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German Pages 161 [172] Year 1964
A. Ohm • Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug
Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug Auswirkungen von Strafen und Maßnahmen
von Dr. phil. A. Ohm
WALTER
DE G R U Y T E R & CO.
vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung / J . Gutcentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp.
B E R L I N 1964
© Copyright 1964 by Walter de Gruyter & C o , vormals G.J.Göschen'sche Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp., Berlin 30 — Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, und der Ubersetzung vorbehalten. Archiv-Nummer 5612641. Printed in Germany. Satz und Druck: Franz Spiller, Berlin 36
V O R W O R T Die vorliegende Arbeit ist der Ertrag einer 27jährigen Tätigkeit im Justizvollzugsdienst, ausgeübt in den verschiedensten Anstalten: Untersuchungshaftanstalt, Jugend-, Männer- und Frauengefängnis sowie Zuchthaus. Eine erste Veröffentlichung in Gestalt einer Doktordissertation „Die Entwicklung der sozialen Person während der Untersuchungshaft" aus dem Jahre 1939 fiel dem Bombenhagel zum Opfer und gelangte nicht zur Kenntnis der wissenschaftlichen Welt. Die im Verlag J . A. Barth zu Leipzig lagernden Bestände wurden durch Kriegseinwirkung vernichtet. Neue schmerzliche Einbußen brachte ein schwerer Luftangriff auf das Zellengefängnis in Berlin im November 1943, in dessen Verlauf das Büro bis auf die Grundmauern niederbrannte. Im Tresor einer Stahlkammer sichergeglaubte Übersichten, Namensverzeichnisse. Extrakte langjähriger Beobachtungen flogen bei Sprengungen in die Luft; nur angesengte, verkohlte Fetzen blieben übrig. Die Rekonstruktion des alten und die Sammlung von neuem Material wurden betrieben, um aus der Empirie einen Beitrag zu der immer lebhafter werdenden Debatte über die Weiterentwicklung des Strafvollzuges zu liefern. Jeder der 5 Teile dieser Arbeit, anschließend aufgeführt, spiegelt die jeweilige Tätigkeit des Verfassers in den verschiedenen Anstalten wider. Der Wechsel der wissenschaftlichen Anschauungen und Strafvollzugsmethoden im Verlauf von fast 3 Jahrzehnten, zum Teil bedingt durch den Wechsel der politischen Systeme, die große Mannigfaltigkeit der gerichtlichen Entscheidungen und der Art ihrer Durchführungen machten es schwer, kurze, zusammenfassende Überschriften zu finden. Aber die Reaktion der betroffenen Menschen und ihre Haltung war trotz des Wechsels immer im wesentlichen dieselbe, wenn auch je nach Härte oder Weichheit des gesteuerten Kurses mit größerem oder geringerem Ausschlag. U m eine Lücke in der Kriminologie schließen zu helfen, ist dem bisher wenig beachteten Traumleben der Gefangenen ein besonderes Kapitel gewidmet. Die Wandlungen unter dem Todesurteil wurden bereits in einer 1956 erschienenen Studie dargestellt. Möge es der nächsten Generation vergönnt sein, eine durch den Fortschritt unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich und notwendig gewordene Weiterentwicklung der Strafvollzugsproblematik in ruhigeren Zeiten betreiben zu können. Anfang 1964
Der
Verfasser
ÜBERSICHT
ÜBER
DIE
5
TEILE Seite
I. Wandlungen während der Untersuchungshaft II. Wandlungen
1 57
I I I . Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe . .
75
IV. Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
97
V. Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen). . 135 Abschließende Zusammenfassung
160
* Die Grenze zwischen der kurzen und der langen Strafe liegt bei 5 Jahren. Professor Baan (Utrecht) weist in seinem Artikel „Die Gefahr seelischer Mißbildungen" (Studien über „de lange gevangnisstraf" aus dem Kriminologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht 1957) darauf hin, daß der Begriff „lang" sehr individuell aufzufassen ist. „Schon einige Monate können von manchen als lang und hart empfunden werden, während in anderen Fällen jahrelange Strafen ganz wirkungslos bleiben. Es gibt keine Linie". Für seine Untersuchungen hat er eine untere Grenze von 5 Jahren gesetzt. „Ein Langbestrafter ist der, welcher 5 Jahre oder mehr zu verbüßen hat. Eingeschlossen ist die lebenslängliche Strafe". Die gleiche Grenzziehung liegt auch dieser Studie zu Grunde. Mit Absicht ist sie gewählt worden, um zu einer Gleichartigkeit des Vorgehens zu gelangen und vergleichende Ergebnisse zu ermöglichen.
I
Wandlungen während der Untersuchungshaft
INHALTSÜBERSICHT Seite
Einleitung
3
§ 1
Literatur und Problemstellung
§ 2
Untersuchte Personen, Methode der Untersuchung, Einzelfragen
Kapitel
I. Die soziale Person in ihrem bisherigen Kreis
3 10 15
§ 3
Der soziale Raum vor der Verhaftung
15
§ 4
Die Phänomenologie der Vorgeschichte
18
Kapitel § 5
II. Der Krisenverlauf
in der Untersuchungshaft
19
Der äußere Modus der Untersudiungshaft und die drei Hauptphasen
19
§ 6
Verhaftung und Anfangszeit
21
§ 7
Zustellung der Anklageschrift und Terminankündigung
36
§ 8
Termin und Ausgang
41
Kapitel III. Die Wandlungen der sozialen Person in der
l
Ohm
Untersuchungshaft
48
§ 9
Infantilismus, Pseudosozietät, Verhältnis zu Raum und Zeit . .
48
§ 10
Die Verschiedenartigkeit der Haltungsstile
53
§ 11
Schlußfolgerungen
54
E I N L E I T U N G § 1
Literatur und
Problemstellung
1. Systematische Untersuchungen über die Psyche des Untersuchungshäftlings und des erstmalig Inhaftierten liegen bis heute noch nicht vor. Dennoch ist die psychologische Besonderheit der Untersuchungshaft früh erkannt, und immer wieder sind von vielen Autoren eingehende psychologische Analysen des Untersuchungshäftlings und des Erstinhaftierten gefordert worden. Die Untersuchungshaft (U. H . ) bietet nach zwei Seiten wichtiges psychologisches Material. Zunächst verspricht sie einen Einblick in die Psychologie des Verbrechers, der in der U . H . zum ersten Mal mit voller Realität die Auswirkung seiner asozialen oder antisozialen Haltung zu verspüren beginnt und im Laufe der häufig monatelangen U . H . gezwungen ist, sich mit seinem Verbrechen, der Strafandrohung und evtl. der Strafe auseinanderzusetzen. Zum anderen stellt, sozialpsychologisch gesehen, die U . H . ein ganz eigenartiges einmaliges Lebensexperiment dar. Menschen, die bisher in täglichem sozialen Kontakt mit Anderen gelebt und täglich sich mit Menschen im Guten oder Bösen auseinandergesetzt haben, in jedem Moment Äußerungen anderer erfahren und selbst auf andere eingewirkt haben, werden nun schlagartig isoliert und von ihrem gesamten sozialen Feld abgetrennt. Eine solche Situation muß auf jeden Menschen zunächst überraschend wirken und stellt für jeden, gleichgültig, ob schuldig oder unschuldig, ob lebenskämpferisch oder feig eingestellt, eine besondere Anforderung dar, die als solche erst einmal bewältigt werden muß. Im weiten Bereich der sozialen Psychologie gibt es nur wenige Situationen, die in ähnlicher Form diesen Charakter eines radikalen Experiments haben wie die U. H . , zumal für den erstmalig Inhaftierten. Allgemeine Erfahrung zeigt, wie später noch ausführlich dargestellt wird, daß die Bewältigung dieser Radikalsituation in Stufen verläuft und die Persönlichkeit des Untersuchungshäftlings im Laufe der U. H . ein spezifisch psychologisches Schicksal sowie dementsprechend eine spezifische Formung erfährt. Die Wandlung der sozialen Person des Untersuchungshäftlings, ihre Abhängigkeit von der Struktur der Person und von der jeweiligen Besonderheit der Lebensituation aufzuweisen, ist die Aufgabe dieser Arbeit. l*
4
Wandlungen während der Untersuchungshaft
Dabei darf eines vorausgenommen werden: je intensiver der Forscher sich mit dem Schicksal und der Persönlichkeit der einzelnen beschäftigt, je umfassender sein psychologischer Blick wird, um so mannigfaltiger und farbenreicher wird das Material. Gelegentlich schien es so, als ob es überhaupt kaum möglich wäre, allgemeine Grundlinien der Psychologie des Untersuchungshäftlings herauszufinden. Kaum eine Lebenshaltung ist zu verzeichnen, der eine extrem entgegengesetzte nicht gegenüberzustellen wäre. Es muß daher gewarnt werden, aus der Analyse einzelner weniger Fälle allgemeine Schlüsse auf die Psychologie des Untersuchungshäftlings zu ziehen; ebenso ist es nicht hinreichend, die bisher verwendeten Methoden, die literarischen Selbstbekenntnisse einzelner Untersuchungshäftlinge, wie sie in der Weltliteratur nicht allzu selten aufzufinden sind, zur Grundlage kriminal-psychologischer Studien zu machen. Solche literarischen Selbstbekenntnisse können nur hier und da interessante Streiflichter auf die Frage werfen. Für eine wirklich wissenschaftlich gesicherte Psychologie der U. H . reichen sie nicht aus. Es ist vielmehr notwendig, hier den Weg der empirischen Forschung zu gehen und aus täglichem Kontakt mit den Untersuchungshäftlingen wie aus der Praxis täglicher Arbeit im Untersuchungsgefängnis die Grundlage einer Psychologie herauszustellen. 2. Diese Forderung völliger Wirklichkeitsnähe der Kriminalpsychologie ist in den älteren Schriften zwar häufig als Programmpunkt und als methodische Forderung aufgestellt, in der Praxis der Forschung aber bisher nur in einem Fall (Bloem) verwirklicht worden. Fritz Auer1 hat in seine Sammlung von Selbstschilderungen ehemaliger Gefangener auch 10 Darstellungen früherer Untersuchungshäftlinge aufgenommen. Dr. Hugo Marx2 führt in einem Vortrag zur Psychologie der U. H . aus: „Mir ist das eine klar geworden, daß es eine wissenschaftlich wohlfundierte Psychologie der U. H . bis dato nicht gibt". Es sollen auch von ihm nur Wege und Ziele für zukünftige Untersuchungen festgelegt werden. Die Psychologie der U. H. will er als einen ganz integrierenden Teil der Kriminalpsychologie angesehen wissen, obwohl bekannte Grundrisse das Wort „Untersuchungshaft" nicht einmal überall im Sachregister aufgeführt haben. Er hält jahrelange Arbeit vieler für notwendig, um den Gegenstand zu erschöpfen. Erich Wulfen3 beabsichtigt in seinem umfangreichen Werk „Kriminalpsychologie" auch eine „subjektive Kriminalpsychologie" zu geben, die das Seelenleben des Verbrechers behandelt. Nach ihm umwittert das zum Teil noch unbekannte Land der subjektiven Kriminalpsychologie ein Geheinmnis, dessen Enthüllung des Schweißes der Forscher wert ist. Ähnliche Äußerungen, die betonen, daß der gefangene Mensch noch zu wenig Gegenstand psychologischer Studien sei, finden sich vielfach verstreut in der einschlägigen Literatur.
Allen bisher angeführten Untersuchungen fehlt freilich die in ihrem Programm geforderte Lebensnähe. Literarische Selbstzeugnisse, unterstützt hier und da durch eine Exploration, bilden die methodisch unzulängliche Ausgangsbasis. Daher sind auch die Schlüsse und die Gesamtergebnisse dieser Studien im großen und ganzen nur allgemein formuliert. Alle Autoren sind sich darüber einig, daß die U. H . eine sehr einschneidende Bedeutung hat und tiefe persönliche sowie soziale Erschütterungen mit sich bringt. Aber 1 Auer, zur Psychologie der Gefangenschaft, Untersuchungshaft, Gefängsnis- und Zuchthausstrafe, geschildert von Entlassenen. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1905. 2
Marx, Die Aufgabe einer Psychologie der Untersuchungshaft. Vjschr. gerichl. Med., 3. Folge, 32 (1906). 3
Wulfen,
Kriminalpsychologie. Berlin 1926.
Literatur und Problemstellung
5
zugleich bekennen einzelne dieser Autoren auch die ungeheuere Schwierigkeit, mit diesen Selbstschilderungen gleichsam aus zweiter Hand eine methodische Grundlage zu gewinnen. Aschaffenburgs Kritik an der bereits erwähnten älteren Schrift von Auer, daß literarische Niederschläge einzelner Untersuchungshäftlinge immer nur höchst subjektive Erlebnisse darstellen, gilt dieser ganzen Forschungsmethode auf unserem Gebiet. Allzu sehr rücken diese Darstellungen in die Nähe jener älteren, populär orientierten Kriminalpsychologen, die sich vorwiegend mit der Psychologie des Täters, des Lustmörders, des Einbrechers, des Kurpfuschers usw. beschäftigen, die Fragen aber seiner seelischen Entwicklung und der konditional-genetischen Grundlage seines Verhaltens, deren Beantwortung erst das Rüstzeug zu einer Kriminalpsychologie gibt, unerörtert lassen. Die methodischen Mängel der bisherigen Forschung sind in der letzten Zeit auch mehrfach klar erkannt worden. Professor Sieverts4 kritisiert ausführlich das Unzulängliche der bisherigen Verfahrensweisen. Auf der Suche nach festen Bausteinen zu einem haftpsychologischen Gebäude habe er fast nur wissenschaftlich brüchiges Material vorgefunden, wobei ihn die zünftige Wissenschaft der Psychologie sogar gänzlich im Stich gelassen habe. Oft sei ihm fast der Mut zur Fortführung seiner Abhandlung geschwunden. Er beabsichtigt, eingehend die tiefen persönlichen und sozialen Erschütterungen zu beschreiben, welche die Verhängung der U. H. mit sich bringt. Ihm wurde aber immer klarer, daß dies umfassende Ziel nur durch wissenschaftliche Forschung unmittelbar in den Strafanstalten selbst zu erreichen sei. Eine solche persönliche Kontaktnahme scheiterte jedoch an den allzu großen technischen und psychologischen Schwierigkeiten. Deshalb konnte zunächst auch er nur an Hand von schriftlichen Selbstzeugnissen die Verhaftung, die erste Zeit der U. H., das seelische Geschehen im weiteren Verlauf und beim Ubergang in die Strafhaft schildern. Trotzdem bringt sein Buch eine reiche Fülle wertvoller Erkenntnisse, die in der vorliegenden Studie volle Bestätigung erfahren. Daher ist die Abhandlung von L. Bloem5 „Die Situation der Straferwartung in der Untersuchungshaft" zu begrüßen, die als erste Untersuchung den Niederschlag der unmittelbaren Lebenserfahrung der Untersucherin als Wärterin bringt. Bloem hat während einer siebenmonatigen Arbeit als Aufseherin in der Frauenabteilung des Hamburger Untersuchungsgefängnisses schriftliche Aufzeichnungen über 80 Frauen vorgenommen. Diese Niederschriften beschäftigen sich mit einzelnen Seiten im psychischen Erleben der Häftlinge, wie Gefühle von Unsicherheiten, Angsthaltungen, Zeiterleben, Beziehungen zu zurückgelassenen Angehörigen, Stimmungslagen u. dgl. m.; sie geben dazu eine Analyse einzelner charakteristischer Situationen wie Sprachsituationen, Verhörssituationen, Abhängigkeitssituationen, um dann im 2. Teil die Bewältigung der Gesamtsituation und die einzelnen Bewältigungsstile durch die verschiedenen Persön4 Sieverts, Die Wirkungen der Freiheitsstrafe und Untersuchungshaft auf die Psyche der Gefangenen. J. Bensheimer, Mannheim/Leipzig/Berlin 1929. 5 Bloem, Die Situation der Straferwartung in der Untersuchungshaft. Bl. Gefängn.kde Nachtr. zu Bd. 65. Vgl. dazu Aschaffenburg, Besprechung der Kriminalpsychologie von Wulfen, Z. Kriminalpsychol. 17 (1926), sowie Aschaffenburg, Die Bedeutung der Untersuchungshaft für die Ermittelung des Tatbestandes. Mschr. Kriminalpsychol. 23 (1932).
Wandlungen während der Untersuchungshaft
6
lichkeiten darzustellen. Die Ergebnisse der Untersuchungen von L. Bloem decken sich in mancher Hinsicht mit den hier erarbeiteten. 3. Überblickt man die Methoden, die in bisherigen kriminalpsychologischen Untersuchungen angewendet worden sind, so findet man neben der Auswertung von Selbstdarstellungen und evtl. Briefen der Häftlinge bei Auer die Verwendung der Fragebogenmethode, die er freilich nur an inzwischen entlassenen Untersuchungshäftlingen durchführen konnte. Anfängliche Bedenken wegen der subjektiven Ressentiments der Einsender und wegen ihrer Darstellungskraft gab er später auf. Seine Beobachtungen ergaben, daß die Befragten subjektiv nicht stärker interessiert waren als bei anderen „Enqueten". Sie konnten sich durch ihren Bericht keinen Vorteil verschaffen, so daß das Agitatorische wegfiel. Auch fühlten sie sich nicht als geschlossene Interessentengruppe. Schließlich waren sie den Dingen schon zeitlich entrückt, so daß manche Wunde geheilt war. Marx verfolgt keine besondere Methode. Er begnügt sich mit „Beobachtung = Klinik der Untersuchungshaft und mit Statistiken = Zahlenreihen". Wulfen glaubt, mit einer intuitiv-spekulativen Psychologie die Probleme des Kriminellen in Angriff nehmen zu können, „weil gegenüber dem Wenigen, was die Wissenschaften erwogen haben, ein unermeßliches Reich bleibt, in das wir mit der Intuition, diesem Pionier der Erkenntnis, einzudringen haben". Auf die Gefahren einer solchen intuitiven Psychologie weist mit Recht Aschaffenburg hin. Sieverts' ursprüngliches Ziel, durch Einzelbeobachtungen eine Haftpsychologie mit gesicherten Ergebnissen zu schreiben, ließ sich angesichts der Fülle der Probleme, der technischen und methodischen Schwierigkeiten noch nicht durchführen. Weitergehende Forschungsmethoden der Psychologie vermißt man in der Literatur völlig. Ein Versuch exakt experimenteller Bestimmung ist wohl gefordert, aber nie unternommen worden. Experimente sind freilich schon aus technischen Gründen sehr schwer durchzuführen. Aber auch ein fortlaufendes, über lange Zeit stetig geführtes Beobachtungs-Protokoll über einzelne Häftlinge, etwa nach Art einer Krankengeschichte in einer psychiatrischen Klinik, bleibt leere Forderung auf dem Papier. Kaum erwähnt zu werden braucht es, daß tiefenpsychologische Forschungsmethoden, wie sie etwa die Neurosenpsychologie entwickelt hat, überhaupt nicht angewendet werden. Alle diese methodischen Unzulänglichkeiten mögen zum Teil begründet sein in den tatsächlich enormen technischen Schwierigkeiten solcher Untersuchungen. Dennoch bleibt es unabweisliche Forderung jeder Kriminalpsychologie, die Methodik der psychologischen Forschung mit allen Hilfsmitteln auszurüsten, über welche die moderne Psychologie verfügt. Insbesondere fehlt es, wie von Heutig6 formuliert hat, an einer Reihe von sorgsam gesammelten und ausführlich dargestellten Fällen, die dem kritischen Leser erlauben, sich eine eigene Ansicht zu bilden und die Deutungsversuche des Verfassers zu kontrollieren. Es mag diese methodische Schwäche zum großen Teil aber auch auf die mangelnde soziale Intimität zwischen Untersucher und Häftling zurückzuführen sein, so daß deshalb die angeführten Arbeiten den ungeheuer vielfältigen Komplex der Psychologie der U. H. nur als globales Ganzes behandeln. Vorwiegend finden wir allgemeine und summarische Schilderungen der Psychologie des Häftlings. Spezialfragen dagegen, die erst ein tieferes Eindringen gestatten würden, werden in der Regel gar nicht gestellt. 6
von Heutig,
Kritik einer Studie über lesbisdie Liebe. Mschr. Kriminalpsydiol. 24 (1933).
Literatur und Problemstellung
7
J e umfassender aber eine Materialsammlung über den Untersuchungshäftling ist — und das zeigen besonders diese Beobachtungen — um so größer wird zunächst die Fülle der psychologischen Fragestellungen. Gegenüber der ungeheueren Mannigfaltigkeit der Einzelschicksale und Einzelstile erscheinen summarische Schilderungen des Untersuchungshäftlings nur wie blasse Schemen, die für die Einzelperson niemals volle Gültigkeit haben. Die U. H . ist in erster Linie eine Maßnahme, welche die Person in ihrem sozialen Bereich betrifft. Aus dem sozialen Leben mit den zahlreichen sich überschneidenden sozialen Kreisen wird die einzelne Person durch den Akt der Verhaftung herausgerissen. Der gesamte bisherige soziale Raum der Person mit all seinen Verknüpfungen und Ordnungen wird mit einem Schlage von der Person abgetrennt; die soziale Rolle, die bisher gespielte Persona in der Familie, in dem Beruf, in dem sozialen Alltag verliert durch den Akt der Verhaftung von einer Stunde zur anderen ihre Wirklichkeit und Bedingtheit 7 . Dafür ergeben sich neue Aufgaben. Einem neuen sozialen Raum mit einem ihm eigentümlichen, als starr und feststehend erlebten Ordnungssystem von einer überwältigenden Einfachheit und Armut sieht sich der Häftling in den ersten Tagen gegenüber. Die Aufgabe, sich diesem neuen sozialen Ordnungsraum anzupassen, ist ihm als unabweisliche Forderung gegeben. Zugleich wirkt die affektive Situation; der Schock der Verhaftung, der auch dann nicht ausbleibt, wenn die Verhaftung erwartet ist, mit all seinen affektiven Regungen: Empörung, Erschrecken, Beschämung, Trauer, Heimweh, muß erst einmal abklingen; die innerseelische Situation, die Fragen der Ursache der Verhaftung, der Tat, der Schuld, der Sühne', müssen in aktiver Arbeit nach und nach geklärt werden. Sind mithin die seelischen Anforderungen, welche die U . H . an den Häftling stellt, zunächst außerordentlich groß und kaum zu bewältigen, so ist ihre juristische Aufgabe demgegenüber eine einfache und nüchterne. Die U . H . dient lediglich dem Zweck, eine Flucht des Häftlings zu verhüten oder einer Verdunkelung des Tatbestandes vorzubeugen. Sie bedeutet also zunächst im Sinne des Gesetzgebers noch nicht eine soziale Diffamierung, wie auch die Vorschriften immer wieder hervorheben, daß die üblichen bürgerlichen Umgangsformen in der Anrede durchaus zu wahren sind. Das Ziel, Verdunkelung des Tatbestandes, stellt sich dem Psychologen als ein zweifaches dar. Es kann erstens eine Verhinderung objektiver Maßnahmen der Verdunkelung angestrebt sein. Mit welcher Energie und Hartnäckigkeit eine solche Verdunkelung und Beeinflussung betrieben wird, zeigen der immer wieder versuchte Briefschmuggel, das kaum ganz zu unterbindende Kassibern, das Pendeln von Stock zu Stock, von Fenster zu Fenster. Zeugenaussagen sollen in eine bestimmte Richtung gelenkt, Zeitangaben so zu Protokoll gegeben werden, daß sich für den Beschuldigten ein Alibi ergibt. Häufig werden die Versuche der Kontaktnahme auf mancherlei Weise von den Angehörigen erwidert. Selbst der Begrüßungskuß wurde dazu ausgenutzt, einen Zettel von Mund zu Mund wandern zu lassen, so daß diese Form der Begrüßung von 7 Gottschaidt, Zur Methodik erbpsychologischer Untersuchungen in einem Z. Abstammgs.lehre 73, H e f t 3/4. Derselbe, Vorlesungen über Sozialpsychologie. Berlin 1935/36.
Zwillingslager.
8
W a n d l u n g e n w ä h r e n d der Untersuchungshaft
einer Sondergenehmigung abhängig gemacht werden mußte. Widerstrebenden Angehörigen werden zuweilen in drohendem Ton bestimmte Äußerungen abverlangt. D a ist zweitens aber auch — und das ist hier besonders wichtig — mit der Möglichkeit einer psychogenen, subjektiven Verfärbung des Tatbestandes zu rechnen, wie das ja Alltagserfahrung jeder Aussagepsychologie ist. Ob solche Verfärbung in der Einsamkeit der Zelle eher zu verhindern ist als im sozialen Alltag, bleibt allerdings fraglich. Gerade diese Einsamkeit bringt auch die Gefahr, daß unter den Gedanken, die sich untereinander verklagen und entschuldigen, die letzteren vorherrschend werden. Die Folgen der Tat, die Reaktion der Mitmenschen auf dieselbe bleiben nunmehr der eigenen Beobachtung entzogen. Man sieht und spürt nichts mehr davon. Einzelheiten beginnen zu verschwimmen. Die Tat wird zum „Unglücksfall", zu einer „Art Schicksal". 4. Psychologisdi gesehen, stellt also die U. H . an den Häftling die Aufgabe, seine innerseelische Situation zu klären. Die Fragen der Schuld oder der Schuldlosigkeit werden in Selbstgesprächen und Grübeleien gegeneinander abgewogen und noch mehr die Motive der Tat, das Entschuldbare und das Nichtentschuldbare, in ständigen Reflexionen einander gegenübergestellt. Das Schuldgefühl oder das Unschuldgefühl kann freilich phänomenologisch noch die verschiedensten Affektfärbungen annehmen. Der eine pocht auf seine Unschuld und versucht, zu versichern, daß er die U. H . als leicht empfindet, da sie ja nur eine Episode sei und den Kern seiner Persönlichkeit nicht tangiere. Der andere nimmt dasselbe Motiv seiner Unschuld, um sich tiefunglücklich zu fühlen. „Ich würde mich hier wohler fühlen, wenn ich wirklich schuldig wäre". Das bringt uns noch auf eine wichtige methodische Vorbemerkung. Der Weg, der beschritten werden muß, ist in allen Fällen der gleiche. Der persönliche Kontakt mit den Gefangenen muß gewonnen werden; es muß im Laufe der Zeit eine weitgehende soziale Intimität zwischen Untersucher und Häftling wachsen, damit zunächst überhaupt einmal vertrauensvoll unmittelbare Äußerungen abgegeben werden. Dennoch sind diese sprachlichen und anderen Ausdrucksäußerungen nicht in allen Fällen als gesicherte Grundlage an zusehen. Die Lage ist hier die gleiche wie auch auf anderen Gebieten sozial-psychologischer Forschung. Abgesehen von den auch hier nicht seltenen Fällen zweckbewußter Täuschung liegt es doch häufig so, daß der Häftling den wahren Gehalt und die wahre Grundlage seiner Haltung selbst nicht genügend überschaut. Nicht selten stößt der Psychologe auf „Arrangements" in Haltung und Ausdruck, die zunächst das wahre Bild verschleiern können. Es wird also immer notwendig sein, über eine reine phänomenologische Betrachtung hinaus zu den eigentlichen Kernschichten der Persönlichkeit vorzustoßen. Damit ist zugleich gesagt, daß ein einmaliger Besuch eines Häftlings wie überhaupt jede nur oberflächliche Kenntnis in der Regel nicht als gesicherte Grundlage angesehen werden kann. Nur, wenn wirkliche Verbundenheit zwischen Untersucher und Häftling vorliegt, wenn ein echtes Mitteilungsbedürfnis aufzufinden ist, gelingt es im Laufe vieler Besuche und Gespräche, ein einigermaßen gesichertes Bild über Persönlichkeit und Artung des Häftlings zu gewinnen. Die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit der Entwicklung der eigenen Person, mit den Vorfällen, die zur U. H . geführt haben, und mit der Ordnung der gegenwärtigen Umwelt, die also für jeden Häftling erneut besteht, wird im einzelnen von vielfachen psychologischen Momenten abhängig sein; es ist gut, wenn wir uns gleich am
Literatur und Problemstellung
9
Anfang unserer Untersuchungen eine Übersicht über die in Frage kommenden psychologischen Faktoren, die hier mitspielen können, verschaffen. a) Diese Auseinandersetzungen werden erstens von Charakter, Intelligenz und Temperament, also vom Strukturaufbau der Persönlichkeit, abhängig sein. Hier spielen die Fragen der ererbten Anlage und Konstitution eine Rolle; es wird sich zeigen, daß die jeweilige Form der Auseinandersetzung von dieser ererbten Konstitution mit abhängig ist. Im einzelnen hier jetzt schon Ausführungen zu geben, wäre verfrüht. Nur darauf sei hingewiesen, daß etwa der Biotonus, die Lebensstärke, die sthenische und asthenische Haltung von großer Bedeutung ist, ebenso die introvertierte oder mehr extravertierte allgemeine Lebenshaltung der Persönlichkeit. Auf weitere individuelle Unterschiede können wir stoßen. Die Erlebnisverarbeitung, ihre Eindrucksfähigkeit und Beeinflußbarkeit bzw. die Stumpfheit und Schwerbeeinflußbarkeit treten bei einzelnen unserer Probanden bestimmend in den Vordergrund. Schließlich spielen noch das Lebensalter und die Lebensreife der Person eine Rolle. Das alles sind also Faktoren, die in der Psychologie der Persönlichkeit begründet sind, und die ihr psychologisches Gesamtbild ausmachen. b) Von Bedeutung ist weiterhin, wie unsere Erfahrungen zeigen, der bisherige soziale Raum der Häftlinge. Es ist wichtig, die soziologische Schicht, aus der der Häftling stammt, zu berücksichtigen, ebenso die Funktionen, die er im gesellschaftlichen und im beruflichen Leben bisher ausgeübt hat. Sie bestimmen weitgehend das mit, was man psychologisch die „soziale Rolle" nennt, „die Persona", mit welcher der einzelne Häftling die Tore der Anstalt durchschreitet. Ihre Entwicklung, die Wandlung der sozialen Rolle, oder, umfassender gesagt, der sozialen Person im Laufe der U. H. ist ja das Hauptthema dieser Arbeit. c) Ferner wird die Haltung des Untersuchungshäftlings und die Entwicklung, die seine soziale Person erfährt, weitgehend von der Schwere des Deliktes und damit der Strafandrohung mitbestimmt sein. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß ein mit langjähriger Zuchthausstrafe bedrohter Untersuchungshäftling insgesamt einen wesentlich anderen Haltungsstil während der Monate der U. H. einnimmt als einer, der nach der Versicherung seines Anwalts nur einige Monate Haft zu erwarten hat. Die gesamte Stimmungs- und Bewußtseinslage hängt von der jeweiligen Strafandrohung ab. d) Man sollte zunächst meinen, daß die Haltung des Untersuchungshäftlings ganz vorwiegend von dem Bewußtsein seiner Unschuld oder Schuld bestimmt sei, und daß die Auseinandersetzungen mit der moralischen Instanz in ihm, dem Gewissen, in allererster Linie die Entwicklung seiner sozialen Person während der U. H. bestimmen sollte. Das trifft indessen nur selten in voller Klarheit zu. In der Mehrzahl der Fälle werden, wie wir später noch sehen werden, gerade diese Überlegungen und Auseinandersetzungen leicht beiseitegeschoben oder treten nur gelegentlich in ganz kurzen Intervallen und angeregt durch besondere Umstände, Briefe an Angehörige usw., hervor. In der großen Mehrzahl unserer Fälle war vielmehr die Gewissensfrage des Schuldigen oder Schuldlosen eine Frage sehr peripherer Natur. Dr. Ackermann8, Rechtsanwalt in Hamburg, hat in seiner Praxis die Erfahrung gemacht, daß „ein inneres Bedürfnis nach Strafe, um Schuld zu sühnen, nirgends auf8 Ackermann, Zur Psychologie des Angeklagten im Strafverfahren aus der Sidit des Verteidigers. Mschr. Krim. u. Str.reform, 1957, H. 5/6.
10
Wandlungen während der Untersuchungshaft
getreten ist bei Angeklagten aller Bildungsstufen, Berufe und sozialer Schichten. Der natürliche Lauf ist der, daß der Angeklagte so billig und milde wie möglich davonkommen möchte, und sei seine Schuld noch so groß". Diese Erfahrungen beziehen sich nicht nur auf die U. H.; man begegnet ihnen auch in der Strafhaft. Dementsprechend können auch im Strafvollzug die erzieherischen Ziele, die letzten Endes erreicht werden sollen, nur selten auf dem Wege eines Sühnebewußtseins und Sühnewillens des Häftlings erzielt werden. Im Durchschnitt kann innere Disziplin nicht auf dem Wege der Auseinandersetzungen über Schuld und Unschuld vor dem Forum des Gewissens des einzelnen erzielt werden, sondern der Weg der inneren Disziplin geht zumeist über die Anerkennung der äußeren Ordnung. § 2 Methode
Untersuchte
Personen,
der Untersuchung, 1. Untersuchte
Einzelfragen
Personen
a) Die Untersuchung bezieht sich zunächst auf 90 Personen, 84 männliche und 6 weibliche. Die 84 männlichen waren in der Zeit von Anfang 1935 bis Ende 1936 als Untersuchungsgefangene mehr oder weniger lange Zeit Insassen des Zellengefängnisses in Berlin. Die 6 weiblichen Inhaftierten saßen in der gleichen Zeit in dem Gefängnis Berlin-Charlottenburg ein. Sie sind gleichsam als Paradigma-Fälle aus dem großen Strom der Inhaftierten herausgefischt, der zu jener Zeit durch die Haftanstalten flutete. Die weiter unten aufgeführte Ubersicht zeigt, daß sich unter diesen Probanden wohl alle Berufe finden. Eine Auslese nach dem Herkommen, nach Schulung und Bildung der Probanden erwies sich als durchaus unzweckmäßig. In den Kreis der Untersuchung wurden nur solche aufgenommen, die erstmalig inhaftiert waren und wegen eines Deliktes einsaßen, das nicht mit einer Bagatellstrafe bedroht war. Auch Marx hat beobachtet, daß an Erstinhaftierten und relativ Unbescholtenen die Psychologie der U. H. am reinsten zu demonstrieren sei. Die Strafandrohungen, die etwa zu erwarten waren, lagen bei allen in die Untersuchung hineingenommenen Inhaftierten zwischen 4 Monaten und mehrjähriger Zuchthausstrafe. Mordfälle, die also mit der Todesstrafe oder mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe bedroht waren, sind in der Regel nicht mit in diese Untersuchung aufgenommen. Nur in einem Falle, der psychologische Bedeutung versprach, wurde von dieser Regel abgegangen. Er betrifft einen später wegen Totschlags mit 15 Jahren Zuchthaus Bestraften, der auch schon Vorstrafen hatte. Eine Auslese nach Straftaten wurde im übrigen vermieden. Die 6 weiblichen Inhaftierten wurden ergänzend zu Kontrollzwecken mit in die Untersuchung aufgenommen. Hier sind die Strafdelikte durchgängig leichter. Gesamtübersicht A. 1. 2. 3. 4.
Uber alle
Probanden
Alter
Jugendliche bis 25 Jahren Personen von 26 bis 39 Jahren Personen von 40 bis 60 Jahren Personen über 60 Jahre
31 32 20 7
Die Klasse der „Heranwachsenden" im Alter von 18,0 bis 20,11 Jahren war damals nicht bekannt.
11
Untersuchte Personen, Methode der Untersuchung, Einzelfragen B. B e r u f e 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Angehörige akademischer Berufe Beamte Kaufleute Handwerker und Selbständige . Arbeiter In Ausbildung Begriffene
Angeklagt waren: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
wegen wegen wegen wegen wegen wegen wegen wegen
11 7
10 45
12 5
C. S t r a f t a t e n Diebstahl Betrug, Unterschlagung, Erpressung Sittlichkeitsvergehen leichterer politischer Vergehen Hoch- und Landesverrat Meineid § 218 Totschlag
14 30 23 6 13
2
1 1
b) Die Studien wurden nach 1945 wieder aufgenommen. Im Zuge der Auswirkungen des Zusammenbruchs war der Verfasser nunmehr an den Haftanstalten in Ulm/Donau tätig. Zu diesen gehörte auch eine kleinere Untersuchungshaftanstalt, die ständig etwa 40 bis 50 Männer und 10 bis 18 Frauen beherbergte. Hier bot sich eine sehr willkommene Ergänzung des früher in Berlin gesammelten Materials: ein ganz anderes Volkstum, eine Mittelstadt mit dörflichem Hinterland, infolgedessen gemilderte Form der Nachkriegsnöte, ein humaner, aufgelockerter Vollzug der Haft nach den vorangegangenen harten Methoden. Die Beobachtungen, vorgenommen in den Jahren 1948 bis 1952, erstreckten sich hier auf alle Insassen in gleicher Weise. Angesichts der wenigen Häftlinge erübrigte sich eine Auslese. Altersmäßig waren die gleichen Schichten vertreten wie sie die obige Übersicht A für Berlin ausweist. Unter den Berufen B fehlen die Beamten ganz, die Akademiker bis auf eine Ausnahme. Das Berufsbeamtentum war erst wieder neu im Entstehen begriffen. Bei den Straftaten C sind die leichteren politischen Vergehen, ebenso Hoch- und Landesverrat verschwunden. Für den in der Tabelle C verzeichneten Fall von Totschlag muß ein Mord eingesetzt werden, der auf die weibliche Seite zu buchen ist, wie überhaupt bei der weiblichen Kriminalität eine Vergröberung feststellbar ist. Der während der Berliner Studien innegehaltene Grundsatz, nur erstmalig Inhaftierte in den Kreis der Untersuchung aufzunehmen, wurde hier angesichts der geringen Zahl der Häftlinge aufgegeben. Wie früher in Berlin, so gab es auch hier neben solchen Probanden, die äußerst lebhaft auf die neue Situation reagierten und spezifische Verhaltungsweisen entwickelten, andere Häftlinge, die sich als relativ trockene, gleichförmige, als Persönlichkeiten undifferenzierte Menschen erwiesen, und die mit einer gewissen Stumpfheit und Gleichförmigkeit die U. H. über sich ergehen ließen. In die allgemeinen Krisen und Spannungszeiten derselben waren aber auch sie mit einbezogen, so daß die Ergebnisse der Arbeit sich auf das gesamte breite Probandenmaterial stützen können. 2. Methode der Untersuchung Erstrebt wurde das Ziel, eine Reihe sorgsam gesammelter Fälle aufzustellen, die eine möglichst intensive, umfassende Kenntnis des Untersuchungsgefangenen und der Entwicklung seiner sozialen Person während der U. H. vermittelte. Diesem Ziel kam
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
der damalige Beruf des Untersuchers als Pfarrer des Gefängnisses insofern besonders entgegen, als er sogleich nach der Einlieferung mit als erster den Kontakt zu dem Untersuchungsgefangenen aufzunehmen hatte. Dieser unmittelbare Kontakt, der Gelegenheit zu vielen Aussprachen und Äußerungen der Gefangenen gibt, wird während der Untersuchungszeit in täglichen Besuchen gepflegt. Psychologisch w a r für die Gefangenen der Pfarrer in der Mehrzahl der Fälle zunächst eine der wenigen Verbindungsbrücken zur Außenwelt, die sie eben verlassen hatten. Wer Erfahrungen in Untersuchungsgefängnissen gesammelt hat, weiß, daß in der Regel von den Gefangenen diese Verbindungsbrücke zur sozialen Welt auch weidlich benutzt wird. Es besteht fast immer ein sehr reges Aussprache* und Mitteilungsbedürfnis, das Herzenserleichterung bringen soll. Über diese Besudle und ihre psychologischen Ergebnisse wurde unmittelbar nadi Verlassen der Zelle ein Protokoll verfaßt. In Gegenwart des Probanden zu schreiben, verbot sidi aus Gründen des Taktes. Indessen sind die niedergelegten Protokolle so frisch, daß die Gefahr von Erinnerungsverschiebungen wohl allgemein vermieden wurde. Diese Besudle und Kontaktaufnahme zu den einzelnen Häftlingen wurden während ihrer ganzen Anwesenheit in der Anstalt fortgesetzt. Auch bei langausgedehnter U. H. verlor der Untersucher den einzelnen Gefangenen nie aus den Augen, wennschon Berufspflichten und Anwesenheit neuer Probanden es notwendig machten, die Besuche abzukürzen und seltener stattfinden zu lassen. Diese Pausen, die in späteren Zeiten der U. H. schon aus technischen Gründen notwendig waren, erwiesen sich häufig psychologisch als nutzbringend insofern, als gleichsam ein aufgestautes Aussprachen- und Mitteilungsbedürfnis erwuchs. Eine Verflachung der Explorationsgespräche, wie sie ein allzu häufiger Besuch bei längerer U. H. mit sich bringen konnte, wurde auf diese Weise vermieden. Die besonderen Umstände der Situation der U. H. bringen es mit sich, daß unmittelbare, gar experimentelle Prüfungen der Intelligenz und Charaktereigenschaften nicht durchgeführt werden konnten. Wo sie von Psychiatern etwa zur Prüfung der Intelligenz vorgenommen wurden, führten sie nicht selten zu scharfen Ressentiments und in einigen Fällen zur Flucht in völliges Schweigen. Eine jede solche Untersuchung hätte also die soziale Intimität zwischen Untersucher und Häftling empfindlich gestört und das unmittelbare Vertrauen, auf das in erster Linie Wert gelegt werden mußte, beeinträchtigt. Dennoch wurde in einer immer wieder ergänzten und erweiterten Charakteristik ein allgemeines Bild über Intelligenz, Charakter und Temperament der Persönlichkeit zusammengestellt. Dieses Bild ließ sich noch ergänzen durch gelegentliche Einsichtnahme in die Korrespondenz der Inhaftierten sowie durch den Einblick in die häuslichen Verhältnisse infolge Fühlungnahme mit den Angehörigen und Fürsorgeorganen. 3.
Einzelfragen
Es liegt in der N a t u r einer solchen Untersuchungsmethode, daß das gewonnene Material zunächst uneinheitlich wirkt; wird doch mit jeder neuen Person ein neues und eigenartiges Lebensschicksal beleuchtet. Es würde nun nicht empfehlenswert sein, die gesamte Vielfalt aller Erfahrungen, die während der langen Zeit mit den einzelnen Häftlingen gewonnen werden, darzustellen, wie ja auch nidit ein umfassender und restlos erschöpfender Bericht eines Lebensschicksals eine psychologische Charakteristik darstellt. Vielmehr schien es notwendig, bestimmte methodische Einzelfragen durchweg bei allen Untersuchungspersonen in den Vordergrund unserer Beobachtungsprotokolle zu stellen. Vorwiegend waren es die Fragen, die mit der Gestaltung der sozialen Person und der Entwicklung der sozialen Haltung in der U . H . sowie mit der psychologischen Situation derselben engstens zusammenhängen. Unser Augenmerk galt zunächst dem Aufbau des neuen sozialen Raumes im Untersuchungsgefängnis und der F o r m der Absetzung gegen den bisherigen sozialen Raum,
Untersuchte Personen, M e t h o d e der Untersuchung, E i n z e l f r a g e n
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der mit dem Tage der Verhaftung abgebrochen war. Viele Einzelgesichtspunkte waren hier zu berücksichtigen. Zunächst einmal die Einstellung zu den vier Wänden der Zelle als solche und besonders zur verschlossenen Tür ohne Klinke. Zahlreiche affektbetonte Äußerungen liegen hier vor; man darf sagen, daß der physiognomische Aspekt, den der einzelne Häftling seiner Zelle abgewinnt, verschiedenste Formen annehmen kann und jeweils von der Gesamtpersönlichkeit abhängig ist. Gefühle der Geborgenheit in der Zelle, sogar der Liebe zu ihr und damit verbunden ein Sichsträuben gegen Verlegung in andere Anstalten findet man ebenso ausgeprägt wie blindes Toben gegen die Gefängniswände, die als haßgeladen erlebt werden, oder dumpfe, depressive Resignation gegenüber der Tatsache des Eingeschlossenseins. Auch die Zeiteinteilung, die Beantwortung der Frage: was beginnt ein Untersuchungshäftling, der bisher in einem tätigen, selbständigen oder durch äußere Ordnung ausgefülltem Leben gestanden hat, mit den Wochen und Monaten seiner nun leeren Tage, erschien besonders wichtig. Vielfache Formen sind auch hier zu verzeichnen. Neben der selbständigen Aufstellung eines streng eingehaltenen Tagesplans und den Versuchen, die gewonnene Zeit sinnvoll auszunutzen (z. B. für das Erlernen einer neuen Sprache), finden sich mehr oder weniger leere Bemühungen, die Zeit totzuschlagen. Für die Gestaltung des sozialen Raumes in der U. H . ist besonders die Auseinandersetzung mit den Zellengenossen bedeutsam. Wieder sind zahlreiche Formen des sozialen Verhältnisses zu einem Partner, mit dem in räumlich äußerster Enge gelebt werden muß, zu verzeichnen. Neben einem völlig beziehungslosen und gleichgültigen Nebeneinander der beiden Zellengenossen, die sich nicht stören, auch gegenseitig helfen wie etwa zwei zufällig in einer Straßenbahn zusammengewürfelte Menschen, finden wir erste Formen des Paarverhältnisses und auch ein gereiztes Aufeinander-Abreagieren. Die Einstellung schwankt häufig. Es gibt Zeiten, in denen die Notwendigkeit, mit anderen zusammenzuleben, als lästig empfunden und abgelehnt wird, und andere Zeiten, in denen ein zweiter Mensch gesucht wird. Wieder zeigen sidi entsprechende Unterschiede von Person zu Person. Menschen, die allein lebend unter gar keinen Umständen sich wohlfühlen, stehen neben solchen, die zeitweilig einen Partner brauchen, und sei es nur, um ihm ihre Fürsorge zukommen zu lassen. Daneben finden wir wieder Einzelgänger, aber auch selbstdisziplinierte, sich zugewendete Autisten, die einen Zellengenossen ablehnen, wenn auch hin und wieder gewisse Neigungen zum sozialen Kontakt bestehen. Die Stellungnahme zu Besuchen und Briefen aus der zurückgelassenen sozialen Welt war uns gleichfalls von Interesse. Auch hier wieder ist der Reichtum der Verhaltensweisen unerschöpflich. All die unendliche Mannigfaltigkeit sozialer Du- und Wir-Beziehungen, die wir im täglichen Leben beobachten und nie erschöpfend charakterisieren können, werfen ihr Licht auf die Haltung des Untersuchungsgefangenen zur sozialen Außenwelt. Die Verhaftung stellt in der Regel einen heftigen Stoß dar, der zunächst einmal überwunden werden muß, und der den Haltungsstil des Häftlings in den ersten Tagen bestimmt. Krisen dieser Art wiederholen sich noch mehrfach im Laufe der U. H . Die Zustellung der Anklageschrift, die Ankündigung des Termins, dieser selber mit seinem Ausgang der Verurteilung oder des Freispruchs, schließlich die Entlassung bzw. der Abtransport in eine Strafanstalt sind solche Stöße, die Krisen und damit Entwicklungs-
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Wandlungen während der UntersuchungsKaft
stufen in den seelischen Geschehensablauf der U. H . hineinbringen. Das Verhalten in diesen Krisenzeiten und die jeweilige Auseinandersetzung mit dem Konfliktcharakter, der solchen Krisen eigentümlich ist, war für uns ein weiteres wichtiges Moment. Typische Haltfülle einzelner auch in schwersten Krisensituationen zeigt sich neben ausgesprochener Haltschwäche von Menschen, die nie oder nur selten mit ihrer Lage sich abfinden konnten. Als Folge der vielfachen Auseinandersetzungen mit ihrer Person und ihrer Lage finden wir durchweg ein Bedürfnis der Häftlinge, ihren Aufenthalt in dem Untersuchungsgefängnis zu legalisieren bzw. zu rechtfertigen. Relativ am seltensten ist die Einstellung zu einer Schuld oder einer Strafe, die hinzunehmen sei. Viel häufiger sind andere Versuche der Entschuldigung des Aufenthaltes im Untersuchungsgefängnis zu verzeichnen. Die fatalistische Betonung des Schicksals, „daß es so kommen mußte, wie es gekommen ist", liegt näher als die Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung. Auch die Betonung eines Unrechts und der Protest gegen dieses Unrecht, das die Gesellschaft oder, enger, der soziale Kreis, der verlassen worden ist, dem Betreffenden zufügt, ist nicht selten. Andere Formen der Legalisierung des Aufenthaltes, die man hier verzeichnen muß, sind die resignierten Feststellungen, daß man Opfer der Gesellschaft oder der eigenen Veranlagung sei, auch daß man im Auftrage anderer gehandelt habe. Marx hat gleichfalls festgestellt, daß „eine freie, unumwundene Antwort selten ist". O f t heißt es: „Es liegt ein Irrtum vor", oder: „Es handelt sich um eine Kleinigkeit". Eine Sonderfrage, die mit dieser Legalisierung des Aufenthaltes nicht durchweg zusammenhängt, ist die Stellungnahme zum Geständnis. Neben ausgesprochen geständnisfreudigen Menschen, die bei drohender Enthaftung durch neue, bisher gar nicht in den Umkreis der Untersuchung gezogene Geständnisse weitere Verfahren herbeiführen, also zum Teil Menschen sind, bei denen man schon das psychologische Phänomen des Geständniszwanges vorfindet, überraschen andere Personen durch ihre strikte und stur beibehaltene Ablehnung des Geständnisses, auch dann, wenn sie restlos überführt sind. Daneben finden wir wieder andere Persönlichkeiten, die bei entsprechender Behandlung wohl in die verführerische Situation des Geständnisses hineingleiten können, aber auch wieder solche, die nur schrittweise soviel zugeben, wie das bisherige Untersuchungsverfahren es unumgänglich notwendig macht. Wo die Delikte jedoch Mord oder Totschlag heißen, tritt nun allerdings das Problem der Schuld oder Unschuld aus der Peripherie stark in den Vordergrund. Die Fragen um das Geständnis mit seinen schwerwiegenden Folgen, der innere Zwang zu einem solchen oder die Sperrung dagegen, die Befragung und Nötigung durch die vernehmenden Beamten, rücken hier beherrschend in den Mittelpunkt. Durch ein umfangreiches Aktenstudium des inzwischen nach Berlin zurückgekehrten Verfassers war es möglich, die Situation des Mörders in der U. H . gleichsam zu rekonstruieren, während Unterredungen nur noch mit dem inzwischen schon zum Zuchthäusler gewordenen einstigen Untersuchungsgefangenen geführt werden konnten. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse sind im weiteren Verlauf der Studie niedergelegt. Sind dies alles Fragen, die sich mehr oder weniger aus der psychologischen Situation der U. H . ergeben, so interessieren aber auch weitere Fragen, die sich mit der Psychologie der Persönlichkeit des Inhaftierten beschäftigen, die also seinen Stimmungsverlauf
D e r soziale R a u m vor der Verhaftung
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(gleichbleibend oder schwankend), die Umstellung auf die neue Situation (schwere oder leichte Umstellung), die Neigung zur Verdrehung und Irrealisierung der Tatsache des Deliktes und der Strafandrohung betreffen. Der Tendenz, ganze Bereiche der Erfahrung aus dem Tagesbewußtsein auszuschalten, ja gleichsam der Technik, nie ganz zu erwachen und viele beängstigende und drohende Realitäten des Lebens im Halbbewußten dämmern zu lassen, begegnen wir hin und wieder. Besondere Beachtung fanden schließlich auch die Form und das Tempo des Wechsels der sozialen Rolle der Persona. Neben Menschen, die schnell und leicht mit Ortswechsel ihre soziale Rolle aufgeben, gleichsam aus einer Hülle schlüpfen, finden wir solche, mitunter durchaus deklassierte Elemente, die bestimmte Formen und Äußerlichkeiten ihrer früheren sozialen Funktionen unter allen Umständen aufrechterhalten wollen. Diese methodischen Einzelfragen, die hier systematisch aufgeführt sind, um dem Leser die Blickrichtung unserer Untersuchung zu verdeutlichen, konnten nun selbstverständlich nicht in systematischer Befragung bei allen Untersuchten gleichwertig beantwortet werden. Es war der Technik und Kunst der Exploration überlassen, im Laufe der vielen Gespräche, jeweils unbemerkt vom Untersuchten die Rede auf den einen oder anderen Gesichtspunkt hinzulenken. Bei genügender Dauer der Beobachtungsmöglichkeit freilich kamen im Laufe der Zeit so ziemlich alle diese Gesichtspunkte einmal zur Geltung. KAPITEL,
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DIE SOZIALE PERSON IN IHREM BISHERIGEN KREIS § 3
Der soziale Raum vor der
Verhaftung1
1. Die U . H . , die häufig überraschend für den Häftling verhängt wird, und die ihn meist unvorbereitet trifft, stellt den Bruch und Abriß des bisherigen normalen, sozialen Geschehens dar und einen Einbruch in die soziale Alltagssituation, in welcher der Häftling bis zum Augenblick seiner Verhaftung gelebt hat. Es ist notwendig, daß man sich die sozial-psychologischen Konsequenzen dieses Einbruchs in ihren vollen Auswirkungen vor Augen führt. Die Verhaftung trifft ja nicht ein Individuum, das nur in seiner Bewegungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt wird, sie trifft auch nicht nur den Bürger, der in der Ausübung seiner bürgerlichen Rechte vorübergehend gehindert ist, sondern sie trifft in erster Linie eine soziale Person, die in einer ihr gemäßen sozialen Ordnung und in einer unüberschaubaren Mannigfaltigkeit sozialer Verpflichtungen und Bindungen gelebt hat. Die verhängte U . H . bedeutet daher immer einen Eingriff in das soziale Gefüge, dem der Häftling bis zu diesem Augenblick angehört hat, das er mitgetragen und mitgestaltet hat, und von dem er seinerseits bis zu einem gewissen Grade mitgetragen und gestaltet wurde. Der soziale Raum, dessen Mittelpunkt jeder Mensch als zoon politicon (Aristoteles) wesensmäßig ist, bricht in seiner Wirklichkeit mit dem Moment der Verhaftung zusammen. Mannigfaltige soziale Kreise und Bereiche von mehr oder weniger enger Verbundenheit und Ordnung werden gleichsam wie leere Hülsen hinter sich gelassen und verlieren ihre sozialpsychische Realität für das gegenwärtige Leben in der einsamen Zelle des Untersuchungsgefängnisses. 2. Wir werden am besten die besondere sozial-psychische Situation des Häftlings in den ersten Tagen der U . H . verstehen, wenn wir uns skizzenhaft und schematisch den 1
Gottschaidt,
Zur D y n a m i k des sozialen Lebens. 12. K o n g r e ß f. Psychol., Tübingen
1934.
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
sozialen Beziehungs- und Wirkungsraum vor Augen führen, in dem der Häftling in der Regel wie jeder normale Bürger bestenfalls bis kurz vor der Verhaftung gewirkt hat. Der Mensch als soziale Person ist immer in eine unabsehbare Mannigfaltigkeit sozialer Beziehungen und Verbundenheiten verflochten. Er gehört in jedem Augenblick seines Lebens einer Vielzahl sozialer Kreise und Bereiche an, die sich überschneiden, zum Teil gegenseitig bedingen, zum Teil sich ausschließen; er ist Mittelpunkt dieser jeweiligen Bereiche und zu gleicher Zeit in anderen nur latentes, aber auch tragendes Mitglied. In dem Wir-Verband der Familie ist der Häftling als Sohn oder Vater mehr oder weniger tragendes und im Mittelpunkt des sozialen Familienlebens stehendes Glied; seine Darstellung als soziale Person ist in der Familie eine andere als etwa in dem sozialen Ordnungsverband seines Berufslebens, wie immer es nun auch gestaltet sei. Es gehört ja zu den Grunderfahrungen jeder empirischen Sozialpsychologie, daß ein und dasselbe Individuum soziale Person ganz verschiedener Färbung und Ausprägung ist, je nach dem sozialen Kollektiv und nach der sozialen Situation, die im Augenblick bestimmend sind. Je also nach den sozialen Bereichen oder Kreisen, in denen die einzelne Person sich darstellt, zeigt sie ein anderes Oberflächenbild ihrer wesensmäßigen Grundstruktur. In einem Wir-Verband etwa, in dem engen, geschlossenen Kreis der zu einer Gruppe zusammengeschlossenen Menschen, in dem jede einzelne Person vom Wir getragen wird und selbst das Wir trägt, zeigt der einzelne einen anderen sozialen Aspekt als etwa in einer Gefolgschaft, in der er unter Umständen mehr oder weniger latentes Mitglied sein kann. In der engen Du-Beziehung des Paares, die getragen ist von dem Erlebnis stetiger Verbundenheit zwischen dem Ich und dem Du, ergeben sich andere Seiten der sozialen Person als in dem weiteren Kreis der Familie oder gar in dem lockeren Kreis des Berufskollektivs. Mannigfaltige soziale Beziehungen gestalten den jeweiligen sozialen Raum einer Person, und unübersehbar reich und vielfältig sind die Wechselwirkungen zwischen der einzelnen Person und dem ihr zugehörigen sozialen Raum. Auch das darf dabei nicht übersehen werden, daß als wirksame Beziehungen nicht nur die positiven angesehen werden dürfen, sondern auch etwa negative Spannungen, Distanzierungen und Haßgefühle geben dem jeweiligen sozialen Raum seine spezifische Struktur*. Auf dem Hintergrund eines jeweiligen sozialen Umfeldes entwickelt die soziale Person Ansprüche und Anforderungen an sich. Sie entwickelt, allgemein gesagt, ein Anspruchsniveau hinsichtlich ihrer sozialen Geltung. Auch dieses soziale Anspruchsniveau ist gewachsen aut dem Boden des sozialen Feldes, in dem die Person wirkt. Je nach der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kreisen und je nach der Struktur dieser Kreise und der Entwicklungsphase dieses sozialen Kollektivs sind die Ansprüche und Anforderungen der sozialen Geltung andere. Das zeigt sich ganz besonders in der sozialen Rolle, die der einzelne zu spielen prätendiert. Die Persona, das Wunschbild der Geltung und Wirkung auf dem sozialen Grunde, dies erträumte und erstrebte, umkämpfte Bild seiner Geltung, die Maske, hinter der sich das Gesicht verbirgt, zeigt am deutlichsten das Anspruchsniveau, * Zur Charakteristik des sozialen Raumes würde es noch gehören, wenn wir auch die objektiven Umweltgegebenheiten, Stadt, Großstadt, Land, zeitgegebene Ereignisse, Gegenwarts-Vergangenheits-Verbundenheiten, Berufsethos, Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf und wirtschaftlichen Leben und dgl. m., mit hereinzuziehen würden. Sie alle spielen für die Gestaltung der sozialen Person ihre Rolle. Wenn wir sie dennoch hier nur streifen, so geschieht das, weil in der U. H . das Schwergewicht des Erlebens zunächst den zwischenmenschlichen Beziehungen zugewendet ist.
Der soziale Raum vor der Verhaftung
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das der einzelne stellt. Jeder gesunde Mensch strebt nach Selbstbehauptung im sozialen Wir-Bereich und dementsprechend nach Erfolgen; Mißerfolge wünscht er zu vermeiden. Er strebt danach, die einmal erkämpfte soziale Position zu bewahren, evtl. sie zu verstärken; er tendiert, die Persona, d. h. das soziale Bild, das er im Ansehen der anderen einnimmt, zu wahren. Diese Persona, die ja in besonderem Maße mit der Verhaftung beeinträchtigt werden kann, ist es, die schon vor der Verhaftung das gesamte soziale Verhalten bestimmt. Um diese Skizze des sozialen Raumes abzuschließen, ist es notwendig, daß wir uns auch die Dynamik des sozialen Geschehens vor Augen führen. Soziale Kollektive sind niemals statische Gebilde. In der Sprache der Soziologie behandeln wir zwar Gruppen, Gefolgschaften, Familien und Paare wie feste, einmalig gegebene und daher statisch beschreibbare Gebilde; in der Wirklichkeit des sozialen Lebens jedoch unterliegen alle sozialen Kollektive einer ständigen Dynamik der Entwicklung und der Entfaltung, aber auch des Zerfalls und des Vergehens. Es ist hier nicht der Ort, um ausführlich diese Dynamik des sozialen Geschehens zu belegen 2 ; es genügt, darauf hinzuweisen, daß jede Wir-Gruppe ihre Entstehungszeit hat, in der sie wächst, und in der die Verbundenheit der Beziehungen allmählich intensiver wird, daß wir zweitens in dieser Wir-Gruppe eine Phase höchster Verbundenheit und Geschlossenheit unterscheiden können, in der das wechselseitige Tragen von Ich und Wir in jeder Wir-Handlung und in jedem WirGeschehen zum Ausdruck kommt, und daß wir drittens in jedem realen sozialen Geschehen Phasen des Zerfalls, der Auflösung feststellen müssen, in denen die Exklusivität der Wir-Gruppe nach und nach verloren geht, das Anspruchsniveau des Wir allmählich zerbröckelt, das tragende Wir-Moment nach und nach von dem egozentrischen IchMoment abgelöst wird. Diese Zerfallsphasen des Wir, die begleitet sind von einem Übergang des sozialen Kollektivs der Wir-Gruppe zur struktur-homogenen Masse, werden sogleich wieder abgelöst von anderen sozialen Verbundenheiten, die in den Vordergrund treten. Es gehört ja zu den täglichen Erfahrungen des sozialen Lebens, daß auf den Zerfall eines bestehenden sozialen Kollektivs mit Zuwendungen zu anderen neuentstehenden geantwortet, und daß auf die Beeinträchtigung des sozialen Ansehens in einem bestimmten Kreis mit Erhöhung des Anspruchs an Geltung in anderen Kreisen reagiert wird. Diese dynamische Vielfältigkeits- und Strukturverbundenheit des sozialen Geschehens, die häufig nur metaphorisch zu beschreiben ist, und die dennoch zu den Erfahrungen des Alltagslebens eines jeden Menschen gehört, macht das tägliche Leben der sozialen Person aus. Diese ist also nichts Einmaliges, Konstantes, nichts, was man als statisches Objekt beschreiben könnte, sondern sie erfährt phänomenologisch ihre jeweilige Färbung und Prägung durch das soziale Umfeld, von dem sie getragen wird, und von der Entwicklung des sozialen Kollektivs, auf dessen Hintergrund sie steht. 3. Wir verstehen jetzt, daß die Verhaftung mit ihrer zunächst absolut erscheinenden Entsozialisierung und Abtrennung von dem bisherigen Strome des sozialen Geschehens auf den Häftling eine starke, schockartige Wirkung haben muß. Er wird gewaltsam und 2 Ein erster Bericht über die Dynamik solcher sozialen Bewegungen liegt vor in Gottschaidt, Der Aufbau des kindlichen Handelns, Leipzig 1933, und derselbe, Uber Sättigung der sozialen Beziehungen jugendlicher Psychopathen. 13 CgDgesPs.
2 Ohm
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
häufig völlig überraschend aus seinem sozialen Raum herausgerissen; er steht plötzlich der Kahlheit der vier Wände, der Leere und Resonanzlosigkeit der Zelle gegenüber. Es ist daher kein Wunder, daß besonders in der Anfangszeit wie auch später immer erneute Versuche gemacht werden, Beziehungen zu dem bisherigen sozialen Feld wieder aufzunehmen. Zahlreiche Wege werden gesucht, die Isolierung zu unterbrechen, wobei meist nicht so sehr der objektive Inhalt des Mitzuteilenden und Zu-Erfahrenden von Bedeutung ist, sondern das drangartige Bedürfnis zur Mitteilung und zum sozialen Kontakt überhaupt. Ein von Auer befragter Student der Rechtswissenschaften berichtet ihm: „Ich sprach oft laut vor midi hin, nur, um eine menschliche Stimme zu hören;"das Klopfen des Mitgefangenen nebenan (ohne es zu verstehen) gewährte mir einigermaßen Beruhigung". Manche bizarren Versuche, die Anstaltsordnung zu umgehen durch Klopfen und Morsezeichen oder durch Spiegel, die am Fenster angebracht werden, um Menschen auf dem Hofe gehen zu sehen und so die Isolierung zu unterbrechen, das gespannte Lausdien, mit dem der Häftling die Schritte und Stimmen auf den Korridoren verfolgt und bald lernt, einzelne charakteristische Geräusche zu identifizieren, haben ihre psychologische Wurzel in diesem Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt. 5 4
Die Phänomenologie
der
Vorgeschichte
Wenn die Erstinhaftierten in der Regel betonen, daß die Verhaftung für sie ganz überraschend und unerwartet kam, so zeigt sich doch bei tieferer Exploration, daß in dieser krassen Form, wie die Häftlinge es schildern, häufig die Verhaftung nicht ein überraschender Einbruch gewesen ist. In der übergroßen Mehrzahl der Fälle ist das Bewußtsein eines Vergehens lebendig, und dieses Bewußtsein bestimmt mehr oder weniger die Phänomenologie der Vorgeschichte der Verhaftung. Es liegt nicht im Rahmen dieser Untersuchung, sich der Vorgeschichte vor der Verhaftung und ihren interessanten Begebenheiten ausführlich zuzuwenden. Wir müssen uns damit begnügen, einzelne Züge, die auch später in der sozialen Haltung während der U. H. zum Ausdruck kommen, aus der Vorgeschichte festzuhalten. Viele Inhaftierte schildern in mehr oder weniger klaren Worten den Konfliktcharakter, den das unentdeckte Verbrechen oder Vergehen in ihr gesamtes Alltagsleben hineingetragen hat. Das, was man schlechtes Gewissen nennt, und was sich gefühlsmäßig in einem dumpfen, undifferenzierten Bedrohungsgefühl äußern kann, liegt häufig den Stimmungen während der Wochen und Monate vor der Verhaftung zugrunde, insbesondere, wenn äußere Anzeichen dafür sprechen, daß eine Untersuchungeingeleitet ist. Diese Menschen fühlen sich beengt in ihren Zukunftsplanungen; sie sprechen von einem Unsicherheitsmoment, das stärker oder schwächer entwickelt sein kann. Selten nur bringen sie eine militante Bereitschaft auf, trotz dieser mehr oder weniger bewußten Bedrohungen ihr Alltagsleben weiterzuführen. Es entwickeln sich neurotisch anmutende Befürchtungen und Fixierungen an bestimmte Ding- und Geschehens-Komplexe. Einzelne schildern z.B. ihre Furcht vor dem Telefon, das als „Zubehör" 3 einer feindlichen und mit Einbruch drohenden Außenwelt gesehen wird. Asthenische Menschen neigen dazu, mehr oder weniger ernst gemeinte Suizidversuche in dieser angstgespannten Zeit durchzuführen; blinde, panikartige Flucht oder ganz unsinnige 3 Über die Bedeutung des Zubehörs in der Welt der Primitiven vgl. Thurnwald, Psychologie des primitiven Menschen im Handb. der vergleichenden Psychologie. München 1922.
Die Phänomenologie der Vorgeschichte
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Versuche des Sichentziehens und -Versteckens sind hier zu verzeichnen. Eine Zeitspanne von zwei Jahren zwischen Tat und Verhaftung wurde von einer Mörderin als eine „Hölle" empfunden. Versuche, aus ihr durch Selbststellung zu fliehen, waren vom Komplizen vereitelt und mit Stillägen vergolten worden. Ein anderer Täter, gleichfalls Mörder, hatte während der gleichen Zeitspanne sein Delikt in einer psychogenen Zweckreaktion „vergessen" und konnte sich später nur noch schwer erinnern. Es ist charakteristisch, daß die drohende Gefängnissituation und ihre Unannehmlichkeiten in dieser Angstperiode ins Ungemessene übersteigert werden. Die Fama des Gefängnisses und der Behandlungsweisen, denen man dort begegnet, nimmt eine übertrieben ungünstige und schwarz drohende Färbung an. Der Druck kann schließlich so groß werden, daß man es vorzieht, sich selbst zu stellen. Zugleich wächst das Gefühl der Unsicherheit. Allgemeine paranoidgefärbte Stimmungen tauchen auf und zwingen den Probanden zur ständigen, unablässigen inneren Auseinandersetzung mit seiner Situation. Dieser allgemeine diffuse Druck führt schon zu entsprechenden Veränderungen der sozialen Haltung. Die Isolierung in der späteren Gefängniszelle wird vielfach bereits jetzt vorausgenommen. Das eigene Heim, bis dahin als Stätte der Erholung geliebt, erscheint nunmehr gefährlich und unheimlich, weil der Zugriff der Polizei hier am wahrscheinlichsten ist. Infolgedessen sind Überstunden im Betrieb sehr erwünscht und begehrt. Schlimm ist der sonst so willkommene Sonntag. Man wandert von einem Kino ins andere, um im Dunkel versteckt zu sein, aber auch, um die heimliche Angst zu betäuben. Solche Menschen ziehen sich zurück von den Gesellungsmöglichkeiten des Alltags, vermeiden den Umgang mit anderen am Stammtisch und in der Gesellschaft oder zeigen in auffälliger Uberkompensation ein betontey äußeres Anschlußbedürfnis. Es ist verständlich, daß damit eine allgemeine Gereiztheit und Konfliktbereitschaft parallel geht. Bis dahin friedliche Familienväter werden unter dem steten heimlichen Druck recht nervös, verfallen in sonst gar nicht gekannte Grobheiten und Wutausbrüche. Auch eine völlige Auflösung der bisherigen Ordnung und Moral kann verzeichnet werden. Es entspringt daher aus dem Konfliktcharaktei der Situation des unentdeckten Verbrechens, daß manche der Inhaftierten gerade in der letzten Zeit vor der Verhaftung ein recht extravertiertes und auch kostspieliges Leben führten, allen möglichen ablenkenden Genüssen, wie sie die Großstadt zu bieten vermag, sich zugewendet hatten. KAPITEL DER KRISENVERLAUF IN DER § 5
II UNTERSUCHUNGSHAFT
Der äußere Modus der Untersuchungshaft
und die drei
Hauptphasen
1. Die Untersuchungshaft hat ausschließlich das Ziel, Flucht- und Verdunkekingsgefahr zu verhindern. Es stehen infolgedessen dem Untersuchungshäftling eine Reihe von Rechten zu, die bei der Strafhaft fehlen. Der Untersuchungshäftling behält seine eigene Kleidung, kann sich selbst verköstigen lassen, kann sich Zeitungen halten, er darf häufiger Besuche empfangen und Briefe wechseln, als der Strafgefangene, er hat uneingeschränkten Verkehr mit seinem Rechtsanwalt, ihm stehen die bürgerlichen Anreden zu, die bei der Strafhaft fehlen. Die in allen Zweifelsfragen entscheidenden Instanzen 2»
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W a n d l u n g e n w ä h r e n d der UntersuchungsKaft
sind Untersuchungsrichter und Staatsanwalt. Andererseits bringt die U. H., abgesehen von der Straf- und Terminerwartung, auch besondere Belastungen mit sich, die in der Strafhaft als nicht so schwer empfunden werden. Insbesondere ist, sozial-psychisch gesehen, der Untersuchungshäftling auf sich selbst gestellt. Seine im Regelfall übliche Isolierung in der Zelle ist allerdings oft wegen Überfüllung der Anstalten undurchführbar. Er muß sich mit den bevorstehenden Auseinandersetzungen beim Untersuchungsrichter und im Termin abfinden. Das Ungewisse seines Schicksals, die niemals klare Gestalt annehmenden Bedrohungen sind es, die ihn besonders belasten. Der Untersuchungsgefangene ist nicht arbeitspflichtig, bemüht sich allerdings oft intensiv um Beschäftigung. Demgegenüber fehlt in der Strafhaft dies besondere Moment der Vereinzelung. Mehr oder weniger ist eine Rückkehr in ein Wir, wenn nun auch besonderer Färbung, ermöglicht. Der Strafgefangene gehört dem Kollektiv des Strafgefängnisses unweigerlich auf eine abgemessene Zeit an; der Untersuchungsgefangene, dem noch die Hoffnung auf Entlassung geblieben ist, leidet eben unter dieser Unsicherheit seines künftigen Schicksals (Strafgefangene tragen im Gegensatz zum Untersuchungsgefangenen keine eigene Kleidung, die Möglichkeiten zur Korrespondenz und zu Besuchsempfängen sind reduziert, die Beköstigung erfolgt durch die Anstalt, er hat die ihm übertragenen Arbeiten auszuführen und erhält dafür Entgelt). 2. Wenn auch die Form des Ablaufes der U. H . durchaus abhängig ist von der individuellen Persönlichkeitsartung, so läßt sich doch insgesamt paradigmatisch ein Ablauf der U. H . herausstellen. Wir bringen dieses Paradigma am Anfang später folgender Analysen der einzelnen Phasen, um dem Leser den Überblick zu erleichtern. Die Verhaftung stellt in der Regel einen starken Schock dar. Die ersten Tage der U. H . sind bei Erstinhaftierten häufig eine schwere Krise, die sie psychisch außerordentlich tangiert. Im Laufe der dann folgenden Wochen läßt sich eine gewisse Eingewöhnung beobachten. Dementsprechend kommt zum Ausdruck, daß dem Gefangenen der Druck der U. H . leichter geworden ist. Er zeigt wieder Interesse für Vorgänge seiner jetzigen Umwelt, er macht sich mit den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, vertraut und nutzt sie aus. In diese vergleichsweise etwas entlastete Grundhaltung bricht in der Regel mit Zustellung der Anklageschrift eine zweite Krise herein, die in ihren Auswirkungen zwar nicht so depravierend ist wie die erste, die aber dennoch einen deutlichen Stimmungsabfall mit sich bringt. Die Einstellung des Gefangenen wird von nun an eine etwas andere. Er erwartet den Termin und gerät mit der Ankündigung des Termins wiederum in eine dritte Spannungszeit, die verschiedene Formen annehmen kann. Energische Kampflust und Auseinandersetzungsbereitschaft finden sich neben ängstlichem Zaudern und der Neigung, dem Termin am liebsten ganz aus dem Wege zu gehen. Mit dem Termin fällt die Entscheidung. Der Gefangene wird entweder entlassen oder in die Anstalt zurückgebracht, um der Strafhaft zugeführt zu werden. Die Zeit der Unsicherheit der U. H . ist vorüber. 3. Wenn man über größere Erfahrungen verfügt und im täglichen Kontakt Untersuchungsgefangene sieht, so zeigt sich ein psychologisches Hauptmoment, das wir an die
Der äußere Modus der Untersuchungshaft und die drei Hauptphasen
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Spitze setzen wollen, weil es die Gesamtheit des Haltungsstiles bei allen Gefangenen bestimmt. Es ist die durch die Unmöglichkeit der Verfügung über sich und eigene Angelegenheiten zunächst äußerlich bedingte, dann aber auch durch die Gesamtsituation psychisch aufgezwungene Haltung des Passiven, die meist in eine Regression in das Infantil-Hilfsbedürftige, Abhängige hinüberschlägt. Eine der täglichen Erfahrungen ist es, daß die Gefangenen sich nicht nur in allen kleinen Wünschen und Sorgen an den Pfarrer und andere Fürsorgebeamte wenden, sondern auch im Stile dieser Appelle betonen sie ihre Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Sie sind affektiv sehr ansprechbar, neigen mitunter zur Rührseligkeit und zeigen insgesamt eine Haltung, die sehr etwa an die des Kindes oder des Jugendlichen gegenüber der mächtigen Autorität des Vaters erinnert. Diese Regression im Haltungsstil ist durchgängig und charakterisiert nicht nur in den Krisenphasen, sondern auch während der gesamten U. H . den Häftling. Auch in solchen Fällen, wo der Betreffende durch seine bisherige soziale Stellung als Gerichtsbeamter doch über genügende Erfahrungen im Gefängnisleben verfügen sollte, ist diese Regression in das Infantile unverkennbar. Ebenso scheint sie unabhängig von Geschlecht und Lebensalter bzw. Lebensreife zu sein. Höchstens bei jugendlichen Strafgefangenen findet man zuweilen einen dann wieder charakteristischen entwicklungsgebundenen Protest gegen die autoritäre Führung, der freilich eine typische Eigenschaft der Pubertät ist. Es ist bezeichnend, daß diese einmal eingenommene Haltung auch nach der Strafentlassung in der Mehrzahl der Fälle beibehalten wird. Bei späteren Besuchen, gelegentlichen Begegnungen und in Briefen oder Telefonanrufen wird durchgängig dieser Stil beibehalten. Obwohl nun die volle Verfügungsmöglichkeit über sich wiederhergestellt ist und der ehemalige Häftling in der Nutznießung seiner Freiheit steht, beobachten wir dennoch — zuweilen noch nach 20 Jahren — die Neigung, im Bitten um Ratschläge die fremde Autorität f ü r sich entscheiden zu lassen. 5 6
Verhaftung
und
Anfangszeit
1. Wir kommen jetzt zu der eingehenden analytischen Darstellung des psychischen Geschehens während der Untersuchungshaft mit ihren Krisen. Gleichgültig, ob die Verhaftung erwartet wurde, oder ob sie ganz überraschend kam, die Wirkung ist zunächst in der Regel die gleiche. Sie stellt einen außerordentlichen Eingriff in das bisherige seelische Gleichgewicht des Gefangenen dar. Sieverts vergleicht sie mit der „elementaren Wucht einer Naturkatastrophe". Eine von Auer befragte Lehrerin schildert ihre innere Situation mit den Worten: „Ich war außer mir und litt seelische Schmerzen von unbeschreiblicher Dimension". Gar nicht selten herrscht ein Gefühl völliger Vernichtung vor, das tagelang andauern kann, und das sich in körperlicher Schwäche oder Lahmheit äußert. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn die Gefangenen schildern, daß sie geradezu an die Wände der Zelle taumeln, sobald zum ersten Mal die Tür hinter ihnen geschlossen wird. In vielen Fällen zeigt sich, psychologisch gesehen, ein ausgesprochener Affektstupor, ein Insichverschlossensein, ein dumpfes Dahinbrüten, ohne auf äußere Anregungen der Situation recht eingehen zu können. Sie sind „starr vor Schreck" (Sieverts). Aber auch das Gegenteil konnte beobachtet werden: lang andauernde Tränenausbrüche, ein weithin vernehmbares, fassungsloses Schluchzen, Zustände völliger Aufgelöstheit, in denen die Ausdrudesfähigkeit menschlicher Worte versagt, wo man sich nur noch an-
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
schweigen oder durch Haltung und Gebärde Einfluß nehmen kann. Die affektive Sperrung und das Nichtwahrhabenwollen
der Gegenwart sind durchaus
vorherrschend.
