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German Pages 790 [816] Year 1982
Theologische Realenzyklopädie Band IX
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Theologische Realenzyldopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard Hentschke Günter Lanczkowski • Joachim Mehlhausen Wolfgang Müller-Lauter • Carl Heinz Ratschow Knut Schäferdiek • Henning Schröer Gottfried Seebaß • Clemens Thoma herausgegeben von Gerhard Krause und Gerhard Müller
Band IX Dionysius E x i g u u s - Episkopalismus
Walter de Gruyter • Berlin • NewYork 1982
Redaktion: Dr. Michael Wolter, Getrud Freitag-Otte Lieferung 1 / 2 Dionysius Exiguus - Ehe ersch. Dezember 1 9 8 1 Lieferung 3 / 4 Ehe - England ersch. M a i 1 9 8 2 Lieferung 5 England - Episkopalismus ersch. Juli 1 9 8 2
ClP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz . . . hrsg. von Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Berlin, New York: de Gruyter. NE: Krause: Gerhard [Hrsg.] Bd. 9. Dionysius Exiguus - Episkopalismus - 1. Aufl. - 1982 ISBN 3-11-008573 9
© 1982 by Walter de Gruyter 6C Co., vormals Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, ;, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder r ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindearbeiten: Wübben & Co., Berlin 42
Dionysias Exiguus
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Dionysius Exiguus 1. Leben
2. Werk
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 4)
1. Leben Dionysius Exiguus („der Geringe"), aus Skythien (heute Dobrudscha) stammender Gelehrter, lebte seit etwa 497 als Mönch in Rom und starb wohl auch dort (Todesdatum unbekannt; 537/555). Unsere Kenntnis von seinem Leben und Wesen verdanken wir seinen eigenen Schriften. Zusätzliche Information bietet der um ein wenig jüngere —»Cassiodor, der Dionysius persönlich kannte. Dessen Angaben werden später verkürzt von Beda und Paulus Diaconus aufgenommen und sind ohne selbständigen Wert. Seine skythische Herkunft wird von Dionysius selbst und von Cassiodor angedeutet; Wurm vermutet, daß Dionysius als Findelkind von gotischen Mönchen erzogen wurde. Nach 497 stand er mit einigen Päpsten in enger Verbindung und arbeitete mit ihrem Zuspruch in für die Gestaltung des —»Papsttums wichtigen Bereichen. Seine bereits zu seinen Lebzeiten anerkannte Bedeutung entfaltete sich in den folgenden Jahrhunderten weiter. Uber seine Erziehung ist nichts Sicheres zu ermitteln. Die perfekte Beherrschung der griechischen Sprache, die ihm später in Rom nützlich werden sollte, wird er noch im Osten erworben haben, vermutlich im Rahmen einer formalen Ausbildung, denn Dionysius konnte im Westen auf seine Kenntnis verschiedener Werke zurückgreifen, die er im Osten erworben haben muß. In dem oft unklaren Stil des Dionysius findet sich ein Hinweis darauf, daß er in seiner Erziehung auch einem Bischof Petrus wesentliches verdankte (Praef. 6,1: Semper ante oculos mentís apponens sancta nutrimentorum uestrorum studia paruulo mihi depensa [stets halte ich mir vor mein geistiges Auge Eure mir als Kind erwiesene fromme, hingebungsvolle Erziehung]). Es handelt sich kaum um eine bloße Floskel. Die Vorreden des Dionysius zeigen generell eine äußerst differenzierte Ausdrucksweise auch hinsichtlich der Motivation seiner Ubersetzungstätigkeit (von pió ueneratior.is uestrae proposito ... respondí [dem gottgefälligen Vorschlag Euer Ehrwürden . . . habe ich entsprochen], Praef. 10,1, über uobis potissimum commonentibus [da ihr nachdrücklich dazu auffordert], Praef. 5,3, bis zu uenerationis uestrae iussione commonitus [durch Euer Ehrwürden Geheiß veranlaßt], Praef. 7). Seine Übersetzungstätigkeit im engeren Sinn läßt sich derart umschreiben, daß sie als Vermittlungstätigkeit des Gedankengutes der Ostkirche an die Westkirche begann und im Lauf der Zeit, vor allem durch die kanonistischen Arbeiten, zu einer pointierten Rechtfertigung, ja Erhöhung der westlichen Kirche und besonders des römischen Primats führte. Die rein wissenschaftliche Tätigkeit entwickelte sich zu einer politischen Parteinahme in einer Zeit zunehmender Spannungen zwischen Rom und Konstantinopel; es ist verständlich, daß Dionysius mit seiner Stellungnahme zugunsten des römischen Papsttums in seiner Tätigkeit von verschiedenen Päpsten gefördert wurde. 2. Werk 2.1. Die Übersetzungen werden von Rambaud-Buhot in drei Gruppen eingeteilt: 1. Hagiographie (Paenitentiae Sanctae Thaisis; Vita Sancti Pachomii abbatis; De inventione capitis Beati Johannis Baptistae); 2. Philosophie (De opificio hominis des —»Gregor von Nyssa); 3. dogmatische Werke (zwei Briefe Bischof—»Cyrills von Alexandrien an Bischof Succensus; Synodalbrief desselben gegen —»Nestorius; Tomus des Proclus von Konstantinopel an die Armenier). Eine relative Chronologie ist für zwei dieser Werke zu vermuten: die Übersetzung des Tomus des Proclus an die Armenier war auf Befehl des Felicianus und des Mönches Pastor unternommen worden; ein Abt Pastor, möglicherweise dieselbe Person, gab Dionysius den Auftrag zur Übersetzung der Paenitentiae Sanctae Thaisis. Die Ubersetzung der hagiographischen Werke war offenbar zum privaten Gebrauch angefertigt worden, ohne daß aktuelle Anlässe erkennbar wären. In der Praefatio zu seiner Ubersetzung des Werkes Gregors von Nyssa distanzierte sich Dionysius ausdrücklich vom Inhalt dieser Schrift, der er kritisch gegenüberstand (vgl. Praef. 6). Den Tomus des Proclus
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Dionysius Exiguus
an die Armenier erachtete Dionysius als unzureichend abgesichert und fügte daher in der Vorrede selbständig ein Zitat —»Augustins zur Trinität bei. Man erkennt hier erste Anzeichen einer persönlichen Stellungnahme, die sich in den kanonistischen Werken voll entfaltete. Schurr datiert diese Übersetzung in die erste Phase der Theopaschitenkontroverse ( 5 1 9 - 5 2 1 ; —»Jesus Christus, —»Neuchalkedonismus). Allgemeiner wird hier der Einfluß der Arbeiten des —•Boethius zur Trinität gesehen. 2.2. Die Arbeiten des Dionysius zur Chronologie (—»Zeitrechnung) entstammen im wesentlichen einem aktuellen Anlaß, nämlich einer für 526 befürchteten Differenz zwischen römischer und alexandrinischer Berechnung des Ostertermins (—»Ostern/Osterfest). Die Klärung des Problems wurde 525 dem Dionysius übertragen, ein Zeichen für den Ruf, den dieser sich als Gelehrter während der vergangenen Jahrzehnte in Rom erworben hatte. Die Arbeiten zur Chronologie basieren auf einem vollen Verständnis der in griechischer Sprache zu diesem Problem verfaßten Schriften. Wie in seinen Arbeiten an den Konzilstexten (s. u.) betrachtete Dionysius auch hier die—»Autorität der allgemeinen Konzilien (—»Synode) als verbindlich, während er zugleich bestrebt war, die Autorität des Papsttums zu festigen. Diese beiden wichtigen Anliegen waren ohne Modifikation des Materials nicht zu erreichen. Dionysius war schon früher auf die Texte zur Berechnung des Ostertermins gestoßen, denn in seiner Vorrede zu dem Werk zur Bestimmung des Ostertermins, die an Bischof Petronius gerichtet ist, erwähnt er, daß er ein Schreiben von Bischof Proterius von Alexandrien an Papst —»Leo, das der Osterfrage gewidmet war, bereits einige Jahre zuvor aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt habe. (Diese Übersetzung weist nicht, wie üblich, eine Vorrede, sondern eine Art Nachwort auf.) Die Motivation zur Abfassung seines Werkes De Paschate verdankte Dionysius dem Bischof Petronius. In seiner Bestimmung des Ostertermins folgte Dionysius dem 19jährigen alexandrinischen Zyklus, den er, kaum zu Recht, aber doch wohl gutgläubig, für durch das Konzil von —»Nicäa (325) sanktioniert erklärte, und verfaßte eine Ostertafel bestehend aus fünf 19jährigen Zyklen, die den Ostertermin für die 95 Jahre nach Ablauf der Tafel des Cyrill von Alexandrien (531) enthielten. Während Cyrill sich aber für die Jahreszählung der in Ägypten geläufigen diokletianischen Ära bediente, führte Dionysius eine Neuerung ein, die Zählung der Jahre nach der Geburt Christi: noluimus circulis nostris memoriam impii persecutoris innectere, sej tnagts elegimus ab incarnatione Domint nostrijesu Christi annorum temporapraenotare [wir wollen unsere Zyklen nicht mit dem Gedächtnis eines gottlosen Verfolgers verbinden, sondern ziehen es vor, die Jahreszählung von der Menschwerdung unseres Herrn Jesu Christi zu bezeichnen] ( 6 4 , 1 0 - 1 2 Krusch).
Der Vorrede des Dionysius an Bischof Petronius folgt die Ostertafel bis zum Jahr 626. Daran anschließend erläutert Dionysius an praktischen Beispielen die Berechnung verschiedener Daten (Indiktion, Epakten, Mondzyklen usw.). In diesen Berechnungen ist der Bezugspunkt das Jahr 525. Die Berechnung des Ostertermins auf diese Weise wurde in Rom nicht sofort übernommen. Bereits im Jahr 526 beauftragte Papst Johannes I. den Primicerius Bonifatius, zu ermitteln, ob das Osterfest am 12. oder am 19. April zu feiern sei. Die Antwort des Primicerius an den Papst (Krusch: NA 9,109) zeigt, daß sich Bonifatius auf die Werke des Dionysius stützte, vor allem auf die vermeintliche Autorität des Konzils von Nicäa. Es gibt zusätzlich einen Brief des Dionysius an den Primicerius Bonifatius und den Secundicerius Bonus, der diesem Problem gewidmet ist (82—86 Krusch). In ihm macht Dionysius die Autorität des Konzils von Nicäa geltend und verweist in weiterem Rahmen auf seine auf Anweisung des Bischofs Petronius verfaßten Schriften zu dieser Frage. Die Arbeiten des Dionysius zur Osterterminberechnung wurden in der Westkirche erst allmählich rezipiert. Die Berechnung nach den Jahren der Geburt Christi wurde ebenfalls erst allmählich in der Westkirche befolgt (in —»England wahrscheinlich auf der Synode von Whitby 664; in der Kirchengeschichte des —»Beda Venerabiiis; im Frankenreich auf dem Concilium Germanicum von 742/43). 2.3. Dionysius ist der älteste der Nachwelt namentlich bekannte Verfasser kirchenrechtlicher Sammlungen (—» Kirchenrecht, —» Kirchenrechtsquellen). Sie erwuchsen seiner Tätigkeit als Übersetzer. Am Beginn stand die Übersetzung der Konzilstexte aus dem Griechischen ins Lateinische. Dionysius verfaßte insgesamt drei Bearbeitungen konziliarer Gesetz-
Dionysius Exiguus
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gebung, die eine ständige Verfeinerung seiner Methoden sowie die Wandlung seines Verständnisses der Kanonistik bezeugen. Seine Tätigkeit als Ubersetzer in diesem Bereich begann auf Initiative des Stephanus, des späteren Bischofs von Solita. Aufgrund einer Bemerkung in der Vorrede zu der Dekretalensammlung ist diese Tätigkeit nach Stickler in die ersten Jahre des 6. Jh. zu datieren. In der Vorrede zu der ersten Bearbeitung berichtet Dionysius von der Initiative eines Mönchs namens Laurentius, dem die damals vorliegenden Übersetzungen unzureichend erschienen (priscae translationis offensus). Bereits die erste Redaktion (ed. Strewe nach Cod. Vat. Pal. Lat. 577; überliefert auch in Kassel Cod. Theol. quart. I, beide wohl Mainzer Herkunft) bezeugt den Beginn einer über reine Ubersetzung hinausgehenden systematischen Durchdringung des Materials. Dionysius stellte den Konzilstexten, die mit den Canones Apostolorum (—»Konstitutionen, [Pseud-]Apostolische) einsetzten und dann in chronologischer Reihenfolge aufgeführt sind, jeweils in Form von Titeln eine Inhaltsangabe der Beschlüsse in Kurzform voran. In der zweiten, in der Vorrede ebenfalls dem Bischof Stephanus gewidmeten Fassung, die der ersten Fassung zeitlich wohl sehr nahe steht, ging Dionysius einen Schritt weiter (CChr.SL 85, Nr. 2 Red. B; vgl. Maassen 961 f). Er verwies darauf, daß die Canones Apostolorum nicht allgemein anerkannt seien. Darauf folgten die Konzilsbeschlüsse von Nicäa, gefolgt von den übrigen Konzilien bis einschließlich Konstantinopel (381), die entsprechend der griechischen Vorlage fortlaufend von 1 bis 165 numeriert sind. Anschließend führt er die Beschlüsse des Konzils von —»Chalkedon (451) auf, die die Reihe der griechischen Konzilien abschließen. Darauf folgten, in getrennter Numerierung, die bereits in lateinischer Fassung vorliegenden Texte der Konzilien von Serdika (342) und Karthago (419), die in der ersten Fassung nach dem Konzil von Konstantinopel aufgeführt worden waren. Die nächste Stufe seiner Tätigkeit als Übersetzer und Kanonist widmete Dionysius den päpstlichen Dekretalen. Auch sie bezeugt eine weitere Verfeinerung seiner Methoden. Wie er in seiner Vorrede an den Presbyter Julianus ausführte (Praef. 3), hatte er inzwischen seiner Vorrede sämtliche Titel der griechischen Konzilstexte nachgestellt und erst dann die Texte aufgeführt, eine Anordnung, die Julianus gebilligt hatte und die einen erheblichen Fortschritt in Richtung auf die praktische Benutzbarkeit der Sammlung darstellt. Die Arbeit an den Dekretalen scheint gegen Ende des Pontifikats des Papstes Symmachus (498—514) erfolgt zu sein. In seiner Vorrede an Julianus berichtet Dionysius, daß er bereits zuvor eine Sammlung aller erreichbaren päpstlichen Dekretalen begonnen, diese geordnet und gleichermaßen durch die Beifügung von Titeln ergänzt habe, die numeriert worden waren. An dieser Stelle verwies Dionysius auf die fruchtbare Tätigkeit des Papstes —»Gelasius. Aus dieser Vorrede wird deutlich, daß Dionysius für die Zusammenstellung der päpstlichen Dekretalen keine bereits existierende Sammlung benutzte. Wurm wies nach, daß Dionysius die Texte der Dekretalen nicht den päpstlichen Registern entnahm. Es wird auch deutlich, daß Dionysius mit seiner Bearbeitung der Konzilstexte in Rom Anklang gefunden hatte. Die letzte Stufe seiner Tätigkeit als Kanonist erreichte Dionysius in der Vorrede zu seiner dritten (verschollenen) Bearbeitung der griechischen Konzilstexte, die dem Papst Hormisdas (514—523) gewidmet ist (CChr.SL 85, Nr. 4). In dieser Vorrede wird die unterschiedliche Auffassung der Ost- und Westkirche am deutlichsten ausgesprochen. Kraft seiner führenden Position (ueneratio uestra ... imperare dignata est potestate qua supra ceteros excellit antistites [Euer Ehrwürden . . . , die mit einer Amtsvollmacht gewürdigt ist, vermöge deren sie über die anderen Bischöfe hinausragt]) hatte der Papst dem Dionysius aufgetragen, eine Übersetzung der griechischen Konzilstexte anzufertigen, die sich möglichst eng an das Original hielt, und sie in griechisch-lateinischer Parallelausgabe darzubieten. Diese Bearbeitung war offensichtlich für den praktischen Gebrauch in der Auseinandersetzung mit der Ostkirche, vielleicht im akazianischen Schisma, bestimmt. Die Sammlung enthielt die Canones der Konzilien von Nicäa bis Chalkedon; in ihr fehlten einige der in den früheren Bearbeitungen des Dionysius enthaltenen Texte, die nicht als allgemein verbindlich anerkannt wurden (wahrscheinlich eine Nachwirkung der Verurteilung im Decretum Gelasianum)-, es handelt sich dabei um die Canones Apostolorum und die Konzilien von Serdika und Karthago. Dio-
Dionysius der Kartäuser
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nysius verwies darauf, daß diese Konzilien in der Ostkirche anerkannt wurden und daß die von ihm bereits verfaßten Übersetzungen diese Texte enthielten. 3.
Nachwirkung
Die früheste Benutzung der Kanonessammlung des Dionysius ist in einem Schreiben des Papstes Johannes II. (533—535) nachweisbar (Jaffé Nr. 888). Bereits Cassiodor erwähnt ihre Benutzung an der römischen Kurie: quos hodie usu celeberrimo ecclesia Romana complectitur [welche die römische Kirche heute in regem Gebrauch hat] (PL 70,1137). Die methodischen Vorzüge der Arbeitsweise des Dionysius wurden somit bereits in der Mitte des 6. Jh. anerkannt. Es ist denkbar, daß Dionysius seine Methodik zur gezielten Verbesserung der zu seinen Lebzeiten in Italien vorliegenden Sammlungen entwickelte, die nur ansatzweise die Verwendung von Titeln zeigten und keine systematische Scheidung von Canones und Dekretalen durchführten. Die Bedeutung des Dionysius liegt in seiner Tätigkeit während einer wichtigen Epoche der Ausgestaltung des Kirchenrechts; er trug aktiv dazu bei, indem er Konzilstexte und Dekretalen trotz ihrer unterschiedlichen Entstehung als Einheit begriff und als Rechtscorpus für die Gesamtkirche konzipierte. Tatsächlich zeigt sich die Wirkung der kanonistischen Tätigkeit des Dionysius besonders in der strengen Scheidung des Kirchenrechts in Konzilstexte und Papstbriefe, eine große Leistung sachlicher Systematisierung, die bis ins 8. Jh. beibehalten und erst in der sog. Collectio Dionysio-Hadriana (bezeugt 774) überwunden wurde. Damit gelangte die Arbeitsweise des Dionysius zum allgemeinen Durchbruch und ermöglichte die praktische Verwirklichung des päpstlichen Führungsanspruchs in der abendländischen Kirche. Quellen Vollst. Ausg.: PL 67, 9—520. — Einzelausgaben: Dionisii Exigui Praefariones Latinae genuinae in variis suis translationibus ex Graeco, hg. v. Fr. Glorie, 1972 (CChr.SL 85). - Adolf Strewe, Die Canonessammlung des Dionysius Exiguus in der ersten Redaktion, 1931 (AKG 16). - La vie latine de Saint Pachôme, trad. du Grec par Denys le Petit, hg. v. H. van Cranenburgh, 1969 (SHG 46). - EOMJA (sämtliche Versionen der Konzilskanones des 4. Jh.). - ACO 1/5/2, 2 3 5 - 2 4 4 (Cyrill, ep. ad Nest.); 2 9 4 - 3 0 7 (Cyr. ep. ad Success.); H/2/2, 4 9 - 6 0 (Kanones v. Chalkedon); IV/2, 1 9 6 - 2 0 5 (Prod. tom. ad Arm.). - Bruno Krusch, Studien zur christl.-ma. Chronologie, Leipzig 1 8 8 0 , 2 6 6 - 2 7 8 (Proterius ep. ad Leonem); II 1937 (APAW.PH 1937/8) 6 3 - 8 6 (libellus de cyclo, Argumenta paschalia, Ep. ad Bonif. et Bonum). Literatur Karl Christ, Eine unbekannte Hs. der ersten Fassung der Dionysiana u. der capitula e canonibus excerpta, a. 813: FS Georg Leidinger, München 1930, 2 5 - 3 6 . - Bruno Krusch, Ein Bericht der päpstlichen Kanzlei an Papst Johannes I. v. 526: FS Paul Fridolin Kehr, München 1 9 2 6 , 4 8 - 5 7 . — Ders., Einf. des griech. Paschalritus im Abendland: NA 9 ( 1884) 9 9 - 1 6 9 . - V. Lozito, Gli inordinati corriculi nella polemica „Depaschate" di Dionigi el Piccolo: VetChr 9 (1972) 2 3 3 - 2 4 4 . - F r i e d r i c h Maassen,Gesch. der Quellen u. der Literatur des canonischen Rechts im Abendland, 11870 = Graz 1956. - J. Monacho Pascual, Note sur l'édition du De conditione hominis de Grégoire de Nysse selon la version latine de Denys le Petit: Bull, de la Société int. pour l'étude de la philosophie médievale 15 (Löwen 1973) 138 f. — Charles Munier, L'oeuvre canonique de Denys le Petit, d'après les travaux du R. P. Wilhelm Peitz, S. J.: SE 14 (1963) 2 3 6 - 2 5 0 . - W i l h e l m M . Peitz, Dionysius Exiguus-Studien, hg. v. H . Foerster, 1960 (AKG 33). - J. Rambaud-Buhot, Art. Denis le Petit: DDC 4 (1949) 1131 - 1 1 5 2 . - Knut Schäferdiek, Rez. zu Peitz (s. o.): ZKG 74 (1963) 3 5 3 - 3 6 7 . - Viktor Schurr, Die Trinitätslehre des Boethius im Lichte der „skythischen Kontroversen", 1935 (FChLDG 18/1). - Alfons M. Stickler, Historia Iuris Canonici Latini. I. Historia Fontium, 1950 = Zürich/Rom 1974. - Hubert Wurm, Studien u. Texte zur Dekretalensammlung des Dionysius Exiguus, 1939 (KStT 16) Nachdr. Amsterdam 1964.
Michael Richter Dionysius der Kartäuser
(1402/03-1471)
1. Leben Der Mystiker Dionysius, weniger bekannt unter seinem Familiennamen van Leeuwen, gelegentlich auch nach seinem Geburtsort in der heutigen belgischen Provinz Limburg von
Dionysius der Kartäuser
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Rijkel genannt, erhielt in der gelehrten Welt den Beinamen doctor ecstaticus. Geboren 1402/03, entfaltete er sehr früh schon ein ausgeprägtes Bildungsstreben. Seine vornehmliche Jugendlektüre waren die griechischen, aber auch jüdische und arabische Philosophen, die er in Ubersetzungen kannte. Seit seinen frühen Jugendjahren fühlte er sich unwiderstehlich und beständig zur asketischen Strenge des Kartäusertums (—»Kartäuser) gedrängt und sah sich darin während seines ganzen Lebens durch ekstatische Erschütterungen (Vorwarnungen, Himmelsvisionen) bestätigt. Nachdem er zunächst die Schule der —»Benediktiner von Sint Truiden und dann seit seinem 14. Lebensjahr die der —»Brüder vom gemeinsamen Leben in Zwolle besucht hatte, ging er, ohne schon das vorgeschriebene Alter von 20 Jahren erreicht zu haben, an die Universität -»Köln, wo man ihn von Dezember 1421 bis 1424/25 findet. Hier erhielt er eine thomistische Schulung (—»Thomas von Aquin) und trat nach dem Erwerb des Magister artium zugleich in die Kartause zu Roermond ein. Von da an ist sein Lebensweg klar zu verfolgen. Abgesehen von einer Reise im Mittelrhein- und Maasgebiet als Begleiter des Kardinallegaten —»Nikolaus von Kues (1451—1452) und der vorübergehenden Leitung der neugegründeten Kartause in Herzogenbusch (1466-1469), widmete er sich durchgängig meditativer Zurückgezogenheit und dem Studium. Seit 1433 bekleidete er auch das Amt des Klosterverwalters, in das er sich trotz Bemühens nur schlecht fand. 1446 hielt das Generalkapitel seines Ordens es aus unbekannten Gründen für angezeigt, gegen Dionysius, der immerhin bereits weithin bekannt war und dessen Rat auch von hochgestellten Persönlichkeiten gesucht wurde, ein Untersuchungsverfahren in die Wege zu leiten. Dessen Ausgang war für ihn aber eher eine Ermutigung, sein Wirken als mystischer Schriftsteller fortzusetzen. Er hat dies noch ein viertel Jahrhundert lang getan. Am 12. März 1471 ist er dann in Roermond verstorben, und im dortigen Großen Seminar ruhen heute seine Gebeine. Eine Lebensbeschreibung und ein Verzeichnis seiner Schriften aus der Feder des Kartäusers Dietrich Loher erschienen 1530 und 1532. Loher hat auch in Zusammenarbeit mit Peter Blomevenna und Gerhard Kalckbrenner die erste Ausgabe seiner Schriften veranstaltet. 2. Schriften Dionysius' schriftstellerisches Wirken begann schon vor 1430. Sein Gesamtwerk, dessen Chronologie erst in neuerer Zeit erstellt werden konnte, umfaßt unter den allgemeinen Titeln Ennarrationes, Commentaria (zu —»Dionysius Areopagita und den Sentenzen des —»Petrus Lombardus),Sermones und Opera minora 200 Schriften, ein umfangreiches Opus, dessen Weitschweifigkeit den heutigen Leser abschreckt, seinerzeit aber Anklang gefunden haben mag. Die von Loher veranstaltete, 1532 in Köln erschienene Erstausgabe sollte dem Vordringen der —»Reformation entgegenwirken und ist möglicherweise auch tatsächlich dem sich formenden reformkatholischen Widerstand zugute gekommen. Die auf ihr basierende, von den Kartäusern von Montreuil besorgte Neuausgabe entspricht durchaus nicht allen Anforderungen und ist unvollständig, bringt aber doch auch einige bis dahin unedierte Schriften.
3. Grundzüge seines
Denkens
Dionysius hat sich eingehend mit —»Augustin, Dionysius Areopagita, —»Bernhard von Clairvaux, —»Hugo und —»Richard von St. Viktor und —»Bonaventura beschäftigt, erfuhr den nachhaltigsten Einfluß aber von den großen Denkern des 14. Jh., insbesondere von den Dominikanern Johannes —»Tauler und Heinrich —»Seuse sowie von —»Jan van Ruysbroeck und anderen Vertretern der deutschen —»Mystik wie —»Gertrud von Helfta. Sein Denken ist das der willentlich gesuchten Versenkung: Nicht auf Erden, sondern in Gott findet man die Mitte der Welt. Ihn erkennt man in der inneren Schau, dem einzigen Schlüssel zur Weisheit, unter Voraussetzung völliger leiblicher und geistlicher Entselbstung (Abtötung der Sinne und Abweisung jeglicher Vorstellung und jeden Gedankens, sofern sie nicht ausschließlich den göttlichen Schöpfer zum Inhalt haben). In solcher bewußt gesuchten Entleerung des Denkens wird Gott selbst tätig und die Seele unausweichlich von der göttlichen Liebe erfaßt. Diese ausgeprägt mystische Auffassung trifft sich in einer der wesentlichsten Vorstellungen Dionysius' mit der der Brüder vom gemeinsamen Leben: Die Wissenschaft, insbesondere die Schriftauslegung, soll dem täglichen Leben, der vita activa, dienen. Mittel geistlicher Lebenserfahrung, die zu einer fortschreitenden Individualisierung führen, sind Meditation,
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Dionysius bar SaSbï
Psalmenrezitation und freiwillige Geißelung, d.h. Geringschätzung des Leibes sowie Schlichtheit und Brüderlichkeit des Herzens. Fernerhin hat Dionysius die Uberordnung des Konzils über den Papst vertreten (—»Konziliarismus) und eine ausgeprägte Herz-Jesu- und Marienfrömmigkeit (-»Maria) bekundet. Eine heimliche Abspiegelung seiner Persönlichkeit und der ihr eigenen Unruhe ist es vielleicht, wenn er behauptet, die schlimmste Strafe im —»Fegfeuer, die nämlich, die die Seelen der an der Verdammnis anderer Schuldigen trifft, sei die Angst vor dem ihnen bestimmten Schicksal. Auf mehrere Denker des 1 6 . - 1 8 . Jh. hat Dionysius einigen Einfluß ausgeübt, so u. a. auf Ignatius von —»Loyola und Luis de —»Molina, François de —»Sales und Alfons Maria von —»Liguori. Er gilt als der fruchtbarste und vielseitigste Schriftsteller seiner Zeit. Quellen Doctoris ecstatici Dionysii Cartusiani opera omnia, Montreuil-sur-mer/Tournai, 44 Bde., 1 8 9 6 - 1 9 1 3 , Parkminster 1935, darin in Bd. I, S. XXI1I-XLVIII die Vita Dietrich Lohers. Literatur S. Autore, Art. Denys le Chartreux: DThC 4 (1911) 4 3 6 - 4 4 8 . - Stephanus Axters, Geschiedenis van de vroomheid in de Nederlanden, Antwerpen, III 1956. - M. Bauducco, L'illuminatrice nelle opere di Dionigi il Certosino: Mar. 10 (1948) 1 9 1 - 2 2 0 . - D e r s . , Due Mariologie di Dionigi il Certosino: ebd. 13 (1951) 4 5 3 - 4 7 0 . - Martin Beer, Dionysius des Kartäusers Lehre vom Desiderium naturale, München 1963. — Eugen Ewig, Die Anschauungen des Kartäusers Dionysius v. Roermond über den christl. Ordo in Staat u. Kirche, Bonn 1936. - Y. Gourdel, Le cuit de la très sainte Vierge dans l'ordre de chartreux: Maria 2 (1952) 6 2 5 - 6 7 0 . - Édouard de Moreau, Histoire de l'Église en Belgique, IV 1949, 81 f. 3 4 8 - 3 5 1 . 386f (ML.H 12). — Heinrich Pohlen, Die Erkenntnislehre Dionysius des Kartäusers, Leipzig 1941. - R . Orcibal, Vers le vrai Ruysbroeck: RHSp 52 (1976) 2 1 3 - 2 2 4 . - P . Pourrat, Dionysius de Rijkel: Cath. 3 ( 1952) 627 f. - Anselme Stoelen, De chronologie van de werken van Dionysius de Kartuiser: SE 5 (1953) 3 6 1 - 4 0 1 . - Ders., Art. Denys le Chartreux: DSp 3 (1957) 4 3 0 - 4 4 9 (Lit.). - Karel Swenden, De „Mystica Theologia" bij Dionysius Cartusianus: O G E 2 2 (1948) 5 6 - 8 0 . - P . Teeuwen, Dionysius de Karthuizeren de philosophisch-theologische stroomingen aan de Keulsche Univ., Brüssel/Nimwegen 1938. — Bonaventura Tonutti, Mariologia Dionysii Cartusiani, Rom 1953. - G. E. M. Vos de Waelen, De Mystica Theologia van Dionysius Mysticus in de Werken van Dionysius Cartusianus, Nimwegen 1942.
Emile Brouette f Dionysius bar Satïbï (gest. 1171) 1. Leben Geb. in Melitene (Malatiya), das im 12. Jh. zeitweilig von den Armeniern beherrscht wurde, trat der auf den Namen Jakob Getaufte hier als Diakon durch seine Redegabe und seine schriftstellerische Fähigkeit hervor. Hier entstanden auch die Traktate gegen die Melchiten und Armenier und die beiden metrischen Homilien (triimre) über die Beseitigung der Kreuzfahrerherrschaft in Edessa durch den Herrscher von Mossul und Aleppo ' Imäd ad-DIn Zengi ( 1144).—Besonderes Aufsehen erregte er mit seiner gegen Bischof Johannes von Mardin gerichteten Schrift Über die göttliche Vorsehung. Dieser hatte den Fall Edessas auf eine natürliche Ursache, den Abzug der fränkischen Besatzung, zurückgeführt. Demgegenüber sah Jakob darin zugleich auch das Walten einer strafenden göttlichen Vorsehung. Daraufhin denunzierte Johannes ihn beim Patriarchen Athanasius VIII., der Jakob ohne weitere Prüfung exkommunizierte. Dieser appellierte jedoch an eine Synode. Nach Verlesung der indizierten Schrift wird er nicht nur rehabilitiert; der Patriarch zieht ihn auch in sein engstes Vertrauen. 1154 konsekriert er ihn zum Bischof von Mar'as (Germanicia Euphratensis). Bei seiner Weihe nimmt Jakob den Namen Dionysius an. 1155 wird ihm auch die Diözese Mabbüg (Hierapolis) unterstellt. Trotz der großen Entfernung scheint Dionysius beide Bischofssitze verwaltet zu haben (Gregorius Bar Hebraeus, Chronicon 515f [Abeloos/Lamy]; gegen Baumstark 295). Bei der von ihm in drei metrischen Homilien geschilderten Eroberung von Mar' as durch die Armenier im Jahre 1155 gerät er in Gefangenschaft, kann aber nach kurzer
Dionysius bar Sallbi
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Zeit wieder entkommen. 1 1 6 5 versucht Athanasius VIII. ihn vergeblich zur Übernahme des Metropolitansitzes Amida (Diyabakir) zu bewegen. N a c h dem T o d e des Patriarchen im Kloster Bar Saumä setzt er sich für Abt Michael als Nachfolger in diesem A m t ein, dessen entschiedener Reformwille zunächst auf heftigen Widerstand stößt. Schließlich gibt aber sein Plädoyer für eine grundlegende kirchliche Erneuerung den Ausschlag für die Wahl des neuen Patriarchen ( 1 1 6 6 - 1 1 9 9 ) . Anläßlich der Inthronisation Michaels im Kloster Hananjä (Dair az-Za'farän) hält Dionysius eine Predigt, die später in das jakobitische Pontifikale aufgen o m m e n wird. Als M a n n seines Vertrauens und überzeugten Vertreter der Reformbewegung überträgt Michael 1 . 1 1 6 6 Dionysius das Erzbistum Amida. W ä h r e n d seiner Amtszeit als Metropolit entsteht in der Stadt eine Schule unter der Leitung des Diakons Abraham. Dionysius stirbt am 2 . 1 1 . 1 1 7 1 . Sein Grab findet er in der von ihm restaurierten Kirche der Gottesmutter. Der von Michael I. verfaßte N a c h r u f ist nicht mehr erhalten. 2.
Werk
Dionysius gehört zu den fruchtbarsten Schriftstellern der —»Jakobitischen Kirche im Zeitalter der syrischen Renaissance. Eine Liste der teils verlorengegangenen und noch nicht edierten Werke findet sich bei Michael, Chronik 3 4 4 (Chabot), bei Assemani 2 1 0 f und bei Labourt, C S C O 1 4 / 1 - 2 . In dem umfangreichen exegetischen Werk nimmt die Kompilationsarbeit einen breiten Raum ein, bei der besonders die nestorianische Auslegung von Isö'däd von Merw herangezogen wird. Durchgehend unterscheidet Dionysius zwischen einem literalen/materialen und einem spirituellen/mystischen Schriftsinn(sü'ränäjä — sükälä rühänäjä). Zum Alten Testament schrieb Dionysius zwei Kommentare. Der verlorengegangene große Kommentar ist nur bekannt durch Bemerkungen des Autors im kurzen Kommentar. Dieser enthält Auslegungen zum Pentateuch, zu Jos, Jdc, I—II Sam, I—II Reg, Ps, Hi, Prov, Koh, Cant, Jes, Jer, Thr, Ez, Dan, den 12 kleinen Propheten und Sir. - Nur aus dem Kommentar zu Jes sind Auszüge in arabischer Ubersetzung veröffentlicht von Patriarch Ignatius Ephram I.: AI Magalla al-bafriyarklya as-suryänlya 3 ( 1 9 3 5 ) - 7 (1939). Von den Kommentaren zum Neuen Testament liegen folgende Editionen vor: I. Sedläcek/J. B. Chabot, Dionysii bar Jatibi commcntarii in evangelia, 1/1 1906 = 2 l 9 5 3 (CSCO 15. 1 6 ) . - D i e s . , Dionys» bar §atibl commentarii in evangelia, 1/2 1915/22 (CSCO 77. 85). —A. Vaschalde, Dionysii bar§aübi commentarii in evangelia, II/1 1931/33 = 2 1 9 5 3 (CSCO 95. 98). - Ders., Dionysii bar $alibl commentarii in evangelia, II/2 1 9 3 9 / 4 0 ( C S C O 113. 1 1 4 ) . - I . Sedläcek, Dionysius barSalibi. In Apocalypsim. Actus et epistulas catholicas, 1909 = 2 1 9 5 4 (CSCO 53. 60). - Die Kommentare zu den Paulusbriefen sind noch nicht ediert. Neben diesen exegetischen Arbeiten verfaßte Dionysius Kirchenväter-Kommentare zu den drei Kappadoziern, zu Dionysius Areopagita, Severus von Antiochien und Petrus von Kallinikos. Erhalten ist nur die syrische Ubersetzung und der Kommentar zu den 6 Ccnturien (Kephalaia Gnostica) des —»Evagrius Ponticus. Sein Traditionsbewußtsein fand ebenso Ausdruck in einem nicht mehr vorhandenen hagiographischen Kompendium der Geschichte der Väter, Heiligen und Märtyrer. Das umiasseridesystematische Werk, das Buch der Theologie, ging verloren. Es enthielt nach einem Zeugnis des Dionysius Traktate über die Trinität und die Inkarnation, die körperlichen und die unkörperlichen Kreaturen und die Sakramente. Erhalten sind nur noch ein Glaubensbekenntnis des Verfassers und seine Erklärung des Nizänums und eines jakobitischen Symbols. Eine kurze Zusammenfassung seiner Lehre findet sich in der Einleitung zum Evangelienkommentar (zur Darstellung und Analyse s. Assemani 158—169; Tisserant 285 f). - Das philosophische Interesse des Dionysius bezeugen seine erhaltenen Kommentare zu der Isagoge des —»Porphyrius und den Kategorien, den Analytica und Pen Hermeneias des —»Aristoteles. Von den polemischen Schriften sind ediert: J. de Zwaan, The Treatise of Dionysius Bar Salibi against the Jews. I. The Syriac Text, ed. from a Mesopotamian MS., Leiden 1906. Die Abhandlung enthält eine kurze christliche Glaubenslehre. — A. Mingana, A Treatise of Bar$atibi against the Melchites: WoodSt 1 (1927) 2 - 9 6 (mit engl. Ubers.). In diesem Traktat findet die Aversion der syrischen Jakobiten gegen alles Griechische ihren beredten Ausdruck. — Ders., The Work of Dionysius Bar?afibi against the Armenians: WoodSt4 (1931) 7 - 1 1 1 = B J R L 15/2 (1931) 4 8 9 - 5 9 9 (mitengl. Übers.). C. 1 - 2 dieser Schrift sind gerichtet gegen die Anhänger der Lehre Julians von Halikarnaß von der Leidensunfähigkeit und Unverweslichkeit des irdischen Leibes Jesu. — Die Abhandlung gegen die Nestorianer (—»Nestorianische Kirche) ist unveröffentlicht, aber s. die Analyse von Nau: ROC 14 (1909). Dionysius behandelt hier den Nestorianismus als eine Fortsetzung der judenchristlichen Häresie. — Ebenso unveröffentlicht ist die Schrift gegen die Götzendiener.
8
Dionysius bar Salibî
Nach Michael, Chronik 257 (Chabot) plante Dionysius eine Universalhistorie. Tatsächlich liegt aber nur eine Zeitgeschichte ab 1148 vor. In dem Buch der Briefe und Ansprachen finden sich Predigten über die Passion Christi und ein Encomium auf den Patriarchen Michael anläßlich seiner Inthronisation. Dieses wurde veröffentlicht von Jean-Baptiste Chabot, Discours de Jaques (Denys) Bar Salibî à l'intronisation du Patriarche Michel le Syrien: JA 11 (1908) 8 7 - 1 1 5 (mit franz. Ubers.). Unabhängig von dieser Sammlung sind überliefert Reden über Edessa, 2 m'tmre (metrische Homilien) über den Fall der Stadt im Jahre 1144 und 3 m'imre über die Einnahme von Mar as durch die Armenier 1156. Nicht mehr erhalten ist der gegen Johannes von Mardin gerichtete Traktat über die göttliche Vorsehung. Bei dem Kompendium apostolischer Kanones handelt es sich in der Hauptsache um eine Schrift über das Bußwesen. 31 Bußkanones sind übersetzt von Henricus Denzinger, Ritus Orientalium, Coptorum, Syrorum et Armenorum in administrandis sacramentis, Würzburg, I 1863 = Graz 1961, 4 9 3 - 5 0 0 . - Zu den in dem Sendschreiben an Abt Habakuk enthaltenen Kanones über die Eucharistie und den Regeln über die Lebensführung des Klerus und die Erhaltung der Kirchen und Klöster s. Dauvillier 1130f. - Die zugrundeliegende Bußliturgie findet sich bei Assemani 1 7 2 - 1 7 5 ; H. Denzinger (s.o.), 443 ff. Die Erklärung der eucharistischen Liturgie wurde ediert von H. Labourt, Dionysius bar Salibi. Expositioliturgiae, 1903 = 2 1955 (CSCO 13.14).-Von DionysiusstammendeliturgtscheTexte finden sich weiter bei Eusebius Renaudot, Liturgiarum orientalium collectio, Paris 1716, Frankfurt, M. 2 1847, 4 4 3 - 4 4 8 . 4 4 8 - 4 5 2 . - Josephus Aloysius Assemanus, Cod. Liturgicus ecclesiae universae, Rom, V 1752,2. Aufl., ed. Hubert Welter, Paris/Leipzig 1 9 0 2 , 2 2 7 - 3 9 7 (mit vielen Interpolationen). Missale Syriacum iuxta ritum ecclesiae Antiochenae Syrorum ex decreto sacrae congregationis de propaganda fide, Rom 1843, 53. 73 ff. Um liturgische Texte des Dionysius handelt es sich ebenso bei Joseph Hobeika (Yüsuf Hubaiqa), Explication de la liturgie syriaque par saint Jean Maron ( 6 2 7 - 7 0 7 ) , trad. du Syriaque en Arabe, Beirut 1922. — Erhalten sind noch Erklärungen der Myronweihe und des Ordinationsrituals. Verlorengegangen sind die Erklärungen der Taufliturgie, der priesterlichen Kleidung, der Prozessionen und der kirchlichen Festtage, ebenso ein kirchenmusikalisches Sammelwerk über alle Melodien des jakobitischen Gottesdienstes.
3.
Nachwirkung
Vom Patriarchen Michael I. wurde Dionysius bar §atlbl als „Stern seiner Generation" bezeichnet (Chronik 3 4 4 . 6 9 8 [Chabot]), dessen vielseitige Gelehrsamkeit allgemeine Anerkennung erfuhr. Gregorius Bar Hebraeus zählt ihn schon in einer Reihe mit Ephraem, Cyrill, Jakob von Edessa und Moses bar Kepha zu den Vätem der jakobitischen Kirche (Assemani III, 2. 9 3 8 ) . - Für den Gebrauch des Klerus wichtige exegetische, pastorale und liturgische Schriften wurden ins Arabische übersetzt: Der Kommentar zum Pentateuch, eine Auswahl aus den Evangelien-Kommentaren, die Erklärung der eucharistischen Liturgie und der Geheimnisse des hl. Myron, die in dem Brief an Abt Habakuk enthaltene Sammlung von 5 2 Bußkanones und die Streitschriften gegen die Nestorianer und Melchiten. - Die Übernahme zahlreicher Elemente seines liturgischen und kirchenrechtlichen Schaffens durch die Tradition der jakobitischen Kirche zeigt die nachhaltige Wirkung von Dionysius bar Çalïbï auf die Geschichte des orientalischen Christentums. Quellen Michel le Syrien, Chronique, ed. J.B. Chabot, Paris, III 1905 = Bruxelles 2 1963, 266. 3 0 0 - 3 0 2 . 310 f. 340. 344 f. - Gregorius Bar Hebraeus, Chronicon ecclesiasticum, ed. J.-B. Abeloos/T.-J. Lamy, Louvain, 1 1872,503. 5 1 1 - 5 1 6 . 5 3 7 - 5 3 9 . 5 4 3 . 5 5 9 - 5 6 2 ; Paris/Louvain, III 1 8 7 4 , 3 5 1 . - J o s e p h Simon Assemani, Bibliotheca Orientalis Clementino-Vaticana. II. De scriptoribus Syris monophysitis, Rom 1721 = 2Hildesheim/New York 1975, 1 5 6 - 2 1 0 . Literatur Patrick van der Aalst, Denis Bar Salibi, polémiste: POC 9 (1959) 1 0 - 2 3 . - Anton Baumstark, Gesch. der syrischen Literatur, Bonn 1922 = Berlin 2 1968,295- 298. - J. Dauvillier, Art. Denys bar Salibhi: D D C 4 (1949) 1 1 2 8 - 1 1 3 1 . - Rubens Duval, La Littérature Syriaque, Paris 1 8 9 9 2 1 9 0 7 = Amsterdam 3 1970, 6 7 - 6 8 . - Georg Graf, Gesch. der christl. arabischen Literatur, II 1947 (StT 133) 2 6 3 - 2 6 5 . — Antoine Guillaumont, Les ,Kephalaia Gnostica' d'Évagre le Pontique et l'histoire de l'Origénisme chez les Grecs et chez les Syriens, 1962 (PatSorb 5) 2 9 0 - 2 9 7 . - Martin Jugie, Theologia dogmática christianorum orientalium, Paris, V 1935, 4 7 1 - 4 7 3 . 520f. 551 f. 5 6 4 - 5 6 6 . 618. 6 7 8 - 6 8 1 . 690 f. 7 0 4 - 7 0 8 . 765 f. 786. - Ders., Art. Denys bar Salibi: Cath. 3 (1954) 616. - Samir Khalil, Le Commentaire d'Isaïe de Denys bar Çatibl. Notes Bibliographiques: OrChr 62 (1978) 1 5 8 - 1 6 5 . - Peter
Dippel
9
Kawerau, Die jakobitische Kirche im Zeitalter der syrischen Renaissance, 1955 ' i 9 6 0 (BBA 3) 5 8 . 7 3 f. 104. passim.-Paul Krüger, Art. Dionysius barSalibi: LThK 2 3 (1959) 4 0 1 f . - A l p h o n s e Mingana, An Ancient Syriac Transi, of the Kur'an Exhibiting New Verses and Variants: J B L R 9 (1925) 1 4 - 1 5 (im Traktat gegen die Juden). - François Nau, Analyse du Traité écrit par Denys Bar Salibi contre les Nestoriens (MS Syriaque de Paris No. 2 0 9 , p. 1 8 1 - 3 8 0 ) : R O C 14 (1909) 2 9 8 - 3 2 0 . - Ignazio Ortiz de Urbina, Art. Dionigi bar Salibi: E C 4 (1950) 1670 f. - Ders., Patrologia Syriaca, Rom 1958 2 1 9 6 5 , 2 2 0 f . - A . van Roey, Art. Denys bar Salibi: D H G E 14 (1960) 2 5 3 - 2 5 6 . - Lorenz Schlimme, Der Hexaemeronkomm. des Moses bar Kepha, 1977 (GOF.S 1 4 / 1 - 2 ) 7 5 6 - 8 6 1 . - P. Sherwood, Le fonds patriarcal de la bibliothèque manuscrite de Charfet: OrSyr 2 (1957) 9 5 - 1 0 7 (98. 102 Ergänzung zu Baumstark). Eugène Tisserant, Art. Jaques Bar Salibi: DTTiC 8 / 1 (1947) 2 8 3 - 2 8 6 . - J . - M . Vosté, La confession chez les Nestoriens (note sur le MS. Vat. Syr. 505): Ang. 7 (1930) 1 7 - 2 6 ( 1 9 f : Ouvrage jacobite).-Wilhelm de Vries, Sakramententheol. bei den syrischen Monophysiten, 1940 (OrChrA 125). - Ders., Zum Kirchenbegriff der späteren Jakobiten: OrChrP 19 (1953) 1 2 8 - 1 7 7 . - Ders., Der Kirchenbegriff der v. Rom getrennten Syrer, 1955 (OrChrA 145). - Ders., La conception de l'Église chez les Syriens séparés de Rome: OrSyr 2 (1957) 1 1 1 - 1 2 4 . - Ders., Théologie des Sacraments chez les Syriens monophysites: OrSyr 31 (1963) 2 6 1 - 2 8 8 . - William Wright, A Short History of Syriac Literature, London 1894 = Amsterdam 1966, 2 4 6 - 2 5 0 . G e o r g Günter Blum Dippel, Johann 1.
Konrad
(1673-1734)
Leben
J. K. Dippel (sein Pseudonym w a r Christianus Democritus) w u r d e a m 1 0 . 8. 1 6 7 3 auf Schloß Frankenstein bei D a r m s t a d t geboren. Mit 1 6 J a h r e n begann e r in —»Gießen T h e o l o gie und Medizin zu studieren ( G A 1 , 3 8 1 ) . Im Geist der O r t h o d o x i e aufgewachsen, bekämpfte er den —»Pietismus heftig. 1693 theologischer Magister, danach Hauslehrer im Odenwald. Von dort ging er nach Straßburg, wo die Pietisten ihm das Studium fast unmöglich machten. Er beschäftigte sich mit —»Augustin, —>Lu. ther, —»Spener und nebenbei mit —»Astrologie und Handlesen. Als Prediger hatte er Zulauf. Mit dem Abschluß seines theologischen Studiums (Disputation 1696) befand ersieh in einerinneren Krise (GA 1, 3 8 8 ) . Im Frühjahr 1697 kehrte er nach Gießen zurück, wo ihn G. —»Arnold zum radikalen Pietismus bekehrte. Zwischen 1698 und 1700 fielen Dippels erste Kontakte zur —»Alchemie. Seine Goldsuche brachte ihm 1704 einen Ruf nach Berlin, wo er bis 1707 als Chemiker arbeitete (Mißerfolg beim Goldmachen, Erfindung des Farbstoffs Berliner Blau). Hier traf er auch Spener. Durch den Orthodoxen Johann Friedrich Mayer vertrieben, floh er nach Holland und eröffnete eine Arztpraxis bei Amsterdam. 1 7 1 1 promovierte er zum Dr. med. in Leiden. Es folgten Auseinandersetzungen um —»Spinoza und H. von —»Hochenau. 1714 kam er nach Altona. Dort wurde er nach langem Streit 1 7 1 9 nach Hammerhus/Bornholm verbannt. 1726 freigelassen, hielt er sich 1727 als Arzt in Stockholm auf, wo er ebenfalls ausgewiesen wurde. Seit Dezember 1 7 2 9 lebte Dippel in Berleburg. Er starb auf Schloß Wittgenstein am 2 5 . 4. 1734. Als kämpferischer Einzelgänger, der ohne Rücksicht auf seine Person die von ihm erkannte W a h r h e i t vertrat, bekleidete er in Kirche und Universität niemals ein A m t ( G A I, 6 7 2 ) und blieb unverheiratet ( G A 1 , 6 7 3 ) . Mystische Erlebnisse beurteilte er kritisch ( G A III, 5 9 9 . 6 2 2 f). D a r u m schloß er sich w e d e r einer inspirierten Gemeinde a n ( 1 7 0 4 u. 1 7 3 1 ) n o c h den pietistischen Konventikeln in Stockholm oder einer Z i n z e n d o r f sehen Gemeine in Berleburg ( 1 7 3 0 f ) (—»Brüderunität/Brüdergemeine). 2.
Werk
Dippel hatte zu Lebzeiten einen großen R u f als Chemiker und Arzt. D e r Gegensatz zur O r t h o d o x i e (—»Orthodoxie, Altlutherische) bestimmte seine Theologie, die auf die mystische Tradition —»Böhmes zurückgriff und sich an das Kirchenverständnis Arnolds anlehnte. Gegen Verbalinspiration, „Bibliolatrie" ( G A 1 , 4 9 2 ) , setzte er das innere W o r t , d u r c h das G o t t Leben und Kraft unmittelbar in die Herzen der Menschen gibt (ebd. 4 9 0 ) . Gegen die Satisfaktionslehre — Stellvertretung sei unmöglich — stellte er Christus als Vorbild für die K r ä f tigkeit der Liebe Gottes, für Selbstverleugnung und Leiden (ebd. 4 9 5 . 4 9 7 ) . Entgegen der Vorstellung von Gottes Z o r n w a r G o t t für ihn reines Licht und reine Liebe ( G A 11,483); G o t t
10
Dispens
handelt am Menschen vielmehr als Arzt in erziehender Liebe. Gott ist Geist und innerliches Wesen (ebd. 480—485). Gegen die Lehre der Orthodoxie setzte er die Glaubensprax/'s („Orthopraxie"). In der Kirche („Babel") herrschten Vernunft und Selbstliebe (GA 1,406); die „fleischlich gesinnten" Orthodoxen sind in Wahrheit Ketzer, weil sie nicht wiedergeboren sind (ebd. 145). Die wahre Kirche ist schon Ende des 1. Jh. untergegangen. — Philosophisch stritt er für die Willensfreiheit (—»Wille/Willensfreiheit) gegen Spinoza, —»Hobbes, —»Leibniz und gegen ein mechanistisches Weltbild (—»Descartes/Cartesianismus). In der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie hat Dippel manche Erkenntnisse im Ansatz formuliert, die sich in der Theologiegeschichte erst viel später durchsetzten. In seiner Person zeigt sich die Nähe des radikalen Pietismus zur -»Aufklärung (s.a. J.Chr. —»Edelmann). Schüler hat er nicht gefunden. E. Hirsch sieht G. —»Mencken von ihm beeinflußt (294). Quellen Gesamtausgabe: Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott u. allen Creaturen. Durch die Publication der sämtlichen Schriften Christiani Democriti in Drey Bänden, Berleburg 1747. Literatur Wilhelm Bender, Dippel, der Freigeist aus dem Pietismus, Bonn 1882. - Wilhelm Diehl, Neue Beitr. zur Gesch. Dippels: BHKG 3 (1908) 1 3 5 - 1 8 4 . - Uwe Gerber, Christologische Entwürfe, Zürich, I 1 9 7 0 , 8 6 - 9 1 . - Karl Henning, Dippels vistelse i Sverige samt Dippelianismen i Stockholm 1 7 2 2 - 1 7 4 1 , Uppsala 1881. - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., Gütersloh, II s 1 9 7 5 , 2 7 7 - 2 9 8 . - Martin Schmidt, Art. Dippel: NDB (1957) 7 3 7 f . - Karl-Ludwig Voss, Christianus Democritus, Das Menschenbild bei Dippel, 1970 (BZRGG 12) (Lit.).
Jürgen Büchsei Disciples of Christ —»Baptisten Dispens 1. Begriff 2. Geschichte des Dispensrechts bis zum Gratianischen Dekret der klassischen Kanonistik und der zeitgenössischen päpstlichen Gesetzgebung und das nachkonziliare Recht (Literatur S. 13)
3. Die Dispenstheorie 4. Das Recht des CIC
1. Begriff Unter dem Begriff Dispens (dispensatio) versteht das kanonische Recht die Aufhebung der aus einem Gesetz sich ergebenden Verpflichtung für einen besonderen Fall (can. 80 CIC). Erteilung einer Dispens ist niemals ein Akt der Gesetzgebung, sondern stets ein Verwaltungsakt. Die Dispens bezieht sich auf Einzelfälle und setzt das von ihr betroffene Gesetz nicht allgemein außer Kraft. Man unterscheidet zwischen Dispens und Privileg, indem durch Privileg ein objektives Ausnahmerecht geschaffen wird, während bei der Dispens nur die Wirkung eines Rechtssatzes entfällt. Andererseits ist die Dispens aber auch mehr als ein bloßes Dissimulieren der Kirche in bezug auf einen gesetzwidrigen Zustand. Bei der Dissimulation wird der normwidrige Zustand von der Kirche hingenommen; durch die Dispens wird er entweder im vorhinein oder danach ausdrücklich legitimiert. Das Institut der Dispens gibt der Kirche die Möglichkeit, ihre Rechtsordnung in flexibler Weise dem Einzelfall anzupassen und dadurch Prinzipientreue mit —»Billigkeit zu vereinbaren. 2. Geschichte des Dispensrechts
bis zum Gratianischen
Dekret
Die Alte Kirche gestattete Ausnahmen von den Kanones im Bereich der Verkürzung und des Erlasses von Strafen, ferner in der Nichtbeachtung von Weihehindernissen im Einzelfall, z. B. bei Neophyten und schließlich bei der Translation von Bischöfen. Die Gestattung von Ausnahmen wird von den griechischen Kirchenvätern damit gerechtfertigt, daß eine Durchbrechung der Regeln xar' oixovopiav erlaubt sei. Seit dem 4. Jh. sind solche Regeldurchbrechungen häufig bezeugt. Erste Versuche einer theoretischen Erfassung dieser kirchlichen Rechtspraxis begegnen bei —»Cyrill von Alexandrien und bei —*Augustin.
Dispens
11
Die Kompetenz zur Gestattung von Ausnahmen besaß in der Frühzeit der Kirche offenbar jeder Bischof. Mit der Verbreitung von Kanones der ökumenischen und Provinzialkonzilien im 4. Jh. mußte sich die Frage ergeben, ob ein Bischof auch von der Beobachtung dieser Rechtsnormen dispensieren könne. Die Entwicklung ging schon im 4. Jh. dahin, daß der Bischof nur noch aufgrund besonderer Delegation, nicht mehr kraft eigener Vollmacht, von den Rechtsnormen eines Provinzialkonzils dispensieren durfte. Dagegen nehmen die Provinzialkonzilien für sich die Vollmacht in Anspruch, vom allgemeinen Recht der Kirche zu dispensieren. Für die Folgezeit wurde die Entwicklung des Dispensrechts der Päpste von besonderer Bedeutung. Klar erkennbar ist der Anspruch auf die päpstliche Dispensbefugnis in der ersten überlieferten Dekretale, dem Brief des Siricius an Himerius von Tarragona (Jaffe 255). Es mußte sich die Frage stellen, ob ein Bischof von den päpstlichen Rechtsnormen dispensieren dürfe. Dieses Recht wurde den Bischöfen von —»Leo I. abgesprochen (Jaffe 410). In die gleiche Richtung weist eine Dekretale —»Gelasius' 1. (Jaffe 636), daß Bischöfe nur mit päpstlicher Genehmigung dispensieren dürften. Die spätere Entwicklung der Doktrin von der dispensatio haben vor allem zwei Autoren am Ende des 11. Jh. beeinflußt: Bernold von Konstanz und —»Ivo von Chartres. Bernold behauptete, daß den Päpsten nicht ausschließlich, wohl aber ganz besonders (praecipue) das Dispensrecht zukomme, da sie auch anctores canonum seien. Aufgrund ihrer obersten Rechtssetzungsgewalt könnten sie die Kanonespro tempore außer Kraft setzen. Ivo von Chartres betont zwar nicht so sehr wie Bernold das päpstliche Dispensrecht, bringt aber in seinem berühmten Prolog die erste Abhandlung über die dispensatio. Nach Ivo gibt es unveränderliche Vorschriften, die das Seelenheil vermitteln sollen und keine Dispens zulassen, und das veränderliche Recht der Kirche, das notwendig ist, aber nicht immer eingehalten werden muß, da das kanonische Recht vom Grundprinzip der Caritas beherrscht sei. Die Möglichkeit zur Erteilung von Dispensen sieht Ivo nicht wie die meisten früheren Autoren nur in Notsituationen gegeben, sondern läßt eine probabilis ratio für die Dispenserteilung genügen. Eine großzügige Erteilung von Dispensen gegenüber dem allgemeinen Recht war damit theoretisch gerechtfertigt. —»Gratian folgt in seinem Dekret (—»Kirchenrechtsquellen) im wesentlichen der Theorie Ivos. Auch für ihn hat der Papst in erster Linie, aber nicht ausschließlich, die Dispensbefugnis. Die Dispensgewalt der Päpste wird aus ihrem Recht als decretorum domini et conditores abgeleitet. Dispense der Päpste können nach Gratian auch dazu dienen, scheinbare Widersprüche innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung auszugleichen. Der Bereich des —»Naturrechts und des göttlichen Rechts läßt allerdings keine Dispens zu. 3. Die Dispenstheorie Gesetzgebung
der klassichen
Kattonistik und der zeitgenössischen
päpstlichen
In der nachgratianischen Kanonistik entwickelte der Dekretist Rufinus in seiner Summa als erster eine Definition der Dispens. Sie lautet: Dispensatio est iusta causa faciente ab eo, cuius interest, canonici rigoris casualis facta derogatio [Die Dispensierung ist eine aus gerechtem Grund vorgenommene, fallweise Durchbrechung der Strenge der einschlägigen kanonischen Vorschrift]. Hier kommt klar zum Ausdruck, daß die Dispens das Gesetz selbst nicht aufhebt, sondern nur seine Verpflichtungskraft in einem Einzelfall beseitigt. Die späteren Kanonisten übernehmen die Definition des Rufinus, ersetzen aber später meist den Begriff derogatio durch relaxatio, der noch in can. 80 CIC verwendet wird. In der Kanonistik des 12. und 13. Jh. werden die wesentlichen Grundzüge des Rechts der Dispensen herausgearbeitet. Die Erteilung der Dispens bedeutet nicht nur, daß von der Durchsetzung des Rechtssatzes abgesehen wird (Dissimulation), sondern enthält darüber hinaus das Moment der Billigung in der Nichtanwendung des Rechtssatzes. Der kirchliche Amtsträger ist zwar zur Gewährung der Dispens in bestimmten Fällen verpflichtet; doch hat der durch sie Begünstigte niemals einen Anspruch auf ihre Gewährung — die Dispens bleibt stets ein Akt der misericordia (Hostiensis). Für die Zuständigkeit zur Dispenserteilung werden jetzt feste Regeln entwickelt. Allein der Papst besitzt sie in bezug auf das ius commune, während die Bischöfe nur im Bereich des Partikularrechts dispensieren dürfen. Das verbleibende Recht der
12
Dispens
Bischöfe zur Dispensation wird meist nicht als ihr originäres Recht betrachtet, sondern als außerordentliches Recht auf eine besondere Konzession des Papstes zurückgeführt (—»Innozenz IV.; Guido de Baysio). Auch die Kanonisten gehen wie Gratian davon aus, daß der Papst nicht jeden Rechtssatz durch Dispens einschränken könne. Huguccio entwickelt die Formel, daß nur solche Rechtssätze indispensabel seien, die sich auf den generalis status ecclesiae bezögen; aber auch die Einschränkung des Dispensrechts im Bereich dieser Grundnormen wird im 13. Jh. aufgegeben. Schranke für die Dispensbefugnis sind jetzt nicht mehr das Naturrecht, Anordnungen der Apostel oder die Disziplinarbestimmungen der vier ersten ökumenischen Konzilien, sondern allein die Glaubenssätze und der Fall der offenkundigen Förderung einer Todsünde durch die Dispens (Hostiensis). Die Ausdehnung der Dispensbefugnis des Papstes wurde auch durch das Dekretalenrecht gefördert, das seit—»Alexander III. die Möglichkeit der Auflösung nichtvollzogener Ehen durch Dispens des Papstes kannte (X, 3,32,7). Unter den Päpsten ist es vor allem —»Innocenz III., der das umfassende Dispensrecht des Papstes aus seiner plenitudo potestatis ableitet (X, 3,8,4: possumus secundum plenitudinem potestatis de iure supra ius dispensare [Gemäß der Fülle der Amtsgewalt können wir von Rechts wegen vom Recht dispensieren]). Auch das Erfordernis der iusta causa wird von den Kanonisten so weit ausgelegt, daß es für den Papst kaum eine Schranke bedeutet. Bereits Huguccio hält eine sine causa vom Papst erteilte Dispens für gültig. Im 13. Jh. wird es herrschende Lehre, daß der Papst im Bereich des positiven Rechts sitie causa dispensieren dürfe, da sein Wille zur Rechtfertigung ausreiche. Nur im Bereich der Dispense gegen Vorschriften des Evangeliums und des status generalis ecclesiae setzen die Kanonisten eine causa für die gültige Dispens des Papstes voraus. Dagegen soll eine bischöfliche Dispens bei objektivem Fehlen der causa generell ungültig sein. 4. Das Recht des CIC und das nachkonziliare
Recht
Der CIC übernimmt vollständig die Prinzipien des klassischen kanonischen Rechts im Bereich der Dispens. Die hierzu in einem eigenen Titel der Normae generales entwickelten Grundsätze (can. 80—86) sind insbesondere folgende: 1. Von allgemeinen Kirchengesetzen darf kraft eigenen Rechts nur der Papst dispensieren — Bischöfe können dies nur kraft übertragener Vollmacht. 2. Kraft eigenen Rechts können Bischöfe nur von Diözesangesetzen und solchen eines Partikularkonzils dispensieren. 3. Die Dispens setzt eine iusta causa voraus; doch ist die aus eigenem Recht erteilte Dispens auch ohne eine solche gültig. Erst das 2. —»Vatikanum hat eine wesentliche Umgestaltung des Dispensrechts gebracht. Entscheidend wurde der Art. 8 b des Konzilsdekrets Christus Dominus, wonach die Diözesanbischöfe allgemein die Vollmacht erhielten, die ihnen unterworfenen Gläubigen von einem allgemeinen Kirchengesetz zu dispensieren, sofern nicht vom Papst ein besonderer Vorbehalt gemacht war. Art. 8 b des Bischofsdekrets wurde für den Bereich der Lateinischen Kirche durch das Motuproprio De Episcoporum Muneribus 1966 in Kraft gesetzt; für die mit Rom unierten Ostkirchen ist es aufgrund des Motuproprio Episcopalis Potestatis seit 1967 geltendes Recht. Die genannten päpstlichen Verordnungen enthalten wichtige Ausführungsbestimmungen, insbesondere Verzeichnisse der päpstlichen Dispensvorbehalte. Das Motuproprio De Episcoporum Muneribus nennt außerhalb der päpstlichen Vorbehalte noch zwei Bereiche, auf die sich die generelle Dispensvollmacht der Bischöfe nicht erstrecken soll, nämlich die Verfassungsgesetze (leges constitutivae) der Kirche und die Gesetze des Prozeßrechts. Trotz dieser Einschränkung kann gesagt werden, daß das nachkonziliare Recht die seit dem Mittelalter selbstverständliche Verbindung zwischen Gesetzgebungskompetenz und Dispensvollmacht gelöst und das eigenständige Recht der Bischöfe zur Dispenserteilung weitgehend verwirklicht hat. Die seit 1100 herrschende Lehre von der Begründung des Dispensrechts aus der Gesetzgebungsgewalt wurde mit Art. 8 b Christus Dominus verlassen. Am Recht der Dispense wird das katholische Kirchenverständnis besonders deutlich, aber auch das an der aequitas ausgerichtete Rechtsverständnis des kanonischen Rechts (—»Kirchenrecht).
Disputano
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2. Disputatio als Argumentationsform
3. Weiterbildungen
(Literatur S. 15)
Entstehung
N e b e n Vorläufern w i e Streitgesprächen, Symposien, Streitschriften, Apologien führte die frühscholastische Unterscheidung eines einfachen Disputierens nach d e m quaestio-respondetur-Schema von einem freien Disputieren, das nur der in den —»Artes liberales Geschulte beherrscht, zur Ausbildung der disputatio ordinaria [„festgelegte" Disputation] zwischen 1 1 8 0 u n d 1 2 2 0 und der disputatio quodlibetalis [ „ o f f e n e " Disputation] zwischen 1 2 6 0 und 1 3 2 0 (disputatio = Unterredung, Abhandlung). M i t d e m bildungsgeschichtlich neuen Stand des Magisters und Scholaren, der Gründung von —»Universitäten u n d Entstehung v o n Schulen, mit der Verlegung der Klerikerausbildung aus Klöstern in städtische D o m s c h u l e n (—»Schulwesen), der festen Verankerung dersieben freien Künste u n d d e r B e t o nung des Trivium v o n Grammatik (rede loquendi), Rhetorik (bene loquendi) und Dialektik (Logik), mit der Gleichschaltung der tradierten Autoritäten mit den kommentierenden Meinungen (rationes) u n d vor allem mit dem Bekanntwerden des gesamten aristotelischen Werkes w u r d e die quaestio-Methode neben d e m Lehren (lectio), Bedenken (meditatio) und Pre-
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Disputatio
digen (praedicatio) zur eigenständigen Übungsmethode weiterentwickelt (exercitatio als disputatio in forma). Neben der disputatio ordinaria und quodlibetalis finden sich, etwa in —»Paris, die disputatio anläßlich der Magisterpromotion (abends in der Aula des Bischofs) über vier Thesen und die übungshalber durchgeführten disputationes collationum (von conferre [zusammentragen, sich austauschen, besprechen]). - Wenn man überhaupt von einer Urform reden kann, dann von der disputatio zwischen Scholaren (zur repetitio, resumptio bzw. exercitatio des Vorlesungsstoffes bzw. anläßlich einer Prüfung), in die der leitende Magister, wahrscheinlich auch die anderen Scholaren, jederzeit eingreifen durften. Später gab der magister regens (der Diskussionsleiter) regelmäßig eine eigene, sich nicht nur auf Autoritäten stützende Entscheidung (determinatio). Dann trennten sich die disputatio ordinaria, die zwischen feststehenden Partnern (Defendent, Opponent, Respondent) und über vorgegebene Fragen (später als Thesen) geführt wurde, und die disputatio quodlibetalis, die von und mit einem Magister meist sowohl de quolibet [über jedes beliebige Thema] als auch a quolibet [von jedem Anwesenden] geführt wurde. Man wird bei den konkreten Disputationen mit Varianten rechnen müssen. Die literarischen quaestiones disputatae sind meist nachträglich stilisierte oder überhaupt nur literarische disputative Darstellungsformen. 2. Disputatio als
Argumentationsfigur
Im VIII. Buch der Topik führt —»Aristoteles Regeln für die Behandlung von Fragen (TtQoßkrjfia = quaestio) an, die in der disputatio wiederkehren. Die Frage wird vom Defendenten im Blick auf die strittige These (propositio) gestellt und mit Argumenten belegt. Der Opponent widerlegt seinerseits (nach Wiederholung der gegnerischen Argumente) in Syllogismen diese These durch inhaltliche Einwände (contradictiones, obiectiones), worauf der Defendent (zusammen mit einem/einigen Respondenten) diese Einwände bestreitet und seine Lösung vorlegt (solutio), die als kirchlicher Lehrsatz oder durch eine sonstige Autorität belegt als responsio principalis (corpus, z. B. in den Artikeln der Summa des Thomas) durchgeführt wird: respondeo ..dicendum ..., NN dicit..., ego dico ... Dabei helfen die Respondenten, die jeden Einwand des/der Opponenten durchgehen (refutatio, ad primum ...). In diesem Fall folgt die endgültige determinatio durch den magister regens in Form des corpus. Dieses Schema steht (literarisch) fest, ändern können sich der Ort (Schulbetrieb, Fakultät, Kapitelsaal, Haus des Magisters), Zweck (causa docendi bzw.exercitandi, cognoscendi, dubitandi, placendi etwa in der quodlibetalen Disputation), der Hörer-und Teilnehmerkreis (Scholaren, Fakultät, Prüfungskollegium, Ordenskonvent). 3.
Weiterbildungen
Die scholastische disputatio (—»Scholastik) wurde in der katholischen Theologie beibehalten, andererseits vielfältig variiert, so etwa im Zuge des rhetorischen —»Humanismus in die beiden Formen der Deklamation: als feierliche Rede und als Schuldrama. Das corpus articuli wird im 14. Jh. traktathaft ausgeweitet, was auf stärkere Monologisierungen zurückschließen lassen könnte. Die quaestio collativa gar ist eine literarisch geführte disputatio Ínter absentes. Ab etwa 1320 wird mit Thesen eingesetzt, während die Quodlibeta den Examina (bes. für Bakkalauren) zugewiesen waren und z. B. in —»Wittenberg nach 1517 nicht mehr auftauchen. In der Reformationszeit wurde (Wittenberger Statuten 1508) die von —»Luther geschätzte, in —»Erfurt aber nicht übliche Thesen-Disputation a) als schulische Zirkulardisputation der oberen Fakultäten durchgeführt (jeden Freitag, sonntags durch Bakkalauren, im auditorium publicum collegii). Diese Thesendisputation fand auch b) als Promotions- und c) 4mal jährlich als selbständige, der quodlibetalen ähnliche Magisterdisputation statt. Diese Quartalsdisputation fehlt zwischen 1517 und 1533. Schließlich war sie d) als Disputation der Scholaren mit einem Thesen verteidigenden Magister in den Bursen üblich. Hinzu kommt e) die außerordentliche, freie Magister-Disputation. Nach Luthers Tod führte der Versuch, zusammen mit —»Melanchthon ab 1533 vor allem die Übungsdisputationen wieder einzuführen, zu einem deutlichen Niedergang der Disputationspraxis. So schlug ein Teil der Wittenberger Professoren 1577 die generelle Abschaffung der Disputa-
Dodd
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tionen vor. In der protestantischen Theologie ist die Disputationspraxis ganz aufgegeben worden im Gegensatz zur katholischen Praxis, wo heute noch das Disputieren (lateinisch und deutsch) als geregelte Form des Streitgespräches zur Ausbildung und magistralen Auseinandersetzung gehört. Zu den wenigen Ausnahmen im protestantischen Bereich gehören: Promotions-Disputationen in manchen Ländern, Religionsstreitgespräche etwa zwischen Vertretern verschiedener theologischer Positionen oder weltanschaulicher Standpunkte wie etwa mit Vertretern einer neomarxistischen Position oder Vertretern anderer Religionen, und schließlich einige Anläufe zur Wiedereinführung der Disputatio als hochschuldidaktischer Übungsform in den Universitätsbetrieb. In manchen neueren wissenschaftstheoretischen Beiträgen, etwa im Postulat des „herrschaftsfreien Dialoges" der—»Kritischen Theorie oder dem „trial and error" des Kritischen —»Rationalismus oder dem „konstruktivistischen" Sprach- und Gedankenaufbau, läßt sich das disputative Hin- und Herwenden ebenso erkennen wie in den vielfältigen Formen dialogischen, interdisziplinären Theologisierens (—»Dialogik). Literatur Gerhard Ebeling, Gott u. Wort, Tübingen 1966. - Hans-Georg Gadamer, Wahrheit u. Methode, Tübingen 3 1972. — Uwe Gerber, Disputatio als Sprache des Glaubens. Eine Einf. in das theo). Verständnis der Sprache an Hand einer entwicklungsgesch. Unters, der disputatio u. ihres Sprachvollzuges, Zürich 1970. - Hermeneutik u. Ideologiekritik, hg. v. J. Habermas/D. Henrich/J. Taubes, Frankfurt 1971. - Kont. 5 (1969). - Bernhard Lohse, Luther als Disputator: Luther 34 (1963) 9 7 - 1 1 1 . - Friedrich Paulsen, Die Gesch. des gelehrten Unterrichts auf den dt. Schulen u. Univ. vom Ausgang des MA bis zur Gegenwart, 2 Bde., Berlin/Stuttgart 3 1919/21 = 1960. - Josef Pieper, Scholastik. Gestalten u. Probleme der ma. Phil., München 1960. - F.rnst Wolf, Zur wiss.gesch. Bedeutung der Disputationen an der Wittenberger Univ. im 16. Jh.: ders., Peregrinatio, München, II 1965, 3 8 - 5 1 .
Uwe Gerber Dissenters —»Freikirche, —»Kirche von England Dissidenten —»Freikirche, —»Kirchen recht Disziplinarrecht —»Kirchenrecht Dobschütz, Ernst von —»Bibelwissenschaft Dodd, Charles Harold
(1884-1973)
Geb. am 7. 4. 1884 in Wrexham, studierter 1 9 0 2 - 1 9 0 6 in Oxford Klassische Philologie (BA) und später Archäologie. 1907 besucht er die Vorlesungen A. v. —»Harnacks in Berlin. 1 9 0 7 - 1 9 1 1 ist er Universitätsstipendiat (Senior Demy) im Magdalen College, seit 1908 zugleich Theologiestudent im Mansfield College. Zu seinen Lehrern zählen A. M. Fairbairn, W. B. Selbie, G. B. Gray und A. Souter. 1912 erfolgt die Ordination in der kongregationalisrischen Kirche zu Warwick. Seit 1915 Yates Lecturer für Neues Testament, wird er 1930 Rylands Professor of Biblical Criticism and Exegesis in Manchester und 1935 Norvis-Hulse Professor in Cambridge. Nach seiner Emeritierung (1949) ist er als Gastprofessor tätig. 1 9 5 0 - 1 9 6 1 ist er General Director des Ubersetzungswerkes The New English Bible. Er stirbt am 21. 9. 1973 in Oxford.
Das wissenschaftliche Werk Dodds entzieht sich in seiner Vielseitigkeit einer eindeutigen Systematisierung. Selbst eine Entwicklungslinie ist nicht leicht zu erschließen, da Dodd auch später noch Fragestellungen seiner früheren Zeit aufgreift. Allenfalls lassen sich Zäsuren nachweisen; so die Auseinandersetzung mit der —»Formgeschichte seit 1928 oder der Anfang der Lehrtätigkeit in Cambridge, der durch die Antrittsvorlesung The Present Task in New Testament Studies (Cambridge 1936) gekennzeichnet ist. Es läßt sich feststellen, daß die Arbeit des Exegeten — nur unter diesem Terminus ist Dodds Werk zu erfassen - durch zwei Pole bestimmt ist: durch eine historische und philologische Zuwendung zum neutestamentlichen Text, die diesen aus dem Alten Testament und im Zusammenhang mit der (bes. hellenistischen) Umwelt interpretiert, und durch das Interesse an der Gegenwartsbedeutung
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Dodd
des Neuen Testaments, wie es sich u. a. in psychologischer Reflexion und im Verweis auf das „testimonium spiritus sancti internum" (a. a. O. 29) konkretisiert. Beide Aspekte verbinden sich noch nicht in den frühesten Aufsätzen, die historischen Fragen der römischen Kaiserzeit gewidmet sind, wohl aber in The Meanittg ofPaul for Today (London 1920). Hier wird Paulus, „the classical exponent of the idea of freedom and universality in religion" (18), als in der Kontinuität Jesu stehend dargestellt. Im literarkritischen Urteil konservativ, findet diese flüssig geschriebene Abhandlung günstige Aufnahme. 1932 erscheint sein Römerbrief-Kommentar, Romans, der eine historische mit einer psychologisch-aktualisierenden Auslegung zu vereinen sucht. Primär historisch örientiert ist der Aufsatz The Mindof Paul. A Psychological Approach (BJRL 17[1933] 9 1 - 1 0 5 ; 18 [1934] 6 9 - 1 0 0 = NT Studies, Manchester, 11953 = 2 1 9 5 4 , 6 7 - 1 2 8 ) , wo für die persönliche Entwicklung des Paulus eine „zweite Bekehrung", eine Wende von einer futurischen Eschatologie zur „Christusmystik" behauptet wird. Theologisch umfassender greift The Authority of the Bible (London 1928) aus: eine „biblische Theologie", wonach der biblische Kanon als einheitliches Zeugnis, als „progressive revelation" des Wortes Gottes sich darstellt und eine „religiöse Haltung" hervorrufen will (297). Dieses Werk, in der Tradition des britischen Liberalismus geschrieben, stellt sich bewußt dem Konflikt zwischen dem biblischen und dem rationalen Gottesverständnis; so auch das Büchlein The Bible To-day (Cambridge 1946), in dem das gegebene Schema in Richtung auf das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte ausgeführt wird. Das Zeugnis der Bibel besagt, daß die Gottesoffenbarung in der Geschichte des alten und neuen Bundes sich ereignete (8 f) und schließlich auch im vom Geist geprägten Leben der Kirche (77). R. —»Bultmann warf Dodd ein geschichtsphilosophisches Mißverständnis vor, da er die „eschatologische Erfüllung" als ein historisches Phänomen und nicht theologisch, nämlich als Ruf Gottes an den einzelnen interpretiere („The Bible To-day" u. die Eschatologie: FS C. H. Dodd 4 0 2 - 4 0 8 ) - eine Kritik, die verdeutlicht, daß auch nach dem 2. Weltkrieg Dodds Werk von dem Aufbruch des theologischen Denkens durch die —»Dialektische Theologie verhältnismäßig unberührt geblieben ist. Das im deutschen Sprachraum einflußreichste Buch The Parables of Kingdom (London 1935 3 1961) nimmt die Problematik von A. —» Schweitzers Konzept einer „konsequenten —» Eschatologie" auf und knüpft an A. Jülichers Widerspruch gegen eine allegorische Auslegung der Gleichnisse Jesu an. Auf die leitende Frage nach der ursprünglichen Intention der Gleichnisse erfolgt die Antwort aus der Analyse der Krisis- und Wachstumsgleichnisse: Sie verdeutlichen, daß Jesu Verkündigung eine „realized eschatology" ausspricht (VIII). Das Gottesreich (—»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) ist im Wort Jesu zu einer gegenwärtigen Größe geworden (29) und aus dem Raum der Erwartung in den der gegenwärtigen Erfahrung getreten (Bezug auf das etpdaoev in Mt 12,28 par Lk 11,20). So interpretiert Dodd auch Mk 1,15 (fjyyixcv) realpräsentisch und bezeichnet die unbestreitbar futurisch-eschatologischen Vorstellungen des Neuen Testaments als „religiöse Ideen", die fälschlich gegen ihren ursprünglich präsentischen Sinn durch die christliche Gemeinde futurisch interpretiert wurden (103f). Dodd äußerte sich später positiv zu dem von J. Jeremias vorgeschlagenen Ausdruck „sich realisierende Eschatologie", der den futurischen, unabgeschlossenen Aspekt der Verkündigung Jesu nachvollzieht (J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 9 1977, 227 Anm. 3; dazu C. H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, 1953,447 Anm. 1). Dennoch besteht kein Zweifel, daß nicht nur die Struktur des Gleichnisbuches, sondern auch die theologische Position Dodds durch Begriff und Vorstellung der in -»Jesus Christus „realisierten Eschatologie" in ihrem wesentlichen Gehalt erfaßt werden. Die Frage nach der historischen Situation, in der die Gleichnisse Jesu gesprochen wurden, gehört zu dem Rühmenswerten in Dodds Parables und bestimmt auch die Auseinandersetzung mit der Formgeschichte. Schon der Aufsatz The Framework ofthe Gospel Narrative (ET 43 [1932] 3 9 6 - 4 0 0 = NT Studies I [s. o.], 1 - 1 1 ) läßt erkennen, daß Dodd gegenüber K. L. —»Schmidt und A. E. J. Rawlinson die methodologischen Erkenntnisse der Formgeschichte in den Dienst der Frage nach dem historischen Jesus stellt, und exemplifiziert zugleich Dodds Verarbeitung der Formgeschichte, nämlich ihre die Tradition bewahrende
Dodd
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Handhabung, die zu konservativen Ergebnissen bei der Frage nach der historischen Authentizität des Uberlieferungsgutes führt. Aus dieser „modified formcritica! position" zieht Dodd in The Apostolic Preaching and Its Developments (London 1936 2 1944 = "1956) die Folgerungen für die Rekonstruktion des urchristlichen Kerygmas, wie es durch das Neue Testament vermittelt wird. Auch in der Schrift History and Gospel (London 1938 2 1964) nimmt Dodd an, daß schon zu Beginn der Tradition Zuverlässiges über Leben, Lehre, Leiden und Sterben des Messias Jesus ausgesagt war (72). In According to the Scriptures (London 1952) knüpft Dodd an britische Exegetentradition an und versucht, aus den alttestamentlichen Testimonien im Neuen Testament eine alte Auslegungsmethode und den „Unterbau" eines christlichen Denkens zu erheben (135). Einen Höhepunkt der wissenschaftlichen Arbeit Dodds stellt das Doppelwerk über das —»Johannesevangelium dar. Schon 1935 hatte er mit The Bible and the Greeks sprachgeschichtliche Untersuchungen mit der Absicht vorgelegt, den „Hintergrund des frühen Christentums" zu erhellen. Diese Vorarbeiten werden 1937 durch einen Aufsatz ergänzt, der die Verschiedenheit der Verfasserschaft von I Joh und Joh nachweist: The First Epistle of John and the Fourth Gospel (BJRL21 [1937] 1 2 9 - 1 5 6 ) ; und vor allem durch den Kommentar The Johannine Epistles (London 1946). Hierauf baut das international anerkannte Werk The Interpretation of the Fourth Gospel (Cambridge 1953) auf, in dem zunächst der religionsgeschichtliche Hintergrund und darauf eine Interpretation der „Leitideen" (Symbolismus, Ewiges Leben, Gotteserkenntnis, Wahrheit, Logos u. a.) dargestellt werden. Theologischer Sinn des Joh ist zu zeigen, daß die „historische Transaktion" des Christus „ewiges Leben" vermittelt (423). Eine Fortsetzung ist Historical Tradition in the Fourth Gospel (Cambridge 1963), wo Dodd einen von den synoptischen Evangelien unabhängigen vorjohanneischen Traditionsstrom erschließt. Zweifellos präjudiziell die Frage nach dem historisch Zuverlässigen im Traditionsgut die Folgerungen des Verfassers; dennoch sind neue Aspekte der vorjohanneischen Überlieferung aufgezeigt, und beide Bücher zählen zu den bedeutendsten Arbeiten über das Joh. Sind in diesen Untersuchungen historische und theologische Aspekte verbunden und letztere durch das „Kerygma" der Verkündigung Jesu gekennzeichnet, und ist hierdurch die gegenwartsbezogene Ausrichtung der Exegese bestimmt, so gilt das ebenso für das Gesamtwerk. Schon in der Antrittsvorlesung hatte Dodd die nicht analytische, sondern synthetische, d. h. an der inneren Einheit des Neuen Testaments orientierte und auf die Gegenwart bezogene Interpretation zur Aufgabe neutestamentlicher Forschung erklärt. Dieser Aufgabe stellt er sich auch in seinen ethischen Schriften, besonders Gospel and Law (Cambridge 1951; dt.: Das Gesetz der Freiheit, München 1960) und in seiner letzten Veröffentlichung, dem allgemeinverständlichen The Founder of Christianity (London 1970; dt.: Der Mann, nach dem wir Christen heißen, Limburg 1975). Daß Dodd keine „Schule" gründete, entspricht der individualistischen britischen wissenschaftlichen Tradition, die sein Werk profiliert verkörpert: im kritisch geläuterten Beharren auf der Überlieferung und im schöpferischen Ergreifen von neuen Ansätzen, wie dies der mit seinem Namen untrennbar verbundene Begriff „realized eschatology" beispielhaft zum Ausdruck bringt. Werke Die wichtigsten Arbeiten sind im Text genannt. - Bibliographien: E. E. Wolfzorn, Bibliography of the Works of Charles H. Dodd: EThL 38(1962) 63 - 70. - The Background of the NT and its Eschatology. FS C. H. Dodd, Cambridge 2 1964, XIII-XVIII. - R. W. Graham, Charles Harold Dodd, 1 8 8 4 - 1 9 7 3 . A Bibliography of his Published Writings, Lexington, Ky. 1974. Literatur Frederick Fyvie Bruce, C. H. Dodd: Creative Minds in Contemporary Theology, Grand Rapids 1966, 2 3 9 - 2 6 9 . - Lyder Brun, C. H. Dodd som nytestamentlig forsker: NTT 48 (1947) 8 1 - 1 2 1 . A. Bueno Castro, The Vision of History in C. H. Dodd, Diss. Pont. Univ. Lateranensis, Rom 1960/61. — William D. Davies, In Memoriam Charles Harold Dodd, 1 8 8 4 - 1 9 7 3 : NTS 20 (1974) I-IV. - Frederick William Dillistone, C.H. Dodd, Interpreter of the NT, London 1977. - Joachim Jeremias, Art.
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Dodekapropheton
Dodd, Charles Harold: RGG 3 2 (1958) 2 1 4 f . - T . A. Johnson, „Realized Eschatology" and Theology. An Analysis and Theological Evaluation of C. H. Dodd's Eschatology of the NT, Diss. Pontif. Univ. Gregoriana, Rom 1 9 6 0 / 6 1 . — R. D. Kysar, A Comparison of the Exegetical Presuppositions and Methods of C. H. Dodd and R. Bultmann in the Interpretation of the Prologue of the Fourth Gospel, Diss. Northwestern Univ., Illinois 1967. - T. E. McCollough, The Biblical Theology of C. H. Dodd, Diss. Southern Baptist Theological Seminary 1955. - J. B. Recob, The Role of Eschatology in Pauline Ethics as Interpreted by C. H. Dodd and R. Bultmann, Diss. Boston Univ. School of Theology 1971. - John A.T. Robinson, C. H. Dodd: ET 75 ( 1 9 6 3 / 6 4 ) 100 ff. - Ders., C. H. Dodd: Theologians of our Time, Edinburgh, XII 1966. - Georg Strecker, C. H. Dodd. Person u. Werk: KuD 26 (1980) 5 0 - 5 8 . Georg Strecker Doddridge, Philipp
—•Kongregationalismus
Dodekapropheton 1. Bezeichnung und Reihenfolge der Bücher 1. Bezeichnung
und Reihenfolge
der
2. Entstehung der Sammlung
(Literatur S.20)
Bücher
Die Bezeichnung „ D o d e k a p r o p h e t o n " k o m m t aus dem Griechischen [(das Buch der) zwölf Propheten], In der jüdischen Tradition werden die zwölf Bücher, die auf Ezechiel folgen, als ein Buch gerechnet und alss'nem 'asar oder (aram.) t'resan bezeichnet. Der früheste Hinweis auf das Zwölfprophetenbuch findet sich in Sir 4 9 , 1 0 (ca. 2 0 0 v. Chr.). Der Ausdruck „Kleine Propheten" geht auf l a t . p r o p h e t a e minores (Augustin, De civ. Dei 1 8 , 2 9 ) zurück. Die Reihenfolge der letzten sechs Bücher, die in der hebräischen und griechischen Tradition übereinstimmend Nah, H a b , Z e p h , H a g , Sach, Mal lautet, liegt fest. Für die ersten sechs bietet die hebräische Tradition die Abfolge H o s , Joel, A m , Ob, J o n , Mi. Funde in —»Qumran sind bisher zu fragmentarisch, um dort eine andere Reihenfolge vermuten zu lassen. In der griechischen Tradition (Swete 2 0 0 — 2 1 3 ) gibt es verschiedene Anordnungen, z. B. H o s , Am, Mi, Joel, J o n , O b oder Hos, A m , Joel, O b , J o n , Mi. Während erstere sich a m Umfang orientieren könnte, hält sich letztere möglicherweise an eine unterstellte Chronologie. Die Abfolge im hebräischen Kanon basiert nicht auf der traditionellen jüdischen Datierung der jeweiligen Propheten: So wurde Joel teils in der Zeit Samuels (aufgrund von I Sam 8,2), teils in der Zeit Ahabs (Erwähnung einer Hungersnot) oder zusammen mit Nahum und Habakuk in der Zeit Manasses (7. Jh.v. Chr.) angesetzt (vgl. Raschi zu Joel 1,1: Maarsen 1,28 und die dort verzeichneten rabbinischen Belege). Obadja wurde als der königliche Beamte unter Ahab (I Reg 18,3; vgl. auch bSan 39b) identifiziert. In bBB 14b wird die Frage aufgeworfen, ob es für die Existenz des Zwölfprophetenbuches und seine Anordnung redaktionelle Gründe gab. Die sog. „hinteren Propheten" werden in der Reihenfolge Jer, Ez, Jes(!) und die Zwölf angeführt. Es folgt der Einwand, daß nach Hos 1,2a („zuerst [!J redete Jahwe mit Hosea"; wörtl.: Anfang des Redens Jahwes mit Hosea) Hosea der erste der Propheten sein müßte, die nach den Überschriften in die Zeit der judäischen Könige von Ussia bis Hiskia gehören (d. h. Hos, Jes, Am und Mi). Dann wird die wichtige Aussage gemacht: „da seine [Hoseas] Prophetie mit der des Haggai, Sacharja und Maleachi niedergeschrieben wurde und Haggai, Sacharja und Maleachi die letzten der Propheten waren, nannte man ihn [Hosea] mit diesen zusammen". - Das Zwölfprophetenbuch (1050 Verse, 5 9 0 bzw. 4 6 0 für die beiden Halbgruppen) ist nur wenig kürzer als die großen Propheten (Jes: 1295, Jer: 1365, Ez: 1273 Verse; alle Zahlen nach der traditionellen jüdischen Zählung; zu geringfügigen Varianten vgl. Rudolph, KAT 1 3 / 4 , 2 9 7 ) . Es ist die Frage, ob die Zusammenfassung der Zwölf auf wahrscheinlich doch einmal einer Rolle lediglich praktische Gründe hatte oder ob die kleinen Propheten durch Redaktionsvorgänge, mit Streichung und/oder Hinzufügung von Textmaterial, vereinigt wurden. 2 . Entstehung
der
Sammlung
Budde ( Z A W 3 9 ) nimmt eine Redaktion an, die bewußt persönliche Einzelheiten über die Propheten wegließ und deren Spuren in der ungeschickten Verbindung von H o s 1 mit 3 , dem unvollständigen Bericht über Arnos in Bethel in A m 7 , 1 0 - 1 7 und dem isolierten „ich s a g t e " in Mi 3 , 1 zu erkennen sind. Weitere Hinweise auf redaktionelle Streichungen finden sich in Joel, H a b (vgl. die Einführung der 1. Pers. in Kap. 2 ) und Zeph, dessen erstes Kapitel
Dodekapropheton
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„ein Trümmerfeld" ist. Das Ziel der Redaktion war es, „Gott allein das Wort zu lassen, alles übrige, alles Menschliche auszuschalten" (225). Nach dieser These muß das Jonabuch mit seinen vielen Details über die Person des Propheten nachträglich zu der Sammlung hinzugekommen sein. Gegen Budde ist eingewandt worden, daß spätere Redaktionen viel eher dazu neigten, prophetische Worte aufzubewahren und zu erweitern als zu kürzen (Fohrer). Aber damit sind die speziellen Beobachtungen Buddes nicht entkräftet, und das fast völlige Fehlen persönlicher Angaben über die meisten der Kleinen Propheten bleibt erklärungsbedürftig. Nichts spricht dagegen, daß spätere Redaktionen prophetische Reden zugleich erweiterten, um sie auf die Folgezeit zu beziehen, und Einzelheiten über die Propheten wegließen, die deren Worte an eine bestimmte Vergangenheit banden. Auf einem ganz anderen Weg nähert sich Wolfe der Frage. Er versucht, die in den meisten der Kleinen Propheten enthaltenen Glossen zu identifizieren und aus ihnen den Verlauf der Redaktionsarbeit an der Sammlung als ganzer während ihres Anwachsens von 2 zu 12 Büchern zu rekonstruieren. Dabei gelangt er zu nicht weniger als 13 Redaktionen vom 7. bis 3. Jh. v. Chr. Aufgrund ihrer Verteilung über die zwölf Bücher postuliert er folgende Stufen in der Entstehung der Sammlung: a) eine vorexilische Sammlung Hos—Am; b) eine exilische Erweiterung um Mi, Nah, Hab und Zeph; c) Hinzufügung von Joel, Jon und Ob um 300 v. Chr., die jedoch nicht einfach angehängt, sondern nach Gesichtspunkten inhaltlicher Ähnlichkeit unter die ersten sechs eingereiht wurden; d) Hinzufügung von Hag, Sach 1—8, Mal und zwei anonymen Büchern (Sach 9—11 und 12—14). Wolfes eigenwillige Analyse ist wegen ihres hyperkritischen Charakters in vielen ihrer Ergebnisse auf berechtigte Ablehnung gestoßen. Daß jedoch die Mehrzahl der Kleinen Propheten Zusätze und Glossen zeigen, die als judäisch (bes. Hos, Am), deuteronomistisch, messianisch, liturgisch und apokalyptisch bestimmt werden können, ist in den Standardkommentaren zu den jeweiligen Büchern weithin anerkannt worden. Die Bedeutung von Wolfes Ansatz liegt in dem Versuch, solche Glossen nicht als Zusätze zu den einzelnen Büchern, sondern zu der Sammlung als ganzer zu werten und damit eine Grundlage für die Nachzeichnung von deren Entwicklungsgeschichte zu schaffen. Mit Hilfe einer ähnlichen Methode schließt Jepsen auf ein ursprüngliches Buch von fünf Propheten (Hos, Mi, Zeph, Am, Joel), das während des Exils oder kurz danach zusammengestellt wurde. Zu diesem Bestand seien zunächst Ob, Nah, Hab, Hag und Sach 1 - 8 hinzugekommen, dann durch einen apokalyptischen Redaktor, der vielleicht gleichzeitig Joel und Ob erweiterte, Deutero-Sach und Mal. Die jüngere Forschung hat sich bevorzugt mit Prophetenschulen und mit dem Prozeß der Erweiterung von Uberlieferungskernen durch „Ringbildung" beschäftigt (z. B. Jones; Beuken; Wolff; Willi-Plein). Dadurch ist der Blick von der Sammlung als ganzer stärker auf die Teilbücher gelenkt worden. Trotzdem finden sich auch hier Beobachtungen, die Licht auf das Wachstum des Zwölfprophetenbuches werfen können; so vergleicht etwa Wolff (BK 14/1,1) die Anfangsworte von Hos mit den Formeln in Joel, Mi, Zeph, Jes, Jer und Am, wobei sich ein deutlicher Unterschied zwischen diesen Büchern und solchen aus exilischer und nachexilischer Zeit ergibt. Wolff schreibt die von ihm herangezogenen Formeln einem „Sammler von Prophetenüberlieferungen" zu, der judäischen Kreisen zuzurechnen ist, und sucht fernerhin den Redaktor in deuteronomistischen Kreisen. Außerdem rechnet er mit einem Bearbeiterkreis einer vorexilischen Prophetenbuchreihe. Unklar bleibt, wie sich die Arbeit dieses Sammlers oder Bearbeiterkreises, die sich ebenso auf Jes und Jer wie auf die Kleinen Propheten erstreckte, zu der Arbeit der Prophetenschulen verhält—ob etwa an getrennte Schulen zu denken ist, die über einen langen Zeitraum hin bestanden und jeweils durch die deuteronomistische, messianische und apokalyptische Stimmung, durch die Israel hindurchging, beeinflußt wurden. Das einzige Belegmaterial für Prophetenschulen oder für verschiedene Redaktionen des Zwölfprophetenbuchs stammt aus dem Text in seiner Endgestalt (vgl. Willi-Plein 59). Für seine Behandlung aber sind bisher offenbar noch keine objektiven Kriterien aufgestellt worden: Willi-Pleins Zugang unterscheidet sich von Wolff und Schmidt, während sich Irsigler methodisch an Richter anlehnt. — Es bleibt abzuwarten, ob sich das Interesse an Prophetenschulen und die Interpretation prophetischer Worte als Teil
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der Schultradition in der alttestamentlichen Forschung durchhalten werden. Sollte dies der Fall sein, werden so kühne Thesen wie die von Wolfe oder Jepsen über das W a c h s t u m des Zwölfprophetenbuches wohl k a u m aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Rudoph ( K A T 1 3 / 4 , 2 9 7 - 2 9 9 ) sieht die Anordnung der Z w ö l f (mit Ausnahme von Joel und Ob) im wesentlichen chronologisch begründet: demnach gehören Hos, A m , J o n (II Reg 1 4 , 2 5 ) , Mi dem 8 . , N a , H a b , Zeph dem 7 . , H a g , Sach dem 5 . und Mal dem 4 . Jh. an. Nachträgliche Aufnahme hätten, neben Sach 9 — 1 4 im 3 . Jh. v. C h r . , Joel und O b gefunden, deren Platz vor bzw. hinter Amos durch inhaltliche Bezüge determiniert sei: das Orakel gegen E d o m bei Obadja sei als Bestätigung und Ausarbeitung von Am 9 , 1 2 , das Amosbuch insgesamt wegen der Entsprechungen zwischen A m 1 , 2 und 9 , 1 3 b zu Joel 4 , 1 6 a . l 8 a als Kommentar zu Joel verstanden worden. Diese Theorie, die eine Sammlung jener Bücher voraussetzt, deren Herausgebervermerk sie in das 8 . und 7. Jh. datiert, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung wohl die einleuchtendste. D o c h erklärt sie mehr die Reihenfolge innerhalb des Zwölfprophetenbuchs als die Vorgänge bei seiner Redaktion. Zu den einzelnen Büchern —»Hosea/Hoseabuch; —»Joel/Joelbuch; —»Amos/Amosbuch; —»Obadja/Obadjabuch; —»Jona/Jonabuch; —»Micha/Michabuch; —»Nahum/Nahumbuch; —»Habakuk/Habakukbuch; —»Zephanja/Zephanjabuch; —»Haggai/Haggaibuch; —»Sacharja/Sacharjabuch; —»Maleachi/Maleachibuch. Literatur Außer den Einleitungen und den Kommentaren (vgl. bes. Wilhelm Rudolph, 1 9 6 6 - 1 9 7 6 [KAT 1 3 / 1 - 4 ] und Hans Walter Wolff, 1963 ff [BK 14/1 ff]) zum Zwölfprophetenbuch. Willem A . M . Beuken, Haggai - Sacharía 1 - 8 , Assen 1967. - Karl Budde, Das Rätsel v. Micha 1: ZAW 37 (1917/18) 7 7 - 1 0 8 . - D e r s . , Micha 2 u. 3: ZAW 38 (1919/20) 2 - 2 2 . - D e r s . , Eine folgenschwere Redaktion des Zwölfprophetenbuches: ZAW 3 9 (1922) 2 1 8 - 2 2 9 . - Ronald E. Clements, Prophecy and Tradition, Oxford 1975. - Otto Eißfeldt, Zur Uberlieferungsgesch. der Prophetenbücher des AT: ThLZ 73 (1948) 5 2 9 - 5 3 4 = ders., KS, Tübingen, III 1966, 5 5 - 6 0 . - Georg Fohrer, Die Glossen im Buche Ezechiel: Z A W 6 3 (1951) 3 3 - 5 3 . - H a n s Irsigler, Gottesgericht u. Jahwetag. Die Komposition Zef 1 , 1 - 2 , 3 , St. Ottilien 1 9 7 7 . - A l f r e d Jepsen, Kleine Beitr. zum Zwölfprophetenbuch: ZAW 56 (1938) 8 5 - 1 0 0 ; 57 (1939) 2 4 2 - 2 5 3 . - D . R. Jones, The Traditio ofthe Oracles of Isaiah of Jerusalem: ZAW 67 (1955) 2 2 6 - 2 4 6 . - Isaac Maarsen, Parschandatha, the Commentary of Rashi on the Prophets and Hagiographs. I. Minor Prophets, Amsterdam 1930. - Rex A. Mason, The Purpose of the .Editorial Framework' of the Book of Haggai: VT 27 (1977) 4 1 3 - 4 2 1 . - Ders., The Relation of Zech 9 - 1 4 to ProtoZechariah: ZAW 88 (1976) 2 2 7 - 2 3 9 . - W. McKane, Prophecy and the Prophetic Literature: G. W. Anderson (Hg.), Tradition and Interpretation, Oxford 1979, 1 6 3 - 1 8 8 . - Miqraot G'dolot, N'bi'im Aharonim, Wien 1869. - W. Renaud, La formation du livre de Michée, Paris 1977. - Werner H. Schmidt, Diedtr. Redaktion des Amosbuches: ZAW 77 (1965) 1 6 8 - 1 9 3 . - H e n r y Barclay Swete, An Intr. to the O T in Greek, Cambridge 1902. - Ina Willi-Plein, Vorformen der Schriftexegese innerhalb des AT. Unters, zum literarischen Werden der auf Amos, Hosea u. Micha zurückgehenden Bücher im hebr. Zwölfprophetenbuch, 1971 (BZAW 123). - R. E. Wolfe, The Editing of the Book of the Twelve: ZAW 53 (1935) 9 0 - 1 3 0 . John William Rogerson Döllinger, Johann
Joseph
Ignaz
(1799-1890)
1. Leben 2. Werk: Kirchenpolitik und Theologie ke/Literatur S. 25) 1.
3. Nachwirkung und Beurteilung
(Wer-
Leben
Johann Joseph Ignaz Döllinger wurde am 28. Februar 1799 in Bamberg als Sohn des Medizinprofessors Ignaz Döllinger, eines führenden Embryologen, geboren, studierte 1812 am Gymnasium in Würzburg, bezog 1816 die Universität Würzburg, zunächst die juristische Fakultät, und trat Nov. 1820 in das Priesterseminar Bamberg ein. 22. April 1822 Priesterweihe; Nov. 1 8 2 2 - 1 8 2 3 Kaplan von Markt Scheinfeld; 1823 Professor für Kirchenrecht und Kirchengeschichte am Lyzeum in Aschaffenburg; 1826 außerordentlicher Prof. „namentlich des Kirchenrechts und der Kirchengeschichte" an der Universität München; 1837 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 1840 Hofkaplan und Kanonikus von St. Cajetan in München; 1 8 4 5 - 1 8 4 6 Rektor der Universität; 1847 Stiftpropst von St. Cajetan; 1847 im Zuge der Lola Montez-Affaire von König Ludwig I. nach —»Dillingen versetzt;
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1 8 4 8 / 4 9 Abgeordneter im Frankfurter Parlament; 1 8 4 5 - 1 8 4 7 und 1 8 4 9 - 1 8 5 1 Abgeordneter im Bayerischen Landtag; 1850 als Professor der Kirchengeschichte reintegriert; 1857 päpstlicher Ehrenkaplan; 1 8 6 0 bayerischer Zivildienstorden und Erhebung in den persönlichen Adelsstand; 1864 Sekretär der Historischen Kommission; 1 8 6 6 / 6 7 Rektor; 1868 als Reichsrat der Krone Bayerns Mitglied der 1. Kammer; 17. April 1871 exkommuniziert. Dr. theol. h.c. von Marburg; Dr. iur. utr. h.c. von Oxford; 1 8 7 1 / 7 2 Rektor der Universität, 1873 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Generalkonservator der wissenschaftlichen Sammlungen des bayerischen Staates. Er starb am 10. 1. 1 8 9 0 in München.
2. Werk: Kirchenpolitik
und
Theologie
Döllingers literarische Produktion ist eng verbunden mit dem Geschehen seiner Zeit; als Kirchenpolitiker hat er Anteil an den wichtigsten Initiativen der deutschen Katholiken im 19. Jh. bis zu seiner Exkommunikation. In der lebendigen Anteilnahme an den jeweiligen Tagesfragen kam besonders seine journalistische Begabung zur Entfaltung; seine wissenschaftliche Produktion blieb von diesem kirchenpolitischen Engagement nicht unberührt. Döllinger hat sich öfter als Autodidakten bezeichnet, der sich seine Methode selber erarbeiten mußte. Eine prägende Kraft ging von keinem seiner Lehrer aus, wenngleich sein Bamberger Lehrer Friedrich Brenner auf die Positivität und historische Darstellungsform der Offenbarung hinwies und sein besonderes Interesse an der alten Kirche wachzuhalten verstand. Döllinger hat sich das meiste im Selbststudium angeeignet; neben der Lektüre des Baronius, der Kirchenväter und der theologischen Klassiker des 17. und 18. Jh. kamPetavius als Wegbereiter der wissenschaftlichen Dogmengeschichte hinzu. Früh reifte der Plan, der katholischen Theologie in Abgrenzung gegenüber dem Protestantismus wieder Geltung zu verschaffen. Die 1826 von der theologischen Fakultät der Universität Landshut angenommene Dissertation Die Lehre von der Eucharistie in den ersten drei Jahrhunderten ist in dieser Abwehrhaltung unter dem Vorzeichen eines theologischen Klassizismus geschrieben, der auf die Unveränderlichkeit kirchlicher Lehre hinzielte. Unter dem Einfluß der—»Romantik und des Freundes J.A. —»Möhler, den Döllinger 1836 für die Universität München gewann, setzte sich jetzt die Auffassung von der organischen Entwicklung der —»Tradition durch, eingefangen im Bilde des Samenkornes. Die Kirche kann keine „neuen" Dogmen hervorbringen (—>Dogma), sondern nur das in der Tradition Niedergelegte hervorholen. Die Konstanz der apostolischen Lehre ist verbürgt durch die bischöfliche Sukzession, die mit dem Ursprung in konkreter Verbindung bleibt (—»Bischof). Die erste Schaffensperiode Döllingers etwa seit 1830 bis 1855 weist wenige selbständige wissenschaftliche Arbeiten auf. Umso stärker ist dafür seine Tätigkeit als Publizist und Kirchenpolitiker. In der Zeitschrift Eos des Münchener Görreskreises (1825-1832), in dem er eine besonders aktive Rolle spielte, setzte er sich für eine Verbindung mit dem französischen und englischen Katholizismus ein, wie überhaupt sein geistiger Blick zeitlebens über die Vorgänge in Deutschland hinaus gerichtet blieb. Während dem Archiv für theologische Literatur (1842/43) keine lange Lebensdauer beschieden war, konnte Döllinger seine Besprechungen und seine kirchliche Chronik in den seit 1838 erscheinenden Historisch-Politischen Blättern unterbringen. Während gut 25 Jahren hatte er maßgeblichen Anteil an der redaktionellen Gestaltung dieses literarischen Hauptorgans der deutschen Katholiken. Seinen Ruf als gefürchteter antiprotestantischer Polemiker bestätigte Döllinger mit 1841 in Bayern aufbrechenden konfessionellen Auseinandersetzungen; so verteidigte er 1843 anonym die königliche Kniebeugeverordnung vor dem in der Fronleichnamsprozession mitgeführten Sakrament als rein militärische Verfügung, der Protestanten sich zu unterwerfen hätten. Dieser Geist durchweht auch das dreibändige Werk Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekenntnisses (Regensburg 1846—1848). Es ist kein Gegenstück zu —»Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation, sondern eine Sammlung von Aussagen der Reformationszeit, welche die verhängnisvollen Auswirkungen dieses Geschehens in Deutschland belegen. Die Rechtfertigungslehre Luthers, so meinte er, habe das sittliche Bewußtsein der Menschen korrumpiert.
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Döllinger
„Die neue Lehre vom Glauben und von den Werken ist schädlich; denn dieweil man spricht, der Glaube mache allein selig, gibt man dem Volke Ursache zu einem unchristlichen heidnischen Leben" (II, 136). Luthers Lehre erscheint ihm „als das unmittelbarste Erzeugnis eines tief geängstigten, an sich und an Gott irre gewordenen, zerrütteten Geistes" (111,239). Döllingers Auffassung hat die gängige katholische Sicht der Reformation und Luthers maßgeblich beeinflußt. Doch bereits 1861, noch vor seinem Bruch mit Rom, bahnte sich bei ihm größeres Verständnis für den deutschen Reformator an - „der Größte unter den Deutschen seines Zeitalters" (Kirche u. Kirchen 386) - , wenngleich die Luther zugeschriebene Imputationslehre ihm weiterhin unannehmbar blieb. In der theologischen Wertung kam er nicht über die Position von 1 8 4 6 - 1 8 4 8 hinaus. Am stärksten kam Döllingers rhetorisch-polemisches Talent zur Entfaltung in den kirchenpolitischen Debatten des bayerischen Landtags und in den Bemühungen, dem deutschen Katholizismus eine wirksame Aktionsbasis zu verschaffen. Seine Kaltstellung in der Lola Montez-Affaire 1847, in der er persönlichen Mut zeigte, trug zur Steigerung seiner Popularität bei. Als Abgeordneter des Frankfurter Parlaments plädierte er für die Freiheit der Kirche, nicht für eine Trennung von Kirche und Staat, sondern im Sinne einer stärkeren Befreiung von staatlich-bürokratischer Bevormundung. Neben seinem Eintreten für eine selbständige katholische Presse ist hier seine Unterstützung des katholischen Verbands- und Vereinswesens (Katholikentag 1848 in Mainz, 1849 in Regensburg) zu erwähnen. Im gleichen Jahr wählten ihn die deutschen Bischöfe auf der ersten Bischofskonferenz in Würzburg zu ihrem Hauptberichterstatter; sein Eintreten für ein Nationalkonzil und einen deutschen Primas hatte keine antirömische Spitze. Dennoch wurde von deutschen Kreisen (Bischof Reisach von Eichstätt, später Kurienkardinal) das Mißtrauen gegen ihn in Rom kräftig geschürt und er in Verbindung mit nationalkirchlichen Tendenzen des 18. Jh. gebracht. Doch blieb sein Rat in wichtigen kirchenpolitischen Entscheidungen weiterhin gesucht; das belegt sein Briefwechsel mit Mathias Aulike (gest. 1865), dem Leiter der „Katholischen Abteilung" im Preußischen Kultusministerium. Eine stärkere Konzentration auf die historische Forschung brachten die 50er Jahre, in denen Döllingers bedeutendsten theologiegeschichtlichen Werke heranreiften. In Hippolyts und Kallistus (1853), seiner ersten kritischen Glanzleistung, wies er die 1842 im Athoskloster entdeckten Philosophumena dem Kirchenschriftsteller und Gegenpapst zu, eine Zuschreibung, der die Mehrheit der Wissenschaftler folgte, die aber neuerdings von P. Nautin in Frage gestellt wird (—»Hippolyt). Als erste Bände einer weitausholenden Kirchengeschichte schlössen sich an Heidentum und Judentum. Vorhalle zur Geschichte des Christentums (1857) und Christentum und Judentum in der Zeit der Grundlegung (1861). In ersterem Werk zieht Döllinger aus seinen früh betriebenen religionsgeschichtlichen Studien theologische Schlußfolgerungen und deutet Heidentum und Judentum als „praeparatio evangelica". Das andere Werk stand nicht auf der Höhe der protestantischen Exegese der Zeit, aber stellte für katholische Leser ein „Meisterwerk biblischer Theologie" dar (Finsterhölzl) und fand bei konservativen anglikanischen Theologen großen Anklang. Der Zeit des Neuen Testaments erkennt Döllinger normativen Charakter für die Kirche aller Zeiten zu; in der 2. Auflage (1868) sind die papalistischen Aussagen gemildert. In den 60er Jahren ließ Döllinger sich wieder stärker in kirchenpolitische Fragen ein; aus der groß projektierten Kirchengeschichte, in der auch die Geschichte der Cathedra Petri ihren Ort haben sollte, wurden fortan nur Bruchstücke veröffentlicht. Die antiprotestantische Polemik früherer Jahrzehnte macht einer irenischeren Gesinnung Platz, die keineswegs das katholische Selbst- und Überlegenheitsgefühl aufhob. Bestimmend in dieser Richtung haben gewirkt die wissenschaftlichen Arbeiten und Kontakte über die Konfessionsgrenzen hinaus, Freundschaften mit Protestanten (Virtor Aimé —»Huber, Hermann Adalbert Daniel in Halle) und vor allem die stärkere Beschäftigung mit den Anglikanern (E. B. —»Pusey, W. E. Gladstone). Kirche und Kirchen, Papsttum und Kirchenstaat (1861) zeichnet zwar die von Rom getrennten Kirchen und Sekten noch immer in düsteren Farben und ist nicht frei von einem subkutanen katholischen Triumphalismus; doch wird die Reformation hier bezeichnet als
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ein „Gericht, welches läuternd und heilend gewirkt hat" (Vorw. X X X ) ; auch werden Reformforderungen an die katholische Kirche gestellt. Konkret formuliert er dann zwei Jahre später auf der von ihm 1863 in die Abtei St. Bonifaz in München erstmals einberufene Versammlung katholischer deutscher Theologen den Auftrag ökumenischer Theologie: Deutsche Theologen haben die Spaltung begonnen und genährt. „So hat denn auch die deutsche Theologie den Beruf, die getrennten Konfessionen einmal wieder in höherer Einheit zu versöhnen" (Kleinere Sehr. 182). Diese zunehmende Sensibilisierung für die Sache der —»Una Sancta geriet in Konflikt mit den starren Konfessionalisierungstcndenzen des Pontifikats —»Pius IX. Während Döllinger die Verbindung zur Welt ohne falsche Kompromisse offenhalten wollte, suchte die römische Kirchenpolitik der Zeit die Konfrontation vielfach unter dem Eindruck des bevorstehenden Verlustes des —»Kirchenstaats. Die von echter Glaubenssorge diktierte Warnung Döllingers in den Münchener Odeonsvorträgen 1861, daß die Kirche sieben Jahrhunderte ohne den Länderbesitz der Päpste bestanden hatte und deshalb auch in Zukunft ohne den Kirchenstaat weiterbestehen könne, wurde in Rom als Defätismus interpretiert. Die Desavouierung des Münchener Theologenkongresses durch Pius IX. im Jahre 1864, die schockierenden Formulierungen des —»Syllabus im gleichen Jahr und weitere brüskierende Äußerungen des Papstes, z.B. anläßlich der österreichischen Ehegesetzgebung 1868, kühlten sein langjährig positives Verhältnis zu Rom ab. Die Ankündigung eines ökumenischen Konzils für 1869 ließ ihn nichts Gutes für die Kirche erhoffen. In richtiger Einschätzung der Situation befürchtete er eine Steigerung päpstlicher Prärogativen und eine Ausweitung des päpstlichen Zentralismus; er versuchte, durch historische und theologische Argumente im Janua (1869) und in aufsehenerregenden Aufsätzen in der Augsburger Allgemeinen dieser Entwicklung entgegenzutreten. Besonderen Einfluß schrieb er den —»Pseudoisidorischen Dekretalen zu, Fälschungen, auf denen das Wachstum der römischen Machtansprüche des mittelalterlichen Papsttums beruht habe. Seine immer noch wache polemische Begabung brach in den Römischen Briefen vom Konzil des Quirinus (Pseudonym für Döllinger und Lord Acton) vehement durch. Sie verschaffte ihm Applaus, nicht immer von jener Seite, die sein Ringen als Theologe verstand, und brachte ihn bereits während des Konzils in eine schiefe Stellung zu den deutschen Bischöfen. Die Schärfe und Bitterkeit seines Urteils verdeckten somit seine durchaus berechtigte Sorge, das Konzil könnte unter dem Druck der prorömischen Richtung Lehrsätze aufstellen, die einen Bruch mit der kirchlichen Tradition darstellten. Mit seinen Gegenspielern in Rom, die das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes in einer maximalistischen Form durchpeitschen wollten, hatte er gemeinsam, daß er sich in eine Position verbohrte, die nur mehr die eigenen Phobien gelten ließ: für ihn die Angst, das —»Papsttum könnte jede Eigenständigkeit kirchlichen Lebens aufsaugen. Der Konzilsverlauf (—»Vatikanum I) lieferte ihm weitere Argumente für die Nicht-Ökumenizität des Konzils: mangelnde Freiheit, parteiische Geschäftsordnung, Fehlen der Einmütigkeit in Glaubensaussagen. Diese Gründe bestärkten ihn, seinen aus Glaubenstreue zur Kontinuität mit der alten Kirche erhobenen Einspruch gegen die Papstdogmen auch nach der Promulgation des Dogmas und der Zustimmung der Bischöfe der Minderheit aufrechtzuhalten. Auf Drängen des Erzbischofs Scherr, eines Schülers Döllingers - Rom stellt das Vorgehen gegen den renitenten Theologieprofessor ins Ermessen des Münchener Ordinarius —, sich den Dekreten des Vatikanums zu unterwerfen, antwortete dieser: „Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen" (Briefe und Erklärungen 91 f). Am 17. April 1871 verhängte der Erzbischof über ihn die große Exkommunikation. Seine Position nach der Verurteilung hat Döllinger seinem Freund Lord Acton so beschrieben: „Damit die falsche Lehre in der Kirche nicht herrschend werden oder doch später wieder ausgestoßen werden könne, muß es eine Anzahl von Menschen geben, welche sie laut und offen fort und fort verwerfen und bestreiten, die sich aber nicht selber von der Kirche trennen" (Brief v. 19. Sept. 1871). Damit ist seine Einstellung gegenüber der altkatholischen Bewegung, die sich unter Berufung auf seinen Einspruch zu sammeln begann (—* Altkatholizismus), vorgezeichnet: Ablehnung eigener Gemeindebildung (Reformatio fiat inter eccle-
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siam war immer der Grundsatz aller erleuchteten Männer der Kirche" [Döllinger-Acton III, 35 Anm. 2]), aber kritische Solidarität mit der protestierenden Richtung, weil die Unfehlbarkeitserklärung des 1. Vatikanums die Kontinuität der Lehre mit dem Glauben der Kirche gebrochen und der Jurisdiktionsprimat des Papstes den altkirchlichen Episkopat zerstört habe. Kirchlicher Amtshandlungen hat Döllinger sich nach seiner Exkommunikation strikt enthalten. Am 12. Okt. 1887 antwortete er dem Nuntius Ruffo Scilla: „Moi aussi je ne veux pas être membre d'une société schismatique; je suis isolé" (Briefe und Erklärungen 150). Einen ernsthaften Versuch, die kirchliche Isolierung zu überwinden, unternahm Döllinger, indem er das seit den 60er Jahren aufgebrochene und konstitutiv in seinen Protest gegen das 1. Vatikanum eingeflossene Anliegen der Überwindung der Kirchenspaltung weiterführte. Sieben öffentliche Vorlesungen an der Universität München im Winter 1872 Über die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen stellten einem größeren Publikum die Eindringlichkeit dieser Verpflichtung dar. In den Bonner Unionskonferenzen von 1874 und 1875 versuchte er mit altkatholischen, orthodoxen und anglikanischen Theologen die Grundlagen eines christlichen Ökumenismus zu bestimmen: „ . . . die Bekenntnisformeln der ersten kirchlichen Jahrhunderte und diejenigen Lehren und Institutionen . . . , welche in der allgemeinen Kirche des Ostens wie des Westens vor den großen Trennungen als wesentlich und unentbehrlich gegolten haben" (Einladungstext). Weiterführung und Gelingen scheiterten an der Passivität der Kirchenleitungen und an der Diffamierungskampagne eines der Teilnehmer gegen Döllinger. Größeren theologischen Arbeiten hat Döllinger sich nach seinem Konflikt mit Rom nicht mehr zugewandt. Mit dem ebenfalls exkommunizierten Bonner Exegeten Heinrich Reusch veröffentlichte er eine Geschichte der Moralstreitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche (2 Bde., 1889) und Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters (2 Bde., 1890), Werke, für deren Publikation das Hauptverdienst Reusch zukommt. Sein eigentliches Interesse galt jetzt in der Hauptsache universalgeschichtlichen Themen, die er als Präsident der Akademie der Wissenschaften in geschliffenen Vorträgen (Akademische Vorträge, 3 Bde., 1 8 8 8 - 1 8 9 1 ) behandelte: über Religionsstifter, über Dante, Nordamerika, den Untergang der Templer bis hin zu den Juden in Europa (1881). Im letzten Aufsatz spiegelt sich im Vergleich zu früheren Ausführungen zu diesem Thema (im bayerischen Landtag 1846) eine größere Reife und Toleranz, die ohne sein persönliches Schicksal nicht möglich gewesen wären. Versuche, ihn mit der römisch-katholischen Kirche auszusöhnen, hat Döllinger beharrlich zurückgewiesen; sein Weggenosse und späterer Biograph, der ebenfalls exkommunizierte Johannes Friedrich ( 1 8 3 6 - 1 9 1 7 ) reichte ihm die Sterbesakramente. Eine eigentliche kirchenhistorische Schule zu gründen, war ihm auch in seiner römischkatholischen Zeit nicht gelungen. Doch gefühlsarm und kalt, wie eine spätere Legende es wollte, war Döllinger nie. Seine zahlreichen Freundschaften reichten hin bis zu Charles Forbes de Montalembert ( 1 8 1 0 - 1 8 7 0 ) , dem Führer des liberalen Katholizismus in Frankreich und zum englischen Premierminister W.E. Gladstone (1809-1898). Lord Acton (1834-1902), der Begründer der Cambridge Modern History, sein Lieblingsschüler, hat von ihm bleibende Anregungen empfangen; in seiner Freundschaft mit Charlotte Lady Blennerhassett (1843—1917) zeigt sich eine frühe und unzeitgemäße Sensibilität für Fragen der Frauenbildung. 3. Nachwirkung
und
Beurteilung
Döllingers Bild war den Schwankungen konfessioneller Wertung ausgesetzt. Der kurz nach seinem Tode erschienenen dreibändigen Biographie von J. Friedrich (1899—1901) — eine beachtliche Leistung — fehlte die kritische Distanz; der vom entgegengesetzten Standpunkt geschriebenen Skizze des Innsbrucker Jesuiten Emil Michael (1892) die Achtung vor dem Gewissenskonflikt des Theologen. Innerhalb der katholischen Kirche Deutschlands sah man bis 1950 in ihm etwa meist den „Abtrünnigen", dessen Leistungen für die eigene Konfession vergessen waren. Das Interesse des Tübingers Stefan Lösch an Döllinger, die Publikation seines Briefwechsels, und vor allem die Ankündigung des 2. Vatikanums, leiteten eine
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Neubewertung im katholischen R a u m ein. Ihre Ergebnisse spiegeln sich in den Arbeiten von Johannes Finsterhölzl, der Döllinger zu Recht unter die „Wegbereiter heutiger Theologie" einreiht. Finsterhölzl hat auch das systematische Interesse Döllingers eindeutig belegt — 1 8 3 5 — 1 8 3 8 las Döllinger Dogmatik — und sieht seine bleibende Bedeutung vor allem in einer Reihe von Problemkreisen, die Grundfragen der Ekklesiologie berühren: Kirchenkritik, bischöfliche Kollegialität, synodales Leben und Bedeutung der Ortskirchen, Papsttum und seine Aufgaben, Prinzipien des Ökumenismus. In seinem Widerspruch gegen die Papstdogmen weist Döllinger, auch wenn man seine Verfremdung beispielsweise der Unfehlbarkeitslehre berücksichtigt, auf Fragestellungen, die innerhalb der katholischen Theologie nicht ausdiskutiert sind und zu den Zentralthemen des ökumenischen Dialogs gehören. Seine bleibende Bedeutung liegt daher weniger in seinen gelehrten wissenschaftlichen Forschungen und Arbeiten als im Bemühen, die Spannungen theologisch-kirchlicher Existenz zu meistern: 1. aktive Verbindung von Theologie und Kirchenpolitik bis hin zum Journalismus unter Ausnützung der öffentlichen Meinung, 2. Versuch, die Theologie auf das allgemeine Geistes- und Kulturleben hin offenzuhalten, 3. zentrale Erkenntnis der Spätzeit, daß jede Theologie ihre konfessionell-partikulären Grenzen überschreiten müsse, um das Ärgernis der gespaltenen Christenheit zu überwinden. Werke Bibliographie: Die wichtigsten Arbeiten Döllingers sind im Artikel genannt. Fast alle größeren Werke liegen inzwischen in reprographischen Nachdrucken vor. Das vollständigste Verzeichnis der Werke und Ubersetzungen bei Lösch 4 9 9 - 5 5 6 . - Ein Verzeichnis seiner Handschriften und Vorlesungs-Nachschriften bei J. Finsterhölzl, Kirche 541 f. Gesch. der christl. Kirche, Landshut, 1 / 1 - 2 1 8 3 3 - 1 8 3 5 = NB v. J . N . Hortig (Hb. der christl. KG 1 / 1 - 2 ) . - Lb. der KG, Regensburg, II 1 8 3 6 - 1 8 3 8 2 1 8 4 3 . - Muhammeds Religion nach ihrer inneren Entwicklung u. ihrem Einflüsse auf das Leben der Völker, Regensburg 1838. — Irrtum, Zweifel u. Wahrheit. Eine Rede an die Studierenden der Kgl. Ludwig-Maximilians-Univ., München 1845. - Kirche u. Staat. Betrachtungen über den Art. III des Entwurfs der Grundrechte des dt. Volkes, Frankfurt/M. 1848. - Die Freiheit der Kirche. Rede in der öffentlichen Versammlung des kath. Vereins v. Deutschland, Regensburg 1849. - Die Vergangenheit u. Gegenwart der kath. Theol.: Verhandlungen der Versammlung kath. Gelehrten in München, hg. v. Pius Garns, Regensburg 1863, 2 5 - 5 9 . — Die Papstfabeln des MA. Ein Beitr. zur KG, München 1863. - Briefe u. Erklärungen v. I. v. Döllinger über die Vaticanischen Décrété 1 8 6 9 - 1 8 8 7 , München 1890 = 1 9 6 8 . - Kleinere Sehr., hg. v. Franz Heinrich Reusch, Stuttgart 1890. — Ignaz Döllingers Briefe an eine junge Freundin, hg. v. Heinrich Schrörs, Kempten 1 9 1 4 . - I g n a z v. Döllinger-Lord Acton,Briefwechsel 1850—1890,hg. v. VictorConzemius, 3 Bde., München 1963 —1971.-Ignaz v. Döllinger-Charlotte Lady Blennerhassett, hg. v. dems., München 1981. Literatur Zusammenstellungen: Wolfgang Müller, Art. Döllinger: DHGE 14 (1960) 5 5 3 - 5 6 3 . - Georg Schwaiger, Ignaz v. Döllinger ( 1 7 9 9 - 1 8 9 0 ) : Kath. Theologen Deutschlands im 19. Jh., hg. v. Heinrich Fries/Georg Schwaiger, München, III 1975, 9 - 4 3 , bes. 40ff. John Dalberg Acton, Döllinger's Historical Work: EHR 5 (1890) 7 0 0 - 7 4 4 . - Dieter Albrecht, Döllinger, die bayerische Regierung u. das Erste Vatikanische Konzil: Spiegel der Gesch. FG Max Braubach, Münster/W. 1964, 7 9 5 - 8 1 5 . - Roger Aubert, Le pontificat de Pie IX ( 1 8 4 6 - 1 8 7 8 ) : Histoire de l'Eglise, hg. v. A. Fliche/V. Martin, Paris, X X I 2 1 9 6 3 (Suppl. bibliographique 1965). - Ders., Vatican I, Paris 1964; dt.: Vaticanum I, Mainz 1965. - Hubert Becher, Der dt. Primas. Eine Unters, zur dt. KG in der ersten Hälfte des 19. Jh., Colmar o. J. [ 1943]. - Walter Brandmüller, Die Publikation des 1. Vatikanischen Konzils in Bayern. Aus den Anfängen des bayerischen Kulturkampfes: ZBLG 31 (1968) 1 9 7 - 2 5 8 . - Ders., I. v. Döllinger am Vorabend des I. Vatikanums, St. Ottilien 1977. - Victor Conzemius, Aspects ecclésiologiques de l'évolution de Döllinger et du Vieux-catholicisme: RSR 34 (1960) 2 4 7 - 2 7 9 . - Ders., „Rom. Briefe vom Konzil": ThQ 140 (1960) 4 2 7 - 4 6 2 . - Ders., Acton, Döllinger u. Ketteier: AMRHKG 14 (1962) 1 9 4 - 2 3 8 . - D e r s . , AdolfKolpingu.Ignazv. Döllinger: AHVNRH 164 (1962) 1 1 8 - 1 9 1 . - Ders., Die Verf. der „Rom. Briefe vom Konzil" des „Quirinus": FS H. Foerster, Freiburger Gesch.bl. 52 (Freiburg/Schw. 1963/64) 2 2 9 - 2 5 6 . - Ders., Die „Rom. Briefe vom Konzil". Eine entstehungsgesch. u. quellenkrit. Unters, zum Konzilsjournalismus I. v. Döllingers u. Lord Actons: R Q 5 9 (1964) 1 8 6 - 2 2 9 ; 6 0 (1965) 7 6 - 1 1 9 . - Ders., Hermann Adalbert Daniel ( 1 8 1 2 - 1 8 7 1 ) . Ein Forscherleben für die Una Sancta: ZKG (1965) 6 4 - 1 1 1 . - D e r s . , Zw. Rom, Canterbury u. Konstantinopel: Der Altkatholizismus in röm.-kath. Sicht: ThQ 145 (1965) 1 8 8 - 2 3 4 (mit Quellen u. Lit. zur
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Dogma I
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Victor Conzemius Dogma I. Historisch II. Systematisch-Theologisch
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I. Historisch 1. Die Griechisch sprechende Kirche des Altertums 2. Die Orthodoxe Kirche des Ostens 3. Die Lateinisch sprechende Kirche des Westens 4. Die Reformatoren 5. Der Protestantismus (Literatur S. 40) 1. Die Griechisch sprechende Kirche des Altertums 1.1. Dogma ist seiner Grundbedeutung nach dasjenige, „was als richtig erschienen ist", rö öcöoyfievov, das Geglaubte, Gemeinte, Beschlossene. Die Grundbedeutung fundiert im Sprachgebrauch eine Reihe von speziellen Bedeutungen: a) Aöy/ja kann die „Meinung" sein: diejenige ¿emoXXoi, welche außerstande sind, vernünftige Rechenschaft zu geben (Piaton, Soph. 265 c). b) Aöy/xa bezeichnet aber gerade auch die philosophische Meinung: den Grundsatz, Lehrsatz, die Lehre (seit Aristoteles). Die griechische Volksreligion hat keine Dogmen gekannt. Das Dogma der Kirche weist zu einem Teil seines Begriffs auf die Philosophie zurück, worin man einen Hinweis auf die rationale Komponente des kirchlichen Christentums sehen kann. In beiden genannten Bedeutungen expliziert sich die Grundbedeutung von doyfia nach der Seite des, sei es unbewußt irrigen, sei es durch Reflexion gewonnenen adäquaten Bewußtseinsinhalts. In der Grundbedeutung ist jedoch nicht allein das Moment des Vorgestellten, Gemeinten, sondern zugleich dasjenige des Willensentschlusses enthalten, kraft dessen eine nach Prüfung für recht befundene Meinung angeeignet und festgestellt w i r d . A ö y f i a kann daher c) der „Beschluß" sein, gleichgültig, ob ihn ein einzelner oder eine Versammlung faßt. Im xoivöv doyfia (Piaton, Leg. 644 d) ist das sozial-normative Moment betont; vergleichbar sind die ööyfiara Act 16,4 als Beschlüsse und Anordnungen der Jerusalemer Urgemeinde. Daß solche ööyfiata für das Bewußtsein der Urkirche nicht menschlicher Willkür entspringen, zeigen Formulierungen wie die Act 15,28: iöo&v yäg x xai qfiiv.
Dogma I
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Diese óóyfiara beziehen sich freilich nicht auf Lehre, sondern auf „disziplinare und moralische Gegenstände". Jedoch auch den im engeren Sinn philosophischen Theorien kann eine sozial-normative Funktion zuerkannt werden (vgl. in lateinischer Tradition Cicero, Academia priores 11,9,27: die von der Weisheit selbst getroffenen Entscheidungen [decreta] heißen bei den Philosophen óóyfiara. Auch nur eines davon preiszugeben, wäre Verbrechen, denn damit würde das Gesetz des Wahren und Rechten [lex veri rectique] selbst preisgegeben; ein Mißgriff von moralischem Gewicht [vitium], durch den freundschaftliche Verbindungen, ja ganze Gemeinwesen desavouiert zu werden pflegen). Wird nun weiter der Ton auf die Tatsache der Veröffentlichung eines Beschlusses gelegt, so heißt óóyfia d) „Verordnung, Edikt". Dieser Sprachgebrauch findet sich in der Septuaginta und im Neuen Testament: Lk 2,1 (das Edikt des Kaisers Augustus); Act 17,7 (kaiserliche Gesetzesvorschriften); Hebr 11,23 v.l. (der Erlaß Pharaos). Der Bereich des humamtm ist verlassen, wenn im hellenistischen Judentum e) óóyfia die „göttliche Verordnung des mosaischen Gesetzes" bezeichnet. Hier sind verschiedene der oben angeklungenen Aspekte zusammengefaßt. Ein veröffentlichter Beschluß ist als verbindliche Norm (c/d) verstanden und berührt sich mit óóyfia = philosophische Lehre (b): dem hellenistischen Judentum ist, wie später den Christen, die biblische Offenbarung die bessere, die ursprüngliche Philosophie. Aber eben durch das Moment der Offenbarung geht diese Bedeutung über die vorigen hinaus. Hierher gehören auch Kol 2,14; Eph 2,15 in bezug auf die Satzungen des durch Jesus abgetanen mosaischen Gesetzes. 1.2. Ein mit den Apostolischen Vätern einsetzender Sprachgebrauch bezieht óóyfia auf Lehren und Vorschriften Jesu und der Apostel. —»Ignatius von Antiochien fordert Magn 13,1 dazu auf, in den óóyfiara des Herrn und der Apostel fest zu werden: ein Vorgang, der mit der Treue zum monarchischen Bischof und zum übrigen Klerus zu tun hat, also schon in den Raum der Großkirche gehört. Wenn óóyfia hier den weiten Rahmen dessen absteckt, was aaoxl xal xvev/iart überhaupt für den Christen gilt, so zielt Barn 1,6 mit seinen drei óóyfiara xvgíov auf den Vollzug christlicher Existenz in Hoffnung, Gerechtigkeit und Liebe. Did 11,3 macht das óóyfia rov eva^/ekiov zur Verhaltensnorm im Umgang mit Wanderaposteln. W o diese erste, noch durchaus für die Gemeinde schreibende Generation von Kirchenschriftstellern vom óóyfia spricht, handelt es sich für sie um die theologische Existenz, noch nicht um die Theologie des Christen. Zugleich eignet dieser Art óóyfia eine spezifische Verbindlichkeit: die Gemeinde wird darauf verpflichtet. Der weitere Zusammenhang vor allem bei Ignatius zeigt, daß ein rudimentäres kirchenrechtliches Element schon früh zu den Merkmalen des Begriffs gehören konnte. Die förmliche Gleichung óóyfia = christlicher Lehrsatz taucht bei den Apologeten des 2 . J h . a u f - der auf die Apostolischen Väter folgenden ersten eigentlichen Theologengeneration, die ihr zwar bescheidenes philosophisches Vorverständnis im Vollzug der nun einsetzenden „ K e h r e " hellenistischen Denkens in die Selbstvergewisserung des Glaubens eingebracht hat (—»Apologetik). So nennt z . B . Athenagoras, leg. 1 1 , 1 die óóyfiara der Christen „nicht von Menschen herrührend, sondern von G o t t gesprochen und gelehrt" ( o v x ávOgwJitxá alká Qíócpaxa xal Oeoóíóaxra). Dem entspricht wenig später in Diogn 5 , 3 die Abgrenzung des den Christen geoffenbarten fivorrjgiov gegen ein bloßes ávdgmmvov óóyfia. Sachlich dasselbe meint der Ausdruck óóyfiara deov bei Orígenes, M a t t h . X I I , 2 3 , w o das Für-göttlich-Halten menschlicher, d.h. gnostischer Lehren (cpgovelv ra ávOgámva mg Oela) den Gegensatz bildet. Andererseits sind es gerade die christlichen Alexandriner, die das Dogma als Element eines rationalen Erkenntnisprozesses zu würdigen verstehen, wie z . B . Clemens, str. 8 , 4 , 1 6 , welcher óóyfia in Hinsicht auf das glaubende Subjekt im Sinne vernünftiger Einsicht definiert, die in der Zustimmung der Vernunft zum jeweils Vorgestellten ihr Wesen hat. Z u m Vollbegriff der Vernunft gehört bei dieser stoisierenden Art zu denken die Partizipation des Vernunftwesens am göttlichen —»Logos. — Daneben bezeichnet óóyfia nicht den einzelnen Lehrsatz, sondern den Inbegriff der christlichen resp. kirchlichen Lehre überhaupt, so z . B . —»Eusebius v. Caesarea, h.e. 2 , 1 3 , 3 u . ö . Immer deutlicher gewinnt das Dogma ausdrücklich kirchlichen Charakter, wodurch gleichsam das Erbe des Ignatius vollstreckt wird. Schon Orígenes, M a t t h . X I I , 2 3 identifiziert óóyfiara Oeov und Áóyoi íxxkr¡aiaarixoí. Von Exxkrjaiaarixá óóyfiara spricht —»Eusebius von Caesarea in h. e. 5 , 2 3 , 2 ; 6 , 4 3 , 2 : gemeint sind Konzilsbeschlüsse in liturgischen und
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disziplinaren Fragen. Derselbe Autor kennt ¿xxktjaiaonxä ööyfiata, welche theologische Lehrstücke wie die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Toten zum Inhalt haben (h. e. 3,26,4). —>Johannes Chrysostomus warnt in einer Polemik gegen Häresien davor, die kirchlichen Dogmen mit Philosophie zu vermengen, r a 'Ekkrjvixä xoig rfjg exxXrjoiag döyitaoiv ETiEioäyeiv (Horn. VI/3' zu Phil 2). Auf dem langen Weg von der alexandrinischen zur antiochenischen Schule hat sich dieser Sprachgebrauch allmählich herausgebildet: er verrät zugleich einen Wandel des christlichen Bewußtseins. Der von —»Konstantins I. religio licita zur Staatsreligion des —»Theodosius führende Entwicklungsprozeß vollendete das schon bei den Vätern des 2. und 3. Jh. sich ankündigende geschichtliche und politische Selbstverständnis der Kirche — auf der Grundlage der reichsrechtlichen Geltung ihrer ööyfiava. Es war von da aus nur noch ein Schritt, wenn —»Justinian (Novella 131 de ecclesiasticis titulis) die dogmata der vier ersten ökumenischen Konzile gleichrangig neben die Heiligen Schriften stellte (quattuor synodorum dogmata sicut sanctas scripturas accipimus)-. eine förmliche Gleichsetzung von Alter Kirche und Urkirche, wie sie vor allem in der östlichen Orthodoxie bis zum heutigen Tage festgehalten wird. Zugleich hat sich die spezifische Verbindlichkeit, die den Dogmen der Kirche um des Heiles willen seit den ältesten Zeiten anhaftet, mit politischer Geltung verquickt: der römische Staatsbürger hatte eo ipso die von den Konzilsvätern festgelegte Trinitätslehre, Christologie und Mariologie zu akzeptieren. Die Unterscheidung von Dogma und Ethos ist alt (vgl. Origenes, Joh. fr. 45: Die Kirche ist reine Jungfrau der Richtigkeit der Lehren und Sitten wegen [ Vatikanum ist in der gleichen Richtung gefaßt: „Das depositum fidei ist der Inbegriff der der Kirche anvertrauten Offenbarung, die Dogmen aber sind die authentische und autoritative, unfehlbare Verkündigung des Wortes Gottes durch die Kirche" (Geiselmann bei Rahner/Lehmann: MySal 1,652). Das Dogma wird also kirchlich autorisiert. Dieser Akt hebt die Dogmen aus der Fülle des Wortes Gottes wie aus dem depositum fidei heraus. 2.3. Ganz anders ist das Dogma bewertet, wenn es als Ausdruck „menschlichen Wollens und Meinens" erfaßt wird. So lautet die berühmte Formulierung des —»Marcell von Ancyra (Frgm. 86; vgl. Elze 431; Ritsehl 17). Dabei nimmt der Begriff den Charakter der „Meinungen" der Häretiker oder auch der Philosophen an, der ihm wohl von Anfang an eignete. So leitet —»Isidor von Sevilla den Begriff in seinen Etymologien ab (vgl. Kretschmar 35). Von hier aus ist es verständlich, wenn —»Augustin in seiner Auslegung des Gleichnisses vom Senfkorn sagt, die Dogmen seien dieplacida sectarum (qu.ev. 1,11). Das Dogma kann als solches
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Dogma II
wenig Autorität beanspruchen. Als menschlich-allzumenschliches Machwerk kann es auch der göttlichen —»Wahrheit selbst entgegenstehen. Die kurze Charakterisierung der dreifachen Eigenart, in der das Dogma bzw. die regula fidei gesehen wurde, bietet ein Bild von der komplexen Problematik, in der die Theologie vor dem Dogma offenbar stets stand. - Otto Ritsehl hat diese drei Ausdrücke und Beurteilungsformen des Dogmas völlig sachgemäß erkannt (20). Es ist auch zu zeigen, daß diese drei typischen Einschätzungen des Dogmas bis zum heutigen Tage immer noch eine Rolle spielen, obwohl sich andere Fragestellungen dazwischengeschoben haben. Diese Andersartigkeit der Fragestellung ist in der—»Aufklärung des 18. Jh. gegeben. Wir können das hinweisend durch die Unterscheidung repräsentiert sein lassen, die Christian —»Wolff aufstellte. Für ihn nämlich treten bereits veritates dogmaticae und veritates historicae auseinander (Philosophia rationalis, 1728, § 743 ff). Mit dieser Unterscheidung wird ein Gesichtspunkt sichtbar, an dem das Problem des geschichtlichen Wandels sich von der Geltung des Dogmas zu lösen beginnt. Was Wolff hier sieht, ist das Problem der dogmatischen und historischen Methode, wie es dann bis Ernst —»Troeltsch durchläuft. Die zentrale Frage, die hinter dieser Unterscheidung steht, ist allerdings keineswegs neu. —»Thomas v. Aquin z.B. hat sie sehr eingehend erörtert (S. th. II/2 q l a7). Der Titel, unter dem er diese Frage stellt, ist: Utrum articuli fidei secundum temporum creverint? Das heißt, es ist Thomas völlig klar, daß die Dogmen historisch bedingt und wandelbar sind (vgl. dazu Schillebeeckx 6 0 - 6 6 ) . Aber er fragt anders als Christian Wolff. Er fragt nicht nach einer Methode, wie die dogmatische und die historische Wahrheit neben- oder gegeneinander stehen. Er fragt nach der Sache, nach dem Dogma selbst und was sein Anwachsen und SichVerändern in der Geschichte eigentlich besagt. Thomas' Antwort ist die fides implicita. Das heißt, er begründet die Zeitbedingtheit des Dogmas aus einer Eigenart des christlichen Glaubens in seinem Vollzug. Das heißt, daß sich mit der Aufklärung die Fraglichkeiten des Dogmas als Wahrheit in dem geschichtlichen Wandel andersartig darstellen. Der Umgang mit dem Dogma als veritas dogmatica oder historica tritt hervor, und damit verschiebt sich die Sicht von der Sache auf die Methode. Was bei Christian Wolff ansatzweise sichtbar wird, ist von Baumgarten, —»Semler und Ernesti vertieft und weitergeführt. Bei —»Kant ist das Problem in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft dann schon als grundsätzlicher Kampf gegen den Dogmatismus gesehen. Dogmatismus aber heißt alles, was jenseits der kritischen Methode der Erkenntnis gedacht wird. Bei —»Schleiermacher aber ist einerseits Dogmatik eine historische Disziplin, und in der Glaubenslehre richten sich andererseits die Dogmen nach dem, was im religiösen Selbstbewußtsein Platz haben kann. Wenn die letzte Vergewisserung über das Sein im Denkvollzug über das Sein liegt, dann muß die Methode an die Stelle der Substanz treten, insofern der Vergewisserungs-Zugang nur über das cogitare verlaufen kann. 3. Gegenwärtige
Gesichtspunkte
zur Beschreibung des Dogmas
Seit der Aufklärung des 18. Jh. hat sich in bezug auf den theologischen Umgang mit dem Dogma und die Beurteilung desselben also ein Wechsel vollzogen. Das Dogma wird beargwöhnt. Das Gespräch seiner Begründbarkeit wird neu geführt. Aus den Titeln der Lehrbücher verschwindet der erst Ende des 17. Jh. in weiteren Brauch gekommene Begriff (vgl. Ebeling 168). Zwar tauchen die drei oben vorgestellten Beurteilungstypen scheinbar alle noch auf. Aber sie sind alle drei verschoben. Zumal hat sich die Meinung, es handele sich bei den Dogmen um „menschliches Wollen und Meinen", als die Generalklausel der Dogmenbeurteilung durchgesetzt. Dabei liegt das Gewicht der Betrachtung auf der Funktion des Dogmas. Unter der Voraussetzung des zur Aufklärung Gesagten zeigt sich daran, daß sich in der Sicht des Dogmas Entscheidendes wandelte. Die Generalklausel von dem durchaus menschlichen - vielleicht allzumenschlichen - Charakter der Dogmen betrifft nicht so sehr die Dogmen selbst in ihrem Inhalt(!). Solche inhaltliche Folgerung zieht Augustin in der Folge-
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rang: Die Dogmen sind Menschenwerk, ergo sind die Dogmen placida sectarum. Wird aber nach der Funktion gefragt, so geschieht die Prüfung der Dogmen unter der formalen Nachfrage, was Dogmen in ihrer Funktionalität als Dogmen beanspruchen bzw. hervorrufen. In der Begründung des Dogmas taucht daher auch ein ganz neuer Gesichtspunkt auf, das Dogma als Bekenntnis. Damit aber ist die funktionale Formalität zum Charakter erhoben. Charakterisieren wir kurz die Begründungszusammenhänge des Dogmas in der Gegenwart: 3.1. Kerygma und Dogma. Unter diesem Stichwort wird heute das Problem der Begründung des Dogmas im katholischen (Rahner/Lehmann: MySal 1,622—704) wie im evangelischen (Weber 54 f; Kinder 24) Bereich verhandelt. Das Dogma bzw. die verschiedenen in ein System gebrachten Dogmen haben an dem biblischen Zeugnis ihr Kriterium. Dieser Einsatz gibt dem Dogma und seinen Aussagen ihre Angemessenheit als Ausdruck biblischer Wahrheit. Dabei erheben sich allerdings gewichtige Fragen. Schon das Verständnis des Kerygma ist ja keineswegs einhellig, denn das biblische Zeugnis ist ja selbst schon Tradition als Urteilsfindung auf dem Hintergrund von reflektiertem Glauben. Der Weg von diesen biblischen Urteilen im Zeugnisakt zu „dem" Kerygma umfaßt die große Problematik der summa scripturae sowie möglicherweise einer Rückfrage hinter die biblischen Urteile auf ein dahinterliegendes Kerygma. Ist dies Kerygma vielleicht sogar reduzibel auf einen Entscheidungsruf? In Satz-Wahrheiten, die man — wenn auch umformend — wiederholen könnte, läßt sich das Kerygma jedenfalls nicht beschreiben oder aufsuchen. Aber hierher gehört auch das Problem, daß das Dogma nicht Vorwiegend als aus der Bibel gefolgerte Lehraussage, sondern auch als eine Richtlinie zur „Entscheidung darüber, von welcher Grundtendenz her Einzelaussagen der Bibel zu verstehen sind", verstanden wird (Fritzsche 188). Das heißt, daß der hermeneutische Zirkel von Kerygma und Dogma zu diesen Problemen tritt. In der Mitte dieser Erörterungen steht das methodische Problem, auf welchem Wege das Kerygma erhoben werden kann. Das Dogma wird kritisch auf sein eigenes Kriterium hin interpretiert. Und dies Kriterium ist das Ergebnis der Glaubcnseinsicht wie der historischen Methode, und beide sind nicht mehr zu trennen. Das Dogma - man spricht nun gerne in der Einzahl des Formalen — hat die Funktion, das Kerygma unter veränderter geistiger Situation zur Sprache zu bringen. Daraufhin ist das Dogma zu befragen. Hierin liegt seine Berechtigung. 3.2. Kirche und Dogma. So sehr die Dogmen an das Kerygma herangezogen werden, so wenig ist zu übersehen, daß die Gemeinde und Kirche an der Bildung wie Tradierung, Veränderung wie Rezeption der Dogmen beteiligt und interessiert ist. Die biblische Grundlegung selbst kann bereits als „primäre Anwesenheitsweise von Überlieferung" der Kirche (Rahner/Lehmann: MySal 1,680) gefaßt werden. Dogmen sind in bestimmter Weise „kirchliche Sätze" (Seeberg 1). Werner —»Eiert hat diesem Sachverhalt besondere Aufmerksamkeit geschenkt und dabei den Gesichtspunkt geltend gemacht, daß Dogmen ja primär nicht Glaubens- sondern Lehrverpflichtungen seien. Die Dogmen machen es möglich, „den Sollgehalt des Kerygma" in Verkündigung und Lehre kirchlich zu garantieren (vgl. auch Barth 280). Eine Kirche, die sich gezwungen sieht, über Verkündigung und Lehre in ihrem Bereich - unter Umständen auch durch Lehrzuchtverfahren - zu wachen, handhabt das Dogma als diesen Sollgehalt. Natürlich steht dahinter — auch im römisch-katholischen Bereich — nicht nur kirchliches sie volo sic iubeo, sondern das Verhältnis des Dogma zum Kerygma. Hinter dem Dogma steht der am biblischen Zeugnis gewachsene Glaube, dessen Urteile das kirchliche Selbstverständnis ausmachen, das sich in Lehrverpflichtungen ausspricht. Die zu ordinierenden Geistlichen einer Kirche werden mit diesen Lehrverpflichtungen konfrontiert und „auf sie" verpflichtet. Die Präambeln der Kirchenordnungen geben Auskunft darüber, welche —»Katechismen oder Bekenntnisse dem Ausdruck geben. Wie immer diese „Verpflichtungen" in den evangelischen Kirchen auch wahrgenommen werden, an der Tatsache, daß alle christlichen Kirchen sich an bestimmten Glaubensüberzeugungen, die sich zu „gültigen" Aussagen d.h. Dogmen zusammenfassen, ausweisen, kann nicht gezweifelt werden. Daß diese Dog-
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Dogma II
men in den —>Kirchenordnungen ihren Niederschlag flnden und daß sie also kirchlich rezipiert und damit autorisiert sind, liegt ebenfalls klar zu Tage. Daß diese Tatsachen dem geschichtlichen Wandel unterliegen und daß die Glaubensüberzeugungen wie die Dogmen immer wieder der Neuorientierung auf Fragen und Einsichten der weiterschreitenden geistigen Welt- und Selbst-Verständnisse bedürfen, ist grundsätzlich keiner Kirche fraglich. 3.3. Bekenntnis und Dogma. Die innere Beziehung von Bekenntnis und Dogma ist zumal eine evangelische These in der neueren Theologie. Dies liegt daran, daß sich die lutherische Theologie der Reformationszeit über ihre Stellung zu den kirchlich überlieferten Dogmen zumal in sog. Bekenntnissen (—»Bekenntnisschriften) aussprach 2 . Das Bekenntnis ist der Ort, an dem die lutherische Kirche ihr Schriftverständnis verbindlich „verkündigt" und in dem die Rezeption des kirchlichen Dogmas sowie die Neuinterpretation desselben gleichzeitig geschieht. Das Gewichtige an dieser Form von Dogmenaussage lag darin, daß diese doctrina unmittelbar in eine bestimmte kirchenpolitische wie theologische Situation hineinsprach. Die Bekenntnisbildung verstummte rasch, und die evangelische Theologie sprach sich seither in Dogmatiken (—»Dogmatik) über ihren Lehrgehalt aus. Damit war die Eigenart reformatorischer „Behandlung" von Dogmen zum Stillstand gekommen, und die Bekenntnisse der Reformation repräsentierten den einen und selben Lehrkonsensus - auch unter verwandelten kirchenpolitischen wie theologischen Situationen — Jahrhunderte lang. Wenn man heute sagt, das Dogma sei seinem Wesen nach Bekenntnis, so kann das sehr Verschiedenes sagen. G. Kretschmar hat versucht, diese These am altkirchlichen Dogma zu erhärten. Aber ob die altkirchlichen Konzilsbeschlüsse, die die Reformation als Symbola rezipierte, wirklich den gleichen Charakter tragen wie etwa das —»Augsburger Bekenntnis, ist fraglich. Man kann diese Frage aber wohl nur nebenbei stellen, denn wir haben zu bedenken, daß bei diesem Bekenntnis, auf das man das Dogma bezieht, ja gar nichts Inhaltliches gemeint ist. Man meint damit das Sich-Bekennen-Zu 3 als Funktionalität und Vorgehen (vgl. bes. Tillich 41 f). Und da kann man dann einerseits sagen: Dogma ist katholisch, Bekenntnis ist evangelisch (s. Brunner 62.66; vgl. dazu Ebeling 167 f). Oder man sagt wie Eiert, Dogma sei grundsätzlich Bekenntnis als „abgeleitete Verbindlichkeit" (44f). Wie immer man das Verhältnis von Bekenntnis und Dogma auch bestimmen mag, man handelt mit dieser Fragestellung von den Formalien der Funktionen des Dogmas (s. Huber 227 ff; dagegen Rahner/Lehmann: MySal 1,658). Diese Fragestellung empfiehlt sich einer geistigen Welt, die nicht mehr in Inhalten sondern in Methoden bzw. nicht mehr aus dem Sein einer „Sache" heraus nach derselben fragt sondern aus ihrer Funktion. So leuchtet ein, daß die Fragestellung von Bekenntnis und Dogma auf katholischer Seite häufig abgelehnt wird (Rahner/Lehmann: MySal 1,672 f). Auf der katholischen Seite bestehen gegenüber dem funktionalen Methoden-Denken immer wieder Vorbehalte 4 , die gerade bei den Dogmen die innere Einheit des Besonderen als des Inhaltes und seines Ausdrucks klarer im Blick behält, als das im evangelischen Bereich der Fall ist. 4. Der christliche Glaube und die
Dogmen
Die Dogmen (zum Unterschied von dem Dogma und den Dogmen s. Torrance 344 f) haben in den christlichen Konfessionen einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. Die griechisch-orthodoxe Kirche (—»Orthodoxe Kirchen) geht wohl am weitesten in der Überzeugung, daß die orthodoxen Dogmen geoffenbarte Wahrheit sind und daß sie stets unverändert und unwiderlegbar in Kraft waren. Das allgemeine Bewußtsein des Kirchenvolkes trägt diese Heilswahrheiten. Die Kirche als Ganze ist dabei unfehlbar: Die Bibel, die sieben ökumenischen Synoden und das allgemeine Bewußtsein des Kirchenvolkes garantieren die absolute Geltung der Dogmen (Pratsiotis 1 5 - 2 3 ) . Demgegenüber sind die Methodisten (—»Methodismus) wohl am weitesten zur anderen Seite gegangen, daß nämlich die Dogmen nichts besagen. Die Bibel enthält alles, was der Glaube zu wissen bedarf. Zwar gibt es eine gewisse Lehrnorm, nämlich die XXV Artikel John —»Wesleys, seine Predigten und Kommentare.
Dogma II
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Aber auch diese Lehrnorm besagt nichts gegenüber dem Charisma der persönlichen Überzeugung, die in der Bibel gegründet ist (Sommer 84—100). So verschieden auch die Wertungen der Dogmen als verbindliche Träger der Grundüberzeugungen christlichen Glaubens und so verschieden auch die Begründungen der Verbindlichkeit der Dogmen in den einzelnen Konfessionen sind, so sind dennoch die Grundzusammenhänge nicht kontrovers. Das heißt, daß die Dogmen stets im Verhältnis zur Grundlage der Schrift ihr Kriterium haben. Wieweit dabei der lebendige Glaube des Christen oder der christlichen Gemeinde vermittelnd oder wirkungsgeschichtlich bewußt eingeordnet wird, kann sehr verschieden gesehen werden. Aber gleichwohl bilden Bibel und daraus erwachsener Glaube das Grundkriterium der Dogmen. Daneben steht dann die Kirche bzw. die Glaubensgemeinschaft, die die so begründeten Uberzeugungen als Dogmen rezipiert, für sich als verbindlich erklärt und damit für ihren Wirkungsbereich autorisiert (Torrance 343). Die Kirchen sind dabei auf die theologische Forschung insofern angewiesen, als die Dogmen immer erneut neu interpretiert werden müssen. Solange die Bekenntnisbildung für den evangelischen Bereich als abgeschlossen gilt, ist diese Interpretation die Hauptaufgabe der theologischen Forschung, wie dies die Geschichte z. B. der Christologie in den letzten drei Jahrhunderten auch erweist. Die Dogmen also sind kirchlich rezipierte und autorisierte Urteile über die christlichen Glaubensinhalte, die in einem Denkvorgang immer neu gewonnen werden müssen, der den Bereich biblischer Glaubensgründung mit dem Welt- und Selbst-Verständnis, in dem Glaube sich heute ausspricht, so zu vermitteln gestattet, daß Menschen des ausgehenden 20. Jh. an diesen Inhalten zu erfassen vermögen: mea res agitur. An den Dogmen gewinnt der christliche Glaube die Möglichkeit, Zeugnis-ablegender-Glaube für seine Welt zu werden, sich selbst im Wandel der religiösen und geistigen Herausforderungen seiner Zeit in der Ständigkeit des consensus patrum erkennen zu können und sich so seinen apologetischen Aufgaben gegenüber anderen Religionen wie gegenüber Irrlehren stellen zu können. 5. Gibt es in den außerchristlichen
Religionen
Dogmen?
Diese Frage ist zu verneinen, weil es in allen außerchristlichen Religionen die religiöse Unmittelbarkeit von Gott und Mensch gibt, die das Christentum nicht kennt. Joachim —>Wach meinte, daß die Shahäda z.B. für den —»Islam ein Dogma sei (42). Die Shahäda als Grundbekenntnis des Islam („Es gibt keinen Gott außer Allah; Muhammad ist der Gesandte Gottes") stellt jedoch kein Dogma in dem christlichen Sinne- als Reflexion des Glaubens auf seinen geschichtlich gegebenen Inhalt im Verhältnis zu einer Gegenwart- dar 5 . Die Shahäda wiederholt vielmehr nur die Wahrheit als 'islam selbst: unverändert und unveränderlich. Die Uberzeugungen des Muslim verhalten sich zum Qur'an als ihrer Quelle, in der aber auch das klare Wasser der Gotteswahrheit selbst (!) sprudelt. Die religiöse Unmittelbarkeit Allahs im Qur'an schafft eine besondere Sicht auf die Uberzeugungen des Muslim (Jeffner 19). Der Unterschied also liegt in der Vermittlung der Gotteswahrheit durch geschichtliche Gegebenheiten in der christlichen Religion, die aus dem christlichen Glauben einen denkenden Glauben macht. Diesen Vermittlungen vermag der christliche Glaube sich nicht zu entziehen. Andersartig macht sich dieser Sachverhalt z. B. gegenüber dem —»Buddhismus geltend. Der frühe Theraväda-Buddhismus — um dabei zu bleiben — hat in der „Kette der bedingten Entstehung" oder in den „vier Wahrheiten" oder in der anatta-Lehre durchaus reflektierte Grundüberzeugungen, die man dem christlichen Dogma vergleichen könnte. Jedoch der Stellenwert, den diese Überzeugungen im Buddhismus haben, ist ein völlig anderer als der der Dogmen im Christentum. Die Lehre" ist für den Buddhismus unwesentlich. Man verläßt sie rasch, um zur Durchführung des „Weges" zu schreiten. Es kommt nicht auf diese Lehren an, welche die Erfahrungen Sidharta Gotamos wiedergeben. Es kommt darauf an, den „Weg", den er ging, methodisch zu verfolgen und so der bodhi nahezukommen. Die Lehre also hat hier einen völlig eigenartigen Ort gegenüber dem Christentum. Die Erfahrun-
40
Dogma II
gen, die Gotamo in Worte faßt, sind den christlichen Dogmen daher in keiner Weise vergleichbar. M a n könnte an jeder Religion zeigen, daß die Eigenart des christlichen Dogmas in ihnen allen nicht anzutreffen ist (vgl. Beth 1962; Gloege 2 2 0 f). Dies liegt zumal in der Eigenart des Grundereignisses, das im Christentum als die Verborgenheit göttlicher Präsenz in einem israelitischen Manne da war. Diese Eigenart des Grundereignisses macht — abgesehen von anderen Impulsen — aus dem christlichen Glauben einen denkenden Glauben, der sich in Dogmen definiert. Das liegt aber auch in der Eigenart christlichen Glaubens, sich niemals vom individuellen Überzeugtsein aus hinreichend begreifen zu können, sondern nur von der Kirche aus den eigenen Glauben bestimmen zu können. Diese wesentliche Komponente des christlichen Dogmas fehlt in den außerchristlichen Religionen ebenfalls. Diese beiden Momente machen die Grundunterschiede zwischen dem christlichen Dogma und der Lehre in anderen Religionen aus.
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Anmerkungen In dieser Hinsicht können die Dogmen daraufhin angesehen werden, ob die Wahrheit des einzelnen Dogmas heilsnotwendig sei oder nicht, ob sie mehr oder weniger fundamental für den christlichen Glauben sind. Zu diesen Distinktionen vgl. Ratschow 1 4 1 - 1 5 1 ; Rahner/Lehmann: MySal 1,660 f. Die reformierten „Bekenntnisse" tragen kirchenordnungsmäßigen Charakter, bilden also kein eigentliches Äquivalent zu den lutherischen Bekenntnissen. Der „doxologische und proleptische" Charakter des Dogmas, wie Pannenberg ihn zeigt, hat diese „Struktur" (vgl. 176f). Bei Karl Rahner und seiner Schule ist das freilich anders, weil hier das Dogma ganz aus seiner Funktion entfaltet wird. Die islamische „Dogmatik" (katäm) wird als spekulative (Allah betreffend) und als geoffenbarte (die Propheten betreffend) Wissenschaft getrieben. Die spekulative Wissenschaft arbeitet „das Dasein des einen Notwendigen" heraus. Dies ist auch bei den rationalistischen Mutakallimun der Fall. Es ist deutlich, wie weit dies vom christlichen Dogma entfernt ist. Carl Heinz Ratschow
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Dogmatik I
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Carl Heinz Ratschow/Ulrich Wickert Dogmatik I. Enzyklopädischer Uberblick und Dogmatik im deutschsprachigen Raum II. Dogmatik in den nordischen Ländern III. Dogmatik in Großbritannien IV. Dogmatik in Nordamerika
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I. Enzyklopädischer Uberblick und Dogmatik im deutschsprachigen Raum 1. Dogmatik als Begriff 2. Darstellungsform und Methode 3. Der Gegenstand der Dogmatik 4. Funktionswandel der Dogmatik? 5. Zum gegenwärtigen Erscheinungsbild und zur Theorie der Dogmatik (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 70)
1. Dogmatik als Begriff 1.1. Die Bildung der Begriffe „dogmatisch" und „dogmatische Theologie", die die Prägung des Terminus „Dogmatik" vorbereitet haben, ist historisch noch nicht hinreichend geklärt. G. —»Calixt hat der theologia dogmatica die Prüfung von Glaubenssätzen zugeschrieben und sie so von der theologia moralis unterschieden1. Zugleich hat er aber auch die —»Ethik aus der Philosophie in die Theologie hineingenommen und ihr hier als theologia moralis ihre Aufgabe zugewiesen2. Diese Begriffsbildung dient offensichtlich enzyklopädischen Absichten und ist wissenschaftssystematisch gedacht (—»Enzyklopädie). Die Erstrekkung der Moral auf die Allgemeinheit des sittlichen Bewußtseins und überlieferter ethischer Maßstäbe wird als Anspruch verstanden, den die Theologie wahrzunehmen hat; zu diesem Zwecke muß sie allerdings eine innere Differenzierung vornehmen und gelangt so zu einem Aufgabengebiet, eben der Dogmatik, das die neu gewonnenen Fragestellungen voneinander abgrenzt. Das gleiche gilt für die Entgegensetzung von dogmatica und histórica bei Heinrich Alting (Theologia Histórica, Sive Systematis Historici Loci Quatuor [1635], Amstelodami 1664,3 f)> die anzeigt, wie die historische Fragestellung als integraler Bestandteil der Theo-
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Dogmatik I
logie begriffen wird, ohne daß die historische Perspektive die Theologie beherrschen darf 3 . Diese wissenschaftssystematische Lösung ist, auch in der Unterscheidung von „systematischer" und „historischer" Theologie, bis zu F. D. E. —»Schleiermacher beibehalten worden 4 . Im Buchtitel taucht die Bezeichnung „dogmatische Theologie" bei Lucas Friedrich Reinhart auf: Synopsis Theologiae Christianae Dogmaticae (1659. Emendatius edita cum Auctario, Noribergae 1661). Die Uberschrift ist allerdings nicht programmatisch gemeint, denn Reinhart erklärt weder seine Verwendung des Wortes „dogmaticus", noch nennt er es bei seiner Aufstellung der gradus Theologiae: Theologia ecclesiastica (didáctica, positiva), exegetica, histórica, académica sive polémica (1,29 f). Diese Gliederung weist indessen auf eine andere Definition der—»Theologie zurück. Der Begriff der Dogmatik ist jedoch nicht hinreichend aus überlieferten Bestimmungen der Theologie wie „positiver" bzw. „kirchlicher" Theologie oder theologia theoretica (im Unterschied zu scientia practica) zu entwickeln, denn „Dogmatik" impliziert eine (noch näher zu bestimmende) Beziehung zum Dogma. Das bringt der Jesuit Dionysius Petavius (Pétau) in seinem Titel De Theologicis Dogmatibus... (Parisiis 1644-1650) zum Ausdruck, der wohl als eine Ubergangsform zu Reinhart und Joachim Hildebrand, Theologia Dogmatica (Helmestadii 1692) zu betrachten ist. Die Begriffsbildung hat allem Anschein nach das kontroverstheologische Problem überdeckt, das im Bezug auf das Dogma enthalten ist. 1.2. Dogmatik als Wissenschaft vom —>Dogma. Dieses Problem wird bis heute durch Definitionen der Dogmatik als Wissenschaft vom Dogma nicht gelöst, sondern nur weitergetragen. Nach katholischer Auffassung hat die Dogmatik das von der Kirche als gültig festgestellte Dogma auszulegen. In diesem Sinne ist Dogmatik „die Wissenschaft vom kirchlichen Dogma, also die nach methodischen, der jeweiligen Sache gemäßen Prinzipien unternommene, den Gegenstand möglichst allseitig erfassende (systematische) Reflexion auf das Dogma der Kirche und damit auf alles, was zum Verständnis des Dogmas methodisch und inhaltlich notwendig oder förderlich ist" 5 . Eine solche Umschreibung kann von der evangelischen Theologie nicht ohne wesentliche Einschränkung übernommen werden, die die kirchliche Autorisierung des Dogmas betrifft und nach evangelischem Verständnis gerade eine Erweiterung der Frage nach Gottes Wahrheit und ihrer Bezeugung bedeutet. Definitionen evangelischer Dogmatik, die sich den katholischen annähern („Dogmatik als Wissenschaft vom Dogma" 6 ), müssen sich an dieser Frage messen lassen. Sie ist am deutlichsten in der Erörterung des Gegenstandes der Dogmatik (s. u. Abschn. 3) hervorgetreten. Eine Teillösung ist in der evangelischen Theologie von Anfang an in der Prüfung überlieferter Glaubenssätze an der Auslegung der Bibel (—»Bibel IV. 3 u. 4) und in der Entwicklung theologischer Grundbegriffe aus der Schriftexegese gesucht worden. In diesen Prozeß wurde die Rezeption der Aussagen der altkirchlichen Konzilien einbezogen, besonders des trinitarischen und christologischen Dogmas. Weitere Dogmen der römisch-katholischen Kirche, vor allem die nach der Kirchenspaltung neu formulierten, blieben ausgegrenzt. Dadurch entstand der Eindruck, die evangelische Dogmatik sei an einen abgeschlossenen Bestand von Dogmen gewiesen, zumal die reformatorischen Kirchen ihre Neubildungen verbindlicher Glaubenssätze (z. B. die Lehre von der -»Rechtfertigung und die Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium) nicht als Dogma bezeichnet haben. Auf der anderen Seite ist es wohl nicht zufällig, daß zugleich mit dem Aufkommen des Begriffes „dogmatisch" bei H . Atting Ansätze zur —»Dogmengeschichtsschreibung zu erkennen sind.
Die von der evangelischen Dogmatik in ihrer Frage nach der Wahrheit erörterte Beziehung von Dogma, Kirche und Geschichte ist am deutlichsten von Schleiermacher als ein Zusammenhang begriffen worden. Allerdings ersetzt er dabei den Begriff der Dogmatik durch den der „Glaubenslehre": Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Berlin 1821/22, krit. NA, 3 Bde., 1980/81; J 1830/31, krit. NA, 2 Bde., 1960). „Zusammenhang" ist hier in einem spezifischen Sinne, nämlich als systematische Organisation, gemeint. Dieser Gedanke wird aber in der Folgezeit nicht durch den Begriff der Dogmatik ausgedrückt, sondern fuhrt zum Prinzip einer Systematischen Theologie (s. u. Abschn. 1.3 u. 4.1). Eine solche wissenschaftliche Form der Darstellung christlicher Glaubenswahrheit liegt dem Verständnis der Dogmatik vor Schleierma-
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eher noch fern und scheint später des Begriffs der Dogmatik nicht unbedingt zu bedürfen. Gleichwohl ist auch nach Schleiermacher die Bezeichnung „Dogmatik" weiter in Gebrauch geblieben, doch ohne programmatische Bedeutung. M. —»Kahler und K. —»Barth haben die Dogmatik zur kirchlichen Wissenschaft erklärt; sie wird nun die Alternative zur Glaubenslehre und anderen Antworten auf die Frage nach theologischer Verbindlichkeit, die sich nicht im Räume der Kirche bewegen. Deshalb muß sich diese Dogmatik auf das Dogma beziehen bzw. ein evangelisches Verständnis des Dogmas gewinnen 7 . 1.3. Das Bedeutungsfeld von „Dogmatik". Blicken wir von hieraus auf die Einführung der Bezeichnung „Dogmatik" zurück, dann fällt auf, daß dieses Wort nur beiläufig Eingang in die Theologie gefunden hat. Gebräuchlich wurde es vor allem durch die Verbreitung des Compendium Institutionum Theologiae Dogmaticae Brevioribus Observationibus (Lipsiae 1744), das Johann Georg Walch aus den Institutiones Theologiae Dogmaticae Variis Observationibus Illustratae (Lipsiae 1724) seines Schwiegervaters J. F. —»Buddeus in dessen Auftrag zusammengezogen hatte. Mit „Dogmatik" war also anfangs ein Handbuch theologischer Lehre gemeint. Dogmatik hat dann die weiter gefaßte Bedeutung einer zusammenfassenden und (mit mehr oder weniger „systematischem" Anspruch) zusammenhängenden Darstellung theologisch verbindlicher Aussagen erhalten. In diesem Sinne hat es D o g m a t i k längst vor der Bildung dieses Begriffs gegeben, u n d auch später sind noch a n d e r e Bezeichnungen neben ihm in G e b r a u c h : v o r allem Institutio [Unterricht] bzw. Institutiones, Systema [ „ Z u s a m m e n s t e l l u n g " unter leitenden u n d o r d n e n d e n Gesichtspunkten], später abgelöst durch System (im Sinne einer Ableitung aller theologischen Aussagen aus einem konstitutiven Prinzip 8 ), und doctrina christiana [„christliche Lehre"]. V o n —»Melanchthon bis zum 17. Jh. h a t m a n vorzugsweise von Loci Communes bzw. Loci Theologici gesprochen [ „ G r u n d b e g r i f f e " , die in theologischen Aussagen zu entfalten sind'']. Die vorher gebräuchlichen Bezeichnungen Sententiae (thesenartige Sätze aus Bibel u n d kirchl. Tradition,—»Petrus Lombardus,—»Scholastik) u n d Summa Theologica charakterisieren besonders deutlich die Entstehung der D o g m a t i k aus d e m theologischen Lehrunterricht; die Summa u m f a ß t die Argumente, die sich im theologischen Diskurs b e w ä h r e n (—»Dialogik II, —»Disputatio).
In der elementaren Bedeutung der begründeten Feststellung verbindlicher Aussagen ist die Dogmatik gegen den Dogmatismus und den Historismus (—»Geschichtsphilosophie) abgegrenzt. Dogmatismus, zunächst eine Bezeichnung für die traditionelle Schulphilosophie und Metaphysik, wurde durch I. —»Kants Kritik zum Inbegriff der unkritischen Rezeption von Denküberlieferungen 10 . Die theologische Dogmatik wird nicht selten dem Vorwurf des Dogmatismus ausgesetzt, um sie einer philosophischen Wahrheitsprüfung zu unterziehen; hier steht das Recht einer eigenständigen theologischen Begründung von Aussagen auf dem Spiel. Der Historismus übt Kritik durch Rückführung aller Sachverhalte auf historische Bedingungen. Er sucht auch Glaubenssätze ausschließlich aus solchen Bedingungen zu erklären und relativiert dadurch jeden dogmatischen Wahrheitsanspruch 11 . Das Ergebnis wäre die Umwandlung der Dogmatik in eine historische Disziplin, die nur noch geschichtlich Tatsächliches festzustellen vermag. Von der Auseinandersetzung mit diesem Problem, das durch den —»Positivismus radikalisiert worden ist, ist nicht nur die Theologie betroffen. Ebenso hat sich die Rechtswissenschaft bemüht, eine Rechtsdogmatik gegenüber rechtshistorischen und rechtssoziologischen Fragestellungen auszubilden 12 . Darüber hinaus ist die „dogmatische Denkform" zu einem Thema der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung geworden 1 3 . Dieser wissenschaftssystematische Zusammenhang erklärt auch, weshalb die Bezeichnung „Dogmatik" für die Lehrdisziplin in der Wissenschaftstradition des deutschsprachigen Raumes beheimatet ist. 2. Darstellungsform
und
Methode
Unbeschadet der wechselnden Bezeichnungen und längst vor dem Aufkommen des Begriffs „Dogmatik" entstand ein Aufriß verbindlicher theologischer Aussagen, der trotz mancher äußeren und inneren Wandlung im wesentlichen beibehalten worden ist. Auch Gegenentwürfe (hier wäre z. B. wieder Schleiermacher zu nennen; s. auch u. Abschn. 3.1) blei-
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ben kritisch an ihm ausgerichtet. Dieser Aufriß - im Unterschied zur Disposition des Stoffes — folgte bereits in Augustins Ettchiridiott der trinitarischen Struktur (—»Trinität) der altkirchlichen —»Glaubensbekenntnisse. Daran läßt sich ersehen, wie sehr die Dogmatik von Anfang an im —»Gottesdienst verwurzelt war und auch immer wieder auf ihn bezogen blieb. Die spätere Verflechtung der Dogmatik mit der theologischen Ausbildung, in der sie dem Bibelstudium an die Seite trat, und mit dem Lehrgespräch hat zwar die äußere Darstellungsart geändert, nicht aber die Auffassung der Dogmatik als Rede vom dreieinigen Gott. Der trinitarische Aufriß versucht, die Einheit Gottes in der Erstreckung seines Werkes in —»Schöpfung,—»Versöhnung und Erlösung (Vollendung; -»Heil und Erlösung) zur Darstellung zu bringen. Durch diese innere Darstellungsform präsentiert die Dogmatik eine grundlegende Aussage christlichen Glaubens: die Endgültigkeit und Ganzheit der Offenbarung Gottes, deren Weg in der Geschichte unabgeschlossen ist. Diese Konzeption erlaubt mannigfache Erweiterungen und Ausführungen 1 4 . —»Petrus Lombardus läßt in den vier Büchern seiner Sentenzen, die den dogmatischen Unterricht lange Zeit prägten, der Trinitätslehre die Lehre von den Kreaturen, die Christologie und Soteriologie, die Sakramentenlehre und Eschatologie folgen, ohne damit eine systematische Darstellungsform anzustreben. —»Thomas von Aquino erreicht die innere Geschlossenheit der Summa theologica, indem er den Stoff nach der Struktur des Gegenstandes der Theologie aufgliedert: Theo-logie ist Reden von Gott; alles, was außer Gott selbst zum Thema der Dogmatik wird, wird in seiner Zuordnung zu Gott erörtert (sub ratione Dei). In diesem Sinne wird die Trinitätslehre der Gotteslehre nachgestellt, um dann von Gott als Ursache der Schöpfung zu sprechen. Der zweite Teil befaßt sich mit dem Menschen als handelndem Subjekt und seiner Bewegung zu Gott hin. Im dritten Teil ist von Christus und seinem Werk sowie von den Sakramenten die Rede. J. —»Calvins Institutio Christianae Religionis in der Fassung von 1559 bringt Gotteslehre und Christologie unter der Fragestellung der Erkenntnis von Geschöpflichkeit und Heil, dann die Gnadenlehre, Ekklesiologic und Sakramentenlehre. Ph. -»Melanchthon entnimmt in den Loci Communes Kerum Theologicarum 1521 wie in den Loci Praecipui Theologici 1559 die theologischen Grundbegriffe, die er seiner Anordnung zugrunde legt, der durch den Lombarden bestimmten Lehrtradition und gewichtet sie anhand der Bibel, besonders des Römerbriefs, neu. Auch dabei besteht noch nicht das Bedürfnis, den Zusammenhang der Dogmatik in einer streng gegliederten Ordnung darzulegen. Ihre Einheit gewinnt die Dogmatik hier weder durch einen schrittweisen Aufbau ihrer Aussagen noch durch ein einheitliches Gliederungsprinzip. Sie kann die innere Verknüpfung ihrer Themen voraussetzen; offensichtlich muß die Dogmatik keinen Beziehungszusammenhang schaffen, der durch das christliche Reden von Gott nicht schon vorgegeben wäre.
Dieses Bild scheint sich im nachreformatorischen Zeitalter (—»Orthodoxie, Altlutherische, —»Orthodoxie, Altreformierte) zu einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang hin zu verschieben. Nach der Erörterung von Vor- und Eingangsfragen und der grundlegenden Lehre von Gott wird das gesamte Glaubenswissen entfaltet: beginnend mit der Schöpfung über den Fall des Menschen zur Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, weiterführend zum Werk Christi und seiner Aufnahme in der Kirche bis zum Ende des individuellen Lebens und zum Ende aller Dinge. Die Gliederung der Dogmatik erscheint als dem Gesamtbestand des biblischen Stoffes abgelesen. „Dieses Schema ermöglichte, mit den wesentlichen heilsgeschichtlichen Daten die Grunderfahrungen und Grundprobleme des Menschseins in der den Menschen angehenden Wirklichkeit zur Sprache zu bringen: sein Woher und Wohin in Uberkreuzung mit Unheil und Heil. Es wurde schließlich fundiert durch Vorbau einer Gotteslehre, in der oder zusätzlich zu der die theologische Erkenntnislehre in Begegnung mit der Philosophie sich entwickelte" 15 . Eine solche Aufgliederung benutzt noch Julius August Ludwig Wegscheider in seinen Institutiones Theologiae Christianae Dogmaticae (Halae 1815 s 1844), die zur Schuldogmatik des —»Rationalismus geworden sind. Von einer heilsgeschichtlichen Konzeption darf hier jedoch nur sehr eingeschränkt gesprochen werden. Ansätze zu einer Geschichtstheorie zeigt die —»Föderaltheologie, die jedoch die Aufgabe der Dogmatik in eine Bibeltheologie zurücknimmt. Erst in jüngster Zeit ist (unter Nachwirkung der romantischen Geschichtstheologie in der „Katholischen —»Tübinger Schule" des 19. Jh.) ein heilsgeschichtlicher Entwurf der Dogmatik vorgelegt worden (Mysterium Salutis)\ er löst die neuscholastische Schuldogmatik ab 1 6 , die die einzelnen „Traktate" ebenfalls in lockerer heilsgeschichtlicher Anordnung dargeboten hatte.
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Der Eindruck einer durch die heilsgeschichtliche Gliederung gewährleisteten Konsistenz der Dogmatik trügt. Er ist wohl erst durch die Kompendien des 19. Jh. entstanden. Sie zeichnen das Bild einer in ihrem Stoff und Aufbau weitgehend gleichbleibenden, straff organisierten Lehreinheit, deren Variation bei einzelnen Dogmatikern durch zeitgebundene Zusatzthemen und durch konfessionelle Sonderlehren veranlaßt ist. Diese Kompendien spiegeln zugleich das spezifisch konfessionelle Bewußtsein ihrer Zeit wider: auf lutherischer Seite [Karl August von Hase,] Hutterus redivivus oder Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (Leipzig 1828 1 2 1883, N D 1888). - Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (Frankfurt a. M. 1843 7 1893, NA, hg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1979).-Christoph Ernst Luthardt, Kompendium der Dogmatik (Leipzig 1865,11. Aufl. hg. v. F. J. Winter, 1914, 13. Aufl. hg. v. Robert Jelke, 1933); ihre reformierten Gegenstücke: Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformirten Kirche (2 Bde., Zürich 1 8 4 4 - 4 7 ) . - Heinrich Heppe,D/'e Dogmatik der evangelisch-reformirten Kirche (Elberfeld 1861, NA, hg. v. Ernst Bizer, Neukirchen 1935 2 1958). In ihre heilsgeschichtlich geordnete Präsentation der nachreformatorischen Quellen haben Hase und stärker noch Luthardt auch Hauptaussagen der zeitgenössischen Dogmatik eingearbeitet und dadurch den Eindruck einer weitergehenden Kontinuität erweckt.
Eine genauere Analyse der evangelischen Dogmatik zwischen dem 16. und dem 19. Jh. würde indessen zeigen, daß wesentliche Unterschiede in der Darstellungsart bestehen und daß die Entwicklung auch nicht einlinig verlaufen ist 17 . Der wichtigste Einschnitt ist in dem Übergang von wechselnden Darstellungsarten zu einer dogmatischen Methode zu sehen. Eine im engeren Sinne methodische Aufgabe ist in der Dogmatik erst relativ spät wahrgenommen worden. Die sog. scholastische Methode 1 8 beschränkte sich darauf, in der Sammlung und Sichtung von Lehrüberlieferungen, verbunden mit biblischen Belegen, theologisch verbindliche Aussagen festzustellen, zu lehren und zu tradieren. Sie wollte aber keine dogmatischen Aussagen von bestimmten Voraussetzungen aus und mit einem bestimmten Ziel gewinnen. Ähnlich verhält es sich auch mit der sog. Local-Methode, die zu einer synthetischen Darstellungsart erweitert werden konnte, um eine verhältnismäßig große Geschlossenheit in der Disposition des thematisch geordneten Stoffes zu erzielen. Eine nachhaltige Veränderung bedeutete erst die Einführung ¿er analytischen Methode durch den reformierten Theologen und Philosophen Bartholomäus Keckermann (Systema SS. Theologiae ..., Hanoviae 1602). In Verbindung damit hat Keckermann auch erstmals von „System" gesprochen (z. B. außerdem Systema Logicae..., Hanoviae 3 1606; Systema Systematum, Hanoviae 1613) 19 . Nach mehreren Anläufen ist diese Methode der lutherischen Dogmatik durch Balthasar Meisner (Philosophia Sobria, Wittebergae, III 1623) und Georg Calixt (Epitome Theologiae [1619], Brunswigae 1647) vermittelt worden. Die analytische Methode bestimmt die Dogmatik alsscientia practica mit dem Ziel (finis theologiae), den Menschen zum Heil zu führen 20 . Dieses Verständnis der Dogmatik ist ganz auf die Tätigkeit des Theologen ausgerichtet. Was er in seinem Amt und für die ihm anvertrauten Menschen zu tun hat, ist nicht von seiner Person zu lösen. Damit wird der Dogmatiker zur inneren Mitte der Dogmatik. Er ist durch seinen Auftrag in der Kirche und gegenüber der Gemeinde in besonderer Weise vor Gott gestellt, muß sich vor ihm verantworten und ist sich deshalb auch selber argumentative Rechenschaft schuldig. Doch darüber hinaus muß er die innere Geschlossenheit der Theologie, die er zu vertreten hat, in seiner Person erreichen. „Methode" ist jetzt nicht mehr nur eine Darstellungsart, sondern das konstruktive Erfassen des inneren Zusammenhanges der Dogmatik: ein Gestaltungsprinzip. Es war dann nur folgerichtig, daß die Einleitungs- und Vorfragen der Dogmatik („Prolegomena") ein neues Gewicht erhielten. Sie müssen von nun an darlegen, wie verbindliche theologische Aussagen überhaupt begründet werden können. Der Methodenbegriff der idealistischen Wissenschaftslehre, der seit der Wende zum 19. Jh. auch die evangelische Dogmatik zunehmend mehr in seinen Bann zog, war nur ein weiterer Schritt in diese Richtung: In der Gewinnung von Aussagen ist deren Begründung zu leisten. Mit der Aufnahme der analytischen Methode war der Dogmatik die Frage gestellt, wie ihre innere Geschlossenheit beschaffen ist. Durch den idealistischen Methodenbegriff kam die Forderung hinzu, in der Gewinnung theologischer Aussagen deren Voraussetzungen zu begreifen und sie schöpferisch neu hervorzubringen. Damit ist aber der Standpunkt der älteren Dogmatik verlassen, die in ihrem
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ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verweis auf das Credo (sowohl im Sinne des „Ich glaube" wie des formulierten Glaubensbekenntnisses) solche Fragen und Probleme nicht verdrängte, sondern sich von ihnen entlastet sah. Jetzt muß statt dessen die Abgrenzung der Dogmatik geklärt werden: Welche Themen gehören zu ihr, mit welchen „Gegenständen" muß sie sich beschäftigen? Zuvor waren die Themen der Dogmatik mit der Entfaltung der trinitarischen Struktur aller Glaubensaussagen gegeben. Zusätzlich wurde zum Thema erhoben, was zwar innerhalb dieser Entfaltung zur Sprache zu bringen war, aber auch unabhängig davon erörtert werden mußte: die Heilige Schrift (-»Bibel) als Vermittlungsgestalt der —»Offenbarung Gottes und die —»Kirche als Gegenstand der Dogmatik wie als ihr Subjekt. Jetzt aber ist nach dem Gegenstand der Dogmatik grundlegend zu fragen, um die Dogmatik in der Beantwortung dieser Frage aufzubauen (s. zum Problem der Methode in der Dogmatik weiter Abschn. 3 . 2 ; 5.4). 3. Der Gegenstand
der
Dogmatik
3.1. Die Fragestellung. In der 1. Hälfte des 19. J h . ist aus verschiedenen Beweggründen die Frage nach dem Gegenstand der Dogmatik anders als vorher gestellt worden. Die Reformprogramme und Neugründungen von —»Universitäten nötigten auch die Theologie, ihren Platz im Hause der Wissenschaften neu zu verstehen 2 1 . Die einzelnen theologischen Arbeitsgebiete und ihre Arbeitsweisen waren in ihren Beziehungen und in ihren Abgrenzungen voneinander darzustellen. Diese enzyklopädische und methodologische Bemühung hat die Dogmatik, die auch früher schon Begriff und Aufgabe der Theologie erklärt hatte, zur systematischen Disziplin erweitert, die den Zusammenhang der Theologie als ganzer bedenken soll 2 2 . Hinzu kam, daß —»Pietismus und —»Aufklärung aus unterschiedlichen Motiven das dogmatische Denken grundsätzlich in Frage gestellt und versucht hatten, an seiner Tradition vorbei einen unmittelbaren Zugang zu den christlichen Heilswahrheiten in Bibel und Geschichte zu finden. Darum mußte nun das Problem der —»Geschichte als theologische Fragestellung in die Dogmatik aufgenommen werden. Auch die Bindung der Dogmatik an die Kirche war in konfessioneller Hinsicht ebenso wie im Blick auf Kultur und Gesellschaft zu verdeutlichen. Von jetzt an sieht sich der Dogmatiker zwischen Tradition und Gegenwart gestellt. Zu seinem Beruf gehört es, zwischen Zeitbewußtsein und persönlicher Gläubigkeit, zwischen der Welt der Wissenschaft und der Kirche, zwischen theoretischen Problemen und praktischen Zielsetzungen zu vermitteln. Dies alles stand unter dem schon erwähnten methodischen Anspruch, alles früher Gedachte auf seine Bedingungen hin zu prüfen und in der Reflexion seiner Grundlagen kritisch wiederzugewinnen. Für die neue und vielschichtige Fragestellung schienen die früheren Umschreibungen des Gegenstandes der Theologie nicht mehr zu genügen. —»Thomas von Aquino hatte gefragt, ob Gott Gegenstand (subiectum) der Theologie als Wissenschaft (scicntia) sein könne. Die Antwort darauf leitet er aus der Hinordnung aller Dinge zu Gott ab. Daraus ergibt sich die Erkenntnisaufgabe (obiectum) der Theologie: Sie muß alle Sachverhalte von Gott her verstehen lernen und richtet sich dabei auf Gott selbst. So ist bei aller Indirektheit, in der er sich durch seine Welt zu erkennen gibt, Gott der Gegenstand der Theologie 23 . M. —»Luther hatte dagegen auf das Handeln Gottes geblickt, durch das er und der Mensch erst erkennbar werden:... Theologiae proprium subiectum est homo peccati reus ac perditus et Deus iustificans ac salvator hominis peccatoris [Der charakteristische Gegenstand der Theologie ist der Mensch, der der Sünde schuldig und verworfen ist, und Gott, der den sündigen Menschen rechtfertigt und errettet] 24 . Durch die analytische Methode verschoben sich dann Begriff und Bestimmung des Gegenstandes: speciale objectum dicimus hominem, in quantum est perducendus ad salutem aeternam [den besonderen Gegenstand nennen wir den Menschen, sofern er zum ewigen Heil zu führen ist] 25 . Es ist für die veränderte geistige Lage in der Wende vom 18. zum 19. J h . bezeichnend, daß vom „Gegenstand" nicht mehr so unbefangen wie bisher geredet werden kann. In der Auseinandersetzung mit der Revision der Erkenntnistheorie (—»Erkenntnis/Erkenntnistheorie) seit—»Kant wird sogar fraglich, ob der Begriff des Gegenstandes noch zur Bestimmung der Dogmatik herangezogen werden darf. Derart problematisiert wird die Gegenstandsfrage zum Ausgangspunkt für das Selbstverständnis der Dogmatik nach Schleiermacher.
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3.2. Dogmatik als sprachlicher Ausdruck der Frömmigkeit und ihrer Reflexion. —•Schleiermacher hat in seiner Glaubenslehre als Gegenstand der Dogmatik (ohne diesen Begriff zu nennen) das christliche Selbstbewußtsein vorausgesetzt. Es ist die religiöse Verfassung des Menschen, die sich zur Sprache bringt und derart zu dem Phänomen wird, auf das sich die Glaubenslehre bezieht. Diesen Gegenstand kann Schleiermacher in den Aussagen über Gott, Welt und Mensch, die aus den Äußerungen des frommen Selbstbewußtseins gewonnen werden, vollständig abbilden 26 . Aufgabe der Dogmatik ist es, diese Aussagereihen bis zu dem ihnen zugrunde liegenden Selbstbewußtsein zurück zu verfolgen und sie von neuem zu entwickeln. Das Selbstbewußtsein soll also als Grund von Glaubensaussagen über Gott, Welt und Mensch erneut zu Worte kommen, und die Formulierung dieser Aussagen ist unter bestimmten logischen und methodischen Kriterien zu prüfen. In der Beschreibung dieses Vorgehens wird nun auch die Glaubenslehre selber zum Gegenstand. Durch die der Glaubenslehre vorangestellten „Lehnsätze" aus der Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik wird die Dogmatik gleichsam von außen zur Anschauung gebracht, ohne den Standpunkt des Glaubens verlassen zu müssen. Zugleich will Schleiermacher mit diesem Außenaspekt zeigen, daß die Dogmatik nicht am Nullpunkt anfangen muß, um das, wovon sie redet, zuallererst einzuführen. Die Glaubenslehre beginnt mit einer „Vorgabe": mit der Frömmigkeit, die als religiöse Gegebenheit unableitbar ist, nicht auf andere Gründe zurückzuführen und auch nicht in der Rekonstruktion ihres Ursprungs zu begründen, sondern als Positivum anzunehmen ist, ohne es etwa aus einer religionsphilosophischen Reflexion oder einer wissenssoziologischen Erklärung abzuleiten. Auf diese Vorgabe richtet sich die Frage nach der Konstitution der Dogmatik: das, worauf sich die Dogmatik aufbaut und wie sie aufgebaut ist, entspricht dem Gegenstand bzw. dem Gegenstandsfeld anderer Wissenschaften. Die Konstitution der Dogmatik muß kirchcngeschichtlich, ethisch und religionsphilosophisch erfaßt werden, um sie auch als empirische Voraussetzung der Dogmatik verständlich zu machen. Darum wird die Dogmatik erklärt und ihre Methode erläutert, bevor die „Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins" und die Darlegung dessen, was ihm zugrunde liegt, beschrieben werden kann. Diese Beschreibung folgt einem organisierenden Prinzip: Die Äußerungen des frommen Selbstbewußtseins werden in Aussagen gefaßt, die — unter allem Vorbehalt der philosophischen Unbegreiflichkeit dessen, was im Glauben zu sagen ist - als Aussagen über Gott, Mensch und Welt der Verständigung zwischen Menschen dienen 27 . Die kirchliche Lehrüberlieferung wird nur herangezogen, um zu demonstrieren, was der christliche Glaube als gegenwärtiges Bewußtsein essentiell auszusagen hat. Der Rückgriff auf die Uberlieferung soll zugleich den einzelnen Glaubenden davor bewahren, sein Selbstbewußtsein im Selbstgespräch gewinnen zu wollen. Der Glaube bedarf des Wissens um seine geschichtlichen und sozialen Beziehungen, in denen er steht, und er bewährt sich darum in seiner wissenschaftlichen Form, eben als Glaubens/e/?re, im Medium öffentlicher Verständigung. 3.3. Gegenstand als Problem. Die Bestimmungen der Dogmatik seit Schleiermacher sind in der Regel Reflexionen, die offenlassen bzw. geradezu offenhalten, inwiefern ein Gegenstand der Dogmatik überhaupt in den Blick kommen kann. Auf die Definitionen von Thema, Aufgabe und Verfahren der Dogmatik übt die Konstitutionsfrage, wie Schleiermacher sie aufgeworfen hat, einen bemerkenswerten Einfluß aus, wie auch die häufigen Auseinandersetzungen mit seiner Glaubenslehre zeigen. In ausgesprochener Nähe zu Schleiermacher redet etwa R. —»Rothe vom „evangelisch-christliche[n] fromme[n] Bewußtsein, welches die evangelische Dogmatik zu analysiren und begrifflich darzustellen hat" 2 8 . A. Schweizer nimmt einen bei Schleiermacher angedeuteten, aber nicht umfassend genug erörterten Gesichtspunkt auf, indem er die Kirche als die empirische Gegebenheit des Glaubens berücksichtigt, sofern Glaube immer auch Verständigung ist: „Die Glaubenslehre schöpft ihren Stoff aus dem von christlicher Erfahrung durchgebildeten frommen Selbstbewußtsein; denn zugegeben auch, daß die innerste Wurzel des Glaubens eine Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins sei, kann doch jeder nur sein eigenes unmittelbar kennen, dasjenige aller Andern aber welche mit ihm die Kirche bilden, nur mittelst der Äußerungen des Glaubens. Das ganze Gebiet der evangelisch christlichen Erfahrung in der Kirche muß daher angefragt und benutzt werden, soweit immer es die fromme Bestimmtheit des
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Selbstbewußtseins erregt und ihm als Ausdruck dient" 2 9 . Doch wie verhält sich die Gegebenheit der Glaubensäußerungen zu der Realität, auf die sich der Glaube gründet? F. H. R. Frank will mit dieser Frage die Grenzen des Christentums markieren und sie zugleich überschreiten: „Die christliche Wahrheit ist der Complex aller der Realitäten welche von dem Christen erkannt werden als auf die Herstellung einer Menschheit Gottes bezüglich, dieses Ziel als realisirtes inbegriffen, woraus denn zugleich sich entnehmen läßt, inwieweit die natürliche Wahrheit in das Gebiet der christlichen hineinfallt" 30 . R. —»Seeberg nennt auf dieser Linie die Aufgabe der Dogmatik den Aufweis des notwendigen Zusammenhanges aller „überlieferten religiösen Ideen, Ideale und Urteile mit dem neuen Willensverhältnis" des religiösen Subjektes und seinem „Urgrund"; so soll durch die geschichtlichen Vermittlungen hindurch der unvermittelte Charakter der Frömmigkeit aufgewiesen und der Inhalt der individuellen Frömmigkeit als allgemeingültig dargelegt werden 31 .
Andere Dogmatiker heben die Innenspannung des Glaubens hervor, um zu bedenken, wie Glaube entsteht. Für J . T . —»Beck ist die Lehre des Christentums „der substanzielle Glaube", „und nur der durch sie erzeugte Glaube hat seine Lehre substanziell in sich. Also die in den Menschen als geistiges Eigenthum eingegangene, dynamisch ihm immanent gewordene christliche Lehr-Substanz verstehen wir hier unter Glaube" 3 2 . Lehre ist hier Ausdruck dafür, daß der Glaube begründungsbedürftig und gleichwohl unableitbar ist. Dieser Grundsatz, der die wahre Subjektivität des Glaubens mit seiner Allgemeingültigkeit (und so mit seiner universalen Reichweite) zusammenzudenken erlaubt, verbindet die Theologen, die die Dogmatik am Gewißheitsproblem ausrichten (J. Chr. K. —»Hofmann; W . —»Hertmann; —»Erfahrung). Eine weitergehende Variante bildet die Auffassung des Christentums als äußerem Gegenstand der Dogmatik. M . —»Kahler unterscheidet hier: „Das Christentum ist der zunächst erkennbare Gegenstand der Theologie; es fordert eine besondre Wissenschaft, weil sein Verständnis durch seinen Besitz bedingt ist. Dasjenige aber im Christcntume, was ohne persönliches Christentum nicht erfaßt werden kann und was den eigentlichen Gegenstand der Theologie ausmacht, ist die religiöse Erkenntnis des in Christo offenbaren Gottes aus seinen Taten und Wirkungen" 3 3 . Der Verzicht auf diese Unterscheidung, die auch für den theologischen Geschichtsbegriff maßgebend ist, führt bei E. —»Troeltsch zu einem empirischen Verständnis des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte, bei G. —»'Wobbermin zu einer religionspsychologischen Grundlegung der Dogmatik — in beiden Fällen aber auch zu einer gesteigerten Reflexionsanforderung, um die unableitbare Substanz des Glaubens zu begründen. 3.4. „Phänomen" und „Sache" der Dogmatik. Kähler macht darauf aufmerksam, daß der Gegenstand der Dogmatik im strengen Sinne nur indirekt zugänglich ist. Aus der gleichen Einsicht folgert K. —»Barth, daß der Gegenstand der Dogmatik nur als problematisch begriffen werden kann. Er zieht diese Bilanz aus einigen von ihm als typisch empfundenen Definitionen der Dogmatik seit Schleiermacher: „Die Gemeinsamkeit aller dieser Bestimmungen dürfte bei allen ihren Verschiedenheiten in der Mehrbetonung des subjektiven oder objektiven Momentes nicht zu verkennen sein. Das Faktum, auf das sich das Dogma und die Dogmatik nach ihnen allen bezieht, ist irgendwie die christliche Sache selbst, die Beziehung von Gott und Mensch, von der die christliche Rede redet." Barth tritt statt dessen dafür ein, „eine scheinbar oder wirklich tiefere E b e n e " aufzusuchen „und als jenes Faktum nur die christliche Rede als solche, die christliche Rede als kirchliche Verkündigung namhaft" zu machen 3 4 . Barth stellt also der Sache des Glaubens (der Wirklichkeit, die den Glauben bewirkt) die christliche Rede in Gestalt der kirchlichen Verkündigung gegenüber. Auf sie verlagert sich nun die Konstitutionsfrage. Indem die Dogmatik die Verkündigung zu dem erklärt, wovon sie unmittelbar ausgeht (im Unterschied zu der ihr nur durch dieses Medium zugänglichen „Sache"), macht sie die Verkündigung zu ihrem Gegenstand. Dogmatik befragt die der Kirche aufgetragene Verkündigung auf das hin, was ihr zugrunde liegt, was ihr jedoch nicht als irgendein fernes Ziel, als eine Norm, als ein Ideal vorgegeben ist, sondern was in der Erfüllung der Predigtaufgabe als Geschehen der Offenbarung, als Kommen Gottes in unsere Welt in Erscheinung tritt. Die Predigt „zeigt" in unergründlicher Weise, im Aussprechen eines letzten Geheimnisses, Gott selber in seinem wirkenden Wort. Darum ist sie ein „Phänomen", und nur als ein solches Phänomen kann sie Gegenstand der Dogmatik sein, nicht aber etwa Gott, der in der Pre-
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digt zu Wort kommen will, und nicht der Glaube, der durch diese Predigt erst entsteht und von ihr immer wieder neu aufgerichtet wird. Wenn Barth diese Gegenstandsbestimmung zu einer intentionalen Erklärung erweitert, wird vollends deutlich, daß der Inhalt der Dogmatik sich jeder Beschreibung zu entziehen droht: „Der Sinn und die Möglichkeit, der Gegenstand der Dogmatik, ist nicht der christliche Glaube, sondern das Wort Gottes" 1 9 . Hier zeigt sich, daß das Bemühen, die Dogmatik aus dem Bann des religiösen Subjektivismus zu befreien, nur noch Anhaltspunkte für weitergehende Problematisierungen festzustellen vermag. Spätere Definitionsversuche Barths bestätigen diese Tendenz. Zu dieser Problematisierung sieht Barth sich genötigt, weil er allein von der Verkündigung aus denkt. Theologischer Aussagen bedarf es nicht um der Selbstverständigung des glaubenden Menschen und um seiner Verständigung mit anderen Glaubenden willen, sondern wegen des Mitteilungscharakters der kirchlichen Verkündigung. Diese Verkündigung sagt aber nicht etwas aus, sondern sie spricht dem Menschen etwas zu: das Ja Gottes für den Menschen, der in der Ferne von Gott lebt. Darum schärft Barth ein, daß die Dogmatik nicht selbstverständlich zum Glaubensvollzug gehört; sie ist im Gegenteil ein Wagnis, weil sie es mit dem von keinem Menschen selbst zu verantwortenden Unterfangen zu tun hat, von Gott zu reden. Barths Äußerungen lassen ein großes Erschrecken über Ausmaß und Unmöglichkeit dieser Aufgabe spüren. In diesem Erschrecken kann der Dogmatiker eigentlich nur darauf verweisen, was er tun soll und in der Erfüllung dieser Aufgabe tun will: „Dogmatik ist die kritische Frage nach dem Dogma, d. h. nach dem Worte Gottes in der kirchlichen Verkündigung oder konkret: nach der Ubereinstimmung der von Menschen vollzogenen und zu vollziehenden kirchlichen Verkündigung mit der in der Schrift bezeugten Offenbarung"'". Es ist die Aufgabe der Dogmatik, die christliche Rede mit der Sache des Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Aber mit einem solchen Definitionsversuch kann nur noch eine Absichtserklärung ausgesprochen werden, ohne daß eine Arbeitsanweisung oder gar eine Methode für die Gewinnung und die Begründung dogmatischer Aussagen angegeben werden könnte. Alle möglicher. Ausführungsbestimmungen sind in der Formulierung der Aufgabe selbst aufgehoben. Es gibt keinen Weg zur Beschreibung der Dogmatik; alle methodologischen Erwägungen erscheinen gleichgültig gegenüber dem unaufhörlichen Hinweis auf Gottes Selbsterschließung in seinem Wort. Barth zeigt, wie das Reden von Gott zum Leitfaden dogmatischen Denkens werden kann, freilich in einer charakteristischen Radikalität, die dieses Reden auf eine bestimmte Redeweise einschränkt. Seinen Gegensatz zu früheren Gegenstandsbestimmungen, besonders zu derjenigen Schleiermachers, bringt Barth dadurch zur Geltung, daß er die Grundlegung der Dogmatik an einem anderen Paradigma gewinnt: an der —»Verkündigung — im Unterschied etwa zum Zur-Sprache-Kommen des frommen Selbstbewußtseins und seiner Verständigung in öffentlicher Kommunikation. Barth hat mit diesem Beispiel Schule gemacht, vor allem durch die Konzentration der Dogmatik auf eine praktische Aufgabe, die durchaus auch die Möglichkeit zuläßt, die Stellung des Theologen zwischen Tradition und Gegenwart und seine hermeneutische Vermittlung stärker zu betonen, als es in Barths Absicht liegen konnte. Die Indirektheit des eigentlichen Gegenstandes der D o g m a t i k kehrt jedoch auch unabhängig von Barths Position in anderen Umschreibungen der D o g m a t i k als bestimmendes M o m e n t wieder. Die „ i m m e r erneute Prüfung des D o g m a s , d. h. des Sollgehalts der kirchlichen Verkündigung,
bildet die Aufgabe der theologischen
D o g m a t i k " , heißt es bei
—»Eiert 3 7 . Pannenberg m ö c h t e hinter die überlieferte Verkündigung von Jesus zurückgehen, u m historisch auf das „ C h r i s t u s g e s c h e h e n " selber zu treffen, das allein der M a ß s t a b alles christlichen Redens sein k a n n 3 8 . Auch hier wird der Gegenstand der D o g m a t i k in einem Hintergrund gesucht, gegenüber dem alle Erscheinungen, mit denen es die D o g m a t i k zu tun b e k o m m t , zu relativieren sind. 3.5.
Die
Gegenständlichkeit
der Dogmatik.
Die bisher geschilderte Gegenstandsfrage
h a t die D o g m a t i k augenscheinlich in eine aporetische Situation gebracht. W i r d die „ S a c h e " der D o g m a t i k v o n der „ S p r a c h e " abgehoben, die n u r als ein M e d i u m v o n Bedeutung sein soll, o d e r wird sie hinter der Überlieferung gesucht, auf welche die D o g m a t i k sich angewiesen sieht, so kann die Intention n u r darin bestehen, diese „ S a c h e " nicht zu verfehlen — und dann m u ß die dogmatische Arbeit diese Absicht zu erreichen suchen, o h n e sie wirklich jemals voll einlösen zu können. Die Folge ist ein oft unvermittelter Sprung aus der radikalen Befragung d e r Grundlagen in die „ I n h a l t e " der D o g m a t i k . Z u r Darlegung der Inhalte wird eine traditionsreiche Sprache in Anspruch g e n o m m e n , die d u r c h die überlieferten Grundbegriffe d e r Theologie und die d a v o n abgeleiteten Sätze gebildet ist: D o g m a t i k greift auf Aussagen über G o t t , Jesus Christus, Geist, über Schöpfung, V e r s ö h n u n g und Vollendung zurück und h a t diese neu zu entfalten. Dies h a t zur (meistens ungeklärten) Voraussetzung, d a ß
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eine Objektsprache existiert, in der die Sachverhalte des Glaubens direkt ausgesagt werden. Sie ist dem biblischen Reden, den gottesdienstlichen und Bekenntnistraditionen der Kirche und der theologischen Reflexionssprache entnommen. Die Selbstverständlichkeit der Entfaltung dieser objektsprachlichen Aussagen steht in einem oft methodisch ungeklärten Verhältnis zu den Anfangsfragen der Dogmatik. Dabei wird, trotz aller Vorbehalte, der Gegenstand der Dogmatik faktisch mit der theologischen Objektsprache gleichgesetzt. Ein Gegentypus ist der in jüngster Zeit mehr und mehr verbreitete Versuch, theologische Grundbegriffe heranzuziehen, um gegenwärtige Orientierungsfragen des christlichen Glaubens zur Sprache zu bringen. Das Kreuz Jesu Christi wird beispielsweise als Symbol einer Sinnkrise aufgefaßt, die durch den Übergang zur Auferstehung Jesu in eine sinnerfüllte Geschichte überführt wird. In solch unmittelbarer Ausdeutung sollen die Grundtatsachen des christlichen Glaubens plausibel werden, ohne daß gesagt wird, worauf Glauben beruht und worauf er sich richtet. Die Frage nach dem Gegenstand der Dogmatik trifft indessen auf die theologische Objektsprache, weil diese die Wahrheit des christlichen Glaubens auf spezifische Weise ausspricht: Sie sagt aus, was Menschen zu glauben mitgeteilt ist — und sie tut das, indem sie die Begriffe bildet und auslegt, die diese Mitteilung als Geschehnis und als Verheißung aufzunehmen erlauben. Die theologische Objektsprache geht davon aus, daß Gott sich selber mitgeteilt hat; indem die Dogmatik dessen eingedenk ist und auf die Verheißung in dieser Mitteilung blickt, ist sie ein diskursives Reden. Die christliche Dogmatik geht diskursiv vor, weil ihr durch die endgültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die Verheißung ihrer eschatologischen Vollkommenheit, Universalität und Evidenz (I Kor 15,28) ein Zeit-Raum vorgegeben ist, den sie nicht anders als durch eine Folge von Sätzen zur Sprache bringen kann. Unbeschadet der geschichtlichen Offenheit, die dadurch konstituiert ist, kann die Dogmatik nicht offenlassen, was sie zu sagen hat. Dies kommt durch ihre Begriffsbildung zum Ausdruck: ihre Begriffe sind finite Formulierungen dessen, was im Glauben geglaubt wird (fides quae creditur [der geglaubte Glaube] 39 ). Deshalb sind die Begriffe der christlichen Dogmatik (—»Jesus Christus als Inbegriff der Einheit von Gott und Mensch, —»Gnade als Bezeichnung des richtenden und rettenden Handelns Gottes, —»Glaube als Begriff für das Werk Gottes am Menschen, —»Hoffnung als Begriff für das Vertrauen auf Gottes Verheißung allein, usf.) keine Reflexionsbegriffe. Sie stellen vielmehr fest, was sich zwischen Gott und Mensch verheißungsvoll ereignet; insofern wird durch die Begriffsbildung der theologischen Objektsprache die Frage nach der „Sache" der Dogmatik, nach ihrem „eigentlichen Gegenstand" beantwortet 40 . Die Dogmatik ist also keine kritische Reflexion der Äußerungen christlichen Glaubens und auch nicht eine Metasprache über eine elementare Glaubenssprache. Sie tritt neben andere Redeweisen in Kirche und Frömmigkeit, die nichts substantiell anderes als sie aussagen, aber nicht auf die Bedingungen ihres Redens zu sprechen kommen. Die Dogmatik hingegen beginnt nicht unvermittelt, sondern nennt die Bedingungen ihres Redens (Offenbarung als Verheißung), ohne sie reflexiv einzuholen. Daß die Dogmatik das Begründet-Sein des Redens von Gott formuliert, ohne dieses Reden selbst zu begründen und so ihren Ursprung aufzuheben, hat sie als Aussage über Gottes Geist als Grund menschlicher Wahrheitserkenntnis markiert (—»Geist/Heiliger Geist). Daß sie sich auf Voraussetzungen einläßt, ohne damit einfach auf historisch Gegebenes zu verweisen, ist auch das entscheidende Merkmal ihrer Bindung an die -»Bibel (—»Autorität) und an die Bekenntnisse der Kirche (—»Bekenntnisschriften). Die Dogmatik steht indessen nicht unverbunden neben anderen Redeweisen und Texten der Kirche. Sie ist in bestimmten Lebensakten und sprachlichen Handlungen verwurzelt (die Anrufung des dreieinigen Gottes in der Liturgie wurde als einer ihrer historischen und sachlichen Ausgangspunkte bereits genannt), in denen die Konstitution des dogmatischen Denkens paradigmatisch deutlich wird. Die Dogmatik hat festzustellen, was in ihnen — wenn auch in anderer Weise als in der Dogmatik — ausgesagt wird, vornehmlich im Gebet, im kirchlichen Consensus und in der Verkündigung der Kirche. Sie sind Phänomenbereiche der
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Dogmatik, sofern in ihnen gegenständlich wird, womit die Dogmatik sich befaßt. Die Dogmatik hat sich in ihrer Geschichte von diesen Paradigmen nicht immer in der gleichen Weise bestimmen lassen. In der neueren Diskussion scheint das zuvor prägende Beispiel der Verkündigung in den Hintergrund zu treten, ohne daß schon deutlich wäre, woran die Dogmatik sich statt dessen ausrichten kann. Das —»Gebet ist das exemplarische Phänomen des Redens von Gott, das Aufschluß über die Konstitution der Dogmatik geben könnte. Das Gebet ist Reden von Gott, in dem vor Gott zu Gott gesprochen, also Gott selbst angerufen wird. Im Gebet wird Gott nicht nur mit seinem Namen angerufen - Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Vater Jesu Christi - , sondern Gott wird auch gekennzeichnet, es wird mit den Prädikaten von ihm gesprochen, die die Kenntnis von ihm und seinem Handeln überliefert haben. Er ist der Gott, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat, der Gott, der Jesus von den Toten auferweckte, der Allmächtige, Allgegenwärtige, der Richter und Retter, der Gott, in dem Macht und Güte eins sind. All dies kann jedoch nicht auf einmal ausgesagt werden. Gott wird nicht monoton und unter Berufung auf ein und dasselbe Prädikat angeredet, das sein Handeln bezeichnet. Zu Gott wird vielmehr in Klage, Bitte, Dank und Lob geredet. Die Vielfalt der Gebetsformen zeigt Unterschiede in der Erfahrung und in der Erwartung Gottes an. So wird in der Klage Gottes Güte gegen eine Erfahrung angerufen, in der man nur die Verborgenheit Gottes im Walten eines unergründlichen Schicksals wahrzunehmen meint. Gott wird als der angesprochen, dessen Selbsterweis aufgrund seiner Verheißungen man erwartet. In der Vielgestaltigkeit des Gebetes zeigt sich die Grundstruktur für die Erstreckung der Themen der Dogmatik. Das Gebet ist zwischen Gedenken und Erwarten Gottes gleichsam ausgespannt. In ihm werden die Erfahrungen vor Gott gebracht, die man in Beziehung zu ihm angenommen hatte, und das Gebet ist auf höchst eigentümliche Weise ein Vorgang der Prüfung dieser Erfahrungen, indem man sie Gottes Urteil unterstellt, wie es im Kommen Gottes kund werden soll. Dieses Kund-Werden ist das Ziel des Gebetes. Das Gebet ist auf den —»Consensus der Gemeinschaft des Glaubens angewiesen, gerade weil es vielfältig geschieht. Indem das christliche Verständnis des Gottesdienstes das Gotteslob der versammelten Gemeinde in den Mittelpunkt stellt, sucht die Kirche all ihr Reden und Handeln aus dieser gemeinschaftlichen Zuwendung zu Gott zu verstehen und zu prüfen41. Indem sie auch alle theologischen Explikationen aus der Wahrnehmung der Gegenwart Gottes begründet, zeigt sie an, daß die Einzelnen in ihrer Klage, in ihrer Bitte, in ihrem Dank auf dem Wege zu diesem Lob sind und von ihm herkommen. Der Consensus ist der Versuch, den Wegen Gottes nachzugehen und von seiner Geschichte mit der Menschheit so zu sprechen, daß die Erwartung seines Kommens aufgrund seiner Verheißungen offengehalten wird. Keine Dogmatik kann dieses Kommen herbeiführen, sie kann auch diese Erwartung nicht sichern, aber sie kann ihre Vorgabe, Gottes Verheißungen, so auszulegen und so zu umreißen versuchen, daß gemessen an menschlicher Orientierung keine falschen Erwartungen aufgebaut und Hindernisse für die Hoffnung aus dem Wege geräumt werden können. „Wegbereitung" ist das höchste Ziel der Dogmatik - Wegbereitung für das Reden von Gott in der Gemeinschaft des Glaubens. Darum ist das Reden von Gott der Gegenstand der Dogmatik und ihr Ziel der Consensus in der Gemeinschaft des Glaubens. 4. Funktionswandel
der
Dogmatik?
4.1. Dogmatik - Lehre - Systematische Theologie. Das Verständnis der Dogmatik ist seit längerer Zeit weniger von der Frage nach ihrem Gegenstand als vielmehr von Bestimmungen ihrer Funktion geprägt. Im Vordergrund steht dabei die kirchliche Aufgabe der Dogmatik, die offensichtlich veranlaßt hat, Dogmatik von ihrer Funktion her zu begreifen. Schleiermacher hat vom „Nutzen" der dogmatischen Theologie „für die Leitung der Kirche" gesprochen und die Entstehung der Dogmatik auf die „erhaltende Funktion der Kirchenleitung" zurückgeführt42. E. —»Brunner konstatiert: „Die Dogmatik ist, wenn überhaupt etwas, eine Funktion der Kirche" 43 , genauer: „Die Dogmatik ist eine Funktion der lehrenden Kirche" 44 . Solche Umschreibungen zeigen, daß die Dogmatik nicht hinreichend
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von ihrem Gegenstand her beschrieben werden kann; aufschlußreich für ihre Gestalt ist auch der Gebrauch, den sie erfährt. Als strittig gilt jedoch, ob funktionale Beschreibungen auch die Arbeitsweise der Dogmatik erfassen, ja sogar die Dogmatik selbst von ihrem Ursprung her erklären können. In funktionalen Erklärungen erscheint die Dogmatik als ein Vorgang, welcher durch Faktoren gebildet wird, die nicht aus der Dogmatik abzuleiten sind. Diese Faktoren können auch außerhalb von Kirche und Theologie liegen; sie werden vor allem in allgemeinen Entwicklungen des Denkens oder in gesellschaftlichen Wandlungen gesucht. Funktionalen Erklärungen ist gemeinsam, daß sie „Dogmatik" im Zusammenhang eines umfassenden geschichtlich-sozialen Prozesses begreifen. „Dogmatik" wäre demzufolge ein bestimmter Reflex auf dieses Phänomen, nicht aber eine eigenständige Aufgabe, die sich auch kritisch gegenüber geschichtlich-sozialen Verhältnissen verstehen könnte. 4.1.1. Gegen eine Auffassung der Dogmatik als eines Ausdrucks für einen von ihr verschiedenen Sachverhalt richtet sich die Definition der Dogmatik als Wissenschaft vom Dogma. Dogma ist die ausgesagte Wahrheit des christlichen Glaubens; Dogmatik beruht auf den Begriffen des Glaubens, die in diskursiven Gebrauch genommen werden. In der Anschauung von diesem Gebrauch, nicht aber im Grundverständnis von Dogmatik, unterscheiden sich evangelische, katholische und östlich-orthodoxe Theologie, entsprechend ihrer verschiedenen Auffassung von der —»Kirche und ihrem —»Lehramt, - wiederum ein Hinweis darauf, daß die Dogmatik der funktionalen Beschreibung bedarf, über alle konfessionellen Ausprägungen hinaus, die auch nur mit Hilfe dieser Beschreibung der Dogmatik verstanden werden können. Die Beschreibung zeigt, wie die Repräsentation der —»Wahrheit in der Dogmatik gedacht wird: ob als Mysterium, in dem die Kirche lebt und das sie als ganze anbetend auszusprechen strebt (—»Orthodoxe Kirchen); aharticulus fidei, der alspereeptio divinae veritatis tendens in ipsam gilt [Glaubenssatz, welcher die göttliche Wahrheit auffaßt und sich zu ihr hin bewegt] 45 und so von der Kirche festzusetzen ist; oder als Zusammenhang der glaub-würdigen Aussagen, die auf Gottes Verheißung seiner Gegenwart verweisen und unter dieser Voraussetzung in die Kirche rufen, welche durch Gottes Wort, seine Selbstmitteilung, geschaffen wird. Die letztgenannte Umschreibung betont die Relationalität der Dogmatik — ihre Aussagen bedürfen der Bewahrheitung durch Gott selbst, indem er seine Verheißung e r f ü l l t - , sie läßt aber zugleich die Dogmatik nicht in den Handlungen der Kirche aufgehen. Diese müssen sich ja an dem messen lassen, was der Dogmatik zu sagen aufgegeben ist. Damit stellt die Dogmatik sich nicht über die Kirche, sondern muß ihr notfalls gegenübertreten können. Dies hat den hohen Rang der Dogmatik in den Anfängen des Protestantismus begründet und auch dazu geführt, daß Dogmatik und Theologie weitgehend gleichgesetzt wurden. Dann freilich durfte die Dogmatik sich nicht auf die Zusammenstellung und Weitergabe von Traditionen beschränken, sondern mußte die Rezeption der Überlieferung und die Entscheidung über strittige Glaubensfragen im Lehrgespräch (—»Consensus) vollziehen, das die Bindung der Dogmatik an ihre Voraussetzungen durch die Entfaltung der —»Autorität der Heiligen Schrift zur Geltung bringt. Darin zeigte sich, daß die Dogmatik nicht nur die Voraussetzungen in Anspruch nimmt, die ihre Aussagen tragen, sondern daß sie selber Feststellungen trifft, die zur Basis weiterer Aussagen werden. Derart und insofern ist das Selbstverständnis der Dogmatik als Orthodoxie berechtigt. 4.1.2. Orthodox ist die Dogmatik als Lehre der Kirche, die ein bestimmtes Zeugnis gibt: Rechenschaft über den Grund der Hoffnung in der Gemeinschaft des Glaubens (I Petr 3,15). Die Aussage dieses Grundes kann niemals Funktion eines geschichtlich-sozialen Phänomens, irgendwelcher Handlungen oder anderer vermeintlich ursprünglicher Gegebenheiten sein, die dann nur noch in der Dogmatik abzubilden wären. Mit „orthodox" ist deswegen auch nicht gemeint, daß nur die Dogmatik „recht h a t " oder gar, daß ihre Richtigkeit im bloßen Bescheidwissen bestände. Rechte Lehre, ja Lehre überhaupt, ist notwendig, weil es falsche Lehre gibt, die der Hoffnung des Glaubens - vielleicht mit höchst plausiblen Intentio• nen—ihren Grund entzieht. Darum genügt es auch nicht, wenn die Dogmatik lehren und be-
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lehren kann, denn einer solchen Funktion würde jedes normative Denken gerecht. Nicht die Normativität, sondern die theologische Unterscheidung von „ w a h r " und „falsch" hinsichtlich menschlicher Aussagen qualifiziert die Dogmatik als Lehre. Die Entwicklung der Dogmatik in der evangelischen Theologie ist indessen auch eine Geschichte der Problematisierung des dogmatischen Wahrheitsverständnisses, die mit einer zunehmend funktionalen Auffassung der Dogmatik Hand in Hand geht. In der Bibelexegese hat sich der historisch-kritische Wahrheitsbegriff mit einem Widerstand gegen jede bloß institutionell vermittelte Autorität verbunden; dadurch wurde die Dogmatik zum Anwalt traditionaler Wahrheit in der Theologie erklärt, der mit einem direkten Rückgang auf die Anfänge des Christentums entgegenzutreten sei. Im Zeichen des Historismus wurde der Dogmatik neben der Praktischen Theologie die Funktion einer geistigen Besitzstandswahrung der Kirche zugebilligt, die Wissenschaftlichkeit jedoch der historischen Reflexion in der Theologie vorbehalten 46 . „Dogmatisch" hieß nun jede erbauliche Selbstimmunisierung, die sich der Wahrheitsprüfung an der Geschichte entzieht. Dieser Einwand findet sich in der noch heute verbreiteten These wieder, der christliche Glaube hänge nicht an sog. überzeitlichen Wahrheiten, sondern entstehe immer neu aus der geschichtlichen Wirklichkeit, in der Wahrheit als lebensbestimmend erfahren werden müsse. Doch auch Dogmatiker haben ihre Arbeit in einen unaufhörlich problematischen Zustand versetzt, indem sie sich auf die Unverfügbarkeit der Wahrheit Gottes für den Menschen beriefen, die keine Feststellungen über Gott und sein Handeln zu treffen erlaube (—»Dialektische Theologie). K. Barth hat das Dogma einen „eschatologischen Begriff" genannt, zu dessen ewig-künftiger Wahrheit die Dogmatik sich allein-in steter Annäherung verhalten könne 4 7 . In solcher Sicht, die jede Aussagenwahrheit um Gottes Souveränität willen in Frage stellt, bleiben meistens die kommunikativen Begleitumstände außer Betracht, und die angestrebte Offenheit theologischen Redens unterwirft sich dann allzuleicht ethischen Kriterien, weil dogmatische nicht mehr namhaft zu machen sind. Das theologische Motiv, die Freiheit des Glaubens gegen alle menschlichen Herrschaftsansprüche zu erringen, ist auch durch die philosophische Kritik des „Denkens in Satzsystemen" (in der—»Existenzphilosophie, in der Philosophie der -»Dialogik und in der philosophischen —»Hermeneutik) gestützt und verstärkt worden. Die überlieferte Dogmatik wurde der Metaphysik zugerechnet und erschien deshalb als geeigneter Stoff zur Auseinandersetzung mit der Tradition, auch mit einer ihr vorgeworfenen philosophischen Entfremdung von der theologischen Wahrheitsfrage. In jüngster Zeit wird die Aversion gegen sog. dogmatische „Richtigkeiten", welche angeblich die unmittelbare Wirklichkeitserfahrung verstellen, vor allem in einer —»Praktischen Theologie laut, die die Wahrheit des Glaubens in befreiten und befreienden Handlungen erblickt. Auch hier vertritt die Dogmatik oft das Negativ wahrhaft menschlicher Lebensführung und sozialer Verständigung, weil sie sich der Anschauung widersetzt, Wirklichkeit sei das Ergebnis von Kommunikation. Daß die Dogmatik beansprucht — schon allein durch ihre Art zu argumentieren und Feststellungen zu treffen —, das „Was" der theologischen Verständigung, nicht nur ihr „Wie" für maßgebend zu halten, bringt ihr den Vorwurf ein, als sublimes Herrschaftsinstrument eingesetzt zu werden. Auch dies ist eine funktionale Deutung, vielleicht sogar das Leitmotiv aller Einsprüche gegen die Dogmatik als Lehre {doctrina) der Kirche: sie sei als Doktrin nur zur Indoktrination zu gebrauchen. - Davon abgesehen macht sich in der innertheologischen Kritik an der Dogmatik die Pluralität der Wahrheitstheorien bemerkbar, welche die divergierende Entwicklung der theologischen Fächer mitbestimmt. 4.1.3. Daß die Bezeichnung „Dogmatik" in neuerer Zeit oftmals durch „Systematische Theologie" ersetzt worden ist, erklärt sich u. a. aus dem Bestreben, der theologischen Wahrheitsfrage eine Grundlage zu geben, die nicht mehr unter dem Verdacht des Dogmatismus oder einer doktrinalen Selbstbehauptung steht. In eins damit hat sich das Verständnis von „System" in der Theologie gewandelt: Als B. Keckermann den Systembegriff in die evangelische Theologie einführte, dachte er an eine auf das didaktische Ziel theologischer Lehre gerichtete, diesen Zweck methodisch verfolgende und insofern vollständige Darstellung. Bei
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B. Meisner wird dann der Lehrinhalt nicht mehr einfach an den überlieferten Dogmen abgelesen, sondern soll nach dem Maßstab der theologischen Aufgabe, den Heilsglauben zu wecken und insofern „Glauben zu lehren", gewonnen werden 4 8 . Das Interesse wendet sich dementsprechend den zentralen Glaubensaussagen (articuli fidei fundamentales) zu, wodurch die frühere Bezugnahme auf die loci communes bzw. loci theologici auf die Frage nach dem Heilsnotwendigen eingeschränkt wird (—»Fundamentalartikel); davon verschieden sind alle Gedanken, welche die Institution der Kirche als Heilsvermittlerin betreffen und auch konfessionsspezifisch erörtert werden müssen. Hier macht sich das Bestreben bemerkbar, ein Generale, eine allgemeine Basis zu umreißen, auf die der Glaube des Einzelnen sich unbeschadet aller kirchengeschichtlichen Besonderheiten und anderer äußerer Bedingungen stützen und so eine Allgemeinheit erreichen kann, die philosophisch zu klären ist. Derart kann Dogmatik sich auch als „Glaubenslehre" verstehen. Der Titel begegnet zuerst bei dem Supranaturalisten Sigmund Jacob Baumgarten: Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomon Semler (3 Bde., Halle 1759-1760); sie ist funktional dadurch bestimmt, daß sie die Glaubensbegründung, die jeder Christ braucht, von den theologischen Kenntnissen abhebt, die Gelehrte und Lehrer (d. h. Pfarrer) beschäftigen müssen. Durch diese Unterscheidung, die bei —>Semler durch die Zuweisung der theologischen (nicht nur kirchlichen) Erkenntnis an die „Religion" noch verstärkt worden ist, wird die Dogmatik als das akademische und kirchliche Wissen von allen Wissensformen geschieden, die auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben. Die Allgemeingültigkeit theologischer Aussagen kann hier noch unbefangen mit einer allgemeinen Christlichkeit gleichgesetzt werden. Diesen höchst folgenreichen Funktionswandel 49 hat Schleiermacher 50 wenigstens zum Teil dadurch rückgängig zu machen versucht, daß er die „dogmatische Theologie" als Feststellung des kirchlichen Lehrbestandes erklärte, allerdings um den Preis einer noch weitergehenden funktionalen Eingrenzung: Immer dann, wenn nicht von der empirischen Einheit der Kirche auszugehen ist, bleibt die Dogmatik auf die statistische Bestandsaufnahme der Lehre derjenigen „Kirchenpartei" angewiesen, auf die sie sich in ihrer kirchenleitenden Aufgabe bezieht. Den Terminus „Dogmatik" zieht Schleiermacher dem Titel „Systematische Theologie" vor, weil er auf den „historischen Charakter" der Disziplin aufmerksam mache 51 . Gleichwohl tritt in Schleiermachers Glaubenslehre erneut die Spannung zwischen dem „christlichen Glauben", der „nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" wird (also der Dogmatik als kirchlicher Lehre), und der allgemein verbreiteten „Frömmigkeit" zutage, als deren geschichtlich und konfessionell faßbarer Ausdruck die Aussagen des Glaubens erscheinen. Insofern und mit seiner Rückführung der Glaubenslehre auf das religiöse Selbstbewußtsein ist Schleiermacher zum Wegbereiter einer überkirchlichen Auffassung Systematischer Theologie geworden. Die Tendenz, „Dogmatik" als Umschreibung für den engeren Bereich kirchlich gebundener Lehre, „Systematische Theologie" dagegen als Begriff für das Ganze des Glaubens und des Glaubenswissens anzusehen, hat sich durch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Systemauffassung nochmals gewandelt. Baumgarten hatte in Anlehnung an Chr. —»Wolff 52 die Wissenschaftlichkeit der (allgemeinen) Glaubenslehre an der „Fertigkeit" gemessen, „nicht nur Wahrheiten deutlich einzusehen, sondern auch dieselben und ihren ganzen Umfang und Inbegriff aus unumstößlichen Gründen auf eine richtige Weise sowohl a priori als a posteriori herzuleiten, zu erweisen und zu bestätigen" (a. a. 0.1,29). —» Kant setzte der bloßen „Rhapsodie" das System als „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" entgegen {Kritik der reinen Vernunft, A 832, B 860). Diese Einheit ist im spekulativen Idealismus nach dem Vorbild von C. L. Reinhold 5 3 in der Rückführung sämtlicher Grundsätze des Denkens auf ein Prinzip begriffen worden; die konstruktive Tätigkeit des Denkens besteht in der Ableitung aller Aussagen aus diesem Prinzip. Das System wird als Wissenschaftslehre entfaltet, auf der die Einzelwissenschaften aufbauen. In ihm wird die Antwort auf die Frage nach dem Anfang des Denkens als Letztbegründung allen Wissens gegeben. - Schleiermacher hat diesem Systembegriff eine Wissenschaftslehre entgegengesetzt, die nicht anders als ein „Ganzes" zu denken sei, „in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht"; für den Organismus des Denkens sei eine Letztbegründung undenkbar 5 4 . Wenn Schleiermacher davon spricht, daß „das Dogma System werden will", so meint er damit sozusagen die Einverleibung des Dogmas in den Zusammenhang des Denkens und die Bestimmung seines Ortes in diesem Zusammenhang 5 5 .
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In der Folgezeit entzündete sich am Systembegriff die Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen —Idealismus (J. G. —»Fichte, G. W. F. —»Hegel und F. W. J. —»Schölling). Seiner konstruktiven Geschlossenheit wurde u. a. die Geschichtlichkeit des Denkens entgegengehalten, der Letztbegründung in der Subjektivität wurde in der —»Dialektischen Theologie unter Berufung auf das Wort Gottes als „theologisches Axiom" widersprochen 56 . Der Systemgedanke wirft die Frage nach dem Anfang bzw. den uneinholbaren Voraussetzungen des Denkens und nach seiner Vollendung auf. Die Antwort darauf kann nicht mit dem Hinweis auf Gott als dem letzten Grund des Denkens gegeben werden, sondern nur mit einem bestimmten Reden von Gott: Der Gott, der sein Handeln in der Geschichte verheißt, greift mit dieser Verheißung allem menschlichen Nachdenken über ihn vor und verweist dieses Denken in die Grenzen der Erfahrung dieser Geschichte. Wenn trotz der so begründeten Kritik an der idealistischen Systemvorstellung noch auf sie zurückgegriffen wird — wie in P. —•Tillichs Systematischer Theologie (111,13-17) —, geschieht es in modifizierter Form. Die Bezeichnung „Systematische Theologie" ist außerdem für eine Zusammenfassung verschiedener theologischer Arbeitsgebiete im Gebrauch geblieben: Sie schließt Dogmatik und Ethik ein 57 , erstreckt sich auf den Vergleich der christlichen Konfessionen und stützt sich bei alledem auf eine Grundlagen- und Methodenlehre. Hier wird von der systematischen Theologie ein Rahmenkonzept erwartet, in das sich alle theologischen Kenntnisse einbeziehen lassen und das auch die historische Forschung in der Theologie zu integrieren erlaubt. Wird dieses Gesamtbild nicht nur als eine ordnende Zusammenstellung und Vereinigung theologischen Wissens, sondern als ein Organon für die Theologie als Ganzes aufgefaßt, enthält es eine Antwort auf die Frage nach der Einheit der Theologie. Eine solche Systematik ist die Funktion aller Funktionen der Theologie. Aus ihr erklärt sich alles, was in den einzelnen Forschungsbereichen der Theologie erschlossen werden kann, was sie zu leisten vermögen und was ihren Zwecken entspricht, die überhaupt erst aus dem theoretischen Generalnenner der Theologie erkennbar werden. In diesem Sinne ist ungefähr gleichzeitig mit der Auseinandersetzung mit dem idealistischen Systembegriff die Konzentration auf ein Material- und Formalprinzip der Theologie gefordert und auch als konfessionelles Unterscheidungsmerkmal eingeführt worden. Allerdings hat man zunächst die Ableitung der theologischen Aussagen aus einem Lehrsatz, der die Theologie als Wissenschaft begründe, ähnlich wie in der Systemkritik als glaubensfremd teils abgewiesen 58 , teils allein als Möglichkeit einer rationalen Theologie erörtert 5 9 . Dann aber wird von A. D. Chr. Twesten die Rechtfertigungslehre das „Materialprinzip" des Protestantismus genannt; sie sei „die wesentliche Grundlehre, auf welche alle Dogmen hinweisen, und aus der sich ihre eigenthümliche Modification und Stellung im Protestantismus begreifen läßt" 6 0 . Gemeint ist damit das Prinzip der lutherischen Dogmatik, während „das Dogmatische Lehrsystem des kirchlichen Lehrbegriffs der reformirten Confession als organisches, konsequentes Ganzes" von A. Schweizer als radikales und allseitiges Bestimmtsein des Menschen von Gott umschrieben wird 6 1 . Übereinstimmend gilt die unbedingte Autorität der Bibel, das Schriftprinzip, als „Formalprinzip des Protestantismus" 62 , doch auch hier wird ein innerevangelischer Unterschied darin gesehen, daß „die Schrift den Lutheranern nur ein negativ regulirendes", den Reformierten dagegen ein „positiv normirendes Prinzip" sei 63 . Der funktionale Charakter solcher Überlegungen ist nicht zu verkennen: Das Formalprinzip soll Auskunft über die Letztbegründungsinstanz der Dogmatik geben, sofern diese Instanz als Quelle namhaft gemacht werden kann, aus der alle theologischen Aussagen unmittelbar stammen; aus der Einheit der Bibel ergibt sich dann die Einheit der Theologie. - Anders verhält es sich, wenn das sola Scriptura, die theologische Argumentation allein auf Grund der Heiligen Schrift, als Kriterium in Anspruch genommen wird. - Das Materialprinzip erklärt (für das Luthertum) die soteriologische oder (für die reformierte Seite) die religiöse, jede wahrhafte Gottesverehrung aufbauende Intention der Theologie; alle theologischen Aussagen müssen sich in ihrer Heilsbedeutung oder als aus einem Heilsbewußtsein stammend 6 4 oder in ihrem religiösen Gehalt erweisen lassen. Spätere Abwandlungen der Rede vom Prinzip der Dogmatik haben dessen funktionalen Sinn beibehalten: das Materialprinzip „Verwirklichung des Reiches Gottes" 6 5 oder „Leben in der Gottesgemeinschaft" 6 6 ; aber auch wenn das „Wort Gottes" zum Formal- und Materialprinzip der Dogmatik erklärt wird 6 7 , werden alle dogmatischen Sätze in ihrem Funktionswert für die Predigt bestimmt, denn sie müssen als Inhalte der Verkündigung gelten können.
Eine andere Linie systematischer Begründungsversuche ist durch die Bemühungen um ein methodisches Prinzip — oft in Auseinandersetzung mit anderen, der Theologie benach-
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harten Wissenschaften—entstanden. Hier wird ein universelles Instrument für die Rückführung aller theologischen Aussagen auf ein die Theologie selbst erklärendes Medium gesucht; dies soll auch die Rekonstruktion und Neubegründung aller überlieferten Theologie ermöglichen. Das methodische Prinzip wird dabei in einer Universaltheorie abgebildet. Das bisher wohl einflußreichste Beispiel ist die Theorie einer Kulturentwicklung, in der die Theologie sich nach dem Muster von Herausforderung und Antwort verhält und die Dogmatik zum Demonstrationsobjekt für die Schwierigkeit wird, mit den „allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens" 68 Schritt zu halten. Aus dem Gang der Geschichte, gemessen an den Unterschieden in der Formulierung der gleichen dogmatischen Inhalte (vor allem der Gotteslehre), erklärt sich die Ausbildung des religiösen Bewußtseins, und die Dogmatik wird (darin besteht ihr Funktionswandel) zur Reflexionsgestalt für die Beziehung des Glaubens zum Denken in seiner jeweiligen geschichtlichen Allgemeinheit. Diese Anschauung hat die Theologiegeschichtsschreibung weithin beeinflußt oder bestimmt sie wenigstens als Problem. Wenn in jüngster Zeit ein vorwiegend geistesgeschichtliches Bild der Kultur durch ein sozialgeschichtliches abgelöst oder erweitert wird, verändert sich dadurch der Erklärungshorizont, nicht die Sicht. Daß die Lehrunterschiede und die Differenzen in der Legitimation theologischer Verbindlichkeit von den verschiedenen Sozialformen des Christentums herrühren, hat Ernst —»Troeltsch in Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Tübingen 1912) nachzuweisen unternommen und so eine wissenssoziologische Erklärung der Dogmatik vorbereitet. Dogmatik wird hier zum Ausdruck für die soziale Weltgestaltung und für das Verhältnis der Sozialgestalt der Religion zum Ganzen der Gesellschaft (—»Religionssoziologie). Es ist dann nur folgerichtig, die —«Ethik der Dogmatik vorzuordnen und davon auszugehen, daß dogmatische Sätze Fragen der Lebensgestaltung und ihre Beantwortung symbolisieren. Die Begründung der Theologie auf die Religion, auf das Gottesverhältnis des Menschen, läßt sich in einer systematischen Theologie als Theorie der religiösen Erfahrung ausführen (—»Erfahrung, —»Religionsphilosophie). Das systematische Ziel erscheint dabei erreicht, wenn die religiöse Erfahrung als allumfassend erwiesen ist. Dies kann durch die Einbettung religiöser Äußerungen in eine —»Religionsgeschichte geschehen, die als Universalgeschichte verstanden wird (E. Troeltsch; W. Pannenberg69). Ein anderer Weg führt über die Analyse religiöser Erfahrung, welche auf eine Gesamtschau trifft, in der die Wirklichkeit als heilvolles Ganzes in Erscheinung tritt. In solcher Sicht wird die Dogmatik zum Stoff der —»Religionsphänomenologie70 und der —»Religionspsychologie71. Dergleichen Nachweise, die der Dogmatik eine empirische Basis zu geben versprechen, können auch noch sprachtheoretisch vertieft werden (—»Sprachphilosophie). Die —»Sprache als Universum aller Lebensäußerungen und als Medium sämtlicher geschichtlicher Begegnungen bildet zudem die Grundlage der—»Hermeneutik. Sie erlaubt der Theologie, ihre Einheit im Verstehen theologischer Überlieferung und im Vorgang ihres Ubersetzens zu finden 72 . Aufgabe der Dogmatik ist es dann, den normativen Gehalt dessen zu erheben, was in der Geschichte des Christentums ausgesprochen wurde und heute auszusprechen ist. Bestrebungen, die Dogmatik nach den eben skizzierten Mustern in eine Systematische Theologie hinein aufzuheben, sind in zweifacher Hinsicht kritisch zu betrachten73. Einmal handelt es sich um mehr oder minder ausgeprägte Versuche, theologische Verbindlichkeiten durch einen Sinnzusammenhang vorweg zu begründen, der so den Begründungszusammenhang theologischer Aussagen ersetzen soll. Zwar können —»„Geschichte", —»„Gesellschaft", —»„Religion" und —»„Sprache" durchaus Entdeckungszusammenhänge für Sachverhalte sein, die die Formulierungen theologischer Sätze mitbestimmen. Mit ihrer Hilfe kann das Theologisieren perspektivenreicher beschrieben werden. Wird jedoch, was theologisch auszusagen ist, auf historisch, soziologisch, psychologisch, sprachwissenschaftlich oder -philosophisch erklärbare Vorgänge zurückgeführt, dann zerstört eine solche funktionale Erklärung nicht nur die Grundlage dogmatischer Argumentation, sondern entzieht sie auch dem Wahrheitskriterium der Theologie. — Zum anderen scheinen sich die genannten
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Typen Systematischer Theologie durch ihre Tendenz zu empfehlen, das Ghetto traditionsgeleiteten kirchlichen Bewußtseins zu durchbrechen und sich der Allgemeingültigkeit theologischer Orientierung zu widmen. Was systematisch-theologisch reflektiert werden soll, wird dabei mitunter auch im Gegensatz zum „spezifisch Christlichen" gesehen, das nur für die Gruppe der Kirchentreuen als verbindlich gelten könne. Eine partikulare Geltung vertrage sich aber, so heißt es, nicht mit dem universalen Anspruch der Wahrheit Gottes, der die Wirklichkeit als Ganzes bestimme. In dieser Sicht wird die Dogmatik soziologisch eingegrenzt. Die Reichweite theologischer Aussagen bemißt sich dann nach ihrem empirischen Geltungsbereich — eine folgenschwere Verwechslung, die u. a. dazu führt, die möglichst allgemeine Plausibilität theologischer Ausführungen oder deren nachweisbare Bedeutsamkeit zum Maßstab für ihre Wahrheit zu erheben. Die Erkenntnisaufgabe der Dogmatik darf jedoch nicht mit Problemen der Vermittlung christlicher Tradition vermischt werden. Sie ist auf die Einheit des Handelns Gottes, nicht auf eine Universalwirklichkeit ausgerichtet. Diese Einheit bestimmt Anfang und Ende dogmatischen Denkens, und alle theologischen Aussagen bewegen sich innerhalb der so gegebenen Grenzen, die auch den Zusammenhang des Redens von Gott umreißen. Darum wird die Systematische Theologie - unbeschadet ihrer Ausweitung auf weitere Forschungsgebiete — durch die Aufgabe der Dogmatik definiert, nicht umgekehrt. 4.2. Kirchliche Dogmatik? Die Dogmatik hat keine religiösen Partikularinteressen zu vertreten, aber mit der —»Kirche die Wahrheit des Glaubens für alle Menschen auszusagen, ohne sich sogleich auf das ausdrückliche Bekenntnis des Glaubens oder seine Verweigerung zu fixieren. Dogmatik kann zwar nicht abseits von der Kirche bestehen, sie geht jedoch nicht in der Kirche auf, sondern steht der faktischen Kirche in bestimmter Weise gegenüber. In diesem dialektischen Verhältnis hat die Dogmatik eine kirchliche Funktion, in der ihre konstitutive Beziehung zur Kirche zum Ausdruck kommt - im Unterschied zu einer Dogmatik, die eine Funktion der Kirche genannt wird, weil sie ein spezifischer Teil der Selbstdarstellung der Kirche ist. Bei diesen Auffassungen erweist sich als strittig, wie die Kirche den Anspruch erheben kann, Subjekt der Dogmatik zu sein. Hierin zeichnet sich ein Wandel in der Theorie der Kirche und auch darin ab, wie die Dogmatik als Institution in Erscheinung tritt. Ob die Dogmatik überhaupt so gesehen werden kann, hängt von theologischen und organisatorischen Entscheidungen ab, die in den Konfessionen verschieden getroffen worden sind. Die östlich-orthodoxe Kirche (—»Orthodoxe Kirchen) kennt keine institutionalisierte Dogmatik, weil sie auf eine organisatorische Regelung des Lehramtes verzichtet und stattdessen das Dogma an die ökumenischen Konzilien, im Grunde also an die Kirche als ganze 74 , und an einige charismatische Kirchenlehrer gebunden hat. In der —»Römisch-katholischen Kirche dagegen ist das Lehramt immer mehr zentralisiert und rechtlich gefaßt worden. Weil „das Dogma" die von der Kirche in der Person des Papstes kraft göttlichen Rechts verbindlich ausgesprochene Glaubenswahrheit ist, kann die Dogmatik sich als reflexive Selbstverständigung der Kirche verstehen. In ihr spricht sich das Bewußtsein der gesamten Kirche in der Weise aus, daß die Kirche mit sich selber redet. In diesem Sinne ist die Dogmatik die Interpretation, Entfaltung und insofern auch die geschichtliche Fortentwicklung des Dogmas. Der Gedanke der Dogmenentwicklung, entstanden unter dem Einfluß der idealistischen und romantischen Geschichtsphilosophie 75 , bildet geradezu ein Gegengewicht zur wenig später erfolgten Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes, in dem die Kirche aufgehoben ist (DS 3 0 6 9 - 3 0 7 4 ) . Die Dogmatik evangelischen Glaubens ist in nachreformatorischer Zeit aus Ansätzen hervorgegangen, Lehrentscheidungen durch Lehrgespräche zu treffen und als—»Consensus zu formulieren. Weitere Anstöße zur Lehrbildung ergaben sich aus Erfordernissen des kirchlichen Unterrichts, aus der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen in der Kontroverstheologie und vor allem aus der—»Schriftauslegung: Stellt die Kirche sich unter die Heilige Schrift, statt sie als kirchliche Tradition gleichsam fortzuschreiben, dann muß geklärt
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werden, inwiefern die—»Bibel der Kirche alsnorma rtomians [normierende Norm] begegnet und wie das Verstehen der Bibel sich durch das kirchliche Bekenntnis als norma normata [normierte Norm] bestimmen läßt, um nicht einer ungebundenen Auslegung zu verfallen. Entsprechend den Unterschieden der Bekenntnisbildung (—»Bekenntnisschriften) und der damit verknüpften Pluralität der Kirchenorganisarion im Protestantismus ist die Lehrentwicklung verschieden verlaufen. Die ausgeprägten Konfessionskirchen, allen voran die —»lutherischen Kirchen, stehen der römisch-katholischen Einschätzung institutionalisierter Lehre verhältnismäßig näher als die presbyterial verfaßten —»reformierten und die —»unierten Kirchen, und diese heben sich wiederum von den —»Freikirchen ab. Aus der reformatorischen Grundanschauung, die Lehre sei im Grunde der von Gott eingesetzte Dienst der Verkündigung des Evangeliums (CA V: ministerium docendi evangelii), sind höchst unterschiedliche institutionelle Folgerungen gezogen worden. Die Einrichtung der Dogmatik war hauptsächlich zur Ausbildung der Pfarrer bestimmt; diese Funktion, die z.B. in Schleiermachers Zuweisung der Dogmatik an das kirchenleitende Handeln aufgenommen worden ist, konnte sich fallweise — aber nie in klar geregelter Form - gegenüber Kirchenleitungen verselbständigen. Deswegen sind Auseinandersetzungen weitgehend vermieden worden oder nicht zutage getreten, wie sie die katholische Dogmatik austragen mußte. An deren Geschichte läßt sich überdies zeigen, daß die Übereinstimmung zwischen kirchenamtlichen Feststellungen und dogmatischen Ausführungen nur solange bestanden hat, wie die Dogmatik in ihrer Stellung als Universitätsdisziplin unentwickelt blieb. Allerdings wurde auch deutlich, daß ein kirchliches Lehramt, das die Hauptlast theologischer Lehrentscheidungen zu tragen hat, der Dogmatik verhältnismäßig weiten Spielraum gewähren kann, so daß nicht jede Abweichung sogleich kirchenkritische Rückwirkungen haben muß, wie dies auf evangelischer Seite öfter der Fall war. Andererseits haben in Krisenzeiten protestantischen Kirchentums führende theologische Lehrer faktisch die Funktion eines kirchlichen Lehramtes übernommen. Wird betont, die Dogmatik sei eine Funktion der Kirche, dann ist dies meistens ein Zeichen für eine Schwäche der institutionellen Kirche. Das trifft für Schleiermacher vor dem Hintergrund der Entstehung der Altpreußischen Union zu (—»Evangelische Kirche der Union). Noch stärker gilt es für das Profil der Kirchlichen Dogmatik K. —»Barths und der Definitionen der Kirchlichkeit der Dogmatik bei ihm nahestehenden Theologen. Auf welche Kirche ist diese Dogmatik bezogen? Obwohl sie die überlieferten Bekenntnisse programmatisch hervorhebt, will sie nicht konfessionalistisch sein und bestreitet der Amtskirche ihre Selbsteinschätzung, die kirchenleitende Aufgabe der Lehre hinreichend wahrzunehmen. Im —»Kirchenkampf gewann diese Distanz eine unmittelbar kirchenkritische und Gemeinschaft bildende Bedeutung; Kirche wurde zu einem allererst dogmatisch zu entwerfenden Sachverhalt, so daß — auch und gerade in der Aufbauphase nach dem 2. Weltkrieg — die volkskirchliche Realität nicht nur an der dogmatisch umschriebenen „wirklichen Kirche" gemessen, sondern auch eine Kirchenreform in Angriff genommen werden konnte. In der Diskussion um das —»Kirchenrecht und bis in Einzelheiten der Sakramentslehre und -praxis hinein (—»Sakramente) ist diese oft fruchtbare, manchmal aber nur behauptete Spannung erhalten geblieben (—»Abendmahl, —»Taufe). Statt die Kirche dogmatisch zu bilden, um die Dogmatik dann als Funktion dieser Kirche zu begreifen, muß die kirchliche Funktion der Dogmatik wahrgenommen werden, wenn und indem die Dogmatik sich auf die Wirklichkeit der Kirche einläßt. Die Kirche begegnet der Dogmatik, wo die Verständigung über den Glauben sich vollzieht, insbesondere dort, wo umstritten oder nicht mehr deutlich ist, was als glaub-würdig zu gelten hat und übereinstimmend geglaubt werden kann: im Reden der Kirche wie im kirchlichen Handeln, das, um deutlich zu werden, sich auch als Reden äußert - aber nicht weniger auch beim anscheinend institutionell ungebundenen Reden und Handeln im Namen Jesu. Um der Glaubwürdigkeit im kirchlichen Reden willen muß die Dogmatik Entscheidungen aussprechen. Diese Entscheidungen können nicht in Parteinahmen bestehen, sondern sind nur dann sachgemäß, wenn sie auf theologischen Unterscheidungen (in Form von Urteilen) beruhen, die erkennen
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lassen, was geglaubt werden darf und warum im Blick auf bestimmte Vorgänge Bestimmtes glaubend zu erwarten ist. Dogmatik wird immer dort zur kirchlichen Aufgabe, wo ein Dissensus entsteht und der Consensus für die Kirche lebensnotwendig ist. Der Consensus ist die gemeinsame Einstimmung in das, was Glauben begründet, nicht ein bloßes Einverständnis oder gar eine religiöse Gruppenmeinung. Indem sie den Consensus des Glaubens auf ihre Weise (nämlich argumentativ und diskursiv) zum Ausdruck bringt, erweist die Dogmatik ihre kirchliche Funktion. Verständigung über den Glauben ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer reflexiven Selbstverständigung der Kirche, wie sie sich am besten soziologisch und systemtheoretisch erklären läßt. So hat N. Luhmann die Dogmatik als Funktion der Kirche projektiert, allerdings nicht die herkömmliche, an der wissenschaftlichen Wahrheitsfrage ausgerichtete dogmatische Theologie, sondern eine neue religiöse, für das soziale System „Kirche" funktionsgerechte Dogmatik: Die Kirche bedarf wie jede Gruppe in der Gesellschaft einer Reflexionsleistung, die ihr zur Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt derart verhilft, daß sie diese Umwelt nach Maßgabe der eigenen Lernfähigkeit in sich aufnehmen kann, statt in ihr aufzugehen. „Unter Dogmatik verstehen wir im weitesten Sinne jene gedanklichen Konzepte, mit denen das Grundmaterial religiöser Erfahrungen und situationsbezogener Interpretationen gesichtet, fachlich bearbeitet, auf Fehler hin kontrolliert und systematisiert wird." 76 Eine solche Dogmatik, welche die sozial unumgängliche Anpassung mit der ebenso lebensnotwendigen Selbsterhaltung ausgleicht, diene dem Überleben der Kirche. Zu fragen ist, wie weit diese Dogmatik, in der sich die Lebendigkeit religiöser Gemeinschaftsbildung darstellt (sie kommt Schleiermachers Auffassung der Dogmatik als Glaubenslehre nahe), sich längst schon neben der theologischen Dogmatik und gegen sie durchzusetzen begonnen hat. Ein Anzeichen dafür ist die verbreitete Meinung, das Denken und die Sprache der theologischen Dogmatik erreiche nicht mehr das „Leben der Kirche" und die Ebene der Frömmigkeit. Außerdem trifft die systemtheoretische Erklärung auf die Beobachtung, daß in kirchlichen Gremien und in der Führung religiöser Gruppen die überlieferte dogmatische Begrifflichkeit gebraucht wird, um in Anknüpfung an geschichtlich-gesellschaftliche Veränderungen und im Widerspruch zu ihnen Religiosität zu organisieren. Hier ist die Dogmatik (auch in ihrer theologischen Form) vollends zur Funktion der Kirche oder religiöser Gruppen, d.h. ihrer Selbsterhaltung geworden. Diese Rücksicht ist für die Dogmatik in ihren Grenzen legitim, sie darf aber die Dogmatik nicht legitimieren, wenn anders die kirchliche Funktion der Dogmatik bedeutet: die Kirche als Kirche zu bewahren, d.h. zur auf Gottes Wahrheit hörenden Kirche werden zu lassen. 4.3. Die Bedingtheit der Dogmatik. Die systemtheoretische Erklärung wirft auch ein Licht auf die in jüngster Zeit programmatisch angesetzten Versuche, die Dogmatik aus ihrem geschichtlich-sozialen Kontext heraus zu verstehen und als Ausdrucksform der Auseinandersetzung mit je verschiedenen Daseinsbedingungen darzustellen. „Kontext" ist eine hermeneutische Kategorie; angewandt auf die Dogmatik will sie deren Aussagen nur dann als verständlich gelten lassen, wenn ihr Sinn auf die empirisch feststellbare Gesamtsituation verweist. In dieser Sicht bleibt die Dogmatik solange eine ideologische Fiktion, wie sie nicht Auskunft über ihre Entstehung und Wirkung innerhalb des Zusammenhanges von Geschichte und Gesellschaft gibt, aus dem sie verstanden werden kann. Die Analyse des Kontextes will überdies dogmatische Begriffe und Sätze als Handlungsbeziehungen charakterisieren. Bei dieser Zuweisung treffen verschiedene Beweggründe zusammen. In der ökumenischen Diskussion geht man oft von der Tatsache aus, daß die christliche Dogmatik in ihrer überlieferten Form im wesentlichen durch die katholische Theologie repräsentiert ist, der sich der europäische Protestantismus zumindest in einer ersten Phase mit dem Bestreben angeschlossen hat, die Wahrheit des Glaubens in einen Aussagenzusammenhang mit universalem Geltungsanspruch zu fassen. Dahinter stehe, so wird häufig erklärt, die kirchenpolitische Umsetzung der allumfassenden Alleinherrschaft Jesu Christi in eine Weltkirche, die von
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der griechischen Philosophie die geistige Vereinheitlichung der Wirklichkeit und vom römischen Imperium das juristische Reglement übernommen habe. Die Dogmatik erscheint unter solchen Bedingungen als Machtinstrument und Mittel der Disziplinierung, die Dogmenbildung als Kampf um die religiöse Weltherrschaft und deren Sicherung nach innen wie nach außen. Bereits der Vorrang des Denkens, der Richtigkeit des Gedankens, der „reinen Lehre" vor dem Leben, der aus und mit Handlungen entstehenden Einsicht, kurz: der „Orthodoxie", vor der„Orthopraxie", verrate eine für das Abendland spezifische Einstellung, die anderen Kulturen fremd bleiben müsse und nach den Umbrüchen der Gesellschaftsgeschichte auch für die abendländische Christenheit nicht mehr wegweisend sein könne. Ihr wird eine andere Gestalt normativer Theologie entgegengehalten, deren Kontur indessen noch nicht hinreichend deutlich ist. Diese Theologie, die teils im Entstehen begriffen ist 77 , teils aber auch erst postuliert wird, hat noch keine eindeutige Bezeichnung gefunden. Wird sie hier „normative Theologie" genannt, dann soll damit angezeigt werden, daß sie Verbindlichkeit anstrebt - allerdings, ihrem eigenen ausgesprochenen Verständnis nach, nicht in „dogmatischer" Weise - und daß sie trotz ihrer Kritik an der herkömmlichen Dogmatik auf deren Themen als auf Normen zurückgreift, z.B. auf die Einheit von Gott und Mensch in —»Jesus Christus. Ein weiteres hervorstechendes Merkmal ist die Berufung auf die „Praxis", d.h. auf Handlungszusammenhänge und Gestaltungsmöglichkeiten, die jedoch der Direktive bedürfen und zugleich (etwa als politische und ökonomische Bedingungen) auf die Formulierung dieser Direktiven einwirken. Außerdem werden ethische Aufgaben entdeckt (Befreiung [—» Freiheit], —» Gerechtigkeit, —»Frieden), zu denen die Dogmatik bisher entweder weithin geschwiegen hat oder deren sie sich nicht hinreichend annehmen konnte, weil sie durch andere Probleme beansprucht war. Dies alles erinnert an schon historische Einsprüche gegen die Dogmatik: an die Kritik der „toten" nachreformatorischen Orthodoxie im Namen derpraxis pietatis, der Verwirklichung lebendiger Frömmigkeit, im Pietismus (Ph. J. —»Spener), an die Entwicklung der —»Freikirchen und an die ethische Theologie im Gefolge der Aufklärung (—»Aufklärung II). Die Abwendung vom dogmatischen Denken wird weiter markiert durch ein Verständnis der Theologie als Reflexion religiöser Lebensführung und sozialer Weltgestaltung, mithin als „Theorie" einer „Praxis". Hier verbinden sich sozialphilosophische und -ethische Orientierungsschemata (—»Theorie und Praxis), die ihre abendländische Herkunft nicht verleugnen können, mit religions- und wissenssoziologischen Erklärungsmustern, die theologische Sätze nur als Exponate von Handlungsäußerungen, nicht aber als lebensbestimmendes Denken mit eigener Aussagekraft gelten lassen. Dies alles scheint die Beschreibung der Theologie als „religiöse Dogmatik" im oben genannten Sinne, nämlich als kontextuelle Steuerung religiöser Gruppen, zu bestätigen. Theologie droht dann zu einem Gebrauchsdenken zu verkümmern, das letzten Endes auch nicht mehr Reflexion, sondern nur noch Reflex von Erlebnissen sein könnte. Dieser Reflex würde sich einiger Formeln aus der christlichen Überlieferung bedienen, um sich zu legitimieren und die Aufmerksamkeit oder lieber noch die Gefolgschaft anderer Christen und religiöser Gruppen für sich zu beanspruchen. Aus den Einwänden gegen die dogmatische Theologie ist indes auch der Versuch herauszuhören, den „Sitz im Leben" theologischer Verbindlichkeit nicht mehr vordringlich oder überhaupt nicht mehr in der Auseinandersetzung der Theologie mit ihrer Tradition vor dem Forum des zeitgenössischen Denkens aufzusuchen (sei dessen „Wahrheitsbewußtsein" nun mehr in der Philosophie oder, wie neuerdings oft behauptet wird, besser in der Soziologie aufgehoben), sondern in genuin kirchlichen Redeweisen aufzufinden. Das sollte daran erinnern, daß die Dogmatik in wesentlichen Teilen aus der Liturgie erwachsen ist (s.o. Abschn. 2), um das Reden von Gott vor Gott im Gottesdienst so zu begleiten, daß dieses Reden im Gebet verwurzelt bleibt und nicht unter der Hand zu einem Reflexionsakt mit ganz anderen Begleitumständen und Problemen wird. In der Anrufung Gottes spricht steh die Bedingtheit der Dogmatik aus - sie wird dadurch nicht empirisch begrenzt, sondern zeigt, was ihr vorgegeben bleibt. So könnte die Frage nach dem Kontext der Dogmatik, ja der Theologie als ganzer, dazu verhelfen, den schon bei Augustin anklingenden Gedanken wieder zu Ehren zu
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bringen, die lex orandi [die theologische Regel für das Beten] sei die lexcredendi [Regel zum Glauben] 78 ; nicht von ungefähr hat in dieser Gleichung eine lex agendi, ein Handlungsgesetz, keine maßgebliche Rolle gespielt. Wenn der Lebensbezug der Dogmatik im Gottesdienst gesucht wird, bedeutet dies keine Flucht in eine liturgische Verinnerlichung, sondern ist ganz im Gegenteil der Hinweis auf diejenige „Praxis", welche die Dogmatik bei ihrer Aufgabe bleiben läßt: Glaubensaussagen in ihrem spezifischen Zusammenhang zu verantworten - und nicht Äußerungen der Gläubigkeit in einen sie aufbauenden Konnex zu bringen. Die akademische Isolierung der Dogmatik von diesem Lebensbezug, ihre funktionale Bestimmung als Bestandteil der Ausbildung zum Pfarrerberuf und vor allem ihre oft abgekapselte Konzentration auf die Orientierungsprobleme des Theologen kennzeichnen ein Ubergangsstadium in der Geschichte der Dogmatik. Ihre nächsten Schritte werden davon beeinflußt sein, ob der Gottesdienst selbst einem Funktionswandel unterliegt, ob er etwa zum Medium religiöser Meinungsbildung und der Instruktion zur rechten Lebensführung umgestaltet wird, statt die Unterscheidung der Geister (vgl. I Kor 12,10) und damit den Unterschied zwischen „wahrer" und „falscher" Lehre klar zu Wort kommen zu lassen. Dementsprechend ist die Frage nach dem Kontext der Dogmatik neu zu stellen. Besteht dieser Kontext nicht zuerst und zuletzt in den Aussagen über das Handeln Gottes in der Welt, an und mit Menschen, wie es im Glauben bekannt wird? Der „Breite und Länge und Höhe und Tiefe" der „Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übersteigt" (Eph 3,18 f), ist die christliche Dogmatik zugewandt; ihre Erstreckung wird durch diese unergründliche Wahrnehmung bestimmt, die sie als Begriindungszusammenhang theologischer Aussagen formuliert. Die sog. kontextuelle Theologie will dagegen mit dem Eingehen auf den Kontext ihren Weltbezug unter Beweis stellen. Ihre soziale Perspektive gibt zu erkennen, was an gemeinschaftlicher Erfahrung mit den Mitteln christlicher Uberlieferung bewußt wird. Deshalb ist sie darauf bedacht, dieses Bewußtsein mit seinem jeweiligen geschichtlich-kulturgeographischen Profil darzustellen und seine Entstehung zu analysieren. Damit ist zumeist das Bestreben verknüpft, die gemeinsame Einsicht mit Hilfe eines theologischen Grundbegriffes (z. B. Kreuz, Auferstehung, Glaube, Liebe, Hoffnung) auf einen Generalnenner zu bringen. Die Folge ist ein rascher Wechsel solcher Gesamtdeutungen, weil mit ihnen nicht theologisch Bestimmtes ausgesagt, sondern ein situationsbestimmter Bewußtseinszustand vorgestellt werden soll. Der Vorbehalt gegen die Dogmatik, wie er in jüngster Zeit von neuen religiösen Bewegungen und von Theologen aus der Dritten und Vierten Welt vorgebracht wurde (ob wirklich authentisch, ist im einzelnen schwer zu ermessen), beschränkt die als Alternative entworfenen „Theologien" in der Regel auf Regionen und Kirchengemeinschaften, die sich in Erfahrungen einig wissen, welche sie in einer theologischen Grundanschauung ausdrükken wollen. Das hat eine Pluralität von „Theologien" zur Folge, die die Einheit des Glaubens womöglich stärker gefährdet als frühere Kirchenspaltungen und Konfessionalisierungen (wenn nicht mit der Beschwörung einer für alle Christen verbindlichen Deutung der Weltsituation als des für alle geltenden Kontextes der Theologie eine neue Uniformität des Denkens erschlichen werden soll). Diese Entwicklung läßt erneut nach dem Verhältnis von Dogmatik und Kirche fragen. Die kirchliche Funktion der Dogmatik ist an der Einheit des Handelns Gottes ausgerichtet und mißt an ihr die erkennbare Einheit des Glaubens. Darum muß jede Ausarbeitung dogmatischer Aussagen, unbeschadet ihrer möglichen Aufgabe als Lehre einer Kirchengemeinschaft, über konfessionelle und regionale Grenzen hinausblicken. Wenn von der Kirche dogmatisch (als Gegenstand einer Glaubensaussage) die Rede ist, dann von der geglaubten Einheit der Kirche: Sie bildet das Kriterium für die kirchliche Institution, innerhalb deren Dogmatik als Lehre entstehen kann. Wird dagegen die Dogmatik als Funktion einer Kirche oder einer christlichen Gruppierung angesehen, dann soll sie hauptsächlich die Identität dieses empirischen Gebildes sichern. Nun ist jede konkrete Dogmatik zu Recht auch eine Feststellung christlicher Identität, und zwar gerade dann, wenn sie nicht einfach frühere Lehrentscheidungen oder Bekenntnisformulierungen (—»Bekenntnisschriften) wiederholt und auslegt, sondern nach deren Wahrheit fragt. Diese Identität wird jedoch gerade verfehlt,
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wenn eine christliche Bewegung den einen oder anderen Grundbegriff oder Formeln aus der christlichen Überlieferung auf ihr Panier schreibt, um sich damit an die Front des wahren Christentums zu stellen. Derart können dogmatische Formulierungen (auch wenn sie gar nicht mehr als Bestandteile der Dogmatik bekannt sind) als Deutungsschemata mißbraucht werden, die veränderte Situationen, neue Erfahrungen und ungewohnte Aufgaben mit einem christlichen Sinn belegen. Die christliche Theologie wird hier zu einem Gedankengut, das Vorgänge und Tatsachen zu benennen erlaubt, um sie so sprachlich-geistig zu bewältigen. Das hat aber nichts mit der theologischen Erkenntnis gemein, zu der die Dogmatik verhelfen will, indem sie der Erstreckung der Verheißung Gottes nachgeht, um zu umreißen, wo Gott angerufen, erwartet und wahrgenommen werden will. Wo dogmatische Begriffe oder Sätze zu Versatzstücken vermeintlich christlicher Situationsdeutungen und Handlungsdirektiven werden, macht sich eine folgenreiche Unklarheit im Aufbau der Dogmatik bemerkbar. Die christliche Dogmatik ist in ihrer bisherigen Geschichte hauptsächlich durch das Bestreben geleitet gewesen, die konstitutiven, bleibenden Fragestellungen des christlichen Glaubens aufzunehmen und in theologischer Begriffsbildung zu beantworten (s.o. Abschn. 3.5). Dadurch erscheint sie so konsistent, und dieser Eindruck hat oft dazu verleitet, alle neu begegnenden Probleme in die bisherigen Aussagen einzutragen oder den Traditionsbestand nur interpretierend auszudehnen. Wie aber finden zeitbedingte Probleme Eingang in die Dogmatik, und zwar so, daß sie auch als vorübergehende ernst genommen werden, ohne das Aussagengefüge der Dogmatik nur deshalb umzugestalten, um „zeitgemäß" antworten zu können 7 9 ? Diese Frage ist ein Entstehungsgrund für manche „neue" Konzeption der Dogmatik, die genauer besehen nur einer bisher nicht berücksichtigten Herausforderung der Theologie und der Kirche Ausdruck verleihen will. Im Gegenzug geht man dann auf „klassische" Positionen zurück, um die Wahrheitsfrage der Theologie im Nachweis einer besseren Kontinuität zu beantworten. Beide Male zeigt sich indessen, daß die Beziehung zwischen situationsbedingten und konstitutiven Fragen undeutlich ist. Deswegen muß auch zum Verständnis der neueren Diskussionslage ihr Erscheinungsbild aufgezeichnet werden, weil sich in ihm die unterschiedliche Gewichtung beider Perspektiven vermittelt. 5. Zum gegenwärtigen
Erscheinungsbild
und zur Theorie der
Dogmatik
5.1. Entwicklungslinien 5.1.1. Evangelische Dogmatik. Für die dogmatische Forschung in Deutschland während der letzten dreißig Jahre ist ein Umstand von Bedeutung, der zunächst als nebensächlich erscheinen mag. In den theologischen -»Fakultäten ist neben der Praktischen Theologie die Systematische Theologie am meisten von den politischen Vorgängen der dreißiger und vierziger Jahre betroffen gewesen. K. —»Barth und P. —> Tillich waren emigriert und kehrten nur noch gastweise nach Deutschland zurück. D. —>Bonhoeffer hatte sich in „illegalen" Verhältnissen und in der H a f t nur noch fragmentarisch äußern können; die Nachwirkung seiner Gedanken spiegelt dann mehr die Situation der Nachkriegszeit wider als die Konsequenzen der Anfragen und Anregungen Bonhoeffers, die aus dem Nachlaß zu erheben waren. Einer Reihe von Dozenten war im Dritten Reich die Lehrerlaubnis entzogen worden; sie arbeiteten dann im kirchlichen Dienst und konnten erst nach 1945 wieder zur Universität zurückkehren (P. Brunner, F. Delekat, H. J. -»Iwand, E. Schlink, H. Thielicke, W. Wiesner). Andere kamen direkt aus der kirchlichen Praxis auf theologische Lehrstühle (H. Diem,G. Gloege, H. Gollwitzer, W. Kreck, H. Vogel u. a.). In den fünfziger Jahren wechselten G. Ebeling und E. Wolf aus der Kirchengeschichte, W. Trillhaas aus der Praktischen Theologie in die Systematische Theologie über. Diese personellen Veränderungen haben die dogmatische Diskussion nicht unerheblich geprägt, sie haben teils den kirchlichen Fragen größeren Raum in der theologischen Lehre gegeben, verstärkten andererseits aber auch die durch die frühe —»Dialektische Theologie eingeleitete Tendenz, das Gespräch mit der Philosophie und anderen der Theologie benachbarten Wissenschaften auf historische Probleme zu beschränken oder auf
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bestimmte philosophische Neuansätze (—»Phänomenologie, —»Geschichtsphilosophie und —•Hermeneutik) zu konzentrieren. 5.1.1.1. Kriegs- und Nachkriegszeit haben eine tiefgreifende Veränderung der konfessionellen Landschaft mit sich gebracht. Die konfessionelle Geschlossenheit einzelner Regionen ist weitgehend aufgelöst worden, was nicht nur zu einer intensiven Begegnung evangelischer und katholischer Christen führte, sondern auch die innerevangelischen konfessionellen Eigenarten zurücktreten ließ. Das Bewußtsein, dem reformierten oder dem lutherischen Bekenntnis anzugehören, beschränkte sich mehr und mehr auf die Wahrnehmung von Unterschieden der Liturgie; in jüngster Zeit ist diese Entwicklung noch dadurch beschleunigt worden, daß der kirchliche Unterricht auf den —»Katechismus mehr und mehr verzichtet. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb vor allem die Sakramentspraxis zu dogmatischer Klärung herausforderte (Arnoldshaitter Thesen, 1957; —»Abendmahl), die ein neues Verständnis evangelischer Kirchengemeinschaft vorbereitete und auf andere Fragen kirchlicher Praxis ausdehnte (—»Leuenberger Konkordie). Inwiefern kann eine evangelische Dogmatik jetzt noch konfessionelle Züge tragen? Diese Frage ist in jüngster Zeit immer weniger erörtert worden. Hatte W. —»Eiert seinen Beitrag noch Grundlinien lutherischer Dogmatik überschrieben 80 , so beschränken sich die konfessionellen Merkmale der neueren Dogmatik auf historische Hinweise, besonders auf die unterschiedliche Hervorhebung der einzelnen Reformatoren. Als gewisse Ausnahme ist C . H . Ratschows Dogmatik anzusehen, weil sie den Glaubensbegriff in der geschichtlichen Vermittlung entfaltet, die er durch die lutherische Lehre von —»Gesetz und Evangelium erfahren hat 8 1 . Spezifisch reformierte Lehrinhalte sind von K. Barth und O. Weber zur Geltung gebracht worden, während sie bei H.-J. Kraus hinter Ideengehalten zurücktreten, die in der reformierten Tradition beheimatet sind 82 . Konfessionelle Lehrunterschiede innerhalb der evangelischen Theologie behaupten sich weiter in der —»Ethik, auch im Rückzug auf dogmatische Fragen (z.B. —»Zweireichelehre). Die Veränderungen der kirchlichen Lage haben sich weiterhin in der Kontroverse ausgewirkt, ob „Dogmatik" als kirchliche Lehre oder als Darlegung des christlichen Glaubens in seiner volkskirchlichen Erstreckung auszugestalten sei. Auf diesen Zusammenhang verweist die Debatte um die faktische Umformung der dogmatischen Begründung der Kindertaufe durch die kirchliche Praxis (—»Taufe). Vor allem der Rekurs auf die—»Religion als Begründung der Dogmatik seit den sechziger Jahren ist ein Indiz für die erneute Hinwendung zum Glauben als einem religiösen Phänomen, das auch über die institutionellen Grenzen der Kirche(n) hinausreicht. Inwiefern die Veränderungen der politischen Umstände in Deutschland und ihre Einflüsse auf die kirchliche Lage sich in der Dogmatik ausgewirkt haben, läßt sich anhand der Veröffentlichungen bislang schwer ermessen. Besonderheiten der Theologie in der DDR treten am ehesten bei H. Müller zutage, während sonst die gemeinsame Lehrtradition weiter vorherrscht. 5.1.1.2. Eine weitere Entwicklungslinie ist durch den Streit um Anknüpfung oder Widerspruch des christlichen zum neuzeitlichen Denken bestimmt. Bis zum Ende der fünfziger Jahre unternahmen es K. Barth und seine Schüler, die dogmatische Diskussion unter die Entscheidungsfrage zu stellen, die Barth in der Auseinandersetzung mit seinen Weggefährten aus der frühen —»Dialektischen Theologie Anfang der dreißiger Jahre aufgeworfen hatte: die Begründung der Theologie aus der Christologie oder aus der „natürlichen Theologie" bzw. den menschlichen Voraussetzungen des Glaubens („Anthropologie") 83 . Diesem Gegensatz wurde nicht nur R. —»Bultmanns Programm der Entmythologisierung unterworfen, sondern z.B. auch der von P. —»Althaus in seiner nach dem Kriege erschienenen Dogmatik ausgeführte Vorschlag, mit Gottes „Uroffenbarung" in der Schöpfungswirklichkeit einzusetzen und daraufhin von der Heilsoffenbarung in Jesus Christus zu sprechen, die als das Kriterium aller bereits ergangenen Offenbarung anzusehen sei 84 . Die von Barth eingeschärfte Alternative schien die Erörterung aller dogmatischen Fragen zu konzentrieren, weil sich an jeder von ihnen die Grundlagenentscheidung erneut demonstrieren ließ. In Wirklichkeit sind je-
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doch zahlreiche Anfragen unerledigt geblieben, die sich später dann um so stärker aufdrängten: Die Frage nach dem Wirken Gottes zwar nicht abseits und unabhängig von der Christusoffenbarung, aber in anderen Formen als in der Verkündigung des Evangeliums; hermeneutische Erwägungen über den Verstehenskontext theologischen Redens; Gesichtspunkte des Religionsvergleichs u. a. m. Außerdem hat die von Barth bis zuletzt festgehaltene Alternative die Innenspannung in Barths monumentaler, ebenfalls erst nach dem Kriege voll wirksam gewordener Dogmatik übersehen lassen; Barths Kirchliche Dogmatik verstand sich als ein systematisch geschlossenes Denken von Gottes Offenbarung aus, im epochalen Gegensatz zu allen Reflexionsformen des religiösen Bewußtseins, die Barth als Wesensmerkmal des —>Neuprotestantismus herausgestellt hatte. Hinter dieser von Barth und seinem Kreis immer wieder erneuerten Aufteilung der neueren Theologiegeschichte blieben lange die spezifischen Momente neuzeitlichen Denkens verborgen, die in Barths Dogmatik eingegangen sind (u.a. Personalismus, eine gewisse Anlehnung an die Denkform der Subjektivität, eine Reflexionshaltung im Unterschied zur Lehr- und Bcgriffsbildung in der älteren Dogmatik, die Konzentration auf das Verhältnis von Gott und Mensch). Diese teilweise divergierenden Elemente der Theologie Barths haben sich gleichsam als Sprengkörper erwiesen. Der von Barth behauptete Gegensatz von Modemismus und genuin theologischem Denken hat indessen die Einschätzung, die Barths Theologie längere Zeit erfuhr, nachhaltig bestimmt; Barth wurde wegen seiner „Offenbarungstheologie" als „neo-orthodox" eingestuft, und Gegenentwürfe verstanden sich als Gespräch mit dem zeitgenössischen Wahrheitsbewußtsein, das Barth angeblich abgebrochen hatte (vgl. W. Trillhaas, H. Graß, G. Ebeling). So konnte G. Gloege in einer Bilanz der Lage der Dogmatik 1958 einen „kerygmatisch" geprägten Typus, der weitgehend mit Barths Dogmatik und ihrem Einfluß identisch war, von einer „kritischen" Erscheinungsform unterscheiden, die mehr um hermeneutische Vermittlung dogmatischer Traditionen mit dem modernen Denken bemüht sei 85 . Daß eine solche Schematisierung bei näherem Zusehen und bei Prüfung der einzelnen dogmatischen Aussagen unzutreffend ist, daß vielmehr bestimmte dogmatische Sachverhalte (z. B. in der Lehre von —»Schöpfer und Schöpfung und in der —»Eschatologie) quer durch die theologischen Positionen hindurch strittig geworden sind, wird erst allmählich deutlich. Einen typischen Unterschied, der aber weitgehend äußerlich bleibt, kann man allenfalls darin erblikken, daß viele dogmatische Konzeptionen in das Problembewußtsein neuzeitlichen Denkens - vor allem in die Orientierung aller Aussagemöglichkeiten an der Subjektivität - einbezogen sind. Auf der Gegenseite erweckt der direkte Rückgriff auf Elemente der altkirchlichen, reformatorischen und nachreformatischen Theologie den Eindruck, als solle die Diskontinuität zu den allgemeinen Entwicklungen des neuzeitlichen Denkens gewahrt werden. Dieser Unterschied hat sich auch auf das Gespräch zwischen evangelischer und katholischer Theologie bis zum II. Vatikanischen Konzil ausgewirkt: Barths Rekurs auf die Dogmengeschichte erschien als Angebot einer Verständigung zwischen den Konfessionen auf der Grundlage der älteren Dogmengeschichte, während katholischerseits seit den siebziger Jahren verstärkt philosophische Denktraditionen des 19. Jh. aufgenommen werden, ohne daß sich daraus bis jetzt schon ein stärkeres Interesse auch an der neuprotestantischen Theologie ergeben hätte. Schien sich die evangelische Dogmatik Ende der fünfziger Jahre zwischen Neo-Orthodoxie und Modernismus zu bewegen, so konnte P. —»Tillichs Systematische Theologie als Vermittlungsversuch aufgefaßt werden, zumal Tillich ausdrücklich einen solchen Gegensatz durch seine Methode der Korrelation von menschlicher Frage und göttlicher Antwort in der Offenbarung zu überwinden versprach. Seine Situationsbeschreibung traf aber nur für die amerikanische Diskussionslage, nicht für die deutsche zu. Darum ist die Aufnahme dieses Spätwerkes auf seine Anregung zur Korrespondenz von Philosophie und Theologie in der Ontologie und auf die Erinnerung an den idealistischen Systemgedanken beschränkt geblieben. Das idealistische Erbe ist weithin in Gestalt der Geschichtsphilosophie G. W. F. —»Hegels und der Reflexionsphilosophie J. G. —»Fichtes vergegenwärtigt worden, aber auch in der er-
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neuten Besinnung auf die —»Religionskritik, die die idealistische Religionsphilosophie fortgeführt hat. Die Einzelwissenschaften, die aus dem Zerfall der Religionskritik hervorgegangen sind — vor allem sozialphilosophische Ausprägungen der Soziologie (—»Sozialwissenschaften) und —»Psychologie - , haben dann in jüngster Zeit als „Humanwissenschaften" die Aufmerksamkeit in Theologie und Kirche auf sich gezogen, und der Wirklichkeitsgehalt theologischer Aussagen ist an ihren Theorien gemessen worden. Die Verflochtenheit der Theologie mit diesem Strang der Wissenschaftsgeschichte ist eine spezifisch deutsche Erscheinung die noch einmal die Auseinandersetzung mit dem idealistischen Systembegriff beleuchtet. 5.1.1.3. Noch in anderer Hinsicht hat die Begründungsfrage, die aus dem Umbruch der Wissenschaften nach dem 1. Weltkrieg entstanden ist, die Dogmatik bis heute geprägt. Nach dem 2. Weltkrieg blieb eine Revision grundlegender Fragestellungen zunächst aus; während angesichts der kirchlichen Neuordnung oft restaurative Tendenzen beklagt wurden, verharrte man in der Dogmatik weithin bei den Weichenstellungen der zwanziger und dreißiger Jahre. Kurskorrekturen, wie sie verstärkt seit den sechziger Jahren vorgeschlagen wurden, erschienen oftmals als Repristination von Ansätzen des 19. und beginnenden 20. Jh. Dies gilt für Wolfhart Pannenbergs Kritik der kerygmatischen Theologie und für das von ihm vertretene P r o g r a m m , „ O f f e n b a r u n g a l s Geschichte" (1961) systematisch zu begreifen, wie für die geschichtsphilosophischen Elemente in Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung" (1964). Hier kündigte sich eine Wende durch die Aufnahme einer Geschichtsontologie an, die der gleichzeitigen Ablösung der Philosophie durch die Sozialwissenschaften entgegenkam und von dort aus sogleich vermerkt wurde 8 6 . Beide Vorstöße präsentierten sich als Einschnitt gegenüber der —»Dialektischen Theologie und ihren Fortwirkungen, doch es ist bemerkenswert, daß sie der Position, die sie überholen wollten, jedenfalls darin folgten, daß sie theologische Prinzipienfragen aufgriffen und sich dadurch profilierten. Wurde derart (wie in den Anfängen der Dialektischen Theologie) gleichsam ein archimedischer Punkt für die Veränderung der Theologie gesucht, so ist im Unterschied dazu auch gefragt worden, wie theologische Aussagen konstituiert sind und wie von daher der Aufbau der Dogmatik neu zu bedenken ist. Jetzt wird die Begründungsfrage anders gestellt: wenn man nämlich vom Verheißungscharakter theologischer Aussagen ausgeht, ohne damit die Dogmatik einem Futurismus zu unterwerfen 8 7 . Dagegen werden neuere Versuche zur christologischen Begründung der Theologie weniger in den durch Barth vorgczeichneten Bahnen unternommen, das Kriterium aller theologischen Aussagen im Christusbekenntnis zu sehen, als vielmehr im Rahmen einer weitgespannten Reflexion auf die heilsnotwendigen Wandlungen des christlichen Glaubens in der neuzeitlichen Geistesgeschichte 88 . S.1.2. Katholische Dogmatik. Eine durch die Konzentration auf Begründungsfragen ähnlich verlaufende Entwicklung läßt sich an der katholischen Dogmatik nach dem II. —* Vatikanum beobachten. Vorher hatte die in Traktate gegliederte Dogmatik von Michael Schmaus noch einmal in eindrucksvoller Geschlossenheit den Stil neuscholastischen Denkens als systematische Auslegung der Dogmen im Sinne von kirchlich autorisierten Lehrsätzen dargeboten, gestützt auf die dogmengeschichtliche Überlieferung und kontroverstheologisch (in der Kritik an anderen Konfessionen) profiliert. Die Grundlegung der Dogmatik folgte bis dahin ebenfalls dem neuscholastischen Schema der Begründung des Glaubens an Gottes Offenbarung auf allgemeinere religiöse Voraussetzungen und auf eine „natürliche" Gotteserkenntnis. Seit dem Konzil zeichnete sich in zweifacher Hinsicht eine Wende ab. Einmal trat die Exegese aus dem Schatten der Dogmatik heraus und nötigte zu biblischer und historisch-kritischer Prüfung dogmatischer Aussagen. Zum anderen wandte sich das dogmatische Interesse, auch hier durch exegetische und überlieferungsgeschichtliche Rückfragen verstärkt, der Christologie (-»Jesus Christus) zu. Die zahlreichen katholischen Beiträge zur Christologie aus den letzten fünfzehn Jahren zeigen, daß nun auf katholischer Seite—wie in der evangelischen Theologie seit zweihundert Jahren - durch die Rückfrage nach der Geschichte Jesu Christi und ihrer Bedeutung für die Geschicke der Mensch-
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heit die Fundamente der Theologie ergründet werden sollen. Manche Anzeichen sprechen dafür, daß die Christologie in der katholischen Dogmatik die Stelle einzunehmen beginnt, die früher die Lehre von der —> Kirche beansprucht hatte; diese grundlegende Veränderung zieht auch ein gewandeltes Kirchenverständnis nach sich bzw. ist von ihm vorbereitet worden. Dies hat sich besonders auch auf die Fundamentaltheologie ausgewirkt, die nun ein weniger einheitliches Bild bietet als früher, weil sie die Frage nach der Kirche in ihren geschichtlichen Wandlungen in sich aufnehmen muß 89 . Die Kirche erscheint nicht mehr als Besitzerin ewiger Wahrheiten, sondern als das Gottesvolk, das seinen Weg durch den Auftrag Gottes bestimmt sieht, der sie über Stationen der Schuld und des Versagens zu neuer Hoffnung führt. 5.1.3. Dogmatik in der —>Ökumene. So hat die kirchliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte der evangelischen und der katholischen Theologie in Deutschland manche Annäherungspunkte erbracht, die durch den interkonfessionellen Dialog über früher als kontrovers betrachtete Fragen (Lehre von der —* Rechtfertigung, vom Abendmahl und vom kirchlichen Amt) noch verstärkt worden sind 90 . Das Gespräch mit den -^»Orthodoxen Kirchen konnte nur auf der Basis der dogmatischen Entscheidungen der ökumenischen Konzilien von —> Nicäa, —> Konstantinopel und —> Chalkedon wieder aufgenommen werden und hat deshalb die Rezeption des Dogmas der —»Trinität und des christologischen Dogmas (—> Jesus Christus) erneut bedenken lassen. Außerdem sind Unterschiede in der theologischen Anthropologie (—»Mensch) mit ihren Folgen für die —>Ethik, in der Lehre von der —> Kirche als Ort der Gegenwart Gottes im Heiligen —> Geist und in der Anschauung vom Wirken Gottes in der Welt 91 zutage getreten. Theologische Aussagen darüber waren bisher nicht - jedenfalls nicht ökumenisch — „dogmatisiert"; das gleiche gilt für die —> Eschatologie. Das mag beleuchten, weshalb gerade diese Themen in den -> Jungen Kirchen aufgegriffen worden sind, auch in der Meinung, hier etwas unverwechselbar Eigenes aussprechen zu können und die bisherige Lehrentwicklung selbständig weiterzuführen. Derlei Erwägungen erinnern an Prognosen des Dogmenfortschritts, wie sie (parallel zur gleichzeitig aufgekommenen katholischen Theorie der Dogmenentwicklung) im konfessionellen Luthertum des 19. Jh. von Th. Kliefoth und A.F.Chr. —• Vilmar ausgesprochen worden sind: Jedes Lehrstück muß durch die Kirche in geschichtlichen Erfahrungen erarbeitet werden, so daß die Geschichte der Dogmatik die Kirchengeschichte widerspiegelt 92 . Durch die Emanzipation der Jungen Kirchen von der Missionstradition (—»Mission) und durch die politisch und kulturgeographisch bedingten Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen in Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien und der europäisch-nordamerikanischen Theologie sind aber auch einschneidende Anfragen an die Dogmatik erwachsen, die sich zu einer Grundlagenkrisis ausgeweitet haben. Diese Kontroverse, die sich seit Mitte der sechziger Jahre abzeichnet, ist durch die Hinwendung zu sozialethischen Entscheidungsfragen mitgeprägt und verstärkt worden: Frontstellungen, vor allem politischer Art, werden zu Bekenntnissituationen (status confessionis moralis), und die Überzeugung nimmt überhand, daß ein ethisches Entweder-Oder die bisher dogmatisch gezogenen Grenzen zwischen Glaubensgemeinschaft und Häresie ersetzt habe — auch dies ein Hinweis auf den Funktionswandel der Dogmatik. Im ökumenischen Vergleich zeigt sich weiterhin, daß die Gestalt der Dogmatik und ihre Ausarbeitung als kirchliche Lehre von der jeweiligen Kirchenstruktur abhängig ist. Angesichts dieser Pluralität ist es um so bedeutsamer, daß die Aufgabe verbindlicher Lehre intensiver als früher erörtert wird 93 . 5.2. Dogmatik und Dogmatiker. Zum Erscheinungsbild der gegenwärtigen Dogmatik gehört auch eine oft verwirrende Pluralität dogmatischer Konzeptionen - und zwar nicht mehr allein, wie bisher, nur in der evangelischen Theologie. Der katholischen Theologie ist eine solche Vielgestalt lange Zeit erspart geblieben, weil sie einen konsistenten Bestand von Dogmen auszulegen hatte. Die verschiedenartigen Ausarbeitungen der Dogmatik, wie sie die evangelische Theologie seit der Aufklärung kennzeichnen, haben eine ihrer Ursachen in der fehlenden gemeinsamen Aufgaben- und Gegenstandsbestimmung. Zu weiterer Differenzierung haben der Funktionswandel der Dogmatik bzw. unterschiedliche Antworten
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darauf beigetragen. Die Vielfalt der Dogmatik konnte zeitweise dadurch eingeschränkt werden, daß man sich an einer zu bestimmter Zeit und von bestimmten Dogmatikern getroffenen Grundentscheidung und ihrer Konzeptualisierung ausrichtete. Erst durch die weitergehende Auseinandersetzung wurden diese Beiträge zu dogmatischen „Positionen", denen sich eine sekundäre Konsolidierung der dogmatischen Arbeit verdankte. Durch den ständigen Rückbezug auf programmatisch getroffene Entscheidungen sind Dogmatiker wie —»Schleiermacher, A. —»Ritsehl und —»Barth zu den Führerpersönlichkeiten geworden, als die sie dann schulbildend in Erscheinung getreten sind. Die Positions- und Schulbildung hat sich auch als stärker erwiesen als die Bindung an die innerevangelischen konfessionellen Traditionen, wie zuerst unter dem Einfluß Schleiermachers, dann wieder besonders an der Wirkung Barths zu beobachten gewesen ist. Daraus darf man nicht schließen, daß die Pluralität evangelischer Dogmatik auf einem typisch protestantischen Individualismus beruhe, der überdies als in der deutschen Theologie besonders ausgeprägt gilt. Sie rührt vielmehr von der bereits in der altprotestantischen Theologie angelegten Spannung zwischen Theologie-Treiben (Theologie als habitus Oeöodorog) und dogmatischem Aussagenzusammenhang her. Schleiermacher hat diese Spannung einseitig dadurch aufgelöst, daß er von jedem Theologen forderte, alle Lehrstücke in eigener Überzeugung zu entwickeln 94 . Derart ist das Verhältnis des Dogmatikers zu dem, was er auszusprechen und zu vertreten vermag, zu einem Problem geworden. Schleiermachers Bildungsziel ist vom romantischen Ideal der (nach-)schöpferischen Originalität her entworfen. Außerdem wirft es die Frage nach dem Verhältnis des Dogmatikers zur Gemeinschaft der Glaubenden, für die er redet, auf. Diese Auszeichnung des Dogmatikers, die mit der kirchlichen Funktion der Dogmatik nur teilweise im Einklang steht, ist oft variiert worden. D. —»Bonhoeffer erklärt: „Soziologisch gesehen ist der Prediger wesenhaft in der Gemeinde und sekundär einzelner, während der Dogmatiker wesenhaft einzelner ist und sekundär in der Gemeinde." 95 Wird aber dies theologisch aus der Aufgabe der Dogmatik verstanden, das Glaubens-Wissen der Kirche (das, was als Glaube verantwortlich und zusammenhängend auszusagen ist) darzulegen, so ist damit festgestellt, daß der Dogmatiker gerade nicht exemplarisch ein Einzelner ist,—was schon gar nicht daraus erklärt werden kann, daß er seine Gläubigkeit zu reflektieren habe, stellvertretend, vorbildlich oder gar maßgeblich für andere, die dafür keine professionelle Gelegenheit haben. Der Dogmatiker muß über Sachverhalte reden, für die der Glaube Voraussetzung ist, aber nicht die Gläubigkeit des Dogmatikers, ebensowenig allerdings auch seine eigenen Zweifel, seine Anfechtung, seine Schwierigkeiten, sich zwischen Tradition und Gegenwart zu verhalten, oder etwa seine sozialen Rollenprobleme. Für das Berufsbild des Theologen als (auch) eines Dogmatikers — nicht nur des akademischen Lehrers, sondern des Theologen überhaupt - ist entscheidend, daß theologische —»Wahrheit nicht auf die Wahrhaftigkeit des Theologen reduziert, die theologische Existenz (der Mensch im Glauben) nicht mit der existentiellen Situation von Amtsträgern verwechselt und die Mitteilung des —»Glaubens keinesfalls von einer Dialektik zwischen Subjektivität und Objektivität beherrscht wird, nach der persönliche Gewißheit aus Allgemeingültigkeit erwächst und umgekehrt. Nicht die Beziehung von „Person" und „Sache", sondern die Bedingtheit der Dogmatik durch ihr spezifisches Reden von Gott erlaubt es und nötigt dazu, vom Beruf zur Dogmatik zu sprechen, der sich von aller berufsmäßigen Reflexionshaltung, von einem professionellen Denken über den Glauben wesenhaft unterscheidet. Es ist die alle Geduld des Denkens fordernde Berufsaufgabe, den Zusammenhang theologischer Aussagen und ihre Begründung zu ermessen, die den Dogmatiker zum, wie M . —»Kähler sagte, „Vertreter des Laien" werden läßt 9 6 . 5.3. Dogmatik im Studium und im Aufbau der Theologie. Bis zum Ende der sechziger Jahre war die Dogmatik wie die —»Ethik und die —»Praktische Theologie in Deutschland der zweiten Hälfte der akademischen Ausbildung vorbehalten und wurde weiter in der damals noch relativ geschlossenen zweiten Ausbildungsphase in den Predigerseminaren unterrich-
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tet. Das Studium der Dogmatik konnte auf der Exegese und historischem Wissen, außerdem auf philosophischen Grundkenntnissen aufbauen. Diese Einordnung der Dogmatik entsprach dem Weg „vom Text zur Predigt", der am Paradigma der Verkündigung als dem Grundmuster theologischer Arbeit ausgerichtet war, wie es sich als Bild der Einheit der Theologie seit den zwanziger Jahren durchgesetzt hatte. Die Dogmatik schien der Reflexionsstufe der—»Meditation innerhalb der Predigtpraxis zu entsprechen. Man kann auch an der seitherigen Wandlung der Meditationspraxis die spezifischen Gefährdungen der Dogmatik durch eine überwuchernde Exegese einerseits und durch ein kurzschlüssiges Praxisdenken andererseits ablesen. Die auf die Predigt zugeschnittene Aufgabenzuweisung versprach, die Spannung von historischem Bewußtsein und dogmatischem Denken zu überwinden, die die Dogmatik seit ihrer Entstehung als selbständiger Disziplin begleitet hatte. Die Bindung aller theologischen Arbeitsgebiete an eine gemeinsame praktische Aufgabe ist aber oft nur äußerlich gelungen. So hat die Forderung nach einer „theologischen Exegese" die Bibelauslegung der theologischen Wahrheitsfrage gegenübergestellt (—»Bibel IV, —•Schriftauslegung); andererseits bemühten sich Dogmatiker um ein exegetisches Fundament ihrer Überlegungen, ohne daß es zu einer methodologisch hinreichenden Klärung ihrer Verfahren gekommen wäre. Unter dem Einfluß der —»Hermeneutik sind die Unterschiede zwischen historischer und dogmatischer Arbeitsweise noch weiter eingeebnet worden. Geleitet von der Frage des Verstehens, Auslegens und Übersetzens konnte sich wiederum eine Einheitsvorstellung der Theologie entwickeln, die der Dogmatik einen Platz zuwies, der vorwiegend in Auseinandersetzung mit der historischen Perspektive und ihren zunehmend deutlich gewordenen Problemen bestimmt wurde. Das Studium der Dogmatik mußte eine Vertrautheit mit diesen Gesichtspunkten voraussetzen. Die Einordnung der Dogmatik in das Ganze der Theologie, die auch vom Selbstverständnis der —»Philosophie und ihrer Nachbardisziplinen (—»Geschichte, —»Geschichtsphilosophie, —»Sprache/Sprachwissenschaft) beeinflußt wurde, ist in jüngster Zeit fraglich geworden, u. a. auch durch ein verändertes Studienverhalten. Seit etwa zehn Jahren beginnen viele Studenten mit dem Studium der Dogmatik schon in den ersten Semestern. Zu den theologisch bedenkenswerten Beweggründen, die dazu führen, zählt der Wunsch, zunächst einen Zugang zu den Elementen des Christentums vermittelt zu bekommen und die eigene Einstellung zum Glauben zu klären. Der Dogmatik wird die Erwartung entgegengebracht, den Glauben im Hause der Wissenschaften und die Kirche in der Gesellschaft zu legitimieren, eine überschaubare und überzeugungskräftige Orientierung des Glaubens zu gewährleisten und (zusammen mit der Ethik) eine Brücke von theologischen Fächern zu anderen Wissenschaften zu schlagen. Dadurch ist der Dogmatik eine propädeutische Aufgabe zugewachsen, deren sie sich jedoch nur im Blick auf ihren eigenen Gegenstand annehmen kann. Im Vergleich zu den historischen Forschungsgebieten der Theologie muß die Dogmatik darlegen, wie sie ihre kussagtngewinnt und begründet. Die Beziehung zu den anderen theologischen Disziplinen erhält sie dabei nicht durch eine umfassende Integrationsidee, sondern durch ihr Eingehen auf das Reden von Gott. In der Dogmatik soll geurteilt werden, ob theologisches Reden auf die Einheit des Handelns Gottes ausgerichtet ist. Gemessen an diesem Kriterium der Glaub-würdigkeit ist in die Frage nach der Eigenart, der Konstitution und dem Zusammenhang theologischer Aussagen einzuüben. Derart wird eher als in enzyklopädischen Versuchen die Einheit der Theologie gewahrt, nämlich im Blick auf die Wahrheit der Theologie - unabhängig von allen vertretbaren Abgrenzungen gegenüber anderen Wissensformen, Erkenntnisarten und Zugangsweisen zu wissenschaftlich erfaßbarer Wirklichkeit. Erst von hier aus können und müssen „Geschichte", „Gesellschaft", „Sprache" und „Erfahrung" als Felder theologischer Forschung erschlossen werden, statt daß davon auszugehen wäre, daß sie als vor- und außerdogmatische Wissensgebiete eine Legitimation theologischen Denkens versprechen oder bestreiten. S.4. Theoretische Aufgaben der Dogmatik. Mit diesen aus dem dogmatischen Unterricht erwachsenen Fragestellungen sind wissenschaftstheoretische Überlegungen aufge-
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nommen, die H. Scholz vor fünfzig Jahren angeregt hat 9 7 und die seit zehn Jahren wieder intensiver erörtert werden 9 8 . Während das Bild nicht nur der Dogmatik, sondern auch der Theologie als Wissenschaft herkömmlich durch die Rezeption dogmatischer Überlieferung und ihr Verhältnis zu Bibelauslegung und Kirche geprägt worden war, erörterte Scholz den Aufbau des Begründungszusammenhanges der Theologie. Dieser Begründungszusammenhang kann wissenschaftlich nur in wahrheitsfähigen Aussagen bestehen, und er wird nicht durch eine Rationalisierung von Glaubensgründen gebildet, sondern dient der Rationalität theologischer Argumentation. Dadurch ist der Dogmatik die theoretische Aufgabe gestellt, ihre Kriterien der Wahrheitsprüfung in bezug auf ihren Gegenstand zu entwickeln und daran die ihr zugewachsenen Funktionen zu messen. Unter dem Einfluß der neueren wissenschaftstheoretischen Diskussion ist auch die bereits früher (s.o. Abschn. 2) kontroverse Frage erneut strittig geworden, ob „Methode" in der Dogmatik den begründenden Charakter (wieder) erhalten kann, den ihr die idealistische Wissenschaftslehre zugeschrieben hatte — oder ob „Methode" nicht vielmehr die Arbeitsweise meint, die theologische Aussagen gewinnt und begründet, ohne zu einer Selbstbegründung des Glaubens zu führen. 5.5. Zur Disposition der Dogmatik. Die theoretischen Bemühungen suchen einer in Lehre und Forschung der Dogmatik unübersehbar gewordenen Neigung zu begegnen, das dogmatische Aussagengefüge in eine Vielzahl von Themen mit unterschiedlichem Eigengewicht aufzulösen. Die Formulierung der Themen ist zwar dem Traditionsbestand der Dogmatik entnommen (z. B. -•Rechtfertigung, —»Mensch, —»Kirche, —»Trinität), aber ihre Entfaltung entspricht längst nicht mehr dem Gesamtduktus der überlieferten Dogmatik, obwohl eine überzeugende Alternative zu deren Aufriß noch nicht in Sicht gekommen ist. Offenbar vermag aber die „klassische" Komposition der Dogmatik (s. o. Abschn. 2) nicht mehr alle die Probleme aufzunehmen und hinreichend zum Ausdruck zu bringen, deren die Dogmatik sich annehmen will. Eine nur scheinbare Lösung dieser Schwierigkeit wird häufig in der Suche nach einem Mittelpunkt erreicht, von dem aus man das Ganze der Dogmatik ableiten will. Insbesondere ist die Christologie als ein solches Zentrum beansprucht worden, das sämtliche Gesichtspunkte des Redens von Gott in der Anschauung —»Jesu Christi in sich versammelt, zugleich den einzig glaubwürdigen Zugang zur Theologie eröffnet und die grundlegenden Kriterien aller christlichen Theologie nennt. An diesem Beispiel läßt sich zeigen, daß unterschiedliche Fragerichtungen der Dogmatik (Traditionsargument und Begründungsproblem, Einzelthema und Aussagenzusammenhang, Gegenstand und Methode, bekenntnishaftes und dogmatisches Reden 99 ) im Streben nach einer dogmatischen Konzentration nur vermischt werden, statt daß eine systematische Anordnung gelingt. Hier zeigt sich, daß die früher bewährte Darstellungsform der Dogmatik mit ihren Varianten den heute gestellten Aufgaben nicht mehr voll genügt. Dies gilt insbesondere im Blick auf die Anthropologie und die Lehre von der Kirche. Sofern vom Menschen nicht nur dogmatisch die Rede ist, sondern wenn er auch als Sprecher dogmatischer Aussagen in Erscheinung tritt (also als Theologe, und zwar unterschieden von der Gemeinde und vom einzelnen Beter, der von Gott redet, unterschieden auch in seiner Auseinandersetzung mit Uberlieferung und Zeitgenossenschaft), dann kann von ihm nicht in ein und demselben Zusammenhang die Rede sein. Ebenso verhält es sich mit der Kirche als dem „Subjekt" der Dogmatik und ihr als dem Inhalt bestimmter dogmatischer Aussagen. Warum sollte die Dogmatik, gerade auch die evangelische Dogmatik, nicht mit einer Lehre von der Kirche beginnen können, die ihr Angewiesensein auf das Kirchentum in all seiner dogmatisch fragwürdigen und bedenkenswerten Faktizität aussagt 100 ? In einer solchen theologischen Kirchentheorie wären die Vorklärungen am Platze, die zu dem Satz des Credo „Ich glaube die Kirche als Werk Gottes" hinführen, ohne ihn zu begründen oder zu verdrängen. Werden jedoch Glaubensaussagen über die Kirche mit Feststellungen über die Kirche als empirische Relation der Dogmatik vermischt, dann verwirrt dies die theologische Argumentation in folgenschwerer Weise. Die Dogmatik braucht deshalb hier und bei ihrer Besinnung auf das Menschsein eine
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Dispositionsfreiheit, die es ihr erlaubt, die methodischen Anordnungen zu treffen, die ihrem Gegenstand und ihrer Methode gemäß sind. Anmerkungen ' Georg Calixt, Epitome theologiae moralis (1634),Helmestadii 1662,70; vgl. Otto Ritsehl, Das Wort dogmaticus 260 Anm. 1. 2 Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard u. Georg Calixt, 1961 (BHTh 30) 153. - Inge Mager, Georg Calixts theol. Ethik u. ihre Nachwirkungen, 1969 (SKGNS 19). 3 Vgl. O. Ritsehl, a.a.O. 260 Anm. 2. - Ders., DG des Protestantismus, Leipzig, I 1908, 31 Anm. 1. * Siehe z. B. Julius August Ludwig Wegscheider, Institutiones Theologiae Christianae Dogmaticae, Halae 5 1826, 70. 5 Karl Rahner, Art. Dogmatik: SM(D) 1 (1967) 917. - Ähnlich z.B. MySal 1, XLI; M. Schmaus, Glaube I, 237. 6 Richard Rothe, Zur Dogmatik, Gotha 1863, 1: „Wissenschaft von den Dogmen". - Karl Barth, Christi. Dogmatik 121: „Wissenschaft vom Dogma".-Hermann Diem, Art. Dogmatik 952: „Unter D. versteht man die zusammenhängende Entfaltung und wissenschaftliche Erklärung der Dogmen " - Gerhard Gloege, Art. Dogmatik 225: „Die D. ist Wissenschaft vom Dogma bzw. von den Dogmen." 7 K. Barth, a.a.O. 1 2 2 - 1 2 5 . 8 Otto Ritsehl, System u. syst. Methode in der Gesch. des wiss. Sprachgebrauchs u. der phil. Methodologie, Bonn 1906. — Ders., Literarhist. Beobachtungen über die Nomenklatur der theol. Disziplinen im 17. Jh.: Studien zur syst. Theol. FS Theodor Häring, Tübingen 1918, 7 6 - 8 5 . — Vgl. August Hahn, Lb. des christl. Glaubens, Leipzig 1828, 70: „Man spricht von System in einem engern und weitern Sinne. In jenem soll es seyn eine Darstellung, wo aus Einem obersten Grundsatze (constitutives Princip) alle übrigen Sätze ihrem Inhalte und ihrer Ordnung nach abgeleitet und darauf zurückgeführt werden. In dem weitem Sinne des Wortes versteht man darunter einen Vortrag, in welchem die gleichartigen Lehrsätze, sey es in historischer oder didactischer Form oder gemischt, unter Hauptoder Grundsätzen (regulative Principien) zusammengestellt und durch einander gegenseitig erläutert und begründet werden." * Johannes Kunze, Art. Loci theologici: RE 3 11 (1902) 5 7 0 - 5 7 2 . 10 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXXV. - W. Nieke, Art. Dogmatismus: HWP 2 (1972) 277—279. - Vgl. zum Sprachgebrauch ferner: Klaus Roglmann, Dogmatismus u. Autoritarismus. Kritik der theoretischen Ansätze u. Ergebnisse dreier westdt. Unters., Meisenheim 1966. Milton Rokeach, La nature et la signification du dogmatisme: ASRel 1971/21, 9f. — Kerstin Kiessler-Hauschildt, Dogmatismusgrad u. die Fähigkeit, zw. Herkunft u. Inhalt politischer Aussagen zu differenzieren, München 1973. - Erkenntnis oder Dogmatismus? Kritik des psychologischen „Dogmatismus"-Konzepts, hg. v. Peter Keiler/Michael Stadler, Köln 1978 (Studien zur kritischen Psychologie 5). 11 Vgl. Ernst Troeltsch, Uber hist. u. dogm. Methode in der Theol. (1900): Theol. als Wiss. (TB 43) 105-127. 12 Theodor Viehweg, Ideologie u. Rechtsdogmatik: Ideologie u. Recht, hg. v. Werner Maihofer, Frankfurt 1 9 6 9 , 8 3 - 9 6 (Lit.).-Franz Wieacker, Zurprakt. Leistung der Rechtsdogmatik: Hermeneutik u. Dialektik. FS Hans-Georg Gadamer, Tübingen, II 1970, 3 1 1 - 3 3 6 (Lit.). - Ulrich Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? Zum Selbstverständnis der Rechtswiss., Tübingen 1973. - Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart u.a. 1974. 13 Erich Rothacker, Die dogm. Denkform in den Geisteswiss. u. das Problem des Historismus, 1954 (AAWLM.G 6). - Emilio Betti, Allg. Auslegungslehre als Methodik der Geisteswiss., Tübingen 1967, 239f.440ff.458ff.479.625. 14 Beispiele bei G. Sauter/A. Stock, Arbeitsweisen 8 8 - 1 0 5 . 15 Gerhard Ebeling, Der Grund christl. Theol.: ZThK 58 (1961) 238. 16 Das letzte Beispiel ist die von spanischen Jesuiten besorgte Sacrae Theologiae Summa, 5 1962. 17 Eine solche Analyse hat Carl Heinz Ratschow begonnen: Luth. Dogmatik zw. Reformation u. Aufklärung, bisher 2 Bde. , 8 Siehe Martin Grabmann, Die Gesch. der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i. B. 1909—1911 = Darmstadt 1961. 19 [Hans] Emil Weber, Der Einfluß der prot. Schulphil, auf die orth.-Iuth. Dogmatik, Leipzig 1908 = Darmstadt 1 9 6 9 , 2 0 - 74. - Paul Althaus, Die Prinzipien der dt. ref. Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik, Leipzig 1914 = Darmstadt 1967, 1 8 - 6 7 . - Otto Weber, Analytische Theol. Zum gesch. Standort des Heidelberger Katechismus: Hdjb 7 (1963) 3 3 - 4 4 . - Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der luth. Theol. des frühen 17. Jh., 1976 (CThM 4) 3 0 - 3 6 .
