werden, wenn möglich von einer zu diesem Zweck eingerichteten Stelle und sollen von Personen ausgearbeitet werden, die auf diesem Gebiet hoch qualifiziert sind. Es wird empfohlen,daß diese Stelle als wesentlicher Bestandteil eines in sich abgestimmten Entwurfs zur nationalen Sozial- und Wirt-
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schaftsplanung arbeitet, da, wie in den Sozialübersichten der Vereinten Nationen betont, eine dringende Notwendigkeit besteht, ein auf bestimmte Gesichtspunkte begrenztes Denken auszuschalten und die sozialen und wirtschaftlichen Ziele in Ländern, die eine rasche Entwicklung durchmachen, miteinander in Einklang zu bringen. 10. Bei der Prüfung der Frage der Kriminalität und der sozialen Veränderung wird im allgemeinen der Schwerpunkt auf die städtischen Zentren gelegt. Dies mag richtig sein, aber es wäre empfehlenswert, die Auswirkung der sozialen Veränderungen in den ländlichen Bezirken mit gleichem Interesse zu untersuchen. Dadurch ließen sich die Ursachen von Verbrechen feststellen, die später in der Stadt begangen werden. 11. Das Strafgesetzbuch muß mit der sozialen Veränderung in Einklang stehen und diese widerspiegeln. Die Einstellung der Justiz auf den Einzelfall muß ins Auge gefaßt werden, um eine vernünftige Rechtsprechung und Behandlung zu ermöglichen, die sowohl die Sozialordnung als auch die besonderen Umstände des einzelnen in Betracht ziehen. 12. Forschung ist dringend erforderlich, um die vielen Faktoren der sozialen Veränderung festzustellen, die möglicherweise zur Kriminalität beitragen. Sie ist gleicherweise notwendig, um den Wert der Vorbeugungsmaßnahmen richtig abzuschätzen. Zu diesem Zwecke müssen die Technik und das Verfahren statistischer Erhebungen wesentlich verbessert werden. Darauf soll die Aufmerksamkeit in den Ländern gelenkt und dafür soll internationale Unterstützung angestrebt werden. Zusätzlich zu statistischen Forschungsmethoden soll auf das Studium von Einzelfällen, auf praktische Beobachtungen durch Arbeitsgemeinschaften qualüizierter Sachverständiger und auf Versuchsvorhaben Wert gelegt werden. Die Vereinten Nationen sollen gebeten werden, die Hauptverantwortung zu übernehmen für die Durchführung dieser Forschungsarbeit in regionalen Instituten zur Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger, die mit ihrer Hilfe eingerichtet werden, und/oder durch die Durchführung von Versuchsarbeiten in Zusammenarbeit mit den Regierungen, den Fachorganisationen der Vereinten Nationen, den zuständigen nichtstaatlichen Organisationen und anderen geeigneten Auskunftsquellen. Der Umfang der Forschung sollte beweglich sein, um Faktoren, die weltweiter, regionaler und örtlicher Natur sind, die nötige Aufmerksamkeit schenken zu können.
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IV KUTze FTeiheitsstTafen 1. Der Kongreß ist zur Erkenntnis gelangt, daß die kurze Freiheits-
strafe in vielen Fällen schädlich sein kann, da sie den Straffälligen der Gefahr schlechter Beeinflussung aussetzen kann und nur wenig oder keine Gelegenheit für einen aufbauenden Vollzug bietet; er hält daher ihre häufige Anwendung für unerwünscht. Der Kongreß verschließt sich jedoch der Erkenntnis nicht, daß die Ziele der Rechtspflege in einigen Fällen die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe notwendig machen können.
2. Angesichts dieser grundlegenden Erkenntnis ist sich der Kongreß bewußt, daß die völlige Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe in der Praxis undurchführbar ist und daß eine wirklichkeitsnahe Lösung dieses Problems nur durch eine Einschränkung der Anwendung in den Fällen erreicht werden kann, in denen sie unangebracht ist, insbesondere, wenn die Straftat geringfügig oder technischer Art ist oder wenn Haft im Falle der Nichtzahlung einer Geldstrafe ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Straffälligen angeordnet wird. 3. Diese allmähliche Einschränkung muß in erster Linie durch häufigere Anwendung von Maßnahmen erreicht werden, die kurze Freiheitsstrafen ersetzen können, wie z. B. bedingte Aussetzung des Verfahrens oder Verhängung von Geldstrafen, Arbeitsauflagen und andere Maßnahmen, die keinen Freiheitsentzug in sich schließen. 4. In den Fällen, in denen die kurze Freiheitsstrafe die einzig angemessene Maßnahme für den Straffälligen ist, sollen die Strafen in geeigneten Anstalten verbüßt werden, in denen Vorsorge getroffen ist für die Trennung von Gefangenen,die lange Strafen verbüßen. Der Vollzug soll so aufbauend und individuell als nur möglich gestaltet werden. Soweit möglich, sollen für die Verbüßung der Strafen offene Anstalten vorgezogen werden. 5. Der Kongreß empfiehlt: a) Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollen sobald wie möglich sicherstellen, daß die gesetzgeberischen Maßnahmen getroffen werden, die zur Verwirklichung der vorstehenden Empfehlungen notwendig sind. b) Wissenschaftlich organisierte Forschungsarbeiten sollen durchgeführt werden, um die Hilfsmittel festzustellen, mit denen bestimmt werden kann, für welche Personen und unter welchen Umständen die kurze Freiheitsstrafe ungeeignet ist, und mit
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denen befriedigende Programme für die Klassifizierung, Ausbildung und Wiedereingliederung aufgestellt werden können. c) Geeignete Programme zur Schulung und Ausbildung der mit dem Vollzug kurzer Freiheitsstrafen befaßten Bediensteten sollen aufgestellt und verwirklicht werden. d) Methoden sollen ausgearbeitet und verwirklicht werden, durch die (i) erkennende Gerichte ermutigt werden, Maßnahmen anzuwenden, die an die Stelle kurzer Freiheitsstrafen treten können,und (ii) die Öffentlichkeit von der Richtigkeit der hierin zum Ausdruck gebrachten Ansichten unterrichtet und überzeugt werden kann. V
Vorbereitung auf die Entlassung und Entlassenenfürsorge sowie Unterstützung der Angehörigen von Gefangenen 1. Die Vorbereitungen auf die Entlassung sind ein wesentlicher Bestandteil der Rechtspflege und des für den Gefangenen in der Anstalt aufgestellten allgemeinen Ausbildungs- und Vollzugsplans. Wenn auch der Vollzug in einer Anstalt ganz allgemein in jedem seiner Abschnitte darauf ausgerichtet sein soll, den Gefangenen für die Rückkehr zum Leben in der Freiheit vorzubereiten, können gewisse Ziele doch nur während des letzten Abschnitts seiner Gefangenschaft erreicht werden. Daher sollen vor allem Gefangene, die längere Strafen in einer Anstalt verbüßen, auf die Entlassung vorbereitet werden, jedoch sollen auch Gefangene mit kurzen Freiheitsstrafen von einer solchen besonderen Vorbereitung nicht ausgeschlossen sein.
2. Bei der Vorbereitung auf die Entlassung sollen die besonderen Probleme Beachtung finden, die mit dem übergang vom Leben in der Anstalt zum Leben in der Gemeinschaft verbunden sind. Die Vorbereitung auf die Entlassung soll umfassen: a) besondere Ratschläge, Hinweise und Aussprachen über die praktischen und persönlichen Aussichten für das künftige Leben der Straffälligen; b) Behandlung in der Gruppe; c) Gewährung größerer Freiheit innerhalb der Anstalt; d) Verlegung aus einer geschlossenen in eine offene Anstalt; e) Urlaub zu vernünftigen Zwecken und von einer diesen Zwecken angepaßte Dauer;
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges f) die Erlaubnis für Straffällige, außerhalb der Anstalt zu arbeiten. Soweit durchführbar, sollte es ihnen gestattet werden, unter den gleichen Bedingungen zu arbeiten wie freie Arbeiter. Wenn sie nicht in Heimen außerhalb der Anstalt untergebracht sind, sollen sie getrennt von den übrigen Gefangenen in einer besonderen Abteilung untergebracht werden.
3. Besondere Vorbereitungsmaßnahmen für die Entlassung sollen die in jedem Land eigenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen. Den Bedürfnissen des Straffälligen hinsichtlich seiner Erziehung, Lehrzeit, Beschäftigung, Unterkunft und der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ist besondere Beachtung zu schenken. 4. Es ist wünschenswert, zur praktischen Lösung der durch die Freiheitsentziehung geschaffenen sozialen und verwaltungsmäßigen Probleme von der Einrichtung der vorzeitigen bedingten Entlassung im weitest möglichen Umfang Gebrauch zu machen. Die Behörde, die den Gefangenen entläßt, soll dafür fachlich besonders geeignet sein. Entscheidungen über den Gefangenen sollen möglichst nach einer persönlichen Unterredung mit ihm, in jedem Falle aber auf Grund erschöpfender Auskünfte über ihn getroffen werden. 5. Bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung eines Gefangenen soll die entlassende Behörde im Rahmen der Gesetze eines jeden Landes hinsichtlich des Zeitpunkts, in dem der Gefangene für die Entlassung in Frage kommt, eine gewisse Ermessensfreiheit haben. Auch soll ein gewisser Spielraum bleiben hinsichtlich der Bedingung des Nachweises einer Beschäftigung, der in einigen Ländern verlangt wird, bevor der Gefangene entlassen wird. Ebenso ist es wünschenswert, daß bei Verletzung der auferlegten Bedingungen gleichermaßen der jeweiligen Lage angepaßt vorge.gangen wird, so daß anstelle des zwingenden Widerrufs Ersatzmaßnahmen treten können wie Verwarnungen, Verlängerung der Beaufsichtigung oder Änderung ihrer Methoden und Unterbringung in Heimen der Entlassenenfürsorge. 6. Die Grundsätze, nach denen Straffällige von bestimmten Beschäftigungen ausgeschlossen werden, sollen überprüft werden. Der Staat soll den Arbeitgebern mit gutem Beispiel vorangehen und es nicht allgemein ablehnen, entlassenen Gefangenen wenigstens bestimmte Arten einer Beschäftigung zu geben. 7. Zweck der Entlassenenfürsorge ist es, den Straffälligen wieder in das Leben der freien Gemeinschaft einzugliedern und ihm dabei moralisch und materiell zu helfen. In erster Linie soll für seine
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praktischen Bedürfnisse wie Kleidung, Wohnung, Reise, Unterhalt und die erforderlichen Papiere vorgesorgt werden. Besondere Aufmerksamkeit soll seinen seelischen Nöten und der Unterstützung bei der Erlangung eines Arbeitsplatzes geschenkt werden. 8. Da die Entlassenenfürsorge ein Teil des Wiedereingliederungsprozesses ist, sollen sie alle Personen, die aus einer Anstalt entlassen werden, in Anspruch nehmen können. Der Staat ist in erster Linie dafür verantwortlich, die Einrichtung geeigneter EntlassenenfürsorgesteIlen als Bestandteil des Wiedereingliederungsprozesses sicherzustellen. 9. Bei der Einrichtung der EntlassenenfürsorgesteIlen soll die Mitarbeit privater Vereinigungen angestrebt werden, die entweder mit ehrenamtlichen oder hauptamtlichen erfahrenen und geschulten Fürsorgern besetzt sind. Die Notwendigkeit einer Arbeitsgemeinschaft öffentlicher und privater Fürsorgeeinrichtungen soll betont werden. Die Bedeutung der Rolle ehrenamtlicher Entlassenenfürsorger wird voll anerkannt. Private Fürsorgevereinigungen sollen alle für ihre Arbeit erforderlichen Auskünfte sowie in vernünftigen Grenzen Zugang zu den Gefangenen erhalten. 10. Eine erfolgreiche Wiedereingliederung kann nur mit Unterstützung der Öffentlichkeit erreicht werden. Die öffentliche Meinung von der Notwendigkeit einer solchen Mitarbeit zu überzeugen, soll daher durch Anwendung aller Informationsmittel gefördert und es soll angestrebt werden, die gesamte Gemeinschaft, besonders die Regierung, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber für die Mitarbeit am Wiedereingliederungsprozeß zu gewinnen. Es wäre auch wünschenswert, wenn die Presse es unterließe, die Aufmerksamkeit auf den entlassenen Gefangenen zu lenken. 11. Forschungsvorhaben über die verschiedenen Aspekte der Entlassenenfürsorge und das Verhalten der Öffentlichkeit gegenüber dem entlassenen Gefangenen sollen gefördert und unterstützt werden. Die Ergebnisse dieser Forschung und die Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen sollen möglichst weit verbreitet und vor allem Richtern und anderen zugänglich gemacht werden, die befugt sind, Art und Dauer der Strafen oder Einweisungen zu bestimmen. 12. Einer entsprechenden Entlassenenfürsorge für irgendwie behinderte oder abartige Straffällige, Trinker und Rauschgiftsüchtige ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken. 13. Die Angehörigen der Gefangenen dürfen wegen der Gefangenschaft des Straffälligen nicht ben~chteiligt werden. Staatliche Unterstützung soll ihnen ebenso zugänglich gemacht werden wie anderen be-
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II; Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
dürftigen Personen, und diese Hilfe sollte besonders Kindern rasch gewährt werden. 14. Die Schaffung und Erhaltung einer befriedigenden Verbindung des Gefangenen zu seinen Familienangehörigen und Personen, die ihm von Nutzen sein können, sollen gefördert werden. Die Frage, ob es ratsam ist, eheliche Besuche für Gefangene zu gestatten, soll sorgfältig geprüft werden. 15. Angemessene Erleichterungen und in geeigneten Fällen finanzielle Unterstützung sollen für Besuche von Familienangehörigen des Gefangenen vorgesehen werden.
VI Die Eingliederung der Gefangenenarbeit in die Volkswirtschaft einschließlich Entlohnung der Gefangenen Der Kongreß, der die vom Kongreß 1955 angenommenen Entschließungen über die Arbeit der Gefangenen zur Kenntnis genommen und festgestellt hat, daß die meisten dieser Entschließungen in der Praxis noch keineswegs in jeder Hinsicht verwirklicht worden sind, bekräftigt erneut die in diesen Entschließungen enthaltenen allgemeinen Grundsätze, nimmt die in dem Bericht des Sekretariats· gemachten Vorschläge sowie die in dem Generalbericht gegebene Analyse der derzeitigen Lage zur Kenntnis und erklärt: 1. Das Problem kann nur gelöst werden, wenn die derzeitigen Unterschiede in der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der verschiedenen Länder berücksichtigt werden. 2. Die Angleichung der Gefangenenarbeit an die freie Arbeit beruht auf der Erkenntnis, daß der Gefangene in den meisten Fällen ein seiner Freiheit beraubter Arbeiter ist. 3. Die Arbeit der Gefangenen, deren moralischer und sozialer Wert unbestritten ist, muß im gleichen Lichte wie die übliche und regelmäßige Betätigung des freien Mannes betrachtet werden. Sie bildet einen wesentlichen Bestand des Strafvollzugs. Sie muß außerdem in die allgemeine Arbeitsorganisation des Landes eingegliedert werden. Sie muß den natürlichen Fähigkeiten, dem Charakter und wenn möglich den Neigungen des einzelnen angepaßt werden, um ihm bei seiner Vorbereitung auf das Leben in der Freiheit zu helfen. Bei bestimmten Gefangenen, die an körperlichen oder geistigen Behinderungen leiden, soll die Arbeit vom therapeutischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden (Arbeitstherapie). 4. Wenn das Gesetz eine vorzeitige Entlassung zuläßt, muß die Art und Weise, in der der Gefangene die Arbeit leistet, für eine frühere
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Entlassung in Betracht gezogen werden oder sogar eine automatische Verkürzung der Strafe bewirken. 5. Die Methoden der Gefangenenarbeit sollen denen der freien Arbeit so nahe wie möglich kommen bis zur völligen Angleichung oder Eingliederung. Zu diesem Zwecke wäre es höchst wünschenswert, in jedem Land einen gemischten Koordinierungsausschuß einzusetzen, der aus Vertretern der Behörden und der Körperschaften besteht, die sich mit Problemen der Produktion befassen, einschließlich Vertretern der Industrie, der Landwirtschaft und der Arbeiter. 6. In Ländern, in denen es eine Arbeitsplanung gibt, muß die Arbeit der Gefangenen in diesen Plan einbezogen werden. Systeme der kooperativen Leitung der Gefangenenarbeit, die in verschiedenen Ländern bestehen, sollen Gegenstand eingehender Studien sein. 7. Für die Verwirklichung dieser Empfehlungen ist es wesentlich, daß die Öffentlichkeit über die Art und Ziele der Gefangenenarbeit besser informiert wird. 8. Bestimmte Fragen bezüglich der Eingliederung können vom Gesichtspunkt der Berufsausbildung, Gefangenenarbeit und der Entlohnung betrachtet werden: a) Berufsausbildung I. Die berufliche Ausbildung und die dafür erforderliche Vorbildung sind unerläßliche Voraussetzungen für die Beschäftigung bestimmter Gefangener. Ihre Durchführung muß auf den gleichen Plänen und zum Erwerb der gleichen Diplome und Berechtigungen .führen wie in Erziehungsund Berufsausbildungsanstalten in der Freiheit. Es sind die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Gefangene in gewissen Fällen zur beruflichen Ausbildung Berufsschulen außerhalb der Vollzugsanstalt besuchen können. 11. Bei erwachsenen Gefangenen, die durch die Umstände gezwungen sind, ihr Gewerbe oder ihren Beruf zu wechseln, dürfte es ratsam sein, vor allem abgekürzte Berufsausbildungsmethoden anzuwenden, besonders bei Gefangenen, die verhältnismäßig kurze Strafen zu verbüßen haben. b) Arbeit der Gefangenen I. Der Staat hat die Pflicht, die Vollbeschäftigung arbeitsfähiger Gefangener sicherzustellen, und zwar vor allem dadurch, daß er seine Dienststellen zur Erteilung von Aufträgen ver anlaßt. 11. Die Arbeit der Gefangenen muß unter ähnlichen Bedingungen wie die freie Arbeit geleistet werden, besonders
IL Teil: Grondtragen des Strafvollzuges··
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was Werkzeuge, Maschinen, Arbeitsstunden und Unfallschutz anbelangt. Die in den einzelnen Ländern geltenden Anordnungen über die soziale Sicherheit müssen im größtmöglichen Umfang angewendet werden.
111.
* Das
System der Unterbringung einzelner in Halbfreiheit oder des Wochenendvollzugs soll dazu beitragen, diese Art der Arbeit zu verwirklichen. Der Vollzug in offenen Anstalten ist bereits ein Schritt vorwärts in dieser Richtung. IV. Die Arbeit im Strafvollzug, die von der Verwaltung, von privaten Arbeitgebern oder auch unter Beteiligung der Gefangenen organisiert wird, muß notwendigerweise verschiedene Beschäftigungsarten umfassen, die der Bewegung auf dem Arbeitsmarkt entsprechen. Die Gefangenen dürfen, wie die Arbeit auch organisiert sei, in jedem. Falle nur der Verfügung der Vollzugsverwaltung unterstehen. Die Zahl der Gefangenen, denen Hausarbeiten zugewiesen sind, für die keine Befähigung erforderlich ist, muß auf ein ··unerläßliches Mindestmaß herabgesetzt werden. V. Zur Verwirklichung dieser Ziele wird das Sekretariat der Vereinten Nationen gebeten, einen Erfahrungsaustausch und wenn nötig technische Unterstützung bei Anwendung . von Methoden der Organisation und Finanzierung der Gefangenenarbeit in den verschiedenen Ländern einzuleiten.
c) Entlohnung I. Der Grundsatz der. Entlohnung der Gefangenenarbeit wurde in Nr.76 der Einheitlichen Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen bekräftigt. 11. Die Gewährung einer reinen Anerkennungsbelohnung an Gefangene, die produktive Arbeit leisten, ist mit der gegenwärtigen Auffassung vom Strafvollzug unvereinbar. . . 111. Die Festsetzung. eines Mindestlohnes würde bereits einen Schritt vorwärts bedeuten. IV. Das Endziel ist die Bezahlung einer normalen Entlohnung, die der des freien Arbeiters entspricht, vorausgesetzt; daß die Arbeitsleistung. nach Menge. und Güte die gleiche ist.