Dieses Verhalten der Anfangszeit ist bei den verschiedenen Häftlingen verschieden lang. Es kann von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen, bis zu einer Woche dauern, ja, unter Umständen wochenlang anhalten. Das autistische, in sich gekehrte, unzugängliche Gehaben des Gefangenen mildert sich dann im Laufe der Anfangszeit etwas. Es bleibt aber dennoch die Abkehr von der Gegenwartssituation deutlich bestehen. In einzelnen Fällen entwickelt sich hieraus so etwas wie ein Haltungsstil, der monatelang andauern kann. Es gelingt dann nicht, echten Kontakt zu dem Gefangenen aufzunehmen, der vielmehr sich ganz mit seinen zum Teil selbstgestellten Aufgaben beschäftigt. Der 43jährige Arzt, Dr. E. A., ist des gewerbsmäßigen Verbrechens gegen den § 218 angeklagt, eines Verbrechens, das mit Zuchthaus bedroht ist. E. A. ist ein mittelgroßer, breiter, gesunder und kräftiger Mann, der während der Monate der Inhaftierung keinen Verfall der körperlichen Konstitution erkennen läßt. Geistig sehr intelligent, von großem Interessenbereich, behält er in der U. H. eine streng nach innen gekehrte, sich von allem abschließende Haltung bei und entwickelt dabei eine große Zähigkeit und Willensenergie. Er ist durchaus als sthenisch zu bezeichnen; doch ist aus seinen Schilderungen zu entnehmen, daß er in der Freiheit aufgeschlossener war, weltzugewendet, aktiv, unternehmend. Insgesamt zeigt er eine durchaus stetige, ruhige Grundstimmung ohne Neigung zum Klagen. Diese feste, sthenische Haltung behält er auch in schwierigen Situationen bei, beispielsweise als er vom Tode seiner Mutter und deren Beerdigung hört. Er zeigt im übrigen keine Bereitschaft, sich vor der Verhandlung mit seinem Verbrechen und den möglichen Folgen auseinanderzusetzen. Zwar fühlt er sich in seiner Selbstachtung geschmälert, aber er spürt genügend Vitalität, um sich für später eine neue Aufgabe zuzutrauen. Die Verhaftung traf ihn nicht unvorbereitet; schon seit längerer Zeit hatte er mit dieser Möglichkeit gerechnet. Dennoch war der erste Schock sehr heftig; eine schwere Depression, in der er sich deklassiert und entwürdigt vorkam, wurde ausgelöst. Sein Stolz lehnte sich gegen den Verlust der persönlichen Freiheit auf. Diese Depression wird ruckartig nach einigen Tagen abgeworfen. Von nun an schaltete er die Gegenwart aus und stellte sich als neue Aufgabe die Erlernung der italienischen Sprache. Mit vollster Sammlung und unter Einsatz aller Kräfte gibt er sich dieser neuen Aufgabe hin mit dem Erfolg, daß er nach einigen "Wochen italienische Bücher lesen kann und nach einigen Monaten mit Befriedigung festzustellen vermag, daß er nun auch alle Feinheiten eines Buches zu würdigen in der Lage sei. Diese Sprachstudien werden fortgesetzt; bald übersetzt er französische und englische Bücher in die italienische Sprache. Dagegen lehnt er es strikt ab, medizinische Fachliteratur zu lesen. Er erklärt, daß ihn diese Literatur aus seinem Gleichgewicht bringen würde. Ebenso weigert er sich, philosophische Literatur zu lesen; Kants Schriften seien ihm in dieser Lage völlig unerträglich. Seine Grundstimmung ist durchweg gleichartig, ruhig und gelassen. Bei jedem Besuch trifft man ihn über dem Studium der italienischen Grammatik. Die Gegenwart wird einfach abgeschaltet. Über viele Wochen geht das so weiter. Erst nach Monaten intensivsten Studiums glaubt er, leichte Ermüdungserscheinungen feststellen zu müssen. Er müsse sich jedes Mal einen besonderen Impuls geben, um das Buch weiter zu lesen. Einige Wochen vor dem Termin, in einer Zeit, in der andere Gefangene in höchster Spannung und Erregung leben, wendet er sich dem Studium der spanischen Sprache zu und hat immerhin die Beherrschung, keine anderen Sorgen laut werden zu lassen als die, wie einzelne spanische Konsonanten ausgesprochen werden. Jetzt erwägt er auch, sich aus seiner Privatbibliothek medizinische Bücher kommen zu lassen, fürchtet sich aber vor dem Anblick der Fachliteratur. Bei dem Eintreffen des Buches zeigt er einen Anfall von lautem Zwangslachen und gibt als Erklärung an, daß die drastischen Äußerungen des Verfassers, an die er denken müsse, diesen ohne weiteres ins Gefängnis bringen würden. Andererseits — und darin zeigt sich der neurotische Zug dieser ganzen Stellungnahme — fürchtet er sich vor der Lektüre, weil sie ihm die Schwere seines Berufes vor Augen führen
Verhaftung und Anfangszeit
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könne. D a r a n schließen sich dann Reflexionen über den ärztlichen Beruf und über die Vergehen, die ihm vorgeworfen werden, an. E r beginnt, sich die Verantwortung des ärztlichen Berufes klarzumachen, betont, daß er sie erst jetzt in voller Schwere erfasse. Parallel damit gehen immer wieder Überlegungen, die seinen Aufenthalt im Gefängnis relativieren sollen. E r spricht von der Lächerlichkeit, von der Komödie des Gefängnisaufenthaltes. I m Laufe der Zeit ist seine Einstellung zur sozialen Umwelt immer feindseliger geworden, er übertreibt nach Möglichkeit die K l u f t , die ihn schon jetzt von der normalen Berufswelt trennt. „Fünf J a h r e Zuchthaus würden midi gar nicht rühren". Bildung erschlägt seiner Meinung nach nur die Menschen, hilft aber nicht durch Krisen hinweg. D a n n wieder kommen Äußerungen, in denen er selber zugibt, alles schief zu sehen. D e r Haltungsstil, den E. A. in der U . H . aufweist, hat als hervorstehendes Merkmal eine systematisch und konsequent durchgeführte Verdrängungstaktik mit einem Aufsuchen, j a geradezu einer Flucht in die Vereinzelung. Alle die Inhalte seines psychischen Tageslebens, die in irgendeinem Zusammenhang mit seiner früheren Existenz stehen könnten und den Delikten, die man ihm vorwirft, werden mit erstaunlicher Energie abgeschaltet und verdrängt. M i t sicherem Blick erfaßt er, daß die Verdrängung durch solche Tätigkeiten erreicht werden kann, die sich durch hohen formalen Inhalt auszeichnen und der ursprünglichen Tätigkeit sehr fern liegen. Grammatische, syntaktische oder sprachgeschichtliche Übungen und Aufgaben geben ihm die Möglichkeit zur völligen Objektivierung, auch zur Ausschaltung der Oberflächenschichtung seines Ichs von der gegenwärtigen Situation. Mit einem Sprung löst er sich aus seiner Gegenwartssituation; nur zögernd und durchaus in affektiver Konflikteinstellung erfaßt er die Möglichkeit, durch medizinische oder philosophische Lektüre Anknüpfungen an sein bisheriges geistiges Leben zu suchen. E r will eben jede Zusammenschau und Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Leben vermeiden. Auch will er sich nicht in völliger Klarheit die Verantwortlichkeit seines Tuns vor Augen halten. Später, nach der Verhandlung, gibt er zu, daß das Vokabelnlernen und Grammatikstudium eine Art Betäubungsmittel waren. In der Verhandlung fühlt er sich tiefgekränkt durch eine Bemerkung des Gerichtes, das ihn als unreifen, unausgeglichenen Menschen charakterisiert. U n d doch ist dieses Betroffensein durch die Bemerkung des Gerichtes ein Hinweis dafür, daß die Charakteristik nicht ganz falsch war und von ihm in tiefstem Grunde als stichhaltig anerkannt werden muß. Wenn man sich dieses Vermeiden der Auseinandersetzung, dieses Betäuben durch geradezu rauschhaft betriebene andere Tätigkeit vor Augen führt, diese Haltung, die es ihm mit seinen eigenen Worten gestattet, zum Termin zu gehen wie zum Tanztee, so zeigt sich darin wohl eine konstitutionell bedingte schizothyme Introversion, die insgesamt einen Zug der Unreife hat. I m Grunde weiß er das auch. Wiederholte Fragen: „Sehe ich alles schief?", nach dem Termin die herausstürzenden Gedankengänge, in denen er betont, wie sehr er durcheinander sei, wie lange es dauern würde, bis er wieder Philosophie treiben könne, und schließlich der Selbstschutz, den er entwickelt: „Wie schnell ist das J a h r U . H . vergangen, und wie schnell vergehen drei J a h r e ! " , sind Zeichen seiner inneren Unausgeglichenheit. D i e Auseinandersetzung wird ihm noch bevorstehen in den langen Jahren der Zuchthausstrafe. D a n e b e n finden w i r aber besonders in der ersten Z e i t nach d e r V e r h a f t u n g
eine
H ä u f u n g ausgesprochener P r i m i t i v r e a k t i o n e n . Blindes T o b e n gegen G i t t e r u n d T ü r e n , d u m p f e Aggressionsgefühle gegen irgendwie u n b e s t i m m t e feindliche M ä c h t e t r e t e n
in
Erscheinung. M i t p r i m i t i v e m H a n d w e r k z e u g w e r d e n L ö c h e r durch dicke W ä n d e g e b o h r t , G i t t e r durchsägt, S t ä b e auseinandergebogen, so d a ß i m m e r w i e d e r einmal abenteuerliche Fluchten gelingen. F ü r die evtl. B e g e g n u n g m i t einem W a c h p o s t e n w u r d e ein B l e i r o h r o d e r B e t t f u ß beschafft,
dessen rücksichtsloser
Gebrauch eingeplant
ist. E i n
nicht
ge-
nügend behütetes Schlüsselbund lockt z u r A n e i g n u n g . I n der P o s e eines H a n d e l s v e r t r e t e r s o d e r g a r eines R e c h t s a n w a l t e s Häftling
in d e m
lebhaften
b e w e g t sich der
Getriebe
a u f diese W e i s e a v a n c i e r t e
des g r o ß e n
Untersuchungsgefängnisses,
bisherige vermag
durch seine K a l t b l ü t i g k e i t u n d Sicherheit die B e a m t e n zu täuschen u n d u n a n g e f o c h t e n zu e n t k o m m e n . D a s Geschirr, die Fensterscheiben, das gesamte Z e l l e n i n v e n t a r
werden
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
zerschlagen, Wachbeamte angegriffen. Wo sich die Affekte nicht mehr nach außen entladen können, wenden sie sich gegen den Häftling selber; er bringt sich Schnittwunden bei, verschluckt Glassplitter oder die Gabel, um der verhaßten Anstalt Schwierigkeiten zu machen. Ein Hungerstreik soll die Staatsanwaltschaft zum Einlenken bringen. Audi bitter ernst gemeinte Verzweiflungshandlungen sind gerade in dieser ersten Phase besonders häufig. Sie führen zuweilen zu Suiziden, die eine ganz erstaunliche Vehemenz des Todestriebes erkennen lassen. Ein Polizeibeamter, eingeliefert unter dem Verdacht der Zuhälterei, durchschneidet sich selbst die Kehle, stößt nach Beibringung dieser tödlichen Wunde den auf seinem blutigen Messer ruhenden Fuß des Mithäftlings zur Seite und bringt sich noch eine zweite schwere Verletzung bei, so daß nach Eintreten der Leichenstarre die Halswirbel bloßgelegt sind. Das Blut stand 4 cm hoch in der Zelle, deren Diele abgehobelt werden mußte. Ein siebzigjähriger Erstinhaftierter, nach einem sauberen Leben durch senile Sexualität zum Straucheln gebracht, springt über die Barriere des dritten Stockes und endet auf dem Steinfußboden des Kellers in einem Zustand der Zerschmetterung, den zu beschreiben die Feder sich sträubt.
Es gab Zeiten, wo bei einer Belegschaft von 1200 Häftlingen etwa 2 wöchentlich den Freitod wählten. Mit dem Aufkommen der milderen Handhabung der H a f t sank diese Ziffer stark ab. Jetzt sind Selbstmorde seltene Ausnahmefälle, ohne allerdings ganz aufgehört zu haben. Hingewiesen sei noch auf eine seltsame Ansteckungsgefahr, eine merkwürdige Duplizität. Ein in auffälliger Form verübter Selbstmord wiederholt sich im Regelfall unter ganz gleichen Umständen nach wenigen Tagen in einem anderen Teil der Anstalt. Die größte Wachsamkeit, dicht aufeinanderfolgende Besuche bei den psychisch Labilen vermochten das nicht zu verhindern"". Ein Brand, in der Zelle eines Flügels entfacht, findet sehr bald eine Wiederholung an einer ganz anderen Stelle. Am besten vergleicht man den Schock der Verhaftung mit einem Stoß, der das seelische Gleichgewicht völlig über den Haufen wirft. 2. Es vergehen gewöhnlich Wochen und Monate, bis der Angeklagte die Anklageschrift zugestellt bekommt. In dieser Zeit macht er in der Regel eine wesentliche Änderung durch, die auch in seiner Haltung zum Ausdruck kommt. Nach einer mehr oder weniger langen Erholungszeit erreicht er eine gewisse Festigkeit mit einem freilich im ganzen labilen Gleichgewicht. Wohl finden sich noch gelegentliche Einbrüche affektiver Verzweiflungsstimmungen, indessen das völlig widerstandslose Sichgehenlassen, wie es in der ersten Zeit vorherrscht, ist nun überwunden; die Verzweiflungseinbrüche sind nicht nur an sich leichter, sie werden auch leichter wieder aufgefangen. J a , diese allmähliche „Anpassung", die begleitet ist von einem Entlastungsgefühl, daß nun endlich die Bereinigung der den Gefangenen schon lange belastenden Angelegenheit eingeleitet ist, kann sich zu einem gewissen Gefühl der Behaglichkeit steigern. Die Grundstimmung wirkt jedenfalls relativ gehoben und ausgeglichen. Die einzelnen Gefangenen verhalten sich etwa wie Menschen, die sich mit einer unbequemen und äußerlichen Komfort entbehrenden Gesamtlage abfinden. * Interessante Zahlen über Selbstmorde im Untersuchungs- und Strafgefängnis bringt M a r x in seiner bereits mehrfach erwähnten Studie.
Die Verhaftung und Anfangszeit
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Bei Untersuchungsgefangenen, die nicht erstmalig inhaftiert sind, sondern die diese Situation schon aus einer Reihe von früheren Erfahrungen allzu gut kennen, zeigt sich eine ähnliche und nun relativ schnelle Anpassung an die äußeren Umstände der U. H . Audi hier finden wir ein Gefühl der Behaglichkeit, das aber aus anderen Quellen gespeist wird, aus dem Wissen nämlich, daß die U. H . gegenüber der Strafhaft Erleichterung bietet und die Strafhaft ja nun noch in weiter Ferne schwebt. J e länger die U. H . dauert, umso mehr kommt das ihrer Hoffnung entgegen, daß ein Teil der U. H . auf die Strafe angerechnet werden könnte. Auch späterhin, bei längerer Dauer der U. H . bleibt dieser Unterschied in der Haltung deutlich erkennbar. Der erstmalig Inhaftierte sehnt den Termin herbei und sucht ihn, um sich zu rechtfertigen; der mehrfach Inhaftierte ist durchaus froh darüber, wenn der Termin auf möglichst lange Zeit hinausgeschoben wird. Denn Termin und Verurteilung bedeuten ja den Abbruch dieser gegenwärtigen relativ behaglichen Lage. Erwähnt sei hier noch ein Häftling aus einem Konzentrationslager, der zur Aburteilung verschiedener kleinerer Delikte vorübergehend der Justiz übergeben wurde. E r protestierte wütend gegen das über ihn ergangene Urteil, keineswegs etwa deshalb, weil er es als zu hoch ansah, sondern weil noch verschiedene andere Verstöße ungerügt geblieben seien, das Urteil also wesentlich schwerer ausfallen müsse. Als Untersuchungs- und Strafgefangener war er sicher vor den im Lager geübten Willkürmethoden.
Dennoch bleiben auch hinsichtlich dieses Eingewöhnungsgefühls und der leichten Erschütterungen, die es erfahren kann, von Person zu Person bestehende Unterschiede nidht zu übersehen. Manche Gefangene gewinnen ihre Ruhe erst in den späten Nachmittags- und Abendstunden wieder, wenn allmählich der Tagesbetrieb mit seinen Geräuschen abflaut und der Gefangene nun wieder für eine Nacht sich selbst überlassen wird. Ebenso wird die Pause von Sonnabend mittag bis Montag früh als eine Ruhepause erlebt, welche die Möglichkeit von überraschenden Besuchen durch Rechtsanwälte oder Vorladungen zum Untersuchungsrichter u. dgl. m. ausschließt. Freilich sprechen die Persönlichkeiten dieser in der Minderzahl sich befindenden Fälle dafür, daß es sich bei diesem Begrüßen und Herbeisehnen der geschäftsleeren Stunden um eine Flucht vor dem gesamten Justizapparat handelt, die wohl als Nachwirkung des besonders heftigen Schocks der überraschenden Verhaftung anzusehen ist. In der Mehrzahl der Fälle werden die geschäftsleeren Stunden der Feiertage sowie die geschäftsfreien Stunden am Abend, am Sonnabend und Sonntag als schwere Belastung und verlorene Zeit angesehen. Ein äußerlicher Unterschied im Leben der Gefangenen liegt ja kaum vor, abgesehen davon, daß sie sonntags eine Gelegenheit zum Kirchenbesuch haben und damit zur Unterbrechung der Monotonie der H a f t . D a wohl unabhängig von der bisher geübten Haltung des Gefangenen zu Kirchenbesuch und religiösen Fragen in manchen Fällen ein echtes Bedürfnis nach Besuch des Gottesdienstes vorliegt, so sollte man annehmen, daß der Sonntag, der diesen Gottesdienst mit sich bringt, immer als ein „ausgezeichneter" Tag begrüßt wird. Indessen zeigt sich, daß das Gefühl, gleichsam nutzlos einen Tag im Gefängnis verbringen zu müssen, durchweg das vorherrschende ist. Überhaupt ist zur Aufrechterhaltung des inneren Tenors der Gefangenen das Bewußtsein notwendig, daß ihre Angelegenheit unablässig von den in Fage kommenden Instanzen (Untersuchungsrichter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt) bearbeitet und weitergetrieben wird. Insgesamt aber läßt sich sagen, daß gerade diese erste Zeit, die eintritt, sobald der erste Schock nach der Verhaftung überwunden ist, den Charakter des Eingeklammerten erhält. Das Ende dieser Zeit wird zwar mit Spannung erwartet und auch vorausgesehen; sie hat psychologisch etwas Uneigentliches an sich, das noch nicht endgültg ist. Die Be-
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W a n d l u n g e n während der Untersuchungshaft
Sonderheit der Untersuchungssituation steht in mehr oder weniger bestimmter Weise im Vordergrund, das Hoffnungsgeladene stellt sich allmählich wieder ein. D a s eigenartige Erleben des Uneigentlichen, Eingeklammerten des Zeitablaufs in dieser Epoche, das mitunter fast den Charakter von Ferien, von Freisein von dem Trott und der Last des Alltags annehmen kann, gestattet nun auch, daß der Gefangene mehr und mehr äußere Formen der Anpassung an diese gegenwärtige Situation sucht und gewinnt. In dieser Zeit werden z. B. Pläne der Tageseinteilung aufgestellt. Ein Untersuchungshäftling zerlegte in strenger Selbstdisziplin seinen T a g in Minuten; es gab ihm Festigkeit, diesen strengen Tagesplan genau einzuhalten. Eine bestimmte Zeit des V o r m i t t a g s w a r f ü r eine bestimmte L e k t ü r e vorgesehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt w u r d e die Zelle geputzt und w u r d e n körperliche Ü b u n g e n durchgeführt, mittags w u r d e in einer nach Minuten festgelegten Zeit die Zeitung gelesen, a m N a c h m i t t a g w a r e n zwei Stunden wieder f ü r eine andere L e k t ü r e vorgesehen u. dgl. m. Ein solch festgelegter T a g e s plan, dessen E i n h a l t u n g umso mehr Selbstdisziplin e r f o r d e r t , als ein äußerer Z w a n g in keiner Weise v o r h a n d e n w a r , der das Gegenteil darstellt v o n dem vielfach üblichen D a h i n d ä m m e r n und in T a g e s t r ä u m e n die Zeit Totschlagen, ist Ausdruck des allgemeinen, sehr s t r a f f e n Disziplinierungswillens des V e r h a f t e t e n selber.
Einzelne Gefangene beginnen in dieser Zeit, auch sich selbst Aufgaben und Arbeiten zu geben, die sie mit den primitiven Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, bewältigen können. Einer erfand täglich neue Rösselsprungrätsel und hatte schon eine ungeheuere Anzahl (6000) Worte für Rätsel zusammengestellt. Ein anderer beschäftigte sich mit Flugzeugmodellen und ihren Verbesserungen, ein dritter, jugendlicher Zeichner, zeichnete unentwegt Automodelle, ein vierter entwarf die Komposition einer Fuge für zwei Gitarren. O f t spielt er im Geiste Gitarre und trainiert dabei Fingerfertigkeit. Über die auf einem Stück P a p p e abgezeichneten Tasten eines Klaviers rasen die H ä n d e eines Musikers, der sich zum Konzert übt, der Gegenwart völlig entrückt. Andere hingen T a g e und Wochen hindurch spekulativen Ideen nach, die schon den Charakter des Tagtraumartigen annahmen, und denen eine reale Bedeutung nicht zukam. Wenn beispielsweise in allen Einzelheiten der Gedanke ausgemalt wird, was würde N a p o l e o n in der Gegenwart tun, oder wie ließe sich der Brennstoff für Flugzeuge wesentlich verbessern u. dgl. m., so sind das tagtraumartige irreale Spekulationen, deren T r a u m charakter als Mittel der Zeitausfüllung wirkt. Als eine Virtuosin im Tagträumen erwies sich ein 23jähriger weiblicher Häftling. U m die erdachte Gestalt einer Ungarin mit glutvollen Augen wob sie ganze Romane. Drei Männer kreisten in ihrer Phantasie um dieselbe. Wer würde am besten zu ihr passen? Wer würde sie erobern? Die Zeit verging darüber im Fluge. D i e 36 J a h r e alte U . E . hatte sich zugleich mit ihrem E h e m a n n wegen U n t r e u e vor dem Gericht zu v e r a n t w o r t e n . Beide w u r d e n später z u 9 M o n a t e n G e f ä n g n i s verurteilt. U . E . ist eine kleine, mittelbreite, hagere F r a u , in gutem Gesundheitszustand, leptosom, haltreich. Sie spinnt sich in allerlei Lieblingsgedanken ein, wobei sie die N o t w e n d i g k e i t zur inneren A u s e i n a n d e r s e t z u n g vergißt. U . E . w a r Kellnerin in einem großen Betriebe, in welchem ein ständiges K o m m e n u n d Gehen herrschte. Sie mußte deshalb die Abgeschiedenheit v o n dem flutenden Getriebe u n d das G e b a n n t sein an denselben R a u m als besonders scharfen G e g e n s a t z empfinden. N u n ist sie z w a n g s w e i s e zur Beziehungsarmut genötigt; immer wieder der gleiche R a u m , die gleichen Menschen, das gleiche T a g e s p r o g r a m m , d a s alles s c h a f f t eine Ü b e r s ä t t i g u n g . Als R e a k t i o n auf diese Ü b e r s ä t t i g u n g beobachteten wir eine intensive T a g t r ä u m e r e i : „ich phantasiere v i e l " . I m T a g t r a u m w i r d die ab-
Verhaftung und Anfangszeit
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geschnittene Verbindung zu dem sozialen Umfeld wiederhergestellt. Das verletzte Eigenwertbewußtsein hält sich schadlos, indem es im Traume die schönsten Zukunftsschlösser baut.
Insassen von Konzentrationslagern haben später berichtet, daß das Tagträumen ein gutes Mittel gewesen sei, mit der trostlosen Gegenwart fertigzuwerden. Eine Frau lebte sich in die Rolle einer Millionärin hinein, eine andere in die einer Ärztin. Ein Mann erbaute sich im Tagtraum ein Siedlungshaus und richtete es bis in alle Einzelheiten ein. Die Schwierigkeit jedoch, eine solche erdachte und über lange Zeit gespielte Rolle wieder aufzugeben, führte später zuweilen in kriminelle Handlungen. Es ist bezeichnend, daß wir in dieser Phase gleichzeitig ein stetig zunehmendes Erblassen des Drohungscharakters des Termins und der Verhandlung beobachten können. Termin und Verhandlung rücken mehr und mehr in die Phase der Irrealität. Es bleibt bewußt und bekannt, daß sie einmal eintreten werden; aber für die Gegenwart haben sie nicht mehr bestimmende Bedeutung als die allbekannte Tatsache, daß der Mensch einmal sterben muß. Täglich rückt der Termin in weitere Ferne, täglich wird auch die bisherige Vergangenheit blasser und das Verbrechen oder Vergehen, das den Gefangenen in die U . H . gebracht hat, entschuldbarer. Psychologisch gesehen, liegt insgesamt ein Phänomen vor, das wir auch sonst aus der Affektpsychologie kennen. Nach schweren affektiven Zuständen, wie etwa nach Trauer oder Zorn, finden wir ein allmähliches Verblassen des Affekts, verbunden mit einem Sicheingewöhnen in die neue Lage, die zunächst fast unerträglich erschien. Man kann in einem Bild sagen, daß die Trauer gleichsam sich selber verzehrt. Ähnliches gilt von den meisten affektiven Zuständen, die wir auch in der U . H . vorfinden. Wohl immer ist, wenn nicht am Anfang durch Primitivreaktionen etwas Unabänderliches geschieht, die Folge der langen Dauer der U. H . eine Erleichterung der psychischen Situation in Form einer stetig anwachsenden Anpassung. Damit steht in Verbindung, daß auch die körperliche Beschaffenheit der Untersuchungshäftlinge im Laufe dieser ersten Phase nicht sonderlich beeinträchtigt ist. Die Umstellung auf die neue Ernährung, auf die mangelhaften Lüftungsverhältnisse, auf die geringe Möglichkeit zur Bewegung wird im großen und ganzen ohne starke körperliche Beeinträchtigung erzielt. Generell zeigt sich zwar ein gewisses Nachlassen des Körpergewichts und auch eine gewisse Depravierung der vitalen Person; hin und wieder Anfälligkeit für leichtere Erkrankungen, geringere Widerstandsfähigkeit gegen (vorwiegend psychische) Alteration, sind durchgängig zu verzeichnen. Im ganzen aber wird die Umstellung auf die neuen biologischen Lebensverhältnisse von den gesunden H ä f t lingen erreicht. Erst in der Aufregung des Termins stellen sich vereinzelt auch körperliche Sensationen ein, Kribbeln in der Hand sowie Herzbeschwerden. Bei dem 25jährigen Musiker R. H . entwickeln sich nach der Verurteilung psychogene Beschwerden in der linken Hand, die auch zu einer psychogenen hysterischen Lähmung führen. R. H . ist wegen Verstoßes gegen § 176 unter Anklage gestellt; die spätere Verhandlung endigt mit einer Verurteilung zu einem J a h r Gefängnis. Aus seinen Schilderungen geht hervor, daß er, in der Regel sexuell inaktiv, durdi Alkoholgenuß enthemmt, sich zu einer unsittlichen Berührung eines Kindes hinreißen ließ. R. H . ist ein großer, schmaler, hagerer Mann, von schwächlicher Allgemeinkonstitution, lebhaft, mit naiven Zügen. Von Anfang an zeigt er neurotische Symptome; seine Grundstimmung ist depressiv. Von der Verhaftung und Verurteilung wird er aufs schwerste getroffen. Ihm sei
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
zumute gewesen, als ob er einen Schlag vor den Kopf erhalten habe. Im Augenblick der Verurteilung habe er Schmerzen wie Nadelstiche im Ringfinger und im kleinen Finger der linken Hand verspürt, die dauernd anhielten und zu einer Lähmung der beiden Finger führten. Die beiden Finger könne er nur noch mit der gesunden Hand passiv bewegen. Bei R. H . fallen die stark hysterischen Züge auf. Er ist als Musiker aufgeschlossen, empfänglich, reaktionsbereit, andererseits der sozialen Umwelt hingegeben und von ihr abhängig. Er verfügt nur über wenig Energien und wenig Fähigkeiten zur willensmäßigen Beherrschung. Das haltlos Weiche und das konstitutionell Asthenische sind der Boden, auf welchem die psychogene Lähmung sich entwickelt. Schwer betroffen von der Strafe, verliert er sich in fortgesetzten haltlosen Klagen und Anklagen seiner selbst. Einen Widerstand gegen Anforderungen der Haftsituation vermag er nicht aufzubringen, und der Abschluß von der Außenwelt ist für ihn, der auf andere immer stark angewiesen war, und für den der Bruder vielfach leitend entschied, unerträglich.
3. Während so die mit dem Schock der Verhaftung gegebene erste Krise langsam abklingt und eine gewisse euphorische Leere an ihrer Stelle Platz zu greifen scheint, lassen sich in dieser Zeit nun auch Anzeichen der Auseinandersetzung mit der sozialen Situation der U. H . finden. Erste vorläufige Auseinandersetzungstendenzen mit der Realität der U. H., die freilich noch einen relativ vorläufigen Charakter haben und gern immer wieder hinausgeschoben werden oder unerledigt steckenbleiben können, finden wir in allmählich auftauchenden Spekulationen und Reflexionen über das Problem von Schuld und Sühne. Es ist wieder bezeichnend, daß sehr häufig diese Spekulationen zunächst einen sehr allgemeinen Charakter annehmen und noch gar nicht mit dem eigenen Ich, welches das Recht verletzt hat und eine Sühne erwartet, sich befassen. In dieser Zeit hört man häufig Äußerungen, die allgemeinste Motive für die Tatsache des Aufenthaltes in der U. H . verantwortlich machen. Nicht selten wird allgemein das Schicksal angeklagt, das die Betreffenden hierher geführt habe. Auch bezeichnet sich der Gefangene, was im übrigen wohl auf dasselbe hinauskommt, als das Opfer der Gesellschaft, oder nun schon mehr in einer Ich-nahen Wendung erklärt er seine Bereitschaft, ein Opfer zu bringen für Gesellschaftszustände oder für andere Personen. Es ist verständlich, daß die leidenschaftlichen Versicherungen der Unschuld und zugleich die Anklage, daß Unrecht geschehe, besonders häufig in dieser Zeit zwischen Verhaftung und Anklagezustellung geäußert werden. Dabei läßt sich an einzelnen Fällen beobachten, wie ein solches zunächst unspezifisch geäußertes, gleichsam blindes Abstreiten jeder Schuld für gewisse Untersuchungsgefangene stures Leitmotiv des gesamten späteren Handelns wird. Je nach Intelligenz und geistiger Differenzierung, aber auch nach der Persönlichkeitsartung, finden wir hier die verschiedensten Formen von verschlagenen Kämpfen unter dem Aspekt der Unschuld oder der geringeren Schuld bis zum sturen Abstreiten auch gegenüber stärksten Indizien, bis zur blinden, unkämpferischen Abkehr von allen Realitäten der Verbrechens- und Anklagesituationen. Das Problem des Geständnisses wird in dieser Phase zum ersten Mal in dem Untersuchungsgefangenen wach, wenn es auch häufig noch nicht mit einer solchen Unmittelbarkeit auftritt, daß endgültige Entscheidung notwendig erscheint. Immerhin pendeln gerade in dieser Phase relativer Entspannung die Gedanken des Untersuchungsgefangenen hin und her zwischen den Polen der Ablehnung und der Ablegung eines Geständnisses. Gar nicht selten und nur für den Außenstehenden überraschend, trifft man dann auf Gefangene, die von uneingestandenen Taten gleichsam wie von Erinnyen verfolgt werden, und die immer wieder sich mit dem Gedanken eines Geständnisses
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einer bisher manchmal sogar unbekannten Tat beschäftigen. Es liegt hier eine eigenartige Verquidkung tiefenpsychologischer Momente vor, deren Reaktivierung durch die allgemeine Regression in das Infantile, welche die U. H . in der Regel mit sich bringt, begünstigt wird. Das gilt nicht nur von dem Geständnis, sondern häufig von der trotzigen Ablehnung des Geständnisses, die auch dann beibehalten wird, wenn sie völlig unzweckmäßig geworden ist. In beiden Haltungen steckt etwas Infantiles, Unausgegorenes, sowohl in der Neigung des weichen und braven Zugestehens der Taten, verbunden mit einem unklaren Bestrafungsbedürfnis, wie auch in der trotzigen Abwehr einer mit Fakten drohenden Außenwelt und in der Flucht in infantiles Ableugnen. In Fällen schwerer Delikte, vor allem bei Morden, verlangt das Problem des Geständnisses nun allerdings gebieterisch eine Lösung. Dafür sorgen schon die nachdrücklichen polizeilichen und richterlichen Vernehmungen. Durchgehendes Abstreiten unter dem wachsenden Druck der Indizien ist selten. Der hartnäckige Leugner gibt freilich nur zu unter dem Druck von Beweismaterial; er leugnet in Einzelheiten weiter und ist weder durch Freundlichkeit noch durch Strenge umzustimmen. Dauernd wechselt er seine Einlassungen. Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit, ja sogar Lachen, weil ihr gerade etwas Komisches einfiel, obwohl es um einen Mord geht, zeigt eine Schwachsinnige. Manche Angeklagte bevorzugen ein schriftliches Geständnis. Aus der Feder fließt leichter, was der Mund einzugestehen sich immer noch sträubt. Zu starker Druck ruft Widerstand hervor: „Drängeln Sie nicht so sehr; ich sage gar nichts mehr". Anschreien führt zu Trotz oder ins Schweigen. Gütiges Zureden dagegen läßt die letzten Hemmungen schwinden. Auch Apathie kommt auf, in der man bereit ist, jedes Protokoll zu unterschreiben, auf Wunsch auch zehn Morde zuzugeben. Ein Proband ist so erregt, daß er am ganzen Körper zittert; er bricht in Tränen aus und gesteht nunmehr frei und offen, ohne jeden Versuch zum Leugnen. Ein anderer hält den Kopf nach unten geneigt, legt ihn dann auf den Tisch, fängt an zu schlucken und bekommt feuchte Augen. Dann erfolgt das Geständnis. Ein dritter neigt den Kopf, atmet tief, beugt sich nach vorn, stützt das Kinn und macht Schluckbewegungen. Dann gesteht auch er unter vier Augen. Schluckbewegungen sind oft ein charakteristisches Anzeichen des bevorstehenden Geständnisses. Mit aufgestütztem Kopf und verschlossenem, finsteren Gesichtsausdruck brütet ein Schwerbeschuldigter vor sich hin. Wiederholt sind unterdrückte Seufzer vernehmbar. Nicht Verstocktheit, sondern die Schwere der auf ihm lastenden Tat macht die Vernehmungen sehr zeitraubend. Den Oberkörper nach vorn geneigt, beginnt eine weibliche Probandin zu weinen. Sie stützt sich, mit den Ellbogen auf die Oberschenkel und weint weiter. Nur vorsichtig und mit Pausen gehen die Vernehmungen vor sich. Abgerissene Sätze, dürftige Antworten, teilweiser Widerruf, längere Zonen des Schweigens sind Symptome für die Härte der inneren Auseinandersetzung. Eine Tasse Kaffee, eine Zigarette, etwas Tabak bedeuten in diesen Augenblicken der höchsten Spannung eine sehr große Wohltat. Ein Proband hat während der Vernehmungen sechs im wesentlichen gleichlautende Geständnisse abgelegt und immer erneut widerrufen. Jedes Mal spricht er von einem Unbekannten, der die Tat verübt habe. Das Motiv für dieses seltsame Verhalten ist keineswegs der Versuch einer Täuschung, sondern die neurotisch anmutende Flucht vor dem eigenen dunklen Persönlichkeitsanteil, aus welchem die Antriebe zu der ihm selber
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
später unbegreiflich erscheinenden T a t stammen. Er sieht das später auch ein und erklärt: „Ich verabscheue mich selbst und bitte um die Höchststrafe". Ein anderer zog sich während der Vernehmungen immer stärker in sich selbst zurück, baute eine immer höhere Mauer um sich, stockte, wenn das Gespräch eine Wendung zu seiner Straftat nahm, und versank schließlich in völliges Schweigen. In der Hauptverhandlung erklärte er, daß er nichts aussagen könne. Der Sachverhalt mußte durch andere festgestellt werden. Später äußerte er, daß er in diese Haltung gegangen sei, weil er sich als bloßes Objekt der Vernehmungen gefühlt habe. Ein sich anbahnendes Geständnis vor einer Ärztin, zu der er wegen ihrer Verständnisbereitschaft Vertrauen gefaßt habe, sei wegen ihrer Versetzung steckengeblieben. Sieverts weist darauf hin, daß Objektbehandlung den Gefangenen verschließt. Instinktiv gehe er zu dem Verhalten: „Wie du mir, so ich dir" gegen den Richter über. 4. Trotz aller nach außen hin erreichten Anpassung in dieser Zeit vor dem Termin darf nicht übersehen werden, daß der Charakter des Eingeklammerten der Zeitspanne bestehen bleibt. Damit geht es Hand in Hand, daß ein Gefühl, das man dem der „Heimlosigkeit" 1 an die Seite stellen kann, bei vielen, besonders bei den geistig diffe1 Vgl. Johanna Meuter, Die Heimatlosigkeit, ihre Entwicklung auf Verhalten und Gruppenbildung der Menschen. Ergänzungsheft z. d. Kölner Vierteljahresheften für Soziologie . . .
renzierten Untersuchungsgefangenen vorherrschend bleibt. Aus dieser Heimlosigkeit heraus entwickeln sich gerade in dieser ersten Phase manchmal bizarre Formen einer Pseudosozietät, die immer wieder ein Licht auf die Persönlichkeiten in der U. H . werfen. Wir verzeichnen hier ein manchmal sehr zähes Festhalten an den alten sozialen Beziehungen und auch Verpflichtungen. Um sie nicht zu gefährden, wird bei der Untersuchungsbehörde beantragt, den Namen geheimzuhalten. Gerade in dieser Zeit noch treten Sorgen auf um Dinge und Ereignisse, die schon in der Zeit vor der Verhaftung angebahnt sind. Jetzt wird auch, um das Eingeklammerte der Zeit zu betonen, hin und wieder die alte Berufsbeziehung in besonderer Weise gepflegt und durchdacht. Ein Verhafteter, der im Privatleben Lehrer war, unterrichtete lange Zeit hindurch seine Schüler weiter, wobei er einen bemerkenswerten Grad der Dinglichkeit seiner Phantasien erreichte, so daß ihn etwa das Versagen von Schülern und die Tatsache, daß sie alle „Kohlköpfe" waren, noch jetzt beschäftigen. E . F., 34 Jahre alt, wird wegen Vergehens gegen § 175 a zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. E r ist einziges Kind seiner Eltern, die beide von Geburt taubstumm sind. Nach dem Besuch des Gymnasiums und Absolvierung von zwei Semestern Philologiestudium hatte er sich als Privatlehrer betätigt; sein Zirkel umfaßte etwa 12 Schüler. E . F. ist ein kleiner, schmaler, hagerer Mann, in gutem körperlichen Gesundheitszustand, ein schizothymer, introvertierter Charakter; zäh und haltreich beharrt er in seiner zuversichtlichen Grundstimmung. Eine Notwendigkeit zur inneren Auseinandersetzung lehnt er ab. In seinem Selbstvertrauen ist er unerschüttert und wird in diesem immer aufs neue gestärkt durch seine Eltern. D a E. F. Ehrenämter in staatlichen und kirchlichen Organisationen innehatte, trifft ihn besonders hart das Entehrende des Gefängnisaufenthalts. Der Verlust der Freiheit, das Starren auf die Tür ohne Drücker, das Diffamierende der Situation belasten ihn schwer. E r braucht längere Zeit, um die Depressionen zu überwinden, bleibt dann aber in einer gleichbleibenden Stimmungslage. Nunmehr übt er Sprachen, sieht seine Schüler, seine „Kohlköpfe" vor sich und sinnt über Methoden, ihnen die Regeln der Grammatik klarzumachen. Das ihm zur Last gelegte Delikt leugnet er vom ersten Tage an über die Verurteilung hinweg bis in die Strafverbüßung hinein. Zu
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einer inneren Auseinandersetzung mit seiner Straftat gelangt er nicht. Diese wird einfach als nicht geschehen beiseitegeschoben. Nicht eine ethische Auseinandersetzung mit ihr bereitet ihm Not, sondern Dinge sekundärer Art, wie der Verlust der Ehrenämter und der Verfügung über sich selbst. Nachdem dieser Verlust verschmerzt ist, befindet er sich in einer gleichbleibenden Stimmungslage; denn das Innere, aus welchem neue Erschütterungen kommen könnten, ist gar nicht attackiert. So setzt er einfach da an, wo er aufgehört hat, als wäre nichts geschehen: er fährt mit seinen Lektionen fort. Auch da ist es bezeichnend, daß er nur Regeln der Grammatik übt; er trainiert von einseitigem schulmeisterlichen Standpunkt Technik, läßt uns aber nicht einen Blick in die Fähigkeit tun, auch ein großes zusammengehöriges Ganzes zu überschauen. Ein anderer, Diakon, arbeitete unentwegt Predigten aus und hielt sie an ein erträumtes Publikum, mit dem er die Zellenwände belebte. Solche Versuche, die Berufstätigkeit mit in die U. H . hineinzunehmen, die wir besonders in der ersten Zeit zu verzeichnen haben, die aber auch in einzelnen Fällen während der gesamten U. H . beibehalten werden, geben zugleich dem Untersuchungsgefangenen die Möglichkeit, seine Gedankengänge von sich abzulenken und die notwendige innere Auseinandersetzung mit der Tat und ihren Folgen an die Peripherie seines Seelenlebens zu schieben. Der 48jährige Fuhrunternehmer C. R. ist des Meineides angeklagt. Er wird zu drei Monaten Gefängnis verurteilt unter Anrechnung der U. H. und mit dem Tage des Termins entlassen. C. R. ist ein kleiner, breiter, dicker Mann, in kräftigem, guten Gesundheitszustand. Er besitzt nur einen beschränkten Gesichtskreis, wird aber von der Kundschaft geschätzt, weil er als zuverlässig und ehrlich gilt. Ganz aufs Praktische gewendet, faßt er sich nach einem sehr starken Anfangsschock bald und behält seine zuversichtliche Grundstimmung stetig bei. Eine innere Auseinandersetzungsbereitschaft besteht nicht, nach dem ersten Schock auch keinerlei Erschütterung seines Selbstvertrauens und seiner. Zuversicht. In den ersten Tagen freilich ist er völlig fassungslos, weint und schluchzt, verbringt schlaflose Nächte und ist besonders dadurch erregt, daß die Anzeige durch seinen Schwiegersohn erfolgt ist. Seine Hauptsorge gilt dem Geschäft, von dem er annimmt, daß es vernichtet sei; die Kundschaft könne sidi verlaufen. Immer wieder kehrt er zu diesem Gedanken zurück. Ihm wird ein Zellengenosse gegeben, was sofort zu einer Entspannung führt. Er freut sich, daß der andere kein Schwerverbrecher ist, und nimmt mit ihm ein kameradschaftliches Beziehungsverhältnis auf. Als ihm bald nun auch mitgeteilt werden kann, daß das Geschäft von seiner Frau aufrechterhalten wird und keine Einbuße erlitten hat, beruhigt er sich schnell und zeigt von nun an keinerlei Schwankungen seiner inneren Haltung mehr. Er schlägt die Zeit vergnügt durch allerlei Spiele mit seinem Zellengenossen tot. Audi der Termin regt ihn nicht weiter auf. „Das Geschäft geht ja weiter". Nach kurzer Freiheitsstrafe kann er, ohne eigentlich ernstlich berührt zu sein, nach Hause und zu seinem Beruf zurückkehren. Für C. R. war die Verhaftung vor allem ein Schock, der ihn in seinem gewohnten Arbeits- und Berufsleben erschütterte. Sein gesamtes soziales Wirken, seine gesamte soziale Person waren mit seinem Ansehen als Fuhrunternehmer identisch. Er war froh darüber, daß er als zuverlässig und tüchtig galt, und eigentlich nur in diesem Punkt zu erschüttern. Der Gesichtspunkt der ökonomischen Sicherstellung durch die wirtschaftliche Tätigkeit in seinem kleinen Kreise war es, was seinem Leben Inhalt und Sinn gab. Andere Schichten der Persönlichkeit, etwa moralische Betrachtungen seiner Straftat oder Reflexionen über die Brüchigkeit seines Familienlebens, blieben völlig wirkungslos; derartige Gedanken lagen außerhalb seines engen Interessenkreises. Dagegen distanziert er sich von Schwerverbrechern, die doch etwas ganz anderes seien, und behält insgesamt auch trotz der Verurteilung eine gewisse kleinbürgerliche moralische Überheblichkeit bei. Solche Versuche, die Berufstätigkeit mit in die U. H . hineinzunehmen, sind zahlreich und hängen jeweils von der bisherigen geistigen Beschäftigung des Mannes ab. Auch wenn die gesamten Interessen, Wünsche und Bedürfnisse gleichsam von sich weg proji-
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
ziert und auf eine Person der Außenwelt, die bisher wenig im Vordergrund des seelischen Lebens stand, geworfen werden, liegt ein ähnlicher psychischer Medianismus vor. Der Kutscher O. J., 67 Jahre alt, ist wegen Blutschande, an seiner minderjährigen Tochter begangen, in die U. H. gekommen und wird mit 1 Jahr 3 Monaten Zuchthaus bestraft. O. J. war dreimal verheiratet. Die erste Frau ist verstorben, die zweite Ehe wurde geschieden, und auch seine jetzige Ehe bezeichnet er als zerrüttet. Nach dem Bericht der Fürsorgerin macht die Frau, die Ehebruch getrieben haben soll, keinen guten Eindruck. Es hat heftige und lärmende Szenen gegeben, in denen meist die Frau ihn bedrohte. O. J. ist ein mittelgroßer, schmaler, alter Mann, der im Gewicht zunächst sehr abfällt, aber nach Überwindung der Krise sich bald wieder rundet. Er ist nicht ohne Intelligenz, hat aber eine nur mangelhafte Schulbildung genossen und besitzt ein sehr geringes Wissen. Er wirkt gutartig, ein wenig geschwätzig. Die Grundstimmung ist zunächst sehr labil, haltlos, völlig verzweifelt; er faßt sich aber bald und zeigt dann eine gleichbleibende zuversichtliche Haltung, in der er mit klaren Worten die Notwendigkeit einer Strafe anerkennt. Bei der Einlieferung in die Anstalt ist O. J. völlig aufgelöst und verzweifelt. Er weint hoffnungslos, kann vor Schluchzen kein Wort hervorbringen, taumelt gegen die Wand. Dieser Zustand hält nach schlafloser Nacht noch ein, zwei Tage vor; dann weicht langsam die affekt-stuporöse Haltung. Er beginnt, gleichsam aus seiner Betäubung auftauchend, von quälenden Sorgen um das Wohlergehen seines Sohnes erfüllt zu sein, den er wegen seines ruhigen, freundlichen Wesens als seinen Liebling bezeichnet. Diese Sorgen sind für ihn neu. Vor der Verhaftung freute er sich wohl über die Anwesenheit seines Sohnes, wenn dieser zu Besuch kam, aber ein besonderes Fürsorgeund Schutzbedürfnis ist von seiner Seite nie recht zum Ausdruck gekommen. Da er über „dumme Gedanken" (vage Suizidideen) klagt, wird ihm ein Zellengenosse beigegeben, was sofort zu einer wesentlichen Entspannung, Beruhigung und Wiederherstellung seines Gleichgewichtes führt. Die eigentliche Besserung in seinem Gesamtbefinden tritt aber erst ein, als ihm am vierten Tage nach seiner Nachfrage mitgeteilt wird, daß es seinem Sohne, der in einem Arbeitsdienstlager fern von Berlin steht, durchaus gut gehe. Er erholt sich nun überraschend schnell. „Ich fühle mich wohl, das Essen schmeckt mir, in der Nacht wache ich bloß einmal auf". Mit seinem Mitgefangenen kommt er auf die Dauer doch nicht gut aus. Dieser ist erheblich jünger als er, ihm geistig aber überlegen; da er seine Briefschaften erledigen muß, wird wohl diese Überlegenheit allzu deutlich hervorgekehrt. Dies führt zu Spannungen und Konflikten; er bittet um einen anderen Zellengenossen und erhält nun einen noch jüngeren, im geistigen Niveau ihm etwa gleichen Mitgefangenen, der sofort akzeptiert wird, „der zu mir genau so wie mein Sohn ist". Von dem Moment ab nun, wo ihm zum ersten Mal mitgeteilt worden ist, daß es seinem Sohne wohl geht, läßt er sich diese Versicherung bei jeder Gelegenheit wiederholen; immer wieder fühlt er sich geborgen und entspannt in seinem Wissen, daß es seinem Sohne gut geht. Ja, er verliert bald gänzlich jedes Interesse an seinem eigenen Schicksal, identifiziert geradezu sich und sein Schicksal mit dem des fernen Sohnes, auf welchen er sein Ich projiziert hat. Die weitere H a f t mit ihren zu Krisen Anlaß gebenden Gelegenheiten wie Zustellung der Anklageschrift, Termin usw. berühren ihn überhaupt nicht. Seinem Sohn geht es gut, und damit ist das Optimum dessen erreicht, was für ihn Bedeutung hat. Mit dieser fast täglich wiederholten Selbstversicherung hat er sich gleichsam aus der Real-Situation seiner Lage psychisch entfernt und ist nun konfliktfrei, harmlos, aber auch ichfern. Seine Straftat hat er von Anfang an zugegeben. „Strafe muß und will ich bekommen", sagt er in seiner etwas leeren, beziehungsarmen Weise. Die Verurteilung läßt ihn ruhig, fast gleichgültig erscheinen. Die empfindliche Zuchthausstrafe nimmt er als verdient und selbstverständlich an. „Seitdem ich weiß, daß es meinem Sohne gut geht, kann mir nichts mehr passieren", versichert er. Ruhig und affektiv völlig unberührt, geht er in die Strafverbüßung. Nach der Entlassung will er mit seinem Sohne zusammenwohnen. Ja, um diesem das Hin- und Hergerissensein zu ersparen, ist er sogar bereit, die Schwierigkeiten mit seiner Frau zurückzustellen und später wieder mit ihr zusammenzuziehen. Nach der Verbüßung der Strafhaft suchte er den Pfarrer noch einmal auf. Er machte den Eindruck eines zufriedenen Menschen, sah auch gesundheitlich gut und wohlgenährt aus. In der Anstalt hatte er den Posten eines Stubenältesten erhalten; sein schwaches soziales Geltungsbedürfnis war dadurch so befriedigt worden, daß ihn die weiteren diffamierenden Umstände des Zuchthausaufenthaltes kaum berührten.
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Bei der psychologischen Beurteilung von O. J . müssen wir uns zunächst vor Augen führen, daß es sich um einen alten Mann handelt, der geistig als doch fortgeschritten dement zu bezeichnen ist. Insbesondere durdi die Straftat und ihre Folgen waren seine sozialen Beziehungen, wohl von jeher arm und dürftig, noch besonders reduziert worden. Schließlich war es nur noch eine einzige Person, sein Sohn, der für ihn die Verkörperung der sozialen Außenwelt darstellte und zu dem er Bindungen empfand. Der Vorgang freilich der Identifikation seines persönlichen Schicksals und Wohlergehens mit dem des Sohnes ist damit noch nicht erklärt. Die Übertragung seines Ich auf den Sohn, wie es in dieser krassen und reinen Form zu den äußersten Seltenheiten gehört, diese Projektion des Ich auf eine ichfremde Person ist wohl als Folge des Traumas der Verhaftung und als diffuse Gesamtreaktion auf die enge und beschränkende Gefängnis- und Zuchthauszelle aufzufassen. Der Vorgang, der hier stattgefunden hat, ähnelt sehr jenem der Partizipation, der Teilhabe, wie wir ihn aus der Psychologie der Primitiven, der Kinder und der Neurotiker kennen. D a ß sie diesen merkwürdigen und ausschließlichen Charakter annehmen konnte, liegt in der Einfalt und dementen Primitivität des O . J . begründet. Der Vorgang dieser partizipierenden Übertragung freilich verliert dadurch nicht an Interesse. Den Zellengenossen akzeptiert er, solange er sohnähnlich bleibt, er lehnt ihn ab, als dieser seine geistige Überlegenheit betont. Den zweiten, der wie ein Sohn zu ihm ist, akzeptiert er völlig. Seine gesamte Haltung zu anderen Menschen, seine gesamte soziale Welt ist also überaus einfach und konfliktfrei gestaltet. In ihrer Einfachheit kann sie diese eindeutige Verbundenheitsform annehmen, die eben geschildert wurde. Sein sehr bescheidenes soziales Geltungsstreben, die außerordentlich geringen Ansprüche an seine Persona, an seine soziale Rolle werden auf einfachste Weise befriedigt, wenn ihm, und sei es auch nur in leerer Form des Ersatzes, eine vage Vaterrolle zugebilligt wird. Das Gehaben von O . J . stellt für ihn selbst eine Bewältigung der Ausnahmesituation Gefängnis und Zuchthaus dar, eine Bewältigung freilich, die nicht in positiver Auseinandersetzung besteht, sondern gleichsam in einem Trick, der ihm ermöglicht, sein Ich aus der Realsituation herauszunehmen. Es bleibt die Frage, wie es bei dieser Gesamtstruktur überhaupt zu dem Delikt der Blutschande gekommen sein konnte. Von O. J . liegen darüber keine Erklärungen und Äußerungen vor. E r selber spricht darüber nicht, schämt sich wahrscheinlich, vermeidet jede Erörterung. Aber wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß sein Zärtlichkeits- und Liebesbedürfnis, das durch die Abwesenheit seines Sohnes unbefriedigt geblieben war, sich der ihm sonst fernerstehenden Tochter zugewendet hat. Es ist eine leider nicht allzu seltene Erfahrung, daß bei solchen Ersatzobjekten einer ursprünglichen Beziehung Entgleisungen vorkommen. Hinzu kommt wohl das aufflackernde Wiedererwachen der Sexualität im Klimakterium, verbunden mit der in diesem Alter nicht seltenen Perversion zum Infantilen hin. Die Formen
der Pseudosozietät sind außerordentlich
mannigfaltig.
Ihre
Grund-
struktur oder ihre Grundleistung ist immer dieselbe. Sie besteht darin, d a ß es gleichsam mit
einem Trick
dem Untersuchungsgefangenen
zunächst
möglich
ist, sich und
das
Schicksal seiner P e r s o n aus dem Spiel zu nehmen. Auch w e n n ein Gefangener, ein v o r gebildeter Jurist, für seinen Zellengenossen die Ausarbeitung der
Verteidigungsschrift
übernimmt und Funktionen als A n w a l t a u f diese Weise wieder a u f n i m m t , so liegt d a r i n eine ähnliche Flucht in eine Pseudosozietät,
eine E r s a t z h a n d l u n g
wirklicher
sozialer
Tätigkeit, wie sie dem freien M a n n e täglich ermöglicht ist. Der 46jährige Dr. jur. U . N . ist der Beamtenbestechung angeklagt und wurde mit 9 Monaten Gefängnis bestraft. Er erwartete den Freispruch. U . N . hatte versucht, einen Kriminalkommissar zu bewegen, gegen eine Frau eine Anzeige wegen Rassenschande zu erstatten. In dem zu erwartenden Prozeß wollte er alsdann gegen reiches Honorar die Verteidigung der angeklagten Frau übernehmen. Überführt wurde er durch einen Beamten, der, ihm verborgen, über sein Angebot Protokoll führte. U . N . ist ein kleiner, kräftiger Mann in gutem Gesundheitszustand. Er ist sehr intelligent und lebhaft. Seine Grundstimmung ist stark schwankend und abhängig von den jeweiligen Ereignissen. Es besteht keine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Straftat und Strafe. U . N . stammt aus einer Akademikerfamilie. Seine Vorfahren waren durchweg Pfarrer, sein Vater Jurist. Die Ehe 3 Ohm
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der Eltern war geschieden wegen böswilligen Verlassens der Frau, die mit ihrem 5 Jahre alten Sohn nach England flüchtete und diesen dort in ein katholisches Kloster gab. Nach seiner Schilderung wurde der Aufenthalt des Kindes entdeckt, und gegen eine Geldentschädigung ließ die Mutter das Kind dem Vater zurückbringen. Aus dieser frühen Erfahrung heraus und aus dem schon bewußten Miterleben des Zerbrechens der elterlichen Ehe, empfand er einen tiefen Abscheu gegen die Ehe überhaupt. Trotzdem war er verheiratet, die Ehe allerdings bald geschieden. Eine Freundin, die in sehr fürsorglicher Weise für ihn eintrat, verwaltete auch, soweit möglich, seine Geschäftsangelegenheiten. U. N. stand in einem sehr engen Verhältnis zu seinem Vater. Als dieser auf dem Sterbebett lag, lauscht er, 40jährig, drei Tage an der Wand auf jeden Atemzug und dringt dann trotz ärztlichen Verbots in das Krankenzimmer ein. Diese Anhänglichkeit und Liebe überträgt er sodann auf die Stiefmutter, weil sie durch ihre sorgfältige Pflege das Leben des Vaters verlängert habe. Er versteht es, durch immer neue Mittel ihr seinen Gefängnisaufenthalt zu verbergen. Die Verhaftung macht auf ihn stärksten Eindruck. Nicht der Verlust der Freiheit ist für ihn das Schmerzlichste. Gegenüber dem Kriegserleben empfindet er die gegenwärtige Situation als relativ behaglich. „Wenn ich schuldig gewesen wäre, hätte mich die Verhaftung nicht angefochten, aber daß solche Ungerechtigkeit geschehen konnte, zerbrach mich". Heftige seelische Erschütterung brach sich Bahn in längeren anhaltenden Weinkrämpfen. Diese Krise dauerte zehn Tage. Danach hält er sich selber vor: was sollte werden, wenn alle in solcher Situation verzagen wollten? ! Er vertraut darauf, daß sich das Recht durchsetzt, und will sogar eine etwaige Amnestie ablehnen. Im Traum erscheint ihm immer wieder der Vater. Um sein Bild festzuhalten, hält er auch nach dem Erwachen die Augen geschlossen. Seine Stimmungslage ist abhängig von dem jeweiligen Stand seiner Angelegenheiten. Als ihm das Scheitern seines Haftentlassungsantrages eröffnet wird, ist er stark deprimiert. An dem Tage vor dem Verhandlungstermin zeigt er größte Lebhaftigkeit. In hypomanisch anmutender Weise, mit lauter, lärmender Stimme, in gespannt körperlicher Fechterhaltung berichtet er von seiner Kampfesfreude und Angriffslust: er wolle es dem Gericht und der Welt zeigen. Die Verurteilung löst erneut große Niedergeschlagenheit aus. Seine sofort angemeldete Berufung zieht er wieder zurück aus Opportunität. Die Freisprechung seines Zellengenossen, angeblich auf Grund der von ihm ausgearbeiteten Verteidigungsschrift, macht ihn wieder lebhaft und zuversichtlich. Nach Scheitern eines Gesuches um Strafaussetzung klagt er: „Ich verliere die Lebensbejahung". Als er die Anstaltskleidung anlegen muß, vergießt er Tränen. An den Zellengenossen bindet er sich sehr stark. Neben der von ihm selbst ausgearbeiteten Verteidigungsschrift spendet er RM 50,— als Honorar für einen Rechtsanwalt. Er freut sich, daß er „belehrend und aufbauend" auf ihn einwirken kann. Der freigesprochene Zellengenosse sucht ihn noch einmal auf und erhält von ihm eine Anweisung über RM 150,— zur neuen Einkleidung, macht dann aber bei seinen Angehörigen Erpressungsversuche und schwärzt ihn an. Einige Tage sich selber überlassen, erleidet er in der Zelle einen Weinkrampf und Ohnmachtsanfall. U. N. muß ständig Menschen haben, bei denen er sich einerseits geborgen fühlt, für die er andererseits eine Autorität bedeutet. Seine Sicherheit findet er, indem er nehmend zu Vater und Mutter flüchtet und gebend auf andere „belehrend und aufbauend" einwirkt. Fehlen solche Menschen, dann reagiert er mit Weinkrampf und Ohnmachtsanfällen. Als Kompensation der rauhen Wirklichkeit konstruiert er eine ideale Sphäre. In ihr ist er der unerschrockene Mann, der schmerzlich bewegt ist über das Unrecht, das an ihm geschehen konnte, der Held, der es gar nicht erwarten kann, in der Schlacht des Termins die Korruption zu bekämpfen. Daß in der von ihm konstruierten idealen Sphäre von eigener Verschuldung keine Rede sein kann, versteht sich von selbst. Deshalb muß er jedes Geständnis verweigern. 5. Es mag die Besonderheit der psychischen Situation der Erstinhaftierten noch beleuchten, wenn wir einen Fall schildern, der sich überhaupt weigerte, die Realität der U. H . anzuerkennen. Ein junger Abiturient, erstmalig inhaftiert, aus gepflegtem Hause, fühlt sich sehr veranlaßt, die Lage von der komischen Seite zu nehmen. Das Morgengetränk als Kaffee zu bezeichnen, ist ihm ebenso ein Anlaß zwangshafter Heiterkeit wie etwa die Notwendigkeit, seine Zelle zu reinigen und was dergleichen mehr Anforderungen sind. Er betont nach außen mit weit übertriebenen Worten das Komisch-
V e r h a f t u n g und A n f a n g s z e i t
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Pittoreske, das für ihn in diesen Anforderungen liegt, ein Zug, der ihn freilich noch unreifer erscheinen läßt, als es seinem Lebensalter entsprach. Neben diesen hochgespannten und deutlich neurotisch gezeichneten Ironietendenzen, mit denen er krampfhaft, aber vergeblich versucht, sich über die Gegenwart hinwegzuspielen, finden sich gerade bei ihm zahlreiche Einbrüche von Wutanfällen, tiefe Depressionen, die schlaglichtartig die Überspanntheit und Labilität seiner inneren Situation beleuchten. Es ist verständlich, daß ein solcher Gefangener zwar den Affektstupor der Anfangszeit vermeidet, aber dafür auch späterhin besondere Schwierigkeiten hat, in eine einigermaßen ausgeglichene Haltung hineinzukommen. So genügte ein relativ äußerlicher Anlaß, um ihn zu einem ernstgemeinten Suizidversuch zu führen, und erst nach diesem fand er die Möglichkeit, sich mit der Realität seiner Situation abzufinden. 6. Es bedarf nach dem Gesagten keinerlei besonderer Ausführungen, um zu belegen, daß die Entwicklung der sozialen Person in der U. H . sog. Überzeugungstäter eine im wesentlichen andere ist. Hier stehen ja die Tat und ihre Folgen als ein gewolltes Ziel von Anfang an beherrschend im Erleben. Es kann gelegentlich zu einer Art Befriedigungsgefühl führen, sobald der erste Schock durch die Bekanntschaftsnahme mit der neuen Lage überwunden wurde, daß die Inhaftierung eingetreten ist. Im Regelfall gelingt es leicht und nachhaltig, das Bewußtsein der Verbundenheit mit dem Kreise, aus dem sie stammen, aufrechtzuerhalten. Die vielen Politiker, Pfarrer, Bibelforscher, politisch Andersdenkenden, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ins Gefängnis wanderten, wurden von den Angehörigen in betont liebevoller Weise betreut, nicht anders, als wenn sie von einer schweren Erkrankung oder einem anderen Schicksalsschlag ereilt worden wären. Eine besondere Kategorie bilden auch die Häftlinge, welche gegen den § 175 verstoßen haben. Sie fühlen keine Verpflichtung, in eine innere Auseinandersetzung zu gehen, bestreiten auch das Recht, sie zu bestrafen, da sie unter einem Anlageschicksal stünden. A . R . , 27 J a h r e alt, Hotelangestellter, gut intelligent, w i r d wegen Vergehens gegen den § 175 mit 9 M o n a t e n G e f ä n g n i s b e s t r a f t . E r ist ein großer, breiter, k r ä f t i g e r M a n n , z ä h und haltreich, beharrlich in der G r u n d s t i m m u n g . I m Selbstwerterlebnis nicht erschüttert, lehnt er die N o t w e n digkeit innerer Auseinandersetzungen ab, d a es sich um ein Anlageschicksal handele, das ihn zur S t r a f t a t gebracht habe. Bei der E i n l i e f e r u n g in das Untersuchungsgefängnis w a r er durch die v o r angegangenen, l a n g a n d a u e r n d e n und intensiven Vernehmungen so zermürbt, d a ß er s o f o r t einschlief. Zunächst w a r er verbittert. In kampfreicher A b w e h r h a l t u n g lehnt er jedes G e s t ä n d n i s ab. N a c h 8 T a g e n der Beruhigung gibt er die homosexuelle B e t ä t i g u n g zu, weil er, wie er sagt, erkannt hat, d a ß eine L ü g e die andere nach sich ziehen müßte, er wohl auch den Belastungsmomenten sich nicht mehr entziehen konnte. V o n seiner A n l a g e wissen seine Angehörigen, er könne o f f e n d a r ü b e r sprechen, sie sei vererbt. Nicht diese vererbte V e r a n l a g u n g belastet ihn, er erkennt auch nicht irgendeine Schuld an, sondern er habe nur gegen einen P a r a g r a p h e n verstoßen, der erst künstlich v o n den Menschen geschaffen w o r d e n sei. Natürlich müßten die G e s e t z e gehalten werden. Belastet habe ihn vielmehr das D o p p e l l e b e n , das er habe führen müssen. D e n anderen gegenüber habe er die homosexuelle Betätigung, die er selber heimlich ausübte, verurteilen müssen. E r erwartet ungeduldig den T e r m i n , ist nicht f ä h i g , ein Buch mit S a m m l u n g zu lesen, und lebt in einer ständigen S p a n n u n g . D a ß dieser T e r m i n verschoben wird, t r i f f t ihn schwer. Bei den Besuchen zeigt er einen starken R e d e d r a n g , dessen er sich auch bewußt ist. E r entschuldigt sich deswegen, aber nach M o n a t e n des Alleinseins sei R e d e n ihm eine Wohltat. D e r T e r m i n u n d die Verurteilung bedeuten ihm nichts Besonderes. N i e m a n d e m erkennt er eine Berechtigung zu, ihn wegen seiner V e r a n l a g u n g zu b e s t r a f e n ; denn auch nach der S t r a f v e r b ü ß u n g w ü r d e sich d a r a n nichts ändern. E r will d a h e r die S t r a f e abmachen und d a n n versuchen, ins A u s l a n d zu k o m m e n . 3*
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
Für die oben geschilderte Haltung ist allerdings notwendig, daß nicht das Gefühl des Verlassenseins aufkommt. Das gilt in der gleichen Weise auch für alle übrigen Untersuchungsgefangenen. Das Behaglichkeitsgefühl, das Eingeklammertsein der gegenwärtigen Zeitspanne und das Uneigentliche der Gegenwart gehen schließlich doch verloren, wenn die Zeit zwischen Verhaftung und Anklageschrift-Zustellung allzu lang ausgedehnt erscheint. Hier kann ein Gefühl des Verlassen- und Vergessenseins aufkommen, das dann wieder zu Primitivreaktionen und Verzweiflungsausbrüchen führt, wie sie sonst nur in der ersten Krisenphase kurz nach der Verhaftung zu beobachten sind. Das Bedürfnis nach unmittelbarem Kontakt mit Menschen und das Gefühl des völlig Hilflos-Bedürftigen überwiegen dann erneut, wie es charakteristisch ist, daß auch der einfache Zuspruch wieder unkritisch aufgenommen wird und seine beruhigende Wirkung haben kann. § 7
Zustellung
der Anklageschrift
und
Terminankündigung
Insgesamt kann also die Zeitspanne vor der Zustellung der Anklageschrift als eine Phase relativer Entspannung angesehen werden. Mehr und mehr verlieren die T a t und die drohende Strafe ihre Realität; es gelingt dem Gefangenen, ein gewisses Gefühl der Stabilität und Sicherheit zu gewinnen, das durch die Dauer dieser Phase und das tägliche Gleichmaß bedingt ist. In diesen Zustand relativer Gehobenheit erfolgt nun der Einbruch einer zweiten Krise, der durch die Zustellung der Anklageschrift bedingt ist. Diese Zustellung erfolgt erlebnismäßig häufig überraschend, was wohl damit zu erklären ist, daß die Gefangenen die Anklage allmählich in die Sphäre des Nichtwirklichen verschoben haben. Die Anklageschrift aber stellt sie mit brutaler Härte vor die Realität ihrer Situation, und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit ihrer Lage ergibt sich nun noch einmal unabweislich. Blitzartig erkennen vielfach die Gefangenen, daß sie sich in den letztgenannten Wochen auch psychisch abgekapselt hatten und diese Zeitspanne als eingeklammerte und uneigentliche durchlebten. Erneut erhebt sich die Forderung zum Geständnis als eine der Formen der Auseinandersetzung mit der sozialen Lage, die ihnen zur Verfügung stehen. Daneben aber tauchen nun auch andere Tendenzen und Bestrebungen auf, die je nach Persönlichkeitsartung des Gefangenen und nach seiner Gesamtsituation zum Durchbruch kommen können. So ist eine der häufigsten Haltungen ein primitives Sichversteifen in eine Abwehr und in Verbindung damit ein verstärktes Sich-Abschließen gegen die Gegenwarts-Situation und gegen die zukünftigen drohenden Ereignisse. Der Inhalt der Anklageschrift wird einfach bestritten oder als grob verzerrt empfunden, Kleinigkeiten erscheinen ungeheuer aufgebauscht, andere ihnen wichtige Entschuldigungsmomente finden sie nur wenig berücksichtigt, abfällige Äußerungen über die eigene Persönlichkeit werden leidenschaftlich zurückgewiesen. Hier stößt zum ersten Male in voller Schärfe ihr subjektives Bild von der Straftat auf die objektive Wirklichkeit, wie sie durch die Ermittlung des Untersuchungsrichters und durch die Feststellungen der Anklageschrift herausgestellt ist. In der Mehrzahl der Fälle ist die natürliche Folge eine blinde Abwehr, und nicht selten erfolgen Eingaben an den Untersuchungsrichter, die diese blinde und unzweckmäßige Abwehr zum Ausdrude bringen. Der 26 Jahre alte Student U . A. wird wegen Vergehens gegen § 175 a in H a f t genommen und nach längerer U. H . zu 2V2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Vater starb früh, er wurde von der
Zustellung der Anklageschrift und Terminankündigung
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Mutter und dem Großvater maßlos verwöhnt. Schon als Kind machte er durch Eigensinn viele Schwierigkeiten. Er stampfte mit dem Fuß auf, wenn die Suppe nicht rechtzeitig auf den Tisch kam, der ihn zurechtweisenden Lehrerin zerriß er das Kleid, wegen Störrischseins wurde er schließlich von der Schule verwiesen. Er bereitete sich privat auf das Abitur vor und bestand dasselbe mit Auszeichnung. U. A. ist ein großer, breiter, durchaus athletischer Mann von unverwüstlicher Gesundheit, mit den besten Gaben ausgerüstet, stenisch, zäh; auch in den schwersten Krisen legte er eine erstaunliche Haltfülle an den Tag. Von der Haltung des Trotzes ist er weder durch Strafe des Gerichts noch durch gütliches Zureden des Pfarrers abzubringen. Bald ist er mit allen Menschen fertig, sein Selbstbewußtsein kennt keine Grenzen. Mannigfache Reisen haben ihn ins Ausland geführt. Beim Durchwandern Österreichs hat er sich als Homosexuellen ausgegeben und sich in diesen Kreisen bewegt, angeblich, um die wahre Stimmung der breiten Volksschichten kennenzulernen. Er prahlt mit seinen vielen Beziehungen zu Engländern, will dem Auswärtigen Amt in seiner Englandpolitik Fingerzeige geben und brüstet sich mit einem angeblich bereits zugesagten Empfang bei einer ganz hohen Regierungsstelle. U. A. predigt das Ideal spartanischer Härte und verachtet alle äußere Bequemlichkeit. Dieses sein Erziehungsideal will er, ohne Direktiven maßgebender Stellen abzuwarten, revolutionär in die Tat umsetzen. Er zieht einen Knaben von etwa 10 Jahren in seine Gemeinschaft, den er durch unerhört brutale Behandlung unempfindlich gegen Schläge machen will. Die Anschuldigung sadistischer und homosexueller Neigungen weist er mit äußerster Energie zurück während aller Stadien der U. H . Durch seine Schroffheit verdirbt er sich von vornherein alle Sympathien des Gerichts. Obwohl sein Delikt vielleicht mit einer Gefängnisstrafe zu ahnden gewesen wäre, wird über ihn nun Zuchthausstrafe verhängt. In seiner Verteidigungsschrift greift er das Gericht in so maßloser Weise an, daß er für diese beleidigenden Äußerungen eine dreiwöchige Arreststrafe erhält, die er ohne jeden Stimmungseinbruch abmacht. Das über ihn gefertigte Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen lehnt er als jüdisch-psychoanalytisches Machwerk ab. Die Oberführung in das Zuchthaus findet er interessant, von der Einreichung eines Gnadengesuches will er nichts wissen. Er ist entschlossen, nach Verbüßung der Strafe seinen Kampf fortzusetzen. E s ist f ü r Menschen in dieser L a g e , u n d das gilt j a gewiß nicht nur f ü r G e f a n g e n e , nun außerordentlich schwer, ihren liebgewordenen T r a u m zu verlassen, u m eine kühle, sachlich a b w ä g e n d e
S t e l l u n g n a h m e zu gewinnen.