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Vgl. B. Keckermann,Systerna SS. Theologiae, Hanoviae 1615,9: Theologiaestprudentiareligiosaad salutem perveniendi. - B. Meisner, a. a. O., Wittebergae 1625,128: Tbeologia est habitus deoodözog practicus, in mente Theologi existens, eumque dirigens, ut homines lapsos, per veram Religionem, perducat ad aeternam beatitudinem; s. auch 119 ff.135 ff. - G . C a l i x t , Epitome Theologiae, Helmestadii 1661,4: „Theologiam esse disciplinam practicam, quod dirigatur ad fidem"; 40: „Theologia est habitus intellectus practicus docens e revelatione divina sacris Uteris comprehensa et testimonio veteris Ecclesiae comprobata, quomodo ad aeternam vitam perveniendum sit." . 21 Vgl. Die Idee der dt. Univ. Die fünf Grundschr. aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klass. Idealismus u. romantischen Realismus, hg. v. Ernst Anrieh, Darmstadt 1956. 22 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theol. Studiums zum Behuf einleitender Vorl. (1811 2 1830), krit. hg. v. Heinrich Scholz, 1910 (QGP 10) = Darmstadt "1977. - Karl Rudolf Hagenbach, Encyklopädie u. Methodologie der Theol. Wiss. (1833), hg. v. M a x Reischle, Leipzig , 2 1 8 8 9 . - G o t t lieb Christoph Adolph Harleß, Theol. Encyklopädie u. Methodologie vom Standpunkte der prot. Kirche, Nürnberg 1837. - Weiteres —»Enzyklopädie, theologische. 23 Thomas v. Aquino,Summa theologica I q . 1 a. 7: Respondeo dicendum quod Deus est subiectum huius scientiae. Sic enim se habet subiectum ad scientiam, sicut obiectum ad potentiam, vel habitum . .. Omnia autem pertractantur in sacra doctrina sub ratione Dei, vel quia sunt ipse Deus, vel quia habent ordinem ad Deum ut ad prineipium, et finem. 24 M. Luther, Enarratio Psalmi LI (1532.1538), WA 40/II, 328, 17f. 25 Abraham Calov, Isagoges Ad SS. Theologiam Libri Duo, De Natura Theologiae, Et Methodo Studii Theologici,..., Witebergae 1652, 290; vgl. auch 200.208. 26 F. Schleiermacher, Der christl. Glaube, 1 2 1830, SS 3.15.17.31. 27 A . a . O . SS 16.18.31. 28 R. Rothe, Dogmatik, hg. v. Daniel Schenkel, Heidelberg I, 1870, 1. 29 Alexander Schweizer, Die Christi. Glaubenslehre nach prot. Grundsätzen, Leipzig, I 2 1877, 39. 30 Franz Hermann Reinhold Frank, System der christl. Wahrheit, Erlangen, I 2 1885, 44; vgl. 1. 31 Reinhold Seeberg, Christi. Dogmatik 227 f. 32 Johann Tobias Beck, Einl. in das System der Christi. Lehre oder Propädeutische Entwicklung der Christi. Lehrwiss. Ein Versuch, Stuttgart 2 1870, 8. 33 Martin Kahler, Die Wiss. der christl. Lehre, von dem ev. Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 3 1905 = Neukirchen 1966, 5. 34 K. Barth, Christi. Dogmatik 30; vgl. 32. 94. 35 K. Barth, a . a . O . 87. 36 K. Barth, KD 1/1, 261. 37 Werner Eiert, Der christl. Glaube, ' i 9 6 0 , 39. 38 Wolfhart Pannenberg, Was ist eine dogm. Aussage?: ders., Grundfragen I, 1 6 9 - 1 7 1 . 39 Vgl. z.B. Johann Gerhard, Loci Theologici XVI 66 (1610) [hg. v. Eduard Preuß], Lipsiae, III 2 1885, 350:3. Denotatur hoc vocabulo [seil. fides]objectum acprineipium fidei, videlicet doctrina coelestis divinitus revelata. Lomb. 3. sent, distinct. 23. lit. C. ex Augustino lib. 13. de trinit. c. 2: „Aliud sunt ea, quae creduntur, aliud fides, qua creditur, et tarnen nomine fidei censetur utrumque, quod creditur, et id, quo creditur." Fides, quae creditur, vocatur fides materialis; fides, qua creditur, fides formalis, quia fides, quae creditur, est fidei, qua creditur, objectum, quod alias materia circa quam dici solet. — Johannes Wolleb, Christianae theologiae compendium, accurata methodo sic adornatum ..., Lib. I c. 29 can. I (1626), hg. v. Ernst Bizer, Neukirchen 1935, 114: Fidei vox quinque in Scriptura significata habet; aut enim fides metonymice pro sana doctrina accipitur, quae non est fides, qua credimus, sed quam credimus ... 40 Vgl. G. Sauter/A. Stock, Arbeitsweisen 1 5 1 - 1 5 4 . 41 Vgl. Goeffrey Wainwright, Doxology: The Praise of God in Worship, Doctrine and Life - A Systematic Theology, London and New York 1980. 42 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung 75 f ( 2 § 198). 43 Emil Brunner, Dogmatik I, 3. — Siehe schon K. Barth, Christl. Dogmatik 462: „Dogmatik ist eine Funktion der Kirche." — Ders., KD 1/1, 1: „Dogmatik ist eine theologische Disziplin. Theologie ist aber eine Funktion der Kirche." - P. Tillich, Syst. Theol. 1,9: „Theologie ist eine Funktion der christlichen Kirche, sie muß den Erfordernissen der Kirche entsprechen." - Vgl. zur Frage der Kirchlichkeit weiter: Ernst Wolf, Theol. am Scheideweg: Bekennende Kirche. FS Martin Niemöller, München 1 9 5 2 , 1 8 - 4 0 . - T h e o l . als Wiss. (TB 43) 331 f (Lit.). - G. Sauter, T h e o l . - e i n e kirchl. Wissenschaft?: Jenseits vom Nullpunkt? Christsein im westlichen Deutschland. FS Kurz Scharf, Stuttgart 1972, 287-299. 44 E. Branner, a. a. O. 5. 45 Thomas v. Aquino, Summa theologica I I - I I q. 1 a. 6. 46 Carl Albrecht Bernoulli, Die wiss. u. die kirchl. Methode in der Theol. Ein encyklopädischer Versuch, Freiburg i.B. u.a. 1897. - E. Troeltsch, Uber hist. u. dogm. Methode in der Theol. (s.o. Anm. 11).
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K. Barth, Christi. Dogmatik 112.123.376 f.460. - Vgl. dazu G. Sauter, Dogma. W. Sparn, a.a.O. 35. Vgl. Wolfgang Raddatz, Der Funktionswandel der Dogmatik bes. 292 ff. - Trutz Rendtorff, Kirche u. Theol. Die syst. Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theol., Gütersloh 1966, 27 ff. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung40-42 ( 2 $S 9 5 - 9 8 ) . 73 f (2S 195).-Ders., Derchristl. Glaube, I 2 1830, $ 19. Ders., Kurze Darstellung 41 (2$ 97 Zusatz). — Vgl. auch die eingeschränkte Verwendung des Terminus „Systematische Theologie" in: ders., SW.I/12. Die christl. Sitte nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. L. Jonas, Berlin 2 1884, 7 f. Christian Wolff, Philosophia Moralis Sive Ethica P. I, SS 284 f, Halae/Magdeburgicae 1750, NA Hildesheim/New York 1970 (GW 11/12, hg. v. J. Ecole u.a.), 4 3 8 - 4 4 2 . Carl Ludwig Reinhold, Uber das Fundament des phil. Wissens, Jena 1791, bes. 77f.l08ff. F. Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803.1834): ders., SW III/l, Berlin 1846, 18. F. Schleiermachers Ästhetik, hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin/Leipzig 1931,72. - Erhalten geblieben ist die idealistische Begründungsweise dagegen bei David Friedrich Strauß, Die christl. Glaubenslehre in ihrer gesch. Entwicklung u. im Kampfe mit der modernen Wiss., 2 Bde., Tübingen/Stuttgart 1 8 4 1 - 1 8 4 2 , NA Frankfurt a.M. 1973, bes. I, 3 5 9 - 3 6 2 , und bei Alois Emanuel Biedermann, Christi. Dogmatik, Zürich 1869, bes. 1 2 5 - 1 5 8 , 2Berlin I, 1884, 3 2 8 - 3 8 2 . K. Barth, Christi. Dogmatik 105. - Ders., Das erste Gebot als theol. Axiom (1933): ders., Theol. Fragen u. Antworten. GV Zollikon, III 1957, 1 2 7 - 1 4 3 . Diese Vorstellung hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. eingebürgert. Vgl. A. Schweizer, Glaubenslehre, I, 36: „Die Glaubenslehre ist mit der Sittenlehre die systematische Theologie oder die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens und Lebens der evangelisch protestantischen Kirche auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe." Johann Philipp Gabler: JATL 5 (1810) 594 ff; vgl. Albrecht Ritsehl, Über die beiden Principien des Protestantismus (1876): GAufs., Freiburg i.B./Leipzig, [I] 1893, 236f. I.A.L. Wegscheidel Institutiones Theologiae Dogmaticae, Halae 5 1826, 83. August Detlev Christian Twesten, Vorl. über die Dogmatik der Ev.-Luth. Kirche, nach dem Compendium des Herrn Dr. W.M.L. de Wette, Hamburg, I 2 1829, 280. Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der ev.-ref. Kirche dargestellt u. aus den Quellen belegt, Zürich, I 1844, VIII; vgl. auch 42. Vgl. A.D.Chr. Twesten, a.a.O. 282. A. Schweizer, a.a.O. 32. Vgl. Schweizer, a.a.O. 22.40.42ff. Friedrich August Berthold Nitzsch, Lehrbuch der ev. Dogmatik, Freiburg i.B./Leipzig 2 1896, 39. Christoph Ernst Luthardt, Kompendium der Dogmatik, Leipzig 4 1873, 15. K. Barth, Christi. Dogmatik 449.451. So formuliert Emanuel Hirsch im Titel seiner Theologiegeschichte. Ernst Troeltsch, Christentum u. Religionsgesch. (1897): ders., GS, Tübingen, II 1913 2 1922, 3 2 8 - 3 6 3 . - Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theol. der Religionsgesch. (1962): ders., Grundfragen I, 2 5 2 - 2 9 5 . Rudolf Otto; vgl. Hans Braeunlich, Das Verhältnis v. Religion u. Theol. bei Ernst Troeltsch u. Rudolf Otto. Unters, zur Funktion der Religion als Begründung der Theol., Diss. Theol. Bonn 1978. Ernst Troeltsch, Psychologie u. Erkenntnistheorie in der Religionswiss., Tübingen 1905 2 1922. Georg Wobbermin, Syst. Theol. nach religionspsychologischer Methode, bes. I, 3 5 3 - 4 6 5 . G. Ebeling, Diskussionsthesen für eine Vorl. zur Einf. in das Studium der Theol.: ders., Wort u. Glaube, Tübingen, I 1 9 6 0 , 4 4 7 - 4 5 7 , bes. 448. - Heinrich Ott, Was ist syst. Theol.?: ZThK.B 2 (1961) 19-46. Vgl. zum Folgenden G. Sauter, Wissenschaftstheoretische Kritik 308-316.356. Nikos A. Nissiotis, Die Theol. der Ostkirche im ökum. Dialog. Kirche u. Welt in orth. Sicht, Stuttgart 1968, 8 3 - 8 5 . Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogm. Gegensätze der Katholiken u. Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschr. ( 5 1838), hg. v. Josef Rupert Geiselmann, Darmstadt, 11958,431; II 1960,245 f. - John Henry Newman, An essay on the development of Christian doctrine, London 1845; dt.: Uber die Entwicklung der christl. Lehre, Schaffhausen 1846. - Arnold Rademacher, Der Entwicklungsgedanke in Religion u. Dogma, Köln 1914. - DS 3020. 3043. - Karl Rahner, Art. Dogmenentwicklung: LThK2 3 (1959) 4 5 7 - 4 6 3 . - Alois Kothgasser, Dogmenentwicklung u. die Funktion des Geist-Parakleten nach den Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils: Sal. (1969) 3 7 9 - 4 6 0 . - Winfried Schulz, Dogmenentwicklung als Problem der Geschichtlichkeit der Wahrheitserkenntnis: AnGr 173 (1969) 1 - 3 5 6 . - Josef Finkenzeller, Das Verständnis v. Dogma u. Dogmenentwicklung in der Theol. nach dem 1. Vatikanischen Konzil: Hundert Jahre nach dem 1.
Dogmatik I
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Barth, KD 1 / 1 , 3 5 - 3 8 . 1 2 8 - 1 3 6 ; IV/3, 200. - Hans Joachim Iwand, Der Prinzipienstreit innerhalb der prot. Theol. (1958): ders., Um den rechten Glauben, GAufs., hg. v. Karl Gerhard Steck, I 1959 (TB 9) 2 2 2 - 2 4 6 . 84 Paul Althaus, Die christl. Wahrheit I, 4 5 - 1 1 2 . - Gerhard Gloege, Art. Uroffenbarung: RGG 3 6 (1962) 1 1 9 9 - 1 2 0 3 . 85 G. Gloege, Art. Dogmatik 226 f. 86 Jürgen Habermas, Z u r Logik der Sozialwissenschaften: PhR.B 5 (1967) 180 Anm. 222. 87 Hans Joachim Iwand, Glauben u. Wissen, hg. v. Helmut Gollwitzer: ders., Nachgelassene Werke, München, 11962,200f.288. - Ders., Prinzipienstreit 244. - G. Sauter, Zukunft u. Verheißung, Zürich21973, 1 4 9 f f . - D e r s . , Begründete Hoffnung. Erwägungen zum Begriff u. Verständnis der Hoffnung heute: ders., Erwartung u. Erfahrung 6 9 - 1 0 7 . - Vgl. auch W. Pannenberg, Dogm. Thesen zur Lehre v. der Offenbarung: ders. (Hg.), Offenbarung als Gesch.: KuD.B 1 ( 2 1963) 112. - Ders., Was ist Wahrheit? (1962): Grundfragen I, 2 0 2 - 2 2 2 . - J. Moltmann, Theol. der Hoffnung, München 1964 " 1 9 8 0 , 35 ff. 88 Vgl. die gegensätzlichen Entwürfe von Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund u. Kritik christl. Theol., München 1972 4 1981, und Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt Tübingen 1977 3 1978. 89 Albert Lang, Fundamentaitheol., 2 Bde., München 4 1 9 6 8 - 1 9 6 9 . - Adolf Kolping, Fundamentaltheol., 2 Bde., Münstei 1 9 6 8 - 1 9 7 4 . - Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie Fundamentale Theol. Analysen zu Ansatz u. Status theol. Theoriebildung, Düsseldorf 1976, Frankfurt a. M . 2 1 9 7 8 . — Johann Baptist Metz, Glaube in Gesch. u. Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaitheol., Mainz 1977 3 1980. 90 Confessions in Dialogue - A Survey of Bilateral Conversations among World Confessional Families ( 1 9 5 9 - 1 9 7 4 ) by Nils Ehrenström and Günther Gaßmann, Genf 3 1975. - Reform u. Anerkennung kirchl. Ämter. Ein Memorandum der Arbeitsgemeinschaft ökum. Universitätsinstitute, München/Mainz 1973. - Papsttum als ökum. Frage, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft ökum. Universitätsinstitute, München/Mainz 1979. 91 Geist Gottes — Geist Christi, ö k u m . Überlegungen zur Filioque-Kontroverse, hg. v. Lukas Vischer, 1981 (ÖR.B 39). 92 Theodor Kliefoth, Einl. in die DG, Parchim/Ludwigslust 1 8 3 9 , 6 5 - 9 9 . 3 2 5 - 3 6 7 . - A u g u s t Friedrich Christian Vilmar, Schulreden über Fragen der Zeit (1846), Marburg 2 1 8 5 2 , 2 8 0 - 2 9 8 . - Ders., Die Theol. der Thatsachen wider die Theol. der Rhetorik (1856), NA Berlin 1947 (= 3 1857), 8 4 - 8 6 . 93 Verbindliches U h r e n der Kirche heute, 1978 (ÖR.B 33). 94 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung 83 ( 2 S 219). 95 Dietrich Bonhoeffer, Akt u. Sein, 3 1964 (TB 5) 112. 96 Martin Kähler, Jesus u. das AT (1896): ders., Zur Bibelfrage, Gütersloh 1937, 117. 97 Heinrich Scholz, Wie ist eine ev. Theol. als Wiss. möglich? (1931): Theol. als Wiss. (TB 43) 2 2 1 - 2 6 4 . — Ders., Was ist unter einer theol. Aussage zu verstehen? (1936): ebd. 2 6 5 - 2 7 8 . 98 G. Sauter, Methodenstreit. - Ders. u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik. — W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie u. Theol. - W. Pannenberg/G. Sauter u. a., Grundlagen der Theol. - ein Diskurs, Stuttgart u.a. 1 9 7 4 . - G . Sauter, Der Wissenschaftsbegriff der Theol.: EvTh35 (1975) 2 8 3 - 3 0 9 . - D e r s . , Überlegungen zu einem weiteren Gesprächsgang über „Theol. u. Wissenschaftstheorie"; W. Pannenberg, Antwort auf G. Sauters Überlegungen: EvTh 40 (1980) 1 6 1 - 1 8 1 . - Vgl. außerdem Wilfried Joest, In welchem Sinne wollen theol. Aussagen wahr sein?: Wahrheit u. Verkündigung. FS Michael Schmaus, München u.a., II 1967, 1 3 3 9 - 1 3 5 3 . 99 Vgl. dazu Ernst Heinz Amberg, Christologie u. Dogmatik, 86.100ff. 100 Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogm. Unters, zur Soziologie der Kirche (1930), 4 1969 (TB 3) 90: „Es wäre gut, eine Dogmatik einmal nicht mit der Gotteslehre, sondern mit der Lehre von der Kirche zu beginnen, um über die innere Logik des dogmatischen Aufbaus Klarheit zu stiften." - Vgl. ders., Gesch. der syst. Theol. 236.
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Dogmatik I Quellen (außer den im Text
angegebenen)
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Dogmatik I
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Gerhard Sauter II. Dogmatik in den nordischen Ländern 1. Historische Ubersicht Weiteres —»Uppsala.
—»Dänemark,
1. Historische
2. Prinzipielle Gesichtspunkte —»Finnland,
—»Norwegen,
(Literatur S. 90)
—»Schweden,
—»Kopenhagen,
—»Lund,
Übersicht
1.1. Die Entwicklung der christlichen Lehre in den nordischen Ländern folgt in groben Zügen dem allgemeinen europäischen Muster. Sie steht nach der Reformation der deutschen am nächsten. Die theologischen Systeme sind in der nordischen Umgebung indessen oft in einer prinzipiell interessanten Weise verändert und erneuert worden. Neuere dogmengeschichtliche Forschungen in Skandinavien und Finnland haben dies für Einzelfälle deutlich gemacht. Auch wenn außer Seren —»Kierkegaard kein skandinavischer Theologe die allgemeine europäische theologische Entwicklung in gänzlich neue Bahnen gelenkt hat, sind aus den skandinavischen Ländern dennoch zu verschiedenen Zeiten selbständige Beiträge zur europäischen Theologie geleistet worden. Hier gibt es noch zahlreiche Aufgaben für die Erforschung der skandinavischen Theologiegeschichte. Die theologiegeschichtliche Forschung gehört in Schweden und Finnland vor allem zum Aufgabenbereich der systematischen Theologie. In den anderen Ländern wird sie vor allem im Zusammenhang der Kirchengeschichte betrieben. Wir konzentrieren uns im folgenden auf einige Theologen, die für die nordische Entwicklung von Bedeutung waren oder die allgemeine europäische Entwicklung beeinflußt haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Entwicklung der modernen Dogmatik. Im Mittelalter gliederte sich Skandinavien schrittweise in das europäische Kulturleben ein. Die bekannteste religiöse Persönlichkeit jener Zeit war die heilige —»Birgitta. Ihr Beichtvater und Berater Magister Matthias (gest. 1350) war ein bedeutender, in —»Paris ausgebildeter Theologe. Er trat vor allem als Bibelkommentator selbständig hervor, und sein Kommentar zur Offenbarung, Expositio super Apocalypsin, übte großen Einfluß aus. Eine von —»Nikolaus von Kues, der Matthias bewunderte, angefertigte Abschrift befindet sich in Kues. 1477 wurde die Universität Uppsala und 1478 die Universität Kopenhagen gegründet. Der erste Theologie-Professor in Uppsala, Ericus Olai (gest. 1486), war maßgebend an der Gründung der Universität beteiligt. Seine erste Vorlesungsreihe behandelte die Regulae sacrae theologiae. Die Theologie Olais ist bisher noch nicht gründlich erforscht; neuere, noch unveröffentlichte Studien sehen ihn an Johannes —»Gerson anknüpfen. Unter den dänischen
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Theologen, die die europäische katholische Theologie entwickelten, muß besonders Poul Helgesen (Paulus Helie, 1485—1535) genannt werden, der zur Zeit der Reformation wirkte. Er las einige Jahre an der Universität Kopenhagen, setzte sich entschieden für einen Bibelhumanismus ein und übersetzte u. a. —»Erasmus ins Dänische. Er polemisierte im Geiste des Reformkatholizismus gegen Luther und die dänischen Reformatoren, wobei er ausdrücklich Abstand von Luthers Rechtfertigungslehre nahm. Die Theologen der Reformationszeit in den nordischen Ländern unterschieden sich in theologischer Hinsicht beträchtlich voneinander. In Dänemark fällt vor allem Nils Hemmingsen (1513—1600) auf, der durch eine reiche theologische Publikationstätigkeit in Europa bekannt wurde. Er studierte in —»Wittenberg, und seine theologische Anschauung ist von —»Melanchthon geprägt. Sein Arbeitsfeld erstreckt sich über das gesamte Feld der Theologie. In der Dogmatik gab er ein vielbenutztes Lehrbuch heraus (Ettchiridion theologicum, 1557). Sein dogmatisches Hauptwerk ist Syntagma institutionum christianamm (1574). Hier fallen ein deutlicher Einfluß —»Calvins in der Abendmahlslehre, aber auch eine klare Abgrenzung von der calvinischen Prädestinationslehre auf. Der schwedische Reformator Olaus —»Petri vertrat in seinen dogmatischen Arbeiten ein lutherisches Grundschema. Neuere Untersuchungen (Ingebrand) haben gezeigt, daß er auch stark von den Ansbacher Theologen und Martin —»Bucer beeinflußt war. Sein Einfluß auf die schwedische Kultur war außerordentlich groß. Der Reformator Finnlands, Michael Agricola (1510—1557), war vielleicht als Bibelübersetzer am bedeutendsten. Er übersetzte auch viel reformatorische Literatur, zuweilen in redigierter Form. Ein selbständiges dogmatisches Werk schrieb er nicht; aus seinen Arbeiten geht aber hervor, daß er ein stark humanistisch geprägtes Luthertum vertrat. Die Orthodoxie in den nordischen Ländern stimmte im allgemeinen mit ihren deutschen Vorbildern überein. Matthias Hafenreffers Dogmatiklehrbücher besaßen im 17. Jh. einen enormen Einfluß. Selbständige dogmatische Beiträge in der lutherischen Orthodoxie sind jedoch selten. Die vielleicht wichtigste theologische Arbeit der schwedischen Orthodoxie ist Laurentius Paulinus Gothus' (1565-1646) Ethica christiana (8 Bde., 1 6 1 7 - 3 0 ) , die das lutherische Lehrsystem in einer gewissen Abgrenzung gegen den wachsenden Aristoteleseinfluß darstellt. Laurentius Paulinus vertrat den in Schweden seit langem starken Ramismus (—»Ramus). Erwähnung verdient innerhalb der Orthodoxie auch der dänische Theologe Holger Rosenkrantz der Gelehrte (1574—1642), der das orthodoxe Schriftprinzip konsequent anwandte, jedoch die Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium ablehnte, wobei er die gesamte Bibel als Evangelium betrachtete. Er bemühte sich darum, eine Theologie zu entwerfen, die nicht nur von Frömmigkeit redet, sondern schon durch ihr bloßes Dasein Ausdruck der Frömmigkeit ist. An der 1668 gegründeten Universität Lund wurde noch im gleichen Jahre Samuel —»Pufendorf, der zur Auflösung der orthodoxen Systeme beitragen sollte, zum Professor ernannt. Sein Beitrag zum —»Naturrecht soll hier nicht behandelt werden. Wohl aber sollte erwähnt werden, daß sein Streit mit den einheimischen orthodoxen Theologen, denen die Naturrechtstheorie nicht fremd war, mancherlei von prinzipiellem dogmatischen Interesse enthielt, vor allem hinsichtlich der Bestimmung des Ortes der Ethik innerhalb der Glaubenslehre. Der Cartesianismus war mit —»Descartes selbst nach Schweden gekommen. Pufendorf trat als Verteidiger der neuen Philosophie auf, während die orthodoxen Theologen hartnäckig und lange gegen sie kämpften. Der Streit galt u. a. dem Schriftverständnis. Zum Entsetzen der orthodoxen Theologen behaupteten die von der neuen Philosophie Angeregten, daß die Schrift in naturwissenschaftlichen Fragen nicht autoritativ sei. Auch Skandinavien bekam nach und nach cartesianisch und wolffianisch geprägte Dogmatiker, aber erst spät im 18. Jh. Innerhalb der Theologie der —» Aufklärung gab es von skandinavischer Seite kaum größere originelle Beiträge, soweit man an die Theologen der Universitäten und die Männer der Kirche denkt. Außerhalb ihres Kreises traten jedoch zwei Männer auf, die von großer Bedeutung für die systematische Theologie sind: die beiden schwedischen Naturwissenschaftler Carl von Linné (1707—1778) und Emanuel —»Swedenborg. Linné vertrat die zu jener Zeit
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blühende Physiko-Theologie und sah seine Naturforschung als eine Weise der Gotteserkenntnis (z.B. De curiositate naturali, 1748): „Ich sah den Rücken des unendlichen, allwissenden und allmächtigen Gottes, da er hervortrat, und mir schwindelte" (Systema naturae, 1735 4 1758/59, Abschn. Imperium naturae). Die Physiko-Theologie erhielt bei Linné später ein persönlich düsteres Gepräge und drückte etwas vom Lebensgefühl —»Kohelets aus, den Linné übrigens kommentierte. Swedenborg nimmt als Naturwissenschaftler einen wichtigen Platz in der schwedischen Geistesgeschichte ein. Sein monumentales Gesamtbild von der Welt der Menschen und der Geister ist zusammengefaßt in Vera christiana religio (1771). Sohn eines orthodoxen Theologen, leugnete er die Lehren von der —»Trinität und der Erbsünde und bekämpfte die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Er betonte stark den freien —»Willen des Menschen. Die Aufgabe des Menschen ist es, sich dem göttlichen Einfluß zu öffnen und ihn in nützliche Handlung umzusetzen. Am berühmtesten sind vielleicht seine Augenzeugenberichte aus der Welt der Geister, in denen seine Ausdruckskraft die der größten Visionäre in der europäischen Kulturgeschichte erreicht. Eine entscheidende Bedeutung für die Lehrentwicklung in den nordischen Ländern erhielt der—»Pietismus. Die verschiedenen pietistisch beeinflußten religiösen Erweckungsführer des 19. Jh. prägten in vielerlei Hinsicht die kirchliche Situation in den nordischen Ländern. Erweckungsführer mit einem persönlich geprägten lutherischen Lehrprofil sind z.B. der Norweger H. N. Hauge ( 1771 - 1 8 2 4 ) , der Finne Paavo Ruotsalainen ( 1777-1852), der Schwede C.O. Rosenius (1816-1868) und der Däne Vilhelm Beck (1829-1901). Ihre religiösen Anschauungen stellten die dogmengeschichtliche Forschung vor zuweilen schwierige Probleme. In Schweden führte die Volkserweckung zu einer größeren Bildung von —»Freikirchen als in den übrigen nordischen Ländern. Von besonderem dogmatischem Interesse unter den Freikirchlem ist P.P. Waldenström (1838—1917), der u.a. eine subjektive Versöhnungslehre vertrat. Durch die internationalen Kontakte der freikirchlichen Bewegungen übten allmählich neben der lutherischen auch andere protestantische Traditionen Einfluß aus, was sich im 20. Jh. auch in den theologischen Fakultäten bemerkbar macht. In Dänemark erhielt die kirchliche Lehrentwicklung einen besonderen Charakter durch N.F. S. —»Grundtvig. Er betonte das Allgemein-Menschliche als Keimboden für das Evangelium und betrachtete es als religiöse Aufgabe, die gegebenen Möglichkeiten des Menschen durch Erziehung zu entwickeln. Seine religiöse Anschauung trug einen kulturoffenen Akzent, der seine Anhänger allmählich in Gegensatz zu der pietistisch geprägten Lehre brachte, die vom obengenannten V. Beck inspiriert war. In Dänemark wirkte in jener Zeit S. A. —»Kierkegaard, der von größtem Einfluß auch auf die internationale theologische Entwicklung war. Nahezu alle modernen Formen der—»Existenzphilosophie und -theologie und der —»Dialektischen Theologie sind in irgendeiner Weise von ihm abhängig. In dogmatischer Hinsicht ist vor allem auf seine Ittdövelse i Christendom (1848) zu verweisen. Er versucht hier klarzustellen, wie der Mensch gerade durch eigene persönliche Wahl Gottes Willen verwirklichen kann. Ein Zentrum der gegenwärtigen internationalen Kierkegaardforschung ist das Kierkegaardinstitut unter der Leitung von N. Thulstrup, das zum Institut für systematische Theologie der Universität Kopenhagen gehört. An den nordischen theologischen Fakultäten wirkten im 19. Jh. mehrere bedeutende Dogmatiker. Aus Kopenhagen ist vor allem H. L. Martensen ( 1808—1884) zu nennen. Seine Kristelig dogmatik (1849) übte großen Einfluß aus. Martensen kann als Vermittlungstheologe gelten mit einem auffallenden Einfluß Hegels. Er war Kierkegaards Angriffen ausgesetzt und geriet auch in einen gewissen Gegensatz zu Grundtvig. An der theologischen Fakultät Lund erlebte die systematische Theologie in der Mitte des 19. Jh. einen Aufschwung. Zu den bedeutenden Dogmatikern gehörte Henrik Reuterdahl (1795-1870), der—»Schleiermacher in Schweden bekannt machte. In Uppsala wurde der Wolffianismus gegen Ende des 18. Jh. in die Theologie eingebracht durch den bedeutenden Dogmatiker E. J. Almqvist, der von 1790 bis 1808 Professor war. Im 19. Jh. erhielt die Fakultät eine konservative Prägung, und die Dogmatiker widmeten sich dem Kampf gegen die historisch-kritische Exegese, die mit der schwedischen Übersetzung von —»Strauß' Leben Jesu (1841) allgemein bekannt ge-
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worden war. Norwegen erhielt 1811 eine Universität in Oslo (dem damaligen Christiania), und im 19. Jh. entwickelte sich eine Universitätstheologie in Norwegen. Die Neuorthodoxie und der Pietismus herrschten vor (Gisle Johnsson 1812—1894), aber am Ende des Jahrhunderts entwickelten sich eine historisch-kritische Exegese und eine liberal gefärbte systematische Theologie. Dies führte zu einem Kirchenkampf, und am Anfang unseres Jahrhunderts wurden kirchliche Mittel gesammelt für eine neue private theologische Fakultät in Oslo. Diese Fakultät sollte im Gegensatz zur Fakultät an der Universität eine biblizistische Prägung erhalten. 1908 kam die Menighetsfakultet in Oslo zustande, die noch heute stark ist und volle Examensbefugnis hat. Oslo besitzt heute also zwei lutherische theologische Fakultäten. Die dogmatischen Kämpfe, die zu dieser eigentümlichen Situation führten, sind aber weithin gegenstandslos geworden. Beide Fakultäten sind wissenschaftlich arbeitende Institutionen, die sich vor allem dadurch voneinander unterscheiden, daß ihre Studenten in verschiedenen Frömmigkeitstraditionen in der Kirche von Norwegen verankert sind. Die —»Liberale Theologie im Norwegen des beginnenden 20. Jh. hatte ihre Entsprechungen in ähnlichen Strömungen in den übrigen nordischen Ländern, ohne daß es dort zu derartigen Folgen gekommen wäre. Die Situation dort ähnelte der an den deutschen Universitäten, und die liberale Theologie herrschte nie allein. Die liberalen Theologen des Nordens leisteten einen wichtigen Beitrag dazu, den allgemeinen geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden in der systematischen Theologie größere Bedeutung zu verschaffen und den konfessionellen Rahmen zu weiten. 1.2. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. erlebte die theologische Fakultät der Universität Uppsala eine Blütezeit. Zwei ihrer Mitglieder, Nathan Söderblom und Einar Billing, verdienen besondere Erwähnung. — N. —»Söderblom wandte sich vor allem zwei dogmatischen Problembereichen zu, die durch die Ergebnisse der seinerzeit in Schweden im Aufschwung begriffenen Religionswissenschaft in den Vordergrund gerückt waren. Es ging zum einen um die Beurteilung der —»Offenbarung und zum anderen um die Frage nach der Eigenart des —»Christentums. Obwohl Söderblom unter starkem Einfluß des Erweckungschristentums stand, versuchte er nie, wissenschaftliche Ergebnisse aus religiösen Gründen abzuweisen oder von ihnen abzusehen, und war davon überzeugt, daß eine dem praktischen kirchlichen Leben dienende Dogmatik erarbeitet werden könne, die eine wissenschaftliche Betrachtungsweise der Religion beachtet und zu Hilfe nimmt. Zwischen der Offenbarung als göttlicher Selbstmitteilung und einem natürlichen historischen und psychologischen Verlauf besteht nach Söderblom kein Gegensatz. Gerade in den natürlichen Ereignissen in einer konkreten Geschichte und in den menschlichen Personen geschieht Gottes Offenbarung und wird sie dem Glauben sichtbar. Die so gefaßte Offenbarung ist nicht eine Sammlung von Lehrsätzen, und das Christentum ist in erster Linie nicht ein Lehrsystem, sondern eine durch Christus in der Geschichte vermittelte Gemeinschaft mit Gott. Bei der Feststellung des für das Christentum Einmaligen unterscheidet Söderblom eine Unendlichkeitsmystik von einer Persönlichkeitsmystik. Der letzteren entspricht ein Gottesbild, das durch Wille und Persönlichkeit geprägt ist. Nach Söderblom kann man auch verschiedene Haupttypen zu Gesicht bekommen, wenn man das Gottesverhältnis des Menschen analysiert. In dieser Hinsicht kann man Religionsformen, in denen die eigene Leistung des Menschen als für die Erlösung entscheidend betrachtet wird, von anderen Religionsformen unterscheiden, in denen Gottes Gnade ausschlaggebend ist. Rein historisch läßt sich feststellen, daß das Christentum eine Offenbarungsreligion ist, die von einem persönlichen Gottesbild und einem Gottesverhältnis geprägt wird, in dem die —»Gnade eine entscheidende Rolle spielt. Mit Hilfe einer solchen typologischen historischen Untersuchung kann man beginnen, die Eigenart des Christentums zu bestimmen. In dieser Arbeit hatten auch Söderbloms Lutherstudien große Bedeutung. Er war auch früh von Sabatier beeinflußt, und in manchen Arbeiten ist ein Einfluß A. —»Ritschis bemerkbar. Viele theologische Schriften Söderbloms sind nur auf Schwedisch erschienen. Zwei für die Dogmatik wichtige Arbeiten in anderen Sprachen sind Natürliche Religion u. allgemeine Religionsgeschichte, 1913—1914, und Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte, 1942 (engl. 1933).
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Einar—»Billings Theologie hatte und hat in Schweden noch immer große Bedeutung. Wie Söderblom betonte er den historischen Charakter der biblischen Offenbarung. Die Bibel vermittelt ein gedeutetes historisches Geschehen und damit eine Geschichtsauffassung, die es uns heute Lebenden möglich macht, unsere Situation in der Welt zu verstehen. In der Perspektive der Bibel können wir entdecken, daß Gott noch immer Neues schafft und die Menschheit zu einem Ziel führt. Billings Lutherstudium richtete sich darauf, Luthers Theologie ideengeschichtlich, ohne systematische Harmonisierung klarzulegen; er wollte damit den Verstehenshorizont seiner eigenen Zeit weiten und von Luther Anregungen für die aktuelle Theologie gewinnen. Besonders wichtig ist seine Analyse von Luthers Lehre vom —»Beruf. In der Dogmatik befaßte sich Billing insbesondere mit der Lehre von der Kirche. Er legte hier den Grund für die in Schweden lebendige Theologie der Volkskirche. Die historisch gewachsene Kirche von Schweden mit ihrer offenen Struktur und geographischen Gemeindeeinteilung sah er als Ausdruck des göttlichen Vergebungsangebots an das ganze Volk. In der Tätigkeit der Volkskirche wird der in der Geschichte handelnde Gott offenbar. Zu den heutigen schwedischen Theologen, die unter dem Eindruck der theologischen Arbeit Billings stehen, gehört Gustaf Wingren (s.u.). An der Uppsalienser Fakultät entwickelten sich später in der ersten Hälfte des 20. Jh. verschiedene Typen von Dogmatik. N. J. Göransson (1863—1940), der 1914 eine Dogmatik veröffentlichte, war stark von Schleiermacher abhängig, aber auch von Wilhelm —• Herrmann beeinflußt. Torsten Bohlin (1889—1950) schrieb eine vielbenutzte Dogmatik, Evangelisk troslära, 1937. Er führte Kierkegaard in die schwedische Theologie des 20. Jh. ein. Hjalmar Lindroth (1893-1979), dessen Dogmatik erst 1975 erschien, meinte, man könne mit einer objektiven historischen und exegetischen Methode feststellen, was echte christliche Lehre sei. In Uppsala entstand im 20. Jh. wie an mehreren anderen nordischen Fakultäten eine sehr intensive Lutherforschung. 1.3. In der Zeit nach Billing und Söderblom wurde Luttd zur führenden theologischen Fakultät im Norden. Hier entwickelte eine Gruppe selbständiger Theologen die später sog. Lunder Theologie, die einen wesentlichen Beitrag zur internationalen dogmatischen Forschung des 20. Jh. bilden sollte. Die führenden Gestalten der Lunder Theologie sind Anders Nygren, Gustaf Aulen und Ragnar Bring (geb. 1895). Die beiden erstgenannten sollen hier ein wenig näher vorgestellt werden. Anders —»Nygren ist Schöpfer und international einflußreichster Vertreter der Lunder Theologie. Er wollte dem Dogmatikstudium eine wissenschaftliche Basis verschaffen, die von allen anerkannt werden kann, und gleichzeitig mit philosophischer Methode zeigen, daß die Theologie einen selbständigen und notwendigen Platz im System der Wissenschaften hat. Er knüpfte in dieser Arbeit an den Neukantianismus an. Er wollte eine ethische und eine religiöse Kategorie im Erkenntnisvermögen des Menschen nachweisen. Diese Kategorien entsprechen einer Einsicht des Guten und einer Einsicht des Ewigen. Die ethische und die religiöse Einsicht sind—wie übrigens auch die ästhetische—kategorial verschieden von der naturwissenschaftlichen theoretischen Erkenntnis und dürfen mit ihr nicht vermischt werden. Wissenschaftliche, ethische und religiöse Aussagen bilden nach Nygren je verschiedene Sinnzusammenhänge. Ethik und Religion bestehen aus atheoretischen Einsichten. Da man die kategoriale Verankerung der Ethik und der Religion nachweisen kann, ist es auch möglich zu zeigen, daß sie einen notwendigen Platz in der Wirklichkeitsorientierung des Menschen einnehmen. Wenn man den Charakter der Religion aber mißversteht und versucht, auf dem Gebiete der Religion theoretische Lehren auszuarbeiten, dann begeht man einen philosophischen Kategoriefehler, der in einer von den Lunder Theologen sogenannten „Metaphysik" resultiert. —»Metaphysik ist darum etwas, das bekämpft werden muß. In ihr sind Religion und Wissenschaft in die Irre gegangen. Wichtig und notwendig ist dagegen, klarzulegen, welche Anschauungen der ethischen und religiösen Kategorie entsprechen. Hier haben die theologische Ethik und die Dogmatik ihre wissenschaftliche Aufgabe. Es gibt auch eine objektive wissenschaftliche Methode, mit der diese Aufgabe gelöst werden kann. Die
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Ausarbeitung dieser Methode — die Motivforschung - ist der nächste große Baustein in Nygrens theologischer Konstruktion. Theoretische Urteile antworten nach Nygren direkt auf die kategoriale Grundfrage nach der Wahrheit. Begibt man sich nun aber auf das ethische oder auf das religiöse Gebiet, so verhält es sich anders. Ethische und religiöse Urteile sind in Systemen zusammengehalten, in denen jedes Einzelurteil von der Gesamtheit aus zu betrachten ist. Konfrontiert man ein solches System mit einer kategorialen Grundfrage, so stellt sich heraus, daß das System als Ganzes auf die Fragen nach dem Guten oder dem Ewigen eine gesammelte Antwort gibt. Das, worin die Antwort des Systems auf die kategoriale Grundfrage besteht, ist auch das zutiefst zusammenhaltende Band zwischen den einzelnen Urteilen des Systems. Nygren nennt es ein Grundmotiv. Wer die Grundmotive der verschiedenen Anschauungen findet, die der ethischen und der religiösen Kategorie entsprechen, der schafft größtmögliche Klarheit auf diesen für den Menschen notwendigen Gebieten. Grundmotive zu finden und klarzulegen, ist nach Nygren die Aufgabe der Motivforschung, einer zentralen Angelegenheit jeder geisteswissenschaftlichen Forschung. Der systematische Theologe hat den besonderen Auftrag, Motivforschung auf dem Gebiete des Christentums zu betreiben. Gelingt es ihm, das Grundmotiv des Christentums zu finden und klarzulegen, so hilft er der Kirche auf wissenschaftlichem Weg zur Einsicht in das Wesen des Christentums. Die Predigt oder die Propagierung des christlichen Glaubens gehören hingegen nicht zu seinen theologischen Aufgaben. Er hat seinen Auftrag erfüllt, wenn er die Notwendigkeit der Religion und das Grundmotiv des Christentums gezeigt hat. Nachdem Nygren seine theologische Methode im Motivforschungsprogramm entwikkelt hatte, wandte er sie in seinem bekanntesten theologischen Werk, Eros och Agape (1930/36), an. Er versucht darin, die für das ursprüngliche Christentum charakteristischen Antworten auf die ethische und religiöse kategoriale Grundfrage festzustellen, und findet, daß das Christentum auf beide Fragen dieselbe Antwort gibt. Im Urchristentum gibt es also ein Grundmotiv, das sowohl die Ethik als auch die Theologie prägt. Dieses Grundmotiv ist dit Agape. Dit Agape ist eine besondere Form von —»Liebe, die sich durch Spontaneität und Unmotiviertheit auszeichnet. Sie kommt nicht zustande durch den Wert dessen, auf den sie sich richtet, sondern sie bringt Wert beim Geliebten zustande. Gottes Agape strömt in die Welt hinaus und gibt dem Menschen einen Wert, wie wenig dieser der Liebe auch wert ist. Christus ist die Inkarnation dieser sich selbst gebenden, unmotivierten Liebe, Gottes Weg zum Menschen. Der Mensch hat die Aufgabe, Gottes Agape so weiterzuleiten, daß sie seine Mitmenschen trifft. Das christliche Grundmotiv Agape wird in der Kirche indessen nicht rein erhalten. Schon im Neuen Testament kann man nach Nygren sehen, daß ein Kampf zwischen dem Agapemotiv und einem anderen ethisch-religiösen Grundmotiv stattfindet: dem Eros. Eros ist auch Liebe; aber er ist eine Liebe, die vom Wert ihres Gegenstands motiviert ist. Wenn der Mensch Gott sucht, sich nach Gottes Fülle sehnt und an Gott heranzureichen versucht, dann ist seine Frömmigkeit vom Erosmotiv geprägt. Dies ist nach Nygren z.B. in der —»Mystik der Fall. Das Christentum begegnet dem Erosmotiv aber vor allem in der —»Gnosis und im —»Neuplatonismus. Nygren folgt in Eros och Agape dem Kampf der Grundmotive durch die Jahrhunderte und entwickelt damit eine eigene Auffassung der christlichen Geistesgeschichte. Eine auffallend vom Agapemotiv geprägte Theologie findet er bei Luther. In seinem letzten großen Buch, Meaning and Method (1972), setzt Nygren seine Theorien über Kategorien, Sinnzusammenhänge und Grundmotive in Beziehung zu ähnlichen Gedanken bei modernen Philosophen (z.B. Wittgenstein). Ein anderer international bekannter Lunder Theologe ist Gustaf—» Aulen. Er interessiert sich nicht in gleicher Weise wie Nygren für die wissenschaftstheoretischen Probleme der Dogmatik, betrachtet es aber wie jener als Aufgabe der Dogmatik, den einmaligen Charakter des christlichen Glaubens wissenschaftlich festzustellen. Methodisch schließt sich Aulen dem Motivforschungsprogramm an; der dahinterliegenden philosophischen Theorie gegenüber verhält er sich aber freier und öffnet sich in seiner theologischen Entwicklung auch anderen systematisch-theologischen Ansätzen. Eine bahnbrechende dogmatische Arbeit
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Aulens behandelt die Lehre von der —»Versöhnung: Den kristna försoningstanken (1930). Neben den beiden Haupttypen von Versöhnungslehren, die sich in der Kirche allmählich entwickelten und „objektive" bzw. „subjektive" genannt zu werden pflegen, identifiziert Aulen einen dritten, der nach ihm im Neuen Testament und in der frühen Kirche vorherrscht und den er „klassisch" nennt. Hier wird die Versöhnung als Drama verstanden, in dem Gott gegen die Mächte des Verderbens kämpft und über sie siegt. Die Versöhnung ist gänzlich Gottes Tat, in Christus ausgeführt. Damit wird das Zentrale im christlichen Gottesglauben nach Aulen am besten ausgedrückt. Sein anderes großes, international bekanntes Buch ist Den alltnänneliga kristna tron (1923). Hier setzt sich Aulen eine Zusammenfassung der christlichen Glaubenslehre zum Ziel. Dabei geht es ihm nicht um die Darstellung einer bestimmten - etwa der eigenen lutherischen - Lehrtradition. Er erhebt vielmehr den Anspruch, das Charakteristische des christlichen Glaubensverhältnisses überhaupt zu analysieren und zu beleuchten, wie die verschiedenen Loci der Glaubenslehre organisch mit dem Zentrum des Glaubens zusammenhängen. Das Zentrum des Glaubens ist ein Gottesverhältnis, das auf Gottes erlösende Taten am Menschen gegründet ist. Aulens Dogmatik trägt den gleichen theozentrischen Zug wie Nygrens Agapctheologie. In den ersten Auflagen des Buches nahm Aulen noch betont Abstand vom historischen Interesse der Liberalen Theologie und unterschied scharf zwischen der systematisch-theologischen Analyse des Glaubens an Christus und der exegetischen Arbeit am historischen Jesus. In den späteren Auflagen modifizierte er diese Auffassung jedoch und gewährte der historischen exegetischen Forschung mehr Raum in der systematischen Theologie. Nach einigen Jahren im Bischofsamt wieder nach Lund zurückgekehrt, veröffentlichte Aulen im Ruhestand noch mehrere wichtige theologische Untersuchungen. Eine von ihnen ist Dramat och symbolerna (1965). Im Anschluß an moderne Theorien über die religiöse Sprache betont Aulen den Symbolcharakter der christlichen Glaubensaussagen. Er hält an der dramatischen Perspektive von Den kristna försoningstanken fest und versucht zu zeigen, wie das christliche Gottesbild vom Christusdrama geprägt ist; er verankert die christliche Gottessymbolik — im Unterschied zu seinen früheren Büchern — jetzt in den Ergebnissen der historischen Jesusforschung. Diese Tendenz führt ihn dazu, sich in seinen späteren Büchern klar gegenüber der Theologie —»Bultmanns abzugrenzen. 1.4. Nach der Zeit des Durchbruchs der Lunder Theologie steht die theologische Fakultät der Universität Aarhus für selbständige und schulbildende Leistungen in der systematischen Theologie des Nordens. Sie bekam ihren ersten Professor der Theologie 1938, und an ihr trat 1943 Knud E. Logstrup (geb. 1908) eine Professur für Theologie an. Logstrups Arbeiten auf verschiedenen Gebieten der systematischen Theologie übten starken Einfluß auch weit über die Grenzen Dänemarks hinaus aus. In diesem Zusammenhang sei ein Grundgedanke der Theologie Logstrups kurz skizziert: Es gibt ein Lebensverständnis des —»Nihilismus. Danach ist das Leben ein Rohmaterial, mit dem der Mensch machen kann, was er will. Gut und Böse werden miteinander vermischt, ohne daß eines von beiden bevorzugt wird. Die Frage nach Gott kommt nicht auf. Das Dasein hat keine gegebene ethische Struktur. Der Nihilismus ist nach Logstrup eine Bedrohung des Menschen. Niemand vermag, ganz und gar im Nihilismus zu leben. Daß der Nihilismus falsch ist, kann man nach Logstrup nicht beweisen; man kann aber die Absurdität des Nihilismus zum Vorschein bringen, wenn man eine Alternative vorlegt und begründet. Die Alternative ist der christliche Glaube, der den Gegensatz zum Nihilismus enthält: das Lebensverständnis des Schöpfungsglaubens. Der Schöpfungsglaube ist ein Grundelement in Logstrups Theologie. Das Bild der Welt als einer —»Schöpfung begegnet in den biblischen Schriften, und man kann es in der Lebensdeutung moderner Menschen verankern. Grundlegend für den Schöpfungsgedanken ist nach Logstrup, daß das menschliche Leben bereits in sich strukturell und inhaltlich bestimmt ist — und nicht ein undifferenzierter Rohstoff, dem der Mensch jede beliebige Form geben kann. Der Mensch verfügt nicht über das Leben. Es wird ihm ständig als Gabe dargereicht. Da, wo der Mensch über sein Dasein nicht verfügen kann, ist Gott in seiner Schöpfung ständig gegenwärtig. Wenn der Mensch unre-
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flektiert entsprechend den Bedürfnissen der Situation handelt, dann haben wir eine spontane Lebensäußerung vor uns, durch die Gott seine Schöpfung erneuert. Ein Beispiel für eine Grundstruktur in der Schöpfung ist das Vertrauen, das unter Menschen spontan entsteht. Aber es gehört zum Lebensverständnis des Schöpfungsglaubens, daß der Mensch im Verhältnis zu dem, was ihm gegeben wird, frei ist und daß er das Leben verwerfen und die spontanen Lebensäußerungen ersticken kann. Die destruktive Tätigkeit des Menschen ist die Sünde. Diese gibt ihm Schuld. Das Böse ist also das, was das mit der Schöpfung gegebene Leben zerstört. Das Gute ist das, was die Schöpfung konstruktiv baut. Nach dieser Sicht ist es unmöglich, das Gute inhaltlich zu bestimmen und eine Ethik durch Regeln zu formulieren. In dem durch die Schöpfung gegebenen Zusammenhang erhebt sich in verschiedenen Situationen eine ethische Forderung, die der Mensch anzunehmen hat. Nach Logstrup zeichnet eine solche ethische Spontaneität auch die Ethik Jesu aus. Die —»Ethik, die Logstrup im Zusammenhang seiner Schöpfungsauffassung entwickelt, kann man als deontologische Situationsethik bezeichnen (Den etiske fordring, 1956). Der Schöpfungsgedanke und die Lehre von der ethischen Forderung gehören nach Logstrup zum Universalen im Christentum und können sowohl in der Theologie als auch in der Philosophie diskutiert werden. Aber es gibt auch etwas speziell Christliches. In Christus begegnet der Mensch dem schöpfungsgegebenen Dasein in reiner Gestalt. Die christliche Botschaft macht es dem Menschen möglich, das Dasein in neuer Weise zu deuten und das von Gott gegebene positive Leben klar zu entdekken. Mit der neuen Deutung des Daseins wird das ganze Dasein des Menschen anders. Man kann sagen, daß sich das Dasein für den ändert, der dem Evangelium im Glauben begegnet. In der Stellungnahme zum Evangelium wird die gesamte Existenz des einzelnen aufs Spiel gesetzt, und Logstrup redet darum von der Entscheidung des Glaubens als einer existentiellen Entscheidung (vgl. Der Mensch in der Perspektive des Nihilismus: LR 15 [1965] 17f). Logstrup kommt mit der Struktur seiner Dogmatik in scharfen Gegensatz zu anderen theologischen Richtungen. Er greift oft selbst die von ihm sogenannte pilgermythische Christentumsdeutung an. Nach dieser erscheint das Menschenleben als eine Wanderung durch ein gleichgültiges und fremdes Dasein. Der Mensch soll seinen Blick auf das Ewige richten und von der Zeitlichkeit Abstand nehmen. Kierkegaard ist für Logstrup Vertreter einer solchen Christentumsdeutung, und Logstrup setzt sich in Opgor med Kierkegaard (1968) von Kierkegaard ab. Die pilgermythische Christentumsdeutung kann sogar dem Gegenpol des Christentums, dem nihilistischen Lebensverständnis, Nahrung geben. Es gibt in den nordischen Ländern noch weitere Theologen, die eine ausführlichere Darstellung verdienten. In diesem Zusammenhang kann jedoch nur ein Überblick gegeben werden, wobei besonders jene Entwicklungen zu beachten sind, die die gegenwärtige Situation prägen. 1.5. Die dogmatische Diskussion in Dänemark schloß oft an die entsprechende deutsche an. Der Barthianismus fand früh Eingang in die dänische Theologie, u.a. durch die sog. Tidevervs-Bewegung. Niels Hansen Soe ( 1 8 9 5 - 1 9 7 8 ) z.B. ist in vielen theologischen Grundfragen barthianischer Auffassung. Weiterhin entstanden — wie in Deutschland - moderne dogmatische Lehrbücher in engem Anschluß an die klassische lutherische Tradition. Ein bedeutender Verfasser ist hier Regin Prenter (geb. 1907). Die Existenztheologie spielte eine große Rolle, und Grundprobleme bei Bultmann und in der späteren hermeneutischen Entwicklung (—»Hermeneutik) wurden diskutiert. Dänische Dogmatiker befaßten sich, von Logstrups Schöpfungstheologie beeinflußt, auch mit der Einwirkung der Theologie auf unser Naturbild und auf unser Verhältnis zur Natur, so z. B. Ole Jensen, Theologie zwischen Illusion und Restriktion, 1975. Die theologischen Fakultäten in Dänemark sind unabhängig von der Kirche; sie haben ihre lutherische Eigenart aber behalten. So dürften die meisten dänischen systematischen Theologen auch in der lutherischen Tradition einen Ausgangspunkt und eine Richtschnur der dogmatischen Arbeit sehen. Eine umfangreiche ideengeschichtliche Arbeit von großem Gewicht für die Dogmatik wurde von dänischen Theologen wie K. E. Skydsgaard (geb. 1902), Johannes Slök (geb. 1916), Leif Grane (geb. 1928) und Theodor Jorgensen (geb. 1935) geleistet.
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1.6. Die Situation in Norwegen erinnert weitgehend an die dänische. Die Dogmatik hatte hier aber eine konservativere Prägung, wenn man auch die Arbeit an der Menighetsfakultet einbegreift. Der heutige Professor für Dogmatik an der Universität Oslo, Inge Lonning (geb. 1938), trug mit seinen Forschungen zur Analyse der Probleme der Hermeneutik bei. Er knüpft an die allgemeine europäische dogmatische Diskussion an. 1.7. Die schwedische systematische Theologie zeigt sich in den letzten Jahrzehnten anders als die dänische und die norwegische. Man kann in ihr zwei sehr ungleiche Entwicklungen voneinander unterscheiden: eine erste, die vor allem mit der kontinentalen Debatte und damit auch mit Dänemark—zusammenhängt, und eine zweite, deren Verbindungslinien vor allem zum angelsächsischen Gebiet verlaufen. 1.7.1. Die erste Entwicklung trifft man am klarsten bei Gustaf Wingren (geb. 1910) an. Die führenden Lunder Theologen waren seine Lehrer. Er begann wie viele andere schwedische Theologen als Lutherforscher und war stark von Luther beeinflußt. In seiner eigenen Arbeit an der Dogmatik interessierte er sich nicht wie Nygren dafür, dem dogmatischen Studium eine allgemein-wissenschaftliche Basis zu verschaffen. Stattdessen ging er — wie viele kontinentale Theologen — von einem Standpunkt des christlichen Glaubens aus und suchte dessen Inhalt klarzulegen. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, der Inhalt des Evangeliums sei nur für solche Menschen klar faßbar, die begreifen, wie das Dasein durchzogen wird von einem Kampf zwischen dem Leben, das uns ständig geschenkt wird, und verschiedenen zersetzenden Kräften. Menschen, die dies verstanden haben, entdecken auch, wie aus den bloßen Lebensbedingungen Forderungen, Schuld und ein Bedürfnis nach Vergebung hervorgehen. Die Dogmatik muß darum beginnen mit einer Lehre von -»Gott als dem Schöpfer und einer Lehre vom —»Gesetz, das in der Welt wirkt. Vor diesem Hintergrund kann das lebenspendende Evangelium in Christus dargestellt werden. Entsprechend ist es Aufgabe der Kirche, die Schöpfung vor den das Leben zersetzenden und zerstörenden Kräften zu schützen. Wingrens größte dogmatische Arbeit hat zwei Teile. Der erste heißt folgerichtig Skapelseoch lagen, 1958; dt.: Schöpfung u. Gesetz, 1960, der zweite Evangeliet och kyrkan, 1960; dt.: Evangelium u. Kirche, 1963. Mit dem eben skizzierten dogmatischen Programm geriet Wingren in Gegensatz zu Nygren. Nygrens formale Methode der Motivforschung hat nach Wingren zu einer Perspektive geführt, die das Material um wesentliche Seiten des Christentums verkürzt. Wingren grenzte sich auch bereits früh gegen Barth ab, den er übrigens 1947 auf dessen Lehrstuhl vertrat. Wingrens Haupteinwand gegen Barth ist, daß dessen Offenbarungsbegriff und Konzentration auf den zweiten Artikel es unmöglich machen, die Schöpfung und das Gesetz als Hintergrund des Evangeliums darzustellen und hernach klar anzugeben, wie Christus gemäß dem Evangelium das in der Schöpfung gegebene Leben befreit. Wingren stimmt Barth aber darin zu, daß die Bibel vom Standpunkt des Glaubens aus in ihrer Gesamtheit als Botschaft an die Gegenwart zu deuten ist. Der Theologe, der Wingren neuerlich vor allem angesprochen hat, ist Logstrup. 1.7.2. Die zweite Entwicklung in der schwedischen systematischen Theologie steht in starkem Kontrast zu Wingren. Um sie zu verstehen, muß man die philosophische Situation in Schweden beachten. Am Anfang des 20. Jh. entstand in Schweden eine selbständige analytische und antimetaphysische Philosophie, die sog. Uppsalaphilosophie, deren bedeutendster Vertreter Axel Hägerström (1868—1939) war. Diese einheimische Tradition wurde mit Einflüssen angelsächsischer analytischer Philosophie und formaler Logik zusammengeführt. In der Mitte des Jahrhunderts gab es in Schweden eine starke und lebensfähige analytische Philosophie. Dasselbe trifft zwar auch für die anderen nordischen Länder zu; in Schweden übte die analytische Philosophie aber einen stärkeren Einfluß auf das allgemeine kulturelle Leben aus als in jenen Ländern, und hier trat sie auch in anderer Weise als dort mit der Theologie in Kontakt. Hierzu trug vor allem der Uppsalienser Philosophieprofessor Ingemar Hedenius (geb. 1908) bei. Er veröffentlichte 1949 das Buch Tro och vetande, eine tiefgreifende Christentumskritik, die in die religionskritische Tradition seit David Hume gehört. Hedenius gebraucht moderne analytisch-philosophische Mittel und schreibt in einem Stil, der an Bertrand Russell erinnert. Besondere Aufmerksamkeit widmet er Nygren
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und der Lunder Theologie. Nygrens grundlegende philosophische Gedankengänge sind nach Hedenius unhaltbar, und seine Theorie über die atheoretische Religion ist unvernünftig.
Angeregt von Hedenius' Buch und von der englischen religionsphilosophischen Auseinandersetzung nach Flews und Maclntyres Buch New Essays in Philosophical Theology (s. u. Abschn. III), begannen sich viele schwedische Theologen für eine Verbindung von analytischer Philosophie und Theologie zu interessieren. Manche meinten dabei zu entdecken, daß gewisse Dogmatiker—wie z. B. die Lunder Theologen — auf eine Philosophie bauten, die sich als unhaltbar erweist, und daß andere — wie z. B. Wingren - die grundlegenden Wahrheitsfragen der Religion allzu leichtfertig ausklammerten (s. Jarl Hemberg, Religion och metafysik, 1966). Wandte man die in der analytischen Philosophie entwickelten Methoden der Argumentationsanalyse auf die dogmatischen Darstellungen an, so erwiesen sich diese oft als willkürlich. Die Argumente, auf Grund derer man die eine Lehre akzeptierte und die andere abwies, erschienen unklar, und oft fehlte jede Rechenschaft über die Prämissen. Es entstand die Frage, ob Dogmatik wohl überhaupt so betrieben werden könne, daß sie den elementaren wissenschaftlichen Forderungen nach angegebenen, überprüfbaren Prämissen und folgerichtigen Argumenten entspricht. Oder beruhte das Ansehen der Dogmatik als Wissenschaft mehr auf ihrer langen Tradition als auf ihrem intellektuellen Niveau? Solche Fragen wurden mit großem Ernst von vielen Systematikern in Schweden gestellt, z. B. von Axel Gyllenkrok (geb. 1910), bis 1976 Professor für Dogmatik in Uppsala, Hampus Lyttkens (geb. 1916), jetzt Professor für Religionsphilosophie in Lund, Ragnar Holte (geb. 1927), jetzt Professor für Ethik in Uppsala, Urban Forell (geb. 1930), jetzt Professor für systematische Theologie in Kopenhagen, Robert Heeger (geb. 1938), jetzt Professor für Ethik in Utrecht, Jarl Hemberg (geb. 1935), Nachfolger Wingrens in Lund, und Anders Jeffner (geb. 1934), jetzt Professor für Glaubens- und Lebensanschauungswissenschaft in Uppsala. Ein Abschnitt der Diskussionen spiegelt sich in einer Arbeit von Axel Gyllenkrok: Systematisk teologi och vetenskaplig metod, 1959. Gyllenkrok knüpft hier an die analytische Philosophie, aber auch an H. Scholz' bekannten Aufsatz von 1931 an, Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaftmöglich? (ZdZ 9 [1931] 8 - 5 3 ) . Sein Schlußsatz lautet, Dogmatik im eigentlichen Sinn könne keine Wissenschaft sein, und das Fach Dogmatik an der Universität solle verwandelt werden in eine theologiegeschichtliche Disziplin, in der man christliche Lehrsysteme verschiedener Zeiten unter Einschluß unserer eigenen studiert. Auffallend viele schwedische systematische Theologen haben sich auch theologiegeschichtlichen Studien gewidmet, die oft von hoher Qualität waren. Gyllenkroks Arbeit stellte indessen keinen Endpunkt der Diskussionen dar, und er modifizierte seine Auffassung später auch selbst. Immer mehr Theologen meinten, auf gute Gründe dafür gestoßen zu sein, grundlegenden religiösen Sätzen Sinn und Wahrheit zuzuschreiben, obwohl deren Wahrheit weder empirisch noch logisch etabliert werden kann (s. z.B. Anders Jeffner, The Study of Religiotis Language, 1972). Als man begann, den Empirismus und Positivismus der analytischen Philosophie zu widerlegen, ohne deren Forderungen nach begrifflicher und logischer Klarheit aufzugeben, konnte man an kontinentale philosophische Traditionen anknüpfen. Gleichzeitig arbeitete man daran, die Argumentationsmethoden in der Dogmatik zu präzisieren. Nach einigen Jahren erschien es immer mehr Teilnehmern an der Diskussion möglich, die Ausgangspunkte einer christlichen Dogmatik als Ausgangspunkte einer glaubwürdigen Alternative menschlicher Lebensdeutung zu präsentieren, und es erschien ihnen auch möglich, zum Teil streng argumentierend zu zeigen, was eine christliche Glaubensanschauung beinhalten kann. Auf argumentativem Wege festzustellen, was die christliche Dogmatik schlechthin umfaßt, erschien dagegen niemandem möglich. Man sah die Aufgabe eher darin, verschiedene Denkmöglichkeiten in der Dogmatik aufzuzeigen und ihren Inhalt im Verhältnis zu dem klarzulegen, was wir heute über den Menschen und über das Universum wissen. Diese Arbeit braucht sich methodisch nicht von anderen Geisteswissenschaften zu unterscheiden. Darüber hinaus, so ist in der Auseinandersetzung geltend gemacht worden, gibt es aber auch schöpferische religiöse Aufgaben in der Entwicklung der christlichen Glaubenslehre, die künstlerischer Arbeit näher stehen als wissenschaftlicher (zu dieser späteren Entwicklung s.
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Anders Jeffner, Kriterien christlicher Glaubenslehre, 1976). Die weiter unten (Abschn. 2) vorgeschlagenen prinzipiellen Gesichtspunkte folgen dieser Entwicklung und knüpfen an dieses Buch an. Ein vermittelnder Standpunkt wird von dem Professor für systematische Theologie in Lund, P. E. Persson (geb. 1923), vertreten. Seine Theologie befindet sich auf der Linie des späteren Aulen und erprobt Ideen aus verschiedenen Traditionen. Er hat auch häufig an der internationalen ökumenischen theologischen Arbeit teilgenommen. An dieser Stelle sei noch auf eine für Schweden besondere organisatorische Entwicklung eingegangen. Das schwedische Universitätswesen hat im Laufe der letzten Jahrzehnte starke organisatorische Veränderungen erlebt. In diesem Zusammenhang haben mehrere systematische Theologen die Frage aufgeworfen, ob die Methoden von Dogmatik und Ethik in einer pluralistischen Gesellschaft nicht auch zur Bearbeitung der lebensanschaulichen Alternativen des Christentums gebraucht werden sollten. Damit entstand der Gedanke, die Systematische Theologie auch auf das Studium anderer Antworten auf die Lebensfragen des modernen Menschen auszuweiten. Eine solche Ausweitung führte an der Universität Uppsala dazu, daß das sich früher auf Dogmatik und Dogmengeschichte begrenzende Fach seit 1 9 7 6 auch das Studium anderer Lebensanschauungen umfaßt und „Glaubens- und Lebensanschauungswissenschaft" heißt. In Lund wurde das allgemeine Fach „Lebensanschauungen" mit der Religionsphilosophie zusammengeführt. Das Studium der Dogmatik und der Dogmengeschichte wird dort in einem Fach betrieben, das „Systematische Theologie" heißt. Die Verschiedenartigkeit der Fachbezeichnungen drückt keinen Unterschied in der Auffassung der Dogmatik aus, sondern spiegelt lediglich eine unterschiedliche Aufteilung des Arbeitsgebiets wider. Die beiden schwedischen theologischen Fakultäten sind unabhängig von der Kirche und tragen kein konfessionelles Gepräge. Sie sind religiös und ideologisch ungebundene Institutionen für das wissenschaftliche Studium von Religion und Lebensanschauung. Die Pfarrer der Kirche von Schweden und viele Pastoren der Freikirchen erhalten an ihnen ihre wissenschaftliche Ausbildung. Die betreffenden Glaubensgemeinschaften sind verantwortlich für ihre praktische kirchliche Ausbildung.
1.8. Die finnische systematische Theologie dieses Jahrhunderts weist viele Parallelen zur schwedischen auf. Die theologische Fakultät in Abo ist übrigens schwedischsprachig. Besonders der Aufschwung der Lutherforschung in Schweden hat eine direkte Entsprechung in Finnland. Zu den finnischen Lutherforschern gehört z.B. Lennart Pinomaa (geb. 1901). Die Konfrontation der finnischen Theologie mit der analytischen Philosophie war aber nicht so ausgeprägt, sie schloß sich vielmehr stärker an die deutsche Debatte an. Die systematische Theologie Finnlands hatte auch die große Aufgabe, die oben berührten einheimischen Frömmigkeitstraditionen zu bearbeiten. Unter den Theologen, die sich für ökumenische Theologie interessiert haben, kann Seppo A. Teinonen (geb. 1924) genannt werden. 2. Prinzipielle
Gesichtspunkte
Den Hintergrund der folgenden Überlegungen bildet vor allem die oben skizzierte Entwicklung der Dogmatik in Schweden (Abschn. 1.7).
Eine notwendige Aufgabe der Dogmatik als Wissenschaft besteht darin, die historisch gegebenen und vielgestaltigen christlichen Lehrtraditionen klarzulegen und die in ihnen gegebene Vielfalt von Lebensdeutungen und Ausdrücken für menschliche Erfahrung lebendig zu erhalten. In dieser Arbeit kann die Dogmatik wissenschaftstheoretisch den textdeutenden Geisteswissenschaften gleichgestellt werden. Aber die Dogmatik hat auch die Aufgabe, eine glaubwürdige und authentische christliche Lehre für die Gegenwart darzustellen, und in dieser Arbeit wird sie als Universitätsdisziplin umstritten. Im folgenden wollen wir hauptsächlich diesen Teil der dogmatischen Arbeit diskutieren. Für die Gestaltung der dogmatischen Arbeit ist von entscheidender Bedeutung, wie man sich zu einer Forderung an das intellektuelle und moralische Leben verhält, die folgendermaßen formuliert werden kann: „Es ist gut, danach zu streben, alle Erkenntnisse, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen und Hoffnungen, die man hat, miteinander zu vereinigen." Wir können diese Forderung „Integrationsprinzip" nennen. Wir verstehen dabei unter „Integration" erstens, keinen Bereich des intellektuellen Lebens von den übrigen Bereichen zu isolieren, sondern im Gegenteil über die Beziehungen nachzudenken, die zwischen ihnen z.B. zwischen Wissenschaft, Moral, Schönheitserlebnissen und Religion - bestehen. Zweitens beinhaltet Integration, daß man auf allen Gebieten, auf denen man etwas zu wissen
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meint oder auf denen man einen Standpunkt einzunehmen gewillt ist, Gründe für die Übernahme von grundlegenden Prinzipien oder Glaubensnormen anführt und, soweit man nicht Gründe dafür anzuführen in der Lage ist, akzeptiert, daß diese Wahl intellektuell nicht mehr weiter motiviert werden kann. Man nimmt dann eine für alle zugängliche, vernünftige Gedankenführung an, die überprüfbar ist und erkennen läßt, von welchen Ausgangspunkten her man versucht, Erkenntnis zu erreichen und richtig Stellung zu nehmen. Dieser zweite Sinn von „Integration" kann auch so ausgedrückt werden: „Man nimmt einen von Lebensanschauung unabhängigen metatheoretischen Platz der Begegnung an." Drittens beinhaltet Integration, daß man in der Gesamtheit von Behauptungen und Normen, die man akzeptiert, logische Ordnung erstrebt. Das bedeutet z.B., daß die Gesamtanschauung einschließlich der religiösen Anschauung widerspruchsfrei zu sein hat. Soll man das Integrationsprinzip nun akzeptieren oder nicht? Man steht damit vor einer von jenen grundlegenden Entscheidungen, für die man keine absolute Richtigkeit beanspruchen kann. Dennoch erscheint das Integrationsprinzip für ein rationales Wesen schwer entbehrlich, und wir wollen hier davon ausgehen, daß es gilt. Dies hat vier wichtige Folgen für die Stellung der Glaubenslehre und für die Auffassung der wissenschaftlichen Arbeit der Dogmarik. Erstens führt die Idee von einem gemeinsamen metatheoretischen Platz der Begegnung dazu, daß solche dogmatischen Richtungen abzuweisen sind, die die wissenschaftliche Berechtigung der Dogmatik zu einer Frage des Glaubens machen. Dies bedeutet nicht, Theorien über spezifische kognitive religiöse Erfahrungen oder Theorien über eine Offenbarung abzuweisen, die neue Erkenntnis zuwege bringt, sondern lediglich, daß man Argumente für solche Erkenntnisansprüche sucht, die im Prinzip für alle Menschen zugänglich sind. Die zweite Aufgabe besteht darin, unter den gewöhnlichen Bedingungen der geisteswissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen klarzulegen, ob und wie die Erkenntnisansprüche des Christentums berechtigt sein können. Diese Aufgabe liegt auf der Grenze zwischen —»Religionsphilosophie und Dogmatik. Man muß sie in einer für das Christentum positiven Weise lösen, wenn die Ausarbeitung einer Dogmatik zu einer wissenschaftlichen Aufgabe werden soll. Untersucht werden muß z. B., ob es richtig sein kann, Erkenntnisprinzipien anzunehmen, die die empirischen, wissenschaftlichen Erkenntnisprinzipien übersteigen. Welche Prinzipien das gegebenenfalls sind, wodurch sie sich von den wissenschaftlichen Prinzipien unterscheiden und welche Folgen es hat, sich ihnen anzuschließen. Bei solchen Untersuchungen sind die Methoden der analytischen Philosophie eine große Hilfe. Die empirische Erkenntnistheorie, die oft mit der analytischen Philosophie verbunden war, gehört aber gerade zu dem, was widerlegt werden muß, wenn die Dogmatik eine Aufgabe haben soll. Wenn schwedische Theologen zuweilen des Positivismus bezichtigt werden, dann kann das darauf beruhen, daß ihre Kritiker ihre Methoden mit einer Erkenntnistheorie verwechseln, die mit diesen oft verbunden war, die man bei ihrer Anwendung aber nicht zu akzeptieren braucht. Wenn es um die allgemeinen Erkenntnisprobleme des Glaubens und der Lebensdeutung geht, erweist sich eine Begegnung von kontinentalen und angelsächsischen philosophischen Traditionen als fruchtbar und notwendig. Zu welchen Schlußsätzen die Untersuchungen führen werden, kann man nicht definitiv sagen. Es gibt aber sehr gute Argumente dafür, daß wir bei unserer Orientierung im Dasein eine Art der Erkenntnis brauchen, die die strikte empirische Wissenschaft übersteigt, und daß sich die Erkenntnissuche auf diesem Gebiet von der wissenschaftlichen unterscheidet: Sie steht in einer anderen Weise in Beziehung zur persönlichen Entscheidung, und sie berücksichtigt ein breiteres Erlebnismaterial als die kontrollierbare Sinneserfahrung. Dies bedeutet, daß der Anspruch des Christentums, eine angemessene Lebensdeutung zu bieten, nicht vernachlässigt werden darf und daß es gute Gründe für den Versuch gibt, eine Dogmatik zu entwickeln. Wie weit die Arbeit dieser Entwicklung selbst mit wissenschaftlichen Methoden ausgeführt werden kann, wollen wir unten erörtern. Vorstehende Überlegungen beinhalten eine Bejahung des Ansatzes der Lunder Theologie, jedoch eine Zurückweisung der von Nygren benutzten philosophischen Methode.
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Die dritte Folge des Integrationsprinzips für die Dogmatik besteht darin, daß sich noch ein zusätzliches weites Feld wissenschaftstheoretisch unumstrittener und wichtiger Untersuchungen eröffnet: Der Zusammenhang zwischen verschiedenen christlichen Lehrstücken und ihr Verhältnis zur übrigen Erkenntnis sind logisch zu überprüfen. Logische Konsequenz und logische Vereinbarkeit sind objektive Prinzipien, die man auch dann anwenden kann, wenn die Aussagen, die man prüft, keinen wissenschaftlichen Status oder keinen gewöhnlichen Wahrheitswert haben. Logische Prinzipien auf religiöse Aussagen anzuwenden, ist indessen alles andere als einfach. Man muß ja zuerst den Metapher- oder Analogiecharakter der Aussagen klarlegen und die kognitive Funktion der Mythe ermitteln. Wenn man diese besonderen Züge der religiösen Sprache nicht beachtet, kann eine logische Untersuchung trivial werden. Wenn man sie aber berücksichtigt, dann wird die Arbeit der logischen kartographischen Aufnahme der Glaubenslehre nicht nur kompliziert, sondern auch interessant. Diese wissenschaftliche Analyse kann neue Denkwege aufzeigen und gewohnte verschließen. Damit liefert sie einer christlichen Dogmatik wichtige Bausteine. Viertens führt das Integrationsprinzip auf ein Untersuchungsfeld, das Ergebnisse der gleichen Art wie das eben genannte haben kann. Es geht hier darum, zu ermitteln, wie verschiedene christliche Lehren Erkenntnisansprüche beeinflussen, die auf wissenschaftlicher Forschung beruhen, und wie Forschungsresultate der Naturwissenschaften und historischen Disziplinen die Glaubenslehre beeinflussen. Viele sind vielleicht der Meinung, daß die klassischen Konflikte aus der Zeit des Durchbruchs der Naturwissenschaften oder aus der Entwicklung der historisch-kritischen Exegese nun gelöst sind; aber einem Dogmatiker mit Integrationsansprüchen bleiben auf diesem Konfrontationsfeld noch allerlei Probleme. Auch hier kann die Untersuchung dazu beitragen, verschiedene mögliche Gedankenmodelle in der Dogmatik zu identifizieren. Auch wenn man mit einer von der Religion unabhängigen ethischen Einsicht rechnet, eröffnen sich analoge Aufgaben. An diesen Beispielen mag deutlich werden, wie das Integrationsprinzip zu Stellungnahmen für oder gegen verschiedene Richtungen in der Dogmatik und zu wissenschaftlichen Arbeitsaufgaben führt. Wir haben damit aber noch nicht auf die Frage geantwortet, ob die Gestaltung einer christlichen Dogmatik mit wissenschaftlichen Mitteln erfolgen kann. Als Grund für eine Antwort wollen wir ein Prinzip einführen, das den Charakter einer Arbeitshypothese trägt und sich in der weiteren Arbeit als fruchtbar, aber auch als unfruchtbar erweisen kann: das Prinzip des Zusammenwirkens von Argumentation und Intuition. Dieses Prinzip besagt erstens, daß bestimmte Entscheidungen, die für den Aufbau der Dogmatik notwendig sind, nicht auf Grund intersubjektiver wissenschaftlicher Argumente getroffen werden können, sondern auf einer persönlichen Prüfung an der eigenen Lebenserfahrung und dem eigenen religiösen Leben beruhen müssen. Es kann hier—außer um die grundlegenden Prinzipien, die wir oben genannt haben — darum gehen, wie Luther ein Zentrum im Neuen Testament zu finden oder wie Teilhard de Chardin in Bildem und Analogien eine Totalvision des Daseins zu gestalten. Das Prinzip sagt zweitens aber auch, daß man nach diesen Entscheidungen Kriterien formulieren kann, mit denen man die Glaubenslehre teilweise argumentierend aufbauen kann. Dies haben wir oben ein wenig erläutert. Selbstverständlich verlangen sowohl die intuitive als auch die argumentierende Aufgabe das lebendige historische Material, das der Dogmatiker verantwortlich zu verwalten hat. Drittens behauptet das Prinzip, daß der Aufbau einer christlichen Dogmatik durch ein Zusammenwirken von intuitiven und argumentierenden Momenten geschieht und zu geschehen hat. Ist dieses Zusammenwirken also eine wissenschaftliche Aufgabe, oder soll man die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik auf deren argumentierenden Teil beschränken? Diese Frage, die der nach den Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft ähnelt, kann hier natürlich nicht abschließend behandelt werden. Der wissenschaftlich arbeitende Dogmatiker trägt aber in jedem Falle eine besondere Verantwortung für die argumentierenden Aufgaben, und das Zusammenwirken von Intuition und Argumentation darf nicht zu einer Vermischung beider Gebiete führen. Eine solche Vermischung ist in der modernen Dogmatik leider oft vorgekommen und hat die Vernachlässigung beider mit sich gebracht. — Wir heben mit den hier skiz-
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zierten Gesichtspunkten die allgemeinen religionswissenschaftlichen Aufgaben der D o g m a tik hervor, und wir schlagen mit ihnen vor, die Dogmatik an den Universitäten solle sich auf diese Aufgaben konzentrieren, sie solle dies jedoch so tun, daß das Fach dadurch nicht seine Relevanz für die Kirche verliert. Literatur Dogmatische A rbeiten vor 1900: Eric Jonas Almqvist, Commentarius in theses theologicae dogmaticae Jo. Aug. Ernesti, observationibus dogmaticis, exegeticis et polemicis observans, Upsaliae 1804. — Nikolai Frederik Severin Grundtvig, Vaerker i Udvalg. Hg. v. G. Christensen/H. Koch, Kopenhagen 1 9 4 0 - 1 9 4 9 . - H a n s Nielsen Hauge, Skrifter. Hg. v. H. Ording, Oslo 1947. - P o u l Helgesen, Skrifter, 7 Bde. Hg. v. M. Kristensen/P. Severinsen/N. K. 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2. Ausganglage
Weltkrieg)
3. Tendenzen und Themen
(Literatur S. 103)
Einführung
Es mag nützlich sein, vor der eigentlichen Darstellung der Entwicklung dogmatischer und systematischer Theologie in Großbritannien während der letzten 3 5 Jahre einige Eigentümlichkeiten britischer Theologie überhaupt, insbesondere im Vergleich zu Deutschland, hervorzuheben. Zunächst und vor allem spiegelt sich wie in anderen Bereichen so auch in der theologischen Arbeit die beträchtliche nationale, kulturelle und kirchliche Vielfalt in Großbritannien und Irland wider. Ohne Vollständigkeit anzustreben, seien einige Aspekte dieser Lage angeführt: In —»England hat die Staatskirche (—»Kirche von England), das Ergebnis der spezifischen anglikanischen Reformation, neben sich eine sehr präsente römisch-katholische Kirche, außerdem die englischen —»Freikirchen, vor allem —»Methodisten, Vereinigte Reformierte und —»Baptisten. Auch umfaßt die Kirche von England selbst ein breites Spektrum theologischer und liturgischer Parteiungen, von den hochkirchlichen Anglokatholiken (—»Anglokatholizismus) bis zu den Evangelikaien (Low Church). In den anderen Gebieten ist die kirchliche Landkarte, entsprechend ihrer je besonderen Geschichte und Kulturtradition, von der englischen sehr verschieden. In —»Schottland dominieren seit der Reformation die Reformierten (—»Reformierte Kirchen); Anglikaner, Methodisten und Baptisten bilden relativ kleine Gruppen; die größte Gruppierung ist die (presbyterianische) Kirche von Schottland, gefolgt von den römischen Katholiken. In —»Wales und —»Irland finden sich alle
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diese Denominationen, wobei in Irland insgesamt (nicht aber in Nordirland) die Mitgliederzahl der römisch-katholischen Kirche die aller anderen zusammen weit übertrifft. Diese Vielfalt bedingt natürlich eine ähnliche Vielfalt der Ansätze dogmatischer und systematischer Theologie. Die letzteren sind verknüpft mit den Organisationsformen der Ausbildung von Pfarrern oder Priestern und den institutionellen Gegebenheiten theologischer Forschung und Lehre. (Während bis in die jüngste Vergangenheit nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz britischer oder irischer Studenten Theologie zu einem anderen Z w e c k als dem der Vorbereitung auf das geistliche Amt studierte, ist in dieser Hinsicht im letzten Jahrzehnt ein Wandel eingetreten, so daß heute eine wachsende Minderheit von Theologiestudenten in andere Berufe geht.) Der anglikanische Einfluß herrschte in den alten englischen Universitäten vor; doch haben viele anglikanische Geistliche ihre Ausbildung in anderen, von ihrer Kirche eingerichteten Colleges empfangen, und noch heute ist es für Anglikaner üblich, während oder nach ihrem Universitätsstudium einen ergänzenden Studiengang an einem solchen College zu absolvieren. Die englischen Freikirchen gründeten, gewöhnlich in Universitätszentren, ihre eigenen Colleges. S o wurde für die englische Situation eine gewisse Zweiteilung zwischen den Zielen und Interessen der universitären theologischen Fakultäten und der kirchlichen Colleges charakteristisch. In Schottland dagegen dienen die theologischen Fakultäten der Universitäten zugleich als Colleges der Kirche von Schottland und vereinen somit, zumindest in der Theorie, akademische und praktische theologische Ausbildung. Obgleich sich die konfessionelle Zuordnung in moderner Zeit erheblich gelockert hat und die wichtigsten Universitätsfakultäten in England wie Schottland, was Lehrkörper und Studentenschaft betrifft, deutlich ökumenisch ausgerichtet sind, reflektieren die recht unterschiedlichen Formen der Verbindung zwischen Kirche und Universität einen weiterrcichenden Unterschied in der Betonung des Zusammenhangs zwischen dogmatischer Theologie und dem allgemeineren Leben der Kirche.
Ein anderer Gegensatz, der mit dem vorangehenden zusammenhängt, liegt darin, daß vor allem in neuerer Zeit die reformierten Kirchen und ihre Theologen generell mit der Entwicklung der deutschen und schweizerischen protestantischen Theologie in engerer Berührung geblieben und stärker durch sie beeinflußt worden sind als die meisten anderen britischen Kirchen. Eine bewußt dogmatische Theologie nach der Art eines K.—»Barth oder E. —•Brunner findet sich in reformierten Kreisen, aber kaum anderswo. Schottland, die traditionelle Hochburg reformierter Theologie in Großbritannien, hat über Jahrhunderte hin eine engere geistige und kulturelle Verbindung zum europäischen Kontinent gepflegt als England. Man hat auch häufig bemerkt, daß die in Schottland seit langem herrschende Konzeption der Ausbildung selbst sich nicht ganz mit der englischen deckt und daß die traditionelle schottische Denkweise eher metaphysisch und dogmatisch, die englische dagegen eher pragmatisch und empirisch ist. Wenngleich solche Verallgemeinerungen, vor allem in der Gegenwart, vielleicht allzu summarisch sind, treffen sie doch im Kern eine beobachtbare Differenz der Grundeinstellung zwischen der Mehrzahl anglikanischer und der Mehrzahl reformierter Theologen. Dogmatische Interessen, im Gegensatz zu exegetischer, historischer oder philosophischer Forschung, waren seit jeher mehr eine schottische als eine englische Domäne und wurden in England hauptsächlich von einigen freikirchlichen Theologen vertreten, die ihrerseits vielfach schottischer Herkunft waren. Damit ist keineswegs gesagt, daß Fragen dogmatischer und systematischer Theologie nicht auch von anglikanischen Autoren eindringend erörtert worden wären; aber dies geschah meistens unter einem historischen, philosophischen oder liturgischen Blickwinkel und nicht von einer dezidiert dogmatischen Grundlage aus. Ein Großteil der genuin theologischen Bemühungen anglikanischer Tradition in unserer Zeit findet seinen Niederschlag in den patristischen Untersuchungen z. B. von G. L. Prestige, J. N. D. Kelly, H. E. W. Turner oder R. P. C. Hanson, in den ausgreifenden liturgischen Studien von Dom Gregory Dix oder in dem Versuch, das Wesen des Glaubens und der religiösen Sprache im Dialog mit der englischen empirischen Philosophie und Sprachphilosophie zu durchdenken. Diese Arbeit läßt sich weithin nicht als eigentlich systematische Theologie, geschweige denn als Dogmatik im deutschen Sinne, beschreiben; aber sie repräsentiert die Art und Weise, in der systematische und dogmatische Fragen im Anglikanismus häufig angegangen werden. Überdies haben anglikanische Autoren, auch wo sie sich direkter dogmatischen Themen zuwenden, gewöhnlich ihren eigenen Stil, der sich durchaus von dem der reformierten Dogmatik abhebt (s. u. Abschn. 2; 3.2). Die Situation in der römisch-katholischen Kirche ist wieder eine andere. Die beiden
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Hauptstränge des britischen Katholizismus sind der englische und der irische, während das Wachstum der römisch-katholischen Kirche in Schottland (auch in Teilen von England) seit der ersten Hälfte des 19. Jh. hauptsächlich eine Folge irischer Einwanderung ist. Von der irischen Theologie sind insgesamt wenig neue Impulse ausgegangen; ihr originellster und namhaftester Vertreter in jüngerer Zeit ist der Moraltheologe Enda McDonagh, dessen Werk außerhalb des hier behandelten Bereiches fällt. Der englische Flügel hat in unserer Zeit in Frederick Coplestone (geb. 1907) einen hervorragenden neuscholastischen Philosophen und Philosophiehistoriker hervorgebracht, aber keinen Theologen vergleichbarer Statur. Die wichtigsten Einflüsse auf die römisch-katholische Theologie kommen aus Kontinentaleuropa und Nordamerika (z. B. Rahner, Küng, Schillebeeckx, Lonergan), neuerdings auch aus Lateinamerika: es gibt gegenwärtig in Großbritannien keinen spezifischen, autochthonen römisch-katholischen Stil systematischen Denkens, und die bedeutendsten römisch-katholischen Gelehrten haben sich in anderen Gebieten hervorgetan, vor allem der Philosophie und Geschichte. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß hier in Zukunft eine Änderung eintreten wird, im Gefolge des Aufstiegs einer neuen Generation jüngerer Theologen und der Intensivierung ökumenischer Kontakte, wie sie sich in den späten 70er Jahren durch die Berufung römischer Katholiken auf theologische Lehrstühle in —»Cambridge und —•Edinburgh abzeichnet; aber dies bleibt abzuwarten. 2. Ausgangslage Zu Anfang dieses Jahrhunderts war die reformierte Theologie stark durch —•Schleiermacher (der in Großbritannien erst zwei Generationen nach seinem Tod wiederentdeckt und umfassend gewürdigt wurde) und A. —»Ritsch 1 beeinflußt und hatte, besonders unter der Wirkung W. —»Herrmanns, ihre eigene, etwas modifizierte Form —»liberaler Thologie entwickelt, die vor allem um den Persönlichkeitsbegriff, die Frage der Werturteile und die Natur der religiösen Erfahrung kreiste. Ein führender Vertreter dieser Richtung war John Oman (1860-1939) vom Westminster College in Cambridge. Sein Edinburgher Zeitgenosse Hugh Mackintosh (1870-1936) öffnete sich in seinen späteren Jahren mehr als Oman der neuen —»dialektischen Theologie und gelangte von einem ritschlianischen zu einem eher barthianischen Standpunkt, auch wenn er zwischen beiden nicht eine derartige Kluft sah, wie sie sich auf dem Kontinent zeigte. (Dies ist ein Beispiel für die generelle Tendenz eines Großteils britischer Theologie, daß sie — auch wo sie Anregungen aus dem Ausland aufgreift — peinlich jedes Extrem, oder was sie für ein solches hält, vermeidet.) Der Wechsel von einer mehr liberalen zu einer mehr barthianischen Position erschien weiten Kreisen der reformierten Tradition nicht unattraktiv, da die radikaleren Ausprägungen liberaler Theologie bereits vorher von manchen als unangemessen empfunden worden waren — so vor allem von dem älteren Peter Taylor Forsyth (1848-1921), dessen Einfluß beträchtlich war und dessen späteres Werk, dem eine frühere, liberalere Phase vorangegangen war, ihm rückblickend den Titel eines „Barthianers vor Barth" eingetragen hat. So war der Weg für den Aufstieg einer stärker barthianischen Schule seit den 30er Jahren gebahnt, der sich in Frederick Camfields Revelation and the Holy Spirit (1933) und George Hendrys God the Creator (1937) ankündigte. Beide Ansätze fanden unter den reformierten Theologen späterer Jahrzehnte begeisterte Anhänger, und die Spannungen zwischen liberaler und barthianischer Theologie ziehen sich durch den ganzen Berichtszeitraum hindurch. In der Zwischenzeit hatte sich in der Kirche von England eine recht andersartige Form liberaler Theologie entwickelt, die weniger durch die systematische Theologie der Ritschl'schen Schule als durch die historisch-kritische Erforschung der Herausbildung des Dogmas nach dem Vorgang vor allem A. v. —»Harnacks bestimmt war. Ihre maßgeblichen Exponenten waren Hastings Rashdall (1858-1932) und James Franklin Bethune Baker (1891—1951), ihr symbolischer Höhepunkt die Konferenz der Modern Churchman 's Union 1921 in Cambridge und ihr vorrangiges Ziel die Modifizierung, ja Preisgabe des klassischen christologischen und trinitarischen —»Dogmas zugunsten einer Neufassung des Glaubens in Begriffen, die dem modernen, kritischen, wissenschaftlichen Denken, wie sie es verstanden,
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besser entsprachen. Der Hauptstrom der anglikanischen Theologie freilich bewegte sich in eine andere Richtung, die am besten als „kritische Orthodoxie" zu beschreiben ist. Hier teilte man das Bestreben der Modern Churchmen, den Glauben in zeitgemäßen Begriffen zu formulieren, fühlte sich jedoch gleichermaßen den Grundlinien der überlieferten Lehre, insbesondere der zentralen Bedeutung der Inkarnation, verpflichtet. Ausdruck dieses Geistes waren der von Charles ^»Gore zusammengestellte Sammelband Lux Mundi (1889), spätere Sammelbände wieFoundations (1912) und Essays Critical and Catholic (1926) sowie der Bericht Doctrine in the Church of England (1938). So entwickelte etwa William -^Temple in seinem Buch Nature, Man and God (1934) eine Art „dialektischen Realismus" (im Gegensatz zu seinem früheren Idealismus), der ihn befähigte, die Schöpfungs- und Inkarnationslehre mit einer evolutionären und dynamischen Auffassung kosmischer Prozesse zusammenzubringen. Einen nicht unähnlichen Ansatz, der vor allem auf —> Whitehead fußte, vertrat Lionel Thornton (1884—1960) in The Incarnate Lord (1928). Gore, Temple, Thornton und andere ihrer Zeitgenossen wie J. K. Mozley, A. E. J. Rawlinson, H. M. Relton, O. C. Quick und L. Hodgson repräsentieren sämtlich eine Einstellung, die als charakteristisch für den „mittleren bis hohen" Anglikanismus gelten kann: ein Bemühen, Schrift, Tradition und modernes Denken in einer breiten, harmonischen Synthese zu vereinen, die gleichermaßen Raum läßt für -h> Autorität und -^»Erfahrung, —»Gnade und —»Natur, —»Offenbarung und —»Vernunft. Natürlich konnten sie die neue dialektische Theologie kaum begrüßen, die ihnen in ihrer Betonung der vollständigen Andersartigkeit Gottes und der Unzulänglichkeit traditioneller natürlicher Theologie übertrieben schien. Ihre Bevorzugung der via media anglicana gegenüber barthianischer „Einseitigkeit" wird von Anglikanern bis in jüngere Zeit geteilt — dies zweifellos nicht zuletzt darum, weil im Anglikanismus (—»Anglikanische [Kirchen-JGemeinschaft) der theologische Akzent eher auf Liturgie, Gottesdienst und Spiritualität liegt als auf der Linie reformierten Denkens, die vom Katheder zur Kanzel führt. Zu erwähnen ist schließlich der Wandel des philosophischen Klimas in Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jh. Um die Jahrhundertwende war hier der Hegel'sche —»Idealismus fest etabliert—weit fester als in Deutschland. Mit G. E. Moore (1873 —1958) und Bertrand Russell (1872-1970) jedoch brach sich der von —»Locke und - ^ H u m e ausgehende Strom des britischen —»Empirismus von neuem Bahn und erzwang eine Abkehr von spekulativer Metaphysik zugunsten eines bescheideneren und nüchterneren Nachdenkens über die Grundlagen der Erfahrung und der Erkenntnis. Aus dieser Bewegung entsprang die Schule des Logischen Positivismus, die sich in A. J. Ayers Language, Truth and Logic (1936) energisch zu Wort meldete. Entscheidend für diesen Zweig des —»Positivismus war das „Prinzip der Verifizierbarkeit", wonach allein solche Sätze sinnvolle Tatsachenaussagen enthalten, die sich empirisch verifizieren lassen. Sätze, die nicht analytisch wahr (d. h. tautologisch) sind und sich nicht auf tatsächliche oder mögliche Sachverhalte beziehen, durch die sich ihre Aussagen als wahr (oder falsch) erweisen lassen, haben keinen Sinn, da ihnen die elementare Voraussetzung des empirischen Bezugs fehlt. Damit war mit einem Schlag metaphysisches und theologisches Reden für sinnlos erklärt. Während diese extreme Position selbst von ihren frühen Vertretern nicht lange aufrechterhalten wurde, folgte ihr der gemäßigtere und differenziertere Ansatz der Sprachanalyse (-*Sprachphilosophie). Dieser berief sich auf die Arbeit des späteren Wittgenstein und wurde vor allem von dem Oxforder Philosophen J. L. Austin (1911 — 1960) entfaltet. Dabei ging es nicht so sehr um die Entwertung bestimmter „Sprachspiele" (Wittgenstein), sondern um die Untersuchung ihrer Spielregeln, d. h. der Verwendung verschiedener Arten von Sprachen und der Kriterien, von denen sie regiert werden. Verbunden mit einer solchen Fragerichtung war die emphatisch vorgebrachte Überzeugung, daß die Aufgabe der Philosophie im wesentlichen eine kritische und analytische sei — nicht Erforschung der Wirklichkeit, sondern Klärung und Korrektur unseres Denkens über sie und Aufdeckung von Sprachverwirrungen. So entstand eine Atmosphäre, in der für Impulse der Philosophie aufgeschlossene Theologen sich herausgefordert sahen, den Sinn und Bezug religiöser Sprache und die Logik theologischer Argumente zu erläutern und
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zu rechtfertigen. Zahlreiche Theologen in Großbritannien wie in der ganzen englischsprachigen Welt warfen sich auf eine Form analytischer —»Religionsphilosophie als das Medium, in dem sie ihre theologischen Interessen verfolgten. Daher hat die theologische Ausbildung in Großbritannien üblicherweise zwei Brennpunkte: einmal speziell dogmatische Studien; zum anderen religionsphilosophische Arbeit, gewöhnlich im Zusammenhang mit allgemeinerer —»Apologetik. Die nicht geringe Schwierigkeit, diese divergenten Perspektiven in Einklang zu bringen oder gar zu verbinden, hat ihre jeweiligen Vertreter auf ganz unterschiedliche Wege geführt und ernste Probleme der Verständigung zwischen ihnen geschaffen. 3. Tendenzen und Themen 3.1. Die herausragenden reformierten Theologen zu Beginn des Berichtszeitraums sind die beiden Brüder John ( 1 8 8 6 - 1 9 6 0 ) und Donald Baillie (1887-1954) von der Universität Edinburgh bzw. —»Saint Andrews und Herbert H. Farmer (geb. 1892), Omans Nachfolger in Cambridge. Die beiden ersteren waren bestrebt, die Einsichten der liberalen und der dialektischen Theologie zusammenzubringen, freilich eher auf liberaler als auf dialektischer Grundlage; zu diesem Zweck stellten sie, wie auch Farmer, vor allem die Gedanken der Personhaftigkeit und der Begegnung in das Zentrum ihrer Analysen religiöser Erfahrung. Die engste Parallele hierzu in der deutschsprachigen Theologie derselben Zeit bieten vielleicht die Überlegungen von Brunner in Wahrheit als Begegnung (1938 2 1963) und von K. —»Heim in den späteren Bänden von Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß die Gebrüder Baillie (mit der Mehrheit der britischen Theologen ihrer Generation) dazu neigten, in der Auseinandersetzung um das —»Bild Gottes Brunner gegen Barth zu unterstützen — obwohl auch Brunner für sie in den Beschränkungen, die er der „Religion" und der „natürlichen Vernunft" auferlegte, zu weit ging. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß Brunner in der Zeit unmittelbar vor und nach dem Krieg in Großbritannien besser bekannt war und breiter gewürdigt wurde als Barth, nicht zuletzt weil seine Hauptwerke, lange bevor ab 1956 der zweite und die folgenden Teilbände der Kirchlichen Dogmatik auf Englisch herauskamen und die theologische Öffentlichkeit mit dem „neuen" Barth vertraut machten, in der ausgezeichneten Ubersetzung von Olive Wyon erschienen waren.
Farmer und John Baillie hatten mehr philosophische, Donald Baillie mehr dogmatische Interessen. Die Probleme, mit denen sich die ersteren beschäftigten, waren vornehmlich das Wesen der Religion und der religiösen Erfahrung, die Gotteserkenntnis und die Stellung von Offenbarung und Vernunft. Während sie die Besonderheit des Christentums unter den Weltreligionen und die Priorität des göttlichen Zugehens auf den Menschen in unserer Erkenntnis —»Gottes unterstrichen, waren sie nicht bereit, der dialektischen Theologie in ihrer schroffen Entgegensetzung von Offenbarung und Religion, des „natürlichen" Menschen und des Evangeliums zu folgen. Ihre Theologie war bewußt eine der Vermittlung zwischen Theologie und Philosophie, Evangelium und zeitgenössischer Kultur, christlicher Uberzeugung und großzügiger Offenheit gegenüber der Breite und Tiefe der mannigfaltigen Erfahrung Gottes im menschlichen Herzen; und beide zeigen mehr als einen Anflug von Platonismus, verknüpft mit einem gewissen weltläufigen Optimismus, der deutlich vom Werk eines Barth, Brunner oder R. —»Niebuhr absticht (so ist z. B. von dem Gefühl der Krise, das Niebuhrs Faith and History (1948) durchzieht, in Baillies ein Jahr später erschienenem Buch The Belief in Progress nur wenig zu spüren). Donald Baillies Hauptbeitrag zur Dogmatik ist God was in Christ (1948), das vielleicht einflußreichste Werk zur Christologie (—»Jesus Christus), das die britische Theologie in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Baillie versucht darin, einen mittleren Kurs zwischen der einseitigen Betonung entweder des „historischen Jesus" oder des „Christus des Glaubens", zwischen dem liberalen und dem dialektischen Ansatz zu steuern, die er in Ebionismus bzw. Doketismus münden sieht. Sein durchgängiger Leitfaden ist das „Paradox der Gnade": Im Bewußtsein der Gnade erkennen wir sowohl unsere eigene, genuin menschliche Freiheit als auch die Abhängigkeit dieser Freiheit von der vorauslaufenden Initiative Gottes. Ebenso besteht auch in Jesus ein völliger Einklang zwischen wahrhaft menschlicher Existenz und äußerster Abhängigkeit von Gott: Er ist das Beispiel des Paradoxes der Gnade schlecht-
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hin. Von dieser Position aus verwarf Baillie, wie viele britische Theologen vor und nach ihm, die Lehre von der ävvnooTaoia der menschlichen Natur Christi, die für ihn eine Minderung der Menschlichkeit implizierte. Bei allen Einwänden, auf die seine Vorschläge gestoßen sind - z. B. daß er die Gegenwart auf eine bloße Tätigkeit Gottes in Christus reduziere; daß der Zugang über ein so allgemeines Prinzip wie das Paradox der Gnade der Einzigartigkeit Christi nicht gerecht werden könne; daß seine Christologie letztlich nestorianisch sei —, kann kein Zweifel bestehen, daß es ihm nicht darum ging, das klassische Dogma zu verwässern, sondern dessen Bedeutung neu zu erfassen und insbesondere die konkrete Menschlichkeit Jesu in den Mittelpunkt zu rücken (in dieser letzten Absicht trifft er sich mit einem Großteil moderner christologischer Arbeiten). Es sollte vielleicht hinzugefügt werden, daß Baillie den Versuch des Anglikaners W. R. Matthews in The Problem of Christ in the Twentieth Century (1950), die Göttlichkeit Christi psychologisch zu deuten, scharf kritisiert hat und nicht gewillt war, eine solche Form von Reduktionismus zu unterstützen. 3.2. Die ältere anglikanische „kritische Orthodoxie" bestand in den Nachkriegsjahren zwar fort, hatte aber ihren Höhepunkt bereits überschritten. Tatsächlich gehörten ihre Hauptvertreter alle zur älteren Generation und waren teilweise schon in den 20er und 30er Jahren aktiv gewesen. Leonard Hodgson (1889—1969) verteidigte die Vernünftigkeit der klassischen Lehre in einer Reihe von Büchern, von And was Made Man (1928) über The Doctrine of theTrinity (1943) und The Doctrinc of the Atonement (1952) bis For Faith and Freedom (1956; 1957), während Lionel Thorntons dreibändiges Werk The Form of the Servant (1950; 1951; 1956) in faszinierender Mischung eine systematische Behandlung der Offenbarung, Christologie und Ekklesiologie mit einer bisweilen etwas eigenwilligen typologischen Schriftauslegung verbindet. So überraschend und seltsam Thorntons Exegese oft ist, ihre eigentliche Quelle und Stärke liegt in einem tiefen Gefühl für den Reichtum und die Lebendigkeit biblischer —»Symbole und für die Bedeutung der Vorstellungskraft in der Theologie. Dieses Thema ist von mehreren anderen anglikanischen Autoren im Berichtszeitraum erörtert worden - z. B. Austin Farrer, The Glass of Vision (1948), Eric Mascall, Words and Images (1957) und Frederick Dillistone, Traditional Symbols and the Contemporary World (1973) —, und es lassen sich Verbindungslinien von hier zu der Aufwertung der Symbolik in zahlreichen römisch-katholischen Untersuchungen der Gegenwart ziehen (so zu Karl Rahner und zu v. Balthasars Herrlichkeit [3 Bde., 1 9 6 1 - 1 9 6 5 ] ) . In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß sowohl Farrer wie Mascall in der Tradition neuscholastischer Theologie und Philosophie stehen (—»Neuscholastik/Neuthomismus). A. Farrer ( 1 9 0 4 - 1 9 6 8 ) schrieb relativ wenig über dogmatische Themen, aber aus einer Reihe von Aufsätzen und Predigten, die großenteils erst nach seinem Tod publiziert wurden, spricht gleichermaßen ein tiefes, in leuchtenden Worten vorgetragenes Verständnis für das fundamentale Dogma wie die energisch festgehaltene neuscholastische Uberzeugung von dem legitimen Platz der natürlichen Theologie, da unsere begrenzte Erfahrung sich natürlich zur Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit Gottes öffne (diese Uberzeugung wird vor allem in seinem frühen Buch Finite and Infinite [1943] entfaltet). Im Gegensatz dazu hat E. Mascall (geb. 1905) sich so häufig wie kein anderer neuerer anglikanischer Theologe über dogmatische Fragen geäußert; die lange Liste seiner Bücher umfaßt u. a. He Who Is (1943), Christ, the Christian and the Church (1946), Existence and Analogy (1949), Christian Theology and Natural Science (1956) undTheology and the Gospel of Christ (1977). Seine neuscholastische Orientierung und der Einfluß modernen römisch-katholischen Denkens auf sein Werk machen ihn jedoch zu einem etwas atypischen Anglikaner. Dagegen steht F. Dillistone (geb. 1903) mit seinen Arbeiten über Revelation and Evangelism (1948), The Structure of the Divine Society (1951) und The Christian Understanding of Atonement (1968) zentraler in der älteren anglikanischen Tradition. Ein anderer sehr produktiver anglikanischer Autor dieser Zeit war Alan Richardson (1905—1975), dessen Werk ein breites Spektrum exegetischer und systematischer Themen abdeckt und dessen Standpunkt konservativer ist als der der meisten bisher erwähnten
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Theologen. Einen recht anderen Stil verkörpert der Philosoph und Theologe Donald MacKinnon (geb. 1913): seine theologischen Stellungnahmen sind relativ selten, aber gelegentliche Aufsätze lassen einen machtvollen und subtilen Geist erkennen, der von einer durch und durch realistischen Auffassung der Inkarnation bestimmt ist und dessen Reflexionen über die Bedeutung des Kreuzes im anglikanischen Bereich die nächste Entsprechung zu E. Jüngels Gott als Geheimnis der Welt (21977) und J. Moltmanns Der gekreuzigte Gott ( 3 1976) bilden. Insgesamt jedoch war die anglikanische Dogmatik in den Jahren nach 1960 weniger fruchtbar als zuvor, und anglikanische Theologen haben sich vorrangig anderen Arbeitsgebieten zugewandt (zu einigen davon s. u. Abschn. 3.4—6). 3.3. Der Einfluß von Barth und Brunner seit den 30er Jahren war naturgemäß besonders stark in den reformierten Kirchen in Schottland und anderwärts und spiegelt sich in den Schriften einer beträchtlichen Reihe von Theologen während des ganzen Berichtszeitraums wider. Neben Camfield und Hendry traten in Schottland David Cairns, John Reid (geb. 1910) und Thomas F.Torrance, in England Hubert Cunliffe-Jones (geb. 1905), W. A. Whitehouse (geb. 1915) und Geoffrey Bromiley (Hendry und Bromiley wechselten später in die Vereinigten Staaten über, der erste nach Princeton, der zweite an das Füller Seminary). Es wäre ungenau, die ganze Gruppe einfach als „barthianisch" zu beschreiben: Hendry hat sich in seinen späteren Schriften deutlich von Barth distanziert; Cairns und Cunliffe-Jones stehen vielleicht Brunner näher; und die anderen sind Barth, auch wenn sie ihm zugegebenermaßen viel verdanken, doch keineswegs sklavisch gefolgt. Dennoch besteht ein offenkundiger Gegensatz zwischen diesen Männern und den Gebrüdern Baillic oder Farmer. Anstelle einer allgemeinen Philosophie religiöser Erfahrung legen ihre Arbeiten frisches Gewicht auf die Besonderheit der Selbstoffenbarung Gottes, auf die zentrale Bedeutung Christi und auf die Autorität der Schrift. Vor allem in den 40er und 50er Jahren bezog die kraftvolle junge Schule erhebliche Impulse auch aus dem gleichzeitigen Wiederaufleben biblischer Theologie und aus der Neubesinnung auf die Theologie der Reformatoren, vornehmlich —»Calvins; diese verschiedenen Strömungen im Verein erzeugten ein starkes Bewußtsein, daß die Theologie zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückfinden müsse. Mehrere Mitglieder der Gruppe beteiligten sich auch sehr aktiv an der Arbeit über Glaube und Kirchenverfassung des Weltkirchenrats (—»Ökumene/ökumenisch), wobei sie eine neubelebte reformierte Theologie als Grundlage nicht eines engen calvinistischen Konfessionalismus, sondern einer radikalen ökumenischen Reflexion theologischer Fragen unter den Bedingungen der Gegenwart begriffen. Da es nicht möglich ist, das Werk all dieser Männer hier zu behandeln, soll lediglich auf Thomas F. Torrance (geb. 1913) näher eingegangen werden, dessen Veröffentlichungen an Zahl und thematischer Spannweite die fast aller anderen britischen Theologen seiner Generation übertreffen (eine umfassende Bibliographie findet sich in seiner Festschrift Creation, Christand Ctdture, hg. v. R. W. A. McKinney, 1976). Seine frühen Arbeiten beschäftigten sich vor allem mit den Kirchenvätern und der Theologie der Reformation, wobei es ihm aber stets darum ging, durch kritische historische Analyse zu einer zeitgemäßen theologischen Neuformulierung vorzudringen und insbesondere die reformierte Dogmatik nach zwei Richtungen zu öffnen: zum ökumenischen Dialog und zur Welt der modernen Naturwissenschaften. In den 50er Jahren spielte er eine maßgebliche Rolle bei der Umorientierung der Faith-and-Order-Bewegung von der „Sterilität vergleichender Ekklesiologie" (die der „alten Garde" so teuer war; vgl. T. F. Torrance: SJTh 6 [1953] 53—64) zu einer Neubewertung konfessioneller Traditionen unter dem Gericht des Wortes Gottes in Jesus Christus (viele seiner wichtigsten Aufsätze aus dieser Phase sind in den zwei Bänden von Conßict and Agreement [1959/60] gesammelt). Seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre widmete er, ohne seine ökumenischen Interessen fallenzulassen, einen zunehmenden Teil seiner Zeit der Herausforderung durch die —»Naturwissenschaften, der er eine besonders radikale Deutung gibt, indem er die Theologie durch die Neubegründung der —»Erkenntnistheorie und Heuristik im Gefolge der Entwicklung der modernen Physik zur Uberprüfung der Eigenart und
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Grundlage ihrer Forschung genötigt sieht. Ungleich vielen anderen, die sich an der Oberfläche einer ähnlich klingenden Aufgabe stellen, ist er überzeugt, daß die Antwort auf diese Herausforderung durchaus nicht das Ende der klassischen christlichen Dogmatik bedeutet, sondern ihr vielmehr zu einem neuen Verständnis ihres spezifischen Charakters als derscientia Dei verhilft, als der objektiven Artikulation der transzendenten Rationalität Gottes, die uns durch die Inkarnation zugänglich wurde. In der Entfaltung dieses Gedankens kommt er zu dem Ergebnis, daß viele der „Probleme", die moderne Theologen vor allem liberaler oder modernistischer Prägung umtreiben, der Ausfluß einer unzulänglichen Erkenntnistheorie sind und auf Annahmen beruhen, die in den Naturwissenschaften selbst, besonders durch den Ubergang von einem Newton'schen zu einem Einstein'schen Weltbild, längst überholt sind. Seine Angriffe wenden sich speziell gegen jede Form eines „radikalen Dualismus", der eine solche Dichotomie zwischen Form und Inhalt, Tatsache und Sinn, Wirklichkeit und Interpretation, Geschichte und Glauben, Objekt und Subjekt aufrichtet, daß er die Theologie selbst in die Ecke des Subjektivismus drängt, wo die objektive Wirklichkeit Gottes hinter den subjektiven Vorstellungen der Theologen oder der Erfahrung des einzelnen Gläubigen oder der Kirche dem Blick entschwindet. An diesem Punkt zeigt sich Torrance unverkennbar als Erbe Barths, und es ist kaum überraschend, daß seine schärfste Kritik häufig auf Bultmann zielt. Über Barth hinaus (wenn auch in Ubereinstimmung mit dessen späterer Denkrichtung) geht seine Suche nach einer neuartigen Gesamtsicht der Wirklichkeit, in der Theologen weniger besorgt sind, ihr Arbeitsfeld von dem der Naturwissenschaften abzugrenzen, als vielmehr gemeinsam mit Naturwissenschaftlern danach streben, die Rationalität der Schöpfung zu erforschen und durch sie die unauslotbaren Tiefen der Erkennbarkeit Gottes zu erfassen. Eine gute Darstellung seiner derzeitigen Absichten in dieser Richtung bietet der Vortrag, den er 1978 bei der Entgegennahme des Templeton Prize for Progress in Religion hielt (Ground and Grammar 1 — 14), während sein früheres Buch TheologicalScience (1969) seinen grundlegenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Ansatz entwickelt. W ä h r e n d T o r r a n c e seine unverwechselbar eigene M e t h o d e und Denkweise hat, ist das allgemeine T h e m a des Verhältnisses zwischen Theologie und Naturwissenschaften durch eine ganze Anzahl britischer Autoren von beiden Seiten behandelt worden; zu den T h e o l o g e n , die nennenswerte Beiträge geliefert haben, gehören Whitehouse, Mascall und der ältere Anglikaner Charles Raven, zu den Naturwissenschaftlern Charles Coulson, Arthur Peacocke und D o n a l d M a c k a y . Es wäre irreführend, den Eindruck zu erwecken, d a ß dieser Fragenbereich eine zentrale Stellung in der britischen Diskussion einn i m m t , denn nur eine Minderheit von Theologen hat ihm ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt. Angesichts seiner unbestreitbaren Dringlichkeit und Relevanz in einer W e l t , die sich dem J a h r e 2 0 0 0 nähert, ist aber zu erwarten, daß er in Z u k u n f t weiter bearbeitet werden wird.
Neben Torrance sollte noch kurz auf seinen Edinburgher Kollegen John Mclntyre (geb. 1916) hingewiesen werden. Er hat über die Jahre relativ wenig publiziert, aber seine Monographien The Christian Doctrine of History (1957) und The Shape of Christology (1966) zeugen von einer großen analytischen Begabung, die den eher synthetischen Schwung von Torrance ergänzt, auch wenn Mclntyre mehr ein scharfer Beobachter und Kritiker als ein Dogmatiker im strengen Sinne ist. In seiner Grundorientierung stimmt er jedoch weithin mit den anderen Mitgliedern der ganzen Gruppe überein. So berührt sich etwa der Gedanke des erstgenannten Buches, daß die Theologie nicht damit zufrieden sein kann, Geschichte gleichsam als leere, gegebene Form, als einen durch das geschichtliche Handeln Gottes und des Menschen unbeeinflußten Rahmen zu betrachen, sondern vielmehr ein christliches Verständnis der Geschichte selbst entwickeln muß, mit Torrance's Betonung der Untrennbarkeit von Form und Inhalt in theologischer (wie naturwissenschaftlicher) Forschung. Es gibt freilich einen Aspekt in der hier betrachteten theologischen Strömung, der in den letzten zwanzig Jahren zu einer Quelle des Unbehagens geworden ist: die Haltung gegenüber der Bibel als dem Wort Gottes. 1958 veröffentlichte der Edinburgher Alttestamentler James Barr (geb. 1924), selbst damals tief von Barth beeinflußt, in dem 1948 von Torrance und Reid gegründeten Scottish Journal ofTheology eine sehr negative Rezension von Reids The Authority ofScripture (1957) und begann damit eine Auseinandersetzung, die er in The Se-
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mantics of Biblical Language (1961) zu einer Abrechnung mit der zeitgenössischen —•Bibelwissenschaft erweiterte. Obgleich Barrs Angriff in vieler Hinsicht inkonsistent war und seinen Gegnern nicht immer gerecht wurde, lenkte er doch die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, die entsteht, wenn der dogmatische Zugang zum Bibeltext sich gegenüber dem historischen faktisch verselbständigt. Hier liegt ein Problem von allgemeinerer Bedeutung, insofern Bibelwissenschaft und Dogmatik während der letzten zwei Jahrzehnte in Großbritannien überhaupt, und nicht nur in dieser bestimmten reformierten Tradition, mehr und mehr auseinandergewachsen sind. Das Bewußtsein der Schwierigkeit einer Integration, das sich in Büchern wie Dennis Ninehams The Use andAbuse of the Bible (1976) und Barrs Fundamentalisrn (1977) widerspiegelt, hat zu einem weitverbreiteten Zustand fast völliger Lähmung geführt, mit verhängnisvollen Folgen für die exegetische wie für die dogmatische Arbeit. Die seit den 60er Jahren in Großbritannien und Nordamerika viel diskutierte „Krise biblischer Theologie" stellt eine Herausforderung dar, die einer angemessenen Antwort noch harrt. 3.4. Ebenfalls weitgehend durch schottische Reformierte wurde R. —»Bultmanns Programm der Entmythologisierung in seiner spezifisch theologischen Bedeutung in Großbritannien bekannt gemacht. 1952 veröffentlichte der Glasgower Theologe Ian Henderson ( 1 9 1 0 - 1 9 6 9 ) sein Buch Myth in the New Testament, und unter seinen Nachfolgern nimmt sein ehemaliger Schüler John Macquarrie (geb. 1919) mit zwei Untersuchungen, An Existentialist Theology (1955) und The Scope of Demythologizing (1960), einen besonderen Platz ein. Macquarries späterer Lebensweg hat ihn über New York nach —»Oxford und vom Presbyterianismus zu einem ausgeprägten Anglokatholizismus geführt. Von Beginn seiner theologischen Arbeit an wandte er sich entschlossen gegen den „konservativen Obskurantismus", der jede Art liberaler Theologie rundweg ablehnt, und bestand darauf, daß Liberalismus durchaus nicht zwangsläufig Unorthodoxie meint, sondern die Verpflichtung auf eine adäquate sachliche und methodische Offenheit theologischer Arbeit, vor allem gegenüber Vernunft und Philosophie sowie der Wirklichkeit der Erfahrung Gottes in nichtchristlichen Religionen. Sein Buch Twentieth Century Religious Thought (1963) übt entschiedene Kritik an Barth und Brunner, während P. —»Tillich sehr freundlich beurteilt wird. Macquarrys allgemeine Einstellung zur positiven Theologie wird in seinen Principles of Christian Theology (1966) entwickelt und erweist ihn als e'meanima naturaliter anglicana, immer bedacht, die via media einzuhalten, jede als einseitig empfundene dogmatische Systematisierung zu vermeiden und in allen Dingen eine unerläßliche Balance zu wahren. Bei ihm fällt auf, daß er einerseits vielleicht mehr als jeder andere dazu beigetragen hat, den theologischen —»Existentialismus englischsprachigen Lesern nahezubringen — nicht nur durch seine genannten Bücher, sondern auch durch seine Bemühungen um die Übersetzung von —»Heideggers Sein und Zeit —, andererseits aber der kühlste, sachlichste, „britischste" theologische Kommentator bleibt, ein „Existentialist", der eher durch heitere Gelassenheit als durch „Angst" gekennzeichnet ist und der den Existentialismus statt als Gegenstand leidenschaftlichen Engagements vielmehr als ein Ideengebäude behandelt, das hilfreiche Einsichten zu vermitteln vermag. Insoweit verkörpert er jene bereits erwähnte generelle Tendenz in Großbritannien, kontinentale Gedanken durch einen einheimischen Filter zu betrachten, der ihre Färbung leicht verändert. Eine bemerkenswerte Folge dessen ist, daß sich im britischen Raum trotz aller Debatten, die Bultmanns Werk auch hier in biblischen und theologischen Kreisen ausgelöst hat, kaum ein wirklich existentialistischer Bultmannschüler ausmachen läßt. Dies ist ein weiterer Aspekt der Kluft zwischen exegetischer und theologischer Arbeit, die von der Bultmannschule so energisch zusammengehalten werden, in Großbritannien aber weitgehend auseinandergefallen sind. 3.5. Neben den eigentlich dogmatischen Themen ist noch über einige weitere Entwicklungen an der Front zur Sprachphilosophie zu berichten. Eine repräsentative Auswahl der hier aufgeworfenen Probleme bieten die Sammelbände New Essays in Philosophical Theology (hg. von Antony Flew/Alasdair Maclntyre, 1955) und Metaphysical Belief's von Mac Intyre u. a. (1957); außerdem Ronald Hepburns Christianity and Paradox (1958) und Flews
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Godand Philosophy (1966). Alle diese vier Autoren zeigten sich mehr oder weniger verunsichert bezüglich der Gültigkeit religiöser Sprache und leiteten damit eine Diskussion ein, deren Fragestellungen in Macquarries God-Talk (1967) mit bewundernswerter Klarheit zusammengefaßt sind. Eine zentrale Rolle spielt, wie bereits angedeutet (s. o. Abschn. 2), das Problem, ob irgendwelche Aussagen über Gott der empirischen Nachprüfbarkeit zugänglich sind, und wenn nicht, ob sie dennoch als sinnvoll gelten können. So wird etwa darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn die Behauptung der Existenz Gottes nicht zu beweisen ist (—•Gottesbeweise), andererseits aber weder der Mangel an positiven Beweisen noch irgendwelche Gegenargumente, und seien sie noch so stark, als hinreichende Widerlegung seiner Existenz anerkannt werden. Wird eine solche Behauptung damit nicht letzten Endes inhaltsleer und dazu verurteilt (wie es in einem der New Essays heißt, 97), „einen Tod durch tausend Einschränkungen zu sterben"? Die damit angedeutete Schlußfolgerung ist, daß Theisten und Non-Theisten nicht über Tatsachen uneinig sind, die beobachtet oder erhärtet werden können, und daß darum religiöse Aussagen nicht „wahr" oder „falsch" in irgendeinem landläufigen Sinne sein können. Dieser Vorschlag hat in der britischen philosophischen Theologie weite, wenn auch nicht universelle, Annahme gefunden und verschiedene Versuche einer „nicht-kognitiven" Deutung des religiösen —»Glaubens nach sich gezogen. Der Cambridger Philosoph R. B. Braithwaite (geb. 1900) bot einen „empirischen Ansatz", wonach religiöse Sätze als Ausdruck einer moralischen Bindung an die Werte und Handlungsabläufe, die sie implizieren, zu begreifen sind, während R. M. Hare (geb. 1919) seine Theorie d e s „ b l i k " vorstellte — einer Art grundlegender Haltung oder Sichtweise, die nicht angemessen als „wahr" oder „falsch" bezeichnet werden, gleichwohl aber aus anderen Gründen vertretbar oder notwendig sein kann. (Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Hares bliks und den Kategorien Kants; überhaupt erinnert diese ganze Diskussion in Großbritannien an einige nachkantianische Tendenzen in der deutschen Theologie und Philosophie des 19. Jh. [—»Kant/Kantianismus/Neukantianismus], wenn auch ihre Äußerungsformen sehr verschieden sind.) Eine neuere nicht-kognitive Auffassung religiösen Denkens und Handelns ist von D. Z. Philipps (geb. 1934) in Religion and Understanding (1967) und Religion Without Explanation (1976) entwickelt worden. Anders geartet und daher von bisher sehr viel breiterem Einfluß in der theologischen Öffentlichkeit war der Entwurf von Ian T. Ramsey (1915 - 1 9 7 2 ) in Rcligious Language (1957), Models and Mystery (1964) und Christian Discourse (1965). Ramsey behandelt religiöse Aussagen nicht als nicht-kognitiv, sondern bestimmt sie wesentlich durch ihre Fähigkeit, „Aufschlüsse" (disclosures) hervorzurufen und zu ermöglichen, die unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen „aufbrechen", neues Licht auf die Realitäten der alltäglichen Erfahrung werfen und die Kraft zu einer neuen persönlichen Hingabe an das Transzendente verleihen. Von Farrer stammt die nicht unähnliche These, daß „Offenbarung" nicht als biblische Lehre noch gar einfach als historisches Ereignis (wie in der älteren und jüngeren „Orthodoxie") verstanden werden sollte, sondern als das Vermittlungsprodukt einer Symbolik, die auf die Erfassung göttlicher Wahrheit zielt. Im breiteren Gegenüber zur Philosophie haben britische Denker weiterhin ihre Aufmerksamkeit einem ganzen Spektrum eher traditioneller Fragen der philosophischen Theologie gewidmet. Die Spannweite dieser Arbeit läßt sich gut an einer Reihe von Büchern des Birminghamer Religionsphilosophen John Hick (geb. 1922) ablesen, der bis zu einem Positionswechsel neueren Datums (s. u. Abschn. 3.6) einen an John Baillie erinnernden Ansatz vertrat: Faith and Knowledge (1957); Faith and the Philosophers (1964); Eviland the God of Love (1966); (Hg.) The Many-Faced Argument (1968 [über den ontologischen Gottesbeweis]); Arguments for the Existence ofGod (1970); Death and Eternal Life (1976). Andere Werke aus diesem Gebiet sind: H. D. Lewis, Our Experience of God (1959) und The Seif and Immortality (1973); Huw Owen, The Moral Argument for Christian Theism (1965); Keith Ward, The Concept of God (1974); und Basil Mitchell, The Justification of Religious Belief (1973).
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3.6. Während der 50er Jahre wurde das Denken D. —»Bonhoeffers in Großbritannien behutsam eingeführt. Maßgeblich beteiligt an diesem Vorgang war ein weiterer Schotte, Ronald Gregor Smith (1913—1968), dessen Buch The New Man (1956) einen der ersten Versuche darstellt, die Konsequenzen der Idee einer „mündigen Welt" auf Englisch zu verstehen und zu entfalten. Kurz danach kam eine Welle oft demonstrativ „radikaler" Theologie, die weniger durch Smiths eher zurückhaltendes und poetisches Werk als durch den Sammelband Soundings (hg. v. A. R. Vidier, 1962) und durch John A. T. Robinsons Honest to God (1963) eingeleitet wurde. Es folgte eine wahre Flut „säkularer" und „religionsloser" theologischer Literatur, die sich freilich im Nachhinein nicht mehr so tiefgründig und revolutionär ausnimmt, wie damals von manchen geglaubt wurde. Der ganze Aufruhr kreiste zu einem sehr großen Teil um eine eklektische Auswahl von Gedanken Bultmanns, Bonhoeffers, —»Gogartens und Tillichs, der amerikanischen säkularen Theologie Paul van Burens und Harvey Cox', in erregteren Momenten auch der kurzlebigen „Gott-ist-tot"-Theologie. Entgegen allen Prognosen gelang es ihm nicht, eine kraftvolle Bewegung spezifisch britischer Theologie zu inaugurieren. In ähnlicher Weise haben neuerdings die Arbeiten von Pannenberg, Moltmann oder der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, in Zustimmung wie Ablehnung, viel Resonanz gefunden, ohne jedoch bisher vergleichbare Strömungen britischer Theologie hervorzurufen, und auch die Prozeßtheologie konnte sich, trotz eines Norman Pittenger, allenfalls eine Randposition erobern. Die Hauptauseinandersetzung der 70er Jahre wurde durch eine ganz andere Form von „Radikalismus" ausgelöst: durch ein Wiederaufleben des älteren liberalen Programms Harnack'scher Prägung. Fast gleichzeitig erschienen 1977 Geoffrey Lampes (1912-1980) Buch God as Spirit, in dem von der Pneumologie aus eine Alternative zur Trinitätslehre vorgeschlagen wird, und eine von John Hick unter dem provozierenden Titel The Myth of God lncarnate herausgegebene Aufsatzsammlung, der noch im selben Jahr der Band The Truth of God lncarnate (hg. von Michael Green) entgegentrat. Weitere Beiträge zu der damit eröffneten Debatte sind zusammengefaßt inlncarnation and Myth (hg. von Michael Goulder, 1979). In den Arbeiten von Lampe, Hick und ihren Gesinnungsgenossen, etwa Maurice Wiles (geb. 1923), werden die Dogmen der Trinität und der Inkarnation einer schwergewichtigen Kritik unterzogen, jedoch mit Argumenten, die jedem Kenner der romantischen, idealistischen und ritschlianischen Theologie des 19. Jh. merkwürdig vertraut vorkommen müssen. Ihre Vertreter scheinen sich mitunter nicht bewußt zu sein, in welchem Ausmaß frühere Theologen dieselbe Denkrichtung verfolgt haben — und wie viele Fallen an ihrem Weg liegen. In diesem Sinne ist der neue Liberalismus vielleicht weniger eine echte Herausforderung des Dogmas als ein Symptom seiner zunehmenden Unkenntnis. Ein Faktor, der zu diesem Ausbruch eines liberalen Unitarianismus beigetragen haben mag, ist ein deutlicher Niedergang christlicher Selbstgewißheit in Großbritannien. So wurde z. B. seit den 60er Jahren, bisweilen mit ausgesprochen polemischer Spitze, an vielen britischen Universitäten die —»Religionswissenschaft als Alternative zur christlichen Theologie propagiert. In Hicks eigener Laufbahn scheint sich ein klarer Übergang von einer früheren, grundsätzlich orthodoxen zu einer eher synkretistischen Religionsphilosophie abzuzeichnen. Sein Buch Godandthe Universe ofFaiths (1973) plädiert zur Erleichterung des Dialogs mit Menschen anderer Glaubensrichtungen für eine Akzentverlagerung von einer christo- zu einer Geozentrischen Theologie, von der Konzentration auf Jesus zu der auf Gott. Ganz offenbar wird hier am „Skandalon der Einzigartigkeit" des klassischen Christentums Anstoß genommen. Eine ähnliche Tendenz läßt sich in der Arbeit von Ninian Smart (geb. 1927) erkennen, der ebenfalls als Religionsphilosoph traditioneller Schule begann und über den Problemkatalog der westlichen christlichen Philosophie handelte. Seit den 60er Jahren jedoch bewegt er sich, wie seine Bücher The Religious Experience of Mankind (1971), The Phenomenon of Religion (1973) und The Phenomenon of Christianity (1979) bezeugen, stetig auf eine allgemeine Religionsphänomenologie und -geschichte zu. So sehr die generelle Perspektive der Religionswissenschaft ihre eigene Bedeutung und Gültigkeit hat, sie ist zweifellos kein Ersatz für die gründliche Aufarbeitung der klassischen
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Themen christlicher Dogmatik und wird es auch schwerlich erreichen, die letztere völlig zu verdrängen. Gegenwärtig freilich scheint sie im Aufstieg begriffen zu sein, während die Dogmatik sich bis zu einem gewissen Grad in der Defensive befindet. Auch dies ist ein Moment der britischen Situation, das nicht außer Betracht bleiben darf. Andererseits ist damit das Bild nicht erschöpft. Daneben gibt es auch eine solide Tradition theologischer Beschäftigung mit anderen Religionen, die es weder für nötig noch wünschenswert hält, zentrale christliche Aussagen zu opfern, und zu deren Exponenten Stephen Neill (geb. 1900), Lesslie Newbigin (geb. 1909) und Kenneth Cragg (geb. 1913) zählen. Die Form eines allgemeinen Uberblicks über Charakter und Hauptströmungen britischer Theologie impliziert den Verzicht auf eine Darstellung der verschiedenen Positionen zu einzelnen dogmatischen Lehrstücken. Einige der wichtigsten Werke über Themen wie Versöhnung, Pneumatologie, Ekklesiologie und die Sakramente werden neben den oben angeführten Titeln in der folgenden Bibliographie genannt. Literatur Alfred Ayer, Language, Truth and Logic, London 1936; dt.: Sprache, Wahrheit u. Logik, Stuttgart 1970. - Donald Baillie, God was in Christ, London 1948; dt.: Gott war in Christus, Göttingen 1959. 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Alasdair Heron
IV. Dogmatik in Nordamerika 1. Definition 2. Die Anfänge 3. Christliche Anthropologie in der neuen Welt 4. Bundestheologie und vernünftige Lehre 5. Hauptprobleme 6. Neubegründung der Vernunft (Literatur S. 115) 1.
Definition
Nordamerika (—»Vereinigte Staaten von Amerika) hat nie den Universalanspruch des —»Dogmas im römischen Katholizismus des Mittelalters erfahren. Auch erlebte es nie den Versuch, nach der —»Reformation in der protestantischen —»Orthodoxie den Universalanspruch des Dogmas für die Reformationskirchen wiederzugewinnen. Fast von Anfang an stand die Vielfalt der religiösen Erfahrung im Mittelpunkt. Es ist somit leicht verständlich, wieso der Gedanke der Dogmatik keinen breiten Einfluß ausübte. Die Dynamik der nordamerikanischen Theologiegeschichte läßt sich eher durch unterschiedliche Frömmigkeits-
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weisen und geographisch bedingte Besonderheiten als durch dogmatische Gesichtspunkte erfassen. Es ist nur möglich, in breiten Umrissen das bunte Bild aufzugliedern. Im sich schnell entwickelnden Pluralismus gab es keine umfassenden einheitlichen Gesichtspunkte. Als unübersehbare Akzente geben sich zu erkennen -^Puritanismus, Unitarismus H>Unitarier), Neupuritanismus, -^Liberalismus, —»Social Gospel, und Neoorthodoxie. In der Gegenwart treten verschiedene Formen von Prozeßtheologie und Befreiungstheologie hervor. Schon diese Stichworte lassen erkennen, weshalb das Wort ,Dogmatik' selten in den theologischen Buchtiteln erscheint. Die Tendenz geht mehr aufs Praktische oder Erlebnishafte. In der dogmatischen Arbeit selbst hat man meist zwischen den Ausdrücken ,christliche Theologie' und systematische Theologie' hin und her gewechselt. Jeder der beiden Begriffe wurde als ausreichend empfunden, um den systematisch erarbeiteten Zusammenhang der christlichen Lehre zu beschreiben. ,Dogmatik' wurde oft lediglich als strengere Bezeichnung dieses wissenschaftlichen Unternehmens angesehen. Doch wurde das Wort als Beschreibung der Gesamtkonzeption aus Gründen populärer Mitteilung meist vermieden. Diese Verlegenheit im W o r t g e b r a u c h tritt in einem Definitionsversuch v o m A n f a n g des 20. Jh. klar zutage: „ D a s W o r t Dogmatik wird in meinem W e r k als Synonym f ü r Theologie im technischen Sinn gebraucht, worin auch einige andere untergeordnete Disziplinen mit einbegriffen sind. Der Unterschied zur christlichen Ethik tritt deutlich hervor. In diesem Sinne wird es im Protestantismus f ü r über zwei J a h r h u n d e r t e a n g e w a n d t (zuerst 1659, häufiger seit 1729). In Deutschland wird oft das W o r t Glaubenslehre (Wissenschaft des christlichen Glaubens) d a f ü r gebraucht. Im Englischen gibt es kein sprachliches Äquivalent. Populäre Assoziationenmit D o g m a t i s m u s ergeben einen unglücklichen Eindruck, obschon das W o r t recht gut für das p a ß t , w o f ü r es gebraucht werden sollte. Im Unterschied zur Lehre (die auch M e i n u n g einschließen kann) bezeichnet das W o r t , D o g m a ' W a h r h e i t von f u n d a m e n t a l e m und autoritativem Charakter und beschreibt somit völlig hinreichend den Gegenstand unserer Wissenschaft. Wir brauchen k a u m zu betonen, d a ß wir unter Beibehaltung des W o r t e s nicht im rechtlichen Sinne des römischen Katholizismus vorgehen, sondern im geistlichen Sinne religiöser Autorität, wie es im Protestantismus üblich ist" (Brown 3).
Als William Adams Brown (1865-1943), Professor für systematische Theologie am Union Theological Seminary in New York, diese Definition formulierte, schien die Verflechtung von europäischer und nordamerikanischer Theologie fast selbstverständlich. Die Terminologie scheint äußerlich die gleiche. Sachlich hatte sich aber eine unterschiedliche Gewichtsverteilung der Interessen angebahnt. 2. Die Anfänge 2.1. Das nordamerikanische Spezifikum. Die Anfänge in Neuengland im 17. Jh. werfen einen langen Schatten auf das Gesamtbild, das sich als Dogmatik aus der bunten Vielzahl schnell anwachsender Denominationen herausschält. Philip Schaff, der Nestor der nordamerikanischen Kirchengeschichte, meinte, die Theologen Neuenglands hätten sich hauptsächlich mit Anthropologie beschäftigt. Das zeige sich besonders in den Auseinandersetzungen über die Willensfreiheit. Sieht man aber genauer hin, so entdeckt man, daß auch Christologie und Eschatologie eine Rolle spielen, Pneumatologie und Ekklesiologie nicht minder. Wichtig ist zu bedenken, daß bald ein recht farbenprächtiges Bild entsteht. Zunächst war die neue Welt eine heile Welt. Neben der Psychologie John Lockes konnte auch Plato wieder Fuß fassen, religiöse Mystik neben Tatchristentum. Trockener Calvinismus vermochte sich wenig durchzusetzen. Das Verhältnis zur-> Vernunft war bald nicht mehr von Schuldgefühlen bestimmt. Die Aufgabe der Vernunft verband sich mit dem wachsenden Interesse an der Frage nach dem Wesen des —»Menschen. Dazu bedurfte es aber christologischer Überlegungen. Beschränkt sich die Christologie auf transzendentale Anthropologie, worin —»Jesus lediglich als Idealmensch (ideal man) erscheint? Oder entdeckt die Vernunft in Jesus ein elementares Novum, das neues Menschsein stiftet, weil Gott selbst auf dem Plan ist? Die rapide Entwicklung des Kontinents verlangte, der menschlichen Vernunft, ihren Möglichkeiten und Zwängen, besondere Beachtung zu schenken. Die vernünftige Durchdringung der Christologie in bezug auf die Frage nach dem Wesen des Menschen kann als Charakteristikum nordamerikanischer Dogmatik gelten.
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2.2. Vernunft und Methode. Die Uranfänge theologischen Denkens in den britischen Kolonien, die später zu den Vereinigten Staaten zusammenwuchsen, liegen bekanntlich fast alle im —»Puritanismus. Das heißt allerdings nicht, dieses Denken habe sich ausschließlich auf einen reichlich tristen Lebenswandel und auf äußerst schroffe Lehren wie Prädestination oder Erbsünde bezogen. Eine neue Welt war zu bewältigen! Das Erlebnis unberührter und oft fast überwältigender Natur weckte empirisches Nachdenken sowie Naturmystik. Das religiöse Innenleben wurde durch neue Gemeinschaftserfahrungen bereichert. Große Erwekkungsbewegungen zeigten auch theologischen Einfluß. Es galt, das Christentum in all seinen Dimensionen neu zu begreifen. Der Puritanismus war jedenfalls nicht in jeder Hinsicht jenes Schreckgespenst, das populäre Anschauung aus ihm gemacht hat. Wenn auch Intuition und sogar Mystik eine Rolle spielten, letztlich war es die Vernunft, die die neuen Erfahrungen einordnete. Das betraf besonders auch den Gottesbegriff. Jonathan —»Edwards, der führende Theologe Neuenglands, betonte, die Vernunft könne sehr gut die Wirklichkeit —»Gottes erfassen bis hin zu seinem dreifachen Sein. Die Vernunft entdecke drei Unterschiede in Gott: Gott selbst, die Idee Gottes, und Gottes Selbstgefallen. Vernunft wird hier verstanden als Prozeß von Wahrheitsfindung im logischen Fortschreiten des Denkens. „Wir fangen mit dem Beweis a posteriori an, d.h. wir zeigen aus den Wirkungen, daß es eine ewige Ursache geben muß. Dann beweisen wir durch Argumentation, nicht durch Intuition, daß dieses Wesen notwendigerweise existiert, und schließlich weisen wir auf Grund der bewiesenen Notwendigkeit seiner Existenz viele seiner Vollkommenheiten a priori auf" (182; —»Gottesbeweise). Edwards spricht von seiner Argumentation auch als dem Grundprinzip des gesunden Menschenverstandes. Es zeigt sich immer wieder, wie sehr er durch John Locke (1632—1704) beeinflußt war, wobei dessen Essay Concerning Human Understanding (1690) im Vordergrund stand. Selbstkritik am Vernunftgebrauch war kaum zu erwarten in diesen Anfängen nordamerikanischen Denkens. Es ist wenig verwunderlich, daß der theologische Vernunftgebrauch in einen Unitarismus umschlägt, wo dieselbe Vernunft den dreifachen Unterschied in Gott schlechthin leugnet. Dabei braucht man nicht gleich eine Glorifizierung der Vernunft zu vermuten. Die Vernunft entwickelt ihre Logik einfach unerbittlich weiter. William Ellery —»Channing, der Anführer des Unitarismus von Boston, konnte erklären, wir müßten uns Gott näher bringen, wenn wir uns seiner erfreuen wollten. Wir hätten dafür die Kraft unseres Intellekts auf seine Güte und Vollkommenheiten zu richten. Hier nimmt das rationale Vorgehen überhand. Horace—»Bushneil, selbst schon dem theologischen Liberalismus verpflichtet, hat diese Entwicklung epigrammatisch zusammengefaßt: „Unsere theologische Methode in Neuengland ist im wesentlichen rationalistisch gewesen" (92). Charakteristisch an dieser Methode ist auch für Bushnell die Möglichkeit, die christliche Religion vernünftig zu begreifen, trotz des Vertrauens auf Gefühl und Intuition. Dabei will Bushnell allerdings einer Uberordnung der Vernunft über die Offenbarung nicht das Wort geredet haben: „Indem wir es uns nicht erlaubt haben, uns als Rationalisten über die Schrift zu stellen, haben wir uns nach Möglichkeit als aktive und selbstbewußte Rationalisten unter sie gestellt in der ständigen Annahme, daß sie ihren Inhalt an die systematisch-spekulative Vernunft adressiert, von der sie akzeptiert wird, und wodurch sie in Formeln verarbeitet wird, sobald diese zur Verfügung stehen" (ebd.). Was bedeutet es aber, daß diese Vernunft ohne Selbstkritik die Schrift interpretieren durfte? Nach Bushnells eigener Darstellung war sein Vorstoß eine Parallele zu —»Schleiermachers und —»Rothes Ansicht von der christlichen Theologie als spekulativer oder auch logischer Darstellung des christlichen Bewußtseins, worin Göttliches enthalten sei. Man wollte sich offensichtlich unter die Schrift stellen. Aber wie war das mit systematisch-spekulativer Vernunft möglich? Wurde Christus nicht immer mehr auf das begrenzte anthropologische Feld dieser Vernunft eingeengt?
Dogmatik IV 3. Christliche
Anthropologie
in der neuen
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Welt
Nach puritanischer Lehre war der-^Mensch seit Adam gänzlich verderbt. Jeder Mensch hatte sich in Adams Fall geistlich zerstört durch sein Handeln. Nathaniel William Taylor ( 1 7 8 6 - 1 8 5 8 ) , Professor für didaktische Theologie an der neugegründeten Yale Universität, griff auf dem Höhepunkt des Neupuritanismus (bekannt als „New Divinity") die Schwierigkeit frontal an: „Um das zu glauben, muß ich die Vernunft, die mir mein Schöpfer gegeben hat, verleugnen" (Concio ad Clerum. A Sermon Delivered in the Chapel of Yale College, Sept. 1 0 , 1 8 2 8 , New Häven 1828, 6). Er erklärte, jeder Mensch sei für sein eigenes Handeln verantwortlich. In freier Entscheidung wähle der Mensch immer etwas anderes als Gott. Obschon das menschliche Wesen nicht allgemein verderbt sei, stelle es doch die Möglichkeit für das Sündigen des Einzelnen. Die Natur des Menschen selbst ist nicht sündig. Sie ist allerdings die Möglichkeit für eine freie Entscheidung. Es widerspricht der Vernunft anzunehmen, Gott sei der Schöpfer eines sündigen menschlichen Wesens und damit der Urheber der ^ S ü n d e . Sie ist vielmehr Tat des Einzelnen, was indessen nicht bedeutet, der Mensch habe die gute Tat in seiner Verfügungsgewalt. Abkehr von der Sünde ist auch noch für Taylor ganz das Werk des Heiligen —»Geistes. In dieser Hinsicht denkt er noch in den Bahnen des Puritanismus. Aber die Menschen können daran mitwirken. War die Kraft der Vernunft einmal entdeckt, die Änderung des Menschen zu beeinflussen, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Vernunft auf einen weiteren Rahmen angewandt werden würde. Auch Christologie, die Wunder, sowie schließlich das biblische Weltbild, waren gezwungen, der Vernunft Rede und Antwort zu stehen. Nach dem Selbstzeugnis von H. Bushneil ist die Parallele zu Schleiermacher eindrücklich. Taylor selbst war ein Zeitgenosse Schleiermachers, stand aber nicht unter seinem Einfluß. Doch die Denkrichtung in Mitteleuropa und Nordamerika fängt an zu konvergieren. Eine anthropologische Begründung der Theologie macht sich auch in Nordamerika bemerkbar, wobei die Methode bei weitem noch nicht so verfeinert ist wie in Europa. 4. Bundestheologie
und vernünftige
Lehre
Die anfänglichen theologischen Auseinandersetzungen im nordamerikanischen Puritanismus waren alle an der Kirche orientiert (W. Walker, The Creeds and Platforms of Congregationalism, Boston 1893, 157ff). Die ersten Theologen waren Gemeindepfarrer, von denen einige zu Professoren avancierten, als die ersten Lehrstühle geschaffen wurden. Etwa zur gleichen Zeit der Einrichtung nordamerikanischer Theologieprofessuren drang die ^Aufklärung in die neue Welt ein. Edwards, Channing, Taylor, Bushnell, ob Pfarrer oder Professoren - die Aufklärung prägte ihre Welt mit. Anfänglich noch unauffällig, doch bald sehr offenkundig, bewegt sich die Theologie fort von der Auslegung des altkirchlichen Dogmas für das Gottesvolk im Zuge der Landnahme der neuen Welt zur Selbstlegitimierung der Vernunft innerhalb religiöser Vorstellungen. Nimmt man 1758, das Todesjahr J. Edwards', und 1943, das Todesjahr W. A. Browns, als Bezugspunkte, dann hat sich innerhalb von zwei Jahrhunderten das Blatt von der Bundestheologie zu vernünftiger Lehre gewendet, die die Auseinandersetzung mit dem modernen Weltbild in den Vordergrund rückt. W. A. Brown, einer der Hauptvertreter des theologischen —*Liberalismus in der ersten Hälfte des 20. Jh., faßt die dogmatische Aufgabe dahingehend zusammen, daß sie die alte Frage, wie Gott die Welt mit sich selbst versöhne (II Kor 5,19), unter Beachtung der modernen Weltanschauung zu verantworten habe. Während man sich auf die moderne Welt fixiert, bleibt aber die Kirchengebundenheit bestehen, allerdings an einer durch die Vernunft interpretierten -^Kirche. Der Bundesgedanke wird nicht mehr betont. Die Kirche gilt nun als religiöse Gesellschaft (^Gesellschaft und Christentum). Demnach werden die Fundamente der christlichen Theologie auf den Prinzipien der vergleichenden Religionswissenschaft aufgebaut: „Nach dem Gesichtspunkt der vergleichenden Religionswissenschaft ist das Christentum eine Form des religiösen Lebens neben andern. Vom Gesichtspunkt des christlichen Glaubens ist es die vollkommene und höchste Religionsform, die mit Recht alle Menschen
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Dogmatik IV
für sich beansprucht" (Brown 29). Dabei untersucht die Dogmatik nicht mehr Wahrheit und Unwahrheit der kirchlichen Verkündigung, sondern umgewandelt in Systematik sucht sie die Vernunft im religiösen Gesellschaftsrahmen zu legitimieren. Zwar gibt es auch in Nordamerika eine sich von der religiösen Gemeinschaft loslösende Vernunft, die „religious studies" im allgemeinen betreibt, besonders an den religionswissenschaftlichen Fakultäten der staatlichen Universitäten. Die dogmatisch wichtige Relevanz des Vernunftgebrauchs aber in Nordamerika ist am bleibenden Einfluß des Vernunftgebrauchs innerhalb der religiösen Gemeinschaft zu beobachten. Das Phänomen der Civil Religion, der Kulturreligion, ist ohne den Einfluß der Vernunft in den Denominationen nicht zu denken. Civil Religion ist der Versuch der Vernunft, einen allen Denominationen gemeinsamen Nenner gesellschaftlicher Sinngebung zu finden. Ist schon kein gemeinsames Verständnis von —»Taufe und —»Abendmahl zu erreichen, so läßt sich doch eine gemeinsame Loyalität zur Nation vermitteln. Der Bereich der Religion darf nicht dem Urteil der Vernunft entzogen sein. Es läßt sich nicht leicht eine europäische Parallele dazu anführen. Die Denknotwendigkeit der christlichen Religion wird auf breiter Basis als fast selbstverständlich angenommen. Man sucht nach dem der gesellschaftlichen Vernunft religiös Zugänglichen und darum auch nach dem mit anderen Religionen Gemeinsamen. Es wäre wissenschaftlich einfach, könnte man auch für nordamerikanische Verhältnisse von dieser Vernunft sagen: „Es ist die der Religion selbst innewohnende Vernunft, nicht etwa Vernunft von der Art, die der Religion von außen beigelegt werden müßte." (Dietrich Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976, 123). In Nordamerika ist die der Religion innewohnende Vernunft von vornherein mit gesellschaftlicher Vernunft verbrämt und verquickt. Kirche und Gesellschaft waren gleichsam von Anfang an eins. Christliche Werte werden mehr und mehr in Kulturwerte verwandelt, wobei ganz selbstverständlich die Religion als Kern einer Kultur angesehen wird, die die Vernunftgemäßheit der Religion beurteilt (J. M. Cuddihy, No Offense. Civil Religion and Protestant Taste, New York 1978,21). Am ehesten läßt sich dieser Zustand noch mit A. —»Schweitzers Begriff der Denknotwendigkeit der religiösen Vorstellungen des Christentums vergleichen (E. Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979, 260), wobei in Nordamerika die ungebrochene Zuversicht in die Vernunft hervorsticht, die durch keinerlei Vernunftkritik hindurchgegangen ist. 5.
Hauptprobleme
Der theologische Liberalismus hatte den Weg freigelegt für ein umfassendes modernes System, das die nordamerikanische Theologie in ihren tiefsten Erwartungen bestätigen würde. Auf Paul —»Tillich trifft im nordamerikanischen Raum zu, was sonst von einer ganz anderen Erfüllung in der Kirche gesungen wird: „Was der alten Väter Schar, höchster Wunsch und Sehnen war und was sie geprophezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit" (EKG 11). In Nordamerika wird Tillich etwas anders beurteilt als in Europa. Das Interesse liegt hier in seiner Synthese von Religion und Kultur, mittels einer vielschichtigen Vernunftanalyse. Selbstwidersprüche kirchlicher Lehre und kirchlichen Handelns werden nicht vordringlicher Reflexionsgegenstand. Die eigenartige Gebundenheit der nordamerikanischen Theologie an die Kirche bleibt bestehen, aber an die Kirche als Ausdruck von Religion, die das Aufgehen des Christentums in die Kultur fördert. Darum steht im nordamerikanischen Protestantismus systematische Theologie mit vornehmlich apologetischem Interesse und nicht Dogmatik im Vordergrund. Die Vernunft schneidet sich dabei die christliche Religion für den kulturellen Kontext zu. 5.1. Die Funktion der Vernunft. Paul Tillich unterscheidet zwischen ontologischer und technischer Vernunft. Unter ontologischer Vernunft versteht er diejenige Struktur des Geistes, durch die die Menschen die Wirklichkeit erfassen und ändern können. Sie zeigt sich als die klassische Tradition der Vernunft von Parmenides bis Hegel. Hier ist die kognitive Dimension ein Zugang unter anderen. Allerdings begleitet die technische Vernunft die ontologische Vernunft ständig. Hier herrscht die kognitive Dimension vor, besonders im Blick auf
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Handlungen, die Mittel zum Zweck abgeben. Im Gebrauch der historisch-kritischen Methode (—»Bibelwissenschaft) z. B. ist dieses rationale Vorgehen nicht zu vermeiden. Nur darf sich die technische Vernunft nicht von der ontologischen trennen. Dabei ergibt sich die Möglichkeit der Vereinigung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß sowie deren Distanz. In der Distanz ist kontrollierende Erkenntnis möglich, ein Modus, in dem das Subjekt Kontrolle über das Objekt ausübt (Tillich 114). Nun besteht allerdings auch noch die andere Möglichkeit, daß das Objekt die Freiheit hat, sich selbst in seiner besonderen Eigenheit anzubieten. Hier könnte es zu einer empfangenden Erkenntnis kommen. Der Vernunftprozeß ist demgemäß bei Tillich auf das Selbstsein des Denkenden gegründet, das potentiell von Anfang an mit dem Objekt verbunden ist — sonst könnte es das Objekt überhaupt nicht erfassen. Zwar soll kontrollierendes Wissen im Prinzip ausgeschlossen werden, aber die Vernunft insgesamt bleibt doch kontrollierend, insofern sie selbst das Empfangen der Erkenntnis initiiert. Die letztliche Identität von Subjekt und Objekt schließt eine Vernunft ein, die sich selbst bestätigen kann, wenn sie will. Tillich ist deshalb zu fragen, ob das Subjekt nicht auch den Gegenstand in Betracht zu ziehen hat, mit dem es letztlich nicht identisch sein könnte. Wie steht es um eine auf wirklich Anderes antwortende Vernunft? Könnte es nicht sein, daß das -^»Gewissen, in dem menschlichen Selbstsein nicht in seinem seinshaften Einigungsvermögen mit dem Objekt konstituiert wird, sondern durch Antwortvermögen gegenüber einem wirklich Anderen, dem Denkzwang der Grundinhalte des Christentums einen Riegel vorschiebt? 5.2. Christologie als transzendentale Anthropologie. Die ungelöste Vernunftproblematik in der nordamerikanischen Theologie kommt am deutlichsten in der Spannung von Anthropologie (—> Mensch) und Christologie (—» Jesus Christus) zum Ausdruck. Die Vernunft, solange sie primär auf Selbstbegründung beruht, verbaut der Christologie den Weg, wesentlich neue Dimensionen zum Verständnis des Menschen beizutragen. Nordamerikanische Theologie stimmt weithin darin überein, daß die historischen Grundereignisse des Christentums sich als Ausdruck gewisser menschlicher Strukturen zu erweisen haben. Dabei bahnt existentialistische Betrachtungsweise der Prozeßtheologie den Weg. Schubert Ogden (geb. 1928) z.B. beginnt seine Christologie unter der Voraussetzung, daß Christsein völlig als ursprüngliche Möglichkeit authentischer menschlicher Existenz zu verstehen sei. Die existentialistische Vernunftanalyse hat bereits sein theologisches Verständnis im voraus geklärt. Demnach soll die Lehre von der —»Offenbarung anders formuliert werden als in der dogmatischen Tradition. Authentische Existenz ist auch ganz und gar außerhalb des Glaubens an Jesus und kirchlicher Verkündigung realisierbar. Jesus ist nur mehr authentischer Ausdruck menschlicher Existenz, ein hervorragender Einzelner unter anderen, der seine Mitmenschen einlädt, sich radikal auf Gottes Gnade zu verlassen. Er weist auf eine allgemein zugängliche Situation: die Möglichkeit der Freiheit von der Vergangenheit und der Offenheit für die Zukunft. Jesus ist Adam in seinem wirklichen Sein. Es bedarf nur eines kleinen Gedankenschrittes von Adam zu Jesus. Jeder Mensch kennt bereits die Möglichkeiten seiner Existenz. Jesus drückt sie auf hervorragende Weise aus. Die Vernunft kann hier nur als kontrollierend verstanden werden. Christologie erweist sich als denknotwendige transzendentale Anthropologie. Könnte es auch eine Vernunft geben, die Jesus nicht sofort in den Gesamtrahmen menschlichen Seins einspannt? Bringt Jesus nicht ein neues Selbstsein des Menschen, nicht unverbunden mit menschlichen Strukturen, aber ein Selbstsein, das neu ist in der Überwindung des Zwangs zur Vernunftkontrolle — und gerade darin die Vernunft erfüllt? Es wird nicht eine ganz neue Vernunft dem Menschen eingepflanzt mit dem Glauben, damit der Mensch Jesus verstehen könnte. Aber Jesus ist uns nicht so ähnlich, daß der Einzelne in ihm nur das findet, was er bereits als sein innerstes Selbstsein kennt. War ^»Adam nur ein rvjiog rov uf/J.ovrog, ein Vorläufer des Kommenden, dann kann zwar Analogie anerkannt werden zwischen Adam und Jesus, aber keine absolute Identität seines Seins und menschlichen Selbstseins. Läßt sich Menschsein nicht auch von der neuen Schöpfung her denken (II Kor 5,17) ? Ist es nicht auch vernunftgemäß zu denken, daß wesentliches
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Menschsein erst durch Jesus geworden ist? Es besteht keine Denknotwendigkeit, Jesus aus der Natur Adams begreifen zu müssen. Das soll nicht die menschliche Natur herabsetzen, die Vernunft ermöglicht. Aber die Frage ist nicht zu umgehen, ob nicht unter den Bedingungen der Sünde menschliches Sein einer Verkehrung unterworfen ist, so daß die Vernunft die Christologie nicht primär von anthropologischen Grundlagen her erfassen kann. 5.3. Prozeß-Christologie. Schubert Ogden überlegte bereits, ob nicht eine lediglich anthropologische Begründung der Christologie den Rahmen zu eng spannen würde. Es wäre hilfreich, wenn sie in den Gesamtrahmen einer Prozeßphilosophie eingebaut werden könnte. Sonst bestehe Gefahr, daß sie schließlich von einer —»Ontologie wie der Paul Tillichs gänzlich absorbiert werden könnte. Das Prozeßdenken könnte die Denknotwendigkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch viel eindeutiger klären. Das geschieht neuerdings in der Christologie von John B. Cobb, Jr. (geb. 1925) und seinem Schüler David Ray Griffin (geb. 1939) die auf die Prozeßphilosophie Alfred North —»Whiteheads zurückgreifen. Nur im Rahmen des philosophischen Gottesgedankens erscheint Jesus verständlich. Gott erscheint als wirkende Kraft in der Welt, wodurch die einzelnen Teile beeinflußt werden, daß sie ihre Möglichkeiten maximal entfalten können. Neben dem allgemeinen Handeln sieht die Philosophie auch ein besonderes Handeln Gottes, das auf Gottes Wesen hinweist, verbunden mit anfänglichen Zielen, die auch von Gott selbst ausgehen. Jede Einzelperson kann solche Ziele ausdrücken. Jesus tut das in hohem Maße. Er setzt die Wirklichkeitsinterpretationen Israels voraus, betönt aber mehr Gottes Liebe als seine Gerechtigkeit. Auf Gottes Initiative zurückgehend, drückt Jesu Handeln eine zwingende Notwendigkeit aus. Jesus ist nicht bedeutsam, weil er allgemeine menschliche Möglichkeiten verwirklicht hat. Zu einer einzigartigen geschichtlichen Gestalt wird er erst dadurch, daß er Ziele ausdrückt, die Gott selbst bereits in die Welt hineingelegt hat. Eine lediglich auf Anthropologie basierende Christologie wäre nicht so überzeugend für eine solche Verwirklichung göttlicher Zielsetzungen. Prozeß-Christologie versucht demgegenüber zu begründen, wieso Gottes Handeln Jesu Handeln einzigartig macht (J.B. Cobb/D.R. Griffin, Process Theology, Philadelphia 1976; dt.: ProzeßTheologie, Göttingen 1979). Aber auch diese Position erklärt nur, was die Vernunft bereits vorher als Möglichkeit eines Handelns Gottes ausgewiesen hat. Wiederum ist vernunftbestimmt, was Gott tun bzw. nicht tun kann. Allein die Vernunft bestimmt den Prozeß, in dem Jesus seinen besonderen Platz findet. 5.4. Gott int Prozeß. Ergibt sich die Bestimmung des Menschseins und die Stellung Jesu aus den Anforderungen der Denknotwendigkeit, so ist die Denknotwendigkeit Gottes auch nicht zu umgehen. So kommt es z.B. bei Langdon Gilkey (geb. 1919) wieder zu einem Gott, der sich als notwendig erweist in seinem Sein. Gott ist für ihn notwendiges Sein. Der zeitliche Fluß aller Dinge verlangt eine Wirklichkeit, die die Vergänglichkeit übersteigt, um den Weltprozeß in seinem Zusammenhalt einsichtig zu machen. Es muß die Kraft des Seins geben, das endliches Sein im Fluß der Dinge ermöglicht. Gott muß nicht nur Vergangenes erhalten. Er muß auch jeder Gegenwart ihr Sein geben, damit sie Gegenwart sein kann. Somit ist Gott jenseits aller Zeitlichkeit und doch auch zeitlich. All dies ergibt sich für Gilkey aus Ahnungen, die der Tiefe der Vernunft entspringen. Denkt man Gott, so muß er als sich selbst begrenzend, zeitlich und veränderbar gedacht werden. Nun erhält Gott nicht nur die verschiedenen Einzelteile des Prozesses, er gibt ihm auch Richtung und Ziel. Menschliche Freiheit ändert diese Richtung aber ständig, und in der Tragik des Bösen zerstört sie Gottes gute Richtung. Damit ist eine versöhnende und heilende Tendenz in der Geschichte notwendig geworden, die wir als Liebe Gottes erfahren. Diese Art der Reflexion beschränkt systematische Theologie darauf, eine persönliche Anschauung des Theologen von Glaubenslehren nach dem Maß philosophischer Vorstellungen vorzutragen. Eine vernünftige Betrachtung der Welt wird einigermaßen leicht unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Theologie plausibel. So sieht man auch an Gilkeys theologischem Entwurf, wie systematische Theologie in Nordamerika weitgehend zu einer philosophischen Theologie ausgebaut worden ist, die die Glaubenslehren insgesamt dem Begriff der Denknotwendigkeit unterwirft.
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6. Neubegründung der Vernunft. Die protestantische Theologie in Nordamerika ist durch ihre Geschichte so geprägt, daß einer Methode der Vernunft in ihrem Gebrauch nicht auszuweichen ist. Aber darf diese Methode unkritisch fortgesetzt werden? Einerseits hat sie die nordamerikanischen Kirchen davor bewahrt, in reines Sektierertum zu verfallen. Andererseits hat sie aber weithin das Christentum als Kulturreligon legitimiert. Einige Denominationen, soweit sie Bekenntnisschriften als Konfessionen anerkannten, haben sich gelegentlich auf Häresieprozesse eingelassen. Aber das geschah mehr zur Reinerhaltung einer europäischen Lehrtradition und nicht als Ausdruck einer neuen Lehrentwicklung, die eine neue Dogmatik hervorgerufen hätte. Das —*Social Gospel, dessen bedeutendster Vertreter Walter —>Rauschenbusch war, gab keinerlei Anlaß zu einer neuen Lehrentwicklung. Rauschenbusch glaubte an die Perfektibilität des Menschen (Christianity and the Social Crisis, New York 1910, 422), nicht weniger an die Möglichkeit der Christianisierung der Gesellschaft (ebd. 151. 169). Gerade hier geht es noch einmal um die Selbstbestätigung der Vernunft in der Religion, diesmal nur mit Betonung der sozialen Bezüge. Die Neoorthodoxie brachte wenig Änderung, da sie von Europa importiert war und die besonderen nordamerikanischen Lehrfragen wenig aufgriff. Nicht einmal durch die beiden Brüder Niebuhr wurde sie dogmatisch wichtig. H. Richard —»Niebuhr bekannte sich am Ende seiner Laufbahn wieder zu Schleiermacher. Und Reinhold —»Niebuhr betonte, daß er im Grunde genommen Ethiker sei und kein Theologe. Somit trug sein Werk für die Dogmatik nichts aus und schon erst recht nicht für eine neoorthodoxe Dogmatik. Neuerdings haben einige Evangelikaie dogmatische Vorstöße gewagt. Aber z.B. bei dem bekanntesten unter ihnen, Donald Bioesch, bleibt das Unternehmen sehr an Karl —»Barth und damit an Europa orientiert. Für eine neue Lehrentwicklung in Nordamerika ist es notwendig, die nordamerikanische Haltung gegenüber der Vernunft aufzurollen und ein eigenes Problembewußtsein zu entwickeln. Ohne Neubegründung der Vernunft geht es nicht ab. 6.1. Verbindliche Lehre. Es brauchte die gesellschaftliche Umwälzung durch den Bürgerrechtskampf der fünfziger und sechziger Jahre, um die Theologie, wenigstens in kleinen Anfängen, von ihrer apologetischen Faszination, d.h. der Anpassung des Glaubens an die Moderne, loszulösen. Das Aufkommen der Black Theology, deren bedeutendster Vertreter James H. Cone wurde, wies auf innere Selbstwidersprüche des Glaubens hin. Die feministische Theologie schloß sich an, zunächst auf protestantischer Seite Letty M. Russell und auf römisch-katholischer Seite Rosemary Ruether. Aber auch die Stimmen der—»Indianer, der Ureinwohner des Landes, wurden laut. Als ihr Sprecher wurde Vine Deloria, Jr. bekannt. Bald war kaum eine der Minoritäten ohne theologische Stimme. Kirchen wurden nun gezwungen, sich selbst und ihre Lehren kritisch zu reflektieren. Das erwies sich z.B. an der 1957 aus den kongregationalistischen Kirchen und der evangelisch reformierten Kirche entstandenen „United Church of Christ". Hier hatte die Union zwar eine Glaubensbezeugung hervorgebracht, deren Formulierung oft in Gottesdiensten an Stelle des apostolischen Glaubensbekenntnisses gebraucht wird, veränderte aber nicht die grundsätzliche Ausrichtung der Theologie. Die neue Denomination setzte sich sehr für gesellschaftliche Änderung ein, verzehrte sich dabei aber oft „bei der Jagd nach neuen Aufgaben", heißt es in einer 1978 herausgegebenen Lehrerklärung (R. Groscurth, Lehren u. Bekennen in den USA: (ÖR 28 [1979] 277ff). Angesprochen wird, was sich durch den Vernunftgebrauch in der Kirche als Civil Religion herausgeschält hat: Daß sich die Kirche immer enger mit Werten der Kultur identifiziert, besonders was Wachstum und gesellschaftlichen Erfolg betrifft. Sie ist ständig versucht, Gott auf der Seite der reichen und mächtigen Nation zu sehen und den Sinn des Lebens in nationaler Verteidigung des Reichtums zu suchen. Wenn die Kirche auch die Nation verändern möchte, so läßt sie sich doch oft von den Mächtigen vereinnahmen. Dazu wird kritisch betont, daß der Staat kein Recht hat auf die Kirche. Darum sind in der nordamerikanischen Kultur gängige Leitbilder wic American Way of Life oder Manifest Destiny (vom Schicksal geforderte Ausdehnung des Lebensraumes) als Schlüsselworte für das christliche Verständnis des Menschseins auszuschließen. In dieser Kultur finden sich Anzeichen eines
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schleichenden Totalitarismus, der mit Mitteln der Technik oft millionenfachen Tod vorbereitet. Diese expansionistische Kultur hat kein Recht, den Wertrahmen zu bilden, der für Christen ausschlaggebend wird. Der Individualismus erweist sich genauso wie der Kollektivismus als unfruchtbar für wahres Menschsein. Besonders das Prinzip, daß der Einzelne zuerst an sich denken und nur für sich allein leben soll, was noch heute viele für den Kardinalgrundsatz der neuen Welt halten, erweist sich als falsche Lehre, wenn die Kirche ihn rechtfertigt. Immer dort, wo sich Christen primär von Kulturwerten prägen lassen, wird die Gestaltung der Ordnung der Kirdie wieder ein articulus stantis et cadentis ecclesiae. Reibungspunkte wie Manifest Destiny, technologischer Totalitarismus, —»Individualismus und —»Kollektivismus, aber auch —»Rassismus geben Anlaß zu neuer Lehrentwicklung, besonders was die Form der —* Kirchenordnung anbetrifft. Die Lehrerklärung enthält keine Anathemata falscher Lehre, weist aber auf, welche Lehren heute das Evangelium verfälschen. Dabei geht es nicht um die Fixierung einer bindenden Lehre (binding teaching), sondern um Übereinkunft in verbindlicher Lehre (accountable teaching). Es wird nicht einfach Zustimmung (asscnt) zur Lehre erwartet, sondern Verantwortbarkeit (accountability) gegenüber der Wahrheit im Sinne von Kol 3,16: „Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst." Es handelt sich nicht um eine von außen aufgepfropfte und also aufgezwungene Autorität, sondern um eine gemeinsam anerkannte Urheberschaft Gottes von Wahrheit in der Kirche. Erkennt die Kirche den Anspruch Gottes an, erfordert das mehr als eine theologische Systematik, die als Reflexionsunternehmen den Zusammenhang und die Relevanz christlicher Glaubenslehren in der modernen Welt begründet und legitimiert. Es handelt sich um neue Dogmatik, die sich nicht ohne den Funktionswandel der Kirche denken läßt, obschon sie nicht darin begründet ist. Nun läßt sich bei mehr als zweihundert Denominationen in Nordamerika kaum mit Allgemeinurteilen vorgehen. Es kann nur an Hand einer oder mehrerer Denominationen beispielhaft dargestellt werden, welche Haupttendenzen im Begriffe sind, sich durchzusetzen. Man hat im Sinn zu behalten, daß es Dogmatik im europäischen Sinne des Wortes selten gab. Selbstverständlich reicht altes christliches Traditionsgut immer noch in vielen Denominationen in die Gegenwart hinein. Aber ohne ein von allen anerkanntes lebendiges Lehramt, das verantwortlich Tradition in kirchliches Leben übersetzt, entsteht ein Leerlauf in der Lehre. In Anbetracht neuer Entwicklungen in der Gesellschaft wird in einigen Denominationen dieser Leerlauf bereits besonders stark empfunden. Daß sich die Funktion der Kirche wandelt, ist nun keine Besonderheit der nordamerikanischen Situation. Der Funktionswandel fällt hier allerdings wegen des großen dogmatischen Nachholbedarfs besonders ins Gewicht. Edmund Schlink hat vor einigen Jahren die weltweite Veränderung der theologischen und kirchlichen Situation als eine Verschiebung „des Interesses von Gottes Heilshandeln an den Menschen für Gerechtigkeit und Frieden und für entsprechende Strukturen der Gesellschaft" beschrieben. Die Betonung läge nun auf „Kritik der gegenwärtigen Kirche und ihres Beitrages für die Gesellschaft und der Erarbeitung umfassender sozialpolitischer Programme" (Uber die künftige Aufgabe v. ,Kerygma u. Dogma' in einer veränderten theol. u. kirchl. Situation: KuD 19 [1973] 3). Die Zäsur wird in Nordamerika an sich nicht so scharf empfunden, weil das Bestehen auf —»Gerechtigkeit und —»Frieden schon längst kirchlicher Orientierungspunkt in vielen Denominationen war, besonders seit dem Hervortreten des Social Gospel. Aber der Mangel an Lehre für diese Situation wird in wachsendem Maße scharf empfunden. Verbindliche Lehre ei^eugt eine neue Dogmatik, die sicher auch auf gesellschaftliche Dynamik achtzugeben hat, die aber ihre Aufgabe nicht darin sehen kann, gesellschaftliche bzw. kulturelle Kompatibilität zu schaffen. Die neue Dogmatik entsteht dadurch, daß sich ihr Gegenstand im gesellschaftlichen Kontext neu zeigt. Dieser Gegenstand ist nicht primär Rede von Gott, hat aber zunächst auch nichts mit der „Erarbeitung sozialpolitischer Programme" zu tun, sondern zeigt sich elementar - zwar noch vorläufig formuliert - als Leben vor Gott, wobei klarzustellen ist, daß es zuallererst den zum Inhalt hat, der sich selbst das Leben nennt (Joh 14,6). In diesem Leben ist Rede von Gott mit einbeschlossen, gründet aber in einer Neubestimmung des Ver-
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hältnisses von Gott und Mensch. Der „Gottmensch" des Chalcedonense (s. TRE 7, 671 f) wird nicht überholt und erst recht nicht abgeschafft, aber neu begriffen. Die alte Problematik taucht neu auf, zwingt uns aber eine neue „Inhaltsangabe" von Gottheit und Menschheit ab. Jesus erscheint jetzt nicht nur als fleischgewordenes Wort, sondern ausgesprochen als Tatwort, so daß aus seiner Tat neues Denken möglich wird und auch entsteht. —»Gott ist hier nicht nur der dreieinige Gott der Liebe, sondern der Gott, der wegen seiner dreieinigen Gerechtigkeit liebt und der in seiner Liebe Gerechtigkeit walten läßt. Es ist der Gott, der nicht nur im allgemeinen Menschsein annimmt, um für die Sünde genugzutun und ewiges Leben zu schaffen, sondern der auch in Jesus ein besonderes Menschsein in die Geschichte einträgt, so daß jeder Mensch als ein am gemeinsamen Menschsein Teilhabender offenbar wird und nicht nur als Einzelner. Gerade dieses Verständnis der Selbstverwirklichung Gottes in der Geschichte führt zunächst nicht zu einem für alle Denominationen gültigen sozialpolitischen Programm, sondern zu einem neuen Ringen um die Christologie, wobei eine neue Anthropologie unumgänglich ist. Besonders hier stehen wir vor dem Charakteristikum der heutigen nordamerikanischen Theologie. Verbindliche Lehre sucht auf das neu erfahrene Leben hinzuweisen und es vom menschenunwürdigen Leben zu unterscheiden. Sie geht somit auf einem schmalen Grad zwischen einer von der Gesellschaft isolierten Kirche und einer Gesellschaft, die funktionsbestimmend auf die Kirche einwirken möchte, indem sie die Lehre zur Steuerung ihrer verschiedenen Ziele in Anspruch nimmt. Die Gesellschaft (ob bewußt oder unbewußt) will oft die Identität der Kirche zerstören, indem sie einen kirchlichen Selbstwiderspruch auslöst, so daß die Kirche hinsichtlich ihres Auftrags mit sich selbst uneins wird. Neue Lehre entsteht wegen des Angriffs auf kirchliche Identität, hauptsächlich wenn verfälschende Lehre verbindliche Lehre zu verdrängen droht. Neue Dogmatik ist der Versuch christlicher Reflexion, die heute erforderlichen Lehren kritisch durchzureflektieren in Rückkoppelung auf die Lehrtradition der Kirche. Das ist kein Rückzug auf die Orthodoxie, sondern Fortschritt auf ein neu verbindliches Dogma hin. Es geht primär nicht darum, ein der Tradition kongruentes Lehrwort zu finden, in dem die traditionellen kirchlichen Begriffe als auch noch heute gültig ausgewiesen werden. Die Gesamtkirche ist vielmehr bei dem der biblischen Botschaft entsprechenden sprachlichen Ausdruck zu behaften, der die gemeinsam erfahrene Wahrheit des Lebens vor Gott für den Menschen heute darstellt. Verbindliche Lehre besteht dann darin, was Christen heute vom „Menschen Gottes" gemeinsam bezeugen wollen — in Anbetracht von menschlicher Verunmenschlichung. Neue Dogmatik ist kritische Darstellung dieser verbindlichen Lehre. 6.2. Antwortende Vernunft. So wie die Vernunft sich in der nordamerikanischen Theologie durchgesetzt hat, kann sie nicht ausgeklammert werden und hat in der kritischen Lehrdarstellung eine wichtige Funktion zu erfüllen. Was in Ubereinkunft von Christen als verbindliche Lehre bezeugt wird, kommt nicht ohne Gebrauch der Vernunft zustande. Nur wurde die Vernunft bisher meist aus einer philosophischen Tradition begriffen, die das kognitive Subjekt seinsmäßig mit dem Objekt derart verbunden sein ließ, daß die erkennende Vernunft Macht bekam über das Objekt. Die Vernunft braucht aber nicht im kognitiven Subjekt begründet zu sein. Sie besteht zunächst auch im Vernehmen eines Anderen, das der Kontrolle durch das Subjekt nicht untersteht. Die Entstehung der Sprache besteht anfänglich darin, daß dem Vernehmenden etwas mitgeteilt wird. Wir sind Angesprochene, bevor wir selber sprechen. Unser Vernehmen ist allererst Nehmen. Unser Wort ist allererst Antwort. So ist die Vernunft extra nos begründet. —»Descartes' cogito, ergo sum, das bereits in —»Augustins „auch wenn ich getäuscht werde, existiere ich doch" vorgezeichnet wurde, wird auf der Elementarebene der Vernunft durch ein amor, ergo sumus überholt. Bevor ich erkenne, bin ich erkannt worden. Der ontologische Begriff der Vernunft ist abhängig vom historischen Geprägtsein der Vernunft. Für christliche Reflexion bedeutet das, daß Gott sich im menschlichen Vernehmen ausweisen kann, aber kein denknotwendiger Begriff ist. Erweist sich Gott in der Vernunft als
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unausweichlich, zeigt sich das in der Stimme des —»Gewissens. Die Einsicht in Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, wird in dem begründet, was sich als transzendenter Anspruch auf die Geschichte erweist. Das Gewissen steht auf. Am erwachenden Gewissen wird Gott nicht denknotwendig, aber doch denk-würdig. Gott erweist seine Wirklichkeit nie direkt. Aber in der indirekten Weise der Gewissensnot wird Gott immer neu zur Anfrage an den Menschen, die sich nicht umgehen läßt. Uber diese Anfrage übt das Erkenntnissubjekt keine Macht aus. Auch Christus und der Heilige Geist lassen sich nicht in die Denknotwendigkeit hineinzwingen. Die moderne Anpassungswelle der christlichen Glaubenslehren im Sinne ihrer Denknotwendigkeit erweist sich in Nordamerika mehr und mehr als Holzweg. Besonders der Einfluß der Civil Religion offenbart, wie die an die Gesellschaft veräußerten christlichen Werte unter der Obhut einer kontrollierenden Vernunft schließlich auch das christliche Proprium veräußern, daß es schließlich nicht als Gnade und Gabe, sondern ganz natürlich als das menschlich selbstverständlich Er-denkbare erscheint. Es verliert seinen Charakter als das Heilige und geht mit manch anderem im vernünftig Manipulierbaren verloren. Die Frage ist nun, was nach dieser Anpassungswelle wieder als denk-würdige christliche Wahrheit für das Leben vor Gott vom Gewissen anerkannt werden kann. Verbindliche Lehre wird dann aber auch eine philosophische Theologie erfordern, die den Charakter des Gewissens als praeambula fidei durchforscht und beschreibt. Trinitätslehre, Christologie, und Ekklesiologie werden sich darauf beziehen. Aber sie werden sich zunächst aus der historischen Selbstverwirklichung Gottes heraus verstehen. Erst Jesu Tatwort macht Gott als dreieinigen Gott in seiner Gerechtigkeitsliebe denkmöglich. Die Vernunft kann Gott denken. Aber sie hinkt hinter der Selbstverwirklichung Gottes her. Nun kann sie das historische Ereignis der Selbstverwirklichung Gottes nach-denken und als vernünftig erkennen — für das Gewissen ist es hinreichend vernünftig. Das Gewissen selbst schafft aber nicht den Zugang zu Gott. Es antwortet lediglich auf Gottes Anfrage und zeigt, wie der Glaube an Jesus Gottes Selbstverwirklichung als hinreichend vernünftig empfinden kann. Der Glaube erweist sich, im Licht dieser Vernunft, gleichsam als das wiedererwachte Gewissen. Die Methode, die sich an der historisch geprägten Vernunft ausrichtet, schließt die Ontologie nicht aus, räumt ihr aber nur den zweiten Rang ein. Als historisch-ontologische Methode, die sich nicht auf Denknotwendigkeiten beruft, schließt sie Christologie als transzendentale Anthropologie aus. Es geht vielmehr darum, den Menschen aus Christus als Neuschöpfung gemeinsamen Menschseins zu begreifen. Gerade hier kann deutlich werden, wie sehr christliche Lehre den Denknotwendigkeiten und Zwängen der modernen Gesellschaft entgegensteht. Letztlich läßt sich das nur vom Gewissen erfassen. Dabei bleibt für die Vernunft eine ganz besondere Aufgabe in christlicher Reflexion bestehen. Sie spricht nicht die moderne Gesellschaft als ganze in ihren verschiedenen Manifestationen an, sondern das Gewissen, das in seiner Not sich zu allen Zeiten eigentümlich gleichbleibt. Als antwortende Vernunft ist das Gewissen conditio communicationis. 6.3. Neue Dogmatik. Geht man davon aus, daß die lange nordamerikanische Auseinandersetzung mit der Vernunft in der Kirche heute in Reflexion über das Denk-würdige einmündet, so ist noch einmal zu klären, was denn jetzt so nach-denkenswert ist und was kritische Auseinandersetzung der Vernunft in christlicher Reflexion damit zuwege bringt. Mit der Funktion der Kirche als Heilsanstalt ist die Vorstellung von Rechtgläubigkeit verbunden. Verketzerung, Verbannung, Gefängnis, Scheiterhaufen - solche und ähnliche Vorstellungen verbinden sich mit dem Gedanken der Rechtgläubigkeit. Bleibt man innerhalb des Rahmens dieser Funktionsbestimmung, kann man wohl einzelne Themen ändern, ändert damit aber nicht die grundsätzliche Hörigkeit des Einzelnen gegenüber Lehrsätzen der Kirche. Die Dogmatik bleibt sich hier gleich. Sie erläutert die Rede von Gott, wie kritisch sie dabei auch vorgehen mag. Sieht man aber die Funktion der Kirche nicht mehr als Heilsanstalt, sondern als Gerechtigkeitsbund, dann tritt an die Stelle des Bestehens auf Rechtgläubigkeit die Gabe der Gerechtigkeit, die alle Glieder der Kirche für verbindliche Lehre verantwortlich macht. Die Dogmatik ändert sich. Denn sie bezieht sich auf das Tatwort Gottes in Jesus, aus
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dem jegliches christliche Denken und jede Rede von Gott erwächst. Das Dogma ist hier nicht nur ein Begriff, sondern die Ubereinstimmung von Tat und Wort in Jesus: Jesu Gerechtigkeitsliebe verkörpert Gottes Gerechtigkeitsliebe und damit Gott selbst. Die Gabe der Gerechtigkeit wird durch das biblische Ursprungsverständnis der Selbstverwirklichung Gottes in der Geschichte zugänglich. Wesen und Handeln Christi, der sich selbst die Wahrheit und das Leben nennt, werden durch die Dogmatik zum Maßstab der Kritik an der Lehre. Dies galt es in den letzten zwei Jahrzehnten ganz besonders in der Konfrontation von schwarzen und weißen Christen in Nordamerika zu lernen. Es ist erst ein ganz kleiner Neuanfang. Dabei ist zu bedenken, was die Lehrsprache der Kirche überhaupt auszudrücken vermag. Die Kirche als Heilsanstalt hat das Credo als buchstäbliche Wahrheitsaussage angeboten. Im Ausklang dieser Funktion im Liberalismus sollte der Buchstabenglaube durch den Symbolbegriff gleichsam entmythologisiert werden. Aber weder Buchstabenglaube noch Symbolglaube erfassen Gottes Gerechtigkeit hinreichend. Die Form des Evangeliums selbst, die sich von der Form des Credo, aber auch radikal von den Korrelationen moderner Symbolinterpretationen abhebt, bietet uns eine metaphorische Wortwirklichkeit, in der der Mensch auf Gott und seinen Nächsten hin in Bewegung gesetzt wird, indem Gott auf ihn mit der Gabe der Gerechtigkeit zukommt, ihn rechtfertigt und ihn für seine Gerechtigkeit in Anspruch nimmt. Darin wandelt sich bereits Gottesbild und Menschsein, und damit auch die Funktion der Kirche. Gott setzt seine Gerechtigkeit durch auf zweifache Weise. Er macht den Sünder gerecht und schafft dem Rechtlosen Recht. Indem das eine nicht ohne das andere ist, erweist sich Kirche als Bund Gottes, in den wir in Gottes Ringen für ein gerechtes Leben hineingestellt werden. Jesus ist der innere Grund dieses Bundes, indem seine Lebensgestaltung uns nach Gerechtigkeit trachten läßt (Mt 6,33). In der neuen Dogmatik geht es primär um eine Bezeugung des Lebens, in dem Gottes Gerechtigkeitsliebe leibhaftig wird. Jesu gelebtes Tatwort geht der Lehre voran. Der alte Begriff von Rechtgläubigkeit fällt so dahin. Trotzdem bleibt das Ringen um die Wahrheit bestehen. Welche Ungerechtigkeit zerstört Leben? Und welche Gerechtigkeit fördert Leben so sehr, daß es gleichzeitig ewiges Leben gibt? Der Maßstab bleibt dabei immer der Gegenstand der Lehre selbst, Jesu Leben vor Gott — überprüfbar vom Gerechtigkeitssinn der Menschen. Es ist die Vernunft als Gewissen, die die Denk-Würdigkeit dieser Gerechtigkeit annimmt oder verwirft. Die Vernunft wird hier nicht aufgefordert, die Einigung der Menschheit als Hauptfunktion der Kirche anzusehen, sondern die Teilhabe an der Aufrichtung von Gottes Gerechtigkeit. Ob es zur Einigung der Menschheit beiträgt, wird sich zeigen. Gott und sein Wirken für Gerechtigkeit erweisen sich nicht als denknotwendig. Aber die Vernunft als Gewissen kann ergriffen werden vom gemeinsamen verantwortlichen Menschsein. Das ist Glaube. Und am im Tatwort Gottes gegründeten Glauben arbeitet die neue Dogmatik. Dogmatische Entwicklungen im römischen Katholizismus und der Orthodoxie von Nordamerika standen für lange Zeit nicht im Dialog mit dem nordamerikanischen Protestantismus. Sie lassen sich in ihrer Bedeutung am besten in Eigendarstellungen von Katholizismus und Orthodoxie in Nordamerika (—»Vereinigte Staaten von Amerika) erfassen. Literatur William Ames, The Marrow of Sacred Divinity, Drawne out of the Holy Scriptures, and the Interpreters thereof, and Brought into Method, London 1638. - Donald G. Bloesch, Essentials of Evangelical Theology, 2 Bde., New York/Hagerstown/San Francisco/London 1978. - William Adams Brown, Christian Theology in Outline, Edinburgh 1907. - Horace Bushneil, God in Christ, Hartford 1849. William Ellery Channing, The Perfect Life, Boston 1873. - John B. Cobb, Jr., A Christian Natural Theology, Philadelphia 1965. - James H. Cone, A Black Theology of Liberation, Philadelphia/New York 1970. - Ders., Schwarze Theol. Eine christl. Interpretation der Black-Power Bewegung, München 1971. - John Cotton, The New Covenant, or, a Tentative, Unfolding the Order and Manner of the Giving and Receiving of the Covenant of Grace to the Elect, London 1654. — Vine Deloria, Jr., God Is Red, New York 1973. - Jonathan Edwards, A Careful and Strict Enquiry into the M o d e m Prevailing Notions of that Freedom of Will, which is Supposed to be Essential to Moral Agency, Vertue and Vice, Reward and Punishment, Praise and Blame, Boston 1754, NA New Haven 1957. - Langdon Gilkey, Reaping the Whirlwind. A Christian Interpretation of History, New York 1976. - Frederick Herzog,
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Dogmengeschichtsschreibung
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Dogmengeschichtsschreibung 1. Dogmengeschichte als Dogmenkritik im Rationalismus 2. Die idealistische Neubegründung bei F. C. Baur 3. Die konfessionelle Neubegründung im Neuluthertum 4. Dogmengeschichte und Dogmenentwicklung im Katholizismus 5. Aporien der Dogmengeschichtsschreibung bei und nach A.v. Harnack 6. Ausblick (Darstellungen/Literatur S. 124) Als wissenschaftliche Disziplin ein Produkt der —»Aufklärung, ist die Dogmengeschichte im evangelischen Bereich von Anfang an eher problematisch als positiv begründet. Die Frage nach ihrer Existenzberechtigung stellt sich im 2 0 . Jh. u. a. in der Weise, daß kaum noch Gesamtdarstellungen zustande gebracht werden. Der Fülle und Differenziertheit der Einzelforschung entspricht kein konsistentes Gesamtkonzept, nachdem dem von der Aufklärung herrührenden P r o g r a m m der Emanzipierung von kirchlich-orthodoxer Lehre angesichts des Schwunds eines solchen Gegenübers der Boden entzogen ist. Nicht zufällig markiert das W e r k A . v . Harnacks (s.u. Abschn. 5) das Ende der klassischen Dogmengeschichtsschreibung. Für Ansätze zur Neubegründung m u ß man deshalb auch ihre Geschichte berücksichtigen. 1. Dogmengeschichte
als Dogmenkritik
im
—>Rationalismus
1.1. Die Anfänge neuzeitlicher Dogmengeschichtsschreibung zeigen diese als D o x o g r a phie so stark in die konfessionelle Dogmatik, Polemik und —»Apologetik integriert, daß man sie noch nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ansehen kann. Deutlich wird dies z.B. an den Werken des Katholiken Dionysius Petavius (1644—1650) und des Calvinisten John Forbes of Corse von 1645. Doch die hier gebotene historische Erschließung der Quellen bildet ebenso wie die Editionstätigkeit der Mauriner die Voraussetzung für das Folgende. Ansätze zu einer speziellen Dogmengeschichte zeigen sich auch in dem Werk G. —»Arnolds ( 1 6 9 9 - 1 7 0 0 ) , wenngleich bei ihm noch das dogmatische Interesse einer Neufassung des Häresiebegriffs den Leitfaden der Darstellung abgibt. Auch die dogmengeschichtlichen Arbeiten von J . L.v. —»Mosheim (1755) und C.W. F. Walch ( 1 7 6 2 - 1 7 8 5 ) sind noch an dieser Thematik orientiert, kündigen aber durch die pragmatische Methode, durch die anthropozentrische Perspektive und durch die Betonung der Veränderlichkeit von —»Wahrheit bereits einen Wandel an. Als spezielle Disziplin ist die Dogmengeschichte in der evangelischen Theologie der Aufklärung parallel zur historisch-kritischen Bibelexegese entstanden (—»Bibelwissenschaft). Dabei k o m m t — fundiert durch neuzeitliches Geschichtsbewußtsein — ein spezifisch evangelisches Verständnis des Zusammenhangs von Kirche und Lehre zum Tragen, verbunden mit Einwirkungen der rationalistischen Dogmenkritik der —»Sozinianer und —»Arminianer sowie der pietistischen Kirchenkritik (Verfallsidee bei G. Arnold). Erste Konturen gewinnt das
Dogmengeschichtsschreibung
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Programm bei Semler. Doch daß schon vor ihm eine solche Konzeprion generell dem Ansatz der Aufklärungstheologie entsprach, zeigt der unausgeführte Plan des Neologen J.W. F. Jerusalem von 1747, eine Dogmengeschichte der ersten Jahrhunderte zu schreiben, um so die bisherige konfessionelle Polemik und Apologetik durch eine historische Methodik abzulösen. Auch ihn leitete dabei nicht ein ausschließlich historisches, sondern ein kritisch-dogmatisches Interesse: Die Lehrtradition sollte untersucht werden, um die verpflichtenden wahren Sätze der christlichen Religion herauszustellen und die historisch sekundären Bestandteile als Fehlentwicklung aufzuweisen. Die postulierte Einfachheit des ursprünglichen Christentums in der Verkündigung Jesu wurde so zum Prinzip der Ausscheidung des Hellenismus und Piatonismus als der Wurzeln des Dogmatismus. Seitdem wurde die „Hellenisierung" des Christentums zum Grundproblem evangelischer Dogmengeschichtsschreibung. 1.2. J . S. —»Semler arbeitet vom rationalistischen Ansatz bei der natürlichen Religion her die prinzipielle Distanzierung von der Institution —»Kirche als Traditionskritik auch mit Hilfe der Dogmengeschichte aus, wobei er allerdings von der Einsicht in die Notwendigkeit der Institution her auch den relativen Wert der Dogmen begründet (—»Dogma). Sie sind ihrem Wesen nach subjektive Lehrmeinungen und unter bestimmten historischen, kulturellen und soziologischen Bedingungen entstanden, welche zu eruieren die Aufgabe der Dogmengeschichtsschreibung ist. Diese orientiert sich bei Semler nicht mehr als Legitimationswissenschaft der Dogmatik an deren Problemen, sondern konstituiert sich erstmals historisch-kritisch: Durch den Nachweis der geschichtlichen Bedingtheit und Wandelbarkeit der Dogmen destruiert sie deren Absolutheitsanspruch; durch die Frage nach den Motiven und Faktoren der Entwicklung wird sie andererseits in Gestalt einer „Geographie der Theologie" aus einer bloß kritischen zu einer konstruktiven Wissenschaft, die den Wandel der Lehren als Statuten der offiziellen Kirche von dem jeweiligen historischen Kontext her zu verstehen sucht.
1.3. Seit der Fundierung der Dogmengeschichte als eigener wissenschaftlicher Disziplin bei Semler besteht ihre Aufgabe in der Relativierung der Dogmen, indem durch die kausalgenetische Betrachtungsweise Abhängigkeiten von externen Faktoren festgestellt werden. Das führt in der Folgezeit zur pragmatischen Betrachtungsweise als Leitfaden für dogmengeschichtliche Gesamtdarstellungen, deren erste — nach dem Versuch S. G. Langes 1796, der nur bis Irenaus kam, und dem Torso J.C.F. Wundemanns 1798 - W. Münscher 1 7 9 7 - 1 8 0 9 und J . C . W . Augusti 1805 vorlegten. Münschers beachtliche Verwertung der Quellen, seine kritisch-pragmatische Darstellung sowie der von seinem Werk ausgehende Einfluß rechtfertigen die communis opinio, in ihm den eigentlichen „Begründer der Disziplin" (Loofs 754) zu sehen. Ihm folgten eine Reihe von Lehrbüchern derselben Art von F. Münter 1801 ff, L. Berthold 1 8 2 2 f , J . H . Schickedanz 1827, F.A. Ruperti 1831, C . G . H . Lentz 1 8 3 4 f , C . W . Niedner 1834 und J . K . L . Gieseler 1855.
Charakteristisch für diese rationalistische Betrachtungsweise, die in der Dogmengeschichte weder einen positiven Sinn noch innere Zusammenhänge finden konnte und sie vor allem als Negativfolie sah, um die reine Religion Jesu davon abzuheben, ist Münschers bekanntes Urteil: „Wer in ihr den Wechsel der Vorstellungen, die oft ebenso schnell als die Moden der Frauenzimmer aufeinander folgten, beobachtet..., der wird anfangen, ein bescheidenes Mistrauen in menschliche Meinungen und folglich auch in seine eigne zu setzen" (Hb. 1,46). Die Dogmengeschichte löste sich in ein Konglomerat von Äußerlichkeiten auf; in der Beschäftigung mit ihr konnte man nur schwer einen Nutzen für die Theologie sehen. Einen Nachklang dieser Position bringt das berühmte Diktum von D. F. —»Strauß: „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte" (Glaubenslehre I, 71). 2. Die idealistische Neubegründung bei F. C. Baur 2.1. Diese Aporie der rationalistischen Dogmengeschichtsschreibung führte im 19. Jh. zu einer fundamentalen Neubegründung der Disziplin. Ansätze dazu zeigten sich in der romantisch-dialektischen, der Erweckungstheologie verpflichteten Konzeprion J. A. W. —»Neanders, dessen Verdienste vor allem auf dem Feld der Kirchengeschichte liegen. Das geschichtlich Individuelle sah er als treibende Kraft auch der Dogmengeschichte, die er als eine Geschichte der christlichen Frömmigkeit, nicht der Lehre begriff. Ähnlich verfuhren L. F. O.
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Dogmengeschichtsschreibung
Baumgarten-Crusius 1832 und 1840 sowie K.R. Hagenbach 1828 und 1840, jedoch noch stärker dem pragmatischen Ansatz verpflichtet. 2.2. Der entscheidende Neuansatz wurde durch —»Hegels Geschichtsphilosophie bestimmt. Er liegt in den herausragenden Arbeiten F. C. —»Baurs. Seit 1826 trug er in seinen Vorlesungen und seinen bedeutsamen Monographien zur Dogmengeschichte eine eigenständige Sicht vor, die er 1847 relativ knapp zusammenfaßte, wobei zu der souveränen Durchdringung des Stoffes eine in ihrer Ausführlichkeit neue Grundsatzüberlegung in den Prolegomena kam. Baur führte damit die Dogmengeschichtsschreibung auf eine noch nicht dagewesene und auch später kaum erreichte Höhe. Gegen die rationalistische Auflösung in Einzelheiten und Äußerlichkeiten sowie gegen ihre Orientierung an der kausalen Fragestellung (Bedingtheit der Dogmen) suchte er die innere Einheit und die Finalität der Dogmengeschichte von der Definition des D o g m a s als Objektivation des Geistes her zu erfassen. Dogmengeschichte ist danach „der fortgehende Process des denkenden Bewußtseins mit dem D o g m a " (Lb. 9), im Sinne der hegelschen Geschichtsdialektik „ein stetes Processiren des Geistes mit sich selbst" (Vorl. I, 5 3 ) , dessen gegenständliche Formulierung in den Dogmen immer zugleich eine zeitbedingte, inadäquate Alterierung bedeutet, die dazu führt, daß es auf der nächsten Stufe der Entwicklung vom Subjekt neu gedacht werden muß. Deswegen ist D o g m a „nichts dem Wesen des Geistes F r e m d e s " (Lb. 10) und Dogmengeschichte letztlich nicht Geschichte der einzelnen D o g m e n , sondern des einen Dogmas, die mit der Philosophiegeschichte als Geschichte des Geistes konvergiert, weil beide zusammengehörige Weisen des menschlichen Denkens beschreiben ( 6 . 1 6 f f ) . Aus ihrem Verhältnis ergibt sich für Baur die Periodisierung der Dogmengeschichte in drei Teile: Die Alte Kirche ist die Periode des im D o g m a sich objektivierenden christlichen Bewußtseins und insofern der Substantialität des Dogmas, nachdem die antike Philosophie in die Theologie übergegangen ist; das Mittelalter ist die Periode der Verselbständigung des das D o g m a reflektierenden christlichen Denkens; die mit der Reformation beginnende Neuzeit ist die Periode der Auflösung des Dogmas als der Voraussetzung des christlichen Denkens, die zugleich aber in freiem Denken auf einer höheren Stufe das Dogma neu erzeugt und damit dessen Ursprungssituation reproduziert.
2.3. Die Ablehnung durch den historischen —•Positivismus, der zu Recht die konstruktive Vergewaltigung der Einzelphänomene kritisierte, aber dem keine vergleichbare Gesamtschau entgegenstellen konnte, schmälerte die Wirkung von Baurs Dogmengeschichte. Trotzdem wirkte ihre teleologische Systematisierung in Nachahmung und Widerspruch nach, auch in der konfessionell orientierten Darstellungsweise eines Thomasius (s.u.). Parallel zu Baur konzipierte I.A. —»Dorner die Dogmengeschichte als Entwicklungsgeschichte der „Idee des Gottmenschen" christozentrisch. Ph.K. —»Marheineke stellte sie mit trinitarischer Systematik — stärker der konfessionellen Betrachtungsweise angenähert — als geschichtliche Bewegung des christlichen Glaubens dar, die mit innerer Notwendigkeit zur Veränderung des formal als „öffentliche Glaubenslehre", material als „Lehre Jesu und der Apostel" definierten Dogmas (3.11) führt. F. K. Meiers Bedeutung liegt in der Modifikation der hegelschen Methode durch den pragmatischen Ansatz, in der Abhebung der Dogmengeschichte von der Theologiegeschichte sowie in der erstmaligen Beseitigung der Trennung von allgemeiner und spezieller Dogmengeschichte zugunsten einer einheitlichen Entwicklungsgeschichte. Die teleologische Systematik wirkte nach in A. —»Dorners Darstellung der als Geschichte der christlichen Lehre bzw. der „Entwicklung des christlichen Prinzips" in den jeweiligen Situationen verstandenen Dogmengeschichte (19), die in die gegenwärtige Dogmatik und Symbolik einmündet. 3. Die konfessionelle
Neubegründung
im
—»Neuluthertum
3.1. Parallel zur idealistischen Neukonstituierung der Disziplin, durch diese wie durch die romantische Sicht bei Neander und —»Schleiermacher beeinflußt, ebenfalls in Antithese zum Rationalismus, brachte im 19. Jh. die Neubewertung von Bekenntnis und Lehre im lutherischen —»Konfessionalismus Anstöße zu einer eigenen Begründung der Dogmengeschichte. Als notwendige Lebensäußerung der Kirche, als deren „Lehrbegriff" ist danach das Dogma, entfaltet in den einzelnen Dogmen und Lehren, nicht ein bloßes Produkt menschlicher Subjektivität, sondern hat von der objektiven Gültigkeit seiner Inhalte her insofern teil an der Offenbarung, als es deren Wahrheit lehrmäßig formuliert.
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Einen ersten Entwurf dieser Konzeption, in welchem die Intentionen der Erweckungsbewegung (—»Erweckung) und der konfessionellen —»Restauration sich mit Einflüssen Hegels, Schellings und Schleiermachers verbanden, lieferte 1839 Th. —»Kliefoth: Der Prozeß der Dogmenbildung ist die innerlich notwendige Entfaltung der der Kirche anvertrauten Wahrheit und bringt die Objektivation des in ihr realisierten neuen Lebens. Kliefoths Darstellung der Dogmengeschichte als einer Stufenfolge in vier „Dogmenkreisen" (in der Alten Kirche die spezifisch christliche Gotteslehre, die Ursache des neuen Lebens; im Mittelalter die Anthropologie, die Realität des neuen Lebens im Widerspiel von Sünde und Gnade; in der Reformation die Soteriologie, die Aneignung des neuen Lebens in Rechtfertigung und Heiligung; in der Neuzeit die Ekklesiologie, die Gemeinschaftsform des neuen Lebens) wirkte in den Einzelheiten gekünstelt, ermöglichte aber nicht nur ein Gesamtverständnis, sondern auch eine Prolongation des dogmengeschichtlichcn Prozesses in die Gegenwart und Zukunft. Wissenschaftstheoretisch gesehen wurde hier die Dogmengeschichte wie in der Orthodoxie als Vorgeschichte der kirchlichen Lehre zur Hilfswissenschaft der—»Dogmatik. 3.2. Die bedeutendste Darstellung dieser Provenienz lieferte der Erlanger G. —»Thomasius in Monographien, Vorlesungen und in seinem z. T. posthum erschienenen Lehrbuch. Er gab wie F. K. Meier und Marheineke die bis dahin weithin übliche, noch bei Baur begegnende Einteilung in allgemeine und spezielle Dogmengeschichte zugunsten einer Differenzierung zwischen Zentraldogmen und Nebenlehren, welche sich um erstere gruppieren, auf. Die Eigenart des Dogmas ergibt sich für Thomasius aus dem Wesen des Christentums, das als „welterneuernde Lebensmacht" mit dem in Jesus gegründeten religiösen Bewußtsein ein Prinzip bringt, aufgrund dessen das Individuum, welches seine denkende Selbstvergewisserung im Bekenntnis artikuliert, auf die Gemeinschaft der Kirche angewiesen ist, die von dem Zentralpunkt des Christusbekenntnisses aus die Aufgabe hat, „ihren Gemeinglauben zum Lehrbegriff zu entwickeln" (I, 17). Das Dogma ist als „Symbol" der Kirche existenznotwendig für diese, in seinem Grund (Jesus Christus) absolut wahr und verbindlich, doch in seiner Form menschlich und daher wandelbar. So ist Dogmengeschichte der zwar historisch relative, aber theologisch notwendige Prozeß der Entfaltung des Lehrfundaments; die Dogmengeschichtsschreibung stellt die Genese des gegenwärtigen Lehrbegriffs als einen Fortschritt in den — wie bei Kliefoth begriffenen — Dogmenkreisen dar, kulminierend in der lutherischen —»Konkordienformel. 3.3. Eine betonte Konfessionalität ermöglichte so ein konstruktives, nicht unkritisches Verhältnis zur Dogmengeschichte auch bei den Erlangern J . G . V. Engelhardt (bei welchem die pragmatische Methode noch stärker nachwirkte), H. Schmid, A. Kahnis und G. L. Plitt. Eine fachwissenschaftlich hervorragende, dem historischen Positivismus verpflichtete, bis in die Gegenwart viel benutzte Gesamtdarstellung gab von diesem Ansatz her R. —> Seeberg (zunächst zusammen mit N. Bonwetsch als Bearbeiter von Thomasius' Lehrbuch 1 8 8 6 - 1 8 8 9 , seit 1895/98 dann als eigenes Werk), und zwar in betonter Antithese zur liberalen Konzeption Harnacks. Seeberg versteht Dogmengeschichte als „die sich entwickelnde Erkenntnis der Christenheit von der Heilswahrheit", deren Objekt „die Realität der Religion als Offenbarung" (und nicht die Spekulation), deren Subjekt „die christliche Gemeinde" (und nicht die Theologie) ist (I, 7). Dogmengeschichte beschreibt „die Erfassung der zentralen Idee der Erlösung im Zusammenhang ihrer Voraussetzungen, Wirkungen und Konsequenzen" (20), arbeitet also nicht rein ideengeschichtlich, sondern bezieht die politischen und kulturellen Faktoren ein. Weil letztlich die Frömmigkeit der Gemeinde das Dogma prägt, entstehen die verschiedenen Typen von Christentum, die sich im Verlauf der Geschichte ablösen, in der Gegenwart aber als Konfessionskirchen nebeneinander existieren, welche mit ihren speziellen Dogmen jeweils „das ganze Christentum als Erlösungsreligion" in einer modifizierten Anschauung fixieren (13). Maßstab der Beurteilung ist für Seeberg der in der Heiligen Schrift bezeugte ursprüngliche Typus. Eine betont evangelische Position verbindet er mit einem hohen Maß an historischer Objektivität.
Vergleichbare Konzeptionen lieferten N. Bonwetsch, F. Wiegand und — für die protestantische Dogmengeschichte—Th. Kolde und P. Tschackert. W. —»Elerts Vorhaben, eine als
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Dogmengeschichtsschreibung
Geschichte der verpflichtenden, weil den —»Consensus formulierenden Lehre der Kirche begriffene Gesamtdarstellung zu liefern, kam über programmatische Äußerungen und Untersuchungen zur Reformation sowie zur altkirchlichen Christologie und Ekklesiologie nicht hinaus (s.u.). 4. Dogmengeschichte
und Dogmenentwicklung
im
Katholizismus
Hinter der evangelischen Dogmengeschichtsschreibung tritt bis ins 20. Jh. hinein die katholische zurück, weil sie noch lange in der traditionellen doxographischen Zulieferarbeit für Dogmatik und Polemik befangen war. Vom katholischen Verständnis der Unveränderlichkeit des Dogmas her war zunächst nur eine Dogmenentwicklung, nicht aber eine Dogmengeschichte denkbar. 4.1. Analog zur lutherisch-konfessionellen Neubegründung kam es in der katholischen -^Tübinger Schule bei J.S.v. Drey, J.A. —»Möhler und J.v. Kuhn zu einer Verbindung des traditionellen Ansatzes der Reflexion der Dogmenentwicklung mit dem neuen, von der —•Romantik beeinflußten Geschichtsdenken. Das führte zu einem dynamischen Verständnis der kirchlichen Tradition mit Hilfe organologischer Kategorien: Die Tradition entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu immer klarer definierten Lehren. Speziell dogmengeschichtliche Werke entstanden hier jedoch nur ansatzweise; Möhlers Athanasius 1827 und kleinere Arbeiten wiesen in diese Richtung, desgleichen seine fragmentarische Patrologie. Wesentliche Anstöße kamen von J . H . —»Newman, der den Entwicklungsprozeß kirchlicher Lehren als fortschreitende Entfaltung der Glaubenswahrheit, der „Idee" des Christentums, interpretierte, welche von der Kirche mittels ihres „illative sense" in der jeweiligen Zeit erkannt und formuliert wird, wobei die Häresien sie zur Herausbildung von Dogmen nötigen. Eine Gesamtdarstellung der Dogmengeschichte lieferte Newman zwar nicht, aber Grundsätze und Einzelteile einer solchen, die der historischen Forschung den Weg wiesen. Demgegenüber brachte die —»Neuscholastik einen Rückschritt; im Zusammenhang mit der faktischen Inanspruchnahme der Dogmenentwicklung durch das kirchliche Lehramt 1854/70 konzentrierte man sich auf formal abgesicherte Theorien zur Dogmenentwicklung; als erste katholische Gesamtdarstellung mit historischem Aufriß erschien diejenige von J. Schwane, die weniger die Geschichtlichkeit des Dogmas als dessen Bestand im Verlauf der Geschichte thematisierte. Dem traten theologiegcschichtliche Arbeiten wie diejenigen von J. Bach zur Seite.
4.2. Voraussetzungen für eine dogmengeschichtliche Betrachtungsweise erbrachte der —•Modernismus schon durch seine Anknüpfung an protestantische Fragestellungen, indem er sich gegen das Axiom der Unveränderlichkeit der Dogmen richtete, diese als „Symbole" der Wahrheit interpretierte und von der geschichtlichen Entwicklung ihre Substanz betroffen sah. M. Blondel gab eine Deutung der Tradition als des Lebenselements der Kirche, die eine Vermittlung zwischen dem Axiom der Unveränderlichkeit und der modernistischen Sicht der Geschichtlichkeit ermöglichte. Historische Spezialforschung blühte auf, so z. B. bei L. Duchesne, P. Batiffol, H. Delehaye und E. —»Buonaiuti vor allem zur Alten Kirche, in Deutschland bei Reformkatholiken wie A. Ehrhard, H. Schnitzer, O. Sickenberger. Radikal dogmenkritische Arbeiten legte der Modernist J. Turmel seit 1904 vor ( 1931 ff zu einer Gesamtdarstellung zusammengefaßt). Moderater war dagegen die moderner Historiographie verpflichtete Darstellung der altkirchlichen Dogmengeschichte von J. Tixeront. Ihm folgten J. Otten und J.F. de Groot. Daneben wären die Monographien von G. Bardy, J. Lebreton u.a. zu nennen, ferner der Versuch einer Gesamtdarstellung von R. Draguet. 4.3. Eine programmatische Zuwendung zur Väterzeit in Abwendung von der Neuscholastik brachte vor allem im französischen Sprachbereich imponierende Arbeiten zur Dogmengeschichte (z.B. J. Daniélou, H . de Lubac, C. Mondésert, P.-T. Camelot, J. Liébaert, H. Crouzel und das Werk Sources chrétiennes seit 1941; für Deutschland wäre vor allem A. Grillmeier zu nennen), aber keine Gesamtdarstellung. Eine solche ist auf Initiative von M. Schmaus, J. R. Geiselmann, K. Rahner und A. Grillmeier in der für unsere Zeit typischen kumulativen Teamarbeit seit 1951 im Entstehen, orientiert an den Themen der Dogmatik. Auch wenn hier in großer Gelehrsamkeit das historische Wissen zusammengetragen wird, wird doch keine wirkliche Dogmengeschichte geboten. Was hier darunter verstanden wird, steht im traditio-
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nellen Sinne als konfessionelle Legitimationswissenschaft im Dienst der Dogmatik, weil sie die Aufgabe hat, „den Weg aufzuzeigen, auf dem das gegenwärtige kirchliche Lehrgut entstanden ist", und zu erweisen, daß diese Dogmenentwicklung die adäquate Entfaltung der der Kirche anvertrauten Offenbarung ist (M. Schmaus, Vorw.: HDG IV/3, 1951, IX).
Neuere Konzeptionen zur Dogmenentwicklung wie die von K. Rahner haben die Einzelforschung befruchtet, aber noch keine Gesamtdarstellungen hervorgebracht. Katholische Theologie tut sich also wie die evangelische, wenn auch aus anderen Gründen, schwer, Dogmengeschichte als eigenständige Disziplin zu pflegen. 5. Aporien der Dogmengeschichtsschreibung
bei und nach A.v. —*Harnack
Harnacks epochales Werk markiert eine tiefe Zäsur, auch wenn es in konzeptioneller Hinsicht zum Ansatz der Aufklärung zurücklenkt und dabei an die dogmengeschichtlichen Werke von A. —»Ritsch 1 und F. Nitzsch, aber auch von G. Thomasius anknüpft. Es hat die evangelische Dogmengeschichtsschreibung im 20. Jh. nicht nur durch die souveräne Erschließung des Materials befruchtet, sondern sie durch seinen Ansatz so nachhaltig problematisiert, daß alle weiteren Konzeptionen durch Anknüpfung an oder Widerspruch gegen es bestimmt sind. 5.1. Dogmengeschichte ist für Harnack Dogmenkritik, weil sie eine Fehlentwicklung durch doktrinäre Überfremdung des Evangeliums Jesu darstellt. In dieser von A. Ritsehl übernommenen neuprotestantischen Grundposition vereinigt sich der reformatorische Ansatz mit Einflüssen des Neukantianismus und Historismus sowie mit Gedanken —>Augustins, —•Luthers und —»Goethes zu der imponierenden Konzeption eines undogmatischen, humanistischen Christentums. Da Christentum wesenhaft nicht Lehre, sondern Gesinnung ist, steht nicht die Dogmatik, sondern die Ethik im Zentrum und wird das Dogma vom Evangelium her destruiert. Das reformatorischeSolus Christus, in radikaler Anwendung auf die Kirchen- und Dogmengeschichte, stellt die Institution Kirche ebenso wie eine christliche Metaphysik in Frage. Durch deren Fixierungen wird die Geschichte des Christentums vom 2. Jh. an zu einer Geschichte der Verfremdung des Evangeliums durch „allmähliche Verweltlichung . . . als Kirche" (I, 353 ff) und „allmähliche Hellenisierung . . . als Glaubenslehre" (1,496 ff). Deswegen gehört das Neue Testament (Jesu Evangelium und die apostolische Christusverkündigung) nicht in die Dogmengeschichte hinein. Dogmengeschichtsschreibung hat hauptsächlich die Entstehung des Dogmas zu erforschen, die formal aus der Herausbildung einer wissenschaftlichen Theologie resultiert und inhaltlich in der Umformung des Evangeliums Jesu in die Erlösungslehre vom Gottmenschen besteht. Damit konzentriert sich die Disziplin für Harnack in Anlehnung an Baurs Charakterisierung der Perioden auf die Vorbereitung und Entwicklung „des Dogmas als Lehre von dem Gottmenschen" in seiner trinitarischen und christologischen Fixierung und auf dessen soteriologische Umprägung im Abendland sowie auf die Nachgeschichte mit dem dreifachen Ausgang des altkirchlichen Dogmas in Reformation, Katholizismus und Sozinianismus. Sie erweist die Relevanz des Dogmas als antiquiert, seine Verarbeitung bei den großen Theologen seit Augustin dagegen als anregend, sofern seine hellenisierte metaphysische Form durch Berücksichtigung von Anthropologie und Soteriologie aufgeweicht wird.
Dogma reduziert sich also in Harnacks Definition auf das altkirchliche, deswegen kommt der negativen Beurteilung der Hellenisierungsproblematik eine Schlüsselfunktion zu: „Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums" (1,20). Deswegen kann und muß es von einer neuzeitlichen Erfassung des Evangeliums her kritisiert werden. Da diese Verbindung von ungeschichtlichem Rückbezug auf die Bibel und antimetaphysischer Konzentration auf das gläubige Subjekt in neuprotestantischer Ausarbeitung dem genuinen Ansatz der Reformation entsprach, konnte Harnacks Konzeption in der evangelischen Kirche so nachhaltig wirken, auch dort, wo man von anderen Prämissen als denjenigen des theologischen Liberalismus ausging. 5.2. Von Harnack beeinflußt, aber eigenständig in der Konzeption (Verbindung von Ritschlianismus und Neuluthertum) wie in der fachwissenschaftlichen Durchführung (Ab-
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Dogmengeschichtsschreibung
kehr vom engen Dogmenbegriff) ist F. Loofs' Werk, das mit Recht auch heute noch viel benutzt wird. Es würdigt die kirchliche Lehrbildung positiver und versucht das altkirchliche Dogma durch Berücksichtigung der heilsgeschichtlichen „kleinasiatischen" Tradition nicht nur als Produkt der Hellenisierung des Christentums zu verstehen. Für die protestantische Dogmengeschichte führte O. Ritsehl Harnacks Ansatz fort. In wie starkem Maße die Dogmengeschichtsschreibung dem Problembewußtsein und dem historischen Interesse des 19. Jh., nicht aber demjenigen des 2 0 . Jh. entspricht, zeigt schon rein äußerlich die Tatsache, daß seit 1 9 1 8 - von Wiederauflagen der älteren Werke abgesehen nur vier deutschsprachige evangelische Gesamtdarstellungen bzw. Ansätze solcher erschienen (Köhler; Werner; Lohse; Adam) und auch wissenschaftstheoretisch nur wenig hierzu vorgearbeitet wurde (Ausnahmen: Eiert; Wolf; Flückiger; Steck). Die Krise der evangelischen Dogmengeschichtsschreibung konnte seitdem weder mit neuen programmatischen Ansätzen noch mit der hochspezialisierten Einzelforschung nachhaltig überwunden werden. 5.3. Im Gefolge des mit dem Werk K. —»Barths verbundenen theologischen Umbruchs hat sich zwar eine Neubesinnung auf den Wert des Dogmas und des Dogmatischen, aber keine entsprechende Dogmengeschichte eingestellt. Das wäre von einem derart hypostasierten Begriff von Dogma als Beziehungsbegriff (als „die Übereinstimmung der kirchlichen Verkündigung mit der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung" [Barth, KD 1 / 1 , 2 8 0 ] ) her auch kaum möglich. Eine der Dogmatik zugeordnete Dogmengeschichte „als Geistesgeschichte am Evangelium im geschichtlichen Rahmen der kirchlichen Verkündigung" (Wolf 8 0 5 ) unterscheidet sich nicht von der Theologiegeschichte. Eine Dogmengeschichte, die in den Lehrentscheidungen der Kirche als dem Menschenwort die Wahrheit des Gotteswortes aufzuzeigen bemüht ist (Schneemelcher 8 7 f ) , würde im wesentlichen auslegungsgeschichtlich konzipiert sein müssen; bedauerlicherweise ist dieser fruchtbare Ansatz nicht ausgeführt worden. Der gegenüber dem barthianischen Aktualismus auf kirchliche Lehrkontinuität bedachte W. Eiert hat seinen Plan einer aus dem Banne Harnacks gelösten, zu Thomasius zurücklenkenden Darstellung einer Geschichte der an der Christusoffenbarung orientierten Lehrbildungen (die in der Alten Kirche als zunehmende Enthellenisierung zu begreifen sind) nicht mehr realisieren können. 5.4. W. —»Köhler konzipierte vom religionsgeschichtlichen Ansatz her die Dogmengeschichte rein ideengeschichtlich als Spezialfall der Geschichte der—»Religionsphilosophie, als Denkgeschichte des christlichen Selbstbewußtseins, wobei er für die ältere Zeit nur den von anderen erforschten Stoff nach den fundamentalen Themen der Religion neu gruppierte, was formal der alten Lokalmethode entspricht. Zusammen mit dem Proprium des Dogmenbegriffs löste sich damit die Dogmengeschichte in eine Theologiegeschichte auf, der kein konstitutiver Bezug auf die Institution Kirche innewohnt. Blieb er Harnack in der Materialdarbietung verpflichtet, so brachte M . Werner — der in der Systematik der Entwicklung und in der liberalen Grundposition weitgehend Harnack folgte — einen fachwissenschaftlich eigenständigen Ansatz mit der aus der religionsgeschichtlichen Schule entlehnten These, daß die frühe Dogmenbildung aus der totalen Umwandlung des Christentums resultiert, welche sich aus der Enteschatologisierung und aus der Ablösung von jüdisch-apokalyptischen Traditionen ergab. Wieder wurde die „Hellenisierung" zum Grundproblem und zur Barriere für eine positive Würdigung der Dogmengeschichte. Diese Thematik arbeitete A. Adam auf, indem er ältere Ansätze (insbesondere Semlers Geographie der Theologie und die Konzeption der Dogmenkreise bei Kliefoth, Thomasius u.a.) mit der neueren —»Hermeneutik verband. Das Dogma (dessen prinzipielle Notwendigkeit er in der Eigenart der Person Jesu begründet sieht) interpretiert er als die jeweilige Hauptthematik der Lehranschauungen einer Epoche. Das führt zu einer Darstellung der Dogmengeschichte als Theologiegeschichte, deren innere Bewegung aus der stets neu notwendig werdenden Verarbeitung des Evangeliums in den durch das jeweilige „Sprachdenken" (jüdisch, griechisch, syrisch, lateinisch usw.) geprägten Kulturkreisen resultiert und nicht prinzipiell abgeschlossen ist. Die geplante Darstellung der Neuzeit, unter der Reich-Gottes-Thematik zusammengefaßt, konnte Adam nicht mehr fertigstellen.
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Die (z. Zt. noch in Arbeit befindliche) Darstellung K. Beyschlags begreift Dogmengeschichte als „die Geschichte von der Entstehung, Entwicklung und Wirkung der objektiven, d.h. überpersönlichen kirchlichen Glaubensnormen, sofern diese in den christlichen Kirchen anerkannt und gültig sind" (I, 1). Als kirchliche Normengeschichte hat sie gegenüber Theologie- und Geistesgeschichte ihr Proprium, ist aber nicht einfach Hilfswissenschaft der Dogmatik, weil sie streng historisch verfährt (die kausale durch die finale Betrachtungsweise ergänzend) und dabei die Spannung zwischen dogmatischer Normativität und historischer Relativität darstellt: so für die Epoche der vordogmatischen Normen (Schriftkanon, Glaubensregel), für die ökumenische Epoche des trinitarischen und des christologischen Dogmas und schließlich für die Herausbildung der konfessionellen Glaubensnormen seit dem Mittelalter ein Schema, das in neuer Weise Harnacks Ansatz mit der Erlanger Tradition verbindet.
Schon früher hat B. Lohse in seinem nicht rein fachwissenschaftlich orientierten Lehrbuch den Begriff Dogma im Sinne der Alten Kirche und der Reformation als (Lehr-)Bekenntnis interpretiert, die Dogmengeschichte auf die Lehrentscheidungen zu den großen Themen (entsprechend den alten „Dogmenkreisen") konzentriert und ihren Gegenwartsbezug positiv herausgearbeitet. Damit bahnt sich eine Überwindung der Nach-Harnack-Krise durch eine evangelische Neubegründung der Disziplin an, zumal wenn man die bisherigen Bausteine einer erheblich modifizierten Sicht der für das gesamte so entscheidenden altkirchlichen Epoche berücksichtigt (z. B. in den Arbeiten von C. Andresen, H. v. Campenhausen, H. Crouzel, J. Danielou, H. Dörrie, A. Grillmeier, H. Kraft, G. Kretschmar, A. Orbe, G. Quispel, M . Simonetti, M . Tetz). 6. Ausblick Die fundamentalen, immer wieder diskutierten Probleme der Dogmengeschichtsschreibung sind: das Verständnis von Dogma (auch in seiner Relation zu - ^ O f f e n b a r u n g und Kerygma [—»Wort Gottes]); der Einsatz der Dogmengeschichte im frühen Christentum; die Periodisierung, insbesondere im Blick auf die jeweiligen konfessionellen Traditionen und die —»Neuzeit. Dogmengeschichte kann, wie der geschichtliche Überblick zeigt, auch im evangelischen Bereich nur sinnvoll betrieben werden, wenn sie als Geschichte der Wahrheitserkenntnis, konzentriert auf den Sektor normativer, definierter, kirchlich rezipierter Bekenntnisse und Lehren, dargestellt wird. Somit ist sie nur in—positiver oder kritischer—Relation zur Institution Kirche bzw. zu den jeweiligen christlichen Gemeinschaftsbildungen möglich. Theologiegeschichte oder christliche Geistesgeschichte unter der Bezeichnung „Dogmengeschichte" zu schreiben, ist deswegen von der Sache her fragwürdig. Vielmehr ist Dogmengeschichte ein Ausschnitt aus der Theologie- und Philosophiegeschichte, weil sie sich auf die Vor- und Nachgeschichte der prägenden Lehrentscheidungen zu beschränken hat. Inhaltlich handelt es sich dabei um einen Kernbestand von Basiswahrheiten, die das Evangelium von Jesus Christus, erstmals ausgeformt im urchristlichen Kerygma, interpretieren: die spezifisch christliche Gotteslehre, die Heilsbedeutung Jesu Christi und die christliche Weise der Aneignung des Heils. Dieser Kernbestand wird in den verschiedenen Zeiten, konstitutiv beeinflußt durch externe Faktoren (denn solche haben schon bei der ursprünglichen Ausprägung mitgewirkt), durch die Arbeit der Theologen aktualisiert und modifiziert sowie durch die kirchliche Lehre in verbindlichen Entscheidungsprozessen reformuliert, wobei es sein kann, daß eine solche Lehre in bestimmten Zeiten nicht klar-situationsgemäß artikuliert wird, sondern bloß Vergangenes reproduziert. Dogmengeschichtsschreibung konzentriert sich deshalb im Unterschied zur Theologiegeschichte auf diejenigen Lehren, die Geschichte gemacht haben, und auf diejenigen Theologen, deren Verarbeitung oder Bestreitung der vorgängigen Tradition allgemeine kirchliche Resonanz gefunden hat. Sie muß die Voraussetzungen, Implikationen und Folgerungen der Lehrbildung berücksichtigen, kann darum nicht rein ideengeschichtlich verfahren, sondern muß die kulturellen, politischen und sozialen Faktoren — als Ereignis- und Strukturengeschichte — einbeziehen. Inhaltlich legt sie eine Konzentration auf das altkirchliche Dogma
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nahe, weil es — unter Einbeziehung seiner soteriologischen und ekklesiologischen Implikationen — eine in allen Konfessionskirchen akzeptierte vollständige Explikation der in Jesus Christus realisierten Offenbarung, wie sie im urchristlichen Kerygma bezeugt wird, bietet. Das Kerygma ist ebenso wie der historische Jesus nicht Voraussetzung, sondern Beginn der Dogmengeschichte, wenn anders es um die Entwicklung der Erfassung der einen göttlichen Wahrheit geht. Daraus ergibt sich die Aufgabe einer Verbindung von konfessioneller und ökumenischer Dogmengeschichtsschreibung, da die allen Kirchen gemeinsame Geschichte auf die ersten Jahrhunderte beschränkt ist und die weitergehende Geschichte durch das Faktum unterschiedlicher (Konfessions-)Kirchen mit konkurrierendem Wahrheitsanspruch geprägt ist. Neben die traditionelle Zuordnung der Dogmengeschichte zur Dogmatik und Symbolik tritt somit diejenige zur ö k u m e n i k (—»Ökumene); von dorther kann sie den Gegenwartsbezug neu profilieren, den sie seit ihrer Konstituierung als Wissenschaft weithin gehabt hat. Darstellungen (Zu den Werken des 19. Jh. s. Loofs: RE J 4 , 7 5 2 f). - Alfred Adam, Lb. der DG, 2 Bde., Gütersloh 1 9 6 5 - 1 9 6 8 . - Carl Andresen (Hg.), Gesch. der christl. Lehre. Hb. der DG, 3 Bde., Göttingen 1980 ff. Ferdinand Christian Baur, Lb. der christl. DG, Leipzig 1847 3 1 8 6 7 = Darmstadt 1979. - Ders., Vorl. über die christl. DG, hg. v. F. Fr. Baur, 3 Bde., Leipzig 1 8 6 5 - 1 8 6 7 . - M . J. F. 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Dominicus
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Wolf-Dieter Hauschild Doketismus —»Jesus Christus Dominicus 1. Leben Geboren um 1175 zu Caleruega in Altkastilien als Sohn des Felix Guzmän und der Johanna von Aza, entstammte Dominicus dem Adel des Landes. In Palencia studierte er 5 oder 6 Jahre —» Artes liberales und 4 Jahre Theologie. Früh zeigte er Bereitschaft zu tätiger Nächstenliebe. Er trat 1196 oder 97 in das Domkapitel seiner Heimatdiözese Osma ein, das 1198 die vollkommene Vita communis einführte; sein Prior, Diego v. Acebes (gest. 1207), wurde 1201 Diözesanbischof, während Dominicus selbst im Januar 1201 Supprior war. Er zeichnete sich aus durch das Streben nach Kontemplation sowie durch seelsorglichen Eifer. Im Auftrag Alfons VIII. von Kastilien reisten Diego und Dominicus 1203 nach Dänemark oder in die an Dänemark angrenzenden „Marchiae", um einen Heiratsvertrag für den Infanten Ferdinand abzuschließen und die Braut nach Kastilien zu geleiten. Dank dieser Reisen lernte Dominicus zwei Gefahren kennen, die die Kirche bedrohten: 1. die Häresie in Südfrankreich; 2. hörte er von den Kumanen, die 1203 im Dienste Ottokars von Böhmen Teile Norddeutschlands verwüstet hatten. Nach dem erfolglosen Ende der diplomatischen Mission baten Diego und Dominicus —»Innozenz III. bei einem Rombesuch um die Erlaubnis zur Missionierung der Kumanen, die verweigert wurde. Im Juni 1206 trafen beide in Montpellier die päpstlichen Legaten, die unter Abt Arnold von CTtaux bisher ohne Erfolg gegen die —»Radiärer und —»Waldenser gepredigt hatten. Diego empfahl das Auftreten in apostolischer —»Armut, um so den Einfluß der katharischen „Vollkommenen" zu brechen, und beteiligte sich mit Dominicus an der Mission der Legaten. Die Waldenser bekämpften die in 4 südfranzösischen und 6 norditalienischen Diözesen organisierten Katharer und unterstützten gelegentlich Dominicus. Dieser, erfüllt vom Ideal evangelisch-lehrmäßiger Predigt auf der Grundlage des biblischen Textes, erhielt den stark katharisch durchsetzten Bezirk von Prouille-Fanjeaux, in dem er 10 Jahre predigte und 1207 zu Prouille ein Kloster für bekehrte weibliche „Vollkommene" errichtete. D'itSancta Praedicatio oder Praedicatio Jesu Christi zeitigte geringe Erfolge bei den Katharern, größere bei den Waldensern. Nach der Ermordung des Legaten Peter v. Castelnau (1208) fand der erste Albigenserkreuzzug statt, dessen Führer Simon von Montfort (gest. 1218) sich in Fanjeaux niederließ und Dominicus Schutz gewährte. Dieser predigte vor dem Ausbruch einer Revolte zu Toulouse im Januar 1211 dort ein Jahr lang zusammen mit dem Bischof der Stadt, dem Zisterzienser Fulko. 1214 war Dominicus Vicarius in spiritualibus des Bischofs von Carcassonne, wenig später erscheint er als Pfarrer von Fanjeaux. Im durch Simon eroberten Toulouse fand im Frühjahr 1215 eine Neugründung der Sancta Praedicatio als organische Ordensgemeinschaft statt, die der päpstliche Legat Kardinal Peter von Benevent und Fulko (Juni 1215) bestätigten. Kurz darauf begleitete Dominicus den letzteren zum IV. Laterankonzil (—»Lateransynoden), dessen can. 13 die Neugründung von Orden verbieten sollte. Innozenz III. riet Dominicus, der um päpstlichen Schutz für seinen Orden (—»Dominikaner) nachsuchte, eine der bestehenden Ordensregeln anzunehmen, wodurch die formale päpstliche Bestätigung zunächst überflüssig wurde. Nach der Rückkehr in den Konvent St. Romanus in Toulouse entschieden Dominicus und seine Brüder sich für die —»Augustinusregel und für diearctiores observantiae von Premontre (—»Praemonstratenser). Kaum war Innozenz III. 1216 gestorben, eilte Dominicus zu dessen Nachfolger —»Honorius III., von dem er am 2 2 . 1 2 . 1 2 1 6 das PrivilegReligiosam
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vitam für die Lebensform des neuen Ordens sowie am 2 1 . 1 . 1 2 1 7 die Ermutigungsbulle Gratiarum omnium erhielt, in der zum ersten Mal der Name praedicatores anstatt praedicarttes erscheint. Wieder in Toulouse, verzichtete Dominicus auf zwei Kirchen, die Fulko ihm außerhalb der Stadt übertragen hatte, und entsandte am 15. August 1217 sieben seiner Brüder zum Universitätsstudium nach Paris, vier nach Spanien sowie zwei oder drei nach Prouille, während drei oder vier in Toulouse blieben. Der Gründer eilte neuerdings nach Rom, um den Orden von den Überresten des Kanonikertums, die sich nicht mit einer überregionalen Gemeinschaft vertrugen, befreien zu lassen. Dies geschah am 1 1 . 2 . 1218 durch die Bulle, mit der Honorius III. dieFratres ordinis Praedicatorum den Bischöfen aller Welt empfahl. Anschließend widmete Dominicus sich der Seelsorge an den in Rom lebenden Reklusen und Nonnen. Im Herbst reiste er nach Spanien, wo er wohl den Konvent zu Segovia gründete, und im Mai 1219 weilte er wieder in Toulouse, um von dort aus den etwa 30 Mitglieder zählenden Konvent zu Paris zu visitieren. In Bologna war das Aufbauwerk Reginald v. Orléans anvertraut, den Dominicus in Rom gewonnen hatte. Gelegentlich des Besuches bei der päpstlichen Kurie zu Viterbo schenkte Honorius III. ihm den römischen Konvent von San Sisto und beauftragte ihn, dort ein reformiertes Frauenkloster zu gründen. Tatsächlich sollte Dominicus hier Nonnen aus mehreren anderen Konventen zusammenführen und sie durch acht Nonnen aus Prouille verstärken. Für den 17. Mai 1220 hatte er mittlerweile das erste Generalkapitel des Ordens nach Bologna einberufen, das endgültig den Güterbesitz abschaffte und die Bettelarmut einführte. Während des Sommers 1220 predigte der General des neuen Ordens an der Spitze einer Gruppe von Brüdern und, unterstützt von seinem Freund, dem Kardinallegaten Hugolin (—»Gregor IX), in Oberitalien, um Ende des Jahres wieder nach Rom zu eilen, wo Honorius III. ihm die Basilika S. Sabina schenkte und er das Reformwerk von San Sisto vollendete. Der Großteil der dortigen Nonnen kam aus dem Kloster S. Maria in Tempulo. Die Predigerbrüder bezogen S. Sabina. Im Juni 1221 fand, wiederum in Bologna, das zweite Generalkapitel des Ordens statt, an dem Vertreter von mehr als 20 Konventen teilnahmen. Nachdem er wieder in Norditalien, zumal in Venetien und in den Marken, gepredigt hatte, starb der Ordensgründer am 6. August 1221 in Bologna. Am 3. 7. 1234 sprach ihn Gregor IX. in Rieti heilig. 2. Werk Die Originalität des Dominicus besteht darin, die durch Diego wieder entdeckte Idee der apostolischen Predigt in Armut zur Aufgabe einer Ordensgemeinschaft gemacht zu haben. Gleichzeitig gründete er diese Predigergemeinschaft auf die Weltkirche und insbesondere auf das —»Papsttum hin. Er wollte seinen Orden dem Papst und den mit diesem in Gemeinschaft stehenden Bischöfen zur Verfügung stellen. Von seinem Gesetzgebungswerk ist die von ihm verfaßte Ordensregel verlorengegangen. Die auf ihn zurückgehenden Konstitutionen sollen den Orden zu einem Mittel für die Rettung der Seelen machen und die überlieferten Methoden der Selbstheiligung, z. B. die persönliche Armut, in den Dienst der Verkündigung stellen. Auf dieses Ziel wird das religiöse Leben des Einzelnen so wie das der Gemeinschaft ausgerichtet, und vom Ziel her wird die gesamte Lebensordnung der Konstitutionen elastisch gestaltet. Neben den Konstitutionen geht auf Dominicus die sogenannte Regula S. Sixti für die Nonnen von S. Sisto zurück, die zum ersten Mal die strenge Nonnenklausur vorschreibt und Elemente aus der —»Benediktus- und Augustinusregel sowie aus den Statuten von Cîteaux und Sempringham enthält. Gregor IX. sagte von Dominicus: „In ihm habe ich einen Menschen gefunden, der das Leben der Apostel uneingeschränkt verwirklicht hat" (MOFPH 16,85). Quellen Monumenta histórica S. P. N. Dominici, hg. v. M.-H. Laurent, 2 Bde., 1 9 3 3 / 3 5 (MOFPH 1 5 . 1 6 ) . Monumenta diplomatica S. Dominici, hg. v. Vladimir J . Koudelka/Raymundus J . Loenertz, 1966 (MOFPH 25). - Marie-Humbert Vicaire, St. Dominique de Caleruega d'après les documents du XII e siècle, Paris 1955.
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Ambrosius Eßer O.P. Dominikaner 1. Verfassung 2. Geschichte 3. Wissenschaftliche Tätigkeit 4. Predigt 5. Zweiter und dritter Orden 6. Bildende Künste 7. Generalmeister (Quellen/Literatur S. 135) Von —»Dominicus Guzmän gestifteter Seelsorgeorden (offizieller Name: Ordo Praedicatorum), 1568 durch —»Pius V. den Vorrang unter den vier großen Bettelorden erhielt.
der
1. Verfassung Die neben der —> Augustinusregel maßgeblichen Satzungen (Konstitutionen), unter Jordan von Sachsen zusammengestellt, wurden durch Raymund von Penafort 1238—1240 neu geordnet und immer wieder durch die Generalkapitel ergänzt oder umgestaltet. Die neueste Fassung stammt vom Generalkapitel zu River Forest (bei Chicago, 1968). Änderungen finden Gesetzeskraft durch 3 aufeinanderfolgende Kapitel oder ein Capitulum Generalissimitm. Den Orden regiert der Magister Generalis mit augenblicklich 9-jähriger Amtszeit. Er wird gewählt durch das Generalkapitel mit Provinziälen und jeweils zwei Delegierten pro Provinz. Ihm steht zur Seite der aus den 9 Generalassistenten und dem Generalprokurator (Vertreter bei der päpstlichen Kurie) bestehende Generalrat. Alle drei Jahre tritt das Generalkapitel abwechselnd als Wahl-, Provinzials- und Diffinitoren- (Vertreter-)Kapitel zusammen. Die Provinzen sind selbständige, aus mindestens 3 Konventen bestehende Verbände unter einem auf 4 Jahre gewählten und vom Generalmeister bestätigten Provinzial. Neben den prioralen Konventen gibt es Häuser mit auf drei Jahre eingesetzten Oberen, während die Prioren auf 3 Jahre vom Konvent gewählt werden. Außer den Provinzen bestehen einige Vikariate oder Halbprovinzen. Die von 1 2 5 4 - 1 2 5 6 durch Humbert von Romanis (gest. 1277) in 14 Büchern als Ecclesiasticum Officium secundutn Ordinem Fratrum Praedicatorum zusammengestellte Ordensliturgie samt Brevier, die später in manchen Teilen verändert wurde und Übersetzungen ins Griechische sowie in die armenische Volkssprache von Naxijewan fand, ist nach dem II. —»Vatikanum allmählich abgeschafft worden. Nur ordenseigene Feste und Memoriae sind, teilweise mit Sondertexten, geblieben. Was die innere, geistliche Verfaßtheit des Ordens angeht, so wird man sagen dürfen, daß sie dogmatisch und spirituell von der Theologie der Kirchen- und Mönchsväter bestimmt ist, die der Thomismus (—»Thomas v. Aquino/Thomismus) in sich aufgenommen und weiter entwickelt hat. Die theologische Betrachtungsweise geht von der Wahrheit der —»Offenbarung aus, faßt aber gleichzeitig deren Verkündigung bzw. Verteidigung ins Auge. Infolgedessen erhalten die theologische Anthropologie und die apostolische Tätigkeit ein weit stärkeres Gewicht und eine vollkommenere Ausformung als bei den bisherigen patristisch-monastischen Theologen. Doch beginnt der Diskurs stets bei Gott, nicht beim Menschen. Nicht ohne Grund schrieb der scheinbar so subjektive Heinrich —>Seuse eines seiner Hauptwerke, das Horologium sapientiae, über die göttliche Weisheit, ein Grundthema östlicher Theologie. Des weiteren folgt aus solcher Grundeinstellung die Betonung der Gnadenlehre (—»Gna-
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de), die Gottes Wirken im Menschen beherrschend in den Vordergrund stellt. Lebendiges Zeugnis einer objektiv bestimmten, aber auf den zu erlösenden Menschen ausgerichteten Spiritualität (contemplata aliis tradere [das (geistig) Erschaute anderen übermitteln]) sind die etwa 200 Seligen und eine stattliche Anzahl von Heiligen, um deren Kanonisierung durch den Hl. Stuhl der Orden sich freilich oft mit auffallender Langsamkeit bemüht hat, auch hier der göttlichen Vorsehung den Vortritt lassend: Dominicus, Petrus von Verona (gest. 1252), Hyazinth von Polen (gest. 1257), Thomas von Aquin, Raymund von Penafort (gest. 1275), —»Albertus Magnus, Vinzenz —»Ferrer, Antoninus Pierozzi, Erzbischof von Florenz sowie hervorragender Theologe und Kirchenhistoriker (gest. 1459), Johannes von Köln (oder: von Gorkum, gest. 1572 als Opfer der Konfessionskämpfe in den —»Niederlanden), Pius V., Luis Bertrand, Missionar (gest. 1581), Martin de Porres (gest. 1639), Juan Macias (gest. 1645), Margaretha von Ungarn (gest. 1272) und Agnes von Montepulciano (gest. 1317), beide Nonnen des II. Ordens, Katharina Ricci (gest. 1590), in Klostergemeinschaft lebende Schwester des III. Ordens, —»Katharina von Siena und Rosa von Lima (gest. 1617), beide in der Welt lebende Tertiarinnen. In diesen Namen kommt das weitgespannte Programm des Ordens zum Ausdruck, das weder formal monastisch, noch antimonastisch, sondern eine apostolische Nachfolge des—ehelos lebenden — Christus sein soll (—»Nachfolge Jesu). Da der unterdrückte und entrechtete Mensch unzugänglich für die geoffenbarte Wahrheit wird, ergab sich für den Orden im 16. und noch mehr im 19. Jh. die Notwendigkeit, sich immer stärker für die soziale Gerechtigkeit einzusetzen, während im 20. Jh., vor allem mit den Generalkapiteln von Madonna dell'Arco (1974) und Quezon City (1977), die politische Gerechtigkeit in den Vordergrund gerückt wird, aufgrund derer der Orden sich im Einklang mit den Bestrebungen des Hl. Stuhls (Kommission lustitia et Pax) neben seinen überlieferten Aufgaben auf die Befreiung der Menschen aus politischer Ungerechtigkeit, d.h. Unterdriikkung, verpflichtete. Die beiden zuletzt heiliggesprochenen Dominikaner, M. de Porres und J. Macias, hatten sich als Laienbrüder bereits besonders der Linderung von Armut und Not zugewandt. 2. Geschichte 2.1. Mittelalter. Nach der Gründung durch —»Dominicus im Jahre 1215 entfaltete der Orden sich rasch, so daß 1228 bereits 12 Provinzen (Römische Provinz, Teutonia, Englische Provinz, Ungarn, Dazien [Skandinavien], Polen, Griechenland [Lateinisches Kaiserreich] u. a.) bestanden. Von 1275 an kam es zur Gründung weiterer Provinzen bzw. zur Teilung der bisherigen (dabei entstand u. a. die Saxonia, die von Friesland bis nach Narva in Livland reichen sollte). Gegen Ende des Mittelalters besaß der Orden 23 Provinzen, zu denen dieSocietas Fratrum Peregrinantium ( 1 3 0 0 - 1 3 6 3 , 1 3 7 5 - 1 4 5 6 , 1 4 7 4 - c a . 1600, danach Congregano Orientis) als östliche Missionsgemeinschaft ohne abgegrenztes Territorium hinzukam, aus der sich, nachdem etliche ihrer Häuser in Rotrußland, Litauen und in der Ukraine zur Polonia gehört hatten, zwischen 1598 und 1612 die Provinz Russia entwickelte. Dank ihrer Tätigkeit entstanden in —»Armenien zu Beginn des 14. Jh. aus einheimischen Vardapets (gelehrten Priestermönchen) die Fratres Unitores S. Gregorii Illuminatoris, die, später in eine Ordensprovinz verwandelt, bis etwa 1740 das Erzbistum Naxijewan betreuten. Von 1356 bis zur Mitte des 18. Jh. bestand auch der dem Predigerorden angegliederte Ordo Armenorum citra mare (de S. Basilio), hauptsächlich in Italien. Schon während des ersten Jahrhunderts seines Bestehens griff die Missionstätigkeit des Ordens über Griechenland (Union) hinaus auf das Hl. Land (—»Palästina), Persien, —»Georgien, die Goldene Horde (Kipcak ) bis nach Zentralasien und auf die Krim mit den genuesischen Kolonien aus. In dieser ersten Epoche stürmischer Entfaltung verfügte der Orden über eine Reihe von Predigern, die zu den berühmtesten ihrer Zeit gehörten, etwa Reginald von Orléans (gest. 1220) und Jordan von Sachsen (gest. 1237), Johannes von Vicenza (gest. 1256), Stephan von Bourbon (gest. 1261) und Venturinus von Bergamo (gest. 1345). Auf den Gebieten der Naturwissenschaften und der Theologie sowie der Philosophie tat sich Albertus Magnus hervor, der als Theologe von seinem Schüler Thomas von Aquin überragt wurde, während
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Raymund von Penafort 5 Bücher Dekretalen herausgab (1234—1235 [—»Kirchenrechtsquellen]). Johannes von Freiburg (gest. 1314) schrieb die Summa confessorum. Außerdem verfaßten Dominikaner zahlreiche Werke katechetischer, apologetischer, philosophischer, didaktischer sowie pädagogischer Art. Die Geschichtsschreibung und Chronistik erreichte einen ersten Höhepunkt in Bernhard Gui (gest. 1331). Unvermeidlicherweise traten trotz des Widerstandes des Ordens schon während des ersten Jahrhunderts seines Bestehens viele seiner Mitglieder in die Hierarchie ein, wie die beiden ersten Päpste aus seinen Reihen, Innozenz V. (1276) und Benedikt XI. (1303-1304), zeigen. Fürsten und Städten dienten Dominikaner als Gesandte und Friedensvermittler. In den Auseinandersetzungen mit dem Weltklerus um Predigt-, Beicht- sowie andere Pfarrechte und um die beiden Lehrstühle der Dominikaner an der Universität —»Paris bildeten die letzteren eine gemeinsame Front mit den —»Franziskanern und fanden im entscheidenden Moment stets die Unterstützung des Papsttums (1234,1255,1274,1281-1290,1300). Andererseits fehlte es nicht an Zusammenstößen mit der weltlichen Macht, etwa mit —»Friedrich II. und —»Ludwig dem Bayern. Da der erstere eine eigene —»Inquisition—mit theologisch nicht kompetenten Beamten—gegründet hatte, taten die Päpste dasselbe und beauftragten in erster Linie Dominikaner als Inquisitoren. Dies kostete den Orden Arbeitskräfte und Menschenleben. Als einer der ersten Inquisitoren fiel 1252 Petrus Martyr von Verona einem Anschlag aus Kreisen der —»Katharer zum Opfer, und im 15. Jh. wurden als Antwort auf die Verbrennung des Johannes —»Hus in Konstanz die etwa 300 Dominikaner der böhmischen Provinz ausgerottet. Aus verschiedenen Gründen mußte der Orden im 14. Jh. die Bettelarmut aufgeben. In der Folge begann die Disziplin sich zu lockern, die Annahme von Benefizien (—»Beneficium) durch einzelne Ordensmitglieder führte zur vita privata, und die große Pest von 1347—1348 bewirkte durch die Entvölkerung der Konvente vollends den Ruin der Disziplin. Das große abendländische Schisma zerriß den Orden in zwei, dann in drei „Observanzen". Der Ordensgeneral Raymund von Capua (1367-1389), Beichtvater—»Katharinas von Siena, begann im Rahmen der urbanianischen „Observanz" ein Reformwerk, das sich durchsetzte. Die vita privata wurde zurückgedrängt, und in jeder Provinz entstanden Reformkonvente, die zur ursprünglichen Form der vita apostolica zurückfanden. Später schlössen sie sich zu Reformkongregationen zusammen, die schließlich oft zu Reformprovinzen wurden, deren Territorium sich mit dem der alten Provinzen häufig überschnitt. Die —»Predigt nimmt auch im Spätmittelalter den ersten Platz unter den dominikanischen Tätigkeiten ein und entwikkelt sich zur Massenpredigt. Hermann Rab aus Leipzig (1504—1521) meinte, die Predigt sei notwendiger als die Feier der Messe. Andere große Massenprediger waren Vinzenz —»Ferrer und Hieronymus —»Savonarola. Als geistliche Reformer ragten Johannes Dotninici (gest. 1419) und Johannes Nider (gest. 1438) hervor. In der Theologie waren immer noch die Sentenzen des —»Petrus Lombardus grundlegend, aber die Summa theologica des Thomas von Aquin, seit 1309 offizieller Lehrer des Ordens, gewann neues Gewicht durch den „Fürsten der Thomisten" Johannes Capreolous (gest. 1444), der 1432 vier Bücher Defensiones veröffentlichte, die später von dem Clipeus des Petrus Niger (gest. 1481) gefolgt wurden. Die Treue der Dominikaner zur Via antiqua (—»Scholastik) weckte Feindschaft gegen den Orden, so daß er 1387-1403 von der Pariser theologischen Fakultät ausgeschlossen wurde. Ähnliche Verhältnisse ergaben sich in —»Köln, wo 1521-1522 Jakob von Hoogstraten (gest. 1527) an der Spitze einer Gruppe von Dominikanern das entstehende Luthertum bekämpfte. Im Orden selbst gab es eine antithomistische Richtung, zu der u. a. Robert Kilwardby (gest. 1279), Erzbischof von Canterbury, —»Durandus de S. Porciano und Ambrosius Catharinus Politi (gest. 1553), ein Polemiker gegen Luther, gehörten. In der Moraltheologie und Geschichtsschreibung tat sich Antonin, Erzbischof von Florenz (gest. 1459), hervor. Die von Meister—»Eckehart, Johannes —»Tauler und Heinrich —»Seuse begründete Überlieferung geistlicher Theologie (—»Mystik) und geistlichen Lebens blühte auch im Spätmittelalter weiter, vor allem in den Nonnenklöstern der Schweiz, Westdeutschlands und des Elsaß. Eine besondere Rolle fiel dem Orden zu auf
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den Konzilien von —»Konstanz und Ferrara-Florenz (—»Basel-Ferrara-Florenz). An dem ersteren nahm neben etwa 20 anderen Prälaten und Fürstengesandten Johannes Dominici teil, auf dem letzteren spielten eine entscheidende Rolle als Theologen, insbesondere als Verteidiger des päpstlichen Primats, Andreas Chrysoberges, Erzbischof von Rhodos (gest. 1451), Johannes von Montenero und Johannes von Torquemada (gest. 1468). 2.2. Frühe Neuzeit. Die—»Reformation vernichtete die nördlichen Ordensprovinzen in Deutschland (Saxonia), Böhmen, Ungarn, Skandinavien, England, Schottland, Irland und der Schweiz. Diejenigen von Griechenland und des Hl. Landes waren 1561 ebenfalls verschwunden. Die Dominikaner, die gegen —»Luther angingen, waren teilweise auch Erneuerer der thomistischen Lehre: Kardinal Thomas de Vio Caietanus (—»Cajetan), Silvester Mazzolini von Priero (—»Prierias), Thomas Radini Tedeschi (gest. ca. 1527), Jakob von Hoogstraten, Isidor Isolani (gest. 1528), Konrad Köllin (gest. 1536), Johannes Mansing (gest. 1541), Michael Vehe (gest. 1539) und Johannes —»Fabri. Die Kölner Dominikaner besaßen einen besonders starken Rückhalt im Volk, weil sie 1474/75 die erste Rosenkranzbruderschaft (—»Rosenkranz) ins Leben gerufen und seither betreut hatten. Um die Ausdehnung der Reformation in Italien zu verhindern, errichtete der Hl. Stuhl 1542 die Oberste Kongregation der Inquisition oder des Hl. Offiziums sowie die Kongregation des Index der verbotenen Bücher (—»Zensur). An der ersteren mußten die Dominikaner vor allem als Kommissare wirken, an der letzteren als Sekretäre. Der letzte Indexsekretär war Thomas Esser (gest. 1926). Der Verlust der nordeuropäischen Provinzen wurde wettgemacht durch Neugründungen im spanischen Reich in Amerika (—»Lateinamerika), in Ostindien (—»Indien) und auf den —»Philippinen. Eine besondere Rolle als Bollwerk des Thomismus war der Universität Santo Tomás in Manila vorbehalten. In Spanien bahnte sich, besonders zu —»Salamanca, die hohe Blüte der Barockscholastik an. Francisco de Vitoria (gest. 1546), der Begründer des Internationalen Rechts (—»Völkerrecht), Melchior Cano (gest. 1560, De locis theologicis), die Brüder Domingo und Pedro de —»Soto, letzterer Organisator der Universität —» Dillingen, der geistliche Schriftsteller Luis de Granada (gest. 1588), der geniale Vertreter der thomistischen Gnadenlehre Domingo Báñez (gest. 1604) und der portugiesische Philosoph und Theologe Joäo do Sào Tomé (Johannes a Sancto Thoma, gest. 1644) stehen für diese Periode. In der neuen Welt brachte der Orden mehrere Heilige hervor, während die Dominikaner sich auch im Kampf um die Rechte der Indios auszeichneten, vor allem Bartolomé de —»las Casas. Mehrere Dominikaner, darunter die beiden Soto, spielten eine bedeutende Rolle auf dem —»Tridentinum, dessen berühmter—»Katechismus„adparochos" hauptsächlich von drei italienischen Dominikanerbischöfen verfaßt wurde. Im Frankreich des „Grand siècle" glänzten neben den Theologen Jean Nicolai (gest. 1673), Vincent de Contenson (gest. 1674), Jean-Baptiste Gonet (gest. 1681), Noël Alexandre (gest. 1724), der auch ein hervorragender Kirchenhistoriker war, und Hyacinthe Serry (gest. 1738) Jacques Goar (gest. 1653), einer der Begründer der Byzantinistik (Euchologium sive rituale Graecorum, 1647, noch heute unentbehrlich), der Orientalist Michel LeQuien (gest. 1733,Oriens Christianus, 1712), der Patrologe François Combefis (gest. 1679), schließlich Louis Richard (gest. 1794) und Charles René Billuart (gest. 1757), der letzte und bis heute einflußreichste, wenn auch nicht originellste Summenkommentator. Für Italien wären vor allem zu nennen Guiseppe Agostino Orsi (gest. 1761) und Tommaso Mamachi de Lusignan aus Chios (gest. 1782), der in Rom das erste historische Institut des Ordens gründete. Jacques Quétif (gest. 1698) und Jacques Échard (gest. 1724) schufen das monumentale Werk der Scriptores Ordinis Praedicatorum. Einen besonderen Platz innerhalb des Ordens, aber außerhalb der thomistischen Schule nimmt der Philosoph, Staatsdenker und Missionstheologe Tommaso Campanella (gest. 1639) ein, der lange Jahre in den Kerkern der Inquisition zu Neapel verbrachte, aber in seinem Werk Città del Sole ein noch vollkommeneres Kontroll- und Herrschaftssystem erdachte. Als Philosoph war er durch —»Nikolaus von Kues beeinflußt. Nach der Überwindung der reformatorischen Krise im polnisch-litauischen Doppelreich
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(—•Baltikum, —»Polen) blühte der Orden auch dort von neuem auf, so daß er 1647 die litauische Provinz gründen konnte, welche 1766 600 Mitglieder zählte. Die Teutonia übernahm die Restkonvente der Saxonia (Warburg, Halberstadt usw.) und wurde 1709 geteilt. Die neu entstehende süddeutsche Provinz erhielt den Namen und die Rechte der Saxonia. Von 1573 bis 1720 wuchs die Zahl der Provinzen von 29 auf 34, während die Zahl der Mitglieder anfangs des 18. Jh. sich auf 2 5 0 0 0 bis 3 0 0 0 0 belaufen haben dürfte. Allein in Italien gab es mehr als 400 Residenzen mit ca. 7000 Dominikanern. 2.3. Seit der französischen Revolution. Nach verschiedenen Bedrückungen und Klosteraufhebungen durch —»Gallikanismus, —»Josephinismus und das übrige absolutistische Staatskirchentum bewirkten die —»Französische Revolution und ihre Folgen beinahe den Untergang des Ordens. Wegen des Druckes der spanischen Krone mußte —»Pius VII. 1824 in eine tatsächliche Verselbständigung des spanischen Ordenszweiges einwilligen. Ansonsten setzte nach dem Wiener Kongreß ein mühsamer Neubeginn ein, zunächst in Italien, dann dank Henri-Dominique Lacordaire (gest. 1861) und Vincent Jandel (gest. 1872) in Frankreich. In den Niederlanden hatte der Orden überlebt. Doch in Lateinamerika verschwanden nacheinander 10 Provinzen, und Rußland sorgte für die Unterdrückung des Ordens in seinem Machtbereich, mit Ausnahme eines Hauses in St. Petersburg. Eine ruhige Entwicklung konnte der Orden in den USA, wo nacheinander drei Provinzen entstanden, und in der kanadischen Provinz nehmen. In Europa wechselten Zeiten des Aufblühens mit solchen der Unterdrückung ab. In dem Bereich des ehemaligen Sacrum Romanum Imperium gab es außer den Klöstern in den Niederlanden und Belgien zunächst die Provincia Imperii (mit Ungarn und zeitweise Böhmen), aber die Teutonia wurde nach längerer Anlaufzeit 1897 wieder errichtet, 1905 gründete der Orden die ungarische und die böhmische Provinz neu, 1939 entstand die süddeutsch-österreichische Provinz (Germania superior-Austria). Selbst in Südamerika begann der Wiederaufstieg, nämlich 1897 mit der Neugründung der Provinz von Perú. Ganz neue Provinzen entstanden in Australien-Neuseeland und Südafrika. In Afrika und Asien wurden Missionsgebiete erschlossen, die teilweise durch politische Ereignisse wieder verlorengingen, und es bildeten sich teilweise einheimische Vikariate (Teilprovinzen), u.a. in Zaire, wo 1963 13 Dominikaner und 13 Dominikanerinnen als Märtyrer starben. Das gleiche Los wurde 1977 vier Schwestern in Rhodesien zuteil. Heute zählt der Orden 42 Provinzen, von denen die Bohemia und die Hungaria unterdrückt sind. Die Mitgliederzahl erreichte 1965 fast 10000, doch 1977 war sie auf 7623 gesunken. Die 22-jährige Regierung des Generalmeisters Jandel war nicht zuletzt auf die Wiedereinführung der strikten Observanz im gesamten Orden ausgerichtet. Das führte nach 1960 neben anderen Ursachen zu einer tiefen inneren Krise, deren Uberwindung noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird.
3. Wissenschaftliche
Tätigkeit
An herausragenden wissenschaftlichen Anstalten führt der Orden neben der 1577 als Thomaskolleg gegründeten und 1963 in den Rang einer päpstlichen Universität erhobenen römischen St. Thomas-von-Aquin-Universität die 1611 gegründete Universität Santo Tomás in Manila mit 8 Fakultäten und ca. 4 0 0 0 0 Studenten, die Universität S. Tomás zu Bogotá, die theologische und teilweise die philosophische Fakultät der katholischen Universität zu Freiburg (Schweiz), die Bibelschule zu Jerusalem (1890), die theologischen Fakultäten in Washington (1941), Salamanca (1960) und Ottawa (1965), das Institut für mittelalterliche Studien bei der Universität Montreal (1942), das Institut der orientalischen Studien zu Kairo (1961), das Institut für die kritische Herausgabe der Werke des Thomas von Aquin (Leonina, 1880) mit Zweigen in Rom und an anderen Plätzen, das Zentrum Istina für ökumenische Studien in Paris (1927), das ökumenisch-patristische, griechisch-byzantinische Institut San Nicola zu Bari (1969) und das Historische Institut der Dominikaner in Rom (1930). Wegen der predigtmäßig-missionarischen Aufgabe des Ordens hatte dieser von Anfang an großen Wert auf die wissenschaftliche Ausbildung seiner Mitglieder gelegt. Auch der Ordensnach-
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wuchs kam großenteils von den Universitäten, sowohl aus der Professoren- als auch aus der Studentenschaft. Dies gilt etwa von Reginald von Orléans und Jordan von Sachsen, dem Nachfolger des Dominicus. Den dominikanischen Studenten an den Universitäten folgten bald Dominikaner als Professoren, so Roland von Cremona (gest. 1259), der 1229, und Johannes von St. Ägidius, der 1231 Professor an der theologischen Fakultät in Paris wurde. Da immer mehr Lehrstühle Dominikanern und Franziskanern anvertraut wurden, kam es zu den bekannten Reaktionen des Weltklerus. Gleichzeitig erfolgte die Gründung von Generalstudien des Ordens an großen Konventen, zunächst in Paris, dann in Bologna, Köln, Montpellier und Oxford. Im 14. Jh. folgten Neapel, Florenz, Genua, Toulouse und Salamanca. Außer den Generalstudien gab es Provinzial- und Hausstudien. Die Missionen machten die Gründung besonderer Sprachstudienzentren notwendig, etwa 1699 bei S. Sabina in Rom für die armenische Sprache. Auch bei Klöstern anderer Orden waren Dominikaner als Lehrer tätig. An der päpstlichen —»Kurie nahmen seit 1252 Dominikaner das Amt des Magister Sacri Palatii wahr, das neuerdings in das des Theologen des päpstlichen Hauses verwandelt worden ist. Ende des 13. Jh. waren etwa 1500 Dominikaner als Lehrende beschäftigt. Ihre Tätigkeit galt nicht nur der Unterrichtung der Ordensmitglieder und des Klerus, sondern auch jener der Laien. So wurde die Gründung ordenseigener, öffentlicher Hochschulen und Universitäten fast unvermeidlich. Manchmal gingen, wie im Falle Kölns, kommunale Hochschulen aus den Ordensstudien hervor. Nach der Reform der spanischen Ordensprovinzen im Jahre 1467 gründete man die berühmte theologische Hochschule von St. Stephan in Salamanca und die von St. Gregor zu Valladolid. Deren Schüler gründeten ihrerseits Hochschulen in Santo Domingo, Lima, Bogotá und anderen Städten Hispanoamerikas. Außer der Philosophie pflegte der Orden auch die Naturwissenschaften. Am römischen Thomaskolleg bei der Minerva etwa rief Alberto Guglielmotti (gest. 1893), Historiker der päpstlichen Marine, Philologe und Physiker, 1840 das Gabinetto fisico ins Leben, das später zum Gabinetto fisico-astronomico mit Sternwarte erweitert wurde. Aus diesem ging 1870 die erste, alle Wissenschaften und Künste umfassende, römische Thomas-Akademie hervor. Der langjährige Direktor des Gabinetto, Vincenzo Nardini (gest. 1913), ging nach der Zerschlagung des Zentrums infolge der piemontesischen Eroberung Roms nach Quito (Ecuador) und Lima (Perú), wo er gleichfalls Sternwarten gründete. Zum Kreis um das Gabinetto gehörten u. a. der Erfinder und Uhrenkonstrukteur Giovanni Battista Embrìaco (gest. 1903), der nachmalige Kardinal-Erzbischof von Bologna und bedeutende Konzilsvater des I. Vaticanums Filippo Guidi (gest. 1879) sowie der hervorragendste Philosoph und Theologe des Ordens im 19. Jh. und spätere Kardinal Tommaso Zigliara (gest. 1893), Mitverfasser der Enzykliken Aeterni Patris und Rerum novarum (—»Leo XIII.). Zu den weithin bekannten Theologen der neueren Zeit gehören Albert M. Weiß (gest. 1925), Reginald Schuhes (gest. 1928), Francisco Marin Sola (gest. 1932), Edouard Hugon (gest. 1929), Ambroise Gardeil (gest. 1931), Mariano Cordovani (gest. 1959), Santiago Ramírez (gest. 1967), die Moralisten Dominikus Prümmer (gest. 1931) und Ludovico Giuseppe Fanfani (gest. 1955) sowie Pedro Lumbreras (gest. 1970) und der Erneuerer der geistlichen Theologie Réginald Garrigou-Lagrange (gest. 1964). Mit dem Gründer der Bibelschule zu Jerusalem und der Revue biblique, Joseph Lagrange (gest. 1938), beginnt eine lange Reihe ausgezeichneter Exegeten, von denen hier Jacob Vosté (gest. 1949) und Roland de —»Vaux genannt werden sollen. Auf dem Gebiet der theologischen Ethik und der Sozialwissenschaften machten sich höchst verdient A. M. Weiß, Raymund (Karl Fürst zu) Löwenstein (gest. 1921), Martin-Stanislas Gillet (gest. 1951) und Eberhard Welty (gest. 1965). Als Historiker ragten hervor Pierre Mandonnet (gest. 1936), Gabriel Lohr (gest. 1961), Vicente Beltrán de Herédia (gest. 1973), Angelus Walz (gest. 1978), insbesondere jedoch Heinrich Suso —»Denifle. Als Philosophen errangen einen bedeutenden Ruf Angelo Zacchi (gest. 1927), A.D. Sertillanges (gest. 1948), nicht zu vergessen Salvatore Roselli (gest. 1784), einer der Väter des Neuthomismus, und Gallus Manser (gest. 1950).
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4. Predigt Zunächst war jedem Konvent ein bestimmtes Territorium zugeordnet, auf dem seine Mitglieder zu predigen hatten. Eben um dieser überpfarrlichen Tätigkeit willen verzichtete der Orden anfangs auf die Pfarrseelsorge, die er später jedoch oft übernehmen mußte. Den Patres benachbarter Konvente war es verboten, im Gebiet eines dritten Konvents zu predigen. Das Predigtterritorium war eingeteilt in „Vikariate", die von einzelnen Patres betreut wurden. Diese sammelten dort auch die Gaben der Gläubigen und errichteten zu diesem Zweck Terminierhäuser, was zu Mißbräuchen führte. Dieses System blieb im großen und ganzen bis zur Französischen Revolution bestehen. Die Oratoria sacra nahm einen breiten Raum in der Ausbildung der Ordenskleriker ein und folgte im allgemeinen dem Zeitgeschmack. Es gab besondere Predigtzeiten, wie den Advent, die Fastenzeit, die Monate Mai (Maiandacht), Juni (Herz-Jesu-Monat), Oktober (Rosenkranzmonat), es gab die —»Volksmission des 19. und des 20. Jh., bei der vor allem die Dominikaner im deutschen Sprachraum sehr stark tätig waren. Aber schon im 17. und 18. Jh. veranstalteten die Patres der kleinen Observanzkongregation des Heiligsten (Altar-)Sakraments im unteren Rhönetal systematisch Volksmissionen, um den Calvinismus erfolgreich zurückzudrängen. Sie drangen bis nach Genf vor und vollzogen dort zum ersten Male seit der Reformation wieder die eucharistische Anbetung. Heute versucht man sich mehr in homiletischen Predigten sowie in Radio- und Fernsehansprachen. Die weitgehende Spezialisierung der —•Seelsorge macht die Anwendung neuer Predigtmethoden nötig. Hervorragende Prediger waren neben Dominicus und Petrus Martyr von Verona Johannes von Salerno (gest. 1242), das Dreigestim Meister Eckehart, Tauler und Seuse, Johannes Dominici, Johannes Nider, Luis de Granada, Gregorio Rocco (gest. 1782), H.-D. Lacordaire, der Ire Thomas Burke (gest. 1883), Bonaventura Krotz (gest. 1914), der Hyde-Park-Prediger V. McNabb (gest. 1943) und Marianus Vetter (gest. 1968). Durch ihre Notre-Dame-Konfercnzen in Paris wurden nach Lacordaire J.L. Monsabre (gest. 1907) und A. Janvier (gest. 1939) berühmt. 5. Zweiter und dritter
Orden
Erwähnt sei auch, daß es seit der Zeit des Ordensgründers einen (II.) Orden (—•Ordenswesen) der klausurierten Dominikanerinnen gibt, dessen Klöster im Hoch- und Spätmittelalter Pflanzstätten des geistlichen Lebens von sehr hohem Rang waren. Dieser Orden, dessen Häuser meist nicht dem I. Orden unterstehen, zählt heute 218 Klöster mit ca. 5140 Schwestern (Moniales [Nonnen]). Außerdem existieren ca. 133 Kongregationen (kleine Orden) der Dominikanerinnen (des III. Ordens), die in Gemeinschaft leben und entweder dem Hl. Stuhl oder einem Diözesanbischof unterstehen. Die Zahl dieser Schwestern, die sich in den Missionen, in Krankenhäusern und Schulen sowie in der Jugenderziehung und auf vielen karitativen Gebieten betätigen, beläuft sich auf etwa 46000. Ihre Arbeit ist stark nach außen gerichtet, während die Klausurschwestern insbesondere der Beschauung leben und solche Arbeiten verrichten, die ohne Verlassen der Klausur getan werden können, z.B. Hostienbäckerei und Paramentenstickerei. Der (III.) Weltorden der Dominikaner, eine Gebets- und Arbeitsgemeinschaft von Laien, die „in der Welt leben" (-•Tertiarier), zählt ca. 90000 Mitglieder. Doch hat der Orden auch andere religiöse Vereinigungen gegründet und leitet sie, z.B. Rosenkranz- und Namen-Jesu-Bruderschaften. 6. Bildende
Künste
In den bildenden Künsten taten die Dominikaner sich auf mannigfache Weise hervor. So wurde die Kirche S. Maria Novella in Florenz von Fra Sisto und Fra Ristoro (13. Jh.) errichtet und durch Fra Giovanni da Campi (gest. 1339) sowie Fra Jacopo Talenti da Nipozzano (gest. 1362) vollendet. Auch die römische Basilika S. Maria sopra Minerva soll durch Fra Sisto und Fra Ristoro erbaut worden sein, indes Fra Girolamo Bianchedri (gest. 1849) sie re-
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staurierte. D i e größte venezianische Basilika, SS. Giovanni e P a o l o (Zanipolo), u n d S. N i c c o l ò in Treviso gehen auf die Laienbrüder Fra Benvenuto da B o l o g n a und N i c c o l ò da Imola zurück. In Deutschland machten sich die D o m i n i k a n e r den Stil der gotischen Hallenkirche (—»Kirchenbau), die für den Z w e c k der Predigt besonders geeignet war, zu eigen. A u c h i m Bereich der zivilen und militärischen Architektur fehlen N a m e n v o n D o m i n i k a n e r n nicht; zu nennen wären e t w a Fra G i o c o n d o da Verona (gest. 1 5 1 5 ) , D o m e n i c o Paganelli (gest. 1 6 2 4 ) , Kardinal V i n c e n z o M a c u l a n o (gest. 1 6 6 7 ) , Giuseppe Paglia (gest. 1 6 8 3 ) , Samuele M a z z u c chelli (gest. 1 8 6 4 ) und M a r i a n o Pavoni (gest. 1 9 0 2 ) . W a s die Bildhauerei (-»Plastik) angeht, s o hat sich Fra Guglielmo da Pisa als Mitarbeiter v o n N i c o l a Pisano bei der Schaffung des berühmten Dominicus-Sarkophags in S. D o m e n i c o zu Bologna betätigt ( 1 2 6 7 ) . A u c h in Pisa und Orvieto führte er Arbeiten aus. D o m e n i c o Portigiani (gest. 1 6 1 0 ) führte als Bronzegießer die Türen des D o m s v o n Pisa nach M o d e l l e n des G i a m b o l o g n a aus. Ein großes Intarsienwerk vollendete Fra D a m i a n o Zambelli d a Bergamo (gest. 1 5 4 9 ) in Sakristei und Chor v o n S . D o m e n i c o zu Bologna. In der —»Malerei überragt alle übrigen D o m i n i k a n e r Fra Giovanni d a Fiesole, genannt Beato —»Angelico. Ihm eiferte Fra B a r t o l o m m e o della Porta (gest. 1 5 1 7 ) nach. In die Kunstgeschichte der N e u z e i t gehören Alain-M. Coutourier (gest. 1 9 5 4 ) , Angelico Pistariono (gest. 1 9 6 0 ) , der Argentinier Guillerme Butler (gest. 1 9 6 1 ) und W o l f r a m Plotzke (gest. 1 9 5 4 ) . Als Miniaturenmaler wirkte Fra Benedetto, Bruder des Beato Angelico, und als Glasmaler Jak o b v o n U l m (gest. 1 4 9 1 ), dem es A m b r o g i o Tormoli (gest. 1 5 2 7 ) und Guglielmo Marcillart (gest. 1 5 2 9 ) gleichtaten. 7.
Generalmeister
Hl. Dominicus 1221. - Sei. Jordan von Sachsen 1 2 2 2 - 1 2 3 7 . - H!. Raymund von Peñafort 1 2 3 8 - 1 2 4 0 . - Johannes Teutonicus (von Wildeshausen) 1 2 4 1 - 1 2 5 2 . - Humbert de Romanis 1 2 5 4 - 1 2 6 3 . - Sei. Johannes von Vercelli 1 2 6 4 - 1 2 8 3 . - Munio de Zamora 1 2 8 5 - 1 2 9 1 . - Stephan von Besançon 1 2 9 2 - 1 2 9 4 . - Sel. Nicolaus Boccasino (Benedikt XI.) 1 2 9 6 - 1 2 9 8 . - Albertus von Chiavari 1300. — Bernhard von Jusix 1301 —1303. — Aymericus von Piacenza 1304—1311. — Berengarius von Landora 1 3 1 2 - 1 3 1 7 . - Hervaeus Natalis (Noël) von Nédellec 1 3 1 8 - 1 3 2 3 . - Barnabas Cagnoli von Vercelli 1 3 2 4 - 1 3 3 2 . - Hugo von Vaucemain 1 3 3 3 - 1 3 4 1 . - G e r h a r d u s von Daumar de la Garde 1342. — Petrus von Baume-Ies-Dames 1343—1345. — Garinus von Gy-L'évêque 1346—1348. —Johannes de Molendinis (von Moulins) 1 3 4 9 - 1 3 5 0 . - S i m o n Lingoniensis (von Langres) 1 3 5 2 - 1 3 6 6 . - Elias Raymond von Toulouse 1 3 6 7 - 1 3 8 0 für den Gesamtorden, 1 3 8 0 - 1 3 8 9 für die Obödienz von Avig n o n . - F ü r die letztere folgen: Nicolaus von Troia 1 3 9 1 - 1 3 9 3 ; Nicolaus von Valladolid 1 3 9 4 - 1 3 9 7 ; Johannes von Puinoix 1399—1418. — Für die Obödienz von Rom, dann für den Gesamtorden: Sei. Raymund von Capua 1 3 8 0 - 1 3 9 9 . - T h o m a s von Fermo 1 4 0 1 - 1 4 1 4 . - Leonardus Dati 1 4 1 4 - 1 4 2 5 . — Bartholomaeus Texier 1 4 2 6 - 1 4 4 9 . - Petrus Rochin 1450. — Guido Flamochetti 1451. - Martialis Auribelli 1. Mal 1 4 5 3 - 1 4 6 2 . - Conradus von Asti 1 4 6 2 - 1 4 6 5 . - Martialis Auribelli 2. Mal 1 4 6 5 - 1 4 7 3 . - Leonardus de Mansuetis 1 4 7 4 - 1 4 8 0 . - Salvus Cassetta 1 4 8 1 - 1 4 8 3 . - Bartholomaeus Comazio 1 4 8 4 - 1 4 8 5 . - Barnabas Sansoni 1486. - Joachim Torriani 1 4 8 7 - 1 5 0 0 . - Vincentius Bandeiii 1 5 0 1 - 1 5 0 6 . - Johannes Clérée 1507. - T h o m a s de Vio Caietanus 1 5 0 8 - 1 5 1 8 . - Garsias de Loaysa 1 5 1 8 - 1 5 2 4 . - Francesco Silvestri di Ferrara 1 5 2 5 - 1 5 2 8 . - Paolo Butigella 1 5 3 0 - 1 5 3 1 . - J e a n du Feynier 1 5 3 2 - 1 5 3 8 . - Agostino Recuperati 1 5 3 9 - 1 5 4 0 . - Alberto de Casaus 1 5 4 2 - 1 5 4 4 . - Francesco Romeo 1 5 4 6 - 1 5 5 2 . - Stefano Usodimare 1553—1557. — Vincenzo Giustiniani 1 5 5 8 - 1 5 7 0 . Serafino Cavalli 1 5 7 1 - 1 5 7 8 . - Paolo Constabile 1 5 8 0 - 1 5 8 2 . - Sisto Fabri 1 5 8 3 - 1 5 8 9 . - Ippolito Maria Beccaria 1 5 8 9 - 1 6 0 0 . - Jerónimo Xavierre 1 6 0 1 - 1 6 0 7 . - Agostino Galamini 1 6 0 8 - 1 6 1 2 . Serafino Secchi 1 6 1 2 - 1 6 2 8 . - Niccolò Ridolfi 1 6 2 9 - 1 6 4 4 . - Tommaso Turco 1 6 4 4 - 1 6 4 9 . - Giovanni Battista de Marinis 1 6 5 0 - 1 6 6 9 . - Giovanni Tommaso de Rocaberti 1670—1677. - Antonio de Monroy 1 6 7 7 - 1 6 8 6 . - Antonin Cloche 1 6 8 6 - 1 7 2 0 . - Agostino Pipia 1 7 2 1 - 1 7 2 5 . - T o m á s Ripoll 1 7 2 5 - 1 7 4 7 . - Antonin Brémond 1748 - 1 7 5 5 . - Juan Tomás de Boxadors 1758 - 1 7 7 7 . - Baltasar de Quiñones 1 7 7 7 - 1 7 9 8 . - Pio-Giuseppe Caddi 1 8 0 6 - 1 8 1 4 . - Joaquín Briz 1 8 2 5 - 1 8 3 1 . - F r a n c e s c o Ferdinando Jabalot 1 8 3 2 - 1 8 3 4 . —Benedetto Maurizio Olivieri 1834—1835.-Tommaso Giacinto Cipolletti 1 8 3 5 - 1 8 3 8 . - A n g e l o Ancarani 1 8 3 8 - 1 8 4 4 . - V i n c e n z o Aiello 1 8 4 4 - 1 8 5 0 . - V i n c e n t Jandel 1 8 5 5 - 1 8 7 2 (vorher 5 Jahre lang von Pius IX. ernannter Generalvikar des Ordens). - Giuseppe Maria Larroca 1 8 7 9 - 1 8 9 1 . - Andreas Friihwirth 1 8 9 1 - 1 9 0 4 . - Hyacinthe-Marie Cormier 1 9 0 4 - 1 9 1 6 . Ludwig Theissling 1 9 1 6 - 1 9 2 5 . - Bonaventura G a r d a de Paredes 1 9 2 6 - 1 9 2 9 . - Martin Gillet 1 9 2 9 - 1 9 4 6 . - Emanuel Suárez 1 9 4 6 - 1 9 5 4 . - Michel Browne 1 9 5 5 - 1 9 6 2 . - Aniceto Fernández Alonso 1 9 6 2 - 1 9 7 4 . - Vincent de Couesnongle seit 1974.
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Domkapitel
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Ambrosius Eßer O. P. Domkapitel 139)
1. Frühformen
2. Die Herausbildung des Domkapitels
3. Spätere Entwicklung
(LiteraturS.
Das deutsche Wort „Domkapitel" in Unterscheidung zu „Kollegiatkapitel" (-»Stift) ist eine neuzeitliche Schöpfung. Das Mittelalter kannte diese begriffliche Unterscheidung nicht. Das Domkapitel stellt seit dem Hochmittelalter eine kollegial verfaßte autonome Korporation mit vorrangig gottesdienstlichen Aufgaben dar — hierin den übrigen Kapiteln gleich - , war aber zusätzlich — und hierin unterschied es sich von den Kollegiatstiften - in die diözesane Verwaltung einbezogen als beratendes Gremium, als Verweser bei Sedisvakanz, als Bischofswahlbehörde.
1. Frühformen Auszugehen haben wir vom Begriff canonicus, der erstmals in den fränkischen Konzilien des 6. Jh. erscheint. Sein Bedeutungsinhalt ist umstritten; er dürfte ursprünglich das Verzeichnis des bischöflichen Klerus beinhaltet haben. Wenn hiermit das Erscheinungsbild der spätantiken bischöflichen civitas ins Blickfeld tritt, so muß doch betont werden, daß eine spezifisch kanonikale Institution erst im 6./7. Jh. im westfränkischen und westgotischen Bereich erfaßt werden kann. Ihre Herausbildung dürfte im Zusammenhang mit der Einführung des ordo psallendi im Abendland stehen. (Clerici) canonici erscheinen als Kleriker aller Weihestufen, die an Kathedralen, Stadt- und Landbasiliken oder Großpfarreien mit dem feierlichen Gottesdienst und dem —»Stundengebet betraut sind, dafür aus den Kirchengütern unterhalten werden und unter Leitung des Bischofs oder Archipresbyters in Gemeinschaft leben, dies je nach materieller Grundlage mehr oder weniger vollständig. Neue Impulse gingen von der Romanisierung der fränkischen Kirche seit der Mitte des 8. Jh. aus, die sich unter anderem auch in der Einführung der römischen Liturgie äußerte. In ihrem Zusammenhang ist die Regel (institiuncula) des Bischofs —»Chrodegang von Metz, 755/756, zu sehen, die im wesentlichen eine praktische Handhabe für ein auf den liturgischen Tages- und Jahresablauf ausgerichtetes, die Obliegenheiten der Seelsorge jedoch mitberücksichtigendes Gemeinschaftsleben unter der Leitung des Bischofs darstellt. Das Gemeinschaftsleben war nicht durch eine asketische Zielsetzung bestimmt, konnte je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten mehr oder weniger konsequent realisiert werden. Chrodegang hat so die Nutznießung von Privatgütern erlaubt, und die Aachener Regel (Institutio Aquisgranensis ) von 816, die einen wichtigen Bestandteil der karolingischen Kirchenreform darstellte und vor allem der Vereinheitlichung des Ordo der Kleriker galt, ließ - eher der tatsächlichen Situation Rechnung tragend, denn einen ideologischen Kompromiß darstellend — die Frage nach Privatbesitz oder Aufgabe des Eigentums offen, dies in bemerkenswertem Unterschied zum verpflichtenden Charakter der organisatorischen und gottesdienstlichen Bestimmungen. Diese Institutio muß nach Ausweis der gegen 100 bekannten oder bezeugten Handschriften eine weite Verbreitung zunächst im west-, dann im ostfränkischen Reich, schließlich im 11. Jh. auch in Italien gefunden haben, wenn sie auch lokal in den verschiedenen Dom- und Chorherrenstiften nur selten direkt faßbar ist. Entscheidend für die Beurteilung dieser Früh-
Domkapitel
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zeit und grundlegend für die weitere Entwicklung ist die Tatsache, daß die vorrangige Zielsetzung des Instituts die feierliche Durchführung der Liturgie an der Bischofskirche war. Ihr war die Eigentumsfrage, im Unterschied zur später von den -»Augustiner-Chorherren angestrebten vita upostolica, völlig untergeordnet. So dürfte, wenn das Kanonikertum in den folgenden schweren Zeiten materiell überdauert und eine beachtliche Vitalität behalten hat, hierfür vor allem eine wirtschaftliche Maßnahme ausschlaggebend gewesen sein, die sog. Gütertrennung. Sie beinhaltet in erster Linie Zweckbindung einer allein dem Domkapitel zukommenden Gütermasse - sei es durch Aussonderung von Gütern aus der Bischofsmensa, sei es durch Zweckbestimmung neuer Schenkungen - und sicherte dadurch die materielle Grundlage der Klerikergemeinschaft vor fremden Verfügungen. Sie hat im westfränkischen Reich früher, in Deutschland erst nach dem 10. Jh. eingesetzt und bis ins 12. Jh. hinein gedauert. Mehr oder weniger im Anschluß daran erfolgte die interne Aufteilung in Pfründen (praebendae), die zunächst nicht als Dekadenzerscheinung zu beurteilen ist, sondern als zeitbedingte Anpassung an die sozio-ökonomische Struktur einer ländlichen, stark parzellierten und feudalisierten Welt (—•Beneficium). Die ökonomische Selbstverwaltung der ursprünglich völlig vom Bischof abhängigen Klerikergemeinschaft führte früher oder später zur weiteren rechtlichen Kompetenzbereinigung und Neuordnung sowohl gegenüber dem Bischof als auch gegenüber den einzelnen Pfründeninhabern. Ihr Resultat war die korporative Herausbildung des eigentlichen Domkapitels als juristische Person. 2. Die Herausbildung
des
Domkapitels
2.1. Domkapitel und Bischof. Wenn im folgenden in knappem Überblick die Entwicklung der Domkapitel skizziert wird, so muß zunächst klargestellt werden, daß diese sowohl im chronologischen Ablauf wie in den beschrittenen Wegen sehr vielfältig und von den je unterschiedlichen lokalen Bedingtheiten gesteuert ist, was hier nicht zum Ausdruck kommen kann. Das allgemeine Kirchenrecht hatte mehr einen nachvollziehenden, im nachhinein regulierenden Charakter. Der Durchbruch zur autonomen Korporation ist im Bereich der personellen Ergänzung, dann in jenem der Ordnung des inneren Lebens erfolgt. Auf verschiedenen Wegen — über das Konsensrecht, das zwischen —»Bischof und Domkapitel geteilte Besetzungsrecht usw. — ging das Recht der Wahl neuer Kapitelsglieder aus der ursprünglich alleinigen Kompetenz des Bischofs in die Hände des Domkapitels über. Die Entwicklung begann im 9. Jh. im westfränkischen Reich und setzte sich sosehr durch, daß es bereits im 1. Lateranense von 1123 (—* Lateransynoden) nötig war, das Bestätigungsrecht des Bischofs für die durch das Kapitel vorgenommene Wahl zu schützen. Wenn das allgemeine Kirchenrecht späterhin nur die Form der gemeinsamen Wahl durch Bischof und Kapitel gelten lassen wollte, so konnten die bereits erreichten Besetzungsgewohnheiten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Einschränkend wirkten in der späteren Zeit vor allem das päpstliche Provisionswesen, weniger das den Herrschern zugestandene Recht der ersten Bitten. Auch das ursprünglich allein dem Bischof zukommende Recht zur Regelung des klerikalen Gemeinschaftslebens ging zusehends an das Kapitel über, wobei wiederum die verschiedensten Wege beschritten wurden, wie der mehr oder weniger vollständige Ausschluß des Bischofs aus der Kapitelssitzung oder die Verpflichtung des Bischofs, sofern er teilnahm, auf die Beschlüsse des Kapitels. Bereits Ende des 12. Jh. erscheint das Statuierungsrecht des Domkapitels, das ius condendi statuta, als selbstverständlich. Seit Ende des 11. Jh., vermehrt dann im 12. Jh., erscheinen capitula, Domkapitel, als alleinige, vollwertige Adressaten päpstlicher Urkunden und beginnen als sichtbares Zeichen ihrer neuen Rechtsstellung Siegel zu führen, welches Siegelrecht 1225 unter -»Honorius III. ins allgemeine Kirchenrecht aufgenommen wurde. Als weitgehend selbständig handlungsfähige Korporation, die sich selber verwaltete, ergänzte, Statuten setzte und interpretierte, rückt nun das Domkapitel innerhalb der Diözese in eine entscheidende Stellung ein. Das ursprünglich dem gesamten Klerus zustehende Konsensrecht zu bischöflichen Verwaltungsmaßnahmen wurde seit dem 10. Jh. zusehends auf das zur selben Zeit sich mehr und mehr herausbildende Domkapitel eingeschränkt - ein Zustand, der im 13. Jh.
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Domkapitel
überall erreicht und sogar schon so weit durchgedrungen ist, daß das Dekretalenrecht dort, wo ein Domstift fehlte, eine Art Konsultativrat stipulierte. Bezog sich diese Kontrolle und Mitwirkung zunächst nur auf die Güterverwaltung, so dehnte das Domkapitel seit Beginn des 13. Jh. seine Kompetenzen zusehends weiter aus durch das Mittel der Wahlkapitulation, durch die es sich vom Kandidaten auf das Bischofsamt die Reservation von bischöflichen Ämtern, die Unterstellung von Burgen, das Mitspracherecht bei Diözesanstatuten, Bündnissen, Fehdeerklärungen usw. eidlich zusichern ließ. Wenn das allgemeine Kirchenrecht seit dem 13. Jh. sich gegen dieses Vorgehen wehrte und es schließlich unter Innozenz XII. 1695 praktisch entwertete, so muß andererseits für eine adäquate Beurteilung auch gesehen werden, daß es nicht nur domstiftischem Eigennutz, sondern auch einem echten Anliegen entsprach: Das mit den diözesanen und lokalen Angelegenheiten vertraute Domkapitel war die einzige dauerhafte Institution, die die Kontinuität der diözesanen Entwicklung garantieren konnte, zumal die Bischöfe gerade im Spätmittelalter oft ortsfremd waren. Voraussetzung für die Wahlkapitulation war natürlich, daß das Domkapitel bei der Bischofswahl die entscheidende Stellung einnahm. Lag die Bischofswahl ursprünglich in der Hand von Klerus und Volk, so hatte sich doch früh schon vom praktisch-zeremoniellen Vollzug her eine Ausdifferenzierung zum Nachteil des Volkes, dann auch innerhalb des Klerus abgezeichnet, während zudem die weltlichen Herrscher mehr und mehr entscheidenden Einfluß auf die Wahl gewannen. In der allgemeinen Auseinandersetzung um die Bistumsbesetzung haben die Domkapitel, vor allem auch von der gegen die Übergriffe der weltlichen Herrscher und Laieninvestitur ankämpfenden gregorianischen Reform profitierend (—»Investiturstreit), sich zusehends als alleiniges Wahlgremium durchgesetzt. Diese Entwicklung, deren Anfänge im französischen Bereich seit dem 10. Jh. greifbar werden, dauerte bis ins 13. Jh. und fand schließlich 1215 ihre Bestätigung in can. 24 des 4. Lateranense, der für die Bischofswahl dietnaior et sanior pars capituli als entscheidend erklärte—unter Vorbehalt allerdings der päpstlichen Approbation, womit jene Kraft ins Blickfeld tritt, die in der Folgezeit das Wahlrecht des Domkapitels in Frage stellen sollte. Im Gefolge des Bischofswahlrechts rückte das Domkapitel bis Ende des 13. Jh. in die alleinige Zuständigkeit bei der Diözesanverwaltung während der Sedisvakanz ein, wobei ein Kapitelsvikar die Geschäfte mit Ausnahme der iura pontificalia weiterführte. 2.2. Innere Organisation. Das Funktionieren eines Kapitels beruhte auf einem Komplex von Rechten und Pflichten jedes einzelnen Mitgliedes, der am besten unter dem Begriff des Kanonikats (canonicatum) zusammengefaßt werden kann. Dieses beinhaltet Besitz von Pfründen und Chorhof (praebenda) und die damit verbundenen Rechte und Pflichten der Residenz (possessio praebendae, residentia), der Teilnahme am Chorgottesdienst (stallum in choro) und der Mitbestimmung im Kapitel (votum in capitulo). Die Eintrittsmodalitäten gestalteten sich von Ort zu Ort verschieden, enthielten aber durchwegs die Einrichtung eines oder mehrerer Gnadenjahre (annus gratiae), die der letztwilligen Verfügung und Schuldentilgung des Vorgängers vorbehalten waren, eines oder mehrerer Karenzjahre (annus carentiae), die zur Aufbesserung der Kapitels- oder Pfrundgüter eingesetzt wurden. Erst nach Ablauf dieser Jahre trat der Kanoniker in den Vollbesitz der Pfründe ein. Unter den verschiedenen Aufnahmebedingungen sind vor allem die ständischen Anforderungen zu entscheidender Bedeutung gelangt. Sie haben zur Ausgestaltung von gemischt ständischen, dem Adel und den Bürgern offenen, von gemischtadeligen, nur dem Adel und der Ministerialität zugänglichen, und schließlich freiadeligen Kapiteln geführt, wozu bei letzteren eine immer strengere Selektion hinzutrat durch die über mehr oder weniger Generationen zu erbringende Ahnenprobe (probacio genealogica). Die allermeisten Domstifte haben sich ständisch gegen oben abgeschlossen, eine Tendenz, die nur von den vom allgemeinen Kirchenrecht seit dem 13. Jh. geforderten Doktorpfründen in geringem Maße durchbrochen wurde, für die man sich mit dem entsprechenden akademischen Grad in kanonischem Recht oder Theologie auszuweisen hatte. Die zentrale Instanz des domstiftischen Lebens war das Kapitel, die beschlußfassende, wählende, rechtsetzende und -interpretierende Versammlung aller
I )omkapitel
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Domherren. Sie bestellte und kontrollierte auch die verschiedenen Verwaltungsämter (z.B. procurator, quotidianarius, magister fabricae usw.) und nahm letztinstanzlich die Rechnungsablegungen entgegen. Für die Stiftsleitung waren verschiedene Würden (dignitates) mit Ehrenvorrang und Jurisdiktionsgewalt und Ämter (officio) — ohne Jurisdiktionsgewalt— eingerichtet: Propst, Dekan, Kustos, Scholaster und Kantor. Nicht immer muß die ganze hierarchische Stufenfolge vorhanden sein, nicht immer muß sich die tatsächliche Zuständigkeit mit der im Amtstitel angedeuteten Funktion decken. Deshalb seien die folgenden Hinweise nicht gegeben, ohne zu betonen, daß im einzelnen nur die Kenntnis der lokalen Verhältnisse diesbezüglich gesicherte Aussagen erlaubt. In der Regel hat der in der Institutio Aqitisgranensis eingerichtete Propst (praepositus) im Laufe des Mittelalters seine führende Stellung weitgehend eingebüßt und erfüllt lediglich mehr repräsentative Funktionen. An seine Stelle war im administrativen Bereich das Kapitel, im gottesdienstlichen und geistlichen Bereich (in spiritualibus) der vermutlich aus der—»Benediktusregel übernommene Dekan (Decanus) getreten. Der Kustos (custos, thesanrarius) war meistens mit dem Unterhalt der Kirche, der Paramente und des Kirchenschatzes betraut; der Kantor mit der Durchführung des Chorgesangs. Dem Scholaster, dessen erzieherische Funktion schon in der Aachener Regel erwähnt wird, war die Ausbildung der jungen Kanoniker anvertraut sowie die domstiftische Kanzlei. Vielfach haben die Amtsinhaber die Funktion an Unterbeamte (subcustos, succentor, rector puerorum) delegiert, umso mehr als mit ihrem Stiftsamt oft diözesane Ämter, wie z.B. Archidiakonate, verbunden waren. Als für Domkapitel typisch erscheinen die mit den Funktionen einer Bischofskirche verbundenen Ämter eines Poenitentiars und eines Domtheologen, der auch das vor allem seit Ende des Mittelalters wichtige Predigeramt innehielt. Die statutarische Tätigkeit der Domkapitel seit dem Hochmittelalter ist zusehends dadurch geprägt, daß die Domherren, die gesellschaftlichen Pflichten ihres Adelsstandes mit den damit verbundenen politischen Implikationen wahrnehmend, ihren kirchlichen und gottesdienstlichen Aufgaben mehr und mehr entfremdet wurden. Fremde, etwa staatliche oder familienpolitische, Interessen griffen auf das innere Leben der Domkapitel über und gefährdeten grundsätzlich die ursprüngliche Zielsetzung. Durch immer genauere Regelung der Residenz, durch Belohnung der Anwesenheit im Chor oder Kapitel (praesentia), durch die Einrichtung zahlreicher stellvertretend die gottesdienstlichen Verpflichtungen erfüllender Kapläne suchte man die Mängel zu beheben, konnte aber nicht vermeiden, daß das Domkapitel seit dem Spätmittelalter zusehends den Charakter einer standesgemäßen Versorgungsstelle und Karrieremöglichkeit annahm. 3. Spätere
Entwicklung
Die Blüte der domstiftischen Entwicklung lag ohne Zweifel im hohen Mittelalter: Bis zum Ende des 13. Jh. hatte sich das Institut des Domkapitels in allen wesentlichen Zügen fertig ausgebildet. Was nachher folgt, trägt zunächst den Charakter von Ergänzungen, dann von Anpassungen an die neuen Zeitumstände. Dabei ist vor allem die konsultative Funktion des Kapitels bei den Diözesangeschäften zum Tragen gekommen, was unter anderem seit dem 16. Jh. in der bedeutendsten rechtlichen Neubildung, jener der Forensen (can. foranei, extraresidentiales), zum Ausdruck kommt, die nicht mehr zum regelmäßigen domstiftischen Chordienst, wohl aber zur beratenden Mitwirkung bei der Diözesenverwaltung verpflichtet waren. Im Zuge der zunehmenden hierarchischen Zentralisierung des neueren Kirchenrechts ist schließlich die statutarische Tätigkeit von der bischöflichen Bestätigung abhängig gemacht und die Selbstergänzung ersetzt worden durch bischöfliche Ernennung nach Konsultation des Kapitels, während die Wahl der Dignitäten, wie jene des Bischofs selbst, prinzipiell beim Hl. Stuhl liegt, in praxi aber durch zahlreiche Kompromisse mit den alten Gewohnheiten geregelt worden ist. Literatur Dieter Demandt, Stadtherrschaft u. Stadtfreiheit im Spannungsfeld v. Geistlichkeit u. Bürgerschaft in Mainz (11.-15. Jh.), Wiesbaden 1977 (Gesch. Landeskunde 15). — Ch. Dereine, Art. Chanoines:
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D H G E 1 2 (1950) 3 5 3 - 4 0 5 (Lit.).- Lawrence G. Duggan, Bishop and Chapter.The Govemance of the Bishopric of Speyer to 1 5 5 2 , New Brunswick, N.J. 1978. - Hans Erich Feine, Kirchl. Rechtsgesch. Die kath. Kirche, Köln/Graz 5 1 9 7 2 , 1 9 6 - 2 0 0 . 3 7 9 - 3 9 1 . 5 3 3 f (Lit.).-Guy P. Marchai, Einl.: Die Dom- u. Kollegiatstifte der Schweiz, 1976 (Helvetia Sacra 2/2) 2 7 - 1 0 2 (Lit.). - Friedrich Merzbacher, Art. Domkapitel: H D R G 1 (1964) 7 5 7 - 7 6 1 . - Rudolf Schieffer, Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland, 1976 ( B H F 4 3 ) (Lit.).-Joseph Semmler, Mönche u. Kanoniker im Frankenreiche Pippins III. und Karls d.Gr., 1980 (StGS 14) 7 8 - 1 1 1 . - P. Torquebiau, Art. Chapitre de chanoines: D D C 3 (1938) 5 3 0 - 5 9 5 (Lit.).
Guy P. Marchai Donatio Constantini —»Constitutum Constantini Donatismus —»Afrika Dordrechter Synode (1618/19) 1. Vorgeschichte
2. Ablauf
(Quellen/Literatur S. 146)
1. Vorgeschichte Mit der Einberufung der Synode zu Dordrecht 1618/19 kam nach einer gut dreißigjährigen Pause erstmals wieder eine Nationalsynode der reformierten Kirchen in den —»Niederlanden zustande, obwohl die Kirchenordnung (Dordrecht 1578, Art. 30) einen dreijährigen Versammlungsturnus vorschrieb und in der Zwischenzeit wiederholt Anläufe zu einer Einberufung unternommen worden waren. Zugleich war die Versammlung von 1618/19 die letzte Generalsynode bis zu der Allgemeinen Synode von 1816. Inhaltlich bedeutet die Dordrechter Synode die Beendigung theologischer Streitigkeiten, deren Ursprung bereits in dem Konflikt mit Caspar Coolhaes (Pfarrer an verschiedenen Orten, u.a. in Essen 1567-1571 und in Leiden 1574—1581) zu sehen ist. In der Vorrede zu der Druckpublikation der Synodalakten wird er zusammen mit Hermannus Herbertsz und Cornelis Wiggertsz als einer derjenigen erwähnt, die die allgemeine Übereinstimmung in der reformierten Lehre angetastet haben, worauf dann —> Arminius mit der Destruktion der Einheit weiter gegangen sei. Der Konflikt mit Arminius begann, als sich der Leidener Professor Franciscus Gomarus 1603 der Berufung des Jacobus Arminius zu seinem Fakultätskollegen (—»Leiden, Universität) widersetzte. Ein Gespräch zwischen ihnen beiden führte zu einer Versöhnung; aber als Arminius am 7. Februar 1604 nach dem von ihm selbst und Gomarus aufgestellten Lehrplan das Lehrstück von der—»Prädestination behandelte (nicht polemisch, sondern positiv, ausschließlich unter Berufung auf die Bibel, namentlich Eph 2 und Rom 9) und einige Monate später eine Disputation über die erste Sünde hielt, die er für nicht-notwendig erklärte, trat Gomarus in Opposition und ergriff am 14. Oktober, außerhalb des Lehrplans, seinerseits zur Prädestination das Wort. In den folgenden Disputationen ging es um drei Themen, die für den ganzen weiteren Streit bestimmend bleiben sollten: 1. die Lehre von der Prädestination, 2. die Funktion der—»Bekenntnisschriften, 3. die Autorität der—»Obrigkeit in kirchlichen Angelegenheiten.