* In der Empfehlung ist, wohl durch ein Versehen, fOlgender Satz entfallen, der inder Beratungsunterlage enthalten war und das Folgende verständlich macht: "Wenn immer tunlich, sollte der Gefangene auf Arbeitaußerhalb der Anstalt für private Unternehmen geschickt werden."
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Zu diesem Zweck muß die Arbeit der Gefangenen in wirtschaftlicher und rationeller Weise organisiert werden. V. Schon heute muß diese Entlohnung von den privaten Arbeitgebern, für welche die Gefangenen arbeiten, verlangt werden. VI. Ein solches Entlohnungssystem muß auf alle Gefangenen angewendet werden, einschließlich derer, deren Entlohnung als Ausgabe im ordentlichen Haushaltsplan der Vollzugsverwaltung erscheinen sollte. VII. Die Zahlung der normalen Entlohnung bedeutet nicht, daß die gesamte Entlohnung dem Gefangenen ausbezahlt wird. Die Verwaltung kann Abzüge machen zur Deckung eines Teils der Unterhaltskosten, zur Entschädigung des Opfers, zur Unterstützung der Familie und zur Einrichtung eines Sparguthabens für seine Entlassung sowie zur Deckung von Steuern und· Sozialversicherungsbeiträgen, denen er unterworfen werden kann. Diese Abzüge sollen den Gefangenen jedoch nicht daran hindern, einen Teil seines Lohnes zu seiner persönlichen Verwendung zu behalten. VII
Weitere Tätigkeit der Vereinten Nationen auf dem Gebiete der sozialen Verteidigung Da der Zweite Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger wieder einmal die unermeßliche Bedeutung der Probleme des Verbrechens und der Jugendkrimi~ nalität den beteiligten Ländern und Territorien bewiesen hat; da die ständige ernste Besorgnis über diese Probleme von Seiten der vertretenen Ländern und Territorien und ihr zunehmender ernster Anteil daran erneut offenbar geworden ist; da die Bedeutung der Begegnung, des Erfahrungsaustausches, der Diskussion und des Studiums in dem Bemühen, diese Probleme zu erleichtern, wiederum überzeugend sichtbar geworden ist; beschließt der Kongreß, die Vereinten Nationen dringend zu bitten: 1. daß es kein Nachlassen bei der Unterstützung, Leitung und in dem
Programm auf dem Gebiete der sozialen Verteidigung geben darf; sondern daß im Gegenteil die allen Ländern und Territorien zugänglichen Einrichtungen spürbar verstärkt werden sollen;
2. daß im Einklang mit der EntsChließung Nr. 731 F (XXVIII) des Wirtschafts- und Sozialrats mit Umorganisation der Sektion für
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges soziale Verteidigung und die Teilung der Verantwortlichkeiten zwischen dem Hauptquartier der Vereinten Nationen und dem Europäischen Büro in einer Weise vorgenommen werden sollte, die sicherstellt, daß in der Wirksamkeit des Gesamtprogramms und der Leitung kein Nachlassen eintritt und daß die Leitung und Koordinierung des Programms der sozialen Verteidigung im Hauptquartier weiter geführt wird. Es wird ferner vorgeschlagen, die Lage nach 12 Monaten in Zusammenarbeit mit jenen internationalen Organisationen, die an der Verbrechensverhütung und der Behandlung Straffälliger unmittelbar interessiert sind, zu überprüfen.
d) Teil IV. Bericht über den Vierten Internationalen Kongreß für Kriminologie· 1. Der Verlauf des IV. Internationalen Kongresses für Kriminologie
Der IV. Internationale Kongreß für Kriminologie tagte vom 5. bis 12. September 1960 in Den Haag. Der Bericht über seinen Verlauf knüpft an Mitteilungen über den IH. Kongreß unter der gleichen überschrift in dieser Zeitschrift 1955 (5) S. 282 ff. an. Die Resolutionen, deren offizieller Text in französischer und englischer Sprache abgefaßt war, werden im zweiten Abschnitt in deutscher übersetzung abgedruckt. Sie wurden unter Mitwirkung von Fräulein Kruhöffer, Wiesbaden, gefertigt. Der I. Internationale Kongreß für Kriminologie tagte im Jahre 1938 in Rom, der 11. 1950 in Paris und der IH. 1955 in London. Bei dem IV. Kongreß versammelten sich in Den Haag rund fünfhundert Fachleute, Mediziner, Psychologen, Juristen, Pädagogen und Strafvollzugsbeamte aus etwa vierzig Ländern und behandelten in Sektions- und Plenarsitzungen ein einziges, das Generalthema: "Psychopathologische Aspekte des kriminellen Verhaltens." Verständlicherweise kam es im Verlaufe der Verhandlungen in Den Haag auch immer wieder zur Erörterung des Begriffs "Kriminologie". Selbst in der letzten abschließenden Vollversammlung meinte der Präsident des Kongresses, Prof. Thorsten Sellin, Philadelphia, Pa., dem Sinne nach: Jetzt haben wir uns eine Woche lang über Fragen der Kriminologie unterhalten, ohne deren Aufgaben genau präzisieren zu können. Freilich forderte er auf, trotzdem die Beratung der Arbeitsergebnisse fortzusetzen. - Es bleibt also weiter offen, ob Kriminologie im engeren oder weiteren Sinne als wissenschaftlich betriebene Ursachenforschung des Verbrechens die Verbrechensbekämpfung einschließen soll oder nicht. Die im Herbst 1960 im Haag zusammengekommenen • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1961 (10) 284 - 291.
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Fachleute verständigten sich darüber, wie dies ja die Resolutionen erkennen lassen, in den Begriff "Kriminologie" die Verbrechensbekämpfung einzubeziehen. Unter dem Leitgedanken, den das Generalthema "Psychopathologische Aspekte kriminellen Verhaltens" herausstellte, behandelte die erste Sektion Prüfungs- und Behandlungsmethoden, die zweite Spezialthemen wie Epilepsie, Sexualverbrechen, Warenhausdiebstähle, die dritte Fragen der wissenschaftlichen Forschung und die nachträglich gebildete vierte Sektion das Problem der übernationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf diesem Fachgebiet. Es ist nicht möglich, die einzelnen Leistungen während der Kongreßveranstaltungen hier zu würdigen, wohl aber kurz auf das Arbeitsverfahren bei den Sektionssitzungen einzugehen, da auf ihnen das Hauptgewicht lag und Wert darauf gelegt wurde, daß die Teilnehmer regelmäßig an den Verhandlungen ihrer Sektion teilnahmen und nicht wechselten. - Außerdem konnten im Verlauf der Kongreßwoche einige niederländische Vollzugsanstalten besucht werden. Die Persönlichkeiten, die an einem Thema interessiert waren, das in einer der vier Sektionen erörtert wurde, hatten frühzeitig vor der Tagung die Einladung erhalten, über ihre Erfahrungen zu berichten. Die eingegangenen Berichte wurden dem jeweiligen Leiter der Sektion zugeleitet, und dieser wählte für die Einzelthemen - bei der ersten und der zweiten Sektion waren es insgesamt je vier - besondere Hauptberichterstatter, die einen Sammelbericht abfaßten. Bei den Beratungen lagen dann den Sektionsmitgliedern die Äußerungen der zu den Einzelthemen Berichtenden und des Hauptberichterstatters vor, sie waren ihnen rechtzeitig vor den Verhandlungen zugestellt worden. Auf Grund dieser Unterlagen erfolgte die Aussprache, deren Ergebnis vom jeweiligen Hauptberichterstatter mit Unterstützung besonders interessierter Mitglieder der Sektion zusammengestellt und zum Entwurf eines Beschlusses verarbeitet wurde. Der Text des vorgeschlagenen Beschlusses wurde wiederum durchgesprochen und je nachdem entweder gebilligt oder verworfen oder ergänzt und alsdann der Plenarsitzung zur abschließenden Erörterung zugeleitet. Auch hier wurden die Beschlüsse, z. T. nach sehr eingehender Aussprache abgeändert, im wesentlichen aber mit großer Mehrheit angenommen. - Dieses anscheinend umständliche Arbeitsverfahren verbürgte auf der einen Seite freie Meinungsäußerungen für jeden einzelnen und auf der anderen Seite eine gemeinsame Willensbildung. Nur durch Anwendung dieser Methode war m. E. der hohe wissenschaftliche Stand der Verhandlungen und der Wert der Beschlüsse gewährleistet. Wenn es auch das Ziel des Kongresses war, die psychopathologischen Aspekte kriminellen Verhaltens zu erhellen, so weiß jeder, der mit
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Verbrechen und Rechtsbrechern zu tun hat, wie schwierig gelegentlich die Feststellung werden kann, ob verminderte Zurechnungsfähigkeit vorliegt oder ob der Täter als voll verantwortlich anzusehen ist. Unabhängig von dieser Grundfrage bleibt weiter die Schwierigkeit offen, eine angemessene Strafe oder Maßnahme zu verhängen. In Anbetracht der Tatsache, daß auf diesem Kongreß eine verhältnismäßig große Zahl von Fachleuten mit voneinander abweichenden Ansichten vereinigt war, konnte in der Frage, ob die mehr oder weniger geistesgestörten Delinquenten als voll oder. beschränkt verantwortlich angesehen und wie sie. behandelt werden sollten, nur ein Komprorniß erwartet werden. Die verschiedenen Auffassungen von den Vertretern der einzelnen Arbeitsgebiete, Ärzten, besonders Psychiatern, Psychologen, Richtern und Vollzugsbeamten müssen in Achtung vor der Ansicht des anderen aufgenommen werden. - Die Frage nach der Verantwortlichkeit und nach dem wahrscheinlichen Verhalten im Vollzug kann nur bei Beachtung des Einzelschicksals auf Grund fachlich einwandfreier Beobachtung geklärt werden. Freilich sollte unbestritten bleiben, daß bei Nichtverantwortlichkeit der Rechtsbrecher nicht in eine Straf-, sondern in eine Heil- und Pflegeanstalt einzuweisen ist. Grenzfälle lassen die Gefahr erkennen, daß der Strafrechtspflege, insbesondere dem Strafvollzug, gelegentlich Aufgaben zugemutet werden, die der Mediziner zu lösen hat. Das Problem kann in diesem Zusammenhang nicht vertieft werden. Die Mitglieder der ersten Sektion, die mit ihren Arbeiten hier ansetzen, nahmen in dieser Kernfrage keine klare Stellung ein. Die vorliegenden Beschlüsse sind das jeweils auf die kürzestmögliche Formel zusammengedrängte Ergebnis intensiver Vorarbeiten einzelner vor und während der Aussprache im Verlaufe des Kongresses mit anderen, nicht zuletzt auch der gemeinschaftlichen Erörterung aller Interessierten in der abschließenden Vollversammlung. Es sind Thesen, die den Leser anregen sollen, diese Grundfragen zu durchdenken. Es wäre wertvoll, wenn in den Dienstbesprechungen der Vollzugsbeamten, die in allen Anstalten der Bundesrepublik regelmäßig einmal im Monat abgehalten werden, wenigstens einzelne der Beschlüsse zur Aussprache gestellt würden, denn der Sinri einer solchen Dienstbesprechung liegt ja darin, die Anteilnahme aller Beamten an den Aufgaben des Dienstes zu fördern und ihnen Anregungen auch aus den Erfahrungen von Persönlichkeiten zu geben, die -an welcher Stelle auch immer, hier im IV. Kriminologenkongreß - sich mit dem Studium krimineiIen Verhaltens befaßten.
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2. Die Resolutionen des IV. Internationalen Kongresses für Kriminologie
(Den Haag, 5. - 10. September 1960) In ihrer Schlußsitzung hat die Vollversammlung die folgenden, von den Sektionen vorgeschlagenen Beschlüsse gebilligt. Der Generalsekretär des IV. Internationalen Kongresses für Kriminologie übermittelte den Kongreßteilnehmern im November 1960 den französischen und englischen Text der Beschlüsse. Der vorliegenden deutschen übersetzung, die unter Mitwirkung von Fräulein Kruhöffer, Wiesbaden, gefertigt wurde, liegen diese bei den Texte zugrunde. Sektion I 1. Der Begriff geistiger Anormalität ist so unbestimmt, daß er, wenn er nicht ganz genau definiert wird, nicht zur entscheidenden Grundlage für eine richterliche Entscheidung für die Prognose und für die Behandlung gemacht werden kann.
2. Jeder ernste Fall müßte von einem Team von Fachkräften, die auf den verschiedenen. Gebieten eine gründliche Vorbildung besitzen, untersucht und diagnostiziert werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die richterliche Entscheidung als auch auf die sich darauf aufbauende Behandlung. 3. Damit eine Beurteilung der Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungsmethoden möglich wird, sollte die wissenschaftliche Forschung und besonders das Studium der Entwicklung nach der Entlassung gefördert werden. 4. Die verschiedenen kriminalpolitischen Bestrebungen verfolgen verschiedene Ziele. Darunter besitzen, wenn auch in unterschiedlichem Maß, ihre Bedeutung: die gesellschaftliche Wiedereingliederung, die Vergeltung, die Abschreckung und die Aufrechterhaltung moralischer Normen einschließlich der Grundbegriffe von Sühne und Wiedergutmachung sowie der Aussöhnung mit der Gesellschaft. Diese Verschiedenartigkeit der Ziele ergibt sich nicht allein aus widerstreitenden Ideologien, sondern auch aus den unterschiedlichen Maßstäben, die sich in den verschiedenen Berufssparten entwickelt haben, die mit der Behandlung der Rechtsbrecher zu tun haben. Dieser Konflikt zeigt sich auf den verschiedenen Stufen der Handhabung der Justiz und besonders im Prozeß der Verurteilung und der Durchführung des Urteils. Deshalb sollten die kriminalpolitischen Bestrebungen dahin gehen, soweit irgend möglich durch konstruktive und aufeinander abgestimmte Methoden diese Ziele miteinander in Einklang zu bringen und die ungeeigneten aufzugeben.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges Ein Weg, dies zu erreichen, besteht darin, die Kriminologie in das Rechtsstudium und das anderer Disziplinen einzubauen und Ärzte und Spezialisten auf anderen Gebieten, die mit der Behandlung von Gefangenen zu tun haben, mit den wichtigsten Prinzipien des Strafrechts und der Kriminologie bekannt zu machen. Darüber hinaus sollten Richter und alle diejenigen, die sich mit dem Strafrecht zu befassen haben, angeregt werden, sich mit den Grundfragen der Kriminologie vertraut zu machen.
5. Die Bedeutung der gesellschaftlichen Struktur der Strafanstalten wurde hervorgehoben. Sie umfaßt nicht nur die Beziehung der Anstaltsinsassen untereinander, sondern bezieht auch das Verhältnis ein, das zwischen den Strafanstaltsbeamten und den Anstaltsinsassen, den Familien und· den Anstaltsinsassen und den Strafanstaltsbeamten untereinander besteht. Diese Probleme und der soziale Druck, der in solchen Anstalten entsteht, sollten ebenfalls weiter erforscht werden. 6. Nach einer Aussprache über die Integration der für Strafrecht und Gefangenenbehandlung maßgebenden Gesichtspunkte mit den Problemen des Verbrechens als solchen, wünscht die Sektion, daß diese Frage einer der Hauptpunkte der künftigen kriminalpolitischen Forschung sein möge. Es sollte von jetzt an bei kriminalpolitischen Fragen mehr Gewicht auf die analytische und empirische Forschung gelegt werden. Sektion 11 Thema 1: Epilepsie und KTiminalität 1. Das Studium des kriminellen Epileptikers muß auf der Grundlage
einer umfassenden und mehrdimensionalen Diagnose durchgeführt werden. Hierbei sind neurologische (insbesondere wiederholt durchgeführte Elektro-Enzephalogramme), gerichtsmedizinische und soziologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Forschungsarbeiten sollten sich auch auf die Beziehungen zwischen epileptischen und nichtepileptischen Disrhythmen erstrecken und darauf, welche Nutzanwendung aus diesen Studien für die Behandlung von Rechtsbrechern zu ziehen ist.
Thema 2: SexualveTbTechen 1. Bei der Rechtsprechung sollte ebenso wie bei den bessernden Maß-
nahmen in angemessener Weise ein Unterschied zwischen solchen Sexualverbrechen gemacht werden, die für die Gesellschaft eine Bedrohung darstellen und solchen, die sich lediglich als Belästigung auswirken.
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2. Das sexuelle Verhalten sollte nicht als Verbrechen, sondern als Sache der persönlichen Moral angesehen werden, es sei denn, es würde einem Opfer gegenüber ein Unrecht (im Sinne des Gesetzes) begangen. 3. Die hier zugrundegelegte Klassüizierung sexueller Abweichungen könnte als Grundlage für die Entwicklung geeigneter Kriterien zur Beurteilung sexueller Verfehlungen dienen. 4. In dem Maße, in dem das Verständnis für sexuelle Verhaltensweisen wächst, sollte man mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, die Einstellung der Gesellschaft durch allgemeine Aufklärung zu beeinflussen, um dadurch Änderungen in der Gesetzgebung zu erreichen. Thema 3: Warenhausdiebstähle 1. Erhöhte Aufmerksamkeit wird den Warenhausdiebstählen gewid-
met, vielleicht wegen der Änderungen der Verkaufsmethoden. Hier bedarf es vor allem bezüglich des Umfanges berufsmäßig ausgeführter Ladendiebstähle weiterer Untersuchungen. Außerdem besteht hier auch die Notwendigkeit enger internationaler Zusammenarbeit, um die Forschungsergebnisse untereinander zugänglich zu machen.
2. Unter den jugendlichen Ladendieben überwiegen im allgemeinen die männlichen Diebe. Ein kleiner Teil von ihnen kann sich schwer in die gesetzte Ordnung einfügen, die Mehrzahl weist keine ernstlichen Störungen auf. Letzteres kann freilich erst nach sorgfältigen Untersuchungen festgestellt werden. 3. Diese kriminellen Handlungen unterscheiden sich von den meisten anderen dadurch, daß es sich bei dem überwiegenden Teil der erwachsenen Ladendiebe, die in den großen Warenhäusern verhaftet werden, um Frauen handelt. Einige wenige gehören zu den pathologischen Fällen, eine andere Gruppe weist weniger offensichtliche emotionale Störungen auf, die sorgfältiger Untersuchung und manchmal der Bewährungsaufsicht oder medizinischer Behandlung bedürfen. Bei der Mehrzahl liegen den strafbaren Handlungen weniger komplizierte Motive zugrunde. Physische Faktoren scheinen weniger häufig Einfluß zu haben. 4. Es ist zu wünschen, daß die entdeckten Fälle häufiger als bisher der Polizei gemeldet werden. Oftmals ist der Schock einer ersten Berührung mit den Polizeidienststellen oder den Justizbehörden heilsam. Wiederholen sich die Rechtsbrüche, so bedürfen diese Fälle einer gründlichen Untersuchung. 5. Diese strafbaren Handlungen lassen sich nicht völlig verhindern, da die modernen Verkaufsmethoden im Grunde genommen einer wirk-
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samen Vorbeugung entgegenstehen. Vom Standpunkt der Vorbeugung aus ist eine bessere Aufsicht den strengeren Strafen vorzuziehen. Es bedarf einer Erziehung der Öffentlichkeit, insbesondere der Eltern, hinsichtlich ihrer Einstellung gegenüber dem Eigentum anonymer Besitzer. Thema 4: Altersstufe und geistige Anormalität 1. Das Thema: "Altersstufe und geistige Anormalität" gewinnt immer
mehr an Bedeutung, da die Lebensverlängerung sowie der bessere Einblick in Kindheit und Jugendzeit neue und ungenügend geklärte Probleme aufwerfen.