Hinzu
mag
kommen,
daß,
wie
a n d e r e A u t o r e n hervorgehoben haben, vielfach das Schriftdeutsch und die v e r k l a u s u lierte Sprache des Schriftsatzes der A n k l a g e nicht k l a r v e r s t a n d e n werden, d a ß die B e g r i f f e , die hier g e p r ä g t sind, der Alltagssprache fernstehen u n d die S t r a f w ü r d i g k e i t vieler Vergehen u n d Verbrechen gar nicht recht erkannt w i r d . N e b e n dieser blinden und versteiften A b w e h r h a l t u n g finden wir auch in milderer F o r m die Verteidigungshaltung, die zu einzelnen Punkten der A n k l a g e s c h r i f t j e d e n f a l l s Stellung nimmt, dabei aber Beschönigungsversuche sowie Erklärungsversuche a u f w e i s t . A u d i d a s w i r d den G e f a n g e n e n schwer zu verstehen, d a ß die A n k l a g e s c h r i f t die U n t e r l a g e f ü r die V e r h a n d l u n g ist und das eigentliche U r t e i l erst in der V e r h a n d l u n g gesprochen w i r d . E s bedeutet daher die Zustellung der A n k l a g e s c h r i f t auch f ü r den eine schwere Belastung, der sich unschuldig f ü h l t und später evtl. freigesprochen w i r d . D a h e r k a n n m a n sagen, d a ß die a d a e q u a t e Stellung zur Anklageschrift, die ruhige u n d sachliche P r ü f u n g des T e x t e s , die Durcharbeitung der G e s a m t s i t u a t i o n , der A u f b a u eines Verteidigungsgedankens in Z u s a m m e n a r b e i t mit d e m R e c h t s a n w a l t nicht zu den häufigen Erscheinungen zu rechnen sind. N u r wenige I n h a f t i e r t e besitzen die innere H a l t u n g u n d S t r a f f h e i t sowie die D i s t a n z zu ihrer Person u n d der S t r a f t a t , d a ß sie zu dieser objektiven W ü r d i g u n g imstande sind. "Wenn auch nun endlich T e r m i n und V e r h a n d l u n g in Aussicht stehen und die unsichere Zeit der Erhebungen abgeschlossen scheint, bleibt
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es immer noch eine schwer zu bewältigende Sonderaufgabe, die Anklageschrift als objektive Realität zu würdigen, mit der sich auseinanderzusetzen Notwendigkeit ist. In solchen Bedrohungssituationen scheinen die Menschen durchgängig dazu zu neigen, zu flüchten und sich zurückzuziehen. Daher bringt diese Krise häufig wieder krasse Primitivreaktionen mit sich, die ein ähnliches Bild schaffen, wie die erste Krise bei der Verhaftung. Stärkste Angstzustände, Gefühle der völligen Vernichtung und vitalster Bedrohungen, Angst vor dem Termin, der das peinliche Öffentliche Auftreten mit sich bringt, und dementsprechend Neigungen zur Flucht in Zustände körperlicher Erschöpfung und Krankheitsgefühle, abwechselnd mit dumpfen allgemeinen Aggressionstendenzen sowie Wut auf aussagende Personen, die als die Schuldigen angesehen werden, kennzeichnen das vielfarbige Bild der inneren Haltung dieser Zeit. „Die Kollegin, die mich angezeigt hat, soll verrecken; sie soll tausendmal schwerer sterben als ich", entfuhr es einer 21jährigen Postbeamtin, die wegen Päckchendiebstahls vom Todesurteil bedroht war. Es ist dies die Phase, in der zuweilen Beamte, die nach dem Inhalt der Anklageschrift mit einer Verurteilung und anschließender Entfernung aus dem Amt rechnen müssen, zum Selbstmord schreiten, um ihrer Familie die Pension zu erhalten. In einzelnen Fällen war nun aber schon eine Haltung zu verzeichnen, die dann mit der Terminankündigung und dem täglich näherrückenden Termin immer mehr Form gewinnt. Es baut sich nämlich ein ganz neues irreales Gebäude zum Teil tagtraumartig auf, in welchem nun die Gefangenen für die nächsten Wochen bis zum Termin, ja zum Teil noch im Termin selber und über ihn hinaus leben. Wir finden bei einzelnen eine ausgesprochene Äußerung der Freude auf den Termin, eine gesteigerte Kampfeslust und Unternehmungsfreudigkeit, die Einstellung, daß man es denen „nun zeigen würde". Diese Kampfhaltung geht sehr häufig parallel mit einem weitgehenden Nichtbeachten der Realverhältnisse. Selbst juristisch vorgebildete Gefangene übersehen in ihrem Kampfelan die nun einmal gegebene Gerichtsordnung und träumen sich durchaus in eine Rolle hinein, wo der Richter, der Vertreter des Staates, der Angeklagte sein könnte, sie selbst aber die richtenden Personen. Dieses neue irreale Phantasiegebäude kann überraschend schnell entstehen und gelegentlich geradezu Formen hypomanischer Übersteigerung annehmen. Mit wuchtigen Hieben wird man das ganze, kunstvoll errichtete, Gebäude der Indizien zum Einsturz bringen und den Richter in eine sehr delikate Lage treiben. Schon jetzt sieht der Häftling im Traum dessen verzerrtes Gesicht angesichts des Justizskandals, der nunmehr ausbrechen und in dessen Mittelpunkt er dann stehen wird als das Opfer schier unverzeihlicher Irrtümer. Es ist jedenfalls festzustellen, daß mit der Zustellung der Anklageschrift die Zeit der relativ beschaulichen Ruhe für den Gefangenen vorüber ist, und daß er nun in täglichem Neudurchdenken des Inhalts der Anklageschrift und im Sich-Vorstellen des Termins seine Kräfte in Anspruch nimmt. Die Ankündigung des Termins, die einige Zeit nach der Zustellung der Anklageschrift zu erfolgen pflegt, bringt dann in der Regel nochmals eine Steigerung der Gesamtspannung. Wir finden den Gefangenen jetzt meist in einer affektiven Hochspannung, die durch den inneren sehr starken seelischen Konflikt des „Endlich" und der Angst vor dem Termin, durch diffuse Bedrohungsgefühle, auch Lampenfieber charakterisiert ist.
Zustellung der Anklageschrift u n d T e r m i n a n k ü n d i g u n g
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Der Termin wird ersehnt, weil er in gewissem Sinne die Rüdekehr in die Sozialität bedeutet und den Abschluß der uneigentlichen — wie wir sagten — eingeklammerten Zeitspanne darstellt. Er gibt dem Gefangenen die Möglichkeit und die Notwendigkeit zur Verantwortung der sozialen Person, die er vor der Verhaftung darstellte, angesichts der Gesellschaft. Diese Möglichkeit einer Verantwortung seiner sozialen Person wird von differenzierten Inhaftierten wohl auch immer mehr oder weniger klar erlebt. Der Termin gibt weiterhin die Möglichkeit, die aufgestauten Auseinandersetzungsbereitschaften mit Zeugen und mit Beschuldigungen zu lösen. Freilich liegen hier sehr vielfältige Gefühlsregungen vor, die nicht leicht mit wenigen Worten zu charakterisieren sind. Die allgemeine Aktivität, die wir meistens bei den Gefangenen vor dem Termin finden, hat psychologisch sehr verschiedene Wurzeln und ist immer in sich uneinheitlich und konfliktreich. Es läßt sich daher nicht eine allgemeine typische Beschreibung dieser Haltung angeben. Zu viele von jeweiligen Umständen abhängige Motive spielen inund gegeneinander. Neben der Tendenz, sich zu verteidigen oder sich zu rehabilitieren, finden wir bei den Erstangeklagten z. B. Neugierde auf die Verhandlung, verbunden mit einem unklaren Mißtrauen gegen die Justiz im allgemeinen. Manche Gefangene zeigen Äußerungen kleinbürgerlichen Sichgenierens, die sich bei einzelnen bis zu ausgesprochenen Anfällen von Lampenfieber steigern können. Immer wieder tritt das sprunghafte Hinüberwechseln ins Irreale hervor. Wenn-Sätze und Wunschträume, die durch „Wenn" eingeleitet werden, sind in dieser Phase täglicher Gedankeninhalt der Gefangenen. „Wenn ich ohne Termin eineinhalb Jahre bekommen könnte, so wäre es mir lieber, als wenn ich mit Termin weniger erhielte". „Wenn dieser oder jener Zeuge das oder jenes aussagt oder die Aussage verweigert, wenn dieser Punkt weniger hervorgehoben werden könnte und jener Punkt mehr, wenn dieses oder jenes verschwiegen würde" u. dgl. m. — so spinnen die Gefangenen unablässig Gedankenketten ab, welche immer den Charakter des Irrealen, des Unwirklichen beibehalten. Verhältnismäßig selten finden wir eine ganz stumpfe, passive Haltung, die auch in dieser Spannungszeit inaktiv bleibt. Äußerungen, die bekunden, daß der Verhaftete überhaupt passiv bleibt und weder in versteifte Abwehrhaltung noch in Verteidigungshaltung hineingleitet, sind relativ vereinzelt und dürften wohl auch meist als pathologisch angesprochen werden müssen. Im Gegenteil, es gehört zur Regel, daß wir eine Steigerung der allgemeinen Vitalität beobachten können, eine Heraufsetzung der Unternehmungslust und Tatkraft, verbunden auch mit einem körperlich aktiven sich-frisch-Fühlen. Gelegentlich kann man sogar kurz vor dem Termin geradezu Erregungszustände beobachten. In überstürzter, lauter, durchaus heiterer Weise berichtet der Gefangene, daß morgen sein Termin sei, wie sehr er sich darauf freue, und was er alles zu sagen haben würde. Diese Rede ist dann nicht leicht zu stoppen und charakteristisch für die ungehemmte Sprech- und Redeweise des hypomanischen Erregungszustandes. In mehr oder weniger ausgeprägter Form nimmt die Mehrzahl der Gefangenen in ihren Überlegungen die Verhandlung vorweg. Einzelheiten der Rolle, die sie spielen wollen, werden vorausgedacht, Begegnungssituationen mit ihren Angehörigen, entlastenden und belastenden Zeugen und dem, was ihnen zu sagen sein wird, werden im voraus geträumt. In einzelnen Fällen steigert sich das zu Tagträumen, u. U. zu laut gespro-
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chenen und gespielten Tagträumen, in denen der Gefangene seine Verhandlung, die Rede des Staatsanwaltes, seine eigene Rede, die des Verteidigers laut spricht und sich so lebhaft vorstellt, als ob er etwa in einem Tonfilm einer vorgeführten Gerichtsszene beiwohnt. Wie wir es aus der Psychologie des wirklichen Traumes kennen, finden wir auch hier nicht selten die eigenartige Erscheinung der Trennung der Tat-Person von der IchPerson des Träumenden, der gleichsam in seinen Tagträumen einen anderen, wenn auch mit seinem Namen und seiner Figur ausgestattet, in die Verhandlung schickt, der nun in einer merkwürdigen, vielfältigen Rolle als Angeklagter, Richter, Staatsanwalt und Regisseur des Ganzen, vor allem für den günstigen Ausgang der Angelegenheit zu sorgen scheint. Die Tat-Person kann aber auch in die Außenwelt projiziert werden. Ihr wird eine bestimmte Rolle zugeschrieben, sie erhält einen bestimmten Namen, ein bestimmtes Aussehen und wird nun mit der Tat belastet, die in Wirklichkeit aus einem eigenen, unheimlichen und unbegreiflichen Persönlichkeitsanteil stammte. Die Ich-Person fühlt sich z. B. nur dadurch verletzt und verwundet, daß ein nahestehender Mensch ihr während der Verhandlung keinen Blick gegönnt hat. Was aus der Tat-Person wird, ist ihr gleichgültig, erweckt höchstens ein wenig Neugierde. In der U. H. gibt diese Pseudo-Depersonalisation dem Gefangenen nicht selten innere Festigkeit für die Verhandlung; andererseits erhöht sich objektiv das Gefahrenmoment insofern, als sie die Anpassungsmöglichkeit an die Realität der Verhandlung, die ja häufig Überraschungen für den Gefangenen in sich birgt, vermindert. Eine ethische Einstellung zur Strafe als Sühne für das verletzte Recht haben wir nur in einem Falle beobachten können. Solche Einstellung scheint nach unseren Erfahrungen in der Tat nur selten zu sein. Andere Autoren geben an, daß sie überhaupt nie einen Fall dieser Art gefunden haben. Marx hat einen Besserungswillen nur „ganz selten" entdeckt. Seine drastische Formulierung lautet: Wo es heißt, „Ich will büßen", liegt manches Mal eine nicht normale geistige Verfassung vor. Die von Auer befragten einstigen Häftlinge sprechen von Ärger über die eigene Dummheit. Man hätte sich nicht erwischen lassen sollen, sich besser absichern müssen. Reue sei ein weithin fremdes Gefühl und wird ausdrücklich verneint. Das Ergebnis von Sievert's Untersuchungen lautet: „Nirgends finden wir Reue in dem Sinne des schmerzlichen Gefühls verzeichnet, etwas Unrechtes an sich mit der Tat begangen zu haben". In unserem Falle handelt es sich um einen geistig hochdifferenzierten, sehr disziplinierten, ins Schizoide hinüberspielenden ruhigen Mann, mit großer Selbstbeherrschung und weitreichender, philosophischer Bildung. Der Inhaftierte, angeklagt gemäß § 175, erwartet ruhig den Termin und setzte sich mit der Anklageschrift in sachlicher Weise auseinander. Es bestand bei diesem nach unseren Erfahrungen sehr seltenen Fall durchaus ein Bewußtsein dafür, daß das verletzte Recht eine Forderung auf Sühne zu stellen hätte; aber es fand zugleich auch eine Wertung der Straftat und der gerecht erscheinenden Sühne statt. „Wenn es zu Zuchthaus kommt", so äußerte der Angeklagte, „dann werde idi in Opposition gehen müssen"; •denn nach seiner inneren Überzeugung stand die Schwere seines Deliktes nicht im Verhältnis zur Schwere der sozialen Diffamierung, die eine Zuchthausstrafe bedeuten würde. Während der Verhandlung und auch schon vorher in der Beantwortung der Anklageschrift zeigte er einen ausgesprochenen Willen zur Darstellung des objektiven Geschehens. Verheimlichungen, Abstreitungen, blinde Verteidigungshaltung u. dgl. m., alle die Haltungen, die wir sonst in der Regel bei dem Untersuchungsgefangenen beobachten, fehlten hier.
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Von dieser, wie wir erneut betonen müssen, seltenen ethischen Einstellung ist jene Geständnisfreudigkeit und jener Geständniszwang zu unterscheiden, den wir bei anderen gelegentlich vorfinden. Ein wegen Betruges angeklagter und bestrafter Arzt, der schon anderthalb Jahre in Strafhaft saß, fühlt sich kurz vor seiner Entlassung durchaus gedrängt, sich selbst eines Meineides zu beschuldigen, den er in einem Ehesdieidungsprozeß als Zeuge geleistet hatte. Obwohl die Angelegenheit lange zurückstand und gar nicht Gegenstand irgendwelcher Untersuchung war, ruhte er doch nicht eher, bis es ihm gelungen war, durdi seine Angaben ein weiteres Verfahren einzuleiten. E r geriet geradezu in Empörung, als ein gutmütiger Beamter unzweckmäßigerweise ihm andeutete, daß niemand ein Geständnis verlange, und fand eine Möglichkeit, sich ins Moralische hineinzuspielen, indem er sidi weit über die Person des Beamten stellen konnte.
Diese im übrigen auch nicht sehr häufigen Fälle des Geständniszwangs sind auf zahlreiche und verschiedenartige Motive zurückzuführen. Neben Angst vor der Freiheit, neben dem Bestreben, die Monotonie der Strafhaft zu unterbrechen, neben dem Wunsch, Außenstehende in ein Strafverfahren mit hineinzuziehen, spielen auch noch häufig, wie in unserem Falle, narzistische, selbstbespiegelnde Momente mit. Es liegt vielleicht auch das wenngleich unklare Motiv vor, die Beeinträchtigung der sozialen Person, die durch die U . H . oder Strafhaft bisher erfolgte, vor sich und anderen zu kompensieren, indem durch ein Geständnis ein weiterer Punkt verletzter Rechtsordnung gesühnt wird. § 8
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Die Haltung und Psychologie des Gefangenen während der Verhandlung gehört nicht zum Thema unserer Untersuchung. Uns interessiert nur die Zeit der U . H., die mit dem Tag der Verhandlung ihr Ende gefunden hat und freilich dann noch die H a l tung, mit der der Gefangene nach der Verhandlung als Sieger oder Besiegter die Zelle wieder betritt. Am Morgen der Verhandlung wird der Gefangene im Gefangenenwagen in das Gerichtsgebäude geführt; bei mehrtägiger Verhandlung wiederholt sich das jeden Tag, sofern es das Gericht nicht vorzieht, ihn im Gerichtsgefängnis selber unterzubringen. Häufig liegt eine längere Wartezeit vor dem Termin, die den Gefangenen dann auch noch sehr belastet. H a t er doch in diesen leeren Stunden nichts anderes zu tun als immer wieder den Kreis seiner Gedanken abzuschreiten. Die Zeit kurz vor dem Abtransport und die Nacht vorher sind relativ unauffällig. Die Gefangenen sind durchweg in sehr hoher Spannung, sie schlafen wenig, die kurzen Schlafzeiten werden durch Angstträume gequält, sie klagen über Appetitlosigkeit und andere Symptome allgemeiner hoher psychischer Spannung. In zwei Fällen, wo lebenslanges Zuchthaus oder gar Todesstrafe zu erwarten stand, entzogen sidi die Häftlinge noch in der Nacht vor dem Termin der gefürchteten Verhandlung durch Selbstmord. Die Mittäterin des einen, stark an den Geliebten fixiert, ist darüber zutiefst erschüttert und kaum fähig, dem Verfahren zu folgen. Im zweiten Falle empfindet es der Komplize als eine große Gemeinheit, daß der Tote nicht noch vor seinem Ende seine Alleinschuld zu Protokoll gab. E r versucht sofort, sich auf dessen Kosten zu entlasten. 1. Alle Gefangenen, die zum Termin geführt wurden, und die wir beobachteten, nahmen eine straffe, bewußt feste Haltung an und bemühten sich, den prüfenden Blikken der den Transport leitenden Beamten eine gleichmäßig ruhige Festigkeit zu zeigen.
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In der Verhandlung treten nun schon wieder Differenzierungen auf. Die asthenisch Labilen haben Schwächezustände zu überwinden und fühlen sich gelähmt. Ströme von Schweiß flössen von den Händen. Der Hals war wie zugeschnürt. Kein Wort kommt über die Lippen, was zuweilen als Verstockung ausgelegt wurde. Ein schwer verprellter Häftling bezieht die Haltung absoluten Schweigens. Dagegen springt ein leicht erregbarer, jähzorniger Angeklagter über die Schranken seiner Bank, er schlägt mit Boxhieben auf Mitangeklagte und Zuhörer ein. Die durchaus feste Haltung bricht zusammen und macht einem fassungslosen Schluchzen Platz, wenn der Fotograf sein Werk beginnt. Besonders niederdrückend sind Handfesseln; man fühlt sich in die „Kategorie der Raubtiere" versetzt. Ein mitleidiger Zuhörer tuschelt einer unter Mordanklage stehenden Frau zu: „Vielleicht werden es bloß 15 Jahre". Die aus diesem Wunsch erkenntlich werdende Gesinnung gibt ihr einen starken Auftrieb. Ein anderer Häftling klammert sich während der ganzen Verhandlungen an das vor kurzem in der Anstaltskirche gehörte Wort des Neuen Testaments: „Herr, laß ihn noch dies Jahr!" Er entnimmt ihm die Kraft, durchzuhalten, und verliert nicht die Hoffnung auf einen erträglichen Ausgang. Ein schwer Angefochtener kann es einfach nicht begreifen, daß an diesem Tag, der für ihn eine Weltenwende bedeutet, das Leben draußen seinen gewohnten Gang weitergeht. Ein Geltungssüchtiger spielt lässig mit der Brille und läßt in seinem ganzen Auftreten deutlich erkennen, wie hochbefriedigt er ist, im Mittelpunkt eines solchen Verfahrens zu stehen, sogar fotografiert zu werden. In einem Falle gelang noch eine abenteuerliche Flucht in einer Verhandlungspause. 2. In der Mehrzahl der Fälle ist die Verhandlung eintägig. In den Spätnachmittagsund Abendstunden kommen die Gefangenen zurüdk; ihr weiteres Verhalten ist verständlicherweise stark vom Urteilsausgang bestimmt. Freispruch wegen erwiesener Unschuld kommt unter unseren Beobachtungsfällen nicht vor. (Die Auslese unseres Versuchspersonenmaterials, das ja nur solche Personen umfaßt, die eine längere U. H . hinter sich haben, macht es auch unwahrscheinlich, daß dieser Fall unter unseren Gefangenen überhaupt eintritt.) Auch der Freispruch mangels Beweisen ist nur selten eingetreten. In den wenigen Fällen, die wir beobachten konnten, zeigte sich immer ein betontes Zuwenden zur Außenwelt; die Möglichkeiten der Freiheit wurden je nach den zur Verfügung stehenden Mitteln ausgenutzt, die leichten Konflikte, die die Rückkehr in die soziale Welt mit sich bringt, konnten teils vermieden, teils schnell überbrückt werden. Einer unserer Probanden flog am selben Tage in ein Seebad und genoß nun den Gegensatz des neuen Aufenthaltes gegenüber dem bisherigen; ein anderer machte ausgedehnte Fahrten mit seinem Auto oder Boot u. dgl. m. Das allgemeine Entspannungsund Entlastungsgefühl, das vorherrscht, führt zu einer Art Ferien- und Freiheitserlebnis, ohne daß für unser Thema Relevantes zu verzeichnen wäre. 3. Anders ist die innere Situation bei solchen Gefangenen, die zwar mit dem Tage des Termins entlassen werden, die aber doch verurteilt worden sind. Die Notwendigkeit erneuter sozialer Auseinandersetzungen bahnt sich schon beim Abgang an und zeigt sich in vielen kleinen Verhaltenszügen. Im allgemeinen können wir aber auch von diesen Gefangenen verzeichnen, daß ihre Tendenz kurz nach der Haftentlasung die ist, der Atmosphäre des Gefängnisses zu ent-
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weichen. Es ist charakteristisch für die Gesamtsituation, daß zu dieser Atmosphäre nicht nur die Zelle oder das Gefängnisgebäude gehört, sondern auch der Straßenkomplex, in welchem Gefängnis und Gerichtsgebäude liegen, ja sogar in der ersten Zeit ganz Berlin als der Ort des Gefängnisses. Hier kehrt sich die Anonymität, die sonst die Großstadt für den einzelnen bietet, und die ihm gleichsam Deckung und Tarnung bedeutet, ins Gegenteil um. Von einem Gefühl, das auch durch Vernunftüberlegungen nicht leicht zu beeinflussen ist, wird der Gefangene gequält, daß er durch die doch geringe Öffentlichkeit der Verhandlung in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit aller gerückt wäre. Nicht nur von den Nachbarn fühlt er sich neuerdings beobachtet und kontrolliert, sondern auch von harmlosen Straßenpassanten. Diese paranoiden Züge, die allmählich abklingen und nur in Sonderfällen zu einem länger dauernden Zustand sich auswachsen, dürften wir wohl bei der Mehrzahl der nicht gänzlich abgestumpften Untersuchungs- und Strafgefangenen vorfinden in 3er ersten Zeit nach der Haftentlassung. So ist es dann nicht verwunderlich, daß immerhin der Wunsch besteht, die Wohnung zu wechseln und in anderen Stadtteilen unterzutauchen. Um dem Anblick der verhaßten Anstalt, in der er viele aufregende entgehen, wählte ein Entlassener weite Umwege auf der Fahrt zu seinem Ein anderer berichtete bei einem zufälligen Zusammentreffen nach Jahren, mit Angstgefühlen und sdiweißgebadet aus Träumen aufwache, in denen er halt erneut durchleben müsse.
Stunden erlebte, zu neuen Arbeitsplatz. daß er noch immer den Anstaltsaufent-
Es ist also so, daß in diesen Fällen, ja vielleicht selbst in den Fällen des Freispruchs die Entlassung aus der Anstalt keine reine Freude bringt. Nach Sieverts „grenzt das Erleben der U. H . sogar ganz allgemein hart an die sogenannten traumatischen Erlebnisse". Gar nicht selten setzt nun eine Fortsetzung der Verhandlung in der Phantasie ein, und besonders in den Fällen, wo eine Verurteilung erfolgte, finden wir lange Zeit noch ständige Wiederholungen der Verhandlungssituationen des Gefangenen. Immer wieder werden die Anklagen und Fragen des Richter in Gedanken rekapituliert und die Antworten, die darauf gegeben worden sind, auf ihre Zweckmäßigkeit hin neu durchdacht. Immer wieder erfolgt das gegeneinander Abwägen der inneren Teilerfolge und Teil-Mißerfolge, die eine solche Verhandlung mit sich gebracht hat, und längerer Zeit bedarf er noch, bis das beeinträchtigte Selbstwerterlebnis des Angeklagten nach und nach wieder ausgeglichen ist. Meistens bringt die Zeit eine Milderung mit sich, indem doch Teile oder Nuancen der Gesamtsituation vergessen werden. Wir müssen uns hier ins Gedächtnis rufen, daß es bei diesen affekterregten Menschen meist gar nicht der objektive Gehalt der Worte ist, der die soziale Person beeinträchtigt und das Selbstwerterlebnis erschüttert. In vielen Fällen ist es auch hier der Ton, der die Musik macht. Modulationen der Stimme des anklagenden Staatsanwaltes, kleine ironische Nuancen in der Stimme des Richters, eine Triumphfärbung in der Aussage eines Zeugen, abfällige Äußerungen über den Persönlichkeitswert im psychiatrischen Gutachten und im Urteil sind es, welche die eigentlichen und bleibenden Verletzungen erzeugen. Die gleichen Beobachtungen hat auch Sieverts gemacht. In seinem bereits mehrfach zitierten Buch schreibt er: „Die sogenannten Imponderabilien erlangen im Untersuchungsgefangenen größte seelische Wirksamkeit. Ein verletzender Tonfall, die ersten Worte des ,Inquisitors*, ein Wartenlassen in unhöflicher Form und andere kleine Nachlässigkeiten, die dem Untersuchungsgefangenen eine gegnerisch voreingenommene Stellung,
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menschliche Interessenlosigkeit, Taktlosigkeit oder gar mangelnde Gewissenhaftigkeit zu zeigen scheinen, bewirken in der labilen Seele des Häftlings oft ungeahnte Ausschläge" (S. 41—42). Umgekehrt ist es häufig der gütige Ton, der freundliche Zuspruch, die dem Gefangenen das Gefühl des Vertrauens geben und ihn zu einem Geständnis oder zu einer Aufgabe seiner unzwedkmäßigen sturen Verteidigungshaltung veranlassen können. Das kommt in zahlreichen Nuancen und manchmal in recht drastischen Äußerungen zum Ausdruck. Wie sehr das Bedürfnis besteht, die Beeinträchtigung des sozialen Geltungsstrebens, die durch Inhaftierung und Entzug der Handlungsfreiheit entstanden ist, auszugleichen, mag noch an einem besonderen Fall illustriert werden. Ein gemäß § 218 angeklagter und verurteilter Arzt kommt einige Wochen nach seiner Haftentlassung noch einmal zu einem Besuch in die Anstalt. Aber dies Mal ist er nicht in schlichtes Zivil gekleidet, sondern er erscheint in der vollen Uniform des Oberstabsarztes, ausgezeichnet mit sämtlichen Orden, die er im Laufe seiner Dienstzeit erworben hat; er genießt besonders die Tatsache, daß die Beamten der Anstalt, die ihn zum Teil gar nicht wiedererkennen, in strammer militärischer Haltung seine Anmeldung zum Besudi entgegennehmen. Einen objektiven Zweck hatte sein Besuch bei dem Leiter der Anstalt nicht. Er versicherte ihm nur, wie vorzüglich sein Personal wäre, und gab Anregungen für diese oder jene Verbesserungen. Zwei Tage darauf wiederholte er seinen Besuch, dies Mal in Zivil, erklärte sich bereit, eine Stiftung für einen bedürftigen Gefangenen zu machen, berichtete aber in der Hauptsache über seinen ersten Besuch. Deutlich war in Sprache und Inhalt seines Berichtes ein tiefes Befriedigungsgefühl zu bemerken. Das Bedürfnis der Kompensation seiner Mißerfolge war so übermächtig in ihm, daß er das Eigenartige und Merkwürdige seines Verhaltens gar nicht spürte.
4. Wesentlich anders kehren diejenigen Gefangenen in die Anstalt zurück, die zu einer längeren oder sehr langen Gefängnis- oder Zuchthausstrafe verurteilt wurden und nun der Strafverbüßung entgegensehen. Bei allen Gefangenen primitiver geistiger Struktur überwiegt das Gefühl des Überwältigtseins von der Gerichtssituation. Auch diese Gefangenen setzen sich nun noch lange Wochen hindurch mit der Verhandlung und ihrem abschließenden Urteil innerlich auseinander, wiederholen in vielen Selbstgesprächen die Verhandlungssituation, spielen anschaulich die Verhandlung wieder durch. Regelmäßig überwiegt die Vorstellung, daß „nicht alles gesagt worden ist, was hätte gesagt werden müssen", und daß sie selbst ihre Gründe nicht genügend durchschlagend hätten vorbringen dürfen. Ihnen sei das Wort abgeschnitten worden. Nach einer scharfen Rüge des Staatsanwalts sei man ängstlich geworden, ins Schweigen gegangen und sogar bereit gewesen, alles was er vorwarf, einzugestehen. Die Diskrepanz zwischen der Prognose des Rechtsanwalts und dem Urteil, die Kürze der Verhandlungsdauer erwekken Mißtrauen. Diese Vorstellungen verdichten sich zuweilen zu dem Gefühl, ein schweres Unrecht erlitten zu haben. Es sei deswegen Pflicht und Schuldigkeit, nicht nur in eigenem Interesse, sondern zur Wahrung von Recht und Gerechtigkeit gegen das Urteil zu Felde zu ziehen. Darum wird sofort Berufung eingelegt, damit die nächsthöhere Instanz Gelegenheit habe, das vermeintliche Fehlurteil aufzuheben. Sind alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, so meldet der Verurteilte ein Wiederaufnahmeverfahren an, das er während der Strafverbüßung zwar nicht einleiten könne, aber sofort nach seiner Entlassung durchzuführen gedenkt. Wiederum sind es zumeist abfällige Äußerungen über den Persönlichkeitswert, welche besondere Erregung hervorrufen. Die Abstempelung zum gefährlichen Gewohnheitsverbrecher, die Verhängung von Ehrverlust
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werden als schwer kränkend empfunden. Selbst Haßgefühle kommen nun auf: „Die erziehen sich Verbrecher, damit sie nicht brotlos werden". Das Urteil wird ein Verbrechen an der Menschlichkeit genannt. Man hofft auf eine andere Zeit und droht: „Diesmal kommen sie nicht so leicht davon". Nicht selten wird der Tenor des Urteils zunächst noch „gar nicht recht kapiert". Der Angeklagte, überwältigt von dem äußerlichen Hergang der Verhandlung, nicht gewohnt und nicht geschult, dem logischen und klaren Schriftdeutsch der Juristensprache zu folgen, wird häufig, wie er selbst sagt, nicht schlau aus dem, was gesagt worden ist. Es entwickelt sich dann ein Gefühl des Ressentiments gegen das Gericht, von dem er meint, daß es nicht fähig wäre, ein gerechtes Urteil zu fällen. Zuweilen wird der Tatbestand des Urteils, gleich, welches Ausmaß der Verurteilung er nun auch gebracht hat, nicht anerkannt, weil die Wirklichkeit mit den bisher geführten Tagträumen nicht übereinstimmt. Es gibt Gefangene, die auch nach dem Termin und nach der Verhandlung die volle Wirklichkeit ihrer Lage nicht anerkennen wollen und sich in eine neurotisch gefärbte Als-Ob-Haltung hineinretten, die für den Außenstehenden trotz ihres Zwangscharakters manchmal grotesk wirkt. Wenn ein zu drei Jahren Zuchthaus Verurteilter auf die Revision verzichtet, weil er das Gericht nicht in die Verlegenheit eines Widerspruchs mit sich selbst bringen will, oder weil er jugendliche Zeugen nicht noch einmal der moralischen Gefahr einer Verhandlung aussetzen will, so sind das solche grotesk wirkenden Ersatzmotive, die vorgeschoben werden, um die wirkliche Vitalangst des Gefangenen zu überdecken. Eine Brücke zu Resignation und Verzicht auf Fortsetzung des Kampfes wird gebaut durch die Bereitschaft, die Strafe trotz Unschuld im vorliegenden Falle als Sühne für andere nicht zur Verhandlung gelangte Straftaten anzunehmen. Eine solche Abbuchung auf frühere Untaten macht sie dann eher akzeptabel. Aber wie auch immer der Ausgang der Verhandlung gewesen ist, gegenüber den letzten Wochen der U. H . bringt für gewöhnlich die Zeit nach dem Termin eine enorme Entspannung, ja, vielfach sogar eine völlige Erschlaffung mit sich. „Gott sei Dank, jetzt habe ich die Sache hinter mir", äußerte ein Gefangener, um gleich darauf zu fragen, „Habe ich nun ein Jahr Gefängnis bekommen, oder zwei?" Erst eine Nachfrage beim Rechtsanwalt mußte das klären. Der Druck der Verhandlung und die nachfolgende Entspannung stehen so im Vordergrund, daß eine immerhin so relevante Frage, ob die Verurteilung zu einem oder zwei Jahren erfolgte, demgegenüber als unwichtig erschien. Auch Marx konnte verschiedentlich feststellen: „Manche wissen nicht, ob und wie hoch sie bestraft sind". Diese Erschlaffungsperiode hält verschieden lange an, und nicht selten werden Revisionstermine verpaßt, weil noch nicht so viel Aktivität und Vitalität wiedergewonnen ist, daß ein neuer Kampf um die Selbstverteidigung unternommen werden kann. Nach Sieverts scheint die U. H . häufig die psychische Kraft des Gefangenen so untergraben zu haben, daß er die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln verwirft, nur um die Ungewißheit über den Ausgang des neuen Prozesses nicht noch einmal durchleben zu müssen. Erst sehr allmählich setzt sich eine klare Stellungnahme zum Urteil durch. Ein kleinerer Teil der Probanden gelangte zur inneren und äußeren Annahme desselben; damit trat eine Entspannung ein. Die größere Anzahl ging in Opposition. Gründe für die ablehnende Haltung sind die völlige Negierung der zur Last gelegten Straftat, ihre falsche
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B e w e r t u n g u n d z u h o h e E i n s t u f u n g in der S k a l a der Verbrechen, infolgedessen eine viel z u h o h e Berechnung des S t r a f m a ß e s , U n t e r l e g u n g falscher M o t i v e , w a s als besonders k r ä n k e n d e m p f u n d e n w u r d e , u n g e n ü g e n d e Berücksichtigung v o n entlastenden einflüssen u n d
Komplizen-Anteil,
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Sachverständigen-Gutachten.
Milieu-
N o c h nach
J a h r e n ist zuweilen die scharfe Oppositionsstellung nicht a b g e b a u t . „ E s k o m m t i m m e r w i e d e r alles h o c h " . 5. W e n n eine V e r u r t e i l u n g z u einer sehr h o h e n S t r a f e erfolgt, o d e r auch w e n n in einzelnen F ä l l e n diese V e r u r t e i l u n g als eine a u ß e r o r d e n t l i c h e soziale K a t a s t r o p h e erlebt w i r d , entwickelt sich n u n m e h r eine d r i t t e K r i s e n z e i t . Schwere Z u s a m m e n b r ü c h e
treten
ein. U . C . ist ein kleiner, asthenischer, nodi sehr kindlich wirkender junger Mann, geistig undifferenziert, labil, haltlos und unreif. Als er wegen Landesverrat zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, brach er völlig zusammen. E r mußte nach dem Termin ins Auto getragen werden, verlangte weinend nach seiner Mutter, war keinem Zuspruch zugänglich. Den Termin hat er mit wilder Angst erwartet. Während der Verhandlung psychisch kaum anwesend, spricht er ein Gebet nach dem anderen, so daß er von den Mitangeklagten verlacht wurde. Nach einigen Tagen legt sich der Sturm; er klammert sich an die Hoffnung einer Amnestie. Solche Reaktion nach diesem harten Urteil ist an sich psychologisch verständlich. Aus seinem gesamten psychischen Leben ist gleichsam alles weggestrichen; nur der eine Gedanke der dauernden Trennung aus seinem bisherigen Lebensbereich, vornehmlich von der Mutter, beherrscht ihn. Reue, wilde Verzweiflung führen ihn in völlige Aufgelöstheit. Zu einer inneren Stellungnahme zur Straftat ist er völlig unfähig. Verhaftung und Verurteilung haben den unreifen, einfältigen Menschen wieder ganz ins Infantile, kindlich Mutter-Fixierte zurückgeworfen. D i e V e r u r t e i l u n g w i r d zu einem unassimilierbaren M o m e n t , zu einem ü b e r w e r t i g e n Ideenkomplex. Die 47jährige Krankenschwester E. M. ist angeklagt, während ihrer letzten Hauspflege Diebstähle am Eigentum des Kranken begangen zu haben. Sie streitet die T a t leidenschaftlich ab und erwartet ihren Freispruch, wird aber in der Verhandlung zu 11 Monaten Gefängnis verurteilt. E . M., eine gut intelligente Frau, mittelgroß, untersetzt, körperlich gesund, hat die Dorfschule besucht, dann Säuglingspflege erlernt und wurde schließlich Vollschwester. Sie ist nicht vorbestraft und hat bis zur Verhaftung als Hausschwester wechselnd Patienten betreut. Charakterlich muß sie zu den nervös-reizbaren, mürrisch-abweisenden, schizoiden Menschen gerechnet werden. Mit großer Zähigkeit hält sie an einer einmal aufgestellten Meinung fest. Sie ist unduldsam gegen andere, neigt zu Explosionen, beschuldigt rücksichtslos Mitgefangene wegen kleiner, sie gar nicht betreffender Vorkommnisse. Ihre Grundstimmung ist immer düster, mürrisch, abweisend. Während der langen Monate der U . H . zeigt sie niemals einen Moment heiterer, ausgeglichener Stimmung. Eine Notwendigkeit zur inneren Auseinandersetzung mit der Straftat, was j a zugleich ein Anerkennen ihrer Schuld bedeutet, lehnt sie leidenschaftlich ab. Menschenfeindlich, nach innen gekehrt, lebt sie verbissen in ihrer Zelle, beschäftigt sich mit nichts anderem als mit dem vermeintlichen Unrecht, das ihr widerfahren ist. Welches Gesprächsthema man auch anfängt, schon beim zweiten Satz ist sie wieder zu ihrer Affaire zurückgekehrt. Sie gilt als der Schrecken der Station, terrorisiert nicht nur ihre mitgefangene Zellengenossin, so o f t ihr eine gegeben wird, sondern auch die Beamtinnen. Diese haben vielfach erfahren, daß jeder Zuspruch, jedes freundliche W o r t zwecklos ist und an der Mauer ihrer mürrisch abweisenden Haltung abprallen muß. D i e Aufseherin warnt sogar, sich mit ihr zu befassen. Nach Einzelhaft wird ihr wieder einmal eine andere Strafgefangene zugelegt. Aber nach kurzer Zeit muß erneut Einzelhaft angeordnet werden, weil das Zusammenleben mit E. M . unerträglich ist. Bei der Trennung ist sie keineswegs irgendwie berührt, sondern erstattet schleunigst noch eine Anzeige gegen ihre bisherige Zellengenossin, weil diese sich Unregelmäßigkeiten bei der N ä h arbeit habe zuschulden kommen lassen. Weder zu den Mitgefangenen noch zu den Beamten sucht sie irgendwelchen K o n t a k t . Jede H i l f e und Unterstützung, die ihr angeboten wird, etwa
Termin und Ausgang
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eine Arbeitsvermittlung bei ihrem früheren Arbeitgeber, lehnt sie schroff ab. Die Verbindung zu ihren Angehörigen löst sie, weil diese nicht wie sie selber sich menschen- und gesellschaftsfeindlich einstellen. Ihr sei im Vaterland großes Unrecht geschehen, und mit H a ß will sie das Land verlassen, in welchem noch fünf Menschen (die Zeugen, die sie belastet haben) unbestraft herumlaufen dürfen. Von einer Fürsorge nach der Entlassung will sie nichts wissen, sondern erklärt, sich nach der Entlassung an das Grab ihres verstorbenen Vaters, der seit langem tot ist, setzen zu wollen. Anzeichen einer besonderen Fixierung an diesen Vater ließen sich indessen sonst nidit feststellen. Besonders hervorgehoben werden muß auch, daß sie zu niemandem, nicht einmal zum Anstaltspfarrer, K o n t a k t nahm. Es ist eine gar nicht seltene Erfahrung, daß einzelne querulierende und paranoid sich verhärtende Gefangene gegen Aufseher, Zellengenossen und andere eine völlig ablehnende Haltung einnehmen, ohne zu versuchen, wenigstens bei einem Menschen Vertrauen und Verständnis zu finden. E . M. ist erst als Strafgefangene in den Kreis unserer Untersuchung gekommen, ihre Haltung war aber vom ersten bis zum letzten Tag so einheitlich, daß wir den Schilderungen vertrauen dürfen, die darstellen, sie sei auch während der U . H . nicht anders gewesen. Als unassimilierbares Moment und als überwertiger Ideenkomplex stehen die Verurteilung und der Gefängnisaufenthalt herrschend in ihrem Seelenleben. Dieser eine Vorstellungsinhalt von dem himmelschreienden Unrecht, das ihr widerfahren sei, füllt sie völlig aus. Nichts anderes kann sie während der langen Monate der Untersuchungs- und Strafhaft interessieren. In tiefer Verbitterung, affektiv durchaus unansprechbar, zeigt sie eine verhärtete, in keiner Weise mehr anpassungsfähige H a l tung, die durchaus einseitig immer wieder auf den einen Vorstellungskomplex konzentriert ist. Sie war wohl von jeher schon ein Mensch, der wenig soziale Bindungen einging und wenig Beziehungen pflegte; während der H a f t gerät sie in völlige Vereinsamung. Widerstandslos, ohne innerlich und äußerlich irgendwelchen Gegenvorstellungen Raum zu geben, treibt sie immer mehr in die völlige Isolierung hinein. N u r noch der seit langem verstorbene Vater, mit dem faktisch soziale Beziehungen nicht mehr gepflegt werden können, stellt einen gewissen Gegenpol dar. E r wird die letzte Instanz. Seine väterliche Rolle wird übersteigert, er ist es, der gleichsam die soziale Beeinträchtigung ausgleichen kann. E. M. zeigt einen in dieser krassen Form seltenen Fall von Wir-Insuffizienz, eine Unfähigkeit, in irgendwelchen Beziehungen und Verbundenheiten weiterzuleben, einen Zustand schwerer paranoisch gefärbter innerer Vereinsamung und Vereisung. A n d e r e sehen ihr L e b e n als vernichtet a n u n d schreiten z u m S e l b s t m o r d . D e r H o m o sexuelle e r k e n n t die U n m ö g l i c h k e i t ,
gegen sein Anlageschicksal
anzugehen, u n d
ver-
zichtet a u f das W e i t e r l e b e n . D i e vielfach v o r b e s t r a f t e , erneut h a r t v e r u r t e i l t e B e t r ü g e r i n zieht die K o n s e q u e n z aus i h r e m verpfuschten L e b e n u n d springt nach d e m A u s g a n g des T e r m i n s , d e r eine h a r t e S t r a f e brachte, in einem u n b e w a c h t e n Augenblick v o m
ersten
Stock in den fliesenbelegten L i c h t h o f . E r w ä h n e n s w e r t ist noch eine a n d e r e m e r k w ü r d i g e H a l t u n g u n t e r denjenigen
Ver-
urteilten, über die sehr l a n g e Z u c h t h a u s s t r a f e v e r h ä n g t w u r d e . N a c h einem ersten Schock finden
w i r in vielen F ä l l e n ein eigenartiges inneres N i c h t a n e r k e n n e n der R e a l i t ä t
der
S t r a f e . M a n c h e z u h o h e r Z u c h t h a u s s t r a f e V e r u r t e i l t e a n t w o r t e n m i t P h r a s e n , w e n n sie das U r t e i l m o t i v i e r e n . E i n z u 1 5 J a h r e n V e r u r t e i l t e r ä u ß e r t lächelnd: „ M a n h a t kein Interesse, die D i n g e so z u sehen, w i e sie s i n d " ; ein a n d e r e r , z u 8 J a h r e n v e r u r t e i l t , sagt den b a n a l e n S a t z : „Ich m u ß t e S t r a f e b e k o m m e n " . M a n h a t m i t u n t e r den E i n d r u c k , als ob die H ö h e des U r t e i l s hier w i e ein Schutz d ü p i e r e n d g e w i r k t h a t u n d die R e a l i t ä t der l a n g e n J a h r e der b e v o r s t e h e n d e n S t r a f e g a r nicht e r f a ß t w i r d . „Ich w a r m o m e n t a n ein bißchen a u f g e r e g t " , a n t w o r t e t ein zu lebenslänglich v e r u r t e i l t e r L a n d e s v e r r ä t e r ; das ist alles, w a s er a n A f f e k t ä u ß e r u n g e n a u f b r i n g e n k a n n . A b e r auch das gibt sich schon über N a c h t , er ist b a l d w i e d e r g a n z i m Gleis. A u d i bei V e r u r t e i l t e n , über die j a h r z e h n t e l a n g e
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
Zuchthausstrafen verhängt wurden, hört zunächst das Planen und Rechnen mit der Wirklichkeit nicht auf. Gleichsam, als ob es sich um Wochen oder Monate handele, werden mitunter schon jetzt Pläne geschmiedet, was man tun will, wenn man wieder entlassen ist. Eine Lebenslängliche begrenzt von vornherein ihre Strafzeit auf 18 J a h r e und legt schon am Anfang bestimmte Termine für den Einkauf von Wäsche, Kleidung, einer Nähmaschine und anderen Gebrauchsgegenständen fest, um für den T a g der Entlassung gerüstet zu sein. Auch bei kürzeren Gefängnisstrafen findet sich hin und wieder eine merkwürdige Einstellung zur Strafzeit. So wird die Gefängniszeit geteilt in eine, die als wirklich angerechnet wird, und einen Rest, der dann schon abzumachen ist. Ein Gefangener, der noch 4 Monate Gefängnis abzusitzen hat, spricht von 3 Monaten und einem (blinden) Monat, den er dann schon irgendwie hinter sich bringen wird. KAPITEL
III
DIE WANDLUNGEN DER SOZIALEN PERSON IN DER UNTERSUCHUNGSHAFT § 9
Infantilismus,
Pseudosozietät,
Verhältnis
zu Raum und
Zeit
Überblicken wir noch einmal das G a n z e : Das äußere Gleichmaß der U . H . ist für den Eingeschlossenen durchaus nicht eine Kette monotoner Warte-Tage, in denen er abwartet, was die Polizei und der Untersuchungsrichter zusammentragen, sondern wir sahen neben gewissen allgemeinen Haltungstendenzen, die mehr oder weniger bei allen Untersuchungsgefangenen vorliegen, daß im Leben jedes einzelnen während seiner H a f t Krisen und Phasen der Entspannung aufeinander folgen. Immer ist die psychologische Gesamtsituation je nach der Entwicklungsphase und nach dem Fortschritt des Untersuchungsverfahrens für den H ä f t l i n g eine andere. Charakteristisch sind die bei den entsprechenden äußeren Anlässen wie Verhaftung, Anklageschrift, Zustellung, Termin und Verurteilung auftretenden Gefühle gänzlichen Uberwältigtseins, völliger Ohnmacht und Verzweiflung. Diese Krisen sind, wie wir hier jetzt zusammenfassend sagen können, hervorgerufen durch das Hereinbrechen der Realität der Situation. Alles, was der G e fangene in den Zwischenphasen aufgebaut hat, um sich und seine Lage zu erleichtern, alle diese Kartengebäude der Irrealität, mit deren H i l f e die reale Bedrohung durch die Anklage und den Termin in weite Ferne geschoben werden konnten, brechen zusammen, und wenn auch nur für mitunter kurze Zeiten, so sieht sich doch der Gefangene der drohenden Wirklichkeit gleichsam hüllenlos gegenüber. Es pendelt also die Haltung des Untersuchungsgefangenen hin und her zwischen Phasen, in denen das Bedrohungsmoment seiner Lage ins Irreale geschoben wird, und Phasen, in denen katastrophenartig die Anklage und die Schuld, unter der er steht, hereinbrechen. Wenn wir dann weiterhin die Gesamthaltung aller Gefangenen in der U . H . charakterisieren wollen, so tritt als erstes Kennzeichen die Regression ins Infantile, H i l f s bedürftige auf. Die äußere Lage entmündigt gleichsam den Gefangenen. Sie beraubt ihn der Mittel, auf andere einzuwirken und von anderen Einwirkungen zu empfangen. Sie nimmt ihm seine Geschäftsfähigkeit und zwingt ihm als einzige Aufgabe auf, der Haus-
Infantilismus, Pseudosozietät, Verhältnis zu Raum und Zeit
49
Ordnung mit ihren vielen Beschränkungen und Beeinträchtigungen bedingungslosen Gehorsam zu leisten. Dennoch wären hier zahlreiche Haltungen möglich. Aber wenn wir absehen von den Sonderfällen der Überzeugungstäter, so ist das durchgängige Gefühl, das für fast alle Erstinhaftierten hier resultiert, eine widerstandslose Hilflosigkeit und entsprechende Hilfsbedürftigkeit. Andere müssen für ihn sorgen, selbst das Essen wird ihm zugestellt, und kein anderer Weg bleibt ihm, wenn er persönliche Wünsche hat, als zu versuchen, durch Bitten Helfer zu gewinnen. Man hat immer wieder den Eindruck, daß die Gefangenen diese Regression ins Hilfsbedürftige kultivieren und ausbauen; ihre Lage erscheint verständlicher, ihre Schuld entschuldbarer, wenn sie nicht als erwachsene Pesonen, sondern mehr als hilflose Jugendliche auftreten. Auch diese Regression ins Infantile ist also als eine gewisse Flucht anzusehen, als Verzicht auf die „Persona" des sozialen, aktiven und Geschäfte führenden freien Mannes, der nun auch verantwortlich ist für alles, was geschieht. Die Haltung des Hilfsbedürftigen, der zugleich unverantwortlich ist, bekommt dann gleichfalls ihre entspechende Note. In dieser Situation erweitert sich unwillkürlich der Bereich des Unverantwortlichen zeitlich und räumlich; er erstreckt sich auch gefühlsmäßig auf die Zeit vor der Verhaftung, also mit auf die Zeit der Straftat. Manche merkwürdigen Äußerungen des Gefangenen werfen hier ein eigenartiges Licht auf seine innere Lage und zeigen, daß besonders in der Anfangszeit seine Haltung gegenüber der Stafbehörde, den Beamten und auch dem Pfarrer kaum anders ist, als sie es wäre, wenn er etwa in einem Krankenhaus läge, geschäftsunfähig und gezwungen wäre, allen Anordnungen von Ärzten und Pflegepersonal widerspruchslos nachzukommen. Auf dieser Basis entwickelt sich dann auch die Grundstimmung relativer Behaglichkeit, die wir in bestimmten Phasen als charakteristisch vorfanden, und gleichzeitig mit ihr eine Abstumpfung sowie eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Einschränkungen, Beeinträchtigungen und Mißstände, die nun einmal als in der Sache gegeben und notwendig angesehen und nach einer ersten Eingewöhnungszeit eben hingenommen werden. Andererseits verzeichnen wir auch bei vielen Gefangenen eine besondere Teilempfindlichkeit gegen bestimmte, zunächst nicht näher voraussehbare Anlässe. Eigenheiten eines Mitgefangenen, die hier und da gegeben sind, Geräusche, die regelmäßig gehört werden, wie Schlüsselklirren, Tritte, die Tatsache, daß die Tür verschlossen ist, die Gitter vor dem Fenster und vieles mehr können jeweils in einer ausgefallenen Weise Anlaß besonderer Q u a l und nicht wegzuräumender Belästigung sein; dabei läßt sich sagen, daß diese Reize von Gefangenen zu Gefangenen durchaus verschieden sein können. Was den einen besonders quält, beeinträchtigt und Gegenstand täglicher innerer Reibung sein kann, ist für andere gleichgültig und wird von ihnen übersehen, ja, bereitet sogar ein Gefühl der Erleichterung und Entspannung. Die verriegelte Tür, die für die Gefangenen meistens den Charakter des Eingeschlossenseins und damit die Situation des Hilflosen mit sich bringt, verhindert andererseits die als feindlich empfundene Außenwelt, bis an seine Person heranzudringen und verschafft wohltuende Erleichterung. Der Tonfall mancher Beamter kränkt den einen schwer und läßt den anderen völlig gleichgültig. Die Art des Schließens empfindet der eine als brutal und sadistisch, der andere als behutsam und gleichsam um Entschuldigung bittend. Der Zellenraum, der von den meisten als Zwangsaufenthalt gehaßt wird und einen feindlichen physiognomischen Aspekt hat, wird von anderen geliebt und als die Stätte innerer Einkehr geschätzt, nach der man Heimweh 4
Ohm
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
empfinden könnte, wenn man entlassen ist. Das gleiche gilt von bestimmten Tages- und Wochenzeiten. Die Abendstunden bringen dem einen das Gefühl der Entlastung und Ruhe, ebenso die Tage Sonnabend und Sonntag, während sie für den anderen leere, verlorene, qualvoll durchwartete Zeitstrecken darstellen. Wohl das subjektiv einschneidendste Moment ist für alle die Trennung von dem bisherigen sozialen Kreis, von dem Wir, in welchem sie bisher herrschend und gestaltend lebten. Die Familien- und Freundschaftsbeziehungen, allgemeiner die Du- und Wir-Beziehungen, die dem einzelnen Individuum erst den Charakter der sozialen Person auf dem sozialen Felde verschaffen, sind mit einem Schlage und immer sehr schmerzlich abgebrochen. Wenn nicht ganz besondere Verhältnisse oder auch besonders eigenartige, zum Einzelgängertum neigende, Charaktere vorliegen, so entwickelt sich ein Gefühl der Heimlosigkeit, verbunden mit einem im wörtlichen Sinne zu verstehenden Heimweh. In dieser Situation versuchen, insbesondere, wenn der erste Schock überwunden ist, viele unserer Gefangenen eine Pseudosozietät zu entwickeln. Wenn die Wirklichkeit eine Fortsetzung der sozialen Beziehungen, den lebendigen Austausch sozialer Wirkungen unterbindet, so können sie doch nicht in ihrer Fantasie und in ihren Tagträumen auf ständige und immer wiederholte Auseinandersetzungen, auf den sozialen Kreis verzichten. 1. Auf diese dynamische Grundlage ist es wohl in erster Linie zurückzuführen, daß viele unserer Gefangenen ein eigenartiges Phantomgebilde des sozialen Lebens entwikkeln, das wir als Pseudosozietät ansprechen wollen; es besteht darin, daß die kümmerlichen Reste sozialer Kontaktnahme, die möglich sind, im weitesten Sinne ausgebaut werden. Die Gefangenen stürzen sich in ganzen Scharen auf den Pfarrer oder Fürsorgebeamten, übergehen dabei zuweilen die Hausordnung, die schriftliche Vormeldung erfordert. Sie übertragen auf diese Beamten all ihre Sorgen und Nöte und haben nicht selten Anliegen, die einen leicht tragikomischen Charakter annehmen können. Ihre allgemeine Regression ins Infantile, ihre Flucht in die Haltung des Kindlich-Hilflosen fordern als Gegenpol die väterliche Autorität, auf die sie alle ihre Sorgen und Wünsche übertragen können. Der Anstaltspfarrer, der Lehrer, als väterlich und fürsorglich anerkannte Beamte (in der Regel die älteren) werden in dieser Lage in die Rolle der allbeherrschenden Vaterautorität hineingedrängt, eine Haltung, die nicht unähnlich der ist, die das bekümmerte Kleinkind gegenüber dem Vater an den Tag legen kann. Andere Formen jener phantomartigen Pseudosozietät sind darin zu erkennen, daß bestimmte, häufig gänzlich isolierte Prestigezüge des früheren sozialen Lebens krampfhaft und meist unzweckmäßigerweise unter allen Umständen aufrechterhalten werden. So ist es denn auch zu verstehen, daß häufig Spannungen und Reibereien unter den Gefangenen wegen formaler Anlässe entstehen, die der Außenstehende nur schwer begreifen kann. Die unterlassene Anrede „Herr" des Mitgefangenen, der den gleichen Raum teilt, mit dem er zwangsläufig alle Intimitäten eines so engen Zusammenlebens auskostet, kann Anlaß heftiger und nun in dem engen Raum spannungsreidier Feindschaft sein. Unterscheidungen häufig feiner Art innerhalb der Straftaten und der Bedrohungen führen zu gegenseitigen Distanzierungen; das alles sind Züge, die nur aus dem Sondercharakter der sozialen Situation recht verständlich werden.
Infantilismus, Pseudosozietät, Verhältnis zu Raum und Zeit
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Welche Formen die Pseudosozietät annehmen kann, mag noch an einem Sonderfall geschildert werden, der freilich nicht zu den Untersuchungsgefangenen gehört. Ein Strafgefangener knüpft mit einer Witwe, die ihm aus seinem Bekanntenkreis als geeigneter Ehepartner empfohlen wurde, einen Briefwechsel an. In einem Bewerbungsschreiben setzt er alle seine Vorzüge in ein grelles Licht. Seine Bewerbung findet ein Echo, es entsteht ein reger Briefwechsel, Lichtbilder werden ausgetauscht. In dem Augenblick der Entlassung aber sind alle Beziehungen zu dieser Frau abgeschnitten; die psychologische Funktion jener Partnerin ist erfüllt und, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu sehen, reist er in eine andere Gegend. Auch umgekehrte Haltungen sind zu verzeichnen. Einer unserer Gefangenen, ein akademisch gebildeter Mann, schließt sich eng an einen haltlosen, arbeitsscheuen Bummler an, der nun die Rolle des zu Befürsorgenden, geistig Schwächeren spielt und das Selbstwertungsgefühl des anderen dadurch stärkt, daß er ihm die Möglichkeit gibt, mehr und mehr als Autorität zu wirken. Am klarsten werden solche Haltungen immer wieder in den Fällen, wo Spannungen und Reibereien entstehen. Wenn ein Gefangener seinen Partner haßt, weil dieser nicht die ortsmäßig angezeigte Depression und Reue an den Tag legt (obwohl ihm selbst das auch fehlt), so ist das wiederum ein Zeichen dafür, welche abwegigen Formen Du- und Wir-Beziehungen in dieser Ausnahmesituation annehmen können. Auch jener oben erwähnte Fall, der in vielfachen Variationen immer wieder aufzufinden ist, daß ein Gefangener, sei es in den Mitgefangenen, sei es aber auch auf die leeren Zellenwände, ein Auditorium oder ein soziales Feld projiziert, dem er Vorträge und Predigten halten kann, für den er Verteidigungsschriften ausarbeitet usw., gehört zu den Beispielen dieser phantomartigen Pseudosozietät, wie sie in dem überhitzten und doch kümmerlichen sozialen Boden des Untersuchungsgefängnisses entstehen können. Selten sind die Fälle, wo wirkliche moralische und geistige Hilfe der Gefangenen untereinander zu verzeichnen ist. Immer handelt es sich dabei um Menschen relativ hoher Persönlichkeitswerte. Daß ein Mitgefangener seinem niedergebrochenen Mitgefangenen wirklich gut zureden und eine bedeutsame Hilfe darstellen kann, daß er etwa dieselbe moralische Leistung vollbringt, die der Gefangene vom Anstaltspfarrer erwartet und erfährt, gehört zu den seltensten Ausnahmen. Mehrfach stellen sich Frauen vor den Freund oder Verlobten und verlangen energisch, ihn aus dem Spiel zu lassen. Eine Probandin versucht, die ganze Schuld auf sich zu nehmen, um den Geliebten zu entlasten. Die Lösung solcher Beziehungen ist zuweilen ebenso schmerzhaft wie das Urteil. Noch nach 10 Jahren Strafverbüßung werden vorsichtig Nachfragen nach dem Ergehen des ehemaligen Partners erhoben. Daß er ehelos geblieben sei, wird mit Befriedigung vermerkt. 2. Man sollte, wenn man die Gesamtheit der Untersuchungsgefangenen und ihre im ganzen gleichartigen Situationen berücksichtigt, erwarten, daß das gleiche Schicksal die Entstehung einer Art Schicksalsgemeinschaft begünstigt. Man könnte erwarten, daß gerade in dieser Lage enge Paarbildungen und bei Kollektivhaft echte Wir-Gemeinschaften entstehen können. Ist es doch eine Erfahrung des allgemeinen sozialen Lebens, daß gleiche Schicksale das Entstehen von Schicksalsgemeinschaften begünstigen. Sieht man sich unter diesem Gesichtspunkt im Untersuchungsgefängnis um, so kann man feststellen, 4*
52
Wandlungen während der Untersuchungshaft
daß diese Wir-Gemeinschaften zu den äußersten Seltenheiten gehören. Das, was sich hier entwickelt, ist fast niemals ein Wir-Gebilde im echten Sinne, sondern bleibt trotz engster räumlicher Zusammengehörigkeit und trotz stärksten Aufeinanderangewiesenseins ein Duo und wird kein Paar, ein Haufen und wird keine Gemeinschaft. Wenn sich wirklich einmal so etwas entwickelt wie eine Freundschaft zwischen zwei Gefangenen, die lange dieselbe Zelle geteilt haben, und die sich geloben, auch nach der Entlassung in Verbindung miteinander zu bleiben und sich immer wieder zu schreiben, so zerfällt dieses Gebilde doch in dem Moment, wo der äußere Ring, der es zusammengehalten hat, gesprengt ist. J a , gar nicht selten wird der Freund von gestern der Angeber und Denunziant von heute nach seiner Entlassung, der, wenn auch nicht vor Kriminalbeamten, so doch vor Bekannten die Schandtaten des anderen preisgibt. Sozialpsychologisch gesehen, ist dieses Resultat auch gar nicht verwunderlich. Wir-Gemeinschaften, Paar-Bindungen, die man als echte Paare ansehen kann, entstehen nicht leicht unter äußeren Zwängen. Zur echten Bindung an ein Wir gehört die innere Freiheit der Selbsthingabe und der Distanzierung. Das echte Wir entsteht nur auf dem Boden ständiger dialektischer K o n fliktspannungen zwischen Ich-Hingabe und Ich-Behauptung. Nur dort, wo Distanzierung und Hingabe zugleich möglich ist, wo innere Freiheit gewahrt bleibt, entwickelt sich dieses dynamisch so wirksame Gebilde, das wir als echtes Wir oder als echtes Paar ansprechen können. Das, was sich unter dem doch enormen Druck der sozialen Situation der U. H . entwickelt, ist sozialpsychologisch gesehen etwas ganz anderes als Wir-Gemeinschaft. Es ist ein äußeres Zwangsgebilde, das gewisse leere Formen der Gemeinschaft wahren muß, aber dynamisch völlig bindungslos ist. 3. Besondere Beachtung verdient das Verhältnis des Untersuchungshäftlings zu Raum und Zeit. Es fällt zunächst auf, daß die Tatsache des Gebundenseins an einen Ort verhältnismäßig geringe Bedeutung hat. Wir schilderten schon, daß die Zelle auch freundlich anmuten kann, daß ihre Wände gleichsam den sicheren Wall gegen den Zugriff der Außenwelt darstellen können, daß das Gefühl des Geborgenseins anzutreffen ist. Ganz allgemein können wir sagen: die Tatsache, daß durch die mangelnde Bewegungsfreiheit die Gefangenen behindert sind, daß sie immer wieder an den gleichen Raum gebunden sind, spielt in der U. H . kaum eine besondere Rolle und wird meistens gar nicht als eine spezifische Last empfunden. Selten äußert sich einmal ein Gefangener, der etwa vom Lande kommt und täglich an weite Wege und Ausblicke gewöhnt ist, klagend über die Enge der Zellenwände. Audi wenn mehrere Gefangene in einer Zelle sind und die äußere Bedrängnis für den von außen hereinkommenden Besucher bedrückend wirkt, so wird das doch von dem Gefangenen meist nicht in diesem Sinne erlebt. Ganz anders ist es mit dem Erleben der Zeit, was verständlich erscheint, da die ganze Inhaftierung auf Zeit begrenzt ist und durch besondere Ereignisse ihre jeweiligen Cäsuren erlebt. Auch hier genügt folgende zusammenfassende Feststellung: das Tropfen der Minuten, das lange Sichhinstrecken der Feiertage, die Unendlichkeit der Nächte, das ist es, was den Gefangenen psychisch besonders beeindruckt, nicht aber die örtliche und die räumliche Enge. Damit steht in engem Zusammenhang, daß als schwerwiegendste Beeinträchtigung die Verurteilung des Untersuchungshäftlings zur Passivität, zur Beschränkung der Hand-
Die Verschiedenartigkeit der Haltungsstile
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lungsfreiheit erlebt wird. Handeln ist zweckbewußtes, zielbestimmtes Geschehen in der Zeit. Durch Handlungen und Aktivität erfährt das Zeitgeschehen seine jeweiligen Cäsuren und Gestaltungen der endlosen Monotonie der aufeinanderfolgenden Zeitphasen in gegliederte Zeiträume. Beschränkung der Handlungsfreiheit sowie die Qual der Monotonie des Zeitablaufs hängen also psychisch zusammen; beides hat der Gefangene, wenn auch keineswegs bewußt, im Auge, wenn er sich über diese Lage beklagt. Wir schilderten, wie einzelne Gefangene gerade dieser schlimmsten Gefahrenquelle ihrer inneren Haltung dadurch zu begegnen wissen, daß in strenger Selbstdisziplin der monotone Gefangenentag in Zeitphasen, auf Minuten beschränkt, unterteilt wird. Wenn manche beginnen, Sprachen zu lernen oder sich sonst Beschäftigungen suchen, so haben diese Maßnahmen den Erfolg, daß das völlig passive Treiben im Strom des Geschehens Gliederungen und Cäsuren erfährt, die das monotone Minutentropfen zum gestaltenden Arbeitstag umwandeln.
§ 10
Die
Verschiedenartigkeit
der
Haltungsstile
Überblicken wir das große Material unserer Untersuchungspersonen, so zeigen sich neben den allgemeinen Erscheinungen des Lebens der Untersuchungshäftlinge nun jeweils persönlichkeitsgebundene, individuelle Formen der Bewältigung und der Auseinandersetzung mit der U. H . Alle unsere Ausführungen legen dar, daß es eine Sondersituation ist, in die der Mensch mit der U. H . gerät, die besondere Ansprüche stellt und gewiß nicht leicht ist. Die U. H . ist eine Lebenssituation ganz besonderer Form; an ihrer Bewältigung und an der Auseinandersetzung mit ihr repräsentiert sich die jeweilige Persönlichkeit des Untersuchungsgefangenen. Die Wucht des Erlebnisses des Eingeschlossenseins, der Passivität, der Trennung vom sozialen Wir und damit verbunden das Ausmaß der Regression ins Infantile und Hilflose, die Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Schuld oder Unschuld, die Gestaltung der jeweiligen Persona in dieser abnormen sozialen Situation sind von folgenden Momenten abhängig: a) Der Aufbau der Erbcharaktere, der psycho-physischen Konstitution ist es zunächst, welcher den Lebensstil der Untersuchungshäftlinge jeweils differenziert. Unter der großen Zahl unserer Gefangenen finden wir alle Strukturformen von Erbcharakteren, die jeweils Eigenartigkeiten und an die Persönlichkeit gebundene Haltungsstile aufweisen. Der schizothyme, introvertierte, in sich gekehrte, weitabgewendete Mensch findet einen anderen Haltungsstil als der zyklothyme, extravertierte, weltaufgeschlossene. Der zähflüssige, viskose, häufig dumpfe Athletiker zeigt einen anderen Stil als der explosible, zu jähen Kurzschlußreaktionen neigende Häftling. Der Sthenische, Harte, Widerstandsfähige, Haltreiche fällt schon beim ersten Besuch gegenüber dem Asthenischen, Weichen, Weinerlichen, Haltlosen auf, obwohl alle Gefangenen bis zu einem gewissen Grade eine allgemeine Situationsasthenie zu zeigen streben. Ganz allgemein ist der Haltungsstil in der U. H. abhängig von der jeweiligen Lebensenergie, von der Vitalität, über die verfügt werden kann. Vitale Personen, obwohl besonders in den Krisenzeiten häufig schwer getroffen und ihren Depressionen
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Wandlungen während der Untersuchungshaft
schwerstem ausgeliefert, sind doch auf die Dauer widerstandsfähiger, gestaltender als vital schwache, die leicht ins Hineindämmern und Sichtreibenlassen geraten. Besonderes Licht werfen auf dieses Problem nun noch einzelne neurotische Züge, die wir hier und da in ausgesprochener Form vorfinden können. Wir haben es in der U. H . mit einer Zwangssituation zu tun, die wohl geeignet ist, neurotische Züge und Verhaltensweisen zu induzieren. Es ist psychotherapeutische Erfahrung, daß viele neurotische Züge erst in besonderen Lebenssituationen, die einen starken Konfliktcharakter mit sich bringen, manifest werden können. Auch die U. H . ist eine solche Situation, die latente neurotische Züge zur Manifestierung bringen kann. Wenn einzelne Gefangene besondere paranoide Züge entwickeln, so sind das solche neurotischen Momente, die durch die U . H . verstärkt sind, den Haltungsstil der Persönlichkeit aber auch im Alltagsleben, wenn vielleicht auch nur andeutungsweise, mitbestimmt haben. b) Abgesehen vom Aufbau der psycho-physischen Konstitution ist die jeweilige psychologische Form der U. H . von intellektuellen Differenzierungen der Person abhängig. Ihre Reife, ihr Entwicklungsalter sind bedeutsam für die jeweilige individuelle Form des Haltungsstils in der U . H . c) Weiterhin spielt noch die allgemeine körperliche Beschaffenheit, die vitale Person, eine große Rolle. Jugend und Alter, als biologische Phasen genommen, bestimmen die Widerstandskraft gegen die Anforderungen, die schließlich auch körperlich mit der mangelhaften Bewegung, der knappen Ernährung, dem geringen Luftwechsel gestellt werden. Durchgängig zeigen alle Untersuchungsgefangenen eine leichte Depravierung der vitalen Person, einen Rückgang im Gewicht und dem körperlichen Kräftegefühl, indessen selten in einem Ausmaße, das zum eigentlichen Krankgefühl führt. d) Endlich erinnern wir uns noch eines letzten Momentes, das bereits früher erwähnt wurde und ebenfalls in prägnanter Weise den Haltungsstil der Untersuchungshäftlinge mitbestimmt. Das ist die Schwere des Delikts und die mutmaßliche Strafandrohung, die darauf steht. Die Schwere des Delikts richtet sich vor allem nach seiner sozialen Bedeutung, nicht so sehr nach der Strafe, mit der es bedroht ist. Ein Meineid, der u. U . als ein nicht besonders sozial gravierendes Verbrechen angesehen wird und dennoch mit hoher Strafe bedroht ist, hat andere, und zwar leichtere, Rückwirkungen auf die Persönlichkeitsentfaltung als ein Betrug, selbst dann, wenn er mit milderer Bestrafung bedroht ist. Insbesondere pflegen Verbrechen, die, wie etwa Vergehen gegen den § 175, zwar hoch bedroht sind und doch als schicksalsmäßig aufgezwungen angesehen werden, in der sozialen Wertung des Untersuchungsgefangenen leichter genommen zu werden, als andere Sexualvergehen, die mit allgemeiner gesellschaftlicher Verdammung belegt sind. Es sind also eine ganze Reihe von Gesichtspunkten — teils in der erbgegebenen Persönlichkeitsartung begründete, teils in der sozialen Bedeutung des Deliktes fundierte Momente — , die den jeweiligen Haltungsstil der Persönlichkeit in der U . H . bedingen. §11
Schlußfolgerungen
Die Haltung des kindlich-hilflosen, ins Infantile zurücksinkenden Untersuchungshäftlings fordert als Gegenpol die väterliche bzw. mütterliche Autorität, vor der alle
Die Vcrschiedcnartigkeit der Haltungsstile
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Anliegen und Sorgen ausgebreitet werden können. Zur Bejahung und Übernahme dieser Autorität, dieser Vater- bzw. Mutterrolle müssen geeignete Kräfte zur Verfügung stehen, damit nicht der Kessel überhitzt wird und Explosionsgefahr heraufkommt. Auf diese Weise kann auch das gefährliche Gefühl der Heimlosigkeit bekämpft werden. Sieverts weist warnend darauf hin, daß es im Untersuchungsgefängnis mit seelischen Abreaktionsmöglichkeiten schlecht bestellt ist. Das Tagträumen, die irrealen Spekulationen, das Anpredigen der Wände, die Fortsetzung des Unterrichts im Tagtraum, die Projektion der eigenen Wünsche und Bedürfnisse auf eine Person der Außenwelt, erleichtern zwar die reibungslose Einordnung in den Anstaltsbetrieb, können aber, auf den Kern der Sache gesehen, auch beträchtliche Gefährdungen bedeuten. Auseinandersetzung mit der Tat ist not, nicht Abschieben und Flucht in peripherische Bezirke. Absolute Neutralität in der Auseinandersetzung zwischen Anklagebehörde und Angeklagtem ist selbstverständlich. Eine Frage aber, die immer wieder gestellt wird, lautet: „Soll ich mich, um Schlimmeres zu vermeiden, um nicht andere zu gefährden, mit einem Teilgeständnis begnügen und anderes ungesagt bleiben lassen?" Den Fragestellern wurde erwidert mit einem Hinweis auf die somatische Heilkunde: „Vergleichen Sie Ihre Lage mit einem häßlichen Geschwür. Wie nur durch ein restloses, brutal erscheinendes ö f f n e n und Entfernen des Eiterherdes eine Heilung erfolgen kann, so ist es auch hier. Nichts darf zurückbleiben. Am Ende dieser Angelegenheit muß die völlige innere Freiheit zu einem neuen Beginn stehen". Nicht minder häufig wurde gefragt: „Soll ich es auf einen zweiten Rechtsgang ankommen lassen oder mich jetzt zufriedengeben"? In den Fällen eines einwandfreien, erschöpfenden Ablaufs der juristischen Seite lautete hier die Antwort: „Das ist eine Gewissensfrage. Für ihre Beantwortung dürfen nicht Hoffnungen auf irgendeinen Glückszufall, auch nicht Zweckmäßigkeitsgründe entscheidend sein. Es muß geprüft werden, ob die Strafe im rechten Verhältnis zur Straftat steht. Niemand kann die Antwort finden außer Ihnen selbst". Die bisherigen Ausführungen zeigen, wie wichtig es ist, ein Untersuchungsgefängnis mit dem rechten Personal zu versehen. Darauf weist auch Professor Baan-Utrecht in seinem anfangs zitierten Artikel hin. So nutzlos bei Operationen Nichtausgebildete seien, die nicht einmal die Instrumente kennen, so wenig dürfe man Unkundige oder Unausgebildete im Untersuchungsgefängnis arbeiten lassen. Baan hält verkehrtes Auftreten für einen der größten deformierenden Faktoren in der H a f t . J e höher der Beamte, umso größer sei die auf solche Weise verursachte Verletzung. Justizgebäude und Untersuchungshaftanstalt liegen im Regelfall ganz nahe beieinander. Trotzdem sind aber der Beziehungen herüber und hinüber nur ganz wenige über das Geschäftliche hinaus. Der Besuch eines Staatsanwalts, eines Richters im Gefängnis wirkt sensationell. Von Heutig schreibt: „Richter interessieren sich wenig für ihre Verurteilten". (Die Strafe, Band 2, S. 200.) Trotz des Uneigentlichen und Eingeklammerten dieser Lebenssituation kann die U. H . neue Entwicklungen in Gang setzen. Der durch den Trott des Alltagslebens hart-
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W a n d l u n g e n w ä h r e n d der Untersuchungshaft
getretene Boden des Herzens ist durch den Schock der Verhaftung aufgelockert. Es wiederholt sich hier zuweilen die Geschichte von dem Müller, der Fest schläft, so lange seine Mühle klappert, aber erschrocken auffährt in dem Augenblick, wo sie abgestellt wird und die große Stille eintritt. Einen solchen psychologisch bedeutsamen Augenblick kann man in der U. H . erleben. Dieses wertvolle Erschrecken gilt es, fruchtbar zu gestalten, damit aus dem Irr-Leid der Verhaftung das Werde-Leid eines neuen Anfangs erwächst.