1607 fand in Den Haag eine Versammlung zur Vorbereitung einer Nationalsynode (conventuspraeparatorius) statt. Eingeladen waren—angeschrieben von den Provinzialstaaten - aus allen Provinzialsynoden (außer der von Drenthe) sowie den beiden Partikularsynoden von Nord- und Südholland je zwei Pfarrer, die von ihren Synoden Instruktionen erhalten hatten, und außerdem aus der Provinz Holland die Professoren Arminius und Gomarus. Dieser Konvent erließ Bestimmungen über die Einberufung einer Nationalsynode (über die Abgeordneten, darunter eventuell Vertreter der reformierten Kirchen in Deutschland und Frankreich; über die Einreichung von Gravamina; über Zeit, Ort usw.). Zur Sache wurde festgelegt, daß Bekenntnis und Katechismus jederzeit an Gottes Wort überprüfbar zu bleiben hätten, ihre Revision jedoch nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden solle, wie eine Minderheit (Arminius, Johann Uytenbogaert u. a.) wünschte, die ebenfalls für die Möglichkeit einer Rücksprache mit den Classes eintrat.
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" T r o t z dieser vorbereitenden Versammlung bestand keine Aussicht auf einen baldigen Zusammentritt der Nationalsynode. Die Staaten verhinderten das unter dem Druck der von Oldenbarnevelt geführten Staaten von Holland. Doch der Streit ging weiter. Arminius gab a m 3 0 . Oktober 1 6 0 8 vor den Staaten von Holland eine Erklärung ab, daß die Prädestinationslehre unvereinbar sei mit Gottes N a t u r , und G o m a r u s setzte in einer sehr persönlichen und scharfen Rede vor demselben F o r u m am 1 2 . Dezember die Lehre des Arminius mit derjenigen des —»Pelagius und der -»Jesuiten gleich. Damit bekam der Streit an der Leidener Fakultät öffentlichen Charakter. Die Staaten von Holland luden Arminius und Gomarus vor zu einer im August 1 6 0 9 abzuhaltenden Konferenz, die ohne Ergebnis blieb; Arminius wurde krank und starb am 19. Oktober 1 6 0 9 , w o r a u f die ihm von Petrus Bertius gehaltene Leichenrede einen heftigen Pamphletenkampf entfesselte. Am 14. J a n u a r 1 6 1 0 versammelten sich 4 3 Arminianer, wie sie jetzt genannt wurden, und beschlossen eine Remonstration in fünf folgenden - hier verkürzt wiedergegebenen — Artikeln: J. Gott hat beschlossen, aus dem gefallenen menschlichen Geschlecht diejenigen um Christi willen zum Heil zu führen, die durch die Gnade seines Heiligen Geistes an seinen Sohn Jesus Christus glauben und darin durch dieselbe Gnade verharren, die Unbelehrbaren und Ungläubigen aber in der Sünde und unter dem Zorn zu lassen und als Christus-Fremde zu verdammen (vgl. Joh. 3,36). —2. Jesus Christus hat für alle durch sein Opfer die Versöhnung und die Vergebung der Sünden erworben, aber nur den Gläubigen kommt diese Vergebung tatsächlich zugute (s. Joh. 3,16; I Joh 2,2). - 3 . Der Mensch hat den seligmachenden Glauben nicht aus sich selbst, sondern er muß von Gott in Christus durch seinen Heiligen Geist wiedergeboren werden (s. Joh 15,5). —4. Nur durch die Gnade kann der Mensch etwas Gutes tun, wohl aber kann er der Gnade Widerstand leisten (s. Act 7,51 über den Widerstand gegen den Heiligen Geist).-5. Jesus Christus steht den Gläubigen in allen Versuchungen bei, so daß der Satan sie nicht aus seinen Händen reißen kann (Joh 10,28); doch muß aus der Schrift noch näher erforscht werden, ob sie durch Fahrlässigkeit diese Welt wieder annehmen und die Gnade vernachlässigen können. Im übrigen drängt die Remonstration auf die Einberufung einer Nationalsynode zur „Resumption" (Wiederherstellung) oder Revision von Glaubensbekenntnis und Katechismus unter der Autorität der Landesobrigkeit. Im folgenden J a h r beriefen die Staaten von Holland eine Konferenz von sechs der Unterzeichner (Remonstranten) und sechs ihrer Gegner ein: d i e „ H a a g s c h e Konferenz" ( 1 1 . M ä r z bis 2 0 . Mai 1 6 1 1 ) . Die Gegner legten eine Kontraremonstration vor mit den folgenden (hier kurz resümierten) Thesen: I. Gott entreißt eine Anzahl Menschen dem Verderben, die er in seinem ewigen und unveränderlichen Ratschluß dazu auserwählt hat, sie durch Christus zum Heil zu fuhren, während er an den übrigen kraft seines gerechten Gerichts vorübergeht und sie in ihren Sünden liegen läßt. - 2 . Für Gottes auserwählte Kinder sind nicht nur die Erwachsenen zu halten, die an Christus glauben, sondern auch die Kinder des Bundes, solange sie nicht aktiv das Gegenteil beweisen.-3. Gott hat bei der Erwählung nicht auf den Glauben oder die Bekehrung seiner Auserwählten gesehen, sondern er hat beschlossen, denen, die er nach seinem Wohlgefallen zur Seligkeit erwählt hat, den Glauben und das Verharren in der Gottseligkeit zu verleihen und sie so zum Heil zu führen. -4. Um seine Auserwählten zum Heil zu führen, hat Gott seinen Sohn Jesus Christus gegeben, dessen Opfer genugsam ist zur Sühne der Sünden aller Menschen, nach Gottes Ratschluß jedoch nur in den auserwählten und wahren Gläubigen Kraft hat. — S. Der Heilige Geist wirkt äußerlich durch die Predigt des Evangeliums und innerlich durch besondere Gnade so kraftvoll in den Herzen der Auserwählten, daß sie sich tätig und willig bekehren und zum Glauben kommen. — 6. Dank derselben Kraft des Heiligen Geistes können die Auserwählten den wahren Glauben niemals ganz und gar verlieren. - 7. Es ist unmöglich, daß diejenigen, die durch einen wahrhaftigen Glauben Christus eingepflanzt sind, keine Früchte der Dankbarkeit hervorbringen sollten. Das Ergebnis der Konferenz war eine Vertiefung des Risses zwischen den Parteien. Z u r selben Zeit wurde auf Drängen von Johannes Uytenbogaert, der 1 6 1 0 in einem Pamphlet die These vertreten hatte, die Obrigkeit stehe über allen kirchlichen Versammlungen und sei berechtigt, über Kirchenordnung und Gottesdienst zu bestimmen, der deutsche Theologe Conradus Vorstius, bisher Professor in Steinfurt, zum Nachfolger des Arminius ernannt. E r trat sein A m t im Mai 1 6 1 1 an, aber G o m a r u s weigerte sich, neben ihm zu dozieren, legte sein A m t nieder und wurde Pfarrer in Middelburg ( 1 6 1 8 Professor in Groningen). König J a k o b I. von —»England mischte sich in die Angelegenheit ein, beschwerte sich über
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Vorstius' Buch De Deo und wußte zu bewerkstelligen, daß Oldenbarnevelt Vorstius dazu bewog, sich nach Gouda zurückzuziehen, wo er bis zu seiner Verbannung im Jahre 1619 blieb. Die beiden Vakanzen wurden nun mit Johannes Polyander à Kerckhoven und Simon Episcopius, Repräsentanten der beiden Parteien, besetzt. Tatsächlich setzte sich die Parteibildung in der Kirche fort, und obwohl die Staaten von Holland 1614 eine von Hugo —»Grotius entworfene Friedensresolution für die Kirchen erließen, hielten die Kontraremonstranten (schon ab 1612) in Ermangelung von Partikularsynoden „Korrespondenzversammlungen" und auch allgemeine Parteizusammenkünfte zur Unterstützung der in die Separation Gegangenen ab. In der Amsterdamer Korrespondenzversammlung vom 25. Januar 1617 wurde eine Separationsakte unterzeichnet. Prinz Moritz ergriff am 23. Juli öffentlich Partei durch Teilnahme an einem Gottesdienst in der Klosterkirche in Den Haag, die zwei Wochen vorher von den Kontraremonstranten in Gebrauch genommen worden war. Die kirchlichen Konflikte verquickten sich nun handgreiflich mit den politischen (zwischen den Anhängern Prinz Moritz' und denen Oldenbarnevelts), und das gab den theologischen Diskussionen eine besondere Heftigkeit. Oldenbarnevelt ließ am 4. August durch die Staaten von Holland eine scharfe Resolution annehmen: die städtischen Behörden sollten eigene kleine Heere in Dienst stellen dürfen; der Einberufung einer Provinzial- oder Nationalsynode wurde die Zustimmung versagt; die Obergewalt der Staaten in kirchlichen Angelegenheiten sollte gewahrt bleiben. Daraufhin ergriff Moritz politische Maßnahmen, um seinen Einfluß zu erweitern, und die Folge war, daß die Generalstaaten am 6. Oktober 1617 eine vorbereitende Kommission zur Einberufung der Nationalsynode ernannten. Im folgenden M o n a t w u r d e der 17 Artikel umfassende Entwurf des Einberufungsschreibens angen o m m e n : Einberufende Instanz sind die Generalstaaten, die dem Einladungsschreiben die fünf Artikel der R e m o n s t r a n t e n beifügen u n d die E m p f ä n g e r a u f f o r d e r n , etwaige sonstige G r a v a m i n a einzureichen; jede Partikular- o d e r Provinzialsynode soll sechs Abgeordnete bestimmen, d a r u n t e r drei oder vier Pfarrer; der König von England, die reformierten Kirchen von —»Frankreich, der K u r f ü r s t von der Pfalz, der Landgraf von Hessen u n d die reformierten Städte der—»Schweiz sollen eingeladen werden, zum Beistand der Synode je drei o d e r vier Theologen zu entsenden; ebenso ergeht eine Einladung an die Professoren der Theologie an den Akademien u n d illustren Schulen in den Niederlanden; ü b e r Einladungen an die Kirchen von —»Ostfriesland u n d —»Bremen wird m a n noch beraten; alle Pfarrer sollen das Recht haben, auf der Synode zu erscheinen und Beschwerden vorzubringen; in den Sessionen soll zuerst von den fünf Artikeln, danach von den anderen G r a v a m i n a gehandelt werden; für die Lehre soll allein G o t t e s W o r t als Richtschnur dienen; die Deputierten sollen sich eidlich verpflichten, n u r Gottes Ehre u n d die R u h e der Kirchen zu erstreben; Beschlüsse sollen mit Stimmenmehrheit gefaßt, abweichend Urteilende nicht zensuriert w e r d e n ; als Termin wird der 1. Mai 1618, als O r t Dordrecht, Utrecht oder Den H a a g vorgesehen (am 2 0 . N o v e m b e r 1 6 1 7 fiel die Entscheidung für Dordrecht); die einzelnen Synoden sollen von den Generalstaaten aufgefordert werden, bis spätestens 1. Februar zur Vorbereitung der Generalsynode z u s a m m e n z u t r e t e n ; es w i r d empfohlen, d a ß jede Provinz zwei reformierte Personen b e n e n n t , die d a n n von den Generalstaaten b e a u f t r a g t werden sollen, der Synode beizuwohnen u n d die Geschäftsleit u n g zu ü b e r n e h m e n (politische Kommissare); nach Beendigung der Synode sollen deren Akten den Generalstaaten übergeben w e r d e n , die auf angemessene Weise d a r ü b e r disponieren werden.
Auch die Gegner einer Nationalsynode blieben nicht untätig. Sie versuchten es dahin zu bringen, daß zuerst eine Provinzialsynode von Holland abgehalten würde, und hofften dadurch eine Art ökumenisches Konzil zustandezubringen. Diese Versuche wurden durchkreuzt von dem Magistrat von Amsterdam, der im März 1618 eine Versammlung unter Beteiligung zweier Professoren und einiger kontraremonstrantischer Pfarrer einberief, wo wiederum auf die Abhaltung der Nationalsynode gedrängt wurde. Tatsächlich traten einige Monate später die Provinzial-, Partikular- und wallonische Synoden zur Vorbereitung der Nationalsynode und zur Wahl der Abgeordneten zusammen, als erste die von Gelderland am 15. Juni. Die anderen Synoden folgten im September und Oktober, wobei in Utrecht die Kontraremonstranten und die Remonstranten je für sich tagten und jede der beiden Teilversammlungen eine Hälfte der Abgeordneten bestimmte. Unterdessen wurden in Südholland einige remonstrantische Pfarrer suspendiert oder abgesetzt.
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2. Ablauf Endlich trat am 12. November 1618 ein Vorbereitungskomitee zusammen, bestehend aus den politischen Kommissaren, die den ordo externus betreuten (sechs aus Holland, je zwei aus den übrigen Provinzen) und den inländischen Abgeordneten. Man stellte das Arbeitsprogramm auf, bestimmte die Reihenfolge der Sitzplätze, ernannte Ordnungskommissare, beschloß, den Professoren und den ausländischen Abgeordneten volles Stimmrecht zu geben, und traf wahrscheinlich Absprachen über die Wahl des Moderamens. Am 14. November wurden zuerst zwei Gottesdienste, einer in niederländischer und einer in französischer Sprache, gehalten, und darauf wurde die Synode in dem Gebäude De Doelen nach einer einleitenden Ansprache des Dordrechter Pfarrers Balthazar Lydius von dem politischen Kommissar Martinus Gregorii offiziell eröffnet. Am selben Tag wurde das Moderamen gewählt: Johannes Bogerman (Leeuwarden) als Präses, Jacobus Rolandus (Amsterdam) und Hermannus Faukelius (Middelburg) als Assessoren, Sebastianus Damman (Zutphen) und Festus Hommius (Leiden) als Scribae. Die Synode wurde in 18 Kollegien aufgeteilt: Die Professoren bildeten ein Kollegium, die Abgeordneten der Synoden zehn und die ausländischen Abgeordneten sieben Kollegien. Die Kollegien sollten getrennt tagen und je unter sich den Diskussionsgegenstand des folgenden Tages behandeln; jedes Kollegium sollte jeweils ein iudicium oder eine sententia vorlegen, falls nicht ein Einzelmitglied persönlich zu votieren wünschte; aus den schriftlich eingereichten itidicia sollte das Moderamen ein abschließendes iudicium redigieren, das gegebenenfalls zur Abstimmung zu stellen wäre. Hinsichtlich der äußeren Ordnung wurde bestimmt, für diese seien die politischen Kommissare zuständig, ein besonderes Kollegium mit eigenem, wöchentlich wechselndem Präses und dauerndem Sekretär und Quästor, das des weiteren u. a. die Aufgabe hatte, den ausländischen Abgeordneten — mit Ausnahme derer von Genf überreichten diese ihre Beglaubigungsschreiben den Staaten — möglichst weitgehend willfährig zu sein. Alle Sitzungen sollten öffentlich sein (doch wurde das englische iudicium in der Sitzung vom 6. März 1619 nicht-öffentlich behandelt, weil die Engländer in ihrem Urteil über die Lehre der Remonstranten sehr gemäßigt waren und die Kontraremonstranten wegen ihrer harten Ausdrucksweise, namentlich beim Lehrstück von der Verwerfung, zurechtweisen wollten). Das Kollegium der Professoren bestand aus Johannes Polyander ä Kerckhoven (Leiden), Franciscus Gomarus (—»Groningen), Anthonius Thysius (Harderwijk) und Antonius Walaeus (Middelburg). Unter den inländischen Abgeordneten waren außer den bereits genannten Mitgliedern des Moderamens noch einige bekannte Pfarrer wie Gijsbertus —»Voetius (Heusden), Jacobus Triglandius (Amsterdam) und Godefridus Udemans (Zierikzee). — Die ausländischen Abgeordneten waren: 1. aus Großbritannien George Carleton (er genoß als Bischof - von Llandaff - besondere Ehre), Dr. Joseph Hall (Dekan von Worchester, am 17. Januar 1619 abgelöst von Dr. Thomas Good, Kaplan des Erzbischofs von —»Canterbury), Dr. John Davenant (Professor in —»Cambridge), Dr. Samuel Ward (Regens in Cambridge) und Dr. Walter Balcanquel (gebürtiger Schotte, Berichterstatter des englischen Gesandten); 2. aus der —»Pfalz Dr. Abraham Scultetus, Dr. Paulus Tossanus und Dr. Henricus Alting (sämtlich Professoren in Heidelberg, Tossanus außerdem Kirchenrat daselbst); 3. aus —»Hessen Dr. Georgius Cruciger (Professor in —»Marburg), Paulus Steinius (Hofprediger und Professor in Kassel), Daniel Angelocrator (Superintendent in Marburg) und Dr. Rodolphus Goclenus (Professor der Philosophie in Marburg); 4. aus der —•Schweiz Johannes Jacobus Breytingerus (Pfarrer in Zürich), Dr. Marcus Rutimeyerus (Pfarrer in Bern), Dr. Sebastianus Beckius (Professor in Basel), Dr. Wolfgangus Meyerus (Pfarrer in Basel) und Johannes Conradus Kochius (Pfarrer in Schaffhausen); 5. aus -*Genf Dr. Johannes Deodatus und Theodoras Tronchinus (beide Pfarrer und Professoren); 6. aus —»Bremen Matthias Martinius (Rektor und Professor), Dr. Henricus Isselburgius (Pfarrer und Professor) und Dr. Ludovicus Crocius (Pfarrer und Professor); 7. aus Emden Daniel Bernhardus Eilshemius und Ritzius Lucas Grimershemius (beide Pfarrer); 8. aus Nassau-Wetterau (erst am 17. Dezember eingetroffen) Dr. Johannes Bisterveldius (Hofprediger in Siegen; nach seinem Tode, 11. März 1619, ersetzt durch Georgius Fabricius, Pfarrer in Windekken) und Johannes Alstedius (Professor in Herborn). Die Teilnahme einer französischen Delegation scheiterte an einem Verbot des Königs (—»Frankreich; ihre Plätze, die zweiten in der Rangordnung, blieben unbesetzt). Ebenso blieben die eingeladenen Theologen aus —»Brandenburg aus.
Man beschloß, die fünf Artikel der Remonstranten zu behandeln; aber dazu mußten diese erst vorgeladen werden. Deshalb wurde nun zuerst den Abgeordneten der Synoden Ge-
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legenheit gegeben, ihre Gravamina zu überreichen, sofern diese sich nicht auf die Lehre und die Kirchenordnung bezögen, was bereits am folgenden Tag (17. November) geschah. An der Behandlung dieser Fragen durften die Ausländer nur beratend teilnehmen. Als erstes Gravamen wurde am 19. November die Frage einer neuen —»Bibelübersetzung zur Debatte gestellt. War eine solche nötig? Beschlossen wurde, eine neue Übersetzung aus dem Urtext in Auftrag zu geben. Dafür wurden einige Regeln aufgestellt, z. B. die, daß Hebraismen und Gräzismen in der Übersetzung erhalten bleiben sollten. Die ausländischen Theologen plädierten dafür, die —»Apokryphen in die Übersetzung einzubeziehen, sie jedoch, etwa durch andere Drucktypen, klar von den kanonischen abzuheben. Das wurde endlich zum Beschluß erhoben — mit der näheren Bestimmung, diesem Bibelteil sei ein besonderes Titelblatt mit der ausdrücklichen Erklärung voranzustellen, daß es sich um menschliche und also apokryphe Schriften handle. Hinsichtlich der Übersetzung selbst legte man fest, diese sei sechs Personen zu übertragen, die dafür ganz freizustellen seien. An die Generalstaaten solle die Bitte gerichtet werden, für diese Arbeit einen Ort zu bestimmen (eine Universitätsstadt), die Durchführung durch ihre Autorität zu fördern zur Ehre Gottes und zur Erbauung der niederländischen Kirchen, die Hilfsmittel bereitzustellen und die Kosten zu übernehmen. Aus jeder Provinz sollten zwei Revisoren ernannt werden, je einer für die Übersetzung des Alten und des Neuen Testaments. (Die erste Zusammenkunft der Übersetzer fand erst am 13. November 1626 statt, die feierliche Übergabe des ersten gedruckten Exemplars am 17. September 1637). Das zweite Gravamen betraf die Notwendigkeit der allzu sehr vernachlässigten ->Katechismuspredigt. Durch Beschluß der Synode wurden die Pfarrer verpflichtet, regelmäßig am Sonntagnachmittag eine Katechismuspredigt zu halten, wodurch die Behandlung des —•Heidelberger Katechismus im Jahresturnus sichergestellt werden sollte. Diese Predigten seien kurz und faßlich zu gestalten. Ferner sollte die Obrigkeit, besonders die Provinzialstaaten, gebeten werden, Arbeit, Spiele und andere Sonntagsentheiligungen zu verbieten. Anschließend wurden die ausländischen Delegierten aufgefordert, über die Praxis der Katechismuspredigt in ihren Ländern zu berichten. Gegenstand des dritten Gravamens war die Art des kirchlichen Unterrichts. Bei der Beschlußfassung übten die Ratschläge der ausländischen Theologen einen nicht unerheblichen Einfluß aus. Es solle dreierlei Art von Unterricht geben: in den Häusern durch die Eltern, in den Schulen durch die Lehrer und in den Kirchen durch die Pfarrer, Ältesten und Vorleser oder Krankenbesucher. Die Obrigkeit solle für ein angemessenes Gehalt der Schulmeister— die Mitglieder der reformierten Kirche zu sein und die Confessio Belgica sowie den Heidelberger Katechismus zu unterschreiben hätten — aufkommen. Für die älteren Katechumenen wurde der Heidelberger — bei den Wallonen der Genfer - Katechismus vorgeschrieben. Anlaß des vierten Gravamens, über die —»Taufe von Heiden-Kindern (ob sie zu taufen seien, wenn sie in eine christliche Familie aufgenommen sind und ein Christ die Verpflichtung übernimmt, sie in der christlichen Religion zu erziehen?), war ein Brief von Adriaen Jacobsz Hulsebos, Pfarrer in Djakarta, an den Kirchenrat von Amsterdam. Dieses Gravamen wurde am Freitag dem 30. November vorgelegt, und am 5. Dezember wurde dazu folgender Beschluß gefaßt: Die Heiden-Kinder, die ihrem Lebensalter nach in der Lage wären, Unterricht zu empfangen, sollten, bevor sie zur Taufe zugelassen würden, in der christlichen Religion unterrichtet werden; sie sollten dann ein Glaubensbekenntnis ablegen, die Taufe begehren und geeignete Taufzeugen beibringen, die den Unterricht noch weiter fortsetzen könnten; die Taufe dürfe gegebenenfalls gegen den Willen ihrer Eltern vollzogen werden. Die jüngeren Kinder dürften nicht getauft werden, bevor sie alt genug wären, um in den Grundelementen der christlichen Religion unterwiesen zu werden; geeignete Taufzeugen sollten dann versprechen, sie noch weiter im christlichen Glauben zu unterrichten. Beim fünften Gravamen, über die Art der Vorbereitung der Studenten und Kandidaten der Theologie auf den Dienst am Wort, kam es nur zu partieller Beschlußfassung: Den Predigtamtskandidaten wurde das Predigen unter bestimmten Bedingungen gestattet, nicht aber die Sakramentsverwaltung.
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Als die Voten der Abgeordneten zum sechsten Gravamen — über den Mißbrauch der Buchdruckerkunst - vorgelesen waren, wurde an diesem Thema nicht weitergearbeitet, weil inzwischen die Remonstranten angekommen waren. Es wurde lediglich dem Moderamen der Auftrag erteilt, für eine spätere Behandlung der Frage den Entwurf einer Verordnung vorzubereiten. Doch bevor es dazu kam, erließen die Generalstaaten am 2 2 . Dezember 1618 ein Dekret über die Mißbräuche der Druckereien, nach dem die Kirche zu ihrem Mißfallen nicht an der Zensur beteiligt sein sollte. Die Remonstranten, die am 6. Dezember eintrafen (Episcopius mit zwölf anderen), wollten als Gleichberechtigte verhandeln und die Synode nicht als Gerichtshof anerkennen. Ihnen wurde geantwortet, sie kämen als Vorgeladene, sollten ihre Ansichten vortragen, erläutern und, wenn sie dazu imstande wären, verteidigen, um sie alsdann dem Urteil der Synode zu unterwerfen. Sie sollten auch ihre Erwägungen zur Confessio Belgica und zum Heidelberger Katechismus vorlegen. Die Utrechter Remonstranten hätten sich nunmehr den Vorgeladenen anzuschließen. Episcopius hielt eine Rede, über die es zu Mißverständnissen kam wegen Differenzen zwischen dem gesprochenen und dem schriftlich von ihm eingereichten Text. Darauflegten die Synodalen, wie von den Generalstaaten vorgeschrieben, einen Eid ab, des Inhalts, daß sie in der Angelegenheit der Remonstranten allein Gottes Wort als Regel des Glaubens gelten lassen und in allem nichts als die Ehre Gottes, die Ruhe der Kirche und die Bewahrung der reinen Lehre erstreben würden. Die Remonstranten legten ihre Thesen zu den fünf Artikeln und ihre Erwägungen zu Confessio Belgica und Katechismus vor und verursachten den Ausbruch eines langwierigen Streites über die Verhandlungsprozedur, der schließlich in ihrem Ausschluß von der Sitzung durch Präses Bogerman kulminierte. In der Sache ging es dabei hauptsächlich um ihr Begehren, die Lehre von der Verwerfung vor der von der Erwählung zur Debatte zu stellen; sie wünschten das, weil sie wußten, daß in der Lehre von der Verwerfung die Gegner uneinig waren und Aussicht bestand, für einen Angriff auf diese Lehre Unterstützung bei den ausländischen Delegierten zu finden. Nach dem Auszug der Remonstranten begann man mit der Behandlung der fünf Artikel. Erst mußten alle Kollegien ihre iudicia darüber formulieren, und danach machte sich der Präses an einen Entwurf für die Canones. In der 126. Sitzung am 2 2 . März 1 6 1 9 las er das Konzept für den ersten Canon vor, aber der Umstand, daß er diese Arbeit allein getan hatte, löste heftigen Protest aus, und man bildete nun eine Redaktionskommission für die Canones, zu deren Mitgliedern außer dem Präses und den beiden Assessoren Bischof Carleton, Scultetus, Deodatus, Polyander, Walaeus und Trigland ernannt wurden. Bei der Aufstellung der Canones folgte die Synode der Einteilung der Remonstration, jedoch mit der Modifikation, daß Art. 3 und 4 vereinigt wurden. Zu jedem Punkt machte sie eine Anzahl positiver Aussagen, denen jeweils die Verwerfung namentlich genannter Irrtümer folgt. Kurz zusammengefaßt lauten sie folgendermaßen: 1. Nach seinem ewigen Dekret bewegt Gott die Herzen der Auserwählten zum Glauben, die nicht Erwählten aber überläßt er nach seinem gerechten Urteil ihrer Bosheit (Art. 6). Die Erwählung ist nicht auf Grund des vorausgesehenen Glaubens, sondern als Erwählung zum Glauben erfolgt (Art. 9). 2. Alle, die wahrhaft glauben und durch den Tod Christi von der Sünde und dem Verderben erlöst und bewahrt werden, genießen diese Wohltat, die ihnen von Ewigkeit her in Christus gegeben ist, allein durch Gottes Gnade, die er niemandem schuldig ist (Art. 7). - 3/4. Die Schuld daran, daß viele, die durch die Verkündigung des Evangeliums berufen sind, nicht kommen und sich nicht bekehren, liegt bei ihnen selbst (Art. 9). Daß andere kommen und sich bekehren, ist nicht das Verdienst der betreffenden Menschen, sondern ist allein Gott zuzuschreiben (Art. 1 0 ) . - 5 . Gott nimmt den Heiligen Geist von den Seinen, auch wenn sie betrüblich zu Fall kommen, nicht ganz weg und läßt sie nicht soweit fallen, daß sie die Gnade der Annahme und den Stand der Rechtfertigung verlieren (Art. 6). Durch den Heiligen Geist erweckt er in ihnen die Gewißheit der Perseveranz (Art. 11). Obwohl in den Canones der Supralapsarismus (Erwählung und Verwerfung gehen der Schöpfung und dem Fall voraus, sind also Taten von Gottes Souveränität) nicht ausdrücklich abgelehnt wird, sind sie doch im Geist des Infralapsarismus (—»Erwählung und Verwerfung folgen auf Schöpfung und Fall, sind also Taten von Gottes Barmherzigkeit und Gerech-
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tigkeit) abgefaßt (—»Sünde). Deutlicher nahm die Synode gegen den Supralapsarismus Stellung in der Beurteilung von Auffassungen des Polen Johannes Maccovius (Makowski), Professor in —»Franeker, der mit seinem Kollegen Sibrandus Lubbertus in Streit geraten war und nun ermahnt wurde, sich einer weniger philosophischen und stärker biblischen Ausdrucksweise zu befleißigen. In der zweiten Hälfte des April wurden die Canones approbiert und jeder Canon von jedem Synodalen eigenhändig unterzeichnet. Nachdem die Confessio Belgica und der Heidelberger Katechismus unterschrieben und der Urteilsspruch über die Remonstranten gutgeheißen worden waren, wurden am 6. Mai die Canones feierlich verkündet, und drei Tage später wurde die Synode geschlossen. Die Ausländer reisten ab, nachdem ihnen viel Lob gespendet worden war. Auch daraus ist ersichtlich, daß die Synode auch ein wichtiges Mittel war, um die internationale Stellung der Republik der Vereinigten Niederlande, vor allem durch die Unterstützung von Seiten des englischen Königs, zu stärken (das zeigt sich auch an Differenzen zwischen der auf die Ausländer zugeschnittenen Redaktion der Druckfassung der Synodalakten und der Redaktion der handschriftlichen Fassung), so wie sie auch im Inland der Autorität von Prinz Moritz - dessen Gegner Oldenbarnevelt am 13. M a i enthauptet wurde — zugute kam. Am selben 13. Mai wurde die Synode ohne die Ausländer wiedereröffnet, und in ziemlich rascher Folge wurde eine Anzahl Traktanden abgehandelt (Post-Acta): Revision der Kirchenordnung (dies war in der vorigen Nationalsynode, 1 5 8 6 in Den Haag, festgelegt worden; eine Billigung der Revision durch die Generalstaaten wurde jedoch nicht erreicht); Festlegung des authentischen niederländischen und französischen Textes der Confessio Belgica; Beschluß, das Patronatsrecht (—»Patronat) unangetastet zu lassen; Anerkennung der von Wanderpriestern, Wiedertäufern und exkommunizierten Pfarrern vollzogenen Taufe, sofern Form und Substanz nicht verletzt worden seien; Festlegung des Wortlauts von Unterzeichnungsformularen für Professoren, Rektoren, Pfarrer, Älteste, Diakone usw.; Ausfertigung eines Entwurfs für einen libellus supplex zuhanden der Generalstaaten. Am 2 9 . Mai 1 6 1 9 wurde die Synode definitiv beendet, und am 2. Juli wurden die Sitzungsberichte von den Generalstaaten gutgeheißen, worauf noch einige Maßnahmen gegen die remonstrantischen Pfarrer — mehr als 2 0 0 verloren ihr Amt — ergriffen wurden. Quellen Handschriftlich: Archief van de Nederlandse Hervormde Kerk (s. Hendrik Quirinus Janssen, Catalogus van het Oud synodaal archief, 's-Gravenhage 1878). - Für weitere handschriftliche Quellen vgl. H. H. Kuyper 2 - 1 1 . - Gedruckt: Acta Synodi Nationalis . . . Dordrechti habitae, Anno MDCXVIII et MDCXIX, Dordrecht 1620. - Acta et Scripta Synodalia Dordracena ministrorum Remonstrantium in foederato Belgio, o.O. 1620. Literatur Carl Bangs, Arminius. A Study in the Dutch Reformation, Nashville/New York 1971. - Ernst Bizer, Hist. Einl.: Heinrich Heppe/Ernst Bizer, Die Dogmatik der ev.-ref. Kirche, Neukirchen 2 1958, LVI-LXIII. - Arie Theodorus van Deursen, Bavianen en Slijkgeuzen. Kerk en kerkvolk ten tijde van Maurits en Oldenbarnevelt, Assen 1974. - Johannes Pieter van Dooren, De tekst van de Atta van de Synode te Dordrecht 1 6 1 8 - 1 6 1 9 : NAKG 51 (1970) 1 8 7 - 1 9 8 . - Klaas Dijk, De strijd over Infra-en Supralapsarisme in de Gereformeerde Kerken van Nederland, Kampen 1912. - Barend Glasius, Geschiedenis der Nationale Synode, in 1618 en 1619 gehouden te Dordrecht, 2Bde., Leiden 1 8 6 0 - 1 8 6 1 . Douwe Johannes deGroot, Deconventuspraeparatorius van Mei 1607: NAKG 27 (1935) 1 2 9 - 1 6 6 . Gerrit Jan Hoenderdaal, De kerkordelijke kant van de Dordtse Synode: NedThT 23 (1969) 3 4 9 - 3 6 3 . Gerrit Pieter van Itterzon, Koning Jacobus I en de Synode van Dordrecht: NAKG 24 (1931) 1 8 7 - 204. Ders., Engelse belangstelling voor de canones van Dordrecht: NAKG 48 (1968) 2 6 7 - 2 8 0 . - Ders., Samuel Ward en de Synode van Dordrecht: Wegen en gestalten in het Gereformeerd Protestantisme. FS Simon van der Linde, Amsterdam 1976,141 - 1 5 3 . - Hendrik Kaajan, De Pro-acta der Dordtsche Synode in 1618, Rotterdam 1914.-Ders., De Groote Synode van Dordrecht in 1 6 1 8 - 1 6 1 9 , Amsterdam 1918. - Herman Huber Kuyper, De Post-acta of Nahandelingen van de Nationale Synode van Dordrecht in 1618en 1619 gehouden, Amsterdam/Pretoria 1899 (Lit.).-Simon van der Linde, De Dordtse Synode 1619-1969: NedThT 23 (1969) 3 3 9 - 3 4 8 . - Jürgen Moltmann, Prädestination u. Perseveranz. Gesch. u. Bedeutung der ref. Lehre „de perseverantia sanctorum", 1961 (BGLRK 12) 1 2 7 - 1 3 7 . -
Dorfkirchenbewegung
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Jacob Jan van der Schuit, De Dordtsche Synode en het supra-lapsarisme, Dordrecht 1937. - Hans Emil Weber, Reformation, Orthodoxie u. Rationalismus. II. Der Geist der Orthodoxie, 2 1 9 6 6 (BFChTh 2/51) 9 8 - 1 2 8 .
Johannes Pieter van Dooren
Dorfkirchenbewegung Im Oktober 1907 erschien die erste Nummer der Zeitschrift Die Dorfkirche. Der thüringische Pfarrer Hans von Lüpke zeichnete als Herausgeber. Ein gut Teil Anregung und Initiative für diese neue Zeitschrift ging aus von dem niedersächsischen Landpädagogen und Heimatschriftsteller Heinrich Sohnrey ( 1 8 5 9 - 1 9 4 8 ) . Pfarrer und Lehrer aus ländlichen Gemeinden, Theologen und Pädagogen engagierten sich von Anfang an für eine Zeitschrift, die besondere Aufgaben der kirchlichen und pädagogischen Arbeit auf dem Lande zur Sprache bringen wollte. Sie hatten erkannt, daß mit dem Beginn des Strukturwandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft auch für das Dorf und für die Kirche im Dorf eine Zeit tiefgreifender Veränderungen begonnen hatte. „Ein Stein nach dem anderen bricht aus dem alten Gemäuer der Dorfkirche heraus", schreibt von Lüpke im einführenden Wort des ersten Heftes. Es sei „eine erschütternde innere Krisis, die jetzt unaufhaltsam in die Dörfer einzieht." Als für viele Pfarrer auf dem Lande die dörfliche Kirchengemeinde, gefestigt in Sitte und Tradition, beschützt von landesherrlicher und kirchlicher Obrigkeit, noch unantastbar zu sein schien, haben die Väter der Dorfkirche bereits damals die Zeichen der Zeit verstanden. Sie waren bewegt von der Sorge um die Zukunft des Dorfes als Gestalt und Lebensform menschlicher Gemeinschaft. Sie erkannten die besondere Verantwortung für den Dienst der Kirche in diesem beginnenden Prozeß eines tiefen Umbruchs im Dorf und in der ländlichen Gemeinde. Das Echo, das die ersten Nummern in nahezu allen Landeskirchen bei Pfarrern und Lehrern auf dem Lande fand, bestätigte, daß Herausgeber und Mitarbeiter mit ihrer Erkenntnis der dörflichen Situation einen Lebensnerv getroffen hatten. Aus den Anstößen, die die Zeitschrift gab, entstanden im Laufe weniger Jahre dorfkirchliche Arbeitskreise in den einzelnen Landeskirchen. Daraus erwuchs die „Dorfkirchenbewegung", der sich nun für Jahrzehnte viele Landpfarrer innerlich verbunden fühlten. Die „Dorfkirchentage" dieser Pfarrergeneration auf dem Lande — vor allem in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg — waren erfüllt von einem lebendigen geistigen und geistlichen Aufbruch, von vielfältigen Aktivitäten in der Gestaltung des kirchlichen Lebens auf dem Dorf. Symptomatisch für die ersten Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende waren in vielen Lebensbereichen Neuanfänge und Aktionen, die sich als „Bewegung" verstanden (—»Jugendbewegung, -»Frauenbewegung, Musikbewegung u. a.). Ihnen allen ist gemeinsam ein gewisser Irrationalismus, ein mehr intuitives und gefühlsmäßig geahntes Entdecken der Zeitenwende, des Umbruchs in Lebensform und -gestalt. Das Helfende und Heilende für die Zukunft sah man bei ihnen entweder in der Rückkehr zu dem Ursprünglichen, im Bewahren des Echten und Beständigen oder in der leidenschaftlichen Hinwendung zu einem radikal neuen Zukunftsbild. Für die Anfänge der Dorfkirchenbewegung ist das Zurück zu den Ursprüngen das kennzeichnende Element. „Wir wollen wieder sehen lernen, welch eine ursprüngliche Eigenart, von Grund aus unterschieden von aller städtischen Religiosität, auf dem Dorfe lebt" (v. Lüpke, a.a.O.). Dieses Ziel der Dorfkirchenbewegung war eindeutig bestimmt von dem sozial- und kulturgeschichtlichen Leitbild, das W. H. Riehl in seiner Naturgeschichte des Volkes bereits Jahrzehnte vorher entwickelt und entfaltet hatte. Das Erschrecken vor all dem Neuen und Revolutionären in den politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der Zeit hatte Riehl dazu geführt, gegenüber den „bewegenden Kräften", von denen die aufkommende neue Zeit durchdrungen war, den „beharrenden Kräften" einen besonderen Wert zuzumessen. In seiner Nachfolge wurde von den Vätern der Dorfkirche das Bestehende und Traditionsbestimmte, das es zu erhalten gilt, besonders in der dörflichen Lebenswelt, hoch bewertet. Dagegen verfallen städtische Kultur und erst recht Zivilisation als gesellschaftsgestal-
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tende Kräfte einer grundsätzlich negativen Beurteilung. Eine kulturpessimistische Grundhaltung ist also nicht zu verkennen. Dazu kommen in den Anfängen der Dorfkirchenbewegung theologische Grundgedanken des jungen —»Schleiermacher und aus dem Gedankengut von —»Herder, die bei den Vätern der Dorfkirchenbewegung Pate gestanden haben. Von da aus ist zu verstehen, daß in der Dorfkirchenbewegung die Werte von —»Heimat und Volkstum eine wichtige Rolle spielten, daß —»Tradition und —»Sitte in ihrer Bedeutung für den dörflichen Menschen und die Dorfgemeinschaft besonders betont wurden. Pflege, Erhaltung und Förderung kirchlicher Sitte in der Dorfgemeinde galten als eine der wichtigsten Aufgaben dorfkirchlicher Arbeit. Es ist nicht zu bestreiten, daß jahrhundertelang ein von Sitte und Brauchtum her geprägter Typus der —»Frömmigkeit gerade in den dörflichen Gemeinden eine dominierende Bedeutung gehabt hat. Es ist das Verdienst der Dorfkirchenbewegung, das weite Feld von so geformten Frömmigkeitsstrukturen in ihren vielseitigen Differenzierungen gründlich beobachtet und analysiert zu haben. Vor allem in den ersten Jahrgängen der Dorfkirche (1907-1914) finden wir eine Vielzahl von Studien dieser Art, die wichtige religionspsychologische und religionssoziologische Erkenntnisse vermitteln. Beachtenswert ist aber, daß von Anfang an Brauchtum und Sitte in ihrer Bedeutung nicht unkritisch gesehen werden. Im Unterschied zu der Neigung von Lüpkes und seiner Freunde zu Idealisierung und Romantik kommen in der Dorfkirche auch Stimmen zu Wort, die damals schon den Schwund kirchlicher Tradition im Dorf nüchtern und realistisch beurteilen: „Ich glaube, daß die Auflösung der ländlichen Eigenart unaufhaltsam fortschreitet, daß die Dorfsitte ihrem innersten Wesen nach es nicht verdient hat, erhalten zu werden" (A. Eckert: Dorfkirche 1908, 229). Die weitere Entwicklung hat gezeigt, daß die kritischen Stimmen recht behalten sollten, daß die Fixierung auf eine von Sitte und Brauchtum getragene Frömmigkeit im Dorf zu einer ideologischen Verengung führte und der Wirklichkeit kirchlichen Lebens auf dem Lande nicht mehr entsprach. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese erheblichen Unterschiede in der Beurteilung dorfkirchlicher Aufgaben im Laufe der Jahre die Dorfkirchenbewegung in eine kritische Phase führten. Überbewertung von Tradition und Sitte öffneten einer religiösen Verklärung von Volkstum und Nation Tor und Tür. Die Dorfkirchenbewegung wurde anfällig für einen übersteigerten —»Nationalismus. Damit stand sie allerdings in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, von 1919 bis 1933, nicht allein. Einem unkritischen Nationalismus hat ja das evangelische Kirchentum in Deutschland in den zwanziger Jahren weithin Raum gegeben eine Tendenz, die mitverursacht hat, was 1933 politisch und kirchenpolitisch geschehen ist. Auch führende Männer der Dorfkirche bejahten nahezu ohne Vorbehalte den —»Nationalsozialismus und stellten sich kirchenpolitisch auf die Seite der —»Deutschen Christen. Es ist das Verdienst von Gustav Mahr, der in den zwanziger Jahren die Predigtbücher der Dorfkirche herausgegeben hat, daß er zu Beginn des Jahres 1933 gegen diese Politisierung der Dorfkirchenbewegung entschieden Stellung genommen hat. In dem grundlegenden Aufsatz Die Theologie des Wortes und die Dorfkirchenbewegung, der im April 1933 in der Dorfkirche erschienen ist, fordert er die radikale Auseinandersetzung mit den politischen und kirchlichen Strömungen der Zeit vom Evangelium her — „eine grundsätzliche Umstellung und tiefgehende Besinnung auf die theologischen Grundlagen dorfkirchlicher Arbeit" (99). Er und seine Freunde in der Dorfkirchenbewegung versuchten damals für die dorfkirchliche Arbeit theologische Maßstäbe und Normen zu setzen, die sie von der —»dialektischen Theologie her, vor allem durch Karl —»Barth, gewonnen hatten. Zu ihnen gehörte in der Zeit auch Gottfried Holtz, der nach dem Tode von Hans von Lüpke im Januar 1934 zu einem der führenden Männer der Dorfkirchenbewegung wurde. Diese Männer bemühten sich um theologische und kirchliche Neuorientierung der Arbeit. Dennoch blieben die Jahre 1934—1936 für die Dorfkirchenbewegung äußerst kritisch. Sie waren auch belastet von den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen dieser Zeit (—»Kirchenkampf), da die ältere Generation der Dorfkirchenfreunde sich nur schwer von den bisherigen Leitbildern dorfkirchlicher Arbeit trennen konnte.
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Eine Überwindung dieser kritischen Phase und der inneren Gegensätze, die in der Dorfkirchenbewegung aufgebrochen waren, beginnt sich anzubahnen seit dem Dorfkirchentag in Bergen im Mai 1936. In der dort gefaßten Entschließung heißt es: „Unser Vorsatz steht fest, von einer entschlossenen kirchlichen Haltung ausgehend alle Fragen des dörflichen Pfarramtes und des kirchlichen Gemeindelebens zu klären. Wir sind überzeugt, daß kirchliche Arbeit vom Evangelium her gesehen und in den Lebensraum des Volkes und unserer Heimat hineingestellt sein muß" (Dorfkirche 1936, 161). Auch in der Gestaltung der Zeitschrift Die Dorfkirche ist eine entsprechende Wandlung festzustellen. Im Unterschied zu den früheren Jahrgängen stehen jetzt an erster Stelle Predigtmeditationen - vor allem von G. Holtz und G. Krolzig —, Unterrichtshilfen und seelsorgerliche Beiträge. Dazu kommen Aufsätze, die sich nüchtern und illusionslos mit den Veränderungen in der Struktur der Dorfgemeinde befassen: Schwund der traditionellen Bindungen, Wandlungen im Selbstverständnis des —»Bauerntums, Landflucht, Kirchenaustrittsbewegungen u. a. Gewiß hat die Dorfkirchenbewegung in diesen Jahren unmittelbar vor dem zweiten Weltkrieg mit diesen Ansätzen einer theologischen und kirchlichen Neuorientierung ihrer Arbeit einen wichtigen Schritt getan, der sich von manchem ihrer Vergangenheit löste und der Zukunft Raum geben wollte. Doch die so verschiedenen kirchenpolitischen Gegebenheiten in den einzelnen Landeskirchen und die bitteren Erfahrungen des Kirchenkampfes erschwerten die Zusammenführung der Kräfte. Es kam nicht mehr zu einer einheitlichen Willensbildung, um die sich besonders G. Krolzig und Chr. Schomerus bemühten. Als 1939 der Krieg ausbrach und 1941 auch die Dorfkirche ihr Erscheinen einstellen mußte, waren die Möglichkeiten gemeinsamer Arbeit, gegenseitiger Kontakte und Begegnungen geschwunden. Nach mehr als dreißigjähriger Wirksamkeit war die alte Dorfkirchenbewegung zu ihrem Ende gekommen. Erst sechs Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges trafen sich alte und neue Dorfkirchenfreunde auf dem „Deutschen Dorfkirchentag" im Herbst 1951 in Göttingen, um gemeinsam nach neuen Ansatzpunkten für die kirchliche Arbeit auf dem Lande zu fragen. Es kam zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft für dorfkirchlichen Dienst innerhalb der EKD" unter Leitung von Chr. Schomerus und G. Krolzig. Sie stellte sich die Aufgabe, die Kräfte in Kirche und Gesellschaft zusammenzuführen, die sich angesichts des umfassenden Strukturwandels in der kirchlichen, pädagogischen und berufsständischen Arbeit um das Dorf bemühten. Diese neue Konzeption dorfkirchlicher Arbeit fand ihren Ausdruck auch im Namen der neuen Zeitschrift Kirche im Dorf, die die Arbeitsgemeinschaft nun herausgab. Im Laufe der Jahrzehnte wurde sie Informationsblatt und Sprachrohr der verschiedensten kirchlichen, pädagogischen und sozialen Aktivitäten im ländlichen Raum von Seiten der Evangelischen Landjugend, der Männerarbeit, der Landfrauenarbeit, der ländlichen Heimvolkshochschulen und der Evangelischen Akademien. In nahezu allen Landeskirchen entstanden in den Jahren landeskirchliche Arbeitsstellen für den „Dienst auf dem Lande" — Landvolkarbeit — mit hauptamtlichen Mitarbeitern, die im regionalen Bereich neue Arbeitsformen wie Dorfwochen, Dorfseminare, Bauerntage und Landfrauentreffen gestalteten. Die Vielzahl neuer Aktivitäten der kirchlichen Dorfarbeit fand 1957 ihre offizielle Anerkennung durch die EKD in der Gründung des „Arbeitsausschusses für den Dienst auf dem Lande in der EKD". In ihm sind bis heute sowohl die Landeskirchen wie die auf dem Lande tätigen kirchlichen „Werke" durch Delegierte vertreten. Dieser Ausschuß (ADL) ist in den zurückliegenden zwanzig Jahren das Organ geworden, in dem Erfahrungen ausgetauscht, Anstöße und Anregungen für neue Aufgaben gegeben werden. Die „Arbeitsgemeinschaft für dorfkirchlichen Dienst" ist 1978 im ADL aufgegangen, und die Herausgabe der Zeitschrift Kirche im Dorf auch von ihm übernommen worden. Seit 1979 wird sie unter dem Namen Kirche im ländlichen Raum herausgegeben.
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Dorner, August
Johannes
Literatur Karl Fritz Daiber, Kirche in der ländlichen Gesellschaft, Stuttgart 1969. - Eckhard Fenner, Erfahrungen u. Perspektiven im kirchl. Dienst auf dem Lande, Harsefeld 1974. - Paul Geißendörfer, Kirche im Dorf, München 1975. - Helmut Grün, Seelsorge in der ländlichen Gesellschaft, Frankfurt 1970. Albrecht Hege, Seelsorge auf dem Lande, Gütersloh 1961. - Gottfried Holtz, Art. Dorfkirchenbewegung: RGG 3 2 (1958) 2 4 8 - 2 4 9 . -A.L'Houet (Pseudonym für Wilhelm Borreé), Psychologie des Bauerntums, Tübingen 1905 3 1 9 3 5 . - Georg Koch, Die bäuerliche Seele, Berlin 1935. - Günter Krolzig, Dorfgemeinde in der Glaubenskrise, Berlin 1951. - Predigtbuch der Dorfkirche, 4 Bde., hg. v. J. Fenner/G. Mahr, Berlin 1 9 1 5 - 1 9 3 6 . - Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgesch. des Volkes, Stuttgart 1 8 5 0 - 1 8 5 4 , 0 1 8 9 9 . - Christoph Schomerus, Art. Dorfkirchenbewegung: EKL 1 (1956) 969. - Peter Sinkwitz, Gemeinde im Dorf, Gütersloh 1970. — Heinz Wiegand, Die dorfkirchl. Verhältnisse in der Bundesrepublik, Himmelpforten 1960. - Gerhard Wurzbacher, Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung, Stuttgart 1 9 5 4 . - Z e i t s c h r i f t e n : Die Dorfkirche, Berlin 1 9 0 7 - 1 9 4 1 . - K i r c h e i m Dorf, Himmelpforten/Harsefeld 1 9 5 0 - 1 9 7 8 . - Kirche im ländlichen Raum, Altenkirchen seit 1979. Eckhard Fenner Dorner, August Johannes
(1846-1920)
1. Erkenntnistheorie 2. System der Wissenschaften 3. Aufgabe der Theologie im Kreise der Wissenschaften 4. „Spekulative Theologie" (Metaphysik des Christentums) 5. Wirkung (Werke/Literatur S. 154) Als Sohn von I. A. —»Dorner am 13. 5. 1846 in Schiltach (Baden) geboren. Studium der Theologie und Philosophie in Berlin, Göttingen und Tübingen. Vikar in Neuhausen (Württemberg). 1869 Hilfsprediger in Lyon und Marseille; 1870 Repetent in Göttingen. Seit 1873 Mitdirektor und Professor am Predigerseminar in Wittenberg. 1889 außerordentlicher, 1890 ordentlicher Professor für systematische Theologie in Königsberg. 1908/09 Rektor der Universität. 1916 emeritiert. Gestorben am 17. 4. 1920 in Hannover. Den Kern von Dorners Lebenswerk, das ihn als späten Vertreter der —»Spekulativen Theologie ausweist, bildet eine Reihe von philosophischen und systematisch-theologischen Hauptwerken, für deren inneren Zusammenhang eine erkenntnistheoretische Position grundlegend ist, die Dorner 1887 erstmals zusammenhängend vortrug (Abschn. 1) und die einerseits einen Begriff vom System der Wissenschaften impliziert (Abschn. 2) und andererseits zugleich auch das Fundament für eine formale —»Enzyklopädie der Theologie bildet (Abschn. 3). Zu den in letzterer aufgewiesenen Aufgaben theologischer Wissenschaft hat Dorner seinen eigenen Beitrag teils in zahlreichen historischen Arbeiten, vor allem aber in der 1913 erschienenen Metaphysik des Christentums vorgelegt (Abschn. 4). Ein stärkerer Einfluß auf die theologische Entwicklung ist ihm versagt geblieben (Abschn. 5). 1. Erkenntnistheorie
(—^Erkenntnis/Erkenntnistheorie)
Anlaß für Dorners erkenntnistheoretische Arbeit ist die Erfahrung des auch durch —»Kant nicht überwundenen Schwankens aller metaphysischen Arbeit zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Dorners Absicht ist es, den „Kant'sehen Kriticismus" so umzubilden, daß diese Alternative überwunden wird. Anders als bei Kant soll das Erkenntnisvermögen nicht nur als subjektives, sondern als solches dargestellt werden, das von sich aus „hinausweist auf das zu erkennende Objekt und ohne dieses Objekt nichts zu erkennen vermag als sich selbst, von sich selbst aber zugleich erkennt, daß es ohne Objekt kein Erkennen h a t " (Erkennen 17). Ferner soll nicht „das Erkenntnisvermögen für sich", „als ruhende G r ö ß e " untersucht werden, sondern „der Prozeß des E r k e n n e n s " ( 1 6 . 3 8 f. 2 9 6 . 3 5 2 ) . - Die „Phänomenologie" ( 3 9 ) dieses Prozesses - die sich nicht in einer Psychologie des tatsächlichen Erkennens erschöpft, sondern an eine solche nur anknüpft, um schließlich „die Fundamente des Erkennens" zu erfassen ( 2 9 6 . 3 1 4 f ) - zeigt nun, daß er sich als aktive Synthesis einer gegebenen Mannigfaltigkeit durch das erkennende Ich ( 3 5 2 ) auf verschiedenen Stufen vollzieht (s. Abschn. 1.1), die jede nicht nur subjektive, sondern zugleich objektive Bedeutung haben (Abschn. 1.2). Sie resultiert in einer Methodologie oder Logik des Erkennens (Abschn. 1.3), die ihrerseits das Fundament objektiver metaphysischer Erkenntnis ist (Abschn. 1.4). 1.1. V o n der Sinneswahrnehmung ausgehend, führt die Synthesis über die im Medium des Gedächtnisses gebildeten Vorstellungen ( 1 0 4 ff) in begriffsbildenden Urteilsprozessen
Dorner, August Johannes
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zunächst zu „Phantasie-" und schließlich zu „Reflexionsbegriffen". Während diese Begriffe durch theoretische Urteile unter Anleitung der „Kategorien" gebildet werden (108 ff), gelangt der darauf aufbauende Prozeß der „Werturteile" unter Anleitung der „Ideale" zu den „ästhetischen", „ethischen" und „religiösen" Begriffen (170ff). — „Kategorien" sind die „Stammbegriffe" der Vernunft, „deren Inhalt die Funktion der Synthesis selbst ist" (115 f) und die insofern auch die Regeln (169) oder „Grundsätze" (278) der Begriffsbildung enthalten. Von diesen Stammbegriffen macht die synthetisierende Vernunft doppelten Gebrauch (267.353): Sie wendet sie einmal auf das Material der sinnlichen Wahrnehmung an und gelangt so zu mannigfaltigen Einheiten des Mannigfaltigen. Indem die Vernunft auf diese Mannigfaltigkeit von Einheiten des Mannigfaltigen noch einmal die Kategorien anwendet, vermag sie diese durch die Bildung von „Idealen" zur umfassenden Einheit zusammenzufassen (252ff. 267. 281). Weil die synthetisierende Vernunft diese Ideale „mit derselben Notwendigkeit" bildet, „mit welcher sie Begriffe bildet", sind sie wie die Kategorien selber „überall vorhanden in der unmittelbaren Form" (268). Sie machen sich vorreflexiv in der „intellektuellen Anschauung" des Verhältnisses geltend, in dem jede Einzelerscheinung zum Ideal steht (ästhetische Empfindung: 183; ethische Empfindung: 218; „religiöse Erfahrung": 239). 1.2. Auf jeder seiner Stufen hat das Erkennen subjektiven und objektiven Sinn. Das gilt besonders auch für die Stammbegriffe der Vernunft: Die Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit) erfassen die Form der Synthesis; die Kategorien der Möglichkeit (Bejahung, Verneinung, Begrenzung) erfassen den subjektiven Charakter der Synthesis (und leiten zur Bildung von Klassenbegriffen an); die Kategorien der Wirklichkeit (Substanz, Kausalität und Wechselwirkung) erfassen die objektive Art der Synthesis (und leiten zur kausalanalytischen Erkenntnis der die Existenz der Dinge bestimmenden Gesetze an). Die Einheit des subjektiven und objektiven Charakters der Synthesis wird in der Kategorie des Zweckes erfaßt und die in dieser Einheit herrschende Gesetzmäßigkeit mit der Kategorie der logischen, kausalen und teleologischen Notwendigkeit (126f). — Aber auch die durch die Anwendung der Kategorien über die Sinneswahrnehmung hinaus sich ergebenden „Ideale" bilden ein System, das die gleichursprünglich subjektive und objektive Bedeutung des Erkennens spiegelt: nämlich das ästhetische Ideal (der Harmonie der Welt, die als solche die freie Aktivität des Menschen einschließt [256 ff]) und das ethische Ideal („des aktiven Subjektes, das eben gesetzmäßig handelnd Werke hervorbringt" [256] und „die Welt aus einem Fragmente zu einem Ganzen macht" [257]), die sich gegenseitig bedingen; und schließlich als Einheitsgrund beider das religiöse Ideal („Gott" oder das „All der Realität", das als solches Quelle und Garant der Einheit und Harmonie der Welt ist; aber nicht Einheit und Harmonie der "Welt selber, sondern eine überweltliche Größe [264f]). 1.3. Aus dieser Phänomenologie der Erkenntnistätigkeit kann „man den Schluß ziehen . . . , daß alles Erkennen irgendwie und in irgendeinem Grade, denkende Bearbeitung der Erfahrung sei". Die Methodologie stellt dementsprechend als die Gesetzmäßigkeit dieser denkenden Bearbeitung von Erfahrung die Komplementarität von induktivem und deduktivem Verfahren fest: die Komplementarität von „Erfahrungswissenschaft" und von „spekulativer Wissenschaft" (282). - Auch dies gesetzmäßig-methodische Denken nimmt an der Objektivität des Erkennens teil. So gilt: „Das Kriterium der Gewißheit für die Erkenntnis ist die rechte Handhabung der Methode" (31 l).'„Wie wir denken müssen, so ist es" (318.269. 313. 316. 3 4 9 . 3 5 4 . 3 5 5 . 374). Dieser Satz ist das einzige Kriterium der Gewißheit objektiver Erkenntnis. Auch die Behauptung der Objektivität der Empfindung beruht nicht auf dem Gefühl des Affiziertseins, sondern auf dem notwendigen Gedanken (313 ff) der Objektivität von Erkenntnis, sofern Erkenntnis eben als Erkenntnis auf Objekte gerichtet ist (353). „Die Gewißheit also hat ihr Kriterium darin, ob wir berechtigt sind, einen Erkenntnisinhalt auf diese vernunftnotwendige Idee des Wissens zu beziehen" (317. 318. 321. 322. 328. 332. 337f).
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Dorner, August
Johannes
1.4. Oer Grundsatz impliziert, „daß wir auch da, wo die Erfahrung fehlt, doch durch das Denken eine Erkenntnis gewinnen können" (269), daß also metaphysische Erkenntnis von dem, „was allem Seienden als Realität zugrundeliegt" (353), möglich ist. Das hier gesuchte „Verständnis der Grundlagen der wirklichen Welt" (371), oder des „Prinzips, aus welchem die Erscheinungen erklärbar sind, auf das sie zurückfuhrbar sind als ihre Ursache" (3), wird erlangt durch Anwendung der realen Kategorien von Substanz, Kausalität und Wechselwirkung über den Bereich der Sinneswahrnehmung hinaus (371 ff). So muß die Welt als Inbegriff vonSubstanzen gedacht werden, die jeweils eigene Kausalität besitzen, mit der sie aufeinander wechselweise einwirken, aber eben damit auch eine durchgehende Abhängigkeit aufweisen, die als solche nicht auf ihre eigene Kausalität zurückgeführt werden kann. Sie verweist vielmehr auf die Kausalität einer höchsten Substanz, „von der sie alle abhängen, die ihre gemeinsame Quelle ist" (373). Auf diese Weise gelangt Dorner zu einer metaphysischen Position, die im Blick auf das Verhältnis zwischen welthaftem Sein und seinem absoluten Grunde relative Selbständigkeit und absolute Abhängigkeit der endlichen Dinge (375), immanente und transzendente Kausalität (473 ff) und vor allem Einheit und Pluralität des Seins vereint (374 ff); und im Blick auf den Zusammenhang der endlichen Dinge: durchgehenden Kausalzusammenhang und vernünftige Freiheit (442ff). — Die Vernunftnotwendigkeit des Abschlusses der Synthesis führt zur Bildung der Ideale, die dann wahr sind, wenn sie den denknotwendigen metaphysischen Einsichten entsprechen. Insbesondere wird auch die Wahrheit des religiösen Ideals durch die Denknotwendigkeit seines (metaphysischen) Gehaltes garantiert (268). 2. System der
Wissenschaften
Diese erkenntnistheoretische Grundposirion impliziert einen Begriff vom System der möglichen Erkenntnisbereiche. Es umfaßt die Gruppen der Erfahrungs- und der spekulativen Wissenschaften. Für letztere ist die Erkenntnistheorie grundlegend. Diese begründet Ästhetik, Ethik und Religionsphilosophie und geht dann über in Logik und Metaphysik (297). 3. Aufgabe der Theologie
im Kreise der
Wissenschaften
3.1. Die Aufgabe der Theologie besteht „in der wissenschaftlichen Erkenntnis der christlichen Religion auf historischem und spekulativem Wege, das letztere, um das Christentum zugleich als die seinem Wesen nach dem Ideal der Religion entsprechende, den religiösen Prozeß vollendende Religion zu erweisen" (Grundriß der Encyklopädie 20). Somit wird die wissenschaftliche Aufgabe der Theologie nicht durch ein religiöses oder kirchlich-praktisches Interesse begründet (3 ff). Sie ist prinzipiell überkonfessionell (6.20. 94 ff) und der allgemeinen Religionswissenschaft gegenüber nur insofern selbständig, als das Christentum sich als absolute, alle möglichen Modifikationen des religiösen Lebens in sich zusammenfassende Religion weiß (16ff). Allerdings tritt dann die Lösung der rein wissenschaftlichen Aufgabe der Theologie in ein konstruktives Verhältnis sowohl zur christlichen Frömmigkeit als auch zur kirchlichen Praxis. 3.2. Die theologischen Disziplinen zerfallen in die zur „historischen" und in die zur „spekulativen Theologie" gehörigen (—»Enzyklopädie). Die zuerst genannte Gruppe umfaßt alle Formen der empirischen Erkenntnis des Christentums, also: die exegetischen und historischen Disziplinen und die „Schilderung der Gegenwart" in der christlichen —»Konfessionskunde (zerfallend in: Die Darstellung des christlichen Bewußtseins [Symbolik und —»Dogmatik] und des christlichen Lebens [Statistik, 87 ff]). — Die spekulative Theologie besitzt in der „Lehre vom Wesen des Christentums" ihre Zentraldisziplin (102ff), der es um die Erfassung und Bewahrheitung des „christlichen Prinzips" geht, welches in seiner Reinheit „ewig" (19), „übergeschichtlich" und insofern von allen empirischen Gestalten des Christentums strikt unterschieden ist. Inhaltlich muß in dieser Disziplin „das Bewußtsein, das das Christentum von sich selbst hat, absolute Religion zu sein", „zu einem Wissenschaft-
Dorner, August
Johannes
153
liehen Ausdruck kommen" (104). Die —*Apologetik setzt dieses Bewußtsein in kritische und positive Beziehung zu anderen zeitgenössischen Weltanschauungen (108) und die christliche ->Ethik bringt das christliche Prinzip als Norm („Soll") des christlichen, insbesondere auch des kirchlichen Handelns zur Geltung. 3.3. Damit tritt die konstruktive Bedeutung der Resultate wissenschaftlicher Theologie zunächst für das kirchliche Handeln in den Blick. Sie wird exemplarisch in der —»Praktischen Theologie entfaltet (112ff). Aber auch zur christlichen —>Frömmigkeit besteht eine solche konstruktive Beziehung, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits können die Ergebnisse der theologischen Wissenschaft einen berichtigenden Einfluß auf den Glauben nehmen. Das führt deshalb nicht zur Überfremdung der Frömmigkeit, weil andererseits diese selber „ihrem innersten Wesen nach" nicht Gehorsam gegenüber historischer Autorität ist, sondern „auf eigene Erfahrung und eigene Erkenntnis ausgeht"; weil „alle historischen Voraussetzungen nur Mittel (Anregung oder Vehikel: Metaphysik des Christentums 13—46) zur Erreichung eigener Erfahrung und Erkenntnis sind". Man kann und soll „das Göttliche auch in der Intelligenz, nicht bloß im Gefühl, der Phantasie oder im Willen oder gar nur in der Geschichte haben". Und „eine solche wirkliche Erkenntnis des Göttlichen" kann „nicht eine historische Erkenntnis, nicht ein kirchlich fixiertes Lehrgesetz sein", sondern muß „eine freie s e i n . . . , deren innere Wahrheit und Notwendigkeit sich zeigen läßt" (12f). Dorners theologische Enzyklopädie hält sich strikt im Rahmen seiner eigenen Erkenntnistheorie und weicht deshalb auch trotz vieler Detailanlehnungen an —»Schleiermachers theologische Enzyklopädie schon im Ansatz von dieser ab. 4. „Spekulative
Theologie"
(Metaphysik
des
Christentums)
4.1. Grundlegend ist die Auffassung des Christentums (der christlichen Frömmigkeit) als eines „metaphysischen Grundverhältnisses" (13.20 u.ö.), oder: als Verhältnis „zu einer transzendenten, hinter den Erscheinungen liegenden Macht" (19), das zwar durch Spekulation — also eine „metaphysische Theorie" — geklärt und verifiziert werden muß (20), aber selber insofern von einer „bloßen metaphysischen Theorie" unterschieden ist (13), als es nicht durch Spekulation, sondern durch die Wirksamkeit der absoluten Macht in den Gläubigen (16), durch ihre innerliche Selbstkundgabe an sie (19) bzw. ihre Offenbarung an sie (24) begründet ist. Das religiöse Ideal bringt seinen Gehalt, schöpferisches All der Realität zu sein, in der Erfahrung der Abhängigkeit des endlichen Subjektes in diesem zur Geltung (Erkennen 273). Die spekulative Klärung und Verifikation hebt den Grund des christlichfrommen Bewußtseins in dieser religiösen Erfahrung nicht auf (ebd. 218.239).—Von diesem Begriffe der christlichen Frömmigkeit aus wendet Dorner sich gegen „Historizismus" und „Psychologismus". - Der erste dieser Gegensätze stellt dem „Supematuralismus äußerer Offenbarung" die innere Offenbarung entgegen, die darin besteht, „daß Gott auch in dem Gläubigen selbst sein Wesen treibt, sich ihm auf dieselbe Weise mitteilt, seine Intelligenz erleuchtet (sc. wie den Glaubenden früherer Zeiten)" (Metaphysik 25. 23 ff). Die Historie dient nur als „Anregung" (78. 86. 9 1 . 2 6 6 f. 2 7 2 . 2 7 4 . 2 8 0 . 4 6 8 ) für die eigene Glaubenserfahrung oder zur „Veranschaulichung" der in ihr enthaltenen metaphysischen Wahrheit (27 ff). Beides ist dazu bestimmt, in die „Freiheit und Innerlichkeit" (272 f. 277.281) eigener Erfahrung, Erkenntnis und Gewißheit überzugehen (252—278). — Der zweite Gegensatz stellt dem Haltmachen bei der psychischen Tatsächlichkeit des Glaubens oder der Reduktion der Frömmigkeit auf psychische Sachverhalte den im Dogma ausgesprochenen metaphysischen Gehalt des christlichen Bewußtseins entgegen, der über die Realität des Psychischen hinaus auf die übersinnliche, aber objektive Wirklichkeit des Absoluten als Existenzgrund der welthaften Erscheinungen (einschließlich der psychischen) hinausweist (36ff). 4.2. Als dieses im christlichen Bewußtsein enthaltene metaphysische Grundverhältnis gibt Dorner die „Einheit (nicht: Gleichheit) von Immanenz und Transzendenz" im Verhältnis zwischen Gott und Welt an ( 5 0 . 5 4 . 1 6 4 . 2 4 8 - 2 5 0 ) . Dieses Prinzip besagt das Gründen
154
Dorner, August
Johannes
der Selbständigkeit und Freiheit aller endlichen Wesen in der aktuellen Kausalität des Absoluten. — Die christliche Dogmatik stellt dieses metaphysische Grundverhältnis durch die in der Trinitätslehre zusammengefaßte Gottes- und Schöpfungslehre dar (94ff. 156 ff. 169ff). Die „positiven historischen Dogmen des Christentums"—Urständ, Sünde, Christologie, Soteriologie, Eschatologie (Lehre vom Reich Gottes) - bringen die in jenem metaphysischen Grundverhältnis beschlossene „Bestimmung" von Welt und Mensch (283 ff) und deren „Realisierung" (383 ff) zur Sprache. Dabei wird die historische Form der dogmatischen Aussagen von Dorner nur als Veranschaulichung eines Geschehens gefaßt, das sich seinem Wesen nach in der gegenwärtigen Glaubenserfahrung selber vollzieht. Konsequenz: Der historische Jesus - und mit ihm alle äußerlichen Erscheinungen des Göttlichen in der Kirche und in den Gnadenmitteln (472) — besitzen keine bleibende Bedeutung als Mittler zwischen Mensch und Gott (—»Jesus Christus). Das historische Geschehen ist nur Anregung für die gegenwärtig in „Buße, Bekehrung, Rechtfertigung, Erneuerung" (440 ff) zu gewinnende Unmittelbarkeit zu Gott. Das sich so auswirkende „Christuspwur'p" (421 ff) hat im historischen Christusgeschehen nur den Beginn seiner Wirksamkeit, insofern Christus die erste Erscheinungsform des christlichen Prinzips (Bewußtsein der Einheit von Immanenz und Transzendenz) war (472ff). 5. Wirkung In der Aufnahme und Fortbildung Kantischer Theoreme hat Dorner sich gegen die die Wissenschafts- und Theologiegeschichte des 19. Jh. prägenden Alternativen des absoluten Idealismus und des positivistischen Empirizismus gewandt. Dabei akzentuiert er den von Kant selber in der Kritik der Urteilskraft entwickelten Ansatz zur Uberwindung des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft. So hat Dorner sowohl gegen den im Neukantianismus proklamierten Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften Front machen können wie auch gegen die Verleugnung der theoretisch-metaphysischen Bedeutung des christlichen Glaubensinhaltes in der Schule A. —»Ritschis. Gleichwohl dürfte die fast völlige Wirkungslosigkeit seiner Philosophie und Theologie durch erhebliche methodische und inhaltliche Probleme seiner Arbeiten mitbedingt sein: 5.1. Dorner behauptet die Objektivität der Kategorien, ohne ihre Erkennbarkeit in der Reflexivitätsstruktur der endlichen Vernunft nachzuweisen, geschweige denn sie aus ihr zu deduzieren. Seine Phänomenologie der Erkenntnis ist methodisch ungeklärt; ihre Ergebnisse deshalb ungesichert. 5.2. Mit der Einsicht in die Reflexivitätsstruktur der endlichen Vernunft fällt bei Dorner aber auch die Einsicht in ihre geschichtliche Konstitution aus. Dementsprechend führt die Spekulation bei ihm nicht wie bei —»Schleiermacher, —»Schelling oder —»Hegel zur Einsicht in die wesentliche, unübersteigbare Abhängigkeit der Vernunfterkenntnis selber von der Geschichte, sondern scheint vielmehr eine Möglichkeit der Emanzipation von geschichtlicher und sozialer Abhängigkeit überhaupt zu eröffnen. 5.3. Die ungenügende Aufarbeitung dieser beiden Problemkreise belastet insbesondere den für Dorners Position und seine Wahrheitsansprüche zentralen Begriff der Denknotwendigkeit. Werke Hauptwerke: De Baconis baronis de verulamio philosophia, Berlin 1867. - Augustinus. Sein theol. System u. seine religionsphil. Anschauung, Berlin 1873. - Uber die Principien der Kantschen Ethik, Halle 1875. — Kirche u. Reich Gottes, Gotha 1883. - Das menschliche Erkennen. Grundlinien der Erkenntnistheorie u. Metaphysik, Berlin 1887. - Das menschliche Handeln. Phil. Ethik, Berlin 1895. Grundriß der DG. Entwicklungsgesch. derchristl. Lehrbildung, Berlin 1899. - Zur Gesch. des sittlichen Denkens u. Lebens. Neun Vortr., Hamburg 1901. - Grundriß der Encyklopädie der Theol., Berlin 1901. - Grundprobleme der Religionsphil. Acht Vortr., Berlin 1903. - Grundriß der Religionsphil. Leipzig 1903. - Die christl. Lehre nach dem gegenwärtigen Stande der theol. Wiss. u. ihre Vermittlung an die Gemeinde. Vortr. auf dem 22. dt. Protestantentag, Berlin 1904. - Individuelle u. soziale Ethik. 14 Vortr., Berlin 1906. - Die Entstehung der christl. Glaubenslehre, München 1906. - Encyklopädie der
I >orner, Isaak
August
155
Phil. Mit bes. Berücksichtigung der Erkenntnistheorie u. Kategorienlehre, Leipzig 1910. - Pessimismus, Nietzsche u. Naturalismus mit bes. Beziehung auf die Religion, Leipzig 1911. - Die Metaphysik des Christentums, Stuttgart 1913. - Wichtige Aufsätze: Das Wesen der Religion: ThStKr 54 (1883) 2 1 7 - 2 7 7 . - Über das Verhältnis der Dogmatik und Ethik in der Theol.: JPTh IS (1889) 4 8 1 - 5 5 2 . Die Kirchen u. die Entwicklung der Kultur: JPTh 15 (1889) 5 5 - 9 8 . - Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Theol.: PrM 30 (1898) 4 0 7 - 4 1 8 . 4 6 6 - 4 8 0 . - K a n t s Kritik der Urteilskraft in ihrer Beziehung zu den beiden anderen Kritiken u. zu den nachkantischen Systemen: Kant St 4 (1900) 2 4 8 - 2 8 5 . Gewißheit im praktischen u. theoretischen Sinne: ZWTh 52 (1909) 2 8 9 - 3 1 4 . - Wider das Spruchkollegium: in: PrBl 44 (1911) 4 9 0 - 4 9 2 . - Die Wahrheit des Inhalts der Religion in ihrer Bedeutung für den Glauben: PrM 44 (1912) 2 3 7 - 2 5 4 Gewißheit: ZPPK 163 (1917) 1 2 9 - 1 5 5 . Literatur Hermann A. L. Degener (Hg.), Unsere Zeitgenossen. Wer ist's, L e i p z i g 6 1 9 1 2 , 3 2 3 . - Otto Dibelius, Das Kgl. Predigerseminar zu Wittenberg 1 8 1 7 - 1 9 1 7 , Berlin 1 9 1 8 , 1 8 6 f , 1 9 4 f . - G e o r g F r e b o l d , Dorners phil. Grundstellung u. seine Auffassung vom Wesen der Religion, Hannover 1 9 1 7 . - EilertHerms, Erfahrung u. Metaphysik. Eine Erinnerung an A. Dorners spek. Theol. u. einige ihrer Grundprobleme: FS H.-J. Birkner, Kiel 1981 (masch.) 78-138. - KJ 47 (1920) 578 f. - A. Korwan, Dorners Kritik des Pessimismus: ZPPK 161 (1918) 58 f. - Hans Rust, A. Dorners Gotteslehre: PrM 20 (1916) 1 3 5 - 1 4 7 . Ders., Ein Philosoph des Christentums. Prof. D. Dr. August Dorner: PrBl 53 (1920) 3 6 6 - 3 6 8 . 375 f. Erdmann Schott, Art. Spekulative Theol.: RGG 5 6 (1961) 2 3 4 - 2 3 7 . - H e r m a n n S c h w a r z , A. Dorner u. der Naturalismus: ZPPK 161 (1914) 1 f. - Otto Siebert (Hg.), Die Religionsphil, in Deutschland. FG. R. Eucken, Langensalza 1906, 99 f. - Friedrich Traub, Art. Spekulative Theol.: RGG 2 5 (1931) 6 7 9 - 6 8 3 .
Eilert Herms Dorner, Isaak August 1. Leben
(1809-1884)
2. Kirchliche Tätigkeit
3. Theologie
4. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 158)
1. Leben Dorner ist geboren am 20. 6. 1809 in Neuhausen ob Eck (bei Tuttlingcn/Württemberg). Während des Studiums in —»Tübingen (1827-1832) prägten ihn weniger die dortigen Lehrer als die direkte Beschäftigung mit —>Kant, —»Jacobi, —»Schelling, —»Hegel und —»Schleiermacher. 1 8 3 2 - 1 8 3 4 war er Vikar bei seinem Vater in Neuhausen und 1834—1838 Repetent am Tübinger Stift. 1836 machte er eine längere Reise nach Holland, England und Schottland. In der Tübinger Zeit bilden sich Dorners Grundüberzeugungen. Das erste Hauptmotiv seiner Theologie ist die —»Rechtfertigung und ihr unlöslicher Zusammenhang mit dem —»Glauben. Schon als Student schrieb er eine Preisarbeit, Welches die Ursachen seien, daß sich die nettere Zeit der Reformation wieder zuwende. Diese wurde die Grundlage seiner 1836/37 gehaltenen ersten Vorlesung über die Entwicklung des Protestantismus aus dem protestantischen Prinzip, die zugleich die Berechtigung der Union (—»Unionen, kirchliche) nachweist und damit die theologische Basis für Dorners kirchenpolitische Tätigkeit bildet. Sein Interesse an der Kirchenverfassung entsteht in seiner Zeit als Vikar (Petition des Kirchenbezirks an den Landtag) und wird durch die Bekanntschaft mit der schottischen Presbyterialverfassung kräftig genährt. Dorners zweites theologisches Hauptanliegen ist die Neufassung der Christologie (—»Jesus Christus). Als Beitrag zur Straußdebatte schreibt er Über die Entwicklungsgeschichte der Christologie, besonders in den neueren Zeiten (TZTh 7/4 [1835] 8 1 - 2 0 4 ; 8/1 [1836] 9 6 - 2 4 0 ) . Schon hier vertritt er die Lehre von Christus als dem Zentralindividuum. So scharf er dabei seinen Mitrepetenten D. F. —»Strauß angreift, so wenig billigten seine Kollegen und er das Vorgehen, das Strauß' Berufung nach Zürich vereitelte. Diese Haltung hat Dorner immer festgehalten und sich zeitlebens für die Freiheit der theologischen Wissenschaft eingesetzt (vgl. sein Eintreten für—»Baumgarten, Sydow, Lisko, Hoßbach und Werner; —»Apostolisches Glaubensbekenntnis, —»Lehrverpflichtung/Lehrfreiheit/Lehrzuchtverfahren). 1839—1843 war er Professor in —»Kiel. In dieser Zeit erschien die Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi von den ältesten Zeiten bis auf die neueste (Stuttgart 1839, 2. Aufl. in 2 Bänden 1 8 4 5 - 1 8 5 6 ) . Hier entstanden die lebenslangen Freund-
156
Dorner, Isaak
August
Schäften mit Hans Lassen Martensen (vgl. Briefwechsel zwischen H. L. Martensen und I. A. Dorner. 1 8 3 9 - 1 8 8 1 . Hg. aus deren Nachlaß. 2 Bde., Berlin 1888) und Emil Herrmann. 1 8 4 3 - 1 8 4 6 wirkte er in -»Königsberg, 1 8 4 7 - 1 8 5 3 in -»Bonn, 1 8 5 3 - 1 8 6 2 in ->Göttingen, überall zugleich als Mitglied des Konsistoriums. 1862 folgte er einem Ruf an die Universität —»Berlin und in den Evangelischen Oberkirchenrat. 1867 erschien in München die Geschichte der protestantischen Theologie, 1879—1881 in Berlin das System der Christlichen Glaubenslehre. Am 8. 7. 1884 ist er während einer Kur in Wiesbaden gestorben. 1885 gab sein Sohn in Berlin das System der Christlichen Sittenlehre heraus. 2. Kirchliche
Tätigkeit
Als Dorner 1843 nach Königsberg ging, tat er es in der Hoffnung, als Konsistorialrat maßgebend in die Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Preußen eingreifen zu können. Die Union erkennt er „in dem Maße als berechtigt an, als aufgrund der äußeren eine innere sich erst gestalte" (Briefwechsel I, 115). Dazu gehört die Reform der —»Kirchenverfassung. Die Ziele, die er dabei verfolgte, zeigen sich am deutlichsten in seinen Sendschreiben über Reform der evangelischen Landeskirchen im Zusammenhang mit der Herstellung einer evangelisch-deutschen Nationalkirche (Bonn April und Mai 1848). Seit dem 2 1 . 3 . 1 8 4 8 sind in Preußen alle religiösen Bekenntnisse gleichgestellt, also die enge Verbindung von —»Kirche und Staat aufgelöst und die Kirche im Grunde ohne Verfassung. Diese Trennung des Staats von der Kirche ist zu begrüßen. Sie bringt die Kirche in eine notwendige Krise. Sie muß sich selbst neu verfassen. Dazu gehört ein neues Bekenntnis der Gesamtkirche, das den rechtlichen Bestand der geltenden —»Bekenntnisschriften nicht aufhebt, sondern ergänzt, und die Bildung gesamtkirchlicher Organe aufgrund einer Kirchenverfassung ermöglicht. Um die freie Mannigfaltigkeit in der Einheit zu garantieren, muß die Nationalkirche ein Kirchenbund sein, mit einer periodisch wiederkehrenden Kirchenversammlung und einem ständigen Obersten Rat des Kirchenbundes als zentraler Exekutive, womit das landesherrliche Kirchenregiment aufgelöst wäre. Parallel dazu muß die Bildung von Verfassungen in den Landeskirchen (mit Wahlkörperschaften auf Gemeinde- und Kreisebene) gehen, da nur eine Kirchenversammlung mit gewählten Vertretern Beschlüsse fassen kann. Dieser Entwurf Dorners zeigt, daß sein Eintreten für die Union in einem größeren Zusammenhang steht. Es geht ihm um „eine öcumenische evangelische Kirche" (Briefwechsel I, 204), die die Einheit der Kirche nicht erst schaffen will, vielmehr durch sie selbst geschaffen wird. Dabei fällt auf, daß nationalistische Töne fehlen. In der Nationalkirche sollen auch die „auswärtigen Brüder" vertreten sein (Österreich, Schleswig, Elsaß, Baltikum, Schweiz). Das weitere Ziel ist die Herstellung einer evangelischen Gesamtkirche, die auch die angelsächsischen und skandinavischen Länder umfassen soll. Dorner spricht sogar von einer Unionsgesinnung gegenüber der katholischen Kirche, im Sinn der Betätigung der schon vorhandenen Glaubenseinheit, und erwartet in diesem Sinn einiges vom Gustav-Adolf-Verein, in dem er seit 1842 aktiv mitarbeitet (—»Diasporawerke). Auch die —»Evangelische Allianz hat er unterstützt. Er besuchte ihre Versammlungen in Paris (1855), Genf (1861) und New York (1873). Anfänglich schienen Dorners Pläne Aussicht auf Verwirklichung zu haben. Auf der preußischen Generalsynode von 1846 war die Bekenntnisfrage heftig diskutiert und schließlich ein Ordinationsformular verabschiedet worden, das die Bekenntnisverpflichtung der Pfarrer präzisieren sollte. Dieses von Karl Immanuel —»Nitzsch vorgelegte Formular (daher der Spottname „Nitzschenum") ist von Dorner entworfen (A. Dorner [ 3 9 f ] und Bobertag [ 9 2 f ] zitieren das Autograph aus dem Nachlaß). Es konnte allerdings nicht wirksam werden, weil der König die Bestätigung verweigerte. Auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 sollte der Kirchenbund gegründet werden, was aber mißlang. Als auch in Preußen die geplante Presbyterial- und Synodalverfassung nicht zustande kam, verließ Dorner Preußen enttäuscht und ging nach Göttingen. 1862 schöpfte er neue Hoffnung. 1869 wurden Kirchengemeinderäte, Kreis- und Provinzialsynoden bestellt. Aber erst als Herrmann auf Dorners Betreiben hin Präsident des Oberkirchenrats geworden war, wurde 1873 die Kirchen-
Dorner, Isaak
August
157
Verfassung in Kraft gesetzt. Von Dorners Plänen für eine Nationalkirche blieben nur die Eisenacher Kirchenkonferenzen und die Kirchentage, bei denen er sich regelmäßig und aktiv beteiligte. Die weitgehende Trennung von Kirche und Staat hat Dorner auch im —»Kulturkampf bejaht. Deshalb begrüßte er die Falksche Gesetzgebung als einen Fortschritt und übernahm den Vorsitz in der Kommission für das Kulturexamen. Der Gedanke der —»Volkskirche war ihm aber immer wichtig. 3.
Theologie
Dorners Theologie ist Glaubenslehre und geht damit bewußt von —»Schleiermacher aus. Der Glaube ist aber seinem Wesen nach Rechtfertigungsglaube, womit Dorner das reformatorische Erbe ungleich kräftiger zur Geltung bringt als Schleiermacher. Der Glaube ist unmittelbare Gottesgewißheit, will sich seines universalen Inhalts aber auch denkend versichern. Damit ist die Aufgabe der Synthese von Glaube und Vernunft (—»Glaube und Denken) gestellt. Die Dogmatik ist spekulative Wissenschaft, d.h. sie geht vom Begriff Gottes aus, deduziert progressiv ein Moment nach dem anderen und hält sich dabei an die Regeln der philosophischen Logik. Die Deduktion ist aber keine apriorische, sondern eine aposteriorische. Der materiale Inhalt der Glaubenslehre liegt in der religiösen Erfahrung empirisch vor, die Spekulation leistet nur die formale Durchdringung und die Erhebung in den Rang der wissenschaftlichen Wahrheit. Den Impuls zur Spekulation und ihre formalen Kategorien empfängt Dorner wie alle spekulativen Theologen des 19. J h . von —»Hegel, dem er ebenso verpflichtet ist wie Schleiermacher. Sein Verhältnis zu Hegel ist aber viel kritischer. Während er seine formale Dialektik übernimmt, kritisiert er seine materialen Aussagen scharf. Er trifft sich darin mit dem spekulativen Theismus I . H . Fichtes und C h . H . Weißes, die ebenfalls eine aposteriorische Spekulation vertreten. Das Verhältnis von Gott und Mensch wird personal gedacht. Von diesem Ansatz her kämpft Dorner ebensosehr gegen eine Trennung wie gegen eine Vermischung von Gott und Mensch. Die Trennung bekämpft er im alten —»Supranaturalismus und in der neuen Theologie der konfessionellen —»Erweckung, die Vermischung in der idealistischen Theologie. So muß seine Theologie vermittelnden Charakter bekommen (—»Vermittlungstheologie). Jede Seite hat recht und unrecht zugleich. Das Recht beider Seiten läßt sich aber zu einer harmonischen Synthese verbinden. Das Kernstück der Synthese ist die Christologie. Gott und Mensch sind als Personen wesensverwandt. Das ermöglicht die Menschwerdung Gottes. Diese Einigung ist ein Prozeß, eine Entwicklung. Weil zum Menschen das Werden gehört, ist auch der Gottmensch Zeit seines Lebens im Werden. Auf jeder Stufe teilt sich ihm Gott aber ganz mit. Christus ist universaler Mensch, Zentralindividuum, zweiter Adam, von Gott in einem besonderen schöpferischen Akt ins Leben gerufen, damit die Menschheit in ihm ihren Mittelpunkt habe und durch ihn zu einer organischen Gemeinschaft werde. Trotz einiger innerer Risse ist Dorners dogmatisches System von eindrucksvoller Geschlossenheit. In einer Welt spätidealistischer Geistigkeit hat es eine noch relativ ungebrochene biblische und kirchliche Tradition umfassend, ehrlich und konsequent verantwortet. Es konnte freilich nur wirken, solange seine Voraussetzungen gegeben waren. 4.
Nachwirkung
Dorners Gedanken haben im 19. J h . stark gewirkt. Sein akademischer Einfluß war in seiner Bonner und Göttinger Zeit auf dem Höhepunkt. Er ist der einzige deutsche Theologe seiner Zeit, dessen theologischer Horizont über den nationalen Rahmen hinausreichte (Welch 1 4 . 1 6 ) . Zu seiner Wirkung trug bei, daß er eine kommunikative und integrative Persönlichkeit war. So wurde er immer wieder zum Sprecher ganzer Gruppen (Generalsynode 1 8 4 6 , Göttinger Denkschriften 1 8 5 4 , Denkschriften des Berliner Oberkirchenrats 1 8 6 3 , 1 8 6 7 und 1876). Seine Glaubenslehre ist, wie er selbst spürte, zu späterschienen. Im 2 0 . J h . hat sein Aufsatz über die Unveränderlichkeit Gottes -»Barths Gotteslehre beeinflußt (KD I I / l , 5 5 4 ) und mit der Gründung der E K D sind seine Vorschläge für eine deutsche Nationalkirche ziemlich genau in der von ihm vorgeschlagenen Form verwirklicht worden.
Dorpat
158 Quellen
Die Hauptschriften sind im Text erwähnt; ausführlichste Bibliographie bei August Dorner, Isaak August Dorner: ADB 48 (1904) 37—47. - Übersetzungen bei Kenneth S. Latourette, Christianity in a Revolutionary Age, New York, II 1959, 18. - Deutsche Neuausgaben existieren nicht. - Englische Übersetzung der Dogmatischen Erörterung der Lehre von der ünveränderlichkeit Gottes (GS, Berlin 1883, 2 9 9 - 3 7 7 ) und des zentralen Abschnitts über die Menschwerdung Gottes (System der Christi. Glaubenslehre, Berlin, II 1 8 8 1 , 4 0 3 - 4 7 4 ) bei Claude Welch, God and Incarnation in Mid-Nineteenth Century German Theology, New York 1965. Literatur Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jh., Zürich 1946 3 1 9 6 0 . - Klaus-Martin Beckmann, Unitas Ecclesiae. Eine syst. Studie zur Theologiegesch. des 19. Jh., Gütersloh 1967. - J. Bobertag, Isaak August Dorner. Sein Leben u. seine Lehre, Gütersloh 1 9 0 6 . - August Dorner, s.o. - John M. Drickamer, Higher Criticism and the Incarnation in the Thought of I. A. Dorner: Concordia Theological Quarterly 43 (1979) 1 9 7 - 2 0 6 . - Felix Flückiger, Die prot. Theol. des 19. Jh., 1975 (KIG 4P). Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., Gütersloh, V 1 9 4 9 5 1 9 7 5 . - Ragnar Holte, Die Vermittlungstheologie, 1965 (AUU. SDCU 3). - Otto Kirn, Art. Dorner Isaak August: R E 3 4 (1898) 8 0 2 - 8 0 7 . - Jörg Rothermundt, Personale Synthese. Isaak August Dorners dogmatische Methode, Göttingen 1968 (Lit.). - Ders., Personalismus u. Ontologie bei I.A. Dorner: KuD 14 (1968) 3 3 1 - 3 5 5 . - Horst Stephan/Martin Schmidt, Gesch. der dt. ev. Theol. seit dem dt. Idealismus, 1938 3 1 9 7 3 (STÖ. T 9). Claude Welch, Protestant Thought in the Nineteenth Century. I. 1 7 9 9 - 1 8 7 0 , New Häven/London 1972. J ö r g Rothermundt
Dorpat tut
1. Das Bistum 2. Die Universität (Literatur S. 162) 1. Das
3. Die Theologische Fakultät
4. Das Theologische Insti-
Bistum
Nachdem die deutschen Kreuzfahrer Bischof Alberts von Riga und des Schwertbrüderordens 1212 die Castrum Tarbatum genannte alte Estenburg auf einer Anhöhe am Embach erobert hatten, wurde diese seit 1224 zum Sitz eines Bischofs, indem Alberts Bruder Hermann, vorher Bischof in Leal in Estland, hier zu residieren begann. Schon 1225 erhielt er die Investitur als deutscher Reichsfürst. Das Bistum Dorpat bildete einen der 5 Teilstaaten der altlivländischen Konföderation (—»Baltikum) bis zu deren Ende im Livländischen Krieg ( 1 5 5 7 — 1 5 8 2 ) . Die um die Mitte des 1 3 . Jh. angelegte Stadt, die im 1 4 . Jh. als Mitglied der Hanse auftritt und im 15. Jh. ihre wirtschaftliche Blüte erlebt, hat sich der Reformation schon früh geöffnet. In Luthers Sendschreiben nach Livland von 1 5 2 3 ist Dorpat (Tarbthe) ausdrücklich erwähnt ( W A 1 2 , 1 4 7 — 1 5 0 ) . Mußte die Einsetzung des evangelischen Predigers Hermann M a r s o w an der Pfarrkirche zu St. Marien im Sommer 1 5 2 4 auch auf Druck des Bischofs vorübergehend zurückgenommen werden, so wurden doch nach den von Bilderstürmen begleiteten Tumulten zu Epiphanias 1 5 2 5 und Fronleichnam 1 5 2 6 , die Melchior—* H o f m a n n mit seinem zweimaligen Aufenthalt ausgelöst hatte, die Stadtkirchen Dorpats den Evangelischen überlassen, während allein der D o m katholisch blieb. Die Ritterschaft des Bistums aber galt noch um 1 5 4 0 als treu altgläubig. Der letzte Bischof von Dorpat, H e r m a n n II. Weiland, wurde nach der Kapitulation der Stadt vor den Russen am 1 8 . 7 . 1 5 5 8 als Gefangener weggeführt und starb 1 5 6 3 in Ljubim bei K o s t r o m a . Der bereits von Bischof Hermann I. angelegte und im 14. und 15. Jh. als die großartigste Kathedrale ganz Nordosteuropas fertiggestellte St. Petri-Pauli-Dom, eine fünfschiffige Basilika, brannte 1624 durch unvorsichtigen Umgang mit dem Johannisfeuer vollständig aus. Allein der Chor wurde wiederaufgebaut - um die Universitätsbibliothek aufzunehmen. 2. Die
Universität
Während der Schwedenherrschaft über Est- und Livland von Gustav II. Adolf noch in seinem Todesjahre 1 6 3 2 gegründet, konnte die nach dem Vorbild —»Uppsalas aufgebaute
Dorpat
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Academia Gustaviana vorerst nur bii zur Eroberung Dorpats durch die Russen 1656 arbeiten, obwohl einige Professoren ihre Lehrtätigkeit in Reval noch bis 1665 fortsetzten. Vom Schwedenkönig Karl XI. 1690 als Academia Gustavo-Carolina wiedereröffnet, jedoch schon 1699 nach Pernau verlegt, fand sie bei der russischen Eroberung der Stadt 1710 ihr vorläufiges Ende, wiewohl sich Peter d.Gr. in der Kapitulation für ihre Wiederherstellung ausgesprochen hatte. Uberwogen unter den Lehrkräften anfangs die Deutschen und erst später die Schweden, so läßt sich für die Studentenschaft eine gegenläufige Entwicklung feststellen. Hatten zwischen 1 6 3 2 und 1 7 1 0 insgesamt 5 7 7 Baltendeutsche ihre junge Heimatuniversität bezogen, so waren im selben Zeitraum allein in —»Königsberg noch 5 2 4 baltendeutsche Studenten eingeschrieben. Im 18. J h . blieb das Auslandsstudium dann wieder die einzige Möglichkeit. Die Einwanderung von M ä n n e r n mit abgeschlossener Hochschulbildung vor allem in der 2 . Hälfte des 1 8 . J h . vermochte das Fehlen einer Landesuniversität vorübergehend auszugleichen. In den weitaus meisten Fällen kamen diese „ L i t e r a t e n " , wie man im Baltikum die Akademiker zu nennen pflegte, aus Deutschland, nicht selten aber auch aus Finnland.
Den Bemühungen der livländischen Ritterschaft um die Wiederherstellung ihrer Landesuniversität war erst Erfolg beschieden, als es Kaiser Paul von Rußland zur Verhinderung einer Ansteckung seiner Untertanen mit dem Gedankengut der—•Französischen Revolution angebracht erschien, darauf einzugehen; denn mit seinem Befehl zur Rückberufung aller in Deutschland studierenden Untertanen allein hätte er ja nur neue Gefahren heraufbeschworen. So verfügte er noch am 9 . 4 . 1 7 9 8 die Gründung einer baltischen Landesuniversität, aber erst unter seinem Sohn Alexander I. konnte diese am 2 1 . 4 . 1 8 0 2 in Dorpat ihre Arbeit aufnehmen. Hatten die Kurländer bei Paul zunächst Mitau als Sitz der Universität durchzusetzen vermocht, so hatte sich Alexander I. doch sogleich wieder für Dorpat entschieden. Noch im Dezember 1802 wurde die als ritterschaftliche Landesuniversität eröffnete Hochschule auf Betreiben ihres ersten Rektors, des aus Mömpelgard (Montbeliard) stammenden Mathematikers und Physikers Georg Friedrich Parrot (1767—1852), der nach dem Besuch des Kaisers in Dorpat im Mai 1802 rasch dessen Freundschaft gewann, dem Ministerium für Volksaufklärung in St. Petersburg unterstellt und damit in eine Reichsuniversität mit entsprechender Ausstattung und akademischer Selbstverwaltung umgewandelt. Auf Bitten Parrots ernannte Alexander I. auch den Sturm-und-Drang-Dichter Friedrich Maximilian Klinger (1752—1831), Goethes Jugendfreund, zum ersten Kurator. „Uber den ersten fünfzehn Jahren der Dorpater Universität liegt ein romantischer Zauber, den jede aus jener Zeit erhaltene Zeile, jedes von der Tradition aufbewahrte Wort so frisch und so reich über den Forscher und Freund vergangener Dinge ausgießt, daß dieser sich bis ins Herz hinein erquickt fühlen muß" (Julius Eckardt, zit. v. Engelhardt 61). Verfügte die Universität bei ihrer Neugründung nur über die vier klassischen Fakultäten, so wurde 1 8 5 0 durch Ausgliederung aus der Philosophischen noch eine Physiko-Mathematische als fünfte Fakultät geschaffen. Insgesamt waren an der Kaiserlichen Universität D o r p a t in den ersten 5 0 Jahren ihres Bestehens 5 9 7 3 Studenten eingeschrieben, von denen 4 3 4 4 aus den Ostseeprovinzen und 1 3 5 4 aus anderen Gouvernements des Russischen Reiches, aber nur 2 7 5 aus dem Auslande stammten. Auch in ihrer Blütezeit in der 2 . Hälfte des 1 9 . J h . stellte sie im Vergleich zu den Hochschulen Deutschlands, mit denen sie sich in ununterbrochenem Berufungsaustausch befand, nur eine Universität mittlerer G r ö ß e dar. Für die 1 8 5 5 begründete evangelisch-lutherische Universitätsgemeinde wurde 1 8 6 0 zwischen den beiden Seitenflügeln des Universitätsgebäudes eine turmlose Universitätskirche errichtet. Erst seit 1 9 2 0 bestand hier neben der deutschen auch eine rein estnische Universitätsgemeinde.
Wie das Baltendeutschtum überhaupt, so hatte auch seine Landesuniversität mehr und mehr unter der Russifizierungspolitik der kaiserlichen Regierung zu leiden. Die Beseitigung der deutschen Lehrsprache begann 1889 mit einer Anfrage an sämtliche Dozenten, wer bereit sei, seine Vorlesungen in russischer Sprache weiterzuführen; 1893 war sie mit Hilfe zahlreicher Neubesetzungen von Lehrstühlen zum Abschluß gebracht worden. Im selben Jahre wurde die Stadt mit der Begründung in Jur'ev umbenannt, daß hier Großfürst Jaroslav der Weise (Taufname: Jttrij) 1030 eine Burg dieses Namens errichtet habe — obwohl diese von den Esten bereits 1061 wieder zerstört worden war. Wenn einzig die Theologische Fakultät bis 1916 Deutsch als Lehrsprache beibehalten durfte, so war das allein der Furcht der Or-
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Dorpat
thodoxen Staatskirche vor einer Verbreitung von lutherischer Theologie in russischer Sprache zu verdanken. Schließlich hatte man ja gerade erst das russische Kirchenkreuz auf dem Universitätsgebäude angebracht. Mit der Zusammensetzung des Lehrkörpers änderte sich auch die der Studentenschaft. Die Zahl der baltendeutschen Studenten verringerte sich um mehr als die Hälfte, die der russischen stieg auf das Zehnfache, zumal hier Absolventen geistlicher Seminare im Gegensatz zu fast allen anderen russischen Universitäten zum Studium zugelassen wurden. Am Vorabend des 1. Weltkrieges lag die Studentenzahl bei 2 5 0 0 . Nach der Besetzung Dorpats durch deutsche Truppen am 2 4 . 2 . 1 9 1 8 wurde die Universität am 1 5 . 9 . 1 9 1 8 als deutsche Hochschule wiedereröffnet. In seinem Glückwunschtelegramm an den zum Rektor ernannten ordentlichen Professor der Inneren Medizin Karl Dehio ( 1 8 5 1 - 1 9 2 7 ) gab Kaiser Wilhelm II. seiner Freude darüber Ausdruck, „daß es so bald gelungen ist, die ehrwürdige Alma Mater Dorpatensis als Mittelpunkt des geistigen Lebens und wertvolle Kraftquelle für das Wohlergehen des wiedergewonnenen alt-deutschen Kulturlandes zu neuem Leben zu erwecken" (zit. v. Engelhardt 5 3 8 ) . Doch dieser Traum währte kaum ein Semester lang. Nachdem die deutschen Truppen das Land verlassen hatten, beschloß die deutsche Universität am 2 7 . 1 1 . 1 9 1 8 ihre Auflösung. Die Bildung des Freistaates Estland, der die alte Hochschule am 1 . 1 2 . 1 9 1 9 als estnische Universität Tartu wiedereröffnete und ihr am 1 8 . 6 . 1 9 2 5 ein Autonomiestatut gab, bedeutete für diese zwar eine denkbar enge Begrenzung ihres Einzugsgebiets, doch haben Begabung und Bildungsdrang des gerade an der Millionengrenze liegenden kleinen estnischen Volkes, dessen Söhne erst gegen Ende des 19. J h . einen angemessenen Anteil an der Dorpater Studentenschaft zu stellen begannen, ihren alten Rang zu wahren vermocht. Die Zahl der Lehrstühle und anderer Stellen an der schließlich aus acht Fakultäten bestehenden Universität wurde sogar beträchtlich erhöht, die der Studenten lag über der vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. War die Lehrsprache nun grundsätzlich Estnisch, so konnten doch aus früherer Zeit übernommene oder von auswärts berufene Gelehrte auch deutsch oder russisch lesen. In vielem betrachtete man die finnischen Universitäten als Vorbilder. Die gewaltsame Eingliederung Estlands in die Sowjetunion 1 9 4 0 bedeutete für die Universität T a r t u nicht nur die bedingungslose Unterwerfung unter die Dogmen des Marxismus-Leninismus, sondern auch den Verlust ihres ausschließlich estnischen Gepräges. Ihre Veröffentlichungen lassen jedoch erkennen, daß alte Dorpater Traditionen noch immer fortgeführt werden.
3. Die Theologische
Fakultät
Von den vier bzw. (seit 1865) fünf Lehrstühlen der Theologischen Fakultät ist von Anfang an die am stärksten prägende Kraft von dem für Dogmatik und theologische Moral bzw. für systematische Theologie ausgegangen. An dem Schweden Lorenz Ewers ( 1 7 4 2 - 1 8 3 0 ) , der ihn 1 8 0 2 - 1 8 2 3 innehatte, verdient immerhin hervorgehoben zu werden, daß er im Gegensatz zu seinen durchweg rationalistischen Fakultätskollegen an der lutherischen —»Orthodoxie des 17. und 18. Jh. festhielt. Werner -»Eiert hat ihm ein Denkmal gesetzt, indem er in der Lehre vom Bösen daran erinnert, daß der alte Dorpater Dogmatiker „an dieser Stelle seiner Vorlesungen zu sagen pflegte: ,Meine Herren, ich bin ein warmer Freund des Teufels'" (Der Christi. Glaube, Hamburg 5 1 9 6 0 , 2 6 2 ) . Als es 1 8 2 3 durch das Zusammenwirken des damaligen Kurators Karl Graf Lieven, der einem frommen kurländischen Hause entstammte, und des langjährigen Rektors Gustav Ewers zu einer völligen Neubesetzung der Theologischen Fakultät kam, erhielt der greise Lorenz Ewers in dem jungen Darmstädter Ernst Wilhelm Christian Sartorius ( 1 7 9 7 - 1 8 5 9 ) einen Nachfolger, der von derselben Lehrgrundlage aus nun im Sinne einer kirchlichen Erneuerung zu wirken vermochte. Über seinen Weggang aus Marburg, wo er seit 1 8 2 2 einen Lehrstuhl innehatte, schrieb an August —»Vilmar am 1 . 1 1 . 1 8 2 4 dessen Bruder Wilhelm: „Er ist doch noch nach Sibirien gegangen. Dort mags ihm noch besser anstehen, die Ketzer zu bekehren, als hier" (Archiv F . W . Hopf in Hermannsburg). Wenn Dorpat dem kirchlichen Bewußtsein in Deutschland schon bald sehr viel weniger entlegen vorkommen sollte als den damals noch im —»Rationalismus befangenen Brüdern Vilmar, so hat Sartorius in dem Jahrzehnt seiner
Dorpat
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dortigen Wirksamkeit entscheidend dazu beigetragen. Neben seiner akademischen Lehrtätigkeit hielt er auch allgemeinverständliche Vorlesungen für ein weites Publikum und stiftete damit eine Dauereinrichtung, die seine Nachfolger fortführten. Als er 1835 dem Ruf in das Amt des Generalsuperintendenten der Provinz Preußen gefolgt war, trat 1842 in dem Berliner Privatdozenten jüdischer Herkunft Friedrich Adolf Philippi (1809—1882), der sich erst 1829 gegen den Willen seiner Familie hatte taufen lassen, eine Persönlichkeit an seine Stelle, die durch ihre außergewöhnliche Glaubenskraft und konfessionelle Entschiedenheit das begonnene Werk noch beträchtlich vertiefte. Wenn Philippi auch von 1851 an seine Lehrtätigkeit in —>Rostock fortsetzte, so blieb sein Einfluß doch unvermindert erhalten, und zwar vor allem durch zwei seiner Schüler, die ihr Leben lang in Dorpat wirkten: Alexander v. Oeningen (1827-1905) auf dem Lehrstuhl für systematische Theologie bis 1890 und dessen Schwager Moritzv. Engelhardt (1828—1881) auf dem für Kirchengeschichte. Daß man des ersteren Residenz am Wallgraben den „Vatikan" zu nennen pflegte, unterstreicht seine Bedeutung für das kirchliche Leben im Baltikum überhaupt. Die Fakultät aber prägte darüber hinaus den Pastorennachwuchs für die evangelischen Gemeinden des ganzen Russischen Reiches. Ebenfalls unter Philippis Einfluß stehend, lehrte Theodosius —»Harnack in Dorpat zunächst 1 8 4 3 - 1 8 5 2 und dann noch einmal 1 8 6 5 - 1 8 7 5 als Professor für praktische Theologie. In ihrem Wirken auf die rein wissenschaftliche Arbeit beschränkt, trugen auch der Exeget Johann Karl Friedrich Keil (1807-1888) in den Jahren 1 8 3 3 - 1 8 5 8 und der Kirchenhistoriker (1849-1858) und Exeget (1859-1870) Johann Heinrich Kurtz (1809-1890) zur einheitlichen Prägung der Fakultät bei. Des letzteren Lehrbuch der Kirchengeschichte (1849 1 4 1906) stellt einen Vorläufer von Heussis Kompendium dar. Durch die Berufung Wilhelm Volcks (1835-1904), der die neugeschaffene Dozentur (1861) bzw. Professur (seit 1865) für semitische Sprachen bis 1898 innehatte, öffnete sich Dorpat allmählich auch dem Einfluß der Erlanger Theologie (—»Erlangen, —»Hofmann, Johann Christian Konrad). Von den begabtesten Schülern v. Engelhardts wirkten in Dorpat selbst Nathanael Bonwetsch (1848-1925) als sein Nachfolger 1 8 8 1 - 1 8 9 1 und Reinhold -»Seeberg als Dozent 1 8 8 4 - 1 8 8 9 , während Adolf-*Harnack einen Ruf dorthin 1875 ablehnte. Der Fakultät von der Regierung aufgenötigt, des Deutschen nicht hinreichend mächtig und ohne Verständnis für die baltische Eigenart, machte der Slowake Jan Kvacala (1862-1934), der als Comenius-Forscher Bedeutendes geleistet hat, hier als Kirchenhistoriker 1893—1918 eine unglückliche Figur. Starken Einfluß auf die Theologiestudenten, deren Zahl 1890 bis auf 284 angestiegen war, zu Beginn des 20. Jh. aber wieder absank, übte Traugott Hahn (1875-1919) aus, der seit 1908 den Lehrstuhl für praktische Theologie innehatte. Mit der Fakultätsneubildung an der estnischen Universität Tartu wurde vom Kultusministerium am 2 6 . 9 . 1 9 1 9 der spätere Bischof (seit 1939) Johan Kopp ( 1 8 7 4 - 1 9 7 0 ) beauftragt, der selbst den praktisch-theologischen Lehrstuhl übernommen hatte. An Esten lehnen neben ihm noch Olaf Sild als Kirchenhistoriker und Hugo Bernhard Rahamägi (Bischof 1 9 3 4 - 1 9 3 9 ) als Systematiker, während von den Baltendeutschen die Alttestamentler Alexander v. Bulmerincq ( 1 8 6 8 - 1 9 3 8 ) und Otto Seesemann ( 1 8 6 6 - 1 9 4 5 ; zuletzt Professor für Neues Testament bis 1936) sowie die Neutestamender Adalbert Baron Stromberg ( 1 8 8 0 - 1 9 2 2 ) und Konrad Graß ( 1 8 7 0 - 1 9 2 7 ) ihre frühere Lehrtätigkeit fortsetzen konnten. Der seit 1850 bestehende Lehrstuhl für Orthodoxe Theologie wurde nunmehr der Fakultät eingegliedert. Ende der dreißiger Jahre waren sämtliche Lehrstühle mit Esten besetzt. Die Zahl der Studenten lag 1 9 2 9 bei 118. Der Anteil der Baltendeutschen daran belief sich nur noch auf ca. 1 0 % . Trotzdem wurde am 2 2 . 9 . 1 9 3 1 eine deutschsprachige Luther-Akademie auf privater Grundlage eröffnet, nachdem bereits seit 1925 zweimal jährlich Vortragskurse unter Mitwirkung namhafter Gelehrter aus den theologischen und philosophischen Fakultäten Deutschlands stattgefunden hatten. 1939 wurde sie im Zusammenhang mit der Aussiedlung der Deutschbalten aufgegeben. Ein Jahr später setzte der Einmarsch der Roten Armee auch der Arbeit der Theologischen Fakultät ein Ende.
4. Das Theologische
Institut
Da die deutschen Besatzungsbehörden nicht bereit waren, die Theologische Fakultät in ihrer früheren Gestalt wiedererstehen zu lassen, sich aber auch den Bemühungen um eine
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Dostojewskij
Fortführung der Pfarrerausbildung nicht ganz verschließen wollten, kam es 1943 zur Gründung eines Theologischen Instituts an der Universität Tartu. Die Lehrkräfte waren großenteils die der früheren Fakultät, der Lehrplan wurde unverändert übernommen, die alten Räumlichkeiten samt der Bibliothek konnten weiter genutzt werden, sogar die Gehälter der Lehrkräfte wurden aus dem Universitätshaushalt bestritten. Abgesehen vom Namen unterschied sich die neue Ausbildungsstätte von ihrer Vorgängerin letzdich nur dadurch, daß sie unter unmittelbarer Leitung des Bischofs der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche stand. Obgleich sie nach der Rückkehr der Roten Armee 1944 ihre Tätigkeit nicht fortsetzen konnte, hat sie doch als Bindeglied zwischen der alten Theologischen Fakultät der Universität Dorpat/Tartu und dem heutigen Theologischen Institut in Tallinn, das 1946 eröffnet worden ist, besondere Bedeutung gewonnen. Im Domküsterhaus, das auch dem Erzbischof Wohnung bietet und die Amtsräume des Konsistoriums enthält, äußerst bescheiden untergebracht, allein aus Spenden der Gemeinden unterhalten und von den Studenten nur jeweils einige Tage im Monat zur Teilnahme an Kursen besucht, da die Lehrkräfte in der Regel auch noch ein Pfarramt zu versehen haben, hat dieses Institut in solchem Maße den Ausbildungsstand der alten Dorpater Fakultät zu wahren vermocht, daß etliche seiner Absolventen an ausländischen Universitäten ohne weiteres zur Promotion zugelassen wurden.
Hatten sich 1943 lediglich der Name und die Leitung geändert, so 1946 nur noch der Ort und die Trägerschaft. Diese Entwicklung ist vor allem Erzbischof (1949—1967) Jaan Kiivit ( 1 9 0 6 - 1 9 7 1 ) zu verdanken, der sich zuletzt auch als hauptamtliche Lehrkraft für praktische Theologie zur Verfügung stellte. Der Aufbau der Institutsbibliothek erfolgte im wesentlichen durch Stiftungen aus Kirchen des Auslandes. Der Lehrkörper umfaßt 8—10 Mitglieder, die Zahl der Studenten liegt zwischen 2 0 und 30, von den Gasthörern abgesehen. Leiter des Instituts ist Ago Viljari. Bis 1980 haben 7 Magisterpromotionen stattgefunden. Literatur Baltische KG. Hg. v. Reinhard Wittram, Göttingen 1956. - Dt.baltisches Biographisches Lexikon 1 7 1 0 - 1 9 6 0 . Hg. v. Wilhelm Lenz, Köln/Wien 1 9 7 0 . - R o d e r i c h v. Engelhardt, Die Dt. Univ. Dorpat in ihrer geistesgesch. Bedeutung, Reval 1933 = Hannover-Döhren 1969 (Lit.).-Johannes Frey, Dictheol. Fak. der Kaiserl. Univ. Dorpat-Jurjew 1 8 0 2 - 1 9 0 3 , Reval 1 9 0 5 . - Paul Johansen, Art. Dorpat I. Bistum: R G G 3 2 (1957) 251 ( L i t . ) . - L e x i k o n dt. baltischer Theologen. Bearb. v. Wilhelm Neander, Hannover-Döhren 1 9 6 7 . - D o r o t h e a Neumärker, In memoriam Jaan Kiivit: KO 15 (1972) 1 6 3 - 1 7 2 . - G e org v. Rauch, Die Univ. Dorpat u. das Eindringen der frühen Aufklärung in Livland 1 6 9 0 - 1 7 1 0 , Essen 1943. - Ders., Das baltische Pfarrhaus: KO 5 (1962) 9 8 - 1 1 7 . - Ders., Stadt u. Bistum Dorpat zum Ende der Ordenszeit: Z O F 2 4 (1975) 5 7 7 - 6 2 5 . - Reinhard Wittram, Die Univ. Dorpat im 19. Jh.: Z O F 1 (1952) 1 9 5 - 2 1 9 . - Ders., Art. Dorpat II. Univ.: R G G 3 2 (1957) 2 5 1 - 2 5 5 .
Peter Hauptmann Dostojewskij, Fjodor Michajlowitsch 1. Leben
2. Werk
(1821-1881)
(Werke/Literatur S. 165)
1. Leben Als Sohn eines Arztes am 3 0 . 1 0 . ( 1 1 . 1 1 . ) 1821 in Moskau geboren und in bescheidenen, familiär nicht erfreulichen, aber doch kultivierten Verhältnissen aufgewachsen, empfing Dostojewskij im Familienkreis und auf Moskauer Privatschulen eine gute Bildung. 1832 trat er in Petersburg in die militärische Ingenieurschule ein. Doch galt sein Hauptinteresse immer der Literatur. Um sich ihr ganz widmen zu können, trat er im Oktober 1844 aus dem Militärdienst aus. Sein erster Roman, Arme Leute (1846), hatte großen Erfolg. Die soziale Thematik dieses Werkes brachte Dostojewskij in Verbindung zu sozialreformerischen und revolutionären Kreisen. Als Glied eines solchen Kreises wurde er 1849 vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und erst auf dem Hinrichtungsplatz zu vier Jahren Zwangsarbeit begnadigt, die er in Sibirien ableisten mußte; anschließend wurde er zwangsweise Soldat. Seit 1850 litt er an Epilepsie. Erst 1858 durfte er zu schriftstellerischer Arbeit zurückkehren. 1866 brachte der Roman Schuld und Sühne ihm neuen großen Erfolg. Eine schwere Schuldenlast, die unter anderem durch den Mißerfolg zweier von ihm herausgegebener Zeitschriften entstanden war, zwang ihn, von 1867 bis 1871 im Ausland zu leben (be-
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sonders in Dresden, Genf und Florenz). Im letzten Jahrzehnt seines Lebens besserten sich seine finanziellen Verhältnisse. Durch seine fünf großen Romane Schuld und Sühne (1866), Der Idiot (1869), Die Dämonen (1872), Der Jüngling (1875) und Die Brüder Karamasoiv (1881) und durch seine Publizistik Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ( 1 8 6 0 - 1 8 6 2 ) sowie dem Tagebuch eines Schriftstellers - darin u. a. die Puschkin-Festrede (1880) — gewann er weitreichende Anerkennung als Schriftsteller und als einer der geistigen Führer der russischen Intelligenz. 2. Werk Oswald Spengler schrieb 1922 im Untergang des Abendlandes: „Das Christentum Tolstojs war ein Mißverständnis . . . Dem Christentum Dostojewskijs gehört das nächste Jahrtausend" (II, 236f). Zahlreiche orthodoxe, katholische und evangelische Theologen und Philosophen haben Dostojewskijs Werk aus theologisch-philosophischer Sicht dargestellt, gedeutet und versucht, es historisch zu verstehen und religiös fruchtbar zu machen. Dieser theologischen Deutung ist zum Teil heftig widersprochen worden, einerseits von der marxistischen Literaturwissenschaft, die die religiös-theologische Komponente im Werk Dostojewskijs für zweitrangig und sein soziales Anliegen für die gültige Mitte im Leben und Schaffen Dostojewskijs hält, andererseits von der strukturalistischen Literaturwissenschaft, die dazu neigt, alle philosophischen und theologischen Aussagen in den Werken Dostojewskijs als auswechselbare Strukturelemente zu verstehen, hinter denen der Schöpfer dieser Strukturen, der Mensch Dostojewskij, verborgen bleibe, in weltanschaulicher Neutralität verharre. Aber beide Einwendungen gegen den Versuch, das Werk Dostojewskijs auch als theologische Aussage zu verstehen, sind einseitig. Gewiß hat das soziale Anliegen bei Dostojewskij einen hohen Stellenwert, aber es ist eingebettet in umfassendere, religiös-philosophische Fragestellungen; gewiß benutzt Dostojewskij die Antithese von Wahrheit und Lüge, von Lebenserfüllung und Lcbensverfehlung, von Gut und Böse als Elemente der künstlerischen Strukturierung seiner Romane, aber er steht den beiden Gliedern dieser Antithese nicht in weltanschaulicher Neutralität unparteiisch gegenüber, sondern zeigt nicht nur in seinen Briefen, Tagebüchern und in seiner Publizistik, nicht nur in den Äußerungen einzelner Romangestalten, sondern durch die Gesamtstruktur (und gelegentlich auch durch die Motti) seiner Romane, welches für ihn der Weg des Lebens und welches der Weg des Todes ist und daß der Weg des Lebens für ihn unwidersprechlich und selbstevident besser ist als der Weg des Todes. Das Hauptinteresse Dostojewskijs ist der Mensch in der sozialen, kulturellen, geistigen Situation seiner Zeit. Auch in seinem religiösen Denken geht er vom Menschen aus. Als naturhaftes Wesen hat der Mensch Teil am naturhaften Sein. Durch seine Vernunft aber tritt er heraus aus dem nur naturhaften Sein. Er fragt nach dem Sinn und nach der Norm seines Seins und Handelns. Dadurch gewinnt er das Bewußtsein der geistigen und sittlichen Freiheit. Gegen den philosophischen Determinismus, der auch das menschliche Handeln als absolut determiniert betrachtet und darum geistige und sittliche Normen letztlich für überflüssig hält, behauptet Dostojewskij mit trotzigem Nachdruck, manchmal mit geradezu paradoxen Argumenten die menschliche —»Freiheit (—»Wille/Willensfreiheit). Aber er tut das nicht, indem er sie philosophisch oder psychologisch zu beweisen sucht, sondern er nimmt die Freiheit an, weil der Mensch ohne die Idee und das Bewußtsein der Freiheit nicht leben könnte, weil er ohne dieses Bewußtsein entarten würde zu einem mißlungenen Tier. Darum sind das Leben und das Werk Dostojewskijs bestimmt von dem Kampf für die Freiheit: für die Freiheit von physischem Zwang, von sozialer Abhängigkeit, von sexueller Hörigkeit, von jedem heteronomen Gesetz (und sei es das eines überweltlichen Gottes), für die Freiheit sogar von dem übermächtigen Zwang der Naturgesetze. Auch zur Gottesidee kommt Dostojewskij von der Idee der Freiheit her. Die sittliche Forderung tritt dem Menschen als absolute Forderung gegenüber, die er auch gegen seine eigenen materiellen, physischen Interessen zu erfüllen hat und die er in Freiheit erfüllen kann. Voraussetzung des sittlichen Handelns ist im Falle des Konfliktes zwischen „Pflicht und Neigung" das Bewußtsein der absoluten, ewi-
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gen Verantwortung. Die Idee einer solchen Verantwortung impliziert die Gottesidee. Wiederholt hat Dostojewskij gesagt, d a ß die Gottesidee u n d die Idee der Unsterblichkeit identisch seien, zwei Seiten einer Medaille; und die Idee der Unsterblichkeit ist für Dostojewskij die im Glauben vollzogene Objektivierung des subjektiven Empfindens der ewigen Verantwortung. Gott und Unsterblichkeit sind nicht theoretische Wahrheiten, die aus Vernunft oder Erfahrung (also auch nicht aus historischer Offenbarung) bewiesen werden könnten; sie sind Postulate wie bei —»Kant, aber nun doch nicht sozusagen akademische Forderungen, von denen man weiß, d a ß sie nicht erfüllbar sind und mit deren Unerfüllbarkeit man sich abfindet, sondern der Mensch schreit mit seiner ganzen physischen, geistigen und sittlichen Existenz nach der Gewißheit vom Sein Gottes, die er doch so schwer (und im 19. Jh. noch sehr viel schwerer als in früheren Zeiten) erlangen kann. Eine Hilfe, zu dieser Gewißheit zu kommen, ist die innere Zustimmung, mit der alle Menschen, auch die Ungläubigen, das Leben der wahrhaft Gläubigen betrachten müssen, seien es die naiv gläubigen Kinder oder das gläubige „Volk" oder Gestalten wie der Staretz Sossima in den Brüdern Karamasow, der durch Zweifel und Verneinung hindurch zum Glauben gekommen ist; die größte Hilfe aber ist die Gestalt —»Jesu Christi. Von Kind auf hat Dostojewskij diese Gestalt geliebt. In Christus ist für ihn das Wort in dem Sinne „Fleisch geworden", d a ß das absolute Ideal, das jeder Mensch in sich trägt, von Christus in völliger Freiheit vollkommen erfüllt ist. Damit ist die Möglichkeit erwiesen, d a ß es erfüllt werden kann; und gleichzeitig ist uns von Christus gezeigt, worin das —»Ideal liegt, wie das ideale Leben beschaffen ist. Er hat gezeigt, daß es die Aufgabe des Menschen ist, zu helfen und zu heilen, —>Liebe zu predigen und Liebe zu erweisen, den Menschen ihre ewige Verantwortlichkeit zu zeigen und ihr —»Gewissen zu vertiefen, ihre Freiheit zu achten und dem Versucher zu widerstehen, der gerade dem großen Menschen nahelegt, die Menschen mit subtilen Methoden zu ihrem eigenen Glücke zu zwingen. Das Ideal, einmal von Christus erfüllt, ist von nun an als gültiges Zeichen über der Menschheit aufgerichtet; es ist allgegenwärtig, und nicht einmal der Großinquisitor kann es in Kerkermauern einschließen oder durch einen Autodafé vernichten. Im einfachen russischen Volk ist es in besonderer Weise lebendig, und es kann die Menschheit vom drohenden Untergang retten. Aber das Leben und Sterben Christi hat nicht nur die Bedeutung des Vorbildes. Gelegentlich deutet Dostojewskij den sühnenden Charakter des unschuldigen Leidens an. Aber noch wichtiger ist für ihn die Frage nach der —•Auferstehung Christi. Sie ist ihm kein beweisbares historisches Faktum, aber sie ist, wie die Existenz Gottes und die ewige Verantwortung des Menschen, ein „Postulat der praktischen Vernunft": Wenn das Leben Jesu Christi wie das jedes einzelnen Menschen vom Tode verschlungen worden ist, dann ist die N a t u r „eine riesige Maschine, die in sinnloser Weise, taub und empfindungslos ein großes und unendlich wertvolles Wesen ergriffen, zerstückelt und verschlungen h a t - ein Wesen, das ganz allein so viel wert war wie die ganze N a t u r und alle ihre Gesetze, wie die ganze Erde, die ja vielleicht überhaupt nur einzig dazu geschaffen war, dieses Wesen erscheinen zu lassen" (Der Idiot III, 6, 50). Der anthropologische, transzendentalphilosophische Ansatz des religiösen Denkens Dostojewskijs wird hier wiederum deutlich: Wie aus dem Bewußtsein der Absolutheit der sittlichen Forderung die Idee Gottes und der Unsterblichkeit (d.h. der ewigen Verantwortung) entstand, so entsteht hier aus der Unmöglichkeit, sich mit dem sinnlosen, sinnwidrigen Faktum des Todes Jesu Christi abzufinden, der Glaube an seinen Sieg über den T o d . Wie in der Transzendentalphilosophie die Frage nach der Objektivität der Gegenstände, die uns im Bewußtsein gegeben sind, offen bleibt, so auch in der transzendentalen Religionsphilosophie Dostojewskijs. Was von der natürlichen Sonne gilt, gilt in noch höherem Grade von der überweltlichen Sonne des Seins: Wir können nicht leben ohne sie und können doch nicht wissen, sondern nur glauben, d a ß sie ist. Kurz nach seiner Entlassung aus dem sibirischen Zuchthaus (im Februar 1854) hat Dostojewskij in einem Brief geschrieben: „Wenn mir jemand bewiese, daß Christus außerhalb der Wahrheit sei, und wenn es wirklich so wäre, daß die Wahrheit außerhalb von Christus ist, so möchte ich lieber mit Christus bleiben als mit der Wahrheit." Die Wahrheit, von der Dostojewskij hier redet, ist nicht irgendein
Dostojewskij
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theoretischer Satz, sondern die Wahrheit von der Existenz Gottes: Wenn Christus mit seinem Glauben, daß es einen Gott gibt, theoretisch nicht recht haben sollte, so wäre es besser, bei diesem Glauben zu bleiben und aus diesem Glauben ein Leben zu führen, wie Christus es gelebt hat, als ohne diesen Glauben den Sinn und die Würde des Menschen zu verlieren. Dostojewskij steht mit den hier dargelegten religiösen Ideen stärker in der Tradition des deutschen —»Idealismus und der —»Romantik, die von —»Kant und —»Schiller, von —»Goethe, —»Schelling und Carus, von —»Hegel und den Rechtshegelianern und von den russischen Anhängern und Nachfolgern dieser Philosophen und Dichter geprägt sind, als in der Lehre und dem kultischen Leben der —»Orthodoxen Kirche, zu der er gehört hat. Dennoch fühlte er sich auch mit dieser Kirche und mit der religiösen Eigenart des einfachen russischen Volkes verbunden, vor allem durch sein inniges Verhältnis zur Natur, durch den kosmischen Charakter seines religiösen Empfindens. Die meisten seiner religiösen Gedanken lassen sich bei Theologen, Philosophen und Dichtern des 18. und 19. Jh. nachweisen; ihre Synthese zu einem geschlossenen System religiösen Denkens, Empfindens und Erlebens ist wohl doch weitgehend sein eigenes Werk; ganz sein eigen ist jedenfalls die schöpferische Kraft, mit der er diesen Gedanken dichterischen Ausdruck verliehen hat. Aus der Modernität seiner theologischen Gedanken und der Eindringlichkeit ihrer dichterischen Gestaltung erklärt sich die starke und noch immer anhaltende Wirkung, die Dostojewskij auf die nachfolgende Entwicklung der christlichen Theologie der verschiedensten Konfessionen und Richtungen und - darüber hinaus - auf die Entwicklung des religiösen Bewußtseins der Menschheit ausgeübt hat. Spengler hatte nicht so ganz Unrecht mit seiner Prophezeiung. Werke Gesamtausgaben: Sobraniesocinenij v desjati tomach, 10Bde., Moskau 1 9 5 6 - 1 9 5 8 . - P o l n o e s o branie socinenij v tridcari tomach, [bisher:] 21 Bde., Leningrad 1 9 7 2 - 1 9 8 0 . - G A . Unter Mitarbeit v. D. Mereschkowski hg. v. A. Moeller van den Bruck, 22 Bde., München 1 9 0 6 - 1 9 2 1 . —Sämtl. Romane u. Novellen, 25 Bde., Leipzig 1 9 2 1 . - S W in 8 Einzelbänden, München 1958ff = Stuttgart 1975 ff. Publizistik: Tagcbuch eines Schriftstellers, hg. u. übertragen v. Alexander Eliasberg, 4 Bde., München 1 9 2 1 - 1 9 2 4 . - Briefe: Ges. Briefe 1 8 3 3 - 1 8 8 1 , übers., hg. u. komm. v. Friedrich Hitzer, München 1966. Literatur Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostojewskijs, München 1971. - Nikolai Berdjajcw, Die Weltanschauung Dostojewskijs, München 1925. - Josef Bohatec, Der Imperialismusgedanke u. die Lebensphil. Dostojewskijs, Graz/Köln 1951. — Martin Doerne, Gott u. Mensch in Dostojewskijs Werk, Göttingen 2 1962. - Paul Evdokimov, Der Abstieg in die Hölle. Gogol u. Dostojewskij, Salzburg 1965. Leonid Grossman, 2izn' i trudy F.M. Dostoevskogo. Biografija v datach i dokumentach [Leben u. Werke Dostojewskijs. Eine Biographie in Daten u.Dokumenten], Moskau/Leningrad 1935.-Romano Guardini, Rel. Gestalten in Dostojewskijs Werk, München 3 1947. - Wjatscheslaw Iwanow, Dostojewskij. Tragödie, Mythos, Mystik, Tübingen 1932. - Theoderich Kampmann, Dostojewskij in Deutschland, Münster 1931. - Reinhard Lauth, Ich habe die Wahrheit gesehen. Die Phil. Dostojewskijs in syst. Darstellung, München 1950. - Nikolaj O. Losskij, Dostojewskij i ego christianskoe miroponimanie [Dostojewskij u. sein christl. Weltverständnis], New York 1953. - Dmitrij Sergejewitsch Mereschkowskij, Tolstoj u. Dostojewskij. Leben, Schaffen, Religion, Berlin J 1 9 2 4 . - K. Mocul'skij, Dostoevsky. His Life and his Work, Princeton 1967. - Ludolf Müller, Dostojewskij, Tübingen 1977 (Lit.). Wolfgang Müller-Lauter, Dostoevskis Ideendialektik, Berlin 1974. - Walter Nigg, Rel. Denker. Kierkegaard, Dostojewskij, Nietzsche, van Gogh, Bern/Leipzig 1942. - Karl Nötzel, Das Leben Dostojewskijs, Leipzig 1925. - Konrad Onasch, Dostojewskij-Biographie. Materialsammlung zur Beschäftigung mit rel. u. theol. Fragen in der Dichtung F.M. Dostojewskijs, Zürich 1960. - Ders., Dostojewskij als Verführer. Christentum u. Kunst in der Dichtung Dostojewskijs, Zürich 1961. - Ders., Der verschwiegene Christus. Versuch über die Poetisierung des Christentums in der Dichtung F. M. Dostojewskijs, Berlin 1976. - Karl Pfleger, Geister, die um Christus ringen, Salzburg/Leipzig 1934. - Walter Rehm, Jean Paul - Dostojewskij. Eine Studie zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens, Göttingen 1962. — Leo Schestow, Dostojewskij u. Nietzsche. Phil. u. Tragödie, Köln 1924. - Wilhelm Schümer, Tod u. Leben bei Dostojewskij. Ein Beitr. zur Kenntnis des russ. Christentums, Calw o. J. — Jurij Seleznev, V mire Dostoevskogo [In der Welt Dostojewskijs], Moskau 1980. - Wladimir Solov'ev, Drei Reden, dem Andenken Dostojewskijs gewidmet, Mainz 1921. - Theodor Steinbüchel, F.M. Dostojewskij. Sein Bild
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Drei Könige
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Ludolf Müller Doxologie —»Formeln, Liturgische, —»Liturgie Dräseke, Johann H. B. —»Sachsen, —»Unionen, Kirchliche Drei Könige, Heilige tum
1. Geschichte und Legendenbildung (Literatur S. 169)
1. Geschichte und
2. Ikonographie
3. Die Reliquien
4 . Religiöses Brauch-
Legendenbildung
Die in der Bibel bei Mt 2,1 — 12 erwähnten Magier {ftdyoi) kamen aus dem Osten nach Jerusalem. Sie wollten dort dem vor kurzem geborenen König der Juden huldigen, dessen Stern sie im Osten gesehen hatten. Auf Anraten des Königs Herodes gingen sie nach Bethlehem. Uber einem Hause, über dem der wiedererschienene Stern stehenblieb, fanden sie das Kind und seine Mutter, fielen nieder, beteten es an, beschenkten es mit Gold, Weihrauch und Myrrhe und gingen danach auf einem anderen Weg in ihr Land zurück. Die Kritik nimmt einerseits an, daß dem Bericht ein historischer Kern zugrunde liegt, andererseits gilt er als Erfindung ohne historischen Hintergrund. Bultmann findet Hinweise auf Sagen- und Märchenmotive. Es wird versucht, in dem Bericht einen Mythos zu sehen, der die Herrschaft Christi über die Heidenwelt versinnbildlicht. Andere versuchen, die Anbetung der Magier aus dem Mithraskult abzuleiten. Auch wird daraufhingewiesen, daß zu Beginn des 1. Jh. bei den Magiern in Persien die jüdische Erwartung eines Messiaskönigs bekannt war. Was unter der biblischen Bezeichnung Magier zu verstehen ist, bleibt dennoch eine Frage. Die Deutung des Wortes reicht von „ehrenwerte Leute" bis hin zu „Traum- und Sterndeuter". Nichts hindert jedoch daran, in dem Bericht ein historisches Ereignis zu erkennen.
Die Zahl der Magier schwankte zunächst. Erstmals —»Origenes erkennt vielleicht aus der Dreizahl der Geschenke drei Geschenkgeber. —»Tertullian billigt als erster den Magiern königlichen Rang zu. Seit —»Caesarius von Arles wird diese Auffassung im Abendland vorherrschend. Seit dem ausgehenden 10. Jh. hat sich die Krone als Kopfbedeckung in der abendländischen Kunst endgültig durchgesetzt. Der königliche Rang, den man den Magiern zuspricht, beruht wesentlich auf Ps 71 (72),10f („Die Könige von Tarschisch und von den Inseln bringen Geschenke") und auf Jes 60,3. Als Namen der Drei Könige haben sich Kaspar, Melchior und Balthasar durchgesetzt. Nach Dunnville beruhen sie auf den Excerpta latina barbari (Bithisarea, Melchior, Gathaspa) aus dem 8. Jh. Diese beruhen auf einer alexandrinischen Vorlage, die angeblich aus dem 6. Jh. stammt. Die Drei Könige als Vertreter dreier menschlicher Altersstufen (Jüngling, Mann, Greis) aufzufassen, erfolgte nach Weigand zu Anfang des 8. Jh. Ausnahmsweise findet sich die Altersunterscheidung schon im 6. Jh. In allen Perioden des Mittelalters erscheinen die Drei Könige als Repräsentanten der Menschheit. Sie seien Nachkommen der drei Söhne Noahs und kämen aus den drei Erdteilen. Diese Auffassung beruht auf Augustin und wurde allgemeine Auffassung durch —»Hrabanus Maurus. — In Wappenbüchern des 14. Jh. erscheinen erstmals die Phantasiewappen der Drei Könige. Kaspar (Asien) erhält als Wappenschild Stern und Halbmond, Balthasar (Afrika) führt einen Mohren, oft mit Fähnchen und Schild im Wappen, Melchior (Europa) mehrere Sterne. - Seit dem 12. Jh. wird einer der Könige manchmal als Mohr dargestellt. Zuerst ist es Balthasar, später Kaspar, der im Theater eine beliebte Volksfigur wird und im Puppentheater zu einer komischen Figur gerät. - Die drei Gaben finden bereits vor 500 n.
Drei Könige
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Chr. eine frühe Deutung in der syrischen Schatzhöhle (um 500; ed.C.Bezold, Leipzig 1883/88; dt. P. Rießler, Altjüd. Schrifttum außerhalb der Bibel, Freiburg/Heidelberg "1979, 9 4 2 - 1 0 1 3 ) . Danach holten die Magier ihre Gaben aus einer Schatzhöhle, in der sie Adam nach seiner Vertreibung aus dem Paradies niedergelegt hatte. Durch die Annahme der Gaben erwies sich Christus als König (Gold), Arzt (Myrrhe) und Gott (Weihrauch). Die Legende der Heiligen Drei Könige hat sich seit dem 6. Jh. vor allem in Syrien gebildet. Die erste Quelle ist die erw'ihmeSchatzhöhle. Die zweite Quelle ist das —>Opus imperfectum in Matthaeum (um 550/60) und die Chronik von Zuqnin (syrisch, vor 774/75). Beide Schriften gehen wahrscheinlich auf eine uns unbekannte syrische Schrift zurück, die vor dem 6. Jh. vielleicht in Edessa entstanden ist. Hier werden 12 Magier und Könige genannt; im Stern erscheint ein Kind mit einem Kreuz, die Magier werden vom Apostel Thomas getauft und üben missionarische Tätigkeit aus. — Die dritte Quelle ist eine Textgruppe vielleicht persischer Herkunft und das arabische Kindheitsevangelium (vgl. NTApo 4 I, 302 f). Die Auffindung der Gebeine der Heiligen Drei Könige (nach Abt Robert de Thorigny im Jahre 1158) in San Eustorgio in Mailand und die Überführung durch Rainald von Dassel nach Köln (1164) veranlaßte die Verbreitung der anonymen Vita Beati Eustorgii Confessoris. Sie ist in ca. 20 Versionen erhalten, wovon die älteste gegen Ende des 12. Jh. in Köln geschrieben wurde. Alle Versionen, auch die später in Mailand geschriebenen, dürften auf ältere Berichte, die uns nicht bekannt sind, zurückgehen. Nach dieser Vita wurde der Botschafter des byzantinischen Kaisers Eustorgius, geboren in Konstantinopel, von den Mailändern zum Bischof erwählt. Er regierte von 3 4 4 - c a . 3 5 0 , nach der Vita jedoch schon früher (311). Er erbittet sich vom Kaiser die Gebeine der Heiligen Drei Könige, die die heilige Helena aus dem Osten nach Konstantinopel gebracht hatte, überführt sie nach Mailand und bestattet sie in einer eigens dafür erbauten Kirche, in der er später selber begraben wurde. Leider ist kein Dokument aufgetaucht, das eine besondere Dreikönigenverehrung in Mailand vor 1158 klar belegt.
1364/75 entstand die am meisten verbreitete Legende des Johannes von Hildesheim. Allein 60 Handschriften des 14. und 15. Jh. sind bekannt. Sie verwertet die angegebenen Quellen und einige mittelalterliche Pilgerberichte. Von ihrer weiten Verbreitung zeugen zahlreiche Übersetzungen und Drucke. 2.
Ikonographie
Seit dem 3. Jh. entsteht in der Katakombenmalerei und der Sarkophagplastik das Bild der Anbetung der Drei Könige. Nach 320 wird es manchmal von der Geburt Christi unterschieden. Zwei Grundtypen (der Mutter mit dem Kind nahen sich von links die Könige, oder Mutter und Kind thronen frontal in der Mitte) beherrschen die Darstellung in vormittelalterlicher Zeit. Die orientalische Tracht (Hosen, Chiton, Chlamys, phrygische Mütze) in frühchristlicher Zeit kennzeichnet sie vielleicht schon als persische Könige. Die Komposition der Gabendarbringung stammt aus der römischen Triumphalkunst (Barbarentribut an den Kaiser). Ein byzantinischer Typ der Anbetung zeigt den auf den Stern weisenden Engel und die Kniebeuge des ersten Königs. Ein späterer byzantinischer Bildtypus bezieht die Anreise und Anbetung der Könige in das Geburtsgeschehen ein. Im Mittelalter lebt der hellenistisch-frühchristliche Typus zunächst weiter (karolingische —»Buchmalerei), dann mehr der byzantinische Grundtypus. Seit etwa 1300 wird die Szene der Anbetung dramatisch bereichert. — Der Dreikönigenzyklus in Malerei und Plastik hat seine Vorformen schon in frühchristlicher Zeit. In der östlichen und frühmittelalterlichen Kunst hält man sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei der Gestaltung eines Zyklus an die Begebenheiten der Bibel. Im Hoch- und Spätmittelalter spielen die alten Quellen und die Verschiedenheiten der Legende im Westen eine große Rolle. Auf den Kölner Chorschranken ( l . H . 14. Jh.) erscheint die Legende in sieben Feldern. Der Dreikönigenschrein (1181-1220/30) besitzt keinen Dreikönigenzyklus. Nur an der Vorderseite ist die Anbetung dargestellt, während der Figurenzyklus und die Inschriften die gesamte Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt über das Alte Testament, die Erlösung durch Christus und die Vollendung der Welt beim Jüngsten Gericht zur Darstellung bringt. Ende des 15. Jh. (Benozzo Gozzoli, Memling) bis ins
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Drei Könige
17./18. Jh. hinein statten die Künstler die Anbetung der Drei Könige phantasievoll aus. Die Zyklen entfallen. Im 19. Jh. entsteht vereinzelt ein gemalter Zyklus (Beckenkamp 1807, heute Erzbischöfl. Diözesan-Museum in Köln), oder die Nazarener greifen auf ältere Bildvorlagen zurück (Degers Geburtsbild in Remagen). Die moderne Kunst vereinfacht gern (Nolde). 3. Die Reliquien Im Jahre 1864 wurden die Reliquien der Heiligen Drei Könige und der Heiligen Nabor, Felix und Gregor von Spoleto aus einer älteren hölzernen Reliquienlade in eine neue umgebettet. Sie steht im Inneren des Dreikönigenschreines. Die Häupter der Heiligen Drei Könige ohne deren Unterkiefer waren bereits um 1200 von den übrigen Reliquien getrennt worden. Sie liegen bis heute auf dem sogenannten Häupterbrett hinter der trapezförmigen Verschlußplatte der Stirnseite des Dreikönigenschreines. 1864 fanden sich die zu den Schädeln passenden Unterkiefer. Im Protokoll wird vermerkt, daß ein Schädel von einem Jugendlichen im Alter von 10— 12 Jahren stamme, ein anderer von einem Manne im Alter von 25—30 Jahren, der dritte von einem Mann, der im Alter von ca. 5 0 Jahren gestorben sei. Der anatomische Teil des Protokolls wurde von drei anwesenden Ärzten diktiert. Außer den Unterkiefern konnten auch die übrigen Gebeine drei Personen zugeordnet werden. Interessant ist die Feststellung, daß drei Rippen auf der Vorderseite verbunden waren durch eingetrocknete Haut- und Fleischteile. Das erinnert an Berichte aus dem 12. Jh., in denen gesagt wird, daß die Leiber der Heiligen Drei Könige mit Haut überzogen gewesen seien. Im Protokoll sind keine Kriterien angegeben, ob es sich bei den Gebeinen der Heiligen Drei Könige um Personen handelt, die zur Zeit Jesu gelebt haben könnten. Bei der Untersuchung war u.a. Prof. Hermann Schaafhausen (Schädelforscher) zugegen. Der Befund wird historisch von großem Interesse durch Beobachtungen des Aachener Kanonikus Franz Bock bei der Umbettung der Gebeine. Er sah einzelne Gebeine, größere und kleinere, so unendlich oft von einem Stoff umwickelt, der ein kleines Quadratmuster zeigte, daß er fast ein festes Konglomerat bildete und kaum voneinander geblättert werden konnte. Bock schrieb dem Stoff, nach der Art wie er die Gebeine umhüllt, ein messianisches Alter zu. Außerdem entdeckte er einen kleinen Bruchteil eines orientalischen Seidengewebes, das mit Gold durchwirkt war. Seither werden in der Schatzkammer des Domes ein größeres Stück von dem Stoff mit kleinen Quadratmustern und der Rest des mit Gold durchwirkten Stoffes aufbewahrt. Neue Untersuchungen ergaben, daß es sich bei beiden Stoffen um einen seidenen Blöckchendamast aus Syrien handelt. Er ist im 2 . / 3 . J h . n . Chr. in Palmyra (?) gewebt worden. Die Goldwirkerei ist ein griechisch-byzantinischer Wellenmäander in einem Purpurstoff. Einzig Königen und Fürsten war in der Antike ein solcher Seidenstoff mit golddurchwirkter Purpurborte eigen. Man kann nicht annehmen, daß Erzbischof Rainald von Dassel 1164 die Leiber in Mailand auf die genannte Weise mit fast tausendjähriger und daher brüchiger Seide umwickelt hat. Die Gebeine, mit denen wir seit langer Zeit die Namen der Heiligen Drei Könige verbinden, gehören daher zu den ältesten Reliquien der Christenheit. — In Köln war es verboten, Reliquien von den Gebeinen der Heiligen Drei Könige zu entnehmen. Von den Stoffhüllen hat man jedoch öfter etwas nach außerhalb geschenkt.
4. Religiöses
Brauchtum
Sternsinger in Phantasietracht, Kronen und Weihrauchfaß stellen die Drei Könige dar. Sie ziehen singend hinter einem leuchtenden Stern her und bitten um Gaben. Der Brauch beruht auf mittelalterlichen Dreikönigenspielen der Schüler an Bischofssitzen und Stiften, wurde später reich ausgestaltet und erfährt mancherorts heute eine Neubelebung. In Köln segnet der Erzbischof nach dem Gottesdienst Kreide und Weihrauch für die Sternsinger. Mit der Kreide werden die Anfangsbuchstaben der Namen der Dreikönige verbunden mit der Jahreszahl auf die Türen geschrieben (z.B. 1 9 + C + M + B - I - 8 1 ) . Mit Kreuzen versehen sind die Zeichen ein Segen, der Böses vom Hause abwenden soll. Im Kölner Gebiet, aber auch weit darüber hinaus, waren Stoffstücke und Zettel mit aufgedruckten Bildern, Dreikönigenbuchstaben und Gebeten in Gebrauch. Sie waren an den Gebeinen der Heiligen Drei Könige angerührt. Die Gebete auf den Berührungsbildern flehen um Schutz auf der Reise, um Abwehr von allerlei Gefahren, Krankheiten (Fallsucht), Hexerei, Zauberei etc. Auch Pilgerzeichen und Dreikönigsmedaillen dienten seit dem Mittelalter ähnlichen Zwecken. Bei
Dreißigjähriger Krieg
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Glockengüssen wurde der Form manchmal ein Pilgerzeichen eingeprägt zur Abwehr von Unwettern. Mit dem Reisesegen verbunden ist das Entstehen von Gasthausnamen (Dreikönige, Mohr, Krone, Stern) und Bannsprüche über Haustiere, die sich verlaufen können. Mit dem Dreikönigstag als dem alten Jahresbeginn hängen die Dreimahlsnacht (Mittwinterroggenbrot) und Bräuche zur Ermittlung der Zukunft (Bleigießen, Hafengucken, Einbacken eines Metallstücks, einer Bohne für den Bohnenkönig oder einer Mandel im Festgebäck) und Wünschelrutenbräuche zusammen. In der Nacht vor Dreikönigen (Rauchnacht) ziehen Befana, Bercht (Berchtenlaufen) und Frau Holle durch die Lüfte. Damit mischt sich auch Abergläubisches in das Brauchtum ein. Das Fest der Heiligen Drei Könige ist das —»Epiphaniasfest. Literatur Rudolf Bultmann, Die Gesch. der synoptischen Tradition, Göttingen 3 1 9 5 7 , 3 1 7 ff; Erg. H., Tübingen 1958, 44f. - Hans Hofmann, Die Hl. Drei Könige, Bonn 1975. - Jacoby, Art. Dreikönigssegen: HWDA 2 (1929/30) 4 5 9 - 4 6 2 . - Hugo Kehrer, Die Hl. Drei Könige in Literatur u. Kunst, Leipzig 1908/09. - Karl Künstle, Ikonographie der christl. Kunst, Freiburg, I 1928, 3 5 4 - 3 6 5 . - Henri Leclercq, Art. Mages: DACL 10/1 (1931) 9 8 0 - 1 0 6 7 . - K a r l Meisen, Die Hl. Drei Könige u. ihr Festtag im volkstümlichen Glauben u. Brauch, Köln 1949. — Giuseppe Messina, Der Ursprung der Magier u. die zarathustrische Religion, Rom 1930. - Ders., I Magi a Betlemme e una predizione di Zoroastro, Rom 1933. - Johann Michl u.a., Art. Drei Könige: LThK 2 3 (1959) 5 6 6 - 569. - Ugo Monneret de Villard, Le leggende orientali sui Magi evangelici, Rom 1952. - Arthur Darby Nock, Beginnings of Christianity, hg. v. F. J. Foakes Jackson/Kirsopp Lake, 1/5 1933,164—188. - J. Patsch, Die Magier aus dem Morgenland: ThPQ 105 (1957) 1-8. - Herbert Paulus, Art. Drei Könige: RGG 3 2 (1958) 264f. - Paul Satori, Art. Dreikönige: HWDA 2 (1929/30) 4 4 8 - 4 5 9 . - Walter Schulten, Der Kölner Domschatz, Köln 1980, Kat. 64;66. - 800 Jahre Verehrung der Hl. Drei Könige in Köln. Kölner Dombl., Köln 1964. Stephan Waetzold, Art. Drei Könige: RDK 4 (1958) 4 7 6 - 5 0 1 . -Adolf Weis, Art. Drei Könige: LCI 1 (1968) 5 3 9 - 5 4 9 .
Walter Schulten Dreikapitelstreit—>Jesus Christus,^-Justinian,-^Konstantinopel Dreisprachendoktrin
Kirchensprache
Dreißigjähriger Krieg 1. Allgemeines 2. Der böhmisch-pfälzische Krieg (1618-1623) 3. Der niedersächsisch-dänische Krieg (1623-1629) 4. Die Wende des Krieges (1630) 5. Der schwedische Krieg (1630-1635) 6. Der europäische Krieg in Deutschland (1635-1648) (Anmerkungen/Quellen/Literatur S.183)
1. Allgemeines Der Sammelbegriff „Dreißigjähriger Krieg" ist schon früh, seit 1648 nachweisbar 1 . Er bezeichnet die militärischen Konflikte, die in Mitteleuropa 1618 — 1648 nacheinander ausgetragen worden sind. Bis zum Zweiten Weltkrieg galt er als die schwerste politische Katastrophe der deutschen Geschichte. Er war jedoch in seinen Voraussetzungen, seinem Ablauf und seinen Folgen ein nicht nur mittel-, sondern gesamteuropäisches Ereignis. Als solches betrachtet nehmen sich seine Dauer, seine Verlaufsformen und seine Auswirkungen zwar weniger singulär aus als von der deutschen Geschichte her gesehen: Im 16. und 17. Jh. gab es in Europa auch andere Kriegsperioden mit ähnlich verheerenden Folgen, und kaum ein Jahr ohne irgendeinen Krieg. Auch unter gesamteuropäischem Aspekt aber bleibt der Dreißigjährige Krieg in vielerlei Hinsicht sehr bedeutsam: Nie zuvor hatten so große Heere so lange Zeit hindurch miteinander gekämpft; nie zuvor waren fast alle außerdeutschen Staaten (teils gleichzeitig, teils nacheinander) in das deutsche Kriegsgeschehen direkt oder indirekt verwickelt 2 ; und die den Krieg in Deutschland beendenden Friedensschlüsse von 1648 erlangten für die europäische Staatenwelt fundamentale Bedeutung 3 . Daher bleibt der Begriff „Dreißigjähriger Krieg" auch als europäischer Epochenbegriff nützlich 4 . Auch die herkömmliche Einteilung in die vier Phasen 1 6 1 8 - 1 6 2 3 , 1623—1629, 1630—1635,
170
Dreißigjähriger Krieg
1635—1648 behält Wert (obgleich der Mantuakrieg nicht hineinpaßt), sofern man sich des erheblichen Unterschieds der ersten drei Phasen von der vierten bewußt ist: Bis 1635 w a r der Krieg ein Ereignis der deutschen Geschichte - im europäischen Kontext - und ist als solcher darstellbar, danach aber nicht mehr; in der vierten Phase war das Kriegführen in Deutschland nur ein (nicht entscheidender) Teil der gesamteuropäischen Staatengeschichte. Diese Zeit wird daher ausführlich im Zusammenhang mit dem —»Westfälischen Frieden behandelt. 2. Der böhmisch-pfälzische
Krieg
(1618-1623)
2. 1. Der böhmische Aufstand (1618-1620). Die erste Kriegsphase, die nicht mit Frieden, sondern Eroberung beendet wurde, begann als Aufstand gegen die böhmische Krone der österreichischen Habsburger (seit 1611 König Matthias), ausgelöst durch den Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618, der (wie geplant) die Adelsrevolution in Gang brachte (—•Österreich). Ereignisgeschichtlicher Anlaß waren religionsrechtliche Differenzen über den böhmischen Majestätsbrief vom 9. Juli 1609 und den ihn begleitenden „Vergleich" zwischen den Ständen 5 . Dahinter standen weiterreichende und viel ältere strukturgeschichtliche Probleme der Machtverteilung zwischen Krone und Oberschichten, besonders in Nebenreichen. Dieses europäische Dauerproblem hatte sich zusätzlich verschärft, seit mit der —•Reformation als neues Politikum das Konfessionsproblem entstanden war und sich mit den älteren Stände-Krone-Spannungen eng verbunden hatte (—•Konfessionalismus). Bei diesen ging es im Grunde um die modernisierenden Möglichkeiten und Bedingungen des früh-neuzeitlichen Staates, dem prinzipielle bürgerliche oder gar kirchliche —•Toleranz ebenso fremd war wie den Großkirchen mit ihrem theologischen Absolutheitsanspruch. Abweichungen im Sinne heterokonfessioneller Toleranz konnten daher nur von der Praxis erzwungen, aber nicht vom Prinzip legitimiert werden. — Das Konfessionelle war allenthalben ein wesentliches Element der Innenpolitik; außenpolitisch hingegen hat kein Staat längerfristig dem Konfessionellen handlungsleitende Priorität eingeräumt. Weder Rom noch Genf noch Wittenberg waren die wirklichen Schaltzentren der internationalen Politik im konfessionellen Zeitalter. — Spezifische Strukturkrisen im Sozialen u n d / o d e r Wirtschaftlichen haben sich dagegen als auslösende Ursache für den böhmischen Aufstand nicht nachweisen lassen. Der weitere Verlauf und die schließliche Beendigung des Dreißigjährigen Krieges sind aber erheblich von wirtschaftlichen Gegebenheiten abhängig gewesen, die der Kriegführung Richtung gaben und Grenzen setzten. Die böhmische Revolution (—»Böhmen und Mähren) hat nach dem Tode Matthias' (20. März 1619) den Bruch mit der Dynastie gewagt: neue Verfassung am 31. Juli, Abwahl des 1617 vorgekrönten Königs Ferdinand am 22., Neuwahl des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. am 26./27. August 1619 zum böhmischen König. Das Regiment des „Winterkönigs" versagte im Innern (städtischer Widerstand, bäuerliche Rebellion) wie im Äußern, da es keine kriegsentscheidende Unterstützung ausländischer Mächte gewann. So konnte der Kaiser Böhmen vom Reich her zurückerobern. Ferdinand II., am 1. Juli 1618 zum König von —•Ungarn gekrönt, war am 28. August 1619 zum Kaiser gewählt worden. Er erhielt im Herbst 1619 die (wohl entscheidende) Unterstützungszusage Maximilians von Bayern, im Frühjahr 1620 auch Kursachsens. Schließlich erklärte die protestantische Union von 1608 sich im Ulmer Vertrag vom 3. Juli 1620 im Streit um Böhmen neutral. Der konzentrische Angriff des Kaisers und seiner Verbündeten (katholische Liga und Kursachsen) traf auf schwachen Widerstand in Österreich und Böhmen. Die Entscheidungsschlacht am Weißen Berg bei Prag (8. November 1620) dauerte k a u m zwei Stunden. Das neue Regiment brach wie ein Kartenhaus zusammen. Seit Winter 1 6 2 0 / 2 1 hatte der Kaiser die österreichischen und böhmischen Länder wieder in der H a n d . Danach ist die Krone gegen die Führungsschicht der ständischen Revolution mit den damals üblichen drakonischen Strafen vorgegangen. Umfangreiche Konfiskationen führten zu erheblicher Umschichtung des Adels. Daneben wurde, ebenfalls auf der juridischen Grundlage des damaligen Völkerrechts (Eroberungsrecht), die Verfassung der habsburgischen Länder (außer Ungarn) unter Zurückschneidung des ständischen Gewichts verändert, mit großen Konsequenzen auch für das Religionsrecht4. Hier blieb die Rechtskontinuität (unterschiedlich) gewahrt in Ungarn, -•Schlesien und Nieder-
Dreißigjähriger Krieg
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Österreich, nicht aber in Oberösterreich, Böhmen und Mähren, wo 1620 eine konsequente und schließlich erfolgreiche Rekatholisierungspolitik auf der Basis des landesherrlichen ius reformandi von 1555 einsetzte (—»Katholische Reform u. Gegenreformation). Diese Politik war rechtsförmig; aber das mindert nicht ihre tatsächliche Härte. Der Widerstand dagegen hat sich gelegentlich zu Bauernaufruhr verdichtet, wobei aber auch wirtschaftliche und soziale Momente eine Rolle spielten. Der oberösterreichische Bauernaufstand (1626) war nach Form und Ausmaß dem —»Bauernkrieg vergleichbar.
2. 2. Der pfälzische Krieg (1620-1623). Der Kaiser hat den Pfälzer in einem rechtlich nicht unangreifbaren Verfahren am 22. Januar 1621 geächtet (—»Pfalz). Dessen Lande wurden bis 1623 von spanischen und Iigistischen Truppen im Auftrag des Kaisers erobert, zuerst, ab 1620, die linksrheinische Unterpfalz durch Spanier, welche die Union am 14. Mai 1621 zur Auflösung zwangen. Der geächtete Kurfürst setzte 1621 den Krieg mit Söldnerführern (wie Emst von Mansfeld und Christian von Halberstadt, der „tolle Braunschweiger") fort, die im Herbst 1623 mit Truppenresten nach Nordwestdeutschland auswichen. Der Kurfürst lebte meist im holländischen Exil und ist am 29. November 1632 gestorben. Die linksrheinische Pfalz war spanisch besetzt, die rechtsrheinische und die Oberpfalz bayerisch. Kursachsen erhielt 1623 als Kriegskosten-Ersatz die Lausitzen zum Pfand, Bayern die Oberpfalz und Oberösterreich, das 1628 gegen Oberpfalz und rechtsrheinische Kurpfalz ausgetauscht wurde. Die pfälzische Kurwürde war Maximilian am 25. Februar 1623 ad personam übertragen worden, was Kursachsen 1624 und Kurbrandenburg 1627 mit einigen Vorbehalten anerkannten. Die Übertragung der Kurwürde an Maximilians Familie von 1622 blieb geheim. Seit 1622/23 waren Kurbayern und Kursachsen an Besitzstandwahrung interessiert. Das hat Ausgleichsverhandlungen mit dem Pfälzer Kurfürsten erschwert. Endgültige Regelungen sind erst 1648 getroffen worden. 3. Der niedersächsisch-dänische
Krieg
(1623-1629)
3. 1. Der niedersächsische Krieg (1623-1625). In den militärischen Operationen des Dreißigjährigen Krieges ging es weniger um große Schlachten als um Werbeplätze, Nachschublinien, (Winter-) Quartiere und vor allem um Kontributionsgebiete. Die Truppenkörper waren regelmäßig in wenigen Wochen und Monaten sehr dezimiert, am meisten durch Krankheit, Hunger und Desertion, seltener durch direkte Kampfeinwirkung. Die meisten deutschen Territorien waren ungerüstet und daher gegenüber heranrückenden oder durchziehenden Truppen schutzlos. So ist auch der niedersächsische Reichskreis in den Krieg durch die Schwäche seiner Fürsten hineingezogen worden; sie konnten den Halberstädter nicht hindern, sich bei ihnen festzusetzen. Die Ligaarmee unter Tilly folgte ihm und besiegte ihn (Stadtlohn, 6. August 1623). Auch Mansfelds Truppen wurden abgedrängt und 1624 entlassen. Die Ligatruppen blieben an der Weser, weil Liga und Kaiser Sorgen vor dem niedersächsischen Reichskreis, besonders vor dem Herzog von Holstein, König Christian IV. von Dänemark, hegten (—»Dänemark). Diese katholische Präsenz in Nordwestdeutschland gefährdete potentiell das dortige, erst nach 1555 in protestantischen Besitz gelangte Reichskirchengut. Außerdem waren die Spanier gegen die Generalstaaten erfolgreich. So kam es seit 1623 zu letztlich gescheiterten Versuchen einer umfassenden antihabsburgisch-antikatholischen Blockbildung; es gelang nur die Haager Allianz vom 19. Dezember 1625 (England, Generalstaaten, Dänemark), die auf Deutschland wenig wirksamen Einfluß ausgeübt hat. 3. 2. Der dänische Krieg (1625-1629). Schon im Juli 1625 war im Weserraum der Krieg durch Zusammengehen Christians IV. mit Mansfeld und niedersächsischen Reichsständen in Gang gekommen. Der Kaiser beantwortete das, auch auf bayerischen Druck, mit der Bildung einer neuen Armee unter Wallenstein (Patent vom 25. Juli 1625). Sie wurde der stärkste militärische Faktor in Mitteleuropa, ohne die kaiserlichen Finanzen nennenswert zu belasten. Dies ermöglichte Wallensteins Kontributionssystem, das seit etwa 1627 Finanzierungssystem aller Armeen im Dreißigjährigen Krieg (mit Ausnahme der spanischen und staatischen Truppen in den Niederlanden) geworden ist.
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Erst dieses neuartige System, das bereits vorhandene Elemente konsequent zusammenfügte, hat es den Beteiligten ermöglicht, bis 1648 Krieg miteinander zu führen; Wallenstein ist dadurch einer der bedeutendsten Heeresorganisatoren der neueren Geschichte Europas geworden. Die Unterhaltungskosten der Söldnerheere überstiegen die Finanzierungskapazitäten des Staates damals ganz erheblich 7 , da dieser, gemessen an diesen Bedürfnissen, viel zu wenig Sozialprodukt abschöpfte, das er der Kriegführung hätte zuwenden können. Im Kontributionssystem hingegen wurde der für den Krieg zu verwendende Anteil am Sozialprodukt von den militärischen Bedürfnissen abhängig gemacht; die Gesamthöhe, die einzelnen Aufbringungsquoten, die Eintreibung, Verwendung und Verteilung wurden allein oder doch vorwiegend Sache der Armee selbst. Wirtschaftlich gesehen handelte es sich also um Umverteilung von Sozialprodukt (zu Gunsten der Kriegführung) unter weitgehender oder vollständiger Ausschaltung der ,normalen' Zivilverwaltung. Auf diese Weise wurden feindliche, neutrale, verbündete und sogar auch eigene Lande gezwungen, die Kriegführung (und deren kompliziertes privates Kreditsystem) zu finanzieren. Das hat es möglich gemacht, auf dem Höhepunkt von 1632 allein in Deutschland gleichzeitig etwa 250 000 Soldaten zu unterhalten 8 ; es zwang aber auch dazu, möglichst weite Gebiete (durch Werbeplätze, Garnisonen usw.) besetzt zu halten und für die „kämpfende Truppe" der Feldarmeen das Kriegstheater regelmäßig von wirtschaftlich erschöpften in weniger oder kaum erfaßte Gebiete zu verlagern. Diebstahl, Raub, Erpressung und Drangsalierungen schlimmster Art von Seiten der Soldateska sind so vielfältig bezeugt, daß an ihrer Tatsächlichkeit nicht zu zweifeln ist. Sie haben für die Nachwelt das Bild dieses Krieges geprägt. Diese Auswüchse waren jedoch, von der Heeresorganisation (und den entsprechenden kriegsrechtlichen Regelungen) her gesehen, nicht systemimmanent, sondern systemwidrig. Die Armeeführungen hatten selbst elementares Interesse daran, die Wirtschaft „intakt" zu halten, damit sie den Krieg finanzieren konnte. Ausländische Subsidien haben für die Kriegführung eine relativ geringe Rolle gespielt 9 . Der Dreißigjährige Krieg ist ganz überwiegend vom deutschen Volke selbst bezahlt worden, nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne.
Wallenstein operierte ab 1625 neben Tilly zwischen Elbe und Weser, besiegte Mansfeld am 25. April 1626 bei Dessau, zog ihm dann bis Ober-Ungarn nach und rieb dessen Reste 1627 auf. Christian IV. war am 27. August 1626 bei Lutter am Barenberge von Tilly vernichtend besiegt worden. Ende 1627 brach die Macht des Dänenkönigs vollends zusammen; Jütland wurde kaiserliches Truppenquartier. Nur das pommerische Stralsund hat sich 1628 (durch dänische und geringe schwedische Hilfe) der Eroberung entziehen können. Wallensteins und Tillys Armeen beherrschten das Reich vom Bodensee bis zur Nord- und Ostsee. Selbst -^Karl V. hatte 1547 nicht über eine derartige tatsächliche Machtfülle verfügt wie Ferdinand II. und Wallenstein, der am 26. Januar 1628 vorläufig und am 9. Juni 1629 endgültig vom Kaiser Mecklenburg erhielt, das den Herzögen in einem rechtlich problematischen Verfahren, dem auch die Liga-Kurfürsten nicht zustimmten, entzogen worden war. Diese Stärke aber war nicht unbegrenzt. Das zeigt der magere Inhalt des kaiserlich-dänischen Lübecker Friedens vom 22. Mai 1629 10 . Er enthielt gegenseitigen Verzicht auf finanzielle Forderungen und setzte den reichspolitischen Ambitionen des Königs Grenzen, ließ dessen maritime Position aber unangetastet. Es hatte sich inzwischen schon gezeigt, daß Norddeutschland allein vom Festland her nicht zu beherrschen war. Habsburgische Anläufe zur Schaffung einer Nord- und Ostseeflotte sind zwar unternommen worden; es gelang jedoch nicht, die enormen technologischen, personellen, finanziellen und politischen Schwierigkeiten, die sich dabei auftaten, rechtzeitig zu überwinden. Das maritime Defizit des Kaisers und der Liga war eine der unerläßlichen Voraussetzungen dafür, daß Gustav Adolfs Intervention in Deutschland begonnen werden und gelingen konnte (-»Schweden). Die grundsätzliche Bereitschaft zum Krieg gegen den Kaiser entstand im Winter 1627/28 (Zustimmung des Reichstagsausschusses am 22. Januar 1628). Das schwedische Stralsund-Unternehmen bedeutete faktisch den Eintritt in den Krieg, schuf aber keinen Zugzwang. Am 18. Januar 1629 jedoch beschloß der Reichsrat, den Krieg im Reich offensiv zu führen. Damit war die Entscheidung gefallen. Was nachher kam, waren taktische Zweckmäßigkeitserwägungen. Schwedens Kriegsentschluß ist also nicht die Folge der durch das Restitutionsedikt verschärften konfessionspolitischen Situation im Reich. 3. 3. Das Restitutionsedikt vom 6. März 1629 11 ist ein unverkennbares Zeichen des politisch-militärischen Überlegenheits-Gefühls der katholischen Seite. Es sollte als authentische Gesetzesinterpretation des Kaisers fünf über die Auslegung des —»Augsburger Religionsfriedens entstandene Streitfragen autoritativ entscheiden: 1) der Geistliche Vorbehalt
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ist für Reichskirchengut unmittelbar geltendes Recht und bindet auch die Protestanten; 2) die Ferdinandeische Deklaration ist nicht geltendes Recht; 3) für nicht reichsunmittelbares Kirchengut ist der Besitzstand von 1552 maßgebend (Passauer Vertrag); 4) der Religionsfriede gilt nur für Katholiken und Verwandte der Confessio Augustana-, 5) der Landesherr hat gegenüber Heterokonfessionellen ein ius eiciendi. — Punkt 1) betraf die Erzbistümer —»Bremen und -^»Magdeburg, die Bistümer Halberstadt, Minden und Verden und einige Reichsabteien, vielleicht noch die Bistümer Kammin, -^»Lübeck, Ratzeburg und Schwerin, vermutlich nicht die Bistümer -^»Brandenburg, Havelberg, Lebus sowie Meißen, Merseburg und Naumburg; Punkt 3) betraf etwa 500 Klöster und Stifte, hauptsächlich im niedersächsischen, schwäbischen und fränkischen Reichskreis. Verfahrensrechtlich wurde das Reichskammergericht hinfort an dieses Edikt gebunden und die Restitution des „notorisch" entfremdeten Kirchengutes durch kaiserliche Kommissare, notfalls durch Zwang, angeordnet. Die rechtliche Befugnis des Kaisers zu einer derartigen Maßnahme war umstritten. Die politische Brisanz des Edikts lag in seinem prinzipiellen Charakter und war Absicht; es sollte langwierige Prozesse um jedes einzelne Objekt überflüssig machen, mit einem Schlage die konfessionellen Verhältnisse auf 1555 zurückschrauben und eine künftige Veränderung des konfessionellen Status unter Ausnutzung der uneindeutigen Klauseln von 1555 verhindern. Die Durchführung des Edikts (1629 im niedersächsischen, 1630 im schwäbischen Reichskreis) führte zu heftigem innerkatholischen Streit über die Restitutions-Empfänger des landsässigen Kirchengutes (alte oder neue Orden). Sie war noch nicht beendet, als die Wende des Krieges 1631 neue Verhältnisse herbeiführte. Politisch hat das Edikt der katholischen Seite nicht genützt, sondern geschadet; denn seine Existenz begünstigte die Neubildung einer organisierten protestantischen Front im Reich ab Ende 163 0, um deren Führung von Anfang an Schweden und Kursachsen rivalisierten.
4. Die Wende des Krieges (1630) Gustav Adolf ist am 6. Juli 1630 mit einer kleinen Armee auf der pommerischen Insel Usedom gelandet und war zwei Wochen später in Stettin. Seine Offensive hat im Sommer 1631 den völligen Umschlag der Kriegslage herbeigeführt. Schwedens Intervention traf das politische Deutschland ziemlich unvorbereitet an: Das evangelische Deutschland war macht- und orientierungslos, das katholische uneinig über die Kriegführung und die Kriegsziele. Dazu hatte erheblich der Mantuakrieg beigetragen. 4. 1. Der Mantuakrieg (1628-1631) über die Ende 1627 aktuell gewordene Erbfolge in den reichen und strategisch wichtigen Po-Ländern Mantua und Monferrato, die noch Reichslehen waren und in den auch die meisten anderen italienischen Staaten verwickelt worden sind, war im Grunde ein Kampf um -^Spaniens Hegemonie. Der Kaiser ist gegen seinen eigentlichen Willen, aus dynastischer Rücksicht auf die gemeinsamen Interessen der casa d'Austria, hineingezogen worden. Nur er als der Oberlehnsherr konnte die spanische Intervention rechtlich legitimieren, was zögernd geschah (Sequester-Anordnung am 1. April 1628; 17. August 1628 Monitorium, 18. September 1629 Exekution gegen Nevers). Da Spanien, das durch eine akute, schwere Finanzkrise geschwächt war (zudem Kaperung der amerikanischen Silberflotte am 8. September 1628), sich militärisch nicht rechtzeitig durchsetzen konnte und Frankreich im März 1629 erfolgreich intervenierte (erste Entsetzung Casales am 18. März 1629), mußten ab Mai 1629 in erheblichem Umfang kaiserliche Truppen aus Deutschland nach Oberitalien geschickt werden. Sie belagerten ab Ende Oktober Mantua und eroberten es am 18. Juli 1630. Im Reich ist die im Mantuakrieg praktizierte Inanspruchnahme von Reichsinstitutionen für die habsburgischen Dynastie- und die spanischen Hegemonialinteressen auf viel Widerspruch gestoßen. Das verstärkte die bei den Liga-Kurfürsten seit 1626 entstandenen Befürchtungen vor dem Machtzuwachs des Kaisers, zumal das neue Kontributionssystem auch ihre Lande zu belasten begann. Wien und (noch mehr) Wallenstein wurden als eine akute Gefährdung der reichsständischen Libertät empfunden. Maximilian von Bayern nahm an, daß am Kaiserhof weitgesteckte Pläne zur Veränderung der Reichsverfassung im Sinne der zeitgenössischen monarchia existierten. Der Kaiser wolle auch außerhalb seiner Erblande, im Reich, eine ähnliche Position gewinnen wie in ihren Landen die Könige von Frankreich
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oder Kastilien. Die Opposition gegen eine solche Entwicklung hat den Verlauf des Kurfürstentages von 1630 bestimmt. 4. 2. Der Regensburger Kurfürstentag und die Friedensschlüsse von Regensburg und Cherasco (1630/31). Ob derartige, „reichsabsolutistische" Tendenzen und/oder Pläne bei Wallenstein und/oder in Wien tatsächlich vorhanden waren, ist historisch nicht befriedigend geklärt 12 ; die Liga aber ging von der unstrittigen Tatsächlichkeit einer solchen Zielsetzung aus, die sich für sie mit der Person Wallensteins verknüpfte. Als seit 1627 unternommene Vorstöße zur Beschneidung der Kompetenzen des Generals ergebnislos blieben, steuerten die katholischen Kurfürsten ab 1629 auf eine radikale Problemlösung durch Entlassung Wallensteins hin. Dem konnten sie politisch Nachdruck verleihen, da der Kaiser seit 1628 die Wahl seines Sohnes zum römischen König einleiten wollte. Sie verlangten zuvor eine befriedigende Regelung des Wallenstein-Problems und Beendigung des Mantua-Kriegs. Der Regensburger Kurfürstentag (3. Juli - 12. November 1630) war nicht als WahlKonvent einberufen worden. Die Sukzessionsfrage im Reich konnte daher dort nicht auf die Tagesordnung kommen. Der Kaiser aber hat keinen Versuch einer monarchia-Politik unternommen und sogar, als er den Kurfürsten in den beiden Hauptpunkten nachgab, kein Junktim, keine politischen Garantien (für eine künftige Kaiserwahl Ferdinands III.) gefordert. Den ersten Durchbruch in der Wallensteinfrage erreichten die Kurfürsten am 30. Juli. Am 13. August entschied der Kaiser für Entlassung Wallensteins, der Anfang September informiert wurde und sich loyal fügte. Danach hat die Liga sich in den heeresorganisatorischen Fragen nur teilweise durchgesetzt. Schließlich übernahm Tilly zusätzlich den Oberbefehl über die kaiserlichen Truppen, aber mit weniger Kompetenzen als Wallenstein. Die LigaKurfürsten wurden 1630 durch die geschickte französische Diplomatie unterstützt, die aber keinen Einfluß auf Wallensteins Entlassung ausgeübt hat. Ohne kurfürstlichen Druck hätte der Kaiser auch kaum den Regensburger Frieden mit —»Frankreich vom 13. Oktober 1630 13 abgeschlossen, der einseitig, ohne Spanien, den Mantuakrieg beenden sollte. Er sah kaiserliche Anerkennung der Sukzession durch Nevers bei Entschädigungen für die anderen Prätendenten und Räumung Oberitaliens durch die kaiserlichen und französischen Truppen vor. Im Gegenzug versprach Frankreich Verzicht auf feindliche Einmischung ( o f f e n d e r e ) im Reich und in den Erblanden, neque per se neque per alios (Art. 1): das hätte politisch Abbruch der Bündnisverhandlungen Frankreichs mit Schweden bedeutet. — Wie die Kaiserlichen wußten, hatten die französischen Unterhändler zu einer solchen Abmachung keine Vollmacht; warum sie sie dennoch abschlössen, ist ungeklärt. Richelieu hat die Ratifizierung dieses Artikels verhindert, wobei er formal im Recht war. Frankreich entsetzte am 26. Oktober 1630 Casale erneut und konnte im Frieden von Cherasco vom 19. Juni 1631 14 die Mantuafrage im Sinne der Regensburger Abmachungen, jedoch ohne Bindungen für seine künftigen Allianzen, beilegen. Der Regensburger Kurfürstentag ist daher für Richelieu ein großer Erfolg geworden, obgleich ihm der Übergang aus der antispanischen Defensive in die antikaiserliche Offensive mißlang. Der Kaiser aber war erheblich geschwächt, zumal sich, neben der schwedischen Drohung, eine Sammlung der protestantischen Reichsstände zum Kampf gegen die Einbeziehung in die Kriegskosten-Aufbringung (Kontributionssystem) und gegen das Restitutionsedikt abzeichnete, da Kursachsen am 3. September 1630 die Einberufung eines allgemeinen Protestantenkonventes angekündigt hatte. Das zwang die katholische Seite, über Entschärfung und/oder Abbau des Restitutionsedikts nachzudenken und wenigstens Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Es gab aber noch keine tragfähige Kompromiß-Basis zwischen den konzessionsbereiten Protestanten und Katholiken. Im übrigen sah niemand den militärischen Umschwung des Jahres 1631 voraus, auch Gustav Adolf kaum, dessen aus Schweden mitgebrachte Landkarten nicht bis zur Elbe reichten. 5. Der schwedische
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(1630-1635)
5. 1. Gustav Adolf (1594-1632) war seit 1611 König von -»Schweden, eines Staates mit sehr bescheidenen Ressourcen, dessen Bevölkerungszahl weit geringer als die Portugals,
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Venedigs oder Böhmens war. Er hat ihn in zwei Jahrzehnten auf die Stufe der europäischen Großmächte gehoben. Das war ein Wagnis, aber kein Abenteuer. Der junge König hatte seinen Staat im Innern konsolidiert und für seine Außenpolitik hinter sich gebracht. Er verfügte über eine ausreichende Flotte und, als er nach Deutschland kam, über eine in ständigen Kriegen erprobte Armee mit tüchtigen Führern und mit modernster Ausrüstung und taktischer Schulung. Er hatte die enormen Schwierigkeiten der Anfangsfinanzierung des deutschen Krieges gelöst und sich außenpolitisch genügende Rückenfreiheit geschaffen. Dänemark, mit dem die Spannungen trotz des Friedens von 1613, der Détente von 1619 und eines Vertrages von 1628 fortdauerten, lag, vom Kaiser besiegt, am Boden. Mit Rußland war 1617 ein wirklicher Ausgleich erfolgt, der Schweden den Besitz Finnlands und der Ostseeküste bis Narwa sicherte. Problematisch blieb das Verhältnis zu Polen-Litauen, dessen König Sigismund III. in der Revolution von 1593—1600 den schwedischen Thron verloren hatte und mit dem Schweden seit 1600 einen mehrfach durch Waffenruhe unterbrochenen Krieg um Livland führte. Darin ging es um Macht und Wirtschaft, um Dynastie und Konfessionspolitik: lutherische gegen katholische Vasas. Am 26. September 1629 schlössen die beiden Könige unter französischer Vermittlung in Altmark einen sechsjährigen Waffenstillstands-Vertrag, also nicht Frieden (mit endgültigen Regelungen) 15 : Gustav Adolf behielt einstweilen Livland und die für sein Deutschland-Unternehmen wichtigen Zolleinnahmen der Ostseehäfen zwischen Danzig und Narwa; Sigismund brauchte nicht auf seine schwedischen Thron-Rechte zu verzichten. - Die für Gustav Adolfs deutsche Kriegführung unerläßliche Neutralisierung Polens blieb aber ein Risiko im Kalkül Schwedens, das der entlastende russisch-polnische Krieg 1 6 3 2 - 1 6 3 4 nicht ausräumen konnte. Sigismunds Nachfolger Wîadysîaw IV. ( 1632-1648) hat jedoch andere politische Ziele verfolgt und daher am 12. September 1635 im Vertrag von StubmsdorP6 den Waffenstillstand bis 1661 verlängert, wobei Schweden Livland behielt, aber auf die Zölle zwischen Memel und Weichsel verzichten mußte. Gustav Adolfs Kricgsziele in Deutschland sind von der zeitgenössischen Propaganda an bis heute diskutiert worden, wobei Religion, Politik und Wirtschaft geltend gemacht worden sind. Die moderne Forschung weiß, daß es anachronistisch wäre, die einzelnen Entscheidungselemente isoliert zu betrachten. Die moralischen Kräfte einer tiefen lutherischen Religiosität und ein gewisser Einfluß arminianischen Denkens hatten ihr Gewicht. Die nüchterne Solidarität mit dem deutschen Protestantismus verband sich aber mit radikalem Sich-Durchsetzen-Wollen des großen Staatsmanns im Sinne der eigenen Interessen. Der König war kein situationsblinder Programmatiker, sondern durch und durch ein Mann der Praxis. Er kam 1630 nach Pommern mit der bescheidenen Konzeption, „Wallensteins Truppen von der Küste zu vertreiben und irgendwie zu erreichen, daß sie nicht zurückkommen könnten" (Roberts II, 424). Schon vor den nicht voraussehbaren Erfolgen von 1631 wurde das Ziel erheblich weiter gesteckt. Was er ohne seinen frühen Tod bei Lützen in Friedensverhandlungen schließlich gefordert und behauptet hätte, läßt sich historisch nicht beweisen, zumal niemand weiß, in welcher militärischen Lage sie stattgefunden hätten: Auch die größten Schlachtensiege Schwedens im Dreißigjährigen Krieg (Breitenfeld, Wittstock und Jankau) sind nicht kriegsentscheidend geworden.
5. 2. Von Peenemünde nach Lützen (1630—1632). Militärisch und politisch lag in den 28 Monaten seines deutschen Krieges das Gesetz des Handelns meist, aber nie absolut und nicht ohne wichtige Unterbrechungen, bei Gustav Adolf. Ohne nennenswerten Widerstand gelang ihm 1630 der Übergang auf das Festland, die Bildung eines schmalen Brückenkopfes in Hinterpommern, die Einbeziehung Pommerns in das schwedische Kontributionssystem und die vertragliche Vorbereitung einer künftigen Erwerbung durch Schweden; doch erst die überraschende Eroberung von Greifenhagen und Gartz (4./5.Januarl631) erweiterte den Brückenkopf zu einem strategischen Glacis und öffnete den Weg ins restliche Vorpommern, nach Mecklenburg und Brandenburg (13. April: Frankfurt/Oder; 25. April: Landsberg an der Warthe). Kurfürst Georg Wilhelm mußte das militärische Potential vertraglich ausliefern (14. Mai, 20. Juni, 10. September 1631), konnte sich einer Allianz aber entziehen.
Wirklichen Erfolg hatte Schwedens Bündnispolitik dagegen im Vertrag mit Frankreich vom 23. Januar 1631 in Bärwalde erzielt 17 . Bündniszweck war die „Verteidigung der gemeinsamen Bundesgenossen, die Sicherheit der Ost- und Nordsee, die Freiheit des Handels und die Wiederherstellung der unterdrückten Reichsstände" auf fünf Jahre. Schweden
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stellte eine Armee (36000 Mann), Frankreich zahlte Subsidien (400000 Rt. jährlich). Der Vertrag verbot separaten Friedensschluß, enthielt eine Garantie für das Reichsreligionsrecht, eine Zusatzklausel für katholische Religionsausübung in schwedisch zu erobernden Orten und versprach der Liga und Bayern Neutralität unter Bedingungen, die beim Vertragsabschluß bereits durch die tatsächlichen Ereignisse überholt waren, also politisch wenig Wert besaßen. Über diesen Vertrag war seit Altmark verhandelt worden. Das Ergebnis war eine Niederlage Frankreichs: Schweden führte nicht für Frankreich einen Stell vertreterkrieg, sondern bestimmte die politischen und militärischen Ziele und Methoden seiner Kriegführung selbst. Nicht Richelieu, sondern Gustav Adolf beanspruchte die Kontrolle über Deutschland. Damit war ein wesentliches Ziel der französischen Außenpolitik durchkreuzt. Diese hatte gegen Wien kurzfristig mit Hilfe des schwedischen Schwertes operieren wollen, längerfristig aber die Bildung einer antikaiserlichen Gruppierung der Reichsstände unter französischem Einfluß angestrebt, bisher erfolglos. Erst am 8./30. Mai 1631 kam es, mit päpstlicher Unterstützung, zum Abschluß eines achtjährigen Nichtangriffsvertrages mit BayernI8, der eine wechselseitige Besitzstandsklausel enthielt und daher für Frankreich bald zu einer Belastung wurde, da Bayern, als es darauf ankam, sich vom Kaiser nicht trennte. Auch Kursachsen hat sich zur Distanzierung von Kaiser und Liga nur zögernd entschlossen. Im Leipziger Konvent (20. F e b r u a r - 1 2 . April 1631), dem ersten Sammlungsversuch der protestantischen Reichsstände seit 1621, war man zu einem umfassenden Bündnis bereit, das Abschaffung des Restitutionsedikts, Rückzug der kaiserlich-ligistischen Truppen aus und Einstellung ihrer Kontributionen in evangelischen Territorien forderte. Damit trat man in erklärten Gegensatz zum Kaiser. Für die große Mehrheit sollte das aber nicht Anschluß an Gustav Adolf bedeuten, sondern unabhängige Organisation im Rahmen der (ineffizienten) Reichskreis-Verfassung. Der Leipziger Abschied 19 war ebenso antischwedisch wie antikaiserlich. Wien hat darauf mit einer Politik der Stärke geantwortet, die es in Mitteldeutschland nicht durchsetzen konnte. Dort entstand eine kursächsische Armee unter Arnim, auf die Gustav Adolf ebenso wie Tilly Rücksicht nehmen mußten. Dieser ließ am 20. Mai 1631 Magdeburg stürmen und dann, dem damaligen grausamen Kriegsrecht entsprechend, plündern. Dabei ist aus nicht mehr restlos erklärbaren Gründen, aber ohne Schuld Tillys, ein Brand entstanden, der die Stadt völlig einäscherte. Etwa 2 0 0 0 0 Menschen haben in diesem Inferno den Tod gefunden. Das hatte, weit über die unmittelbar militärische Bedeutung hinaus, religiös-politischen Symbolwert. Kein anderes Ereignis des Dreißigjährigen Krieges hat einen derartigen Eindruck gemacht (ca. 300 Flugschriften). Es entstand als Wort-Neuschöpfung der Ausdruck „magdeburgisieren", sarkastischer Ausdruck des Willens zu Resistenz und Revanche im protestantischen Deutschland. Die strategische Lage war danach für Tilly nicht einfacher als für Gustav Adolf, so lange nicht Kursachsen auf dessen Seite trat. Daß dies geschah, war weniger die positive Folge schwedischer Einwirkung als die negative der kaiserlichen Politik, die Tilly schließlich zum Präventivkrieg gegen Kursachsen ermächtigt hat. Das trieb Johann Georg zu Gustav Adolf. Als Tilly am 4. September in Kursachsen einrückte, einigten sich Schweden und Kursachsen durch einen Notenwechsel vom 11. September 20 auf Zusammenführung der Armeen, gemeinsame Kriegführung und Ausschluß separater Friedensverhandlungen, ein von beiden mit großen Vorbehalten abgeschlossenes Zweckbündnis. Am 17. September kam es bei Breitenfeld zu einer vernichtenden Niederlage Tillys, die in ganz Europa viel Resonanz fand (der Zar in Moskau ließ Freudenglocken läuten). Das seit 1620 in Deutschland begründete katholische Übergewicht war dahin. Aber der Krieg ging weiter; denn Tilly wurde nicht verfolgt, konnte mit seinen Resten nach Westen ausweichen und hatte schon Mitte Oktober wieder eine operativ verwendungsfähige Armee beisammen. Nach Breitenfeld trennten die Verbündeten ihre Operationsgebiete. Kursachsen ging nach Böhmen und eroberte am 15. November Prag. Weiteres Vordringen riegelten die Kaiserlichen ab. Gustav Adolf zog nach Thüringen, nahm Erfurt (2. Oktober), hinfort eine zentrale schwedische Bastion im Reich, und zog dann in die reiche „Pfaffengasse" am Main (14. Oktober Würzburg). Tilly langte Anfang November mit überlegenen Kräften bei Aschaf-
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fenburg an, vermied aber das Risiko einer erneuten Schlacht. Das machte Gustav Adolf den Weg frei nach Mainz, das am 2 2 . Dezember kapitulierte und in den kommenden Jahren Verwaltungszentrale des schwedischen „Staates" in Deutschland wurde, während der Kurfürst nach Köln floh. Gustav Adolf stand im Zenit seines Triumphes. Aus dem schmalen Brückenkopf in Pommern Weihnachten 1 6 3 0 war die Herrschaft über halb Deutschland geworden. Der Weg von der Odermündung zum Mittelrhein war spektakulär. Die schwedische Propaganda feierte den König im evangelischen Deutschland als Vollzieher alttestamentlicher Weissagungen (Jes 4 1 , 2 5 ; Jer 5 0 , 3 . 9 ) und begründete damit ein Prestige, das noch das liberale 19. J h . in Bann geschlagen hat. Zweifellos: er hatte die Wende des Krieges herbeigeführt; aber dies bedeutete noch keineswegs die Kriegsentscheidung, vielmehr häuften sich jetzt für Gustav Adolf neue Probleme: administrative 2 1 , politische und militärische. — Schwedens Isolierung von den übrigen außerdeutschen protestantischen Mächten blieb bestehen. Das Verhältnis zu Frankreich wurde schwierig, was aber weniger den Schwedenkönig als Richelieu belastete. Die Prämissen seiner Deutschland-Politik hatten sich als falsch erwiesen. Er mußte sein System verändern. Das neue Programm der Vorwärtsverteidigung ging von der tatsächlichen Überlegenheit Gustav Adolfs aus; es konzentrierte sich auf politisch-militärische Eindämmung und Abriegelung, unterhalb der Schwelle des Kriegs. Erfolgreich war diese (im einzelnen sehr komplizierte) Politik 1 6 3 2 in Lothringen und Kurtrier, aber nicht im —»Elsaß, wo Schweden Fuß faßte. Ergebnislos bleiben die Bemühungen, Bayern den Vertrags rechtlich versprochenen Schutz vor schwedischem Angriff zu erkaufen. Gustav Adolfs Politik gegenüber den mittleren und kleineren protestantischen Reichsständen war der wechselnden Kriegslage angepaßt. Die nachträgliche Systematisierung ergibt daher kein unbedingt zuverlässiges Bild der mittel- und langfristigen Ziele. Nur wenige (wie Hessen-Darmstadt) konnten Neutralität erreichen. Die anderen mußten Verträge mit unterschiedlichen Formen der Unterwerfung und/oder Bindung akzeptieren. Insgesamt lassen sich vier Typen unterscheiden: der erste war auf dauerhaftes Verbleiben in Küstenländern angelegt (Pommern); der zweite zielte auf volle Kontrolle über das gesamte militärische Potential für die Kriegsdauer (Hessen-Kassel); im dritten wurde für eine befristete Zeit eine begrenzte Unterstützung geregelt (Hamburg); im vierten ging es (außer hohen finanziellen und militärischen Leistungen) um dauerhafte Herauslösung aus dem Reichsverband (Braunschweig-Lüneburg-Celle). Spätestens seit Mai 1631 ist das Programm eines umfassenden Sonderbundes des evangelischen Deutschland unter schwedischer Führung nachweisbar. O b das als Friedensziel oder als kriegsbedingte Mobilisierungs-Form zu interpretieren ist, ist umstritten. Ab Juni 1 6 3 2 dachte Gustav Adolf an Derartiges als Friedensregelung. Am 3. November 1 6 3 2 beauftragte er seinen Kanzler Oxenstierna mit der Organisation eines staatsähnlichen Bundes in Süd- und Südwestdeutschland, in dem Schweden mit „directorium och protection" an die Stelle des Kaisers treten solle 2 2 . Das bedeutete formelle Sprengung der Reichsverfassung und verschärfte die politische Rivalität mit Kursachsen um die Führung des evangelischen Deutschlands. Wie das Vorgehen Ferdinands II. in Böhmen, so war auch Gustav Adolfs Deutschland-Politik völkerrechtlich korrekt. Von den durch Debellation erworbenen iura superioritatis machte er besonders intensiven Gebrauch gegenüber den katholischen Ländern und Besitzungen; 255 Donationen an Offiziere oder an Städte oder Stände (als Ersatz für Sold oder für Kontributionen) sind bis 1635 erfolgt, davon 92 im schwäbisch-württembergischen Raum. Diese Regelungen erfolgten nicht unter ausdrücklichem Friedensvertrags-Vorbehalt; ob sie definitiv würden, hing aber vom offenen Ausgang der militärischen Ereignisse ab. Mit Rücksicht auf die polnische Flanke und auf diefinanziellenVerhältnisse kam es für Gustav Adolf, strategisch gesehen, weniger auf spektakuläre Erfolge als auf kriegsentscheidende Siege an. Diese hat er 1632 nicht erringen können. Der Kaiser hatte unter dem Eindruck der Katastrophe von Breitenfeld Wallenstein als „General-Obersten-Feldhauptmann" zurückberufen (vorläufig: 15. Dezember 1 6 3 1 ; endgültig 13. April 1632). Dieser stellte im Winter 1 6 3 1 / 3 2 in Böhmen eine neue, große, sehr taugliche Armee auf, mit der Gustav Adolf nunmehr zusätzlich rechnen mußte. Es gab für ihn 1 6 3 2 zwei neuralgische Punkte: 1) den niedersächsischen Kreis, wo sich vier schwedi-
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sehe Korps trotz erdrückender Überlegenheit gegen einen brillant geführten Bewegungskrieg Pappenheims nicht durchsetzen konnten; 2) Kursachsen, das politisch eigene Wege ging (oder zu gehen schien), sich der operativen Planung Schwedens nicht einfügte und außerdem dem Gegner militärisch unterlegen, also hilfsbedürftig war. — Unter diesen Umständen wollte Gustav Adolf Tilly in Süddeutschland vernichten, ehe Wallenstein helfen könnte, und in Schwaben festen Fuß fassen. Anfangs gelang das Unternehmen gut. Am 15. April 1632 erzwangen die Schweden mit ihrer glänzenden Kriegstechnik bei Rain den Lech-Ubergang nach Bayern. Aber Tilly, tödlich verwundet, gab das Land preis und ging mit seinen Truppen in die kurzfristig uneinnehmbaren Festungen Ingolstadt und Regensburg zurück. Das wurde der Wendepunkt des Feldzugs: Gustav Adolf verlor das Gesetz des Handelns von Mai bis November an Wallenstein. Die unbezwingbaren Donaufestungen versperrten dem Schweden den kriegsentscheidenden Weg nach Wien; daß statt dessen das bayerische Land systematisch geplündert und niedergebrannt wurde, war für die Betroffenen natürlich sehr schlimm, für den Kriegsausgang aber unwichtig. Vom Juli bis September lagen Wallenstein und Maximilian im Zirndorfer Lager dem bei Nürnberg verschanzten Schwedenkönig gegenüber. Er konnte wiederum keine Entscheidungsschlacht herbeiführen, ließ schließlich (31. August/3. September) das gegnerische Lager vergeblich und verlustreich angreifen und mußte danach wegen erschöpfter Ressourcen abziehen. Als Wallenstein schließlich nach Norden zog und Sachsen angriff, folgte der König ihm und hat ihn am 16. November 1632 bei Lützen zur Schlacht stellen können. Deren Ausgang mag nach damaligen Usancen als Wallensteins Niederlage zu bewerten sein; es wäre aber wiederum kein kriegsentscheidender Sieg der Schweden gewesen, auch wenn Gustav Adolf nicht in dieser Schlacht den Tod gefunden hätte. Beide Armeen hatten schwere Verluste erlitten, aber keine war vernichtet worden. Der plötzliche Tod des 38 jährigen Königs aber bedeutete für den Krieg einen tieferen Einschnitt als für die schwedische Politik, die ihre deutschen Ziele nun neu formulieren mußte. 5. 3. Von Lützen nach Nördlingen (1632-1634). Während das evangelische Volk und seine Pfarrer um den toten König trauerten und die meisten Fürsten mit ihren Räten erleichtert aufatmeten, gelang es Oxenstierna, der nun bis 1648 die schwedische Deutschlandpolitik maßgeblich beeinflußte und mit weiterreichenden Vollmachten versehen war als 1631 Wallenstein, den Zusammenbruch der schwedischen Positionen in Deutschland politisch und militärisch zunächst abzuwenden. In Heilbronn wurde am 19. April 1633 die Allianz mit Frankreich erneuert 23 und am 23. April eine „Confoederation" Schwedens mit den meisten evangelischen Ständen der vier oberen Reichskreise (kur-, oberrheinisch, schwäbisch, fränkisch) abgeschlossen, der Heilbronner Bund2*. Sein Zweck war: Stabilisierung der ,,Teütsche[n] Libertaet, auch Obseruanz des Hayl. Reichs Satzungen vnnd Verfassungen", Restitution der evangelischen Stände, und außerdem „in Religions vnnd Prophan Sachen ein Richtiger vnnd sicherer Friden..., auch d e r . . . Cronn Schweden gebührendte Satisfaction". Diese Kriegsorganisarion bedeutete fast völlige Abwälzung aller Kriegslasten von Schweden, das sich aber durch die militärische und (faktisch auch) die politische Leitung des Bundes das süddeutsche Potential für die Durchsetzung seiner Kriegsziele (Pommern) sicherte und zugleich den Führungsanspruch Kursachsens im deutschen Protestantismus ausschaltete. Diese Politik war mit dem eindeutigen kurbrandenburgischen Erbrecht auf Pommern unvereinbar. Der Anschluß der sächsischen Reichskreise an den Bund scheiterte, als Oxenstierna am 8. August 1634 öffentlich Pommern und das mecklenburgische Wismar zum schwedischen Kriegsziel erklärte 2 5 .
Anfang 1633 verfügte Schweden über neun selbständige Armeen in Deutschland, die in Nordwestdeutschland überlegen wurden (kaiserlich-ligistische Niederlage bei Hessisch-Oldendorf am 8. Juli 1633; Eroberung der Stiftslande von Fulda, Corvey und Paderborn durch Hessen-Kassel). In Süddeutschland gelang die Beilegung schwerer Meutereien (seit Ende April) nicht ohne Schwierigkeiten (Abkommen vom 22. Juli). Dann konzentrierte sich der Krieg um vier wichtige katholische Stützpunkte: Regensburg, Konstanz, Breisach und Philippsburg, das ab Ende Juni belagert wurde und am 13. Januar 1634 kapitulierte. Strategisch bedeutsamer war, daß eine neue spanische Armee für Flandern (unter Feria) aus Mai-
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land durch das Veltlin über Tirol ungehindert anmarschieren, sich bei Ravensburg mit den Kaiserlichen am 29. September vereinigen, Konstanz entsetzen (3. Oktober) und in Breisach einziehen konnte (20. Oktober). Danach ging sie in bayerische Quartiere. Regensburg hingegen, seit 4. November belagert, eroberten die Heilbronner am 14. November 1633, ebenso, im Verlauf des Winters, viele oberschwäbische Städte: lauter Siege, aber keine Entscheidungen. — Eine solche hat auch Wallenstein, der nach Schlesien gezogen war, mit der weit überlegenen kaiserlichen Hauptarmee nicht gesucht und nicht erreicht. Er hatte seit Anfang 1633 politische Verhandlungen mit der Gegenseite aufgenommen, zu denen er teilweise autorisiert war (Kursachsen), teilweise nicht (Frankreich, Schweden, böhmische Exulanten). Dabei kam es vom 5. Juni bis 3. Juli und 22. August bis 2. Oktober zu Waffenstillstand. Danach zwang er die schwedischen Truppen zur Kapitulation (Steinau, 12. Oktober), besetzte bis Anfang November wichtige Plätze in Brandenburg (Krossen, Frankfurt/Oder, Landsberg) und in der Lausitz (Görlitz, Bautzen), rückte dann aber nicht weiter nach Westen vor (Kursachsen), sondern ging südwestlich zurück nach Böhmen (Pilsen). Am Kaiserhof war seit Sommer 1633 teils begründeter, teils unbegründeter Verdacht vor einem Verrat Wallensteins angewachsen. Die Forschung hat über die Tatsache des Verrats, aber nicht über dessen Motive Konsens gewinnen können. Dies spricht dafür, daß Wallenstein keine klare Konzeption, sondern miteinander Unvereinbares verfolgt hat, was zuletzt damit erklärt worden ist, daß er ein verbrauchter, kranker Mensch gewesen sei, unfähig zu Konsistenz und Konsequenz des Handelns (Mann). - Der Kaiser war seit Ende 1633 entschlossen durchzugreifen. Im 1. Pilsener Revers (12. Januar 1634) schien Wallenstein 47 Generale und Obristen, deren Haltung bei einem gewaltsamen Konflikt zwischen Krone und General den Ausschlag geben mußte, hinter sich zu bringen. Das wurde in Wien als Vorbereitung zum Aufstand interpretiert. Am 24. Januar wurde Wallenstein entlassen. Dieses Patent ist erst am 21./22. Februar publik geworden. Inzwischen hatten sich fast alle hohen Offiziere auf die Seite des Kaisers gestellt, der Wallenstein mit den Proskriptionspatenten vom 18. Februar als Verschwörer seines Amtes enthob. Wallenstein versuchte nun mit einem Rest treuer Truppen nach Westen, zum Oberbefehlshaber des Heilbronner Bundes, Herzog Bernhard von Weimar, auszuweichen. Dabei ist er in Eger von einem Dragonerhauptmann am 25. Februar 1634 niedergemacht worden. Je nach Standpunkt bewerten die Historiker diese Tat als Hinrichtung, Tötung oder Ermordung. Nicht der Form, aber der Sache nach erinnert Wallensteins Ende an die Hinrichtung des holländischen Staatsmanns Oldenbarnevelt durch die Generalstaaten (1619) und des englischen Königs, Karls I., durch das Parlament (1649). 1634 hat der Kaiser nach Übereinkunft mit Bayern und Spanien die Entscheidung in Süddeutschland gesucht und gefunden. Dort operierten die Haupttruppen der Heilbronner wegen Differenzen ihrer Führer zunächst getrennt (Oberpfalz und Bodensee) und erfolglos. Sie vereinigten sich am 12. Juli zu einem Vorstoß nach Bayern (Landshut, 22. Juli). Die kaiserlich-bayerischen Truppen unter dem nominellen Oberbefehl Ferdinands III. eroberten am 26. Juli Regensburg, zogen dann donauaufwärts (16. August Donauwörth) und belagerten ab 18. August Nördlingen. Am 3. September erhielten sie entscheidende Verstärkung durch den Kardinalinfanten Fernando, der seit dem 30. Juni auf dem Weg von Mailand nach Flandern war. Diese Kräfte haben am 5./6. September den Heilbronner Bund (unter Bernhard von Weimar und Horn) vernichtend besiegt. Die Schlacht bei Nördlingen, wesentlich ein Erfolg der spanischen Truppen, war militärisch und politisch kriegsentscheidender als 1631 Breitenfeld. Schweden mußte bis zum Frühjahr 1635 fast alle Positionen bis zum Rhein und Main räumen. Der Heilbronner Bund fiel auseinander. 5.4. Der Prager Friede (1635). Im Unterschied zu 1627—1629 ist das neu gewonnene, auch keineswegs absolute Übergewicht der katholischen Seite nicht zur Durchsetzung maximaler konfessionspolitischer Forderungen benutzt, sondern Ausgleich gesucht worden. Der Prager Friede, über den eine moderne Untersuchung fehlt, war ein „passabler Kompromiß" (Engel 344) zwischen Kaiser und Kursachsen. — Johann Georg hatte, als er 1631 auf
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die schwedische Seite getreten war, seinen Führungsanspruch im deutschen Protestantismus und das Ziel konfessionspolitischen Ausgleichs mit den Katholiken nicht aufgegeben. Dem kam einerseits entgegen, daß der Gedanke an Preisgabe des Restitutionsedikts, an wirkliche Konzessionen im Reichsreligionsrecht, seit dem Schock von Breitenfeld aus der Wiener Diskussion nicht verschwunden ist 2 6 ; andererseits waren die Friedensvorstellungen der beiden protestantischen Kurfürsten 2 7 mit den Zielen Gustav Adolfs und denen der Heilbronner Politik unvereinbar, was die Rivalität zwischen Johann Georg und Oxenstierna steigerte. Noch vor Abschluß des Heilbronner Konvents (18. März bis 2 4 . April 1633) trafen sich im böhmischen Leitmeritz am 2 3 . / 2 4 . März kaiserliche Unterhändler mit dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt (als Mittelsmann zu Dresden). Dort hielten die Wiener an dem Restitutionsedikt nicht unbedingt fest. Auf einem für Breslau vorgesehenen Friedenskongreß war der Kaiser bereit, das Restitutionsedikt ganz preiszugeben, wenn sich die evangelischen und katholischen Reichsstände dementsprechend einigten, andernfalls durch Suspension Zeitaufschub zu gewinnen 2 8 . — Anfang März 1 6 3 4 griff Wien den Verhandlungsfaden mit Dresden wieder auf. Am 15. Juni begannen Friedensverhandlungen in Leitmeritz. Sie wurden am 19. Juli in das sächsische Pirna verlegt. Bereits vor der Nördlinger Schlacht hatten die Kaiserlichen die entscheidende religionspolitische Konzession angeboten: Preisgabe des Restitutionsedikts durch Einführung eines Normaljahrs mit dem Stichtag 12. November 1 6 2 7 . Der Vertragsentwurf, die „Pirnaer N o t e i n " 2 9 , wurde am 2 4 . November 1 6 3 4 unterzeichnet. Da die interne Einigung des Kaisers mit den katholischen Reichsständen mehr Zeit beanspruchte, konnte die Unterzeichnung nicht, wie vorgesehen, am 13. Januar erfolgen. So wurde Waffenruhe ab 28. Februar vereinbart. Die harten Schlußverhandlungen begannen im April in Prag. Die Kaiserlichen setzten weit mehr Veränderungen am Entwurf durch als Kursachsen. Der Friede ist am 3 0 . Mai 1 6 3 5 unterzeichnet worden 1 0 . Der lange Vertragstext ist bis in die kleinsten Details der Formulierungen hinein das Ergebnis kompliziertester Kompromisse. Es ging um drei Materien: um allgemeines Reichsverfassungsrecht, um spezielles Reichsreligionsrecht und um territoriale Besitzverhältnisse. Was den dritten Punkt betraf, so erhielt Kursachsen die ihm aus den Verträgen von 1620 und 1623 zustehende Ober- und Niederlausitz sowie vier magdeburgische Ämter, das Erzstift Magdeburg behielt der 1628 gewählte kursächsische Prinz August auf Lebenszeit. Im übrigen sollte allgemeine Restitution mit dem Stichtag 6. Juli 1630 (Landung Gustav Adolfs) erfolgen, womit die kurpfälzische, die hessen-kasselische und baden-durlachische Frage ausgeklammert waren und in der Streitfrage zwischen den weifischen Herzogtümern und dem Hochstift Hildesheim keine Entscheidung erfolgte31. An allgemeinen Reichsverfassungsfragen wurden das Bündnisrecht der Stände aufgehoben (was sich gegen Heilbronner Bund und Liga richtete) und Regelungen für die Reichskriegs Verfassung getroffen, die oft irrig als Vorbereitung einer „reichsabsolutistischen" Politik des Kaisers interpretiert worden sind. Am ausführlichsten waren die religionsrechtlichen Bestimmungen, die von drei Grundsätzen ausgingen: 1) scharfe Grenzziehung zwischen den habsburgischen Landen, wo der Kaiser sich, mit Ausnahme eines Teils von Schlesien, das uneingeschränkte ius reformandi nicht antasten ließ, und dem Reich, wo er Konzessionen einräumte; 2) prinzipielles Festhalten am Religionsfriedcn von 1555, aber 3) Verschieben der endgültigen Entscheidung über die nach 1555 entstandenen Streitfragen über das Reichskirchengut auf 40 Jahre unter Zurückfuhrung auf den konfessionellen Status vom 12. November 1627, den Termin des katholischen Kurfiirstengutachtens, das zum Restitutionsedikt hingeführt hatte. Damit war das Restitutionsedikt nicht formell aufgehoben, dessen Punkte 2) bis 5) mit Stillschweigen übergangen waren. Aber das Verfahrensrecht von 1629 war preisgegeben. Dadurch wurde für die Protestanten das Kirchengut ostwärts der Elbe gesichert, nicht aber zwischen Elbe und Weser und in Württemberg. Im übrigen waren die religionsrechtlichen Klauseln mit vielen Vorbehalten und Einschränkungen versehen, die oft absichtlich unklar formuliert waren, so in der Kernfrage, was gelten solle, wenn man sich nach 40 Jahren gütlich nicht geeinigt habe: dann solle „jeder Theil in denjenigen Rechten stehen", die er am 12. November 1627 gehabt habe, „so gut oder schwach es damals gewesen, gütlich oder rechdich zu gebrauchen. Und sol deßwegen kein Theil wider den andern unerkanten ordentlichen Rechtens zu den Waffen greifen". Man bediente sich also, wie so oft seit der „Verrechtlichung des Religionszwiespaltes" (Heckel, Itio in partes 188), der bewußten Uneindeutigkeit dilatorischer Formelkompromisse, verbunden mit wohlwollenden Absichtserklärungen. Mißt man diese Vereinbarungen an den religionsrechtlichen Bestimmungen des -»Westfälischen Friedens, so wird der Unterschied deutlich: es wurde 1 6 4 8 nicht nur ein Teil der Streitfragen geregelt und in den meisten Punkten nicht nur Aufschub, sondern Ausgleich er-
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reicht. Die Vorläufigkeit und Stückhaftigkeit des Prager Friedens erklären aber kaum, jedenfalls nicht vorwiegend, warum er sein Ziel, die Befriedung des Reiches, verfehlt hat. Dies ist auch weniger darauf zurückzuführen, daß einige deutsche Fürsten ganz ausgeschlossen und andere auf Sondervereinbarungen mit dem Kaiser verwiesen wurden (z. B. Württemberg, das dann 1638 restituiert wurde), oder daß der Friede für die übrigen Reichsstände ein kaiserlich-kursächsisches Diktat gewesen ist, dessen Beitritt ihnen aufgezwungen wurde: all dies haben, bis auf Bernhard von Weimar und Wilhelm von Hessen-Kassel, schließlich alle akzeptiert. Der Grund des Scheiterns dieses Friedens lag in der falschen politischen Prämisse, daß ein unter den Bedingungen von 1635 geeintes Reich imstande sei, Schweden und Frankreich vom Reichsgebiet zu verdrängen und fernzuhalten. Dies setzte eine Macht-Organisation voraus, die vor 1635 nicht vorhanden war und deren Schaffung auch 1635 nicht oder nur sehr unzulänglich beabsichtigt worden ist 32 . Infolgedessen konnten das Reich und die kaiserlichen Erblande nur ein (wichtiger) Neben-Kriegsschauplatz des europäischen Krieges sein, in dem es erst in dritter oder vierter Linie um Reichsverfassung oder mitteleuropäisches Konfessionsrecht ging, und auch nur in zweiter Linie um die Gebietserwerbungen der neuen europäischen Großmacht Schweden in Deutschland: in erster Linie ging es um Spanien, dem Frankreich am 19. Mai 1635 in Brüssel formell Krieg erklärt hatte. 6. Der europäische
Krieg in Deutschland
(1635—1648)
Es gibt geschichtliche Komplexe, zu deren Verständnis sich als Modell der geologische Begriff der „Verwerfung" anbietet: ältere Formationen (Probleme, Strukturen, Konstellationen) werden vertikal verschoben; sie kommen dadurch in Verbindung mit und Berührung von anderen (neueren) Formationen, die sich darüber- und danebenlegen und so die Lage und Richtung der älteren (mit-)bestimmen. So war der Krieg 1635 bis 1648 in Deutschland. Dabei lassen sich drei nach Herkunft und Struktur verschiedene „Formationen" unterscheiden: 1) Komplexe, die aus der pfälzischen und dänischen Kriegsperiode stammten. Sie haben ihre Regelung zum größten Teil im Osnabriicker Frieden gefunden, z.B. die pfälzische Frage sowie die Gebietsstreitigkeiten vieler Territorien untereinander (Art. IV; XIII), das Reichsreligionsrecht (Art. V; VII) und allgemeine Reichsverfassungsfragen (Art. VIII); 2) lagerten sich darüber die Komplexe aus der Kriegsperiode seit 1630, vor allem die schwedischen Forderungen (Art. X ; XVI) und die dadurch bedingten Entschädigungen für die unmittelbar betroffenen Reichsstände wie Kurbrandenburg (Art. XI) und Mecklenburg (Art. XII); 3) existierten die Komplexe, die sich aus dem französischen Angriff auf das Gesamthaus Habsburg ergeben hatten und deren das Reich betreffender Teil im Frieden von Münster geregelt worden ist, wobei die Neutralisierung des Kaisers und des Reichs im spanisch-französischen Krieg (IPM $ 4) an politischer Bedeutung über die Gebietsabtretungen im Elsaß und in Lothringen wohl noch hinausging; denn dominant war ab 1635 der Krieg Frankreichs gegen Spanien, dessen Zentrum Flandern bildete. Geringere Bedeutung hatten die anderen Kriegstheater (Pyrenäen, Westalpen und Oberitalien sowie der Raum zwischen Ober- und Mittelrhein und Argonnen, wo Frankreich 1 6 3 4 / 3 5 einen Teil der Positionen übernahm, die Schweden aufgeben mußte 3 3 ).
Bis 1648 haben weder Frankreich noch Spanien durch ihre direkten militärischen Aktionen gegen den Hauptgegner eine Kriegsentscheidung erzielt. Spaniens Stellung wurde aber erheblich geschwächt, als zuerst der Land- und dann der Seenachschub nach den Niederlanden mit der Eroberung Breisachs durch Bernhard von Weimar (17. Dezember 1638) und der Vernichtung der spanischen Flotte vor Dover durch Maarten Tromp (21. Oktober 1639) abgeschnitten wurde. Es folgten 1640 zwei große Revolutionen auf der iberischen Halbinsel: zunächst der sich teilweise mit sozialer Unruhe von unten vermischende Aufstand Kataloniens seit Frühjahr 1640, dessen ständische Führung sich am 23. Januar 1641 französischem Protektorat unterstellte; danach am 1. Dezember 1640 der Abfall Portugals, das seit 1580 mit Kastilien in Personalunion verbunden war und Unterstützung der Generalstaaten erhielt (Waffenstillstand vom 12. Juni 1641). Diese beiden Aufstandsbewegungen, deren zweite sich mit Hilfe der Ressourcen des Kolonialreichs (Brasilien) dauerhaft behaupten konnte, während Katalonien 1652 wieder unter die kastilische Herrschaft zurückgekehrt ist, haben die casa d'Austria nachhaltig geschwächt. Die miserabel versorgte Armee in den Niederlanden mußte von den französischen Truppen am 18./19. Mai 1643 bei Rocroi eine
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buchstäblich vernichtende Niederlage hinnehmen, von der sie sich nicht mehr erholt hat. Ende September 1644 war das gesamte linke Rheinufer von Breisach bis Koblenz in französischer Hand. 1645 rückten französische Truppen in den spanischen Niederlanden so weit vor, daß Frankreich demnächst unmittelbarer Grenznachbar der Generalstaaten zu werden schien. Eine solche Veränderung schien diesen so bedrohlich, daß sie Anfang 1646 in Friedensverhandlungen mit Spanien eintraten, die 1647 zu Waffenruhe und am 30. Januar 1648 zum Frieden von Münster geführt haben, der den achtzigjährigen Krieg um die souveräne Staatlichkeit der Nord-Niederlande beendete, während der französisch-spanische Krieg weiterging (11. Oktober 1646 Eroberung Dünkirchens; 20. August 1648 Schlacht bei Lens). Die fortschreitende Lähmung Spaniens nach 1638 bedeutete, daß Wien in bedrohlichen Situationen (im Unterschied zu 1619/20 und 1633/34) keine wesentliche Unterstützung und Entlastung aus Madrid erwarten konnte. Dadurch wurde der Kaiser schließlich vor die Alternative gestellt, sich entweder von Spanien oder vom Reich zu lösen. — Schweden war es 1635 gelungen, durch Prioritätenwechsel (Deutschland [statt Polens] als Hauptinteressengebiet) und Reduzierung des Operationsraumes (Rückzug nach Norddeutschland) im Krieg zu bleiben. Am 4. Oktober 1636 wurden die Kaiserlich-Sächsischen bei Wittstock schwer besiegt 34 ; Erfurt wurde wieder schwedisch. Nach Erneuerung der französisch-schwedischen Allianz (6. März 1638 auf drei Jahre, 30. Juni 1641 auf Kriegsdauer 3S ) führten relativ kleine, sehr bewegliche schwedische Heere unter hervorragender Führung (Baner, Horn, Torstenson, Wrangel) meist erfolgreiche, aber noch nicht entscheidende Offensivstöße gegen die Kaiserlichen (Schlacht bei Chemnitz: 14. April 1639; vor Prag: 30. Mai 1639; vor Regensburg: 21. Januar 1641; zweite Schlacht bei Breitenfcld: 2. November 1642). Ohne übermäßiges Risiko konnte Schweden mit einem Teil seiner deutschen Truppen im Dezember 1643 einen Präventivkrieg gegen Dänemark beginnen, Jütland erobern, sich einer zu spät nachziehenden kaiserlichen Armee entziehen und diese beim Rückmarsch 1644 fast ganz aufreiben. Unter niederländischer und französischer Vermittlung begannen am 18. Februar 1645 Friedensverhandlungen, die am 23. August 1645 zum schwedisch-dänischen Frieden von Brömsebro führten. Er wurde zuerst wie ein Waffenstillstand gewertet, hat aber Dänemarks Rolle als europäische Großmacht beendet, das aus seiner außenpolitischen Isolierung nicht auszubrechen vermocht hatte. — Der schwedische Angriff auf Dänemark war etwas abgesichert durch ein antikaiserliches Angriffsbündnis mit Siebenbürgen (16. November 1643), in das auch Frankreich einbezogen worden ist (12. April 1645) 36 . Die ablehnende Haltung der Türkei gegen eine wesentliche Veränderung der ungarischen Verhältnisse ermöglichte dem Kaiser den Wiener Frieden mit Siebenbürgen vom 16. Dezember 1645 unter Bestätigung der konfessionsrechtlichen Regelungen von 1606 und mit geringen territorialen Konzessionen 37 , obwohl Schweden ihm am 6. März 1645 bei Jankau in Böhmen die folgenschwerste Niederlage während des gesamten Dreißigjährigen Krieges zugefügt hatte. Inhalt der kaiserlichen Politik war von jetzt an nicht mehr die Durchsetzung der eigenen Ziele, sondern die Abwendung der schlimmeren Übel, zumal der Rückhalt des Kaisers im Reich immer geringer wurde. - Relativ leicht war zwar beim Regensburger Kurfürstentag (15. September 1 6 3 6 - 2 3 . Januar 1637) die Wahl Ferdinands III. erfolgt, ehe Ferdinand II. am 15. Februar 1637 starb. Aber je länger der Krieg sich hinzog, um so mehr drängten die Kurfürsten, besonders Bayern, auf Frieden (Nürnberger Kurfürstentag: 3. Februa r - 7 . Juli 1640), der auch im Innern des Reiches (Regensburger Reichstag 13. September 1 6 4 0 - 1 0 . Oktober 1641; Frankfurter Deputationstag: 21. Februar 1643 bis 1645) ohne Einbeziehung Frankreichs und Schwedens nicht zu gewinnen war, die sich mit dem Kaiser im Hamburger Präliminarfrieden vom 25. Dezember 1641 prinzipiell auf einen westfälischen Friedenskongreß geeinigt hatten. Ihre fundamentalen Gegensätze über die Art und das Ausmaß der Einbeziehung der Reichsstände in diese Verhandlungen wurden erst durch kaiserliches Nachgeben am 29. August 1645 (Zulassung aller Reichsstände = Anerkennung des ständischen ius belli ac pacis) beigelegt. Kurbrandenburg (seit 1. Dezember 1640: Kurfürst Friedrich Wilhelm) war schon im Sommer 1641 aus dem Krieg ausgeschieden (Vertrag mit Schweden vom 24. Juli 1641), Kursachsen folgte am 6. September 1645.
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Die französische Kriegspolitik hatte durch den T o d Richelieus (3. Dezember 1642) und Ludwigs XIII. (14. Mai 1643) keine wesentliche Beeinträchtigung erfahren; Mazarin führte das Begonnene konsequent weiter. 1643 haben die französischen Truppen dreimal vergeblich versucht, nach Süddeutschland vorzustoßen, wurden aber von Bayern unter Mercy zurückgewiesen (zuletzt bei Tuttlingen: 24./25.November 1643), der sich auch in der Schlacht bei Freiburg/Breisgau (3./5. August 1644) behauptete, ohne die französische Rückeroberung Philippsburgs (12. September 1644) verhindern zu können. 1645 hat er am 5. Mai die Truppen Turennes bei Mergentheim erneut besiegt. Auch in der Schlacht bei Allerheim (3. August 1645, nahe Nördlingen), in der Mercy fiel, behaupteten die Bayern das Feld, doch wurde dies in Deutschland die Wende des Krieges zugunsten Frankreichs. Schwedisch-französische Truppen gemeinsam konnten 1646 Bayern besetzen und verwüsten, das, wie Kurköln, am 14. März 1647 einen Waffenstillstand mit Frankreich, Schweden und Hessen-Kassel einging, a m 7. September jedoch wieder auf die kaiserliche Seite zurückkehrte (Kurköln am 15. August). So wurde Bayern 1648 erneut von schwedisch-französischen Truppen verheert; denn bis zur Unterzeichnung des Friedens ist der Krieg fortgeführt worden: am 24. Oktober 1648 belagerten schwedische Truppen Prag. Die Etappen der westfälischen Friedensverhandlungen müssen daher im Zusammenhang des Kriegsgeschehens und der Feldzugs-Planungen verstanden werden. Die Hauptdaten waren: 7. Januar 1646 Friedensforderungen der Kronen; 13. September 1646: kaiserlich-französischer Vorfriede; 17./20. Februar 1647: kaiserlich-schwedisch-kurbrandenburgische Einigung; 24. März 1648: Einigung zwischen Kaiser und Schweden sowie dem Corpus Evangelicorum u n d den mächtigeren katholischen Reichsständen über das Reichsreligionsrecht. Die Entscheidung des Kaisers, sich durch den Friedensschluß von Spanien zu trennen, weil sich sonst das Reich von ihm zu separieren drohte, ist zwischen dem 16. und dem 22. September 1648, unter ultimativem Druck des letzten Verbündeten, Bayerns, erfolgt. Selbst der Zweite Weltkrieg hat weniger tief in den Bestand des deutschen Volkes eingegriffen als der Dreißigjährige Krieg: der gesamte Bevölkerungsverlust 1618—1648 wird auf ca. 4 0 % geschätzt, in den Städten vielleicht 3 3 % . Bei detaillierten Untersuchungen hat sich jedoch gezeigt, d a ß nicht nur von Region zu Region, sondern innerhalb kleiner Gebietseinheiten, ja von O r t zu Ort, erhebliche Unterschiede festzustellen sind 3 8 . Unstrittig ist, d a ß die großen Menschenverluste zur Hauptsache nicht durch direkte Kampfeinwirkungen zu erklären sind, auch nicht durch Marodieren der Soldateska, sondern vornehmlich durch die Folgen von Flucht (vom Dorf in den Wald und in die Stadt), von Unterernährung und von erheblich weiter als in Friedenszeiten verbreiteten epidemischen Krankheiten. — Eng damit verbunden ist die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen. Das vom 19. Jh. überkommene landläufige Geschichtsbild von einer allgemeinen Zerstörung durch den Krieg ist seit Anfang des 20. Jh. durch (ähnlich globale) Gegenthesen von einer generellen Unerheblichkeit des Kriegsgeschehens bestritten worden.Beide historiographischen Ansätze verfielen dem gleichen Fehler, isolierte Fakten unzulässig zu verallgemeinern. Erst mit modernen landesgeschichtlichen Methoden ist darüber hinauszukommen. So ergab sich unlängst, daß in Württemberg der Krieg „weder eine zukunftsreiche wirtschaftliche Entwicklung unterbrochen" noch „den bereits angebahnten Niedergang" nur beschleunigt habe (v. Hippel 447): die alternative Fragestellung als solche ist falsch. Derart differenzierende (und somit notwendig auch relativierende) Feststellungen nehmen dem Geschehen des Dreißigjährigen Krieges nichts von dem Schrecklichen für die von ihm betroffene Welt. In der Friedlosigkeit unserer Zeit hat man daher wieder viel Verständnis dafür gefunden, daß die Menschen damals den Frieden überschwenglich gepriesen haben, was ein Schautaler 1648 in die prägnante Devise gefaßt hat: pax optima rerum.
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Anmerkungen ,ßellum [Singular!] atrox et multiplex, quod triginta per annos ...in imperio Germanico aetate nostra gestum est" (Adolph Brachelius, Historia nostri temporis ... ab anno 1618 usque ad annum
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1 6 5 0 . . . distributa, Köln o. J. [Imprimatur: 28. August 1650], 2). Damit ist Engel 346 Anm. 11 hinfällig; vgl. dazu: K. Repgen: FS Heinz Gollwitzer, 1982. 2 Direkt: Dänemark (1625—1629) gegen Kaiser und Liga, 1643—1645 gegen Schweden, Schweden (1630-1648),Siebenbürgen ( 1 6 1 9 - 1 6 2 1 , 1 6 2 3 - 1 6 2 4 , 1 6 2 6 , 1 6 3 0 - 1 6 3 1 , 1 6 4 4 - 1 6 4 5 ) , S a v o y e n und Venedig (im Mantuakrieg 1 6 2 8 - 1 6 3 1 ) , Frankreich ( 1 6 2 9 - 1 6 3 1 im Mantuakrieg, dann 1 6 3 4 / 3 5 - 1 6 4 8 ) sowie (aber ohne formellen Kriegszustand zwischen Spanien und Schweden und zwischen dem Reich und den Generalstaaten) Spanien 1 6 2 0 - 1 6 4 8 , Generalstaaten 1 6 2 1 - 1 6 4 8 . Indirekt (durch Entlastungskriege, Truppenunterstützung, Subsidien usw.): Türkei, Rußland, Polen-Litauen, Papst, Schweiz, Portugal. 3 Ähnlich bedeutsam aber der spanisch-niederländische Friede von Münster (1648), der spanischfranzösische Pyrenäenfriede (1659) und die für Schweden wichtigen Friedensschlüsse von Oliva (1660) und Kardis (1661). 4 Der seit 1952 viel diskutierte Begriff der allgemeinen „Krise" des 17. Jh. (vgl. Aston; Parker/Smith), der seither von manchen als Epochenbegriff vorgezogen wird, bleibt nach wie vor reichlich unpräzise: wann vor und nach dem 17. Jh. gab es keine „Krise" und keinen Wandel? Eher akzeptabel wäre Engels Vorschlag (316ff), von einer Epoche der großen europäischen Kriege 1 5 8 8 - 1 6 5 9 / 6 1 zu sprechen. 5 Texte: Kuzmány 2 3 - 3 4 (Majestätsbrief), 3 5 - 3 9 (Vergleich). Ebd. auch die Texte fast aller wichtigen anderen habsburgischen religionsrechtlichen Bestimmungen vor und nach 1618. 6 Böhmische Verfassung vom 10. Mai 1627, mährische vom 10. Mai 1628; Druck: Cod. iuris Bohemici, ed. H. Jirecek, Prag, V / 2 - 3 , 1888/90. 7 Beispielsweise erbrachten die „normalen" Staatseinnahmen in den Stiftern Bremen und Verden 1 6 4 5 - 1 6 4 8 jährlich ca. 2 0 0 0 0 Rt., die Kontributionen im gleichen Gebiet jährlich ca. 2 0 0 0 0 0 Rt; vgl. Böhme 80. 8 Dabei sind die gleichzeitig im niederländisch-spanischen Krieg dienenden Truppen (1632: Eroberung Maastrichts durch Fritz Heinrich von Oranien) mit etwa 100000 bis 150000 Mann nicht einberechnet. Insgesamt sind nur Schätzungen möglich, deren Größenordnung aber plausibel ist. — Unter Einbeziehung des unterschiedlich zahlreichen Trosses (Soldatenfamilien, Reiterjungen, Prostituierte u. a.) dürfte das Verhältnis der in Deutschland (ohne Niederlande) 1632 vorhandenen „Armee" zur Zivilbevölkerung etwa 2 bis 5 zu 100 betragen haben, später weniger. 9 Die englischen Könige Jakob I. und Karl I. zahlten 1 6 2 0 - 1 6 3 2 zur Unterstützung ihrer politischen Bemühungen um Restitution des Pfälzers ca. 6,9 Millionen Rt. Subsidien; davon entfielen etwa 3 5 % auf die Verteidigung der Pfalz, 13% aufMansfeld, 13% auf die Generalstaaten, 24% auf Christian IV. und 15% auf die Unterstützung der pfälzischen Familie im Exil. Sie erreichten damit politisch nichts. — Frankreich zahlte an Schweden in den 16 Jahren 1 6 3 1 - 1 6 3 4 , 1636 und 1 6 3 8 - 1 6 4 8 ca. 6,2 Millionen Rt. Subsidien und gewann den Krieg. Im arithmetischen Mittel betrugen die englischen Subsidien-Ausgaben pro Jahr 0,53 Millionen Rt., die französischen 0,38 Millionen Rt., verhielten sich also zueinander ungefähr wie 3:2. (1 Pfund Sterling ist gleich 4,8 Rt. gerechnet.)-Der nominale Ist-Wert der schwedischen Gesamt-Kriegskosten in den Jahren 1 6 3 1 - 1 6 3 4 wird auf ca. 20 bis 30 Millionen Rt. geschätzt. In dieser Summe steckte ein Bargeld-Anteil von ca. 4,4 Millionen (22 bis 25%). Die französischen Subsidien der Jahre 1 6 3 1 - 1 6 3 4 betrugen im arithmetischen Mittel jährlich 0,25 Millionen Rt. (Ist-Summe), konnten also etwa 6 % der schwedischen Bargeld-Bedürfnisse decken; sie hatten aber erhebliche Bedeutung für Schwedens Kredit in Amsterdam. 10 Text: DuMont V/2, 584. 1 1 Text: Michael Caspar Londorp, Acta publica, Frankfurt, III 4 1668, 1 0 4 8 - 1 0 5 5 . 1 2 Dickmann, Engel und Heinrich Lutz gehen davon aus, daß solche Tendenzen bestanden, Albrecht, Koenigsberger, Mann und Repgen sind skeptisch. 13 Text: DuMont V/2, 615. 14 Text: ebd. VI/1, 14. Den vorhergehenden Vertrag von Cherasco vom 6. April 1631 (Text: ebd. 9) hatte der Kaiser mit Rücksicht auf die Unausgewogenheit der Bestimmungen über die französischen und kaiserlichen Nachschubwege durch die Alpen nach Italien nicht ratifiziert. 15 Text: Sverges traktater med främmande magter, Stockholm, V/1 1903, 3 4 7 - 3 5 6 . 1 6 Text: ebd. V/2 1909, 3 3 3 - 3 4 2 . 1 7 Text: ebd. V / 1 , 4 3 8 - 4 4 0 . 4 4 1 f. Gustav Adolfs Deklaration über die bayerische und ligistische Neutralität vom 25. Januar 1631. 18 Text: Albrecht, Außenpolitik 378 f. " Text M. C. Londorp [Anm. 11] III, 1 4 5 - 1 4 7 . 2 0 Texte Sverges traktater V/1, 5 1 3 f (Johann Georg), 5 1 4 f (Gustav Adolf). 2 1 Allein die Heeresverwaltung erforderte durch das sprunghafte Steigen der Truppenzahlen ein Vielfaches des Bisherigen. Die Zahlen der Armee in Deutschland (Daten nach altem Stil): Juni 1630: 38100, September 1631: 22900, Dezember 1631: 83200, Februar/März 1632: 108500, November 1632: 149200 (vgl. S. Lundkvist, Svensk krigsfinansiering 1 6 3 0 - 1 6 3 5 : HT[S] 86 [1966] 384).
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Oxenstierna, Skrifter II/l, 8 5 7 - 8 6 5 . 8 6 6 - 8 6 8 . Text: Sverges traktater V/2, 1 2 - 1 6 . Texte der Haupt- und Nebenabschiede: ebd. 1 8 - 5 7 . M . C . Londorp [Anm. 11], IV, 4 2 7 . Einzelheiten: K. Repgen, Papst, Kaiser u. Reich I, 2 7 3 - 3 2 1 . Kurbrandenburg: Torgauer Programm vom Mai 1632 (Text: Leopold Ranke, Gesch. Wallensteins, L e i p z i g 3 1 8 7 2 , 3 5 0 - 3 5 3 , dazu Walter Struck, Johann Georg u. Axel Oxenstierna, Stralsund 1899, 98 Anm. 1); Hessen-Darmstadt: 28. Januar 1633 (Text-Nachweise Frohnweiler 9 1 - 1 0 5 ) ; Kursachsen: Dresdener Punkte vom März 1633 (Text: Pirnische u. pragische FridensPacten, o . O . 1636, 2 9 1 - 3 0 7 ) ; Heilbronner Bund: Nebenabschied Frankfurt, 2 3 . September 1633 (Text: Sverges traktater V/2, 1 4 8 - 1 5 7 ) . Instruktion vom 26. August 1633: Hermann Hallwich, Briefe u. Akten zur Gesch. Wallensteins (1630/1634), IV 1912 (FRA.D 66) 2 4 1 - 2 7 6 . Text: FridensPacten 9 - 6 5 . Text: DuMont VI/1, 8 8 - 9 9 . 4 der 9 Nebenrezesse noch ungedruckt; Einzelnachweise K. Repgen, Papst, Kaiser u. Reich I, 3 6 1 Anm. 2 3 1 . Nach einer Fehde war 1523 das sog. „Große Stift" von Hildesheim politisch abgetrennt und den Weifen übertragen worden. Mit einem Urteil vom 17. Dezember 1629 hatte das Reichskammergericht Restitution an Hildesheim angeordnet. Dagegen hatten die Herzöge Revision eingelegt, deren Suspensiveffekt umstritten war, und 1634 das gesamte („Große" und „Kleine") Stift besetzt. Zum Problem der Absichten und Chancen eines „Reichsabsolutismus" 1 6 3 5 gibt es keinen Konsens. Uber die unterschiedlichen Beurteilungen vgl. Anm. 12 sowie H. Haan: Rudolf. 2 6 . August 1634: Abtretung Philippsburgs (französisch besetzt am 7. Oktober); 9. Oktober 1634: Auslieferung der schwedischen Plätze im Elsaß (außer Benfeld und Dachstein); 1. November 1634: Allianz Frankreichs mit dem Heilbronner Bund; 27. Oktober 1635: Übernahme Bernhards von Weimar mit seinen Truppen als Kriegsunternehmer für Frankreich. Der berühmte Schlachtenbericht in Grimmelshausens Simplicissimus ist weitgehende Übernahme der Schilderung eines englischen Romans von 1 5 9 0 ; vgl. Parker, Europe 3 3 6 f nach Hans Geulen: Euphorion 63 (1969) 4 2 6 - 4 3 7 . Texte: Sverges traktater [Anm. 15] V/2, 4 2 4 - 4 2 9 . 471 - 4 7 4 . Die französisch-schwedische Allianz seit 1634/35 hatte trotz der Abkommen von Compiegne (28. April 1635) und Wismar (30. März und 1. April 1636) mehr nominellen Charakter. Texte: ebd. 5 3 9 - 5 4 2 . 5 4 5 - 5 6 1 . Texte (8. August bis 16. Dezember 1645): Roderich Goos, österreichische Staatsverträge, Fürstentum Siebenbürgen ( 1 5 2 6 - 1 7 0 0 ) , Wien 1911, 7 6 5 - 7 8 4 . Zusammenfassend Franz; ebd. 8 eine graphische Skizze nach dem neuesten Stand. Vgl. die instruktiven Sonderkarten über die Unterschiede der Bevölkerungsverluste in Lippe, Sachsen, Herrschaft Sorau/Niederlausitz und Württemberg (ebd. 1 3 . 1 8 . 2 9 . hinter 60), des Zerstörungsgrades der Häuser um Weimar und Jena (ebd. 33) und der Wüstungen im Amt Wetter/Ruhr, im Oberamt Lautern und in Lothringen und Bar (ebd. 1 1 . 4 6 . 5 0 ) . Quellen
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Drews
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Konrad Repgen Drews, Paul Gottfried
(1858-1912)
1. Leben Die Eltern, der aus Sternberg (Mecklbg.) stammende Kaufmann August Drews und die Eibenstocker Arzttochter Alma Zeißig, gaben dem am 8.5.1858 in Eibenstock (Erzgebirge) geborenen Sohn mit hoher Berufsauffassung, starkem Gottvertrauen und frohem Lebenssinn „das Beste seines Wesens" (Dobschütz 64). Die Familie zog 1870 nach Leipzig, wo das Thomas-Gymnasium sein bleibendes Interesse an Literatur und Geschichte ausbildete. Predigten des Professors G. A. Fricke festigten den Plan, Theologie zu studieren. Im Studium 1 8 7 8 - 1 8 8 1 wurden A. v. —»Harnack und —»Ritschl seine wichtigsten Lehrer. Unter ihren Schülern fand er in der Leipziger „Mittwochsgesellschaft" und in Göttingen Freunde (M. —»Rade, W. Bornemann, Fr. Loofs, W. —»Wrede u.a.), mit denen er 1887 die Christliche Welt gründete, für evangelisch-soziale Verantwortung eintrat, an der Zeitschrift für Theologie und Kirche mitarbeitete und den Plan der Clemenschen Lutherausgabe entwarf (Aland Nr. 372, —»Lutherausgaben). Mit der Studie Petrus Canisius, der erste deutsche Jesuit 1892 [SVRG 38]) promovierte Drews 1883 zum Licentiaten. Dann wurde er Landpfarrer in Burkau (Oberlausitz), 1889 Archidiakonus an der Lukaskirche in Dresden. Hier heiratete er 1890 Elisabeth Kühn, die Tochter seines Pfarrkollegen und späteren Konsistorialrats Dr. Ernst Kühn. Ihm widmete er seinen ersten Predigtband, seiner Frau den dritten (Christus unser Leben, Göttingen 1894/1910). Aus Liebe zur Wissenschaft folgte er 1894 einem Ruf nach —»Jena in das ärmlich dotierte Extraordinariat für Praktische Theologie (Heussi 367). Er wurde 1901 Nachfolger von H.A. Köstlin und Ordinarius in —»Gießen, 1908 in Nachfolge von H. Hering in—»Halle. Ein unheilbares Krebsleiden (Eger 1) durchlitt er 1912 in begnadeter Glaubenszuversicht (Krehl). Er starb am 1.8.1912 in Halle. 2. Werk Drews war mit gleicher Passion Historiker und praktischer Theologe. Die seltene Einheit von strenger Forschung und Anleitung für die Praxis gibt seinem Werk bleibenden Wert. Mehr als ein Drittel seiner Arbeiten widmete der einstige Thomaner der Liturgiegeschichte. Einzelnes davon, wie die Vermutung, —»Antiochien habe die maßgebenden christlichen Kultformen geprägt (Studien zur Geschichte des Gottesdienstes, 3 Bde., Tübingen 1902—1906) ist überholt, anderes und die Editionen liturgischer Texte bleiben durch umsichtige Interpretation ausgezeichnet. Gegen G. Rietschels Infragestellung hat Drews die —»Liturgik als Wissenschaft überzeugend verteidigt (ThStKr 73 [1900] 4 7 3 - 4 9 5 ) , indem er die notwendige Zusammengehörigkeit von Geschichte und Theorie des Kultus nachwies, die Folgen der konfessionell differenten Liturgieauffassung analysierte und die Behandlung der —»Kasualien unter liturgischen Gesichtspunkten umfassend begründete (RGG 1 3,2335—2339). Skeptisch gegenüber zentralistischen liturgischen Reformen, die lokale
Drews
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Kirchlichkeit zerstören könnten (Dobschütz 67), wollte er vor allem die —»Predigt nicht prinzipiell von ihrer liturgischen Bestimmtheit lösen, weil sie „nicht eine beliebige religiöschristliche Rede ist, sondern eben gottesdienstliche Rede" (RGG'3,2336). Die Stoffmasse der Predigtgeschichte brachte er unter fesselnde homiletische Kriterien (Die Predigt im 19. Jh., Gießen 1903; Tholuck: ThStKr 85 [1912] 9 2 - 1 2 8 ; vgl. auch der Art. Predigt. Geschichte: RGG 1 4[1913] 1 7 3 6 - 1 7 5 5 = RGG 2 4[1930] 1411-1426), aber der zum Textwie Hörerverständnis nötige „echt geschichtliche Sinn" wachse nur aus „nachempfindender Liebe" (Vorw. zu F.W. Robertson, Reden über die Korintherbriefe, Göttingen 1895). Von 18 Arbeiten zur Reformationsgeschichte richtet sich Die Anschauungen reformatorischer Theologen über die Heidenmission (ZPrTh 19 [1897] 1 - 2 6 . 1 9 3 - 2 2 3 . 2 8 9 - 3 1 6 ) gegen Irrtümer der —»Missionswissenschaft und wurde eine der historisch wie theologisch kundigsten Studien zum reformatorischen Predigtbegriff überhaupt, während Entsprach das Staatskirchentum dem Ideale Luthers? (ZThK, ErgH. 1908) —»Luther zwar gegen die Freiwilligkeitskirche der —»Täufer, aber zu absolut für die (liberale) —»'Volkskirche beanspruchte. Ein voller Erfolg war Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit (Jena 1905 2 1924 [ 7 . - 1 6 . Tausend]), eine meisterhafte Monographie der Leiden, Freuden und Kulturbedeutung des Pfarrberufes, die - wäre sie greifbar - zu pastoraltheologischer Ermutigung und Ernüchterung in die Hände jedes Theologiestudenten gehörte. Soll Geschichtserkenntnis dem Pfarrer die Urteilskraft schärfen, so bedarf er nach Drews doch ebenso der Orientierung am dogmatischen „Idealtypus" des Glaubens. Drews hat sich bei aller Begeisterung für die Ideale der sozialen Bewegung (Mehr Herz fürs Volk!, Leipzig 1891) von F. —»Naumanns ungeschichtlichem Christusbild eines bloßen Sozialreformers distanziert (Für und wider Naumann: ChW 8 [1894] 4 6 7 - 4 7 2 ) , er kritisierte A. Kalthoffs Gleichsetzung des Kultur- und Sozialfortschritts mit der Offenbarung Gottes (Soziale Predigten von Kalthoff: ChW 13 [1899] 1 0 4 9 - 1 0 5 1 ) und erklärte zu A.v. -»Harnacks Satz von dem nicht ins Evangelium gehörenden Sohn: „Für uns ist eine Lösung des Evangeliums von seinem Verkündiger eine Unmöglichkeit" (Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums: ChW 14 [1900] 1 0 8 2 - 1 0 8 5 , Zitat S. 1084). Der christologische Vorbehalt des sächsischen Lutheraners war zugleich das Geheimnis seiner Anziehungskraft als Prediger und akademischer Lehrer. — Weiter braucht der Pfarrer die Hilfe einer „Psychologie des religiös-sittlichen Lebens". Sie darf nicht Sache der —»Dogmatik oder „der üblichen philosophischen Psychologie" sein, aber auf lange Frist der —»Praktischen Theologie (Dogmatik oder religiöse Psychologie?: ZThK 8 [1898] 1 3 4 - 1 5 1 ) . Zur Mitarbeit an dem begrifflich wie methodisch weiten Programm rief Drews unter dem noch umfassenderen Namen ¡Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der praktischen Theologie (MKP 1 [1901] 1 - 8 ) . Zugleich kündigte er ihre „besondere Ausprägung" an als Darstellung „aller Erscheinungen des kirchlichen Lebens innerhalb eines fest abgegrenzten Kirchengebiets" und in Anlehnung an —»Schleiermachers Plan einer „kirchlichen Statistik" mit dem von Cl. —»Harms geprägten Namen —»Kirchenkunde. Ein Jahr später legte er den ersten Band vor: Das kirchliche Leben der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen (Tübingen 1902). Gleichwohl entwarf er kurz vor seinem Tode nochmals religiöse Volkskunde detailliert „als Disziplin der Praktischen Theologie" und ließ dabei „Kirchenkunde" unerwähnt (RGG 1 5, 1746-1754). 3.
Nachwirkung
Mehr als Drews' andere historischen Werke förderte seine Entdeckung und Erstausgabe der Disputationen D. Martin Luthers (Göttingen 1895) die Lutherforschung; die anfangs ihm zugedachte Edition in der Weimarer Lutherausgabe besorgte 1927/32 H. Hermelink (WA 39/1, IX-XII). - Die Umorientierung der Praktischen Theologie vom dogmatischen zum geschichtlich-empirischen Kirchenbegriff durch religiöse Volks- und Kirchenkunde lag in der Luft und fand viel Zustimmung (Rez. Schian). Die Reihe landeskirchlicher Kirchenkunden wuchs bis 1919 auf 7 Bände; aber Studienfach wurde Kirchenkunde wegen der Mühsal ihrer Erarbeitung nicht. An ihre Stelle traten Sozialpsychologie, Religions- und Kir-
190
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chensoziologie (E. Wolf, Art. Kirchenkunde: RGG 3 3, 1453 f). Die von Drews angezielten „schwersten Lehrprobleme": Überwindung studentischer Weltfremdheit und Anleitung zur Glaubenshilfe (Krehl 779) gerieten dabei ins Abseits dogmatischer Soziologie oder theologischer Verklärung von Gegenwartssituationen. Sein Vorschlag, Das Problem der Praktischen Theologie zur „Reform des theologischen Studiums" zu gestalten (Tübingen 1910), war daher seiner Zeit voraus und ist trotz didaktischer Mängel (Rez. Achelis) unveraltet (Doeme: Krause 4 0 0 - 4 1 7 ) . Werke Alle wichtigen Arbeiten sind im Text genannt. - Bibliographien: Hallesches akademisches Vademekum, Halle, I 1910, 1 6 - 2 0 (73 Titel, darunter 16 liturgiegesch. Artikel aus RE 3 ). - Ernst v. Dobschütz, s. u. 66.68 f (10 Titel Nachtr.). - Weitere Nachtr.: WA 7 , 2 3 0 - 2 3 6 . - Zu nennen sind weiterhin 15 Artikel in RGG 1 , davon Predigtgeschichte auch in RGG 2 . - (Von Drews entdeckte und zu drei Vierteln druckfertig gemachte) Homiletische Sehr. Melanchthons, hg. v. F. Cohrs: Suppl. Melanchthoniana, Leipzig, V/2 1929. - Zahlreiche Kurzrezensionen in ChW. Literatur Kurt Aland (Hg.), Glanz u. Niedergang der dt. Univ. 50 Jahre dt. Wissenschaftsgesch. in Briefen an u. v. Hans Lietzmann ( 1 8 9 2 - 1 9 4 2 ) , Berlin 1979. - Walter Birnbaum, Theol. Wandlungen v. Schleiermacher bis K. Barth, Tübingen 1 9 6 3 , 1 3 4 - 1 3 6 . - Ernst v. Dobschütz, Drews, Paul Gottfried: BJDN 17 (1915) 6 4 - 6 9 . - Karl Eger, Paul Drews* theol. Arbeit: ThStKr 90 (1917) 1 - 3 0 . - Erinnerungen an Paul Drews: C h W 26 (1912) 1 2 5 7 . - Karl Heussi, Gesch. der Theol. Fak. zu Jena, Weimar 1 9 5 4 , 3 6 6 - 3 7 3 . - Ludolf Krehl, Paul Drews: ChW 26 (1912) 779 f. - Franz Lau, Art. Drews, Paul: NDB 4 (1959) 118 f. - Friedrich Loofs, Am Sarge v. Paul Drews: MPTh 8 (1912) 4 3 - 4 7 . - Ders., Erinnerungen an Paul Drews: Das Pfarrhaus 1912, 1 6 3 - 1 6 6 . - Julius Smend, Nekrolog für Paul Drews: MGkK 17 (1912) 286. - Justus Thiersch, Z u r Erinnerung an Paul Drews: ChW 27 (1913) 1107f. Rez. über Paul Drews, Das Problem der Prakt. Theol., Tübingen 1910: Ernst Chr. Achelis: MPTh 7 ( 1 9 1 0 / 1 1 ) 1 1 5 - 1 1 7 . - Gerhard Krause (Hg.), Prakt. Theol., Texte zum Werden u. Selbstverständnis der prakt. Disziplin der ev. Theol., 1972 (WdF 264) 478 f . - M a r t i n Schian: ThR 13 (1910) 3 2 9 - 3 4 7 .
Gerhard Krause Driver, Samuel Rolles
(1846-1914)
1. Leben Driver wurde als Sohn eines Kaufmanns am 2. Oktober 1846 in Southampton geboren. Seine Ausbildung erhielt er am Winchester College sowie am New College in —»Oxford, wo er Literae Humaniores und Mathematik studierte und für Arbeiten über das Hebräische, Syrische und die Septuaginta mit Preisen ausgezeichnet wurde. 1870 wurde er Fellow, 1875 Tutor des New College. 1876, nach der Veröffentlichung von A Treatise on the Use of the Tenses in Hebrew (Oxford 1874 2 1881 = 1892), wurde er Mitglied der Ubersetzungskommission zur Erarbeitung der Revised Version (—»Bibelübersetzungen). Im Dezember 1881 folgte die Ordination zum Deacon der Kirche von England. Nach dem Tode E.B. —»Puseys im September 1882 wurde Driver zu dessen Nachfolger als Professor für Hebräisch und Canon der Christ Church in Oxford nominiert. Da er dafür zum Priester ordiniert werden mußte, erfolgte seine offizielle Berufung erst im Januar 1883. Driver hatte diesen Lehrstuhl bis zu seinem Tode am 26. Februar 1914 inne. 1888 besuchte er Palästina; 1908 hielt er den ersten Vortrag in der Reihe der Schweich Lectures an der British Academy über das Thema Modern Research as Illuminating the Bible (London 1909). Driver war Ehrendoktor der Universitäten Aberdeen, Cambridge, Dublin und Glasgow, Fellow der British Academy (ab 1902) und korrespondierendes Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 2. Werk und
Wirkung
Als Driver die Nachfolge Puseys antrat, war er hauptsächlich als Sprachwissenschaftler und Ubersetzer bekannt. In einer am 21. Oktober 1883 an der Universität gehaltenen Predigt zum Thema Evolution compatible with Faith äußerte er jedoch den Wunsch, die mo-
Driver
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derne Naturwissenschaft, insbesondere den Darwinismus (—»Darwin/Darwinismus), und den Glauben an die Bibel als göttliche Offenbarung miteinander zu vereinbaren. Z u diesem Zeitpunkt w a r seine Einstellung zur deutschen —•Bibelwissenschaft, besonders was den —•Pentateuch anging, weitgehend unbekannt. Er arbeitete an seiner Introduction to the Literature of the Old Testament (1891 9 1913; dt.: Einleitung in die Literatur des Alten Testaments , Berlin 1896), in der er eine—wenn auch vorsichtige—positive Haltung zu den wesentlichen Grundpositionen der alttestamentlichen Forschung, die ihren klassischen Ausdruck bei J. —»Wellhausen gefunden haben, einnahm. Dem Erfolg nach zu urteilen waren diese Einleitung und der Genesiskommentar (Oxford 1 9 0 4 , 1 2 . von G . R . Driver erweiterte Auflage ebd. 1926) seine wichtigsten Werke. Drivers Darstellung der Urkundenhypothese in der Einleitung gehört nach wie vor zu den besten in englischer Sprache, und zwar nicht nur wegen ihrer sorgfältigen Gelehrsamkeit und Ausführlichkeit, sondern auch wegen Drivers Bereitschaft, seine Bedenken im Hinblick auf einige Aspekte dieser Theorie zuzugeben. Für manche seiner Zeitgenossen war Driver mit seinem Verständnis der Bibelkritik zu konservativ; andere wiederum fanden durch die beiden erwähnten Bücher zum Glauben zurück. Driver trug viel zur Bestätigung der gemäßigten Ansicht bei, der Glaube habe weder von der Bibelkritik noch von den Naturwissenschaften etwas zu befürchten, und er tat vielleicht mehr als jeder andere Engländer, um der Bibelkritik in gebildeten Kreisen Anerkennung zu verschaffen. Daß Driver Glauben und Bibelkritik so gut miteinander vereinbaren konnte, lag wahrscheinlich zum Teil am philosophischen Idealismus des damaligen Oxford. Driver differenzierte zwischen Form und Inhalt der Offenbarung und vertrat die Ansicht, d a ß Bibelkritik und Naturwissenschaften nur die Form betreffen könnten. In seiner Sicht war Gott an den biologischen Evolutionsprozessen ebenso wie am ethischen und religiösen Fortschritt unmittelbar beteiligt, so daß das Alte Testament eine progressive Offenbarung der göttlichen Eigenschaften und der von Gott geforderten ethischen Normen darstellte. Obwohl die Bibelkritik gezeigt hat, daß einige von der Tradition als messianische Weissagung erklärte Texte aufgrund ihres historischen Kontextes nicht in diesem Sinne interpretiert werden dürfen, ändert dies doch nichts daran, d a ß das Alte Testament im Ganzen auf das Kommen Christi vorausweist. Driver verfaßte Kommentare zu Gen, Ex, Lev, D m , Hi, Joel und Am, zu den sechs hinteren Kleinen Propheten und Dan. Zumeist beschränken sich diese Kommentare auf literarische, philologische und historische Angaben, nur im Genesiskommentar nehmen theologische und ethische Fragen breiten Raum ein. Driver arbeitete auch über die Psalmen und die wichtigsten Propheten. Seine herausragende Sachkenntnis als Textkritiker und Philologe kam in seinem Beitrag zum Hebrew and English Lexicon of the Old Testament ( 1 8 9 5 - 1 9 0 7 ) und seinen Notes on the Hebrew Text and the Topography of the Books of Samuel (Oxford 1890 2 1913) am besten zur Geltung. Er half Franz —»Delitzsch bei der Erstellung des Hebräischen Neuen Testamentes und arbeitete an —»Kittels Biblia Hebraica mit. Quellen Ein von G. R. Driver zusammengestelltes Verzeichnis von Drivers Werken ist als Anhang B in S. R. Driver, The Ideals of the Prophets, Edinburgh 1915 erschienen. Als Hauptwerke sind neben den im Text erwähnten Titeln zu nennen: The Fifty-Third Chapter of Isaiah according to the Jewish Interpreters (in Gemeinschaft mit A. Neubauer) 1876; Sermons on Subjects connected with the Old Testament, London 1892; Job (mit G.B. Gray), 1921 (ICC).
Literatur Francis Brown, Samuel Rolles Driver: BW43 (1914) 2 9 1 - 2 9 4 . - T h o m a s Kelly Cheyne, Founders of OT Criticism, London 1893, 2 4 8 - 3 7 2 . - George Albert Cooke, Art. Driver, Samuel Rolles: DNB 1912-1921 (1929) 162 f . - D e r s . , Driver and Wellhausen: H T h R 9 ( 1 9 1 6 ) 2 4 9 - 2 5 7 . - A r t h u r Ernest Cowley, Samuel Rolles Driver, 1 8 4 6 - 1 9 1 4 : PBA 1 9 1 5 / 1 6 , 5 4 0 - 5 4 4 . - William Duff McHardy, S. R. Driver. Notes on the Hebrew Text of the Books of Samuel: ET 90 (1979) 1 6 4 - 1 6 7 . - George Buchanan Gray, Samuel Rolles Driver. The Character and Influence of his Work: Contemporary Review April
Drogen I
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John William Rogerson Drogen I. Religionsgeschichtlich
II. Praktisch-Theologisch
I. Religionsgeschichtlich 1. Begriff 2. Wertung 3. Religionsgeschichtlich bedeutsame Drogen 5. Symbolik 6. Verwerfungen der Droge (Quellen/Literatur S. 195)
4. Der Peyotismus
1. Begriff Der Begriff der Droge muß im religionsgeschichtlichen Verständnis in einem umfassenderen und ursprünglicheren Sinn verwendet werden, als dies im heutigen Sprachgebrauch geschieht, der das Wort in zunehmendem Maße auf die Bedeutung von Suchtdroge im Sinne von Rauschgift einschränkt. Auch spielen in der Religionsgeschichte medizinische Gesichtspunkte, die die Droge als giftige Substanz wie auch als Heilmittel einstufen, keine bedeutsame Rolle. Von einer Suchtgefahr kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Genuß von Drogen rituell vollzogen wurde und daher sowohl quantitativen als auch zeitlichen Begrenzungen unterworfen war. Die Auswirkungen von Drogen müssen stets im Zusammenhang mit dem psychischen Erlebnisgehalt des Rituals gesehen werden, in dessen Vollzug der Genuß der Droge erfolgt. Dies gilt vornehmlich für heute ungebräuchliche Drogen, bei denen wir begründeten Anlaß zu der Vermutung haben, daß ihre stimulierenden oder narkotischen Wirkungen an sich relativ gering waren. 2. Wertung Eine positive Wertung der Droge wird im allgemeinen auf deren Funktion als Speise oder Trank der Götter zurückgeführt. Vorherrschend ist hierbei die Ansicht, die Droge verleihe in rein substantieller Weise den Göttern Unsterblichkeit. Nicht selten erfolgt eine Personifizierung der Droge, die dann als Gottheit eines polytheistischen Pantheons verehrt wird. Da der Droge an sich die Wirkung zugesprochen wird, Unsterblichkeit zu verleihen, erwartet man diese Funktion auch im menschlichen Bereich. Die Droge führt zu einem „dépassement de soi" (Félice 369), sie erfüllt den sie Genießenden mit übermenschlicher Kraft und sie führt ihn in die Gemeinschaft der Götter. In Zuständen der Ekstase und der Trance, die dem rituellen Drogengenuß folgen, wird das Erlebnis der Unsterblichkeit und Gottesgemeinschaft in Erleuchtungen, Visionen und Träumen revelatorischen Inhalts antizipiert. Diese Erfahrungen werden angesprochen, wenn in einer sublimeren Weise die Folge des Drogengenusses, insbesondere die Trunkenheit, als bloßes Bild für mystische Erlebnisse verwendet wird. Neben positiven weist die Religionsgeschichte auch sehr negative Wertungen von Drogen auf. Auch hierbei sind die Begründungen rein religiös motiviert. Sie betreffen kultische Entartungen sowie die durch Drogengenuß bedingten Verhinderungen des korrekten Vollzugs ritueller Gebete und die Störung der zur Meditation erforderlichen geistigen Konzentration. 3. Religiotisgeschichtlich
bedeutsame
Drogen (nach Verbreitungsgebieten
geordnet)
Im alten Indien der vedischen Zeit bildeten Zubereitung und ritueller Genuß eines Rauschtrankes einen wesentlichen Bestandteil des Kultes. Dieser Rauschtrank hieß Sorna [der ausgepreßte (Saft)]. Nach mythischer Vorstellung war seine Heimat im Himmel, von wo er durch einen Falken herabgebracht worden war. Wir wissen nichts Sicheres über die Pflanze, aus der der Sorna gewonnen wurde. Die Texte berichten nur, daß es sich um eine saitreiche Gebirgspflanze handelte, aus deren Sten-
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geln, nachdem man sie in einem Wasserbad hatte aufquellen lassen, mit Hilfe von Preßsteinen ein gelber bis brauner Saft gewonnen wurde, den man mit Wasser und Milch vermischte. Anscheinend folgte darauf ein kurzer Gärungsprozeß, der jedoch keinen hochprozentigen Alkoholgehalt bewirkt haben kann, da der Sorna am gleichen Tage zubereitet und getrunken wurde. Der Sorna galt als Lebenselixier und wurde daher auch Atnritam [Unsterblichkeit] genannt. Er galt als Trank der Götter und stärkte vor allem die Heldenkraft des tatenfrohen Indra, der seit je, wie eine Anrede an ihn zeigt, als großer Somatrinker galt: „An dem gleichen Tage, da du geboren warst, hast du im Verlangen danach die Blume der im Gebirge gewachsenen Somapflanze getrunken" (Rigveda 3,48,2). Der Sorna wurde auch als Gottheit verehrt und, wie mehrere altindische Götter, ein „König" genannt. Ferner wurde er mit dem Mond identifiziert, dessen Abnehmen als ein Austrinken des Sorna durch Götter und die Seelen der Verstorbenen gedeutet wurde. Das Zunehmen des Mondes wurde als erneutes Auffüllen mit Sorna verstanden: „Wenn sie dich austrinken, o Gott, so füllst du dich darauf wieder" (Rigveda 10,85,5). Wie für Götter und Verstorbene, so galt der Sorna auch den Irdischen als Unsterblichkeitstrank: „Wir haben jetzt Sorna getrunken, wir sind unsterblich geworden. Wir sind zum Licht gelangt, wir haben die Götter gefunden" (Rigveda 8,48,4). Offensichtlich besaß der Sorna eine anregende, stimulierende Funktion. Denn seine Wirkung wird mit dem Verbum mad ausgedrückt, dessen Bedeutung etwa mit „begeistern" wiedergegeben werden kann. Dem indischen Sorna entsprach sachlich wie auch etymologisch hinsichtlich seiner Benennung der iranische Haoma. Hieraus können wir auf eine frühe Existenz aus gemeinsamer indoiranischer Zeit schließen. Auch der Haoma galt als Lebenselixier und wird als solches im Avesta, der heiligen Schrift des Parsismus, mit dem ständigen Epitheton düraosha [todabwehrend] bezeichnet. Er verlieh ferner Heiligkeit und Weisheit. Im Haoma-Hymnus des Avesta heißt es: „Du machtest so manchen Mann heiliger und weiser als zuvor, wenn er seinen Anteil von dir empfängt, goldfarbener Haoma, vermischt mit Milch" (Yasna 10,13). Getrunken wurde der Haoma in altiranischer Zeit während nächtlicher Opferfeiern orgiastischen Gepräges, die mit der sakralen Tötung eines Stieres verbunden waren. Von den nordiranischen Skythen berichtet Herodot (IV,73—75) einen eigentümlichen Brauch, den sie nach Bestattungen ausübten. In einer durch Filzdecken abgeschlossenen Hütte warfen sie Hanßörner auf erhitzte Steine und atmeten den sich stark entwickelnden Rauch ein. Es ist nicht sicher, ob es sich hierbei um einen purifikatorischen Akt handelte, der nach dem Umgang mit einem Verstorbenen vollzogen wurde, oder ob eine Verbindung mit der Seele des Toten gesucht und diese in die Unterwelt geleitet werden sollte. Für das alte Mesopotamien ist im Gilgamesch-Epos die Idee eines Wunderkrautes belegt, das Unsterblichkeit verleihen sollte. Das Epos schildert auf seiner elften Tafel, wie es Gilgamesch zwar gelingt, diese auf dem Meeresgrund wachsende Pflanze zu erlangen, sie ihm jedoch alsbald von einer Schlange geraubt wird. Kalmücken und Tataren genossen Kumys, gegorene Stutenmilch, um Unsterblichkeit zu erlangen. Während Drogen im —»Schamanismus der hocharktischen Völker im allgemeinen keine Verwendung fanden, benutzten sie die Schamanen der subarktischen Gebiete zur Erreichung ihrer Trancezustände. Gebräuchlich waren hierbei das Einatmen von Wacholderrauch, das Essen von Fliegenpilzen und das Trinken eines Fliegenpilzabsudes sowie starker Genuß von Alkohol und Tabak. Die Unsterblichkeitsspeise äußgooia und vexvag, der rötliche Trank, den Hebe, die Mundschenkin der Götter, kredenzt, sind nach griechischem Glauben dietpägfxaxa. ä&avaoiat; ihrer Gottheiten. Diese Mittel bewirken auch, von der Nymphe Thetis gespendet, daß sich der Leichnam des Patroklos unverweslich erhält (Homer, II. 19,38 f). Der Wein zählte zu den Opfergaben der Griechen. Im rauschhaften Kult des Dionysos wurde er als heilig verehrt und mit diesem Gott identifiziert, wie Euripides bezeugt: „Im
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Wein ist Dionysos selbst, der Gott, in jeder Spende, die den Göttern fließt, so kommt durch ihn uns jede Gottesgabe" (Bacch. 2 8 7 - 2 8 9 ) . Der germanische Met (altnord. Mjöd) war ein aus vergorenem Honigwasser gewonnenes alkoholhaltiges Getränk, dessen ritueller Genuß als „Opfertrinken" (blôtdrykkjur) eine zentrale Rolle im Kult spielte. Der Met galt auch als Lieblingstrank der Götter. Sein Beiname Ôdroerir [der den Geist in Bewegung setzt] zeigt, daß ihm eine ekstatische Wirkung, vor allem aber auch die Anregung zur dichterischen Inspiration zugeschrieben wurde. Der Erlangung des Skalden-Mets verdankte der Gott Odin seine poetischen Fähigkeiten. Wahrscheinlich kannten die Kelten eine Droge, die Reichtum, Fruchtbarkeit, Dichtkunst und Sehergabe sowie Wiederbelebung verleihen sollte. Diese Vermutung ist naheliegend auf Grund irischer literarischer Überlieferungen, die von einem heiligen Kessel des Überflusses sprechen, der wohl der Herstellung und dem Ausschank dieses Rauschtrankes diente. Der kostbar vergoldete, bei Gundestrup in Jütland aufgefundene Kessel (Krause Abb. 23.25.32), bezeugt die Existenz dieser kultischen Geräte. Bei den nordamerikanischen Indianern hatte der Tabakrauch kultische Funktion. Oft wurde er dem Höchsten Wesen dargebracht. Auch das Rauchen des Kalumets, der Friedenspfeife, war ein ritueller Akt. Die Azteken des alten Mexiko kannten einen aus dem vergorenen Saft der mexikanischen Agave CAgave atrovirens) bestehenden Rauschtrank, den sie Octli nannten und wofür die Spanier früh das Wort Pulque gebrauchten, dessen amerikanischer Ursprung als sicher angenommen wird, obwohl seine spezifische Herkunft umstritten ist. Außerhalb des Kultes war der Genuß dieses Rauschtrankes nur den über siebzig Jahre alten Männern und Frauen gestattet, und auf unerlaubtem Pulque-Trinken stand die Todesstrafe. 4. Der
Peyotismus
Der Peyotismus oder Peyote-Kult nimmt in der Religionsgeschichte eine eigentümliche Sonderstellung ein; denn er kann als eine Religion der Droge bezeichnet werden. Der Genuß der Peyote (aztekisch Peyotl), eines meskalinhaltigen Kaktus, geht auf Bräuche der aztekischen Zauberer zurück, die sich damit in Trance versetzten. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jh. erfuhr der Peyotegenuß vor allem unter indianischen Völkerschaften Nordamerikas eine Theologisierung und Ritualisierung, die ihn zu einer „neuen Religion" werden ließ, der heute auch Weiße anhängen. Der religiösen Wertung der Peyote liegt die Vorstellung zugrunde, sie entstehe aus den Fußspuren einer Gottheit in Hirschgestalt, die Tatosi [unser Ahne] heiße. Das Aufsuchen und Einbringen der Peyote ist zu einer rituellen Handlung entwickelt worden, die mit strengen Fastenübungen verbunden ist. Der Höhepunkt des Kultes besteht in einer nächtlichen Feier, während der das Zerkauen von Peyotestücken erfolgt; dies gilt als sakramentale Mahlzeit. 5. Symbolik Als Symbol für die Erfahrung der Gotterfülltheit verwendet die Sprache der —»Mystik den Zustand des Rausches. Besonders der Sufismus, die Mystik des —»Islam, hat eine reiche Weinsymbolik entwickelt. Charakteristisch hierfür sind die folgenden Verse des persischen Mystikers Dscheläl ad-din Rümi (gest. 1273): „Ich sehe deine Schönheit ganz, schließ ich die Augen mein, und schließ den Mund ich, trinke ich nur immer deinen Wein." 6. Verwerfungen
der
Droge
Neben positiven Wertungen kennt die Religionsgeschichte eindeutige Verwerfungen der Droge. Zarathustra kleidete seine schroffe Ablehnung der altiranischen Opferfeiern und mit ihnen des Haoma in eine Frage an seinen Gott Ahura Mazda: „Wann wirst du den Unflat (müthrem) dieses Rauschtranks treffen?" (Yasna 48,10). Das Wein verbot des Islam geht auf den Propheten Mohammed selbst zurück; es war angeregt worden durch Fehler, die Betrunkenen bei der Salât, dem rituellen Pflichtgebet, unterlaufen waren.
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Der —»Buddhismus sieht Drogen unter dem Aspekt einer Verhinderung der zur Meditation notwendigen geistigen Konzentration. Der buddhistische M ö n c h m u ß daher beim Ordenseintritt geloben, das Gebot der Enthaltung von berauschenden Getränken strikte zu befolgen. Da der Buddhismus im Tee ein zwar anregendes, aber nicht berauschendes Getränk erkannte, hat er dessen weite Verbreitung besonders in Ostasien ganz entscheidend gefördert. Die Idee einer Unsterblichkeitsdroge ist jedoch später v o m Mahäyäna-Buddhismus wieder aufgenommen worden. Zu den Attributen, die die Darstellungen vieler Bodhisattvas aufweisen, gehört eine Flasche, die das A w n f a - G e t r ä n k , den „süßen T a u " (chines, kati-lu) eines Unsterblichkeitstranks, enthalten soll. In der buddhistischen Kunst gehört zum gleichen Vorstellungskreis die Geste des Sprengens des Unsterblichkeitstrankes (Ksheparta Müdrä), bei der die gefalteten Hände eines Bodhisattva nach unten gehalten werden, die Zeigefinger aber ausgestreckt sind und sich an den Spitzen berühren. Quellen Avesta. Die hl. Bücher der Parsen, übers, v. Fritz Wolff, Straßburg 1 9 1 0 . - M a u l a n a Dschelaladdin Rumi, Aus dem Diwan, übers, v. Annemarie Schimmel, Stuttgart 1964. - Das Gilgameschepos, übers, v. Hartmut Schmökel, Stuttgart 1966 5 1 9 8 0 . - W o l f g a n g Krause, Religion der Kelten, 1933 (BARG 1 7 ) . Rigveda: K. F. Geldner, Vedismus u. Brahmanismus, 1928 (RGL 9). Literatur C . J . Bleeker, Rausch u. Begeisterung: ders., The Sacred Bridge. Researches into the Nature and Structure of Religion, Leiden 1 9 6 3 , 1 5 9 - 1 7 9 . - J . Brough, Sorna and Amanita muscaria, 1971 (BSOAS 34) 3 3 1 - 3 6 2 . - Walter Burkert, Griech. Religion der archaischen u. klassischen Epoche, Stuttgart 1977. — Georges Dumézil, Le festin d'immortalité, Paris 1924. — Mircea Eliade, Schamanismus u. archaische Ekstasetechnik, Zürich/Stuttgart 1957. — Ph. de Félice, Poisons sacrés, ivresses divines, Paris 1936. - Jan Gonda, Die Religionen Indiens. I. Veda u. älterer Hinduismus, Stuttgart 1960. - Victor Henry, Sorna et Haoma, le breuvage de l'immortalité dans la mythologie, le culte et la théologie de l'Inde et de la Perse, Paris 1907. - Helmut Hoffmann, Symbolik der tibetischen Religionen u. des Schamanismus, Stuttgart 1967.— Karl Kirchner, Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum, Gießen 1910. Walter Krickcberg, Altmexikanische Kulturen, Berlin 1956. - W. La Barra, The Peyote Cult, New Häven 1938. - Günter Lanczkowski, Art. Rausch: RGG 3 5 (1961) 803 f. - Ders., Die neuen Religionen, Frankfurt/M. 1974. - Herman Lommel, König Sorna: Numen 2 ( 1955) 1 9 6 - 2 0 5 . - Karl Meuli, Scythica: Hermes 7 0 ( 1935) 121 - 1 7 6 . - Martin P. Nilsson, Gesch. der Griech. Religion, München, 1 3 1 9 6 7 , II J 1 9 6 1 . - Walter F. Otto, Dionysos. Mythos u. Kultus, Darmstadt 3 1960. - Erwin Rohde, Psyche. Seelenkult u. Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg 1894. - Dietrich Seckel, Buddhistische Kunst Ostasiens, Stuttgart 1957. - Ders., Kunst des Buddhismus, Baden-Baden 1962. - J . S . Slotkin, The Peyote Religion, Glencoe, III. 1956. - Ake V. Ström/Haralds Biezais, Germanische u. Baltische Religion, Stuttgart 1975. - G. Svendrup, Rauschtrank u. Lebenstrank im Glauben u. Kultus unserer Vorfahren, Oslo 1941. - Paul Thieme, Studien zur indogermanischen Wortkunde u. Religionsgesch., 1952 (BVSAW 98/5) Kap. 2: Ambrosia. - Jan de Vries, Keltische Religion, Stuttgart 1961. - Ders., Altgermanische Religionsgesch., 2 Bde., Berlin 3 1970. - R. G. Wasson, Sorna, Den Haag/New York 1969. Geo Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965. Günter Lanczkowski
II. Praktisch-Theologisch 1. Definitionen beratende Seelsorge 1.
2. Kulturelle und therapeutische Bedeutung 3. Wirkungen 5. Religionsphänomenologie (Literatur S. 198)
4. Sozialethik und
Definitionen
Drogen, pflanzliche und synthetisch herstellbare Substanzen, werden privat, (sub-)kulturell und therapeutisch als Mittel zur Bewußtseins- und Stimmungsänderung benutzt. M a n c h e Drogen wie Kaffee, Tee, Nikotin, Alkohol gelten als gesellschaftlich akzeptiert, andere werden gesetzlich kontrolliert bzw. verboten (Betäubungsmittelgesetz). Ihre Wirkungen sind je nach Substanz, Dosis, äußeren Gegebenheiten, kulturellen und religiösen Interpretations- und Verhaltensmustern sowie nach physischen und psychischen Dispositionen einzelner Benutzer sehr verschieden; entsprechend variieren Häufigkeit, Erscheinungswei-
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Drogen II
sen und Therapiemöglichkeiten seelischer bzw. seelischer und psychischer Abhängigkeit (—»Süchte/Suchtgefahren, —»Abstinenz/ Abstinenzbewegungen). Mit der Weltgesundheitsbehörde ( WHO) lassen sich von verschiedenen Formen der Abhängigkeit her hauptsächlich folgende Drogengruppen unterscheiden, deren Benutzung auch kombiniert bzw. sukzessiv zu beobachten ist (diese Gruppierung entspricht nicht immer chemischen Klassifikationen): Opiate (Morphium, Heroin); Barbiturate (Beruhigungs-, Schmerz- und Schlafmittel) und Alkohol; Cocain; Cannabis (Haschisch, Marihuana); Amphetamine (Weckamine); Halluzinogene (LSD, Meskalin, Psilocybin). - Opiate und Alkohol können Spannungszustände, Angst und Erregung vermindern, wirken dabei aber auch (wie Barbiturate vornehmlich) betäubend; alle drei Substanzen zeigen starke physische und psychische Entzugssyndrome, während die anderen Drogengruppen auf sehr verschiedene Weise eher anregend wirken und in verschiedener Stärke psychisch abhängig machen können. Vor allem Cannabis und Halluzinogene können sinnliche, somatische und geistige Bewußtheit steigern. 2. Kulturelle t(nd therapeutische
Bedeutung
Bei allen realen Gefahren und allem möglichen Mißbrauch von Drogen kann aus der Perspektive einer Theologie der Kultur und aus der der Praktischen Theologie vor Drogen nicht nur gewarnt und diakonische und seelsorgerliche Hilfe diskutiert werden: Wie religionsgeschichtlich auffällt, daß Drogengebrauch, Rauschzustände und Ekstasetechniken sozial-kulturell und religiös eingebunden in Kult und Ritus Verwendung fanden (s. o. Abschn. I), so kann nicht übersehen werden, daß auch in der gegenwärtigen westlichen Kultur Rauschdrogen in Bereichen von Musik, Malerei, Design, Literatur (Charles Baudelaire, Jean Cocteau, Gottfried Benn, Aldous Huxley, Ernst Jünger), aber auch in psychoanalytischer Theorie und Praxis eine wesentliche Rolle gespielt haben bzw. noch spielen. So setzt psychoanalytische Therapie gezielt Halluzinogene ein, um an Spannungsfeldern und Erinnerungen arbeiten zu können, die sonst über Jahre der Therapie hin unzugänglicher oder ganz unerreichbar geblieben wären; und psychedelische Therapie wird als Beförderung zur Erfahrung spiritueller und mystisch-religiöser Dimensionen bei chronischen Alkoholikern, Heroinsüchtigen, kriminellen Pathologen und Krebspatienten im Endstadium ihrer Krankheit erfolgreich eingesetzt. Dabei können sich im therapeutischen Behandlungsfortgang Selbsterfahrung, Weltverständnis, Wertmaßstäbe und emotionale Verfassung tiefgreifend ändern. Schließlich läßt sich die Vermutung begründen, daß LSD als wirksamste der psychoaktiven Drogen das wissenschaftliche Verständnis für Phänomene aus Kunst, Religion, Mythologie, Tiefen- und Parapsychologie entscheidend voranbringen kann (Grof). 3.
Wirkungen
Die Beschreibung der Wirkung von Drogen variiert stark je nach wissenschaftlicher Disziplin und Theorierahmen. Medizin (—»Heilkunde/Medizin), Sozialpsychologie, Psychiatrie, Religionswissenschaft, —»Anthroposophie (Bühler), klassische —»Freudsche —»Psychoanalyse, —»Jungsche Tiefenpsychologie bieten sehr verschiedene Beobachtungsraster und Interpretationen. Jedenfalls sind Drogenwirkungen noch nicht hinreichend und differenziert genug charakterisiert, wenn man lediglich von Steigerung des Glücksgefühls (Lust) und Vermeidung von Unbehagen (Unlust) spricht. Allgemein anthropologisch betrachtet, machen Drogen Bewußtseinszustände von euphorischer, traumartiger, gedämpfter Stimmung, aber auch von Einsicht und Überwachheit erfahrbar, die im Menschen latent vorhanden und abrufbar, jedenfalls in den meisten Fällen auch biographisch und gesellschaftlich mitkonstelliert sind: Wird gewöhnliches Wachbewußtsein durch Erziehung, gesellschaftlichen und persönlichen Alltag konstituiert und zunehmend kanalisiert und so durch Ausbildung von Filterungsprozessen und Abwehrmechanismen relativ konstant und krisenfest gehalten, so wirken Drogen entkonditionierend und können, wo sie nicht unmittelbar betäuben, zu kindlich ungeschützten elementaren Angst- und Einheitserfahrungen (Regression), zur Aufhebung von Subjekt-Objekt Trennungen zurückführen, so daß Zeit-, Raum- und Begriffs-
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koordinaten in Bewegung geraten, Es- bzw. Triebanteile der Person sowie tiefliegende Bereiche des Unbewußten in den Vordergrund kommen, Erlebnisgewichte und -gehalte sich verändern und das Gleichgewicht zwischen Innenwelt und Außenwelt gefährdet wird. Besonders LSD muß - entgegen der ursprünglichen Vermutung, es bewirke eine „experimentelle Psychose" - als unspezifischer Verstärker biochemischer, physiologischer und psychischer Prozesse bezeichnet werden (Grof). Es kann in Meditation und Horror, Gedankenflucht und höchste Denkkonzentration, in radikale Isolierung und in gesteigerte verbale und nonverbale Kommunikation führen, die in ihren Strukturen und Spielregeln klarer als sonst erkannt werden. 4. Sozialethik und beratende
Seelsorge
In allem können Drogen Steigerung von Sensibilität und Verletzbarkeit, dabei aber auch verstärkte Introversion, Abbau von Frustrationstoleranzen, Zunahme von Angst und Isolierung, Einengung von Interessen und Mangel an Aktivitäten bewirken und so gerade bei Jugendlichen in ihrer Krise von Fremd- und Selbstdefinition Reifungsprozesse hemmen; Drogenbenutzer können immer weniger konflikt- und leistungsfähig und jedenfalls psychisch abhängig werden. — Abhängigkeit ist statistisch freilich viel auffälliger beim allgemeinen Medikamentenmißbrauch und bei Alkohol- und Zigarettenkonsum als bei Drogen im engeren Sinn des Wortes. Wo Abhängigkeit entsteht, reproduzieren sich das allgemeine Verhaltensmuster und die durch Werbung suggerierte Erwartungshaltung, daß Konflikte jeder Art, psychosomatische Störungen, Stimmungen und Verstimmungen chemisch effektiv und durch Konsum von Waren regelbar seien. Ein Grundproblem therapeutischer, pädagogischer und seelsorgerlicher Interventionen besteht darin, daß die meisten Helfer die Drogenerfahrungen derer, denen sie helfen wollen, weder kennen noch hinreichend verstehen. Voraussetzung jeder Hilfe ist die Einsicht, daß sich Bedürfnisse, zumal wenn sie subjektiv und vorübergehend erfüllt werden, nicht durch Verbote behandeln lassen und daß auffällige Drogenabhängige eher krank als kriminell und verwahrlost sind, so sehr sie sich durch Beschaffung von Drogen und Taten unter Drogeneinfluß (etwa Verkehrsdelikte) strafbar machen können. Verwahrung und Strafvollzug sind keine Therapie und können oft weiteren Drogenmißbrauch nicht verhindern. Zudem kollidieren Interessen der Untersuchungshaft und der therapeutischen und sozialen Hilfe erheblich. Viele Abhängige scheuen auch eine Behandlung bzw. brechen sie kurzfristig ab und finden bei einer Bereitschaft zur Therapie oft über Monate keinen Kostenträger bzw. Klinikplatz. - Gesellschaftliches Schwergewicht muß auf Prävention, Aufklärung, auf Diskussion der Legalisierung und damit wirksamerer gesellschaftlicher Kontrolle bestimmter Drogengruppen sowie auf Frühbehandlung liegen. In akuten Fällen von Abhängigkeit ist nach der Entgiftung nur eine Langzeitbehandlung sinnvoll; in ihr muß die Drogenkarriere aufgearbeitet (d. h. die hinter ihr steckenden Motive wie narzißtische Störungen, depressive Grundhaltung, Flucht aus unerträglichen familiären, schulischen, sexuellen Problemen) „negative Identität" innerhalb einer subkulturellen Szene zum Bewußtsein gebracht, nötige Ich-Stärke gefördert und neues soziales Leben, etwa in therapeutischen Wohngemeinschaften, erfahrbar gemacht werden. Angesichts deutlicher Signale von innerer Leere und Not, von Zeichen der Verweigerung gegenüber übersteigerten Leistungsanforderungen und der Sehnsucht nach intensiverer Erfahrung, nach Sinn und Transzendenz werden Seelsorge und Therapie auch Wege der —»Meditation, den Umgang mit Träumen, religiösen Symbolen und Ritualen sowie Sensibilisierungen für Körpererfahrungen (etwa durch östliche Bewegungssysteme wie Yoga, T a i Chi, Aikido) in ihrem helfenden Ansatz nicht ausschließen dürfen. 5.
Religionsphänomenologie
Religionsphänomenologisch und theologisch umstritten sind Herstellbarkeit und die Möglichkeit der Wiederentdeckung religiös-mystischer oder gar offenbarungs-ähnlicher Erfahrungsbereiche durch gezielte Benutzung vornehmlich von Halluzinogenen. Dekretieren die einen, daß auf chemischem Wege grundsätzlich keine geistigen Wirkungen zu erzielen
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seien (und reden darum von einer „pseudoreligiösen Interpretation" der Drogenerfahrung), so behaupten die anderen, daß tiefe Drogenerlebnisse in allen wesentlichen Merkmalen geistigen Erfahrungen von Mystikern gleichartig seien, ja daß sich religiöse Erfahrung durch eine aufgefächerte Phänomenologie der Drogenerfahrung allererst tiefenpsychologisch, religionspsychologisch und biochemisch topographieren ließe; dann könnte Drogenerfahrung hermeneutische Dienste für das Verständnis von religiösen Bewußtseinszuständen, von visionären Bildwelten und Transzendenzerfahrungen kosmisch-mystischer Art leisten. Wesentliche Einsichten dieser Diskussion sind: 5.1. Die Einschätzung religiöser —»Erfahrung überhaupt und der theologischen und religionsphilosophischen Traditionen der —»Mystik beeinflussen in dieser Debatte alle Positionen entscheidend. Eine methodische Unterscheidung religiöser und psychedelischer Erfahrung — auch bei Annahme regionaler Kongruenz — bleibt sinnvoll, genauso wie die Unterscheidung zwischen historischer Offenbarung in Jesus Christus/Offenbarungs- (Wort- und Bild)empfang (etwa der alttestamentlichen Propheten)/Einheits- und Evidenzerfahrungen in Zeit-, Raum- und Ichtranszendenz („Epiphanien"; s. Martin). 5.2. Keine Droge produziert (religiöse) Erfahrung, sondern fördert allenfalls die Bereitschaft dazu, wie dies auch andere Mittel (Askese, Versenkung, pflanzliche Stoffe, Ekstasetechniken, Tanz) tun, die in der Geschichte des Christentums und der Religionen Anwendung gefunden haben. Wo zivilisationskritisch eingewendet wird, LSD industrialisiere die Mystik, manipuliere und vermarkte das Bewußtsein und verstärke die Illusion totaler Machbarkeit der Wirklichkeit, darf kulturphilosophisch nicht übersehen werden, daß Halluzinogene gleichzeitig die Potenz haben, den industriellen Materialismus zu erschüttern (Thompson 50). 5.3. Authentizität und Stärke religiöser Erfahrung bewähren und bewahrheiten sich darin, wie weit sie Lebenspraxis positiv beeinflussen und wie weit Integration von Transzendewzerfahrung in die Immanenz des persönlichen Ich so gelingt, daß es nicht zerstört, sondern offener, sensibler, liebesfähiger, kreativer und verletzlicher wird; kosmisch-mystische Erfahrung und endliche weltliche Liebe schließen einander nicht aus. Eine Droge an sich aber bewirkt nie „Bewußtseinserweiterung"; allenfalls kann der ganze, bisweilen therapeutisch begleitete Prozeß von Entkonditionierung und Entgrenzung mittels der Droge und der bewußten Integration dieser Erfahrung in das endliche Leben als „Bewußtseinserweiterung" beschrieben werden, die dann immer auch Erweiterung des Lebensfeldes ist. Nicht abgedrängt werden darf die Frage, wo es Freiräume in Kirche und Gesellschaft gibt, in denen eine neue Synthese von Bewußtseinsinhalten, veränderten Wertkategorien und Verhaltensweisen erfahrbar, mitteilbar und austeilbar werden kann. Literatur „Bewußtseinserweiternde" Drogen in psychoanalytischer Sicht. Hg. v. Günter Ammon, 1971 (Dynamische Psychiatrie 4, Sonderh. 1). - Walther Bühler, Meditation als Erkenntnisweg. Bewußtseinserweiterung mit der Droge, Stuttgart 1972 = 3 1 9 7 4 . - E. Christiani/G. Stübing, Drogenmißbrauch u. Drogenabhängigkeit. Compendium für Ärzte, Juristen, Sozial- u. Erziehungsberufe, Lövenich 1972 3 1 9 7 7 . - Drogenabhängigkeit. Zur Psychologie u. Therapie. Hg. v. Jürgen vom Scheidt, München 1 9 7 2 . - R u d o l f Gelpke, Vom Rausch im Orient u. Okzident,Stuttgart 1966 ( = Drogen u.Seelenerweiterung, München o. J.). - Stanislav Grof, Topographie des Unbewußten. LSD im Dienst der tiefenpsychologischen Forschung, Stuttgart 1978. - Hb. der Rauschdrogen. Hg. v. Wolfgang Schmidbauer/Jürgen vom Scheidt, München 1 9 7 1 , Frankfurt 2 1 9 7 6 (Lit.). — Peter R. Heigl. Die Analogie v. mystischem Bewußtsein u. spirituellen Drogenerfahrungen u. deren ethische Aspekte, Diss. München 1977. - Gerhard M . Martin, „Provozierte Religion". Zehn Abschnitte über bewußtseinserweiternde Drogen: Z E E 18 (1974) 1 6 4 - 1 8 0 . 3 1 3 - 3 1 4 (Lit.). - R . E. L. Masters/Jean Houston, The Varieties of Psychedelic Experience, New York 1966. - Religion u. die Droge. Ein Symposion über rel. Erfahrungen unter Einfluß von Halluzinogenen. Hg. v. Manfred Josuttis/ Hanscarl Leuner, Stuttgart 1972. - Klaus Thomas, Die künstlich gesteuerte Seele. Brainwashing, Haschisch u. LSD - chemische und hypnotische Einflüsse auf Gehirn und Seelenleben, Stuttgart 1970 (Lit.). - William Irwin Thompson, At the Edge of History, New York 1972.
Gerhard Marcel Martin
Dualismus
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Dualismus In der Religionsgeschichte können dualistische Anschauungen in den verschiedensten Bereichen religiöser Vorstellungen aufgewiesen werden. Dabei ist jeweils zu beachten, ob es sich um einenantithetisehen, um einen analogischen oder um einen komplementären Dualismus handelt. Zur theologisch-philosophischen Problematik —»Erkenntnis/Erkenntnistheorie, —»Glaube und Denken, —»Leib und Seele, —•Metaphysik.
1. Ein antithetischer Dualismus bestimmt jene Kosmogonien, die die Transformation eines chaotischen Urzustandes in die Ordnung dieser Welt zum Inhalt haben. Typisch hierfür ist das nach seinen Anfangsworten Ettüma elis [Als droben . . . ] benannte babylonische Weltschöpfungsepos. Nach ihm gelingt es Marduk, dem Stadtgott von Babylon, die Chaosmacht Tiämat zu spalten und aus den Teilen ihres Riesenkörpers Himmel und Erde zu formen. Das Blut des ebenfalls von ihm getöteten Kingu, des Usurpators der Götterherrschaft, vermischt er mit Erde und formt daraus die ersten Menschen. Eine dualistische Antithese kennzeichnet auch das in mannigfacher Weise variierte Grundschema aller gnostischen Systeme (—»Gnosis/Gnostizismus) einschließlich des —>Manichäismus. Als feindliche Mächte stehen sich, mehr oder weniger deutlich personifiziert, die Welt des Geistes und Lichtes und diejenige der Materie und Finsternis gegenüber, und der Weltprozeß ist bedingt durch eine von der Materie oder einem Demiurgen schuldhaft eingeleitete Vermischung der beiden Prinzipien. Auch die Kosmogonie der —»Bon-Religion ist durch eine dualistische Struktur gekennzeichnet, die möglicherweise auf manichäische Einflüsse zurückzuführen ist. 2. Die Kosmologie universistischer Weltbilder 1 untersteht einem „numinosen Ordnungsbegriff" (Landsberger 369). Im alten China (—»Chinesische Religionen) war dies das tao [Weg], nach dem sich der harmonische Gang des Kosmos vollzog. Dieses tao galt als das übergeordnete Prinzip der beiden in einem komplementären Dualismus zueinander stehenden Größen yang und yin. Dem männlichen yang als dem starken, aktiven, schöpferischen, lichten und warmen Element entsprachen Himmel, Sonne, Süden und die rote Farbe. Dem weiblichen yin als dem schwachen, passiven, dunklen und kalten Element entsprachen Erde, Mond, Norden und die schwarze Farbe. 3. Im Bereich der Mythologie (—»Mythos/Mythologie) finden sich oft dualistische Vorstellungen. Da jedoch ein polytheistisches Pantheon keine feststehende Größe ist, können auch sie Wandlungen unterworfen sein. Die gegensätzlichen Qualitäten göttlicher Güte und göttlichen Zornes können personal differenziert, aber auch in nur einer numinosen Gestalt vereinigt sein. R. —»Otto (81) hat auf die „Mischung entsetzlicher Fürchterlichkeit und höchster Heiligkeit" hingewiesen, die mit der Theophanie Vishnus in der Bhagavadgita zutage tritt: „selbst die hohen Gnadengötter Indiens haben neben ihrer gütigen Form der siva-mürti sehr häufig ihre ,Zorn'-Form, die krodha-mürti, wie umgekehrt auch die zornigen ihre gütige" (21). Weit verbreitet ist der Gegensatz zwischen uranischen und chthonischen Mächten. Nicht selten lösen sie sich ab in der Herrschaft über die Welt. So verwarf in Griechenland die homerische Adelsreligion die uralten chthonischen Numina des Landes, indem sie sie einerseits entmachtete, andererseits aber auch in einem komplementären Dualismus mit ihren olympischen Gottheiten verband. So wurde Hera, wahrscheinlich eine alte chthonische Göttin, durch ihre Vermählung mit Zeus zur Himmelsherrin. Für die Konzeption eines göttlichen Paares sind nicht in jedem Fall Analogien zu menschlichen Verhältnissen bestimmend. Es kann sich vielmehr auch um die vergeistigtere Vorstellung handeln, daß die Fülle der Gottheit nur in der Kombination zweier personaler Möglichkeiten, in einem komplementären Dualismus, Ausdruck zu finden vermag. Dann erscheint dem Gläubigen die Gottheit zugleich als Vater und Mutter und damit letztlich als personale Einheit. Dies kommt treffend zum Ausdruck in der Bezeichnung der obersten Himmelsgottheit der aztekischen Religion des alten Mexiko, die „Herr der Zweiheit" und „Frau der Zweiheit", Ometecutli und Omeciuatl, genannt wurde. Die japanische Tenrikyö
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[Lehre von der himmlischen Vernunft], eine der bedeutendsten neuen Religionen Japans, verzichtet ganz auf die Differenzierung der Namen und faßt den komplementären Dualismus in ihrem Gottesbegriff Oyagami [Elterngottheit] zusammen. Ein komplementärer Dualismus ist weder an die Vorstellung eines elterlichen Gottes noch an diejenige von ehelichen Beziehungen zwischen Gottheiten gebunden. Er findet sich vielmehr auch außerhalb dieser Bereiche. Bezeichnend hierfür sind die indischen Götter Mitra und Varuna, deren Verehrung schon für die indoiranische Zeit nachweisbar ist. Beide Götter sind durch ethische Qualitäten gekennzeichnet, sie sind Herren des Rechts und wachen über die Erfüllung von Eiden und Verträgen. Ihre sachliche Zusammengehörigkeit bringt die Sprache in der häufigen Dualverbindung Miträvarunä zum Ausdruck. Zwillingsgottheiten sind oft einander komplementär zugeordnet. Dies gilt für die griechischen Dioskuren, die man gemeinsam als Helfer in Seenot anrief, wie für die indischen Näsatyas oder Ashvins, untrennbar miteinander verbundene jugendliche Zwillinge, die als Helfer und Heilgötter galten. Es findet sich aber auch die dualistische Antithese. Für sie bietet die germanische Eschatologie das wohl bekannteste Beispiel. Nach der Völuspä , dem Gesicht der Seherin in der älteren Edda, werden die endzeitlichen Geschehnisse eingeleitet mit der Ermordung Baldrs durch seinen Zwillingsbruder Hödr, und diesem mystischen Geschehen entspricht der Brudermord im irdischen Bereich (Völuspä 45): „Brüder kämpfen und bringen sich Tod, Brüdersöhne brechen die Sippe; arg ist die Welt." Unter allen Religionen ist zweifellos der Parsismus am eindeutigsten von einem antithetischen Dualismus geprägt, der in der Verkündigung Zarathustras auf den unversöhnlichen Gegensatz zweier Götter zurückgeführt wird, die in der altiranischen Mythologie als Brüder galten, des „weisen Herrn" Ahura Mazda (mpers. Ohrmazd) und des „bösen Geistes" Angra Mainyu (mpers. Ahriman). Die Unvereinbarkeit beider Gottheiten findet ihren schroffsten Ausdruck im 10. Gesang (Gäthä) des Zarathustra(Yasna45,2): „Ich will reden von den beiden Geistern zu Anfang des Lebens, von denen der heiligere also sprach zu dem argen: Nicht stimmen unser beider Gedanken noch Lehren noch Absichten noch Überzeugungen noch Werke noch Individualitäten noch Seelen zusammen." 4. Der Parsismus ist nicht allein kennzeichnend für die schärfste dualistische Antithese der Religionsgeschichte, sondern auch für Versuche zur Übertvindung des mythologischen Dualismus, die mit dem Begriff des Zervanismus verbunden sind. Theologische Spekulationen, die in der Geschichte des Parsismus zeitweise eine bedeutsame Rolle gespielt haben, führten den gemeinsamen Ursprung sowohl Ahura Mazdas als auch Angra Mainyus auf ein ihnen übergeordnetes Prinzip zurück, das sie mit zervan akarana [die unerschaffene Zeit] bezeichneten. 5. Die Anthropologie (—»Mensch) universistischer Weltbilder sieht den Menschen als Mikrokosmos in Harmonie mit dem Makrokosmos (—»Makrokosmos/Mikrokosmos). Wir können hierbei von einem analogischen Dualismus sprechen. Bezeichnend für ihn ist das altchinesische Denken, das kosmischcs Geschehen und menschliches Handeln gleichermaßen dem tao unterordnet: „Tao bedeutet den Weg und die Methode, um die Harmonie zwischen Jenseitigem und Diesseitigem zu bewahren, indem das irdische Handeln durchaus demjenigen entspricht, was die jenseitige Welt verlangt" (Hackmann 26). Diese Ansicht findet sich bereits in der alten, zu den kanonischen Büchern des Konfuzianismus zählenden Aufzeichnung über die Sitten (Li-ki 22,2): „Wenn es in uns nichts gibt, das nicht mit dem natürlichen Gesetz übereinstimmt, so nennt man das Vollkommenheit. Das besagt nach innen hin ein Vollkommensein im eigenen Selbst und nach außen hin die Gemäßheit mit dem Weltgesetz (tao)." Terminologisch wird dieser Gedanke eines analogischen Dualismus mit der Harmonie erfaßt, die zwischen t'ien-tao [Weg des Himmels] und jen-tao [Weg des Menschen] besteht. Die Entsprechung beider Bereiche ist eine alte und keinesfalls auf China beschränkte Vorstellung. Sie ist bis heute die Grundvoraussetzung der —»Astrologie. Nicht allein die Verhaltensweise, sondern auch die Erscheinung des Menschen kann in
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einem analogischen Dualismus zum Weltganzen gesehen werden. Charakteristisch hierfür ist die manichäische Ansicht „über den Körper, daß er entsprechend dem Bilde des Kosmos eingerichtet ist" (Kephalaia 70). Neben diesem analogischen Dualismus kennt die religionsgeschichtliche Anthropologie auch einen komplementären. Er betrifft den Urmenschen, und ihm liegen wahrscheinlich androgyne Vorstellungen zugrunde. Schon rein sprachlich ist es bezeichnend, daß sowohl der Name des indischen Urmenschen Yama als auch derjenige des ihm entsprechenden iranischen Yima „Zwilling" bedeutet. Die gleiche Etymologie gilt auch für Ymir, den Namen des germanischen Urwesens. Zum Dualismus von Körper und Seele —»Leib und Seele, —»Seele. 6. Raumvorstellungen werden oft in einem analogischen Dualismus zu uranischen Erscheinungen gesehen. Oft findet sich vor allem die Entsprechung zwischen himmlischen und irdischen Gewässern, die dann beide dem Schutz der gleichen Gottheit unterstellt sind. So war die iranische Anahitä die Göttin der als himmliches Gewässer vorgestellten Milchstraße und gleichzeitig die Herrin eines irdischen Flusses, wahrscheinlich des Oxus. 7. Es versteht sich, daß die menschliche Ordnung in universistischen Weltbildern in Analogie zur kosmischen gesehen wird. Im Sakralkönigtum gilt der Herrscher als irdische Entsprechung, als Repräsentant eines Gottes. Tempel und Städte werden nicht selten in Korrespondenz zu himmlischen Urbildern gesehen. Die menschliche —»Ehe spiegelt oft das Verhältnis, das zwischen dem Himmel und der Erde besteht. 8. Mit dem Begriff des analogischen Dualismus kann auch der Kult erfaßt werden, insofern er als —»Kultdrama ein urzeitliches mythisches Geschehen durch menschliches Handeln repristiniert. „Im Kultus geschieht das, was sichtbar in dramatischen Riten und .Symbolen' dargestellt wird: das Kommen und die Gegenwart der Gottheit, ihr Kampf und Sieg über die bösen Mächte und damit die Schöpfung und Begründung der Wirklichkeit, auf deren Grund die Gemeinde lebt" (Mowinckel 74). Das alte China stellte die großen Jahresopfer in Korrespondenz zu den dualistischen Prinzipien yang undy in-, so heißt es in der Aufzeichnung über die Sitten (Li-ki 22,24): „Das Sommeropfer entsprach dem Höhepunkt des yang, das Herbstopfer entsprach dem Höhepunkt des yin." 9. Die —»Ethik universistischer Weltbilder ist analogisch; sie gilt der Realisation eines durch den numinosen Ordnungsbegriff unabänderlich gegebenen Gesetzes, und sie kennt daher nicht in unserem Sinne den Begriff der —»Sünde. Diese sinnvolle und nützliche Einfügung in eine bestehende Ordnung bekennt von sich ein alter Ägypter (UÄA 1,194): „Ich war einer der wahr (d. h. gemäß dem numinosen Ordnungsbegriff der maat) redete und vollendet berichtete in der Art, die der König liebt, da ich wollte, daß es mir dadurch gut gehe beim König und beim großen Gott." Völlig unterschiedlich hiervon ist die Ethik dualistisch geprägter Religionen. Typisch für sie ist der Parsismus, den N. —»Söderblom (162) zu Recht mit „Religion als Kampf gegen das Böse" charakterisierte. Für ihn ist die im Gottesglauben begründete dualistische Antithese auch auf ethischem Gebiet maßgebend. Bereits Zarathustra hatte sie verkündet mit der Mahnung (Yasna 30,2): „Höret mit den Ohren das Beste, betrachtet es mit klarem Sinn: die Entscheidung zwischen den beiden Wahlmöglichkeiten, Mann für Mann für seine Person." 10. Dieser antithetische Dualismus bestimmt, wo er sich auf religiösem Gebiet findet, auch das Geschichtsbild (—»Geschichte), und er führt zu einer Periodisierung des historischen Prozesses, die gekennzeichnet ist durch die Abfolge von Epochen der Vorherrschaft des Guten und solcher, in denen das Böse dominiert. Dabei kann es sich im Rahmen dieses übergeordneten Schemas moralisch qualifizierter Epochen um die unterschiedlichen Ansichten von einer sukzessiven Vervollkommnung dieser Welt oder von einem determinierten Abstieg handeln. 11. In eindimensionalen, teleologischen Geschichtsbildern findet der historische Prozeß seinen Abschluß mit dem Ende dieses Äons. Für die Individualeschatologie bedeutet dies,
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daß in einem endzeitlichen Gericht der dem Weltprozeß inhärente Dualismus von Gut und Böse in der Weise überwunden wird, daß den Guten ihre Vollendung im ewigen Leben zuteil wird, die Gottlosen aber an einen Ort der Qual verbannt oder gänzlich vernichtet, beide also auf immer getrennt werden. Die eschatologischen Aussagen der Gothas des Zarathustra sind typisch hierfür (Yasna 31,20): „Wer zum Rechtgläubigen sich gesellt, nennt künftig jubelndes Glück sein eigen. Langes Schmachten in Finsternis, ekle Speise, Weheruf-In solches Dasein, ihr Lügenknechte, wird auf Grund eurer Taten eure Seele euch führen." Die Universaleschatologie ist ganz auf die Wiederherstellung paradiesischer Zustände und damit auf eine Überwindung des moralischen Dualismus konzentriert (—»Eschatologie). Auch hierfür sind die Anschauungen des Parsismus in religionsgeschichtlicher Hinsicht charakteristisch. Er bezeichnet den Zustand der geläuterten Erde, der aus dem endzeitlichen Gericht hervorgeht, mit frashökereti [Verklärung, Wunderbarmachung], 12. Schließlich ist ein antithetischer Dualismus für den Begriff und das Wesen der Religion schlechthin konstitutiv. Er betrifft die Gegensätze von Diesseits und —»Jenseits, von Immanenz und Transzendenz und vor allem des Heiligen (—»Heiligkeit) und des Profanen. Anmerkung 1
Mit „Universismus" wird nach dem Vorgang von J. J. M. de Groot in der Religionswissenschaft die Idee eines ideal geordneten Universums mit umfassender Harmonie von Makrokosmos und Mikrokosmos bezeichnet. Quellen
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Günter Lanczkowski Dublin, Universität Die höhere Bildung im mittelalterlichen Dublin, der heutigen Hauptstadt der Republik —»Irland, verdankte sehr vieles den religiösen Orden, vor allem den Bettelmönchen, die dort theologische und philosophische Schulen unterhielten. Erzbischof John Lech erlangte am 13. Juli 1312 von —»Clemens V. eine Bulle zur Gründung einer Universität in Dublin, doch die Einweihung fand erst im Februar 1321 durch Erzbischof Alexander de Bicknor statt. Diese Universität wurde in den bereits bestehenden Schulgebäuden an der St.-Patrick's-Ka-
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thedrale untergebracht und konzentrierte sich auf die beiden Fächer Theologie und Kanonisches Recht. Es lehrten an ihr vier Professoren: zwei Dominikaner, ein Franziskaner und ein Weltgeistlicher. Trotzdem blieb das Projekt stecken, und ein weiterer Versuch 1358 scheiterte ebenfalls. 1364 stiftete der Herzog von Clarence, Lionel, an der Schule der St.-Patrick's-Kathedrale einen Lehrstuhl für Theologie, den ein Augustinereremit bekleiden sollte; doch auch dieser Ansatz zerschlug sich. Die vier Bettelorden versuchten 1475, in Dublin eine Universität zu errichten. Sie hatten damit aber nicht mehr Erfolg als die Provinzialsynode von 1496, die in einem Erlaß Lektoren für Theologie an der St.-Patrick's-Kathedrale vorsah. Politische Spannungen, wirtschaftliche Schwierigkeiten und dauernde Feindseligkeiten zwischen den Bettelmönchen und der Weltgeistlichkeit verhinderten die Entwicklung einer Universität. Begabte junge Iren gingen zum Universitätsstudium ins Ausland, hauptsächlich nach —»Oxford, —»Cambridge, —»Paris und Bologna. Erzbischof George Browne (1536-1554) unternahm 1547 einen energischen, aber erfolglosen Vorstoß zur Gründung einer Universität. Erst viel später konnte dieser Plan durch eine Urkunde —»Elisabeths I. verwirklicht werden: Am 13. März 1592 wurde der Grundstein zum ersten (und einzigen) College, Trinity, gelegt. Die Universität war humanistischer Bildung und der anglikanischen Staatskirche verpflichtet. Die große Mehrheit der römischen Katholiken ging weiterhin zum Studium ins Ausland auf den Kontinent, und diese religiöse Trennung im Universitätsbereich dauerte bis in die 70er Jahre des 20. Jh. an. Der erste Theologieprofessor am Trinity College war 1607 der anglikanische Erzbischof von Armagh James Ussher (1625-1656), der als Gelehrter internationalen Ruf genoß. Die Gegenreformation (—»Katholische Reform und Gegenreformation) war in Dublin in religiöser Hinsicht sehr erfolgreich durch die Berufung von Erzbischof Matthews (1611), die Reorganisation des Gemeindelebens und die Einführung von Jesuiten, Kapuzinern und Unbcschuhten Karmelitern. Auch die Staatskirche wurde zunehmend stärker, weil sie dieUnterstützung der Regierung hatte und im Trinity College ein geistiges Zentrum besaß. Während der kurzen Regierungszeit Jakobs II. (1685-1688) lag erstmals seit der Reformation die Vorherrschaft in der Stadt bei den Katholiken, und das Trinity College hatte in Michael Moore sogar einen katholischen Vorsteher. Es kam aber nicht zur Unterdrückung anderer Bekenntnisse. Nach der Schlacht am Boyne (1690), in der Wilhelm von Oranien sich gegen die irischen Anhänger Jakobs II. durchsetzen konnte, übernahmen wiederum die Anglikaner die Führung in Dublin. Die systematische Ächtung des Katholizismus begann 1695 und wurde mit Unterbrechungen bis 1760 immer schärfer. Mit dem Segen Roms öffnete am 3. November 1854, unter dem Rektorat von John Henry —»Newman, eine katholische Universität ihre Pforten. Im gleichen Monat richtete das Trinity College sechzehn Stipendien für Kandidaten aller Denominationen ein. Erst 1873 aber schaffte ein Gesetz des britischen Parlaments alle Religionsprüfungen am Trinity College ab. Die römisch-katholischen Bischöfe verboten ihren Gläubigen, sich am Trinity College einzuschreiben, und dieses Verbot blieb bis in die 70er Jahre des 20. Jh. in Kraft. Durch eine Verordnung der britischen Regierung wurde 1908 mit einem sie konstituierenden College in Dublin, dem University College, in dem die ehemalige katholische Universität aufging, eine nichtkonfessionelle Nationaluniversität von Irland gegründet. Aufgrund der für sie geltenden Rechtsbestimmungen gibt es an dieser Universität keinen theologischen Lehrstuhl und keine theologische Fakultät. Dagegen hat am Trinity College mit der School of Divinity seit jeher eine theologische Fakultät bestanden. Sie wurde im Juni 1980 umgewandelt in eine nicht-konfessionelle Schule für hebräische, biblische und theologische Studien, und erstmals errichtete man in Irland einen theologischen Lehrstuhl ohne konfessionelle Bindung. Als erster Professor wurde Dr. Sean V. Freyne, ein römischer Katholik, laisierter und verheirateter Priester, berufen. 1970 errichtete Fr. Michael Hurley SJ in Bea House in Dublin eine erfolgreiche irische Schule für ökumenik, die der Universität von Hull in England angegliedert ist. Hurley war von 1970 bis 1980 ihr erster Direktor. Sein Nachfolger wurde im September 1980 der Pres-
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byterianer Dr. Robin Boyd, der früher als Missionar und Professor für Theologie in Indien gewirkt hat. Literatur Bibliographie:
BM.GC 56 (1960) 272.300ff; BM.S'56 13 (1968) l l l f ; BM.S'66 7 (1971) 428.