2. Eines der Grundprobleme liegt in der Schwierigkeit, zwischen den bei einem Menschen bereits im Laufe der Jahre eingetretenen Anomalien einerseits und den Anomalien, die jedes Lebensalter mit sich bringt andererseits, zu unterscheiden. 3. Im Hinblick auf die verschiedenen Seiten des Problems sollten umfassende kriminologische Untersuchungen in der Absicht durchgeführt werden, folgendes festzustellen: a) die kriminogenen Faktoren, die aus dem Lebensalter resultieren, b) Methoden der Diagnose und der Klassifizierung, c) Maßnahmen der Behandlung und ihre Anwendung beim Eiilzelschicksal. Sektion III Thema 1: Der derzeitige Stand der Forschung in Bezug auf die Persönlichkeit des geistig anormalen Rechtsbrechers. Bei den heutigen wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden besteht die Neigung, die nachstehenden Arbeitshypothesen als wertvolle Grundlage für die weitere Forschung zu betrachten: a) Das Verhalten des Gewohnheitsverbrechers kann als symptomatisch gelten, d. h. als eine nach außen gerichtete Manifestation eines latenten pathologischen Zustandes. b) Genau wie die zwangsläufige Wiederholung als eines der Symptome nervöser Störung gilt, sollte die Neigung zum Rückfall als ein Symptom pathologischer Kriminalität angesehen werden. c) Will man sich über die Persönlichkeit eines anormalen Rechtsbrechers klar werden, so ist es unerläßlich, die Motive, die ihn dazu bewegten, eine Straftat zu begehen oder zu unterlassen, besonders zu . erforschen.
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Thema 2: Der derzeitige Stand der Forschung in Bezug auf Maßnahmen, die dem anormalen Rechtsbrecher helfen sollen, ohne daß dieser von dem Gefühl seiner Verantwortung entbunden wird. a) Die allgemeine Entwicklung in der Einstellung zur Kriminalität, wie auch das derzeitige Bestreben nach psychiatrischer Hilfeleistung legen der Gesellschaft in ihrer Reaktion gegenüber dem anormalen Rechtsbrecher die Pflicht auf, eine Änderung vorzunehmen und von der ausschließlichen körperlichen Absonderung zu einer Behandlungsweise überzugehen, in der die erforderliche Psychotherapie und Rehabilitierung, die für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft notwendig bleibt, eingeschlossen ist. b) In Bezug auf die unterschiedlichen Grade der Zuverlässigkeit konzentriert sich die gegenwärtige kriminologische Forschung auf das Studium des Verantwortungsgefühls. Das Vorhandensein dieses Gefühls und seine Bedeutung für die Therapie bilden den Anreiz zu dem Versuch, ein Rechtssyst~m zu schaffen, das uns nicht länger zwingt, den Grad der Verantwortlichkeit eines anormalen Rechtsbrechers einfach "festzustellen", sondern eine Form der Behandlung zu entwickeln, durch die sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, künftig in dem Rechtsbrecher ein solches Verantwortungsgefühl bildet. e) In der Lehre über die Motivation anormaler Rechtsbrecher wird ein Wechsel angestrebt, und zwar soll von der neuropsychiatrischen Untersuchung des Verantwortlichkeitsgrades für einen Rechtsbruch zur medizinisch-psychologischen und sozialen Beobachtung der Persönlichkeit übergegangen werden. d) Die heutige Tendenz geht dahin, die Behandlung solcher Rechtsbrecher in die Hände von medizinisch-psychologischen und sozial-pädagogischen Arbeitsgruppen zu legen. Eine solche Behandlung erfordert jedoch die freiwillige Mitarbeit des Rechtsbrechers. e) Soll eine wirksame Behandlung erreicht werden, so müssen die Anstaltenfür anormale Rechtsbrecher derart ausgestattet werden, daß die verschiedenen Arten der Therapie, insbesondere die Psychotherapie und Soziotherapie angewendet werden können. Auch müssen therapeutische Arbeitsgemeinschaften gebildet werden. f) Gleichzeitig empfiehlt es sich, eine Form ambulanter Behandlung für anormale Rechtsbrecher zu entwickeln, bei der hauptsächlich in der Form der Bewährung ärztliche, psychologische und sozialpädagogische überwachung und Hilfe vorhanden sind. g) In allen Arbeitsprogrammen wird verbesserte Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Anwendung gefordert. Außerdem sollte die Öffentlichkeit gründlicher als bisher 27 Freiheitsentzug
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über die Probleme unterrichtet werden, die sich aus anormaler Kriminalität ergeben. Sektion IV Der IV. Internationale Kongreß für Kriminologie hat mit Befriedigung von neuen Beispielen wissenschaftlicher Zusammenarbeit im Bereich kriminologischer Forschung Kenntnis genommen und hegt den Wunsch, die kriminologische Forschung möge sich enger an die wissenschaftlichen Methoden anschließen und eine "Vergleichende Kriminologie" entwickeln. Er empfiehlt u. a. folgende Maßnahmen: 1. Innerhalb des Internationalen Instituts für Kriminologie eine Clea-
ringstelle für kriminologische Forschung und Auskunftserteilung über frühere und laufende Forschungsarbeiten unter einem Komitee einzurichten, in dem die verschiedenen dazugehörenden Disziplinen vertreten sind;
2. zwischen der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie und den übrigen Organisationen, die sich mit Aufgaben befassen, die Beziehung zur kriminalpolitischen Forschungsarbeit haben, eine systematische Zusammenarbeit zu fördern. e) Teil V. Bericht über den dritten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung in Stockholm vom 9. bis 18. August 1965 Abschnitt 1. Internationale Gefängniskongresse in Stockholm 1878 und 1965* I
Die Internationalen Gefängniskongresse bieten seit 1846 übernationale Aussprachemöglichkeiten in Fachfragen. Nach den Initiatoren dieser Kongresse werden drei verschiedene Perioden unterschieden. Die ersten Beratungen über Fragen des Gefängniswesens auf übernationaler Ebene in Frankfurt am Main 1846, in Brüssel 1847 und wieder in Frankfurt am Main 1857 erfolgten auf Anregung von Einzelpersönlichkeiten. Die nächsten "Internationalen Gefängniskongresse" - insgesamt zwölf - fanden statt in: London 1872, Stockholm 1878, Rom 1885, St. Petersburg 1890, Paris 1895, Brüssel1900, Budapest 1905, Washington 1910, London 1925, Prag 1930, Berlin 1935 und Den Haag 1950. Dabei ging die Initiative jeweils von den Regierungen aus, wie auch deren Delegierte den Ablauf wesentlich bestimmten. Außerdem konnten an • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1965 (14) 138 - 146.
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den Beratungen Vertreter weltlicher und religiöser Fachvereinigungen sowie Einzelpersönlichkeiten teilnehmen. - Die dritte Periode internationaler Verhandlungen begann mit dem ersten UN-Kongreß in Genf 1955, ihm folgte der zweite in London 1960, der dritte ist wieder für Stockholm August 1965 in Aussicht genommen. Die Initiatoren, die behandelten Fragen, die Tagungsorte und die Teilnehmerkreise lassen deutlich die Abhängigkeit der bisher siebzehn Kongresse in allen drei Perioden von der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung der beteiligten Kulturnationen erkennen. Unverändert blieb aber der Wunsch nach offener Aussprache. Noch heute sind die Themen, die der Stockholmer Kongreß 1878 behandelte, wichtig. Ein Blick in die "Werkstatt" gerade dieses Kongresses ist möglich, weil eine der beiden vorbereitenden Sitzungen der "Internationalen Gefängniskommission" im Jahre 1875 in Bruchsal stattfand und darüber eingehend in den "Blättern für Gefängniskunde" berichtet wurde. Das Reglement der Kongresse, das bis 1955 galt, aber noch heute weiterwirkt, ist vorbildlich und ermöglichte intensive Beratungen und gut vorbereitete Resolutionen. Es ist mit dem Programm, das auch sämtliche Fragen (selbstverständlich in deutschem Text) angibt, abgedruckt (1875 [10] 445 - 468). Damals beriet der Stockholmer Kongreß in drei Sektionen "Gesetzgebung", "Strafvollzug" und "Vorbeugungsmaßnahmen" vierzehn Einzelfragen. Alle Teilnehmer waren rechtzeitig vor den Verhandlungen mit den Gutachten der Berichterstatter vertraut gemacht worden. Das Ergebnis der Beratungen in den Sektionen wurde anschließend im Plenum vorgetragen und zur Abstimmung gestellt. Die erste Sektion "Gesetzgebung" stellte folgende Fragen zur Aussprache: Strafvollzugsgesetz (1), Einheitsstrafe (2), Deportation (3), Zuständigkeit der obersten Aufsichtsbehörde (4). - Die zweite Sektion "Strafvollzug" beriet über: Internationale Strafvollzugsstatistik (1), Schulen für Aufsichtsbeamte (2), Hausstrafen (3), Bedingte Entlassung (4), Zellenhaft (5), Dauer der Einzelhaft (6). - Die dritte Sektion: "Vorbeugungsmaßnahmen" verhandelte über die Themen: Schutzaufsicht (1), Anstalten für Minderjährige, deren Handlungen nicht strafrechtlich geahndet werden (2), Vorbeugungsaufgaben der Polizei (3), Rückfallbekämpfung (4). Drei dieser Fragen sollen, weil sie noch heute von besonderer Bedeutung sind, näher betrachtet werden: Von der ersten Sektion: Einheitsstrafe; von der zweiten: Schulen für Aufsichtsbeamte; von der dritten: Anstalten für Minderjährige. Weiter ist erwähnenswert, daß unter den Teilnehmern aus Deutschland besonders in Erscheinung traten die Herren: d'Alinge, Geheimer Regierungsrat, Direktor des Zuchthauses in Zwickau; Berner, Professor 27·
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für Strafrecht an der Universität Berlin; Illing, Geheimrat, Referent im Preußischen Ministerium des Innern, Delegierter der Preußischen Regierung; Krohne, Direktor des Zuchthauses zu Rendsburg; Petersen, Rath am obersten Landesgericht, Delegierter der Bayerischen Regierung; Starke, Geheimrat, Referent im Preußischen Ministerium der Justiz, Delegierter der Preußischen Regierung. 11
Die zweite Frage der ersten Sektion des Kongresses von 1878 lautet: "Ist es zweckmäßig, die verschiedenen Arten der Freiheitsstrafen beizubehalten oder ist es zweckmäßig, alle diese Straf-Arten in eine einzige zu verschmelzen, wobei der Unterschied nur durch die Dauer und die nach der Entlassung eintretenden Straffolgen begründet wird." Zu den Beratungen hierüber lag eine ausführliche Stellungnahme des Strafrechtslehrers Prof. Thonissen, Belgien, vor, der sich für die Einheitsstrafe aussprach und seine Thesen u. a. damit begründete: Die Unterscheidung von entehrenden und nicht entehrenden Strafen zählt heute unter den Kriminalisten nicht einen Verteidiger. Durch Verknüpfung entehrender Folgen begeht der Gesetzgeber, der die Notwendigkeit der Besserung betont, einen offensichtlichen Widerspruch. Er erschwert die Lage des in die Freiheit entlassenen Verurteilten beträchtlich, weil er ihn Vorurteilen und Verdächtigungen aussetzt, die ihm ein ehrbares und arbeitsames Leben noch mehr erschweren, ja manchmal unmöglich machen. Prof. Thonissen fuhr fort: Die entehrende Strafe ist aus den neueren Gesetzbüchern getilgt, aber selbst wenn der Name verschwunden ist, hat die Sache noch ihre Spuren hinterlassen und die Unzuträglichkeiten bestehen weiter. Wenn behauptet wird, immer sei es die Tat und nicht die Strafe, die eine Entehrung mit sich bringe, so solle man doch zu dem Schluß kommen, die gleiche erzieherische Behandlung (traitement moral) solle gegenüber allen Anstaltsinsassen erfolgen. In den anschließenden Korreferaten und eingehenden Diskussionen sind die Aussagen der deutschen Vertreter zum Thema beachtenswert. So betonte Herr Starke, daß Folgerungen aus den Ausführungen von Herrn Thonissen für Deutschland nicht gezogen werden können, obwohl er persönlich der Sache der Einheitsstrafe zustimme. Es sei wünschenswert, die verschiedenen Strafen zu vereinfachen und diejenigen, die den Charakter der Zwangsarbeit haben, völlig zu verwerfen. Freilich kenne, so betonte er, das deutsche Strafgesetzbuch nicht eine absolut entehrende Strafe. Herr Berner anerkannte das Ziel der sittlichen Besserung, die zu einer Angleichung der Strafen führen müsse, meinte aber, nichtsdestoweniger
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könne die Unterscheidung der Anstalten (hier Zuchthaus und Gefängnis) nicht verschwinden. Herr Illing faßte seine Meinung dahingehend zusammen: Die moralische Besserung der Gefangenen ist eine heilige Aufgabe, aber sie ist weder das Ziel der Strafe noch die Basis des Rechts zu strafen und folgerte: die Beibehaltung von Zuchthaus und Gefängnis ist notwendig. Herr Dareste aus Frankreich stellte heraus, die Entehrung ist Folge der Tat, sie darf nicht die der Strafe sein. Die Behandlung während des Strafvollzugs ist vergleichbar der eines Kranken. Der Berichterstatter Herr Thonissen stellte am Ende der Aussprache heraus, sein einziges Ziel sei, den Unterschied zwischen Gefängnis, der Einschließung und der Zwangsarbeit aufzuheben. Einschließung und Zwangsarbeit sei nichts weiter als Etikette der Entehrung und sie solle verschwinden. Freilich glaube er feststellen zu können, daß die Meinungsverschiedenheiten, die im Laufe der Verhandlungen sichtbar geworden seien, mehr in der Form als im Inhalt lägen. Als Kompromiß wurde der nachstehende Beschluß gefaßt, den auch die Generalversammlung annahm: "Mit Ausnahme von geringen und speziellen Strafen für gewisse Gesetzesübertretungen, die entweder nicht bedeutend sind oder nichts für die Verdorbenheit des Täters beweisen, ist es angemessen - unabhängig davon, wie auch die Ordnung des Strafvollzugs sei -, die Freiheitsstrafe gesetzlich soweit wie nur möglich zu vereinheitlichen nur mit dem Unterschied ihrer Dauer und der Nebenfolgen nach der Entlassung. " Die zweite Sektion erörterte als zweite Frage: "Ist die Errichtung von Normalschulen zur Vorbildung von Gefängnis-Aufsehern und -Aufseherinnen wünschenswert oder sachdienlich? Welche Erfahrungen hat man deshalb bisher gemacht?" Der Berichterstatter Beltrani-Scalia, Generalinspektor der italienischen Gefängnisse, dessen Gutachten vorher allen Kongreßteilnehmern zugegangen war, bejahte die Notwendigkeit solcher Schulen und berichtete eingehend über die Vorschläge von H. B. Wagnitz in den "Historischen Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland" 1791. (Siehe: Zeitschrift für Strafvollzug 1961 [10] S.169). In den Kongreßberichten sind die Vorschläge von H. B. Wagnitz in französischem und deutschem Wortlaut unter besonderer Würdigung des Verfassers abgedruckt. Weiter verweist Beltrani-Scalia auf zwei Aufseherschulen in Deutschland und berichtet abschließend ausführlich über die Durchführung eines Ausbildungsplanes in der italienischen Aufseherschule in Regina Coeli. Dort erfolge die theoretische Ausbildung zunächst in einer Zen-
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tralschule vier Monate lang und dann für die Dauer von zwei bis drei Monaten in Schulen, die den einzelnen Strafanstalten angegliedert seien. Der Mitberichterstatter Herr D'Alinge lehnte, "wie einleuchtend auch die Idee einer Aufsichtsbeamtenschule sein könne", diese Einrichtung mit folgender Begründung ab: Durch einen Lehrgang können Ungeeignete nicht gewandelt werden. Voraussetzungen zum Dienst als Aufseher sind die natürlichen Anlagen (1). Die wichtigste Befähigung liegt im Charakter, und hier ist während der Ausbildungszeit nichts Entscheidendes vorzunehmen (2). Die Aufgaben der Aufsichtsdiensttuer sind so vom Praktischen her bestimmt, daß sie nur aus der Praxis gelernt werden können (3). Herr D'Alinge blieb aber nicht bei dieser Ablehnung, sondern schlug folgendes vor: Den gesamten Stand der Aufsichtsbeamten zu heben, um Diensttuer mit "culture intellectuelle" zu bekommen (1). Er wünscht die Aufstellung von Mindestforderungen körperlicher, geistiger und seelischer Art für die Einstellung in den Aufsichtsdienst. Nach mehrjähriger Praxis sollte eine Prüfung den Stand ermitteln helfen (2). Die praktische Ausbildung sollte eine ausreichende Unterweisung des Anwärters durch einen Berufserfahrenen gewährleisten (3). Nach Jahresfrist sollte entschieden werden, ob eine übernahme in den Aufsichtsdienst in Frage komme oder nicht (4). Beachtenswert war auch, daß der Direktor des schweizerischen Zuchthauses Neuchatel, Herr Guillaume, die Herausgabe einer Fachzeitschrift für die Beamten und Angestellten in den Strafanstalten forderte. Andere deutsche Vertreter auf dem Stockholmer Kongreß 1878 kennzeichnen die damalige Einstellung zur Ausbildung der Aufsichtsbeamten im deutschen Reich. Herr Petersen erwähnte, daß in seinem Lande bei der Einstellung Handwerker bevorzugt würden, Beamtenschulen hielt er nicht für nötig. Herr Krohne berichtete, daß in Preußen keine Aufseherschulen bestünden und auch eine solche Einrichtung nicht erwünscht sei, weil eine Einführung in die Aufgaben des Aufsichtsdienstes in einer großen gut organisierten Anstalt für die Dauer von sechs Monaten die beste Schule sei, die man geben könne. Die Resolution, die in der zweiten Sektion gefaßt wurde, lautete: Der Kongreß vertritt die Ansicht, daß es wichtig ist, den Aufsichtsbeamten, bevor sie endgültig eingestellt werden, eine theoretische und praktische Ausbildung zu erteilen. Er ist weiter der Ansicht, daß die wichtigsten Voraussetzungen für die Gewinnung von geeigneten Aufsichtsbeamten darin bestehen, solche Dienstbezüge zu gewähren, die fähige Personen anziehen und zum Bleiben veranlassen, bestimmte Garantien für die Sicherheit ihrer Position sollten gewährt werden."