II Wandlungen während der kurzen Strafe I N H A L T S Ü B E R S I C H T Seite Kapitel
I. Jugendgefängnis
59
Einleitung
59
§
59
1
Der Weg durch die Anstalt
§ 2
Die Bemühungen um Wiederherstellung der sozialen Person
61
§
Auswirkungen auf die Persönlichkeit
67
3
Kapitel
II. Erwachsenenstrafgefängnis
69
§ 4
Schilderungen in der Literatur
§
Eigene Beobachtungen
70
Krise der bisherigen Strafvollzugsmethoden
73
5
§ 6
69
KAPITEL
I
JUGENDGEFÄNGNIS E I N L E I T U N G Ein neuer Abschnitt im Gefängnisleben beginnt. Nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils erfolgt der Abtransport der bisherigen Untersuchungshäftlinge in die zuständige Strafanstalt. Beim Aussteigen aus der Bahn kam der Augenblick, wo die „Schreckensapparate", die Handschellen, angelegt wurden. „Es war ein grausames, aber auch schamhaftes Gefühl", lautet die Klage eines Betroffenen. Er fragt sich, ob diese Demütigung wohl ein Gewinn für den Charakter ist, nimmt sich aber vor, mit der eigenen Meinung fortan hinter dem Berge zu halten, auch „wenn die Zunge noch so sehr juckt". Auf dem Anstaltshof entsteigen die Zugänge dem Polizeiwagen, etwas verlegen dreinschauend, sich schämend, niedergedrückt die einen, gleichgültig, unberührt, trotzig, herausfordernd, dabei voll innerer Unsicherheit die anderen, paramimisch das Gesicht in Zwangslachen verzogen, obwohl Trauer oder Wut der zutreffende Ausdrude der inneren Verfassung wäre. „Die Schranken zur Außenwelt sind herabgezogen, meine Beerdigung ist vollzogen". Mit diesen Worten kennzeichnet ein Häftling den Abschied von seinem bisherigen sozialen Leben. * Die folgenden Ausführungen beruhen auf Beobachtungen, die in den Jahren und 1 9 4 8 — 1 9 5 3
in den einstigen Jugendgefängnissen
Rathenow und U l m
1942—1945
gemacht
wurden.
Aktenstudium, Briefzensur und zahlreiche Unterredungen sind die Quellen.
§ 1
Der Weg durch die Anstalt
Im Regelfall wandert er zunächst in die Isolierung der Zugangsabteilung, in der er eine verschieden lange Zeit — für gewöhnlich 2 bis 4 Wochen — zubringt. Die Anstalt muß währenddessen Kenntnis gewinnen über Herkunft, Werdegang, Persönlichkeitsartung, bisherige kriminelle Betätigung des Gefangenen, er selber hat Gelegenheit, seine innerseelische Lage weiter zu klären. Schwer ist, zumal für die Erstinhaftierten, die Anlegung der Anstaltskleidung. Sie bringt eine neue Erschütterung des schon bedenklich aus dem Gleichgewicht geratenen
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Wandlungen während der kurzen Strafe
Selbstwertgefühls und kostet hier und da gar Tränen. Beängstigend sind nunmehr die Stille und Einsamkeit der Zugangsabteilung. Die vier kahlen Wände wirken erdrückend. Negative Affekte treten die Herrschaft im Herzen an: Mißbehagen, Aufbegehren, Depression. Jede Stunde wird zur Ewigkeit. „Man sitzt, wartet und wartet und simuliert". Das Essen schmeckt nicht, der Schlaf ist gestört. Zu dem Druck der Einsamkeit kommt das Erschrecken über die Auswirkung der Straftat, die nun in das entehrende Gefängnis geführt hat, die Sorge um die weitere Gestaltung der bisherigen sozialen Beziehungen, vielleicht gar der drohende Verlust von nahestehenden Menschen infolge der Straftat. Das Bild ändert sich mit dem Verlassen der Zugangsabteilung und der Einschleusung in den Anstaltsbetrieb. Der Gefangene erhält seinen Arbeitsplatz, nimmt teil an Unterricht, Sport, Freizeitgestaltung, Gottesdienst und geht in das Kollektiv der Mitgefangenen ein. Die Anpassungskrise ist damit gelöst. In zahlreichen Äußerungen kommt eine zuweilen erstaunte, dankbare Anerkennung zum Ausdruck darüber, was man alles im Gefängnis lernen kann, was hier geboten wird. Die straffe Anstaltsordnung beginnt sich als positives Training auszuwirken. Das geregelte Leben übt eine wohltuende Wirkung aus. Man kann zuweilen ein förmliches Aufblühen beobachten. Das Gesicht verliert die entstellenden Züge von Unrast, Unmäßigkeit und Zerrissenheit; das Auge wird ruhiger, die Handschrift ausgeglichener. Das Arbeitspensum wird oft überschritten, die Teilnahme an Gottesdienst und Freizeitgestaltung ist lebhaft. Die Zeit fliegt dahin. „Hier gehen die Tage schneller rum als zu Hause eine Woche". Belastend bleibt allerdings immer der Zwang des Aufenthaltes, der Verlust der Verfügung über sich selbst. „Gefängnis bleibt Gefängnis, und mir geht bei der Umgebung von Mauern jede Freude verloren, wenn sich die Anstalt auch noch so große Mühe gibt". Deswegen wird trotz aller humanen Behandlung und trotz aller Fortbildungsmöglichkeiten die Freiheit leidenschaftlich herbeigesehnt. „Wie schnell ich am Tage der Entlassung zum Bahnhof raste, kann ich gar nicht beschreiben. Manchmal schaute ich midi um, weil ich Schlüssel rasseln hörte". Das Erlebnis ist allerdings nicht in allen Fällen das gleiche. Verhaftung, Aburteilung, Gefängnisaufenthalt haben bei manchen Minderwertigkeitsgefühle geschaffen, die sehr quälend werden, wenn die Entlassung herannaht. Der Termin der Rückkehr soll verborgen bleiben. Man möchte unerkannt heimkehren, auf dem Bahnhof bleiben, bis es dunkel wird, getraut sich gar nicht, nach Hause zu kommen. Wo auf den Entlassenen kein Zuhause wartet, fällt gar der Abschied schwer. Die Anstalt hat ihren einst so düsteren Aspekt verloren und ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Hier war man sicher vor den Versuchungen, denen man sich nicht gewachsen fühlt. Der Heimatlose hat Gemeinschaft gespürt und in sich aufgenommen, was vorgetragen wurde. Er empfand dankbar die Lenkung und Aufsicht und ist besorgt um die Zukunft. „Es fällt mir schwer, die Anstalt zu verlassen". Aber auch abgesehen von diesen Sonderfällen beweist die große Anzahl von Briefen und Karten, zumal zu Festtagen, in denen immer wieder freundliches Gedenken und dankbare Erinnerung zum Ausdruck gebracht werden, daß die Fama des Gefängnisses
61
Die Bemühungen um Wiederherstellung der sozialen Person
und der Behandlungsweisen, denen man dort begegnet, eine freundlichere Färbung angenommen hat, daß die Erinnerung an die Anstalt nicht nur unangenehme Assoziationen weckt. Anders der schon vorbestrafte Asoziale. Lachend begrüßt er die ihm zum Teil schon bekannten Beamten: „Mal wieder Pech gehabt". Ihn kann „nichts mehr erschüttern"; er ist „ganz stur" geworden. Geschickt schlängelt er sich durch die Strafverbüßung und verläßt die Anstalt unbeeindruckt, unberührt.
§ 2
Die Bemühungen
um Wiederherstellung
der sozialen
Person
a) Die Eltern. In einigen Fällen hat sich die Straftat gegen die eigenen Eltern oder die nächsten Angehörigen gerichtet. Der Vater wurde durch die Unterschlagungen des Sohnes so schwer geschädigt, daß er sein Geschäft aufgeben mußte. Die eigene Schwester wurde empfindlich bestohlen, der Anzug des noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen Bruders verkauft. Der Kredit des Großvaters wurde ausgenutzt, der Schwager der Ersparnisse zum Bau seines Hauses beraubt. So hat denn auch der Vater die Anzeige erstattet und die Ermittlungen der Polizei unterstützt, die Mutter spricht sich gegen einen Gnadenerweis aus, die Schwester beantragt gerichtliche Maßnahmen. Zu Beginn der Strafverbüßung ist die gegenseitige Kampfesstellung noch sehr lebendig. Die Schuld an der eigenen Fehlentwicklung wird in zu großer Weichheit der Mutter und in dem mangelnden Vorbild des Vaters gesucht. Der soziale Kreis der Familie ist stark gestört. Wo die Eltern selber zu schwer verwundet sind, treten Großeltern oder andere Verwandte als Sprecher auf. Tiefer noch wirkt ein beharrliches Schweigen. Erst allmählich wird die Kampffeststellung aufgegeben. Langsam erwächst die Bereitschaft zum Friedensschluß und zur Versöhnung. Die Erkenntnis wird wach, daß die Straftat nicht nur einen Schatten über das eigene Leben geworfen, sondern auch den Familienkreis betroffen hat. „Was mich so deprimiert, ist vor allem, daß meine Handlungsweise kollektiv wirkt dadurch, daß es Euch ebenso trifft". Diese Erkenntnis kann so schmerzhaft werden, daß ein Besuch der Eltern als ganz unerträglich abgelehnt wird. Die nächste Stufe in der inneren Entwicklung ist dann die Bitte um Verzeihung, die nicht immer leicht fällt, aber den Weg zur Rückkehr in den bisherigen sozialen Kreis freimacht. Deutlich erkennbar wird der feine Unterschied der Einstellung zum Vater und zur Mutter. Vor dem Vater als Respektsperson, dem Wächter über die Familienehre, hat man Angst, man traut sich nicht an ihn heran. Erscheint die Verzeihung nicht mehr zumutbar, so wird wenigstens um Verschonung mit dem Fluch gebeten. „Wenn ich Dich um Verzeihung bitten würde, ich glaube, es wäre zu viel verlangt. Ich bitte Dich nur noch um eines: wirf keinen Fluch auf midi, daß ich getrost den Weg gehen kann, der mir noch übrigbleibt". Die Mutter ist im Regelfall das Bild ausnahmsloser Güte. Sie verzeiht ganz selbstverständlich auch da noch, wo das Verstehen aufhört. Deshalb schmerzt die eigene Verfehlung auch besonders im Blick auf die Mutter, deren Liebe nun zu einer gemarterten Liebe geworden ist. Oft begleitet sie den Sohn mahnend und warnend in ihren Briefen mit nimmermüder Geduld durch die ganze Zeit des Anstaltsaufenthaltes. „Mit großen Schmerzen habe ich Dich geboren, meinen einzigen Sohn. Aber
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Wandlungen während der kurzen Strafe
der jetzige Schmerz, weil Du im Gefängnis bist, ist für midi viel schmerzhafter. Trotzdem, Du bist und bleibst bei mir. Wir haben Dir vergeben. Auch keine Moralpredigten werden wir Dir halten". Zuweilen finden sich auch Pflegeväter bereit zur Vergebung: „Nach hartem Ringen und großer Überwindung habe ich mich entschlossen, Dich nochmals in meine Hausgemeinschaft aufzunehmen". Pflegeeltern, welche ganz in die Rolle der leiblichen Eltern hineinwachsen, sind allerdings nicht häufig. Eine Gefahrenstelle erster Ordnung ist der Eintritt eines Stiefelternteiles in die Familie nach Auflösung der Elternehe durch Tod oder Scheidung. Selten sind die Fälle, in denen sich ein positives Verhältnis zum Stiefvater oder zur Stiefmutter entwickelt. Selbst da, wo sie sich freundlich stellen, ruft die Geburt von Stiefgeschwistern ein Gefühl von Zurücksetzung hervor. Man kommt sich überflüssig vor und hat das Gefühl, störend zu wirken. Die Stiefmutter wird nicht anerkannt, weil sie nur wenig älter ist als der Stiefsohn. Sie versucht, ihn in seinen Erbrechten auszuschalten. Sie bringt es sogar fertig, ihn wegen einer verborgen gehaltenen Pistole der Polizei zu übergeben, womit die Wege von einem zum anderen endgültig verschüttet sind. Auch die Beziehungen zum Stiefvater sind nicht einfach. Selbst wenn er um ein freundschaftliches Verhältnis bemüht ist, bleibt er belastet mit dem heimlichen Vorwurf, den ersten Platz im Herzen der Mutter geraubt zu haben. So herrscht häufig von vorne herein ein gespanntes Verhältnis, das sich in einem Fall zu einer Schlägerei entwickelte schon am Tage der Hochzeit von Stiefvater und Mutter. Und welche Verwüstungen müssen in der Seele eines Jugendlichen angerichtet worden sein, wenn dieser die Anrede des Vaterunser als unerträglich und widerlich empfindet, weil sie die Erinnerung wachruft an den jähzornigen, brutalen, ständig betrunkenen Stiefvater. In einer ungedruckten Münchener Dissertation „Die Kriminalität der Stiefkinder" (Klein) ist nachgewiesen, daß Stiefkinder kriminell mehr gefährdet sind als natürliche Kinder. Sie sind in der Kriminalität doppelt so stark vertreten wie die anderen. Jugendliche mit einem Stiefvater sind mehr gefährdet als solche mit einer Stiefmutter.
Unehelichen Kindern spürt man den Entzug der Nestwärme, das Fehlen der Elternliebe an. Auffällig ist der heftige Widerstand gegen die Rückkehr ins Heim. Verzweifelte Hilferufe werden an den bekanntgewordenen Eltern teil gesandt: „Wenn Du noch etwas Liebe zu mir hast in Deinem Herzen, so sieh Dich bitte nach mir um und steh' mir bei, solange Du noch lebst. Ich bin das Leben eines verlorenen Kindes satt und wünsche, in Zukunft ein ordentlicher Mensch mit einem sinnvollen Leben zu werden". Auch wenn die Beziehungen im Briefwechsel geklärt sind und der alte Platz im Familienkreis wieder bezogen ist, kann die Rückkehr nach der Entlassung noch einmal alles über den Haufen werfen. Ein Gefangener, der während der Strafverbüßung eine stets gleichmäßige, fast fröhliche Haltung an den Tag gelegt hatte, brach mit einer schweren Depression in dem Augenblick zusammen, als er nach der Entlassung zum ersten Mal mit den über seine Heimkehr hocherfreuten Angehörigen zusammensaß, schluchzte wie ein kleines Kind, hielt sich ein halbes Jahr verborgen und konnte sich nur schwer entschließen, ins soziale Leben zurückzukehren. Ein anderer, obwohl auch mit Freundlichkeit und Wohlwollen empfangen, wurde gleichfalls von einer tiefen Niedergeschlagenheit befallen. Er verließ das Haus nur, wenn es unbedingt nötig war, und begnügte sich mit Gartenarbeiten hinter der schützenden Hecke.
Die Bemühungen um Wiederherstellung 3er sozialen Person
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Drei Entlassene verließen ihre durchaus wohlgesinnten Arbeitgeber, weil ihnen der Gedanke unerträglich war, daß diese um ihre Bestrafung wußten. Aus dem gleichen Motiv verschweigen andere ihre Bestrafung, was nicht selten zu schwierigen, ja tragischen Situationen führt. Das Erlebnis der Wärme im Eltern- und Geschwisterkreis, die Leistungen im Beruf bringen dann allmählich die dem Selbstwertgefühl zugefügten Wunden zur Heilung. Der ehemalige Gefangene steht nun wieder nehmend und gebend in seinem sozialen Kreis. Für den anlagemäßig Asozialen tauchen diese Probleme bei seiner Rückkehr in das asoziale Elternhaus nicht auf. Die Mutter hatte ihn angewiesen, Lebensmittel zu stehlen, beschwichtigte sein unruhiges Gewissen und wartete an der verabredeten Stelle, um den Ertrag des Diebstahls einzuheimsen. Der Vater lehrte den Sohn die Kniffe des raffinierten Einbruchdiebstahls wie z. B. das geräuschlose Zerbrechen von Fensterscheiben, und beteiligte sich an den Raubzügen. Ein, zwei oder gar drei Brüder verbüßen irgendwo Strafen, die Schwestern haben uneheliche Kinder. Die Reaktion eines solchen Vaters auf die Straftat des Sohnes besteht lediglich in der Feststellung der Tatsache, daß dieser also wieder einmal etwas „fabriziert" habe. Die gleichfalls irgendwo einsitzende Mutter teilt mit, daß sie früher zur Entlassung gelange und den Haushalt wieder anlaufen lassen werde. Damit ist die Angelegenheit erledigt. Das geschwundene Ehrgefühl läßt Beklemmungen und Minderwertigkeitsgefühle bei der Entlassung nicht mehr aufkommen. „Was über midi gesprochen wird, das läßt mich kalt". Das Selbstwertgefühl — allerdings mit negativem Vorzeichen — kann eher noch eine Steigerung erfahren durch das Erlebnis, auf der kriminellen Laufbahn einen Fortschritt erzielt und wieder einmal einen „Knast" gut überstanden zu haben. Mehr oder minder bewundert von seinesgleichen, gestaltet sich die Rückkehr zu einer Art Triumphzug, und nicht selten endet der Tag der Heimkehr mit einem Saufgelage. b) Die Ehefrau oder Freundin. Im sozialen Feld des Häftlings steht neben den Eltern an hervorragender Stelle die Ehefrau und, zumal bei den jüngeren Gefangenen, die Freundin. Auch hier wird eine Neuordnung der Beziehungen notwendig. Es gibt Frauen und Mädchen, die ähnlich der Mutter den Partner in nimmermüder Geduld durch die ganze Zeit des Gefängnisaufenthaltes tragen als treue Helfer und Bundesgenossen bei der Erziehungsarbeit der Anstalt. Sie werden nicht müde, mit aller Regelmäßigkeit zu schreiben; sie haben immer ein aufmunterndes Wort, fangen alle Stimmungen und Verstimmungen des Partners verständnisvoll auf und warten geduldig auf den Tag der Entlassung. Sie sparen sich das Geld vom Munde ab für ein Paket oder für das Rechtsanwaltshonorar. Ihre Tragkraft ist zuweilen bewundernswert. Daß sich an den bisherigen Beziehungen gar nichts ändert, ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Die Reaktion auf solche ausnahmslose Güte ist verschieden. Neben kalter Ausnutzung kann an anderer Stelle Beschämung und das Aufkommen von Minderwertigkeitsgefühlen beobachtet werden. Der gütige Brief löst schwere Verlegenheit aus. Man ist bereit, der Partnerin die Rolle der Autoritätsperson zuzuschieben, sich von ihr auch tadeln zu lassen, sich in Zukunft ihrem Einfluß zu unterstellen. Aus dem Gefühl der Unwürdigkeit heraus wäre man sogar zum Verzicht bereit, obwohl ein solcher als schmerzlich und verhängnisvoll angesehen wird.
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Wandlungen während der kurzen Strafe
Manchen, zumal jüngeren wertvollen Vertretern ihres Geschlechts bleiben allerdings Augenblicke schmerzlichen Erwachens nicht erspart. Ihr Blick vermochte noch nicht, Echtes vom Unechten zu unterscheiden. Ihre Liebe heftete sich an ein unwürdiges Objekt, dem sie nun aus ihrer überquellenden Kraft heraus ideale Züge verlieh. Mit Spranger1 gesprochen, war der Partner „der Garderobenständer, an dem man das Prunkgewand der eigenen Fantasie aufgehängt hat". Zu schweren seelischen Verwicklungen führt es, wenn in einer solchen Lage eine uneheliche Schwangerschaft vorliegt. Verständnis für die Lasten des weiblichen Teiles, Reife zur Übernahme von Vaterpflichten werden kaum erkenntlich. Trotz dringender Appelle, sich zu äußern, findet der also Angesprochene kein Wort für soldi ein unter tausend Ängsten sich windendes Menschenkind. Die Vaterschaft wird abgelehnt, die Braut des Mehrverkehrs bezichtigt. Ohne jedes Verständnis für die Lasten der Mutterschaft beschwört ein Häftling einen schweren Konflikt mit seiner Braut kurz vor der Entbindung herauf. Grausam ist das Erwachen aus einer solchen mit Liebe gepflegten Täuschung. Die Erkenntnis von der Unwürdigkeit des Partners, die Vorhaltungen der Eltern, das Gerede der Leute sdiaffen eine wahrhaft tragische Lage. In zahlreichen anderen Fällen führt die Verurteilung zum Abbruch des Verhältnisses. Man hat Schwierigkeiten mit den Angehörigen, fühlt sich blamiert im Bekanntenkreis und mitbetroffen durch die Entwertung, die der Gefängnisaufenthalt bedeutet. Der Empfang der Briefe aus der Strafanstalt am Arbeitsplatz ist peinlich. Das alles ist unangenehm. Deshalb macht man Schluß. Die klare Erkenntnis, daß die Bindung an einen charakterbrüchigen Menschen keinen Gewinn bringen kann, wirkt in der gleichen Richtung. Da ein größeres Kapital an Gemütswerten noch nicht investiert war, heilen die durch den Abbruch der Beziehungen gerissenen Wunden schnell. Ihre Fortdauer kann den Grund haben in der starken erotischen Klammer, welche die beiden Partner vor der Verhaftung verband. Die hier ausgetauschten Briefe atmen verhaltene Erotik und dienen der Fantasiebefriedigung. Die Kehrseite eines solchen auf reine Sinnlichkeit gegründeten Verhältnisses ist ein heimlicher Argwohn, ein stets auf der Lauer liegendes, waches Mißtrauen. Die Tatsache, daß der Brief, wie aus dem Poststempel ersichtlich, erst um Mitternacht in den Briefkasten geworfen wurde, gibt Anlaß zu häßlichen, verdächtigenden Rückfragen, deren affektive Beantwortung plötzlich zu einem großen Krach, evtl. zum Abbruch der Beziehungen führt, die aber überraschend ebenso schnell wieder neu geknüpft werden. Über Nacht, von einem Brief zum anderen, wird aus dem: „Liebster H.!" das steife, förmliche „Herr D.". Unter Drohungen wird die Herausgabe anvertrauten Gutes verlangt. Aber ebenso schnell verzieht sich das Gewitter, und in kürzester Frist kann eine Rückbildung des alten Verhältnisses erfolgen. „Sie schlagen sich und vertragen sich — es ist katastrophal", so lautet das Urteil eines Unparteiischen. Bei längerer Dauer des Gefängnisaufenthaltes werden draußen oft andere Bindungen eingegangen. Der Verzicht auf sexuelle Betätigung erscheint kaum tragbar, obwohl gelegentliche Seitensprünge weder der Ehefrau noch der Freundin verübelt werden. Die Briefe werden seltener, die Beziehungen erkalten. Zuweilen werden sie von dem Häftling selber gelöst, der nicht mehr durch Eifersuchtsqualen gepeinigt werden möchte. 1 Spranger, S. 103.
Psychologie des Jugendalters, 15. Auflage, Verlag Quelle & Meyer, Leipzig o. D.
Die Bemühungen um Wiederherstellung der sozialen Person
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c) Der Gefangene im Kollektiv der Mitgefangenen. Verschiedene Säle werden neu belegt und von ihren neuen Bewohnern bezogen. Scharen von Gefangenen ergießen sich in die Räume. Jeder ist mit sich vollauf beschäftigt. Einer geht gleichgültig am anderen vorüber; nur selten taucht ein bekanntes Gesicht auf. Die Wende in der Haft, die neue Umgebung, die neuen Vorgesetzten, die neue Arbeit nehmen das Interesse voll in Anspruch. Jeder Saal birgt eine Anzahl von Einzelwesen, die noch beziehungslos nebeneinanderstehen, eine rein additive Summe von einzelnen Arbeitskräften, einen Haufen von Menschen. Schon nach 24 Stunden bietet derselbe Saal ein völlig verändertes Bild. Eine Fülle von Beziehungen ist geknüpft. Die Summe von zunächst beziehungslos nebeneinander stehenden Einzelwesen wächst in überraschend kurzer Zeit durch immer dichter werdende Bindungen zu einer Gemeinschaft zusammen. Einige Einzelgänger stehen noch abseits. Es sind dies charakterlich schwierige oder besonders verwundete und infolgedessen besonders mißtrauische Menschen. Ihre Zahl schmilzt allerdings schnell zusammen. Auch der charakterlich Schwierige gewinnt seinen Platz. Einsam und vereinzelt dagegen bleibt der Psychopath. Er ist unfähig, in eine Gemeinschaft hineinzuwachsen, und diese wiederum empfindet ihn als eine nicht tragbare Belastung. „Geh in Deine Ecke, störe uns nicht". Bei seiner ins Krankhafte gesteigerten Empfindsamkeit leidet er schwer unter den gehässigen Bemerkungen und derben Späßen der anderen. Für psychische Abnormitäten zeigt die Gruppe kein Verständnis. So führt der nicht in sie Hineinwachsende ein peinvolles Dasein, aus dem ihm meist nur die Versetzung in eine andere Umgebung durch eine verständnisvolle Direktion den erlösenden Ausweg schaffen kann. Im übrigen hat sich das neu belegte Zimmer innerlich gefestigt. Es hat durch die Art seiner Zusammensetzung seine besondere Färbung erhalten und hebt sich deutlich erkennbar von anderen ab. Die Berechtigung einer solchen Gemeinschaftshaft ergibt sich zunächst aus dem Grundbedürfnis des Menschen nach sozialem Kontakt, besonders lebendig in dem zyklothymen, extravertierten, weltaufgeschlossenen, auf soziale Resonanz angewiesenen Charaktertyp. Alle Versuche, in der Zugangsabteilung oder während einer Arreststrafe die Isolierung zu durchbrechen durch Rufen aus dem Fenster, Ansprechen der Wand, Klopfen, Morsezeichen haben ihre psychologische Wurzel in diesem Grundbedürfnis."' In zahlreichen Äußerungen, mündlich und schriftlich, kommt das Gefühl der unendlichen Erleichterung kraß zum Ausdruck, daß man nun andere Menschen um sich habe. Man konnte einfach nicht allein sein; die Decke drohte auf den Kopf zu fallen. Die Gemeinschaft bedeutet ferner eine gewisse Übung in Kameradschaft. Es ist ein positiv zu wertender, wenn auch ästhetisch und hygienisch wenig erfreulicher Anblick, zu sehen, wie die letzte Zigarette von Mund zu Mund wandert. Daß das Weihnachtspaket redlich geteilt wird, ist in der Gemeinschaft, so lange sie noch in Ordnung ist, eine Selbstverständlichkeit, trotz vereinzelter Proteste von Angehörigen, die mit den oft unter Opfern beschafften Kostbarkeiten lediglich den Magen ihres Verwandten gefüllt wissen möchten. Man gratuliert dem Stubenkameraden zum Geburtstag. Eine Portion Brot, eine Portion Suppe und eine halbe Zigarette sind die Geschenke. Man hilft sich * Vgl. Teil I, § 3, Abs. 3. 5
Ohm
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Wandlungen während der kurzen Strafe
hinweg über Stunden der Depression beim Ausbleiben der Post, trägt gemeinsam das Heimweh. G a n z allgemein aber leistet die Gemeinschaft noch einen dritten Dienst. Sie demonstriert nämlich ihren Gliedern mit überzeugendem Nachdruck, daß ohne eine bestimmte Ordnung das so hochwillkommene, unentbehrliche Zusammenleben nicht bestehen kann. Es muß Stubendienst gemacht werden und zu bestimmten Zeiten Ruhe herrschen. Spannungen müssen überbrückt werden. Evtl. muß man Widerstrebende „stupfen". Eine Gruppe Strafgefangener Mädchen verhängte über beharrliche Störer den Zustand der „Verachtung", der bis zu 8 Tagen andauern kann. N i e m a n d darf mit einem solchen „Verachteten" sprechen. Dieser vorübergehende Ausschluß aus der Gemeinschaft übt empfindliche Wirkungen aus: „Ich möchte nicht verstoßen werden". Sogar kleine Diebstähle ahndet die Gemeinschaft selbst unter Verzicht auf die H i l f e der Anstaltsleitung. Es gibt „Gemeinschafts- oder Kameradschafts-Keile", wobei dem durch den Diebstahl betroffenen Mitglied das Recht zugestanden wird, zweimal zu schlagen. Erst wenn eine sich anschließende Bewährungsfrist nicht eingehalten wird, schleppen zwei Vertrauensleute den erneut straffällig Gewordenen vor den Anstaltsvorstand. U m ihren Bestand zu sichern, verbündet sich die Gruppe mit einer Stelle, die sie für gewöhnlich als ihren Feind empfindet. So zwingt die Gemeinschaft als solche selbst den Asozialen zur Einordnung, ohne daß etwa eine von der Verwaltung vorgenommene optimale synthetische Zusammensetzung erfolgt wäre. Eine Stubengemeinschaft ist kein statisches Gebilde.* Sie hat ihre Entstehungszeit, in der die Beziehungen enger geknüpft werden, sie erlebt eine Blüte mit einer beachtlichen Stärke des Gemeinschaftsgefühls; aber sie kennt auch schwere Krisen und Phasen des Zerfalls. Eine rückläufige Entwicklung kann jederzeit einsetzen. Neben dem Bedürfnis nach Gemeinschaft kommen Individuationstendenzen auf. Zentrifugale K r ä f t e werden wirksam. Die Begegnung mit immer wieder den gleichen Menschen schafft einen Zustand leichter Reizbarkeit und großer Konfliktbereitschaft. Man wird nervös, geladen auf jedermann und schließlich explosiv. Die Höhenlage der Gemeinschaft sinkt ab, üble Elemente kommen auf. Die Unterhaltung besteht nur noch aus Mädchengeschichten, Gangsterabenteuern und Glaubensverpönung. U m eine Zigarette, um ein Stück Brot oder einen L ö f f e l Suppe entsteht der größte Krach, der in üble Schlägereien ausarten kann. D a ß die Stulle des einen ein halb Zentimeter dicker ist als die des anderen, daß jemand die verschmähte Mittagskost anders verschenkte als erwartet, wird der Anlaß erregtester Auseinandersetzungen, die das feste Gefüge der Gruppe lockern, sich zu größter Gehässigkeit steigern und schließlich die Gemeinschaft atomisieren. Jeder gibt jetzt bedenkenlos und ohne Hemmungen preis, was er vom anderen weiß. Einer verpetzt skrupellos den anderen. Es tritt ein Zustand ein, in welchem man sich gegenseitig „die L u f t nicht vergönnt". Die Explosion aller gegen alle endet schließlich mit Erschöpfung. Es ist begreiflich, daß nunmehr bessere Elemente dieser Atmosphäre zu entfliehen versuchen und leidenschaftlich die Einzelzelle begehren. „Ich will doch anständig bleiben; ich habe das Gemeinschaftsleben satt bis zum Erbrechen; ich versteige mich so weit, daß ich meine Mitgefangenen zu hassen anfange". * Vgl. Teil I, § 3, Abs. 2.
Auswirkungen auf die Persönlichkeit
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Auffällig ist das Fehlen von Freundschaften."' Man sollte meinen, daß das gleiche Schicksal die Entstehung von einer Art Schicksalsgemeinschaft begünstigt, daß engere Bindungen entstehen; aber sie bleiben aus. Freundespaare können nicht genannt werden. Wohl entstanden zuweilen Interessengemeinschaften, „Kippenkameradschaften", die sich aber bald wieder auflösten und oft genug einer ablehnenden Spannung Platz machten. Zwar besteht das Verlangen nach Freundschaft; aber in der Zwangsgemeinschaft mit allen ihren UnVollkommenheiten wächst das Pflänzchen des Vertrauens nicht. „Ein Gefängnis ist kein Platz, um Freundschaften zu schließen". Die Stubengemeinschaften sind äußere Zwangsgebilde, Mußgemeinschaften, die für gewöhnlich in dem Augenblick zerfallen, in welchem sich die Zellentür hinter einem Partner schließt. Nur ganz vereinzelt kommt noch einmal ein Gruß des Entlassenen; dann aber ist die ehemalige Gemeinschaft vergessen. § 3
Auswirkungen
auf die Persönlichkeit
a) Das Kollektiv der Gefangenen bildet und bedeutet eine anonyme Autorität, die Gewalt gewinnen kann über den Einzelnen, zu einer Persönlichkeitsschrumpfung führt und individuelle Persönlichkeitszüge zu ersticken vermag. Ein ruhiger, arbeitsamer Gefangener klagt: „Es ist so, wenn man hier seine Arbeit macht, daß man dann von den anderen immer verdammt und verachtet wird". Ähnliche Andeutungen lassen sich öfter feststellen. Im Unterricht huscht zuweilen ein leises Erschrecken über das Gesicht des eifrigen Schülers, weil er die Rüge der anderen fürchtet. Ein ursprünglich fleißiger Schüler wurde immer wortkarger und verstummte schließlich ganz, weil er wegen seiner guten Antworten von den anderen verprügelt wurde. Der Soziologe Theodor Geiger nennt das den „kollektiven Personen-Typus" und kennzeichnet ihn mit den Worten: „So sind wir — und so soll sein, wer zu uns gehört". Heißt es draußen: Ehre den Tüchtigen, so heißt es hier: Ehrlos, wer sich anstrengt. In schweren Fällen verdichtet sich das zu Beschädigungen der Werkzeuge und Sabotageakten. Wer sich dieser Autorität zu entziehen versucht, wird als „Radfahrer" gebrandmarkt. Wie ist diese negative Ehrensatzung zu erklären? Offenbar liegt hier das vor, was die Psychologie Runkels2 ein „Dressat" nennt. Es lautet in diesem Fall: Die Anstaltsverwaltung ist mein Feind, der mir die Freiheit entzieht. Diesem Feinde noch zu dienen, durch fleißige Arbeit, wäre Widersinn. Ein solches Dressat ist ähnlich der häufig in der Schülerwelt wirksamen Vorstellung: „Der Lehrer ist mein Feind; er hat seine Lust daran, mich zu quälen. Ihm noch einen Gefallen zu tun, indem ich fleißig lerne, lehne ich ab. Vielmehr kränke ich ihn bewußt durch Faulenzen". So ist es auch hier. Derartige „Gesetze" erweisen sich in der Erfahrung als absolut bindend für das Individuum, stärker als jede rationelle Überlegung oder Vorschrift, stärker als jedes ethische oder sonstige Gebot. Die Überwindung eines solchen Dressats ist sehr schwer, ja fast unmöglich. Sie erfordert ein Übermaß an Geduld und Sachlichkeit. * Vgl. Teil I, § 9, Abs. 2. Fritz Künkel, 1944, S. 12. 2
5*
Einführung in die Charakterkunde, 10. Auflage, Verlag Hirzel, Leipzig
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W a n d l u n g e n während der kurzen S t r a f e
b) Seelsorgerliche, pädagogische, fürsorgerische Bemühungen, sinnvolle Freizeitgestaltung, menschliche Begegnung im Gespräch unter vier Augen haben immerhin in einer Anzahl von Fällen eine innere Entwicklung in Gang zu setzen vermocht. Schon die Initial-Unterredungen während des Aufenthaltes in der Zugangsabteilung können eine neue Note in den durch die Verurteilung in Fluß geratenen seelischen Prozeß hineintragen. Die Frage nach der Fehlerquelle, die Möglichkeit, dem beginnenden Gefängnisaufenthalt einen positiven Inhalt zu geben, regen zum Nachdenken an. Am Anfang ist man „bissig wie ein Metzgerhund"; man könnte heulen vor Wut und Zorn; man will sich durch eine richtige Verbrecherlaufbahn für die Einsperrung rächen. Aus anfänglicher Niedergeschlagenheit und Reizbarkeit erwächst jedoch im weiteren Verlauf bei manchen, wenn eine lenkende Hand am Werk ist, eine heilsame Innenschau: „Wie konnte das alles geschehen? Ich kenne mich in meinem Inneren selbst nicht aus". Man sinnt nach über „das Unikum, wo-der Mensch ist", staunt darüber, daß man sich nicht in der Gewalt hatte, fragt sich, was wohl in den Adern klopft. Selbstvorwürfe erwachen. Der Blick wird frei für eine positive Wertung des Anstaltsaufenthaltes: „Das Gefängnis ist nicht immer eine vergeudete Zeit, sondern man kann auch etwas Nützliches daraus machen". Das Training der Anstaltsordnung wird fortgesetzt und unterstrichen durch ein freiwillig übernommenes Willenstraining. Das Frühstüdesbrot wird trotz knurrenden Magens zurückgelegt bis zum Abend, die Zeitung trotz brennenden Interesses verwahrt bis zum Sonntag. Der Wille soll Sieger bleiben über den leiblichen und geistigen Hunger und gestählt werden für den Tag der Freiheit mit seinen neuen Versuchungen. Es ist allerdings nur eine Minderheit, in welcher inneres Leben erwacht. Die Mehrzahl bleibt unerschüttert. Die eindringliche Predigt, das aufwühlende Theaterstück, das erhebende Konzert, der beschwörende Brief sie lösen kaum eine Wirkung aus, sie werden zuweilen nicht einmal registriert. Der nicht mehr ansprechbare Vorbestrafte tröstet sich mit der Uberzeugung, daß sich alles im Leben kompensiert. Auf sieben schlechte Jahre folgen sieben gute. Er kennt keine inneren Auseinandersetzungen, ist bester Laune und vergnügt. c) Wie das weite Meer nicht einen Augenblick ruhig ist, sondern in ständiger Bewegung Wellen bildet, ihrem Höhepunkt zuführt, sie sich überschlagen und ausrollen läßt, so sind auch die im Jugendgefängnis zu beobachtenden Erscheinungen nie etwas Konstantes. Stete Dynamik ist am Werk. Es ist ein weiter Weg von den negativen Affekten, welche die Seele am Anfang beherrschen, bis hin zur Bejahung der Nützlichkeit, sogar der Notwendigkeit des Anstaltsaufenthaltes. Keineswegs führt er gradlinig aufwärts. Immer wieder gibt es schmerzhafte Rückfälle in ein bereits überwunden geglaubtes Stadium. Bedürfnis nach Gemeinschaft und Individuationstendenzen liegen in ständigem Kampf miteinander und ergeben immer neue Bilder. Nach Stunden einer geglätteten Oberfläche braust urplötzlich ein Orkan von Windstärke 11 einher und droht, selbst die Deiche der das Zusammenleben regelnden Verordnungen der Direktion zu sprengen. Hoffnungsvolles Keimen neuer Triebe, jäher Rückfall in alte Gewohnheiten, eine stete Unruhe und Spannung, ein ständiges Werden und Vergehen flüchtiger sozialer Bindungen — das ist das Bild der Gefangenen im Jugendgefängnis.
Schilderungen in der Literatur K A P I T E L
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II
ERWACHSEN ENSTR AFGEFÄN GNIS § 4
Schilderungen
in der
Literatur
Ein wesentlich ungünstigeres Bild bieten die Anstalten, in denen Erwachsene untergebracht sind. Einmal ist in diesen gewöhnlich schon eine schwerere Kriminalität zusammengeballt als im Jugendgefängnis. Sodann fehlen hier noch weithin die Kräfte für eine Differenzierung und stärkere Beeinflussung der Insassen. „Intelligente und Dumme, Normale und Abartige, Spätentwickelte und Frühreife, Psychopathen und Neurotiker, Verwahrloste und Asoziale sind hier unter einem Dach vereinigt", stellen Mollenhauer1 2 und Illchmann fest. Eindrucksvoll schildert Professor Panse3 den überraschend schnellen Abbau von etwa noch vorhandenen Persönlichkeitswerten nach der Einlieferung in die Anstalt. Ein junger, erstmaliger Rechtsbrecher, aus ordentlicher Familie stammend, hat drei Monate abzusitzen. Die für ihn eigentlich zuständige Jugendabteilung ist überfüllt. Mit dem Ruf: Abteilung II, ein Mann! wird er in eine Zelle eingewiesen, in der noch ein vierter Platz frei ist. Vorleben, Persönlichkeit und Straftat der drei anderen Insassen spielen gar keine Rolle. Seine Scheu, seine Tränen, seine guten Vorsätze bringen ihm schallendes Gelächter der Mitgefangenen ein. Er hört nunmehr auf die Erzählungen der anderen von ihren „Faktums"; ein gewisses Interesse erwacht. Bagatellisierend wird ihm gesagt: es sei doch „nichts weiter dabei". Man müsse nur den „Unfall" eines Knastes in Kauf nehmen. Bald ist er so weit, daß er die Erfolgreichen beneidet. Der Abbau an Persönlichkeitswerten ist in vollem Gang; er erliegt der Suggestivkraft des im Gefängnis wirksamen paradoxen Sittenkodexes.
Diese Schilderung kann aus eigener Beobachtung an zahlreichen Fällen bestätigt werden. Das Fazit seiner Beobachtungen faßt Panse zusammen in die Worte: „Im Gefängnis gibt es — aufs ganze gesehen — kein Schuldgefühl oder auch nur Schuldbewußtsein, keine Reue und keine Scham über etwas, was man begangen hat. Wer beim Eintritt noch etwas spürt — und das sind nicht wenige —, der wird bald über die Ungerechtfertigtkeit dieses Aufwandes an Gemütsregungen belehrt". Den zwingenden Einfluß von „Stammgästen" auf einen „Neuling" schildert drastisch auch einer der von Auer befragten Häftlinge: „Wehe dem, der sich diesem Einfluß entziehen will! Man wird nicht, wie beim Militär, mit Schlägen traktiert, sondern mit Hohn, der hier Wunder wirkt. Also schließt man einen Pakt mit den Genossen. Diese völlige Umwandlung geht innerhalb weniger Stunden vor sich". Nur 3 von 12 Befragten sprechen von Reue. Durchgängig dagegen sind Radikalisierung und Haß gegen die Rechtsordnung. Reizbarkeit, Erbitterung, Trotz, Mut- und Energielosigkeit kennzeichnen die Stimmungslage. Nach der Entlassung hat man Mühe, Zorn, Demütigung, Depressionen, Menschenscheu loszuwerden. Selbst Angehörige höherer geistiger Berufe kehren 1
Mollenhauer,
Jugendstrafvollzug heute. Unsere Jugend, 1953, Heft 5.
Illchmann-Christ, Die Dissozialität der männlichen 18- 21jährigen Täter. M.Schrift Krim. Str. Reform, 1953, Heft 3—4. 2
3 Panse, Die psychologische Problematik des Strafvollzuges im Hinblick auf den Besserungsgedanken. M.Schrift. Krim. u. Str. Reform, 1956, Heft 1—2,
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Wandlungen während der kurzen Strafe
zuweilen erschreckend abgestumpft zurück. Die Angehörigen sind dann entsetzt über die Veränderung des Persönlichkeitsbildes, die zu schweren Auseinandersetzungen und Entfremdung führt. Auch von Heutig4 sieht die Veränderung des Gefangenen durch die Strafe, obwohl sich nur bei der vollstreckten Todesstrafe mit Sicherheit sagen lasse, welcher Art diese Wandlung sei. Er weist darauf hin, daß die wechselnde Empfänglichkeit für Strafe viele Fehlwirkungen verursacht. Seine einzigartige Schau in das seltsame Koordinatensystem einer Strafanstalt trägt zwar an manchen Stellen amerikanisches Gepräge, enthält aber andererseits zahlreiche Züge, die auch in deutschen Anstalten zu beobachten sind. 5 5
Eigene
Beobachtungen*
Die „lustig weiterblühende intramurale Kriminalität", von welcher von Heutig spricht, ist eine durchgängige Erscheinung. Am häufigsten wird Diebstahl begangen. Wohl das wichtigste, ertragreichste Jagdgebiet ist die Küche. Das Fleisch wird aus dem bereits siedenden Kochtopf herausgefischt, sofort verschlungen oder als Tauschobjekt zurückgelegt. Das richtige Auswiegen der Wurst ist eine ganz unlösbare Aufgabe. Der schon im Halbschlaf liegenden Nachbarin wird das unter dem Kopfkissen versteckte Brot weggenommen. Mit der einen Hand sich waschend, eignet man sich mit der anderen den vom Mittagessen aufgesparten Klops der Mitgefangenen an. Auch wenn es sich nur um zwei armselige Zwiebeln handelt, der Trieb, sie ungesehen in der Tasche verschwinden zu lassen, ist unwiderstehlich. Selbst beim Skat in der Sonntagsgemeinschaft ruhen die diebischen Gelüste nicht. Kleptomane stehlen, nur um den Hang zum Diebstahl zu befriedigen. Sogar der Fisch aus dem Aquarium in der Zelle eines Insassen ist eines Tages verschwunden. Daß die Strafe hier etwa als „rotes Licht" vor verbotenen Zielen wirkt, ist ebenso wenig feststellbar wie der Gedanke an die durch das eigene Verhalten verursachte Kostschmälerung für die Schicksalsgefährten. Von Hentig weist in seinen Ausführungen „Die Welt der Bewachten" darauf hin, daß aus der scheinbar völlig pulverisierten und gestaltlosen Masse trotz aller Gleichmacherei aus dem Nichts neue Gebilde des Zusammenlebens entstehen. Kollektive Partikel wachsen zu einer Einheit zusammen. Nach einer Weile verbergen die Mauern der Anstalt einen Grad der Ungleichheit, der den Unvollkommenheiten des freien Lebens kaum nachsteht. Es ist Alltagserfahrung der Sozialpsychologie, daß der Mensch im Zustand des amorphen Haufens nicht lange leben kann, daß sich aus dem Haufen, der rein additiven Summe von Einzelwesen, bald soziale Gebilde verschiedenster Art entwickeln. Die besondere Situation Berlins hatte zur Folge, daß sich zunächst einmal die beiden großen Gruppen der „Politischen" und der „Kriminellen" bildeten. Die Politischen pflegen untereinander Zusammenhang, haben draußen noch viel Anhang, genießen auch in der Strafhaft Rechtsanwaltschutz. Die Kriminellen zerfallen in die Lager der „Zeitstrafer", der „Lebenslänglichen" und der „Sicherungsverwahrten". Die — oft nicht vor4
Von Hentig, Die Strafe Band II, Springer-Verlag 1955.
* Die folgenden Beobachtungen stammen aus verschiedenen Strafanstalten in N o r d - , Mittelund Süddeutschland. Sie sind sporadisch gesammelt in den Jahren 1932—1959.
Eigene Beobachtungen
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bestraften — Lebenslänglichen setzen sich dank ihrer Intelligenz und Tüchtigkeit gegenüber den häufig stark vorbestraften „Zeitstrafern" durch, erhalten Vertrauensposten und können sich relativ frei bewegen. Das erregt deren Mißbilligung: „Man muß erst einen Menschen totgeschlagen haben, um einen guten Posten in der Anstalt zu erlangen". Der Angriff wird abgewehrt durch den Hinweis, daß die ständige Wiederkehr der Zeitstrafer schließlich den Unterschied zu den Lebenslänglichen verwischt. Eine weitere Differenzierung bedeutet die Wertskala der einzelnen Verbrechen. Der Betrüger begegnet starker Zurückhaltung. Er vermeidet das Risiko des Einbrechers, prellt Arme um ihr Letztes. Ein lange Zeit in Berlin mit Erfolg arbeitender „Rentnerinnenschreck", der älteren, vertrauensseligen Frauen das Geld abnahm, wurde im Zuchthaus scharf abgelehnt. Der „alte, ehrliche" Einbrecher, der tapfer seine Haut zu Markte trägt und wegen seines Einsatzes Bewunderung erregt, ist machtlos gegen den geschmeidigen Betrüger. Allgemeiner Ablehnung begegnen die Sittlichkeitsverbrecher. „Ein Kind kaputtzumachen" erscheint selbst dem abgestumpften Verbrecher unbegreiflich, „wenn ich auch keine Ursache habe, mich zu erheben". Die Sittlichkeitsverbrecher erkennen sich untereinander sofort; sie sind Eigenbrötler. Da sie schief angesehen werden, suchen sie ihr Delikt zu tarnen. Man meidet sie, möchte sie auch nicht am Arbeitsplatz haben, weigert sich sogar, ihnen das Essen abzunehmen, wenn sie als Kalfaktoren tätig sind. Auf tiefster Stufe stehen die „Lampenbauer", die gelegentlich verdroschen werden. Sie leisten Zuträgerdienste. Abgesehen von diesen Gruppen gibt es zahlreiche Abwandlungen in der Haltung, dem Auftreten, der Pflege der Zelle. „Die Gespenster der alten sozialen Ordnung" (von Hentig, S. 322) geistern unausrottbar durch die Anstalt. Einem ehemaligen Arzt bleibt unbedingt Autorität erhalten. Ein kleiner unansehnlicher Mann mit scharfer Brille wird als „Herr Direktor" respektiert, obwohl niemand jemals etwas über die Art seines Direktorats erfahren hat. Der „Knastkavalier" wird wegen seines gepflegten Äußeren, umgelegten Kragens, seiner gebügelten Hosen belächelt, aber doch in eine gehobene Klasse einrangiert. Dank seiner Verbindungen konnte er sich eine besonders präparierte Bettstelle, einen geschmackvollen Bettvorhang besorgen und hebt sich damit auch wohnungsmäßig von dem Proletariat der Anstaltsmasse ab. In der Liebe zu Blumen und Tieren in der Zelle sieht von Hentig eine Flucht aus der Atmosphäre des Mißtrauens. Das Tier ist unparteiisch und anhänglich; es fragt nicht nach dem Strafregister. Hinzugefügt sei noch, daß es Gelegenheit gibt, das aufgestaute Zärtlichkeitsbedürfnis zu befriedigen. „Vati hat dich lieb", — so spricht mit einer von Wärme und Weichheit überströmenden Stimme ein Mörder seinen Goldhamster an. Ein anderer Mörder wurde überrascht, wie er mit dem kleinen Finger der rechten Hand eine in der Linken ruhende Fliege massierte, um ihr verstauchtes Bein in Ordnung zu bringen. Weil ein Tier nicht zur Stelle war, mußte bei einer weiblichen Gefangenen eine Puppe stürmische Zärtlichkeiten über sich ergehen lassen und zahlreiche Zwiegespräche mit der Besitzerin führen. Die Anstaltskost wiederholt sich oft. Um kulinarische Genüsse zu erlangen, muß man den Schwarzmarkt in Anspruch nehmen. Ein differenziertes, unterirdisches Wirtschafts-
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Wandlungen während der kurzen Strafe
leben hat sich zumal in größeren Anstalten entwickelt und verschafft zusätzliche Einkaufsmöglichkeiten. Die Wege sind neben der legalen Kantine heimliche Lieferungen durch Firmen, die an arbeitswilligen und arbeitsfreudigen Kräften interessiert sind. Irgendwo mag auch hier und da eine geheime Solidarität mit den Freiheitsberaubten eine Rolle spielen, ebenso das Verlangen, der Justiz ein Schnippchen zu schlagen. Der Kontrolle entgangene Mitbringsel Angehöriger dienen ebenfalls zur Auffüllung des Schwarzen Marktes. Ein geheimes Gefälle zwischen den verschiedenen Häusern großer Anstalten konnte bis in feine Verästelungen verfolgt werden. Das bevorzugte Medium der Zahlung ist Tabak. „Wer Tabak hat, hat alles" — berichtet ein Häftling. Auch Geld ist in Umlauf, angeblich sogar in nicht unerheblichen Mengen. Gold ist wenig begehrt. Ein Trauring ist für 3 D M zu haben. Ein goldener Ring mit Stein wurde angeboten, fand aber keinen Abnehmer. Schweizer Franken sind nicht gefragt. Der Kontrolle entzogene Armbanduhren finden wenig Interesse. Kaufkraft verleiht lediglich der Besitz von Tabak. Der Großkapitalist verfügt über beträchtliche Mengen. Sein Handel ist nicht risikolos. Bei der Bezahlung seiner Lieferungen mußte er feststellen, daß 15 Pakete statt mit Tabak mit Sägemehl gefüllt waren. Nach der communis opinio der Mitgefangenen war ein kleiner Betrug durchaus gerechtfertigt; doch hätten fünf Nieten genügt. Im übrigen verlangt die „Ganoven-Ehre" sorgfältige Bezahlung von Schulden und Rückgabe von geliehenem Gut. Wer Geborgtes nicht zurückgibt, wird gemieden und verfällt der Verachtung. Die Preise schwanken je nach der Nähe oder Ferne des Kantinentages, also der Möglichkeit der legalen Versorgung. Erhältlich ist so ziemlich alles, was auch der freie Markt bietet: Obst, Wurst, Schmalz u. a. Kaffee ist mit Leichtigkeit zu bekommen, fast zu normalen Preisen. Dagegen ist Alkohol Mangelware und teuer, vier- bis fünfmal höher im Preise als draußen. Ein Aufschlag für die Botengänger bringt eine weitere Verteuerung. Entgelt in Gestalt von Tabak für die Lieferung einer warmen Weste, einer guten Hose, weicher Schuhe aus der Kleiderkammer findet man ganz in Ordnung; man läßt sich die eigenen Dienste auch entsprechend bezahlen. Das schafft „klare Verhältnisse". Wucherische Forderungen dagegen rufen heftige Abwehrreaktionen hervor. Eine Forderung von 12 Stullen als Entgelt für eine geliehene Brille wird von einer Gruppe junger Mädchen als grobe Unkameradschaftlichkeit empfunden und mit Gemeinschaftskeile geahndet. Für die Befriedigung der Sexualität stehen Aktbilder oder bemalte Taschentücher zur Verfügung. Sie sind sehr teuer. Schon das Ausleihen eines Bildes für einen Tag muß mit einem halben Paket Tabak bezahlt werden. Der Besitzer und Ausleiher der Bilder ist Großverdiener; er kann kaum alle Ansprüche befriedigen. Ein pornographisches Album kursiert nach einem genauen Fahrplan unter strengster Geheimhaltung in den verschiedenen Flügeln der Anstalt. Onanie vor dem erworbenen oder geborgten Bild bringt dann den gewünschten Ausgleich. Mutuelle Onanie bedeutet schon den Übergang zur homosexuellen Betätigung. Der Jubel kannte keine Grenzen, als ein sich von früher kennendes homosexuelles Paar vor dem Abtransport in eine andere Anstalt in die gleiche Zelle gelegt wurde. Überraschung und freudiges Erstaunen ging durch die Reihen, als beim Gottesdienst ein draußen bekannter Homosexueller unter den Zugängen bemerkt wurde.
Krise der bisherigen Strafvollzugs-Methoden
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Dem entspricht auf der weiblichen Seite das Lesbiertum. Es gelingt gelegentlich, die männliche oder weibliche Rolle auch in der äußeren Aufmachung anzudeuten. Das „Nachtleben" der Anstalt, wie es von Heutig (S. 335) nennt, beginnt mit dem Einschluß. Antennen werden aus dem Fenster „geschossen", die „Orgeln" treten in Aktion. Es sind auf dem Schlosserhof gebastelte Rundfunkapparate, die bis zu 5 Sendern hereinbringen. Sie sind teuer; auch Ersatzteile sind nicht ohne empfindliche Opfer zu bekommen. Nun ist die Enge der Zelle gesprengt. Musik und Vorträge sind zugänglich. Politisch bestens informiert, kann man am nächsten Morgen dem Mitmenschen, ob er Gefangener oder Beamter ist, begegnen. Das Einerlei der Tage wird durch Geburtstagsfeiern unterbrochen, wobei der Tisch sauber gedeckt ist und Geschenke ausgetauscht werden. Eine Gruppe Strafgefangener Mädchen veranstaltete Wunschkonzerte und „gemütliche Abende". Aus aufgesparten Stullen wurde eine „Torte" gebacken. Alles legt sich behaglich zu Bett und bekommt den ihm zustehenden Anteil auf Tellern serviert. Er wird „vornehm", mit Löffeln, verzehrt. Das Gefängnismilieu ist vergessen. Nach von Heutig soll die Strafe unsoziale Impulse bremsen. Eine solche Wirkung ist, wie die obigen Schilderungen zeigen, nirgends feststellbar. § 6
Krise der bisherigen
Strafvollzugs-Methoden
„Persönlichkeitswandlungen während der kurzen Strafe" — so lautet das Thema, zu dem wir jetzt nach dieser Milieuschilderung zurückkehren. Schon Auer hält im Schlußwort seines mehrfach zitierten Buches „eine allgemeine Kenntnis und Beleuchtung der Wirkung des Vollzugs der Freiheitsentziehung auf die seelischen K r ä f t e " für nötig. Der Bau von „sozialen Maschinen" sei wichtiger als die bisher erstrebten Ziele des Strafrechts. Professor Sieverts weist auf „die Krise der Freiheitsstrafe in der ganzen Welt" hin. Er spricht von dem „sehr deprimierenden Bild der Freiheitsstrafe in ihrer bisherigen Gestalt, sowohl vom Standpunkt der Sozialpädagogik wie besonders von ethischen Maßstäben her" und fordert Bemühungen für eine Umgestaltung der Auffassung und Methoden des Freiheitsstrafvollzuges. Eingehendes Studium aller haftpsychologischen Phänomene müsse zu ganz neuen, realitätsnahen Methoden führen 4 . Professor von Heutig setzt „tiefe Zweifel" in die Wirksamkeit des bisher geübten Strafvollzuges. Er spricht von der Krise der Freiheitsstrafe, die einst vor 150 Jahren als die große neue soziale Erfindung, als die bessere, wirksamere Methode gepriesen wurde. Ihre schädlichen Wirkungen sieht er vor allem in der Herabsetzung der Lebenstüchtigkeit und sozialen Adaptionsfähigkeit, dem aufgezwungenen Parasitismus der Lebensform und der Immobilität. Er kommt zu dem Schluß: „Der besonders noch unter Juristen, aber auch Laien verbreitete Glaube an die abschreckende Wirkung unseres Strafsystems erweist sich als eine Rechnung mit vielen Unbekannten". Professor Panse hat im Gefängnis wertvolle ethische Regungen nicht festzustellen vermocht. 4 Sieverts, Besprechung des Buches von Hentig; Reform 1956, H e f t 1/2.
Die Strafe,
Band II, M. Schrift. Krim. u. Str.
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W a n d l u n g e n w ä h r e n d der kurzen S t r a f e
Bei dem bisherigen Strafsystem können nur solche Menschen ohne Schaden davonkommen, die „Giganten eines moralischen Willens" (Bischof Lilje) oder mit einem „erheblichen Persönlichkeitsfundus ausgestattet" sind (Professor Sieverts). Jeder Fall von Rückfälligkeit stellt ein Versagen der Gesellschaft bei der Behandlung des Straffälligen dar — so lautet eine These über den „kriminellen Rückfall", aufgestellt auf dem III. Internationalen Kongreß für Kriminologie in London 1955. Professor Panse weist auf das Fehlen des vorgelebten Beispiels hin. Er verlangt eine Umformung des Strafvollzugs im Sinne einer Staffelung nach der Persönlichkeitsstruktur des Täters. Von Heutig sieht den Grundfehler darin, daß wir „trotz Sport, Schule und Arbeitssaal über medianische Verwahrung und Abschluß von der Außenwelt nicht viel hinausgekommen sind, die menschliche Bemühung aber und die Erprobung ernster, nachhaltiger Therapie noch vernachlässigt haben". Die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit der bisherigen Arbeitsweisen bricht sich in immer größerem Umfang Bahn; immer lauter wird der Ruf nach einem Einbau spezialisierter Methoden und einer gezielten, dynamischen Entwicklungstherapie. Der vorausgegangene Bericht aus einem Jugendgefängnis zeigt, daß bei intensiver menschlicher Bemühung keineswegs alles verschüttet bleibt, sondern sich beachtliche Möglichkeiten auf tun.
III Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe INHALTSÜBERSICHT Seite Einleitung
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§ 1
Die Auswirkung des Urteils
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§ 2
Die Auswirkung der Strafverbüßung
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§ 3
Deformierende Wirkungen der langen Strafen
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§ 4
Derzeitiges Zustandsbild und Prognose
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EINLEITUNG Auch die nunmehr folgende Studie* läßt erkennen, daß bei geeigneter menschlicher Assistenz fruchtbare Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Es handelt sich jetzt um sdiwerbestrafte, darunter auch zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Gefangene, die gerade wegen der erdrückenden Strafen zumindest in bestimmten Phasen ihres Aufenthalts besondere Beobachtung und Betreuung erfuhren. Die zunächst positiv anlaufende Entwicklung ist hier allerdings von der Gefahr bedroht, in der Hoffnungslosigkeit der langen Strafe unterzugehen und deformierenden Wirkungen Platz zu machen. Zum leichteren Verständnis der nun folgenden Ausführungen seien zunächst einige der bekannten Antworten nach dem Sinn der Strafe zitiert. Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesem Problem gehört nicht zum Thema unserer Arbeit. Uralt ist die Frage nach dem Sinn und Zweck der Strafe. Sie umfaßt die ganze weitgespannte Skala vom Rachebegriff: „Auge um Auge, Zahn um Zahn" bis zu der Formel: „Strafe ist Verbrechen am Verbrecher". Eine einheitliche Lösung, eine kurze Formel als Antwort ist nicht möglich, weil im Hintergrund verschiedene miteinander ringende Weltanschauungen stehen. Ein den Urvölkern gemeinsames Moment ist der sakrale Charakter der Strafe. Gott selber ist Rächer und Richter. Strafe ist ein der göttlichen Weltordnung dienender Akt. Das geht hervor aus vorchristlichen Religionsurkunden und dem Alten Testament. Adam und Eva werden von Gott aus dem Paradiese vertrieben, Kain wird auf Gottes Gebot unstät und flüchtig. Auf dem Sinai heiß es: Der Herr wird den nicht unbestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Auch nach dem Übergang des Strafamtes auf besondere Gerichtshöfe und Richter blieben diese Werkzeuge Gottes. Das Ziel der Strafgesetzgebung der alten Zeiten war Rache ohne jedes Interesse für Persönlichkeit und Beweggründe des Täters. Erst sehr langsam, mit zunehmender Zivilisierung, wurde das reine Rachegefühl zurückgedrängt. An die Stelle trat Vergeltung. Man suchte, Schuld und Strafe in ein Verhältnis zueinander zu setzen. * Das hier vorgelegte Material wurde gesammelt im Zuchthaus Berlin-Tegel in den Jahren 1953 bis 1959.
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Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe
Hugo Grotius (1625) baut in seinem dreibändigen Werk: „De iure belli et pacis" die Strafidee auf dem Vergeltungsgedanken auf, empfiehlt daneben aber auch Besserung des Übeltäters. Thomas Hobbes (1642) bezeichnet in seinem Werk „De cive" als den Urzustand der Menschheit den aus den beiden Grundtrieben menschlichen Wesens — Eigennutz und Ehrsucht — resultierenden Kampf aller gegen alle, der nur durch Furcht in Schranken gehalten werden könne. Alle Einzelwillen müssen sich einem Gesamtwillen, dem Staat, unterordnen, für widerstrebende Elemente auf dem Wege über die Strafe. Die klassische Schule sucht den Sinn der Strafe 1. in Bezug auf das Verbrechen in vergeltender Sühne, 2. in Bezug auf die menschliche Gesellschaft in Schutz und Sicherheit, 3. in Bezug auf den Verbrecher in Besserung und Abschreckung. Persönlich-sittliche Verantwortung und Willensfreiheit werden als unbestreitbare Tatsachen vorausgesetzt. Spinozas Pantheismus dagegen verneint die menschliche Willensfreiheit und nimmt damit dem Rechtsbruch das Moment der persönlichen Verantwortlichkeit des Täters. Strafe ist für ihn nur Schutz der Gesellschaft vor Übeltätern und Mittel der öffentlichen Sicherheit. Von Liszt nennt die Strafe „die soziale Reaktion auf asoziales Verhalten", ausgelöst durch den Selbsterhaltungstrieb des staatlichen Lebens. Sie ist ein Übel, dient der Abwehr und Vergeltung. Leibniz stellt in seiner „Theodizee" den Grundsatz auf: „Man erduldet Übles, weil man Übles getan hat". Neben dieser primären Vergeltungsforderung propagiert er als sekundäre Strafzwecke Besserung und Abschreckung. Kant vertritt schärftens den Vergeltungsstandpunkt. Er lehnt in seiner „Metaphysik der Sitten" jeden Zweckbegriff der Strafe ab und sieht ihren einzigen Grund in dem kategorischen Imperativ der Gerechtigkeit. Nach Hegel ist das Verbrechen die Negation des Rechtes. Strafe ist die „Negation der Negation", also Position, Wiederherstellung des Rechtes und „Aufhebung des Verbrechens, das sonst gelten würde". Erwähnt werden soll auch die Lehre von der Immanenz der Strafe auf Grund religiös-mystischer Weltanschauung (Dr. Bußmann-Bernder). Die Anhänger dieser Lehre leugnen das Recht, zu bestrafen. Der Verbrecher sei durch sein böses Gewissen genug gestraft. Man müsse ihm Zeit und Gelegenheit zur Sinnesänderung geben. Die jetzt übliche Strafverbüßung mache den inneren Gesundungsprozeß unmöglich und lenke auf Außendinge ab. Ähnliche Gedanken finden sich bereits bei Kant: Naturnotwendig sei mit dem Bösen die Strafe verbunden, nämlich sittliche Verarmung, durch die das Laster sich selbst bestrafe. Die moderne Pathologie schließlich verlangt, daß der Eingriff des Staates in die Lebenssphäre des Verbrechers nicht der Sühne und Vergeltung dient, sondern die zukünftige Verbrechensverhütung im Auge hat.
Die Auswirkung des Urteils
§ 1
Die Auswirkung
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des Urteils
a) Die den Urvölkern gemeinsame Vorstellung vom sakralen Charakter der Strafe ist auch heute noch lebendig. Fall 1, jetzt 41 J a h r e alt, ist wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Verbüßt sind bisher 12 Jahre. E r ist ein in geordneten Verhältnissen aufgewachsener Mensch, dessen häusliche, schulische und berufliche Entwicklung keine Auffälligkeiten zeigte, nicht vorbestraft. Intellektuell etwas schwerfällig, mit einem Minus im Emotionalen, ist er ein im Grunde weicher, gutmütiger, gefühlsbetonter Mensch, der nicht „Nein" sagen kann. Bei dem Delikt war er nicht aktiv beteiligt. Deshalb empfindet er die Strafe als zu hoch, gemessen an dem Tatanteil seiner Komplizen. Trotzdem ist er frei von Protest und Verbitterung. Denn G o t t war es, der den einzelnen Mitgliedern des Gerichts ins H e r z gab, was sie tun und sagen sollten. So geht er daran, sich die Strafe sühnend anzueignen. In Buße und Sühne sieht er ihren Sinn. Diesen Weg muß er gehen, an dessen Ende eines Tages sich dann der Schuldige und die verletzte Rechtsgemeinschaft wiederfinden werden. H a r t und schwer ist dieser Weg. D i e beiden O p f e r des Delikts treten immer wieder vor die Seele, klagend das getötete Kind, anklagend die getötete Erwachsene. Das Unbewußte zeigt im Traum mit schonungsloser Deutlichkeit das ganze Ausmaß der Katastrophe, die, aus kleinem Anlaß erwachsend, sich schnell zu gefährlicher Größe entwickelt und nun auch durch den Einsatz der gesamten Persönlichkeit nicht mehr aufgehalten werden kann. Es hebt aber auch zur Kompensation der ausgehaltenen Schrecken barmherzig zuweilen freundliche Bilder aus den Tiefen der Seele empor. Diese inneren Auseinandersetzungen, die den Schlaf schwerstens beeinträchtigen, währen etwa v i e r J a h r e . Dann stellt sich das Empfinden ein, genug gebüßt und gesühnt zu haben. E r hat das Gefühl, wieder sauber geworden zu sein. Ein Schlußpunkt wird gesetzt hinter die bisherige Entwicklung. Alle die häßlichen Dinge, die tagsüber im Wachbewußtsein und nachts im Traum quälten, werden weggeschoben. Die Bilder der beiden Opfer verschwinden. Eine neue Seite im Buch des Lebens ist aufgeschlagen. Die Strafe hat ihre Aufgabe erfüllt; sie ist nunmehr inhaltslos geworden. Was jetzt folgt, ist nicht mehr Strafe, sondern nur noch ein stark eingeschränktes Leben unter erschwerten, drückenden Bedingungen. E r ist aber durchaus entschlossen, es zu ertragen, ihm das Beste abzugewinnen und allen mit Freundlichkeit zu begegnen. Denn er weiß, daß formaljuristische Gesichtspunkte eine Entlassung hindern, obwohl die inneren Voraussetzungen für eine solche gegeben sind und die nötige Reife erreicht ist. D a ß die Öffentlichkeit einem Gnadenerweis für den schweren Rechtsbrecher mit Skepsis und in sehr geteilter Meinung gegenübersteht, findet er durchaus begreiflich. Protesthaltung kommt nicht auf; sie wird auch nicht aufkommen, selbst wenn der Vollzug noch 10 oder 20 Jahre dauern sollte. D a n k b a r begrüßt er es, wenn wohlmeinende Menschen Gnadengesuche für ihn einreichen, ist aber bei ihrer Ablehnung keineswegs verbittert. „Es soll so sein. Gottes Fügung ist am Werk. Gott gibt dem Einzelnen ins Herz, was er tun soll". Gerichtshöfe, Gnadeninstanzen, Richter und andere Bevollmächtigte sind nur Werkzeuge Gottes.
Nicht nur die Strafe, sondern die Tat selber kann sakrales Gepräge gewinnen. Fall 2, ein 60jähriger, ist wegen Totschlags zu 5 Jahren Gefängnis und wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. E r ist ein in seiner Kindheit schwer mißhandelter Mensch, der im Ehestande an der Seite einer schroffen, herrischen Frau eine Wiederholung der freudlosen Jugendzeit erlebte. Bei seiner Lebensgehemmtheit findet er keinen Weg zur Auseinandersetzung. Eine langsam wachsende, schließlich nicht mehr tragbare Affektaufspeicherung entlud sich dann durch die T a t , die ihre letzte Wurzel in konstantem Liebesentzug hatte. Ihr folgte ein Gefühl der Befriedigung und Erleichterung. Hier liegt der seltsame Fall vor, daß Täter und Richter sich in Personalunion vereinigt fühlen. Die mit lebenslangem Zuchthaus geahndete Straftat bedeutet ihrerseits eine Strafe für einen an ihm permanent begangenem Seelenmord. Gröbste Übertretungen gegen das 4. Gebot durch die Tochter, die den Vater, anstatt ihn zu ehren, am Heilig Abend ins Gesicht schlug, dauernde seelische Mißhandlungen durch die Ehefrau, die nach neutestamentlicher Anschauung dem Totschlag gleizusetzen sind, bedeuten eine schwere Verletzung der göttlichen Weltordnung, die eine rächende Reaktion unausbleiblich machen. Gleichsam als Sachwalter dieser göttlichen
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Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe
Weltordnung legt er sich Richterfunktion bei und sühnt durch seine Tat den an ihm begangenen Seelenmord. E r befreit die Welt von einem Übel. Daß er dafür bestraft wird, hat seinen Grund in der Unzulänglichkeit des Strafgesetzbuches, das für Seelenmord noch keine Sühne kennt. Bei dieser Einstellung können Schuld- und Reuegefühle nicht aufkommen; Krisen und innere Auseinandersetzungen waren nicht zu erwarten. Sich eins wissend mit Gott im abendlichen Gebet, schläft er tief und traumlos, ein Bild des Friedens und der Ausgeglichenheit. „Ich fühle mich nicht als Mörder". „Mir geht es moralisch gut". Diese Haltung hat er beibehalten von seiner Verurteilung an bis zu seinem 11 Jahre später erfolgten Tod. An ihr zerschellte der Begriff der Strafe wirkungslos. Ihre Dauer spielt gar keine Rolle.
Unter 100 beobachteten Fällen sind es die eben geschilderten zwei, bei denen die Strafe und die Straftat religiöses Gepräge tragen. b) Das Strafbedürfnis dagegen ist sehr -weitreichend. Von 2/ä der 100 Probanden wird es offen ausgesprochen, häufig in krasser Form. Aber auch bei dem letzten Drittel, das eine Haltung des Protestes bezogen hat, ist es lebendig und viel stärker wirksam als ausgesprochen. Es scheint, als ob hier ein Urmechanismus der menschlichen Seele zutage tritt. Fast alle oben aufgeführten philosophisch abgeleiteten Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der Strafe werden im eigenen Empfinden als richtig erlebt und mit ganz ähnlichen Formulierungen ausgesprochen. In der übergroßen Mehrzahl der Fälle war das Bewußtsein, eine asoziale Handlung begangen zu haben, durchaus lebendig. Der Konfliktcharakter, den das unentdeckte Verbrechen in das Alltagshandeln hineingetragen hatte, war beängstigend. „Die innere Bedrängnis vorher war furchtbar" — gesteht ein Proband. Das, was man schlechtes Gewissen nennt und was sich gefühlsmäßig in einem dumpfen, undifferenzierten Bedrohungsgefühl äußert, kennzeichnete häufig seine Grundstimmung*. Er hatte Angst vor dem Feierabend, arbeitete auch sonntags, ging ins Kino, um das elende Gefühl der Bedrohung nicht hochkommen zu lassen. Ähnlich dem Kinde, das die Situation des noch unentdeckten Fehlers nicht mehr zu ertragen vermag, sich infolgedessen der Mutter offenbart und deren Rüge erbittet, geht er schließlich zur Polizei, ist „selig", als er alles zu Protokoll gegeben hat, erbittet sich einen schnellen Termin, der sich infolge seiner Geständnisse rekordhaft kurz gestaltet, und atmet förmlich auf, als er seine Strafe empfängt. Nun fühlt er sich gesäubert und wieder ins Gleichgewicht gebracht. Mit Hegel gesprochen, bedeutet für ihn die Strafe die Negation der von ihm begangenen Negation des Rechtes, damit die Wiederherstellung desselben und die Aufhebung des Verbrechens, das sonst immer noch gelten und ihn beunruhigen würde. Diese Einstellung wurde nicht erst während der Straf verbüßung erarbeitet und gewonnen; sie war von Anfang an da und wurde während des Anstaltsaufenthalts ohne Schwankungen beibehalten. „Es war eine Erlösung, daß die Dinge ins Rollen kamen". Der von Leibniz in seiner Theodizee aufgestellte Grundsatz: „Man erduldet Übles, weil man Übles getan hat" klingt an in der Äußerung mehrerer Probanden: „Ich habe Böses oder Unrecht getan; dafür leide ich jetzt Strafe". Nach Thomas Hobbes kann der aus menschlichem Eigennutz resultierende Kampf aller gegen alle nur durch Furcht in Schranken gehalten werden. Alle Einzelwillen müssen sich dem Gesamtwillen des Staates unterordnen, wobei für widerstrebende Elemente nur der Weg über die Strafe übrig bleibt. Verschiedene Probanden haben diese Vgl. Teil I, § 4.