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Franz Xavier Martin
Duchesne, Louis M.A. —»Kirchengeschichtsschreibung Dudith-Sbardellati, Andreas
(1533-1589)
A. Dudith (auch: Dudich, Dudycz, Sbardellato, Sbardellati, Sbardelat) wurde am 16. 2. 1533 in Buda geboren. Sein Vater, Hieronymus, entstammte dem kroatischen Adel, die Mutter, Maddalena Sbardellati, einer venezianischen Patrizierfamilie. Da der Vater in den Türkenkämpfen umgekommen war, stand Dudith früh unter der Obhut seines Onkels Augustin Sbardellati, eines Humanisten, Geistlichen und Diplomaten, der für die Habsburger arbeitete. Dudith bildete sich zunächst in Breslau und begab sich 1550, nach einem kurzen Aufenthalt am Wiener Hof, zum Studium nach Italien (vor allem Padua und Venedig). Dort knüpfte der mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten und persönlicher Anmut Ausgestattete zahlreiche Bekanntschaften in Humanistenkreisen (u. a. Paolo Manuzio) und in kirchlichen Kreisen an. Nachdem er in den Dienst des Kardinals R. —»Pole getreten war, unternahm er mit seinem Gönner eine Reihe von Reisen, u. a. nach Deutschland, Frankreich und England. Besonders wichtig war für ihn sein Aufenthalt in Paris (ca. 1 5 5 4 - 1 5 5 7 ) , wo er klassische Philologie und Philosophie studierte und gleichzeitig Freundschaften mit Gelehrten und Literaten (u.a. P.Charpentier, J.Perion, P. —»Ramus, A. Thurnebe, F. Vimercati) schloß. Um 1556 erlebte Dudith einen ernsten religiösen Konflikt, da er, obgleich nominell Katholik geblieben, deutlich mit den Anschauungen italienischer „Ketzer" (C. S. Curione, M. Gribaldi) sympathisierte. Zuletzt jedoch schlug er unter dem Druck seiner Familie und seiner ungarisch-österreichischen Protektoren die kirchliche Laufbahn ein und kehrte 1557 für kurze Zeit nach —»Ungarn zurück, wo er seine erste Pfründe erhielt: die Pfarrstelle in Felheviz (Oberbaden). Bald danach zog er wieder nach Padua, wo er das Studium der Jurisprudenz aufnahm, um sich auf die diplomatische Tätigkeit im Dienste des Wiener Hofes vorzubereiten. Daneben beschäftigte er sich eingehend mit Philosophie und Philologie und errang auf diesem Gebiet große Anerkennung bei den hervorragendsten Paduaner Gelehrten. Aus dieser Periode stammt seine erste gedruckte Arbeit, eine Übersetzung des Werkes des Dionysios von Halikarnaß (Dionyssii Halicarnasside Thucididis historiaiudicium ..., Venetiis 1560). Nach seiner Rückkehr nach Ungarn erlebte Dudith einen ungewöhnlich raschen Aufstieg in der geistlichen und diplomatischen Hierarchie. Am 19.12. 1561 wurde er zum Bischof von Tina (Knien) und zum Repräsentanten des ungarischen Klerus auf dem —»Tridentinum berufen. In Trient, wo er vermutlich im März 1562 ankam, setzte er sich für die gegenüber den Protestanten versöhnliche Politik —»Ferdinands I. ein, was ihm Angriffe und Verdächtigungen eintrug, obgleich seine Stellungnahmen auf dem Konzil großes Interesse fanden und teilweise im Druck erschienen (Orationes duae in S. Oecumenico Concilio Tridentino habitae..., Venetiis 1563). In derselben Zeit veröffentlichte er eine Neubearbeitung der Biographie Poles von L. Beccadelli {Vita Reginaldi Polt ..Venetiis 1563). Im Februar 1563 zum Bischof von Csanad ernannt, verließ Dudith am 1 6 . 7 . 1 5 6 3 Trient und begab sich nach Wien, wo er eine bedeutende Rolle in der Habsburger Diplomatie spielte. Seine Berufung in den kaiserlichen geheimen Rat sowie die ehrenvolle Ernennung (19.11. 1563) zum Bischof von Pees (Fünfkirchen) waren äußere Zeichen für die Stärkung seiner Position. Auch der Nachfolger Ferdinands I., —»Maximilian II., vertraute Dudith eine Reihe verantwortungsvoller Aufgaben an, darunter vor allem den Auftrag, die Streitigkeiten zwi-
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sehen dem polnischen König Sigismund August und seiner Gattin Katharina Habsburg zu regeln und den Boden für die künftige österreichische Erbfolge in Polen vorzubereiten. In —>Polen, wo er Anfang 1565 eintraf, entfaltete Dudith eine lebhafte Wirksamkeit und gewann mit großer Gewandtheit Freunde und Anhänger unter den Magnaten, dem Adel und dem Bürgertum. Den politischen Zweck seiner Mission konnte er jedoch nur zum Teil erreichen. Im Februar 1567 heiratete Dudith eine polnische Adlige, Regina Strasz, was einen großen Skandal hervorrief und seine Karriere zu einem abrupten Ende brachte. Zwar stellte der in Rom gegen ihn angestrengte und mit einer Exekution in effigie abgeschlossene Inquisitionsprozeß für ihn keine Bedrohung dar, da er vor einer Auslieferung durch das polnische Indigenat geschützt war, das er auf dem Sejm in Piotrköw 1567 erlangt hatte, aber er mußte auf den Posten des Gesandten verzichten und sich mit der bescheidenen Funktion eines Soldagenten des Habsburger Hofes in Polen zufriedengeben und sich für längere Zeit vom öffentlichen Leben zurückziehen. Nach dem Bruch mit Rom ließ sich Dudith in —»Krakau nieder, wo er seine vernachlässigten, wenn auch nie aufgegebenen, Studien wieder aufnahm. Er befaßte sich besonders mit Astronomie und Astrologie (ein Zeugnis dieser Interessen sind die aus jener Zeit stammenden, teilweise eigenhändigen Exzerpte, die im cod. Reg. lat. 1115 der Vatikanischen Bibliothek erhalten sind) und knüpfte wissenschaftliche Kontakte zu dem Kreis der Krakauer Universität (u.a. S. Grzepski, M. Fox) und deutschen Gelehrten (u.a. Joachim Camerarius, Johann Praetorius) an. Obwohl durch zahlreiche Freundschaften mit Anhängern des Calvinismus verbunden, erklärte sich Dudith nicht für diese Konfession. Vielmehr wandte er sich in den Jahren 1568—1572 deutlich dem Sozinianismus zu (—»Sozzini/Sozinianer), ohne sich freilich öffentlich und ausdrücklich mit ihm zu identifizieren; eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielten Diskussionen mit seinem Freund A. F. —»Modrzewski sowie mit italienischen und polnischen Antitrinitariern und die Lektüre von deren Schriften. Dudiths dogmatischer Radikalismus, der einen lauten Widerhall im Calvinismus fand, drückt sich am besten in einer Reihe von Abhandlungen aus, die er in Form von Briefen an führende Vertreter dieser Konfession (u. a. Th. —>Beza, Jan tasicki, Josias Simler, Petrus Melius) richtete. Aus dieser wissenschaftlichen und theologischen Arbeit wurde Dudith durch politische Ereignisse herausgerissen. Nach dem Tode des polnischen Königs Sigismund August wurde er im Herbst 1572 von Maximilian II. aufgefordert, den habsburgischen Kandidaten als Nachfolger zu propagieren. Während des ersten Interregnums stand Dudith eher im Hintergrund, wurde dann aber während des zweiten einer der Führer der prohabsburgischen Partei. Er erwies sich als geschickter und kühner Politiker, der vor riskanten, ja abenteuerlichen Schritten nicht zuriickscheute (u. a. schlug er dem Kaiser, wenn auch erfolglos, eine militärische Aktion vor). Am Ende jedoch wurde er von der Bathory-Partei geschlagen und mußte im Frühling 1576 Polen verlassen. Niedergeschlagen und durch seinen Mißerfolg gedemütigt, von Kaiser Rudolf II. abweisend behandelt, zog sich Dudith (mit einer kurzen Unterbrechung zwei Jahre vor seinem Tod) aus dem politischen Leben zurück und widmete sich einer vielseitigen intellektuellen Tätigkeit. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Paskow in Mähren (wo sein berühmter, 1579 in Basel erschienener Commentariolus de cometarum significatione ... entstand) siedelte er im Herbst 1579 nach Breslau über, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Er akzeptierte formal das in Breslau geltende Luthertum und näherte sich den Anschauungen der —»Kryptocalvinisten, unter denen er zahlreiche Freunde hatte. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, intensive Beziehungen zu unterschiedlichen religiösen Freidenkern, Antitrinitariern und Sozinianern zu pflegen und diese durch Protektion, häufig auch durch materielle Zuwendungen, zu unterstützen, was ihn verschiedenen Unannehmlichkeiten von Seiten der katholischen und lutherischen Kirche aussetzte. Nach der Festnahme seines Freundes Jacobus Palaeologus (1581) wurde er freilich vorsichtiger und versuchte, diese Kontakte einzuschränken. Dudiths Breslauer, mit einer prachtvollen Bibliothek ausgestattetes Haus war nicht nur
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der maßgebliche Mittelpunkt des Breslauer Gelehrtenkreises (Johann Crato, Jacob und Peter Monau, Nikolaus Rhediger, Matthias Wacker), sondern auch eines der wichtigsten Zentren des intellektuellen Lebens in Mittel-Ost-Europa und sein Besitzer eine der bekanntesten und bedeutendsten Persönlichkeiten in der europäischen Gelehrtenrepbulik. — Dudith starb am 23. 2. 1589 in Breslau. Quellen Ein beinahe vollständiges Verzeichnis der im Druck erschienenen Schriften von Dudith findet sich bei Costil (s. u.). Sehr unvollständig dagegen ist das ebd. gegebene Verzeichnis seiner umfangreichen, in Bibliotheken und Archiven ganz Europas verstreuten handschriftlichen Korrespondenz. Die vollständige Herausgabe dieser Korrespondenz wird von der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vorbereitet (s. Lech Szczucki, Prace nad korespondencja Andrzej? Dudycza: O R P 2 0 [ 1 9 7 5 ] 2 2 7 - 2 2 9 ) . Literatur Henryk Barycz, Art. Dudith: Polski Sfownik Biograficzny 5 ( 1 9 3 9 - 1 9 4 5 ) 4 4 5 - 4 4 8 ( L i t . ) . - D o menico Caccamo, Eretici italiani in Moravia, Polonia, Transilvania, Florenz 1 9 7 0 (Biblioteca del Corpus Reformatorum Italicorum) 1 0 9 - 1 5 2 (Lit.). — Delio Cantimori, Prospettive di storia ereticale italiana del Cinquecento, Bari 1 9 6 0 , 8 8 - 9 1 . - Ludwik Chmaj, Faust Socyn ( 1 5 3 9 - 1 6 0 4 ) , Warschau 1 9 6 3 , 1 7 0 - 1 9 3 . - P i e r r e Costil, André Dudith humaniste hongrois 1 5 3 3 - 1 5 8 9 , Paris 1 9 3 5 (Lit.). Robert Dan, Humanizmus, reformació, antitrinitarizmus és a héber nyelv Magyarorszägon, Budapest 1 9 7 3 , 8 9 - 1 0 2 . 2 1 4 - 2 2 8 . - Robert J . W . Evans, Rudolf II and his World, Oxford 1 9 7 3 , 1 0 5 - 1 1 0 . Johann F. A. Gillet, Crato v. Crafftheim u. seine Freunde, 2 Bde., Frankfurt a. M . I 8 6 0 . - C o l o m a n Juhasz, Andreas Dudich. Ein Beitr. zur Gesch. des Humanismus u. der Gegenreformation: H J 5 5 (1935) 5 5 - 7 4 . - Jean Moreau Reibel, Zwierzenia mtodego Andrzeja Dudycza: RefPol 9 - 1 0 ( 1 9 3 7 - 1 9 3 9 ) 4 3 5 - 4 4 1 . - Movimenti ereticali in Italia e in Polonia nei secoli X V I - X V I I , Florenz 1 9 7 4 , 2 7 - 4 1 . Zbigniew Ogonowski, Socynianizm a Oswiecenie, Warschau 1 9 6 6 , 1 5 - 3 2 . - Antonio Rotondò, Studi e ricerche di storia ereticale italiana del Cinquecento, Turin 1 9 7 4 (Pubblicazioni dell'Istituto di scienze politiche dell'Università di Torino 31) 4 6 1 - 4 7 0 . - Lech Szczucki, W krjgu myslicieli heretyckich, Breslau 1 9 7 2 , 1 4 1 - 1 6 1 . - Cesare Vasoli, Andrea Dudith-Sbardellati e la disputa sulle comete: Rapporti veneto-ungheresi all'epoca del Rinascimento, a cura die T . Klaniczay, Budapest 1975, 2 9 9 - 3 3 3 (Studia Humanitatis. Pubblicazioni del Centro di Ricerche del Rinascimento 2). — Wincenty Zakrzewski, Po ucieczce Henryka. Dzieje bezkrólewia 1 5 7 4 - 1 5 7 5 , Krakau 1 8 7 8 .
Lech Szczucki Dürer, Albrecht
(1471-1528)
1. Leben und Werk Dürer wurde am 21. 5. 1471 als Sohn des Goldschmieds Albrecht Dürer (1427—1502) in Nürnberg geboren. Seine Mutter Barbara, geb. Holper war die Tochter des Goldschmieds Hieronymus Holper in Nürnberg, bei dem A. Dürer d.Ä. das Handwerk gelernt hatte; Taufpate war der Buchdrucker und Verleger Anton Koberger. Aus den von Dürer hinterlassenen Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Gedichten und Schriften läßt sich seine Entwicklung nachzeichnen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die von ihm aus den Papieren seines Vaters 1 5 2 4 zusammengestellte und weitergeführte Familienchronik. Vom Vater berichtet Dürer, daß dieser sein „erbar christlich leben . . . mit großer mühe und schwerer harter arbeit" zugebracht habe und seine Kinder ermahnte, „daß wir gott lieb solten haben und treulich gegen unsern nechsten handeln" (Rupprich 1,30). Von der Mutter heißt es, daß „jr meinster (meister) geprawch was vili in der kyrchen, vnd stroffet mich albeg fleisig, wo jch nit woll handlet . . . het albeg grosse sorg vürvnser seil" (ebd. 3 7 ) . Die Verwurzelung der Eltern in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit wird auch an den Rosenkränzen ersichtlich, die beide auf dem Bildnisdiptychon von 1 4 9 0 tragen (Anzelewsky 1 9 8 0 , 2 4 f ) . Nicht allein Mühe und Arbeit sowie tiefe Frömmigkeit erlebte Dürer im Elternhaus, es kam dazu die ständige Begegnung mit dem Tod. Von den achtzehn Kindern, die Dürers Mutter gebar, lebten 1 5 2 4 nur noch drei Söhne (Rupprich I, 28 ff).
Nach dem Besuch einer Lateinschule trat Dürer in die Goldschmiedelehre bei seinem Vater ein, von der er 1486 auf eigenen Wunsch zu dem Maler Michael Wolgemut überwechselte (ebd. 30f). Wolgemut war bemüht, die zu seiner Zeit vorherrschenden Stilrichtungen
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f ü r seine eigene Arbeit f r u c h t b a r zu machen. Seit den achtziger Jahren hatte sich das Zeichnen von —•Holzschnitten f ü r illustrierte Bücher zu einem eigenständigen Beruf entwickelt. Dürer e r f u h r darin - neben seiner Ausbildung zum M a l e r u n d Zeichner in den Stilformen der Spätgotik—bei W o l g e m u t besondere Förderung. Z u den erhaltenen frühen Arbeiten gehören das Selbstbildnis des Dreizehnjährigen (W 1) und das Bildnisdiptychon mit den Porträts der Eltern. 1490 begann D ü r e r seine Gesellenwanderung. Die künstlerischen Eindrücke, die er in diesen Jahren empfing, sind von dem Wandel gekennzeichnet, den das mittelalterliche Kunstschaffen durch —»Humanismus und —»Renaissance erfahren hatte. Dazu gehört die Entdeckung der N a t u r und das neue Menschenverständnis. M i t dieser Entwicklung gewannen in der bildenden Kunst die Passion Christi, das Leben Marias, sowie die Gestalten der Bekenner und M ä r t y r e r einen G r a d an Realität, der f ü r die Menschen jener Zeit ans W u n derbare gegrenzt haben m u ß (Anzelewsky 1 9 8 0 , 2 9 ) . In Basel und Straßburg kam Dürer mit den am Ende des 15. J h . d o r t lebendigen geistig-religiösen Kräften in Berührung, zu deren Vertretern die H u m a n i s t e n —»Geiler von Kaysersberg, S. —»Brant, J. —»Reuchlin, Konrad Wimpfeling u . a . gehörten. Am Beginn seiner Basier Tätigkeit als Illustrator steht der Titelholzschnitt f ü r die Ausgabe der Briefe des —»Hieronymus (K 108; Abb. 1). 1483 erschien in Basel das in Frankreich 1371 entstandene Buch des Ritters v o m T u r n Von den Exetnpeln der Gottesfurcht und Ehrbarkeit in deutscher Übersetzung. Dazu fertigte Dürer Illustrationen, die „sein erzählerisches Talent in teils humorvollen, teils ernst gestimmten Holzschnitten unter Beweis stellen" (ebd. 34). Er gilt auch als Hauptmeister der Illustrationen von Brants Narrenschiff, die Friedrich W i n k l e r - zusammen mit der Ausgabe des Ritters vom Turn - als „epochale Leistungen der Buchillustration" bezeichnet h a t (33). Eine andere Seite seines Schaffens zeigt die Zeichnung eines jungen Paares (W 56) und ein weiblicher Akt (W 28), der als erste Aktstudie nach einem lebenden Modell nördlich der Alpen gilt (Anzelewsky 1980, 42). Über Dürers W a n d e r j a h r e am Oberrhein ist geurteilt w o r d e n , d a ß der Künstler sich dort „gewissermaßen freigeschwommen h a t " und d a ß ihm durch diese in Deutschland damals führende Kunstlandschaft „viele, künstlerisch stilistische und bildschöpferische Impulse" vermittelt w u r d e n (Kat. N ü r n b e r g 1971, 89). Im Mai 1494 kehrte Dürer nach N ü r n b e r g zurück, um a m 7. Juli die vom Vater ausgesuchte Braut, Agnes Frey, zu heiraten. Im Sommer 1494 entstanden Ansichten aus der Umgebung von N ü r n b e r g , die zu den frühesten selbständigen Landschaftsdarstellungen in der deutschen Kunst gehören (Anzelewsky 1980, 50). Aus demselben J a h r stammt der Kupferstich Heilige Familie mit der Heuschrecke, auf dem zum ersten Mal in Dürers Druckgraphik eine Signatur a u f t a u c h t (K 4). Im September 1494 trat er seine erste Italienreise an, die ihn nach —»Venedig f ü h r t e . D o r t erhielt er Verbindung zu bedeutenden venezianischen Malern, vor allem zu den Brüdern Gentile und Giovanni Bellini. Er kopierte italienische Meister und schuf seine erste Tierzeichnung nach der N a t u r (W 91; Anzelewsky, ebd. 58). Auf der Hinund Rückreise entstanden jene Landschaftsaquarelle, die „ d a s erste malerische Tagebuch in der europäischen Kunstgeschichte" bilden (Grote, Von D ü r e r 10). Bei dem M a l e r u n d Graphiker J a c o p o de' Barbari h a t er erstmals nach einem Proportionsschema gezeichnete Figuren gesehen (Rupprich I, 102; Anzelewsky, ebd. 59). N a c h seiner Rückkehr 1495 begann Dürer ab 1497 auf einer eigenen Druckerpresse zu arbeiten. Es entstanden die Holzschnittfolgen Apokalypse u n d Große Passion. Der f r ö m migkeitsgeschichtliche Hintergrund f ü r die Herausgabe der O f f e n b a r u n g des Johannes (—»Apokalyptik/Apokalypsen VI) ist in der Erwartung des bevorstehenden Endgerichts zu sehen (Waetzoldt 4 4 - 7 5 ; Albrecht Dürer, Die Apokalypse, hg. v. Ludwig Grote, M ü n c h e n 1 9 7 0 , 4 f ) . Der Künstler k o n n t e dabei an eine bereits vorhandene Tradition - vor allem der bei Koberger herausgekommenen Bilderbibel — a n k n ü p f e n (—»Bibelillustrationen), von der auch der deutsche T e x t s t a m m t . W ä h r e n d dieser Arbeit schuf D ü r e r die ersten Blätter der Holzschnittpassion, die — später ergänzt — 1511 vollständig erschien. Z u s a m m e n mit dem Marienleben bilden diese Werke die vom Künstler selbst so genannten „Drei großen Bücher" (Rupprich 1,162). Das Passionsthema h a t Dürer f ü n f m a l bearbeitet. Sein Hauptinter-
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esse an biblischen Themen galt dem Zentrum der christlichen Heilsbotschaft, Kreuz und Auferstehung Christi. Was die Christusdarstellung anbelangt, so hat Wölfflin darauf hingewiesen, daß Dürer eine neue Christusidee gebracht habe, „insofern er das Leiden und die Ergebung, worin die alte Zeit den wesentlichen Inhalt der Gestalt sah, mit Stärke und Männlichkeit durchsetzte" (Dürer 2 1 0 ; Abb. 5.7). Von den frühen Kupferstichen verdienen Der verlorene Sohn (K 7; Abb. 2) und Der Spaziergang (K 19) Beachtung. Die Darstellung des biblischen Gleichnisses (Lk 1 5 , 1 1 - 3 2 ) erfährt bei Dürer - im Unterschied zu den bisherigen Gestaltungen des Themas als Hirtenszene - durch die Betonung des seine Schuld auf den Knieen bekennenden Mannes eine Reduktion auf die entscheidende Textaussage. Zu dem Themenkreis der spätmittelalterlichen Memento mon'-Darstellungen gehört die Kohlezeichnung König Tod zu Pferde ( W 3 7 7 ; Abb. 3; vgl. K 41,292; W 13,161).-Einen ersten Höhepunkt der europäischen Landschaftsmalerei stellen die Aquarelle Weidenmühle, Weiher im Walde und Weiherhäuschen dar (W 113. 1 1 4 . 1 1 5 ) . Vergleichbares findet sich erst in der Stimmungsmalerei des frühen 19. Jh. wieder (Anzelewsky 1980, 76). - Dürers Vertrautheit mit antiker Mythologie und humanistischer Allegorik zeigen die vier großen Kupferstiche Vier Hexen, Traum des Doktors, Meerumnder, Herkules (K 2 1 - 2 4 ) , deren Deutung z.T. noch umstritten ist (Panofsky 9 5 - 1 0 0 ) .
Seine ersten Aufträge für Gemälde wird Dürer von —»Friedrich dem Weisen 1 4 9 6 in Nürnberg erhalten haben (Bruck; Anzelewsky 1 9 8 0 , 7 4 ) . Neben der Anfertigung eines Bildnisses Friedrichs (A 19) mag auch die Bestellung eines Marienaltars für die Wittenberger Schloßkirche erfolgt sein (A 2 0 - 3 8 ) . An weiteren für Wittenberg bestimmten Kunstwerken sind der später nach Dresden gekommene Marienaltar (A 3 9 . 4 0 ) , sowie die Tafel Anbetung der Könige (A 82) zu nennen. Das Bildthema der Tafel Marter der zehntausend Christen (A 105), ebenfalls für Wittenberg bestimmt, steht im Zusammenhang mit im Allerheiligenstift befindlichen Reliquien. Für die Nürnberger Katharinenkirche schuf Dürer im Auftrag der Gebrüder Paumgartner einen Altar (um 1500), auf dem die Stifter in Gestalt der Heiligen —»Georg und Eustachius (H. Paulus: R G G 3 2 , 7 4 2 ) abgebildet sind (A 50). Niederländische Einflüsse sind auf den beiden Tafeln Beweinung Christi (A 5 5 . 7 0 ) erkennbar. Von den in jener Zeit entstandenen Porträts sind aufzuführen: Elsbeth Tucher (A 63), Fürlegerin (A 4 6 ) , Dürers Vater (A 4 8 ) , Oswald Krell (A 56). Wie die Landschaftsmalerei, so ist auch Dürers Porträtkunst in dieser Schaffensperiode von „pathetischem Realismus" getragen (Anzelewsky, ebd. 84). Zu den populärsten deutschen Kunstwerken gehören die Aquarelle Hase (W 248) und Großes Rasenstück (W 346). Obgleich der Hase schon zu Persiflagen geführt hat (Bongard u.a. 80), bleibt das Blatt ein Zeugnis großer künstlerischer Gestaltungskraft. Dahinter stehen die Leidenschaft der Renaissance für die Anschauung der Natur und das Staunen eines Künstlers über die Schöpfungswerke Gottes (Wölfflin 152). Einen Höhepunkt der aus dieser Zeit stammenden Pflanzen- und Tierstudien stellt Dürers — dem Format nach — größter Kupferstich Heiliger Eustachius dar (K 32).
Die Jahre von etwa 1 5 0 0 bis 1505 sind von Panofsky im Hinblick auf Dürers Entwicklung als „rationale Synthese" bezeichnet worden (Leben, Kap. 3). Es geht dabei um eine auf mathematischen Prinzipien aufgebaute Malkunst, wie sie Jacopo de'Barbari und —»Ficino lehrten. Für die italienischen Kunsttheoretiker ging es dabei vor allem um die Idealproportionen des menschlichen Körpers und Probleme der Perspektive (Anzelewsky 1 9 8 0 , 97). Die Einwirkung dieser Lehren auf Dürer zeigt sich in seinem Selbstporträt von 1 5 0 0 (A 6 6 ; Abb. 6.7). Die von Dürer benutzte geometrische Figur war das seit langem für die Darstellung des Hauptes Christi gebrauchte Schema (Winzinger 48 f). Nach Bainton soll die Christusähnlichkeit den Willen zur—» Nachfolge Christi ausdrücken. Als weiteres frömmigkeitsgeschichtliches Motiv dürfte der Gedanke bestimmend gewesen sein, daß der Künstler nach dem Verständnis der Zeit (so z. B. bei Leonardo da Vinci) seine schöpferische Begabung von Gottes Schöpferkraft ableitet und damit Anteil an der göttlichen Kraft hat. Bainton weist weiter auf den Begriff der Conformitas Christi (der äußeren Ähnlichkeit) hin, der auch in der Verbindung mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (—»Bild Gottes) zu sehen ist (269—272). Dürer selbst hat in einer seiner theoretischen Schriften das Bild Christi mit dem des vollkommenen Menschen in eins gesehen: „Dan zw gleicher weis, wy sy dy schönsten gestalt eines menschen haben zw gemessen jrem abgot Ablo (Apollo), also wollen wyr dy selb
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Abb. 1: Albrecht Dürer, Hl. Hieronymus, Holzschnitt 1492
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Metaphysik : vom eigenen Ansatz her betrachtet, erweist sich die scotische Lehre als eine Leistung, deren Rang hinter der des Thomas nicht zurücksteht. Charakteristisch für die veränderte Einschätzung der scotischen Metaphysik ist das Bild, das E. Gilson in seinem einflußreichen problemgeschichtlichen Uberblick (L'être et l'essence, Paris 1948; vgl. auch ders., Jean Duns Scot) zeichnete. Auf der einen Seite hält Gilson am traditionellen Vorrang des Thomas fest: In einer am Problem der Existenz bzw. des Seins orientierten Sicht der Grundfrage der Metaphysik erscheint Thomas als der Höhepunkt der Metaphysikgeschichte, demgegenüber sich alle anderen mittelalterlichen und neuzeitlichen Entwürfe nicht nur als Alternativen, sondern als Stationen der Abirrung und des Verfalls abheben. Auf der anderen Seite beschränkt Gilson diesen Vorrang auf einen solchen, der sich nur der Sache nach behaupten läßt, und dies auch nur dann, wenn man den Ansatz für maßgeblich hält, den Thomas zugrunde legt2. Das historische Bild, von dem Gilson ausgeht, ist durchaus anders: Hier steht der thomanische Entwurf von Metaphysik einer Mehrheit von der Sache nach alternativen Entwürfen gegenüber, und es ist gerade nicht der Entwurf des Thomas, der den maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Metaphysik ausübt, sondern der des Scotus. Das Bild der hochmittelalterlichen Metaphysik, das Gilson damit - ungeachtet seiner sachlichen Option für Thomas—unterstellt, konnte von der Forschung inzwischen erweitert, präzisiert und vertieft werden: In der zweiten Generation der lateinischen Aristoteles-Rezeption stehend (—»Aristoteles/Aristotelismus), sieht Scotus schärfer als zuvor Thomas, in welchem Ausmaß der umfassende Anspruch der
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aristotelisch-arabischen Philosophie die tradierte christliche Weltdeutung in Frage stellen mußte. Da es für ihn außer Zweifel steht, daß einer solchen Krise nur auf dem Boden begegnet werden kann, den die christlichen Autoren mit den heidnischen philosophi teilen, nämlich dem der Metaphysik, besteht das Problem darin, eine Metaphysik als möglich zu erweisen, die das aristotelische Programm einer Wissenschaft vom Seienden im ganzen erfüllt, ohne die für den christlichen Glauben destruktiven Weltbildimplikationen nach sich zu ziehen und Offenbarung überflüssig zu machen. Das aber ist nur zu leisten, so lautet die Antwort des Scotus, durch eine Metaphysik, die sich als Transzendentalivissenschaft (scientia transcendens) versteht und die Tragfähigkeit und Grenzen ihres Anspruchs durch eine Vernunftkritik bestimmt und ausweist. Der mit der Aristoteles-Rezeption des 13. Jh. aufbrechende Konflikt zwischen Vernunft- und Offenbarungswissen(-schaft) wird damit zum frühen Grund jener „fortschreitenden Selbstbegründung wie Selbstbeschränkung des Wissens" 3 , die den Weg der neuzeitlichen Metaphysik kennzeichnet. In der Kritik des Vernunftvermögens, die Scotus im Prolog und in der dritten Distinktion seiner Kommentierung des ersten Sentenzenbuches mit einer bei keinem Autor zuvor anzutreffenden Schärfe und Ausführlichkeit vorlegt, kommt er zu dem Ergebnis, daß die menschliche Erkenntnis weder nur die sinnlich erfahrbare „Washeit des materiellen Dinges" (quiditas rei materialis: Ord.I d.3 p.l q.3 n.110, ed. Vat.III,69) noch das gesamte Seiende (ens . . . secundum totam indifferentiam ad omnia in quibus salvatur: ebd. n.124, ed. Vat. 111,76 f) zu erkennen vermag. Wäre dies der Fall, so müßte Offenbarung entweder unmöglich oder überflüssig sein. Was als natürlicherweise möglich auszuweisen ist, ist allein eine Erkenntnis, die „Seiendes" (ens) als einen bestimmten im Ausgang von der Sinneserfahrung erkennbaren Erkenntnisgehalt (ut est quoddam unum intelligibile: ebd.) erfaßt, nämlich als einen abstraktiv erkannten Begriff, der „Seiendes" nicht als ein erstes ausgezeichnet Seiendes zum Gegenstand hat, das die Erkenntnis aller anderen Seienden in virtueller Kausalität enthält, sondern als jene allgemeinste, allen katcgorialen Bestimmungen gegenüber indifferente, in allen washeitlichen Bestimmungen enthaltene Bestimmtheit „Seiend". Die Konsequenzen für den Metaphysikbegriff liegen auf der Hand: Wenn das erste ausgezeichnet Seiende nicht auch das Ersterkannte ist, verliert der Versuch, den Sinn von „Seiend" durch attributio auf dieses eine erste Seiende - sei es Gott oder die Substanz - zu bestimmen, sein Fundament. Metaphysik vermag „erste Wissenschaft" nicht mehr in Form eines Wissens von einem ersten ausgezeichnet Seienden zu sein, sondern allein in Form des Wissens von einer ersten gemeinsamen Bestimmtheit „Seiend", die sich im Rekurs auf jene Gründe (rationes), durch die sich Wissen von jedwedem Seiendem konstituiert, als schlechthin erste erweist. Gegenstand der Metaphysik ist nichts anderes als der auf diese Weise erkennbare Begriff des „Seienden als Seienden" (ens in quantum ens) und der Eigentümlichkeiten, die der in diesem Begriff erkannten Bestimmtheit „Seiend" als solcher zukommen. Damit vertritt Scotus unter den im 1 3 . / 1 4 . Jh. entwickelten verschiedenen Interpretationen des aristotelischen Metaphysikkonzepts am entschiedensten jene Auffassung, die in Anknüpfung an Aristoteles, metaph. IV,1 - 2 , Metaphysik als Wissenschaft von dem allem Wissen und allen Wissenschaften gemeinsamen Wissen v o m „Seienden als Seienden" auffaßt. Ohne Zweifel folgt Scotus hier Avicenna, doch ist das Resultat ein neuer und eigenständiger Entwurf. Metaphysik ist — und damit fällt der für die Metaphysik der Neuzeit bedeutungsvolle Terminus zum ersten Mal - Transzendentalwissenschaft (scientia transcendens), weil Sit „de transcendentibus" (Met. prol. n.5, ed. Viv.VII,4f; vgl. auch Ord. I d . 8 p . l q.3 nn. 1 1 3 — 1 1 4 , ed. Vat. I V , 2 0 5 f) handelt, nämlich über die die kategorialen Bestimmungen „übersteigende" ratio des „Seienden" und die ihr in dieser transkategorialen Bedeutung zukommenden Eigenschaften. Damit wird Metaphysik im Vergleich zu den voraufgehenden Entwürfen, in denen (wie bei Thomas) die Lehre von den mit „Seiend" vertauschbaren Transzendentalien nur einen kleinen, eher unbedeutenden Teil darstellt, eingeschränkt. Zugleich wird sie durch die von Scotus erstmals systematisch betriebene Behandlung der dem „Seienden als solchen" disjunktiv zukommenden Attribute (wie endlich - unendlich, kont i n g e n t - notwendig, usf.) sowie der „reinen Vollkommenheiten" erheblich erweitert. Beides ist für das Ziel der Metaphysik bedeutsam: Durch die Einschränkung trennt sich die M e t a physik endgültig von der Physik und befreit sich von den problematischen kosmologischen Implikationen der tradierten Entwürfe; durch die Ausweitung gewinnt sie die Grundlage für eine neue, rein metaphysisch sich ausweisende Erkenntnis nicht sinnlich erfahrbarer Seiender. D a die uns mögliche Metaphysik mit dem Begriff „Seiend" nicht ein M a x i m u m , nämlich das Wissen v o m gesamten Seienden, sondern nur ein Minimum, nämlich das in allem Wissen
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enthaltene Wissen von der gemeinsamen Bestimmtheit „Seiend" erfaßt, vermag sie freilich die disjunktiven Attribute, mit deren Hilfe sie das transzendente göttliche Seiende erkennt, nicht aus dem Begriff des „Seienden" selbst abzuleiten. Nur durch einen Beweis, der von dem weniger vollkommenen, im Bereich unserer Erfahrung antreffbaren Glied der Disjunktion ausgeht, kann das vollkommenere Glied und damit die ganze Disjunktion als eine dem „Seienden" als solchen zukommende Bestimmtheit nachgewiesen werden. Metaphysik, so betont Scotus in Fortführung seiner Kritik der endlichen Vernunft, ist nur als a posteriori verfahrende demonstratio quia, nicht als a priori vorgehende demonstratio propter quid möglich. Sie kann vom transzendenten Seienden nur handeln, insofern sie vom Transzendentalen handelt, nämlich von der transzendentalen ratio „Seiend" und ihren Attributen, wie sie durch resolutio unserer von der Sinneserfahrung ausgehenden begrifflichen Erkenntnis und einen daran anschließenden Beweis erkennbar sind. Mit besonderer Deutlichkeit kommt die Konzeption der Metaphysik als Transzendentalwissenschaft und ihr Verhältnis zur natürlichen Gotteserkenntnis in einem Einwand zum Ausdruck, mit dem Scotus die den neuzeitlichen Metaphysikbegriff kennzeichnende Trennung zwischen —»Ontologie als metaphysicageneralis und natürlicher Gotteserkenntnis zhmetaphysica specialis vorwegnimmt: Zwar trifft es zu, so räumt Scotus ein, daß Metaphysik, die ihscientia transcendens von dem Wissen handelt, das allem Wissen von den besonderen Seienden gemeinsam ist, allen scientiae particulares voraufgeht und als solche von ihnen verschieden ist, doch folgt daraus nicht, daß sie, wie der Einwand besagt, auch der scientia divina als einer eigenen, natürlich erreichbaren Wissenschaft von Gott voraufgehen muß. Wenn wir nämlich Gott nur insoweit erkennen können, als wir die disjunktiven transzendentalen Bestimmungen von „Seiend" durch Beweis erkennen, fällt die für uns mögliche scientia divina mit der scientia transcendens zusammen (vgl. Met. I q . l n n . 4 7 - 4 9 , ed. Viv.VII,35ff).
Wie sehr Scotus mit seinem Konzept den Übergang zum neuzeitlichen Metaphysikbegriff vorbereitet, macht die in der Forschung bislang noch wenig verfolgte Wirkungsgeschichte deutlich: Unter den mittelalterlichen Entwürfen, so zeigt sich, ist es nicht der thomanische, sondern der scotische, der nicht nur — sei es in Form einer epigonalen, das ursprüngliche Konzept und seine Intention vielfach verstellenden Fortführung, sei es in der mit Wilhelm von —• Ockham einsetzenden kritischen Transformierung - für das Spätmittelalter das Übergewicht gewinnt, sondern auch auf die Entwicklung von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Metaphysik den stärksten Einfluß ausübt. Greifbar wird dies besonders bei den Autoren, die als die maßgeblichsten Stationen der Vermittlung der mittelalterlichen Metaphysiktradition an die Neuzeit betrachtet werden müssen, nämlich bei F. —»Suärez und Chr. —»Wolff. Wie die unmittelbaren oder (bei Wolff) mittelbaren Bezugnahmen und vor allem der Blick auf die Sachaussagen selbst deutlich machen, führen die beiden Autoren unter den sich anbietenden Möglichkeiten das bei Scotus grundgelegte Konzept einer Ontotogie als Transzendentalwissenschaft fort. Es ist dieses Verständnis von Transzendentalwissenschaft, an das —»Kant anknüpft, um sich dann mit seinem neuen Ansatz kritisch von ihm abzusetzen, wobei zentrale Strukturelemente durchaus erhalten bleiben. Die neuzeitliche Kritik der Metaphysik erweist sich so als die Fortführung des Ansatzes, mit dem Scotus die Krise des 13. Jh. aufzunehmen versucht.
2. Die Interpretation des scotischen Verständnisses von „Seiend" bei M. Heidegger Außerhalb der Neuscholastik und der von ihr ausgehenden Mittelalterforschung ist der zentrale Gedanke der scotischen Metaphysik in einer für die moderne Rezeption mittelalterlicher Autoren sonst singulären Weise durch zwei Autoren aufgegriffen worden, die für die Metaphysik und Metaphysikkritik des 20. Jh. eine bedeutsame Rolle spielen: Ch.S. Peirce und M. —»Heidegger. In seiner 1916 erschienenen Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus schickt Heidegger seiner Interpretation der in der Edition Wadding-Vives der Scotus-Werke enthaltenen, wenig später jedoch als Werk des Thomas von Erfurt identifizierten Grammatica speculativa eine systematische Grundlegung vorauf, die (im Rückgriff auf weitgehend authentische Texte) jene „Kategorien" bei Scotus aufsucht und darstellt, die der in der Grammatica speculativa entwickelten Bedeutungslehre zugrunde liegen. „Kategorie der Kategorien", so fuhrt Heidegger aus, ist für Scotus das „Seiende" {ens); denn „Sei-
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end" meint als jene allen gemeinsame Bestimmtheit nichts anderes als den „Gesamtsinn der Gegenstandssphäre überhaupt, das sich durchhaltende Moment im Gegenständlichen", die „Gegenständlichkeit überhaupt" ( 2 1 4 ff). In seiner transzendentalen Bedeutung gehört ens zu den maxime scibtlia, also zu dem, „was uranfänglich gewußt wird". Denn wenn jedwedes nur erkannt werden kann, sofern es als ens, nämlich als ein „Gegenstand überhaupt" erkannt wird, dann bedeutet ens, wie Scotus es versteht, „nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandserkenntnis überhaupt" (ebd.). Damit kommt in einer dem Neukantianismus und der Phänomenologie verpflichteten Terminologie jener Grundgedanke der scotischen Metaphysik zum Ausdruck, daß „Seiend" durch einen ,Rückstieg' erkannt wird, nämlich durch eine resolutio unserer distinkten Begriffe auf den in ihnen enthaltenen „ersten distinkt erfaßbaren Begriff" iprimus conceptus distincte conceptibilis: Ord.Id. 3p. l q . 1 - 2 n. 80, ed. Vat. 111,54 f) hin, ohne dessen Erkenntnis nichts erkannt werden kann und in dem die certitudo zum Ausdruck kommt, die vorprädikativ in jedem gegenständlichen Begriff ausgesagt wird (vgl. Ord. I d.3 p. 1 q. 1 - 2 n.27, ed. Vat. III, 18), nämlich Begriff von „Etwas überhaupt" (Heidegger,a.a.O. 217) zu sein. Wie Heidegger zu Recht betont, kann ein solcher Begriff nur als ein Letztes begriffen werden, „hinter das nicht weiter mehr zurückgefragt werden kann" (215). Der „Letztheitscharakter" (216) ist das Wesentliche der Transzendentalität des ens. Als das in der Abfolge der resolutio Zuletzterkannte kann „Seiend", so betont Scotus, nur mehrganz oder gar nicht erkannt werden (vgl. Ord. ebd. q.3 nn. 147 f, ed. Vat. 111,91 f). Es muß als eine ratio von schlechthin einfachem Gehalt gefaßt werden, die in ihrem alle Kategorien übersteigenden Sinn univok von Substanz und Akzidens, Gott und Geschöpf ausgesagt werden kann (vgl. Ord. ebd. nn. 131 - 1 5 1 , ed. Vat. III, 81 - 94). Dies ist freilich nur möglich, wenn Univozität in einem neuen Sinn verstanden und auf jene Einheit der Bedeutung reduziert wird, die ausreicht, um einen Widerspruch auszuschließen und einen Syllogismus zu ermöglichen (vgl. Ord. ebd. 9.1 fn. 26, ed. Vat. 111,18). In einer solchen Einheit der Bedeutung kann „Seiend" sowohl von den washeitlichen als auch von den rein qualifizierenden Bestimmungen ausgesagt werden: was etwas ist, wird durch „Seiend" washeitlich bezeichnet, nämlich insofern es Etwas überhaupt ist; wie etwas ist, wird durch „Seiend" „eigenschaftlich" bezeichnet, nämlich insofern es rein qualifizierende bzw. differenzierende Bestimmung an einem solchen ist, das überhaupt Etwas ist. Da es in beiden Aussageweisen das von allen anderen Aussagen vorausgesetzte Erste ist, kann seine Gemeinsamkeit für alle Aussagen gewahrt bleiben, ohne daß die Differenz der Bestimmungen, die in der verschiedenen Aussageweise zum Ausdruck kommt, aufgehoben wird (vgl. Ord. I d.3 p.l q.3 nn. 1 3 1 - 1 5 1 , ed. Vat. 111,81-94). Damit ist frcilich der naheliegende und auch später immer wieder gegen Scotus erhobene Einwand, ein univok aussagbarer Begriff des „Seienden" könne sich nicht über den Status eines Gattungs-Allgemeinen erheben, noch nicht hinlänglich entkräftet. Einheit der Bedeutung und unzurückführbare Verschiedenheit der Denotate sind nach Scotus letztlich nur deshalb zu vereinbaren, weil „Seiend" in seiner transzendentalen Bedeutung nicht in Form eines „eigentümlichen Begriffs" (conceptus proprius ) erfaßt wird, der stets eine eigene abgrenzbare realitas in ihrem inneren Modus zum Gegenstand hat, sondern in Form eines „unvollkommenen und verminderten Begriffs" (conceptus imperfectus et deminutus: Lect. I d.8 p.l q.3 n.129, ed. Vat. XVII,46 f), der die res oder realitas auf unvollkommene Weise erfaßt, insofern er sie ohne ihren besonderen inneren Modus, nämlich nur als „seiend" begreift. Mit Hilfe dieser begrifflichen Unterscheidbarkeit zwischen der realitas und ihrem inneren Modus kann nach Scotus die „übergroße Gemeinsamkeit" (nimia communitas: Ord. ebd. n.158, ed. Vat. 111,95 ff) der die verschiedenen Kategorien übersteigenden Bestimmtheit „Seiend" festgehalten werden, ohne daß der Begriff die Aporien eines obersten Gattungsbegriffs nach sich zieht. Könnte diese Gemeinsamkeit von unserem Verstand nicht wenigstens in der Einheit eines unvollkommenen Begriffs erfaßt werden, zerfiele unsere Erkenntnis von Welt in eine unzurückführbar verschiedene Vielheit und die Erkennbarkeit Gottes und der Substanz verlöre ihre notwendige Voraussetzung. Wenn sich aber der Sinn von „Seiend" nicht vom ausgezeichnet Seienden Gottes oder der Substanz her verstehen läßt, sondern „Seiend" die im Begriff erfaßte Bestimmtheit ist, in deren Horizont Gott und Substanz allererst erkennbar werden, muß an die Stelle des ontotheologischen Ansatzes bei der Frage nach der Substanz der ontologische Ansatz der Frage nach der formalen ratio treten, die allem Wissen von Welt zugrunde liegt. Eine dementsprechende Metaphysik kann weder auf Physik oder Kosmologie noch auf Offenbarungstheologie rekurrieren; vielmehr ist ihre Aufgabe gerade deren transzendentale Ermöglichung. In der Erhellung der ratio entis muß der von Scotus gewählte Ansatz freilich, wie Heidegger im oben genannten Zusammenhang feststellt, auf ein Problem stoßen, das mit dem „Letztheitscharakter" des conceptus entis unvermeidlich verbunden ist: Wenn „Seiend" jener erste Begriff schlechthin einfachen Gehalts ist, der (wie es bei Scotus in Anknüpfung an Avicennas Formel heißt) „durch nichts Bekannteres (d.h. Allgemeineres) entfaltet werden kann" Iper nihil notius explicatur: Ord. I d.2 p . l q.l—2 n . 1 3 2 , ed. Vat. 11,207), dann muß
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alles besondere Seiende als seiend erkannt werden, „Seiend" selbst kann aber im strengen Sinne nicht noch einmal als etwas erfaßt werden. „Als bei einem Letzten hört bei ihm alles a u f " (Heidegger, a. a. 0 . 2 1 7 ) . Damit macht Heidegger die prinzipielle Differenz kenntlich, die nach Scotus zwischen „Seiend" in seinem transzendentalen Sinn und allen anderen generellen Begriffen waltet. Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit der von Heidegger später in Sein und Zeit ( 1 9 2 7 ) urgierten ontologischen Differenz zu vermuten. Heidegger äußert sich in seinem veröffentlichten W e r k dazu nicht. Für Scotus folgt aus der Differenz nicht, daß sich der Sinn von „Seiend" in der Unbestimmbarkeit einer letzten Bestimmtheit verliert, über die nur mehr tautologisch gesprochen werden könnte. Heidegger selbst nennt als einen Weg weiterer Erhellung eine Art von (wie er in hegelscher Terminologie formuliert) „Kreisbewegung des Denkens" (Kategorien- und Bedeutungslehre, ebd.), die er bei Scotus in einer Explikation der transzendentalen Attribute der Einheit und Wahrheit erblickt und weiter verfolgt. Von größerer Bedeutung auf die am Ende der resolutio unserer Begriffs- und Aussageweisen erreichte ratio entis hin ist aber wohl bei Scotus die Explikation, die er durch Entgegensetzung des „Seienden" zum Nichtseienden und durch die (wiederum im theologischen Kontext entwickelte) Lehre von den Modi vorlegt, die die transzendentale ratio entis disjunktiv bestimmen: „Seiendes" in seinem weitesten Sinn ist das, was vom Nichts der Widersprüchlichkeit abgehoben ist, d.h. das, was dem Sein (außerhalb oder innerhalb des Verstandes) nicht widerstreitet (vgl. Quodl. q.3 n.2, ed. Viv. X X V , 1 1 3 f ) oder wie die Formel an anderer Stelle heißt: ens (est hoc), cui non repugnat esse (Ord. I V d . l q.2n.8,ed. Viv. XVI, 109). In der doppelten Negation kommt eine logische Möglichkeit zum Ausdruck, die „absolut, kraft eigener Bestimmtheit zu bestehen vermag" (absolute - ratione sui - posset Stare: Ord. I d.36 q.un. n.61, ed. Vat. VI,296), weil sie vorweg zum vergleichenden Verstand in der Disposition der einzelnen Gehalte selbst gründet (vgl. Met. I X q . 2 n . 3 , ed. Viv. VII,531 f). Die Verträglichkeit mit dem Sein beruht auf einer Verträglichkeit der Gehalte, die der betreffenden Washeit nicht erst durch ein verursachendes Vermögen, sondern „formal aus sich" (formaliter ex se) zukommt, „weil dieses dieses ist und jenes jenes und zwar in bezug auf jedweden begreifenden Verstand" (quia hoc est hoc et illudillud et hoc quocumque intellectu concipiente: Ord. ebd. nn. 5 0 u. 60, ed. Vat. VI,291.296). Was der Begriff „Seiend" erfaßt und mit Hilfe des Kontradiktionsprinzips als non repugnantia ad esse expliziert, ist also jenes letzte, schlechthin einfache Moment eines An-sich-selbst-bestimmt-Seins und Mit-sich-selbstidentisch-Seins, oder wie Scotus es ausdrückt, einer „Festigkeit" (ratitudo), die dem erkannten Gehalt „formal aus sich" zukommt und ihn vom „schlechthinnigen Nichts" desjenigen abhebt, was aufgrund der Widersprüchlichkeit seiner Gehalte nicht einmal sein kann. Das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, genauer gesagt, der Identität, ist für Scotus nichts anderes als die Entfaltung des grundlegenden Wissens von „Seiend". Damit wird von Scotus keinerlei Essentialismus oder Piatonismus vertreten; denn die formal aus sich bestehende Inhaltlichkeit besitzt, wie Scotus gegen Heinrich von Gent betont, als solche keinerlei ontischen Status. Sie ist, sofern nicht außerhalb des Verstandes, nur in Form des Gedachtseins. Doch ist das, was im Gedachtsein repräsentiert wird, nicht das Gedachtsein, sondern der Gehalt als solcher, nicht die im Denken nur als vermindert Seiendes bestehende Rose, sondern die quiditas rosae absolute (Lect. ebd. n.30, ed. Vat. XVII,471) - o d e r wie Heidegger es in der Terminologie—> Husserls ausdrücktder „noematische Sinn" als das Bewußtseinskorrelat, das „vom Bewußtsein unabtrennbar und doch nicht reell in ihm enthalten ist" (a. a. 0 . 2 7 7 ) . S oist der Begriff „Seiend" nur als Repräsentation im Denken, doch meint der repräsentierte Gehalt jenes allgemeinste und einfachste Moment, das allen Modi des Seins (Gedacht- wie Wirklichsein, Akt wie Potenz usf.) voraufliegt, an dem diese Modi ansetzen und das sich folglich in ihnen durchhält. Als solches kann es mit Hilfe der Modi verdeutlicht werden, doch gibt es nicht eine bestimmte Seinsweise an, sondern den Grund der Möglichkeit jeglicher Seinsweise. Dieser Ansatz einer formalen Bestimmung von „Seiend" durch Explikation seiner Modi übt auch auf die neuzeitliche Metaphysik einen maßgeblichen Einfluß aus: Suárez und Wolff übernehmen — ungeachtet der sonst bestehenden Differenzen — mit dem Grundkonzept der Metaphysik als Transzendentalwissenschaft auch die formale Bestimmung von „Seiend". Dies zeigt sich nicht nur in der verbalen Übernahme der scotischen Formel ens est hoc, cui non repugnat esse, sondern auch in deren Interpretation, in der zentrale Theoreme der scotischen Explikation, wie die formal aus sich bestehende Möglichkeit als innerer Grund der Existenzmöglichkeit, in transformierter Gestalt wiederkehren. Freilich zeigt gerade der wolffsche Versuch, die Ontotogie unter dem mathematischen Methodenideal als scientia propter quid zu entwickeln und damit die scotische Restriktion rückgängig zu machen, daß die von Scotus ausgehende formale Bestimmung unausgesprochen auf einen eidetischen Bestand zurückgreift, dessen Struktur als unveränderlich vorgegeben betrachtet wird. Hier setzt die durch den englischen —»Empirismus ausgelöste Kritik -»Kants ein, deren Stärke letztlich jedoch nicht zu einer völligen Verwerfung
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des überkommenen Konzepts fuhrt, sondern zu einer umfassenden Transformation. Kant knüpft nicht nur an den Begriff derTranszendentalwissenschaft an, er greift auch bei dem Begriff des „transzendentalen Gegenstandes" und in der Kategorienlehre auf Elemente der tradierten modalen Explikation zurück. Vor allem bleibt die Grundstruktur einer formalen Bestimmung erhalten, wenn er die „objektive Realität" nicht durch Bezug auf eine besondere Weise des Seienden bestimmt, sondern als Nichtwidersprüchlichkeit des gedachten gegenständlichen Gehalts - zwar nicht dem Sein, wohl aber den Prinzipien möglicher Erfahrung gegenüber. 3. Der Rückgriff
auf die scotische
Bestimmung
der Realität bei Ch.S.
Peirce
N o c h vor Heidegger ist der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce ( 1 8 3 9 — 1 9 1 4 ) auf das zentrale Theorem der scotischen Metaphysik gestoßen. In A b s i c h t a u f eine Theorie, die den Realitätsstatus naturwissenschaftlicher Gesetze zu bestimmen erlaubt, entwickelt er einen Begriff von Realität, für den er sich ausdrücklich auf Scotus beruft 4 : Die Realität der realen Referenz d e r g e n e r a l terms, die in jeder wahren Erkenntnis als einer Relation der Repräsentation unterstellt wird, so heißt es, zeigt sich zwar nur im Denken, jedoch als solches, das nicht abhängig ist vom je meinigen Denken, sondern ihm vorgängig (vgl. 5.257.310; 1.27; 6.349). In eben dieser Weise wird von Scotus mit Hilfe der Lehre von der formalen Nichtidentität, auf die sich Peirce als die erste konsistente Formulierung der „realistischen Position" (8.11; vgl. auch ebd. 18 ff; 5.312 sowie 4.28; 5.430; 6.495) beruft, der ontologische Status rein formaler Gehalte bestimmt: Zwei Gehalte, die zwei definitorisch sich ausschließende conceptus proprii terminieren, müssen zwei eigene realitates darstellen. Ihre formale Nichtidentität tritt zwar nur im begrifflichen Erkennen in Erscheinung, geht aber als solche dem Erkennen vorauf, ohne damit freilich eine bestimmte ontische Seinsweise zu vindizieren (vgl. Ord. I d. 8 p. 1 q.3 n. 140, ed. Vat. IV 223 f; Ord. I d. 2 p. 2 p.2 q. 1 - 4 n.403, cd. Vat. II 3 5 6 f)-Daß diese Lehre den beschriebenen Sinn von „Seiend" voraussetzt, liegt auf der Hand. Dieser Sinn erlaubt es Scotus aber nicht nur, den eidetischen Bestimmungen der res als „realitates" oder„formalitates" einen eigenen ontologischen Status zuzuweisen, der die reale Einheit der konkreten res unberührt läßt (so daß auch in Gott eine eidetische Mannigfaltigkeit gedacht werden kann, die die Einheit nicht aufhebt), sondern ermöglicht auch eine neue Deutung von Materialität und Individualität, Endlichkeit und Unendlichkeit: Der Materie kann eine eigene positive Seiendheit zugeordnet werden. Formakt und Akt der Seiendheit treten auseinander. Die Individualität ist nicht mehr Resultat kategorialer Konstitution des Seienden, sondern dessen unzuriiekfuhrbare „Diesheit" (haeeeeitas), die nur mehr transzendental-ontologisch, nämlich als der „höchste Grad der Aktualität" des Seienden, als „letzte Vollkommenheit" oder „letzte Wirklichkeit des Seienden" (ultima realitas entis: Ord. II d.3 p.l q . 5 - 6 n.188, ed. Vat. VII, 483 f) begriffen werden kann. Nicht Zusammengesetztheit begründet Endlichkeit des Seienden, sondern Endlichkeit ist als Nichttotalität der Seiendheit Grund für die Zusammensetzbarkeit des Seienden. Versteht man „Seiendes" als nichtkategoriale intensive Größe, dann ist das unendliche Seiende (ens infinitum) dasjenige, „dem nichts an Seiendheit fehlt, in der Weise, in der es möglich ist, dieses (d.h. das Ganze der Seiendheit) in einem einzelnen (Seienden) zu besitzen; . . . was jedes Seiende übertrifft, und zwar nicht nur in einem bestimmten Verhältnis, sondern über jedes bestimmte und bestimmbare Verhältnis hinaus" (Quodl. q.5 n.4, ed. Viv. X X V , 1 9 9 f ) . Wie Peirce in seiner „theory of reality" ausführt, kann die scotische Bestimmung der Realität des Allgemeinen, an die er anknüpft, als solche noch nicht genügen. Die im Denken sich zeigende jVorgängigkeit* zum je meinigen Denken bedarf eines Ausweises, der weder durch Rekurs auf den noetisch-noematischen Parallelismus unserer einfachen Begriffe (wie bei Scotus) noch durch Verweis auf den Zusammenhang mit den apriorischen Prinzipien der Erfahrung (wie bei Kant) geleistet ist. Dies ist für Peirce überhaupt nicht durch Rückgriff auf die Kausalität von Erkenntnisgegenstand und/oder -Subjekt möglich, sondern nur durch Explikation der Erkenntnis als einer Relation der Repräsentation, in der Realität als der Geltungsanspruch nachgewiesen wird, der dem Terminus einer wahren Relation der Repräsentation z u k o m m t . Als real, so lautet das Resultat, kann nur dasjenige betrachtet werden, w a s sich als eine Schlußfolgerung erweist, die intersubjektiv bestätigungsfähig ist, wie dies bei jener „endgültigen M e i n u n g " der Fall ist, die Gegenstand des „umfassenden Konsenses" ist, zu dem die unbegrenzt gedachte Forschergemeinschaft (als „Gemeinschaft aller Verstandeswesen") „ a u f lange Sicht" tendiert (vgl. 5 . 3 1 1 ; 8 . 1 2 f ; 2 . 6 5 4 ) . Eine solchermaßen als intersubjektiv nachvollziehbare Regelmäßigkeit ausgelegte Realität ist freilich, wie Peirce
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später erklärt, dem Verdacht eines latenten Idealismus oder Phänomenalismus nur dann endgültig entzogen, wenn man wie Scotus davon ausgeht, daß ihr eine „reale Möglichkeit" (ebd. 5 . 4 5 3 ff) zugrunde liegt. Wie der Blick auf den von Scotus entwickelten Begriff einer dem Erkennen vorgängigen, formal aus sich bestehenden Möglichkeit zeigt, die als Grundmodalität der Differenz von Akt und Potenz, Wirklichsein und Gedachtsein voraufliegt, geschieht auch hier die peircesche Berufung auf die scholastische Vorgabe (vgl. ebd. 5 . 4 5 3 ) durchaus zu Recht. 4. Scotus und der Streit um die Genealogie
der
Neuzeit
Bedeutung gewann die scotische Lehre von der modalen Explikation des Sinns von „Seiend" auch im Kontext der Diskussion um die komplexe Genealogie der Neuzeit, insbesondere um die These H. Blumenbergs, die Neuzeit sei angemessen nur zu begreifen als Prozeß der Selbstbehauptung gegenüber jenem spätmittelalterlichen „theologischen Absolutismus", der durch die Betonung der absoluten Freiheit und der unendlichen Macht Gottes die Ordnung zerstört habe, die menschliche Vernunft in der Wirklichkeit anzutreffen beansprucht (vgl. bes. 134.172).Uber Wilhelm von Ockham hinaus weist Blumenberg auf die scotische Erklärung der —»Kontingenz als historische Wurzel hin (201) und erneuert damit in veränderter Perspektive den schon in der Neuscholastik erhobenen Vorwurf, Scotus vertrete mit seinem Willens- und Kontingenzbegriff einen Voluntarismus, der zwangsläufig zu nominalistischen Konsequenzen führe. Ohne Zweifel unterzieht Scotus die griechisch-arabische Metaphysik vor allem wegen ihrer nezessitaristischen Konsequenzen einer umfassenden Kritik und versucht eine Metaphysik zu entwickeln, dieden Phänomenen des—> Willens und der—»Freiheit zu ihrem Recht verhilft und die zugleich das Zusammenspiel von Wille und Vernunft, Freiheit (bzw. Kontingenz) und Notwendigkeit angemessen zu begreifen erlaubt. Dazu veranlaßt ihn nicht nur der christliche Glaube an einen ad extra frei wollenden Gott, sondern ebenso die wissenschaftliche Forderung nach Begriffen, in denen die Sache selbst auf formallogisch eindeutige Weise zum Ausdruck kommt; denn nur solche Begriffe können Grundlage von Argumenten sein, die intersubjektive Geltung besitzen. Betrachtet man in der aus diesem Ansatz entspringenden formalen Betrachtung den Willen als das, was er der Sache nach vorweg zu seinen Verwirklichungsweisen ist, so erweist er sich als Vermögen, dessen Handeln nicht seiner Natur folgt, sondern das aus sich unbestimmt ist 5 . Er ist nicht wie bei Thomas eine durch Vernunft bestimmte Weise des naturhaften Strebens, deren Freiheit sich der Vernunft verdankt, sondern eine ursprünglich eigenständige, auf nichts zurückführbare Fähigkeit der Selbstbestimmung, die als solche frei oder gar nicht ist. Ist aber die Freiheit des Wollens ebenso ursprünglich wie der Wille selbst, dann kann auf die Frage, warum der Wille dieses oder jenes will, nur geantwortet werden, daß der Wille eben Wille ist (vgl. Ord. I d.8 p.2 q.un. n.299, ed. Vat. IV,324 f). Da Wille als solcher aber eine reine Vollkommenheit darstellt, ein vernünftiges Vermögen, das auf das Gute gerichtet ist, kann sich das Wollen eines unendlichen Willens niemals in irrationaler Willkür vollziehen, sondern muß notwendig auf das Gute gehen. Was schlechthin gut ist wie die göttliche Wesenheit selbst, wird daher von Gott zugleich frei und notwendig gewollt. Zu allem, was nur in endlicher Weise gut ist, wie alle Zweitobjekte, verhält sich der göttliche Wille unbestimmt; hier ist sein Wollen kontingent 6 . Der neue Willensbegriff erlaubt zugleich ein neues, radikaleres Verständnis der Kontingenz der endlichen Seienden: Soll die Kontingenz die Seiendheit selbst betreffen und deren unmittelbaren Modus darstellen, muß sie auf eine erste Ursache zurückgehen, diead extra kontingent handelt. Ist aber der Ursprung der Kontingenz ein Wille, der nur durch das Kontradiktionsprinzip eingeschränkt ist und deshalb ad extra zum gleichen Zeitpunkt entgegengesetzte Handlungen wollen kann, dann ist in seiner Seiendheit kontingent dasjenige Seiende zu nennen, „dessen Gegenteil entstanden sein könnte zu dem Zeitpunkt, in dem dieses entstanden ist" (cuius oppositum posset fieri quando illud fit: Ord. I d.2 p . l q . 1 - 2 n.86, ed. Vat. 11,178). Als „Weise des aktuell Seienden, sofern es aktuell ist und für den Zeitpunkt, in dem es aktuell ist" (modus entis in actu, quando est in actu et pro illo nunc, pro quo est in actu: Met. IX q.15 n.12, ed. Viv. VII, 615), bezeichnet Kontingenz das aktuelle Sein des Seienden, für das es „möglich ist zu sein, nachdem es nicht war" (possibilis esse post non esse: De primo princ. c.3 concl. 1 n.25, ed. Kluxen 32). Da vom göttlichen Willen als einem vernünftigen Vermögen auch ad extra nur das kontingent gewollt werden kann, was in sich möglich ist und vom göttlichen Erkennen als notwendig möglich er-
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kannt wird, ist das von uns erkennbare endliche Seiende zwar in seiner faktischen Wirklichkeit kontingent, in deren Möglichkeit aber notwendig. Freilich ist nicht alles als solches in sich Mögliche auch mit jedem anderen in sich Möglichen kompatibel. Deshalb gibt es für das kontingente Verursachen der ersten Ursache neben der in der Disposition des je einzelnen Seienden begründeten Unmöglichkeit eine zweite Grenze in Form einer „incompossibilitas quantum ad aliam" (Lect. I d.39 q . 1 - 5 n. 72, ed. Vat. XVII,503 f). Wie später —»Leibniz und Wolff formulieren werden, ist die erschaffbare Welt nur eine der möglichen Welten.
Unsere Erkenntnis der Welt wird durch diese Explikation der Modi ebenso eingeschränkt wie ermöglicht-. Gott ist nicht zuletzt deshalb kein unsere Erkenntnis naturhaft bewegender Gegenstand, weil er ein obiectum voluntarium ist. Was ihn unserer Erkenntnis entzieht, ist die Transzendenz seiner Freiheit. Entsprechend ist die kontingente aktuelle Wirklichkeit des von ihm Geschaffenen von uns nur hier und jetzt in intuitiver Erkenntnis konstatierbar. Andererseits kann im Medium des abstraktiv erkennbaren Begriffs das der kontingenten Aktualität zugrunde liegende notwendige Mögliche erfaßt werden, und zwar als die Bedingung, die im erfahrbar Faktischen erfüllt ist. Da der Rekurs von dem kontingent Faktischen auf das notwendig Mögliche zwingend ist, ist nach Scotus nicht nur Wissenschaft als dauerhaftes und notwendiges Wissen von Welt möglich. Am Leitfaden dieses Zusammenhangs kann als äußerstes Ziel natürlicher Wissenschaft Gott als die aus sich notwendige Bedingung dieses notwendig Möglichen aufgezeigt werden, ohne daß davon die Transzendenz seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Beide Aspekte, die Scotus systematisch zu verbinden sucht, der rationale und der voluntative, haben in der Folge je für sich eine offene und mehr noch latente Wirkungsgeschichte ausgelöst, die zweifellos bedeutender ist als die von ihm hervorgerufene Schultradition. Mit Recht kann er deshalb als Denker bezeichnet werden, der sowohl der Funktion der Vernunft, wie sie im Wissenschaftsbegriff und in den rationalistischen Philosophien der Neuzeit sichtbar wird, als auch der Eigenbedeutung des Willens, der Freiheit, der Individualität und Personalität, wie sie im neuzeitlichen Vorrang praktischer Wissenschaft und in den voluntaristischen Ansätzen zum Ausdruck kommt, in maßgeblicher Weise vorgearbeitet hat 7 . Gemeinsam ist beiden Linien — und hier liegt wohl der wirkungsgeschichtlich bedeutendste Beitrag der scotischen Philosophie —, der formale Ansatz, der darin besteht, die Phänomene nicht mehr vorrangig mit Hilfe des an der Substanz orientierten Kategorienschemas, sondern am Leitfaden der Begriffe transkategorialer formaler Bestimmungen zu denken, also ,Welt* nicht primär als kausalen faktischen Zusammenhang von Dingen, sondern mehr als Ordnungszusammenhang von möglichen formalen Strukturen zu begreifen. Anmerkungen Zum inneren Ort der Philosophie in der theologischen Synthese des Scotus vgl. Honnefelder, Ens inquantum ens 1 - 4 9 ; zum gesamten Artikel vgl. ebd. passim; ders., Scientia transcendens, passim. 2 Vgl. dazu W. Kluxen, Die Originalität der scotischen Metaphysik. Eine typologische Betrachtung: Regnum Hominis et Regnum Dei 305 ff. 3 H . Wagner, Existenz, Analogie u. Dialektik. Religio pura seu transcendentalis, München 1953,208. 4 Vgl. J. P. Beckmann, Realismus u. Pragmatismus. Zum Möglichkeitsbcgriff bei Duns Scotus u. Peirce: Regnum Hominis et Regnum Dei 3 3 3 - 3 4 5 ; L. Honnefelder, Z u m Begriff der Realität bei Scotus u. Peirce. Formale Nichtidentität als logisch-ontologisches Kriterium: ebd. 3 2 5 - 3 3 2 ; ders., Scientia transcendens Teil IV. 5 Vgl. ausführlich W. Hoeres, Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus. 6 Zu der hier ansetzenden Unterscheidung zwischen dem Handeln Gottes de potentia absoluta und de potentia ordinata s.o. Abschn. 1.3.2 u. 4. 7 Vgl. W. Kluxen, Johannes Duns Scotus: Die Großen der Weltgesch., Zürich, III 1973, 836f; ders., Originalität [s.o. Anm. 2] 310ff. 1
Literatur Carlo Balic, Circa positiones fundamentales Ioannis Duns Scoti: Anton. 28 (1953) 2 6 1 - 3 0 6 . Timotheus Barth, De fundamento univocationis apud Ioannem Duns Scotum: Anton. 14 (1939) 1 8 1 - 2 0 6 . 2 7 7 - 2 9 8 . 3 7 3 - 3 9 2 . - Ders., Das weltliche Sein u. seine inneren Gründe bei Thomas v. Aquin u. Duns Scotus: WiWei 21 (1958) 1 7 0 - 1 8 7 . - Jan P. Beckmann, Die Relationen der Identität u.
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Durandus de S. Porciano
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Ludger Honnefelder
Durandus de S. Porciano (ca.
1275-1334)
1. Leben Durandus de S. Porciano O.P. (Doctor modernus) ist um 1275 in St. Pourjain geboren und 1334 in Meaux gestorben. Um 1300 war er Schüler des Jacobus von Metz. Inden Jahren 1 3 0 7 - 1 3 0 8 kommentierte er im Kloster St. Jacques zu Paris die Sentenzen, 1312 wurde er Magister der Theologie, 1313 LectorS. Palatii in Avignon, 1317 Bischof von Limoux, 1318 von LePuy und 1326 von Meaux. Trotz seiner hohen kirchlichen Ämter sah er sich seiner Lehren wegen schon zu Lebzeiten heftigen Angriffen ausgesetzt. 2. Werk 2.1. Kommentare zu den vier Büchern der Sentenzen des —»Petrus Lombardus. Vom Sentenzenkommentar des Durandus gibt es drei Redaktionen. Die erste, die J. Koch (Durandus de S. Porciano I, 83) als „ein Werk aus einem Guß" bezeichnet, war 1308 vollendet und umfaßte alle vier Bücher. Ihrer stark antithomasischen Tendenzen wegen, worin Durandus wohl bis zu einem gewissen Grade von seinem Lehrer Jacobus von Metz beeinflußt war, wurde Durandus durch das Generalkapitel des Domini-
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kanerordens von Saragossa im Jahre 1309 verwarnt. Er arbeitete daraufhin seinen Kommentar in den Jahren 1 3 1 0 - 1 3 1 1 um. Koch nennt diese Fassung ein „Verlegenheitsprodukt" (a. a. 0 . 7 3 ) . Sie umfaßt nur die Bücher II—IV. Die Umarbeitung nützte ihm jedoch nicht viel; denn 1314 verwarf eine vom Generalkapitel von Metz beauftragte Kommission 91 seiner Thesen. Durandus leistete schriftlich wie mündlich zum Teil Widerruf, vertrat aber in der dritten Redaktion mehrfach wieder seine ursprünglichen Ansichten. Diese dritte Redaktion, nach Koch voll von Kompromissen (a. a. O . 83), umfaßt wieder alle vier Bücher und wurde häufig gedruckt (Paris 1 5 0 8 , 1 5 1 5 , 1 5 3 3 , 1 5 3 9 , 1 5 4 7 , 1 5 4 0 ; Lyon 1533, 1563, 1569; Antwerpen 1567; Venedig 1571, 1586; Nachdr. London 1964). A. Maier weicht in der Beurteilung der literarkritischen Probleme um den Sentenzenkommentar des Durandus um ein geringes von Koch ab. Sie will ihre Ansicht jedoch nicht als sichere Behauptung, sondern als Vermutung verstanden wissen. Danach wäre nicht die erste, sondern die zweite Redaktion eineReportatio der Pariser Vorlesung, welche nicht, wie Koch annimmt, 1307—1308, sondern, wie man früher annahm, 1310—1311 gehalten wurde. Bei der ersten Redaktion handelte es sich dann um eine Ordinatio, die Durandus vor der Pariser Vorlesung und nach der Sentenzenerklärung in einem Ordensstudium ausgearbeitet hat (A. Maier, Literarhist. Notizen über P. Aureoli, Durandus u. den „Cancellarius" nach der Hs. Ripoll 77 b i s in Barcelona: Greg. 29 [1948] 2 1 3 - 2 5 1 , hier 227). Aus dem Schlußwort des Durandus zur dritten Redaktion wird deutlich, daß indiskrete Freunde die erste Fassung entwendet und verbreitet haben, ehe sie ganz vollendet war. 2.2. Ferner sind zu nennen die aus den Jahren 1 3 1 2 - 1 3 1 6 stammenden fünf Quodlibeta ( 1 - 3 hg. v. P. T. Stella,Zürich 1965), derTractatusdehabitibus (qq. 1 - 3 hg. v . T . Takeda, Kyoto 1 9 6 3 ; q . 4 h g . v. J. Koch, Münster 1930), De paupertate Christi et apostolorum, De origine potestatum et iurisdictionum und De visione Dei quam habent animae sanctorum ante ittdicium generale.
3. Bedeutung Durandus gehört zu den Autoren, welche die Kritik an der großen philosophisch-theologischen Synthese der Hochscholastik fortsetzen, wie sie von —»Duns Scotus in wohl bedeutendster Weise begonnen wurde. Er gab der Ratio den Vorzug gegenüber der Auctoritas und ist, obwohl er selbst auch dem —»Dominikanerorden angehörte, in vieler Hinsicht Gegner des —•Thomas von Aquin. Nicht zuletzt hat er durch manche Lehren die Entwicklung vorbereitet oder eingeleitet, die dann im sog. —»Nominalismus ihre typische Ausprägung gefunden hat. Theologisch dürfte vor allem bedeutsam sein, daß er in die Gottes- und Gnadenlehre Elemente eingeführt hat, die - von späteren noch überspitzt—zu nicht unbedenklichen Entwicklungen gefuhrt haben. Die Caritas, der geschaffene Gnadenhabitus (—»Gnade), ist nach seiner Meinung nicht als notwendige Voraussetzung für das deo carum esse zu betrachten, sondern als dessen Folge, die zwar nicht mit absoluter Notwendigkeit, aber auf Grund göttlicher Anordnung eintritt. Ein geschaffener Liebeshabitus ist auch nicht für ein meritum de congruo erforderlich, weil es bei diesem nicht auf eine Entsprechung von Verdienst und Lohn, sondern einzig und allein auf die Freigebigkeit des Belohnenden ankommt (—»Rechtfertigung). Auch die Seligkeit könnte de potentia dei absoluta unter das meritum de congruo fallen. Durandus unterscheidet ferner zwischen einem meritum de cortdigno im strengen und einem meritum de condigno im weiten Sinne (—»Werk). Ein solches im strengen Sinne liegt dann vor, wenn für eine bestimmte Handlung ex iustitia ein bestimmter Lohn geschuldet wird, und das kann nur zwischen Mensch und Mensch, nicht aber zwischen einem Menschen und Gott gegeben sein, weshalb man auch nicht davon sprechen kann, daß für den Menschen ein geschaffener Liebeshabitus notwendig ist, damit er de condigno im strengen Sinne verdienen könne; denn für etwas, das einfachhin unmöglich ist, ein Hilfsmittel annehmen zu wollen, wäre sinnlos. Unter dem meritum de condigno im weiten Sinne versteht Durandus eine gewisse Würdigkeit, die Gott auf Grund seiner Anordnung an unseren Werken fordert, wenn sie für das ewige Leben verdienstlich sein sollen. Zu einem solchen meritum de condigno im weiten Sinne ist de potentia dei ordinata der geschaffene Liebeshabitus notwendig. Dieses meritum de condigno im weiten Sinne liegt in der Mitte zwischen dem einfachen meritum de congruo und dem strengen meritum de condigno. Dies setzt voraus, daß mit dem meritum de condigno im weiten Sinne kein debitum iustitiae verbunden ist, daß also Gott niemals des Menschen Schuldner im eigentlichen Sinne werden kann, sondern daß auch der Lohn, den Gott für ein in Verbindung mit der Caritas verrichtetes Werk gibt, letzt-
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lieh auf seiner Freigebigkeit beruht. Ein debitum iustitiae ist auch nicht dadurch gegeben, daß Gott für bestimmte Werke den Lohn des ewigen Lebens verheißen hat, weil eine göttliche Verheißung nicht eine Rechtspflicht Gottes begründet, sondern lediglich eine Anordnung der göttlichen Freigebigkeit zum Ausdruck bringt. Durandus lehrt im übrigen auch ausdrücklich, daß Gott sogar nicht ungerecht wäre, wenn er einem im Stande der Gnade Gestorbenen nicht die Seligkeit gäbe oder einem die Seligkeit Besitzenden diese wieder wegnähme. Wie weit Durandus in seiner Einschränkung der Kondignität unserer Verdienste etwa von Duns Scotus beeinflußt ist, kann kaum sicher ausgemacht werden. Er beruft sich zumindest nirgends auf ihn. Gemeinsam mit Duns Scotus hat er auf jeden Fall die Konsequenz, mit der er die Uneigentlichkeit der menschlichen Verdienste herausstellt. In der Begründung dieser Uneigentlichkeit weicht er jedoch von Duns Scotus ab. Duns Scotus lehnt die strenge Kondignität menschlicher Verdienste ab, weil nichts Geschaffenes an sich Gott in irgendeiner Weise zu etwas nötigen kann und auch die am verdienstlichen Akt beteiligte Caritas etwas Geschaffenes ist. Während Duns Scotus jedoch nicht nur von der absoluten Unabhängigkeit des göttlichen Willens spricht, sondern auch die Caritas als solche in ihrem seinsmäßigen Rang und Wert betont, diese als etwas Geschaffenes nur in das rechte Verhältnis zum allem Geschaffenen gegenüber absolut unabhängigen göttlichen Willen setzt, spricht Durandus nur von der absoluten Unabhängigkeit des göttlichen Willens. Er konzentriert sich nur auf den göttlichen Willen und seine Akte und übersieht dabei das Objekt dieser Akte, die Caritas in ihrer Bedeutung an sich und damit auch für den verdienstlichen Akt. Im Hintergrund dieser inadäquaten Beurteilung der Caritas dürfte wenigstens bis zu einem gewissen Grade die unzureichende Unterscheidung von carus als caritate formatus und als Synonym für aeeeptatus ad vitam aeternam stehen, ein Mangel, der häufig genug auch bei anderen Theologen seiner und der späteren Zeit festzustellen ist. Nicht uninteressant ist, daß gerade Thesen der Rechtfertigungslehre des Durandus von Petrus de Palude aufgenommen und z. T. extrem überspitzt worden sind, obwohl dieser in der Ordenskommission saß, die einst Durandus verurteilt hat. (Zum Ganzen s. W. Dettloff, Die Entwicklung der Akzeptations- u. Verdienstlehre v. Duns Scotus bis Luther mit bes. Berücksichtigung der Franziskanertheologen, Münster/W. 1963, 1 0 7 - 1 2 8 ) . Quellen S. o. Abschn. 2. Literatur Paul Fournier, Durandus de Saint-Pourçain, théologien: HLF 37 (1938) 1 - 3 8 . - Josef Koch, Durandus de Sancto Porciano. Forschungen zum Streit um Thomas v. Aquin zu Beginn des 14. Jh. I. Literargesch. Grundlegung, Münster/W. 1927 (Lit.). - Ders., Zu Durandus-Hss. der Biblioteca Antoniana in Padua: DT 2 (1942) 4 0 9 - 4 1 4 . - Ders., Jakob v. Metz, der Lehrer des Durandus de Sancto Porciano: AHDL 4 (1929/30) 1 6 9 - 2 3 2 . - G . Loreti, La Dottrina della conversione e della presenza eucaristica in Durando da S. Porciano, Rom 1948. - J. Müller, Quaestionen der ersten Redaktion v. I. u. II Sent, des Durandus de S. Porciano in einer Hs. der Bibl. Antoniana in Padua: DT 19 (1941) 4 3 5 - 4 4 0 . - Marie Dominique Philippe, Les Processions divines selon Durandus de Saint-Pourçain: RThom 47 (1947) 2 4 4 - 2 8 8 . - F . Segarra, Un Precursor de Durandus. Pedro d'Auvergne: E E 1 2 (1933) 1 1 5 - 1 2 4 . - P . T. Stella, Le „Quaestiones de libero arbitrio" di Durandus da S. Porciano: Sal. 24 (1962) 4 5 0 - 5 2 3 . - Johann Stufler, Bemerkungen zur Konkurslehre des Durandus v. Saint-Pourçain: Aus der Geisteswelt des MA. FS M. Grabmann, Münster/W., II 1935, 1 0 8 0 - 1 0 9 0 .
Werner Dettloff Durie, John
(1596-1680)
1. Leben John Durie (Dury, Duraeus), geboren 1596 in Edinburgh als Sohn eines presbyterianischen Predigers, begann 1611 in —»Leiden das Theologiestudium, setzte es in Sedan fort und
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studierte seit 1616 wieder in Leiden. Die kirchlichen Prüfungen für das Predigtamt in der wallonischen Kirche (die Kirche der reformierten Réfugiés aus den südlichen Niederlanden) legteer 1620 und 1624 ab. 1 6 2 1 - 1 6 2 4 war er Hauslehrer in Frankreich. Nach seiner Ordination in der wallonischen Kirche dhgniederlande amtierte er 1 6 2 4 - 1 6 2 6 als Pfarrer der Wallonengemeinde in Köln. 1626 wurde er Pfarrer der presbyterianischen, schottisch-englischen Gemeinde in Elbing in Westpreußen. D u r i e s l 6 2 8 a n den schwedischen König Gustav Adolf gerichtete Petition, in der er sich als Förderer der Einheit des durch den Katholizismus gefährdeten Protestantismus zeigte, bildete den Anfang einer ein halbes Jahrhundert dauernden Arbeit an der innerprotestantischen Einigung (—»Unionen, Kirchliche). Während seines Aufenthalts in England 1 6 3 0 - 1 6 3 1 gelanges ihm nicht, den König und die höchsten kirchlichen Führer zu einer offiziellen Autorisierung seiner Unionspläne zu bewegen. In Deutschland fand Durie 1 6 3 1 - 1 6 3 3 bei den Reformierten Beifall, doch die lutherischen Theologen, mit Ausnahme des irenischen Kreises um —»Caüxt in —»Helmstedt, verhielten sich ablehnend. Als er über die Niederlande 1633 nach England zurückgekehrt war, trat er 1634 zur anglikanischen Kirche über. Die Hoffnung, damit die Hilfe des Erzbischofs —»Laud zu erlangen, erwies sich jedoch als fast völlig trügerisch.
Duries Arbeit in Deutschland, wo er 1634 dem Konvent der evangelischen Stände in Frankfurt beiwohnte, und die Verhandlungen während seines Aufenthalts in den Niederlanden 1634— 1636 ( 1635 ein halbes Jahr durch eine Reise nach England und Schottland unterbrochen) blieben ohne große Wirkung. Seine Bemühungen in Schweden 1636—1638 endeten infolge der Unversöhnlichkeit der Geistlichen mit seiner Ausweisung. Gleichfalls erfolglos war seine Arbeit in den lutherischen Gebieten im Norden Deutschlands (1638—1640) und in Dänemark (1639-1640). Nur in den Braunschweigischen Landen (—•Braunschweig) fand er eine durchaus gute Aufnahme, die dem Einfluß des Calixt, den Durie jetzt persönlich kennenlernte, zu verdanken war. Nach seiner Abreise aus Deutschland Ende 1640 lebteer, abgesehen von zwei Besuchen in den Niederlanden 1 6 4 0 - 1 6 4 1 , in England, wo er sich zusammen mit Samuel Hartlib (gest. 1662), mit dem er schon in Elbing eine Freundschaft fürs Leben geschlossen hatte, und mit —»Comenius vergeblich für die Reform der—»Erziehung einsetzte. Im Mai 1642 kam er als Hofkaplan und Lehrer Marys, einer Tochter Karls I., die mit dem Prinzen Wilhelm von Oranien verheiratet war, nach Den Haag. Von dort aus nahm er an den sich seit 1640 unter dem Einfluß des—»Puritanismus rasch ändernden Verhältnissen in England regen Anteil. Obwohl schon 1643 in die von den —»Presbyterianern beherrschte Westminstersynode berufen, blieb er zunächst in den Niederlanden, seit Juli 1644 als anglikanischer Pfarrer der englischen Kaufleute in Rotterdam. Nachdem er 1645 geheiratet hatte, kehrte er im Sommer nach England zurück, w o er mit der Unterzeichnung des Covenants seine Loslösung vom Anglikanismus bestätigte. In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr beteiligte er sich an der Arbeit der Westminstersynode (—»Westminster/Westminsterkonfession) und versuchte extra partes zwischen den streitenden Parteien, namentlich den Presbyterianern und Independenten, zu vermitteln. Darüber hinaus war er 1647—1649 Lehrer der königlichen Kinder im St. James Palace. Nach dem Sieg der Partei —»Cromwells und der Exekution des Königs 1649 trat er zu den Independenten über. 1650 wurde er zum Bibliothekar im St. James Palace ernannt, eine Stelle, die er bis 1660 innehatte. Eine neue Gelegenheit, seine Unionsarbeit auf dem Kontinent wieder aufzunehmen, bot sich ihm, als er bei Cromwell, der den Zusammenschluß der protestantischen Mächte anstrebte, Unterstützung fand. Obschon er auf seiner Reise durch die Schweiz 1654—1655, die deutschen Länder 1 6 5 5 - 1 6 5 6 , wo er besonders die reformierten Kirchen für seine Unionspläne zu gewinnen versuchte, und die Niederlande 1 6 5 6 - 1 6 5 7 mehr als je zuvor Beifall fand, blieb seine Arbeit ohne rechten Erfolg. Die 1660 beginnende —»Restauration nahm ihm England als Operationsbasis für seine Unionsbestrebungen und vernichtete überdies jede Aussicht auf die Verwirklichung seiner erzieherischen Reformpläne.
Nachdem er im Februar 1661 England für immer verlassen hatte, reiste er durch die Niederlande, die deutschen Länder, das Elsaß und die Schweiz. Seinen Hauptwohnsitz hatte er in Kassel; dort verlebte er die letzten Jahre seines Lebens. In dieser letzten Periode seiner Unionsarbeit wurde er heftig von den strenglutherischen Theologen befehdet. 1674 sprach
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er offen die Hoffnung aus, daß alle Christen, auch die Katholiken, sich zu einer einzigen Kirche zusammenschließen würden. Einige Jahre vor seinem Tode (1680) mußte er noch erleben, daß er als Irrgläubiger von den reformierten Geistlichen Kassels aus dieser Kirche ausgestoßen wurde. 2. Werk und
Nachwirkung
Unter den über 100 Druckschriften Duries, die fast alle aus der Praxis seiner Reformbestrebungen entstanden sind, heben sich keine durch eine systematische Darlegung seiner Anschauungen geprägten Hauptwerke heraus. Der internationale Charakter seiner Arbeit spiegelt sich in der Gedankenwelt seiner Schriften, in der Einflüsse der deutschen Theologie (besonders J. V. —»Andreae), des englischen Puritanismus (u. a. W. —> Arnes), der niederländischen Theologie (u. a. J. —»Coccejus) und des „Europäers" —»Comenius miteinander verbunden sind. Grundlegend für seine Auffassungen ist der Gedanke der Weltreform, der mit eschatologischen Erwartungen und apokalyptischen Spekulationen verknüpft ist. In seinen englischen Jahren gehörte Durie zu dem Kreise der puritanischen Intelligenz (Hartlib, —»Milton, —»Boyle, Haak u. a.), die - angeregt durch die Philosophie Francis Bacons, die pansophia des Comenius und millenaristische Hoffnungen (—»Chiliasmus) - ihre Kräfte für das utopische Commonwealth einsetzte. Von einer universalen Reform der —»Bildung versprach Durie sich außer dem Wachstum der Frömmigkeit und der Erkenntnis die Entwicklung eines Einheitsgefühls, das eine harmonische Gesellschaft und die Einheit des Protestantismus erreichbar machen würde. Da er kein Werk schrieb, das seine erzieherischen Ansichten klar herausstellte, blieb seine diesbezügliche Nachwirkung beschränkt. Erst im 20. Jh. sind seine erzieherischen Auffassungen, die Gedanken von —»Rousseau, —»Pestalozzi, Friedrich Fröbel und —»Herbart vorwegnehmen, in ihrer Bedeutung erkannt worden. Christsein bestand für Durie nicht sosehr in einer intellektuellen Annahme von dogmatischen Sätzen als vielmehr in einer bestimmten Lebensführung. Es verwundert denn auch nicht, daß er—»Baylys Practice of Piety und —»Arndts Vom wahren Christentum sehr hoch schätzte. Er befürwortete eine „praktische Theologie", die nicht die scholastische Disputierkunst und die Kontroverse pflegt, sondern sich auf das Studium pietatis und die Ethik, d. h. die Moralkasuistik, konzentriert. Die pietistischen Ansätze in seinen Anschauungen sind unverkennbar. Ph. J. —»Spener, der Durie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in Frankfurt kennenlernte, hatte Interesse für seine Schriften, aber erwartete nichts von seinen Einigungsbestrebungen.
Als reisender Propagandist seines Unionsgedankens hat Durie unermüdlich versucht, Fürsten und andere politische Machthaber, Theologen und kirchliche Führer für seine Ziele zu gewinnen. Zu diesem Zweck hat er an einer Harmonta confessionum gearbeitet, die den Erweis bringen sollte, daß die Bekenntnisschriften der einzelnen Kirchen im wesentlichen übereinstimmten. Zu den Ursachen des Scheiterns seiner Unionsbestrebungen, deren höchstes Ziel die communio sanetorum war, gehören die Ungunst der Zeitverhältnisse, die Skepsis hinsichtlich der Durchführbarkeit seiner Pläne und der starre Konfessionalismus, aber auch Duries Naivität, die ihn übertriebene Erwartungen hegen ließ, sein Opportunismus, der ihn wiederholt zum Wechsel der Denomination veranlaßte, und die nicht eindeutige theologische Begründung seiner Unionspolitik. Sein irenisches Bestreben ist — gemessen an seinem Ziel — erfolglos geblieben (—»Irenik), doch seine weitumspannende Tätigkeit hat wenigstens erreicht, daß alle protestantischen Kirchen seiner Zeit mit seinem ökumenischen Ideal in Berührung kamen. Quellen Obschon nur ein kleiner Teil der über viele Archive und Bibliotheken in Europa zerstreuten handschriftlichen Quellen veröffentlicht ist, läßt die fragmentarische Lage des veröffentlichten Quellenbestandes hier nur die Erwähnung neuerer Veröffentlichungen zu: Brauer 2 3 2 - 2 4 4 . — Westin, Negotiations 1 8 7 - 3 0 5 . - Brev fran John Durie ären 1 6 3 6 - 1 6 3 8 , hg. v. Gunnar Westin: KHÄ 33 (1933) = SKHF 1/33 (1934) 1 9 3 - 3 4 9 . - John Durie in Sweden 1 6 3 6 - 1 6 3 8 . Some Documents, hg. v. dems.: KHÄ34 (1934) = SKHF 1/34 (1935) 3 1 4 - 3 2 6 . - J o h n Durie in Sweden 1 6 3 6 - 1 6 3 8 . Documents and Letters, hg. v. dems., Uppsala 1 9 3 4 - 1 9 3 6 [ 1 - 1 5 1 = Nachdr. KHA 3 3 , 1 9 9 - 3 4 9 ; 1 5 3 - 1 6 5 = Nachdr. KHÄ 3 4 , 3 1 4 - 3 2 6 ] . -Turnbull, Hartlib 1 1 2 - 1 1 7 . 1 2 1 - 1 2 3 . 3 2 3 - 3 4 1 . - Letters written by John Dury in Sweden, 1 6 3 6 - 1 6 3 8 , hg. v. George Henry Turnbull: KHÄ 49 (1949) = SKHF 1/49
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(1950) 2 0 5 - 2 5 1 . - De Legibus Societatis Christianae, Exercitatio, hg. v. dems.: ZDP 74 (1955) 1 7 6 - 1 8 4 (vgl. ZDP 73 [ 1954] 409.411). - Samuel Hartlib, ed. Webster 165 - 1 9 2 . - Briefwisseimg van Hugo Grotius, hg. v. Bernardus Lambertus Meulenbroek, 's-Gravenhage, V - I X 1 9 6 6 - 1 9 7 3 (Rijks Geschiedkundige Publicatien, grote Serie 119.124.130.136.142). - The Correspondence of Henry Oldenburg, ed. and transl. by Alfred Rupert Hall/Marie Boas Hall, Madison/Milwaukee/London, I-VIII 1965-1971. - Protokolle der wallonischen Gemeinde in Köln v. 1 6 0 0 - 1 7 7 6 , bearb. v. Rudolf Lohr, Köln 1975 (Landschaftsverband Rheinland, Inventare nichtstaatlicher Archive 17). — Guillaume Henri Marie Posthumus Meyjes, Geschiedenis van het Waalse College te Leiden 1606-1699, Leiden 1975, 178 f. Für die Druckschriften Duries s.: a. Tollin 7 6 - 8 0 ; Leube 228 Anm. 1; Westin, Negotiations 1 3 - 1 9 ; Himmelreich 310; Batten 2 1 3 - 2 2 2 ; Turnbull, Hartlib 3 0 0 - 3 1 7 . - b. BM.GC 57, 1 1 0 2 - 1 1 0 7 . - N U C pre 56: 153,88-92; 1 9 5 6 - 1 9 6 7 : 31,547; 1 9 6 8 - 1 9 7 2 : 26,154; 1 9 7 3 - 1 9 7 7 : 32,95. Literatur Joseph Minton Batten, John Dury. Advocate of Christian Reunion, Chicago 1944 (Lit.). — BBKL 1 (o. J. [1975]) 1433 f. — Karl Brauer, Die Unionstätigkeit John Duries unter dem Protektorat Cromwells, Marburg 1907. - Jan Anthony Cramer, De Theol. Faculteit te Utrecht ten tijde van Voetius, Utrecht o. J. [1932]. - Sven Göransson, Den europeiska konfessionspolitikens upplösning 1 6 5 4 - 1 6 6 0 , 1956 (UUA1956/3). — Friedrich H. Himmelreich, Die Einigungsbestrebungen des Johannes Duraeus zw. den ev. Konfessionen u. die Klassen des Solmser Landes: MRKG 28 (1934) 3 0 5 - 3 1 0 . - Ruth Kleinman, Belated Crusaders. Religious Fears in Anglo-French Diplomacy 1 6 5 4 - 1 6 5 5 : ChH 44 (1975) 3 4 - 4 6 . Hans Leube, Kalvinismus u. Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig, I 1928 = Aalen 1966, 192f. 2 0 4 - 2 5 0 . - Johannes Lindeboom, Johannes Duraeus en zijne werkzaamheid in dienst van Cromwell's politiek: NAKG 16 (1921) 2 4 1 - 2 6 8 . - Doede Nauta, Samuel Maresius, Amsterdam 1935. - Rudolf Pfister, KG der Schweiz, Zürich, II 1974. - Thomas Hamilton Haig Rae, John Dury. Reformer of Education, 1970 (SIWI 8) = Hildesheim 1972 (Studia Irenica 8) (Lit.). - Samuel Hartlib and the Advancement of Learning, ed. Charles Webster, Cambridge 1970. - Henry Tollin, Johannes Duraeus: GBSLM 32 (1897) 2 2 7 - 2 8 5 ; 33 (1898) 2 6 - 8 1 . - H u g h RedwaldTrevor-Roper, Religion, the Reformation and Social Change, London 1967 2 1972 = 1977.-George Henry Turnbull, Hartlib, Dury and Comenius. Gleanings from Hartlib's Papers, Liverpool/London 1947,127—322. - Lukas Vischer, Eine neuaufgefundene Abh. v. Johannes Duraeus: ZKG 64 (1952/53) 3 2 1 - 3 2 6 . - Charles Webster, The Great Instauration. Science, Medicine and Reform 1 6 2 6 - 1 6 6 0 , London 1975. — Gunnar Westin, Negotiations About Church Unity 1628-1634. John Durie, Gustavus Adolphus, Axel Oxenstierna, 1932 (UUA 1932, Teologi 3). - Ders., Svenska kyrkan och de protestantiska enhetssträvandena under 1630talet, Uppsala 1934 (auch UUA 1934, Teologi l).-Mordecai L. Wilensky, Thomas Barlow's and John Dury's Attitude Towards the Readmission of the Jews to England: JQR.NS 50 (1959-1960) 1 6 7 - 1 7 5 . 2 5 6 - 2 6 8 . - Blair Worden, The Rump Parliament 1 6 4 8 - 1 6 5 3 , Cambridge 1974. C . H . W . van den Berg Dürkheim, Emile —> Religionssoziologie Ebal —»Garizim und Ebal Ebenbild Gottes —»Bild Gottes, —»Mensch Ebioniten -*Judenchristentum Ebner, Margareta (ca.
1291-1351)
1. Leben Margareta Ebner, Dominikanerin und Mystikerin des 14. Jh., entstammte dem seit 1 2 3 9 urkundlich nachweisbaren Donauwörther Patriziergeschlecht der Ebner. Um 1291 geboren, wurde sie in jungen Jahren dem Konvent der Dominikanerinnen zu Maria Medingen, nördlich von Dillingen an der Donau, übergeben. Eine (am 6. Februar 1312) plötzlich ausbrechende - wohl psychisch bedingte — schwere Krankheit, die auch eine zunehmende Vereinsamung im Konvent zur Folge hatte, begriff sie allmählich als den ihr verfügten Weg der Läuterung. Indem sie sich ihm betend und betrachtend, alles Vergängliche von sich abstreifend überließ, gelangte sie zu der inneren Gewißheit, Gott zu gefallen. Mystische Erfah-
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Ebner
rungen überkamen sie. Doch ihre eigentliche „mystische Wende" bewirkte der ihr gleichgestimmte Weltpriester Heinrich von Nördlingen, mit dem sie vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an („umb sant Narcissen t a g " 1332) eine tiefe Seelenfreundschaft verband. Auch als Heinrich, ein geschworener Anhänger des avignonesischen Papstes, vor Kaiser Ludwig dem Bayern fliehen und über zehn Jahre in der Verbannung (zu Basel) leben mußte, erlitt diese innige geistliche Beziehung keinen Abbruch. Zwischen beiden entspann sich vielmehr ein lebhafter brieflicher Gedankenaustausch. Heinrich vermochte Margareta schließlich (seit Advent 1344) zur Niederschrift ihrer Offenbarungen zu bewegen. Er war es auch, der seine Seelenfreundin im Kreis der oberdeutschen —»Gottesfreunde bekannt machte und zwischen diesen und ihr zahlreiche Verbindungen knüpfte, u. a. mit Johannes Tauler, der Margareta in Maria Medingen besuchte. Margareta starb, nach einem nochmaligen Wiedersehen mit Heinrich, am 20. Juni 1351 und wurde im Kapitelsaal ihres Klosters (heute Ebnerkapelle) beigesetzt. 2. Werk Margareta Ebners Offenbarungen, in schwäbischer Mundart verfaßt und an Heinrich von Nördlingen gerichtet, stellen eine Art innerer —»Autobiographie dar - gestützt auf regelmäßige Tagebuchaufzeichnungen. Sie gewähren Einblick in die Leidensgeschichte, in das mystische Erleben und spirituelle Erfahren einer empfindsamen, lauter gesinnten, schlichten Nonne, deren Wesensgrundzug unerschütterliches Gottvertrauen war. Die gefühlsinnige, typisch frauliche Liebeshingabe konzentrierte sich vor allem auf das Miterleben der Passion (nicht selten begleitet von lautem Wehklagen) und auf die als real erlebte Begegnung mit dem Christkind. Dabei entging sie nicht immer der Gefahr eines süchtigen Herbeizwingens außerordentlicher Begnadung. Niederschlag fand in den Offenbarungen natürlich auch der geistlich-geistige Verkehr mit Heinrich. Der besondere Wert dieser stilistisch wenig geübten, zuweilen monoton wirkenden Aufzeichnungen, denen bildhafte Kraft fast gänzlich mangelt, resultiert aus dem Umstand, daß es sich bei ihnen um eines der seltenen Beispiele unmittelbarer (nicht von zweiter Hand „klosterpädagogisch" zurechtgerückter) Zeugnisse einer mystisch begabten Nonne des Spätmittelalters handelt: gewiß um Zeugnisse einer Vertreterin nicht mehr der mittelalterlichen deutschen Frauenmystik in ihrer hohen Form, sondern des Ausklangs dieser —»Mystik (mit allen Merkmalen des Substanzverlusts). Es ist eine in Nachahmung sich übende Mystik, erfüllt von Problemen einer allzu subjektiv bestimmten Frömmigkeit (auch einfältig-frommer Neugier), die hier zutage tritt. Dennoch ist in Margaretas mystischem Fühlen und Sehnen wenigstens ein Hauch von Ursprünglichkeit lebendig geblieben. Die in die Offenbarungen gelegentlich eingeflochtenen Reime sind wohl durch die Lektüre von —»Mechthilds von Magdeburg Fließendem Licht der Gottheit angeregt. Heinrich hatte das Werk 1345 mit der Empfehlung, es „begirlich" zu lesen, Margareta übersandt. (Den Offenbarungen folgt in der Überlieferung Der Ebnerin Paternoster, eine Art Paraphrase des —»Vaterunsers. Man sollte es vielleicht zutreffender als eigenes Opusculum ansprechen.) Von der Korrespondenz zwischen Margareta und Heinrich von Nördlingen sind ein eher unbedeutender Brief Margaretas und 56 großenteils umfängliche Briefe Heinrichs überliefert: früheste Dokumente eines erbaulichen Briefwechsels intim-persönlichen Charakters in deutscher Sprache. Diese Briefe, die — anders als z.B. noch die Briefe Heinrich —»Seuses an Elsbeth Stagel — die Form geistlicher Ansprachen oder mystischer Traktate verlassen, um privater Mitteilung und Empfindung breiteren Raum zu geben, vermitteln einen höchst lebendigen Eindruck von der religiösen Stimmung in den Kreisen der oberdeutschen Gottesfreunde und von den weiten Beziehungen, die sie unterhielten. In erster Linie aber werfen diese Briefe—in denen Heinrichs Gedanken unentwegt um Margareta kreisen - Licht auf ihren Verfasser selbst, auf die ihm eigene Spiritualität, auf seine sehr wechselnde seelische Verfaßtheit, auf die mitunter exaltiert anmutende Verehrung, die er Margareta aus der Ferne entgegenbrachte. Freilich, es sind im wesentlichen Briefe aus dem Exil, in denen ein Heimat-
Ebo von Reims
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los-Gewordener sein Herz ausschüttet, Trost und Anlehnung sucht. Dieser Aspekt darf bei dem Versuch, von den Briefen auf Heinrichs Charakter zu schließen, gerechterweise nicht außer acht gelassen werden. Quellen Die Offenbarungen mitsamt Der Ebnerin Paternoster sind nach der ältesten, im Kloster Maria Medingen verwahrten Handschrift von 1353 ediert von: Philipp Strauch, Margaretha Ebner u. Heinrich v. Nördlingen. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Mystik, Freiburg, Br./Tübingen 1882, Nachdr. Amsterdam 1966,1 - 1 6 6 . - Die Briefe Heinrichs (58, davon 56 an Margareta, je 1 an Elsbeth Scheppach, die Priorin von Maria Medingen und an die von Hochsteten gerichtet) aus den Jahren 1 3 3 2 / 3 8 - 1 3 5 0 , der Brief Margaretas an Heinrich vom Jahr 1346 und einige Briefe anderer Zeitgenossen, ediert nach der einzigen überlieferten Handschrift aus dem 16. Jh. (London, British Library, Add. 11430): ebd. 1 6 9 - 2 8 4 . - Z u r Frage der Uberlieferung s. ebd. XIII—XXX; Manfred Weitlauff, s. u. (mit Verzeichnis weiterer Quellenausgaben). Literatur Richard Egenter, Die Idee der Gottesfreundschaft im 14. Jh., 1935 (BGPhMA.S 3 ) . - Peter Kesting, Art. Heinrich v. Nördlingen: NDB 8 (1969) 420f. - Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz 1 2 0 0 - 1 5 0 0 , Frauenfeld/Leipzig 1935, 2 9 0 - 3 0 4 . - Oskar Pfister, Hysterie u. Mystik bei Margaretha Ebner: Zentraibl. für Psychoanalyse. Medizinische Monatsschr. für Seelenkunde 1 (1910/11) 4 6 8 - 4 8 5 . - W i l h e l m Preger, Gesch. der dt. Mystik im MA, Leipzig, II 1881 = Aalen 1 9 6 2 , 2 7 7 - 3 0 6 . Siegfried Ringler, Art. Marguerite Ebner: DSp 10 (1980) 3 3 8 - 3 4 0 . - Ders., Viten- u. Offenbarungslit. in Frauenklöstern des MA. Quellen u. Stud., Zürich/München 1980 (Münchener Texte u. Unters, zur dt. Lit. des MA 72). — Richard Schultz, Heinrich v. Nördlingen. Seine Zeit, sein Leben u. seine Stellung innerhalb der Dt. Mystik: JVABG 10 (1976) 1 1 4 - 1 6 4 . - Philipp Strauch, s. o. - Angelus Walz, Gottesfreunde um Margarete Ebner: HJ 72 (1953) 2 5 3 - 2 6 5 . - Manfred Weitlauff, Margareta Ebner: ßavaria Sancta. Zeugen christl. Glaubens in Bayern, hg. v. G. Schwaiger, Regensburg, III 1 9 7 3 , 2 3 1 - 2 6 7 (Lit.). - D e r s . , Art. Ebner,Margareta: VerLex 2 2 (1980) 3 0 3 - 3 0 6 (Lit.).-Ders., Art.Heinrich v. Nördlingen: ebd. 3 (1981) 8 4 5 - 8 5 2 . - Ludwig Zoepf, Die Mystikerin Margareta Ebner (c. 1 2 9 1 - 1 3 5 1 ) , Leipzig/Berlin 1914.
Manfred Weitlauff
Ebo von Reims (gest. 851) 1. Leben Ebo stammte aus einer unfreien, auf Königsgut ansässigen Familie. Die Freiheit erhielt er von —»Karl dem Großen. Nach dem Geschichtsschreiber der Reimser Kirche Flodoard war Ebo im rechtsrheinischen Teil des Frankenreichs beheimatet und wurde Milchbruder und Mitschüler Ludwigs des Frommen. Er wird daher mit dem 778 geborenen Ludwig gleichaltrig gewesen sein. Die Grabinschrift seiner in Reims gestorbenen Mutter Himiltrud hat uns Flodoard überliefert. Zur Zeit von Ludwigs aquitanischem Unterkönigtum diente Ebo ihm als bibliothecarius. Seine Bildung dürfte damals schon beträchtlich gewesen sein. Sie gab für ihn und nicht für seinen Mitkandidaten Gislemarus den Ausschlag für die Erhebung zum Erzbischof von Reims in der zweiten Jahreshälfte 816 und wurde auch von seinen schärfsten Gegnern (Thegan) nicht in Frage gestellt. Bezeugt sind seine Kontakte zu Walahfrid Strabo, Bischof Halitgar von Cambrai, von dem er ein Pönitentiale erbat, und Erzbischof —»Agobard von Lyon. Er war Auftraggeber des in Hautvillers entstandenen, nach ihm benannten Ebo-Evangeliars (s. TRE 6,136,21 ff mit Abb. 3). Er begann auch den Neubau der Reimser Domkirche und sorgte für Güterrestitutionen und innere Reform der Reimser Kirche. Die Erzdiözese Reims mit den Suffraganen Therouanne, Amiens, Arras-Cambrai, Beauvais, Noyon, Laon, Soissons, Senlis und Chälons s. Marne umfaßte das Kernsiedlungsland der salischen —»Franken mit den Küstengebieten etwa zwischen den Mündungen von Scheide und Somme. Dies war ein Teil des Frankenreichs, der bereits zur Zeit Karls des Großen neben dem mainfränkischen Raum (Erzdiözese Mainz) und dem niederrheinischen Gebiet (Erzdiözese Köln) an der Missionierung Sachsens (—»Sachsen) beteiligt und aufgrund alter Han-
Ebo von Reims
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delsverbindungen wohl auch interessiert war, und zwar im Raum zwischen der Oberweser und der Mittelelbe. Von Corbie a.d. Somme wurde Corvey a.d. Weser gegründet. Missionare aus Reims und Chälons s. Marne wirkten im Gebiet der späteren (unter Ludwig dem Frommen konstituierten) Bistümer Hildesheim und Halberstadt. Auch die seit Anfang des 9. Jh. immer drängender werdende Gefahr der Dani, der Normannen, wirkte sich im nördlichen Teil der Reimser Erzdiözese aus. Ebo sicherte sich anläßlich seiner Reise nach Rom zum Empfang des Pallium 822 die Unterstützung des Papstes Paschalis I. sowie durch eine fränkische Reichssynode diejenige Ludwigs des Frommen für die von ihm geplante Dänenmission (—•Dänemark) und begann diese 823 vom Stützpunkt Münsterdorf b. Itzehoe aus zusammen mit Halitgar (von Cambrai?). Ende 823 kehrte er in seine Erzdiözese zurück. Die Missionsarbeit bei den Dänen übernahm der aus Corbie kommende —»Ansgar, an dessen Werk Ebo weiterhin aktiven Anteil nahm. Die Missionsarbeit in —»Schweden delegierte Ebo an seinen Verwandten Gauzbert, den späteren (um 845—859) Bischof von Osnabrück. Zwischen 821 und 832 ist Ebo als missus und auf Reichsversammlungen bezeugt. Er stand in Verbindung mit der Reichseinheitspartei, hat jedoch bei der Empörung von 830 zu Ludwig dem Frommen gehalten. Als aber 833 alle drei Söhne Ludwigs aus erster Ehe, Lothar, Pippin und Ludwig der Deutsche, sich gegen den Vater erhoben, der sich an die Abmachungen von 830 nicht gehalten, die Kaiserin Judith wieder an den Hof geholt hatte und die Ausstattung des jüngsten Sohnes Karl des Kahlen betrieb, erscheint Ebo als Hauptagent beim Vorgehen der Söhne gegen den Vater und bei Ludwigs Absetzung in Soissons. Von Lothar erhielt er u. a. die Abtei St. Vaast und war in den folgenden Jahren sein Parteigänger. Die Wiedereinsetzung Ludwigs des Frommen 835 hatte Ebos Sturz zur Folge. Obwohl er sich um Versöhnung bemühte, wurde allein er von den Aufständischen des Jahres 833 - die anderen hohen Geistlichen entzogen sich erfolgreich durch Flucht — von Ludwig verantwortlich gemacht. 835 entschloß Ebo sich unter Druck zum Amtsrücktritt und wurde im Kloster Fulda inhaftiert, danach Bischof Frechulf von Lisieux und später dem Abt von St. Fleury übergeben. Papst Gregor IV. bestätigte Ebos Amtsenthebung nicht. In Reims wurde kein neuer Erzbischof erhoben, sondern hier amtierte kommissarisch Abt Fulco aus dem Remigius-Kloster. Nach Ludwigs des Frommen Tod 840 verfügte Lothar die Wiedereinsetzung Ebos mit der Zustimmung eines großen Teils der Bischöfe seines Reichsteils. Doch wurde Ebo 841 durch die militärischen Erfolge Karls des Kahlen endgültig aus seiner Erzdiözese vertrieben, die wiederum Fulco kommissarisch übernahm. 845 wurde mit Unterstützung Karls des Kahlen —•Hinkmar zum Reimser Erzbischof erhoben. Danach erhielt Ebo mit Hilfe Ludwigs des Deutschen und zweifellos aufgrund seiner alten Kontakte zum ostsächsischen Gebiet das Bistum Hildesheim. Er starb am 2 0 . 3 . 851 als Bischof von Hildesheim. 2.
Nachwirkung
Eine Wertung von Ebos Werk und Bedeutung wird durch die Parteilichkeit der Quellen erschwert. Deutlich erscheint er als Anhänger der Reichseinheitspartei - solange er die Einheit des Frankenreiches durch Ludwig den Frommen garantiert sah auf dessen Seite, danach auf der Seite Lothars. Stärker als andere (z. B. Agobard von Lyon) geriet er dadurch, daß seine Erzdiözese zwischen Lothar und Karl dem Kahlen umstritten war, zwischen die Fronten. Unbezweifelbar sind seine Verdienste bei Einleitung der Mission im südskandinavischen Raum. Ebos erzwungene Resignation 835, seine De-facto-Absetzung 841, die Erhebung seines Nachfolgers Hinkmar noch zu seinen Lebzeiten, die Rechtmäßigkeit der von ihm 840/41 erteilten Weihen, seine Translation nach Hildesheim und die Rechtmäßigkeit der von ihm als Bischof von Hildesheim vollzogenen Weihen werfen eine Fülle kirchenrechtlicher Probleme auf, die während der Pontifikate Gregors IV. (827—844) bis —»Nikolaus' I. (858-867) die Päpste, den fränkischen Episkopat, vor allem Hinkmar von Reims, und den König Karl den Kahlen beschäftigten, ging es doch um so grundsätzliche Fragen wie Absetzbarkeit des Königs, Absetzbarkeit eines Bischofs (gegebenenfalls durch welche Instanz?), Verhältnis König-fränkische Kirche, Primat des Papstes. Da die in der Mitte des 9. Jh. er-
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stellten Pseudo-isidorischen Dekretalen (—»Pseudoisidor) einen Teil dieser Probleme im Sinne der Anhänger Ebos lösen, ist von vielen Forschern die Entstehung dieser berühmten kirchenrechtlichen Fälschung den Reimser Anhängern Ebos zugeschrieben worden, wohl kaum mit ausreichenden Gründen. Quellen Zur Biographie Ebos sind die wichtigsten: Thegan, Vita Hludowici: Reinhard Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgesch., Darmstadt, 1 2 1 9 7 7 . - A n n a l e s Beriiniani (fürdiesen Zeitraum verf. v. Prudenrius vonTroyes): ebd., II 1 9 7 2 . - R i m b e r t , Vita Ansgarii: Rudolf Buchner, Quellendes 9. u. 11. Jh. zur Gesch. der hamburgischen Kirche u. des Reiches, Darmstadt 5 1978. - Brief König Karls des Kahlen an Papst Nikolaus I.: PL 1 2 4 , 8 7 0 - 8 7 5 . - Flodoard, Historia Remensis ecclesiae: MGH.SS 1 3 , 4 6 7 - 4 7 6 . - Die wichtigsten Dokumente zu Resignation und Absetzung Ebos: MGH.Cap. 2 u. MGH.Conc 2,2. Literatur Karl-Ulrich Betz, Hinkmar v. Reims, Nikolaus I., Pseudo-Isidor. Fränkisches Landeskirchentum u. röm. Machtanspruch im 9. Jh., Bonn 1965, 9 4 - 1 0 6 . - Jean Devisse, Hincmar archeveque de Reims 8 4 5 - 8 8 2 , 3 Bde., Genf 1 9 7 5 / 7 6 , 2 9 - 5 2 . 7 1 - 9 7 . 6 0 0 - 6 2 8 . - Richard Drögereit, Erzbistum Hamburg, Hamburg-Bremen oder Erzbistum Bremen?: ADipl 21 (1975) 1 3 6 - 2 3 0 (bes. 1 3 6 - 1 7 8 ) . - Horst Fuhrmann, Einfluß u. Verbreitung der pseudo-isidorischen Fälschungen, I 1972 (SMGH 24/1), 1 9 1 - 1 9 6 . - Peter R. McKeon, Archbishop Ebbo of Reims ( 8 1 6 - 8 3 5 ) . A Study in the Carolingian Empire and Church: ChH 43 (1975) 4 3 7 - 4 4 7 . - Wolfgang Seegrün, Das Papsttum u. Skandinavien bis zur Vollendung der nordischen Kirchenorganisation (1164), Neumünster 1967 (Quellen u. Forschungen zur Gesch. Schleswig-Holsteins 51) 1 8 - 2 3 . - Wilhelm Wattenbach/Wilhelm Levison, Deutschlands Gesch.quellen im MA. H. 3. Vorzeit u. Karolinger, bearb. v. Heinz Löwe, Weimar 1 9 5 7 , 3 3 3 Anm. 144 (Lit.). Ingrid Heidrich
Eck Johannes
(1486-1543)
1. Werdegang 2. Bemühung um eine neue Wirtschaftsethik 3. Reform der Studien in Ingolstadt 4. Der Konflikt mit Luther und die Leipziger Disputation 5. Die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine und ihre Publikation 6. Das Enchiridion und De sacrificio tnissae 7. Ecks Auseinandersetzung mit den Schweizer Reformatoren 8. Die Confutatio der Confessio Augustana 9. Eck als Pfarrer und Prediger 10. Religionsgespräche in Worms/Regensburg 11. Tod (Quellen/Literatur S. 257)
I. Werdegang Als Sohn des Bauern und Amtmanns Michael Maier am 1 3 . 1 1 . 1 4 8 6 in Egg (Eck) a n d e r Günz in Schwaben geboren, kam Eck als Achtjähriger in das H a u s seines Onkels, des Pfarrers Martin Maier, nach Rottenburg am N e c k a r . V o n ihm unterrichtet, hat er schon als Kind die lateinischen Klassiker und Kirchenväter gelesen, dazu kanonistische und historische Bücher, vor allem fast die ganze Heilige Schrift. Dank dieser Vorbildung, seines Lerneifers, v o r allem aber seiner ungewöhnlichen Begabung konnte sein Onkel ihn schon mit knapp 1 2 J a h ren auf die angesehene Universität Heidelberg schicken, von der Eck ein J a h r später nach —»Tübingen überwechselte. Hier wie in —»Heidelberg w a r in der Philosophie die via moderna, d. h. der —»Nominalismus, die herrschende Richtung. Es w a r aber auch die via antiqua zugelassen, und man bemühte sich in diesen Jahren, die schroffen Gegensätze der Schulen zu überwinden. Konrad Summenhart (gest. 1 5 0 2 ) und J a k o b Lemp (gest. 1 5 3 2 ) vertraten die via antiqua, während Wendelin Steinbach (gest. 1 5 1 9 ) als Schüler G. —»Biels der via moderna angehörte. N a c h der Promotion zum Magister artium 1 5 0 1 setzte der erst 14jährige Eck seine theologischen Studien in —»Köln fort. E r w a r Mitglied der Laurentianerburse, die der humanistenfreundliche Arnold von Tongern leitete. Schon nach sieben Monaten vertrieb ihn im Juni 1 5 0 2 eine Seuche nach —»Freiburg i. Br. Hier ließ er sich in die Pfauenburse aufnehmen, was die Entscheidung für die nominalistische Schulrichtung bedeutete. Neben seinen Vörie-
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sungen in der Artistenfakultät machte er griechische und hebräische Sprachstudien und hörte in Vorbereitung auf die Priesterweihe Theologie. Gleichzeitig besuchte er juristische Vorlesungen bei Ulrich Zasius (1461 — 1535) und solche der Geographie, Mathematik und Astronomie bei dem Kartäuserprior Gregor Reisch (1467—1525). „Lernend lehrte ich, und lehrend lernte ich" (Discendo docui et docendo didici), schrieb er später im Rückblick auf seinen Studiengang (Ep. 46). Seine theologischen Lehrer waren Georg Northofer (1454—1509), der zur Erklärung des —»Duns Scotus von Tübingen nach Freiburg berufen worden war, und Johannes Suter, genannt Brisgoicus (gest. 1539). Eck wurde 1505 Baccalaureus biblicus, 1509 Lizentiat und 1510 Doktor der Theologie. 1508 ließ er sich in Straßburg zum Priester weihen. Gedichte und Reden Ecks aus der Freiburger Zeit zeigen ihn dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet. Auf Empfehlung von Konrad Peutinger wurde er 1510 Professor der Theologie in Ingolstadt und Domherr in Eichstätt, 1512 Prokanzler dieser Universität, deren Gesicht er über 30 Jahre lang bestimmte. 2. Bemühung um eine neue
Wirtschaftsethik
Durch seine Verbindung mit Peutinger und den Augsburger Kaufleuten wurde Eck in die wirtschaftsethischen Auseinandersetzungen um das Zins- und Kreditwesen (—»Zins) hineingezogen. Es ging ihm darum, die Diskrepanz zwischen der kaufmännischen Praxis und dem kirchlichen Zinsverbot zu überwinden. Seit 1514 trat er in Vorlesungen, Gutachten und Disputationen für einen mäßigen Zins von 5% ein. Uber die ihn bestimmende pastorale Motivation schreibt er: „Ich habe es für meine heilige Pflicht gehalten, dieser meiner Meinung Ausdruck zu verleihen, weil viele aus dem Volke des irrigen Gewissens halber sündigen und es viele Priester gibt, die die Leute nicht aufklären. Die Prediger dürfen es nicht dulden, daß ihre Schutzbefohlenen etwas als Gebot oder Verbot ansehen, was in der Tat ein solches nicht ist" (Schlecht 22; Schneid 494).
Der Versuch, seine Ansichten durch die Kurie bestätigt zu bekommen oder ihnen durch eine Disputation an einer Universität Anerkennung zu verschaffen, scheiterte zunächst. Eine Disputation in Ingolstadt über die Zinsfrage untersagte der Bischof von Eichstätt, Gabriel von Eyb, als Kanzler der Universität. Auch auf der Disputation über den Zins von 5 Prozent am 12. 7.1515 in Bologna vermochte er keine allgemeine Zustimmung zu erreichen. Um so freudiger nahm Eck die Gelegenheit wahr, im August 1516 seine Thesen in —»Wien disputieren zu können. Doch kam er auch hier nicht zu seinem Ziel, weil die Wiener Fakultät nicht den Mut hatte, Ecks Bologneser Thesen De contractibus zur Disputation zuzulassen. Ecks wirtschaftsethische Auffassungen, die dem modernen Kapitalverkehr entgegenkamen, und sein Mut zur Verteidigung dessen, was sich schon längst in der Praxis durchgesetzt und bewährt hatte, ließen ihn in der Polemik als Fuggerknecht, als Opportunist und als Handlanger des Großkapitals erscheinen. Das führte später zu der Unterstellung, er habe auch den Prozeß gegen —»Luther in Rom im Solde der —»Fugger betrieben, obwohl spätestens Ende 1518 die Beziehungen Ecks zu dem Augsburger Handelshaus abgerissen waren. Noch in der Pirckheimer zugeschriebenen, jedenfalls von ihm 1520 in Druck gegebenen Spottschrift Der gehobelte Eck (Eccius Dedolatus) wird Eck vorgeworfen, er habe, von den Kaufleuten bestochen, den Nachweis geführt, daß den Reichen der Wucher erlaubt sei, den Armen aber nicht. 3. Reform der Studien in —»Ingolstadt Seine erste theologische Vorlesung in Ingolstadt hatte Eck über die Heilsaussichten jener gehalten, die ohne Kenntnis der christlichen Lehre und ohne getauft zu sein dem natürlichen Gesetz folgen. Im Jahre 1512 las er in Anlehnung an Duns Scotus und die ältere Franziskanerschule über Gnade und Prädestination. Diese Vorlesung legte er 1514 in seinem ersten größeren theologischen Werk, dem Chrysopassus, im Druck vor. Darin nimmt Eck die praedestinatio postpraevisa merita an, d. h. Gott bestimmt diejenigen zum Heil, von denen er voraussieht, daß sie mit der Gnade mitwirken und in ihr bis zum Lebensende beharren.
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Dabei unterliegt Gott zwar keiner Notwendigkeit; es ist aber angemessen, daß er die zum ewigen Leben vorherbestimmt, die seinem Anruf (bonae motioni divinae) Folge leisten. Eck ist so bemüht, die Souveränität Gottes zu wahren, die Initiative ganz ihm zuzusprechen, andererseits auch Raum zu lassen für das Personsein des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen. Der Mensch kann unter dem Anruf von Gottes Gnade frei einwilligen, und dieses von Gott vorausgesehene Ja ist Grund der Prädestination. Gott ist causa universalis, aber nicht causa totalis, er ist der All-, aber nicht der Alleinwirkende. Er kann in sein souveränes Handeln freies Tun des Menschen einbeziehen. Wenn Eck betont, daß der Mensch tun muß, was in seinen Kräften steht und sich auf die Rechtfertigungsgnade vorzubereiten hat, dann meint er das im Sinn des von ihm mehrfach zitierten Wortes Augustins Qui creavit te sine te, non iustificat te sine te (Sermo 169,11,13). Das facere quod est in se ist kein Tun ex puris naturalibus, sonden geschieht unter der „ersten Anregung" Gottes, kraft der Gnade des Beistandes. Inzwischen war Eck in Ingolstadt als Vizekanzler und Professor „die schlechthin zentrale Figur" (Oberman 195 Anm. 97) geworden. So war er auch maßgeblich beteiligt an der Universitätsreform, die der Rat Herzog Wilhelms IV. von Bayern, Leonard Eck, betrieb. Diese Reform des Jahres 1515 stand unter drei Leitgedanken: „Erstens wollte sie den Konfliktstoff der vergangenen Jahrzehnte [Wegestreit] ausräumen, zweitens Lehrmaterie und -material dem Zeitgeist entsprechend erneuern, drittens die Lehrweise der durch den Buchdruck veränderten Situation anpassen" (Seifert, Logik 8). Ausgangspunkt war die Erneuerungsbewegung der ausgehenden —»Scholastik. Sofern man aber bei der Ausgabe der Textbücher um Erneuerung der Sprachform, um Rückkehr zum originalen Text und um Klarheit und Einfachheit bei Tilgung „unnützer Possen" und „sophistischer Quisquilien" bemüht war, entsprach das dem Bildungsideal des —»Humanismus. Man wollte von der alten Hörsaalvorlesung (lectio publica) abkommen, sie durch Lektürekurse (resumtiones) ersetzen, für die man dank des Buchdrucks die nötigen Texte zur Verfügung stellen konnte und die nach dem einheitlichen Stundenplan in den einzelnen Bursen abgehalten werden sollten. Eck erhielt den Auftrag, die in der philosophischen Fakultät notwendigen Ausgaben - die klassischen Texte mit kurzer Erklärung — herauszugeben. Zuerst erschienen die Summulae des Petrus Hispanus (1516); ihnen folgten die drei Teile der Dialektik des—»Aristoteles (1516/17), von der unter dem Titel Elemetitarius dialecticae noch eine Kurzfassungerschien. Mit der Physik des Aristoteles (1518), mit dessen kleineren naturphilosophischen Schriften (1519) und mit den psychologischen Büchern konnte Eck im März 1520 seinen Cursus abschließen. Wenn seine Lehrbücher auch kaum länger als ein Jahrzehnt in Gebrauch bleiben sollten und die Entwicklung der Studien über sie hinwegging, so bedeuten sie doch eine bewundernswerte editorische Leistung. Die vergleichbaren Produkte seiner Vorgänger und Zeitgenossen stellen sie „weit in den Schatten" (Seifert, ebd. 6).
Gleichzeitig war Eck intensiv beschäftigt mit der Heiligen Schrift, mit Augustin, -»Dionysius Areopagita und anderen Neuplatonikern. Für seine Zeitgenossen war er in diesen Jahren alles andere als ein rückständiger Scholastiker. So konnte Willibald Pirckheimer ihn in seiner Apologie Reuchlins mit Luther unter die humanistisch gesinnten Theologen zählen. 4. Der Konflikt mit Luther und die Leipziger
Disputation
Im Jahre 1517 standen Eck und Luther in einem guten brieflichen Verhältnis. Die Beziehungen wurden getrübt, als Luther die Obelisci [Spießchen], d. h. kritischen Bemerkungen Ecks zu seinen Ablaßthesen, in die Hand bekam. Er antwortete mit Asterisci [Sternchen], die aber wie die Obelisci erst nach Ecks Tod 1545 im Druck erschienen. Während Luther zum Ordenskapitel in Heidelberg war, hatte —»Karlstadt - nicht zur Freude des Reformators - 380 bzw. 406 Thesen verfaßt und sie für eine künftige Disputation in Druck gegeben. Ecks Gegenschrift (Metzler Nr. 17) vom August 1518 handelt in drei Thesenreihen über die Lehre von der —»Buße, über das Verhältnis von —»Gnade und freiem —»Willen und über den —»Ablaß als Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen. Zum Schluß fordert er Karlstadt auf, vor dem heiligen Stuhl oder an den Universitäten Rom, Paris oder Köln mit
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ihm zu disputieren. So kam es zur „Leipziger Disputation". Gegen die Fakultät und den Ortsbischof Adolf von Merseburg setzte —»Georg von Sachsen sich eifrig für die Disputation ein. Noch im Dezember 1518 hatte Eck 12 Thesen über Buße, Ablaß, Schatz der Kirche und Fegfeuer gegen Karlstadt veröffentlicht. Faktisch wandten sie sich aber gegen Luther und seine Auffassung von der Autorität des Papstes (—»Papsttum) und der —»Kirche, z. B. die These 12 (später 13): „Es ist falsch zu behaupten, daß die römische Kirche vor den Zeiten Sylvesters (314-335) noch nicht die Oberhoheit über die anderen Kirchen gehabt hat." Trotz der Absprache mit Miltitz, sich öffentlicher Stellungnahmen zu enthalten, veröffentlichte Luther Gegenthesen und kündigte seine Teilnahme an der Disputation an. In der 13. Gegenthese behauptet er, der Primat der römischen Kirche werde mit gefälschten päpstlichen Dekreten, die erst 400 Jahre alt seien, bewiesen. Am 13. März 1519 hatte er Spalatin bereits „ins Ohr geflüstert" (WA.B 1,359), bei dem Studium der Dekretalen für die Disputation habe er sich gefragt, ob der Papst nicht der —»Antichrist oder wenigstens sein Sendling sei, da er in seinen Dekreten Christus, das heißt die Wahrheit, so elend kreuzige. Erst in letzter Stunde wurde Luther auf eine Intervention Ecks hin vom Herzog zur Disputation zugelassen. Diese fand vom 27. Juni bis 16. Juli 1519 auf der Pleißenburg zu Leipzig statt. Zunächst disputierten Eck und Karlstadt über die Gnadenwahl. Das Streitgespräch zwischen Eck und Luther spitzte sich zu auf die Frage nach dem göttlichen Recht des Papsttums und nach der Autorität der Konzilien. Diese könnten irren und hätten auch geirrt, z. B. das —»Konstanzer Konzil in der Verurteilung von —»Hus. Damit war das sola scriptum als Formalprinzip der Reformation aufgestellt und ein kirchliches Lehramt, das die Heilige Schrift als verbindlich auslegt, nicht mehr anerkannt. Bei der Disputation waren Eck sein gutes Gedächtnis und seine dialektische Gewandtheit sehr zustatten gekommen. War es seine Gefahr, durch kalte Schärfe den Gegner erst zu häretischen Konsequenzen zu treiben und auf den Irrtum festzulegen, so hat er andererseits das Verdienst, angesichts der dogmatischen Unklarheit seiner Zeit deutlich gemacht zu haben, daß Luther nicht Reform, sondern Angriff auf die Struktur der Kirche bedeutete. Schon früh wies er darauf hin, daß es letzthin nicht um den Ablaß ging, sondern um die Kirche und ihre Vollmacht, darin eingeschlossen um das Sakrament der Buße. Als er im Oktober 1518 mit Luther in Augsburg verhandelte, schrieb er von dort an den Wiener Humanisten Johann Cuspinian: „Ich leugne nicht die sehr großen Mißbräuche bezüglich des Ablasses. Darin lobe ich Luther. Was er aber über das Sakrament der Buße behauptet, bestreiteich entschieden" (MIÖG37[1917] 74). In der klaren Erkenntnis dessen, worum es ging, galt sein erstes größeres systematisches Werk dem päpstlichen Primat (De primatu Petri, 1522). Drei Schriften befaßten sich allein mit dem Sakrament der Buße (De poenitentia et confesstone secreta, 1522; De satisfactione, 1523; De initio poenitentie seu contritione, 1523). 5. Die Bantiandrohungsbulle
„Exsurge Domine" und ihre
Publikation
Je mehr Luther in den Jahren 1519/20 von der allgemeinen Begeisterung und Reformerwartung getragen wurde, um so mehr geriet Eck in das Kreuzfeuer allgemeiner Kritik, wobei man mit Spott und Hohn nicht sparte. Allerdings hat er selbst seinen Gegnern manchen Anlaß gegeben, ihm krankhaftes Selbstbewußtsein, rechthaberisches Gebaren und Geltungssucht vorzuwerfen. Zu sehr ließ er die Gegner seine formale Überlegenheit spüren und meinte, schon durch eine Häufung der Argumente und Belege den Einwand des Partners entkräftigt zu haben. Hinsichtlich seines Lebenswandels warf man Eck Trunksucht und Unzucht vor. So auch seit 1519 Luther (WA.B 1,503), der ihn dazu als ein Monstrum bezeichnet, das aus Lügen, Irrtümern und Häresien zusammengesetzt sei (WA 6,597). Später spricht der Reformator abgekürzt und drastisch vom „Schwein aus Ingolstadt" (WA 39/2,194) oder von „Doktor Sau" (WA 51,542; 53,249; 54,231). Nicht gerade beliebt machte sich Eck auch bei altkirchlichen Kreisen, bei Bischöfen, die ihn als lästigen Mahner empfanden. Von der Kurie gerufen, begab sich Eck nach Rom. Er überreichte am 1. April —»Leo X. das Manuskript von De primatu Petri und wurde Mitglied der dritten zur Untersuchung der
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Luthersache berufenen Kommission u..ter Vorsitz der Kardinäle —»Cajetan und Pietro Accolti. Seine Kenntnis der Lutherschriften konnte dazu beitragen, dem Rat des Kardinals Adrian v. Utrecht, des späteren Papstes —»Hadrian VI., nachzukommen und den Reformator möglichst wörtlich zu zitieren, damit jede Ausflucht unmöglich sei. So lassen sich alle 4 1 Sätze der auf Grund der Kommissionsarbeit von der Kurie ausgefertigten Bulle Exsurge Domine vom 15. Juni 1520 bei Luther nachweisen. Deren Schwäche lag in der wenig differenzierenden und gewichtenden Reihung von Sätzen. Das gibt Eck selbst zu, wenn er drei Jahre später in seinen Reformgutachten für den Papst eine neue Bulle fordert, in der nur die wichtigsten Irrtümer unter ausgiebiger Verwendung der Heiligen Schrift widerlegt werden dürften. In Exsurge Domine sei manches so unbestimmt geblieben, daß selbst gelehrte Männer nicht begriffen, weshalb sie verurteilt seien (ARCEG 1,143). Mit der Bekanntgabe der Bannandrohungsbulle in Deutschland wurden G. —»Aleandro und Eck beauftragt. Am 17. Juli wurden beide zu Nuntien bestellt und Eck zum Protonotar ernannt. Die Publikation der Bulle machte erhebliche Schwierigkeiten. Die Bischöfe zögerten, weil sie Ungelegenheiten fürchteten. Selbst die bayerischen Herzöge waren zunächst zurückhaltend und suchten in einem Gespräch in Augsburg Eck zu veranlassen, die Publikation der Bulle auszusetzen. Bis zum Wormser Reichstag waren sie eher geneigt, in Luther den zu sehen, der ihr Bemühen um die Reform der Kirche unterstützte. In Mitteldeutschland traf Eck auf gefährlichen Widerstand. Ende September konnte er die Bulle in Meißen, Merseburg und Brandenburg anschlagen lassen. In Leipzig dagegen verweigerte die Universität die Publikation, und die Studenten inszenierten Unruhen. In —»Erfurt stürmten sie die Druckerei und warfen die erbeuteten Exemplare in den Fluß. Luther suchte anfangs in der Schrift Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen vom Oktober 1520 die Bulle als unecht, als Machwerk Ecks und der Kurie, hinzustellen, von dem der Papst nichts wisse. Diese Identifizierung der Bulle mit der Person Ecks ging so weit, daß Luther am 10. Dezember vor dem Elstertor in Wittenberg mit der Bulle und mit kanonistischen Büchern auch Ecks Cbrysopassus den Flammen übergab. Ecks zweite Romreise von Oktober bis Dezember 1521 zur Berichterstattung beim Papst erreichte wegen des Todes Leos X . ihren Zweck nicht. Dagegen vermochte er während seines dritten Aufenthalts an der Kurie von März bis Dezember 1523, sowohl für die landeskirchlichen Interessen —»Bayerns wie für die Anliegen der Kirchenreform tätig zu werden. In 12 Denkschriften für den Papst geißelt er freimütig die Mißstände an der Kurie, besonders im Ablaß- und Benefizienwesen. Er fordert die Bekämpfung der Reformatoren, betont aber, daß ein bloß negativ geführter Kampf gegen das Luthertum so lange keine Aussicht auf durchschlagenden Erfolg habe, wie er nicht positiv ergänzt werde durch ernsthafte Arbeit an der inneren Reform der Kirche. Da das an sich erwünschte Konzil vorläufig doch nicht zustande komme und es ohnehin für die besonderen Bedürfnisse der deutschen Kirche auch keine schnelle Abhilfe verspreche, sollten Provinzial- und Diözesansynoden abgehalten werden.
6. Das Enchiridion und De sacrificio miisae Im August 1525 reiste Eck über die Niederlande nach England, wo er von —»Heinrich VIII. ehrenvoll empfangen wurde und unter anderen Th. —»More und J . —»Fisher begegnete. Eck hatte 1523 eine Schriftzur Verteidigung der Assertio Septem sacramentorum des Königs herausgegeben (Metzler Nr. 44). Jetzt überreichte er ihm das eben erschienene und ihm ge-
widmete Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes
ecclesiae.
Von diesem „Handbuch" sind uns 121 Ausgaben und Übersetzungen bekannt. Es ist damit die verbreitetste und meistgelesene Schrift nicht nur Ecks, sondern der katholischen Literatur des 16. Jh. überhaupt. Als Gegenstück zu Melanchthons Loci communes (1521) will das Enchiridion alle wichtigen strittigen Fragen (peculiares loci) behandeln und dem Benutzer das Material für die Argumentation an die Hand geben. Am Anfang steht jeweils die Lehre der Bibel, der Konzilien und der Kirchenväter. Danach erst werden die Einwände der Häre-
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tiker vorgestellt und widerlegt. Der Aufbau des Ganzen geht aus von der Kirche, entfaltet dann die Ekklesiologie in der Lehre vom Konzil, vom Primat des Apostolischen Stuhls, von der Heiligen Schrift und vom Glauben und den Werken. Danach werden die Sakramente behandelt. Es folgen die Kirchenbräuche und andere Streitfragen. Somit werden zunächst die zentralen Themen aufgegriffen, von denen aus dann die übrigen abgeleitet und erklärt werden können. Maßgebend ist die Erkenntnis, daß die Grundfrage die nach der Kirche ist. Der Verteidigung der Messe hat sich Eck in einer eigenen Schrift erst 1526 mit De sacrificio missae angenommen. Er fuhrt darin einen ausführlichen Schriftbeweis für ihren Opfercharakter. Allein aus dem Alten Testament führt er 13 Stellen an, die seiner Meinung nach die Messe als Opfer erweisen. Eck hatte den Aufenthalt in Rom benutzt, um seine bei Reisch und Reuchlin grundgelegten Kenntnisse des Hebräischen bei dem deutschen Juden Elias Levita (gest. 1549 in Venedig) zu vertiefen, und zitiert ausgiebig den Urtext. Er möchte hinter keinem Humanisten an Schrift- und Väterkenntnis zurückstehen. Es kommt aber nicht zu einer tieferen Begegnung mit den Texten, die er vielmehr ziemlich äußerlich aneinanderreiht. Vielfach muß die Menge der Stellen ihren Mangel an Beweiskraft ersetzen. Bei dem Väterbeweis begnügt Eck sich nicht mit Florilegien oder dem Decretum Gratiani, vielmehr hat er die Schriften einer Reihe von Vätern nicht nur eingesehen, sondern auch durchgearbeitet. Die Reformatoren hatten den Vorwurf erhoben, die Kirche habe aus dem Vermächtnis des Herrn ein Werk, aus der Gabe Gottes an uns ein Opfer gemacht, d. h. etwas, das wir schenken; demgegenüber galt es zu zeigen, daß der eigentliche Opferpriester in der Messe Christus ist. Der Einwand auf Grund des Hebräerbriefes, daß es im Neuen Testament nur das eine und ein für allemal am Kreuz dargebrachte Opfer gebe, war zu entkräften durch den Aufweis, daß die Messe kein neues Opfer ist, auch nicht die Wiederholung des Opfers Christi, sondern die sakramentale Gegenwärtigsetzung dieses einen Opfers. Eck betont, daß es nicht um eine Wiederholung des Kreuzesopfers in seinem blutigen, geschichtlichen Verlauf, sondern um eine oblatio Christi sacramentalis in mysterio geht. Die Messe ist das Gedächtnis bzw. die repraesentatio derpassio Christi. Hier stellt sich aber die Frage, ob memoria als ein bloßes Darandenken, ob repraesentatio als Vergegenwärtigung im Bewußtsein verstanden wird oder als wirkliche Gegenwärtigsetzung des einmal Geschehenen. Eck ist zu sehr dem nominalistischen Geist seiner Zeit verhaftet, um die Antwort im Sinne der wirklichen Gegenwart des Opfers Christi zu geben. Argumentieren die Reformatoren, die Messe sei nur memoria und repraesentatio des Opfers am Kreuz, aber nicht selbst ein Opfer, weil das Andenken an eine Sache nicht die Sache selbst sei, dann entgegnet er, als memoria sei die Messe nicht Opfer; sie werde es erst durch die hinzukommende Darbringung des realgegenwärtigen Christus. Damit war dem kontroverstheologischen Anliegen aber nicht genug getan, denn auch für Luther sind Leib und Blut Christi gegenwärtig, allerdings nicht als Opfergabe der Kirche; denn Christus habe sich selbst, und zwar ein für allemal, am Kreuz geopfert, und es gebe daneben kein Opfer der Kirche. Für Eck besteht die Einheit des Opfers in der Identität der Opfergabe. Opferer ist in der Messe der menschliche Priester, der in persona ecclesiae handelt. Deshalb hält Eck den Wert der Messe für in sich begrenzt, nicht erst ihre Früchte ( e f f e c t u s ) auf Grund der beschränkten Aufnahmefähigkeit der feiernden Gemeinde. Statt zu argumentieren: Messe und Kreuzesopfer seien eins; das eine Opfer am Kreuz würde sakramental, d. h. im Zeichen von Brot und Wein, gegenwärtig, führt Eck aus: Paulus spreche im Hebräerbrief nur vom blutigen Opfer am Kreuz, das Meßopfer sei in dem „ein für allemal" weder mitgemeint noch ausgeschlossen. Die wiederholte unblutige Darbringung von Leib und Blut Christi sei alsalia oblatio, als alterum sacrificium vom Kreuzesopfer zu unterscheiden. Auf einen schwerwiegenden Einwand der Reformatoren vermochte Eck damit trotz allen gelehrten Aufwands keine hinreichende Antwort zu geben.
Eck 7. Ecks Auseinandersetzung
mit den Schweizer
255 Reformatoren
Auf die reformatorischen Strömungen in der —»Schweiz ist Eck spätestens 1523 aufmerksam geworden. Am 13. 8.1524 bot er sich in einem Schreiben an die Eidgenossen an, in einer Disputation mit—»Zwingli diesem seine Irrtümer nachzuweisen. Zu einer Disputation kam es aber erst in Baden (Aargau) vom 21. 5. bis 8. 6.1526, und zwar ohne Zwingli mit J5 —»Oekolampad und B. —»Haller. Zur Vorbereitung brachte Eck die Schrift Die falsch, onwarhaftig, verfurisch Leer Ulrich zwingli von Zurch (Metzler Nr. 50) heraus. Unter den behandelten Irrtümern Zwingiis nimmt die Abendmahlslehre bei weitem den größten Raum ein. — Die Badener Disputation wurde zu einem Erfolg für Eck. Die Abgeordneten von 12 Kantonen zogen aus dem Ergebnis die Konsequenz und verboten jegliche Neuerung in Sachen des Glaubens und des Gottesdienstes. Auch nach der Disputation blieb Eck an den Kämpfen in Südwestdeutschland und in der Schweiz beteiligt. Als im Dezember 1528 der Rat der Stadt Memmingen dem Klerus verbot, die Messe zu feiern, weil sie im Widerspruch stehe zur Stiftung des Herrn, wandten sich die altgläubigen Geistlichen an Eck mit der Bitte, die Messe gegenüber A. —»Blarer zu verteidigen. Eck sandte dem Rat eine Erklärung der Messe und warnte in dem Begleitschreiben vor Spaltung, die auch die bürgerliche Ordnung gefährde. Zum Schluß forderte er als mindestes Toleranz: Wenn der Rat schon bei der Neuerung bleiben wolle, dann solle er doch niemanden zwingen. 8. Die Confutatio der Confessio Augustana (—>Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie) Wahrscheinlich auf Veranlassung der bayerischen Herzöge stellte Eck zum Augsburger Reichstag für den Kaiser eine Liste der Irrtümer der Protestanten — der Lutheraner, Zwinglianer und —»Schwärmer — auf. Ohne weitere Verarbeitung trug er 404 Artikel zum Reichstag zu Augsburg zusammen. Das sei, so betont er, nur eine Auswahl von 3000 ihm vorliegenden häretischen Sätzen. Diese Methode, die Auffassung des Gegners ohne Rücksicht auf den Zusammenhang und auf dessen Anliegen in einzelne Sätze zu zerlegen, war der Sache sicherlich unangemessen und abträglich. Immerhin zwangen Ecks Artikel die Wittenberger zur theologischen Auseinandersetzung. An den von altkirchlicher Seite zur Widerlegung der Confessio Augustana erstellten Schriften — der vom Kaiser als zu lang und zu polemisch verworfenen Responsio Catholica und schließlich der Confutatio — war Eck maßgebend beteiligt. Die Confutatio ist bemüht, auf dem Boden der Heiligen Schrift zu argumentieren und stellt möglichst die Ubereinstimmung mit den Reformatoren heraus. Vermag sie keinen Konsens festzustellen, so arbeitet sie zunächst das teilweise Einvernehmen und dann erst das Defizit heraus. Eine solche, bei ihm an sich nicht gewohnte Kompromißbereitschaft bewies Eck auch in den anschließenden Ausschußverhandlungen. Zu diesen - zuerst in einem 14er und dann in einem 6er Gremium — kam es einerseits, weil die Protestanten erklärten, sie fühlten sich durch die Confutatio nicht überwunden, und andererseits, weil der Kaiser seine Drohung nicht wahrmachen konnte, mit Gewalt gegen sie vorzugehen. In den Lehrartikeln einigte man sich bis auf einige Restdifferenzen überraschend schnell. Selbst in der Rechtfertigungslehre, die doch zur Spaltung geführt hatte, kam es zu einem Konsens. Das „allein durch den Glauben" akzeptierte auch Eck, nur wollte er es aus pädagogischen Gründen vermieden wissen, um nicht beim Volk dem Mißverständnis Vorschub zu leisten, die guten Werke seien als Früchte des Glaubens nicht notwendig. Das wurde auch von —»Melanchthon konzediert, der die Formel akzeptierte, „daß wir gerechtfertigt werden durch Gnade und Glauben". Die Städte —»Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen hatten wegen ihrer Kontroversen mit Luther bezüglich der Abendmahlslehre in Augsburg ein eigenes Bekenntnis, die ->Confessio Tetrapolitana, vorgelegt. Gegen die von Zwingli nach Augsburg gesandte Bekenntnisschrift FW« ratio (BSRK 7 9 - 9 4 ) gab Eck die Repulsto articulorum Zwingiii Cae-
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Eck
sari Maiestati oblatorum (Metzler Nr. 71) heraus. Zur Abfassung einer Antwort auf die Tetrapolitana wurde eine Kommission eingesetzt. Die Hauptarbeit leistete aber wiederum Eck. Sein Entwurf erfuhr nur wenig Änderung und Ergänzung. Am 25. Oktober wurde diese Widerlegung der Tetrapolitana vor Kaiser und Reichsständen verlesen. Der vorgeschlagene Druck unterblieb ebenso wie der der Confutatio. 9. Eck als Pfarrer und Prediger So sehr Ecks Element der Hörsaal, das Katheder oder die Disputationskanzel gewesen ist, war er doch auch Zeit seines Lebens ein eifriger Priester und Seelsorger. Seit Mai 1519 war er Pfarrer von St. Moritz in Ingolstadt, tauschte aber diese Stelle 1525 mit der des Pfarrers an Unserer Lieben Frau. Lichtmeß 1532 verzichtete Eck auf diese Pfarrei, versah sie jedoch von 1538 bis 1540 aufs neue. Uber seine Amtsführung an der Marienkirche hat er Buch geführt und notiert, welche Gottesdienste zu halten waren, welche Bruderschaften bestanden und welches Personal verfügbar war. Dadurch erhalten wir einen guten Einblick in das Leben einer damaligen Stadtpfarrei. Die Verkündigung des Wortes Gottes stellte für Eck die vornehmste Tätigkeit des Pfarrers dar; er selbst hat sehr eifrig gepredigt. Das beweist sein Pfarrbuch mit eigenhändig ausgeführten Predigten, meist aber Predigtskizzen und -entwürfen. Demnach hat er 456 mal in der Zeit vom 1. 11. 1525 bis zum 2. 2. 1532 gepredigt (Greving, Pfarrbuch 73), und das in Jahren, die neben den Vorlesungen besonders anstrengend waren wegen seiner kirchenpolitischen Aktivitäten und literarischen Arbeiten. Auf diese Weise war Eck von der Praxis her bestens vorbereitet, um innerhalb kurzer Zeit dem Auftrag der bayerischen Herzöge an die Theologen der Universität Ingolstadt nachkommen zu können, Predigten für die Sonn- und Festtage sowie über die Sakramente als Vorlagen für die Gemeindepriester herauszugeben. Er schrieb fünf Bände deutscher Predigten: für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zwei Bände (1530), zu den Heiligenfesten (1531), über die Sakramente (1534) und über die Zehn Gebote (1539) je einen Band. Die Bände 1 - 4 übersetzte sein Schüler Menziger ins Lateinische. Auf Wunsch Herzog Wilhelms IV. gab Eck 1537 eine deutsche Bibel heraus. Für das Neue Testament übernahm er dafür die Übersetzung des H. —>Emser, während er das Alte Testament eigenhändig mit großer Texttreue ins „Hochdeutsche", d. h. in die oberdeutsche Mundart übertrug. 10. Religionsgespräche in Worms/Regensburg
(—>Reformationsgespräche)
An dem Religionsgespräch in Hagenau (1540) nahm Eck nicht teil. Nach Worms wurde er von den bayerischen Herzögen abgeordnet. Wie diese schätzte er die Aussichten des Unionsversuchs, die er in der Schrift An speranda sit Wormaciae concordia in fide (Metzler Nr. 89) erörterte, als sehr gering ein. Die am 14.1. in Worms begonnenen, aber sehr stokkend verlaufenden Verhandlungen unterbrach der Kaiser durch Verlegung des Gesprächs auf den nach Regensburg einberufenen Reichstag. Eck spielte in Regensburg — er war zunächst gar nicht eingeladen worden (V. Schultze: ZKG 1 [1877] 473) — nicht mehr die gewohnte führende Rolle. Dafür war der päpstliche Legat —»Contarini zu bestimmend. Während sich die Gespräche bei der Behandlung der Eucharistie festfuhren, wurde Eck am 10. Mai krank. —»Pflug und —»Gropper, die neben ihm auf katholischer Seite das Gespräch führten, suchten vergebens eine Unterbrechung der Verhandlungen bis zur Gesundung Ecks zu erreichen. Dieser forderte sie jedoch auf, weiter zu verhandeln und sich an Contarini zu halten. Seine Krankheit hinderte ihn nicht, auf Wunsch des Herzogs Wilhelm von Bayern Annotationes (gedruckt: Apologia-, Metzler Nr. 95) zu verfassen, die das Regensburger Buch restlos ablehnen und vom Herzog verbreitet wurden, um das Religionsgespräch zu stören. Es läßt sich schwer klären, ob Eck bloß als Erfüllungsgehilfe seines Herzogs aus den Regensburger Verhandlungen ausgeschieden ist oder ob er mit seiner Person nicht weiter etwas decken wollte, was er mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung und religiösen Haltung
Eck
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nicht vereinbaren konnte. Er selbst scheint hier keine Spannung gesehen zu haben, wenn er in der Apologie ausdrücklich bemerkt, d a ß neben dem Eifer f ü r den katholischen Glauben sein Gehorsam gegenüber den Fürsten das Hauptmotiv gewesen sei. Er stehe in deren Sold, und so sehr er die Verteidigung des katholischen Glaubens als seine Sache ansehe, so sei er doch zugleich von den erlauchten Fürsten dazu gedungen (Apologie; Metzler N r . 95 [3], n IV v). In einer solchen Situation, in Gutachten u n d bei öffentlichen Stellungnahmen sich nicht nur von ihrer theologischen Überzeugung, sondern auch von den politischen Absichten ihrer Landesherren leiten zu lassen, befanden sich damals viele Theologen auf allen Seiten.
11. Tod Von seiner Krankheit in Regensburg hat Eck sich nicht mehr recht erholt. Er starb am 1 0 . 2 . 1 5 4 3 . Über sein angeblich unseliges Ende wurden bald Schauergeschichten verbreitet. Die Wittenberger scheuten sich nicht, ihren toten Gegner zu schmähen. — In zahlreichen Predigten, Reden und Epitaphien traten Freunde und Kollegen Gerüchten entgegen, suchten vor allem das Negativbild abzubauen, das die Polemik von dem lebenden Eck gezeichnet hatte. Stolz und Ruhmsucht, Trunksucht und Völlerei, Unzucht, Geldgier und Rachgelüste hatte man ihm unterstellt, Vorwürfe, die großenteils Verleumdungen waren oder auf Verallgemeinerungen einzelner Vorkommnisse beruhten bzw. die Schattenseiten seiner unbestreitbar großen Fähigkeiten extrem herausstellten. In seinen Schriften sucht Eck durch ausgiebige Berücksichtigung der Bibel und der Kirchenväter dem humanistischen Bemühen um Quellennähe gerecht zu werden. In diesem Sinn gehört er durchaus zu den Bahnbrechern einer positiven Theologie. Allerdings will er meist mehr durch die Menge der angeführten Texte imponieren, als d a ß es zu einer schöpferischen Begegnung mit ihnen k o m m t und er sie religiös und theologisch fruchtbar zu machen versteht. Angesichts der dogmatischen Unklarheit der Zeit w a r es Ecks Verdienst, in Klarheit, ja Unerbittlichkeit aufgewiesen zu haben, daß Luther nicht Reform der Kirche, sondern Änderung ihrer Grundstrukturen bedeutete. Er hat schon früh von mehr peripheren Streitfragen auf die Kirche und ihre Vollmacht, d. h. ihr —»Amt, als den entscheidenden Punkt der Kontroverse hingewiesen. Jeden Kompromiß auf Kosten derWahrheit lehnte er ab, auch unter dem Risiko, sich unbeliebt zu machen. Dabei bleibt die Frage, o b er aus Verantwortung für die Einheit sich genügend um seine Gegner bemüht oder — etwa in Leipzig — sie nicht vielmehr durch seine Schärfe erst zu häretischen Konsequenzen getrieben und auf den Irrtum festgelegt hat. Der formalen Gewandtheit und der Fülle des Wissens entsprach vielfach nicht die religiöse und theologische Tiefe. Quellen Johannes Metzler (Hg.), Tres Orationes funebres in exequiis Johannis Eckii habitae... Nach den Originaldrucken mit biobibliogr. Einl. . . . u. einem Verz. seiner Sehr., 1930 (CCath 16). Johannes Eck, Ep. . . . de ratione studiorum suorum (1538), hg. v. Joh. Metzler, 1921 (CCath 2).— Ders., Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes ecclesiae (1525-1543), hg. v. Pierre Fraenkel, 1979 (CCath 34) (Werke u. Lit.). - Ders., Enchiridion. Handbüchlein gemainer stell u. Artickel der jetzt schwebenden Neuwen leeren, Faks. Druck der Ausg. Augsburg 1533, hg. v. Erwin Iserloh, 1980 (CCath 35). - Walter Friedensburg (Hg.), Dr. Johannes Ecks Denkschr. zur dt. Kirchenreformation 1523: BBKG 2 (1896) 159-196. 222-253. - Joseph Greving, Johann Ecks Pfarrbuch für U. L. Frau in Ingolstadt, Münster 1908. - Wilhelm Gussmann, Dr. Johann Ecks 404 Art. zum Reichstag v. Augsburg 1530, Kassel 1930. - Walter L. Moore (Hg.), In primum librum Sententiarum annotatiunculae D. Johanne Eckio praelectore, Leiden 1976. - V. Schultze, Zwei Briefe Johann Ecks: ZKG 1 (1877) 472-474. ARCEG. - Herbert Immenkötter (Hg.), Die Confutatio der CA vom 3.8.1530,1979 (CCath 33). A. Paetzold (Hg.), Die Konfutation des Vierstädtebekenntnisses, Leipzig 1900. - Arno Seifert (Hg.), Die Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Texte u. Regesten, Berlin 1973.
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Eckhart
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Eckhart,
Meister
1. Leben 1.
2. Werk
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 263)
Leben
E c k h a r t ist um 1 2 6 0 in Thüringen geboren. E r s t a m m t aus ritterlichem o d e r bäuerlichem Geschlecht. Sein Geburtsort läßt sich nicht eindeutig bestimmen. Die B e m e r k u n g unter Eckh a u s Pariser Predigt a m T a g e des heiligen Augustin, „ E c h a r d i de h o c h h e i m " ( L W V , 9 , 5 5 ) , kann sowohl als H e r k u n f t s n a m e als a u c h als Eigenname gedeutet w e r d e n . E r wird in eine bewegte Zeit hineingeboren, die von N a t u r k a t a s t r o p h e n , S c h w ä c h u n g v o n Kaisertum ( 1 2 5 6 — 1 2 7 3 die „kaiserlose Z e i t " ) und —»Papsttum („babylonische G e f a n g e n s c h a f t " in Avignon 1 3 0 9 - 1 3 7 7 ) , Entstehen und W i r k e n der Bettelorden und der europäischen —»Universitäten und von sozialen Umschichtungen bestimmt ist. — U m 1 2 7 5 tritt E c k h a r t ins Erfurter Dominikanerkloster (—»Dominikaner) ein. 1 2 7 7 ist er Student der —» Artes liberales in —»Paris. V o r 1 2 8 0 beginnt E c k h a r t a m Kölner Generalstudium seines O r d e n s (—»Köln) mit dem Theologiestudium. H i e r wird er w o h l n o c h —»Albert d e m G r o ß e n begegnet sein. E c k hart m a c h t Karriere in Ordensämtern und als Lehrer. 1 2 9 3 / 9 4 liest e r in Paris als B a k k a l a r die Sentenzen
des —»Petrus L o m b a r d u s . Prior in Erfurt und V i k a r v o n Thüringen wird Eck-
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hart 1294.1302/03 wird er zum Magister promoviert und doziert als magister actu regens (Professor) in Paris. Von 1303 bis 1311 wirkt er von Erfurt aus als erster Provinzial der Ordensprovinz Saxonia; seit 1307 auch als Generalvikar in —»Böhmen. Von 1311 bis 1313 lehrt er ein zweites Mal als Inhaber des durch einen Nichtfranzosen besetzten Lehrstuhles der Dominikaner an der Pariser Universität; eine seltene Auszeichnung, die auch —»Thomas von Aquin zuteil wurde. Hier hat er wohl sein nie vollendetes Opus tripartitum begonnen. Vikar des Ordensgenerals in Straßburg ist er von 1314 bis 1322. Seine Aufgabe ist die Seelsorge in den Klöstern, insbesondere den Frauenklöstern der Provinz Teutonia. Der größte Teil seiner Schriftauslegungen und der deutschen Predigten entsteht in Straßburg. 1323 wird er Leiter des Generalstudiums in Köln. 1326 beschuldigt ihn der Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg, häretische Lehren zu verbreiten. Eckhart weist u.a. in seiner Rechtfertigungsschrift die Vorwürfe zurück und appelliert an den Papst in Avignon. Es kommt zum Inquisitionsprozeß (zum Prozeß und zur Vita Eckharts vgl. das von Koch vorgelegte Material). Wahrscheinlich in Avignon stirbt er über seinem Prozeß. Aus einem Brief des Papstes —•Johannes XXII. an den Kölner Erzbischof vom 3 0 . 4 . 1 3 2 8 geht hervor, daß Eckhart zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist. Die päpstliche Bulle/« agro dominico vom 27. 3. 1329 verurteilt Eckhart: Von 28 Artikeln aus seinem Werk werden 15 als häretisch, andere als „sehr kühn" und der „Häresie verdächtig" angesehen. 2. Werk 2.1. Intention und Tradition. Eckhart ist primär Theologe. Von dieser Tatsache aus ist sein gesamtes Werk zu sehen. Konzentration auf Gott, das ist das Wesentliche. Das bedingt und baut kritisches, veränderndes, erneuerndes Gotterkennen. Theorie und Praxis des realen Gottesglaubens sind dadurch geprägt. Es geht Eckhart nicht darum, ein gedachtes Bild Gottes zu installieren, sondern den lebendigen Gott zu erkennen. In diesem Gotterkennen hat auch die Philosophie ihren Platz. Eckharts „Absicht" ist es, „das, was der christliche Glaube sagt und was in der Heiligen Schrift enthalten ist, auszulegen mit Hilfe philosophischer Begriffe" (LW 111,4,4—6). Eckharts philosophisches Denken, das (neu)platonisch (—»Plato) und aristotelisch (—»Aristoteles) bestimmt ist, kennt keinen Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie. Es geht ihm um konsequente Vereinheitlichung. Die biblisch fundierten Glaubenswahrheiten werden philosophisch interpretiert. Hier steht Eckhart in der Nähe des Boethianischen (—»Boethius) theologizare und dessen Interpretation in der Schule von —»Chartres. Gott ist für Eckhart in Anlehnung an —»Augustin die eine Quelle und Wurzel der Wahrheit für Philosophie und Theologie. Aber die Einheit der Wahrheit in Theologie und Philosophie bedeutet nicht Nivellierung, denn die mosaische Lehre ist glaubwürdig (credibile), die aristotelische wahrscheinlich und annehmbar (probabile sive verisimUe), aber die Lehre Christi die Wahrheit (veritas) (LW 111,155,5-7). 2.2. Gottesgeburt in der Seele. Gott, der Vater gebiert seinen Sohn von Ewigkeit sich selbstgleich,argumentiert Eckhart, sichauf Joh 1,14 berufend. Die—»Seele wird zum Ort der Gottesgeburt, weil Gott mit dieser Geburt Vollkommenheit, —»Licht und —»Gnade in der Seele setzt. So gebiert der Vater mich in der Seele als seinen Sohn, ja, „er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur. Im innersten Quell, da quelle ich aus dem Heiligen Geist; da ist ein Leben und ein Sein und ein Werk. Alles, was Gott wirkt, das ist Eins; darum gebiert er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied" (DW 1,109,2-110,2). Gott wirkt im Grunde der Seele ohne jedes Mittel, Gleichnis oder Bild. Gott berührt die Seele in seiner ganzen Einheit, Einfaltigkeit. Das Bild hat hier keinen Raum, da das Bildsein analytisch an Außerhalbsein gebunden ist. Was Gott im Grunde der Seele wirkt, das kann der Mensch nicht wissen. Dieses Nichtwissen ist Konsequenz der Bilderlosigkeit des Wirkens Gottes in der Seele. — Den Grund der Seele, in dem Gott gebiert, nennt Eckhart u.a. fünkelin, bürgelin, houte, houbet. Das Fünklein der Seele ist von Gott „geschaffen" „und ein Licht von oben her eingedrückt"; das „spaltet das Gröbste ab und wird mit Gott
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vereint". Als „Synteresis" charakterisiert Eckhart das Seelenfiinklein, das heißt „soviel wie ein Verbinden und ein Abkehren." Zwei „werk" hat das Seelenfiinklein: 1. „verbissene Abwehr gegenüber allem, was nicht lauter ist" und 2. beständiges Locken zum Guten (DW 1,332,3-334,3). Drei durch Gott gesetzte oberste Kräfte bestimmen die Seele (DPT 297 f): 1. die Erkenntnis der rechten göttlichen Wahrheit, 2. „irascibilis, das ist eine aufstrebende Kraft"; „deren Werk ist e s . . . , daß sie nach oben strebt", 3. der „innere Wille, der wie ein Antlitz allezeit in göttlichem Willen Gott zugekehrt ist und aus Gott die Liebe in sich schöpft." Aber—»Gott und Seele sind für Eckhart nicht identisch. Die Seele (auch das Seelenfiinklein) sind von Gott geschaffen. Zwar benutzt auch Eckhart das gemeinscholastische Argument, nach dem die konstitutiven Prinzipien der Dinge und die Akzidentien concreata genannt werden (LW 11,354,1—3), weil sie nicht proprietäres Sein haben, sondern am Sein ihrer Träger partizipieren. Das aber ist kein Argument gegen das Geschaffensein der Seele durch Gott. Ein schöner Vergleich erläutert die Differenz zwischen Gott und Seele: „Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter den Sonnenball; dann wirft die Sonne ihren lichten Glanz aus der Scheibe und aus dem Grunde der Sonne aus und vergeht darum doch nicht. Das Rückstrahlen des Spiegels in der Sonne ist in der Sonne (selbst) Sonne, und doch ist er [der Spiegel] das, was er ist. So auch ist es mit Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur, mit seinem Sein und mit seiner Gottheit, und doch ist er nicht die Seele. Das Rückstrahlen der Seele, das ist in Gott Gott, und doch ist sie [die Seele] das, was sie ist" (DPT 273). 2.3. Abgeschiedenheit und Gelassenheit. Die höchste (Gott entsprechende) —»Tugend ist für Eckhart die Abgeschiedenheit (DW V,400,2-401,10). Abgeschiedenheit ist Leersein, Jungfrausein, ledig aller fremden Bilder sein. Bilder sind das, was dem Mensch sich als Inder-Welt-Sein entgegenbildet. Entscheidend ist der Umgang mit ihnen: Versklavung durch Ich-Bindung, Freiheit durch Jungfrausein, Leersein ihnen gegenüber (DW 1,24,1-26,3). Abgeschiedenheit ist geprägt durch die Armut des Geistes. „Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat" (DPT 303). Das besitzergreifende, vom Modus des begehrenden Habens bestimmte Wollen, Wissen und Haben pervertiert. Das Sein in der Armut des Geistes, das Sein in der Abgeschiedenheit gibt Ledigsein, Freiheit, Weite in bezug auf Gott und die Kreatur. Es heißt radikale fruchtbare Entfremdung des Menschen der Kreatur und Gott gegenüber. Ledigsein Gottes ist notwendig. Denn solange der Mensch noch Gott eine Stätte des Wirkens im Menschen schaffen will, setzt er noch Eigenes, ist er noch nicht ledig, arm, abgeschieden, verkehrt er Gott in einen Haben-Götzen. Aber Gott setzt selbst den eigenen Ort. So erfährt der in wahrer Abgeschiedenheit, in der Armut des Geistes Lebende, daß Gott ein streng In-sich-selbst-Wirkender und der Mensch „ein reiner Gott-Erleider" ist (DPT 306 f). - Abgeschiedenheit gibt Weite, Offenheit, Empfänglichkeit. Die freie Weite des Abgeschiedenen ermöglicht das Freigeben der Originalität des Seins in der Welt. Nicht Aussteigen und Destruktion ihrer Bilder, sondern Souveränität, ihrer innesein ohne versklavende Eigenschaft, ist gegeben in dem Blick zu Gott. Dieser Weg in der Abgeschiedenheit, den man auch als —»Mystik bezeichnen könnte (obwohl es mit der traditionellen, z.B. spanischen Mystik verglichen, problematisch ist, diesen Terminus bei Eckhart zu verwenden) kennt einen exakten theoretischen, spekulativen Hintergrund. Abgeschiedenheit bekommt hier ihre Genauigkeit: intellectus als unbegrenzte Offenheit, unbegrenztes Nichts wird durch keinerlei verstellende Behinderung, also gerade dadurch, daß es nichts ist, Offensein für alles. Ganz nahe der Abgeschiedenheit ist die Gelassenheit. Leere des Geistes und Ruhe, das lautere Entwerden des Grenzen setzenden Habens, das Lassen der Mannigfaltigkeit und Unterschiedenheit, das „Gott-Lassen" gehören zu ihren Qualitäten. In lauterer Gelassenheit wird im Hören des „Wortes" in der Geburt des Sohnes Gott erfahren. — Auch die Gelassenheit hat einen spekulativen, ontologischen Hintergrund. „Einheit" und „Gleichheit" mit Gott, In-sich-Ruhen mit dem reinen Sein wird dem Gelassenen geschenkt. Das bewirkt offene Weite im In-der-Welt-Sein.
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2.4. Esse. Der Abgeschiedene erfährt das reine Sein. Was aber ist Sein? „ D a s Sein s e l b s t . . . k o m m t nicht wie etwas Späteres zu den Dingen hinzu, sondern ist früher als alles andere in den Dingen. Denn das Sein selbst empfängt sein Sein nicht an etwas noch von etwas noch durch etwas noch k o m m t es (von außen) herbei noch zu etwas hinzu, sondern es geht voraus und ist früher als alles. Deshalb ist das Sein aller Dinge unmittelbar von der ersten Ursache und von der allumfassenden Ursache aller Dinge. Vom Sein also ,und durch es und in ihm ist alles' (Rom 11,36), es selbst aber ist von nichts anderem. Denn was vom Sein entfernt ist, ist nicht oder ist nichts. Denn das Sein selbst (ipsum... esse) verhält sich zu allen anderen wie dessen Verwirklichung (actus) und Vollendung (perfectio) und ist selbst Wirklichkeit (actualitas) aller Dinge, auch der Formen" (LW 1,152,15—153,8). - Das Sein ist Gott (LW I,156ff. 166ff). Gott ist das volle Sein. Eckhart differenziert (vgl. zum Folgenden LW 1,238 f; 166,13—167,1 ), er kennt ein doppeltes Sein, das esse, das absolute Sein (esse absolute) Gottes und das den Geschöpfen eignende esse hoc et hoc oder esse huius et huius, das esse rerum, das Sein der Dinge. Das erste Sein ist aus sich heraus. Das esse hoc et hoc ist in sich nichtig. Es sagt auch nichts über das absolute Sein Gottes aus. Vom esse rerum aus, dingontologisch betrachtet, ist Gott nicht, wie umgekehrt streng f&eologisch-ontologisch gesehen, das esse rerum nicht ist. Wegen dieses Seins der Naturdinge kann der Mensch nicht, auch nicht durch sublime Abstraktion, das eigentliche, das göttliche Sein erkennen. N u r in totaler Abgeschiedenheit vom esse rerum wird dem Intellekt die Potenz, reines göttliches Sein zu erkennen, gegeben. Diese Eckhartschen Aussagen vom Sein gelten auch den anderen Transzendentalien wie Einheit, Gutheit, Wahrheit und den perfectiones spirituales Weisheit und Gerechtigkeit. - Das reine göttliche Sein, das fest und beständig (firtnum et stabile, L W 1,2,38,3) ist, wird von Gott in seiner Ununterschiedenheit durch sein Wort den Geschöpfen geliehen. Es ist die Eigentümlichkeit des göttlichen Seins, Sein zu geben (deo esse estdare esse) die des kreatürlichen Seins, Sein zu empfangen (accipere esse) (LW 1,299,4—6). Dieses Sein geben, diese Schöpfung ist creatio continua-. Alle Kreatur empfängt ununterbrochen das Sein von Gott und ist so in ihrem Sein in einem immerwährenden Fließen und Werden )LW 11,627,3 f). Das andere Sein, das oft unstet und variabel seiende esse rerum ist die durch die eigene Form {forma propria) bestimmte äußere Wirklichkeit der Dinge (esse rerum extra in rerum natura) (LW I,238,5f).
2.5. Intellectus. Aber das Sein ist nur der Vorhof Gottes, sein Tempel ist die Vernünftigkeit, der Intellekt (DW 1,150, 1 ff). Während - » T h o m a s von Aquin Gott als Identität von Denken und Sein interpretiert, besteht bei Eckhart der Primat des Denkens. Deus est intelligere [Gott ist das Denken, Erkennen] (vgl. z.B. L W IV,268,4f; 445,9; V,40,2ff). „Das, was in Gott ist (est), ist über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen (totum intelligere)" (LW V,44,13f). Intelligere ist das Fundament (fundamentum) von Gottes Sein (LW V,40,6f)- — Der Intellekt ist unbegrenzte Offenheit. Er ist nicht beschränkt durch das hic et nunc (LW 111,265,12—266,1). Er ist vergleichbar der berühmten Tafel des Aristoteles, auf der nichts geschrieben ist, aber darum gerade alles geschrieben werden kann (Aristoteles, an. 429 b—430 a), oder dem wahrnehmenden Auge, das in sich selber aller Farbe bloß ist und deshalb alle Farben erkennt (DW V,28,9ff). Die dem Intellekt, dem Denken analytisch eignende Offenheit und Indétermination wahrt die Unendlichkeit Gottes. Das intelligere als unum zeigt G o t t als den Einen, von allem Determinierten in seinem unum unterschiedenen, der aber gerade als der Ganz-Andere allem das Sein gibt. Das intelligere ist nicht Formbestimmtheit; und durch seine unbegrenzte Offenheit und increabilitas als totale Abhängigkeit von G o t t kann es G o t t denken, ohne ihn kreatürlicher Begrenztheit ausliefern zu müssen. Das intelligere ist aber total von G o t t abhängig und nicht identisch mit der Verstandeskraft des Menschen; wie das den intellectus bestimmende Erkennen Gottes streng geschieden ist von autonomer anthropologischer Verstandespotenz. Dieses Erkennen Gottes in der Vernünftigkeit, im intellectus „ist ein von sonstiger menschlicher Erkenntnis u n d Erfahrung und ihren Mitteln unabhängiges, in der Gnade u n m i t t e l b a r . . . geschenktes Aufleuchten der We-
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Eckhart
senheit Gottes" (H. Kunisch: Meister Eckhart. Der Prediger 121), das im verbum dei in der Gottesgeburt in der Seele Wirklichkeit wirkt und setzt. 2.6. Gerechtigkeit. Es gibt nur eine —»Gerechtigkeit (vgl. zum Folgenden LW 11,366,1 ff), und das ist die Gerechtigkeit Gottes. Das Einssein der Gerechtigkeit wehrt sich gegen die existentiale Interpretation, „als ob die Gerechtigkeit eine je andere sei in mehreren Gerechten, geteilt und gezählt und festgewurzelt in den Gerechten selbst". Alle Gerechten verdanken sich der einen Gerechtigkeit, sind also als Gerechte eins in Gott. Die Gerechtigkeit des Gerechten ist die Gerechtigkeit Gottes. Die Gerechtigkeit ist unteilbar. Gemäß der Attributionsanalogie ist zu interpretieren: Die Gerechtigkeit Gottes ist dem Gerechten nur geliehene Gabe, nicht eigene Proprietät. Die Gerechtigkeit Gottes wirkt zwar im Menschen, aber als aliene Gerechtigkeit, nie Teil seiner selbst, Selbsteigenes. Der Gerechte empfängt von der Gerechtigkeit sein ganzes Sein (iustus ... totum esse suum habet et accipit a sola iustitia) (LW II,392,10f). — Zu beachten ist die trinitarische Struktur der Gerechtigkeit in der —»Rechtfertigung des Sünders: „Da i s t . . . die ungezeugte Gerechtigkeit, von der und nach der der Gerechte gestaltet und gezeugt wird; zweitens die gezeugte Gerechtigkeit, ohne die der Gerechte nicht gezeugt wäre, und drittens die Liebe der zeugenden (Gerechtigkeit) zum gezeugten (Gerechten) undumgekehrt, (eine Liebe) die von beiden wievoneinem (Ursprung) ausgeht und ausfließt" (LW 11,393,1-5). - „Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm." „Der Gerechte sucht nichts mit seinen Werken" (DW 11,252ff; vgl. ebd. zum Folgenden). Die guten Werke aus der eigenen potentia verderben. Diese müssen sterben, tot, zunichte werden. Aber Gott wirkt aus dem Nichts etwas: Gottes gebärendes Handeln in der Gottesgeburt in der Seele setzt den Grund, daß der Gerechte und die hierausgehenden Werke leben. „Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer sein mögen, so heiligen sie uns ganz und gar nicht, soweit sie Werke sind, sondern: soweit wir heilig sind und Sein (sc. von Gott) besitzen, soweit heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei (DW V,198,1 ff). 2.7. Liebe und Freiheit. Die Gründung des Gerechten auf das von Gott gesetzte Sein und nicht auf autochthone Werke involviert aber nicht Inaktivität, sterile Passivität. Nein, sie setzt Energien und Aktivität. Eckharts Gerechter ist nicht tatenlos. Ewiges Drängen und Werden bestimmen die Ruhe in Gott. Vitalität, kochendes Aufwallen, Uberquellen, Durchdringendes gestalten hier. Nicht Flucht vor dem Leben ist gefordert, sondern in „innerer Einsamkeit" Durchbrechen der Dinge auf ihren Gott-gesetzten Grund und zwar „in allen Dingen . . . , zu jeder Zeit, bei allen Leuten, in allen Weisen" (DW V,208,5-9; 289,12-290,3); kein elitäres mystisches Verzücktsein (äußere Einsamkeit), das die helfende Liebe nicht kennt, kein Einengen auf einen normiert-uniformierten Weg für den Gerechten Gottes, sondern nüchterne, weiselose, liebende Gestaltung des Lebens in cooperario von vita contemplativa und vita activa. Schauendes (Maria) und Wirkendes (Martha) durchdringen einander. Ledige Freiheit, die das Leben atmet und zur sozial-ethischen Tat drängt, ist der Raum für den Weg des Gerechten. Eckharts realistische Utopie wird schwer gekürzt durch ihre Ungeschichtlichkeit. Die im ewigen Jetzt der Gottesgeburt sich ereignende Wirklichkeit ist zwar christologisch gebaut, entbehrt aber das wesentliche Ephhapax der Christologie. Das hat zur Folge, daß Vergangenheit und Zukunft ausgeblendet werden und konzipierte Weite von Verkümmerung bedroht ist. 2.8. Sprache. Eckhart ist ein Meister des Wortes. Insbesondere seine deutschen Predigten und Traktate faszinieren in ihrer Sprachgewalt. Eckhart hat aber keine Philosophie oder Ideologie der Sprache, sondern eine Theologie des Wortes. Das verbum, den —»Logos (Joh 1,14) versteht Eckhart unter Berufung auf Plato als principium et causa aller Dinge (LW I,186,14ff; 201,10). Das verbum, das exemplar rerum creatarum [Vorbild der geschaffenen Dinge] ist, existiert in Gott (LW 111,34,1 ff). Hier ist es, bevor es ausgesprochen wird. Das In-
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nensein des Wortes, des Sohnes im Vater, bleibt in Gott, auch wenn es nach außen geht (LW 111,33,10 ff).—Im Wort erweist sich der Sprechende als der Wirkende. Gott spricht und zeugt den Sohn, den Logos, dasf erbum. Das in der Gottesgeburt in der Seele Wirklichkeit-Seiende Wort bleibtverbum dei. So ist in der Bibel als verbum dei (LW IV,213,16) die christologische Mitte (ebd. 1,453 f) zu entfalten. - Eckhart vertritt die Kohärenz zwischen innerem und äußerem Wort, wobei sich diese dem Innesein des verbums verdankt. Die Predigt ist für Eckhart Gotteswort. Sie ist von innen heraus „gewortet" (DW 1,66,2 f). Sie hat daher ihre Autorität und Mächtigkeit und Eindeutigkeit. Für Eckharts Verhältnis zur Sprache ist diese Theologie des Wortes Basis. Sein kreativer Umgang mit dem Wort gründet hier. Auch seine Bedeutung für das Gestalten einer deutschen philosophischen Sprache verdankt sich diesem. Es ist aber wichtig, Eckharts eigene Sprechsituation zu bedenken. Er steht in der Tradition des bisher zuwenig erschlossenen deutschsprachigen Schrifttums der Bettelmönchsorden. Das Sprechen der Predigt, der Umgang mit dem zu verantwortenden Wort ist gebunden an kontemplatives Gebet, spirituale Lebensgestaltung, gründendes theologisch-philosophisches Denken. Trotz dieses Umfeldes ist die Bedeutung Eckharts für die deutsche Sprache zu betonen. Seine herrliche, kraftvolle, in die Tiefe gehende schöpferische Sprache in Predigten und Traktaten zeigt den Meister und besticht in ihrer Gestaltung und Wirkung. 3. Nachwirkung Die päpstliche Bulle von 1329 hat die Verbreitung Eckhartscher Gedanken nicht verhindert. —»Tauler, —»Seuse, die gesamte altdeutsche und niederländische —»Mystik sind durch sie bestimmt. Insbesondere die aus dem Eckhartschen Werke erwachsende Spiritualität hat Wirkung. - Ein profilierter Verteidiger Eckhartscher Gedanken ist —»Nikolaus von Kues. Er betont die Rechtgläubigkeit Eckharts und die Fruchtbarkeit von dessen Lehre für sich und intelligentes, empfiehlt aber nicht die öffentliche Lektüre Eckharts,da dessen Werk den anerkannten Autoritäten Fremdes enthielte. Eine direkte Beeinflussung —»Luthers durch Eckhart ist nicht anzunehmen, aber Eckharts Lehre von der Gerechtigkeit, seine christologisch bestimmte Theologie des Wortes, sein kreativer Umgang mit Sprache, die theozentrische Orientierung seines Denkens u. a. legen den Dialog mit Luthers Theologie nahe. Fasziniert von Eckharts deutschen Werken ist die Eckhartrezeption des 18. und 19. Jh. Eckhart wird der Vater der deutschen Spekulation (J. Bach), der originär deutschen Philosophie. Eckhart führe „einen neuen Tag in der Geschichte des Geistes" (W. Preger) hervor, bedeute Trennung von der—»Scholastik. Der Hegelschüler K. Rosenkranz sieht in Eckhart das Haupt der deutschen Mystik und den Anfang des deutschen Geistes, der in —»Hegel seine Vollendung finde. Deutschnationale Überzeichnungen charakterisieren manche Eckhartinterpretation bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts; schlimme absurde Krönung ist A. Rosenbergs Mißdeutung Eckharts als des elitären Apostels des nordischen Abendlandes und Inkarnation des wiedergeborenen germanischen Menschen. Die neuere mit H. -»Denifle, F. Pfeiffer u.a. ansetzende und dann sich mit der ab 1936 erscheinenden Werkausgabe voll entfaltende wissenschaftliche Eckhartforschung erweist durch ihre Akribie und Solidität den hohlen Bogen dieser Irritationen. Allerdings scheint es das Schicksal des Eckhartschen Werkes zu sein, von Irritationen begleitet zu werden. Das Verständnis Eckharts als anonymen Buddhisten oder hinduistischen Yogi, als Anwalt des mittelalterlichen Plebejertums, eines marxistischen Prinzips Hoffnung und Vertreter atheistischer Theologie verkennt die theologische Basis Eckharts und verstellt den Zugang zu ihm. Die anwachsende Literatur zum Thema Eckhart und östliche Mystik steht manchmal in der Gefahr, die Weite des Eckhartschen Werkes in ihrer wesentlichen Gründung phänomenologisch zu diskreditieren. - Fruchtbar wird Eckhart dort, wo man sich der nüchternen, theologisch fundierten Freiheit und Gelassenheit seiner Spiritualität stellt, die in der Begegnung mit dem Einen zu weitem verändernden Erkennen und Tun führt. Quellen Meister Eckhart. Die dt. u. lat. Werke, Stuttgart 193 6 ff (zit. DW bzw. LW). - Meister Eckehart. Dt. Predigten u. Traktate, hg. v. Josef Quint, München 1955 4 1977 (zit. DPT). - Franz Pfeiffer, Meister Eckhart, Göttingen 1857 = Aalen 1962. — Heinrich Denifle, Akten zum Prozeß Meister Eckharts: ALKGMA 2 (1886) 6 1 6 - 6 4 0 . - Augustinus Daniels, Eine lat. Rechtfertigungsschr. des Meister Eckehart: BGPhMA 33/5 (1923). - Gabriel Théry, Ed. critique des pièces relatives au procès d'Eckhart con-
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Edelmann
tenues dans la manuscrit 3 3 b de la bibliothèque de Soest: AHDL 1 (1926) 1 2 9 - 2 6 8 . - Franz Pelster, Ein Gutachten aus dem Eckhart-Prozeß in Avignon: Aus der Geisteswelt des MA, hg. v. A. Lang u. a., Münster 1935, 1 0 9 9 - 1 1 2 4 .
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Udo Kern Edelmann, Johann Christian
(1698-1767)
1. Leben und Schriften Johann Christian Edelmanns religiöse und geistige Entwicklung führt aus der streng lutherischen Erziehung über Pietismus und Separatismus zu einer radikalen Vernunftreligion eigener Prägung (-»Aufklärung, s. TRE 4,597). Dem am 9. 7 . 1 6 9 8 in Weißenfels geborenen ältesten Sohn einer Orgelbauer- und Musikerfamilie aus Thüringen wurde trotz ärmlicher Verhältnisse der Besuch des Lyceums in Lauban ( 1 7 1 5 - 1 7 1 7 ) und anschließend des Gymnasiums in Altenburg (1717—1719) ermöglicht. Am 4 . Mai 1 7 2 0 begann er mit Hilfe eines Meißner Stipendiums an der Universität Jena das Theologiestudium. Die stärkste Wirkung auf Edelmann ging von J . F. —»Buddeus aus; orthodox in seinem evangelisch-lutherischen Glauben, freundschaftlich den Führern des Pietismus verbunden, war er maßvoll in seinen Äußerungen zu theologischen Streitfragen. Buddeus ging historisch an die Probleme der Kontroverstheologie heran. Er wurde in dieser Methode von seinem Schwiegersohn Johann Georg Walch, den Edelmann zu seinen bedeutenden Lehrern zählte, unterstützt. Buddeus stand dem Spinozismus (—»Spinoza/Spinozismus), den er dem —»Atheismus gleichsetzte, feindlich gegenüber und lehnte den Rationelismus von Chr. —»Wolff ab; Edelmann übernahm von ihm das Unverständnis für die Bedeutung Wolfis. Edelmann konnte die zum formalen Studienabschluß nötigen Matrikelgebühren nicht aufbringen. Er kam zudem zu der Überzeugung, daß ihm das Talent für eine Prediger-Laufbahn fehle, und so war
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ihm eine Hauslehrerstelle bei Graf Hector Wilhelm Komfeil in Würmla, Niederösterreich, willkommen. Es war für —»Österreich die Periode des Geheimprotestantismus und Edelmann lernte, was es hieß, einer kaum geduldeten Minorität anzugehören. Zum ersten Mal kam er auch mit dem Katholizismus in Berührung. In Wien lernte er im Hause des Kaufmanns Mühl den Einfluß Hallischer Pietisten kennen, die sich ihr Leben durch quälende Gewissenserforschung verbitterten. Edelmanns Erfolge als Erzieher, die Achtung, die ihm als protestantischem Gelehrten entgegengebracht wurde, und gelegentliche seelsorgerische Leistungen festigten sein Selbstvertrauen. In der Heimat übernahm er weitere Hauslehrerstellen, die letzte 1743 in Dresden bei Graf Callenberg.
1 7 3 1 - 1 7 3 5 sind einschneidende Jahre für Edelmann, erfüllt vom Studium spiritualistischer und rationalistischer theologischer Werke. In diesem Prozeß der Neuorientierung ist der Unparteiischen Kirchen und Ketzer-Historie von G. —»Arnold eine besondere Wirkung zuzuschreiben. Edelmann beginnt die Suche nach Gemeinschaften wahrer Christen in der Überzeugung, daß diese am wenigsten in den etablierten Kirchen zu finden seien. Er findet Verbindung mit Gichtelianern und Herrnhutern (—» Brüderunität/Brüdergemeine) in Dresden. Pläne, sich der Gemeinde von Graf Nikolaus Zinzendorf anzuschließen, gab er nach einem Besuch in Herrnhut im Juni 1734 auf. Eine Tendenz zu asketischer Lebensführung, nicht frei von geistigem Hochmut, die sich schon in den Jenaer Jahren zeigte, tritt nun noch stärker hervor. Die intensive innere Auseinandersetzung führt Edelmann zu eigenen schriftstellerischen Versuchen, die er als Durchbruchserlebnis empfand (Selbstbiographie 157f). Es entstehen die ersten vier Stücke der Unschuldigen Wahrheiten, die er anonym an den Leipziger Buchhändler Samuel Benjamin Walther schickt (Datum der Vorrede zur Ersten Unterredung: 24. September 1734) und gedruckt in einer Buchhandlung wiederfindet. Die Themen der ersten Stücke der Unschuldigen Wahrheiten sind religiöse —»Toleranz, Wahrheitssuche, —•Nachfolge Jesu, —»Wiedergeburt, Erlösung, die Verpflichtung der Pfarrer auf die —»Bekenntnisschriften. Die Unschuldigen Wahrheiten haben Edelmann die Aufmerksamkeit separatistischer Kreise gewonnen, und er wird zur Mitarbeit an der von Johann Heinrich Haug herausgegebenen Berleburger Bibel herangezogen (s. TRE 6, 312). In Berleburg nimmt er Kontakt mit Friedrich Rock und dessen Inspirierten auf, wendet sich bald wieder von ihnen ab und entfremdet sich auch von Haug. Unter dem starken Eindruck der Lektüre von —»Spinozas Tractatus Theologico-Politicus und den Schriften von Matthias Knutzen ( 1 6 4 6 - 1 6 7 4 ) entsteht Moses mit Aufgedecktem Angesiebte (die ersten drei Teile 1740), der bisher radikalste Angriff in deutscher Sprache auf die Bibel als von Gott inspiriertes Buch und auf allen an die Bibel gebundenen Glauben. Er verteidigt die Anschauungen Spinozas von Gott und Welt (s. TRE 4, 357), von denen er aber unter dem Einfluß der Neo-Hermetik eines Robert Fludd abweicht und seine eigene Idee vom lebendigen Gott entwickelt (—»Deismus).
In der Göttlichkeit der Vernunft (1730-1740) versucht Edelmann eine Deutung des johanneischen —»Logos, dem er —»Vernunft und —»Gewissen gleichsetzt. 1746 erscheint in Neuwied sein Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekentttiss, in dem er seine Vorstellung von Christus darlegt. In ihrer ungehemmten Kritik und Freimütigkeit sind diese Schriften bahnbrechend und machen den Autor in ganz Deutschland bekannt. Unter den Angriffen der orthodoxen Pfarrer muß Edelmann Neuwied 1746 verlassen und findet 1749 Zuflucht in Berlin. Über 160 Artikel und Bücher, die ihn angreifen, werden in diesen Jahren veröffentlicht und er verteidigte sich in Schriften gegen Probst Johann Peter Süßmilch (1747) und Johann Christian Harenberg (1747). Am 9. Mai 1750 wurden seine Bücher auf Befehl der Bücherkommission im Reich in Frankfurt am Main öffentlich verbrannt. In Berlin arbeitete er an weiteren Folgen von Moses und einer Selbstbiographie, die 1849 unvollendet veröffentlicht wurde. 2.
Nachwirkung
Der Einfluß Edelmanns auf seine Zeitgenossen und die Nachwirkung seines Werks unterliegt verschiedenen Auffassungen. Direkte Hinweise finden sich bei —»Lessing. Werke von Edelmann sind nachweisbar in den Bibliotheken von J. G. —»Hamann und J. S. —»Semler.
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Edelsteine
W . v. Olshausen ist überzeugt vom Einfluß auf Lessing (Lessing, Werke X X I V , 7 7 ) . Friedrich Engels reiht Edelmann unter die Kritiker der Bibel ein. B. —»Bauer veröffentlichte aus dem Glaubens-Bekenntnis Abschnitte in Der neu eröffnete Edelmann (Bern 1 8 4 7 ) und stellte in seinen Schriften Edelmann wiederholt als wichtigsten Vertreter der deutschen Aufklärung und als führenden Atheisten heraus. Ernst Benz weist den Einfluß auf —»Nietzsche über B. Bauer nach. Z u r Frage der Wirkungsgeschichte s. Grossmann: Z K G 8 5 ( 1 9 7 4 ) 3 5 8 - 3 6 8 . Werke Sämtliche Schriften in Einzelausg., hg. v. W. Grossmann, 12 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 6 9 - 1 9 8 0 . - Selbstbiographie, hg. v. B. Neumann, ebd. 1976. - Ungedruckte Manuskripte: s. W. Grossmann, Johann Christoph Edelmann (s. u.), 199 f. Literatur Erich Beyreuther, Gesch. des Pietismus, Stuttgart 1978. - Walter Grossmann, J. C. Edelmann. From Orthodoxy to Enlightenment, Den Haag 1976. - Ders., Edelmann u. das öffentliche Schweigen des Reimarus u. Lessing: ZKG 85 (1974) 3 5 8 - 3 6 8 . - Karl Guden, J . C. Edelmann, Hannover 1870. Paul Hazard, Die Herrschaft der Vernunft. Das europ. Denken im 18. Jh., Hamburg 1949, 98 — 101.— Wolfgang Heise, J . C. Edelmann. Seine hist. Bedeutung als Exponent der antifeudalen bürgerlichen Opposition, Diss. Berlin 1954. - Emanuel Hirsch, Gesch. der neuern ev. Theol., Gütersloh, II s 1 9 7 5 , 411 - 4 1 4 . - Carl Mönckeberg, H. S. Reimarus u. J . C. Edelmann, Hamburg 1867. - Johann Heinrich Pratje, Hist. Nachrichten v. Joh. Chr. Edelmanns... Leben, Schriften u. Lehrbegriff, Hamburg 1753 = 1 7 5 5 . - J o h a n n Anton Trinius, Freydenker Lexicon, 1759 = Turin 1960 (hg. v.F. Venturi).-Else Walravens, Edelmann, J. C.: Vrijdenkerslexikon 2 Dossier 2, (Brüssel 1978). - Siegfried Wollgast, Theoretische Grundlagen des Atheismus der dt. Klassik in der Phil. zw. Reformation u. Aufklärung: Phil. u. Religion, Weimar 1981, 1 3 2 - 1 3 9 . W a l t e r Grossmann
Edelsteine, Symbolik
der
1. Religionsgeschichtlich 2. Altes Testament 3. Frühjudentum 4. Neues Testament Kirche 6. Mittelalter und frühe Neuzeit (Quellen/Literatur S. 272. 276) 1.
5. Alte
Religionsgeschichtlich
1.1. Die Edelsteine, ihre Symbolik, ihre „ p r o f a n e " und ihre kultisch-magische Verwendung stammen gleichermaßen aus dem Orient. Aus Mesopotamien und Ägypten, aus Persien und Ostasien wurden Edelsteine schon früh nach Palästina, Kleinasien und in den westlichen Mittelmeerraum importiert; die Griechen der vorhellenistischen Z e i t übernahmen die Hochschätzung der Edelsteine von den Kretern und Mykenern, die R ö m e r von den Etruskern und Griechen. Der —»Hellenismus ist eine Epoche des Edelsteinluxus und der Edelsteingläubigkeit. Dem antiken Menschen lassen die Seltenheit, vor allem aber die farbliche Schönheit, die Härte und Schleifbarkeit, der Glanz und die durchsichtige Reinheit diese Mineralien als „edel" und begehrenswert erscheinen. Zu Symbolen der Sternenwelt (—»Astrologie) werden die Edelsteine aufgrund der Lichtbrechung und des „Feuers", d.h. ihres auf starker Dispersion, Reflexion oder Streuung des Lichts beruhenden Farbenspiels. Entsprechend antikem Symboldenken (—»Symbol) hat der Edelstein teil an den Kräften des Himmels: Er vermittelt seinem Besitzer und Träger etwas von Macht, Schönheit und Reinheit der Gestirne, und er schützt ihn als Amulett vor schädlichem, überirdischem Einfluß. Da es der Frühzeit an mineralogischem Interesse und Wissen weithin fehlt, werden häufig auch Elfenbein, Perlen und Bernstein zu den Edelsteinen gerechnet. 1.2. Als profane Funktionen der Edelsteine können gelten: Mehrung des Staatsschatzes und herrscherlichen Anspruchs durch erbeutete oder als Tribut vereinnahmte Edelsteine; Schmuck der Menschen, insbesondere der Frauen; Schmuck von Möbeln, Geräten und Gefäßen; Verwendung als Siegel. Überall dürften jedoch magische Vorstellungen im Hintergrund stehen: Der Herrscher symbolisiert und begründet seine Mächtigkeit mit den edlen Steinen seines Ornats und seiner Insignien; für den Menschen bedeutet das Edelsteinamulett Schutz vor den —»Dämonen, denen die Frau mehr ausgesetzt ist als
Edelsteine
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der Mann. Der Gebrauch eines gestohlenen Siegels gefährdet den Dieb, während der rechtmäßige Besitzer das Siegel als „ S c h m u c k " um den Hals oder am Finger trägt. Zwischen Abwehrzauber und Schmuck ist eine reinliche Grenze nicht zu ziehen; vermutlich ist dieser aus jenem entstanden.
1.3. Im privaten Bereich dienen Edelsteine als Amulette; sie können etwa Blut stillen, Schmerzen vertreiben und Krankheiten heilen (Schmidt [1948] 2 2 - 4 2 ; Hermann 533 f). Auch im Kult ist die apotropäische, heilige Reinheit schaffende Kraft des Edelsteins unentbehrlich; Tempel, Offenbarungsstätten, Opfergeräte und Priestergewänder sind mit Edelsteinen ausgestattet (Hermann 5 2 3 - 5 2 6 u. ö.). Eine Zusammenstellung der Arten, Wirkungen und Bewertungen der Edelsteine bietet Plinius d.Ä. (nat. 37). Die Zuordnung bestimmter Steine zu den Tierkreiszeichen belegt etwa Martianus Capeila (nupt. 1, 75; vgl. Hermann 510f. 534). 1.4. In der bildlichen Rede symbolisieren Edelsteine das Kostbare, Schöne, Reine und Harte (Belege: Hermann 534 f). 1.5. Licht, Farbe und Edelsteine kennzeichnen nach Piaton Jenseits und künftiges Leben (Phaidr. l l O b - l l l a ) ; ähnlich schildert Piaton die Sphärenharmonie (rep. 6 1 6 b - 6 1 7 a ) . Die Verwandtschaft solcher Spekulationen mit Jes 54,11 f (s. u. Abschn. 2.5) hat schon Origenes erkannt (Cels. 7,30). 2. Altes
Testament
2.1. An vielen Stellen erwähnen alttestamentliche Texte Edelsteine, teils als Sammelbegriff, teils unter Nennung bestimmter, heute nicht mehr stets identifizierbarer Edelsteinarten. Zusammen mit Gold, Silber und Perlen werden Edelsteine importiert und gehandelt; sie dienen der Dekoration herrscherlicher und priesterlicher Insignien. In der bildlichen Rede symbolisiert der Edelstein das Kostbare schlechthin; die theologische, insbesondere die eschatologische Spekulation stattet die göttliche Welt mit dem Lichtglanz und der Schönheit der Edelsteine aus. Der astrale Bezug ( - * Astrologie) ist fast überall deutlich, wird aber, anders als dann im nachbiblischen Judentum (s.u. Abschn. 3), nirgends ausdrücklich genannt. 2.2. Edelsteine, deren Herkunft aus der aufgegrabenen Erde bekannt ist (Hi 2 8 , 1 - 6 ) , werden vor allem aus Mesopotamien und Ägypten nach Israel eingeführt. Sie sind königliche Gastgeschenke (I Reg 10,2.11; II Chr 9,9f), Tribut oder Beute aus Raubzügen (II Sam 12,30) und Wertanlage der Herrscher (II Chr 32,27). Aus einem geschnittenen Edelstein besteht das Siegel der Vornehmen (Gen 4 1 , 4 2 ; I Reg 21,8; Jer 22,24; Hag 2,23; Cant 8,6; Est 3,10; Dan 6,18). Edelsteine zieren den Ornat des Königs (II Sam 12,30; Ez 28,13), dem sie ein göttergleiches, furchterregendes Aussehen verleihen (Est 5,1 LXX). Vollends in den magisch-kultischen Bereich gehören die Edelsteine der Priestertracht (s.u. Abschn. 2.3). Dagegen ist bei der Aufzählung Ez 1 6 , 1 1 - 1 3 wohl nur an rein profanen Schmuck gedacht; auch die schmuckkritische Liste Jes 3 , 1 8 - 2 4 richtet sich offenbar nur gegen Luxus, nicht gegen den Gebrauch antianraler (vgl. V. 18) Amulette. Cant 1,11 nennt eine Schmuckkette aus Perlen oder Edelsteinen. 2.3. Nicht nur der heidnische Götzendienst (Jes 37,19; Jer 2,27; Dan 11,38), sondern auch der Jahwekult Israels bedient sich der Edelsteine (Ex 3 1 , 2 - 5 ; I Chr 2 9 , 2 - 8 ) . Zufolge Sach 3,9 galt die Gravierung der Edelsteine als ihre Weihung und Begabung mit überirdischer - hier sühnender — Kraft. Edelsteine gehören zum Ornat des Hohenpriesters; sie zeichnen ihren Träger aus als einen Vertreter des göttlichen Glanzes, und sie verleihen ihm die Reinheit, deren er zur Begegnung mit der Gottheit bedarf. Die beiden Schulterstücke des Ephod sind mit Karneolen besetzt, denen die Namen der zwölf Stämme eingraviert sind (Ex 2 8 , 6 - 1 2 ; 3 9 , 2 - 7 ) . Das auf dem Ephod befestigte Brustschild (hebr. bosän) enthält in vier Reihen je drei Edelsteine (Ex 2 8 , 1 5 - 2 1 ; 3 9 , 8 - 1 4 ) , gleichfalls mit den Namen der zwölf Stämme Israels (Ex 28,21; 39,14). Zufolge der Septuaginta handelt es sich um die Edelsteine Sardion, Topas, Smaragd; Anthrax, Saphir, Jaspis; Ligyrion, Achat, Amethyst; Chrysolith, Beryll, Onyx (Ex 2 8 , 1 7 - 2 0 L X X ; Ex 3 9 , 1 0 - 1 3 M T = Ex 3 6 , 1 7 - 2 0 LXX). Diese Steine sind vermutlich die
268
Edelsteine
Symbole der zwölf Sternbilder des (babylonischen) Tierkreises und wurden erst sekundär auf die zwölf Stämme gedeutet (Zimmern 628 mit Anm. 1 und 629 mit Anm. 5). Der ersten, zweiten und vierten Reihe des hohepriesterlichen Brustschildes (Ex 28,17f.20; 39,10f.l3) entnahm der Interpolator von Ez 28,13 die Namen der neun (Ez 28,13 LXX: zwölf) Edelsteine, mit denen er die unbestimmte Angabe der „Feuersteine" (Ez 28,14.16) konkretisiert; er hat dabei offenbar, in Analogie zum Gewand des Hohenpriesters, an die Kleidung des mit dem Urmenschen gleichgesetzten Königs von Tyrus gedacht. Aus dem Kontext von Ez 28,13 geht hervor, daß den Edelsteinen eine Reinheit und Heiligkeit wirkende Kraft zugeschrieben wurde; ihr Verlust wird gleichgesetzt mit der Auslieferung an die Unreinheit (Pi'èl von hll, Ez 28,16b). 2.4. In der bildlichen Rede ist der Edelstein ein Symbol für Kostbarkeit, Reinheit und Schönheit, aber auch für Härte und Beständigkeit. Liebe und Treue werden mit der sorgfältigen Bewahrung des Siegels bzw. Siegelrings veranschaulicht (Jer 22,24; Hag 2,23; Cant 8,6). Die heiligen Steine des priesterlichen Brustschilds sind in der Metaphorik des Klageliedes ein Bild für die edlen Kinder Zions (Thr 4,1 f). Zufolge Cant 5,14 gleicht die Schönheit des Geliebten den Edelsteinen und dem Elfenbein (vgl. Thr 4,7, aber auch Dan 10,6), und die Frommen wird in der messianischen Zeit edelsteingleicher Glanz auszeichnen (Sach 9,16). Wandel unter Edelsteinen ist untadeliger Wandel (Ez 28,14f). Weisheit überbietet Edelmetall und Edelsteine (Hi 2 8 , 1 2 - 1 9 ; Prov3,13-15; 20,5); eine tüchtige Frau ist mehr wert als alle Perlen (Prov 31,10). Schließlich symbolisiert der harte Diamant die Unerschrockenheit des Propheten (Ez 3,9), aber auch die Verstocktheit des Herzens der Bösen (Sach 7,11 f) und die Unerbittlichkeit des göttlichen Gerichts über Juda (Jer 17,1). 2.5. Schon Sach 3,9; 9,16 (s.o. Abschn.2.3 u. 4) gehören auch in den Bereich theologisch-eschatologischer Spekulationen. Wenn Gottes Thronsaal und das Urbild der neuen Gottesstadt über den Sternen vorgestellt werden, liegt der Bezug zum Glanz der Edelsteine besonders nahe; „an die astrale schließt die eschatologische Vorstellung an" (Hermann 516). Wie mit Saphir ausgelegt ist die Fläche unter Gottes Füßen (Ex 24,10); Chrysolith („Tarschisch") und Lapislazuli veranschaulichen den Glanz des über dem Wagen und den Kerubim Thronenden (Ez 1,16.22.26; 10,1.9). Dem Tarschisch-Edelstein gleicht der Leib des von Daniel geschauten Engels (Dan 10,6). Da die Endzeit der Urzeit entsprechen wird, erwartet die eschatologische Spekulation, analog der Vorstellung vom Garten Eden (Gen 2,12; vgl. Ez 28,13 f. 16), den Glanz der Edelsteine auch vom Lande der heilvollen Zukunft (Sach 9,16) und von der künftigen Gottesstadt (Jes 54,11 f). Insbesondere die zuletzt genannte Hoffnung hat in der jüdischen und urchristlichen Apokalyptik beachtliche Wirkungen entfaltet (s.u. Abschn.3.5 u. 4.5). Das neue Jerusalem wird aus Malachit, Saphir, Rubin, Beryll und anderen Edelsteinen errichtet sein (Jes 54,11 f); die vom Brustschild des Hohenpriesters bewirkte Reinheit und Heiligkeit (vgl. Hz 28,16 b) zeichnet auch die endzeitliche Gottesstadt aus. Die phantastisch anmutende Vorstellung vom Edelstein als Baumaterial dürfte auf der Tatsache beruhen, daß äbän j'qarä sowohl den Edelstein als auch den sorgfältig bearbeiteten Baustein bezeichnen kann (I Reg 5,31 ; 7 , 9 - 1 1 ; II Chr 3,6; vgl. Jer 51,26 u. ö.); den Übergang von der einen zur anderen Bedeutung markiert etwa der harte und kostbare Eckstein von Jes 28,16.
3.
Frühjudentum
3.1. Was die Literatur des nachbiblischen Judentums über Edelsteine ausführt, bleibt durchweg im Bereich der Kategorien des Alten Testaments. Freilich verschieben sich ein wenig die Akzente. Wo vom praktischen Gebrauch der Edelsteine und Perlen berichtet wird, handelt es sich um die Beschreibung heidnischen Götzendienstes oder ferner, glanzvoller Vergangenheit. Ausführliche Spekulationen knüpfen sich an das Brustschild des Hohenpriesters. Die astralen Bezüge der Edelsteinarten, im Alten Testament nur angedeutet, werden nunmehr, zweifellos unter dem Einfluß astrologischer Tendenzen der heidnischen Umwelt, breit erörtert. Der Glanz der göttlichen Welt ist der Glanz herrlicher Edelsteine. Phantasievoll wird die Pracht des neuen, aus Edelsteinen, Gold und Perlen bestehenden Jerusalem ausgemalt.
Edelsteine
269
3.2. Edelsteine und edelsteinbesetzte Gefäße (Sir 50,9) oder Möbel sind die Geschenke der Könige (Arist 33.59—69.73.79). Edelsteingeschmückte Diademe kennzeichnen königlichen oder königgleichen Rang (Schatzhöhle 24,24—26: Nimrod; JosAs 5,5; 6,2.5: Joseph); die Edelsteine im Hause des Vaters der Aseneth stehen teilweise mit dem ägyptischen Götzendienst in Zusammenhang (JosAs 2 , 2 - 4 ) . Hochgestellte Frauen der israelitischen Geschichte tragen reichen Schmuck aus kostbaren Metallen und Steinen (Jdt 10,4: Judith; JosAs 3,6; 18,5 f: Aseneth). 3.3. Der Götzendienst der Ägypter setzt Edelsteine voraus (JosAs 2,2 f); Aseneths Edelsteinschmuck trägt die Namen der ägyptischen Götter (JosAs 3,6). Sieben leuchtende Edelsteine befinden sich in den Heiligtümern der Amoriter (LibAnt 25,11 f) und erfahren eine besonders geordnete, feierliche Vernichtung (LibAnt 2 6 , 4 - 8 ) . Sie werden zufolge Ps.-Philo ersetzt durch zwölf Edelsteine mit den eingravierten Stämmenamen nach Analogie der Edelsteine von Ex 2 8 , 1 5 - 2 1 ; 39,8—14, von diesen jedoch ausdrücklich unterschieden (LibAnt 26,4.8—15). Auch sonst fehlt es in der frühjüdischen Literatur nicht an Bezugnahmen auf die zwölf Edelsteine des hohepriesterlichen Brustschilds und die ihnen eingravierten Namen der zwölf Stämme (Weish 18,24f; Sir45,10f; Arist 9 6 - 9 9 ; Philo, LegAll I, 8 1 - 8 4 ; VitMos II, 122-126.133; SpecLeg I, 87; Ps.-Philo, LibAnt 13,1; Josephus, Bell V, 233f; Ant III, 165-169.186); syrBar 6,7 berichtet von 48 Steinen des Hohenpriesters: Die heilige Zwölfzahl wurde mit der kosmischen Vierzahl multipliziert (—* Zahlenspekulation/Zahlensymbolik). Sowohl Philo (VitMos II, 124.126.133; SpecLeg I, 87) als auch Josephus (Ant III, 186) deuten die zwölf Edelsteine auf die zwölf Sternbilder des Tierkreises. Die - aus Gen 49,3—27 (vgl. Dtn 33,17) und Gen 37,9 herausgesponnene-Analogie zwischen Tierkreiszeichen und Stämmen wird auch durch rabbinische Zeugnisse belegt (BerR 100 [64 b ] bei Bill. III, 214); der Tierkreis, häufig im Bodenmosaik antiker Synagogen dargestellt (—> Astrologie), gilt als himmlischer Prototyp („Idee") des irdischen Stämmebundes (ShemR 15 [76 c ] bei Bill. II, 116). Die Krone Josephs mit ihren zwölf strahlenden Edelsteinen (JosAs 5,5; vgl., von Juda, TestNaph 5,4) überträgt den Glanz des zwölfteiligen Tierkreises (vgl. Schatzhöhle 24,25 f) auf den Bund der zwölf Stämme Israels. 3.4. Mit Edelsteinen vergleicht die symbolische Rede, nicht anders als im kanonischen Alten Testament, das Kostbare, Reine und Schöne. Dem Siegelring (vgl. Jub 40,7; 41,11.18) entspricht Gottes Treue zu Serubbabel (Sir 49,11; vgl. Hag 2,23), aber auch etwa die Wohltätigkeit eines Mannes (Sir 17,22). Die Schönheit des neugeschaffenen Adam leuchtet wie der Edelstein (Schatzhöhle 2,14). Einem goldenen, edelsteinbesetzten Gefäß gleicht der Hohepriester Simon (Sir 50,9). Edelsteine, Gold und Silber werden überboten durch die Weisheit (Weish 7,9). Für Philo ist der Saphir das Sinnbild des Asketen (LegAll 1,81.83); dagegen symbolisieren die Edelsteine der personifizierten Lust Ifidovq) deren Laster (Philo, Sacr 20 f). 3.5. Uber dem gestirnten Firmament thront Gott inmitten leuchtender Edelsteine. Von den sieben Bergen aus Edelsteinen (äthHen 1 8 , 6 - 8 ; 24,2 f) trägt offenbar der mittlere und höchste den aus Rubin und Saphir bestehenden Thron Gottes (äthHen 18,8; vgl. äthHen 24,3). Den Himmel mit Gottes Schloß und Thronsaal schaut Henoch als herrliche Stadt mit kristallenen Mauern im strahlenden Glanz des astralen Feuers, der Sonne, der Sterne und der (Stern-)Engel (äthHen 1 4 , 9 - 2 1 ; 7 1 , 1 - 9 ) . Der astrale Hintergrund, schon in Ez 28,14.16 zu erschließen, ist jetzt unübersehbar: Die sieben Edelsteinberge sind Symbole bzw. Fundamente der sieben Planeten (Zimmern 618 f. 624—626), deren Engel Gottes Thron umgeben (äthHen 14,18; 71,8 f; vgl. Tob 12,15; Apk8,2). Der den Abraham begleitende Engel gleicht u.a. dem Saphir und dem Chrysolith (ApkAbr 11,1 f). Anschließend an Jes 54,1 l f erhofft auch das nachbiblische Judentum den Glanz der Edelsteine für die eschatologische Gottesstadt, die in dieser Hinsicht der göttlichen Residenz von äthHen 1 4 , 9 - 2 1 ; 7 1 , 1 - 9 nicht nachstehen wird (Sib 5 , 4 2 0 - 4 2 7 ) . Im Eschaton werden, statt der Sonne und des Mondes (vgl. Apk 21,23; 22,5), die Edelsteine leuchten (LibAnt 26,13). Das neue Jerusalem wird erbaut sein u.a. aus Saphir, Smaragd, Beryll und Rubin
270
Edelsteine
(Tob 13,17), aus Smaragd, Jaspis und Perlen (ApkEl 10,4—6), aus Edelsteinen und Perlen (bBB 7 5 a par. bei Bill. III, 851f). Noch wird nicht, wie in Apk 2 1 , 1 2 — 2 1 (s.u. Abschn. 4 . 5 ) , die Mauer der Himmelsstadt mit den zwölf Edelsteinen des Tierkreises und der Stämme in Beziehung gesetzt. Vorstufen dazu sind jedoch die Rückführung sowohl des priesterlichen Brustschilds (s.o. Abschn. 3 . 3 ) als auch des zwölfteiligen Diadems (Schatzhöhle 2 4 , 2 4 — 2 6 ) auf den Tierkreis sowie die Verknüpfung der zwölf Edelsteinstrahlen (JosAs 5,5) mit den zwölf Stämmen Israels (TestNaph 5 , 4 . 8 ) . In jedem Falle haben sich die altjüdischen Frommen das Jerusalem der Endzeit, analog dem Tierkreis (äthHen 3 4 - 3 6 ; 7 2 , 2 - 3 5 u.ö.), zwölftorig vorgestellt; jedem Stamm Israels sollte ein T o r offenstehen (Ez 4 8 , 3 1 - 3 4 ) . So dürften die Synagogen mit dem Fußbodenmosaik des zwölfteiligen Tierkreises als Antizipation der eschatologischen Gottesstadt verstanden worden sein.
4. Neues
Testament
4.1. Von den nicht eben zahlreichen Edelsteinbelegen des Neuen Testaments finden sich die weitaus meisten in der —»Apokalypse des Johannes. Wie im Judentum zählen zu den Edelsteinen auch die Perlen; wie dort ist der astrale Bezug der Edelsteine selbstverständlich, und wie dort dienen Glanz und Schönheit der Edelsteine vor allem der Ausmalung des Lichtes der göttlichen Welt. 4.2. Edelsteine werden als Luxusartikel importiert (Apk 18,12) und befriedigen das Prunkbedürfnis der Mächtigen (Apk 17,4; 18,16). Der kluge Kaufmann benutzt die kostbare Perle als Wertanlage (Mt 13,45 f). Im übrigen gilt den Anhängern Jesu das Gebot, nicht auf Erden, sondern im Himmel Schätze zu sammeln (Mk 10,21 par.; Mt 6,19—21 par. Lk 12,33 f). Der Schmuck der urchristlichen Frau besteht nicht in Frisuren, Geschmeide und kostbaren Kleidern, sondern in Tugend, Gottesfurcht und guten Werken (I Tim 2,9 f; I Petr 3,3-5). 4.3. Magische und kultische Verwendung der Edelsteine ist nicht belegt. Die Beschreibung des himmlischen Jerusalem, das durch eine Mauer aus Edelsteinen und Perlen vor dämonischer Verunreinigung geschützt wird (Apk 2 1 , 1 8 - 2 1 ) , setzt jedoch die Kenntnis antiastraler Amulette voraus. 4.4. Die symbolische Rede gebraucht das Bild vom Edelstein zur Veranschaulichung höchster Kostbarkeit, nicht zuletzt in religiösem bzw. theologischem Zusammenhang. Die Perle von Mt 13,45 f symbolisiert das Himmelreich; Mt 7,6 denkt im jetzigen Zusammenhang offenbar an die Heiligkeit des Gotteswortes und -willens. Zufolge I Kor 3,12 baut der rechte Verkündiger auf dem Fundament Jesus Christus (I Kor 3,11) nicht mit Holz, Heu und Stroh weiter, sondern mit dem feuerbeständigen (I Kor 3,13) Material Gold, Silber und Edelgestein (XiOoi Tifuoi), d. h. erbaut an der neuen Gottesstadt (vgl. Apk 21,10—21), deren Tempel die Christen sind (I Kor 3 , 1 6 f ; vgl. Gal 2,9; Apk 3,12; anders Apk 21,22). Wenn Jesus und seine Jünger als Bausteine dieser Stadt bzw. ihres Tempels genannt werden (Eph 2,19—22; I Petr 2,4f), so dürften zumindest die „lebendigen Steine" (Aidoi £,wvreg) von I Petr 2,5 als Edelsteine gedacht sein. Erst recht kennzeichnen Edelsteine die strahlende Schönheit Gottes und seiner überirdischen Diener. Der Thronende gleicht dem Jaspis und Sardion, der ihn umgebende Regenbogen dem Smaragd (Apk 4,3). Den erhöhten Menschensohn zeichnet astraler Glanz aus, ohne daß Edelsteine ausdrücklich erwähnt wären (Apk 1 , 1 3 - 1 6 ; vgl. Dan 10,5f); dasselbe gilt von den sieben Strafengeln (Apk 15,6; vgl. Ez 9 , 1 - 7 und, zu Apk 15,6 v.l.XiOov, Ez 28,13). 4.5. Spekulationen der jüdischen Eschatologie (s.o. Abschn. 3.5) führt Apk 21 weiter; dem himmlischen Jerusalem eignet edelsteingleicher Glanz (Jaspis, Apk 21,11), und die Grundsteine seiner Mauern sind mit zwölferlei Edelsteinen geschmückt (Apk 21,19f): Jaspis, Saphir, Chalzedon, Smaragd, Sardonyx, Sardion, Chrysolith, Beryll, Topas, Chrysopras, Hyazinth und Amethyst. Aus zwölf Perlen bestehen die zwölf Tore der Himmelsstadt (Apk21,21).Die zwölf Edelsteine von Apk 21,19 f sind, mit nur unwesentlichen Umstellungen, dieselben wie in Ex 2 8 , 1 7 - 2 0 ; 3 9 , 1 0 - 1 3 ; Ez 28,13; das neue Jerusalem besteht also
Edelsteine
271
aus den vom Brustschild des Hohenpriesters repräsentierten zwölf Stämmen (Apk 2 1 , 1 2 ; vgl. Apk 7 , 4 - 8 ; 14,1),d.h. den Gliedern des - neuen - Gottesvolkes (vgl. Thr 4,1 f). Ein Vergleich mit der eng verwandten Vision von Apk 12 lehrt, daß die Himmelsfrau inmitten der zwölf Sterne bzw. Sternbilder des Tierkreises (Apk 12,1) keine andere ist als die Braut (Apk 21,2) und Gattin des Messias (Apk 19,7—9); den kostbaren Schmuck der Frau (Apk 12,1; 21,2) bilden die Edelsteine und Perlen der Stadtmauer (Apk 2 1 , 1 9 - 2 1 ) . Der Seher erblickt Israel im Bilde der Zionstochter (vgl. Jes 1,8; 16,1; 62,11 u.ö.), die mit Jerusalem identisch ist (vgl. Jes 10,32; 52,2 u. ö.) und schon in der alttestamentlich-jüdischen Literatur als Frau und Mutter geschildert werden kann (Jes 50,1; Jer 50,12; Hos 4,5; IV Esr 9 , 3 8 - 1 0 , 5 5 ) . Die Tore der Himmelsstadt, bewacht von zwölf Engeln, stehen den im Eschaton zurückkehrenden Stämmen Israels offen (Apk 2 1 , 1 2 ; vgl. Jes 62,6; Ez 48,31—34), deren Tierkreiszeichen am Himmel die Zionstochter ebenso schmücken (Apk 12,1) wie ihre Edelsteine die Mauer des neuen Jerusalem (Apk 21,19f). In der Edelsteinliste von Apk 2 1 , 1 9 f klingen mehrere alttestamentlich-jüdische Motive an. Die Edelsteine sind (a) der Schmuck des hohepriesterlichen Brustschilds (Ex 2 8 , 1 5 - 2 1 ; 3 9 , 8 - 1 4 ) und hier (b) die Symbole der zwölf S t ä m m e (Ex 2 8 , 2 1 ; 3 9 , 1 4 ) . Sie repräsentieren (c) die zwölf Tierkreiszeichen (Philo, V i t M o s II, 1 2 4 . 1 3 3 ; Philo, SpecLeg 1,87; Josephus, Ant III, 1 8 6 ) , wirken (d) als Reinheit schenkendes (Ez 2 8 , 1 4 - 1 6 ) und D ä m o n e n abwehrendes (Weish 1 8 , 2 4 f) Amulett und sind schließlich (e) die Bausteine der neuen Gottesstadt (Jes 5 4 , 1 1 f; T o b 1 3 , 1 7 ) . Diesen Kategorien der altjüdischen Edelsteinsymbolik entsprechen ebensoviele Aspekte einer eschatologisch geprägten, spezifisch judenchristlichen Ekklesiologie der —»Apokalypse des J o h a n n e s . Die Christen —»Kleinasiens pflegen (a) ein priesterliches Selbstverständnis (vgl. Apk 1,6; 5 , 1 0 ; 2 0 , 6 ; 2 2 , 3 - 5 ) ; sie wissen sich (b) als das neue und wahre Israel, als Erfüllung jüdischer Endzeithoffnung auf die Restitution der zwölf S t ä m m e (Apk 7 , 4 - 8 ; 1 4 , 1 - 5 ) , deren jedem ein Apostel als Richter und Regent zugeordnet ist (Apk 2 1 , 1 2 - 1 4 ; vgl. Apk 2 0 , 4 und M t 1 9 , 2 8 par. Lk 2 2 , 3 0 ) . Jedem Stamm entspricht (c) ein Tierkreiszeichen mit seinem Edelstein, und die Wächterengelder zwölf T o r e (Apk 2 1 , 1 2 ) - vielleicht identisch mit den verklärten Aposteln (vgl. Apk 2 1 , 1 4 ) - sind zugleich Tierkreisengel und Schutzengel der zwölf Stämme; die Reihenfolge der Edelsteine von Apk 2 1 , 1 9 f (vom Jaspis zum Amethyst) ist anscheinend diejenige vom Sternbild der Fische über Wassermann, Steinbock usw. bis zum Tierkreiszeichen des Widders: Der Apokalyptiker umschreitet die Himmelsstadt im Angesicht der aufgehenden Sonne und endet beim Widder, dem Sternbild Christi und des neuen Weltenjahres (Apk 5 , 6 ) . Wie die Synagoge beansprucht auch die Kirche kosmischen R a n g ; auch sie erblickt im Tierkreis ihren idealen, himmlischen Prototyp. Die apotropäische Wirkung der Edelsteine (d) erweist sich, indem alles Unreine von der Stadt ausgeschlossen bleibt (Apk 2 1 , 2 7 ; vgl. J e s 5 2 , 1 ; 6 0 , 2 1 ; Ez 4 4 , 9 ; J o e l 4 , 1 7 ; Sach 1 4 , 2 1 ; äthHen 9 0 , 3 2 ; 1 Q H 6 , 2 7 f u . ö . ) ; „ d r a u ß e n " ist der Platz der von Dämonen Verführten (Apk 2 2 , 1 5 ) , d . h . der Götzendiener und Häretiker. Schließlich sind die Edelsteine (e) auch ein Symbol der Christen selbst, aus denen sich die neue Gottesstadt erbaut (vgl. schon T h r 4 , 1 f; 1 Q S 8 , 7 - 1 0 ; 1 Q H 7 , 8 f); auch hinter Apk 2 1 , 1 9 f steht der ekklesiologische Imperativ von I Petr 2 , 5 (vgl. Apk 3 , 1 2 ) .
5. Alte
Kirche
5. 1. Die Edelsteinbelege der patristischen Literatur knüpfen zumeist an die schmuckfeindliche Tendenz der neutestamentlichen Paränese an (s.o. Abschn. 4.2). Daneben finden sich, vor allem in Auslegungen von Apk 21, Spekulationen über die Edelsteine des himmlischen Jerusalem; hier hat die Edelsteinallegorese ihren Platz. Freilich bestanden der weltlich-dekorative und sogar der magisch-medizinische Gebrauch der Edelsteine in gewissem Umfange fort. 5.2. In der Warnung vor Edelsteinluxus vereinen etwa Clemens Alexandrinus (paed. II, 1 2 , 1 1 8 , 1 - 3 ; q.d.s. 32,1), Tertullian (fem. 1 , 5 - 7 ) , Cyprian (virg. 13f), Basilius (In div. 4), Johannes Chrysostomus (hom. in Rom. 31,1.3f u.ö.) und Hieronymus (ep. 107 ad Laet.5; ep. 108,16) ihre Stimmen (Schmidt [1948] 6 1 - 6 5 ; Hermann 5 3 5 - 5 3 8 ) . Dagegen wurden Edelsteinsiegel weiterhin benutzt, wenn auch mit christlichen Emblemen (Clemens Alexandrinus, paed. III, 11,57,1; 59,2). Ornat und Insignien auch des christlichen Kaisers der Spätantike behalten ihren Edelsteinschmuck (Hermann 539f); daß Gold, Perlen und Edelsteine Symbole königlicher Würde sind, war allezeit selbstverständlich (ActThom 108-113).
Edelsteine
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5.3. Nur zögernd finden die Edelsteine Aufnahme im christlichen Kult und seinen Räumen; offenbar haben die byzantinischen Kaiser als Anreger und Stifter gewirkt (Hermann 540 f), gewiß nicht ohne Bezugnahme auf die Edelsteine von Apk 21 (s. u. Abschn. 5.5). Dem Edelsteinamulett gilt der Kampf der Theologen (Origenes, Cels. 6,39; Johannes Chrysostomus, hom. 12,6 in I. Cos), doch werden z.B. zur Besessenenheilung auch von christlichen Exorzisten Edelsteine verwendet (Hermann 538). Der astrale Bezug der Edelsteine, vor allem zu den zwölf Tierkreiszeichen, bleibt Wissensgut auch der patristischen Literatur (Clemens Alexandrinus, str. V, 6,38,3 f). 5.4. Glanz und Farbe der Edelsteine symbolisieren Macht und Würde Gottes als des Königs der Könige (ActThom 112). Christus ist Perle und Edelstein (Clemens Alexandrinus, paed. II, 12,118,5 nach M t 13,46; Apk 21,11); aber auch die Tugenden der Christen, insbesondere der christlichen Frauen, werden mit Edelsteinen verglichen (Clemens Alexandrinus, paed. II, 12,119,1 f; Hieronymus, ep. 64 ad Fab.; ep. 108,3; Isaak v. Antiochien: Schmidt [1948] 6 5 - 6 7 ; Hermann 5 4 6 - 5 4 9 ; Meier 8 5 - 8 7 ) . 5.5. Selbstverständlich knüpfen sich auch an Apk 21, 1 1 . 1 8 - 2 1 die Edelsteinspekulationen der altkirchlichen Literatur. Die lebendigen Steine, aus denen die Kirche erbaut wird (vgl. I Petr 2,5), sind leuchtende (vgl. Apk 21,11.18), also edle Steine (Herrn vis III 2 , 3 - 7 , 6 ) . Hier bereits und vollends bei Clemens Alexandrinus verbinden sich ekklesiologische und ethisch-paränetische Züge; der Edelsteinglanz der zwölf Tore der Himmelsstadt, der Patriarchen, Propheten und Apostel (str. V, 6 , 3 8 , 3 - 5 ) ist Ansporn zum Tugendleben der Christen (paed. II, 12,118,5—119,2). Die spätantiken Apokalypsenkommentare führen diesen Doppelaspekt weiter und systematisieren an Hand der zwölf Edelsteine von Apk 21,19 f die heilsgeschichtlichen, rechtlichen und sozialethischen Strukturen der Kirche (vgl. Meier 8 7 - 8 9 ) ; immer mehr erliegt die judenchristliche, apokalyptisch-mythologische Unmittelbarkeit von Apk 21 der altkirchlichen Schriftgelehrsamkeit. Literatur Hellmuth Bethe, Art. Edelsteine: RDK4 (1958) 7 1 4 - 7 4 2 , - O t t o B ö c h e r , Zur Bedeutung der Edelsteine in Offb 21: Kirche u. Bibel. FS Eduard Schick, Paderborn 1 9 7 9 , 1 9 - 3 2 . - Franz Boll, Aus der Offenbarung Johannis. Hell. Studien zum Weltbild der Apokalypse, Leipzig/Berlin 1914 = Amsterdam 1967 (ZTOIXEIA 1 ) . - Carl Clemen, Religionsgesch. Erklärung des NT, Gießen 1909. - Ders., Die Reste der primitiven Religion im ältesten Christentum, Gießen 1916. - Wendell Frerichs, Art. Edelsteine: BHH 1 (1962) 3 6 2 - 3 6 5 . - Alfred Hermann, Art. Edelsteine: RAC 4 (1959) 5 0 5 - 5 5 2 . - Theodor Hopfner, Art. Aidixä: PRE 13/1 (1926) 7 4 7 - 7 6 9 . - Joachim Jeremias, Art. ¿Wog xrX.: T h W N T 4 (1942) 2 7 2 - 2 8 3 . - Arvid Schou Kapelrud, Art. äbän: ThWAT 1 (1973) 5 0 - 5 3 . - Walter Koch, Die Edelsteine der Tierkreiszeichen im Altertum: Zenit 9 (1938) 1 0 9 - 1 1 5 . - H e n r i Leclercq, Art. Gemmes: DACL 6/1 (1924) 7 9 4 - 8 6 4 . - Christel Meier, Gemma Spiritalis. Methode u. Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jh. München, 11977 (Münstersche MA-Schr. 3 4 / 1 ) . - J o seph Conrad Plumpe, Vivum saxum, vivi lapides. The Concept of ,Living Stones' in Classical and Christian Antiquity: Tr. 1 (1943) 1 - 1 4 . - Otto Rossbach, Art. Gemmen: PRE 7/1 (1910) 1 0 5 2 - 1 1 1 5 . Philipp Schmidt, Edelsteine. Ihr Wesen u. ihr Wert bei den Kulturvölkern, Bonn 1948. - Ders., Art. Edelsteine: LThK 2 3 (1959) 656f. - Reinhart Staats, Theol. der Reichskrone. Ottonische „Renovatio Imperii" im Spiegel einer Insignie, 1976 (MGMA 13). - Heinrich Zimmern, Das babylonische Weltbild: Eberhard Schräder, Die Keilinschriften u. das AT, Berlin •'1902, 6 1 4 - 6 4 3 . —Ferner die Kommentare zu Apk 21.
Otto Böcher 6. Mittelalter und frühe
Neuzeit
6.1. Der Edelstein als Bedeutungsträger (Abgrenzung des Gegenstands). Der Edelstein ist im Mittelalter wie schon in der Patristik (s.o. Abschn. 5) - zumal in der literarischen Überlieferung — nicht zuerst bloßes Objekt der Naturkunde oder Gegenstand des praktischen Wertes in der Form von Schmuck und dessen Anfertigung, vielmehr wird er eingeschlossen in die geistige Bewegung der spirituellen Deutung von Welt und Geschichte. Als repräsentativer Teil der unbelebten Natur, der Minerale, sind die Edelsteine innerhalb der Schöpfungswelt und ihrer Nutzung durch den Menschen einbezogen in die die äußeren Er-
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Abb. 4: Das Edelsteinkolleg zum Steinbuch der Realenzyklopädie des Bartholomäus Anglicus, ins Altfranzösische übersetzt von Jean C o r b e c h o n . Jena, Universitätsbibliothek, Ms. El. f. 80, fol. 2 4 5 v
Abb. 5: Edelsteinwände der Katharinenkapelle, Karlstein bei Prag
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scheinungen durchdringende Suche nach dem allegorischen Sinn, der - wie viele Autoren des Mittelalters es aussprechen - von Gott in die Dinge gelegt ist. Das Bemühen um ein solches Transparentmachen der Welt begann in Anlehnung an die antike Allegorese bei der allegorischen Interpretation der Bibel in der Patristik und erfaßte schon bald auch die Edelsteine, die vor allem in drei Steinkatalogen (Ex 28; Ez 28; Apk 21, 19f; s.o. Abschn. I. 2.3; 4.4.3 u. 5) präsent waren. Eine große Zahl von Kommentaren der entsprechenden Bibelbücher, aber auch verselbständigte Steinauslegungen der Himmelsstadt oder der Priestersteine (in Vers und Prosa), allegonsierte Lapidarien und Enzyklopädien sowie freier konzipierte edelsteindeutende Werke und Werkteile rezipierten und entfalteten die von Ongenes, Ambrosius, Hieronymus, Epiphamus, Augustin, Gregor d. Gr., dem Physiologus und anderen theoretisch begründete und praktisch in Gang gesetzte Edelsteinallegorese. Seit der Zwölfsteinedeutung des —»Beda Venerabiiis bis zu den großen Bibelkommentaren der —»Jesuiten im 17. Jh. und den Exegeten beider Konfessionen noch im 18. Jh. reißt die Kette der allegorischen Steinauslegungen nicht ab, ist außer in Naturkunde und Theologie auch lebendig in der Dichtung und in der Emblematik (^Emblem/Emblematik). Das Wissen von den Edelsteinen und ihrer Bedeutung kann im Mittelalter daher in fast allen literarischen Gattungen gebraucht werden. Lithologische Kenntnisse im engeren Sinn werden vornehmlich durch die Genera Stembuch (Lapidar in Prosa oder Versform) und Enzyklopädie - zunächst lateinisch, dann auch volkssprachig - vermittelt; nach —»Isidor von Sevilla wirkten in diesen Gattungen besonders nachhaltig: Marbod von Rennes, Arnoldus Saxo, Bartholomaeus Anglicus (vgl. Abb. 4), -^Thomas von Cantimpre, -^Albert der Große, -^Vinzenz von Beauvais. 6.2. Die Verbindung zur antiken Lithologie. Die Edelsteinkunde der Patristik und des Mittelalters stellt - wie die Naturkunde dieser Epoche generell - keinen Neubeginn dar, sondern ist hinsichtlich der stofflichen Entfaltung des Gegenstands die genaue Fortsetzung der antiken Lithologie. Diese bildet bis in die Neuzeit die eigentliche Basis dieses Wissenszweiges. Seit den frühen antiken Werken hatte die Disziplin bei der Entstehung des ersten christlichen Steinbuchs (Epiphamus von Salamis, De XII gemmis, um 394) schon eine Geschichte von rund 700 Jahren hinter sich. Verschiedene Richtungen hatten sich entwickelt mit teils wissenschaftlich-mineralogischem Anspruch, teils geographischer, teils medizinischer und pharmakologischer oder magischer oder astrologischer Prägung, sofern nicht synkretistische Bestrebungen mehrere Ansätze vereinigten. Als Quellen der antiken Lithologie für das Mittelalter haben vornehmlich gewirkt: der berühmte (nicht erhaltene) Lithognomon des Xenokrates von Ephesus, die Steinabhandlung in der Naturalis histona des Plimus (1. Jh.n. Chr.), Solms Collectanea rerum memorabilmm (3. Jh.) und der stark medizinisch-magisch ausgerichtete sog. lateinische Damigeron (5./6. Jh). Als wichtigster Vermittler antiker Lithologie für das Mittelalter kann -^Isidor von Sevilla mit dem Steinbuch seiner Etymologien gelten. 6.3. Die Eigenschaften der Edelsteine. Wie schon die antike Lithologie erkennt die mittelalterliche Steinkunde an den Edelsteinen eine große Zahl von Eigenschaften. Farben und Lichtwirkungen stehen nach Wichtigkeit und Dichte des Vorkommens an erster Stelle. Nicht nur die einfache Farbe in ihrer Nuance wird dabei möglichst genau erfaßt; auch Farblntensität, Schattierungen, Farbmischung, Farbenausstrahlung und -Wechsel sowie Mehrfarbigkeitin verschiedenartigen Mustern (Punkten, Streifen usw.) sind beachtet. Natürliche Lichtreflexe, endogene Leuchtkraft und Veränderung nach dem Wetter sowie die Stufung von Undurchsichtigkeit über Durchscheinen bis zur Durchsichtigkeit werden unterschieden. Weitere Merkmale der physikalischen und chemischen Beschaffenheit wie Form, Größe und Gewicht, Härte-, Wärme- und Trockenheitsgrad, Brennbarkeit, Geruch, Geschmack, elektrische Wirkungen (Reibungselektrizität, Magnetismus) und - besonders wichtig für den Gebrauch - Möglichkeiten und Arten der Bearbeitung werden zur genauen Kennzeichnung eingebracht. Entstehung, Fundort und Gewinnung, Geschlecht, Alter und Wert, Fassungsarten und Kenntnis von Fehlern und Fälschungen bzw. Imitationen sowie besondere praktisch-technische Verwendungen (als Spiegel, Siegel, Brennglas usw.) und bevorzugte Besitzer
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(Könige, Priester) runden die detaillierte Beschreibung ab. Nahezu alle diese Merkmale können einmal nach den Edelsteinarten und zum andern für deren einzelne Varietäten differenziert werden. Nicht selten ist auch der Name — nach antiker und mittelalterlicher Auffassung Schlüssel und Wesen des Benannten — Zugang zur Erkenntnis der Eigenschaften. Neben den jahrhundertelang absolut dominierenden Proprietäten des Äußeren (Farben, Licht) tritt seit dem \ \J\1. Jh. der Komplex der medizinischen und magischen Kräfte der Steine stark in den Vordergrund; er befriedigt ein offenbar neu erwachtes Interesse. Die Edelsteine gelten — vor allem in der Nachfolge von Marbods von Rennes außerordentlich breit wirkender Schrift De gemmis und neu erschlossenen arabischen Quellen — als Arznei gegen eine Vielzahl von Krankheiten in verschiedenen Anwendungsarten und werden wegen ihrer apotropäischen Kräfte gegen äußere und innere Bedrohungen sowie aufgrund ihrer talismanischen Wirkungen zur Erlangung von materiellen und ideellen Gütern empfohlen. - Die kirchliche Weiheformel der Edelstein-Segnung (zuerst bei Thomas von Cantimpre, De nat. rer. XIV) bestätigt den Glauben an solche virtutes der Steine. 6.4. Die allegorischen und metaphorischen Bedeutungen der Edelsteine. Nach der Methode der—»Allegorese kann jedes Ding so viele Bedeutungen erhalten, wie es Eigenschaften besitzt. Daher ergab die Vielzahl der in der Lithologie bekannten Eigenschaften der Edelsteine ein reiches Bedeutungspotential. Die Steine werden entsprechend den drei Spiritualsinnen der Bibel heilsgeschichtlich, tropologisch und anagogisch ausgelegt (—»Schriftauslegung). Sie können auf alle möglichen Phänomene der christlichen Heilslehre wie Personen und Personengruppen, Ereignisse der Heilsgeschichte, Tugenden (und Laster), Gaben des Hl. Geistes, Glaubensartikel, Dogmen, Sakramente, Wesenszüge des ewigen Lebens, sie können endlich in zwei Richtungen, ad bonam und ad malam partem (das letzte selten) gedeutet werden; selbst typologische Bezüge sind in ihrer Auslegung konstituiert. Die genaue Bedeutungsdetermination und -differenzierung wird jeweils in Interdependenz mit dem Kontext geleistet. Die umfassende Signifikanz der biblischen Steinkataloge — sie bilden das Zentrum der mittelalterlichen Edelsteinallegorese — wird vor allem von der Vorstellung des geistigen Gebäudes (Tugendbau, Ekklesia aus lebendigen Steinen, himmlisches Jerusalem) oder von Zahlengruppen und deren Verweisungen (12: Patriarchen, Apostel; 9: Engelchöre usw.) bestimmt. Innerhalb eines solchen Rahmens vollzieht sich dann die Einzelauslegung der Steine. Da die zwölf Edelsteine des hohepriesterlichen Brustschilds die Namen der zwölf Patriarchen bzw. Stämme Israels (Ex 28,21) und die zwölf Edelstein-Fundamente der Himmelsstadt die zwölf Apostelnamen tragen (Apk 21,14), werden diese Personengruppen in der Ausführung der Einzelexegese oft bedeutungsdeterminierend: von den griechischen Auslegern (Epiphanius von Salamis, Andreas und—»Arethas von Caesarea) über die relativ spät diese Deutung entdeckenden Theologen des lateinischen Westens (—> Joachim von Fiore) bis zu zahlreichen Kommentatoren des 16. bis 18. Jh. Ein typologischer Bezug kann beide Steingruppen so verbinden, daß jede auch Patriarchen und Apostel zugleich bezeichnet. Im lateinischen Westen findet die von Beda Venerabiiis gestiftete und von -^Richard von St. Victor weiter präzisierte Deutung auf Tugenden oder Eigenschaften sowie Verhaltensweisen des Christen besonders weite Verbreitung (z.B. auch im Amatus von Montecassino zugeschriebenen Hymnus Cives caelestis patriae, der —»Glossa ordinaria oder der bes. Spielart einer Kombination der sieben Begabungen des Geistes Jes 11,2 f mit passenden Tugenden bei —»Dionysius dem Kartäuser). Die parallel stark wirkende Interpretation des Ambrosius Autpertus ist dagegen nicht in der Gleichschaltung der Signifikate unter einer Rahmenbedeutung determiniert, sondern freier zusammengesetzt. Die Steine verweisen im Fortgang der Deutungsgeschichte als lapides vivi auf die Menschengruppen in der (irdischen) Kirche (Berengaudus, Ps.-Hugo von Fouilloy, Werner von St. Blasien) oder auf die Himmelshierarchie von Christus, Maria, den Engeln, den Märtyrern bis hin zu den Lehrern und Jungfrauen (—»Alexander von Haies, Ps.-Bonaventura, Heinrich von Kröllwitz im Vater Unser zuadveniat regnum tuum); sie bleiben dabei nicht auf die Fundamente beschränkt wie in Apk 21,19f, sondern bilden die verschiedenen Teile des Gebäudes (Prudentius' Psychom.
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8 2 6 ff mit Kommentierung, Absalon von Springiersbach, das mittelhochdeutsche Himmlische Jerusalem u. a.). Eine nicht geringe Zahl von Deutungen der zwölf oder neun Steine ist —•Maria gewidmet; dabei werden weitere Bibelstellen (bes. die Zwölf-Sterne-Krone des apokalyptischen Weibes Apk 12,1) und freiere Vorstellungen aktualisiert: Marias edelsteinbesetztes Gewand nach Ez 28 im Gegensatz zu dem des durch superbia gestürzten Luzifers (Rhein. Marienlob), ihre Edelsteinkrone (Ps.-Ildefons, Heinrichs von Mügeln Tum und Der meide kränz, Frauenlob; Alanus de Rupe — Coppenstein mit 15 Steinen der Tugenden Marias und der Wörter des Ave Maria), ihr Ring (Konrad von Haimburgs Annulus B. V.M.), ihr Schild (Der Härder) werden ebenso auf ihre Tugenden ausgelegt wie Maria als edelsteinbesetztes Bett des Bräutigams nach Cant 3,9 (Brun von Schonebeck, s. ferner Konrad von Megenberg, Buch der Natur VI und Bernhardins von Busti Mariale). Eine strengere Wendung der späteren Allegorese der in Ex 28 genannten Steine konzentriert deren Deutung allein auf Christus, ,den Hohenpriester', ,unsern Aaron', von dem die Christentugenden nur abgeleitet sind (Michael Riccardus, Jacob Schopper, Conrad Mel, Christoph Starke). Die zwölf Steine als die zwölf Glaubensartikel des Credo, ein von —»Nikolaus von Lyra begründeter, in der frühen Neuzeit besonders beliebter Bedeutungsbezug, ging bald mit andern Zwölfer-Signifikaten Verbindungen ein: mit zwölf Tugenden, den zwölf Patriarchen, Propheten, Aposteln (—»Jan van Ruysbroeck, Daniel Purväus usw.; solche Bedeutungskombinationen bes. in den Enzyklopädien, z.B. Filippo Picinelli, Mundus symbolicus XII). Ausgliederungen spezifischer Bedeutungen aus einer generellen Richtung der Signifikanzbereiche sind immer möglich, z. B. die Auslegung auf einen Orden: Alexander Minorita deutet die in Apk 21 genannten Steine auf die Franziskaner, d. h. auf Christus, die Tugenden und Abteilungen des Ordens und seinen Begründer Franziskus. Verweisungen innerhalb der bloß-natürlichen Welt begegnen selten, wie etwa die zwölf Steine in Apollos Krone die zwölf Tierkreiszeichen repräsentieren (Remigius von Auxerre, Comm. in Martianum Capellam). Neben den genannten Deutungen von Steinkatalogen und -gruppen kommen zahlreiche Einzelauslegungen und -metaphern vor, die oft von jenen beeinflußt sind oder zumindest im Auslegungsverfahren sich nicht unterscheiden. — An der Edelsteindeutung sind auch Veränderungen im naturwissenschaftlichen Weltbild und im Gebrauch der Bibel und ihrer Zeichensprache deutlich abzulesen. 6.5. Die Edelsteine in der bildenden Kunst. Edelsteine, Halbedelsteine und Edelsteinimitationen werden in verschiedenen Kunstgattungen des Mittelalters als Material und als Objekt der Darstellung in reichem Maße verwandt. Buch-, Tafel- und Wandmalerei, Mosaik und Glaskunst, selbst Plastik und Baukunst geben davon beredtes Zeugnis. Die eigentliche Domäne ihrer Anwendung als Material ist die Goldschmiedekunst sakraler und profaner Bestimmung (liturgische Geräte, Herrscherinsignien, Schmuck u.a.). Reale Verwendung finden sie daneben besonders zur Ausschmückung von Textilien (liturgische Gewandung usw.). Schönheit und Kostbarkeit haben ihnen diese Wertschätzung und Verbreitung gesichert. Doch reicht diese Erklärung allein zum Verständnis der Edelsteine in der Kunst des Mittelalters nicht aus. Um dieses gründlicher zu erschließen, muß über die ästhetisch-dekorative und die am Wert orientierte Bestimmung hinaus das Wissen dieser Zeit von den Steinen und ihrer Bedeutung zurückgewonnen werden. Die Hunderte von Texten von der Patristik bis ins 18. Jh., die über Wesen und Bedeutungen der Edelsteine handeln, können so die Grundlage von Erkenntnis und InterpretationEdelsteine enthaltender Kunstwerke bilden. Nicht nur die Darstellung des himmlischen Jerusalem (in verschiedenen Kunstgattungen, vgl. Abb. 1 u. 2), des Weisheitstempels in der Prudentius-Tradition und dergleichen unbestreitbar allegorisch Deutbares mehr (vgl. die mit einer edelsteinbesetzten Mandorla umgebene Personifikation der Kirche in Prüfening mit dem eingeschriebenen Titulus Virtutum gemmis prelucens virgo, Abb. 3), auch schwerer interpretierbare Zeugnisse mit Edelsteinen harren entsprechender Erschließung. Eine solche Sinnfindung steht in der bildenden Kunst, wo sie besondere Umsicht und kritische Prüfung der Interpretationsbedingungen erfordert, noch am Anfang (vgl. Abb. 5).
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Edessa 1. Geschichte und Kultur 2. Die Abgarlegende und die Anfänge des Christentums 3. Christliche Gruppen im 2. Jh. 4. Der Apostel Judas Thomas und Edessa 5. Entwicklungen des 3. Jh. 6. Das 4. Jh. Ephraem der Syrer und die Schule von Edessa 7. Das 5. und 6. Jh. Nestorianer und Monophysiten (Quellen/Literatur S. 287) 1. Geschichte
und
Kultur
Edessa ist 3 0 3 / 3 0 2 v. Chr. durch Scleukos I. Nikator an einer wegen der hier sich kreuzenden Verkehrswege strategisch wie wirtschaftlich bedeutsamen Stelle 85 km östlich des Euphratübergangs von Birecik (Birtha Makedonopolis) in Nordmesopotamien gegründet worden. Sein einheimischer Name Urhai klingt in der Bezeichnung des die Stadt umgebenden Gebietes Osrhoene und in dem heutigen Namen Urfa an. Nach dem Untergang der Seleukiden gelangte 132 v.Chr. eine einheimische arabische Dynastie zur Herrschaft, die sie dann 3 8 0 Jahre lang bis 2 4 8 n.Chr. tatsächlich oder dem Namen nach innehatte. Im ersten vorchristlichen Jahrhundert kam Edessa und sein Herrscherhaus mit den Römern in Fühlung, als diese ihre ersten Beziehungen zu den Parthern aufnahmen. Mit großer politischer Umsicht behaupteten die edessenischen Fürsten eine gewisse Unabhängigkeit zwischen beiden Großmächten, bis Caracalla 2 1 4 Edessa zur colonia Romana machte. Als solche hatte die Stadt teil an allem Ungemach, das die Auseinandersetzungen zwischen Rom und den Sassaniden mit sich brachte, ohne darin eine selbständige Rolle spielen zu können. 2 5 9 / 6 0 wurde Kaiser Valerian in der Nähe von Edessa von Sapur I. geschlagen und gefangen genommen, worauf die Stadt kurzfristig unter sassanidische Herrschaft fiel, die jedoch alsbald wieder durch die Römer verdrängt wurde. Die Anlage der weiter nach Osten führenden strata Diocletiana um 3 0 0 n. Chr. brachte Edessa größere Sicherheit, aber zugleich auch alle Belastungen seitens der römischen Garnisonen, die sich insbesondere drückend bemerkbar machten, seit die Stadt nach der Abtretung von Nisibis an die Sassaniden durch Jovinian 3 6 3 zur wichtigsten Grenzfestung Nordmesopotamiens geworden war. Wiederholt wurde sie erfolglos von den Persern belagert, u.a. 5 0 3 und 5 4 4 , bis sie ihnen 6 0 9 dann doch anheimfiel. Zwar gewannen die Byzantiner 6 2 8 , zur Zeit des Kaisers Herakleios ( 6 1 0 - 6 4 1 ) , Edessa zurück, doch 63 9 ergab die Stadt sich den Muslimen. Damit brachte sich in diesem der Legende nach ältesten christlichen Königreich der Welt die Macht einer anderen Weltreligion zur Geltung. In der Gegenwart ist es eine dichtbevölkerte, ganz und gar islamische Stadt, in der nur vereinzelte kärgliche Überreste und zufällige Funde auf frühere Kulturperioden hinweisen. Soweit diese in die Jahrhunderte um den Beginn unserer Zeitrechnung zurückführen, kennzeichnen sie die edessenische Kultur als typische Ausprägung des syrisch-mesopotamischen —»Hellenismus, in
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dem die Traditionen semirischer Kultur zum Teil Ausdruck in der Formensprache des griechisch-römischen Westens fanden, ohne darüber ihre Eigenprägung zu verlieren. Umgangs- und Schriftsprache war der örtliche aramäische Dialekt Edessas, der sich gleichlaufend mit der Verbreitung des Christentums zum Syrischen, der Sprache des größten Teils der syrisch-mesopotamischen Christenheit, entwickeln sollte. Daneben war das Griechische sowohl als Verwaltungssprache als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen geläufig, und zwar nicht auf die gebildete Oberschicht beschränkt, die ihrerseits wiederum sehr früh schon auch das Syrische zu einem literarischen und geistigen Ausdrucksmittel entwikkelte. Insofern spiegeln die in Edessa gebräuchlichen Sprachen nicht die soziale Schichtung wider. Das örtliche Idiom gibt im Gegenteil griechische philosophische und wissenschaftliche Traditionen wieder, deren Kenntnis, wie man u. a. dem Werk des -»Bardesanes entnehmen darf, weite Verbreitung gefunden haben muß. Man kann sogar damit rechnen, daß manche Schriften von Anfang an in zwei Sprachen in Umlauf gewesen sind. Darin liegt einer der Gründe für das häufige Vorkommen griechischer Wörter schon in den frühen Entwicklungsstufen des Syrischen. Die überlieferte Religion Edessas w a r , soweit sich das aus den Quellen erkennen läßt, eine Weiterführung der in N o r d m e s o p o t a m i e n verbreiteten Kulte, in denen die G ö t t e r N e b o , Bei und Sin eine herausragende Rolle spielten, und erfuhr darüber hinaus Einflüsse seitens der Religion der arabischen Steppenbewohner und des Kultes der Atargatis, der D e a Syria von Hierapolis. Astrologische und magische Praktiken blieben auch nach dem Eindringen des Christentums n o c h für J a h r h u n d e r t e in Übung. Die Kunst weist alle Merkmale der sog. parthischen Kunst auf, der man auch in Palmyra, Dura-Europos und Hatra begegnet, und sie zeigt in den aufgedeckten Grabmosaiken zudem Einflüsse der u. a. in Antiochien anzutreffenden Mosaiktradition. Infolge seiner Lage unterhielt Edessa intensive Beziehungen sowohl zu Westsyrien als auch zu den weiter östlich gelegenen Gebieten, und es besteht keinerlei Anlaß, im Euphrat eine kulturelle Scheidemarke zu sehen, die das überwiegend griechisch sprechende Coelesyrien gegen eine barbarisch-semitische Osrhoene in Nordmesopotamien abgegrenzt hätte. 2. Die Abgarlegende
und die Anfänge
des
Christentums
V o m K o m m e n des Christentums nach Edessa berichtet in legendenhafter F o r m die D o c trina Addai, deren Kernstück, der Briefwechsel zwischen d e m König Abgar U k a m a ( = dem Schwarzen) und Jesus erstmals von—»Euseb (h.e. 1,13) mitgeteilt wird. E r g i b t ausdrücklich zu verstehen, d a ß er diesen Briefwechsel aus dem Archiv von Edessa erhalten und aus d e m Syrischen ins Griechische übertragen habe. Die erhaltene Fassung der Doctrina Addai ist frühestens gegen E n d e des 4 . J h . entstanden und in einer edessenischen H a n d s c h r i f t des 6 . J h . überliefert. Sie erzählt, der König Abgar Ukama (4 v . C h r . - 7 n.Chr.; 1 3 - 1 5 n.Chr.) habe eine Gesandtschaft an den römischen Prokurator entsandt, die ihren Rückweg über Jerusalem genommen und von dort Augenzeugenberichte über Jesu Krankenheilungen und den Haß der Juden gegen ihn mitgebracht habe. Daraufhin habe Abgar den Archivar Hannan, einen der Führer jener Gesandtschaft, mit einem Schreiben zu Jesus gesandt, in dem er bekundete, er habe von seinen wunderbaren Heilungen gehört. Seinen Glauben äußernd, forderte er ihn auf, nach Edessa zu kommen, ihn zu heilen und Sicherheit vor den Anschlägen der Juden zu finden. Dieser Brief sei Jesus im Hause des Hohenpriesters der Juden, Gamaliel, vorgelesen worden. Er habe in seiner Antwort Abgar selig gepriesen, weil er an ihn geglaubt habe, ohne ihn gesehen zu haben (vgl. Joh 20,29), und gesagt, er müsse nach Erfüllung seiner Sendung zum Vater zurückkehren, werde dann aber einen seiner Jünger entsenden, Abgar zu heilen und alle zum ewigen Leben zu bekehren. Edessa habe er mit den Worten gesegnet: „Eure Stadt soll gesegnet sein und ein (oder: der) Feind soll über sie nicht mehr herrschen in Ewigkeit." Hannan habe diese Antwort aufgeschrieben und auch noch ein Abbild Jesu aufgezeichnet und beides Abgar überbracht, der dem letzten einen Ehrenplatz in seinem Palast gegeben habe. Nach Jesu Himmelfahrt habe Judas Thomas den Apostel Addai an Abgar entsandt, der in Edessa bei Tobias, dem Sohn des Tobias, einem Juden aus Palästina, Wohnung genommen habe. Als die Kunde von seiner Ankunft sich verbreitete, habe Abgar ihn zu sich entboten und sei nach dem Bekenntnis seines Glaubens an Jesus und seinen Vater durch Handauflegung geheilt worden. Addai habe daraufhin Abgar und seinen Edlen und tags darauf allem Volk den Glauben verkündet, und alle hätten sich bekehrt. Innerhalb dieser ausführlichen Predigt erhält auch die Geschichte von der Auffindung des Kreuzes durch Protonike, die Gemahlin des Kaisers Claudius, ihren Platz, die mit der entsprechenden Erzählung von Konstantins Mutter Helena verwandt ist. Abgar habe darauf eine Kirche errichtet und gemeinsam mit Aggai, Palut, Abselama und Barsamya den Gottesdienst organisiert. In ihm wurde die heilige Schrift verlesen, und zwar das Alte und Neue Testament, die Apostelgeschichte und das Diatessaron (—»Ephraem Syrus, —»Tatian, —»Evangelienharmonien). Der
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Assyrerkönig Narseh habe darauf Abgar ersucht, ihm entweder Addai oder einen eingehenden Bericht von dessen Taten zu senden. Das letzte geschah, woraufhin Narseh in Staunen geriet und sich bekehrte (?). Jesu Kreuzigung sei für Abgar Anlaß gewesen, an Tiberius zu schreiben und ihn zu ersuchen, die Juden zu bestrafen. Der Kaiser habe ihn in seiner Antwort von der Amtsenthebung des Pontius Pilatus und der Verpflichtung der Juden, den Christus anzubeten, in Kenntnis gesetzt und später geeignete Strafmaßnahmen getroffen. Bei Addais Tod sei Aggai sein Nachfolger, der Diakon Palut Presbyter und Abselama, der Schreiber, Diakon geworden. Addai sei gestorben, nachdem er diesen Amtsträgern in einer langen Abschiedsrede die notwendigen canones eingeschärft habe, und sei mit aller Pracht in der königlichen Grablege beigesetzt worden. Jahre später habe Aggai während der Herrschaft eines ungläubigen Sohnes Abgars das Martyrium erlitten, worauf Palut in —»Antiochien von dem dortigen Bischof Serapion, der seinerseits von Zephyrin von Rom geweiht gewesen sei, zum Priester geweiht worden sei. Der königliche Schreiber Labubna habe alle diese Geschehnisse aufgezeichnet, und diese Aufzeichnungen seien dann durch den Archivar Hannan im königlichen Archiv niedergelegt worden.
Ein Vergleich mit dem Eusebtext läßt wesentliche Unterschiede heraustreten. Euseb weiß von einem Antwortschreiben Jesu, in dem der Segen über die Stadt fehlt. Die Doctrina weiß von einer mündlichen Antwort Jesu, die von Hannan schriftlich aufgezeichnet und zusammen mit einem Bild Jesu Abgar überbracht wird. Ein Vergleich des griechischen Textes bei Euseb mit erhaltenen Papyrusfragmenten der Doctrina und des Briefwechsels sowie mit griechischen Inschriften aus dem letzten, die u. a. in Ephesus und in einem Grab in Edessa gefunden worden sind, zeigt indessen, daß die Eusebversion keine griechische Wiedergabe des ursprünglichen Textes ist, daß vielmehr allem Anschein nach eine syrische Version bestanden hat, die von Euseb mit bewußten Änderungen, darunter der Abwandlung der mündlichen Antwort Jesu in einen Brief, ins Griechische übertragen worden ist. Diese syrische Fassung hat schon früh eine griechische Ubersetzung erhalten und ebenso wie der Eusebtext die dadurch sehr komplex werdende weitere Überlieferung beeinflußt. Im übrigen ist der Übergang von einem durch Hannan aufgezeichneten Diktat der Worte Jesu zu einem von Jesus geschriebenen Brief keine tiefgreifende Änderung der Überlieferung. Auf jeden Fall hat die Nonne Egeria, die Edessa 384 besuchte (Irin. 19,6), Kenntnis von zwei Briefen. Eine andere Frage ist, ob der Segensspruch über die Stadt zur ursprünglichen Fassung der Legende gehört, so daß Euseb ihn unterdrückt hätte. Er begegnet in den fünf bekannten griechischen Inschriften aus dem Briefwechsel, die aus dem 4 . - 6 . Jh. stammen, ist weiterhin Egeria bekannt (Irin. 19,8 f) und findet sich in der Doctrina Addai. Ist er eine sekundäre Zufügung, dann ist diese zwischen 311/12, der Abfassungszeit der eusebschen Kirchengeschichte, und 384, als Egeria Edessa besucht hat, entstanden. Er wird von Egeria und dem sie umherführenden Bischof von Edessa mit einer Unverletzbarkeit der Stadt durch einen militärischen Gegner in Verbindung gebracht, womit in der politischen Lage Edessas nur auf den persischen Erbfeind abgezielt sein kann. Ist das die Meinung des Textes, dann ist 259/60, als Sapur I. Valerian schlug und die Stadt kurzzeitig besetzte, ein terminus post quem und 384 ein terminus ante quem für das Entstehen des Segensspruches. Es ist aber auch möglich, den Segen als ein Gefeitsein gegenüber der Herrschaft des Feindes schlechthin, nämlich Satans, zu deuten, dessen Macht über die Stadt durch Abgars Glauben ein Ende gefunden hat. Das entspräche Joh 16,11 aus der Parakletenverheißung Jesu, die der Antwort Jesu als Vorbild gedient hat. In diesem Sinne scheint sich —»Ephraem Syrus auszusprechen. Das würde auch die frühe und häufige Verwendung des Briefwechsels als Phylakterion erklären. In diesem Fall ist es nicht erforderlich, ihn zu bestimmten politischen Ereignissen in Beziehung zu setzen. Es gibt daher keinen durchschlagenden Grund für die Annahme, der Segensspruch über die Stadt sei der Überlieferung erst nach Euseb zugewachsen. Weit eher ist es möglich, daß Euseb ihn in dem ihm zur Verfügung stehenden Text nicht vorgefunden oder seinerseits unterdrückt hat. Das letzte ist insofern wahrscheinlicher, als der Segensspruch selbst bereits die Handhabe für mehr als nur eine Deutung bot. Euseb und Egeria wissen nichts von einem Bild Jesu, das als ein aus dem Interesse einer späteren Zeit an Ikonen herrührender nachträglicher Einschub in den uns vorliegenden Text der Doctrina Addai angesehen werden kann. Die später so berühmte edessenische Christusikone wird erstmals 593 von Euagrios Scholastikos (h.e. IV,27) erwähnt, während Prokop
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(De bello persico 1,12) 544 nichts davon berichtet. Ebenfalls Einschübe in den Text der Doctrirta Addai sind die Legende von der Kreuzesauffindung und der Briefwechsel Abgars mit Tiberius. Denkbar ist allerdings auch, daß das Bild Jesu ein christliches Gegenstück zum Bild Manis darstellt, dem in der manichäischen Mission eine große Bedeutung zukam. Dann hätte man es mit einem nicht auf ein wirkliches Christusbild Bezug nehmenden, sondern der propagandistischen und polemischen Zielsetzung der Doctrina Addai entspringenden rein literarischen Motiv zu tun. Die Absicht der Legende von Abgar, seinem Briefwechsel und der Predigt Addais ist es, den Anspruch der Orthodoxie in Edessa zu verfechten, die lange nur eine, mit dem Namen Paluts verbundene Gemeinschaft neben anderen christlichen Gruppen in der Stadt war. Ephraem (haer. XXII,5,6) beklagt sich darüber, daß die Rechtgläubigen Palutianer genannt werden. Der Doctrina Addai zufolge ist Palut mit Antiochien und dessen Bischof Serapion ( 1 9 0 - 2 2 0 ) zu verbinden, dessen Weihe durch Zephyrin allerdings chronologisch unmöglich ist. Die Doctrina enthält somit eine doppelt legitimierende Traditionsbildung: Addai und Aggai leiten ihren Geltungsanspruch von ihrer Sendung durch Jesus her, Palut und seine Nachfolger Abselama und Barsamya über Serapion von Simon Petrus, dem ersten römischen Bischof. Diese letzte Tradition findet man auch in den legendären Märtyrerakten von Sarbel und Barsamya, die literarisch von der Doctrina abhängig sind. In den orthodoxen Kreisen Edessas verbindet sich die Verkündigung des Glaubens mit diesen Namen, die dabei eine Sukzessionsreihe bilden. Sofern die Existenz eines christlichen Apostels Addai als legendär gelten muß, geht demnach die später zur großkirchlichen Orthodoxie sich entwikkelnde Gruppe auf Palut und seine Beziehungen zu Antiochien zurück. Da eine Bekehrung Abgars V. Ukama gänzlich legendär ist und Palut zur Zeit der Herrschaft Abgars VIII. (177—212) lebte, st verschiedentlich in Erwägung gezogen worden, letzterer könne der König gewesen sein, der sich aufgrund der Verkündigung Addais zum Christentum bekehrt habe. Die Argumente dafür sind jedoch wenig tragfähig. Sextus Julius —»Africanus, der Abgar VIII. 195 aufgesucht hat, nennt ihn icQÖq d vijg, was indessen nicht auf christlichen Glauben abzielen muß. Bardesanes schreibt in seinem Uber legum regionum (PS 1/2,607), König Abgar habe nach seiner Bekehrung die Entmannung zu Ehren der Atargatis untersagt; doch diese Notiz kann das Ergebnis einer späteren orthodoxen Überarbeitung dieser bardesanischen Schrift sein, die es sicher gegeben hat und auf die sich dann die legendarische Lokalüberlieferung ausgewirkt hat. Demgegenüber weiß Euseb (h. e. 1,13) nichts von einer Bekehrung des edessenischen Fürsten, die er angesichts des zeitgenössischen Interesses an dergleichen Bekehrungsgeschichten sonst sicherlich notiert hätte. Gewiß gab es zur Zeit Abgars VIII. Christen in Edessa und auch am edessenischen Hof wie etwa Bardesanes, doch das besagt nichts für das Bekenntnis des Königs selbst, sondern bekundet lediglich seine Aufgeschlossenheit. Eine Reise Abgars nach Rom (Cassius Dio LXXIX,16,2; Prokop, De bello pers. 11,12,9) zu Septimius Severus ist historisch sehr fragwürdig, ganz zu schweigen von einer Bekehrung, die man gelegentlich anläßlich dieses Besuches hat stattfinden lassen wollen. Ein christlicher König Abgar VIII., unter dessen Herrschaft das Christentum in Edessa Staatsreligion geworden sein soll, ist unter diesen Umständen ein letzter Versuch, die Historizität der Doctrina Addai zu retten.
Nach einer eingehenderen Erklärung verlangt die Rolle Abgars in seinen Beziehungen zu Addai und Jesus. Der Polemik Ephraems gegen die Irrlehrer, insbesondere Markioniten (—»Marcion), Bardesaner (—»Bardesanes) und Manichäer (—»Manichäismus) läßt sich entnehmen, daß diese den gehobenen Schichten der Gesellschaft angehörten. Wie konnte da die Orthodoxie ihre Ansprüche besser zur Geltung bringen als mit der Behauptung, der König Abgar habe sich mit seinen Edlen bekehrt? Neben diesem soziologischen Moment spielt das antihäretische eine Rolle. Die Beziehungen von Abgar zu Addai fanden eine gewisse Entsprechung in denjenigen des Sassanidenkönigs Sapur I. zu Mani, dem „Arzt aus Babylon". Wie Abgar Addai Gehör schenkt, sich bekehrt und Addai in Edessa predigen läßt, so gewährt Sapur Mani eine Audienz, fördert seinen Glauben und läßt ihn unter königlichem Schutt allenthalben in seinem Reich seine Lehre verkünden. Der in der Doctrina Addai genannte König Narseh könnte identisch sein mit König Narseh ( 2 9 9 - 3 0 2 ) , der den Manichäismus begünstigt hatte. Das antihäretische Moment tritt umso deutlicher heraus, als nach manichäischer Überlieferung Thomas und Addai zu den hervorragendsten Schülern Manis
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gehörten. Wahrscheinlich h a t das nichtmanichäische Christentum Edessas die Gestalt Addais von den Manichäern übernommen und zu dem von Jesus gesandten Apostel gemacht. E r wird aufgrund der Parakletenverheißung von Joh 1 6 gesandt, wie auch Mani als der Paraklet gilt, er heilte Abgar, wie auch Mani Könige heilte, er predigte unter königlichem Schutz, wie es auch Mani getan hat, und seiner Ankunft ging ein Briefwechsel und ein Bild vorauf, so wie Mani an die Manichäergemeinde zu Edessa geschrieben hat (Kölner ManiCod. 6 4 , 3 - 6 5 , 2 2 ) und sein Bild Bedeutung für die manichäische Mission besaß. Vielfach wird die Abgarlegende auf dem Hintergrund jüdischer Überlieferungen gedeutet und damit das Christentum Edessas als ein von bekehrten Juden getragenes, typisches Judenchristentum betrachtet. Folgende Argumente werden dafür angeführt: 1. Das edessenische Herrscherhaus ist mit demjenigen von Adiabene verwandt, das sich dem Judentum zugewandt hatte (Josephus, Ant 20,2,2; vgl. 19,5; 15,2,2). 2. Nach der Apologie des Ps.-Melito verehrte man in Edessa die Jüdin Kutbi, die Paqoros geheilt haben soll. Dieser Paqoros ist der edessenische König Paqor (34—29 v. Chr.). Im Blick auf den Zusammenhang des Namens Kutbi mit dem Stamm ktb [schreiben] nimmt man an, daß diese Verehrung etwas mit dem jüdischen Brauch der m'zuzah zu tun gehabt haben könne, der wiederum das unmittelbare Vorbild der Verwendung des Briefes Jesu an Abgar als Schutzzeichen der Stadt gewesen sei. 3. Der Apostel Addai nimmt in Edessa bei einem Juden aus Palästina, Tobias dem Sohn des Tobias, Wohnung, und das weise auf direkte Beziehungen zwischen dem edessenischen Christentum und dem palästinischen Judentum. 4. Nach der Chronik von Arbela bekehrt sich das (jüdische) Fürstenhaus von Adiabene gegen 4 0 n. Chr. zum Christentum, und das sei ein Analogon zur Bekehrung des edessenischen Königshauses. Von diesen vier Argumenten bleibt indessen nur die Annahme möglicher Verwandtschaft des edessenischen Königshauses mit dem Herrscherhaus von Adiabene, die aber auch lediglich auf dem häufig begegnenden Namen Izates beruht. Nach einem Interregnum von 18 Jahren kam 109 n. Chr. Abgar VII. bar Izates zur Herrschaft. Bei diesem Izates kann es sich um den gleichnamigen Sohn der Königin Helena von Adiabene handeln, obwohl sich dafür in den antiken Quellen keine Hinweise finden, nicht einmal bei Mose von Khorene, hist. Armeniae 11,12, der im übrigen die Herrscherhäuser von Edessa und Adiabene dadurch eng miteinander verbindet, daß er Helena zur Gemahlin Abgars V. Ukama und diesen wiederum zu einem armenischen Prinzen macht, und zwar, um dem Christentum —•Armeniens einen apostolischen Ursprung zuschreiben zu können. Die Verehrung der Kutbi bezieht sich auf den Kult der arabischen (nabatäischen) Göttin al-Kutba, die mit dem Judentum nichts zu tun hat, vielmehr ein Beispiel für den Einfluß der Religion der Steppenbewohner auf das edessenische Pantheon ist. Die Erwähnung des Tobias, des Sohnes des Tobias, hat lediglich den Zweck, entsprechend der Gesamttendenz der Doctrina Addai, die unmittelbare Verbindung des edessenischen Christentums mit der Lehre und irdischen Heimat Jesu herauszustreichen, und sagt nichts über jüdische Elemente in diesem Christentum. Die Chronik von Arbela schließlich ist eine Fälschung von A. Mingana und daher als historische Quelle wertlos. Gegenüber den angeblichen jüdischen Zügen im ältesten edessenischen Christentum steht die ausgeprägte antijüdische Tendenz der Doctrina Addai und anderer Schriften aus der gleichen Umgebung. Ausdrücklich wird in der Doctrina die Feindschaft der Juden Jesus gegenüber betont, und es wird nachdrücklich herausgestellt, wie Abgar die Juden mit Krieg zu überziehen versucht und welche antijüdischen Maßnahmen die römische Regierung ergreift. Das alles weist eher auf eine anrijüdische Prägung, die dem mit dem örtlichen Judentum konkurrierenden edessenischen Christentum von Anfang an zu eigen war.
3. Christliche Gruppen im 2. Jh. Die edessenische Chronik, deren Mitteilungen großenteils aus edessenischen Archiven stammen, bringt zur ältesten Geschichte des Christentums in Edessa die aufeinanderfolgenden Eintragungen über Markions Bruch mit der Kirche 1 3 7 / 3 8 , einen römischen Parthersieg unter Lucius Verus 1 6 5 , die Geburt des Bardesanes am 1 1 . Juli 1 5 4 , die Errichtung von Palastbauten durch König A b g a r 2 0 5 / 0 6 (d.h. nach der erhebliche Verwüstungen anrichtenden großen Überschwemmung von 2 0 1 ) , die Geburt (sie!) Manis 2 3 9 / 4 0 , den Einsturz der Mauern Edessas 3 0 3 zur Zeit Diokletians sowie die Grundlegung der Kirche von Edessa durch Bischof Qune 3 1 3 (d. h. unmittelbar nach dem Toleranzedikt) (Chronicon Edessenum V I - X I I , C S C O 1,3 f; 2 , 4 f ) . Daraus läßt sich entnehmen, daß diese älteste Geschichte von Markion, Bardesanes und Mani beherrscht war, die Ephraem als die Irrlehrer der edessenischen Kirche schlechthin bekämpft. Erst mit Qune k o m m t man in großkirchliches Fahrwasser. Markion ist mit seiner Verwerfung des Alten und Verkürzung des Neuen Testaments ausgesprochen antijüdisch eingestellt. Bardesanes ist das Musterbeispiel des eklektischen
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Philosophen, der christliche Elemente mit stoisch-astrologischen Lehren verbindet und bei dem sich ebensowenig eine Spur jüdischen Einflusses aufweisen läßt wie bei Mani. Markion und Bardesanes sind die beiden für das edessenische Christentum des 2. Jh. prägenden Gestalten. Dabei hat sich Bardesanes in seinen Schriften durchaus auch gegen Markion ausgesprochen, sofern er die Beziehung zwischen dem einen Gott und seiner Schöpfung gewahrt wissen wollte. Die Einleitung zum Buch der Gesetze der Länder bewahrt Elemente solch antimarkionitischer Polemik. Als dritter hat —> Tatian das Erscheinungsbild christlichen Glaubens im Edessa des 2. Jh. mit bestimmt. Wohl um 172 von einem Aufenthalt in Rom bei -^»Justin dem Märtyrer nach Mesopotamien zurückkehrend, verfaßte er das syrische Diatessaron (—»Evangelienharmonien, u.TRE 6 , 1 8 9 , 3 9 ff) unter Verwendung von in Rom umlaufenden Evangelienversionen. Es ist nicht zu beweisen, daß er sich in Edessa aufgehalten und seine Evangelienharmonie hier geschrieben hat, doch hat das Diatessaron immerhin einige Jahrhunderte lang in der edessenischen Kirche in Geltung gestanden. Mit Tatian wird der Enkratismus in Edessa zu einem gewichtigen Element oder verstärkte hier bereits früher schon vorhandene asketische Strömungen Askese). Die in seiner Rede an die Griechen sich niederschlagenden anthropologischen und theologischen Vorstellungen haben zum Teil Parallelen im System des Bardesanes und fügen sich damit gut in das edessenische Umfeld. Bemerkenswert ist, daß lediglich die westliche Tradition Tatian zum Ketzer gemacht hat, während die syrische Überlieferung nichts davon weiß. Wurde er verketzert, weil er seinen Ort im edessenisch-mesopotamischen Christentum des 2. Jh. hatte, in dem die Orthodoxie sich erst um 200 von Antiochien aus zur Geltung brachte? Palut wie auch seine Nachfolger Abselama und Barsamya verkörpern auf jeden Fall diese antiochenische Linie. Mit Palut halten wohl auch die vier „getrennten Evangelien" von Antiochien aus ihren Einzug in Edessa, und zwar in der unter der Bezeichnung Vetus Syra bekannten Textgestalt (s. TRE 6, 190, 14 ff). Diese altsyrische Evangelienübersetzung beruht auf einem in Antiochien gebräuchlichen griechischen Text, und ihre sogenannten Diatessaronlesarten gehen auf den Einfluß zurück, den das bereits vorhandene Diatessaron auf die Entstehung der Übersetzung selbst ausübte. In der Doctrina Addai begegnen sowohl das Diatessaron als auch die vier „getrennten Evangelien" als gottesdienstlich verbindliche biblische Schriften, so daß die Doctrina auch hier verschiedene Überlieferungsschichten bewahrt und in den gleichen Zeithorizont gestellt hat. 4. Der Apostel Judas Thomas und Edessa In der edessenischen Überlieferung hat auch der Apostel Judas Thomas seinen Platz. Zwischen ihm und Edessa bestanden offenbar bestimmte Beziehungen, die bereits Euseb in seiner Fassung der Abgarlegende auf diese Weise zum Ausdruck gebracht hat. Die spezielle Namensform Judas Thomas (= Judas der Zwilling; vgl. Joh 11,16; 20,24) begegnet außerhalb der Abgar-Legende noch im Thomasevangelium, im Buch von Thomas dem Athleten und in den apokryphen Thomasakten, so daß es Gründe gibt, auch diese Schriften irgendwie mit Edessa in Verbindung zu bringen. Allerdings sind die Zeugnisse für eine Beziehung des Apostels Thomas zu Edessa spät. Die Nonne Egeria reist 384 ausdrücklich deshalb nach Edessa, um hier das Martyrion aufzusuchen, in dem der Apostel Thomas beigesetzt war. Dieses Martyrion ist von der Großen Kirche von Edessa zu unterscheiden, deren Grund Bischof Qune gelegt hatte (Itin. Eger. 17,1; 19,3; vgl. Rufin, h.e. XI 5; Sokrates, h.e. IV, 18; Sozomenos, h.e. VI, 18). Die aus der ersten Hälfte des 3. Jh. stammenden Thomasakten erzählen lediglich, ein Schüler des Apostels habe seine Gebeine aus Indien in den Westen gebracht,, Ephraem der Syrer aber berichtet, ein Kaufmann habe sie aus Indien nach Edessa überführt (Carmina Nisibina 42,1,2 = CSCO.S 103,28 f). Die Behauptung der (späten) Passio Thomae, die Gebeine des Apostels seien 232 von Alexander Severus nach einem Sieg über die Perser nach Edessa gebracht worden, muß als unhistorisch angesehen werden. 394 wird sein Sarkophag aus dem wahrscheinlich vor der Stadt gelegenen Thomasmartyrion in eine ihm geweihte Kirche in Edessa selbst gebracht (Chronicon Edess. XXXVIII). Edessa
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wird mithin erst im 4. Jh. zur Stadt des Thomas, des Apostels des Ostens, und das könnte der Anlaß für die bei Euseb und in der Doctrina Addai begegnende Behauptung einer Beziehung zwischen ihm und Addai sein. Dem steht gegenüber, daß die Thomasakten in der ersten Hälfte des 3. Jh. in Nordsyrien entstanden sind und daher sicher in Edessa bekannt waren, daß das Thomasevangelium in der uns vorliegenden Gestalt aller Wahrscheinlichkeit nach Ende des 2. Jh. ebenfalls in diesem Raum entstanden ist und daß auch das Buch von Thomas dem Athleten (erste Hälfte des 3. Jh.) in das gleiche Umfeld gehört. Gegen 200 waren also in Edessa mit dem Namen des Apostels Thomas verbundene Uberlieferungen bekannt. Es stellt sich daher die Frage, warum die älteste edessenische Tradition ihm nur eine mittelbare Rolle zuschreibt und allen Nachdruck auf Addai legt. Ein möglicher und sehr wahrscheinlicher Grund dafür ist, daß die unter den Namen des Thomas gestellten Schriften sämtlich von Mani und seinen Anhängern übernommen worden sind und dadurch als häretisch-gnostisch abgestempelt und somit in orthodoxen Kreisen nicht mehr verwendungsfähig wurden, obwohl sie an sich nicht Produkte eines gnostischen Systems waren. Doch boten sie immerhin Ansatzpunkte für eine gnostische Deutung. Das Thomasevangelium wie die Thomasakten pflegen einen schroffen Enkratismus, der sie mit enkratitischen Kreisen in Edessa verbindet und sich leicht auch manichäischer Askese erschloß. Das kann zugleich der Grund dafür sein, daß einige Schriften in zweifacher Fassung begegnen, einer mehr orthodoxen und einer stärker häretisch-gnostisierenden. Die große Rolle, die Thomas im 4. Jh. spielt, ist daher möglicherweise ein Moment der antimanichäischen Polemik, der auch der christliche Apostel Addai seine Existenz verdankt. 5. Entwicklungen des 3. Jh. Das älteste Christentum in Edessa ist recht vielgestaltig: Neben Markioniten finden sich Bardesanes mit seiner Anhängerschaft, Tatian und die Enkratiten, Schriften, die mit dem Namen des Apostels Judas Thomas verbunden sind, antiochenische Einflüsse in der Person Paluts und seiner Nachfolger und schließlich auch echte Gnostiker in der edessenischen Sektengemeinschaft des Quq und seiner Anhänger. Die verschiedenen Gruppen hatten einige Auffassungen gemein, in anderen unterschieden sie sich voneinander, und sie polemisierten auch gegeneinander, wie es sich für Bardesanes und die Markioniten feststellen läßt. Scharfe Trennungslinien etwa zwischen hellenistischen und judenchristlichen Traditionen oder enkratitischen und gnostischen Strömungen kann man in diesem Milieu nicht ziehen. Erst das allmähliche Anwachsen der Orthodoxie zu beherrschender Stellung geht mit einer Verketzerung bestimmter Elemente und Personen einher, die das Erscheinungsbild des edessenischen Christentums im 2. Jh. mitgeprägt hatten. Dieses Geschick widerfuhr Bardesanes und Tatian insbesondere seitens westlicher Kreise. Mani hat dem geschilderten geistig-religiösen Milieu die christlichen Elemente seines Lehrgebäudes entlehnt und in radikal dualistischem Sinn fortgebildet. Markion und Bardesanes gelten dem Manichäismus als unmittelbare Vorgänger des Apostels des Lichts, die die christliche Uberlieferung getreulich bewahrt haben, das Thomasevangelium, die Thomasakten und andere in Edessa bekannte apokryphe Apostelakten (—»Apokryphen) wurden von ihm als Offenbarungsschriften übernommen, und an enkratitische Strömungen hat er engen Anschluß gesucht. Insbesondere die Begründung der manichäischen Kirche, die nach dem Zeugnis Ephraems in ihrer Auseinandersetzung mit den Manichäern in Edessa zweifellos großen Zustrom fand, hat den Prozeß der Polarisierung zwischen Orthodoxie und Häresie in Gang gesetzt, der alle älteren Traditionen tiefgreifend beeinflußt oder zum Verschwinden gebracht hat. Repräsentativ für das edessenische Christentum des 3. Jh. und den darin herrschenden Frömmigkeitstypen sind zwei Schriften, nämlich die apokryphen Thomasakten und die Oden Salomos (—»Salomoschriften). Die Thomasakten sind ausgeprägt enkratitisch. Der Mensch soll als einzelner, unverehelicht und ohne feste Bleibe auf Erden, durch den Glauben an Christus und nach seinem Vorbild zu dem paradiesischen Leben zurückkehren, das von Anbeginn an für ihn bereitet war. Christus verkörpert Gottes Willen, Macht und Weisheit, die auch dem Gläubigen ge-
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schenkt wird und ihn in die Lage versetzt, Gottes Willen zu vollbringen. Es geht somit um eine theologische Identifikation von Erlöser und Erlösten, die einer gnostischen Deutung im Sinne des Salvator salvandus eine leichte Handhabe bietet. Judas Thomas, der „Zwilling" Jesu, der ihn sozusagen auf Erden vergegenwärtigt, ist das Paradigma dieser Identifikation. Von dieser, in einer theologisch-christologischen Konzeption wurzelnden religiösen Praxis ziehen sich Verbindungslinien hin zur Gemeinschaft der bny (bnt) qym' [Söhne (Töchter) des Bundes], in der sich die unverehelichten Getauften zusammenfinden, um so dem Ideal der —»Nachfolge Jesu möglichst nahezukommen, sowie zur Frömmigkeit der —»Messalianer. Die Predigt des Judas Thomas enthält besondere christologische Ausführungen, die den Frühformen der in —»Antiochien herrschenden Christologie (—>Jesus Christus) verwandt sind und die die dogmatische Grundlage für die propagierte Lebensweise bieten. Dieselbe Identifikation des Gläubigen und Christi begegnet in den Oden Salomos, die das Heil als die durch Christus geschenkte Gnade besingen, die schon im Paradies für Adam bestimmt war. Im Zusammenhang des aufeinander Beziehens von Paradies und Erlösung geben sie eine deutliche antimarkionitische Tendenz zu erkennen, mit der sie sich organisch dem edessenischen Christentum einfügen, wie es sich in der Zeit um 200 und danach darstellt und in dem sie auch beheimatet sind. Geht man davon aus, daß mit der in Ode 38 beschriebenen Gegenkirche die Manichäergemeinde ins Auge gefaßt ist, wofür es gewichtige Hinweise gibt, dann fällt ihre Entstehung mit hoher Wahrscheinlichkeit in die zweite Hälfte des 3. Jh. Ihre Christologie zeigt wiederum eine enge Verwandtschaft zu Vorstellungen, wie sie in Antiochien und bei Tatian begegnen, während sich zugleich deutliche Verbindungslinien zum Werk Ephraems des Syrers auftun. Damit bilden die Oden Salomos eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen diesem edessenischen Kirchenvater und den älteren syrischen Traditionen, mit denen sie auch das antijüdische Element gemein haben. Edessa weiß auch von eigenen Märtyrern, obwohl sich historisch über —»Christenverfolgungen wenig ausmachen läßt. Die Akten des Sarbel und Barsamya sind literarisch von der Doctrina Addai abhängig. Bischof Barsamya mag zwar durchaus eine geschichtliche Persönlichkeit sein, die Akten aber erwecken den Eindruck ausgesprochen legendenhafter Prägung, und das umso mehr, als ihre Blutzeugen in Edessa keine weitere Verehrung gefunden haben im Gegensatz zu den Märtyrern Gurya, Samuna und Habib. Diese wurden zur Zeit der diokletianischen Verfolgung durch das Westtor vor die Stadt geführt und dort auf einem Hügel byt 'lh qyql' [Tempel des Gottes des Misthaufens] hingerichtet und begraben. Unter Bischof Abraham ( 3 4 5 - 3 6 1 ) wurde an dieser Stelle die 5 0 2 niedergebrannte Basilikader Bekenner gebaut (Josua Stylites, ed. Wright 59f).
Kein Grund besteht zu der Annahme, daß das vielgestaltige Erscheinungsbild der christlichen Gruppen sich während des 3. Jh. grundlegend verändert habe. Auch das Heidentum blieb lebendig, soweit sich das aus den ausnahmslos heidnischen Grabmosaiken des 3. Jh. entnehmen läßt, und daneben war auch das Judentum ein gewichtiges Element in der Stadt. Wechselseitige Rivalität zwischen Juden und Christen hat gewiß den Antijudaismus der syrischen Literatur verstärkt. Die Amtszeit des Bischofs Qune (ca. 2 8 9 - 3 1 3 ) bildet den Übergang zum 4. Jh. Er legte den Grund für die Große Kirche von Edessa an einer Stelle, an der die Überschwemmung von 201 „das Heiligtum der Kirche der Christen" zerstört haben soll. Wahrscheinlich ist diese pleonastische Umschreibung eine spätere Zufügung zum Überschwemmungsbericht der edessenischen Chronik, und man hat in Edessa im 3. Jh. nichts anderes gekannt als Hauskirchen nach Art derjenigen, die in Dura-Europos ausgegraben worden ist und in der sich ein griechisches Diatessaronfragment gefunden hat. 6. Das 4. Jh. —»Ephraem der Syrer und die Schule von
Edessa
Die Chronik von Edessa hat die Liste der edessenischen Bischöfe des 4. Jh. überliefert. Qunes Nachfolger Sacad vollendete den durch jenen begonnenen Kirchbau, und sein Nachfolger Aitallaha (324—346) legte einen Friedhof an und ließ den Ostteil der Kirche ausbauen. Obwohl er auf dem Konzil zu Nicaea zugegen war, enthält ein in armenischer Fassung erhaltenes Sendschreiben von ihm „an die Christen im Gebiet der Perser über den Glauben" wesentliche Abweichungen von der nikänischen Lehre, die auf Rechnung örtlicher Überlie-
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ferungen gesetzt werden müssen. Während seiner Amtszeit begründete der Diakon Aud (cUda) die nach ihm benannte Audianersekte, die der Überlieferung nach von ihrem Stifter niedergeschriebene Offenbarungen mit allerlei gnostischen und astrologischen Elementen benutzte. Aud steht damit auf einer Linie mit Bardesanes, Quq, den Manichäem und mancherlei Adepten hellenistischer Geheimwissenschaften, die in Edessa wie auch im benachbarten Harran durch die Jahrhunderte hindurch vertreten waren. Das polemische Werk Ephraems gibt nur ein blasses Bild dieser religiösen Vielfalt. Ephraem war 363 nach der Abtretung von Nisibis an die Sassaniden durch Jovian nach Edessa gekommen. Dieser war Nachfolger Julians des Abtrünnigen, der während seines Feldzuges nach Osten aus Furcht vor der christlichen Bevölkerung nicht Edessa, wohl aber Harran aufgesucht hatte. Den kirchlichen Besitz von Edessa hatte er jedoch unter seine Soldaten verteilen lassen. Diese Episode gab Anlaß zur Entstehung des syrischen Julianromans. Ephraem war wie viele andere gebildete Christen aus Nisibis nach Edessa gekommen und wirkte hier als Lehrer im Interesse der Orthodoxie. Seine Ubersiedlung nach Edessa wird immer mit der Gründung der Schule der Perser in Verbindung gebracht, einer theologischen Akademie, die für mehr als ein Jahrhundert geistiges Zentrum der örtlichen Christenheit war. Es ist indessen höchst zweifelhaft, ob man hier an eine regelrechte Schulgründung denken muß. Edessa war von jeher ein geistiges Zentrum, das Athen des Ostens, in dem mancherlei religiöse und philosophische Lehren in der Vermittlung von Lehrern zu Schülern Verbreitung fanden. So „studierte" hier etwa im 3. Jh. Lukian der Märtyrer bei Makrinos. Die Vielfalt des edessenischen Christentums bietet einen mittelbaren Beleg für diese Verhältnisse. Mit dem gottesdienstlichen Leben verbanden sich Formen der mündlichen und schriftlichen theologischen Unterweisung, deren sich die Geistlichen annahmen. Die Doctrina Addai gibt dafür sogar genaue Vorschriften. Durch den Zuzug Ephraems und anderer wird diese Unterweisung zweifellos intensiver und vielfältiger und erfüllt nach dem Fall von Nisibis auch die Funktion eines Zentrums für den gesamten Osten. Die Organisationsform der späteren ncstorianischen Schule von Nisibis ist wahrscheinlich nach dem Muster der Schule der Perser gestaltet, die daher sicher zur Zeit Ephraems und danach eine festere Organisation besaß als die eines lockeren Verbandes von Lehrern und ihrem Schülerkreis.
Der Unterricht wurde wahrscheinlich von dazu beauftragten Lehrern außerhalb des eigentlichen kirchlichen Rahmens gegeben, behielt aber enge Verbindung mit Gottesdienst und Predigt. Darin liegt der Grund dafür, daß so viele der theologischen Lehrgedichte Ephraems einen festen Platz in der Liturgie gewonnen haben und seine Schriftauslegung die Beziehung zur Homiletik bewahrte. Die Tatsache, daß nahezu sein gesamtes Schaffen sich gegen seinerzeit in Edessa im Schwange stehende häretische und heidnische Lehren richtet, hat gewiß zur Profilierung der Orthodoxie beigetragen. Zu seinen Gegnern zählen auch Arianer (—»Arianismus), die kräftige Unterstützung durch Kaiser Valens erhielten, als dieser noch zu Lebzeiten Ephraems mit dem Präfekten Modestus Edessa besuchte und Bischof Barses verbannte. 378 starben Valens wie auch Barses, und die Orthodoxen konnten wieder von der Kirche von Edessa Besitz ergreifen. Im Folgejahr wurde Vologeses (Eulogios) Bischof, der auf dem zweiten ökumenischen Konzil zu —•Konstantinopel die Osrhoene vertrat. Die theologische Arbeit der Schule von Edessa stand auch nach Ephraem noch unter seinen Schülern, deren Schriften oft unter den Namen des großen Lehrers gestellt wurden, in hoher Blüte. Zu ihnen zählt Zenobios von Gazir, der gegen die Markioniten schrieb, und ein Abba, der wie Ephraem einen Kommentar zum Diatessaron verfaßt hat. Aus dieser Tradition rührt die syrischeSchatzhöhle her, eine Wiedergabe des wesentlichsten Inhalts des Alten und Neuen Testaments, vermengt mit Legenden, die Bezüge zu der in Edessa herrschenden Theologie aufweisen. Wahrscheinlich stammt aus dieser Schule auch die erhaltene Fassung der Doctrina Addai. Auch das Heidentum muß während des 4. Jh. noch eine wichtige Rolle gespielt haben. Neben seiner Bestreitung durch Ephraem polemisiert auch die Doctrina Addai gegen die heidnischen Götter. Sie läßt zwar die heidnischen Priester sich bekehren, stellt aber nachdrücklich fest, daß der große Altar im Zentrum der Stadt bestehen blieb. Das hängt möglicherweise mit einer Konstitution —•Theodosius d.Gr. zusammen, die 382 dem heidnischen
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Edessa
Kult ein Ende setzte, in der Osrhoene aber ein Pantheon als Versammlungsstätte für die Bevölkerung, jedoch ohne Opferdienst, bestehen ließ (Cod. Theod. XVI, 10,3). 7. Das 5. und 6. Jh. Nestorianer und
Monophysiten
In der ersten Hälfte des 5. Jh. während der Amtszeit der Bischöfe Rabbula ( 4 1 2 - 4 3 5 ) und Ibas (435—457) machten sich in dem theologischen Klima Edessas, das vornehmlich von Ephraem und seiner frühsyrischen Christologie bestimmt war, die unterschiedlichen christologischen Auffassungen geltend, die mit den Namen —»Cyrillus von Alexandrien, —»Diodorus von Tarsus und —»Theodor von Mopsuestia verbunden sind. In der Schule der Perser werden unter Leitung von Qioras (373—437) die Schriften Diodors und Theodors ins Syrische übertragen, während Ibas mit seinen Ubersetzungen —»Aristoteles und die Eisagoge des —»Porphyrius syrischen Lesern erschloß. Rabbulas Theologie ist großenteils eine Fortführung der ephraemschen Vorstellungen, innerhalb deren dem Problem des Wesens der Seele Christi (—»Jesus Christus) noch keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die mitunter paradoxen Formulierungen stehen daher einer Weiterentwicklung sowohl in mono- als auch in dyophysitischer Richtung offen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Rabbula und Ibas auf dem Konzil von —»Ephesus 431 Johannes von Antiochien in seinem Widerstand gegen die Anathematismen Kyrills unterstützten, Rabbula sich aber spater auf die Seite des letzten schlug. Der „Tyrann von Edessa" führte wie Ephraem ein monastisches Leben, und unter seinem Namen stehen Kanones für den Klerus und die geistlichen Gemeinschaften. Er entfaltete eine breite soziale Bautätigkeit und bekämpfte heftig Häretiker, Gnostiker und Juden. Gelegentlich wird er als Urheber einer gegen das Diatessaron gerichteten neuen syrischen Ubersetzung des Neuen Testaments, der Peschitta (s. TRE 6, 191, 21 ff), genannt, doch ist das gänzlich unbeweisbar. Wahrscheinlich beschränkte sich seine Tätigkeit auf Korrekturen von Übersetzungen, insbesondere im Johannesevangelium, die eine Handhabe zu häretischer Deutung geben konnten. Nach dem Konzil von Ephesus entfaltete er eine gegen die Schule der Perser gerichtete Wirksamkeit, wobei er im Gegensatz zu den in ihr verfochtenen antiochenischen Vorstellungen die Lehre von der einen unveränderlichen Natur Christi vertrat. Auch diese Auffassung ist nur auf dem Hintergrund der ephraemschen Theologie verständlich, die nachdrücklich die Unveränderlichkeit des göttlichen Logos lehrt, dessen Inkarnation eine Äußerung des Willens Gottes ist, an der der Mensch durch die rechte Ausrichtung seines eigenen Willens Anteil erhalten kann. Dieser theologische Voluntarismus gewinnt Form im monastischen Leben, und hier liegt die Einheit von Lehre und Leben. Nach Rabbulas Tod wird der Ubersetzer der Schule der Perser, Ibas, sein Nachfolger, während 437 Narses die Leitung der Schule übernimmt. Ibas wurde von der Räubersynode zu Ephesus 449 verurteilt, aber 451 in —* Chalkedon wieder rehabilitiert und hatte in Edessa mit großen Widerständen zu kämpfen. Sein berühmter Brief an Mari spielt eine Rolle im Drei-Kapitelstreit. Die örtliche Frömmigkeit spiegelt sich am besten in der Legende von —»Alexius, dem „Gottesmann", die in der Mitte des 5. Jh. in Edessa entstanden ist und das Vorbild für die voluntaristische Imitatio Christi abgibt. Ibas erhielt in Nonnus einen mehr monophysitisch orientierten Nachfolger, der in Edessa vor allem als Bauherr gewirkt hat. Während seiner Amtszeit studierte —»Jakob von Sarug unter Narses an der Schule der Perser, die die eigentliche syrische Tradition weiterführte. Während des Episkopates von Kyros (471—498) mußte Narses aus Edessa flüchten. Er begab sich nach Nisibis, wo mit Barsauma ein Schüler der Schule der Perser Bischof geworden war, und begründete hier die berühmte Schule von Nisibis. Die Schließung der edessenischen Schule 489 markiert auch eine Scheidung zwischen West- und Ostsyrern. Jene sollten sich in zunehmendem Maße in monophysitischer Richtung entwickeln, diese waren Dyophysiten, beide aber übernahmen sie das Erbe der edessenischen Theologie Ephraems. Das 6. Jh. erlebte die Auseinandersetzungen zwischen den vom byzantinischen Kaisertum gestützten Chalkedonensern, die man in Syrien Melchiten (= Kaiserliche) nannte, und den—»Monophysiten. Bischof Paulus (510—522; 526) wahrte—»Severus von Antiochien die
Ed essa
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Treue und mußte 5 2 2 endgültig in die Verbannung gehen. Sein melchitischer Nachfolger Asklepios wurde v o m Volkszorn für die Überschwemmung des Flusses Daisan 5 2 4 verantwortlich gemacht und vertrieben, so daß Paulus für kurze Zeit zurückkehren konnte. 5 4 1 wurde J a k o b B u r d c a y a (Baradaeus) Bischof von Edessa ( 5 4 1 — 5 7 8 ) , der auf seinen ausgedehnten Missionsreisen die Bekehrung Mesopotamiens zum Monophysitismus durchführte und nie in Edessa residiert hat. Ihm verdankt die syrisch-monophysitische Kirche ihren offiziösen N a m e n (—»Jakobitische Kirche). Es blieben in Edessa aber auch o r t h o d o x e Bischöfe, unter ihnen Amazonios, der auf dem fünften ökumenischen Konzil zu —»Konstantinopel 5 5 3 zugegen w a r und zur Zeit —»Justinians die Große Kirche von Edessa, in der die berühmte Christusikone aufbewahrt wurde und die Gegenstand eines bekannten Preisgedichtes ist, neu errichten ließ (Prokop, De aedif. 2 , 7 ) . Die Auseinandersetzungen zwischen Monophysiten und Melchiten stehen ganz im Schatten der kaiserlichen Kirchenpolitik. Justin II. ( 5 6 5 - 5 7 8 ) bemühte sich ohne Erfolg, die Streitparteien auszusöhnen, unter Maurikios ( 5 8 2 — 6 0 2 ) aber sollten die M ö n c h e des Klosters der Orientalen zu Edessa zur Annahme des Chalkedonense gezwungen werden, und ihre Weigerung zog die Schließung des Klosters und den T o d von 4 0 0 Mönchen nach sich. Als 6 0 9 Chosroes II. die Stadt einnahm, setzte er hier zunächst einen nestorianischen Bischof ein, so daß der jakobitische Amtsträger Paulus nach Zypern flüchten mußte. Später aber zogen die Sassaniden die Jakobiten gegenüber den stärker mit der byzantinischen Politik identifizierten Melchiten vor. Daher blieb Edessa auch nach der arabischen Eroberung großenteils jakobitisch, wenn es auch innerhalb der syrisch-jakobitischen Kirche keine führende Rolle mehr spielte. Seine große Blütezeit w a r das 4 . und 5 . Jh., als die religiösen Traditionen Edessas ausformuliert wurden, die seinen bleibenden Beitrag zur Geschichte des Christentums bilden. Quellen A. Amiaud, La légende syriaque de Saint Alexis, l'homme de dieu, Paris 1889. - E. W. Brooks/I.-B. Chabot, Chronica Minora, II 1904 (CSCO.S 3;4). - E.W. Brooks/I. Guidi/I.-B. Chabot, Chronica Minora, III 1 9 0 5 - 0 7 (CSCO.S 5;6). - Francis Crawford Burkitt, Euphemia and the Goth with the Acts of Martyrdom of the Confessors of Edessa dated and examined, London 1913. - William Cureton, Ancient Syriac Documents Relative to the Earliest Establishment of Christianity in Edessa and the Neighbouring Countries, London 1864 = Amsterdam 1967.-Hendrik J . W.Drij vers, Old-Syriac(Edessean) Inscriptions, 1972 (SSS.NS 3 ) . - O s c a r v. Gebhardt, Die Akten deredessenischen Bekenner Gurjas, Samonas u. Abibos, aus dem Nachlaß hg. v. E. v. Dobschütz, 1911 (TU 3. Ser 7/2). - 1 . Guidi, Chronica Minora,11903 (CSCO.S 1 ; 2 ) . - L . Hallier, Unters, über die edessenische Chronik mit dem syr. Text u. einer Ubers., 1892 (TU 9/1). - G. Phillips, The Doctrine of Addai the Apostle, now first edited in a complete form in the original Syriac, London 1876. - Ignaz Rucker, Florilegium Edessenum anonymum (syriace ante 562), 1933 (SBAW.PPH 1 9 3 3 , 5 ) . - William Wright, Apocryphal Acts of the Apostles edited from Syriac manuscripts with English transi, and notes, London 1871 = Amsterdam 1968. - Ders., The Chronicle of Joshua the Stylite Composed in Syriac A. D. 507 with a transi, into English and notes, Cambridge 1882 = Amsterdam 1968. Literatur Julius Aßfalg, Zur Textüberlieferung der Chronik v. Arbela. Beobachtungen zur Ms. or. fol. 3 1 2 6 : OrChr 5 0 (1966) 1 9 - 3 6 . - Walter Bauer, Der Apostolos der Syrer in der Zeit v. der Mitte des 4. Jh. bis zur Spaltung der syr. Kirche, Gießen 1903. - Ders., Rechtgläubigkeit u. Ketzerei im ältesten Christentum, 1 9 3 4 , 2 1 9 6 4 mit einem Nachtrag v. Georg Strecker (BHTh 10). - Anton Baumstark, Die Petrus- u. Paulusacten in der literarischen Uberlieferung der Syr. Kirche, Leipzig 1902. - Ders., Vorjustinianische kirchl. Bauten in Edessa: OrChr 4 (1904) 1 6 4 - 1 8 3 . - H.P. Blok, Die koptischen Abgarbriefe des Leidener Museums: AcOr 5 (1927) 2 3 8 - 2 5 1 . - Georg Günter Blum, Rabbuia v. Edessa. Der Christ, der Bischof, der Theologe, 1969 (CSCO.S 34). - Sebastian P. Brock, Early Syrian Asceticism: Numen 2 0 (1973) 1 - 1 9 . - Francis-Crawford Burkitt/Erwin Preuschen, Urchristentum im Orient, Tübingen 1907. - Averil Cameron, The Sceptic and the Shroud, London 1980. - Paul Devos, Le miracle posthume de S. Thomas l'Apôtre: AnBoll 66 (1948) 2 3 1 - 2 7 5 . - Ders., Égérie à Édesse. S. Thomas l'Apôtre. Le roi Abgar: AnBoll 85 (1967) 3 8 1 - 4 0 0 . - Ernst v. Dobschiitz, Christusbilder. Unters, zur christl. Legende, 1899 (TU NF 3 / 1 - 2 ) . - Ders., Der Briefwechsel zw. Abgar u. Jesus: ZWTh 43 (1900) 4 2 2 - 4 8 6 . - E. Drioton, Un apocryphe anti-arien. La version copte de la correspondance d'Abgar, roi d'Édesse, avec
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Hendrik J . W . Drijvers
Edinburgh, Universität 1. Die Universität Edinburgh
1. Die Universität
2. Das New College ( 1 8 4 3 - 1 9 2 9 )
(Literatur S. 291)
Edinburgh
1.1. Die Universität von 1582 bis 1703. Die von König Jakob VI. (Jakob I. v. Großbritannien) genehmigte Gründung des Edinburgher College (der späteren Universität) durch den Stadtrat im Jahre 1582 war das Ergebnis eines langen Kampfes um die Versorgung der Landeshauptstadt mit einer universitären Bildungsstätte. —»Schottland besaß bereits drei
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mittelalterliche Universitäten — Saint Andrews (1412), Glasgow (1450) und Aberdeen (1497) —, und 1556, vor der schottischen Reformation, hatte die Regentin Maria von Guise schon einmal zwei hervorragende Gelehrte, Alexander Sym und Edward Henderson, damit beauftragt, in Edinburgh öffentliche Vorlesungen über bürgerliches und kanonisches Recht, Griechisch und andere Wissensgebiete abzuhalten. Dieses „College" verschwand während der Unruhen von 1 5 5 9 - 1 5 6 0 , vielleicht sogar etwas früher. Die schottischen Reformatoren planten 1560 eine radikale Umgestaltung der bestehenden mittelalterlichen Universitäten sowie die Errichtung von Colleges in allen größeren Städten, die nach dem Vorbild der kurz zuvor in -»Genf gegründeten Akademie die —»Artes liberales lehren sollten. Hätte die politisch unsichere Lage die Verwirklichung dieser Pläne nicht verhindert, so hätte Edinburgh schon zwanzig Jahre früher ein College erhalten. Als dann unter Jakob VI. ruhigere Zeiten anbrachen, kamen die Edinburgher Geistlichen und der Stadtrat überein, 1582 das Toum's College zu errichten. In Anlehnung an die Vorschläge von 1560 war es nach dem Vorbild von —»Calvins Akademie konzipiert und sollte in den Artes sowie in den theologischen Fächern Unterricht erteilen. 1621 wurde dem College vom Schottischen Parlament das Recht eingeräumt, akademische Titel zu verleihen. Erster Rektor und erstes Oberhaupt des College wurde Robert Rollock ( 1 5 5 5 - 1 5 9 9 ) , ein ehemaliger Student der Universität St. Andrews und Schüler von Andrew Melville. Durch seine Schriften, in denen er sich als kompetenter Vertreter der Bundestheologie erwies, wurde Rollock als einziger schottischer Theologe des 16. Jh. in ganz Europa bekannt.