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Diese Resolution wurde der Generalversammlung vorgetragen und kurz diskutiert. Herr Wines, der Anreger des Londoner Gefängniskongresses 1872 und auch des Stockholmer Kongresses 1878 wies darauf hin, wie notwendig es sei, die Gefängnisbeamten auf ihre Aufgabe durch eine theoretische und praktische Erziehung vorzubereiten. Besondere Ausbildung wurde für die in den Jugendanstalten tätigen Bediensteten gefordert. Die dritte Sektion beriet u. a. über die zweite Frage: "Nach welchen Grundsätzen sollen die Anstalten für jugendliche Verbrecher eingerichtet werden, die wegen Unzurechnungsfähigkeit außer Verfolgung gesetzt, aber der Verwaltung zur Verwahrung während der durch das Gesetz bestimmten Zeit überwiesen wurden? Ingleichen bezüglich der Anstalten für Vagabunden, Bettel- und verlassene Kinder etc." Diesen Fragen wurde in der Sektion 3 und in der Generalversammlung besonders viel Zeit gewidmet. Drei Gutachten waren den Kongreßteilnehmern vor den Verhandlungen zugegangen, zwei Berichterstatter gaben ihre Stellungnahme vor der Sektion ab, eine weitere Erklärung eines dritten Sektionsmitgliedes wurde entgegengenommen und in der lebhaften Aussprache, die von Herrn Illing geleitet wurde, äußerten sich zahlreiche Mitglieder. Im Grundsatz wurde u. a. herausgestellt, daß die Gefängnisse für die Erwachsenen ein doppeltes Ziel hätten, einmal, der Bestrafung der gegen die Gesellschaft verübten Verbrechen und zum anderen der Besserung der Gefangenen zu dienen. Weiter wurde bezüglich der Behandlungsmethode auf die Äußerung von Herrn Holtzendorff aus Berlin während des Londoner Kongresses (1872) verwiesen, wonach ein Progressivsystem sowohl in einer Bewährungsanstalt als auch in einem Gefängnis durchgeführt werden könne, besonders weil die Progression erstrebenswerte Ziele in Aussicht stelle und Belohnungen für Anstrengungen bedeute. Eine Reihe von Disukussionsrednern begründete die Bedeutung solcher Einrichtungen auf dem Lande vor allem wegen der damit gegebenen Arbeitsmöglichkeit. Wiederholt wurde das Herrn Lucas aus Paris zugeschriebene geflügelte Wort gebraucht, es sei wichtig "die Erde durch den Menschen zu verbessern und den Menschen durch die Erde". Im Laufe der Aussprache wurde auch auf die Wehrli-Anstalten in der Schweiz, das Rauhe Haus in Hamburg-Horn und die Erziehungseinrichtungen in Mettray (Frankreich) hingewiesen. Herr Illing, der im Auftrag der Sektion von der Plenarversammlung zu berichten hatte, führte u. a. aus, es bedeute einen großen Fortschritt, - vielleicht den größten, den man im Rahmen des Strafrechtssystems gemacht habe -, daß zur Bekämpfung des Verbrechens andere Mittel als Strafen und Gefängnisse, nämlich Besserungsanstalten, eingerichtet würden. Herr
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11. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Illing betonte weiter, die Chance der Heilung stünde im Verhältnis zum Alter derjenigen, die Unrecht getan haben. Noch wichtiger sei aber, dem Verbrechen junger Menschen dadurch vorzubeugen, daß man alles tue, um Lebensbedingungen zu schaffen, die einen Weg in das Verbrechen ausschlössen. Er stellte die Aufgaben der Schule und der Familie heraus und bekannte offen, daß in den Gesellschaftsklassen, aus denen "unsere Gefangenen" sich rekrutierten, die Worte Erziehung und Moral nicht selten unbekannt seien. "Wir haben in unserer Gesellschaft Klassen, in denen das Verbrechen sich wie eine moralische Epidemie verbreitet und Familien, in denen es sich durch Vererbung überträgt. Wir wollen nicht strafen, denn unser Ziel ist, die jungen Menschen zu beraten, die in Gefahr stehen, Beute des Verbrechens zu werden. Wir wollen sie durch eine Nacherziehung, da sie eine Erziehung in ihren Familien nicht gefunden haben, davor bewahren, Verbrecher zu werden. Aus diesem Prinzip heraus sollten alle Folgerungen gezogen und eine entsprechende Methode verwirklicht werden." Weiter wies Herr Illing auf die Bedeutung des Direktors einer solchen Anstalt hin. Seine Wahl sei die wichtigste Entscheidung, obwohl es noch eine Reihe von andern nicht unwesentlichen Aufgaben gäbe. Herr Illing stellte die Situation in Deutschland dar und erklärte, in den für diese Jugend eingerichteten Anstalten entspräche die Unterbringung, die Ernährung und die Bekleidung der Einfachheit der arbeitenden Klasse. Er schloß, es handelt sich um ein großes Werk, das nur durch gemeinsame Arbeit aller bewältigt werden könne, wenn der Schaden, unter dem unsere Gesellschaft leide, geheilt oder doch wenigstens eingedämmt werden sollte. Die ganze Gesellschaft müsse helfen und die Anstrengungen der Behörden sollten Unterstützung durch die privaten Hilfsstellen erhalten. Es handele sich um eine ,jheilige Aufgabe", die allen auferlegt sei. Die Vollversammlung des Kongresses faßte folgende Resolution: 1. Bei der Sorge für die Minderjährigen, die aus Unzurechnungsfähigkeit gehandelt haben, oder bei vagabundierenden, bettelnden, verwahrlosten Kindern, muß vor allem von dem Grundsatz ausgegangen werden, daß es sich nicht darum handelt, eine Strafe oder eine Züchtigung zu vollziehen, sondern eine Erziehung mit der Absicht zu geben, die Zöglinge in die Lage zu versetzen, anstelle der Allgemeinheit zu schaden, einen rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandel zu führen.
2. Die beste Erziehung erfolgt in einer ehrbaren Familie. Beim Fehlen geeigneter Familien, die eine gute Erziehung verbürgen und bereit sind, eine solche Aufgabe zu übernehmen, können hierfür öffentliche oder private Anstalten in Anspruch genommen werden.
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3. Die Anstalten müssen auf dem Glauben und auf der Arbeit, verbunden mit Schulunterricht gegründet sein (ora et labora). 4. Die Frage, ob für diese Anstalten das System der Erziehung in kleineren familienmäßigen Gruppen oder in größeren Einheiten vorzuziehen ist, kann nur nach den jeweiligen Umständen entschieden werden. Jedenfalls muß die Zahl der in einer Anstalt lebenden Zöglinge so begrenzt werden, daß der Leiter sich jederzeit persönlich mit jedem Zögling befassen kann. 5. Die Zöglinge, die verschiedenen Konfessionen angehören, sollten soweit wie möglich in verschiedenen Anstalten untergebracht werden. Die Trennung der Geschlechter und der Altersstufen ist vom zehnten Lebensjahre ab erwünscht. Erlauben es die Umstände nicht, die Zöglinge nach Geschlecht und Alter getrennt in verschiedenen Anstalten unterzubringen, so müssen sie zumindest in der Anstalt, in die sie aufgenommen wurden, voneinander getrennt werden. 6. Die in den Anstalten gegebene Erziehung muß den Bedingungen entsprechen, unter denen die arbeitenden Klassen leben, also Schulunterricht nach dem Stand der Elementarschule und größte Einfachheit in Ernährung, Kleidung, Wohnung und vor allem Arbeit. 7. Die Arbeit soll derart eingestellt werden, daß die Zöglinge bäuerlicher Herkunft ebenso wie die städtischen, sich auf die Zukunft vorbereiten, zu der sie vorbestimmt sind. Wenn es einzurichten geht, werden, um diesem doppelten Bedürfnis zu entsprechen, verschiedene Anstalten einl!erichtet. Andernfalls ist in derselben Anstalt dafür zu sorgen. 8. Die Mädchen müssen in den Anstalten vor allem dazu erzogen werden, einen Haushalt gut zu führen. 9. Bei der Unterbringung verwahrloster Kinder in Familien oder Anstalten ist weitmöglichst die Mitwirkung durch das Gericht zu vermeiden. Die gesetzlichen Bestimmungen sollten vorsehen, daß das untergebrachte Kind nicht vor dem Abschluß seiner Erziehung oder gegen den Willen der Anstaltsleitung herausgenommen wird. Der Kongreß begrüßt die in diesem Sinne von einigen Regierungen gemachten Anstrengungen, die richterliche Mitwirkung durch Einschalten einer eigens für diesen Zweck geschaffenen Behörde zu ersetzen. 10. Die Aufenthaltsdauer in den Anstalten sollte bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr ausgedehnt werden können. Jede frühere Entlassung sollte für den Fall des Versagens auf Widerruf erfolgen. 11. Die Anstalt ist zu verpflichten, darüber zu wachen, daß die Zöglinge bei ihrer Entlassung in einem geeigneten Hause als Gutsknechte,
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Hausangestellte, Lehrlinge, Gesellen bei einem Meister oder auf jede andere geeignete Weise untergebracht werden. 12. Die überwachung aller Anstalten dieser Art sollte dem Staate vorbehalten bleiben." IU In dem Untertitel zu dieser Skizze war gesagt worden: Die Probleme der Urgroßväter gelten zum Teil auch für die heutige Generation, wobei naturgemäß zu berücksichtigen ist, daß in den 86 Jahren seit 1878 eine ungewöhnliche gesellschaftliche Entwicklung erfolgte. Aus den Berichten über die Verhandlungen zu den drei Fragen mag die relative Berechtigung dieser Behauptung hervorgehen. Zusammenfassend sei kurz auf die Bedeutung der drei Problemkreise in der Gegenwart hingewiesen. Die Erörterungen um die Einheitsstrafe, z. B. im Entwurf zum Deutschen Strafgesetzbuch von 1962, haben noch nicht ihren Abschluß gefunden. Das Problem wird, selbst wenn der Bundestag bei der Beratung des Entwurfs des Strafgesetzbuchs die Beibehaltung von Zuchthaus und Gefängnis als verschiedene Formen der Freiheitsstrafe beschließt, immer wieder auftauchen und zur Erörterung gestellt werden müssen. Sowohl von der Theorie her - der Forderung individueller Behandlung des Täters während des Strafvollzugs - als auch von der Praxis her - der Tatsache, daß kein wesentlicher Unterschied zwischen Gefängnis und Zuchthaus besteht - wird die Einheitsstrafe immer wieder gefordert werden. In der Begründung des Entwurfs eines Deutschen Strafgesetzbuchs von 1962 wird zugestanden, daß die Zuchthausstrafe "entehrt" - der Begriff wird umschrieben - und dem entlassenen Zuchthausgefangenen Schwierigkeiten in der Eingliederung entgegentreten (S.164). Hieraus sollte der Gesetzgeber Folgerungen ziehen. Zudem steht das Schuldstrafrecht nicht im Widerspruch zur Einheitsstrafe. Die Ausbildung der Aufsichtsbeamten in Deutschland vor 1933 war mitbestimmt durch die Tatsache, daß sich in der Regel Militäranwärter als Nachwuchskräfte für den Aufsichtsdienst meldeten und angenommen wurden. Herr Krohne, einer der deutschen Teilnehmer am Stockholmer Kongreß 1878 und Verfasser des "Lehrbuchs der Gefängniskunde" (1889) erklärte im Laufe der Verhandlungen, warum die militärischen Formen im Preußischen Strafvollzug so betont würden und schloß: "Nach meiner Ansicht haben wir zuviel Militärs unter unseren Aufsichtsbeamten." Er erkannte die Verschiedenartigkeit der Aufgaben von Militärdienst und Aufsichtsdienst. Die heutige Situation bezüglich des Nachwuchses dieser Mitarbeitersparte ist verändert. Nach Ablauf ihrer Militärdienstzeit kommen nur
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wenige Reservisten in den Strafvollzugsdienst. Sie erhalten in der Regel während ihrer Militärdienstzeit auf verschiedenen Gebieten eine Ausbildung, die, falls sie nicht schon vorher als Fachkräfte besonders geschult waren, ihnen den Beruf des Aufsichtsbeamten wenig wünschenswert erscheinen läßt. Jedenfalls wurde der deutsche Beitrag zur Beamtenausbildung im Strafvollzugsdienst seit 1791 bei den Verhandlungen in Stockholm 1878 mit Recht berücksichtigt. Die in der Gegenwart erhobene Forderung nach einer Zentral-Ausbildungsstätte für die im Strafvollzugsdienst Tätigen scheint noch nicht ausgereift. Aus meinen bisherigen Erfahrungen möchte ich nicht eine Zentralbildungsanstalt für das gesamte Bundesgebiet empfehlen - sie wäre zu groß und unpersönlich -, sondern die Einrichtung von mehreren mittelgroßen Ausbildungsstätten in einzelnen Ländern, die mit Nachbarländern Verträge über eine Ausbildungsgemeinschaft abschließen. Die Einrichtung von Ausbildungsstätten verlangt sehr sorgfältige Vorarbeit. Die Frage der Unterbringung straffällig gewordener junger Menschen, die aus bestimmten Gründen nicht nach strafrechtlichen Bestimmungen be- und verurteilt, wohl aber in besonderen Anstaltseinrichtungen untergebracht werden, ist auch heute noch brennend. Hier spielt die Frage der Strafmündigkeitsgrenze eine wichtige Rolle und auch die des Unterschieds zwischen Fürsorgeerziehung und Vollzug der Jugendstrafe. Inwieweit die Hinweise auf die Probleme aus 1878 eine innere Beziehung zu denen des geplanten Kongresses 1965 rechtfertigen, kann erst nach Ablauf des kommenden Stockholmer Kongresses abschließend erkannt werden. IV Zur Beratung stehen nach Mitteilung des European Office of the United Nations in Stockholm in diesem Jahr folgende Themen an: 1. Sozialer Wandel und Kriminalität.
2. Soziale Kräfte und Verhütung der Kriminalität unter Berücksichtigung der Erziehungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit, der Familie und der Gelegenheiten zur Beschäftigung. 3. Gesellschaftliche Vorbeugungsmaßnahmen, besonders bei der Planung und Durchführung ärztlicher, polizeilicher und sozialer Programme. 4. Maßnahmen zur Bekämpfung des Rückfalls unter Berücksichtigung der nachteiligen Bedingungen der Untersuchungshaft und der Ungleichheit der Rechtspflege. 5. Bewährungshilfe (Probation) besonders bei Erwachsenen und andere Maßnahmen außerhalb von Anstalten..
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6. Besondere Maßnahmen der Vorbeugung und Behandlung Heranwachsender. Literatur
Le Congres Penitentiaire international de Stockholm 15 - 26 Aout 1878, Compte-rendus des seances ... Vol. I et II Stockholm, 1879. Die Beschlüsse der Internationalen Gefängnis-Kongresse 1872 - 1930. Hrsg. von Lothar Frede u. Rudolf Sieverts. Jena, 1932. Deliberations of the international Penal and Penitentiary Congress. Questions and Answers, 1872 -1935. Ed. Negley K. Teeters. Philadelphia, 1949. Entwurf eines Strafgesetzbuchs (StGB) E 1962 mit Begründung. Bundesratsvorlage Bonn 1962. Blätter für Gefängniskunde. Zeitschrift für Strafvollzug. Abschnitt Ir. Der Dritte Kongress in Stockholm August 1965* Unter dieser überschrift wurde bereits verschiedentlich über die von der UN einberufenen Internationalen Kongresse über Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung berichtet. So über den Ersten UNKongreß in Genf (ZfStrVo 1955 (5) S. 282 ff. und S. 333 ff. und über den Zweiten UN-Kongreß in London (ZfStrVo 1961 (10) S. 284 ff.). Der Dritte Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung fand im August 1965 in Stockholm statt. über seine Vorgeschichte wurde in unserer Zeitschrift unter der überschrift "Internationale Gefängniskongresse in Stockholm 1878 und 1965 (Ähnliche Probleme wie damals bewegen uns heute" 1965 (14) S. 138 -146) berichtet und am Ende des Berichts die Verhandlungsthemen angegeben. Wie verlief der Kongreß im allgemeinen und wie die Beratungen im Besonderen? I. Allgemeine Situation
Es lag nahe, den Ersten UN-Kongreß in Genf als dem früheren Sitz des Völkerbundes abzuhalten und dabei die bedeutendsten Schweizer Anstalten zu besuchen, insbesondere auch die Strafanstalt Witzwil. Es war auch verständlich, den Zweiten UN-Kongreß nach London einzuberufen, in das Land, in welchem die Gefängnisreform seit J ohn Howard energisch vorangetrieben worden war. Stockholm wurde als dritte Kongreßstadt gewählt, weil Schweden zu den skandinavischen Ländern gehört, die sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Praxis auf dem Gebiet des Strafvollzugs besondere Anstrengungen gemacht haben und deren Vollzugseinrichtungen einen Ruf über die Landesgrenzen hinaus besitzen. • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1966 (15) 115 - 123.
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Die etwa tausend Kongreßteilnehmer aus über 50 Ländern bemühten sich nicht nur um Klärung der im Programm aufgeworfenen Probleme, sondern auch darum, Land und Leute kennen zu lernen. Nur auf Grund solcher Kenntnis besteht die Möglichkeit, das Strafrecht und den Vollzug der Freiheitsstrafen eines Landes zu verstehen. Es ist nicht möglich, in diesem kurzen Bericht die Situation in allen Einzelheiten zu schildern, etwa auch auf das Problem der jungen Menschen und ihres Verhaltens in den Straßen und auf den Plätzen näher einzugehen. Es geht auch nicht an, die gesamte Atmosphäre des Kongresses, wie sie sich durch die Teilnehmer aus allen Erdteilen bildete, im einzelnen zu schildern. Es sei aber versucht, an einigen wenigen Einzelheiten ein Nacherleben zu vermitteln, weil das Kongreßgeschehen ja nicht in beschaulicher Abgeschlossenheit und in Fachgesprächen ablief, sondern unmittelbar mit dem Zeitgeschehen und seinen politischen Problemen verbunden blieb. Als Tagungsort war das "Volkshaus" mit geeigneten Nebenräumen und einem großen Plenarsaal gut gewählt. Die große Teilnehmerzahl konnte z. B. bei den Beratungen über die einzelnen Themen des Kongresses in zwei kleineren Sälen verhandeln, die durch Einziehen einer Trennwand in den großen Saal nach Bedarf geschaffen wurden. Dabei wirkten diese Räume angenehm und harmonisch. Ähnlich elegant waren auch andere organisatorische Fragen gelöst. Bei seiner Eröffnungsansprache wies der mit dem Präsidium des Kongresses beauftragte Schwedische Justizminister, Herr Kling, darauf hin, daß der internationale Gefängniskongreß in Stockholm im Jahre 1878 im "Adelshaus" getagt hat und schon an dem Tagungsort offenbart sich der Wandel der Zeit und der Probleme. Weiter erwähnte der Stadtarchivar Stockholms, daß an der Stelle des jetzigen Volkshauses das erste Zuchthaus Stockholms gestanden habe, das nach dem Muster von Amsterdam errichtet worden war. Der Geist des Ortes entsprach also in jeder Weise dem Stoff der Verhandlungen. Am Tage der Eröffnung, dem 9. August 1965, bedrohte eine politische Spannung, die Rassenfrage, den Ablauf der Verhandlungen. Es demonstrierten vor dem Volkshaus Angehörige des Südafrika-Komitees, das die Kongreßteilnehmer aufrief: "Unterstützt die Freiheitsbewegung!" "Diskutiert die Torturen in den südafrikanischen Gefängnissen!" "Protestiert gegen die Teilnahme Südafrikas an den Verhandlungen!" Gerade damals ging eine Welle der Erregung durch die Kulturnationen, weil in Südafrika im Jahre 1964 bei einer Gesamtbevölkerung von rund 17 Millionen durchschnittlich rund 70 000 Personen inhaftiert waren (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.7.1965), und zwar zum Teil wegen der Verletzung von Gesetzen die "aparthaid" betreffend, Gesetze, die außerhalb von Südafrika nicht existieren. Die Anklage der De-
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monstranten lautete: "Die Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen wird von Südafrika nicht eingehalten. Deshalb ist die Vertretung dieses Landes bei dem Kongreß nicht berechtigt." Der Kongreß behandelte diese Fragen nicht, es wurde vielmehr alles getan, um die weiteren Gegensätze, die außerdem die gegenwärtige Politik beherrschen, wie z. B. das Problem von Ost und West, das des Kolonialismus in Afrika, während der Tagung nicht zu vertiefen und die Kongreßteilnehmer untereinander nicht zu entfremden. Im Gegenteil, die Mehrheit der Teilnehmer war eindeutig bestrebt, eine Einheit "zur Verhütung von Verbrechen und Bekämpfung von Verbrechen" zu bilden. Im Geiste dieser Partnerschaft waren auch die deutschen Teilnehmer völlig gleichberechtigt. Zu den Besonderheiten der Tagung, die den streng wissenschaftlichen Rahmen auflockerten, gehörte eine Ausstellung von Plänen, Modellen und Fotografien von Vollzugsanstalten zahlreicher Länder. Der Stand der Bundesrepublik Deutschland wurde - wie die gesamte Ausstellung - gewürdigt und besonders dankbar anerkannt, daß der "Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe" zur Unterrichtung der Teilnehmer des Dritten Kongresses eine Broschüre in deutscher und in englischer Übersetzung herausgegeben hatte. Sie trägt den Titel "Straffälligenhilfe heute in der Bundesrepublik Deutschland". Wesentlich und besonders dankbarer Erwähnung wert waren die vervielfältigten Unterlagen "lists of documents " , die von den Vereinten Nationen zur eingehenden Vorbereitung vor dem Kongreß den Teilnehmern zugegangen waren. Nicht weniger wichtig waren auch die Veröffentlichungen, die während des Kongresses über den Verlauf der Sitzungen kurz berichteten. Im Gegensatz zu den beiden früheren Kongressen wurden keine Entschließungen gefaßt. Nach den Beratungen der sechs Hauptthemen gab jeweils ein Generalberichterstatter einen kurzen überblick über die im Laufe der Aussprache erzielten Ergebnisse. Die Eröffnungsadresse des Vertreters der UN, des Herrn Ph. de Seynes, betonte den Glauben an die Würde und den Wert des Menschen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen und mahnte, auch an die Gesetze und die Werte zu denken, die durch Verbrechen gefährdet und zerstört werden. Insbesondere verwies er auf die Bedeutung der Straffälligkeit der Minderjährigen und gab mit seinen Ausführungen einen fachlich wichtigen Auftakt zu den geplanten Verhandlungen.