Die Auswirkung des Urteils
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Gedankengänge nachgedacht: „Keiner darf machen, was ihm beliebt; andernfalls geht die Allgemeinheit zugrunde". „Wenn jeder alles machen könnte, so wäre das der Untergang". „Ich habe es mir durch meinen Eigennutz selber eingebrockt". „Wohin kämen wir, wenn jeder nach seinem Belieben handeln dürfte?". „Es muß bestraft werden, sonst hören alle Grenzen auf und man weiß nicht mehr, was gut und böse ist". Ganz ähnlich nennt von Liszt die Strafe „die soziale Reaktion auf asoziales Verhalten" ausgelöst durch den Selbsterhaltungstrieb des staatlichen Lebens. Auch diese Gedankengänge werden des öfteren ausgesprochen. „Meine Tat mußte eine Reaktion auslösen". „Asoziales Verhalten muß bestraft werden". „Die Strafe ist das genau richtige Äquivalent für meine Tat; ich habe sie mir ganz innerlich zu eigen gemacht". Ähnliche Gedankengänge kehren immer wieder in zahlreichen Äußerungen. Die Strafe wird notwendig, richtig, gerecht, einwandfrei genannt; sie mußte sein; es war höchste Zeit, daß sie kam. Auch die Lehre von der Immanenz der Strafe findet ihre Bestätigung in der Äußerung einer zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Mörderin. „Ich bekam einen Nervenanfall, wo ich meine Glieder nicht mehr vor Zittern beherrschen konnte. Du machst Dir keinen Begriff, was es heißt, einen Menschen so (durch Mord) sterben zu sehen. Ich verstehe nicht, daß man nicht irrsinnig wird. Richter und Staatsanwalt können wohl mit ihren trockenen Paragraphen Strafen aussprechen; aber gerichtet hat man sich allein. Kein Schlaf kommt, wo man nicht das Bild vor Augen hat". Die von Spinoza verkündete Verneinung der menschlichen Willensfreiheit nimmt dem Rechtsbruch das Moment der persönlichen Verantwortlichkeit des Täters und führt zu einer fatalistischen Einstellung. Ein von verschwommenen pantheistischen Ideen erfüllter Proband sieht in seinem „Faktum" nicht ein persönliches Verschulden, sondern das Walten des Schicksals. Das Gericht wurde bei dem Urteilsspruch von dem gleichen Schicksal getrieben. Infolgedessen erübrigt sich eine Stellungnahme zu demselben, ganz gleich ob nach der positiven oder negativen Seite. Der Aufenthalt im Zuchthaus beeindruckt ihn in keiner Weise. Er ist vom Schicksal gewollt und wird zu gegebener Stunde von diesem beendet. Deshalb wird er in Passivität abwarten, bis das Schicksal eine Änderung herbeiführt. Strafe gibt es für ihn nicht; irgendwelche Wirkungen gehen nicht von ihr aus. Stärkere Mächte sind am Werk, welche die persönliche Verantwortlichkeit und eigene Stellungnahme nicht aufkommen lassen. Etwa ein Drittel der Probanden steht in Opposition zu dem Urteil und hat eine Haltung des Protestes bezgoen. Im Regelfall ist es die Höhe der Strafe, welche diese Haltung auslöst. Es besteht aber auch hier fast immer ein Bewußtsein dafür, daß das verletzte Recht eine Forderung auf Sühne zu stellen hatte. Doch ist nach Meinung dieser Probanden die soziale Reaktion auf das eigene asoziale Verhalten weit über das Ziel hinausgeschossen. Die Schwere der Delikte steht nicht im rechten Verhältnis zur Schwere der sozialen Diffamierung und der wirtschaftlichen Schäden, welche die übertrieben lange Strafe mit sich bringen muß. Vor allem jedoch sind es abfällige Äußerungen über den Persönlichkeitswert, welche die eigentlichen und bleibenden Verletzungen erzeugen"". * Vgl. Teil I, § 8, Absatz 3 und 4. 6
Ohm
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Eine Mörderin, durchaus zur der Habgier ab. Obwohl sich an glaubt sie doch, innerlich anders Erziehungs- und Milieuschäden hätten.
Sühne bereit, lehnt leidenschaftlich das ihr unterstellte Motiv der besonderen Schrecklichkeit ihrer Tat nichts ändern würde, dazustehen und ihre Lage leichter ertragen zu können, wenn in der Urteilsbegründung ausreichende Würdigung gefunden
Das auf 6 Jahre Zuchthaus lautende Urteil wird von einem zweiten Probanden ohne Widerspruch angenommen. „Ich habe viel gesündigt und großes Unrecht getan". Aber die Abstempelung als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wird als „seelisches Todesurteil" gewertet, erweckt unüberwindliche Minderwertigkeitsgefühle und hat eine schwere Schlaflosigkeit zur Folge. Audi in einem dritten Fall wird die sehr empfindliche Strafe nicht beanstandet, der gleichfalls ausgesprochene Ehrverlust dagegen als schwere Kränkung empfunden.
c) Selten ist die Ablehnung des gesamten Richterspruches. Die Protesthaltung kann phänomenologisch ganz entgegengesetzte Affektfärbungen annehmen. Die einen verzichten auf das Aufbegehren, weil es nur Kräfte zerreibt, und Griesgrämigkeit das Lebenweiter erschwert; die anderen antworten mit einer sich immer tiefer einfressenden Verbitterung und versteckten Drohungen. Dem Staat, der Krieg, Preissteigerung, Hungersnot, Flüchtlingselend gebracht hat, wird die innere Berechtigung, Strafen zu verhängen, nicht zugestanden. „Ich anerkenne keinen staatlichen Richter, kein öffentliches Urteil, keine Strafe, sondern nur die Gültigkeit des moralischen 7. Gebots. Ich kann nicht einsehen, daß mich ein Wesen gleich wie ich selbst zu einer Strafe verurteilt. Das werde ich ihm nie vergessen. Sie ist mir eine Qual. Innere Reue fühle ich gar keine. Jetzt hasse ich jede staatliche Gewalt". Rachegedanken kommen auf. Der Bestrafte wandelt sich in einen Rächer. „Meine Strafe ist für midi eine Reizung zur Rache. Ich komme durch Rache zu einer neuen Straftat". § 2
Die Auswirkung
der
Strafverbüßung
1, Die Strafverbüßung bleibt nicht ohne tiefgehende Auswirkungen, zumal bei differenzierten Persönlichkeiten. a)* Mit dem passiven Hinnehmen, dem bloßen „Abbrummen" der Strafe ist es nicht getan. Sie wirkt als Anstoß zur Einkehr und Selbstbesinnung, treibt in die innere Auseinandersetzung. Der von der Fama entstellt und übertrieben schwarz geschilderte Gefängnisaufenthalt bringt auch Positives. Man kann ihm bei gutem Willen sogar Werte für die Gestaltung des eigenen Lebens entnehmen. Er führt in die Stille der Selbstbesinnung, ruft ein Halt auf dem bisherigen Wege zu, läßt Liebe zur Einsamkeit wachsen, so daß der Trubel und die Hast von früher jetzt geradezu unverständlich erscheinen. Bildungslücken können ausgefüllt, das Wissen kann durch Studium von Büchern erweitert werden. Das Denken wird klarer, ruhige Überlegung greift Platz. Der im Regelfall abgerissene Kontakt zur Welt des Religiösen kann neu gewonnen werden. Als sehr heilsam erweist sich die geregelte Tageseinteilung und der feste Arbeitsplan. Beides wird zur heilsamen Gewöhnung. Das dauernde „Muß" der Arbeit „impft sich ein". Sie wird zur Selbstverständlichkeit. Man lernt ihren Wert schätzen und den wahren Lebensinhalt richtig sehen. Fortschritte in der Arbeit festigen das durch die voraufgegangenen Dinge stark erschütterte Selbstwertgefühl und bringen eine bis dahin * Vgl. Teil II § 3 b.
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gar nicht gekannte Freude. Wohltuend ist die Ordnung gegenüber dem Lotterleben draußen. Man kann das unerhörte Erlebnis eines affektfreien Zuhörens bei der Schilderung des eigenen Lebens und selbstloser Teilnahme haben, Menschenkenntnis gewinnen nach der positiven und negativen Seite. Man kann Charaktere beobachten und lernt es, alles mit anderen Augen zu betrachten. Nach dem flatterhaften Leben draußen ist jetzt Sammlung und Konzentration möglich. Man macht sich klar, daß sich das Verbrechen nicht gelohnt hat, daß man in den Jahren redlicher Arbeit besser gelebt hat als jetzt, daß die das Gewissen einschläfernde Ausrede, man sei durch Hunger zum Verbrechen getrieben worden, falsch war. „Es war höchste Zeit, daß etwas Gründliches geschah". „Es wäre schade gewesen, wenn ich nicht nach hier gekommen wäre". Der Freiheitsentzug, das Ausgeschiedensein aus dem Kreise der bisherigen Gefährten, bringt einen heilsamen Schock. Die Strafe wird noch in mancher Nacht aufsteigen als Mahnung und Verpflichtung. Sie hat das reine Gewissen und innere Entlastung gebracht. Man fühlt sich jetzt leichter und freier, entsühnt, kann ruhig und mit reinem Gewissen wieder vor die menschliche Gesellschaft treten. „Es bummert" nicht mehr im Herzen. b) Unter den beobachteten Probanden äußert sich eine beträchtliche Anzahl in der geschilderten Weise. Der Rest bezieht eine negative Stellungnahme zur Strafverbüßung und zum Anstaltsaufenthalt. Er wird als verlorene Zeit angesehen und erscheint grau in grau. Beklagt wird die fehlen bleibende Berufsausbildung, der Mangel an kulturellen Darbietungen und die Einengung des Sprachschatzes als Folge der mangelnden Berührung mit Menschen. Man verliert den Anschluß an den Fortschritt der Technik und den Überblick über die Weiterentwicklung der bisher gepflegten Spezialwissenschaft. Kontaktschwierigkeiten stellen sich ein und wachsen schnell. „Ich finde nicht mehr das Wort"."' „Die richtigen Worte stellen sich nicht mehr ein". Das gilt selbst gegenüber der eigenen Mutter. Dadurch wird eine Entfernung geschaffen, „als wäre sie nur eine Tante". Das Gleiche gilt von den in der Freiheit lebenden Angehörigen. Als sich für einen Lebenslänglichen nach lOjähriger Verbüßung die ganz vage, noch weit entfernte Möglichkeit einer Begnadigung abzeichnete, brach die — moralisch völlig einwandfreie — Ehefrau in heftiges Schluchzen aus: „Ich habe große Angst. Ich bin ihm so fremd geworden und weiß nicht, ob es sich einrenken läßt". Minderwertigkeitsgefühle kommen auf. Knie zittern, wenn man vor einen höheren Wird man barsch angefahren: „Sie lügen" rung. Man gibt alles zu, was abverlangt haben".
Man traut sich nicht mehr an Menschen. Die Beamten gerufen wird. Die Sprache versagt. — entfällt sofort der Mut zur Gegenäußewird. „Nie etwas mit der Behörde zu tun
Man lebt in einer „Tiefkühl-Situation" (Baan). Immer ist eine Zone des Mißtrauens und des Argwohns da. Beim Vorübergehen an der Anstalt wenden sich die Passanten mit einem erschrockenen „ H u " ab. Es ist alles so lieblos. Man kann nie mehr von Herzen lachen wie ein Kind. Man kann keine Freude machen, kein Tier streicheln, kein Kind liebkosen, das „noch so sauber ist". „Schade, daß ich nun ein Verbrecher bin". Man möchte schenken können. Solch Schenken würde das Erlebnis bringen, daß eine * Von Hentig 6»
spricht von „sprachlicher Einrostung".
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gute, beglückende Regung im Herzen hochkommt, daß Geben seliger ist als Nehmen, daß man beim Schenken selber der Empfangende ist. Aber solche Dinge sind verboten. Man kann sie nur unter Verletzung der Anstaltsordnung betreiben, was wieder einen bitteren Beigeschmack hinterläßt. Jeder noch so kleine Vertrauensbeweis von Beamten (-Packen-Dürfen der Handtasche, Liegen-Lassen von Gegenständen) wird mit großer Dankbarkeit empfunden und löst das Bestreben aus, sich derselben würdig zu erweisen. Das Gefühl, die Angehörigen einmal schriftlich beraten zu können, ist ganz köstlich. Aber diese feineren Regungen und Strebungen müssen allmählich sterben. Der Drang nach Wiedergutmachung, sei es im Kreise der Familie, sei es durch Arbeiten für Waisenkinder und ähnliches, läßt sich nicht befriedigen. Man möchte gutmachen, und wenn man dabei „selber drauf geht". „Ungeahnte Kräfte" würde man bei solcher Arbeit entwickeln. Schlimm ist der Verlust der Selbständigkeit, die „Degradierung zu einer Marionette" (Köstler), das Getriebenwerden. Man darf „keine eigene Meinung haben", man „nimmt uns das eigene Ich weg". „Wir sind gar nichts, und dabei geht so vieles kaputt". Es wird bestimmt. Das ständige: „Das hast Du zu machen" ertötet die Initiative, bricht das Rüdegrat. „Der Motor in sich selbst" beginnt zu stocken und steht schließlich still. Arbeit wird leidenschaftlich bejaht; ohne sie wäre der Anstaltsaufenthalt eine „Hölle". Sogar Zwang zur Arbeit wird gutgeheißen. Aber „man müßte doch nebenbei ein wenig frei sein dürfen und etwas Verantwortlichkeit tragen". Beglüdkend war deshalb für einen Verurteilten der Wechsel vom Tütenkleben zum Glasblasen, bei dem doch ein wenig schöpferische Phantasie entfaltet werden konnte. Andernfalls wird man zur Maschine, die zwar das tägliche Soll liefert, aber bar jeder konstruktiven Initiative ist. Mit Freiheit möglich Freiheit
Nachdruck zeigt Prof. Baan die hier vorliegenden Gefahren auf: Ein Stück muß dem Gefangenen erhalten bleiben, soll nicht eine Resozialisierung ungemacht werden, und zitiert Gladstone: „Nur die Freiheit versetzt in die Lage, zu gebrauchen".
Es fehlt die richtige Mitmenschlichkeit. „Bei meiner ersten Strafe nahm ich mir fest vor, mich zu bessern. Als ich mit anderen Gefangenen zusammenkam, war es mit dem Bessern bald vorbei. Ich erfuhr allerlei Schliche und Tricks. Heraus kamen nur neue Straftaten. Zu was ich midi jetzt entschließe, weiß ich nicht". „Die Kameraden machen vor, wie man bei ihren Methoden nicht geschnappt wird. Ich mache, wenn ich rauskomme, es nach" —. Bei energischer Distanzierung von solchen Elementen hat man das Gefühl, auf einem Meer von Gemeinheiten in trostloser Einsamkeit zu schwimmen und fleht unter Tränen: „Ich möchte doch anständig bleiben". Um sich gegen den Verlust der letzten Persönlichkeitswerte zu wehren, muß man sich abdichten gegen Gemeinheiten mancher Mitgefangenen und die „intramural lustig weiter blühende Kriminalität"*. Es ist schwer, eine verständnisvolle Persönlichkeit zu finden, der man sich offenbaren und anvertrauen kann. Infolgedessen bleibt die Tat als ein „corpus alienum" (Baan) in der Persönlichkeit haften. Es erfolgt eine seelische Abszeß-Bildung mit dem ständigen Risiko eines Durchbruchs, der dann oft für das Gefängnispersonal eine Überraschung bedeutet. Man hat nicht den Mut, ein Anliegen vorzubringen; denn unter Umständen läuft man Gefahr, hinausgejagt zu werden „wie ein toller Hund". Deshalb * Vgl. Teil II § 5.
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verzichtet man lieber auf eine kathartische Aussprache und nimmt statt dessen eine Abkapselung vor mit schnell voranschreitender Krusten-, ja Panzerbildung. „Ich möchte heulen, aber es geht nicht; das tut direkt weh. Es müßte jemand da sein". I m Wechsel der Grundstimmung wird infolgedessen das T i e f immer länger. Die Stimmungslabilität wächst. Schon morgens um 8 U h r kann der Geruch aus der Küche neben dem Appetit auch die Stimmung für den ganzen T a g verderben. D e r zu Anfang vielleicht noch positiv wirkende Anstaltsaufenthalt führt bei längerer Ausdehnung zu Verhärtung und Hoffnungslosigkeit. „Wenn die Strafzeit die Waage der Gerechtigkeit nicht hält, sondern Übergewicht bekommt, wende ich mich enttäuscht und verhärtet a b " . Aber auch der näher rückende T a g der Entlassung bedeutet keine reine Freude. Hemmungen sind erwachsen, den Verwandten und Bekannten zu begegnen. Besorgnisse werden wach: Finde ich zurecht? Reicht die K r a f t ? Das Leben draußen wird kein Kirschenessen sein. „Ich bin wie einer, der schweres Gepäck trägt, das immer schwerer w i r d " . „Ich schleppe die ganzen J a h r e hinter mir h e r " . Verschiedene von lebenslänglicher zu 15jähriger Zuchthausstrafe Begnadigte antworteten auf die neue Lage nach kurzem Freudentaumel mit nackter Angst; sie fürchten sich vor dem nunmehr feststehenden Termin der Rückkehr ins Leben, dessen Anforderungen sie sich nach den langen Jahren des Abgeschirmt-Seins in der Anstalt nicht mehr gewachsen fühlen. Die Strafverbüßung hat zu einem Menschen zweiter Klasse degradiert, „zu E n t wertung und Verachtung" geführt, infantil und ängstlich, aber auch hart und verbissen gemacht; sie w a r eine „Erziehung zum Bösen, eine Universität
des
Verbrechens".
Schließlich wird „alles wurst". A m Ende dieser Entwicklung steht der Entschluß, „erst recht zum Verbrecher zu werden, da doch alles zerbrochen ist". So sinkt das Leben schließlich zum Vegetieren herab. M a n wird zur Maschine, die das tägliche Soll liefert. Das ewige Einerlei des Anstaltslebens bringt Sättigungserscheinungen. Die Begegnung mit immer wieder denselben Menschen sdiafft zuweilen eine hochexplosible Atmosphäre. 2. Die Klärung der innerseelischen Situation, die Auseinandersetzung mit den F r a gen um die T a t , Aburteilung, Schuld, Sühne, Sinn der Strafe verläuft in verschiedenen Phasen und erfordert verschieden lange Zeit je nach der Persönlichkeitsstruktur. a) Ein wegen Totschlags zu lebenslangem Zuchthaus verurteilter Proband, jetzt 38 Jahre alt, kreist etwa 2 Jahre hindurch mit seinen Gedanken täglich, ja fast stündlich um die ihm selber so unbegreiflich erscheinende Tat. E r ist apathisch gegen alle sonstigen Eindrücke und Einflüsse, wäscht sich kaum, nimmt nicht Notiz von der Sonne. 6 Geständnisse legt er ab, um sie alsbald zu widerrufen. Während der Untersuchungen führt er einen Unbekannten als Täter ein. Ihm schrieb er die Tat zu, die doch aus dem eigenen unbegreiflichen und unheimlidien Persönlichkeitsanteil stammte. Auf diese Weise gelang es ihm, sich für eine Weile aus der RealSituation zu entfernen. Der Einsturz dieser Konstruktion konfrontierte ihn aufs neue mit dem Chaos. Erst die Zuteilung von Arbeit brachte eine leichte Entspannung. Aber auch während derselben, und besonders am Feierabend, kehrten die Gedanken zu den schrecklichen Dingen zurück, mit denen er nicht fertig werden kann. Sobald das Gespräch auf sie kommt, nimmt das Gesicht einen abweisenden versteinerten Ausdrude an. Erst sehr allmählich verschwimmen die Konturen des von ihm konstruierten Unbekannten, der ihn vor allem vor sich selbst entlasten sollte. Nur zögernde Schritte tut er auf dem Weg zur Übernahme der Verantwortung. Etwa 10 Jahre waren nötig, den Sturm in seiner Seele abklingen, die in Ansätzen vorhandene Einsicht
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in die ethische Notwendigkeit und Gerechtigkeit der Strafe beherrschend werden zu lassen und zu einer positiven Verarbeitung der Situation zu gelangen. Er ist jetzt mit den Dingen fertig. Der Gärungsprozeß ist zum Abschluß gelangt. Soweit die Strafe Anstoß zur Selbstbesinnung sein soll, ist ihre Aufgabe erfüllt. Was jetzt folgt, wird nicht mehr als Strafe, sondern nur noch als Freiheitsentzug empfunden. Dieser ist eine Konzession an die in Kraft befindliche Justiz- und Gesellschaftsordnung, nach welcher es unmöglich ist, daß ein zu lebenslangem Zuchthaus verurteilter Gefangener schon nach 10 Jahren begnadigt wird. Er ist darüber nicht verbittert, sondern durchaus bereit, diese zusätzliche Sühne zu leisten. „Was jetzt noch kommt, kann nicht weiter bringen; es ist wie ein Rad, das sich dreht im Leerlauf, ohne etwas einzubringen". b) Ein anderer Proband, jetzt 55 Jahre alt, ist wegen Raubmordes ursprünglich zum Tode verurteilt, alsdann zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt worden. Das gegen ihn ergangene Urteil lehnt er zunächst entschieden ab. Zur Tat bekennt er sich nicht, trotzdem bejaht er die Strafe. In ihr sieht er die Sühne für allerlei Schlechtigkeiten und manches Unrecht, das von ihm im Laufe des Lebens verübt worden sei. Diese Erwägung gibt ihm zunächst Ruhe. Ohne sie würde er verrückt werden. Die Abbuchung der Strafe auf frühere Untaten ist also ein Schutzreflex. Auf diese Weise macht er sie sich akzeptabel. Allmählich wird auch hier diese künstliche Konstruktion abgebaut. Immer stärker ringt er sich zur Anerkennung der eigenen Schuld durch. In einem Rückblick nach 12jähriger Strafverbüßung erklärt er: „Es dauert lange, bis man sich die von außen diktierte Strafe innerlich selber angeeignet hat. Nur sehr langsam bricht sich die Erkenntnis Bahn: „Nicht dunkle Mächte, nicht Dämonen waren am Werk, ich bin selber schuldig und darf nicht nach Ausflüchten suchen. Erst das schafft innere Ruhe. Ein Gnadengesuch nach 7 bis 8 Jahren wäre völlig falsch. Es würde eine Verächtlichmachung des Gerichts und Herausforderung der Hinterbliebenen des Opfers bedeuten. Sühne ist unbedingt notwendig. Dazu gehört, daß man Haß, Neid, böse Gedanken nicht aufkommen läßt, Erregung meistert und auch die kleinste Widerspenstigkeit meidet. Ein solches Training muß Ii Jahre dauern. Denn man versucht gar zu gern und immer wieder, die Verantwortung von sich abzuwälzen". „Wenn die Tat am 1. 3. geschehen ist, ist die Reue am 2. 3. nach 10 Jahren viel intensiver als am Tag nach der Tat." Dieser Proband hat sich vorgenommen, nach Verbüßung von 15 Jahren ein Gnadengesuch einzureichen. Er hätte nach dem ursprünglich ergangenen Todesurteil die Hinrichtung als wohltuend empfunden, nicht so sehr aus dem Sühnegedanken heraus, sondern weil er völlig erschöpft und mit allem fertig war. c) Wiederum handelt es sich um eine Verurteilung zu lebenslangem Zuchthaus — verbüßt sind 9 Jahre — wegen Mordes. Die Täterin, jetzt 39 Jahre alt, steht in Opposition zu dem Urteil. Von Affekten völlig überschwemmt, habe sie jede klare Überlegung verloren. Es handele sich um eine reine Affekttat, und die Verurteilung hätte nur wegen Totschlags erfolgen können. Auf diese antwortet sie mit einem vollständigen Rückzug von jeglicher Gemeinschaft und der Flucht in strenge Isolierung. Auf Beziehungen zu Mitgefangenen oder gar Freundschaften verzichtet sie. Wird sie von anderen angesprochen, so lehnt sie ab mit dem Hinweis darauf, daß sie mit sich selber vollauf beschäftigt sei. Sie nimmt nicht am Spaziergang teil. Vom Kommen des Frühlings will sie nicht Notiz nehmen, die Sonne nicht sehen, weil sonst das Zuchthaus unerträglich werde. An Freizeitveranstaltungen nimmt sie nicht teil; sie läßt sich während derselben einschließen. In den Abendstunden nach dem Einschluß unterhält sie sich mit der Getöteten in Form eines Wachtraumes. Sie spürt das tiefe Bedürfnis, sich mit ihr auseinanderzusetzen und ihr klarzumachen, warum alles geschehen ist. Sie klagt sich an, daß ihr das geschehen konnte. Leid und Angst schlagen über ihr zusammen. Sie weint und schreit. Das Tief hält 4 Tage an, um sich alsdann aufzulösen. Ganz bewußt sucht sie die Isolierung, um nicht in ihren inneren Auseinandersetzungen und in ihrem Gärungsprozeß gestört und beeinträchtigt zu werden. Die Strafverbüßung und den Anstaltsaufenthalt nennt sie nützlich und heilsam; sie habe sich „stark umgekrempelt". Die innere Auseinandersetzung, das wilde Auf und Ab in der Seele erstrecken sich über 7 Jahre. Dann legt sich der Sturm. Das anfangs sehr schroffe Urteil über den Vater ist ruhiger geworden, sie zeigt wachsendes Verständnis für seine Einstellung. Der frühere Haß auf
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ihn und andere, die bei dem Termin gut hätten aussagen können, ist gewidien. Statt dessen ist die Bereitschaft zur Übernahme der eigenen Verantwortung gewachsen. Die bei Beginn der Verbüßung stark wechselnde, leicht aufbrausende Grundstimmung ist ruhiger, gleichmäßiger geworden. Beendet sind auch die tagtraumartigen Auseinandersetzungen mit dem Opfer. Ganz bewußt ist ein Schlußpunkt hinter die bisherigen schweren Auseinandersetzungen und krisenhaften Entwicklungen gesetzt. Ein neues Blatt ist aufgeschlagen. Sie fühlt sich jetzt innerlich fertig und fähig, in die Gemeinschaft zurückzukehren. T r o t z des Abschlusses der inneren E n t wicklung ist sie bereit und entschlossen, 15 Jahre zu verbüßen, um dem Gebot der Sühne zu genügen. Deshalb will sie ein Gnadengesuch nicht vor Ablauf von 14 Jahren machen. Nach 15 Jahren allerdings, so befürchtet sie, wird alles „Essig". d) Bestimmte Fristen für den Ablauf seelischer Vorgänge werden auch von der nächsten Probandin genannt, die gleichfalls wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde und — jetzt 32 J a h r e alt — bisher 6 J a h r e verbüßt hat. Plastisch schildert sie die Augenblicke unmittelbar vor und bei der T a t , ebenso die nervösen und vegetativen Erscheinungen, welche sich im Anschluß an dieselbe einstellten. Die sachliche Behandlung durch das Gericht ist ihr in lebhafter Erinnerung geblieben; infolgedessen konnte ein Gefühl von Verbitterung nicht aufkommen. Nach der Verkündigung des Urteils war sie anfangs „völlig parterre", erholte sich aber schnell. D i e Einsicht in die Notwendigkeit und Gerechtigkeit der Strafe führte zu einer ruhigen, stetigen, im ganzen ausgeglichenen, mitunter fast fröhlichen Haltung. Schmerzhafte Schuld- und Leidensgefühle kamen nicht auf, was aus der Persönlichkeitsstruktur heraus verständlich wird. Die Tiefen-Dimensionen in ihr sind verkümmert. Vorherrschend ist der Intellekt. Dieser sagt ihr, daß die T a t selbstverständlich eine Sühne verlangt. Deshalb will sie zunächst einmal 10 Jahre „freiwillig" auf sich nehmen, ohne mit irgendwelchen Wünschen hervorzutreten. Sie will die „Courage" aufbringen, sich einzugestehen: „Die Zeit ist noch nicht reif für ein Gnadengesuch". Das Abstoßen von Eigenschaften, die ihr negativ erscheinen, das Aufkommen neuer Einsichten erfordert nach ihren Beobachtungen 5 Jahre. D e r gleiche Zeitraum erscheint ihr notwendig, die neue Einstellung zu festigen. Bitterkeit erweckt die Beobachtung, daß M i t gefangene nach der Entlassung schnell rückfällig werden und wiederkommn, also haltlos sind. D a ß sie trotz aller Arbeit an sich selbst nach wie vor zum „Abschaum" gehört, wirkt entmutigend und verletzend. e) Schneller verlief die innere Entwicklung bei der nun folgenden Probandin, die nach der Verurteilung zu lebenslangem Zuchthaus wegen Mordes — jetzt 45 J a h r e alt — bisher 9 J a h r e verbüßt hat. Sie bejaht die Strafe als juristisch einwandfrei. Einen Mord habe sie allerdings weder gewollt noch ausgeführt. In ihr sind starke positive K r ä f t e wirksam: Selbstdisziplin, Selbstkritik, Religiosität, Fleiß, Verantwortungsgefühl, Fortbildungswille. D i e Strafverbüßung ist ihr ein Anstoß zu Selbstbesinnung und neuer Lebensorientierung geworden. Drei Stadien der inneren Entwicklung werden von ihr unterschieden. Das erste ist gekennzeichnet durch die Flucht vor der eigenen Verantwortung und schwere Anklage gegen andere. Der konstante Liebesentzug im Elternhaus, die weit übertriebene H ä r t e der Mutter, der kalte, nüchterne Geschäftssinn des Ehemannes, der nie Zeit hatte für das häusliche Zusammenleben, bieten das Material zu solchen Vorwürfen. Aus ihnen erwächst das zweite Stadium: die Selbstbemitleidung. Sie trinkt „den süßen Schnaps des Selbstbedauerns"*. E r vernebelt so schön den Blick in die letzten Zusammenhänge, macht schläfrig und lullt das Verantwortungsbewußtsein ein. Erst sehr langsam verfliegt der Nebel, und das dritte Stadium dämmert herauf: die Erkenntnis der eigenen Schuld. Immer klarer sieht sie, daß nicht so sehr die Fehler der anderen als vielmehr der eigene Leichtsinn und die allzu große Oberflächlichkeit des eigenen Wesens die Katastrophe heraufgeführt haben, daß sie zu weich, zu fügsam, zu wenig gütig gewesen sei. Das ganze Leben wird daraufhin durchleuchtet. Verbitterung und Anklagen gegen andere verschwinden im Licht dieser neuen Erkenntnisse. Sie werden erweitert durch Lektüre und sorgfältige Pflege des religiösen Lebens. Audi prägen sie die Haltung in der Anstalt. Jede, auch die kleinste Unregelmäßigkeit, wird bewußt gemieden oder, wenn sie doch einmal unterlaufen sein sollte, im Selbstgericht abgeurteilt. 3 Jahre hat es gedauert, bis sich das „ganze N e u e " zeigte und der jetzige Entwicklungsstand erreicht war. * Von
Hattingberg,
Vorlesung über Psychotherapie. Berlin 1935.
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Bedauerlich ist es, daß dieser neue innere Status von den andern, insbesondere von den Mitgliedern des aburteilenden Gerichts, nicht gesehen wird und und zur Kenntnis genommen werden kann. Es besteht nämlich die Gefahr der Ermüdung und Verbitterung, wenn die Strafe endlos fortgesetzt wird, obwohl in heißen Kämpfen und schweren Auseinandersetzungen eine innere Umwandlung erarbeitet und eine Reifung gewonnen wurde. f) Die gleiche Gefahr sieht der nächste Proband, der — jetzt 31 Jahre alt — 9lh Jahre wegen Raubüberfalls verbüßt hat. Er bejaht die Strafe und will sühnen. Früher stand er in Kampfesstellung zur menschlichen Gesellschaft; er hatte dem Staat „den Krieg erklärt" und sich die Freiheit angemaßt, sich zu nehmen, was er brauchte und was ihm gut schien. Der Staat hat es aber durch Justiz und Strafvollzug geschafft, ihn aus seiner Kampfesstellung zu lösen. Verstandesmäßige Erwägungen führten ihn zum Abbau seiner überstarken Reizbarkeit, da solche nur Konflikte schaffe. Die wachsenden Jahre ließen ihn ruhiger werden und Pubertätserscheinungen überwinden. Er hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, durch Lesen Kenntnisse erworben, eigene kleine Ausarbeitungen versucht, die bei dem flatterhaften Leben darußen verloren gegangene Konzentrationsfähigkeit wieder gewonnen. Auf alle erdenkliche Art und Weise hat er versucht, seine innere Entwicklung voranzutreiben und zu einer Umstruktuierung zu gelangen. Daß man davon nicht Notiz nimmt, kein anerkennendes Wort findet oder mit der freundlichen Geste eines Gnadenerweises antwortet, empfindet er als „Interesselosigkeit", die zu Entmutigung und Verbitterung führt. g) Im Gegensatz zu diesen Probanden sieht sich der nächste — 33 Jahre alt, wegen Raubes zu insgesamt 10 Jahren Zuchthaus verurteilt, — nach 6jähriger Strafverbüßung noch keineswegs reif genug zur Entlassung. Er erkennt 3 Stadien seiner inneren Entwicklung. Gleich nach der Tat hatte er Gelegenheit, sich in einem großen Spiegel zu betrachten. Er war entsetzt über sein entstelltes Gesicht, in welchem er sich selbst nicht mehr erkannte. Dann kam eine Zeit des wilden Chaos. Auf heftiges Aufbegehren mit Ausbruchsgedanken folgte völlige Gleichgültigkeit bis zur Apathie: „Ob es morgen Ostern oder Weihnachten ist, ob es regnet oder die Sonne scheint, ist egal". Erst sehr langsam setzte ein „neues Beginnen" ein. Ein Hörspiel beeindruckte ihn stark. Literatur vertiefte den Eindrck. Vor allem aber war es die Erlernung eines Berufes, die ihm entscheidend weiter half. Draußen hatte er ständig die Tätigkeit gewechselt. Hier gewann er eine innere Beziehung zu dem erwählten Tischler-Beruf, dem sein steigendes Interesse galt. Fortschritte in der Berufsausbildung stärkten das erschütterte Selbstgefühl. Das half tüchtig weiter. Eine Entlassung jedoch hält er zur Zeit für verfrüht. Noch spürt er eine starke innere Unruhe in sich, die er gern los sein möchte, und die ihn eine Fortsetzung des nutzbringenden Anstaltsaufenthalts ratsam erscheinen läßt. Es war „höchste Zeit", daß die Strafe kam, die er als zu niedrig empfindet. 3. Zumal bei den zu lebenslangem Zuchthaus Verurteilten ist häufig die Erkenntnis und das Gefühl anzutreffen, daß es mit dem Verbüßen der Strafe, dem Absitzen der Zeit allein noch nicht getan sei, daß die Schwere der T a t noch zusätzliche Leistungen verlange. Unter diesem Aspekt gesehen, erscheint der Strafvollzug zu milde. a) Für die nunmehr zu schildernde Probandin — wegen Mordes in 2 Fällen zweimal zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, 35 Jahre alt, 12 Jahre verbüßt, — sind pathologische Kategorien nicht zu finden. Sie ist nicht kriminell, nicht asozial, nicht gemütsarm. Von Hausbewohnern und dem früheren Ehemann wird sie hilfsbereit, gefällig, offen, ehrlich, herzensgut genannt. Der rote Faden, der sich durch ihr Leben zieht, ist das Verlangen nach Geborgensein bei einem väterlichen, Schutz gegen die Unbilden des Lebens bietenden Menschen. Daher stammte eine frühere überstarke Bindung an den Vater; daher stammte auch das Bestreben, den Mann wiederzugewinnen, den sie durch Scheidung verloren hatte. „Ich habe es gemacht. Ich wollte doch meinen Mann wiederkriegen; ich wollte doch zu einer Wohnung kommen. Dafür war mir keine Sache zu schwer". Nach schweren Krisen mit Grauen vor sich selbst und vor der Tat kommt ein ausgesprochenes Sühnebedürfnis auf. „Man müßte mehr leiden in der Anstalt, man müßte härter angepackt werden. Der Vollzug ist zu milde. Die Menschen sind zu gut". Das erweckt brennendes Schamgefühl. Sie rechnet damit, durch eine schwere Erkrankung die zusätzliche Sühne leisten zu müssen, welche der zu weiche Strafvollzug ihr nicht abverlangt. Trotzdem
Die Auswirkung der Strafverbüßung
89
beginnt sie zu planen. Um in die Endlosigkeit der Strafe eine Zäsur vorzunehmen, begrenzt sie diese zunächst auf 18 Jahre. Das klinge leichter als 20 Jahre. Erfüllen sich die Hoffnungen auf Begnadigung nicht, welche sich leise um diese Zahlen ranken, dann ist immerhin der Blick auf die bereits verbüßte Zeit tröstlich. Sie ist aber durchaus bereit, auch 20 Jahre und noch mehr zu verbüßen, fürchtet allerdings, dann nicht mehr die K r a f t zu einem Neuanfang aufbringen zu können. Schließlich kann man den eigentlichen Zweck des Lebens, reifer und innerlicher zu werden, audi im Zuchthaus verfolgen. „Ich empfinde den Unterschied zwischen draußen und hier nidht mehr also so stark". Die Strafe erschien ihr als eine Wohltat: „Es wäre schade gewesen, wenn es anders gekommen wäre". Ihr war das Zuchthaus zunächst Bergung und Zuflucht, wo sie sich schamvoll verstecken konnte. Selbst hier noch verkroch sie sich zusätzlich in ein Schneckenhaus. Bedrückt fühlt sie sich nach wie vor durch das Gefühl, nicht genügend Sühne zu leisten. „Mir geht es nicht gut, weil es mir zu gut geht". b) In gleicher Weise reagiert ein männlicher Proband, 44 Jahre alt, 7 Jahre in H a f t , gleichfalls wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, auf die Strafe. Audi ihm erscheint sie nicht ausreichend. E r wäre bereit, sein Leben herzugeben, wenn er auf diese Weise das Opfer auferwecken könne. Inden langen Monaten der Untersuchungshaft hat er sich immer wieder klar gemacht, daß nur die Hergabe des eigenen Lebens ein angemessenes Äquivalent für seine Straftat sein könne. Ihn plagen Schmerzen, die von einer Sdiußverletzung im Kriege stammen. Diese Schmerzen begrüßt er; sie vermehren das Gefühl, Sühne zu leisten. Das schafft stärkere innere Befreiung. Protest und Verbitterung liegen ihm völlig fern; sie werden niemals aufkommen. Täglich meldet sich das starke Bedürfnis, etwas Gutes zu tun. Täglich erfleht er sidi im Gebet Vergebung. Die Woche vor und 2 Wochen nach dem Tattermin sind angefüllt mit Gebeten für das Opfer. c) E s fehlt die Wiedergutmachung. E i n Teil des Arbeitslohnes m ü ß t e den A n g e hörigen des Opfers zur V e r f ü g u n g gestellt werden. D i e Sühne lediglich in der F o r m der S t r a f v e r b ü ß u n g erscheint u n v o l l k o m m e n ; es fehlt die Möglichkeit zusätzlicher Leistungen. D e r D r a n g zu solchen ist sehr stark. M a n möchte Dienste leisten in einer H e i l und Pflegeanstalt, Waisen unterstützen, siechen V e r w a n d t e n Beistand leisten, für das K i n d , in einem andern F a l l für die M u t t e r des Opfers sorgen, sidi für die Pflege v o n Alten, L e p r a k r a n k e n ,
I r r e n zur V e r f ü g u n g stellen, das G r a b des O p f e r s
schmücken;
es w i r d das Gelübde abgelegt, für ein K i n d zu sorgen; es w e r d e n K l e i d e r für N e g e r kinder gestrickt. „Zerschneiden v o n K a s t a n i e n ist doch keine S ü h n e " . D i e W i e d e r g u t machung k a n n
aber
auch a u f andere Weise geleistet werden,
indem
man
sich mit
inneren W e r t e n anreichert, a u f H a ß , N e i d , E r r e g u n g , Widersätzlichkeit verzichtet, an der eigenen Weiterentwicklung und R e i f u n g arbeitet, nach Gottes Geboten zu leben bem ü h t ist. E i n P r o b a n d h a t den V o r s a t z , den E h e m a n n der v o n ihm getöteten
Frau
aufzusuchen und seine Vergebung zu erbitten, weil er keinen Feind haben möchte. I n zahlreichen Fällen w i r d ausgesprochen, daß die Vernichtung eines Menschenlebens überh a u p t nicht gesühnt w e r d e n kann, d a ß die W i e d e r k e h r des T a t t a g e s oder jeder G a n g a u f den F r i e d h o f die schlimmen Erinnerungen wieder wach rufen wird, d a ß auch die längste S t r a f e die Schatten der Vergangenheit nicht zu bannen v e r m a g . D i e Sühne w i r d in der anderen W e l t weitergehen. „ D i e H ö l l e ist mir sicher". 4. W o es nicht gelingt, das U r t e i l innerlich zu verarbeiten, wachsen sich Verbitterung, V e r ö d u n g und Vereisung immer weiter aus. a) Wegen Mordes, versuchten Mordes und Raubes wird der nunmehr zu schildernde Proband zu 7 Jahren Zuchthaus und anschließend zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. E r ist 34 Jahre alt, hat 11 Jahre verbüßt. Das Urteil lehnt er als viel zu hart ab und bezieht eine Haltung verbissenen Trotzes. Überall findet er nur Negatives. Querulatorisdi beanstandet er alles. E r ist ganz auf Kampf eingestelllt. Gegen die Justiz empfindet er H a ß bis zur Weißglut.
90
Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe
„Die erziehen sich Verbrecher, damit sie nicht brotlos werden". Welch' Gesprächsthema man auch anfängt, schon mit dem zweiten Satz ist er wieder zu seiner A f f ä r e zurückgekehrt. Als ein alles beherrschender Ideenkomplex steht die Verurteilung in seinem Seelenleben und füllt ihn völlig aus. In tiefer Verbitterung, durchaus unansprechbar, zeigt er eine stark verhärtete, nicht mehr anpassungsfähige Haltung. „Man hat midi hierher gebracht; man soll mich nun audi wieder heraus bringen. Die Herren von der Anstalt wollen midi nicht, und idi will sie nicht. Ich brauche keinen". Statt dessen hofft er auf „eine andere Zeit", droht mit ihrem H e r a u f kommen und will alsdann eine gründliche Abrechnung vornehmen. Immer tiefer ist er in einen Zustand innerer Vereinsamung und Vereisung abgeglitten. Eine völlige Veränderung erfährt das Bild nach 10 Jahren, als die Pflegerin und Sachwalterin des inzwischen verstorbenen Vaters sich erbietet, ihm die väterliche Wohnung zu erhalten, bei der Gewinnung eines Arbeitsplatzes behilflich zu sein, ja, sogar eine spätere Eheschließung in Aussicht stellt. Mit einem Ruck wirft er seine bisherige Kampfesstellung über B o r d ; er anerkennt die Notwendigkeit der Sühne, möchte sogar zusätzlich wieder gutmachen durch Unterstützung von Alters- oder Blindenheimen. Depression und Verbitterung sind abgefallen; er bietet nunmehr das Bild eines energiegeladenen, von neuen Hoffnungen und Plänen beseelten Menschen. b) Dagegen nicht aufgehalten auf seinem Wege in die völlige Isolierung und Vereinsamung wurde der nächste Proband, 38 J a h r e alt, 11 J a h r e in H a f t . Auch er, wegen Mordes zu lebenslangem Zudithaus verurteilt, fühlt sich zu hart bestraft. In vielen umfangreichen Eingaben versuchte er, die Dinge noch einmal aufzurollen. Die Ablehnung derselben führte zu einer solchen Verbitterung, daß er sich sogar Briefe und Besudle der Mutter verbat, um ganz allein zu sein. In Gesprächen kehrt er sofort auf das ihn allein beherrschende Thema immer wieder zurück. Zwischen Depressionen und Erregungszuständen schwankend, bietet er das Bild eines durch die Strafe schwer verletzten Menschen, der nicht zur Ruhe kommen kann. Als unassimilierbares Moment steht die Verurteilung beherrschend in seinem Seelenleben. Dieser eine Vorstellungsinhalt von dem großen Unrecht, das ihm widerfahren sei, füllt ihn völlig aus. Nichts anderes interessiert ihn während der ganzen bisherigen Zeit der Strafverbüßung. c) Das krasseste Bild einer durch die Strafe heraufgeführten Wir-Insuffizienz bietet der letzte in dieser Reihe zu schildernde Fall. Es handelt sich um eine Psychopathin, lebensschwach in der Totalität ihrer Persönlichkeit. Sie besitzt eine disharmonische, schwer labile, chaotische Charakteranlage mit aggressiven Tendenzen und ausgesprochen hysterischen Zügen. Wegen M o r des in 2 Fällen wurde sie jedes M a l zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Im Alter von 43 J a h ren starb sie nach 7jähriger H a f t . Anfangs das Urteil bejahend, zeigte sie später eine wachsende kühle Distanz zu ihren Straftaten, ließ offen, ob sie dieselben überhaupt begangen habe und nahm schließlich eine völlige Auslöschung des ihr untragbar erscheinenden Tatkomplexes in ihrem Inneren vor. D a m i t geht H a n d in H a n d eine zunehmende Verkapselung. Sie pflegt kaum V e r kehr mit Mitgefangenen, verläßt kaum die Zelle, verweigert Tage hindurch das Mittagessen. „Idi lehne H i l f e nicht nur ab, sondern ich weise sie zurück". Verhaltene Aggressionstriebe entladen sich im Zerschlagen von Fenstersdieiben. N u r ganz selten lockert sich die Starrheit der Haltung. Jedes Mal kehrt sie schnell zur Verkapselung zurück. Sie verhängt ständig den Spion ihrer Zelle, weil ihr nicht bloß das ansprechende W o r t , sondern sogar schon der Blick der M i t menschen eine Plage bedeutet; sie trägt eine mürrische Abwehr zur Schau und heißt selbst die wenigen Menschen weiter gehen, die ihr tragbar erscheinen. An der Mauer ihrer abweisenden Haltung prallt alles ab. In einer später zum Ausdruck kommenden schweren Erkrankung erkennt sie eine Strafe, nicht aber in dem Zuchthaus-Aufenthalt. Die Krankheit übernimmt die S t r a f - und Sühnefunktion, welche sie der Justiz verweigert. In dieser Haltung stirbt sie.
5. Immer neu erfahrene Ablehnungen von Gnadengesuchen mit immer den gleichen Formulierungen führen schließlich zu negativer Einstellung. „Nun habe ich 10 Jahre Buße getan. Immer erlebe ich Ablehnungen. Da kommt der Gedanke, daß es sinnlos ist, sich zusammenzureißen". Man kann nur eine bestimmte Strecke Strafvollzug ertragen; dann wird man gleichgültig. „Es ändert sich ja doch nichts". Daß niemand Notiz nimmt von den harten inneren Auseinandersetzungen, geschweige denn ein anerkennendes, auf-
91
D e f o r m i e r e n d e Wirkungen der langen S t r a f e n
munterndes Wort spricht, legt den Verdacht der Interesselosigkeit nahe. Die Herren, welche durch ihren Urteilsspruch das eigene Leben zutiefst beeinflußt haben, müßten Einblick nehmen in das Ringen um eine neue innere Einstellung und die Phasen dieses Kampfes verfolgen. Daß das nicht geschieht, erweckt ein Gefühl der Ermüdung, des Abgeschrieben- und Vergessenseins. Man beobachtet, wie andere während der eigenen langen Strafverbüßung mehrfach gehen und wieder zurückkehren. Der Vergleich mit ihnen fällt trotz allen guten Willens zu schärfster Selbstprüfung nicht immer zu den eigenen Ungunsten aus. Das „Rein und R a u s " der Kurzstrafigen mit "ihren offenbaren Schwächen und Gemeinheiten ist etwas Deprimierendes. „Du mußt trotz guter Absichten drin bleiben". Daß diese nicht gewertet, vielleicht nicht einmal gesehen werden, ist etwas unerhört Entmutigendes. Schließlich heißt es: „Es ist alles egal. Die achten uns nicht; Gnade? — solch Blödsinn!". 6. Dies Gefühl des Abgeschrieben-Seins im Verlauf der immer weiter anhaltenden Zuchthausstrafe löst schließlich Aggressionsgelüste aus. Eine Probandin berichtet von einem wilden H a ß auf alle Menschen, will sich betrinken, der Prostitution ergeben und würde am liebsten jemanden erschlagen. Sie verwünscht den Tag ihrer Geburt. In ähnlicher Weise reagiert ein männlicher Zuchthäusler. Audi er sieht sein Leben als verpfuscht an. Auch ihm würde es geradezu eine Freude machen, mit einer Eisenstange oder einem Hammer irgend jemanden auf den Kopf zu schlagen. Gegen die Justiz hegt er einen glühenden H a ß : „Die wollen midi hier behalten, damit sie Brot haben". Er droht: „Es wird anders kommen, dies Mal kommen sie nicht so leicht davon". 7. Zum Schluß seien zwei Probanden genannt, bei denen nach einer langen kriminellen Laufbahn jede Empfänglichkeit für Strafen geschwunden ist. Für den einen ist sie ein kleiner, nicht tragisch zu nehmender Unfall, für den anderen ein Witz. Beide sind fröhlich und guter Dinge. Das 11. und 12. Weihnachtsfest im Zuchthaus macht ihnen gar nichts aus. Der eine betreibt technische Dinge, dem anderen macht es Freude, den Verfassern wissenschaftlicher Werke Widersprüche nachzuweisen. Ein Triumphgefühl verspürte er, als er eine Klage wegen Rechtsbruch gegen einen Richter einreichen konnte.
5 3 Deformierende
Wirkungen
der langen
Strafen
1. Von körperlichen Schäden sind laut eigener Angabe 24 unter 100 befragten Probanden ganz frei geblieben. Geklagt wird vor allem über das Nachlassen der Sehkraft. Augenschäden werden in 34 Fällen gemeldet. An zweiter Stelle steht der Zahnausfall, über den in 23 Fällen Klage geführt wird. Durch ärztliche Beobachtung erfahren die vielfachen Klagen über Augenschäden eine Bestätigung. Die Tätigkeit des Augenarztes hat „erschreckend" zugenommen. Es mußten sehr viele Brillen, darunter bereits dritte und vierte, beschafft werden. Die Schäden sind nicht aus mangelhafter Beleuchtung zu erklären.*
Von Heutig gestellt ist.
spricht v o n dem „ Z u c h t h a u s a u g e " , das nur auf nächste E n t f e r n u n g e n ein-
92
Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe
Schwieriger ist ein objektives Urteil über die Gründe des Zahnausfalls, der nach der subjektiven Meinung der Betroffenen auf das Konto des Anstaltsaufenthaltes zu setzen ist. Viele haben sich draußen nicht um ihre Zähne gekümmert und kommen bereits mit Schäden in die Anstalt. Der in der Anstalt vor sich gehende Verfall wäre wahrscheinlich auch in der Freiheit eingetreten. O f t wird der Versuch gemacht, den Anstaltsaufenthalt für eine General-Überholung auszunutzen. Nach dem Gutachten des Zahnarztes wird eine bereits vorhandene Affinität zur Paradentose leichter aktualisiert. Relativ häufig werden von Anstaltsärzten Störungen des Magens sowie Darmkanals registriert und als Folge der einseitigen Ernährung erklärt. Die Schädigung des Magens durch die Kost wird „auffällig" genannt. Ein Arzt hat mehrere Gefangene erlebt, die nach lOjähriger Anstaltskost „fertig" waren. Gehörstörungen organischer Art wie auch solche des Geruchssinnes sind nicht festgestellt worden. Tuberkulose ist äußerst selten und nicht auf das Konto der langen Strafe zu setzen. Auch Infektionskrankheiten sind trotz des engen Zusammenlebens sehr selten, von einem Arzt sogar seltener als draußen genannt. Die Gewichtskurve liegt immer in Soll-Nähe. Nach dem erschreckenden Tiefstand 1946—1948 hat das Gewicht jetzt in vielen Fällen das Soll überschritten. Dagegen besteht eine Diskrepanz zwischen Ernährungs- und Kräftezustand. Dieser geht nicht parallel mit dem Alter, läßt stärker und schneller nach. Bei sportlichen Übungen treten überraschend schnell Ermüdungs- und Erschöpfungszustände auf. Man muß sich nach einem Spiel ausruhen und fühlt sich schlapp, „als wäre man 1000 km gelaufen". 2. Noch viel seltener sind Schäden geistiger Art. Hier sind es unter 100 Probanden 72, die nichts Auffälliges an sich entdeckt haben. Über Gedächtnisschwäche klagen 13, über Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit 6, über ein Nachlassen aller geistigen Kräfte 3 Probanden. Man muß sich Notizen machen. Die Gedanken verschwimmen; man kann nur halbe Sätze sprechen, macht Fehler in der Orthographie, wird „wuschig", findet nichts in der „5-Zimmer-Wohnung" der Zelle. Man kann kein Buch lesen. Der Versuch, eine Fremdsprache zu erlernen, muß aufgegeben werden. Nach Vs Stunde geht's nicht weiter. Zahlen sitzen erst beim 8. Mal; das Gelesene ist gleich wieder verschwunden; selbst der Kauf der begehrten Zigarettenspitze wurde vergessen. Man verliert den Faden bei der Unterhaltung, verhaspelt sich; vergißt, was man mitnehmen wollte. Kurzum, der „Kopf ist wie ein Sieb". Das Training und der Reiz des täglichen Existenzkampfes fehlen. Die Langstrafigen leben in einer Art geistig-seelischer Dystrophie. Andererseits wird in 6 Fällen — lauter jüngere Gefangene — von einem Wachstum aller geistigen Kräfte berichtet. Auffällig ist die Diskrepanz zwischen den früheren kläglichen Schulleistungen und der jetzigen Urteils- sowie Kritikfähigkeit. Es hat den Anschein, als sei die Intelligenz nach dem Abfall früherer Hemmungen und nach Überwindung pubertärer Schwankungen erst jetzt zur vollen Entfaltung gelangt. — Man trainiert sich durch geregeltes Lesen, Lösung von Rätseln, versucht, Sprachen zu erlernen, beschäftigt sich mit technischen Fragen. 3. Mannigfaltig dagegen ist das Bild der Veränderungen im Sektor des psychischen Lebens. Hier sind es nur 14 von insgesamt 100 Probanden, die von Veränderungen an sich nichts beobachten können. Dagegen klagen 32 über erhöhte Reizbarkeit und stär-
Deformierende Wirkungen der langen Strafen
93
kere Reagibilität. Laute Stimmen sind eine Qual, das Rasseln der Schlüssel ist unerträglich. In der Erregung wird das Hemd zerrissen, das Glas in der Zelle auf den Boden geworfen. Der Anblick der Gitter führt in einen Zustand der Raserei. Man geht schon bei einem als unfreundlich empfundenen Blick „in die Lüfte" und beginnt zu zittern. Schweiß bricht aus. „Es kommt alles hoch". Man muß sich selbst laut zureden und mahnen: „Halt's Maul", um nicht in Konflikte zu geraten. Das Rauschen der Wasserleitung, der prüfende Blick durch den Spion sind eine solche Qual, daß man sich das H a a r rauft, sich „verbuddeln" und am liebsten sterben möchte. Man weint bei jedem Anlaß, schluchzt bis zur Fassungslosigkeit, ist aufgelöst über einen Film, rührselig beim Lesen einer Geschichte, wird das alles nicht wieder los. Schreckhaftigkeit hat sich eingestellt. Das Anschlagen einer Glodte, das Klirren einer Fensterscheibe, das Zischen einer Gasflamme, das Einschalten des Lichtes bringt einen kleinen Schock. Das Gleichmaß der Stimmung ist einer starken Labilität gewidien. Eine große Unruhe kann nur mühsam gebändigt werden; sie spiegelt sich wider in der Physiognomie. Das Zucken auf der Stirn, das ständige „Klimpern mit den Wimpern" kann trotz aller Anstrengung nicht gemeistert werden. Minderwertigkeitsgefühle können neurotische Formen annehmen. Gramgebeugt über die „Schande", wagt man nicht ans Fenster zu treten oder an die Angehörigen zu schreiben. Das Anziehen der Zuchthauskleidung kostet Tränen. D a ß man nunmehr zum „Abschaum" der menschlichen Gesellschaft gehört, ertötet den letzten Rest von Selbstvertrauen. Man möchte niemanden sehen und von niemanden gesehen werden, sich verstecken, vergraben oder ins Wasser springen. In 17 Fällen wachsen sich die Minderwertigkeitsgefühle zu ständig wiederkehrenden Depressionen aus, die sich bis zu Suizidneigungen steigern können. Der Kopf „platzt vor Gedanken", deren „Ansturm" man nicht mehr gewachsen ist. Man heult oft die ganze Nacht hindurch, leidet an schwerer Schlaflosigkeit und sieht schließlich die Sonne nicht mehr. Die Decke fällt auf den Kopf, die Wände erdrücken; kurzum, man fühlt sich „seelisch schwer krank". Ständig plagt Angst vor schwerer Krankheit: Krebs könne den Körper zerstören, ein Schlaganfall dem Leben ein Ende machen, ehe die heißersehnte Freiheit erreicht ist. Eine Art Torschlußpanik breitet sich aus. Andererseits sind „wahnsinnige Kopfschmerzen" ebenso wie asthmatische Beschwerden „wie auf den Knopf gedrückt" verschwunden bei der Aussicht auf eine Wendung der Angelegenheit und damit als psychogen erwiesen. Angst wurde festgestellt bei 6 Probanden, die sämtlich auf der weiblichen Seite zu finden sind. Sie stellt sich ein bei jedem Geräusch und steigert sich bis zur Atemnot. Der Hals ist „wie zugeschnürt". „Ich fürchte die Welt und die Menschen". Eine Probandin hat lähmende Angst vor dem Tag der Entlassung; sie würde lieber in der Anstalt bleiben, sogar eine Lebenslängliche an ihrer Stelle herausgehen lassen, um die schwere Sorge vor der Rückkehr ins Leben loszuwerden. Noch immer unter dem Eindruck der T a t stehend, spürt eine zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Mörderin gleichsam einen Ring ums Herz gelegt. Sie sieht zuweilen tagtraumartig beim Lesen mitten auf der Seite den ganzen Tathergang. Dabei wird sie von schweren Angstgefühlen gepeinigt, muß weinen bis zur Fassungslosigkeit und möchte laut schreien.
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Wandlungen während der langen bzw. lebenslänglichen Strafe
Dozent Dr. Pakesch1 aus der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik der Universität Graz berichtet von Testuntersuchungen, die unter anderen bei einer Gruppe von 20 wegen Mordes verurteilten Probanden vorgenommen worden sind. Von diesen befinden sich 5 bereits seit 8 Jahren in der Strafanstalt, die anderen wesentlich kürzere Zeit bis herab zu weniger als einem Jahr. Der Verfasser zeigt, daß die im Anfang der H a f t noch vorherrschende ungebrochene Affektivität mit der Tendenz zu primitiven Gewaltlösungen nach mehrjähriger Haftdauer bereits von anfallsartig auftretenden Angstzuständen sogar schon mit Bildern der Panik abgelöst wird, während schließlich bei langer Haftdauer das Bild der paranoischen Angst vorherrscht. Pakesch stellt fest, daß die Möglichkeit, einen asozialen Gewaltverbrecher durch eine langjährige Kerkerstrafe zu einem anpassungsfähigen Menschen erziehen zu können, nicht gegeben zu sein scheint. Es gelinge lediglich eine Scheinanpassung, die in keiner Weise zu einer Änderung oder Reifung der unangepaßten Persönlichkeit führe. Deshalb sei auch die vorzeitige Entlassung eines Häftlings wegen guter Führung in der Strafanstalt problematisch.
In einem Fall hat sich ein leichter Begnadigungswahn entwickelt. Die zu lebenslanger Zuchthausstrafe Verurteilte, 59 Jahre alt, 11 Jahre in Haft, projiziert ihre heißen Wünsche und Sehnsüchte um die Begnadigung in die Umwelt und läßt sie von dort als angebliche positive Erklärungen maßgebender Personen über den günstigen Stand ihrer. Angelegenheit wieder auf sich zukommen. Ihre Äußerungen sind korrekturunfähig geworden und zeigen schizoide Verhärtung.
§ 4
Derzeitiges
Zustandsbild
und
Prognose
Die längste ununterbrochene Strafverbüßung erstreckt sich beim Abschluß dieser Studie über 13 Jahre. Nur bei Einbeziehung von Vorstrafen aus früherer Zeit ergeben sich größere Zeiträume. Eigene Beobachtungen über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren waren noch nicht möglich. Das 15. Jahr spielt in der Gedankenwelt und den Berechnungen der Anstaltsinsassen eine bedeutsame Rolle. Um dasselbe ranken sich viele Hoffnungen auf Begnadigung. Sehr wahrscheinlich wird das Bild der innerseelischen Situation bei vielen Gefangenen in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts der Verbüßung wesentlich anders sein als heute. Liepmann* hat schon 1912 drei Stadien der Entwicklung unterschieden. Nach Überwindung von Erregung und Depression folgt eine Phase des oft erfolgreichen Kampfes gegen die zerstörenden Kräfte des Zuchthauses. Das dritte Stadium, beginnend nach der Verbüßung von etwa 20 Jahren, ist gekennzeichnet durch ein Abflauen der guten Affekte. Resignation, Stumpfheit, Gefühllosigkeit greifen um sich. Aus Menschen werden Maschinen und schließlich Ruinen. Es erwachsen eine immer tiefer greifende Unschuldssophisterei und ein präseniler Begnadigungswahn. Diese Phase ist noch nicht erreicht. Alle Probanden stehen zur Zeit in einem Stadium, in welchem nach Liepmann „die Hoffnung auf spätere Begnadigung vor dem Zusammenbruch bewahrt". Das heute noch relativ günstige Bild ihres Zustandes muß deshalb mit Zurückhaltung aufgenommen werden und wird voraussichtlich in nicht allzu ferner Zeit Veränderungen erfahren. * Liepmann, buch.
Über die Todesstrafe im künftigen deutschen und österreichischen Strafgesetz-
1 Pakesch, Der Einfluß des Strafvollzuges auf die Psyche des Häftlings. M. Schrift KrimStrReform 1961, Heft 3/4.
Derzeitiges Zustandsbild und Prognose
95
Die subjektive Darstellung der in verschiedenen Phasen verlaufenden inneren Entwicklung, bis zu einem gewissen Grad objektiviert durch Haltung und Leistung, zeigt, daß die Klärung der innerseelischen Situation je nach Charakterstruktur und Einstellung verschieden lange Zeit braucht. Als solche Fristen werden Zeiträume von 3 bis 12 Jahren genannt. Andererseits sind deformierende Wirkungen schon jetzt nach 13jähriger Verbüßung nicht zu übersehen: körperliche Schäden, Störungen der mentalen Fähigkeiten, vor allem aber Neurosenbildung. Ob schon vor dem Eintritt in das Gefängnis eine neurotische Haltung oder zum mindesten eine Disposition vorlag, ob und wieweit diese schon Ursache der Tat war, läßt sich im einzelnen nicht mehr feststellen. D a ß sie, falls sie vorhanden war, im Regelfall eine wesentliche Verschärfung erfahren hat, dürfte außerhalb jeden Zweifels stehen. Wachsende Kontaktstörungen, psychogene körperliche Beschwerden, Affektlabilität, Vereinsamung nach Beschränkung der Kontakte mit der Außenwelt, Minderwertigkeitsgefühle, Stillstand des „Motors in sich selbst" wegen Verbots der eigenen Initiative und Entschlußfreiheit, die Unmöglichkeit, den Drang nach Wiedergutmachung zu befriedigen, Depressionen, Verbitterung, Rache- sowie Aggressionsgelüste, Angst und beginnende Psychose sind aufgetreten, infiltrieren die Persönlichkeit und üben einen immer tiefer greifenden Einfluß in schädigendem, pathologisierendem Sinne aus. Noch funktioniert der psychische Organismus leidlich trotz der „Tiefkühl-Situation" des Gefängnisses, weil Hoffnungen und Pläne gehegt werden. Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit aber kann die Prognose gestellt werden, daß beim Scheitern derselben „die fast menschliche Kreatur" (Köstler) des Gefangenen absinkt „zur Maschine und schließlich Ruine" (Liepmann).
IV Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers INHALTSÜBERSICHT Seite
A. Homosexuelle vor und nach der Bestrafung Einleitung § 1
Problemstellung
§ 2
Untersuchte Personen und Methode der Untersuchung
Kapitel
99
I. Das Elternhaus
100 101
§ 3
Der Vater
101
§ 4
Die Mutter
102
§ 5
Die Geschwister
102
§ 6
Die Großeltern und Verwandten
103
Kapitel
II. Die eigene Entwicklung
104
§ 7
Kindheit und Früherinnerungen
104
§ 8
Schule und Beruf
105
Kapitel
III.
Das gegenwärtige
Erscheinungsbild
106
§ 9
Die Körperkonstitution
106
§ 10
Das psychische Erscheinungsbild
107
IV. Die sexuelle Entwicklung
109
Kapitel § 11
Erlebnisse mit dem weiblidien Geschlecht
109
§ 12
Homosexuelle Betätigung
111
§ 13
Entwicklung der Homosexualität und Einstellung zu ihr
113
Kapitel V. Die Behandlung der Homosexualität
115
§ 14
Die forensische Verfolgung gemäß § 175
115
§ 15
Zusammenfassung
117
B. Sittlichkeitsverbrecher allgemein vor und nadi der Entmannung
7 Ohm
99 99
119
§ 16
Tötungen
119
§ 17
Notzucht
121
§ 18
Sadismus
123
§ 19
Exhibitionismus
125
§ 20
Kindersdiändung
128
§ 21
Homosexualität
130
§22
Zusammenfassung
131
A . Homosexuelle v o r u n d nach der Bestrafung EINLEITUNG § 1
Problemstellung
Schon in der Abhandlung über die Untersuchungshaft* wurde darauf hingewiesen, daß die Häftlinge, welche gegen § 175 verstoßen haben, eine besondere Kategorie bilden. Sie sehen keine Veranlassung, in eine innere Auseinandersetzung zu gehen, bestreiten auch das Recht, sie zu bestrafen. Ihre Taten erscheinen ihnen als schicksalsmäßig aufgezwungen. Deshalb erwarten sie, daß diese in der sozialen Wertung wesentlich anders beurteilt werden als andere Verbrechen. Die nunmehr folgenden Ausführungen** sind unter dem Eindruck eines Notstandes niedergeschrieben worden. In den Jahren vor dem letzten Weltkrieg und zu Beginn desselben bevölkerten Scharen von Homosexuellen das Zellengefängnis von Berlin. Es gab Zeiten, wo sie ein Drittel bis zur Hälfte aller Zugänge ausmachten. Ihre Unterbringung und Betreuung stellte die Anstaltsverwaltung zuweilen vor schwierige Aufgaben. Sie mußten wegen ihres Delikts sorgsam voneinander getrennt und isoliert untergebracht werden. Diese Isolierung wiederum führte in manchen Fällen zu schweren Depressionszuständen und Suiziden Neigungen, die es aufzufangen galt, und die mitunter das Hinzulegen von Zellengenossen notwendig machten trotz der Bedenken, die dieser Maßnahme entgegenstanden. Viel sorgfältige Beobachtung und seelische Betreuung waren erforderlich, um sie durch die krisenhaften Phasen der Untersuchungshaft hindurchzubringen. Die ungeklärte innerseelische Lage dieser Gefangenen, die nicht wußten, ob sie sich schuldig oder unschuldig fühlen sollten, ihre Ratlosigkeit wegen der weiteren Entwicklung zwangen zu einer genaueren Befassung mit ihrer Angelegenheit. Dazu kam die Verschiedenartigkeit der Urteile und der Urteilsbegründungen, die neue Nöte brachten und zu dem Schluß auf Unklarheiten und Unsicherheiten um die hier vorliegende Problematik zwang. * Vgl. Teil I, § 6, Abs. 6. ** Das hier verarbeitete Material stammt aus dem Zellengefängnis in Berlin und wurde gesammelt in den Jahren 1 9 3 8 — 1 9 4 5 . 7*
100
Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Die folgende Studie erhebt keineswegs den Anspruch auf eine erschöpfende Auseinandersetzung mit dem mehrseitigen, breit verästelten, in einer umfangreichen Literatur abgehandelten Problem der Homosexualität; im Blick auf das Generalthema: „Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug" will sie lediglich eine aus der Empirie stammende Beschreibung der Entwicklung und des Erscheinungsbildes dieser Kategorie von Gefangenen bringen, deren Behandlung im Untersuchungs- und Strafgefängnis mancherlei Not bereitete. Auf die Darstellung des psychischen Erscheinungsbildes und später auf die durch Verurteilung und Strafvollzug hervorgerufenen Wirkungen wurde das Schwergewicht gelegt. Das Ergebnis möchte Unklarheiten beseitigen helfen und zu neuer Stellungnahme anregen. § 2
Untersuchte
Personen
und Methode
der
Untersuchung
a) Beobachtet wurden über einen längeren Zeitraum alle die Untersuchungsgefangenen, die unter der Anklage eines Vergehens gegen den § 175 standen. Im Laufe von mehreren Jahren wurden 200 Fälle erfaßt. Unter ihnen befinden sich alle Berufe: Ärzte, Lehrer, Schauspieler, Kaufleute bis hinab zum Gelegenheitsarbeiter. Alle Altersstufen sind vertreten vom 60jährigen Greis bis zum 18jährigen Jüngling. Neben dem Hochintellektuellen steht der Schwachsinnige. Audi zwei Sterilisierte und ein Kastrierter fanden Aufnahme. Der Stumpfe, Gleichgültige blieb genau so unter Beobachtung wie der Gesprächige, Aufgeschlossene, dessen Besuch jedes Mal ergiebig war und reiche Ausbeute bradite. b) Die Probanden wurden alsbald nach ihrer Einlieferung aufgesucht. Gewöhnlich waren sie von der Verhaftung stark schockiert und ergriffen gern die Gelegenheit zu einer entspannenden Aussprache. Weitere Besuche schufen allmählich eine so starke soziale Intimität, daß auch die Erörterung der delikaten Dinge, die zur Verhaftung und Anklage führten, möglich wurde, wobei selbstverständlich eine letzte Zurückhaltung nie außer acht gelassen wurde. N u r ein einziger unter den 200 Probanden lehnte jede Aussprache ab. Er fürchtete, sidi durch eine solche zu schaden, und hatte eine unüberwindliche Scheu vor dem Beamten der Anstalt. Alle anderen gaben nicht nur bereitwilligst Auskunft, sondern arbeiteten aktiv mit, weil sie das Gefühl hatten, daß ihnen geholfen werden sollte. Die Unterredungen verliefen zwanglos, so daß die Probanden nie das Gefühl haben konnten, ausgefragt und untersucht zu werden. Der Gegenstand der Unterredung war allerdings vor derselben sorgsam durchdacht und festgelegt worden. Schriftliche Fixierungen erfolgten nachher, um nicht die Ursprünglichkeit der Meinungsäußerung einzuengen oder gar lahmzulegen. Erfragt wurden die Beziehungen zum Vater, zur Mutter, zu dem Geschwisterkreis, Lehrern, Mitschülern und etwaigen Freunden. Angaben über Kindheit und Früherinnerungen wurden festgehalten. Der Verlauf der Schulzeit, die Berufsausbildung sowie die Entwicklung der Sexualität wurden durchgesprochen, über erbliche Belastung, Krankheiten und Leiden Ermittlungen angestellt. Die Einstellung zur eigenen Homosexualität, Einsicht und Heilungswille wurden geklärt. Nach der Freizeitgestaltung, den besonderen Neigungen und Interessen wurde Nachfrage gehalten. Die Verhaltungsweisen während der oft langen Untersuchungshaft erfuhren eine sorgfältige Beobachtung. Alle diese Züge
Der Vater
101
wurden zusammengetragen, um zu einer umfassenden, möglichst genauen Charakterisierung der Persönlichkeit zu gelangen. Der allgemeine körperliche Habitus konnte nur bei äußerer Betrachtung in bekleidetem Zustand festgestellt werden. Gleichzeitige genaue medizinische Untersuchungen waren nicht durchführbar. Die gewonnenen Angaben wurden überprüft und ergänzt oder berichtigt durch die Ausführungen der Anklageschrift und des Urteils. Aussagen der Angehörigen sowie Berichte von Fürsorgestellen brachten eine wertvolle Abrundung des Bildes. c) Das in jahrelanger Arbeit gesammelte umfangreiche Material erfuhr eine, schmerzliche Beeinträchtigung durch die weitgehende Zerstörung der Anstalt infolge eines Fliegerangriffes. Die Fälle waren gesondert nach ihrer Ergiebigkeit aufbewahrt. Unter ihnen wurden die weniger ertragreichen — die Mehrzahl — ein Raub der Flammen. Erhalten blieben die ertragreichen Fälle nebst Auszügen über psychische Besonderheiten auch der anderen. Soweit Auszählungen in den folgenden Ausführungen vorgenommen sind, beziehen sie sich auf das erhalten gebliebene Material (auf 75 Fälle). Bei der Schilderung der Persönlichkeiten liegen jedoch die Beobachtungen an dem gesamten Kreis der Probanden zugrunde. KAPITEL,
i
Das Elternhaus § 3
Der
Vater
a) Vorherrschend ist das Bild des harten Vaters, zu dem der Sohn keine rechte Stellung gewinnt. Unter den 75 Probanden begegnet er uns 35 mal. In den leichteren Fällen wird er zwar noch „ganz ordentlich" mit einem Unterton der Fremdheit genannt oder sehr ernst und kühl ohne die Fähigkeit des Mitgehens mit den Interessen und Neigungen des Kindes. Aber deutlich erkennbar wird schon hier der zu weite Abstand zwischen Sohn und Vater, vor dem man nur Respekt hatte, dem man sich nicht anzuvertrauen wagte. Übertriebene Pedanterie des Beamten, für den auch die leiseste Unregelmäßigkeit nicht nur im beruflichen, sondern auch im häuslichen Leben unerträglich ist, Steifheit und Befangenheit im Lebensstil einer bestimmten Gesellschaftsordnung, übersteigertes Ehrgefühl, dem der Gedanke an eine Beschmutzung des Familiennamens eine Qual ist, führen zur Entfremdung. Wenn dann noch der Sohn berufliche Neigungen entwickelt, die denen des Vaters völlig entgegengesetzt sind, so bildet sich schnell eine Lage heraus, in der man „auf Hauen und Stechen" steht. Es herrscht eine ständige Spannung, die zum dauernden Bruch führt, sobald der Vater die Unterordnung unter die eigenen Wünsche verlangt. Häufig wird er als gereizt, leicht erregbar geschildert. Er erlaubte gar nichts, sondern sagte grundsätzlich „nein". Ständig ging er bitterböse einher, irgendeine Freude kam nicht auf. Seine Art, sein Verhalten reißt tiefe Wunden und wird als katastrophal empfunden. Die Reizbarkeit steigert sich zum Jähzorn. Er schlug drein, schlug, wo es hintraf, prügelte mörderisch, hatte sadistische Anwandlungen, schlug noch auf den ^ j ä h rigen Sohn ein, versuchte sogar den 22jährigen zu verprügeln, bekam Tobsuchtsanfälle. Zuweilen mußte die Mutter dazwischentreten, um Schlimmstes zu verhüten. Der schwächliche Sohn ist ihm ein D o m im Auge.