Im 17. Jh. war das College hauptsächlich auf die Arto konzentriert; theologische Bildung wurde nur nebenbei vermittelt; 1620 wurde ein Lehrstuhl für Theologie, 1642 einer für Hebräisch und semitische Sprachen und 1694 einer für Kirchengeschichte eingerichtet. Zu den ersten Theologieprofessoren, die alle auch als Gemeindepfarrer wirkten, gehörten Andrew Ramsay (1574-1659), Henry Charteris (etwa 1 5 7 0 - 1 6 2 8 ) und John Sharp (gest. 1647). Mehrere von Sharps Schriften wurden in Genf publiziert, darunter sein Cursus Thcologicus (1618 und 1622) und die Symphonia Prophetarum et Apostolonim (1625 und 1629). David Dickson ( 1 5 8 3 - 1 6 5 2 ) spielte bei der Abfassung des Directory for Public Worship sowie des Sum ofSaving Knowledge eine bedeutende Rolle und war ein wichtiger Gegner der Aberdeener Gelehrten. Alexander Henderson (1583—1646) war von 1640 bis zu seinem Tode Rektor der Universität und der beste Pädagoge, den das College seit seiner Gründung hatte; er wurde als einer der schottischen Abgesandten bei der „Westminster Assembly of Divines" bekannt. Hebräischvorlesungen wurden 1642 mit der Berufung von Julius Conradus Otto, dem Verfasser von Galirazia occultorum detactio (Nürnberg 1605), eingeführt, der den Lehrstuhl bis 1656 innehatte; nach ihm wurde dieses Fach allerdings bis ins 19. Jh. hinein weitgehend vernachlässigt. Erst gegen Ende des 17. Jh. fand mit der Berufung von William Carstairs ( 1 6 4 9 - 1 7 1 3 ) eine Erweiterung der theologischen Fakultät statt. Carstairs war einer der scharfsinnigsten und patriotischsten Staatsmänner, die Schottland je hervorgebracht hat; er wurde 1703 zum Rektor gewählt.
1.2. Die Universität im 18. Jh. Um die Mitte des 18. Jh. wurde das College zu einer der führenden Universitäten Europas. Auf Grund seiner positiven Erfahrungen an holländischen Universitäten legte Carstairs die Lehre in die Hand von Fachwissenschaftlern, was bereits von den Reformatoren des 16. Jh. befürwortet worden war. Eine medizinische Fakultät wurde 1705, eine juristische 1722 errichtet. Mitte des 18. Jh. wurde das Recht der Universität auf die Verleihung der Ehrendoktorwürde in Theologie und Rechtswissenschaft bestätigt. Der Einfluß der —»Aufklärung war in Edinburgh recht früh spürbar; Newtonsche Physik (—»Newton) wurde hier eher gelehrt als in —»Cambridge; Johan Stevenson ließ —»Aristoteles durnh J . Locke ersetzen. Dugald Stewart ( 1 7 5 3 - 1 8 2 8 ) , ab 1785 Professor für Moralphilosophie, war der einflußreichste Verfechter und Vertreter der Common-sense-Philosophie der Schottischen Schule; doch trotz wiederholter Versuche, Wissenschaftler aus dem Ausland zu verpflichten, waren die Theologieprofessoren nicht sonderlich bedeutend. James Robertson (gest. 1795), Professor für Hebräisch, hatte in —»Leiden bei Schultens und in —»Oxford bei Hunt studiert. Zu erwähnen ist noch William Dunlop ( 1 6 9 2 - 1 7 2 0 ) , Professor für Kirchengeschichte und Verfasser einer Collection of Confessions ofFaith (London 1719).
Die Anzahl der Studenten, die von außerhalb Schottlands kamen, nahm ständig zu, weil sie sich keiner religiösen Zulassungsprüfung unterziehen mußten. Zu den berühmtesten un-
Edinburgh
290
ter ihnen gehörten D. —>Hume, Walter Scott und James Boswell. Auch der führende Evangelikaie Thomas Boston ( 1 6 7 6 - 1 7 3 2 ) , der Deistjohn Toland (1670-1722) und der Begründer der —»Katholisch-apostolischen Gemeinde, E. —»Irving, hatten in Edinburgh studiert. William Robertson (1721—1793), als Vertreter des gemäßigten Flügels innerhalb der Kirche einer der herausragendsten Kirchenfiihrer, war von 1763 bis 1793 Rektor. Er gilt heute als Wegbereiter der wissenschaftlichen Geschichtsforschung und als unmittelbarer Vorläufer von Gibbon. Während seines Rektorats wurde die Verpflichtung der Professoren, sich auf ihren Glauben hin überprüfen zu lassen, aufgehoben. 1.3. Die Universität im 19. Jh. Das 19. Jh. begann für die Universität sehr gut; mehrere neue Lehrstühle wurden eingerichtet; die theologische Fakultät wurde allerdings erst 1846 um einen Lehrstuhl für —»Bibelwissenschaft erweitert. Th. —»Chalmers war von 1828 bis 1843 Professor für Theologie. Ihm folgte John Lee (1779—1859), der sich vor allem für die Kirchengeschichte interessierte. Die herausragendsten Theologen waren jedoch Thomas J. Crawford (1812-1875) und Robert Flint (1834-1903), der damals bekannteste Exponent der Kirche von Schottland, der als Gelehrter und Religionsphilosoph einen internationalen Ruf genoß. Zu seinen Werken, die zu einem großen Teil in mehrere Sprachen übersetzt wurden, gehörten The Philosophy of History in France and Germany (1874), Theism (1877), Anti-Theistic Theories (1879), Christianity in relation to other Religions (1882), Vico (eine kritische Biographie von Giovanni Battista Vico; 1884) sowie History of the Philosophy of History (1893). Archibald H. Charteris ( 1 8 3 5 - 1 9 0 8 ) war der erste Professor für Bibelwissenschaft im heutigen Sinne. 1.4. Die Universität im 20. Jh. Die theologische Fakultät der Universität erholte sich rasch von der Kirchenspaltung im Jahre 1843, obwohl sie damals von einigen ihrer führenden Mitglieder Abschied nehmen mußte. Im folgenden Jahrhundert konnte die Universität ihren Ruf als eine Hochburg akademischer Bildung weiter ausbauen. Nach dem Zusammenschluß der Kirche von Schottland und der United Free Church ofScotland 1928 wurden auch die theologische Fakultät der Edinburgher Universität und der Senat des New College vereinigt; von da an oblag die Besetzung der Lehrstühle einer gemeinsamen Kommission der Kirche von Schottland und der Universität Edinburgh. Die bedeutendsten Wissenschaftler der Fakultät waren: W. P. Paterson ( 1 8 6 0 - 1 9 3 9 ) , der Verfasser von The Rule of Faith (1912) und The Nature of Religion (1925); A. R. S. Kennedy (1859-1938), ab 1895 Professor für Hebräisch, trug viel dazu bei, daß die Hebraistik in Schottland eine solide linguistische Grundlage bekam; James Mackinnon (1860—1945) wurde 1908 auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte berufen; er hatte in Deutschland und Stellenbosch (Südafrika) studiert; seine dreibändige History of Modern Liberty ( 1 9 0 6 - 1 9 0 8 ) wurde auch ins Deutsche und Französische übersetzt. John Baillie ( 1 8 8 6 - 1 9 6 0 ) , Professor der Theologie von 1934 bis 1956, ein engagierter Vertreter des Ökumenismus, war stark von der Theologie K. —»Barths und E. —»Brunners beeinflußt. Sein Nachfolger wurde John Mclntyre, eine Autorität in der Anselm-Forschung. Auf den Lehrstuhl für Dogmatik wurde 1950 T. F. Torrance berufen. 2. Das New College
(1843-1929)
Nach der Spaltung der Kirche von Schottland im Jahre 1843 und der Entstehung der Free Church of Scotland wurde 1846 von dieser ein College zur Ausbildung von Geistlichen gegründet. Erster Rektor wurde Th. Chalmers. Überzeugt davon, daß Theologie „als Wissenschaft" gelehrt werden müsse und „eine akademische Behandlung durch akademisch Gebildete" verdiene, konnte er viele begabte Wissenschaftler für das New College gewinnen; unter ihrer Anleitung sollten die Studenten lernen, „die Bibel zu verstehen" und „sie richtig einzusetzen, um die Menschen in ihrem Herzen und Gewissen anzusprechen". Ursprünglich wollte man das New College so ausbauen, daß es in allen allgemeinbildenden Fächern Unterricht erteilen konnte, allerdings stets auf der Basis religiöser Grundsätze. Eine ganze Reihe von Berufungen auf geistes- und naturwissenschaftliche Lehrstühle wurden
Edom und Israel
291
ausgesprochen. Der Aufbau einer „Konkurrenzuniversität" erwies sich jedoch als überflüssig, als das Parlament des Vereinigten Königreichs 1853 eine Verordnung verabschiedete, nach der nicht mehr alle Universitätsprofessoren Mitglieder der etablierten Kirche von Schottland zu sein hatten. Durch den Zusammenschluß der Freikirche und der United Presbyterian Church zur United Free Church im Jahre 1900 wurde das New College zu einer der theologischen Ausbildungsstätten dieser Kirche. Nach der Union der United Free Church und der Kirche von Schottland im Jahre 1928 vereinigte sich auch der Senat des New College mit der theologischen Fakultät der Universität. Zu den Rektoren des College gehörten vor 1900 Chalmers William Cunningham (1805-1861) und Robert Rainy (1826-1906), beide Professoren für Kirchengeschichte. Marcus Dods (1834-1909) war von 1 8 8 9 - 1 9 0 9 Professor für Neues Testament. H . R . MacKintosh (1870—1936), von 1904 bis 1936 Professor der Theologie, war stark von A. —•Ritsehl beeinflußt. Herausragend unter den Alttestamentlern war Andrew Bruce Davidson (1831 — 1902); er machte sich um die Reform des Hebräischunterrichts in Schottland sowie um die Einführung der Bibelwissenschaft, wie sie in Deutschland gepflegt wurde, verdient. Sein bekanntester Schüler war W. R. —»Smith. In der ersten Hälfte des 20. Jh. verfügte das New College über eine ganze Anzahl von international angesehenen Wissenschaftlern, die einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Theologie sowie zum Leben der Kirche leisteten. So konnte sich das College überaus leicht in der Welt der neuen Theologie zurechtfinden, die ja durch die kritische Bibelwissenschaft, die Philosophie Ritschis und —»Kierkegaards sowie die Theologie —»Barths und —»Brunners grundlegend verändert worden war. Quellen und
Literatur
Bibliographie: BM.GC 59 (1965) 416ff; BM.S'56 13 (1968) 669ff; BM.S'66 7 (1971) 736ff. A. G. Grant, The Story of the Univ. of Edinburgh, 2 Bde., London 1884. — David Bayne Horn, A Short History of the Univ. of Edinburgh, 1 5 5 6 - 1 8 8 9 , Edinburgh 1967. - Hew Scott, Fasti Ecclesiae Scoticanae, New Ed., Edinburgh, I ; V 1 I - I X 1 9 1 5 / 1 9 2 8 / 1 9 5 0 / 1 9 6 1 . - H u g h Watt, New College, Edinburgh. A Centenary History, Edinburgh 1946.
James K. Cameron Edom und Israel 1. Name und Siedlungsgebiet der Edomiter 2. Seirund Edom im 2. Jt. v.Chr. 3. Edomim 1. Jt. v.Chr. 3.1. Die Frühzeit 3.2. Edom unter israelitisch-judäischer Herrschaft 3.3. Die Zeit der Selbständigkeit Edoms 3.4. Die Kultur der Edomiter 4. Israel und Edom (Literatur S. 297)
1. Name und Siedlungsgebiet
der
Edomiter
Nach dem Alten Testament wohnten die Edomiter im Gebirge (von) Seir (Ez 35,15). Von den beiden Namen „Seir" und „Edom" ist ersterer der früher belegte, eine Landschaftsbezeichnung, die zuerst in einem Amarnabrief der Zeit Amenophis' IV. (Echnatons) vorkommt, aber bereits für die Zeit Amenophis* III. vorausgesetzt werden kann. In den biblischen Texten werden die Namen Seir und Edom gern promiscue gebraucht. Das Wort^e'fr ist semirisch und könnte so etwas wie „das rauhe Land" bedeuten, womit eventuell auf die Zwergbuschflora des steppen- und wüstenhaften Gebiets angespielt wird. Im 2. und 1. Jt. v. Chr. bezeichnet der Name das Land zu beiden Seiten des Wädi 1- Araba südlich des Wädi 1-Hasä im Osten und des unter ägyptischer bzw. judäischer Herrschaft stehenden Bereichs des Landes Kanaan im Westen, wobei hier die Grenze je nach der Fluktuation der Siedlungsgrenze schwankte. Gegen Ende des 2. Jt. ließen sich in dem östlich des Wädi 1- 'Araba gelegenen Teil Seirs Stämme nieder, die die Israeliten als „Söhne Esaus" bezeichneten. Dieses Gebiet trug, wahrscheinlich nach dem am östlichen Bruchrand des Grabens des Wädi 1- Araba anstehenden roten „Nubischen Sandstein", den Namen Edom ( "'döm), „rotes Land", der in der Folgezeit zur Bezeichnung seiner Bevölkerung und ihres sich dort entwickelnden Staatswesens wurde. In den biblischen Texten werden darum die Namen Seir und Edom nebeneinander gebraucht. Das Siedlungsgebiet der Edomiter läßt sich aufgrund der seit den dreißiger Jahren im südlichen Transjordanien durchgeführten archäologischen Oberflächenuntersuchungen und Ausgrabungen in
E d o m u n d Israel
292
großen Zügen bestimmen (Glueck: H U C A 1 1 ; Weippert, Edom 3 9 4 - 4 0 1 . 4 0 8 - 4 2 1 ) . Als Nordgrenze, die Edom von M o a b schied, wird gemeinhin und zu Recht das tief eingeschnittene Wädi 1-Hasä (Sei elQerähi) angesehen. Wegen der Erwähnung von Dedan (el-TJIa) im Zusammenhang mit E d o m wird häufig vermutet, daß der edomitische Staat sich im Süden bis tief in den Hegäz hinein erstreckt h a b e . D o c h ist sicher, daß die Südgrenze des seßhaften W o h n e n s östlich des Wädi l-'Araba während der gesamten Eisenzeit und darüber hinaus am R a s e n - N a q b , dem Steilabfall des transjordanischen T a f e l lands zur Landschaft el-Hesmä, gelegen hat (Weippert: Z D P V 9 5 , 8 7 f). Zwischen diesen beiden s c h a r f markierten natürlichen Grenzen erstreckten sich in einem vor allem durch die H ö h e der jährlichen Niederschläge festgelegten Streifen von ca. 1 0 — 2 5 k m Breite die eisenzeitlichen (d.h. edomitischen) Siedlungen. Wie weit darüber hinaus der politische und ö k o n o m i s c h e Einfluß Edoms gereicht hat, ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht festzustellen. Sichcr ist, daß sie zumindest zeitweise an den durch die Hesmä führenden Überlandstraßen präsent waren (Graf) und in Teil el-Hlefe a m N o r d e n d e des Golfs von el-'Aqaba einen befestigten Außenposten unterhielten (s. Literatur unter Glueck; C o n rad/Rothenberg 2 1 3 Anm. 3 2 ) ; an eine politisch-militärische Beherrschung der großen Oasen des H e gäz durch den edomitischen Staat ist aber schon aus geographischen Gründen nicht zu denken. Die Beziehungen zu den nomadisch gebliebenen Stämmen westlich des Wädi l-'Araba (vielleicht mit Ausnahme der Amalekiter) dürften über eine Art Protektorat nicht hinausgegangen sein. (Zu Idumäa s. u. Abschn. 3 . 3 . ) 2 . Seir und
Edom
im 2. Jt. v.
Chr.
D i e E r w ä h n u n g d e r w a h r s c h e i n l i c h s ü d l i c h a n die d a m a l i g e ä g y p t i s c h e P r o v i n z K a n a a n a n s c h l i e ß e n d e n „ L ä n d e r v o n S e r a ( S e i r ) " [ K U R . H I . A ( m ä t ä t ) Se-e-rikt]
in d e m A m a r n a b r i e f
K n u d t z o n N r . 2 8 8 ( Z . 2 6 ) , einem Schreiben des Königs A b d u h e b a von Jerusalem an A m e n o p h i s I V . ( M i t t e 1 4 . J h . ) w e i s t w o h l a u f e i n e i n t e r n e A u f g l i e d e r u n g des G e b i e t s Seir h i n . Bestätigt wird diese Vermutung durch eine Liste von sechs territorialen Einheiten, die sämtlich im „ $ 3 j i i > [ N o m a d e n ] - L a n d " , d. h. dem Niemandsland zwischen Ägypten und Kanaan, lokalisiert werden, und die Ramses II. ( 1 2 9 0 — 1 2 2 4 ) in seinem Tempel in 'Amära West (Nubien) im Z u s a m m e n h a n g mit seiner großen Ortsnamenliste hat anbringen lassen (Kitchen, Inscriptions II, 2 1 7 Nr. 5 6 ii 9 2 — 9 7 ; vgl. Weippert, Edom 9 . 3 1 - 3 3 ; Giveon, Shosou 7 4 - 7 7 ; Edel 6 8 . 7 8 ) . Angeführt wird diese Liste durch $'rr (Seir; wohl mit fehlerhafter Doppelschreibung des r , anders Astour), das damit nach Analogie anderer ägyptischer Ortsnamenlisten zugleich als eine Art Uberschrift fungiert haben dürfte, die den allgemeinengeographischen Rahmen der folgenden Namen ( R b n t , P s p s , $ m ( ' ) t , Yhw [—»Jahwe], * Trbr) angab; bei diesen handelt es sich wohl um Namen von S i s i f - S t ä m m e n . Die Ortsnamenliste Ramses' II. in ' A m ä r a West geht nun aber im wesentlichen auf eine ältere Vorlage zurück, die bereits für Inschriften im Tempel Amenophis* III. ( 1 4 0 2 — 1 3 6 4 ) im nubischcn Soleb verwendet wurde ( L e d a n t ; Giveon, Shosou 2 6 - 2 8 ) . In den beiden dort belegten Exemplaren der i l s w - L i s t e ist der N a m e Seir nicht erhalten, doch mit Sicherheit zu ergänzen, so daß wir einen indirekten Beleg für Seir für mindestens die 1. Hälfte des 1 4 . J h . besitzen. D o c h ist Ramses II. auch selbst dort aktiv gewesen, wie sich aus seinem zweimal vorkommenden Titel „der das Gebirge (von) Seir ( d w S ' r ) geplündert h a t " ( M o n t e t / G o y o n T a f . III; G o y o n T a f . X X I Z . 2 ; s. Weippert, Edom 3 4 f) ergibt. Uber einen Feldzug nach Seir wird auch in dem unter Ramses IV. verfaßten großen Rechenschaftsbericht des Papyrus Harris I über die Regierung R a m s e s ' III. ( 1 1 8 4 - 1 1 5 3 ) berichtet, in dem die Bewohner des Gebiets als S3sw bezeichnet und als in Zelten wohnende Kleinviehzüchter geschildert werden ( 7 6 , 9 - 1 1 ; Erichsen 9 3 ; A N E T 2 6 2 ) . Damit enden die ägyptischen Nachrichten, da der Erwähnung „derer von Seir"(n3y S'r) in dem „literarischen B r i e f " des Papyrus M o s k a u 1 2 7 ( 5 , 5 ; Korostovcev, 6 8 f; Weippert, Edom 3 6 ; G ö r g : Bibl. Notizen 1 1 , 1 9 f) aus der Zeit der 2 1 . Dynastie ( 1 1 . / 1 0 J h . ) historisch nichts abzugewinnen ist. N u n e n t z ü n d e t e sich d a s I n t e r e s s e d e r Ä g y p t e r a n d e m $ 3 s w - L a n d Seir s i c h e r n i c h t a u s schließlich a n seinen n o m a d i s c h e n B e w o h n e r n u n d ihren H e r d e n . Viel w i c h t i g e r w a r d a s K u p f e r , d a s sie i m W ä d i l - ' A r a b a , i n s b e s o n d e r e i m B e r e i c h v o n e l - M e n e r i je (israelit. T i m n a ' ) in g r o ß e m Stil f ö r d e r t e n u n d v e r h ü t t e t e n . In e l - M e n e ' I j e sind u n z ä h l i g e
Prospektions-
schächte und Grubenanlagen, Verarbeitungsstätten und Unterkünfte (Conrad/Rothenberg; W e i s g e r b e r ) , a b e r a u c h ein d e r G ö t t i n H a t h o r g e w e i h t e r ä g y p t i s c h e r T e m p e l g e f u n d e n w o r d e n ( R o t h e n b e r g , T i m n a ) . S i c h e r b e z e u g t s i n d in l e t z t e r e m die K ö n i g e R a m s e s II., M e r n e p t a h , S e t h o s II. u n d T a u s e r t , R a m s e s III., I V . u n d V . ; z u d e m g l a u b t d e r A u s g r ä b e r a u c h eine v o r r a m e s s i d i s c h e P h a s e n a c h w e i s e n z u k ö n n e n , a u s d e r vielleicht ein R e l i e f b r u c h s t ü c k m i t der K a r t u s c h e eines T u t h m o s i s s t a m m t (Kitchen: O r . N S 4 5 ) . D e r H ö h e p u n k t der B e r g b a u u n d H ü t t e n t ä t i g k e i t fiel w a h r s c h e i n l i c h in die R e g i e r u n g s z e i t R a m s e s ' III., a u s d e r a u c h ein v o n d e m T r u c h s e ß (wb.3nsw.t)
R ' m s w s w - m - p r - R ' a n g e b r a c h t e s Relief an der F e l s w a n d
Edom und Israel
293
über dem Tempel (Schulman) und eine Doppelkartusche des Königs im Wädi r-Raddädi (Conrad/Rothenberg 211 Abb. 231) an einer in jener Periode benutzten Wegeverbindung aus der Sinai-Halbinsel nach dem Wädi l-'Araba stammen. Aus den Keramikfunden im Tempel und den sonstigen Anlagen von el-Mene' Ije ist deutlich, daß die Ägypter bei der Kupfergewinnung mit den Einheimischen kooperierten. Es liegt nun nahe, die ägyptischen Erwähnungen von Seir mit den Kupfergruben des Gebiets in Zusammenhang zu bringen, wobei freilich in den Texten die Darstellung des Pharao in der traditionellen Rolle des Siegers über die Asiaten das eigentliche Ziel der Expedition dorthin verdunkelt hat. Doch schildert Papyrus Harris 1 7 8 , 1 - 5 (Erichsen 95; Breasted § 408) auch eine Mission nach den reichen Kupferbergwerken des Landes 'tk, deren Umstände gut zu den archäologischen Funden von el-Mene' lye passen. Der Name Edom ['dm) erscheint erstmalig in einem auf das Ende des 8. Jahrs Merneptahs (1216) datierten ägyptischen Musterbrief in Papyrus Anastasi VI 5 1 - 6 1 in Verbindung mit$3siv-Sippen oder -Stämmen (mh.wt) „von Edom", die mit ihren Kleinviehherden in Ägypten Aufnahme gefunden haben und an den Wasserstellen des Amüntempellandes von Ikw (hebr. Sukkoth, Teil el-Mashüta) im Wädi "fumilät zugelassen werden (Gardiner 76f; ANET 259; Weippert, Edom 35; Giveon, Shosou 1 3 1 - 1 3 4 ) . Der Vorgang scheint als so typisch und der Name Edom als so bekannt empfunden worden zu sein, daß sie zum Gegenstand eines der Schreiberausbildung dienenden „Schultextes" gemacht werden konnten. 3. Edom im l.Jt.
v.Chr.
3.1. Die Frühzeit. Während uns die schriftlichen Quellen des 2. Jt. vor etwa 1200v.Chr. die Bevölkerung von Seir und Edom als Nomaden [$3sti>) schildern, erscheinen die Edomiter vom frühen 10. Jh. an vorwiegend als Seßhafte. Ihre Seßhaftwerdung muß sich also wie die ihrer Nachbarn hauptsächlich im 12./11. Jh. vollzogen haben. Das Alte Testament gibt an, daß sie bei ihrer Ansiedlung die horitischen Vorbewohner von Seir „ausgerottet" hätten (Dtn 2,12); dem widerspricht jedoch das Vorhandensein horitischer Genealogien in Gen 36, die ohne Zweifel reale Stammesverhältnisse widerspiegeln, so daß die Notizen über die Verdrängung der Horiter auf dem in Israel geläufigen Modell einer kriegerischen Landnahme und nicht auf zutreffender historischer Erinnerung beruhen dürften. Auch archäologisch ist erwiesen, daß die Besiedlung des edomitischen Territoriums nach einer die Mittelbronze II- und die Spätbronzezeit umfassenden Unterbrechung um die Wende vom 13. zum 12. Jh., d.h. zu Beginn der Eisenzeit I, einsetzte (MacDonald; Weippert, Conference). Der Umfang dieser Aufsiedelung des Gebiets südlich des Wädi 1-Hasä und östlich des Wädi l-'Araba ist gegenwärtig noch nicht bestimmbar; wahrscheinlich ist jedoch, daß N. Gluecks Vorstellungen von einem dichten Netz von Siedlungen bereits im 13. Jh. und von durch Festungen geschützten Grenzen der Realität nicht gerecht werden. Der Besiedlungshöhepunkt in Edom liegt in der Eisenzeit IIC ( 8 . - 6 . Jh.; Weippert, Conference).
An schriftlichen Quellen für die Frühzeit Edoms steht in erster Linie die „edomitische Königsliste" in Gen 3 6 , 3 1 - 3 9 (I Chr 1 , 4 3 - 5 1 a) zur Verfügung, da die (einander widersprechenden) Erzählungen über die Kontakte zwischen Edomitern und Israeliten während des Exodus auf Konstruktion beruhen (Weippert, Symposia 23; Mittmann). Die Königsliste, die sicher auf alte, jedoch nicht einheitliche (Bartlett: JThS NS 16) Tradition zurückgeht, zählt acht Könige auf, meist mit Angaben über ihre Residenz bzw. Herkunft, die vor dem Aufkommen des Königtums in Israel nacheinander die Herrschaft ausgeübt haben sollen. Aus der Tatsache, daß keiner der Könige der Sohn seines Vorgängers ist, hat man schließen wollen, daß Edom anfangs ein „Wahlkönigtum" oder zumindest ohne dynastische Thronfolge gewesen sei (vgl. dazu Buhl 47; Meyer 372); doch ist ziemlich unwahrscheinlich, daß das Sukzessionsschema des Texts ursprünglich ist. Es liegt näher, an lokale Herrscher vor Errichtung eines edomitischen Einheitsstaats zu denken, wie denn die Überschrift auch nicht von „Königen von Edom" spricht, sondern von Königen, die „im Lande Edom regiert haben" (Gen 36,31; I Chr 1,43; vgl. Weippert, Edom 4 6 9 - 4 7 5 ; Bartlett: PEQ 104, 27). Aus Edoms Frühzeit datieren auch die beiden Stämmesysteme der „Söhne Esaus" und
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Edom und Israel
der „Söhne Seirs", die in genealogischer Form in Gen 3 6 , 1 0 - 3 0 . 4 0 - 4 3 (I Chr 1,35— 42.51 b— 54) dargestellt sind und deren älteste Fassung in Gen 36,10—14 bzw. 20—28 vorliegt (Meyer 3 3 8 - 3 5 4 ; Weippert, Edom 4 3 7 - 4 6 9 ) . Danach gehörten zu den „Söhnen Esaus" zwei Stämme, die in der genealogischen Fiktion von zwei Frauen des Heros eponymus Esau abgeleitet werden, mit insgesamt neun oder zehn Tribus; durch eine Nebenfrau des Stammeseponymen Eliphas sind ferner die westlich des Wädi l-'Araba nomadisierenden Amalekiter mit dem System verbunden. Anhangsweise werden noch drei weitere Stämme (ohne Tribusgliederung) aufgeführt, deren Stammutter auch in der Genealogie der „Söhne Seirs" vorkommt. Diese umfaßt nach Entfernung des sekundären Stücks Gen 36,25 a sechs Stämme mit insgesamt 18 Tribus, wobei zwei verschiedenen Generationen angehörende Frauen die Brücke zur Genealogie der „Söhne Esaus" schlagen. Uber das Verhältnis der beiden Stämmesysteme zueinander sind nur Vermutungen möglich. Der israelitische Autor von Gen 3 6 , 1 0 - 1 4 identifiziert „Esau"mit Edom; die Genealogie der „Söhne Esaus" beschriebe dann die Stammesgliederung der auf dem Gebirge östlich des Wädi 1-Äraba (Edom) seßhaft gewordenen Bevölkerung (wobei offen bleiben muß, ob die Edomiter „Esau" auch selbst als Volksnamen gebrauchten); bei den „Söhnen Seirs" könnte es sich dann um die auch im 1. Jt. nomadisch gebliebenen Bevölkerungsgruppen zu beiden Seiten des Wädi l-'Araba handeln, die in mehr oder minder festen Beziehungen zum Staat Edom standen. 3.2. Edom unter israelitisch-judäischer Herrschaft. Die wenigen Nachrichten über die Frühzeit Edoms erlauben keine Darstellung seiner Entwicklung und Geschichte im 12./11. Jh. Die Notiz der „Königsliste", daß der in Avith regierende König Hadad (I.) b. Bedad im Gebiet von Moab die Midianiter geschlagen habe (Gen 36,35; I Chr 1,46), läßt sich zwar mit der Bedrohung der israelitischen Stämme durch dieselben transjordanischen Nomaden (Jdc 6—8) synchronisieren, bleibt aber dennoch ein isoliertes Ereignis, dessen Voraussetzungen und Folgen sich näherer Kenntnis entziehen. Als höchst folgenreich erwies sich jedoch, daß um 1000 —»David nach der Konsolidierung seiner Herrschaft über Juda und Israel und nach seinen Siegen über die Ammoniter und einige mittelsyrische Aramäerstaaten auch Edom angriff und nach einer Schlacht im „Salztal", wohl dem Nordteil des Wädi 1Araba (es-Sebha und Cor es-§äfi),seinem Reich einverleibte (IlSam 8,13 f); Ziel dieser Aktionen war wohl, die transjordanische Handelsroute in größtmöglichem Umfang in die Hand zu bekommen. Unbekannt ist, ob Edom damals bereits ein monarchisch verfaßter Einheitsstaat war; der über Midian nach Ägypten entkommene minderjährige Prinz Hadad (III.) kann auch Abkömmling einer lokalen Herrscherfamilie gewesen sein. Dieser Hadad, von dem man sich in Ägypten wohl Einflußmöglichkeiten in Israel und Edom versprach und der darum am Hofe aufgezogen und mit einer Schwester der „Königin" verheiratet wurde, führte nach dem Tode Davids eine im ganzen wohl nicht sehr erfolgreiche Guerilla gegen die Besatzungsmacht (I Reg 11,14—22. * 25). Er konnte Salomo nicht daran hindern, den der Verwaltung der Provinz Edom unterstehenden Hafen Eziongeber am Roten Meer (wohl Gezlret Fara' ün, Rothenberg: BTS 72; Das Heilige Land 97; Negev 207—213) für seine Handelsfahrten nach Ophir zu gebrauchen (II Reg 9,26—28), noch überhaupt Edom aus dem davidischen Reichsverband lösen. Auch Josaphat von Juda (Mitte des 9. Jh.) hatte in Edom noch seinen Statthalter (I Reg 22,48; die Erwähnung eines „Königs von Edom" in der unter Josaphat eingeordneten Erzählung II Reg 3,9.12.26 vgl. 10 ist unhistorisch) und gebrauchte Eziongeber für eine (freilich gescheiterte) Flottenexpedition nach Ophir (I Reg 22,49 f). Erst unter Josaphats Nachfolger Joram erstritten sich die Edomiter die Unabhängigkeit unter einem eigenen König (II Reg 8 , 2 0 - 2 2 ) . Wahrscheinlich war dies die Geburtsstunde des edomitischen Einheitsstaats (vgl. Bartlett: PEQ 104, 30 f). 3.3. Die Zeit der Selbständigkeit Edoms. Der Sieg Amazias von Juda (Anfang des 8. Jh.) über Edom im „Salztal" und die Einnahme von Sela (II Reg 14,7) wie die Besetzung Elaths am Roten Meer (el-Äqaba und Teil el-Hlefe) durch Asarja von Juda (Mitte des 8. Jh.; II Reg 14,22) waren keine so durchschlagenden Erfolge, daß sie die Selbständigkeit Edoms noch
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einmal in Frage hätten stellen können; Elath fiel überdies um die Zeit des „Syrisch-ephraimirischen Krieges" (734-732) endgültig an Edom (II Reg 1 6 , 5 - 9 ; vgl. II Chr 28,17). Inzwischen wurden die Auswirkungen der sich seit der Mitte des 9. Jh. in Syrien vollziehenden politischen Veränderungen (Auftreten der Assyrer, Umsturz in Aram-Damaskus und Israel) auch im Süden spürbar. So zahlte Edom, das damals wahrscheinlich zur Klientel von Aram-Damaskus gehörte, anläßlich des Feldzugs Adadnäräris III. gegen Damaskus im Jahre 802 oder 796 zusammen mitTyrus, Sidon, Israel und den Philisterstaaten Tribut an Assyrien (ANET281f; Weippert, Edom 5 5 - 5 7 ; Tadmor 148 f). Aus der in der 2. Hälfte des 8. Jh. einsetzenden Zeit der assyrischen Vorherrschaft sind einige der Könige von Edom namentlich bekannt, die es augenscheinlich verstanden haben, ihr Reich aus der „großen Politik" der syrisch-palästinischen Kleinstaaten herauszuhalten, und die Zahlung von Tribut aussichtslosem militärischen Widerstand vorzogen: Qausmalak unter Tiglathpileser III. (732; Weippert: ZDPV 89, 52 Z. 11'), Ajaräm unter Sanherib (701; Borger, Lesestücke 73 II 57; Weippert, Edom 113), Qausgabar, von dem ein Siegelabdruck auf Umm el-Biyära (Petra) gefunden wurde (Bennett: RB 73, 399. Tf. XXIIb), unter Asarhaddon und Assurbanipal (7. Jh.; Borger, Asarhaddon 60 Z. 56; Weippert, Edom 141 Z. 28'; ANET 294). Die Teilnahme Edoms an der gegen Sargon II. gerichteten palästinischen Koalition (ANET 287; Weippert, Edom 100.104 Z. 26'), die mit der assyrischen Eroberung Asdods 712 ihr Ende fand, änderte an dieser grundsätzlichen Haltung nichts, die die Politik der Edomiter auch zur Zeit der Suprematie des Neubabylonischen Reiches bestimmte. In diesem Zusammenhang sind wohl Zwischenfälle im judäischen Grenzbereich zu sehen, wie sie ein Ostrakon des ausgehenden 8. Jh. aus Arad (Teil Äräd) zu reflektieren scheint (Aharoni/Naveh 72—76 Nr. 40; Weippert, Edom 379—383), und die Angriffe edomitischer Streifscharen auf Juda während der Rebellion Jojakims gegen Nebukadnezar II., die außer durch II Reg 24,2 wohl auch durch ein Ostrakon aus—»Arad bezeugt werden (Aharoni/Naveh 4 8 - 5 1 Nr. 24; Weippert, Edom 3 8 3 - 3 8 7 ) . Diese Politik, wahrscheinlich aber auch das Interesse der mesopotamischen Großmächte an dem durch edomitische Hände laufenden Arabienhandel, verschaffte den Edomitem in einer Zeit, in der die meisten syrisch-palästinischen Staaten ökonomisch und politisch ruiniert wurden, eine Periode relativer Ruhe und Prosperität, die sich archäologisch in dem im 8 . - 6 . Jh. erreichten Maximum der eisenzeitlichen Siedlungsdichte zwischen Wädi 1-Hasä und Ras en-Naqb ausdrückt. Hauptstadt war in dieser Zeit Bozra (Bujera; vgl. Jes 34,6 b; 63,1; Jer 49,13.22; Am 1,11 und Buhl 36; Lury 26). Nach den vorhandenen Quellen gestatteten sich die Edomiter ein einziges Mal eine Abweichung von ihrer politischen Linie, als sie, anscheinend im 4. Jahr Zedekias von Juda (594/93), eine Gesandtschaft nach Jerusalem schickten, um an Verhandlungen mit den Vertretern Judas, Moabs, der Ammoniter und Tyrus' über eine gegen Nebukadnezar II. gerichtete Koalition teilzunehmen (Jer 27,3; zum Datum s. Weippert, Edom 3 4 9 - 3 5 1 . 3 7 2 - 3 7 7 ) ; doch haben diese Besprechungen zu nichts geführt. Vom zweiten Aufstandsversuch Zedekias, der von den Ammonitern und Tyrus unterstützt wurde, hielt Edom sich fern; aus den einschlägigen Texten (Ez 25,12f; 3 5 , 1 - 1 5 ; Joel 4,19; Ob 1 0 - 1 4 ; Ps 137,7) geht auch nicht hervor, daß, wie häufig angenommen wird, an der Eroberung Jerusalems 586 auf Seiten der Babylonier auch edomitische Truppen beteiligt waren (daß die Edomiter, wie III Esr 4,45 behauptet, den Tempel in Brand gesteckt hätten, ist Verleumdung, nicht historische Nachricht). Die in der exilischnachexilischen Prophetie aufflammende Edomiterfeindschaft geht vielmehr auf die Besetzung des Südens des judäischen Staatsgebiets durch Edomiter zurück (vgl. Ez 35,10.12), ein in seinen Einzelheiten dunkler Vorgang, der epigraphisch durch das Vorkommen zahlreicher edomitischer Personennamen mit dem theophoren Element Qaus/Qös (s. § 3.4) in aramäischen Ostraka der persischen Zeit aus Arad (Aharoni/Naveh 167—200 passim, s. Index 204) und Teil es-Seba c (Naveh, Tel Aviv 6 passim) und in aramäischen und griechischen Inschriften der hellenistischen Zeit aus Marissa (Teil Sandahanna; Peters/Thiersch passim) und y i r b e t el-Qöm (Geraty 55 Z Z . 2.8) bezeugt ist, und der zur Herausbildung des Territoriums (Eparchie unter Strategen, in römischer Zeit Toparchie von Judäa) Idumäa mit den Zentren Adora (Dura) und Marissa führte, dessen Nordgrenze wenig südlich der judäischen
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Stadt Beth-Zur (Hirbet et-Jubeqa) lag; die Idumäer wurden durch Johannes Hyrkan 1.129 v.Chr. zwangsweise judaisiert (Josephus, Ant. 13, 257f). Uber die weitere Geschichte des edomitischen Stammlandes östlich des Wäcti l-'Araba bis zur hellenistischen Zeit ist kaum etwas bekannt. Möglich ist, daß der letzte babylonische König Nabonid in seinem 3. Jahr (533/52) Bozra belagern ließ (vgl. Grayson 282; Lindsay; Bartlett: PEQ 111, 57f), wenn man den nur fragmentarisch erhaltenen Ortsnamen ["™A/Ü-yiu-um-mu in der Nabonid-Chronik (Grayson 105117) als „[Stadt E]dom" auffassen darf (Landesname mit Stadtdeterminativ als Bezeichnung einer Hauptstadt wie ™"Ia-a-hu-du „Stadt J u d a " für Jerusalem, Grayson 102 Rs. 12; Alternative: die Oase Duma; vgl. Galling: FS Weiser). Uber die persische Zeit liegen, außer drei aramäischen Ostraka des 5./4. Jh. aus Teil el-Hlefe (Glueck: FS Albright 2 3 2 - 2 3 4 ) , keine sicher datierbaren schriftlichen Quellen vor; archäologisch ist diese Periode bisher nur für Bozra, vielleicht weiterhin Verwaltungszentrum der Landschaft, und Teil el-Hlefe (Stratum V) bezeugt.
Man darf annehmen, daß in der 1. Hälfte des 5. Jh. Edom den aus der Syrischen Wüste westwärts drängenden Arabern erlag, deren Aktivität sich bereits im 7. Jh. unter Assurbanipal bemerkbar gemacht hatte (Weippert: WO 7); für den zwischen 500 und 450 schreibenden Autor von Mal 1,2—5 ist die Verwüstung Edoms Tatsache. Nach gegenwärtigem Wissensstand begann die Neubesiedlung des Landes durch die arabischen Nabatäer um die Mitte des 3. Jh. v. Chr. (Parr: FS Glueck). 3.4. Die Kultur der Edomiter. Die Kultur der Edomiter ist noch wenig erforscht. Ihre Ökonomie beruhte wahrscheinlich auf Landwirtschaft und Handel, wobei letzterer durch die Lage Edoms an der großen transjordanischen Uberlandstraße von Syrien nach Arabien bzw. Ägypten sicher eine wesentliche Bedeutung hatte. Die Architektur, so weit sie bisher aus den Ausgrabungen von Bu$era und Teil el-Hlefe (Stratum IV) bekannt ist, zeigt kaum Unterschiede zu der des gleichzeitigen Palästina. Die bemalte Keramik der ausgehenden Spätbronzezeit ist nicht edomitisch. Die edomitische Keramik der Eisenzeit I ist generell der gleichzeitigen Keramik aus Transjordanien und Südpalästina ähnlich. In der Eisenzeit II macht sich, wie im übrigen Ostjordanland, eine starke Tendenz zu ein- und mehrfarbiger Bemalung (schwarz-weiß-rot) und zu plastischer Dekoration der Gefäße, gegen Ende der Periode auch Einfluß der assyrischen Keramik bemerkbar (in Teil el-Hlefe IV finden sich auch Elemente, die dem edomitischen Kernland fremd und vielleicht arabischer Herkunft sind). Die Schrift der Edomiter, ein Abkömmling der nordwestsemitischen Konsonantenschrift, ist bisher nur in einigen Ostraka, Siegeln und Graffiti der Eisenzeit HC (8.-6. Jh.) belegt und steht in dieser Periode deutlich unter aramäischem Einfluß. Die edomitische Literatur ist untergegangen; Versuche, Reste davon im Alten Testament nachzuweisen (Pfeiffer), sind gescheitert. Ebensowenig kann aus Stellen wie Jer 49,7; Ob 8 herausgelesen werden, daß die Edomiter im Besitze besonderer „Weisheit" gewesen seien. Von der Religion der Edomiter ist nur bekannt, daß ihr Nationalgott Qaus (jünger Qös) hieß, und daß sie nach Ausweis der Personen- und Stammesnamen in Gen 36 daneben auch El und Hadad/Baal verehrt haben. Qaus/Qös ist seit dem 8. Jh. als theophores Element in edomitischen, judäischen, nabatäischen und altnordarabischen Personennamen belegt (Bartlett: JSOT 5; Milik, Syria 37; Rose: JSOT 4; Vriezen; Weippert, Edom 465-469), selbständig nur in einem edomitischen Graffito des 7. Jh. aus Bu;era (Puech 14 f m. Abb. 4. Tf. VA) und in nabatäischen Inschriften in dem ihm geweihten Tempel von Hirbet et-Tannür und in Bo$ra im Hauran (Milik: Syria 35,236—238). Die Weihung eines Adlerreliefs in Bosra galt ihm als Himmelsgott. Ansonsten ist über seinen Charakter nur das Wenige bekannt, das aus den Epiklesen in Personennamen erschlossen werden kann; danach haben seine Verehrer ihm Erhabenheit, Stärke und Königtum, Güte und Erbarmen zugeschrieben und ihn mit Lichtglanz und dem Blitz in Zusammenhang gebracht. Letzteres deutet darauf hin, daß er von Hause aus ein Gott des Hadad-Typus („Wettergott") gewesen ist. Unklar ist, ob damit die Nachricht des Josephus, Ant. 15,253) zu verbinden ist, daß die Vorfahren des Idumäers Kostobaros (lies *Kosgobaros) Priester des Ka>&, d.h. des altarabischen „Wettergottes" Quzah, gewesen seien, als dessen Bogen der Regenbogen (arab. qawsu quzaha/quzahin; mit dem Gottesnamen Qaus/Qös zu verbinden?) galt. Daß Qaus/Qös erst relativ spät
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belegt ist, wird mit der ungünstigen Quellenlage zusammenhängen; immerhin bleibt sein Fehlen im Onomastikon der edomitischen Frühzeit auffällig. 4. Israel und
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Unter ihren Nachbarvölkern haben sich die Israeliten keinem im Guten wie im Bösen so verbunden gefühlt wie den Edomitern. Ihren deutlichsten literarischen Ausdruck findet diese Einstellung in dem in die Patriarchenerzählungen eingefügten Esau-Jakob-Zyklus, der in seiner in Gen 2 5 , 1 9 - 2 8 . 2 9 - 3 4 ; 2 7 , 1 - 4 5 ; 3 2 , 4 - 2 1 ; 3 3 , 1 - 1 6 (JP) vorliegenden Fassung die beiden Protagonisten als die Stammväter der in Seir wohnenden Edomiter (Esau; siehe die Anspielung auf „Edom" und „Seir" in 25,25 samt den Rückverweisen in 27,11.16.21—23 und das—wohl sekundäre—etymologische Wortspiel in 25,30) und der Israeliten interpretiert und bei der Lösung des Konflikts Esau bereits in Seir lokalisiert (32,4; 33,16); eingeschoben ist ein Gottesspruch (Vaticitiium ex eventu) über das künftige Verhältnis der beiden Völker (25,22f; vgl. auch Num 24,18f). In denselben Vorstellungskreis gehören die gelegentlichen Hinweise auf die „Bruderschaft" zwischen Israel und Edom (Num 20,14; D t n 2 , 4 f ; Am 1,11), die in der Vorschrift des „Gemeindegesetzes" in Dtn 23,8 gipfeln, den Edomiter — als „Bruder" — nicht zu „verabscheuen", sondern seine Nachkommen in dritter Generation zur Gemeinde zuzulassen (V. 9, vielleicht Erweiterung). Der historische Ansatzpunkt dieser der Geschichte beider Völker seit David aufs schärfste widersprechenden Haltung ist schwer festzustellen (vgl. Bartlett: JThS NS 20; JSOT 4; Galling: FS Bertholet); doch dürfte er am ehesten in einer gemeinsamen Vorgeschichte von Bevölkerungsgruppen zu suchen sein, die in Edom bzw. Israel (Juda?) aufgegangen sind. Im Grenzbereich zwischen der judäischen Konföderation und Seir gab es ja mancherlei Überlappungen (Korah, Keniter). Ob die Edomiter vergleichbare Überlieferungen besaßen, ist nicht bekannt. Bemerkenswert ist, daß man in Israel die edomfreundliche Traditionslinie (vgl. auch Am 2,1) nie aufgab, auch nicht, als Edom längst zum „Erbfeind" geworden war, dessen endzeitliche Unterwerfung zusammen mit den anderen Völkern man erwartete (Jes 11,14; Am 9,12) und dessen Name als Chiffre für jeden Israels Existenz bedrohenden Feind (wie die Römer) dienen konnte.
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299
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Edwards, Jonathan 1. 40
(1703-1758)
Leben
J. E d w a r d s ,
Theologe,
Philosoph,
Erweckungsprediger
und
Religionspsychologe,
wurde a m 5 . O k t o b e r 1 7 0 3 in E a s t Windsor, Conn., geboren und starb a m 2 2 . M ä r z 1 7 5 8 in Princeton, N . J . Als Student und T u t o r a m Y a l e College (—»Yale), w o er 1 7 2 0 zum Bachelor und 1 7 2 3 zum M a s t e r graduiert wurde, geriet er unter den Einfluß der Erkenntnistheorie Lockes (—»Empirismus). In derselben Zeit erlebte er eine Bekehrung, die ihn zu der Überzeu45 gung brachte, d a ß der Prüfstein religiöser Wahrheit ein „Sinn des H e r z e n s " (sense of
the
heart) sei. E d w a r d s w u r d e kongregationalistischer Pfarrer in N o r t h a m p t o n , Massachusetts, und wirkte durch seine machtvolle Predigt als ein Wegbereiter der Erweckungsbewegung in den amerikanischen Kolonien (—»Vereinigte Staaten v o n Amerika), die unter d e m N a m e n Great Awakening so
( 1 7 3 4 — 4 4 ) bekannt geworden ist.
In Ablehnung des sog. Half- Way Covenant seines Großvaters und Vorgängers in Northampton Solomon Stoddard ( 1 6 4 3 - 1 7 2 9 ) trat er für eine strikt calvinistisch verstandene—»Kirchenzucht ein. Edwards' Widerspruch gegen den „halben Bund" mit Gott wandte sich gegen eine Frömmigkeitsform, die an die Stelle der von den Pilgervätern vorausgesetzten persönlich erlebten Heilsgewißheit eine „zuchtvolle sittliche und religiös-kirchliche Lebensführung konventioneller Art ohne eigene tiefere religiöse 55 Erfahrung" setzte (Beyreuther 10). Edwards erregte mit seiner radikalen Forderung, daß nur aufgrund einer persönlichen Bekehrung eine volle Kirchenmitgliedschaft möglich sei, erhebliche Unruhen in sei-
300
Edwards
ner Gemeinde und wurde 1750 nach einer längeren Auseinandersetzung seiner Pfarrstelle enthoben. Er diente darauf sechs Jahre als Pfarrer, Schulmeister und Indianermissionar in dem Außenposten Stockbridge, Mass., wo er einige seiner wichtigsten Abhandlungen schrieb. 1757 wurde er zum Präsidenten des College von New Jersey (heute —»Princeton University) gewählt, starb aber bereits wenige Monate später.
2.
Werk
Edwards' Werk gliedert sich in drei Hauptabschnitte: (1) eine spekulative Jugendphase, in der u. a. sein Essay Ort Mind entstand; (2) die theologische Entwicklung seiner großen Predigten bis zur Entlassung in N o r t h a m p t o n ; (3) die Reifung seines theologischen Denkens in Stockbridge mit der Abfassung systematisch-theologischer Arbeiten. Breitere Aufmerksamkeit fanden zunächst seine Predigten, in denen er sich als energischer Gegner des —»Arminianismus und unbeugsamer Parteigänger des orthodoxen Calvinismus (—»Orthodoxie, Altreformierte) zeigt. Ab 1735 engagierte er sich in der Bewegung des Great Au/akenitig, die er in mehreren aus seiner Predigttätigkeit hervorgegangenen Schriften verteidigte. A Faithful Narrative of the Surprising Works ofGod (1737) beschreibtdas Erweckungsphänomen als ein Zeichen, nicht aber ein Mittel zur Erlangung der Gnade Gottes (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen). A Treatise Concerning Religious Affections (1746) analysiert die Unterschiede zwischen bloßen Gefühlsregungen und dem, was Edwards „gnädige oder heilige Gefühle" (gracious, holy affections) nannte, unter denen die Liebe zu Gott um Gottes willen das höchste ist. Als Kriterien und empirische Beweise echter Bekehrung arbeitete er zwölf positive Anzeichen heraus, darunter moralische wie intellektuelle Erleuchtung und eine sichtbare, dauernde geistgewirkte Frömmigkeit. Edwards' Untersuchung wird allgemein als der bedeutendste frühe amerikanische Beitrag zur —»Religionspsychologie angesehen. Seine letzten Werke aus der Stockbridger Zeit behandeln verschiedene dogmatische und philosophische Fragen. Das wichtigste von ihnen ist die Abhandlung Freedom of the Will ( 1 7 5 4 ) , die auf der Grundlage einer eindringenden logischen und sprachlichen Analyse die arminianische Vorstellung der Willensfreiheit (—»Wille/Willensfreiheit) angreift und die ausführlichste Verteidigung der calvinistischen Prädestinationslehre aus Edwards' Feder darstellt. Er dehnt darin das ncwtonianische Kausalitätsprinzip (—»Newton) auf den Willen aus, der durch moralische Ursachen bewegt werde. Jede Willensentscheidung ist durch den stärksten Beweggrund determiniert und unterliegt einer Notwendigkeit. Obwohl von Natur mit Wahlfreiheit ausgestattet, ist der Mensch aufgrund seiner absoluten Verderbtheit zur Wahl des Guten unfähig. Er ist frei, aber nur frei zu sündigen und trotz seiner moralischen Verantwortung außerstande, sich selbst durch seine eigene Entscheidung oder Handlung zu erlösen. Ort the Nature of True Virtue und Concerning the End for Which God Created the World (beide posthum veröffentlicht) sind die spekulativsten und originellsten seiner Spätschriften. In ihnen behandelt Edwards die, wie er sagt, unausschöpflichen Themen der Schönheit wahrer Heiligkeit und der Größe von Gottes Schöpfertum. 3.
Wirkung
Edwards gilt als der letzte der großen Calvinisten Neuenglands. Er verwarf die Bundesoder —»Föderaltheologie, die in kongregationalistischen Kreisen zunehmend Verbreitung gefunden hatte. Edwards' Theologie förderte einen „missionarisch-eschatologisch bestimmten Aktivismus" in Amerika (Beyreuther), der Evangelisation und Heidenmission als Zeichen des nahenden Millenniums deutete (—»Chiliasmus). Edwards w a r der bedeutendste Prediger und Theologe der amerikanischen Kolonialzeit und der Begründer der neuenglischen theologischen Schule. Die Edwardianische Theologie blieb, wenn auch mit erheblichen Modifizierungen, in Yale und anderen konservativ-kongregationalistischen Hochschulen bis in das späte 19. Jh. beherrschend. Zu ihren herausragenden Vertretern gehören sein zweiter Sohn Jonathan Edwards Jr. ( 1 7 4 5 - 1 8 0 1 ) , sein Enkel Timothy Dwight ( 1 7 5 2 - 1 8 2 7 ) , Samuel Hopkins ( 1 7 2 1 - 1 8 0 3 ) und Nathanael Taylor ( 1 7 8 6 - 1 8 5 8 ) .
Egidio da Viterbo
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Seine philosophische Theologie, zusammen mit seinen Bemühungen, newtonianische Kosmologie und Lockesche Erkenntnistheorie mit orthodoxer calvinistischer Theologie zu verbinden, übte eine Zeitlang großen Einfluß auf das amerikanische Denken aus. Die stärkste und dauerhafteste Wirkung jedoch erreichte Edwards durch seine anderweitigen Tätigkeiten. Seine machtvolle Predigt, sein Aufruf zur Erweckung und seine eindrucksvolle Betonung der persönlichen religiösen —»Erfahrung verschafften der Bewegung des Great Awakening Eingang in Neuengland und trugen dazu bei, daß Erweckung und religiöser Individualismus zu bleibenden Zügen amerikanischer Christlichkeit wurden. Werke Bibliographie: Thomas Herbert Johnson, The Printed Writings of Jonathan Edwards 1 7 0 3 - 1 7 5 8 , Princeton, N. J. 1940. The Works of President Edwards, new ed. by Edward Williams/Edward Parsons, with Memoirs of the Life, Experience and Character of Jonathan Edwards, by Samuel Hopkins, 10 Bde., London/Edinburgh 1 8 1 7 - 1 8 4 7 . - The Works of President Edwards, 8 Bde., ed. by Sereno B. Dwight, New York 1829/30. - The Works of Jonathan Edwards, bisher 4 Bde., ed. by Perry Miller/John E. Smith, New Haven, Conn. 1957ff. Literatur Alfred Owen Aldridgc, Jonathan Edwards, New York 1964. - BBKL 1, 1463 f (Lit.). - Erich Beyreuther, Die Erweckungsbewegung: KIG 4.R., 1 9 6 3 , 9 - 1 1 . - James Carse, Jonathan Edwards and the Visibility of God, New York 1967. - Douglas J. Elwood, The Philosophical Theology of Jonathan Edwards, New York 1960 (Lit.). - Edwin Scon Gaustad, The Great Awakening in New England, New York 1957 ( 1 6 0 - 1 6 8 : Quellenverz.). - Joseph Haroutunian, Piety Versus Moralism, New York 1932. - G . Hoffmann, Scinsharmonieu. Heilsgesch. bei J. Edwards, Diss. Theol. Göttingen 1 9 5 6 . - C l y d e A. Holbrook, The Ethics of Jonathan Edwards, Ann Arbor, Mich. 1973. - Perry Miller, Jonathan Edwards, New York 1949. - Ders., Jonathan Edwards on the Sense of the Heart: HThR 41 (1948) 1 2 3 - 1 4 5 . - Thomas Anton Schäfer, Jonathan Edwards and Justification by Faith: C h H 20 (1951) 5 5 - 6 7 . - William Warren Sweet, Der Weg des Glaubens in den USA, Hamburg 1950. - Harry G. Townsend, The Philosophy of Jonathan Edwards from His Private Notebooks, Eugen, Or. 1955. — Ola Elizabeth Winslow, Jonathan Edwards, New York 1940. - Ernst Wolf, Art. Edwards, Jonathan: RGG 3 2 (1958) 309f (Lit.).
Hugh Lawrence Bond Egede, Hans —»Grönland Egidio da Viterbo
(1469-1S32)
1. Leben Egidio da Viterbo gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftlern, Kardinälen und Ordensgeneralen der—»Augustiner-Eremiten. Sein Familienname war Antonini, nicht Canisio, wie noch in neuerer Literatur verschiedentlich zu lesen ist. Egidio wurde im Spätsommer oder Herbst 1469 in Viterbo geboren, wo er 1488 in den Augustinerorden eintrat. Von 1490—1493 studierte er am Studium Generale der Augustiner in Padua. Seine ersten Publikationen waren Editionen von Werken des —»Aegidius von Rom. Im Winter 1494/95 besuchte er u.a. —»M.Ficino in Florenz und wurde sein begeisterter Schüler. Die Jahre 1499—1501 verbrachte er in oder bei Neapel, wo er einen starken Einfluß auf Giovanni Pontana (gest. 1503) ausübte. 1506 wurde er Generalvikar seines Ordens. Im Frühjahr 1507 wählte ihn das Generalkapitel in Neapel zum Ordensgeneral. Gleich nach seinem Amtsantritt begann er seine Reformarbeit, die er in den nachfolgenden Jahren mit großer Entschiedenheit fortsetzte. 1510 siedelte er auf den Monte Cimino bei Viterbo über und weilte im Winter 1510 in Rom. 1511 berief Egidio ein Generalkapitel nach Viterbo, wo seine Wiederwahl zum Ordensgeneral erfolgte. In seiner Eröffnungsrede zum V. Laterankonzil vom 3. Mai 1512 (—»Lateransynoden) stellte er die—»Kirchenreform als Hauptaufgabe des Konzils heraus. Christus habe dem Petrus und seinen Nachfolgern die —»Synode als wirksames Heilmittel für alle Gebrechen der Kirche gegeben. Die Menschen müßten durch die Religion
302
Egidio da Viterbo
geändert werden, nicht aber die Religion durch die Menschen. Ohne Konzilien könne der Glaube nicht feststehen, ohne Konzilien könnten wir daher nicht gerettet werden. Auf dem Konzil verteidigte Egidio zusammen mit —»Cajetan die Anliegen der Mendikanten gegen die Kritik der Bischöfe, die die Privilegien und Vollmachten der Orden beseitigen wollten. 1512 feierte er in einer Predigt in Rom die Übereinkunft zwischen —»Julius II. und —•Maximilian I. vom 29.11.1512. Am 13.12.1515 entsandte—»Leo X. Egidio an den Hof Maximilians, um den Kaiser zum Frieden mit Venedig zu bewegen und ihm zugleich zu versichern, daß der Papst der Liga mit ihm treu bleiben werde. Diese diplomatische Mission war jedoch ohne Erfolg. Der Kaiser reagierte auf die Mahnung zum —»Türkenkrieg mit der Forderung nach der Reform der Kurie: vorher müsse der „Weinberg des Herrn" geheilt werden, erst dann könne man den Krieg gegen die Ungläubigen beginnen. Für Pfingsten 1515 berief Egidio das Generalkapitel nach Rimini, wo sich die Augustinereremiten feierlich zur Reform verpflichteten, um den Forderungen des V. Laterankonzils zu entsprechen. Dort wurde er in seinem Amt als General bestätigt. Als er am 1. Juli 1517 zum Kardinal ernannt wurde, führte er das Generalat noch weiter, resignierte aber am 25. Februar 1518, nachdem ihm vom Papst die spanische Legation an den Hof Karls, des späteren Kaisers, übertragen worden war. 1521 ernannte ihn Leo X. zum Kardinalprotektor des Ordens der Augustiner-Eremiten. 1523 berief ihn —»Clemens VII. zum Bischof von Viterbo. 1530 sprach Egidio sich für die Berufung eines Konzils (—»Tridentinum) aus und unterstützte den kaiserlichen Konzilsantrag. Er starb in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1532 in Rom. Sein Grab befindet sich in der Kirche S. Agostino. 2. Werk Egidio war ein homo universalis. Bereits als Student edierte er philosophische Schriften. Er verfaßte einen Kommentar zum Sentenzenwerk des —»Petrus Lombardus und eine Kirchen- und Papstgeschichte. Daneben schrieb er Gedichte und Novellen. Sein besonderes Interesse galt den biblischen Studien. Er bemühte sich um die Erlernung des —»Hebräischen, studierte arabisch und türkisch und befaßte sich mit jüdischer Literatur, besonders mit dem —»Talmud und der —»Kabbala. Ergebnis seiner Studien war die Publikation von kabbalistischen Traktaten, die mehrere Handschriftenbände füllen (vgl. Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. Lat. 3 146. 5808; Bibliotheca Angelica, Cod. Lat. 3; L. v. Pastor, Gesch. der Päpste, Freiburg IV/1 1925,141 Anm. 2). Die Kabbala ist für ihn die Tradition der Alten. In —»Pico della Mirandola sah er den Initiator der christlichen Kabbala. J. —»Reuchlin schenkte ihm sein Werk De arte cabalistica. Egidio verehrte Reuchlin, u. a. wegen seiner hervorragenden Kenntnis der hebräischen Sprache. Sein Briefwechsel mit Reuchlin wurde 1516 in Hagenau gedruckt. Auch zu den übrigen damaligen europäischen Geistesgrößen hatte Egidio Verbindungen. -»Erasmus besuchte ihn 1509 in Rom. Mit Pico stand er im regen geistigen Austausch. Eien umfangreichen Briefwechsel führte er mit G. —»Aleandro. Enge Kontakte hatte er zu den Humanisten in Neapel. Mit Cajetan arbeitete er auf dem Lateran-Konzil zusammen, mit Willibald Pirckheimer und J. —»Eck stand er im Briefwechsel. Als vielseitiger Gelehrter bemühte er sich um Handschriften seltener Werke klassischer Autoren, forschte gleichzeitig nach Handschriften der hebräischen Literatur. Ablehnend stand Egidio —»Aristoteles gegenüber, den er als antichristlich betrachtete. Seine große Liebe ist—»Plato: Nach Egidio ist Plato ein Christ vor Christus gewesen und hat sogar das Trinitätsgeheimnis (—»Trinität) auf natürlichem Wege gefunden. Die Kirche ist für Egidio der mystische Leib Christi, der Papst der Nachfolger Petri (—»Papsttum). Er besitzt die höchste Gewalt in der Kirche. Die Römische Kirche ist nach Egidio irrtumslos. Ihr Glaube ist unfehlbare Norm. Dem Konzil schreibt Egidio eine hohe Autorität zu. Die regelmäßige Berufung von Konzilien ist für die Kirche heilsam. Von einer Verteidigung konziliaristischer Auffassungen kann man jedoch nicht sprechen, auch wenn nach Egidio die Berufung eines Konzils durch den Kaiser erfolgen kann. In der theologischen Auseinandersetzung des 16. Jh. (—»Reformation) gehörte Egidio zu den entschiedenen Geg-
Egidio da Viterbo
303
nern —»Luthers, o b s c h o n dessen N a m e in seinem Schrifttum nur einmal v o r k o m m t . 1 5 1 3 hatte Egidio Luther z u m Lektor innerhalb des Ordens der Augustiner-Eremiten ernannt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind einflußreich, die Z a h l seiner Schriften beeindrukkend, seine theologische und philosophische Bedeutung groß. Bedauerlich ist nur, d a ß Egidio wenig veröffentlichte. Clemens VII. forderte ihn auf, einige Früchte seiner Forschungen zu publizieren. Erst seit 1979 besitzen wir eine vollständige Liste seiner Schriften (Martin: Aug[L]29). Egidio hat niemals selbst ein Schriftenverzeichnis zusammengestellt. Von den Werken Egidios sind gedruckt: 1. Die Editionen des Aegidius von Rom: De Materia caeli questio; De intellectu possibili contra Averoim questio aurea; Commentaria in Viü libros physicorum Aristotelis (Padua 1493). 2. Oratio de aurea aetate (ed. John W. O'Malley, Fulfillment of the Christian Golden Age under Pope Julius II:Text of a Discourse of Giles of Viterbo, 1507: Tr. 25 [1969] 2 6 5 - 3 3 8 ; eine Predigt, die von Egidio 1507 in Rom in Gegenwart von Julius II. gehalten wurde. Anlaß war die Landung der Portugiesen in Ceylon, der Seesieg der Portugiesen von de Almeida von 1506 und die Entdeckung Madagaskars durch eine portugiesische Flotte (Inhaltsangabe: ebd. 275 ff; über den Einfluß der Predigt auf Rafaels Disputa vgl. Pfeiffer 1 7 1 - 2 0 8 ) . 3. Oratio prima synodi Lateranensis habita per Egidium Viterbiensem Augustiniani ordinis Generalem. Die Predigt wurde bereits 1512 in Rom gedruckt. Sie fand Aufnahme in die offizielle Ausgabe der Konzilsakten des V. Laterankonzils, die 1521 in Rom erschien (krit. Ausg.: C. O'Reilly, Without Councils). 4. Oratio habita post tertiam sacri Lateranensis Concilii sessionem in ecclesia Divae Mariae Virginis de Populo ...de foedere inito inter Julium Secundum pontificem maximum et illustrem Maximilianum imperatorem. Die Predigt, 1512 in Rom gedruckt, wurde am 25. November 1512 aus Anlaß des Vertrages zwischen Julius II., Kaiser Maximilian, —»Heinrich VIII. und Ferdinand von Aragon gehalten (krit. Ausg. C. O'Reilly, Maximus Caesar). 5. Dialogus Reverendissimi in Christo Patris Domini Aegidii S.R.E. presbyterii cardinalis in honorem sanetissimi Cesaris Caroli regis catholici Hispaniarum utriusque Sicilie domini nostri (Barcelona 1518/19). Die Predigt wurde wahrscheinlich während Egidios Besuch als päpstlicher Legat in Spanien 1518/19 gehalten. 6. Aegidius Antonio Zocholo et Romanis (ed. J. W. O'Malley, Man's Dignity). Der Text ist undatiert und entstand nach 1503, vermutlich vor Juni 1506, als Egidio zum Generalvikar des Ordens ernannt wurde und nach Rom kam. 7. Libellus de litteris sanetis (cd. F. Secret: Edizione Nazionale dei Classic! del Pcnsiero Italiano 10 [1959] 2 1 - 6 2 . Eine Einführung in das Studium der Kabbala, gewidmet Kardinal Giulio de Medici, dem späteren Clemens VII. 8. Scechina (ed. F. Secret: ebd. 9 - 2 0 ) . Geschrieben zwischen 1528 und 1531. Der Titel ist eine italienische Umschreibung des hebräischen Terminus für die Einwohnung Gottes unter den Menschen (Se" kinä). Das Werk ist Clemens VII. gewidmet. 3.
Nachwirkung
D i e N a c h w i r k u n g Egidios zeigt sich in zahlreichen überlieferten Handschriften seiner Werke. Seine theologiegeschichtliche Bedeutung ist jedoch erst in neuester Zeit klarer erkannt worden, o b w o h l bereits seine Zeitgenossen seine geistige Universalität und Bedeutung in lobenden Worten herausgestellt haben. Starken Einfluß hat Egidio auch durch seine Predigt auf d e m V. Laterankonzil ausgeübt. Egidio hat als Dichter, Philosoph, Geschichtsschreiber, Prediger, T h e o l o g e , Ordensgeneral und Reformer eine fruchtbare Wirksamkeit entfaltet. Eine Fülle v o n Forschungsaufgaben ist n o c h zu lösen, u m seine geistige Leistung voll zu erfassen. Werke und
Literatur
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Egoismus
304
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Remigius Bäumer Egoismus 1. Begriffsgeschichte 2. Egoismus als Eudämonismus 3. Egoismus als Selbstliebe trismus als Signatur der Neuzeit 5. Stellung des modernen Katholizismus zum Egoismus des modernen Protestantismus zum Egoismus (Literatur S. 307)
1.
4. Egozen6. Stellung
Begriffsgeschichte
Der Begriff Egoismus taucht im Sprachschatz der klassischen Moraltheologie und Philosophie noch nicht auf, jedoch die Sache, um die es geht. Sie wird herkömmlich behandelt unter den Stichworten Selbstliebe, Selbstverleugnung, —»Freundschaft, —»Askese, Geiz, Konkupiszenz usw. Der Begriff gehört zu den Neologismen, die zu Beginn des 18. Jh. Eingang in den Sprachgebrauch der Aufklärungsphilosophie finden. Er wechselt zunächst mit egotism (1714 bei Addison), ein Ausdruck, der im 19. Jh. von Stendhal wieder aufgenommen wird, um damit das literarische Ziel der selbstanalytischen Romankunst seines Jahrhunderts zu kennzeichnen („une façon de peindre le cœur humain"), und mitegomisme (bei A. M. Ramsay 1727). Er wird definiert als „Laster, häufig von sich zu sprechen und das Pronomen ,ich' zu gebrauchen", oder als „eine Art Pyrrhonismus (= Skeptizismus), wo jeder meint, er sei das einzige existierende Wesen". Im Sinne eines metaphysischen —»Monismus (Malebranche,-»Berkeley), der sachlich mit Solipsismus identisch ist, taucht das Wort Egoist 1719 bei dem deutschen Aufklärer Chr. —»Wolff auf. Bei —»Kant findet dann die Übertragung auf das ethische Gebiet statt (Anthropologie I, § 2). Wenn er vom moralischen Egoismus spricht, ist die negative Bedeutung vorherrschend, indem er ihn mit qnlavxia [Eigenliebe] und arroganti^ [Eigendünkel] gleichsetzt. Während der Begriff in der klassischen Philosophie wesentlich auf die Charakterisierung individuellen Daseins angewandt wird, wird er im 20. Jh. auch auf das kollektive Dasein bezogen als Gruppenegoismus, der nur die Interessen und Bedürfnisse der eigenen Gruppen kennt, oder ahNationalegoismus, der den Interessen des eigenen Vaterlandes alle übrigen unterordnet (vgl. Antonio Salandra, der 1914 den sacro egoismo als das politische Prinzip der modernen Nationalstaaten bezeichnet). 2. Egoismus als
Eudämonismus
Wenn Kant Egoismus und Eudämonismus gleichsetzt, dann klassifiziert er damit eine breite Strömung in der —»Ethik, die in der Antike ihren Ausgang nimmt in der zentralen Stel-
Egoismus
305
lung, die der Begriff der evôaifiovta in fast allen philosophischen Schulen innehat, und sich von der —»Renaissance bis zur modernen —»Existenzphilosophie fortsetzt. Glück als Zustand eines gelungenen Daseins kann auf verschiedenen Ebenen begriffen werden: als innere Befriedigung, die aus der Verwirklichung eines tugendhaften Lebens entspringt (so bei den Sokratikern, —»Aristoteles und der —>Stoa), oder als Befriedigung des geistigen oder sinnlichen Lustgefühls (j/ôovrç), das mit Leidlosigkeit und Gemütsruhe verbunden ist (so im Epikureismus). Der Hedonismus wird in der Renaissance vertreten von L. —»Valla (De voluptate, 1431 ), in der —»Aufklärung von Helvetius, Holbach, de La mettrie. Als jüngste Form des Hedonismus kann der Freud-Marxismus Herbert Marcuses gelten, bei dem die Triebbefriedigung mit der menschlichen Selbstverwirklichung integral verbunden ist. Gegen den Hedonismus wandte sich eine breite Front von Gegnern (Piaton, Kant, Fichte, Schopenhauer usw.). M. —»Scheler z. B. sieht den Irrtum des Hedonisten darin, daß „er der Lust einen falschen Rang in der Rangordnung der Werte gibt" (Formalismus 267). Eine weitere Variante des Eudämonismus ist der —»Utilitarismus. - Während der klassische Eudämonismus vom Lustgewinn als Grundbedürfnis des Einzelnen ausgeht, ist das Ziel des Sozialeudämonismus, das größte Glück der größten Zahl zu befördern. Er wurde vertreten von Hutcheson (1694-1746), J. Bentham (1748-1832) und J.St. Mill (1806-1873) und bildet praktisch die tragende Ideologie des modernen Wohlfahrtsstaates (—»Staat). 3. Egoismus als Selbstliebe Schon die antike Ethik stellt Erwägungen an über Recht oder Unrecht der Selbstliebe. —»Piaton sieht in der übertriebenen Selbstliebe die Ursache aller Fehler (Leg. V,731). Aristoteles erkennt deren Ambivalenz, wenn er die berechtigte und daher lobenswerte, auf das Höhere gerichtete Eigenliebe (cfnAuvria) von der tadelnswerten, auf Geld, Ehre und körperliche Genüsse gerichteten Selbstliebe unterscheidet (Nik. Eth. 9,8; ähnlich Plutarch, Mor. 4 0 F u. ö.). Das Neue Testament sieht die Selbstliebe in der Reihe der Laster, die in den letzten Zeiten hervortreten (II Tim 3,2). Im Sein in Christus findet die paulinische Ethik das rechte Maß für eine legitime Leibsorge (Rom 13,14). Negativ sehen sie auch die Kirchenväter. Man spricht von der „Sünde der Selbstliebe" und nennt sie die Ursache aller Sünden (Clemens v. Alexandrien, str. 7,96; Johannes Damascenus I, 510 B). In der asketischen Literatur spielt die Warnung vor der Gefahr des Eigenwillens und der Selbstliebe die Rolle eines stehenden Topos, woraus dann die Notwendigkeit des kommunitären Lebens — im Gegensatz zum Eremitentum - abgeleitet wird. — In der katholischen Theologie des Mittelalters erhält die Selbstliebe im Gefolge des Aristotelismus und der Stoa ihr relatives Recht, insofern sie biblisch von Mt 22,39 (du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst) her legitimiert und ein Gebot der Natur sei (so schon —»Ambrosius, off. 1,24 u. ö.). —»Augustinus verbindet Gottesund Selbstliebe (Ep. 155,15: nemo, nisi Deum diligendo, diligit seipsum). —»Thomas von Aquino unterscheidet die geordnete und die ungeordnete Selbstliebe, wobei die ungeordnete Selbstliebe nur um das Ich und die äußeren Dinge kreist, aber Gott und den Nächsten vergißt (S.Th. 1,2 q.79 a.4: amorsui = fons omnium peccatorum-, weiter 2,2 q.19 a.6; 2,2 q.25 a.7; ähnlich Bonaventura, Breviloquium 111,9: omniumpeccatorum actualium initium). —»Bernhard von Clairvaux redet von curvitas animae [Verkrümmtsein des Ichs in sich selbst], ein Begriff, den später auch Luther aufnimmt (ineurvatum esse in seipsum). Gegen die herkömmliche Begründung der Selbstliebe und ihre Vorordnung vor der Nächstenliebe wendet sich —»Calvin in seiner Auslegung von Lev 19,18: Turpiter vero in vulgaribus scholis corrupta fuit haec sententia: nam quia régula (ut ipsi loquuntur) regulato superior est, finxerunt ordinem praeposterum, ut quisque se primum, deindeproximos diligat (CR XXIV,614). — Der Heilsegoismus der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche des 16. und 17. Jh. führt zur totalen Selbstverleugnung („Ich finde kein Ich mehr; es gibt kein anderes Ich als Gott"). Weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht und die anderen sich unterwerfen will, hält —»Pascal das Ich für hassenswert (Pensées 587). — Die Aufklärung wiederum findet ein positives Verhältnis zur Selbstliebe, vgl. Oldenburger Gesangbuch von 1792: „Du willst
306
Egoismus
es, Herr, mein Gott, Ich soll mich selber lieben. O laß mich diese Pflicht / Nach deiner Vorschrift üben. Laß, Herr, den sel'gen Trieb / Mich meines Glücks zu freun, Den du mir eingepflanzt / Nie mein Verderben sein." Die emblematische (—•Emblem/Emblematik) Darstellung der Selbstliebe benutzt als mythologisches Symbol Narziß (nach OvidsMetamorphosen). Die Seibstbespiegelung wird besonders der Jugend und dem schönen Geschlecht vorgeworfen sowie den Gelehrten, die „der Alten Weis' und Lehrwîverwerffen und neramen neuw her" (vgl. A. Henkel/A. Schöne, Emblemata, 1967,1627). Sie kann auch mit einer Äffin verglichen werden, die blind ist für ihre eigene Häßlichkeit und in ihrer Geltungssucht sich selbst für schön hält. „Wer sich selbst liebt und achtet sehr, Wird gstürtzt in Jammer/Not und Gfähr" (ebd. 1351). Ihr Attribut ist der Pfau, der sich in seinem Schweife spiegelt. 4. Egozentrismus
als Signatur der Neuzeit
Daß der Egoismus als Ichzentriertheit des Menschen ein Merkmal der Moderne ist, kann als allgemein anerkanntes Axiom der neueren Kultursoziologie und -psychologie gelten. N. Elias stellt fest, daß „im Mittelpunkt des menschlichen Universums jeder einzelne Mensch für sich steht als ein von allen anderen letzten Endes völlig unabhängiges Individuum" (zit. nach Richter 35). H . E . Richter sucht diesen Vorgang, daß das Innere des Einzelnen das gesamte All in sich repräsentiert, als narzißtische Identifizierung mit Gott zu verstehen: „Die monotheistische Glaubenstradition setzte sich in der Selbstvergottung des einzelnen Ich fort" (35). Bei —»Descartes beginnt der metaphysische Egoismus in der Selbstvergewisserung des Subjekts durch den Denkakt und findet seinen Höhepunkt im subjektiven Idealismus —»Fichtes. Ins Extrem wird der metaphysische und ethische Egoismus im Solipsismus Max Stimers (1806—1865) getrieben: „Ich bin nicht ein Ich neben anderen Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig" (124). Die einzige Beziehung, die Stirner anerkennt, ist die der Brauchbarkeit der Anderen für mein Ich. Was Stirner „in aller Grellheit" auszusprechen wagt, ist der schrankenlose Egoismus als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Hier trifft er sich mit —»Hegel, der im Eigendünkel das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft sieht, zugleich mit —»Marx, der den nachfeudalistischen Staat von der „Sphäre des Egoismus", des bellum omnium contra omnes beherrscht sieht und eine Überwindung des Egoismus erst dann für möglich hält, wenn der Mensch vom Privatwesen zum Gattungswesen geworden ist. Der Egoismus Stirners dagegen wird zum -»Nihilismus und Anarchismus (—»Anarchie/Anarchismus) und würde, wenn er praktiziert würde, „in die Selbstvernichtung des Menschengeschlechts führen" (Holz 22). In —»Nietzsche und dem Existentialismus des 20. Jh. setzt sich die Tradition des Egoismus fort. Nietzsche will dem „Egoismus ein gutes Gewissen verschaffen" und erklärt — in Ubereinstimmung mit den französischen Moralisten des 1 7 . - 1 9 . Jh. (La Rochefoucauld usw.) - unegoistische Handlungen für unmöglich. In —»Heideggers Daseinsanalyse steht die Jemeinigkeit der Existenz im Mittelpunkt. In Sartres L'Être et le Néant schafft der Mensch sich selbst und erzeugt aus dem Nichts die Welt als Gestalt seines Bewußtseins. In der neueren —»Psychologie wiederholt sich das Ringen der alten Moraltheologie um das rechte Verhältnis von Ich und Selbstliebe. Während eine fragwürdige „christliche" Erziehung Selbstverwirklichung als unmoralisch und selbstsüchtig verurteilte, droht neuerdings Selbstverwirklichung in blanken Egoismus verkehrt zu werden, wenn diese als bedenkenlose Erfüllung eigener Bedürfnisse proklamiert wird (Ego-Kult in amerikanischen SelfRealization Fellowships). Es wird mehr und mehr erkannt, daß reiner Egoismus ebenso krankhaft ist wie totale Selbstaufgabe. Entscheidend für die personale Entwicklung ist, daß es zu einer verantwortungsvollen Partnerschaft und zu einem humanen Gleichgewicht zwischen Ich, Wir und Es kommt. 5. Stellung des modernen Katholizismus
zum
Egoismus
Der Katholizismus wendet sich im sozialen Pflichtenkreis vor allem gegen die modernen Formen des wirtschaftlichen und politischen Egoismus. —»Pius XI. sieht hinter der Wirt-
Egoismus
307
schaftskrise der 30er Jahre „die Gier nach vergänglichen Gütern, den verdammten Hunger nach Gold und das schmutzige Bestreben, nur an die eigenen Dinge zu denken". Hinzu kommt der Nationalismus als Übersteigerung der legitimen Vaterlandsliebe und als Absolutsetzung der eigenen Nation (Caritate Christi compulsi vom 3.5.1932 [AAS 24, 177-194]). »Paul VI. betont den Ausgleich zwischen den Prinzipien der Personalisation und der Sozialisation und warnt vor dem Aufkommen eines neuen politischen oder ideologischen Egoismus, der sich in der Verbreitung subversiver Propaganda und revolutionärer Unruhen äußert (Ansprache vom 26.8.1964 [AAS 56,759-763]). 1965 erinnert er an die Sozialpflichtigkeit des —»Eigentums; gleichzeitig warnt er vor einem neuen Typus von Egoismus, dem Gruppenegoismus, der nur an die Interessen der eigenen Gruppe, aber nicht an die der Allgemeinheit denkt (AAS 57,635—637). — Während der Katholizismus den Egoismus im Bereich der Sozialethik ablehnt, wird im individualethischen Pflichtenkreis doch die Selbstliebe als „auf der objektiven Erkenntnis und Bejahung des eigenen Wertes und der Würde innerhalb des Ganzen der Wirklichkeit und im Bezug auf Gott basierend" anerkannt (Rahner 239). Zugleich wird allerdings vor der Pervertierung desamor sui in Egoismus gewarnt. 6. Stellung des modernen Protestantismus zum Egoismus Die Stellungnahme des Protestantismus muß im Zusammenhang der mit —»Entfremdung und —»Säkularisierung entstandenen Problematik gesehen werden. Einerseits können die oft verzweifelten Versuche in Philosophie, Psychologie und Literatur, das menschliche Ich zu retten, als Abwehrreaktionen gegenüber der übermächtig gewordenen technischen Realität und dem zunehmenden Prozeß der Entindividualisierung verstanden werden. Andererseits wurde von theologischer Seite der Einfluß des Neukantianismus und der damit verbundenen rigorosen Abwehr des Eudämonismus zunehmend zurückgedrängt und im Sinne einer „Theologie der Hoffnung" die Glücksverheißung des Evangeliums nicht nur jenseits- und zukunftsbezogen verstanden, sondern als Zuspruch von Glück auch für das gegenwärtige und diesseitige Leben. Das kann gewiß keine Zustimmung zu einer Position bedeuten, die Ichstärke im Abbau sozialer Bindungen und in der Loslösung von Gott gewinnen will. Die christliche Botschaft versteht den Menschen aus dem Anruf Gottes zum Du, dem auf Seiten des Menschen das Hören und der im Vertrauen begründete Entschluß zum Gehorsam entspricht. Für ihn gilt die Paradoxie des Wortes Jesu vom Verlieren und Gewinnen des Lebens (Mt 10,39). Evangelische Ethik weiß darum, daß der Egoismus „wertneutraler Urimpuls alles Lebendigen" sein kann (H. Thielicke, Theol. Ethik, III 2 1968, 842), aber zugleich im Zwielicht zwischen Schöpfung und Fall steht. Quellen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie-Werkausg., Frankfurt, II 1970. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: ders., Werke. Akademie Textausg., Berlin, V I I 1 9 1 7 = 1968, 1 1 7 - 3 3 3 . - Karl Marx, Die Frühschr., hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971. Jean-Paul Sartre, L'Etre et le Néant, Paris 1943; dt.: Das Sein u. das Nichts, Hamburg 1962. — Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik u. die materiale Wertethik, Halle 1913/16. - Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille u. Vorstellung, hg. v. J. Frauenstädt, Leipzig 1 8 7 3 , 1 , 3 9 1 ff; II, 689ff. - Ders., Preisschr. über die Grundlage der Moral (1840): ders., SW, hg. v. J. Frauenstädt, Leipzig, IV 1919 2 1922, § 14. —Max Stirner, Der Einzige u. sein Eigentum, Leipzig 1845 = Stuttgart 1976.-Arthur-Fridolin Utz, La doctrine sociale de l'Église, 4 Bde., Basel/Rom/Paris 1970. Literatur In den meisten theologischen und philosophischen Ethiken findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Egoismus. - Theodore Benditt, Egoism's Inconsistencies: Pers. 57 (1976) 4 3 - 5 0 . - Oliver Brachfeld, Art. Egozentrismus: HWP 2 (1972) 3 1 7 - 3 1 9 . - Nathaniel Branden, Rational Egoism. A Reply to Prof. Emmons: Pers. 51 (1970) 1 9 6 - 2 1 1 . 3 0 5 - 3 1 3 . - Heinrich Buhr, Das Glück u. die Theol., Stuttgart/Berlin 1969. - Rudolf Eisler, Wb. der phil. Begriffe, Berlin, I 1927, 2 9 8 - 3 0 1 (Lit. bis 1925). Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939, NA Bern/München 1969. - Donald Emmons, Refutingthe Egoist: Pers. 50 (1969) 3 0 9 - 3 1 9 . - Hans-Jürgen Fuchs, Art. Egotismus, Egois-
Ehe/Eherecht/Ehescheidung I
308
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Heinz-Horst Schrey
Ehe/Eherecht/Ehescheidung I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Neues Testament V.Alte Kirche VI. Mittelalter VII. Reformationszeit VIII. Ethisch IX. Praktisch-Theologisch
311 313 318 325 330 336 346 355
I. Religionsgeschichtlich 1. Fragestellung tur S. 311)
2. Die heilige Hochzeit
3. Der Übergangsritus
4. Schlußfolgerung
(Litera-
1. Fragestellung Der Sinn einer knappen religionsgeschichtlichen Einleitung in eine bibeltheologisch/kirchenhistorische wie ethisch/praktisch-theologische Behandlung der Ehe kann nicht darin
Ehe/Eherecht/Ehescheidung I
309
liegen, eine Reihe von Merkwürdigkeiten zu sammeln, die es als Ehe-Ritus gibt, oder die Mannigfaltigkeit der religiös fundierten Ehe-Gesetze überschaubar zu ordnen. Auch ein anderer Gesichtspunkt ist zu bedenken. Man hat früher oft versucht, mit Hilfe der Religionsgeschichte - zumal mit Hilfe des Materials aus den schrift- und geschichtslosen Kulturen Entwicklungslinien der Eheanschauungen aufzeigen zu können. So meinte man z.B., von einer Ur-Monogamie der „edlen Wilden" ausgehen zu können und die weitere Entwicklung als fortschreitende Zerrüttung der Ehe- und Geschlechtsmoral sehen zu müssen. Oder man meinte, für den Anfang eine geschlechtliche Promiskuität feststellen zu können. Von ihr als primitiver Barbarei aus hätte sich über die Gruppenehe und die vielen Möglichkeiten von Polygamie und Polygynie die Einehe „entwickelt". Derartige Entwicklungslinien lassen sich aber tatsächlich nach keiner Richtung ziehen. In den Eheformen läßt sich keine allgemeine Evolution finden. Es ist vielmehr dem Sinn folgender Frage nachzugehen: Warum definiert sich die Ehe in nahezu allen Kulturen religiös? Oder anders gefragt: Was heißt eigentlich, daß die Ehe - in welcher Form sie auch gelebt wird - als ein Lebensvollzug angesehen wird, der nutsub Speele Deitatis geschlossen, begründet und geführt werden kann. Und dies ist das religionsgeschichtlich Wichtige, daß nämlich die Ehen in allen Kulturen kultisch geschlossen, d.h. religiös begründet sind. 2. Die heilige
Hochzeit
Für die Erhebung der religiösen Bedeutung der Ehe ist es wesentlich, zu beachten, daß in sehr vielen Kulturen eine sog. „heilige Hochzeit" hinter den menschlichen Hochzeiten gewußt wird. Das heißt: Es gibt ein hochzeitliches und eheliches Geschehen in der Götterwelt, bzw. zwischen Gottheiten und Menschen. Götter wie Menschen tragen den alles organische Leben kennzeichnenden Gegensatz des Männlichen und Weiblichen. Auch die Götter haben daran teil, ja sie sind sein Inbegriff. Dabei ist es wohl wichtig, sogleich zu bedenken, daß die Weltschöpfung im allgemeinen nicht auf hochzeitliches Geschehen zurückgeführt wird. Nur in seltenen Fällen dient die „heilige Hochzeit" der Hervorbringung von Leben. Man entdeckt in diesen Fällen — wie im alten Ägypten bei Shu und Tefnut — sehr bald hinter diesem Geschehen einen Schöpfer, den Atum von Heliopolis, der als Schöpfer das weiterzeugende Geschehen ermöglicht. Die „heilige Hochzeit" ist nicht der funktionale Hintergrund allen Seins. Die „heilige Hochzeit" geschieht als Ausdruck des großen Dualismus, der alles Geschehen charakterisiert, und an dem die Menschen in ihrem Mann- wie Frau-Sein partizipieren. Hochzeitliches Geschehen und Fortpflanzung ist selten unmittelbar aufeinander bezogen, wenn auch an der Hochzeit sekundär Fruchtbarkeitsriten statthaben. Hochzeit und Fortpflanzung ist oft so weit geschieden, daß der Eindruck entsteht, die Beteiligten wüßten gar nichts davon, daß sexuelles Geschehen etwas mit Empfängnis und Geburt zu tun hat (Malinowsky 134; Ratschow 82). Hochzeit und Ehe haben ihren Sinn als Ausdruck des großen kosmischen Gegenübers von Männlich und Weiblich, von Yin und Yang. In diesem Darstellen und Ausdrackgeben liegt der Sinn der „heiligen Hochzeit". Letztlich ist jede Ehe Darstellung dieses heiligen Gegenübers. Das sexuelle Geschehen „ist" diese Darstellung. Dabei können viele „heilige Hochzeiten" auch ohne diesen Vollzug bleiben: Die verbindliche Einheit des Männlichen und Weiblichen ist ihr Kern (Frazer 209ff). Nicht die Fortpflanzung prägt dies Geschehen, sondern das Geschehen der kosmischen Polarität als solcher. Dies stellt Demeter mit Jasion dar, in der Hochzeit „auf dreimal gepflügtem Feld" (Hesiod 969 ff). Vollkommenheit ruht auf dem Miteinander des Männlichen und Weiblichen (Granet 56f). Dies gewinnt seinen gewichtigen Ausdruck in der Shakti, der weiblichen Erkenntnismacht des Tantrismus. Sie führt die Mühen der Götter und der Heiligen um vollkommenes Wissen zum Ziel. Shakti bedeutet „Kraft" und ist feminin. Sie nimmt immer neue persönliche Züge an. Jeder tantrische Gott und jeder diesen Weg beschreitende Heilige bedarf seiner Shakti als Quelle seiner Kraft. Der Gott wie der Heilige werden daher in ihrer Vollmacht
Ehe/Eherecht/Ehescheidung I
310
stets in engster Vereinigung mit ihrer Shakti dargestellt. So nur kann er Vollmacht des Wissens erlangen. So nur geschieht Vollkommenheit. Alle Hochzeit und jedes eheliche Geschehen stellt diesen kosmischen Zusammenhang dar. Ehe ist nicht privates Geschehen zwischen Menschen, das durch die Liebe dieser Menschen begründet ist. Ehe ist etwas viel Allgemeineres und kosmisch Wichtigeres. Ehe ist als dieses Geschehen auch von der —»Familie und ihrer ganz eigenen Wesensart und Aufgabe zu unterscheiden. Die „heilige Hochzeit" hat intentional nichts mit der Fortpflanzung zu tun, wie Helck dies für den östlichen Mittelmeerbereich wieder erwies. 3. Der
Übergangsritus
Die Ehe und ihre Gründung in der Hochzeit trägt in sehr vielen Fällen den Charakter eines Übergangsritus. Diese These, die van Gennep an vielen Ehe-Riten erwies, hat zahlreiche Fehlinterpretationen erfahren. Mit diesem Übergang ist primär nicht der individuelle Übergang vom jungfräulichen zum Frauen-Dasein bzw. vom Junggesellen-Dasein zum verheirateten Leben gemeint. Andere Übergänge spielen die Hauptrolle. Das ist z.B. der Übergang zwischen Stammeshälften in der Exogamie. Das ist der Übergang zwischen verschiedenen Sippen. Das ist in vielen Kulturen der Übergang zu anderen Ahnen. Diese Übergänge sind nicht ohne Gefahren. Schon der Übergang zwischen den beiden großen kosmischen Prinzipien ist als solcher etwas sehr besonderes. All das ist nicht leicht zu beschützen. Dabei ist vielfältig versöhnendes Geschehen erforderlich. Die Lösung aus dem einen Bereich und der Übergang in den anderen verlangt vielfachen Schutz. In diesen Übergängen drohen ungestaltete Mächte, die beschworen sein müssen. Das zeigen die vielen Lieder und Riten von der Brautwerbung an. Ehe besitzt „öffentliches" Interesse. Der Clan, die Sippe wie der Stamm hängen davon an. Die Ehe baut Brücken und stiftet neue Ordnung, auf die der Mensch nicht verzichten kann. Fremdheit gesellschaftlicher Bindung soll überwunden werden. Kosmische Ordnung soll zu neuem „Sippen-Heil" geführt werden. Das Ganze ist von hohem „objektivem" Belang. Mit den Hochzeitsriten sind auch Fruchtbarkeitsriten verbunden. Das kann nicht verwundern, denn an dem Ehe-Geschehen und seiner kosmischen Repräsentanz wird vergegenwärtigt: Herdenreichtum, Erntesegen, Wildreichtum wie auch Kinderreichtum. Die Familie freilich, d.h. der Bereich von Eltern und ihren Kindern als einer neuen Ordnung, hat ihre Eigenständigkeit in Ritus und Vollzug. 4.
Schlußfolgerung
Die Ehe ruht auf der Hochzeit als ihrer religiösen Basis, deren sie bedarf. Die Riten der Brautwerbung, der „Überführung" der Braut in den neuen Bereich, ermöglichen die Ehe, in der Fremdes versöhnt ist. Dieses Fremde sind schon Mann und Frau selbst in der Repräsentanz des kosmischen Dualismus. Die Lieder und Riten des gesamten Übergangsgeschehens erschließen den Beteiligten diesen Hintergrund. In jeder Hochzeit lebt etwas völlig anderes als die Erfüllung persönlicher Liebeswünsche zweier Menschen. Die Eheriten bauen die Brücken, um die Abgründe, die zwischen verschiedenen Ahnen oder Sippen liegen, zu überwinden und die Lösung eines Menschen aus seinem angestammten Heil in eine neue Welt und ihr Heil zu ermöglichen. Die eingangs gestellt Frage, warum in allen Kulturen die Ehe religiös begründet wird, warum die Hochzeit mythisch und kultisch eröffnet und begleitet wird, ist beantwortet. Ehe versöhnt die Übergänge des Daseins in seiner tiefsten dualistischen Eigenart. Vollkommenheit als Vereinigung von Gegensätzen steht auf dem Spiel. Gegenüber diesem religiösen Kern der Ehe ist es gleichgültig, ob diese Ehe von einer Frau und mehreren Brüdern oder ob sie von einem Mann und mehreren Frauen oder nur von einem Mann und einer Frau geschlossen wird. Diese Besonderheiten haben erbrechtliche oder wirtschaftliche Gründe. Sie sind sehr unterschiedlich gestaltet. Aber - der Ritus wird im all-
E h e / E h e r e c h t / E h e s c h e i d u n g II gemeinen n u r m i t einer F r a u , der sog. H a u p t f r a u , o d e r mit einem
311 M a n n vollzogen. D e r Ritus
ist meist einspitzig. D a s m a c h t die Unterschiedlichkeit der polygamen o d e r polyandrischen F o r m e n religionsgeschichtlich unwichtig. Literatur Hans Bauer, Islamische Ethik, Halle 1917. - Hanns Bächtold, Die Gebräuche der Verlobung u. Hochzeit, Basel, 1 1 9 1 4 . - Ernest Crawley, The Mystic Rose. A Study of Primitive Marriage, London 1902. - J . Duncan M . Derrett, Religious Law and the State of India, London 1968. - Wilhelm Dupré, Religion in Primitive Cultures, 1975 (RaR 9). - James George Frazer, Der Goldene Zweig, Leipzig 1928. —Arnold v. Gennep, Les Rites de Passage, Paris 1909. —Marcel Granet, Die chinesische Zivilisation, München 1 9 7 6 . — Wilhelm Grönbeck, Kultur u. Religion der Germanen, Hamburg, II 1939. Wolfgang Helck, Betrachtungen zur großen Göttin u. den ihr verbundenen Gottheiten, München 1971. - Claude Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt 1965. - Bronislaw Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, Frankfurt 1979. — Margaret Mead, Mann u. Weib, Hamburg 1 9 5 8 . - C a r l Heinz Ratschow, Magie u. Religion G ü t e r s l o h 2 1 9 5 5 . - H a n s Ribbach, Drogpa Namgyal, München-Planegg, 1 9 4 0 . - Eduard Sauter, Geburt, Hochzeit u. Tod, Leipzig 1911. - Frank G. Speck, The Iroquois. A Study in Cultural Evolution, Bloomfield Hills, Mich. 1945. - Joachim Wach, Religionssoziologie, Tübingen 1 9 5 1 . — Max Weber, GAufs. zur Religionssoziologie, Tübingen, 1 5 1 9 6 3 . - Julius Wellhausen, Die Ehe bei den Arabern: N G W G 1 8 9 3 , 4 6 0 - 4 8 1 . - Eduard Westermarck, The History of Human Marriage, New Y o r k 5 1 9 2 2 (Lit.). - Moritz Wintemitz, Das altindische Hochzeitsritual, Wien 1892. C a r l Heinz R a t s c h o w II. Altes T e s t a m e n t 1. Terminologie 1.
2. Schließung und Auflösung
3. Formen
4 . Wesen
(Literatur S. 313)
Terminologie
Das Hebräische hat keinen Terminus für „Ehe" oder „heiraten". Die Wendung „A ist der Mann/die Frau von B " kennzeichnet den Mann oder die Frau genügend als verheiratet. Der verheiratete Mann wird ilsba'al [Herr, Besitzer] (Ex 2 1 , 3 . 2 2 ; Dtn 24,4) der Frau, die Frau slsb'ulat ba'al [die einem Herrn Gehörende] (Gen 20,3; Dtn 22,22) bezeichnet. Für „heiraten" gebraucht man vom Mann die Wendung „A nimmt (Iqh) B (zur Frau)" und von der Frau „B wird (haj'tä) dem A (zur Frau)". Seit Esra kommen aber für „heiraten", mit dem Mann als Subjekt, die Wendungen A ns'(ló) B [A holt sich B als Frau] (Ruth 1,4; II Chr 11,21; 13,21; Esr 10,44) und A hösib B [A führt B heim] (Esr 1 0 , 2 . 1 4 . 1 7 f ; Neh 13,23.27) hinzu. Die Mitwirkung des Familienhaupts deutet die Wendung an: Clqh Bl'A [Der Vater des Bräutigams nimmt seinem Sohn die B zur Frau] (Gen 3 4 , 4 ; 3 8 , 6 ; Ex 3 4 , 1 6 ; Dtn 7,3; statt Iqh stehtin II Chr 2 4 , 3 ; Esr 9 , 1 2 ; Sir 7,23 wieder n i ' ) , bzw. D ntn B l'A [Der Brautvater gibt seine Tochter dem A zur Frau] (Gen 2 9 , 2 8 ; 34,8 f; Dtn 22,16). Die passive Rolle der Frau zeigt sich auch in den Wendungen für die Auflösung der Ehe: Zu slh [fortschicken] im Sinne der Entlassung des Partners kann nur der Mann, nie die Frau Subjekt sein (Dtn 2 1 , 1 4 ; 2 2 , 1 9 ; 24,1); die geschiedene Frau ist die g'rüsä [die Davongejagte] (Lev 2 1 , 7 . 1 4 ; 2 2 , 1 3 ; Num 3 0 , 1 0 ; Ez 44,22). Der Sprachgebrauch kennt aber keinen Brautkauf. 2 . Schließung
und
Auflösung
F r a u e n r a u b k a m n u r in der Richterzeit v o r ( J d c 2 1 , 1 5 - 2 3 ) . N a c h D t 2 1 , 1 0 — 1 4 kann ein M a n n eine kriegsgefangene Sklavin zur F r a u nehmen, m u ß dabei aber einige F o r m a l i t ä t e n beachten und sie i m Fall der Ehescheidung freilassen. Im Normalfall hält der Bräutigam oder sein V a t e r bzw. V o r m u n d beim V a t e r bzw. V o r m u n d der B r a u t u m deren H a n d an (Gen 2 4 , 3 3 - 4 9 ) - h i e r d u r c h einen Beauftragten; 2 9 , 1 8 ; 3 4 , 6 - 1 2 ; J d c 1 4 , 1 - 5 ; I Reg 2 , 1 3 - 1 8 ; T o b 7 , 9 f ) . D e r B r ä u t i g a m zahlt dem V a t e r der B r a u t das „ B r a u t g e l d " ( m o h a r : Gen 3 4 , 1 2 ; E x 2 2 , 1 5 f; I S a m 1 8 , 2 5 ; vgl. D t n 2 2 , 2 9 ) , das d u r c h eine andere Leistung ersetzt werden kann (Gen 2 9 , 1 8 f . 2 7 f ; J o s 1 5 , 1 6 ; I S a m 1 7 , 2 5 ; 1 8 , 2 0 - 2 7 ) . D a d u r c h wird aber die F r a u nicht zur käuflichen W a r e . Sie kann u m ihre Z u s t i m m u n g gefragt werden (Gen 2 4 , 5 7 ) . Die Braut erhält als Mitgift: Sklavinnen (Gen 2 4 , 5 9 ; 2 9 , 2 4 . 2 9 ) , Landbesitz (Jos 1 5 , 1 8 f; J d c l , 1 4 f ; I R e g 9 , 1 6 ) , H a u s r a t o d e r Geld (belegt n u r in den Elephantine-Papyri). Die Überreichung des Brautgelds bewirkt die „ V e r l o b u n g " (Vi [Piel]: Dtn 2 0 , 7 ; 2 8 , 3 0 ; II Sam 3 , 1 4 ; H o s 2 , 2 1 f). Die Verlobte ist bereits z u r ehelichen T r e u e verpflichtet; ihre Untreue o d e r Verge-
312
Ehe/Eherecht/Ehescheidung II
waltigung würde wie Ehebruch mit dem Tod bestraft (Dtn 22,23.25.27f). Die im Keilschriftrecht üblichen schriftlichen Eheverträge sind in Israel erst in Tob 7,14 und bei den Juden in Elephantine bezeugt. Die Eheschließung wird als Fest gefeiert (Gen 29,22; Jdc 14,12; Tob 8,19), womit aber außer einem Segensspruch der Eltern über die Braut oder das Brautpaar (Gen 24,60; Tob 11,17) keine besonderen religiösen Riten verbunden sind. Nur selten scheinen Eheschließungen ohne Mitwirkung der Eltern vorgekommen zu sein (Gen 26,34 f). Nach Lev 18,6—18 bedeuten Verwandtschaft und Verschwägerung ein Ehehindernis. Für Priester gelten besondere Ehehindernisse (Lev 2 1 , 7 . 1 3 - 1 5 ; Ez 44,22). Nach Ex 34,16 und Dtn 7,3 sind Mischehen mit Nichtisraeliten verboten. Unter Berufung auf dieses Verbot setzen —»Esra und —»Nehemia die Auflösung der Mischehen der Heimkehrer nach dem Exil durch (Esr 1 0 , 1 - 1 7 ; Neh 13,23-29). In der älteren Zeit hat man aber an Verwandtenehen (Gen 24,4; 28,2), anscheinend sogar unter Halbgeschwistern (Gen 20,12; II Sam 13,13), und an Ehen mit Nichtisraelitinnen (Ex 2,21; Ruth 1,4) keinen Anstoß genommen (vgl. aber Num 12,1). Die Auflösung der Ehe erfolgt durch den Tod des Partners, durch Ehebruch (n'p) oder durch die Entlassung der Frau. Ehebruch ist für Männer nur der Verkehr mit einer fremden verheirateten Frau, für eine verheiratete Frau jeder Verkehr mit einem fremden Mann. Er ist nach Lev 20,10 und Dtn 22,22 mit dem Tod zu bestrafen. Die Hinrichtung nach Ehebruch wird zwar nach Gen 38,24 und ZusDan 1,41 beschlossen, sie wird aber nirgends als vollzogen bezeugt. Prov 5,9—14; 6,34f; 7,26f u.a. haben wohl nur die Rache des betrogenen Ehemanns oder Ehrlosigkeit im Auge. Nach Hos 2,4—15 und 3,2 konnte anscheinend die Ehebrecherin als Sklavin verkauft, aber auch ausgelöst werden. Die Frau kann die Ehescheidung nicht fordern (anders in Elephantine) (vgl. u. Abschn. III. 5). Der Mann kann seine Frau aus nicht näher definierten Gründen unter Aushändigung der Entlassungsurkunde (sepxr k'ritut) entlassen; sie kann dann wieder heiraten, aber nicht mehr zu ihrem ersten Gatten zurückkehren (Dtn 2 4 , 1 - 4 ; vgl. Jer 3,1). 3. Formen Die Ehen der Erzväter und der Könige waren polygam. Ex 21,10 fordert für polygame Ehen gleiche Behandlung der Frauen in Nahrung, Kleidung und Beischlaf, Dtn 2 1 , 1 5 - 1 7 gleiches Erbrecht für die Kinder. Das kodifizierte Recht kennt keine Nebenfrauen (pilxgxs), doch werden solche sonst öfter erwähnt (Jdc 8,31; 19,1 f; II Sam 3,7; 5,13; 15,16; vgl. Prov 30,23). Nach Gen 16,2 und 30,3.9 konnte die Hauptfrau, wenn sie kinderlos blieb, dem Mann ihre Sklavin als Nebenfrau überlassen, deren Kinder dann als Kinder der Herrin galten. Gen 23; Jdc 13; I Sam 25; II Kön 4 , 8 - 3 7 ; Ruth; Prov 12,4; 18,22; 3 1 , 1 0 - 3 1 setzen die monogame Ehe als Regelfall voraus. Die im Keilschriftrecht erwähnte Leviratsehe wird in Dtn 25,5—10 nur dem unverheirateten Bruder eines kinderlos Verstorbenen unter Androhung der Entehrung zur Pflicht gemacht: Er muß die Witwe heiraten, deren erster Sohn dann als Sohn des Verstorbenen gilt. Die Leviratsehe in Gen 38 und—»Ruth entsprechen nicht genau Dtn 25, sondern haben wohl Gewohnheitsrecht als Hintergrund. Ob sich aus einer Bee«iJ-(Besuchs-)-Ehe (arab.b'w [der Spur, nämlich der Frau, folgen]), die man in Jdc 8,31; 9,1; 15,1 vermutet, einer Erebu-Ehe (akkad. erebu [in ein Haus eintreten]), die in Gen 28 f und Ex 2,21 f vorliegen soll, und einer Vasallenehe (I Sam 18,27; 25,44; vgl. II Sam 3,13—16) für den Vater der Frau besondere Rechte ergaben, ist umstritten. Der Herr darf aber, wenn er eine Sklavin seinem Sklaven zur Ehe gibt, im Fall der Freilassung des Sklaven dessen Frau und Kinder zurückbehalten, wenn der Sklave dann nicht lieber den dauernden Verzicht auf Freilassung vorzieht (Ex 21,4—6). 4. 'Wesen Die Ehe hat vor allem die Zeugung von Nachkommen zum Ziel. Doch sieht bereits der —»Jahwist in der Ehe eine innige Lebensgemeinschaft in Liebe, gegenseitiger Ergänzung und Ehrfurcht (Gen 2,21—24). Die Versklavung der —»Frau durch den Mann (3,16) und die Polygamie (4,19) gelten ihm als Folgen der ersten Sünde und Abfall von der Gottesordnung.
Ehe/Eherecht/Ehescheidung III
313
Trotz der geminderten Rechtsstellung der Frau (Erbrecht haben T ö c h t e r nur, wenn keine Söhne da sind: N u m 2 7 , 1 — 11 ; 3 6 , 1 — 1 3 ; ihre —> Gelübde sind ohne Zustimmung des M a n nes nicht rechtskräftig: N u m 3 0 , 2 — 1 7 ; sie kann nicht die Ehescheidung fordern: s. o.) handeln Frauen bisweilen erstaunlich selbständig (I Sam 2 5 , 1 8 — 3 1 ; II Reg 4 , 2 1 — 2 4 ; Prov 3 1 , 1 6 ) . Die Tugend, Tüchtigkeit und eheliche Treue der Frau werden gerühmt (I Sam 1 9 , 1 0 - 1 7 ; 2 5 ; Prov 1 2 , 4 ; 1 8 , 2 2 ; 1 9 , 1 4 ; 3 1 , 1 0 - 3 1 ; Sir 2 6 , 1 - 4 . 1 3 - 1 6 ) . Cant setzt voraus, daß unter Brautleuten das werbende Liebesspiel, auch ohne Mitwirkung der Eltern, und gegenseitige innige Zuneigung die Regel ist. T r o t z Fehlens von religiösen Riten bei der Eheschließung gilt die Ehe als eine von Gott gesetzte Institution (Gen 1 , 2 7 ; 2 , 2 1 - 2 4 ) , deren Verletzung schwere Sünde gegen G o t t ist ( E x 2 0 , 1 4 ; Dtn 5 , 1 8 ; vgl. Gen 2 0 , 9 ) und mit T o desstrafe bedroht ist (Lev 2 0 , 1 0 ; Dtn 2 2 , 2 2 ) . Prov 5 , 1 8 f fordert, daß auch der M a n n seiner Frau die Treue hält, und Mal 2 , 1 4 — 1 6 nennt erstmals die Ehe einen vor J a h w e geschlossenen Bund, den zu brechen Treulosigkeit und Gewalttat wäre. Weil offensichtlich in Israel Liebe und Treue die Grundlagen für eine Ehe waren, konnte seit —»Hosea die Ehe Gleichnis für den Treuebund zwischen Gott und Israel sein (Hos 1—3; Jer 2 , 2 ; 3 , 1 ; Ez 1 6 ; 2 3 ) . Literatur Marco Adinolfi, Il ripudio secondo Mal. 2 , 1 4 - 1 6 : BeO 12 (1970) 2 4 7 - 2 5 6 . - D e r s . , La coppia nel Cantico dei Cantici: BeO 22 (1980) 3 - 2 8 . - David Bossman, Ezra's Marriage Reform: BTB 9 (1979) 3 2 - 3 8 . - Millar Burrows, The Basis of Israelitic Marriage, 1938 (AOS 15). - David Daube, „Repudium" in Deuteronomy: Neotestamentica et Semitica. FS Matthew Black, Edinburgh 1 9 6 9 , 2 3 6 - 2 3 9 . - Vittorio Dellagiacoma, Israele sposa di Dio. La metafora nuziale del Vecchio Testamento, Rom 1961. - Alberto Di Angelo, Matrimonio e divorzio nella Bibbia, Mailand 1962. - Bernd Diebner/Hermann Schult, Die Ehen der Erzväter: DBAT 8 (1975) 2 - 1 0 . - Andreas Eberharter, Das Ehe- u. Familienrecht der Hebräer, 1914 (ATA 5/1.) (Lit.). - Louis M. Epstein, Marriage Laws in the Bible and the Talmud, Cambridge 1 9 4 1 . - Z e e v W.Falk, Intr. to Jewish Law ofthe Second Commonwealth: AGJU 11 (1978) 276—331. — Albert Gelin, Le passage de la polygamie à la monogamie: Mélanges Emmanuel Podechard, Lyon 1945, 135 — 146. - Pierre Grelot, Mann und Frau nach der Hl. Schrift, Mainz 1964. — Ders., Die Entwicklung der Ehe als Institution im AT: Conc(D) 6(1970) 3 2 0 - 3 2 5 . - T. R. Hobbs, Jer 3 , 1 - 5 and Dtn 2 4 , 1 - 4 : ZAW 86 (1974) 2 3 - 2 9 . - Walter Kornfeld, Mariage. I. Dans l'AT: DBS 5 (1957) 9 0 6 - 9 2 6 (Lit.). - Donald A. Leggen, The Levirate and Goel Institutions in the OT, Cherry Hill, N . J . 1974 (Lit.).-Henri Lesèttre, Art. Mariage. I. Dans l'AT: DB(V)4 (1908) 7 5 9 - 7 7 0 (Lit.).-Henry McKeating, Sanctions against Adultery in Ancient Israelite Society: J S O T 11 (1979) 5 7 - 7 2 . - André Neher, Le symbolisme conjugale: Expression de l'histoire de l'AT: RHPhR34 (1954) 3 0 - 4 9 . - E d w a r d Neufeld, Ancient Hebrew Marriage Laws, London 1944. - Werner Plautz, Monogamie und Polygamie im AT: ZAW 75 ( 1963) 3 - 1 7 . - Ders., Die Form der Eheschließung im AT: ZAW 76 (1964) 2 9 8 - 3 1 8 . - Hans-Friedemann Richter, Geschlechtlichkeit, Ehe u. Familie im AT u. seiner Umwelt, Bern/Frankfurt 1978. - Josef Scharbert, Ehe u. Eheschließung in der Rechtssprache des Pentateuch u. beim Chronisten: Studien zum Pentateuch. FS Walter Kornfeld, Wien 1977, 2 1 3 - 2 2 5 . - Stefan Schreiner, Mischehen-Ehebruch-Ehescheidung: ZAW 91 (1979) 2 0 7 - 2 2 8 . - R o b e r t H.Stein, Is it Lawful for a Man Divorce His Wife?: JETS 22 (1979) 1 1 5 - 1 2 2 . - G a s t o n Wagner, La justice dans l'AT aux niveaux des mariages et des échanges de biens, Neuchâtel 1977. - Karl Friedrich Wurmnest, Die Rolle des Individuums innerhalb von Familie u. Ehe im alten Israel, Diss. Köln 1979. - Reuven Yaron, On Divorce in O T Times: RIDA 3' Série 4 (1957) 1 1 7 - 1 2 8 . - Ders., The Restoration of Marriage: JJS 1 7 ( 1 9 6 6 ) 1 - 1 1 . Josef Scharbert
III. Judentum 1. Wesen der Ehe im Judentum 2. Gesetz und Ethik im Zusammenhang mit der Ehescheidung 3. Rechtsnormen und soziale Gegebenheiten 4.Ehescheidung in vortalmudischer und talmudischer Zeit 5. Entscheidungen über die Ehescheidung in nachtalmudischer Zeit 6. Die Entwicklung des Scheidungsrechts der Frau (Literatur S. 318) 1. Wesen der Ehe im
Judentum
Die Ehe bedeutet im Judentum die elementare soziale Beziehung des Menschen und die F o r m zur Verwirklichung des vollen Menschentums. Der Einzelne gilt als Teilwesen, das erst durch die Ehe zur Vollkommenheit fortschreiten kann (Gen 5 , 2 ) . Die soziale Dimension des
314
Ehe/Eherecht/Ehescheidung III
Menschen wird durch das Verhältnis zum Ehegatten repräsentiert und das Triebleben wird durch dieses Verhältnis in einen religiös und ethisch bedeutungsvollen Faktor umgewandelt. Das erste biblische Gebot über die Fortpflanzung des Menschengeschlechts soll nur in der Ehe erfüllt werden. Gottes künftige Diener sollen eine Beziehung zum Vater wie zur Mutter haben und das Verhältnis der Eltern soll durch das —«Gesetz stabil sein. Beide Ziele sind durch die Ehe hergestellt und bewahrt, wodurch die Ehe auch die Grundlage des „Volkes der Heiligkeit" bildet. Die Ehe kann von den Partnern ohne Mitwirkung eines geistlichen Funktionärs geschlossen werden und bedarf nur der durch Anwesenheit von zwei Zeugen repräsentierten Öffentlichkeit. Im Sinne der jüdischen Tradition bedarf es keiner Vermittlung durch Priester, Propheten oder spiritueller Führer, um Gott nahezukommen. Daher kann die Ehe auch seitens der Partner aufgelöst werden, wenn auch ein solcher Schritt als bedauerlich angesehen wird. Die Bedeutung der Ehe hängt also von der Verantwortung ab, die die Betreffenden in ihr beweisen. Weder eine äußere Autorität noch ein Mysterium bilden das Konstitutivum für das Eingehen oder die Auflösung der Ehe. Das erste Stadium der Eheschließung ist die Einigung (Schidduchin), bei der das Eheversprechen gegeben wird und das Hochzeitsdatum festgesetzt wird. Ebenso werden bei dieser Gelegenheit die finanziellen Fragen und gewisse Abmachungen über das Verhalten in der Ehe festgelegt. Das zweite Stadium wird durch den „Erwerb" der Braut seitens des Bräutigams erreicht. Der Bräutigam stellt dabei die göttliche Annahme und Heiligung des Volkes Israel symbolisch dar. Letztere Idee bewirkt die Ausschließlicchkeit des Verhältnisses und den Verzicht jedes außerehelichen Verhältnisses der Braut. Seit dem Mittelalter bewirkt sie auch die entsprechende Ausschießlichkeit von Seiten des Bräutigams. Das dritte Stadium bildet der symbolische Eintritt der Braut in das Haus des Bräutigams, das von einem schriftlichen Ehevertrag wie auch von Dank- und Bittsprüchen begleitet wird. Aufgrund seiner menschenbezogenen Einstellung erkennt das jüdische Recht in gewissem Sinne auch die „faktische" Ehe an, in dem es nämlich die Präsumption der Rechtmäßigkeit auf das Zusammenleben zweier Partner, die kein Impediment hindert, anwendet. Ebenso erkennt das jüdische Recht für gewisse Zwecke auch nach fremdem Recht geschlossene Ehen als rechtswirksam an, wenn auch Juden nur jüdische Ehen und gemäß deren Bestimmungen schließen sollten. 2. Gesetz und Ethik im Zusammenhang
mit der
Ehescheidung
Das Recht der Ehescheidung gehört in den Zusammenhang jener Gebote, die aus einer an sich unerwünschten Situation entstehen und dem Menschen in dieser unzulänglichen Welt den verhältnismäßig besten Weg weisen. Andere Gebote dieser Kategorie sind die Bestimmungen über Notzucht, Verdacht der Untreue, Verführung und Behandlung der Kriegsgefangenen (Ex 22,15f; Dtn 2 1 , 1 0 - 1 4 ; 2 2 , 1 3 - 1 9 . 2 8 f ) . In allen diesen Situationen trägt das Gesetz der menschlichen Schwäche Rechnung, zieht die Grenzen des legalen Verhaltens den andern gegenüber und bietet eine praktische Lösung des Problems. Die Möglichkeit für diese Lebensnähe und Kompromißbereitschaft ist dadurch gegeben, daß man sich auf die moralische Pflicht und Verantwortung (—»Ethik) verläßt, die den Menschen über den rein legalen Standpunkt erhebt. Diese Idee ist im Gebot der —»Heiligung (Lev 19,2) ausgesprochen, das den Menschen den Weg zur —»imitatio Dei weist. Das Gesetz stellt nur das für die Gesamtheit notwendige Minimum dar, über das hinaus dann die Forderungen der Ethik gehen sollen. So ergibt sich die Verantwortung des einzelnen nicht an Stelle, sondern neben den Pflichten, die für alle gelten (vgl. Mose ben Nachman, Kommentar zu Lev 19,2). Die ideale Ehe ist ausschließlich und lebenslänglich. Der Gesetzgeber kann sich jedoch nicht den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Durchschnittsmenschen entziehen. Er muß sich fragen, ob die Treue gegenüber dem anderen Ehepartner auch dann in der zerrütteten Ehe der höchste Wert sei, wenn man dadurch von der Erfüllung anderer Aufgaben abgehal-
Ehe/Eherecht/Ehescheidung III
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ten würde. Das Judentum zieht es vor, diesen Wert vor den übrigen Werten des Lebens zurücktreten zu lassen. Ähnlich wie man einen —»Sabbat entweihen soll, falls man nur dadurch in die Lage kommen kann, noch viele andere Sabbate heiligen zu können (mYom 8 , 6 - 7 : mögliche Lebensgefahr verdrängt den Sabbat), kann sich die Ehescheidung als notwendiges Mittel erweisen, um einem gescheiterten Paar einen weiteren Versuch zu ermöglichen. 3. Rechtsnormen
und soziale
Gegebenheiten
Zu beachten ist ferner die Beziehung der Rechtsnorm zur sozialen Wirklichkeit, die eine Voraussetzung für eine Besserung und Annäherung zu Gott bildet. Seit biblischer Zeit steht die Ehe in starkem Konnex zum vorwiegend patriarchalischen System der jüdischen Familie (s.o. Abschn. II). Die Frau erwirbt ihre Selbständigkeit erst durch den Erhalt des Scheidebriefes oder auch durch das Ableben des Mannes (mQid 1,1). Die soziologische Veränderung in der Stellung der Frau während und nach der Auflösung der Ehe bildet den Hintergrund für die Dynamik des jüdischen Ehe- und Scheidungsrechts. 4. Ehescheidung
in vortalmudischer
und talmudischer
Zeit
Zur Zeit des Zweiten Tempels wurde die Ehe durch einen Akt des Bräutigams, bei dem das Einverständnis der Braut oder ihres Vormundes vorausgesetzt war, konstituiert. Dementsprechend wurde die Scheidung durch einen entgegengesetzten Akt des Mannes bewirkt. Das Schreiben und die Ubergabe des Scheidebriefs mußte Ausdruck seines freien Willens sein. Das Einverständnis der Frau war hierzu nicht notwendig (mYev 14,1). Im Talmud wird die Möglichkeit einer Initiative der Frau zur Auflösung der Ehe diskutiert. Es ist die Rede davon, daß sie sich die Selbständigkeit durch Zahlung einer Summe (wahrscheinlich des Brautpreises) erkaufe (bQid 5 a) oder daß sie sich den Scheidebrief selbst aneigne (bGit 78 a). Beide Formen werden aber von den Gelehrten aufgrund ihrer patriarchalischen Einstellung und als Reaktion auf römische Sitten (Gaius, Inst. 137a) abgelehnt. Schon in talmudischer Zeit war der Scheidungsakt nicht mehr ganz privat und auch nicht exklusiv vom Mann her bestimmt. Als familienrechtlicher Akt mußte er in Anwesenheit von zwei rechtsfähigen Zeugen vorgenommen werden (bGit 2b)). Dadurch wurde den Interessen der Gemeinschaft und auch der Publizität Rechnung getragen. Schon im 3. Jh.n.Chr. war ein rabbinischer Gelehrter für Scheidungen zuständig (bGit 5 b), und man sprach sich gegen die Einmischung von Unbefugten in Ehe- und Scheidungsangelegenheiten aus (bQid 6 a). In manchen Gegenden mußte die Scheidung vor der jüdischen Gemeinde, in der Synagoge oder vor 10 rechtsfähigen Personen vorgenommen werden (yGit 1,1,43 b). 4.1. Ansichten der Hilleliten und Rabbi Akibas. Nachdem somit eine gewisse Öffentlichkeit der Ehe vorgeschrieben war, werden die damaligen Diskussionen über die Scheidungsgründe und die daraus resultierende Beschränkung der männlichen Vormacht verständlich. Nach Ansicht der Schule Hillels durfte der Mann die Frau aus jedem Grund verstoßen, selbst wenn sie nur das Essen anbrennen ließ. Rabbi —»Akiba gestattete die Scheidung sogar schon, wenn der Mann eine andere Frau vorzog. Die Schule Schammajs dagegen ließ als Scheidungsgrund nur den Ehebruch der Frau und vielleicht verdachterweckendes Verhalten ihrerseits gelten (mGit 9,10) (—•Hillel/Hillelschule/Schammaj/Schammajschule). Wahrscheinlich beruht die Ansicht der Hilleliten auf einem argumentum e contrario aus den die Scheidung ausschließenden Gesetzen über die Notzucht und die falsche Verdächtigung (Dtn 2 2 , 1 3 - 1 9 . 2 8 f). Der Midrasch bemerkt zu diesen Sätzen, daß der Mann „aus seinem Krug trinken muß, selbst wenn die Frau lahm, blind oder aussätzig wird" (SifDev 238.245; mKet 3,5). Durch das ungerechte Verhalten der Frau gegenüber hat der Mann das Scheidungsrecht in diesen Fällen selbst verwirkt. Die Hilleliten zogen daraus wohl den Schluß, daß man im allgemeinen die Scheidung aus diesen Gründen vornehmen dürfe. Darüber hinaus stellten sie der extremen Formulierung des Midrasch ihre eigene extreme Formulierung des Scheidungsrechts in normalen Fällen gegenüber: Bei Notzucht und ungerechter Verdächtigung dürfe man die Scheidung nicht vornehmen, selbst wenn die Frau lahm,
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blind oder aussätzig sei. In andern Fällen dürfe man es, selbst wenn die Frau nur das Essen anbrennen lasse. Die extreme Formulierung Rabbi Akibas hängt mit seinem Sinn für Ästethik und seiner Forderungg, Ehe und Liebe müßten verbunden bleiben, zusammen. „Die Ältesten der Frühzeit verboten der Frau, während der Menstruation Schminke und Rot aufzulegen und bunte Kleidung zu tragen. Da kam Rabbi Akiba und lehrte, daß dieses Verhalten die Frau in den Augen des Mannes häßlich mache und zur Scheidung führen könne" (bShab 64 b). Nach einer andern Tradition bezeichnete Rabbi Akiba denjenigen als reich, der eine Frau habe, die schön sei, und zwar in ihrem Verhalten (bShab 25 b). In seiner Wertung von Schönheit und Liebe mag bei Akiba sein Verhältnis zu seiner eigenen Frau mitgespielt haben. 4.2. Ansicht der Schammajiten. Die Lehre der Schammajiten war dem entgegengesetzt. Sie erklärten den Abschnitt über die Scheidung im Lichte des für die oben genannten Fälle bestimmten Scheidungsverbots. Sie setzten mit ihrer restriktiven Haltung vermutlich die Traditionen der vormakkabäischen Chasidim fort. In der midraschischen Tradition hat selbst derjenige das Scheidungsrecht, der sich der Notzucht oder der unberechtigten Verdächtigung schuldig gemacht hat, wenn seine Frau sich unzüchtig verhält oder wenn die Ehe mit ihr durch ein Impediment verboten ist (mKet 3,5). Die Abschnitte über die Notzucht und die Verdächtigung werden also im Lichte des Abschnitts über die Scheidung interpretiert, woraus sich der Schluß anbietet, auch letzteren im Lichte der ersteren zu erklären. Mit Hilfe eines Analogieschlusses kommt die Schammajschule schließlich zu dem Ergebnis, daß die Scheidung in jedem Fall nur wegen unzüchtigen Verhaltens und Eheverbots möglich ist. Dazu kommt die prophetische Forderung der ehelichen Treue (Mal 2 , 1 3 - 1 6 ) , die zu einem ähnlichen Ergebnis führt. 4.3. Ethos und Regelungengegen leichtfertige Ehescheidungen. Obwohl die Ansicht der Hilleliten vorherrschte, blieb die moralische Verantwortung, die die Mehrheit der Frauen vor leichtfertiger Scheidung durch den Mann schützte, in Kraft. Im 3.Jh.n. Chr. erklärte Rabbi Jochanan den Mann, der seine Frau verstoße, als von Gott gehaßt (bGit 90b), was Rabbi Eleazar auf die Scheidung der ersten Ehe bezog (ebd.). Rabbi Schimon bar Abba brachte das moralische Scheideverbot mit der Geschichte —»Davids in Verbindung. Es wäre für David nicht möglich gewesen, Abischaj zu heiraten, denn er durfte sich von keiner seiner Frauen scheiden, um der neuen Frau Platz zu machen (bSan 22 a). Hier ist zu bedenken, daß die rabbinische Lehre nicht zwischen Recht und Moral unterschied, sondern beides als Punkte eines Kontinuums von Pflichten ansah, die für den Juden maßgeblich sind. Wenn also ein Mann den Rat der Rabbinen über die eventuelle Scheidung eingeholt hätte, dann hätten diese ihm trotz der hillelitischen Lehre von der Scheidung abgeraten, wenigstens wenn es sich um die erste Ehe handelte. Die Scheidung war auch rechtlich verboten, wenn die Frau dadurch besonders schutzlos geworden wäre. Dementsprechend darf man nach rabbinischer Auffassung die Frau während ihrer Geisteskrankheit nicht verstoßen (mYev 14,1). Man kann die Scheidung auch nicht vornehmen, wenn die Frau minderjährig ist und die Bedeutung des Aktes noch nicht erfaßt (mGit 6,2). Im Ehevertrag verpflichtet sich der Mann u.a., die Frau auszulösen, wenn sie in Gefangenschaft geraten sollte. In einem solchen Fall ist die Scheidung also nicht erlaubt (mKet 44,9). Diese Verbote wurden allerdings isoliert behandelt und nicht auf analoge Situationen ausgedehnt, in denen die Frau nach der Scheidung ebenfalls schutzlos zurückbleiben würde. Hier bestand nur die moralische Pflicht, für die geschiedene Frau zu sorgen (WaR 34,14, zu Lev 25,35). Ein praktischer Schutz vor leichtfertiger Scheidung war die rabbinische Verordnung, daß jedermann im Ehevertrag 200 Denare für den Fall der Scheidung verschreiben mußte, wenn die Frau jungfräulich war. War sie Witwe oder geschieden, waren 100 Denare zu verschreiben. Diese geldliche Regelung, die anstelle des früheren Brautpreises trat, diente der Sicherung der Frau, „damit die Scheidung nicht leicht sei" (tKet 12,1; yKet 2,32b; bKet 82 b). Für das Gros des Volkes war diese Summe (360—720 Gramm Silber), die dem Jahres-
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einkommen eines landwirtschaftlichen Arbeiters entsprach (vgl. Crowell 104 ff), groß genug, um sich die Scheidung reiflich zu überlegen. So mancher mußte die Ehe mit einer bösen Frau ertragen, weil es ihm an Mitteln fehlte, die Eheverschreibung zu begleichen (bYev 63 b; mNed 9,5). 5. Entscheidungen
über die Ehescheidung
in nachtalmudischer
Zeit
Im Verlaufe der Zeit wurden noch andere Sanktionen gegen die ungerechtfertigte Scheidung angewandt. Im 11. Jh. berichtet R. Isaak Alfassi, daß jüdische Gemeinden in Spanien dem Mann eine Geldstrafe auferlegten, wenn er die Scheidung gegen den Willen der Frau und ohne guten Grund vorgenommen hatte (Neuman II, 58). Noch wirksamer war der von den deutsch-französischen Gemeinden verhängte —»Bann gegen den Mann, der ohne Einverständnis der Frau oder der Gemeindevertreter die Scheidung vornahm. Diese dem R. Gerschom von Mainz zugeschriebene Verordnung betonte die moralische Pflicht des Mannes seiner Frau gegenüber und den öffentlichen Charakter der Scheidung. Sie bildete den Höhepunkt der rabbinischen Gesetzgebung und ist bis heute in Kraft (Falk, Law 1 1 3 - 1 4 3 ) . 6. Die Entwicklung des Scheidungsrechtes
der Frau
Etwas anders verlief die Entwicklung des Scheidungsrechtes der Frau. Dieses wurde seit der Zeit des Zweiten Tempels bisweilen im Ehevertrag festgelegt. Nach den aramäischen Papyri des 5. Jh. v. Chr. konnte die Frau vor der Gemeinde erscheinen und ihren Wunsch der Scheidung aussprechen (Cowley, Papyrus Nr. 15, Kraeling). Es ist anzunehmen, daß sich die Gemeinde nicht nur mit der Prozedur begnügte, sondern ein Mitspracherecht über die Scheidung selbst geltend machte. Eine ähnliche Klausel über das Scheidungsrecht der Frau wird im 4. Jh. n.Chr. von Rabbi Jose erwähnt. Falls die Frau damals die Gemeinschaft mit ihrem Mann aufheben wollte, mußte sie auf die Hälfte ihrer Eheverschreibung verzichten (yKct 5,10, 30b). Die Forderung der Frau mußte vor dem raabbinischen Gerichtshof ausgesprochen werden und wurde von ihm auf ihre Berechtigung geprüft. Es ist allerdings nicht klar, was geschah, falls sich der Mann weigerte, den Scheidebrief zu übergeben. Erst im Jahre 650/651 verordneten die babylonischen Rabbinen, daß man den Mann zur Scheidung zwingen könne, wenn die Frau auf ihrer Klage bestehe. In den Eheverträgen des 10. und 11. Jh. ist das Scheidungsrecht der Frau ausdrücklich erwähnt, jedoch mit der Bemerkung, daß sie erst mit der Einwilligung des Gerichtshofes geschieden sei. Damit war die einseitige Selbsthilfe der Frau ausgeschlossen und die Möglichkeit angedeutet, den Mann gerichtlich zur Scheidung zu zwingen (Friedman 2 9 - 5 5 ) . Aufgrund einer Reihe von objektiv schwerwiegenden Tatbeständen gab es jedoch von jeher ein Scheidungsrecht der Frau. Im 2. Jh.n.Chr. zählt Rabbi Schimon ben Gamliel Krankheiten und Verhaltensweisen des Mannes auf, die das Zusammenleben mit ihm unzumutbar machen. In jedem dieser Fälle kann die Frau auf Scheidung klagen und der Mann wird zur Übergabe des Scheidebriefs gezwungen (mKet 7 , 9 - 1 0 ) . Diese Regel ist bemerkenswert, da sie die Mobilität des rabbinischen Rechts illustriert. Eigentlich kann die Ehe nur durch den freiwilligen Akt des Mannes aufgelöst werden (mYev 14,1). Dennoch ermöglichte die Fiktion, daß auch das erzwungene Einverständnis für die Gültigkeit des Scheidebriefes genüge, die zwangsweise Auflösung der Ehe durch das Gericht (mGit 9,8; mAr 5,6). Andere Gründe für die Scheidung auf Wunsch der Frau sind diverse Formen der Vernachlässigung ehelicher Pflichten (mKet 5 , 6 . 8 - 9 ) , Beschränkung der persönlichen Freiheit der Frau (mKet 7,1—5) oder Aufhebung der Lebensgemeinschaft (mKet 13,10). Wo die Monogamie die Regel ist, gilt die Bigamie des Mannes als Scheidungsgrund der Frau (bYev 65 a; R. Mose Isseriis, Schulchan Arukh, Eben Hacezer 44,1). Generell hat die Frau das Anrecht auf Rücksicht und würdige Behandlung. „Sie ist dem
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Mann fürs Leben, nicht zum Leiden aufgegeben" (bKet 61 a). Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird, hat sie das Recht auf Scheidung. Wenn es sich jedoch nicht um einen in den obigen Quellen genannten Tatbestand handelt, dann kann der Gerichtshof dem Mann die Scheidung nur empfehlen und ihn zur Unterhaltszahlung verurteilen; der Gerichtshof kann die Scheidung nicht selbst zwangsweise vornehmen. In allen diesen Fällen obliegt der Frau die Beweispflicht. Wie bereits erwähnt, bedeutet das in Eheangelegenheiten die Beiziehung von zwei rechtsfähigen Zeugen. Schwierigkeiten entstehen dann, wenn das Beweismaterial nicht genügt, um die Frau aus ihren Leiden zu befreien. Deshalb sprach eine alte Tradition der Frau das Scheidungsrecht zu, falls sie erklärte, ihre Reinheit sei durch außerehelichen Verkehr entweiht worden, es bestünden sexuelle Schwierigkeiten zwischen ihr und dem Manne oder sie hätte gelobt, sich von ihm zu trennen. In diesen Fällen nahm man an, es sei schwer möglich, diese Tatbestände zu beweisen. Man verließ sich auf die Erfahrung, daß die Frau meistens die Wahrheit sprach. Da diese Klagen aber mißbraucht wurden, konnte auch bestimmt werden, daß das Gericht den Mann nur um die Scheidung bittet, ihn jedoch nicht zwingt (mNed 11,12). Nur wo das Scheidungsrecht im Ehevertrag festgelegt war, war die Frau der Beweispflicht enthoben. Wie erwähnt, dehnte jedoch die rabbinische Verordnung von 650/51 das Scheidungsrecht auch auf Fälle ohne eine solche Klausel im Ehevertrag aus, so daß weder die in den Quellen genannten Tatbestände noch Beweise notwendig sind. Allerdings bestreiten manche Autoritäten die Gültigkeit der Verordnung. Infolgedessen kann das Scheidungsrecht der Frau heute nicht angewendet werden. Literatur Werner D. Amram, The Jewish Law of Divorce, Philadelphia 1896. - Ludwig Blau, Die jüd. Ehescheidung u. der jüd. Scheidebrief. 34. Jahresbericht der Landesrabbinerschule Budapest, Budapest 1911/12. - Frank Richard Cowell, Cicero and the Roman Republic, Harmondsworth 1956. - Arthur E. Cowley, Aramaic Papyri of the 5th Century B. C., Oxford 1923. - Louis M. Epstein, Marriage Laws in Bible and Talmud, Cambridge, Mass. 1942. - Zeev W. Falk, Jewish Matrimonial Law in the Middle Ages, London 1966. — Ders., Tevi'at gerusin mi$ad ha'isah b'dine Israel, Jerusalem 1973. — M. Friedman, Termination of the Marriage upon the Wife's Request. A Palestinian Stipulation, New York 1969 (Proceedings of American Academy for Jewish Research). — Emil Gottlieb Heinrich Kraeling, The Brooklyn Museum Aramaic Papyri, New Häven 1953. - Abraham A. Neuman, The Jews in Spain, Philadelphia, II 1942. - Ben-Zion Schereschewsky, Art. Divorce: EJ 6 (1971) 1 2 2 - 1 3 7 .
Zeev W. Falk IV. Neues Testament 1. Die Eigenart des neutestamentlichen Ehebildes 2. Quellenmaterial 3. Ledige und Verheiratete 4. Eheschließung 5. Ehehindernisse 6. Eheleben 7. Eheverzicht und Enthaltsamkeit 8. Ehebruch und Ehescheidung 9. Interimsaspekt und Eschatologie 10. Metaphorisches (Literatur S. 324)
1. Die Eigenart des neutestamentlichen
Ehebildes
Für die Ehe, die anerkannte und dauernde Verbindung eines Mannes und einer Frau, verwendet das Neue Testament wie die hellenistische Umgebung das Wort yäfio$. Dies ist eine Bildung von ya/iea> [heiraten] (Etymologie umstritten) und bedeutet also primär „Hochzeit" (so etwa Joh 2,1 f), erst sekundär „Ehestand" (im Neuen Testament nur Hebr 13,4). Als soziale Institution blieb die Ehe der ersten Juden- und Heidenchristen auch von den Gepflogenheiten ihrer Umgebung abhängig. Als vitale Gemeinschaft aber erhielt die Ehe im Neuen Testament wegen der Christuswirklichkeit einen neuen Sinn, dessen Eigenart beim Vergleich mit der jüdischen, griechischen und römischen Umgebung deutlich wird. Der jüdische Mann war im Interesse der Familie zur Eheschließung verpflichtet (Bill. II, 372 f; Oepke 655 f), besaß aber weitgehende Befugnisse hinsichtlich Ehescheidung und Zweitehe (s.o. Abschn. III; vgl. auch u. Abschn. 8). Nach altgriechischer Tradition blieb die Ehefrau von der Männerwelt getrennt, und der Eros richtete sich oft auf Hetären oder Lustknaben.
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Das führte im Hellenismus manchmal zu Ironie oder Skepsis gegen die Ehe (Oepke 6 5 2 - 6 5 5 ) . In der römischen Gesellschaft der neutestamentlichen Zeit hatte die Matrone eigene Rechte erworben, aber die Vornehmen zeigten im Eheleben einen Leichtsinn, gegen den Augustus durch Gesetze eingeschritten ist (W. Kunkel: PRE 14,2261 f. 2268; E. Bund: KP 3,1081—1083). Die römischen Familien sollten dadurch zu Ehe und Kindern verpflichtet werden, aber die Gesetze erhielten keine dauernde Wirkung. Zwei gegensätzliche Tendenzen kennzeichneten also die neutestamentliche Umgebung, wo die Ehe in der jüdischen und römischen Welt als Mittel der Fortpflanzung offiziell geschätzt, aber in der griechischen Welt als Sphäre der Unfreiheit individuell verpönt wurde. In souveräner Unabhängigkeit von beiden Extremen betrachteten Jesus und Paulus die vitale Gemeinschaft der Ehepartner als Absicht des Schöpfers, Wirkung des Heilands und Hilfsmittel zur Erlösung (s.u. Abschnitt 6 u. 9). 2.
Quellenmaterial
Auskunft über Wesen und Praxis der Ehe vermitteln die meisten neutestamentlichen Schriften, vor allem aber die synoptischen Evangelien in Jesusworten (etwa M t 5,27—32; 19,1 — 12 par. M k 10,1 — 12) und die paulinische Literatur in den Paränesen (etwa I Kor 7.1—40; Eph 5,21—33). Paulus berief sich in der Ehefrage emphatisch auf Jesus (I Kor 7,10). 3. Ledige und
Verheiratete
In gewisser Analogie zu den meisten Essenern (Josephus, Bell II, 160f) lebten und wirkten Johannes der Täufer, Jesus und Paulus ohne Bindung an Frau und Familie (Paulus nach I Kor 7,8.25;9,5). Bei den vom Evangelium berührten Menschen handelt es sich aber in der Regel um Ehepaare, wie bei den Eltern des Täufers und Jesu, bei Petrus und den meisten Aposteln, ebenso bei Jesus nahestehenden Frauen, den Brüdern Jesu und dem Evangelisten Philippus (Mt 8,14 par.; 27,55 f p a r . ; I Kor 7,8; 9,5; Act 21,9). Die neutestamentlichen Mitteilungen und Mahnungen setzen Ehestand und Familie als normal voraus (Mt 5,27f.31f; 19,1 par. 14 par. vgl. Lk 8,3; Joh 2,1; Rom 7 , 1 - 3 ; IThess 4,4; I Kor 7 , 1 - 1 6 ; Kol 3 , 1 8 - 2 1 ; Hebr 13,4; I Petr 3,7; I Joh 2 , 1 2 - 1 4 ) , auch bei Ältesten, Bischöfen und Diakonen (I Tim 3 . 2 - 1 2 ; Tit 1,6). Enthaltsamkeit und Zölibat in der Nachfolge Jesu wurden nur in Sonderfällen begrüßt (s.u. Abschn. 7). 4.
Eheschließung
In der Umgebung des Neuen Testaments konnten ein junger Mann mit 18 und ein Mädchen mit I2V2 Jahren heiraten, aber ihre Verlobung erfolgte auf Beschluß der Väter gelegentlich früher (Bill. 11,373—375). Ursache des Ehebundes war auch bei Volljährigen normalerweise der Wille der Väter (Tob 4,12f; 7,10—13), Vereinbarungen über Aussteuer, Mitgift und Garantiebetrag wurden in einem Vertrag festgehalten (Tob 7,14; Bill. II, 384—393). Von Sympathie der Partner konnte freilich auch die Rede sein (Jdc 14,3.16), aber Liebeslust durfte unter den Juden keinen Anlaß zur Ehe bilden (Tob 8,7), und von Verliebten sprach man eher im hellenistischen Roman. Aufgrund des Ehevertrags deklarierten Bräutigam und Braut vor Zeugen ihre Verlobung und galten damit juristisch als ein Ehepaar, obwohl die Braut erst bei der Hochzeit in Familie und Haushalt des Bräutigams aufgenommen wurde (Bill. II, 3 9 3 - 3 9 8 ) . In bezug auf Eigentumsverhältnisse, Kinderzeugung, Ehebruch, Ehescheidung und Erbrecht wurden also Verlobte mit Getrauten gleichgestellt. Eine solche Verlobte war die Mutter Jesu vor seiner Geburt (Mt 1,18; Lk 1,27; 2,5: fivtjareva) [sich um eine Frau bewerben]). Joseph verzichtete dabei auf Intimverkehr (Mt 1 , 1 8 - 2 4 ; Lk 1,34) und auf Ehescheidung (Mt l , 1 9 f ) nach der Feststellung ihrer von ihm nicht verursachten Schwangerschaft (Dtn 22,23—27). Nach dem matthäischen Bericht nahm er Maria vor der Geburt Jesu als seine Frau in sein Haus auf (Mt l,20.24f), nach dem lukanischen begleitete sie ihn als seine Verlobte nach Bethlehem zur gemeinsamen Steuererklärung (Lk 2,5).
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Nach alttestamentlicher Sitte bestand die Hochzeit aus einer Prozession der Braut mit ihren Jungfern dem Bräutigam entgegen (Ps 4 5 , 1 0 - 1 6 ) und einem von Musik begleiteten Auszug des Bräutigams mit seinen Freunden der Braut entgegen (I Makk 9 , 3 7 - 4 1 ) . Es folgte ein mehrtägiges Hochzeitsmahl (Jdc 14,10; Tob 8,10; 10,7; Mt 22,1 - 1 0 ; Joh 2,1 - 1 1 ) , das in der Regel beim Bräutigam von seinen Kameraden unter der Leitung des sog. Brautführers und Tafelmeisters veranstaltet wurde (Bill. 1 , 5 0 0 - 5 1 7 ; Joh 2,8 f der Tafelmeister als agxiTQtxXtvog [Oberkellner]). Die genannten Assistenten finden sich in einigen Bildworten des Neuen Testaments vor (vgl. u. Abschn. 10): so die Brautjungfern (Mt 2 5 , 1 - 1 3 ) ; die als „Söhne des Hochzeitssaals" (vgl. Bill. I, 5 0 0 - 5 0 7 ) bezeichneten Kameraden des Bräutigams (Mt 9,15 par., vgl. auch 22,12) und der als ihr Leiter auftretende Brautführer, der besonders in Judäa als Zeuge der Reinheit der Braut bedeutsam war (Bill. 1 , 4 5 f . 5 0 0 - 5 0 4 ) und in dessen Funktion gegenüber der Kirche sich der Täufer (Joh 3,29), Paulus (II Kor 11,2) und Johannes in der Apk dachten (Apk 21,2.9).
Unter den Christen der hellenistischen Umgebung waren bestimmt griechische oder römische Formen der Eheschließung gebräuchlich (Delling 724 ff): unter den Griechen Überantwortung (eyyvtjoig) der Braut durch ihren Vater in Anwesenheit von Zeugen, unter den Römern die Heimholung (deductio) der Braut oder bei Sklaven einfach das Zusammenleben (icontubernium). Die neutestamentlichen Aussagen über Hochzeit u. dgl. beruhen jedoch durchgehend auf jüdischen Traditionen. 5.
Ehehindernisse
Polygamie, ob simultan oder sukzessiv, und Verwandtenehe wurden von Jesus und Paulus strenger als in der Umgebung beurteilt. Monogamie dominierte im Judentum, Hellenismus und Römerreich, aber Polygamie kam wie im Orient so auch in Israel vor und wurde vom Gesetz erlaubt (Ex 21,10; Dtn 21,15). Herodes leistete sich als König zehn Frauen, zum Teil gleichzeitig (Josephus, Ant XVII,19), und obwohl dieser Luxus nur einem solchen Fürsten möglich war, galt Polygamie im Judentum der ersten christlichen Zeit gewöhnlich als zulässig (Bill. 111,647-650, mit Zitaten von Josephus und den Rabbinen). Gegen die Laxheit reagierten die Essener (11Q Tempelrolle 57,17—19; CD IV, 21—V,2) mit Hinweis auf mosaische Aussagen über die Schöpfung (Gen 1,27; 5,2),die Arche (7,9) und den König (Dtn 17,17).—»Johannes der Täufer bezeichnete die nach der Ehescheidung erfolgte Verheiratung des Herodes Antipas mit seiner Schwägerin Herodias als Blutschande (Lev 18,16; 20,21), was ihn das Leben kostete (Mt 14,4 par Mk 6,18; Lk 3,19). Jesus ging weiter und lehnte bei seinen Jüngern jede Ehescheidung zum Zweck einer neuen Verheiratung ab (Mt 5,32 par. Lk 16,18; Mt 19,9 par. Mk 10,11 f)- Dabei betonte er wie die Essener die Ordnung der Schöpfung, nach der Mann und Frau ein Paar und ein Fleisch, d.h. eine organische Einheit bilden sollen (Mt 1 9 , 4 - 6 par. Mk 10,6-9). Nur mag das Verbot einer Wiederverheiratung nicht für eine Frau gegolten haben, die von einem herzlosen Mann verstoßen wurde, denn auf der Ebene des Gesetzes hatte Moses die Bestimmungen über den Scheidebrief (Dtn 24,1 —4) als Schutz für eine solche Frau mitgeteilt (Mt 19,7f par. Mk 10,4f). Mit einem ausdrücklichen Hinweis auf diese Worte Jesu lehnte auch Paulus bei den korinthischen Christen eine Verbindung von Ehescheidung und neuer Verheiratung ab (I Kor 7,10f). Paulus verbot andererseits weder die neue Verheiratung einer Witwe (7,9) noch die Ehescheidung von Anhängern verschiedenen Glaubens, obwohl bei letzteren ein weiteres Zusammenleben vorteilhafter sei (7,12—16). Gegen die in Korinth tolerierte Ehe eines Mannes mit seiner Stiefmutter äußerte er sich aber mit größter Schärfe (I Kor 5,1—5). Nicht einmal die Heiden ertrügen solche Unzucht (5,1). Durch seinen Vergleich zugunsten der Heiden nahm Paulus Abstand von einer toleranteren Haltung der Juden. Von jüdischen Schriftgelehrten wurden nämlich bei der Eheschließung eines Proselyten die mosaischen Ehehindernisse (Lev 18,8; 20,11; Dtn 23,1; 27,20) aufgehoben, weil der Proselyt mit einem
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Neugeborenen gleichgestellt und daher von seinen Familienbanden unabhängig sei (Bill. III, 343—345.353—358), was manchmal vorteilhafte Ehen ermöglichte. Aufgeklärte in Korinth hatten diese Toleranz auf einen christlichen Proselyten bezogen, aber der Apostel verurteilte ihren Freisinn als Aufgeblasenheit (5,2). Berief sich Paulus in diesem Zusammenhang auf das Gesetz, so ging es in den Pastoralbriefen um die Aufrechterhaltung der Schöpfungsordnung. Die für Älteste, Bischöfe und Diakone geltende Regel „der Mann einer einzigen Frau" (I Tim 3,2.12; Tit 1,6) ist mit der für Gemeindewitwen geltenden Regel „die Frau eines einzigen Mannes" (I Tim 5,9) zu parallelisieren und lehnt deshalb genau wie bei den Witwen auch bei den männlichen Gruppen mehr als einmalige Heirat im Leben ab. Sie läßt die von Jesus betonte Ordnung der Schöpfung bei den betreffenden Dienern Christi besonders wichtig erscheinen. 6.
Eheleben
Über das richtige Verhalten christlicher Männer und Frauen zueinander oder eventuell zu einem nichtchristlichen Ehepartner unterrichten paulinische und andere Paränesen (I Kor 7 , 1 - 1 6 . 2 5 - 4 0 ; Kol 3,18f; Eph 5 , 2 1 - 3 3 ; ITim 2,8.15; T i t 2 , 4 f ; Hebr 13,4; I Petr 3 , 1 - 7 ) . Grundlegend war das Wissen um die Abhängigkeit des christlichen Ehelebens von der Christuswirklichkeit und dadurch von der Schöpfungsordnung. Paulus und seine Mitarbeiter sahen das Eheleben der Christen in Verbindung mit der Zugehörigkeit der Partner zur Christussphäre (rw XVQWJ; ev XVQI'ÜJ , I Kor 6,13b; 7,35.39; 11,11; Kol 3,18; Eph 5,22), und der Verfasser des I Petr unterstrich bei den Frauen ihren Anteil an der für beide gültigen Gnade und bei den Männern die Wirkung des von beiden getragenen Gebets (I Petr 3,7). Das intensive Erlebnis der Christuswirklichkeit führte weiter zur Einsicht, daß die Liebe im Rahmen der Ehe eine Fortsetzung der Liebe Christi zur Kirche bedeutet (Eph 5,22—33). Als primär galt das Wort des Schöpfers über die Einheit eines Mannes und einer Frau (Gen 2,24), und dieses wurde als transparenter Hinweis (fivOTijgiov, sacramentum [„heiliges Symbol", nicht „Sakrament"]) auf das Eintreten Christi für seine Kirche und ihre Verbindunggedeutet (Eph 5,13 f), was in der Ehe von Mann und Frau durch gegenseitige Liebe zum Ausdruck kommt. Diese christologische Kulmination der neutestamentlichen Ehebotschaft war durch Worte Jesu über die Schöpfungsordnung vorbereitet (s.o. Abschn. 5), ebenso durch frühere Aussagen des Paulus über die Zugehörigkeit der Ehepartner zu Christus und zueinander, nämlich daß unsere Körper die Glieder Christi sind (I Kor 6,15) und daß Mann und Frau körperlich einander besitzen, also im Sinne des genannten Schöpfungswortes ein Fleisch bilden (7,4). In der Ehe der Christen verwirklicht sich nichts Geringeres als die ursprüngliche Absicht des Schöpfers mit den Menschen: die Einheit von Mann und Frau. Weil die Schöpfung seit der Christustat auf Vollendung ausgerichtet ist, bildet die Ehe von Christen auch ein Hilfsmittel zur Bekehrung und Erlösung. Bei einer „Mischehe" sollte Scheidung nicht grundsätzlich gefordert werden, denn ein christlicher Partner heiligt einen ungläubigen Partner und kann ihn vielleicht sogar erretten, ja auch ihre Kinder sind geheiligt (I Kor 7 , 1 2 - 1 6 ) . Wenn sich ein nichtchristlicher Ehemann gegen die Verkündigung sträubt, kann seine christliche Frau ihn schon durch Geduld und Treue nach dem Vorbild biblischer Frauen umstimmen (I Petr 3 , 1 - 6 ) . Aufgrund familienrechtlicher Verhältnisse im jüdischen, griechischen und römischen Altertum wurde die eheliche Liebe in neutestamentlichen Paränesen beim Ehemann als liebende Fürsorge und bei der Ehefrau als solidarische Anpassung verstanden. In bezug auf die Männer heißt es „liebt eure Frauen" (Kol 3,19; Eph 5,25.28), und Vorbild sei die Liebe d.h. Fürsorge Christi gegenüber der Kirche (Eph 5,25.29). In bezug auf die Frauen lautet die Mahnung „ordnet euch unter" (Kol 3,18; Eph 5,21; Tit 2,5; I Petr 3,1), und damit war nicht sklavische Unterwerfung, sondern willige Anpassung gemeint, weil als Vorbild die Solidarität der Kirche mit Christus dienen sollte (Eph 5,24). Das im Blick auf Mann und Frau gebrauchte Bild vom Haupt und Leib (I Kor 11,3; Eph 5,23) beleuchtete weiter die Fürsorgerolle des Mannes, betonte aber nicht seine Autorität, sondern ganz umgekehrt die Verbin-
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dung der Ehepartner miteinander und ihre Abhängigkeit voneinander (mit Emphase I Kor 11,11 f; Eph 5,28 f). In der petrinischen Haustafel wurde von den Männern gegenüber dem weiblichen Element ihres Haushalts Einsicht (yvämg, hier im Sinne von Rücksichtnahme) und Achtung erwartet (I Petr 3,7a). Trotz der Mahnung an die Frauen zur sozialen Anpassung (3,1.5) und Solidarität (3,6, äyado7ioiew) wurden Männer und Frauen im entscheidenden Bereich ausdrücklich einander gleichgestellt, nämlich als Erben der Gnade des Lebens (3,7 b). Allgemein findet sich in den Paränesen ein dialektisches Verhältnis zwischen Mann und Frau: Obwohl verschieden, sind beide in der Kirche gleichgestellt (vgl. Gal 3,28).
7. Eheverzicht und Enthaltsamkeit Sowohl gänzlicher Eheverzicht wie gewisse Enthaltsamkeit werden im Neuen Testament unter Umständen als nützlich beurteilt, aber an keiner Stelle als obligatorisch erwartet. Jesus nannte die Nachfolge wichtiger für die Jünger als ihre Bindung an die Familie (Mt 10,37; Lk 14,26 mit Erwähnung der Gattin; Mt 19,29 par.). Paulus erkannte auch die Vorläufigkeit und Inferiorität des Ehestandes im Verhältnis zur Christusherrschaft und fand im Blick auf die Kürze der Zeit freiwilligen Verzicht auf die Ehe nützlich im Dienste Jesu (I Kor 7,26.29.34), was er durch eigene Erfahrung bestätigen konnte (7,7f.25; 9,5). Tendenzen zur Verallgemeinerung wurden dennoch ausdrücklich zurückgewiesen. Höchstens könne den dazu Begabten ein Verzicht auf das Eheleben zugemutet werden (Mt 19,1 l f ; 1 Kor 7,7f.25f.32.34a). Nur mit Vorbehalt toleriert oder sogar als Irrlehre abgelehnt wurde die im hellenistischen Raum vorkommende Angst vor körperlicher Liebe, wobei entweder asketische Enthaltsamkeit oder absoluter Eheentzug verlangt wurden. Die in Korinth bekannten Dirnen der Liebesgöttin Aphrodite und die in Ephesus mächtigen Verehrer der Muttergöttin Artemis hatten bei frommen Juden und Christen diese Abneigung gegen die Sexualität verstärkt, und in Korinth übten fromme Paare gewisse Enthaltsamkeit (I Kor 7 , 1 - 7 . 3 6 - 3 8 ) , während in Ephesus scharfe Gegner des ganzen Ehewesens auftraten (I Tim 4,3). Paulus betonte den allgemeinen Wert der Ehe zur Verhinderung von Unzucht (I Kor 7,2) und die Pflicht der Gatten, auch mit dem Körper für einander zu leben (7,3 f)- Niemand sollte aus religiösen Gründen den Zivilstand ändern, andererseits gilt die Ehe nur für diesen Äon (7,17—31). Den verheirateten Idealisten in Korinth wurde als Ratschlag empfohlen, höchstens nach Vereinbarung für eine Zeit auf intimen Verkehr zugunsten des gemeinsamen Gebets zu verzichten (I Kor 7,5), jedenfalls aber die Verschiedenheit der Gnadengaben (—»Charisma) zu berücksichtigen (7,7). Ob ein Verlobter Mann solche religiös begründete Enthaltsamkeit gegenüber seiner jungen Braut (7,25.36—38) auf die Dauer einhalten könne, beruhe auf seiner Charakterstärke (7,37). Ist er überfordert ( { m e g a x f i o g [über den Gipfel hinaus]), dann ist seine Heirat mit dem Mädchen keine Sünde (7,28.36). Beides kann je nach den Umständen richtig sein (7,38), und die Hauptsache ist ein standhaftes Leben in Christus (7,35). Als verhängnisvolle Irrlehre hingegen wurde die in Ephesus vorkommende Propaganda gegen die Ehe bezeichnet, die mit der judaistischen Ablehnung verschiedener Speisen verbunden war (I Tim 4,3). In der apokalyptischen Vision der 1 4 4 0 0 0 jungfräulichen Seelen, die sich mit Frauen nicht verunreinigt hatten (Apk 14,4), liegt der Ton nicht auf „Frauen", sondern auf „verunreinigt" (fioXvva)). Diese himmlische Schar folgt Christus wie Brautjungfern, und ihre Jungfräulichkeit versinnbildlicht im Anschluß an biblische Traditionen ihre Freiheit vom Weltwesen (Gen 6,2; Hos 2,2; Mt 25,1; II Kor 11,2; Eph 5,27; Jak 4,4; Apk 2,22), weshalb der Begriff Jungfrau hier wie sonst das Neue vom Alten unterscheidet.
8. Ehebruch und Ehescheidung In der —»Bergpredigt und an anderen Stellen wird auf das 6. bzw. 7. Gebot „du sollst nicht ehebrechen" (Ex 20,13; Dtn 5,17) hingewiesen (Mt 5,27; 15,19 par. Mk 7,22; M t 19,18 par.; Lk 16,18; Joh 8 , 3 - 5 ; Rom 2,22; 13,9; Jak 2,11). Nach verwandten Gesetzesstellen war im —* Dekalog nicht von Eros im allgemeinen die Rede, sondern von Intimver-
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kehr mit dem verlobten oder verheirateten Partner eines anderen Mannes bzw. einer anderen Frau, und beide Delinquenten sollten mit dem Tode bestraft werden (Lev 20,10; Dtn 22,22—24). Für eine solche Sünde benutzen Septuaginta und Neues Testament die Ausdrücke fioixda, fxoixeva). In der Bergpredigt hat Jesus im Blick auf David und Bathseba sowie in Analogie zur Kritik des Täufers gegen Antipas und Herodias dieses 6. oder 7. Gebot radikalisiert und als Ehebruch eines Mannes schon die Begierde seines Herzens nach Eroberung der Gattin eines anderen bezeichnet (Mt 5,28). Andererseits wurde von seiner Milde gegen eine des Ehebruchs angeklagte Frau berichtet (Joh 8,2—11). Um eigentlichen Ehebruch handelt es sich auch in den übrigen oben erwähnten Fällen, in denen auf das betreffende Gebot hingewiesen wird und wo ¡xoi%tia oder fioixevco verwendet werden. Für geschlechtliche Ausschweifungen im weiteren Sinne steht der Begriff Ttogveia [Unzucht]. Wenn beide Begriffe nebeneinander vorkommen, bezeichnen Ehebruch und Unzucht deutlich verschiedene Handlungen (Mt 5,32; im Plural Mt 15,19 par. Mk 7,22 „Akte des Ehebruchs" bzw. „der Unzucht"). Ein ebenso in der Bergpredigt überliefertes Jesuswort (Mt 5,31 f)> zu dem später im Bericht über Jesu Wanderung durch Peräa drei Analogien vorkommen (Lk 16,18; Mt 19,9 par. Mk 10,1 lf), verbietet Ehescheidung als Anlaß zum Ehebruch. Kurz vorher war Johannes der Täufer gerade in Peräa gegen die Ehescheidung und den Ehebruch von Herodes und Herodias aufgetreten (Mt 14,4 par. Mk 6,18), und er wird bei Lukas im nächsten Kontext des angeführten Jesuswortes erwähnt (Lk 16,16). Diese peräische Reminiszenz erklärt, weshalb die Pharisäer nach Matthäus und Markus gerade in Peräa veranlaßt wurden, Jesus in der Scheidungsfrage auf die Probe zu stellen (Mt 19,3 par. Mk 10,2). Sie wußten von der Diskussion zwischen dem in der Scheidungsfrage permissiven Hillel und dem strengeren Schammaj (Bill. I, 3 1 2 - 3 1 5 ; —»Hillel/Hillelschule/Schammaj/Schammajschule), weshalb Matthäus sie fragen ließ, ob Scheidung aus jedem Anlaß zulässig sei (Mt 19,3). Ehescheidung in Verbindung mit Ehebruch bedeutet für Jesus die Zerreißung der Ehebande von zwei verlobten oder vermählten Paaren. Wegen der Verstockung der Herzen gegen den Willen Gottes mußte Moses die Unart der Ehescheidung akzeptieren, nur milderte er die Konsequenzen durch seine Bestimmung über den Schcidebrief (Mt 5,31; 19,7f par. Mk 10,4 f). In der Gemeinschaft Jesu (Mt 5,32 a „ich aber sage euch") und als Ausdruck für die Schöpfungsordnung (Mt 1 9 , 4 - 6 par. Mk 10,6-8) sei aber eine Ehe gar nicht aufzulösen (Mt 5,32b; 19,6b par. Mk 10,9), nach Matthäus mit einem Vorbehalt für Unzucht (Mt 5,32; 19,9). Paulus erinnerte später die Korinther an diese Warnung Jesu gegen Ehescheidung (I Kor 7,10). Bei einer Mischehe fand er Scheidung allerdings denkbar, aber eigentlich nicht wünschbar und keineswegs in Verbindung mit neuer Ehe zulässig (7,11-16; vgl. Abschn. 5). 9. Interimsaspekt
und
Eschatologie
Als sadduzäische Gelehrte in Jerusalem eine im Sinne der Leviratsehe mit sieben Brüdern nacheinander verheiratete Frau als Argument gegen die Erwartung einer —»Auferstehung anführten (Mt 2 2 , 2 3 - 2 9 par.), lehnte Jesus den Irrtum ab, daß nach der Auferstehung eheliche Bindungen Bedeutung haben, denn Auferstandene seien wie Engelwesen (22,29 f par.). In dieser Hinsicht hat er die Ehe als eine Interimsordnung dargestellt. Trotzdem hat Jesus die Ehe auf die Schöpfungsordnung zurückgeführt und Ehescheidung als eine Störung dieser Ordnung bezeichnet (s.o. zu Mt 5,32 usw.). Zwar funktioniert die Ehe in diesem Zeitalter, aber sie weist auf die Vollendung hin, weshalb das Interim mit der —»Eschatologie verbunden ist. Diese gegenseitige Beziehung zwischen Interim und Eschatologie äußert sich auch bei Paulus. Er bezeichnete die Zeit als kurz, und im Blick auf die kommende Vollendung sollten Eheleute leben, als hätten sie die Ehe nicht, weil die Ordnung dieser Welt vergeht (I Kor 7,29-31). Nichtsdestoweniger sah Paulus die Ehe als ein Mittel zur Gewinnung des gemein-
324
Ehe/Eherecht/Ehescheidung IV
samen Heils ( 7 , 1 2 - 1 6 ) . Auch in I Petr öffnet sich im Blick auf den christlichen Ehebund die eschatologische Perspektive, nämlich beim Hinweis auf die gemeinsame Gnade und das gemeinsame Gebet der Ehegatten (3,7).
10.
Methaphorisches
Die alttestamentlichen Bilder einer Ehe Gottes mit seinem Volk (Hos 2 , 1 8 . 2 1 f; Jes 6 1 , 1 0 ) und des Königs mit seiner Gattin (Ps 4 5 , 1 0 ) sowie die rabbinische Tradition einer Hochzeit am Sinai zwischen Gott und seinem Volk (E. Stauffer: T h W N T 1 , 6 5 2 ) erscheinen im Neuen Testament auf Christus und die Kirche übertragen. Jesus tritt als der Bräutigam auf, dessen Hochzeit gefeiert oder erwartet wird (Mt 9 , 1 5 par.; 2 2 , 1 - 1 4 ; 2 5 , 1 - 1 3 ; Lk 1 2 , 3 5 - 3 8 ; J o h 3 , 2 9 ; II K o r 1 1 , 2 ; Eph 5 , 2 5 - 2 7 . 3 1 f; Apk 1 4 , 4 ; 1 9 , 7 - 9 ; 2 1 , 2 . 9 ) . Neben ihm stehen die Jünger als Festassistenten und Hochzeitsgäste (s.o. Abschn. 4). Allgemein brachte das Hochzeitsbild die Festfreude der Heilsgemeinde zum Ausdruck (Mt 9 , 1 5 usw.), speziell die Verbindung des Bräutigams mit der Gemeinde (Eph 5 , 2 9 ; Apk 2 1 , 2 ) . Literatur E. Achtemeier, The Committed Marriage. Biblical Perspectives on Current Issues, Philadelphia 1976. - M. 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Ehe/Eherecht/Ehescheidung V
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Bo Reicke V. Alte Kirche 1. Ehe
2. Kirchliches Eherecht
3. Trennung und Wiederheirat
(Literatur S. 329)
1. Ehe Die Kirchenväter legen wenig Gewicht auf die römisch-rechtliche Definition der Ehe als Willensübereinstimmung, pactio coniugalis (Ambrosius, Inst. VI, 41), die von ihnen vielmehr in der Regel eher implizit vorausgesetzt wird. Größere Bedeutung messen sie, unter Berufung auf ihren hauptsächlichen Belegtext Gen 2,23 f, der Tatsache bei, daß diese Ubereinstimmung durch Gott bekräftigt wird, der wie der w/x(póoToXog die Braut dem Bräutigam zuführt (Asterius v. Amasea, Horn. 5: PG 40, 228 C) und die Vereinigung beider besiegelt; hierauf gründen Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe. Die Anordnung von Gen 2,23 f wurde nach Mt 19,4f von Gott selbst getroffen und wird von den Antiochenern und vielen anderen als das „Ehegesetz" angesehen. Es gibt somit in der Ehe ein übernatürliches, von Gott gestiftetes „Band", das sich in verschiedener Weise äußert (Theodor v. Mopsuestia, ed. Reuss, TTJ 61,107): Die Frau ist an ihren Mann, aber der Mann auch an seine Frau gebunden (Johannes Chrysostomus, Horn. 5 in I Thess 2: PG 62,425). Wiewohl der Gedanke der Gültigkeit weniger hervorgehoben wird als in der Folgezeit, ist er doch bei einer ganzen Reihe von Autoren in anderer Form gegenwärtig (Origenes, Comm. in Mt 14,24 in fine; Basilius v. Caesarea, Ep. 199, can. 26). Die religiöse Bedeutung der christlichen Ehe geht aus Eph 5,22 f hervor: Sie ist das zeitliche Bild der Vereinigung Christi mit der Kirche in der Ewigkeit, während die Jungfräulichkeit nach Mt 22,30 bereits jetzt eine Teilhabe an diesem göttlichen Geheimnis darstellt (Origenes; vgl. Crouzel, Virginité 15—44). Für —»Augustin ist die Ehe Symbol oder Zeichen dieses sacramentum magnum und partizipiert an seiner Wirklichkeit (Nupt. 1,10[11], 21[23]). So ist die Jungfräulichkeit dem Ehestand geistlich überlegen, was durch I Kor 7,32—34 bestätigt wird. Bei aller Hochachtung für die Jungfräulichkeit verteidigen die Väter den menschlichen und religiösen Wert der Ehe gegen Enkratiten (—»Tatian), Marcioniten (—»Marcion und seine Kirche), Montanisten (—»Montanismus), Gnostiker (—»Gnosis/Gnostizismus), Novatianer (—»Novatian und seine Kirche) und Manichäer (—»Manichäismus) sowie gegen die Überspanntheiten mancher Asketen (Konzil von Gangra gegen —»Eustathius von Sebaste). Sie erkennen die Ehe als Heilsweg an und wenden sich direkt gegen ihre Verächter. Dabei können sie sogar zu der Feststellung kommen, daß die —»Keuschheit einer christlich gelebten Ehe bisweilen schwieriger ist als völlige Keuschheit (Clemens v. Alexandrien, str. VII, 70,7 f). Es gibt somit eine eheliche Keuschheit im Vollzug des ehelichen Aktes „mit Ordnung und zur angebrachten Zeit" (Orígenes, Frgm. in I Cor. 37: JThS 9 [1908] 507). Besondere Erwähnung verdient das Lob der Ehe durch den damals noch rechtgläubigen —»Tertullian in seiner Schrift Ad uxorem. Die Wertschätzung der Jungfräulichkeit führt gewöhnlich, von einigen Übertreibungen abgesehen (Hieronymus), nicht zu einer Entwertung der Ehe. Als Ehezweck betonen die Väter in der Nachfolge der —»Stoa entschieden die Kinderzeugung, daneben aber auch die wechselseitige —»Liebe. Deren Kennzeichen sind nach —»Orígenes „die Einigkeit, die Übereinstimmung, die Harmonie" (Comm. in Mt. 14,16) in Nachahmung der Liebe Christi zur Kirche (hom. Cant. 2,1) und unter Ausschluß der egoistischen Leidenschaft, die auf sinnliche Befriedigung zielt und einen Zug von „Nichtübereinstimmung" an sich trägt (Comm. in Eph. 30: JThS 3 [1902] 567; Cels. 2,2). Es ist bemerkens-
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wert, daß die Mehrheit der Autoren das una caro von Gen 2,24 auf die Willensübereinstimmung und nicht auf die körperliche Vereinigung bezieht, da erst nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies in Gen 4,1 geschrieben stehe: „Und Adam erkannte sein Weib Eva" (Orígenes, Frgm. in I Cor. 29: JThS 9 [1908] 370). „Einigkeit, Übereinstimmung, Harmonie" sind Zeichen eines^dpia/ia, d.h. einer Gnadengabe entsprechend der späteren scholastischen Lehre von dergratia actualis (Orígenes, Comm. in Mt. 14,6). Ob diese—»Gnade vom Heiligen Geist ausgeht, wird von Orígenes teils verneint, wenn er die Ehe einzig unter physischem Aspekt (Horn. 6 in Num. 3; Comm. in Rom. 1,12), teils aber auch bejaht, wenn er dasx^gia/ia als Ursprung des Friedens und der Übereinstimmung betrachtet (Frgm. in I Cor. 34: JThS 9 [1908] 503). Einer der heiklen Punkte dieser patristischen Ehelehre ist die Beurteilung des ehelichen Aktes als solchem (—»Sexualität). Manche Texte des Alten Testaments (Lev 15; Ex 19,14 f; I Sam 21,5f; Lev 8,33 u.a.m.) scheinen der legitimen Sexualbeziehung eine gewisse Unreinheit zuzuschreiben, aber Hebr 13,4 spricht unzweideutig aus, daß „das Ehebett unbefleckt" gehalten werden soll (weniger eindeutig dagegen ist Apk 14,4). Diese Stellen, im Verein mit Traditionen kultischer Enthaltsamkeit im griechisch-römischen Raum und mit der paulinischen „Erlaubnis" in I Kor 7,5, daß die Ehegatten sich einander in beiderseitigem Einverständnis eine Zeitlang „entziehen" könnten, um Ruhe zum Beten zu haben, sind bei manchen Autoren nicht ohne Wirkung geblieben. Orígenes etwa findet im rechtmäßig vollzogenen ehelichen Akt, wie er sagt, „eine gewisse" Unreinheit (Comm. in Mt. 17,35), die aber von derjenigen der Sünde klar unterschieden wird (vgl. Comm. in Rom. 9,1 mit Horn. 23 in Num. 3). Eine derartige Auffassung wird jedoch erst im Kontext der zugrundeliegenden Anthropologie verständlich. Von hier aus gesehen bedeutet die Unreinheit des Geschlechtsaktes lediglich eine besondere Zuspitzung der mit der fleischlichen Beschaffenheit des —»Menschen selbst gegebenen Unreinheit. Zwar sind die sinnlichen Wesen an sich gut, aber für den zum Egoismus neigenden Menschen stellten sie eine Quelle der Versuchung dar; denn der Mensch ist versucht, auf diese Wesen, die den „wahren" Wirklichkeiten, den eschatologischen Mysterien, deren Bilder sie sind, gebührende Anbetung zu lenken und so den Drang der Seele, die nach dem Geheimnis streben soll, zu lähmen: Alle —»Sünde ist Idolatrie, und die Gefahr der Idolatrie ist auch in den legitimsten Sexualbeziehungen gegenwärtig. Hierin besteht für Orígenes ihre Unreinheit. Einige seiner Nachfolger freilich, z.B. —»Hieronymus (Jov. l,7f) erklärten (zumindest in bestimmten Schriften) den ehelichen Akt nicht nur für unrein, sondern schlechtweg für sündig, weil er am Gebet hindere; doch sei er eine mindere Sünde als die Unzucht und daher zu tolerieren. Andere Autoren, z. B. —»Johannes Chrysostomus (Frgm. in I Kor 7,5: J. A. Cramer, Catenae graecorum Patrum NT, V 1844,125), bezeichnen den ehelichen Geschlechtsverkehr nicht als unrein, sondern in mehr oder weniger angemessener Verwendung von I Kor 7,9 als ein „Heilmittel der Begierde". Für Augustin (z.B. Jul. 3,53) ist der eheliche Akt an sich ein Gut, das aber bei der gefallenen Menschheit stets in höherem oder geringerem Maße mit einem Übel, nämlich der Konkupiszenz, vermengt ist. 2. Kirchliches
Eherecht
Nach —»Ignatius von Antiochien sollen christliche Eheschließungen nur mit Einwilligung des Bischofs erfolgen (IgnPol 5,2). Tertullian (Ux. II, 8,6) weist der Kirche die Rolle des conciliator, des Heiratsvermittlers, zu und redet davon (Mon. 11,1 f), daß die Brautleute die Ehe von der Kirche „fordern" (postulare) (gegen Ritzer handelt es sich hier um die katholische, nicht die montanistische Kirche). Zwar lassen sich diese im 2. und 3. Jh. vereinzelt dastehenden Aussagen nicht verallgemeinern, aber es ist gleichwohl nicht zu bezweifeln, daß die christliche Ehe im Selbstverständnis der alten Kirche besonderen Gesetzen unterstand: Als ein solches wird durchweg Gen 2,24 behandelt, womit der Begriff „Gesetz" sich vor allem auf die Unauflöslichkeit bezieht. Im übrigen galt für christliche Ehen offenbar das römische bzw. das Gewohnheitsrecht, soweit es nicht dem Christentum widersprach.
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Die Konzilsbestimmungen seit Elvira zu Beginn des 4. Jh., die Kanonischen Briefe des —•Basilius von Caesarea und die Kanonessammlungen (—»Kirchenrechtsquellen) führen bestimmte Ehehindernisse an, machen häufig aber keine näheren Angaben, ob Zuwiderhandelnde zur Trennung genötigt oder lediglich einer -»Buße unterworfen werden sollen; eine Ausnahme ist can. 30 des Konzils von Épaone (517), wo für inzestuöse Verbindungen bei Verwandtschaft oder Schwägerschaft Trennung vorgeschrieben wird. Die kanonischen Ehehindernisse spiegeln die Regelungen von Lev 18 wider, wobei die Konzile stärker auf die Schwägerschaft als auf die Blutsverwandtschaft abheben — vermutlich weil jene im allgemeinen weniger beachtet wurde. Immer wieder werden Ehen mit Häretikern, Juden und Heiden verboten und dem christlichen Partner oder seinen Eltern Strafen angedroht. Auch die Kirchenväter lehnen Ehen bei Religionsverschiedenheiten energisch ab; zur Begründung wird oft die Einschränkung „nur in dem Herrn" in I Kor 7,39 herangezogen, aus der eine exklusive Verpflichtung der Witwe und dann überhaupt jeder Frau zur Wahl eines christlichen Ehepartners abgeleitet wird. —»Theodor von Mopsuestia, Johannes Chrysostomus, —>Epiphanius und Augustin deuten die paulinischen Worte weniger restriktiv, aber auch Augustin weigert sich in ep. 225, dem heidnischen Sohn seines Korrespondenten Rusticus eine junge Christin zur Ehe zu geben, es sei denn dieser habe sich zuvor bekehrt. Andere Kanones der Konzile und bei Basilius betreffen die Eheschließung nach Entführung und Ehen von Personen geistlichen Standes. Die Väter äußern sich selten über die gleichzeitige Bigamie, die in der griechisch-römischen Welt offiziell nicht erlaubt war. Häufig dagegen wird die sukzessive Bigamie erwähnt, die zweite (dritte, vierte etc.) Heirat eines Witwers oder einer Witwe. Da Paulus die Zweitehe in I Kor 7,39 f zuläßt, wird sie von orthodoxen Autoren zwar nicht formell verdammt, in der Regel jedoch negativ beurteilt: sie gilt als Verstoß gegen Gen 2,23 f und als schimpflich, da ihr einziges Motiv die Unfähigkeit zur Enthaltsamkeit sei. Daher wird in Kleinasien bei Zweitehe, und umso stärker bei Mehrehe, eine öffentliche Buße verlangt. Wie das una caro von Gen 2,24 durchweg in geistigem Sinne interpretiert wird, so spielt der Vollzug der Ehe in der patristischen Zeit (anders als im späteren —»Kirchenrecht; s.u. Abschn. VI) für die Eheschließung kaum eine Rolle. Die Ehe ist bereits durch die sponsalia, vor der deductio in domum mariti, besiegelt (Elvira, can. 54; Siricius an Himerius von Tarragona: PL 56,556f). Doch fassen —»Ambrosius und Johannes Chrysostomus, im Unterschied zu Augustin, die Verbindung von Maria und Joseph wegen des Verzichts auf fleischliche Vereinigung nicht als wirkliche Ehe auf (vgl. Soto). Nach jüdischem und römischem Recht wird der Ehebruch des Mannes und der -»Frau ungleich behandelt: während eine verheiratete Frau durch die Beziehung auch zu einem ledigen Mann ehebriichig wird, gilt dies für einen verheirateten Mann im umgekehrten Fall nicht. Diese Anschauung setzt voraus, daß die Frau Eigentum des Mannes, nicht aber der Mann Eigentum der Frau ist. Dagegen erklärt Paulus in I Kor 7,4 für beide Gatten, daß ihr Leib das Eigentum des anderen sei, und begründet damit - auch wenn der Mann das Haupt der ehelichen Gemeinschaft bleibt - die fundamentale Gleichheit von Mann und Frau in ihren Rechten und Pflichten gegeneinander, auch in bezug auf den Ehebruch. Die große Mehrheit der Väter schließt sich dem an, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Basilius und dem —»Ambrosiaster (vgl. Crouzel, L'Eglise primitive 137ff. 267ff). Zur Trauliturgie besitzen wir aus dem 2. und 3. Jh. nur das Zeugnis Tertullians, der eine oblatio (das Wort hat bei ihm zumeist, wenn auch nicht immer, eucharistische Bedeutung) und einebenedictio (unklar ob durch einen Geistlichen) erwähnt (Ux. II, 8,6; abweichende Interpretation bei Ritzer). Im 4. und 5. Jh., wo die Quellen reichlicher fließen, umfassen die sponsalia zwei miteinander verbundene Riten, die velatio und die benedictio ; die Zeremonie kann in der Kirche stattfinden (Paulinus von Nola, Carm. 25) und wird vom Liber Praedestinatus (III: PL 53,670) mit der Eucharistie verknüpft. Aus archäologischen Belegen kennen wir die ursprünglich heidnischen Riten der coronatio und der dextrarum coniunctio, die in den späteren Liturgien beibehalten werden. Es läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Zeremonien obligatorisch waren.
328
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Bezüglich der Geistlichkeit oder vielmehr der drei höheren Weihegrade Diakon, Priester und Bischof beschränkt sich die Ehegesetzgebung bis zu Beginn des 4. Jh. darauf, ihnen die (sukzessive) Bigamiezu untersagen (nach I Tim 3,2; Tit 1,6): Ein verwitweter Geistlicher soll keine zweite Ehe eingehen, und ein Wiederverheirateter wird nicht ordiniert. Ob diese Regel durchweg befolgt wurde, ist angesichts der Kritik an —»Calixtus I. (Hippolyt, haer. XI, 12,22) fraglich. Sie wird von einer ganzen Reihe späterer Konzile wiederholt; dabei kommt es gelegentlich zu Erweiterungen, indem das Verbot der Zweitehe auf Subdiakone und Geistliche minderen Ranges oder auch auf die Frauen verstorbener Kleriker ausgedehnt oder indem nur die Heirat einer jungfräulichen Braut zugelassen wird. Während das Konzil von Valence 374 auch diejenigen, die im heidnischen Stand eine erste Ehe eingegangen waren, als wiederverheiratet betrachtet, zählen in can. 17 der Apostolischen Konstitutionen (VIII, 47,17) nur nach der Taufe geschlossene Ehen; ebenso schreibt Hieronymus in Ep. 69,2 von einem Bischof, der als Heide verheiratet gewesen war und nach der Taufe eine zweite Frau genommen hatte, und fügt gewiß mit Übertreibung hinzu, daß die Welt voll von derartigen Bischöfen sei. Ab Beginn des 4. Jh. werden neue Anforderungen gestellt (—»Zölibat): can. 10 des Konzils von Ancyra (314) läßt die Eheschließung eines unverheirateten Diakons, nur wenn er bei der Ordination seine Eheabsicht bekundet hat, zu; can. 1 von Neocäsarea (zwischen 314 und 325) schließt einen Priester, der sich verheiratet, vom Klerus aus; und nach can. 33 von Elvira (Anfang 4. Jh.) sollen vor der Ordination verheiratete Geistliche höheren Ranges mit ihren Frauen enthaltsam leben. Diese letztere Bestimmung, die gegen Ende des 4. Jh. durch die Päpste Siricius und —»Innozenz I. im Westen verbindlich gemacht wurde, wird von zahlreichen Konzilen erneuert, wobei eine Uneinheitlichkeit besteht, ob die Geistlichen mit ihren Ehefrauen weiter zusammenleben dürfen oder zur Trennung verpflichtet werden. Im Osten sieht Epiphanius (haer. 59,4) in der Keuschheit den Normalzustand des höheren Klerus, Subdiakone eingeschlossen, bezeugt aber zugleich, daß dieses Ideal nicht überall befotgt wird. Als —»Synesius von Cyrene gegen seinen Willen zum Metropoliten der Ptolemais gewählt wird, weiß er, daß er sich daraufhin von seiner Frau trennen muß (Ep. 105 an seinen Bruder: PG 66,1485A). 3. Trennung und
Wiederheirat
Der Wortlaut von Mt 19,9, der durch die schwierige Verbindung des Zwischensatzes „es sei denn um der Hurerei willen" mit der Wiederheirat im Umkehrschluß die Wiederheirat nach Verstoß einer ehebrüchigen Frau zu erlauben scheint, findet sich bei keinem der vornicänischen Väter (die also vor den erhaltenen —• Bibelhandschriften liegen) und auch später bei den Griechen und einem Teil der Lateiner nicht vor dem 5. Jh. Mt 19,9 ist bei ihnen nichts weiter als eine Wiederholung von Mt 5,32, mit dem Zwischensatz, aber ohne Hinweis auf die Wiederheirat. Von zwei griechischen Handschriften des 4. Jh. hat der Vaticanus denselben Text wie jene Väter, der Sinaiticus unsere heutige Fassung. Das früheste genaue Zitat von Mt 19,9, das wir kennen, ist das dreimalige Auftauchen bei Origenes (Comm. in Mt. 14,24), der die Stelle in der Form von Mt 5,32 wiedergibt. Das in dem Zwischensatz gebrauchte Wort noQVsia [Hurerei, Unzucht] wird von den Vätern einhellig als gleichbedeutend m i t ^ o i ^ f i a [Ehebruch] verstanden.
Die Mehrheit der Kirchenväter seit —»Hermas (mand 4) faßt die in Mt 19,9 zugelassene Trennung wegen Ehebruchs als zwingende Vorschrift auf. Unter den Bibeltexten, die zur Begründung angeführt werden, ist der wichtigste I Kor 6,16: „wer an der Hure hanget, ist ein Leib mit ihr". Wenn der unschuldige Gatte im Wissen des Ehebruchs gleichwohl die eheliche Gemeinschaft fortsetzt, macht er sich an dem Vergehen mitschuldig und verletzt die Heiligkeit der Ehe, mit der ein ménage à trois nicht zu vereinbaren ist. Einige Autoren jedoch halten die Verstoßung des schuldigen Teils lediglich für erlaubt. Sie wird seit Hermas und —•Justin (II Apol. 2) auch der Frau gegenüber einem ehebrüchigen Mann eingeräumt, aber die Verpflichtung scheint in diesem Fall weniger bindend gewesen zu sein — vermutlich mit Rücksicht auf die weibliche Psychologie und die soziale Umgebung (vgl. Innozenz I., Ep. 4,9 f: PL 20,499). Die Wiederaufnahme des schuldigen Partners nach seiner Besserung wird von Hermas, Basilius von Ancyra, Theodoret und Augustin empfohlen, von Johannes Chry-
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sostomus, Basilius von Caesarea, —»Cyrillus von Alexandrien und Hieronymus dagegen unter Berufung auf alttestamentliche Stellen (vor allem Dtn 2 4 , 1 - 4 ) abgelehnt. Die Trennung wegen Religionsverschiedenheit nach I Kor 7 , 1 2 — 1 6 (sog. Privilegium Paulinum) wird mehrfach erwähnt, so z. B. von Augustin, der sie auch in M t 1 9 , 9 angesprochen findet (Ehebruch ausgedehnt auf den geistlichen Ehebruch im Unglauben), zugleich aber daran festhält, daß die Initiative zur Trennung v o m ungläubigen Teil ausgehen muß (Adult. I, 1 3 - 2 5 bzw. 1 4 - 3 2 ) . Immer wieder wird große Sorgfalt darauf verwendet, den Fall, daß die beiden Gatten sich vor der Bekehrung des einen im Stand des Unglaubens verbunden hatten, von der von vornherein zwischen Partnern ungleichen Glaubens geschlossenen Ehe zu unterscheiden; denn es kam vor, daß Menschen sich auf das Privileg beriefen, um Heiden zu heiraten. Während —»Clemens von Alexandrien und Orígenes Häretiker angreifen, die Ehen aus religiösen Gründen lösten, wird die Trennung bei Klostereintritt von Basilius von Caesarea befürwortet (moral. 7 3 , 1 ; reg. fus. 1 2 ) , dann wiederum durch das Konzil von Gangra gegen Eustathius von Sebaste verworfen. Im 4 . und 5 . Jh. findet sich häufig der Rat, daß die Ehegatten in diesem Fall in völliger Enthaltsamkeit zusammenleben sollten, ein Gedanke, der von Orígenes kaum akzeptiert, doch z. B. von Augustin und Hieronymus unterstützt wird. Wiederheirat nach Trennung wegen Ehebruchs wird allein v o m Ambrosiaster ausdrücklich zugestanden ( C o m m . in I Kor 7 , 1 0 f ) , und auch hier nur für den M a n n einer ehebrüchigen Frau, nicht aber die Frau eines ehebrüchigen Mannes (weitere Belege für eine tolerante Haltung s.u.). Derselbe Autor ( C o m m . in I K o r 7 , 1 5 ) ist in den ersten fünf Jahrhunderten auch der einzige, der Wiederheirat nach Trennung wegen Religionsverschiedenheit, und zwar für beide Geschlechter, erlaubt. Für Augustin dagegen, der die entgegengesetzte Meinung vertritt, ist selbst dem ungläubigen Partner eine neue Ehe verwehrt, da die Anordnung von Gen 2,< im M o m e n t der Schöpfung ausgesprochen wurde und sich somit auf alle Menschen, nicht nur auf die Christen, erstreckte (Adult. I, 13 - 2 5 ) . Das Privilegium Paulinum bleibt in der alten Kirche auf die Trennung beschränkt. Gleichwohl lassen sich einige seltene Zeugnisse für eine großzügigere oder tolerantere Handhabung anführen. Orígenes (Comm. in Mt. 14,23) berichtet von Bischöfen, die einer Frau bei Lebzeiten ihres Mannes die Wiederheirat gestatteten, welche Handlungsweise er dreimal als schriftwidrig verurteilte. Eine derartige Ehe sei keine wirkliche, sondern nur eine scheinbare Ehe (14,24); dennoch hätten die Bischöfe nicht ohne Grund gehandelt, indem sie nämlich ein größeres Übel zu verhindern suchten. Basilius (Ep. 199 can. 6) fordert unter dem expliziten Vorbehalt, daß „die Hurerei... keine Ehe, nicht einmal der Anfang einer Ehe" sei, man solle die unrechtmäßigen Gatten, wenn sie sich nicht trennen könnten, nach Ableistung der öffentlichen Buße unbehelligt lassen. In Arles (can. 11 bzw. 10) wird 314 die Bestimmung getroffen, daß junge Männer, die ihre Frauen in flagranti beim Ehebruch ertappt haben, keine neue Ehe eingehen sollen; dies wird jedoch als Ratschlag, nicht als bindende Vorschrift formuliert. Augustin (Fid. et op. 19,35) hält Wiederheirat nach Verstoßung einer ehebrüchigen Frau für eine geringere Sünde als Wiederheirat ohne diesen Grund und erwägt, ob Menschen, die in einer solchen irregulären Verbindung leben, zur Taufe zugelassen werden dürften. Ähnliche Beispiele lassen sich in den Kanones von Elvira und im Brief —»Leos I. an Nicetas von Aquilea zum Problem des heimgekehrten Kriegsgefangenen (DS Nr. 311) finden. Nicht in diesen Zusammenhang gehört indessen die häufig herangezogene Stelle bei Epiphanius (haer. 59,4), die sich (wenn man die von Holl übernommenen Korrekturvorschläge des 16. j h . beiseite läßt und sich an die Handschriften hält) nicht auf die Wiederheirat Geschiedener, sondern auf die Verwitweter bezieht. In allen angeführten Fällen wird die neue Verbindung nicht als Ehe betrachtet, aber man duldet sie, „um Ärgeres zu verhüten" (Basilius, a.a.O.). Literatur Adhémar d'Alès, La théologie de Tertullien, Paris 1903. - B. Alvès Pereira, La doctrine du mariage selon saint Augustin, Paris 1930. - M. F. Berrouard, Saint Augustin et l'indissolubilité du mariage; StPatr 11 (1971) (TU 108) 2 9 1 - 3 0 6 . - Jean-Paul Broudéhoux, Mariage et famille chez Clément d'Alexandrie, Paris 1970. - F. Cayré, Le divorce au IVe siècle dans la loi civile et les canons de saint Basile: EOr 19 (1920) 2 9 5 - 3 2 1 . - Giovanni Cereti, Divorzio, nuove nozze e penitenza nella Chiesa primitiva, Bologna 1977 (s. dazu H. Crouzel: Aug. 17 [1977] 5 5 5 - 5 6 6 ; 18 [1978] 5 3 3 - 5 4 6 ) . - A . Condamin, Saint Epiphane a-t-il admis la légitimité du divorce pour adultère?: BLE 1 (1900) 1 6 - 2 1 . - Henri Crouzel, Virginité et mariage selon Origène, Paris/Brügge 1963. - Ders., L'Eglise primitive face au divorce,
Ehe/Eherecht/Ehescheidung VI
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VI. Mittelalter 1. Der Osten 1.1. Weltliche Eheschließung 1.2. Kirchliche Eheschließung 1.3. Die Trauung als Sakrament 2. Der Westen 2.1. Weltliche Eheschließung 2.2. Entwicklung zur kirchlichen Eheschließung 2.3. Die Trauliturgie 2.4. Die Trauung als Sakrament (Literatur (S. 336) Kennzeichnend für das Mittelalter ist eine Verkirchlichung, Klerikalisierung, Sakralisierung und Sakramentalisierung der Eheschließung. Diese Entwicklung verläuft im Osten und Westen in je unterschiedlichen Bahnen. 1. Der
Osten
1.1. Weltliche Eheschließung. D a s Zustandekommen einer Ehe war anfangs eine privatrechtliche Angelegenheit. —»Justinian gestand jedoch Personen mittleren Standes das Recht zu, ihren Eheentschluß in der Kirche gegenüber einem amtlichen Beauftragten, dem sog. exdixog, zu bekunden; eine Trauung ist noch nicht rechtlich vorgeschrieben. N e b e n dieser schriftlich beweisbaren Eheschließung (yäfiog eyygatpog) genügten für den niederen Stand gegenseitiges Einvernehmen (consensus) und eheliche Zuneigung (affectio nuptialis) zur Eheschließung (y&fiog aygatpog). N o c h Leon III. ( 7 1 4 - 7 4 1 ) billigt in seiner Ekloge beide Formen. Zur Zeit Basileios I. ( 8 6 7 - 8 8 6 ) konnte eine Ehe auf dreierlei Weise zustande kommen: Durch Einsegnung des Verlöbnisses (evloyia), Krönung des Brautpaars (axt(pävcjfia) und Beurkundung. 1.2. Kirchliche Eheschließung. Kaiser Leon VI. der Weise (886—912) macht in seinen Novellae Constitutiones die Gültigkeit einer Ehe von der priesterlichen Segnung abhängig (Const. 8 9 , PG 107, 601 f); diese wird damit zur bürgerlichen Rechtsvorschrift. Alexios I. Komnenos ( 1 0 8 1 - 1 1 1 8 ) unterstellt 1 0 9 5 auch Unfreie dieser Regelung. Der Priester vollzieht das „Pfandritual" ( ä x o X o v d t a TOV aggaßdivog) und das „Krönungsritual" (äxo-
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kovOía TOV OTEtpavwnaxog), ursprünglich unabhängige Handlungen, die nun aneinander anschließend in ein- und derselben liturgischen Feier vollzogen werden. 1.3. Die Trauung als Sakrament. Die östliche Kirche spricht der Ehe aufgrund von Eph 5,32 sakramentalen Charakter zu. Das —»Sakrament kommt zustande durch die priesterliche Trauung, durch die Gott die Brautleute zusammengibt. Für eine zweite Ehe verweist —•Theodor Studites dagegen auf weltliche Regelungen; denn solch eine Verbindung ist lediglich eine menschliche Übereinkunft. Entsprechendes verfügt ein Kanon aus einer dem Patriarchen Nikephoros ( 8 0 6 - 8 1 5 ) zugeschriebenen Sammlung: Eine zweite Ehe ist tmyáfiog áygacpos, wofür zehn Zeugen erforderlich sind (Append. c. 2, PG 1 0 0 , 8 5 6 ; vgl. Aliquot cánones 10, ebd. 852). Später wird zwar auch die Trauung einer solchen Ehe zugelassen, aber mit einem anderen Gebetsformular. Die Konstantinopeler Synode von 920 bestimmt dann, daß in bestimmten Fällen, etwa bei Kinderlosigkeit, auch eine dritte Ehe zulässig sei; eine vierte aber ist für alle Zeit verboten (Mansi 18,335—341). Hintergrund dieser Bestimmungen ist die Auffassung, daß die Eheschließung als Sakrament heilig zu halten ist. Daher kann auch eine Trauung einer Ehe mit einer geschiedenen Frau ebensowenig vollzogen werden wie die einer Mischehe, denn die Verbindung zwischen Christus und der Kirche wird hier nicht vollständig vergegenwärtigt. 2. Der
Westen
2.1. Weltliche
Eheschließung.
Während des ganzen Mittelalters läßt sich auch innerhalb der Kirche die Vorstellung finden, daß die Eheschließung eine weltliche Angelegenheit sei. Nach —»Hinkmar von Reims hat die Kirche dabei lediglich im pastoralen Bereich eine Funktion. Die Eheschließung ist ein rein weltlicher Rechtsakt, die kirchliche Einsegnung ein wünschenswerter und ehrender Brauch (De div. Loth., PL 125, 6 8 6 - 6 8 9 , vgl. 633 f. 708; De nupt. Steph., PL 126, 134-137). 2.2. Entwicklung
zur kirchlichen
Eheschließung
2.2.1. Um 4 0 0 kommt mit der missa pro sponsis eine besondere kirchliche Feier der Eheschließung in Übung, nach ca. 800 aber bricht sich das Bestreben Bahn, auch diese selbst zu verkirchlichen. —»Karl d.Gr. fordert, daß eine Heiratsabsicht rechtzeitig dem Priester anzuzeigen sei, damit dieser das Vorliegen eventueller Hindernisse überprüfen (Brautcxamen) und die Trauung vornehmen könne (Cod. dipl. lib. II, 133, PL 9 7 , 7 6 5 ; III, 389, ebd. 847; für kirchliche Bestimmungen s. Brink 72). Doch erklärt noch Papst—»Nikolaus I., daß es nicht als Sünde anzusehen sei, wenn die kirchliche Trauung einer Ehe unterbleibt (Respons. ad Cons. Bulg. 3, Mansi 15,403). Die pseudoisidorischen Dekretalen (—»Pseudoisidor) aber fordern Brautexamen und kirchliche Trauung, und sie haben großen Einfluß geübt. Auch in England finden sich entsprechende Bestimmungen (Synoden von Winchester 1076 und London 1102, Mansi 20,1152). Auf kirchliche Jurisdiktion weist es, wenn —»Anselm von Laon dafür eintritt, sich in jedem Fall an die örtlich geltenden kirchlichen Regelungen zu halten. Auf der gleichen Linie bewegt sich auch —»Hugo von St. Viktor: Der consensus der Partner ist die causa efficiens der Ehe, sofern er durch unmittelbare Bekundung der Kirche gegenüber zum Ausdruck gebracht wird. Ehegabe (donatio propter nuptias), elterliche Zustimmung, priesterlicher Segen und geschlechtliche Vereinigung haben dabei die Bedeutung von Beweismitteln (Q. 56 in Ep. Pauli, PL 175,524; Summa sentent. Tr. 7 , 6 , PL 176,159; de Sacr. II, XI,5, ebd. 487). Die Forderungen der Dekretalen fanden schließlich Eingang in das Decretum Gratiani (—»Gradan von Bologna) und wurden damit zu kirchlichen Vorschriften. Dennoch hängt die Gültigkeit einer Ehe noch nicht von ihrer Erfüllung ab, läßt doch Gratian noch zwei Arten legitimer Ehe gelten, die nach kirchlichem und die nach weltlichem Recht geschlossene. Um 1200 aber nimmt die Kirche die Eheschließung für sich in Anspruch. Aus dem Wunsch deus vos coniungat [Gott verbinde euch] wird die amtliche Erklärung ego vos coniungo [ich verbinde euch].
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2.2.2. Bei den Germarten weist nichts auf die Anwesenheit eines Priesters bei der Eheschließung. Der Vater hatte die Muntschaft über die minderjährigen Söhne und Töchter. Im Falle seines Todes wurde sein Bruder oder ein anderer naher Verwandtermutidoaldus. In einem öffentlichen Zeremoniell zuhause oder auf dem mallus, der Thingstätte, wurden bei der Verlobung die Munt über das Mädchen ver- und gekauft und die wechselseitigen Absprachen getroffen. Die Übergabe der Braut geschah am Tage der Trauung, an dem die Brautleute durch denmundoaldus „zusammengegeben", „getraut" wurden. An die ursprüngliche Stelle eines „geborenen Vogts" trat auf die Dauer aber ein von den Brautleuten selbst „erkorener Vogt". Häufig fiel dem Priester diese Rolle zu, da er allseitiges Vertrauen genoß und als integer galt. Dem kam die Eheschließung/« facie ecclesiae [vor der Kirche] entgegen. Diese Verlegung des Zeremoniells von der häuslichen Halle oder der Thingstätte an die Kirchentür scheint in der Normandie und der Bretagne aufgekommen zu sein und sich von dort nach England (Salisbury, Hereford, York) und Nordeuropa verbreitet zu haben. Das Zusammengeben an der Kirchentür hatte zugleich für sich, daß anschließend die Hochzeitsmesse in der Kirche beginnen konnte. Hier und da war es auch schon früher der Priester, der die Zusammengebung vollzog, wie in Rennes im 11. Jh. Ein Ordo aus Rouen aus dem 13. Jh. läßt bereits den Priester unter dem Kirchenportal die Formel ego coniungo vos sprechen. Um 1300 ist die Trauung dann nahezu allenthalben Aufgabe des Priesters. Viele Konzilien haben die Zusammengebung in facie ecclesiae zur Pflicht gemacht. Bemerkenswert ist, daß dabei die ältesten Synoden darauf ausgehen, daß der Priester anwesend (praesente sacerdote) und dadurch die Eheschließung öffentlich (non occulte — publice) sein soll, während die späteren Konzilien ihm einen tätigen Anteil zusprechen (sacerdos interroget). Diese Akzentvcrlagerung tritt um 1235 auf, obschon auch später die ältere Formulierung durchaus noch begegnet, etwa auf einem Salzburger Konzil 1490 (Mansi 32,505). Auf die Dauer kommt es zu einem Verbot der Trauung durch Laien. Erste Verbote dieser Art begegnen bereits um 1100; später werden sie dann zahlreicher, so auf den Konzilien von Trier 1227, Prag 1350 und Magdeburg 1370. Der Priester bringt in seine Funktion sein Amt mit ein, und diese Veramtlichung findet sich allenthalben in Westeuropa. Im letzten Stadium der Verkirchlichung wird auch die Kopulation vom Kirchenportal in den Gottesdienst hineingenommen. Das geschieht bereits in einem Ordo aus Arles aus der Zeit um 1300. Zudem wird hier die Braut von ihrem mundoaldus dem Priester übergeben, damit dieser sie dem Bräutigam verbinde, ein Brauch, der noch heutzutage in England beliebt ist. Auch in Spanien begegnet diese Sitte, bei der der Priester auch als die „bessere H a n d " bezeichnet werden kann; das Manuale Hispalense von 1494 und ein Manuale aus Valencia von 1514 bezeugen sie. 2.3. Die Trauliturgie 2.3.1. Velatio amborum. Die älteste Form der Einsegnung nach der Kopulation ist die velatio amborum [Verschleierung beider], Sie läßt sich im 4. Jh. in Spanien nachweisen. Die Braut verschleierte sich zunächst selbst mit dem flammeum, dem roten römischen Brautschleier. Während der Traumesse aber breitete der Bischof oder Priester nach der Kommunion einen Schleier oder ein Tuch über das Brautpaar und legte darauf das iugale, ein rotweißes Band. Darauf wurden Fürbitte und Ehesegen über beide gesprochen. Dieses sog. Ritual des Pallium (oder der vitta) hat weite Verbreitung gefunden, von England bis in den ostdeutschen und polnischen Raum, wohin es noch im 14. Jh. vordringt. Es ist dem jüdischen Baldachinritual der nachbiblischen Zeit vergleichbar. 2.3.2. Velatio sponsae. Die velatio amborum ist durch eine velatio sponsae [Verschleierung der Braut] verdrängt worden. Die Anfänge zu dieser Entwicklung finden sich im Uber Ordinum. Hier wird zunächst der Ehesegen über das Brautpaar, anschließend aber — als Veronense Novum — noch ein Segen über die Braut allein gesprochen. Im Sacramentarium ist nurmehr die velatio sponsae übrig geblieben, und dieser Entwicklung folgen das Sacramentarium Gelasianum und Gregorianum. In dem Grade, in dem man die Ehe stärker als Zeichen der Verbindung von Christus und der Kirche wertete, macht sich das Bestreben be-
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merkbar, bei der Trauung die gleiche Verschleierung zu verwenden wie bei der velatio virgitits, der Verschleierung beim Eintritt in den gemeindlichen Asketinnenstand. Hier war der zunächst private Gebrauch aufgekommen, das flammeum nuptiale, den römischen Brautschleier, jedoch in der weißen Farbe der Reinheit, als flammeum virginale [Jungfrauenschleier] zum Zeichen der Brautschaft mit Christus anzunehmen, eine Gepflogenheit, die zur Zeit des —»Ambrosius bereits zu einem kirchlichen Akt geworden war. Die sie bestimmende Vorstellung des nubere Christo [sich Christus anvermählen] wird nun zum Ansatzpunkt des Gedankens eines uni viro nubere in Christo [in Christus sich einem Mann anvermählen] (Ambrosius, Ep 19,7, PL 16,984). Man strebt eine der Jungfrauenverschleierung entsprechende Verschleierung der Braut an, die beide unter dem gleichen Zeichen stehen, und im Gegensatz zur velatio amborum hat diese velatio sponsae sakrale Bedeutung. 2.3.3. Liturgische Entwicklung zur Sakramentalisierung. Auch in anderer Hinsicht geht dem Liber Ordinum ein später sich einstellendes sakrales Moment noch ab: Er greift für das •Verständnis der Ehe zurück auf den biblischen Bericht der Erschaffung von Mann und Frau in Gen 2, und so bleibt es auch im Veronense und Celasianum. Im Sacramentarium Gregorianum jedoch wird das Motiv des Paradiessegens erstmals verbunden mit der Eheperikope aus Eph 5, und dieser Text bringt eine Sakralisierung der Ehe ein; denn a) Gott hat im Band der Ehe das sacramentum von Christus und der Kirche vorweg abgebildet, die Verbindung zwischen Christus und der Kirche ist das Eigentliche, um das es auch in der Ehe geht; b) dieser Segen ist durch die Strafe für die Ursünde und das Gericht der Sintflut nicht fortgenommen, so daß in der Ehe etwas von der iustitia originalis bewahrt geblieben ist; c) Gott hat die eheliche Gemeinschaft als „leuchtendes Mysterium" geheiligt. Hier liegt ein Ansatz zur Sakramentalisierung der Ehe. Sie ist nicht allein Zeichen der Verbindung von Christus und der Kirche, sie ist vielmehr als solche auch selbst geheiligt. So stellt sie sich auch im Missale Romanum dar. 2.3.4. Trauung in Horengottesdiensten. Im mozarabischen Ritus begegnen Trauformulare, die in der Vesper des Vorabends zum Hochzeitstag oder in der Matutin des Trauungstages selbst Verwendung finden konnten. Die Möglichkeit dazu war gegeben, sofern die Konsenserklärung rechtlich noch nicht an die Meßfeier gebunden war. Noch die Eheschließung —»Abaelards mit Heloise ist in dieser Form vor sich gegangen (Hist. calamit. 7, PL 178, 130-133). 2.3.5. Benedictio thalami (bzw. in thalamo). Die Segnung des Brautgemachs (benedictio thalami) bzw. der Braut im Ehebett (benedictio in thalamo) in Gallien und Spanien ist ursprünglich ein von der Familie ausgesprochenes Gebet um Fruchtbarkeit, um die man später indessen den Priester anging. Avitus von Vienne (gest. 518) sieht die benedictio thalami in Entsprechung zur Jungfrauenweihe in der Kirche. Wie für die Jungfrau um geistliche, so wird für die sich vermählende Frau um leibliche Fruchtbarkeit gebetet (Ep. 49, PL 59,266 f). —»Caesarius von Arles meinte demgegenüber, daß die gesamte Trauliturgie ihren Ort in der Kirche haben solle und habe. Ein vom Priester im Hause zu sprechendes besonderes Gebet um Fruchtbarkeit erschien ihm als überflüssige Verdoppelung. Dennoch ist die benedictio thalami lange beliebt geblieben. 2.4. Die Trauung als Sakrament 2.4.1. Im antiken Christentum begegnet die Bezeichnung sacramentum für die Ehe öfter als Hinweis auf die Abbildung der Verbindung von Christus und der Kirche, nie aber in kultischem oder rechtlichem Sinne. Einen rechtlichen Gesichtspunkt brachte —»Leo d.Gr. ein: Soll die Verbindung zwischen Mann und Frau ein solches Mysterium sein, dann muß sie entsprechend den geltenden Gesetzen Zustandekommen. Daher sieht Leo einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem römischen Konkubinat, wie es anstelle einer Ehe vorkam, und der Ehe. Schließt eine Verbindung das Sakrament von Christus und der Kirche nicht in sich, dann ist es nicht zu einer rechten Ehe gekommen. Eine Frau, von deren Verbindung sich erweist, daß in ihr das Ehemysterium nicht gegenwärtig war, steht in keiner ehelichen Bezie-
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hung (Ep. 167 inqu. 4, PL 5 4 , 1 2 0 4 f). Außerdem haben die theologischen Implikationen des Dogmas von der Inkarnation (—»Jesus Christus) und die Brautmystik (—»Mystik) sich auf das Verständnis der Ehe als Sakrament in diesem Sinne ausgewirkt, und es ist bereits angesprochen worden, daß spätere liturgische Texte den Eindruck erwecken, Gott sei bei der Ehe primär an dem ekklesiologischen Aspekt gelegen (s.o. 2.3.3). 2.4.2. Die Scholastiker haben das Sakramentsverständnis (—»Sakrament) ausgestaltet und abgewandelt und damit einem gewachsenen Bedürfnis nach Systematisierung Rechnung getragen. Ursprünglich hatte das Wort ftvorrjQiov einen fließenden Sinn und konnte mit großer Bedeutungsbreite verwandt werden; jetzt aber drängte es auf eine schärfere Umschreibung. Zu einer solchen Systematisierung kommt es im 12. Jh. bei —»Hugo von St. Viktor mit einer Erörterung der Sakramente in De sacramentis und der ihm zugeschriebenen Summa sententiarum, wobei bereits von einer Siebenzahl der Sakramente die Rede ist (PL 176, 496 u. 475). Dabei werden zwei Voraussetzungen wirksam, einmal die religiöse Vorstellung von der Sieben als einer heiligen Zahl (—»Zahlensymbolik) und sodann ein wissenschaftlich-apologetisches Moment, sofern ein Bedürfnis bestand, zu wissen, welche „sakramentalen" Handlungen offiziell kirchlicher Art waren. Zu diesen zählte man aufgrund des ihr zugeschriebenen Zeichencharakters jetzt auch die Ehe. Ihre Sakramentalisierung hat sich auf verschiedenen Wegen vollzogen: 1) in der liturgischen Entwicklung (s.o. Abschn. 2.3.3), 2) über die Ketzerbestreitung. Das zweite Laterankonzil von 1139 (—»Lateransynoden) exkommunizierte diejenigen, „die das Sakrament des Leibes und Blutes des Herrn, die Kindertaufe, das Priestertum und die übrigen kirchlichen Stände und die rechtmäßigen Ehebindungen verurteilen" (c. 23). Dieser Text ist zudem auch darum bedeutsam, weil hier 3) die Ehe in einem Zug mit Eucharistie, Taufe und Priestertum genannt wird. So geschieht es auch auf dem Konzil zu Verona 1184; hier erscheinen die Bestreiter des Sakramentes von Leib und Blut Christi, der Taufe, der Beichte, der Ehe und „der übrigen kirchlichen Sakramente" bei der Ketzerverurteilung auf einer Linie (DS 761). Erstmals wird hier in einem kirchlichen Dokument die Bezeichnung „Sakrament" für die Ehe verwendet und diese damit auf die gleiche Ebene mit „den anderen kirchlichen Sakramenten" gestellt. Diese Auffassung erhält ihre definitive Gestalt, als unter Gregor X. (1271 — 1276) auf dem Konzil zu —»Lyon 1274 die Siebenzahl der Sakramente unter Einschluß der Ehe festgelegt wird (DS 860). 4) Seitdem beginnt die Kirche, andere Handlungen als ihre eigenen als ungültig anzusehen. Die Eheschließung wird zu einer ausschließlich kirchlichen Angelegenheit, die Ehe ist ein durch die Kirche zu vollziehendes Sakrament. 2.4.3. Das scholastische Verständnis der Ehe als Sakrament. An erster Stelle sei hier —»Hinkmar von Reims genannt. Nach seiner Auffassung ist mit der wechselseitigen Verbindung, und zwar auch bei einer heimlichen Beziehung, eine sakramentale Ehe gegeben, und eine vollzogene und sakramentale Ehe ist unauflösbar (PL 125,649f; PL 126,137f). Diese Auffassung wird später von den Kanonisten von Bologna verfochten. Demgegenüber steht —»Ivo von Chartres (PL 161,616.939), der Vater der Sponsalienlehre, und in seiner Nachfolge die Pariser Gelehrten; für sie hat der Vollzug der Ehe nur komplementären Charakter; auch vorher ist sie bereits unauflösbar. Auf dieser Linie steht Hugo von St. Viktor. Der Konsens der Brautleute als unmittelbares Ehegelöbnis (sponsalia de praesenti) ist die causa efficiens der Ehe; die eheliche Vereinigung ist dafür nicht wesentlich, sie ist aber doch ein Ehebeweis. Um jedoch Sakrament und damit Zeichen der Verbindung zwischen Christus und der Kirche zu sein, muß eine Ehe vollzogen werden. Das gilt indessen nur, wenn die Brautleute aufgrund ihres Glaubens Glieder Christi sind. In der Summa sententiarium heißt es weiter, daß zwar jede Ehe in sich selbst Zeichencharakter besitzt, jedoch nur die Ehe von Christen als heiligmachend angesehen werden kann und Gnade vermittelt (Q. 56 in Ep. Pauli, PL 175,524; Summasent. tr. IV, 1; VII, 6f, PL 176,117.159f; DeSacr. Lib. II,XI, 5.8, PL 176,487.496), ein Aspekt, der ebenfalls von der Scholastik weiterverfolgt wird. Eine zweite Ehe kann nicht Sakrament von Christus und der Kirche sein, der priesterliche Ehesegen ist
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unwiederholbar. Theologisch sind diese Vorstellungen u.a. von Hugo von Amiens (gest. 1164) entfaltet worden (Contra haer. III, 4, PL 192,1289). -»Petrus Lombardus bezeichnet die Ehe als heiliges Zeichen (sacrum Signum) einer heiligen Sache. Man kann bei ihm eine Erhöhung der Ehe feststellen. Die sponsalia depraesenti gelten ihm als causa efftciens nicht nur der Ehe, sondern auch des Sakraments, so daß infolgedessen auch schon die unvollzogene Ehe (matrimonium ratum et non consummatum) sakramental ist. Wie Hugo von St. Viktor sieht er in diesem Sakrament ein Gnadenmittel. Vor dem Sündenfall diente es der Fortpflanzung und gegenseitigen Hilfe (ante peccatum ad officium), danach soll es den Eheleuten Kraft im Kampf gegen die verkehrte Begierde verleihen ipost peccatum ad remedium). Weil die Brautleute das Sakrament durch ihren Konsens einander zuwenden, nennt er diesen dieforma des Sakraments, während diemateria in der geschlechtlichen Vereinigung gegeben ist. Durch sie fuhrt der Konsens daher auch erst die Ehe und damit das Sakrament herbei (Lib. IV Sentent. D. 26c. 1 f.6; D.27c.3f.8; vgl. D.31c.2; PL 192,908-912.919). Im Blick auf die Sakramentalität der Ehe bestehen zwischen Gratian und Petrus Lombardus Auffassungsunterschiede, die bedeutsam für die weitere Entwicklung waren. Gratian hält entsprechend den Vorstellungen Leos d. Gr. und Hinkmars den Vollzug der Ehe für ihren sakramentalen Charakter für notwendig, da nur so die Eheleute das Sakrament von Christus und der Kirche besitzen (Decr. pars II, XXVII q. IIc.17; PL 187,1397). Die abschließende Regelung im kanonischen Recht geschieht zugunsten der Pariser Schule, doch unter Bewahrung des wesentlichen Moments der Bologneser. Die Ehe ist ein wirkliches, rechtsgültiges Sakrament; sie kommt zustande durch den Ehekonsens, ist aber, solange sie noch nicht vollzogen ist, durch die kirchliche Jurisdiktion auflösbar, nach geschehenem Vollzug in der geschlechtlichen Vereinigung jedoch unauflösbar. (Ein Vorläufer dieser Auffassung war Anselm von I.aon, Enar. in Mt. 5, PL 162,1298; in Mt. 19, ebd. 1412.) Die bei Hugo von St. Viktor begegnende Vorstellung, daß jede Ehe Zeichencharakter habe, aber nur die unter Gläubigen Gnade vermittle und als Sakrament gelten könne, sofern sie vollzogen sei, führt —»Innozenz III. im Blick auf das Privilegium Paulinuin aus: Das Sakrament der Ehe ist bei Gläubigen wie Ungläubigen gegenwärtig, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Deshalb darf der gläubig werdende Partner den ungläubig bleibenden nicht entlassen. Die Taufe hat mit der Vergebung der Sünden, nicht aber mit dem Geschehen in der Ehe zu tun (DS 777). Zum Abschluß kommt das mittelalterliche kanonische Recht mit der Dekrctalensammlung —»Gregors IX. Auch —»Thomas von Aquin ist der Meinung, daß der durch verba de praesenti bekundete Konsens causa efficicns des Ehesakramentes sei. Er ist seine forma. Sie bewirkt die eheliche Bindung, und diese ist aufgrund göttlicher Stiftung ein Zustand, der einen Gnadenempfang ermöglicht. Die „erste Ursache" liegt bei Gott. Er bedient sich der Ehe. Den stofflichen Akt des Konsenses gebraucht er als „zweite Ursache" für die Ausführung. Die res significata ist die unio Christi ad Ecclesiam, und die res contenta besteht in der Verpflichtung zu wechselseitigem Umgang und Unauflöslichkeit, die Mann und Frau eingegangen sind. Die vom Priester gesprochenen Einsegnungsworte stellen nach Thomas ein sacramentale dar (Comm. in libros sent. IV D. 26q. 2 u. 3 corp.; D. 27 q. 1 a.2 corp.; SummaTheol. Suppl. q.42 a. 1 corp.; a.3 corp.; q.45 a. 1 u. 2 corp.). Einschränkende Bestimmungen verfolgen auch im Westen den Zweck, das Sakrament heilig zu halten—so die Ablehnung von Mischehen, die Unzulässigkeit der Ehe in verbotenen Verwandtschaftsgraden und nach erfolgter Ehescheidung, ferner die Beschränkungen im Blick auf den Zeitpunkt der Eheschließung, auf bestehende geistliche Verwandtschaft und zu geringes Alter. Das—»Tridentinum bedeutet einen Abschluß der mittelalterlichen römisch-katholischen Lehre und ist zugleich offizielle Reaktion auf die Auffassung der Reformation. Die römische Kirche bleibt darin bei ihrer Lehre von sieben Sakramenten und dem in der Scholastik ausgeformten Verständnis der Ehe (sessio VII, c.l; sessio XXIV: COD 3 [1973] 684.753ff, DS 1601.1797ff) (s.u. Abschn. VII.7).
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VII. Reformationszeit 45
1. Das Eheideal des Erasmus 2. Luther: Ehe als Beruf 3. Richtlinien rechtlicher und liturgischer Praxis 4. Die Schweizer Reformatoren 5. Bucer und England 6. Ehe bei den Täufern 7. Die katholische Antwort (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 344)
Das ausgehende 15. Jh. ist gekennzeichnet durch Ehesatire (—»Grobianismus) und eine Geringachtung der —»Frau, verbunden mit kirchlicher Hochschätzung der Jungfräulichkeit. Das —»Sakrament der 50 Ehe wird in seiner Heilsbedeutung niedriger gestellt als das der geistlichen Weihen. Die Verbreitung der heimlichen Ehe und des Priesterkonkubinats sowie ein wachsendes Interesse staatlicher Behörden an Fragen der Moral und der Intimsphäre beleuchten jedoch Dringlichkeit und Gewicht der dogmatischen, ethischen und rechtlichen Fragen, die dem kommenden Zeitalter aufgegeben sind.
1. Das Eheideal des Erasmus 55
—»Erasmus fand bereits 1498 die Vorstellung einer Heirat von Mönchen erwägenswert. Wenn er dies auch später bedauerte (Hyma 155), bestritt er doch 1 5 1 6 in einem vertrauli-
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chen Brief an —»Leo X., in dem er erfolgreich um Dispensation von seinen Residenz- und Kleidungspflichten als Augustiner-Chorherr nachsuchte, die neutestamentliche Begründung der Mönchsgelübde. Gleichwohl gab der empfindsame, von der Realität des Klosterlebens enttäuschte Sohn eines Priesters das monastische Ideal nicht preis, sondern wollte es in der Ehe verkörpert sehen: Monachus est, quisque pure Christianus est (zit. bei Kohls 1,23; vgl. 11,52 f). Im erasmianischen Lob der Ehe in der Welt als dem eigentlichen Bereich, in dem wahre —»Keuschheit wirksam wird, ist die Kluft zwischen Laienschaft und Geistlichkeit überbrückt. Ohne dem —»Zölibat seinen legitimen Wert abzusprechen, empfiehlt Erasmus in seinem Ettcomium Matrimonii (1518) die Ehe in hohen Tönen (vgl. Op. [Amsterdam] 1/5,406, 2 5 0 - 2 5 3 ) . Seine Beurteilung der Stimuli Verteris und der—»Natur ist nicht vom Begriff der Konkupiszenz überschattet (ebd. 398,190ff). So wird die strenge Zuchtregel von Mt 19,12 gerade durch das Zusammenleben im treuen Dienst der Gatten aneinander verwirklicht (ebd. 402,218 f). Ähnliche Gedanken erscheinen in den Colloquia; und in der Christiani Matrimonii Institutio (1526) tritt eine vergeistigte Auffassung der Ehe hervor (Bainton 276), wenn dort das Vorhandensein einer wahren Ehe verneint wird, ttisi connubialis animorum consensus intervenerit (Op. [Leiden] V,618A). Argumente für seine Ehelehre gewann Erasmus auch aus seiner Arbeit am griechischen Neuen Testament. In der 1. Ausgabe von 1516 bemerkter, daß Eph 5,32 kaum als Belegtext für die seit dem Konzil von Florenz (1439) (—»Basel-Ferrara-Florenz) feststehende Lehre vom gnadenwirkenden Sakramentscharakter der Ehe (s.o. Abschn. VI.2.4) geeignet sei (ebd. VI, 855 C); im übrigen heirateten auch die Heiden; und bei den Kirchenvätern finde die sakramentale Auffassung keine Stütze. Dennoch wird diese von Erasmus in Anbetracht der einhelligen Uberzeugung der Kirche seiner Zeit bedingt akzeptiert. Ja, er sieht in der Ehe eine mehrfache zeichenhafte Dimension, insofern sie nicht nur das ekklesiologische Geheimnis, sondern auch die Inkarnation und die Vereinigung Christi mit dem Gläubigen abbildet. Mann und Frau sind in der Ehe so fest miteinander verbunden wie Gott und Mensch in Christus. Dies hindert Erasmus jedoch nicht, in seinen Adnotationes zu I Kor 7 für eine Scheidung a vinculo zu plädieren: eine solche Regelung sei 1. durch das menschliche Leid vieler Tausender, die in einer schlechtgewählten, aber unauflöslichen Verbindung gefangen seien, erfordert; 2. habe die Kirche, da doch selbst bei biblischen Verboten Abstriche gemacht würden (z.B. Act 15,29 und Jesu Wort über den —»Eid), durchaus die Möglichkeit, kanonische Bestimmungen wie die über die Scheidung veränderten Umständen anzupassen — auch Origenes und Johannes Chrysostomus seien in dieser Frage flexibel; 3. gelte von vornherein: ubi divortium incidit, ibi videtur numquam fuisse verum matrimonium [wo eine Scheidung vorkommt, da scheint niemals eine wahre Ehe bestanden zu haben] (ebd. V, 620E). Generell ist zu sagen, daß der große Humanist die Anschauungen eines männerzentrierten Zeitalters, das den Frauen die Schuld an Unkeuschheit und Ehebruch gab, nicht teilte. 1 2. Luther: Ehe als Beruf Die gegen den Willen seines Vaters abgelegten Mönchsgelübde wurden —»Luther von zwei Seiten her fragwürdig: vom —»Glauben her, insofern die Höherbewertung der —»Gelübde und des Zölibats durch die Kirche die Gefahr der Werkgerechtigkeit verstärkte, und von der —»Liebe her, insofern das Klosterleben die Flucht aus dem täglichen Beruf zum Dienst am Nächsten in der Welt erlaubte. Luthers theologische Grundentscheidung, die zur Ablehnung des monastischen Ideals führte, liegt auch seinem Eheideal zugrunde. Der Ehestand, der als erster von allen Ständen durch die unterschiedliche Erschaffung des Mannes und der Frau in Unschuld von Gott eingesetzt wurde (—•Schöpfung), überragt auch gegenwärtig alle anderen, ist „der gemeineste, edleste Stand, s o . . . durch alle Welt gehet und reichet" (Großer Katechismus: BSLK 612 f). Der Qualifizierung der Ehe als ursprünglicher Schöpfungsordnung, die in vielen Erwähnungen oder Erklärungen von Gen 2,21 ff nach 1519 unterstrichen und festgehalten wird, entspricht das wiederkehrende Lob
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dieses gottgefälligen Standes im täglichen Leben. Die Hauptzwecke der Ehe, „daß sie sich zusammen halten, fruchtbar seien, Kinder zeugen, nähren und aufziehen zu Gottes Ehren" (ebd.), bestehen auch nach dem Sündenfall fort. Das Moment des mutuum adjutorium, das Verlangen nach dem menschlichen Partner und die unbezwingbare Macht des Geschlechtstriebes sind im Stifterwillen des Schöpfers verankert und durch das Wort geheiligt (vgl. WA 34/1,55,17-19). Die —»Sünde hat keinen Aspekt der gefallenen Menschheit unberührt gelassen, auch nicht die natürlichen Triebe (-»Mensch, —»Sexualität). Eine erkennbare Neigung Luthers, die Unbezwingbarkeit des Geschlechtstriebes mit der Selbstigkeit gleichzusetzen (Logstrup 326), wird jedoch durch zahlreiche andere Aussagen eingeschränkt. So sehr die Zeugung foeda libidine et turpitudine infiziert ist, sie bleibt in der Ehe ein opus Deo acceptus et placens (vgl. WA 41,391,42; 32,373,38). Damit bejaht Luther das zweite traditionelle botium der Ehe, nämlich ihre Funktion als Heilmittel gegen die Unkeuschheit (als, wie es auch heißt, „spital der siechen" und „ertzney"; vgl. WA 2,168,3; 12,114,12). Auch dieser Zweck macht die Ehe, von seltenen, mit der Gabe der Enthaltsamkeit ausgezeichneten Menschen abgesehen, zu einem notwendigen Stand für alle Menschen. (Mit dem genannten Vorbehalt preist Luther - wie überhaupt die meisten Reformatoren — den Zölibat als einen Stand, der es ermöglicht, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit dem Gebet und der Verkündigung des Evangeliums zu widmen.) In der Ehe werden, trotz der korrumpierenden Wirkung der Sünde, Gottes gute Zwecke verfolgt und erfüllt. In der gefallenen Welt soll die Ehe als Stand der Liebe, des Kreuzes und des Glaubens verwirklicht werden. Der biologische Geschlechtsunterschied soll in der ehelichen Gemeinschaft, die bei der Schöpfung durch Liebe zusammengefügt wurde (vgl. WA 2,167,30), das göttliche Werk in Erinnerung rufen: „eyn iglich ehre des andern bild und leyb als ein gottlich gut werck, das gott selbs wol gefeilet" (WA 10/2,276,7 f). Selbstigkeit weicht dem Dienst am anderen, „wie der liebe art ist", und erweist die Institution der Ehe „als ynn der liebe gesetz verfasset" (WA 12,101,15 f)- Da es menschliche Aufgabe ist, den Strom der Liebe von Gott auf andere zu lenken, ist die Erzeugung und Erziehung von Kindern zur Ehre Gottes Amt und Ziel der Ehe (vgl. WA 2,169,30 f). Hier sind Eltern berufen, „Apostel, Bischof, Pfarrer" zu sein und gottgefällige gute Werke zu tun (WA 10/2,301,18 ff; vgl. BSLK 604). - Aber die Ehe ist eine weltliche Angelegenheit. Daher gelangt sie zur vollen Entfaltung als christlicher —»Beruf in der notvollen Wirklichkeit des alltäglichen Daseins, wo sich nach Gottes Gericht in Gen 3 , 1 6 f f das —»Kreuz in vielerlei Gestalt zeigt. „Also das der eheliche stand von natur der artt ist, das er auff gottis hand und gnade leret und treybt zu sehen, und gleich zum glauben zwinget" (WA 12,106,26 f). Es ist der Glaube an Gottes —»Verheißung, der den —»Teufel überwindet, den erbitterten Widersacher von Gottes Schöpfungsabsichten in der Ehe (WA 42,354,23). —»Freude und „lust und liebe" haben ihren legitimen Platz in einer Lebensform, die in sich selbst heilig ist et habet verbum quod purificat mihi conscientiam (WA 34/1,178,12). Gottes allüberspannendes Wohlgefallen an der Ehe umschließt das Ende wie den Anfang der Dinge (vgl. WA 49,804,18) und ruht in der Gegenwart auf jener gesegneten .Verbindung, in quo et mensa et thoro inscriptum est: favor, voluntas, beneplacitum Dei (WA 43,299,19). Erlösende —»Gnade vermag die Ehe nicht zu schenken. Luther findet kein Verheißungswort, das die sakramentale Auffassung Roms stützen würde. Er macht sich die Erasmianischen Erkenntnisse über den Vulgatatext von Eph 5,32 und über die Verbreitung der Ehe unter den Heiden zu eigen, beachtet aber zugleich, wie der Epheserbrief die Eheperikope Gen 2,24 auf das Geheimnis der Beziehung zwischen Christus und Kirche hin deutet und dieses in der menschlichen Ehe gespiegelt sieht (vgl. WA 6 , 5 5 2 , 1 4 - 1 6 ) . Die christliche Ehe ist für ihn nicht ein bloßes Vertragsverhältnis der Eheleute, sondern vielmehr „ein typologisches Abbild des Christusmysteriums" (s. Brunner 220). Im selben Sinne heißt es 1536 in einer Traupredigt für—»Cruciger, Gott gebe in der Ehe „das allergewisseste und lieblichste Zeichen der hohesten, freundlichsten Vereinigung zwischen ihm und der Christenheit und allen ihren Gliedern" (WA 4 1 , 5 4 9 , 2 4 - 3 3 ) . Eine entsprechende Glosse zu Eph 5 macht diese Ansicht
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seit 1522 weithin bekannt (WA.DB 7,206f). So betrachtet Luther eine göttliche Schöpfungsordnung als das tiefste menschliche Gleichnis für Gottes Gnadenhandeln (Lazareth 199f). Sein einflußreiches Traubüchlein (1529), das einen nach dem Brauch derZeit zweiteiligen Ritus der Eheschließung vorschlägt, vereinigt beide Elemente: die —»Trauung vor der Kirche, durch die das Paar im Namen des Dreieinigen Gottes „zusammengesprochen" wird, begründet die Ehe „öffentlich für Gott und der Welt" (BSLK 531); und in der Kirche selbst, wo die Vermählten Gottes Wort in Gesetz, Verheißung und Segen empfangen, spricht das Segensgebet davon, daß in der Ehe „das Sakrament Deines lieben Sohns Jesu Christi und der Kirchen, seiner Braut", bezeichnet sei (ebd. 534). Die christliche Ehe, die eine Stiftung des weltlichen Regiments Gottes bleibt, führt die Eheleute auf sein geistliches Regiment zu. Luther wandte sich gegen alle von Menschen geschaffenen Beschränkungen einer göttlichen Ordnung, die durch den Sündenfall nur um so nötiger wurde. Sein konsequenter Kampf gegen Mönchsgelübde, die verbotenen Grade des kanonischen Rechts, die geschlossene Zeit und den Klerikerzölibat befreite zahllose Menschen von Gewissensqualen und bildet, zusammen mit seiner Verurteilung heimlicher Ehen und seinem Einsatz für eine Scheidung a vinculo bei Ehebruch und böswilligem Verlassen, eine Wurzel des neuzeitlichen Eherechts (Wolf 478). Daß er 1525 die vormalige Nonne Katharina von Bora heiratete (ein Schritt, in dem ihm seit 1522 mehrere zu Reformatoren gewordene Priester vorangegangen waren; vgl. Bornkamm, Martin Luther 354 Anm. 1), trug unmittelbar zum Aufstieg des protestantischen Pfarrhauses bei. - Die weite Verbreitung heimlicher Verbindungen vor allem von Minderjährigen ohne Zustimmung der Eltern wurde für Luther zum Anlaß, die Rolle und Verantwortung der Eltern in Ehedingen zu betonen (vgl. WA 10/1, 642,21 ff), die kanonische Unterscheidung zwischen sponsalia de praesenti und de futuro zurückzuweisen und die vor geeigneten Zeugen abgegebene beiderseitige Konsenserklärung (d.h. die Verlobung) als ehebegründenden Akt zu bestimmen (vgl. WA 10/2,289,3—7). — Auch die Scheidung bedarf einer rechtmäßigen Beglaubigung, denn obgleich der Ehebruch ipso facto das Band zertrennt (unbeschadet der anzustrebenden Möglichkeit einer Wiederversöhnung), soll doch niemand sein eigener Richter sein, vor allem, da die Wiederheirat freigestellt ist (nach Mt 19,9). Luthers Ablehnung des kanonischen Rechts hat ihr Korrelat in der Anerkennung der Verantwortung staatlicher Instanzen. Die Ehe ist eine res politica, cum Omnibus suis circumstantiis nihil pertinet ad ecclesiam, nisi quantum conscientiae casus (WA.TR 4,111, Nr. 4 0 6 8 ; vgl. bwa 32,376,36 - 377,11). Als ein Seelsorger, der immer wieder vor Übergriffen des —»Rechts auf die göttliche Anstalt selbst warnte (vgl. WA 6 , 5 5 5 , 2 6 - 3 0 ) , rechnete Luther durchaus mit einem ins Evangelii, das sich in Gewissensfragen dem ius profanum nicht unterwerfen kann. 1539 gewann er die Überzeugung, daß—»Philipp von Hessen in einen Konflikt dieser Art verwickelt sei. Luthers Votum für die Bigamie2 war hier strikt als Beichtrat gemeint. — Der Bereich der Ehe verlangte, sobald die kirchliche Rechtsprechung ausgeschaltet war, besonders dringend nach gesetzlicher Regelung. In den zahlreichen Ansätzen zu einer Neuordnung des Eherechts (vgl. Sehling, Scheidungsrecht 846 f) spiegelt sich die territoriale Vielfalt des 16. Jh. wider.
3. Richtlinien
rechtlicher
und liturgischer
Praxis
3.1. Ph. —*Melanchthon. Auch zu Melanchthons Definition der Ehe gehört die Unauflöslichkeit (vgl. CR 15,1081.1083; 21,1092). Aber die Behauptung dieses Grundsatzes in ecclesia kann ehezerstörende Handlungen wie Ehebruch und böswilliges Verlassen nicht verhindern. Nach Melanchthon sollte in solchen Fällen, wenn Schuld und Unschuld festgestellt sind, das Gericht dem unschuldigen Partner sogleich die Erlaubnis zur Wiederheirat erteilen. Das gerichtliche Scheidungsverfahren, das von hier seinen Ausgang nahm, hatte somit in erster Linie die Aufgabe, der schuldlosen Partei, deren eheliche Beziehung durch das Vergehen des Gatten zertrennt worden war, durch Verkündung des offiziellen Permittimus oder Toleratnus zu helfen. Weder Aussatz (vgl. Luthers „diene gott yn dem krancken": WA 10/2,291,26; aber auch Köhler, Luther 25) noch disparitas cultus (so die —»Konkordien-
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formel: BSLK 824 f; später nicht durchweg beibehalten) sind zureichende Scheidungsgründe. Melanchthon ist sich bewußt, daß eine Minderheit von Christen in einer Umwelt lebt, in der andere Normen gelten, in die aber Gottes Anordnungen über Ehe und Staat gleichwohl hineinreichen. Unter diesem Gesichtspunkt greift er auf die lex Theodosii zurück, die die Ehescheidung auch propter saevitiam et insidias vitae structas (vgl. Eiert, Gesch. 153) zuläßt. Ähnliche Gründe, wenngleich anders hergeleitet, werden auch von Luther zugestanden (vgl. WA 30/3,244,11; 12,119,30; auch 10/2,288,20-22). Später bekräftigt -•Chemnitz die diesbezüglichen Anschauungen Melanchthons. Uber Melanchthons De potestate et primatu papae tractatus erlangten Luthers Ansichten zu Ehegerichtsbarkeit, Heimlichkeit, Scheidung und Priesterehe den Rang von Bekenntnisaussagen (BSLK 4 9 4 f ; vgl. CA 23.27: ebd. 8 9 - 9 1 . 1 1 0 - 1 1 9 ) ; Luthers Grundgedanken zur Ehe fanden ihren Ausdruck im Großen Katechismus und im Traubüchlein (ebd. 528-534.586-605.610-616). 3.2. J. —*Brenz. Um den seelsorgerlichen und rechtlichen Aspekten in Ehesachen gleichermaßen Rechnung zu tragen, setzten sich die Konsistorien der Landeskirchen zumeist aus Theologen und Juristen zusammen. Brenz war seit 1525 in Schwäbisch Hall mit der Neuordnung des Eherechts befaßt gewesen. Sein Buch Wie in Ehesachen ... nach goetlichem billichem rechten christenlich zu handeln sey (1529) steht im Zeichen des Gedankens der Zuständigkeit weltlicher Obrigkeit und weltlichen Rechts, der die protestantische Regelung von Ehefragen wesentlich mitgeprägt hat. Bei Gelegenheit der widersprüchlichen Bestimmung der verbotenen Grade nach mosaischem, päpstlichem und kaiserlichem Recht, angesichts derer die weltliche Obrigkeit ihre eigene Entscheidung treffen muß, spricht er eindeutig aus, daß Mose „nicht der Christen im deuetschen land, sonder der Juden im land Canaan oberkeyt" sei (Frühschr. 11,277,4 f), weshalb der einfache Rekurs auf das Bibel wort keine Lösung sein könne. Gesetze müssen vielmehr dem jeweiligen Volk angemessen sein; sie sollen „billigkeit" repräsentieren, im letzten Grunde aber „das gesatz der natur" verkörpern (ebd. 273 ff). Im Blick auf Deutschland sind vor allem die kaiserlichen Rechtsnormen maßgeblich: Sie, und nicht das Alte Testament oder das kanonische Recht, sollten daher von den lokalen Behörden als Richtschnur in Ehefragen betrachtet werden. Nach einem Verweis auf Rom 13 zieht Brenz die Schlußfolgerung: „Dieweyl nun einer solchen oberkeyt Satzung Gottes Ordnung seyen . . . so sollen wir derselben so vyl mueglich und christenlich gehorsam sein" (ebd. 274,30—35). Der kritische Vorbehalt gilt insbesondere für die großzügigen Scheidungsregelungen des kaiserlichen Rechts. Jesus, dessen Gebot für die christliche Gemeinde verbindlich ist, erkennt als einzigen Scheidungsgrund den Ehebruch an; ein Pfarrer darf daher nur in diesem Fall, bei vorliegender obrigkeitlicher Bestätigung, eine Wiedervermählung durchführen. Doch ein gottesfürchtiges weltliches Regiment hat auch Nicht-Christen zu Untertanen und mag, um größeren Schaden zu verhüten (z. B. Mord), wie Mose eine Reihe weiterer Gründe zulassen (Brenz selbst würde statt der Erlaubnis zur Wiederheirat lieber einen offiziell sanktionierten „concubinischen beysitz" sehen: ebd. 292,25). Freilich müssen derart getrennte Personen von der christlichen Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen bleiben. Die Herausgeber der Frühschriften II merken zu dieser Stelle an: „Zum erstenmal zeigt die Identität zwischen kirchlichem und politischem Gemeinwesen bei Brenz einen Riß" (ebd. 222). — Obwohl Luther selbst soeben seine Schrift Von Ehesachen veröffentlicht hatte, fügte er 1531 einer Wittenberger Ausgabe von Brenz' Buch ein Vorwort bei. Seine Zustimmung zu dessen Richtlinien und Rückgriff auf das Corpus Iuris Civilis steht außer Frage, ungeachtet seiner Mahnung, es sei nicht möglich, „das man auff alle faelle solt gesetz stellen" (WA 30/3,484,11 f). J. —»Cochlaeus trat 1534 den gemeinsamen Ansichten Luthers und Brenz' mit einer Verteidigung der römischen kirchenrechtlichen Lehre entgegen (Titel und Beschreibung seiner Schrift: Brenz, a.a.O. 223f). 3.3. A. —>Osiander in Nürnberg. Luther entdeckte in seinem langen Kampf mit den Wittenberger Juristen, daß das reformatorische Prinzip weltlicher Rechtsprechung und das fortdauernde Bestreben pflichteifriger Kirchenmänner, im Bereich der Ehe theologische Kri-
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terien anzulegen, nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen waren. Ähnlich zeigt sich die Problematik des Versuchs einer reformatorischen Neuordnung der Ehe auch in den Schriften A. Osianders in —»Nürnberg. Nach der 1525 vollzogenen Abstreifung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt kam es dort zunächst zu einer Zwischenregelung mit Zuständigkeit der städtischen Pröpste, bis zu Beginn des Jahres 1526 der Rat beschloß, daß das Stadtgericht als Ehegericht fungieren solle. In der Folgezeit erschienen die gelegentlich eingeholten Gutachten der Theologen dem Rat und seinen Juristen, die — wie in vielen evangelischen Zentren — die Verbindung zum traditionellen Eherecht aufrechtzuerhalten suchten, kaum je akzeptabel. Osianders Befürwortung der Scheidung und des Rechts auf Wiederheirat im Falle von Ehebruch wurde abgelehnt und 1527 verboten (vgl. Osiander, GA 11,347ff.354 ff). — Auch die Eheschließung von Minderjährigen ohne elterliche Zustimmung erwies sich in Nürnberg als ein heikles Problem; hier jedoch verzichtete der Rat von vornherein auf die Anforderung einer theologischen Stellungnahme. Bezüglich der Frage der verbotenen Grade, in der Osiander zunächst einen biblizistischen Standpunkt auf der Grundlage von Lev 18 einnahm (er verwarf auch die Leviratsehe von Dtn 25,5 und unterstützte folglich, im Gegensatz zu Luther und Melanchthon, die Scheidung —»Heinrichs VIII.), zögerte der Rat der Stadt lange, Verbindungen zu erlauben, die bis dahin nach kanonischem Recht als unzulässig gegolten hatten (Seebaß 183 ff). Übereinstimmung und Divergenzen zwischen Jurisconsulti und Theologen gehen außerdem aus zwei verschiedenen Gutachten zu bestimmten Fragen des Eherechts hervor, die Markgraf Georg von Brandenburg 1529/1530 den beiden Nürnberger Gruppen zur Klärung vorlegte (ARG 11 [1914] 2 4 1 - 2 6 8 ) .
3.4. Ordnimg und Ethos. Eheregister, eine Neuerung der Reformation, die 1524 in Nürnberg, 1525 in—»Zürich eingeführt wurde, gelangten im späteren 16. Jh. zu allgemeiner Verbreitung. — Andererseits bleiben protestantische Trauordnungen wie Luthers Traubüchlein am Vorbild spätmittelalterlicher Agenden orientiert, zeigen jedoch einen geringeren Formenreichtum und vermeiden gewöhnlich die Erwähnung der Sakramentsnatur der Ehe (Tietz 6; vgl. Osiander, GA II, 281,16-20). In den Trauformeln bestehen zwischen Nord-/ Mittel- und Süddeutschland charakteristische Unterschiede: während im ersten Typus die kirchliche Handlung des Pfarrers ein für die Ehe konstitutiver Akt ist (vgl. Luthers „Zusammensprechen"), wird sie im letzteren als Bestätigung einer bereits geschlossenen Ehe aufgefaßt. Überall aber zitiert man an diesem Punkt Mt 19,6. Der Grundsatz consensus facit nuptias wird anerkannt, die Verlobung begründet ein conjugium initiatum, das durch die copula carnalis vollzogen wird; ab der Württemberger Ordnung von 1537 erscheint dann der Traugottesdienst als consummatio matrimonii und beginnt, den fortan vor der Ehe verbotenen Beischlaf aus dieser Rolle zu verdrängen. Als Ehezwecke nennen viele —> Kirchenordnungen die Kinderzeugung, gefolgt vom remedium. In der hessischen Ordnung von 1566 steht das „gemeinsame leben in der allerhoechsten gemeinschaft aller ding" an erster Stelle (vgl. u. Abschn. 5 zu Bucer). Dieselbe Ordnung ist bemerkenswert für ihre Kombination der Bestätigung einer „bezogenen ehe" nach dem Zürcher und dem konstitutiven „Zusammensprechen der Brautleute" nach dem niederdeutsch-sächsischen Muster (Niebergall 55 f). Ein positives Ethos der Ehe äußert sich in vielen sogenannten Ehespiegeln und in Ehepredigtsammlungen des frühen Luthertums (Kawerau 64 ff). Durch den Gegensatz zum mittelalterlichen Zölibatsideal tritt die Wertschätzung des Ehelebens und der Gattenliebe als gottgegeben nur um so stärker hervor, so z.B. bei —»Bugenhagen, Johannes und Cyriacus Spangenberg und Andreas Musculus. —»Lambert v. Avignon, der sich als erster französischer Reformator gegen den Zölibatszwang wandte, verfaßte 1524 zur Verteidigung der Ehe einen temperamentvollen Commentariorum... de Sacro Conjugio ... Uber in 69 Thesen. Von lutherischer Seite rasch verworfen (und rasch modifiziert) wurden die liberalen Ansichten über die Scheidung, die Erasmus Sarcerius in seinem Buch vom hl. Ehestand (Leipzig 1553) vertrat und die nur bei Bucer eine Parallele finden (s.u. Abschn. 5).
342 4. Die Schweizer
Ehe/Eherecht/Ehescheidung VII Reformatoren
U. —*Zwingli, der bereits 1522 geheiratet hatte, schuf 1525 eine Ehegerichtsordnung, die „in der Entwicklung der protestantischen Ehegerichtsbarkeit an die Spitze gehört" (Köhler, Ehegericht 1,26). Mit ihr empfing das Ehegericht (2 Geistliche, 4 Mitglieder des Großen und Kleinen Rats) klare Richtlinien bezüglich der Heirat Minderjähriger, der Einsegnung, Registrierung und Trennung von Ehen (CR 91,184—186); andere Fragen dagegen wurden dem persönlichen Ermessen der Richter anheimgestellt, darunter bemerkenswerterweise „groesser Sachen den eebruch", die eine Ehe trennen können - genannt werden Lebensnachstellung, Zorn, Wahnsinn und Aussatz (ebd. 187). Gewiß ist dies keine kasuistische Kodifizierung, die der reformatorischen Entklerikalisierung der Ehe widerstreben würde. 1526 wurde das Ehegericht mit den erweiterten Kompetenzen eines städtischen Sittengerichts ausgestattet. Eine ähnliche Linie führte im Genf Calvins, im Dienste der Verwirklichung der Idee eines christlichen Staates, über das Ehegericht zu anderen Rechtsbereichen. Aber auch in —»Sachsen entwickelte sich das Konsistorium, das als Ehegericht begonnen hatte, zum Instrument eines sehr viel umfassenderen landesherrlichen —»Kirchenregiments. Niemand sollte, so Zwingli, seine Frau aus einem geringeren Grund als Ehebruch von sich tun; Mt 19,9 bezeichnet diese unterste Grenze. Andere, schwerere Fälle hat der Rat in christlicher Weise je nach Sachlage zu entscheiden. Aus Lev 20,21 ließ sich nach Zwingli und —»Oekolampad die Scheidung Heinrichs VIII. von Katharina von Aragon rechtfertigen. Dagegen war beiden, wie auch Calvin und Bullinger, die Mehrehe ein Greuel, da Christus die ursprüngliche göttliche Ordnung von Gen 2,24 wiederhergestellt hatte. Der Emst, mit dem sich die reformatorischen Prediger und Stadträte um die Reinigung des sittlichen Lebens bemühten, ist auch bei H. —>Bullinger, besonders in dessen Schrift Der christliche Ehestand (1540), wahrzunehmen. In 25 kurzen Kapiteln werden nicht nur die grundsätzlichen Fragen, oft unter Heranziehung des alten christlichen Reichsrechts, erörtert; auch der praktisch-seelsorgerliche Charakter dieses Handbuchs sorgte für seine Verbreitung. Schon im Jahr nach seinem Erscheinen in Zürich hat Myles Coverdale es ins Englische übertragen. J. —»Calvins Genfer Consistoire (12 Geistliche und 12 vom Rat gewählte Älteste) hatte ungewöhnliche Vollmachten zur Behandlung der res mixta der Ehe: Es übte—»Kirchenzucht und wurde durch weltliche Sanktionen unterstützt. Mit ihrer Betonung der geistlichen Gleichstellung der Ehegatten bot die calvinistische Lehre von Ehe und —»Familie „eine feste und explizite Grundlage für die Würde der Frau" (Roelker 190). Uber den Geschlechtsakt sagt Calvin: res pura est, honesta et sancta (Comm. V, 330X . Die Ehe ist Gottes erste Ordnung und setzt Mann und Frau in eine Beziehung der Komplementarität zueinander (vgl. ebd. 326), was eine engere Verbindung als die zwischen Vater und Sohn bedeutet; es gibt daher, nach der Polygamie, nichts Abscheulicheres als die Scheidung. Gleichwohl ist die Ehe kein Sakrament (Institutio [1559] IV,19,34-37), und Ehebruch zertrennt das Band. Gott hat nirgendwo die einfache Verstoßung erlaubt, und alle Scheidungsgründe sind für Calvin letztlich auf die eine von Christus zugestandene Ausnahme zurückzuführen. - Die exegetischen Befunde Calvins wurden von Th. —*Beza in seiner Tractatio De Repudiis et Divortiis (1573) weiter ausgearbeitet. Beza wandte sich (anders als Bullinger) gegen eine Ansicht, die unter Bezug auf das kaiserliche Recht weitere Scheidungsgründe für legitim erklärte, und widersprach an diesem Punkt ausdrücklich Bucer (Olsen 88). Auf dem Gebiet der Ehelehre zeigen sich kaum konfessionelle Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten. Es ist Bullinger, der an seine Braut schreibt, „dass kein tugentricher, kein goetlicher, kein fruentlicher und lustbarer stand nit ist dann der eheliche" (Briefwechsel 1,129). Ein erheblicher Unterschied besteht dagegen zwischen der großzügigeren Zürcher und der strengeren Genfer Haltung in der Anerkennung von Scheidungsgründen (Olsen 108 f).
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5. M. Bucer und England In —»Bucers Auffassung der Ehe, die von Gen 2,18.24 beherrscht ist, erhält die Einheit und Gemeinschaft von Seele und Leib den Vorrang unter den Ehezwecken. Dies führt zu Schlußfolgerungen von merkwürdig modernem Klang. Wahre Ehe beruhe auf der Übereinstimmung der Herzen. Eheversprechen sollten bis zur Trauung widerruflich bleiben, ein Standpunkt, der die ehebegründende Bedeutung der Trauung weiter verstärkt. — Viele Ehen unter den „Gottlosen" sind im Inneren keine „wahren Ehen". Um schlimmere Übel zu verhüten, mögen sie aufgelöst werden. Es gehört zu den externa omnia, die in die Zuständigkeit christlicher Herrscher fallen, derartige menschliche Verfahren einzurichten und zu regeln, wie es die christlichen Kaiser früherer Zeiten taten. So zitiert Bucer ohne ein Wort der Mißbilligung die Scheidungsgesetze des Codex Justinianus3, die an die 15 Gründe für die Lösung des Ehebandes aufzählen, darunter Geisteskrankheit, Aussatz, verschiedene straf- und zivilrechtliche Vergehen, Theaterbesuch der Frau ohne Einwilligung des Mannes u. a. m. Dieser Liste sei noch Impotenz (auch wo sie nach der Eheschließung eintritt) hinzuzufügen, da doch der Codex selbst Scheidung durch beiderseitigen Konsens zuläßt. Die zunehmend liberale Einstellung zur Scheidung von Luther bis Zwingli, Bullinger und Bucer fand in der—»Kirche von England keine Entsprechung, trotz Bucers Aufenthalt in England ( 1 5 4 9 - 1 5 5 1 ) und J. —»Miltons späterem Hinweis auf die weitgehende Übereinstimmung zwischen Erasmus und Bucer in dieser Frage (II, 478.620f). Zwar schaffte die (nie durch das Parlament verabschiedete) Reformatio Legum Ecclesiasticarum (1552?) die Trennung a mensa et thoro ab und räumte die Möglichkeit der Wiederheirat ein, aber sowohl das Bishops' Book (1537) als auch das King's Book (1543) hatten an der Unlösbarkeit des Ehebandes festgehalten. Scheidung war daher nur in Sonderfällen durch einen eigenen Parlamentsbeschluß zu erlangen. Die geistlichen Gerichte (jedoch ohne Appellation nach Rom und nun auch mit Doktoren des weltlichen Rechts besetzt) blieben ebenso wie das kanonische Recht (abzüglich der kanonischen Ehehindernisse) bis zum Matrimonial Cattses Act von 1857 in Geltung. Eine Folge war, daß weiterhin per verba de praesenti geschlossene Verbindungen als gültig angesehen wurden und daß die heimliche Ehe noch lange, nachdem sie in der römischen Kirche durch das Dektret Tametsi disqualifiziert worden war (s.u. Abschn. 7), im Anglikanismus ein Problem blieb. Bucers anderer Hauptgedanke, die Priorität der Gemeinschaft vor den anderen Ehezwecken, wurde von der Mehrzahl der englischen Reformatoren und der Caroline Divines aufgegriffen. Schon von W. Tyndale vorgebracht ließ er sich sowohl mit Einflüssen aus dem kontinentalen Täufertum als auch mit der aufkommenden Ehelehre der Puritaner vereinbaren. Das Alleinsein, schreibt Milton, der 1644 die Ehekapitel aus Bucers De regno Christi übersetzte und darin seine Befürwortung einer Scheidung aufgrund unverträglicher Veranlagung unterstützt fand (11,421-479), ist das erste, wozu Gottes Auge „nicht gut" sagte. Der —•Puritanismus stellte den von ihm hervorgehobenen Aspekt der Freundschaft und Partnerschaft in die Perspektive der Bundesbeziehung zwischen Gott und Mensch. Ehepartner vereinen sich in einer gegenseitig bindenden Übereinkunft mit Versprechen, die beide zu halten verpflichtet sind (Johnson 12). 6. Ehe bei den
Täufern
Verschiedene Gruppen und Einzelvertreter der —»Täufer praktizierten die Mehrehe, allerdings unter Verweis auf ein höheres Ziel: In Münster z. B. sollte die Polygamie der eschatologisch geforderten Zeugung der Heiligen von Apk 7,4 dienen. Das Normale jedoch war die monogame Verbindung, die freilich aus geistlichen Gründen getrennt werden konnte. Der menschliche Bund wurde hier der „bräutlichen" Beziehung des Gläubigen zu Christus untergeordnet, so daß die Täufer, unter Berufung auf Esr 10,11 f, „das paulinische Wort [I Kor 7,15] umkehrten und Atmgläubigen, d.h. täuferischen, Gatten erlaubten, ja oft sogar auferlegten, sich von dem ungläuyigen Partner zu trennen, und den Ehebruch in Jesu Wort [Mt 19,9] geistlich verstanden" (Williams 516). Entsprechend bedrohen die mennonitischen
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Wismarer Artikel (1554) (-»Menno Simons/Mennoniten) Gläubige, die eine Mischehe eingehen, mit Kirchenzuchtmaßnahmen (Menno Simons 1041). - Im Blick auf die überragende Bedeutung der Christusbeziehung aller Gläubigen wurden Ehepartner häufig als gleichgestellt behandelt und Frauen zu den geistlichen Ämtern von Täufergruppen zugelassen. — Es liegt in der Konsequenz der täuferischen Auffassung, daß die Ehe in einem neuen kirchlichen, mystischen, ja sakramentalen Bereich angesiedelt wird auf Kosten ihres weltlichen Charakters, wie er von den maßgeblichen Reformatoren betont wurde. 7. Die katholische
Antwort
Das —•Tridentinum bestätigte 1563 die Ehe als gnadenwirkendes Sakrament. Auf diese Weise wurden die Fragen erledigt, die Erasmus beinahe 50 Jahre zuvor und nach ihm —»Cajetan (Olsen 36) und die Reformatoren aufgeworfen hatten. Das Konzil unterstrich darüber hinaus das Recht der Kirche, eheauflösende Hindernisse festzulegen, beharrte auf der Unzulässigkeit der Scheidung und verwarf die Ehe von Mönchen und Priestern. Es sei besser und segensreicher, ehelos zu bleiben als zu heiraten; Trennungen quoad thorum seu cohabitationem können ausgesprochen werden; Ehesachen fallen in kirchliche Kompetenz. Häresie, Grausamkeit und böswilliges Verlassen lösen das Eheband nicht auf, wohl aber kann ein geistliches Gelübde ein matrimonium ratum, nort consummatum unwirksam machen (DS 1801 - 1 8 1 2 ) . - Während das Konzil so die Hauptzüge der mittelalterlichen Lehre und Ordnung bestätigte (was in den —>Catechismus Romanus aufgenommen wurde), schlug es in seinem Dekret Tametsi neue Wege ein. Darin wird einerseits die Regel wiederholt, daß der freie Konsens der vertragschließenden Partner die Ehe, und sei sie heimlich, begründet, und das Anathema über jene ausgesprochen, die die Gültigkeit heimlicher Ehen bestreiten; die römische Kirche selbst jedoch verabscheut und verbietet sie und schreibt nunmehr verbindliche Formerfordernisse vor: Eheverträge müssen vor Zeugen und dem Gemeindepriester geschlossen werden, andernfalls sind sie nichtig (vgl. DS 1813-1816). Diese Bestimmung löste den einen Punkt des Konsenses aus dem Handlungszusammenhang und den (lokalen) Gepflogenheiten heraus, die bis dahin gewöhnlich bei der Eheschließung eine Rolle gespielt hatten. In einem „völligen Neueinsatz" (Dombois, Decretum 208) verlangte das Konzil fortan für den Uber consensus einen rein kirchenrechtlichen Kontext. Die Probleme, die damit für Mischehen (gültig nach weltlichem, nichtig nach kirchlichem Recht) und für ökumenische Beziehungen entstanden, traten erst später mit ganzer Schärfe hervor.
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Anmerkungen Im selben Jahr 1516, in dem Erasmus' Neues Testament erschien, veröffentlicht Th. —»Morus seine Schrift Utopia, die, wenn auch in fiktivem Rahmen, ganz selbstverständlich eine Scheidung durch beiderseitige Zustimmung und aufgrund charakterlicher Unverträglichkeit schildert. Erasmus und Cajetan (auch der Papst?) hätten im Falle Heinrichs VIII. eine Bigamielösung der Scheidung vorgezogen (Bainton, Erasmus 302; Barton 50). Die Zulässigkeit der Bigamie wurde somit schon vor Philipps Doppelehe diskutiert. Luther hatte 1520 festgestellt: Ego quidem ita detestor divortium, ut dtgamiam malim quam divortium (WA 6,559,20f). Vgl. Brenz, Frühschr. II, 2 4 5 - 2 4 9 . Alle deutschen Reformatoren standen „im Zuge der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland" (Eiert, Gesch. 165). Die meisten von ihnen sprachen sich eindeutig für die Unterordnung der weltlichen Gesetze unter die Lehre der Schrift aus. Bucer freilich machte „aus jenem quatenus ein ganz entschiedenes quia" (ebd. 160).
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Maurice E. Schild VIII. Ethisch tion
1. Die ethische Frage der Neuzeit 2. Die Ehemodelle der Aufklärung, Romantik und Restaura3. Die Neuansätze der christlichen Ethik im 20. Jh. (Literatur S. 354)
1. Die ethische Frage der Neuzeit Die neuzeitliche —»Ethik hat das Menschsein des —»Menschen zum Thema. Ihr Grundmotiv ist die Suche nach Lebensformen, die der Würde des Menschen gerecht werden, indem sie sein verantwortliches, von selbständig wahrgenommenen Gründen geleitetes Handeln ermöglichen. Das damit eingeführte Prinzip der ethischen —»Autonomie bedingt eine traditionskritische Einstellung, die sich unabhängig von metaphysischen, religiösen und insbesondere den konfessionellen Eigentümlichkeiten des nachreformatorischen —»Christentums den Grundlagen der erfahrbaren Lebenswelt zuwendet. Das bedeutet zugleich, daß die christliche Ethik in Verbindung mit den anderen, modernen Wissenschaften vom Menschen nach allgemeingültigen anthropologischen Basisbestimmungen forscht. Die Problematik des neuzeitlichen Ansatzes der christlichen Ethik pflegt kontrovers unter dem Stichwort —»Säkularisierung diskutiert zu werden. Im Hinblick auf eine ethische Theorie der Ehe ist die sozialgeschichtliche Entwicklung seit Beginn der industriellen Gesellschaft zu beachten. Sie läßt einen Traditionsbruch erkennen, der als Prozeß der Desintegration (R. König) beschrieben wird. Nachdem die —»Familie wesentliche ökonomische und soziale Funktionen an die größeren Organisationen des modernen Staates abgegeben hat, löst sich die Ehe aus ihrer Vormundschaft. Die Familie wird durch die zunehmende Individualisierung aller Beziehungen tendenziell zur „Gattenfamilie" (E. Dürkheim). Dieser Begriff zeigt die geschichtliche Wendung von der traditionellen Integration der Ehe in die normativ maßgebliche Familie zu einer emanzipatorischen Selbständigkeit an, die dem Grundsatz nach auf der Entscheidung und Vereinbarung freier Individuen beruht. Die Tatsache, daß die neuzeitliche Autonomie des Menschen, der sich im —»Bürgertum in der Unterscheidung von Haus und Gesellschaft von seinen (jetzt erst so zu nennenden) Rollen in den Berufs- und Naturständen zu distanzieren vermag, antizipiert werden kann, gleichwohl aber kontrafaktisch eingerichtet werden muß, bildet die Ausgangslage der neuzeitlichen Ehetheorien. 2. Die Ehemodelle der Aufklärung,
Romantik
und
Restauration
2. 1. Den Geist der —»Aufklärung atmen schon, in manchen Zügen auf —»Erasmus und —»Bucer zurückweisend, die Ehelehren der protestantischen Naturrechtstheoretiker des
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17. Jh., H. —»Grotius, S. —»Pufendorf, am weitesten und wirksamsten C. —»Thomasius. Das natürlich erkennbare und allgemein zu begründende Wesen der Ehe wird mit zunehmender Konsequenz im Vertrag gesehen. Das konnte zwar an die traditionellen kirchlichen Auffassungen vom Vertragscharakter der Ehe anknüpfen, wie auch die herkömmlichen Ehezwecke der Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft, gegenseitigen Unterstützung und geordneten Befriedigung des Geschlechtstriebs bestehen blieben. Beides wurde jedoch auf ein rein weltliches, rational-zweckhaftes Leitbild bezogen; nach dem Ehemodell des aufgeklärten Naturrechts beginnt die Ehe nicht nur mit einem Vertrag, sondern ist Vertrag, d. h. ein Gesellschaftsvertrag mit personalen Besonderheiten. Sie unterliegt daher dem Vertragsund Gesellschaftsrecht; die Ehezwecke bestimmen sich infolgedessen aus sozialen und humanitären Nützlichkeitsgesichtspunkten. Das Bestreben, in möglichst elementaren Grundsätzen die bisher herrschenden „Vorurteile" zu vermeiden, führte zu einer Minimalisierung der zwingenden Normen des —»Naturrechts (D.Schwab), was die Ermessensfreiheit der staatlichen Ehegesetzgebung nahezu unbelrenzt und das Staatswohl zum alleinigen Kriterium werden lassen konnte. Die neue Ehelehre, die nach Thomasius das Recht an der natürlichen, mit dem lumen rationis erkennbaren Beschaffenheit der ehelichen Gemeinschaft orientiert und die aktuelle Geltung eines ins divinum positivum verneint, fand bei den protestantischen Juristen des 18. Jh. keine große Anhängerschaft; sogar noch J. S. Stryk, auch V. E. —»Löscher verteidigten demgegenüber den Rechtscharakter der Gebote Christi. Nicht zuletzt hingegen unter dem Einfluß des Kirchenrechtlers J. H. Böhmer, der sich die zivile Kontrakttheorie zueigen machte, setzte sich die Lehre von der Loslösung des Rechts von den Aussagen der Theologie unaufhaltsam durch. Die praktische Folge besteht vor allem in einer Vermehrung der Scheidungsgründe. Die klassischen Schriftgründe nach protestantischer Auffassung waren Ehebruch (noQveia,fornicatio nach der Ausnahmeregel in Mt 19,9) und böswilliges Verlassen (desertio malitiosa; teils unter die Mt-Klausel subsumiert, teils aus I Kor 7,10—16 hergeleitet). Man faßte aber von Anfang an den Begriff dieser beiden Gründe weit genug, um darunter alles erfassen zu können, was das Wesen der Ehe als sittliches Verhältnis zerstörte (Eiert, Morphologie II, 108). Während —»Luther und z. B. —»Bugenhagen dabei mehr intuitiv urteilten, hielten sich —»Melanchthon, —»Brenz und ihre Schulen an das römische (kaiserliche) Zivilrecht und nahmen dementsprechend etwa die Lebensnachstellungen als zusätzliche, selbständige Scheidungsgründe auf, während andere, vor allem die Wittenberger Juristen, auf das kanonische Recht zurückgriffen (s.o. Abschn. VII. 2—3). Die gerichtliche Ehescheidung hatte jedenfalls nur deklaratorischen Charakter, sie stellt die faktische Zerrüttung fest. Die Tendenz ging dahin, die beiden Hauptgründe nur als Beispiele (so z. B. —»Zwingli, s. Abschn. VII. 2.4) anzusehen. So konnten neben der Lebensnachstellung Mißhandlung, Verhinderung der Zeugung, auch Feindschaft zwischen den Ehegatten, schließlich auch nichtschuldhafte Gründe wie Wahnsinn und bestimmte andere Krankheiten anerkannt werden. Die Säkularisierung der Ehegerichtsbarkeit vermehrt diesen Katalog noch um weitere Scheidungsgründe, wie im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 unter bestimmten Voraussetzungen die gegenseitige Einwilligung bei kinderloser Ehe und auch einen einseitigen Widerwillen. Dahinter standen soziale Zweckmäßigkeitserwägungen (im Kontext einer absolutistischen Bevölkerungspolitik z. B. bei Friedrich II. von Preußen), vom Ansatz her aber vor allem der Übergang vom traditionellen, statusbestimmten Charakter der Ehe (als pactum supra partes) zum Prinzip der vertraglichen Dispositionsfreiheit der Individuen. Das geht also über die quantitative Vermehrung von Scheidungsgründen hinaus und verweist auf die grundlegende Theorie zurück. Die Institution der Ehe wird von den Naturrechtlern der Aufklärung relativiert. Konsequent heißt das nach K. L. Pörschke (1795), die Ehe sei ein Vertrag zweier Personen beiderlei Geschlechts, um zusammen in der engsten Verbindung zu leben. Der Zweck bei der Ehe müsse der „Willkür" eines jeden überlassen werden, jeder dürfe bei seiner Heirat Bedingungen eingehen, welche er wolle, er dürfe die Ehe auch so lange, wie er wolle, schließen und sie mit Einwilligung des anderen Teiles auch vor der Zeit aufheben. Und nur durch Verabre-
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düngen und Einwilligungen erlange ein Teil die Herrschaft über den anderen (Schwab 281). Das hebt den seit John Locke geläufigen Gedanken nicht auf, daß nur aus der Bedürftigkeit der Kinder eine Verpflichtung zur ehelichen Verbindung abgeleitet werden könne (so auch —•Montesquieu), während —»Rousseau auch dies bereits bestritt. Der springende Punkt ist die eigentümliche Verschränkung von individuellen Ehegründen und sozialen Zweckmäßigkeitserwägungen in der Aufklärung; sie erscheint im Sinnhorizont des Interesses an Selbstverwirklichung, größtmöglichem Wohl und Nutzen im Ganzen (vgl. auch J . Bentham) und durch dessen praktische und politische Organisatitn. In diesem Kontext kann trotz der theoretisch erklärten Autonomie der Individuen, die auch rechtserheblich emanzipatorische Auswirkungen zugunsten der Frau und der Kinder gegenüber dem Inhaber der familiären Gewalt hatte, doch eben diese Gewalt, sei es des Familien- oder Landesvaters, praktisch gerechtfertigt werden. Der vermittelnde Gedanke besteht in der Idee der freiwilligen Unterwerfung der leitungsbedürftigen, bürgerlich unselbständigen Personen aus Gründen der Zweckmäßigkeit und insofern Vernunft. Es bleibt aber festzuhalten, daß die patriarchalische Machtstruktur durch die Unterstellung der Menschenwürde und —»Menschenrechte eines jeden Mitglieds der Gesellschaft und den Zweck der stellvertretenden Gewaltausübung grundsätzlich begrenzt wird. Das ist mehr als nur eine moralische Begrenzung der Autorität wie bisher. 1. —>Kant hat diese Intention der Aufklärung vollendet und überboten, indem er den Ehevertrag als ein moralisches Institut interpretiert. Seine Definition in der Metaphysik der Sitten (§24 f), Ehe sei die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften, wurde von O. Spengler (zustimmend zitiert bei Eiert, Morphologie II, 114) eine „unflätige Definition der Ehe" genannt. Das läßt jedoch den Zusammenhang außer acht. Zwar bestimmt Kant dort die Ehe als sachenrechtlichen Erwerb, der der Sexualität des anderen gilt. Dieser Erwerb wird aber dadurch problematisch, daß sich ein Mensch durch den Akt des Geschlechtsgenusses, zu dem er sich dem anderen hingibt, selbst zur Sache macht, „welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet". Dies ist daher nur unter der einen Bedingung möglich, „daß, in dem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her". Der Ehevertrag ist infolgedessen für Kant „kein beliebiger, sondern durch Gesetz der Menschheit", d.h. Rechtsgesetze der reinen Vernunft notwendiger Vertrag. Trotz der Mängel des Ausgangspunktes, nämlich des Verständnisses der Sexualität als objektgerichtetem Naturtrieb im Modus des Habens und nach dem Modell der ökonomisch, von den Familien arrangierten Ehen, wird die Ehe durch das Prinzip der Gegenseitigkeit und des gleichen sexuellen Rechtes der Ehepartner auf die moralische Ebene der Freiheit gehoben. Die Institution der Ehe bewahrt grundlegend die menschliche Person vor Willkür und Verdinglichung; sie hat ihren Zweck in sich selbst, Wille und Leistung der Ehegatten, nicht gesellschaftliche oder politische Finalität, sind für sie letztlich bestimmend. Auch nach —»Fichte ist die Ehe ihr eigener Zweck. Hier sind aber schon Gedankengänge wirksam, die unter dem Stichwort Romantik besser zu beschreiben sind. 2. 2. Das Ehemodell der —»Romantik hat ein frühes Gegenstück in der TroubadourDichtung, die seit dem 11. Jh. einen neuen Liebesbegriff verbreitet, ein Gegenstück nicht zuletzt zur wesentlich literarischen Attitüde des Protestes gegen die in Kirche und Gesellschaft normativ vorherrschende Eheinstitution. Die Kultivierung der Liebe und Verehrung der Frau (Dame) in der höfischen Umwelt ist das Vorspiel einer emotionalen Revolution; die Erwartung, die sich als ein neuer Maßstab an das Liebesverhältnis knüpft, ist eine „Erwartung auf Lebenserfüllung" (Logstrup). Tatsächlich blieb die Innenseite der ehelichen Liebe bis zur Reformation nahezu unberücksichtigt; die Betonung des Motivs der Gattenliebe bei —»Albert dem Großen ist die Ausnahme von der Regel. Erst Luthers Absage an die sakramentale Verrechtlichung der Ehe eröffnet prinzipiell eine neue Beachtung ihrer emotionalen Gehalte. Es blieb aber auch in der Folge dabei, daß die persönliche Zuneigung nicht konsti-
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turiv für das Wesen der Ehe sein und der Begriff der ehelichen Liebe vornehmlich nur als die „Summe häuslicher Verhaltensvorschriften" (Schwab) bestimmt werden konnte. Neue, personalistische Ansätze zeigen sich z. B. bei J. —»Milton. Die englische Literatur des beginnenden 18. Jh. akzentuiert dann stark das Gemüthafte in der Ehe, und seit der zweiten Jahrhunderthälfte werden bereits „Gemütsverbindung" und „Freundschaft" als Grund und Zweck der Ehe herausgestellt. Thematisch wird das Gefühl als Medium der psychischen Vereinigung indessen im —»-Pietismus, vor allem als Problem einer Gefühlskonkurrenz zwischen sinnlicher Lust und der Gemütskraft der Jesusliebe. Bei —»Zinzendorf führt das zur Theorie einer sakramentalen Repräsentanz der Vereinigung Christi mit der Gemeinde in der ehelichen Gemeinschaft („Prokuratorehe"). Erst für die Romantik hingegen bestanden realistische gesellschaftliche Voraussetzungen für eine liberale Neuordnung der Geschlechterbeziehung im gebildeten —»Bürgertum. Sie treibt die Tendenz zur Privatisierung der Ehe weiter; der Verstandesehe wird die Liebesehe entgegengesetzt. Die Verehrung der Frau als geistig-sinnlicher Person in der Ganzheit von Leib und Seele fördert das Verständnis für eine partnerschaftliche Konzeption, in der sich die moderne „gleichrangige Gefährtenschaft" (Burgess; Wurzbacher) ankündigt. Indem die Romantik die „individuelle Autonomie der Liebeswirklichkeit in den sexuell-erotischen Beziehungen" (Schelsky) wiederentdeckt, stellt sie sich anfänglich als Protest- und Alternativprogramm zur normalen bürgerlichen Ehe dar. So wollte F. Schlegel eine neue Moral stiften. Für ihn ist die Liebe Gott. Das heißt anders, die Liebe ist Ehe, auch ohne Trauschein und bürgerliche (kirchliche) Zeremonien. —»Schleiermacher verteidigte ihn anonym in den Vertraute(n) Briefe(tt) über Friedrich Schlegels Lucinde (1800). Auch er fand, daß fast alle Ehen nur Konkubinate oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe seien (Fragmente, 1798 [Athenäum]). In den Monologen (1800) vertritt er mit romantischem Pathos die Auffassung, daß einzig die auf individueller Wahlanziehung beruhende Ehe eine echte, jede andere daher als bloße Scheinehe auch auflösbar sei. Die bessere, der „kalten Notwendigkeit" enthobene Wirklichkeit wird in der Sehnsucht wie eine Kraft des utopischen Transzendierens nach vorn vorweggenommen. Obwohl die Phantasie noch mit einem zauberhaften Sich-finden der schicksalhaft füreinander bestimmten Gegenbilder spielt, kommt doch deutlich der Grundgedanke zum Ausdruck, daß das „Haus" als freie Tat von innen her entstehen, durch die Liebe von Mann und Frau „aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen" soll (3. Monolog). In den Predigten Über den christlichen Hausstand, besonders Über die Ehe wird das noch klarer. Die Erkenntnis, daß eine Gemeinschaft allein aus dem Eros gefährdet sein müßte, führt zu einem Verständnis der Ehe als Bildungsprozeß. Das gehört bereits auf die sinnliche Seite der Ehe, wo gleiche Lust und gleiches Streben die Gemüter erfüllt, aber das gemeinte tätige Leben zu zweit bedarf der vertiefenden himmlischen Seite. Sie besteht in einer gegenseitigen, religiösen Arbeit aneinander mit der Absicht, daß „jeder sich in den Augen des andern reiner spiegle, um zu sehen, wie er gestaltet ist in Bezug auf die Gemeinschaft Gottes". Gemeint ist, daß die Ehe, die ihren Zweck in sich selbst hat, wie Schleiermacher schon früh gegen den traditionellen Zweck der Zeugung geltend gemacht hatte, gleichwohl einen „würdigen Gegenstand" brauche, der dem Aneignungsprozeß einen unendlichen Sinn eröffnet, und das eben geschieht durch —»Beruf und —»Religion. Der romantische Eros wird sozusagen getauft, indem der ästhetisch-hedonistische Aspekt der Liebe in den ethisch-religiösen integriert wird, nämlich als Ehrfurcht vor der Eigentümlichkeit des anderen. 2.3. Das Ehemodell der —* Restauration geht aus dem frühen romantischen und idealistischen Gedankengut in der Weise hervor, daß die Qualität des handelnden Subjektes von den Individuen wieder auf die Ehe bzw. Familie übertragen wird. Bei Schleiermacher manifestiert sich dieser Wandel, indem er seit 1809 (radikal 1818) die Unauflösbarkeit der Ehe vertritt. Nach der Christlichen Sitte kann die Kirche die Ehescheidung niemals als zulässig ansehen. Obwohl sie die Wiedertrauung Geschiedener nicht verweigern kann, weil sie anerkennen muß, was der Staat unter bürgerlichen Gesichtspunkten tut, soll das Scheidungs-
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recht doch möglichst begrenzt werden. Auch Kinderlosigkeit soll kein gesetzlicher Scheidungsgrund sein. Und obwohl mit Rücksicht auf den noch mangelhaften Stand der sittlichen Bildung nicht durchsetzbar, verbietet „das christliche Ideal der Ehe" eigentlich sogar eine zweite Ehe nach dem Tode des Ehepartners (Deuterogamie), weil beide Teile „sich auf ganz eigentümliche Weise und unauflöslich aneinander gebunden fühlen". (352). Die Gleichsetzung von Liebesempfindung und Ehe, ein Gedanke also des Ehebundes im Unterschied vom rationalistischen Ehevertrag, wird hier zur Idee der Verschmelzung zweier Personen übersteigert, das Wahrheitsmoment des biographischen Prozesses der Vereinigung und des Grundes für eine dauernde Bindung als notwendiges Korrektiv des Aufklärungsmodells wird in ein Organismusschema eingebracht, das die subjektive Verfügungsfreiheit aufhebt. Das wird allerdings noch von einem anderen Wahrheitsmoment gestützt; von —*Hegel belehrt, bezieht auch Schleiermacher die labile personale Beziehung wieder stärker in die institutionelle Ordnung ein. Die romantische Glücksgemeinschaft erwies sich als ein elitäres Ideal gebildeter Kreise, während alsbald die in dieser Zeit aufkommende Geschlechterpsychologie der typischen —»Frau wieder eine niedrigere Naturstufe anwies. Der Schutz der Frau als des schwächeren Teils erforderte tatsächlich den institutionellen Schutz vor einer Unmittelbarkeit, die praktisch auf einen Zwang zur Anpassung hinauslief, den der Mann über die Frau im Namen des Harmonieideals ausüben konnte. Diese geschichtlich bedingte Notwendigkeit wurde jedoch zum Motiv für eine Restauration der —»Familie. Der Begriff der Institution als Organismus legt das nahe. Die Christliche Sitte behandelt die Ehe denn auch als Mittelpunkt der Familie und des christlichen Hauswesens und versteht sie fast ausschließlich von der Erzeugung und Erziehung her. Deren Untrennbarkeit macht den kulturteleologischen Begriff der Ehe als Monogamie aus, ein Begriff, den die philosophische Ethik Schleiermachers bereits dem Wesen der Ehe selbst als Einswerden des Bewußtseins und Lebens zweier Personen entnimmt, der aber erst durch das Christentum seine wahre Begründung erhält; hinzu kommt der Gedanke, daß Polygamie die Unterordnung des weiblichen unter das männliche Geschlecht voraussetzen würde, was Schleiermacher auch mit neutestamentlichen Gründen für unvertretbar erachtet hat. Die starke Betonung der Pflicht zur Fortpflanzung hat auch zur Folge, daß ein prinzipieller Entschluß zur Ehelosigkeit als unsittlich gilt; dies zeigt eine fragwürdige gemeinprotestantische Tendenz zur uneingeschränkten Eheverpflichtung an. Das Naturrecht —>Fichtes (1796) weist eine vergleichbare Ambivalenz der Begriffe und Intentionen auf. Ihm zufolge ist Ehe ein geistig-erotisches Verhältnis, in welchem jeder Teil, der Mann durch Großmut, die Frau durch Liebe, seine Persönlichkeit dem anderen völlig hingibt. Dieses Verhältnis ist primär sittlich, die Ehe ist wegen ihrer vorstaatlichen Natur unabhängig von jeder Rechtsordnung. Das Recht hat nur zu prüfen, ob sie freiwillig geschlossen wurde; die Ehegatten sind aber auch frei, ihre Ehe wieder zu scheiden. Sie ist kein Vertrag, sondern ein moralisches Verhältnis. Die Frau gewinnt es allerdings, als freies, tätiges, nur durch die Leistung der Liebe, mit der sie, die von Natur Passive, sich dem Mann hingibt und so ihr eigenes, natürliches Bedürfnis erfüllt. Die Eheleute sind in der Ehe ein individuelles Ganzes, das der Mann beherrscht und repräsentiert. Er ist auch Eigentümer der Güter der Frau, und diese hat, weil die Gatten eins sind, während bestehender Ehe keinen Rechtsschutz. Diese Konsequenz mußte es nahelegen, den Schutzcharakter der Institution wieder herauszuarbeiten. Das geschieht durch die umkehrende Deutung, daß die Ehe als eine Person (so auch Hegel) ein eigenes, substantielles Ganzes sei. So verstanden, ist sie den Individuen übergeordnet und ihrer Verfügung entzogen; Liebe ist dann die sittlich verpflichtende Teilhabe an dem staatlich garantierten Stand der Ehe. Hegel bringt so die Motive von Aufklärung und Romantik zu einer Synthese. Auch für ihn ist die Ehe wesentlich ein sittliches Verhältnis. Sie darf weder als ein bloß physisches Geschlechtsverhältnis noch bloß — wie auch noch bei Kant—als ein bürgerlicher Kontrakt begriffen werden. Es ist aber drittens auch die Vorstellung zu verwerfen, „welche die Ehe nur in die Liebe setzt, denn die Liebe, welche Empfindung ist, läßt die Zufälligkeit in jeder Rücksicht zu, eine Gestalt, welche das Sittliche
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nicht haben darf. Die Ehe ist daher näher so zu bestimmen, daß sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet" (§ 161, Zusatz). 3. Die Neuansätze der christlichen Ethik im 20. Jh. Die einflußreichen spätidealistischen und rechtshistorischen (F.Savigny) Begründungen der Ehe mit dem objektiven Gang der Geistesgeschichte konnten eine weitergehende Relativierung ihrer Institution nicht aufhalten. Das geschichtliche Denken mußte sie vielmehr rechtfertigungsbedürftig machen; die „Krise" der Ehe bedeutet seitdem eine Herausforderung, die zu unterschiedlichen philosophischen und theologischen Antwortversuchen führt. Sie haben gleichwohl einen gemeinsamen Bezugspunkt in der Anthropologie (—»Mensch). Dabei dienen die romantischen Ansätze der Geschlechterpsychologie zur Bestätigung der bürgerlichen, patriarchalischen Ordnung. Typisch ist hierfür die Vorstellung, daß dem Mann eine „höhere Macht der Persönlichkeit" über die materielle Natur eigne. Wegen dieser „natürlichen Superiorität des sittlichen Geschlechtscharakters des Mannes über den des Weibes" sei „die Ehe für die sittliche Entwicklung des Weibes in ganz eigentümlicher Weise Bedürfnis", liegt doch gerade in dem dadurch gesetzten „durchgreifenden Abhängigkeitsverhältnisse des Weibes... für dasselbe seine Emanzipation von der Sinnlichkeit (Materialität) und somit die Bedingung seiner wahren Freiheit und seiner glücklichen sittlichen Entwicklung überhaupt", schreibt R. —»Rothe (§§ 303f), der im übrigen modern die Geschlechtsgemeinschaft als personale Integration beschreibt. Sie habe „zur Bedingung ihrer Normalität die ausdrückliche Gewährleistung der absoluten Gegenseitigkeit der in ihr stattfindenden Mitteilung, d. h. der Mitteilung des Geschlechtseigentums, und zwar im weitesten Sinne dieses Wortes, des psychischen ebensowohl als des somatischen, des persönlichen ebensowohl als des organischen, des geistigen ebensowohl als des sinnlichen. Auf der Grundlage einer solchen Garantie geschlossen ist die Geschlechtsverbindung die Ehe" (§ 297). Indessen bedingt der Gedanke der hierarchischen Ordnung der Geschlechtsgemeinschaft typischerweise eine Dualität von Geist und Natur, die auch nur eine hierarchische Integration der —»Sexualität in der Ehe, als der von Gott geordneten Befriedigung des Geschlechtstriebs, in die Geistesgemeinschaft im Kontext ihrer wesensmäßigen Bestimmung, ein religiöses Verhältnis zu sein, zuläßt (Rothe § 310; Harleß § 52). Darauf gründet sich die Ablehnung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe. „Die Ehe unterscheidet sich dadurch vom Konkubinat, daß es bei diesem letzteren hauptsächlich auf die Befriedigung des Naturtriebes ankommt, während dieser bei der Ehe zurückgedrängt ist" (Hegel § 163, Zusatz). Infolgedessen kann trotz rühmender Sätze über „die herrliche Gabe des Geschlechtstriebs" (Herrmann 152), dieser doch nur als Mittel zum Zweck der geistigen Gemeinschaft in der Ehe und Anlaß ihn sittlich zu „verwerten" und „im Kampf mit dem selbstischen Trieb, den die Lust in uns erweckt" (Schlatter 341) zu überwinden, gewürdigt werden. Die Relativierung der Ehe durch geschichtliches Denken geht über Aufklärung und Romantik darin hinaus, daß die Frage nicht nur lautet, wie („wahre") Ehe gestaltet, sondern ob sie überhaupt sein müsse. Die heute überholten, aber über F. Engels für den Marxismus (—»Marx/Marxismus) bedeutsam gewordenen Theorien von J. J. Bachofen und L.H. Morgan ordneten die Monogamie der patriarchalischen Herrschaftsform und -epoche zu. Daran ist jedenfalls richtig, daß die Ehe als Rechtsinstitution historische und soziale Gründe in der Garantie von Eigentumsverhältnissen hat (R.König). Die sozialistische Kritik wendet sich infolgedessen gegen die patriarchalische Monogamie und erwartet von veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine Uberwindung und Überbietung der Eheinstitution im Modus des Habens (Fromm) durch freie, aber gleichwohl dauerhafte Beziehungen zwischen Menschen gleichen Ranges und gleicher Rechte. Die neomarxistisch-humanistische Gesellschaftskritik bei M. Horkheimer, E. Fromm, H. Marcuse u.a. verbindet rationalistische Motive der harmonischen Selbstverwirklichung im Streben nach Glück mit psychoanalytischen Elementen, die sich ursprünglich S. —*Freud verdanken. Auf diesen beziehen sich aber
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auch naturalistisch-biologistische Theorien, die ebenfalls in der Ehe eine bürgerliche Gestalt der Repression des Sexualtriebs sehen. In beiden Fällen zeigt sich wieder, wie eng und ursächlich miteinander verknüpft die Auffassungen von einer selbstbezogenen Sexualität und der Herabsetzung der —»Frau zum männlichen Sexualobjekt sind — eine Kritik, die betont vom neuen Feminismus vorgebracht wird. Die Theologie hat in der Linie der personalistischen Philosophie besonders M. —»Bubers und der psychosomatischen Lehre von der Ganzheit des Menschen (V. v. Weizsäcker u. a.) versucht, die idealistische Unterbewertung wie die naturalistische Uberbewertung der Sexualität zu überwinden. Einflußreich wurden seit den dreißiger Jahren Anthropologien der Geschlechter wie die von Th. Bovet, O. Piper, H. Schreiner u.a. auf evangelischer, H. Doms, E. Michel auf katholischer Seite. Hier wirken deutlich romantische Vorstellungen von der Ehe als sakramentalem Organismus weiter. Auch die patriarchalischen Stereotypen bleiben bestehen; der Mann ist nach Bovet, der zustimmend die Enzyklika —» Pius' XI. Casti connubii (1930) zitiert, das Haupt, die Frau das Herz in der „Eheperson" (1,29). Das zeigt die Absicht an, das individualistische Streben nach Gleichberechtigung (mit vermeintlich kollektivistischer Tendenz zur Gleichheit) in eine gleichwertige Personalität der „Leibesgemeinschaft" und Gefährtenschaft in gegenseitiger Verantwortung aufzuheben (Michel 40ff). Die Grundzüge dieser Ehelehre werden auch als Proprium der biblischen Anthropologie wiederentdeckt und erfahren auf diese Weise in Gottes Gebot und der Gottes- bzw. Christusehe, d.h. der Gnadengabe des Bundes, Begründung und Sinnerfüllung (Piper 190-195). Die Güter der Ehe sind nach Piper (199): Gemeinschaft gegenseitigen Dienstes in Verantwortung und Hingabe, Achtung vor dem Personwert des anderen, Sicherheit, Nachkommenschaft und Heiligung der Leiblichkeit. Diese anthropologischen Ansätze werden von den theologischen Theorien, die sich prinzipiell vom —»Kulturprotestantismus abwenden, integriert. Der Begriff der Person behält dabei eine Schlüsselstellung; er bezeichnet nämlich die Abkehr vom autonomistischen Interesse an einer Selbstverwirklichung, das die Ehe zum Gesetz im theologischen Sinne des Wortes macht. Dem Ideal der Ehe als Gestalt des gemeinschaftlichen Strebens nach sittlicher Vollkommenheit (und auf diese Weise ein Gegenstück zum katholischen Sakramentalismus) wird aufgrund des Rechtfertigungsglaubens ein phänomenologischer Realismus entgegengesetzt. Mit Berufung auf Luthers Ehelehre (s. o. Abschn. VII. 2) und Bezug auf eine Theorie von der Ehe als „Institut der Schöpfungsordnung" wie schon bei F. Frank, ausgeprägter bei Th. Haering und R. —»Seeberg, wird die Ehe nach P. —»Althaus, E. —»Brunner, W. —»Eiert, H. Thielicke u.a. als eine solche Ordnung vorgestellt, die Personen gleicher Würde, aber verschiedener Funktion in exemplarischer Ergänzungsbedürftigkeit und gegenseitiger Angewiesenheit miteinander verbindet. Die Ordnungstheologie will damit auch ein realistisches Urteil über die Macht und die in Schuld und Tragik verstrickenden Probleme des „individuellen Eros" (Thielicke) fördern. Vor allem aber beansprucht sie, aus theologischer Sicht überhaupt erst eine Begründung der Ehe aufgrund der in ihr erscheinenden natürlichen Existenzstruktur zu geben. Die Ordnungstheologie versucht mit unterschiedlichen Begründungen im einzelnen den Statuscharakter der Ehe zu behaupten. Nach W. Eiert ist sie „Ordnung als Seinsgefüge, Ordnung wegen der wechselseitigen Zuordnung, wobei Mann und Weib ihre Plätze nicht vertauschen können; Stand, weil sie den faktisch gegebenen Ort bezeichnet, auf dem ehelich zu handeln ist" (Ethos 126). E. Brunner zufolge gründet die Monogamie in der biologisch vorgegebenen, in personaler Verantwortung gelebten Tatsache der menschlichen Existenzstruktur als unauflöslicher Dreiheit von Mann, Weib und Kind (330ff). Für H. Thielicke wird sie dagegen durch das Eingehen des Mannes im Modus der Agape auf das Motiv zur Monogamie oder die Entelechie in der weiblichen Geschlechtsnatur konstituiert. Stärker als beim Mann ist bei dieser das Physische und das Personhafte integriert und drängt auf die Einzigkeit der Partnerschaft. „Nicht Einzigkeit begründet Ehe, sondern Ehe begründet Einzigkeit", hält Thielicke der bloßen Eros-Begründung entgegen; somit ergibt sich „unter dem Evangelium ein Gefälle auf Monogamie hin" (578. 58 l f ) .