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11. Die fadllidten Beratungen
Sonderansprache über kriminologische Forschung und Sondervorlesungen über Strafrechtspflege und StrafvolLzug. Was die wissenschaftliche Aufgabe des Kongresses anlangte, so wurde in einer der ersten Vollversammlungen über Fragen der Forschung auf dem Gebiete der Kriminologie berichtet. Die Einrichtung von Sammelstellen kriminologischer Arbeiten auf nationaler Basis und die übernationale Zusammenarbeit bei der Auswertung und dem Vergleich der Arbeitsergebnisse wurde empfohlen. In später folgenden Vollversammlungen wurden vier besondere Themen von ausgewählten Persönlichkeiten erörtert. Der Richter am Appellationsgericht zu Washington, Herr T. Marshall, sprach über das Thema: "Der Aufruf zu einer einwandfreien und wirksamen Strafrechtsverwaltung" (The challenge of fair and effective criminal administration). Der Präsident des Obersten Gerichtshofes der UdSSR, Herr N. Smirnow, sprach über "Kameradschaftsgerichte und verwandte Neuerungen in der Sowjet-Union" (Comradship courts and related innovations in the Soviet Union). Herr Bhattacharya, der am obersten Gericht Indiens tätig ist, sprach über "Wege zur Vorbeugung von Verbrechen in rasch sich wandelnden Gesellschaften" (Approaches to crime prevention in rapidly changing societies). Schließlich berichtete der Staatssekretär für Justiz in Tunesien, Herr H. Khefacha, über "Jugendkriminalität im heutigen Afrika" (Youth and criminality in Africa to-day). Die gewählten Themen und die Sprecher bezeugten nicht nur eine sorgfältige Wahl durch die Kongreßleitung, sondern die Ausführungen der Genannten waren in Form und Inhalt hervorragende Zeugnisse des jeweiligen Landes und der Strafrechtspflege im weitesten Sinne in den genannten Ländern.
Die Stellungnahmen zu den sechs Themen des Kongresses Die entscheidende Arbeit unter Beteiligung zahlreicher Kongreßteilnehmer erfolgte bei Erörterung der sechs Themen, die auf dem Programm des Kongresses standen: 1. Sozialer Wandel und Kriminalität. 2. Soziale Kräfte und Verhütung der Kriminalität unter Berücksichtigung der Erziehungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit, der Familie und der Gelegenheit zur Beschäftigung. 3. Gesellschaftliche Vorbeugungsmaßnahmen, besonders bei der Planung und Durchführung ärztlicher, polizeilicher und sozialer Programme.
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4. Maßnahmen zur Bekämpfung des Rückfalls unter Berücksichtigung der nachteiligen Bedingungen der Untersuchungshaft und der Ungleichheit der Rechtspflege. 5. Bewährungshilfe (Probation) besonders bei Erwachsenen und andere Maßnahmen außerhaIb von Anstalten. 6. Besondere Maßnahmen der Vorbeugung und Behandlung Heranwachsender. Die Fragen befaßten sich unmittelbar mit "Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung". Das Sekretariat der Vereinten Nationen hatte vor den Verhandlungen Material an die einzelnen Teilnehmer geschickt und dafür Sorge getragen, daß die Diskussionsredner bei jeweils begrenzter Redezeit durch einen Kreis ausgewählter Persönlichkeiten zunächst eine Einleitung in das zur Erörterung stehende Einzelthema erhielten. Außer dem Verhandlungsleiter war ein Generalberichterstatter bestellt. Die gewählten Themen bargen die Gefahr weitschweifiger Darstellungen in sich. Dem zu steuern, war Aufgabe des Präsidenten. Von ihm erfolgte gelegentlich auch ein entsprechender Hinweis, aber bei den Generalberichterstattern lag es vor allem, den überzeitlichen sachlichen Wert der Diskussionsbeiträge herauszuholen und festzulegen. Die Themen nahmen nur zum Teil auf Fragen des Strafvollzugs, d. h. hier des Vollzugs von Freiheitsstrafen Bezug, aber alle Erörterungen zeigten auf, wie eng das Problem des Vollzugs von Freiheitsstrafen mit der gesamten Strafrechtspflege und vor allem den übrigen gesellschaftlichen Fragen der Kriminalität im Rahmen der sich wandelnden Gesellschaften verknüpft ist. Dabei ist das verschiedene Tempo, in welchem sich die Kulturnationen wandeln, zu berücksichtigen. Bei den Ausführungen aller Berichterstatter der verschiedenen Nationen war der gewaltige Umbruch, die Erwartung eines Neuen, deutlich spürbar. Der Generalberichterstatter zu dem Thema "Sozialer Wandel und Kriminalität" war Herr M. Clinard (USA). Er faßte die Diskussionsbeiträge seiner Arbeitsgruppe zusammen und wies u. a. darauf hin, daß Kriminalstatistiken, die das Anwachsen der Straffälligkeit ausweisen, insbesondere auch bei einem versuchten Vergleich zwischen den einzelnen Ländern, nur mit großer Vorsicht benutzt werden könnten. Weiter unterstrich er die Ansicht, nach der mit Wahrscheinlichkeit eine Gesellschaft, deren soziale Organisation und industrielle Entwicklung immer stärker werde, zahlreicherer Gesetze bedürfe als eine andere. Aus den Einzelheiten folgerte er: Die Verstädterung ist von anwachsender Straffälligkeit begleitet. Herr Clinard glaubt feststellen zu können, daß im Zuge der Verstädterung die Straffälligkeit der Minderjährigen besonders stark ansteige. Er verwies auf die Mitteilung eines Diskus-
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sionsredners, der meinte, es könne sein, daß die Straffälligkeit wirklich ein Teil des Preises ist, der bezahlt werden müsse, um die Individuen in der ganzen Welt freizumachen. Dieser Vorgang führe in zahlreichen Fällen zu einer Rebellion gegen die bestehenden Formen der Gesellschaft. Schließlich werde in diesem Zusammenhang auch die Frage erörtert, was geschehen müsse, um Entlassene wieder in die Gesellschaft einzugliedern und weiter, welche neuen Forschungen in diesem Zusammenhang angestellt werden müßten. Die Aufgabe der Vereinten Nationen sei es u. a., ein gesteuertes vergleichbares Forschungsprogramm auszuarbeiten und den einzelnen Regierungen zur Verwirklichung zu empfehlen. Der Generalberichterstatter zum zweiten Thema "Soziale Kräfte und Verhütung der Kriminalität unter Berücksichtigung der Erziehungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit. der Familie und der Gelegenheiten zur Beschäftigung", Herr T. Asuni (Nigeria) wies auf die notwendigerweise enge Zusammenarbeit zwischen allen Bevölkerungsschichten in den einzelnen Gemeinden hin, stellte die Bedeutung der Schule heraus und forderte insbesondere Berufsausbildung nicht nur in der Freiheit, sondern erst recht in den Vollzugsanstalten. Die Berichterstatterin, Frau Kenworthy (Brasilien), zum dritten Thema "Gesellschaftliche Vorbeugungsmaßnahmen, besonders bei der Planung und Durchführung ärztlicher, polizeilicher und sozialer Programme" hob die Notwendigkeit der Zusammenarbeit freiwilliger Helfer mit beruflich tätigen Sozialarbeitern hervor und verwies auf die Tatsache, daß die Verbindung dieser ehrenamtlichen Kräfte mit der Öffentlich:keit oft enger sei als die mit den beruflich Tätigen. Voraussetzung für die Durchführung wirksamer Vorbeugungsmaßnahmen sei letzten Endes aber immer wieder die Zusammenarbeit beider Gruppen. Der Generalberichterstatter zum vierten Thema "Maßnahmen zur Bekämpfung des Rückfalls unter Berücksichtigung der nachteiligen Bedingungen der Untersuchungshaft und der Ungleichheit der Rechtspflege", Herr N. Moris (Australien), betonte die Aufgabe der einzelnen Länder an der Bekämpfung des Rückfalls je nach ihrer sozialen Struktur, er unterstrich die Bedeutung der Aufgaben der Polizei und der übrigen Ordnungskräfte. Er verwies auf die Bedingungen in den Vollzugsanstalten und betonte, wohl werde mit Recht Sicherheit und Ordnung überall gewahrt, aber die notwendigen Aufgaben der Rehabilitierung sollten dadurch nicht gestört und keinesfalls gehindert werden. Nach seiner Ansicht bestand Einmütigkeit darüber, daß es leichter sei, die Mängel der bisherigen Methoden herauszustellen als Änderungsmaßnahmen vorzuschlagen. Die Hauptaufgabe liege in der Verbesserung der Rechtsprechung und der verstärkten Tätigkeit der offi28 i'relhel tsen tzui
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ziellen Organe. Die zweite Aufgabe sei, die wissenschaftliche Forschung über den Rückfall auf den neuesten Stand zu bringen. Der Generalberichterstatter zum fünften Thema "Bewährungshilfe (probation) besonders bei Erwachsenen und andere Maßnahmen außerhalb von Anstalten", Herr M. Tjaden (Niederlande), verwies auf das Kernproblem für die Bewährungshilfe, das in der sorgfältigen Auswahl der unter Bewährung zu Stellenden liege. Unabhängig davon bestünde die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zur Mitwirkung anzuregen und das Verständnis der Verantwortlichen zu vertiefen. Nicht zuletzt betonte auch er die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschungsarbeit auf diesem Gebiet. Das letzte, aber in seiner Bedeutung für den Strafvollzug wohl besonders wichtige Thema "Besondere Maßnahmen der Vorbeugung und Behandlung Heranwachsender" war unter starker Anteilnahme zahlreicher Kongreßteilnehmer behandelt worden. Der Generalberichterstatter, Herr D. Fairn (Vereinigtes Königreich), faßte nach dem Hinweis, daß die Begriffe "Heranwachsender" und "Straffälligkeit" der Klärung bedürfen, die Fülle der Probleme zusammen. Zunächst stellte Herr Fairn fest, es bestehe eine Ungewißheit über die Gruppe der Heranwachsenden, obwohl sie besondere Beachtung verdiene. Der Anteil Heranwachsender in verschiedenen Ländern sei verschieden groß und aus diesem Grunde könnten nur mit Vorbehalt Vergleiche angestellt werden, da wissenschaftliche Forschungen über diese Gruppe innerhalb der einzelnen Gesellschaften nur in beschränktem Umfange vorlägen. So bleibe besonders ernsthaft zu bedenken, daß diese Altersstufe stets in Rebellion gegen die bestehende Ordnung gelebt habe. Es stelle sich dann die Frage, wie könne diese Altersstufe zur Mitarbeit im öffentlichen Leben und vor allem auch in führenden Positionen gewonnen werden. In diesem Zusammenhang empfahl er besonders intensive behördliche Hilfeleistung für die Jugend. Unter Bezug auf einen Diskussionsbeitrag aus Israel unterstrich Herr Fairn die Bedeutung des Satzes: "Jugend hilft Jugend", das soll heißen, die Nichtstraffälliggewordenen helfen den Straffälliggewordenen. Der Hinweis auf die erhöhte Gefahr, unter nachteiligen äußeren Bedingungen zu leben, mußte in diesem Zusammenhang erfolgen und als Vorbeugungsmaßnahme die Förderung verstärkter Berufsausbildung - möglichst unabhängig von der sozialen Situation - vorgeschlagen werden. Herr Fairn schwächte die Kritik an den Vollzugsanstalten für Heranwachsende keinesfalls ab, er wünschte vielmehr Intensivierung und Zusammenwirken aller aufbauenden gesellschaftlichen Kräfte besonders während der Zeit der bedingten Entlassung. Auch über die Dauer der Anstaltsbehandlung hatten die Kongreßteilnehmer lebhaft diskutiert, und die Frage der Mindest- und der Höchstdauer war zur Sprache
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gekommen. Es bestand insofern eine weitgehende gemeinsame Auffassung, daß keinesfalls die Einzelschicksale generalisiert werden dürften, vor allem aber müßten die den Anstalten gesetzten Ziele erzieherischer und nicht strafender Art sein (educative and not punitive). Nicht zuletzt wurde die Bedeutung der Familie bei der Verhütung und bei der Bekämpfung strafbarer Handlungen immer wieder hervorgehoben. Abschließend ging Herr Fairn noch einmal zu seinem Ausgangsproblem zurück. Es fehle die exakte wissenschaftliche Erforschung des ganzen Problems. Er endete mit dem Hinweis, die Verantwortlichen hätten hier eine dringende Aufgabe zu erfüllen. UI. Die Probleme des Vollzugs von Freiheitsstrafen in Schweden und das schwedische Gefängniswesen
Wie bereits eingangs betont, war für die Kongreßteilnehmer neben der Unterrichtung durch die Verhandlungen des Kongresses auch von Bedeutung, möglichst eingehende Kenntnis über das Gefängniswesen in Schweden zu erhalten. Hierzu boten neben dem Bericht von Herrn T. Eriksson, Direktor des Schwedischen Gefängniswesens, Anstaltsbesuche eine gute Möglichkeit. Der in englischer Sprache gehaltene Vortrag von Herrn Eriksson: "Gedanken über das Schwedische Vollzugssystem (Reflections of the Swedish Correctional System)" war eine Ergänzung des jeden Kongreßteilnehmer unterrichtenden Textes von Herrn Eriksson: "Über das Schwedische Vollzugssystem" (In den vier Kongreßsprachen Russisch, Spanisch, Französisch und Englisch). Gleichzeitig boten die mündlich vorgetragenen Ausführungen eine Einleitung für die im Rahmen des Kongresses vorgesehenen Besuche verschiedener schwedischer Anstalten. Unter Hinweis auf die abgedruckte deutsche Übersetzung des Textes über das Schwedische Vollzugssystem seien nur die wichtigsten Probleme des Vortrags stichwortartig genannt: 1. Der Jung-Straffällige
2. Die neuen Vollzugsanstalten und die vier zU beachtenden Grundsätze bei Neubauten a) Schaffen baulicher Voraussetzungen für die Bildung kleiner Gruppen b) Erwerb von möglichst großen Grundflächen bei Neuanlagen c) Verwendung aller modernen technischen Hilfsmittel bei Einrichtung der Sicherheitsvorkehrungen d) Befolgen des schwedischen Slogans: Bei Neubauten werden zuerst die Werkstätten und dann die übrigen Bauten errichtet. 3. Die besondere Bedeutung der Arbeit der Gefangenen 28·
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4. Der Ausbau der offenen Anstaltseinrichtungen 5. Urlaube 6.. Behandlung außerhalb der Anstalten. Im Rahmen des Kongresses war an einem Tag der Besuch von Vollzugsanstalten vorgesehen. Der Verfasser dieses Berichtes, der gerne mehrere der bereits im Jahre 1951 von ihm besuchten Anstalten nochmals aufgesucht hätte, entschied sich, die Jugendstrafanstalten Skenäs und Roxtuna zu besuchen1 • Nach den geltenden Richtlinien nimmt die Jugendstrafanstalt Skenäs in der Regel 18 - 21jährige auf, die zum ersten Male in Anstaltsbehandlung untergebracht werden. Die nach dem Pavillonsystem gebaute Anstalt verfügt über drei Unterkunftshäuser für zwei Gruppen von je zwölf Insassen. Außerdem besteht eine geschlossene Beobachtungsabteilung mit 6 Betten, 3 Betten für Isolierung und 4 Krankenbetten. Die Gesamtbelegungsfähigkeit beträgt 85. Skenäs angeschlossen ist eine offene Abteilung - Aspliden mit 13 Plätzen - die Minderjährige mit Einordnungsschwierigkeiten aufnimmt, unter der Bedingung, daß deren Prognose als günstig angesehen werden kann. In Skenäs wird Berufsausbildung u. a. in Metallbearbeitung und im Bauwesen ermöglicht. Roxtuna wurde als Jugendanstalt nach dem Prinzip "der kleinen Gruppe" errichtet und ist zur Aufnahme von geistig abnormen Minderjährigen bestimmt. Die Leitung der Anstalt ist einem Psychiater anvertraut. An Unterkunftshäusern bestehen geschlossene, halboffene' und offene Häuser. Berufsausbildung im Fache eines Autoschlossers, eines Mechanikers oder eines Zimmermanns wird ermöglicht. Die Gesamtbelegungsfähigkeit beträgt 70. Ein Urteil über diese beiden Jugendanstalten kann in Anbetracht der Kürze des Besuches nicht gegeben werden. Der gewonnene Gesamteindruck war insofern positiv, als die Bediensteten und auch die jungen Gefangenen, soweit sie in Erscheinung traten, einen offenen Eindruck machten. Auch die Kongreßteilnehmer, die in diesen Tagen andere Anstalten in der näheren und weiteren Umgebung Stockholms besuchen konnten, äußerten sich von dem Gesehenen und Gehörten beeindruckt!. Verfehlt wäre m. E. irgendwelche Vergleiche zwischen deutschen und schwedischen Vollzugseinrichtungen anstellen zu wollen. Dafür fehlen die Voraussetzungen. 1 Der Verfasser dieses Berichtes hatte bereits im Jahre 1951 Gelegenheit, bei einem vierwöchigen Aufenthalt ausschließlich zu Studienzwecken das schwedische Gefängniswesen kennen zu lernen. Die damals gewonnenen Eindrücke wurden in einem Reisebericht zusammengefaßt und veröffentlicht in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1952 (64) S. 406 - 433. 2 (Anm.: Einen Einblick in die Probleme gibt Hans Grobe, Hamburg: Der Kampf gegen die Jugendkriminalität in Schweden. In: Schweizerische Juristenzeitung 1964 (60) S. 97 - 100).
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IV.
Die Bedeutung eines solchen Kongresses kann für den einzelnen Teilnehmer auf verschiedenen Gebieten liegen. Der eine legt besonderen Wert auf Mehrung seiner Sachkenntnis, der andere sieht in der Begegnung und Aussprache mit Berufskollegen aus aller Welt das Wesentliche, der dritte verbindet beideMöglichkeiten miteinander und empfindet die Teilnahme an solchen Tagungen mit weltweitem Horizont auch als Krönung beruflicher Arbeit. Die Teilnahme an einem solchen Kongreß stellt an den Verantwortungsbewußten hohe Anforderungen. Nicht nur muß er ständig in einer der Kongreßsprachen - die ja nicht seine Muttersprache sind denken und sprechen, sondern er muß vor allem auch kontaktbereit sein, um mit Menschen aus aller Welt Beziehungen aufzunehmen, alte Bindungen zu festigen und letzten Endes das Gehörte und Gesehene in seiner beruflichen Arbeit fruchtbar auszuwerten. Zum Vierten UNKongreß für Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung wurde von der Japanischen Regierung für das Jahr 1970 nach Tokio eingeladen. Die UN hat die Einladung angenommen3 •
3 über den Dritten Kongreß der Vereinten Nationen berichtet Regierungsdirektor Dr. Albert Scholl, Vorsitzender des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe. Der ausführliche Bericht im Umfang von 54 Seiten ist im Eigenverlag des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe herausgegeben und kann für 1,50 DM von der Geschäftsstelle 532 Bad Godesberg, Friedrich-Ebert-Straße 11, bezogen werden..