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbreäiers
In 6 Fällen w i r d v o n schwerer Trunksucht berichtet. Betrunken u n d krakeelend k o m m t er nach H a u s e . Den spät nachgeborenen Sohn verflucht er. Von dem verrohten Vater trennt sich die Familie, er selber geht verschollen. Sein T o d w i r d als ungeheure Erleichterung e m p f u n d e n . b) Selten erscheint der weiche Vater. N u r bei 7 P r o b a n d e n l ä ß t sich feststellen, d a ß sie ausschließlich an den Vater gebunden sind u n d in offener Ablehnung zur M u t t e r stehen. Er w i r d geschildert als Seele von Mensch, bereit, jeden Wunsch zu erfüllen, voll Engelsgeduld, den Sohn als seinen ausgesprochenen Liebling bei jeder Gelegenheit bevorzugend. Er w i r d deshalb „im Ü b e r m a ß geliebt", auch angedichtet, sein T o d als eine A r t Weltuntergang e m p f u n d e n . W e n n er gar als „ f a b e l h a f t , unique, als ein W u n d e r " geschildert w i r d , so tritt d a r a n das Neurotische der Vater-Sohn-Beziehungen deutlich in Erscheinung. § 4
Die
Mutter
a) D e m h a r t e n Vater korrespondiert die weiche Mutter. Sie erscheint noch ö f t e r als er (44 mal). Sie ist „sehr gütig, sehr herzlich, die Liebe selbst, die Friedenspalme, das Ein u n d Alles, das Beste, was m a n hat, M u t t e r im w a h r e n Sinn des Wortes". Sie verw ö h n t das K i n d , verhätschelt es, steckt ihm alles zu, n i m m t den Sohn w ä h r e n d des Winters 85 mal mit ins Theater. Infolgedessen steht m a n der M u t t e r sehr nahe, m a n f ü h l t sich aufs stärkste an sie gebunden, ist z u m „Nesthäkchen", z u m Verzug geworden. Alles d r e h t sich u m sie, ihr Anblick macht f r o h u n d weich. I n jedem Fall w i r d ihre besondere Weichheit hervorgehoben; das „arme Hascherl", das so seelensgut ist, weint leicht. D e r sehr eng an sie gebundene Sohn bringt es sogar fertig, ihretwegen v o n H a u s e fortzugehen, damit sie nicht wegen ihrer falschen Einstellung z u m K i n d e i m m e r f o r t v o m Vater gerügt wird. I h r T o d ist eine K a t a s t r o p h e u n d w i r d mit lautem Schreien aufgenommen. Er n a h m alles, brachte eine starke Gewichtsabnahme, f ü h r t e zur völligen Auflösung. M a n möchte sie noch heute aus dem G r a b e holen. b) Wesentlich häufiger als der weiche Vater erscheint die harte M u t t e r , die uns 15 mal begegnet. Sie ist düster u n d schweigsam, k u r z angebunden, nervös u n d erregbar, voll von übertriebener Akkuratesse, von südländischem T e m p e r a m e n t , zänkisch, hysterisch, leistet immer Widerstand, versteht fantastisch, jeden Lebensmut zu nehmen. I h r erscheinen die K i n d e r als „unliebsames Anhängsel", als Blitzableiter. D e r Sohn macht große Umwege, u m ihr nicht zu begegnen, t r a u t sich nicht nach Hause. Sie sprach o f t wochenlang nicht, drohte mit Selbstmord, n a h m den Strick, was jedes Mal große A u f regung gab. Nicht selten schlug sie mit allem, was ihr gerade in die H a n d fiel. Infolgedessen v e r b l a ß t ihr Bild gegenüber dem des Vaters, m a n empfindet gegen sie eine starke Abneigung, in einem Fall sogar „entsetzliche Angst". c) In den übrigen Fällen steuern beide Elternteile die gleiche Linie dem K i n d e gegenüber. Auch hier sind die gleichen Fehlhaltungen des zu h a r t - u n d zu weich Seins zu beobachten. § 5
Die
Geschwister
Überraschend ist ein Blick auf die Stellung in der Geschwisterreihe. N u r 12 unter 75 P r o b a n d e n nehmen den P l a t z des Ältesten ein. Von diesen wiederum steht nur einer
Die Großeltern und Verwandten
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an der Spitze eines großen, 13 Köpfe umfassenden Geschwisterkreises, der in den übrigen Fällen nicht mehr als 3 oder 2 Kinder umfaßt. Den 12 Ältesten stehen 37 Jüngste gegenüber. Auch hier sind große Geschwisterkreise mit 14, 13, 9, 7, 6, 5 und 4 Kindern zu verzeichnen. Freilich überwiegt gleichfalls der kleine Kreis, der sich auf 3 oder 2 Köpfe beschränkt. Neben den Jüngsten tritt der Einzige, der 16mal erscheint. Die übrigen stehen an verschiedenen Stellen des Geschwisterkreises. 4 erblickten in unehelicher Geburt das Licht der Welt. 3 von ihnen bekamen später Stiefväter, während nur einer im Waisenhaus aufwuchs. 2 wurden als Zwillinge geboren, deren Partner angeblich „in Ordnung" waren. In 2 Fällen wuchs nach dem frühen Tod der Mutter die älteste Schwester in die Mutterrolle hinein. Beide Male war sie allzu gütig. Man lebte wie „Liebesleute". In den Beziehungen der Geschwister sind besondere Auffälligkeiten nicht zu melden. Er herrscht herzliches Einvernehmen; sie hängen aneinander und helfen sich. Allerdings gab es schon vor der Verurteilung zuweilen Spannungen wegen der verschiedenen Charakteranlagen. Ein Proband berichtet, daß er die Geschwister gemieden habe, da sie zum „derben Schlag" gehörten. Ein Geschwisterkreis spaltet sich, die Schwestern halten weiter zu dem Verurteilten, während der Bruder sich distanziert. In einem anderen Falle antwortete der Geschwisterkreis auf die Verurteilung mit dem Abbruch der Beziehungen. Auch die Lieblingsschwester konnte nicht verzeihen und verstummt. § 6
Die Großeltern
und
Verwandten
Es war schwer, sichere Angaben über die Großeltern zu erlangen. Ihre Abwegigkeiten sind im Regelfall von den Eltern vor den Kindern sorgfältig verschwiegen worden. Deshalb wissen sehr viele Probanden nichts von den Großeltern. Auch die Rückfrage bei anderen noch lebenden Familiengliedern blieb sicherlich aus dem gleichen Grunde weithin erfolglos. Eingeholte Auskünfte gaben gleichfalls wenig Aufschluß. Nur in einzelnen Fällen liegen noch dunkle Ahnungen vor: „Es war etwas nicht in Ordnung, es sind dumme Geschichten vorgekommen". 32 Probanden geben ihre Großeltern als einwandfreie, ehrenwerte Menschen aus, während sich in 17 Fällen erhebliche Belastung feststellen ließ. Erzählt wird von völligem beruflichen Versagen des Großvaters, der seine Familie nicht ernähren konnte, ein „Waschlappen" war, gänzlich verwildert als Schrecken der Kinder in einer Höhle hauste, bis er verschwand auf Nimmerwiedersehen. In der Erinnerung haften geblieben ist die Eigenartigkeit des einen oder des anderen Großelternteiles, ihre große Heftigkeit und Erregbarkeit, andererseits auch ihre Schwermut, die zum Selbstmord führte. In 7 Fällen wird von schwerer Trunksucht berichtet, in 3 vom Aufenthalt in Irrenanstalten. Epilepsie und Größenwahn treten je einmal in Erscheinung. Von der Großmutter heißt es ein Mal: „Sie hatte das zweite Gesicht". In einem anderen Fall gab der besorgte Vater auf dem Sterbebett dem gefährdeten Sohn Aufschluß über Zusammenhänge, die bis dahin Familiengeheimnis waren. Die Großmutter, die „nichts als Verrücktheiten" begangen hatte und mit 6 0 Jahren ins Irrenhaus kam, hat mit einer anderen verheirateten Frau ein Verhältnis gehabt. Ein anderer Vater vertraute dem Sohn an, daß sein (des Vaters) Bruder wegen homosexueller Neigungen nach Amerika ausge-
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Wandlungen des Sittlidikeitsverbrediers
wandert sei und sich dort das Leben genommen habe, daß seine Schwester Lesbierin gewesen sei. In 2 Fällen ließ sich homosexuelle Betätigung auch im Geschwisterkreis, ein Mal im Kreise der Vettern feststellen. K A P I T E L II Die eigene Entwicklung § 7
Kindheit
und
Früherinnerungen
a) Den Charakteren der Eltern entsprechend ist die häusliche Atmosphäre, in der die Kinder aufwuchsen. Sie wird genannt von mehr als der H ä l f t e der Probanden kühl, aber gesund, befriedigend, harmonisch, friedlich, wohltemperiert, günstig, sachlich. Es war nichts auszusetzen, es gab kein böses Wort. Friedevoll, wenn auch religiös übersättigt, heißt es zweimal. In gesteigerter Form wird das Zusammenleben der Eltern als sehr schön geschildert. Einer spricht von goldener Kindheit, ein zweiter von „märchenh a f t schönen Kindheitstagen". Nahezu die H ä l f t e der Probanden dagegen erinnert sich ungern der häuslichen Atmosphäre. In den leichteren Fällen heißt es: Sie war kontaktlos, ungemütlich, bedrückt, verdüstert, so daß man nie Sehnsucht nach Hause hatte. Die unter sich zerfallenen Eltern lebten jeder für sich. Es war kein Friede, oft gab es Wortwechsel. Die vielen Auseinandersetzungen wuchsen sich bei großer Erregbarkeit zu schwerem Krach aus. Die Uneinigkeit der Eltern lag wie ein schwerer Albdruck auf den Kindern. Die Atmosphäre war dauernd angstgeladen, spannungsreich, es herrschte ständige Gewitterstimmung. In zwei Fällen wird von einer Strindberg-Ehe der Eltern gesprochen. Bei ihrer Trennung heulte der Proband Tag und Nacht vor Scham und Angst. b) Die häusliche Atmosphäre spiegelt sich wieder in den Früherinnerungen. Die Behaglichkeit des Zuhause erscheint in den Erinnerungen an schöne Weihnachtsfeiern, geschmackvoll gedeckten Kaffeetisch, behaglich im Ofen prasselndes Feuer. Zwei Vierjährige sinnen bereits über der Problematik des Weltalls. Sie schauen vom Balkon zum sternenklaren Himmel auf und machen sich Gedanken über den Ursprung aller Dinge. Bei beiden lösen diese Fragen Angstgefühle aus. Ein furchtbares Erlebnis war es f ü r einen Zehnjährigen, als beim Ausleeren von Mülleimern maskierte Menschen in der Faschingszeit auf ihn zukamen. Voll Entsetzen warf er die Eimer hin und entfloh. Das Erlebnis hat ihn lange Zeit nicht losgelassen. Eine starke Bewegung löste der Anblick der ersten Toten, eines 7jährigen Mädchens aus. Das weiße Kleid, das wächserne Gesicht machten nachhaltigen Eindruck. Ein rätselhafter Trieb zog den Probanden nun immer wieder auf den Friedhof, wo er Grabsteine zu studieren versuchte. Eine Phobie erlitt ein Achtjähriger, als er beim Baden eine weibliche Wasserleiche an sich vorbeischwimmen sah. Sein Entsetzen war so groß, daß er Tage hindurch krank war und Fieber hatte. Dazu gesellte sich eine schwere Gewitterangst, als er einen Kirchturm durch Blitzschlag in Flammen aufgehen sah. Die wilden Szenen zu Hause, die schweren Konflikte zwischen den Eltern spiegeln sich in zahlreichen Früherinnerungen wider. Der nachts ständig betrunken heimkehrende Vater beschattet alle anderen Kindheitserinnerungen. Er brüllt den Sohn an und
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Schule und Beruf
schleudert ihn in einem Wutanfall fast bis an die Decke. D e r zu spät nach Hause kommende Fünfjährige wurde von der Mutter schwer mißhandelt und mit Füßen getreten, so daß der Vater sich ins Mittel legen mußte. Das wutverzerrte Gesicht der Mutter hat er nie vergessen; von dieser Stunde datiert sein H a ß gegen sie, den er Zeit seines Lebens nicht mehr überwinden konnte. Einem Probanden drängt sich als Früherinnerung die Szene auf, wie die Mutter vom Vater schwer geschlagen wurde, dabei aber die Rolle der stillen, duldsamen Sklavin spielte. Ein anderer, der die gleiche häusliche Atmosphäre atmen mußte, erinnert sich der Sehnsuchtstränen, die er vergoß, als er sah, wie die Nachbarsfrau ihren Sohn streichelte. D a ß endlich der Achtjährige, der die vom Vater ermordete, mit durchschnittener Kehle in einer Blutlache liegende Mutter anschauen mußte, diesen Anblick nie wieder vergessen kann, ist verständlich. § 8
Schule und
Beruf
a) An der Schulzeit sind in diesem Zusammenhang nicht so sehr die geistigen Leistungen bedeutsam. D i e Ausstattung mit intellektuellen Fähigkeiten bietet ein sehr buntes Bild. V o m Hochbegabten, der in der Volksschule mühelos die oberste Klasse erreichte, um dann Gymnasium und Universität zu besuchen, bis zum Schwachsinnigen, der auch in der Hilfsschule nicht weiterkam, erstreckt sich die weite Spanne der Begabungen. Auch das Interesse für die einzelnen Unterrichtsfächer ist mannigfaltig. Das bis dahin normale Bild erfährt aber eine völlige Veränderung, wenn wir den Schüler in den Beziehungen zu seinen Mitschülern betrachten. Nahezu zwei Drittel der Probanden (48 von 7 5 ) bekennt rückblickend, während der Schulzeit ein Einsiedlerleben geführt zu haben. M a n hatte nur ganz geringen K o n t a k t , w a r gern allein, lebte ganz zurückgezogen.
„Mimosenhafte
Scheu"
ließ es ratsam
erscheinen, im
eigenen
Schneckenhäuschen zu bleiben. Schüchternheit und Weinerlichkeit verbieten Annäherungsversuche an die Mitschüler. Eigene melancholische Anwandlungen sind diesen wiederum unverständlich und werden abgelehnt. So kommt es zu keinen Freundschaftsbildungen. D e r Eigenbrötler steht außerhalb der Klassengemeinschaft. Durch seine Absonderlichkeiten zieht er den Spott der anderen auf sich. B a l d spielt er die Rolle des „ O p a " oder des „häßlichen Entleins". D a ihm Rauflustigkeit zuwider ist, setzt er sich nicht zur Wehr. Versuche der Lehrer, ihn in die Gemeinschaft einzuschmelzen und Freundschaften zu vermitteln, bleiben erfolglos. D e r schwächliche Schüler sondert sich von den „Radaujungen" ab und spielt lieber mit Mädchen oder bleibt zu Hause. Die ganze Schulzeit wird als Albdruck empfunden, der harte Lehrer als „Widerling", als „Psychosadist". N u r in 2 0 (von 7 5 ) Fällen gelingt es dem Probanden, ein Kameradschaftsverhältnis zu seinen Mitschülern zu bilden. Zu Freundschaften treibt es ihn nicht, er hat keinen „Primus" unter den Bekannten. Auch die dem Mitschüler gehaltene Kameradschaft ist kein Herzensbedürfnis, sondern nur eine Zweckmäßigkeitsüberlegung. M a n hofft, auf diese Weise die Schwierigkeiten zu vermeiden, die eine Isolierung mit sich bringt. Zwei Probanden waren bereits während der Schulzeit in homosexuelle Beziehung zu M i t schülern getreten. N u r 5 unter den 75 berichten von einem warmen, mühelos hergestellten K o n t a k t zur Umwelt. I m übrigen dominiert die Tendenz zur Isolierung und zum Rückzug von der Gemeinschaft. b) Das Berufsleben zeigt eine deutliche Tendenz zum Ausweichen vor Schwierigkeiten. Auffällig ist das Fehlen eines stabilen Lebensaufbaues. Mehr als die H ä l f t e aller
106
Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Probanden (42 von 75) hat gar keine innere Beziehung zu einem Beruf. Wahllos wird die Tätigkeit gewechselt, ohne jede Hemmung eine auch gänzlich anders geartete Beschäftigung übernommen. Ein und derselbe Mann ist bald bei einer Bank, bald bei der Post, bald in einer Druckerei tätig. Schnell wandelt sich der Dentist zum Inspektor, danach zum Rechnungsführer, der beginnende Theologe zum Juristen und Hotelführer, der Laborgehilfe zum Artisten, der Fahrstuhlführer zum Sänger und Schauspieler. Oft besteht eine starke Spannung zwischen dem erlernten und dem eigentlich gewünschten Beruf. Ein Proband beginnt das juristische Studium, ohne zu wissen, was es bedeutet. In abnorm starker Bindung an die Eltern erfüllt er deren Wunsch, einen studierten Sohn zu haben. Nach Absolvierung des Doktorexamens wirft er das als Ballast empfundene Wissen über Bord und wird Schauspieler. Die Kraft, seine Berufswünsche auf direktem Wege durchzusetzen, fehlte ihm. Nur eine Minderheit ist fest verwurzelt in ihrem Beruf und übt ihn mit Freudigkeit aus. Beträchtlich ist der Anteil der Musiker und Künstler. Vom Imitator und Artisten über den Tänzer und Sänger bis zum hochqualifizierten, in bekannten Kapellen spielenden Pianisten, Schauspieler und schließlich Theaterleiter zieht es sie immer wieder zur Bühne. Der Melancholiker spielt mit Vorliebe lustige Rollen, der Astheniker tritt als Held auf. Nach dem Motiv für diese Rollen befragt, erklärt ein Proband: „Dann bin ich nicht mehr ich". Die Identifizierung mit der gewählten Rolle deckt die eigene Unzulänglichkeit zu und kompensiert das Minderwertigkeitsgefühl. Wenigstens in der Welt der Bretter kann man wie die anderen lustig sein und Taten ausführen, die das Selbstwertgefühl befriedigen. Schroff abgelehnt wird das Soldatische. Die straffe Zucht, die bloße Numerierung, die körperliche Beanspruchung werden als unerträglich empfunden. Jeder Soldat gilt deshalb als „abgebucht". KAPITEL
III
D a s gegenwärtige Erscheinungsbild § 9
Die
Körperkonstitution
Unter den Probanden sind sämtliche Körperbautypen vertreten. 31 unter 75 sind ausgesprochene Astheniker. Man fühlt sich zurückgeblieben, kann aus Schwäche nicht am Fußballspiel teilnehmen, auch keine schwere Arbeit leisten. Krankheiten halten die Entwicklung auf und machen arbeitsuntüchtig. Nervenzusammenbrüche haben Zittern und Weinkrämpfe zur Folge. Organminderwertigkeit wie Blindheit auf einem Auge, Schwerhörigkeit auf einem Ohr, ein gelähmter Arm, ein lahmes Bein, engt ein und übt Wirkungen aus auch im psychischen Überbau. Etwa die gleiche Anzahl ist dem Typ der Leptosomen einzureihen. Diese festere körperliche Konstitution ermöglichte den Militärdienst, wenn sie auch nur mühsam eine mehr oder minder starke psychische Labilität verbirgt. 10 Probanden sind als pyknisch-athletische Mischform anzusprechen. In ihrer noch zu schildernden psychischen Haltung unterscheiden sie sich nicht von den beiden erstgenannten Gruppen. Endlich sind ein ausgesprochener Athletiker, Boxer von Beruf, und ein Dysplastiker, unförmig dick, 235 Pfund schwer, zu nennen. Auffallend ist an einer Anzahl von Probanden die Leere des Gesichts. Es ist nichts aus ihm herauszulesen. Die Züge sind weich, feminin, süßlich. Die femininen Züge wer-
Das psychische Erscheinungsbild
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den unterstrichen durch langes, gewelltes Haar, trippelnde Schritte, tänzelnde Bewegungen. Linkisches, täppisches Gebaren verrät starke innere Unsicherheit. Bei dem pyknischathletischen Typ wirkt der Kontrast zwischen der kräftigen Körpergestalt und den weichen, leeren Gesichtszügen besonders grell. § 10
Das psychische
Erscheinungsbild,
a) Aus der Kindheit der Probanden wird eine weit verbreitete starke Neigung zu gegengeschlechtlichen Kinderspielen berichtet. Die ganze liebende Hingabe des kleinkindlichen Herzens bezieht sich auf Puppen. Diese werden mit viel Zartheit gehegt und gepflegt, mit aller Sorgfalt betreut. Man kocht und näht für sie. Ein Proband erzählt, daß er mit der Schwester und den Puppen eine Familie bildete, wobei die Schwester die Rolle des Vaters, er die der Mutter übernahm. Ein anderer empfand gegen Soldaten als Spielzeug einen solchen Widerwillen, daß er ihnen die Beine abbrach, um nicht mit ihnen spielen zu müssen. Eine fein ausgestattete Puppenstube dagegen ergötzte das kindliche Herz. b) Dem femininen Spielzeug korrespondieren später weibliche Züge. Schon der Zehnjährige versteht sich auf Kreuzstich sowie Häkelarbeit und fertigt eine kunstvolle Tischdecke an. Eine ungewöhnlich große Zahl von Probanden beherrscht die Kunst des Kochens und Badeens. Triumphierend wird berichtet, daß andere sich Rat holten und Hilfe erbaten für die Bereitung von Festmahlzeiten. Mit der Schwester zusammen, aber auch allein, wird die Wäsche gestopft, geplättet, gebügelt. Ein Proband übernahm die Wochenpflege der Stiefschwester, pflegte sie und versorgte das Kind. c) Es ist nicht verwunderlich, daß den so Gearteten männliche Neigungen fernblieben. Etwa zwei Drittel aller Probanden hatten weder am Rauchen noch am Trinken Gefallen. Unter 75 Untersuchten wurden nur 6 gefunden, die einem Alkoholabusus huldigten oder leidenschaftliche Raucher waren. d) Der scharf und systematisch denkende Kopf fehlt in den Reihen unserer Probanden. Nicht die Ratio, wohl aber die Fantasie und künstlerische Neigungen blühen. Ein Puppentheater wurde gegründet. Schon als Kind schuf der Proband ganze Opern und führte dieselben auf. Er dichtete Rollen, sang Sopran, begleitete sich selber auf dem Klavier und vergoß bittere Tränen, wenn das Prinzeßdien starb. Es wurde feierlich im Garten begraben. Märchen wurden in Szene gesetzt. Die Schwester stellte eine andächtige Kirchengemeinde dar, der Proband trat als Pfarrer auf, ahmte pastoralen Ton und pastorale Gesten nach. Für die einzelnen Rollen wurden Gewänder genäht, wie überhaupt schöne Gewänder einen wahren Rausch hervorrufen konnten. Chansondichterei blüht, hohe musikalische Begabung läßt schon im 7. Lebensjahr mit Klavierspiel beginnen. Ballett und Bühne üben immer wieder stärkste Anziehungskraft aus. e) Selten erscheint unter unseren Probanden der Geltungsbedürftige. Geflissentlich betont er, daß der Vater „königlich-preußischer Hofschauspieler" war, daß er ein besonders hervorragender Vertreter der eigenen wertvollen Sippe gewesen sei. Menschen, die Substanz und eigenes Urteil besitzen, die Musik und Kunst lieben, müssen um ihn sein. Die Art, mit der diese seine Wünsche vorgetragen werden, bringt das Geltungsbedürfnis kraß zum Ausdruck. Ein Proband will „wissenschaftlich" an die Dinge um seine Anlage herangehen. Er wünscht die Kastration unter Berufung auf das Bibelwort:
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Wandlungen des Sittlichkeits Verbrechers
„So dich ein Glied ärgert, so reiß' es heraus und wirf es von dir". Auch diese ethische Fundierung wirkt verdächtig im Sinne der Hybris. Schließlich sei ein Proband geschildert, der diesen Haltungsstil zu höchster Ausprägung entwickelte. Er erklärt: „Ich hatte über mein Alter hinausgehende Kenntnisse, war weit voraus, war der beste Schüler, den die Schule je gehabt hat, führte geistig eine Gruppe". Besonders interessant nennt er die Tatsache, daß er mit 15 Jahren einen Selbstmordversuch unternahm wegen der nervösen Mutter, der er nie einen Kuß gegeben hat, von der er sich nie hatte küssen lassen, gegen die er seit frühester Jugend Abneigung empfand, weil sie eine Frau war. Kontaktschwierigkeiten sind ihm fremd. „Ich bin gefährlich anpassungsfähig, habe Minister als Bekannte, fuhr als Achtjähriger schon allein nach Holland". Er sucht Gesellschaft, aber nicht um seinetwillen: „Ich kann meinen Mitmenschen etwas sein". Die Art, wie er gelassen, mit der Brille in der Hand, die Zelle abschreitend, sein Bekenntnis ablegt: „Der Glaube an mich selbst führt mich, es steckt eine starke Aktivität in mir, das Ausgefallenste ist mir gerade recht" rückt sein außerordentlich großes Geltungsbedürfnis in grelles Licht. f) Eine weit ins Neurotische gehende Weichheit und Sensibilität ist bei der Mehrzahl der Probanden festzustellen. Ein hartes Wort, ein schroffer Ton zerstören für längere Zeit das innere Gleichgewicht. Ein Wort, ein Ton kann für einen ganzen Tag froh oder unglücklich machen. Durch eine hilfreiche, freundliche Geste eines Beamten, die „die Uniform sprengt", wird ein Proband tief gerührt. Überraschend erfahrene Güte führt einen Gefühlssturm herauf. Alles Ordinäre dagegen soll mindestens 10 Meter entfernt bleiben. Bei Kinovorstellungen, musikalischen und theatralischen Darbietungen geht man stark mit, ist man zu Tränen gerührt. Ein Proband flieht beim Anblick Verwundeter in der Wochenschau oder bei rührseligen Szenen schreiend aus dem Kino. Orgelspiel, ein gefühlsbetontes Lied nehmen alle Fassung, Teilnahme an einer Beerdigung ist fast unmöglich. Abnorm starke Bindung an die Eltern und große Liebebedürftigkeit zeigen, daß der Proband noch tief im Infantilismus steckt. Einer unter ihnen kann sich mit der Wiederverheiratung der Mutter, die nur für ihn selbst da sein soll, noch nach 14 Jahren nicht abfinden. Vor einer umgestürzten Trauerweide flieht ein anderer voller Entsetzen, ein dritter kann nicht die Passionsgeschichte Christi lesen. Jeder Lärm ist widerwärtig. Das Rauschen des Wassers in der Wasserleitung macht so unruhig, daß nach kurzer Zeit die Hände zittern. Im Seebad mußte man sich Decken vor das Fenster hängen, weil das Rauschen der Wellen ganz unerträglich war. Die Explosion eines Blindgängers in weiter Entfernung löste bei einem unserer Untersuchten eine solche Erschütterung aus, daß er einen schrecklichen Schrei ausstieß, ohnmächtig wurde und unter stundenlangen Weinkrämpfen zu leiden hatte. Zum Schluß sei ein Proband genannt, der 50 mal Palestrina, 111 mal die „Meistersinger", 113 mal die Tristanaufführung besucht hatte. Jedes Mal schluchtzt er aufgelöst. Beim „Tristan" vergießt er Ströme von Tränen. Unter dem Eindruck der Wagneropern liegt er 8 Tage lang gebrochen zu Bett. g) Besonders auffällige Züge im seelischen Erscheinungsbild des Homosexuellen sind endlich seine Kontaktschwierigkeit und Lebensangst. Die bereits während der Schulzeit manifest werdende Leitlinie — neurotische Isolierung — verschärft sich im Laufe der Jahre. Bedenken und Hemmungen lähmen das Zupacken. Man ist sehr scheu und mißtrauisch, oft melancholisch, deprimiert und schwermütig. Sich minderwertig fühlend und
Erlebnisse mit dem weiblichen Gesdilecht
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zum Pessimismus geneigt, geht man auf Distanz und lebt zurückgezogen. Ein Proband sucht Anlehnung unter den 50- bis 60jährigen Müttern seiner Kollegen. Zum Verkehr mit diesen selber fehlt ihm der Mut. Vor den Aufgaben, die der kommende Tag bringt, fürchtet man sich. „Kann ich oder versage ich?" — lautet die bange Frage. Ein Proband kann nidit gleich von einer Arbeit zur anderen übergehen, er braucht eine Anlaufzeit, muß erst eine Verbeugung machen vor einem Buch, das er neu zu lesen beginnt. Ein neu gemietetes Zimmer kann erst nach 8tägigem vorsichtigen Anschauen bezogen werden. Plötzlicher Besuch ist wegen der dann auftretenden Kontaktschwierigkeiten sehr peinlich. Der Proband fleht deshalb geradezu, ihm Tag und Stunde des nächsten Besuches mitzuteilen, damit er sich einstellen könne. Die einfachsten Dinge sind mit „gräßlichen Komplikationen" verknüpft. Der Wechsel der Zelle oder gar erst des Gefängnisses ist schrecklich. Das Erscheinen des Anwalts, das Befragen eines Wachtmeisters löst Zittern aus. Vor allem Neuen hat man gleichsam Examensangst, beim Verkehr mit jeder Behörde „Schalterangst". Die Schwermut und Traurigkeit steigern sich zu heller Angst, ohne daß ein Grund für dieselbe angegeben werden könnte. Es wird heiß im Kopf; es kribbelt in den Fingern; die Angst schnürt die Kehle zu. „Ich bekomme keine Luft", schreit weinend ein Proband. Die Angstgefühle sind so quälend, daß er nachts schweißgebadet aufwacht und große Mühe hat, sich zurechtzufinden. Diese schon aus den Kinderjahren stammende Angst wird Dauerzustand. Sie nimmt zuweilen schreckliche Ausmaße an. Immer ist man „voll ungeheurer Spannung". Man ist froh, daß die Gefängnistür vor der unheimlich drohenden Welt sichert; andererseits führt das Alleinsein in der Zelle zu Wein- und Schreikrämpfen. Menschenscheu, ist man doch auf Menschen angewiesen, zumal wenn Gefahr droht. Bei Fliegeralarm überfielen einen großen Teil unserer Probanden Zittern und Ohnmächten. Man mußte Ströme von Baldrian trinken und Menschen um sich haben. Die Übernahme eines Luftschutzamtes war nicht möglich. Ein Proband erklärt: „Es treibt mich, dann muß ich losrasen und die halbe Nacht zwischen Gräbern umherrennen". Der Friedhof ist für manche der Lieblingsplatz. Einer der Untersuchten hat sich einen Begräbnisplatz für sich und seine Geschwister gekauft, ein anderer seinen eigenen Grabstein, mit seinem Namen versehen, aufstellen lassen. K A P I T E L
IV
Die sexuelle Entwicklung § 11
Erlebnisse mit dem weiblichen Geschlecht
Unter unseren 75 Probanden befinden sich 28, die nie geschlechtliche Beziehungen zur Frau gepflegt haben. 32 standen in mehr oder minder stark wechselnden Beziehungen, 15 waren verheiratet. a) Die Verheirateten. Von den 15 waren 5 geschieden, 4 getrennt vom Ehepartner, ein Witwer, ein nach Scheidung erneut Verheirateter. Die restlichen vier lebten zur Zeit der Untersuchung noch im Ehestand, der aber in jedem Fall teils mehr, teils weniger erschüttert war. Vier Ehepaare waren kinderlos. Fünf hatten ein Kind, fünf andere zwei, ein Ehepaar war mit drei Kindern gesegnet. Eine genauere Analyse zeigte, daß jedes Mal die manifest werdende perverse Neigung des Mannes den Grund der Ehe-
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Schwierigkeiten bildete. Ein Proband hatte seinen Ehestand nur geschlossen zur Tarnung der eigenen homosexuellen Neigung. Eheliche Beziehungen zu seiner sich alsbald von ihm trennenden Frau hatte er nicht aufgenommen. Ein anderer hatte eine 10 Jahre ältere Frau geheiratet, weil sie dem Idealbild der vergötterten Mutter zu entsprechen schien. Als sie sich jedoch in entgegengesetzter Richtung entwickelte und aggressiv wurde, rannte er hilfesuchend zu seiner Mutter, die sich anstelle des Sohnes zur Wehr setzte. Ein stark introvertierter Proband, steif, eckig, in mimosenhafter Scheu über Sexualia sprechend, schließt die Ehe mit einer lebenshungrigen Großstädterin. Bald fühlt er sich „veralbert" und tritt den Rückzug an. In anderen Fällen trennt man sich ohne Feindschaft, weil „Es" verschwunden war. Einige Probanden berichten von großen Charakterschwierigkeiten ihrer Ehefrauen. Sie reagierten darauf mit Betätigung oder wieder erneuter Betätigung ihrer homosexuellen Neigungen. Endlich sind zwei Ehepaare zu erwähnen, deren Beziehungen auch durch den Gefängnisaufenthalt des einen Partners nicht erschwert wurden. b) Nicht minder aufschlußreich ist die Analyse der außerehelichen Sexualbeziehungen unserer Probanden. I. An den Anfang gestellt seien diejenigen, deren erstes Sexualerlebnis zu einem schweren, kaum überwindbaren Trauma wurde. Ein Oberlehrer holte sich bei seinem ersten Verkehr eine komplizierte Gonorrhoe. Viele Schmerzen und hohe Kosten für ärztliche Behandlung brachten ihm Jahre hindurch große Belastung. Seitdem ist für ihn der Begriff des Sexuellen mit lauter Angst verknüpft. Ein anderer hatte ein ähnliches Erlebnis und bekennt: „Ich war furchtbar entsetzt und faßte eine lange, tiefe Abneigung gegen Frauen". Ein dritter wurde verlacht, was ihn „in den Boden versinken ließ". II. Diejenigen, welche mit wechselnden Partnern verkehren, berichten in der großen Mehrzahl von verschiedenen, sich immer wiederholenden Hemmungen und Schwierigkeiten. 1. Da ist zunächst die „wahnsinnige", neurotisch gefärbte Angst vor Ansteckung, die immer wieder überwunden werden muß. 2. Religiöse Bindungen hemmen sehr. In dem Konflikt zwischen dem Pfarrer, der den außerehelichen Geschlechtsverkehr als Sünde bezeichnet, und dem Arzt, der eine Abreaktion empfiehlt, findet man keinen Ausweg. 3. Der Protest der Mutter, die den geliebten Sohn nicht hergeben will, übt eine sehr tiefgehende Wirkung aus. 4. Weitere Hemmungen entstammen der eigenen körperlichen oder seelischen Asthenie. Das kleinste Zurückweichen des Partners vor der eigenen schwächlichen Gestalt, der leiseste Anflug von Spott oder auch nur Mitleid in seinen Augen hat den sofortigen Abbruch der Beziehungen zur Folge. Die Furcht vor einer Blamage, die als tödliche Niederlage empfunden wird, lähmt weitere Versuche. Man unterhält sich, tanzt, aber vor weiterem steht jetzt die große Angst, die nicht mehr überwunden werden kann". „Wenn ich doch Mut hätte", — seufzt ein Proband. 5. Eine große Anzahl von Untersuchten berichtet von geringer Triebstärke und Lustlosigkeit. Man war seelisch gleichgültig, empfand nichts von der Schönheit der Liebe, von welcher die Dichter singen. Man machte mit, um nicht aufzufallen, um nicht ge-
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hänselt zu werden. Ein Proband berichtet, daß er von seiner Partnerin geohrfeigt wurde, weil er ihr nicht männlich genug erschien. Ein anderer sagt aus, daß er je länger umso gleichgültiger geworden sei. Aus diesem Grunde scheiterten mehrere Verlöbnisse, zerbrachen Verhältnisse, die bis zu 2V2 Jahren angedauert hatten. 6. Man ist wählerisch, äußerst empfindlich gegen das Fluidum des Partners, stellt hohe Anforderungen, findet aber doch nicht „das Mädchen", das der idealisierten Mutter Zug um Zug gleichen soll. III. N u r 7 Probanden berichten, daß es ihnen mühelos gelungen sei, sexuelle Beziehungen zu immer wieder wechselnden Partnern anzuknüpfen, die teils längere, teils kürzere Zeit anhielten. c) Die völlig Abstinenten. Unter den 28 endlich, die nie Geschlechtsverkehr mit Frauen gehabt hatten, geben 20 als Grund das Fehlen jeglicher Libido an. Ein Proband hatte als 19jähriger, ein anderer als 40jähriger den ersten und zugleich letzten Versuch eines Verkehrs gemacht. Mädchen werden nur auf Gestalt und Geschmack taxiert, im übrigen als Greuel empfunden. Ihnen nachzulaufen, wie die Kameraden es tun, findet man „läppisch". Ein Proband — Arzt — empfindet bei der Untersuchung weiblicher Patienten Ekel. Ein anderer — Friseur — kann nur Herren bedienen. Ein dritter — Schauspieler — schmückt sein Zimmer mit Fotografien männlicher Kollegen. Bilder von Frauen peinigen ihn. 3 unter den 28 blieben ihnen fern, weil sie „zu oberflächlich", „zu schlecht" seien, 2 aus gerade entgegengesetztem Grund, weil sie „zu edel", „zu gut" seien. 3 endlich begründen ihre Ablehnung mit religiös-ethischen Motiven. § 12
Homosexuelle
Betätigung
In der homosexuellen Betätigung heben sich deutlich voneinander ab der aktive von dem passiven, der männliche von dem weiblichen Typ, der Verführende von dem Verführten. Beide sind zahlenmäßig gleich, beide auch in allen Altersstufen in unserem Material vertreten. . a) Der aktive Typ. 1. Unter den Aktiven ist zunächst zu nennen der Geltungsbedürftige. In seiner Hybris braucht er eine Schar von Bewunderern. Immer muß ein ganzer Kreis um ihn sein. Wegen seines Führungsanspruches liebt er nicht so sehr Gleichaltrige, als vielmehr jüngere, die sich leichter leiten lassen. Man pflegt zusammen rein geistige Interessen. Eine anfangs nur platonische Freundschaft entsteht. Die Befriedigung besteht zunächst im Nahesein des anderen. Dann erfolgt plötzlich der Umschlag ins Sexuelle. 2. Ein ähnliches Bild, nur unter Wegfall der Komponente des Geltungsbedürfnisses, bieten die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler, Soldat und Kamerad, Meister und Lehrling, dem Reifen und dem noch Unentwickelten. Man nennt sich „großer Bruder" und „kleiner Bruder", tauscht in Gesprächen die Meinung über geistige Dinge aus und rückt sich dabei nahe. Der Junge war „sehr nett, rührend". Man war ihm sehr zugetan. Schillers Bürgschaft ist das Ideal. Man fühlt sich zu der gleichen Leistung fähig. Aber — so berichtet ein Proband — „plötzlich kam es über mich, ich wurde hingerissen und war unglücklich, daß die eigene Begierde die Freundschaft über den Haufen warf". Ein anderer schildert den gleichen Vorgang des Überrumpeltwerdens durch die Libido mit
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W a n d l u n g e n des Sittlichkeitsverbrechers
den Worten: „Es war, als ob ich einen innerlichen Befehl bekam. Mir wurde heiß im K o p f , ich hatte Kribbeln in den Fingern. Dann tat ich das, was mir später leid tat". Solche Verhältnisse dauern oft lange Zeit, in einem Fall 5 Jahre. Die Bindung an den Jungen war so stark, daß sie erhalten blieb, obwohl sich dieser nach der Verhaftung sehr häßlich zeigte, als Spitzel gegen den bisherigen Freund fungierte und bei der Verhandlung „den Triumph und die Lust, ihn zu schlachten" erkennen ließ. Trotzdem blieb ihm der Proband sehr gewogen, hat alle Tiefen des Herzens durchforscht, aber von H a ß gegen den Jungen nirgends etwas entdeckt. Er spricht von „schuldhafter Zuneigung", die noch anhält und immer anhalten wird. Ein Untersuchungsgefangener schreibt sofort nach seiner Verurteilung den Brief nieder, den er nach Beendigung seiner Strafzeit von 3 Jahren Zuchthaus an seinen bisherigen Partner senden will. „Seine Eltern erlauben es, meine Mutter auch", erklärt er in infantiler Haltung. Eifersuchtsregungen treten in diesem Stadium der Beziehungen auf. Der Umschlag ins Grob-Sexuelle ändert die Struktur des Verhältnisses von Grund auf. Die neue Note wird schnell sehr stark. Der unter der Asche glimmende Funke entwickelt sich in Kürze zu lodernder Flamme, wobei es auch noch zu einem Rollenwechsel zwischen dem aktiven und passiven Partner kommen kann. Man gewinnt „tiefe Sehnsucht und heißes Verlangen" nach einander. 3. Von den beiden geschilderten Typen, bei denen noch ein geistig-seelischer Hintergrund feststellbar ist und feste Verhältnisse sich allmählich bilden, unterscheidet sich der dritte, der von dem Trieb ohne weiteres über den Haufen gerannt wird. Der Anblick von jugendlichen Körpern beim Antreten der Jugendorganisationen oder von Sportlern beim Fußball, der Anblick eines einzelnen Knaben, der einem bestimmten Wunschbild entspricht, entfacht die Libido. Die Affekte werden wach; man attackiert einfach den anderen. Schnell werden die Partner gewechselt, wahllos die Opfer gesucht. Schließlich werden die Bekanntschaften so flüchtig, daß nicht einmal der N a m e des Partners bekannt wird. Neben festen Verhältnissen laufen Gelegenheitsbekanntschaften einher. Auch der schmierigste Strichjunge, den man — wie es in einem Urteil heißt — „fast wie ein Stück Vieh" vom Vorgänger übernommen hat, genügt den Ansprüchen. Weder jugendliches Alter noch Verwandtschaftsgrad legen Hemmungen auf, die vielmehr vom Trieb restlos überspült werden. 4. Schließlich seien einige Probanden genannt, die lange Jahre in normalen sexuellen Beziehungen gelebt haben. Während des Krieges in fremde Länder versetzt, unterlagen sie dem Verbot, mit einheimischen Frauen zu verkehren. D a sie mit Stauungserscheinungen, die sie nach ihrer Behauptung medikamentös vergeblich bekämpft hatten, nicht fertig wurden, betätigten sie sich onanistisch mit Männern oder Knaben. b) Ein anderes Bild bietet der passive Typ. Hier tritt der bereits geschilderte Zug der Weichheit und Sensibilität besonders kraß in die Erscheinung. Auch innerhalb dieses Typs lassen sich verschiedene Untergruppen feststellen. 1. Am Anfang steht der Proband, welcher sich die weibliche Rolle zuschieben läßt, ohne sie besonders zu suchen. In diesem Falle trägt das Verhältnis häufig eine utilitaristische Note. Man ist vom Partner finanziell abhängig und kann nun nicht nein sagen. Man ist erfreut über die finanziellen Vorteile und die sonstigen leicht zu verdienenden Annehmlichkeiten. Auch der Alkohol spielt eine große Rolle. Ein anderer Proband ist
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froh, sich auf diesem Wege eine angenehme Unterkunft verschaffen und das Obdachlosenasyl meiden zu können. Am Ende dieser Entwicklung steht häufig die gewerbsmäßige Unzucht. Audi der Schwachsinnige, der durch Überfall zu seiner Rolle gezwungen wird, sowie der von einer stärkeren Persönlichkeit Verführte gehören hierher. 2. Es folgen die Probanden, welche die weibliche Rolle bewußt bejahen und suchen. Man läßt sich umwerben, ist immer zögernd und anlehnungsbedürftig. Das sexuelle Moment tritt zunächst zurück. Man hat den anderen „gern", aber nicht lieb. Der verehrte Mann erscheint „heilig" und sexuellen Wünschen entrückt. N u r die Güte und Fürsorge des anderen werden gesucht. Man wird angesprochen, kokettiert, flüchtet zunächst, wird dann mitgenommen, bleibt aber immer passiv. Der Partner, von dem man Schutz und Betreuung erwartet, muß im Regelfall älter und eine kraftvolle Persönlichkeit sein. 3. Am Ende dieser Reihe steht der Proband, der nur noch als Frau zu leben vermag. „Ich bin feminin, der innere Mensch ist weiblich" — so erklärt er. Im Gegensatz zu den beiden eben geschilderten Gruppen ist er nun wieder aktiv, aber im weiblichen Sinn. Er läuft den Männern nach, bewegt sich in der auffälligsten Weise über die Straße, beschenkt den Partner, überschüttet ihn mit Kosenamen und geht in Frauenkleidern einher. Zum Schluß sei ein junger schmächtiger Mann genannt, auffallend durch gewelltes Haar, winzige Ohren, tänzelnde Bewegungen, der es verstanden hatte, staatliche und kirchliche Behörden zu hintergehen, unter dem Namen Elisabeth Rappold eine Ehe schloß, im Februar 1933 in Hamburg getraut wurde und anschließend auf die Hochzeitsreise ging. Ein Wechsel der Rollen, der bei den beiden ersten Gruppen noch vorkommt, ist hier ausgeschlossen. § 13
Entwicklung
der Homosexualität
und Einstellung zu ihr
a) Entwicklung. 1. Einer unserer Probanden berichtet, daß er bereits als Siebenjähriger hinter Männern hergelaufen sei und als Fünfzehnjähriger seinen ersten Verkehr gehabt habe. Ein anderer läßt sich als Vierzehnjähriger ansprechen und mitnehmen. Mehrere beginnen mit 16 oder 17 Jahren den gleichgeschlechtlichen Verkehr, ohne Erlebnisse mit Frauen gehabt zu haben. Sie knüpfen schon während der Schulzeit Beziehungen zu Mitschülern an. Andere gelangen erst später zu entsprechenden Erlebnissen, je nach dem Stande ihrer Entwicklung. Bei allen ist die Linie eindeutig festgelegt; irgendeine Entwicklung findet nicht statt. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der andere sich ein Mädchen suchen, begehrt man hier den männlichen Partner. 2. Andere durchschreiten eine Zone der Unsicherheit. Man weiß mit dem seltsamen Trieb nichts anzufangen und greift zu Büchern. Ein Proband offenbart sich der Mutter, die entsetzt sagte: „Wir hatten immer gehofft, Du würdest ein Mädchen". Man geht in Front gegen den Trieb; seine Bekämpfung gelingt auch eine Weile. Im Lexikon wird nachgelesen, daß homosexueller Verkehr verboten sei. Das Zünglein an der Waage der Sexualität steht eine Weile auf null. Doch die Libido kehrt in stärker werdenden Wellen wieder, häufig macht Alkohol die latent schon lange vorhandene Sexualspannung akut. Das Zünglein an der Waage schlägt nun unter Überwindung von Schuldgefühlen nach der männlichen Seite aus. Ein Proband berichtet, daß er mit 25 Jahren den Drang nicht mehr zurückhalten konnte. Es begann mit Onanie, dann kam „alles andere". 8
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
3. Neben dieser Gruppe von Probanden steht eine andere, bei welcher das Zünglein ständig nach beiden Seiten schwankt. Etwa gleichzeitig werden Beziehungen zu Männern und zu Frauen geknüpft. Beide Verhältnisse laufen nebeneinander her oder wechseln einander in kurzer Folge ab. Eine Enttäuschung, die der Partner bereitet, ein schockierendes Erlebnis genügen, das Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlagen zu lassen. Verblassen diese Erlebnisse, so schwingt es wieder zurück. 4. Endlich seien die Probanden genannt, die lange Zeit mit einem weiblichen Partner in Beziehungen standen. Jahre, zuweilen viele Jahre hielten sie an. Ganz allmählich trat eine Erkaltung der Zuneigung ein. „Der Trieb und die Neigung zu Frauen läßt nach", so berichten die Probanden. Ein Grund für diese Veränderung kann nicht angegeben werden. Weder Krankheiten noch besondere seelisch erschütternde Erlebnisse lagen vor. „Es ging gut bis zu seinem 45. Lebensjahr. Dann wurde er komisch und machte sich nichts mehr aus mir. Das kam urplötzlich", — berichtete eine Ehefrau. Einer unserer Probanden begann erst als 53jähriger mit homosexuellem Verkehr, ein anderer als 5 9jähriger. Eine Entwicklung in umgekehrter Richtung, nämlich daß jemand nach längerem homosexuellen Verkehr zur Frau zurückfand, konnte nicht festgestellt werden. b) Einstellung. 1. Die große Masse unserer Untersuchten sieht ihre Neigung als schicksalhaft an. „Ich kann nicht dafür, daß es so ist, es ist schicksalsmäßig, ich fühle mich nicht als Verbrecher" — diese und ähnliche Formulierungen kehren immer wieder. Schuldgefühle werden infolgedessen nicht entwickelt. 2. Ein Proband hält sein Abgleiten für kosmisch begründet. Die allgemeinen Spannungen, die zum Kriege führten, trafen ihn besonders. In jene Zeit fiel seine Straftat. Mondwechsel wirkt sehr stark auf ihn; er kann bei Vollmond nicht schlafen. Karfreitag ist auch astrologisch für ihn ein überaus kritischer Tag. c) Auswege. Alle Probanden suchen nach einem Ausweg aus ihrer Lage. 1. Die Mehrzahl sieht ihn in einer Eheschließung. Von ihr erwartet man nicht eine Heilung, wohl aber eine Tarnung der eigenen Anlage vor der Öffentlichkeit. „Der Gedanke an sexuelle Beziehungen zur Ehefrau ist gräßlich", erklärt ein Proband. Man erstrebt deshalb eine Kameradschaftsehe mit einem Partner, der keinen Sexualverkehr verlangt. Es soll eine „alte Dame" sein, auch eine ältere Witwe mit Kindern oder eine Sterilisierte erscheinen tragbar. Der Bruder oder irgendein anderer Verwandter soll die Wahl treffen. Man will bei älteren Menschen Anschluß suchen. 2. Das Nachlassen der Triebstärke mit zunehmendem Alter oder ihre Bekämpfung durch Willensstärke erscheinen anderen als der Ausweg. 3. Einige suchen das Heil in der radikalen Absage an den Alkohol. 4. Sublimierung des Triebes durch intensive Arbeit wird ins Auge gefaßt. „Der Beruf nimmt viel Sinnlichkeit weg", hofft ein Proband. „Du verdienst dein Brot, gehst ins Theater und kaufst dir ein Buch" nimmt sich ein anderer vor. 5. Nur zwei sind der Meinung, daß die Schockwirkung der Strafe für den Rest der Lebenszeit ausreichen wird. Ein dritter erklärt: „Man kann sich 2 oder 3 Jahre halten, dann kommt „es" doch wieder". 6. Man wünscht sich deshalb die Kastration, die von anderen wieder abgelehnt wird.
Die forensische Verfolgung gemäß § 175
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7. Ein jüngerer Proband will sich unter die Schutzaufsicht der Mutter stellen, sie soll ihn unter schärfster Aufsicht halten. 8. Einer im gleichen Alter gedenkt zu entsagen und, falls „es" wiederkommt, ins Ausland zu gehen. 9. Eine ganze Anzahl unserer Probanden sieht keinen Ausweg und hofft auf baldigen Tod. Einer endete nach dem Termin durch Selbstmord. Das resignierte Bekenntnis eines Intellektuellen lautet: „Mein Leben, soweit es sinnerfüllt und leistungsgetragen war, betrachte ich als abgeschlossen und beendet. Welch fürchterliche Qual, durch Schuld, die tief eingeboren ist, wie ein böses Tier im Käfig sitzen zu müssen! Ich bin von den Bezirken des Daseins, die ich zutiefst bejahe und ersehne, ausgeschlossen". Bei fast allen ist die Angst vor Bestrafung oder die Rücksicht auf Angehörige, die nicht blamiert werden sollen, die Triebfeder der Suche nach einem Ausweg. Nur ganz gering (2 von 75) ist die Zahl der Probanden, welche die Perversität ihrer Neigungen bewußt empfinden und von ihr geheilt werden möchten. Einer will geheilt sein, um inneren Frieden und Sicherheit zu gewinnen und etwas Gedeihliches zu schaffen. Der zweite will nicht mehr teilen müssen zwischen Frau und Freund und die zersprungene innere Einheit wieder hergestellt wissen. K A P I T E L
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Die Behandlung der Homosexualität § 14
Die forensische Verfolgung gemäß § 175
a) Urteile. Die Unsicherheit und Unklarheit, die über diesem Fragenkomplex liegt, spiegelt sich auch in der Rechtsprechung wider. Widersprechende, zuweilen gegenteilige Anschauungen kommen in den Urteilsniederschriften zum Ausdruck. So heißt es in einem Urteil: „Nach den heutigen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gibt es eine anlagemäßige Homosexualität nicht. Sie wird fast stets durch Verführung erworben und durch Gewohnheit beibehalten; sie ist mit gutem Willen zu überwinden". Demgegenüber wird ein anderer Proband folgendermaßen bewertet: „Es handelt sich um einen ausgesprochenen Homosexuellen, der nicht die nötigen Hemmungen aufbringen kann, um seiner Veranlagung zu widerstehen". In einem dritten Urteil wird von der „unglücklichen Neigung" des Angeklagten gesprochen, der zwar immer wieder versucht habe, sie zu bekämpfen, aber ohne den rechten Erfolg. Seine Taten werden Gelegenheitstaten genannt, bei denen er Opfer seiner Veranlagung wurde. Die einzelnen Täter erfahren in ihren Reihen eine sorgfältige Differenzierung. Der „alte, hemmungslose" Homosexuelle, der „unverbesserlich" scheint, wird unterschieden von dem Bisexuellen, wie auch starke homosexuelle Veranlagung von der bloßen Affekthandlung. Dementsprechend differieren die Strafen. Viele Urteile begnügen sich mit einer Feststellung des Tatbestandes. Andere bemühen sich, für die seelische Lage des Verurteilten Verständnis aufzubringen. Diese Ausführungen lassen allerdings Unsicherheit erkennen und enden für gewöhnlich in Postulaten. „Es mag zutreffen, daß der Angeklagte oft Angstanfälle bekommen hat. Trotzdem mußte von ihm verlangt werden, daß er mit sich und seinen Trieben auf erlaubte Art fertig wurde", lesen wir in einem Urteil. Es wird die rätselhafte Tatsache festgestellt, daß jemand das Strafbare und o»
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Verwerfliche seines Handelns vollkommen einsieht, sich fest vorgenommen hat, nicht rückfällig zu werden, trotzdem aber von der Versuchung übermannt wird. In einem anderen Urteil heißt es, daß nach einem arbeitsreichen Tag zu mitternächtlicher Stunde — in welcher die Straftat geschah — die Hemmungen offenbar nicht mehr stark genug waren. Die Tatsache wird begrüßt, daß jemand zu heiraten beabsichtigt, „um seine Veranlagung endgültig zu unterdrücken". Von einem Boxer wird erwartet, daß er die Energie aufbringt, sich künftig straffrei zu halten. Wieder ein anderes Urteil begnügt sich mit der Beteuerung des Angeklagten, nicht homosexuell veranlagt zu sein. Als erschwerend bei der Strafzumessung werden in Rechnung gestellt der höhere Bildungsstand, die gute Erziehung, die Ausnutzung eines Vorgesetztenverhältnisses, die systematische und raffinierte Art der Verführung, die Hartnäckigkeit des Werbens, die lange Dauer und widernatürliche Form des Verkehrs sowie die Zahl der Vorstrafen. Aus den verschiedenen Formen des gleichgeschlechtlichen Verkehrs wird auf eine verschieden starke homosexuelle Veranlagung geschlossen. Strafmildernd dagegen sind die seelische Zuneigung zum Partner, die Bemühung um einen einwandfreien Lebenswandel, mißliche Eheverhältnisse, der Sturm der Affekte, der Genuß von Alkohol, ein Blick auf das Alter, offenes, reumütiges Geständnis, sowie bisherige Unbestraftheit. Das „reumütige" Geständnis ist allerdings für viele Probanden eine zu hohe, unerfüllbare Forderung. b) Die Sachverständigengutachten begnügen sich in der Regel mit der Feststellung, daß keine geistigen Störungen vorliegen, daß der § 51 nicht anzuwenden sei. Ein Angeklagter wird als „ein etwas willensschwacher, zu Verstimmungen neigender Mensch" gekennzeichnet, bei dem aber zur Zeit der Tat keine besonderen Komplikationen bestanden hätten. Er sei zwar nicht wie ein psychisch vollwertiger Mensch zu beurteilen, habe aber keinen Anspruch auf § 51, Abs. 2. Dieser Proband hatte im Anfangsstadium des Krieges am Westwall gestanden. Das Rausdien des Rheins und die Dunkelheit waren ihm unerträglich geworden. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde von der Wehrmacht als dienstuntauglich entlassen. Nunmehr betätigte er sich als passiver, weiblicher Homosexueller und ließ sich von älteren Männern mitnehmen. Das Gericht sah ihn als einen wohl haltlosen, kranken, weichlichen, charakterschwachen, aber strafrechtlich voll verantwortlichen Menschen an und verurteilte ihn zu IV2 Jahren Gefängnis. Bei einem bereits zweimal vorbestraften Angeklagten kann nach dem Gutachten des Sachverständigen „die Gefahr späterer Rückfälle durch nachhaltige Strafe ausgeschlossen werden". Schneller Rückfall nach 2jähriger Gefängnisstrafe widerlegte diese Meinung. Schließlich sei ein Proband erwähnt, der bereits als Schüler homosexuelle Beziehungen pflegte und später so viele Partner besaß, daß er nicht einmal ihre Namen kannte. Zweimal mit je IV2 Jahren Gefängnis vorbestraft, wurde er 5 Monate nach der letzten Strafverbüßung erneut rückfällig. Er starb während der dritten Strafverbüßung, die 3 Jahre dauern sollte, im Gefängnis an Entkräftung. Einen großen Teil seiner Beköstigung hatte er den Zellengenossen überlassen, deren Gegenleistung auf seinen Wunsch in der Vornahme sadistisch-masochistischer Handlungen bestand. Die gutachtliche Äußerung über diesen Gefangenen lautet: „Infolge seiner Sensibilität und Willensschwäche erliegt er dem ihm innewohnenden perversen Trieb, ohne daß sich äußere, für anlagemäßige Homosexualität typische Merkmale fänden".
Zusammenfassung
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c) Weitgezogen waren die Grenzen dessen, was unter homosexueller Betätigung verstanden wird. Zärtlichkeiten, in deren Verlauf es zur Berührung des Genitales kommt, gelten als Verstoß gegen den § 175. Umarmung im Alkohlrausch, Betasten der Oberschenkel werden mit 1 Jahr Gefängnis geahndet. Ein Proband hatte einen stark angetrunkenen Soldaten zu sich ins Bett gepackt, der sofort einschlief, dann aber merkte, daß der Gastgeber ihn unzüchtig berührte. Die Strafe betrug IV2 Jahre Gefängnis. Eine Autofahrt mit gemeinsamer Übernachtung, in deren Verlauf wechselseitige Onanie erfolgte, endete mit 2 Jahren Gefängnis. d) Auch die Formulierungen über den Zweck der Strafe lauten verschieden. Durch sie soll der Angeklagte „dazu gebracht werden, seinen Trieben die erforderlichen Zügel anzulegen. Die Warnung der Strafe ist nötig, ihn von weiterer Betätigung zurückzuhalten". „Bei seiner weichlichen, jeder Versuchung nachgebenden charakterlichen Veranlagung kann er nur durch empfindliche Strafen abgeschreckt werden", heißt es in einem anderen Fall. Wieder andere Urteile sehen den Zweck der Strafe in der abschreckenden Wirkung, die sie auf die Mitmenschen ausüben soll. „Die widernatürliche Unzucht geht gleich einer Seuche durch das Volk, entnervt es und entzieht ihm K r a f t . Die Strafe ist deshalb so zu bemessen, daß andere wirksam abgeschredkt werden". e) Endlich sei noch ein Blick auf die Wirkung der Strafe geworfen. Immer erneut muß die Feststellung getroffen werden: „Die Vorstrafe war ohne abschreckende Wirkung". Resigniert lautet eine andere Feststellung: „Ein unverbesserlicher Homosexueller, bei dem jede Freiheitstrafe erfolglos ist". In einem Falle konnte die Wirkung der Strafe (2V2 Jahre Gefängnis) durch längere Zeit beobachtet werden. Sie war außerordentlich tiefgehend. Der Proband, der nach der Entlassung schnell gute Beschäftigung gefunden hatte, wurde von dem Gefühl geplagt, daß ihm jedermann die Strafe von der Stirn ablesen könnte. Deswegen mied er die Menschen, mied er sogar die nächsten Angehörigen. Andererseits war ihm das Alleinsein unerträglich. Er hatte das Gefühl, daß das Herz aussetzte und die Wände einfielen. Am Morgen ging er besonders früh ins Büro, am Abend blieb er dort besonders lange, auf der Stadtbahn fuhr er herum, um Menschen zu sehen. Besondere Ängste brachte ihm der dienstfreie Sonnabendnachmittag. Seine innerseelische Lage hatte durch die Strafe eine große Verschärfung erfahren. Nach etwa 2 Jahren wurde er erneut straffällig. „Die Strafe hat dem Faß den Boden ausgeschlagen" bekennt ein anderer, der die gleiche Entwicklung durchgemacht hat. Ein dritter will sich nach der Entlassung verstecken und einschließen, weil ihn die Strafe völlig mutlos gemacht habe. Der hybride Proband endlich erklärt: „Die Strafe wird mich nie bessern. Ich empfinde sie gar nicht als Strafe, sondern nur als Freiheitsentziehung, und bemitleide den Staatsanwalt". § 15
Zusammenfassung
Ein buntes Bild ist an uns vorübergezogen. In eine Vielfalt von Erscheinungen und Haltungsstilen durften wir hineinschauen. Welch ein Unterschied tut sich auf zwischen dem hybriden, geltungsbedürftigen Homosexuellen, der einen Kreis von Menschen um sich haben und beherrschen muß, und dem weinerlichen Vereinsamten, der schwer unter seiner Isolierung leidet, aber nicht den Mut findet, sie zu durchbrechen. Wie ganz anders
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
erscheint unter unseren Probanden der Aktive, der mit jähem Ruck in das Verhältnis zu seinem Partner die sexuelle N o t e hineinträgt und nun unersättlich wird, als der Passive, der ängstlich wartet, bis er angesprochen und mitgenommen wird. Welche Gegensätze bestehen zwischen dem Rührseligen, bei dem die Verkündung des Urteils Tränenströme hervorruft, und dem Nüchternen, der klar die Unüberwindlichkeit seiner Neigung erkennt und wortlos daraus die Folgerung zieht, indem er sich erhängt. Zuweilen erschien es unmöglich, System in die große Mannigfaltigkeit der Haltungsstile hineinzubringen. Die üblichen Ordnungsschemata versagten den Dienst. Kretschmers Körperbautypen sind nicht anwendbar. Wenn auch die Astheniker überwiegen, so finden sich doch pyknisch-athletische Körperbauformen gleichfalls unter unseren Probanden. Der Athletiker unter ihnen steht auf der Seite der passiven, weiblichen Homosexuellen. Auch psychologische Typologien können nicht verwertet werden. Vertreter des zyklothym-extravertierten wie auch des schizothym-introvertierten Formkreises sind unter den aktiven wie auch unter den passiven Homosexuellen zu finden. Neurotische Sypmtome sind uns begegnet in großer Zahl auf Schritt und Tritt. Sie waren bereits festzustellen an dem Kleinkind, das durch den harten Vater, die harte Mutter oder durch Spannungen im Elternhaus in die Angst getrieben wurde oder durch Verzärtelung verweichlichte. Sie traten in verstärkter Form auf an dem Schulkind, das weithin keinen K o n t a k t gewinnt und in neurotische Isolierung geht. Das ständige Wechseln der beruflichen Tätigkeit, das Fehlen eines stabilen Lebensaufbaues, die Tendenz des Ausweichens vor Schwierigkeiten müssen neurotisch genannt werden. Eine große Fülle von neurotischen Symptomen bietet das psychische Erscheinungsbild des Erwachsenen. Seine Weichheit und Sensibilität übersteigen weit das M a ß des Gewöhnlichen. Seine Reaktion auf Einflüsse aus der Umwelt ist o f t abnorm stark. Seine Kontaktschwierigkeiten von früher sind gewachsen. Angstgefühle behindern ihn aufs schwerste und machen ihn lebensuntüchtig. Infantile Züge wie auch Todessehnsucht, das Fixiertbleiben an bestimmte Stufen der Entwicklung, die sonst durchlaufen werden, das alles sind Dinge, die uns aus der Neurosenpsychologie wohlbekannt sind. Auch im sexuellen Leben unserer Probanden begegnen uns neurotische Symptome. Man denke an die „wahnsinnige" Angst vor Ansteckung, die nicht minder lähmende Angst vor einer Blamage, die als tödliche Niederlage empfunden wird, die übergroße Empfindlichkeit gegen das Fluidum des Partners, den Introvertierten, der sich durch eine extravertierte Frau „veralbert" fühlt oder den Hybriden, der von seiner vermeintlichen H ö h e aus die normale Betätigung der Sexualität ablehnt — immer wieder neue neurotische Züge können festgestellt werden in dem Erscheinungsbild des Homosexuellen. Wenn das Bild der gesuchten Frau unter Entnahme der Züge aus dem Bilde der Mutter so idealisiert wird, daß „das" Mädchen nicht gefunden werden kann, so handelt es sich hier um ein Arrangement. Vor einem als bedrohlich und gefährlich empfundenen Weg werden so viele Hindernisse aufgetürmt, daß seine Beschreitung unmöglich wird. Wenn Geschlechtsverkehr abgelehnt wird mit der Motivierung: Die Mädchen sind zu gut, zu edel, oder gerade umgekehrt: Die Mädchen sind zu schlecht, zu oberflächlich, so liegen hier Dressate vor, die bei manchen eine erstaunliche Verhärtung zeigen. N e u r o tische Verzerrung könnte man es schließlich auch nennen, wenn die Zärtlichkeiten, die Güte eines älteren Mannes gegen einen jüngeren einen sexuellen Unterton gewinnen und ins Sexuelle ausrutschen.
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D i e v o r a n g e g a n g e n e n Schilderungen zeigen, d a ß H o m o s e x u a l i t ä t nicht ein einzelnes, abweichendes S y m p t o m einer sonst normalen Persönlichkeit ist, sondern d a ß diese in ihrer T o t a l i t ä t erheblich a b g e w a n d e l t ist. D a s Schlinggewächs der neurotischen Wucherungen zu beseitigen, ist die A u f g a b e der Psychotherapie. I n steigendem M a ß sehen es die gerichtlichen U r t e i l e als s t r a f m i l d e r n d an, wenn der Verurteilte den Versuch gemacht hat, durch psychotherapeutische B e h a n d lung v o n seiner N e i g u n g befreit zu werden. Ebenso w i r d die G e w ä h r u n g eines G n a d e n erweises in steigendem M a ß mit der A u f l a g e einer solchen B e h a n d l u n g v e r b u n d e n . Bestehen bleibt die N o t w e n d i g k e i t , durch eindeutige forensische M a ß n a h m e n die heranwachsende J u g e n d in der Zeit ihrer bisexuellen L a b i l i t ä t und homosexuellen A n sprechbarkeit v o r V e r f ü h r u n g s k ü n s t e n H o m o s e x u e l l e r zu schützen. I m übrigen allerdings haben sich S t r a f e n im R e g e l f a l l als w i r k u n g s l o s erwiesen. W o eine Persönlichkeitswandlung erfolgt, w i r d sie nur als eine Verschärfung der
schon
früher deutlich feststellbaren neurotischen S y m p t o m e erkenntlich. E i n H i r t e n b r i e f der Bischöfe Schwedens v o m F e b r u a r 1951 vertritt deshalb die A n sicht, d a ß a n d e r e Mittel als G e f ä n g n i s s t r a f e n erforderlich sind, u m einen homosexuell gerichteten Menschen zu retten. D r . Hartsuiker,
Distriktpsychiater in H a a r l e m , unter-
stützt diesen S t a n d p u n k t mit den W o r t e n : „Alleinige G e f ä n g n i s s t r a f e ist ein großes U n r e c h t " . Wilhart
Schlegel1
schließlich nennt die B e s t r a f u n g der H o m o s e x u a l i t ä t
gar
ein „menschenunwürdiges Verbrechen".
B. Sittlichkeitsverbrecher allgemein vor und nach der Entmannung*) 5 16
Tötungen
1. Fall R geb. 27. 3. 1887, Wegen des weit zurückliegenden Geburtsdatums sind die Angaben über seine Herkunft nur spärlich. Sie besagen, daß er in geordneten Verhältnissen aufgewachsen ist. Das Lernen fiel ihm nicht leicht wegen vieler Kopfschmerzen, über deren Grund aus den Akten nichts zu ersehen ist. Nach der Schulentlassung ging er in die Gärtnerlehre. Im ersten Weltkrieg tat er seine Pflicht. Als Soldat stand er immer an der Front, wurde auch verwundet. Nach der Rückkehr aus dem Kriege war er zunächst als Gärtner tätig, wurde dann Grubenarbeiter und schließlich Heizer in einer Mädchenschule. Sein Strafregisterauszug weist 4 Eintragungen auf. Darunter sind 2 Bestrafungen gemäß § 1 7 6 vermerkt. Mit 24 Jahren hatte er den ersten Geschlechtsverkehr, mit 25 Jahren heiratete er. Die Ehe gestaltete sich gut. Seine sexuellen Wünsche waren umfangreich. Die Ehefrau wurde schwanger und verweigerte nunmehr den Verkehr. Das brachte ihm eine schwere Krise; sein Verhalten in der Ehe hatte immer wieder eine übermäßig starke Sinnlichkeit erkennen lassen. Ungelöste Sexualspannungen machten ihm jetzt schwer zu schaffen. Die Tätigkeit in einer Mädchenschule wurde nun zu einer großen Gefahr, von der niemand etwas ahnte. Explosionsartig entluden sich eines Tages die angehäuften Spannungen bei dem Anblick eines Mädchens, 1 Willhart Schlegel, Körper und Seele. Eine Konstitutionslehre für Ärzte, Juristen, Pädagogen und Theologen. Verlag Enke, Stuttgart 1957.
* Die nunmehr zur Darstellung gelangenden Fälle stammen aus den Resten der durch einen Luftangriff zerstörten ehemaligen kriminalbiologischen Sammelstelle bei dem Gefängnis Berlin, Lehrter Straße. Meistens werden Akteninhalte, ergänzt durch neuerliche Nachfragen, vorgelegt. Vereinzelt konnten auch persönliche Verbindungen zu den Probanden geschaffen werden.
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das sich die Strumpfbänder ordnete. Er lockte es in den Heizraum der Schule, um es unsittlich zu berühren. Als es sich wehrte, würgte er es, schlug es mit einem Knüppel auf den Hinterkopf, öffnete die Ofenklappe und stieß es mit dem Kopf nach unten in die Glut. Gemäß §§ 176 und 212 unter Anklage gestellt, wurde er zu 15 Jahren Zuchthaus und Entmannung verurteilt. Diese lehnt er entschieden ab. Wenn man ihn zum Krüppel mache, so sei das unverantwortlich; er stößt Drohungen aus und leistet starken inneren Widerstand. Trotzdem wird die am 12. 5.1937 angeordnete Entmannung am 28.10.1937 — in seinem 51. Lebensjahr — durchgeführt. Ihr folgen 3 Nachuntersuchungen, und zwar nach 2 Monaten, 1,1 und 3,1 Jahren. Bei der ersten Untersuchung klagt er über Schmerzen in der Steißbeingegend, bei der zweiten über Herzbeschwerden, bei der dritten wird ein erneutes Wachstum der Kopfhaare auf der früheren Glatze festgestellt. Bei jeder Untersuchung meldet er Kopfschmerzen, wie sie früher schon seine Schulleistungen beeinträchtigt haben. Das Geschlechtsverlangen ist sofort mit der Operation erloschen. Er verspürt keinerlei Regungen mehr. Die gleiche Fehlanzeige wiederholt er bei den folgenden Untersuchungen. Während er sich anfangs „nicht unzufrieden" zeigt, wird seine Opposition später wieder wach: „Ich hielt es nicht für nötig". Die Ehefrau, welche anfangs noch zu ihm hielt, ließ sich später scheiden. Er klagt: „Ich kann keine neue Ehe eingehen". Psychische Störungen treten nicht auf. In der Strafverbüßung benimmt er sich höflich, fast devot. Er zeigt sich verträglich; seine Stimmung ist gleichmäßig, er wirkt fast affektarm. Unter Spannungen hat er nicht mehr zu leiden. Inzwischen ist er verstorben. Einzelheiten konnten nicht mehr ermittelt werden. 2. Fall H , geb. 12. 2. 1910. Ein trübes Famalienbild! Der Vater war ein einfältiger Mensch, 2 seiner (des Vaters) Geschwister waren angeblich geisteskrank. Die Mutter hatte eine angeborene Mißbildung: ihre Haare waren bis an die Augen gewachsen. Nach ihrem Tode heiratete der Vater eine Frau, die 3 uneheliche Kinedr in die Ehe mitbrachte. 2 seiner Schwestern waren von Kindheit an blöde und wurden sterilisiert. In der Schule wurde er nur deswegen versetzt, weil er nicht mit kleineren Kindern zusammenbleiben sollte; aus der vorletzten Klasse wurde er entlassen. Den Plan, Schmied zu werden, gab er bald auf. Er arbeitete in der Landwirtschaft. 1927 kam er nach Berlin, wo er bei seinem Onkel als Kohlenträger und Kutscher tätig war. Mittelgroß, von kräftigem Knochenbau, gehörte er zum pyknischen Typ. Auffallend sind seine starken Gelenke. Wegen Schwachsinns mittleren Grades wurde ihm später § 51 Abs. 2 zugebilligt. Er ist nicht vorbestraft, ledig. Geschlechtsverkehr mit weiblichen Wesen hat er nie gehabt. Seit dem 20. Lebensjahr betrieb er Onanie. Erektionen stellten sich nur ein beim Anblick von Knaben. Er lockte einen 8jährigen Jungen an sich, stach mit dem Messer in dessen Hals und zerschnitt den ' Kehlkopf sowie die Speiseröhre. Einige Zeit noch hielt er sein Opfer aufrecht im Arm, wobei sich seine geschlechtliche Erregung bis zum Samenerguß steigerte. Dann ließ er den sofort an Verblutung gestorbenen Jungen zu Boden gleiten und schleifte die Leiche an einen Zaun. Das Urteil lautet auf 15 Jahre Zuchthaus, Entmannung und Unterbringung in einer Heilanstalt. Er wird genannt „ein schwachsinniger Mensch, dessen geschlechtliches Erleben auf der niederen Stufe der Selbstbefriedigung ohne erotische Zielsetzung stehengeblieben ist". Die Tat sei ein reiner Lustmord, eine sadistische Triebhandlung des geistig und sexuell tiefstehenden Täters. Zu einer eigenen Stellungnahme ist er unfähig. Der Eingriff wird am 19. 6.1935 vorgenommen; er ist 25,4 Jahre alt. Nachuntersuchungen erfolgten nach 21k und 5 Jahren. An körperlichen Folgen stellten sich ein: häufigere Schweißausbrüche und damit ein vermehrtes Flüssigkeitsbedürfnis sowie ein Nachlassen des Bartwuchses. Zum Schluß hat er „nicht die geringsten Beschwerden" vorzubringen. Auch psychische Störungen sind nicht nachweisbar. Seine Stimmung ist zuweilen leicht gedrückt bis traurig. Das Geschlechtsverlangen ist alsbald nadi der Operation erloschen und nie wieder aufgewacht. Ihm ist das alles gleichgültig. Im Zuchthaus führt er sich gut, seine Arbeitsleistungen sind durchschnittlich. Er pflegt Briefverkehr mit dem Vater, ist gut lenkbar, aber stumpf und ohne Interessen. Beim Zusammenbruch saß er im Zuchthaus Sonnenberg (Neumark) ein. Über sein Schicksal nach dem Zusammenbruch konnte nichts ermittelt werden.
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3. Fall B geb. 21.10. 1905. B. ist in geregelten Verhältnissen aufgewachsen. Hinter ihm stand ein wohlgeordnetes Elternhaus, das Verständnis sogar für die Abartigkeiten des Sohnes zeigte und den Faden auch nach der Bestrafung nicht abreißen ließ. Ein Vetter väterlicherseits starb in der Irrenanstalt. Die 3 Geschwister haben, soweit bekannt ist, eine normale Entwicklung genommen. B. besuchte die Oberrealschule bis Obertertia. Besonderes Interesse zeigte er für Sprachen und Kunst. Er spielte Geige und Cello, malte und betätigte sich literarisch. Um möglichst viele erotische Erlebnisse zu haben, wurde er Hotelpage. B. ist ein mittelgroßer Mann mit kräftiger Muskulatur, von pyknischem Körperbau; er wirkt etwas feminin. Von hoher Intelligenz, mit einer beträchtlichen Neigung zum Renommieren, zeigt er sich geschmeidig und skrupellos. Er ist ledig. Als Tertianer wurde er von einem Lehrer geschlechtlich mißbraucht; der Lehrer ist deshalb bestraft worden. Dieses Erlebnis habe ihn in die homosexuelle Richtung gedrängt. Mit 14 Jahren pflegte er eine Freundschaft mit einem Bildhauer, wobei sexuelle Beziehungen entstanden. Von Frauen fühlte er sich angeekelt. Er beging Sittlichkeitsverbrechen an mehreren Knaben. Seine homoerotische und homosexuelle Veranlagung führte schließlich zur Tötung eines 16jährigen Jungen, dem er im Erregungszustand schwere Verletzungen am Halse beigebracht und die Geschlechtsteile abgeschnitten hatte. Das Urteil nennt ihn einen schizoiden Psychopathen mit homosexueller Neigung, fetischistischen und masochistischen Zügen. Nach 2 Vorstrafen gemäß § 176/3 wird er gemäß §§ 173/3 und 212 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Der am 14.12.1934 vorgenommenen Entmannung folgen Nachuntersuchungen nach 2,2 und 5,3 Jahren. Das anfänglich stark gestiegene Körpergewicht normalisiert sich wieder. Objektiv ohne Befund, klagt er über krampfartige Schmerzen in der Gegend des fehlenden rechten Hodens, Mattigkeit im ganzen Körper, Angstbeklemmungen, Blutwallungen zum Kopf und starke Schweißausbrüche bei psychischer Erregung. Gelegentlich zeigt er Verstimmungszustände, die sich einmal zu einem »Selbstmordversuch steigern. Urteilskraft, Gedächtnis und Merkfähigkeit sind gut. Die Potenz erlosch sofort, die Libido nach einem Vierteljahr. Er empfindet nunmehr Ekel vor jeder erotischen Vorstellung und klagt über eine Leere in seinem Innenleben infolge Fehlens jeder Geschlechtsempfindung. Bei der zweiten Untersuchung werden blutunterlaufene Stellen an Brust und Hals festgestellt, die er durch einen Überfall Mitgefangener erklärt, die aber als aus der nicht erloschenen masochistischen Neigung stammend bezeichnet werden. Er mußte wegen Ausfallerscheinungen behandelt werden, ist unzufrieden, verbittert, fühlt sich „mädchenhaft" und hat Ekel vor allen Menschen. Während der Strafverbüßung zeigt er sich verträglich und diszipliniert. Seine Leistungen sind überdurchschnittlich. In der Freizeit beschäftigt er sich mit Zeichnen und Schnitzen; er ist Buddhist geworden. Die guten Beziehungen zu den Eltern sind erhalten geblieben. Mit diesen Feststellungen sind die Nachuntersuchungen amtlich abgeschlossen. Weitere Bestrafungen sind nicht mehr erfolgt; er ist nach Wien verzogen. § 17
Notzucht
1. Fall W geb. 11. 9. 1910. Der Vater ist im Kriege gefallen. Die Mutter sowie der Bruder sind gesund und unauffällig. W. besuchte die Volksschule bis zum 9. Lebensjahr und kam anschließend in Fürsorgeerziehung, die er teils in der Anstalt, teils bei einem Bauern verbrachte. Später war er 2 Jahre bei Siemens tätig, wurde alsdann Transportarbeiter und schließlich erwerbslos. W. ist ein mittelgroßer Mann mit schlankem Knochenbau und auffallend schmalem Brustkorb, ein Astheniker. Geistig wirkt er stumpf, beschränkt, gleichgültig. Als Kind litt er an Krämpfen, die einen Sprachfehler zur Folge hatten. Er ist ledig. Nach einer Vorstrafe gemäß § 176/3 wurde er 1933 erneut einschlägig verurteilt. Schwerste unzüchtige Handlungen unter Gewaltanwendung an einem 8jährigen Mädchen, das sich heftig gesträubt hatte, brachten ihm IV2 Jahre Zuchthaus ein. Am 9. 8.1935 entlassen, versuchte er, am 4. 12. 1935 seine Mutter zu vergewaltigen. Er würgte sie am Halse, warf sie mit Gewalt über das Bett, drückte das Kopfkissen auf ihr Gesicht, als sie um Hilfe rief.