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Die Lehrentwicklung läßt eine zunehmende Flexibilität des Ordnungsschemas erkennen. In Form der seit den fünfziger Jahren sehr einflußreichen sog. theologischen Institutionentheorie, angeregt durch eherechtliche Arbeiten der Familienrechtskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland aufgrund vorausgehender Initiativen von F.K. —»Schumann (Christophorus-Stift in Hemer) und maßgeblich mitausgearbeitet von dem Kirchenrechtler H. Dombois, wurde der Versuch gemacht, die Ordnungstheologie wie den personalistischen Aktualismus zu überwinden. Ehe wurde als strukturelle Einheit von göttlicher Stiftung und freier Annahme durch den Menschen verstanden. Das ermöglichte es, den sozialen Wandel vom Patriarchat zur Partnerschaft zu berücksichtigen (so besonders H. Begemann), ohne den transpersonalen Statusgedanken und damit die Unverfügbarkeit der Eheinstitution für die einzelnen aufzugeben. In ähnlichem Sinn ist die Ehe für W. Trillhaas eine Rechtsordnung und nicht nur ein Vertragsverhältnis; das christliche Leitbild von der Ehe sieht ihr Wesen jenseits von Patriarchalismus und Gleichberechtigung darin, daß die „unabtauschbaren natürlichen Konstitutionen von Mann und Frau" keine patriarchalischen Vorrechte, sondern Pflichten begründen (315-324). Gegenüber der Ordnungstheologie hat K. -+Barth mit ebenfalls weitreichendem Einfluß den Begriff der personalen Beziehung in die christologisch-trinitarische Kategorie des Bundes integriert. Der Vorrang des Evangeliums vor dem Gesetz (—»Gesetz und Evangelium) ermöglichte hier der theologischen Ethik einen noch breiteren Spielraum für die Entdeckung und Erprobung nicht von vornherein festlegbarer menschlicher Seinsweisen. Dabei ist Menschlichkeit konstitutiv Mitmenschlichkeit und die Beziehung von Mann und Frau aufgrund ihrer strukurellen und funktionellen Unterschiedenheit für diese exemplarisch. Der ursprünglich romantische Grundgedanke der Polarität und Komplementarität der Geschlechter (auch: L. —»Feuerbach) bedingt aufgrund biblischer Prägung zum Dienstverhältnis ein Verständnis der Ehe als offener, nur noch einen formalen Vorrang des Mannes behauptender Totalität der Geschlechtsgemeinschaft in leib-seelischer Ganzheit und exklusiver Dauer. Zurückgewiesen wird gegen P. Althaus die „Lehre von einer aufgrund einer angeblichen Schöpfungsordnung allgemein pflichtmäßigen Gebotenheit der Ehe"; Ehe aber ist als völlige Lebensgemeinschaft wesensmäßig Einehe. Allerdings: „Die Gewohnheit und das Gesetz, die die Einehe fordern, können ihre Autorität und Kraft nur von daher haben, daß diese von ganz anderer Instanz her gefordert ist. Sie ist ethisch, nämlich theologisch-ethisch, sie ist durch Gottes Gebot gefordert" (156.218). P. L. Lehmann hat den Gedanken Barths, daß es der Grundschaden der christlichen Ehelehre gewesen sei, „den Begriff der Ehe sofort und sehr einseitig mit dem ihrer bürgerlichen und kirchlichen Gestalt, mit dem Institut der Heirat", zu identifizieren (208), zu dem Begründungssatz weitergeführt, nicht die Ehe legitimiere den Geschlechtsakt, sondern dieser legitimiere die Ehe. Genauer meint legitimieren vollenden, und zwar nicht nur in dem physischen Sinn des materialen Ehevollzugs, der nach gemeinkirchlicher Auffassung immer den formalen Kontrakt zu verwirklichen hatte, sondern im Sinne der ganzheitlichen „Gemeinschaft des Leibes" nach E. Michel. Diese Auffassung schließt ein, daß es der Entscheidung von Mann und Frau im freien Gehorsam vor Gott überlassen bleibt, wann sie unter Bedingungen des Vertrauens und der Erfüllung den Geschlechtsakt vollziehen, ob in der Ehe oder auf dem Wege zur Ehe hin (129f). Diese Loslösung des Geschlechtsakts vom Kriterium der Ehe bezeichnet einen Neuansatz, der sich im Zusammenhang der Situationsethik (auch z. B. bei J. A. T. Robinson, J. Fletcher) gegenüber der Tradition eröffnet; auch nach K. Logstrup sind die normativen, institutionskritischen Folgen, die der Wandel des Liebesverständnisses hat, zu berücksichtigen. Allgemein sieht sich die neuere Ethik vor der Aufgabe, den epochalen Überzeugungswandel zu beachten und die sog. „neue Moral", d. h. die erstrebenswerte Möglichkeit sexuellen Glücks wie die selbständige Verfügung sozial gleichmäßig berechtigter und gesicherter Personen über Form und Inhalt ihrer Verbindung in eine christliche Anthropologie zu integrieren. Nach dem II. —»Vatikanum wird dieses Bemühen auch von der katholischen Ethik geteilt. Gegenüber den traditionellen Definitionen der Ehezwecke (s. can. 1013,1 f CIC) und
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der biologistischen Teleologie des spätscholastischen Naturrechts werden die personalen Werte und das partnerschaftliche Leitbild der Ehe, die gegenseitige Liebe der Gatten als normierendes und sinngebendes Element, betont; und über den christologischen Gedanken des Bundes vermittelt, erscheint auch eine ökumenische Verständigung über den Begriff des Ehesakraments als möglich. Der vertiefte Sinn der Ehe zeigt sich nach F. Böckle da, wo die eheliche Treuebindung als ein spezifischer, in eins menschlicher und religiöser Akt der Selbsttranszendenz in Freiheit verstanden werden kann. Das verweist auf eine transzendentale Anthropologie, die die relationale, geschöpfliche Freiheit in einer (nach Schleiermachers Begriff) „schlechthinnigen Abhängigkeit" von Gott gründet. Die neuzeitliche Idee der —»Autonomie wird dadurch relativiert, bleibt jedoch auf diese Weise konstitutiv für die Ehe. Das berechtigte restaurative Interesse an der transsubjektiven Institution kann, wie Böckle es nahelegt, fundamentalanthropologisch zurecht-, so aber auch zurück zur Aufklärung gebracht werden, indem die eheliche Bindung als Verfügungsakt des Menschen über sich selbst begriffen wird. In dieser Sicht erscheinen Vernunft und Liebe als korrelative Kriterien einer selbstverantwortlichen Gestaltung der Geschlechtsgemeinschaft, der Planung und „Führung" der Ehe. Dabei ist die Sorge um den anderen das Korrektiv der christlichen Liebe, die eine unbedingte Hinwendung zum wirklichen, nicht nur gewünschten Selbst des anderen ordnet. Solche personale Ordnung wird durch das Rechtsinstitut der Ehe geschützt. Alternativen zu den Kultur- und Ree tsformen der Ehe im Christentum sind jedoch nicht als unsittlich und ungerecht auszuschließen; Ethik wird hier zur Beratung und Begleitung. Die Tendenz zur Privatisierung der Ehe hat vom napoleonischen Code Civil (1804), der die neuzeitliche Scheidungsmöglichkeit zum Allgemeingut der europäischen Rechtsordnungen werden ließ, über das Bürgerliche Gesetzbuch (1900), das neben den Verschuldensgründen auch den objektiven Scheidungsgrund der Zerrüttung übernahm, zum weitgehenden Rückzug des Rechts aus dem Bereich der moralischen Urteilsbildung geführt; die Eherechtsreform in der Bundesrepublik (1977) stellte wesentlich nurmehr auf den Tatbestand der Zerrüttung ab. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben in den fünfziger Jahren noch einmal versucht, durch kirchliche Lebensordnungen mit mehr oder minder rigorosen Folgen für die Wiedertrauung Geschiedener den Grundsatz zur Geltung zu bringen, daß die Ehe eine unverfügbare und unauflösbare göttliche Ordnung sei. Dagegen hat die Denkschrift der EKD zur Reform des Ehescheidungsrechts (1969; —•Denkschriften), wenngleich im Tenor der theologischen Institutionentheorie gehalten, das Rechtsprinzip der Zerrüttung grundsätzlich anerkannt. Die Denkschrift zu Fragen der Sexualethik (1971) eröffnet bereits ein neues, bald auch von katholischen Synoden und Theologen angestrebtes Verständnis für die Ehe als eine menschliche Ordnung, die Vertrag und Bund zugleich ist. Das geschieht, indem Ernst und Dauer der Ehe letztlich damit begründet werden, daß die leiblich-seelische Einheit von Mann und Frau „zu einem Stück unverlierbarer Lebensgeschichte der beiden Ehepartner wird" (III, 20). Literatur D. Sherwin Bailey, The Man-Woman Relation in Christian Thought, London 1959; dt.: Mann u. Frau im christl. Denken, Stuttgart 1959. - Gyula Barczay, Revolution der Moral?, Zürich/Stuttgart 1967. - Karl Barth, KD III/4,1951. - Helmut Begemann, Strukturwandel der Familie, Witten 2 1966. Franz Böckle, Ehe u. Ehescheidung: Hb. der christl. Ethik, Freiburg/Gütersloh, II 2 1979, 1 1 7 - 1 3 5 . Theodor Bovet, Ehekunde, 2 Bde., Bern 2 1963. - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen, Tübingen 1932 = 1933. - Denkschr. zu Fragen der Sexualethik, hg. v. der Kirchenkanzlei der EKD, Gütersloh 1971. - Albrecht Dieckmann, Art. Eherecht: ESL7 1980, 2 7 0 - 2 9 4 . - Hans Dombois, Kirche u. Eherecht. Stud. u. Abh. 1 9 5 3 - 1 9 7 2 , Stuttgart 1974. - Ehe. Institution im Wandel, hg.v. G. Gaßmann, Hamburg 1979. - Ehe u. Ehescheidung, hg.v. E. Wilkens u.a., Hamburg 1963. - Eheverständnis u. Ehescheidung. Empfehlungen des Interkonfessionellen Arbeitskreises, hg.v. P. Adenauer u.a., Mainz/München 1971. - Werner Eiert, Das christl. Ethos, hg.v. E. Kinder, Hamburg 2 1961. - Ders., Morphologie des Luthertums, München, II 1931 = 1953. - Adolf Harleß, Christi. Ethik, Stuttgart 4 1849. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie Werkausg. VII. Grundlinien der Phil, des Rechts (1821), Frankfurt a . M . 1970. - Thomas Held, Soziologie der ehelichen Machtverhältnisse, Darm-
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Hermann Ringeling IX. Praktisch-Theologisch 1. Die Grundfrage 2. Ehe als Anlaß kirchlichen Handelns 3. „Ehen ohne Trauschein" 4. Ehescheidung als Herausforderung 5. Die Ehe des kirchlichen Amtsträgers (Literatur S. 361)
1. Die Grundfrage —•Praktische Theologie als die wissenschaftlich-kritische Selbstprüfung kirchlicher Praxis auf ihre Sach- und Auftragsgemäßheit sieht in der Institution Ehe einen wichtigen Faktor menschlicher Grundbefindlichkeit. Die Frage der Ehe gehört, gleich hinter der nach der Gesundheit und etwa gleichrangig mit der des Berufes, zu den fast alle Menschen unseres Kulturkreises innerlich und äußerlich beschäftigenden Themen. Das geschieht allerdings unter wechselnden Vorzeichen und auch nicht immer bewußt; aber so gut wie stets ist die Frage der Ehe in das Grundbefinden der Menschen miteinbezogen. Das Kind entstammt entweder einer Ehe und wird also durch deren Gelingen oder Scheitern mitbetroffen, oder es ist nichtehelich geboren und findet sich dadurch erst recht für sein Leben vorprogrammiert. Der heranwachsende Mensch hat das Phänomen Ehe im Blick, ob er nun für sich selbst die Ehe anstrebt, das Scheitern seiner Hoffnungen auf diesem Felde zu verarbeiten hat oder sich bewußt für einen anderen Weg entscheidet. Für den in einer Ehe stehenden Menschen bedeutet ihr Gelingen oder Mißlingen ein maßgebliches Stück seines Erfolges oder Unterliegens im Leben: Hier erlebt er Glück wie Verzweiflung, wird beflügelt zu Erfolg und Leistung oder belastet und gelähmt bis zum vollständigen Scheitern mit der Grenzmöglichkeit eines „Aussteigens" aus der Gesellschaft in Süchtigkeit (—>Süchte/Suchtgefahren), Kriminalität, Obdachlosigkeit, —«Selbstmord. Und der am Ende einsam gewordene Mensch hat im Rückblick auf seine Ehe oder auf die Art und Weise seines Lebens außer der Ehe noch einmal die Grunderfahrung seiner Bewährung und seines Versagens vor der ethischen Forderung durchzuarbeiten. Unsere Gegenwart als eine Zeit gesamtgesellschaftlicher Umbrüche verleiht dieser Grundbefindlichkeit Ehe das besondere Vorzeichen einer zusätzlich belastenden Verunsicherung aller Beteiligten. Zwar besteht vorerst noch weitgehend Einigkeit über die Bedeutung von Ehe als einer rechtlich anerkannten Zweierbeziehung von Menschen verschiedenen Geschlechts zu umfassender Lebensgemeinschaft. Fast alles Übrige aber erscheint heute
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umstritten und angezweifelt. So wird unklar, was Ehe fordert und zu leisten hat, wie Ehe zu führen ist und welche Veränderungen sie für das Leben der Partner mit sich bringt, mit welcher Ausschließlichkeit und Festigkeit Ehe zu leben und wie sie zu beenden ist. Ursächlich für den Verlust dieses gesamtgesellschaftlichen Konsenses sind unter anderem der weitgehende Funktionsverlust der gesellschaftlichen Institution —»Familie, das Jahrhundertthema der —»Emanzipation der—»Frau (—»Frauenbewegung) und die Auswirkungen der—»Industrialisierung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt. Die —»Massenmedien haben diesen Prozeß noch verstärkt. Einerseits wird der Zweifel an Recht und Sinn überkommener Verhaltensweisen durch sie potenziert und der Anpassungsdruck auf jeden verstärkt, der sich propagierten Strömungen nicht schon ihrer Neuheit wegen anschließen möchte. Andererseits wird, gegenläufig zu dem Prozeß der —»Entfremdung der Menschen in der modernen Arbeitswelt, die Bedeutung der —»Sexualität für das Lebensglück des einzelnen immer stärker betont, ja durch elektronisch multiplizierte Schlagermusik fast allgegenwärtig gemacht. So steigern sich die Erwartungshaltungen gegenüber der Institution Ehe wie dem Ehepartner immer weiter hinauf. Diktaturen aller Provenienz greifen in dieser Situation zur Propagierung der ihnen jeweils erwünschten Eheideale; die Rechtsordnungen westlicher Demokratien dagegen scheinen in ihrem Eherecht eher die Grundtendenz der permissiven Gesellschaft widerzuspiegeln. Nicht nur die früheren Einschränkungen der Eheschlußfreiheit werden zunehmend abgebaut und die Rollenaufteilung in der Ehe der freien Entscheidung der Ehegatten anheimgestellt. Auch die Trennung der Ehegatten und Auflösung der Ehe wird schrittweise erleichtert, wobei den Beteiligten ein Eindringen in die hinter ihrem Trennungsentschluß stehenden Beweggründe immer mehr erspart bleibt. Auch das einer Ehe äußerlich ähnliche Zusammenleben von Paaren ohne eheliche Rechtsbindung aneinander wie auch Experimente gruppenweisen Zusammenlebens in Wohngemeinschaften finden zunehmend rechtliche wie gesellschaftliche Tolerierung (s.u. Abschn. 3). Diese verhindert allerdings nicht, daß die schon für die Ehe belastenden Streßfaktoren sich auch hier in Verunsicherung und Destabilisierung auswirken. Kirchliche Arbeit auf diesem Felde hat eine Vergangenheit hinter sich und eine Zukunft vor sich. So wird kirchlicher Ehepredigt Problemvereinfachung vorgeworfen, so werden gesetzliche Eheordnung und Eheseelsorge der Kirche in Vergangenheit und Gegenwart dafür verantwortlich gemacht, daß immer noch menschliche Sexualität als tabubelastet erlebt, daß die Emanzipation der Frau durch religiös festgeschriebene Rollenmuster behindert und daß durch beides ekklesiogene Neurosen bewirkt werden (—»Psychoanalyse/Psychotherapie). Andererseits findet auf diesem Felde kirchliches Engagement, gerade wenn andere gesellschaftliche Großinstitutionen vor einem den Problemen der unmittelbar Betroffenen sich stellenden Hilfsangebot zurückscheuen, oft einen ungeahnten Vorschuß an Vertrauen. Eine der Wirklichkeit sich stellende, von ihrem Auftrag her verantwortete Arbeit kann der Kirche hier sonst verschlossene Türen öffnen. 2. Ehe als Anlaß kirchlichen
Handelns
Als erste Aufgabe der Kirche im Blick auf die Ehen ihrer Glieder tritt die kirchliche —»Trauung in den Blick. Als —»Benediktion wie als Darbietung eines stabilisierenden Ritus anläßlich einer Lebenswende zweier Menschen bieten sich wichtige Aspekte. Im Blick auf die Verbindungen zwischen Eheschluß und Eherecht steht die kirchliche Trauung jedoch in einem weiteren Kontext. Bei den Bemühungen um ein pastoral verantwortbares Verhalten christlicher Kirchen im Blick auf die sogenannten —»Mischehen ihrer Glieder sowie das Bemühen um sogenannte ökumenische Trauungen (—»Ökumene) bieten liturgische Förmlichkeiten die geringsten Probleme. Dem kirchlichen Handeln anläßlich einer Eheschließung geht ja die Abwägung voraus, wie sich die christliche Gemeinschaft zu dieser neuen Ehe stellen soll. Kann sie sie anerkennen, soll sie sich mitfreuen, sie beklagen oder muß sie gar darauf mit besonderen Schritten antworten ? Fragen der Trauversagung, des Trauungsaufschubs als Formen des, mit dem Ausdruck —»Kirchenzucht eher unglücklich bezeichneten, Bemühens
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der Kirche treten hier in den Blick. Zugleich wird aber die Fruchtlosigkeit vieler Versuche deutlich, eine mangelnde christliche Präsenz im Vorfeld der Sexualerziehung und Ehevorbereitung erst bei den um eine Amtshandlung ansuchenden Gliedern nachzuholen. Die ersten Ehejahre bringen häufig den, zeitweisen oder auch endgültigen Abbruch bisheriger Verbindungen der nunmehrigen Ehegatten mit dem gemeindlichen Leben der Kirche. Ursachen sind zunächst die aus Ortswechsel, „Nestbau" und der neuen Lebensgemeinschaft sich ergebenden Belastungen: der Konflikt des Zusammentreffens unterschiedlicher religiöser Familientraditionen wird oft im minimalistischen Sinne gelöst. Um so mehr gilt es, Wendepunkte in der weiteren Geschichte der Ehe und Familie zu Anknüpfungspunkten kirchlicher Arbeit auszunutzen. Die —»Taufe eines Kindes bedeutet, solange volkskirchliche Sitte sie noch den Eltern nahelegt, über das eigentlich Sakramentale hinaus die Möglichkeit, jungen Eheleuten in auf ihre besondere Lage und Interessen hin eingerichteten Gemeindekreisen Hilfen und Gemeinschaft anzubieten. Die mit der Taufe eines Säuglings von der taufenden Gemeinde übernommene Mitverantwortung ruft dazu auf, zu dem getauften Kind auch später im —»Kindergottesdienst, aber auch im Kindergarten oder Hort der Kirchengemeinde Kontakt zu suchen. M i t der Schulpflicht (—»Schulwesen) beginnt nicht nur die Verantwortung der Kirche für den —»Religionsunterricht, sondern erneut eine Möglichkeit von Hilfestellungen für Eltern wie Kinder aus Anlaß der mannigfachen, aus den Schulproblemen zurückstrahlenden Familien- und Erziehungsprobleme (—»Erziehung). Durch die besondere Arbeit mit der —»Jugend auf der Ebene der Kirchengemeinde oder den selbständigen Werken der Jugendarbeit wirkt die Kirche auch auf die zugehörige Familie und Ehe zurück. —»Konfirmation eines Heranwachsenden versteht sich zwar zunächst als Handeln der Gemeinde an und mit dem Konfirmanden; sie bedeutet aber im volkskirchlichen Vollzug zugleich die Begehung eines Wendepunktes der elterlichen Ehe in Richtung auf ihre postfamiliare Phase. Für die infolge gestiegener Lebenserwartung heute häufigeren Ehejubiläen versucht man mit unterschiedlichem Erfolg besondere liturgische Formen zu entwickeln. Und die kirchliche Feier der —»Bestattung eines Ehegatten muß das Schicksal des Zurückbleibenden gerade als eines nun das Ende seiner Ehe Verarbeitenden im Auge behalten. Stets wird so, wenn auch in wechselndem Kontext, Ehe als Anlaß und Ansatz kirchlichen Handelns verstanden und genutzt. Offen bleibt, wieweit dabei über den Versuch zur Bewahrung von Formen vergehender Volkskirchlichkeit hinaus eine Sprache gefunden wird, die auch für einen der Kirche entfremdeten Menschen verständlich und auch unterprivilegierten Schichten der —»Gesellschaft zugänglich bleibt. Schwierigkeiten bei der Führung der Ehe, bei der Partnersuche oder als Folge eines Abbruchs ehelicher Gemeinschaft bedeuten einen Hauptanlaß kirchlicher —»Seelsorge. —»Telefonseelsorge und Lebensmüdenberatung (—»Selbstmord) haben das statistisch belegbar gemacht. Eheberatung erfordert Sachwissen des Seelsorgers über einschlägige Grundtatsachen vom sexualmedizinischen bis hin zum familienrechtlichen Bereich. Aber auch methodisch stellen sich Sonderprobleme, weil Seelsorge hier neben dem Ratsuchenden immi r auch den anderen Ehegatten als „Dritten" entweder gegenwärtig oder doch unmittelbar im Blick hat. Der Seelsorger darf also nicht zum Parteigänger des einen Teils gegen den anderen werden. Übertragungsphänomene aus dem Bereich der —»Tiefenpsychologie, aber auch die teilweise differenzierten Probleme der Wahrung des —»Amtsgeheimnisses fordern Wachsamkeit. Manche, nicht alle Schwierigkeiten gerade in diesem Bereich können sich durch Seelsorge in der Gruppe leichter lösen.
3. „Ehen ohne Trauschein" Besondere pastorale Fragen stellt das, seit Abschaffung der früheren strafrechtlichen Verbote sich zunehmend ausbreitende und gesellschaftlich weitgehend tolerierte, auch schon zum Gegenstand rechtlicher Überlegungen gewordene Zusammenleben unverheirateter Paare. Z u „Ehen ohne Trauschein" kann es aus unterschiedlichen Beweggründen kommen. Z u r Ehe an sich entschlossene Paare leben teilweise deshalb ungetraut zusammen, weil rechtliche Gründe ihrer Eheschließung entgegenstehen: Einer der beiden vermag etwa die
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erforderliche Scheidung seiner vorhergehenden Ehe nicht zu erlangen oder kann (besonders als Ausländer) die eigene Ehefähigkeit dem Standesbeamten nicht vorschriftsmäßig nachweisen. Während der Herrschaft des —»Nationalsozialismus konnten sich politisch und rassisch Verfolgte nur zu freien Ehen zusammenfinden, weil jeder Versuch einer standesamtlichen Trauung nur weitere Verfolgungsmaßnahmen heraufbeschworen hätte; solche Ehen sind später durch Sondergesetze legalisiert worden. Auch wirtschaftliche Gründe halten ehewillige Paare von der Wahrung der Rechtsform ihrer Verbindung ab, wenn etwa dadurch bisher bezogene Sozialleistungen, Renten, Studienförderungen oder Unterhaltsansprüche sich mindern oder verlorengehen. Die solche „Rentenkonkubinate" teilweise motivierenden sozialrechtlichen Vorschriften sind inzwischen meist abgeändert worden. Neben solchen auf dauerndes Zusammenbleiben ausgerichteten Lebensgemeinschaften solcher Paare, die heiraten wollen und nicht können, stehen die heute zunehmenden Beziehungen anderer Paare, die heiraten können und nicht wollen. Besonders jüngere Menschen sehen von der „Legalisierung" ihres Zusammenlebens durch standesamtliche Eheschließung ab, weil sie vor dem Bindungsanspruch der Ehe noch zurückscheuen und ihr Zusammenpassen zunächst in einer für leichter lösbar gehaltenen, als kinderlos geplanten „Probeehe" testen möchten. Jedoch werden die beträchtlichen Schwierigkeiten seelischer wie rechtlicher Art, die mit der Beendigung solcher Beziehungen verbunden sind, leicht übersehen. Für andere drückt die Verweigerung des Ganges zum Standesamt und erst recht einer kirchlichen „Trauung in W e i ß " den allgemeinen Unwillen aus, sich hergebrachten gesellschaftlichen Formen ohne Einsicht in nachvollziehbare Gründe zu unterwerfen. Praktisch-theologische Würdigung muß vor allem die Unterschiedlichkeiten in Motivierung und Lebensvollzug solcher gesetzlich nicht legitimierten Weisen des Zusammenlebens im Blick behalten. Unterschiedslose Forderung nach entweder umgehender Legalisierung oder Trennung der Beziehung würde die Problematik verkennen und ihre Bewältigung erschweren. Andererseits ist zu beachten, daß regelmäßig mindestens auf einer Seite der, sei es auch uneingestandene Wunsch nach einer auch vor der Gesellschaft rechtlich anerkannten Befestigung der Lebensgemeinschaft bestehen wird, der nur den Verhältnissen oder dem Partner gegenüber nicht durchzusetzen war. Die Kirche wird eine, nicht zur staatlichen Anerkennung gebrachte Lebensgemeinschaft nur in einem Akt geistlichen Widerstandes gegen eindeutig ungerechte Verhältnisse ihrerseits als Ehe anerkennen und einsegnen können. Sie wird ein den berechtigten Auflagen gesellschaftlicher Ordnung ausweichendes und den schwächeren Teil weitgehend bei Scheitern der Beziehung rechtlich schutzlos lassendes Zusammenleben nur unter Bedauern mit ansehen können. Von ihrem Auftrag her sollte ihr jedoch klärende, im Blick auf die mannigfachen Schwierigkeiten einer solchen Lage helfende und vor allem auch mutmachende Seelsorge dringlicher sein. So könnte sie deutlich machen, daß dem notwendigen Wagnis menschlicher Zweisamkeit durch Verzicht auf die Rechtsform der Ehe nicht ausgewichen werden kann, dagegen die reife Frucht ehelicher Gemeinschaft nur schwerlich außerhalb einer, auch die freigewählte Bindung aneinander nicht scheuenden und also auch öffentlich rechtsverbindlich eingegangenen Ehe zu erhoffen ist. 4. Ehescheidung
als
Herausforderung
Der gegenwärtige Stellenwert von Ehescheidung in Recht und Praxis bietet ein anschauliches Beispiel für die weitgehende Wirkungslosigkeit kirchlicher Verkündigung und Ordnung. Evangelische wie römisch-katholische Kirche sind sich einig darin, daß eine einmal geschlossene Ehe nur unter besonderen Ausnahmebedingungen wieder auseinandergehen sollte. Dabei grenzt die römisch-katholische Doktrin solche Fälle im wesentlichen auf Mängel des anfänglichen ehelichen Konsenses ein, während die evangelischen Kirchen entweder einen biblischen Scheidungsgrund oder eine bis in die Wurzeln des Zusammenlebens reichende, die Ehe pervertierende Entfremdung fordern. Das ändert an der grundsätzlichen gemeinsamen Forderung der Dauerhaftigkeit der Ehe aber nichts. Die Kirchen mußten schon seit der Aufklärung ein zunehmendes Abweichen der Ehegesetzgebung von diesen Grundlinien
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hinnehmen; das letzte Jahrzehnt hat nun in der gesamten westlichen Welt die Verwirklichung der schon länger erhobenen Forderung nach grundsätzlicher Scheidbarkeit aller Ehen bei Einvernehmen oder längerdauernder Trennung gebracht. Dies ist dadurch erzwungen worden, daß die Rechtspraxis sich den scheidungserschwerenden Regelungen widersetzte, indem die gesetzliche Schranken umgehenden, verabredeten „Konventionalscheidungen" mit vorgespiegelten Gründen allgemein toleriert wurden. Letztes Hindernis auf dem Wege zu einer Gleichstellung der Ehe mit anderen frei kündbaren Verträgen bleibt, abgesehen von nutzlosen und durch die Praxis schon wieder unterlaufenen Trennungsfristen, bis auf weiteres noch die zeitraubende und kostenfressende Umständlichkeit des vorgesehenen Rechtsweges zur Ehescheidung. Im übrigen ist die Ehescheidung inzwischen so sehr gesellschaftlich akzeptiert und rechtspraktisch erleichtert, daß zumindest unausgesprochen die meisten Eheschließenden für den Fall eines Nichtgelingens ihrer Ehe die Scheidung unbefangen mit einplanen. Demnach zeigen die Ehescheidungsstatistiken einen ersten Gipfel der Scheidungsfreudigkeit in etwa dem dritten Jahr als dem Zeitpunkt der Manifestation ernsterer Probleme des ehelichen Zusammenwachsens; spätere Wellen der statistischen Kurve folgen den weiteren Entwicklungsmarken der Ehegeschichte. Eine Ehescheidung bedeutet, was oft von den Beteiligten zunächst übersehen wird, mehr als nur einen juristischen Prozeß. Sie umfaßt die Aufhebung einer Wohngemeinschaft einschließlich der Entflechtung gewachsener Gemeinschaftsbeziehungen nach außen, sie fordert die emotionale Leistung der „Trauerarbeit" einer Trennung einmal verbunden gewesener Partner und bringt schließlich die Aufgabe der Gewinnung neuer Lebensorientierung mit sich. Haben in der Ehe auch Kinder gelebt, so tritt die radikale Veränderung ihrer Lebenslage und die Rückwirkung dieser ihrer Lebensstörung auf die beiden Geschiedenen noch hinzu. Nicht jede zerrüttete oder als „Fchlehe" erkannte Verbindung läßt sich retten; aber manche übereilte Scheidung wäre wahrscheinlich durch ein verstärktes Bemühen um die bedrohte Ehe ersetzt worden, wenn das ganze Ausmaß der in die Scheidung zu investierenden Zeit, Nervenkraft und Kosten gleich anfangs sichtbarer gewesen wäre. Scheidungen bringen den Geschiedenen allenfalls dann eine Verbesserung ihrer Lebenslage, wenn sie im Zusammenhang oder als Auswirkung ihrer Scheidung ihr bisheriges Verhalten und Denken überprüfen und sozial lernen; beides wäre oft auch in einer trotz der Belastungen fortgesetzten Ehe nicht undenkbar gewesen. Schon deshalb sollte ein seelsorgerlicher Rat zur Ehescheidung, wenn überhaupt, eine Ausnahme für seltene Grenzfälle bleiben. Wer allerdings die Zusammenhänge zwischen ehelichen Zerwürfnissen und Selbst- wie Gattenmord kennt, wird sich der Möglichkeit nicht verschließen, daß in solchen Grenzfällen eine Ehescheidung als das kleinere Übel eine die Kräfte der Beteiligten überfordernde Lage beenden und daher zu bejahen sein kann. Auch darum aber sollte nicht zugleich zur Scheidung geraten werden, wenn für ein mit anderen Mitteln nicht zu behebendes Zerwürfnis die zeitweilige Trennung der Partner ein vorletzter, heute auch rechtlich zu ordnender Ausweg sein kann. Früher wurde der Pfarrer oft von Gesetzes wegen mit dem Sühneversuch beauftragt, wenn Eheleute seines Bekenntnisses die Scheidungsklage eingereicht hatten. Der Wegfall dieser Aufgabe ist schon deshalb zu verschmerzen, weil nach dem ausdrücklichen Hervortreten von Eheleuten mit Scheidungsabsichten vor Rechtsanwälten und Behörden meist eine wenig günstige Ausgangslage für die Seelsorge besteht. Kirchliche Scheidungsvorsorge hat neben dem verkündigenden allgemeinen Predigtwort vor allem das Mittel beratender und helfender —»Seelsorge (—»Beratung). Im frühestmöglichen Zeitpunkt einer auch nur möglicherweise zur ehelichen Entfremdung führenden Belastung bestehen, menschlich gesehen, die besten Aussichten. Wo solche Seelsorge fehlt, wird die vollzogene Scheidung meist erst durch den veränderten Status der im kirchlichen Unterricht stehenden Kinder oder durch eine neue Ehe bekannt. Wird dann die bisher ausgebliebene seelsorgerliche Hilfe durch repressive Kirchenzucht ersetzt, so verbaut man sich meist nur den Weg zur Hilfe in gerade jetzt erst recht möglichen seelischen Krisen. Leicht wird auch übersehen, daß sich der Geschiedene dann oft bereits in einer Lage befindet, die ihm den Rückweg in die erste Ehe nur um dem Preis neuen Schuldigwerdens an einem anderen Menschen eröffnet und die Tren-
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Ehe/Eherecht/Ehescheidung IX
nung einer, durch Mehrfachbeziehung eines Partners belasteten Ehe für den Ehegatten der einzig gangbare Ausweg aus einer seine Kräfte übersteigenden Zwangslage bedeuten kann. Kirchliches Handeln im Umfeld von Ehescheidung wird sich letztlich an der Perikope von Christus und der Ehebrecherin (Joh 8,1 — 11) seine Weisung holen müssen. Es wird aber auch bejahen müssen, daß aus einer gescheiterten und geschiedenen Verbindung noch Verantwortungen für gemeinsame Kinder und für den Lebensunterhalt des wirtschaftlich Schwächeren bestehen bleiben können. S. Die Ehe des kirchlichen
Amtsträgers
Besonders der —»Pfarrer, aber auch ein Großteil anderer kirchlicher Berufsarbeiter führt infolge seiner Residenzpflicht am Dienstort sein Leben stärker als andere Christen im Blickfeld der Gemeinde. Für den Pfarrer kommt hinzu, daß sich im Pfarrhaus Wohnwelt und Arbeitswelt schlecht voneinander abgrenzen lassen und daß weithin, Wilhelm —»Löhes Warnungen mißachtend, gemeindliche wie kirchenbehördliche Erwartungen an der Ehefrau des Pfarrers eine dessen Amt mittragende „Pfarrfrau" zu gewinnen suchen. Leicht wird dabei mehr verlangt, als sich aus dem natürlichen Miteinander einer guten Ehe und der freien Mitarbeit wie Mitverantwortung jedes Christen in ehrenamtlichem Gemeindeeinsatz begründen läßt. Versuche früherer Pfarrergesetzgebung, unguten Erwartungsdruck durch kirchenamtliche Bräutezensur noch rechtlich zu untermauern, haben mehr Heuchelei und Zorn angestiftet als Hilfe zu bringen vermocht. Aus dem zunächst geforderten Ehekonsens ist inzwischen weithin eine Dienstpflicht des Pfarrers und auch schon Vikars geworden, sich vor Verlobung und Eheschluß von seiner Kirchenbehörde beraten zu lassen. Eheschluß trotz förmlich erhobener Bedenken kann allerdings immer noch zum Amtsverlust führen. Diese Kompromißlösungen haben die Gemeinden nicht davor bewahrt, sich anhand der Ehen ihrer jüngeren Amtsträger mit dem veränderten Rollenverhalten heutiger Ehen überhaupt auseinandersetzen zu müssen. Aber auch diesen jungen Ehen selbst ist nicht immer über die aus solcher kirchlicher Rechtsaufsicht über die Ehepläne leicht aufbrechende Verbitterung hinweggeholfen worden. Besonders schmerzlich wirken die Ergebnisse solcher Reglementierung, wenn für die, an sich ja wünschenswerte, volle Glaubensgemeinschaft der Pfarrerehe institutionelle Sicherungen in Form rechtlicher Auflagen über die Konfessionszugehörigkeit des Ehegatten errichtet werden. Gerade auf diesem Feld hätte die Furcht vor einer durch Druck von außen heraufgezwungenen —»Konversion eher Warnung sein sollen. Hier scheint die urevangelische Erkenntnis von den notwendigen Grenzen kasuistischer Normierungen weithin verloren gegangen zu sein. —»Luther hat noch davon gewußt, wie leicht gerade kirchliche Ehegesetzgebung die Freiheit zu geistlicher Epikie (—»Billigkeit) verliert und die Grenze zur Gesetzlichkeit überschreitet. Noch so gut gemeinte Rechtsregeln auf diesem Felde ändern nichts daran, daß wirkliche Hilfe nur von vertrauensgetragener, rechtzeitiger Seelsorge und wirkliche Lösung gleichwohl aufgebrochener Konflikte nur von einem geistlichen Urteil konkreter christlicher Gemeinde zu erwarten ist. Der sich in der gesamten Gesellschaft schrittweise durchsetzende Trend nach gleichen Berufschancen für beide Geschlechter (—»Emanzipation) hat nicht nur die Zahl der Theologiestudentinnen ansteigen lassen, sondern logischerweise auch zu häufigeren Theologenehen und damit zu der Frage nach den Berufsaussichten verheirateter Theologinnen sowie den Einsatzmöglichkeiten von Theologenehepaaren geführt. Frühere „Zölibatsklauseln" für Theologinnen sind weithin gefallen; für Verheiratete mit Kindern ist teilweise ein vorübergehendes Ausscheiden oder Rückzug auf Dienstposten mit nur halber Leistungspflicht rechtlich möglich. Gemeinsamer Einsatz von Theologenehepaaren in der gleichen Gemeinde wird derzeit noch durch die jahrhundertealten, zur Unterbindung presbyterialer „Erbhöfe" gedachten Vorschriften behindert, wonach nahe Angehörige nicht gemeinsam in einem Presbyterium sitzen dürfen. Die jetzt schon spürbaren Schwierigkeiten werden sich bald verstärken, wenn nicht noch erfinderische Liebe und Verzichtbereitschaft auf allen Seiten rechtzeitig den Mut zu neuen Dienstformen für solche Theologenpaare schafft.
Ehe/Eherecht/Ehescheidung EX
361
In der Ehe des Theologen trifft die allgemeine Verunsicherung aller heutigen Eheleute mit den besonderen Belastungen des pastoralen Rollenfindungsproblems im Spannungsfeld zwischen Gemeindeerwartung, kirchenbehördlicher Forderung und persönlicher theologischer Konzeption zusammen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn in Pfarrerehen sich heute Spannungen häufen und Scheidungen zunehmen. Der von Gemeinden oder auch Kirchenbehörden erhobene Vorwurf, der Pfarrer habe auch in seiner Ehe ein besonderes Beispiel christlicher Lebensführung schon von Rechts und Berufs wegen zu geben, hält theologischer Prüfung kaum stand. Gleiches gilt allerdings für die Gegenrede betroffener Theologen, man dürfe doch wohl auch als Pfarrer wenigstens in seiner Ehe ein Mensch sein wie alle anderen Leute auch. In beiden Richtungen wird n u r die Besinnung auf Wurzeln und Wesen des geistlichen —» Amtes in einer aus der Rechtfertigung lebenden Kirche Wandel schaffen. Der notwendige Besinnungsprozeß wird aber dadurch belastet und fast verhindert, wenn weiterhin eine aus den schützenden Mauern des Pfarrhauses erst einmal herausgedrungene Eheschwierigkeit des Pfarrers und zumal seine Ehescheidung grundsätzlich als Disziplinarvergehen abgestraft wird. Gerade auf diesem Felde zeigt sich die theologische Schwäche des noch geltenden kirchlichen Disziplinarrechts (—»Kirchenrecht), soweit es letztlich rückwärtsgewandt sich um die Durchsetzung von pastoralen Sonderpflichten mit besonderen Strafen repressiv bemüht. Neuere Pfarrerdienstgesetze eröffnen die Möglichkeit, statt dessen bei einer Ehescheidung des Pfarrers nach der Zumutbarkeit eines weiteren Einsatzes in der bisherigen Gemeinde zu fragen („Versetzung im Interesse des Dienstes"). Wird allerdings diese Entscheidung im reinen Verwaltungswege getroffen, so geht den Beteiligten der angstlösende Schutz eines förmlich geordneten Verfahrens vor sachkundigen unabhängigen Schlichtern verloren. Dienstrechtliche Normen können die Auswirkungen pastoraler Ehekonflikte nicht kanalisieren. Andererseits engt eine an der Prädominanz von Seelsorge und der Möglichkeit von Vergebung sich ausrichtende Regelung den Handlungsspielraum kirchlicher Verwaltung ein. Beides aber sollte sich tragen lassen, wenn die O r d n u n g der Kirche nach der Dritten These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen als ein Stück ihrer vor der Welt geleisteten Bezeugung von Trost und Weisung christlicher Gemeinde verstanden wird. Es könnte einen entscheidenden Beitrag der christlichen Kirche zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Ehe, Eherecht und Ehescheidung überhaupt bedeuten, wenn sie in ihren Ordnungen und ihrer Praxis zu Ehe und Eheproblemen ihrer Amtsträger ein klares Zeugnis ihrer Sache gibt. Literatur 7m 1.: Oswald Bayer, Die Ehe zw. Evangelium u. Gesetz: ZEE 25 (1981) 1 6 4 - 1 8 0 . - Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte u. Sexus der Frau, Hamburg 1951. - August Bebel, Die Frau u. der Sozialismus, Berlin " 1 9 7 3 . - Günther Beitzke, Familienrecht, München " 1 9 7 6 . - Martha Beurmann/Theodor Pathe, Art. Eherecht: ESL6 1 9 6 9 , 2 8 2 - 2 9 5 (Lit.). - Bischofskonferenz der VELKD, Erklärung zur Ehe vom 23. Oktober 1978: Amtsbl. der VELKD V/6 vom 15. Dezember 1978, Nr. 7 0 - 7 3 . - Theodor Bovet, s. o. Abschn. VIII. - Tobias Brocher, Von der Schwierigkeit zu lieben, Stuttgart 1975. - Günther Dehn, Art. Ehelosigkeit: ESL6 1 9 6 9 , 2 8 0 - 2 8 2 . - Ehe. Zentralbl. für Ehe- u. Familienkunde, Tübingen/Bern 1 (1963) - 12 (1975) (Forts, s.u. Partnerberatung). - Ehe u. Familie: Hb. der christlichen Ethik, hg. v. Anselm Hertz u. a., I I 2 1 9 7 9 , 1 1 7 - 2 0 9 (Lit.). - Günther Gaßmann (Hg.), Ehe. Institution im Wandel, 1979 (Zur Sache H. 18) - Roman Herzog/Hartmut Maurer, s. o. Abschn. VIII. - Alois Jäger/Erich Pakesch (Hg.), Wenn die Kinder erwachsen sind. Die Ehe in der nachfamiliaren Phase, Innsbruck u.a. 1977.-René König, Die Familie der Gegenwart, München 2 1977.-Gottfried Kretzschmer, Die Kirche in ihrer sozialen Gestalt: Hb. der Prakt. Theol., Berlin, 1 1 9 7 5 , 9 5 - 1 0 0 . - Kurt Lüthi, Gottes neue Eva. Wandlungen des Weiblichen, Stuttgart/Berlin 1978. - Art. Matrimony: ODCC 2 1974,889 f (Lit.). - H e n d r i k van Oyen, Art. Ehe: WKL 3 0 3 - 3 0 5 (Lit.). - Partnerberatung. Zs. für Ehe-, Familien- u. Sexualtherapie, Tübingen u. a. 13 (1976 ff). - Maria Pfister/Hartwig Gräbel, Art. Ehelosigkeit: ESL7 1980, 2 6 8 - 2 7 0 . - Hans Jörg Ranke, Art. Eherecht: WKL 306 f (Lit.). - Ders./Günther Dehn, Art. Ehe: ESL6 1 9 6 9 , 2 7 4 - 2 7 7 . - Carl Heinz Ratschow u. a., Art. Ehe: RGG 3 2 (1958) 3 1 4 - 3 3 4 (Lit.). - Reform des Ehescheidungsrechts, s.o. Abschn. VIII. - Hermann Ringeling, Art. Ehe: ESL7 1 9 8 0 , 2 6 0 - 2 6 6 (Lit.). - Ders./Maja Svilar (Hg.), Familie im Wandel, Bern 1980. - Hans Joachim Thilo, Ehe ohne Norm?, Göttingen 1978. - Ernst Wolf u.a., Art. Eherecht: EStL2 1 9 7 5 , 4 7 5 - 4 8 8 (Lit.).
362
Ehre
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Albert Stein Ehre Deo
1. Definition 2. Der relationale Charakter der Ehre (Literatur S. 366)
1.
2. 1. Coram hominibus
2. 2. Coram
Definition
Ehre ist im allgemeinen Sprachgebrauch die Zuerkennung persönlicher Integrität. Als solche besteht sie unabhängig von besonderen Ehrungen (Plural), durch welche hervorgehobene Leistungen gewürdigt werden. Deshalb ist sie im Unterschied zu „Ehrungen" und zu „Ruhm" nicht quantifizierbar. Sie drückt vielmehr einen qualitativen personalen Rang aus: den der Vertrauenswürdigkeit. Insofern kennt sie keinen Komparativ und unterliegt nur der Alternative, entweder gegeben oder nicht gegeben zu sein. 2. Der relationale
Charakter
der Ehre
In sprachgeschichtlicher Hinsicht stellt sich trotz der Bandbreite möglicher Ehrverständnisse ein durchgehendes Continuum heraus: honor sowohl wie rißrj oder der neute-
Ehre
363
stamentliche Begriff für Ehre óó£a sind explizit oder implizit stets mit der Präposition corar» (ivwJiiov) verbunden, d. h. sie stehen ausnahmslos in Relation zu einer Größe, von der Ehre zuerkannt, von der sie als Anerkennung der Vertrauenswürdigkeit empfangen wird. Es handelt sich etwa um eine Ehre cora m hominibus, coram Deo oder coram meipso. Selbst im letzteren Falle bleibt der relationale Charakter der Ehre erkennbar: Indem ich etwa im Konflikt mit der Außenwelt (z.B. in einem ideologischen Herrschaftssystem) als ehrlos denunziert bin und vereinsamt meine Ehre für mich allein behaupte, trete ich mir selbst in kritischem Dialog gegenüber (wie das beispielsweise bei —»Kant das intelligible und das sensible [empirische] Ich tut). Das kritische Forum, von dem mir Ehre zu- oder aberkannt wird, gehört so zwar konstitutiv zu jedem Ehrbegriff hinzu, es ist aber im Bereich der Ehre coram hominibus hinsichtlich seiner konkreten Gestalt höchst variabel: Es kann die große Öffentlichkeit oder die Nachbarschaft meines Dorfes, es kann mein Stand (Standes-Ehre) oder meine Clique sein. Es gibt sogar eine Ganoven-Ehre, die in krimineller Solidarität besteht, und die ein Glied verliert, wenn es vor der Polizei „singt" und so vielleicht die Rückgewinnung der Ehre bei der Rechtsgemeinschaft erstrebt. Insofern kann der relationale Charakter der Ehre dazu führen, daß sie in dem einen Lebensbereich zuerkannt, im anderen aber aberkannt oder auch unbekannt ist: Wer bei den Nazis als ehrlos geächtet war, galt in andern Gruppen deshalb gerade als ehrenhaft. Und umgekehrt: Wer in einem System, das in der Wertschätzung ethischer Verantwortlichkeit negativ besetzt ist, Ehre erfährt, wird spätestens nach Erledigung dieses Systems dem Ehrverfall ausgesetzt sein. In jedem, selbst in diesem verwickelten Falle, bleibt das Durchgängige einer kritischen Instanz erkennbar, von der Ehre zu Recht oder zu Unrecht zu- oder aberkannt wird. Mit diesem relationalen Charakter der Ehre hängt es zusammen, daß theologische Reflexionen über die Ehre zu einer Unterscheidung kommen zwischen einer Ehre, die coram hominibus, und einer Ehre, die coram Deo gilt. 2. 1. Coram hominibus. Bei-»Aristoteles, dem wohl ersten Theoretiker des Ehrbegriffs, ist eine Rclativierung der Ehre als „bloße" Ehre coram hominibus kaum denkbar, weil hier die Ehre innerhalb der Polis oder der Politeia verliehen wird und dieser entstammt (Reiner: HWP 2,320). Dies gilt auch dann, wenn Aristoteles die Ehre hinsichtlich ihres Ursprungs auf die Götter bezieht. Denn der Großgesinnte (/tcyaXó^vxoí), dem die Götter sie widerfahren lassen, ist zugleich durch seinen Rang in der Polis ausgezeichnet, wie denn Götter und Polis in einem konstitutiven Bezüge zueinander stehen.
Ehre ist innerhalb menschlicher Sozialisation ein fundamentaler Wert. Es gibt keine —»Gemeinschaft, in der den einzelnen Gliedern nicht Ehre zuerkannt und von diesen auch erwartet würde. Diese Ehre wird von der Gemeinschaft (auch der Gesellschaft) zwar zuerkannt und bestätigt, jedoch nicht empfangen. Im Gegenteil: Sie begründet ihrerseits Gemeinschaft. Ehrenhaftigkeit ist der Grund für gewährtes Vertrauen, das seinerseits die Basis jeder Gemeinschaft darstellt (Herrmann 227). Diese Basis setzt Ubereinstimmung in ethischen Grundnormen voraus, die den Maßstab der Vertrauenswürdigkeit bilden. „Wer (diesen) kollektiven Normen gehorcht, empfängt einen .ehrlichen ' Namen, einen guten Leumund" (Spranger 279). Hier deutet sich freilich zugleich die Möglichkeit von Ehr-Entartung an: der Ehrgeiz nämlich, durch konformistische Anpassung Ehrung zu empfangen. Die Reaktion der Gesellschaft könnte dann sein: „Du hast dich nie durch Widerstreben lästig gemacht" (Spranger 284; vgl. auch Kant, Werke [Suhrkamp] II, 838). Die letzte, gegenüber dieser Entartung der Ehre coram hominibus resistente Relation der Ehre ist deshalb die bei aller äußeren Anfechtung (oder auch Anerkennung!) bestehen bleibende Ehrenhaftigkeit in meinen eigenen Augen (coram meipso). Diese Art Ehre „setze ich keineswegs (mehr) in das Urteil anderer über meine Handlungen..., sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fällen kann" (Fichtes Leben u. Briefwechsel, hg.v. I.H. Fichte, II 2 1862, 45). So gewiß Ehre nicht quantifizierbar ist, bezieht sie sich auf eine personale Qualität, die in meiner eigensten Verantwortung gründet. Darauf deutet—»Schopenhauers Definition, daß die Ehre das äußere —»Gewissen und das Gewissen die innere Ehre sei, sowie seine Entgegen-
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Ehre
Setzung von Ehre und Ruhm: Ruhm muß erworben werden; die Ehre braucht dagegen nur nicht verloren zu werden (Von dem, was einer vorstellt, S. 421 f). Was hier mit der Ehre als personaler Qualität gemeint ist, tritt im negativen Fall des Ehrverlustes hervor. Wenn jemandem ernsthaft (z.B. nicht unter ideologischem Druck) Ehre abgesprochen wird, bezieht sich das nicht auf das bloße Versagen bei Funktionen - etwa im Rahmen beruflichen Könnens und Tuns —, sondern auf die Person selbst, die „ihr Gesicht verliert". Ehrverlust ist also ebensowenig eine partielle Erscheinung, wie die Ehre selbst nur einen partiellen Status des Menschen bedeutet. Das wird etwa an speziellen und insofern nur bedingten Ehrformen deutlich wie z. B. der Standes-Ehre, der Ehre als Handwerker oder als Gelehrter. In diesem Falle ist der Mensch lediglich als Repräsentant seines Standes und Amtes tangiert, also nur in seinem diesbezüglichen Versagen gemeint. Da er aber in seiner Standesrepräsentation nicht aufgeht, sondern diese als Person transzendiert, kann auch hier ein unverletzbarer resistenter Rest personalen Bestandes übrigbleiben. Das gilt selbst dann, wenn jemand gelogen hat. Er könnte ja immerhin in einem extremen Fall ein subjektiv berechtigtes oder halbwegs berechtigtes Motiv dafür gehabt haben. Ehr-Verlust tritt erst ein, wenn jemand in persona zurecht als „Lügner" bezeichnet wird, wenn es also von ihm nicht nur heißen kann: Er hat gelogen, sondern: Er ist ein Lügner. Trotz seiner Fragwürdigkeit ist das Duell früherer Zeiten ein Hinweis darauf, daß Ehrverlust die ganze Person tangiert, so daß Ehre den Einsatz des Lebens zu ihrer Wiederherstellung forderte (vgl. Fontane, Effi Briest). Eine behauptete „Nichtsarisfaktionsfähigkeit", d.h. die Leugnung der Möglichkeit, daß mir jemand die Ehre nehmen könne, bedeutet deshalb äußerste Verachtung. Freilich muß diese Art der Verachtung, da durch gesellschaftliche Kriterien bestimmt, das Wesen von Ehre und Ehrlosigkeit auch wieder grotesk verzeichnen.
Selbst die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte, wie sie das Strafrecht (—>Strafe/Strafrecht) kennt, berührt den Personkern nicht unbedingt, sondern rechnet, wenn sie bloß suspendierende Bedeutung hat, mit ihrer Regenerierbarkeit, mit möglicher Resozialisierung und damit Rehabilitation. Da Gemeinschaft, wie wir sahen, nicht ohne Ehre und Ehrzuerkennung ihrer Glieder möglich ist, ist erhöhter Ehrenschutz durch die Rechtsgemeinschaft zu fordern. Die Ablehnung jeder gewaltsamen Selbsthilfe, weil christlich nicht verantwortbar, erhöht nur das Dringliche dieser Forderung. 2. 2. CoraniDeo. Obwohl der Begriff der Ehre cor am homimbus biblisch nur in Spurenelementen vorkommt, sind Logien, die auf Gott als den Ehre Verleihenden verweisen, in großer Fülle vorhanden (vgl. die in den ThWNT-Artikeln 66^a,övofia, rifirj genannten Belege). Daß es Gott ist, der die Ehre gibt, ist geradezu ein Continuum biblischer Aussagen: Der Herr gibt Gnade und Ehre (z. B. Ps 84,12; vgl. Sir 1,11; 10,23). Erst dadurch kommt es dazu, daß „in unserm Lande Ehre wohnen kann" (Ps 85,10), daß sich also eine auf Ehr-Erbietung gegründete Gemeinschaft ergibt und die Horizontale durch die Vertikale bestimmt wird. Der Mensch empfängt seine Ehre von Gott primär dadurch, daß dieser ihn zu seinem Partner erhebt und ihn damit zum Gegenstand seiner Du-Anrede macht. Insofern läßt er ihn sein Ebenbild sein (-.Bild Gottes; s. Thielicke, Theol. Ethik, 1 5 1981, § 700 ff. 774 ff. Der ev. Glaube, II 1973, 97ff). Die von Gott verliehene Ehre meint deshalb eine „fremde Würde" (dignitas aliena). So beruht für —»Luther etwa die Ehre, die Vater und Mutter gebührt, nicht auf deren immanenten Eigenschaften, sondern darauf, daß Gott sie durch das 4. Gebot ehrt (BSLK 694f; WA 1 6 , 4 8 7 f ) . Gott liebt und ehrt uns nicht, weil wir so wertvoll wären, sondern wir sind wertvoll, weil er uns liebt (vgl. auch Barth 747.763; Brunner 156ff). Daher ist Ehre keine dem Menschen inhärierende Eigenschaft; sie gründet vielmehr in der Tatsache, daß Gott ihn zu seinem Ebenbild beruft, genauer: daß Er ein Bild von ihm hat und es trotz seiner faktischen Entstellung in seinem Herzen unbeirrt bewahrt. Paradigma für diese Ehre als fremde Würde ist Jesus: „Ich nehme nicht Ehre (Beneficiums im kanonischen Recht wohl nicht auf Eigenkirchenrecht zurückzuführen. Das spätere kanonische Recht ist primär durch —»Amt und —»Sakrament bestimmt worden. Insofern kann das Eigenkirchenwesen nicht als ein dauerhaftes Strukturelement kirchenrechtlicher Ordnung angesehen werden. Seine historische Bedeutung im frühen Mittelalter bleibt davon unberührt; sie ist ein Paradigma für die unvermeidliche Prägung des Kirchenrechts durch seine gesellschaftliche Umwelt. Quellen Hinkmar v. Reims, De eedesiis et capeliis, ed. Wilhelm Gundlach: ZKG 10 (1889) 9 2 - 1 4 5 ; dazu: Jean Dévissé, Hincmar Archevêque de Reims 8 4 5 - 8 8 2 , II, Genf 1976, 8 2 9 - 8 3 8 . Literatur Allgemein und zu 1.: Hans Erich Feine, Kirch], Rechtsgesch., Köln/Graz 5 1 9 7 2 . - D e r s . , Ujsprung, Wesen u. Bedeutung des Eigenkirchenwesens: MIÖG 58 (1950) 1 9 5 - 2 0 8 . - U l r i c h Stutz, Die Eigenkirche als Element des ma.-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1895 = Darmstadt 1955. - Ders., Gesch. des kirchl. Benefizialwesens v. seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., Berlin, 1/1 1895, 2. Aufl., aus demNachl. erg. u. mit einem Vorw. versehen v. H.E. Feine, Aalen 1961 = 3 1972. - Ders., Art. Eigenkirche, Eigenkloster: RE J 23 (1913) 3 6 4 - 3 7 7 , Neudruck Darmstadt 1955. - Paul Thomas, Le droit de propriété des laïques sur les églises et le patronage laïque au moyen âge, 1906 (BEHE.R 19). Zu 2.: Alfons Dopsch, Wirtschaftliche u. soziale Grundlagen der europ. Kulturentwicklung, Wien, II 2 1924 = Aalen 1961. - Gonzalo Martínez Diez, El patrimonio eclesiástico en la España Visigoda: MCom 32 ( 1959) 5 - 200. - Olaf Olsen, Vorchristi. Heiligtümer in Nordeuropa: AAWG.PH 74 ( 1970) 2 5 9 - 2 7 8 . - Arnold Pöschl, Bischofsgut u. Mensa episcopalis, Bonn, 1 1908. - Hans v. Schubert, Staat u. Kirche in den arianischen Königreichen u. im Reiche Chlodwigs, 1912 (HB 26). - Artur Steinwenter, Die Rechtsstellung der Kirchen u. Klöster nach den Papyri: ZSRG.K 19 (1930) 1 - 5 0 . - Manuel Torres, El origen del sistema de .iglesias propias': AHDE 5 (1928) 8 3 - 2 1 7 . Zu 3.: Georg Schreiber, Kurie u. Kloster im 12. Jh., 2 Bde., 1910 (KRA 6 5 - 6 8 ) . - Ulrich Stutz, Ausgew. Kap. aus der Gesch. der Eigenkirche u. ihres Rechtes: ZSRG.K 26 (1937) 1 - 8 5 . - Ders., Das Eigenkirchenvermögen. Ein Beitr. zur Gesch. des altdt. Sachenrechts auf Grund der Freisinger Traditionen: FG Otto Gierke, Weimar 1 9 1 1 , 1 1 8 7 - 1 2 6 8 . - K a r l Voigt, Die königlichen Eigenklöster im Langobardenreiche, Gotha 1909. - Ders., Die karolingische Klosterpolitik u. der Niedergang des westfränkischen Königtums. Laienäbte u. Klosterinhaber, 1917 (KRA 9 0 - 9 1 ) .
Eigentum I
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I. Altes Testament 1. Begriffe Ein eindeutiges Äquivalent für Eigentum kennt die Sprache der hebräischen Bibel nicht. Ebenso enthält das Alte Testament weder Begriffsdefinitionen zum Thema Eigentum noch eine Eigentums/e/?re. Vielmehr finden sich Worte, die innerhalb eines größeren Bedeutungsfeldes Eigentum, Besitz bezeichnen können. Dazu gehören nah"lä, "huzzä, helxq, göräl, hccbccl, s'gullä, qinjan, miqnä:, j'russa, hon, bcesac, bajit (zu den einzelnen Begriffen vgl. die entsprechenden Stichworte des T h W A T u. T H A T , Lit.), zudem Formulierungen wie b'jad,
Eigentum I
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cowsfrwcfHi-Verbindungen und Suffixe. Die Mehrzahl dieser Worte bezieht sich überwiegend auf Landbesitz und rekurriert dabei auf den Vorgang der Übereignung. So ist göräl das Los-(steinchen), aber auch derzugeloste Landanteil (Jos 15,1; Jdc 1,3 u.ö.), forte/ der Meßstrick und das zugemessene Land (z.B. Jos. 17,14; Ps 105,11). huzzä (Gen 23,4; 36,43; Ez 46,16 ff; Ps 2,8 u.ö.) meint weniger das Eigentum selbst als das Verfügungsrecht vor allem über Grundbesitz (Ebach, Kritik 164 ff u. Gerleman gegen Horst, Begriffe, dernah"lä u. '"huzzä gleichermaßen als Begriffe für Eigentum ansieht). Ähnlich bedeutet nah'lä in erster Linie den dauerhaften Anspruch von Familie oder Sippe auf einen Landanteil, schließlich (so in verschiedener Ausprägung Dtn u. Jer, dazu vgl. Diepold; Schwertner) den Anspruch ganz Israels auf das Land. Ähnliche Bedeutungen haben die von jrs - etwa: in Besitz nehmen (nach Schmid: THAT 1,778 ff ist die Grundbedeutung „beerben") abgeleiteten Begriffe j'russä, j'resä, moräs(ä), die gewaltsame Aneignung ausdrücken können, helxq schließlich bezeichnet den einzelnen Anteil am verteilten Land (oder an der Beute). Diese Begriffe differieren untereinander gering und werden oft parallelisiert. Bei den jeweils implizierten Aneignungsvorgängen ist Kauf in der Regel ausgeschlossen (doch vgl. Gen 23,9). Käuflich erworbenes Eigentum wird eher mit der Wurzel qnh [erwerben] als miqnä.', miqnä oder qinjan bezeichnet (z.B. Gen 17,12; 49,32). Die paronomastische Wendung miqnä.' wlqinjan (Jos 14,4; Ez 38,12 u.ö.) steht für „Hab und Gut". Ähnlich meintbajit nicht nur das Haus und die (Groß)familie, sondern auch, „was im Haus ist" (abhängige Personen, Vieh, Geräte, so Gen 30,30; Est 8,1, vgl. Ex. 20,17). s'gulla bezeichnet wie akkadisch sikiltu (Greenberg 172ff; Wildberger: THAT 2, 142ff) den persönlichen Besitz und kommt „Privateigentum" am nächsten (in dieser Bedeutung nur die späten Belege I Chr 29,3; Koh 2,8). Genannt seien noch hon [etwa: „das, was bereit steht, (großer) Besitz"] (parallel zu cosa;r [Reichtum] Ps 112,3 u.ö.) und bn'sac [zunächst „Schnitt", dann (vgl. „einen Schnitt machen") mit peiorativem Klang „Gewinn"] (Ex 18,21; I Sam 8,3 u.ö.). Hebräische Worte für Eigentum, Besitz bezeichnen sowohl die Art der Aneignung als auch die Beziehung zwischen Besitzer und Besitz mit. Damit unterscheiden sie sich vom Begriff „Eigentum", der von Aneignungsform und personaler Beziehung abstrahiert. Doch vermag gerade die Ermittlung dieser Differenz zu Gegenwartsanalyse und -kritik beizutragen, indem sie den hinter den sprachlichen Unterschieden stehenden ökonomisch-historischen Abstraktions- und Verdinglichungsprozeß bezeichnet. Jene personale Beziehung, die die hebräischen Worte für Eigentum festhalten (und nicht etwa eine religiöse Wertschätzung des Eigentums), manifestiert sich darin, daß nahezu alle genannten Begriffe anthropologische und theologische Dimensionen aufweisen. So bezeichnen goräl, helcuq, hcvbcvl nicht nur den zugelosten, zugemessenen Besitz, sondern auch das Los, Geschick des Menschen (Jes 17,14; Ps 16,5f. \i.ö.),nah"lä unds'gullä nicht nur die Beziehung zu Land- und Sachbesitz, sondern auch das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel (vgl. Wildberger, Eigentumsvolk; zur vielfältigen Bedeutung von nah"lä - von Gerleman zu eng als „Wohnrecht" gedeutet vgl. Wanke: THAT 2, 55 ff). 2. Eigentum und soziale
Entwicklung
In der Frühzeit Israels bestand Eigentum vor allem aus Vieh (vgl. I Sam 25,2), nach der Seßhaftwerdung zudem aus dem Landanteil (nah"lä oder Parallelbegriffe) von Familie oder Sippe. Eigentum und Reichtum galten als Ertrag erfolgreicher —»Arbeit, mitunter kluger List (vgl. Gen 30,25ff), zugleich als Ausweis des Segens Jahwes (Gen 26,12ff). Eigentumsverluste wurden weitgehend von der Familien- und Sippensolidarität aufgefangen (s.u. Abschn. 3). Zu gesellschaftlich relevanten Gegensätzen von arm und reich kam es im Zuge der Staatenbildung und der Etablierung des Königtums (Bildung von Latifundien, Wachsen der Verwaltung, der Städte, des Handels; —»Armut). Eigentumskonflikte im Zuge dieser Entwicklung fanden in zahlreichen Texten ihren Niederschlag. Exemplarisch genannt seien die Samuelrede I Sam 8,10ff, die Beispielerzählung Natans (II Sam 12,1 ff) und die Erzählung um Nabots Weinberg (I Reg 21). Verschiebungen der Eigentumsstrukturen gehörten auch zu den Entstehungsbedingungen und Themen prophetischer Sozialkritik (vgl. Koch; —»Pro-
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Eigentum I
pheten/Prophetie). Sie betraf zugleich Ö k o n o m i e und Religion, denn der Verlust der ttah'lä infolge Steuerlasten oder Übervorteilung durch Kaufleute beendete mit der ö k o n o m i s c h e n auch die rechtliche und die kultische Vollwertigkeit des M e n s c h e n . Häufung von Eigentum und a u f Ausbeutung basierender Reichtum gelten der prophetischen Kritik als tiefe Störung der alten, dem Verhältnis zwischen J a h w e und Israel gemäßen Gesellschaftsordnung (vgl. A m 3 , 1 5 ; 4 , 1 ff; 5 , 1 1 ; J e s 1 , 2 1 ff; 3 , 1 6 f f ; 5 , 8 f f ) . Als unausweichliche Folge dieser Störung erscheinen der Untergang der R e i c h e Israel und J u d a und das —»Exil. In exilischen und nachexilischen Programmschriften spielt die Restitution gerechter Eigentumsverhältnisse eine zentrale Rolle. So postuliert der Verfassungsentwurf Ez 4 0 - 4 8 die Herstellung gleicher Landanteile der S t ä m m e wie die Verhinderung erneuter Enteignungen und Latifundienbildung durch Herrscher oder B e a m t e (Ez 4 5 , 8 b . 9 ; 4 6 , 1 6 — 1 8 ) . D o c h ging die historisch-ökonomische Entwicklung über die Versuche der Wiederherstellung stammesgesellschaftlicher Wirtschafts- und Eigentumsformen hinweg. Staatspacht und Privatwirtschaft traten an die Stelle der nah"lä- und Sippenordnung (Kippenberg). 3.
Recht
Zu den T h e m e n des israelitischen —»Rechts gehören der Schutz des Eigentums v o r Ubergriffen und die soziale Verpflichtung des Eigentums. D e m Schutz vor Diebstahl dienen neben archaischer Fluchpraktik ( J d c 1 7 , 2 , dazu Scharbert: T h W A T 1 , 2 8 0 ) im gesamten alten Orient Gesetze und R e c h t s b r ä u c h e (in Israel bereits im —»Bundesbuch, vgl. E x 2 1 , 3 7 - 2 2 , 7 ) . Die hebräische Bibel enthält darüber hinaus weitere, freilich nicht systematisch z u s a m m e n gestellte Bestimmungen zum Eigentumsrecht. Solche Bestimmungen finden sich vor allem im Bundesbuch, im —» Heiligkeitsgesetz oder sind erzählenden T e x t e n , z . B . dem Buch —•Ruth, zu entnehmen. Unter besonderem rechtlichen Schutz steht dabei weniger das Privateigentum des einzelnen als die materielle Basis der Familie und Sippe, deren Erhalt, bzw. Restitution intendiert ist. Im —>Dekalog beziehen sich zwei G e b o t e auf Eigentumsfragen. Das lo' tignob [du wirst nicht stehlen!] (Ex 2 0 , 1 5 ; Dtn 5 , 1 9 ) hat wohl den Diebstahl eines M e n s c h e n im Blick (Alt, Anteil 3 3 3 ff, dagegen Klein). E x 2 0 , 1 7 bezieht sich weniger a u f ein Begehren im Sinne neidischer Gesinnung als a u f den geplanten und ausgeführten Ubergriff (hrnd) auf fremdes G u t ( H e r r m a n n ; Müller). In der Fassung Dtn 5 , 2 1 wird verschärfend das begehrliche Wollen {'wh) hinzugesetzt, doch bleibt die wichtigste Intention der Schutz des Eigentums vor dem Zugriff des Stärkeren. Eigentum, vornehmlich Landbesitz, ist nach alttestamentlicher Auffassung kein frei verfügbares O b j e k t , sondern dient in seiner Funktion als Lebensgrundlage der Familie und Sippe zur Nutzung. D a r a u f zielen die mit dem Sabbat- und dem —»Jubeljahr verbundenen Restitutionsbestimmungen, nämlich die für das 7 . (bzw. 5 0 . ) J a h r geforderte B r a c h e des Landes, ferner die Forderung nach Schuldenerlaß, nach Freilassung des hebräischen Sklaven (Ex 2 1 , 2 — 6 ; Lev 2 5 ; Dtn 1 5 , 1 — 1 8 , dabei im Begründungszusammenhang jeweils soziale Argumente). Hierhin gehören ferner Vorschriften über den R ü c k k a u f von M e n s c h e n und Sachen durch d e n g o ' e l [Löser] um das Eigentum der Familie und Sippe wiederherzustellen (Lev 2 5 , 2 4 - 3 1 . 4 7 — 5 4 ) , schließlich als theologischer R a h m e n aller Eigentums- und Bodenrechtsbestimmungen die K o n z e p t i o n , d a ß J a h w e Eigentümer des gesamten Landes sei (Lev 25,23). Literatur Albrecht Alt, Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel u. Juda: ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, III 1959 2 1968, 3 4 8 - 3 7 2 . - Ders., Das Verbot des Diebstahls im Dekalog: ebd., 11953 4 1 9 6 8 , 3 3 3 - 3 4 0 . - Francis I. Andersen, The Socio-Juridical Background of the Naboth Incident: JBL 85 (1966) 4 6 - 5 7 . - Klaus Baltzer, Naboths Weinberg (1. Kön 21). Der Konflikt zw. israelit. u. kanaanäischem Bodenrecht: WuD NF 8 (1965) 7 3 - 8 8 . - Hans Bardtke, Die Latifundien in Juda während der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. Zum Verständnis v. Jes 5,8 - 1 0 : FS André Dupont-Sommer, Paris 1 9 7 1 , 2 3 5 - 2 5 4 . - Beitr. zur sozialen Struktur des alten Vorderasien, hg. v. Horst Klengel, Berlin (DDR) 1971. - Karl-Heinz Bernhardt, Nomadentum u. Ackerbaukultur in der frühstaatlichen Zeit Altisraels: Das Verhältnis v. Bodenbauern u. Viehzüchtern in hist. Sicht, Berlin (DDR) 1 9 6 8 , 3 1 - 4 0 . - Stephen Herbert Bess, Systems of Land Tenure in Ancient Israel, Diss., Grand
407
E i g e n t u m II
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II. J u d e n t u m 1. Begriff und Inhalt 2. Eigentum und Nutznießungsrecht des Eigentums (Literatur S.410) 1. Begriff
und
3. Rechte und Verbote
4. Verlust
Inhalt
Die hebräische Sprache kannte ursprünglich keinen spezifischen Eigentumsbegriff. Das biblische Wort qinyan wird im rabbinischen Schrifttum sowohl für Eigentum als auch für Kauf und allgemein Kontrakt gebraucht. Es drückt mehr den Erwerbsakt als die herrschaftliche Beziehung zwischen Mensch und Sache aus. Die Bedeutung von mammon ist hauptsächlich konkret und bezieht sich nicht auf die Rechtslage. Erst das neuhebräische ba'alut, vom gemeinsemitischen ba'al abgeleitet, beschreibt den im römischen Recht dominium genannten Zustand. Die H e r r s c h a f t des E i g e n t ü m e r s ü b e r die ihm g e h ö r e n d e S a c h e ist a l s o d e m jüdischen Bewußtsein nicht wesentlich. S o w i e das R e c h t i m J u d e n t u m h a u p t s ä c h l i c h als die S u m m e der Pflichten und nicht so sehr als die v o n Einzelrechten verstanden w i r d , ist das E i g e n t u m in erster Linie ein M i t t e l zur Erfüllung dieser Pflichten u n d erst d a n a c h eine S p h ä r e , in der der M e n s c h n a c h freiem W i l l e n w a l t e n k a n n . D e s h a l b d a r f m a n a u c h v o m eigenen V e r m ö g e n nichts verzehren oder genießen o h n e G o t t dafür zu d a n k e n (—»Gebet) o d e r einen T e i l d a v o n für seine G e b o t e zu verwenden (tBer 4 , 1 ) . D i e L i e b e zu G o t t w i r d n i c h t n u r a u f den M e n s c h e n , s o n d e r n a u c h a u f sein H a b und G u t bezogen ( m B e r 9 , 5 ) , w o d u r c h jedes E i g e n t u m in eine A r t z w e c k g e b u n d e n e r Stiftung v e r w a n d e l t ist. A h n l i c h gilt Philo ( C h e r 1 0 9 . 1 1 8 ) alles E i g e n t u m als Anleihe G o t t e s , die jederzeit z u r ü c k g e f o r d e r t werden k a n n .
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Eigentum II
2. Eigentum und
Nutznießungsrecht
Das wesentliche Charakteristikum des Eigentums ist das Nutznießungsrecht. Man unterscheidet zwischen qinyan ha-güf, dem Eigentum der Sache selbst, und qinyan peröt, dem usus fructus (bGit 47b). Der qinyan ha-güf bezieht sich hauptsächlich auf das Nutznießungsrecht. Das Besondere bei ihm ist die zeitliche und anderweitige Unbegrenztheit. Der qinyan peröt ist demgegenüber meistens zeitlich begrenzt. Ohne Nutznießungsrecht ist der Eigentumsbegriff undenkbar. Man kann z. B. am Laubhüttenfest (—»Feste und Feiertage) das Gebot der Verwendung der vier Pflanzenarten (Lev 23,40) nur mit eigenen Pflanzen erfüllen. Für dieses Gebot ist die Eigentumsfrage also von Bedeutung. Wenn ein Palmzweig einer fremden Gottheit geweiht war, gilt er als ungenießbar und auch nicht mehr als Eigentum. Er kann deshalb nicht zur Erfüllung des Gebots verwendet werden (ySuk 3,1,53 c). Der frühere Eigentümer kann einen solchen Palmzweig auch nicht verkaufen, weil Verkauf fremder Ware nicht möglich ist (Tosafot zu bSan 80 a, beginnend San 79b: besör; vgl. Art. 'issüre hana'ah: Encyclopaedia Talmudit...2[1952]92). 3. Rechte und
Verbote
Es gibt also kein Eigentum ohne Nutznießungsrecht. Das Eigentum schließt aber noch andere Rechte ein. Das rabbinische Recht schränkt diese jedoch sehr ein: 3. 1. Der Eigentümer darf seine Sache nicht ohne guten Grund zerstören: „Wer sich selbst verletzt, ist zwar nicht haftbar, begeht aber eine unerlaubte Tat. Wer seine Pflanzen beschädigt, ist zwar nicht haftbar, begeht aber eine unerlaubte Tat" (mBQ 8,6). Diese Sätze hängen mit der positiven Einstellung des Judentums zur Welt und seiner weitgehenden Ablehnung der —»Askese zusammen. Obwohl man als Trauerzeichen einen Riß in die Kleidung macht, soll man nicht übertreiben, ähnlich wie man —»Fasten und Enthaltsamkeit nicht über das gebotene Maß ausdehnen darf (bBQ 91 b). Der Körper, die Gesundheit und das Eigentum stehen in Gottes Diensten und dürfen nicht zerstört oder beschädigt werden. 3. 2. Der Eigentümer ist nicht berechtigt, andere von der Nutznießung auszuschließen, es sei denn, daß sein eigenes Recht darunter leide: „Wer sagt: das Meinige gehört mir und das Deinige dir — dies ist Mittelmäßigkeit! Einige sagen: dies ist sodomitische Art" (mAv 5,10). Mit diesem Spruch wird betont, daß man nicht auf der Ausschließlichkeit seines Eigentums bestehen darf. Es handelt sich hier nicht nur um eine moralische Pflicht, sondern um ein erzwingbares Recht des andern. Dieser kann in seiner Klage den Vorteil, der ihm entstehen könnte, und die Tatsache, daß der Beklagte keinen Nachteil hätte, darlegen, um seinen Anspruch auf ein Nutznießungsrecht am Eigentum des Beklagten durchzusetzen. Dieser Tatbestand genügt zur Abgabe einer Verfügung durch den Gerichtshof, in der dem Eigentümer untersagt wird, nach der Regel Sodoms zu handeln. Bei der Erbschaftsteilung, zum Beispiel, kann ein Miterbe gegen die übliche Teilung durch das Los Einspruch erheben, wenn sein privates Grundstück an ein Grundstück der Erbmasse angrenzt. Da er ein Interesse hat, das angrenzende Land zu bekommen, und wenn die anderen keinen Schaden erleiden, gilt die Regel: „Wo einer den Vorteil und der andere keinen Nachteil hat", hat Ersterer einen Anspruch (bBB 12 b). Die anderen Erben können nicht auf Teilung durch das Los oder auf Entschädigung für den Verzicht auf dieses Recht bestehen. Aus dem gleichen Grund darf man nach der Ernte nicht das Betreten des Feldes durch andere verbieten, denn es heißt: „Entziehe das Gut nicht demjenigen, dem es zukommt, wenn es in deiner Macht steht" (Prov3,27; bBQ 8 1 b ) . Charakteristisch ist die Bezeichnung desjenigen, „dem es zukommt" als bacal: also als Herr und Eigentümer. Nach der Ernte gilt jeder als Eigentümer des Wegrechts, da es den wirklichen Eigentümer nicht stört. Das Privateigentum ist eigentlich nur Miteigentum, wobei der Haupteigentümer kein Ausschlußrecht innehat.
3. 3. Das Übereignungsrecht des Eigentümers ist in verschiedener Hinsicht begrenzt. Erbstücke sollen nicht veräußert werden, sondern der nächsten Generation erhalten bleiben. Bei Verkauf eines solchen Grundstückes läßt eine alte Tradition die Verwandten feierlich protestieren (yQid 1,5,60 c). So besteht selbst beim Privateigentum ein moralisches Beispruchsrecht der Familie, das sich wohl aus der Lösepflicht der Verwandten entwickelt hat. Ebenfalls gilt es als unzulässig, mehr als den fünften Teil des Vermögens für Wohltätig-
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keit auszugeben (Ket 67 b), weil man nie weiß, ob man das Kapital nicht für sich selbst brauchen würde. Wenn kein besonderer Grund vorliegt, soll der Vater den Sohn nicht enterben (mBB 8,5; bBB 133 b). Das Eigentum ist also immer unterwegs von den Vätern zu den Söhnen und Enkeln. Der einzelne soll diesen Vorgang nicht unterbrechen. Aus dem Gebot, „das Rechte und Gute in Gottes Augen zu tun" (Dtn 6,18), entwickelte sich die Pflicht des Eigentümers, bei der Veräußerung das Vorkaufsrecht der Nachbarn zu respektieren (bBM 108 a). Dieses zu berücksichtigende Interesse am Eigentum wirkt sich wohl schon vor der tatsächlichen Veräußerung aus und gibt den nachbarlichen Beziehungen eine genossenschaftliche Form. Dazu kommt die Generalhaftung der Grundstücke für die Schulden des Eigentümers, einschließlich derer seiner Ehefrau. Jede Veräußerung von Immobilien kann später vom Gläubiger rückgängig gemacht werden, wenn er seine Schuld vom betreffenden Gut kassieren muß. Praktisch wird jede Veräußerung dadurch von der Mitwirkung der Gläubiger oder der Ehefrau abhängig und stellt den beschränkten Charakter des Privateigentums am deutlichsten dar (mKet 4,7; vgl. Epstein). 3. 4. Der Eigentümer ist verpflichtet, sein Vermögen in gewissen Fällen zu opfern, um andere vor Schaden zu bewahren. Nach der Meinung einiger muß er es dulden, daß ein Nachbar sein Grundstück betritt, um seine Bienen zurückzuholen, nach der von anderen muß er es sogar zulassen, daß der Besitzer der Bienen zu diesem Zweck einen Ast, auf den sie sich niedergelassen haben, absägt. Das ist nach alter Tradition eine stillschweigende Abmachung seit der Landnahme (mBQ 10,2; bBQ 114b). Betrachtet man diese verschiedenen Einschränkungen auf biblischem Hintergrund, so ergibt sich ein eindeutiges Bild. Die Bestimmungen des Sabbat- und —»Jubeljahres, die Armengesetze, das Zinsgebot und die Idee der Bundesverpflichtungen, besonders in bezug auf das Land, sind die Basis der sozialen Solidarität, auf die die Rabbinen das jüdische Leben aufbauten. 4. Verlust des
Eigentums
Ein ähnliches Ergebnis erhalten wir bei der Untersuchung der verschiedenen Formen des Eigentumsverlustes. Neben der gewöhnlichen Veräußerung durch Verkauf, Geschenk, Stiftung oder Testament gibt es die einseitige Erklärung der Besitzaufgabe, häfqer, die eine wichtige soziale Funktion erfüllt. Nach der Ansicht der Schule Schammajs (—•Hillel/Hillelschule/Schammaj/Schammajschule) kann damit nur den Armen Erwerbsrecht ermöglicht werden, was diese Form als eine Art von Wohltätigkeit darstellt. Nach der Meinung der Hilleliten darf jeder sich die Sache, die vom Eigentümer aufgegeben wurde, aneignen. Dies ist eine Form des Sabbat jahres, das der einzelne zusätzlich auf sich nehmen kann und durch die er sein privates in genossenschaftliches Vermögen umwandelt (mPea 6,1). Diese religionsgesetzliche Möglichkeit wird beim ausdrücklichen oder stillschweigenden Verzicht auf eine gestohlene oder verlorene Sache angewandt (bBQ 68 a). Dabei tritt der Eigentumsverlust jedoch nicht durch die Verzichterklärung allein ein, sondern es bedarf noch einer Veränderung. Wenn also die gestohlene Sache in die Hand eines gutgläubigen Käufers geraten ist und der Verzicht des Eigentümers ausgesprochen wurde, dann kann der Käufer nicht mehr zur Rückgabe gezwungen werden (tBQ 10,20). Diese, den Handel mit gestohlenem Gut erleichternde Haltung wurde dann im Mittelalter unter dem Einfluß des deutschen Rechts abgeschafft. Nach der neuen Regel mußte selbst der gutgläubige Käufer das gestohlene Gut an den Eigentümer zurückgeben, konnte allerdings von diesem Rückerstattung des Kaufpreises verlangen (Schulchan Arukh, Choschen Mischpat 368,1; vgl. Cohen 615ff). Der Eigentumsverlust kann auch die Folge einer Verbindung oder Verarbeitung der Sache sein, wobei wieder die veränderte Situation die strikte Forderung der Rückgabe mildert. Nur nach der strengen Ansicht der Schule Schammajs muß der Dieb selbst die mit seinem Grundstück verbundene bewegliche Sache in natura zurückgeben. Dabei wird nicht berück-
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sichtigt, daß er vielleicht ein mit gestohlenem Holz gebautes Haus einreißen muß und daß der dadurch entstehende Schaden den Sachwert des gestohlenen Gutes übersteigt (bTaan 1 6 a ; bGit 5 5 a ) . Die Hilleliten dagegen zogen es vor, dem Dieb die Umkehr zu erleichtern. Sie verlangten von ihm nur, den Wert der gestohlenen Sache zu ersetzen (mGit 5 , 5 ) . Wahrscheinlich waren sie auch der Ansicht, falls der Dieb das gestohlene Gut verarbeitet habe, müsse er nur das Material, nicht das verarbeitete Produkt an den Eigentümer zurückerstatten (bBQ 6 6 a ; t B Q 10,5).Diese Forderung hat primär den Sinn, den Dieb zur Umkehr zu animieren. Implizit bezeugt sie aber auch eine größere Wertschätzung der Arbeit, selbst der unrechtmäßigen, als des Eigentums. Andererseits kennt das jüdische Recht keinen Eigentumsverlust durch Ersitzung: „Ersitzung ohne Anspruch ist wirkungslos". Die Tatsache, daß jemand jahrelang widerspruchslos ein Grundstück besessen hat, ist selbst kein Grund für den Eigentumserwerb. Die Ersitzung ist von Bedeutung für denjenigen, der seinen Anspruch nicht dokumentarisch beweisen kann, wie zum Beispiel bei der Behauptung, das Grundstück vom Vater des Klägers erworben zu haben (mBB 3 , 3 ) . Jedenfalls entsprechen auch die Normen über den Eigentumsverlust der geringeren Bewertung des Eigentumsbegriffes gegenüber der anderer Interessen. Vielleicht ist die rabbinische Einstellung zum Besitz in folgender Erzählung wiedergegeben: „Es war einmal ein M a n n , der sein Grundstück reinigte und die Steine auf die Straße warf. Da fragte ihn ein Chassid (frommer Mann), wieso er denn die Steine aus einem Teil, der nicht sein eigen sei, auf sein eigenes Land werfe. Der Mann lachte nur. Später aber mußte er sein Grundstück verkaufen. Als er danach durch die Straße ging, stieß er an die Steine. Da verstand er die Worte des frommen M a n n e s " (tBQ 2 , 1 2 - 1 3 ) . Diese Erzählung erinnert an die —•Essener, die ihr Eigentum gemeinschaftlich verwalteten (Philo, Probus 7 6 f . 8 4 ; Josephus, Bell 2 , 1 2 2 ; Ant 1 8 , 2 0 ) , die Therapeuten, die ihr Vermögen vor dem Anschluß an die Gemeinschaft ihren Verwandten überließen (Philo, VitCont 1 3 , 1 6 f . 6 6 ) und die Gemeinde von —»Qumran, in der aller Besitz vom Aufseher verwaltet wurde (1 QS V I , 1 9 f ) . Die Rabbinen bewahrten diese Ideen, obwohl sie selbst nicht mehr in Gütergemeinschaft lebten, ja sie dehnten ihre Wirkung, wie gesagt, auf eine Reihe von rechtlichen Situationen aus. Im Sinne des Gedankens, daß das wahre Eigentum das gemeinschaftliche sei, betont die rabbinische Tradition das ideelle Miteigentum jedes Israeliten an —»Jerusalem ( A R N , A 35) und am —»Heiligen Lande (R. Nissim, Gerondi ad bNed 28 a; Art: dina* d'malkuta': Encyclopaedia Talmudit 7 [ 1 9 5 6 ] 3 0 7 ) . Literatur Schalom Albeck, Art. Ownership: E J 1 2 ( 1 9 7 1 ) 1 5 3 1 - 1 5 3 4 . - Samuel S. Bialoblocki, Eigentum: E J (D) 6 ( 1 9 3 0 ) 3 3 3 - 3 4 7 . - Boaz Cohen, Jewish and R o m a n Law, N e w Y o r k 1966'. - M . C o h n , Art. Eigentum: J L 2 ( 1 9 2 8 ) 3 0 0 - 3 0 8 . - Louis M . Epstein, T h e Jewish Marriage Contract. - Zeev W . Falk, Intr. to Jewish Law o f the Second Commonwealth, Leiden 1 9 7 2 - 1 9 7 8 . - M . Gil, Land Ownership in Palestine under R o m a n Rule: R1DA 1 17 ( 1 9 7 0 ) 11 - 5 3 . - I. Herzog, T h e M a i n Institutions o f Jewish Law, London I, 1 9 3 6 .
Zeev W . Falk III. Neues Testament 1. Die Jesustradition 2 . Die synoptischen Evangelien 3 . Paulinisches und deuteropaulinisches Schrifttum 4 . Nachwirkungen der apokalyptischen Eigentumskritik (Literatur S . 4 1 3 ) Das Neue Testament bietet keine grundsätzliche Stellungnahme zur Eigentumsproblematik, wohl aber vielfältige Bezugnahmen auf Eigentum, Reichtum und Besitz.
1. Die
Jesustradition
1.1. Die Logienquelle überliefert mehrere Aussprüche, die Eigentum als etwas Gefährliches, Widergöttliches brandmarken. Irdische Schätze sind im Gegensatz zu himmlischen Schätzen unsicher und ziehen das Herz von Gott ab ( M t 6 , 1 9 - 2 1 par. Lk 1 2 , 3 3 f ) . Gottesdienst und Dienst am M a m m o n , dem irdischen Besitz, schließen einander aus (Mt 6 , 2 4 par.
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Lk 16,13). Im Blick auf die nahe Gottesherrschaft wird das Irdische in M t 6,32f par. Lk 1 2 , 2 9 - 3 1 abgewertet. Der besitzlose Jesus (Mt 8,20 par. Lk 9,58) sendet seine Jünger ebenfalls ohne jegliches Hab und Gut zur Verkündigung aus (Mt 10,9 f par. Lk 9,3; 10,4). Hierin spiegelt sich die Eigenart der hinter Q stehenden Gruppe, die von charismatisch-prophetischen Wanderpredigern getragen wurde (Hoffmann 312—331; Theißen, Soziologie 1 4 - 2 1 ) . So gilt die Heilszusage den (materiell) Armen (Lk 6,20), während den Reichen und Gutsituierten eschatologisches Unheil angesagt wird (Lk 6 , 2 4 - 2 6 ) (—»Armut). 1. 2. Auch die Mk-Tradition weiß, daß Eigentum dem Fruchtbringen des Wortes Gottes hinderlich ist (Mk 4,19). In plastischer Bildhaftigkeit spricht man von der Unmöglichkeit der Rettung eines Reichen (Mk 10,25). Man erzählt, wie ein Reicher den Ruf in die Nachfolge verpaßte (Mk 1 0 , 1 7 - 2 3 ; zur Abgrenzung s. Schmithals [ÖTK 2/2] 450). Hinter dieser Oberlieferung steht „eine asketisch geprägte Gemeinde, die das Armutsideal ernst nimmt" (Gnilka [EKK II/2] 85; vgl. Fischer). 1. 3. Kritische Äußerungen gegen Eigentum und Reichtum enthält das lukanische Sondergut. Im Magnifikat wird Gottes endzeitliches Handeln zugunsten der Armen und gegen die Besitzenden betont (Lk l,52f). Zwei Beispielerzählungen (Lk 1 2 , 1 6 - 2 1 ; 16,19-31) veranschaulichen, daß irdischer Besitz für das jenseitige Heil abträglich ist. Neben diesen polemischen Aussagen, die apokalyptische Parallelen haben (vgl. Nickelsburg), stehen andere, die zum Ausgleich der Besitzverhältnisse mahnen (3,10 ff; 1 4 , 1 2 - 1 4 ; 16,9). Konkretes Beispiel dafür sind die Jesus unterstützenden Frauen (Lk 8,1—3). 1. 4. Inwieweit diese Uberlieferungen die Verkündigung Jesu selbst bewahren, ist nicht leicht zu entscheiden; denn das Wirken Jesu wie die Mission der ältesten Gemeinde fällt in eine Zeit stärkster sozioökonomischer Spannungen. Grundzüge seiner Beurteilung der Eigentumsfrage lassen sich dennoch erkennen. —•Jesus ist als besitzloser Wandercharismatiker aufgetreten und hat seinen Jüngerkreis in dieselbe Existenzform gerufen (Mk 1,16—20; vgl. bes. Hengel, Nachfolge). Man wird auch in Mk 1 0 , 1 7 - 2 3 „die Reminiszenz einer konkreten Jüngerberufung" sehen können (Merklein 100 Anm. 445). So wird der Spruch Mt 6,32 f par. Lk 1 2 , 2 9 - 3 1 , der im Lichte der nahen Basileia zur Distanz von irdischem Besitz aufruft, die Haltung Jesu widerspiegeln. Auch die Argumentation vom Schöpferglauben her (Lk 12,22 ff par. Mt 6,25 ff) könnte auf Jesus zurückgehen (Hoffmann/Eid 51 f). Problematischer sind die grundsätzlich besitzfeindlichen Logien. Die Weherufe Lk 6 , 2 4 - 2 6 dürften die spätere kirchliche Situation spiegeln (Schürmann [HThK 3/1] 340 f). Angesichts der in allen Quellenschichten belegten Tatsache, daß sich Jesus von Wohlhabenden zu Tische laden (Mk 2,15; 14,3; Mt 11,19 par. Lk 7,36 ff u.ö.) und unterstützen ließ (Lk 8 , 1 - 3 ; vgl. Mk 15,40 f) und daß er das Fasten ablehnte (Mk 2,19a), wird man annehmen müssen, er habe „den Besitz nicht mit den kritisch-fanatischen Augen des asketischen Rigoristen" gesehen (Hengel, Eigentum 35). Man wird also mit einer nachträglichen „asketischen Radikalisierung" der Haltung Jesu zu rechnen haben (Fischer; Braun). 2. Die synoptischen
Evangelien
2. 1 .Mk hat das Apophthegma vom reichen Jüngling zu einer grundsätzlichen Stellungnahme ausgebaut (Mk 1 0 , 1 7 - 3 1 ) . Mit Hilfe der redaktionellen Uberleitung V. 24 (Gnilka [EKK 2/2] 24 f) fügt er das radikal besitzfeindliche Logion V. 25 an, das er in den redaktionellen W . 26f entschärft (Egger 198). Denn Mk kennt positive Fälle, in denen das Eigentum den Anschluß an die Gemeinde nicht verhindert hat; ihnen gilt, veranschaulicht an den Jüngern, die Verheißung irdischen und jenseitigen Ausgleichs (V. 29f). 2. 2. Mt übernimmt zwar einen Teil der Reichtumskritik aus Q, aber er mildert sie ab, indem er die Seligpreisung der Armen spiritualisiert (Mt 5,3; vgl. Strecker; Dupont, Béatitudes III, 3 8 6 - 4 7 1 ) und die Weherufe gegen die Reichen überhaupt wegläßt. Die Forderung des Besitzverzichts an den reichen Jüngling stellt Mt unter die Bedingung „Wenn du vollkommen sein willst..." (Mt 19,21), wobei er nicht an eine „Zweistufenethik" (so noch
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Braun 76; Bammel 903) denken dürfte (Barth 8 9 - 9 3 ) , wohl aber Nachfolge als „Uberbietung des Haltens der Gebote" ansieht (Kretschmar 55). Mt kennt „zwei Weisen des Wandels vor Gott: das Halten der Gebote, also der Tora, und die Nachfolge" (ebd.). Seine Gemeinde umfaßt einerseits Christen, die Eigentum haben, also Almosen geben und zum Gebet in ein „stilles Kämmerlein" gehen können (Mt 6,1—6), und andererseits besitzlose Wandercharismatiker, für welche die Aussendungsrede Mt 10 „exemplarische Bedeutung" hat (Hoffmann 256). 2. 3. Lk übernimmt nicht nur die Eigentumskritik seiner Vorlagen, sondern setzt auch eigene Akzente. So hat er die Gleichnisse vom ungerechten Haushaltcr und vom reichen Mann und armen Lazarus in Kap. 16 so verknüpft, daß sie als Belehrung über rechten und falschen Gebrauch des Eigentums dienen (Dupont, Béatitudes III, 1 6 3 - 1 6 7 ) . Jüngerschaft setzt Aufgabe allen Besitzes voraus (5,11.28; 14,33; dazu Dupont: N R T 93); echte Buße hat Trennung vom Vermögen zur Folge (Lk 19,8 ist redaktionell: Dupont, Béatitudes II, 250f); redaktionell sind auch die Mahnungen zum Almosengeben in 11,41 (Dupont, ebd. I, 3 1 7 - 3 2 0 ) und 12,33a (Dupont, ebd. I, 7 9 - 8 1 ) . Dazu kommen die Summarien Act 2 , 4 2 - 4 7 ; 4 , 3 2 - 3 5 , nach denen die Jerusalemer Urgemeinde vollkommene Gütergemeinschaft geübt haben soll, so daß niemand Not leiden mußte. Nach dem methodologisch klaren Nachweis von Mönning sind diese Summarien lukanische Verallgemeinerung überlieferter Einzelfälle freiwilligen Eigentumsverzichts. Lk schreibt damit der Urgemeinde das griechisch-hellenistische Gemeinschaftsideal zu (Quellen: Mönning 75—84); außerdem klingt in Act 4,34 die Verheißung Dtn 15,4 [LXX] an, die als erfüllt dargestellt wird. Allerdings erhebt der lukanische Paulus nirgends solche Forderungen; die ihm in den Mund gelegte Maxime „Geben ist seliger denn Nehmen" (Act 20,35) mahnt nur zum Ausgleich der Eigentumsverhältnisse. Degenhardt versuchte, die Aussagen auf einen Nenner zu bringen, indem er die Forderung des Eigentumsverzichts vornehmlich den kirchlichen Amtsträgern gelten lassen wollte, deren Repräsentanten die Jünger seien; dagegen spricht die genauere Untersuchung des Jüngerbegriffs bei Lk (Schürmann [ H T h K 3 / l ] 321). Schmithals wollte die lukanischen Aussagen als Reaktion auf die akute Verfolgungssituation der Gemeinden verstehen; doch hebt Lk auf die Freiwilligkeit des Verzichts ab, und in Lk 18,29 f läßt er den in der Mk-Vorlage enthaltenen Hinweis auf Verfolgungen (Mk 10,29) gerade aus. Eine Lösung zeichnet sich ab, wenn man die zwei Linien der Eigentumsaussagen gesondert betrachtet. Die Forderung des radikalen Besitzverzichts gilt für die Jünger Jesu, die in der Zeit der heilsgeschichtlichen Erfüllung Jesus nachfolgen. Christsein in der Zeit der Kirche ist aber etwas anderes als Nachfolge Jesu (Betz 4 0 f). So gelten für die Kirche die schon im Evangelium auch an Außenstehende gerichteten Mahnungen zum Almosengeben und Besitzausgleich. Man kann das gegenüber der Verkündigung Jesu eine „Verengung" nennen (Greeven 92), doch ist es für die hellenistische Welt, der das Zeugnis des Lk gilt, sicher eine bedeutsame Hilfe gewesen, gab es dort doch keine organisierte Armenpflege. So hat bereits Lk den altkirchlichen „Liebespatriarchalismus" vorbereitet (Theißcn, Studien 268 ff).
3. Paulinisches
und deuteropaulinisches
Schrifttum
3. 1. Die paulinische Mission richtet sich auf die städtisch-hellenistische Kultur des Mittelmeerraumes. Von diesem Hintergrund ist sowohl der Verzicht des Paulus auf das apostolische Unterhaltsrecht (I Kor 9; vgl. Theißen, Studien 2 0 1 - 2 3 0 ) als auch seine Stellung zum Eigentum bestimmt: „der ethische Radikalismus der Jesusbewegung, ihr Ethos der Familien*, Heimat-, Besitz- und Schutzlosigkeit hätte in den von ihm gegründeten Gemeinden keinen Lebensraum gehabt" (Theißen, Soziologie 107). Der besitzlose Wandermissionar Paulus hat Selbstgenügsamkeit gelernt (Phil 4,11), ohne jedoch diese Autarkie zu einem asketischen Ideal zu erheben. Zwar fordert er, die Stellung des Christen zur Welt solle durch eschatologische Distanz bestimmt sein (I Kor 7 , 2 9 - 3 l a ; vgl. Schräge), aber das faktische Vorhandensein von sozialen Unterschieden in den paulinischen Gemeinden wird einfach vorausgesetzt (I Kor 1,26 ff; dazu Theißen, Studien 231 - 2 7 1 ) . Angeprangert wird nur die Habsucht (I Thess 4,6; I Kor 5,10 f; 6,10; Rom 1,29). Im Zusammenhang mit der Kollekte für Jerusalem kann Paulus auch mit dem griechischen Gleichheitsgedanken argumentieren (II Kor 8,13 f). Hier liegt eine weitere Wurzel für den altkirchlichen „Liebespatriarchalismus".
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3. 2. Die Paulusschule hat die Position des Liebespatriarchalismus ausgebaut. Z w a r klingt gelegentlich popularphilosophisch getönte Kritik am Reichtum an (I Tim 6 , 9 ff; dazu Hengel, Eigentum 1 8 . 6 3 f ) , es wird vor Habgier gewarnt (Kol 3 , 5 ; Eph 4 , 1 9 ; 5 , 3 . 5 ; I Tim 6 , 1 7 ; Hebr 1 3 , 5 ) , aber insgesamt erscheinen Eigentum und Besitz als etwas Normales, wenn nur der Aspekt der Wohltätigkeit nicht vergessen wird (Eph 4 , 2 8 ; I Tim 6 , 1 7 f f ; Hebr 1 3 , 1 6 ) . Verlust des Eigentums wird im Wissen um einen besseren, bleibenden Besitz ertragen (Hebr 1 0 , 3 4 ) . Wie selbstverständlich der Umgang mit Geld geworden ist, zeigt die Mahnung zu angemessener Entlohnung der Amtsträger (I Tim 5 , 1 7 f ; II Tim 2 , 6 ) , ja es muß sogar schon vor deren Profitgier gewarnt werden (I Tim 3 , 3 . 8 ; Tit 1 , 7 ; I Petr 5 , 2 ) , und Irrlehrern wird selbstverständlich Gewinnsucht unterstellt (I T i m 6 , 5 ; Tit 1 , 1 1 ; II Petr 2 , 1 4 ) . 4. Die Nachwirkungen
der apokalyptischen
Eigentumskritik
4. 1. Der —>Jakobusbrief spiegelt eine Situation, in der „die Reichen schon anfingen, Eingang in die Gemeinde zu suchen und der A r m e bereits eine Person minderer Wertschätzung . . . geworden w a r " (Bammel 9 1 1 ) . Dagegen prangert der Verfasser nicht nur asoziales Verhalten der Reichen an ( 2 , 5 f; 6 , 4 - 6 ) , sondern kritisiert die Haltung der Reichen grundsätzlich ( 1 , 1 0 ) und sagt ihnen im Stile prophetischer Unheilsankündigung das bevorstehende Gericht Gottes an ( 5 , 1 - 1 1 ) . Hier sind Nachwirkungen der frühjüdischen Armenfrömmigkeit erkennbar (Mußner [ H T h K 1 3 / 1 ] 7 6 - 8 4 ) . 4. 2. Die —»Apokalypse des Johannes kündigt in einer Vision den Sturz der gottfeindlichen Stadt R o m an, wobei sie deren Reichtum und zivilisatorischen Luxus anprangert. Im Hintergrund dieser prophetischen Ankündigung, die in Anlehnung an Ez 2 6 / 2 7 formuliert ist, „läßt sich als Grundstimmung wohl noch die alte prophetische Kulturfeindschaft fühlen und die Abneigung der F r o m m e n gegen die Üppigkeit und Weichlichkeit und gegen das Wohlleben der Großstadt. Es ist eine puritanische oder pietistische Stimmung, die in diesen Liedern zum Ausdruck k o m m t " (Kraft [ H N T 1 6 a ] 2 3 2 ) . Auch die übrige frühchristliche Apokalyptik handelt gerne von den Strafen der gottlosen Reichen (ApkPetr 3 0 ; A c t T h o m 5 6 ; Sib 2 , 2 5 ff). Literatur Ernst Bammel, Art. nrwxôç: T h W N T 6 ( 1 9 5 9 ) 8 8 8 - 9 1 5 . - Gerhard Barth, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus: Günther Bornkamm/Gerhard Barth/Heinz Joachim Held, Überlieferung u. Auslegung im Matthäusevangelium, 1960 = ' 1 9 7 5 (WMANT 1) 5 4 - 1 5 4 . - H a n s Dieter Betz, Nachfolge u. Nachahmung Jesu Christi im NT, 1967 (BHT 37). - Herbert Braun, Spätjüd.-häretischer u. frühchristl. Radikalismus. Jesus v. Nazareth u. die essenische Qumransekte. II. Die Synoptiker, 1957 (BHTh 24). - Hans-Joachim Degenhardt, Lukas-Evangelist der Armen, Stuttgart 1965. - Jaques Dupont, Les Béatitudes, 3 Bde., Paris 1 9 6 9 - 7 3 . - Ders., Renoncer à tous ses biens (Luc 14,33): N R T 93 (1971) 5 6 1 - 5 8 2 . - Wilhelm Egger, Nachfolge als Weg zum Leben, 1979 (ÖBS 1). - Karl Martin Fischer, Asketische Radikalisierung der Nachfolge Jesu: Theol. Versuche, Berlin IV, 1972, 1 1 - 2 5 . Heinrich Greeven, Das Hauptproblem der Sozialethik in der neueren Stoa u. im Urchristentum, 1935 (NTF3,4).-Friedrich Hauck/Wilhelm F. Kasch, Kn.nXovzoç-, T h W N T 6 (1959) 3 1 6 - 3 3 0 . - M a r t i n Hengel, Nachfolge u. Charisma,1968 (BZNW 34). - Ders., Eigentum u. Reichtum in der frühen Kirche, Stuttgart 1973. - Paul Hoffmann, Studien zur Theol. der Logienquelle, 1972 (NTA NF 8). - Paul Hoffmann/Volker Eid, Jesus v. Nazareth u. eine christl. Moral, 3 1 9 7 9 (QD 66). - Luke Timothy Johnson, The Literary Function of Possessions in Luke-Acts, 1977 (SBLDS 39). - Georg Kretschmar, Ein Beitr. zur Frage nach dem Ursprung frühchristl. Askese: ZThK 61 (1964) 2 7 - 6 7 . - Werner Georg Kümmel, Der Begriff des Eigentums im NT: ders., Heilsgeschehen u. Gesch. GAufs., 1 1 9 6 5 (MThSt 3) 2 7 1 - 2 7 7 . - Helmut Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, 1978 (fzb 34). - Bernd H. Mönning, Die Darstellung des urchristl. Kommunismus nach der Apostelgesch. des Lk, Diss. Theol. Göttingen 1978. - George W . E . Nickelsburg, Riehes, the Rieh, and God's Judgement in 1 Enoch 9 2 - 1 0 5 and the Gospel according to Luke: NTS 25 (1978/79) 3 2 4 - 3 4 4 . - Walter Schmithals, Lukas-Evangelist der Armen: ThViat 12 (1975) 1 5 3 - 1 6 7 . - Wolfgang Schräge, Die Stellung zur Welt bei Paulus, Epiktet u. in der Apokalyptik: ZThK 61 (164) 1 2 5 - 1 5 4 . - Georg Strecker, Die Makarismen der Bergpredigt: NTS 17 (1970/71) 2 5 5 - 2 7 5 . - Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 2 1978 (TEH 194). - Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979 (WUNT 19). Helmut Merkel
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Eigentum IV
IV. Alte Kirche 1. Fürsorge für den Nächsten Stimmen (Literatur S. 417) 1. Fürsorge für den
2. Fremdes Eigentum
3. Clemens von Alexandrien
4. Weitere
Nächsten
Die Stellung der frühen Christen zum Eigentum ist durch das Paradox von II Kor 6,10 (De Wette eingeleitet und auf Jahrzehnte hin, ja in einigen Punkten sogar bis in jüngste Fragestellungen hinein bestimmt. Darin wohl von Herder angeregt, ist De Wettes Grundanliegen, „das Fremde ausreden zu lassen", nicht etwa die eigenen Vorstellungen und Uberzeugungen in das Fremde hineinzutragen (R. Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten u. am Neuen Testament, 1958, 24). Damit ist zugleich die Funktion der Einleitungswissenschaft beschrieben: Sie will mit ihrer historisch-kritischen Forschung das Verständnis der biblischen Texte fördern, indem sie „die zur Erklärung notwendigen Materialien an die Hand gibt" (De Wette, Lehrbuch 22). 1 8 0 6 - 1 8 0 7 brachte De Wette die Beiträge heraus, und 1818 erschien sein Lehrbuch. Das Vorwärtsweisende in De Wettes Arbeiten ist die sicher gehandhabte Methode, religionsgeschichtliche Erkenntnisse mit den literarkritischen Ergebnissen zu verbinden. Seine Arbeiten über Dtn und I/II Chr gaben ihm den Schlüssel in die Hand, junges von altem Gut unterscheiden und folglich auch das Werden der biblischen Bücher wie des Alten Testaments überhaupt einigermaßen zutreffend bestimmen zu können. Dabei ist besonders hervorzuheben De Wettes Einfluß auf den Fortgang der literarkritischen Forschung am —»Pentateuch und dessen Einschätzung als eines Glaubensdokumentes mehr als eines Geschichtswerks. Ebenfalls hat er eine Klassifizierung der —»Psalmen nach formalen wie nach inhaltlichen Merkmalen unternommen und die Auffassung vertreten, daß Namen wie —»Mose, —«David oder—»Jesaja, die als Autoren biblischer Stücke gelten, eher als Symbole, unter denen gesammeltes Uberliefcrungsgut zusammengefaßt wird, zu verstehen sind. Im Vordergrund der Einleitungswissenschaft steht für fast ein Jahrhundert die Pentateuchquellenfrage, weil ihre Lösung den Rahmen für die Auffassung der wichtigsten Epochen der—»Geschichte Israels sowie die zeitliche Einordnung der alttestamentlichen Literaturhergibt. Durch Eichhorns Einleitung, der die Vorarbeiten J. J. Astrucs aufnahm und ausbaute, allerdings ohne Kenntnis der Arbeit von H. B. Witter, wurde das literarkritische Problem einer breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit bewußt; De Wette lieferte wichtige Vorstudien und modifizierte sie auch. Indes erhielt sie durch die Spätdatierung der —»Priesterschrift in die nachexilische Zeit, durch die Ansetzung des —»Jahwisten in die frühe und des —»Elohisten in die mittlere Königszeit durch K. H. —»Graf und A. —»Kuenen ihre im wesentlichen heute noch gültige Gestalt. Diesen Wandel der Anschauungen in beeindruckender Weise vorgetragen und zu einem genialen Gesamtbild ausgestaltet zu haben, ist das Verdienst von J. -> Wellhausen (vgl. L.Perlitt, Vatke u. Wellhausen, 1965 [BZAW 94]). Innerhalb der Einleitungswissenschaft selbst ist diese neue Sicht der Dinge in der Neubearbeitung der 4 . - 6 . Auflage der Einleitung des De Wette-Schülers Friedrich Bleek durch J. Wellhausen wirksam geworden. Das klassische Handbuch allerdings, in dem diese historisch-kritische Arbeit ihren Niederschlag fand, war das zwar sehr gründliche, aber trocken geschriebene und schwer zu lesende Werk von A. Kuenen, vor allem in der 2. Auflage, obwohl er durch seinen beeindruckenden programmatischen Methodenaufsatz Kritische Methode (GAufs zur bibl. Wiss., dt. v. K. Budde, 1894,3—46) der Literarkritik als Grundform historisch-kritischen Arbeitens zum Durchbruch verholfen hat. Von Eduard Reuß erschien 1881 ein Lehrbuch, dessen glänzender Stil und lebendige Darstellung noch heute besticht. In der Vor-
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rede macht er darauf aufmerksam, daß er bereits seit 1834 die wichtigsten Ergebnisse, daß nämlich die —»Propheten älter sind als das —»Gesetz und daß die Psalmen jünger sind als beide, in den Vorlesungen vorgetragen und dadurch u.a. auch Graf stimuliert habe. Insofern, als Reuß eine Literaturgeschichte, gegliedert in die Zeit der Helden, Propheten, Priester und Schriftgelehrten, vorlegt, ist sein Werk auch in formaler Hinsicht ein Gegenstück zur Einleitung Kuenens, auch Wellhausens. Auf der gleichen Ebene befinden sich in der Folgezeit eine ganze Reihe von Einleitungen, die der historisch-kritischen Forschung am Alten Testament im Geiste Wellhausens verpflichtet sind. Für den englischen Sprachraum ist auf das Buch von W. Robertson —»Smith und die Einleitung von S. R. —»Driver und für den holländischen Bereich auf die Letterkonde von G. Wildeboer zu verweisen. Das am weitesten verbreitete einheimische Lehrbuch war die Einleitung von C. H. Cornill, und schließlich gehört hierher noch die monumentale, z. Z. ihres Erscheinens allerdings schon überholte Einleitung von C. Steuernagel. Der neuerliche Fortschritt innerhalb der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft kam diesmal nicht dadurch zustande, daß die kritischen Angriffe auf die sog. WellhausenSchule die Suche nach neuen Erkenntnissen ausgelöst hätten; denn, wie die Einleitungen von H. L. Strack, E. Riehm, E. König, W. W. Graf Baudissin und E. Sellin zeigen, nehmen sie die Fragestellungen der Wellhausen-Schule auf, sind mit ihren kritischen Antworten jedoch sehr viel zurückhaltender und versuchen einen Ausgleich mit den konservativeren Vorstellungen. Der für die alttestamentliche Einleitungswissenschaft außerordentlich fruchtbare, bis in die Gegenwart nachwirkende Impuls kam von der literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise her. Vorbereitet durch Herder, gelang dieser Forschungsrichtung durch die methodisch klaren, überzeugenden Arbeiten von H. —»Gunkel (vgl. W.Klatt, Hermann Gunkel, 1969 [FRLANT 100]) und die darauf aufbauenden und die „Gunkelsche Methode" im Blick auf die Form- und Uberlieferungsgeschichte (—»Formgeschichte/Formenkritik, —»'Traditionskritik/Traditionsgeschichte) verfeinernde Weiterarbeit von H. —»Greßmann (bes. Mose und seine Zeit, 1913) der Durchbruch in der alttestamentlichen Wissenschaft, der nicht zufällig wiederum durch programmatische Methodendarlegungen erzielt wurde, nämlich durch Gunkels Aufsätze Ziele und Methoden der Erklärung des Alten Testaments (MKP Grundprobleme 4 = ZPrTh 26 [1904] 5 2 1 - 5 4 0 = ders., GAufs., 1913, 1 1 - 2 9 ) undD/V der israelitischen Literaturgeschichte (DLZ 2 7 [ 1 9 0 6 ] 1 7 9 7 - 1 8 0 0 . 1 8 6 1 - 1 8 6 6 = GAufs., 1913, 29—38). Nach der vorwiegend literarkritisch ausgerichteten Forschungsphase trat nun die formkritische Arbeit in den Vordergrund, zugleich begleitet von einer auch den Stil beachtenden Forschungsrichtung, wie sie erstmals von L. Köhler (Deuterojesaja, stilkritisch untersucht, 1923) voll repräsentiert wurde. Die Formkritik bemühte sich um die aus dem Zusammenspiel von Form und Inhalt hervorgegangenen literarischen Gattungen, suchte ihren „Sitz im Leben" zu bestimmen und verfolgte sie somit in die vorliterarische, mündliche Uberlieferungsphase zurück. Die Ausdehnung der Dauer der mündlichen Überlieferung bis in die nachexilische Zeit hinein durch I. Engnell bedeutet einerseits eine erhebliche Aufwertung der Rolle der mündlichen Tradition, andererseits aber eine völlige Verneinung der literarkritischen Forschungsrichtung und stellt deshalb eine so nicht vertretbare Vereinseitigung dar, die jedoch zu erneutem genaueren Durchdenken der Art und Weise sowie des Zeitpunkts der Literaturwerdung mündlicher Überlieferung geführt und literarkritische Überspitzungen abzubauen geholfen hat. Ihre erste Aufnahme fand diese neue Forschungsrichtung in die herkömmlich literarkritisch bestimmte alttestamentliche Einleitungswissenschaft in der Einleitung von O. —»Eißfeldt. Sie geschah in der Weise, daß den traditionell der Einleitung zugehörenden Teilen: Analyse der Bücher, Kanon- und Textgeschichte ein neuer Teil vorgeordnet wurde, der sich mit den Gattungen, der mündlichen Überlieferung sowie den Anfängen der Traditionsbildung eingehend befaßt. Ähnlich verfahren eine ganze Reihe internationaler Einleitungen der letzten Jahrzehnte, einmal mehr die formkritische Forschung, auch in ihrer kultbestimmten Variante (so z. B. A. Weiser) beachtend, ein andermal mehr dem herkömmlichen literarkritischen Forschen folgend oder auch eigene Wege gehend (so etwa Cook). Mit der literaturge-
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schichtlichen Fragestellung war zugleich ein anderer grundlegender Gedanke verbunden. Er ist aus dem Ungenügen heraus geboren, daß die zergliedernde Analyse nicht das letzte Wort haben dürfe, sondern an die Stelle des kritischen Auflösens die schöpferische Synthese aller kritischen Arbeitsergebnisse treten oder doch die Analyse zur Synthese als dem erstrebenswerten Ziel einleitungswissenschaftlicher Forschung führen und daß eine solche Zusammenschau geschichtlich orientiert sein müsse. Das Motto lautet demnach: Schaffung einer alttestamentlichen —»Literaturgeschichte. Da die herkömmlichen derartigen Werke nach den Verfassern und nach der Entstehungszeit ihrer Bücher geordnet sind, demgegenüber aber weder die Entstehungszeit der alttestamentlichen Bücher noch deren Verfasser bekannt sind oder feststehen, muß in einer alttestamentlichen Literaturgeschichte an deren Stelle das für die alttestamentliche Literatur Typische treten. Folglich kann eine alttestamentliche Literaturgeschichte nur eine Geschichte der in Israel gebräuchlichen Gattungen und Literaturformen sein. Gunkel hat dieser seiner Forderung in einem programmatischen Entwurf Rechnung getragen (Die israelitische Literatur). So schrieb J. Hempel Die althebräische Literatur und ihr hellenistisch-jüdisches Nachleben, wobei ihm an der Verflechtung der Literatur- mit der Religions- und Geistesgeschichte Israels besonders gelegen war, wie vor ihm schon Titel wie die von K. Budde, G. Wildeboer oder J. A. Bewer erschienen waren. Als Nachklang dieser Versuche darf A. Lods Histoire genannt werden. Die keinesfalls neue Erkenntnis, daß eine solche literaturgeschichtliche Zusammenschau die analytische Kleinarbeit voraussetzt und daß die Aufhellung der Entstehung der Bücher oder auch der Buchteile des Alten Testaments mit Hilfe der gattungsgeschichtlichen Methode unbefriedigend ist, hat dazu geführt, daß der von Eißfeldt eingeschlagene Weg auch von den anderen gängigen Lehrbüchern beschritten, also die berechtigten Anliegen der Gattungsforschung und der Erkundung der mündlichen Überlieferung als Ergänzung und Bereicherung der herkömmlichen Einleitungswissenschaft empfunden wurde. Aus dem Zeitraum bis in die 50er Jahre hinein gehören hierher die Einleitungen von W. O. E. Oesterley/Th. H. Robinson, A. Weiser, R. H. Pfeiffer, Th. C. Vriezen, A. Bentzen, H. H. Rowley, C. Kühl oder auch noch die Neubearbeitung der Sellin'schen Einleitung durch L. Rost (dazu ders., Einleitung). Die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Gang kommende Diskussion über die exegetische Methodik erwies mit ihren Ergebnissen, die verschiedenen Methoden nicht zu vereinseitigen oder gar zu verabsolutieren, sondern sie gemeinsam zu handhaben und ihre ganz spezifischen Fragestellungen in je ihrer Besonderheit zu belassen, aber sie zu einem Methodenbündel zusammenzufügen (vgl. H. Ringgren, Literarkritik, Formgeschichte und Überlieferungsgeschichte: ThLZ 91 [1966] 6 4 1 - 6 5 0 ; R. Rendtorff, Litterärkritik och traditionshistoria: SEÄ 31 [1966] 7 - 2 0 ; dt.: Ev Th 27 [1967] 1 3 8 - 1 5 3 ) , den in der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft eingeschlagenen mittleren Weg einer Integration der diesen Fragestellungen gewidmeten Partien in die herkömmlich literarkritisch bestimmten Teile als grundsätzlich richtig und gab ihm somit auch die notwendige methodische Fundierung. Hierzu dürfen nahezu alle in der Gegenwart gängigen Einleitungen gerechnet werden, zu denen außer den oben bereits genannten Werken noch die Lehrbücher von G. W. Anderson, H. Cazelles U;a., G. Fohrer (Neubearbeitung Sellin-Fohrer), O. Kaiser, J.A. Soggin, R. Smend und W . H . Schmidt hinzukommen. 4. Abschließende
Überlegungen
Auch wenn, wie wir sahen, über die grundsätzlichen Probleme einer alttestamentlichen Einleitung heute darin weitgehend Übereinstimmung herrscht, daß es ein Zurück hinter die historisch-kritische Forschung nicht mehr geben kann (anders allerdings W. Möller) und daß die Analyse der alttestamentlichen Bücher mit der Literaturgeschichte zu verbinden ist, bleiben doch eine ganze Reihe von Fragen offen, die die gegenwärtige Diskussion bestimmen. Mehr formaler Art scheint zunächst der Dissens in der Namengebung eines solchen Buches zu sein. Während die Mehrzahl an dem herkömmlichen Terminus „Einleitung" fest-
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hält, bevorzugen andere den Titel „Entstehung" (H.H. Rowley; C. Kühl; R. Smend; vgl. auch Bernhardt 487: „Die Aufgabe der atl. Einleitungswissenschaft ist, die Geschichte des AT zu erforschen und darzustellen"). Sie gehen dabei von der Einsicht aus, daß der Versuch, eine „Geschichte" des Alten Testaments oder gar der alttestamentlichen Literatur zu schreiben, wohl doch der wissenschaftsgeschichtlichen Vergangenheit angehört oder sogar angehören muß, weil die notwendigen Voraussetzungen fehlen und die Beschaffenheit der Sammlung des Alten Testaments selbst einem solchen Unternehmen entgegensteht (vgl. Smend 9). Und was gar eine alttestamentliche Literaturgeschichte angeht, so sahen wir schon, daß jede Systematisierung auf die Vorarbeit der Analyse angewiesen bleibt, abgesehen davon, daß der alttestamentliche Kanon eine bewußte oder auch zufällige Auswahl aus der viel breiteren hebräisch-israelitisch-jüdischen Nationalliteratur darstellt. Um aber der Grunderkenntnis gerecht zu werden, daß das Alte Testament in einem Jahrhunderte langen geschichtlichen Prozeß entstanden und zu dem geworden ist, was es heute darstellt, gehen diese Forscher den gegenüber einer „Geschichte" entgegengesetzten Weg und verfolgen die Entstehung und das Werden des Alten Testaments in die Geschichte zurück. Dabei wird hier genauso analytisch gearbeitet wie in den herkömmlichen Einleitungswerken. Ein grundsätzlicher methodischer und auch ein inhaltlicher Unterschied besteht also nicht. Man meint, lediglich mit dem Begriff „Entstehung" die Sache der Einleitungswissenschaft präziser erfassen zu können. Auch der zweite Diskussionsgegenstand ist auf den ersten Blick nicht schwerwiegend. Es geht um die Frage über den Ausgangspunkt des analytischen Vorgehens. Setzt man bei dem Alten Testament in seiner gegenwärtigen Gestalt ein und analysiert es im Rückwärtsschreiten in die Geschichte hinein (so zuletzt Smend), oder nimmt man seinen Ausgangspunkt bei der allerersten Stufe der mündlichen Überlieferung und verfolgt den Wachstumsprozeß bis zu seiner Endform in Gestalt des alttestamentlichen Kanons (so im großen und ganzen zuletzt Fohrer)? Die zuerst genannte Möglichkeit hat den Vorzug, nach bewährtem methodischen Grundsatz zu verfahren und sich vom Sicheren behutsam in das weniger Gewisse zurückzutasten. Das entgegengesetzte Verfahren indes hat den Vorteil, daß deutlicher hervortritt, wo und wie jüngere Uberlieferungsschichten jeweils die älteren korrigieren oder aktualisieren oder auch interpretieren, jedenfalls diese voraussetzen und sich auf sie beziehen. So hat jedes der beiden Systeme seinen Vorteil, und es bleibt unentschieden, ob man einem von ihnen den Vorzug geben oder nicht doch versuchen sollte, beide Fragerichtungen, wo es möglich erscheint, miteinander zu verbinden, genauso wie man die verschiedenen Betrachtungsweisen von Analyse und Synthese in den modernen Werken der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft aufzugreifen und sie so je zu ihrem Recht kommen zu lassen versucht. Wie bereits aus den beiden Diskussionsgegenständen ersichtlich wurde, ist das Bemühen in der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft gegenwärtig noch immer auf die Frage der Methodik gerichtet. Da das Recht jeder einzelnen Methode unbestritten ist und auch die Forderung nach Integration der verschiedenen Methoden prinzipiell anerkannt wird, geht es jetzt darum, Recht und Grenze, Blickrichtung und Zielvorstellung der jeweiligen Methode noch genauer und vor allem differenzierter zu erfassen und somit der Gefahr von Verallgemeinerungen zu entgehen. Daß dabei die Methoden selbst noch einmal kritisch überprüft werden, versteht sich von selbst. Nun kann man, wie die Vergangenheit zur Genüge gezeigt hat, Methodenfragen streng theoretisch diskutieren. Überzeugender wurden, sieht man von seltenen Ausnahmen ab, jedoch stets diejenigen Methodiker, die ihre theoretischen Vorstellungen und Überzeugungen am praktischen Modell, also an Texten und Textgruppen vorführten und entwickelten. Nachdem man noch vor Jahren innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft solchen Themen wie —> Apokalyptik, —»Weisheit, —»Prophetie, um nur diese zu nennen, seine besondere Aufmerksamkeit zuwendete und eine ganze Reihe neuer Einsichten erarbeitete, die natürlich auch in die Einleitungswissenschaft einflössen und sie folglich mittelbar bestimmten, so hat sich doch in der letzten Zeit die Diskussion erneut am —»Pentateuch entzündet und abermals der klassischen Frage zugewendet, wie am einleuchtendsten sein Wachsen und
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Werden zu erklären ist. Werke wie die von P. Weimar (Unters, zur Redaktionsgesch. des Pentateuch, 1977 [BZAW 146]); R. Rendtorff (Das überlieferungsgesch. Problem des Pentateuch, 1977[BZAW 147]); H . H . Schmid (Dersog. Jahwist. Beobachtungen u. Fragen zur Pentateuchforschung, 1976) stehen hierfür beispielhaft. Daß dabei die Auseinandersetzung sowohl mit der literarkritischen, als auch mit der form- und überlieferungsgeschichtlichen Methode geführt werden muß, versteht sich von selbst, und es bleibt abzuwarten, welche Ergebnisse dabei erzielt und auf die Dauer als tragfähig erkannt werden. Doch soviel ist schon jetzt deutlich, daß eine grundsätzlich neue, auch die Resultate der sog. WellhausenSchule hinter sich lassende Theorie von der Pentateuch-Entstehung nicht zu erwarten ist (vgl. E. Otto, Stehen wir vor einem Umbruch in der Pentateuchkritik?: VF 22 [1977] 8 2 - 9 7 ) . Im Blick auf die allzu große Sicherheit oder gar Unbekümmertheit, mit der in jüngster Vergangenheit mit solchen eben doch hypothetischen Größen wie J, E, P oder R umgegangen wurde, ist diese Diskussion schon hilfreich, weil sie Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit erneut in Frage stellt und so den einzig möglichen Weg wissenschaftlichen Fortschritts weist. O b sich daraus für die alttestamentliche Einleitungswissenschaft eine neue Phase der Forschungsgeschichte ergibt, vergleichbar der mit den Namen Wellhausen oder Gunkel verbundenen Ansätze, bleibt abzuwarten, auch wenn es kaum wahrscheinlich ist. Auch das in jüngster Zeit stark angewachsene altorientalische Vergleichsmaterial stellt die alttestamentliche Einleitungswissenschaft vor neue Fragestellungen oder zwingt sie doch zu erneuter Uberprüfung bisheriger Urteile. Das bezieht sich sowohl auf die Tatsache, d a ß altorientalische Texte weithin den Charakter von Originaldokumenten tragen, die alttestamentlichen Texte hingegen bestenfalls solche Dokumente in größerer Rahmung bzw. in weitere literarische Zusammenhänge eingearbeitet enthalten oder auch nur vorgeben, sie zu enthalten. Damit wird noch schärfer der Unterschied zwischen dem Alten Testament oder einigen seiner Teile und den Uberresten altorientalischer Literatur sichtbar, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß es für einen Vergleich kein adäquates literarisches Gegenstück zum Alten Testament in der altorientalischen Literatur gibt (vgl. Bernhardt 482—484). Damit wird auf die besondere Qualität des Alten Testaments als einer, für die israelitisch-jüdische und dann auch christliche Religion verbindlichen Büchersammlung erneut aufmerksam gemacht. Bei aller Berechtigung literarkritischer und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen darf die Besonderheit der alttestamentlichen Texte und Texteinheiten als Glaubenszeugnis gegenüber allen anderen alten Literaturwerken nicht außer acht gelassen werden. Damit steht ein letztes Problem in engem Zusammenhang, worauf in gewisser Hinsicht das Drängen zur Systematisierung der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft bereits andeutend hinwies. Es scheint so, als ob die kritischen Warnungen von De Wette, die alttestamentlichen Texte würden, nähme man sie als Quellen für die Geschichte, ihrer Eigenintention zuwider behandelt, weil sie ja vorab Glaubensaussagen oder dergleichen machen oder doch zum Glauben an den Gott des Alten Testaments auffordern bzw. das Vertrauen auf diesen Gott stärken wollten, heute abermals ernsthaft gehört und erwogen werden, steht doch die Frage nach einer —»Biblischen Theologie sowie nach dem Ertrag alttestamentlicher Einleitungswissenschaft für die christliche Theologie insgesamt zur Debatte (vgl. Childs) und verlangt nach einer allseits abgerundeten, der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichteten Antwort. Quellen George Wishart Anderson, A Critical Intr. to the OT, London 1 9 5 9 . - Wolf Wilhelm Graf Baudissin, Einl. in die Bücher des AT, Leipzig 1901. - Aage Bentzen, Intr. to the OT, Kopenhagen 1948/49 7 1967. - Julius August Bewer, The Literature of the O T i n its Historical Development, New York 1922 '1962. - Friedrich Bleek, Einl. in die Hl. Schrift. I. Einl. in das AT, Berlin 1864; NB v. J. Wellhausen "1878 '1893. - Karl Budde, Gesch. der althebr. Litteratur, Leipzig 1906 "1909. - Henri Cazelles u.a., Intr. critique ä TAT, Paris 1973. - Brevard Springs Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture, Philadelphia 1979. - Stanley Arthur Cook, The Old Testament New York 1936. - Carl Heinrich Comill, Einl. in das AT, Freiburg i. Br. 1891 '1913. - Wilhelm Martin Leberecht De Wette, Beitr. zur Einl. in das AT, Halle 1806/07. - Ders., Lb. der hist.-krit. Einl. in die kanonischen u. apokryphi-
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sehen Bücher des A T , Berlin 1 8 1 8 8 1 8 6 9 . — Samuel Rolles Driver, Intr. to the Literature o f the O T , London 1 8 9 1 v 1 9 1 3 ; dt. (nach der 5 . Aufl.): Einl. in die Literatur des A T , Berlin 1 8 9 6 . - J o h a n n Gottfried Eichhorn, Einl. in das AT, 3 Bde., Leipzig 1 7 8 0 - 1 7 8 3 , Göttingen 4 1 8 2 3 / 2 4 , 5 B d e . - O t t o Eißfeldt, Einl. in das A T , Tübingen 1 9 3 4 3 1 9 6 4 = 1 9 7 6 ; engl. 1 9 6 5 . - Ivan Engnell, G a m l a Testamentet. En traditionshistorisk inledning, Stockholm 1 9 4 5 . - Hermann Gunkel, Die israelit. Literatur: Kultur der Gegenwart, hg. v. P. HinneBerg, Leipzig, 1/7 1 9 0 6 , 5 1 - 1 0 2 ; 2 1 9 2 5 , 5 3 - 1 1 2 = 1 9 6 3 . - J o h a n n e s Hempel, Die althebr. Literatur u. ihr hell.-jüd. Nachleben, Wildpark-Potsdam 1 9 3 0 = 1 9 6 8 . - O t t o Kaiser, Einl. in das A T , Neukirchen 1 9 6 9 3 1 9 7 5 . - Eduard König, Einl. in das A T , Bonn 1 8 9 3 . - A b r a h a m Kuenen, Hist.-krit. onderzoek naar het ontstaan en de versameling van de boeken des ouden Verbonds, Leiden 1 8 6 1 - 1 8 6 5 2 1 8 8 5 - 1 8 9 3 ; dt.: Hist.-krit. Einl. in die Bücher des A T , Leipzig 1 8 8 5 - 1 8 9 4 . - Curt Kühl, Die Entstehung des A T , Bern 1 9 5 3 2 1 9 6 0 . - A d o l p h e Lods, Histoire de la littérature hébraïque et juive depuis les origines jusqu'à la ruine de l'état juif, Paris 1 9 5 0 . - Wilhelm Möller, Einl. in das A T , Z w i c k a u 1 9 3 4 . - Ders., Grundriß für atl. Einl., Berlin 1 9 5 8 . - William O s k a r Emil Oesterley/Theodore Henry Robinson, An Intr. to the B o o k s o f the O T , London 1 9 3 4 ' 1 9 5 8 . - R o b e r t Henry Pfeiffer, Intr. to the O T , New Y o r k / L o n d o n 1 9 4 1 = 1 9 5 7 . - Eduard Reuß, Die Gesch. der Hl. Schriften, Alten Testaments, Braunschweig 1 8 8 1 2 1 8 9 0 . - Eduard Karl August Riehm, Einl. in das A T , Halle 1 8 8 9 / 9 0 . - André R o bert/André Feuillet (Hg.), Intr. à la Bible. I. Intr. général, A T , par P. Auvray u. a., Paris 1 9 5 7 2 1 9 5 9 ; dt.: Einl. in die Hl. Schrift. I. Allg. Einleitungsfragen u. A T , Wien 1 9 6 3 / 6 4 . - Leonhard R o s t , Einl. in die atl. Apokryphen u. Pseudepigraphen einschließlich der großen Q u m r a n - H s s . , Heidelberg 1 9 7 1 . — Harold Henry Rowley, T h e Growth o f the O T , London 1 9 5 0 . - Werner H . Schmidt, Einf. in das A T , Berlin/New York 1 9 7 9 . - Ernst Sellin, Einl. in das A T , Heidelberg 1 9 1 0 7 1 9 3 5 ; N B v. Leonhard Rost, " 1 9 5 9 ; N B v . G e o r g Fohrer, 1 0 1 9 6 5 1 1 1 9 6 9 , - R u d o l f S m e n d , Entstehung des A T , 1 9 7 8 ( T h W 1 ) . - W i l liam Robertson Smith, T h e O T in the Jewish Church, Edinburgh 1 8 8 1 " 1 8 9 2 ; dt.: Das A T , seine Entstehung u. Uberlieferung, Tübingen 1 8 9 4 . — J . Alberto Soggin, Intr. all'Antico T e s t a m e n t o , Brescia, I 1 9 7 4 ; engl. 1 9 7 6 . - Carl Steuernagel, Lb. der Einl. in das A T , Tübingen 1 9 1 2 = München 1 9 7 8 . Hermann Leberecht Strack, Einl. in das A T , München 1 8 8 3 6 1 9 0 6 . - Theodorus Christiaan Vriezen, Oud-isrcalictische gcschriftcn, Den H a a g 1 9 4 8 4 1 9 7 3 . - Arthur Weiser, Einl. in das A T , Göttingen 1 9 3 9 ' 1 9 6 6 . - Julius Wellhausen, Die Composition des H c x a t c u c h s u. der hist. Bücher des A T : J D T h 2 1 / 2 2 ( 1 8 7 6 / 7 7 ) = Friedrich Bleek (s.o.), 4 1 8 7 8 , 1 8 1 - 2 6 7 ; als M o n o g r a p h i e : Berlin 1 8 8 5 ' 1 8 9 9 = 1 9 6 3 . - Ders., Prolegomena zur Gesch. Israels, Berlin 1 8 7 8 [ u . d . T . Gesch. Israels I] 61905 = 1 9 2 7 . - D e r s . , Israelit, u . j ü d . Gesch., Berlin 1 8 9 4 7 1 9 1 4 = 1 9 5 8 . - G e r r i t Wildeboer, De letterkonde des ouden Verbonds, Groningen 1 8 9 3 ' 1 9 0 3 ; dt.: Die Lit(t)eratur des A T nach der Zeitfolge ihrer Entstehung, Göttingen 1 8 9 5 = 1 9 0 5 .
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1.
3 . Einlei-
Vorgeschichte
Eine Einleitungswissenschaft mit dem Ziel, die Entstehungsverhältnisse der neutestamentlichen Schriften aufzuhellen, gibt es erst seit der Mitte des 18. Jh. Das besagt nicht, daß man sich über die Verfasser und die Abfassungsverhältnisse der neutestamentlichen Schriften nicht schon früh im Zusammenhang der Abgrenzung des neuen Kanons Gedanken gemacht hat (so im 2. Jh. die in lateinischen Paulushandschriften erhaltenen markionitischen Paulusprologe, im 3. Jh. —»Origenes und—»Dionysios von Alexandrien in ihren Äußerungen
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zur Herkunft des —»Hebräerbriefs und der —»Apokalypse des Johannes, im 4. Jh. vor allem —•Hieronymus in seinem Schriftstellerkatalog; —»Bibelwissenschaft II; vgl. Kümmel, OA 3/3, 4 - 1 0 ) . — Und man weist bei der Darstellung der Geschichte dieser Disziplin seit dem Anfang des 19. Jh. darauf hin, daß im 6. Jh. —»Cassiodor seinen Mönchen fünf „introductores Scripturae divinae" empfohlen hat (Inst. X , l ) , doch handelt es sich dabei ausschließlich um hermeneutische und exegetische Erörterungen. Man hat weiter festgestellt, daß auch im Mittelalter und der Reformations- und Nachreformationszeit die aus dem Altertum bekannten Nachrichten über die Verfasserfragen diskutiert und auch vereinzelt Bücher geschrieben wurden, die den Titel Isagoge trugen und auch diese oder jene geschichtliche Frage der biblischen Bücher erörterten. Aber diese gesamte Literatur trägt zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft seit der Mitte des 18. Jh. nichts bei, und es genügt darum, auf die vorhandenen Zusammenstellungen zu verweisen (vgl. Credner 11—28; Jülicher/Fascher 8 - 1 0 ; Meinertz 9—14; auch Hupfeld, Begriff 4 3 - 6 6 ; Zahn: R E ' 5, 2 6 1 - 2 6 3 ) . Ein wirklicher Vorläufer der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft ist dagegen Richard —»Simon. Dieses Mitglied des Pariser Oratoire hatte 1678 eine Histoire critique du Vieux Testament fertiggestellt, die bei Erscheinen auf Betreiben J.-B. —»Bossuets größtenteils vernichtet wurde, ließ sich dadurch aber nicht abhalten, 1689 eine Histoire critique du texte du Nouveau Testament erscheinen zu lassen, der 1690 eine Kritische Geschichte der Übersetzungen und 1693 eine Kritische Geschichte der hauptsächlichen Ausleger des Neuen Testaments folgten. Obwohl Simon im Vorwort zur Geschichte des Textes ausdrücklich erklärt: „Ich habe mir vorgenommen, in meiner ganzen Arbeit nur für die Wahrheit Partei zu ergreifen und mich vor allem nicht an irgend einen Meister zu binden", verfolgt er doch zugleich die Absicht, „der Kirche nützlich zu sein, indem ich sichere, was sie an Heiligstem und Göttlichstem besitzt". Er will darum den protestantischen Anspruch, „daß die Schrift klar aus sich selber sei und ausreichend, allein die Wahrheit des Glaubens zu begründen, und zwar unabhängig von der Tradition", durch den Nachweis als unhaltbar erweisen, daß die Bücher des Neuen Testaments „so großen Veränderungen unterworfen und in vielen Dingen von dem Willen der Kopisten abhängig waren", daß man daher „beinahe überhaupt nichts Sicheres in der Religion feststellen kann", „wenn man die Tradition nicht mit der Schrift verbindet". Aber diese antiprotestantische Tendenz hindert Simon nicht festzustellen, daß „die Protestanten den Katholiken Veranlassung gegeben haben, den Text der Bibel mit größerem Fleiß zu untersuchen", und so stellt er aufgrund der Untersuchung zahlreicher Handschriften und von Aussagen der Kirchenväter etwa fest, daß die Verfasserangaben in den Evangelienüberschriften nicht von den Evangelisten stammen, daß in vielen Handschriften Mk 16,9 ff; Joh 7,53 ff und der trinitarische Einschub in I Joh 5,7 f (Comma Johanneum) fehlen, daß es vor Hieronymus eine von der Vulgata abweichende lateinische Übersetzung gegeben hat (s. TRE 6, 172ff), er fragt nach der Ursprache einiger neutestamentlicher Schriften, nach der Kanonizität des Hebräerbriefs, aber auch nach der Inspiration und der Herkunft der alten Übersetzungen des Neuen Testaments (Histoire critique du texte du NT, Einl. 6; Histoire critique du VT, Nouv. Ed., Rotterdam 1685, Einl. 7f; Histoire critique des prineipaux commentateurs du NT, ebd. 1693, Einl. 6; die Übers, nach Kümmel, OA 3/3, 4 2 f ; weitere Auszüge aus Simon ebd. 42—50; s. auch T R E 6,349). So entsteht in diesen manchmal etwas ungeordneten Ausführungen zwar keine systematische Untersuchung der geschichtlichen Verhältnisse der neutestamentlichen Schriften oder des Neuen Testaments überhaupt, wohl aber sind die Trennung der Untersuchung des Alten (s. o. Abschn. I) von der des Neuen Testaments, die Fragen nach der Ursprünglichkeit einzelner Textabschnitte und nach der Verfasserschaft und Herkunft einiger neutestamentlicher Schriften, ja die Fragestellung, „ob die Kirche, indem sie die Bücher des Alten und Neuen Testaments als kanonisch und göttlich erklärte, zugleich erklärt hat, daß sie von den Verfassern stammen, deren Namen sie tragen" (Histoire du texte 184), und die Bezeichnung seiner Untersuchungen als „Kritische Geschichte" Einsichten, die, konsequent fortgeführt, zu einer wirklich geschichtlichen Untersuchung der Entstehung des Neuen Testaments und seiner Schriften führen
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mußten. Man kann daher Simon mit Recht den „Begründer der ntl. Einleitungswissenschaft" nennen (Zahn: RE 5,263), und es ist begreiflich, daß Simons Kritische Geschichten des Textes und der Übersetzungen des Neuen Testaments 1776/80 in deutscher Übersetzung (mit einer Vorrede von J . S . Semler) erschienen sind. 2. Die Entstehung der Einleitungswissenschaft
im 18. und 19. Jh.
Der Eindruck, den Simons Kritische Geschichten gemacht hatte, war so groß, daß sich der Göttinger Orientalist J. D. —»Michaelis in der Vorrede zu seiner 1750 erschienenen Einleitung in die Göttlichen Schriften des neuen Bundes veranlaßt sah, sich ausdrücklich gegen die Frage zu verteidigen, „ob ich etwan einen Auszug aus dem Simon machte", und „anzuzeigen, was ich neues zu leisten gesucht habe", wobei er vor allem auf „die Einleitung in die eintzelen Bücher des N . T . " verweist (Vorrede 3.4). Zur Begründung dieser ersten wissenschaftlichen „Einleitung" in das Neue Testament erklärt er zu Beginn der Vorrede: „Wer die Schriften, die wir das Neue Testament nennen, leicht und gründlich verstehen will, der braucht noch außer dem, was in den gewöhnlichen Schrift-Erklärungen gesaget wird . . . , einige allgemeinere Nachrichten von der Geschichte und Absichten dieses göttlichen Buches, an denen es nicht allein Ungelehrten, sondern auch öfters solchen, die aus der Gottes-Gelahrtheit ihr Haupt-Werk machen, zu mangeln pfleget." Zu diesem Zweck behandelt Michaelis zunächst in einem allgemeinen Teil Fragen der Textkritik und Handschriftenkunde, dann „die göttliche Eingebung der Bücher des N. T . " und wünscht, daß „meine Leser durch das, was ich hievon geschrieben habe, eben so von der Göttlichkeit aller und jeder Bücher des N.T. überzeugt werden, als ich mich davon überzeuget finde" (Vorrede 5b). Scheint nach diesen Äußerungen das Ziel dieser „Einleitung" primär apologetisch zu sein, so zeigt sich doch bei der Durchführung dieser Absicht an den einzelnen Schriftcn eine geschichtliche Fragestellung. Michaelis geht von der Feststellung aus: „Die meisten Schriften des N.T., die wir für göttlich halten, haben die Apostel Jesu Christi zu Urhebern" (260), fügt dem aber hinzu: Das nicht von einem Apostel stammende Markusevangelium hat „uns die alte Kirche als ein göttliches Buch übergeben, ohne jemahls an dessen Göttlichkeit zu zweifeln", woraus sich ergibt: „Wir haben nicht die geringste Ursache, es für eine blos menschliche Schrift auszugeben" (381). Daneben aber weist er darauf hin, daß die alte Kirche „fünf der so genannten catholischen Briefe und die Offenbahrung Johannis" „nicht einmüthig angenommen hat" (Vorrede 5), und folgert daraus: „Werden einige dieser Briefe ihren wahren Urhebern abgesprochen, so haben wir nur zu untersuchen, ob dieses mit Recht geschehen: so bald wir aber erwiesen haben, daß der Brief Pauli an die Hebräer, der Brief Judä und die letzten Briefe Pctri und Johannis von der Hand dieser Männer sind: so bald ist auch ihre Göttlichkeit erwiesen" (300). Allerdings vertröstet Michaelis seine Leser für diese Untersuchung auf „eine besondere und ausführlichere Abhandlung", es ist aber deutlich, daß er dem geschichtlichen Erweis der Richtigkeit traditioneller Verfasserangaben die Aufgabe zumutet, über die „Göttlichkeit", und d.h. über die kanonische Qualität einiger Schriften des Neuen Testaments zu entscheiden, und mit dieser Aufgabenstellung ist der Einleitungswissenschaft gleich zu Beginn eine fatale Verpflichtung mitgegeben, von der sie sich nur mühsam hat befreien können. Bald nach dieser ersten noch sehr unvollkommenen Zusammenfassung des damals Bekannten erschien der erste Band von J.S. —»Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771; die weiteren Bände enthalten zum größten Teil Auseinandersetzungen mit der Kritik an dieser grundlegenden Abhandlung). Hier weist Semler nicht nur nach, daß der biblische —»Kanon nicht von jeher bestand, sondern nach längeren Auseinandersetzungen von der Kirche festgesetzt wurde („seit dem 4ten und 5ten Jahrhundert ist der Canon oder das Verzeichniss der öffentlichen Schriften der Christen, bey den Katholiken, keinem Streit und Zweifel eben weiter unterworfen gewesen; der nächste Grund davon ist aber, die gemeinschaftliche Verabredung der Bischöfe, die es zumal im Occident, durch ausdrückliche Kirchengesetze von nun an festgesetzt und verordnet haben, was für Bücher des sogenannten alten und neuen Testaments in dem feierlichen Verzeichniss oder Kanon stehen und öffent-
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lieh nun gebraucht werden sollen", 19[Scheible 24]), er zieht daraus nicht nur die Folgerung: „Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden", sondern stellt auch fest: „Es muß also für manche Menschen, welche die heilsame Kraft der Wahrheiten zu erfahren an-, gefangen haben, frey bleiben, sowohl von einzeln Büchern, als von einzeln Theilen mancher Bücher, nach ihrem moralischen gemeinnützigen Werth zu urtheilen, nach ihrer eigenen Erkenntnis; wie es für andere Leser frey b l e i b t , . . . alle Bücher des ganzen alten und neuen Testaments, wie sie zusammen geschrieben oder gedruckt worden, geradehin für göttliche auszugeben und zu behaupten" (75.26 [Scheible 60.29]). Damit war nicht nur die rein geschichtliche Entstehung des Kanons als einer Schriftensammlung, sondern auch die sachliche Verschiedenheit der biblischen Schriften und das Recht, sich über den „moralischen" Wert der einzelnen Schrift seine eigene Meinung zu bilden, behauptet, und Michaelis, der seine Einleitung schon in der 2. und 3. Auflage (1766/77) stark erweitert hatte, konnte sich in der vierten, auf zwei starke Quartbände angewachsenen Auflage (1788) der Aufgabe, die Herkunft und kanonische Geltung jeder einzelnen neutestamentlichen Schrift genau zu untersuchen, nicht mehr entziehen. Er ging aber seltsamerweise auf die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons auch jetzt nicht ein und nahm auch auf Semlers Ansichten keinen Bezug, obwohl er dessen Abhandlung kannte (s. Kümmel, OA 3/3, 530 f). Noch stärker als in der 1. Auflage betont Michaelis aber jetzt, daß mit dem Nachweis der apostolischen Abfassung einer Schrift deren Göttlichkeit erwiesen sei: Man muß „die für canonisch angesehenen Bücher des N . T . in zwey Klassen abtheilen . . . Die meisten tragen den Nahmen eines Apostels . . . ; andere hingegen sind . . . blos von Gehülfen der Apostel geschrieben . . . Bey den ersten kommt die ganze Frage von ihrer Inspiration darauf an: sind sie acht, und wirklich von dem Apostel, dem sie zugeschrieben werden? Ist das, so nimmt man sie zuverlässig als von Gott inspiriert an: ist es nicht, so fällt auch alle Prätension an göttliche Eingebung weg . . . Nun bleiben noch drey Bücher übrig, die nicht von Aposteln, sondern blos von Gehülfen der Apostel sind, Marci und Lucä Evangelium, nebst der Apostelgeschichte. Was hat man für Gründe die zum Canon zu rechnen? Ich muß gestehen, daß ich hier den Beweis vermisse, und mir ihre Inspiration, je länger ich untersuche . . . , desto zweifelhafter wird" (1,82.92). Aber Michaclis zieht nun auch Konsequenzen: „Sind die vier Evangelisten durch keine unmittelbare göttliche Einwirkung aus fehlen könnenden Menschen zu untrüglichen gemacht; so ist kaum anders zu erwarten, als, daß sie bisweilen irren, und dadurch in einen Widerspruch gerathen werden . . . In der That, ich glaube eine göttliche Inspiration der Evangelisten in historischen Sachen nicht" (II, 895); ähnlich heißt es vom Hebräerbrief: „Bey den Umständen weiß ich auch, so hoch ich den Brief schätze, nichts gewisses von seiner göttlichen Eingabe zu sagen: sie steht und fällt mit der zweifelhaft bleibenden Frage, ob Paulus oder ein anderer ihn geschrieben h a t " (II, 1403), und entsprechend lautet das Urteil über Jak, Jud und Apk. Die Frage nach dem theologischen Gehalt der Schriften tritt dabei ungebührlich in den Hintergrund: „Ich finde wirklich im Brief Jacobi nichts anstössiges, oder unvernünftiges, nichts das nicht gar wol in einem apostolischen Brief stehen könnte, wenn es nur erwiesen wäre, daß er von einem Apostel i s t . . . Also, wenn er von einem Jacobo ist, der nicht Apostel war, so kann ich den B r i e f . . . nicht für göttlich annehmen" (II, 1443 f). So unzweifelhaft daher Michaelis die neutestamentliche Einleitungswissenschaft als eine die Entstehungsverhältnisse der neutestamentlichen Schriften geschichtlich erforschende Wissenschaft im vollen Sinne begründet hat, so unzweifelhaft hat er dabei der geschichtlichen Frage nach den Verfassern der neutestamentlichen Schriften eine theologische Aufgabe zuerteilt, die sie nicht erfüllen kann, damit aber zugleich diese Wissenschaft einseitig auf die Verfasserfrage ausgerichtet und so einer apologetisch-dogmatischen Belastung ausgesetzt, die einer sachgemäßen theologischen Zielsetzung der geschichtlichen Aufgabe dieser Wissenschaft für lange Zeit hindernd im Wege stand. Das zeigt sich gleich an zwei bald nach Michaelis erschienenen Werken. Heinrich Karl Alexander Haenlein will zwar eine Historisch-kritische Einleitung bieten, erklärt aber dann: „Auf dem Beweiss der Authentie neutestamentlicher Schriften, oder wenigstens auf der überwiegenden Wahrscheinlichkeit derselben, beruht zugleich unsere Überzeugung von
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Wahrheit und dem göttlichen Inhalt unserer Religion selbst, da diese Schriften für uns die einzigen noch übrigen lautem Erkenntnissquellen der Lehre und Geschichte Jesu und seiner Apostel sind" (I", 42f); „desto nothwendiger wird es also, die Ächtheit dieser bestrittenen Schriften, oder die Authentie des Briefs an die Hebräer, des Briefs Jacobi, des Briefs Judä, des zweiten Briefs Petri, des zweiten und dritten Briefs Johannis, und der Apocalypse, einer eigenen Prüfung zu unterwerfen" (I2, 133), wobei die „Ächtheit" aller dieser Schriften mehr oder weniger unentschieden bleibt, was zur Folge hat, daß „desto vorsichtiger und eingeschränkter" etwa beim Hebräerbrief „von ihm Gebrauch für Dogmatik und Moral gemacht werden muß", weil von der apostolischen Abfassung „allein die Kanonizität und der Religionswerth dieses Briefs abhängt" (I 2 ,162.143). D.h. obwohl „an die Stelle von Erörterungen über die Inspiration der Beweis für die Echtheit, Integrität und Glaubwürdigkeit der Schriften" tritt (B. Weiß, Einl.1 6), behält die dogmatische Frage nach der Kanonizität der Schriften bei Haenlein die beherrschende Bedeutung. Und wenn Johann Ernst Christian Schmidt sich „ganz auf dem Standpunkt des Historikers zu erhalten" sucht und „die äußerlichen Rücksichten des Apologeten des Christenthums ganz vermeiden" möchte (III), behandelt er doch vor allem die Verfasserfrage (wobei nur II Petr sich als unecht erweist), weicht aber der Kanonsfrage völlig aus. J.Ph. —»Gabler, der in seiner bekannten Antrittsrede von 1787 (s. TRE 6 , 4 5 7 , 4 0 f f ) die Unterscheidung der—»Biblischen Theologie von der dogmatischen gefordert hatte und in einer (verlorenen) Einleitung wahrscheinlich schon 1789 die Einleitungswissenschaft als „profane Wissenschaft" betreiben wollte (s. Merk 47f), stellte 1803 in einem kurzen Aufsatz fest, daß wir „eine vollendete Einleitung in das N . T . noch nicht haben", wie sie J.G. —»Eichhorn 1780/83 für das Alte Testament geschaffen habe, und daß „nur auf dem Wege der höhern Kritik eine solche Einleitung in das N T gewonnen werden kann, die es wagen dürfte, einen Platz neben der Eichhornischen einzunehmen". Bald darauf stellte Eichhorn selbst in dem ersten Band (1804) seiner Einleitung als seine Absicht hin: „Die höhere Kritik hat ihre Kräfte an dem Neuen Testament bisher kaum versucht; sie muß sich in vielen Fällen erst noch den mühsamsten Untersuchungen unterziehen, um nur einigen Grund und Boden zu gewinnen, und wird erst nach wiederholter Anstrengung im Stande seyn, sich mit ihrer niedern Schwester [d.h. der Textkritik] zu messen. Der Anfang hiezu ist in diesem Buch gemacht" (VII). In diesem (allmählich auf fünf Bände angewachsenen) Werk werden nicht nur unter Berücksichtigung der bisherigen, auch der fremdsprachigen Forschung die einzelnen Schriften des Neuen Testaments „menschlich gelesen und menschlich g e p r ü f t . . . , je kritisch-genauer, je richterlich-strenger, desto besser" (IV,9), es werden ebenso die Geschichte der Sammlung und des Textes behandelt, und Eichhorn scheut nicht davor zurück, die Abfassung der Pastoralbriefe „einem von Paulus Person verschiedenen Verfasser" und die des II Petr einem „Schüler des Petrus" zuzuschreiben (111,328.636); denn „das Alterthum hatte die Gewohnheit, fremde Gedanken unter dem Namen dessen, dem man sie verdankte, bekannt zu machen" (IV,66f). Wichtiger aber ist, daß Eichhorn mit der Einsicht ernst machte, daß „genau genommen blos Concilien und Päbste bestimmt haben, was die Kirche für Bücher zum Kanon des N T zu rechnen habe" (IV,64), woraus er folgerte: „Die Kirche hatte zwar recht, wenn sie annahm, daß von den Aposteln der reinste christliche Lehrbegriff zu erwarten sey: aber dazu waren nicht gerade Schriften unumgänglich nothwendig, die von ihnen selbst geschrieben waren; es konnten ja auch Schriften dazu dienen, für deren Übereinstimmung mit der apostolischen Lehre man die nöthige Sicherheit hätte". Eichhorn hatte also erkannt, daß der Kanon kritischer Prüfung offen sein und für diese Prüfung nicht die Frage nach dem Verfasser einer Schrift, sondern nach ihrer Botschaft maßgeblich sein müsse. Aber dann fügt er doch hinzu: Unter den Schriften aus der apostolischen Zeit ergibt sich „ein doppelter Rang", „die apostolischen Schriften . . . sprechen als Augen- und Ohrenzeugen", „die Schriften der apostolischen Männer a b e r . . . als glaubwürdige Referenten; jene verdanken sich selbst den Stoff ihrer Schriften, diese einer fremden unbestreitbaren Autorität. Jene nehmen daher als Glaubensquellen einen höheren Rang; diese einen niedrigem ein" (IV,67f). Damit ist die erkannte Relativierung der Verfasserfrage wieder aufgehoben; aber
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trotz dieser Unklarheit trifft es zu, daß „die Eichhorn'sche Einleitung mit Recht als der Anfangspunkt einer neuen Periode der Kritik anzusehen ist" (F.C. Baur: T h j b [T] 9,545). Die in den nächsten 3 0 Jahren erschienenen Einleitungen führten freilich in dieser Richtung nicht weiter. Das 1808 zuerst veröffentlichte, gut geschriebene Werk des Katholiken J . L. Hug gibt sich zwar als geschichtliche Widerlegung aller bisher vorgebrachten Kritik, ist aber in Wirklichkeit durch und durch apologetisch und kirchlich gebunden (gute Charakteristik bei F. C. Baur: ThJb[T] 10,70ff; H. J . Holtzmann, Einl. 1 163). Und Johann Christian Wilhelm Augusti verrät schon durch den Titel Historisch-dogmatische Einleitung, daß er „das Recht fordert, in der Verteidigung der alten Lehrmeinungen nicht gestört und beeinträchtigt zu werden" (85), lehnt darum nicht nur ab, „die Bibel völlig so, wie andere Werke des Altertums zu behandeln" (95), sondern zieht auch die Schlußfolgerung: „Die sämmtlichen Schriftsteller beyderlei Bundes sind einander völlig gleich" (321). Aber auch W . M . L . —»De Wettes Einleitung, die „in ihren fünf Ausgaben 1 8 2 6 - 1 8 4 8 das am meisten verbreitete und gebrauchte Lehrbuch geworden ist" (F.C. Baur: ThJb[T] 10,81), führt nicht eigentlich weiter. Zwar hat sich De Wette von vorsichtiger Zurückhaltung in der ersten Auflage bis zu vorsichtiger Kritik an den Verfasserangaben für Eph, die Pastoralbriefe und II Petr in der fünften Auflage gewandelt (vgl. dazu R. Smend, W. M. L. De Wettes Arbeit am Alten u. NT, Basel 1958, 156ff), aber „es gehört zu den wesentlichen Mißgriffen des De Wette'schen Lehrbuchs, daß der neutestamentliche Theil die Geschichte des neutestamentlichen Kanon nicht besonders behandelt" (Delitzsch 164); und wenn auch De Wette „die B i b e l . . . als eine geschichtliche Erscheinung in der Reihe mit andern dergleichen Erscheinungen" betrachtet und darum „ganz den Gesetzen historischer Untersuchung unterworfen" wissen will, so soll doch die Einleitung nur „die zur Erklärung nothwendigen historischen Materiale an die Hand" geben (Lb. der hist.-krit. Einl. in die . . . Bücher des AT, Berlin 4 1833, 2f), es fehlt also das eigentlich geschichtliche Interesse. Darin unterscheidet sich auch Karl August Credner nicht von seinen Vorgängern. Zwar ist nach seiner Ansicht „die Einleitung in das Neue Testament die Geschichte des Neuen Testaments", und „auch über die Schriften des NT steht der Vernunft das Recht der Prüfung zu", aber Objekt dieser Prüfung ist, „in wie fern dieselben [Schriften] apostolischen Ursprungs sind" (2). Auch wenn diese Prüfung Credner zu dem Urteil führt, daß Mt,Mk, II Petr, II/III Joh und Apk nicht apostolischen Ursprungs sind, so lautet seine Folgerung (z. B. für Hebr): „Mit diesem negativen Ergebniss könnte die ganze Untersuchung abgebrochen werden, da, nach dem einzig richtigen Begriff vom NT, nur apostolische Schriften für dasselbe bestimmt sind" (549). Auch wenn Credner tröstend hinzufügt, daß trotz solcher negativen Resultate „das Christenthum in seiner idealen, göttlichen Auffassung dabei ungefährdet bleibt" (51), kommen auf diese Weise weder der geschichtliche Charakter noch das theologische Interesse der Einleitungswissenschaft wirklich zu ihrem Recht. Die eigentliche Problematik der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft aber kam in der seit den dreißiger Jahren sich entwickelnden Diskussion über Wesen und Methode dieser Wissenschaft zum Vorschein. F. Lücke beklagte schon 1832 in einer Rezension, daß „der bestimmte wissenschaftliche Begriff bis auf diesen Augenblick noch nicht gefunden" sei, forderte, „daß man den Namen der Einleitung aufgeben müsse", „die Disciplin der sogenannten Einleitung" werde „nur dann eine wahre theologische Wissenschaft, wenn man sie als historische Kritik des Kanons auffaßt": „Es muß gezeigt werden, daß und warum dasjenige, was nicht apostolisch ist in irgend einem Sinne, auch nicht inspiriert seyn könne in dem Sinne, in welchem die Idee des Kanons es verlange" (GGA 1832, 1789.1791 f.1796). D.h. für Lücke liegt „die wissenschaftliche Form nicht in dem Begriff der Geschichte, sondern der Kritik" (so in der Vorrede zu Schleiermachers Einleitung [XII]). Diese (bis auf J . D . Michaelis zurückgehende) falsche Zielsetzung wurde dann durch F. C. —»Baur in seinem großen Aufsatz von 1850/51 systematisiert (die darin enthaltene kritische Geschichte der Einleitungswissenschaft ist noch heute lesenswert). Zwar weiß Baur sehr wohl, daß „diese [neutestamentlichen] Schriftsteller selbst für ihre Schriften keine andern Regeln der Kritik verlangen, als die bei andern menschlichen Schriftstellern" (ThJb[T]
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9,546), es muß darum nach seiner Meinung der neutestamentlichen Kritik „vor allem darum zu thun sein, jede einzelne Schrift des Kanons als diese bestimmte Erscheinung einer schriftstellerischen Individualität aufzufassen", und er stellt dementsprechend fest:,, Die Einleitung wird sich öfters veranlaßt sehen, zur festem Begründung ihrer Resultate in das Gebiet der neutestamentlichen Theologie, deren Grundlage sie ist, hinüberzugreifen" (ThJb[T] 10,297.319). Dieser richtigen Einsicht in den streng geschichtlichen Charakter der Einleitungswissenschaft widerspricht aber radikal die in verschiedener Formulierung wiederholt genannte Zielbestimmung der Einleitungswissenschaft durch Baur: „Der Begriff der Kritik ist e s . . . erst, durch welchen die Einleitungs-Wissenschaft das wird, was sie wesentlich ist Der Gegenstand der Einleitungs-Wissenschaft sind die kanonischen Schriften, aber nicht, wie sie an sich sind, sondern mit allen jenen Vorstellungen und Voraussetzungen, die sie zu kanonischen machen . . . Das eigentliche Objekt der Kritik ist nun eben dieses Dogmatische an ihnen, das Prinzip ihrer kanonischen Auctorität. Die Einleitungs-Wissenschaft hat daher zu untersuchen, ob diese Schriften auch an sich das sind, was sie nach der dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen, und da die erste Voraussetzung, unter welcher diess allein stattfinden kann, ist, daß sie von den Schriftstellern wirklich verfaßt sind, welchen sie zugeschrieben werden, so ist ihre erste Aufgabe die Beantwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische Schriften ausgeben" (ThJb[T] 9,478). Einer solchen Einleitungswissenschaft, die sich die Kritik des Kanons durch Kritik der Verfasserangaben zur Aufgabe macht, mußte von zwei Seiten her widersprochen werden. Einerseits war zu erwarten, daß streng konservative oder konfessionell gebundene Theologen diese Verselbständigung der Kritik scharf ablehnen würden. Schon 1845 hatte Heinrich W. J. Thiersch von der Voraussetzung aus, daß „das ganze neue Testament in allen seinen Theilen ein achtes Erbtheil der Kirche aus der apostolischen Zeit ist", festgestellt: „Von dem Glauben an die Thatsache der Erlösung und von der Erfahrung ihrer Wirkungen aus enthüllt sich dem Christen ein höheres, der in der Sphäre der niederen Empirie weilenden Kritik unvernehmbares, Kriterium für die Wahrheit und Ächtheit jener heiligen Schriften, welche von der Thatsache ursprüngliches Zeugniss ablegen", und er hatte daraus gefolgert: War die erste Generation der Christen „in intellectueller Hinsicht zur Hervorbringung eigener schöpferischer Geisteswerke nicht im Stande, so war sie zugleich in moralischer Hinsicht, was Treue und Sorgfalt im Halten an dem apostolischen anbetrifft, zu einer activen Täuschung oder auch nur zu einer leichtsinnigen Hinnahme von Täuschung in so heiliger Sache absolut unfähig" (1 f.328). Von der gleichen Voraussetzung schrieb dann in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit F.C. Baur Heinrich Ernst Ferdinand Guericke seine Einleitung, die den Anspruch erhob, daß sich „der Beweis für die Echtheit seiner [des Christentums] Urkunden" „auch streng erweisen" lasse (95). Und Rudolf Friedrich Grau beklagte, daß „das Martyrium dieses Buches [des Neuen Testaments] nun schon seit einem Jahrhundert dauert", und suchte darum, da nur „die Kirche und die kirchliche Wissenschaft im Stande ist, die rechte Erkenntniss des Wachsthums ihres kanonischen Schrifthums zu geben", in Uberwindung der „vorhandenen sogenannten Einleitungen in das Neue Testament" das Neue Testament als „das umfassende und entsprechende literarische Abbild eines neuen religiösen Lebens und Geistes, welcher sich diesen Schrift-Leib in durchaus organischer und also gesetzmäßig nothwendiger Weise geschaffen hat", zu erweisen (1,13; 11,531;1,68). Von ähnlichen Voraussetzungen aus haben dann gegen Ende des 19. Jh. J . Ch.K. v. —»Hofmann und Th. —»Zahn gegen die kritische Einleitungswissenschaft die Echtheit aller neutestamentlichen Schriften zu erweisen gesucht. Wichtiger ist, daß nicht nur von dieser Seite der Zielbestimmung der Einleitungswissenschaft als einer Kritik des Kanons mit Hilfe der Kritik der Verfassertraditionen den neutestamentlichen Schriften widersprochen wurde, sondern auch von solchen Forschern, die, bei verschiedener Haltung zur Kritik überhaupt, die streng geschichtliche und gerade darin theologische Aufgabe dieser Disziplin erkannten. Schon 1844 hatte der Alttestamentler Hermann Hupfeld erklärt: „Der eigentliche und allein richtige Name der Wissenschaft in ihrem heutigen Sinn ist Geschichte der heiligen Schriften alten und neuen Testaments, oder der
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biblischen Literatur, wie sie schon R. Simon nannte", und darum gefolgert: „Wir müßt e n . . . vor allen Dingen uns entschließen dem alten misverständlichen Begriff und Aberglauben der Inspiration . . . zu entsagen, und nur den Glauben an die Offenbarung ... festzuhalten" (12.25). Er hat dann später (1861) unter Hinweis darauf, daß für F.C. Baur die Einleitung „nicht eine geschichtliche Wissenschaft..., sondern eine dogmatische, eine Magd der Dogmatik" sei, es ausdrücklich als die Aufgabe dieser Wissenschaft bezeichnet, „die heiligen Schriften in ihrem geschichtlichen Entwicklungsgang" zu betrachten, wobei die Beschränkung auf die kanonischen Schriften „aus praktischen Gründen räthlich sein, aber nicht aus dem Begriff der Wissenschaft hergeleitet und als allein berechtigt oder nothwendigbewiesen werden" könne (16.11). Schon vorherhatte Eduard Reuß (1842) in seiner Geschichte der Heiligen Schrift Neuen Testaments den „Vcrsuch gemacht, einer Wissenschaft, in welcher deren geachtetste Bearbeiter selbst Princip und Zusammenhang vermißten, Beides zu geben, soweit die Natur der Sache es erlaubte" (Vorrede), und darum seiner den „gemeinsamen Gesichtspunkt des Historischen" streng wahrenden Darstellung der Geschichte der einzelnen Schriften, der Sammlung und der Erhaltung des Textes noch die Geschichte der Übersetzungen und des theologischen Gebrauchs dieser Schriften bis zur Gegenwart und eine Besprechung der apokryphen Literatur angefügt, was den Rahmen der Disziplin unberechtigt ausweitete (die 6. Aufl. von 1887 ist freilich dadurch zu einem noch heute unentbehrlichen Kompendium der Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft geworden). Noch früher hatte F. —»Schleiermacher in Vorlesungen, die erst 1845 aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden, dem „in ihr [der Einleitung] zusammengetragenen Material den Namen einer Einleitungswissenschaft" bestritten, es als ihre Aufgabe bezeichnete, „uns möglichst in die Stelle der ursprünglichen Leser zu setzen", und darum erklärt: „Die Einleitung ins Neue Testament soll nichts enthalten, als was . . . in die Prolegomcna irgend eines Werkes gehört". Wird so die Einleitung konsequent zur geschichtlichen Wegbereiterin für Exegese und Biblische Theologie, so ist Schleiermacher doch darin nicht konsequent, daß er zwar die Verfasserfrage relativiert („die Frage, ob einzelne Bücher den Verfassern angehören, denen sie beigelegt werden, muß man wohl von der andern unterscheiden, ob sie in den Canon auf gleiche oder ungleiche Weise gehören. Die canonische Beschaffenheit der Schrift bleibt dieselbe, ungeachtet nachgewiesen wird, daß sie nicht von dem Verfasser ist, dem man sie zuschrieb" (1.7.30), dann aber doch die als unecht erkannten II/IIIJoh und II Petr „deuterokanonische Schriften" nennt, denen wir „für die christliche Sittenlehre kein canonisches Ansehen einräumen können" (400.413). Der von diesen Forschern mehr oder weniger klar erkannte streng geschichtliche Charakter einer sachgemäßen Einleitung in das Neue Testament wurde dann um die Mitte des 19. Jh. auch methodisch gefordert. Der Alttestamentler Franz —»Delitzsch wollte wie H. Hupfeld statt „Einleitung" „lieber: Geschichte des alttcstamentlichen Schriftthums" sagen und meint, daß die Unsicherheit der Datierung biblischer Schriften „uns an der Durchführung des geschichtlichen Princips doch nicht irre machen kann", ja er sieht auch die Relativität der Verfasserfrage: „Die Kirche hat kein Zeugniss des Geistes über noch unerledigte historische und kritische Fragen und darf also darüber auch nichts symbolisch festsetzen" (143.165.184). Ähnlich hat später Friedrich Bleek in den Vorbemerkungen zu seiner Einleitung gefordert, dieser Wissenschaft „nur einen geschichtlichen Charakter zu geben, so daß sich die Einleitung betrachten läßt als „ein Teil der Literaturgeschichte", wobei sich die protestantische Theologie das Recht nicht nehmen lassen darf, die Traditionen „über den Ursprung der Heiligen Schriften fortgesetzt einer freien gewissenhaften Prüfung zu unterwerfen, und sich dabei keine anderen Grenzen stecken lassen darf, als welche die Pflicht der geschichtlichen Treue und Wahrhaftigkeit von selbst darbietet" (5f.23). Die damit gegebene theologische Problematik hat dann am deutlichsten H. J. —»Holtzmann formuliert. Während er noch in einem Aufsatz von 1860 in lockerem Anschluß an F. C. Baur die „Einleitung" als diejenige Disziplin beschreiben wollte, „welche die dogmatischen Begriffe von den kanonischen Schriften ins rechte Verhältnis zu setzen hat mit den sicheren Resultaten der historischen Kritik" (412), erklärte er 1863 im Vorwort zu seinem
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Buch über die synoptischen Evangelien, daß nur der Begriff des Kanonischen die Einleitung zu einem Glied im Organismus der theologischen Wissenschaften machen könne: „Nur darin allein besteht die theologische Etiquette, die an der biblischen Einleitungswissenschaft haftet, daß derselbe dogmatische Begriff Veranlassung zu ihrer Entstehung gegeben hat, der andererseits wieder in erster Linie durch den Befund ihrer Resultate betroffen wird . . . Daß das, unsere Disciplin aufrecht erhaltende, Interesse gerade auf diese Auswahl urchristlicher Schriften . . . sich concentriert hat, ist nun einmal schlechterdings nicht ohne Heranziehung des Begriffs der Kanonicität begreiflich zu machen" (IX). Damit ist der entscheidende Punkt berührt: Die Einleitungswissenschaft hat die historische Aufgabe, die Entstehung der einzelnen Schriften und der Sammlung des Neuen Testaments aufzuhellen; die Beschränkung dieser historischen Arbeit auf das Neue Testament allein erklärt sich aber nur aus der Tatsache des Kanons. Holtzmann hat darum in der dritten Auflage seiner Einleitung, die das Kompendium der bis dahin geleisteten Arbeit auf diesem Gebiet geblieben ist, ausdrücklich festgestellt: „Daß wir aus dem viel größeren Umfange altchristl. Literatur gerade nur diese 27 Schriften zum Gegenstand von Forschungen machen, welche eine eigene Disciplin füllen, hat seine Ursache lediglich in jenem traditionellen dogmatischen Begriff... Nur der schulmäßige Maßstab läßt uns solche Grenzbestimmungen gewinnen, innerhalb welcher die sog. Einleitung . . . das gegen andere abgegrenzte Gebiet ihrer Arbeit sieht" (11 f). In diesem Sinn haben dann gegen Ende des Jahrhunderts Adolf Jülicher und B. —»Weiß von einem gemäßigt kritischen bzw. konservativen Standpunkt aus die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zusammengefaßt, wobei Jülicher bedauert, daß „das Ideal literaturgeschichtlicher Betrachtung leider beim NT nicht zu erreichen" sei (4), während B. Weiß meint, daß „eine Art Literaturgeschichte des Urchristenthums" nur berechtigt wäre, „wenn es sich in viel weiterem Umfange, als es der Fall ist, dabei um Thatsachcn handelte, die sich aus anderweitigen Quellen als aus den Schriften, deren Entstehung eben in Frage steht, ermitteln ließen" (19). Selbst Th. —»Zahn hielt „diese Absonderung ebenso wenig [für] eine schlechthin notwendige, wie die Absonderung der Geschichte Jesu und der Apostel von den nachfolgenden Perioden der Kirchengeschichte" (271). Diese offensichtliche Unsicherheit gegenüber dem Recht der Beschränkung dieser Wissenschaft auf die Schriften des neutestamentlichen Kanons hat aber schon im 19. Jh. einige Forscher dazu geführt, die Aufhebung dieser Beschränkung ausdrücklich zu fordern. Bereits 1846 stellte A. Schwegler in seinem Buch über das nachapostolische Zeitalter „die Frage, ob die Wissenschaft der ,Einleitung in das NT* in der bisherigen Weise der Bearbeitung noch wird fortbestehen können", und forderte im Sinn F.C. Baurs, „die neutestamentlichen Schriften . . . als Momente einer Entwicklungsgeschichte zu begreifen" und darum die Einleitungswissenschaft „in eine Entwicklungsgeschichte der apostolischen und nachapostolischen Zeit" zu verwandeln (11). Am Ende des Jahrhunderts forderte dann G. Krüger: „Man setze an die Stelle . . . der .Einleitung' eine Geschichte der urchristlichen Literatur" (Dogma 37), und im gleichen Jahr stellte W. Wrede in einer Besprechung fest: „Sobald die dogmatische Idee des Kanons ihre Geltung eingebüßt hat, ist es nicht sowohl ein wissenschaftliches als ein praktisches Bedürfnis", an „Einleitungen in der üblichen Art" festzuhalten, obwohl „eine urchristliche . . . Literaturgeschichte, die natürlich alles in die abzugrenzende Epoche fallende Material gleichmäßig zu behandeln hat", „einer unhistorischen Auffassung [der Bücher des Neuen Testaments] ungleich wirksamer als eine Einleitung entgegenarbeitet" (529; vgl. auch W. Wrede, Uber Aufgabe u. Methode der sog. ntl. Theol., Göttingen 1897, 11 f; auch bei Kümmel, OA 3/3,390). Ähnlich erklärte kurz danach W.C. van Manen: „Die Bücher des Neuen Testaments... bilden einen Teil der altchristlichen Literatur. Die alte Unterscheidung zwischen kanonischen und nicht kanonischen Büchern angesichts dieser Literatur muß aufgegeben werden; Neutestamentliche Einleitung und Patristik dürfen nicht länger getrennte Studien sein, sie müssen zum Studium der altchristlichen Literatur verbunden werden" (EB[C] 3,3473). So war am Ende des 19. Jh. keineswegs eine einheitliche Meinung über Zielsetzung, Methode und Abgrenzung der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft unter den mit dieser Disziplin beschäftigten Forschern erreicht worden. (Die ka-
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tholische und fremdsprachige Einleitungswissenschaft des 19. Jh. war mir fast ausnahmslos unzugänglich und muß darum hier außer Betracht bleiben; sie ist verzeichnet bei Holtzmann, Einl. 1 5 - 7 ) . 3. Einleitungswissenschaft
im 20. Jh.
Die Situation ist bis heute so geblieben. Sieht man von den neuen Erkenntnissen in der Erforschung der einzelnen Schriften des Neuen Testaments, ihrer Sammlung und textlichen Überlieferung ab, die sich weithin außerhalb, aber auch im Zusammenhang der zusammenfassenden Darstellungen vollzogen hat und vollzieht und von denen hier nicht die Rede sein kann, so ist für die Einleitungswissenschaft als ganze in diesem Jahrhundert nur auf zwei wesentliche Entwicklungen hinzuweisen: Einmal ist die bis weit in unser Jahrhundert hinein durch päpstliche Dekrete und die Entscheidungen der päpstlichen Bibelkommission stark behinderte katholische Forschung seit der päpstlichen Enzyklika —»Pius' XI. Divino afflante Spiritu vom 12.9.1943 und den ihr folgenden kirchenamtlichen Äusserungen von jedem Zwang in der Erforschung der geschichtlichen Probleme der neutestamentlichen Schriften befreit worden und hat sich uneingeschränkt der von protestantischer Seite schon lange betriebenen streng geschichtlichen Einleitungswissenschaft angeschlossen (s. A. Vögtle, Das N T u. die neuere kath. Exegese, Freiburg u.a., I '1967; [Wikenhauser/JSchmid 8 - 1 1 ) . Da außerdem die nicht deutschsprachige Forschung sich in wachsendem Maße an dieser Wissenschaft beteiligt hat, ist diese Disziplin völlig interkonfessionell und international geworden und hat dadurch eine starke Ausweitung erfahren. - Dazu kommt das in unserm Jahrhundert stark gewachsene Bedürfnis der Verbreitung geschichtlicher Kenntnisse in weiteren Kreisen, was zur Publikation zahlreicher populärwissenschaftlicher Darstellungen geführt hat (wobei vielfach auch andere Stoffe wie Umwelt und Geschichte des Urchristentums, Grundzüge biblischer Theologie usw. mit den klassischen Einleitungsfragen verbunden wurden, wie zuletzt bei H. Conzelmann/A. Lindemann, in der lntroduction ä la Bible und bei H. Köster, Einführung in das NT im Rahmen der Religionsgesch. und Kulturgesch. der hell. u. röm. Zeit). Die kaum noch übersehbare Zahl der so in unserm Jahrhundert erschienenen „Einleitungen in das Neue Testament" (gelegentlich auch unter anderem Titel) läßt sich mit aller Vorsicht in drei Gruppen ordnen: a) Auf der einen Seite stehen streng konservative, jedes kritische Urteil ablehnende Darstellungen (F. Barth, J. E. Belser, C. R. Gregory, D. Guthrie, E.F. Harrison, H. Höpfl/B. Gut, B. Mariani, M . Meinertz, W. Michaelis, K.Th. Schäfer, H. C. Thiessen). b) Auf der anderen Seite sind diejenigen Werke zu nennen, die konsequent kritisch vorgehen (H. Conzelmann/A. Lindemann, M. Dibelius, M. S. Enslin, M. Goguel, E.J. Goodspeed, W. Harrington, A. Jülicher, E. Fascher, R. Knopf/H. Lietzmann/H. Weinel, W.G. Kümmel, K. und S. Lake, E. Lohse, W. Marxsen, A.S. Peake, N. Perrin, D. W. Riddle/H. H. Hutson, H.-M. Schenke/K. M. Fischer, H. v. Soden, Ph. Vielhauer, P. Wendland, [A. Wikenhauser/] J. Schmid). c) Dazwischen stehen die Autoren, die sich nur zögernd kritischen Urteilen öffnen, sie aber nicht grundsätzlich meiden (M. Albertz, H. Appel, B.W. Bacon, B. Corsani, P. Feine/J. Behm, R . H . Füller, R.M. Grant, R. Heard, Th. Henshaw, Intr. ä la Bible, A. F. J. Klijn, A. H. McNeile/Ch. St. C. Williams, J. Moffatt, K. H. Schelkle, E.F. Scott, H . F . D . Sparks, O. Stählin, A. Wikenhauser, J. de Zwaan). Nun hatten aber schon H. Hupfeld und F. Bleek die Einleitung als Teil der Literaturgeschichte bezeichnet und am Ende des 19. Jh. G. Krüger, W. Wrede und W. C. van Manen den konsequenten Ersatz der „Einleitung" durch eine frühchristliche Literaturgeschichte unter völliger Beiseitesetzung des Kanons gefordert, trotzdem sind nur wenige Forscher dieser Forderung gefolgt. Sieht man von den Gesamtdarstellungen altchristlicher Literatur ab, die auch die neutestamentlichen Schriften kurz mitbehandeln (W. C. van Manen, H. Jordan, O. Stählin), so haben nur zu Beginn unseres Jahrhunderts P. Wendland und M. —»Dibelius die neutestamentlichen Schriften im Zusammenhang der ganzen urchristlichen Literatur unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten kurz behandelt (M. Albertz* diffuser Versuch, die Entstehung der urchristlichen Literatur aus der Entstehung der mündlichen Botschaft zu erklären,
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konnte nicht überzeugen; s. W.G. Kümmel: ThZ 10 [1954] 5 5 - 6 0 ; E. Fascher: ThLZ 83 [1958] 609-618). Einzig Ph. Vielhauer hat eine ausreichende literaturgeschichtliche Darstellung der neutestamentlichen Schriften zusammen mit der übrigen urchristlichen Literatur geboten, aber es ist fraglich, ob sich diese Darstellung bei den neutestamentlichen Schriften wirklich erheblich von einer herkömmlichen Einleitung unterscheidet und ob damit ein besseres Verständnis dieser Schriften gewonnen wird (s. W.G. Kümmel: ThLZ 102 [1977] 879-884). 4. Das methodische Problem So ist heute wie zu Beginn unseres Jahrhunderts die Frage, ob eine neutestamentliche Einleitungswissenschaft berechtigt oder gar notwendig ist, die sich bewußt auf die 27 Schriften des Kanons beschränkt, oder ob sie ersetzt werden müßte durch eine die Kanonsgrenze konsequent beiseite setzende urchristliche Literaturgeschichte, das grundlegende methodische Problem dieser Wissenschaft. Unbestritten sollte das wissenschaftliche Recht zu einer solchen Literaturgeschichte sein, daß „die Anerkennung des klassischen Charakters der hier [im Neuen Testament] gesammelten Zeugnisse... den Literaturhistoriker nicht davon abhalten (darf), die anderen Schriften aus derselben Zeit in den Bereich seiner Untersuchungen zu ziehen" (Dibelius, Gesch. 1,12-20). Und unbestritten sollte ebenfalls sein, daß auch eine sich auf die Schriften des Neuen Testaments beschränkende Einleitungswissenschaft Literaturgeschichte der Schriften des Neuen Testaments zu sein hat, „eine durchaus,profane' Wissenschaft, die freilich im Dienste der Theologie steht" (Marxsen: MPTh 49 [1960] 7). Aber nun wird ja gerade heute wieder erklärt: „Die Beschränkung auf die 27 kanonischen Schriften des Neuen Testaments ist nicht länger möglich" (Köster 9). Besteht also kein wissenschaftliches Recht für die zahlreichen bis heute erschienenen traditionellen Einleitungen? Schwerlich genügt es, zur Verteidigung der Beschränkung auf die Bücher des Neuen Testaments darauf zu verweisen, daß diese 27 Bücher „allein solche weltgeschichtliche Rolle gespielt haben" (Jülicher, Einl. '2), oder „praktisches Bedürfnis" (Wrede 529) zur Begründung anzuführen. Wohl aber erkennt der Theologe die Notwendigkeit, durch die Erhellung der geschichtlichen Situation der einzelnen Schriften des Neuen Testaments zu verstehen zu helfen, „warum die Botschaft gerade so formuliert und gegenüber früherer Verkündigung variiert wurde", d. h. die Einleitung will „unmittelbar der Exegese dienen" (Marxsen, Einl. 17) und „wird [darum] ihren Ausgangspunkt vom Begriff des Kanonischen nehmen" (Holtzmann: PKZ 21 [1877] 546). Indem die Einleitungswissenschaft also einerseits zeigt, wie es zur Bildung und Abgrenzung des Kanons gekommen ist und inwiefern dieser Kanon eine von der Kirche den Glaubenden dargebotene, freilich der Nachprüfung offene Norm für die christliche Verkündigung ist, indem sie andererseits den einzelnen Schriften ihren geschichtlichen Platz und damit erst die Möglichkeit eines objektiven Verständnisses zuweist und indem sie schließlich die Begründung für den der Exegese zugrunde liegenden Text bietet, ist die Einleitungswissenschaft in der Tat eine „Hilfswissenschaft" (Schenke/Fischer 1,20), aber gerade darum in dieser Begrenzung ein bleibend notwendiger Bestandteil der theologischen Wissenschaft. Dreierlei sollte freilich beachtet werden, a) Die immer wieder auftauchende Anschauung, daß die Rückführung einer Schrift auf einen apostolischen Verfasser dieser Schrift eine größere Autorität zuerkenne (zuletzt Guthrie, Questions 110), muß konsequent aufgegeben werden, „Verfasserfragen sollten niemals in die Form von Werturteilen gefaßt werden" (Köster 10). - b) Damit eng verbunden ist das Problem der Pseudonymität. Es sollte sich nicht nur endlich die Einsicht durchsetzen, daß der Verfasser einer Pseudonymen Schrift „seine Leser nicht täuschte, sondern einfach der vermittelten Lehre grösseres Ansehen verlieh" (Intr. ä la Bible III, 300), vielmehr muß vor allem die in neuerer Zeit stark belebte Diskussion über dieses literarische Mittel im späteren Altertum (vgl. die Bibliogr. bei N. Brox [Hg.], Pseudepigraphie in der heidnischen u. jüd.-christl. Antike, 1977 [ WdF 484] 335-342; dazu: K. Aland, ThRv 75 [ 1979] 1 - 1 0 ) stärker herangezogen und mit der nötigen Differenzierung bei der Beurteilung der einzelnen Schriften berücksichtigt wer-
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den. — c) Weitere Arbeit an der Einleitungswissenschaft wird nicht nur formgeschichtliche Einsichten in die Entstehung und den Wandel der den Schriften zugrunde liegenden Überlieferung stärker als bisher zu berücksichtigen haben (F. Hahn, V o r w . zu M . Dibelius, Gesch. 1 2 ; E. Lohse, Entstehung 7 u. passim), sondern sich gerade dadurch als theologische Arbeit zu erweisen haben, daß sie, wie es schon F. C. B a u r forderte, insoweit in das Gebiet der Neutestamentlichen Theologie übergreift, daß der entscheidende theologische Charakter der einzelnen Schriften oder Uberlieferungsbestandteile in den Blick gefaßt und so die Voraussetzung für eine Antwort auf die Frage geschaffen wird, in welchem Verhältnis eine Schrift oder ein Überlieferungsbestandteil zur zentralen Verkündigung des Neuen Testaments steht. D. h. die Arbeit dieser „Hilfswissenschaft" ermöglicht überhaupt erst die theologische Kritik des Kanons und damit eine Antwort auf die entscheidende Frage nach der „ M i t t e des Neuen T e s t a m e n t s " (vgl. die Sammlung Das N T als Kanon, hg. v. E. Käsemann, Göttingen 1 9 7 0 ; dazu: W . G . Kümmel, Das Problem der „Mitte des N T " : L'Évangile hier et aujourd'hui. FS F.-J. Leenhardt, Genf 1 9 6 8 , 7 1 - 8 5 = ders., Heilsgeschehen u. Gesch., II 1 9 7 8 [ M T h S t 16] 6 2 — 7 4 ; W . Schräge, Die Frage nach der Mitte u. dem Kanon im K a n o n des N T in der neueren Diskussion: Rechtfertigung. FS E. Käsemann, Tübingen/Göttingen 1 9 7 6 , 415-442). Quellen Zu 1.-2.: Johann Christian Wilhelm Augusti, Versuch einer hist.-dogm. Einl. in die hl. Schrift, Leipzig 1832. - Friedrich Bleek, Einl. in die Hl. Schrift. II. Einl. in das NT, Berlin 1862. - Karl August Credner, Einl. in das NT, Halle 1836. - Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Lb. der hist.-krit. 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Eißfeldt
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Werner Georg Kümmel Einsegnungen —»Bestattung, —»Konfirmation, —»Liturgie, —»Ordination Einsiedlerorden —»Kartäuser, —»Mönchtum, —»Ordenswesen Einweihungen —» Benediktionen, —»Sakramentalien Eisenacher Kirchenbund —»Evangelische Kirche in Deutschland Eisenacher Regulativ —» Kirchenbau Eißfeldt, Otto
(1887-1973)
1. Leben Als ältester Sohn eines Juristen am 1 . 9 . 1 8 8 7 in Northeim, Hann, geboren, studierte Eißfeldt Theologie und Orientalistik 1905 in Göttingen, 1906 in Berlin und 1907 wieder in Göttingen. Von Dez. 1907 bis 1912 war er Studienleiter des „Johanneum" und 1 9 1 2 - 1 9 2 2 Frühprediger an der Jerusalems- und Neuen Kirche in Berlin. 1911 promovierte Eißfeldt zum Lie. theol. in Berlin und habilitierte sich dort 1913 mit Der Maschalim A T (1913 [BZAW 24]). 1916 erwarb erden Dr. phil. in Göttingen mit Erstlinge und Zehnten im AT (1917 [BWAT 22]), wurde 1918 zum Titularprofessor in Berlin ernannt und erhielt 1921 den Ruf nach -»Halle, dem er 1922 folgte. Dort hatte Eißfeldt bis zu seiner Emeritierung 1957 den Lehrstuhl für „Altes Testament und Semitische Religionsgeschichte" inne, den er bis 1959 noch weiter vertrat. Nebenamtlich war er von 1 9 3 6 - 1 9 5 7 Konsistorialrat in Magdeburg. Er starb am 23. April 1973 in Halle/Saale. Zweimal ( 1 9 2 9 - 1 9 3 0 und 1 9 4 5 - 1 9 4 8 ) war er Rector magnificus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und 1956 wurde er zum Ehrensenator der Universität ernannt. 1965 wurde ihm der Orden „Banner der Arbeit" und die Burkitt-Medal for Biblical Studies der British Academy und 1967 der Vaterländische Verdienstorden in Silber verliehen. 1951 wurde er durch Verleihung des theol. Ehrendoktors von Glasgow und 1955 durch den der Reformierten theologischen Akademie von Budapest geehrt. Eißfeldt wurde berufen 1927 in die „Deutsche Akademie für allgmeinnützliche Wissenschaften" (Erfurt), 1948 in die „Sächsische Akademie der Wissenschaften" (Leipzig), 1949 in die „Deutsche Akademie der Wissenschaften" (Berlin), 1955 als korrespondierendes Mitglied in die „Akademie der Wissenschaften und der Literatur" (Mainz), 1957 als korrespondierendes und 1966 als ordentliches auswärtiges Mitglied in die „Académie des Inscriptions et Belles-Lettres" (Paris), 1958 als korrespondierendes Mitglied in die „British Academy" (London) und 1969 in die „Kungliga Humanistika Vetenskapssamfundet" (Lund). Außerdem war Eißfeldt seit 1933 Ehrenmitglied der „Society of Old Testament Study" (Großbritannien), seit 1937 Mitglied der „Society of Biblical Literature and Exegesis" (USA), seit 1957 Ehrenmitglied der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" (BRD) und seit 1963 Mitglied des „Deutschen Archäologischen Instituts" (Berlin-Dahlem).
2. Werk Zwischen der ersten Publikation Die Rätsel in Jdc 14 (ZAW 30 [1910] 1 3 2 - 1 3 5 ) und der letzten Veröffentlichung Monopol-Ansprüche des Heiligtums von Silo, 1973 ( = KS VI, 1979, 8 - 1 4 ) hat Eißfeldt ca. 380 Monographien und Aufsätze, über 900 Rezensionen und etwa 20 regelmäßige Berichterstattungen über Zeitschriften verfaßt. Von dem Pflichtbewußtsein, dem Fleiß und der Konzentrationsfähigkeit des Gelehrten Otto Eißfeldt, von denen diese Zahlen zeugen, ist nicht zuletzt jede seiner Veröffentlichungen geprägt. Ein gedrängter, von wissenschaftlicher Akribie bestimmter Stil, der das Streben um größtmögliche Genauigkeit der Wiedergabe seiner Gedanken verrät, bereiten manchem Leser Mühe im Zugang zum Werk Eißfeldts. Eißfeldt hat auf jedem der Hauptarbeitsfelder alttestamentlicher —»Bibelwissenschaft mitgewirkt. Er war zusammen mit A. -»Alt der Herausgeber der seit 1937 erschienenen BHK 1 und steuerte für die BHS die Bearbeitung der Genesis bei (1969). Obendrein war die
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den Qumran-Funden geschenkte Aufmerksamkeit weithin von dem Bemühen um die kritische Textarbeit bestimmt (vgl. Variae Lectiones..., 1951). — Eißfeldt war auch Übersetzer. Er hat nicht nur den Komplex von Gen 1 bis Jdc 21 (Hexateuch-Synopse, 1922 = Darmstadt 1962; Die Quellen des Richterbuches, Leipzig 1925) und der Königsbücher sowie von Jes 3 6 - 3 9 ( 4 1922 [HSAT 1]), sondern auch andere, in seine Arbeiten eingefügte Texte, vorab Psalmen, übersetzt. So sehr es Eißfeldt einerseits um möglichst getreue Wiedergabe des Originals ging, so legte er andererseits doch auch auf die Schönheit der Übersetzung wert. Von dem Bemühen um eine exakte Übersetzung zeugen auch Begriffsuntersuchungen wie nüah ,sich vertragen' (1950 = KS III, 1966, 124—128) oder Zivei verkannte militär-technische Termini im AT (1955 = ebd. 3 5 4 - 3 5 8 ) . Ein besonderes Gewicht liegt im Werk Eißfeldts auf der literarkritischen Analyse (—»Literarkritik), besonders des Hexateuch (—»Pentateuch) und des —»Richterbuches sowie der —»Samuelbücher, auf der Grundlage der neuesten Urkundenhypothese. Daß er dabei in großen Linien den Spuren von J. —»Wellhausen und R. Smend folgte ist offenkundig. Läßt sich einerseits in dem Bemühen, der Hypothese von R. Smend, seinem Göttinger Lehrer, zum Durchbruch zu verhelfen, der auch sonst in Eißfeldts Werk hervortretende Zug der Pietät denen gegenüber, die ihn förderten und ihm zur Seite standen, erkennen (vgl. die Nachrufe auf Wellhausen, Baudissin, Gunkel und Littmann), so ist andererseits doch nicht zu übersehen, daß Eißfeldt auch hier seinen eigenen Weg ging (vgl. Hexateuch-Synopse V). Auffällig bleibt, daß Eißfeldt für R. Smend keinen Nachruf verfaßte. Der Literarkritiker Eißfeldt war der Überzeugung, daß neben dem von ihm etwa dem 8. oder auch 9. Jh. zugewiesenen —»Jahwisten (J) noch ein älteres Erzählungswerk aus dem literarischen Bestand herausschälbar ist, das etwa dem Ausgang des 10. Jh. angehört und das wegen seiner sich von J abhebenden profanen Haltung von Eißfeldt „Laienquclle" (L) genannt und bis in die Samuelisbücher hinein verfolgt wurde. Obwohl Eißfeldt weit mehr Widerspruch als Zustimmung erfahren hat, bliebcrmitnur geringfügigen Modifikationen seiner Überzeugung treu. Dabei überprüfte er immer wieder seine Ergebnisse etwa in Auseinandersetzung mit W. Rudolph (vgl. Die Komposition von Exodus 1-12, 1939 [KS II, 1963, 1 6 0 - 1 7 0 ] ; Die Komposition der Bileam-Erzählung, 1939 [ebd. 1 9 9 - 2 2 6 ] ) , mit L. Rost (vgl. Text-, Stil- und Literarkritik in denSamuelisbüchern, 1 9 2 8 [ O L Z 3 1 (1928) 801 fj), mit M. -»Noth (vgl.D«? Geschichtswerke im AT, 1947[KS III, 1966, 19-27]),mit G. Hölscher, M. Nothund G.v.-»Rad (vgl. Geschichtsschreibung im AT, Berlin 1948), mit C. A. Simpson (vgl. Die ältesten Traditionen Israels, 1950 [BZAW 71]), mit S. -»Mowinckel (vgl. Erwägungen zur Pentateuchquellenfrage, 1966 [KS IV, 1968, 2 5 9 - 2 6 3 ] ) und mit M. Noth und S. Mowinckel (vgl. Deuteronomium und Hexateuch, 1966 [ebd. 2 3 8 - 2 5 8 ] ) . Vor allem gegen Ende seines Lebens erwog Eißfeldt erneut die Tragfähigkeit seiner literarkritischen Theorie (vgl. Die Genesis der Genesis, Tübingen 1958 2 1961; Lade und Gesetzestafeln, 1960 [KS III, 1966, S26—529]-, Sinai-ErzählungundBileam-Sprüche, 1961 [KS IV, 1 9 6 8 , 2 1 - 3 1 ] ; Die älteste Erzählung vom Sinaibund, 1961 [ebd. 1 2 - 2 0 ] ; Die Komposition der Sinai-Erzählung, Berlin 1966; Die Komposition von l Reg 16,29-11 Reg 13,25, 1967 [KS V, 1973, 2 1 - 3 0 ] ) , wobei er gesprächsweise manchen Zweifel an seiner Hypothese äußerte und sich durch stets neues Durchdenken der Problematik seines eigenen Standpunkts zu vergewissern versuchte.
Bei aller Bemühung um die Quellenkritik als solcher war die Analyse für Eißfeldt notwendige Voraussetzung „für einen neuen Aufriß der israelitisch-jüdischen Profan- und Religionsgeschichte" (Hexateuch-Synopse 4). Denn „die quellenkritische Arbeit am A T . . . liefert dem Historiker die Bausteine, aus denen er dann seinen Bau gestalten kann" (Quellen des Richterbuches VI). Dieses Vorhaben, das Nachzeichnen der israelitischen Profan- und Religionsgeschichte, lag Eißfeldt letztlich am Herzen. Seinem wissenschaftlichen Ethos entsprechend, ging er dabei äußerst behutsam zu Werke. Neue Methoden überprüfte er sorgfältig auf ihre Tragfähigkeit. Dabei ist sowohl die von H. —»Gunkel inaugurierte und von H. —»Greßmann ausgebaute Form- und Gattungsgeschichte, der Eißfeldt in seiner Einleitung in das AT (Tübingen 1934 J 1 9 6 4 = 1976) als erstem Lehrbuch dieser Art den gebührenden Platz einräumte, zu nennen (vgl. etwa Mose und seine Zeit [PrBl 46 (1913) 5 5 7 - 5 5 9 . 5 8 3 - 5 8 5 . 6 1 4 - 6 1 6 . 6 4 7 - 6 4 9 . 6 8 5 - 6 8 7 ] ; Die Bedeutung der Märchenforschung für die Relgionswissenschaft, 1918 [KS 1,1962, 2 3 - 3 2 ] ; Stammessage und Novelle in den Geschichten von Jakob und seinen Söhnen, 1923 [ebd. 8 4 - 1 0 4 ] ; Die kleinste literarische Einheit in den
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Erzählungsbüchern des AT, 1927 [ebd. 143-149]; Stammessage und Menschheitserzählung in der Genesis, Berlin 1965; —•Formgeschichte/Formenkritik), als auch auf die aufblühende vorderorientalische Archäologie hinzuweisen (vgl. Altertumskunde und AT, 1936 [BZAW 66] 1 5 5 - 1 6 1 ; Von Joseph zu Josua, 1951 [KS III, 1966, 151-158]; Recht und Grenze archäologischer Betrachtung des AT, 1954 [ebd. 280—287]). Wo ihre selbständig abgesicherten Ergebnisse zur Erhellung alttestamentlicher Sachverhalte beizutragen vermochten, griff sie Eißfeldt entschlossen auf (vgl. Gabelhürden im Ostjordanland, 1949 [ebd. 6 1 - 6 6 ] ; Das AT im Lichte der safatenischen Inschriften, 1954 [ebd. 2 8 9 - 3 1 7 ] ; Der Beutel der Lebendigen, Berlin 1960). Allerdings betonte er nachdrücklich das selbständige Recht der „immanent-kritischen Untersuchung des A T " gegenüber der Archäologie (Recht u. Grenze 108) und wies mit seinen eigenen Arbeiten, die die form- oder stoffgeschichtliche Fragestellung ebenso wie die archäologischen Erkenntnisse mit der von ihm zurecht als tragende methodische Grundlage angesehenen Literarkritik verbinden, den richtigen Weg einer weiteren Verfeinerung der Forschungsmethodik. Wie dem Ziel einer umfassenden Darstellung der Geschichte Israels die kritische Beschäftigung mit den alttestamentlichen Texten und die Aufarbeitung der archäologischen Ergebnisse dienstbar gemacht wurden, so war auch der zweite Schwerpunkt im Werk Eißfeldts, die semitische Religionsgeschichte, zunächst ganz auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Darin also von seinem Berliner Lehrer W . W . Graf Baudissin, dessen großangelegtes Kyrios-Werk Eißfeldt zu Ende führte und 1 9 2 9 herausbrachte und dem er in Franz Delitzsch und Wolf Graf Baudissin (Berlin 1966) und in Briefwechsel zwischen Franz Delitzsch und Wolf Wilhelm Graf Baudissin 1866-1890 (hg. zusammen mit K. H. Rengstorf, 1973 [ Abh. der Rhein. Akad. der Wiss. 43]) ein pietätvolles Denkmal setzte, angeregt, ging es Eißfeldt ebenfalls von Anfang an um die Klärung der früh-israelitischen Religionsgeschichte, wofür ihm neben den alttestamentlichen Texten nur spärliche Nachrichten vorab von antiken Schriftstellern zur Verfügung standen. Welche Aussagen anhand dieser dürftigen Quellen bei eindringender Arbeit dennoch gemacht werden konnten, zeigen solche Arbeiten wie Der Gott Bethel, 1930 (KS I, 1962, 2 0 6 - 2 3 3 ) ; Der Gott des Tabor und seine Verbreitung, 1934 (KS II, 1 9 6 3 , 2 9 - 5 4 ) ; Molk als Opferbegriff im Punischen und Hebräischen und das Ende des Gottes Moloch, 1935 (BRGA 3)-,]ahve und Baal, 1914 (KS I, 1 9 6 2 , 1 - 1 2 ) ; Erstlinge und Zehnten (s.o.); Götternamen und Gottesvorstellung bei den Semiten, 1929 (ebd. 194-205); Vom Werden der biblischen Gottesanschauung, 1929 "1931 (HUR 42). Durch die bei den Ausgrabungen im nordsyrischen Ras Schamra, dem antiken Ugarit, seit 1 9 2 9 zutage geförderten keilalphabetischen Texte änderte sich die Quellenlage von Grund auf, standen doch nunmehr phönizisch-kanaanäische Originaltexte zur Verfügung. Angeregt durch die freundschaftlichen Kontakte zu dem Hallenser Semitisten Hans Bauer, dem Mitentzifferer des Ugaritischen, hat Eißfeldt an der Erforschung und Auswertung dieser Ugarit-Texte von Anfang an tatkräftig mitgewirkt. Eine stattliche Reihe von Arbeiten sind diesem Gegenstand gewidmet. In ihnen ging es Eißfeldt einerseits um ein besseres Verständnis der Texte selbst (vgl. Mythos und Sage in den Ras-Schamra-Texten, 1944 [KS II, 1963, 4 8 9 - 5 0 1 ] ; Ugaritisches, 1944/50 [ebd. 5 1 4 - 5 4 1 ] ; Zu den Urkunden über den Tribut Niqmads..., 1950 [KS III, 1966, 7 5 - 8 4 ] ; Ugarit und Alaschia, 1953 [ebd. 2 1 8 - 2 2 0 ] ; Ugarit und Alalach, 1954 [ebd. 2 7 0 - 2 7 9 ] ; Ugaritica et Palmyrenica [ZDMG 105 (1955) * 3 7 * - * 3 8 * ] ) . Dazu gehört auch der nicht geringe Beitrag Eißfeldts für die ugaritische Lexikographie, hat er doch seine eigenen nicht unbeträchtlichen Vorarbeiten in das von ihm herausgegebene Wörterbuch der ugaritischen Sprache von J. Aistleitner (Berlin 1963 4 1974) einfließen lassen. Andererseits hat Eißfeldt die aus den Ugarit-Texten gewonnenen Erkenntnisse für die Erhellung und Wertung von Nachrichten aus anderen antiken Quellen, vorab für das Werk Sanchunjatons, nutzbar gemacht (vgl. Ras Schamra und Sanchunjaton, 1939 [BRGA 4]; Sanchunjaton von Berut und Ilumilku von Ugarit, 1952 [BRGA 5]; Taautos und Sanchunjaton, Berlin 1952; Phönikische und griechische Kosmogonie, 1960 [KS III, 1966,501-512]). Aus diesen Arbeiten erwuchs die Monographie El im ugaritischen Pantheon (Berlin 1951) und die meisterhafte, leider allzu gedrängte Darstellung Kanaanäisch-ugaritische Religion (HO 1/8/1, 1964, 7 6 - 9 1 ) . Letztlich jedoch galt Eißfeldts Liebe der israelitischen Religionsgeschichte, deren Anfänge er dank seinen phönizisch-ugaritischen Forschungen besser verstehen lehrte. Hatte
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Eißfeldt schon 1914 in dem AufsatzJahve und Baal (s.o.) den „unüberbrückbaren Gegensatz" zwischen „Jahves über allem Natürlichen erhabener Majestät" und dem „naturhaften Charakter" der Baale und Astarten betont und zugleich auf die mit dem Sieg Jahwes über Baal eingeleitete und von den israelitischen Frommen „freudig begrüßte Bereicherung" ihres Jahwe-Glaubens durch dieses aus der kanaanäischen Gottesverehrung nun einströmende kostbare Gut aufmerksam gemacht, so wandte er sich fortan dem Verhältnis Jahwes zum kanaanäischen El zu und verfolgte behutsam den Prozeß einer innigen Einschmelzung der El-Vorstellung in den Jahwe-Glauben und die damit erfolgte Vervollkommnung der israelitischen Gottesvorstellung (vgl. El und Jahwe, engl. 1956 [KS III, 1966, 3 8 6 - 3 9 7 ] ; Malkiel... und Malkija..., 1956 [ebd. 384f]; Jahwes Verhältnis zu Eljon und Schaddaj nach Psalm 91, 1957 [ebd. 4 4 1 - 4 4 7 ] ; 'äh'yäh "sär 'äh'yäh und 'Eloläm, 1965 [KS IV, 1968, 193—198]; Jahwes Königsprädizierung als Verklärung national-politischer Ansprüche Israels, 1972 [KS V, 1973, 2 1 6 - 2 2 1 ] ) . Ein besonderes Gewicht haben dabei für ihn die Patriarchenerzählungen der Genesis, soweit sie noch durchblicken lassen, daß El der Gott der Väter war, ehe in der Mose-Zeit dann Jahwe an seine Stelle trat {vgl. Jakobs Begegnung mit El und Moses Begegnung mit Jahwe, 1963 [KS IV, 1968, 9 2 - 9 8 ] ; Jahwe, der Gott der Väter, 1963 [ebd. 79—91]; Der kanaanäische El als Geber der den israelitischen Erzvätern geltenden Nachkommenschaftund Landbesitzverheißungen, 1968 [KS V, 1973, 5 0 - 6 2 ] ) . Diese religionsgeschichtlichen Forschungen mündeten ein in die zusammenfassende Darstellung Die israelitisch-jüdische Religion (SWG 2 [1966] 2 1 7 - 2 6 0 . 6 2 1 ) . Als letztes Gebiet soll das der—»Geschichte Israels genannt werden. Weil für ihre Nachzeichnung alle nur möglichen Erkenntnisquellen auszuschöpfen sind, war sie für Eißfeldts weit gespannte Forschungsarbeiten gleichsam der abschließende Höhepunkt. So behandelte er in der Neuauflage der Cambridge Ancient History 1965 den Zeitraum von den Anfängen in der Erzväterzeit bis zum Ende Salomos, und für die Fischer-Weltgeschichte 1967 schrieb er das Kapitel Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum Ausgang des 6. Jh. v. Chr. (vgl. auch Israels Geschichte, Tübingen 1914). Wiederum hat Eißfeldt selbst für diese Darstellungen eine Fülle unentbehrlicher Vorarbeiten geleistet, in denen er Einzelfragen behandelte (Die Verwertbarkeit der Vätergeschichten... für die... Profan- und Religionsgeschichte [PrM 17 (1913) 3 2 9 - 3 4 5 ] ; Die Schichten des Hexateuch als vornehmste Quelle für den Aufriß einer israelitisch-jüdischen Kulturgeschichte, 1919 [KS I, 1962, 3 3 - 4 3 ] ; Baal Zaphon, Zeus Kasios und der Durchzug der Israeliten durchs Meer, 1932(BRGA 1); Hcsckiel Kap. 16 als Geschichtsquelle, 1936 [KS II, 1963, \Q\-l06]-,lsraelitisch-philistäiscbe Grenzverschiebungen.. 1943 [ebd. 4 5 3 - 4 6 3 ] ; Jahwe Zebaoth, 1950 [KS III, 1966, 1 0 3 - 1 2 3 ] ; Ein gescheiterter Versuch der Wiedervereinigung Israels, 1951/52 [ebd. 1 3 2 - 1 4 6 . 1 4 7 - 1 5 0 ] ; Silo und Jerusalem, 1957 [ebd. 4 1 7 - 4 2 5 ] ; Israels Führer in der Zeit vom Auszug aus Ägypten bis zur Landnahme, 1966 [KS IV, 1968, 2 9 7 - 3 0 4 ] ; Protektorat der Midianiter über ihre Nachbarn im letzten Viertel des 2.)t.v. Chr., 1968 [erw.: KS V, 1973, 9 4 - 1 0 5 ] ; Gilgal oder Sichern, engl. 1970 [ebd. 1 6 5 - 1 7 3 ] ; Die Psalmen als Geschichtsquelle, 1971 [ebd. 1 9 0 - 2 0 4 ] ; Monopol-Ansprüche des Heiligtums von Silo [s.o.]) oder in denen er sich mit Theorien oder Hypothesen anderer Gelehrter auseinandersetzte (vgl. Der geschichtliche Hintergrund der Erzählung von Gibeas Schandtat, 1935 [KS II, 1963, 6 4 - 80]; Die Eroberung Palästinas durch Altisrael, 1955 [KS III, 1966, 3 6 7 - 3 8 3 ] ) .
Eißfeldt ist stets seinen eigenen Weg gegangen. Er war Schulmeinungen ebenso abhold wie wissenschaftlichen Modeerscheinungen. Er hatte Vorbehalte etwa gegenüber A. Alts Gott der Väter oder gegenüber der Hypothese einer Amphiktyonie und eines —»Deuteronomistischen Geschichtswerkes, nicht minder auch gegenüber der Landnahmetheorie von Y. Kaufmann, um nur diese Beispiele zu nennen. Bei aller Berechtigung theologischer Fragestellungen, die Eißfeldt keinesfalls bestritt, gebührte für ihn doch der Religionsgeschichte der Vorrang, weil sie auf historisch-kritisch abgesicherte Erkenntnis aus ist und die israelitische Religion in ihrer geschichtlichen Entwicklung erfassen kann (vgl. Israelitisch-jüdische Religionsgeschichte und alttestamentliche Theologie, 1926 [KS I, 1962, 1 0 5 - 1 1 4 ] ; Das Alte Testament als literarische Urkunde und als Gottesoffenbarung [DtPfBl 40 (1936) 8 7 7 - 8 7 9 ] ) . Daß dabei auch die durch Nationalität oder Konfession in der Wertung des Alten Testaments begründeten Eigentümlichkeiten oder gar Grenzen nivelliert werden, also
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eine internationale und interkonfessionelle Zusammenarbeit ermöglicht wird, hat Eißfeldts Entscheidung wohl stets befürwortet, zumal er an weltweiter Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Alten Testaments interessiert war und sogleich nach 1945 die abgerissenen wissenschaftlichen Verbindungen über die Grenzen hinweg neu knüpfte. Weil Eißfeldt, noch von J. Wellhausen und R. Smend wie von W. W. Graf Baudissin angeregt, gleichsam den Höchststand historisch-kritischer und religionsgeschichtlicher Forschung der damaligen Zeit in unserer Gegenwart verkörperte, konnte er einer jüngeren Generation von Wissenschaftlern zum Brückenbauer werden und ihnen den Zugang zu seinen geistigen Vätern vermitteln (vgl. Sechs Jahrzehnte alttestamentlicher Wissenschaft [SVT 15 (1966) 1 - 1 3 ] ) . Weil Eißfeldt stets von einer großen Offenheit für neue Methoden und Erkenntnisse erfüllt und ihnen nach kritischer Prüfung den gebührenden Platz einzuräumen bemüht war, ist sein monumentales Werk eine Warnung vor jeder Vereinseitigung exegetischer Methodik und wissenschaftlicher Erkenntnis und zugleich eine Mahnung, wissenschaftlichen Fortschritt immer auch mit geduldigem Hören auf die in der Geschichte schon gegebenen Antworten zu verbinden und somit die Kontinuität der Forschung zu wahren. Weil nicht zuletzt sich Eißfeldt stets der Grenzen seines Wissens und Könnens bewußt war, vermochte er doch trotz umfänglicher Vorarbeit vornehmlich in den Jahren zwischen 1955 und 1968 (vgl. El und Jahive [s.o.]; Non dimittam te nisi benedixeris mihi, 1957 [KS III, 1966, 4 1 2 - 4 1 6 ] ; Die Genesis der Genesis [s.o.]; Biblos geneseös, 1958 [ebd. 4 5 8 - 4 7 0 ] ; Toledot, 1961 [KS IV, 1968, 1—7]; Jakobs Begegnung mit El und Moses Begegnung mit Jahwe [s. o.]; Achronische, anachronische und synchronische Elemente in der Genesis, 1964 [ebd. 153—169]; Stammessage und Menschheitserzählung in der Genesis [s.o.]; Jakob-Lea und Jakob-Rahel, 1965 [ebd. 1 7 0 - 1 7 5 ] ; Der kanaanäische El als Geber... [s.o.]; Umnennungen im Alten Testament, engl. 1968 [KS V, 1973, 68—76]) nicht, den geplanten Genesis-Kommentar zu schreiben, ließ er seine Person ganz und gar hinter der Sache, um die es ihm ging, zurücktreten, „in wunderbarer Einfachheit und Bescheidenheit, einer der schönsten Zierde großer Männer", wie er im Blick auf Enno Littmann schrieb und damit sich selbst meinte. Werke Die wichtigsten Arbeiten wurden im Text genannt. - Bibliographien, zusammengestellt v. KarlMartin Beyse: KS V, 1973, 2 2 2 - 2 8 7 ; KS VI, 1979, 1 5 - 1 8 ; JSAW 1976, 3 2 9 - 3 9 3 (bis 1975). KS, hg. v. R. Sellheim/F. Maass, 6 Bde., Tübingen 1 9 6 2 - 7 9 . - KS zum AT, hg. v. K.-M. Beyse/H.-J. Zobel, Berlin 1971 (Auswahlband). Literatur
(Auswahl)
Karl-Martin Beyse, Otto Eißfeldts Forschungsarbeiten in den wiss. Akademien der DDR: WZ(H) 26 (1977) 83 - 99. - In Memoriam Otto Eißfeldt. Zwei Reden aus Anlaß des ersten Todestages, E. Poppe; G. Wallis, 1974 (HUR. Wiss. Beitr. 9/2). - R. Meyer, Otto Eißfeldt: JSAW 1976, 3 2 4 - 3 2 9 .
Hans-Jürgen Zobel Ekklesiologie —»Kirche Eklund, Johan Alfred
(1863-1945)
1. Leben J. A. Eklund wurde am 7.1.1863 in Ryda (Västergötland/Schweden) geboren. Sein Vater war Schneider, und die Familie lebte in sehr engen wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie hatte auch keinerlei akademische Tradition. Sein Elternhaus war von einer innerkirchlichen Erweckungsbewegung geprägt, die auf den südschwedischen Pfarrer Hernie Schartau zurückgingFür die weitere Entwicklung Eklunds wurde die Studienzeit in —»Uppsala entscheidend. Sie fiel in die 80er Jahre des 19. Jh., eine Zeit, die in —»Schweden vom -»Naturalismus bestimmt war. Dieser führte vor allem Eklunds Menschenbild in eine Krise. Der Mensch wird
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demnach auf seine bloße „ N a t u r " reduziert, wodurch eine selbständige Anthropologie unmöglich wird. Eklund überwand diese Krise mit Hilfe der sog. Persönlichkeitsphilosophie, der er in ihrer schwedischen Gestalt von Erik Gustaf Geijer ( 1 7 8 3 - 1 8 4 7 ) und Pontus Wikner ( 1 8 3 7 - 1 8 8 8 ) begegnete. In Uppsala wurde Eklund dann auch zum Dozenten für „Einführungswissenschaft des Theologischen Studiums" berufen. Daneben wirkte er als stellvertretender Dompropst in der dortigen Domgemeinde. Nachdem er einige Jahre Dompropst in Kalmar gewesen war, wurde er 1907 zum Bischof der Diözese Karlstad ernannt. Dieses Amt hatte er bis 1938 inne. Während der Zeit erhielt er zudem einen zweiten Platz auf der Berufungsliste für das Amt des Erzbischofs der Schwedischen Kirche (1914). Eklund starb am 23.8.1945. 2. Werk Eklund legte seiner Theologie eine Persönlichkeitsphilosophie zugrunde, die ihn zu vorrangig anthropologischen Fragestellungen führte. Auf seine zentrale Frage: „Wie wird der Mensch ein nichtiger' Mensch?" gibt er sich die Antwort: durch ein persönliches Verhältnis zur Natur, zu den Menschen, zu Gott selbst. Diese „persönlichen" Beziehungen fördern seine Entwicklung zu einem „richtigen" und „ganzen" Menschen und sind - als für das menschliche Leben grundlegend - nur in der Ortsgemeinde zu erfahren. Zu dieser „Gemeinde" gehören nicht nur die Gemeinschaft von Mensch und Gott sowie die von Mensch zu Mensch, sondern ebenso auch die Gemeinschaft von Mensch und Natur. Mit diesen Vorstellungen wurde Eklund neben E. —»Billing und M. —»Björkquist zum geistigen Urheber und zur treibenden Kraft der „Jungkirchlichen Bewegung", die sich seit 1908 unter den Studenten der Universität von Uppsala herausbildete. Die Studenten traten damit vielen Geistlichen und Laien der Schwedischen Kirche entgegen, die die kirchliche Situation ihrer Zeit mit tiefem Pessimismus betrachteten. Die Ursache dieser Haltung lag vor allem in den ständigen Angriffen, denen sich ihre Kirche ausgesetzt sah und die von zwei Seiten kamen: einmal von einer kritischen Freikirchlichkeit und zum anderen von einer radikal antichristlichen Strömung innerhalb führender Kreise des kulturellen Lebens. Die „Jungkirchliche Bewegung" hingegen trug von Beginn an einen neuen Optimismus und eine größere Freimütigkeit in die Schwedische Kirche, die wegen ihrer besonderen Ausformung in Ortsgemeinden als eine „wirkliche" Kirche gelten konnte. Die Betonung des Territorialprinzips war für sie kein Zeichen von Schwäche, wie seine Kritiker behaupteten, sondern vielmehr ein Ausdruck der Stärke. Die geographischen Grenzen der Kirche wurden in der Weise interpretiert, daß Gottes Gnade all jenen Menschen zukäme, die in einem ganz bestimmten Gebiet wohnten. Dieser territoriale Aspekt markiert auch den Verantwortungsbereich der Kirche. Vor diesem Hintergrund war es dann möglich - und dies ist für Eklunds Theologie spezifisch die „ N a t u r " in den Kirchenbegriff zu integrieren. Die Hineinnahme der „ N a t u r " in die „Gemeinde" wird so zu einer Voraussetzung dafür, daß der Mensch seine wahre Identität in der Gemeinde finden kann.
Eklunds Kirchenbegriff kann als eine Erweiterung seines Gemeindegedankens angesehen werden. Das Verständnis von Gemeinde formte sich während seiner Tätigkeit in Uppsala, als er die Verantwortung für die Arbeit innerhalb der Domgemeinde trug. Doch der Aufgabenbereich eines Dompropstes erstreckte sich über die Gemeindegrenzen hinaus und erfaßte auch Probleme der Diözese sowie der gesamten Staatskirche. Die Erweiterung vom Gemeindegedanken zum Kirchenbegriff wurde daher realisiert. Zeitweise jedoch hatte Eklunds Kirchenbegriff auch einen stark geschichtlich-nationalen Zug. Dies muß vor dem Hintergrund jener besonderen ideengeschichtlichen Entwicklung am Ende des 19. Jh. gesehen werden, als sich innerhalb des gesamten europäischen Geisteslebens ein neues Interesse für das eigene Land und seine Geschichte bemerkbar machte. Für Eklund selbst wurde die Auflösung der 1814 gegründeten Union zwischen Schweden und Norwegen im Jahre 1905 zum auslösenden Faktor. Seine Auffassung einer innerlichen Gemeinschaft von Kirche und Volk sowie ihrer im Grunde identischen Geschichte spiegelt sich in einem von ihm gedichteten Gemeindelied wider: „Die Kirche der Väter in Schwedens Land, die liebste unter den Gemeinschaften auf Erden" (Gesangbuch der Schwedischen Kirche Nr. 169).
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Daß zum Aufgabenbereich eines Bischofs auch die wissenschaftliche Arbeit gehört, war für Eklund eine Selbstverständlichkeit. In der Folgezeit waren jedoch nur wenige schwedische Bischöfe in der Lage, dieser Forderung nachzukommen. Die Bibliographie der Schriften Eklunds ist sehr umfangreich; sie umfaßt mehr als 900 Titel. 3.
Nachwirkung
Die „Jungkirchliche Bewegung" und in ihr besonders J. A. Eklund und E. Billing haben dazu beigetragen, daß sich die innerkirchliche Einstellung gegenüber der Schwedischen Kirche seit jener Zeit geändert hat. Der Gedanke, die Kirche in ihrer territorialen Gestalt nicht nur als eine administrative, sondern auch als eine geistliche Größe zu sehen, hat heute eine tiefe Verankerung unter den Pfarrern und aktiven Laien gefunden. Eklunds Versuch hingegen, die „Natur", d. h. eine schöpfungstheologische Dimension, in seine Auffassung von der Kirche einzubauen, hat bis heute wenig Resonanz gefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die theologische Fragestellung besonders auf internationale Problemkreise und fand an einer Betonung des nationalen Elements wenig Interesse. Dabei läßt sich sagen, daß gerade dieser Zug in der Theologie Eklunds ihrer weitergehenden Rezeption im Wege stand. Im kirchlichen Leben Schwedens spielt Eklund durch seine Kirchenlieder nach wie vor eine bedeutende Rolle. Seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet wurden erst während seiner bischöflichen Amtszeit deutlich, als er bei der Revision des Gesangbuches von 1819 mitwirkte. Eklund gehörte zweifellos zu denen, die die revidierte Ausgabe von 1937 am nachhaltigsten mitgeformt haben. Auch die Predigttätigkeit Eklunds hat in letzter Zeit eine erhebliche Bedeutung für das kirchliche Leben Schwedens gewonnen. In weiten Kreisen sieht man in ihm „den bedeutendsten Erneuerer der schwedischen Predigt" (Y. Brilioth, Predikans historia, Lund 2 1962, 249). Quellen Aus Eklunds umfassender Produktion, die sich bisher nur auf den schwedischen Sprachraum beschränkt hat, verdient hervorgehoben zu werden: Trons förhallande tili människans öfriga livsyttringar, Boras 1896. - Herdabrev tili prästerskapet i Karlstads stift, Karlstad 1907. - Kyrkans är. Predikningar, 3 Bde., Stockholm 1 9 1 5 - 1 9 1 7 . - N a t u r , människovärld, andelif, Stockholm 1 9 1 6 , - M ä n n i s kan och Gud, 2. Bde., Stockholm 1918/1926. - Frän natur tili personliv, Stockholm 1932. Literatur , Ragnar Ekström, Gudsfolk och folkkyrka, Lund 1963. - En bok om biskop J. A. Eklund, Uppsala 1946. — För fädernas kyrka. Biskop J. A. Eklunds livsgärning, Uppsala 1947. — Hans Börje Hammar, Personlighet och samfund. J. A. Eklund och hans tillflöden, Stockholm 1971. - Edvard Leufven, J. A. Eklund som predikant, Stockholm 1917. - Elis Malmeström, J. A. Eklund. En biografi, Stockholm 1950. - Olle Nystedt, Frän studentkorstäget tili Sigtunastiftelsen. Ungkyrkorörelsens genombrottsär, Stockholm 1936. - Hilding Pleijel, Ungkyrkorörelsen i Sverige, Lund 1937. - Alf Tergel, Ungkyrkomännen, arbetarfrägan och nationalismen 1 9 0 1 - 1 9 1 1 , Stockholm 1969.
Hans Börje Hammar
Ekstase Der Begriff Ekstase bezeichnet, wie auch in dem griechischen Etymon Ixazaaa; enthalten, einen schwer zu beschreibenden psychischen Zustand, der dem Betroffenen und den ihn Beobachtendem das sprachliche Bild nahelegt, er sei „außer sich", „nicht bei sich". In der Ekstase wird eine Verfassung des erlebenden Subjekts als auseinandertretend erlebt oder beschrieben, die doch eigentlich den Anschein erweckt, als stünde sie festgefügt den Objekten der Wahrnehmung gegenüber. Welche gegenseitige Vertauschung hier möglich ist, zeichnet schon der alltägliche Sprachgebrauch im Deutschen nach, wenn man sagen kann, daß man von der Wahrnehmung von etwas „durchdrungen" werden kann und so die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich durchlässig wird (vgl. auch Sunden 1—6).
Ekstase
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Es gehört sicher zu den bedeutenderen Merkmalen von Religion, daß alles, was ihr für zugehörig erklärt wird, „anders" ist; sei es in dem vordergründigen Sinn, daß Regeln und Gesetze des nomologischen Alltagswissens („wenn es kalt ist, friere ich") keine Geltung haben, sei es, daß Grenzen der empirischen Wahrnehmung aufgehoben sind (in der Religion wird über zeitliche Grenzen hinaus, z. B. über Ewigkeit, nachgedacht; über räumliche Grenzen hinaus, z.B. über ein Jenseits der räumlich vorhandenen Welt), sei es, daß Grenzen der Bedeutung („ein Stein ist ein Stein") aufgehoben werden („ein Stein kann mehr und anderes sein als [nur] ein Stein"), oder sei es, daß logische Grenzen in religiösem Zusammenhang überschritten werden, z.B. Grenzen der kausal strukturierten Wirklichkeit („dieser Zufall ist keiner"). Diese wenigen Merkmale weisen so deutliche strukturelle Ähnlichkeiten mit dem in der Ekstase geschehenden Außersichsein auf, daß es nicht überraschen kann, wenn Ekstase als ein religiös motivierter und innerhalb religiöser Zusammenhänge, insbesondere solcher mystischer Prägung (^»Mystik), erst sinnvoller Zustand angesehen wird. Andererseits eignet dem Zustand der Ekstase eine Unbestimmtheit, die offen ist für unterschiedliche Interpretationen auch außerhalb religiöser Referenzrahmen. Die in der Sprache versuchsweise vollzogenen Unterscheidungen zwischen Verzückung, Rausch, Trance, Besessenheit, Enthusiasmus oder Begeisterung legen zum einen eine gewisse Begriffsnot offen, etwas nur näherungsweise beschreiben zu können, was seinem Inhalt nach das erlebende Subjekt und damit auch tendenziell jeden möglichen Sprecher aus den gewohnten Bahnen des Empfindens und Denkens wirft. Daß psychische Ausnahmezustände in so vielfacher Weise ihren sprachlichen Ausdruck finden, liegt aber zum anderen auch daran, daß ekstatische Erlebnisse und allgemein psychische Zustände des Außcrsichseins in unterschiedlicher Weise erfahren werden und auf vielfältige Weise entstehen. Es ist nämlich eine Erfahrungstatsache, daß ekstatische Erlebnisse sowohl innerhalb wie außerhalb eines bestimmten religiösen Lebenszusammenhangs erzeugt werden können, z.B. mit halluzinogenen Stoffen, etwa „bewußtseinserweiternden" —•Drogen oder mit Alkohol, die sowohl mit als auch ohne religiöse Zielsetzung und Sinngebung angewendet werden können. Dennoch legt es die strukturelle Analogie zwischen einem zunächst offenen Begriff von Ekstase und den oben skizzierten Merkmalen von Religion nahe, eine enge — nicht notwendige — Beziehung zwischen Religion und Ekstase zu behaupten (vgl. auch B. Gladigow, Ekstase und Enthusiasmos: Cancik 40). Mit diesem Verständnis von der Strukturähnlichkeit zwischen Religion und Ekstase läßt sich das religionsgeschichtliche Material anhand der folgenden Fragestellungen versuchsweise gliedern: Wo ist jemand, der nicht bei sich ist? Was erlebt jemand (als was für ein Subjekt), der nicht mehr das Ich ist, das er sonst ist? Wodurch wird diese Trennung bewirkt? 1. Ein zentrales Merkmal in Beschreibungs- oder Definitionsversuchen angesichts ekstatischer Phänomene ist der Umstand, daß die auf die gewohnte Lebensumwelt eingestellten Wahrnehmungen in der Ekstase sich verringern. Dabei sind aber nicht einfach Wahrnehmungen reduziert, z. B. die Schmerzempfindung oder die Empfindung von festen Körpergrenzen, sondern andere Wahrnehmungen treten an ihre Stelle: z.B. das Gefühl, den Boden zu verlassen (Levitation) oder ein Bewußtsein davon, an einem anderen Ort zu sein. So weisen Berichte über ekstatische Erlebnisse oft Züge von Berichten über Reisen auf zu fremdem und ungewohntem Aufenthaltsort, zu Göttern und Geistern, in den Himmel (—»Entrükkung). Schamanen (—»Schamanismus), die Kraft, Belehrung und für Heilungsvorgänge notwendige diagnostische Erkenntnisse in ekstatischen Erlebnissen gewinnen, beschreiben diesen Zustand häufig als eine Reise zu den für die Heilung von Menschen zuständigen Geistern, mit denen sie in einer dauerhaften und für ihren Beruf notwendigen Beziehung stehen (vgl. Eliade). Daß Ekstase als ein Weg beschrieben wird, den jemand zurücklegt, um mit einer der alltäglichen Welt nicht zugehörigen Sphäre zu kommunizieren, ist nicht nur für den Schamanismus konstitutiv, sondern auch typischer Bestandteil von Berichten über mystische Einigungserfahrungen (vgl. Sunden 57—77 mit einer ausführlichen Darstellung und re-
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Ekstase
ligionspsychologischen Interpretation der mystischen Erlebnisse der —»Teresa von Avila). Auf dem Weg zu dieser letztlich angestrebten Kommunikation oder Vereinigung werden Schritte der Entfernung aus der alltäglichen Wahrnehmung heraus markiert, Schwierigkeiten der Uberwindung von die Konzentration hemmenden Eindrücken aus der Außenwelt beschrieben, Stufen der Entriickung wahrgenommen, die den ganzen Vorgang als einen Weg, als eine Reise metaphorisierbar werden lassen. 2. Eine diesem Vorgang des Weggehens, der Seelenreise oder des Aufenthalts in einer anderen Wirklichkeit korrespondierende Charakteristik der Ekstase ist die Empfindung des Ettthusiasmos
(zu griech. evOeog, eigentlich: worin ein G o t t ist), d. h. die Empfindung, er-
füllt zu sein von einer anderen, höheren oder weiteren Wirklichkeit, in Besitz genommen zu sein von etwas, was die alltägliche Selbst- und Fremdwahrnehmung übersteigt. Das Etymon dieses Begriffs stammt wie das der Ekstase aus dem griechischen Bereich, in dem auch der Zusammenhang von Ekstase und Gott-Erfülltsein in der folgenden Weise entfaltet wurde: Diejenigen, die außer sich sind {cavzchv excrtdvxe^),
sind von G o t t erfüllt (evOeoi) u n d sind,
ihres eigenen Willens beraubt oder entledigt, Werkzeuge des Gottes. Am deutlichsten kommt diese Verbindung in der mantiscben Ekstase zum Ausdruck. Nachdem nach einer komplizierten Adaptions- und Integrationsgeschichte in dem dem Apollon unterstehenden Orakel zu Delphi rauschhaft-ekstatische Züge der eingewanderten Dionysos-Religion vorherrschten, wurde aus dem ursprünglich zeichendeutenden Orakel eine Stätte der rauschhaften Weissagung. In dieser Begeisterungsmantik wird die Seele der Seherin von ihrem Körper gelöst und verkündet „mit rasendem M u n d , . . . was aus ihr der Gott s p r i c h t . . . Was in ihr lebt, denkt und redet, so lange sie rast, das ist der Gott selbst" (Erwin Rohde, Psyche. Scelencult u. Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg, II 1894, 61). 3. Die Ekstase kann schließlich, als eine Art praktischer Gottesbeweis (—»Gottesbeweise) in Anspruch genommen, einseitig als Ausweis des göttlichen Wirkens im menschlichen Leben betrachtet werden. Dagegen läßt sich einwenden, ekstatische Erlebnisse bedürften häufig der Vorbereitung, insbesondere durch asketische Übungen (—»Askese), durch rituellen Tanz, allgemeiner durch radikale Aufhebung der gewöhnlichen Lebensumstände. Sie setzen damit auch die in dieser Vorbereitungszeit bereits stattfindende Verlebendigung des Außergewöhnlichen voraus und lassen sich schließlich auch - scheinbar ohne jede Vorbereitung — durch den Genuß von halluzinogenen oder die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändernden Drogen spontan erzeugen. Ein berühmtes und wegen seiner unübersehbaren Implikationen als „Menschenversuch" diskreditiertes Experiment mit der halluzinogenen Droge Psilocybin (ein Alkaloid, aus dem mexikanischen Rauschpilz Psilocybe mexicana gewonnen) scheint dieses Ergebnis zunächst zu bestätigen. In diesem als „Karfreitagsexperiment" bekannt gewordenen Versuch wurde unter kontrollierten Versuchsbedingungen (in der Form eines doppelten Blindversuchs) amerikanischen Theologiestudenten vor einem Karfreitagsgottesdienst Psilocybin verabreicht, einer Kontrollgruppc hingegen nicht; weder die Beteiligten noch der Versuchsleiter wußten, wer die Droge erhalten hatte. Die Erlebnisse, die die Teilnehmer des Gottesdienstes später zu Protokoll gaben, wurden ausgewertet anhand eines Kriterienkataloges, der unter anderem auch die Klassifizierung von inneren Erfahrungen als ekstatisch-mystische vorsah. Mit einer überraschend hohen Signifikanz berichteten die unter dem Einfluß der Droge stehenden Studenten von ekstatischen Erlebnissen. - Der Widerwille gegen dieses Experiment zielte nicht nur auf dessen Charakter als Menschenversuch, sondern auch darauf, daß hier gewissermaßen unterschwellig einer Anschauung Hilfestellung gewährt würde, als sei die in vielen Religionen mystischer Prägung geforderte Übung mit dem einzigen Ziel, aus sich heraustreten zu können, um des Heils teilhaftig zu werden, in der Weise an ein materielles Substrat gebunden, das es in konzentrierter Form nur zu schlucken gelte (vgl. W. Keilbach, Rel. Erleben, München 1973, 8 8 - 1 1 1 ) . Ein anderes Argument scheint jedoch gewichtiger: Das, was jemand unter Drogeneinfluß sieht und erlebt, war vorher schon in ihm; alle Berichte über ekstatische Erlebnisse auch unter dem Einfluß der Droge bewegten sich in dem Rahmen von Vorstellungen und biographisch möglichen Erlebnissen, der vorher schon durch religiöse Anschauungen und Frömmigkeitsleben gesetzt war (vgl. Gladigow, a . a . O . 33).
Allen Berichten über ekstatische Erlebnisse haftet etwas Unwahrscheinliches an: Das in ihnen enthaltene Unentscheidbare zwischen Immanenz und Transzendenz wird einerseits
Elam und Israel
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als real, weil erlebbar, als prinzipiell möglich, weil vielfach bezeugt, beschrieben. Da der Ort, an dem ekstatische Erlebnisse stattfinden, in erster Linie das menschliche Bewußtsein ist, wird sich eine skeptische Betrachtungsweise vor allem darauf konzentrieren, daß der Gegenstandswelt der ekstatischen Erlebnisse das Odium der Einbildung anhaftet; dies zum anderen deshalb, weil beobachtet werden kann, daß mit bestimmten Techniken, die das gewöhnliche Leben außerkraftsetzen, Ekstase prinzipiell erzeugbar ist. Schließlich richtet sich das Augenmerk des Skeptikers auch darauf, daß offensichtlich nicht jeder Mensch zu ekstatischen Erlebnissen fähig ist, daß auch — wie etwa bei der Berufung zum Schamanen deutlich (vgl. Eliade 1 3 - 3 3 ) — eine individuelle Inklination oder Disposition notwendige Bedingung für Ekstase ist. Damit rückt die Ekstase in die Nähe des psychisch Abnormen (vgl. auch James 13—35). Diese skeptischen Einwände lassen sich nicht einfach mit der Affirmation beiseiteschieben, Ekstase sei ausschließlich Ergebnis numinoser Einwirkung auf den Menschen. Andererseits aber beleuchtet eine Gegenüberstellung von Einbildung gegenüber Authentizität des religiösen Erlebens nur die Problematik jeder religiösen —»Erfahrung: inwieweit sie wirklich ist und in Wahrheit von einer religiösen Gegenstandswelt kündet oder inwieweit sie die Hervorbringung von zur Illusion neigenden Geistern ist, bedarf jedenfalls einer differenzierten Bestandsaufnahme dessen, was als konstitutiv für Wirklichkeit angesehen wird und werden kann. Literatur Thomas Achelis, Die Ekstase in ihrer kulturellen Bedeutung, Berlin 1902. - Erik Arbman, Ecstasy or religious trance, 2 Bde., Uppsala 1 9 6 3 - 1 9 6 8 . - Hubert Cancik (Hg.), Rausch-Ekstase-Mystik. Grenzformen rel. Erfahrung, Düsseldorf 1978. - Mircea Eliade, Schamanismus u. archaische Ekstasetechnik, Paris 1951 = F r a n k f u n am Main 1980. - William James, The varieties of religious experience, London 1902 4 1960; dt.: Die Vielfalt rel. Erfahrung, Olten/Freiburg i. Br. 1979. - Friedrich Pfister, Art. Ekstase: RAC 4 (1959) 9 4 4 - 9 8 7 . - Hjalmar Sunden, Die Religion u. die Rollen. Eine psychologische Unters, der Frömmigkeit, Berlin 1966. - Ders., Gott erfahren. Das Rollenangcbot der Religionen, Gütersloh 1975.
Hans Wißmann Ektenie —»Liturgie El/Elohim -»Gott, —»Jahwe Elam und Israel 1. Elam Elam (hebräisch 'élam; elamisch haltamti; akkadisch elamtu; griechisch 'EXvftata und 'EAv/taüg) ist im Raum östlich von Babylonien, nordöstlich von Sumer und nördlich des Persischen Golfes zu suchen. Seine Hauptstadt Susa lag im Gebiet der heutigen Provinz Chusestan. Weitere Schwerpunkte bildeten die östliche Gebirgsprovinz Lo restan bis nach Buschehr am Persischen Golf und die Landschaft um das alte Awan, wohl nordöstlich von Susa. Die Erforschung der Geschichte Elams, die Erschließung einiger wichtiger Denkmäler und einer selbständigen Schrift, die jedoch durch die Übernahme der sumerisch-babylonischen Keilschrift in der 2. Hälfte des 3. Jt. v. Chr. verdrängt wurde (—»Schrift und Schreibmaterial), ist erst der jüngeren Vergangenheit zu verdanken. Zwar waren wir besonders durch babylonisch-assyrisches Inschriftenmaterial über einige Stadien der Geschichte Elams seit langem unterrichtet, jedoch gab erst 1964 W. Hinz eine Gesamtdarstellung unter Einschluß des bis dahin bekannten Materials aus dem 3.Jt. v. Chr. heraus. Die ältesten Könige reichen in die Zeit um 2600 v. Chr. zurück. Elamitische Oberhoheit über Mesopotamien brach Sargon von Akkad (etwa 2 3 4 0 - 2 2 8 4 ) . Aus der akkadischen und später sumerischen Oberhoheit (Ur III) löste sich Elam um 2000, wurde aber durch die Babylonier unter Hammurapi (1792—1750) von neuem unterworfen. Kuter-Nahhunte I. (um 1730) besiegte die Babylonier (Nachhall noch in späten assyrischen Inschriften). Elams klassische Zeit liegt zwischen 1300 und 1100. Herausragendes Ereignis war der Feldzug Shu-
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Elam und Israel
truk-Nahhuntes (etwa 1 1 8 5 - 1 1 5 5 ) gegen Babylonien (um 1160). Aus Sippar nahm er das Exemplar der Gesetzesstele Hammurapis nach Susa mit, das dort 1902 bei Grabungen gefunden wurde (heute im Louvre). In neu-assyrischer Zeit kämpfte Elam mit Babylonien gegen Assur. Jedoch eroberte der Assyrer Assurbanipal Susa 646. Meder und Perser festigten wenig später im iranischen Raum ihre Herrschaft. Das alte elamische Gebiet geriet unter persischen Einfluß. Der Osten Elams (Anzan) erhielt den Namenpärsa (assyrisch parsumas; griechisch späterIJegoig) und ist das Stammland der Achämeniden. Im Sprachgebrauch der Nachbarn wurde „Persien" Bezeichnung für ganz Iran. 2. Elam und
Israel
Elam spielt als einstige Großmacht des Ostens auch in das Alte Testament hinein, obwohl Israel politisch und militärisch keine Berührung mit dem selbständigen Reich von Elam hatte. Die Gleichsetzung des sagenhaften Königs Kedorlaomer von Elam (Gen 14,1—9.17) mit einem elamischen Kutur-Lagamar ist auf Grund der Namensform möglich („die [Göttin] Lagamar ist eine Schützerin"), ein König dieses Namens bisher aber noch nicht belegbar. In der „Völkertafel" Gen 10 steht Elam an der Spitze der Sem-Söhne vor Assur (Gen 10,22; vgl. I Chr 1,17). Die Elamiter sind gewiß kein „semitisches" Volk gewesen, jedoch repräsentieren sie hier wohl die östlichste Großmacht, die in die Geschichte der altorientalischen Welt hineinwirkte. Im Hintergrund steht möglicherweise das Wissen um die Kämpfe zwischen Elam und Assur. Wo Elam bei den Propheten vorkommt, steht es fast regelmäßig im Zusammenhang mit den —»Assyrcrn oder den Medern (grundsätzlich und im einzelnen dazu Wildberger, Jesaja II, 7 7 2 - 7 7 4 ) . Die Verbindung mit den Medern Jes 21,2 im Spruch gegen Babel erscheint anachronistisch, nachdem die Assyrer über die Elamiter bereits 646 gesiegt hatten. Vielleicht ist an Meder und Elamiter gedacht, die nach Meinung des Propheten den persischen Angriff auf Babel 539 unterstützen sollten. Denn auch nach dem Sieg Assurbanipals von 646 ist eine politisch-militärische Aktivität Elams nicht ganz auszuschließen. Elamitische Bogenschützen gehörten vielleicht zu den Hilfskontingenten der Assyrer (Jes 22,6). Andererseits werden die Könige von Elam und Medien im Wort vom Taumelbecher (Jer 25,25) gemeinsam verurteilt. Das Unheilswort im Völkerspruch über Elam (Jer 4 9 , 3 4 - 3 9 ) bleibt undatierbar, sein historischer Hintergrund dunkel. Unsicher ist die Lesart „König von Elam" in der babylonischen Chronik (Wiseman 36.73) mit Bezug auf das 9. Regierungsjahr Nebukadnezars (596/95). Jedoch sollen noch im Jahre 540 elamische Verbände auf das mesopotamische Uruk vorgestoßen sein (vgl. Wiseman 36). Andererseits ist Elam Ez 32,22—26 als eine überwundene Größe beschrieben, begraben in der Unterwelt. Angesichts dieser alttestamentlichen Stellen ist deutlich, daß es nur die Nachwirkungen der einstigen elamischen Großmacht waren, die sich in der prophetischen Botschaft niederschlagen konnten. Die Elamiter waren bereits in die Abhängigkeit der Assyrer geraten, als sie in das Blickfeld der Propheten traten. Darum spielen sie nur die Rolle eines untergeordneten Volkes, dessen Kraft und Geschicklichkeit die anderen sich dienstbar zu machen wußten. Doch darf dieser Tatbestand nicht darüber hinwegtäuschen, daß es der Zähigkeit elamischen Wesens und zu einem Teil auch der Gunst geographisch-topographischer Voraussetzungen zu danken ist, daß die elamische Kultur im persischen Reich und darüber hinaus lebendig blieb. Während der Dauer der Achämenidenherrschaft blieb das Elamische zweite Reichssprache. Nach Persien und Medien war Elam die dritte Satrapie. Darius I. (521—486) schlug drei elamische Aufstände nieder, den letzten 519, als Attameta sich zum König von Elam ausrufen ließ. Von nun an war Elam fester Bestandteil des Perserreiches. Dies ist vorausgesetzt in Neh 1,1: —»Nehemia erbittet in der Burg von Susa vom persischen Großkönig die Erlaubnis zu seiner Inspektionsreise nach Jerusalem (2.Hälfte 5. Jh.). Susa erscheint als Residenz der Achämeniden unter König Ahasveros (wahrscheinlich Xerxes I., 486—465 v. Chr.) und ist Schauplatz der Ereignisse des Buches —»Esther (Est 1,2—9,18). An die Burg von Susa war—»Daniel versetzt (Dan 8,2), als er seine Vision von Widder und Ziegenbock schaute. Die genauere Ortsangabe „am Fluß Ulaj (Eulaeus)" unterliegt der Schwierigkeit, ob man
Eiert
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M T 'ubai im Sinne von jûbal als „Strom, K a n a l " (Jer 1 7 , 8 ) oder unter Zugrundelegung der Lesart 'bwl nach akkadisch abullu als „Stadttor" versteht (in letzterem Sinne L X X , Syr., Vulg.). Dann wäre an ein Ulaj-Tor von Susa zu denken, dessen Straße zum Ulaj-Fluß führte. Daniels Vision ist in die Regierungszeit des babylonischen Prinzen (fälschlich „ K ö n i g " ) Belsazar rückdatiert. „Daniels G r a b " heißt noch heute ein moslemisches Grabmal an der Stätte des alten Susa, dem D o r f Shush am Sha'ur. N a c h dem Untergang der Achämeniden 3 3 0 v. Chr. gelang unter Seleukiden und Parthern eine Dynastiebildung in der „Elymais" unter den sog. „Kabnishkiriden". Sie konnten sich bis in das 2 . J h . n. Chr. halten. Elamisch kabnishkir bezeichnet den „Schatzmeister". Dieses A m t bekleideten unter den Achämeniden die Satrapen von Huzha, zu deren Bereich Susa und der dort verwahrte persische Königsschatz gehörten. Diese Sonderstellung schuf die Voraussetzungen zu bescheidener Verselbständigung der Kabnishkiriden und ihres auf den R a u m Susa, Iseh/Malamir und Behbehan begrenzten Machtbereiches. Quellen Georg Hüsing, Die einheimischen Quellen zur Gesch. Elams. I. Altelamische Texte, Leipzig 1916.— Mémoires de la Mission Archéologique en Iran, Paris, X X X I V 1961; X X X V I 1954. - Walther Hinz, Zur Entzifferung der elamischen Strichschrift: Iranica Antiqua 2 ( 1962) 1 - 1 7 . - Ders., Die elamischen Inschriften des Hanne: FS S. H. Tagizadeh, London 1962, 105 - 1 1 6 . — R. Ghirsham, L'Elam et les recherches à Dur-Untashi (Tchoga-Zanbil): Iranica Antiqua 3 (1963) 1—21. — M.-J. Steve, Textes élamites de Thogha-Zanbil: ebd. 2 ( 1962) 2 2 - 76; 3 ( 1963) 1 0 2 - 1 2 3 . - Friedrich Wilhelm König, Die elamischen Königsinschriften, 1965 (AfO.B 16). - Piero Meriggi, La Scrittura Proto-Elamica. la. La scrittura e il contenuto dei testi, Rom 1971. - Ders., Zur Lesung u. Deutung der proto-elamischen Königsinschriften: BiOr 26 (1969) 176 f. - Ders., Zu den neuen Inschriften in proto-elamischer Prunkschrift: ebd. 28 (1971) 1 7 1 - 1 7 3 . - Ders., Der Stand der Erforschung des Proto-Elamischen (Abstract): JRAS 1975, 105. - Walther Hinz, Problems of Linear Elamite: ebd. 1 0 6 - 1 1 5 . Literatur Bibliographie: Wolfgang Balzer/Leo Trümpelmann, Der dt.-sprachige Beitr. zur archäologischen u. kunstgesch. Erforschung Irans. Eine Bibliogr., München, I 1977. Gesamtdarstellungen: George G. Cameron, History of Earlv Iran, Leipzig 1936. - Fischer Weltgesch., Frankfurt a. M., II-VI 1965 - 1 9 7 5 , Reg. s. v. Elam. - Walther Hinz, Persia c. 1 8 0 0 - 1 5 5 0 B. C.: CAH II, 1964, Kap. VII. - Ders., Das Reich Elam, Stuttgart 1964. - Friedrich Wilhelm König, Gesch. Elams, Leipzig 1931. - René Labat, Elam c. 1 6 0 0 - 1 2 0 0 B. C.: CAH II, 1964, Kap. X X X I I . - M. Lambert, Littérature élamite: L'Histoire générale des littératures, Paris 1 9 6 1 , 3 6 - 4 1 . - E d i t h Porada, Ait-Iran. Die Kunst der vorislamischen Zeit, Baden-Baden 1962. - L. Vanden Berghe, Archéologie de l'Iran ancien, Leiden 1959. Einzeluntersuchungen: J. A. Brinkman, Elamite Military Aid to Merodach-Baladen: JNES 24 (1965) 1 6 1 - 1 6 6 . - Louis F. Hartman/Alexander A. Di Leila, The Book of Daniel: AncB XXIII, 1978, 2 2 1 - 2 3 3 . - A. Poebel, The Name of Elam in Sumerian, Accadian and Hebrew: AJSL 48 (1931) 2 0 - 2 2 . — J . Reade, Elam and the Elamites in Assyrian Sculpture: AMI 1976, 9 7 - 1 0 6 . - Claus Westermann, Genesis, II 1978 (BK 1/2) 2 1 3 f (Lit.).- Hans Wildberger, Jesaja, II 1978 (BK 10/2) 7 7 2 f . 8 1 8 f . - D o nald John Wiseman, Chronicles of Chaldaean Kings ( 6 2 6 - 5 5 6 B.C.), London 1956. Siegfried Herrmann Elephantine —» Diaspora
Eiert, Werner
(1885-1954)
1. Geschichtsphilosophie und Psychologie 2. Christentum und Kultur 3. Konzentration auf das Luthertum 4. Dogma und Ethos 5. Dogmengeschichte 6. Kritisches (Werke/Literatur S. 497) Werner Eiert (geb. 19. Aug. 1885, gest. 21. Nov. 1954) studierte von 1906 bis 1910 in Breslau, Erlangen und Leipzig neben Theologie Philosophie, allgemeine Geschichte, deutsche Literaturgeschichte, Psychologie und Jurisprudenz.
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Eiert J. Geschichtsphilosophie
und
Psychologie
Die philosophische Dissertation (Erlangen, 21. Mai 1910) skizziert Rudolf Rocholls spekulative Geschichtsphilosophie und rückt dessen Opus magnum in das Spannungsfeld zwischen —»Herders Orientierung an der Humanität, —»Hegels Drang zum System und Schlegels ekklesialer Konzentration. Die theologische Dissertation (18. Mai 1911) geht den formalen wie inhaltlichen Implikationen einer —»Geschichtsphilosophie nach und konzentriert den Spannungsbogen zwischen personaler Existenzgewißheit und menschheitlicher Gesamtvollendung apologetisch auf das Christuszentrum. Neben Psalmenstudien vereinen zwei Versuche, einerseits zum Apostel Petrus, andrerseits zu J. —»Böhme, das Instrumentarium einer empiristischen Psychologie mit W. —»Diltheys hermeneutischem Ansatz; hierbei wird eine voluntaristische „unmittelbare Einheit von Gefühl und Handeln" als „typisch für alle echte, heiße Religiosität" beschworen (Die Religiosität des Petrus, 1911, 72). Die Lust an originaler Forschung, der Hunger nach Stoff, die Gabe prägnanter Formulierung lassen die denkerische Durchdringung nicht ausreifen. 2. Christentum und Kultur Durch den ersten Weltkrieg, an dem Eiert als Feldprediger teilnahm, rückt der wohl von Rocholl übernommene spätromantische —»Pessimismus ins apokalyptische Wetterleuchten von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Ab 1919 Direktor des Theologischen Seminars der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen zu Breslau, arbeitet Eiert hier seinen apologetisch-eristischen Ansatz aus im Kampf um das Christentum (1921). Das schier unüberschaubare Geflecht von Wechselwirkungen zwischen dem Christentum und der neuzeitlichen Kultur wird von Kant, Hegel und Schleiermacher bis hinein in die Situation nach dem Weltkrieg analysiert. Um das Christentum nicht mit der seit dem letzten Drittel des 19. Jh. ständig zunehmenden „Diffusion" in Weltschau, Lebensgestalt und Wissenschaftsethos in den Strudel einer untergehenden Kultur hineinziehen zu lassen, fordert er eine radikale Diastase, freilich um der erneuten schöpferischen Weltgestaltung willen. Methodisch verknüpft er die Gewißheitslehre Fr. H. R. (von) Franks, die „in strengster Systematik den ganzen subjektiven Tatbestand des Christen der wissenschaftlichen Kontrolle" unterbreitet (295), mit dem Ansatz seines Lehrers L. —»Ihmels beim objektiven Pol des geschichtlichen Christuszeugnisses und akzentuiert Gottes Transzendenz, die unsere Bewußtseinsimmanenz aufsprengt. Unter Rückgriff auf den —»Schleiermacher der Reden setzt der angebliche Konfessionalist nicht mit der lutherischen —»Orthodoxie beim kirchlichen Dogma ein, aber auch nicht mit der Schule A. —»Ritschis beim Ethos, sondern mit der Erweckung und einem romantisch verstandenen —»Luther beim Pathos der Glaubenserfahrung {Dogma, Ethos, Pathos. Dreierlei Christentum, 1920). Um den durch Historismus und Psychologismus untermauerten skeptischen Illusionismus -»Feuerbachs zu durchstoßen, greift Eiert nicht mit K. —»Barth zurück auf die Christusoffenbarung, sondern verweist mit R. —»Otto auf das Erschauern vor der unter der Maske des Schicksals einbrechenden Übermacht. Die Struktur von richtendem Zorn und freisprechender Versöhnung ist 1922 in der Forderung unseres Zeitalters an die Sprecher der Christenheit (AELKZ 55, 3 8 6 - 3 9 0 . 4 0 2 - 4 0 4 . 4 1 8 - 4 2 1 . 4 3 4 - 4 3 6 ) pointiert herausgestrichen; zunehmend als Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium gefaßt, prägt sie alle folgenden Arbeiten. 3 . Konzentration
auf das
Luthertum
1 9 2 3 als Professor für Kirchen-, Dogmengeschichte und Symbolik nach —»Erlangen berufen, legt Eiert 1 9 2 4 in knappem Abriß Die Lehre des Luthertums vor. Diese prägnante Skizze der Dogmatik und Ethik, die ein skandinavischer Freund „mehr ökumenisch - weniger germanisch" (S.X) gewünscht hätte, läßt in ihrer Dreigliederung: „Der Kampf mit G o t t Die Versöhnung — Die Freiheit" die Spannung zwischen Gericht und Gnade, ja selbst noch das Gegeneinander zwischen Mensch und G o t t übergriffen sein vom Freiheitsstreben alles Lebendigen. Nicht die Liebe, sondern die Freiheit ist das Schlüsselwort, das Schöpfung und Versöhnung, Dogma und Ethos durchzieht und Gott und Mensch endzeitlich zusammenschließt. Innerhalb dieser Klammer erlangen die überindividuellen Ordnungen der „Bluts-, Rechts-, Empfindungs-, Erkenntnis- und Betriebsgemeinschaft" (§§ 4 7 - 5 1 ) ein starkes Eigengewicht. Schöpfungs- und Gnadenordnung dienen gemeinsam „der Erhöhung der echten Lebendigkeit in der W e l t " (§ 5 4 c). Die Forderung der Erlanger Antrittsvorlesung, die Konfessionskunde müsse den Ausstrahlungen der neuzeitlichen Kirchentümer bis in „nichtkirchliche Gebiete" hinein nachgehen, ist exemplarisch eingelöst in der Morphologie des Luthertums. Dieses nach Barth „nicht genug zu verdammende" Vornehmen (KD 1/2, 936) dürfte „die bedeutendste Leistung der Erlanger Theologie seit den Tagen Hofmanns" sein (W. von Loewenich, Erlebte
Eiert
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Theol., 1979,119). Hatte Eiert zunächst in Einzeluntersuchungen (zur nationalen Ausprägung des Luthertums, zur Geschichte der Ehe, zum kriegerischen Ethos, zum Phänomen der Angst, aber auch zu Herrenmahl und Weltbild) die konfessionelle Gestaltungskraft von ihren in der Forschung durchweg vernachlässigten Randerscheinungen her anvisiert, so setzt er nun beim Zentrum, beim „evangelischen Ansatz" ein und sucht dessen Ausprägungen in nahezu allen Lebensgebieten auf. Im Strukturrahmen zwischen ¿vva/it$ und ftoggirj expliziert er die dominierende „konfessionelle Konstante" aus Luthers „Urerlebnis"; hierzu greift er zurück hinter die klassischen Bekenntnistexte nicht auf den neuentdeckten „jungen Luther", sondern auf De servo arbitrio sowie auf die Auslegung des 90. Psalms (WA 4 0 / 3 , 484—594). Erneut blendet er den — faktisch leitenden — Christusbezug aus und urgiert das Tremendum: „Mit einem Grauen fängt vielleicht jede Religion an" (1,18). Ein derartiger Ansatz hätte wohl dem „Geschlecht des Krieges und des Zusammenbruchs" den Zugang zum Glauben erschlossen (1,52). Dieses Pathos von Gericht und Gnade sucht er in den lutherischen Bekenntnisschriften bis hin zur —»Konkordienformel aufzuzeigen. In eine rationalisierende Überfremdung jenes Kernerlebnisses „vor allem von Westen her" (1,9) ordnet er den angeblich „treuesten Schüler" Luthers, —»Calvin ein, dessen Theologie in einen „unversöhnlichen Widerspruch" (1,357) zum Luthertum rückt. In Band II zu den „Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums" ist ein schier unübersehbarer Stoff meisterlich gebündelt. Neben eine Geschichte der Ehe und Familie tritt eine Skizze der Ausstrahlungen auf die sich bildenden Völker, in Deutschland, Ungarn und Siebenbürgen, auf den slavischen und baltischen Raum, auf Finnland und Skandinavien, auf Nordamerika sowie auf die Gestalt der Mission, sodann werden Einwirkungen auf Staat und Recht, auf Politik und Wirtschaft an unterschiedlichen Quellenkomplexen nachgezeichnet. Mit Forscherfleiß und Sarkasmus rückt Eiert der These von E. —»Troeltsch, das Luthertum sei im Unterschied zum Calvinismus stärker dem Mittelalter als der Neuzeit verhaftet und deshalb auch sozialethisch unfruchtbar geblieben, zuleibe, bei Theologen wie Soziologen freilich mit geringem Erfolg. 4. Dogma
und
Ethos
N a c h dem T o d e von Philipp Bachmann wechselt Eiert 1 9 3 2 auf den Lehrstuhl für systematische und historische Theologie über und arbeitet seine Dogmatik (Der christliche Glaube, 1 9 4 0 ) und Ethik (Das christliche Ethos, 1 9 4 9 ) aus. Der Reihenfolge Barths: Evangelium und Gesetz stellt er die „lutherische": —»Gesetz und Evangelium entgegen. In seiner Dogmatik setzt er ein bei einer eindringlichen Analyse des neuzeitlichen Tatmenschens und dessen Verstricktsein ins Todesverhängnis. Diesen Ansatz, der bereits heimlich am biblischen Zeugnis von Gottes Anspruch auf alle Menschen orientiert ist, spitzt er zu auf die Doppelthese, „ d a ß es jedes mögliche menschliche Selbstverständnis immer nur mit dem verborgenen Gott zu t u n " habe und daß man diesen Gott „nicht lieben" könne ( 1 0 9 ) . Jenem Sich-unheimlich-Erweisen des Schöpfers wird das neutestamentliche Zeugnis von der —»Versöhnung der Welt im Opfertod Christi entgegengestellt. Erst mit dem Evangelium beginnt die spezifisch dogmatische Aufgabe, den „Sollgehalt des kirchlichen K e r y g m a s " von der geschichtlichen Tatsache der Person Jesu Christi her zu entwickeln. Das —»Abendmahl wird unmittelbar der versöhnenden Herrschaft Christi zugeordnet, die —»Taufe hingegen neben Paraklese und Rechtfertigung als Inkorporation in den Gnadenbereich der Kirche dem Heilswirken des Geistes unterstellt. In dieser sich im Abriß (§ 3 6 ) anbahnenden Entscheidung dürfte sich neben dem Einfluß Rocholls das F a k t u m abspiegeln, daß erst die Abendmahlskontroverse zur Ausprägung der reformatorischen Christologien führte. Wohl ohne einen Vorgänger gliedert Eiert seine Ethik in das „Ethos unter dem Gesetz" und „unter der Gnade". Während Barth das —»Gebot als Paraklese dem Christusevangelium nachordnet, dient nach Eiert das -»Gesetz ausschließlich zum Abbau des alten Menschen. Unser zwischenmenschliches Ethos wird übergriffen vom Todesverhängnis, das erst in Christi Kreuz Gottes radikales Gericht enthüllt. Im Ringen mit Calvins These vom Tertius usus als dem Usus praeeipuus legis (Inst. II, 7,12) sucht er nachzuweisen, daß —»Luther im Unterschied zu —»Melanchthon einen Tertius usus legis nicht kenne. Eine in der Morphologie (11,27) noch angeführte Stelle aus der zweiten Antinomer-Disputation (WA 3 9 / 1 , 4 8 5 , 1 6 - 2 4 ) „entlarvt" er als „Luther untergeschobene Fälschung" (Eine theol. Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis: Z R G G 1 [1948] 1 6 8 - 1 7 0 ) . Auch für die-»Konkordienformel (Art. VI) läßt er eine rein informatorische Funktion des Gesetzes - losgelöst von der Gerichtsandrohung — nicht gelten. Niemals dürfe das Gesetz - wie angeblich bei Calvin — zur „Endregulierung der menschlichen Relation auf Gott" (Zw. Gnade u. Ungnade, 1948, 168) hochstilisiert werden. Die Realdialektik zwischen verurteilendem Gesetz und freisprechendem Evangelium bleibe bis hinein ins Eschaton. Vom Evangelium aus arbeitet Eiert jedoch zunehmend die Eigenprägung der neutestamentlichen „Gnadenimperative" heraus und konfrontiert sie als „Erneuerungs- und Heiligungsimperative" für den
496
Eiert
Gerechtfertigten den gesetzhaften „Büß- und Bekehrungsimperativen" (Ethos $ 34,3 f; 41,2f). Diese dem je einzelnen geltende Dialektik wird ausgeweitet auf die „Wir-Formeln" des objektiven Verbandsethos der Kirche, in deren gesamtheitlichen Schichtungen sich die inkarnatorische Christusdynamik verleiblicht. Den natürlichen Ordnungen des Schöpfers tritt die Vergebungs- und Gnadenordnung des Versöhners gegenüber, die „Kreisbürgschaft" als Schuldverkettung aller mit allen wird endzeitlich aufgebrochen durch die „Kreisbürgschaft" der neuen Liebesbruderschaft in Christus. Bereits 1925 hatte Eiert diese Chiffre russischer Religionsphilosophie kennengelernt (ZSTh 3 [1925] 5 4 8 - 5 8 8 ) , nach 1945 arbeitet er sie aus (Ethos § 27,2; 30,2 f 53,5; 56,1 f; 59,3). Als „Seele im Leibe der Welt" (Diog 6) kämpft die Bruderschaft der Liebe und Vergebung gegen die dämonischen Gewalten, darin rüttelt sie an den Gitterstäben der nomologisch verfaßten Wirklichkeit und hält im Maranatha diesen vergehenden Äon hinein ins endzcitliche Kommen Christi.
5.
Dogmengeschichte
Nach 1945 wendet sich Eiert dem intensiven „Ferngespräch" mit den altkirchlichen Quellen zu. Doch bleibt ihm die Emte der dogmengeschichtlichen Forschungen versagt. Neben einem Vortrag zu Augustin als dem „Lehrer der Christenheit", der den „Zustand der unerlösten M e n s c h h e i t . . . so dunkel" gesehen hat wie „seit Paulus wohl kein anderer Christ" und darum „das Evangelium von der göttlichen Gnade wieder in den Mittelpunkt des christlichen Denkens" rückte (Ein Lehrer der Kirche 174-183), erschien im Todesjahr die Studie zum Verhältnis zwischen Abendmahl und Kirchengemeinschaft, die unter dem Einsatz beim göttlichen Heilshandeln das geistliche Ringen um Bekenntniseintracht am Tisch des Herrn akzentuiert. Aus dem Nachlaß konnten stärker systematisch orientierte Skizzen zur chalkedonesischen Zwei-Naturen-Christologie sowie historische Detailstudien zu Theodor von Pharan und der Kirche im Sinai-Gebiet während der monotheletischen Kämpfe veröffentlicht werden. Die angestrebte Revision der klassischen Dogmengeschichten von A. v. —»Harnack, R. —»Seeberg und F. —»Loofs (—»Dogmengeschichtsschreibung) gelang nicht mehr. Gegen deren restriktive Sicht aber auch gegen einen Bekenntnisaktualismus biblizistischer oder dialektischer Theologie wollte Eiert mit G. —»Thomasius eine durch sachgebundene Dialektik hindurch fortschreitende „Ent-Wicklung" des —»Dogmas aufweisen. Ist jenes seinem bleibenden Sachgehalte nach auch ins Kerygma der Apostel eingefaßt, so expliziert es sich doch im Verlauf der Kirchengeschichte in stets reflektierteren Sätzen, welche auch ein Damnamus nicht scheuen (Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 1950 = Der Ausgang der altkirchl. Christologie 313—333). 6. Kritisches Bei Eiert hält sich eine organologisch-vitalistisch gefärbte Sicht von Kirche und Staat, Kultur und Volk durch. Bereits vor dem ersten Weltkrieg deutet sich ein rassisch getönter Nationalismus an, der gegen „westlerischen Internationalismus", jüdische „Desorganisation der Lebensgestaltung" (Der Kampf um das Christentum 210—213 zu Heine und Gutzkow) aber auch gegen akademischen Dünkel sowohl auf nationale Einwurzelung als auch auf ein „wuchtiges religiöses Gesamtleben" drängt (Der Alte Glaube 14 [1912/13] 1236—1242). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung artikulieren sich diese Impulse in dem mit P. —• Althaus verfaßten Gutachten der Erlanger Fakultät zur Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu kirchlichen Ämtern (vom 25. Sept. 1933) sowie im Ansbacher Ratschlag (vom 11. Juni 1934). Die These 1 der Barmer Theologischen Erklärung wird als „geradezu provozierende Wiederholung der antinomistischen Irrlehre der Reformationszeit" (Confessio Barmensis: AELKZ 67 [ 1934] 6 0 2 - 6 0 6 ) angeprangert, der im Gesetz uns bindende Gotteswille wird auf die „natürlichen Ordnungen" von Volk und Rasse ausgedehnt, die Pflicht des deutschen Volkes, sich durch „Rechtsakte" gegen „die Bedrohung seines Eigenlebens durch das emanzipierte Judentum" zu schützen, immer wieder unterstrichen, zwar die durch die Taufe gestiftete volle Kirchengliedschaft von Judenchristen nicht bestritten, doch um des volkskirchlichen Auftrages willen eine „ Z u r ü c k h a l t u n g . . . von den Ämtern" für gutgeheißen. Dabei war Eiert weniger als Althaus an einer Erneuerung des Volkstums interessiert, er drang auf eine an Schrift und Bekenntnis (das —»Augsburger Be-
Eiert
497
kenntnis) gebundene Kirche. Gegen die reformierten synodalen Traditionen, die er ins „Zwielicht" der —»Französischen Revolution rückte, erstrebte er ein bischöfliches „Führertum", das sich politischer Machtmittel enthält, sich der „Vatikanisierung" von Verfassung und Lehre widersetzt und der Mission als dem „universalen Fortschreiten der Kirche Christi s über die Erde" dient (Politisches u. kirchl. Führertum: Luth. 4 5 [ 1 9 3 4 ] S. 1 0 2 - 1 1 7 ) . Als Decartus perpetuus von 1935 bis 1943 konnte er die Erlanger Fakultät weithin vor nationalsozialistischen Eingriffen bewahren. Die „noble Passion" (P. Althaus) zur Heeres- und Kriegsgeschichte geleitete ihn sein Leben hindurch; im zweiten Weltkrieg verlor er seine beiden Söhne. Nach 1945 akzentuiert er die kollektive 10 Schuldverflechtung, die persönliche Mitschuld engt er darauf ein, daß er ähnlich wie Paulus unter Nero zur Unterordnung unter die —»Obrigkeit sowie zur Umkehr der einzelnen gerufen, dabei vor allem 1934 noch nicht erkannt habe, daß „sich aus der damaligen Umwälzung ein irrsinniger Cäsarismus entwikkeln" würde (Paulus u. Nero: Zw. Gnade u. Ungnade 3 8 - 7 1 ; Unter Anklage: KGB 65 [ 1950] 55 f.59 f). Auch jetzt noch möchte er neben der „Ordnungsperspektive" von Römer 13 die „apokalyptische 15 Mächteperspektive" von Apk 13 nur bedingt gelten lassen. Luthers späte Thesen zur Widerstandspflicht gegen eine Obrigkeit, die „notorisch" die Kernstiftungen Gottes selber angreift (die Zirkulardisputation zu Mt 19,21 von 1539, W A 3 9 , 2 , 3 9 - 9 1 , von R.—»Hermann übersetzt und kommentiert: LuJ 2 3 , 3 5 - 9 3 ) , sind ihm wohl verborgen geblieben. Den rassisch fundierten Nationalismus wie das Ethos völkischer Wehrhaftigkeit bezieht er nicht in die Selbstkritik ein. Diese Hinweise möchten den notwen20 digen Streit um das Lebenswerk von Werner Eiert nicht abbrechen, sondern neu eröffnen. Er wollte betont lutherischer Theologe sein und galt als extremer Konfessionalist, zugleich jedoch blieb er mit der Erlanger Tradition —»Schleiermacher wie der —»Romantik verbunden und stand in seinem durch —»Fichte geprägten Freiheitspathos —»Barth viel näher, als er selber und seine Kontrahenten gelten lassen wollten. 25
Werke (Auswahl) Bibliographie: Gcdenkschr. für D. Werner Eiert, Berlin 1955, 4 1 1 - 4 2 4 . Der Kampf um das Christentum. Gesch. der Beziehungen zw. dem ev. Christentum in Deutschland u. dem allg. Denken seit Schleiermacher u. Hegel, München 1921. — Die Lehre des Luthertums im Abriß, München 1924 2 1926 = Erlangen 1978. - Morphologie des Luthertums. I. Thcol. u. Weltan30 schauung des Luthertums hauptsächlich im 16. u. 17. Jh.; II. Soziallehren u. Sozialwirkungen des Luthertums, München 1931/32 1 1965. - Drei Kap. v. der Kirche u. ihrer Verfassung, Leipzig 1933. - Der christl. Glaube. Grundlinien der luth. Dogmatik, Berlin 1940, Hamburg 5 1960. - Das christl. Ethos. Grundlinien der luth. Ethik, Tübingen 1949, Hamburg "1961. - Zw. Gnade u. Ungnade. Abwandlungen des Themas Gesetz u. Evangelium, München 1948. - Abendmahl u. Kirchengemeinschaft in der al35 ten Kirche hauptsächlich des Ostens, Berlin 1954. - Der Ausgang der altkirchl. Christologie. Eine Unters. über Theodor v. Pharan u. seine Zeit als Einf. in die alte DG. Aus dem Nachlaß hg. v. W. Maurer/E. Bergsträßer, Berlin 1957. - Ein Lehrer der Kirche. Kirchl.-theol. Aufs. u. Vortr. v. W. Eiert, hg. v. M. Keller-Hüschemenger, Berlin/Hamburg 1967. Literatur Paul Althaus, W. Eiert zum Gedächtnis, Berlin 1955. - Ders., W. Elerts theo!. Werk: Gedenkschr. für D.W. Eiert (s.o.), 4 0 0 - 4 1 0 . - A n d r é Birmelé, W. Eiert-Théologien luthérien. Interpretation et Actualisation d'une tradition confessionelle, Diss. Straßburg 1977. - Wolfgang Berge, Gesetz u. Evangelium in der neueren Theol., 1958 (AVTRW 2). - Peter Brunner, Kritisches zu Elerts Dogmatik: VF 2 (1941) 4 7 - 6 0 . - F r i e d r i c h Duensing, Gesetz als Gericht. Eine luth. Kategorie in der Theol. W. Elerts u. 45 Fr. Gogartens, 1970 (FGLP 10/40).-Wilhelm Gerhold, Ein Lehrer seiner luth. Kirche: Concordia 64,4 ( 1979) 5 - 1 1 . - Gesetz u. Evangelium, hg. v. E. Kinder/Kl. Haendler, 1968 (WdF 142). - Rudolf Keller, Erinnerung an W. Eiert: JMLB 26 (1979) 9 - 2 6 . - Wolf Krötke, Das Problem „Gesetz u. Evangelium" bei W. Eiert u. P. Althaus, 1965 (ThSt [B]83). - Ulrich Kühn, Kirche, 1980, 7 9 - 9 0 (HST 10). - Leo Langemeyer, Gesetz u. Evangelium. Das Grundanliegen der Theol. W. Elerts, 1970 (KKTS 24). —Wal50 ther v. Loewenich, Die Erlanger Theol. Fak. 1922-1972: JFLF 34/35 (1975) 6 3 5 - 6 5 8 . - Ders., Erlebte Theol., München 1 9 7 9 , 1 1 7 - 1 2 2 . 1 5 9 - 1 8 4 . - G e r h a r d Müller, Die Rechtfertigungslehre. Gesch. u. Probleme, Gütersloh 1977, 1 0 7 - 1 1 2 . - John Michael Owen, Der Mensch zw. Zorn u. Gnade. Das Anliegen W. Elerts in seiner Lehre v. Gesetz u. Evangelium, 2. Bde., Diss. Heidelberg 1971. - Albrecht Peters, Der Mensch, 1 9 7 9 , 1 3 9 - 1 4 6 (HST 8). - D e r s . , Gesetz u. Evangelium, 1981 (HST 2) 1 6 6 - 1 8 7 . 55 - Hartmut Weber, Theol. - Gesellschaft - Wirtschaft. Die Sozial- u. Wirtschaftsethik der ev. Theol. der Gegenwart, Göttingen 1970. - Joachim E. Wiebering, Die Lehre v. der Kirche bei W. Eiert, Diss. Rostock 1960. - Ders., Kirche als Bruderschaft in der luth. Ekklesiologie: KuD 23 (1977) 3 0 0 - 3 1 5 . 40
Albrecht Peters
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Elia I
Elevation —»Abendmahl, —»Abendmahlsfeier Elfenbeinkunst —»Plastik Elia I. Altes Testament
II. Judentum
I. Altes Testament Elia
1. Literarische Analyse (Literatur S. 501)
2. Traditionsgeschichte
3. Historische Konturen
4. Der biblische
Elia ist eine der für das Wesen des Alten Testaments konstitutiven Figuren, „die grandioseste Heldengestalt der Bibel" (Wellhausen). Nichts charakterisiert die aus I Reg 17,1-19,18; 21; II Reg 1 , 2 - 1 7 vertraute Figur eher als die zur Elisatradition zählende Entrückungsgeschichte II Reg 2,1 —18: —»Elisa erhielt nur den Erstlingsanteil am Geist Elias, ihn selbst nahm der feurige Wagen auf — der Himmel führt seine Sache weiter bis hin zu der eschatologischen Erwartung Mal 3,1.23 f. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Texte hat zu wenig Ubereinstimmung geführt. 1. Literarische
Analyse
Die Elia-Traditionen sind im Rahmen des —»Deuteronomistischen Geschichtswerkes (DtrH) erhalten geblieben und weisen (im Einzelnen umstrittene) deuteronomistische Bearbeitungen auf. Die Bestimmung literarischer Schichten ist sehr verwickelt und z. Zt. wenig sicher. Nur wenige, sehr wichtige Ergebnisse sind zu verzeichnen: a) I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ; II Reg 2,1 — 18 sind Elisa-, nicht Elia-Traditionen (Berufung Elisas; Nachfolgeregelung bei Entrükkung Elias), b) I Reg 21 (Naboths Weinberg) ist eine selbständige, von I Reg 1 7 - 1 9 zu trennende Tradition, die wie die Zusätze 18,3b—4.13 f; 1 9 , l - 3 a a eine herausragende Rolle Isebels, der Gemahlin —»Ahabs und tyrischen Prinzessin, z.Zt. des sehr mächtigen Ahab (18,10) behauptet. Auch sie ist keine echte Elia-Tradition, da II Reg 9,25 f ein analoges Drohwort gegen Ahab wegen Naboths Ermordung nicht auf Elia zurückfuhrt, sondern namenlos läßt (Hölscher; anders Hentschel). Eine späte deuteronomistische Ergänzung (nach DtrH) ist wahrscheinlich 2 1 , 2 0 t y 3 - 2 2 . 2 4 - 2 6 . c) Die Dürre-Komposition 17,1-18,46 fordert nicht 19,1 — 18 als Fortsetzung (Gunkel; anders Fohrer); wahrscheinlich setzt aber 1 9 , 1 - 1 8 jene Komposition voraus - redaktionelle Klammern sind 18,3 b—4.13 f. 18 fcy3; 1 9 , l - 3 a a (Isebel-Notizen). d) 1 9 , 3 q / 3 - 9 b c t . l l - 1 8 (V. 1 5 - 1 7 , die Anordnung zur Salbung Hasaels, —» Jehus und Elisas, ist vielleicht sekundär) reflektiert das Scheitern der Ansätze Elias an (der Politik des Königshauses und) der Apostasie des Volkes. Es setzt daher mindestens die Katastrophe des Staates Israel unter Joahas (818 - 802 v. Chr.) voraus und ist im 8. Jh., freilich vor 722 v. Chr., entstanden (s.u. Abschn. 2). e) 17,17—18,1 a a (Totenerweckung des Witwensohns in Zarpath (=$arfend) und II Reg 1 , 9 - 1 6 (Feuer auf Ahasjas Wachsoldaten) sind sekundär zugefügte Anekdoten unbekannter Herkunft, die nicht notwendig jung sein müssen (Hentschel). Damit ergibt sich eindeutig, daß ein großer Teil der Elia-Überlieferung (bis in E x t r a d i tionen hinein) Elias Sache bereits weiterträgt. Wenn überhaupt etwas von dem von Elia Ausgegangenen zu erfahren ist, kann es, wie nicht anders zu erwarten, nur noch in der DürreKomposition I Reg 1 7 , 1 - 1 6 ; 18,1 s ^ - 3 a . 5 - 1 2 . 1 5 - 1 8 b a . l 9 - 3 6 a . 3 7 - 4 6 enthalten sein, da die Ahasjaerzählung II Reg 1 , 2 - 8 . 1 7 a a keinen über ihren „Fall" hinausgehenden Anspruch erhebt und erheben kann. 2.
Traditionsgeschicbte
Leider ist die Analyse der Dürre-Komposition wenig einigungsfähig. Relativ einfach ist noch die Feststellung, daß I Reg 17,10—15 (Vermehrung von ö l und Mehl in Zarpath) sich nicht mit 1 8 , 7 - 1 2 (Suche des Königs nach Elia in allen Ländern) verträgt - obwohl es vor-
Elia I
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züglich ergänzt, daß Elia eine Phönizierin am Leben erhielt und ihr Wunder erwies, während er Baalspropheten in Israel als Apostaten bekämpfte. Ferner darf man festhalten, daß 1 8 , 1 9 - 4 0 eine Heiligtumslegende enthält, die weder eine Beziehung zur Dürre noch eine zur Gegenwart des Königs hat, sondern vom heiligen Feuer (Baals oder) Jahwes handelt (Würthwein). Während 17,1.5 b - 6 (Raben am Bach Krith) zum ältesten Bestand der Dürrekomposition gehört (Smend), sind jene beiden Ergänzungen durch eine das Jahwewort betonende Redaktion 1 7 , 2 - 4 . 7 - 9 . 1 6 ; 18,36b; 19,9t»3-10 erfolgt. Weitergehend ist nun strittig, ob die Dürrekomposition aus lauter selbständigen Traditionen literarisch nachträglich (in mehreren Redaktionen) geschaffen wurde (etwa aus 17,1; 1 7 , 5 b - 6 ; 18,1; 1 8 , 2 - 3 a.5f; 18,7-12.15 f; 1 8 , 1 7 - 2 0 ; 1 8 , 2 1 - 4 0 ; bes. altertümlich 1 8 , 4 1 - 4 6 ) oder ob sie auf einen aus unselbständigen Motiven zusammengespannten Grundbestand zurückgeht. Wenn man die Heiligtumslegende 1 8 , 2 1 . 2 6 - 2 9 . 3 0 b - 3 5 . 3 7 . 3 8 b - 3 9 ablöst, bleibt ein relativ knapper Grundbestand 1 7 , 1 . 5 b - 6 ; 1 8 , 1 ^ 3 - 3 a . 5 - 1 2 . 1 5 - 2 0 . 2 2 f . 2 4 b . 3 0 a . 3 6 a . 3 8 a . 4 0 - 4 6 unter einem einheitlichen Spannungsbogen. In der Komposition bildet 1 7 , 1 . 5 b - 6 ; 18,1 aß.b die Exposition (Regen nur durch Elias Wort, wunderhaftes Verschwinden am Bach Krith und Befehl Jahwes im dritten Jahr, vor Ahab zu erscheinen), 18,2-3a.5—12.15f einen Vorhalt (wird Elia erneut entschwinden oder bleiben?), 18,17-20.22f.24b.30a.36a.38a.40 die Durchführung (Elia „erscheint" zu einem Staatsbußakt auf dem Karmel unter offizieller Beteiligung von Baalspropheten, die als Verursacher der Dürre entdeckt und verantwortlich gemacht werden), 1 8 , 4 1 - 4 5 das Ziel (Wiederkehr des Heils/Regens im Geheimnis des Wundertäters) und 18,46 den Schluß (Elia als Königsherold in Wirkung der „Hand Jahwes"). Die Annahme ursprünglich selbständiger Traditionen findet z. Zt. mehr Befürworter als die Annahme eines einheitlichen Grundbestandes, die m. E. den Vorzug verdient. Weil die Komposition darstellt, daß Elia die Chance tiefgreifenden Wirkens durch die auch bei Menander von Ephesus (Josephus, Ant. VIII, 319 ff) bezeugte einjährige (über drei Jahreswechsel reichende) Dürre erhielt, dürfte sie in frischer Erinnerung an sie (ca. eine Generation danach?) entstanden sein. Ähnlich alt und wegen der Verspottung Baals ebenfalls nicht vor Jehus Regierung ist die Heiligtumslegende entstanden, die deutlich als Fallentscheidung für ein Karmelheiligtum konstruiert ist (der Grundbestand lokalisiert durch V.40 bei der cl-muhraqa). Eher im 8. Jh. v. Chr. als später (noch keine Ansage der Totalkatastrophe wie ab Arnos und Hosea) dürfte 1 9 , 3 ^ — 1 8 geschaffen worden sein. Indem es mit V . 8 t y ? - 9 b c t . l l - 1 3 b a an Mosetradition (Ex 3 3 , 1 3 . 1 8 - 2 3 ) und mit V. Zaß-Sba an Wüstentradition (Ex 3; Gen 21,14ff) anknüpft, sollte es die nach Jehus Eifer für Jahwe unerwartete Katastrophe Israels unter Joahas wie die einst am Sinai als notwendiges Unheil durchsichtig machen (O.H. Steck). Etwas älter ist der Grundbestand von I Reg 21 (m.E. V. 1 -20bot.23.27.28 f (?); Würthwein, Naboth-Novelle: nur V . l - 1 6 ) , der die politisch extrem ungünstige, grausige Beseitigung der die phönizischen Verbündeten repräsentierenden Isebel durch Jehu (II Reg 9,30 ff) ausführlich begründet und auf Elias Autorität zurückführt. Die Wundertäter-Erzählungen I Reg 1 7 , 1 0 - 1 5 ; 17, 1 7 - 2 4 a , wegen ihrer Motivik nur schwer datierbar, sind jedenfalls älter als die analogen Elisa-Erzählungen II Reg 4,1—7.8—37 (Hentschel) und im Geist von diesen so unterschieden, daß sie mit der Erwähnung des Karmel-nahen Zarpath Beachtung verdienen. Das Motiv II Reg 1 , 9 - 1 4 scheint von einem namenlosen Gottesmann auf Elia übertragen zu sein, während die Ahasja-Erzählung (II Reg 1,2—3 a.5—8.17a) zur frühesten Tradition gehören wird (Noth: namenlos; dagegen Smend). In der relativ späten Elisa-Erzählung II Reg 2,1.7—18 (Entrückung Elias,-Elisa) ist die Figur Elias ins Unerhörte erhoben. Insgesamt scheint es sinnvoll, in der Elia-Tradition einen „canonical process" wirksam zu sehen, wie Childs dies für ganze biblische Bücher vorgeschlagen hat, und zwar speziell in der Dürrekomposition. 3. Historische
Konturen
Der Name Elia entspricht dem Programm des Mannes (Gott ist Jahwe, vgl. 18,36 f) und scheint von ihm angenommen zu sein. Er stammte aus Thisbe/Gilead I Reg 17,1LXX; vgl.
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Elia I
21,17.28; II Reg 1,3.8, was zur Historizität und nicht zur Deutung beiträgt, und ist z. Zt. der Könige Ahab ( 8 7 4 - 8 5 3 ) und Ahasja (853/52) bezeugt. Er war ein Einzelner wie —»Micha ben Jimla, aber weniger Prophet und mehr Wundermann I Reg 1 8 , 5 - 1 2 . 4 1 - 4 6 ; 1 7 , 1 0 - 1 5 ; II Reg 2 , 1 6 - 1 8 , der auch als Prophet wirkte II Reg 1,5-8; I Reg 18,22.36a; 17,1. Den Stil betonter Einsamkeit konterfeit II Reg 1,8 (langes Haar, Fellkleidung); aber trotzdem hatte er mit dem Kulturlandverächter Jonadab ben Rekab nichts Erkennbares gemein (Wellhausen). Vielmehr gehört zu jenem Stil, daß er plötzlich auftrat und ebenso entschwand I Reg 18,5—12; 17,5b-6; II Reg 2 , 1 6 - 1 8 . Seine Leidenschaft für Jahwe soll ihn nicht gehindert haben, einer phönizischen Witwe größte Wunder zu erweisen. Die beiden die königliche Politik berührenden Erzählungen sind am Historischen wenig interessiert. Den Hintergrund der Dürrekomposition bildet die politische Heirat des machtvollen Ahab (I Reg 18,10) mit der tyrischen Prinzessin Isebel zur Machtbalance gegen die Aramäer von Damaskus. Mit dieser politisch so gewichtigen Heirat dürfte der Bau eines Baalstempels in der ehemals kanaanäischen Königsstadt Samaria zusammenhängen, in dem Ahab Staatskultfunktionen versah (I Reg 1 6 , 3 1 - 3 3 ) , wohl ohne den Jahwekult vom ersten Rang verdrängen zu wollen (s. die Namen seiner regierenden Kinder Ahasja, Joram, Athalja). Eine über drei Jahreswechsel hinwegreichende Dürre war der Anlaß für ein öffentlichkeitswirksames „Erscheinen" Elias gegen die Baalisierung in Israel I Reg 18,1.15. Plausibel wirkt die nicht zu beweisende These A. Alts, daß das Karmelgebirge als Grenzgebiet (Y. Aharoni) z. Zt. Salomos oder bald danach an Phönizien verlorenging, anläßlich der Heirat Ahabs und Isebels an Israel zurückfiel - nun mit Zeichen des Baalkults, u. a. vielleicht der Besiedlung mit Mantikergruppen — und der Karmel als Jahwes Land unter Elias Ägide wiedergewonnen wurde. Sollte die Tötung von Baalspropheten (Zahlen darf man nicht überbewerten) aus Anlaß eines Fastens mit seiner Sonderjustiz (vgl. I Reg 21,10ff) historisch sein, so ergäbe sich aus ihr die nicht bloß lokale, grundsätzliche Bedeutung des Wirkens Elias — m. E. hat die Kulthandlung auf dem Karmel wenig mit Jehus großangelegter Säuberungsaktion gegen die Stützen der Herrschaft des Hauses Ahabs zu tun (II Reg 10). Mit den nicht ortsgebundenen Mantikem war dann nicht nur die königliche Rcligionspolitik, sondern auch die mehr oder minder stillschweigende Duldung unjahwistischer Kulte in den ehemals kanaanäischen Städten durch das Volk anfechtbar geworden (vgl. Alt, Samaria). Historisch ist auch das Einschreiten Elias gegen die Anrufung des Baal Sebub von Ekron (absichtliche Verunglimpfung für Baal Sebiil [Fliegenherr statt Baal Fürst]?) durch Ahasja nach seinen Sturzverletzungen II Reg 1,2—8. Es zeigt, daß das Karmelereignis (soweit historisch!) entweder nicht eindeutig grundsätzliche Folgen hatte oder in seiner Grundsätzlichkeit von den Omriden mißachtet wurde (Fohrer). Wenn die Deutung des Kannelereignisses richtig ist, wird jedoch verständlich, warum Elias Sache weitergehen mußte und zu seiner Zeit erst ihren Anfang nahm. 4. Der biblische Elia Nach der Dürrekomposition „erschien" Elia seinem König, fast wie Gott selbst, nicht nur als Richter an den Baalsmantikern wegen Unheilsverursachung, sondern auch als Heild.h. Regenspender. I Reg 18,1 b.36a binden Elia an Jahwe, um Abergläubisches abzuwenden. Suchte Elia nach I Reg 18,41 - 4 6 den König und sein Volk für Jahwes Einzigartigkeit zu gewinnen, so war er nach I Reg 21 berufen, auch König und Königin dem Recht und Gericht Jahwes zu unterstellen: Er war nicht „Feind" des Königs (V. 20), indem er ihn bei der Übernahme des von Isebel ausgegangenen Unrechts behaftete, weil er nicht Politik machte, und gewann ihn zur Demütigung (V. 27). Jahwes Güte gegen Nichtisraeliten bewahrt die Erzählung von der armen Phönizierin, der in der Totenerweckung ihres Sohnes I Reg 17,17—24a sogar ein Versöhnungshandeln Elias (V. 18!) zukam. Selbst das in Lk 9,54 unliebsam aufgefallene Motiv II Reg 1 , 9 - 1 4 hat im Kontext nicht nur einen bösen Klang: So krude Mittel wie Feuer auf das Militär waren nötig, um den machtbewußten Sohn Ahabs von Machtmaßnahmen gegen das Gotteswort abzubringen und ihn dies schweigend entgegennehmen zu lassen (V. 16). I Reg 1 9 , 3 ^ 3 - 1 8 nähert Elia dem Mose vom Sinai, die Prophetenverfol-
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gung des Volkes hatte auch Elia erreicht (V. 1 4 ; vgl. E x 1 7 , 4 : Mose), und wie einst am Sinai ließ Jahwe sich einen Rest derer, die sich der Apostasie nicht gebeugt hatten. Anstößig wirkt Elias Furcht vor Isebels Drohung 19,1 f; aber als späte Interpretation der folgenden Erzählung ist nicht die Furcht einfach ums Leben (vgl. V. 4 b), sondern um den Sinn dieser seinen Auftrag nicht durchsetzenden nephesch gemeint - s o wie M o s e seinen Auftrag wegen Apostasie des Volkes am Sinai bedroht fand E x 3 2 , 9 - 1 4 . So weiß eine Tradition, über M o s e hinausgehend, nicht nur, daß es kein G r a b Elias geben konnte (II Reg 2 , 1 6 — 1 8 ) , sondern daß er im Sturm und im feurigen Wagen zum Himmel geführt worden war—ein Zeichen der Zukunft des von ihm Ausgegangenen. Es ist daher fast logisch zu nennen, daß Mal 3 , 1 Elia als Wegbereiter Jahwes für das Endgericht in Jerusalem schaut, der, um Jahwes Z o m zu wenden, das Herz der Väter den Söhnen und das der Söhne den Vätern zuwendet (V. 2 3 f). Demgegenüber wirkt es fast wie ein Gegenschlag daß II C h r 2 1 , 1 2 - 1 5 von Elia nur einen Mahnbrief an König J o r a m von juda erwähnenswert findet — eine chronistische Konstruktion ohne große Bedeutung. Das Weitergehen der Tradition Elias in Judentum, Christentum und Islam blieb jedoch unbehindert. Literatur Yohanan Aharoni, Mount Carmcl as Border: Archäologie u. AT. FS K. 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Elia II
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Horst Seebaß II. Judentum Die reichhaltige Wirkungsgcschichte der biblischen Elia-Gestalt innerhalb der klassischen rabbinischen Literatur, der mittelalterlichen —»Kabbala, des neuzeitlichen —»Chasidismus und auch der zeitgenössischen jüdischen Theologie weist gegenüber der sonstigen jüdischen Aneignung biblischer Figuren noch besondere Qualitäten auf. Die schon in den biblischen Erzählungen spürbare besondere „archetypische" Aussagekraft einer sich ins Typologische verschiebenden Individualität mündet konsequent in die traditionsgeschichtliche Vielfalt späterer jüdischer Eliaüberliefeningen und Vorstellungen: von der Konkretion einer biblischen prophetischen Heldengestalt mit herausragendem, aber auch problematischem Gottesbezug über den spontan auftauchenden und ebenso plötzlich wieder verschwindenden gegenwärtig wirkenden Nothelfer, den eschatologischen Vorläufer des —»Messias bis hin zum abstrakten pneumatischen Prinzip mystischen Gedankendiktates göttlicher Wahrheiten. In typologischer Auswahl ist dies an einigen Beispielen aus der jüdischen Religionsgeschichte aufzuzeigen.
Innerhalb der erhaltenen jüdischen apokryphen Literatur von ca. 2 0 0 v. Chr. bis 2 0 0 n. Chr. finden sich nur kurze Erwähnungen von Elia als Heros der Vergangenheit, Eiferers für die Tora und auf wunderbare Weise in den Himmel Entrückten bzw. als eschatologischen Propheten auf dem Hintergrund von Mal 3 , 1 6 - 1 7 (vgl. u. a. Sir 4 8 , 1 - 1 2 ; I Makk 2,58; 4,46; 14,41; äthHen 8 9 , 1 - 2 ) . Von den drei Elias-Apokalypsen (—>Pseudepigraphen) ist die eine, auf die I Kor 2,9; Eph 5,14 anspielen, nur in einem kurzen Fragment erhalten und wahrscheinlich in vorchristlicher Zeit in Ägypten entstanden, während eine hebräische Elias-Apokalypse aus dem 3. Jh. n. Chr. stammt, etwa gleichzeitig mit einer koptischen Elias-Apokalpyse auf jüdischer Grundlage (zum Gesamten vgl. Schräge Einl.). Hier findet
Elia II
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der biblische Wundertäter seine feste Rolle in den endzeitlichen Ereignissen um Messias und —»Antichrist. Überreichliches Quellenmaterial liefert jedoch erst die haggadische Überlieferung der beiden Talmude und der bis in das Mittelalter hineinreichenden Midraschitn. Bemerkenswert ist hier zunächst das schriftgelehrte Bestreben um die Aufhellung der von der Bibel nicht überlieferten Herkunft des Elia. Nach einer Meinung ist er ein Abkömmling des LeaSohnes Gad in Ausdeutung von Gen 48,19 (BerR 99,12), nach einer anderen des Rahel-Sohnes Benjamin auf der Basis von I Chr. 8,27 (ebd. 71,12), und schließlich wird Elia auch als Levit in Analogie zu Moses identifiziert (WaR 33,4). Ebenfalls analog zu dem Eiferer Pinchas wird Elia auch als Priester bezeichnet (bBM 114a.b). — Die machtvollen Taten des biblischen Elia führen einerseits zu großer Hochschätzung von Seiten der Haggadisten bis hin zum Vergleich mit dem vor dem Fall sündenfreien —»Adam (BerR 21,5). Andererseits wird aber gerade sein Übereifer für Gott kritisiert: Er habe über der Ehre des Vaters (Gott) die Würde des Sohnes (Israel) vergessen (ARN 47, Version B 585). So gesehen kann Elia auch vorgeworfen werden, daß er am Horeb nicht um Gnade für Israel gebeten habe und Gott ihm deswegen eine Abfuhr erteilen mußte (ShirR 1,6). - Der entrückte Elia hingegen hat teil an göttlichen Plänen und Geheimnissen (bBM 59 b; bHag 15 b). Er registriert die Taten einzelner Menschen und die Geschichte der Menschheit (WaR 34.8; SOR II, 17, S. 276). Er fungiert als Seelenführer der Gerechten ins Paradies und der Ungerechten zur Bestrafung. — Vielfältige Geschichten weiß man zu talmudischer Zeit über das gegenwärtige Erdenwirken des Elia zu berichten. In mannigfacher Verkleidung, u. a. als „alter Mann", als „Araber", als „Reiter", einmal sogar als „Dirne" (bBer 6 b; bShab 109 b; bSan 109 a; bAZ 18 b) sowie auch als Traumfigur interveniert er tatkräftig und ratgebend als Helfer in Not und Verfolgung bis hin zu ganz privaten Problemen. - In besonderer Relation steht Elia zu einer Reihe von hervorragenden Rabbis als deren Ratgeber, Lehrer und Freund (bNed 50 a; bBM 85 b; bTaan 29 a). Hier erweist sich Elia auch im besonderen als halachischer Experte (bMeg 15 b; bShab 13 a), dessen spätere Hilfe für momentan unlösbare Probleme der Jurisdiktion erwartet wird (mBM 3, 4 - 5 ) . — Als Inspirator ganzer Midraschwerke, des Seder Elijahu Rabba und Zutta (ed. Meir Isch-Schalom) läßt Elijahu ein Lehrhaus in seinem Namen gründen, wobei vor allem R. Anan unter seinem inspirierten Diktat steht (bKet 106a): In einem besonderen Bezug steht Elia als „Engel des Bundes" zur Beschneidungszeremonie; dies symbolisiert ein eigens für ihn bereiteter Sitz (PRE 2 9 , 2 1 3 - 2 1 4 ) . - Die Rolle des eschatologischen Versöhners Elia wird in Fortführung von Mal 3, 1 6 - 1 7 schon in mEd 8,7 erneut betont, ebenso auch seine im Neuen Testament belegte Rolle als Vorläufer des —»Messias (bEr 43 a—b; bPes 13 a). Vordem Eintreffen des Messias bringt Elia einige der bei der Tempelzerstörung verlorenen heiligen Utensilien zurück und trifft die Vorbereitungen zur Salbung des Messias-Königs (MekhY 51b). Jedoch variieren die genauen Vorläufer-Aufgaben des Elia in vielfältiger Weise vor allem in den apokalytischen Midraschim ab 300 n. Chr. Zu bemerken ist auch, daß in der eschatologischen Rollenverteilung auf Elia und den Messias nach verschiedenen haggadischen Quellen Interferenzen bestehen, wobei sogar „Elia" als Beiname des Messias genannt werden kann (MMish 19.22, 87). Die in ihren Vorläufern bis hinter das tannaitische Zeitalter zurückreichende mystischkabbalistische Tradition des nachtalmudischen Judentums bis hin zu ihrer neuzeitlichen Ausprägung im Chasidismus dokumentiert in reichhaltiger Weise den Kontakt zu Elia als Medium mystischer Denkerfahrung und Lebenspraxis. So bereichtet etwa das im 13. Jh. n. Chr. in Spanien entstandene Buch Zohar des öfteren vom mystagogischen Kontakt des Elia zu R. Simon b. Joachai und seinen Schülern entweder in seiner indischen Repräsentation oder in der Gestalt von prophetischen Träumen (Zohar Hadash 59 c; Tikkune ha-Zohar 1 a; I Zohar 151 a. 217a). Inhaltlich ist dies in der Regel mit einem Dialog über Fragen esoterischer Schriftexegese und damit zusammenhängender theosophischer Probleme verbunden. Dieser Gilluj Elijahu verbindet sich auch auf dieser Traditionsstufe mit einer Reihe von berühmten Rabbinen und Mystikern in der Provence, den rheinischen Städten, Italien und Palästina: R. Abraham b. Isaak v. Narbonne (ca. 1150), R. Isaak der Blinde (ca. 1200), R. Je-
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Eliot
huda der Fromme (ca. 1200) 1200), sein Schüler R. Eleazar v. Worms, R. Menachem v. Recanati (ca. 1300), R. Isaak v. Akko u.v.a. - AuchdieKabbalisten vonSafed, R.JizchakLuria (1534—72), der Begründer der lurianischen Kabbala, sein Schüler Chajjim Vital, der große Halachist und Mystiker R. Josef Karo ( 1 4 8 8 - 1 5 7 5 ) und R. Moses Cordovero stehen unter dem mystischen Diktat des Elia. Dabei kann die Modalität der Inspiration durch Elia bis zum Vernehmen einer inneren Stimme vergeistigt werden. So schreibt etwa der Hohe Rabbi Low v. Prag ( 1 5 2 0 - 1 6 0 9 ) : „Es macht keinen Unterschied, ob sich Elia in einer Vision offenbart oder nicht, da er häufig seine Worte an jemand übermittelt, der gar nicht weiß, woher sie kommen; es scheint ihm, als kämen sie von ihm selbst, jedoch sie kommen von Elia" (Nezach Jisrael c. 28). Von hier öffnet sich auch das Verständnis für die später im russisch-polnischen Chasidismus noch weitergehende Internationalisierung des „Elia" als eine Art Seelenkomponente wie etwa in der Lehre des R. Menachem Nachum v. Tschernobil (geb. 1730) und seines Sohnes Mordechai, der das sehnsüchtige Gottesstreben, das jeder Jude von Natur aus und von Geburt an habe, „Elia" nennen kann (Likkute Tora 4 7 a ) , wodurch es nach R. Levi Isaak v. Berditschew (geb. 1740) sogar möglich ist, daß der Messias direkt und ohne seinen Vorläufer auftreten kann. Anstelle vieler möglicher Beispiele moderner jüdisch-theologischer Elia-Reflexion sei nur auf R. Abraham —»Kuk verwiesen, in dessen Denken Elia eine wichtige Rolle spielt. „Ebenso wie er (Elia) vor seiner Verklärung mehr als alle die tiefe Häßlichkeit und den Schmutz kannte, in die die Welt versunken war, weswegen er auch mit flammendem Feuer den Geist der Unreinheit austilgen wollte, ebenso kennt er nach seiner Verklärung jeden göttlichen Funken in dieser Welt, um ihn im Geist des Friedens emporzuheben — und er kehrt das Herz der Väter zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu den Vätern" (Orot ha-Kodesch III, 365). Quellen und Literatur Bill IV/2,764—798. - J. Cohn, Mystic Experience and Elijah-Revelation in Talmudic Times: FS Meyer Waxman, New York 1967, 3 4 - 4 4 . - Die Elia-Apokalypse, hg. v. W. Schräge, 1980 (JSHRZ V/3). - Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia, IV 1 9 5 4 , 1 9 3 - 2 3 5 ; VI 1 9 5 8 , 3 1 6 - 3 4 2 . - J. S. Klappholz, Sippure Elijahu Ha-Nabi, 2 Bde., Tel-Aviv 1969/70. - S. Kohn, Elijah in der Legende: M G W J 12 (1863) 241 - 2 5 5 . 281 - 2 9 6 . - Moses Wolf Levinsohn, Der Prophet Elia nach den Talmudim u. Midraschim, Zürich 1929. - E. Margaliout, Elijahu Ha-Nabi Be-Sifruth Jisrael, Jerusalem 1959/60.-SederElijahu Rabba we-Seder Elijahu Zutta,ed. M. Isch-Schalom, Wien 1904 = Jerusalem 1960. — Sippure Elijahu Ha-Nabi, ed. J . Jacob, 2 Bde. Jerusalem 1967. — Aharon Wiener, The Prophet Elijah in the Development of Judaism. A Depth-Psychological Study, London 1978.
Nico Oswald Eliaapokalypse —»Pseudepigraphen Eliot, John
(1604-1690)
1. Leben und Wirken
1. Leben und
2. Missionstheologie und -methode
(Werke/Literatur S. 506)
Wirken
John Eliot wurde in Widford, Hertfordshire (England) geboren. Nach dem Studium am Jesus-College in —»Cambridge erlebte er unter dem Einfluß des nonkonformistischen Theologen Thomas Hooker ( 1 5 8 6 - 1 6 4 7 ) eine Bekehrung, die ihn zur Abwendung von der Staatskirche und 1631 zur Auswanderung nach Neuengland brachte. 1632 wurde er kongregationalistischer Pfarrer und Lehrer in der Gemeinde Roxbury bei Boston und blieb dort bis zu seinem Tode 1690. Die Missionsaufgabe stellte sich in Massachusetts angesichts der Präsenz der —»Indianer sozusagen von selbst, und Eliot war weder der erste noch der einzige, der sich ihrer annahm, zumal sie auch schon in der Gründungsurkunde der Kolonie ausdrücklich niedergelegt war. Schon vor ihm hatten z. B. Vater und Sohn Mayhew mit ihrer „Familienmission" auf den Inseln Martha's Vineyard und Nantucket eingesetzt, die fünf Generationen lang andauern sollte und in der die Evangelisation und eine den Indianern angemessene Sozialisierung organisch verbunden waren. Im gleichen Geist wirkte Eliot, nachdem er den Narragansett-Dialekt der Algongquin-Sprache von einem jungen Indianer gelernt und auch seine Siedlergemeinde und Freunde in der Umgebung für die Arbeit an den Indianern begeistert hatte. Regel-
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mäßige evangelistische Predigt, Katechese und Schularbeit — dies alles zusätzlich zum Gemeindedienst in Roxbury — führten bald zu Bekehrungen und zur Sammlung der Bekehrten in Gruppen von „Praying Indians", die Eliot so weit als möglich von den anderen Indianern und den weißen Siedlern abzuschirmen suchte. Die erste Siedlung dieser Art entstand in Natick 1651, wo die Behörden ausdrücklich gegen die Ansprüche britischer Kolonisten den Indianern das Recht auf Landbesitz zusprachen. 1674 gab es vierzehn derartige Siedlungen mit insgesamt etwa 4000 Bewohnern, d.h. etwa 20% der indianischen Bevölkerung (Beaver, 34). Eliot organisierte jede Siedlung gemäß Ex 18,21 in Gruppen verschiedener Größe mit je eigener Führung, stieß damit freilich auf wenig Gegenliebe bei den Behörden, die staatlicher Kontrolle den Vorzug gaben, im übrigen aber den Bau von Kirchen und Schulen in den Siedlungen finanzierten. Die Schulen waren darauf angelegt, den Indianern nicht nur Lesen und Schreiben, sondern die wesentlichen praktischen Fertigkeiten für den Erwerb des Lebensunterhalts beizubringen.
Oberstes Ziel der Gemeindegriindungen (zuerst Natick 1660) war die geistliche und kirchliche Selbständigkeit der Indianergemeinden. Die unerläßlichen Voraussetzungen dafür schuf Eliot durch seine Ubersetzung von Katechismus und Bibel in die Algongquin-Sprache (s. TRE 6, 299), sodann durch die Gründung eines Seminars für Lehrer und Evangelisten. Zur Unterstützung der Indianermission wurde 1649 in England durch Parlamentsbeschluß die „Society for the Propagation of the Gospel in New England" gegründet, später meist als „The New England Company" bezeichnet — die älteste Missionsgesellschaft überhaupt, die auch über die Zeit der —»Restauration hinaus Bestand hatte. Auch sie konnte allerdings nicht verhindern, daß der als „König Philipps Krieg" bekannte Indianeraufstand von 1675/76 die Gemeinden der „Praying Indians" und damit Eliots Lebensarbeit bis auf geringe Restbestände vernichtete. Sein Wollen jedoch lebte weiter, nicht zuletzt in den elf sogenannten Eliot-Traktaten (von verschiedenen Verfassern), die mehr als andere Faktoren dafür sorgten, daß die Sache des „Apostels der Indianer" nicht in Vergessenheit geriet. A.H. —>Francke wußte wohl, warum er seinen Missionaren in Tranquebar 1715 gerade das Beispiel von Eliot ans Herz legte (Zufällige Gedanken: W. Germann, Ziegenbalg u. Plütschau, Erlangen, II 1868, 157). 2. Missionstheologie
und
-methode
Mit Richard Sibbs und anderen puritanischen Theologen teilte Eliot die Uberzeugung, daß Heidenmission nicht eine Sonderveranstaltung an der Peripherie christlicher Nachfolge sein dürfe, sondern im Zentrum des Heilswillens Gottes ihren Ort habe (—»Mission). Gottes offenkundige Vorsehung war es, die den Puritanern ihren besonderen,,errand", ihren Botschafterauftrag für die Neue Welt anvertraut hatte. Seine Vorsehung schloß daher auch die Sendung an die heidnischen Indianer ein, als Teil seines ,/lesign", seines Heilsplans, unter dem einmal alle Welt zum Gehorsam des Glaubens an Jesus Christus gebracht werden sollte. Seine Ehre erforderte die Durchsetzung seiner Herrschaft unter allen Völkern, und es war sein erklärter Wille, die Seinen daran teilnehmen zu lassen, zumal die Herrschaft Christi nicht mehr fern zu sein schien: „Wir sollen nicht still sitzen und auf Wunder warten. Auf und an's Werk - der Herr wird mit dir sein. Gebet und Leiden in der Kraft des Glaubens an Christus Jesus vermögen alles" (Eliot, nach Chaney 14). Im Rahmen dieser theozentrischen Missionsbegründung haben auch anthropologische Akzente ihren Platz, etwa in Gestalt der - damals keineswegs allgemein geteilten — Uberzeugung, daß die Indianer, trotz ihrer unleugbaren Verstrickung in Sünde und Finsternis, als Menschen zu behandeln seien und eben durch die Mission zur Vollendung ihres Menschseins gebracht werden sollten, daß die Mission mithin auch durch die Christenpflicht des Mitleidens (compassion) motiviert war. Schließlich zielt die Arbeit nicht nur auf die Bekehrung einzelner. Die Sammlung der „Erstlinge" aus den Heiden, die das Angeld auf die kommende größere Ernte darstellen, ist „churchwork" (Cotton Mather), d. h. sie schafft eine Bundesgemeinde, deren Glieder durch das Bekenntnis ihres Glaubens, die Zucht des Wortes Gottes und die Gewißheit der Sendung in die Welt verbunden sind.
Aus diesen Grundsätzen und den Möglichkeiten ihrer Anwendung in der besonderen nordamerikanischen Situation ergab sich die Missionsmethode: Evangelistische Verkündigung in engster Verbindung mit theokratischer Neuordnung der Lebensverhältnisse; Seß-
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haftmachung und Zivilisierung der Indianer als Vorstufe zur Gemeindegründung, ohne daß die Bekehrten ihrer herkömmlichen sozialen Ordnung total entfremdet werden sollten. Für Eliot ergab sich aus alledem auch die Hoffnung auf eine theokratische Erneuerung der englischen Kirche und Gesellschaft, von der die Mission ihren Ausgang genommen hatte: „Wollte Gott auch die Engländer diese ihre Gelegenheit erkennen lassen, Christus anzunehmen und seine königliche Herrschaft über sie aufzurichten... Welch ein gesegneter T a g für England, wenn das W o r t Gottes auch seine M a g n a Charta und wichtigstes Gesetzbuch sein w i r d " (Chaney 3 9 ) . Quellen Das wichtigste Material enthalten die 1643 — 1672 in London erschienenen elf sogenannten Missionary Tracts von Eliot und anderen Autoren (Übersicht der vollständigen Einzeltitel bei Rooy 3 3 7 f), dazu die anderen Schriften von Eliot, die in den Jahren 1 6 6 5 - 1 6 7 2 in London, Boston bzw. Cambridge erschienen sind (Rooy 338; Chaney 321); ferner sieben Berichte in den Massachusetts Historical Society Collections, Boston, 3. F. IV 1834, auf denen die zahlreichen späteren Eliot-Biographien beruhen. Quellenwert haben außerdem Edward Winslow, The Glorious Progress of the Gospel Amongst the Indians in New England, London 1649, und Cotton Mather, Magnalia Christi Americana, 2 Bde., London 1702 = New York 1967. Literatur DAB 6, 79 f. - Carleton Beals, John Eliot, New York 1957. - R. Pierce Beaver, American Missionary Motivation before the Revolution: C h H 2 1 (1962) 2 1 6 - 2 2 6 . - D e r s . , Church, State and the American Indians, St. Louis 1966. — Ders. (Hg.), American Missions in Bicentennial Perspective, South Pasadena 1977. - Gustav H. Blanke, Die Anfänge des amerik. Sendungsbewußtseins. Massachusetts-Bay 1629 bis 1659: ARG 58 (1967) 1 7 1 - 2 1 1 . - Charles L. Chaney, The Birth of Missions in America, South Pasadena 1976. — Joseph S. Clark, A Historical Sketch of the Congregational Churches in Massachusetts from 1620 to 1858, Boston 1858. — Gottfried Fritschel, Gesch. der christl. Mission unter den Indianern Nordamerikas im 17. u. 18. Jh., Nürnberg 1870. - Alan Heimert, Puritanism, the Wilderness, and the Frontier: NEQ 27 (1953) 3 5 5 - 3 6 2 . - J. A. de Jong, As the Waters Cover the Sea. Millennial Expectations in the Rise of Anglo-American Missions 1 6 4 0 - 1 8 1 0 , Kampen 1970. — William Kellaway, The New England Company 1 6 4 9 - 1 7 7 6 , New York 1961. - Kenneth Scon Latourette, A History of the Expansion of Christianity. III. Three Centuries of Advance, A. D. 1500 - A. D. 1800, New York/London 1939.— Sidney H. Rooy, The Theology of Missions in the Puritan Tradition, Delft 1965. - Erich Schick, Vorboten u. Bahnbrecher, Basel 1943. - Martin Schmidt, Der junge Wesley als Heidenmissionar u. Missionstheologe, 1955 "1973 (MWF 9). - Alden T. Vaughan, New England Frontier. Puritan and Indian, 1 6 2 0 - 1 6 7 5 , Boston 1965. Hans-Werner Gensichen
Elisa 1. Literarisches
2. Zur Traditionsgeschichte
3. Historisches
4. Kerygma
(Literatur S. 509)
Während man sich die Bibel Alten Testaments ohne —»Elia kaum vorstellen kann, gehört Elisa trotz einer sehr umfangreichen Überlieferung nicht zu den für das Alte Testament wesentlichen Figuren. Unverzichtbar wurde Elisa der Tradition, weil er bei dem wohl wichtigsten Machtwechsel des Nordreichs, nämlich bei der Machtergreifung—»Jehus unter Beseitigung der einen Baalstempel in Samaria unterhaltenden Dynastie Omris/Ahabs, eine Rolle spielte (II Reg 9 f ) . Aber die Überlieferung charakterisiert ihn nicht durch jene Ereignisse, sondern setzt ihm ein davon unabhängiges Gedenken religiöser Gruppenbildung und ihrer Wunder.