2. Entwicklung der Persönlichkeits erforschung im deutschen Gefängniswesen* I. Sinn der Persönlichkeitserforschung Die rechte Persönlichkeitserforschung während des Vollzugs der Freiheitsstrafe ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die richtige Behandlung des Gefangenen. Nicht immer wurde, wie heute, die Persönlichkeit als eine Ganzheit der geistigen und der seelischen Eigenarten eines Menschen gesehen. Zu dieser Eigenart werden alle Elemente der Persönlichkeit gerechnet, und es ergibt sich hieraus, daß die Grundlage für die Person die Anlage ist, die Persönlichkeit, wie sie vor dem Strafvollzugsbeamten steht, aber mehr bedeutet, das nämlich, was sie im Laufe ihre Lebens geworden ist. Die Anlage ist, die Persönlichkeit wird. Die Anlage bedeutet aber nicht mehr als eine Entwicklungsmöglichkeit, die Persönlichkeit bedeutet das Entwickelte und das sich weiter Entwickelnde. Was die Einzelperson innerhalb der ihr gesteckten Grenzen formt, ist die Umwelt, die den Menschen zur ständigen Auseinandersetzung mit ihr zwingt. Derjenige, der Persönlichkeitserforschung am andern treibt, ist verpflichtet, stets den Andern ganz zu erfassen. (Exner, Kriminalbiologie, 1939, S. 36) Im Rahmen dieses Beitrags wird es nicht möglich sein, alle in der Wissenschaft der Kriminologie zusammengefaßten Probleme zu eriassen, wohl aber soll versucht werden, die Entwicklung zu beschreiben, die eine präzise Diagnostik, eine Typisierung der Verbrecherpersönlichkeit und - darauf aufgebaut - eine für ihn charakteristische Sozialprognose sowie eine geeignete praktische Behandlungsweise zum Ziele hat (Kretschmer, Biologische Persönlichkeitsdiagnose, D.J.Z.1927, S. 782). Wesentlich ist dabei, sich immer klar zu machen, die Konstanz der beiden Faktoren Anlage und Umwelt bleibt die Voraussetzung dafür, daß das konstruktive Persönlichkeitsschema sich einigermaßen mit der Wirklichkeit deckt. Verändern sich aber z. B. die Umweltbedingungen, so können sie aus einem Menschen bisher im Charakterbild nicht realisierte Reaktionsbereitschaften herausholen und so gewissermaßen neue Charaktereigenschaften vorübergehend oder dauernd entstehen lassen. (Kretschmer, Psychotherapeutische Studien, 1949, Seite 215) • Erschienen in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1954 (4) 241 - 252.
2. Persönlichkeitsforschung im deutschen Gefängnis
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11. Persönlichkeitserforscbung und die Würde des Individuums Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Menschen zu erforschen. Welche Möglichkeit gewählt wird, hängt stets ab von dem Zweck der Erforschung und ist in gewissem Sinne auch zwangsläufig gebunden an den geistigen Standort des Erforschenden. Soweit die Persönlichkeitserforschung um des Einzelnen willen getrieben wird, wie z. B. unbestritten in der Erziehungsberatung bei jüngeren Menschen, dient sie eindeutig der Förderung der zu erforschenden Persönlichkeit. Dabei darf aber niemals, dem jeweiligen Stande der wissenschaftlichen Forschung entsprechend, die "pädagogische Grenze" überschritten werden. (Krebs, Albert: Die Täterforschung in der Strafrechtspflege und ihre pädagogische Grenze. In: Archivio di Antropologia Criminale, Vol. LVII -1937 - Fase. TI) Unter der Wahrung der pädagogischen Grenze wird hier verstanden die Achtung vor der zu erforschenden Persönlichkeit, in diesem Sinne selbst die Achtung vor einem Verbrecher. So ist auch Art. 1 Abs.1 des Grundgesetzes wohl zu verstehen, der sagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Aus diesem Schutzgedanken entspringt aber auch das Recht auf Freiheitsentzug, wodurch ein Spannungsverhältnis deutlich wird. Wenn hier das Ziel der Persönlichkeitserforschung im positiven Sinne herausgestellt wird, so geschieht dies, um klar festzustellen, daß sie im deutschen Gefängniswesen letzten Endes selbst nach manchen Irrwegen immer wieder zu dem Ziele zurückfand, den zu Erforschenden im Interesse des Ganzen zu fördern und dabei die pädagogische Grenze zu wahren. In den Jahren von 1933 - 45 erlebte die Persönlichkeitserforschung eine echte Krise insofern, als der Staat z. T. ihre Arbeitsergebnisse mißbrauchte und vielfach das Leben der "Unerziehbaren" vernichtete. Ärzte und Vollzugsbeamte waren damals an einem Scheidewege angelangt. Aus verschiedenen Gründen erkannte ein Teil von ihnen nicht die Grenze der wissenschaftlichen Erforschung, und es ist besonders eindrucksvoll, wenn z. B. der Malariaforscher Klaus Schilling noch gelegentlich der Nürnberger Prozesse äußerte: drei- bis vierhundert Todesopfern seiner Immunisierungsversuche stünden Millionen von Malariakranken gegenüber, denen es zu helfen gelte (Badische Zeitung v. 3. 1. 1947 S.3). - Mit erschreckender Deutlichkeit zeigte die lange Reihe von Anklagepunkten gegen hervorragende deutsche Mediziner und Wissenschaftler im Nürnberger Prozeß (Dezember 1946), daß die Preisgabe des Grundsatzes der Ehrfurcht vor allem Lebenden (Albert Schweitzer) zur Vernichtung des Einzelnen oder einer Menschengruppe führen kann.
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Diese Feststellungen richten sich gegen die "Diktatur der Menschenverachtung" und verweisen auf die außergewöhnliche Verantwortung für jeden, der sich mit der Persönlichkeitserforschung auch in der Strafanstalt befaßt. Die Strafvollzugsbeamten, die zur Mitarbeit berufen sind, haben eine Machtposition und müssen sich ihrer Aufgabe und deren Grenze bewußt bleiben, und zugleich die Grenze gegenüber dem Individuum beachten. Welche Probleme im Zusammenhang mit der Erforschung eines Einzelnen im Interesse des Ganzen aufgeworfen werden können, stellt der Schweizer Robert Jungk in dem Kapitel "Armer kleiner Übermensch" seines Buches "Die Zukunft hat schon begonnen, Amerikas Allmacht und Ohnmacht" 1952 (S.67/77) dar. Jungk berichtet, wie in den USA die Grenzen der menschlichen Leistungs- und Leidensfähigkeiten erprobt werden. Wenn auch die Versuchspersonen sich freiwillig melden und Torturen unterwerfen, die kein Foltermeister raffinierter ersinnen könnte, "so ist doch nie die Spezies Mensch so systematisch und überlegt Zerreißproben unterworfen worden wie in den Laboratorien der amerikanischen Luftmediziner" . Handelt es sich hier noch um echte Persönlichkeitserforschung? Die Frage muß wohl bejaht werden. Nach Jungk soll ja dabei auch das Unerträgliche, das Leiden mathematisch erfaßt werden (aaO. S. 70). Die angedeuteten Spannungsverhältnisse: der Einzelne und die Gesamtheit kehren auch im Vollzug der Freiheitsstrafe wieder und heißen dann: Einzelwohl und Gemeinwohl, Generalprävention und Spezialprävention, Rechtsstrafe und Erziehungshilfe. In einem Strafvollzug, der die Rechtsstrafe in den Vordergrund stellt und das Gesamtwohl überbetont, tritt in Verkennung der notwendigen echten Synthese das Einzelwohl zurück. Diese Situation kennzeichnet den deutschen Strafvollzug zwischen 1933 und 1945. Wird innerhalb des Strafvollzugs das Einzelwohl im rechten Verhältnis zum Gesamtwohl gesehen, d. h. die Synthese gefunden, so kann Erziehungshilfe geleistet werden. Echte Erziehungshilfe besteht darin, daß die Sonderung des Einzelnen (die auch die Nichtanerkennung der Wertordnung der Gesellschaft mit sich bringt und die Ursache des Straffälligwerdens sein kann) aufgehoben und die Einordnung in das Ganze zunächst bejaht und dann auch angestrebt wird. Das Finden der rechten Synthese innerhalb des Strafvollzugs auf Grund sorgfältiger Persönlichkeitserforschung bedeutet weiter, die Kunst der Erziehung innerhalb der Gefangenenbehandlung wirksam werden zu lassen. In diesem Sinne werden also die Gitter und Mauern und alle anderen im Strafvollzug liegenden Hemmungen anerkannt und weiter die anlage- und umweltbedingten Hemmnisse der Beeinflußbarkeit des einzelnen Gefangenen vollauf gewürdigt. Immer aber wird versucht, aus der verworrenen Situa-
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tion des Einzelnen, zunächst für ihn und dann für das Ganze, das Beste zu machen. III. Rückblick
Im Zeitalter der Aufklärung rückte der Mensch mehr als zuvor in den Brennpunkt des Interesses; auch der gefangene Mensch fand in außergewöhnlichem Maße Beachtung. Dies beweist u. a. eine umfangreiche Literatur über das Gefängniswesen des ausgehenden achtzehnten und des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über das Thema: Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft. Dabei bemühten sich bereits vor hundert Jahren Mediziner um die Klärung des Problems der Zurechnungsfähigkeit der Rechtsbrecher (prof. Ideler: über die Mitwirkung der Ärzte bei der Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit zweifelhafter Gemütszustände in: G. A. 11 1854 S. 3 ff.). Auch im Mittelpunkt der scheinbar rein organisatorischen Frage Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft stand das Problem der Gefangenenbehandlung durch geistige Mittel. Im Zeitalter der Aufklärungs- und Erweckungsbegegnung erlebte auch der Strafvollzug Anregungen entscheidender Art. Die Forderung des Hallenser Strafanstaltsgeistlichen B. Wagnitz (1755 -1838) "Mag doch immerhin die Sicherheit des Staates Strafzweck bleiben, man vergesse nur nicht, daß, indem der Verbrecher gebessert wird, dadurch zugleich die Sicherheit des Staates gefördert wird", zwang zur Klärung des Problems der Behandlung nach vorausgegangener Erforschung der Persönlichkeit. ("Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland" 1791, S.20.) Auch Pestalozzi (1746 -1827) übte Einfluß auf die Persönlichkeitserforschung im deutschen Gefängniswesen aus. In der Abhandlung "Die wahre Staatswissenschaft in Behandlung der Gefangenen" forderte er, man muß keine Gefangenen aus der Hand der Gerechtigkeit lassen, ohne auf das Sorgfältigste zu versuchen, durch sie den Quellen ihrer Verbrechen im allgemeinen nachzuspüren und von ihnen selbst Handbietung und Anleitung zu suchen, denselben Einhalt zu tun (Gesammelte Werke, Hrsg. von Seyfarth, Bd. VI, 1901, S. 125). Noch weiter ging Pestalozzis Schüler, C. A. Zeller, (1774 -1846), der in seinem "Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will" (1824) die Aufstellung eines Lebensplanes (S.119) für jeden Inhaftierten erarbeiten will und weiter fordert, der Straffällige müsse im Vollzug eine Stufenfolge durchlaufen, während der er ständig beobachtet, d. h. einer Persönlichkeitserforschung unterworfen werden solle. Der Lebensplan Zellers baut dann auf dieser "Beobachtung" auf und nimmt das Stufensystem, wie es später in Irland, dann in Austra-
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
lien und in USA entwickelt wurde und von da nach Deutschland in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zurückkam, vorweg. Weil die Erforschung der Persönlichkeit eine solche Rolle spielen sollte, verdienen auch Zellers drei Stufen kurz Erwähnung. "Wer in der Bewährungs-, wer in der Vorbereitungsklasse sich hält, der bessert sich. Wer aber aus der Probeklasse sich nicht emporarbeitet, ist ein Taugenichts, der, wenn er noch kein Verbrecher war, es doch zu werden ständig in Gefahr ist" (aO. S. 130). Im Sinne der bereits angedeuteten Problemstellung: Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft wurde dann in der Praxis des Vollzugs der Gefangene in der Einzelhaft ständig daraufhin beobachtet, ob und in wieweit er der Belastung einer konsequent durchgeführten Trennung bei Tag und Nacht unterworfen werden könne. Besonders sorgfältig waren die diesbezüglichen Untersuchungen des Leiters der Strafanstalt Bruchsal, des Arztes Julius Fuesslin (1815 -1866), der Strafanstalt, die nach dem Muster von Pentonville gleichzeitig mit der Einzelhaftanstalt Moabit, die das Vorbild für sämtliche preußischen Einzelhaftanstalten abgab, erbaut woren war (Nekrolog in: BI. f. Gkde, 1867(2) 383 ff.). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat eine Persönlichkeit wesentlich dazu beigetragen, auf Grund eingehender Forschung die Individualisierung im Strafvollzug voranzutreiben und eine Dilferenzierung der Anstalten zu fordern. Es war dies der italienische Mediziner Cesare Lombroso (1835 - 1909), der versuchte, in seiner "Lehre vom Verbrecher" (1876) sich Rechenschaft von der Persönlichkeit des Kriminellen zu geben. Er hob vor allem die Bedeutung der Anlagebedingungen beim "geborenen Verbrecher" hervor. Wenn auch die Arbeitsergebnisse Lombrosos zu seiner Zeit in allen Kulturnationen heftig umkämpft wurden, so kommt ihm doch das Verdienst zu, auch im deutschen Strafvollzug die Persönlichkeitserfassung erneut an die ihr gebührende Stelle vor und während der Behandlung gerückt zu haben. Lombroso warf u. a. die Frage auf "begeht ein Mensch eine Tat zwangsläufig auf Grund seiner Veranlagung, so kann er keine Schuld haben. Daraus ergibt sich, er darf nicht bestraft werden. " Welche Verwirrung und Bestürzung mußte Lombrosos Fragestellung "Darf man einen Verbrecher überhaupt strafen?" hervorrufen. Die klug ausgewogene Darstellung Cesare Lombrosos in: Simson, G. "Fünf Kämpfer für Gerechtigkeit", München 1951 (S.114/66) ist gerade im vorliegenden Zusammenhang lesenswert (VgI. Buchbesprechung "Zeitschrift für Strafvollzug" 1952/53, S. 128). Diese Fragestellung Lombrosos grilf Franz von Liszt (1851 - 1919) auf, weil auch er die Tendenz zur Individualisierung der Behandlung bei Berücksichtigung der· psychischen und physischen Konstitution der Gefangenen unterstützte. Trotz des gleichen Ausgangspunktes be-
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tonten die an sich natürlichen Bundesgenossen aber stärker das, was sie voneinander trennte, als das, was sie einte. Franz v. Liszt vertrat in seinen berühmt gewordenen Ausführungen "Der Zweckgedanke im Strafrecht" (1882) u. a. die Auffassung, das Verbrechen ist nicht, wie Lombroso betont, in erster Linie eine anlagebedingte Folge, sondern eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens. Die Schäden der sozialen Verhältnisse bereiten den Nährboden, in dem es wurzelt und wuchert. Die Gegebenheiten und Erkenntnisse der Umwelt, die natürlichen örtlichen, familiären und beruflichen Verhältnisse, die Geschehnisse der Eigenwelt und vor allem die wirtschaftliche Situation beeinflussen den Täter antreibend oder aufreizend, formend oder hemmend, führen ihn zur Straftat oder halten ihn von ihr fern. Von Liszt's umfassender Geist beschränkte ihn keineswegs darauf, im Milieu die einzig mögliche Ursache strafbarer Handlungen zu sehen, er anerkannte den biologischen Faktor und forderte deshalb: nicht Anlage oder Umwelt, sondern Anlage und Umwelt gilt es bei der Persönlichkeitserforschung zu berücksichtigen! In der von ihm 1898 mitbegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung wirkten sich seine Grundgedanken weitgehend aus. Im Sinne der Liszt'schen Gedanken ist auch die weitere Entwicklung der Persönlichkeits erforschung im deutschen Gefängniswesen zu verstehen, die wesentlich durch die Arbeit des Psychiaters Gustav Aschaffenburg "Das Verbrechen und seine Bekämpfung" (Heidelberg, 1902) beeinflußt wurde. Mit seinem reichen Tatsachen- und Erfahrungsmaterial, seiner frischen und anschaulichen Darstellung und seiner klaren kriminalpolitischen Zielsetzung wurde sie die kriminologische Grundlage der modernen deutschen Strafrechtsschule im Sinne Franz v. Liszt's. (Mezger, E.: Bericht über die 6. Tagung der Kriminologischen Gesellschaft, 1951, S.9). Dankbar ist anzuerkennen, daß diese beiden Mediziner (Lombroso und Aschaffenburg) der Persönlichkeitserforschung im deutschen Gefängniswesen wesentlichen Antrieb gaben. Die gesteigerte Kriminalität und ihre Bekämpfung nach dem ersten Weltkrieg gab der gesamten Strafvollzugsreform und vor allem der Persönlichkeitserforschung starken Auftrieb. Die Darstellungen über die Ursachen der Kriegs- und Nachkriegskriminalität von Exner "Krieg und Kriminalität in Österreich" (1926) und Liepmann "Krieg und Kriminalität in Deutschland" (1930) zwangen zu verstärkter Arbeit auf diesem Gebiet und als deren Folge zur Trennung der Gefangenen innerhalb der Anstalten und zu weiterer Differenzierung der Strafanstalten selbst. Der Jugendstrafvollzug war in Preußen aus ähnlichen Erwägungen bereits 1912 vom Erwachsenenstrafvollzug getrennt und in seinem Rahmen der Stufenstrafvollzug eingeführt worden. Zwar regten die Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen aus dem
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Jahre 1923 noch nicht eine Persönlichkeitserforschung für sämtliche Gefangenen an, sie bereiteten ihr aber mit Empfehlungen besonderer Behandlungsmethoden den Weg. Einen beachtlichen Aufschwung nahm die Persönlichkeitserforschung in Deutschland, nachdem in Bayern Ende 1921 nach belgischem Vorbild in dem Zuchthaus Straubing ein kriminalbiologischer Dienst eingerichtet wurde. Dieser Dienst stand zwar maßgeblich unter naturwissenschaftlichem Einfluß und bezeichnete sich folgerichtig als kriminalbiologisch, d. h. nicht kriminal psychologisch oder kriminalsoziologisch. Der Leiter dieses Dienstes, Dr. Viernstein, versuchte nach Erfassung der Persönlichkeit auf Grund sorgfältig ausgearbeiteter Fragebogen und nach kurzer Beobachtungszeit die Strafhauszugänge nach Verbesserlichen und Unverbesserlichen zu unterscheiden. - Der Referent für den Vollzug im bayerischen Justizministerium, Ministerialrat Degen, bekannte: "So verheißungsvoll diese Anfänge zur genauen Erforschung der Umstände, die den Gefangenen und seinen Charakter bilden halfen, sind, so muß doch zugegeben werden, es sind Anfänge. Es wird noch jahrelanger Arbeit der Wissenschaft bedürfen, um aus dem Ergebnis der kriminalbiologischen Untersuchungen sichere Schlüsse herauszuarbeiten" (Der Strafvollzug in Stufen in: Bumke, Deutsches Gefängniswesen, 1928, S. 310/333). Wenn auch grundsätzlich die kriminalbiologischen Untersuchungen von allen Fachkräften begrüßt wurden, so forderten diejenigen, die im Sinne Liszt's auch die Umwelteinflüsse und vor allem die psychologischen Gesichtspunkte stärker in Betracht gezogen wissen wollten, deren Beachtung (petrzilka, W.: Persönlichkeitsforschung und Differenzierung im Strafvollzug, 1930). Es war folgerichtig, wenn in diesem Zusammenhang das Problem der Erziehbarkeit eingehend erörtert wurde (über die Grenzen der Erziehbarkeit im Strafvollzug, berichtete Prof. Villinger in dem Sammelwerk: Frede-Grünhut, Reform des Strafvollzugs, 1927). Besonders eindrucksvoll wurde das Problem der Persönlichkeitserforschung auf der Augsburger Tagung des Vereins deutscher Strafanstaltsbeamten im Jahre 1927 (BI. f. Gfke. 1928(59), S. 9 ff.) erörtert. Folgerichtig war dann auch die Gründung der Kriminalbiologischen Gesellschaft durch österreichische und deutsche Kriminologen in Wien 1927. Untrennbar mit der Persönlichkeitserforschung blieb stets das Problem der Gefangenenbehandlung und zu jener Zeit hieß das, der Strafvollzug in Stufen, verbunden. Drei deutsche Länder, Bayern, Thüringen und Sachsen, bemühten sich besonders um Klärung dieser Fragen und ihre Pionierleistungen verdienen gerade im Zusammenhang mit der Persönlichkeitserforschung
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eine besondere Würdigung, ohne die übrigen Länder geringer beurteilen zu wollen. über die Bestrebungen in Bayern ist bereits das Wichtigste berichtet worden. Im Lande Thüringen bildete eine systematische Persönlichkeitserforschung die Voraussetzung für die erziehliche Behandlung in den einzelnen Stufen des Stufenstrafvollzugs, wobei ihre besondere Aufgabe in der Beobachtungsstufe (1. Stufe) begann und bei den höheren Stufen (2. oder Behandlungs- und 3. oder Bewährungsstufe) fortgesetzt wurde. In jeder thür. Landesstrafanstalt wirkten Sozialpädagogen zusammen mit Ärzten und Psychiatern, so daß erreicht wurde: 1. eine medizinische Untersuchung bei allen Gefangenen, 2. eine psychiatrische Untersuchung, wo entsprechender Verdacht vorlag, 3. eine sozialpädagogische, psychologische, pädagogische Untersuchung bei allen Gefangenen im Laufe der ersten sechs Wochen mit späteren Ergänzungen (Mezger: Arbeitsmethoden der kriminalbiologischen Untersuchungen in: Der Gerichtssaal, 1933(103), S.148/49). Hierauf baute dann die Behandlung auf (Gefängnisse in Thüringen. Weimar, 1930). Im Lande Sachsen brachte die von Fetscher in Dresden geschaffene erbbiologische Kartei des Ministers der Justiz bemerkenswerte Ergänzungen der kriminologischen Forschung vom Standpunkt des Hygienikers und Sozialhygienikers. Insbesondere galten diese Erforschungen der versuchten Feststellung der Erziehbarkeit und einer Prognose des späteren sozialen Verhaltens (Mezger, aaO. S.147). Wichtig war vor allem, daß auf Grund diese~ Arbeit eine vorzüglich organisierte und hilfreich wirkende Entlassenenfürsorge als Aufgabe des Staates im Rahmen der öffentlichen Wohlfahrtspflege eingerichtet und mit den privaten Hilfsquellen auch durchgeführt wurde. Die letzte Periode der echten Persönlichkeitserforschung im Rahmen des Strafvollzugs liegt in der Zeit nach 1945, als in allen deutschen Ländern die Bemühungen in dieser Richtung wieder einsetzten. Im Lande Bayern. wurde die kriminalbiologische Forschungstelle in eine kriminalsoziologische Untersuchungsstelle umgewandelt; der Stadtstaat Hamburg richtete eine zentrale kriminalbiologische Untersuchungsstelle ein, und auch die übrigen deutschen Länder verwirklichten systematische Persönlichkeits erforschung durch Einbeziehen von Psychologen, Psychiatern und Soziologen in den praktischen Vollzugsdienst. Nicht zuletzt sind sämtliche Länder bemüht, geeignete Kräfte, die die Behandlung der Gefangenen auf Grund der gewonnenen Forschungsergebnisse durchführen, in stärkerem Umfange als bisher heranzuziehen. Auf Wohlfahrtsschulen ausgebildete Fürsorger und in akademischer Ausbildung geschulte Sozialpädagogen gehören zumindest nach 1945 zu den im deutschen Strafvollzug als notwendig anerkannten Mitarbeitern.