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Das Urteil des Sachverständigen nennt ihn „einen triebhaften Menschen mit psychopathischer Konstitution". Es erfolgte nunmehr gemäß § 176/1 eine Verurteilung zu 2 Jahren Zuchthaus und zur Entmannung. Er ist 26 Jahre alt, als sie am 25. 9. 1936 vorgenommen wird. Ihr folgen 3 Nachuntersuchungen, und zwar nach 5 Monaten, 1 Jahr und 5,9 Jahren. An körperlichen Auffälligkeiten wird lediglich verstärkter Schweiß gemeldet. Auch psychische Störungen haben sich nicht eingestellt. Er ist der gleiche intellektuell minderwertige, beschränkte Mensch geblieben, stumpf, lustlos, gleichgültig, gefühlsarm. Als einzige Änderung wäre zu melden eine gewisse Stimmungslabilität: er weint leicht. Libido und Potenz sind etwa 3 Wochen nach der Operation erloschen. Eine letzte Regung zeigt sich noch eine Weile in der Beteiligung an der Erzählung sexueller Anekdoten. Dann erlischt auch diese. Seine Einstellung ist zunächst uneinheitlich. Er sieht berechnend den Gewinn in Gestalt der künftigen Vermeidung ähnlicher Straftaten und ihrer Folgen; andererseits zeigt er eine gewisse Verstimmung wegen etwaiger Schädigungen. In den späteren Untersuchungen äußert er sich befriedigt. Im Zuchthaus wie auch im nachfolgenden Gefangenenlager befleißigt er sich einer guten Führung. Seine Arbeitsleistungen sind normal; Freizeitinteressen hat er nicht. Die Mutter hat ihm seinen Uberfall nicht nachgetragen. Sie schreibt ihm während der Strafverbüßung und nimmt ihn nach der Entlassung wieder in ihre Häuslichkeit auf. Er findet eine Stelle als Transportarbeiter. Ein am 28. 3.1957 eingeholter Strafregisterauszug weist aus, daß er 1938 wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängnis und 1941 wegen Unterschlagung und Arbeitsuntreue zu 4 Monaten und einer Woche Gefängnis verurteilt wurde. Neue Sittlichkeitsdelikte sind nicht mehr vorgekommen. 2. Fall P geb. 23.4.1893 P. ist unehelich geboren. Mutter und Geschwister sind gesund und zeigen keine Auffälligkeiten. Über die Entwicklung während der Kindheit und Schulzeit liegen keine Nachrichten vor. Eine Berufsausbildung hat er nicht genossen. Zuletzt war er Bauarbeiter. P. ist ein mittelgroßer Mann in gutem Gesundheitszustand, mit kräftigem Knochenbau. Er tritt ruhig und geordnet auf. Eine von ihm geschlossene Ehe, aus der ein Kind entsprang, wurde alsbald wieder geschieden. 2mal ist er wegen Notzucht gemäß § 177 verurteilt, und zwar zu 3 und 8 Jahren Zuchthaus. 1920 hatte er eine 47jährige Frau überfallen, wobei er ein geöffnetes Messer in der H a n d hielt. 1921 überfiel er eine 66jährige Ehefrau, an der er 4mal den Beischlaf vollzog. 1925 aus der Strafhaft entlassen, stand er bis 1928 wegen Sittlichkeitsverbrechen 3mal unter Anklage, ohne daß er überführt werden konnte. 1928 überfiel er eine 38jährige Ehefrau. Das Sachverständigengutachten nennt ihn „einen gefühlsrohen Menschen, der keinerlei Reue zeigt". Seine Entmannung sei nötig, um den gesteigerten Geschlechtstrieb zum Erlöschen zu bringen. Der Eingriff wird am 6. 2. 1935 vorgenommen. 2 Nachuntersuchungen, 2,6 und 6,4 Jahre nach der Operation erfolgt, zeigen, daß nach anfänglichem großen Flüssigkeitsbedürfnis und Blutandrang nach dem Kopf eine völlige Normalisierung des Befindens eingetreten ist. Er hat keine Beschwerden mehr vorzubringen. Der psychische Befund zeigt eine zunehmende Vergeßlichkeit, Abnahme der Energie und zuweilen Depressionen. Libido und Potenz sind sofort nach der Operation erloschen. Er ist anfangs zufrieden, macht aber später Einwendungen. Beide Berichte stammen aus der Freiheit. Dort hat er einen Arbeitsplatz gefunden. Er gilt als fleißiger, tüchtiger Arbeiter und bewegt sich unauffällig. Seine soziale Haltung ist einwandfrei. Laut Bundesstrafregisterauszug vom 27. 2.1957 sind weitere Bestrafungen nicht erfolgt. 3. Fall Sch. . . ., geb. 16. 2. 1900. Die Eltern und 4 Geschwister sind gesund und unauffällig. Über die Entwicklung während der Kindheit und Schulzeit ist nichts bekannt. Eine Berufsausbildung genoß er nicht. Von pyknischem Körperbau, ist er mittelgroß und kräftig. Seit dem 14. Lebensjahr ist das rechte Hüftgelenk nach einer Entzündung versteift. Das rechte Bein ist 2 cm länger, er hinkt rechts herüber. Psychisch bietet er das Bild eines ruhigen, beherrschten, geordneten Menschen, dessen intellektuelle Fähigkeiten normal sind. Gestört ist sein Triebleben. Bereits mit 14 Jahren ließ er sich sexuelle Verfehlungen zuschulden kommen. Von 1914 bis 1933 wurde er wegen Notzucht und versuchter Notzucht 5mal gemäß § 177 bestraft. Im Anschluß an die letzte, auf 4 Jahre Zuchthaus lautende Strafe wird
Sadismus
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nachträglich die Entmannung angeordnet. Die Ausführung seiner Verbrechen wird eine brutale, fast tierische genannt. Nach dem Urteil des Sachverständigen bedeutet er eine erhebliche Gefahr für das Leben der Frauen auf dem Lande. Seine Ehe wurde geschieden. Dem am 22. 1. 1935 vollzogenen Eingriff folgen Nachuntersuchungen nach 3 und 5,5 Jahren. Bei der ersten meldet er wöchentlich etwa ein Mal auftretende Angstzustände und Schwindelanfälle mit Schwarzwerden vor den Augen; sie dauern 5 Minuten, künden sich auch vorher deutlich an. Schweißausbrüche haben ein großes Flüssigkeitsbedürfnis zur Folge. Diese Beschwerden sind jedoch bei der 2. Untersuchung nahezu verschwunden. Nur selten noch stellt sich Blutandrang nach dem Kopf mit Kribbeln und Hitzegefühl ein. Psychische Störungen werden nicht gemeldet. Libido und Potenz sind nach etwa 1 Jahr erloschen, was er mit Befriedigung feststellt. Nach der Entlassung ist er im väterlichen Geschäft als Motorführer tätig. Er liest viel, nimmt am geselligen Leben teil, besucht auch Tanzvergnügen. 1938 schließt er eine neue Ehe mit einer Frau, die unfruchtbar ist. Die Ehe gestaltet sich glücklich. Nach seiner Darstellung ist in größeren Abständen auch intimer Verkehr möglich. An seinem Arbeitsplatz zeigt er sich verträglich und kameradschaftlich; daneben unterhält er freundschaftlichen Verkehr im Bekanntenkreis und ist für jeden Sport aufgeschlossen. Neue Bestrafungen sind laut Registerauszug vom 5. 3.1957 nicht mehr erfolgt. § 18
Sadismus
1. Fall 2 , geb. 4. 5. 1908. Z. ist unehelich geboren. Der Erzeuger ist nicht bekannt. Auch die Mutter, eine Schweizerin, ist ihm nicht bekannt; sie ist 1923 gestorben. Von Pflegeeltern erzogen, erreichte er in der Volksschule die 1. Klasse. Eine Berufsausbildung erfolgte nicht. Vorübergehend arbeitete er bei Siemens, mußte aber die Tätigkeit wegen Zerstreutheit aufgeben. 8 Jahre war er als Bürogehilfe tätig, zuletzt als Buffetier. Z. ist ein mittelgroßer Mann mit grazilem Knochenbau und flachem Brustkorb, ein Astheniker. Seiner Persönlichkeit nach wird er gekennzeichnet als ein weichlicher, willensschwacher, unstäter Degenerierter mit hysterischem Einschlag, der sich Fantasiebildern und Wunschträumen hingibt, geistig hochgradig minderwertig; er ist ledig. Vom 10. Lebensjahre an begann er zu onanieren. Mit Frauen hat er nie Verkehr gehabt. Immer fühlte er sich zu Knaben hingezogen. Sein Geschlechtstrieb ist eindeutig in die Richtung sadistischer Mißhandlung von Knaben abgeirrt. Er schlägt mit Ruten auf Schüler ein, sticht mit dem Taschenmesser in das Gesäß der Jungen. Sein starker Geschlechtstrieb, dem er hemmungslos nachgibt, ist besonders gefährlich für die männliche Jugend und bringt die Gefahr eines Lustmordes mit sich. Nach einer Vorstrafe von 2V2 Jahren Gefängnis wegen Sittlichkeitsverbrechen in 8 Fällen, darunter 3mal in Einheit mit Körperverletzung, wird er nunmehr wegen der gleichen Delikte gemäß §§ 176/3 und 223 zu 1 Jahr 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Die ebenfalls angeordnete Entmannung wird am 25. 1. 1935 vollzogen. Später hat er angegeben, daß er unter dem Zwang: Entmannung oder Konzentrationslager gestanden habe. Bei Vornahme des Eingriffs ist er 26,8 Jahre alt. Ihm folgen 2 Nachuntersuchungen, nach 2,4 und 6 Jahren. Es haben sich starke Fettpolster an Brust und Bauch gebildet. Er klagt über schnelle Ermüdbarkeit und fühlt sich schwach. Der psychische Befund läßt erkennen, daß „keinerlei psychische Dauerstörungen vorliegen, wohl aber ein starkes Überwiegen der affektiven Momente über die verstandesmäßigen". Er neigt zu pathologischen Reaktionen auf affektiver Grundlage. Die 2. Untersuchung nach 6 Jahren ergibt ein noch wesentlich ungünstigeres Bild. Er wird geschildert als weich, weinerlich, rührselig, unterwürfig, deprimiert, teilnahmslos. Die Merkfähigkeit ist gestört, der Gedankenablauf gehemmt; er leidet unter starker Vergeßlichkeit. Nach seinen eigenen Angaben, denen jedoch kein Wert zukommt, ist die Libido erloschen. Er kokettierte aber in weibischer Art und gab sich zu masochistischen und sadistischen Spielereien her, wobei er sich mehr passiv-masochistisch verhielt. Die 2. Untersuchung stellt fest, daß Libido und Potenz erloschen sind und die sadistische Komponente verschwunden ist. In seinem soziologischen Verhalten wird er hinterhältig, unaufrichtig, intrigierend genannt.
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Die weiteren Ermittlungen ergaben das folgende: es stellten sich schwere körperliche und seelische Schäden ein wie Ausfallerscheinungen und Depressionen, weshalb er 2 Jahre in der Heilanstalt zubringen mußte. Die Ausfallerscheinungen machten Hormonbehandlungen nötig. 2mal ist ein einschlägig rückfällig geworden. Am 15. 5. 1946 wird er wegen Unzucht mit Kindern zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt, am 18.12.1951 wegen des gleichen Delikts zu 6 Monaten. Er hatte einen Knaben in seine Wohnung gelockt, bewirtet, ihm mit einem elektrischen Kabel einen Schlag auf das entblößte Gesäß versetzt. Über ihn sei der Drang gekommen, eine körperliche Reaktion durch das Schlagen des Knaben zu suchen. Er gab an, daß seine Neigungen zur Perversität nicht verschwunden seien. Nach dem ärztlichen Gutachten wurde die sadistische Veranlagung durch die Kastration nicht beeinflußbar. Die sexuelle Neurose ist so fest verankert, daß man sie nicht mehr durch therapeutische Behandlung lösen kann. Er ist körperlich und seelisch völlig abgebaut. Ihm gebührt § 51, Abs. 2. Die Voraussetzungen für § 42 b sind gegeben. Dauernde Unterbringung in einer Pflegeanstalt ist not. Zu der beantragten Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt kann sich das Gericht trotz erheblicher Bedenken nicht entschließen. Es rät dem Angeklagten, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Bei Rückfall allerdings werde Einweisung in die Pflegeanstalt erfolgen. 2. Fall K , geb. 8. 2. 1906. Die Eltern und 5 Geschwister sind gesund und ohne Auffälligkeiten. Er erreichte in der Gemeindeschule die 2. Klasse. Nach der Entlassung war er 1 Jahr lang Klempnerlehrling, dann Arbeitsbursche. Darauf erlernte er 4 Jahre hindurch die Gärtnerei, ohne allerdings eine Abschlußprüfung zu machen. Schließlich war er arbeitslos und trieb sich herum. K. wird als Pykniker bezeichnet: mittelgroß, mit kurzen, dicken Gliedmaßen und einem plumpen Knochenbau. Auffällig ist seine kindlich-weiche Gesichtsbildung. Der psychische Befund zeigt keine Besonderheiten. Er ist ruhig, fast temperamentlos, aber offen und zugänglich, intellektuell duchschnittlich ausgerüstet. Eine Ehe hat er nicht geschlossen. 2mal wurde er wegen Körperverletzung geringfügig bestraft. Ohne jeden Anlaß fiel er über kleine Mädchen her und schlug sie mit Stöcken, Stricken oder Ruten, bis sie blutunterlaufene Stellen bekamen. Das befriedigte ihn geschlechtlich. Er wurde der Schrecken seiner Wohngegend. Laut ärztlichem Gutachten ist er ein Mensch mit sehr starkem Geschlechtstrieb, der noch dazu mit einem dem Sadismus ähnlichen Trieb verkoppelt ist. Der Geschlechtstrieb ist das Primäre, der Sadismus das Sekundäre. Das Urteil nennt ihn einen gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher, dessen Trieb sich zum Lustmord steigern kann. Er sei eine Persönlichkeit mit eingewurzeltem inneren Hang zu Sexualverbrechen. Eine hohe Bestrafung ändere nichts an seiner Veranlagung. Er werde immer wieder Sittlichkeitsverbrechen begehen. Wegen unzüchtiger Handlungen an Kindern in 5 Fällen, davon in 4 Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, wird er nunmehr gemäß §§ 176/3 und 223 zu 4 Jahren Gefängnis und Entmannung verurteilt. Sie wird am 18.4.1935 vollzogen. Er ist 29,2 Jahre alt. Die Nachuntersuchung ergibt: Es hat sich ein Fettpolster an den H ü f t e n gebildet. Das subjektive Gefühl des Wohlbefindens ist gestiegen. Während er früher oft nervös und schlaflos gewesen sei, fühle er sich jetzt besser. Libido und Potenz sind sofort nach der Operation erloschen; er ist zufrieden. Für seine einstigen Verbrechen an Kindern weiß er keine Erklärung; er kann sie gar nicht, mehr begreifen. Im Strafgefangenenlager sind Führung und Arbeitsleistung gut. Nach der Entlassung lebt er bei den Eltern. Er ist als Bauarbeiter und Mitfahrer tätig. Zu den Arbeitskameraden hat er ein gutes Verhältnis. Daneben betätigt er sich sportlich. Weitere Bestrafungen sind laut Strafregisterauszug Berlin-West vom 16. April 1956 nicht mehr erfolgt. 3. Fall K . . . ., geb. 1. 3. 1891. Der Vater starb an Altersschwäche. Von 3 Geschwistern sind 2 tot. Irgendwelche Belastungen werden nicht gemeldet. Uber Kindheit und Schulzeit ist nicht* bekannt. Er war später Inhaber eines Elektrogeschäfts und hat als Kaufmann großen Umsatz gehabt.
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Zum asthenischen Körperbau gerechnet, wird er als mittelgroß und kräftig geschildert. Im psychischen Befund wird er geordnet, ohne jede Besonderheit, intellektuell normal genannt. Er hat sich als ein sehr sparsamer und fleißiger Mann erwiesen. Zu Frauen hat er sich nie hingezogen gefühlt, infolgedessen auch keine Ehe geschlossen. Ein entartetes Triebleben zog ihn zu Knaben, auf die er einschlug, und die er Jahre hindurch mißbrauchte. Er litt sehr unter diesem Zustand, gegen den er durch N a t r o n und kalte Spülungen anzukämpfen versuchte. 3mal hat er einen Selbstmordversuch gemacht. 1925 warf er sich vor einen Autobus. Der rechte Fuß mußte amputiert werden, das linke Bein war gebrochen, der linke Arm blieb versteift. Nach 2 Vorstrafen gemäß §§ 176/3, 171/1, 175 wird nunmehr die Entmannung angeordnet. Der Sachverständige bezeichnete ihn als einen Menschen, der hemmungslos von einem anormalen Trieb beherrscht sei. Der körperlich verwurzelte Geschlechtstrieb werde durch den Eingriff zum Ruhen gebracht oder sehr stark abgeschwächt werden. Die Operation wird am 20. 6. 1934 vollzogen; er ist 43,3 Jahre alt. Ihr folgen 2 Nachuntersuchungen, und zwar nach 3,9 und 8,3 Jahren. Weder körperlich noch psychisch haben sich nachteilige Folgen eingestellt. Über das Verschwinden von Libido und Potenz ist er sehr glücklich. In der Strafanstalt f ü h r t er sidi einwandfrei; er ist arbeitswillig, verträglich, aufgeschlossen. Nach der Entlassung wird er Lagerverwalter in einer chemischen Fabrik. Er lebt anspruchslos, ist interessiert für Kunst, Sport, Religion. Kameradschaftlich, ohne geschlechtliche Beziehungen, lebt er mit einer Frau zusammen. Auf einem von ihm bearbeiteten Grundstück hat er sich ein Häuschen gebaut. Am 9. 3.1937 wurde er wegen ordnungswidriger Entnahme elektrischer Energie zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Sittliche Verfehlungen sind laut Bundesstrafregisterauszug vom 9. 5. 1956 nicht mehr vorgekommen. § 19
Exhibitionismus
1. Fall M , geb. 2. 7. 1910. M. ist unehelich geboren. Den Vater hat er nie gesehen; dieser war Innenarchitekt, 2mal verheiratet, hatte eheliche und uneheliche Kinder. Eine Schwester des Vaters endete durch Selbstmord, eine andere war „hysterisch und reizbar". Die Mutter des Vaters war „hysterisch und sensibel"; sie schlug sadistisch. Die unverheiratete Mutter des M. war als Köchin in einem größeren Haushalt tätig. Er wuchs bei Pflegeeltern ohne Liebe auf; seit dem 10. Lebensjahr lebte er mit der Mutter zusammen. Gut begabt und geistig sehr rege, besuchte er das Gymnasium, studierte erst Jura, dann Volkswirtschaft, promovierte, kam aber wegen seiner Vorstrafen bei Behörden nicht an. M. ist mittelgroß, Astheniker. Der Knochenbau ist kräftig, die Gesichtsbildung etwas kindlich. Psychisch wirkt er noch etwas unausgereift. Er wird affektlabil genannt, reizbar, willensschwach, durch Hänseleien wegen seiner unehelichen Geburt trotzig geworden, verschlossen und mißtrauisch. In der Volksschule wurde er zur Onanie verleitet. Im Hause der Mutter war er Zeuge erotischer Szenen. Mit 13 Jahren hatte er den ersten Verkehr mit einem Mädchen. 4 Jahre hindurch stand er in einem homosexuellen Verhältnis zu einem älteren Mann, in dessen völlige Abhängigkeit er geriet. Der Verkehr mit Frauen befriedigte ihn nicht vollständig. Er ging „die ganze Skala der Abnormitäten" durch und verlebte fast keinen Tag ohne irgendeine geschlechtliche Betätigung. Auch eine psychoanalytische Behandlung änderte nichts daran. Vorherrschend wurde der Zeigetrieb. Er exhibierte und onanierte vor Kindern und suchte sie zur Unzucht zu verleiten. Nach dem Sachverständigengutachten besitzt er ein ungewöhnlich starkes Triebleben, einen großen Reizhunger und Abwechslungstrieb, bedingt durch Überschwemmung des Blutes mit Hormonen. Nach 2 Geldstrafen wird er gemäß §§ 183 und 176/3 zu 1 Jahr Gefängnis und zur Entmannung verurteilt, die er auch selber wünscht. Sie wird am 29. 3.1938 vollzogen; er ist 27,8 Jahre alt. Es folgen 3 Nachuntersuchungen, vorgenommen 1 Monat, 1,7 und 4,5 Jahre nach der Operation. Das Körpergewicht pendelt sich nach anfänglicher Abnahme und folgender starker Zunahme wieder auf das normale Gewicht ein. Beklagt wird ein häufiger Blutandrang zum Kopf und eine allgemeine körperliche Schwäche. Es stellen sich des öfteren Depressionszustände ein;
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Energie und Ausdauer haben nachgelassen. Die Libido meldet sich noch etwa 1 J a h r hin und wieder, zumal bei nächtlichen T r ä u m e n ; sie ist wesentlich geringer als früher. Gelegentliche Selbstbefriedigung bringt noch ein geringes Ejaculat. Er ist einigermaßen zufrieden. In der Strafanstalt befleißigt er sich eines korrekten Verhaltens. Nach der Entlassung ist er als K a u f m a n n tätig. Dabei zeigt er ein großes Arbeitsinteresse, klagt allerdings über Nachlassen der Ausdauer. 28 J a h r e alt, schließt er mit einer 48jährigen Künstlerin eine Ehe, die sich sehr glücklich gestaltet. Angeblich ist ein 14tägiger N o r m a l verkehr ohne Manipulationen möglich. Sein Verhältnis zur E h e f r a u wie auch zur Mutter ist ein sehr inniges. Er pflegt Geselligkeit und zeigt sich kunstliebend. Die weiteren Ermittlungen haben ergeben, d a ß neue Bestrafungen nicht mehr erfolgt sind; er soll im Herbst 1948 nach U S A ausgewandert sein. 2. Fall St , geb. 1. 6. 1893. St. h a t eine normale Kindheitsentwicklung gehabt, auch die Schule regulär beendet. Von asthenischem Körperbau, ist er ein etwas weichlicher, sensibler Mensch. A n seiner Arbeit hatte er immer Freude. Nach anfänglicher Selbstbefriedigung pflegte er seit dem 16. Lebensjahr Geschlechtsverkehr mit Straßenmädchen. In dem 1920 geschlossenen Ehestand hatte er normalen Verkehr mit seiner Frau. Alkoholgenuß f ü h r t e aber jedes Mal zu erhöhter sexueller Reizbarkeit. Er ist 4mal nur einschlägig bestraft gemäß §§ 183, 185 und 176/3, zuletzt mit IV2 Jahren Zuchthaus. Bei der E n t m a n n u n g ist er 47 J a h r e alt. Ihr folgen 3 Nachuntersuchungen: nach 2 Monaten, 1,3 und 3,1 Jahren. Sie zeigen, d a ß Libido und Potenz mit der Operation erloschen sind. Er ist „vollauf zufrieden". Das Gewicht steigt zunächst um 9 kg, geht aber dann auf die normale H ö h e zurück. E r klagt über zeitweise drückende H i t z e im Kopf und nachfolgende starke Schweißausbrüche. Psychische Störungen haben sich nicht eingestellt. E r h a t keinerlei Einordnungsschwierigkeiten und ist ein guter, fleißiger Arbeiter. Auf Einladung erscheint er zu einer Unterredung. Er ist 63 J a h r e alt, die O p e r a t i o n liegt 16 Jahre zurück. In seinem A u f t r e t e n höflich und bescheiden, erklärt er sich bereit, Aussagen zu machen; er sehe das als seine Pflicht an. Die bereits f r ü h e r gemeldeten Schweißausbrüche sind geblieben: sie müssen nach seiner Meinung auf das K o n t o der O p e r a t i o n gesetzt werden. Dagegen hätten leichte Magenbeschwerden, rheumatische Schmerzen, deretwegen er zur Zeit krankgeschrieben sei, sowie Augentränen nichts mit dem Eingriff zu tun. Ein gewisses Nachlassen der K r ä f t e erklärt er aus dem f o r t schreitenden Alter. Doch h o f f t er, durch erneute Beschäftigung zusätzlich verdienen und schließlich den Anschluß an die Altersrente gewinnen zu können. Der Trieb, der sich anfangs noch zuweilen regte, ist völlig erloschen. Auch wenn er bei Richtfesten Alkohol genossen hat, bleibt die erhöhte sexuelle Reizbarkeit, die ihn f r ü h e r zu den Delikten trieb, aus. Seine Frau w a r immer sexuell zurückhaltend und entbehrt infolgedessen nichts. Beide Ehegatten denken gar nicht „an diese Dinge". Minderwertigkeitsgefühle sind nicht aufgekommen. Zusammen mit dem unehelichen Sohn der inzwischen verstorbenen Tochter führen sie ein friedliches Familienleben, pflegen nicht viel Verkehr u n d erfreuen sich an einem Garten. E r ist hochbefriedigt von dem Eingriff, d a n k b a r , f r e u t sich, d a ß es so gekommen ist, u n d bedauert, d a ß dieser nicht eher vorgenommen worden w a r . Die letzte Bestrafung w ä r e ihm dann erspart geblieben. N u n k a n n er keinen Schaden mehr anrichten. Deshalb b e f ü r w o r t e t er f ü r ähnliche Fälle Vornahme des Eingriffs, ist sich allerdings nicht klar darüber, ob er bei jedem in gleicher Weise w i r k t . Ebenso positiv äußerst sich seine E h e f r a u , die ihn bei seinem Besuch begleitete. L a u t Strafregisterauszug vom 2. Mai 1956 ist er seit der E n t m a n n u n g nicht mehr bestraft worden. 3. Fall W geb. 27. 6. 1888. Uber das Elternhaus ist nichts bekannt. Die Geschwister sind gesund. Seine Entwicklung verlief unauffällig; er ist verheiratet und hat ein K i n d . Von Körperbau Pykniker, tritt er ruhig und geordnet auf. Seine Begabung ist durchschnittlich. Neben normalem Geschlechtsverkehr mit seiner E h e f r a u neigte er zur Onanie im Anblick von Kindern. Er ist 3mal wegen Erregung von öffentlichem Ärgernis und l m a l wegen Sittlich-
Exhibitionismus
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keitsverbrechens vorbestraft. Nach einer erneuten einschlägigen Bestrafung wird die Entmannung angeordnet. An die Operation, die in seinem 49. Lebensjahr vorgenommen wird, schließen sich 3 Nachuntersuchungen an, nach 2, 3,2 und 5,5 Jahren. Sie zeigen übereinstimmend, daß Libido und Potenz alsbald nach der Operation erloschen sind. Onanieversuche wurden nicht mehr unternommen. Sowohl er als auch seine 47 Jahre alte Ehefrau waren einverstanden und äußerten sich zunächst zufrieden. Besondere körperliche und seelische Veränderungen werden nicht gemeldet. Das Gewicht bleibt unverändert. Ein anfangs gesteigertes Trinkbedürfnis normalisiert sich wieder. Kreuz- und Kopfschmerzen sowie Schwindelanfälle verschwinden alsbald. Dagegen wiederholt sich bei allen Nachuntersuchungen die Klage über ein empfindliches Nachlassen der Arbeitskraft. Er ermüdet leicht bei der Arbeit, hat aber Jahre hindurch denselben Arbeitsplatz inne, nimmt auch an den Geschehnissen des öffentlichen Lebens Anteil. Auf Einladung erscheint er am 19.11.1956 zu einer Unterredung. Er steht im 69. Lebensjahr, die Operation liegt 20 Jahre zurück. Abgesehen von einer leichten Schwerhörigkeit ist er frei von Gebrechen, ruhig und geordnet in seinem Auftreten. Nach Überwindung anfänglicher Scheu spricht er sich offen aus. An die Strafverbüßung schloß sich noch ein 6monatiger KZ-Aufenthalt an. Dann konnte er ungehindert seiner Tätigkeit als Monteur nachgehen. Seit 1953 bezieht er neben der aus einem Unfall stammenden Invalidenrente auch eine Altersrente; er hat sich jetzt vom tätigen Leben zurückgezogen. Krankheiten als Folge der Operation haben sich nicht eingestellt; von auffälligen Veränderungen weiß er nichts zu berichten. Wohl aber führt er wiederum nachhaltige Klage über das Absinken seiner Leistungsfähigkeit. Bei der Arbeit ermüdete er schnell und fühlte sich geschwächt. Er war ständig unpäßlich und leicht anfällig. Das Denkvermögen ließ nach. Bei Rechenaufgaben mußte er sich Hilfe erbitten. Früher habe er viel gelesen; jetzt mache es ihm Mühe, auch nur einen Satz zu verstehen. Von Triebregungen hat er nie irgendeine Spur gemerkt. Kinovorstellungen von intimen Dingen rufen keinerlei Empfindungen wach. Für ihn gibt es „keine Männer oder Frauen, sondern nur Personen". Früher kam „ein plötzlicher Anfall", wo er von nichts wußte und, vom Trieb gepeinigt, seine Delikte beging. Diese „Krankheit" ist behoben. In der ersten Zeit nach dem Eingriff war die Unmöglichkeit der Fortsetzung des ehelichen Verkehrs bitter, sowohl für ihn als auch für seine Ehefrau. Zum Glück waren die Zeiten so aufregend, daß geschlechtliche Wünsche ohnehin gedämpft waren. Obwohl er jetzt Ruhe hat und zufrieden lebt, spricht er sich mit aller Entschiedenheit gegen den Eingriff aus. Er würde seine Frau bitten, ihm „ganz strenge Zügel" anzulegen, auch sich selbst fesseln als Schutz gegen den „plötzlichen Anfall". Lieber würde er noch einmal ins Gefängnis wandern, lieber würde er sterben, als den Eingriff erneut machen lassen. Seine anfängliche Freude über das Verschwinden der „Krankheit" ist ins Gegenteil umgeschlagen. Der Grund für die veränderte Stellungnahme ist in den körperlichen Beschwerden zu suchen, mehr aber noch in schweren Minderwertigkeitsgefühlen, die sich nach der Operation einstellen. Dazu erklärt er: „In der ersten Zeit ist es erträglich. Sobald man aber merkt, daß der Trieb weg und alles leer ist, daß man ein Ausgestoßener ist, daß man sich als halbe Leiche fühlen muß, kommt der Zusammenbruch. Dieser ist so schwer, daß man entweder den Verstand verliert oder voll maßloser Verbitterung auf die Bahn des Schwerverbrechers getrieben wird. Vermieden werden kann er nur, wenn man starken Rückhalt an einer vertrauenswürdigen Person hat". Er hat diesen Rückhalt gefunden an seiner Frau, die unerschütterlich zu ihm hielt. Sie hörte nicht auf, ihn mit Briefen zu ermutigen, setzte seine vorzeitige Entlassung aus dem KZ durch, lehnte die ihr mehrfach angebotene Scheidung ab, verzichtete auf sexuelle Wünsche und begnügte sich mit einem kameradschaftlichen Zusammenleben. Zahlreiche Male während der Unterredung beteuert er, daß er nur seiner Frau das Leben verdanke. Ohne ihre kraftvolle und verständnisreiche Unterstützung wäre er an den Folgen des Eingriffs zugrunde gegangen. Deshalb würde er niemandem zu- oder abreden. Jeder müsse selber den Entschluß finden, sich aber darüber klar sein, daß er ohne Rückhalt an einem Menschen, der „seelisch hochbringt", oder „wenn die Gegenpartei nicht dafür ist", zugrunde geht.
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Seine Angabe, nach der Entmannung nicht mehr bestraft worden zu sein, wird durch den Strafregisterauszug vom 20. 4. 1956 bestätigt. § 20
Kinderschändung
1. Fall M geb. 1. 7.1894. Der Vater war ein kleiner Landwirt; die Mutter starb durch Unfall. Die Geschwister sind gesund und unauffällig; ein Bruder ist im Kriege gefallen. M. besuchte die Volksschule, erlernte das Schneiderhandwerk, führte daneben aber auch landwirtschaftliche Arbeiten aus. Mittelgroß, von kräftigem Körperbau, wird er Pykniker genannt. 1914 eingezogen, erkrankte er im Kriege an Malaria. Jetzt leidet er an einer Entzündung der Regenbogenhaut mit Sehnervenschwund; er wird völlig erblinden. Audi eine geringe Schwerhörigkeit liegt vor. In seinem Auftreten wirkt er affektlos, stumpf und gleichgültig. Eine gewisse geistige Beschränktheit ist unverkennbar; doch kann ihm der Schutz des § 51 nicht zugebilligt werden. Aus einer von ihm geschlossenen Ehe ist ein Kind hervorgegangen. Der Sachverständige hat an ihm keine gleichgeschlechtliche Veranlagung, wohl aber eine außerordentliche Triebhaftigkeit festgestellt. Bei seinem Mangel an Hemmungen sei ihm jedes Mittel recht, um an das Ziel seiner Wünsche zu kommen. Die drohende Erblindung werde seine Sinnenlust noch größer werden lassen. 3 Verurteilungen gemäß § 176/3 und eine gemäß § 175 liegen vor. Er hatte unzüchtige Handlungen an Mädchen und Jungen begangen, sowie widernatürliche Unzucht mit einem 15jährigen Knecht getrieben. Die Entmannung wird am 6. 11. 1936 vorgenommen; er ist 42,4 Jahre alt. Nachuntersuchungen erfolgen nach 3 Monaten, 1,2 und 5,2 Jahren. Beklagt wird eine aufsteigende Hitze sowie eine weitere Verschlechterung des Sehvermögens. Das Gesicht ist gealtert; am Bauch hat sich eine Fettansammlung gebildet. Der psychische Befund bringt nichts Neues, Auffälliges. Er ist nach wie vor affektlos und stumpf. Libido und Potenz sind sofort nach der Operation erloschen. Ihm ist das gleichgültig; die Ehefrau war mit der Entmannung einverstanden. Im Zuchthaus bewegte er sich unauffällig. Nach der Entlassung war er zunächst ohne Beschäftigung, gewann dann aber einen Arbeitsplatz. Behindert ist er durch sein schlechtes Sehvermögen. Er wohnt mit seiner Ehefrau zusammen, sorgt für seine Familie und lebt ganz zurückgezogen. Der Bundesstrafregisterauszug vom 28. 2. 1957 zeigt, daß weitere Bestrafungen nicht mehr erfolgt sind. 2. Fall A. .., geb. 29. 10.1906. Der Vater war Bauarbeiter. Die häuslichen Verhältnisse sind geregelt. A. ist der älteste von 6 Geschwistern, die alle gesund und unbestraft sind. In der Schule erreichte er nur die 3. Klasse. 3'/2 Jahre war er in einer Glashütte, später als Brunnenbauer, zuletzt auf dem Lande tätig. Er hat stets in Arbeit gestanden. Seinem Körperbau nach wird er asthenisch mit athletischem Einschlag, später mehr pyknisch genannt. Er hat angewachsene Ohrläppchen; ein krankhafter Befund ist nicht festgestellt. Psychisch wird er zugänglich und aufgeschlossen genannt. Sein Gedankenablauf ist leicht gehemmt, aber Störungen liegen nicht vor. Der Sachverständige nennt ihn einen leicht schwachsinnigen, debilen Menschen, dem aber der Schutz des § 51 nicht zusteht. Die Pubertät verlief ohne Besonderheiten. Der erste Geschlechtsverkehr erfolgte mit 17 Jahren; mit 24 Jahren schloß er eine Ehe, die sich gut gestaltete, und aus der 1 Kind hervorging. Daneben trieben ihn „psychischer Infantilismus und gesteigerte sexuelle Triebhaftigkeit" zu Vergehen an Kindern. Das Vorstrafenregister meldet 3 einschlägige Bestrafungen, sämtlich gemäß § 176/3. Nach erneuten Vergehen, diesmal begangen an der Stieftochter und dem eigenen Sohn, wird er nunmehr gemäß §§ 176/3 und 175 a zu 3 Jahren 6 Monaten Zuchthaus und zur Entmannung verurteilt. Es ist sein eigener Wunsch, von seiner sexuellen Ubererregbarkeit befreit zu werden. Der Eingriff wird am 28. 3. 1939 vorgenommen; er ist 32,5 Jahre alt. Es folgen 4 Nachuntersuchungen: nach 2 Monaten, 1 Jahr, 3,1 und 5 Jahren. Ein Fettpolster, das sich an Bauch und Hüften gebildet hatte, ist später wieder verschwunden; geblieben dagegen sind abwechselnd Hitze- und Kältegefühle. Anfängliche Depressionen weichen allmählich einer ausgeglichenen,
Kinderschändung
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schließlich sogar fröhlichen Stimmung. Er kann zum Schluß wieder herzhaft lachen. Die Libido ist mit der Operation erloschen. Anfängliche gelegentliche Erektionen verschwinden ebenfalls alsbald. Er ist zufrieden, weil er nun ruhig arbeiten kann und keiner Versuchung mehr ausgesetzt ist. In der Anstalt hat er sich gut geführt und fleißig gearbeitet. Nach der Entlassung lebt er mit der Ehefrau zusammen, die ihm verziehen hat. Er ist als landwirtschaftlicher Arbeiter tätig, fleißig, geschickt, ausdauernd, interessiert, ein ruhiger, zuverlässiger, verträglicher Mensch. Ein Strafregisterauszug vom 5. 9. 1956 zeigt, daß weitere Bestrafungen nicht vorgekommen sind. 3. Fall L , geb. 27. 6. 1879. Der Bruder der Mutter starb in der Irrenanstalt, ihre Schwester an Tuberkulose. Er selber ist nie ernstlich krank gewesen. Zeitweise betrieb er Alkoholabusus. Nach dem Urteil haben seine Nerven durch eine lange Kriegsdienstzeit stark gelitten. Von asthenischem Körperbau, wird er geschildert als ein willensschwacher, nicht offener, etwas hinterhältiger Mensch, intellektuell ohne Defekte. Er ist verheiratet und hat 2 Kinder. Nach dem Sachverständigengutachten leidet er unter einem krankhaften Trieb. Dieser hatte bereits zu 2 Verurteilungen gemäß § 176/3 geführt. Daneben ist er wegen Diebstahls geringfügig bestraft. Er meldet sich freiwillig zur Kastration, bei deren Vornahme er 57 Jahre alt ist. Ihr folgen 3 Nachuntersuchungen: nach 1 Jahr, 3,1 und 5,3 Jahren. Sie melden übereinstimmend das sofortige Erlöschen von Libido und Potenz. Jegliche Äußerungen von Sexualität sind verschwunden. Er ist sehr zufrieden und fühlt sich wohl. Das Gewicht sinkt um 6,5 kg. Ein Fettpolster bildet sich am Bauch. Krankhafte Veränderungen aber werden nicht gemeldet. Auch psychische Störungen bleiben aus. Er arbeitet in seinem Beruf weiter, steht in ständiger Beschäftigung und weist die gleichen Leistungen wie früher auf. Das Familienleben ist gut; die Frau hat sich abgefunden. Er ist ein verträglicher Mieter, der schon 33 Jahre im gleichen Hause wohnt, ohne Streit zu haben. Auf Einladung erscheint er am 2 9 . 1 1 . 1 9 5 6 zu einer Unterredung. Ruhig und freundlich in seinem Auftreten, erklärt er, es sei seine Pflicht, auszusagen. Doch bitte er sehr, von weiteren Nachfragen Abstand zu nehmen, da niemand etwas um ihn wisse und er sein Geheimnis nicht gefährdet wissen wolle. Sofort nach der Entlassung aus der Strafhaft hatte er wieder Arbeit in seinem Beruf gefunden. Von 1937 bis 1945 war er Kellner in einem großen Hotel. Nach dem Zusammenbruch suchte er sich andere Arbeit, stand vorübergehend im Dienst der Amerikaner und kehrte danach in das langsam wieder anlaufende Hotelgewerbe zurück. Er war in einem Gartenlokal tätig, bis eine Erkrankung seiner Tätigkeit ein Ende setzte. Seit 1952 ist er Rentner. Nach wie vor hat er die gleiche Wohnung inne, die er jetzt mit seinem unverheirateten Sohn teilt. Seine Delikte sind in Trunkenheit geschehen. Alkohol steigerte jedesmal den Trieb; ebenso sei es bei seinem Vater gewesen, der sich allerdings vor kriminellen Entgleisungen zu hüten verstand. Die Freiwilligkeit des Entschlusses war nur eine sehr bedingte. Er saß Wochen hindurch einsam in der Zelle. Depressionen stellten sich ein, die ihn an den Rand des Wahnsinns brachten. Nach der Meinung des Rechtsanwalts waren mildernde Umstände nur zu erwarten bei freiwilliger Meldung zur Kastration. So entschloß er sich nach langem Schwanken zur Operation. Sein» Frau bestärkte ihn in diesen Erwägungen, riet sehr zur Vornahme des Eingriffs und wies auf die schlimmen Folgen einer Ablehnung hin. Sie erkrankte 1937 an einem Unterleibsleiden, das auch in ihr sexuelle Wünsche ertötete. Mit kameradschaftlichem Zusammenleben einverstanden, hielt sie bei ihm aus, bis sie 1943 starb. Der Trieb war unmittelbar nach der Operation erloschen und hat sich nie mehr gemeldet. Gegen Reize, die von Frauen ausgehen, ist er unempfindlich. Krankheiten als Folge der Operation haben sich nicht eingestellt. Er kann heben, tragen, rennen, Treppen steigen. Seit 1953 leidet er an Angina pectoris und Kreislaufstörungen, die mit dem Eingriff nichts zu tun haben. Seine abschließende Stellungnahme ist die, daß ihm die Vornahme des Eingriffs nicht leid tut; er hat Ruhe gehabt, ist zufrieden und von schädlichen Nebenwirkungen verschont geblieben. Trotzdem stimmt er einem derartigen Eingriff nicht ohne weiteres zu. Die Verhältnisse müssen jedesmal geprüft werden; sehr wichtig ist die Stellungnahme der Frau. Ohne seelischen Rückhalt bei ihr ist es schwer, mit der Situation fertig zu werden. 9
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Wandlungen des Sittlichkeitsverbrechers
Laut Strafregisterauszug vom 23. 4. 1956 sind Bestrafungen seit der Operation nicht mehr erfolgt.
§ 21
Homosexualität
1. Fall C geb. 20. 6. 1910. Der Vater war Monteur. In geordneten Verhältnissen wuchs er als einziges Kind auf. Trotz Schwächlichkeit und gelegentlichen Heilstättenaufenthalten, weil er bis zum 12. Lebensjahr an Krämpfen litt, erreichte er in der Sdiule die 1. Klasse. E r war ein vergnügter, lustiger Junge. Nach dem Willen der Eltern sollte er Lehrer werden, verspürte aber keine Lust zu diesem Beruf. C. ist ein mittelgroßer Mann mit schmalem Brustkorb, an dem nichts Pathologisches festgestellt werden konnte, ein Astheniker. In seinem Auftreten ist er unauffällig, höflich, zurückhaltend, auffallend bescheiden. Für Mädchen hat er nie etwas übrig gehabt. Seine einzige Beziehung zum weiblichen Geschlecht ist eine im Alter von 22 Jahren begonnene vorübergehende Freundschaft mit einer um 8 Jahre älteren Frau, die bei ihm vergeblich Onanie versuchte. Seine sexuelle Betätigung begann er mit 17 Jahren. E r betrieb Onanie, die 2 Jahre später in der Begegnung mit einem Manne zu einer mutuellen wurde. Auf diesem Wege schritt er bei häufigem Partnerwechsel schnell voran, durchlebte alle Spielarten und wurde schließlich nach seiner Angabe in bündischer Jugendbewegung „ganz verdorben". E r litt unter dem pervertierten Trieb und suchte sich durch vermehrte Onanie zu retten. Aber der Trieb drang immer wieder durch. Den ärztlichen Rat, sich einmal bei einem Mädchen zu versuchen, konnte er wegen stärkster innerer Widerstände nicht durchführen. Das Strafregister weist keine Eintragungen auf. Laut einer Aktennotiz hat er sich selber 1936 wegen Verfehlungen gegen § 175 angezeigt und eine Strafe von 5 Monaten erhalten. Nunmehr stellt er den Antrag auf Entmannung, um Ruhe zu bekommen. Der Eingriff wird am 8. 2. 1938 vorgenommen; er ist 27,7 Jahre alt. Nach 2 Monaten, 1,1, 3 und 5,3 Jahren erfolgen Nachuntersuchungen. Das Körpergewicht steigt zunächst stark an bis zu 18 kg über den Normalzustand, nähert sich dann aber wieder ungefähr der normalen Grenze. Es bildet sich ein zunächst nicht umschriebenes Fettpolster, das sich später an der Brust lokalisiert. Er klagt über nervöse Herzbeschwerden und ist empfänglicher gegen Erkältungen. Anfangs zeigt er sich lebhafter und zugänglicher als früher; er ist glücklich über seinen Zustand. Später kommen leichte Depressionen über den Entmannungszustand auf. Libido und Potenz sind nach 1 Monat erloschen. Onanieversuche bleiben erfolglos. Sportzeitschriften können ohne Erregung studiert werden. Bei der 2. Untersuchung berichtet er, daß sich nach Alkoholgenuß hin und wieder, allerdings selten, noch einmal Erektionen einstellen. E r fühlt sich „geistig verbessert". Audi bei den späteren Untersuchungen äußert er sich befriedigt, ist aber leicht deprimiert. In der Anstalt zeigt er sich verträglich und pflegt ein enges Verhältnis zu seinen Eltern. Nach der Entlassung wohnt er bei diesen. Immer bei der gleichen Firma tätig, arbeitet er interessiert als Hilfsmonteur. Für Theater und Konzerte ist er aufgeschlossen. Anfängliche Heiratsabsichten gibt er wieder auf; er zieht es vor, bei den Eltern zu bleiben. Ein Strafregisterauszug vom 14. 8 . 1 9 5 6 zeigt, daß er sich straffrei gehalten hat. 2. Fall R geb. 31. 3. 1888. R . war als einziges Kind in einem wohlgeordneten Elternhaus aufgewachsen und hatte eine streng religiöse Erziehung genossen. Eine besonders enge Zuneigung verband ihn mit der Mutter. Seine Entwicklung verlief normal. In der Volksschule wies er gute Leistungen auf. Er war als Koch und Kellner in Offiziersmessen und Wirtschaften tätig; schließlich rückte er zum Geschäftsführer in einer Bahnhofswirtschaft auf. R . wird als ein mittelgroßer, mittelkräftiger Mann ohne Auffälligkeiten, in gutem Gesundheitszustand geschildert und Astheniker genannt. In seinem Auftreten ist er ruhig, geordnet, etwas weich und empfindsam, leicht beeinflußbar. Intellektuell ist er gut ausgestattet. Mit 12 Jahren begann er Onanie zu treiben. Im Alter von 17 Jahren erfolgte der erste Verkehr mit einem weiblichen Wesen, wobei er der passive Teil war und nur selten Neigung verspürte. Später ging er aus wirtschaftlichen Gründen eine Zweckheirat ein, wobei die Frau durch-
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aus der aktive Teil war, ihn auch mit Geschlechtskrankheit infizierte. Die Ehe wurde später wieder geschieden. Bis zum 12. Lebensjahre hatte er mit Puppen gespielt, Mädchenkleider getragen, sich Frauenhüte aufgesetzt. Für die homosexuelle Betätigung suchte er sich seine Opfer bei Untergebenen, Abhängigen und unerfahrenen Menschen. Der Sachverständige spricht von „endogener Homosexualität auf dem Boden einer psychopathischen Anlage". Er sei ein weiblich empfindender, zum Transvestitismus neigender Mensch mit starker homosexueller Empfindung von Jugend an. Nach 5 Vorstrafen gemäß § 175 erfolgt jetzt wegen des gleichen Delikts die Verurteilung zu 1 Jahr, 9 Monaten Zuchthaus sowie zur Entmannung. Er hatte die freiwillige Entmannung zunächst angeboten, dann aber zurückgezogen. Der Eingriff wird am 22. 9. 1942 vorgenommen, er ist 54,5 Jahre alt. Die einzige Nachuntersuchung, die bei dem herannahenden Kriegsende noch erfolgte, zeigt weder im körperlichen noch im psychischen Erscheinungsbild irgendwelche Veränderungen. Libido und Potenz sind sofort erloschen. Auch anfänglich gelegentlich noch auftretende Erektionen verschwinden alsbald. E r bejaht die Notwendigkeit des Eingriffs. Bei der letzten Untersuchung saß er noch im Zuchthaus ein, in welchem er sich einwandfrei führte. Laut Strafregisterauszug vom 2 5 . 2 . 1 9 5 7 wurde er am 2 7 . 2 . 1 9 5 7 wegen Steuerhinterziehung zu 1300 D M Geldstrafe verurteilt. Sittliche Verfehlungen sind nicht mehr vorgekommen. 3. Fall K geb. 6.8. 1906. Die Elternehe ist geschieden; er wurde von der Mutter erzogen. Auch eine Schwester ist geschieden. Die Kindheitsentwicklung verlief normal, die Schulleistungen waren durchschnittlich, er erreichte die Obertertia. 1924 unternahm er einen Selbstmordversuch, 1927 wurde er wegen Geistesschwäche entmündigt. Später unternahm er weite Reisen, schließlich betätigte er sich als Buchhändler. Mittelgroß, von weicher Gesichtsbildung und grazilem Knochenbau, wird er ein Astheniker genannt. Der Selbstmordversuch in Gestalt eines Sprunges aus dem Fenster hatte eine Fußverkrüppelung zur Folge. Geschildert wird er als ein weichlicher, sensibler, willensschwacher Psychopath, dessen soziale Einordnungsfähigkeit mangelhaft ist. Er läßt oft ein weibliches Verhalten und eine hyperästhetische Einstellung zum Leben erkennen. Sexuelle Erlebnisse mit Frauen hat er nie gehabt. Schon in früher Jugend bemerkte er an sich homosexuelle Neigungen. Die erste Sexualhandlung erfolgte bereits mit 14 Jahren. Seine Triebrichtung war nie anders als homosexuell. Er pflegte ein entsprechendes Freundschaftsverhältnis, das über lange Zeit anhielt. Beide Partner wurden gemeinsam bestraft, nahmen aber sofort nach der Entlassung ihre homosexuellen Beziehungen wieder auf. Schon 3 mal ist er gemäß § 175 verurteilt: zu 3 Monaten, IVa Jahren und 1 J a h r Gefängnis. Nunmehr beantragt er selber die Entmannung in der Hoffnung, auf diese Weise Ruhe zu bekommen, um etwas leisten zu können. Denn: „bei einem hundertprozentigen Homosexuellen gibt es keine Behandlung". Der Eingriff wird am 30. 3. 1939 vorgenommen; er ist 32,7 Jahre alt. 4 Jahre später erfolgt eine Nachuntersuchung. Dabei meldet er gelegentlich Wallungen und fliegende Hitze. Psychische Störungen sind nicht aufgetreten. E r wirkt geordnet und ist guter Stimmung. Libido und Potenz sind angeblich nach der Kastration erloschen. E r spürt nichts von Erektionen, betreibt auch keine Onanie mehr. Die Beziehungen zu den Eltern und zu der Schwester sind gut. In der väterlichen Holzhandlung tätig, zeigt er sich interessiert und verträglich. Für Kunst, Theater und Literatur ist er aufgeschlossen. Ein Strafregisterauszug vom 7. 2 . 1 9 5 7 zeigt an, daß er am 2 5 . 1 . 1 9 4 4 erneut zu 8 Monaten Gefängnis gemäß § 175 verurteilt wurde. Das Urteil besagt, daß er mit einem Mann in verschiedenen Formen Unzucht getrieben hatte. „Die Vorstrafen sowie die erfolgte Entmannung haben, wie der vorliegende Fall zeigt, keine nachhaltige bessernde oder abschreckende Wirkung auf ihn ausgeübt".
§ 22
Zusammenfassung
Das Studium von 2 2 4 Akten aus der ehemaligen „Kriminalbiologischen Sammelstelle bei dem Gefängnis Berlin, Lehrter Straße", die Einholung neuer Strafregistervermerke und anderer Auskünfte, schließlich die Unterredungen mit verschiedenen Kastrierten, deren Operation im Regelfall etwa 2 0 Jahre zurücklag, ergaben das folgende Bild: ü*
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W a n d l u n g e n des Sittlichkeitsverbrechers
Libido und Potenz erloschen alsbald nach der Operation in 175, etwa 1 Jahr später noch einmal zusätzlich in 30, also insgesamt in 205 Fällen = 91,5 % . Negativ bleiben 19 = 8,5 %>. Ihrer Zufriedenheit geben Ausdruck 160 Entmannte = 71,4 °/o, offen unzufrieden sind 36 = 16 °/o. Man ist zufrieden, weil die ständige Angst vor dem Rückfall jetzt gebannt ist' und der bittere Gang ins Gefängnis fortan erspart bleibt. Man fühlt sich glücklich, weil der quälende Drang, die umtreibende Unruhe nicht mehr gespürt werden und „die Q u a l " weg ist. Man bedauert, nicht früher zur Operation geschritten zu sein, empfindet Dankbarkeit und rät jedem zu dem Eingriff. Die Unzufriedenen dagegen empfinden nach dem Erlöschen des Geschlechtstriebes eine Leere, die durch andere Dinge nicht ausgefüllt werden kann, und fühlen sich minderwertig, weil man „kein rechter Mann, sondern nur noch ein halber Mensch" sei. Gewichtszunahmen waren festzustellen bei 43 % , Abnahmen bei 50,5 %> (beide bis zur Höchstgrenze von 19,6 kg), pathologische Fettverteilung bei 25,5 °/o, Veränderung des Haares oder Bartes in 34,4 o/o. Eine Veränderung der Stimme wurde bei 6,2 °/o, der Gesichtszüge bei 7 %> beobachtet. Beschwerden wurden vorgebracht von 128 Operierten = 57 °/o, unbeeinträchtigt blieben 96 = 43 °/o. An Störungen wurden u. a. gemeldet: Hitzewellen, Schweißausbrüche, schnelle Ermüdbarkeit, Herzschwäche, Fettleibigkeit, Blutandrang zum K o p f , Atemnot, Hyperfunktion von Tränen und Speichel. Die Mehrzahl dieser Beschwerden verschwand im Laufe der Jahre. Schweißausbrüche traten allerdings noch nach 20 Jahren auf. Störungen des Willenslebens oder Intellekts konnten ebenso wenig festgestellt werden wie Auffälligkeiten im soziologischen Verhalten. Das gute Verhältnis zu den Eltern ist wiederhergestellt. Man führt nunmehr eine störungsfreie Ehe. Neue Ehen werden geschlossen, Freundschaften gepflegt. Als Ehepartner werden bevorzugt körperlich behinderte Frauen oder Mütter von mehreren Kindern. Man befleißigt sich einer einwandfreien sozialen Haltung, zeigt Arbeitsinteresse, nimmt teil am Sport, besucht Theater, Konzert, Kino und Wirtshaus. Eine gewisse Einbuße an Aktivität und Antriebskraft kann als wohltuende Folge eine Beruhigung und bessere soziale Einordnung haben. Minderwertigkeitsgefühle, durch die Operation hervorgerufen, sowie depressive Verstimmungen erweisen sich nur in wenigen Fällen als unüberwindlich, wie überhaupt wesentliche Veränderungen der Persönlichkeit selten sind. Eindrucksvoll ist das starke Absinken der Kriminalität, sowohl die sittlichen als auch die anderen Delikte betreffend. Selbst wenn man Lücken im Vorstrafenregister in Rechnung stellt, bleibt der Rückgang der Kriminalität auffällig. Die Rückfälle in Sittlichkeitsverbrechen sanken von 83,5 °/o vor dem Eingriff auf 3,5 °/o nach demselben, die in anderen Delikten von 44 °/o auf 16,5 °/o. Während vor der Entmannung jeder Untersuchte im Durchschnitt bereits 3 Sittlichkeitsdelikte aufzuweisen hatte, trat nach derselben nur noch jeder 22. mit einem neuen Sittlichkeitsverbrechen in Erscheinung, und nur noch jeder 3. mit einem anderen neuen Delikt. Vorher war bereits jeder einzelne mit 2,5 anderen Delikten zusätzlich behaftet gewesen. Die in diese Untersuchungen einbezogenen Personen hatten sich vor dem Eingriff insgesamt 1251 Bestrafungen zugezogen, denen danach nur noch 79 Aburteilungen gegenüberstanden. Die außerordentlich günstige krimialtherapeutische Wirkung der Entmannung ist damit erwiesen. Diese Feststellung darf getroffen werden, auch wenn man berücksichtigt, daß das wachsende Alter von sich aus eine Abnahme der kriminellen Aktivität und
Zusammenfassung
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Energie zur Folge hat. Die Rückfallsziffer von 3,5 °/o weicht nicht viel von der in der ausländischen Literatur gemeldeten ab. Hartsuiker (Holland) berichtet von 3 °/o, Stürup (Dänemark) von 3,7 % . Besondere Verschiedenheiten und schärfere Abgrenzungen zwischen den einzelnen Deliktgruppen sind nicht erkenntlich geworden. Die exhibitonistischen Neigungen sind in sämtlichen Fällen erloschen. Die Neigung zu Kindern wie auch zum Manne dagegen ist mehrfach wieder aufgetaucht. Wie die negativen Fälle und die Rüdsfälle beweisen, treten nach der Operation von Seiten der übrigen Drüsen, insbesondere Hypophyse, Nebenniere und Schilddrüse, Reaktionen auf, die einen gewissen Ersatz schaffen können. Die Umstellung vollzieht sich offenbar in einem Zeitraum von 3 bis 4 Jahren. Die Wertigkeit der männlichen Keimdrüsen ist verschieden; daher variieren auch die Wirkungen ihrer Entfernung. Der Körper verfügt über Mittel zur automatischen Kompensierung. Daneben gibt es eine zentrale Regulation, die im Hirnstamm liegt und bei manchen Menschen weitgehend selbständig ist2. Körperbautypen und charakterliche Abartigkeiten sind bei positiven wie bei negativen Fällen in gleicher Weise gemischt; hier wie dort finden sich auch freiwillige Entmannungen. Abgrenzungen und Gesetzmäßigkeiten sind nicht zu erkennen; eine Regel läßt sich nicht aufstellen. Jeder Mensch ist etwas besonderes und reagiert anders. Man kann nur die Verschiedenartigkeit der Abläufe feststellen. Zum Schluß sei dem berufenen Vertreter des Landes, das auf diesem Gebiet vorangegangen und auch heute noch führend ist, das Wort gegeben, Chefarzt Dr. Sachs3, Leiter der Anstalt für psychopathische Strafverurteilte in Herstedtvester bei Kopenhagen, urteilt: „Kastration ist, ärztlich gesehen, keine ideale Lösung und kann nur als ein Notbehelf betrachtet werden. Andererseits müssen wir erkennen, daß die Möglichkeiten erfolgreicher Behandlung von sexuellen Abweichungen sehr begrenzt sind. Man kann sagen, daß die Kastration in der Regel wunschgemäß wirkt. Der Betreffende wird von seinen kriminellen Neigungen befreit und wird nicht mehr rückfällig. Außerdem fühlt er eine große persönliche Erleichterung. Man erlebt oft, daß der Kastrat später für die Operation dankt und sich darüber beklagt, daß er nicht bereits vor vielen Jahren um die Operation gebeten hat. Wir wollen nicht verhehlen, daß die Kastration zu einem gewissen Grade Affektlabilität mit der Neigung zu depressiven Verstimmungen und einer Art innerer Vereinsamung und Leerheit mit sich bringen kann. Trotzdem können wir sagen, daß wir Kastration für ein wertvolles Mittel halten, das in geeigneten Fällen unglückliche Menschen von ständigen Beschwerlichkeiten und langandauernder Einsperrung befreien kann". 2 Vgl. Professor Bernhardt, Berlin, Endocrinology and Sexual Irregularities in: The International Journal of Sexology, N o v . 1952. 3 Dr. Sachs, Zur Behandlung von kriminellen Psychopathen in Dänemark in: Mschr. Krim, u. Str. Reform 1955, Heft 3/4.
V Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen) INHALTSÜBERSICHT Seite
Einleitung
137
§ 1
139
Situationsträume
§ 2
Kompensatorische Träume
143
§ 3
Entwicklungsträume
146
§ 4
Träume von Angehörigen
149
§ 5
Träume von Todesverurteilten
151 155
§ 6
Der Traum als Beweismittel
§ 7
Verwertung der Träume
157
§ 8
Zusammenfassung
159
EINLEITUNG Dem Traum- und Phantasieleben der Gefangenen ist bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Lediglich von Heutig hat diesem Phänomen im 2. Band seines großen Werkes „Die Strafe" (Seite 249—258) einen Abschnitt gewidmet. In diesem nennt er „die Träume der Gefangenschaft" ein besonders entlegenes Kapitel. Er sieht die Aufgabe, Träume der Untersuchungsgefangenen, der Strafgefangenen, der Hungernden, Frierenden, der Todesverurteilten, der Schuldigen, der sich für unschuldig Haltenden zu studieren. Das alles liege noch vor uns. Einige Schritte jedoch sollen von ihm schon jetzt gewagt werden. Neben anderen Schriftstellern bezieht er sich auf Dostojewski, der fand, daß fast alle Sträflinge im Traum sprachen und phantasierten. Von Heutig unterscheidet Qual-, Wunsch-, Angriffs- und Luxusträume, erwähnt auch die Tagesträume, die bereits in der Studie „Wandlungen während der Untersuchungshaft" abgehandelt wurden. Sein zusammenfassendes Urteil lautet: „Die Nächte sind eine Zusatzstrafe, die das Strafgesetzbuch nicht kennt". Er zitiert Joan Henry: „Jeder hat schreckliche Träume in der Haft; vielleicht ist das ein Teil seiner Strafe". Auf von Hentigs Ausführungen wird des öfteren Bezug genommen werden. Im übrigen fehlen umfassende, nach tiefenpsychologischen Aspekten bearbeitete Untersuchungen. Hier harrt noch ein ganz unbebautes Feld der Bearbeitung; hier warten noch ganz neue Einsichten der Erschließung. Aus der sonstigen Traumliteratur wurden herangezogen: Ignaz
Jezower
Edgar
Allan
„Das Buch der Träume" — Ernst Rowohlt-Verlag, Berlin, 1928. Poe
„Geschichten aus dem Dunkel", daraus „Der Brunnen und das Pendel" (S. 5 7 — 7 9 ) . Aus dem Amerikanischen übertragen und eingeleitet von Karl
Köstlin.
Dr. Riederer-Verlag, Stuttgart. Prof. Dr. Boß
„Der Traum und seine Deutung". Verlag Hans Huber, Bern, 1953.
Dr. Bossard
„Psydiologie des Traumbewußtseins, Rascher-Verlag, Zürich, 1951.
Dr. Herzog
„Psyche und T o d " . Rascher-Verlag, Zürich, 1960.
Die im Folgenden vorgelegte Sammlung verdankt ihre Entstehung zwei Gründen: a) Der Verfasser, während der Ausbildung zum Psychotherapeuten auf die weite
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Welt des Unbewußten durch Literatur und Lehranalyse aufmerksam geworden, empfand lebhaft die hier vorliegende Lücke in der kriminologischen Literatur. b) Dazu kam eine ganz konkrete Not. In zahlreichen Fällen wurde er um Beratung und Hilfe angegangen bei schweren Traumerlebnissen. Die — zuweilen stereotyp wiederkehrenden — Träume waren mitunter so peinvoll, daß manche Gefangene sich verzweifelt gegen das Einschlafen wehrten, indem sie sich ein Licht ans Bett stellten und immer wieder vom Lager erhoben, um munter zu bleiben. Es war Pflicht, solchen Erscheinungen nachzugehen und, wenn möglich, Hilfe zu leisten. In diesem Zusamenhang möge gleich dem Einwand begegnet werden, der Referent könne bei seiner Sammlung weithin ein Opfer bewußten Schwindels oder zum mindesten eitler Sensationslüsternheit geworden sein. Träume, die so schwerwiegend sind, daß man den ganzen Tag bedrückt ist und den Abend angstvoll fürchtet, erfindet man nicht. Dazu kommt ein weiteres Kriterium. Sein Aufbaumaterial bezieht der Traum für gewöhnlich aus der dem Träumer vertrauten Welt, die dem Autor weithin bekannt war. Der geschulte Blick kann deshalb schnell erkennen, was wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. Der Einwand, es bestünde keinerlei Gewähr dafür, daß der nachträgliche Traumbericht auch wirklich das geträumte Erlebnis wiedergeben könne, weil man nach dem Erwachen in einer ganz anderen Verfassung sei, wird von Boß widerlegt mit dem Hinweis darauf, daß sich der gleiche Einwand auch gegen das Erzählen eines heftig erlebten Wachereignisses erheben läßt, da wir uns auch nicht mehr in diesem selbst aufhalten, wenn wir es nachträglich zu berichten uns bemühen (Boß Seite 81). Vom Traumdeuter verlangt Albertus Magnus ein „reines, innerliches und unabhängiges Leben". Verwerflich sei eine Haltung, welche sich in Neugierde und Ungeduld auf den Traum stürzt, Geheimnisse gewaltsam aufzubrechen versucht. N u r mit zarten Händen dürfte das feine Gespinst dieses seelischen Kunstwerkes berührt werden; mit Geduld gelte es zu beobachten, was aus der Tiefe der Seele aufsteigt. Geht man mit dieser Einstellung dem träumenden Gefangenen nach, so erlebt man Überraschungen. Der Träumer ist zunächst erschrocken und beschämt. Zeigt der Traum schon dem ethisch hochstehenden, keine sozialen Schwierigkeiten kennenden Menschen mit aller Deutlichkeit auch egoistische, sogar brutale Charakterzüge, wieviel mehr nun erst dem Rechtsbrecher. Die wilden Hunde bellen im Keller; vor ihrem Geheul erschrickt der Mensch. Sind Erschrecken und Beschämung gewichen, so stellen sich Erstaunen und Verwunderung ein, daß nach solchen scheinbar törichten Dingen Nachfrage gehalten wird. Ist auch das durch eine klärende Aussprache abgeklungen, so tut sich bei genügend starker sozialer Intimität eine Welt auf, von deren Vorhandensein niemand etwas ahnte, vielgestaltig, mannigfaltig. Sind alle entscheidenden Wendepunkte des Lebens von Träumen umrahmt, so ist es nicht zu verwundern, daß auch der Gefangene ein reiches Traumleben hat. Seltsame Dinge spielen sich ab in der Stille der Nacht, jeglicher Beobachtung und Zensur entzogen. Regungen werden erkenntlich, die der Mensch im wachen Bewußtsein sorgfältig verborgen hält, ja, von deren Existenz er selber noch gar nichts weiß. Ein Brausen und Brodeln von Kräften und Gegenkräften erschließt sich dem überraschten Beobachter.
Situationsträume
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F. W. Hildebrandt sagt in seinem Buch „Der Traum und seine Verwertung fürs Leben", Leipzig 1875: „Der Traum läßt uns wohl bisweilen in Tiefen und Falten unseres Wesens blicken, die uns im Zustande des Wachens meist verschlossen bleiben. E r bringt uns so seine Aperçus der Selbsterkenntnis, so lehrreiche Enthüllungen halb unbewußter Gemütsanlagen und Kräfte, daß wir erwachend staunen über den Dämon, der mit wahrem Falkenauge uns in die Karten blickt" (zitiert aus Boß Seite 23).
Auf diese Weise entstand die vorliegende Sammlung. Zusammengetragen wurde sie in den Jahren 1936—1944 und 1949—1952. Vereinzelte Zusätze erfolgten noch in den Jahren 1953—1959. Die Träumenden waren Untersuchungs- und Strafgefangene, Männer, Frauen, männliche und weibliche Jugendliche. Zu bereits früher veröffentlichten Träumen Todesverurteilter wurden Ergänzungen gebracht. Der Zweck der Sammlung ist der folgende: Sie will nicht neues Material heranschaffen zu den Untersuchungen über Wach- und Traumbewußtsein. Sie verzichtet auf eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob Freuds These von der Wunscherfüllung oder Jungs Kompensationstheorie die größere Wahrscheinlichkeit besitzen, ob den neo-analytischen oder nicht analytischen Traumtheorien der Vorzug zu geben sei, oder ob man das mit Symbolvorstellungen und Archetypusbegriffen arbeitende Traum-Deuten in ein phänomenologisches Auslegen überführen müsse. In bewußter Fernhaltung von jeder Theoriebildung soll lediglich zur Darstellung gebracht werden, wie sich das harte Erlebnis des Freiheitsentzuges, des verletzten Rechtes und der Bestrafung bei dem träumenden Menschen auswirkt. Dabei wird in jedem einzelnen Falle nur ein Hauptaspekt aus dem Traum herausgezogen, während anderes vernachlässigt und unberücksichtigt bleiben mußte. Der Gefängnisaufenthalt mit seinen häufigen, schnellen Veränderungen ließ eine genaue analytische Behandlung gemäß der lex artis ohnehin nicht zu (Bossard, Seite 356).