1.
Literarisches
Die Elisa-Erzählungen stehen in I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ; II Reg 2 ; 3 , 4 - 8 , 1 5 ; 9 , 1 - 1 0 , 2 6 ; 1 3 , 1 4 - 2 1 relativ geschlossen zusammen. Freilich ist nur ein Teil von ihnen im Rahmen des —»Deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrH) auf uns gekommen. II Reg 2 (Entrückung Elias) und 1 3 , 1 4 — 2 1 (Siegeszusage für J o a s ) fallen aus den Königssynchronismen des D t r H heraus (Schmitt). Z u D t r H gehört wahrscheinlich ebensowenig die Sammlung der Wunder-
Elisa
507
geschichten II Reg 4 ; 6 , 1 — 7 ; 8 , 1 — 6 (Fohrer), die einmal durch die Kriegswundergeschichte 6 , 8 - 2 3 erweitert worden sein m u ß (insoweit mit Schmitt). II Reg 6 , 8 — 2 3 zeigt in 6 , 1 4 — 1 7 eine Erklärung des v o m König dem Elisa verliehenen Titels „ M e i n V a t e r ! Mein V a t e r ! W a gen Israels und seine Gespanne" (II Reg 1 3 , 1 4 ) , so daß die Sammlung, mit 1 3 , 1 4 - 2 1 zusammen, nach-deuteronomistisch eingefügt worden sein dürfte. Dazu k o m m t noch 6 , 2 4 - 7 , 2 0 , in dem Elisa nur sehr gezwungen durch 6 , 3 1 erwähnt wird und der Zusatz in 6 , 3 2 b eine rechte Wirrnis hinterlassen hat: Die Erzählung handelte von einem namenlosen Gottesmann, wie der Anhang 7 , 1 7 - 2 0 als Wiederholung von 6 , 3 2 a . 3 3 ; 7 , 1 f zeigt. Indem also 6 , 2 4 - 7 , 2 0 auf Elisa bezogen wurde, machte man es zum Anhang an den N a c h t r a g 6 , 8 - 2 3 : Elisa sollte geköpft werden, weil er, anders als in 6 , 8 - 2 3 , nicht mehr half ( 6 , 3 1 . 3 2 b ) . - Demnach enthielt D t r H nur I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ; II Reg 3 , 4 - 2 7 ; 5 ; 8 , 7 - 1 5 ; 9 , 1 - 1 0 , 2 6 , während die große Masse der Elisa-Traditionen erst nach-deuteronomistisch eingefügt wurde (vgl. Schmitt; die Annahme einer Gottesmann-Redaktion ist unzutreffend). 2 . Zur
Traditionsgeschichte
Vordringlich muß die Frage beantwortet werden, inwieweit Elisa-Erzählungen einen festen Bezug zu Elisa haben — 6 , 2 4 — 7 , 2 0 w a r insoweit bereits ausgeschieden. Ähnlich ist in 3 , 4 — 2 7 das Elisa-Element 3 , 1 1 - 1 9 ein N a c h t r a g (Schmitt), in dem eine selbständige Anekdote (vgl. V. I l b . l 5 f ) steckt, die durch V. l l a . 1 2 - 1 4 . 1 7 - 1 9 (V. 1 8 f nur W o r t e Elisas!; anders Schweizer) im Gegenzug zu I Reg 2 2 , 4 - 8 umgeändert wurde. Dagegen haben einen festen Bezug zu Elisa: I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ; II Reg 2 , 1 - 1 8 . 1 9 - 2 2 . 2 3 f ; 3 , l l b . l 5 f ; 8 , 7 - 1 5 ; 9 , l - 6 . 1 0 b - 1 3 ; 1 3 , 1 4 - 2 1 . Bei den übrigen stellt sich durchweg das Problem, ob sie ursprünglich von einem namenlosen Gottesmann oder von Elisa als Gottesmann handelten. Vielleicht ist es kein Zufall, daß neben 5 , l - 1 9 a (die Gehasi-Episode, 5 , 1 9 b - 2 7 , die die Habsucht von Bediensteten beim Heiligen anprangert, ist sicher ein Zusatz mit v.d. B o r n ; Gray) nur die nach-deuteronomistisch eingefügten Stoffe jenes Problem aufwerfen. Zu II Reg 5,1-19: Der preisende Schluß V. 1 5 - 1 9 a spricht ohne Namensnennung nur vom Gottesmann. Schmitt hält ihn u. a. deswegen für den Zusatz einer Bearbeitungsschicht; aber daß der Syrer so ganz ohne Rückmeldung abgezogen sein soll, nachdem er Elisa gezürnt hatte (V. 11 f), ist unglaubwürdig. Zudem verlangt V. 8 b(3 „er soll erkennen, daß ein Prophet in Israel ist" als Fortsetzung V. 15: „Ich habe erkannt, daß kein Gott auf der ganzen Erde ist außer in Israel." Zum Titel Prophet enthält auch V. 3 keinen Namen — Anlaß für den Irrtum des Königs von Aram, der König von Israel selbst sei (wie so häufig, vgl. Gunkel; Greßmann) der Prophet/Wundertäter. Der Name Elisa könnte daher in V. 8 f Ubermalung sein. -II Reg 6,8-23, ein Nachtrag zur Wundergeschichtensammlung, enthält drei relativ selbständige Episoden: a) Aufdeckung von Anschlägen (V. 8 - 1 2 ) ; b) feurige Wagen zum Schutz Elisas bei Belagerung (V. 14—17); c) verblendet folgt eine aramäische Truppe Elisa nach Samaria und wird dort nicht getötet, wodurch Frieden entsteht (V. 1 8 - 2 3 ) . Die beiden letzten Episoden haben unverkennbar eine Beziehung zu dem Königsruf (13,14): „Mein Vater, mein Vater! Wagen Israels und seine Gespanne!" Die Erzählung wirkt wie eine wunderhafte Erläuterung des Elisa-Titels; aber in 6,9 hat der Gottesmann keinen Namen. Man wird wohl gut daran tun, 6 , 8 - 2 3 nicht als selbständige Elisa-Tradition, sondern als Ergänzung zu 13,14 zu lesen (übrigens wiederum ergänzt durch 6 , 2 4 - 7 , 2 0 ! ) . - In der Sammlung II Reg 4; 6,1-7; 8,1-6 ist 4 , 8 - 3 7 ein Sonderelement, das freilich wegen 8 , 1 - 6 zur Sammlung gehören muß (Smend). Es ist nicht nur novellenhaft breit, sondern bietet auch eine geographische Variation (Karmel, nicht Gilgal=hirbet el-mefgir). Die Gehasi-Episode (4,29—31; Totenerweckung durch Elisas Stab) ist überflüssig und wohl sekundär (Schmitt). Im übrigen scheint kaum wichtig, ob die Erzählung auf Elisa oder einen unbekannten Gottesmann zurückgeht, da sie als Drama gewürdigt werden will. - II Reg 4 , 1 - 7 . 3 8 - 4 1 . 4 2 - 4 4 ; 6,1 - 7 haben gemeinsam, daß sie das Milieu einer Prophetengruppe (b'ne han-n'bt'tm) schildern, die am Gilgal nördlich von Jericho (teil es-sultßn) ihren Haftpunkt hatte. Nach II Reg 9,1 war Elisa tatsächlich Vorsteher einer Prophetengruppe, so daß die Milieuschilderung höchst willkommen ist. Aus 4 , 1 - 7 geht hervor, daß ihre Mitglieder heiraten konnten und persönliche Verbindlichkeiten selbst übernahmen. Allen gemeinsam ist der Ton engen Zusammenhalts. Während 4 , 3 8 - 4 1 (Tod im Topf) und 6 , 1 - 7 (schwimmende Axt) eher krude, den Geist der Gruppe kennzeichnende Wunder erzählen, hat 4 , 4 2 - 4 4 (Brotvermehrung) ein ganz anderes Niveau (ist Baal Salisa nicht wie das Land Salisa [I Sam 9,4] mit W.F. Albright [Excavations at Gibeah of Benjamin: AASOR 1924,117] im wädi el-cauga unmittelbar nördlich von Gilgal zu suchen?) Zu den echten Elisa-Traditionen: I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 bewahrt gute Erinnerungen (mindestens Herkunft, Heimatort) und ist alt. Der Überwurf des Mantels Elias meint die Beschlagnahme für Jahwe
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Elisa
(Gunkel), nicht eine Propheteninvestitur (Schmitt), und der Beschlagnahme entspricht die sofortige Nachfolge. Nur das letzte Wort von V. 21 „er diente ihm" scheint sekundär aus II Reg 3,11b ergänzt zu sein (Ist „er goß Wasser auf Elias H ä n d e " Zeichen der Dienerschaft?). - Erheblich jünger, weil Elisa an Elia messend, ist II Reg 2 , 1 - 1 8 . Meist hält man mit Gunkel V. 1 6 - 1 8 für einen Zusatz; aber auf jeden Fall ist V. 2—6 (Schmitt: Jahwebearbeitung) sekundär, zu dem V. 16—18 die wichtigsten Widersprüche aufweist. Elisa erhält zwar den Anteil des Erstgeborenen am Geist Elias (V. 9), aber eben nicht alles, und die Entraffung Elias im feurigen Wagen muß er uneingeweiht verfolgen - er meint, einen irdischen Heerwagen zu bemerken (V. 12a; sekundäre Anwendung von 13,14 auf Elia). Diese Verständnislosigkeit ist der Anlaß für die Suche der Prophetengruppe (V. 1 6 - 1 8 ; V. 16 erinnert an I Reg 1 8 , 5 - 1 2 ) . Mit der Nachfolgeregelung ist die Heilung des Wassers von Jericho verbunden ( 2 , 1 9 - 2 2 ) - eine des neuen Mannes würdige, geistbegabte Tat —, aber auch die schauerliche Knabenverfluchung (2,23 —25 a), die am ehesten verständlich wird, wenn das höhnische „Glatzkopf" Elisa als einen der Totenwelt verbundenen Mantiker (nach Elias Entrückung!) wegschimpfen soll - eine Sünde wider den Geist. - II Reg 8 , 7 - 1 5 ist gewiß älter als die vergleichbare Eliatradition I Reg 19,3 a ß - 1 8 (Salbung Hasaels, Jehus und Elisas zur Vernichtung Israels), da es nicht an eine Bestrafung Israels denkt, keine Berufung Hasaels ausspricht und nur Elisas Vorauswissen schildert, freilich mit Täuschung Benhadads: wohl im Sinne von Prophet wider Willen wie Bileam. - II Reg 9 , l - 6 . 1 0 b - 1 3 , das sich nicht aus dem alten Bestand von 9,1 - 1 0 , 2 6 lösen läßt (Schmitt), ist gewiß alt und steht der Wirklichkeit nahe. Alt, wenn auch viel sagenhafter, ist II Reg 1 3 , 1 4 - 1 9 , mit dem die Heiligenlegende 13,20f verbunden ist. - Eine enge Verbindung zur Eliatradition zeigen wohl nur II Reg 2 , 1 . 7 - 1 8 ; 3 , l l b . l 5 f (Rettung vorm Verdursten durch Ankündigung von Wasserhöhlungen im trockenen Wadi). Bildeten 2 , 1 - 2 5 a ; 4; 6 , 1 - 8 , 6 13,14—21 einmal eine eigene Sammlung?
3. Historisches Elisa stammte aus Abel Mehola (teilabu süs ca. 14 km südöstlich von besän) und war vor seiner Berufung ein reicher Grundbesitzer I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 . Er ist in der Zeit der Könige Joram bis Joas von Israel bezeugt (ca. 8 5 0 - 8 0 0 v. Chr., vgl. II Reg 9,1; 13,14-19) und muß sehr alt geworden sein. Nach seiner Berufung wurde er Vorsteher einer Prophetengruppe, als welcher er durch einen Beauftragten die Salbung Jehus zum König gegen die Omriden veranlaßte, ohne daß seine Gründe spezifiziert würden. Wenn I Reg 19,19—21 Elisa als Nachfolger im Kampf gegen den Baal darstellen will, so ist von solchem Kampf in der Elisa-Tradition nichts spürbar (anders Bronner). Vielmehr hat Elisa Jehus Politik eher ausgelöst als initiiert. Den Enkel Jehus, Joas, hat er gegen die—»Aramäer unterstützt (II Reg 13,14-19), und dessen Ehrentitel für Elisa (V. 14) deutet auf seine vorangegangene Mitwirkung im Krieg. Daß er vor Jehus Machtergreifung in Damaskus war und die dort sich anbahnende Veränderung wahrnahm (8,7—15), ist nicht unwahrscheinlich und müßte den Zeitpunkt der Salbung Jehus (kurz nach Hasaels Machtübernahme) beeinflußt haben. — Uber das historische Milieu Elisas unterrichten 4 , 1 - 7 . 3 8 - 4 1 . 4 2 — 4 4 ; 6,1—7, aber auch 2 , 2 - 6 . Demnach war die Prophetengruppe nicht ortsgebunden, da Elisa in —»Bethel, —»Samaria, Dothan und auf dem —»Karmel ebenso gedacht wird wie in Gilgal. Wertvoll ist die Notiz vom Wortempfang bei Ekstase durch Musik (3,15; Hölscher) (vgl. auch ISam 10,5). Wenn ein Mitglied der Gruppe Elisas als Verrückter bezeichnet wird (9,11) spielt dies wohl auf ekstatische Erscheinungen der Gruppe an. Der Unterschied zu dem, was wir von Elia hören, ist sehr groß, da Elisa ähnlich wie Jonadab ben-Rekab eine sich absondernde Gruppe zur Basis gehabt hat, während eine allgemeine religionspolitische Idee nicht zu erkennen ist. So mag Elia tatsächlich Elisa berufen haben (I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ; Fohrer), aber ohne daß inhaltliche Folgen erkennbar wären. 4. Kerygma Im Durchgang durch die Uberlieferung findet man viele Einzelheiten, die nicht ein großes Bild, sondern viel kleine Münze ergeben. Das ist in keiner Weise mißlich — man denke nur an die Leidenschaft der Nachfolge (I Reg 19,19-21); an die wunderbar durchgefühlte Naemanheilung (II Reg 5,1 —19a) bis hin zur Ablehnung von Geschenken, die zur Mitnahme von Erde aus Israel umgedreht wird; an die Charakterisierung der Habgier im Schatten des Heiligen (5,19 b—27); an die wunderhafte Fürsorgern Not ( 4 , 1 - 7 ) und die glaubende Brotvermehrung (4,42—44). Zur Vergabe kleiner Münze gehört vielleicht, daß die Tradenten
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Elisabeth I.
auch solche Merkwürdigkeiten wie 4 , 3 8 - 4 1 ; 6 , 1 - 7 ; 1 3 , 2 0 f (Tod im T o p f , schwimmende Axt, Totenerweckung durch Elisas Gebeine) überlieferten. Versöhnlichen Geist, der über die Wirklichkeit hinausweist, strahlt die Kriegserzählung 6,8—23 aus. Mit 2,1 — 18 darf man sagen: Elisa hat Elias Wirken eher faktisch als absichtlich bestätigt, insofern war er wie dessen Erstgeborener; aber das ganze Erbe Elias hat er nicht tragen können - der feurige Wagen hat es genommen. Seine Gabe war eine andere. Literatur Celso Alcaina Canosa, Panorama critico del ciclo de Eliseo: EstB 23 (1964) 217—234. — Albrecht Alt, Die literarische Herkunft v. I Reg 19,19-21: ZWAW 32 (1912) 1 2 3 - 1 2 5 . - Hans Bardtke, Art. Elisa: CBL5 1959, 2 5 2 - 2 5 4 . - Leah Bronner, The Stories of Elija and Elisha as Polemics against Baal Worship, 1968 (POS 6). - Rolf August Carlson, Elisée - le successeur d'Élie: VT 20 (1970) 3 8 5 - 4 0 5 . Robert P. Carroll, The Elijah-Elisha Sagas. Some Remarks on Prophetic Succession in Ancient Israel: VT 19 (1969) 4 0 0 - 4 1 5 . - Otto Eißfeldt, Die Komposition v. I Reg 16,29-H Reg 13,25: Das ferne u. das nahe Wort. FS L. Rost, 1967 (BZAW 105) 4 9 - 5 8 . - G e o r g Fohrer, Elia, 2 1968 (AThANT 53). Ders., Art. Elia der Prophet: RGG ' 2 (1958) 4 2 4 - 4 2 7 . - D e r s . , Art. Elisa: ebd. 4 2 9 - 4 3 1 . - D e r s . , Art. Propheten: CBL5 1959,1052-1060. - Ernst S. Frerichs, Elisha. A Problem in Legend and History, Diss. Boston 1 9 5 7 . - K u r t Galling, Bethel u. Gilgal: ZDPV 66(1943) 1 4 0 - 1 5 5 ; 67 (1944) 2 1 - 4 3 . - D e r s . , Der Ehrenname Elisas u. die Entrückung Elias: ZThK 53 (1956) 1 2 9 - 1 4 8 . - Hugo Greßmann, Die älteste Gesch.schreibung u. Prophetie Israels, 1 1921 (SAT 2/1 ). - Hermann Gunkel, Geschichten v. Elisa, Berlin, o. J. (1922). - Ders., Art. Elisa: RGG : 2 (1928) 112 f. - Antonius H. J. Gunneweg, Mündliche u. schriftliche Tradition der vorcxilischen Prophetenbücher als Problem der neueren Prophetenforschung, 1959 (FRLANT 73). - Ernst Haag. Die Himmelfahrt des Elias nach 2 Kg 2 , 1 - 1 5 : TThZ 78 (1969) 1 8 - 3 2 . - Vinzenz Hamp, Art. Elisäus: LThK 3 ( 1959) 821 f. - J. Heller, Drei Wundertaten Elisas: CV 2 (1959) 8 3 - 8 5 . - Ders., Tod im Topfe: CV 10 (1967) 7 1 - 7 6 . - G u s t a v Hölscher, Die Profeten, Leipzig 1914.-Ders., Gesch.schreibung in Israel. Unters, zum Jahvistenu. Elohistcn, 1952 (SHVL50).-Ders., Das Buch der Könige, seine Quellen u. seine Redaktion: Eucharisterion. FS H. Gunkel, I 1923 (FRLANT 36/1) 1 5 8 - 2 1 3 . - Ernst Jenni, Zwei Jahrzehnte Forschung an den Büchern Josua bis Könige: ThR NF 27 (1961) 1 - 3 2 . 9 7 - 1 4 6 . - Alfred Jcpsen, Nabi. Soziologische Studien zur atl. Literatur u. Religionsgesch., München 1934. - Ders., Die Quellen des Königbuches, Halle ' 1956. — Ders., Israel u. Damaskus: AfO 14 (1941/44) 1 5 3 - 1 7 2 . - Rudolf Kilian, Die Totenerweckungen Elias u. Elisas-eine Motivwanderung?: BZ NF 10 (1966) 4 4 - 5 6 . - C . J. Labuschagnc, Did Elisha deliberately lie? A Note on II Kings 8,10: ZAW 77 ( 1965) 327 f. - Burke O. Long, II Kings 3 and Genres of Prophetie Narrative: VT 23 (1973) 3 3 7 - 3 4 8 . - Rudolf Meyer, Art. Propheten II. A: RGG' 5 (1961) 6 1 3 - 6 1 8 . - James Maxwell Miller, The Elisha Cycle and the Accounts of the Omride Wars: JBL 85 (1966) 4 4 1 - 4 5 4 . Martin Noth, Oberlieferungsgesch. Studien, Tübingen/Darmstadt 3 1967. - Otto Plöger, Die Prophetengeschichten der Samuel- u. Königsbücher, Diss. Thcol. Greifswald 1937. - Erhard Rupprecht, Entstehung u. zeitgesch. Bezug der Erzählung v. der Designation Hasaels durch Elisa (2 Kg 8 , 7 - 1 5 ) : VT 28 (1978) 7 3 - 8 2 . - Armin Schmitt, Die Totenerweckung in 2 Kg 4 , 8 - 3 7 . Eine literaturwiss. Unters.: BZ NF 19 (1975) 1 - 2 5 . -Hans-Christoph Schmitt, Elisa, Gütersloh 1972. - Joachim Schüpphaus, Richter- u. Prophetengeschichten als Glieder der Gesch.darstellung der Richter- u. Königszeit, Diss. Theol. Bonn 1967. - Harald Schweizer, Elisha in den Kriegen, München 1974. - Rudolf Smend, Die Entstehung des AT, 1978 (ThW 1 ) . - H a n s JoachimStoebe, Art. Elisa: EKL1 (1956) 1061.-MerrillF.Unger, Israel and the Aramaeans of Damascus, London 1957. — Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuch u. der hist. Bücher des AT, Berlin ' 1899 = 4 1963. - Hans Wildberger, Art. Elisa: BHH 1 (1962) 3 9 9 - 4 0 1 . - James G. Williams, The Prophetic „Father". A Brief Explanation of the Term „Sons of the Prophets": JBL 85 (1966) 3 4 4 - 3 4 8 . - Hans-Jürgen Zobel, Abel-Mehola: ZDPV 82 (1966) 8 3 - 1 0 8 . Horst Seebaß
Elisabeth I., Königin
von England
(1558-1603)
(Elizabethan
Settlement)
Elisabeth I. wurde am 7. September 1533 geboren. Als einziges Kind aus —»Heinrichs VIII. zweiter Ehe mit Anna Boleyn war sie durch ihre Geburt ein Symbol des englischen Schismas und mit der protestantischen Reformation in —»England verbunden. Zur Krone k a m sie nur mit Schwierigkeiten. Die Hinrichtung ihrer Mutter (1536) machte sie unehelich, s o daß von da an fraglich war, o b sie zur Thronbesteigung fähig sei. Selbst die Tatsache, daß das Testament ihres Vaters sie in die Thronfolge einreihte, konnte den Makel ihrer Geburt nicht löschen. Während der Regierung ihrer Halbschwester Maria I. ( 1 5 5 3 - 1 5 5 8 ) befand
510
Elisabeth I.
sie sich mehrmals in Todesgefahr, da sie wider ihren Willen als Personifizierung und mögliche Führerin des protestantischen und nationalen Widerstandes gegen die Gegenreformation und das spanische Bündnis gelten mußte. Nach monatelanger Einkerkerung überlebte sie die Gefahren und regierte schließlich 45 Jahre lang. Trotz der bedrohlichen Unsicherheit der Nachfolge, trotz mancher Liebschaften zu Hause und Werbungen aus dem Ausland und gegen den Wunsch ihrer Räte und Parlamentarier heiratete sie nicht, zum Teil weil sie den Gedanken der Herrschaft eines Mannes über sie nicht ertragen konnte, zum Teil aber auch weil sich tatäschlich kaum ein Gemahl hätte finden lassen, der dem nationalen Interesse nicht abträglich gewesen wäre. Stattdessen schloß Elisabeth ganz bewußt eine Art Ehe mit ihrem Volk. Ihre Regierungszeit erschien bereits Zeitgenossen als besonders ruhmreich und wurde in der Folge mit einer solchen Gloriole umgeben, daß es schwer geworden ist, die wirkliche Frau hinter dem von ihr selbst gepflegten Bild fast überirdischer Vollkommenheit und dauernden Erfolgs zu fassen. Der Zauber ihrer Persönlichkeit, den sie geschickt für politische Zwecke zu nutzen verstand, wirkt auch heute noch auf Allgemeinheit und Historiker. Das elisabethanische Zeitalter weist zweifellos manche Momente von Größe auf, z.B. die energischen Anfänge der Ausdehnung nach Übersee oder die Höhepunkte der englischen —»Renaissance in Musik und Literatur. Zu diesen Leistungen trug Elisabeth direkt nichts bei, auch wenn ihre Auffassung vom Königtum als einer fast vergötterten Verkörperung der Nation dabei eine bedeutende Rolle spielte. Anders verhielt es sich in Dingen der Religion: Die Gründung der—»Kirche von England, durch die die Umwälzungen der Reformation zusammengefaßt und auf eine feste Basis gestellt wurden, ist maßgeblich ihr Werk. Das Settlement von 1559 (Supremats- und Uniformitätsakte, —>Book of Common Prayer und die Neununddreißig Artikel) wurde vom Königsrat mit Unterstützung der Königin ausgearbeitet und ohne Veränderung 1563 in der allgemeinen Versammlung der Kirche und 1571 im Parlament durchgesetzt. (Die von J.E. Neale [EHR 1951] vertretene Meinung, eine protestantische Opposition habe Elisabeth zu Zugeständnissen in reformiertem Sinne gezwungen, ist in einer bisher unveröffentlichten Dissertation von Norman Jones [Cambridge 1977] widerlegt worden: Die offizielle Linie traf nur bei Katholiken im Oberhaus auf Widerstand.) Nach Ansicht der Königin sollte das Settlement ein für allemal gelten; von Anfang bis Ende hielt sie daran fest, daß an dem System nichts zu ändern sei — als ob sie der Zeit den Stillstand befehlen könne. Nichtsdestoweniger war von Anfang an klar, daß der in der anglikanischen Staatskirche (—»Anglikanische [Kirchen-]gemeinschaft) verkörperte Kompromiß zu große Unzufriedenheit verschiedener Herkunft hinterlassen hatte, so daß sich bald Widerstände von reaktionärer wie fortschrittlicher Seite bemerkbar machen mußten. Kirchengeschichtlich betrachtet, bietet das Leben der Königin zwei Probleme: Erstens ist nach ihrem persönlichen Glauben zu fragen, zweitens ihr Versuch zu erörtern, „ihre" Kirche unbeschädigt gegen die oft energischen Angriffe aus verschiedenen Richtungen zu erhalten. Zu dem letzteren Zweck bediente sie sich der Bischöfe, die sie zugleich merkwürdig verachtete und oft selbst gegen ihr eigenes Interesse nur mangelhaft unterstützte, sowie einer Reihe kirchlicher Kommissionen, deren gesetzliche Handlungsmöglichkeiten oft sehr gering waren. Sie selbst blieb im Hintergrund, dirigierte aber alles. Ihre wiederholten Konflikte mit dem parlamentarischen Unterhaus, wo eine manchmal organisierte Opposition sich freimütig ausdrücken konnte, entstanden hauptsächlich aus Kirchenproblemen; die wahren Auseinandersetzungen aber spielten sich im dauernden, indirekten Gegenüber zu dem in vielfältiger Hinsicht unruhigen niederen Klerus ab. Nicht nur durch ihre Geburt, sondern auch durch ihre Erziehung war Elisabeth fest mit dem reformierten Glauben verbunden. Sie hatte in dem Kreise, der sich um Heinrichs VIII. letzte Gemahlin (Katherina Parr) gesammelt hatte, eine humanistische Bildung empfangen, beherrschte die lateinische Sprache und die moderne Kursive und war zugleich in die damals noch verpönten Prinzipien des anglikanischen Protestantismus eingeführt worden. Trotzdem hat man ihre religiöse Einstellung vielfach bestritten und neigt heute überwiegend dazu, ihr jede ernsthafte Glaubensüberzeugung abzusprechen. Dieses Bild, das sie als rein weltlich, als die weibliche Inkarnation eines typischen Staatsmannes (politique) zeichnet, ist jedoch
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nicht zutreffend. Vom ersten Moment ihrer Thronbesteigung an hielt sich Elisabeth, wenn auch ohne fanarischen Eifer, zum Protestantismus. Gewiß wußte sie die politischen Möglichkeiten der Staatskirche zu schätzen und beharrte vor allem auf dem Supremat als einem Grundpfeiler der nun gefestigten Monarchie, der somit ihr persönlich zukam. Daß sie ihres Vaters Titel vom „Oberhaupt" (supreme head) durch den des „obersten Herrschers" (supreme governor) ersetzte, war kaum von Belang; die Veränderung drückte lediglich die Erkenntnis aus, daß eine Frau keine Kirchenstellung, und besonders nicht die des caput ecclesiae, innehaben konnte, und war im übrigen als geringfügige Konzession an gemäßigte Einwände von konservativer Seite her nützlich. Abgesehen von dem politischen Wert ihres Titels war aber dessen Inhalt grundsätzlich religiös bestimmt: Das Amt war ihr von Gott auferlegt worden, und sie mußte es in gottgefälliger Art ausüben. In diesem Sinne sah sie sich einerseits verpflichtet, den Frieden und die Disziplin der Kirche zu bewahren. Da sich die Kirche mit der Nation deckte, wurde Uniformität zum unabdingbaren Grundprinzip; man konnte keinerlei sichtbare Abweichung dulden. Andererseits aber war sich die Königin bewußt, daß Uniformität nur dann erreicht werden konnte, wenn die Kirche allumfassend blieb, d.h. wenn Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten des Glaubens unter dem einen, gemeinsamen Dach zugelassen wurden, so lange sie nicht zu dem Skandal einer unterschiedlichen Praxis führten. So verband Elisabeth eine absolute Forderung formellen Gehorsams mit einer recht weitgehenden —»Toleranz für Glaubensdifferenzen, was den Anschein religiöser Gleichgültigkeit erzeugt hat. Mag auch der Satz, sie wolle „keine Fenster in die Menschenseelen öffnen", nicht wirklich von ihr gesprochen worden sein, er bezeichnet doch recht genau ihre politische Position. Nur diejenigen mußten bekämpft werden, die die Einigkeit nach außen durch separate Zeremonien im Gottesdienst zu untergraben drohten, oder die noch Schlimmeren, die in der einen oder anderen Art (mit papistischen oder presbyterianischen Zielen) das hierarchische System, das von ihr abhing, zu vernichten drohten. Aus dieser Einstellung folgte, daß die an sich protestantische und tolerante Königin während der ganzen Zeit ihrer Regierung mit protestantischen und intoleranten Minderheitsparteien im Lande in Streit lag. Der sog. —»Puritanismus bildete, entgegen der Meinung vieler, nie eine eigentliche Bewegung, auch wenn hin und wieder Ansätze zu einem organisierten Widerstand hervortraten. Vielmehr handelte es sich um den Protest von kleinen Gruppen und Einzelpersonen (meistens Geistliche, gewöhnlich jüngeren Alters, und immer Mitglieder der Staatskirche), die die bisherige Reform für unvollständig hielten. Der Streit ging selten um Lehrfragen, denn bis in die 80er Jahre waren so gut wie alle Anglikaner theologisch von —»Zwingli und —»Calvin abhängig, ob sie nun die Staatskirche ohne Vorbehalt akzeptierten oder nach weiterer „Reinigung" strebten. Die kleine Zahl echter —»Presbyterianer, die eine völlige Umwälzung der Kirchenverfassung nach dem „Beispiel der am besten reformierten Kirche" (d.h. —»Genfs) verlangten, hatte nie großen Einfluß — auch nicht in der kurzen Zeit (1585-1587), in der sie unter dem Eindruck verstärkter Verfolgungen eine wirklich revolutionäre Partei zu gründen suchten. In Wahrheit war der sog. Puritanismus nichts anderes als das Bestreben der eifrigen und überzeugten Protestanten in Geistlichkeit und Laienschaft, die ihnen widerwärtigen Mißbräuche abzuschaffen, z. B. den Pluralismus, unzureichende Prediger, moralische Schwächen, aber auch „die Überbleibsel des Papsttums", also manche organisatorischen Einzelheiten und besonders die rituellen Gebräuche, die die protestantische Kirche von England aus der vorreformierten Vergangenheit übernommen hatte. Da es sich bei letzteren um Dinge wie den Wirkungskreis der Kirchengerichte, das Priestergewand, die Altarkerzen und den Ehering handelte, griffen die puritanischen Proteste zweifellos die äußere Uniformität an. Während manche Bischöfe und auch Mitglieder des königlichen Rates mit dem frommen Bemühen um Verbesserung sympathisierten, erkannte Elisabeth immer nur die Gefahr für die formelle Einheit und bestand allzu unbeugsam und unterschiedslos auf Unterdrückung. Bisweilen hat es den Anschein, als gebe es nur eine zufriedenstellende Definition der vielfältigen, unter dem Begriff des Puritanismus zusammengefaßten Strömungen: Die Puritaner waren die Mitglieder der Kirche, denen die Königin feindselig gegenüberstand. Das Ergebnis
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war ein dauernder Kampf von oben her gegen die aktivsten, aufrichtigsten (und auch selbstgefälligsten) Geistlichen im Lande — ein Kampf zwischen Anglikanern verschiedener Art, in dem der mißverständliche Verdacht der protestantischen Königin die Königstreue der gewissenhaftesten Protestanten einer schweren Belastung aussetzte. Es ist zu betonen, daß alle Beteiligten an der Idee einer einheitlichen Staatskirche festhielten. Die davon abweichenden kleinen Sekten, die sich besonders nach 1590 entwickelten, gehören nicht zur Geschichte des Puritanismus und wurden von beiden anglikanischen Richtungen, der konformistischen wie der nichtkonformistischen, verworfen. Ein besonderes Problem für die „Zeloten" bildete der Eindruck, daß die Treue der Köni gin zur Reformation bisweilen zu erlahmen schien. Nicht nur behielt sie Gebräuche alter und verdächtiger Art im eigenen Gottesdienst bei, weil sie das Rituelle liebte und andererseits die oft sehr ungeschminkte Redeweise der puritanischen Prediger verabscheute, sondern die weltliche Politik des Königreiches verwickelte sie auch häufig in Verhandlungen mit katholischen Mächten, die in der Gedankenwelt der Puritaner wie Geschäfte mit dem Teufel aussahen. Die sich jahrelang hinziehende Suche nach einem französischen Gemahl, mit der es Elisabeth nicht einmal ernst war, fielen gerade in die Zeit, in der der Protestantismus in —»Frankreich und den —>Niederlanden dem Fortschritt der Gegenreformation (—»Katholische Reform und Gegenreformation) zum Opfer zu fallen schien. Ähnlich wurde die Weigerung der Königin, sich nach dem Tode Wilhelms des Schweigers (1584) in die Angelegenheiten der aufrührerischen Niederlande verstricken zu lassen, als Zeichen einer „unprotestantischen" Politik angesehen. Zwar beruhte diese Unzufriedenheit lediglich auf einer Fehlbeurteilung ihrer Friedenspolitik — ihrer Entschlossenheit, die von Anfang ihrer Regierung an drohende Auseinandersetzung mit—»Spanien so lange wie möglich hinauszuschieben —, aber als Folge ergaben sich immer schärfere Spannungen zwischen ihr und ihren überzeugt protestantischen Untertanen. Die Furcht vor der Gegenreformation war auch der Hauptgrund für die Stärke des puritanischen Protestes, denn nur diese politischen Gefahren erwarben ihm die Unterstützung politisch einflußreicher Kreise. Andererseits war die Kritik an Elisabeths Außenpolitik nicht völlig unberechtigt: Die Königin vertrat auch in anderen Ländern stets die Partei der Monarchie und lehnte jede Revolution, selbst zugunsten der wahren Religion, unerbittlich ab. Hier liegt auch die Wurzel für ihre Behandlung des Problems Maria Stuart, die seit 1567 in englischer Gefangenschaft lebte, um der Rache ihrer schottischen Untertanen zu entgehen (—»Schottland). Die Königin war sich unschlüssig, was mit der Kusine geschehen sollte, und wurde nur durch deren eigene Umtriebe gegen die englische Krone und die reformierte Religion zu der drastischen Lösung eines Hochverratsprozesses und der Hinrichtung (1587) gezwungen. Aber solange sie den unwillkommenen Gast am Leben ließ, fand der gegen sie gerichtete Vorwurf einer katholischen Einstellung immer neue Munition. Doch tat man ihr Unrecht und deutete die Zeichen falsch. Nach der Veröffentlichung der Bannbulle —»Pius' V. (1570) war sie offiziell als Hauptvertreterin und Hauptbeschützerin des Protestantismus angeprangert und mußte neben dem Zwist mit extremeren Protestanten auch die Gefahr des im Lande wieder auflebenden Katholizismus berücksichtigen. Ab 1580 schuf die hauptsächlich von —»Jesuiten geleitete päpstliche Mission eine unversöhnliche katholische Minderheit in England und bereitete dem ursprünglichen Versuch Elisabeths, allmählich alle ihre Untertanen friedlich in die anglikanische Kirche zu ziehen, ein jähes Ende. Bei der Verteidigung dieser Kirche kämpfte sie nun an zwei Fronten, blieb aber selbst dabei protestantisch — eine Anglikanerin des Jahres 1559. Allerdings nahm sie die puritanische Gefahr immer ernster als die katholische, wohingegen die allgemeine Meinung (auch die ihrer Minister) die Dinge umgekehrt sah. Der Verlauf der Geschichte hat ihrer Bewertung weitgehend recht gegeben. Trotz all dieser Unsicherheiten steht heute fest, daß die Königin den Titel einer Beschützerin der protestantischen Reformation, den sie wegen der politischen Konsequenzen von sich wies, verdiente. In dieser Rolle trat sie 1559 auf, als der reformierte Charakter der Kirche von England entschieden wurde; dieselbe Rolle spielte sie ihr Leben lang in ihrem Bemühen, die allumfassende Kirche gegen extreme Monopolbestrebungen zu verteidigen, deren
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Sieg — von welcher Seite auch immer - die irenische englische Reformation vernichtet hätte; und am Ende wurde diese Rolle vor der ganzen Welt offenbar, als nach 1585 der zunehmende spanische Druck die Wahrscheinlichkeit eines Konfessionskrieges heraufbeschwor. Auch wenn manche wirtschaftlichen und politischen Probleme zu dieser Krise beitrugen, ist nicht zu vergessen, daß es in dem Krieg um das Schicksal des Protestantismus zu beiden Seiten des Ärmelkanals ging. Der Invasionsversuch Spaniens beseitigte alle Zweifel, und das Armadajahr (1588) vereinigte die streitsüchtigen Parteien in England. Von nun an konnte niemand mehr der Königin einen Mangel an Patriotismus vorwerfen, und die Entscheidung der einheimischen Katholiken gegen eine Revolte zugunsten Spaniens bewies die Irrealität der päpstlichen Gefahr. Obwohl der lange Krieg große wirtschaftliche, soziale und administrative Probleme nach sich zog, demonstrierte er andererseits den Erfolg der Uniformitätspolitik. In den 90er Jahren gewann die anglikanische Kirche eine neue Reife, eine deutliche Überlegenheit, die aus der Unterdrückung revolutionärer Tendenzen durch Erzbischof John Whitgift und der Formulierung einer eigenen Identität (bes. in R. —»Hookers Laws ofEcclesiastical Polity) hervorgegangen war, die aber auch viel der zielbewußten Unbeugsamkeit der Königin zu danken hatte. Die gleichzeitig auftauchenden ersten Spuren einer Entfernung vom tonangebenden Calvinismus führten zunächst nur an der Universität —»Cambridge zu einem Gelehrtenstreit; in der Nation herrschte nun fast Religionsfriede. Es läßt sich also behaupten, daß die Kirchenpolitik Elisabeths im wesentlichen erfolgreich war. 1559 unterstützte sie aus Uberzeugung die Errichtung einer protestantischen Kirche im Rahmen der traditionellen Organisation — eine eigenartige und vielumstrittene Konstruktion, an der sie 45 Jahre lang festhielt. Ihre starre Haltung, die zur Katastrophe hätte führen können, erfuhr schließlich ihre Rechtfertigung, als sich herausstellte, daß die scheinbar rein politische Lösung von 1559 doch eine religiöse Anziehungskraft gewinnen und sich in den Herzen und Seelen des Volkes einbürgern konnte. Die Religionskämpfe des nächsten Jahrhunderts hängen nur sehr indirekt mit denen der Tudorzeit zusammen und waren keineswegs zwangsläufig. Als die alte Königin, todmüde und von ungeduldig ihr Ende erwartenden Politikern umgeben, am 24. März 1603 starb, stand die Kirche ihrer Gründung auf festen Füßen. Insbesondere war es noch immer eine Kirche, die, wie Elisabeth es gewollt hatte, verschiedene Strömungen protestantischen Denkens in sich zu vereinigen vermochte, die alle als anglikanisch zu bezeichnen sind. Quellen The Zürich Letters, hg. v. H. Robinson, 2 Bde., Parker Socicty 1842/45. - M. Parker, Correspondence, Parker Society 1853. - Documents Illustrative of English Church History, hg. v. H. Gee/W. J. Hardy, London 1896. - Elizabethan Episcopal Administration, hg. v. W.P. M. Kennedy, 3 Bde., London 1925. - The Tudor Constitution. Documents and Commentary, hg. v. G. R. Elton, Cambridge 1960.
Literatur Patrick Collinson, The Elizabethan Puritan Movement, London 1967. - William P. Haugaard, Elizabeth and the English Reformation, Cambridge 1968. - Joel Hurstfield, Queen Elizabeth and the Unity of England, London 1960. - Arnold Oskar Meyer, England u. die kath. Kirche unter Elisabeth u. den Stuarts, Rom 1911. - John Ernest Neale, Queen Elizabeth I, London 1934; dt.: Königin Elisabeth I, München 1967. - Harry C. Porter, Reformation and Reaction in Tudor Cambridge, Cambridge 1958.
Geoffrey Rudolph Elton Elisabeth von Thüringen
(1207-1231)
1. Leben Elisabeth wurde im Jahre 1207 als Tochter des Königs Andreas von Ungarn (gest. 1235) und seiner Gemahlin Gertrud geboren (Theodoricus 1,1; Caesarius 346). Über den Geburtsort schweigen die ältesten Quellen; Cron. Reinh. 572,33 nennt Etzeburg-Altofen. Elisabeths mütterliche Familie ist mit bekannten Persönlichkeiten am kirchlichen und politischen Leben der Zeit beteiligt: 1 Den Großvater, Graf Berthold IV. von Andechs, Herzog von Dalmatien,
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Kroatien, Meranien ehrt die höfische Dichtung als ruhmreichen Kreuzfahrer. Unter den Brüdern der Mutter sind einflußreich als Kirchenfürsten: Ekbert, Bischof von Bamberg (gest. 1237) und Berthold, Patriarch von Aquileia (gest. 1251); von den Schwestern der Mutter Mechthild, Äbtissin zu Kitzingen (gest. 1254), und, auch im Typus der Frömmigkeit Elisabeth am nächsten, Hedwig, Herzogin von Schlesien (gest. 1243). Diplomatische Beziehungen zwischen Ekbert von Andechs und dem thüringer Landgrafen Hermann I. sind offenbar wirksam bei der Verlobung des Kindes Elisabeth (Dobenecker II, 1464a.l487), zunächst wohl mit Hermanns Erstgeborenem, nach dessen frühem Tod mit dem zweiten Sohn Ludwig (geb. 1200; Dobenecker II zu 1585). „Im vierten Lebensjahr" (1211; Dobenecker II zu 1464a: 1210?), ausgestattet mit reicher Mitgift, wird Elisabeth nach Thüringen abgeholt (Libellus 1202f; Theodoricus I, 1; Cron. Reinh. 577, 34 ff: aus Preßburg).
Auf der Wartburg, wo Elisabeth zusammen mit der coetáneo Guda aufwächst, bestimmen widersprüchliche Eindrücke die Erlebniswelt des Kindes: das lärmende Gedränge „naht unde tac" am „glänzenden Musenhof" Hermanns I. (Walther v. d. Vogelweide, Sprüche 99), des Landgrafen ruhmloses Ende (gest. 1217; zuletzt regierungsunfähig? exkommuniziert?, Cron. Reinh. 587,11; Dobenecker II zu 1672); daneben Hermanns fromme Gemahlin Sophie, die sich später als Witwe zu den Zisterzienserinnen in das Katharinenkloster zu Eisenach zurückzieht. Frühe Berichte über Elisabeths Kinderzeit sind beschränkt auf die Aussagen Gudas beim Zeugenverhör des Jahres 1235. Unerwähnt bleibt darin der in Ungarn geschehene Mord an Elisabeths Mutter 1213 (Theodoricus 1,2; Caesarius 346), obgleich er noch in späteren Jahren Elisabeth bewegt (Theodoricus VI,8). Guda bezeugt dem Kind innige, auch ins Spiel einbezogene Frömmigkeitsübung, deren besinnliche, aber auch heiter natürliche Züge das übliche Schema einer Legenda aurea durchbrechen. So, wenn Elisabeth angeblich mit den Gespielinnen die Größe messend sich niederwirft, in Wirklichkeit „propter plures genuflexiones faciendas". Oder wenn die Fünfjährige, des Lesens unkundig, das Psalterbuch vor dem Altar aufblättert (Libellus 285 ff. 260 ff), wobei sie in den beiden, für Landgraf Hermann angefertigten, prächtig illustrierten Psalterien nicht nur in dem später mit ihrem Namen verknüpften Elisabethpsalter das Bild der vita activa et contemplativa finden konnte (Abb. 2), sondern, im sog. Landgrafenpsalter, auch das ungarische Ehepaar, seine Eltern (K. Löffler, Der Landgrafenpsalter, Stuttgart 1925, Taf. XXII).
Erst die erweiterte Form des Dienerinnenverhörs (vor 1244) nennt schon für die Kindheit Anfeindungen des Hofes (Libellus 3 6 4 - 3 8 5 . 1 3 4 4 - 1 3 4 9 ; schärfer Theodoricus 1,6; Cron. Reinh. 596), die jedoch einen Einschub bilden, wohl um die Verdienstlichkeit durch Leiden schon des Kindes zu erhöhen (,graves persecutiones passa est", Libellus 372). Seit Januar 1217 urkundet Ludwig IV. als regierender Landgraf von Thüringen und Pfalzgraf von Sachsen (Dobenecker II, 1731), seit 1221 erscheint dabei auch die 14jährige Elisabeth als Gemahlin (ebd. 1976). Durch die Ehe mit dem Großneffen —»Friedrichs I. und Vetter —»Friedrichs II. tritt Elisabeth in verwandtschaftliche Nähe zum staufischen Kaiserhaus. Ihm ist Ludwig, einer der mächtigsten Fürsten des Reiches, eng verbunden, vom Kaiser mit Privilegien bedacht und diesem wiederholt, auch in Italien, zur Seite (Dobenecker II, 2059.1954.2330). Die Zeitgenossen rühmen ihn als ,Jjabitudine simplex, morutn bonestate ... perspieuus" (Theodoricus 111,1-5; Cron. Reinh. 589; Walther v.d. Vogelweide, Sprüche 166), Elisabeths Askese und Liebestätigkeit bejahend.
Auf diese merita Elisabeths sind die Heiligsprechungsakten ausgerichtet; sie sind auf historische Fakten hin durch die thüringer Quellen zu ergänzen: So die gemeinsame Reise des Paares nach Ungarn zu Beginn der Ehe (nach Cron. Reinh. 597; Ködiz III, 4: im Jahre 1222, jedoch wohl eher 1221: Dobenecker II, zu 1981.2001.2020). Für 1222 (28.3.) verzeichnet Cron. Reinh. 597,38 die Geburt des Sohnes Hermann II. (gest. 1241), für 1223 (20.3) die der Tochter Sophie, später Herzogin von Brabant und Stammuter des Hauses Hessen (ebd. 600,22f); die jüngste Tochter Gertrud dagegen ist erst am 29.9.1227, kurz nach Ludwigs Tod geboren.2 Erstmals bei einer Spitalgründung - neben Ludwig beteiligt - erscheint Elisabeths Name ca. 1223. Es handelt sich hier um ein Hospital in Gotha, dem Elisabeth noch als Witwe (ca. 1228) päpstliche Privilegien erwirkt (Dobenecker II, 2118; 111,44.50). Sie selbst gründet 1226 ein Spital in Eisenach, als Hunger und Teuerung ,jtniversam Alemanniam"
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heimsuchen (Summa Vitae 157 [s. Anm. 12,1]; Theodoricus 111,6; Cron. Reinh. 605 f) und Ludwig monatelang in Italien beim Kaiser weilt (Dobenecker II, 2299 a; zu 2355). Elisabeth, später von Ludwig voll bestätigt, entfaltet eine Hilfsaktion über das ganze Land und wirkt unter den Kranken ,j:uram personaliter gerens" (Summa Vitae a.a.O.; Libellus 758 ff), Zeitlich voraus geht das Auftreten der—»Franziskaner, seit 1223 in Thüringen, seit 1225 in Eisenach (Hauck IV, 937), wo sie Elisabeth eine ,^capella" verdanken (Summa Vitae a.a.O.). Ein Minorit Rüdiger wird zwar nicht in den Heiligsprechungsakten, aber in franziskanischen Quellen genannt, als Elisabeths ,/Magister disciplinae spiritualis" — nicht „Beichtvater", da noch Laienbruder — ,4ocetts eam servare castitatem, humilitatem et patientiam, et orationibus invigilare et operibus misericordiae insudare" (Jordan v. Giano, Chronica, ed. H. Böhmer, 1908,29). Der Gesichtspunkt der Doppelverdienstlichkeit durch ,/ides et opera", der hier anklingt und in der mittelalterlichen Gnaden- und Werklehre als Erfordernis zur sanctitas konstitutiv ist, ist auch in den Elisabethakten formend. Mit dem Begriffspaar vita activa et contemplativa beschreiben Magister Konrad (Summa Vitae 159) und —»Caesarius von Heisterbach (349,27ff; 350,38; 381,25f) Elisabeths Frömmigkeit; auch personifiziert in Maria und Martha (Caesarius 365, 20f; 367,2f; 376,21 ff). In der Kunst in Elisabeths Umkreis ist das Thema exemplarisch formuliert im Elisabethpsalter (Abb. 2), individuell gewendet an ihrem Schrein, auf zwei Dachseiten verteilt (Relief IV u. V; Abb.4 u. 5), indem ,Bettlerbekleidung' und ,Gewandnahme* Bildtypen der ,vita activa et contemplativa* übernehmen. Um 1225, zeitlich überschneidend mit der Ankunft der Minoriten in Eisenach, wird Magister Konrad Elisabeths confessor (Summa Vitae 156). In seine Hand verspricht sie — wohl Anfang 1226 (Dobenecker II zu 2377) - Gehorsam und Eheverzicht im Falle von Ludwigs Tod; es geschieht in jenem Katharinenkloster, wo Landgräfinwitwe Sophie lebt (Libellus 445 ff).
M i t Konrad von M a r b u r g übernimmt eine im kirchlichen Leben der Zeit markante Persönlichkeit Elisabeths geistliche Führung. Aus hessischem Ministerialadel stammend, dem Prämonstratenserorden nahestehend, theologisch gebildeter ,/nagister" und ,predicator vcrbi dci", päpstlich bevollmächtigter Kreuzprediger, Inquisitor und Visitator ,jnonasteriorum in Alemannia" (Dobenecker 1 1 , 2 3 7 2 . 2 4 1 2 ; 30 Wyss 3 3 ) genießt er hohes Ansehen bei derlandgräflichcn Familie, die zu seinen Gunsten auf alle geistlichen Rechte in Thüringen verzichtet (Dobenecker II, 2 4 0 9 ) .
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Einen tiefen Einschnitt in Elisabeths Leben bringt das Jahr 1227 mit Ludwigs Kreuzfahrt, am Schrein eingeleitet durch Kreuznahme und Abschied (Relief I u. II; Abb. 3). Das Thema, das die Heiligsprechungsakten nur streifen, ist am Schrein als Auftakt der Vita gegeben, der hier offensichtlich eng an thüringer Quellen anschließt (Theodoricus IV, 1 —3; Cron. Reinh. 609-613). Er tritt damit - ebenso wie die Glasfenster der Elisabethkirche—als frühes monumentales Zeugnis gleichwertig neben die schriftlichen Quellen. Die separatio flebilis" des Landgrafenpaares hat nicht nur hier zeitgenössischen Niederschlag gefunden, sondern auch in einem deutschsprachigen Volkslied, das im 84. Wunderprotokoll bezeugt ist (Wolff; Lomnitzer). Die Aufnahme und Anordnung der Kreuzzugsthematik am Schrein ist als ein Zeugnis der Kreuzzugsfrömmigkeit zu werten, wie sie auch in den schriftlichen Quellen greifbar ist. So in dem Passionsspiel, das das Landgrafenpaar auf der Wartburg ,Jn Signum sue magne devotionis" aufführen läßt und von dem Caesarius durch Augenzeugen weiß (354,24f); oder wenn Elisabeth den auf der Kreuzfahrt verstorbenen Gatten als ,-fibi (Christo) a se ipso et a me in subsidium terrae sanetae oblatum" bezeichnet (Libellus 1150ff). Die Nachricht, daß Ludwig noch bei der Einschiffung in Otranto am 11.9.1227 an der Seuche verstarb (Dobenecker II, 2443.2458), erreicht Elisabeth bald nach der Geburt des jüngsten Kindes. Noch im Winter, bei ,/rigore et pluvia" (Libellus 985) verläßt sie mit den drei Kindern die Wartburg. ,JEiecta", wie die Hofdamen sagen (Libellus 940 f), ist sie insofern, als ihr die Schwäger, ihre schrankenlose Freigebigkeit fürchtend, das Wittum entzogen und sie—dem von Konrad auferlegten Speisegebot, sich „ob illicite acquisitis" zu enthalten, gehorsam - nicht an der landgräflichen Tafel teilhaben kann (Libellus 499 f. 1772 f). Das Te Deum, mit dem Elisabeth die nun folgende Notzeit in Eisenach einleitet, läßt sie bei den
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Minoriten in Eisenach halten. N a c h einem schweren Winter, der sie zwingt, die zwei größeren Kinder fortzugeben (Libellus 9 9 6 ) , angefeindet von der landgräflichen Familie ,jtultam eam reputantes et insanam" (Libellus 1 2 2 1 ) ' , trifft sie im F r ü h j a h r dort Magister K o n r a d , Elisabeths päpstlich eingesetzten defetisor, wie auch sonst G r e g o r I X . ihr seinen Schutz anj gedeihen läßt (Libellus 1 2 4 0 f ; D o b e n e c k e r II, zu 2 4 5 4 , Urkunde fehlt) 4 . Als K o n r a d ihren W u n s c h , als Rekluse oder N o n n e zu leben, ablehnt, entschließt sie sich zu einem selbständigen Schritt: „ H o c faciam quod non potestis prohibere" ( S u m m a Vitae 1 5 7 ) . In der Eisenacher Minoritenkapelle legt sie an Karfreitag ( 2 4 . 3 . ) 1 2 2 8 „ a u f den A l t a r " - nicht in K o n rads H a n d — ein Entsagungsgelübde a b und wird nur durch K o n r a d a m Besitzverzicht ge10 hindert. In der folgenden Z e i t n i m m t sich die mütterliche Familie ihrer an; Äbtissin M e c h t hild von Kitzingen bringt sie zum O h e i m E k b e r t von B a m b e r g , der ihr Burg Pottenstein zum Wohnsitz gibt und vergebens auf neue Heirat drängt (Libellus 1 0 8 6 f f ; Caesarius § 1 7 ; C r o n . Reinh. 6 1 2 ) . In B a m b e r g empfängt Elisabeth die Vasallen mit Ludwigs Gebeinen (am Schrein Relief III; A b b . 4 ) , wobei das Ringmotiv einzig in thüringer Quellen belegt ist (Cron. 15 R e i n h . 6 1 0 , 5 5 [ R i n g ] ; 6 1 3 ; Köditz I V , 9 ) . Ihr Ausruf beim Empfang (Libellus 1153 ff), „s/ possem cum (sc. maritum) habere, pro toto mundo eum aeeiperem, Semper secum mendicatura" [„könnte ich ihn wiederhaben, die ganze Welt würde ich für ihn hingeben und immer mit ihm betteln gehen"], ist dem Sinne nach umstritten, ob franziskanisch (Wenck, 1892, 226) oder Ausdruck des auch außerhalb der Bettelorden gültigen Armutsideals (Huys20 kens, 1911, 40*). Eindeutiger in letzterem Sinne formulieren Theodoricus V,4 und Cron. Reinh. 613. Im Z u s a m m e n h a n g mit Ludwigs Beisetzung in Reinhardsbrunn, M a i 1 2 2 8 , dürfte auch, betrieben von Magister K o n r a d und auch von Ekbert gefordert, Elisabeths Abfindung geregelt worden sein (Libellus 1 2 4 0 f f . l 1 6 7 f ) . Sie erhält die S u m m e von ,/ere dito milia marcarum" (Libellus 1 1 9 6 . 1 4 8 2 ) und ein Gelände in M a r b u r g , dies aber nur zum N i e ß b r a u c h . 25 M a r b u r g ist also nicht Elisabeths „ W i t t u m " , wie auch aus landgräflichen Urkunden mehrfach ersichtlich wird ( D o b e n e c k e r 111,190.274; Wyss 2 5 u . ö . ) . Die Übersiedlung nach M a r burg markiert den letzten und geschichtlich wichtigsten Abschnitt in Elisabeths Leben. Er wird eingeleitet (wohl Frühwinter 1 2 2 8 / 2 9 , Libellus 4 1 3 ) durch Erneuerung des Eisenachcr Gehorsamversprechens des J a h r e s 1 2 2 6 und Einkleidung — zusammen mit Guda — in die 30 „tunica grisea" (Libellus 3 9 5 f f ; a m Schrein Relief V ; A b b . 5 ) . Die häufig vertretene These, Elisabeth sei damit „förmlich in den dritten Orden des hl. Franz eingetreten" und Tertiarin geworden 5 , ist nicht haltbar. Das „graue Gewand" ist nicht spezifisch franziskanisch—auch Kaiser Friedrich II. ist bei der Translation Elisabeths im Jahre 1236 ,jtunica grisea indutus" (Caesarius 387,8). Selbst franziskanische Quellen bezeugen klar, daß Elisabeth „rechtlich nicht dem 35 Dritten Orden angehört hat", daß sie „mit den graugefärbten Bußkleidern angetan und aus Verehrung des sei. Franziskus mit einem Strick umgürtet war, wenngleich sie die Regel der Continentes (d. h. Angehörigen des dritten Ordens) nicht hatte" („licet continentium regulam non habuit") (Chronik des Minderbruders Elemosina, frühes 14. Jh., aufgrund älterer Quellen; nach Servus v. St. Anthonis 170.175). Elisabeths Gewandnahme bezeichnet ähnlich wie bei der Landgräfinwitwe Sophie, die ,/nutato babi40 tu", aber ohne Profeß und Besitzverzicht bei den Zisterzienserinnen lebt (Dobenecker II, 1940.1951), den Beginn eines neuen, gottgeweihten Lebens, hier im Spitaldienst, der den ,J>abitus religionis" erfordert (Libellus 1543). Elisabeths Gründung ist kein Franziskanerspital, denen ein Pflegedienst nicht oblag, w o h l a b e r zu Ehren des —»Franciscus von Assisi errichtet, sein erstes Patrozinium in 45 Deutschland, ausgestattet schon a m 1 9 . 4 . 1 2 2 9 mit päpstlichem —»Ablaß für die Besucher a m Fest des gerade erst, a m 1 6 . 7 . 1 2 2 8 , kanonisierten Franciscus (Dobenecker 111,55; Wyss 1 8 ) . G r e g o r I X . erteilt ihm a m 1 1 . 3 . , dem T o d e s t a g des Hl. Franz, bedeutende Vollmachten (Wyss 2 2 ) . Elisabeths starke Hinneigung zum Franziskanismus spricht sich hier besonders k l a r aus. 6 Sie ist verflochten mit Einflüssen norbertinischer Frömmigkeit, vertreten in M a g i 50 ster K o n r a d , greifbar auch in Elisabeths enger Beziehung zum Prämonstratenserinnenkloster Altenberg. 7 D o c h ist darüber hinaus Elisabeths F r ö m m i g k e i t in einem größeren R a h m e n zu sehen, bestimmt durch Kreuzzugsideologie und v o r allem das zeitgenössische Ideal weiblicher Laienfrömmigkeit ( G r u n d m a n n ) , wie es in Elisabeths Familie Hedwig von Schlesien
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Abb. 1: Marburg, Eüsabethkirche. Mausoleum, Relief an der Tumba, um 1350.
Abb. 2: Cividale, Museo Archeologico Nazionale, Elisabethpsalter, fol. 173', vor 1217: vita contemplativa et adiva.
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Abb. 3 : Abschicd, Kreuznahme (links: Relief II; rechts: Relief I)
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Abb. 4 : Bettlerbekleidung, Empfang der Gebeine (links: Relief IV; rechts: Relief III) Marburg, Elisabethschrein, Dachreliefs der Kreuzseite
TAFEL 3
A b b . 5: A l m o s e n s p e n d e , G e w a n d n a h m e (links: Relief V I ; rechts: Relief V)
A b b . 6 : T r ä n k u n g und F u ß w a s c h u n g , S p e i s u n g (links: Relief VIII; rechts: Relief VII) M a r b u r g , Elisabethschrein, Dachreliefs der M a j e s t a s s e i t e
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(heiliggesprochen 1267) vertritt.8 Liebes- und Leidensnachfolge Jesu in der Welt, ein Leben als „soror in seculo" (Libellus 1875), ist der Leitgedanke dieser Marburger Zeit (am Schrein Relief VI—VIII; Abb. 5 u. 6). Die Textbeschreibung der großen Almosenspende aus Elisabeths Witwengeld (Libellus 1480ff, Relief VI; Abb. 5) verweist im engen Anschluß an Lk 12,37 auf die Elisabeth leitende conformitas-lmenäon, ebenso wie sie in der —»Nachfolge Jesu an Gründonnerstag die liturgische Handlung des ,/nandatum" vollzieht, die Fußwaschung, Speisung und Tränkung der Armen (,jn cena domini Semper sollempne mandatum fecit pauperibus", Libellus 888 ff, Relief VII u. VIII; Abb. 6). In vielen derartigen Einzelzügen berichten die Quellen, wie Elisabeth die Privilegien ihres ehemaligen Lebens als Fürstin ins Gegenteil wendet, da es ,¿ibi necesse esse taliter contraria contrariis curare", Worte, die ihr Magister Konrad (Summa Vitae 158) in Verwendung eines Topos der antiken Medizin in den Mund legt. 9 Sie dient ihren Dienerinnen, die sie mit „Tu Elyzabeth" anreden müssen (Libellus 1963 ff), tröstet, pflegt und wäscht die abstoßendsten Kranken (ebd. 1 3 8 0 f f . l 7 5 1 f f u.ö.), verdient Unterhalt durch Spinnen für das Altenberger Kloster (ebd. 1865) zum Befremden eines ungarischen Magnaten, der sie heimholen soll (ebd. 1813f)'°, erträgt willig durch Konrad auferlegte Geißelung (ebd. 1920ff; Summa Vitae 159). Neben solchen opera activae vitae rühmt dieser ihremerita im kontemplativen Leben: Gebetskraft und visionäre Schau. Durch diese in besonderer Weise ausgezeichnet ist Elisabeths Todesstunde, die Nacht vom 16./17. November 1231. Unmittelbar danach beginnen die Wunderheilungen, schon ehe sie am 19. November in der Spitalkapelle beigesetzt wird." 2.
Nachwirkung
Bemühungen bei der Kurie um Elisabeths Kanonisation werden zunächst durch Magister Konrad betrieben 12 ; nach seinem Tode am 30.7.1233 ersetzt ihn in der Heiligsprechungskommission und auch als Spital-Protector (Wyss 36) Bischof Konrad von Hildesheim, eine einflußreiche, dem Landgrafenhaus nahestehende Persönlichkeit, dem auch der Schrein als Offiziator bei Ludwigs Kreuznahme eine Schlüsselstellung gibt (Dinkler- v. Schubert 161 — 166). Treibende Kraft wird jetzt Elisabeths jüngerer Schwager, Landgraf Konrad, seit 1234 Mitglied und 1239 Hochmeister des Deutschen Ordens, der damit als führender Faktor in die Geschichte des Elisabethkultes eintritt (gest. 1240). Am 27.5.1235 findet im Dominikanerkonvent zu Perugia die Heiligsprechung durch Gregor IX. statt, der auch das Meßoffizium verfaßte (Dobenccker III, 5 2 4 . 5 3 2 f ; Wyss54), die fünfte geschichtlich beglaubigte Heiligsprechung einer Frau. 13 Gleichzeitig wird der Bau der Elisabethkirche geplant und noch 1235 (am 14.8.) der Grundstein gelegt (Dobenecker 111,526; Wyss 53.649); die Wahl des Tages, Vigil von Assumptio Mariae, gesellt Elisabeth unmittelbar der ersten Patronin des Deutschen Hauses, Maria, zu. Am 1. Mai 1236 folgt in Marburg die Erhebung der Gebeine Elisabeths im Beisein Kaiser Friedrichs II., der die Feier zum Anlaß nimmt, seine kirchliche Devotion zu manifestieren (Chron. Regia Colon., ed. G. Waitz, 1880 [Script, res. Ger.] 268; Caesarius 381—390) und über die er selbst an Elias von Cortona berichtet (Dobenecker 111,615). Seine Stiftung von Kelch und Krone für Elisabeths (abgetrenntes) Haupt schafft das erste kostbare Reliquiar. Für den ihre Reste bergenden Schrein darf mit der Fertigstellung um die Jahrhundertmitte gerechnet werden; die Weihe der Kirche ist auf den 1. Mai 1283 verzeichnet (Wyss 649), ein Datum, das wieder den Tag des Translationsfestes aufnimmt. Mit diesen nach großangelegtem Plan sich vollziehenden Schritten, die zu Pflege von Grab und Kult durch den Deutschen Orden führen, wie er sich auch am Relief des Mausoleums präsentiert (Abb. 1), rückt Elisabeths Name in einen größeren historischen Rahmen ein. Auch nach der Verlegung des Schwerpunktes des Ordens in den Osten bleibt Marburg eines der besuchtesten Pilgerziele des Mittelalters, i. J . 1357 geehrt durch einen zweiten kaiserlichen Besuch, den Karls IV. Nur der Fortbestand der Wallfahrt bis zur Reformation erklärt die gewaltsame Reliquienentfernung durch Landgraf —»Philipp im Jahre 1539. Der Protestantismus greift auf Elisabeths karitative Leistung zurück. Das Einladungsprogramm des Rektors der Wittenberger Akademie [vom 19.Nov.] 1545 (verfaßtvon Ph. Melanchthon?) nennt Elisabeth als Wohltäterin der Armen in Gotha (Dobenecker III, zu
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5 0 ) . In der Folgezeit bleibt sie in Hessen Schutzherrin der Spitäler und ist volkstümlich auch im protestantischen Bereich. Noch heute läutet am 3 0 . April, dem Vorabend des Translationsfestes die größte Glocke der Elisabethkirche zu Marburg. Anmerkungen E. Oefele, Gesch. der Grafen v. Andechs, 1877. - Ders.: NDB 2 (1956) 151 f. - H. Wagner: NDB 6 (1964) 333 f. - Weitere Geschwister der Mutter: Otto von Meran und Pfalzgraf von Burgund, Schwiegersohn Philipps von Schwaben (gest. 1234); Heinrich von Andechs, Markgraf von Istrien (gest. 1228), wegen angeblicher Mitschuld an Philipps Ermordung langjährig geächtet; Agnes (gest. 1201), nach kurzer Ehe mit König Philipp II. August von Frankreich verstoßen. 2 Die Angabe von drei Töchtern bei Deutsch (311) geht auf einen Irrtum in Cron. Reinh. 602,30 f zurück (s. auch Anm. 7). 1 Vgl. damit das an Gregor 1232 gerichtete Schreiben der landgräflichen Schwäger Elisabeths, das ihr Handeln als „ex sua simplicitate" und „ex quodam stulto consilio" bezeichnet (Dobenecker 111,274; Wyss 25). 4 Erhalten ist die Abschrift eines Briefes von Gregor IX. an Elisabeth. Sie ist auf der Rückseite eines illustrierten Einzelblattes aus der thüringisch-sächsischen Malerschule eingetragen, der auch die oben genannten Hermann-Psalterien angehören. Der im folgenden zitierte Satz ist charakteristisch für die Conformitas-ldee, die Gregor Elisabeth zuschreibt: ,Janto ardore desideras portare Stigmata dominicaepassionis" (nach K. Wenck, Die hl. Elisabeth u. P. Gregor IX: Hochl. 5 [ 1907] nach S. 132; vgl. auch Huyskens, 1911, 45*). 5 Für Elisabeths Zugehörigkeit zum dritten Orden des Hl. Franz z.B. K. Wenck: HZ 69 (1892) 238; Deutsch 312; H. Heiler: RGG 1 2,434; neuerdings Meschede, Franziskus-Hospital 91; Hahn/Werner 133. - Uberzeugend dagegen sind u.a. bes. Maurer, Beitr. 271 f.295ff.301 ff.320ff; ebenso Werner 131 ff. 6 Daß der im Libellus (z.B. 879.885.1156 u.ö.) gebrauchte mendicitas-begriif nicht spezifisch franziskanisch gemeint sein kann, zeigt seine Anwendung auch auf Konrad von Marburg (1884), der mit Sicherheit nicht dem Orden angehörte. 7 In Altenberg wurde nach einem Gelübde der Eltern beim Kreuzzugsaufbruch für das noch ungeborene Kind (Cron. Reinh. 609,35 ff) die Tochter Gertrud seit 1229 aufgezogen; sie war später dort Äbtissin (gest. 1297). 8 Zu nennen wäre auch die dem Kind Elisabeth 1211 (1210?) aus Ungarn mitgegebene Harfnerin Alheit, später in Nürnberg Mittelpunkt eines Frauenkreises, der Keimzelle des späteren Klosters Engelthal wurde; s. G. E. Waldau, Vermischte Beyträge zur Gesch. der Stadt Nürnberg, II 1 7 8 7 , 1 2 1 - 1 2 8 . '' Die hippokratischer Medizin entstammende Maxime begegnet im 13. Jh. auch in einem Schreiben Friedrichs II. an Gregor IX. vom 3.12.1232; Dinkler-v. Schubert 86 (491). 10 Urkundliche Belege über längere Aufenthalte ungarischer Landsleute bei Elisabeth vor Ludwigs Tod bei Dobenecker 111,20.152.1201. 1 ' Zur Todesstunde: Summa Vitae 159f; Libellus 2108—2168; Augenzeugenbericht der Äbtissin von Wetter (Huyskens, 1908, 148 f; zu den ersten Heilungswundern ebd. 150). ' - Die Bemühungen zu Elisabeths Heiligsprechung, denen wir die zeitnächsten Quellen verdanken, verlaufen in drei Etappen: 1.)Bericht,nachdem 11.8.1232,über60 Wunder,dazuKonradsS«mma Vitae (Dobenecker 111,280; Wyss 34; Huyskens, 1908, 155-160). 2.) Erweiterte Wunderprotokolle, Jan./Feb. 1233, nach päpstlichem Formular, dazu nochmals die Summa Vitae (Dobenecker 111,300; Wyss 35; Huyskens, ebd. 161-239.3.) Wunderprotokolle in vier ordines gegliedert, 1. Jan 1235, teils neu, teils neugeprüft, dazu jetzt Dicta quatuor ancillarum anstelle der Summa Vitae (Dobenekker III, Anh. 26; Huyskens 2 4 2 - 2 6 6 . 112—140). Eine erweiterte Fassung der Dicta entstand vor 1244, die kritisch zu benützen ist, bei uns aber wegen der übersichtlichen Zeilenangabe zitiert wird (Libellus, hg. Huyskens, 1911). Die Wunderprotokolle bieten außer ortsgeschichtlichen Angaben auch interessante Details zur Medizingeschichte. 11 Die päpstliche Bulle (Wyss 54) hat mit falscher Angabe des 19.11. als Todestag Anlaß zur Datenverwirrung gegeben (Dobenecker III, zu 222 a). Den Vorgang der Kanonisation schildert der wohl von Raymund von Penaforte entworfene Processus et ordo canonizationis beate Elyzabet aus dem Jahr 1235(Huyskens, 1908, 75—78.140—146), der mit Petitio instrumentorum und Lichterprozession neue Elemente des Ritus aufweist (ergänzend zu Th. Klauser, Die Liturgie der Heiligsprechung [1938]: ders., Ges. Arbeiten, 1974, 168). 1
Quellen Albert Huyskens, Quellenstudien zur Gesch. der hl. Elisabeth, Landgräfin v. Thüringen, Marburg 1908 (älteste Texte der Jahre 1232/1235; s. Anm. 12 f ) - - Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus, hg. v. Albert Huyskens, Kempten/München 1911 (erweiterte Fassung der Dicta; vor
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1244). — Die Sehr, des Caesarius v. Heisterbach über die hl. Elisabeth v. Thüringen, bearb. v. Albert Huyskens: Die Wundergeschichten des Caesarius v. Heisterbach, hg. v. Alfons Hilka, Bonn, III 1937, 331—390 (verf. 1236/1237, unter Benutzung der kürzeren Fassung der Dicta von 1 2 3 5 ) . - T h e o d o r i c i Thuringi Libri Octo de S. Elizabeth, ed. J. Basnage: Thesaurus Mon. Eccl. et Hist., Amsteldami, IV 1725, 1 1 5 - 1 5 2 (verf. 1 2 8 9 - 1 2 9 7 , benutzt erweiterte Fassung der Dicta). - Cronica Reinhardsbrunnensis, ed. O. Holder-Egger: MGH.SS X X X / 1 , 4 9 0 - 6 8 5 (verf. zw. 1340 u. 1349). - Friedrich Ködiz v. Salfeld, Das Leben des hl. Ludwig, Landgrafen v. Thüringen, Gemahls der hl. Elisabeth, hg. v. Heinrich Rückert, Leipzig 1851 (verf. nach 1331; zur Quellenscheidung u. Datierung s.o. Cronica 4 9 0 - 5 0 2 ) . Arthur Wyss, Hessisches Urkundenbuch. 1/1. Urkundenbuch der Deutschordensballei Hessen. 1 2 0 7 - 1 2 9 9 , Leipzig 1879 = 1965. - Otto Dobenecker, Regesta diplomatica neenon epistolaria historiaeThuringiae. II. 1 1 5 2 - 1 2 2 7 , Jena 1800; III. 1 2 2 8 - 1 2 6 6 , 1 9 2 5 . - A l b i n u s F r a n c i s c u s Gombos, Catalogus Fontium Historiae Hungaricae, Budapest, III 1938, 2 3 4 1 - 2 4 0 1 . Literatur Bibliographien: Karl E. Demandt: Schrifttum zur Gesch. u. gesch. Landeskunde v. Hessen 2 (1965) 107ff. - Heinrich Hermelinck, Ein Jahrhundert Elisabethforschung: T h R NF 4 (1932) 2 1 - 3 8 . Hermann Bauer, St. Elisabeth u. die Elisabethkirche zu Marburg, Marburg 1964. - Gustav Boerner, Z u r Kritik der Quellen für die Gesch. der hl. Elisabeth, Landgräfin v. Thüringen: N A 13 (1888) 4 3 1 - 5 1 5 . - A. Borst, Art. Elisabeth v. Thüringen: NDB 4 (1959) 452. - Paul Braun, Der Beichtvater der hl. Elisabeth u. dt. Inquisitor Konrad v. 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Thüringen: ZDP 86 (1967) Sonderh. 2 0 - 4 5 . - Willi Görich/Karl A. Müller, Der hl. Elisabeth v. Marburg Pilgerzcichen: Z V H G 85 (1976) 8 9 - 9 2 . - Herbert Grundmann, Rel. Bewegungen im MA, Hildesheim 2 1961. - Karin Hahn/F. Werner, Art. Elisabeth v. Thüringen: LCI 6 (1974) 1 3 3 - 1 4 0 . - Arthur Haseloff, Die Glasgemälde der Elisabethkirche in Marburg, Leipzig 1906. - E. Heymann, Z u m Ehegüterrecht der hl. Elisabeth: ZVThG 27 (1909) 1 - 2 7 . Alfred Höck, Frühe Wachsvotive am Elisabethengrab in Marburg/Lahn. Ein Beitr. zum Alter des geformten Wachses nach Mirakelprotokollen: ZVK 59 (1963) 5 9 - 7 2 . - Günther Hoppe, Elisabeth Landgräfin von Thüringen, 1981 (Sehr, der Wartburg Stiftung Eisenach 2) (Lit.).- K . W . Justi, Elisabeth, die Hl., Zürich 1797, Marburg 1835. - Hans Knies, Miracula sanetae Elisabeth: FS Bischof Dr. A. Stohr, Mainz, II 1960, 7 8 - 8 8 . - F. Küch, Zur Gesch. der Reliquien der Hl. Elisabeth: ZKG 45 (1927) 1 9 8 - 2 1 5 . - H e l m u t Lomnitzer, Art. .Elisabeth v. Thüringen' (Ballade): VerLex 2 2 (1980) 4 9 4 f . - Wilhem Maurer, Zum Verständnis der hl. Elisabeth v. Thüringen: ZKG 65 (1953/54) 1 6 - 6 4 . - D e r s . , Die Hl. Elisabeth im Lichte der Frömmigkeit ihrer Zeit: ThLZ 79 (1954) 4 0 1 - 4 1 0 . - Ders., Die hl. Elisabeth u. ihr Marburger Hospital: JHKGV 7 (1956) 3 9 - 6 9 (alle drei Aufs, wiederabgedr.: ders., Kirche u. Gesch. GAufs. II. Beitr. zu Grundsatzfragen u. zur Frömmigkeitsgesch., Göttingen 1970). - Karl Hermann May, Zur Gesch. Konrads v. Marburg: HJLG 1 (1951) 8 7 - 1 0 9 . - K u r t Meschede, Das Franziskus-Hospital der hl. Elisabeth als Keimzelle des Marburger Deutschhauses: Acht Jahrhunderte dt. Orden in Einzeldarst. FS Marian Turnier OP, Bad Godesberg 1967, 8 9 - 1 2 0 . - Ders., Das ElisabethHospital zu Marburg an der Lahn: Medizinhist. Journal 4 (Hildesheim 1969) 139-167. - Hellmuth Mielke, Z u r Biographie der Hl. 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Herrschaftszeichen, Göttingen 1955, Kap. II: Das Reliquiar in Stockholm mit den v. Friedrich gestifteten Kronen u. seinem „Becher". - S e r v u s v. St. Anthonis, Bruder Elemosinas Doppelbericht zum Leben der hl. Elisabeth V.Thüringen: C F r 3 5 (1965) 1 6 6 - 1 7 6 . - H e l m u t S i e f e r t , D i e Marburger Elisabethkirc h e - E i n medizinhist. Rundgang: Hess. Ärztebl. 3 3 (1972) 6 4 1 - 6 5 4 . - H e r m a n n Stutte, Siegerländer
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Zeugen v. Wunderheilungen durch die hl. Elisabeth: Siegerland 45 (1968) 6 5 - 7 6 . - J . B . Valvekens, Conradus a Marburg et Ordo Praemonstratensis: APraem 31 (1955) 353 - 3 5 6 . - Ewald Walter, Erzbischof Walram v. Jülich ( 1 3 3 2 - 1 3 4 9 ) u. die Verehrung der hl. Elisabeth im Erzbistum Köln: AHVNRh 167 (1965) 7 - 2 1 . - Karl Wenck, Die hl. Elisabeth: H Z 69 (1892) 2 0 9 - 2 4 4 . - Ders., Die Hl. Elisabeth: Die Wartburg, Berlin 1 9 0 7 , 1 8 3 - 2 1 0 . 6 9 9 - 7 0 1 . - Matthias Werner, Die hl. Elisabeth u. die Anfänge des Dt. Ordens in Marburg: Marburger Gesch., Marburg 1979, 121 - 1 6 4 . - Mör Wertner, Az Arpädok csalädi törtenete. The history of the family of Arpad dynasty, Nagy Becskerek 1892. - Ursula Winter, Ein neues Fragment der Dicta quattuor ancillarum S. Elisabeth: Ph. 115 (1971) 3 2 8 - 3 3 3 . - L u d w i g Wolff, Die hl. Elisabeth in der Literatur des dt. MA: HJLG 13 (1963) 2 3 - 3 8 . Abbildungsnachweis: Abb. 1; 3 - 7 : Bildarchiv Foto Marburg, Marburg; Abb. 2: Museo Archeologico Cividale; Abb. 8: Postkarte, The British Museum. Erika Dinkler-von Schubert Elkasai —»Gnosis/Gnostizismus, —»Judenchristentum Elohist 1. Literarkritische Kriterien hungszeit (Literatur S. 523)
2. Bestand
3. Theologische Grundzüge
4. Herkunft und Entste-
Die Hypothesen „ E l o h i s t " , aber auch —»„Jahwist" und —»„Priesterschrift" haben seit ihrer Durchsetzung durch —»Wellhausen (mit Reuß, —»Graf und —»Kuenen als Vorläufern) einen zwar umstrittenen, aber zweifellos erheblichen Beitrag zur Erklärung des Primärbefundes „Pentateuchüberlieferung" geleistet und leisten ihn auch heute noch (—»Pentateuch). Für den gegenwärtigen Stand der Debatte scheint kennzeichnend zu sein, daß die Exegese der tatsächlichen Überlieferung noch nicht viel erreicht hat, wenn sie diese nach ihrer Z u g e hörigkeit zu bestimmten Quellenschichten oder hypothetischen Redaktionen geordnet hat (—»Literarkritik). Z w a r ist die Uberlieferungsgeschichte des Pentateuch durch die Z u s a m menfügung von Quellen beeinflußt worden; aber deren Rolle w a r nur eine unter anderen, wie sich daraus ergibt, daß die Quellen am besten in Gen, nur schwer aber in E x und N u m bestimmbar sind. Andere Einflüsse müssen die Gestaltung mitbestimmt haben, die sich schließlich in der Aufteilung auf fünf Bücher auswirkten (Childs: „canonical p r o c e s s " ) .
1. Literarkritische
Kriterien
Es ist nützlich, sich klarzumachen, was maximal Gegenstand der Debatte über E sein kann. Hier wurde ein wesentlicher Fortschritt durch M . —»Noth erzielt, und zwar selbst dann, wenn man seinen Ergebnissen nicht allseits zustimmt. Denn N o t h hat eine kaum reversible Revision älterer Kriterien (Wortgebrauch, stilistisch-ideologische Kennzeichen) vorgenommen, die nur noch wenige sichere Kriterien gelten läßt: 1.1. Elohim als Bezeichnung des Gottes Israels in absoluter Form; Ausnahmen bilden Ortsnamen (z.B. Gen 2 2 , 1 4 a ) und Eigennamen (z.B. Gen 21,33; Num 2 1 , 4 - 9 sekundär). 1.2. Dubletten selbständiger Erzählungen, z.B. Gen 2 0 , 1 - 1 7 E; 26,1 a a . 2 . 6 - 1 4 . 1 6 f . l 9 - 2 5 a J ( 1 2 , 1 0 - 2 0 Zusatz in J mit Weimar): Führung eines Negebbewohners ins Land trotz Verwicklung wegen Bezeichnung der Frau als Schwester; 2 1 , 6 . 8 - 2 0 . 2 1 b E und 1 6 , 1 - 1 4 J : Ismaels Erwählung zum großen Volk; 2 1 , 2 2 - 3 1 a . 3 3 E und 2 6 , ( 1 7 . 1 9 - 2 5 a ) 2 5 b - 3 3 : Loyalitätsverpflichtung des Erzvaters; Ex 1 8 , 1 3 - 2 7 E und Num 1 l , 4 a b a . l 0 b - 1 1 . 1 4 - 1 6 a i . b - 1 7 . 2 4 b - 2 5 a . 3 0 . 3 3 b - 3 4 J: Entlastung des Mose. 1.3. Querverweise in E; allein in der Gen sehr viele: 20,1 a.13 (Rückbezug nicht erhalten); prophetische Charakteristik (20,7; 2 1 , 9 - 1 3 ; 21,25; 22,8.12.14a); die Verknüpfung Abrahams/Isaaks mit Beerseba (21,31a.33; 22,19; 4 6 , l a / ? - 5 a ) ; die Jakob-Bethel-Verknüpfung ( 2 8 , 1 7 . 2 0 - 2 2 a ; 31,13; 35,1.14.7); die Verpflichtung, Josephs Gebeine in Kanaan zu bestatten (50,25 [Jos 24,32]) und vielleicht die Vorschau 1 5 , 1 3 a . l 4 a . l 6 a (s.u.). 1.4. eher ergänzend: Distanz Gott-Mensch (Gen 20,3ff; 2 1 , 1 2 f . l 7 f ; 2 2 , l f . l 2 ; 31,11.13.24; Ex 3 , 4 b [unrichtig: Traumoffenbarung, da häufig durch den Stoff bedingt]); ethische Feinfühligkeit: Bewahrung vor Sünde wegen Abrahams Täuschung (Gen 20,6); Gott hilft Jakob zum Lohn (31,6ff); Joseph will Gott trotz ihm geschehenen Unrechts nicht in den Arm fallen (50,19); Gottesfurcht von
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Nichtisraeliten (unrichtig wohl Motiv der Gottesfurcht allgemein, da sie Gen 22,12 ganz anderes bedeutet als 20,11; 42,18; Ex 1,17); Benennung des Sinai als Gottesberg (Ex 3,1; 18,5; 19,3 a; 24,13).
2. Bestand Bei Anwendung dieser Kriterien ergibt sich (ohne Berücksichtigung kleinerer Meinungsverschiedenheiten) etwa folgender Bestand: (Gen 15,5 f. 13 a. 14a.16a; das Kapitel ist so stark bearbeitet, daß keine Sicherheit zu gewinnen ist). - 2 0 , 1 - 1 7 : Führung ins Land von Gerar; 2 1 , 6 . 8 - 2 0 . 2 1 b: Erwählung Ismaels trotz Trennung von Isaak; 2 1 , 2 2 - 3 1 a.33: Loyalitätsverpflichtung Abrahams und Brunnennutzungsvertrag; 22,1 —14 a. 19: —»Isaak als Opfer, ein Zyklus vom Propheten —»Abraham, der Israels Berufung von der Ismaels durch eine prophetische Bestimmung unterscheidet. - 2 8 , 1 7 . 2 0 - 2 2 a : Gelübde in Bethel; 30,1 a / 3 - 3 . 6 . 1 7 - 2 0 a a . 2 2 f : Geburt von elf Söhnen; Anteil an 3 1 , 1 - 3 2 , 1 : Flucht —»Jakobs mit seinen Frauen und Gileadvertrag; 3 2 , 2 f . l 4 b - 2 2 . 2 3 . 3 0 a . 3 1 und Anteil an 3 3 , 1 - 1 6 : Versöhnung mit Esau, gegliedert durch die Ortsnotizen —»Mahanajim und—»Penuel; 33,19f und 3 5 , l - 5 . 1 0 . 1 4 . 7 f : El Gott Israels von Sichern, Heiligung—»Bethels von —»Sichern aus, Übertragung des Israel-Namens und El Bethel: der Bethel-Zyklus Jakobs, der Israel wurde. - 3 5 , 1 6 - 2 0 : Geburt Benjamins bei Raheis Tod. - Anteil an 37; 4 0 - 4 6 ; 48; 50: Israel-Joseph-Erzählung. - Ex 1,15—20 ba: Hebammen retten Israels Neugeborene in Ägypten. - Anteil an 3 , 1 - 4 , 2 0 : Moses Berufung (mindestens 3 , 1 . 4 b . 6 . 9 - 1 5 ; vielleicht 4,17f.20b). - Anteil an 1 3 , 1 7 - 1 4 , 3 1 : Meerwunder. - 17,8 —16: Amalekitersieg Josuas. - Anteil an 1 8 , 1 - 1 2 : Begegnung mit dem midianitischen Schwiegervater am Gottesberg; 1 8 , 1 3 - 2 7 : Einsetzung von Richtcrn durch den Schwiegervater; 19,3 a. 13 b. 16 a / ? - 1 7 . 1 9 : Theophanie für das Volk am Gottesberg; 20,18 b. 19.21: Mose allein vertritt das Volk beim Gotteswort-, (20, 1 Dekalog?); 2 4 , ( 9 - ) l l : die Vertretung der Ältesten schaut Gott beim Schlachtopfer; 24,13 f und 31,18 b und 3 2 , 4 a a . l 6 - 1 9 b 2 . 2 0 : Gottestafeln gegen Gottesbild: der Gottesbergzyklus. - Num 2 1 , 2 1 - 3 1 : im Lande Moab. - Anteil an 2 2 , 1 - 2 0 ; 2 2 , 4 1 - 2 3 , 3 0 : Bileam segnet Israel. - (Anteil an Jos 24?, etwa V.1.14f.24.26a.ba.27f.32?: Bekenntnis der Stämme zu Jahwe).
Was von E also günstigstenfalls erhalten blieb, sind Fragmente. Dieser Befund hat Anlaß zu der These gegeben, daß E bloße Interpretation der (oder einer) anderen alten Quelle und d.h. überwiegend redaktionell sei (Volz; Rudolph; Mowinckel; van Seters; Kaiser; Westermann). Starke Ansatzpunkte findet die These in den literarischen Schwierigkeiten der Joseph-Israel-Erzählung (—»Josephnovelle), die gewiß relativ spät bearbeitet wurde (Donner; Seebaß; H. Chr. Schmitt), und der Bileam-Sammlung (Num 2 2 - 2 4 ; —»Bileam) aber auch in Gen 3 1 , 1 - 3 3 , 16; Ex 13,17-14,31. Wenn der Nachweis der These in Gen gelänge, wäre E in Ex und N u m nur noch wenig glaubwürdig. Deshalb hat es entscheidende Bedeutung, daß van Seters, Kaiser und Westermann bereits Gen 2 0 - 2 1 als redaktionell erklären. Aber hier scheitert die These; denn 20,1 — 17; 2 1 , 6 . 8 - 2 0 . 2 1 ; 2 1 , 2 2 - 3 1 a . 3 3 werden nicht aus sich heraus interpretiert, sondern ikonoklastisch zerstückelt, und die zusammenhanglosen Stücke antworten dann tatsächlich auf Fragen, die sie selbst nicht stellen. Unglaubwürdig wirkt erst recht die bei Kaiser aufgenommene These von Schmitt, daß die sonst E genannte Redaktionsstufe die vorher unverbundenen Blöcke der Väter-, der Joseph- und der Moseberufungs-Erzählungen erstmals in einen Zusammenhang gebracht hätte. Positiv spricht für eine eigene Quelle das Vorhandensein von Texten aus allen Erzählbereichen des Pentateuch mit Ausnahme der —»Urgeschichte, also von Texten, die echte Dubletten sind und die ein von den Paralleltexten (wohl nur des —»Jahwisten) unterschiedenes Konzept der Vorgeschichte Israels erkennen lassen. Dies eigene Konzept scheint in der Aufnahme bzw. Komposition der Stoffe konservativer und altertümlicher zu sein als das J-Konzept (Noth), auch wenn einzelne Stoffe eine jüngere Fassung zeigen können (z.B. Moseberufung, Sinai theophanie, Hagar-Ismael-Drama; dagegen kaum Gen 20,1 - 1 7 ) . So fehlen nicht nur die Urgeschichte, sondern auch eine Reihe judäischer Traditionen (Abraham-Lot-Zyklus; Num 1 0 - 1 4 ; 1 6 ; 20,1-21,20).
522 3. Theologische
Elohist Grundzüge
Die theologische Eigenart der E-Fragmente stand und steht weitgehend im Schatten euphorischer Äußerungen zur „Theologie" des Jahwisten. Traumoffenbarungen, ein hoher Reflexionsgrad, ethische Apologetik und das Motiv der Gottesfurcht sollen für E charakteristisch sein; aber die Vergleichsbasis scheint für den Beweis zu schmal (Smend). Wenig wahrscheinlich ist auch die These antikanaanäischer Polemik (Jaros), da im Gegenteil solche Polemik kaum nachweisbar ist (W.H. Schmidt). Wegen der unsicheren literarischen Basis wäre es unrichtig, hinter den E-Fragmenten eine theologische Persönlichkeit entdecken zu wollen (Childs gegen Wolff); aber die Texte werden gewiß unterschätzt (Wolff). Gleich der Beginn (Prophetenzyklus Abrahams) beschreibt Israels Existenz höchst gewichtig als eine prophetische im Unterschied zu der unspezifischen, aber ungeschmälerten Erwählung Ismaels. Diese prophetische Existenz forderte nicht nur eine Auswahl unter den Nachfahren (Isaak, nicht Ismael), sondern noch einmal eine —»Berufung der Nachkommen Abrahams im einzigartigen Isaak (Gen 21,12; Israel, nicht Esau) mit Blick auf die spezifische Qualifikation Abrahams, nach der er den Einzigartigen, in dem nach menschlichem Ermessen die Zukunft der eigenen Seinsweise beschlossen lag, Gott nicht vorenthalten durfte (22,12.14a). Mit der Differenzierung prophetischer Existenz von —»Erwählung überhaupt (Ismael) wurde für E der Vorbau der Urgeschichte tatsächlich überflüssig, er konnte in der Geschichte bleiben. — Der Bethelzyklus setzt Abrahams Erbe für Jakob dadurch fort, daß die Führung in die Fremde und dann wieder ins Land nicht nur zum Israel-Namen (35,10), sondern auch zur rituellen Trennung von den „Göttern des Fremden" (35,2.4) führt, das Fürsich-Sein Israels nach Num 23,9 vorbereitend. Die ausführliche Israel-Joseph-Erzählung — der Vater und Joseph die Hauptfiguren (Seebaß; Childs) - , die die E-Fassung zum Grundgerüst hat, handelt von der hohen Anerkennung prophetisch-deutender Existenz durch die Großmacht Ägypten und davon, daß das Leben Israels — des Vaters mit den Söhnen — durch die Brüder, die Joseph dem Tod aussetzten, ein weiteres Mal in Frage stand und Gott den Schuldigen die Chance der Rettung gewährte (Gen 50,19). Für den —> Exodus wird Mose wie ein charismatischer Heerführer (vgl. Gideon in Jdc 6) berufen (Ex 3 , 1 . 4 b . 6 . 9 - 1 5 a ) und zwar mit der Maßgabe, daß das Volk Gott, ägyptisch nr [ (Welten)Gott], unter dem Namen, d.h. mit der Charakteristik „Jahwe" zum Dienst am Gottesberg zugeführt werden sollte (3,12—15 a). Denn —»Jahwe bedeutet etwas wie „Ich bin der Ichseiende" oder „Ich bin gegenwärtig als der Gegenwärtige" (3,14) - eine großartige Umspielung der Einzigartigkeit Gottes, wie er mit Mose/Israel gegenwärtig sein wollte. So mußte am Gottesberg, als das Volk vor der Gottesbegegnung zurückschreckte (19,17 und 20,18 b—19.21), Mose zwar allein mit Gott reden (19,19; 20,19; sein —•Charisma), aber wenigstens die Vertretung des Volkes, die Ältesten, auf den Berg holen, um beim Schlachtopfer Gottes Gäste zu sein ( 2 4 , [ 9 - ] l l ) . Der Abfall schließlich zum Gottesbild (32,4aa) führte zu der schrecklichen Reinigung (32,20), die in einem Volk erforderlich ist, mit dem „der Gegenwärtige" ist - und Mose hatte die Gottestafeln in der Hand (32,16). Der Bileam-Segen, der das Unheidnische Israels (Wellhausen) in der Verpönung von Zauberei sieht (Num 23,23), vervollständigt das Bild eines Volkes, das für sich wohnt (23,9). Wenn Jos 24 tatsächlich den Schlußpunkt setzte, so ist bemerkenswert wieder die Absonderung von den Göttern jenseits des Stromes (Euphrat) und denen Kanaans (24,14f) zur Ausformung der einzigartigen Existenz Israels im Dienste des universalen Elohim, dessen „Wie" (Ex 3,13!) sich für Israel als „Jahwe" bestimmte. So kann man den Grund dafür vermutlich angeben, warum E den Namen des Gottes Israels durch „Elohim" ersetzte. Die Israel-, Joseph- und die Moseberufungserzählung haben hier eine Schlüsselfunktion. Nach E*unterstand auch der Pharao dem universalen Elohim und hörte auf sein Wort, während der Jahwe-Name, der bereits Gen 21,33; 22,14 a vorkam, als ein „Wie" Elohims (B. Jacob), also als Charakteristik, wie ein Name sie vermittelt, erscheint. Demnach wird E aus der Abwehr des Partikularismus, den die Religionspolitik —• Ahabs und seiner Söhne für Jahwe in Anspruch genommen hatte, um im kanaanäischen
Elohist
523
Samaria Baal neben J a h w e anzurufen, Konsequenzen gezogen (s.u. Abschn. 4 ) und Israels Gott als universalen Elohim mit einem sehr bestimmten Charakter verstanden haben. Denn das abstrakte „ E l o h i m " (nicht El!) mied zwar den Polytheismus, aber mit dem möglichen Nachteil, das Göttliche an Gottes Statt (Ägypten!) zu setzen. So hat E höchst geistvoll in einem Gotteswort an Mose Gott sich als einen mit einem bestimmten Charakter, d.h. mit einer im Jahwe-Namen hörbar werdenden Verheißung verstehen lassen.—Ist dies also die früheste Gescbichtstheologie in der Unterscheidung Israels von den Völkern durch prophetische Existenz? Jedenfalls war die E-Theologie zu sublim, um in der Härte des Konflikts der großen Schriftprophetie durchzuschlagen; aber als fragmentarische Beigabe fand sie Eingang in die Pentateuchsynthese. 4. Herkunft
und
Entstehungszeit
Wegen der besonderen Hervorhebung Bethels wird E tatsächlich aus dem Nordreich stammen, wie die traditionelle Sicht meint ( W . H . Schmidt; anders N o t h ; Smend). Unsicher ist die Datierung, weil es keine verläßlichen Anhaltspunkte gibt. Nach N u m 2 3 , 2 3 f ist terminus post quem die Zeit Saul/Davids und terminus ante quem die deuteronomistische Redaktion des 6. J h . (Smend). Wegen Ex 3 2 , 1 6 f f hatte man bereits Erfahrungen des Leidens durch das prophetische Wesen, wie man sie seit der Dynastie —»Jehus (—»Elisa, 9. Jh.) kannte. Andererseits fehlt jede Anspielung auf eine Totalkatastrophe wie die des Nordreichs 7 2 2 v. Chr. und auf massive kultische (—»Hosea) oder ethisch-soziale (—»Arnos) Verwerflichkeiten. Dies macht eine Datierung nach 7 2 2 und vor ca. 8 2 5 v . C h r . (Joahas v. Israel) unwahrscheinlich, umso mehr als das Abraham-Bild Erfahrungen mit Einzelpropheten wie —»Elia voraussetzen dürfte (Verlassendes Vaterhauses (I Reg 1 9 , 1 9 - 2 1 ) ; Umherirren in der Wüste Gen 2 0 , 1 3 , vgl. I Reg 1 8 , 1 2 ; II Reg 2 , 1 6 - 1 8 ) ; Umherirren in Wirkung des Geistes; vielleicht die Entscheidung „ J a h w e ist G o t t " (I Reg 1 8 , 3 7 . 4 1 ; so W . H . Schmidt). Literatur Einleitungen (soweit zitiert): Brevard Springs Childs, Intr. to the OT as Scripture, London 1979. Otto Kaiser, Einl. in das AT, Gütersloh 1969 4 1978. - Werner H. Schmidt, Einf. in das AT, Berlin/New York 1979. - Rudolf Smend, Die Entstehung des AT, Stuttgart 1978. - Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuch u. der hist. Bücher des AT, Berlin 1876/77, 4 1963. Kommentare (soweit zitiert): Brevard Springs Childs, Exodus, 1974 (OTL). - Benno Jacob, Das erste Buch der Tora, 1934 (Nachdr. 1974). - Claus Westermann, Genesis, 1966f (BK 1 / 1 - 2 ) . Hans Bardtke, Art. Elohist: BHH 1 (1962) 401 f. - Ders., Art. Elohist: CBL 5 1959, 261 f. - Immanuel Benzinger, Jahvist u. Elohist in den Königsbüchern, 1921 (BWANT NF 2). - J . F . Craghan, The Elohist in Recent Literature: BTB 7 (1977) 2 3 - 3 5 . - Herbert Donner, Die lit. Gestalt der atl. Josephsgesch., Heidelberg 1976. - Otto Eißfeldt, Erwägungen zur Pentateuchquellenfrage: OLZ 61 (1966) 2 1 3 - 2 1 8 . - D e r s . , Zur Komposition v. Exodus 1 - 1 2 : ThBl 18 (1939) 2 2 4 - 2 3 3 . - Friedrich Giesebrecht, Zur Hexateuchkritik. Der Sprachgebrauch des hexateuchischen Elohisten: ZAW 1 (1881) 1 7 7 - 2 7 6 . - Gustav Hölscher, Geschichtsschreibung in Israel. Unters, zum Jahwisten u. Elohisten, Lund 1952. - Karl Jaros, Der Elohist u. das Menschenopfer. Zur Problematik v. Gen 22, Mag.Diss. Graz, Fribourg 1971 (Ungedr.). - Ders., Die Stellung des Elohisten zur kanaanäischen Religion, Göttingen 1974. - Alan W. Jenks, The Elohist and the North Israelite Traditions, 1977 (SBLMS 22). - Rudolf Kilian, Der heilsgesch. Aspekt in der elohistischen Geschichtstradition: ThGL 56 (1966) 3 6 9 - 3 8 4 . — Ders., Die vorpriesterliche Abrahamsüberlieferung literarkrit. u. traditionsgesch. Unters., 1966 (BBB 24). - Hans Klein, Ort u. Zeit des Elohisten: EvTh 37(1977) 2 4 7 - 2 6 0 . - Patrick Miller, Genesis 1 - 1 1 . Studies in Structure and Theme, Sheffield 1978. — Julian Morgenstern, The Elohist Narrative in Exodus 3, 1 - 1 5 : AJSL37 (1920/21) 2 4 2 - 2 6 2 . - Sigmund Mowinckel, Erwägungen zur Pentateuchquellenfrage, Oslo 1964. - Ders., The Two Sources of Predeuteronomic Primeval History (JE) in Gen 1 - 1 1 , Oslo 1937. - Ders., Theol. Redaktionsarbeit in der Bileam-Perikope: Von Ugarit nach Qumran. FS O. Eißfeldt, Berlin 1 9 5 8 , 1 6 1 - 1 7 6 . - Martin Noth, Uberlieferungsgesch. des Pentateuch, Stuttgart 1948. — Ders., Uberlieferungsgesch. Studien. Die sammelnden u. bearbeitenden Geschichtswerke im AT, Tübingen 4 1973. - Eckart Otto, Stehen wir vor einem Umbruch der Pentateuchkritik?: VF 22 (1977) 82—97. - Ladislaus Martin Pakozdy, Theol. Redaktionsarbeit in der Bileamperikope, 1961 (BZAW 77) 1 6 1 - 1 7 6 . - Otto Plöger, Art. Elohist: RGG J 2 (1958) 436f. - Otto Procksch, Das nordhebr. Sagenbuch, die Elohimquelle, Leipzig 1906. - Gerhard v. Rad, Das formgesch. Problem des Hexateuch: ders., GSt zum AT, München 2 1961, 9 - 8 6 . — A. Reichert, Der Jehowist u. die sog. dtr. Erweiterungen im
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5
io
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1. Die Reformation im Elsaß 2. Die Ausbreitung des Luthertums (1555-1680) 3. Die elsässischen Protestanten unter dem französischen Königtum (1680-1789) 4. Die Unruhen während der Französischen Revolution und die Reorganisation von 1802 5. Liberalismus und Aufleben der Diakonie (1802-1870) 6. Die elsässischen Protestanten im Reichsland Elsaß(-Lothringen) (1871-1918) 7. Die Schwierigkeiten von 1919 bis 1939 und die Unterdrückung durch die deutsche 35 Besatzung 8. Entwicklungen der Gegenwart (Quellen/Literatur S. 533) 1. Die Reformation
im Elsaß
Das Elsaß bot 1517 - wie der gesamte südwestliche Teil des Reichs - das Bild eines aus Territorien unterschiedlicher Größe und Bedeutung zusammengesetzten Mosaiks. Es umfaßte mehrere Dutzend Herrschaften und Fürstentümer, die sich zu einem großen Teil auf beiden Rheinufern erstreckten. Das 40 Ober-Elsaß war weniger zerstückelt: Ein fester Block von fast zwei Dritteln der Gesamtfläche gehörte den Habsburgern, während sich der Rest auf die Grafen von Rappolstein, die Herzöge von Württemberg-Mömpelgard, die Straßburger Bischöfe sowie die Murbacher Äbte verteilte. Einflußreichster Grundherr im Unter-Elsaß war der Straßburger Bischof, der sieben Ämter besaß. Die Landvogtei Hagenau mit rund vierzig Dörfern sowie das Weilertal gehörten den Habsburgern. Weitere wichtige Landes45 herren waren die Grafen von Hanau-Lichtenberg, die Barone von Fleckenstein und die Grafen von Lützelstein. Mehrere Dutzend Lehnsgüter befanden sich in der Hand von Reichsrittem. Am Rande ragten die Besitzungen landesfremder Grundherren herein (der Herzöge von Lothringen, der Speyerer Bischöfe, der pfalzischen Kurfürsten und der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken). Es gab zwölf freie Reichsstädte: Mülhausen, das sich 1515 den Schweizern anschloß, Straßburg mit einem Landgebiet von rund 50 zwanzig Dörfern und zehn weitere, die sich mit Hagenau, Schlettstadt und Colmar zur „Dekapolis" vereinigt hatten. Auf künstlerischem und geistigem Gebiet war das Elsaß von einer bemerkenswerten Vitalität: Breiten Raum nahm der —»Humanismus ein mit S.—»Brant (Narrenschiff), Wimpfeling und —»Geiler von Kaysersberg sowie der Lateinschule von Schlettstadt mit ihren 900 Schülern. 55
Das Elsaß wurde sehr schnell von der Bewegung erfaßt, die nach 1 5 1 7 von —»Luther ausging. Das Wissen um die Mißstände und die Abneigung gegen die privilegierte und begüterte Geistlichkeit bildeten in der Bevölkerung einen fruchtbaren Boden. Die neuen Ideen wurden
Elsaß
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durch —»Flugschriften und durch Prediger verbreitet; am Straßburger Münster warb Matthäus Zell ( 1 4 7 7 - 1 5 4 8 ) mit beträchtlichem Erfolg für das Anliegen der Reformation. 1523 konstituierte sich in —»Straßburg eine aus Lokalpolitikern bestehende Partei unter der Führung des Stettmeisters Jakob Sturm ( 1 4 8 9 - 1 5 5 3 ) und setzte durch, daß in allen Gemeinden „das Evangelium gepredigt" werden sollte. Unter den Theologen wurden —»Capito, K. Hedio (seit 1523 in Straßburg) und —»Bucer sehr rasch tonangebend; vor allem durch letzteren gewann Straßburg für die nächsten zwanzig Jahre europäische Ausstrahlung und konnte, neben —»Wittenberg und —»Zürich, zu einem eigenen Zentrum der Reformation werden. Ihren institutionellen, liturgischen und dogmatischen Rahmen erhielt die neue Kirche durch die —»Confessio Tetrapolitana (1530), eine —»Kirchenordnung (1534), der eine strenge „Disziplinordnung" für die Straßburger Gemeinden beigegeben war. An der 1538 gegründeten Hohen Schule wurde mehrere Jahrhunderte lang die politische, kirchliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite des ganzen unterelsässischen Protestantismus ausgebildet. In den Jahren 1 5 3 0 - 1 5 4 6 spielte Straßburg in der allgemeinen Politik des Reichs und in allen religiösen Fragen, sowohl in der Auseinandersetzung der Protestanten untereinander als auch in der mit den ,Katholiken' dank des Ansehens und der vermittelnden Haltung von Theologen und Rat eine bedeutende Rolle. Jakob Sturm war der Wortführer der Reichsstädte auf allen Reichstagen und bei den Versammlungen des —»Schmalkaldischen Bundes. J. —»Calvin hielt sich von 1538 bis 1541 in Straßburgaufund ließ sich bei der Abfassung der Ordonnances ecclésiastiques für —»Genf, die die reformierte Ekklesiologie entscheidend prägen sollten, von den seelsorgerlichen und liturgischen Erfahrungen Bucers inspirieren. Straßburg wurde in dieser Zeit in besonderer Weise zum Zufluchtsort für die bedrängten Anhänger der Reformation in Süd- und Westeuropa. Nach 1530 war die Stadt um die Einheit der Protestanten bemüht; das erklärt ihren Beitritt zum Schmalkaldischen Bund, in dem sie eine maßgebliche Rolle spielte, sowie Bucers Bemühungen um die —»Wittenberger Konkordie. Die Landbevölkerung jedoch griff den Lutherschen Freiheitsgedanken in ihrer Weise auf. Im April 1525 wurde das Elsaß einer der großen Brandherde des —»Bauernkrieges, der aber innerhalb eines Monats vom Herzog von Lothringen niedergeschlagen wurde. Die darauf folgende Enttäuschung und Repression hemmten die Ausbreitung der Reformation; erst gegen 1540 konnte sie sich in so ausgedehnten Gebieten wie den württembergischen Besitzungen um Colmar (15 Gemeinden), der Baronie von Fleckenstein (13 Gemeinden) und in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg (55 Gemeinden) durchsetzen. Die Vertreter des ,linken Flügels der Reformation', die zwar nur 1 bis 2% der Straßburger Bevölkerung umfaßten, machten gleichwohl die Stadt za einer Hochburg der —»Täufer und der schwenckfeldischen Strömung (—»Schwenckfeld/Schwenckfelder), verloren aber nach 1540 ihre Bedeutung. 2. Die Ausbreitung
des Luthertums
(1555-1680)
Die Straßburger Glanzzeit wurde durch das —»Interim abrupt beendet: Während sich die Oberschicht mit der Wiedereinführung der katholischen Messe in drei Kirchen abfand und der Vertreibung Bucers zustimmte, blieben die kleinen Leute, ermutigt von den Pfarrern ihrem protestantischen Glauben treu. Nach dem —»Augsburger Religionsfrieden schlössen sich viele Fürsten der Reformation an, deren Blütezeit im Elsaß zwischen 1580 und 1620 lag, als ein Drittel der elsässischen Gemeinden protestantisch war. Die politische Zerstückelung des Landes, durch die sogar manches Dorf in zwei Teile gespalten wurde (z.B. Oberseebach), macht allerdings die Konfessionsgeographie überaus kompliziert. Mit Ausnahme der kirchlichen und der habsburgischen Besitzungen waren fast alle Gebiete von geringer oder mittlerer Bedeutung der Reformation zuzurechnen. Trotz einiger bescheidener Wiedergewinne der Katholiken im Laufe des 17. Jh. (durch die Konversion von Reichsrittern oder nach 1685 auf französischen Druck hin), blieben die Konfessionsgrenzen bis ins 20. Jh. hinein weitgehend unverändert. Im Un-
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Elsaß
ter-Elsaß konnte das Luthertum rund die Hälfte der Gemeinden für sich gewinnen, und zwar im wesentlichen im Gebiet nördlich der Linie Zabern-Straßburg, während im Ober-Elsaß die Reformation auf die Städte Colmar, Münster und Mülhausen, auf Markirch sowie die 15 württembergischen Gemeinden rund um Colmar beschränkt blieb. Auf dem Lande war der Protestantismus dank der Anhängerschaft der dörflichen Honoratioren, Schöffen, wohlhabenden Bauern und Handwerker fest verwurzelt. Straßburg war das geistige Zentrum der Lutheraner, die Reformierten waren eher isoliert: Mülhausen wandte sich der —»Schweiz zu, während sich die pfälzischen Dörfer im Norden an der Kurpfalz orientierten. Die französischsprachigen Lutheraner des Steintals wurden von Mömpelgard unterstützt, bevor sie nach 1700 in den Einflußbereich Straßburgs gerieten. Die —»Hugenotten fanden nur an wenigen Orten Zuflucht: in Markirch, Straßburg (nur bis 1564), BiSchweiler sowie in sieben französischen Dörfern der Grafschaft Nassau-Saarwerden. Unter dem Einfluß J.—»Marbachs entfernte man sich von der Richtung Bucers und vertrat immer mehr eine lutherische Orthodoxie. Johannes Pappus (1549-1610) veröffentlichte 1598 als Präsident des Kirchenkonventes eine von ihr geprägte Kirchenordnung für Straßburg. Unter den großen Theologen des 17.Jh. ragt Johann Konrad Dannhauer ( 1 6 0 3 - 1 6 6 6 ) heraus, der umfassende systematische Werke (Hodosophia Christiana, 1649) und polemische Schriften publizierte. Hochburg der Orthodoxie war die Hohe Schule, die 1566 in eine Akademie und 1621 in eine Universität umgewandelt wurde. Trotz der politischen Zerstückelung des Landes, die eine organisatorische Einheit unmöglich machte - die Protestanten gehörten rund zehn verschiedenen Territorialkirchen an - , war durch die geschickte und gebildete Geistlichkeit ein gewisser Zusammenhalt gewährleistet; diese rekrutierte sich hauptsächlich aus dem städtischen Milieu der Straßburger Handwerker sowie aus den Pfarrhäusern selbst. Da der einheimische Nachwuchs jedoch bescheiden blieb, war das Elsaß auf Pfarramtsbewerber von außen angewiesen; gemäß einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht, waren das vor allem Württemberger. Die Pfarrer zeichneten sich durch hohe Mobilität aus: In den ländlichen und städtischen Gemeinden der Stadt Straßburg blieben zwei Drittel weniger als zehn Jahre im Amt; im Ober-Elsaß blieben 40% sogar weniger als fünf Jahre in einer Gemeinde. Alle waren - wie im deutschsprachigen Raum üblich - faktisch Beamte der Landesherren oder des städtischen Magistrats, wurden also von diesen ernannt, versetzt, entlassen und regelmäßig kontrolliert. Die Ausbreitung des Protestantismus wurde jäh beendet durch den —»Dreißigjährigen Krieg, der das Elsaß furchtbar verwüstete und den Protestantismus beinahe ganz vernichtete; nur die beiden befestigten Städte Straßburg und Mülhausen blieben vom Krieg verschont. Zuvor bot das hundertjährige Jubiläum der Reformation (1617) nicht nur Anlaß, den Sieg des Evangeliums über die papistische Finsternis zu feiern, das protestantische Selbstbewußtsein zu heben und verstärkt gegen die katholische Kirche zu Felde zu ziehen und zu agitieren. Diese hatte sich zwar nur langsam von der Erschütterung durch die Reformation erholt, doch nach 1580 war ihr missionarischer Eifer, angespornt von den Habsburgern, wieder aufgeflammt, so daß sie vor 1618 rund fünfzehn elsässische Dörfer zurückgewinnen konnte. Nach 1620 wurde der evangelische Gottesdienst in Schlettstadt, Hagenau und Colmar verboten; die Gläubigen emigrierten scharenweise. Den durch das Restitutionsedikt (1629) ernsthaft gefährdeten elsässischen Protestantismus rettete zunächst der Einmarsch schwedischer Truppen, später der Schutz Frankreichs. Der —»Westfälische Frieden (1648) wurde zur „Charta" der elsässischen Protestanten; ihm hatten sie es zu verdanken, daß sie von der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) nicht betroffen waren und weiterhin rechtlichen Schutz genießen konnten, den Ludwig XTV. ihnen auch nie streitig machte. Doch der hohe Bevölkerungsverlust hatte für mehr als zehn Jahre das Leben der Gemeinden zerstört.
Die kirchlichen und weltlichen Behörden sorgten nach 1648 mit umfangreichen Maßnahmen für den Wiederaufbau: Es wurden Verordnungen für den kirchlichen und schulischen Bereich erlassen, die Liturgie vereinheitlicht, neue Gesangbücher herausgegeben. Tausende von Schweizer Einwanderern - etwa dreitausend in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg und rund tausend in der Grafschaft Nassau-Saarwerden — verliehen dem ländlichen
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Elsaß
Elsaß
Protestantische Gebiete 1648 Steinbach
Grafschaft
Schönecl/«
Saarwerden Bockenheim^, Harkirchen».
Weinenburg
Kleebun
•Niederbro'nh;
Oiem^nrrijen .
Oberseebach
(Saoftferdi Ierren Finstingen
Hagenau
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Sessenheim Ptolzburg0
Dettweiler
Wasselnheim ' ^ Ittenheimi Straliburg
Wolfisheim Molshelm' Dorlisheiml Rosheim o Oberehnheii
Steintal,
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Markirch
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Grafschaft Horburg
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Freie
I
Städte
1 Gebiete der
protestantischen
freien Städte JlUach
Unter- Elsaf) Grafschaft
Mülhausen Y/A Ix-'-'i
Grafschaft
I
Kleinere
I
OberGrafschaft
V / ^
Hanau-Lichtenberg
Pfälzische Gebiete Nassau-Saarwerden
Herrschaften
Elsaß Herrschaft
von
und Grafschaft
Mömpelgord
Bistum
Basel
Reichenweier Horburg
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Elsaß
Protestantismus neue Lebenskraft. Es handelte sich zumeist um Landwirte, Viehzüchter, Förster und Handwerker aus dem Berner Oberland. 3. Die elsässischen Protestanten
unter dem französischen
Königtum
(1680—1789)
Die „Reunion" verschiedener Herrschaften, die in der Annexion der Stadt Straßburg (1681) gipfelte, war ab 1680 von einem massiven Druck zur Rückkehr in die katholische Kirche begleitet, durch den deren Vorherrschaft wiederhergestellt werden sollte. Mehr als zwanzig Jahre lang wurde dieser aggressive Konfessionalismus von der Krone und weniger vom Bischof betrieben, der seine frühere Macht erst nach 1700 wirklich zurückgewann. Mit der französischen Besetzung Strasburgs ging auch das Münster wieder in katholische Hand über. Die Protestanten waren zu dieser Zeit einer intensiven Propaganda durch den französischen Verwaltungs- und Militärapparat ausgesetzt; Konvertiten wurden zahlreiche steuerliche, finanzielle und wirtschaftliche Vergünstigungen gewährt. Drei Maßnahmen waren von wesentlicher Bedeutung: Die Posten der Amtleute, Schultheiße sowie der Amtsschreiber waren ausschließlich Katholiken vorbehalten; in den Städten mit protestantischer Mehrheit mußte jeweils die Hälfte der Ämter in der Gemeindeverwaltung mit Katholiken besetzt werden; vor allem aber wurde das —»Simultaneum eingeführt: Überall, wo es sieben katholische Familien gab, stellte man ihnen den Chor der Kirche zur Verfügung, was nicht nur Probleme bei der Zeitplanung und der Reparaturenfinanzierung, sondern auch eine dauernde Feindseligkeit zwischen den Gemeinden zur Folge hatte. Das Simultaneum wurde in 160 Kirchen eingeführt; es existiert heute noch in etwa 50 Ortschaften. Bei den ländlichen Gemeinden kamen noch „milde Zwangsmaßnahmen" sowie der Einsatz königlicher Pfarrer als katholische Missionare hinzu. Trotz einer Lockerung der repressiven Maßnahmen nach 1689, ließ die Spannung zwischen der Krone und den protestantischen Gemeinden erst nach 1750 nach. Bilanz dieser Politik war der Übergang von rund dreißig Ortschaften, darunter des gesamten Amtes Offendorf, sowie von rund 20000 Personen zum Katholizismus; die Hälfte davon konvertierte zwischen 1685 und 1688. Es handelte sich vor allem um Durchreisende, Neuangekommene und Frauen vor ihrer Verheiratung. Der aufs Ganze gesehen starke Widerstand erklärt sich in erster Linie aus der tiefen Verwurzelung in der lutherischen Tradition, insbesonders in der Grafschaft Saarwerden und den württembergischen Gebieten zwischen 1685 und 1697. Im Laufe des 18. Jh., als ausschließlich Inländer zum Pfarramt Zugang hatten, vergrößerte sich der Anteil der Elsässer an der Geistlichkeit. Die Pastoren konnten sich nun besser in die Gemeinde integrieren. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus dem Kreise der Pfarrer und städtischen Handwerker und erwiesen sich als folgsame Beamte im Dienste der lokalen politischen Führung. Die Pfarrhäuser waren vom Geist der Frömmigkeit und klar umrissenen Lebensnormen beherrscht: Eine umfassende Bildung und dem Amt entsprechendes Verhalten waren die Regel. Die soziale Stellung der Pfarrer war trotz des oft bescheidenen Gehalts im allgemeinen eher gehoben. Angesichts der Pressionen seitens der katholischen Zivilbehörden wurden sie nach wie vor von den Gläubigen als geistige Führer anerkannt. Die Gläubigen selbst konnten in der Regel lesen und hatten katechetischen Unterricht erhalten; sie waren bis in ihren Alltag hinein religiös geprägt, wie die über den Eingangstüren angebrachten Bibelverse und die Taufsprüche bezeugen. Große sittliche Strenge kennzeichnete sowohl die Straßburger als auch die Landbevölkerung: 1736 wurden in der Grafschaft Hanau die Presbyterien wieder eingeführt, die mit fürsorglichen Aufgaben und der Überwachung von Zucht und Ordnung betraut waren.
Das geistliche Leben zehrte von der Bibel sowie der weit verbreiteten —»Erbauungsliteratur, vor allem von —»Gesang- und —»Gebetbüchern. Im übrigen gab es beträchtliche Spannungen zwischen einer intransigenten Orthodoxie, dem kritischen Geist der Zeit und der in zwei Wellen hereinbrechenden religiösen Erneuerung. Anfang des 18. Jh. drang der Pietismus über Geistliche ins Elsaß ein, die ihn während ihrer Studienzeit in -»Halle oder —»Jena kennengelernt hatten. Er gewann viele Anhänger und war der Feindseligkeit der Kirchenbehörden ausgesetzt. Großen Anklang fanden um 1740 die —»Böhmischen Brüder von Herrnhut (—»Brüderunität/Brüdergemeine): In enger Verbindung mit Herrnhut entstanden in Straßburg sowie in der Grafschaft Ha-
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nau-Lichtenberg, wo ein eigenes Gesangbuch, Das girrende Täublein, publiziert wurde, zahlreiche Konventikel. Diese Bewegung behielt ihren großen Einfluß auf den gesamten elsässischen Protestantismus bis zur Französischen Revolution. Eine andere Strömung nahm sich der humanitären Anliegen des Jahrhunderts an; neben Christian Schroeder, dem Pfarrer von Schillersdorf, der den Anbau von Klee einführte, ist hier vor allem J.F. —»Oberlin zu nennen. Die protestantischen Kirchen umfaßten 1789 beinahe ein Drittel der elsässischen Bevölkerung; die rund 2 0 0 0 0 0 Protestanten verteilten sich auf 1 6 0 Gemeinden, die von über 2 0 0 Geistlichen versorgt wurden. Die Beisetzung des „Maréchal de S a x e " (Grafen Moritz von Sachsen) in Straßburg ( 1751) lockte die Gläubigen endgültig aus ihrer Reserve und bewirkte eine zunehmende Identifikation mit der französischen Volksgemeinschaft. Diese Haltung wurde 1787 durch das Toleranzedikt besiegelt, das den Calvinismus in Frankreich wieder zuließ und den Lutheranern den Zugang zu allen Ämtern und Posten eröffnete. Die in kleine Gruppen zersplitterten Calvinisten lebten hauptsächlich in den pfälzischen Landgemeinden des Nordens, in einigen von Hugenottenfamilien besiedelten Dörfern im krummen Elsaß sowie in den Städten Mülhausen, Markirch, Bischweiler und einer Straßburger Gemeinde. Ihre Lage blieb heikel, wenn auch in geringerem Maße als die der nach 1 6 5 0 zahlreich eingewanderten —»Mennoniten. Diese ließen sich in den entlegenen Tälern der Vogesen nieder, wo sie mit modernen Methoden prosperierende Bauernhöfe errichteten. 4. Die Unruhen ivährend
der —•Französischen
Revolution
und die Reorganisation
von
1802 Die Maßnahmen von 1789 fanden bei den meisten Protestanten zunächst Zustimmung; sie lehnten allerdings jeden übertriebenen Extremismus ab und traten für eine geordnete Freiheit ein. Der Verkauf staatlichen Eigentums überzeugte viele protestantische Bauern; mehr als die Katholiken nutzten sie diese Gelegenheit, ihren Besitz zu vergrößern. Die Schreckensherrschaft legte vorübergehend das Leben der Kirchen (1793) völlig lahm (—»Christenverfolgungen). Doch nur rund zwanzig der 2 2 0 Pastoren kehrten nach 1 7 9 5 nicht in ihr Amt zurück. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die protestantischen Kirchen in einem desolaten Zustand. Die politischen Unruhen hatten den Glauben der Bevölkerung erschüttert, die Gleichgültigkeit gefördert und in den Gemeinden einen moralischen und materiellen Notstand bewirkt. So wurde überall die Notwendigkeit eines administrativen und konstitutionellen Neubeginns lebhaft empfunden; die Zeit war reif für das Einigungswerk in der Zeit des Konsulats. Die Organischen Artikel (1802) stellen im wesentlichen, trotz des seit 1 9 0 5 laisierten Staates, auch heute noch die juristische Grundlage der Église de la Confession d'Augsbourg d'Alsace et de Lorraine (ECAAL) dar. Damit wurden die Pfarrer zu Staatsbeamten, außerdem sah man eine dreistufige Hierarchie vor: 2 7 Konsistorialkirchen mit je 6 0 0 0 Mitgliedern, 6 Inspektionsbezirke und ein Generalkonsistorium; drei der insgesamt fünf Mitglieder des Generalkonsistoriums wurden von der Regierung ernannt. Die Gemeinden verloren somit ihren rechtlichen Status; das Konsistorium rekrutierte sich nunmehr ausschließlich aus dem Kreise der Notabein, d.h. der Höchstbesteuerten. Die reformierten Gemeinden waren unabhängig davon in den vier autonomen Konsistorien von Straßburg, Bischweiler, Markirch und Mülhausen (das 1798 zu Frankreich gekommen war) organisiert. Sie wurden erst 1 9 0 5 zusammen mit dem Konsistorium von Metz in einer Église réformée d'Alsace et de Lorraine (ERAL) vereinigt. Die Anwendung der Organischen Artikel rief keine Begeisterung hervor: Die Konsistorien waren künstliche Gebilde, und die Pietisten wurden von jedem wichtigen Posten durch Liberale verdrängt. Die Reorganisation hatte jedoch zumindest das Verdienst, die kritisch gewordene finanzielle Lage der Pfarrer verbessert und die Solidarität der Gemeinden durch gemeinsame missionarische und karitative Werke gefördert zu haben. 5. Liberalismus
und Aufleben
der Diakonie
(1802-1870)
Obwohl die Restauration unter den Protestanten einige Unruhe verbreitete, blieben sie von nun an ihrer politischen Gesinnung treu. Nach 1848 zeigten die protestantischen Wahl-
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Elsaß
kreise eine deutliche Vorliebe für die Linke. Eine gesetzliche Verfügung aus dem Jahre 1 8 5 2 gewährte in Abänderung der Organischen Artikel den nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Kirchengemeinderäten rechtliche Anerkennung. Während vor 1830 der Pfarrernachwuchs eher spärlich war, setzte danach ein starker Zustrom von Bewerbern aus dem bäuerlichen Milieu ein. Von den 284 Theologiestudenten der Jahre 1827 bis 1851, stammten 118 von Bauernhöfen, 85 aus Pfarrhäusern, 38 waren Söhne von Fabrikanten oder Händlern, 13 von Lehrern und 8 von Angehörigen der freien Berufe. Die theologische Fakultät genoß nach 1850 europäischen Ruf. 1834 wurde die Conférence pastorale ins Leben gerufen, eine Jahresversammlung der Pfarrer; sie spielt innerhalb des Protestantismus auf Grund ihrer Empfehlungen und Warnungen eine bedeutende Rolle. Das religiöse Leben neigte dazu, sich in verschiedene Richtungen aufzuspalten. Sowohl im obersten Konsistorium, als auch an der theologischen Fakultät setzte sich der —»Rationalismus durch; seine beiden Hauptvertreter, J . L. Blessig und I. Haffner, reduzierten die christliche Botschaft auf einen moralisierenden Inhalt ohne jede innere Wärme und verbreiteten ihre Lehre durch einen Katechismus und ein recht dürftiges Gesangbuch, die beide dazu beitrugen, daß der Gottesdienstbesuch nachließ und die konfessionelle Prägung in mancher Gemeinde verlorenging. Die pietistische Richtung wurde in erster Linie von Oberlin hochgehalten: Aus dem Steintal gingen während des ganzen 19. Jh. bedeutende Persönlichkeiten hervor. Die —»Erweckungsbewegung (Réveil) war das Werk von Franz Härter, dem Pfarrer der Neuen Kirche und dem Begründer der Société évangélique, die zahlreiche karitative Einrichtungen ins Leben rief. Eine weitere Gruppe von Pfarrern unter der Leitung von Friedrich Horning wollte die lutherische Orthodoxie nach den Vorstellungen J . Marbachs wiederherstellen. Sie machte sich insbesondere dadurch verdient, daß sie den reichen Kirchenliedschatz wieder aufleben ließ und die geistlich verarmte Kirche von neuem aufrichtete. Die Geistlichkeit blieb bis 1 9 3 9 von diesen drei Strömungen beherrscht, von denen jede eine bestimmte Anzahl von Gemeinden als Hochburgen besaß. Obwohl der Gottesdienstbesuch immer mehr nachließ und die Säkularisierung Fortschritte erzielen konnte, erfuhr die Bibellektüre einen neuen Aufschwung; die —•Diakonie erreichte ihre höchste Blüte. Uberall sprossen entsprechende Einrichtungen aus dem Boden. Die Société Biblique ( 1 8 1 5 ) baute ein enges Netz von Niederlassungen auf und vertrieb im Elsaß bis 1 8 7 0 über 1 5 0 0 0 0 Bibeln. Das durch den Pietismus geweckte Interesse für die Missionsarbeit äußerte sich in Kollektenspenden und dem Zustrom von Missionaren in die Missionsgesellschaften von Basel, Paris und Leipzig. Die Rationalisten förderten eher soziale und philantropische Einrichtungen, wie Gemeinde- und Volksbibliotheken, die Société des pauvres honteux (—» Armenfürsorge) oder das Waisenhaus von Neuhof. Die Diakonissenhäuser (Maison des Diaconesses, 1842) erlebten im ganzen Elsaß eine schnelle Aufwärtsentwicklung. Die calvinistischen Stadtväter von Mülhausen nahmen im Bewußtsein ihrer Verantwortung für die Arbeiter ein umfassendes patriarchalisches Hilfswerk (—»Patriarchat) in Angriff: Gründung von Krankenkassen auf Gegenseitigkeit, von Rentenversicherungen, eines Altersheims sowie Errichtung einer Arbeitersiedlung mit über 1000 Häusern. Doch diese Einrichtungen kamen nur einem kleinen Teil der Arbeiterschaft zugute; die Arbeitsbedingungen blieben nach wie vor eher schlecht. Ein ernstzunehmendes Problem für die Lutheraner, die als liturgische und geistliche Sprache das Deutsche beibehalten wollten, stellten nach 1852 die allenthalben spürbaren Erfolge des Französischunterrichts dar. 6. Die elsässischen
Protestanten
im Reichsland
Elsaß(-Lothringen)
(1871-1918)
Durch den viermaligen Nationalitätenwechsel zwischen 1 8 7 0 und 1 9 4 5 wurden die Protestanten stark in Mitleidenschaft gezogen. Doch die Trennungsgrenzen zwischen den Konfessionen existierten weiter: Während die Katholiken sich im allgemeinen einer Partei des Zentrums anschlössen, waren sich die Protestanten nur in der Opposition zu der betreffenden Partei einig und verteilten ihre Stimmen je nach ihrem sozio-ökonomischen Status auf andere Parteien. Der Anschluß an das Deutsche Reich wurde zwar als sehr schmerzhaft empfunden, doch
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Elsaß
von der Auswanderung der für Frankreich Optierenden waren die Protestanten weniger betroffen als die Katholiken; immerhin mußten die Eliten, insbesondere in Mülhausen und im Steintal gewisse Verluste hinnehmen. Die Einwanderung von Deutschen auf der anderen Seite stärkte das zahlenmäßige und gesellschaftliche Gewicht der Protestanten und begünstigte eine schrittweise Anerkennung des neuen politischen Status. Viele Liberale wurden von den sozialen Bestrebungen F.—»Naumanns beeinflußt. Wenn auch die Zahl der angehenden Pfarrer von 1888 bis 1908 um die Hälfte zurückging, blieb die Diakonie überaus lebendig: Zu erwähnen ist hier die Gründung des Collège Lucie Berger (1871), der Bau von Krankenhäusern, die Librairie évangélique sowie der Aufschwung der christlichen Jugendverbände. Die kirchenmusikalische Tradition wurde durch den Chor der Wilhelmskirche, die vermehrte Gründung von Kirchenchören und das Gesangbuch von Spitta wiederbelebt. 7. Die Schwierigkeiten Besatzung
von 1919 bis 1939 und die Unterdrückung
durch die
deutsche
Nach der Begeisterung über den Einmarsch der französischen Truppen tauchten bald Probleme auf. Die Protestanten verloren rund ein Drittel ihrer Pfarrer, darunter 4 1 Elsässer. Die jakobinische Assimilierungspolitik zog katastrophale Folgen nach sich: ein Sinken des Unterrichtsniveaus, die mangelnde Kenntnis beider Sprachen und einen Verfall des geistlichen Lebens. Als die Regierung Herriot die Organischen Artikel außer Kraft zu setzen drohte, schlössen sich viele Protestanten der autonomistischen Bewegung an. Bei den Wahlen 1932 entsprach die Zahl der Stimmen für die Autonomisten etwa dem Anteil der Protestanten an der Wählerschaft. Im Bereich des kirchlichen Lebens nahmen die Jugendbewegungen einen beachtlichen Aufschwung. An den von ihnen veranstalteten Zusammenkünften nahmen Tausende von Jugendlichen teil; auch die Zahl der angehenden Pfarrer wuchs. Innerhalb der Geistlichkeit versuchte die neue Generation nach 1930 die alten theologischen Gegensätze zu überbrükken. Das missionarische Engagement blieb beträchtlich. Der Zweite Weltkrieg brachte schweres Leid. Zunächst wurde die deutsche Besatzung 1940 mit Resignation aufgenommen; begrüßt aber wurde die Wiedereinführung des Deutschunterrichts. Der neue Kirchenpräsident Maurer förderte zwar das deutsche Element, erwies sich jedoch als überaus umsichtig und klug. Erst nach der gewaltsam durchgesetzten Wehrpflicht für die elsässische Jugend ( 1942) wandten sich die Protestanten endgültig von Deutschland ab. Die Kirche wurde wiederum zur Zuflucht, zur Trösterin in der N o t und der Bevölkerung innere Kraft. 8. Entwicklungen
der
Gegenwart
Nach 1945 sahen sich die elsässischen Protestanten, die bis dahin von der zunehmenden Entchristlichung verschont geblieben waren, mit den großen Veränderungen der Gegenwart konfrontiert; ihr politisches, wirtschaftliches und kulturelles Gewicht begann zu schwinden. Im großen und ganzen bleiben die Zahl (250000 Personen, d.h. rund 16% der Bevölkerung) und die geographische Verteilung der Protestanten unverändert. Die meisten leben zwar in den Städten (fast ein Drittel in und um Straßburg), doch die ländlichen Gebiete strahlen eine größere Vitalität aus und liefern zu einem beachtlichen Teil den theologischen Nachwuchs. Allerdings wechselt die Landbevölkerung zunehmend den Beruf, und die Landflucht geht oft mit einer Abkehr vom Glauben einher. Die ECAAL besteht überwiegend aus Angehörigen des unteren Mittelstandes: 1963 waren 22% Bauern, 33% Facharbeiter, 8% Handwerker und 12% Angestellte. Mit zunehmender Mobilität und Verschmelzung der Volksteile geht die weitgehende Identität zwischen Kirchengemeinde und Ortsgemeinde verloren, so daß der Zusammenhalt der Gemeindemitglieder abbröckelt. Die großen Wohnkomplexe um Straßburg machen neue Formen der kirchlichen Präsenz nötig, zumal die dort wohnenden Familien häufig vom Lande stammen. Auf der anderen Seite findet in den Stadtzentren und ihren Gemeinden eine Entvölkerung statt. In den konfessionell gemischten Dörfern geht der Einfluß der Protestanten zurück, wie auch in Mülhausen, wo die Ausstrahlung der vom reformierten Unternehmertum gegründeten Société industrielle immer mehr nachläßt. Seit 1958 ist auch das politische Verhalten der protestantischen Bevölkerung von einer Dekonfessionalisierung gekennzeichnet.
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Elsaß
Elsaß
l
l weniger als 20%
EZ3 20 - 40 % r~~1 41 - 60 %
Protestantischer Bevölkerungsanteil 1936
V//A 61-80% Hü
mehr als 80% Bezirksgrenzen
Elsaß
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Der theologische Nachwuchs wird langsam wieder zahlreicher, so daß die vakanten Stellen (1946 betrugen sie 2 5 % ) nach und nach wieder besetzt werden konnten. Die meisten Pfarrer stammen nun aus städtischen Angestellten-, Arbeiter- und Beamtenfamilien. Das Durchschnittsalter der elsässischen Geistlichkeit liegt unter dem der französischen (50 Jahre): 1979 betrug es 43,4 Jahre in der ECAAL und 48,5 Jahre in der ERAL. In den Dörfern behält der Pfarrer seine Autorität in religiösen Fragen, und viele Gemeinden können sich nur schwer von der traditionellen Vorstellung einer „Pfarrerkirche" lösen. Doch die Zeichen der Auflösung werden immer zahlreicher. Mit der Aufhebung des Deutschunterrichts an den Grundschulen wird die Sprache Luthers allmählich zu einer Fremdsprache. Das Ergebnis ist ein spürbares Sinken der allgemeinen sowie der religiösen Bildung. Die Kluft zwischen den dogmatischen Formeln und dem Alltag, zwischen christlicher Moral und den Normen einer Konsumgesellschaft vertieft sich ständig. Vor allem in der Stadt wird die Kirche oft nur noch als Vollzieherin von Riten betrachtet. Bedroht ist die protestantische Kirche auch in ihrer Jugend - nur eine kleine Minderheit beteiligt sich an den Aktivitäten der Gemeinde. Ebenso gefährdet ist die Zahl der Gemeindeglieder. Vom Geburtenrückgang seit 1880 waren die protestantischen Gegenden deutlicher betroffen als die katholischen. Verwaltungsmäßig setzt sich die E C A A L aus 2 1 1 Gemeinden, 4 0 Konsistorien und 7 Inspektionen zusammen; geleitet wird sie von einem 25köpfigen Oberkonsistorium sowie einem Direktorium von 5 Mitgliedern. Die Oberhoheit des Staates gewährt der Kirche genügend Freiraum. Die E R A L umfaßt 5 5 Gemeinden und vier Konsistorien, die seit 1 9 0 5 durch eine jährliche Synode und einen Synodalrat vereinigt sind. Der elsässische Protestant zeichnet sich durch Ausgeglichenheit, Toleranz und Nüchternheit aus. Er neigt kaum zu intellektuellen Spekulationen und bevorzugt seit Bucer einen Glauben, der sich in der T a t erweist: die Diakonie. Das musikalische Erbe ist reich. Dagegen lassen das Gemeindeleben und die allgemeine religiöse Reife zu wünschen übrig. Die religiöse Praxis, die zwischen 1 8 7 0 und 1 9 4 5 unverändert w a r , wird zunehmend vernachlässigt: Spürbarer Rückgang des Gottesdicnstbesuches auf dem Lande, in der Stadt sogar an den großen Feiertagen. Der Karfreitagsgottesdienst ist für viele Protestanten der einzige im ganzen Jahr; so wird dieser Tag in der lokalen Gesetzgebung immer noch als Feiertag berücksichtigt. Der Zusammenhalt der Gemeinde wird durch das Gemeindehaus, ein Gemeindeblatt und den jährlich stattfindenden Basar gefördert. Der Messager Evangélique wird auf dem Lande von den meisten Familien gelesen und hat die höchste Auflage ( 19 000 Exemplare) der gesamten protestantischen Presse. Die Spenden sind eher niedrig; 1970 bis 1978 konnten sie kaum mit der Geldentwertung Schritt halten und bewegten sich in der Größenordnung von 100 bis 150 Franc pro Person und Jahr in der ECAAL. Dasselbe gilt für die Missionsspenden. Das protestantische Unterrichtswesen bleibt mit dem Gymnasium Jean Sturm ( 7 5 0 Schüler) und dem Collège Lucie Berger ( 7 2 0 Schüler) weiterhin lebendig. Die Bildungsarbeit wird bei den Erwachsenen durch die Begegnungsstätten von Liebfrauenberg, Storckensohn und Neuweiler fortgeführt. Die aktive Zusammenarbeit zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche ist enger und vielfältiger geworden, so daß sich eine echte Symbiose anbahnt. Das Verhältnis zu den Katholiken ist allmählich entspannter geworden, bis hin zu einer Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen und einem friedlichen Nebeneinander der Gemeinden in den konfessionell gemischten Ortschaften. Der elsässische Protestantismus stellt gegenwärtig 4 0 % der Gläubigen innerhalb dei Fédération Protestante de France dar, zu der mitunter etwas gespannte Beziehungen geherrscht haben. Seine historische Bedeutung w a r größer, als seine zahlenmäßige Stärke vermuten ließe, und er konnte, trotz aller ernstzunehmender Probleme, seine Eigenart innerhalb der Gemeinschaft der protestantischen Kirchen Europas bis heute bewahren. Quellen Articles organiques de 1802, 2 Bde., Paris, 1 9 5 4 - 1 9 5 5 . - BSHF 122 (1976); 124 (1978); 125 (1979); 126 (1980); 127 (1981). - Martin Bucer, Dt. Sehr., hg. v. Robert Stupperich, Gütersloh/Paris, I - V . V I I 1 9 6 0 - 1 9 7 8 . 1 9 6 4 . - D e r s . , Opera Latina, hg. v. François Wendel, Paris/Gütersloh, X V 1 9 5 5 . - Manfred Krebs/Hans Georg Rott, Quellen zur Gesch. der Täufer. VII. Elsaß. l.Teil. Stadt Straßburg 1 5 2 2 - 1 5 3 2 , Gütersloh 1959; VIII. Elsaß. 2.Teil. Stadt Straßburg 1 5 3 3 - 1 5 3 5 , 1960. - J . V . Pollet, Martin Bucer. Études sur la correspondance avec de nombreux textes inédits, 2 Bde., Paris,
534
Emanzipation I
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Bernard Vogler Eltern —»Erziehung, —»Familie Emanzipation I. Ethisch II. Praktisch-Theologisch
544
I. Ethisch 1. Begriffsgeschichte 2. Emanzipation als geschiehtsphilosophische Konzeption 3. Gruppenund schichtenspezifische Verwirklichungen von Emanzipation 3.1. Emanzipation als staatskirchen-
Emanzipation I
535
rechtlicher Vorgang 3.2. Emanzipation der Juden 3.3. Emanzipation der Frau 3.4. Emanzipation der Arbeiter 3.5. Emanzipation der Leibeigenen und Sklaven 3.6. Entkolonialisierung und Emanzipation ethnischer Minderheiten 3.7. Emanzipation als sexuelle Befreiung 4. Europäische Literatur der Emanzipation 5. Kirchliche und theologische Stellungnahmen zur Emanzipation 6. Abschließende Stellungnahme (Literatur S. 542)
1.
Begriffsgeschichte
Der Begriff hat seinen Ursprung im römischen Recht und bezeichnet die Entlassung eines Kindes aus der väterlichen Gewalt, während für die Sklavenbefreiung der Begriff manumissio üblich war. Emanzipation als zivilrechtlicher Akt des Ausscheidens aus der Obhut der Familie war der Entscheidung des Vaters überlassen, also kein von den Kindern einklagbares Recht. Im kanonistischen Sprachgebrauch bedeutet Emanzipation a) die Freistellung eines Mönches vom Gehorsam gegen seine Oberen im Fall der Erhebung in das Amt eines Bischofs oder Kardinals, wozu als Ausweis emancipatoriae literae gehörten (CIC c. 627,2); b) die Entlassung eines Novizen aus der Obhut des Scholastikers und seine Aufnahme in das Kapitel (cc. 115.584); c) die Befreiung eines Ordens von der Jurisdiktion des örtlichen Ordinarius (vgl. Du Cange III, 250 f). Der reflexive Gebrauch des Begriffs findet sich erstmals im 16. Jh. bei Rabelais und Montaigne. Dort erhält er insofern einen pejorativen Akzent, als sich Emanzipation einerseits auf die vor allem von hohen Standespersonen in Anspruch genommene Verachtung von Gott und Religion, andererseits auf eine gesellschaftliche Schranken durchbrechende Frivolität bezieht. Sich emanzipieren wird gleichbedeutend mit sich zuviel erlauben, allen —»Gehorsam verlieren, sich anmaßend benehmen. - Die Erweiterung des ursprünglich juristischen Begriffs setzt sich mit positiver Bedeutung in der englischen und französischen —»Aufklärung durch als Selbstvergewisserung der Vernunft gegen die Autorität der Antike und die Herrschaft des Aberglaubens. - Im 19. Jh. erfolgt die Übertragung des Begriffs aus der rein personalen Sphäre in den gesellschaftlichen Bereich und wird, wenn „vom sich emanzipierenden Dritten Stand" die Rede ist, zu einem „antiständischen Begriff" (Graß/Koselleck 166). Um 1830 wird Emanzipation zum Schlagwort, das die Hoffnungsstimmung im deutschen Vormärz zusammenfaßt. „Was ist diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation" (H. Heine, SW III, 275). Emanzipation geht mit Fortschritt und —»Revolution Verbindungen ein. Sie wird begriffen als Befreiung aus dem Zustand der Fremdbestimmung und soll stattfinden in den folgenden Bereichen: Emanzipation der Schule von der Kirche, der Kirche vom Staat oder von der römischen Herrschaft, der Völker, der Juden, Frauen, Sklaven und Arbeiter. 2. Emanzipation
als gcschichtsphilosophische
Konzeption
Systematisch am umfassendsten hat —»Hegel von der Sache geredet, wenn er —»Freiheit und die immer totaler sich durchsetzende Bewegung auf Freiheit hin zum Leitmotiv der Weltgeschichte erklärt. Im —»Liberalismus des 19. Jh. wird das ganze Leben als „ein universeller Emanzipationsprozeß, von dessen Verlaufe alle politischen, religiösen etc. Emanzipationsprobleme nur einzelne Bestandteile oder Phasen" sind, begriffen (K.H. Scheidler: AEWK 1/34 [1840] 2 ff). Das Leben ist als ein dreifacher Emanzipationskampf zu verstehen: als Befreiung von der äußeren Natur, aus der Willkür anderer Menschen, aus den Banden des Autoritätsglaubens und der Sinnlichkeit, wobei sich Scheidler jedoch gegen eine „schrankenlose Emanzipation des Geistes in religiöser Hinsicht" im Sinne des völligen Unglaubens wehrt. - Richard Wagner sieht in der Verwirklichung der Emanzipation des Menschengeschlechts die „Erfüllung der reinen Christuslehre, deren Vollendung wir nun mit klarem Bewußtsein zuschreiten sollen" (221 f). Umstritten bleibt noch, ob Emanzipation gewährt werden soll oder erkämpft. — Karl —»Marx antwortet auf die Frage nach dem Träger einer umfassenden Emanzipation: Da in der modernen Welt das Proletariat Unfreiheit am schmerzhaftesten erfährt, wird es der Träger der Emanzipation sein müssen.
536
Emanzipation I
In seiner Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1841) sieht Marx gerade in dem rückständigen Deutschland den kommenden Träger weltweiter Emanzipation. Während in Frankreich die Revolution des Volkes mit der Emanzipation einer besonderen Klasse, nämlich der Bourgeoisie, zusammenfiel, sei die deutsche Mittelklasse dazu kaum imstande, vielmehr sei es Aufgabe der Deutschen, im Bündnis von Philosophie und Proletariat die Rolle des Emanzipators der ganzen Menschheit zu übernehmen. In dem Satz: Der völlige Verlust des Menschen führt zur völligen Wiedergewinnung des Menschen (223) zeigt sich eine Art Erlösungsdialektik im Denken von Marx. In der Tradition der hegelschen Linken stehen auch die Philosophen der Frankfurter Schule (H. Marcuse, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, J. Habermas; —»Kritische Theorie). Hier wird der weltgeschichtliche Prozeß als „Emanzipation der Menschheit" zum Reich der Vernunft verstanden, wobei das Ziel des emanzipatorischen Interesses darin liegt, die Menschen in freier Assoziation zu selbstbewußten Subjekten ihrer Geschichte zu machen und ein herrschaftsfreies, glückliches Leben zu verfolgen. Zu dieser repressionsfreien Zivilisation gehört im Sinne des Freudomarxismus auch die Emanzipation der Triebe und die Aufhebung traditioneller Tabus (s.u. Abschn. 3.7). — Die hier vorliegende Totalisierung des Begriffs macht aus der früher damit gemeinten Verbesserung des rechtlichen Status ein utopisches Ideal in einem unendlichen und als universal gedachten Prozeß. 3. Gruppen-
und schichtenspezifische
Verwirklichungen
von
Emanzipation
Von den totalisierenden Konzeptionen kehren wir nunmehr zurück zur pragmatischen Betrachtung einiger konkreter Bereiche, in denen Emanzipation als Befreiung von Fremdbestimmung sich durchgesetzt hat oder sich durchzusetzen im Begriff ist. 3.1. Emanzipation als staatskirchenrechtlicher Vorgang. In der Neuzeit kehrt sich das Abhängigkeitsverhältnis des Staates von der Kirche um in nationalistische Abhängigkeit der Kirche vom Staat (—»Staatskirche). Die im 19. und 20. Jh. erhobene Forderung der Trennung von —»Kirche und Staat ist ein staatskirchenrechtlicher Vorgang, der je nach der geschichtlichen Situation eine verschiedene Gestalt annehmen kann. Einmal kann er die nationale Unabhängigkeit der römisch-katholischen Kirche in einem Lande vom römischen Stuhl bedeuten (Forderung nach einer deutsch-katholischen Kirche im Vormärz [—»Deutschkatholiken] als Gegenschlag gegen den sich verstärkenden —»Ultramontanismus; —»Los-vonRom-Bewegung in Österreich 1898). Kirchliche Emanzipation kann aber auch rechtliche und politische Gleichstellung des katholischen Bevölkcrungsteils in einem konfessionell gemischten Lande bedeuten, in dem die Katholiken Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dies war der Fall in —»Irland und —»England. 1829 wurde durch den Act for the Relief ofHis Majesty's Roman Catholic Subjects den katholischen Iren ein beschränktes Wahlrecht, a b 1869 durch den von Gladstone eingebrachten Irish Church Act die Abschaffung der Zahlung des Zehnten an die —»Kirche von England gewährt. In der Bill of Emancipation von 1829 wurde als Folge der katholischen Emanzipation in Irland auch den britischen Katholiken die volle politische Gleichberechtigung gewährt. (Zur Diskriminierung und Emanzipation der Katholiken in —»Deutschland —»Kulturkampf.) - Dafür, d a ß sich die politische Befreiung in früheren Kolonialländern nicht zugleich auf das Kirchen-Staatsverhältnis auszuwirken brauchte, sind die lateinamerikanischen Länder sprechende Beispiele. Die politische Befreiung —»Lateinamerikas im 19. Jh. hat für die Geschichte des Christentums keine epochenscheidende Bedeutung, da die jungen emanzipierten Staaten die römische Kirche mit Hilfe der staatlichen Kirchenpatronate in der gleichen Abhängigkeit halten wollten wie zuvor der Absolutismus der iberischen Metropolen (vgl. Prien 31). Im Verhältnis zur indianischen Urbevölkerung und den Mestizen verfolgte die katholische Kirche ihrerseits keine Politik der Emanzipation; beiden Gruppen wurde die Aufnahme in die Orden verweigert. Erst in den 70er Jahren des 20. Jh. erkennt dort die katholische Kirche ihre Aufgabe, sich an die Seite der Unterprivilegierten zu stellen („Theologie der Befreiung"). - Nach 1945 haben sich die Kirchen in —»Deutschland von den Bindungen der staatlichen Kirchenhoheit innerlich und äußerlich emanzipiert, vor allem da auf der staatlichen Seite die Tradition des alten Obrigkeitsstaates unterbrochen w a r und sich kirchlicherseits ein neues Selbstbewußtsein entwikkelt hatte.
Emanzipation I
537
3.2. Die Emanzipation der Juden. Wenn Emanzipation die Verbesserung der Rechtslage einer bislang unterprivilegierten Gruppe bedeutet, dann muß sie sich insbesondere auch auf die Juden beziehen. Seit der Entstehung der Staatskirche galt die —»Taufe als Symbol nicht nur für die Gliedschaft in der Kirche, sondern auch im Staat. Entsprechend wurde für Gruppen, die die Taufe für sich ablehnten, ein Sonderrecht geschaffen (vgl. Cod. Theodosianus XVI,8: Verbot der Zulassung zum Beamtenstand, des Baus neuer Synagogen, der Mischehe zwischen Juden und Christen, des Haltens christlicher Sklaven). Diese Diskriminierungen hielten sich bis in die Neuzeit. Erst die Aufklärung schaffte hier Wandel. Als einer der ersten forderte der Orientalist und Theologe J . C . Wagenseil ( 1 6 3 3 - 1 7 0 5 ) für die Juden Rechtsgleichheit, Eröffnung des Grundbesitzes sowie Zulassung zum Handwerk und zu allen bürgerlichen Berufen, wobei freilich —»Judenmission und Judenbekehrung das heilsgeschichtliche Ziel ist. In England forderte der Deist John Toland ( 1 6 7 0 - 1 7 2 2 ) 1714 die rechtliche Gleichstellung der Juden, in Deutschland Chr. W. Dohm 1781 und in Frankreich Graf Mirabeau 1787. Am leuchtenden Beispiel von Moses —»Mendelssohn ist Mirabeau klar geworden, daß die Juden mehr sein können als Juden, nämlich Menschen, und daß ihre Fehler diejenigen ihrer Lebensumstände sind. Als erster, der den Begriff der Emanzipation auf die Juden anwandte, gilt W.Tr. Krug ( 1 7 7 0 - 1 8 4 2 ) . Die liberale Position, die auch W. von —»Humboldt vertrat, fordert nicht die völlige kulturelle Assimilation. Sobald aus dem aufklärerischen Begriff der Emanzipation als rechtlicher und politischer Gleichstellung der Juden der überzogene Begriff einer „höheren oder wahren Emanzipation" wird, verbunden mit vollständiger Assimilierung an die christliche Umwelt auch im religiös-kulturellen Sinne, wird sie zur Krise der jüdischen Identität und kommt einer „Euthanasie des Judentums" (Kant) gleich. In der Kontroverse der 40er Jahre des 19. Jh. vertritt Moses Hess ( 1 8 1 2 - 1 8 7 5 ) den Standpunkt, daß die Emanzipation der Juden ein integrierendes Moment der Emanzipation des Geistes sei. Bruno —»Bauer dagegen hält sie für unmöglich, da das Festhalten an einem überholten Gesetz das Judentum unfähig zur Emanzipation mache. Marx treibt den Gedanken von Bauer weiter, indem er als Ziel der Emanzipation die Aufhebung der -»Entfremdung im weitesten Sinne angibt. Diese könne sich aber nur als Emanzipation vom Judentum vollziehen: „Nun wohl! Die Emancipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen-realen Judentum, wäre die Selbstemancipation unserer Zeit" (Zur Judenfrage, 1843). Im Verlauf der in der Mitte des 19. Jh. immer lebhafter werdenden Emanzipationsdebatte wird deutlich, daß die Lösung des Problems in dem Augenblick unmöglich wird, da Nationalzugehörigkeit und Volkstum zum normativen Maßstab werden. So polarisiert sich das Emanzipationsproblem schließlich im national-staatlichen —»Antisemitismus einerseits und in der Idee der nationalen Selbstbefreiung des Judentums im —»Zionismus andererseits. Schon Hess hatte die Rückgewinnung des —»Heiligen Landes als nationaler Heimstatt der Juden, in der sich ihr religiöser Genius entfalten könne, gefordert, dann Leo Pinsker (1821 — 1891) in seinem Buch Autoemanzipation (1882), um den russischen Pogromen zu entgehen, und Theodor Herzl ( 1 8 6 9 - 1 9 0 4 ) in Der Judenstaat (1896). - Eine andere Variante der Judenemanzipation vertreten die jüdischen Sozialisten aus Osteuropa. Für Ber Borochow (1881 — 1917) ist die Judenfrage keine kulturelle, sondern eine ökonomische; darum fordert er für die Befreiung des Judentums die Schaffung einer wirtschaftlichen Basis. Von Aharon David Gordon (1856—1922) stammt das Schlagwort von der „Erlösung durch Arbeit". Seine Ideen sind die Grundlage der israelischen Kibbuzim geworden. 3.3. Emanzipation der -+Frau. Als Vorformen der modernen —»Frauenbewegung kann der Aufbruch der Frauen im 11.—13. Jh. angesehen werden. Damals trat im mittelalterlichen Weltbild an die Stelle der Frau, die man bis dahin als Geschlechtsgenossin der Eva unterbewertet hatte, —»Maria, deren Bild hymnisch gepriesen wird. Mönchsorden, Laiengemeinschaften und ketzerische Bewegungen gaben den Frauen die Möglichkeit zur Lösung von der Männerherrschaft. - Programmatisch wird erst in der säkularisierten Kultur des 18. Jh. die Emanzipation der Frau gefordert. In England schreibt 1792 Mary Wollstonecraft ihr Buch A
538
Emanzipation I
Vindication of the Rights of Womett und in Deutschland Th. G. von Hippel 1792 Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. In diesen Schriften wird Emanzipation mit Veredlung, Fortschritt, Vervollkommnung und Revolution der Sitten gleichgesetzt mit dem Ziel, die Frau aus dem Stand der Sklaverei, in die sie durch die bürgerlichen Verhältnisse gedrängt wurde, zu befreien. Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels wird die Koedukation von Knaben und Mädchen empfohlen. Ch. Fourier ( 1 7 7 2 - 1 8 3 7 ) fordert als Moment der Frauenemanzipation auch deren sexuelle Befreiung, einen freieren Lebensstil, wie er etwa in den Salons der —»Romantik verwirklicht wurde. Hierher gehört auch die von Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 ) in seiner Lucinde vertretene Forderung der „Emanzipation des Fleisches", wozu F.D. E. —»Schleiermacher in seinen Vertrauten Briefen über Schlegels Lucinde (1800) positiv Stellung nahm. Im Sinne der Freisetzung der durch die Geistphilosophie verdrängten Sinnlichkeit verkündet Heinr. Heine das Evangelium von der Emanzipation des Fleisches, wobei für ihn die „Rehabilitation der Materie" der Weg zur Versöhnung mit dem Geiste werden soll (221 f). - Während die Demokraten und Sozialisten im 19. Jh. die Frauenbefreiung bejahen, (vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 1879,482: die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann ist eines der Ziele unserer Kulturentwicklung), lehnen die Liberalen und Konservativen sie als Gefährdung von Familie und Staat ab. In Deutschland beginnt 1865 die Selbstorganisation der Frauenbewegung. Von philosophischer Seite bekam sie Unterstützung durch den englischen Philosophen J . S . Mill. — Von sozialistischer Seite wird der Klassencharakter dieser Zielsetzung erkannt. Darum lehnt Clara Zetkin (1857—1933) das bürgerliche Emanzipationsprogramm ab und fordert, daß der „Emanzipationskampf der Proletarierinnen nicht ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse sein dürfe, sondern ein Kampf im Verein mit den Männern gegen die Kapitalistenklasse" (Gothaer Programm von 1896). - In England wurde der Kampf um das Frauenwahlrecht seit 1903 in der von Emmeline Pankhurst ( 1 8 5 8 - 1 9 2 8 ) geführten „Women's Social and Politicai Union" mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstandes militant geführt („Suffragettenbewegung"). Ende der 60er Jahre unseres Jahrhunderts entstand in den USA die militante Frauenbewegung „Women's Liberation Movement" („Women's Lib") unter Führung von Jane Fonda, Betty Friedan, Germaine Greer und Kate Millett. Ihr Ziel ist, die herkömmliche geschlechtsspezifische Zuweisung von Lebensrollen zu durchbrechen, den Frauen zu einem selbständigen politischen Bewußtsein und gleichrangiger Stellung in der Gesellschaft zu verhelfen. 3.4. Die Emanzipation der Arbeiter. Für die frühen Sozialisten stehen die Arbeiter auf der Stufe der Leibeigenen und Sklaven (Saint Simon, 1829), ja es geht ihnen noch schlechter als diesen, denn sie sind kein zu schonendes Kapital wie diese; ihr Tod ist kein Verlust, denn es gibt immer genügenden Ersatz (s. A. Blanqui), und selbst wenn sie politisch und rechtlich gleichgestellt sind, so ist dies doch nur ein „zweideutiges Geschenk" (K. Biedermann), weil die soziale Emanzipation fehlt. Emanzipation wird im Verständnis des liberalen Bürgertums mehr und mehr eine Frage des Selbstbewußtseins und der —»Bildung. Sie erhoffen sich von der weltweiten Arbeitsteilung und der Herrschaft des Geistes allein die wahre Emanzipation des Arbeiters, die Erlösung von den rein mechanischen, rohsten und aufreibendsten Arbeitsverrichtungen (H. Schultze-Delitzsch). Bei den emigrierten Handwerkern und Arbeitern der 30er Jahre taucht der Begriff Emanzipation auf, etwa wenn der „Bund der Kommunisten" davon redet, daß „die arbeitenden Millionen... beharrlich an ihrer eigenen Emanzipation arbeiten". Für Marx und Engels ist die Emanzipation der Arbeiterklasse überhaupt das Lo-, sungswort der europäischen Befreiung. Sie muß durch die arbeitenden Klassen selbst erobert werden (Programm des 5. Deutschen Arbeitervereinstags, 1868). Emanzipation wird hier mit —»Revolution gleichgesetzt und bedeutet Umwälzung der gesamten ökonomisch-politischen Ordnung. 3.5. Emanzipation der Leibeigenen und Sklaven. Leibeigenschaft ist ein Herrschaftsverhältnis, bei dem eine personell gebundene Pflicht zu Abgaben und Diensten an den Grundherrn besteht, während —»Sklaverei ein Verfügungsrecht über Leib und Leben samt dem
Emanzipation I
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Recht zum Kauf und Verkauf des Sklaven einschließt. Beide Herrschaftsverhältnisse sind bezeichnend für Feudalismus und —»Kolonialismus. Die mit der Bauernbefreiung (—»Bauerntum) identische Aufhebung der Leibeigenschaft geschah im Mittelalter individuell, wenn es einem Leibeigenen gelang, sich in die Stadt abzusetzen und er nicht von seinem Herrn reklamiert wurde („Stadtluft macht frei"), war im —»Bauernkrieg Programmpunkt der Bauern, wurde aber erst im 18. Jh. in Frankreich revolutionär durchgesetzt, in Deutschland dagegen durch staatliche und grundherrschaftliche Reformen (in Baden 1783, in Preußen durch die Stein-Hardenbergschen Reformen von 1807, bzw. 1811 und 1816, in Rußland durch das Emanzipationsedikt Alexanders II. 1861). Hierbei zeigte sich, daß die rechtliche Freisetzung der Leibeigenen ohne zureichende ökonomische Fundierung zu neuen Abhängigkeitsverhältnissen führte (landlose Landarbeiterschicht, Abwanderung ins städtische Proletariat, elend lebendes Kleinbauerntum). Gedanken der Aufklärung von der Freiheit des Menschen als Naturrecht standen sowohl hinter der Emanzipation der Leibeigenen wie der Sklaven, wobei terminologisch in den westlichen Sprachen den Begriffen abolishment, abolition oder affranchissement der Vorzug gegeben wird. In der Neuzeit löste in Südamerika die von dem spanischen Dominikaner —» Las Casas befürwortete Negersklaverei die Versklavung der Indianer ab. In Westindien und den nordamerikanischen Kolonien wurde bis ins 19. Jh. Sklavenhandel mit afrikanischen Negern betrieben. Ideologisch wurde die Sklavenbefreiung durch die amerikanische Declaration of lndependence (1776) und die Virginia Bill of Rights sowie von den Engländern John —»Wesley, Adam Smith, Edmund Burke, Charles J. Fox und William Pitt vorbereitet. Die erste humanitäre Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei war die „Philadelphia Society" unter dem Vorsitz von Benjamin Franklin (1775). Die „anti-slavery cause" war eine starke moralische Waffe in der Hand der Nordstaaten gegen die auf der Sklaverei ökonomisch fundierten Südstaaten, zugleich eine Zerreißprobe für die Einheit der Kirchen. Für die Konföderierten Staaten wurde die Sklaverei durch die Emancipation Proclamation Präsident Lincolns 1863 abgeschafft. Im Verlauf des 19. Jh. wurde die Sklaverei in fast allen Ländern der westlichen Welt abgeschafft. Völkerrechtlich wurde die Emanzipation der Sklaven in folgenden Verträgen verankert: Wiener Kongreß 1815, Brüsseler Anti-Sklavereikonfercnz 1890, Vertrag von Versailles und St. Germain-en-Laye 1919, UNO-Charta der Menschenrechte 1948, Weltpakt für bürgerliche und politische Rechte 1966. 3.6. Entkolonialisierung und Emanzipation ethnischer Minderheiten. Emanzipation als Befreiung von der Herrschaft der iberischen Großmächte beherrschte die politische Thematik in —»Lateinamerika im 19. Jh. ebenso wie die Befreiung von den europäischen Kolonialmächten den schwarzen Kontinent und Asien im 20. Jh. (—»Kolonialismus). Zum Prozeß der Entkolonialisierung gehören folgende Momente: Aufbau einer eigenen Nation mit eigener Identität, Umwandlung der Agrarstruktur in eine industrialisierte und urbanisierte Gesellschaft, Beteiligung der Massen am Aufbau der Gesellschaft, Bodenreform und Aufhebung alter Feudalstrukturen, Uberwindung von Hunger und Analphabetismus, Durchsetzung der Menschenrechte und Beseitigung von Rassendiskriminierung. Einer der ersten, der die Entkolonialisierung forderte, war Jeremy Bentham (1748—1832), weil er sich dadurch die Beseitigung internationalen Konfliktstoffs zwischen den Völkern erhoffte. Da nur 9% der heutigen Staaten ethnisch homogen sind, ist ein erhebliches Konfliktpotential gegeben, wenn ethnisch verschiedenartige Gruppen miteinander in einem Staatenverband leben müssen. Dieser Konflikt wurde im Zeitalter der Nationalstaatlichkeit durch Unterdrückung von Minderheiten gelöst, die ihre Eigenständigkeit zugunsten der Integration in den Großstaaten aufgeben mußten. Im 20. Jh. werden sich Minderheiten ihrer Situation immer stärker bewußt und suchen sich von den überkommenen Machtstrukturen zu emanzipieren. Dadurch wird das gegenwärtig herrschende Staatensystem in aller Welt in Frage gestellt. Die durch Entrechtung, Terror und Vergeltung in Gang gebrachte „Spirale der Gewalt" dürfte eine der größten Gefährdungen des Friedens in der Welt von heute sein. Es wird eine Aufgabe der Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft sein, auf die
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Entwicklung eines Nationalitäten- und Volksgruppenrechts hinzuwirken, das ethnischen Minderheiten politische und kulturelle Eigenständigkeit und Selbstbestimmung garantiert. 3.7. Emanzipation als sexuelle Befreiung. N a c h d e m schon oben (Abschn. 2 u. 3.3) das Problem der —»Sexualität thematisiert wurde, m u ß sie n u n m e h r nochmals unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur Politik behandelt werden. Die Forderung nach sexueller Emanzipation verbindet sich im „Sex-Pol" mit einer Kritik der Verhältnisse der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. W e n n die Psychoanalyse —»Freuds als Unbehagen in der Kultur (1930) eine Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen feststellt, so bezieht sich das auch auf die sexuellen Beziehungen; diese werden entweder unterdrückt oder kommerzialisiert, führen jedenfalls zur Deformation der Charakterstruktur. Daher müssen veränderte Formen der Kommunikation entwickelt werden, in denen die gesamtgesellschaftliche Emanzipation vorweggenommen wird. Eine verklemmte christliche Sexualerziehung wirkt als stabilisierendes Element bei dieser Deformation mit und ist daher abzulehnen. Eine wirksame Therapie liegt nicht in der Anpassung des Individuums an die Strukturen der deformierten Gesellschaft, sondern einerseits in der Durchbrechung des „ C h a r a k t e r p a n z e r s " in Richtung auf Befreiung der Triebkräfte, andererseits in einer Liberalisierung, die schon mit der Freigabe der kindlichen Sexualität in einer dementsprechenden Sexualerziehung beginnt. Sex-Pol-Gruppen verbanden sich seit 1968 in der Bundesrepublik Deutschland mit der Außerparlamentarischen Opposition (APO). 4. Europäische
Literatur
der
Emanzipation
Emanzipatorische Tendenzen vertritt in der —»Romantik der dort gepflegte Geniekult (vgl. Schlegels Theorie der —»Ironie sowie das Prometheus-Symbol). Das Genie ist der Mensch der absoluten Freiheit ohne moralische Bindungen (vgl. F. —>Nietzsche, Jenseits von Cut und Böse, 1886). Bei aller Verschiedenheit im einzelnen ist die Literatur der Emanzipation „gekennzeichnet durch die gemeinsame Opposition gegen sämtliche in überlieferten Ordnungen, Vorurteilen, Glaubens- und Sittlichkeitssystemen aufgerichteten Schranken der sozialen Ethik" (Hermelink 111,415). In der Literatur des „fin de siècle" in Deutschland, Frankreich, Skandinavien und Rußland werden nicht nur veraltete und erstarrte Formen des Christentums angegriffen, sondern dieses in jeder Form, da es Ursache der —»Entfremdung vom Ziel erfüllter Menschlichkeit und wahren irdischen Glücks sei. Nietzsche geht es um die Rückgewinnung einer lebenbejahenden H u m a n i t ä t , die vom Christentum deformiert wurde. Im Gefolge des —»Positivismus zeigt sich der französische Naturalist E. Zola enttäuscht von der Unfähigkeit der katholischen Kirche, die sittlichen und sozialen Schäden der N a t i o n zu heilen und sieht in einer wissenschaftlich-rationalen Ersatzreligion die letzte Rettung. Der Norweger H . Ibsen wendet sich schließlich von Christentum und Kirche ab und ersehnt ein „drittes Reich" des Geistes, der vollkommenen Versöhnung und Freiheit. - Der Schwede A. Strindberg bekennt sich unter dem Einfluß Nietzsches zum radikalen Herrenmenschentum. — G. H a u p t m a n n setzt sich in der ersten Phase seines Schaffens für die soziale Emanzipation ein, w ä h r e n d H . Hesse die ersehnte moralische Revolution in der sittlichen Wiedergeburt des Einzelnen findet. — Für die gesamte neuere Literatur ist bezeichnend einmal der fast völlige Verlust der religiösen Substanz in ihren überlieferten Formen, sodann das Suchen nach einem Religionsersatz in neuer Mystik, Verabsolutierung der Arbeit, Verherrlichung der Erotik, der Fremdreligionen oder des Volkstums. 5. Kirchliche
und theologische
Stellungnahmen
zur
Emanzipation
5.1. Deutscher Protestantismus. Sowohl die geschichtliche H e r k u n f t des Emanzipationsgedankens aus der A u f k l ä r u n g wie dessen antikirchliche Tendenz erschwerten zusammen mit der Tatsache, d a ß Kirche und Theologie zu den traditionstragenden Kräften der Gesellschaft gehörten, die Rezeption emanzipatorischer Ideen. Im Grunde entscheidet sich die Stellung zur Emanzipation an der Stellung zur Aufklärung. Daraus ergibt sich, d a ß in der evangelischen Kirche Deutschlands der konservative Flügel ausgesprochen emanzipationsfeindlich ist, der liberale dagegen offen f ü r das Anliegen der Emanzipation. Befangenheit im
Emanzipation I
541
subjektivistischen Denken („Gott und die Seele") und im Transzendentalismus (Glaube = Freiheit in Gott), zusammen mit dem durch die —»Französische Revolution ausgelösten historischen Schock, läßt die auf das gesellschaftliche und diesseitige Leben bezogene Relevanz des christlichen Freiheitsgedankens verkümmern. Vertreter dieser Einstellung sind insbesondere die Theologen der Erweckungsbewegung. E. W. —»Hengstenberg stellt fest, daß die Revolution die Strafe Gottes für die Sünde des Unglaubens ist und „ohne die Entfremdung der Seelen von der christlichen Kirche nicht möglich gewesen wäre" (EKZ 1848,256). Bei ihm wie bei A.F. Chr. —»Vilmar kommt die Ablehnung emanzipatorischer Ansätze nicht nur aus theologischen, sondern ebenso aus nationalen Gründen: Eine republikanische Verfassung widerspricht „deutscher Natur und deutscher Ordnung" (Vilmar) und gehört zu den „französischen Narrheiten und Sünden" (Hengstenberg), die von Deutschen nicht nachgeahmt werden sollten. Bezüglich der sozialen Frage sieht diese Gruppe im Programm des Sozialismus nur „Unvernunft, Leidenschaft, Neid und Haß" am Werk (Vilmar: Hess. Volksfreund 1848,88). Als politische Leitidee schwebt dieser Gruppe der „christliche Staat" vor (Fr. J. —»Stahl; J. H. —»Wichern). Mit diesem verträgt sich der atheistische und antikirchliche —»Kommunismus nicht. Vor den 90er Jahren des 19. Jh war keine Gruppe innerhalb des Protestantismus bereit, die vom —»Sozialismus geforderte Verbindung der Emanzipation der Arbeiterklasse mit politischer —»Demokratie anzuerkennen. So wird die —»Sozialdemokratie die sichtbare Kirche einer neuen säkularen Religion. Pionierarbeit für den Brückenschlag zwischen Christentum und Sozialismus leisten in Europa die Bewegungen des religiösen Sozialismus, in Amerika das —»Social Gospel, ohne daß jedoch diese Bewegungen die Kirchen in ganzer Breite hätten erfassen können. Im —»Kulturprotestantismus erfolgte die liberal-theologische Rezeption des Emanzipationsbegriffs als Angebot der Koexistenz von Kirche und moderner Welt. — Selbst wenn die Frontstellung gegen die Aufklärung die —»Dialektische Theologie daran hinderte, sich das Thema Emanzipation unkritisch zu eigen zu machen, bejaht sie doch christologisch begründetes praktisches Engagement für Freiheit. Erst nach 1945 schlägt die zivilisationskritische Tendenz in der Theologie um in eine theologische Legitimierung der neuzeitlichen —»Säkularisierung; diese wird als notwendige und legitime Folge des christlichen Glaubens verstanden (Fr. —»Gogarten). 5.2. Römischer Katholizismus. Die Bilanz im Verhältnis des Römischen Katholizismus zur Emanzipation war im 19. Jh. zunächst negativ (Verurteilung des —»Liberalismus in der Enzyklika Mirari vos vom 15.8.1832). Es wird kein Verständnis für Ursache und Tragweite der Klassenkämpfe sichtbar, bis der Sozialkatholizismus zu Ende des 19. Jh. aus dem —»Naturrecht abgeleitete Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage macht (Enzyklika Rerum novarum, 1892). Hinsichtlich der Emanzipation der Frau herrschen noch bis in die Mitte des 20. Jh. patriarchalisch-hierarchische Vorstellungen, die die Rolle der Frau weitgehend auf die Gattin-, Mutter- und Hausfrauenrolle reduzieren (vgl. Ansprache von Pius XII. vom 10.9.1941 über die Autorität in der Familie). Erst seit dem —»Vatikanum II erfolgt eine positive Würdigung des Verlangens nach Freiheit. Gaudium et Spes sieht darin ein Zeichen der Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit. Der Behauptung des modernen —»Atheismus, der Gottesglaube zerstöre die Menschenwürde, sich also Emanzipation und Religion ausschließen, setzt das Konzil die These entgegen, daß individuelle und soziale Freiheit in Gott ihren Urheber und Garanten finde (Gaudium et Spes 17; Dignitas Humana 8). Die Einsicht, daß das Christentum keineswegs nur eine stabilisierende, sondern kritische Kraft ist gegenüber jeder Vergötzung kosmischer oder politischer Mächte, konkretisiert sich in der gegenüber den lateinamerikanischen Feudalstrukturen kritischen „Theologie der Befreiung" (R. Shaull; G. Gutierrez u.a.). 6. Abschließende
Stellungnahme
Emanzipation ist nur dann vertretbar, wenn Abschied genommen wird von einer ontokratischen Grundeinstellung, d.h. vom Modell einer ein für allemal im Wesen der Dinge an-
542
Emanzipation I
gelegten Ordnung des Seins (Schöpfungsordnungen), w o z u auch die Sanktionierung gegebener Herrschafts- und Unterordnungsverhältnisse gehört. Ein Ja zur Emanzipation bedeutet Aufgeben des konservativen Weltbildes, das aus Feudalismus und Patriarchalismus stammende Sozialstrukturen in die demokratische Weltzeit übernehmen will. N u r eine Theologie des sozialen Wandels, die ihren Maßstab an der in Jesus Christus erneuerten Menschlichkeit hat und davon ausgeht, daß Elemente der Erneuerung schon in der Gegenwart sichtbar gemacht werden können, wird ein positives Verhältnis zum Anliegen der Emanzipation finden. Emanzipation gewinnt jedoch ihren theologischen Stellenwert erst dann, wenn sie nicht nur als Kritik einer Theologie der —»Schöpfung, sondern auch im Kontext einer Theologie der Erlösung verstanden wird (—»Heil und Erlösung). Im Zeitalter der Säkularisierung besteht die Tendenz, daß aus dem zu einem „Grund- und Reizwort unserer Gegenwart" (Rohrmoser, Emanzipation 5) gewordenen Begriff ein Fetisch wird, der innerweltliche Erlösung durch revolutionäre Aktion signalisiert. Meist gilt dann die am Marxismus gewonnene zusammen mit der weltgeschichtlichen Realität heutiger marxistischer Systeme als Maßstab möglicher Emanzipation. Theologie wird weder damit übereinstimmen können, daß sich eine Philosophie als „letzte" ausgibt, noch daß menschliche Aktion ein Ersatz für oder eine endliche Realisierung des Reiches Gottes sein kann. Emanzipatorische Euphorie bedarf der Nüchternheit des Glaubens und der Einsicht, daß menschliches Freiheitsstreben in den Grenzen menschlicher Fehlsamkeit und Endlichkeit bleibt. Der der Emanzipationsidee zugrundeliegende anthropologische Optimismus und die Annahme, daß die Auflösung von Religion und Glauben als Gestalten menschlicher Selbstentfremdung in das Bewußtsein totaler Freiheit umschlagen würde, sind Illusionen, die mit theologischen Grunderkenntnissen unvereinbar sind. „Emanzipative Selbstbefreiung außerhalb einer Perspektive auf religiöse Erlösung gewinnt problematische und gefährliche Dimensionen, weil sie blind wird für reale Aspekte des menschlichen Lebens und auf diese Weise den Menschen reduziert" (Schillebeeckx 751). Literatur Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt J 1970. - Eberhard Amelung, Die demokratischen Bewegungen des Jahres 1848 im Urteil der prot. Theol., Diss. Marburg 1954. - William J. Amtierst, The History of the Catholic Emancipation and the Progress of the Catholic Church in the British Isles, chiefly in England, from 1771 to 1820, London 1886. - Arbeiterbewegung u. Frauenemanzipation 1889-1933, hg. v. Inst, für marxistische Studien u. Forschungen, Frankfurt 1973. - Hugo Assmann, Kritik der „Theol. der Befreiung": IDZ 7 (1974) 1 4 4 - 1 5 3 . - Roger Austey, The Atlantic Slave Trade and British Abolition, 1 7 6 0 - 1 8 1 0 , London 1975. - Auswahlbibliogr. zur Grundlagenliteratur u. zur Stellung der Frau in diesen Bereichen. Verfassung-Grundrechte, öffentlicher Dienst, Sport, Umweltschutz, hg. v. Bundesministerium des Inneren, Bonn 1976. - Gilbert H. Bames, The Antislavery Impulse, 1 8 3 0 - 1 8 4 4 , New York/London 1933.-Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig 1 8 4 3 . Jörg Baur, Freiheit u. Emanzipation, Stuttgart 1974. — August Bebel, Die Frau u. der Sozialismus, Stuttgart 1879 = Bonn 1977. - Emmy Beckmann/Elisabeth Kardel, Quellen zur Gesch. der Frauenbewegung, Frankfurt 1955. — Jeremy Bentham, Emancípate your Colonies, London 1830. - Reiner Bernstein, Zw. Emanzipation u. Antisemitismus. Die Publizistik der dt. Juden am Beispiel der „C.V. Zeitung", 1924-1933, Berlin 1969. - Karl Biedermann, Vorl. über Socialismus u. sociale Fragen, Leipzig 1847.-Auguste Blanqui, Instruktionen für den Aufstand, hg. v. Frank Deppe, Frankfurt/Wien 1 9 6 8 . Jochanan Bloch, Judentum in der Krise. Emanzipation-Sozialismus-Zionismus, 1966 (KVR 2455). Dietrich Böhler, Das Problem des „emanzipatorischen Interesses" u. seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung: ZEE 14 (1970) 2 2 0 - 2 4 0 . - Karen Böhme, Zum Selbstverständnis der Frau. Phil. Aspekte der Frauenemanzipation, 1973 ( M P F 1 0 5 ) . - Gundula Bölke, Die Wandlung der Frauenemanzipationstheorie v. Marx bis zur Rätebewegung, Berlin u. a. 1970. - José Miguez Bonino, La fe en busca de eficacia. Una interpretación de la reflexión teológica latinoamericana de liberación, Salamanca 1977. — Karl Bosl, Der Aufbruch v. Mensch u. Gesellschaft: Stauferzeit, hg. v. Rüdiger Krohn u.a., Stuttgart 1978, 11 - 27. - Lily Braun, Die Frauenfrage. Ihre gesch. Entwicklung u. wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901. Hans Ferdinand Bürki, Emanzipation. Herausforderung der Christen?, Wuppertal 1975. - Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie u. Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel u. in der Hegeischen Schule, Göttingen 1971. - Henry W.C. Davis, Catholic Emancipation: CMoH X, 1907, 6 2 0 - 6 5 4 (Lit.). - Karl-Heinz Dejung, Die ökum. Bewegung im Entwicklungskonflikt 1910-1968,
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Definittonsprobleme
Die praktisch-theologische Konkretion von Emanzipation steht aus, weil sie nur situativ im gesellschaftlichen Kontext möglich ist (Otto 2 0 3 ) . Andererseits wird einer solchen Mög-
Emanzipation II
545
lichkeit prinzipiell widersprochen (G. Kittel: Der Ev. Erzieher 25). Zwischen diesen beiden Positionen liegen Versuche, allgemeine Bedingungen der Realisierung von Emanzipation anzugeben. In jedem Fall wird jedoch von definitorischen Vorgaben ausgegangen, die grob kategorisiert werden: Emanzipation gilt (im ursprünglich rechtlichen Sinn) als Freisetzung, als Entbindung jedes Menschen aus Bevormundung, (im politischen Sinn) als Selbstbefreiung Benachteiligter und mit Bezug auf —»Marx (im „menschlichen" Sinn) als Befreiung von allen Bestimmtheiten außerhalb der Gattungsbestimmung in der Aufhebung des Privateigentums. Diese Definitionen sind jedoch so allgemein, daß sie in viele unterschiedliche Positionen eingehen. Die erforderliche Präzisierung steht aus der Perspektive der Praktischen Theologie unter einer doppelten Fragestellung: Es ist nach dem Stellenwert von Emanzipation innerhalb theologischer (religiöser) Tradition und nach der Bedeutung von Emanzipation in den Handlungswissenschaften zu fragen. —»Praktische Theologie als Handlungswissenschaft (vgl. Daiber; Zerfaß) setzt ihre Begriffe sowohl in Bezug zur theologischen Tradition wie zu den anderen Handlungswissenschaften, die hinsichtlich der praktisch-theologischen Handlungsfelder als Bezugswissenschaften gelten. Die allgemeinen Definitionen von Emanzipation müssen folglich zunächst in ihrer handlungswissenschaftlichen Rezeption dargestellt werden. Von exemplarischer Bedeutung kann dabei die Erziehungswissenschaft sein, weil sie wiederum wesentliche Problemstellungen der Soziologie, Psychologie usw. übernimmt und weil Erziehung/—»Bildung im weiten Sinn (vgl. Bönsch 11—22; Heydorn; Mollenhauer, Theorien; Schaller: Schäfer/Schaller 3 5 - 5 0 ) grundlegende Praxisfelder theologischen Handelns sind. 2. Mündigkeit
und Emanzipation
als
Erziehungsziele
In der Erziehungswissenschaft taucht der Begriff Emanzipation im Jahre 1965 auf (im Anschluß an die Frankfurter Antrittsvorlesung von Habermas v. 28. 6. 1965). Mollenhauers Buch Erziehung und Emanzipation trägt ihn 1968 in die breitere erziehungswissenschaftliche Diskussion. Der geläufige Begriff der Mündigkeit ist der Ansatzpunkt der Erörterung. Die Rezeption dieser Formel (im Rückgriff auf ihren aufklärerischen Gehalt bei —»Kant) hat in Verbindung mit unterschiedlichen bildungstheoretischen Konzepten zu zwei unterschiedlichen Basisdefinitionen geführt: Als mündig wird die reife bzw. gereifte, verantwortliche Persönlichkeit bezeichnet. Erzieherische Einwirkungen intendieren dieses Ziel (vgl. Roth 1,101.425; —»Erziehung). Die andere Position widerspricht diesem „engen" Verständnis von Mündigkeit und kritisiert es als statisch, individualistisch und pluralistisch-leer (vgl. Adorno). Adomo will den Begriff Mündigkeit dynamisch und entprivatisiert verstanden wissen: „Erziehung gegen Auschwitz" sieht Mündigkeit unter demokratischer Perspektive und betrachtet sie als kritische Kategorie gegen das „verdinglichte Bewußtsein". Rationalität realisiert sich in der „Herstellung des richtigen Bewußtseins". So wird in den Begriff Mündigkeit neben der pädagogischen eine politische Bedeutung eingetragen. In dieser veränderten „weiten" Auslegung wird er für eine Entfaltung des Begriffs Emanzipation brauchbar, gleichzeitig jedoch in seiner „engen" Tradition als Gegenkategorie zu Emanzipation verwendet (Mollenhauer, Erziehung; 5 5 - 7 4 ) . Damit wird allerdings auch die implizierte Theorie von Erziehung/Bildung verändert. Sie reflektiert nun verstärkt ihre gesellschaftlichen Bedingungen und definiert z. T. Erziehungsziele als gesellschaftlich-politische oder sogar ökonomische Ziele, was sich auch in der Unterscheidung eines herrschaftskritischen von einem bürgerlichen Begriff der Mündigkeit anzeigt (Koneffke 112). Die erziehungswissenschaftliche Verwendung des Begriffs Handlungsfeld, durch den die Vorstellung einer einseitigen pädagogischen Intentionalität korrigiert wird, entspricht der neuen Definition von Erziehung (Mollenhauer, ebd. 9 - 2 1 ; Theorien 27). Emanzipation wird zur Zielformel für Rationalität als Selbstbestimmung, die sich innerhalb vernünftiger gesellschaftlicher Zustände realisieren soll (Mollenhauer, Erziehung 55 ff. 113 ff). So wird dann auch die Idee einer partikulären pädagogischen Verantwortung als unkritisch und ideologieverhaftet zurückgewiesen.
546 3. Typologische
Emanzipation II Einordnung
von
Emanzipationskonzepten
Die erziehungs wissenschaftliche Diskussion hat genauere Bestimmungen des Emanzipationsbegriffs erbracht, zu deren Beurteilung ein systematisches Raster trotz aller Formelhaftigkeit hilfreich sein kann (zur Problemgeschichte des Begriffs Emanzipation in der Erziehungswissenschaft vgl. Hesse). 3.1. Erziehung unter dem Gesichtspunkt der Negation. Die gesellschaftliche, geschichtlich gewordene Wirklichkeit wird als die Wirklichkeit der antagonistischen Klassengesellschaft betrachtet, wobei dieser Zustand als die prinzipielle Negation des Humanen gilt. Tradition wird als Verhängnis gedeutet. Gegenwärtige Bildungsinteressen sind als ökonomische Interessen der Herrschenden zu entlarven (Rückgriff auf Bernfeld). Eine dort ansetzende Emanzipationspädagogik intendiert die Aufhebung der Klassengegensätze mit der Aufhebung des Privateigentums (Negation der Negation). Sie versteht sich als proletarische Erziehung und lehnt alle kompensatorischen pädagogischen Maßnahmen ab, da sie dadurch das Bewußtwerden der Klassensituation gefährdet sieht (Beck u. a.; Gamm; Hoernle; Kanitz; Nyssen). 3.2. Erziehung unter dem Gesichtspunkt der Affirmation. Auf der Basis eines grundsätzlich affirmativen Verhältnisses zur gesellschaftlichen Wirklichkeit erhält Erziehung das Ziel, Menschen dazu freizusetzen (zu befähigen), in der Gesellschaft Aufgaben zu übernehmen. Von daher wird Emanzipation in deutlicher Anlehnung an das ursprünglich rechtliche Verständnis definiert (vgl. Spaemann). Diese bürgerlich-liberale Definition legt „Begriffe wie ,Selbstreflexion', .Selbstbestimmung', ,Selbstdefinition', ,Ich-Identität', ,Ich-Stärke' u. ä." subjekttheoretisch aus (Nipkow, Grundfragen 1,108). Zahlreiche Kritiker der erziehungswissenschaftlichen Verwendung des Emanzipationsbegriffs müßten diesem Ansatz zustimmen können (z. B. Bath; Brezinka; Rössner), was ihnen ihr Kritischer Rationalismus erlauben würde. Die konservative Tendenz dieses Ansatzes zeigt sich auch darin, daß die institutionellen Bedingungen der Erziehung in Familie, Schule usw. nur funktional dem Erziehungsziel zugeordnet werden (Hornung). In der Erziehungswissenschaft ist dieses Verständnis von Emanzipation wenig explizit geworden, weil sein Bedeutungsgehalt vom Begriff Mündigkeit (im „engen" Sinn) weitgehend abgedeckt wird, der somit als Gegenkategorie verfügbar bleibt. 3.3. Erziehung unter dem Gesichtspunkt der Dialektik. Im Anschluß an die —»Kritische Theorie (s. o. Abschn. 1.2) hat sich ein dialektisches Verständnis von Emanzipation entwikkelt, das die Bedingungen des Rationalitätsprozesses (seine sozialen, psychischen und personalen Widersprüche) als Bestimmungsfaktoren im Prozeß der Emanzipation berücksichtigt. Die Totalität der Zielformel wird zum regulativen Prinzip; Emanzipation gilt als fortschreitende „Verringerung von Beschränkungen für die Artikulation und Befriedigung menschlicher Bedürfnisse" (Lempert, Begriff 219; vgl. auch Narr 213). Dabei wird der Prozeß der Emanzipation schon als eine Realisierung des Zielzustandes definiert und zugleich auch immer als Weg zum Ziel betrachtet (Blankertz; Dahmer; von Hentig; Klafki; Lempert; Mollenhauer usw.). Aus dieser Perspektive ergeben sich Überlegungen zur inneren und äußeren Schulreform (Gesamtschule, Orientierungsstufe usw.), werden handlungsorientierte „offene" Curricula angeregt, kompensatorische Maßnahmen (Stützunterricht, Liftkurse usw.) und weitgehende Demokratisierung im Schulalltag als „Vorgänge mit Ernstcharakter" (Mollenhauer, Erziehung 72) gefordert. Die pädagogische Problematik dieses Ansatzes liegt in der Konkretisierung der Idee des „wahren Lebens", die den Emanzipationsprozeß leiten muß. Da jeder erreichte „Näherungszustand" wieder der kritischen Negation erliegt, bleibt jede ,ftähere Sinnbestimmung" (Nipkow; Grundfragen 1,124) fragwürdig. Letztenendes wird dadurch zwar einer Ideologisierung entgegengetreten, aber es besteht gleichzeitig die Gefahr, daß wegen fehlender konkreter Sinnorientierung nach der Ansicht von Kritikern Erziehung unmöglich wird: „Das Erziehungsziel,Emanzipation' hat einen totalen logischen Spielraum; es verbietet nichts, ist leer" (Rössner: ZP 18,616). Die praktischen Konsequenzen, die konkreten Anregungen und Vorschläge für den Schulalltag und die Unterrichtspra-
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xis machen aber deutlich, daß die emanzipatorische —»Pädagogik wohl kaum eine Entscheidungslogik vermissen läßt. Größer ist zweifellos das Problem der Ideologisierung. So werden dann auch von der „Kommunikativen Didaktik" (Schäfer/Schaller) andere Akzente gesetzt: Emanzipation ist nicht ein inhaltlich definiertes Ziel sondern die „schlechthinnige Voraussetzung" für „Mitteilung von Informationen und deren rational-kommunikatives Durchsprechen im Unterricht". Jeder Absolutheitsanspruch im Erziehungsziel als „Eschaton in einer bestimmten Gestalt der Gesellschaft" ist abzuweisen. Die „rational-kommunikative Ver-Handlung von Wirklichkeit" sieht diese als „Kommunique" und sucht eine immer neue Verständigung darüber. So wird schließlich auch der subjektivistischen Verengung der Emanzipation begegnet werden können: Emanzipation verlangt, „sich von sich im Zirkel reflexiver oder gesellschaftlicher Selbstbefriedigung zu emanzipieren" (Schaller: Schäfer/Schaller 90.88.62.10ff.61). Von hierher kann das bürgerlich-liberale bzw. liberalistische Verständnis von Emanzipation kritisiert werden, dessen subjekttheoretisch verstandene Kategorien von Selbstbefreiung, Selbstdefinition etc. eine „grundsätzliche anthropologische Verkürzung des menschlichen Lebenszusammenhangs" enthüllen (Nipkow, Grundfragen 1,112). 4. Weiterführende
Problemperspektivcn
Die wesentlichen Streitpunkte der erziehungswissenschaftlichen Diskussion über Emanzipation drücken sich in den ineinander verschränkten Fragen nach dem Wirklichkeitsverständnis, dem Menschenbild und dem Konzept von Erziehung aus. Die Kritiker des Emanzipationskonzepts kritisieren die geringe Bedeutung, die nach ihrer Meinung der Tradition und der bestehenden Wirklichkeit zugesprochen wird (Brezinka, Pädagogik der Neuen Linken, Cillien; Dienst, Erziehung; Günther/Wieleke/Willeke; Hornung usw.). Daraus ergibt sich für sie auch die Forderung nach empirischen Untersuchungen statt formaler Begriffsdefinition (Brezinka, ebd.; Bath) und nach Abwendung von rein rationalistischen Zugängen zur Wirklichkeit (Brezinka, ebd.; Braun; Cillien usw.), was eine Überprüfung des implizierten Menschenbildes und der Erziehungsziele einschließt. Diese Kritik hat zweifellos die Diskussion befruchtet. Empirische Untersuchungen werden allgemein als notwendig erachtet, zumal sie auch von vielen Befürwortern des Emanzipationskonzepts von Anfang an gefordert wurden (Hilligen; Lempert; Mollenhauer; vgl. auch Benner; Hesse; Giesecke). Aber einem rein empirisch-analytischem Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnis wird widersprochen (Mollenhauer, Erziehung 10; Theorien 32ff). So kommt es zu sehr verschiedener Einordnung von empirischen Untersuchungen (vgl. Mollenhauer, Theorien 53; und Brezinka, a.a.O. 35 zu den Untersuchungen von Fend) und entsprechend unterschiedlicher Definition von Wirklichkeitssinn. Die Forderungen nach Relativierung des rationalen Grundansatzes erscheinen verständlich (Braun; Brezinka, ebd.; Cillien; Dienst, Erziehung usw.), wenn auch der teilweise unkritische Rückzug auf vorrationale Wirklichkeitserfahrung der Selbstbefangenheit verhaftet bleibt und den pädagogischen Wert von Bindung und Sinnorientierung pervertiert (vgl. dazu Zilleßen, Abschied). Für diese Problemstellung wurde besonders die Erfahrung der Umweltbedrohung und Güterknappheit wichtig: Die Beherrschung der inneren und äußeren Natur wird als sinnvolle Möglichkeit kommunikativer Selbstbestimmung fragwürdig. Es liegt eine technologische Überschätzung vor, wenn von emanzipatorischer Aktivität erwartet wird, den ökonomischen Mangel „durch technischen Fortschritt" und „zunehmende Beherrschung der äußeren N a t u r " beheben zu können (Lempert, Begriff 220). Rationalität als bloße Kontrolle zu verstehen, dokumentiert ein problematisches patriarchalisches Verhältnis zur (inneren und äußeren) —»Natur. Diese Feststellung fuhrt zu der Forderung, das rein rationale Verständnis von Emanzipation ohne Rückfall in Vorrationalität zu korrigieren, so daß sich kommunikative Selbstbestimmung und Hingabe, Reflexion und Kontemplation, Reden und Hören (im weitesten Sinn) miteinander vermitteln lassen (vgl. Kreit 120). Diese Korrektur könnte die Möglichkeit bieten, eine neue pädagogische (und auch politische) Definition von Emanzipation zu gewinnen, wie sie bereits früher gefordert wurde (Giesecke 1969).
548 5. Kirchliche
Emanzipation II Stellungnahmen
Praktische Theologie als Handlungswissenschaft darf von der erziehungs wissenschaftlichen Diskussion über Emanzipation eine erste Klärung der praktisch-theologischen Emanzipationsproblematik übernehmen. Die in dieser Diskussion zutage getretenen Präzisierungen, Relativierungen und neuen Perspektiven sind geeignet, auch innerhalb der Praktischen Theologie wieder ein Gespräch über Emanzipation zu eröffnen. Ob allerdings von christlicher Erlösungstradition her ein prinzipieller Widerspruch zu allen Konzepten von Emanzipation anzunehmen ist, bleibt die Frage (vgl. Janowski; Metz). Es hat jedoch den Anschein, als würden die neuen Gesichtspunkte von kommunikativer Selbstbestimmung und Hingabe etc. in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion der christlichen Tradition nicht prinzipiell widersprechen. In dieser Hinsicht spiegeln die kirchlichen Stellungnahmen zur Erziehung/Bildung unterschiedliches Problembewußtsein: Die Spannbreite im evangelischen Bereich reicht von Zustimmung zu dem Konzept „emanzipatives Lernen" und „Selbstbestimmung" (EKD 1972) über die Formulierung von Bedenken gegenüber „Emanzipation und Selbstbestimmung" (EKD 1975) bis hin zum Verzicht auf die Begriffe Emanzipation und Selbstbestimmung unter Hinweis auf die Versuchung des Machens „um jeden Preis" (EKD 1979). Dabei bleiben die Orientierung kirchlichen Handelns vom Evangelium her (EKD 1972) und die Explikation christlicher —»Freiheit von der Rechtfertigungslehre her (EKD 1975) stets die Ansatzpunkte. War aber noch 1975 von der Spannung zwischen Emanzipation und Bindung die Rede sowie von der kritischen Aufnahme und Verarbeitung des Emanzipationsbegriffs durch die Theologie, so scheint es, als wäre diese Möglichkeit 1979 nicht mehr zu sehen. Dennoch enthalten auch die Dokumente von 1979 manche konkreten Uberlegungen zur Dialektik von „bestimmt sein" und „bestimmen", von Gabe (Vergebung) und Mitwirkung unter der Zielstellung, „seine Bestimmung als Mensch zu finden und zu verwirklichen" (EKD 1979, 111). Aber letztenendes zeigen die fehlende Stellungnahme zur Problematik von Emanzipation und die fehlende Problematisierung des Erziehungsbegriffs den Trend zur Resignation (EKD 1979,85), wie er auch in der öffentlichen Diskussion sichtbar wird. 6. Religionspädagogische
Emanzipationskonzepte
In der Praktischen Theologie und besonders in der —»Religionspädagogik wurde das Thema Emanzipation in vielfältiger Weise und unter verschiedenen Perspektiven indirekt seit 1968 (H. Stock) und direkt seit 1970 (Stachel; Vierzig, „Emanzipation") diskutiert. Das Beispiel der religionspädagogischen Debatte über Emanzipation macht die entscheidenden Probleme sichtbar. Dabei ist es hier unwesentlich, ob das Verhältnis von Praktischer Theologie und Religionspädagogik geklärt ist (vgl. dazu Nipkow, Grundfragen I,174f; A. Stock). In jedem Fall ist die Grundfrage, ob Theologie (Religion) mit Emanzipation als Lernziel vereinbar ist oder ob Emanzipation prinzipiell Theologiekritik (—»Religionskritik) einschließt. So wurden bei den meisten religionspädagogischen Diskussionen des Themas Emanzipation stets die anthropologischen Aussagen der religiösen bzw. biblisch-christlichen Tradition erörtert (Dienst, Religion; Grosch, Religionspädagogik; G. Kittel; Biehl/Kaufmann; H. Stock, Religionsunterricht; Wegenast). Es kam zur Ausbildung religionspädagogischer Grundtypen des Verhältnisses von Emanzipation und Erlösung, wobei den unterschiedlichen Begriffen von Emanzipation ebenso unterschiedliche Konzepte von Erlösung gegenüberstanden. Religionsunterricht als Ermöglichung von Selbstbestimmung. 6.1. Emanzipatorischer Dieser Typus des emanzipatorischen Religionsunterrichts setzt sich das Ziel, zur Selbstverwirklichung der Schüler beizutragen, zur Veränderung individuellen und gesellschaftlichen Lebens „auf Gerechtigkeit, Friede, Liebe und Freiheit hin" (Vierzig, Ideologiekritik 142 mit Bezug auf Solle). Auf der Basis der —»Kritischen Theorie wird versucht, die absichernden und befreienden Elemente von Religion miteinander zu vermitteln, wobei sowohl die theologische Konzeption von P. —»Tillich als auch die Politische Theologie in ihren verschiedenen
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Ausprägungen eine Rolle spielen. In diesem Sinne wird das in der Rechtfertigungslehre artikulierte Verständnis christlicher Freiheit (als Basis für den emanzipatorischen Religionsunterricht) ausgelegt und jedes idealistische Verständnis der Freiheit als Freiheit des Bewußtseins zurückgewiesen. Hier wird die christliche (religiöse) Freiheitstradition in ihren konstitutiven Elementen ungebrochen mit der Emanzipationsvorstellung vermittelt. Es versteht sich, daß dabei der Rückgriff auf das „Leben Jesu" von Bedeutung ist. Viele religionspädagogische Positionen entsprechen mehr oder weniger modifiziert diesem Grundtyp (Halbfas, Revision; Vierzig usw.; Emanzipation als Ziel, nicht als Endziel: Esser; Türk). 6.2. Emanzipatorischer Religionsunterricht als Sozialunterricht/Politischer Unterricht. Dieser Typus des emanzipatorischen Religionsunterrichts sieht im wesentlichen nur die gesellschaftliche Funktion der Religion (von daher dann erst die personale). Emanzipation und Erlösung werden identifiziert, ohne daß die individuelle Perspektive der Rechtfertigungslehre definitorisch mit in den Begriff Emanzipation eingeht. Es macht sich eher ein religionskritischer Ansatz bemerkbar, so daß z. B. biblische Tradition von einem pauschal auf Befreiung von (äußeren) Zwängen festgelegten Emanzipationsbegriff her bewertet wird, was sogar die „Umfunktionierung" biblischer Texte einschließt (Otto/Rauschenberger; Otto/Dörger/Lott; im Ansatz auch Rickers). Kollektivistische Tendenzen sind nicht zu übersehen (Dross). Auch in diesem Typ des emanzipatorischen Religionsunterrichts wirkt die Kritische Theorie nach, allerdings z. T. in revisionistischer Interpretation (im Vergleich zur Entwicklung der Position von Habermas). Als theologische Basis fungiert fast durchgängig die Politische Theologie, wobei jedoch die präzise Erörterung der theologischen Problematik von Emanzipation und Erlösung etwa unter der Fragestellung von Leiden und Selbsterlösung (vgl. Janowski) unterbleibt. 7. Differenzierungen
und Ausblick
Die Probleme dieser beiden Grundtypen des emanzipatorischen Religionsunterrichts sind in der Folgezeit deutlich erkannt worden. Weitergeführt haben auch die differenzierte Kritik am emanzipatorischen Religionsunterricht (Grosch, Religionspädagogik), selbst die pauschale Verurteilung (G. Kittel), die umgehend den Widerspruch evozierte (Kaufmann; Schröer). Konzepte, die stärker sozialisationstheoretisch und auch psychoanalytisch orientiert sind, haben von Anfang an die Diskussion um den emanzipatorischen Religionsunterricht befruchtet (Reiser; Stoodt). Innerhalb der Problemdiskussion wurde zunehmend nach der Bedeutung des christlichen Freiheitsverständnisses gefragt in deutlicher Abgrenzung zu einer ungebrochenen Übernahme undifferenzierter Emanzipationskonzepte (Biehl/Kaufmann; Feifei, Modelle). Inzwischen scheint sich wiederum unter Aufnahme wichtiger Elemente der Kritischen Theorie die problembewußte Betrachtungsweise durchzusetzen. Es wird eine Art dialektische Vermittlung der christlichen (religiösen) Freiheitstradition mit der Emanzipationsvorstellung für möglich gehalten und gleichzeitig die Spannung beider Ansätze bewußter gemacht (Biehl/Kaufmann; Nipkow, Grundfragen): Befreiung durch Zuspruch steht in Spannung zur Selbstbefreiung als „Prozeß kritischer Negation", beide jedoch haben in der „vorgängigen Verschränkung von Individuum und Welt, Freiheit und sozialer Lebensform (Gemeinschaft)" (Nipkow, Grundfragen 1,176.124) ihre kommunikative Basis. Der konkrete Sinngehalt dieser kommunikativen Basis kann „sich auf die Idee des gelungenen' bzw. .wahren Lebens' richten", was aus der Sicht „christlicher Glaubenserfahrung" der Idee „der verheißenen und schon angebrochenen Gemeinschaft mit Gott und mit den anderen Menschen" entspricht (Nipkow, Grundfragen 11,35). Diese Formulierungen lassen zwar das Problem des Gottesbegriffs ungeklärt, so daß die Vermittlung von Erlösung und Emanzipation Ietztenendes abstrakt bleibt. Aber deutlicher als früher wird hier dem instrumentellen Denken entgegengetreten. Statt der Herrschaft der instrumenteilen Vernunft zu erliegen, kommt nun stärker —»Erfahrung in kommunikativer Verständigung in den Blick. Dadurch kann eine Beziehung zu gegenwärtigen Tendenzen im Bereich der Erziehungswissenschaft und —»Didaktik (vgl. dazu Kreft) hergestellt werden. Mit der Betonung der kommunikativen, nicht patriarchalischen Beziehung zur (inneren und äußeren) Natur könnte das Ge-
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s p r ä c h über E m a n z i p a t i o n w i e d e r offengehalten w e r d e n (vgl. Zilleßen, Abschied). Es ist m ö g l i c h , d a ß dabei der E m a n z i p a t i o n s b e g r i f f in der Diskussion bleibt, in die die Religionsp ä d a g o g i k ihre V o r s t e l l u n g e n einer Z u o r d n u n g v o n V e r g e b u n g (auf der Basis v o n Liebe und Solidarität) und Selbstbefreiung als e r m ö g l i c h t e Freiheit einbringt.
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552
Emblem/Emblematik
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Dietrich Zilleßen Emblem/Emblematik 1. Gegenstand 2 . Traditionen 3 . Abgrenzung gegenüber anderen Formen und Gattungen 4 . Wirkungen (Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 5 5 7 )
1.
Gegenstand
Das Emblem ist eine literarisch-graphische Mischform, die ihren Auslegungsgegenstand selbst darstellt und partiell oder vollständig auslegt. Gedeutet werden können grundsätzlich sämtliche Dinge (res) der Welt und sämtliche Handlungen (gesta) des täglichen Lebens und der Geschichte (einschließlich biblischer und mythologischer Ereignisse). Die Vorausgesetz-
Emblem/Emblematik
553
ten oder im Emblem ausgeführten Deutungsverfahren können denen der Bibelexegese bzw. der —»Allegorese gleichen (s. Jons). 1531 erschien in Buchform das erste Werk (s. Alciatus), das seine Einzelteile als emblemata bezeichnet (s. Miedema). Versuche der Forschung, das Emblem oder das Emblembuch vor allem von diesem Werk des Bologneser Juristen Alciatus her zu bestimmen, werden der Vielfalt der Erscheinungen und Funktionen der Emblematik, die im 16. bis zum späten 18. Jh. in Europa wirksam war und sich weiterentfaltete, nicht gerecht. Weder die Vielfalt der späteren noch die relative Einheitlichkeit der früheren Emblematik (bis um 1600) ist klar aus einer bestimmten Tradition abzuleiten (s.u. Abschn. 2).
Spezifisch für die Emblematik insgesamt ist die enge Verflechtung von deutungsfundierenden mit deutungsanregenden oder -ausführenden Teilen, an denen Text und Bild Anteil haben. Häufig, aber nicht im Sinne eines Spezifikums geschieht dieses in Gestalt der emblematischen Trias (dazu Schöne): Das thema- oder aussageandeutende Motto (auch lnscriptio, Lemma), die objektdarstellende Pictura (auch lcon), die manchmal auch deutende Teile enthält, und die ausdeutendeSubscriptio (auch Epigramm). Großformen des Emblems können die Trias sprengen, etwa durch Mehrgliedrigkeit des verbalen Deutungsteils (z. B. in Übergängen zur Predigt bei dem Jesuiten Johannes David oder dem Lutheraner Johann Michael Dilherr). Andere Großformen können durch eine Anordnung von Emblemgruppen entstehen, die durch Thema, Ikonographie, Reim usw. miteinander verbunden sein (z.B. sog. dreiständige Embleme von Gregor Kleppisius oder Georg Philipp Harsdörffer) oder in Reihen- oder Zyklusform profane oder spirituelle Lebensregeln formulieren können (z. B. in Innenraumdekorationen oder in —»Fürstenspiegeln nach Art Saavedras). Außerhalb des Buches gibt es häufiger auch das isolierte Einzelemblem (an einzelnen Gebrauchsgegenständen, impresen- oder devisenähnlich in Verbindung zu einer bestimmten Person, zur verknappten Deutung von Institutionen, Berufen, Büchern usw.; s. Abschn. 4); dabei kann der dritte, deutungssichernde Teil fehlen, so daß dem Leser oder Betrachter die Vollendung des Emblems durch eigene Deutung überlassen bleibt. Eine Ausweitung des Emblembcgriffs aber, wonach etwa jedes Erkennungszeichen, jede Wort-Bild-Relation oder jedes bedeutungstragende Ding als ,Emblem' zu verstehen wäre, wird dem historischen Phänomen des Emblems, das durch einen werkimmanent fundierten und ausgeführten Deutungsakt bestimmt ist, nicht gerecht (s. Abschn.4 u. die im Literaturverzeichnis genannten Einführungen). 2.
Traditionen
Die Emblematik insgesamt setzt nicht linear einzelne Bild- und Deutungstraditionen fort und nimmt auch selbst nicht einsträngig einen klaren Verlauf. Direkte oder modifizierende Rückgriffe auf Vorformen oder stützende Denkform- und Bedeutungstraditionen sind aber jederzeit, auch unter Umgehung von schon vorangegangenen Stufen der Emblematik (z. B. der gelehrten Emblematik des 16. Jh.), möglich. In der Regel stehen die einzelnen Emblembücher oder andere Erscheinungen der Emblematik unter der Wirkung mehrerer poetischer, ikonographischer und exegetischer Traditionen zugleich, die dem einzelnen Autor einen mehr oder minder großen Spielraum lassen. 2.1. Aus der Tradition des griechisch-römischen Epigramms, besonders aus der Anthologia Graeca, Anregungen zu übernehmen, lag den späthumanistischen Emblembuchautoren nahe (s. Praz 2 5 - 3 4 ; Daly, Literature 9 - 1 1 ) . Hierzu können allgemein Form und Motivik älterer Epigrammliteratur gehören, aber auch spezieller die Annahme, daß ein Epigramm einem tatsächlich oder fiktiv vorgegebenen Bild gewidmet sein könne. Griechische und lateinische Spruchdichtungen konnten auch über mittelalterliche oder im Humanismus entstandene —»Florilegien vermittelt werden (s. Virginia Woods Callahan, The Erasmus-Aliciati-Friendship: Acta Conventus Neo-Latini Lovaniensis, München 1973, 133 —141, zu einem wichtigen Teilgebiet); umgekehrt waren zeitgenössische und spätere Florilegien für emblematische Beiträge aufnahmebereit (s.u. Abschn.3). 2.2. Im Zuge der zur Zeit des —»Humanismus aufkommenden Interessen an allem, was man für ägyptisch hielt, versuchte man, Hieroglyphen oder das, was man dafür hielt, als eine heilige Bilderschrift zu enträtseln (s. Karl Giehlow, Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance, bes. der Ehrenpforte Kaisers Maximilian I.: Jb. der kunsthist. Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 32 [1915] 1 - 2 3 2 ; Lieselotte Dieckmann, Hieroglyphics, St. Louis 1970). In der frü-
Emblem/Emblematik
554
hen gelehrten Emblematik konnte die emblematische Darstellung und Deutung eines rätselhaften Gegenstandes als ein der Hieroglyphendeutung analoger Fall angesehen werden. Die Hieroglyphendeutung selbst wurde aber im Zuge der interpretatio christiana (besonders durch Athanasius Kircher) als Sonderfall christlich-allegorischer Weltdeutung verstanden. Für die weitere Entwicklung der europäischen Emblematik insgesamt blieb die humanistische Hieroglyphen-Faszination unbedeutend. 2.3. Durch außerliterarische Gepflogenheiten besonders im französisch-italienischen Raum konnte auf die frühere Emblematik eine spezielle Verbindung von Spruch und Bild einwirken: Devisen oder Wahlsprüche mit zugehörigem, oft heraldisch bestimmtem bildlichen Zeichen konnten für militärische oder zivile Vereinigungen und für Einzelpersonen erfunden werden und der Identifizierung wie auch der Zielbestimmung dienen. Bücher, die dieser Devisen- oder Impresenkunst gewidmet sind (z. B. von Paolo Giovio, Claude Paradin, Jacobus Typotius), konnten auf Emblembücher oder einzelne Embleme einwirken (s. Dieter Sulzer, Zu einer Gesch. der Emblemtheorien: Euphorion 6 4 [1970] 2 3 - 5 0 ) . Auch in späterer Zeit ist, besonders durch eine allegorische Deutung heraldischer Zeichen, eine Annäherung von personbezogener Imprese und zu objektiver Aussage tendierendem Emblem immer wieder möglich (Harms/Freytag 1 3 7 - 1 4 3 ; Daly, Literature 2 1 - 3 2 ) . 2.4. Mit der ursprünglich antiken, für die frühe Neuzeit aber durch die Autorität der Bibelexegese bestimmten Verfahrensweise der Allegorese ( s . T R E 6,346) ist die Emblematik formal und inhaltlich verbunden. Gemeinsam ist ihnen die Aufgabe und das formale Verfahren, der Welt Bedeutungen abzulesen, sei es den Dingen der Welt und den Handlungen der Geschichte unmittelbar oder, was für die Emblematik nur im religiösen Bereich gelten kann, den Dingen und Ereignissen in der biblischen Darstellung (Jons). Für die Kenntnis und die Legitimation derartiger Deutungsgewinnung war durch die exegetische Leistung der breitwirkenden Predigt jahrhundertelang eine feste Konvention entstanden, die zusätzlich durch exegetische Spezialliteratur, wie Bestiarien, Herbarien, Lapidarien und allegorische Wörterbücher, gestützt worden war und auch während der Entfaltung der Emblematik wirksam blieb. Außer der exegetischen Verfahrensweise der Allegorese kann die Emblematik auch punktuelle Deutungsergebnisse der allegorischen Tradition entnehmen (z.B. den Pelikan als Zeichen des Erbarmens, den Kranich als Zeichen der Wachsamkeit), doch bleibt die Emblematik so sehr Bestandteil dieser Tradition, daß Neudeutungen der Emblematik in außeremblematische allegorische Zusammenhänge übernommen werden können. In vielen Fällen kann das Emblem als eine besondere Kunstform innerhalb des umfassenden Komplexes allegorischer Formen angesehen werden, unabhängig davon, ob die religiösen Voraussetzungen für die Deutung einer als Sprache Gottes verstandenen Welt noch gelten oder nur zu gelten scheinen (Henkel/Schöne XVI f). 2.5. Anknüpfungen an antike und mittelalterliche Traditionen verbaler und bildlicher Art zugleich können in der metaphorischen Qualität von Emblemen liegen (s. Schilling), wobei dingliche Bestandteile einer Metapher schon vor oder auch erstmals in der Emblematik Objekt von Deutungen geworden sein können. Umgekehrt kann eine emblematisch gedeutete Dinglichkeit Grundlage neuer Metaphern verbaler Art oder neuer graphischer Bildlichkeit werden. Künftige Emblemforschung wird stärker zu berücksichtigen haben, daß die Emblematik gegenüber mehreren literarischen und bildkünstlerischen Traditionen offen war und gegenüber zeitgenössischen Denk- und Kunstformen in einem Verhältnis wechselseitigen Austausches stand (s.u. Abschn. 3). 3. Abgrenzung
gegenüber
anderen
Formen
und
Gattungen
Ihrem inhaltlichen G e g e n s t a n d und ihren F u n k t i o n e n n a c h k ö n n e n E m b l e m b ü c h e r wie auch außerliterarische E m b l e m e sehr unterschiedlich angelegt sein. D e r S t a n d , der B e r u f und das übrige O e u v r e eines E m b l e m b u c h a u t o r s k ö n n e n intendierte und tatsächliche F u n k t i o nen eines s o l c h e n B u c h e s deutlich o d e r u n t e r s c h w e l l i g b e s t i m m t h a b e n (dazu u . a . H o l g e r H o m a n n , Studien zur E m b l e m a t i k des 1 6 . J h . , U t r e c h t / L e i d e n 1 9 7 1 ; K a r l J o s e f H ö l t g e n , Francis Q u a r l e s [ 1 5 9 2 - 1 6 4 4 ] , T ü b i n g e n 1 9 7 8 ) . Einige dieser U n t e r s c h i e d e lassen sich daraus e r k l ä r e n , d a ß das einzelne e m b l e m a t i s c h e W e r k eine unterschiedliche Affinität zu anderen Kunstgattungen und G e b r a u c h s f o r m e n h a b e n k a n n (vgl. auch bei H e c k s c h e r / W i r t h den V e r s u c h , in einer E m b l e m b u c h t y p o l o g i e den F u n k t i o n s a s p e k t zu b e a c h t e n ) . D i e folgende Beispielreihe k ö n n t e erweitert w e r d e n . 3.1.
Z u r —»Predigt h a t die E m b l e m a t i k ein g r u n d l e g e n d n a h e s V e r h ä l t n i s , da durch beide
in einem vorgegebenen S a c h v e r h a l t durch e x e g e t i s c h e A k t e , die ü b e r den B u c h s t a b e n s i n n h i n a u s f ü h r e n , eine o d e r weitere S i n n e b e n e n e r k e n n b a r g e m a c h t w e r d e n (s. Friedrich O h l y , V o m geistigen Sinn des W o r t e s i m M A : ders., S e h r , zur m a . B e d e u t u n g s f o r s c h u n g , D a r m stadt 1 9 7 7 , 1 - 3 1 ) . B e s o n d e r s in religiöser E m b l e m a t i k k a n n dabei e n g an mittelalterliche D e u t u n g s t h e o r i e n , die einen m e h r f a c h e n Schriftsinn b e g r ü n d e n , angeschlossen
werden
Emblem/Emblematik
555
(—»Schriftauslegung; vgl. TRE 6,347f); gerade der katholische Anteil an literarischer und außerliterarischer Emblematik, ist durch die Forschung aber erst wenig bewußtgemacht worden (s. G. Richard Dimler, A Bibliographical Survey of Jesuit Emblem Authors in German-Speaking Territories: AHSJ [1976] 1 2 9 - 1 3 8 ) . Ein predigtähnliches Verhalten gegenüber einer ding- und ereignishaltigen Vorlage gilt für die Emblematik aber auch dann, wenn keine spirituelle Thematik behandelt und dem Leser keine spezifisch religiöse Weltdeutung angeboten wird. Hier gibt es fließende Ubergänge zur Weltdeutung durch die —»Rhetorik bzw. durch die exegetische Rede (s.Stopp). Das einzelne Emblem kann in den Dienst größerer homiletischer und katechetischer Funktionszusammenhänge gestellt werden (s. Willard James Wietfeldt, The Emblem Literature of Johann Michael Dilherr, Nürnberg 1975). Eine konkretisierte Verbindung von Emblematik und Predigtpraxis liegt dann vor, wenn ein Prediger emblematische Darstellungen (z. B. auf Tafeln) seinen Hörern vor Augen hält oder auf sie im Kirchenraum hinweist und derartige Visualisierungen eines auszulegenden Sachverhalts dann im Laufe der Predigt deutet (s. Martin Scharfe, Ev. Andachtsbilder, Stuttgart 1968, 2 4 1 ff; Dietrich Walter Jons, Die emblematische Predigtweise Johann Sauberts: Rezeption u. Produktion zw. 1570 u. 1730, FS Günther Weydt, Bern/München 1972, 137-158).
3.2. Zur naturkundlichen Literatur behält die Emblematik bis ins 18. Jh. hinein ein Affinitätsverhältnis, da auch in empirisch-deskriptiv angelegten wissenschaftlichen Werken über die einzelnen Bereiche der Natur in diesem Zeitraum die Vermittlung von Ergebnissen der Naturdeutung in oft breitem Maße miteinbezogen wird. Daher kommt es auch hier zu einem Austausch von Leistungen: Embleme können in naturkundlichen Werken systematisch zitiert werden (z.B. bei Konrad Gesner und Ulisse Aldrovandi), und Emblematik kann in systematischem, auch auf Deskription gestütztem Zugriff die Bereiche der Natur deuten (z. B. bei Camerarius); auch in der bildenden Kunst können deutende (z.B. emblematische) und abbildende Naturerfassung einander wechselseitig beeinflussen1. 3.3. Einige lyrische Formen, besonders das Sonett, können in ihrer Abfolge von Themenangabc, Beschreibung eines Bildes oder Objektbereichs und Deutung strukturell dem Emblem ähneln (s. Jons; Peter M. Daly, Dichtung u. Emblematik bei Catharina v. Greiffenberg, Bonn 1976; Urs Herzog, Divina Poesis, Tübingen 1976). Die erzielte Aussage ist dann entsprechend sicher fundiert wie beim Emblem oder wie letztenendes bei der Exegese einer Predigt. Im Drama des Barock kann es zu ähnlich strukturierten werkimmanenten Auslegungen kommen (s. Schöne), doch gibt es hier fließende Grenzen zu allgemeinen, nicht streng emblemähnlichen Reflexionen über das dramatische Geschehen. 3.4. Unter den poetischen Gattungen ist die Fabel in Struktur und Leistung der Emblematik gut vergleichbar, auch wenn die Motivtraditionen und die exegetischen Voraussetzungen oft geschieden bleiben. Wo sich die Traditionen der Ding-(besonders Tier-) Allegorese und der Äsopischen Fabel einander annähern, können Fabel und Emblem ineinander übergehen (s. Barbara Tiemann, Fabel u. Emblem, München 1974). Auch sonst sind bei Fabel und Emblem Leistungen ihrer Weltdeutung vergleichbar (s. Monika Hueck, Textstruktur u. Gattungssystem, Kronberg 1975), jedoch kann nicht davon ausgegangen werden, daß im 17. Jh. das Emblem eine angebliche Lücke in der Fabelproduktion im Sinne einer Gattungssystematik ausgeglichen habe. 3.5. Die Affinität zum Rätsel, von der zeitgenössischen Emblemtheorie oft hervorgehoben, liegt in der Spannung, die aus einem zunächst unklaren Zusammenhang zwischen Motto und Pictura entsteht, bis dann die Subscriptio die gewünschte Klärung bietet. Der Emblemleser kann auch von dem Emblem als Ganzem zu einer Eigenleistung des Deutens angesichts einer änigmatisch angelegten Aussage veranlaßt werden; denn neben der totalen Exegese, die keinerlei Spielraum für Erwägungen des Lesers läßt (z.B. bei Johannes David, George Withers u.a.), gibt es die stark reduzierte Deutung, die in sehr kurzen Hinweisen hohe Anforderungen an die literarischen und ikonographischen Assoziationsfähigkeiten des Lesers stellt 2 . 3.6. Emblembücher und außerliterarische Reihen von Emblemen können streng oder locker einem Thema zugeordnet sein und darin der Sapientia- oder Prudentia- Vermittlung
556
Emblem/Emblematik
von Spruchsammlungen ähneln. In diesen Bereich gehört auch die Entstehung und Vermittlung von Emblemen in Stammbüchern, die ein privates Nachbarphänomen zu publizierten Spruchanthologien sind. Auch hier erweist die Emblematik ihre Leistungsfähigkeit und Überzeugungskraft im Dienste der Welterschließung und Lebensorientierung. 4.
Wirkungen
Die Wirkung der Emblematik erstreckt sich auf sämtliche Lebensbereiche, wobei innerhalb des Zeitraums vom 16. bis zum späten 18. Jh. und innerhalb der einzelnen Kulturräume Europas unterschiedliche Akzentuierungen zu bestimmen wären. Die Autorisierung einer emblematischen Aussage ist grundsätzlich nicht dadurch unterschieden, ob sie innerhalb eines Emblembuchs oder in einer der vielfältigen außerliterarischen Erscheinungsformen der Emblematik auf den Leser einwirkt. Spätestens ab 1600 ist die Erfindung neuer Embleme wie innerhalb so auch außerhalb von Büchern üblich; das inneremblematische zitathafte Weiterwirken eines Emblems ist dann also nicht mehr nur vom Buch in Richtung auf einen außerliterarischen Zusammenhang, sondern ebenso auch von dort in Richtung auf das Buch möglich (s. z.B. Peter Isseiburgs und Georg Rems Emblemata politica, zuerst Nürnberg 1617). Wie gerade auch klösterliche Emblemprogramme zeigen, gab es auch außerhalb der Buchemblematik bis ins 18. Jh. ein erhebliches schöpferisches Potential 3 . Der literarischen und der außerliterarischen Emblematik könnte man (mit umstrittenem Begriff; klärend hierzu Dietmar Peil: Germ.-Roman. Monatsschr. 29 [1979] 2 0 0 - 2 0 5 ) eine angewandte Emblematik gegenüberstellen. Hierzu wäre die Verwendung von Emblemen zu rechnen, die an anderem Ort und eventuell für andersartige Zusammenhänge konzipiert und publiziert worden waren, wie es schon von Praktikern und Theoretikern der Emblematik selbst nahegelegt worden ist 4 . In dieser Weise konnte Emblematik ,angewandt' werden bei Festdekorationen zu Hochzeiten, Triumphzügen usw., als außen- und innenarchitektonischer Schmuck, an Instrumenten und anderen Gegenständen höchsten wie geringsten Werts (von der Goldschmiedearbeit bis zu einfachen Bäcker-, Weber- oder Töpferprodukten); grundsätzlich konnte jeder Gegenstand mit einem - oft verkürzten — Emblem geziert werden (s. Harms/Freytag; Fritz Graf, Emblemata Helvetica: Zs. für schweizerische Archäologie u. Kunstgesch. 31 [1974] 1 4 5 - 1 7 0 ) . Aber auch derartige Gebrauchs-Emblematik konnte eigens erfunden (insofern nicht .angewandt') werden; eine besondere Kreativität läßt sich z.B. an so unterschiedlichen Verwendungsbereichen wie Buchtitelblättern (dazu Margery Corbett/Ronald Lightbown, The Comely Frontispiece, London/Henley/Boston 1979) und Schützenscheiben des 17. und 18. Jh. ablesen (hierzu zuletzt Wolfgang Harms: Fabula 22 [1981] 1 2 4 - 1 2 7 ) . Innerhalb der Literatur und der bildenden Künste konnte die Emblematik auf vielfältige Weise weiterwirken: durch kenntlich gemachte Zitate, durch verborgene Anspielungen, durch additives Zusammentreten usw.; derartige Verfahrensweisen tragen meist so deutliche Anzeichen zeitüblicher schöpferischer Anverwandlung an sich, daß hier der Begriff der ,angewandten' Emblematik nicht am Platze ist. Kaum entwirrbare Wechselwirkungen zwischen Literatur und bildender Kunst gibt es um Personifikationen und ihre allegorischen Attribute, wie sie von Cesare Ripa und ihm folgenden Werken zwar immer wieder gesammelt worden sind, aber dennoch ständig Anlaß für neue Variationen gegeben haben (Cesare Ripa, Iconologia, 1593, erste illustr. Ausg. Rom 1603, nachgedr. mit Einl. v. Erna Mandowsky, Hildesheim/New York 1970; zu derartigen Verflechtungen mit der Emblematik s. Gerald J. Schiffhorst [Hg.], The Triumph of Patience. Medieval and Renaissance Studies, Orlando 1978). Der Einsatz emblematischer Möglichkeiten für Bücher, die nicht als Emblembücher konzipiert waren, zeigt sich z.B. in einigen Werken von Jacob Cats und in J.—»Arndts Vier Büchern vom wahren Christentum (s. Müller-Mees; Peil). Die vielfältigen Möglichkeiten, wie Embleme für die Deutung und Klärung literarischer Werke außerhalb der Emblemliteratur auch in katholischem Bereich eingesetzt werden konnten (Darbietung und Deutung von Viten, Heiligenlegenden, geistlichen Schauspielen usw.), ist erst in Ansätzen erforscht worden (s. Hess). Voreilig hat dagegen die Forschung etliche emblematische Spätformen im 19. und 20. Jh. zu erkennen geglaubt, auch wenn es sich um an-
Emblem/Emblematik
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ders strukturierte Bild-Text-Relationen handelt (hierzu warnend Christian Wagenknecht, Marxistische Epigrammatik. Zu Bertolt Brechts ,Kriegsfibel': Sibylle Penkert [Hg], Emblem u. Emblematikrezeption, Darmstadt 1978, 5 4 3 - 5 5 9 ) . Doch gibt es auch in diesem Zeitraum gelegentlich anhaltende Kenntnis und begrenzte Weiterwirkung der Emblematik (s. Karl Josef Höltgen, G.S. Cautley, Lady Marian Alford, and the Victorian Revival of Emblematic and Symbolic Art: Studien zur engl. Philologie, Frankfurt a. M./Bern/Cirencester 1979, 1 4 9 - 1 6 6 ) . Anmerkungen S.Ulla-Britta Kuechen, Wechselbeziehungen zw. allegorischer Naturdeutung u. der naturkundlichen Kenntnis v. Muschel, Schnecke u. Nautilus: Walter Haug (Hg.), Formen u. Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979,478 - 514. Zu einer Verbindung von Alchemie, Musik und emblematischer Weltdeutung s. Helena M. E. de Jong, Michael Maier's ,Atalanta Fugiens', Leiden 1969. ; Z.B. bei Gabriel Rollenhagen; s. Wolfgang Harms, Der Fragmentcharakter emblematischer Auslegungen u. die Rolle des Lesers: Dt. Barocklyrik, hg. v. Martin Bircher/Alois M. Haas, Bern/München 1973, 4 9 - 6 4 . ' Wichtige Materialien finden sich in Publikationen von Grete Lesky. Ein Muster für die Analyse solcher Programme bietet Carsten-Peter Warncke, Die Seele am Kreuz. Emblematische Erbauungsliteratur u. geistliche Bildkunst am Beispiel eines Dekorationsprogramms im ehem. Kloster St. Peter im Schwarzwald: Vestigia Bibliae 2 (1980) 1 5 9 - 2 0 2 . Für die Erschließung eines großen Gegenstandsbereichs s. Cornelia Kemp, Angewandte Emblematik in süddt. Barockkirchen, München 1981. 4 Z.B. bei Claude-François Menestrier, La philosophie des images, Paris 1682; ders., Des décorations funèbres, Paris 1683; ders., L'art des emblèmes, Paris 1684. Vgl. zu Holtzwart/Fischart; Harsdörffer; Tesauro; Fredro u.a. Carl-Alfred Zell: Harms/Freytag 155-170. 1
Quellen Bibliographien: Arthur Henkel/Albrecht Schöne, Emblemata. Hb. zur Sinnbildkunst des XVI. u. XVII. Jh., Stuttgart 1967 (erw. Bibliogr. im Suppl.bd. 1976). - John Landwehr, Emblem Books in the Low Countries, Utrecht 1970. - Ders., German Emblem Books, Utrecht/Leiden 1972. - Ders., French, Italian, Spanish and Portuguese Books of Devices and Emblems, 1534-1827, Utrecht 1976. - Mario Praz, Studies in 17th-Century Imagery, Rom, I "1964, II 1974. Andreas Alciatus (Graphiken v. Jörg Breu), Emblematum liber, Augsburg 1531 = Hildeshcim/New York 1977. - Matthias Holtzwart, Emblematum Tyrocinia (Graphiken v. Tobias Stimmer, Vorw. v. Johann Fischart), Straßburg 1571, NA mit Nachw. v. Peter v. Düffel/Klaus Schmidt, Stuttgart 1968.-Joachim Camerarius, Symbola et emblemata, 4 Bde., Nürnberg 1593/1605, Nachdr. mit Einl. v. Wolfgang Harms/Ulla-Britta Kuechen, Graz 1982. - Hermann Hugo, Pia desideria, Antwerpen 1624 = Menston 1971. - Jacob Cats, Silenus Alcibiadis, Middelburg 1618. - Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christentum, Magdeburg 1605/1609, illustr. zuerst Riga 1679 und Lüneburg 1679, zuletzt Stuttgart 1930. - Filippo Picinelli, Mondo simbolico, Mailand 1653, lat. Ausg. Köln 1681; Nachdr. der Kölner Ausg. v. 1687 mit Einl. v. Dietrich Donat, Hildesheim/New York 1979. - Jacobus Boschius, Symbolographia, Augsburg/Dillingen 1701 = Graz 1972. Literatur Einführungen: Peter M. Daly, Literature in the Light of the Emblem, Toronto/Buffalo/London 1979, 3 - 5 3 . - P. v. Düffel/K.Schmidt, Nachw. zu M.HoItzwart (s.o.). - A.Henkel/A.Schöne (s.o.), Vorbemerkungen. - K. Porteman, Inleiding tot de Nederlandse emblemataliteratuur, Groningen 1977. - Michael Schilling, Art. Emblem/Emblembuch: Wb. der Symbolik 1979, 1 3 2 - 1 3 5 . Spezialliteratur: Peter M. Daly, Emblem Theory. Recent German Contributions to the Characterization of the Emblem Genre, Nendeln 1979. - Rosemary Freeman, English Emblem Books, New York 2 1966. - Wolfgang Harms, Mundus imago Dei est. Zum Entstehungsprozeß zweier Emblembücher Jean-Jacques Boissards: DVfLG 47 (1973) 2 2 3 - 2 4 4 . - Ders./Hartmut Freytag (Hg.), Außerliterarische Wirkungen barocker Emblembücher, München 1975. - William S. Heckscher/Karl August Wirth, Art. Emblem, Emblembuch: R D K 5 (1959) 8 5 - 2 2 8 . - Günter Hess, ,Fracta Cithara' oder Diezerbrochene Laute. Zur Allegorisierung der Bekehrungsgesch. Jacob Baldes im 18. Jh.: Walter Haug (Hg.), Formen u. Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, 6 0 5 - 6 3 1 . - Dietrich Walter Jons, Das RinnenBild'. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius, Stuttgart 1966. - Hessel Miedema, The term .emblema' in Alciati: JWCI31 ( 1968) 2 3 4 - 250. - Elke Müller-Mees, Die Rolle der Emblematik im Erbauungsbuch. Aufgezeigt an Johann Arnds „Vier Büchem vom wahren Christentum", Diss. Phil. Köln 1974. - Dietmar Peil, Zur angewandten Emblematik' in prot. Erbauungsbüchern, Heidelberg 1978. — Janusz Pelc, Obraz - Slowo - Znak, Breslau u. a. 1973. - Aquilino Sanchez Perez, La litera-
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Emerson
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Wolfgang Harms
Emerson, Ralph Waldo 1. Leben
2. Werk
(1803-1882) 3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S. 560)
1. Leben Emerson, der amerikanische unitarische Pfarrer, Essayist, „Lecturer" und Dichter, wurde am 25. Mai 1803 in Boston als Sohn von William (1769-1811) und Ruth Haskin Emerson geboren. Der Vater wurde als Congregationalist ordiniert und diente als Kaplan am —»Harvard College bevor er 1799 Pfarrer an der „First Church Boston" wurde. Er gehörte zu den vielen Pastoren Bostons, die durch die Aufklärung und Liberalismus —»Unitarier geworden waren. Ralph war sechs Jahre alt als sein Vater starb. Seine Tante Mary Moody Emerson, die Interesse an Kant und am Hinduismus hatte, sorgte zum Teil für seine Ausbildung und übte auf ihn einen starken Einfluß aus. Er besuchte die „Boston Public Latin School" (1812-1817) und mit vierzehn Jahren begann er am Harvard College ein klassisches Studium (1817-1821). Dabei lernte er Piaton und die klassischen Idealisten, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Montaigne, und vor allem Goethe kennen. In der Zeit las er auch S.T. —»Coleridge und Th. —»Carlyle. Nach drei Jahren als Sprachlehrer an einer Schule nahm er das Theologiestudium in Harvard auf. Durch seinen Lehrer Edward Channing, der wie Coleridge und Carlyle in —»Güttingen studiert hatte, wurde „German Learning" an Emerson vermittelt. Interesse an der —»Mystik wurde erweckt durch den —»Swedenborgianer S. Reed, Emersons Tante Mary und die —»Quäker. 1829 heiratete er die 17jährige Ellen Tucker, die allerdings nach 16 Monaten starb, und im gleichen Jahr wurde er Pfarrer an der „Second Church Boston" bis er die Abendmahlsbräuche ändern wollte und 1832 nach langen Verhandlungen zurückgetreten ist. Auf seiner ersten Europareise (1832-1833) lernte er u.a. Coleridge und Carlyle, mit welch letzterem er eine lebenslange Freundschaft begründete, persönlich kennen. 1835 heiratete er Lydia Jackson und zog nach Concord, dem Geburtsort seines Vaters, wo er seine Arbeit als Essayist, „Lecturer", und Dichter aufnahm. Seine Vorträge wurden hauptsächlich vor kleineren Gruppen wie z. B. einzelnen der ca. 3000 Lyceum-Clubs, die der allgemeinen Erwachsenenbildung dienten, gehalten. Auf der 200-Jahrfeier der Harvard Divinity School 1836 wurde die „Hedge Group" gegründet, die regelmäßig theologische, philosophische und literarische Themen diskutierte. Wegen ihres Interesses an Kant und dem deutschen Idealismus, wurden ihre Mitglieder von Zeitgenossen „Transcendentalists" genannt. Die bekanntesten waren Emerson, Amos Bronson Aleott und seine Tochter Louisa May, Nathaniel H a w t h o m , Henry David Thoreau, W. E. —»Channing, Frederic Hedge und Margaret Füller. Der Arbeit des Clubs entwuchsen drei kurzlebige, aber bedeutende literarische Zeitschriften, durch die die Gedanken der Mitglieder verbreitet wurden. An Versuchen, alternative, wirtschaftlich autarke Lebensgemeinschaften („Brook Farm" und „Fruitland") zu begründen, nahm Emerson nicht teil. Er war aber eindeutig der führende Geist des Clubs und besaß sehr großen Einfluß bis zum Beginn des Sezessionskrieges und seiner nachlassenden Gesundheit (ca. 1861). Obwohl die Gruppe keine einheitliche Philosophie betrieb, waren sie vom klassischen und deutschen —»Idealismus und von Unabhängigkeitsbewegungen stark beeinflußt. Viele von ihnen waren aktiv im Kampf für die Befreiung der Sklaven, in der —»Frauenbewegung, bei Sozial- und Erziehungsreformen, in der Freiheits- und der Antisabbatsbewegung.
Emerson hielt seine Vorträge hauptsächlich im Osten Amerikas. Er wurde in Großbritannien und auf dem europäischen Festland durch Carlyle bekannt und machte zwei weitere Europareisen ( 1 8 4 7 - 4 8 und 1872-73). Emerson starb in Concord am 27. April 1882.
Emerson
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2. Werk Etwa eine Hälfte des Jahres hielt Emerson Vorträge und reiste; er las, schrieb und dichtete während der übrigen Zeit. Seine Essays gehen oft auf einen Vortrag zurück, den er mehrmals gehalten und bearbeitet hatte. Dies war auch der Fall bei seinem ersten Buch, Nature, das er 1836 zunächst anonym publizierte. Seine wichtigsten Essays sind: Nature, Phi Beta Kappa Address oder The American Scholar (Harvard College, 1837), Harvard Divinity School Address (1838), Self-Reliance (1841), The Over-Soul (1841), Representative Man (1850) und English Traits (1856). Emerson ruft die Menschen dazu auf, an der Aktivität und den Gestaltungen der Natur teilzuhaben, um durch die Natur vergöttlicht zu werden. Da aber die materialen Formen im Geist Gottes (,/nind of God") notwendig präexistent sind, bilden Welt und Natur eine Projektion Gottes auf die menschliche Unbewußtheit. Das Verhältnis zwischen menschlichem Geist und Materie liegt im Willen Gottes, und jedem Menschen steht es frei, dieses Verhältnis direkt und unmittelbar zu kennen. Jedermann kann an dem Geist (der „Uber-Seele" [„Over-Soul"] oder dem Universalgeist) partizipieren und soll sein direktes Teilhaben an Gott (Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Güte) mit Schlichtheit („simplicity") zum Ausdruck bringen. Dies fällt dem Kind und dem Dichter am leichtesten, weil sie die Harmonie mit der Natur unbefangen aussagen. Der menschliche Intellekt sucht im Geist Gottes die absolute Ordnung, die der menschliche Geist empfängt, so daß der Mensch an Gottes fortdauernder neuen Schöpfung teilhat. Die Kultur, die Institutionen (bes. die—»Kirche) und die Tradition (bes. das —»Dogma) behindern den Menschen, da er nur die Gedanken anderer Menschen wiederholt, statt mit Gott in direkten Kontakt zu treten, ihn „zu lesen". Die Geschichte bewegt sich um Persönlichkeiten, die, wie Piaton, Shakespeare, Luther, Napoleon, Jesus u. a., das Geheimnis und die strenge Harmonie der transzendentalen Seele gesehen und gelebt haben. Jesus sah das bessere Licht, hatte Selbst-Vertrauen und wirkte mit der ganzen Kraft seiner Vernunft und seines Willens auf die Natur (und Kultur) ein, um die neue Schöpfung zu gestalten. Da er Selbst-Vertrauen hatte, zeigt er auch Gott-Vertrauen und lebt das ewige Gesetz, das in ihm war. Dadurch zeigte Jesus, wie er die Religion vom Formalismus zu befreien trachtete. Daraus folgt, daß das Ziel des Lebens und der Kultur darin besteht, den einzelnen sich aus der Masse herausheben und an der Uber-Seele teilhaben zu lassen, so daß er zum Genie wird. Aufgrund des Einflusses der amerikanischen und der —»französischen Revolution sowie des —»Idealismus und der —»Romantik ist der Gedanke der Unabhängigkeit und des Individualismus bei Emerson relativ ausgeprägt. Sein Individualismus ist jedoch weniger gegen einen —»Empirismus als gegen sozialen, moralischen und religiösen Konventionalismus gerichtet. Wie sein Vater gewisse Formen des —»Puritanismus und Calvinismus ablehnte, kämpfte auch Emerson gegen sie und den landläufigen Unitarismus. Ihm lag daran, Nonkonformist im intellektuellen, kulturellen und im eigentlich religiösen Sinne zu sein. Als Kind erlebte er den Krieg von 1812 mit, und die Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg, der gerade 60 Jahre zurücklag, war noch sehr- lebendig. Emerson strebte also nach Unabhängigkeit von Europa und der Vergangenheit in Politik, Religion, Philosophie und Literatur. Emerson wollte die in England verbreitete Meinung, in Amerika gebe es keine lesenswerte Literatur oder Philosophie, widerlegen. Von daher bekam der in ihm zum Ausdruck kommende Romantizismus einen starken nationalistischen und individualistischen Zug. Schon zu seinen Lebzeiten wurde diskutiert, ob er als Pantheist (—»Pantheismus) oder Panentheist zu gelten habe. Einmal schrieb er „Ich bin Gott" und „Gott ist in mir", ein andermal „Gott wirkt durch den Menschen" oder „Gott handelt durch Jesus", obwohl Jesus auch mit Recht sagen konnte „Ich bin göttlich". Diese Frage war aber für Emerson letztlich uninteressant, weil es für ihn nicht wichtig ist, konsequent zu bleiben. Ihm ging es vielmehr darum, seine Gedanken, direkt und unmittelbar und ohne Hemmungen zum Ausdruck zu bringen. Sein Denken war nicht streng logisch, sondern befand sich ständig im Fluß. Emerson zufolge ist jedes Wissen ungewollt, unmittelbar, augenblicklich und endgültig vom Geist Gottes ge-
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geben. Eklektisch u n d von zahlreichen Schriftstellern beeinflußt, blieb E m e r s o n t r o t z d e m eigenständig. O b w o h l Religion f ü r E m e r s o n n a h e z u ausschließlich a u s M o r a l i t ä t besteht, w a r er geneigt, den Akzent m e h r auf moralische Erziehung als auf politisches H a n d e l n zu setzen. Er selbst h a t erst 1 8 6 3 das P r o b l e m d e r Farbigen u n d der Sklaverei b e h a n d e l t . N a c h d e m E m e r s o n in seinen Reden in H a r v a r d 1 8 3 6 / 3 7 die Gelehrten u n d Geistlichen wegen ihrer T r a d i t i o n s v e r h a f t e t h e i t massiv angegriffen hatte, w u r d e er erst n a c h 3 0 J a h r e n wieder zu Vorlesungen eingeladen. Seine Absicht, f ü r diese V o r l e s u n g e n eine n e u e Philosophie zu schreiben, k o n n t e er wegen seiner angegriffenen G e s u n d h e i t n i c h t verwirklichen. Obgleich er in seinen späteren J a h r e n d e r Realität sowie der Gesellschaft als T r a d i t i o n m e h r Interesse entgegenbrachte, blieb er Idealist. 3.
Nachwirkung
Z u seinen Lebzeiten ging der g r ö ß t e E i n f l u ß v o n E m e r s o n s V o r t r ä g e n u n d Essays aus. Emerson w a r d e r H a u p t w o r t f ü h r e r des „ T r a n s c e n d e n t a l - C l u b s " , einer d e r wichtigsten intellektuellen Bewegung im A m e r i k a des 19. Jh., die keine V e r b i n d u n g zu den Universitäten besaß. O b w o h l er w e d e r als Philosoph noch als Essayist u n d Dichter h e u t e a u ß e r h a l b A m e rikas sehr b e k a n n t ist, bleibt sein Einfluß auf Dichter, Schriftsteller, P h i l o s o p h e n u n d in den Bereichen der politischen u n d der Rechtswissenschaft in A m e r i k a selbst g r o ß . E m e r s o n k a n n als erster a m e r i k a n i s c h e r D e n k e r , der einen breiten u n d tiefen E i n f l u ß in seinem H e i m a t l a n d u n d im Ausland h a t t e , gelten. Seine W e r k e w a r e n s c h o n zu seinen Lebzeiten in E u r o p a bek a n n t , u n d mit i h m b e f a ß t e n sich auch m e h r e r e Dissertationen Ende des 1 9 . / A n f a n g des 2 0 . Jh. in E u r o p a . O b w o h l er k a u m als h e r v o r r a g e n d e r Dichter gilt, m a c h e n „seine beachtlichen Leistungen . . . ihn zur wichtigen U b e r g a n g s e r s c h e i n u n g " ( M e t t k e 143). Direkten u n d wichtigen Einfluß ü b t e er auf T h o r e a u , L. M . Aleott u n d W a l t W h i t m a n aus. A n d e r e Schriftsteller wie H a r t C r a n e , Sidney Lanier, R o b i n s o n Jeffers, Carl S a n d b u r g , R o b e r t Frost u n d T.S. Eliot erklären, positiv o d e r negativ von Emerson beeinflußt zu sein. M a t t h e w Arnold zufolge h a t E m e r s o n die wichtigste englische Prosa des 19. J h . geschrieben. In der Philosophie sehen sich die a m e r i k a n i s c h e n Philosophen G e o r g e S a n t a y a n a , J. —•Royce u n d J o h n D e w e y von Emerson beeinflußt. Dewey e r k e n n t in i h m den Philosophen der D e m o k r a t i e u n d „ d e n einzigen Bürger der neuen Welt, dessen N a m e mit d e m Piatons in einem A t e m z u g g e n a n n t w e r d e n k ö n n t e " ( 1 9 1 ) . Emersons W e r k e w e r d e n heute von jedem a m e r i k a n i s c h e n Schüler u n d Studenten gelesen. Von d a h e r ist d a m i t zu rechnen, d a ß sein Einfluß (bes. seine B e t o n u n g des Individualism u s , N a t i o n a l i s m u s u n d d e r U n a b h ä n g i g k e i t von d e r Vergangenheit) eine g r o ß e u n d breite A u s w i r k u n g auf die a m e r i k a n i s c h e Gesellschaft u n d ihr W i r t s c h a f t s s y s t e m h a t . Indirekten E i n f l u ß ü b t e E m e r s o n d u r c h a n d e r e Mitglieder des „ T r a n s c e n d e n t a l - C l u b s " aus. Z u n e n n e n sind hier vor allem T h o r e a u , L. M . Aleott u n d H a w t h o r n in der Literatur, —»Channing in d e r unitarischen Kirche, A.B. Aleott in der Pädagogik sowie M a r y Baker Eddy u n d die —»Christian Science, die t r o t z ihrer geringen Z a h l eine g r o ß e u n d z . T . unbew u ß t e E i n w i r k u n g auf den a m e r i k a n i s c h e n Geist h a b e n . Quellen The Complete Works of Ralph Waldo Emerson (Centenary Edition). Hg. v. Edward Waldo Emerson, 12 Bde., Boston 1 9 0 3 - 1 9 0 4 = New York 1979. - Uncollected Writings: Essays, Addresses, Poems, Reviews and Letters of Ralph Waldo Emerson. Hg. v. Charles C. Bigelow, New York 1912. - The Collected Works of Ralph Waldo Emerson (Harvard Edition). Hg. v. Alfred R. Ferguson u.a., Cambridge, Mass./London 197Iff (bisher 2 Bde.). - Journals of Ralph Waldo Emerson. Hg. v. Edward Waldo Emerson/Waldo Emerson Forbes, 10 Bde., Boston/London 1909-1914. - The Journals and Miscellaneous Notebooks of Ralph Waldo Emerson. Hg. v. William H. Gilman, u.a., Cambridge, Mass./London 1960 (bisher 14 Bde.).-The Letters of Ralph Waldo Emerson. Hg. v. Ralph L. Rusk, 6 Bde., New York 1939. - The Correspondence of Thomas Carlyle and Ralph Waldo Emerson 1834-1872. Hg. v. Charles E. Norton, 12 Bde., Boston 1883 Suppl. 1886, 2 1888 = Hg. v. J. Slater, New York 1965. - Uncollected Lectures by Ralph Waldo Emerson. Hg. v. Clarence Gohdes, New York 1938. - The Early Lectures of Ralph Waldo Emerson. Hg. v. Stephen E. Whicher/Robert E. Spiller, 3 Bde., Cambridge, Mass. 1959-1979. - Three Unpublished Lectures by Ralph Waldo Emerson. Hg. v.
Empirismus
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Jeanne Kronman, 1946 (NEQ 19) 9 8 - 1 1 0 . - YoungEmerson Speaks. Hg. v. Arthur CushmanMcGiffert, Jr., Boston 1938 (25 Ausgew. Predigten).
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Merlyn E. Satrom Empirie —»Erfahrung Empirismus mus
1. Zur theoretischen Philosophie des Empirismus (Quellen/Literatur S. 575)
2. Zur praktischen Philosophie des Empiris-
Der Empirismus ist keine wohlbestimmte philosophische Lehre. Der Terminus bezeichnet eher eine idealtypische Grundhaltung möglichen Philosophierens, die nur mehr oder weniger und in wechselnder Gestalt Verwirklichung gefunden hat. Zugrunde liegt ihr die Idee, daß alles Wissen von der Wirklichkeit ursprünglich aus Erfahrung erwachse, wie dies schon von—»Aristoteles (an. post. 2,19; metaph. A1) dargestellt wird. Erfahrung (Singular) als ein Sich-Auskcnnen-Mit wird dabei als aus der Summe der einzelnen Erfahrungen (Plural) entstanden gedacht. Diese sind seit Aristoteles und Epikur als Sinneswahrnehmungen, später sogar einengend als Empfindungen präzisiert worden. Aus den Wahrnehmungen erwachsen allererst die Begriffe. „Intellectualis cognitio ex sensu proceditin nobis" (Thomas von Aquin, In Libros Posterium Analyticorum I,iv,43) unter Berufung auf Aristoteles; Hobbes und Locke gehen später von dieser These aus. Auch der Anfang des Weges zu den Prinzipien allen Wissens (der i7iaymyr\, lat. induetio des Aristoteles) wird bei den Wahrnehmungen gesucht. Dieser erkenntnistheoretische Ansatz hat daher auch jederzeit die Tendenz gehabt, auf Moralphilosophie (—»Ethik), —»Religionsphilosophie, allgemein auf die —»Metaphysik überzugreifen bzw. sich mit passenden Theorien in diesen Denkbereichen zu verbinden. Seine Geschichte zeigt deutlich, daß er selbst immer wieder metaphysische Positionen markiert, obwohl viele neuzeitliche Empiristen (zumindest seit Hume) ihre Aufgabe gerade in der Widerlegung der Metaphysik gesehen haben. Im folgenden wird zunächst der erkenntnistheoretische Ansatz in der Neuzeit verfolgt (Abschn. 1), sodann sein Ausgreifen auf Moral- und Politikphilosophie, sozusagen seine Erprobung in einem Anwendungsfeld, betrachtet (Abschn. 2). Als typische Charakteristika und zugleich Problemquellen des Empirismus erweisen sich dabei u.a. die folgenden: (1) Es steht zunächst die Genese von Vorstellungen, Aussagen, Entscheidungen usw. im Mittelpunkt; die Frage nach der Geltung oder Rechtfertigung von theoretischen, vor allem jedoch von praktischen Prinzipien wird zu einem Problem. (2) —»Erfahrung ist in jener oben genannten einengenden Deutung allemal die eines Einzelnen; ihre intersubjektive Verallgemeinerung bedarf der Klärung. (3) Bei dieser spielt nicht nur die Aufklärung der Funktion der Sprache, sondern auch der Nachweis der Objektivität oder der Möglichkeit einer realistischen Interpretation der Erfahrung eine zentrale Rolle. (4) Da eine solche für die Belange der praktischen Philosophie eher nicht in Betracht kommt, gewinnt insbesondere für sie, darüber hinaus aber auch für die theoretische Philo-
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Empirismus
sophie, die Entwicklung einer Lehre von einer allgemeinen menschlichen Natur besondere Bedeutung. In diesem Zusammenhang erweist sich die Möglichkeit der Selbsterkenntnis, der Erfahrung von einem einheitlichen Ich, als besonders intrikates Problem. (5) Generell steht im Empirismus die Sicherung eines Allgemeinen und Bleibenden gegenüber dem jeweils allein zunächst gegebenen Einzelnen allezeit als ein Problem an. —»Skepsis und Relativismus erscheinen als charakteristische Gefahren, denen auf der Seite des —•Rationalismus die Gefahr dogmatischer Beanspruchung von Prinzipien auf nicht ausweisbarer Grundlage gegenübersteht. C6) Zum ständigen Thema wird ferner das Verhältnis der Verstandes- oder Vernunftleistungen im Verhältnis zu Empfindung oder Gefühl. (7) Die Geschichte des Empirismus im ganzen zeigt, daß es an einer hinreichenden Aufklärung des Begriffs der Erfahrung selbst, in den Wahrnehmung oder Empfindung, Gefühl, Verstand und Tätigkeit zusammen eingehen, bis heute mangelt. 1. Zur theoretischen
Philosophie
des
Empirismus
Der Empirismus als Grundposition der Erkenntnistheorie (—»Erkenntnis/Erkenntnistheorie) steht von jeher, vor allem aber in der Neuzeit, dem —»Rationalismus gegenüber, ist mit diesem jedoch in vielfacher Weise auch verflochten, so daß sich eine reinliche Scheidung der Autoren in zwei Lager nur zu einer eher groben Orientierung eignet (vgl. z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre, 4. Kap.). Die folgende Übersicht soll diesen Umstand an Hand der wichtigsten unter jenen Philosophen, die üblicherweise als Empiristen in Anspruch genommen werden, des näheren verdeutlichen. Sie zeigt ferner, daß unter dem Etikett .Empirismus' untereinander noch sehr verschiedene philosophische Entwürfe zusammengefaßt werden. Zu einem guten Teil sind diese freilich als Stadien einer fortlaufenden Problemdiskussion aufeinander bezogen. Im Umriß zeichnet sich dabei in der Neuzeit eine Entwicklung ab, die von einer ersten methodologischen (Bacon) und metaphysischen (Hobbes) Aufarbeitung der neuen Naturwissenschaft zu einer eigenständigen erkenntnistheoretischen Begründung allen Wissens (Locke) fortschreitet, wobei eine bewußte Anknüpfung und zugleich Distanzierung zur rationalistischen Begründung der Philosophie und Wissenschaft im vernünftigen Selbstbewußtsein (Descartes) zu vermerken ist. Durch den bewußtseinstheoretischen Ansatz ergeben sich Folgeprobleme wie z. B. die Kontroverse um die phänomenalistische oder realistische Deutung des Empirismus (Berkeley); durch die mit ihm verbundene anthropologische Fokussierung des Denkens wird der Blick auf eine Wissenschaft vom Menschen und auf die Anfänge der Psychologie gelenkt (Hume). Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft im 19. und vor allem 20. Jh. wächst erneut das Interesse an methodologischen und analytischen Problemen der Fachwissenschaften. Es ist ein Hauptfaktor für das Einmünden des Empirismus in eine wissenschaftsphilosophische Forschung, die Theorie und Geschichte zu vereinigen sucht. 1.1. Der neuzeitliche Empirismus ist vorwiegend auf den Britischen Inseln zu Hause. Als Ahnherr wird meist Francis Bacon ( 1 5 6 1 - 1 6 2 6 ) genannt. Dieser sagt: „ . . . alle Hoffnung ruht auf der Erneuerung der Wissenschaften, nämlich daß sie in sicherer Ordnung von der Erfahrung her neu angefangen und aufgebaut werden" (Novum Organum 1,97; Hervorhebung hinzugefügt). Diese Auffassung drückt sich auch in der Rolle aus, die er der „Naturund Experimentiergeschichte", also der unmittelbaren Wiedergabe direkt zugänglicher Tatbestände, gegeben hat: sie ist der erste Schritt des methodischen Weges zur Erkenntnis (ebd. 11,10). Der zweite Schritt besteht in der Auswertung mittels Tafeln, in denen jene Erscheinungen zusammengestellt sind, die mit einer zu erklärenden Erscheinung^ zusammen auftreten, oder (b) trotz deren Auftreten fehlen, oder (c) im Grade mit ihr variieren (11,11-13). Der dritte und letzte Schritt besteht dann im Erschließen der Form oder Gesetzlichkeit der fraglichen Erscheinung; er wird als „wahre und gerechtfertigte Induktion" und als „Schlüssel des Naturverständnisses" bezeichnet. Aus der so erlangten Kenntnis der Natur können dann neue Experimente oder Erfahrungen abgeleitet werden (11,10). Diese Auffassung vom Gang der Erkenntnis richtet sich zum einen gegen die herkömmliche theoretische Spekulation und die bloß verbale Disputation der scholastischen Tradition
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(vgl. die Vorreden zur Instauratio Magna und zum Novum Organum). Diese haben Vorurteile (idola theatri, Novum Organum 1,61 ff) erzeugt, denen sich andere in der Natur der Menschen und ihrer Vergesellschaftung liegende Vorurteile zugesellen: die idola tribus,specus und fori (ebd. 1,39 ff). Sie alle machen es unmöglich, den Verstand sich selbst zu überlassen (,,intellectus sibi permissus et sponte movens incompetens est et inhabilis ad opificium axiomatum", ebd. II, 10). Aber auch die Sinne für sich allein sind zur Erkenntnis untauglich: sie lassen uns bisweilen im Stich oder können uns täuschen (Instauratio Magna, Distributio Operis, [Works 1,138]; Novum Organum 1,50.69). Daher ist die „experientia vaga etincondita" durch die „experientia ordinata et benc condita", nämlich induktionsmethodisch gezügelte Erfahrung, zu ersetzen (Novum Organum 1,82). Bacon ist (noch) keineswegs ein Empirist, der alle Erkenntnis ausschließlich auf das im Erfahrungserlebnis selbst Enthaltene zurückführen will. Er läßt neben dem Erfahrungswissen überdies traditionelles Wissen aus reiner Vernunft oder Spekulation bestehen: so etwa eine „philosophia prima" (allgemeinste begriffliche und metaphysische Prinzipien), ferner neben der Naturphilosophie die natürliche Theologie und gewisse Humanwissenschaften („Geisteswissenschaften"), darunter Logik, Ethik, Grammatik (De Augmentis Scientiarum III,1—4). Das Gewicht dieser Disziplinen gegenüber der neuen (Natur-)Philosophie ist freilich gering geworden. Dafür sorgt das Kernmotiv des Baconischen Denkens: sein —»Utilitarismus; Wissenschaft soll nicht Reden, sondern „Werke" hervorbringen. Und nur vom methodisch gewonnenen Naturwissen gilt, daß es mit der Form des Objekts auch seine freie praktische Nutzung eröffnet. So kann Bacon sagen: „quod in Operando utilissimum, id in Sciendo verissimum" (Novum Organum II.4). Sein Empirismus ist daher nicht eigentlich erkenntnistheoretisch; man kann ihn vielmehr als methodologisch-pragmatischen Empirismus bezeichnen. 1.2. Thomas —'-Hobbes, der zeitweise als Sekretär für Bacon arbeitete, bezeichnet die nächste Station der Entwicklung des Empirismus. Zu Eingang seines Hauptwerkes sagt er: „ . . . in unserem Geist findet sich kein Begriff, der nicht zuvor als ganzer oder in seinen Teilen in den Sinnesorganen erzeugt worden ist. Alle übrigen Erscheinungen leiten sich aus diesem Ursprung a b " (Leviathan Kap. 1; vgl. De Corpore 6,1). Hinzu kommt die These, daß „die Empfindung das Prinzip auch der Erkenntnis der Prinzipien der Dinge ist und alles Wissen aus ihr stammt" (De Corpore 25,1). Also auch die Erklärungen des Zustandekommens von Wahrnehmungen sollen wiederum nur auf Wahrnehmungen gegründet sein. Nun folgen aber bei Hobbes diese Erklärungen einem rationalistisch anmutenden Begriffsaufbau, dessen Struktur das Begründen von Aussagen gar zu einem „Rechnen" (ebd. 1,2) machen soll. Möglich erscheint Hobbes dieser Aufbau aufgrund zweier weiterer Annahmen: (a) obwohl alles Existierende (und damit alles Wahrgenommene) etwas Einzelnes ist, bzw. das Allgemeine allein in den Bezeichnungen seinen Ort hat (Nominalismus, Leviathan Kap. 4), zeichnen doch die (Un-)Ähnlichkeiten der Erscheinungen einen Begriffs- und Sprachaufbau vor, in dem es eindeutig ausgezeichnete einfachste Vorstellungen gibt (z.B.,Körper' als „unicus primus conceptus", De Corpore 2,14; vgl. 6,4.), so daß die vollkommene Philosophie eine „certa et vera nominum ordinatio" (ebd. 2,16) zum Gegenstand haben kann. Auf diesem Hintergrund ist die scheinbar anti-empiristische Lehre von der Wahrheit zu sehen, die nach Hobbes aus dem richtigen Verständnis des sprachlichen Ausdrucks bzw. aus (Teil-) Definitionen begründet ist (ebd. 3 , 7 - 9 ) . (b) Die Ursachen für Bezeichnungen sind dieselben wie für die entsprechenden Vorstellungen: nämlich die Einwirkungen wahrgenommener Dinge auf die Sinne (3,3). Wirkungszusammenhänge sind aber für Hobbes allemal Übertragungen von Bewegungen (6,5;9,3). Die Erklärung für die eigentümliche Vereinigung empiristischer, ja sensualistischer Grundsätze (—»Sensualismus) mit rationalistischer Methodologie ist daher in Hobbes* Metaphysik der Bewegung zu suchen. Ihr zufolge besteht die Welt aus nichts anderem als in Raum und Zeit lokalisierbaren Körpern in Bewegung. Sogar Gott ist als „a most pure, simple, invisible spirit corporeal" in dieses Weltbild einbezogen (Engl. Werke IV,313). In dieser metaphysischen Wendung findet der empiristische Ansatz seine Grenzen:
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eine rationale Analyse natürlich gegebener Sinnes- und Phantasievorstellungen bildet den Anfang der Wissenschaft. Mittels der aus ihr gewonnenen Grundbegriffe ,Raum', ,Zeit', .Körper',,Bewegung' wird eine rationale Bewegungslehre aufgebaut. An diese schließt sich zunächst — dem Empirismus konform — die Theorie unserer Sinneswahrnehmung an, da nach Hobbes erst gestützt auf den Zusammenhang unserer Wahrnehmungen mit der objektiven Natur in einem weiteren Schritt die eigentliche Physik möglich wird. Auf sie ist die Anthropologie (Lehre der Seelenbewegungen), auf diese wiederum die Staatsphilosophie zu bauen (De Corpore 6 , 4 - 7 ) , in der das Entstehen von Verpflichtungen und Rechten letztlich aus der natürlichen Bewegung im Dienste der Selbsterhaltung hergeleitet werden soll (Macpherson Kap. II,4,iv). Im ganzen erscheint die Erfahrung nicht so sehr als Rechtfertigungsgrund wissenschaftlicher Aussagen, denn vielmehr als zentrales Explanandum einer einheitlichen materialistischen Welterklärung. In deren metaphysischem Monismus ist freilich die Ablehnung einer gesonderten Sphäre rationaler Gegebenheiten (angeborener Begriffe oder Grundsätze sowie der Cartesischen res cogitans als selbständiger Substanz — vgl. die von Hobbes verfaßten 3. Erwiderungen zu Descartes* Meditationen) impliziert. Der Empirismus Hobbes' läßt sich daher vielleicht am besten als metaphysischer Empirismus einordnen. 1.3. Erst John Locke (1632—1704) entwickelt einen erkenntnistheoretischen Empirismus. Zum einen glaubt er zwar — ähnlich wie Hobbes — sowohl an die Wahrnehmung als Quelle allen Wissens wie an die Möglichkeit einer mechanischen Erklärung der Wahrnehmung. Die Exposition seiner Philosophie geht von der Aussage aus: „Woher hat der Geist all das Material der Vernunft und der Erkenntnis? Hierauf antworte ich mit einem Wort, aus ERFAHRUNG. Auf sie ist all unser Wissen gegründet, und aus ihr leitet es sich letztlich her" (Essay Concerning Human Understanding 2,1,2). Ferner übernimmt Locke von seinem Freunde R. —»Boyle eine in der neuen Wissenschaft geläufig gewordene Unterscheidung (ebd. 2,8,7ff): die zwischen primären Qualitäten, von denen wir abbildende Ideen besitzen (z.B. von Größe, Festigkeit usw.), und sekundären Qualitäten, d.h. solchen Arrangements primärer Qualitäten, die als „powers" Ideen in uns hervorrufen, denen nichts in den Körpern ähnlich ist (z. B. Farben, Gerüche usw.). Zum anderen jedoch sieht er seine philosophische Aufgabe nicht in der Ausarbeitung einer neuen objektiven Wissenschaft einschließlich der physikalischen Erklärung der Wahrnehmung, sondern in der Analyse dessen, was als Bewußtseinsinhalt („idea") unmittelbar greifbar wird. Daraus will er „Quelle, Gewißheit und Ausmaß des menschlichen Wissens sowie die Gründe und Abstufungen von Überzeugung, Meinung und Zustimmung" bestimmen (ebd. Intr. 2). Obwohl Locke die Genese aller Vorstellungen aus der Erfahrung behauptet, liefert er keine objektwissenschaftliche Theorie dieser Genese. Vielmehr sieht er es für „einfache" Ideen als evident an, daß wir sie passiv empfangen (ebd. 2,1,25). Sie stammen aus der Wahrnehmung äußerer Dinge (2,1,3; 4,9,2), aus der sogenannten „Reflexion" auf innere Vorgänge und Tätigkeiten des Geistes (2,1,4; 2.6) oder aus beiden (2,7). Komplexe Ideen sind aus einfachen aufgebaut und daher nach Maßgabe der erfahrbaren Operationen des Geistes auch willkürlich herstellbar. Buch 2 des Essay verfolgt diesen Aufbau und sucht ihn insbesondere bei scheinbar nicht-empirischen Ideen (etwa der Mathematik, Gottes usw.) zu bewähren. Tatsächlich handelt es sich um eine Art Bedeutungsanalyse sprachlicher Ausdrükke, unter denen die irreduziblen unmittelbar an der Erfahrung zu erläutern sind. Dieser sprachtheoretische Aspekt ist Locke freilich verspätet klar geworden (2,23,19); er hat ihn indes ausführlich in Buch 3 gewürdigt. Durch den Nachweis der Herkunft aller Ideen bzw. sprachlichen Bedeutungen aus der Erfahrung sieht Locke seine Kritik an allen angeborenen Ideen und Prinzipien (Buch 1) bestätigt. Auf dieser Grundlage wird in Buch 4 das Wissen abgehandelt. Dieses besteht im Gewahrwerden („perception") von Ideenbeziehungen oder Propositionen (ebd. 4,1,2). Als Quelle der Perzeption kommen dabei in Frage (4,3,2): (a) „Intuition" für einfachste Begriffsrelationen (4,2,1) oder die eigene Existenz (4,9,3); (b) „Demonstration", d.h. eine Verkettung von Intuitionen, für Aussagen der Mathematik und Ethik (4,2,3 ff; 4,3,18) so-
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wie der natürlichen Theologie (4,10; 1,3,20; 4,13,4); (c) Wahrnehmung für (Ko-)Existenz von Sinnesobjekten im konkreten Einzelfall (4,2,14). Fälle (a) und (b) zeigen, daß Locke trotz des strikten Empirismus der Ideen nur begrenzt einen Empirismus der (sachhaltigen oder synthetischen) Aussagen vertrat. Wegen der Unerkennbarkeit, ja Unbegreiflichkeit der Verknüpfung von primären Qualitäten der Dinge mit unseren Ideen von sekundären Qualitäten (ebd. 4,3,11 - 1 3 ) ist ein Wissen von allgemeinen Gesetzen der Ko-Existenz (und Sukzession) in der Natur nicht zugänglich (4,3,26), sondern nurmehr wahrscheinliche Überzeugungen (4,13-14), welche indes für die praktischen Zwecke des Lebens vollauf genügen (4,11,8). Urteilsvermögen im Felde der Wahrscheinlichkeit, Intuition und Vermögen zur Demonstration machen erst gemeinsam menschliche Vernunft („reason") aus (4,17,23), die dem Glauben („faith") gegenübertritt (4,17,24) und im Konfliktfall über dessen Annehmbarkeit zu befinden hat (4,18,5.10), wobei allerdings der Bereich bloßer Wahrscheinlichkeit dem Glauben durch Offenbarung ein weites Feld eröffnet (4,18,7ff). Der „erkenntnistheoretische Empirismus" findet also seine Grenze zum einen in traditionellen Bereichen reiner Vernunftseinsicht (z.B. —»Mathematik), zum anderen in der Unerkennbarkeit der notwendigen Geltung allgemeiner Regelhaftigkeiten der Natur. Auf diese Weise wird trotz prinzipiellen Vorrangs autonomer menschlicher Vernunft die Verträglichkeit mit übernatürlichen Glaubensinhalten gewahrt. Eine realistische Interpretation der Erfahrung sieht Locke als dieser immanent an; eine skeptisch-idealistische überdies als pragmatisch verfehlt (ebd. 4,11,8; 4,2,14). 1.4. George —»Berkeley zieht gewisse Folgerungen aus der erkenntnistheoretischen Wendung des Empirismus: wenn alles Wissen in unmittelbar bewußten Vorstellungsinhalten („ideas") und ihrer bewußten Weiterverarbeitung zu komplexen Vorstellungen aufgeht, besteht grundsätzlich keine Möglichkeit mehr, bis zu jenseits der Ideen gelegenen Dingen vorzustoßen. Das Sein aller nicht-denkenden Dinge besteht dann darin, daß sie Bewußtseinsinhalte sind („their esse is pereipi", A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge 3—6). Eine Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Qualitäten von Dingen außer uns und Ideen in uns kann es nicht geben. Der für die realistische Interpretation der Erfahrung wichtige Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten entfällt (ebd. 9—15). Da wahrgenommene Qualitäten als solche ausschließlich auf den Wahrnehmenden als Träger bezogen werden können, wird die Vorstellung einer nicht-denkenden Substanz, d.h. der Materie, widerspruchsvoll (9. 1 6 - 2 4 ) . Ideen sind überdies „ersichtlich passiv", daher kausal unwirksam (ebd. 25); als Ursache des Bewußtseinsablaufes kommt nur der Wille eines Geistes, d.h. einer unkörperlichen, aktiven —»Substanz, in Betracht ( 2 6 - 2 7 ) . Da der eigene Wille bei unwillkürlichen Wahrnehmungen als Ursache ausscheidet, deren lebensnützliche Regelhaftigkeit indes höchste Weisheit verrät, ist Gott als Urheber anzunehmen ( 2 9 - 3 2 . 57. 146-149). Die Inhalte von Wahrnehmungen sind dann durchaus „real", nur die der vom Wahrnehmenden selbst erzeugten Ideen sind „Fiktionen" (34. 36). Was wir üblicherweise .Dinge' nennen, sieht Berkeley, wie später J.St. Mill (s.u. Abschn. 1.6), als gewisse fixe oder wiederkehrende Kombinationen von Ideen an (38); er vertritt einen Phänomenalismus. Was wir als Ursache einer Wirkung betrachten, ist für ihn in Wahrheit nur ein Zeichen, das uns dank der von Gott geordneten Gesetzlichkeit der Natur auf ein Bezeichnetes rechtzeitig hinweist (ebd. 65. 108). Statt Ursachen erhalten daher Zwecke wieder ihre erklärende Kraft (107). Anders als Locke erscheint Berkeley Wissen im engeren Sinne auch von Naturgesetzen möglich; aber diese betreffen nicht die Mechanismen der Korpuskularphilosophie, sondern allein die beobachtbaren Regularitäten der Erscheinungen. Wissenschaftliches Erklären besteht, wie nach der wissenschaftstheoretischen Standardansicht des 20. Jh. darin, daß Erscheinungen unter so verstandene Naturgesetze subsumiert werden (62; De Motu 35). Bestenfalls sind die theoretischen Annahmen über unbeobachtbare Sachverhalte nützliche Hilfsmittel der Voraussage, aber keine wahren Beschreibungen der Realität (De Motu 1 7 - 1 8 . 28. 39).
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Berkeleys Ziel war es, durch sein ,esse est percipi* der drohenden Realitätsskepsis (Principles 4 0 . 8 6 - 8 7 ) , d u r c h seine Leugnung der Materie und einer ihr immanenten Kausalität dem —»Atheismus (ebd. 91 ff) den Boden zu entziehen. Seine Philosophie kann als phänomenalistisch-positivistischer und idealistischer, ja spiritualistischer Empirismus bezeichnet werden. Dieser wird vornehmlich zum Instrument christlicher Apologetik. Berkeleys Philosophie enthält die Annahme, daß es zweierlei Sorten existierender Entitäten gibt: die wahrgenommenen, d. h. die Ideen, und die wahrnehmenden, d. h. die Geister. Von den zweiten haben wir nach Berkeley keine Ideen, sondern nur für uns bedeutungsvolle Bezeichnungen bzw. Begriffe („notions", Principles 27. 89. 140. 142), obschon jeder, zumindest in eigener Person, die „Erfahrung" von der auszeichnenden Eigenschaft eines Geistes, seiner Aktivität, macht (DeMotu 25. 30). 1.5. David -*Hume verschärft nun den phänomenalistischen Empirismus Berkeleys dadurch, daß er für alle Bezeichnungen ihre Bedeutung allein in „Ideen" sieht, die aus „Impressionen" gebildet sind, d.h. aus „von den Sinnen und der Erfahrung gelieferten Materialien" (Enquiry Concerning Human Understanding Sect. 2). Damit entfällt jeder unmittelbare „Begriff' von Geistern, ja das eigene Ich wird zum Gegenstand einer (Hume selbst letztlich aporetisch erscheinenden) Konstruktion aus den in ihm enthaltenen Bewußtseinsinhalten oder Ideen (A Treatise of Human Nature 1,4,6 und Appendix). Jede Idee ist von jeder anderen im Prinzip unabhängig: „Wherever the imagination perceives a difference among ideas, it can easily produce a Separation." („Prinzip der Freiheit der Einbildungskraft", ebd. 1.1.3). Der Welt der Ideen steht nunmehr schlechterdings nichts Andersartiges mehr gegenüber (was es dann heißen soll, daß „die Einbildungskraft" etwas wahrnimmt oder dgl., bedenkt Hume nicht). Ihr innerer Zusammenhang folgt Gesetzen der Assoziation gemäß den Prinzipien der Ähnlichkeit, der Berührung in Raum oder Zeit und der —»Kausalität (Enquiry Sect. 2). Ferner können unsere Vorstellungen auch ihrem eigenen Inhalt nach in dem Verstand einsichtigen, d. h. nicht nur kontingenten Beziehungen zueinander stehen, von denen intuitives oder demonstratives Wissen (etwa in der Mathematik) möglich ist. Diesen „relations of ideas" gegenüber stehen die Tatsachen („matters of fact"), die nur aus der Wahrnehmung, der Erinnerung und aus von deren Inhalten ausgehenden Kausalrelationen mit minderer Zuverlässigkeit bekannt werden können (ebd. 4,1). Die Kausalverknüpfung nämlich besteht in nichts anderem als einer dank vorangegangener Erfahrung gewohnheitsmäßig erwarteten konstanten Verknüpfung von Ideen: Ursache ist ein „Gegenstand, auf den ein anderer folgt, wobei allen dem ersten ähnlichen Gegenständen solche folgen, die dem zweiten ähnlich sind" (ebd. 7,2). Wie bei Berkeley bleibt also die Naturerkenntnis auf die Beschreibung von Regelmäßigkeiten beschränkt. Die Trennbarkeit aller Ideen hat indes nach Hume eine einschneidende Folge: wenn das Bestehen einer Regularität nur aus Erfahrung bekannt ist, kann es für die Zukunft nicht begründet werden; ein logischer Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung oder zwischen Vergangenheit und Zukunft besteht nämlich nicht, und Erfahrung reicht nicht in die Zukunft. Der Empirismus führt Hume so in mehrfacher Weise zur Skepsis, u. a.: (a) Ob es eine unseren Ideen entsprechende Realität jenseits ihrer gibt, ist prinzipiell unentscheidbar; ja sie ist lediglich als ein aller uns bekannten Qualitäten beraubtes unerkennbares Etwas denkbar (ebd. 12,1). (b) Die Extrapolation von Erfahrungserkenntnis in die Zukunft oder auf noch nicht bekannte Fälle (Induktion) ist prinzipiell unbegründbar (ebd. 4,2; 12,2). (c) Die Vorstellung einer geistigen Substanz (Seele) ist vollkommen unbegreiflich (Treatise 1,4,5), ebenso ist die Identität und Einfachheit des eigenen Selbst eine durch Assoziation hervorgerufene Illusion (ebd. 1,4,6 und Appendix), (d) Die Existenz eines weisen und gütigen Gottes bleibt für die menschliche Vernunft eine nutzlose Hypothese, da für die Zwecke des moralischen Lebens aus ihr keine weitergehenden Folgerungen gezogen werden können als aus der alltäglichen Lebenspraxis; ja sie ist unbegründbar, da Schlüsse aus der Wirkung auf die Ursache auf frühere Beobachtung der Verknüpfung ähnlicher Erscheinungen beruhen müssen (Enquiry Sect. 11; Dialogues concerning Natural Religion).
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Mit dem Ausarbeiten dieser skeptischen Konsequenzen verfolgt Hume indes nur das Ziel, die überzogenen Ansprüche der Vernunft(theoretiker) zugunsten einer angemessenen Wissenschaft von der „menschlichen N a t u r " zurechtzurücken (Stroud), insbesondere neben dem Verstand die sich natürlich bildende Gewohnheit und das ihr entspringende Fürwahrhalten („belief") in seiner fundamentalen Rolle zu erweisen (Enquiry Sect. 5). Erst nach dieser naturalistischen Wendung des Empirismus wird begriffliche Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie möglich. Der Empirismus Humes erscheint vordergründig als skeptisch, bei näherem Zusehen als anthropologisch-praktisch. 1.6. Wichtige Stränge der britischen Tradition des Empirismus einschließlich des Utilitarismus finden sich im 19. Jh. gebündelt in der Philosophie von John Stuart —*Mill: An Bacon knüpft er in seiner um die Induktion zentrierten wissenschaftlichen Methodenlehre (A System of Logic, 1843) an; von Locke stammt das Programm einer umfassenden Analyse unseres Wissens mittels unserer Bewußtseinseindrücke, von Berkeley, vermittelt über die Schrift Analysis ofthe Phenomena of the Human Mind seines Vaters James, die phänomenalistische Interpretation dieses Ansatzes (z.B. ebd. 1,3,7. 9), von Hume die Assoziationspsychologie (vgl. auch David Hartley, Observations, 1749) und die Idee einer „Science of human nature" (System 6,3), von Bentham schließlich der Utilitarismus (Utilitarianism 1861). In der Erkenntnistheorie vermeidet Mill die Realitätsskepsis Humes um den Preis eines weiter ausgearbeiteten Phänomenalismus: Die äußeren Dinge werden bestimmt als in charakteristischen Gruppierungen und Abfolgen für jeden gleichermaßen anzutreffende und zeitüberbrückende Wahrnehmungsmöglichkeiten; die Außenwelt ist „the world of Possible Sensations succeeding one another according to laws . . . as much in other beings as . . . in me" (An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy Kap. 11, S. 226). Da er jedoch wie Hume diese Theorie der Substanz auch auf das Bewußtsein selbst anwenden will, stößt auch er auf die von Hume sichtbar gemachte Unerklärlichkeit der Einheit des Ich (ebd. Kap. 12). Nicht nur beruht die Theorie der Materie und des Bewußtseins auf faktisch vorfindlichen Regularitäten des Bewußtseinsablaufs, auch die Theorie der Methode oder die Logik gründet sich auf natürliche Assoziationsgesetze: „Its theoretic grounds are wholly borrowed from Psychology" (ebd. Kap. 20, S. 445). Logische und mathematische Grundgesetze sind „generalizations from experience" (System 2,6,2; 2,7,5) oder „experimental truths" (ebd. 2,5,4). Damit geht Mill, den Empirismus radikalisierend, über Humes fundamentale Unterscheidung zwischen „Ideenrelationen" und „Tatsachen" hinweg. Daher entfällt dann auch der Maßstab, an Hand dessen Hume jede Induktion als unbegründbar erweisen konnte. Mill argumentiert z.B., daß die Behauptung eines Kausalprinzips nur dann als petitio prineipii gelten kann, wenn man am Standard deduktiver Begründung festhält (System 2,21,4). Seine umfassend ausgeweitete „Philosophie der Erfahrung" umgeht also auch die Induktionsskepsis. Anders als seine Vorgänger hat Mill einen umfassenden Empirismus vertreten. Diese konsequente Radikalisierung führt freilich zu dem Problem, unter den psychologischen Denkgesetzen die zum Wissen führenden herauszulösen, „gutes" von „schlechtem" Denken zu unterscheiden. Die Logik ist daher nicht nur ein Teil der Psychologie, sondern unterscheidet sich von ihr zugleich wie eine Kunst von einer Wissenschaft (Examination Kap. 20,445). Die Schwierigkeit ist, die Beurteilungskriterien dieser Kunst den Fakten abzugewinnen. Ein ungelöstes Rätsel des konsequenten Empirismus wurde und blieb, Geltungsbehauptungen aus einer Theorie des faktischen Ursprungs unserer Vorstellungen abzuleiten. Weitere Probleme bietet der Phänomenalismus: Abgesehen von seinem kontraintuitiven Charakter nötigt er zur Konstruktion von Dingen aus Sinnesdaten, deren Kennzeichnung ohne Verwendung der Dingsprache schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint. Auch die aus der —»Logik des 20. Jh. stammenden verfeinerten Hilfsmittel der Konstruktion haben hier nicht weitergeholfen. 1.7. Der Empirismus des 20. Jh. Die durch Mill vorgenommene umfassende Ausweitung des Empirismus fand nur wenige Anhänger. Zumindest teilweise ist dies den veränder-
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ten Voraussetzungen im 20. Jh. zuzuschreiben: Der Empirismus verband sich zum einen mit konkreten Analysen der wirklichen Wissenschaft (E. Mach, Mechanik; P. Duhem), zum anderen mit der sich seit G. Frege rapide entwickelnden Logik (B. Russell; L. Wittgenstein und der Wiener Kreis, s. Joergensen; Kraft). Der klassische Empirismus mit seiner immanenten Tendenz zu psychologischen Formulierungen philosophischer Probleme wurde durch das Programm einer logischen Analyse der Sprache der Wissenschaft abgelöst. Er wurde zum wissenschaftstheoretischen Empirismus. Wichtigen Einfluß auf diese Wendung übten die mathematische Grundlagenforschung, die Revision physikalischer Grundbegriffe in der Relativitäts- und Quantentheorie und der Behaviorismus in der Psychologie aus (Feigl). Die schon von Locke aufgeworfenen Grundprobleme der empirischen Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken und der empirischen Beglaubigung von Aussagen über die Welt bleiben leitende Fragen; sie werden aber nunmehr (a) in der Verifikationstheorie der Bedeutung miteinander verknüpft und (b) in den Rahmen der logischen Sprachanalyse' einbezogen. Eine Voraussetzung hierfür ist die Rückkehr zum (neu interpretierten) Dualismus Humes: Logische und mathematische Aussagen stehen als analytische, d.h. unabhängig von jeder Erfahrung allein schon vermöge der Bedeutungen, der sie bildenden Ausdrücke wahre oder falsche Behauptungen, den allein empirisch zu begründenden synthetischen Aussagen über die Wirklichkeit scharf getrennt gegenüber. Die Theorie der ersten stellt allererst die Mittel für eine präzisierte Analyse der zweiten und damit des empiristischen Grundansatzes bereit. Dieser Ansatz wurde im Wiener Kreis anfänglich durch die folgenden rigorosen Thesen umrissen: (1) Kognitive Bedeutung besitzen allein die analytischen Aussagen sowie die (ob nun mit oder ohne faktischen Erfolg) verifizierbaren synthetischen Aussagen. (2) Die Bedeutung der letzteren kennt, wer ein prinzipiell realisierbares Verifikationsverfahren kennt, d. h. wer weiß, was in der Erfahrung der Fall sein müßte, falls eine derartige Aussage wahr ist. (3) Es gibt Basisaussagen, für die das Verfahren in unmittelbarer Beobachtung besteht. (4) Für alle anderen synthetischen Aussagen können die Wahrheitsbedingungen vollständig mittels logisch-analytischer Ausdrucksmittel durch Wahrheitsbedingungen von Basisaussagen ausgedrückt werden. Die Ausarbeitung dieser Grundgedanken führte alsbald zu ernsten Problemen: (A) Es blieb umstritten, welche Aussagen als Basisaussagen dienen könnten, ja ob es solche gebe. Hier führte der Weg vom Phänomenalismus (Mach, Beitr.; Russell, Ex. World; Carnap, Aufbau) zum Physikalismus (Neurath; Carnap, Protokollsätze), wonach einfache Aussagen über Dinge oder physikalische Größen grundlegend sind. Popper (§ 30) hielt die Basisaussagen für nur vorläufige Festsetzungen der Forscher; heutzutage wird ihre sprachbedingte „Theoriebeladenheit" hervorgehoben (u.a. Kuhn Kap. 10; Hanson; Feyerabend). (B) Eine realistische Deutung theoretischer Aussagen ist mit These (2) unverträglich; was eine Aussage besagt und wie man zur Kenntnis ihrer Wahrheit gelangt, sind jedoch zweierlei Fragen. (C) These (4) beraubt praktisch alle wissenschaftlich interessanten Aussagen ihrer kognitiven Bedeutung; Schlick sah deshalb Naturgesetze zeitweise als bloße Regeln zur Erzeugung neuer bedeutungsvoller Aussagen aus schon bekannten an (Schlick, Kausalität). Die Abschwächung von (4) ging deshalb dahin, daß nurmehr nachweisbar sein sollte, daß eine Aussage für die Herleitung neuer Basisaussagen relevant sei (Ayer, Language, Intr.; für die Geschichte des Problems s. Hempel, Empiristic Criteria). (D) Die Suche nach Verifikationen mußte durch die schwächere Forderung nach Bestätigungen ersetzt werden; die Präzisierung auch dieses Begriffs machte Schwierigkeiten (Hempel, Dilemma) und nötigte zu einem umstritten gebliebenen Modellprogramm für eine induktive Logik (Carnap, Foundations). (E) Die vorausgesetzte Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen wurde von einem mehr pragmatistisch beeinflußten Standpunkt aus angegriffen, wonach die gesamte Wissenschaft einschließlich der Logik unter Gesichtspunkten der Einfachheit unserer Erfahrung anzupassen ist (Quine). In neuerer Zeit wurde klar, daß der wissenschaftstheoretische Empirismus des 20. Jh. ein zu einheitliches, zu schematisches und überdies nur statisches Bild von der in Wahrheit
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grundlegende begriffliche Veränderungen durchlaufenden Wissenschaft gezeichnet hat. Die überkommene Auffassung wird zunehmend von wissenschaftshistorisch mitbestimmten Auffassungen abgelöst. Einen Überblick gibt Suppe (dort Literatur). Nichtsdestoweniger bleibt offen, ob die Grundidee des Empirismus, alles Wissen von der Wirklichkeit stamme aus Erfahrung, nicht unter neuen historische und systematische Aspekte verbindenden Gesichtspunkten festgehalten werden kann (Krüger). Es sieht derzeit so aus, als ob dem Empirismus vor allem dadurch neue Aussichten zuwachsen könnten, daß er eine historische Dimension in sich aufnimmt. 2. Zur praktischen
Philosophie
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Naturgemäß stellen diejenigen Bereiche der Philosophie, in denen es um streng allgemeine Sätze geht, der Durchführung eines konsequenten philosophischen Empirismus die größten Schwierigkeiten entgegen. Mathematik und Moral- und Rechtsphilosophie sind also Prüfsteine des Empirismus. Im Bereich der praktischen Philosophie kommen aber noch einige zusätzliche Schwierigkeiten hinzu. In ihr ist nicht nur zu erklären, wie wir zu unseren moralischen Ideen und Begriffen kommen und auf welche Weise normative Beurteilungen Zustandekommen. Die Moralphilosophie muß auch die Grundlagen der moralischen Verbindlichkeit und die Motive für moralisches Handeln aufklären. Während ein moralphilosophischer Empirismus die erste Frage mit einer Herleitung der moralischen Begriffe aus Eindrücken der Sinne zu beantworten hätte, ist hinsichtlich der anderen Fragen schwer zu beantworten, welche Strategie hier als .typisch empiristisch' zu bezeichnen wäre. Deshalb hat sich auch der Terminus ,Empirismus' als Etikett für Theorien der praktischen Philosophie kaum durchgesetzt. Orientiert man sich an der Fragestellung des klassischen Empirismus, so liegt es nahe, auf diese Schwierigkeit dadurch zu reagieren, daß man eine empiristische Ethik von einer rationalistischen durch die verschieden starke Betonung der Rolle von einerseits sinnlicher Natur des Menschen und Vernunft andererseits unterscheidet. Danach sind die gewöhnlich als Empiristen bezeichneten Autoren nicht alle und ohne Abstriche im eben genannten Sinne moralphilosophische Empiristen. In der politischen Philosophie dominiert sogar der rationalistische Ansatz. Andererseits ist bezüglich der Erklärung moralischer Motivation eine empiristische Moralphilosophie aussichtsreicher. Diese hat sich allmählich entwickelt; erst bei Hume ist sie vollständig ausgebildet. Von Bacon zu Hume hat geradezu eine Umkehrung der Präferenzen stattgefunden: Während Bacon noch behauptet: „voluntatem gubernat recta ratio ... voluntatis Stimuli, affectus; ministri, Organa et motus voluntarii" (De Augmentis VII,I), ist für Hume die Vernunft zum .Sklaven der Neigungen' geworden. Die Ausbildung einer empiristischen Ethik ist verbunden mit einer Minimalisierung metaphysischer Voraussetzungen — sei's über die Natur und ihre zweckmäßige Ordnung im Ganzen — oder die menschliche Natur im besonderen. Eine vollständige Entkoppelung von metaphysischen und theologischen Voraussetzungen wird erst in Humes praktischer Philosophie erreicht. Allerdings ist diese Entwicklung auch mit einer Verschiebung der Problemstellungen verbunden, durch die die Aufgabe der Moralphilosophie bestimmt ist: die frühen (eher rationalistischen) Autoren sind primär an der Erklärung und Begründung von Verbindlichkeit interessiert, die späteren zunehmend am Zustandekommen und der Funktionsweise moralischer Beurteilung. In den subtileren Theorien fehlt allerdings der Versuch nicht, die mit solcher Beurteilung verbundenen Geltungsansprüche aus einer psychologischen Theorie verständlich zu machen. 2.1. Thomas —>Hobbes begründet die praktische Philosophie der Neuzeit (vgl. Iking). Dies gelingt ihm durch die Destruktion teleologischer Voraussetzungen (—»Teleologie) der traditionellen (insbesondere der aristotelischen) Ethik (Kritik an der Annahme eines höchsten Gutes) und einer damit einhergehenden Neufassung des Glücksbegriffs: „Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen" (Leviathan Kap. 11), das folglich nicht in einem summum bonum zur Ruhe kommt. Die Kritik der Teleologie ergibt sich aus der Übertragung von Hobbes' allgemeinem metaphysi-
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sehen Prinzip der Selbsterhaltung auf den Menschen. In ihr, nicht in der Spekulation über die Natur des Menschen, sucht Hobbes die Grundlagen von Moral und Politik. Diese,naturalistische' Basis enthält,empiristische' Elemente. Da es jedem Wesen zunächst allein um die Selbsterhaltung und die Förderung des eigenen Glückszustandes geht, bildet ein ethischer Egoismus das Fundament von Hobbes' praktischer Philosophie. Dem korrespondiert eine relativistische und im Ansatz bereits empiristische Bestimmung der Begriffe ,gut* und ,böse*. Gut ist, was Objekt eines Verlangens, böse, was Objekt einer Abneigung ist: „es gibt nichts, was schlechthin und an sich so ist" (ebd. Kap. 6). Die Zufälligkeit und Verschiedenheit der Begierden ist der Grund für Hobbes' These, daß es außerhalb des Staates keine allgemeinen moralischen Regeln und Kriterien, folglich keine Moralphilosophie geben kann (ebd.; De Homine 13,8). Allgemeine Regeln finden sich erst da, wo jemand verpflichtet ist, einer fremden Vorschrift zu folgen. Die Rechtsbegründung (—»Rechtsphilosophie) trägt eher rationalistische Züge. Im Naturzustand besteht dagegen ein Recht aller auf alles. Das natürliche Recht definiert Hobbes als „die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur . . . einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht" (Leviathan Kap. 14). Aufgrund dieser Gleichheit der Rechte und einer ihr korrespondierenden natürlichen Gleichheit (die in dem Vermögen eines jeden besteht, jeden anderen zu töten) entsteht ein Zustand des Krieges aller gegen alle. Erst in ihm entwickeln sich diejenigen „Leidenschaften, die den Menschen friedfertig machen" (z.B. die Todesfurcht). Ob die Gesetze der Natur, die Hobbes als „durch die Vernunft ermittelte Vorschriften" zum Zwecke der Lebenserhaltung bestimmt (Leviathan Kap. 14), lediglich Klugheitsregeln sind oder einen besonderen vernunftbedingten Verbindlichkeitsmodus haben, ist umstritten (vgl. Taylor; Warrender). Gegen eine streng rationalistische Deutung steht Hobbes' Behauptung, sie seien nur „Lehrsätze, die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung des Menschen gehört, während ein Gesetz genaugenommen das Wort dessen ist, der rechtmäßig Befehlsgewalt über andere innehat. Betrachten wir jedoch dieselben Lehrsätze als im Wort Gottes verkündet, der rechtmäßig allen Dingen befiehlt, so werden sie zu Recht Gesetze genannt" (Leviathan Kap. 15). Diese Überlegung dient Hobbes zur Begründung seiner These, daß erst im —»Staat allgemeine Gesetze verbindlich gelten. Sie zeigt auch, daß Hobbes die Geltung von Gesetzen an die Rechtssicherheit garantierende Macht des Gesetzgebers bindet (vgl. ebd. Kap. 17). Aber dann bleibt die Frage, worin die Verbindlichkeit derjenigen Naturgesetze gründet, die eine Verpflichtung zum Friedenszustand formulieren, unbeantwortet, oder ihre Beantwortung erfordert theologische Voraussetzungen. Aber auch für die Interpretation der Gebote Gottes gilt im Naturzustand das Recht des freien Vernunftgebrauchs. Daher überträgt Hobbes dem Souverän im Staat die Autorität der Bibelauslegung (Kap. 33). Es wäre allerdings verfehlt daraus zu folgern, daß Hobbes' Staatskonstruktion ein normatives Fundament entweder ganz fehlt oder in theologischen Voraussetzungen besteht. Die Rechtmäßigkeit der Befehlsgewalt des Souveräns folgt nach Hobbes nämlich nicht schon aus den Naturgesetzen. Dazu ist vielmehr ein ursprünglicher Vertrag, in dem alle zugunsten des Souveräns auf ihre Freiheit verzichten, erforderlich. Da dieser Verzicht eine freie Handlung ist, ist ihr Resultat rechtmäßig. Da im Staat der Souverän allein seine Freiheit behalten hat, kommt ihm rechtmäßige Befehlsgewalt über andere zu. 2.2. Obwohl Lockes Essay aus Diskussionen mit Freunden über die „Principles of morality and revealed religion" hervorgegangen ist, sind Bemerkungen zur Moralphilosophie eher spärlich und verstreut. Das mag auf Schwierigkeiten beruhen, denen sich Locke bei der Durchführung seines Programms gegenübersah (vgl. die Darstellungen bei Aaron und Mabbott). Diese Schwierigkeiten hängen damit zusammen, daß Locke eine empiristische Begründung der Begriffe der Moral mit einer rationalistischen These über das Zustandekommen moralischer Urteile verbinden will. Die Aufgabe der Ethik besteht Locke zufolge im „the seeking out those rules and Measures of humane Actions, which lead to happiness, and the means to practise them." Dieser
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Hedonismus bildet die Grundlage für Lockes Herleitung der Ideen von ,good and evil' aus den einfachen Ideen von ,Pleasure and Pain': „Things then are good or Evil, only in Reference to pleasure and Pain. That we call good, which is apt to cause or increase Pleasure, or diminish Pain in us" (II,XX,2). Soweit scheint Locke eine empiristisch-relativistische Konzeption zu vertreten. Im Gegensatz zu Hobbes unterscheidet er aber terminologisch von diesen oben gegebenen allgemeinen Bestimmungen einen spezifisch moralischen Sinn der Ideen von Gut und Böse: ,JAorally Good and Evil then, is only the Conformity or Disagreement of our voluntary Actions to some Law, whereby Good or Evil is drawn on us, from the will and Power of the law-maker, which good and e v i l . . . is that we call Reward and Punishment" (II,XXVIII,5). Locke knüpft somit das, was moralisch gut oder schlecht ist, 1. an die Existenz eines Gesetzes und 2. an die Verbindung dieser Gesetze mit Sanktionen. Die erste Bedingung soll die spezifische Differenz des moralisch Guten ausmachen, während die zweite die Beziehung zur allgemeinen Bestimmung von gut und böse herstellt. Dieser zweite Aspekt hängt eng mit Lockes Motivationstheorie zusammen. Danach reicht die bloße Erkenntnis, daß etwas gut ist, noch nicht aus, um die Ausführung der entsprechenden Handlung zu motivieren. Während der Mensch nach Hobbes in einer ständigen Bewegung von einem Gut zum anderen begriffen ist, bedarf es nach Locke eines Bewußtseins des Mangels, um zur Ausführung auch des als gut bereits Erkannten anzuspornen. Locke unterscheidet drei Typen moralischer Gesetze, die als Maßstäbe moralischer Beurteilung dienen (II,XXVIII,7-10): das göttliche Gesetz als Maßstab für Pflicht und Sünde; das bürgerliche Gesetz, das über Verbrechen entscheidet, und das Gesetz von Meinung und Ansehen, nach dem zwischen Tugend und Laster entschieden wird. Der empiristischen Herleitung der Ideen von ,gut* und ,böse' kontrastiert Lockes eher rationalistische These „that moral knowledge is as capable of real certainty, as Mathematics" (IV,VI,7). Den Grund für die Gewißheit moralischer Erkenntnis sieht Locke darin, daß die abstrakten moralischen Ideen ebenso wie die mathematischen (z. B. Gerechtigkeit) Modi sind, deren ,real essence' mit der,nominal essence' übereinstimmt. So könne man aus dem Begriff des Eigentums mit Gewißheit den Satz, daß Diebstahl ein Verbrechen ist, herleiten. Unklar bleibt, wie das Verfahren, aus den moralischen Ideen moralische Urteile demonstrativ herzuleiten, zur Erkenntnis der auf Gesetzgebung beruhenden moralischen Beurteilungsprinzipien (s.o.) führen kann, da deren Erkenntnis z. B. die Erkenntnis Gottes voraussetzt (vgl. Essays on the Law of Nature L,IV). Damit hängt die Frage zusammen, ob die Vorschriften z. B. der göttlichen Gesetze nur deshalb gut sind, weil sie von einem zu Belohnung und Bestrafung fähigen Wesen verhängt worden sind, oder ob sie deshalb, weil sie an sich gut sind, von Gott gewählt wurden. Die erste Interpretation wird von Lockes Definition des moralisch Guten nahegelegt, die zweite scheint sich aus seiner These über die Gewißheit moralischer Urteile zu ergeben. Lockes Moralphilosophie kann als Versuch angesehen werden, - im Gegenzug zu Hobbes — eine auf allgemeinen Gesetzen beruhende Ethik, die unabhängig von der Staatsphilosophie ist, zu begründen. In der Durchführung zeigen sich allerdings Schwierigkeiten, moralphilosophische Fragen im Kontext eines genetischen Empirismus der Ideen zu behandeln. 2.3. Moral Sense. Gegen Hobbes und Locke wird von den Theoretikern der Gefühlsethik auf Eigentümlichkeiten moralischer Beurteilung und moralischer Motivation hingewiesen, die in einer ethischen Theorie Berücksichtigung finden müssen: 1. moralische Beurteilung besteht nicht allein aus rationaler Überlegung, sondern enthält wesentlich ein Gefühl unmittelbaren Wohlgefallens oder Abneigung gegenüber dem Objekt der Beurteilung. Dieses Gefühl ist2. nicht notwendig mit einem Interesse des Urteilenden verbunden. Schließlich werden 3. gerade solche Handlungen und Motive moralisch geschätzt, die nicht auf das eigene Interesse, sondern das Wohl anderer gerichtet sind. So kann auch die moralische Motivation nicht ausschließlich auf Furcht vor Sanktionen (wie etwa bei Locke) beruhen. Einen ersten Versuch, diese Bemerkungen über moralische Beurteilung und Motivation im Rahmen einer empiristischen Ethik zu berücksichtigen, unternimmt die ,moral sense'-
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Theorie, deren Hauptvertreter A. Shaftesbury und Hutcheson (aber auch noch Hume) sind. Im Zentrum dieser Theorie steht die Analyse des Zustandekommens moralischer Urteile. Grund der Billigung einer moralischen Handlung ist das Auftreten eines spezifischen Wohlgefallens bei der Betrachtung der Handlung. 2.3.1. Zu dessen Erklärung nimmt —»Shaftesbury einen am Modell von Lockes Reflexion gebildeten ,reflected sense' an, der sich auf ,affections' richtet, die mit äußerer Wahrnehmung verbunden auftreten. Auf diese Weise entstehen ,affections" zweiter Stufe, die sich zunächst auf ,affections' erster Stufe und dann mit diesen verbundene Handlungen beziehen. Für Shaftesbury erschöpft sich die Analyse des moralischen Urteils jedoch nicht im Hinweis auf das Auftreten von ,affections' zweiter Stufe (Inquiry I,II,III). Dieses beruht auf einem Wohlgefallen an der Harmonie und Ordnung, in die sich die zu beurteilende Affektion einpaßt. Hinter dieser Konzeption steht eine Naturauffassung, derzufolge das Universum ein einem Organismus ähnlich geordnetes Ganzes von Subsystemen ist, wobei die jeweiligen Subsysteme zum Zwecke der Erhaltung des jeweils höheren Systems kooperieren (1,11,1). Auf diese Weise begründet Shaftesbury seine empiristische Gefühlsethik durch eine teleologische Naturauffassung, die die objektive Basis der auf dem moral sense beruhenden Urteile darstellt. 2.3.2. Francis Hutcheson ( 1 6 9 4 - 1 7 4 6 ) erweitert und verfeinert Shaftesburys Ansätze zu einer Gefühlsethik. Gegen Hobbes behauptet er 1. die Existenz von nicht aus der Selbstliebe ableitbarer ,kind affections', die ein unmittelbares Interesse am Wohl anderer begründen. 2. verfügen wir über ein sinnliches Vermögen der unmittelbaren Zustimmung oder Ablehnung gewisser Handlungen. 3. sind die Gegenstände moralischer Billigung die auf das Wohl anderer gerichteten ,kind affections'. Schließlich besteht die Funktion der Vernunft beim Zustandekommen des moralischen Urteils darin, den Beitrag der Handlung zu Glück oder Unglück zu erschließen und die Motive des Handelnden zu erkennen (Essay Sect. I). Der moralische Sinn ist anders als bei Shaftesbury lediglich das Vermögen, aufgrund der Annahmen über Handlungsfolgen und Motivation Gefühle bestimmter Art auszulösen. Das Motiv zur Einführung des ,moral sense' liegt in Hutchesons Überzeugung von der grundsätzlichen Verschiedenheit von,moral' und,natural goodness' (Inquiry Sect. 1,1). Hutcheson geht dabei aus von der Bestimmung von ,moral goodness' als „our idea of some quality apprehended in Actions, which produces approbation, attended with desire of the agent's happiness" (ebd. Intr.). Daß diese Idee von der des .natürlich Guten', die Hutcheson in derselben Weise bestimmt, wie Locke die Idee des Guten, ganz verschieden ist, begründet Hutcheson unter Hinweis auf Fälle, in denen wir auch dann moralisch billigen, wenn wir selbst keinen Vorteil von der gebilligten Handlung zu erwarten haben (ebd. II). Die Ubereinstimmung moralischer Urteile, ihr besonderer Geltungsanspruch, nicht von der zufälligen Konstitution des einzelnen abzuhängen, schließlich sein Gerichtetsein auf die ,kind affections', sind nach Hutcheson in der weitgehenden Gleichförmigkeit des moralischen Sinnes zu sehen. Gewißheit ist allerdings in dieser Frage nicht möglich. In der Inanspruchnahme theologischer Voraussetzungen (z. B. daß Gott selbst auch ,kind affections' billigt) ist Hutcheson sehr viel zurückhaltender als Shaftesbury. Die,moral sense'-Theorie stellt insofern einen deutlichen Fortschritt gegenüber den vorangegangenen Theorien dar, als sie besser geeignet ist, Besonderheiten Rechnung zu tragen, die moralisches Urteilen von interessiertem Nutzenkalkül unterscheidet. Sie erklärt zum einen die Unmittelbarkeit moralischer Billigung oder Verurteilung, die zwar durch rationale Überlegungen beeinflußt werden kann, aber nicht allein auf ihnen und eigennützigen Neigungen beruht. Sie erklärt weiterhin, daß für moralisches Urteilen der Unterschied zwischen Motiv und Handlungsresultat wichtig ist. Für die moralische Beurteilung ist im Gegensatz zur Glücksberechnung das Motiv, das zur Handlung führte, relevant. Damit hängt eine dritte Eigentümlichkeit moralischer Beurteilung zusammen. Es ist durchaus möglich, Handlungen moralisch zu billigen, auch wenn sie mein eigenes Interesse nicht berühren - im Grenzfall sogar ihm entgegenstehen. Damit ist gegen Hobbes und Locke auf einen Aspekt
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hingewiesen, der in den nun folgenden Theorien unter dem Titel des ,disinterestedness' oder ,impartiality' des moralischen Urteils geradezu zu seinem spezifischen Merkmal wird. Shaftesbury wie Hutcheson haben schließlich im Gegenzug zum ethischen —»Egoismus auf die Verbindung des moralischen Urteils mit den ,kind affections' und der ,benevolence' als dem vorzüglichen Gegenstand moralischer Billigung hingewiesen. Trotzdem bleibt die ,moral sense'-Theorie in vielerlei Hinsicht unbefriedigend, zum einen postuliert sie einen moralischen Sinn, der mehr ein theoretisches Konstrukt zur Erklärung bestimmter Phänomene zu sein scheint als ein empirisch aufweisbares sinnliches Vermögen, von dessen Existenz und Wirkungsweise wir in ähnlicher Weise Kenntnis haben wie von der äußerer Sinne. Problemreich ist weiter, daß die ,moral sense'-Theorie die Verbindung von moralischer Billigung und der benevolence entweder nicht erklärt, sondern postuliert (wie bei Hutcheson) oder an anspruchsvolle teleologische Voraussetzungen knüpft (Shaftesbury). 2.3.3. Im Zentrum von David —»Humes praktischer Philosophie steht die Polemik gegen den moralphilosophischen Rationalismus (S. —»Clarke, Ralph Cudworth, William Wollaston u.a.). Sein wichtigstes Argument gegen die der Vernunft von diesen Theoretikern zugeschriebenen Rolle sieht Hume darin, daß Vernunft keine handlungsmotivierende Kraft besitzt (Treatise II,III,3). Da andererseits moralische Urteile Gründe von Handlungen sein können, folgert Hume, daß auch die ,moral distinctions' nicht auf der Vernunft allein beruhen können. Wie schon Hutcheson nimmt Hume als ihre Quelle einen moral sense an (ebd. 111,1,2). „Morality . . . is more properly feit than judged of". Für Hume besteht daher das moralische Urteil im Auftreten bestimmter Gefühle: „the very feeling constitutes our praise or admiration" (ebd.). Und dieses besondere für die moralische Beurteilung verantwortliche Gefühl tritt nur dann rein auf, wenn ein Charakter oder eine Handlung im allgemeinen „without reference to our particular interest" betrachtet wird (ebd.). Die endgültige Loslösung der moralischen Beurteilung von allen metaphysischen und theologischen Annahmen, die für Shaftesbury und Hutcheson der subjektiven Billigung durch den ,moral sense' ein objektives Fundament geben sollten, vollzieht erst Hume. Für ihn gehört die Untersuchung der Funktionsweise moralischer Beurteilung zum Programm der Untersuchung der menschlichen Natur. Es geht nicht primär darum, Geltungsansprüche zu rechtfertigen, sondern ihr Auftreten zu erklären. Eine weitere wichtige Korrektur an der ,moral sense'-Philosophie vor allem in Hutchesons Variante betrifft die Bestimmung des Objekts der Billigung durch den,moral sense': gegen die einseitige Hervorhebung der .benevolence' verweist Hume auf andere natürliche Tugenden. Wichtiger noch ist seine Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Tugenden (z.B. —»Gerechtigkeit). Die Regeln der Gerechtigkeit sind Konventionen, die ursprünglich aus Eigennutz etabliert wurden. Mit der Ausdehnung der Gesellschaften verblaßt dieses ursprüngliche Motiv. An seine Stelle kann dann das Pflichtgefühl treten. Die Sympathie mit anderen bildet den Grund für die moralische Wertschätzung: „Thus self-interest is the original motive to the establishment of justice: but a sympathy with public interest is the source of the moral approbation, which attends that virtue" (Treatise III,II,2). 2.3.4. Adam Smith (1723-1790) macht die Sympathie zur Grundlage seiner „Theorie der ethischen Gefühle". Indem wir uns in Gedanken an die Stelle anderer setzen, können wir ihre Gefühle und —»Affekte nachempfinden. Dieses Mitgefühl nennt Smith - Hume folgend - Sympathie (Theory 1,1,1). Die so nachempfundenen Affekte entstehen also nicht „aus dem Anblick des Affekts, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die ihn auslöst" (ebd. S. 6), ihr Auftreten hängt daher vom Umfang der Kenntnis der Situation ab. Die Beurteilung der ,Schicklichkeit oder Unschicklichkeit' der Gefühle anderer beruht nach Smith auf der Fähigkeit des Zuschauers, mit den Gefühlen zu sympathisieren: „Wenn wir also die Affekte eines anderen als ihren Gegenständen angemessen billigen, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir unserer vollen Sympathie mit diesen Affekten inne geworden sind" (1,1,3, S. 14). Soll das Urteil dem Gegenstand angemessen sein, so muß der Zuschauer sich bemühen, „so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen" (1,1,4, S. 23). In dieser Forderung steckt das
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normative Element von Smiths Theorie. Andererseits hat der Betroffene ein Interesse an der Sympathie des Zuschauers. Dies hat die Wirkung, daß er seine Affekte so,herabstimmt', daß er mit der Sympathie des Zuschauers rechnen kann. Auf diese Weise gleichen sich die Affekte von Zuschauer und Betroffenem einander an, und zugleich bildet sich die Vorstellung eines unparteiischen Zuschauers, dessen Sympathiefähigkeit als Maßstab der Beurteilung auch von dem Betroffenen anerkannt wird. In der durch wechselseitige Sympathieerwartungen gebildeten Konstruktion eines unparteiischen Zuschauers verbindet sich der soziale Aspekt moralischer Beurteilung mit ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch. Humes Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Tugenden korrespondiert bei Smith die Unterscheidung zwischen schicklichen und unschicklichen Handlungen und Affekten einerseits und verdienstlichen und strafwürdigen andererseits (1,1,4, S. 19 ff; 11,1). Im ersten Fall beziehen wir die eine Handlung motivierende Empfindung auf ihre Ursache, im anderen Fall auf die intendierte Wirkung. Grundlage der Beurteilung von Verdienst und Schuld sind die Gefühle der Dankbarkeit und das Vergeltungsgefühl. „Uns muß . . . jene Handlung einer Belohnung würdig erscheinen, die sich als der schickliche und anerkannte Gegenstand der Dankbarkeit darstellt, wie uns andererseits jene Handlung strafwürdig erscheint, die sich als der schickliche und anerkannte Gegenstand des Vergeltungsgefühls darstellt" (11,1,1, S. 97). „Diese wie alle anderen Affekte der menschlichen Natur erscheinen jedoch nur dann schicklich und werden nur dann gebilligt, sobald das Herz jedes unparteiischen Zuschauers, mit ihnen ganz und gar sympathisiert und sobald jeder unbeteiligte Augenzeuge sie vollkommen begreifen und mitfühlen kann (ebd.). Es ist die Aufgabe der Vernunft, „aus Erfahrung und Induktion" die allgemeinen Regeln der Beurteilung aufzusuchen — der Ursprung der moralischen Beurteilung aber liegt in der unmittelbaren Empfindung (VII,III,2, S. 533). Die Vorzüge von Smiths Theorie liegen darin, daß er ein einheitliches Prinzip (Sympathie) zur Grundlage der Beurteilung macht, das — im Gegensatz zum ,moral sense' — nicht erst postuliert werden muß. In der Konstruktion des unparteiischen Zuschauers gelingt ihm die Verbindung zwischen Normativität, Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Urteile einerseits und ihrem Ursprung in den sozialen Verhältnissen und empirischen Bedingungen der menschlichen Natur andererseits. Dagegen lassen die komplexen Funktionsweisen der Sympathie, die Smith in der Analyse einzelner Phänomene moralischer Beurteilung aufdeckt, Zweifel entstehen, ob dieses Beurteilungsprinzip eindeutig diesseits der Grenze zwischen Gefühl und Vernunft anzusiedeln ist. So braucht es nicht zu verwundern, daß Kant gerade zu der Zeit, als er sich von der Gefühlsethik endgültig lossagte, Smith zu seinen Lieblingsautoren in der Moralphilosophie zählte (vgl. Brief von M. Herz von 1771, Akademie-Ausg. X, 126). 2.4. Während die Gefühlsethik psychologistische Erklärungen des Zustandekommens moralischer Urteile gibt, ist der -^Utilitarismus vornehmlich an einem Entscheidungskriterium (für richtiges Handeln) interessiert. Jeremy Bentham ( 1 7 4 8 - 1 8 3 2 ) bietet als ein solches Kriterium das Nützlichkeitsprinzip an: „By the principle of Utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question" (Principles 1,11). Gegen die Gefühlsethik, der Bentham Relativismus und Subjektivismus vorwirft (II,XIff), behauptet er die Notwendigkeit eines objektivierbaren Prinzips, ohne das die Ethik keine Wissenschaft werden kann - eine Ansicht, die er mit dem zweiten ,klassischen' Utilitaristen J . St. Mill teilt. Zugrundegelegt ist - wie bereits bei Locke - ein ethischer Hedonismus, der allerdings bei Bentham mit der Zuversicht verbunden ist, daß das Streben des Einzelnen mit dem Glück der Gemeinschaft nicht in Widerspruch steht (I,IIIf). Die Begriffe .sollen' und .richtig oder falsch handeln' haben für Bentham keinen anderen Sinn als den der Übereinstimmung mit dem Prinzip der Nützlichkeit. Was nützlich ist, bestimmt sich für ihn nach dem möglichen Beitrag, den es zur Gesamtsumme der Freuden leistet. Auf diese Weise kann eine Handlung auch dann weniger nützlich sein als eine andere, wenn ihre unmittelbare Folge in mehr Freude besteht.