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II. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
Auch im neuen deutschen JGG vom 4. 8. 53 wird die Notwendigkeit kriminologischer Untersuchungen im Sinne der Persönlichkeitserforschung anerkannt (§§ 43,3; 73,1), und die künftige Strafrechtsreform wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Erwachsenenrecht die Frage der Persönlichkeitserforschung regeln müssen. Aus der gesamten Lage des deutschen Gefängniswesens ergibt sich, daß auch in der Persönlichkeitserforschung in der gegenwärtigen Periode Verbindung mit übernationalen Bestrebungen gehalten wird. So befaßte sich der 12. internationale Kongreß für Strafrecht und Gefängniswesen 1950 in Den Haag mit dem Thema Persönlichkeitserforschung und stellte u. a. heraus: "Es ist höchst wünschenswert, daß in der Organisation der Strafrechtspflege künftig alle Unterlagen für den Urteilsspruch, für die Behandlung während des Strafvollzugs und die Vorbereitung der Entlassung dem Richter im Bericht vorliegen mit Einzelheiten bezüglich der Konstitution des Täters, seines Charakters sowie seiner sozialen und kulturellen Lebensumstände" (Zeitschrift für Strafvollzug, 1951 (1) Heft 8, S. 23 ff.). Im inneren Zusammenhang hiermit steht auch die Brüsseler Tagung der United Nations vom 3. bis 15. XII. 1951 über medizinisch-psychologisch-soziologische Persönlichkeitserforschung, an der auch deutsche Fachkräfte teilnahmen (Ausführlicher Bericht in: International Review of Criminal Policy No. 3, January 1953). Die Wandlung in der Erforschung der Persönlichkeit in Deutschland während der letzten fünfzig Jahre wird eindrucksvoll gekennzeichnet durch die Änderung des Titels der von Aschaffenburg begründeten Monatsschrift. Sie hieß vom ersten Jahrgang ab "Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform". Aschaffenburg stellte in dem einleitenden Aufsatz zu der von ihm unter ständiger Mitwirkung Franz v. Liszt's herausgegebenen Zeitschrift u. a. heraus: "Wohl aber soll und wird sich der erfahrene Psychiater hüten, die Interessen der Allgemeinheit den Anlagen des Einzelnen zu opfern" (S. 3) und wünscht die Synthese! Er hat dabei auf die Gefahr, die später tatsächlich hereinbrach, hingewiesen. - Im Jahre 1937 wurde die "Monatsschrift" umbenannt in "Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform". Sie diente nunmehr bis 1944 als Publikationsorgan für die 1927 gegründete "Kriminalbiologische Gesellschaft" und den kriminalbiologischen Dienst der Reichsjustizverwaltung. - Die seit 1953 wieder erscheinende "Monatsschrift" nahm jetzt den Titel an "Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform". Die Schriftleitung begründete die Titeländerung damit, daß in Deutschland unter Kriminalbiologie die Lehre von den körperlich biologischen Vorgängen im Verbrecher verstanden wird, sie aber bewußt Wert auf die Gesamtbetrachtung der Anlage, der Umwelt und der psychologischen Bindungen legt. Denn
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erst Kriminalbiologie zusammengefaßt mit Kriminalpsychologie und Kriminalsoziologie umschreiben den Inhalt des Ober- und Sammelbegriffs " Kriminologie" . IV. Folgerungen für Anwendung und Ausbau der Persönlichkeitserforschung Wenn auch die Darstellung der biologischen, psychiatrischen, psychologischen und soziologischen Gesichtspunkte bei der Persönlichkeitserforschung Sonderberichten vorbehalten bleiben muß, so kann doch in der Darstellung über die Entwicklung dieser Arbeit im deutschen Gefängniswesen schon hier festgestellt werden: 1. bei der Persönlichkeitserforschung gilt es, immer wieder die Synthese der Spannungsverhältnisse, die sowohl im Individuum als auch im Strafvollzug selbst bestehen, zu erkennen und zu überwinden. Das Ziel bleibt: Einordnen, das bedeutet Aufheben der Sonderung nicht um der Wissenschaft willen, wohl aber mit allen wissenschaftlichen Mitteln; 2. die Wissenschaft vom Menschen als Voraussetzung der Persönlichkeitserforschung ist heute vielfach differenziert. Sie erforscht den Menschen bezüglich seiner Erbanlage biologisch, seiner Umwelteinflüsse soziologisch, seines Zustandsbildes biographisch, psychologisch und psychiatrisch, seines Zukunftsbildes sozialpädagogisch und heilpädagogisch. So reizvoll es auch wäre, die Methodik der Persönlichkeitsforschung unter Beachtung der einzelnen Gesichtspunkte hier darzulegen, es soll dies den kommenden Berichten überlassen bleiben. Hier möchte ich mich darauf beschränken zu betonen, daß es gilt, die notwendige wissenschaftlich begründete Arbeitsteilung anzuerkennen und bewußt darauf zu verzichten, alles selbst tun zu wollen. 3. Dieser Verzicht kann aber zweifellos nur dann erfolgreich geschehen, wenn eine echte Zusammenarbeit der Vertreter der Einzelwissenschaften im Sinne einer wahren Arbeitsgemeinschaft erfolgt. Niemals darf aber vergessen werden, daß der zu Erforschende in allen Abschnitten der Erforschung einbezogen und gehört werden muß. Er ist auch in geeigneter Weise von dem Ergebnis der Erforschung zu unterrichten, und bei der Aufstellung des Behandlungsplanes im Strafvollzug ist es notwendig zu beachten, daß der zu Erforschende diese Absichten bejaht. Denn gegen seinen Willen kann keinerlei sinnvolle Anwendung der Ergebnisse der Erforschung, d. h. keine Förderung erfolgen. Es gilt also 1. den Notstand zu erkennen,
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H. Teil: Grundfragen des Strafvollzuges
2. die Ursache zu erforschen, 3. die Methode zur überwindung zu suchen, 4. einen Behandlungs- bzw. Lebensplan mit dem zu Erforschenden aufzustellen und 5. bei der Anwendung bzw. Durchführung diese Pläne ständig auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. 4. Diese Arbeitsgemeinschaft der Fachkräfte und des zu Erforschenden ist in der Strafanstalt unbedingt zu ergänzen durch das Einbeziehen aller Diensttuer. Erst dann können auch die Grundpflichten erfüllt werden, wie sie z. B. die hessische "Ordnung für das Gefängniswesen" Ziff.25 vorschreibt: "Die Anstaltsbeamten müssen sich immer bewußt sein, daß die Gewinnung der Gefangenen für ein gesetzmäßiges Leben im Rahmen der Sicherheit das Hauptziel des Strafvollzugs ist, und daß jeder von ihnen dazu berufen ist, an der Erreichung dieses Zieles mitzuwirken". In diesem Sinne werden alle Hilfsbereiten in der Strafanstalt zu Sozialarbeitern im Strafvollzug. Es ist also nicht nur die Gruppe der Erziehungsbeamten zu jener Zusammenarbeit heranzuziehen, sondern auch die Verwaltungs- und neben den Werk- vor allem die Aufsichtsbeamten. Sie alle sehen ja das Ziel ihrer Arbeit in der "Resozialisierung" des Rechtsbrechers! 5. Bei dieser Arbeitsgemeinschaft werden vielfach Grenzschicksale u. a. vermindert Zurechnungsfähige ermittelt werden, die nicht bzw. noch nicht für die Aufnahme in einer Heil- und Pflegeanstalt in Frage kommen. Für den Vollzug können diese Menschen eine außergewöhnliche Belastung sein, und der Wunsch, sie in Sonderanstalten zu bringen, ist verständlich. Der Differenzierung in solchen Sonderanstalten sind im gegenwärtigen Zeitpunkt vielfach durch die finanzielle Lage Grenzen gesetzt. Solange aber die Anstalten gezwungen sind, diese schwierigen Gefangenen zu behalten, ist der Versuch zu machen, innerhalb der vorhandenen Anstalten zu differenzieren und zwar durch Schaffen geeigneter Erziehungsgruppen, in welchen auch die möglichst voneinander getrennten, vereinzelten schwierigen Elemente tragbar sind. Inwieweit diese schwierigen Elemente in den Erziehungsgruppen tragbar sind, hängt auch davon ab, ob ausreichend Fachkräfte zur Verfügung gestellt werden. Auch die Frage der Sicherungsverwahrung ist in diesem Zusammenhang zu beachten, und das Problem eines Verwahrungsgesetzes erhält besondere Bedeutung. 6. Derjenige, der nach eingehender Persönlichkeitserforschung den gemeinsamen Willen aller Fachkräfte, wie er sich in dem aufzustellenden Behandlungs- bzw. Lebensplan ausdrückt, verantwortlich durch-
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führt, sollte ein Sozialpädagoge sein. Dieser "Erziehungsleiter" wird nach Vervollkommnung der Forschung und nach Erhöhung der Zahl der Erziehungsgruppenleiter besser in der Lage sein, die Aufgaben zu erfüllen als bisher. Diese Sozialpädagogen leben in ständigem Zusammenwirken mit den einzelnen Fachvertretern und stehen gewissermaßen unter Kontrolle aller Beteiligten. Es handelt sich ja bei der Persönlichkeitserforschung und der folgenden Behandlung nicht um einen wissenschaftlichen Versuch, der wie im Chemisch-Technischen einfach abläuft, .sondern um Hilfe am Menschen, der unter der Rechtsstrafe steht. 7. Eine besondere Schwierigkeit, sich allen an der Erforschung und der Anwendung ihrer Ergebnisse im Strafvollzug Beteiligten verständlich zu machen, liegt in der Fachsprache. Alle diese Sozialarbeiter (s. Ziffer 4) müssen in die Lage versetzt werden,neue Begriffe, die zur Verständigung über die Gefangenenbehandlung notwendig sind, aufzunehmen. Hierzu dient die Aus- und Fortbildung der Beamtenschaft. Fremdworte, insbesondere solche, die zur juristischen und medizinischen oder soziologischen und sozialpädagogischen Fachwissenschaft gehören, sind möglichst zu vermeiden. 8. Wesentlich ist auch der Standort des Erforschenden selbst. Er muß sich selbst darüber klar werden, von welchem Menschenbild er ausgeht, vom christlichen, vom humanitären, vom kollektivistischen oder von welchem sonst auch immer. Dieser Standort wird selbstverständlich sein Forschen beeinflussen. 9. Nur bei echter Zusammenarbeit und nach Erwerb mancher Kenntnisse auch eines Wissens um die Entwicklung der Persönlichkeitserforschung im deutschen Gefängniswesen wird nach Erfüllung zahlreicher weiterer Voraussetzungen für einen menschenwürdigen Strafvollzug auch die Gefahr vermieden, daß der eine oder andere, dem im Strafvollzug Macht gegeben ist, diese Macht mißbraucht. Von einem Diktat der Menschenverachtung kann dann keine Rede mehr sein. Jeder Strafvollzugsbeamte muß wissen, daß er Diener am Einzelnen und zugleich Diener an der Gesamtheit ist.
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3. Die Mitwirkung des Deutschen Vereins an der StraffaIligenhilfe* Neben dem Staat beginnt die Gesellschaft sich in den mannigfachsten Formen auch öffentlich-rechtlich zu verfassen.
Gustav Radbruch
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Der vorliegende Beitrag zur Festschrift des "Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge" möchte darlegen, in welcher Weise dieser Zusammenschluß auch die gesellschaftliche Hilfe für erwachsene und jugendliche Rechtsbrecher, die staatlichen Strafmaßnahmen unterworfen werden, zu seiner Aufgabe machte, heute noch anregt und künftig beeinflussen kann. I
Kurz nach Ablauf des ersten Jahrzehnts des Bestehens des DV beschäftigte sich die XIII. Jahresversammlung 1893 in Görlitz mit dem Thema "Die Fürsorge für entlassene Sträflinge". Die bei den Referenten, Rechtsanwalt Herse und Pfarrer Schlosser, äußerten sich vor den mündlichen Verhandlungen in umfassenden gedruckten Referaten. Sie nahmen dann während der Tagung ergänzend zu dem Problem Stellung, trugen ihre sorgfältig ausgearbeiteten Thesen, die fast unverändert von der Versammlung angenommen wurden, vor und grenzten die Ziele des DV in dieser Sonderfrage von denen der ,bereits bestehenden Fachorganisationen, wie den Gefängnisgesellschaften, der Versammlung der Strafanstaltsbeamten, den verschiedenen nationalen und internationalen Vereinigungen für Reform der Gefängnisse und des Strafrechts usw. klar und eindrucksvoll ab. Ebenso eindrucksvoll begründeten sie die Notwendigkeit, sich im DV mit Fragen der Straffälligenhilfe zu befassen! - Die Referenten erklärten dabei, der DVerörtert diese Fragen nicht vom "speciell technischen", sondern von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus, denn der Zweck des "Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit" ist ja nach § 1 seiner Satzung: Zusammenfassung der zerstreuten Reformbestrebungen, welche auf dem Gebiet der Armenpflege und Wohltätigkeit hervortreten, und fortgesetzte gegenseitige Aufklärung der auf diesem Gebiet tätigen Personen. • Erschienen in: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Fürsorge. 75 Jahre Deutscher Verein. Köln-Berlin. 1955. S. 373 - 405.