§ 1
Situationsträume
Gefahr — das ist der entscheidende Teil der Situation des zum Rechtsbrecher gewordenen Menschen. Die gesamte Existenz ist bis in die letzten Wurzeln bedroht. Berufliche Stellung, Ansehen, sogar der Lebensunterhalt können von einem Tag zum anderen zusammenbrechen. Ein jäher Sturz aus einer gesicherten, geachteten Position in das Nichts kann von einer Stunde zur andern erfolgen. So ist also schon die Zeit vor der Verhaftung belastet durch den Konfliktcharakter, den das bereits begangene, aber noch unentdeckte Verbrechen in das Alltagshandeln hineingetragen hat. Das spiegelt sich wider auch in den Träumen. Die Gefahren und Bedrohungen, von denen sie zu erzählen wissen, wachsen alsdann mit der Verhaftung und dem Fortgang des Verfahrens; die Träume gewinnen an Intensität. Polizisten suchen den Rechtsbrecher bereits, — so träumt er — finden ihn aber nicht, da er sich niederwirft. Er wird verfolgt, in den Kot geworfen, ins Wasser gedrückt, steckt bis an den Hals im dicken Schlamm. Bereits im Ertrinken begriffen, schnappt er nach Luft. Ein Würgegriff legt sich um den Hals, er soll erdrosselt werden. Das Messer sitzt an der Kehle, wütende Tiere stürzen sich auf ihn. Er tut einen tiefen Fall, sinkt in
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
den Abgrund und brüllt dabei vor Angst. Gestalten aus dunklen Häusern stürzen auf ihn zu und jagen ihm Messer in den Rücken. Zwischen gefällten Baumstämmen rollt er einen Berg herunter, er steht im Mittelpunkt einer gefährlichen Schießerei. Ein Gewittersturm bricht über sein Gut herein, aus der Feldscheune steigt bereits gelber, dicker, unheimlich aussehender Qualm. Der auf das Ohr angewiesene Blinde träumt von furchtbaren, entsetzenerregenden Gewittern: „Es kracht ganz entsetzlich". Vom Spaziergang auf dem Dach, wohin er sich verstiegen hat, fällt er herunter, auf der steil in die Höhe führenden Leiter kippt er um und fällt sehr hart auf die Diele. In den Pinseleien an der Zellenwand schaut er hohnlachende Gesichter, über deren höhnischem Gelächter er entsetzt aufwacht. Dämonischen Gewalten ist er hilfslos ausgeliefert. Selbst vom Himmel schaut eine unheimliche Gestalt aus den Wolken. Sie ist riesengroß und übermächtig, trägt einen langen Bart. Audi diese Gestalt ist feindlich gesonnen und will auf den Träumer los. Überall Gegner, überall Gefahren. Kein Wunder, daß der Träumer affektiv aufs Höchste erregt ist, schweißgebadet sich auf dem Lager wälzt und so gellend schreit, daß der durch eine Wand getrennte Zellennachbar erwacht und klopft. Die Lage wird dadurch verschlimmert, daß rätselhafte Insuffizienz-Erscheinungen die Abwehr der Aggression oder die Flucht unmöglich machen. „Ich kann mich plötzlich nicht weiter bewegen, kann den Arm nicht rühren". „Ich möchte fliehen, kann aber nicht laufen". „Ich möchte mich festhalten, kann es aber nicht". Tiere, und zwar alle, von den Riesentieren der Urwelt an, die drohend in die Zelle schauen, bis hin zum kleinen Insekt, erscheinen in der Traumwelt der Gefangenen. Sie zeigen schwere Gefahren und Nöte an. „Ich setze mich auf ein schwarzes Pferd und reite eine weite Strecke. Plötzlich scheut das Pferd und zittert am ganzen Leibe. Ich steige ab und schaue in einen Abgrund. Ich bin tief erschrocken". Das Pferd mit seiner Intelligenz und seiner erstaunlichen Leistungsfähigkeit trägt den Menschen seinen Zielen und Wünschen zu. Hier ist allerdings von einem schwarzen Pferd die Rede. Schwarz ist eine negative Farbe. Ein schwarzer Tag bringt Unglück in Fülle. Das schwarze Traumpferd symbolisiert deshalb eine negativ sich auswirkende Kraft. Es bedeutet die Umkehrung des Kraftvollen ins Verderbliche und Verderbende. Eine weite Strecke reitet die Träumerin auf dem schwarzen Pferd. 23 schwere Einbruchdiebstähle liegen auf dieser Strecke. Nun scheut es; als instinktsicheres, beseeltes Tier spürt es den Abgrund, der sich auftut. Es weiß, wie dieser Weg enden muß, was auf seinen Herrn wartet. Deshalb scheut es und zittert am ganzen Leibe. Die Träumerin erklärte nach ihrer Einlieferung: „Ich empfinde die Verhaftung als ein Glück; es hätte ganz schlimm werden können". Ein weiterer Traum derselben Gefangenen besagt: „Ich will meine blauen Hosen anziehen. D a sehe ich, daß es in ihnen von Wanzen wimmelt". Blaue Hosen trug sie bei den Einbrüchen. Schmutz und Ungeziefer haben sich dabei angesiedelt. Immerfort wird es stechen und peinigen in ekelerregender Weise. In der Gesellschaft der sauberen Menschen ist sie nun unmöglich geworden. „Ein übergroßer schwarzer Hund will mich beißen. Ich will laufen, ziehe die Beine an und kann durch die Luft fliegen". Der Hund wacht über seinen Herrn, wittert jede Gefahr und macht auf sie aufmerksam. Sicher findet er die Spur, bis zur Aufopferung des Lebens stellt er sich vor
Situationsträume
141
seinen Herrn. Wird er aber vernachlässigt, angekettet, mißhandelt, dann wird er böse und gefährlich. Er kann sich nunmehr sogar gegen seinen Herrn wenden. Diesem Träumer erschien der Hund als Sinnbild der Treue. Ihn hat in seiner Jugendzeit auf zahllosen Wegen ein übergroßer Bernhardiner begleitet. Durch Bestehlen seines Arbeitsgebers hat er jetzt einen schweren Treuebruch begangen. Nun wendet sich das mißhandelte, gequälte Sinnbild der Treue gegen ihn selber. Der Hund, sonst immer ein fröhlicher, gehorsamer Diener, wird aggressiv und schickt sich an, den eigenen Herrn zu beißen. Jetzt heißt es, sich mit dem gefährlich werdenden Tier auseinandersetzen zu müssen. „Ich will laufen, ziehe die Beine an und kann durch die Luft fliegen". Die Annahme des Träumers, sich durch Enthebung von der Erde den Folgen des eigenen Tuns entziehen zu können, ist allerdings eine grobe Illusion. Auf solche Weise wird er mit der unbehaglich gewordenen Realität nicht fertig. Die Mißhandlung des Tieres muß aufhören, sein berechtigter Zorn besänftigt werden. „Eine schwarze Katze will mich kratzen. Ich habe schon blutunterlaufene Stellen auf der Hand und kann sie nur mit Mühe vertreiben. Die Schwester jagt sie zur Tür hinaus". Der Aberglaube bezeichnet die schwarze Katze als Unglücksbringer. Wenn sie den Weg kreuzt, nimmt die Reise kein gutes Ende. Mit gekrümmtem Buckel sitzt sie auf dem Nacken der Hexe, die mit Verführungskünsten den Menschen in ihren Bann zu ziehen und alsdann zu vernichten droht. Der Träumer ist ein Homosexueller, welcher auf den dringenden Wunsch seiner Mutter eine Ehe geschlossen hat. Nach kurzer Zeit zerbrach dieselbe, da er sich von seiner Frau „veralbert" fühlte. Ein tiefes, heftig schmerzendes Trauma war die Folge. Sexualität und Libido blieb fortan für ihn mit Angst und Abscheu verbunden. Davon kann ihn nur die Schwester befreien, um welche eine Atmosphäre der Asexualität herrscht. „Ich werde von grauen Katzen verfolgt. Eine davon beißt mich ins Bein, es blutete". Unbeeinflußbar ist die Katze und unberechenbar. Eben noch behaglich schnurrend, faucht sie ohne ersichtlichen Grund im nächsten Augenblick bösartig. In den samtenen Pfoten sind gefährliche Krallen versteckt. Unheimlich sind ihre glühenden Augen, die es ihr ermöglichen, sich im Dunkel der Nacht sicher zu bewegen. Diesen Traum hatte ein junges Mädchen, das durch seine Unberechenbarkeit der Anstaltsleitung schwere Aufgaben stellte, und mehrfach mit Arrest bestraft werden mußte. Nun steht sie vor der Aufgabe, sich mit ihrer Katzennatur auseinanderzusetzen, die sie verfolgt und ihr sogar eine blutende Wunde zufügt, so daß sie im Laufen behindert wird. Häufig erscheint als Traumsymbol die Schlange. Ein Kunsthändler, in Untersuchungshaft wegen Betruges träumt: „Ich sitze auf dem Sofa und spüre, daß eine Schlange hinter dem Ohr sitzt. Eine zweite kriecht am Boden herum. Ich ringe mit beiden". Vieldeutig ist die Schlange. Erschreckend ist der Augenblick ihres Auftretens. Ihr Biß ist giftig, ihre Umschlingung kann tödlich werden. Sie ist beim Sündenfall das versuchende und zu Fall bringende Tier. Todfeindschaft hat Gott gesetzt zwischen ihr
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
und dem Menschen. Aber sie kann auch ein rettendes Symbol sein. Mose erhöhte eine eherne Schlange in der Wüste als Zeichen der Rettung. Sie windet sich um den Stab des Äskulap. Für den bis dahin unbescholtenen, etwa 50 Jahre alten Kunsthändler bedeutet die Verhaftung einen schweren Schock. Er befindet sich in einer tiefgehenden Krise. Angsterregend ist der Gang des Verfahrens, das in allerlei Windungen ihn immer wieder einschnürt. Tödlich ist die Gefahr sowohl für seinen Ruf wie auch für seine Existenz. Von starker Erschütterung redet dieser Traum. Aber der Träumer läßt sich durch den Schrecken nicht lähmen, sondern nimmt beherzt den Kampf auf. Ein späterer Traum zeigt, d a ß er die schwere Krise seines Lebens sieghaft durchstehen w i r d : „Eine Schlange möchte gerne beißen, kann's aber nicht, da sie einen M a u l korb trägt". Die tödliche Gefahr ist also gebannt. Zwei ähnliche Träume berichtete Jezower. Dem Thermistokles träumte, daß eine Schlange sich um seinen Leib wände, dann nach dem Halse hinaufkröche, sich schließlich in einen Adler verwandelte, der ihn emporhob und sicher hinstellte. Johannes Hus erzählt: „Es sind mir oft Schlangen erschienen, die auch auf dem Schweif seinen Kopf hatten; aber keine konnte mich beißen" (Jezower, Seite 19, T r a u m N r . 20 und Seite 80, Traum N r . 149). Die Schlange ist für das unmittelbare Empfinden der „Ur-Feind", laut C. G. Jung ein „Angstsymbol" (zitiert aus Dr. Herzog Seite 62). Nun steht man vor dem Richter. „Ich habe furchtbare Angst, will sprechen, k a n n aber nicht. Auch der A n w a l t kommt nicht". Die Angst verschlägt ihm die Sprache; vom A n w a l t verlassen, geht er in die Rolle des hilflosen Opfers und erwartet in dumpfer Passivität den Richterspruch. „Ich werde aus Versehen aus der Zelle geholt und zur Richtstätte geschleppt. Erst im letzten Augenblick w i r d der Irrtum erkannt". In einem zweiten Traum erklärt ihm der Staatsanwalt, daß ihm ein glühender Pfahl durch den Leib gebohrt w i r d . Da ist niemand, der mit Ernst nach Schuld oder Unschuld sucht. Da ist nirgends menschliches Verständnis. Der Träumer steht ohne jede Verteidigungsmöglichkeit einer Exekutiv-Maschine gegenüber, die erbarmungslos und gnadenlos arbeitet, die unbarmherzig vernichtet, w a s in ihren Bereich gelangt. Die starke Gefährdung dieses Träumenden durch Depressionen und Suizid-Tendenzen w i r d sofort erkenntlich. Dazu kommt der unangenehme Gefängnisaufenthalt. Die unerbittliche Justiz läßt nicht einen Augenblick los. „Ein Wachtmeister steht an der Tür, ein andere schaut durch die Öffnung an der Tür. Ich. erschrecke sehr und schreie auf". Quälend sind die vielen Vorschriften. „Soll ich zuerst das Bett machen oder die Zelle säubern? Arrest ist mir sicher". Anfangs ist noch Spannkraft da. „Ich wandere in einem U r w a l d mit vielen wilden Tieren. N u r langsam komme ich in dem Schlinggewächs vorwärts; überall drohen Gefahren. Aber ich habe keine Furcht, da ich mühelos auf die höchsten Bäume springen kann. Beim Erwachen bin ich froh". Noch kann sich die Träumerin einen Ausweg schaffen aus dem Dickicht, das sie zu ersticken droht. Eine völlig veränderte Lage d a gegen zeigt ein anderer Traum, der einige Monate später k a m : „Ich bin in einem tiefen dunklen W a l d , überall stoße ich auf einen versperrenden Lattenzaun, den Ausweg
Kompensatorische Traume
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finde ich nicht mehr". Die frohe Stimmung ist dahin. Sie hat Angst, wenn es Abend wird oder trübes Wetter herrscht. Am liebsten möchte sie schreien. Der Traum ist ein eindeutiges Warnsignal. Nicht minder große Trostlosigkeit offenbart der folgende Traum: „Ich muß schwere Eisenstangen (T-Träger) auf der Schulter tragen. Überall sehe ich Eisen und ein Gewirr von Drähten". Hoffnungslos hat er sich verstrickt und ist nun zum schweren Lastträger geworden. Aber hier geht die Entwicklung eine umgekehrte Richtung wie vorher: Wohl wird er ein Stück lassen müssen. „Ein Hund beißt midi ins Bein und reißt ein Stück heraus". Doch am Ende steht der Sieg über die tödliche Gefahr: „Eine Schlange ringelt sich um den Leib; aber ich kann sie zerreißen". Eine schöne Schilderung der durch die Verhaftung hervorgerufenen Situation und ihrer Folgen bringt der folgende Traum: „Ich fühle mich blind und erhalte einen Führerhund. Mit diesem durchschritt ich alle Straßen, die ich gewohnt war, zu gehen. Audi hielt ich mit dem Hund Zwiesprache über alles, was mich bedrückte: daß ich jetzt nebensächlich sei, daß ich mich vor meiner Frau schämen müsse, weil sie alle Pflichten, die ich auszufüllen hätte, übernehmen muß. Ich wurde immer einsilbiger und scheu, wortkarg, sprach zuletzt knapp das Notwendigste, worunter meine Frau wieder sehr litt und krank wurde". Dann erwachte ich vollkommen zerschlagen. So schwer habe ich noch nie, solange ich mich erinnern kann, geträumt". Ein Verurteilter, bei welchem die Entmannung angeordnet ist, träumt: „Ich bin zum Tode verurteilt und werde hingerichtet. Ich sehe den Henker, erschrecke aber nicht". Er muß sterben, einen Tod durchleiden, aber nur, um in anderer Form weiterleben zu können. Deshalb fehlt die Angst. § 2
Kompensatorische
Träume
Zu dieser an Gefahren überreichen Situation muß man Stellung nehmen. Ein neuer modus vivendi wird nötig. In der großen Mehrzahl der Fälle ist die Einstellung zu der neuen Lebenslage durchaus primitiver Art. Man schiebt die rauhe Gegenwart einfach weg und setzt im Traum das frühere Leben sowie die frühere Tätigkeit oft sogar in stark verbesserter Form fort. Die neue gefährliche Lebenssituation wird aus dem Gesichtskreis verbannt, sie ist gar nicht da. Im Traum werden auch die Affekte entladen, die in der Berührung mit den Justizbehörden nicht abreagiert werden können. In seinem Traumtagebuch schreibt Gottfried Keller: „Auffallend ist mir, daß ich hauptsächlich, ja fast ausschließlich in traurigen Zeiten, wo ich den Tag über in kummervoller Betrübnis lebte, solche heiteren und einfach lieblichen Träume habe". Jung sagt in seiner „Energetik der Seele": „Wir können eine balancierende Funktion des Unbewußten erkennen, welche darin besteht, daß diejenigen Gedanken, Neigungen und Tendenzen der menschlichen Persönlichkeit, welche im bewußten Leben zu wenig zur Geltung kommen, andeutungsweise in Funktion treten im Zustand des Schlafes, wo der Bewußtseinsprozeß in hohem Maße ausgeschaltet ist". Die Träume greifen also das auf, was im wachen Bewußtsein vernachlässigt bleibt. Die seelische Gesundheit eines Menschen ist gefährdet, es ist Gefahr im Verzug, wenn er von den Mühen des Tages nachts weiterträumt.
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Wandlungen Im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
In seinem Buch „Der Traum und seine Deutung", Zürich 1943, schildert Ernst Aeppli diesen kompensatorischen Traum folgendermaßen: „Er bringt zu Furcht und Angst die Freude und die Leichtigkeit heran, zum Gefängnis die Freiheit". Purkinje, ein berühmter Nervenarzt aus der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, schrieb über die „erfrischende" Tätigkeit des Traumes: „Es sind leichte Spiele der Imagination, die mit des Tages Gegebenheiten keinen Zusammenhang haben. Die Seele will die Spannungen des wachen Lebens nicht fortsetzen, sondern sie auflösen, sich von ihnen erholen. Sie erzeugt vorerst denen des Wachens entgegengesetzte Zustände; sie heilt Traurigkeit durch Freude, Sorgen durch H o f f n u n g und heitere, zerstreuende Bilder, H a ß durch Liebe und Freundlichkeit, Furcht durch Mut und Zuversicht" (zitiert aus Boß, Seite 23). Ein geradezu idealer Nährboden f ü r diesen kompensatorischen Traum ist das Gefängnis. Die Eintönigkeit und Resonanzlosigkeit der Zelle, die Gebundenheit an einen kleinen, eng umgrenzten Raum, die Abgeschlossenheit von dem Ehepartner und der Familie, die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit, die Einschränkung der sozialen Beziehungen, die allmählich eintretende Sättigung durch das Gleichmaß des Tagesablaufes — das alles fordert geradezu kompensatorische Träume heraus. So sind es denn Träume dieser Art, die auf vorsichtiges Fragen in großer Fülle erzählt werden, und die in zahlreichen Variationen immer wiederkehren. „Ich bin Abgang, meine Sachen werden fertig gemacht". „Ich werde entlassen, Mutti kommt mir entgegen und freut sich". Ich bin entlassen und nach Hause gefahren. Vater macht die Tür auf und sagt: Ich freue mich, da du so ein liebes Kind geworden bist". Aus dem liebearmen Anstaltsaufenthalt flüchtet die Träumerin also in die Wärme des Elternhauses, zu welcher sogar der wegen seiner Einstellung etwas gefürchtete Vater beiträgt. Begehrenswert erscheinen nunmehr nach dem langweiligen Anstaltsdienst die früher wenig geschätzten häuslichen Arbeiten. „Ich wasche zu Hause Wäsche und beziehe Betten. Ich hole vom Bäcker Brot und Semmeln". „Ich habe für die auf Reisen befindliche Mutter alles hergerichtet. Mutter freut sich sehr". Nach dem Schmerz, den der eigene Irrweg der Mutter brachte, soll sie jetzt Freude empfinden. Mit Nachdruck weist der Traum auf diese nachzuholende Leistung hin. Langentbehrte Genüsse werden den Träumenden zugänglich. Man tut sich, der schmalen und eintönigen Anstaltskost entronnen, an dem mit Lieblingsgerichten reich besetzten Tisch gütlich. Jezower berichtet folgenden Traum des Friedrich Freiherrn von der Trenck. Ein ehemaliger Ordonnanzoffizier Friedrichs des Großen, wurde er auf dessen Befehl in Magdeburg gefangen gehalten. „Im Gefängnis Magdeburg, 1754. Kaum gestattet mir der wütende Hunger einen ruhigen Schlaf, so träumte mir, als ob ich an einer großen Tafel schmausete, wo eben alle Speisen, die ich vorzüglich gerne essen mochte, im Überflusse aufgetragen waren. Ich f r a ß träumend wie ein Nimmersatt, die ganze Gesellschaft erstaunte über meinen Appetit. Der Magen fühlte nichts in Wirklichkeit; desto begieriger fraß ich denkend.
Kompensatorische Träume
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Ich erwachte, oder vielmehr der Hunger weckte midi. Dann schwebten mir die vollen Schüsseln vor den Augen, und dem leeren Bauch blieb die rasende Sehnsucht" (Jezower, Seite 397, Traum Nr. 736). In ganz ähnlicher Weise berichtet Boß von einer in der Antarktis überwinternden Mannschaft, daß Essen und Trinken die Mittelpunkte waren, um die sich ihre Träume am häufigsten drehten. Ein Afrika-Reisender dagegen träumte, dem Verschmachten nahe, unaufhörlich von den wasserreichen Tälern und Auen seiner Heimat. Von Hentig zitiert aus Degrave „Le bagne" (Paris 1901) „In den kalten Wintermonaten auf der Insel Saint-Martin-de R e haben die Sträflinge immer den gleichen Traum: „Man sitzt vor einem warmen Feuer, oder man ist in einem tropischen Lande, in dem sich die heißen Strahlen der Sonne kaum ertragen lassen. Dann wacht man auf und leidet doppelt". Süßigkeiten, als Symbole der Lust, werden erworben. Der Träumer legt die häßliche Anstaltskleidung ab und versorgt sich mit ansprechenden Kleidungsstücken. Hierher gehören auch die „Luxusträume", die nach von Hentig häufig bei jungen Männern zu finden sind: „Man hat eine Million gewonnen, ißt Kaviar, trinkt Sekt, kauft sich einen teuren Wagen mit einem Neger als Chauffeur, Zigarren in Glasröhren, das Stück 1 Mark usw." Die lange entbehrte Gemeinschaft mit der Familie und den Angehörigen wird im Traum mit vollen Zügen genossen. „Meine kleine Schwester hat mich so lieb angelacht und wollte sich nicht trennen". „Der Bruder ist aus dem Felde in Urlaub gekommen". Mancherlei Besuch hat sich eingestellt. Der Träumer geht mit den Angehörigen spazieren und pflückt viele Blumen. Selbst zu einer fröhlichen Hochzeitsfeier mit entsprechendem Essen im Freien darf man sich einstellen. Man besucht die kranke Freundin, bringt ihr viel Blumen und holt damit etwas lange Versäumtes nach. So bringt der Traum in immer neuen Bildern „zu Furcht und Angst die Freude und die Leichtigkeit heran, zum Gefängnis die Freiheit". Eine schöne Radfahrt im Freundeskreis, der Besuch des Weihnachtsmarktes schaffen die im Gefängnis schmerzlich vermißte Abwechslung. Die braunen Steine eines Bahnhofes, der dem Schornstein der Lokomotive entsteigende Rauch erfüllen das Herz mit Jubel angesichts der bevorstehenden Urlaubsreise. Der Träumer sitzt im Theater und läßt eine Operette mit mehreren Akten an sich vorüberziehen. Sie trägt den Titel: Schmeicheln und Streicheln und bringt allerlei Liebesszenen. Ein anderer Träumer sitzt mit seinen Freunden in einem großen Lokal und zecht die ganze Nacht so gründlich, daß der Kellner ihm den vergessenen Zylinder nachbringen muß. Bei einem in Leningrad geborenen Freiherrn von X . bringt der Traum zur Kompensation der mißlichen entehrenden Lage im Gefängnis den Besuch des damaligen französischen Botschafters in Berlin, Franjois-Poncet, der mit allerlei Geschenken erscheint. Wilhelm von Humboldt träumt am 12. Dezember 1920: „Die Nacht habe ich, versteht sich nur im Traum, hohen Besuch gehabt. Ludwig X V I I I . war in Person bei mir und ganz vertraulich" (Jezower Seite 129, Traum Nr. 223). Sein Aufbaumaterial bezieht der Traum aus der dem Träumer vertrauten Welt. So träumt der Kutscher von Pferd und Wagen, der Kraftfahrer in der Enge seiner Zelle, daß er in einem offenen Wagen durch eine schöne Gebirgsgegend fährt, der Schriftsteller 10
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
diktiert Ausarbeitungen über Kulturgeschichte und ist erstaunt, wie rasend schnell das geht. Zwei dicke Bücher entstehen in kurzer Zeit. Der Traum lautet: „Ich schreibe an einer Kulturgeschichte der Menschheit. Dabei fliegt in meinem Gedächtnis Jahrhundert auf Jahrhundert vorüber. Personen tauchen auf, Geschichtszahlen greife ich w i e im Flug, ich diktiere im Galopp die Einzelheiten, ein Lustgefühl habe ich bei dieser Arbeit, weil alles mir so zufliegt. Zuletzt liegen zwei riesige Bücher vor, Kolossalbücher, viele Zentner schwer". Der Möbelhändler tätigt jede Nacht im Traum mit großem Erfolg allerlei Geschäfte. „Das macht auch froh", erklärt er am Morgen. Dagegen ist der Exportkaufmann in Übersee und nimmt an einer Expedition in den U r w a l d teil. Ein Ingenieur klettert in seinem Bau herum. Von den im Schulleben vorkommenden Dingen träumt ein Studienrat. U n d niemand anders als ein Pfarrer k a n n es sein, der träumend einen T a l a r mit Albe sieht und im Mittelpunkt einer liturgischen Feier steht. Im Verlauf der gerichtlichen Untersuchungen muß mancher scharfe, als unberechtigt empfundene Angriff ausgehalten, manche Bitterkeit erduldet werden. Es empfiehlt sich im Regelfalle nicht, der natürlichen Reaktion darauf R a u m zu geben. Der Gefangene bleibt stumm und schluckt seine Bitterkeit herunter. Im T r a u m aber spricht das mißhandelte Gefühl sehr deutlich und verlangt eine H a l t u n g der Gegenwehr und Vergeltung, die durchaus verständlich erscheint. Hier kommt die Reaktion zum Vorschein, die man bei den Vernehmungen nur mit Mühe unterdrückte. Der Traum lautet: „Die Russen sind da. Ich werde zum Kommissar ernannt und lasse sofort zwei Kriminalbeamte einsperren". Noch krasser gibt ein zweiter T r a u m den unterdrückten Gefühlen Ausdruck. „Ich bin Inquisitor, setze Daumenschrauben an und zünde Scheiterhaufen a n " . Bleibt die Oberfläche auch glatt, so tobt es unter ihr doch äußerst lebhaft. Das Gesetz des inneren Gegenlaufes, die ergänzende Tendenz der Seele w i r d besonders deutlich, w o es sich um die psychologische Grundhaltung handelt. Ein ängstlicher, schüchterner Student träumt von großen Prügeleien, bei denen er unerhört aggressiv ist, wobei er große Lustgefühle verspürt. Endlich gehören hierher die zahlreichen, oft sehr leidenschaftlichen, aber nur zögernd erzählten oder auch nur leise angedeuteten Träume erotischen Inhalts. Auch von Heutig berichtet, daß die erotischen „Normal"-Träume nur angedeutet werden. Es sind Träume von einer Farbenpracht und Intensität, wie sie draußen nicht vorkommen. In der bunten Landschaft dieser kompensatorischen Träume ist die Eintönigkeit der Zelle gebrochen. Die Gebundenheit an den kleinen R a u m ist gelöst, die Abgeschlossenheit von der Familie aufgehoben. Alle sozialen Beziehungen sind wiederhergestellt, die berufliche Tätigkeit w i r d mit großem Erfolg und entsprechenden Lustgefühlen fortgesetzt. Die infolge der H a f t nicht durchführbaren Funktionen des täglichen Lebens werden durch ein Traumbild kompensiert. Bewußtes und unbewußtes Leben stehen in einem auf Ausgleich gerichteten Verhältnis. Die Träume ergänzen, bringen Fehlendes heran, sind ein willkommenes Ventil im Druck des Gefängnisaufenthalts. § 3
Entwicklungsträume
Angesichts der Überfülle dieser in zahlreichen Variationen wiederkehrenden Träume erhebt sich die Frage, ob nicht neben dem primitiven Wegschieben der Realität und der Fortsetzung des bisherigen Lebens andere Möglichkeiten der Reaktionen auf die neue
Kompensatorische Träume
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Lage auftaudien. Es liegt doch nahe, nach dem Grund derselben zu fragen und den Versuch zu machen, sich mit den Dingen, die ins Gefängnis geführt haben, auseinanderzusetzen. Könnte nicht eine innere Entwicklung einsetzen, die Tendenz aufkommen, einen Kurswechsel vorzunehmen? Kann der Mensch durch Verhaftung und Verurteilung innerlich reifer werden? Oder bleibt alles verschüttet? Nimmt vielleicht gar die Versteinerung an Härte zu? Wird das ablesbar aus den Träumen? A.) 1. „Ich gehe in den Laden und will Eis kaufen. Der Verkäufer ist weg. Ich fasse in die Ladenkasse und nehme Geld. Dann nehme ich noch eine Schüssel voll Kartoffelpuffer und gehe weg". Ein zweiter Traum derselben Gefangenen besagt: „Ich klaue einer Freundin 100,— D M " . Bei beiden Träumen wird wohl ein leichtes Gefühl von Angst vor der Kriminalpolizei gespürt, aber keinerlei schlechtes Gewissen. Hier ist alles beim Alten geblieben. Es sind durch den Vollzug der Strafe keinerlei Hemmungen erwachsen. Jede sich bietende Gelegenheit wird benützt, sich auf Kosten Anderer zu bereichern. Nicht einmal die eigene Freundin ist sicher vor diebischen Gelüsten. Trotz aller Beteuerungen künftigen Wohlverhaltens mußte auf Grund dieses Traumes, der, bar jeder Ethik, rücksichtsloses, durch keinerlei moralisches Bedenken gezügeltes Genießenwollen zeigt, eine negative Prognose gestellt werden, deren Richtigkeit durch schnellen Rückfall erhärtet wurde. Sie war in diesem Falle berechtigt, obwohl jeder einmal im Traum unredliche Handlungen begeht. 2. Ebenfalls zu einer negativen Prognose nötigt auch folgender Traum: „Ich gehe im Wald. Es war heller Sonnenschein. Trotzdem waren alle Nachtvögel da, Uhu usw. Ganz alte dicke Bäume ohne Blätter und Rinde standen da. Im vielen Laub raschelte es wie von Schlangen. Der Traum ist durch seine schroffe Unverbundenheit auffallend. Nacht und heller Sonnenschein sind gleichzeitig da. Der schöne Wald mit allen seinen Geheimnissen und seinem großen Reichtum ist unheimlich kahl. Das beweglich Lebendige sind nur die Schlangen im trockenen Laub, von denen häufig in bevorstehenden schweren Erschütterungen geträumt wird. Hier liegt ein Ausfall, ein Defekt in der Persönlichkeit vor, der später in Gestalt einer Psychose manifest wurde. Auch von Heutig stellt fest, daß aus Träumen erste Anzeichen krankhafter Vorgänge abgelesen werden können. In endlosen bedrückenden Träumen kam eine epileptische Anlage ans Licht. Er zitiert Dostojewski, der 1857 über Zunahme seiner Nervosität klagt: „Der Boden unter meinen Füßen schwankt, als wäre ich in einer Schiffskabine." Boß spricht von Träumen, in denen sich „die Bedrohung des menschlichen Existierens mit größter Deutlichkeit schon zu einer Zeit ereignete, da die Kranken wachend ihre Tragik noch nicht einmal ahnen". B.) 1. Nicht ganz so hoffnungslos, freilich immer noch negativ sind die beiden Träume eines anderen Gefangenen: „Ich sitze in einem Auto, an dem das Steuer nicht intakt ist". Und: „Ich sitze am Steuer eines Autos. Das geht ganz anders, als ich lenke". Hier wird wenigstens schon der Versuch einer Lenkung gemacht, allerdings führt die Fahrt noch nicht zum Ziel. Der Träumer landet ganz anderswo. Die starken Kräfte, welche das Auto entwickelt, gehorchen nicht der Steuerung. Sie sind stärker als der 10*
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Lenker und ergießen sich in Bahnen, die von ihm nicht vorgesehen waren. Straffe Steuerung des Persönlichkeitsgefüges muß gelernt werden, sonst geht es von einer Panne zur anderen. 2. Zweifelhaft ist die Prognose bei folgendem Traum: „Ich gehe über eine Wiese; ich gehe weiter und komme an ein Grab. An diesem Weg steht Mutter und droht mit dem Finger". Zwei Wege sind offen: der eine führt in viel Schönheiten, der andere ans Grab alles Schönen und Verheißungsvollen. Kein Wunder, daß an diesem Weg die Mutter steht und warnend den Finger hebt. Von Heutig berichtet von einem Lustmörder, der im Traum einen Wald von Kruzifixen sah, von denen Blut tropfte. Er denkt dabei an die Idee des Altertums, daß Träume sich warnend in den Weg stellen, sieht allerdings auch andere Deutungsmöglichkeiten. Schon der oben bereits zitierte F. W. Hildebrandt hatte den Traum auch als Warner erkannt. „Der Traum warnt, warnt von innen heraus, als die Stimme eines Wächters, der auf dem Zentralobservatorium unseres Seelenlebens steht. Er warnt vor dem Fortschreiten auf Wegen, die wir im Grunde schon betreten haben" (zitiert aus Boß, Seite 23). C.) 1. Im nächsten Traum dagegen ist eine verbindende Brücke da. „Ich gehe auf einer Brücke; plötzlich falle ich ins Wasser und schwimme mit Mühe ans Land". Die Brücke, die auf die andere Seite führt, wo ein Neues beginnt, ist zwar schon da, aber offenbar noch recht ungesichert. So kommt es zum Fall, der aber keinen Untergang bedeutet. 2. In einem ähnlichen Traumbild wird eine ähnliche Situation erkenntlich: „Ich sitze im Boot, es ist wilde Strömung, ich verliere ein Ruder, kann aber das Boot an einem Pfahl festmachen. Ich gehe an Land, das Boot selber geht verloren. Audi hier können die schweren Gefahren schließlich gemeistert werden. Wenn auch Verluste nicht zu vermeiden sind, so ist doch die Rettung möglich. Man gewinnt wieder festen Boden. 3. „Eine große Schaukel, mit Rosen geschmückt; eine schöne Fee mit langem rosa Kleid, mit Rosen besteckt, schaukelt hin und her. Plötzlich springt sie herunter auf eine grüne Wiese". Hin und her schaukeln bedeutet, noch keinen festen Standpunkt haben. Alles ist so unwirklich, die Feengestalt selber hat etwas Traumhaftes, Unwirkliches, Spielerisches an sich. Die sehr unterentwickelte Träumerin steckt noch weithin in der kindlichen Märchenwelt und vergnügt sich dort. Es wird ihr nicht leicht fallen, sich in der Welt der harten Realitäten zurechtzufinden. Positiv zu deuten ist es, daß die Fee schließlich ihr Schaukeln aufgibt und in der Frühlingslandschaft einer grünen Wiese landet, mitten in lauter Leben und Wachstum. 4. Die zwei in der Brust wohnenden Seelen bringt in trefflicher Weise der folgende Traum eines jugendlichen Strafgefangenen zur Darstellung: „Ich bin Polizist und trage einen Karabiner. Da sehe ich, wie mir bekannte Mädchen stehlen wollen. Ich mache mit ihnen gemeinsame Sache, übergebe sie dann aber doch der Polizei. Die Mädchen schimpfen sehr".
Träume von Angehörigen
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Aus dem Rechtsbrecher wird ein Hüter des Rechts. Noch ist er unentschieden, auf welche Seite er gehört. Er kommt in schwere Bedrängnis, als er sein altes Milieu wieder sieht, und wechselt vorübergehend in das alte Lager zurück. Aber das Neue erweist sich doch als stärker und wird siegreich bleiben. 5. „Ich bin in einem Garten mit vielen kleinen Hunden. Einige von diesen nehme ich an die Leine und komme aus dem Garten heraus an ein Wasser. Ich will mit den Hunden über das klare Wasser, in welchem ich die H u n d e und mich sehe, herüberspringen. Dann wache ich auf". Im Garten steht die Träumerin, dem O r t des Wachstums, der sorgfältigen Pflege. Viele kleine H u n d e sind da, also neue Anfänge. Damit sie nicht davonstürmend zerstieben, werden sie an die Leine genommen. So gelangt die Träumerin an ein der Tiefe entsteigendes, ruhiges, lebenspendendes Wasser. Das Überspringen desselben ist allerdings offenbar nicht der richtige Weg, es zu überqueren. Über den Erfolg des Sprunges sagt der Traum nichts. 6. Das günstige Bild von dem inneren Zustand dieser Träumerin wird ergänzt durch einen zweiten Traum: „Ich will mit dem Fahrrad zum Vergnügen fahren. Aber das Rad wird immer kleiner, daß ich nicht mehr fahren kann. Auch war die Straße ganz kaputt". Hier liegt der nur selten beobachtete Fall eines Reduktionstraumes vor. Das Fahrrad verlangt den Einsatz der persönlichen physischen Kraft, in diesem Falle, um spazieren zu fahren, um Abwechslung zu haben, vielleicht ohne Rücksicht auf die zu leistende Arbeit. N u n zeigt die unbewußte Persönlichkeit, was bisher als zu groß und zu wichtig angesehen wurde. Reduziert wird, was im Bewußtsein zu viel Bedeutung und Gewicht hatte. Das zu Vergnügungen tragende Fahrrad wird immer kleiner, die dahin führende Straße ist gar nicht mehr schön, sondern ganz kaputt. Es macht keine Freude mehr, auf ihr zu fahren. 7. „Ich sehe nach meiner Verhaftung ein großes Grab mit einem mächtigen Kreuz". Auch dieser Traum kann positiv gedeutet werden trotz des düsteren Grabes. Häufig wird der Traumgang nach dem Grab getan, wenn der Mensch in schweren Lebenskonflikten nicht aus noch ein weiß, wenn er am Grab zerbrochener Pläne und verschütteter Hoffnungen steht. Aber über dem Grab erhebt sich ein mächtiges Kreuz. Schon immer war es ein Zeichen der Orientierung, es weist nach den vier Himmelsrichtungen. Seine eigentliche symbolische Bedeutung jedoch erhielt es im Christentum. Aus dem toten Stamm wurde der Lebensbaum. Wo das Kreuz steht, ist das Grab besiegt. Es bringt die tröstliche Versicherung der Auferstehung und eines neuen Lebens.
§ 4
Träume von
Angehörigen
Unvermeidlich und nicht zu verschieben ist die Auseinandersetzung mit dem sozialen Kreis, den man bei der Verhaftung verlassen mußte. Die Eltern und Geschwister, der Ehepartner sind betroffen und verletzt, fühlen sich blamiert. Der Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis distanziert sich. Der Arbeitgeber antwortet mit Entlassung. An die Stelle des bisherigen warmen Kontaktes tritt kühle Reserviertheit. Kurzum: die Verhaftung bedeutet eine schwere Belastung der lebensnotwendigen Beziehungen zu den
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Mitmenschen. Zahlreiche Probleme tauchen auf, die den Träumer lebhaft beschäftigen. Ihre Lösung ist schwierig, muß aber unter allen Umständen versucht werden. In der Stunde der Bedrängnis ist die Mutter zur Stelle als das Urbild der Güte, des Trostes, des bedingungslosen, durch nichts zu erschütternden Willens zur Hilfe. Sie erscheint zumal bei jüngeren Gefangenen häufig im Traum. Dabei spricht sie freundlich, man darf sich ihr trotz allem, was geschehen ist, nahen, ihr sogar um den Hals fallen. Wohl ist sie aufgeregt, aber nicht böse. Die Angst vor der Rüdekehr erweist sich als unbegründet. Schweigt sie lange oder gibt sie gar keine Antwort, so erwacht die Furcht. „Mutter liegt in einem weißen Sarg aufgebettet in einer Wiese. Ich weine so, daß ich wach werde". Die weiße Farbe, die Aufbahrung in einer Wiese, einer Frühlingslandschaft, zeigt, daß trotz der Aussichtslosigkeit, von welcher der Sarg redet, irgendwie doch noch Hoffnung genährt wird. In einem anderen Fall dagegen zeigt der Traum unerbittlich, daß die Mutter unerreichbar geworden ist und nicht mehr angerufen werden kann. „Meine Mutter ist gestorben, sie liegt im Sarg, ich erschrack sehr". „Mutti liegt in ihrem Schlafzimmer im Sarg, der mit Blumen ausgelegt ist. Ich schwitzte vor Angst und war wie gerädert". Verschiedene Deutungen lassen die Mutterträume zu: 1. Eine objektiv begründete Sorge kann sich auf diese Weise zu Worte melden. 2. In der Mehrzahl der Fälle liegt die im Gefängnisleben weithin zu beobachtende Regression ins Infantile vor, die als Gegenpol den mütterlichen Schutz verlangt, in den man sich immer flüchtet, wenn Gefahren oder unübersteigbare Hindernisse auftauchen. 3. Aber auch Erschrecken und Schuldgefühle, die noch nicht bewußt geworden sind, können aus solchen Träumen abgelesen werden: Jetzt habe ich meine Mutter umgebracht, jetzt ist ihr das Herz gebrochen. 4. Endlich ist angesichts des Alters dieser Träumenden (16 bis 18 jährige Mädchen) mit allgemeinen pubertären Erscheinungen zurechnen: Die Ablösung von der Mutter erfolgt, ein Neues beginnt. Der Übergang geht nicht ab ohne heftige Erschütterung. Eine etwas herbere Note trägt im Traum das Bild des Vaters. Er ist der Hüter der Familienehre, der Wächter über der Ordnung, der Vertreter des Moral-Kodex. Deshalb trifft ihn der Fehltritt des Kindes härter, seine Reaktion ist energischer. „Vater schimpft mit mir, warnt vor neuen Dummheiten, wird aber wieder gut". „Ich bekam zu Hause Prügel von Vater, ich heulte". Audi er wird schließlich unerreichbar. Wo er eben noch gesehen werden konnte, erhebt sich ein Grabhügel. In einem anderen Traum heißt es: „Vater liegt im Sarge". Bemerkenswert ist, daß das Traumbild vom Tode des Vaters keineswegs einen solchen Affektsturm hervorruft, wie das vom Tode der Mutter. Es wird lediglich die T a t sache seines Ablebens festgestellt. Im übrigen fließen weder Tränen noch ist die Seele mit Angst und Schrecken gefüllt. Er war eben mit dem Aufwadisen des Kindes nicht so eng verbunden wie die Mutter. Auch die Vaterträume spiegeln die Flucht in die Haltung des Kindlich-Hilflosen wider, die als Gegenpol die väterliche Autorität fordert, auf welche alle Sorgen und Wünsche übertragen werden können. Auch hier kommen Schuldgefühle oder schwere Auseinandersetzungen ans Tageslicht. Aber auch hier kann es sich um objektiv begründete Sorgen handeln.
Träume von Todesverurteilten
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Alle bisher geschilderten Träume stammen von jungen Menschen im Alter von 16 bis 20 Jahren. Deshalb muß man die Deutung wohl auf der Objektstufe suchen. Hier hat der im Traum erscheinende Mensch mit unserer Beziehung zu ihm zu tun. Die im bewußten Leben oft falsch gesehenen oder ganz fortgeschobenen Beziehungen werden häufig durch den Traum ins richtige Licht gerückt. Seltener erscheinen die Geschwister. „Ich bin mit meinem Bruder zusammen, er schilt mich aus wegen meiner Straftat. Ich habe furchtbar geweint". In einem anderen Fall spricht er sehr freundlich. Die nur einmal im Traum erscheinende Schwester ist zu jeder Hilfeleistung bereit. Audi diese Träume geben Einblick in die objektiven Beziehungen zu den Geschwistern. Die Ehefrau wird krank gesehen. Man befindet sich in Liebesszenen, aber auch in heftigen Auseinandersetzungen mit ihr. Eifersucht und Argwohn umkreisen sie. Sie brennt mit einem anderen Mann durch; die kommende Ehescheidung wird als die nächste große Krise träumend voraus erlebt. Mit aller Deutlichkeit zeigt der Traum die schwierige Situation nach der Entlassung. „Ich sollte zur Arbeit gehen; aber keiner wollte mich aufnehmen. Darüber war ich traurig und habe viel geweint". Peinlich ist die Begegnung mit den Angehörigen. „Ich komme nach Hause, alle Verwandten wollen mich sehen. Aber ich krieche unters Bett". Die Notwendigkeit sozialer Auseinandersetzungen, die Schwierigkeit, wieder Kontakt zu gewinnen, zeigt einem Gefangenen folgender Traum in den letzten Tagen seiner H a f t : „Ich begegne einem Bekannten von früher auf der Straße. Der Andere will zuerst ausweichen. Als ihm dies nicht mehr gelang, reichte er mir zur Begrüßung in einer merkwürdig umständlichen Weise den kleinen Finger. Dieser Finger wird aber auch nicht ergriffen, sondern nur berührt als äußerstes Minimum der Begrüßungsbemühung". Die durch die Verhaftung hervorgerufene Diffamierung, an welcher unschuidigerweise auch die Familie teilnimmt, findet ihren Niederschlag auch im Traum. „Das Familienleben geht zugrunde; die Tochter kann nicht heiraten". Nicht verwunderlich ist es also, wenn der Träumer berichtet: „Mir begegnet eine alte Frau, tief verschleiert; sie schlägt den Schleier auf, sieht mich ernst, aber nicht unfreundlich an und sagt: „Ich bin Frau Sorge". § 5
Träume von
Todesverurteilten
Besonders schwer ist die Bedrohung der zum Tode Verurteilten. Das Urteil ist rechtskräftig. Lediglich die Bearbeitung des Gnadengesuches bringt noch eine Gnadenfrist. Jedes Schlüsselrasseln kann die Ankündigung des Todes bedeuten. Qualvoll sind die Nächte, angsterregend die Träume. Fast unmöglich erscheint es, diese Situation zu verarbeiten, die andererseits eine Auseinandersetzung gebieterisch fordert. 1. Der Primitive ist zu solchen inneren Auseinandersetzungen nicht fähig. Ein Resonanzboden, der nach dem tiefgehenden Erlebnis des Todesurteils neue, bisher nicht gehörte Töne abgeben könnte, ist nicht vorhanden. Lediglich Wunschträume tauchen auf. „Ich schaffe auf meinem Arbeitsplatz und ruhe mich dann aus. Der Ridfter kommt und bringt mir die Begnadigung". „Ich pflüge mit meinem Gespann den Acker. Ich werde begnadigt und entlassen". 2. Nahe liegt der Gedanke an einen letzten, verzweifelten Fluchtversuch, wie er des öfteren vom Verfasser miterlebt wurde. Die Aussichtslosigkeit einer solchen Flucht an-
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
gesichts der vielen verschlossenen Türen und vergitterten Fenster sowie der scharfen Bewachung läßt den Vorsatz wach werden, es einmal mit Fliegen zu versuchen. „Ich mache einen Fluchtversuch. Etliche Male gelingt es mir, und zwar immer durch ein in-die-Luft-Fliegen im letzten Augenblick zu entkommen. Zuletzt allerdings kann ich mich nur noch schwer vom Boden erheben". Jezower berichtet einen ähnlichen Traum, von Richard Dehmel am 29. 8. 1894 geträumt: „Ich war von Häschern verfolgt, Männern in Trachten der Inquisitionszeit, und konnte plötzlich fliegen. Ich flog ganz langsam über den Eichenhain bei unserem Forsthaus. Am Rande standen die Häscher und schrien mir nach. Auf einmal empfand ich, daß ich hinüber ins ewige Leben fliege" ( J e z o w e r , Seite 228, Traum Nr. 435). 3. Da der kompakte, massige Körper beim Fliehen und Fliegen ein unüberwindliches Hindernis bedeutet, versucht der Träumer, sich durch einen Trick des Körpers zu entledigen und dadurch die Verfolger zu übertölpeln. „Bei einer nochmaligen Festnahme will ich mich aus meinem eigenen Körper befreien, um diesen als Leichnam in den Händen meiner Verfolger zurückzulassen. Dabei entsann ich mich, daß mir dies schon einmal gelungen sei, wobei ich dann in Aussehen und Gestalt ganz derselbe geblieben war". Dazu sei als Gegenstück ein Traum der Schriftstellerin Isolde Kurz vom Februar 1906 hinzugefügt: „Ich habe eine Reise vor, bei der mir mein Körper hinderlich ist. Also fahre ich heraus und lasse ihn ganz gleichgültig liegen. Wie ich dann zufällig wieder daran vorüber muß, bleibe ich doch neugierig stehen und sehe ihn an. Er ist ganz zusammengefallen wie ein leerer Schlauch, bewahrt aber doch noch vollkommen seine Ähnlichkeit" ( J e z o w e r , Seite 255, Traum Nr. 483). 4. Erweist sich der Trick des Herausfahrens aus dem Körper als undurchführbar, so bleibt nur noch die Möglichkeit, ihn gewaltsam zu vernichten. Eine Giftmörderin träumt während der Untersuchungshaft: a) „Ich hatte Termin. Meine Strafe wurde sehr hart. Als ich mir den Kopf zerbrach: wie endest du nun am leichtesten?, kam eine Aufseherin und meinte: Ich helfe Ihnen. Sie nahm ein Messer und schnitt mir den Körper durch". b) „Ich wurde vor das Kriegsgericht geführt und bekam lebenslänglich. Aus Verzweiflung erhängte ich mich" ( J e z o w e r , Seite 394, Träume Nr. 727 und 730). 5. Ständig steigen Angst und Gefahr. a) Der Henker kommt in Sicht. „Zwei Männer mit erschreckend häßlichen Gesichtern stehen neben meinem Bett. Sie tragen rote Roben und halten ein Beil in der Hand". Richter und Staatsanwälte besonderer Gerichte trugen rote Roben. Sie führen dem Träumer durch das Beil, das sie in der Hand halten, den tiefen Ernst der Lage vor Augen. Ohne zu einer Beziehung zu ihnen zu gelangen, muß er sich damit abfinden, daß sie an seinem Bett, der Sphäre der persönlichen Intimität, Aufstellung nehmen. b) Die Henkersmahlzeit wird gereicht: „Ich befinde mich in meiner Zelle. Draußen höre ich Stimmen: Hier liegt er. Es wird aufgeschlossen, und herein treten drei Kriminalbeamte, stellen mir ein reichliches Mahl auf den Tisch und nötigen mich, noch einmal gut zu essen. Ich frage: Ja, ist es denn schon so weit?, bekomme aber keine Antwort. Entsetzen packt midi, ich wache auf".
Träume von Todesverurteilten
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„Ich befinde mich wieder in der gleichen Zelle. Es geht die Tür auf, und zwei Beamte treten ein. Der eine trägt eine Rumflasche und ein Glas, der andere einen Kessel mit heißem Wasser in den Händen. Sie bereiten mir ein scharfes Getränk und meinen: ,So — nun trinken Sie nochmals ordentlich einen, damit Sie nicht schwach werden'. Ich sehe mein letztes Stündlein gekommen, werde von Schaudern erfaßt und wache in Schweiß gebadet auf". 6. Immer unheimlicher wird die Situation. „Im Zimmer steht ein Eimer voll Blut. In diesem muß ich ständig rühren. Das ist mir sehr widerlich. Ich empfinde stärksten Ekel. Mein Kleid wird bespritzt". Es geht um die Vitalsphäre, um das nackte Leben. Die bereits erwähnte Giftmörderin träumt: „Es lagen im Saal lauter Tote. Dieselben sollte ich waschen und anziehen; als ich aber durch Unvorsichtigkeit eine Bank umstieß, fielen die Toten alle zu Boden; beim Aufnehmen bekam ich das Gruseln, wollte so schnell eilen und rufen. Aber ich kam beim Laufen nicht von der Stelle, und der Ruf blieb mir im Halse stecken" (Jezower, Seite 393, Traum N r . 726). 7. In der Stunde der schwersten Lebensbedrängnis ersteht das Mutterbild: „Die verstorbene Mutter erscheint mir und tröstet midi". Die Giftmörderin ruft in der Angst ihrer Träume: „Muttchen, steh mir doch bei" (Jezower, Seite 394, Traum N r . 731). Von Heutig spricht hier von Infantilismen der Hilflosigkeit und der kindlichen Anschmiegung, die sogar zu Kleinkinderträumen führen können. Es sei auch ein „jäher Ausbruch eines infantilen Medianismus", wenn zur Hinrichtung geführte starke Männer bisweilen nach der Mutter rufen. Dr. Bossard weist darauf hin, daß unter den Gefühlen, die das Traumleben bewegen, die Angst immer eine dominierende Stellung einnimmt. Wo das Leben in seiner Totalität bedroht ist, wird sie unbezwingbar und löst den Schrei nach der Mutter aus. 8. Die schwer geängstete Seele beschreitet auch den Weg der Entwicklung von Bildern. „Eine Regression zur archaischen Schicht setzt ein" (Dr. Herzog, Seite 189). a) Ein sehr großes, schwarzes Pferd mit ungewöhnlich breitem Rücken und vereitertem Auge wird vom Träumer bestiegen trotz innerer Ablehnung und Fehlens von Reithosen. Dieses Pferd ist eine sehr hintergründige Erscheinung, ohne Zweifel von archetypischer Bedeutung, ein Todesbote. Aber es wird bestiegen, wie später einmal das Schafott bestiegen werden muß. Das ist eine beachtliche Leistung. Daraus wird ein erstes beginnendes Einverständnis mit dem unvermeidlichen Tode ablesbar. Einzelheiten über diesen und die nachfolgenden Träume können nachgelesen werden in der Studie des gleichen Verfassers „Das Todesurteil in seiner Auswirkung auf die Persönlichkeit", Seite 41—72, Enke-Verlag, Stuttgart, 1956. Die archetypische Bedeutung des schwarzen Pferdes wird abgehandelt von Dr. Herzog in „Psyche und Tod", 6. Kapitel, Seite 75 ff. b) Zwei Hunde haben sich ineinander verbissen. Beide werden dabei verwundet; einer wird vom Träumer zertreten.
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Eine Träumerin wird von einem Hund gebissen. Dem Lieblingshund wird der Kopf abgehackt. Auch Hunde sind Todestiere, mahnen an den Hades. Der Hekate, der Göttin des Spukes und der Angst, sind Hunde beigegeben. Sie wird auch selber mit Hundekopt dargestellt, und als triformis angesprochen. „Der Herr des Grabes" ist ein hundeköpfiger Gott. Über die enge Verbindung zwischen Hund und Tod schreibt Dr. Herzog Seite 50 ff. c) „Ich wälze mich, am Boden liegend, um mich selber und gelange an einen Abgrund, der ganz furchtbar tief ist. Ich schaue in diesen ganz tiefen Abgrund hinein, sehe Ratten, Mäuse, Würmer sich bewegen und schreie entsetzt: Nur da nicht hinein". Lauter animalisches Geziefer zerstörerischer Art sieht dieser Träumer um sich. Total allein gelassen, voll rasender Angst — das ist seine seelische Lage. Eine letzte Hoffnung liegt in dem Sichherumwälzen, das an den Erregungssturm des gefangenen, unruhig flatternden Vogels erinnert. Vielleicht kann auf diese Weise doch noch ein Ausweg gefunden werden. Edgar Allan Poe, ein amerikanischer Dichter, hat in seiner Erzählung „Der Brunnen und das Pendel" mit einer wahrhaft gespenstigen Phantasie eine ähnliche Situation geschildert. Ein von der Inquisition in Toledo zum Tode Verurteilter sieht in seinem Verließ einen abgrundtiefen Brunnen. Aus diesem steigen ungewöhnlich große Ratten, wimmeln um die Holzpritsche, Sind wild, frech, gierig, kriechen über den Hals, aber zernagen schließlich die den Gefangenen umschnürenden Riemen, so daß er den Fesseln entgleiten kann. „Immer flüsterte die Hoffnung, die über das Verhängnis triumphiert, selbst dem zum Tode Verurteilten Trost ins Ohr". Aber der nahende Tod „braucht sich nicht unbedingt in mythologischen Bildern kundzutun" (Dr. Bossard, Seite 212). Ein zum Tode Verurteilter hat unklare Träume von einem Fahrrad ohne Lenkstange, von einem blutigen Hals und von Auswanderung. Es gibt keine Rettung mehr, keine Lenkung, kein Vorwärtskommen, kein Weiterfahren. Die Auswanderung in ein anderes Land steht bevor. 9. Die Lage droht sich gar zu einer kosmischen Katastrophe auszuweiten. „Es tobt ein furchtbarer Orkan mit gewaltigen Regengüssen. Am Himmel erscheint ein mächtiger Lichtkegel, der sich mit rasender Geschwindigkeit vorwärts bewegt. Ich denke: Wo wird das hingehen und trete an das Fenster meiner Wohnung. Der Lichtkegel fliegt gegen einen Baum und explodiert. Die Funken spritzen nach allen Seiten. Ein Funke fällt auf meinen Fuß. Mit einem Schmerz auf dem Fuß wache ich auf". Die Ehefrau des Arztes von Varnhagen träumte am 13. Mai 1825: „Ich bin mit vielen nahen Bekannten zusammen. Plötzlich wird ein Unwetter mit Blitz und Sturm. Eine Röte entstand am Himmel, und bald umfloß sie den ganzen Raum. Meine Freunde waren in diesem Abendrot verschwunden. Die Erde schwankt, das Rot wird immer schöner. Wo seid Ihr? schreie ich. Das ist ein Untergang oder der Tod, denke ich. Ich will aufpassen, wie er kommt, wo meine Seele bleibt. Die Erde schwankt noch mehr. Ich denke an Gott" (Jezower, Seite 137/138, Traum Nr. 234).
Der Traum als Beweismittel
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Diese Träumerin erkrankte 14 Tage später schwer. Sie nannte den Traum einen Ruck zur Entwicklung, zum Besseren, während unsere Probandin sich mit der besorgten Beobachtung des Phänomens begnügt, ohne zu einer inneren Entwicklung zu gelangen. Ihr wird allerdings klar, welche unheimlichen Kräfte und Gewalten die Existenz bedrohen. Das Ganze wirkt fast wie eine Vision der Atombombe. Nach Dr. Bossard klingen scheinbar in solchen Träumen vorindividuelle Erfahrungen mit Naturgewalten und anderen dämonischen Mächten an. 10. Aber auch die Vorstellung wird wach, daß der Tod nicht Vernichtung, sondern nur Verwandlung und Veränderung der Daseinsform sein könne. Schon der Traum von der Befreiung aus dem eigenen, als Leichnam zurückgelassenen Körper deutet an, daß ein Wesenskern auch nach Verlust desselben unverändert weiter besteht. Noch deutlicher kommt diese untergründige, weder religiös fundierte, noch intellektuell erarbeitete Vorstellung zum Ausdruck im Traum eines zum Tode Verurteilten, in welchem er nach der Flucht auf eine glatte Stange abstürzt, auf Telegraphendrähte fällt und zerfließt „in Nichts — wie Quecksilber". Quecksilber zerfließt nicht in Nichts, sondern gewinnt neue Form und Gestalt; es ist etwas sehr Wertvolles. Das vermeintliche bevorstehende Nichts ist also in Wahrheit eine Umformung zu einer neuen, kostbaren Wesenheit. Die Situation des drohenden bevorstehenden Todes wird damit ganz neu verarbeitet. „Der lähmende, nur Grauen erregende Aspekt des Todes wird abgelöst durch ein neues ,Wissen': daß nämlich Tod nichts Geringeres bedeutet als Verwandlung und Wiedergeburt" (Dr. Herzog, Seite 204). Vielleicht aus dieser dunklen Vorstellung heraus erwächst die höchst seltsame Reaktion der folgenden Träumerin, einer sehr beherrschten, zurückhaltenden Frau: „Der Richter begegnet mir auf dem Korridor und sagt:,Nun kommt es doch zum Todesurteil.' Ich falle ihm um den Hals und küsse ihn". Die Ankündigung des Todes wird also von ihr als etwas Freudenvolles empfunden und mit einer Geste der Dankbarkeit beantwortet. Der Verkünder des Todes wird als Segensträger begrüßt. Es ist ein weiter Weg von der primitiven Angst mit Fluchtversuchen über das kräftige Anpacken der Aufgabe des Sterbens bis zur Bejahung des Todes als einer Durchgangsstation zu etwas Neuem. § 6
Der Traum als Beweismittel
Leistet der Traum einen Beitrag zu der Frage nach Schuld oder Unschuld? Kann er Beweismittel sein? Dr. X., unter Anklage gemäß § 175 stehend, träumt: „Ich prügele mich mit einem Jungen, dessen Gesichtszüge ich deutlich vor mir sehe". Nach dem Erwachen fällt ihm ein, daß er sich auch mit diesem Jungen abgegeben hat. Er meldet das dem Untersuchungsrichter; seine Angaben erweisen sich als richtig. Ein fast erblindeter Arbeiter, der während der Untersuchungshaft seine homosexuellen Verfehlungen beharrlich leugnete, erzählt mit behaglichem Schmunzeln folgenden
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Traum: „Ich sah auf einer Bühne eine Operette mit mehreren Akten. Sie trug die Überschrift ,Schmeicheln und Streicheln'. Allerlei Liebesszenen spielten sich ab. Die Jungen waren so nett". Er wurde bei der Verhandlung überführt. Sein Traum hatte bereits preisgegeben, was er bewußt noch verschwieg und ableugnete. In einem dritten Fall dagegen schien der Traum die Bestätigung eines Fehlurteils zu werden. Eine bis dahin unbescholtene Frau wurde zum Tode verurteilt, weil sie sich während eines Luftangriffes fremden Besitz angeeignet habe. Leidenschaftlich bestritt sie ihre Schuld. Sie habe nur einige Sachen in dem wilden Chaos der Brände vor der Zerstörung bewahren wollen, um sie dem Besitzer zu erhalten und nach Wiederherstellung der Ordnung zurückzugeben. Das Todesurteil wurde sofort in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Auch dieses Urteil wurde angefochten. Ein Wiederaufnahme-Verfahren mit dem Ziel der völligen Rehabilitierung schien sich anzubahnen. In ihrer lebhaften Traumtätigkeit setzte sie ständig ihre ganze Kraft ein, um bei immer neuen Brandkatastrophen fremdes Eigentum zu retten. Wegen des Zusammenbruches konnte der Fall nicht bis zum Ende beobachtet werden. Über den Traum als Beweismittel berichtet
Jezower:
Das Düsseldorfer Schwurgericht verurteilte den Arbeiter Schramm wegen Mordes an dem Arbeiter Johann Maaßen zum Tode. Seine Überführung wurde auf ungewöhnliche Weise ermöglicht. In der Nähe der Schellenburg bei Düsseldorf wurde eine männliche Leiche aus dem Rhein gefischt, die zwei Kopfschüsse aufwies und mit einem großen Stein beschwert war. Die Personalien des Ermordeten konnten damals nicht ermittelt werden. Im März war Schramm wegen eines anderen Deliktes mit einem anderen Gefangenen zusammen in einer Gefängniszelle untergebracht. Dort hat Schramm geträumt und im Traum laut gesagt: „Schmeißt ihn in den Rhein, Strick um den Hals, Stein anbinden.". Von seinem Mitgefangenen befragt, erzählte Schramm diesem den Vorgang am Rhein, den Namen des Ermordeten und den Namen eines Komplizen. Die Leiche des seinerzeit aus dem Rhein gezogenen Mannes wurde nun ausgegraben und tatsächlich als die des Arbeiters Johann Maaßen identifiziert. Schramm bestritt später die Richtigkeit der seinem Mitgefangenen gemachten Aussagen. Die Sachverständigen waren jedoch der Ansicht, daß in dem Traum und der nachfolgenden Erzählung die Wahrheit liege, so daß das Gericht das Todesurteil aussprach. (Datum des Urteils fehlt. Jezower, Seite 395/396, Traum Nr. 735). Von Hentig zitiert einen Bericht Dostojewskis, nach welchem die andern Sträflinge einen Vatermörder im Schlaf schreien hörten: „Halt ihn, halt ihn! Schneide den Kopf ab, den Kopf, den Kopf!". Dieser Mörder befand sich, solange ihn Dostojewski kannte, in der vortrefflichsten, heitersten Gemütsstimmung, nur im Traum kam der Mord zu ihm zurück. Eine weitere Frage ist die, ob aus bestimmten Träumen bestimmte Delikte erkenntlich werden. Die überstarke Mutterbindung vieler Homosexueller, ihre Lebensangst und Todessehnsucht spiegeln sich in zahlreichen Träumen wider. „Ich sitze mit der Mutter im Familienkreise zusammen und lasse mich von ihr beraten". „Ich sehe lauter Särge, die ich zuschaufeln muß. Mir ist sehr ängstlich zumute". Überhaupt sind alle Träume aufs stärkste mit Angst geladen. Sie sind so schrecklich, „daß man gar nicht daran denken mag".
Verwertung der Träume
157
„Ich sehe eine Kirche mit vielen Gästen. Es soll Trauung sein, und zwar meine eigene. Im Vorraum der Kirche wird standesamtlich getraut. Es sind feine Herren da, sogar Offiziere in Uniform. Dann geht es in die Kirche. Ich sehe einen Bischof mit Krummstab. Mir ist sehr feierlich zumute". Das Interesse dieses merkwürdigen Bräutigams wird völlig absorbiert durch Dinge und Menschen, die für den normalen Freier von sekundärer Bedeutung sind. Es ist keine Rede davon, daß die Bewunderung für die feinen Herren, die Ehrerbietung für den Bischof überstrahlt werden von der Anmut der Braut. Diese ist so unwichtig, daß sie gar nicht zu erscheinen braucht. Die Ehe dieses Träumers wurde nach kurzer Zeit wegen seiner homosexuellen Neigung geschieden. Endlich sei der Traum eines homosexuellen Arztes berichtet: „Ich soll eine Frau untersuchen, die Schmerzen in der Brust hat. Dabei stelle ich fest, daß sie ein Zwitter ist, und habe das starke Gefühl, daß mich das etwas angeht". Die eigene Problematik wird in die Traumfigur verlegt. In anderen Fällen ist ein bestimmtes Delikt aus den Träumen nur schwer nachweisbar. Dostojewski fand, daß Schmähungen, Diebesausdrücke, Worte wie Messer und Äxte den Sträflingen häufig über die Lippen kamen. Träume um die Tat sind sehr selten. Daß alle Träume solchen Inhalts verschwiegen wurden, ist wenig wahrscheinlich. Näher liegt die Annahme, daß die Auseinandersetzungen mit der Tat in vielen Fällen gar nicht bis in letzte Tiefen gedrungen sind, sondern in peripheren Bezirken hängen blieben. Darauf deutet auch die sehr große Zahl der kompensatorischen Träume, die von einer Verarbeitung der Dinge nichts erkennen lassen. Von Heutig hält es für möglich, daß manche Verbrecher die gewaltsame Erledigung eines lange schwebenden Konflikts im Innersten der Seele mit Befriedigung erlebten. Das erkläre die gefühlsleere Rekonstruktion des Verbrechens im Traum. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und sagen: „Das erklärt die Seltenheit oder das völlige Fehlen der Träume um die Tat". § 7
Verwertung
der
Träume
Der Druck der Untersuchungshaft und des Gefängnisaufenthalts spiegelt sich wider in den Gefahrenträumen, die volle Beobachtung verlangen. Dem von wilden Ängsten gepeinigten, sich von tödlichen Gefahren bedroht glaubenden Gefangenen muß zunächst durch ständige Kontaktnahme ein Gefühl menschlicher Teilnahme und Hilfsbereitschaft vermittelt werden. Dann können die einzelnen Furcht erregenden Bilder durchgesprochen und Gegenkräfte mobilisiert werden. Lange anhaltende Haft zehrt die Kräfte auf, zumal bei sensiblen Menschen. Wenn im Traum Urwald-Dickicht, ein den Weg versperrender Lattenzaun oder ein heilloses Gewirr von Drähten erscheint, ist Gefahr im Verzug. Bei Tierträumen empfiehlt es sich, nach persönlichen Erlebnissen mit den im Traum auftretenden Tieren zu fragen. Aufschlußreich ist auch die Nachfrage nach Tieren, die dem Träumer sympathisch oder verhaßt sind. In Rechnung gestellt werden muß auch
158
Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
hier die Polyvalenz der Symbole. Genaue Kenntnis der Bewußtseinslage, Assoziationen sind notwendig, um nicht in Vermutungen stecken zu bleiben. Auch die im Traum ganz falsch gesehene Gestalt des Richters muß ins rechte Licht gerückt werden. Er ist ebensowenig wie der Staatsanwalt eine erbarmungslos und gnadenlos arbeitende Maschine, sondern sorgsam darauf bedacht, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht von einander zu trennen. Auf der Suche nach der Wahrheit kann man ihm sehr wohl begegnen und sogar recht menschliche Züge an ihm entdecken. Die übertrieben schwarze Fama des Gefängnisses bedarf gleichfalls der Korrektur. Bei dem größten Teil der die rauhe Gegenwart kompensierenden Träume ist eine Hilfe kaum nötig. Sie mögen ihre Funktion als Ventil ausüben und seelischen Überdruck ablassen. Man muß nur wissen um diese Dinge. Wenn auch die Auseinandersetzung fehlt, so ist doch ein helfender, heilender Faktor am Werk. In aller Stille wird eine entgiftende Arbeit geleistet, wie sie in bestimmten körperlichen Vorgängen ihre Parallele findet. Träume dieser Art können eine heilsame Prophylaxe gegen etwaiges stilles Hineinfressen von Demütigungen und daraus erwachsenden Depressionen sein. Dem sich gemißhandelt fühlenden Träumer, der im Angriff auf die Peiniger den Ausgleich sucht, kann klar gemacht werden, daß Aggression immer wieder neue Aggression hervorruft, daß aber stets gleichbleibendes Verhalten schließlich eine Atmosphäre der Sachlichkeit schafft, Mißtrauen beseitigt, ja sogar den Gegner entwaffnet und innerlich überwindet. Eine Lösung der Konflikte sei infolgedessen auf diesem Wege viel eher und nachhaltiger zu erreichen als durch Pflege des Revanchegedankens. Dem schüchternen Studenten endlich könnte gesagt werden, daß es auch für asthenische Menschen zahlreiche andere Mutproben gibt, als die große Prügelei, in deren Mittelpunkt er träumend steht. Volle Beachtung verdienen die Träume, welche einen Blick in den Stand der inneren Entwicklung tun lassen. Selbst da, wo noch alles tot ist, kann man sich beim Appell an den Verstand nicht der Erkenntnis verschließen, daß das Bestehlen der Ladenkasse und noch mehr das „Beklauen" der Freundin auf eine Bahn treibt, die in völlige Isolierung führt und den Verlust schöner Lebensjahre durch immer neue Gefängnis-Aufenthalte unweigerlich nach sich zieht. Wo Pannen eintreten, weil das Steuer am Auto versagt, ist der Hinweis auf Rat und Hilfe eines Fachmannes angebracht. Der Weg zum Tode und der Weg zum Leben — dies uralte, oft diskutierte Thema in der Literatur, bedarf immer wieder erneuter Abhandlung und praktischer Auslegung. Hin und her schaukeln, ohne einen eigenen Standpunkt zu haben, bringt nicht weiter im Leben. Eines Tages muß der Absprung gewagt und eine feste Position bezogen werden. Sorgfältige Pflege verdienen die schwachen Anfänge eines neuen Lebens. Was schadet es schon, daß das Boot verloren geht, daß man von einer bereits beschrittenen Brücke zu einem anderen Ufer noch einmal herunterfällt und mühsam geschwommen werden muß, wenn nur das Land erreicht und fester Boden unter den Füßen gewonnen wird! Wieviel Freude und Leben bringt ein Wurf junger Hunde! Welche Weisheit liegt darin, daß sie an die Leine genommen werden! N u n können sie nicht mehr quecksilbrig durcheinander rennen und sich gegenseitig hindern. Es kommt Ordnung in die Fülle der neuen Impulse. Eine einheitliche Linie wird gewonnen. Die Träumerin kann ermutigend auf ordnende Kräfte in ihrer Seele aufmerksam gemacht werden.
Zusammenfassung
159
In dem Falle, wo zwei Seelen in der Brust wohnten, Altes und Neues noch im K a m p f mit einander lagen, konnte das Gewicht des Neuen durch erfinderische Ausmalung der vom T r a u m dargebotenen Bilder mit Nachdruck verstärkt werden. Zu wieviel wichtigen Hinweisen die reiche Symbolsprache des Kreuzes Gelegenheit gibt, bedarf keiner weiteren Ausführung. Wertvoll und aufschlußreich ist der Blick in die traumhafte Begegnung mit anderen Menschen. Träume von diesen bieten vielfache, willkommene Gelegenheit, die Beziehungen zu ihnen durchzusprechen, zu klären, von Belastungen zu befreien. Die an Vater und Mutter nachzuholende Leistung, das große Geschenk der Versöhnungsbereitschaft, des freundlichen Empfangs, der offenen Tür, von welcher der Traum sehnsuchtsvoll spricht, verdienen, mit Nachdruck unterstrichen zu werden. Aber auch die Tatsache muß betont werden, daß tatsächlich die Eltern eines Tages nicht mehr ansprechbar und erreichbar sein werden, daß ihnen tatsächlich das H e r z brechen kann. M i t krasser Deutlichkeit zeigt der T r a u m die zentrale Bedeutung des Eheproblems, dem volle Aufmerksamkeit zugewandt werden muß. Die durch die Verhaftung entstandenen mancherlei Fährnisse werden klar erkenntlich. Auch die im T r a u m richtig gesehene schwierige Situation nach der Entlassung muß bewußt immer wieder durchgesprochen werden. Die verständlichen Minderwertigkeitsgefühle verdienen positive Wertung. Ihnen wurde zuweilen mit Erfolg begegnet durch den Hinweis, daß auch schwer belastete Menschen noch große Leistungen vollbracht haben. § 8
Zusammenfassung
Eine ungeheure Fülle von Erscheinungen begegnet uns in der Traumwelt der Gefangenen. Es ist unmöglich, es ist sogar ein Irrweg, sie auf eine kurze Formel zu bringen. Deshalb wurde die Deutung auf große Linien beschränkt, im Einzelnen aber Zurückhaltung geübt. Die psychoanalytische These, nach welcher jeder T r a u m eine Wunscherfüllung ist, erscheint zu eng. Aber auch Jungs Kompensationstheorie: „Die Träume verhalten sich kompensatorisch zur jeweiligen Bewußtseinslage" ist nicht die einzig mögliche Theorie des Traumes. Professor Mezger, München, äußert in seinem Artikel „Der § 51 und der Strafrichter", erschienen in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1954, H e f t 5 — 6 , keine Bedenken gegen die „vorsichtige Verwertung psychoanalytischer Erfahrungen", neigt allerdings mehr der Jungschen Theorie zu. D e r T r a u m ist und bleibt ein sehr komplexes, unergründliches Phänomen. Vieles erscheint sinnlos, anderes erweist sich als begreiflich. Für den erfahrenen Kriminologen kann er ein Hilfsmittel sein. Wenn wir auch nicht auf ihn angewiesen sind, so bringt er doch wertvolle Anknüpfungspunkte und wichtige Ergänzungen zur Bewußtseinslage. Auch für die Prognose kann er Hinweise geben. E r offenbart rückhaltlos und ohne Beschönigungen die innere Lage, vermittelt einen Einblick in die miteinander ringenden K r ä f t e und Gegenkräfte der Seele. Dadurch leistet er einen Beitrag zu einer cura specialis, die, nicht zufrieden mit Oberflächen-Erscheinungen, zu tieferen Schichten der Persönlichkeit durchstößt und nachhaltigere Beeinflussung ermöglicht.
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Wandlungen im Unbewußten (Die Traumwelt des Gefangenen)
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Traumtätigkeit der Freiheitsberaubten läßt die durch den Rechtsbruch entstandene Gefährdung, sowie die Schockwirkung der Inhaftierung und der drohenden Zermalmung durch eine gnadenlose Justizmaschine erkennen. Im Regelfall erfolgt die Bewältigung der neuen Situation durch primitives Nicht-Wahr-Haben der Realität und Fortsetzung des bisherigen Lebens, sogar noch in gesteigerter Form. Träume um die rechtsbrecherische Tat können nur in ganz geringer Zahl festgestellt werden; Ansatzlinien für eine innere Auseinandersetzung sind selten zu finden. Dagegen wird ein lebhaftes Bedürfnis nach einer Klärung und Fortsetzung der bisherigen sozialen Beziehungen erkenntlich. Die hierbei zu bewältigenden Schwierigkeiten bereiten zuweilen Not, während die Tat selber scheinbar wenig Anfechtung schafft. Die Beeinträchtigung der sozialen Person wird also schwerer empfunden als die Verletzung ethischer Normen. Abschließende
Zusammenfassung
I. Verhaftung und Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis bringen Schock, Panik, Gefühle des Verlorenseins und der Aggression, Primitivreaktionen, Suizidneigungen, Affektstupor oder Überschwemmung durch Affekte. Diese Phänomene kehren abgeschwächt wieder bei den weiteren krisenhaften Zuspitzungen der Untersuchungshaft: Zustellung der Anklageschrift, Terminankündigung und Termin. Bei längerer Dauer derselben läßt sich eine allmähliche Anpassung beobachten mit einem Entlastungsgefühl und der Wiederkehr des Hoffnungsgeladenen. Versuche einer Fortsetzung der Berufstätigkeit, selbstgestellte Aufgaben, tagtraumartige, irreale Spekulationen füllen die Tage. Neben Phantomgebilden einer seltsamen Pseudosozietät als Fortsetzung der abgeschnürten sozialen Beziehungen ist das Hauptmerkmal eine allgemeine Regression ins Infantile, Kindlich-Hilflose, hervorgerufen durch die Unmöglichkeit der Verfügung über sich selbst und die eigenen Angelegenheiten. Auseinandersetzungen über die Fragen der Schuld oder Unschuld treten nur selten in Erscheinung und werden an die Peripherie geschoben. Eine ethische Einstellung zur Strafe als Sühne für verletztes Recht konnte nur in einem Fall beobachtet werden. Adäquate Stellungnahme zur Anklageschrift ist keine häufige Erscheinung. Der Termin bringt zunächst eine starke Entspannung, kann aber auch sehr lange innere Auseinandersetzungen zur Folge haben. II. und III. Zielstrebige, fachkundige Arbeit im Jugendgefängnis kann fruchtbare Entwicklungsprozesse in Gang setzen. Bei geeigneter menschlicher Assistenz ist das gleiche Phänomen auch bei schwer und lebenslänglich Bestraften zu beobachten. Die Beschränkung auf Verwahrung und Abschluß von der Außenwelt, das Fehlen menschlicher Bemühung, der Verzicht auf Differenzierung dagegen führen zur Ertötung feinerer Strebungen, Infektion durch die anlagemäßig Kriminellen, Gewöhnung und Anpassung. Die „Tiefkühlsituation" (Baan), fehlendes Vertrauen, fehlende Aussprachemöglichkeiten verhindern die Verarbeitung und Bewältigung seelischer Konflikte. Verschiedene Empfänglichkeit für die Strafe, verschieden lange Dauer der Entwicklungsprozesse schaffen große Ungleichheiten. Neben positiven Wirkungen des Gemeinschaftslebens im Gefängnis stehen Sättigungserscheinungen und Allergien gegen den Mitgefangenen. Dressate und paradoxer Ehrenkodex wirken verwüstend und sind schwer aufzulösen. Als über-
Abschließende Zusammenfassung
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trieben hart empfundene Strafen vernichten Schuldgefühle und erwecken Rachegedanken. Unmöglichkeit der Wiedergutmachung f ü h r t in Entmutigung und Depression. Aussichtslos lange Strafen mit formularmäßiger Ablehnung von Gnadengesuchen lassen nach anfänglichen Versuchen einer positiven Verarbeitung Gleichgültigkeit, Mutlosigkeit und Defaitismus aufkommen. Neurotische Symptome und Angstgefühle stellen sich ein; Begnadigungswahn kommt auf. IV. Mit dem Homosexuellen steht eine in ihrer Totalität erheblich abgewandelte Persönlichkeit vor dem Richter. Die Bestrafung f ü h r t im Regelfall zu einer Verschärfung der an ihm schon vorher erkennbaren neurotischen Symptome. Zu einer tiefgehenden Änderung des Persönlichkeitsbildes f ü h r t die Kastration. Ihre hohe kriminaltherapeutische Wirkung ist auffällig. Neben Fällen völligen Wohlbefindens stehen andere, die Störungen der Gesundheit, Affektlabilität, Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen aufweisen. V. Der Blick in die Traumwelt des Gefangenen schließlich bringt eine Bestätigung der bisherigen, aus dem Wachbewußtsein abgeleiteten Feststellungen: das Gefühl der schweren Gefährdung, das Wegschieben der Realität, die mangelnde Auseinandersetzungsbereitschaft, eine kaum erkennbare innere Anfechtung infolge Verletzung ethischer Normen, dagegen das lebhafte Bedürfnis nach Fortsetzung der gefährdeten sozialen Beziehungen. Diese Feststellungen bestätigen das Ergebnis der Untersuchungen von Professor Sieverts: „Die depressive Stimmungslage der Untersuchungsgefangenen wurde nur aus Gedanken abgeleitet, die die Zerstörung der sozialen Person des Gefangenen als Tatfolge betreffen. Wir haben keine anderen Assoziationen feststellen können" (S. 34). Anlage- und Umweltforschungen, Studien über Charakterkunde, Neurosen und Perversionen ermöglichen jetzt eine weitgehende Individualisierung und Differenzierung in der Behandlung des Rechtsbrechers; das verhängnisvolle „Sammelsurium mit Heterogenität" (Baan) kann fortan vermieden werden. An erster Stelle jedoch steht die auf Schritt und Tritt überall erkennbare Nowendigkeit der Heranbildung eines sachkundigen Arbeitsstabes. Denn nur bei geeigneter menschlicher Assistenz können fruchtbare Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden.
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