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Sie folgern weiter - und finden darin die Zustimmung der Versammlung: Keinem Werk kann es deshalb willkommener sein, wenn der DV ihm mit diesen Bestrebungen dient, als der Fürsorge für entlassene Gefangene .. Denn einmal ist kein Werk mehr darauf angewiesen, mit allen sonstigen Veranstaltungen der Wohltätigkeit, namentlich der Armenpflege, der öffentlichen und der privaten und vor allem allen Veranstaltungen prophylaktischer Art zusammenzuarbeiten, als diese Fürsorge; und zum anderen bedarf kein Werk gegenwärtig noch so sehr der Fürsprache bei der öffentlichen Meinung wie dieses (2). Welche Fülle von Aufgaben lassen die Sätze erkennen, nicht nur die der Straffälligenhilfe selbst, sondern auch die in dem größeren Zusammenhang, und dies nicht zuletzt, weil sich seit der Gründung der ersten deutschen Fachorganisation, der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft durch P. Fliedner 1826, das vorhandene Interesse der Öffentlichkeit an der Straffälligenhilfe in den neunziger Jahren des XIX. Jhs. offenbar erheblich gemindert hatte. In seinem Schlußwort zur Görlitzer Tagung stellte der damalige Vorsitzende des DV, Dr. Münsterberg, fest: "bei der Fürsorge für entlassene Strafgefangene handelt es sich entweder um Armenpflege im gewöhnlichen Sinne des Wortes, oder doch um die Anwendung der leitenden Gedanken der modernen Armenpflege auf Einzelerscheinungen, die wie bei arbeitskräftigen Sträflingen aus sozialpolitischen Gründen analoger Behandlung bedürfen (3)." Hier klingen die größeren Gesichtspunkte an, die an Forderungen des bedeutendsten deutschen Strafrechtserneuerers der Zeit, an Franz von Liszt, erinnern, der bereits in jenen Jahren lehrte, was er 1898 in seinem Vortrag: "Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung" formulierte: Eine auf Hebung der gesamten Lage der arbeitenden Klassen ruhig, aber sicher abzielende Sozialpolitik, stellt zugleich auch die beste und wirksamste Kriminalpolitik dar" (4). Dabei sei dahingestellt, ob kriminologisch gesehen diese Betrachtung erschöpfend ist. Vom Standpunkt der Fürsorge her, die ja im Gegensatz zur Kriminologie, ähnlich wie die Kriminalpolitik mit "Werten" arbeitet, wies der Referent P. Schlosser auf der Görlitzer Tagung auch immer wieder auf die "Menschen- und Christenpflicht" zur Hilfe an den aus der Strafhaft Entlassenen hin (5). Gelegentlich der letzten größeren vom DV einberufenen Konferenz in Mainz am 31. März 1954, die sich mit Fragen der Hilfe für den Straffälligen befaßte und das Sonderthema "Bewährungshilfe" behandelte - nachdem durch das 111. JGG von 1953 und 111. Strafrechtsänderungsgesetz aus dem gleichen Jahre eine bedeutsame strafrechtliche Reform durchgeführt worden war - wies der Vorsitzende des DV, Prof. Muthe29·
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sius, einleitend darauf hin, daß die Zusammenkunft die "Erfüllung eines langgehegten Wunsches sei: Richter und Fürsorger in einem unmittelbaren Gespräch über ihre gemeinsamen Aufgaben zu vereinen" (6). Bei beiden Versammlungen, der von 1893 und der von 1954, ging es um das gleiche Problem: die Behandlung des straffällig Gewordenen, aber es ging auch noch darüber hinaus darum, wer Träger der Aufgaben der Straffälligenhilfe wird. Münsterberg sprach von "Armenpflege" im allgemeinen, Muthesius erwähnte "Richter" und "Fürsorger" als gleichberechtigte Partner. Es ist nicht mehr allein Aufgabe der Armenpflege oder der Fürsorge heute, Straffälligenhilfe zu fördern oder selbst zu treiben, denn - und hierin liegt wohl das Bedeutsamste - auch die Strafrechtspflege wirkt mit an dieser gesellschaftlichen Aufgabe. Zu klären ist, mit welchem Ziel und in welcher Form erfolgt die Zusammenarbeit von "Fürsorge" und "Justiz" an und in der Straffälligenhilfe. Dabei wird der Begriff "Hilfe" hier verwendet im Sinne der Anpassung auf den Einzelfall (7). In dieser Fragestellung sind auch in gewissem Umfange die Gegensatzpaare: der einzelne und das Ganze, Erziehung und Hilfe gegenüber Strafe im Rahmen der staatlichen Strafrechtspflege, weiter Straffälligenhilfe durch behördliche oder durch freie Organe, sowie nicht zuletzt: Sozialpolitik und Kriminalpolitik enthalten. Es sei hier vorweggenommen: ohne Verwischung der Grenzen zwischen Strafrecht und Fürsorge kann im Interesse der Hilfsbe':' dürftigen allein die rechte Synthese eine Lösung bringen, und hierin liegt die Kunst der Strafrechtspflege und der Straffälligenhilfe! Im Laufe des 75jährigen Bestehens des DV wurden Fragen der Straffälligenhilfe im großen sozialpolitischen Rahmen auf verschiedenen seiner Tagungen wie in Görlitz 1893 (8), in Königsberg 1910 (9), in Hamburg 1927 (10), in Würzburg 1938 (ll) und in Stuttgart 1952 (12) behandelt. Stets wurden dabei auch Einzelfragen, aber nur im Rahmen der Bestrebungen des DV erörtert und bewußt das Sonderproblem der Hilfe an Straffälligen, insbesondere innerhalb des Freiheitsentzuges, den sich damit befassenden Sondervereinigungen auf nationaler und übernationaler Basis - wie dies bereits 1893 mit Recht betont wurde überlassen (13). Die Arbeitsergebnisse fanden ihren literarischen Niederschlag in den "Schriften" und im "Nachrichtendienst" des Vereins. Stets waren sich die Verantwortlichen bewußt, als Dachorganisation der öffentlichen und privaten Fürsorge berufen zu sein, Fragen, die in Fachvereinigungen behandelt, insbesondere auch solche, die umstritten waren, mit Befürwortern und Gegnern der vorgeschlagenen Lösung gemeinsam zu erörtern, so z. B. "die soziale Gerichtshilfe" von Prof. Muthesius gelegentlich der Tagung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung in Breslau 1929 oder "die Bewährungshilfe" auf der
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bereits erwähnten Sondertagung des DV in Mainz 1954. Dabei· erfolgte keine Verwischung der Grenze zwischen: Strafrecht und Fürsorge, d. h. hier: Strafrechtspflege und Straffälligenhilfe, auf welche Gefahr auch Frau Dr. PolZigkeit-Eiserhardt hingewiesen hatte (14). Vielmehr war und blieb das Bestreben, eine geistige Plattform zur Aussprache in echter Arbeitsgemeinschaft zu schaffen (15). Die bereits genannten oder neu aufgetauchten Spannungsverhältnisse sollten dabei erkannt und soweit angängig zur Synthese gebracht werden. Es kann nicht mein Bestreben sein, eine lückenlose Bestandsaufnahme dessen zu bringen, was alles zum Problem "Straffälligenhilfe" im Rahmen des DV bisher erörtert und angeregt wurde; mir liegt daran, im folgenden einige Grundgedanken herauszustellen, die für die Gesamtauffassung erarbeitet wurden, und gleichzeitig auf kommende Aufgaben hinzuweisen. Quellen zur vorliegenden Abhandlung sind vor allem die Veröffentlichungen des Vereins, seine Schriften in verschiedenen Folgen, die Tagungsberichte, die Beiträge zum Nachrichtendienst und schriftliche oder mündliche Ausführungen seiner führenden Mitglieder. Dabei liegt mir daran, deutlich werden zu lassen, wie ernsthaft das Bemühen aller Beteiligten auch auf dem Sondergebiet der Straffälligenhilfe war und wo Pionierleistungen oder Anregungen hierzu vom DV ausgingen. II
In der Straffälligenhilfe ist auch heute noch Vieles umstritten, und es fehlt vor allem an einer gesetzlichen Regelung, so einem deutschen Strafvollzugsgesetz, zum mindesten an Richtlinien für den Vollzug der Freiheitsstrafe in den einzelnen Ländern. Damit sollte keineswegs der Ländervollzug in seiner Entfaltung gehemmt werden. Die seit Schaffen der Reichsstrafgesetzgebung geplanten Gesetzentwürfe z. B. der von 1927 für den Strafvollzug (16) könnte hierfür wegweisend sein! Denn Vereinbarungen allein reichen kaum mehr aus. Liegt hier auch ein Arbeitsfeld für den DV? Es soll hier nicht auf den Strafrechts-Schulenstreit eingegangen, sondern nur kurz herausgestellt werden, welchen Zweck die staatliche Strafmaßnahme als solche, vor allem die so tief in das Leben des Rechtsbrechers eingreifende Freiheitsstrafe haben kann. Denn danach richtet sich ja sinngemäß auch die Hilfe für den Straffälligen. Das Wort Fürsorge ist in der vorliegenden Darstellung bewußt und weitgehend vermieden, weil es zu Unklarheiten Anlaß zu geben vermag. Einmal meint man ein Grundprinzip des Helfens, wie es in jeder menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielt, und auf der anderen Seite bezeichnet man einen bestimmten Teil der öffentlichen Verwaltung (17).
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In der Straffälligenhilfe geht es um das Fürsorgeprinzip der Gesellschaft. Die Gefangenschaft ist nach Freudenthal ein Rechtsverhältnis: Der Staat ist auf Grund des rechtskräftigen richterlichen Urteils berechtigt, dem Gefangenen bestimmte Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit aufzuerlegen. Das Wesen der Freiheitsstrafe besteht also in der Beschränkung der Freiheit und nichts anderem! Freudenthal fordert dementsprechend: reiner als im geltenden Rechte wird in einem künftigen Vollzugsgesetz zum Ausdruck kommen müssen, daß im Rahmen des Erreichbaren, die Freiheitsstrafe nur zur Beschränkung der Freiheit, und daß sie ausschließlich den zu ihr Verurteilten treffen soll (18). Die Worte Freudenthals besagen es zunächst nicht, daß das Ziel "Erziehung des Verbrechers zum gesetzmäßigen Leben" unvereinbar sei mit den durch den Rechtsstaat geforderten Garantien (19). - Wie die Freiheitsstrafe keine Strafe an der Gesundheit werden darf, so soll die Freiheitsstrafe auch keine Strafe am Vermögen werden, natürlich wieder, soweit dies praktisch erreichbar ist. Das ist ein Gesichtspunkt, der ... auf die Schaffung eines Systems produktiver Gefängnisarbeit hindrängt. - Die Strafe darf auch grundsätzlich keinen als den Verurteilten treffen und alle irgendwie abwendbaren, schädlichen Wirkungen für unschuldige Dritte, so für die Familie des Gefangenen, für das Opfer des Verbrechens und dessen Familie, wird das künftige Gesetz auszuschalten bemüht sein müssen (20). Diese Gedanken, die bereits 1888 in der von v. Liszt, van Hamel und Prins gegründeten. IKV erörtert wurden (21), finden in der Gegenwart ihre Fortführung in der "Lehre von der sozialen Verteidigung", wobei sich diese "soziale Verteidigung" vom klassischen Strafrecht durch Ablehnung metaphysischer und apriorischer Gedanken unterscheidet. Die soziale Verteidigung sucht ein Gleichgewicht zwischen Individuum und Gesellschaft durch eine Kriminalpolitik zu erreichen, die auch der Gesellschaft Pflichten auferlegt (22). Die Folgerung hieraus ist eine auf Vorbeugung und Resozialisierung aufgebaute Kriminalpolitik, wobei der Schutz der Gesellschaft und des einzelnen nur nach wissenschaftlicher Persönlichkeitserforschung des Beschuldigten und durch die Auswahl derjenigen Maßregeln erreicht werden kann, die der Eigenart der Persönlichkeit angepaßt sind (23). Für den Vollzug der Freiheitsentziehung selbst werden klare Richtlinien angestrebt. Das alle Teilzwecke einschließlich Gesamtziel des Strafrechts liegt im Schutze der Gesellschaft. Strafrecht ist Schutzrecht und die Strafe eine Schutzmaßregel gegen gefährliches Tun gefährlicher Menschen. - Der Begriff der "Gefährlichkeit" tritt dabei als Voraussetzung der Strafe an die Stelle des Begriffs der "Schuld", wobei bewußt auf Ideen Ferri's Bezug genommen wird (24). Damit gewinnt aber wiederum die
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Straffälligenhilfe einen neuen Sinn, der nicht mehr "Besserung" und "Erziehung" durch Zwang einschließt, sondern echte Hilfe zur Selbsthilfe durch Bereithaltung von Möglichkeiten der Selbsthilfe jedem Straffälliggewordenen gewährt. Das ist bei der Behandlung des Straffälligen ein entscheidender Wendepunkt, nicht mehr mit Zwang, mit repressiven Mitteln "bessern" und "erziehen" zu wollen wie in einem früher durchgeführten Strafrecht und Strafvollzug, sondern im Bereitsein zu helfen, sich selbst zu helfen. Unter diesem Aspekt gewinnen alle Bemühungen der Straffälligenhilfe ein gewandeltes Aussehen. Wird ein Strafmündiger zum Rechtsbrecher, so treten je nach der Straftat nicht nur nacheinander die strafverfolgenden, straferkennenden und strafvollziehenden Instanzen der Strafrechtspflege in Tätigkeit, sondern es haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gesellschaftliche Einrichtungen entwickelt, die jene staatlichen Strafmaßnahmen begleiten. Denn neben dem Staat beginnt die Gesellschaft sich in den mannigfachsten Formen auch öffentlichrechtlich zu verfassen (25) auf unserem Sondergebiet z. B. in Ermittlungshilfe, Bewährungshilfe, Strafanstalts- und Entlassenenfürsorge. Hier liegt das Kernproblem, hier begegnen sich die Bestrebungen des DV mit denen der gekennzeichneten Straffälligenhilfe. Zu diesen Teilgebieten gesellschaftlicher Mitarbeit im Rahmen der Strafrechtspflege gehören in sorgfältig abzugrenzenden Bereichen z. B.: a) die Ermittlungshilfe, die nicht im Konflikt hier für das Gericht oder dort für den Angeklagten, wohl aber in der Spannung Wahrheitsfindung oder Verdunkelung steht; b) die Strafaussetzung auf Bewährung bei Erwachsenen nach § 23 (111. Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. August 1953), damit der Verurteilte durch "gute Führung" während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen kann. Dazu die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung (§§ 20 - 26 JGG v. 1953) und Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe zur Bewährung (§§ 27 - 30 JGG von 1953). Der Bewährungshelfer ist eine Kraft der gesellschaftlichen Hilfe; c) die Untersuchungshaft, die nur den Zwecken dient, die Flucht des Beschuldigten oder die Verdunkelung des Sachverhalts zu verhüten (§ 112 (1) StPO, UVollzO (Nr. 1). Sie hält ausschließlich den Erwachsenen für den Untersuchungsrichter bereit und verzichtet auf Beeinflussung jeglicher Art, den Jugendlichen dagegen versucht sie durch "erzieherische Gestaltung" (UVollzO Nr. 80) vor den nachteiligen Einflüssen der UHaft zu schützen und bei jungen Gefangenen Klarheit zu gewinnen über die Persönlichkeit des Täters (UVollzO Nr.79);
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d) die Fürsorge für den Strafgefangenen in der Anstalt selbst durch Einrichtung geeigneter Arbeitsbetriebe, wobei Unternehmer aus der freien Wirtschaft unter Berücksichtigung von Rentabilität und Förderung Arbeitsgelegenheiten schaffen, und weiter Vertreter der Gesellschaft durch ehrenamtliche Mitwirkung bei Unterricht und Freizeitgestaltung durch Anregung zu eigener Tätigkeit und Selbsterziehung helfen; e) die Betreuung der Angehörigen während der Strafzeit und die Förderung der Pflege von bewährten Verbindungen zwischen den Angehörigen und dem Straffälligen, um ihm nach der Entlassung die Rückkehr in geordnete Verhältnisse zu erleichtern; f) die Strafentlassenenfürsorge entweder als "Bewährungshilfe" nach Teilvollzug oder als noch dringendere Hilfestellung nach Gesamtvollzug im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Fachorganisationen. Bei dieser Aufzählung soll bereits deutlich werden, wo die Aufgaben und Leistungen der Straffälligenhilfe innerhalb und außerhalb der Vollzugsanstalten liegen. Es ist darüber im einzelnen noch ausführlicher zu berichten. Schon jetzt sei hervorgehoben: Innerhalb der Strafanstalt kann es sich vorwiegend um geistige Hilfe handeln, da eine materielle Not für den Gefangenen in staatlichem Gewahrsam nicht bestehen darf. Sein Existenzminimum muß, wenn auch in noch so bescheidener Form, gesichert sein. Außerhalb der Strafanstalt liegen die Voraussetzungen anders. Hier tritt neben die geistige Hilfe die sehr reale durch Vermittlung von Arbeit und Unterkunft und die Fürsorge für die Angehörigen. Die Vorbereitungen hierfür beginnen am Anfang des Vollzuges in der Anstalt, denn nur der recht für die Entlassung und die Zeit danach Vorbereitete wird bestehen. Das gilt auch für die Bewährungshilfe. Bei der Tätigkeit der Ermittlungshilfe, sei es innerhalb oder außerhalb der Untersuchungshaft, hat bereits eine echte Hilfe einzusetzen mit dem Ziele der Förderung des Probanden in jeder Hinsicht, vor allem aber auch seiner Familie. Die Angehörigenhilfe hat in jedem Stadium des Verfahrens neben der geistigen ihre materielle Seite.
111 Die Mitwirkung des DV an der Förderung der Straffälligenhilfe kann, wie schon betont, hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Anregungen für die breite Öffentlichkeit, für die Fachwelt und den Gesetzgeber wurden verschiedentlich gegeben, sie sollen soweit möglich bei den Einzelgebieten erwähnt werden. a) Die Ermittlungshilfe bei dem straffällig gewordenen Jugendlichen wurde vom DV folgerichtig nicht vom Strafrecht her, sondern von der
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Jugendfürsorge her gesehen und dementsprechende Maßnahmen vorgeschlagen. Zur Vorbereitung der Verhandlungen der 30. Jahresversammlung in Königsberg 1910 arbeitete Bürgermeister Dr. SchmidtMainz einen Bericht aus über "Die Organisation der Jugendfürsorge", in welchem im Abschnitt: "Die Schutz- und Erziehungsfürsorge für Kinder und Jugendliche" auch die "Fürsorge für straffällige Jugendliche" behandelt wurde (26). Schmidt hatte nach dem damaligen Stand ermittelt: die bestehenden Jugendgerichtshilfeorganisationen befassen sich mit der Frage der Einsichtsfähigkeit der straffällig gewordenen Minderjährigen, beschäftigen sich deshalb mit den persönlichen Verhältnissen des Kindes und seiner Umgebung, und legen das Ermittlungsergebnis in Form von Gutachten den Jugendgerichtshöfen vor. Weiter kennzeichnete Schmidt als Tätigkeitsfeld der Jugendgerichtshilfe die Schutzaufsicht über die mit dem Strafgesetz in Berührung gekommenen Jugendlichen. Er verwies auf das Referat von Dr. Polligkeit: "Wie organisiert und übt man am zweckmäßigsten die Schutzaufsicht nach der Hauptverhandlung aus?", gehalten anläßlich des von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge einberufenen ersten Deutschen Jugendgerichtstages 1909 in Berlin (27). Polligkeit ging davon aus, daß die Schutzaufsicht sowohl Behütung und Betreuung von Kindern ist, die vor dem Jugendgericht standen - sie ist damit in den Dienst der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik gestellt wordenals auch ein gut Stück Erziehungsarbeit. Aus den Erfahrungen in Frankfurt a. Main folgerte Polligkeit, daß ein Vorzug der bei einer Zentralstelle organisierten Ermittlungstätigkeit zunächst in dem Sammeln von Erfahrungen liege. Dabei habe sich ergeben, daß in vielen Fällen der Straffälligkeit immer dieselben Ursachen zugrunde liegen und daß zur Bekämpfung der Verwahrlosung und der Kriminalität von Jugendlichen allgemeine Lösungsmöglichkeiten gesucht und versucht werden müßten. Weiter berichtete Polligkeit, das Nach- und Nebeneinander von Ermittlungshilfe (Diagnose) und Schutzaufsicht (Therapie) habe sich bewährt. "Das organische Zusammenarbeiten von Richter, Staatsanwalt und Helfern ist das, was unser Frankfurter Jugendgerichtsverfahren kennzeichnet und was m. E die unbedingte Voraussetzung irgendeines Jugendgerichtsverfahrens ist." In diesem Zusammenhang erwähnte Polligkeit auch Aufgaben der Schutzaufsicht in den USA, prüfte die Stellung des Probation officer und stellte die Frage, ob und wie wir dieses Institut auf deutsche Verhältnisse übertragen könnten. Bei der überprüfung der drei damals gegebenen Möglichkeiten: Probation officer als Organ des Gemeindewaisenrates oder der Polizei oder der Berufsvormundschaft entschied sich Polligkeit für die Berufsvormundschaft, weil sich dort vor allem eine "vernünftige Individualisierung" erreichen ließe. PolZigkeit kenn-
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zeichnete weiter den Verein "Kinderschutz" in Frankfurt a. Main als Träger der Schutzaufsicht, der die Berufsvormundschaft als Sammelvormundschaft organisiert habe, wobei "sein Kollege Prof. Klumker oder er selbst" in jedem Falle besonders zum Vormund oder Pfleger bestellt worden sei. Die Berufsvormundschaft wurde also als die geeignetste Organisationsform der Schutzaufsicht angesehen und ihre Subventionierung aus öffentlichen Mitteln für unerläßlich gehalten. Gegen Ende seiner Ausführungen betonte Polligkeit, daß die Erfolge beim Jugendgericht gezeigt hätten, wie unbedingt nötig eine umfassende Organisation der Jugendfürsorge unter Einbeziehung der Fürsorge für straffällige Jugendliche ist. Sie soll jedoch nicht so straff und starr sein, daß sie der individualisierenden Behandlung nicht genügend Spielraum läßt. Von dem I. Deutschen Jugendgerichtstag in Berlin 1909, der 30. Jahresversammlung des DV in Königsberg 1910, spannt sich über die Zeit des ersten Weltkrieges der Bogen bis zur Verkündung des RJWG 1922 (28) und des RJGG 1923. In diesen beiden Gesetzen wird die Stellung des straffälligen Jugendlichen im Rahmen der Jugendfürsorge geklärt und die Fragen der Jugendgerichtshilfe (§ 22) sowie der Schutzaufsicht geregelt. Das neu geschaffene Jugendamt nimmt als Organ der öffentlichen Jugendgerichtshilfe nach dem Gesetz eine bevorzugte Stell