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J.St. Mills Utilitarismus weicht von Benthams Utilitarismus darin ab, daß er - Hutchesons Formel v o m größten Glück der größten Zahl aufnehmend — das Nützlichkeitsprinzip nicht relativ auf ein Individuum oder eine Gruppe, sondern auf die Menschheit bezieht. Weiterhin weist er a u f qualitative Unterschiede in den Freuden hin - Unterschiede, die es zweifelhaft erscheinen lassen, daß eine utilitaristische Theorie wirklich, wie Bentham meinte, der Gefiihlsethik gegenüber den Vorzug größerer Objektivität und intersubjektiver Berechenbarkeit habe. Die Differenziertheit der Problemanalyse der Gefühlstheorien kann so im Rahmen einer empiristischen Moralphilosophie nur schwer bei der Angabe eines brauchbaren Entscheidungskriteriunis berücksichtigt werden. Erst der Utilitarismus des 2 0 . J h . hat hier differenziertere Verfahren entwickelt. Quellen ,Klassischer' Empirismus: Francis Bacon, Novum Organum (1620): The Works of Francis Bacon, ed. 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2. Werk
(1478-1527) 3. Nachwirkung
(Bibliographien/Quellen/Literatur S. 579)
1. Leben Emser wurde am 16. oder am 26. März 1478 [ 1 4 7 7 ? ] wahrscheinlich in Weiderstetten (20 km nördlich von Ulm) geboren. Sein Vater war nicht der Ritter Wilhelm Emser von Ulm 55 (so Kawerau und die von ihm abhängige Literatur), sondern Johannes Emser, der zu Beginn des 16. Jh. Kanzler der Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg war (RGST 40,
Emser
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1 2 - 1 4 ) . Emser entstammte einer ritterbiirtigen Familie (Thurnhofer: CCath 4, 9 Anm. 5 deutet sogar die Möglichkeit an, Emser einer Seitenlinie der Grafen von Hohenembs zuzuweisen) und hat später sein Familienwappen, das auf dem Schild und als Helmzier das Brustbild des Steinbocks zeigt, öfter seinen Schriften Vordrucken lassen. Das brachte ihm in den literarischen Auseinandersetzungen den Übernamen „Bock Emser" (lat. aegoceros oder capricornus) ein, den Emser hin und wieder auch selbst, offenbar nicht ohne Stolz, verwendete. Am 19. Juli 1493 wurde Emser an der Universität —»Tübingen immatrikuliert und erwarb hier die Grundlagen seiner humanistischen Bildung (u.a. Griechisch bei Dionysius Reuchlin, dem Bruder des J. —»Reuchlin). 1497 wechselte er an die Universität —»Basel, deren Artistenfakultät ihm am 20. September 1497, noch vor der Immatrikulation, den Grad des Baccalaureus verlieh. Am 18. Oktober 1497 wurde er in Basel immatrikuliert und im Jahre 1499 zum Magister artium promoviert. Auch hier fand er Anschluß an humanistische Kreise. Er lernte 1499 Willibald Pirckheimer kennen, mit dem ihn lebenslange, wenn auch zeitweise getrübte, freundschaftliche Beziehungen verbanden. Seine Tätigkeit als Erzieher im Hause des Baseler Verlegers Johann Amerbach war für Emser bei der Ausweitung seiner Kontakte mit Persönlichkeiten aus Humanistenkreisen sicher förderlich. Spätestens in Basel hat sich Emser für die geistliche Laufbahn entschieden; im Mai 1502 wird er als Priester bezeichnet (RGST 40, 11 - 2 0 ) . Vermutlich studierte er Theologie, sicher betrieb er auch juristische Studien. Ein Studentenstreich beendete seine Zeit in Basel: Spottverse auf die Schweizer, die ohne Emsers Zutun bekannt wurden, trafen auf die Empfindlichkeit einer Stadt, die erst vor kurzem der Eidgenossenschaft beigetreten war, und brachten ihn in ernste Gefahr. Nach mehrwöchiger Haft mußte er am 23. Mai 1502 Abbitte und Widerruf leisten und wurde ausgewiesen. Von 1502 bis 1504 begleitete er als Sekretär und Kaplan Kardinal Raimund Peraudi, der als päpstlicher Legat den Jubiläumsablaß im Reich verkündete und zum Krieg gegen die Türken aufrief. Die Reisen mit dem Kardinal führten Emser durch große Teile Deutschlands und boten ihm viele Möglichkeiten, die in Humanistenkreisen so begehrten Bekanntschaften mit gelehrten oder einflußreichen Persönlichkeiten zu schließen. Im Jahre 1504 hielt er sich für kurze Zeit im Kreise Jakob Wimpfelings in Straßburg auf. Im Sommersemester 1504 immatrikulierte er sich in —»Erfurt und hielt dort eine Vorlesung über Johann Reuchlins Komödie Sergius-, unter seinen Zuhörern befand sich auch Martin —»Luther. Im Winter 1504/05 wechselte Emser nach —»Leipzig, um dort Theologie und kanonisches Recht zu studieren. 1505 wurde er zum Baccalaureus der Theologie promoviert, wohl im gleichen Jahr — der Zeitpunkt ist unbekannt — auch zum Lizentiaten des kanonischen Rechts. Das Studium der Theologie an der ganz der via atitiqua verschriebenen Theologischen Fakultät in Leipzig behagte dem Humanisten Emser offenbar gar nicht. So folgte er noch 1505 dem Ruf —»Georgs von Sachsen, der ihn als seinen Sekretär an den Hof nach Dresden berief. Im Auftrag des Herzogs unternahm Emser — vermutlich 1506/07 - eine Reise nach Rom, um an der Kurie den Heiligsprechungsprozeß für den Bischof Benno von Meißen (gest. 1106) voranzutreiben. Sechs Jahre verblieb Emser in der Stellung als herzoglicher Sekretär; danach widmete er sich ganz seinen Studien und der schriftstellerischen Arbeit. Aus mehreren Pfründen in Meißen und Dresden bezog er ein nicht gerade üppiges, aber ausreichendes Einkommen (CCath 4, 93). Die Beziehungen zwischen Herzog Georg und Emser blieben eng und vertrauensvoll. So schaltete der Herzog ihn ein, als er 1516 den Versuch unternahm, -»Erasmus für die Leipziger Universität zu gewinnen. In den Auseinandersetzungen mit Luther wird Emser immer wieder vom Herzog herangezogen und mit den neuesten Informationen und Publikationen aus Wittenberg versehen. Die Leipziger Disputation erlebte Emser in der Begleitung des Herzogs mit. Von da an war Emsers Leben bestimmt vom Abwehrkampf gegen Luther und die von ihm ausgelöste reformatorische Bewegung. Diesen Kampf führte er vor allem mit literarischen Mitteln. In den Jahren 1 5 2 4 - 1 5 2 6 unterhielt er sogar eine eigene Druckerei in seinem Haus, in der er vor allem seine eigenen Schriften, aber auch die Werke ihm nahestehender Autoren drucken ließ (Freudenberger: CCath 28, XIII f).
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Emser
In den Jahren 1518 und 1519 kam es zu mehreren persönlichen Begegnungen zwischen Emser und Luther, die jedoch nicht glücklich verliefen und sich eher belastend auf ihr Verhältnis ausgewirkt haben. Luther nahm es Emser nicht ab, daß dieser mit seinem ersten Bericht über die Leipziger Disputation ihn gegen eine ungerechtfertigte Vereinnahmung durch die Hussiten (—»Hus/Hussiten) habe in Schutz nehmen wollen, sondern unterstellte ihm, er habe ihn bewußt in die Nähe von Häretikern rücken wollen. Andererseits akzeptierte Emser die mehrfach vorgebrachte Beteuerung Luthers nicht, er habe in Leipzig mit den Worten: „die sach ist umb Gotes willen nith angefangen; sol ouch umb Gotes willen nith aufhören" (Enders II, 5) nur die Leipziger Disputation gemeint; vielmehr wurden diese Worte von Emser auf Luthers ganzes Werk gedeutet. Der leidenschaftliche Einsatz beider Kontrahenten für die von ihnen vertretene Sache und ihre gemeinsame Vorliebe für eine kräftige Sprache führten zu immer heftigeren Streitschriften. Die Auseinandersetzungen zwischen Emser und Luther sind jedoch nicht nur und nicht in erster Linie Äußerungen persönlicher Animositäten, sondern müssen in dem größeren Zusammenhang des Ringens um die Durchsetzung der Reformation in —»Sachsen gesehen werden. Die Bemühungen der Forschung in den letzten Jahrzehnten um die Erhellung der religionspolitischen Motive und Ziele Herzog Georgs (Ludolphy; Vossler; Wolter) haben ein differenzierteres Bild ergeben, das sich auch bei künftigen Arbeiten über Emser auswirken dürfte. Die Unverblümtheit, derer sich Emser unter Hinweis auf seine schwäbische Herkunft rühmte, brachte ihn dazu, seine Schwächen offen einzugestehen, besonders auch die Tatsache, daß er dem hohen Anspruch des priesterlichen Amtes, den er verteidigte, in seinem eigenen Leben zu oft nicht gerecht geworden sei; gegen zu grobe und ehrenrührige Unterstellungen seiner Gegner setzte er sich jedoch energisch zur Wehr (CCath 4 , 9 3 - 9 8 ; 28,100f). Bei der Interpretation der Selbstzeugnisse Emsers muß auch beachtet werden, daß Herzog Georg, der eine strenge Reform des Klerus betrieb, Emser wohl nicht in diesem Maße im antireformatorischen Kampf herangezogen hätte, wenn dieser sich schwerer sittlicher Verstöße schuldig gemacht hätte. Die Aufregungen der Auseinandersetzungen um die reformatorische Bewegung rieben den ohnehin kränklichen Emser vorzeitig auf. Am 8. November 1527 starb er am Lungenschlag (suffocatus fluxu pectorali: Thurnhofer 336 Anm. 3), nach Ausweis der Grabinschrift im 50. Lebensjahr; er wurde auf dem Liebfrauenfriedhof in Dresden begraben. 2. Werk Emsers Lebenslauf und Tätigkeit schienen zunächst ganz auf die übliche Bahn eines Humanisten im geistlichen Gewand hinzudeuten. Gedichte, Korrespondenzen, Editionen und Übersetzungen sowie eigene kleinere Werke dienten vor allem dazu, Verbindungen zu angesehenen Humanisten zu schaffen und zu pflegen. Auch der Nachdruck von Erasmus* Ettchiridion militis christiani, den Emser 1515 und öfter in Leipzig besorgte, ist wohl hier einzuordnen. Als er 1505 in die Dienste Herzog Georgs trat, führte er sich bei der Herzogin mit einem Büchlein in Versform über die Ehe (Eyn deutsche Satyra) und bei der Männerwelt mit einem Dialog über die Sitte des Zutrinkens ein (Kawerau 113). Auch die Art, wie Emser das Lieblingsprojekt Herzog Georgs, die Kanonisation des Bischofs Benno von Meißen, aufgriff, zeigt ganz die Art des Humanisten. 1505 veröffentlichte er eine lateinische Dichtung in 100 Distichen auf Benno; in den folgenden Jahren verfaßte er eine umfangreiche Vita, die er 1512 drucken ließ. Mit großem Fleiß hatte er die Quellen und Berichte über Benno zusammengetragen, dabei aber den historischen Wert und die Glaubwürdigkeit der einzelnen Dokumente wenig beachtet. „Den Hauptteil an der schriftstellerischen Lebensarbeit Emsers bildet der im Jahre 1519 einsetzende literarische Kampf gegen Luther und sein Werk" (Thurnhofer: CCath 4, 11). Eher am Rande dieses Kampfes zu notieren sind Emsers Streit mit —»Karlstadt um die Bilderverehrung (1522; —»Bilder), sein Mitwirken bei der Drucklegung und Veröffentlichung der Schriften —»Heinrichs VIII. gegen Luther (1521/22) und seine eigene Auseinandersetzung mit Luther wegen dessen Angriff auf die -»Heiligenverehrung (veranlaßt durch die feierliche
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Erhebung der Gebeine des hl. Benno im Jahre 1 5 2 4 , nachdem er am 3 1 . Mai 1 5 2 3 durch —»Hadrian VI. kanonisiert worden war). Die meisten und die wichtigsten Schriften Emsers befassen sich mit —»Abendmahl, Messe und Priestertum, mit der —»Schriftauslegung und der Lehre von der —»Tradition. Sie liegen in modernen Ausgaben vor. Eine zusammenhängende Darstellung der katholischen Lehre wird man bei Emser jedoch vergebens suchen. „Seine Schriften sind Gegenschriften, und zwar im buchstäblichen Sinne, sie sind immer nur das Spiegelbild der jeweiligen reformatorischen Schrift" (Iserloh: KLK 10,21). Wie bei einer Disputation stellt er einzelnen Sätzen, die er aus der Schrift des Gegners herausgreift, seine Widerlegung gegenüber, so daß Emsers Schriften den Eindruck eines Dialogs erwecken. Diese Methode gestattet ihm eine lebendige Darstellung, verführt ihn aber auch allzu oft dazu, Angriffe und Derbheiten seiner Gegner mit mindestens gleichgrober Münze zurückzuzahlen. Glänzende Belesenheit in der lateinischen und griechischen klassischen und altchristlichen Literatur kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er mehr humanistisch als theologisch gebildet war (vgl. Freudenberger: CCath 2 8 , XII). Darum gelingt es ihm meist nicht, die zentrale theologische Aussage des Gegners zu treffen und zu widerlegen. Die letzte Publikation Emsers hat den besonderen Zorn seiner Gegner hervorgerufen und ihm von Seiten Luthers den Schimpfnamen „Sudeler" (WA 3 0 / 2 , 6 3 4 ) und von der Nachwelt vielfach den Vorwurf des Plagiats eingebracht: die deutsche Übersetzung des Neuen Testaments von 1527. Wie die Kritik an Luthers —»Bibelübersetzung, die Emser 1523 publiziert hatte, so geschah auch die Publikation von 1 5 2 7 im Auftrag Herzog Georgs, der damit die Verbreitung der Ubersetzung Luthers im Volk eindämmen wollte, was jedoch nicht gelang. Tatsächlich hat Emser nur eine Überarbeitung der Luther-Bibel unter Berücksichtigung der Vulgata und der katholischen Lehrtradition und Beifügung einiger kurzer Kommentare vorgenommen. Da sie auch nach Emsers Tod noch mehrfach aufgelegt wurde, verhalf sie indirekt der Verbreitung der Übersetzung Luthers auch im katholischen Volksteil. 3.
Nachwirkung
Emser ist nach dem Urteil Kaweraus „im Kreise der Männer, die im albertinischen Sachsen den Kampf mit der Reformation führen, der bedeutendste" (SVRG 6 1 , 110). Obwohl Emsers Freund und Nachfolger als theologischer Berater Herzog Georgs, —»Cochläus, seine Leistungen als Kontroversschriftsteller sehr hoch einschätzte, gerieten Emsers Schriften bald in Vergessenheit; kaum eine von ihnen wurde nach seinem Tode noch einmal nachgedruckt. Lediglich seine Ausgabe des Neuen Testamentes wurde 2 9 mal aufgelegt und in der Überarbeitung von Dietenberger und —»Eck weitere 65 mal herausgebracht. Erst ein Hinweis J o h . Janssens (Gesch. des dt. Volkes, VII 1893, 4 6 7 ) und die Arbeiten der evangelischen Reformationshistoriker Kawerau und Mosen haben dann auch in der katholischen Kirchengeschichtsforschung wieder Interesse für einen Mann erweckt, der zu den frühesten und entschiedensten Gegnern Luthers und der reformatorischen Bewegung gehörte und sowohl durch die räumliche Nähe als auch durch sein waches Interesse und seine guten Beziehungen zu den bestinformierten Streitern in den Auseinandersetzungen der Frühzeit der Reformation zählte. Bibliographien Die bisher vollständigsten Angaben über die Schriften Emsers finden sich bei Gustav Kawerau, Hieronymus Emser, 1898 (SVRG 61) bes. im Anmerkungsteil (111-130). - Für die theologischen Schriften: Hugo Hurter, Nomenciator Literarius, Innsbruck, II, 2 1906, 1236-1238.-Wilbirgis Klaiber, Kath. Kontroverstheologen u. Reformer des 16. Jh. 1978, (RGST 116), 9 1 - 9 4 , Nr. 9 5 7 - 1 0 0 2 . Quellen Vita Bennonis: Acta Sanctorum, Junii III, Venedig 1743, 1 5 0 - 1 7 5 . - Ludwig Enders, Luther u. Emser. Ihre Streitschr. aus dem Jahre 1521,2 Bde., Halle 1890-1892. - Das niederdt. NT nach Emsers Ubers. Rostock 1530. Eine Auswahl, hg. v. Ernst Weissbrodt, 1912 (KIT 106). - Hieronymus Emser, De disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est (1519). A venatione Luteriana aego-
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cerotis assertio (1519), hg. v. Franz Xaver Thurnhofer, 1921 (CCath 4). - Hieronymus Emser, Eyn dt. Satyra u. straffe des Ehebruchs, hg. v. Robert T. Clark jr., 1956 (TSMA 3). - Hieronymus Emser, Sehr, zur Verteidigung der Messe, hg. v. Theobald Freudenberger, 1959 (CCath 28). - Felician Geß, Akten u. Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs v. Sachsen, 2 Bde., Leipzig/Berlin 1905-1917. Briefe: P.S. Allen, Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, 11 Bde., Oxford 1906-1947 (Nr. 553.1551.1566.1683. 1773.1923).-Briefe v. Hieronymus Emser, Johann Cochläus u.a. an die Fürstin Margarete u. die Fürsten Johann u. Georg v. Anhalt, hg. v. Otto Clemen, 1907, (RGST 3), 1 - 5 . - Franz Xaver Thurnhofer, Hieronymus Emser u. die Eidgenossen: Briefmappe II, 1922, (RGST 40), 1-22. Literatur Hans Becker, Herzog Georg v. Sachsen als kirchl. u. theol. Schriftsteller: ARG 24 (1927) 161 - 2 6 9 . - Heinz Bluhm, Emser's „Emendation" of Luther's New Testament: MLN 81 (1966) 3 7 0 - 3 9 7 . - Georg Finsler, Warum hat Hieronymus Emser im Mai 1502 Basel plötzlich verlassen?: Zwing. 2 (1905-1912) 3 9 2 - 3 9 8 . - Oswald A. Hecker, Religion u. Politik in den letzten Lebensjahren Herzog Georgs des Bärtigen v. Sachsen, Leipzig 1912. - Erwin Iserloh, Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther, 1952, (KLK 10) 1 9 - 2 6 . - Ders., Art. Emser: DHGE 15 (1963) 444 f. - Friedrich Jenssen, Emsers NT in niederdt. Übertragung, Schwerin 1933. - Gustav Kawerau, Art. Emser: RE 3 5 (1898) 3 3 9 - 3 4 2 ; 23 (1913) 391.-Ders., Hieronymus Emser. Ein Lebensbild aus der Reformationsgeschichte, 1898 (SVRG 61). - Raimund Kemper, Hieronymus Emsers „Eyn dt. Satyra u. straffe des Ehebruchs": Euphorion 56 (1962) 3 7 3 - 3 9 6 . - T h e o d o r Kolde, Art. Emser: ADB6 (1877) 9 6 - 9 9 . - O. Langer, Kritik der Quellen zur Gesch. Bennos: Mitt. des Vereins für die Gesch. Meißens 1,3 (Meißen 1884) 7 0 - 9 5 . - Ingetraut Ludolphy, Die Ursachen der Gegnerschaft zw. Luther u. Herzog Georg v. Sachsen: LuJ 32 (1965) 2 8 - 4 4 . - K a r l Meissinger, Luther u. Emser, Diss. Straßburg 1 9 1 8 . - Paul Mosen, Hieronymus Emser, der Vorkämpfer Roms gegen die Reformation, Halle 1898. — Gisela Reichel, Herzog Georg der Bärtige u. Erasmus v. Rotterdam, Diss. Leipzig 1947. - Heribert SmoIinsky, Reformation u. Bildersturm. Hieronymus Emsers Sehr, gegen Karlstadt über die Bilderverehrung: Reformatio Ecclesiae. FS Erwin Iserloh, Paderborn 1 9 8 0 , 4 2 7 - 4 4 0 . — Franz Xaver Thurnhofer, Willibald Pirkheimer u. Hieronymus Emser: Beitr. zur Gesch. der Renaissance u. der Reformation. FS Joseph Schlecht, München/Freising 1917,335—347. — Otto Vossler, Herzog Georg der Bärtige u. seine Ablehnung Luthers: HZ 184 (1957) 2 7 2 - 2 9 1 . - Hans Wolter, Frühreformatorische Religionsgespräche zw. Georg v. Sachsen u. Philipp v. Hessen: Testimonium Veritati, 1971 (FTS 7) 3 1 5 - 3 3 3 . Josef Steinruck
Engel I. II. III. IV. V. VI. VII.
Religionsgeschichtlich Altes Testament Judentum Neues Testament Kirchengeschichtlich Dogmatisch Praktisch-theologisch
583 586 596 599 609 612
I. Religionsgeschichtlich 1. Entwicklungslinien 2. Ältere Vorstellungen 4. Schlußbetrachtung (Literatur S. 582) 1.
3. Vollentwickelte
Ausgestaltungen
Entwicklungslinien
Allgemein lassen sich in den Frühphasen der Religionsgeschichte Tendenzen sowohl des Aufstiegs wie auch des Absinkens von übermenschlichen Mächten (numina) feststellen. Aus den im animistischen Sinn mehr personhaft, im präanimistischen mehr apersonal gedachten Geistmächten (—»Dämonen) können sich im Zug des Bewußtseinsaufstiegs Götter entwikkeln, die schließlich sogar in besonderen Fällen den Rang des Hochgottes erlangen; umgekehrt können ursprünglich hochrangige Gottheiten zu „Begleitgöttern" oder „dienenden Wesen" werden, etwa im Hofstaat eines neu aufgestiegenen Hochgottes.
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Vorstellungen
„Dienende Wesen" sind schon seit früher Zeit und dann durchgängig in der altägyptischen Götterhierarchie bekannt (Morenz 63; —»Ägypten). Dasselbe gilt für das alte Mesopotamien (vgl. Edzard) und das alte Kleinasien (vgl. v. Schuler), wie überhaupt für den gesamten Bereich der altorientalischen Religionen und auch für die Induskultur: besonders fallen hier die Mischwesen der Siegelamulette auf, die wohl als schützende Geistmächte unterhalb der Sphäre der höheren Gottheiten und in deren Dienst stehend angesehen werden dürfen (Abb. s. Mode Taf. 56; 63 ff). Von solchen frühen Mischwesen aus läßt sich eine direkte Linie zu den brahmanistischen und hinduistischen wie auch buddhistischen Gandharvas und Apsaras beobachten, wie andererseits auch westlich des Hindukusch, ausgehend vor allem von dem an Mischwesen besonders reichen Götterhimmel des alten Elam (s. hierzu Hinz; —»Elam und Israel), eine Fülle von dienenden Wesen solcher Art bis hin zu den assyrischen Lamassu (Edzard 94; —»Assyrien und Israel) und den biblischen Keruben allenthalben vorkommt. Dienende Mischwesen kommen früh auch im alten China vor (Münke 264 ff; —»Chinesische Religionen); die klassische chinesische Mythologie kennt den Sammelbegriff shen [Botengott] für maßgebende Gestalten wichtiger Mythenkreise (bes. Chu Jung, Hi Ho, Kou Mang; s. Münke z. St.). Die möglicherweise von Ostasien aus in mancher Hinsicht beeinflußten Hochkulturen Alt-Amerikas (Abb. s. Trimborn Taf. 23.88) kennen ebenfalls dienende Geistwesen und Begleitgötter in beträchtlichem Ausmaß; erwähnt sei zum einen das von zahlreichen kalenderbestimmenden Begleitwesen umgebene Bild des Hochgotts Kontiki Viracocha auf dem „Sonnentor" von Tiahuanaco, zum anderen die mehrfach vorkommende Gestalt des Botengotts Chacmool. 3. Vollentwickelte
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Ausgestaltungen
Das vedische —>Indien kennt den himmlischen Gandharva und seine Geliebte oder Gattin Apsaras, beide auch im Plural als dienende Bewohner des Indra-Himmels; Gandharvas, ursprünglich Wassergeister, nehmen Vogelgestalt an und durchmessen fliegend den Raum, das gleiche gilt von den Apsaras, die allerdings als Nymphen mehr dem Wasser zugehörig bleiben. Die Gandharvas sind Kenner und Vermittler göttlicher Geheimnisse, also geradezu Offenbarungsmittler; eine Gruppe von ihnen, Kimnaras genannt, sind himmlische Sänger, vorgestellt als vogelähnliche Wesen mit Menschenkopf. Yak$as (pl.mask.) und Yak$ini (fem.) sind eine gegenüber den Gandharvas und Apsaras mehr untergeordnete Kategorie von Geistwesen; sie sind vorwiegend Schutzgeister und Fruchtbarkeitsgenien, den Menschen freundlich, man findet sie als im Dienst bestimmter Hochgötter stehend an deren Tempeln überaus häufig dargestellt (Näheres s. Gonda; Moeller). Auch die Bild- und Baukunst schon des frühen Buddhismus (Sanchi, Ajanta) ist durch eine Fülle solcher Gestalten charakterisiert. Im späteren Mahäyäna-Buddhismus, besonders dann im tantristischen Lamaismus (vgl. Kirfel; —»Buddhismus) wird die Schar der Schutzgötter und dienenden Geistmächte, die den hohen Buddhas und ihren Emanationen und Inkarnationen zugeordnet sind, überaus zahlreich. Wesentlich ist dabei vor allem, daß diese Mächte immer eine religionspsychologische Funktion insofern haben, als sie, als Meditationsgegenstände auf zahllosen Wand- und Rollbildern dargestellt, im innerpsychischen Bereich erfahrbar werden (vgl. Mann, Mythos). Eben dieser existenziale Wesenszug kennzeichnet auch die Vorstellung von Engelmächten in der —»Iranischen Religion, insbesondere seit Zarathustras Reform (zum folgenden s. Widengren; Vermaseren), wobei auf die These von A. Schimmel zu verweisen ist: „Iran kann als Heimat der Engelvorstellung im engeren Sinn angesehen werden" (1300). Aus den alten sogenannten „Funktionsgottheiten", die als objektiv-mythologistisch gedachte Repräsentanten der drei sozialen Stände anzusehen sind, werden in Zarathustras Verkündigung die „unsterblichen Heiligen" (amesha spenta), Wesen, deren iranische Namen Guter Sinn, Wahrheit, Rechtsherrschaft, Maßgesinnung, Gesundheit und UnSterblichkeit bedeuten, wobei damit jeweils auch eine elementare, also kosmische Funktion verbunden wird (Rind, Feuer, Metall, Erde, Wasser, Pflanzen), und zwar immer eine solche,
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welche f ü r das Gedeihen der Gesellschaft und des einzelnen besondere Bedeutung hat. Alle diese Mächte, die man auch schon als Erzengel bezeichnet hat, sind als Manifestationsweisen des Hochgotts Ahura Mazda gedacht, ihm unterstellt als seine Offenbarungsträger; das Wesentliche aber ist ihr existenzialer Charakter, sie sind innerpsychisch erfahrbar und wollen da realisiert sein. Unterhalb dieser Sphäre gibt es, hierarchisch gegliedert, zahlreiche weitere Geistwesen; zu den wichtigsten gehören die fravashi, persönliche Schutzengel der Gerechten; ferner die daênâ, welche die rechte Religiosität des Einzelmenschen repräsentiert, ja vom Menschen eigentlich erst durch das f r o m m e Leben zur Wirklichkeit gebracht wird. Dem vollentwickelten System solcher Engelhierarchie steht dann ein eben solches der daêva, der Dämonen unter ihrem Herrn Ahra Mainyu (Ahriman) gegenüber. - Wie auf das nachexilische Judentum (s. u. Abschn. III), so hat dann später dieses System von Engelhierarchien teils über jüdisch-christliche Vermittlung, teils durch unmittelbare Begegnung nach der Eroberung des Iran, einen starken Einfluß auf den —»Islam (vgl. Watt/Welch) ausgeübt. Anders als im Iran, w o die Mächte Emanationen des Hochgotts sind, wird freilich hier (wie auch im Judentum und Christentum) die Geschöpflichkeit der Engel hervorgehoben. Von einer obersten Klasse von „Erzengeln", besonders der vier Thronengel, werden zahllose weitere Klassen und Einzelgestalten unterschieden. Dieser Engelhierarchie steht eine entsprechende der Dämonen (ginn), einstigen Elementargeistern, unter ihrem Oberherrn Iblîs (v. ötäßoXog) gegenüber. — Die —»Griechische und —*Römische Religion (s. Nilsson) kennt auch in ihrer ausgereiften Gestalt eine Fülle von Zwischenwesen, die zum großen Teil reine Natur- und Elementargeister sind, wie z.B. Dryaden, Satyrn und Silene (Waldgeister), Nymphen, Najaden und Tritonen (Quell- und Meerdämonen) u. v. m. Besonders bedeutsam für einige spätere christliche und gnostische (s. u. Abschn. V) Vorstellungen ist die Gestalt des Hermes-Mercurius, und zwar zunächst als Bote (zur Gestalt und Bedeutung des Boten in der tragischen Dichtung s. di Gregorio); in dieser Funktion, dem Zeus eindeutig unterstellt, ist er, einerseits, göttliches Urbild anderer, noch stärker untergeordneter religiöser Botengestalten, die, als Mittler zwischen Menschen- und Götterwelt, oft schon in der rein heidnischen Gräzität den allgemeinen Namen äyysXog tragen (s. Sokolowski); Hermes-Mercurius wird andererseits als Offenbarungsmittler zum Seelengeleiter, den noch Horaz in echter Frömmigkeit feiert (carm. 1,10), und als solcher wiederum zum Urbild jener äyyeAog-Mächte, die als Beschützer des Toten auf Sarginschriften beschworen werden. Der römische genius kann, wie die iranische fravashi, als Vorläufer des christlichen Schutzengels angesehen werden; seine ikonographische Darstellung als menschenähnliche Idealgestalt mit Flügeln, die ihre Entsprechungen im parthisch-sassanidischen Bereich hat, geht zurück auf das Vorbild der geflügelten Dienerinnen der Athena Nike, vor allem in den Bildwerken des Agorakritos an der Balustrade des Nike-Tempels auf der Athener Akropolis. 4.
Schlußbetrachtung
Hinsichtlich der Funktion besteht eine gewisse Einhelligkeit, es handelt sich durchweg um Wesen, die zwischen Menschen und höheren Mächten vermitteln, den höheren Mächten dienstbar sind und als Vorbilder in Anbetung und Lobpreis fungieren. Hinsichtlich der Essenz besteht eine starke Mannigfaltigkeit, die variiert zwischen Natur- und Elementarmächten oder metapolitischen Größen (Völkerengel) einerseits und Wesen göttlicher H e r k u n f t bzw. göttlichen Emanationen andererseits. Der erstgenannte Aspekt ist wohl unaufgebbar f ü r jede entwickelte Hochreligion, auch die monotheistische (vgl. M a n n , Das Wunderbare); wenngleich der zweitgenannte Aspekt, wiewohl mit Einschränkung, auch in der biblischen Religion nicht völlig fehlt (Gen 6,2ff), so tendieren die monotheistischen Hochreligionen, abgesehen von der zoroastrischen, doch darauf, die Geschöpflichkeit der Engel und damit ihren Wesensunterschied zu Gott selbst in stärkstem M a ß zu betonen. Literatur Georges Dumézil, Naissance d'archanges, Paris 1945. - Dictz Otto Edzard, Mesopotamien. Die Mythologie der Sumerer u. Akkader: WM 1/1 (1965) 17-140. - Jan Gonda, Die Religionen Indiens, 2 Bde., 1960/64 (RM 11/12).- Lamberto di Gregorio, Le scene d'annuncio nella tragedia greca, Mailand
Engel II
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Große Schwierigkeiten erwachsen der wissenschaftlichen Erfassung daraus, daß mal'ak jhwh ganz unterschiedliche Wesenheiten bezeichnet, von Menschen (z.B. Priester Hag 1,13; Maleachi als angeblicher Prophetenname) und überirdischen Wesen bis hin zu einem mit Jahwes Ich verwechselbaren Sprecher. Der Terminus meint nur die Botenfunktion (die Nominalbildung bedeutet „Gesandtschaft"), d.h. Entsender, Empfänger und Botschaft sind wichtig, nicht aber die Art oder Seinsweise des Boten — sehr im Unterschied zur abendländischen Engel-Vorstellung, die auf ein überirdisches und als solches erkennbares Wesen abhebt (Flügel). Während Götterboten aus der Religionsgeschichte, auch des Alten Orients, gut bekannt sind, scheint diese spezielle, von der Seinsweise des Boten absehende Auffassung von Engeln ausschließlich alttestamentlich zu sein (Hirth), soviel Folkloristisch-Ubernationales von Engeln auch erzählt wird (Nachweise bei Buttrick). Demnach wählte Jahwe den für die jeweilige Botschaft geeigneten Boten, bis in der Spätzeit des Alten Testaments (Dan 8,16; 9,21) ganz andere Vorstellungen Raum gewannen. Von den ca. 120 Belegen entfällt die große Menge auf wenige Kapitel: Gen 16 (par. 21); 22; 28; 31; 32; 48; Num 22 f; Jdc 6; 13; I Reg 19; II Reg 19 (par. Jes 37; par. II Chr 32); Sach 1 - 6; Mal 1 - 3 ; I Chr 21 (nach II Sam 24,16 f)- Dazu kommen einige kleinere Gruppen,s.u. Deutlich nachträgliche Interpretationen liegen Gen 19,1.15; 24,7.40; Ex 3,2a; II Sam 24,16 f vor, die nicht im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen können. I. Unwahrscheinlich ist die Annahme, daß die Belege ihrem Ursprung nach darauf abzielten, Jahwes Transzendenz zu wahren bzw. eine allzu direkte Einflußnahme auf den Alltag zu beseitigen. Dann wären viel häufigere Eingriffe in die Sagenüberlieferung zu erwarten. Umgekehrt wirken Gen 2 8 , 1 2 ; 3 2 , 2 isehr altertümlich, da sie von Boten auf der Rampe zum himmlischen Palast (Bethel; s. noch 3 1 , 1 1 . 1 2 b — 1 3 , verunstaltet durch den Zusatz 3 1 , 1 0 . 12a) bzw. vom Lager der Boten am Fuß des Aufstiegs zum himmlischen Palast erzählen (mahanajim; kaum „Kriegsheer", da von Boten die Rede ist). Ahnlich unwahrscheinlich ist die Annahme, daß Engel nicht vor der elohistischen Pentateuchschicht (—»Elohist) belegt seien (Röttger). Gen 16,7f. 1 0 - 1 2 lassen sich dem—»Jahwisten schwerlich absprechen und in Num 2 2 , 2 1 - 3 5 ist jedenfalls nicht sicher, daß E und nicht J der Bearbeiter einer älteren Tradition ist. Gen 16 dürfte auf eine alte schöne Wüstenerzählung zurückgehen: die mit der Wüste völlig vertraute Hagar traf einen Wanderer, der ihr nicht nur allerhand Seherisches über ihre Leibesfrucht sagte ( V . l 1 f), sondern den sie als „Jahwe der mit ihr redete" (V.13) ausschließlich am Gottes-Ich der Mehrungsverheißung (V.10) erkannte. ( 2 1 , 1 7 E beseitigt jeden animistischen Schein [„Engel = Quellgeist"], indem die Stimme des Engels vom Himmel her ergeht und der Brunnen kein heiliger Ort sein soll.) Es gibt kaum einen glaubwürdigeren Ursprung für die Anfänge der spezifisch alttestamentlichen Engel-Vorstellung als Erzählungen wie die von Gen 16. Daß schließlich die vorklassische Prophetie im Nord-
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reich Anteil an der Verbreitung der Engel-Vorstellung gehabt habe (Röttger), läßt sich schwerlich erhärten, weil jene in prophetischen Traditionen keine entscheidende oder auch nur wichtige Rolle hat. Eher vereint sie Seherisches und Wundertätiges, so z. B. Jdc 6,11.20 ff (überarbeitet durch das sog. Berufungsschema V. 12— 17), wo der im Alltag begegnende Bote bei Entflammen des Opfers für einen Wundertäter gehalten werden konnte. So ausdrücklich Jdc 13,1 — 18 (sekundäre Einleitung der Simson-Erzählungen), nach der Simsons Mutter den Engel für einen Gottesmann hielt und ihr Mann Manoach ihn als mal'ak jhwh erkannte, weil er mit dem Opferfeuer auffuhr (m.E. von II Reg 2,15 ganz zu trennen, s.o. 498f). An menschliche Hilfe könnte I Reg 19,3a/?—8 denken, während die herrliche alte Erzählung von—»Bileams Eselin (Num 22,22—34; V.21.35 redaktionell) vielleicht mit voller Absicht in die Welt des Märchens führt: Bileam wird als verblendet, die Eselin als seherisch dargestellt und der feindliche Seher so verspottet. Der unheimliche mal'ak jhwh mit dem Schwert hat hier keine nennenswerte Botschaft, sondern ist sie selbst als Drohung seines Auftraggebers. Ähnlich der mal'ak jhwh von II Reg 19,35 (Jes 37,36; ausgeschmückt in II Chr 32), der zur Erfüllung des Prophetenwortes (V.33f) im Lager Sanheribs 185000 Mann erschlug: die Botschaft ging an Sanherib und die Assyrer, und die Ermordung Sanheribs im Tempel (V.37) bestätigte das Gottesurteil. - Sehr merkwürdig erscheint II Reg 1,3.15. Kaum richtig ist die Auffassung, der mal'ak jhwh sei aus V.15 (V.9—15 Zusatz) in V. 3 eingedrungen, sondern umgekehrt dürfte V.3a voraussetzen, daß—»Elia mit dem Gottesauftrag zugleich die Nachricht vom königlichen Vergehen erhielt. 2. Eine Reihe von Belegen, besonders die aus der Moseüberlieferung, sind ausgesprochen schwierig. So erklärt ein E-Nachtrag Num 20,16 im Unterschied zu der schier erdrükkenden Fülle an Prädikationen, daß Jahwe Israel aus Ägypten geführt habe, den Auszug als ein Werk des mal'ak jhwh. Vielleicht ist das Motiv Ex 14,19a nachgebildet und hat auf Ex 3,2a eingewirkt.'Trotzdem bleibt die Notiz befremdlich - dient sie der Erklärung für einen Ausländer? - Einen mal'ak jhwh, der Israel ins Land führen sollte, bezeugt Ex 23, (20).23. Wahrscheinlich ist diese Tradition mit Jdc 2 , 1 - 5 zu verbinden, nach der ein mal'ak jhwh von Gilgal nach Bochim (bei Gilgal?, s. Halbe) zieht und dort verklagt. Mit Schmitt und Halbe könnte man an beiden Stellen nach Jdc 5,23 an einen Orakelsprecher im Rechtsbereich denken; aber die Tradition bleibt vorerst dunkel. In Ex 32,34; 33,2 scheint sie eine Uminterpretation erfahren zu haben. Jahwe wollte nicht selbst vom Sinai weg ins Land ziehen, sondern nur seinen Engel senden (Pentateuchnachträge). Eine Verbindung zum Rechtsbereich zeigen auch die höfischen Vergleiche II Sam 14,15; 19,28, die Davids Rechtsprechung mit der eines Engels vergleichen. Etwas anders I Sam 29,19: David als Vasall der Philister schien dem Achis von Gath gut wie ein Engel für die Schlacht gegen Israel - hier also erneut über die Grenze einer Nation (und Religion) hinweg. - Weniger schwierig ist wohl die auffällige Stelle Gen 48,16, wo der mal'äk neben Gott selbst Erwähnung findet. Es liegt wohl eine Anspielung auf die Betheltradition vonGen31,11.12b-13vor, Gott als El Bethel (35,7) hatte ja viele Boten (28,12) und ist hier im Engel der Erlöser. Umstritten bleibt Hos 12,5a. Wenn man den Text nicht ändert, kann man lesen: „Da ward er (Jakob) Herr über den Engel und schaffte das. (Der Engel) weinte und bat ihn um Gnade." Demnach soll es in V.4b ein Engel und nicht Gott selbst gewesen sein, über den Jakob Herr wurde (vgl. Gen 3 2 , 2 3 - 3 2 ) . — Der in Sach 1 - 6 bezeugte Engel ist wohl noch nicht als feste Figur (Deute-Engel) zu werten. Wie in I Reg 13,18; II Reg 1,3 liegt eine Botenübermittlung vor. Jahwe hatte bereits Ereignisse in Gang gesetzt, die dem mit seinem Volk niedergeschlagenen Propheten unverständlich sein mußten. Die Unterteilung der Visionen in Ereignisse und Deutung dient also der Steigerung der Gewißheit und weist damit dem Engel eine Nebenfunktion zu. - Während die weiteren Belege nichts Auffälliges berichten, sind noch Mal 3,1; I Chr 21; Dan 3,28; 6,23; 8,16; 9,21 erwähnenswert. Es ist höchst zweifelhaft, ob der „Bundesbote" Mal 3,1 überhaupt ein mal'ak jhwh sein soll, die Stelle wird hier besser ausgeschieden. In I Chr 21 hat die knappe Erwähnung eines Engels in II Sam 24,16f eine erhebliche Ausweitung erfahren. Soweit ihm die Ausführung der Pest übertragen ist,
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bleibt der Engel wie in II Sam 2 4 Ausführungsorgan des Prophetenwortes. Einer Lesart von 4 Q S a m a zu II Sam 2 4 , 1 6 folgend, h a t I C h r 2 1 , 1 5 den Tempelplatz als O r t des Einhaltens des Engels bei der Pest aufgefaßt. N a c h I Chr 2 1 , 3 0 hinderte der Engel fortan David, vom wahren Heiligtum weg die H ö h e von Gibeon aufzusuchen (Röttger). Ein spezielles Interesse von I/II Chr a m Engel wird man aus diesen Erweiterungen schwerlich ableiten können. Vielmehr sprechen sie für volkstümliche Weiterbildung. - Dan 3 , 2 8 ; 6 , 2 3 (Daniel-Legenden) bleiben wohl noch ganz im Rahmen der spezifisch alttestamentlichen Auffassung - an beiden Stellen ist ja an eine Bolschaft für die gesamte Weltherrschaft gedacht. M i t Dan 8 , 1 6 ; 9 , 2 1 (Gabriel) taucht ein neues Motiv auf; dieser wird aber noch nicht Engel genannt, sondern „ M a n n " (vgl. weiter Abschn. II). 3. Insgesamt dürfte deutlich sein, daß die alttestamentliche Engel-Vorstellung nur vereinzelt und sehr verstreut vorkommt. Es empfiehlt sich z. Zt. nicht, sie einer bestimmten Tradition oder bestimmten Tradentenkreisen zuzuschreiben. Das Alte Testament hat von ihr sparsamen Gebrauch gemacht, und eben so ist sie sehr originell. Wenn man bedenkt, wie wenig sie am Sein des Boten und wie ausschließlich an der geeigneten Ausrichtung der jeweiligen Botschaft interessiert ist, wird man dem Urteil Westermanns gern folgen, daß sie theologisch unüberholt und unüberholbar ist. Literatur Walter Baumgartner, Zum Problem des „Jahwe-Engels": SThU 14(1944) 9 7 - 1 0 2 = ders.,Zum AT u. seiner Umwelt, Leiden 1959, 2 4 0 - 2 4 6 . - Walter Beyerlin, Gesch. u. heilsgesch. Traditionsbildung im AT (Ri 6 - 8): VT 13 ( 1963) 1 - 25. - Joseph Blenkinsopp, Structure and Style in Judges 1 3 - 1 6 : JBL 82 (1963) 6 5 - 7 6 . - Peter C. 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Horst Seebaß III. Judentum 1. Gott als Herr der Welt 2. Gott als Herr der Geschichte 3 . Gott als Richter 4. Gott als Herr über das Böse 5. Magische und menschliche Weltbemächtigung 6. Tabu und Heiligkeit des göttlichen Bereichs 7. Distanzmittler 8. Teilhabe der Menschen an Gottes Herrlichkeit 9. Verteidigung der Souveränität Gottes gegen die Engel 10. Verteidigung der Würde des Menschen gegenüber den Engeln (Literatur S. 594)
Eine Beschreibung der frühjüdischen, antiken und mittelalterlichen Engelvorstellungen muß neben dem biblischen mal'ak auch all jene anders benannten, Gott unterstehenden, ihm dienenden himmlischen Wesen einbeziehen, also z.B. k'rûbîm, s'räfim, hajjôt, b'nê hä-älohîm, q'dôsîm, 'îrîti, sarîm, rûhôt, 'ofannîm, galgallîm, mârkâbôt u.a. Eine solche weitere Fassung des Begriffes .Engel' läßt auch in der hebräischen Bibel eine schon weiter ausgreifende ,Angelologie' sichtbar werden (vgl. I Reg 22,19 ff; Hi 1; 33,23; Jes 6; Ez 1; 10; Dan 7; Ps 78,49; 104,4 u.a.). Dies und die aus Ugarit bekannten Vorstellungen von einem himmlischen Pantheon haben die Forschung zunehmend veranlaßt, von einer außerisraelitischen Herleitung (Bousset/Gressmann 499 f; Rüssel 258 ff; Baldensperger 64; Gunkel 300 f; Stave 228 f; Kohut) der frühjüdischen Angelologie zugunsten einer kanaanäisch-innerisraelitischen Entwicklung abzurücken (Colpe 4 1 8 - 4 2 4 ; Fohrer 347ff; Dexinger 81; Hengel, Judentum 424 f). Das dennoch auffallende Anschwellen der frühjüdischen Angelologie mögen analoge Tendenzen im griechischen Bereich (Hengel, a. a. 0 . 4 2 6 ff; Morrison 75 f.81) erklä-
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ren, wo gleichfalls Formen des Volksglaubens systematisiert wurden. Andererseits erschien offenbar die Vorstellung von einem Heer Gott dienstbarer Geister als die adäquate Form, um mit dem konkreten Denken der Alten die Vielheit der erfahrenen Wirkungen und Mächte mit dem Monotheismus in Einklang zu bringen, wobei nach der alten Hofstaatvorstellung die Herrlichkeit des Königs mit der Anzahl seiner Diener wächst und jene nur des Königs Befehl ausfuhren. Das Judentum der frühjüdischen Zeit war in vielerlei oft rivalisierende Gruppen mit abweichenden theologischen Auffassungen gespalten, die in entsprechend verschieden charakterisierten Schriften ihren Niederschlag fanden. Beides hat Folgen für die tatsächlich vorhandene und die erkennbare Angelologie, da je nach Charakter der Schrift und Theologie bevorzugt die eine oder andere Engelvorstellung hervortritt oder gar Sondervorstellungen anzutreffen sind. Dennoch lassen die frühjüdischen und rabbinischen Gruppierungen eine umgrenzte Anzahl gemeinsamer Engelvorstellungen erkennen, die zum Fundament der jüdischen ,Angelologie' wurde, die sich in verschiedener Nuancierung, Zuriickdrängung oder Hervorhebung einzelner Aspekte neben neu aufgekommenen Auffassungen bis herauf in die Neuzeit erhalten hat. Zentral für alle diese Vorstellungen ist der Gedanke, daß die Engel in Gottes Dienst an Ihm, am Kosmos und an der Menschheit stehen. Die Einordnung der verschiedenen Aussagen über die Engel in dieses Dreieck erscheint mithin als sachgerechtes Ordnungsprinzip für eine Darstellung im diachronischen Querschnitt - spätere Sonderentwicklungen werden an dem ihnen gemäßen Ort angefugt. An der Stellung einer Aussage in diesen Koordinaten lassen sich zugleich dem Monotheismus konforme und für ihn problematische Anschauungen messen. - Insgesamt lassen sich in der frühjüdischen (Apokryphen, Pseudepigraphen, Qumran), der rabbinischen (Midrasch, Talmud, mystische Traktate) und der von ihnen abhängigen späteren Literatur etwa zehn Zuordnungen innerhalb der genannten Koordinaten finden, die ihrerseits in mehrere Untergruppen zerfallen.
1. Gott als Herr der Welt 1.1. Kosmokrator. Seine Diener, die Engel, herrschen über die Gestirne und garantieren die dort sichtbare Ordnung (äthHen 43,2; 82; 72,1 ff; 74,2, Uriel, Führer aller Gestirne; slHen 4; 19), sie bewegen Sonne, Mond und Sterne (grBar 6; 7; 9; slHen 11,4; 12,2; hebrHen 14,3f; 17,4ff; BHM 1,64; SefRaziel 19b; 21b) und sind deren Betreuer und Pfleger (grBar 8; slHen 14,2f) oder mit ihnen identisch (äthHen 18,13ff; 21,3ff). In dieser astralen Eigenschaft herrschen die Engel auch über die Zeiten, Tag und Nacht, die Wochentage, Monate und Jahreszeiten (hebrHen 14,3; äthHen 82,4 ff; slHen 19; BHM 111,158; Gollancz XII; Sef. Raziel 21b; SedR debereshit § 15, BatM 1,26). Durch Engel als ,Elementargeister' (—»Dämonen) herrscht Gott in allen Elementen, geographischen Formationen, Witterungsphänomenen, Gewächsen und Wesen (slHen 19; Jub 2,2; äthHen 6 0 , 1 1 - 2 1 ; 65,8; hebrHen 14,3 f; MTeh 104,3). Im Rahmen einer Schöpfungsweihefeier läßt das SedR debereshit die Fürsten aller Naturphänomene vor Gottes Thron erscheinen (BatM 1,26; vgl. BatM 1,369). Einen über die gesamte Schöpfung gesetzten ,Fürsten der Welt' (dem keine negativen Züge eignen) kennen bHul 60 a; MTeh 104,24. Nach PRE 27,62 a ist er identisch mit Michael, sonst auch mit Metatron (Schäfer, Rivalität 55). Vereinzelt werden die Namen solcher Engel in der frühjüdischen, rabbinischen und liturgischen Literatur genannt (äthHen 8,3; hebrHen 14; bPes 118a/b; bTaan 25 b; bSan 95 b; bBB 74 b; bNid 16 b; ShirR 3,11 § 1; PesR 20; MTeh 117,3; Regenbitte der Sukkotliturgie; vgl. Bietenhard 102). Dies ist indessen nicht mit dem systematischen Sammelbestreben der magischen, mystischen und apokalyptischen Henochliteratur gleichzusetzen, s.u. Abschn. 5 u. 6. 1.2. Uranokrator. Das Gott unterstehende Heer des Himmels ist in verschiedene, in den Quellen variierende Engelhierarchien gegliedert. Schon Tob 12,15 (vgl. äthHen 90,21; TestLev 8; Ez 9,2 ff) kennt eine herausragende Gruppe von sieben (Erz-, grHen 20,7) Engeln. In grHen 20 heißen sie Uriel, Rafael, Raguel, Michael, Sariel, Gabriel und Remiel. In hebrHen 17,3 herrschen die sieben (Michael, Gabriel, Sataqi'el, Sahaqi'el, Badari'el, Baraki'el, Pazri'el) über je einen der sieben Himmel (vgl. aber die Varianten, Odeberg, 3 Enoch 45). Das MasHekh kennt sieben ersterschaffene Dienstengel, die innerhalb des .Vorhanges' dienen, samt namentlich genannten sieben Wächtern auf sieben Thronen (BHM 11,46; PRE
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4,10a; vgl. noch BHM V,165f; PesR 20; Grözinger, Ich 3 7 f f . l 3 4 f f , wo auch die Vorstellung gleichzeitiger Erschaffung des Engels und seines Himmels belegt ist). Sieben z. T. andere Wochentagsengel bei Gollancz XII. In Konkurrenz zur Siebener-Gruppe finden sich neben einer Sechsergruppe (TPsJ Dtn 34,6; äthHen 20) auch vier Erzengel: Michael, Gabriel, Rafael, Phanuel. Besonders letzterer wird durch Uriel (grHen 9,1; und rabbinisch), Sariel (1 Q M IX,15), Metatron (BHM V,165f) u.a. ersetzt. Diese 4 stehen (als Angesichtsengel) an den 4 Seiten des Gottesthrones (äthHen 40,2f.9; 9f; 54,6; BemR 2,10). Nach PRE 4 (9 b); MasHekh BHM 11,43 f stehen sie vier Lagern vor, die Gott von vier Seiten mit Lob umgeben. Die für diese Erzengelgruppen in den Texten aufgezählten Aufgaben stehen - außer der Zuordnung sieben Tage, sieben Himmel bzw. vier Seiten des Thrones - in keiner erkennbaren Beziehung zu ihrer Gruppenzahl. Letztere dürfte ihren Grund in alten Astraltraditionen wie den sieben Planeten, den vier Rädern des Sonnenwagens (vgl. Stübe 22f.26f) bzw. der Zuordnung zu vier Weltteilen (Beer, zu äthHen 9,1) haben oder exegetisch bedingt sein. Exegetischen Ursprungs sind wohl auch die Engelklassen der Kerubim, Serafim, Ofannim (Jes 6; Ez 1; 10) etc. In liturgischem Interesse wird zuweilen das Trishagion (Sanctus) unddasBenedictas auf 3 oder 4 Engelklassen verteilt (bHul 91b). Sieben Engelklassen kennt slHen 19,1, neun slHen 20,1: Erzengel, Kräfte, Herrschaften, Prinzipe, Mächte, Kerubim, Serfaim, Throne, Vielaugige (vgl. TestAd 4; zehn Klassen bei slHen 20,3; Maimonides, Hilk.J'sode Tora 2,7; Stübe 26t). Die ausführlichste Klassensystematik bietet das ca. aus dem3. Jh. n.Chr. stammendeSefär hä-räzim (Niggemeyer) mitaufsieben Himmel verteilten Lagern, Wächtern und Fürsten, das darin von der Märkäbä- und Ma'*se-bcresit — Mystik beeinflußt ist (vgl. z.B. Odeberg, 3 Enoch 147ff; SedR debereshit, BatM 1,39ff; Grözinger, Ich 157). Besonders auffällig ist die Hervorhebung eines alle überragenden Großengels, dem die Traidtion verschiedene Namen gibt, nämlich Michael (Lueken), Metatron (auch ,Kleiner Jahwe' genannt, Odeberg, ebd. 79 ff; Scholem, Gnosticism 43 ff; Segal 60 ff; Lieberman; Moore; Bietenhard 143 ff),)a(h)oel(ApkAbr 10,Scholem,Gnosticism43; Gruenwald 196), Hennoch (s.u.), Menschensohn (Colpe423 f. 426), in denen Stier (128f) Varianten der Vorstellung von einem himmlischen ,Wesir* sehen wollte, und denen daher trotz verschiedener Titulatur ganz entsprechende Funktionen zugeschrieben werden: oberster Engel (grBar 1 1 - 1 3 ; slHen 22; TestAbr 4,5; BatM 1,277; bSan 38b; BatM 11,132; hebrHen 10,3; 16; 48 C; Merkava shelema 39b; Zoh 1,149 a; Odeberg 81.111 f; Scholem, Gnosticism 46.48), himmlischer Schreiber (äthHen 12; 89 f; TPsJ Gen 5,24; Jub 4,23; bHag 15 a; BHM 11,66), himmlischer Richter (Jub 4,23; äthHen 69,26ff; hebrHen 16), Fürst der Welt (PRE 27 [62a]; bHul 60aTos; Odeberg 104.114.118; Scholem, Gnosticism 48.131), Kenner des Gottesnamens und Schöpfungsgeheimnisses (äthHen 69,14ff; ApkAbr 10,9; Merk.shelema 39bf Zoh I,37b; Grözinger, Musik T.II, Kap.7); himmlischer Hoherpriester (bHag 12b; BemR 12,12; MTeh 134,1; BHM 111,137; BatM 1,41); Gottes Vertrauter (Tan wa'ethanan § 6, 102b; MMishlB 39b; hebrHen 48 C; wobei die Zeugen zwischen Michael und Metatron schwanken). All dies, insbesondere die in manchen Quellen ausgesagte Erhöhung eines Menschen (Henochs) zum Menschsohn (äthHen 71) oder Metatron (TPsJ Gen 5,24; hebrHen 4;7—13), erscheint geeignet, das Entstehen der neutestamentlichen Christologie zu erklären (Hengel, Sohn 73 ff), aber auch als Anlaß zur Häresie, wie im Falle Ahers (Elisa Ben Abuja), der angesichts von Metatron ausrief: „Gewiß gibt es zwei Gewalten im Himmel" (hebrHen 16;bHag 15 a). 1.3. Himmelskönig. Signum der Königsherrschaft Gottes ist der aus I Reg 22 (Dan 7) überkommene, den Gottesthron umgebende und die Himmel füllende himmlische Hofstaat von Myriaden namenloser Engelscharen (äthHen 14,22;40,1;71,1 f.7ff;MMishlB 14, 28,75; VitAd 25), besonders ausgeprägt in den Thronvisionen der Hekhalotmystiker, z. B. MasHekh 5f (BHM 11,43 f). Wichtigste Aufgabe dieser Scharen ist der gesungene Lobpreis Gottes, die dauernde Königsakklamation (äthHen 39,12 f; 40,3; slHen 20,3-21,1; TestLev
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3; IV Esr 8,21; BatM 1,278ff; Sef. hä-räzim 107ff;MMScholem § 23,112; MasHekh 5; Merk.shelema 32b), die auch in der synagogalen Liturgie in der Q'dussa (z.B. Sid Safä be~ rûrâ 106f) und anderen Gebeten beschrieben wird, z.B. Mahzôr l'-jamin nôra'îm, (II, 148 ff. 153 f). Entsprechend der täglichen Neuschöpfung singen nach Auffassung der Rabbinen täglich neu erschaffene Engel ein neues Lied (BerR 78,1; TanB, Einl. 126). Zentraler Text des Engelgesanges ist das Trishagion (Odeberg, a . a . O . 183 ff; Altmann) insbesondere nach den Hekhalottexten, die darin mächtig auf die tägliche Liturgie einwirkten, und zwar bevorzugt bei den drei täglichen,Königsaudienzen' (Gebetszeiten), bei denen unter dem Gesang der Q'dussä irdischer und himmlischer Gottesdienst bis hin zur Nachahmung des Engeltanzes verschmelzen (HekhR 3,3, BHM 111,85; Shibbole hal-leqet B 19; MasHekh 7, BHM 11,45; HekhR 9,2f, BHM 111,90; Grözinger, Musik T.II, Kap. 6.3.5; ders., Ich 166ff). Die rabbinische Literatur kennt für den himmlischen Hofstaat den Begriff „himmlische Familie" ipämaljä säl ma'lä). Mit ihr berät sich der Gottkönig (ySan 1,1,18 a; WaR 29,1; TanB II,fco, S. 38; PesK S. 250f; Schäfer, Rivalität 41 f), sie nimmt an des Königs Feierlichkeiten, wie der Hochzeit des ersten Menschen (als Orchester; ARA,B, BHM 111,60; BerR 8,13), an seiner Trauer (u.a. als Totengeleit) (TanB II, beshallah, S. 60; PRE 42,98 b; EkhR Pet § 24; BHM VI,77f; EkhZ 1,7, S. 55 [vgl. ApkMos 38]; Grözinger, Musik T.I, Kap. 16) teil. 2. Gott als Herr der
Geschichte
2.1. Engel als Botschaftsüberbringer. Gott greift in den Gang der Geschichte mittels Engelbotschaften in Realität, Traum und Vision ein: 2.1.1. An einzelne Personen. Ein Engel offenbart Jakob Rubens Missetat (TestRub 3), überbringt dem Abraham den Auszugsbefehl (Gen 12) (Jub 12,22); die Verheißung von Isaaks Geburt (Jub 16; BerR 53,3), kündet Noah die Flut an (äthHen 10,1) und dergleichen mehr. Die Botschaft ist Gebot, Aufklärung und Belehrung. 2.1.2. An ganze Gruppen. Sie lehren die Menschen Recht und Gerechtigkeit (Jub 4,15 ff), die Sprachen der 70 Völker (hebr. TestNaph 8), die Tora am Sinai (Josephus, Ant XV, 136; Jub 1,27 ff an Moses; ApkMos 1, durch Michael), letzteres wird indessen von den Rabbinen zurückgedrängt — ihnen sind Engel am Sinai zwar bedeutsame Tradition, aber nur als Teil der Theophanie, Helfer Gottes und ehestens noch als,Hilfslehrer' für einzelne Details (ShirR 1,2 § 2; PesK219f.266f; Schäfer, Rivalität 43 ff), ARN,B,1: „Moses empfing die Tora vom Sinai, nicht durch den Mund eines Engels und nicht durch den Mund eines Saraf, sondern aus dem Munde des Königs der Könige!" 2.1.3. An Himmelsreisende, Visionäre und Charismatiker. Als Deuteengel (angelus interpres), der dem Menschen die Visionen und die Schrift deutet (Dan 8; 9; Jub 12,27), Offenbarungen vermittelt, Kenntnisse über Natur, Kosmos, Geschichte und deren Ordnung und all das bei der Himmelsreise Wahrgenommene (TestLev 5; äthHen 1,2; 17,1; 22,1; 93,2; 72,1; 67,12; Jub 4,18 ff; hebrHen passim). 2.2. Schutz und Geleit 2.2.1. Die Engel schützen in Gottes Auftrag einzelne Menschen als deren Schutzengel, retten sie vor Feinden, geleiten sie (TestSim 2; Testjud 3; TestNaph 8; grBar 12f; TPsJ Gen 48,16). Gabriel der Feuersfürst rettet die drei Männer im Feuerofen (bPes 118 a; ShemR 18,5; ähnlich Michael PRE 33,77bf); Engel geleiten Isaak (TPsJ Gen 22,19), bedrohen zugunsten Jakobs Laban im Traum, (TPsJ 31,24). Dem Frommen gilt das besondere Geleit der Engel (SER 4, S. 19; Tan wajjislah § 8), jeder hat seinen Schutzengel (Bar d'-ma'asê b'resit, BatM 1,44), der dann in der aschkenasischen Mystik des 13. Jh. säläm [Abbild] genannt und dessen Schicksal gemäß dem des Menschen von Gott schon bei der Schöpfung bestimmt wird (Dan 218 f.229). Wer den Sabbat heiligt, hat an diesem Tagzwei besondere Geleitengel (bShab 119 b); sie werden bei der Rückkehr aus der Synagoge um einen Friedenssegen angefleht (Sid Safà berûrâ 98); nach einer anderen Meinung (bShab 119 b) ist es ein Schutz- und
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ein Strafengel. Die Schutzengel wehren schließlich die —»Dämonen ab (Tob 3,16 ff) und heilen (12, 14;Zoh 1,46b; Rafaël!). 2.2.2. Wie die Individuen haben auch die 70 (72, vgl. hebrHen 30; 17,8) Völker der Welt ihren Schutzengel (Völkerengel), den sie sich selbst erwählten (hebrTestNaph 9; vgl. DevRLieb 66; DevR 2,34), der sie ihre Sprache lehrte (TPsJ Gen 11,7 f; hebrTestNaph 8; vgl. PRE 24,57 b). Der Gedanke der 70 Völkerengel ist schon Dtn 32,8 [LXX] angedeutet (s. auch Sir 17,17; äthHen 89,59 ff; hebrHen 48 C,9); Dan 10,21 nennt den auch später üblichen Michael als Fürsten Israels (äthHen 20,5; hebrHen 4 4 , 1 0 ; bYom 77a; Lueken 13 ff), den Fürsten Persiens (nach bYom 77 a, Dûbî'el) und Griechenlands; bMak 12 a nennt den Fürsten Roms/Edoms (Sammael, hebrHen 26,12; Raschi Sot 10b), ShemR 21,5 den Ägyptens (namens Ägypten) und den Nebukadnezars (namens Qal). Bezüglich Israels schwankt die Tradition, ob es unter seinem Engel oder unter Gott stünde, letzteres schonSirl7,17. Zwischen Engel und Volk gibt es eine Ergehensentsprechung, stürzt ein Volk, so zuvor sein Engel oder er erkämpft ihm erst oben den Sieg (Michael für Israel) (ShemR 21,5; BHM 111,70; Yalq I,§ 2 4 1 , 1 , 1 4 7 a , gegen 'Uzzä, den Fürsten Ägyptens) oder greift auf der Erde ein (ShemR 18,5; vgl. syrBar 63,6f). In den dualistischen Systemen (s. u.) steht Michael auf Seiten des Heilsvolkes wider Mastema-Belial, den Fürsten der Finsternis ( l Q M 1 7 , 6 f f ; vgl. Jub 48,13). Das Land Israel hat andere Schutzengel als das Ausland (BerR 68,12). 2.2.3. Als Kriegsengel treten neben dem Völkerengel auf Seiten des Heilsvolkes noch unbenannte Engel oder Engelscharen auf (II Makk 1 1 , 6 - 1 0 ; III Makk 6,18f; IV Makk 4,10f; TestLev 3; äthHen 56,5), insbesondere jedoch in der Kriegsrolle aus -»Qumran (1QM 1 1 - 1 2 ; 9,14f, 4 Erzengel; Kuhn 66ff; Yadin 237). Engel sind es auch, die Gottes Tempel zum .Schutz' vor den Feinden in Brand stecken (syrBar 6,4 ff; 7,1; 8,1; PesR 131 a ) . In den dualistischen Systemen kämpfen auch auf der Gegenseite Engel, Belial und seine Scharen (1QM 1,1). 2.2.4. Schutzengel schließlich geleiten den Himmelsreisenden der Apokalypsen und der Hekhalotmystik (äthHen 71,3; VitAd 2 5 - 2 9 ; slHen 21,3f; hebrHen 1,1 ff; 15B; Maier, Gefährdungsmotiv; HekhR 20,3, BHM 111,98; Mkat-tappûah § 2, BatM 1,277), die Seelen der Verstorbenen ins Paradies (SifZ 6 , 2 6 , 2 4 8 ; BemR 11,7; TestAss 6,6; Zoh had 89 b; OsM 84a; vgl. 1QS 2,9); die Engel besorgen zuweilen auch die Bestattung eines Menschen, z.B. Adams (ApkMos 4 0 - 4 3 ; VitAd 48 ; Moses DevR 11, Ende) (Grözinger, Musik T.I, Kap. 16).
2.3. Strafengel. Der Schutzengel hat sein Gegenüber im Strafengel, der jedoch meist im Gerichtskomplex auftritt (s. u.), Strafengel empfangen auch die Seelen der gestorbenen Frevler (SifZ 6,26) und treten als Kriegsengel auf. 3. Gott als
Richter
Dem richtenden Gott stehen in seinem,himmlischen Gerichtshof (bMak 23 b; hebrHen 27,2; 28,9; Bietenhard 116ff) vier Gruppen von Gerichtsengeln zu Gebote: 3.1. Fürsprecherengel. Sie flehen als Gruppe (TestLev 3; äthHen 9; 15,2; ShemR 31,14; yRH 1,3,57 b; yQid 1,10,61 d;TanB tazrî" 11,39, Erbarmens-, Friedensengel), oder einzelne (äthHen 40,6 f; TestLev 5; TestDan 6), insbesondere Michael für Israel (PesR, 185 a; ShemR 18,5; OsM 492a), die Völkerengel für ihr Volk (hebrTestNaph 9,1 f), der Fürst der Welt für alle (hebrHen 30; Johansson 75ff.96ff.l20ff).-Die,Erbarmensengel' (u.a. Michael) werden in manchen Gemeinden im Rahmen der Jom-Kippur-Liturgie um Beistand im Gericht angefleht (Mahzôr l'-jamîm nôra'îm 11,773, Zunz, Literaturgesch. 18.323; ders. Poesie 1 4 7 f . l 5 4 ; Lueken l l f ) , man betet um ihr Auftreten (Mahz. Rödelheim, RH, 37af). 3.2. Anklageengel. Die Anklageengel, Satane, Satan, Mastema oder Sammael vertreten die Normen des strikten Rechtes, zählen des Menschen Sünden vor Gott auf und bezweifeln seine Rechtschaffenheit (äthHen 40,7; Jub 4,6; 17,15ff; bSan 89b; Jub 48,15; ySan 10,2 (28 c); BerR 8,4f; bSan 38 b; hebrHen 4,6). - Zur Abwehr des Anklägers Satan erklingt zu
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Neujahr der Schofar (bRH 16a; PesR 171 b), man betet um sein Fernbleiben (Hasktbenü, Sidsafä b'rürä 179), daß er zerrissen, sein Maul gestopft werde ( S i d s a f ä b'rürä 10; Mahzor le-jämim nöra'im 1,88; Mahz. Rödelheim, RH 37b) und hütet sich, „ihm den Mund zu öffnen" (Trachtenberg 56). Um anklagen zu können, ist Satan/Sammael auch Versucher (BerR 5 56,4; TanB 1,114; Jub 17,15ff) und Verführer (bBB 16a; PesR 170b; PRE 45,107b). 3.3. Schreiberengel. Bei oder lange vor der Gerichtssitzung werden die Taten der Menschen von himmlischen Schreibern in Büchern, die am Gerichtstag geöffnet werden, niedergeschrieben (s.o. Abschn. 1.2.; Dan 7,10; äthHen 8 9 , 6 1 - 6 3 . 7 0 f ; 90,20; Jub4,23; TestAbr 10,7ff). io 3.4. Wägeengel. Zuweilen wird ein eigens für die himmlische Waage zuständiger Engel genannt, Söqed höze (hebrHen 18,20), Döqi'el (TestAbr A, James 93; Grözinger, Ich 93f). 3.5. Strafengel. Sie vollziehen die verhängten Strafen (äthHen 54,5 f; 53,3, Satan; 56,1; Jub 49,2, Mastema und seine Scharen; TestLev 3; ShemR 41,7; 42,1; Engel des Satans, tShab 17 [18], 3; SifDev § 357, 428; TanB tazri 8 ' 111,41; Tan p e qüde § 3, 133a; im Gehinis nom unter dem Fürsten N'sargi'el, BatM 1,282). Nach rabbinischer Vorstellung ist Sammael Verführer, Ankläger und als Todesengel Exekutor zugleich (bBB 16a). Zuweilen scheinen die Verderber- oder Strafengel die Grenze zu schädigenden —»Dämonen zu überschreiten (bPes 112b; tShab 17 [18], 3). 4. Gott als Herr über das Böse 20
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Zur Lösung der Frage nach der Herkunft des Bösen im Rahmen des Monotheismus hat das frühe, vorkabbalistische Judentum zwei grundsätzlich verschiedene angelologische Entwürfe entwickelt: 4.1. Engeldualismus. Er findet sich nur in den Qumrantexten und ihnen nahestehenden Schriften (Jub; Test XII), wird in der frührabbinischen Literatur von der Zweitriebelehre verdrängt, tritt dann aber im Zohar (11,41 bf) (unvermittelt?) als eine Sprechweise neben anderen für die Problematik wieder auf. Danach hat Gott dem Menschen zwei Engelgeister gesetzt, einen der Wahrheit, des Lichtes und der Gerechtigkeit, und einen des Frevels, der Finsternis und des Irrtums. Diesen beiden Fürsten, Belial (Beliar, Beichor, Mastema) und Michael (1QM 17,7) (ApkAbr 10; 13: Azazel und Jaoel) untersteht je ein Heer von Geistern mit ewigem Haß gegeneinander, die im Ringen um die Menschheit (die dann in Söhne des Lichtes und der Finsternis zerfällt, als Israel und die Völker, 1QM 1 3 , 7 - 1 6 ; TestJos 20, oder Heilsgemeinde - Unheilsgemeinde, 1QS 3,20 f.24) oder um den Menschen (in dessen Innern sie sich streiten, 1QS 3,21 f; T e s t R u b 2 f ; Osten-Sacken; Lichtenbergcr). Dieser Kampf dauert bis zur endzeitlichen Vernichtung Belials und seiner Geister (1QS 3,18; 1QM; TestDan 5). Im —>Jubiläenbuch ist Mastema oft noch anklagender Verführer (gemäß dem Hiobprolog) (17,15ff; 18,9ff), widersetzt sich aber zunehmend auch Gottes Plänen (l,19ff; 48,2f.9ff; 19,28). In den Testamenten ist der innermenschliche angelologische Dualismus durch anthropologisch-voluntaristische Kategorien aufgeweicht (Osten-Sacken 197ff). Im Zohar ist es entweder Metatron, der nach dem Vorgang in der sefirotischen Welt den Dualismus aus sich heraussetzt oder der ,janusköpfige* Metatron-Sammael; er ist Weltfürst über die 70 bösen Völkerengel (Zoh I,124b; 27a; II,115a; III,255a; TiqZoh 53; Tishby 1,453).
4.2. Der Fall der Engel. Die Engelfalltraditionen, die eine Tendenz zur Autonomie des Bösen zeigen, kennen drei teilweise miteinander verquickte Ursachen des Engelfalles: sexu45 eile Verfallenheit der Engel an menschliche Weiber, deren Neid auf die Menschen und selbstüberhebliche Rebellion gegen Gott. Durch den Fall der Engel kommt das Böse in die Welt, durch deren Bastarde, verführende Dämonen oder Engel oder durch die von den Engeln offenbarten Zauberkünste und Zivilisationsgüter. Vorläufig bestraft (äthHen 10,4 f; 12 - 1 6 ) folgt ihre endgültige Strafe am 50 Ende (äthHen 7 - 1 0 ; 1 8 f ; 6 5 ; 6 9 ; BHM 111,155; PRE22,51a; PsSEZFr49; DevR 11, Ende; hebrHen 5,9).
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4.2.1. Das Motiv der sexuellen Verfallenheit an menschliche Weiber (vgl. Gen 6,1-4) findet sich als Engelverschwörung zur Unzucht unter dem Führer Semjaza (äthHen 6;slHen A 18), als Lustverfallenheit von zur Belehrung der Menschen ausgezogenen Engeln und Folge weiblicher Verführungskünste (TestRub 5; Jub 4,15.22;5,1). Die Engel fielen so aus ihrer Heiligkeit (PRE 22,50bf; M H G 1,134; Zoh 1,3 7 a). 4.2.2. Der Neid der Engel äußert sich in der Weigerung, auf Geheiß Michaels vor dem Gottesebenbild —»Adam niederzufallen, weil dieser jünger und geringer sei. Der deshalb seiner Herrlichkeit beraubte und auf die Erde verstoßene Satan will sich dafür an den Menschen rächen, indem er sie zu Fall zu bringen versucht (VitAd 1 2 - 1 7 ; BerRbti 2 4 f ; Pugio Fidei 5 6 3 f ; vgl. Schatzhöhle 2 , 2 2 - 2 5 ; slHen 7,31). Auch sonst ist der Neid der Himmlischen auf den Menschen Anlaß für dessen Verführung durch sie (Yalq I § 161,102 b; PRE 13,31 b; M H G 1,92 f). 'Uzzä und 'Uzza'el verfielen den Weibern, als sie ihre Überlegenheit über den Menschen beweisen wollten (AgBerB.Einl. 38;vgl.Yalq I § 44,24 b; BHM IV,127); sie widersetzten sich der Erhöhung des Henoch (hebrHen 4). - Nach BerR 8,10; QohR 6,10 war die Adamsanbetung der Engel jedoch eine Verirrung, die Gott durch Entherrlichung Adams verhinderte. Zu Sammael als Vater des Kain s. PRE 21,48a; 22,50b; Goldberg, Kain. 4.2.3. Die Rebellion Satans oder Azazels oder anderer Engelführer bestand darin, daß er seinen Thron erhöhen und der Kraft Gottes gleich werden wollte. Er wurde daraufhin mit seinen Scharen gestürzt und muß nun beständig über dem Abgrund schweben, ist in Klüften gefesselt oder in einer Wüste eingeschlossen (äthHen 68,4; VitAd 15; slHen 29A,4f; vgl. Jub 10,5 ff; ApkAbr 13,7ff; äthHen 10,4f).
5. Magische und menschliche Weltbemächtigung 5.1. Engeloffenbarung. Im Zusammenhang mit der Sünde der Engel wird oft erzählt, die Engel hätten den Menschen die Kenntnis von allerlei Techniken, Zauberkünsten und Heilmitteln enthüllt (z.B. äthHen 8), was allerdings nicht allenthalben negativ bewertet wird. Nach Jub 10,10—13 waren es gute Engel, die Noah die antidämonische Heilkunst lehrten. Nach manchen rabbinischen und jüdisch-magischen Quellen sind Rafael und Raziel Vermittler höheren Wissens und der Beschwörungskünste (BHM 1,61; Ill,155.157ff; PRE 46,110b; Sefär hä-räzim; Grözinger, Ich 186£; Maier, Buch; Niggemeyer). 5.2. Engelbeschtvörung. Der bedeutendste Teil der himmlischen Geheimlehre ist die Engelbeschwörung zu gutem und zu bösem Zwecke, für die Kenntnis der Namen und Zuständigkeit der Engel vonnöten ist, weshalb lange Engellisten erstellt und Beschwörungsformulare erarbeitet werden, so im Sefär hä-räzim (ed. Margalioth), im Schlüssel Salomos (ed. Gollancz), im Schwert Moses (ed. Gaster; vgl. OsM 201 a), in der B'rtt M'nühä, oder die Darlegung der 70 Namen Metatrons (Dan 220ff); vgl. schon äthHen 6—9 und die Himmelsbeschreibungen der frühen mystischen Literatur u. a. In praxi auf Amuletten und Zauberschalen (vgl.Sef. Razi'el; Blau; Trachtenberg 97ff; Niggemeyer). Gottes Oberherrschaft wirkt dabei in seinem,Namen', mit dem die Engel gezwungen werden. Aber auch die Namen der höheren Engel zwingen die niedrigen und die Dämonen (vgl. z. B. Schlüssel Sal., Gollancz XII; Scholem, Beliar 125). — In Esoterikerkreisen wurde zum Zwecke der Toraerlangung die Beschwörung des Fürsten der Tora geübt (MMScholem § 13—16, 109f; Sibhe hab-Best, Mintz 46; Schäfer, Engel; ders., Beschwörung). 6. Tabu und Heiligkeit des göttlichen
Bereichs
Wie schon die Keruben vor dem Paradies (Gen 3) und Reiterengel den Tempel zu Jerusalem (IV Makk 4,10), schützen die Engel den heiligen Bereich der Himmel und seiner Hallen gegen unwürdige Eindringlinge (Maier, Gefährdungsmotiv; Grözinger, Ich 145 ff; HekhR 17,8-18,2, BHM 111,94). Der Himmelsreisende der Hekhalotmystik und der zum Himmel steigende Moses (PesR 20), der als ,unreiner' Weibgeborener in den Bereich des Feuers und der für ihn zunächst tödlichen Stimmen des Engelgesanges eintreten will, muß sich in einer Prüfung würdig (HekhR 26,1 f, BatM 1,107), durch Siegel mit Engelnamen ausgewiesen (HekhR 22,2, S. 100) und in Engelbeschwörungen mächtig (HekhR 16,4 f, S. 92) erweisen, um an den gefährlichen himmlischen Torwächtern vorbeigelassen zu werden (bHag 15 b; hebrHen 1 ff; HekhR 17f, BatM I,92f), ja er muß in einer mystischen Transfiguration engelgleich und zum himmlischen Gesang befähigt werden (Mkat-tappü*h, BatM 1,277; HekhR 2,5, ebd. 70; Schäfer, Engel; Grözinger, Sprache; ders., Musik T.II, Kap. 4; Scholem, Mystik 52 ff).
Engel III 7.
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Distanzmittler
Nach nur wenigen Texten haben die Engel die Funktion, eine Distanz zwischen Mensch und Gott zu überbrücken: Sandalfon (Metatron oder Michael) sammelt die Gebete Israels zu einer Krone, die dann (im Rahmen einer Liturgie) auf Gottes Haupt steigt (grBar 11 f; 14; bHag 13 b; PesR 97 a; MKonen, BHM 11,26; Zoh I,37b; MMScholem § 20; Grözinger, Ich 160 ff). Im Gegensatz zur gewöhnlichen Engelvorstellung —»Philos (vgl. Guttmann, 34 f; Zeller III/2,365; Schürer 111,552 f; aber dagegen Wolfson 1,282 ff;360 ff, der in der Mittlerfunktion bei Philo keine aus der Distanz von ,Geist' u.,Materie' folgende Notwendigkeit sieht, 376), oder der mittelalterlichen jüdischen Philosophie (vgl. Greive), ist hier nicht an eine physisch-metaphysische, sondern eine,innerphysisch-räumliche' eventuell,heilig-profane' (s.o. Abschn. 6) Distanz gedacht. Auch in der —»Kabbala um, in und nach dem Zohar ist den traditionellen Engelvorstellungen das Gewand der Mittlerschaft zwischen den von der Sefirotwelt ( = offenbare Gottheit) bis zur irdischen Welt herabreichenden kosmologischen Stufen als ,Kanal' für den .Ausfluß' von Oben übergestülpt, wobei die vier Erzengel die vier Gottes Thron tragenden Wesen der ersten nachgöttlichen Stufe (Merkavawelt) darstellen (Tishby 1,415ff), und die sieben sefirotischen Gotteseigenschaften durch die in den sieben Merkavahallen unter Fürsten wesenden Engel nach unten hin wirken (Tishby 1,419); über ihnen allen steht Metatron (Tishby 1,452). Ähnlich im aschkenasischen Chasidismus des Mittelalters, wo die Schutzengel (s.o.) die göttliche Lebenskraft an die Menschen vermitteln (Dan 227t). 8. Teilhabe
der Menschen an Gottes
Herrlichkeit
8.1. Engelgemeinschaft in Ur- und Endzeit. Das Leben der Seligen in Gottes Gegenwart in Ur- (MHG 1,92; bSan 59b; ARN A,l, S. 7) und Endzeit ist zugleich ein Leben in der Gemeinschaft mit den Engeln. Die Gerechten sind im Himmel bei den Engeln (äthHen 39,4f; 106,7; Weish 5,5; Jub 15,27), die Engel singen, musizieren und tanzen vor den Gerechten und bedienen sie (BHM V,42; 11,52; 111,34), ja die Gerechten werden zu Engeln oder engelgleich (äthHen 51,4; ARN A,l, S. 5). Eine besondere, aus der Tradition des heiligen Krieges stammende Form der Engelgemeinschaft ist der in der Kriegsrolle aus —»Qumran beschriebene, auch in Makk belegte (vgl. o. Abschn. 2.2.3.), gemeinsame Krieg des Heilsvolkes und der Engel Gottes (bzw. des Lichtfürsten) gegen den eschatologischen Feind, weshalb für das gemeinsame Kriegslager besondere Reinheitsvorschriften gelten (1QM 1,10 f; 9,14; 1 2 , 1 - 4 ; 7 , 1 - 7 ; H.-W. Kuhn 66ff; Osten-Sacken 42ff). 8.2. Engelgemeinschaft in der Gegenwart. Wo die Distanz von Himmel und Erde aufgehoben ist, wie im Allerheiligsten des Tempels (Jes 6; vgl. Jub 31,14; lQSb 4,25 f) und in der als Tempel gedeuteten Qumrangemeinde, wo in der Liturgie himmlischer und irdischer Gottesdienst verschmelzen (1QH 3 , 1 9 - 2 3 ; 6,13; 1QS 11,7ff; H.-W. Kuhn 66ff), beim mystischen Merkavavortrag (yHag 2,1,77a; bHag 14b) oder beim ekstatischen Aufschwung des Mystikers in die himmlischen Hallen (s.o. Abschn. 6) und seiner liturgischen communio mit Gott und dessen Engeln vor Gottes Thron (hebrHen 1 , 1 0 - 1 2 ) , tritt der Mensch in die Gemeinschaft mit den heiligen Engeln schon in der Gegenwart ein. — Eine Gemeinschaft von Engeln und irdischer Betergemeinde kennt auch die synagogale Liturgie, u.z. während der Q'düssä der S'monä 'äsre, in welcher gleichsam auch optisch himmlischer und irdischer Raum vereint sind (HekhR 9,2 f, BHM 111,90), der Gesang und sogar der Tanz der Engel nachgeahmt wird, indem man sich auf die Zehenspitzen erhebt oder vorwärts springt (Tan saw § 13, 9b; Grözinger, Musik, T.II, Kap. 3.5.6; ders., Sprache). 9. Verteidigung
der Souveränität
Gottes gegen die Engel
9.1. Die Erschaffung der Engel. Äußerungen wie in syrBar 21,6, daß Gott die Engel ,von Ewigkeit her' erschaffen habe, werden in anderen Schriften durch Festlegung auf den 1. (Jub 2,2; Schatzhöhle 1,3), den 2. (slHen 29; ShemR 15,22; BerR 1,3) oder gar 5. Schöpfungstag
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(BerR 1,3 ; TanB 1,1) vermieden. Der Sinn dieser Herabdatierung ist wohl der, daß die Ketzer nicht sagen könnten, die Engel seien am Schöpfungswerk beteiligt gewesen (BerR 1,3; TanB 1,1; 9; vgl. IV Esr 6 , 1 - 6 ; Schäfer Rivalität 51), den Todesengel läßt allerdings ein Jelamdenu Midrasch am 1. Tag erschaffen sein (BatM 1,143). Den gleichen Sinn hat vielleicht die oben genannte tägliche Neuschöpfung der Engel (BerR 78,1; bHag 14a). - Nach dem Zohar wurden entsprechend den sefirotischen Eigenschaften die Erbarmensengel am 1., die Gerichtsengel am 2., die übrigen am 5. Tag erschaffen (Tishby 1,447), die genannten täglich vergehenden Engel sind hiernach nur die Anklageengel (Tishby 1,448), da das strenge Recht ohne Erbarmen keinen Bestand hat. 9.2. Vergänglichkeit und lnstrumentalität. Die rabbinische Literatur betont gegenüber den Schriften der vorrabbinischen Zeit zunehmend Gottes souveräne Überlegenheit über die Engel, die er nur zu seinem Zwecke erschafft, wieder vernichtet, vor allem dann, wenn sie seiner Liebe zum Menschen im Wege stehen (bSan 38 b; MKonen, BHM 11,26f). Seine Einzigkeit mitten im Engelheere wird betont (DevRLieb 65; PesKM, 220; Grözinger, Ich 210). 9.3. Verbot der Engelverehrung. Gegen die gewiß geübte Engelverehrung (vgl. TestLev 5), spricht die rabbinische Literatur eine Reihe eindeutiger Verbote aus: Abbildungsverbot (MekhY 225.239; bRH 24b; vgl. aber mittelalterliche Illuminationen!), Opferverbot (tHul 2,18; bHul 40 a), Anrufungsverbot (yBer 9,1,13 a; bYom 52a, dagegen o. Abschn.3; 7), Verehrungsverbot (ShemR 32,4; bSan 38 b), (Schäfer, Rivalität 67ff). Schließlich wird häufig betont, daß Gott selbst, nicht ein Engel, Israel rettet (Hag. sälpäsah, Goldschmidt 122; Goldin). Auch spätere Autoritäten haben sich im entsprechenden Sinne geäußert (Lueken 12; Zunz, Poesie 150). 10. Verteidigung der Würde des Menschen gegenüber den Engeln 10.1. Neid der Engel auf den Menschen. Wiederum in der rabbinischen Literatur werden die Engel häufig sehr negativ, als auf den Menschen neidisch und ihm geradezu feindlich dargestellt, weil Gottes Liebe zum Menschen sie in den Hintergrund zu rücken droht, sie wollen z.B. die Toragabe an die Menschen verhindern (ShirR 8,11, § 2; hebrHen 5 , 1 0 - 1 3 ; MShir Grünhut 1,13; Yalq II, § 983,1067b; SedRdebereshit, BatM 1,45; Schäfer, Rivalität 222 ff). 10.2. Überlegenheit der Menschen über die Engel. Neben einigen Texten, in denen die größere Weisheit der Menschen betont wird (PesR 59bf; PRE 13,31 af), gilt vor allem ihre Gerechtigkeit, als in Anfechtung, gegen den bösen Trieb und im Tun der Tora erworbene, der anerschaffenen der Engel überlegen (SEZ Fr. 56; MHG 1,571 f; MTeh 103,18), darum liebt Gott sie mehr und bevorzugt sie auch liturgisch (bHul 91b; BatM 1,45 ; Grözinger, Ich 169). Die Engel sind schließlich des Menschen .Diener', von denen er sich mit jeder guten Tat einen erwirbt, als Fürsprecher und Schutz (ShemR 32,6; SER 4,19; MTeh 104,3). Im Gegensatz zu den Engeln kann der Mensch Gott ganz nahe treten, ohne Schaden zu nehmen (MShir Grünhut 1,13; Yalq II,1067b); die Engel wissen nicht wo Er weilt (PRE 4,1 laf; Q'dussä d.Müsaft'fillä, Sid.safä berürä 126), während Er sich dem vor seinem Throne in der Schau weilenden Mystikeröffnet (hebrHen 1,10-12) (Grözinger, Musik). Manche bestreiten, daß die Engel Künftiges wissen (bSan 99 a; IV Esr 4,52) und der höchste, über alle anderen gestellte Engel ist nach zahlreichen Äußerungen ein zum Engel erhöhter Mensch. Literatur Philip S. Alexander, The Targumim and Early Exegesis of ,Sons of God' in Gen. 6: J J S 23 (1972) 6 0 - 7 1 . - A l e x a n d e r Altmann, Kedusha Hymns in the arliest Hechalot Literature: Melila 2 (1945/46) 1 - 2 4 . - Victor Aptowitzer, Sur la légende de la chute de Satan et des anges: R E J 5 4 ( 1907) 5 9 - 6 3 . - W. Baldensperger, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judentums, Straßburg 3 1 9 0 3 . — Bernhard J . Bamberger, Fallen Angels, Philadelphia 1952. - Ders., The Sadducees and the Belief in Angels: J B L 82 (1963) 4 3 3 - 4 3 5 . - George A. Barton, The Origin o f the Names of Angels . . . in the Extra-Canonical Lit.: J B L 3 1 ( 1 9 1 2 ) 1 5 6 - 1 6 7 . - O t t o Betz, Der Paraklet, 1963 (AGSU 2). - Hans Bieten-
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Allgemeines
Wie ihre jüdischen Zeitgenossen sind auch Jesus und die Autoren des Neuen Testaments überzeugt von der Existenz guter und böser Geistwesen; dem —»Teufel und seinen —»Dämonen steht der Erzengel (ägxdyyeAog) M i c h a e l mit seinen Engeln (äyyeAoi) gegenüber (Apk 1 2 , 7 - 9 ) . M i t dem antiken J u d e n t u m teilt das N e u e T e s t a m e n t das besonders von den Pharisäern (vgl. Act 2 3 , 6 — 9 ) ausgebaute dualistische System der Angelologie und D ä m o n o l o g i e (vgl. M k 1 , 1 3 par. M t 4 , 1 . 1 1 ; Barn 1 8 , 1 ) . Gott ist Schöpfer und Herr auch der Engel (Mt 6,10; Kol 1,16). Ihm gehorchen sie; in seinem Dienst stehen sie, etwa bei der Vermittlung des Dekalogs an Mose (Act 7,38.53; Gal 3,19; Hebr 2,2). Ihre eigentliche Heimat, den Himmel (außer Mt 6,10 vgl. Mt 18,10; 28,2; Mk 12,25 par.; 13,32 par.; Lk 2,15; 22,43; Joh 1,51 u.ö.), verlassen die Engel nur, um Gottes Aufträge auszuführen: um zu schützen, zu helfen oder zu strafen sowie, vor allem, um Gottes Willen auszurichten (s.u. Abschn.2). Den Menschen erscheinen die Engel sowohl im Traum (Mt 1,20; 2,13.19; Act 16,9) als auch im Wachzustand (Mk 16,5 par.; Lk 22,43; Act 5,19; 12,7 u.ö.). In ihrem Äußeren gleichen sie Menschen (Act 12,15), insbesondere weißgekleideten bzw. hell leuchtenden Männern (Mk 16,5 par.; vgl. Joh 20,12; Act 1,10). Zumeist menschengestaltig sind auch die Dämonen, so daß eine Unterscheidung (vgl. I Joh 4,1) schwierig ist (II Kor 11,14); auch die Erscheinung der Engel erweckt zunächst Furcht (Mk 16,5f par.; Lk l , 1 2 f . 2 9 f ; 2,9f; Act 2 7 , 2 3 f ; vgl. Apk 1,17). Dem Engel kommt höchste Gastfreundschaft zu, wie sie der reisenden Gottheit (vgl. Gen 1 8 , 1 - 8 ; 1 9 , 1 - 3 ) gebührt (Gal 4 , 1 4 ; Hebr 13,2). Die Engel sind unsterblich (Lk 20,36); im Gegensatz zu den Dämonen kennen sie keine sexuelle Begierde (Mk 12,25 par.; zu I Kor 11,10 s.u. Abschn. 2.8). Eine besondere (liebliche? vollmächtige?) Sprache der Engel setzt Paulus voraus (I Kor 13,1); zufolge der Johannesapokalypse rufen die Engel mit „lauter Stimme" (Apk 7,2; 14,7.9.15; 18,2; 19,17), die dem Löwengebrüll (Apk 10,3) oder dem Donnergrollen gleicht (vgl. Apk 8,5; 10,3 f; 16,18). Von Engelnamen nennt das Neue Testament nur diejenigen der Erzengel Michael (Jud 9; Apk 12,7; vgl. I Thess 4,16) und Gabriel (Lk 1,19.26). Das altjüdische, aus Gen 6 , 1 — 4 herausgesponnene M y t h o l o g u m e n o n von Sturz und H a f t der ungehorsamen Engel bzw. Sterne spiegelt sich im Neuen T e s t a m e n t an zahlreichen Stellen (Lk 1 0 , 1 8 ; J o h 1 2 , 3 1 ; I Petr 3 , 1 9 f ; II Petr 2 , 4 par. J u d 6 ; J u d 1 3 ; Apk 6 , 1 3 ; 8 , 1 0 f ; 9 , 1 - 1 1 ; 12,4.7—9;—»Dämonen). 2. Die Engel des Neuen
Testaments
2.1 Kosmische und astrale Engel sind vor allem die Vier- und Sieben-Engel-Gruppen der Johannesapokalypse. Zu den vier Himmelsrichtungen bzw. Weltecken gehören die vier apokalyptischen Reiter (Apk 6,1 - 8; vgl. Sach 6,1 - 8), die vier Windengel (Apk 7,1 f; vgl. Mt 24,31 par. Mk 13,27) und die vier
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Todesengel vom Euphrat (Apk 9,14 f). Wenn von sieben Engeln die Rede ist, stehen sieben Sterne - wohl die Planeten, vielleicht aber auch die sieben Sterne eines Sternbildes — im Hintergrund (—»Astrologie); das gilt für die nach Apk 1,20 identischen sieben (Gemeinde-)Engel, Geister, Sterne und Leuchter (Apk 1,4.12f. 16.20; 2,1; 3,1), die sieben Fackeln und Geister (Apk 4,5), die sieben Posaunenengel (Apk 8,2-11,19) und die sieben Schalenengel (Apk 1 5 , 1 - 1 6 , 2 1 ) . Die Sterne gelten als Gottes Streiter und Wächter (vgl. Apk 5,6); sie werden mit den Engeln gleichgesetzt. Daher sind die Aussagen über kriegerische Engel (Mt 26,53; Lk 2,13; Act 7,42; Apk 6 , 1 - 8 ; 1 2 , 7 - 9 ) und über zwölf Wächterengcl (d.h. die zwölf Sternbilder des Tierkreises, Apk 12,1; 21,12) ebenso astralen Ursprungs wie die Vorstellung eines urzeitlich-endzeitlichen Falls frevlerischer Sternengel (s.o. Abschn. 1). 2.2. Natur- und Elementarengel, mit den kosmischen und astralen Engeln teilweise identisch, sind personalisierte Kräfte der Natur. Mit den Sternengeln (s.o. Abschn. 2.1) verwandt sind die Feuerengel (Apk 10,1; 14,18; 16,8 f); obgleich als strafende oder quälende Engel eher den Dämonen zuzurechnen, unterstehen sie dem Befehl Gottes (vgl. Hebr 1,7 nach LXX-Ps 103,4). Einen Wasserengel nennt Apk 16,5 (vgl. die Glosse Joh 5,4). Windengel (vgl. Hebr 1,7) begegnen Apk 7,1 f (vgl. M t 24,31 par. Mk 13,27); an ihr Wirken dürfte auch gedacht sein, wenn von Entrückungen durch einen Engel oder Geist (nvcvfta) berichtet wird (Mk 1,12 par.; Act 8,39; Apk 17,3; 21,10). 2.3. Schutzengel repräsentieren, schützen und geleiten sowohl den einzelnen (Mt 18,10; vgl. Act 12,15; ferner Act 5,19; 12,7) als auch die Gemeinschaft: Völkerengel treten ein für ihr Volk, etwa das mazedonische (Act 16,9); Michael, der Schutzengel Israels (vgl. Dan 10,13.21; 12,1), ist auch der Schutzengel des neuen Israel, der von der Himmelsfrau symbolisierten Kirche (Apk 1 2 , 1 - 9 ) . Die zum Krieg verführenden Dämonen (Apk 16,14) sind nach äthHen 56,5f die Engel der heidnischen Völker. Zwölf Engel bewachen die Tore der Gottesstadt (Apk 21,12a); sie sind gleichermaßen Schutz- und Wächterengel der Stadt Jerusalem wieder zwölf Stämme Israels (Apk 21,12b). Ihren eigenen Engel besitzt auch jede der sieben kleinasiatischen Gemeinden (Apk 1,20); an die Gemeindeengel von Ephesus, Smyrna, Pergamon usw. sind sie sieben Sendschreiben gerichtet (Apk 2,1.8.12.18; 3,1.7.14). 2.4. Erzengel (ágxáyyeXoi) sind in der jüdischen Literatur die höchste Klasse des himmlischen Hofstaats; sie stehen vor Gott und schauen sein Angesicht (Jub 2,18; äthHen 40,9; TestLev 3,5.7 u.ö.). Das Judentum kennt Erzengel sowohl in der Vier- als auch in der Siebenzahl; beide Traditionen bezeugt auch das Neue Testament (vgl. o. Abschn. 2.1). Zur Tetras der Erzengel gehören Michael (Jud 9; Apk 1 2 , 7 - 9 ; wohl auch I Thess 4,16; vgl. I Kor 15,52) und Gabriel (Lk 1.19.26f), der genauso „vor Gott steht" (Lk 1,19) wie die sieben (Erz-)Engel von Apk 8,2 (vgl. Apk 4,5, aber auch Mt 18,10; s. u. Abschn. 3.5). An die Erz- und Angesichtsengel muß auch gedacht werden, wenn von den Engeln des himmlischen Hofstaats gehandelt wird; jene bilden zumindest den inneren Kreis um Gottes Thron (vgl. auch Apk 4 , 6 - 8 ) . Insbesondere die Johannesapokalypse präsentiert Engel als bevorzugte Gestalten der göttlichen Regierung im Himmel (vgl. Apk 5; 8 , 2 - 1 1 , 1 9 ; 1 9 , 1 - 1 0 u.ö.). Die Engel stellen das Forum des Heilsgeschehens dar (Lk 12,8; 15,10; I Kor 4,9; I Tim 3,16; 5,21; 1 Petr 1,12). 2.5. Ein Engel des Herrn {äyycXog xvgtov) richtet in den matthäischen und lukanischen Vorgeschichten Gottes Willen und Weisung aus (Mt 1,20.24; 2,13.19; Lk 1,11.19; 2 , 9 - 1 2 ) und wälzt den Stein vom Grab (Mt 28,2). Er tötet den Herodes (Act 12,23) und befreit Apostel aus der Haft (Act 5,19; 1 2 , 7 - 1 1 ) ; den Fortgang der Mission fördert er (Act 8,26; vgl. 8,39), darin identisch mit dem Engel Gottes (áyyeAo? zov Oeov, Act 10,3; 27,23; vgl. Apk 22,6). Fast immer ist der Engel Gottes bzw. des Herrn ein Redender; er spricht Weissagungen aus, offenbart und deutet das Heilsgeschehen, erteilt Aufträge und Befehle. Dasselbe gilt für viele Engelerscheinungen im übrigen Neuen Testament (vgl. Act 16,9; s. auch u. Abschn. 2.6), vor allem in der Johannesapokalypse (Apk 1 8 , 1 - 3 ; 1 9 , 1 - 3 . 1 7 f u.ö.). Paulus denkt an einen Engel als möglichen Predigereines falschen Evangeliums (Gal 1,8). 2.6. Häufig ist der Engel ein Deuteengel (ángelus interpres), besonders bei oder nach Visionen (Apk 1 7 , 7 - 1 8 ; 2 1 , 9 - 2 2 , 1 7 u.ö.; vgl. Apk 1,1; 22,6.16). Angelí interpretes sind auch die Engel am Grabe (Mk 1 6 , 5 - 7 par.; vgl. Joh 20,12f) und nach der -»Himmelfahrt Jesu (Art l , 1 0 f ) . Die Mittlerfunktion der Engel (vgl. Apk passim) wird nicht zuletzt daran deutlich, daß Engel die Gebete vor Gott bringen (Apk 8,3; vgl. Act 10,4) und die Toten in Abrahams Schoß tragen (Lk 16,22). Mittler zwischen Gott und Mensch sind die Engel auch als Überbringer des Gesetzes an Mose (Act 7,38.53; Gal 3,19; Hebr 2,2); die Autoren des Neuen Testaments folgen in dieser Verjenseitigung Gottes (gegen Ex 19) nachbiblisch-jüdischer Tradition (vgl. auch die Ersetzung Gottes M t 10,32 durch seine Engel Lk 12,8). 2.7. Gerichts-, Straf- und Todesengel stehen bereits in der Nachbarschaft der Dämonen. Zu den von Engeln ausgeführten Aufträgen gehört ihre Mitwirkung beim Endgericht (Mt 13,39.41 f.49f; M t 24,31 par. M k 13,27; Mt 25,31; Mk 8,38 par.; I Thess 4,16; II Thess 1,7; Apk passim). Von den Gerichts- und Strafengeln im eschatologischen Drama (vgl. Apk 6 , 1 - 8 ; 7,1 f; 8 , 2 - 1 1 , 1 9
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[bes. 8,5; 9,15]; 1 4 , 6 - 2 0 ; 15,1-16,21; 18,21; 2 0 , 1 - 1 5 ) nicht säuberlich zu unterscheiden sind diejenigen Engel, die in Gottes Auftrag schon jetzt Strafe, Krankheit und Tod wirken. Gabriel schlägt den ungläubigen Zacharias mit Stummheit (Lk 1,19-22); ein Engel des Herrn tötet Herodes (Act 12,23). Die Krankheit des Paulus ist freilich das Werk eines Engels des Satans (II Kor 12,7-9), aber auch der Teufel steht in Gottes Auftrag (vgl. Hi 1,6-2,7); Satan ist Gottes Todesengel (vgl. I Kor 10,10; auch II Thess 2,8). Deshalb kann Paulus den Satan mit der Tötung des Frevlers beauftragen (I Kor 5,5) und Gott um Abberufung des Satansengels bitten (II Kor 12,8). 2.8. Eindeutig böse Engel sind die Engel des Teufels (Mt 25,41), des Satans (II Kor 12,7), des Drachen (Apk 12,7.9) und des Abgrunds (Apk 9,11); auch I Kor 11,10 ist auf dämonische Mächte zu deuten (vgl. Gen 6,2). Die teuflischen Engel gehen auf den Engelsturz von Gen 6 , 1 - 4 zurück (vgl. noch Lk 10,18; Joh 12,31; I Petr 3,19f; s.o. Abschn. 1); ihnen droht wie dem Teufel selbst das Feuergericht (Mt 25,41; II Petr 2,4 par. Jud 6; Apk 20,10.14; —Dämonen).
3. Zur Angelologie des Neuen Testaments 3.1. An einer Systematisierung der Engel und ihrer Funktionen ist das Neue Testament nicht interessiert; auch aus Rom 8,38 f; I Kor 15,24; Kol 1,16 lassen sich keine angelologisch-dämonologischen Strukturen ableiten. Die Engellehre des zeitgenössischen Judentums (s.o. Abschn. III) wird vorausgesetzt, aber nicht reflektiert. Mit dem Judentum weiß auch das Neue Testament, daß es keinen absoluten Dualismus gibt; Gott bleibt Herr und Schöpfer der guten wie der bösen Geister, der Engel und der Dämonen. 3.2. Alttestamentliche Theologumena werden in altjüdischer Akzentuierung oder Umprägung wiedergegeben. Dem Mose erscheint im brennenden Dornbusch ein Engel, nicht Gott selbst (Act 7,30.35 nach Ex 3,2, nicht nach Ex 3,4), und das Gesetz wird durch Engel vermittelt (Act 7,38.53; Gal 3,19; Hebr 2,2); Michael streitet mit dem Teufel um Moses Leichnam (Jud 9). Der Teufel und seine Dämonen sind die gefallenen Engel von Gen 6,1—4 (s.o. Abschn. 2.8), und als Engel besitzen sie noch immer ihre spezifische Würde (II Petr 2,10 f par. Jud 8 f). Bei der Vermittlung des Gesetzes durch Engel allerdings geht es Paulus nicht, wie der altjüdischen Literatur, um Gottes Heiligkeit, sondern um die Abwertung des Gesetzes (Gal 3,19); dadurch werden auch die Engel abqualifiziert (s.u. Abschn. 3.5).
3.3. An Gottes Herrschaft über alle Zwischenwesen erhält Jesus Christus durch seine Erhöhung triumphalen Anteil (Mt 28,18; I Kor 15,24; Eph 1,20-22; Phil 2,9f; Kol 2,10.15; I Petr 3,22). Daher berichten die Evangelien weder von einem Schutzengel Jesu (vgl. immerhin Lk 22,43) noch gar von einem Engel, der Jesus Wort und Willen Gottes offenbart hätte (vgl. immerhin Joh 1,51); im Leben Jesu gibt es nur Engel, die ihm dienen (Mt 4,11 par. Mk 1,13b; auch Lk 22,43; Joh 1,51), und der Erhöhte gebietet wie Gott (s.o. Abschn. 2.5) über „seinen" Engel (Apk 1,1; 22,16). Diener Jesu Christi sind auch die Engel, die ihn beim Weltgericht unterstützen (Mt 13,39.41 fu.ö., s.o. Abschn. 2.7); die unendliche Erhabenheit des erhöhten Sohnes gegenüber allen Engeln macht der Auetor ad Hebraeos zum Thema seiner Christologie (Hebr 1,4-2,16; vgl. bes. Hebr 1,6 nach Ps 97,7 und Hebr 1,14 nach LXX-Ps 103,4). 3.4. Einige wenige Belege des Neuen Testaments ordnen die Engel mit Gott und Jesus Christus zu einer Trias zusammen (I Tim 5,21; Apk 14,10; vgl. Mk 8,38 par.; Apk l,4f). Schon Paulus nennt jedoch in entsprechenden, prototrinitarischen Wendungen statt der Engel den—»Geist (I Kor 12,4—6; II Kor 13,13; vgl. Eph 4 , 4 - 6 ) ; in der ausgebildeten Lehre von der —»Trinität hat der Heilige Geist die Engel verdrängt (Mt 28,19). 3.5. Angesichts der Fülle neutestamentlicher Aussagen über das Wirken der Engel (s.o. Abschn. 2) muß es überraschen, daß alle Schichten des Neuen Testaments an einer relativierenden Abwertung der Engel interessiert sind, die weit über ihre christologische Unterordnung (s.o. Abschn. 3.3) hinausgeht. Die Synoptiker und der Jakobusbrief können auch menschliche Boten als äyyeXoi bezeichnen (Lk 7,24; 9,52; Jak 2,25); —»Johannes der Täufer ist der äyyeXog von Mal 3,1 (Mk 1,2; Mt 11,10 par. Lk 7,27). Die himmlischen Engel sind keineswegs allwissend (Mt 24,36 par. Mk 13,32); andererseits sehen nicht nur die Erzengel (s.o. Abschn.2.4), sondern sogar die Schutzengel der verachteten „Kleinen" Gottes Angesicht (Mt 18,10). Nach Kol 1,16 gelten die Engel als Geschöpfe wie die Menschen, und wie diese bedürfen sie der —»Versöhnung durch Christi Blut (Kol 1,20). Paulus rechnet mit Engeln, die in Wahr-
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heit Teufel sind (II Kor 11,14), ein falsches Evangelium verkündigen (Gal 1,8) und die Christen von der in Jesus offenbarten Liebe Gottes scheiden wollen (Rom 8,38 f); dereinst werden die Anhänger Jesu über (die gefallenen?) Engel richten (I Kor 6,3). Gegen eine Verehrung der Engel (vgl. immerhin Gal 4,14) polemisieren expressis verbis Kol 2,18 (vgl. Kol 1,15-20) und Apk 19,10; 22,8 f; als Adressat solcher Warnungen kommt ein gnostisierendes Judenchristentum in Frage, das durch asketische Übungen Offenbarungen aus Engelmund erzwingen will (vgl. Kol 2,18.23). 4. Zusammenfassung
und Ausblick
Dem Neuen Testament ist die Personalisierung der guten (und der bösen) Mächte genauso selbstverständlich wie seiner jüdischen Umwelt. Im Bild von den Engeln veranschaulicht sich der Fromme der Bibel das Geheimnis des göttlichen Wirkens. Vor der Würde ihres Auftraggebers und dem Gewicht ihres Auftrags treten im Neuen Testament die Engel völlig zurück; sie sind weder Gegenstand theologischer Reflexion noch gar kultischer Verehrung. Wenn Engel Geburt, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu begleiten, machen sie deutlich, daß die Sache Jesu Gottes Sache ist; nichts anderes ist ihre Funktion in der Geschichte der missionierenden Kirche (Act) und in ihrer eschatologischen Erwartung (Apk). Als eine angemessene Redeweise von Gottes Wirklichkeit, die rationale Denk- und Sprachstrukturen transzendiert, bleiben auch für uns „die E n g e l . . . ein unveräußerliches Stück in dem großen Mythos der Bibel" (Stählin 39). Literatur Hans Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum u. Spätjudentum, 1951 (WUNT 2). Otto Böcher, Der joh. Dualismus im Zusammenhang des nachbibl. Judentums, Gütersloh 1965, 3 3 - 4 9 . - Ingo Broer, Art. âyytXoç: EWNT 1 (1980) 3 2 - 3 7 . - Jean Daniélou, Trinité et angélologie dans la théologie judéo-chrétienne: RSR 45 (1957) 1 - 4 1 . - Gustav Davidson, A Dictionary of Angels, New York 1967. — Martin Dibelius, Die Geistcrwclt im Glauben des Paulus, Göttingen 1909. - Otto Everling, Die paulinische Angclologie u. Dämonologie, Göttingen 1888. - Gerhard Kittel, Art. àyycXoç xzX. D. àyyeXoç im N T : T h W N T 1 ( 1 9 3 3 ) 8 1 - 8 7 . - Ed ward Langton, The Angel Teaching of the NT, London 1937. - Wilhelm Michaelis, Zur Engclchristologie im Urchristentum, 1942 (GBTh 1). — Johann Michl, Art. Engel I. Die Engellehre des AT u. NT: LThK 2 3 ( 1959) 863 - 867. - Ders., Art. Engel I—IX: R A C 5 (1962) 5 3 - 2 5 8 . - D e r s . , Die Engelvorstellungen in der Apokalypse des hl. Johannes. I. Die Engel um Gott, München 1937. - J.W. Moran, St. Paul's Doctrine on Angels: AEcR 132 (1955) 378 - 3 8 4 . - Erik Peterson, Das Buch v. den Engeln. Stellung u. Bedeutung der hl. Engel im Kultus, Leipzig 1935, München 2 1955. - Helmer Ringgren, Art. Geister, Dämonen, Engel II. Im AT, Judentum u. NT: RGG 3 2(1958) 1 3 0 1 - 1 3 0 3 . - Heinrich Schlier, Die Engel nach dem NT: ders., Besinnung auf das NT, Freiburg 1964 2 1 9 6 8 , 1 6 0 - 1 7 5 . - Gustav Stählin, Christus u. die Engel: Alfons Rosenberg (Hg.), Begegnung mit Engeln, München-Planegg 1 9 5 6 , 3 7 - 66. - Claus Westermann, Art. Engel (Angelologie) A. Religionsgesch.; B. Bibl.: EKL 2 1 (1961) 1 0 7 1 - 1 0 7 5 . - Matthäus Ziegler, Engel u. Dämonen im Lichte der Bibel mit Einschluß des außerkanonischen Schrifttums, 1957 (LuS 7). - Weitere Lit. —»Dämonen, femer T h W N T 10/2 (1979) 9 5 2 - 9 5 4 .
Otto Böcher V. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche 2. Byzantinische Angelologie 3. Nicht-chalkedonensische Kirchen 4. Lateinisches Mittelalter 5. Reformation und Protestantismus 6. Gegenreformation und moderner Katholizismus (Literatur S. 608)
1. Alte Kirche 1.1. Die apostolischen Väter reden über Engel und andere Geistwesen hauptsächlich unter zwei Aspekten. Während IgnTrall 5,2 und Diogn 5,2 gegen ihre Uberbewertung auf Kosten des Christusmysteriums polemisieren, findet sich im Hirten des —>Hermas eine ausgearbeitete apokalyptische Lehre von Ort und Funktion der Engel im christlichen Leben. Es gibt unter Christus eine Engelhierarchie, aus der einige Vertreter oder Ränge namentlich erwähnt werden: Michael, der „herrliche Engel" (anscheinend mit Christus selbst gleichgesetzt: sim.8,1; 8,33) die sechs „erstgeschaffenen" (vis.3,4,1) und zahlreiche „heilige Engel"
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(vis.2,2,7u.ö.), darunter die Engel der Buße (mand. 12,4,7 u.ö.), des prophetischen Geistes (mand.l 1,9), derStrafe (sim.7,6). Sie leiten die Neugetauften, beschützen dieGläubigen, beflügeln den Geist des Gebets. Jeder Mensch wird von zwei Engeln, dem Engel der Gerechtigkeit und dem des Bösen, begleitet (mand.6,2,1-10). Die Apologeten (—»Apologetik) beginnen dann, über die Erschaffung der Engel (Athenagoras, leg.24,3), die vor der von Adam und Eva geschah (Tatian, or.7), nachzusinnen. Engel sind ihrem Wesen nach geistige Mächte (Athenagoras, leg. 11,5). In einer Prüfung kamen die bösen Engel zu Fall (—»Dämonen), während die heiligen fest blieben. Sie sind mit der Lenkung der Welt beauftragt und dienen als Werkzeuge der göttlichen Vorsehung im menschlichen Leben (ebd. 2 4 , 3 - 5 ) . Die Engel-Christologie —»Justins verknüpft die Engel mit dem —»Logos (dial. 58—61; 126—128;I apol. 6,2). In den Märtyrerakten tragen Engel die Märtyrer zum Himmel, wo ihr Chor das Trishagion singt (Pass. Perp. 1 1 - 1 3 ) . 1.2. Das Bild der frühchristlichen Angelologie wird kompliziert durch volkstümliche Vorstellungen, wie sie in den —»Apokryphen des Neuen Testaments ihren Niederschlag finden. Nach Ep. Apost. 13 war Gabriel bei der Verkündigung kein anderer als Christus selbst. In Anlehnung an das —»Henochbuch werden Engel mit Namen angeführt, insbesondere die sechs „erstgeschaffenen": Satanael, der fiel, Michael, Gabriel, Uriel, Raphael, Nathanael (Quaest. Barth.4,25—36). Ein frommer Glaube an Schutzengel wird vor allem in den Pseudoclementinen (—»Clemens von Rom) entfaltet (recogn.2,54; hom.17,7). Viele Apokryphen sind durch die —*Gnosis beeinflußt, in deren Mythen die Stufengrade von Ab- und Aufstieg vervielfacht erscheinen. Die valentinianischen Äonen etwa (—»Valentin) stehen vermittelnd zwischen Gott und Materie und werden z.T. ausdrücklich als Engel bezeichnet. Männliche Engel, die den Logos begleiten, müssen sich mit der weiblichen Ecclesia verbinden: Sie werden die wahren Gnostiker und Glieder der Ecclesia retten und zu Bräuten nehmen (Irenaeus, haer.3,8,3). Bei —»Basilides gehen einigen Berichten zufolge „Kräfte, Mächte und Engel" aus der Vereinigung von Dynamis und Sophia hervor (ebd. 1,24,3 ff). Was immer solche Mythen theologisch genau bedeuten mögen, jedenfalls steht die Gnosis mit ihrer Neigung, die Schranke zwischen dem Ungeschaffenen und der geschaffenen Welt niederzureißen, im Gegensatz zur Angelologie der Großkirche. 1.3. Auch in der Theologie der Großkirche gibt es Beziehungen zwischen der Menschenund Engelwelt. Engel sind hier wahrhaft die Boten Gottes. Sie nehmen an der—»Liturgie, vor allem bei der —»Taufe, teil. Für —»Clemens von Alexandrien ist die himmlische Funktion besonders der erstgeschaffenen Engel im wesentlichen liturgischer Art (exc. Thdt.27,2). Nach —»Origenes sind sie in christlichen Versammlungen zugegen (or.3,31,5). Die Verbindung ihrer Liturgie mit derjenigen der Kirche ist ein häufiges katechetisches Thema. —»Hippolyt von Rom fordert die Gläubigen zum Gebet um Mitternacht auf, denn dies sei die Zeit, zu der alle Geschöpfe Gott mit ihrem Lobpreis huldigten (trad. ap.4,35). Nach Clemens und Origenes sind Engel das ganze geistliche Leben des Menschen hindurch gegenwärtig. Sie wachen über Städte und Einzelpersonen (str.6). Sie singen mit im Chor der Gerechten, wo sie von der Herrlichkeit Gottes künden (prot. 12,119,2). Als Zeugen unseres Kampfes mit dem Versucher und mit unseren Leidenschaften, greifen sie auch aktiv in diesen Kampf ein. Sobald wir wahre Gnostiker werden, beten wir auf ihrer eigenen Stufe zusammen mit den Engeln (str. 7,12,78). Im Aufstieg zu Gott können nach Origenes die Schutzengel nicht immer mit uns Schritt halten und werden gegebenenfalls durch höhere ersetzt (vgl. hom. 20 in Num. 3). Die Hierarchie der Engel beruht auf Verdienst (princ. 1,8). Engel sind unsere Vorbilder in der Erkenntnis Gottes (Cels. 5,5), aber heilige Christen können höher steigen als sie (or. 2,23; Cels. 4,29) und erblicken, was für Engel unsichtbar bleibt (mart. 3,13). Jeder örtlichen Kirche ist ein Engel als ihr himmlischer Bischof zugeordnet (In Lc. 13,5). Auch Völker haben ihre Schutzengel (Cels. 5 , 3 0 - 3 2 ) , desgleichen die Natur (ebd. 8,31.57). Sie sind eng verbunden mit den Himmelskörpern (or. 1,7), mit den Sternen (Cels. 4,29). 1.4. Weit entwickelt erscheint die Engellehre, im Kontext einer Abwehr der Gnosis, bei —»Irenaeus von Lyon. Engel sind keine Emanationen Gottes, sondern geschaffen, und zwar
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nicht von einem Demiurgen, wie einige Valentinianer behaupten (haer. 1,5,1), sondern von Gott selbst. Als reine Geistwesen ohne Leib und Geschlecht (2,20,4; 2,30,8) sind sie weniger unsere Vorbilder und Wegweiser als vielmehr unsere Mitgeschöpfe. Sie fürchten Gott (2,6,2); gleich uns können sie Gott nicht schauen und wissen nichts über das Wie der Erzeugung des Sohnes (2,28,6). Nur durch eine besondere Offenbarung des Sohnes besitzen sie eine tiefe Erkenntnis Gottes (2,30,9). Eine vollständige Einsicht in den Aufbau ihrer Hierarchie ist den Menschen versagt (2,36), jedenfalls aber gliedert er sich in drei Gruppen. Über den Himmeln ist der Ort der mit dem Logos und dem Geist verbundenen Cherubim und Seraphim (3,2,8), unter den Himmeln der von Fürsten, Mächten, Engeln, Erzengeln, Herrschaften, Kräften (2,30,6). Eine dritte Gruppe, die Irenäus als „Mächte, Engel, Erzengel" bezeichnet (dem. 9), wohnt in den Himmeln. Die Beziehung zwischen Christus und den Engeln (—»Jesus Christus) stellt auf einer höheren Ebene diejenige zwischen Adam und den Engeln wieder her. Wie ¡-»Adam der „Herr der Engel" gewesen war, so wurde es Christus durch seine Erhöhung: am Kreuz (dem. 34). Ps 24,7.9 („Hebt hoch, ihr Tore, eure Häupter . . . , daß der König der Herrlichkeit einziehe") verweist auf die Himmelfahrt, wenn die niedrigeren Engel den Einzug Christi den höheren vorausmelden. Seit der Himmelfahrt sind alle Engel Christus untenan und wirken als seine Boten und Zeugen (haer. 4,40,2; 4,6,7). Die Menschen werden im chiliastischen Zwischenreich in ihrer Gemeinschaft leben (5,35,1). l.S. Im 4. und 5. Jh. steht die Angelologie eher am Rande der Aufmerksamkeit. Sie ist nun weniger polemisch ausgerichtet und behandelt vor allem die Rolle der Engel im asketischen Leben und ihre Unterordnung unter Christus. Bis Dionysius Areopagita (s.u. Abschn. 1.7) zeigen sich so gut wie keine Unterschiede zwischen Griechen, Lateinern und Afrikanern. Die Lehre von den Schutzengeln wird im großen und ganzen akzeptiert. Engel gelten nunmehr als rein geistige Wesen. Meinungsverschiedenheiten bestehen über Zahl und Namen ihrer Ränge sowie über den Zeitpunkt ihrer Erschaffung, ob vor oder gleichzeitig mit der Erschaffung des Kosmos. —»Athanasius erwägt, ob man nicht besser von einzelnen Engelordnungen anstatt von Seraphim, Cherubim, Erzengeln, Herrschaften, Thronen, Fürstentümern oder gar von Lichtern, vom Paradies u.a. reden sollte (Ep. Serap. 1,13; 1,27; 2,4). Jedenfalls gibt es überaus viele Engel und ihre Stellung und Funktion kann nicht mit der des Heiligen —»Geistes verglichen werden: Sie sind zum Dienen geschaffen und selbst geheiligt, keine Agenten der Heiligung (1,10). Engel wohnen der christlichen Liturgie bei (Ambrosius, Myst. 2,6), und wenn wir das Trishagion singen, stimmen wir in ihren Chor ein (Theodor von Mopsuestia, hom. catech. 16,6). Diakone repräsentieren in der Liturgie die Engel (ebd. 15,25). Ein Faktor, der das Interesse an Engeln begünstigte, war die —»Askese. Nach —»Methodius von Olympos soll das Leben der Jungfräulichen dem der Engel gleichen (symp. 8,2). Johannes —»Cassianus berichtet, daß Paphnutios sich der täglichen Gesellschaft von Engeln erfreute (Coli. 3,1). —»Hieronymus zufolge sind Engel dienende Geister, die den künftigen Erben des Heils geschickt werden (In Mich. 2,6: PL 25,1206). Obwohl aber Hieronymus - wie alle V ä t e r - d i e Engel rühmt, warnt er doch auch vor bestimmten Übertreibungen. Nach unserer -»Auferstehung werden wir wie Engel, aber wir werden nicht selbst Engel sein (Ruf.: PL 72,419). Wenn es heißt, daß wir über den Engeln stehen werden, kann sich das wohl nur auf die bösen Engel beziehen (In I Cor. 6: PL 3 0 , 7 3 1 D ) . Für Hieronymus sind Engel aus Gnade unsterblich (Pelag. 2,7: PL 23,567), wie auch später für Johannes von Damaskus (vgl. fid. orth. 2,3). Einige Differenzen treten hervor, wo die Väter jenseits der Funktionen über die Natur der Engel spekulieren. Nach Methodius verweist die hierarchische Ordnung nicht nur auf Unterschiede im Wesen, sondern auch im Rang (res. 1,10). Eine gegensätzliche Meinung vertritt —»Basilius von Caesarea (Eun. 3,1). Auch für —»Gregor von Nyssa sind Engel ihrem Wesen nach eins, ihrer Zahl nach viele (hom.opif. 17,3). Hieronymus referiert die (von ihm nicht geteilte) Ansicht, daß Johannes der Täufer, Maleachi, Haggai und Melchisedek Engel gewesen seien (Agg. 1,13: PL 2 5 , 1 3 9 9 ) . Für —»Cyrillus von Jerusalem war der Menschensohn, den Daniel sah, der Erzengel Gabriel (catech. 9,10). Das Gebet zu den Engeln wird von —»Ambrosius, von dem sich einige epigraphische Anrufungen erhalten haben, empfohlen (vid. 9.15). Nach Augustin hingegen sollen Engel nicht angebetet werden. Er verurteilt auch die donatistische Praxis, Kirchen Engeln zu weihen (Psal. 75,8). Solche Weihungen waren während des 5. J h . sogar in der Großkirche nicht selten anzutreffen. Gegen eine derart übertriebene
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Wertschätzung und kultische Verehrung von Engeln wandten sich einige Regionalkonzile (z. B. Laodicea, 4. Jh.; Rom 745). 1.6. Einen Wendepunkt der abendländischen Angelologie markiert —Schleiermacher respektvolle Zurückhaltung und erklärt die Angelologie für biblisch begründet und f ü r einen legitimen Bestandteil der christlichen Kultur (Der christl. Glaube, 1831, Abschn. Alt). Er spricht ihr allerdings jede Heilsbedeutung ab und will nur ihren rhetorischen, symbolischen oder ästhetischen Gebrauch zulassen. Gewiß beten Engel für Menschen, aber sie haben keinen direkten Einfluß auf menschliches Denken und Handeln. Durch die zunehmende wissenschaftliche Einsicht in das Wirken der Naturkräfte hat die Vorstellung von einem Eingreifen der Engel in die Welt ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Angelologie mag im privaten und liturgischen Raum eine Rolle spielen, in der Dogmatik hat sie nichts zu suchen. Diese Einschränkungen Schleiermachers fanden jedoch wenig Resonanz bei den Dogmatikern des 19. Jh., die sich gewöhnlich weiter im Rahmen der älteren Orthodoxie bewegen (z. B. Heinrich Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, 1843, T. I, Kap. 5; Heinrich Heppe, Ref. Dogmatik, 1861, Kap. 10). 5.5. In der Neuzeit bietet P. —»Tillich eine modernisierte Ausformung der Position Schleiermachers, wenn er Engel als „konkret-poetische Symbole der Ideen oder Seinsmächt e " ansieht (Syst. Theol., Stuttgart, I 5 1977, 300). Daneben gibt es freilich auch Bestrebungen, eine eher traditionelle Angelologie in das christliche Kerygma zu integrieren. Der bemerkenswerteste Versuch auf dieser Linie stammt von K. —»Barth (KD III/3, § 51). Barths Engellehre ist streng auf die Schrift und auf Christus bezogen. Engel sind Zeugen des Wortes Gottes u n d selbst dem Wort untergeordnet; nur in ihm (und nicht in sich selbst) haben sie ihre religiöse oder metaphysische Konsistenz. Dennoch sollte man sie nicht mit einer „Angelologie des Achselzuckens" abtun (ebd. 480). Eine ähnliche Denkrichtung hat Erik Peterson in seinem Buch von den Engeln (1935) dazu geführt, zu einem liturgischen Kontext für das rechte Verständnis der Angelologie zurückzukehren. Der zentrale Punkt seines Ansatzes ist, daß der Gottesdienst der Kirche am Gottesdienst der Engel im Himmel teilhat. 5.6. Der Anglikanismus hat den Engeln, zumindest in Liturgie und Frömmigkeit, stets einen wichtigen Platz eingeräumt. Durch die Oxfordbewegung (-»Anglokatholizismus) wurde diese Tendenz verstärkt. J. H. —»Newman sagt in seiner Predigt über The Powers ofNature zum Michaelistag (29. Sept.), wenn es die „Sünde eines finsteren Zeitalters" war, Engel anzubeten, so besteht die „eines aufgeklärten Zeitalters wie des unsrigen genau umgekehrt darin, sie kaum oder gar nicht in Rechnung zu stellen und alles, was wir um uns schauen, nicht ihrem Wirken, sondern bestimmten vermeintlichen Naturgesetzen zuzuschreiben" (II, Serm. 29,358). In seiner Predigt über The Invisible World heißt es entsprechend: „Wir leben in einer Welt von Geistern . . . , halten Gemeinschaft mit ihr und nehmen teil an ihr, auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind" (IV, Serm. 13,205). Die sichtbare Welt ist „wie eine Wand, die Gott, Christus, seine Heiligen und Engel vor uns verbirgt" (211). 6. Gegenreformation
und moderner
Katholizismus
6.1. Fragen bezüglich der N a t u r und Bestimmung der Engel bleiben in der —»Katholischen Reform und Gegenreformation ein häufiges Thema. In der Malerei und Plastik von —»Barock u n d - » R o k o k o werden Engel immer wieder abgebildet. Auch theologische Werke
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werden der Angelologie gewidmet, so etwa De Gloria bonorum atigelorum et lapsu malorum (1552) von Ambrosius Catarinus ( 1 4 8 4 - 1 5 5 3 ) . Der Vorrang freilich gebührt F. ->Suârez, der in seiner Problemstellung und Methode den Scholastikern folgt (s.o. Abschn. 4.2). In De Angelis schlägt er für eine Reihe von Fragen eigenständige Lösungen vor. Obwohl von rein geistiger Natur, sind Engel für ihn menschenähnlicher als für Thomas von Aquin. Sie bedienen sich des diskursiven Denkens und können Fehler begehen. Nach ihrer Erschaffung in einem Zustand der Gnade wurden sie für eine kurze Zeit auf die Probe gestellt, während der sie sich als viatores im Glauben wandelten und auf ihre endgültige Prüfung vorbereiteten. Letzteres geschah in Verbindung mit der Inkarnation, die sie bejahten oder ablehnten. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatten, war ihr Wille zum Guten oder Bösen auf ewig festgelegt. Suârez geht über die gesamte bisherige Tradition hinaus, wenn er die Vorstellung von den Engelshierarchien für ein verbindliches, durch das Lehramt der Kirche bekräftigtes Dogma erklärt. Doch dehnt er diese Geltung nicht auf die Einzelheiten der Namen und Chöre aus, die lediglich verschiedene Aspekte derselben Engelsränge bezeichnen. Suârez verwirft die dionysianische Vorstellung von der Erleuchtung der Engel: Kein Engel kann einen anderen erleuchten; all ihr Licht leitet sich direkt von Gott her. Engel, insbesondere die Schutzengel, greifen positiv in das menschliche Leben ein. 6.2. Von der jüngeren katholischen Theologie werden auf dem Gebiet der Engellehre kaum neue Gesichtspunkte über die scholastischen Synthesen hinaus vorgelegt. Die ältere historische Theologie, etwa eines Dionysius Petau (gest. 1652), bleibt in ihrer Behandlung der Engel ganz der Tradition verhaftet. Neuscholastische Handbücher des 19. und 20. Jh. halten sich selbstverständlich an die Hauptlinien der thomistischen Angelologie. Die historische Theologie des 20. Jh. beschäftigt sich mit Engeln, soweit sie in den Schriften der Kirchenväter erscheinen, und in bezug auf die Liturgie. Originelle Versuche des Verständnisses dagegen bleiben rar. Eine beachtliche Ausnahme bildet K. —»Rahner, für den Engel nicht zu einer himmlischen Welt, sondern zum Kosmos gehören, jedoch außerhalb der universalen Bedeutung Christi nicht angemessen erfaßt werden können (Art. Engel: SM[D] 1 [1967] 1 0 3 8 - 1 0 4 6 ) . 6.3. Im 19. Jh. nahm die katholische Hierarchie ein neues Interesse an der Engellehre. Mehrere Provinzsynoden betonten, daß die Lehre von den Schutzengeln ein Teil der allgemeinen Lehre der Kirche sei (Reims 1853, Wien 1858, Prag 1860, Utrecht 1865, Baltimore 1866). Auf dem -»Vatikanum I wiederholte die Konstitution Dei Filius die Aussage des 4. Laterankonzils: Gott hat zu Anbeginn der Zeit beiderlei Kreatur aus dem Nichts erschaffen, die geistige und die körperliche, d.h. die engelhafte und die weltliche (DS 3002). Seine Kanones verurteilten verschiedene Ansichten, die zu einer emanationistischen Schöpfungslehre oder zum Pantheismus neigten (DS 2 0 2 3 - 2 0 2 5 ) . Dabei ging es dem Konzil freilich mehr um die Schöpfermacht Gottes als um die Angelologie. Die Enzyklika —»Pius' XII. Humanigeneris (1950) führt unter den aktuellen Irrtümern ausdrücklich auch auf, daß „von manchen die Frage erwogen wird, ob Engel persönliche Geschöpfe seien und ob Materie sich wesenhaft von Geist unterscheide" (DS 3891).
6.4. Das Zweite Vatikanische Konzil (—»Vatikanum II) erwähnt Engel an mehreren Stellen der Konstitution Lumen gentium. Christus wird wiederkommen „und alle Engel mit ihm" (49). Die Kirche verehrt mit besonderer Hingabe die Apostel und Märtyrer „zusammen mit der seligen Jungfrau Maria und den heiligen Engeln" (50); Maria aber, die die Botschaft des Engels empfing (56), ist „durch Gottes Gnade nach dem Sohn, aber vor allen Engeln und Menschen erhöht" worden (66); sie ist „jetzt im Himmel über alle Seligen und Engel erhöht" (69). In diesen Wendungen klingt die alte Tradition der Kirche nach, ohne daß der Angelologie als Lehre besondere Aufmerksamkeit geschenkt würde. —»Paul VI. formuliert ganz direkt, was auch heute noch die Lehre der katholischen Hierarchie darstellt: Wir glauben an einen G o t t . . . , den S c h ö p f e r . . . der unsichtbaren Dinge, von welcher Art die reinen Geister sind, die wir auch Engel nennen (AAS 6 0 / 8 [ 1 9 6 8 ] Nr. 8). Literatur Friedrich Andres, Die Engellehre der griech. Apologeten des 2. Jh. u. ihr Verhältnis zur griech.-röm. Dämonologie, Paderborn 1914. - Joseph Bemhart, Der Engel des dt. Volkes, München 1934. - Hans Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum u. Spätjudentum, Tübingen 1 9 5 1 . - J a m e s D. Collins, The Thomistic Philosophy of the Angels, Washington D. C. 1947. - Jean Daniélou, Les Anges et leur mission d'après les Pères de l'Église, Paris 1953; dt.: Die Sendung der Engel, Salzburg 1963. - Gustav Davidson, A Dictionary of Angels, New York 1967. - Romano Guardini, Der Engel in Dantes gött-
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Georges Tavard VI. Dogmatisch 1. Das Problem 2. Zur Angelologie in der Dogmatik der Gegenwart Angelologie (Literatur S. 612)
3. Zum Entwurf heutiger
1. Das Problem Im neuzeitlichen dogmatischen Denken hat die Angelologie durch die Nachwirkungen der kritischen Aufklärungstheologie einen besonders schweren Stand. Läßt sich der Glaube an Gott und an Jesus Christus vorrangig existenzial und personhaft interpretieren, so stellt sich im Fall der Engellehre das Problem zunächst in ganz anderer Weise. Denn in der theologiegeschichtlichen Tradition besteht volle Einhelligkeit darüber, daß Engeln keine Anbetung zusteht (vgl. Apk 22,9; s.o. Abschn. IV), also ist auch nicht „ a n " sie zu glauben; sie sind Mitgeschöpfe aber nicht Mitschöpfer (coticreatores, Luther), und das Geschöpf kann nicht Gegenstand des Glaubens sein. So gesehen haben die Engel ihren dogmatischen Ort zwar in der Schöpfungslehre, aber diese kann seit der —»Aufklärung nicht mehr beanspruchen, ein verbindliches, objektives —>Weltbild zu vermitteln. Dies ist vielmehr Aufgabe der —»Naturwissenschaft, und im Rahmen naturwissenschaftlichen Denkens kommen Engel nicht vor, wobei von sog. parapsychologischen Phänomenen abgesehen werden kann. Die —»liberale Theologie des 19. Jh. verzichtet deshalb weithin überhaupt auf die Angelologie. In seiner behutsamen Weise, dennoch deutlich genug, vertritt F. D. E. —»Schleiermacher in seiner Glaubenslehre (§§ 3 6 - 4 9 ) diese liberale Position. Die Engelvorstellung steht zwar nicht mit der „Grundlage alles gottgläubigen Bewußtseins" in Widerspruch, gehört aber dennoch nicht in den „eigentlichen Kreis" der christlichen Lehre, die demnach nicht verpflichtet ist, etwas „über ihre Realität festzustellen"; die Engellehre darf deshalb auf unsere Handlungsweise „keinen Einfluß haben", zumal „Offenbarungen ihres (sc. der Engel) Daseins jetzt nicht mehr zu erwarten sind": gehört doch der Ursprung der Engelvorstellungen in primitive Geistesphasen, „als der Zusammenhang des Menschen mit der Natur noch nicht geordnet und er selbst noch nicht entwickelt war". Diese liberalistische Auffassung klingt deutlich an in der Grundschrift R. —»Bultmanns zum Entmythologisierungsproblem, wonach man nicht in der technisch-wissenschaftlichen Welt existieren und zugleich an Geister, Engel und Dämonen glauben könne (glauben im Sinn von etwas für existent halten). In dieser Auffassung Bultmanns, die immerhin ganz dem naturwissenschaftlich bestimmten neuzeitlichen Denken entspricht, wirkt freilich nicht nur der Rationalismus der Aufklärungsepoche nach, sondern auch noch ein Ansatz, der schon im vorreformatorischen, besonders aber dann im reformatorischen Denken hinsichtlich der Angelologie eine wichtige Rolle spielte. Schon bei —»Augustin und —»Theodoret von Kyros finden sich Vorbehalte gegen eine übersteigerte Engelverehrung, die vor allem dahin zielen, die Engel konsequent auf die Ebene der Geschöpflichkeit zu rücken und deshalb den als heidnisch empfundenen Brauch bekämpfen, den Engeln Kirchenbauten zu errichten (Michaelskirchen). Die Reformatoren schließen sich dem energisch an und polemisieren kräftig gegen liturgische Engelverehrung. Diese altprotestantische Tendenz hat denn auch im Rahmen der Aufklärungstheologie dahin wirken können, den Engelglauben überhaupt zu verdrängen, bis hin zu Schleiermacher. - Dabei muß freilich bedacht werden, daß der reformatorische Vorbehalt gegen die Engelverehrung seine Wurzel eindeutig in der Rechtfertigungslehre hatte und nicht in weltbildlichen
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Zweifeln verschiedenster Art und Herkunft. Für die Reformatoren war die Existenz der Engel eine Selbstverständlichkeit, am kräftigsten bei —»Luther, dessen Michaelispredigt 1530 (WA 32,111 ff) geradezu eine Herzensbeziehung zu den „lieben Engeln" bezeugt. Der Engel ist der Träger des rechtfertigenden Glaubens, er gibt dem Angefochtenen den hilfreichen Gedanken ein, der, als „guter Pfeil" wider den bösen Pfeil des Widersachers, den Menschen daran glauben läßt, daß er gerechtfertigt und damit im wahren Leben sei.
Es ist nun aber ein anderes, in einer von Engeln erfüllten Welt für die Respektierung von Gottes Monarchie einzutreten, ein anderes, in einer Gott ferner gerückten Welt den Engelglauben als abergläubisches Relikt aus primitiven Entwicklungsphasen abzuwerten. Damit taucht nämlich ganz neu erst das Problem auf, ob zu einem lebendigen Gottesglauben nicht notwendig die Engelvorstellung hinzugehört, und ob es nicht mit dem Schwund des Engelglaubens notwendig zu einer Schwächung des lebendigen Gottesglaubens überhaupt kommen müsse. 2. Zur Angelologie in der Dogmatik
der
Gegenwart
Mit dem letztgenannten Problem dürfte es zusammenhängen, daß in der Dogmatik des 20. Jh. allgemein die Angelologie wieder mehr Beachtung findet, als es in der liberalen Theologie des 19. Jh. der Fall war und unter dem Vorzeichen der Entmythologisierungswelle eigentlich hätte erwartet werden können. W. —»Eiert tritt energisch für die systematische Notwendigkeit der dogmatischen Angelologie ein (259 f). Das gleiche gilt für P. —»Althaus, bei dem der Angelologie ein selbständiger ausführlicher Abschnitt gewidmet ist (§ 29). Althaus führt eine Anzahl von Gründen für die Unaufgebbarkeit der Engelvorstellung auch unter heutigen Denkvoraussetzungen ins Feld: der Menschengeist ist wesensmäßig begrenzt, der Mensch darf sich nach biblischer Auffassung nicht „als das höchste der persönlichen Kreatur" ansehen, auch ist Gott für das Lob durch seine Geschöpfe nicht auf die Menschen allein angewiesen. Vor allem wird in der Bibel die Wirklichkeit der Engel, vor allem durch ihren Beistand im Kampf gegen widergöttliche Geistmächte, als nicht nur geglaubte, sondern als erfahrene bezeugt: dieser Hinweis auf die —»Erfahrung verdient besondere Beachtung. - Auf Erfahrung beruft sich auch Gerhard Ebeling (I,332f), was natürlich nicht als Eintreten für „Erfahrungstheologie" alter Art mißverstanden werden darf; das sehr knappe, aber doch eindeutige Bekenntnis Ebelings zur Engelvorstellung hat insofern beträchtliches Gewicht, als bei ihm gerade Bultmanns Entmythologisierungsprogramm in besonders eingehender Weise berücksichtigt und verarbeitet ist. Unter Berufung auf ein spätes Gedicht D. —»Bonhoeffers sagt Ebeling: „ M a n b e k o m m t . . . vermutlich für das rechte Reden vom Engel Gottes erst im äußersten Ernstfall Sinn".—In behutsamer Interpretation der alten Engellehre und der neueren Tradition kommt auch Hans-Georg Fritzsche (II, § 12,9) zur vollen dogmatischen Bejahung der Angelologie, weil das biblische Menschenbild den Menschen grundsätzlich nicht als „ein in sich bestehendes und entscheidendes Individuum" zeichnet, den Menschen vielmehr „in einem sein Ich umgreifenden Kraftfeld" sieht. - Allgemein läßt sich sagen, daß in der heutigen Angelologie biblizistische und fundamentalistische Argumente — wonach an Engel zu glauben sei, weil die Bibel von ihnen berichtet und man immer an sie geglaubt hat — keinerlei Bedeutung haben. Insofern ist der nicht einfach rückgängig zu machende Anstoß der Aufklärungstheologie in dieser Hinsicht durchgängig aufgenommen und aufgefangen. Die angelologische Tradition wird jedenfalls nunmehr kritisch auf ihren Gehalt an genuin christlicher religiöser Erfahrung befragt. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang noch die berühmt gewordene Engellehre K. —»Barths (III/3, § 51). Es ist die am breitesten angelegte und ausgeführte Angelologie seiner Zeit. Wesentlich ist die Frontstellung: gegenüber der an der Frage nach der Substanz — dem metaphysischen Seinscharakter — der Engel orientierten thomistischen Theologie bekennt sich Barth ausdrücklich zur Angelologie des —»Dionysios Areopagita, in welcher das dynamistische Element im Vordergrund steht, die Frage nach Auftrag, Aufgabe und Wirkung dieser Schöpfungsmächte, welche die göttliche Kraft in die geschaffene Welt hinein zu vermitteln haben. Dahinter steht durchaus ungebrochen die Überzeugung von der
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Realität der Engel im alten traditionellen Sinn, die, trotzig und bewußt, gegen die rationalistische Auflösung des Engelglaubens mit all ihren weltbildlichen Implikationen - die Barth natürlich genau kennt—in neuer, seinem Gesamtsystem entsprechender Weise bezeugt wird. 3. Zum Entwurf heutiger
Angelologie
Einzusetzen ist bei der Tradition, denn die Religions- und Theologiegeschichte ist das Organon der Dogmatik, welche sich als kritische Verarbeitung des theologiegeschichtlichen Selbstverständnisses des Christentums zu betätigen hat. Hier erweist sich nicht nur, daß die Engelvorstellung zum Grundbestand des biblischen wie des theologiegeschichtlichen Selbstverständnisses des Christentums gehört, sondern, weit darüber hinaus, auch zum Selbstverständnis aller heute lebendigen monotheistischen Hochreligionen. Die Dogmatik muß demgemäß, zum ersten, die Ergebnisse der Religionsphänomenologie wie der aus dieser resultierenden Religionsphilosophie berücksichtigen; zum zweiten hat sie darauf fußend jeweils neu die Prinzipien des jeweiligen dogmatischen Entwurfs unter gehöriger Berücksichtigung der theologiegeschichtlichen Tradition zu bestimmen. Im erstgenannten Sinn spielt eine wesentliche Rolle die Feststellung, daß keine der geschichtlichen monotheistischen Religionen ohne Engelglauben auskommt. Das ist offensichtlich nicht lediglich aus primitiven Relikten zu erklären, etwa in dem Sinn, daß alte animistische Vorstellungen weitergeschleppt worden wären: Die Engelvorstellungen weder des Judentums, noch des Parsismus, noch des alten Christentums und der Gnosis, noch des Islam lassen sich auf diese Weise aufklärerisch abtun. Es stellt sich vielmehr hier eine religionsphilosophische Grundfrage. Wird, wie in jeder monotheistischen Religion (—»Monotheismus), das „Sein des Seienden" (—»Heidegger) oder das „Sein Selbst" (—»Tillich) personhaft gedacht, so ist diese Größe notwendig eine einzigartige Entität, ein einziger Gott; und umgekehrt gilt dasselbe. Die Einzigartigkeit Gottes ist somit, anders als im —»Polytheismus, das Grundprinzip; dem steht nun gegenüber die Vielfalt der Welt, in welcher es im personhaften Bereich, dem des Menschen nämlich, zwar zahlreiche Individualitäten gibt, aber dennoch keine solche Einzigartigkeit, wie sie nach dem monotheistischen Glauben allein —»Gott zukommt. Damit stellt sich die Frage nach der „Vermittlung" (im Sinn —»Hegels, aber schon —»Plotins) zwischen der göttlichen Einheit und der weltlichen Vielfalt. Es müssen Wesen gedacht werden, die zum einen, unbeschadet ihrer Geschöpflichkeit, doch zu Gott eine Unmittelbarkeit haben, wie sie sonst im Bereich des Weltlichen nicht vorkommt; die aber, zum andern, zugleich unmittelbar in die Vielfalt der Welt hineinreichen und -wirken. Ist in der Personhaftigkeit des Menschen vor allem seine Gottebenbildlichkeit zu sehen (—»Bild Gottes), so müssen diese Mittlerwesen, verglichen mit dem gottebenbildlichen Menschen, in noch entscheidend verstärktem Maß personhaft sein und damit das Siegel des Göttlichen unverkennbar an sich tragen; zum andern müssen sie mit der geschöpflichen Vielfalt dadurch verbunden sein, daß sie, in ihrer Gesamtheit doch vielfältig strukturiert, zugleich jedem der vielfältigen Schöpfungselemente in Natur und Geschichte zugeordnet gedacht werden können. Ohne Engel läßt sich, vereinfacht gesagt, der Monotheismus nicht wirklich durchhalten. Es muß, hinter und über „Wolken, Luft und Winden" (Paul Gerhardt), Wesen geben, die sowohl Gott voll personhaft gegenüberstehen — und damit den paganistischen Polytheismus theologisch abzulösen in der Lage sind, wie auch der Vielfalt der Phänomene von Natur und Geschichte entsprechen, was von einer künftigen christlichen Religionsphilosophie zu erarbeiten wäre. Im eigentlich dogmatischen Sinn ist dagegen von Engeln ausschließlich so zu reden, daß ihr Wesen durch die Art ihres Gott gehorsamen Wirkens bestimmt erscheint. D.h. zum einen, rein mythologische Gattungen und Namen (Keruben, Seraphen; Michael u.a.m.) stellen keine dogmatischen Themen dar; zum andern ist abzusehen von jenen zwielichtigen Gestalten im Sinn von Rom 8,38, wie von den „gefallenen Engeln", von welch beiden Kategorien nur unter dem Vorzeichen des Dämonischen die Rede sein kann (—»Dämonen). Die dogmatische Engellehre stellt sich dann unter drei Aspekten dar. Erstens, das Wesen der Engel ist Botenschaft. Darunter ist primär ihr Mitwirken im Dienst der Verkündigung
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Engel VII
und des Glaubens zu verstehen, ihr Hilfsdienst im Heilsgeschehen also (Luther, s. o. Abschn. 1). Zweitens, das Wesen der Engel ist Helfertum. Darunter wird, im Sinn der Lehre von der göttlichen Vorsehung, ihr Schutz- und Hilfsamt in Fährnissen zu beschreiben sein. Drittens, das Wesen der Engel ist Wirkensvermittlung im weitesten Sinn, bezogen auf Gottes Welterhaltungswirken. Damit ist schon deutlich mitgesetzt, daß die Engel auf die Seite des Geschöpfs gehören und nicht des Schöpfers; andererseits aber ist dieser dritte Punkt insofern besonders wichtig, weil nur durch eine so konzipierte Lehre die Beziehung Gottes zum Kosmos in seiner ungeheuren Größendimension theologisch anschaulich und verständlich gemacht werden kann. Diese drei Bestimmungsweisen müssen unablässig neu erarbeitet werden, da sich das Bild vom Menschen mit seiner Abhängigkeit von der gesamten Natur und ihrer Entwicklung unablässig weiterentfaltet; deshalb muß es hier auch mit diesem Postulat sein Bewenden haben. Wesentlich bei alledem wird freilich sein, daß das Thema der Erfahrbarkeit der Engel mehr als bislang üblich in den Vordergrund gerückt wird. Dazu ist es notwendig, sowohl den allgemein religionswissenschaftlichen, wie den religionsphilosophischen und, nicht zuletzt, auch den ästhetischen und historischen (s. bes. die Ikonographie der Ostkirche, —»Bilder) Kontext im Dienst der Zeugenschaft eingehend zur Geltung zu bringen. Letzten Endes wird auch für die dogmatische Angelologie der Kern des Problems darin zu fassen sein, daß von Engeln theologisch einfach deshalb die Rede sein muß, weil Engel sind. Literatur Paul Althaus, Die christl. Wahrheit, Gütersloh 8 1972. - Karl Barth, KD III/l - 4 . Die Lehre v. der Schöpfung, 2 ~ 3 1 9 5 7 - 1 9 6 1 . - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, 3 Bde., Tübingen 1979. - Werner Eiert, Der christl. Glaube, Hamburg 5 1960. - Hans-Georg Fritzsche, Lb. der Dogmatik, 3 Bde., Göttingen 1 9 6 4 - 1 9 7 6 . - Ulrich Mann, Wunder - Segen u. Engel, Gütersloh 1979 (Hb. Syst. Theol. 17).-Friedrich Schleiermacher, Der christl. Glaube, Berlin 1821/22, Krit. NA, 3 Bde., 1980/81/ 83; 2 1830/31, Krit. NA, 2 Bde., 1960.
Ulrich Mann
VII. Praktisch-theologisch 1. Entmythologisierung 2. Ablehnung des Irrationalismus 3. Neueinsatz das zeitgenössische Bewußtsein 5. Theologische Explikation und Applikation
1.
4. Anknüpfung an (Literatur S. 615)
Entmythologisierung
In der Verkündigung der Kirche begegnet das Wort „Engel" nur noch selten. In einer Weihnachtspredigt von Kurt Marti, einer der wenigen zeitgenössischen Predigten, in denen das Wort „Engel" überhaupt vorkommt, heißt es: „Die Engel über Bethlehem sind verschwunden . . . Wir können uns nicht mehr auf Engel verlassen . . . Den Auftrag, füreinander Engel, d.h. Boten Gottes, Boten Jesu Christi zu sein, nimmt uns kein Engel mehr a b " (H. Nitschke, Weihnachten - heute gesagt, Gütersloh 4 1972, 98). Das Zitat verbindet Entmythologisierung und säkulares Lebensgefühl mit dem Appell an die Menschen, füreinander das zu leisten, was zuvor durch besondere Formen der Transzendenz verbürgt war. Damit kommt das Janusköpfige der Entmythologisierung ans Licht. Supernaturalistischen Vorstellungen gegenüber ist die Entmythologisierung Befreiung; aber sie läßt den Menschen gegenüber der Transzendenz in der Einsamkeit, weshalb er in besonderer Weise zur sinnstiftenden Tat verpflichtet ist. Der Verzicht auf die Engel bedeutet einen Verzicht auf Geborgen-, Getragen- und auf das Transzendente Verwiesensein, wie es D. —»Bonhoeffer trotz seines Votums für die „nicht-religiöse Interpretation" eindrucksvoll vor seiner Hinrichtung erfahren hat, wenn er sich „von guten Mächten wunderbar geborgen" weiß (Widerstand und Ergebung, München 1970, 435 f).
Engel VD 2. Ablehnung
des
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Irrationalismus
Angesichts solcher Erfahrung fragt es sich, ob das Reden von den Engeln als Hinweis auf diepraesentia dei nicht doch dem Menschen in Grenzsituationen seelsorgerlich hilfreich sein und auch theologisch verantwortet werden kann. Das bedeutet nicht, daß Engelvorstellungen der Volksfrömmigkeit des 19. Jh. und des religiösen Kitschs wieder belebt zu werden brauchten (vgl. Documenta 5,4.1 - 1 0 ) . Auch die häufige Bezeugung des Osterengels (leeres Grab) und des Engels der Totenauferstehung (Posaunenengel) auf Friedhöfen und Gedenkstätten (Krüger) kann kaum Anknüpfungspunkt für einen weiterreichenden Reflexionsprozeß sein, der hülfe, die Engelvorstellung zu reaktivieren. Ein Problem dürfte sein, daß die Wertschätzung der Engel meist mit Antirationalismus bzw. Irrationalismus einhergeht. Das erste trifft auf W. Nigg/K. Gröning zu, denen ein hervorragendes Bildmaterial, das Engeldarstellungen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart erfaßt, einer antirationalistischen Tendenz als Beweismittel dient. Beispiel für einen mit angelologischem Denken verbundenen Irrationalismus ist der Aufsatz von Ch. Meyer, der zwar die lehramtlichen Verlautbarungen der römisch-katholischen Kirche wiedergibt und interpretiert, am Schluß aber Däniken, Astrophysik und „Schwarze Löcher" zur Untermauerung der Engellehre heranzieht. Auch die an den Protestantismus gerichtete Kritik von G. Tavard (92), ist in diesem Kontext nicht als Tadel, sondern als unbeabsichtigtes Lob eines noch geretteten kritischen Bewußtseins zu werten. 3. Neueinsatz Eine die menschliche Vernunft achtende Beschäftigung mit den Engeln sollte darum nicht vorrational-retrospektiv sein, sondern das durch Entmythologisierung und Säkularisierung veränderte Bewußtsein aufgenommen haben, ohne daß es sich ihm freilich ausliefern würde. Damit würde eine Tendenz aufgegriffen, die der Soziologe P. L. Berger vertritt. Wo man sich im Sinne der Wissenssoziologie kritisch der Relativität von Erkenntnis innewird, sollte nach Berger das „säkularisierte Bewußtsein" von den Theologen nicht länger als ein „Absolutes" begriffen werden, dem sich theologische Reflexion unweigerlich zu unterwerfen hätte (133). Vielmehr sollte Theologie darauf aus sein, den „Spuren der Engel" in der Alltagswirklichkeit nachzugehen. Darunter versteht Berger, man solle auf die „Zeichen der Transzendenz" achten, indem man nach „prototypischem, menschlichem Verhalten" sucht, dessen „Gebaren, Gebärden, Gesten" als solche Zeichen anzusehen wären (79) : „Zeichen der Transzendenz" nennt Berger „Phänomene der .natürlichen' Wirklichkeit, die über diese hinauszuweisen scheinen" (ebd.). An dem Punkt, wo in der Alltagswirklichkeit das Transzendente aufscheint, wäre nach Berger von den „Spuren der Engel" zu reden. Dieser Ansatz, der durch das Feuer religionsgeschichtlicher und ideologiekritischer Fragestellungen hindurchgegangen ist, könnte Grundlage sein, um induktiv das zu erschließen, was innerhalb der Erfahrung angesprochen wird, wenn die Bibel von Engeln redet. Damit tritt Berger als Wissenssoziologe in beachtliche Nähe zu C. Westermann, der als Alttestamentler ein gleiches anvisiert, wenn er davon spricht, „bereit zu sein für Gottes Botschaften" (126). Sie sind „Chiffren für die Tatsache, daß wir Menschen . . . nicht allein bleiben, sondern besucht werden" (ebd.).
4. Anknüpfung
an das zeitgenössische
Bewußtsein
Wo ergibt sich eine Anknüpfung an Sprache und Bildwelt des zeitgenössischen Bewußtseins? In der Alltagswelt bleibt der Engel - im Unterschied zur Sprache der Predigt und des Religionsunterrichts - in vielen Redewendungen erhalten (H. Küpper, dtv-Wörterbuch der dt. Alltagssprache, 11971,86). Man spricht zumeist von einem Engel („Du bist ein Engel"), wenn in einer Alltagssituation durch eine Person ein rettender Eingriff oder eine unvorherge-sehene Problemlösung erfolgt ist. Insofern partizipiert die Alltagssprache an der Erfahrung, daß der Mensch auf Erden in kontingenter Weise nicht allein gelassen ist. In der bildenden Kunst und der Literatur dieses Jahrhunderts liegt bei der Engelvorstellung der Schwerpunkt an anderer Stelle. Rilkes Diktum „Ein jeder Engel ist schrecklich" (Duineser Elegien 1912/1922, Erste Elegie u.ö.) kehrt in mancherlei Formen wieder, z.B. in J. v. Hoddis Todesengel (Hohoff 49). Das Erscheinen eines Engels in F. Dürrenmatts Ein Engel kommt nach Babylon bedeutet politisch Beunruhigung und Verunsicherung der
614
Engel VII
Machthaber. Es „untergräbt die Moral des Staates" (79). Im bildnerischen, filmischen schriftstellerischen Werk von Jean Cocteau hingegen symbolisiert der Engel die Inspiration und den Genius des Künstlers (vgl. die Filme Le sang d'un poète und Orphée). - Auch in der bildenden Kunst behauptet sich das Tremendum gegenüber der Nähe (so in Ernst Barlachs Schwebender Gestalt [Engel] im Dom von Güstrow [1927] und im Geisterkämpfer [1928] an der Universitätskirche Kiel [s. Wilhelmi 115.157], Ch. Rohlfs, Austreibung aus dem Paradies [Institut für Kirchenbau, Marburg], den Engeln bei J. Hegenbarth, G. Kraaz, R. P. Litzenburger u.a. [Archiv des Instituts für Kirchenbau, Marburg]). Demgegenüber betont Paul Klee heiter-ironisch die menschliche Seite des Engels: Vergeßlicher Engel, Zweifelnder Engel, Altkluger Engel (Wilhelmi 116). — Der bedeutendste Engelmaler dieses Jahrhunderts ist Marc Chagall, bei dem es drei Erscheinungsweisen des Engels gibt: 1. der Engel als Inspiration und Genius des Malers, 2. der Engel der Bibelillustration („Fast immer da, wo nach dem biblischen Text Gott selbst spricht"; F. Meyer, Marc Chagall, Der Engelssturz, Stuttgart 1964, 6; Wilhelmi 116), 3. der flammende, stürzende Engel als Ausdruck des Dämonischen, der im Bild Engelssturz (1923—1933,1947) schließlich mit dem Fall des Menschen und den Ereignissen um den zweiten Weltkrieg in Zusammenhang gebracht wird. Die Gestalt des Erzengels Michael spielt nicht nur in der Kirche (Berneuchener Kreis, Michaelsbruderschaft; vgl. Rosenberg), sondern ebenfalls in der bildenden Kunst eine bedeutende Rolle: u. a. bei Fidus und H. Thoma (Wilhelmi 275). S. Holsten hat angesichts von Thoma verdeutlicht, „daß (Michael) nicht nur als gottgesandter Bekämpfer des Bösen, sondern auch als Schutzpatron der Nation, als Sinnbild der Vaterlandsverteidigung gemeint ist" (35 f). - Das Beispiel zeigt, daß nicht in allen Fällen eine Anknüpfung an zeitgenössische Vorstellungen möglich und auch ein Mißbrauch bei allem guten Gebrauch nicht auszuschließen ist. Die Stärke, die Engelvorstcllung mit konkreten privaten und politischen Ereignissen in Beziehung zu setzen, erweist sich als ambivalent, zumal es auch zu fragwürdigen Identifizierungen kommen kann. Die von Barlach vorgenommene Identifizierung der schwebenden Gestalt im Dom von Güstrow mit Käthe Kollwitz wäre - obgleich ebenfalls zeitgeschichtlich und biographisch eingebunden - eine möglicherweise zu verantwortende Korrelation zwischen dem angelologischen Tremendum und einer entsprechenden lebenden Person, die der Künstler als Zeitgenosse erfahren hat.
Auch der Musiktheorie, der Praxis des Komponierens und der musikalischen Darbietung sind die Engel vertraut. Sie begegnen in nicht-kirchlicher Musik, die sich freilich nie wie moderne Malerei und Dichtung als „profan" empfunden hat, ebenso wie in der Kirchenmusik (Söhngen, 270 u. ö.). Angelologie und Hymnologie sind in dieser Hinsicht zu einer Einheit verbunden. 5. Theologische
Explikation
und
Applikation
Neben der Michaelsfrömmigkeit, die Michael als Bewahrer der Kirche gegen ihre Widersacher begreift (Michaelsbruderschaft), bildet in der protestantischen Angelologie das Hymnologische den zweiten Schwerpunkt. An diesem Punkt berühren sich K. —»Barth (KD III/3, § 51 u.ö.) und der Lutheraner Peter Brunner (168 ff). Daß Gott von den Engeln (lange vor den Menschen) ununterbrochen gelobt wird, entspricht bei Barth dem „unendlichen qualitativen Abstand" zwischen Gott und Mensch; ähnlich ist es Brunner wichtig, daß der Gottesdienst kosmologisch begriffen und nicht anthropologisch verengt wird („Das Lob der Engel ist der Hymnus, in dem die Kreatur lobpreisend vor Gott verströmt", 169). Das bedeutet aber keineswegs, daß es bei beiden über den hymnologischen Aspekt hinaus zu Spekulationen über das Wesen der Engel und über Engelhierarchien käme (anders: Tavard und vor allem Heiser). Der Prädominanz des Hymnologischen in der Engelvorstellung begegnet Westermann mit der Unterscheidung zwischen den (hymnischen) Seraphen und Cheruben um den Thron Gottes und den im Alltag begegnenden Boten, denen allein Westermann das Prädikat Engel zuweist. Dies - und nicht Hymnologie oder Kosmologie - wäre die Verbindung zu P. L. Berger. Als Bote war der Engel in den Unterrichtsentwürfen der „Evangelischen Unterweisung" seit den fünfziger Jahren bereits präsent (Hirth). P.L. Bergers Durchstoß durch eine geschlossene entsakralisierte - säkulare Vorstellungswelt und die damit verbundene „Wieder-
Engel Vn
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entdeckung der Transzendenz" dürfte auch im Religionsunterricht nicht ohne Wirkung geblieben sein. Bedenkt man die im Rechtfertigungsglauben zum Ausdruck gebrachte Zuwendung Gottes zum Menschen in den Dimensionen von Raum und Zeit, so kann die Gegenwart und das Erleben des kontingenten sozialen Miteinanders nicht als gottentleert vorgestellt werden. Die Applikation des Rechtfertigungsglaubens in realen Lebenszusammenhängen läßt konkrete Personen und Ereignisse als Erfahrungen verstehen, in denen das Transzendente aufscheint, bei denen „sich Gott zu Wort meldet". Solches auszudrücken, ohne eine gewisse Distanz gegenüber Gottes Gottheit zu verleugnen, dient das Reden von den Engeln mit Erfahrungsevidenz (eindrücklich z. B. im Blick auf den —»Kirchenkampf, Schlingensiepen 56—58.81—85). Durch —»Erfahrung kann kompensiert werden, was sich denkerisch nicht mehr präzise erfassen läßt. Erlebnisformen dieser Art brauchen nicht geleugnet zu werden, zumal auch die Alltagssprache daran partizipiert und auch der Religionsgeschichte Erfahrungen dieser Art vertraut sind (Wilson). Einer Übernahme der Engelvorstellung in der Kommunikation des Evangeliums in unterschiedlichen Vermittlungsvorgängen brauchte man sich - einschließlich von Ps 9 1 , 1 1 (Schutzengelvorstellung) in Taufansprachen - nicht zu widersetzen. Hat man die Engelvorstellung kritisch bedacht und ist man sich trotzdem ihrer Relevanz angesichts der Begegnung mit Menschen und Ereignissen und ihrer Korrelation zum Rechtfertigungsglauben bewußt, wird man in Explikation der Linie Westermann-Berger die Vermittlung dieses Vorstellungskomplexes praktisch-theologisch in Predigt, Religionsunterricht und Seelsorge verantworten können. Praktisch-theologisch ergiebig wäre auch die Linie P. —»Tillich (Syst. Theol. III, 120.129) - U. Mann [s.o. Abschn. VI]), zumal damit eine Verbindung zum Schöpfungsglauben und über —»Symbol und Archetypus zur Tiefenpsychologie hergestellt werden kann (—»Seelsorge). Literatur Alfred Adam, Die lobsingenden Engel des Isenheimer Altars: ders., Sprache u. Dogma, Gütersloh 1 9 6 9 , 2 2 0 - 2 3 0 . - Kurt Badt, Emst Barlach der Bildhauer, Neumünster 1959. - Hans Bardke, Die Engel in der kindergottesdienstlichen Verkündigung: Der Kindergottesdienst 44 (1934) 1 4 5 - 1 5 5 . - Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel, Frankfurt 1970. - Theodor Bogler (Hg.), Die Engel in der Welt v. heute, Maria Laach 1957. - Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde: Leit. 1 , 8 3 - 3 6 1 . - Jean Cocteau, Tagebuch eines Unbekannten, Berlin 1957. - Documenta 5. Ausstellungskat., Kassel 1972. - Friedrich Dürrenmatt, Ein Engel kommt nach Babylon, Zürich 1957. - Christian Geelhaar, Klee-Zeichnungen, Köln 1975. - Hans-Werner Hegemann, Der Engel in der dt. Kunst, München 1950. - Volkmar Hirth, Engel in der ev. Unterweisung: Chi 2 4 (1971) 3 4 6 - 3 5 3 . - Curt Hohoff, Flügel der Zeit. Dt. Gedichte 1 9 0 0 - 1 9 5 0 , Frankfurt 1956. - Sigurd Holsten, Allegorische Darst. des Krieges, München 1976. — Wolfgang Krüger, Auferstehung aus Krieg u. K Z in der bildenden Kunst der Gegenwart, unveröff. Ms. (Institut für Kirchenbau u. kirchl. Kunst der Gegenwart, Marburg). - Ulrich Mann, Das Wunderbare (s.o. Abschn. VI). - Christian Meyer, Die lehramdichen Verlautbarungen über Engel u. Teufel: Conc. (D) 11 (1975) 1 8 4 - 1 8 8 . - F r a n z Meyer, Marc Chagall. Leben u. Wert, Köln 2 1 9 6 8 . - Ders., Marc Chagall. Der Engelssturz, Stuttgart 1964. - Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, Düsseldorf/Köln 1971. - Walter Nigg/Karl Gröning, Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir, Berlin 2 1978 (Lit.). - Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Frankfurt 1923 = 1980. - Alfons Rosenberg, Michael u. der Drache, Olten/Freiburg 1 9 5 6 . - J o h a n n e s Schlingensiepen, Widerstand u. verborgene Schuld, Wuppertal 2 1 9 7 7 - Heinrich u. Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache der christl. Kunst, München 1981. - Joachim Seibert, Lexikon christl. Kunst, Freiburg/Basel/Wien 1980. - Oskar Söhngen, Theol. der Musik, Kassel 1967. - Mirjana Tatic-Duric, Das Bild der Engel, Recklinghausen 1962. - Georges Tavard, Engel (s.o. Abschn. V). - Nikolaus Thon, Ikone u. Liturgie, Trier 1979. - Claus Westermann, Gottes Engel (s.o. Abschn. II). - Christian Wilhelmi, Hb. der Symbole in der bildenden Kunst des 20. Jh., Frankfurt 1980. - Peter Lamborn Wilson, Engel, Stuttgart 1 9 8 1 . - Alois Winklhofer, Die Welt der Engel, Ettal o. J . - Stephan Wisse, Das rel. Symbol, Wingen 1963.
Horst Schwebel Engels, Friedrich
—»Marx/Marxismus
616
England I
England I. II. III. IV. V. VI.
Römische und nachrömische Zeit Bis 1066 Von 1066 bis 1534 Reformationszeit Neuzeit Statistik
617 626 636 642 651
I. Römische und nachrömische Zeit Die Zeugnisse für die Existenz des Christentums in Britannien (das noch nicht „Engl a n d " war, vielmehr seit dem 3. J h . mehrere Provinzen und von Diokletian bis 4 0 9 eine Diözese des römischen Reiches bildete) sind spärlich, aber unanfechtbar und nehmen im Zuge fortschreitender Ausgrabungen beinahe von Jahr zu Jahr zu. Vage Hinweise erscheinen bereits bei Autoren des 2. und 3. Jh. wie —»Tertullian und—»Orígenes. Das 1978 in Manchester (dem röm. Mamucium) entdeckte Fragment eines wahrscheinlich christlichen Kryptogramms (vor 300) läßt auf frühzeitige Missionstätigkeit namenloser Christen schließen, die eher unter Kaufleuten, Handwerkern und Sklaven als unter den Soldaten des römischen Heeres zu suchen sein dürften (G. R. Watson: Christianity in Britain 5 1 - 5 4 ) . Spätere Berichte von Martyrien (Albanus in Verulamium, dem heutigen St. Alban's, sowie Aaron und Julius in Caerleon) bei Gildas (De Excidio 10,11), Constantius (Vita Germani 16) und —»Beda Venerabiiis (h.e. 1,7) sind leichter mit der decischen oder, im Falle des Albanus, sogar der severischen als mit der dioklerianischen —»Christenverfolgung in Einklang zu bringen (der Beda den T o d des Albans zurechnet). Der bemerkenswerte Fund goldener und silberner Kultgegenstände in Water Newton/Northamptonshire nahe der einstigen römischen Stadt Durobrivae (1975) dürfte eher während der diokletianischen Verfolgung, in der Kirchen und ihre Ausstattung zerstört wurden, als während der Invasion der Barbaren von 3 6 7 vergraben worden sein. Im 4. Jh. gewinnt die britische Kirche deutlichere Konturen, auch wenn die Quellen immer noch dürftig fließen. Drei britische Bischöfe besuchen 3 1 4 das Konzil von Arles: Eborius von York, Restitutus von London und Adelfius von Colonia Londinensium, wohl Lincoln (Lindum), aber möglicherweise auch Caerleon (Urbs Legionum) oder Colchester (Camolodunum). 3 5 9 nahmen britische Bischöfe an der Synode von Rimini teil (vgl. Sulpicius Severus, Hist. Sacr. 41). Viele Fundgegenstände mit dem Christusmonogramm aus allen Teilen Britanniens bezeugen die weite Ausdehnung der Kirche in dieser Zeit. Mindestens drei Stellen lassen sich als Standorte christlicher Kirchen im 4. Jh. identifizieren: Lullingstone/ Kent, Hinton St. Mary/Somerset und Silchester/Hampshire. Der britische Usurpator Magnus Maximus ließ sich unmittelbar vor seinem Griff nach der Kaisermacht 383 noch taufen; und gegen Ende des letzten Jahrzehnts des 4. Jh. besuchte Bischof Vitricius von Rouen Britannien, um dort einen kirchlichen Konflikt zu schlichten. Ein Sohn des späteren britischen Usurpators Konstantin III. namens Constans soll nach —»Orosius (Hist. adv. Pag. 7,40) Mönch, vielleicht in Britannien, gewesen sein, bevor er 4 0 9 in den Strudel der Reichspolitik gezogen wurde. Der Vater und der Großvater des Hl. Patrick waren zwischen ca. 330 und ca. 4 0 0 britische Geistliche. So war die britische Kirche um 4 0 0 fest im Lande verwurzelt. Während des 5. Jh. blieb Britannien von größeren Invasionen und Landnahmen barbarischer Völker verschont. So genoß die Insel und mit ihr die Kirche in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine Zeit relativer Ruhe und Prosperität. Gegen 3 8 4 bereits hatte Britannien den fähigen Schriftsteller und Reformer —»Pelagius nach R o m entsandt, und zweifellos stand in seiner Heimat während des frühen 5. Jh. der Pelagianismus in Blüte: Wir hören von einem Bischof Agrícola, der ein Anhänger dieser Lehre war, und beide Reisen des Germanus von Auxerre nach Britannien (429 und 448) dienten der Bekämpfung des Pelagianismus. —»Faustus von Reji wurde in Britannien geboren und erzogen. Mindestens zwei Missionsunter-
England II
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nehmungen der britischen Kirche können in dieses Jahrhundert datiert werden: die des Ninian in Südwestschottland und die des —»Patricius (Patrick) in —»Irland. Sobald man erkennt, daß die Mission des Patricius von Britannien und nicht von Gallien ausging, lassen sich aus seinen beiden erhaltenen Schriften, der Confessio und dem Brief an Coroticus, zahlreiche Informationen über die britische Kirche gewinnen, z . B . über ihre Haltung zum M ö n c h t u m , die Qualität ihres Kirchenlateins und ihre régula fidei (Hanson: FS Bieler). N a c h etwa 4 5 0 liegt die britische Geschichte und mit ihr die Kirchengeschichte bis zum Ende des 6. Jh. aufgrund der dürftigen Quellenlage weitgehend im dunkeln. Gildas zeichnet ein Bild skrupelloser Lokalherren mit wenig Respekt vor Kirche oder Kloster und einer Kirche, die um die Bewahrung einer gewissen Erinnerung an die klassische und patristische Literatur bemüht ist und sich eines preziösen, gekünstelten Lateins bedient. Die Vita Sancti Samsonis (deren Ansetzung im 7 . Jh. jedoch umstritten ist) spricht zumindest für eine wachsende Bedeutung des —»Mönchtums im Südwesten des Landes, auch wenn es die kirchliche Organisation noch nicht völlig beherrschte. Zwei britische Sammlungen von Synodalbestimmungen, deren Entstehungsort und -zeit unsicher sind (Haddan/Stubbs 1 , 1 1 6 - 1 1 8 ) , bestätigen diesen Eindruck. Die britische Kirche, mit deren Vertretern Augustin von Canterbury (s.u. Abschn. II) in der „Synode bei der E i c h e " zusammentraf (Beda, h . e . 11,2), w a r eine konservative und isolierte Kirche, deren Geistlichkeit den Sachsen gegenüber einen tiefen Argwöhn hegte, aber keineswegs jeder geistlichen Kraft und Vitalität ermangelte. Quellen Bede's Ecclesiastical History of the English People, ed. Bertram Colgrave/Roger Aubrey Baskerville Mynors, Oxford 1969 = 1972. - Constance de Lyon, Vie de St. Germain, ed. R. Borius, 1965 (SC 112). - G i l d a s , De Excidio Britonum, hg. v. Th. Mommsen: MGH.AA XIII. Chron. Min. ni, 1 8 9 6 , 2 5 - 8 5 . Councils and Ecclesiastical Documents Relating to Great Britain and Ireland, ed. A.W. Haddan/W. Stubbs, Oxford, I 1869 = 1964. - Saint Patrick, Confession et Lettre à Coroticus, ed. R.P. C. Hanson/C. Blanc, 1978 (SC 249). — Historia Brittonum cum Additamentis Nennii, hg. v. Th. Mommsen: MGH.AA XIII. Chron. Min. III, 1 8 9 6 , 1 1 3 - 2 2 2 . - La Vie de Saint Samson, ed. R. Fawtier, Paris 1912. Literatur Maurice Willmore Barley/Richard P. C. Hanson, Christianity in Britain 3 0 0 - 7 0 0 , Leicester 1968. - Ludwig Bielcr, The Life and Legend of St. Patrick, Dublin 1948. - Daniel Binchy, St. Patrick and his Biographers: StHib 2 (1962) 7 - 1 8 3 . - J o h n Bagnell Bury, The Life of St. Patrick, London I 9 0 5 . - N o rah Chadwick/Myles Dillon, The Celtic Realms, London 1967. - Robert Fawtier, Saint Samson Abbé de Dol. Réponse à quelques objections: ABret 35 (1921/23) 1 3 7 - 1 8 6 . - Richard P.C. Hanson, St. Patrick. His Origins and Career, Oxford 1968. - D e r s . , The Rule of Faith of Victorinus and of Patrick: Latin Script and Letters. FS Ludwig Bieler, Leiden 1976, 2 5 - 3 6 . - Kenneth Jackson, Language and History in Early Britain, Edinburgh 1953. - Joseph Loth, La vie la plus ancienne de Saint Samson de Dol d'après des travaux récents: RCelt 25 (1914) 2 6 9 - 3 0 0 . - Ders., La vie la plus ancienne de Saint Samson abbé-évêque de Dol d'après des travaux récents: RCelt 4 0 (1923) 1 - 5 0 . —John MacQueen, St. Nynia, Edinburgh 1961. - John Thomas McNeill, The Celtic Churches, Chicago 1974. — John Morris, The Dates of the Celtic Saints: JThS NS 17 (1966) 3 4 2 - 3 9 1 . - Ders., The Date of St. Alban: Hertfordshire Archaeology 1 (1968) 1 - 8 . - D e r s . , T h e Age ofArthur,London 1 9 7 3 . - T h o m a s F.O'Rahilly, The Two Patricks, Dublin 1942. - Thomas David O'Sullivan, The De Excidio of Gildas. Its Authenticity and Date, Leiden 1 9 7 8 . - P e t e r Salway, Roman Britain, London 1981 (Oxford History of England).-Peter Hayes Sawyer, From Roman Britain to Norman England, London 1978. - Alan Small/Charles Wilson/David McKenzie, St. Ninian's Isle and its Treasures, Oxford 1973. — Studies in the Early British Church, ed. N. Chadwick, Cambridge 1958. - Charles Thomas, The Early Christian Archaeology of North Britain, Oxford 1971. - Ders., Britain and Ireland in Early Christian Times, London 1971. Ders., Christianity in Britain to 500, London 1981. - Edward Arthur Thompson, Gildas and the History of Britain: Britannia 10 (1979) 2 0 3 - 2 0 6 . - J o h n Wall, Christian Evidences in the Roman Period: Archaeologia Aeliana 43 (1965) 2 0 1 - 2 2 6 ; 4 4 (1966) 1 4 7 - 1 6 4 . - Hugh Williams, Christianity in Early Britain, Oxford 1912. Richard Patrick Crosland Hanson n . Bis 1 0 6 6 1. Von Augustin von Canterbury bis zur Synode von Whitby (664) 2. Die Hochblüte der angelsächsischen Kirche und Mission um 700 3. Kirchliche Situation von der Mitte des 8. bis zur Mitte des
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England II
10. Jh. 4. Die monastische Reform des 10. Jh. len/Literatur S. 625)
5. Die Spätzeit der altenglischen Kirche
1. Von Augustin von Canterbury bis zur Synode von Whitby
(Quel-
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Die Geschichte des englischen oder angelsächsischen Christentums beginnt 597 mit der Ankunft des römischen Klostervorstehers Augustin (gest. 609, vielleicht auch 604/605) und seiner Mönche, die von Papst —»Gregor dem Großen entsandt worden waren. Inwieweit die Bekehrungsarbeit auf dem Lande auf Reste christlicher Gemeinden aus römischer Zeit (s.o. Abschn. I) zurückgreifen konnte, ist umstritten. Eine gewisse Verbreitung hatte das Christentum im Heer und auf den Landgütern des römischen Britannien gehabt. Ein Großteil der verbliebenen Bevölkerung muß aus Briten bestanden haben, und obwohl es zahlreiche britische Heiden gab (deren Religion auch einen gewissen Einfluß auf die der Angelsachsen gehabt haben dürfte), verweisen angelsächsische Ortsnamen mit dem Element Eccles auf vorhandene britische Kirchen (Cameron: Christianity in Britain 8 7 - 9 2 ) . Doch hatte sich keine Bistumsorganisation erhalten; sie wurde vielmehr von Augustin in gregorianischem Sinne neu aufgebaut. Seinen eigenen Sitz nahm Augustin in —»Canterbury und nicht in London, wie Gregor es gewünscht hatte (gegen Brechter, Bekehrungsgesch. 2 0 5 - 2 0 7 ) . London war politisch instabil, während Canterbury im Zentrum der von König Aethelberht von Kent unter den angelsächsischen Kleinkönigen errichteten Herrschaft lag. Aus dieser Tatsache erhellt bereits, daß sich die christliche —»Mission ohne Unterstützung durch die Königsgewalt nicht entfalten konnte. Zwar vermochten die Könige ihren Adel nicht unbedingt immer zur Bekehrung zu bewegen, aber im allgemeinen wirkte sich das Auf und Ab königlicher Macht im 7. Jh. deutlich auf den Fortgang der Mission aus. Ein Indiz dafür ist die Mission des Paulinus in Northumbrien, der die Mission der seit den 30er Jahren des 7. Jh. auf der Insel Lindisfarne Edwin u.a. auch zur Gründung des Erzbistums York führte, aber gleich darauf im Gefolge des Sturzes Edwins wieder aufgegeben werden mußte. Der Fortschritt der Bekehrungsarbeit wurde durch Seuchen, chronischen Klerikermangel und echte Bindung an das Heidentum gehemmt, wäre aber sicher noch stockender verlaufen, wenn nicht König Oswiu von Northumbrien, der die Mission der seit den 30er Jahren des 7. Jh. auf der Insel Lindisfarne (Holy Island) ansässigen irischen Mönche begünstigte, 665 den heidnischen König Penda von Mercien in der Schlacht am Winwaed besiegt hätte. Diese irischen Mönche, die durch den später als das herausragende Beispiel des königlichen Märtyrers angesehenen Oswald von Northumbrien ins Land gerufen worden waren, kamen ursprünglich aus —»Columbas Klostergründung Iona und drangen auf ihren Missionsreisen bis nach Mercien und zu den Ostsachsen vor. Sie hielten an den asketischen und liturgischen Bräuchen Columbas fest, darunter vor allem an einer Berechnung des Osterdatums (—»Ostern/Osterfest), die von der in Rom und auf dem Kontinent üblichen abwich. Der Konflikt zwischen römischen und irischen Bräuchen kam 664 auf der berühmten Synode von Whitby zum Austrag, wo sich König Oswiu nach einer flammenden Rede des jungen Wilfrith von York für Rom entschied. Ältere Historiker betrachteten diese Auseinandersetzung als den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Spannung zwischen gegensätzlichen Lebens- und Organisationsformen, von denen die eine, die irische (—»Irland), entsprechend den Gegebenheiten einer nicht-städtischen Stammesgesellschaft auf der Herrschaft von Äbten über Klosterverbände [paruchiae) beruhte, während die andere mehr dem kontinentalen Diözesanmodell folgte. Heute jedoch sind an dieser Sicht erhebliche Korrekturen anzubringen. Es gibt vor 664 kaum Anzeichen irisch-römischer Feindseligkeit. Die adligen Laien, an die sich die Mission hauptsächlich wandte, waren mehr mit ihren eigenen Familienzwisten als mit kirchlichen Subtilitäten beschäftigt; und die Synode von Whitby selbst hatte ihren Hauptanlaß vermutlich in Differenzen zwischen Oswiu und seinem Sohn Alchfrith (MayrHarting 1 0 3 - 1 0 8 ) , auch wenn deshalb höhere Motive in Wilfriths Eintreten für die Sache Roms und seiner Freunde nicht bezweifelt werden müssen. In jedem Fall hatten die irische und die römische Tradition vieles miteinander gemeinsam. Die dominierende Gestalt in der
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Frühzeit der Mission von Lindisfarne, Aidan (gest. 652?), der als die reinste Verkörperung irischen Mönchtums und irischer Spiritualität gilt, wird von -»Beda (unserer einzigen Quelle) durchweg im Lichte des idealen Seelenhirten Gregors d.Gr. beschrieben. Vor allem aber ist es unsere genauere Kenntnis nordgallischer Einflüsse, die es heute als unangemessen erscheinen läßt, die Geschichte der Bekehrung Englands in den Kategorien „römisch" und „irisch" darzustellen, wie es noch Campbell in seinem Artikel über die Christianisierung Englands im 1. Jh. tut (l s l Century). In Nordgallien (-»Frankreich) war der Bekehrungsprozeß während des 7. Jh. noch in vollem Gang und wurde vornehmlich durch die von dem Iren -»Columban und seine Gründung Luxeuil ausgelöste irofränkische Bewegung getragen. Es spricht manches dafür, daß der nach England (insbesondere nach Wessex und Ostanglien), aber auch darüber hinaus ausstrahlende Einfluß dieses columbanischen Mönchtums für die Entwicklung der gewöhnlich von Äbtissinnen regierten Doppelklöster für Männer und Frauen verantwortlich war, die ein so wichtiges Charakteristikum der englischen Kirche wurden (vgl. Hilpisch). Durch Vermittlung columbanischer Klöster dürfte auch die —»Benediktusregel, die hier ebenso wie von Wilfrith und Benedict Biscop verehrt wurde, in England Fuß gefaßt haben.
2. Die Hochblüte
der angelsächsischen
Kirche und Mission um 700
Die 70 Jahre nach der Synode von Whitby sind durch eine beachtliche Konsolidierung der kirchlichen Organisation und eine Hochblüte christlicher Kultur ausgezeichnet. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der vom Papst zum Erzbischof von Canterbury (667-690) ernannte griechische Mönch Theodor von Tarsus. Er legte auf der Synode von Hertford (672) den Grundstein für eine konsequente Diözesanverfassung; seine Schule in Canterbury wurde von Aldhelm von Malmesbury höher gewertet als die von den Iren vermittelte Bildung; und sein Bußbuch, das zwar in seiner überlieferten Form nach seinem Tode zusammengestellt wurde, in seinem wesentlichen Bestand aber heute auf ihn selbst zurückgeführt wird, zeugt von pastoraler Phantasie und Flexibilität, nicht zuletzt auf dem Gebiet des —»Eherechts, auf dem die Kirche besondere Schwierigkeiten mit den Gewohnheiten neugewonnener Stammesgescllschaften hatte. — Auch Aldhelm von Malmesbury (ca. 640—709) war ein bedeutender Lehrer. Sein hochstilisiertes Latein leitet sich, wie heute feststeht, eher von gallischen und italienischen als von irischen Vorbildern her und beweist, daß neben irischen mediterrane Einflüsse nicht unterschätzt werden sollten (vgl. Winterbottom, Aldhelm's Prose Style). Beide waren gleichermaßen notwendig, um das künstlerische Meisterwerk der frühen angelsächsischen Epoche, die Lindisfarne Gospels (ca. 698; —»Bibelillustrationen, —»Buchmalerei), hervorzubringen. Ein gutes Beispiel für die Frömmigkeit der Zeit nach Whitby ist der in irischer Tradition erzogene Cuthbert, zuerst Prior von Melrose, dann Bischof von Lindisfarne (gest. 686), der in einer von den Iren häufig nachgeahmten östlichen Manier ein abgeschiedenes Leben auf den Farne Islands führte und wie ein —»Martin von Tours gegen das ländliche Heidentum zu Felde zog. Cuthbert betonte, wenn das ihm ins Grab mitgegebene Brustkreuz (jetzt im Dormitorium der Kathedrale von Durham) irgendwelche Folgerungen erlaubt, die äußeren Hoheitszeichen des Bischofsamtes nach römischer Weise stärker als Aidan es getan hatte. Wie dieser wird er von Beda in vieler Hinsicht nach dem gregorianischen Idealtyp eines Mönchs oder Seelenhirten dargestellt. Ein Grundzug der frühen angelsächsischen Kirche war ihr ausgeprägter Missionsdrang nach innen und außen, der sich zu einem guten Teil aus dem Zusammenfließen gregorianischer und irischer Missionstradition in England erklären dürfte. Eine Verkörperung findet er in —>Wilfrith von York. Die Forschung zeichnet Wilfrith zu Recht als einen Bischof vom Zuschnitt des vornehmen Adligen einer Zeit, in der sich die Kirche den Lebensformen des weltlichen Adels anglich, mit weniger Recht indessen als einen herausragenden Vorkämpfer für das —»Papsttum, da er in dieser Hinsicht unter seinen englischen Zeitgenossen keineswegs einzig dasteht. Er predigte während zeitweiliger Verbannungen aus Northumbrien mit großer Wirkung sowohl unter den —»Friesen (678/79) als auch unter den Südsachsen (680—686); sein Nachfolger in der Friesenmission war -+Willibrod. Über Bischof Daniel von Winchester führt eine direkte Linie zu —»Bonifatius, dem größten aller englischen Mis-
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sionare auf dem Kontinent. Daniel, einer von Bonifatius* englischen Korrespondenzpartnern und Mentoren, empfahl diesem (vgl. Bonifatius, ep. 23, von 723/24), gegenüber den heidnischen Hessen und Thüringern einen maßvollen Ton anzuschlagen. Dieser Rat könnte durchaus ein Reflex von Wilfriths Tätigkeit unter West- und Südsachsen gewesen sein (im Blick auf die letzteren wird überliefert, Wilfrith habe ihnen „milde" [leniter] gepredigt). In recht anderer Weise sind auch die Schriften von —»Beda Venerabiiis mit ihrem oft deutlich erkennbaren Wunsch, das ganze englische Volk bekehrt zu sehen (was im frühen 8. Jh. durchaus noch nicht erreicht war), für die Mission von Bedeutung- in anderer Weise, weil Beda sich fast ausschließlich an die Geistlichkeit als Trägerin der Mission und nicht an die Unbekehrten selbst richtete. Er war Mönch der Schwesterklöster Wearmouth und Jarrow, die ein weiterer northumbrischer Adliger, Benedict Biscop (gest. 689/90), 674 bzw. 681 gegründet hatte. Von Biscop übernahm Beda die reichhaltige Bibliothek, die jener in Italien und Gallien zusammengetragen hatte, sowie dessen geistlichen Idealismus und das Empfinden der mit dem Eintritt in den Mönchsstand vollzogenenen Abkehr von der Adelsgesellschaft und ihren Bindungen (vgl. Wormald über Beda). Verbunden mit hoher Gelehrsamkeit, durchdringt dieser Idealismus alle historischen und exegetischen Schriften Bedas und macht ihn (in seinem bekannten Brief an Erzbischof Egbert von York [734]) zu einem entschiedenen Kritiker der, wie er es sah, zunehmenden Verweltlichung der Kirche. In jüngster Zeit hat P. Wormald in seinem Beitrag Aethelred tbe Lawmaker eine völlig neue Diskussion eingeleitet, ohne dadurch Bedas Bedeutung im mindesten zu verkleinern. Er meint, daß Beda mit seinem Einsatz der patristischen Uberlieferung für einen direkten Angriff auf die weltliche Gesellschaft eine Ausnahmeerscheinung darstellt und daß die alleinige Form, in der das Christentum unter dem englischen Adel Wurzel fassen konnte, sich wohl eher in dem Epos Beowulf (wahrscheinlich 8. Jh.) widerspiegelt. Das Christentum sei mit Erfolg von einem Kriegeradel assimiliert worden, der nicht die Absicht gehabt habe, seine Kultur preiszugeben oder seinen Lebensstil ernstlich zu ändern, der aber willens gewesen sei, seine Traditionen, Gebräuche, Neigungen und seine Bindungsbereitschaft in den Kontext des neuen Glaubens einzutragen, und dessen fortdauernde ,Weltlichkeit' zu einer wichtigen Bedingung des Reichtums der frühen christlichen Zivilisation in England geworden wäre.
3. Die kirchliche Situation von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 10. Jh. Im Gegensatz zu der frühen und späten angelsächsischen Periode gelten die Jahrhunderte zwischen 750 und 950 als eine Zeit der Stagnation oder gar des Niedergangs der Kirche. Manche Autoren führen diese Entwicklung auf die Ausbreitung der schon von Beda angeprangerten Mißstände zurück, vor allem auf die Gründung unzulänglicher Klöster zu dem hauptsächlichen Zweck, den an Landbesitz geknüpften steuerlichen, politischen und militärischen Verpflichtungen zu entgehen; andere nennen als Grund die Erschütterungen der Wikingereinfälle (obgleich die Dänen, die sich in England ansiedelten, rasch zum Christentum übergingen). Es wäre jedoch unrichtig, diese Zeit in einem allzu düsteren Licht zu sehen. Gewiß hat sie wenige herausragende Persönlichkeiten aufzuweisen; auch scheinen kaum neue Steinkirchen errichtet worden zu sein, an denen die vorangegangene Periode so reich war (z. B. Hexham, Ripon, Wearmouth, Jarrow, Escomb [Durham], Wing [Buckinghamshire], Brixworth [Northamptonshire], Bradford-on-Avon). Doch mangelte es der Kirche damals nicht an Gelehrsamkeit; sie dehnte ihren politischen Einfluß aus; die Ausbildung der diözesanen Binnenstruktur und die Gründung neuer Bistümer schritten weiter voran. Was der Kirche vielleicht am meisten fehlte, war ein Beda, der das Gedächtnis ihres Lebens der Nachwelt übermittelt hätte. Wenn eine Hofschule dadurch gekennzeichnet ist, daß sie christliche Bildung politischen Zwecken dienstbar machte, könnte York als die erste Hofschule des mittelalterlichen Europa betrachtet werden. Sie besaß in der Phase der politischen Zusammenarbeit zwischen Erzbischof Egbert (732-766) und seinem Bruder König Eadberht von Northumbrien (737—758) eine Handschriftensammlung, die zumindest in ihrem klassischen Bestand die von Wearmouth/Jarrow weit übertraf. —»Alkuin studierte damals in York und muß hier Anregungen empfangen haben, die ihm später bei der Leitung der Hofschule —»Karls des Großen von Nutzen waren. Durch York war vermutlich auch der Hof des großen Königs von
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Mercien, Offa ( 7 5 7 - 7 9 6 ) , beeinflußt, denn Alkuin schickte einen seiner Schüler als Lehrer zu Offa, und sein Brief läßt auf die Existenz einer Hofschule in Mercien schließen. Bedas Kommentare zum Alten Testament hatten ein ganz neues Studienfeld eröffnet, das wirkkräftige Vorbilder eines christlichen—»Königtums bereitstellte, und es ist kein Zufall, daß die ersten erhaltenen schriftlichen Genealogien eines Königshauses (ein alttestamentliches Interesse) mit dem Mercien des 8. Jh. verknüpft sind oder daß Offa 786 in der ersten bekannten Königssalbung der englischen Geschichte seinen Sohn Eigfrith salben ließ. Zugleich herrschten die angelsächsischen wie die israelitischen Könige über ein Volk von Kriegern, und es spricht einiges dafür (wenngleich die Frage umstritten ist), daß die Könige von Mercien im 8. Jh. die Wirtschaftskraft kirchlichen Landbesitzes zur Unterhaltung ihres Heeres heranzogen, was früheren Königen nicht gelungen war. König Alfred (871—899), ein Westsachse, nahm Gelehrte aus Mercien in seinen Dienst, von denen Plegmund Erzbischof von Canterbury wurde. Als christlicher König (dessen Gestalt er nach verbreiteter Meinung musterhaft verkörperte) fühlte er sich verpflichtet, nicht nur die heidnischen Wikinger zu bekämpfen, sondern auch den christlichen Glauben zu lehren. Er übertrug persönlich ins Angelsächsische, was für ihn christliche Schlüs.seltexte waren, darunter Gregors Regula Pastoralis, von deren Übersetzung er an jeden Bischof ein Exemplar sandte (das Exemplar für Waerferth von Worcester ist als Bodleian Hatton Ms. 2 0 erhalten). Seine Gesetzgebungstätigkeit sah er in der Nachfolge Moses. Das sog. Alfred Jewel, ein feingearbeitetes Schmuckstück im Ashmolean Museum, Oxford, ist als symbolische Darstellung der (salomonischen) Weisheit gedeutet worden (D.R. Howell: Oxoniensia 1974). — In einer allgemeineren Perspektive bot die Kirche ein Modell für die spätere politische Einheit des angelsächsischen England, seit Theodor mit dem Primat des Stuhles von Canterbury den Grund für die kirchliche Einheit gelegt hatte. 4. Die monastische
Reform
des 10. Jh.
Die Geschichte der Kirche im 10. Jh. steht unter dem Zeichen der monastischen Erneuerungsbewegung, deren Führer die klassischen frühmittelalterlichen Adelsheiligen Dunstan (gest. 988; Abt von Glastonbury und Erzbischof von Canterbury), Aethelwold (gest. 984; Abt von Abingdon und Bischof von Winchester) und Oswald (gest. 992; Bischof von Worcester) waren. Dunstan hatte einige Zeit in St. Peter in Gent verbracht, das sich damals zur Gorzer Reform (—> Gorze) bekannte; Oswald hatte zwölf Jahre in dem mit—> Cluny verbundenen Kloster Fleury gelebt, während Aethelwold nur durch seine Ernennung zum Bischof von einer geplanten Auslandsreise abgehalten worden war. Die englische Reformbewegung war somit zutiefst durch die gleichzeitigen Reformen auf dem Kontinent beeinflußt. Wie diese betonte und entfaltete sie das liturgische Element der Benediktusregel. Ihr wichtigstes Verfassungsdokument, die unter Assistenz von Mönchen aus Fleury und Gent entworfene und auf einem Konzil von Winchester (wahrscheinlich 973) beschlossene Regularis Concordia, diente dem Zweck, unter mehr als 4 0 Klöstern, die bis zu diesem Zeitpunkt gegründet oder reformiert worden waren, eine Einheit der Gebräuche herzustellen. Ihre Klöster übernahmen die karolingische Minuskel (—»Schrift und Schreibmaterial) und lehnten sich in einem Großteil ihrer künstlerischen Produktion an karolingische Vorbilder an. Daneben knüpfte die Reformbewegung auch an englische Traditionen an. In den von allen drei Reformern geleiteten Klosterverbänden, unter denen derjenige Aethelwolds hervorragte und deren Ziel die Erhaltung der Reinheit monastischer Observanz war, lassen sich Nachklänge Wilfriths und früherer irischer Reformer erkennen. Die Verehrung altenglischer Heiliger und die häufige Translation ihrer Reliquien von abseits zu zentral gelegenen Klöstern, wie um die Reform auf diese Weise zu befestigen, ist ein weiterer Hinweis in dieselbe Richtung. Die Listen von Ruhestätten der Heiligen wurden in jener Zeit zu einem Symbol der politischen Einheit Englands (Rollason) - Ausdruck eines Denkens, das keine scharfe Trennungslinie zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Ordnung zog und so die irdische Gesellschaft im Himmel gespiegelt sehen konnte. Und trotz aller Verwendung karolingischer Vorbilder zeugen die Randzeichnungen des Psalters von Bury St. Edmunds oder
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des Heptateuchs von St. Augustin in Canterbury (hg. v. C.R. Dodwell/P. Clemoes, 1974) von einer sehr selbständigen Gestaltungskraft der späten altenglischen Künstler. — Im übrigen strömten kontinentale Einflüsse durch zahlreiche Kanäle ein. So trugen z. B. westsächsische Kontakte zur Bretagne, die unter König Athelstan ( 9 2 4 - 9 3 9 ) besonders bedeutsam waren und deren Spuren in den liturgischen Büchern der Zeit erscheinen, das Ihre zur Auslösung der Reform bei (vgl. Tenth Century Studies). Es war ein Augenblick von zentraler und symbolischer Bedeutung, als Aethelwold 964 den Weltklerus seiner Kirche in Winchester durch Mönche aus Abingdon ersetzte. So sehr die englischen Klöster unter den Raubzügen der Wikinger gelitten haben mögen, die Reformer selbst sahen die Hauptquelle des Übels im saecularium prioratus, der Wahrnehmung der Klosterleitung durch weltliche Herren (John: RBen 75). Damit waren nicht Laieneigentum und -herrschaft schlechthin gemeint; tatsächlich hatten die Mönche in ihrem reformerischen Bemühen weltlichen Herren, darunter vor allem König Edgar ( 9 5 9 - 9 7 5 ) , sehr viel zu verdanken. Worauf die Kritik zielte, war die Praxis von Adelsfamilien, ihren oft verheirateten Mitgliedern mit Hilfe des Klostergutes einen Lebensstil zu ermöglichen, der ein gemeinschaftliches und liturgisches Leben unmöglich machte. Entsprechend hatten die Reformer der Zeit gegen Laienherrschaft nichts einzuwenden, wenn nur dierita communis gewährleistet war. Zu diesem Zweck mußten sie de facto entfremdetes Land wieder in ihre Gewalt bringen, was eine Herausforderung machtvoll behaupteter Ansprüche bedeutete, die nur mit Unterstützung des Königs erfolgreich sein konnte (vgl. John, Land Tenure; ders., Orbis Britannicae). Die monastische Reform rückte daher König und Kirche noch näher zusammen. Auch der König zog aus dieser Entwicklung vielfachen Nutzen. Die Regularis Concordia schreibt regelmäßige Gebete für die königliche Familie vor. Darüber hinaus wurden die Klöster Mittelpunkte royalistischer Propaganda und königlicher Rechtsprechung, an die in vielen Fällen die Hoheit über die lokalen Verwaltungseinheiten der hundreds überging. Die Könige, die entscheidenden Einfluß auf die Abtwahl hatten, gewannen eine mächtige Gegenkraft zu dem bisweilen unzuverlässigen weltlichen Adel, vor allem im von Spannungen zwischen Adelsfamilien beherrschten Grenzstreifen zwischen Mercien und Ostanglien, der bis dahin noch nicht unter die feste Kontrolle der westsächsischen Könige gekommen war. Einige der bedeutendsten Klöster Aethelwolds lagen in diesem Gebiet, z.B. Crowland, Thorney, Ely, Peterborough, desgleichen Ranisey aus Oswalds Verband, die alle ihre Regel von Winchester empfingen, das rasch auch zu einem — mit Aachen vergleichbaren — weltlichen Zentrum des westsächsisch/englischen Königreiches aufstieg. Es gibt wenig direkte Belege, daß die Mönche von ihrem neu konsolidierten Landbesitz bewaffnete Kontingente an das Heer des Königs abstellten, weshalb englische Historiker sich zu dieser Frage kaum geäußert haben. Aber kontinentale Analogien, vor allem die ottonische Herrschaft in Italien, legen eine solche Vermutung nahe. Auf diese Weise zum augustinischen Ideal der pax im irdischen Staat beizutragen, konnte Bischöfen und Äbten des 10. Jh. durchaus als ein würdiges Ziel erscheinen, und so wären die wirtschaftlichen Ressourcen der Reform einer Stärkung der Königsmacht zugute gekommen. 5. Die Spätzeit der altenglischen
Kirche
Die späte altenglische Kirche bestand aber nicht nur aus Klöstern; niemand wußte dies besser als die Mönche selbst. Der gebildetste Engländer im Jahrhundert vor der normannischen Eroberung war Aelfric ( 9 5 5 ? - 1 0 2 2 ? ) , ein Schüler Aethelwolds, Mönch von Cerne Abbas (Dorset) und seit 1005 erster Abt von Eynsham. Seine Gelehrsamkeit freilich verwandte Aelfric im Dienste der angelsächsischen Sprache, und es ist nicht zuletzt sein Werk, wenn England in diesem Zeitraum die reichste volkssprachliche Literatur überhaupt aufzuweisen hat. Seine Absichten waren vornehmlich pastoraler Art. Mit seinen Katholischen Homilien (991/92) gab er Priestern eine Reihe von Musterpredigten für die gottesdienstlichen Hauptfeste des Jahres an die Hand; er verfaßte englische Hirtenbriefe zum Gebrauch
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von Bischöfen; seine —»Bibelübersetzungen und Heiligenleben (vor 998) entstanden im Auftrag eines Laien, des Ealdorman Aethelward. An einen anderen Adligen, Sigehard, schrieb er einen Brief über die Lehren, die ein Krieger aus der Bibel entnehmen konnte. Das besagt nicht unbedingt, daß die Laien damals weithin schriftkundig gewesen wären - ein Großteil dieser Literatur konnte ja vorgelesen werden —, erlaubt aber die Annahme, daß die englische Gelehrsamkeit im Gegensatz zur karolingischen (der sie so viel verdankte) nicht so sehr auf eine Klerikalisierung angelegt war als vielmehr unmittelbar auf die Christianisierung der Laien ausgerichtet blieb. Darin fanden die missionarischen und seelsorgerlichen Bestrebungen der Zeit eines Wilfrith, Beda und Bonifatius ihre Fortsetzung. — Ein anderer namhafter Gelehrter dieses Zeitraums war Byrhtferth (gest. 1008), ein Mönch des Klosters Ramsey, der die Lehren des Abbo von Fleury während dessen zweijährigen Aufenthalts in Ramsey aufgenommen hatte und dessen Manuale, abgesehen von einer praktischen Hilfestellung im Umgang mit dem kirchlichen Kalender, ein Bindeglied zwischen den „wissenschaftlichen" Interessen Bedas und denen des 12. Jh. bildet. Die Jahrzehnte nach der Wende zum 11. Jh. mögen auf den ersten Blick vor allem durch ein Erlahmen des Reformeifers gekennzeichnet sein; doch war der Episkopat, der sich bis zur Regierung Eduards des Bekenners weitgehend aus Mönchen zusammensetzte, im allgemeinen fähig und von religiösem Ernst erfüllt, und der Adel nahm seine Pflicht des Kirchenbaus ernst. Am Ende der altenglischen Periode wurden, insbesondere mit der Errichtung von Eigenkirchen (—»Eigenkirchenwesen) auf den Grundherrschaften einzelner Adliger, die Grundlinien des späteren Pfarrkirchensystems vorgezeichnet. Diese Kirchen waren anfänglich oft den älteren Stiftskirchen untergeordnet, die ursprünglich Klöster, seit karolingischer Zeit, als man zwischen Mönchsgemeinschaften und solchen, die das Leben von Weltgeistlichen regulieren sollten, unterschied, auch Regularkanonikergemeinschaften (—»Stift) mit seelsorgcrlichen Zuständigkeiten für weite Gebiete waren. Die von Stiftskirchen versehenen Gebiete dürften anfänglich häufig mit örtlichen Bannherrschaften zusammengefallen sein. Zur selben Zeit trat auch eine stärkere Verflechtung von —»Kirche und Staat ein. Während einige der äußeren Erscheinungsformen dieses Ineinandergreifens nach der gregorianischen Reform (-»Gregor VII.) obsolet wurden, trug doch die vermehrte Beschäftigung mit der Kanonistik (vgl. Barlow) zur Grundlegung derselben Reform bei. Die dominierende Gestalt dieser Periode ist Wulfstan 1., 996 Bischof von London, 1 0 0 2 - 1 0 2 3 Erzbischof von York und zugleich, da die Pfründen von York dürftig waren, Inhaber des Stuhles von Worcester. Wulfstans Institutes of Polity vermitteln ein Bild seines Bischofsideals, das auch praktische Fertigkeiten und die Aufsicht über Maße und Gewichte umfaßt. Sein sog. Commonplace Book ist eine Kompilation von kanonistischen, homiletischen sowie Büß- und Gesetzestexten, wie sie auch von karolingischen Bischöfen für die Ausübung ihrer pastoralen Pflichten verwendet wurden. Seine berühmteste Homilie, der Sermo Lupi ad Anglos (ed Whitelock), ist an das ganze englische Volk gerichtet. - Es steht heute fest, daß Wulfstan einen wesentlichen Einfluß auf die Formulierung der Gesetze der Könige Aethelred und Knut genommen hat, die einen stark homiletischen Charakter tragen, sich selbstverständlich mit kirchlichen und moralischen Problemen befassen und die die unter König Edgar begonnene Praxis der Androhung weltlicher Strafen für kirchliche Verstöße fortsetzen. Zugleich war er sehr an der Verbreitung dieser Gesetzgebung beteiligt, indem er sie in freier Auswahl seinen eigenen Zwecken des Kirchenregiments und der Seelsorgepraxis dienstbar machte. Alles in allem ist er die typisch englische Verkörperung eines ottonischen Bischofs. Die von Wulfstan repräsentierte Periode wurde durch die Eduards des Bekenners (1042-1066) abgelöst, der eine Reihe lothringischer Geistlicher ins Land rief, von denen Robert von Jumieges Erzbischof von Canterbury wurde (1051, im gleichen Jahr vertrieben], während andere, vor allem Giso von Wells und Leofric von Exeter, durch die energische Reform ihrer Säkularkapitel auf der Linie —»Chrodegangs von Metz denkwürdig sind. Wenn man sich Wulfstans offenkundige Vertrautheit mit karolingischer Gesetzgebung, die Berufung von Ausländern auf englische Bischofsstühle durch Eduard den Bekenner, die Verbindungen zwischen der englischen Kirche und dem Papst (vgl. Barlow) sowie die gelehrten und
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künstlerischen Kontakte zum Kontinent vor Augen hält, wird deutlich, daß die englische Kirche in der späten altenglischen Zeit ebenso wenig ein isoliertes Dasein innerhalb der Gesamtkirche führte, wie sie es zur Zeit Bedas geführt hatte. Quellen Aelfric's Lives of the Saints, ed. W. Skeat, 4 Bde., 1 8 8 1 - 1 8 9 0 (EETS 76.82.94.114). - Aethelwulf, De Abbatibus, ed. A. Campbell, Oxford 1967. - Alcuini Epistolae, hg. v. E. Dümmler, 1895 (MGH.Ep 4). - Aldhelmi Opera, hg. v. R. Ehwald, 1919 (MGH.AA IS). - King Alfred's West Saxon Version of Gregory's Pastoral Care, ed. H. Sweet, 2 Bde., 1871 (EETS 45.50). - Asser, Life of King Alfred, ed. W. H. Stevenson, Oxford 1904. - The Benedictional of St. Aethelwold, ed. G. F. Warner/H. A. Wilson, Oxford 1910. - S . Bonifatii et Lulli Epistolae, hg. v. M. Tangl, 1916 (MGH in usum scholarum). -English Historical Documents 5 0 0 - 1 0 4 2 , ed. D. 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der
Entwicklung
Mit der Eroberung durch die Normannen beginnt eine neue Ära in der Kirchengeschichte Englands. Der Grund für diese Zäsur liegt nicht nur in der spezifischen Kirchenpolitik Wilhelms des Eroberers (1066 - 1 0 8 7 ) , sondern darüber hinaus in seiner Umgestaltung der englischen Monarchie, die das politische und gesellschaftliche Umfeld der Kirche veränderte. Die Eroberung sicherte die politische Einheit Englands. Der neue normannische Adel hatte sein Land durchweg als königliches Lehen inne (—»Lehnswesen). Den Erben Wilhelms gelang es, die Machtstellung der Krone zu erhalten. Im 12. Jh. wurden die Grundlagen einer königlichen Zentralverwaltung sowie einer Gerichtsverfassung geschaffen, die allen freien Untertanen rechtliches Gehör gewährleistete. Praktische Erfahrungen mit ihren wohltätigen Folgen ließen ein Gemeinschaftsbewußtsein erwachsen, das sich erstmals in der Magna Charta (1215) in dem Begriff der community of the realm äußert. Trotz einzelner schwacher Könige zerfiel England nicht in feudale Teilfürstentümer; wenn sich unter den Baronen Unzufriedenheit regte, ging der Kampf stets um die Zentralherrschaft selbst, so daß die weltliche Macht im Königreich ungeteilt blieb. Die jurisdiktionelle Einheit, die England bildete, begünstigte auch den Aufstieg des Parlaments. Spätmittelalterliche Parlamente hatten Gesetzgebungsgewalt, und 1388 wurde für das Parlament Souveränität beansprucht. Die Kirche betreffende Gesetze konnten vor den weltlichen Gerichten geltend gemacht werden. Auf diese Weise wurde das in den ersten beiden Jahrhunderten nach 1066 ausgebildete Verhältnis der englischen Kirche zum —»Papsttum abgebaut und schließlich ganz beseitigt. 2. Die anglo-normannische
Kirche
(1066-1089)
Die normannische Invasion war von Papst —»Alexander II. in der Erwartung gebilligt worden, daß Wilhelm als König von England den gleichen Eifer für die Kirchenreform zeigen würde wie zuvor als Herzog der Normandie. Die Reform der englischen Kirche begann im J a h r 1 0 7 0 , als eine Legatensynode den Erzbischof von Canterbury, Stigand, absetzte. Zu seinem Nachfolger wurde auf Wilhelms Drängen —»Lanfrank berufen. Dieser bemühte sich mit königlicher Unterstützung, den Primat von —»Canterbury in ganz Britannien durchzusetzen. Die Erzbischöfe von Y o r k und Dublin legten vor ihm Gehorsamsbekundungen ab. Z w a r erfolgten nach 1 1 4 0 keine Gelübde irischer Bischöfe (—»Irland) mehr, aber für die vier Bischöfe von —»Wales war eine solche Unterwerfung in der Zwischenzeit üblich geworden. Y o r k versuchte, sich von der Unterordnung unter Canterbury zu befreien, und 1 1 1 9 bestimmte C a l i x t l l . , daß die beiden Erzbischöfe einander gleichrangig seien. Doch nannte sich der Erzbischof von Canterbury „Primas von ganz England", während mit York der Titel „Primas von England" verbunden war. Die beiden Kirchenprovinzen waren von ungleicher Ausdehnung. Ein Konzil in Winchester legte 1072 fest, daß zu York lediglich Durham und die schottischen Diözesen gehörten. Nach der Eroberung
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Nordcumbriens 1092 wurde für diesen Bereich das Bistum Carlisle geschaffen (1133?). Durham und Carlisle blieben die einzigen Suffragane von York, nachdem —»Schottland im 12. Jh. kirchliche Unabhängigkeit erlangt hatte. Die Grenze zwischen den Kirchenprovinzen entsprach im allgemeinen der weltlichen Verwaltungsgliederung längs des Trent. Ungefähr 90 Prozent der Landesbevölkerang lebten somit in der Provinz Canterbury. Diese bestand seit 1109 (Gründung des Bistums Ely) aus 18 Diözesen. Die Diözesangrenzen fielen in der Regel mit Grafschaftsgrenzen zusammen, auch wenn die meisten Diözesen mehr als eine Grafschaft umfaßten; einzelne Bischöfe hatten zudem unmittelbare Jurisdiktionsgewalt über Enklaven in fremden Bistümern (Beispiele dafür sind die Dekanate von Canterbury oder das York unterstellte Hcxhamshire in Northumberland). Die Höhe der bischöflichen Einkünfte war mehr vom Umfang des Kirchengutes als von der Größe der Diözese abhängig. Winchester, der reichste Bischofssitz in Europa, warf doppelt so viel ab wie Lincoln, die größte Diözese, und übertraf damit sogar noch Canterbury. An dritter Stelle kam Durham, das einzige englische Bistum, das über weltliche —«Immunität mit hoher Gerichtsbarkeit verfügte.
Der normannische Episkopat zog es vor, seinen Sitz in Städten zu nehmen. 1075 autorisierte das Konzil von London die Verlegung von Lichfield, Selsey und Sherborne nach ehester, Chichester und Salisbury. Dorchester-on-Thames wurde zugunsten von Lincoln aufgegeben, und das ostanglische Bistum erhielt seinen Sitz in Norwich. Nicht nur der Bau neuer Kathedralen wurde gefördert, sondern einige der normannischen Bischöfe gaben auch ihren —»Domkapiteln neue Ordnungen. Canterbury, Winchester und Worcester hatten bereits Domklöster; ihrem Beispiel schlössen sich Rochester, Norwich und Durham an. Alle diese Häuser folgten der —»Benediktusregel, ebenso Ely, während das Kapitel von Carlisle nach der —»Augustinusregel lebte. In den übrigen englischen Bistümern (Chichester, Exeter, Hereford, Lincoln, London, Salisbury, Wells und York) wurden bis etwa 1090 nach französischem Vorbild Säkularkapitel unter Dekanen errichtet; das gleiche galt für Lichfield, nachdem der Bischofssitz 1102 von ehester dorthin zurückgekehrt war. Zwei Diözesen hatten ein doppeltes Kapitel, nämlich Bath (OSB) und Wells sowie Coventry (OSB) und Lichfield. Auf Anordnung Wilhelms I. sollten geistliche Dinge nicht länger vor weltlichen Gerichten verhandelt werden (—»Gerichtsbarkeit, kirchliche). Lanfranks Konzil von Winchester (1076) verpflichtete jeden Bischof zur Bestellung eines Archidiakons (—»Bistum). Bald gab es in den größeren Diözesen mehrere Archidiakone, wobei die Grenzen der einzelnen Archidiakonate gewöhnlich mit den Grafschaftsgrenzen zusammenfielen. Damit war ein Apparat geschaffen, um den auf dem Konzil von London (1075) verkündeten päpstlichen Dekreten zur Reform der geistlichen Lebensführung und zur Regelung der Ehe Nachdruck zu verleihen. Für die Wirksamkeit dieser Rechtsprechung sorgte der weltliche Arm des Königs: Wilhelm führte ein regelmäßiges Verfahren ein, wonach der Bischof einen widerspenstigen Exkommunizierten an die königliche Kanzlei meldete, die dessen Gefangensetzung veranlagte, bis er sich dem geistlichen Gericht unterwarf. Wer im —»Bann stand, wurde im übrigen von den königlichen Gerichten nicht angehört. Soweit erfüllte sich die Hoffnung des Papstes, daß Wilhelm die englische Kirche reformieren würde. Dieser hatte freilich schon als Herzog eine feste, direkte Herrschaft über die normannische Kirche ausgeübt und war als gesalbter König keineswegs eher bereit, dem Papst einen Einfluß in England einzuräumen, der seine eigene Oberhoheit über die Kirche gefährden konnte; wie in der Normandie führte er den Vorsitz bei kirchlichen Konzilen. In dieser Hinsicht war Wilhelm ein Gegner des Reformpapsttums. Er lehnte die Forderung —»Gregors VII. nach Lehnshuldigung ab und beschränkte nicht nur die Beziehungen seiner Geistlichkeit zu Rom, sondern beschnitt insgesamt deren Handlungsfreiheit (worauf sich 1164 Heinrich II. als ein Gewohnheitsrecht der Krone berufen sollte): Der König entschied über die Anerkennung eines neugewählten Papstes; nur mit seiner Einwilligung durften päpstliche Legaten nun Schreiben empfangen, Gesetze durch ein erzbischöfliches Konzil erlassen und königliche Beamte oder Kronvasallen exkommuniziert werden. Darüber hinaus verwandelte Wilhelm Bistümer und Abteien bezüglich der Temporalien in Kronlehen, indem er von ihren Inhabern den Lehnseid und das Aufgebot einer bestimmten Zahl von Rittern für seinen Heerbann forderte. Auf diese Weise wurde die englische Kirche in das „Feu-
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dalsystem" integriert. Ansonsten war Wilhelm redlich um die Herstellung einer guten Ordnung in der Kirche bemüht und achtete darauf, daß die englischen Bischofsstühle fast durchweg mit integren und fähigen Männern, hauptsächlich normannischer oder lothringischer Herkunft, besetzt wurden. 3. Konflikt und Reform
(1089-1272)
Unter Wilhelm II. ( 1 0 8 9 - 1 1 0 0 ) und Heinrich 1.(1100-1135) war die königliche Kirchenpolitik von selbstsüchtigen Motiven bestimmt; die lehnsrechtliche Stellung der Prälaten wurde ausgenutzt, und es kam zu langen Vakanzen, so daß die betreffenden bischöflichen und klösterlichen Einkünfte dem König zuflössen. Diese Politik war einer der Gründe für die Auseinandersetzung —»Anselms von Canterbury, dessen Tätigkeit als Erzbischof die englische Ausprägung des —»Investiturstreits darstellt, mit beiden Königen. Der Konflikt wurde 1107 beendet, als Heinrich seinen Anspruch auf Investitur der Bischöfe mit den geistlichen Hoheitszeichen fallen ließ; ihre Wahl fand freilich nach wie vor in der Hofkapelle statt. Es wurde Brauch, daß Bischöfe, bevor sie geweiht wurden, im Anschluß an die Temporalienübertragung den Lehnseid schworen. Dieser förmliche Kompromiß sicherte dem König genügend Einfluß, um weiterhin die Ernennung ihm genehmer Bischöfe, darunter hohe Amtsträger seiner weltlichen Verwaltung, zu gewährleisten, und hemmte so den Fortschritt der Kirchenreform. Unverändert zog Heinrich Sedisvakanzen in die Länge, praktizierte —»Simonie, ließ Priesterehen zu; doch hielt er nicht an Wilhelms theokratischen Vorstellungen fest. Häufig ermäßigte er dessen restriktive Bestimmungen und strebte sogar nach ihrer Anerkennung durch Rom. Gelegentlich erteilte er Bischöfen die Erlaubnis, die Kurie zu besuchen oder einem päpstlichen Konzil beizuwohnen (1119). Einmal (1125) durfte mit seiner Einwilligung ein Legat ein Konzil abhalten und England bereisen. Appellationen nach Rom und Korrespondenz mit dem Papst waren bald an der Tagesordnung; die päpstliche —»Autorität wuchs unter der Geistlichkeit. Dies wurde verstärkt durch die Gründung neuer, dem Papst direkt unterstellter Orden, so vor allem der —»Zisterzienser, auf deren erste englische Niederlassung in Waverley (1129) rasch die großen Klöster in Yorkshire folgten, die als Vorkämpfer der Reform im Norden wirkten (—»Aelred von Rielvaux). Während der von periodischen Bürgerkriegen erschütterten Regierungszeit Stephans (1135—1154) wurde die englische Kirche in beschleunigtem Tempo von kanonischer Lehre und Praxis »Kirchenrecht) durchdrungen. Heinrich II. (1154—1189) schuf die Grundlagen des englischen Prozeßrechts mit Writund Geschworenenverfahren vor königlichen Richtern. Sein Bemühen um eine konsequentere Strafverfolgung führte ihn dazu, geistliche —»Privilegien in Frage zu stellen; dies war eine Wurzel seines Streites mit Th. —»Becket, in dessen Verlauf sich Heinrich veranlaßt sah, die „Rechtsgepflogenheiten seiner Ahnen", wie sie unter Heinrich I. in Geltung gewesen waren, 1164 in der Konstitution von Clarendon zu kodifizieren. Bedeutung und Tragweite dieser Tragödie sollten freilich nicht überschätzt werden. Nach Beckets Ermordung verlangte der Papst in seinen Bedingungen für Heinrichs Lossprechung in Avranches (1172) die Zulassung von Appellationen nach Rom; tatsächlich waren diese längst in Übung. Hinzu kommt, daß Heinrich nicht genötigt wurde, von den „alten Rechtsgepflogenheiten" Abstand zu nehmen, auf die er sich denn auch weiterhin berief; seine Kontrolle über Bischofsernennungen blieb ungeschmälert. Was straffällige Kleriker betraf, bürgerte sich die Praxis ein, diese nach Anklage vor dem königlichen Richter und Beweis ihres geistlichen Standes in bischöflichen Gewahrsam zu überstellen. Die weltlichen Gerichte blieben für Prozesse um Patronatsrechte (—»Patronat) zuständig. Durch förmliche Verbote (writs of Prohibition) konnte die Krone jedes vor einem geistlichen Gericht anhängige Verfahren an sich ziehen. Auf dieser Basis fuhren die beiden Rechtssysteme fort sich zu entwickeln und ihre Kompetenzen zu erweitern. Der englische Beitrag zur Ausbildung des Kirchenrechts zeigt sich an dem hohen Anteil von in Rom oder durch päpstlich delegierte Richter entschiedenen englischen Präzedenzfällen, die in Dekretalensammlungen (—»Kirchenrechtsquellen) enthalten sind. Konflikte zwischen königlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit waren nicht ausgeschlossen, doch die doppelte
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Rolle von Bischöfen als päpstlich delegierte Richter und Mitglieder des königlichen Rats ebnete den Weg zu Koexistenz und Kompromiß; die beste Verkörperung dieser Situation ist Hubert Walter, der zugleich als Erzbischof von Canterbury und päpstlicher Legat (1193 - 1 2 0 5 ) sowie als Stellvertreter des Königs, oberster Hofrichter und Kanzler fungierte. 1208 verhängte —»Innozenz III. das —»Interdikt über England, nachdem König Johann Ohneland (1199-1216) St. —»Langton als Erzbischof von Canterbury abgelehnt hatte. Bedrängt von den Drohungen eines Aufstands und einer französischen Invasion unterwarfsich Johann 1213; er nahm, wahrscheinlich auf eigenen Vorschlag, England vom Papst zum Lehen und verpflichtete sich zur Zahlung eines jährlichen Lehnszinses. Langton beteiligte sich daraufhin an den Friedensverhandlungen zwischen dem König und den Baronen, die 1215 mit der Magna Charta abgeschlossen wurden; deren erste Klausel gestand der englischen Kirche Freiheit (Anglicana ecclesia libera sit) und freie Wahlen zu. Innozenz erklärte die Charta für nichtig, da sie den Rechten seines Vasallen, des englischen Königs, Abbruch tue. Nach der Thronbesteigung Heinrichs III. (1216—1272) wurde sie jedoch, in modifizierter Form, von neuem in Kraft gesetzt, und zwar unter dem Siegel des Legaten Guala, der wie sein Vorgänger Pandulf die päpstliche Autorität zugunsten des jungen Königs in seinem Kampf um die Herrschaft in die Wagschale warf. Heinrichs lebenslange Dankbarkeit für diese Hilfe wird oft für seine Ergebenheit gegenüber dem Papsttum und seine Bereitschaft zur Unterstützung von dessen Politik verantwortlich gemacht. Eine andere Folge dieser Loyalität war die häufige Besteuerung des Klerus, bisweilen zur Förderung der päpstlichen Pläne in Italien. England war das erste Königreich, das einen ständigen päpstlichen Kollektor hatte (seit 1228), mit einer Organisation für die Einsammlung von Abgaben, Steuern und Gebühren (—»Abgaben, kirchliche) zur Uberführung nach Rom. Andererseits hörten die Päpste nicht auf, Heinrich in seinen wachsenden politischen und finanziellen Schwierigkeiten im Lande zu helfen. Einige jener der Geistlichkeit auferlegten Steuern wurden zu seinen Gunsten erhoben. Es geschah auf sein Betreiben, daß Kardinallegaten a latere (—»Gesandtschaftswesen, päpstliches) nach England kamen: Otto 1237 und Ottobuono Fieschi 1265. Zur selben Zeit gelangten die Dekrete der 3. Lateransynode (—»Lateransynoden) in der englischen Kirche zur Verbreitung und bewirkten, wenngleich nicht auf Dauer, eine Verbesserung der Diözesanverwaltung und der geistlichen Lebensführung. Bischöfliche —»Visitationen und —»Synoden wurden freilich sehr viel weniger häufig durchgeführt, als die Dekrete vorschrieben. Eine bleibende Neuerung war die Anlegung von Registern zur Verzeichnung bischöflicher Amtsgeschäftc. Die frühesten dieser Dokumente betreffen Pfründenvergabungen. Diejenigen aus dem späten 13. Jh., von denen eine ganze Anzahl erhalten ist, umfassen ein breites Spektrum bischöflicher Tätigkeit: Verordnungen, Urteilssprüche, Gerichtsprotokolle, —»Dispense, Ordinationslisten, Testamente, Korrespondenz mit Päpsten, Königen und anderen Prälaten. Vor allem lassen sie den Aufbau einer geordneten Diözesanverwaltung erkennen: an der Spitze ein häufig umherreisender Bischof mit seinem Kanzler, Registrator und anderen familiares, dem eine Reihe residierender Amtsträger untergeben ist: der Generalvikar als bevollmächtigter Stellvertreter eines nichtresidenten Bischofs, der Weihbischof und der Offizial als Leiter des Konsistorialgerichts. Bis zum 13. Jh. waren die Archidiakonate de facto unabhängige, obwohl immer noch untergeordnete Benefizien (—»Beneficium) geworden, mit eigenen Gerichten und bei Nichtresidenz des Archidiakons auch Offizialen. Zur Ersetzung der Archidiakone als örtlicher Organe ihrer Verwaltung und Rechtsprechung ernannten englische Bischöfe Beamte, die den Titel eines Generalsequestrators oder -kommissars trugen. Das Personal der weithin einheitlich strukturierten Kirchenleitung bestand hauptsächlich aus graduierten Juristen aus —»Oxford und —»Cambridge, die als Berufsstand auch unter nachlässigen oder unfähigen Bischöfen die Stabilität und Kontinuität der Diözesanverwaltung sicherstellten. Neben den Provinzial- und Diözesansynoden des frühen 13. Jh. wurden Legatensynoden abgehalten, die in Anwendung der Dekrete des 3. Laterankonzils zahlreiche Bestimmungen zur Verbesserung der pastoralen Versorgung der Bevölkerung erließen; die Konstitutionen der Legaten Otto (1237) und Ottobuono (1268), die beide mit umfassender päpst-
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licher Vollmacht ausgestattet waren, blieben bis zum Ende des Mittelalters die Grundlage einer funktionstüchtigen Diözesanverwaltung. In kirchlichen Streitsachen war die Position des Papstes als Ordinarius universalis mittlerweile voll und ganz akzeptiert. Seine Verfügungsgewalt über kirchliche Stellen machte sich in einer wachsenden Zahl von Stellenvergabungen bemerkbar: Zwar gingen nur wenige englische Pfründen an Italiener, aber einheimische Kleriker betrieben ihre Ernennung in Rom. Auch päpstliche Einflußnahme auf Bischofswahlen wurde häufiger, während der König keine große Entschlossenheit zur Durchsetzung seiner Kandidaten zeigte: sechs der sieben Erzbischöfe von Canterbury während des 13. Jh. waren von Rom designiert. Obgleich weiterhin königliche Verwaltungsbeamte zu Bischöfen befördert wurden, gab es unter ihnen doch auch eine Fülle herausragender Gestalten, von denen R. —»Grosseteste am berühmtesten wurde. Das Auftreten der Bettelorden in England (—»Dominikaner 1221, —»Franziskaner 1224) führte zu einer Intensivierung der Seelsorgetätigkeit, während das Wirken einiger ihrer Ordensmitglieder in Oxford den europäischen Ruf des dortigen Studium generale vermehrte. 4. Der Aufstieg der weltlichen
Gewalt (1272-
ca.
1400)
Die Regierungszeit Heinrichs III. bildete den Höhepunkt päpstlichen Einflusses in England; nie zuvor und nie wieder war die englische Kirche in gleichem Maße in das universale System eingegliedert. Aber selbst zu dieser Zeit waren der Freiheit der Kirche zur Regelung ihrer eigenen Belange Grenzen gesetzt. Immer noch gab es Gelegenheiten, bei denen der König auf seinem Recht bestand, die Abhaltung von Synoden und deren Gesetzgebungstätigkeit von seiner Genehmigung abhängig zu machen. Wie das Rechtsbuch Henry Bractons (gest. 1268) zeigt, weigerten sich königliche Richter, Bannspriiche des Papstes oder seiner Legaten zu beachten, während sie Exkommunikationen durch englische Ordinarien anerkannten, da die letzteren vor einem königlichen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Seit 1237 erschienen immer wieder vermutlich auf Bischofsversammlungen zusammengestellte Listen von Gravamina, die Einschränkungen der kirchlichen Gerichtsbarkeit und Verwaltung durch königliche Gerichte und Beamte aufführten. Eduard I. ( 1 2 7 2 - 1 3 0 7 ) kam einigen der Beschwerdepunkte 1286 mit seiner Verfügung Circumspecte agatis entgegen, die eine Gruppe von Gegenständen aufzählt, die als rein geistlich und in die Kompetenz kirchlicher Gerichte fallend von seinen Richtern nicht verhandelt werden sollten. Diese rasch als beständig verbindliches Gesetz angesehene Verfügung verfolgte den Zweck, die beiden Jurisdiktionsbereiche voneinander abzugrenzen. Die Trennung wurde 1292 durch eine Bestimmung Eduards verschärft, daß die Ausbildung weltlicher Juristen den königlichen Richtern vorbehalten sein sollte, was zur Gründung der Inns of Court in London als den einzigen Schulen für den englischen Anwaltsnachwuchs führte. Bald wurden Richter nur noch aus den Reihen praktizierender Anwälte genommen und Bischöfe und andere Kleriker von dieser Funktion ausgeschlossen. Als exklusiver Berufsstand verteidigten die weltlichen Juristen das Recht des Königreiches gegen die leisesten Grenzüberschreitungen durch Vertreter des kanonischen Rechts. Trotz Circumspecte agatis blieben einige strittige Sachen übrig, und es kam weiterhin zu geistlichen Klagen über den Gebrauch von writs of Prohibition, selbst nachdem das Konsultationsstatut von 1290 ein Einspruchverfahren für kirchliche Rechtsvertreter gegen eine derartige Vorgehensweise festgelegt hatte. Eduards Gesetzgebung zielte vor allem auf eine Erhöhung der Effektivität seines Verwaltungs- und Gerichtswesens. In den Zusammenhang seiner Bemühungen um die Stabilisierung des lehnsherrschaftlichen Systems gehört das Gesetz über die tote Hand (Statute ofMortmain, 1279), das die Übertragung von Grundbesitz an geistliche Körperschaften verbot. Die Folge war, daß sämtliche Landvergabungen an kirchliche Institutionen der königlichen Erlaubnis bedurften. Bald wurden solche Genehmigungen vielfach erteilt. Sie zeigen, daß mittlerweile nicht mehr Klöster die häufigsten Empfänger von Stiftungen (—»Stiftungen, kirchliche) waren; zur gängigsten Form der Wohltätigkeit wurden Meßstiftungen und für Mitglieder der weltlichen und geistlichen Führungsschicht die Gründung von Kollegialkirchen und Universitätskollegien. Im Gegensatz dazu nahm die Zahl der über 8 0 0 Klöster, die bis zur Auflösung im 16. Jh. überdauerten, nur unwesentlich zu.
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Daß die Regierungszeit Eduards I. eine kritische Phase der englischen Kirchengeschichte darstellt, wird auch an der Besteuerung der Geistlichkeit sichtbar. Aufgrund der Eroberung von Wales und der Kriege mit Schottland und Frankreich hatte der König über eine längere Periode einen gesteigerten Geldbedarf. Doch war es ihm nicht einfach möglich, seine Untertanen ohne deren Einverständnis zu besteuern. Parlamente aus gewählten Repräsentanten der Mittelklasse erklärten ihre Zustimmung zu einer Besteuerung der Laienschaft. Zugleich wurden geistliche Konzile zu demselben Zweck einberufen. 1283 trat ein Konzil der Kirchenprovinz Canterbury zusammen, gebildet aus den Prälaten, Dekanen, Archidiakonen, je einem Vertreter der Dom- und Stiftskapitel sowie pro Diözese zwei Vertretern des Pfarrklerus; diese Zusammensetzung gab das Muster für die Convocation von Canterbury ab, während in York die beiden Gemeindegeistlichen pro Archidiakonat entsandt wurden. 1296, nach der Bulle Clericis laicis —»Bonifatius' VIII., widersetzte sich die Geistlichkeit einer Steuerbewilligung ohne päpstliche Zustimmung. Eduard erzwang daraufhin mit dem Mittel der Acht individuelle Zahlungen. 1301 kehrte er jedoch zur Praxis Heinrichs III. zurück und erreichte eine Ubereinkunft mit dem Papst bezüglich der Besteuerung der Geistlichkeit. Nach der Flucht des Papsttums von Rom nach Frankreich stieß der König bei den Päpsten auf größeres Entgegenkommen. —»Clemens V. verlängerte den Zehnten um zehn Jahre. Er ließ sich auch von Eduard bewegen, den Erzbischof von Canterbury, Robert Winchelsea, ins Exil zu schicken, und ernannte nach dessen Tod 1313 Walter Reynolds zum Nachfolger, den ersten königlichen Beamten in diesem Amt seit 1205. Seit die päpstliche Kurie ihren Sitz in Avignon hatte, gelang es englischen Königen immer häufiger, ihre Kandidaten auf Bischofsstühle zu bringen. Fast alle Vakanzen wurden durch Ernennungsbullen besetzt, aber nur selten versuchten Päpste, einen Bischof selbst zu bestimmen; wo es um wichtige Bistümer ging, vereitelten die Könige gewöhnlich derartige Ernennungen, indem sie die Temporalien zurückhielten, konnten aber den Ernannten zubilligen, ärmere Diözesen zu empfangen. Es entsprach königlichem Interesse, die päpstliche Ernennungsbefugnis anzuerkennen, da auf diese Weise der freien kanonischen Wahl durch Domkapitel ein Riegel vorgeschoben wurde. Die päpstliche Mitwirkung bei der Besteuerung der Geistlichkeit endete freilich 1337 bei Ausbruch des Krieges mit Frankreich. Infolgedessen sah sich Eduard III. ( 1 3 2 7 - 1 3 7 7 ) genötigt, seine Geistlichkeit direkt um die Bewilligung von Steuern anzugehen. Da der Krieg sich über runde hundert Jahre hinzog, nahm das Verfahren zur Erlangung einer derartigen Zustimmung institutionelle Form an. Wann immer der König eine Steuer begehrte, berief er ein Parlament ein und ließ zugleich beide Erzbischöfe je getrennt eine Versammlung ihres Klerus abhalten, für die sich nunmehr der Name Convocation einbürgerte (mit der oben beschriebenen Zusammensetzung). Die Convocationen von Canterbury und York entwickelten sich rasch zur normalen Form von Provinzialsynoden überhaupt, auch in den seltenen Fällen, in denen Erzbischöfe ihre Geisdichkeit aus rein kirchlichen Gründen zu versammeln wünschten. Die Regel aber war, daß kirchliche Angelegenheiten von den auf Geheiß des Königs zusammentretenden Convocationen mitbehandelt wurden; diese boten eine Gelegenheit, um geistliche Beschwerden gegen die weltliche Macht vorzutragen und den königlichen Geldbedarf als Hebel zur Durchsetzung entsprechender Forderungen zu benutzen. Doch blieben, wie aus späteren Gravamina erhellt, so gewonnene Zugeständnisse, etwa das Statut Pro Clero (1351), ohne durchschlagende Wirkung.
Der Krieg zwischen England und Frankreich hatte für die englische Kirche noch weitere nachhaltige Folgen. Durch seine finanzielle Notlage war der König auch zu Konzessionen gegenüber den in den Parlamenten geäußerten Meinungen gezwungen. Die Vertreter der Commons waren offenbar überzeugt, daß die avignonesischen Päpste Parteigänger Frankreichs seien, und betrachteten Zahlungen an den Papst als eine Schädigung der englischen Wirtschaft und eine Unterstützung des Feindes. Der von Johann Ohneland akzeptierte und 1333 zum letzten Mal erlegte Lehnszins wurde 1366 aufgekündigt. Desgleichen wurde auf Initiative des Parlaments die direkte Besteuerung der Geistlichkeit durch den Papst aufgehoben. Lords wie Commons wandten sich gegen die päpstlichen Stellenbesetzungsrechte mit der übertriebenen Anschuldigung, daß auf diese Weise l'église d'Engleterre zugrundegerichtet und ihre Pfründen von nichtresidierenden Ausländern in Beschlag genommen würden. Ab 1343 kam es immer wieder zu Anordnungen und Gesetzen, die päpstliche Stellenvergaben untersagten. Ihre Durchführung freilich wurde mit wenig Nachdruck betrieben, da dem König an guten diplomatischen Beziehungen zur Kurie gelegen war; die Annaten, die mit ei-
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England
III
England und Wales im Spätmittelalter — — — &
Oiözesangrenzen
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Provinzgrenzen
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Universitäten
Bischofssitze
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Ehemaliger Bischofssitz oder sonstige kirchliche Lokalität
Bedeutende Klöster
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ner Ausnahmegenehmigung des Königs vom Papst ernannte Pfründenerwerber (Provisoren) bezahlten, waren jetzt die Hauptquelle päpstlicher Einkünfte in England. Erst ab 1413 gelangten die Statutes of Provisors von 1343 zur regelmäßigen Anwendung, als der König die päpstliche Ernennungsbefugnis zu seinem eigenen Vorteil auf Erzbischöfe und Bischöfe beschränkte. Antipäpstliche Parlamente erließen die Statutes of Praemunire (1353, 1393). Zwar war jedenfalls das zweite zunächst nur eine Antwort auf aktuelle Spannungen mit Bonifatius IX., doch trafen beide Regelungen zur Klageerhebung vor den königlichen Gerichten, wenn in den Bereich des weltlichen Rechts fallende Streitsachen an die curia Romana vel alibi getragen zu werden drohten. Seit Beginn des 15. Jh. griffen Personen, darunter selbst Kleriker, die vor geistliche Gerichte gezogen wurden, zum Schritt einer Klage auf praemunire-, die Convocationen beschwerten sich über diesen Mißbrauch der Statuten, doch entschieden die Richter des Königs 1465, daß mit alibi englische Bischofsgerichte gemeint seien. Der Niedergang des päpstlichen Einflusses in England wurde durch das große abendländische —»Schisma weiter befördert. Bei dessen Ausbruch 1378 erkannte England unverzüglich den römischen Papst Urban VI. (1378-1389) an, während —»Clemens VII. als französische Marionette galt. Insgesamt war die offizielle englische Politik während der Zeit des Schismas und des —»Konziliarismus von Argwohn gegenüber Frankreich beherrscht. Die Schwäche der römischen Päpste zeigt sich deutlich an ihrer bereitwilligen Verbannung zweier Erzbischöfe 1388 und 1397, die das Opfer politischer Krisen waren. 1403 wurden 14 Franziskaner und andere Geistliche wegen Hochverrats hingerichtet; ein ähnliches Schicksal erlitt 1405 Erzbischof Scrope von York, wobei die Reaktion des Papsttums Heinrich IV. (1399-1413) wenig Schwierigkeiten bereitete. Nach der Beendigung des Schismas wurden englische Prälaten von Martin V. (1417—1431) energisch gedrängt, auf die Annullierung der Statutes of Provisors hinzuarbeiten, doch scheiterte dieser Vorsatz am Widerstand der Laienmitglieder des Parlaments. Spätere Päpste fanden sich nach außen hin mit der Begrenzung ihrer Autorität in England auf die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt in Lehrfragen und kanonischer Rechtsprechung ab. 5. Häresie und Antiklerikalismus
(ca.
1380-1534)
Das Zeitalter des großen Schismas brachte die einzige häretische Bewegung des mittelalterlichen England hervor. Es ist kaum wahrscheinlich, daß die von J. —»Wyclif ausgelöste Bewegung der Lollarden für die kirchliche Hierarchie je eine ernste Bedrohung bedeutete. Anfänglich hatte sie einige Anhänger in Oxford und gewann auch die Sympathie mancher Ritter, in der Hauptsache aber rekrutierte sie sich aus der Handwerkerschicht des Südens und der östlichen Midlands. Ihren dem Amtspriestertum gegenüber ablehnenden, auf die Lektüre der Bibel in der Volkssprache (—»Bibelübersetzungen) gestützten Vorstellungen fehlte eine systematische Durchdringung und Ausrichtung. Ihr Aufkommen aber wirkte alarmierend genug, um das Statut De heretico comburendo (1401) zu veranlassen; tatsächlich wurden bis 1500 weniger als hundert Lollarden verbrannt. Wyclifs Vorstellungen von der Herrschaftsordnung liefen den Interessen der besitzenden Klassen, ob weltlich oder geistlich, zuwider, während die Parteinahme des Königs für die kirchliche Hierarchie durch deren Vertreter in der Regierung sichergestellt wurde. Ein Lollardenaufstand, der sich 1413 unter der Führung von Sir John Oldcastle gegen Heinrich V. (1413-1422) erhob, wurde mühelos unterdrückt. Da nunmehr Häresie mit Hochverrat gleichgesetzt werden konnte, wurden königliche Richter angewiesen, Lollarden aufzuspüren und gefangenzunehmen. Abgesehen von wenigen kleinen Aufständen hielt sich die Bewegung von nun an bis zur Reformation im Verborgenen. Wyclifs Kritik an Mißständen innerhalb der Amtskirche und seine Verurteilung des Reichtums geistlicher Institutionen stieß auf breiteren Widerhall als seine eigentlichen Lehrmeinungen. Die große Mehrheit seiner englischen Zeitgenossen war konventionell rechtgläubig und beteiligte sich aktiv und engagiert am liturgischen und karitativen Leben der Church of England (so die volkssprachliche Übersetzung von Ecclesia Anglicana im
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15. Jh.). Doch kam es nicht selten vor, daß gerade fromme Laien aus Abneigung gegen die geistliche Gerichtsbarkeit und Unzufriedenheit mit den verbreiteten Mängeln priesterlicher Bildung und Lebensführung eine antiklerikale Einstellung entwickelten. Ein bemerkenswerter Zug jener Zeit ist die abnehmende Anziehungskraft des weltlichen Priestertums als Beruf. Im Gegensatz zu Nordengland, wo religiöse Traditionen unvermindert stark blieben, läßt sich in den meisten Diözesen der Kirchenprovinz Canterbury ein deutlicher Rückgang an Priesterordinationen konstatieren (während Mönchs- und Bettelorden weiterhin genügend Nachwuchs fanden). Diese Tendenz spiegelt sich in einer Reihe von Gegenmaßnahmen wider: So versuchte man, offenbar erfolglos, die Bezüge besoldeter Kapläne zu beschränken oder Altaristen zum Seelsorgedienst zu zwingen; Stifter wie William Wykeham (gest. 1404) gründeten mit gleichem Ziel Colleges in Oxford und Cambridge. In einer Hinsicht profitierte die Kirche von dieser antiklerikalen Strömung. Im 13. und 14. Jh. waren weltliche Verwaltungsbeamte normalerweise ordinierte Geistliche gewesen, die durch Beförderung auf einträgliche kirchliche Stellen belohnt wurden; the king's clerks erhielten eine Fülle der verschiedensten Pfründen, einschließlich Bistümer. Wyclif und andere prangerten die Folgen dieser Übung an: Ämterhäufung, Nichtresidenz, Nachlässigkeit im Amt, finanzielle Ausbeutung, „cäsarische Prälaten", die sich mehr um weltliche Dinge als um das geistliche Wohl ihres Klerus und ihres Kirchenvolkes kümmerten. Inden Jahrzehnten zwischen 1410 und 1440 aber kam dieses geistliche Monopol auf Verwaltungsämter fast völlig zum Erliegen; einige Beamte heirateten, während andererseits Laien die bisherigen Positionen ordinierter Geistlicher einnahmen. Dieser Umschichtungsprozeß erfaßte nicht nur den königlichen Dienst, sondern auch die Höfe weltlicher und geistlicher Herren. Zwar verwandte der König für die Regierungsgeschäfte weiterhin einzelne Kleriker, insbesondere solche mit abgeschlossenem Studium des römischen Rechts, deren Kenntnisse in der internationalen Diplomatie und der konziliaren Rechtsprechung unverzichtbar waren und die zu höchsten kirchlichen Würden gelangten; aber ein Großteil der Benefizien, die einst an mittlere Verwaltungsbeamte gefallen waren, wurde nun für Kleriker mit einem genuineren Interesse an kirchlicher Arbeit zugänglich. Während vor 1400 im englischen Domkapitel kaum Inhaber akademischer Grade zu finden waren, bildeten diese ab 1440 die Mehrheit der Kanoniker. Eine größere Zahl von Pfarrstellen wurde mit Graduierten besetzt. So verbesserte sich das Bildungsniveau der Pfarrgeistlichkeit und möglicherweise auch ihr Pflichtbewußtsein im Hinblick auf Residenz und Seelsorgetätigkeit.
Zahlreiche Vorschläge zur Reform der kirchlichen Mißstände wurden in Parlamenten vorgebracht, darunter auch die Forderung nach einer Beschneidung geistlicher Privilegien (1449, 1455); sie alle wurden vom König als eine Verletzung kirchlicher Freiheiten zurückgewiesen. 1489 jedoch schränkte ein Gesetz das Gerichtsstandsprivileg auf die höhere Geistlichkeit ein. Der Staatsrat Heinrichs VII. ( 1 4 8 5 - 1 5 0 9 ) erneuerte darüber hinaus die frühere Praxis bei Privatprozessen, durch Berufung auf die Statutes of Praemunire die Tätigkeit geistlicher Gerichte und vermutlich auch Appellationen an die römische Kurie zu behindern. Auch der eindeutig weltliche Charakter der Königsherrschaft im frühen 16. Jh. war ein Resultat des relativ verschwindenden Anteils von Klerikern in der Verwaltung, die in früheren Zeiten kirchliche Interessen hatten wahren können. Zwar erlebte der geistliche Einfluß noch einmal einen neuen Aufschwung, als Th. —• Wolsey das Amt eines Legaten a latere mit dem des königlichen Kanzlers ( 1 5 1 5 - 1 5 2 9 ) vereinigte, aber diese Situation war jetzt ein Anachronismus, der von der „politischen Nation" aufgrund von Wolseys hochfahrendem Wesen doppelt schwer ertragen wurde. Das Scheidungsbegehren —»Heinrichs VIII. gab schließlich den politischen Anstoß, der noch erforderlich war, um die Trennung zwischen England und Rom zu vollenden. Bei aller kritischen Unabhängigkeit vom König, die das Unterhaus in den „Reformationsparlamenten" verschiedentlich an den Tag legte, war doch seine antiklerikale Einstellung so durchschlagend, daß es in dieser Hinsicht mit Heinrich an einem Strang zog. Dieser konnte sich — außer im konservativen Norden — auf einen in zwei Jahrhunderten gewachsenen Laienkonsens stützen. Die Geistlichkeit war durch den unbegrenzten Umfang und die Strafdrohungen der praemunire-Regelung eingeschüchtert und ihre im römischen Recht geschulte Führung an den Gedanken königlicher Oberhoheit gewöhnt. 1532 erkannte sie Heinrich als supreme head of the Church of England an. In ihrer Lehre war diese Kirche immer noch katholisch, aber eine Reihe von Parlamentsbeschlüssen, gipfelnd in der Suprematsakte von 1534, bekräftigte die Freiheit des Königtums von jeder äußeren Macht und
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übertrug auf den König alle geistliche und jurisdiktionelle Gewalt, die bis dahin das Papsttum in England ausgeübt hatte. Bibliographie Edgar B. Graves, A Bibliography of English History to 1485, Oxford 1975, 7 5 0 - 8 9 8 . Quellen Canterbury Professions, hg. v. Michael Richter, 1973 (CYS 67). - Councils and Synods, hg. v. Christopher Nugent Lawrence Brooke u.a., I im Ersch. - Heresy Trials in the Diocese of Norwich 1 4 2 8 - 1 4 3 1 , hg. v. Norman P. Tanner, London 1977 (Camden Fourth Series 20). Literatur Gerald Edward Aylmer/Reginald Cant (Hg.), A History of York Minster, Oxford 1977. - Martin Brett, The English Church under Henry I, Oxford 1975. - Claire Cross, Church and People 1 4 5 0 - 1 6 6 0 , London 1976. - Richard G. Davies, Richard II and the Church in the Years of „Tyranny": Journal of Medieval History 1 (1975) 3 2 9 - 3 6 2 . - J e f f r e y Howard Denton, Walter Reynolds and Ecclesiastical Politics 1 3 1 3 - 1 3 1 6 . A Postscript to „Councils and Synods": Church and Government in the Middle Ages, hg. v. C. N. L. Brooke u. a., Cambridge 1976. - Ders., Robert Winchesley and the Crown, 1 2 9 4 - 1 3 1 3 , Cambridge 1 9 8 0 . - A r t h u r Geoffrey Dickens, The English Reformation, London 1 9 6 4 . John Compton Dickinson, The Later Middle Ages, London 1979 (An ecclesiastical history of England) (Lit.). - Richard Barrie Dobson, Durham Priory 1 4 0 0 - 1 4 5 0 , Cambridge 1973. - David Charles Douglas, William the Conqueror, London 1964. - Roy Martin Haines, The Church and Politics in H^-Century England, Cambridge 1978. - Robin Lindsay Storey, Diocesan Administration in 15 ,h -Century England, York 1972. - Ders., Recruitment of English Clergy in the Period of the Conciliar Movement: AHC 7 (1975) 2 9 0 - 3 1 3 . - Ders., Clergy and Common Law in the Reign of Henry IV: Medieval Legal Records, hg. v. R. F. Hunnisett/J. B. Post, London 1 9 7 8 , 3 4 2 - 4 0 9 . - Wilfred Lewis Warren, Henry II, London 1973. - John Robert Wright, The Church and the English Crown. 1 3 0 5 - 1 3 3 4 , Toronto 1980.
Robin Lindsay Storey 6. Theologie
und Spiritualität
—»Anselm von Canterbury war ein Theologe von europäischem Gewicht in der Tradition —»Augustins. In —»Johannes von Salisbury brachte England eine führende Gestalt der Renaissance des 12. Jh. und in Robert —»Grosseteste einen der bedeutendsten Philosophen und Theologen seiner Zeit hervor. John Peckham (Erzbischof von Canterbury 1279—1292) war ein tatkräftiger Reformer und Advokat päpstlicher Rechte, der sich zugleich als Naturwissenschaftler und Theologe gegen die Lehre des —»Thomas von Aquino von der —»Seele wandte und für die augustinische —»Erkenntnistheorie —»Bonaventuras eintrat. Roger Bacon (ca. 1214-ca. 1292) entwickelte die Grundlagen einer experimentellen —»Naturwissenschaft und verfaßte sein Opus niaius für Papst Clemens IV. als Hilfsmittel zur Reformierung der Priesterausbildung. Sein Denken ist weniger klar und originell, als sein Ruhm nahelegt. —»Duns Scotus lehrte kurze Zeit in England. TTiomas Bradwardine (ca. 1290-1349) war ein bemerkenswerter Mathematiker und Theologe, der einem gemäßigten Augustinismus anhing. In seiner Schrift De causa Dei contra Pelagium verteidigt er die unwiderstehliche Wirksamkeit des göttlichen Willens. Ähnliche Grundsätze verband Wilhelm von —»Ockham mit seinem einflußreichen —»Nominalismus. Neben dem Reformismus und Individualismus J. —»Wyclifs entfaltete sich innerhalb des englischen Schrifttums eine mystische Strömung (—»Mystik). Die Werke Richard Rolles von Hampole (gest. 1349) wurden viel gelesen und auch von lollardischen Kreisen benutzt. Die anonyme Schrift The Cloud of Unknotving (14. Jh.) empfahl eine kontemplative Annäherung an Gott durch Liebe, nicht durch den Verstand. Die Andachtsbücher Walter Hiltons (gest. 1396) genossen im 15. Jh. weite Verbreitung. Lady Julian of Norwich zeichnete 1393 unter dem Titel Revelations of Divine Love ihre Visionen von 1373 auf. Wie ihre Vorgänger ist sie direkt oder indirekt vom Neuplatonismus (—»Plato/Platonismus) und von —»Dionysius Areopagita abhängig. Im folgenden Jahrhundert trat Reginald Pecock (gest. 1461) als energischer Verteidiger der natürlichen Theologie und der Geistlichkeit gegen lollardische Angriffe auf. Der Humanismus der
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—»Renaissance wurde durch Männer wie William Grocyn ( 1 4 4 9 ? - 1 5 1 9 ) , John Colet (1466?—1519), J. —»Fisher und—»Erasmus von Rotterdam in England eingeführt, während vermögende Stifter wie Lady Margaret Beaufort (die Mutter Heinrichs VIII.) das neue Denken durch die Einrichtung von Colleges und Professuren unterstützten. Ein hervorragender Humanist war Th. —»Morus, der sich u. a. gegen —»Luther für die Theologie des Königs einsetzte. Quellen Roger Bacon, Opus maius, ed. J. H. Briggs, 3 Bde., Oxford 1897/1900. - T h o m a s Bradwardine, De causa Dei contra Pelagium, ed. Henry Savile, London 1618. - The cloud of unknowing, ed. Phyllis Hodgson, 1944 2 1958 (EETS 218) (Lit.). - Walter Hilton (Hylton), The scale of perfection, ed. Evelyn Underhill, London 1923. - Julian of Norwich, The revelations of divine love, ed. James Walsh, London 1961. - (St./Sir) Thomas More, Complete works of St. Thomas More, New Haven/London 1961 ff (Yale edition). - Reginald Pecock (Peacock), Repressor of over much blaming of the clergy, ed. C. Babington, 2 Bde., 1860 (RBMAS). - Richard Rolle, English writings, ed. Hope Emily Allen, Oxford 1931. Literatur Frances P. Alessio, Un secolo di studi su Ruggero Bacone (1848-1957): RCSF 14(1959) 8 - 1 0 2 . Hope Emily Allen, Writings ascribed to Richard Rolle hermit of Hampole: MLR 17 (1922) 2 1 7 - 2 2 7 . 3 3 7 - 3 5 0 ; 18 (1923) 3 8 2 - 3 9 3 . - M. Burrows, Linacre's catalogue of books belonging to William Grocyn: Collectanea, II 1 8 9 0 , 3 1 7 - 3 3 1 (OHS 16).-DecimaLongworthy Douie, Archbishop Pecham, Oxford 1952. - Alfred Brotherton Emden, Biographical register of the University of Oxford, 3 Bde., Oxford 1957/59. - Reginald Walter Gibson, St. Thomas More. A preliminary bibliography of his works and Moreana to the year 1750, New Haven/London 1961. - Klaus Guth, Johannes v. Salisbury, 1978 (MThS.H 20). - Emest William Hunt, Dean Colet and his theology, London 1956. - William Johnston, The mysticism of the cloud of unknowing, New York u. a. 1966. — David Knowles, The English mystical tradition, London 1960 = 1964. - Germain Marc'Hadour, L'univers de Thomas More. Chronologie critique de More, Erasme et leur époque, Paris 1 9 6 3 . - J o s e p h Edmund Milosh, The scale of perfection and the Engl, mystical tradition, Madison/Milwaukee/London 1966. - Paolo Molinari, Julian of Norwich, London 1958. - Heiko A. Oberman, Archbishop Thomas Bradwardine, Utrecht 1957. - ODCC 2 1974 (Lit.). - Roger Bacon. Essays on the 7th centenary of his birth, ed. Andrew George Little, Oxford 1914 (Lit.).-E. M. G. Routh, Sir Thomas More and his friends, London 1 9 3 4 . A. Teetaert, Art. Pecham: DThC 12/1 1 0 0 - 1 4 0 (Lit.) Stuart George Hall IV. Reformationszeit 1. Allgemeine Grundzüge 2. Heinrich VIII. (1509-1547) 3. Eduard VI. und Mariai. (1547-1558) 4. Elisabeth I. und Jakob I. (1558-1625) 5. Karl I., das Interregnum und die Restauration (1625-1662) (Bibliographien/Quellen/Literatur S. 641)
1. Allgemeine Grundzüge Während sich in manchen deutschen Städten die —»Reformation auf ein bestimmtes Jahr datieren läßt, umfaßt die englische Reformation nach knappster Rechnung den Zeitraum von 1529 bis 1571, in großzügigerer Betrachtung die drei Jahrhunderte zwischen dem Auftreten J. —»Wyclifs als Reformator (1378) und der die Weichen für die Zukunft stellenden Wiedererrichtung der episkopalen —»Kirche von England nach dem puritanischen Interregnum (1662). In dieser lang hingezogenen Verlaufsform spiegelt sich das Zusammenwirken politischer und religiöser Kräfte wider. M a n hat die englische Reformation einen „Staatsakt" genannt (Powicke). Veränderungen in Regierung und Politik führten wiederholt zu einer Revision und Erschütterung der Lehre und Verfassung der englischen Kirche. Aber die Reformation war mehr als lediglich ein politisches Ereignis. Durch neuere Forschungen sind ihr zutiefst religiöser Charakter und ihre soziale Bedeutung (Dickens, Reformation), zugleich aber auch der begrenzte Einfluß der protestantischen Ethik auf die breite Bevölkerung (Haigh, Evangelism; Thomas) herausgearbeitet worden. Der volkstümliche Protestantismus verdankte seine beharrliche Lebenskraft der Reformunwilligkeit der Amtskirche, die dafür verantwortlich war, daß das England des 17. Jh. im Zusammenhang der als
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—»Puritanismus bekannten Sekundärform des Protestantismus eine ungewöhnliche Fülle spontaner und ungeregelter religiöser Bewegungen hervorbrachte. Die englische Reformation hatte weder einen hervorragenden charismatischen religiösen Führer noch einen bestimmten theologischen Brennpunkt. Überdies war die nachreformatorische Kirche keine konfessionelle Kirche (—»Konfession) im strengen Sinne. Ihre Theologie und Liturgie waren ein eklektisches Gemisch aus einheimischen Traditionen und übernommenen Elementen der wichtigsten Schulen des kontinentalen Protestantismus. Angesichts des Fehlens einer maßgeblichen theologischen Norm gewann die englische Bibel eine unmittelbar prägende Wirkung. Diese Grundzüge der englischen Reformation bedeuteten kurzfristig eine stete Gefahr von Konflikten und langfristig die Chance eines religiösen Pluralismus und eines —»Latitudinarismus. 2. Heinrich VIII.
(1509-1547)
Der Beginn der englischen Reformation wird gewöhnlich auf das Jahr 1529 angesetzt, in dem —»Heinrich VIII. erstmals eine Interessenkoalition mit priesterfeindlichen und einem religiösen Wandel zugeneigten Gruppen herstellen konnte. Zu ihnen zählten die häretischen Lollarden, deren ungebrochene Stärke in den Mittel- und Unterschichten mancher Landesteile kurz zuvor durch eine Reihe bischöflicher Unterdrückungsmaßnahmen deutlich geworden war (Thomson) und die sich, wie neuere Untersuchungen gezeigt haben (Davis; Dickens, Lollards; Powell), in ihren traditionellen Hochburgen bis 1550/60 und vielleicht darüber hinaus relativ unbeeinflußt durch aktuelle Entwicklungen erhalten konnten. Lehren, die als eigentlich protestantisch zu bezeichnen sind, waren ab den 20er Jahren in den Universitäten aufgetaucht, insbesondere in —»Cambridge (Clebsch; Porter; Rupp). Mit der finanziellen Hilfe Londoner Kaufleute zog sich ein Protagonist dieses neiv learning, W. —»Tyndale, auf den Kontinent zurück, wo er ein englisches Neues Testament schuf und zum Druck brachte. Sein Werk sowie die vollständige —»Bibelübersetzung, die ihm folgte und die ein Mindestmaß offizieller Unterstützung erfuhr, waren protestantisch in Tendenz und Vokabular. Schwerer faßbar ist die eher diffuse antiklerikale Einstellung, die nach Ansicht einiger Historiker den Boden für einen religiösen Wandel in England bereitet hat (s. o. Abschn. III). Entsprechende Zeugnisse finden sich nur in Städten und vor allem in London (Brigden; Haigh, Aspects; Heath), wo ein verbreiteter Unmut herrschte, den sich Heinrich VIII. in dem 1529 einberufenen Reformationsparlament zunutze machen konnte (Lehmberg). Die antiklerikale Haltung des Königs hing nicht zuletzt mit seinem Wunsch zusammen, sich von Katharina von Aragon scheiden zu lassen, dem —»Clemens VII. — trotz der diplomatischen Bemühungen des Kanzlers Th. —»Wolsey - seine Zustimmung verweigerte. Davon abgesehen hatte aber bei Heinrich bereits eine erweiterte Auffassung seines königlichen Amts Gestalt angenommen (Nicholson; Scarisbrick), deren Anerkennung er mit Hilfe einer Reihe von Parlamentsbeschlüssen durchsetzte (Elton, Studies; Kelly, Submission). Eine kritische Rolle unter diesen spielt der 1533 erlassene Act in Restraint of Appeals, der jede formelle Verbindung der englischen Kirche mit Rom zerschnitt und diese einer Oberhoheit des Königs unterstellte, die 1534 in der Suprematsakte gerechtfertigt und definiert wurde (Elton, Reform). Nachdem somit Appellationen an den Papst ausgeschlossen waren, konnte der neue Erzbischof von —»Canterbury, Th. —»Cranmer, die Ehe des Königs trennen. Heinrich besaß nunmehr eine quasi-päpstliche Visitationsgewalt, die er an seinen neuen Minister, Thomas Cromwell (ca. 1485-1540), delegierte. Kurz zuvorhatte die Kirche eine gewisse Bereitschaft zur Erneuerung ihres Lebens gezeigt (Kelly, Jurisdiction), doch die Hinrichtung zweier entschiedener Gegner des königlichen Vorgehens, J. —»Fisher und Th. —»Morus (1535), erstickte jede Hoffnung auf eine Reform in konservativen Bahnen. Die Suprematie des Königs wurde anfänglich zur materiellen Ausbeutung der Kirche benutzt. Der gesetzlichen Auflösung der kleineren Klöster 1536 folgte drei Jahre später die Übergabe der noch verbliebenen Ordenshäuser (Knowles). Schon zuvor hatte das Parlament die Besteuerung geistlicher Einkünfte drastisch erhöht. Während im Norden die offenbare Bedrohung des Kirchenbesitzes 1536 zu dem als Pilgrimage of Grace in die Geschichte eingegangenen
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Aufstand beitrug, wurde anderwärts durch eine Kombination von Propaganda und Zwang eine fast widerstandslose Unterwerfung erreicht (Elton, Policy). Doch entbehrte das Programm Cromwells nicht jeglicher verantwortungsvoller und schöpferischer Züge, die sich als Vereinfachung und Zurückführung der Religion auf das Wesentliche etwa im Sinne des —•Erasmus deuten lassen (McConica; Zeeveld). Trotz der theologisch konservativen Haltung des Königs selbst wurde aus taktischen Erwägungen das Eindringen lutherischer Lehre zugelassen, was im Bishop's Book von 1 5 3 7 seinen Niederschlag gefunden hat (Rupp). Nach dem Sturz Cromwells gewann jedoch eine konservative politische Fraktion die Oberhand und verschaffte den traditionellen Anschauungen im Act ofSix Articles (1539) und einer revidierten theologischen Verlautbarung, dem King's Book ( 1 5 4 3 ) , erneute Geltung. 3. Eduard
VI. und Maria I.
(1547-1557)
Unter der Regentschaft des Protektors Somerset für seinen bei der Thronbesteigung erst neunjährigen, von protestantischen Tutoren erzogenen Neffen Eduard VI. wurde der Aufstieg des Protestantismus weiter gefördert. Die gesetzliche Aufhebung der Seelenmeßstiftungen (chantries) wurde durch die Verwerfung des —»Fegfeuers legitimiert. Es erschien eine Sammlung offizieller Predigten oder „Homilien", die einen ausdrücklich protestantischen theologischen Maßstab setzten. Vor allem durch Cranmer, dem dabei seine namhaften ausländischen Gäste M . —»Bucer, P. M . -»Vermigli und J . —•Laski ihre Hilfe liehen (Smyth), wurde eine liturgische Reform durchgeführt (Brightman; Brooks; Ratcliff; Ridley), die nach dem vorbereitenden English Order ofCommunioti ( 1 5 4 8 ) 1549 in der Veröffentlichung einer volkssprachlichen —»Agende, des —>Book of Common Prayer, gipfelte. Im Sommer 1 5 4 9 stürzte Somerset aufgrund einer breiten Welle von Unruhen, die sich im Westen des Landes gegen das Prayer Book erhoben. Sein Nachfolger John Dudley, Herzog von Northumberland, begünstigte noch weitergreifende Reformen, wie sie in der 2. Auflage des Prayer Book von 1552 hervortreten. 1551 nahm die englische Kirche ein formelles —»Glaubensbekenntnis, die Forty-Two Articles of Religion, an. Dagegen blieb der Versuch einer Reform des —•Kirchenrechts, die Reformatio Legum Ecclesiasticorum, toter Buchstabe. Nach dem Tode Eduards VI. (1553) wollte Northumberland, um die Fortdauer des protestantischen Regimes zu sichern, eine Großnichte Heinrichs VIII., Lady Jane Grey, zur Königin erklären. Sein Plan wurde jedoch durch die verbreitete und offenbar spontane Anerkennung der Tochter Heinrichs und Katharinas von Aragon, Maria, als rechtmäßiger Thronfolgerin vereitelt. Maria, die Katholische, machte aus ihrem Glauben und aus ihrer Loyalität gegenüber ihren habsburgischen Verwandten kein Hehl. Angesichts der nur oberflächlichen Protestantisierung des Landes gelang es ihrer Regierung ohne große Mühe, die Gesetze Eduards außer Kraft zu setzen und die Messe wieder einzuführen. Ein größeres Hindernis boten die Gesetze Heinrichs und der Bruch mit R o m , die erst rückgängig gemacht werden konnten, nachdem der neue Erzbischof von Canterbury, R. —•Pole, als Legat des Papstes widerstrebend auf eine Rückerstattung des eingezogenen Klosterguts verzichtet hatte. Marias anfängliche Popularität sank durch ihre Heirat mit —»Philipp II. von Spanien und deren politische Konsequenzen rasch in sich zusammen. Im selben Zuge wurden, und wenn nur aufgrund äußerer Verknüpfung, ihre Religionspolitik und vielleicht der Katholizismus selbst diskreditiert. Die marianische Reaktion, die sich als eine kurzlebige Episode erwies, vermochte in England wegen des fehlenden personellen und finanziellen Rückhalts keine Gegenreformation im Sinne einer geistlichen Erneuerung und Wiederbelebung einzuleiten (Crehan; Loades, Enforcement; Pogson) und außer einer organisatorischen Restauration wurde wenig erreicht. So lebt die Regierungszeit Marias im Gedächtnis der Nachwelt nicht durch positive Errungenschaften, sondern durch einen in Umfang und Strenge beispiellosen Feldzug zur Vernichtung des Protestantismus weiter. Zu den etwa 300 „marianischen Märtyrern" gehörten auch Cranmer und vier weitere Bischöfe; doch die Mehrheit der Opfer kam aus niedrigeren Gesellschaitsschichten. Daß die Verfolgung ihr Gegenteil bewirkte, ist dem Martyrologen John Foxe zu verdanken, dessen polemisches Riesenwerk Acts and Monuments (oder Book ofMartyrs) für spätere Generationen eine protestantische und nationalisti-
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sehe Ideologie bereitstellte (Haller, Foxe's Book). Foxe war einer der über 8 0 0 Protestanten, die aus dem marianischen England in verschiedene kontinentale Städte flüchteten, u. a. nach Straßburg, Frankfurt a. M . , Zürich und Genf. Die Emigration erhielt der künftigen protestantischen Restauration ihre Führer und hatte einen nachhaltigen Einfluß auf deren Einstellung (Garrett).
4. Elisabeth I. und Jakob
I.
(15S8-162S)
Das erste Parlament —»Elisabeths I. (1559) stellte im wesentlichen den „christlichen Staat" wieder her, wie er unter Eduard VI. bestanden hatte (neue Suprematsakte, Wiedereinführung des Prayer Book von 1552 mit einigen konservativen Modifizierungen, Thirty-Nine Articles of Religion). Eine quasi-offizielle Verteidigung gegen katholische Verleumdungen fand dieses Elizabethan Settlement 1562 in John Jewels Apologia Ecclesiae Anglicanae (Haugaard). Jede Beurteilung des Settlement muß diejenigen Aspekte kirchlichen Lebens mitberücksichtigen, die keine Veränderung erfahren hatten. So erhielt sich in der englischen Kirche eine bischöfliche Hierarchie (—»Bischof) mit ihren untergeordneten Amtsträgern und unreformierten geistlichen Gerichten. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Kirche war vielfach beschnitten, aber nicht prinzipiell umstrukturiert worden. Gesetze und Gewohnheiten bezüglich des Zehnt- und Patronatswesens blieben relativ unangetastet (Hill). Ein weiteres Symbol der Kontinuität war das Prayer Book mit seinen vergleichsweise traditionellen liturgischen Reformen. Insgesamt wurde der Anglikanismus (—»Anglikanische [Kirchen-]Gemeinschaft) aus dem Geist einer aristotelischen Mäßigung geboren. Die genaue Richtung der via media jedoch war das Resultat eines Kampfes zwischen der Königin, deren konservativer Haltung sich die Bischöfe beugen mußten, und den radikaleren Protestanten unter ihren Untertanen, die von nun an als „Puritaner" gebrandmarkt wurden (—»Puritanismus; Collinson, Movement; Neale). Ausgehend von einer Ablehnung kirchlicher Zeremonien, einschließlich der liturgischen —»Gewänder, erweiterte sich der puritanische Protest zu einem Angriff auf den Episkopat und die vermeintlich „papistische" Verfassung der Kirche. Ein weniger extremer Flügel verlangte eine „gottgefällig predigende Pfarrerschaft" {godly preaching ministry) und traf sich darin mit führenden Kirchenmännern bis hin zu einigen Bischöfen. So wurde Elisabeths zweiter Erzbischof von Canterbury, Edmund Grindal (1575—1583), seines Amtes enthoben, weil er sich weigerte, an Maßnahmen gegen die Tätigkeit von Predigern mitzuwirken (Collinson, Grindal). Dagegen beteiligte sich Grindais Vorgänger, Matthew Parker ( 1 5 5 9 - 1 5 7 5 ) , ebenso wie sein Nachfolger, John Whitgift ( 1 5 8 3 - 1 6 0 4 ) , an der Unterdrükkung, was zur Festigung eines puritanischen Nonkonformismus beitrug, der großenteils innerhalb der Staatskirche verblieb, gelegentlich aber auch zu Spaltungen führte (Watts; White). Im letzten Jahrzehnt der Regierung Elisabeths fanden die spezifischen Tugenden des Anglikanismus ihre klassische Rechtfertigung gegen den Puritanismus in R. —»Hookers Laws of Ecclesiastical Polity (s. dazu Studies). Als religiöses System freilich wurde der Puritanismus eine zunehmend machtvolle Kraft in der englischen Kultur (Haller, Rise). Trotz aller puritanischen Zweifel war die elisabethanische Kirche entschieden protestantisch und stieß daher bei einigen unverbesserlichen „Papisten" auf Ablehnung. Die Exkommunikation der Königin durch -»Pius V. (1570) mahnte gewissenhafte Katholiken an eine Loyalitätsbindung, die mit ihren politischen Verpflichtungen unvereinbar war (Meyer). Durch das missionarische Wirken von Seminarpriestern und —»Jesuiten konsolidierte sich eine Gruppe englischer Katholiken, die nach ihrer Verweigerung der Teilnahme am Gemeindegottesdienst „Rekusanten" genannt wurden. Seitdem sonderte sich die kulturell isolierte katholische Gemeinschaft, die vielleicht vier Prozent der Bevölkerung umfaßte, vom Hauptstrom des englischen Lebens ab (Bossy). Während der Zeit freilich, in der Maria von Schottland Ansprüche auf den englischen Thron erhob und Philipp von Spanien das Land militärisch bedrohte, wurden die Katholiken von der protestantischen Regierung als Gefahr betrachtet. Die Zahl der wegen angeblichen Hochverrats Hingerichteten bewegt sich in derselben Höhe wie die der marianischen Märtyrer. Im 17. Jh. dauerte eine kaum rationale Katholikenangst fort und bildete die Grundlage einer militant-protestantischen Weltsicht (Lamont).
Die Thronbesteigung Jakobs VI. von Schottland als Jakob I. (1603) weckte Erwartungen bei Puritanern wie Katholiken. Doch die Pulververschwörung von 1605 machte jede ka-
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tholische Hoffnung auf eine bessere Zukunft zunichte, und auch die Puritaner wurden enttäuscht, insofern der König trotz seiner Vermittlerrolle auf der Konferenz von Hampton Court zwischen Vertretern des Episkopats und der puritanischen Opposition (Cardwell, History; Curtis; Usher) wenig Interesse an einer Kirchenreform nach ihren Vorstellungen zeigte. Im Gegenteil, der Druck auf sie wurde unter Erzbischof Richard Bancroft ( 1 6 0 4 - 1 6 1 0 ) noch verschärft (Babbage). Jakob selbst freilich war Calvinist (und im übrigen ein recht beachtlicher Theologe). 1610 ernannte er den Calvinisten George Abbot zu Bancrofts Nachfolger, und 1618 schickte er Abgeordnete auf die —»Dordrechter Synode. Solange er lebte, war Calvinismus beinahe gleichbedeutend mit Orthodoxie, und die Kirche erfreute sich einer Zeit relativer Ruhe, in der sich das Niveau ihrer geistigen und seelsorgerlichen Tätigkeit hob (Collinson, Lectures). Mit dem Regierungsantritt Karls I. jedoch (1625) verschob sich die Situation: Der König und sein Günstling George Villiers, Herzog von Buckingham, wandten ihre Unterstützung der arminianischen Partei (—> Arminius/Arminianismus) zu, die den Calvinismus verwarf und sich für die Uberordnung der Frömmigkeit über die Predigt und eine gesellschaftliche und politische Aufwertung der Geistlichkeit einsetzte, was in den Augen ihrer Gegner einer kryptokatholischen Verschwörung gleichkam (Tyacke, Arminianism). 5. KarlL,
das Interregnum
und die Restauration
(1625—1662)
1633, im Jahr der Berufung W. —»Lauds zum Erzbischof von Canterbury, bildeten die Arminianer die Mehrheit auf der Bischofsbank und benutzten ihr Ubergewicht, um den Calvinismus und die von ihm geprägten Formen religiösen Lebens als „fraktionistischen" Puritanismus zu denunzieren. Da andererseits diese „Puritaner" ihren Glauben für orthodox und rechtmäßig hielten, kam es zu einer heftigen Reaktion (Tyacke, Puritanism). Als Karl I. 1640 nach elfjähriger Pause das Parlament wieder einberief, speiste sich der Angriff gegen seine Verwaltung nicht zuletzt aus einem protestantischen Radikalismus verbunden mit Vorwürfen gegen die Bischöfe. In dem folgenden Bürgerkrieg drängte das Parlament auf einen religiösen und kirchenlichen Wandel, dessen Einzelheiten die Westminster Assembly of Divines regeln sollte. Durch die Niederlage der Royalisten wurden die Grundpfeiler des Anglikanismus, einschließlich Bischofsamt und Prayer Book, hinweggefegt. Sogleich jedoch brachen Meinungsverschiedenheiten um die Beschaffenheit einer neuen Verfassung des religiösen Lebens auf. Die Mehrheit der Versammlung von Westminster, und mit ihr ein Teil der führenden Parlamentsmitglieder sowie deren schottische Bundesgenossen, waren presbyterianisch eingestellt (—»Presbyterianer), während eine andere Partei, die „Erastianer", einen verwässerten Presbyterianismus begünstigte. Die Armee wiederum und ein mit ihr verbündeter Teil des Parlaments neigte den Independenten zu, die für Gemeindeautonomie und —•Toleranz gegenüber allen Glaubensrichtungen, ausgenommen nur die extremsten Sekten, eintraten. Mit der „Säuberung" des Parlaments durch die Armee und der Hinrichtung des Königs (Jan. 1649) war die Sache der Presbyterianer verloren. Unter dem Protektorat O. —»Cromwells (1653—1658) wurde der Regierungsapparat einer nationalen Kirche auf ein Minimum reduziert und eine Vielfalt religiöser Parteiungen geduldet, wovon bisweilen auch Anglikaner und selbst Katholiken profitierten. Gleichwohl ruhte die Herrschaft der Puritaner ganz auf dem Schwert Cromwells. Nach dessen Tod scheiterten alle Bemühungen um eine Erhaltung der Republik an inneren Widersprüchen, die 1660 zur Wiedereinsetzung der Monarchie in der Person Karls II. führten. Die Restauration der Stuarts strebte anfänglich eine gemäßigte und offene Kirchenverfassung an. Binnen zwei Jahren jedoch war die englische Kirche auf einer exklusiv anglikanischen Grundlage wiedererrichtet; alle Geistlichen (zusammen über 2000), die sich der Uniformitätsakte von 1662 nicht fügten, wurden in der Folge ausgeschlossen. Nach jüngsten Forschungen (Green) ist der Triumph des Anglikanismus nicht so sehr auf eine gezielte königliche bzw. amtskirchliche Planung oder auf einen Staatsstreich „laudianischer" divines (Bosher), sondern vielmehr auf die reaktionäre Stimmung in weiten Kreisen der grundbesitzenden Klasse zurückzuführen. Am Bartholomäustag 1662 trennten sich die Wege von Angli-
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kanismus und N o n k o n f o r m i s m u s , „ K i r c h e " und „ K a p e l l e " ; die so entstandene Spaltung ist seitdem nie mehr völlig überwunden worden. Bibliographien Bibliographie de la Réforme 1 4 5 0 - 1 6 4 8 . Ouvrages Parus de 1940 à 1955. IV. France-AngleterreSuisse. Commission Internationale d'Histoire Ecclésiastique Comparée, Leiden 1963.-Bibliography of British History Stuart Period, 1 6 0 3 - 1 7 1 4 , hg. v. Godfrey Davies, Oxford 1928 2 1 9 7 0 (hg. v. Mary Frear Keeler).-Bibliography of British History Tudor Period, 1 4 8 5 - 1 6 0 3 , hg. v. Conyers Read, Oxford 1933 2 1959. - The Bibliography of the Reform 1 4 5 0 - 1 6 4 8 Relating to the United Kingdom and Ireland for the Years 1 9 5 5 - 1 9 7 0 , hg. v. Derek Baker, London 1975. - Christopher Haigh, Some Aspects of the Recent Historiography of the English Reformation: Stadtbürgertum u. Adel in der Reformation, hg. v. Wolfgang J . Mommsen, Veröff. des Dt. Hist. Instituts London, Stuttgart, V 1979. 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im Zeichen
des Latitudinarismus
(1660-1714)
Der Wiederaufbau, der die vordringlichste Aufgabe der —»Kirche von England in der Restaurationszeit war, stand mehr im Zeichen des Wandels als der Kontinuität. Z w a r blieben die Kirchenordnung und das —»Booik of Common Prayer in Geltung, aber die calvinistische Orientierung, die England bis dahin mit den —»Reformierten Kirchen anderer Länder verbunden hatte, wurde aufgegeben. Apologeten wie Edward Stillingfleet ( 1 6 3 5 - 1 6 9 9 ) entwickelten eine Theologie, die gegen den Enthusiasmus der Sektenfrömmigkeit, gegen katholisches Beharren auf der Unzuverlässigkeit der Vernunft und auf der Notwendigkeit einer unfehlbaren Autorität und gegen Skepsis und —»Atheismus eines T h . —»Hobbes auf die Vernünftigkeit des Glaubens abhob. Ahnväter dieser—»Apologetik waren neben R . —»Hooker, der sie begründete, W . —»Chillingworth, die Platoniker von —»Cambridge und die niederländischen Arminianer (—»Arminius/Arminianismus); sie verknüpfte anglikanisches Denken mit den Erkenntnissen der aufkommenden —»Naturwissenschaften, repräsentiert durch die Royal Society und gläubige Naturforscher wie R . —»Boyle. Theologen von Henry M o o r e ( 1 6 1 4 - 1 6 8 7 ) bis J o h n Norris ( 1 6 5 7 - 1 7 1 1 ) bemühten sich, die zeitgenössische Philosophie, vor allem das W e r k von Malebranche (—»Okkasionalismus) und —»Descartes, in die Theologie zu integrieren. Gott offenbarte sich demnach in der Schöpfungsordnung als der Ursprung von Harmonie und Vernunft, wie man sie in der religiösen und politischen Stabilisierung der Restaurationsperiode verkörpert sah. Sittlichkeit beruhte nicht auf dem göttlichen Schöpfungswort, sondern auf einem ewigen Gesetz und war das Zentrum aller Religion. Die zunehmende Betonung der —»Ethik, die nicht zuletzt durch die moralische Laxheit der Zeit forciert wurde, spiegelt sich im Auftreten der Reformation of Manners- und der Charity School-Bewegung wider. In weitgehender Abkehr vom Dogma stützte dieser —»Latitudinarismus, der seinen klassischen Ausdruck in den Arbeiten der „Physikotheologen", den Trägern der Boyle Lectures (vgl. T R E 7,103), fand und ein Jahrhundert lang durch die Predigten von Erzbischof John Tillotson ( 1 6 3 0 - 1 6 9 4 ) popularisiert wurde, die Wahrheit des Christentums auf die natürliche Religion und die Beweiskraft von
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Weissagungen und Wundern. Ein mächtiger Gegner erwuchs dieser Form des Christentums im —»Deismus, der die natürliche Theologie und die optimistische Anthropologie der Latitudinarier akzeptierte, den Begriff der Offenbarung jedoch verwarf. Die Schriften von John Toland '1670-1722) und Anthony Collins (1676-1729) griffen den Latitudinarismus an dieser offenen Stelle an. Andere Denktraditionen wurden, ohne abzureißen, diesen Tendenzen assimiliert. Der —»Chiliasmus etwa blieb, vor allem im Zusammenhang antikatholischer Polemik, weiter im Schwange, wurde aber selbst in seiner Hochburg —»Cambridge allmählich — durch M o o r e und I. —»Newton - zu einer verallgemeinerten Fortschrittslehre entmythologisiert. Zugleich sahen diese Jahrzehnte die Hochblüte einer entschieden anglikanischen Patristik. Die Arbeiten von John Pearson ( 1 6 1 3 - 1 6 8 6 ) über die Ignatiusbriefe, von John Fell ( 1 6 2 5 - 1 6 8 6 ) über Cyprian und von George Bull ( 1 6 3 4 - 1 7 1 0 ) über die vornizänischen Kirchenväter verteidigten den Anglikanismus jeweils gegen Dissenter, R o m bzw. —»Sozinianer. Besonders nach 1 6 9 5 , als die Kirche ihre Zensurgewalt über Druckerzeugnisse verlor, entbrannte ein langanhaltender Streit um die Trinitàtslehre, der in der Veröffentlichung von S. —»Clarkes arianischer Scripture Doctrine of the Trinity (1712) gipfelte. Die Beschäftigung mit der Urkirche löste Bewegungen zur Kirchenreform und Erneuerung der öffentlichen Sittlichkeit aus und wirkte weit in gallikanische (—»Gallikanismus) und pietistische Kreise (—»Pietismus) auf dem Kontinent hinein. Erzbischof William Wake ( 1 6 5 7 — 1 7 3 7 ) korrespondierte mit —»Bossuet und Du Pin sowie mit —»Leibniz und D. E. —»Jablonski über die Frage der Wiedervereinigung der Kirchen, auch wenn diese —»Unionsbestrebungen ohne greifbaren Erfolg blieben. Ein bemerkenswertes Moment dieses Zeitraums ist auch die Herausbildung des Dissentertums als eine Dauererscheinung. Scharfe Gesetzesbestimmungen (der fälschlich so genannte Clarendon Code) führten nach 1 6 6 2 zum Ausschluß von 2 0 0 0 Pfarrern mit ihren Gemeinden aus der Kirche, konnten aberu. a. wegen der toleranten Neigungen Karls II. und Jakobs II. die Ausbreitung dieser und noch radikalerer Gruppen außerhalb der Staatskirche nicht verhindern. Die Toleranzakte von 1 6 8 9 gewährte den protestantischen Dissentern Religionsfreiheit, und bis 1715 gab es über 1 2 0 0 presbyterianische (—»Presbyterianer), independente (—»Kongregationalismus) und baptistische (—»Baptisten) Gemeinden, die zusammen mit —»Quäkern und einer Reihe kleinerer Gruppen vielleicht 6 Prozent der Bevölkerung umfaßten. Ein Gutteil der Spitzenleistungen nonkonformistischer Literatur stammt aus dieser Zeit, so vor allem die Werke von R. —»Baxter, J. —»Bunyan, J . —»Milton, George Fox ( 1 6 2 4 - 1 6 9 1 ) , William Penn ( 1 6 4 4 - 1 7 1 8 ) und Isaac Watts ( 1 6 7 4 - 1 7 4 8 ) . 2. Das Jahrhundert
der Erweckimg
(1715-1800)
Mit der Regierungszeit Georgs 1 . ( 1 7 1 4 - 1 7 2 7 ) hatte das kirchliche Leben in England einen toten Punkt erreicht. Der Latitudinarismus war zur niederkirchlichen Partei (Low Church) abgesunken, die ganz auf den Erastianismus der Whigs eingeschworen war; und das durch die Non-Jurors (Eidesverweigerer) ausgelöste Schisma, das aus der Verweigerung des Treueids gegenüber Wilhelm III. durch 6 Bischöfe und 4 0 0 Geistliche erwachsen war, hatte trotz der relativ geringen Zahl der Beteiligten die hochkirchliche Partei (High Church; —»Anglokatholizismus) gespalten und deren weitgehende Erstarrung in einem liturgischen Traditionalismus und einer sehnsüchtigen Rückwendung zur vorrevolutionären Gesellschaft herbeigeführt. Das Jahrhundert brachte keine bedeutenden Theologen hervor; was an theologischer Originalität vorhanden war, äußerte sich allenfalls in der trinitarischen Häresie, die sowohl die Kirche von England als auch die rasch vom Arianismus zum Unitarianismus fortschreitenden presbyterianischen Dissentergruppen erschütterte. Der typische Theologe der Zeit ist William Paley (1743-1805), der von einer natürlichen „Uhrmacher"-Theologie und den äußeren „Beweisen" bzw. in seiner Ethik vom Eigeninteresse ausging. Abweichende Stimmen wie die des mystischen Non-Jurors W. —»Law verhallten weithin ungehört. Unter den Apologeten steht vielleicht am höchsten der Bischof von Durham, J. —»Butler, der als Dissenter aufgewachsen war und der in seiner Analogy und seinen Rolls Sermons das —»Gewissen und die moralische Verpflichtung zum Handeln in den Mittelpunkt stellte.
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Ohne Zweifel die vitalste religiöse Entwicklung der Zeit war die Erneuerungsbewegung des Evangelical Revival (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen). Ihre Wurzeln liegen in den Religious Societies der Restaurationsjahre (Society for Promoting Christian Knowledge [1695]; Society for the Propagation ofthe Gospelin Foreign Parts [1701]), im —»Puritanismus und in der Enttäuschung mancher hochkirchlicher Geistlicher, die nach einem verinnerlichten Kirchenverständnis strebten. In breiterer Perspektive war sie Teil einer internationalen Strömung, mit Vorläufern und Parallelen in den lutherischen Kirchen Europas wie in den reformierten Kirchen Neu-Englands. Seit dem Ende des 17. Jh. war es in Wales und England zu „Erweckungen" gekommen, aber der große Durchbruch begann in den 30er Jahren des 18. Jh., hauptsächlich, wenn auch keineswegs allein, in Verbindung mit dem Wirken von John und Charles Wesley sowie von G. —»Whitefield (1714—70). J. —»Wesley entstammte einem hochkirchlichen Elternhaus mit puritanischem Hintergrund und wurde 1738 unter dem Einfluß von in England arbeitenden Herrnhutern (—»Brüdergemeine) zu einer höchst persönlichen Frömmigkeit bekehrt, die um die Gedanken der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und der Heilsgewißheit kreiste. Wesleys genuin anglikanische Ablehnung des Calvinismus brachte ihn in Gegensatz zu Whitefield und der neuenglischen Erweckung unter J. —»Edwards. Dieser arminianische Streitfall legte den Keim für die Spaltung der Evangelikaien in den 70er Jahren. Kennzeichen der methodistischen Erweckungsbewegung waren eine tiefempfundene Herzensfrömmigkeit („personal religion" statt „outward religion"), die auf dem Glauben an das Heil gründete, und eine Hinwendung zu allen Menschen bei weitgehender Vernachlässigung der herkömmlichen Gemeindestruktur, die sich in Predigtversammlungen unter freiem Himmel ausdrückte und der Bewegung die Feindschaft der Amtskirche eintrug. Für die von der Erweckung Erfaßten schuf Wesley eine glänzende Organisation, die sich aufbaute aus örtlichen „Klassen" unter Führung von Laien, größeren „Gesellschaften" mit reisenden Predigern und einer übergeordneten „Konferenz" unter Wesleys Vorsitz, aus der nach seinem Tod die Jahreskonferenz der Prediger {„legal Hundred") hervorging (—»Methodisten). Ihrem ursprünglichen Selbstverständnis nach fromme Gemeinschaften innerhalb der Kirche von England entwickelten die „methodistischen" Gruppen rasch eigene Gepflogenheiten, deren Ausbildung vor allem durch häufige lokale Zusammenkünfte und die Verwendung der großenteils von Charles Wesley ( 1 7 0 8 - 1 7 8 8 ) gedichteten Hymns for People called Methodists begünstigt wurde. Vorbilder der Hymns waren das lutherische —»Kirchenlied sowie die Gemeindegesänge der Dissenter Isaac Watts ( 1 6 7 4 - 1 7 4 8 ) und Philip Doddridge ( 1 7 0 2 - 1 7 5 1 ) ; vor allem der letztere erfreute sich bei Evangelikaien in England und anderwärts großer Beliebtheit, und sein Rise and Progress of Religion in the Soul wurde zu einem Klassiker der Bewegung. Ch. Wesleys Lieder gaben der methodistischen Glaubenserfahrung genauen und leidenschaftlichen Ausdruck und sind sicherlich ihre edelste Frucht. Von seinem Bruder empfing die entstehende Kirche überdies eine Reihe maßstabsetzender Predigten über Lehrfragen, ein veröffentlichtes Missionstagebuch sowie in der Christian Library eine Sammlung von Standardtexten katholischer, pietistischer und puritanischer Herkunft. Symbolische Schritte zur Trennung von der Kirche von England wurden mit der Zulassung methodistischer Versammlungshäuser ab den 50er Jahren und mit der Ordinierung J. Wesleys zum Bischof von Amerika 1784 unternommen. In seinem Todesjahr 1791 zählten seine Anhänger in Großbritannien 7 2 0 0 0 Personen, hauptsächlich aus den Unter- und Mittelschichten.
Unter dem Einfluß der Erweckungsbewegung erlebte auch das Dissentertum einen Neuaufschwung. Innerhalb der alten Bewegung hatten nicht zuletzt rationalistische Tendenzen zur Polarisierung zwischen einem „hypercalvinistischen" und einem weithin unitarischen „rationalen" Flügel geführt, dessen bekanntester Repräsentant Joseph Priestley (1733-1804) war. Eine gemäßigte, von Baxter herkommende Position vertrat Doddridge, der als Pfarrer in Northampton tätig war; unter den dortigen Dissentern entstand eine vermittelnde Theologie, die Independenten und Baptisten den Übergang vom Calvinismus zu einem missionarischen Arminianismus ermöglichte. Ein Ergebnis dieser Umorientierung war die Gründung der Baptist Missionary Society durch W. —»Carey (1792), der ersten aus einer langen Reihe ähnlicher Gesellschaften mit volksmissionarischer, missionarischer, karitativer und pädagogischer Zielsetzung. Diese Vereinigungen, die häufig die Grenzen der Denominationen überschritten, wurden zur wichtigsten Verkörperung evangelikaler Christlichkeit in England und zu einem einflußreichen Faktor des Wandels: Evangelikaie unter der
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Führung des anglikanischen Bischofs W. —»Wilberforce und der mit ihm zusammenarbeitenden „Clapham-Sekte" kämpften in vorderster Front für die Abschaffung der —»Sklaverei. Aus Aktivitäten dieser Art gewann das viktorianische Christentum viel von seinem Gepräge. 3. Die Herausforderungen
des viktorianischen
Zeitalters
(1800-1914)
Das 19. Jh. konfrontierte das kirchlich verfaßte Christentum mit dem Problem einer massiven Verstädterung (—»Industrialisierung), das die Kirche besonders im Nordwesten des Landes unvorbereitet traf. Der institutionell sehr viel flexiblere Nonkonformismus dagegen vermochte sich aufgrund seiner hergebrachten Affinität zu Voluntarismus und freiem Unternehmertum den neuen Verhältnissen schneller anzupassen, und was die Kirchen in den ersten 40 Jahren des Jahrhunderts an Zuwachs erlebten, blieb im wesentlichen auf diesen Bereich beschränkt: Die Mitgliederzahl der Methodisten stieg zwischen 1801 und 1841 von 1,6 auf 4,5 Prozent der Bevölkerung an, während die der Kirche von England in derselben Zeit stagnierte oder sogar zurückging. Seit den 30er Jahren jedoch leitete der Londoner Bischof Charles James Blomfield (1786—1857) ein anglikanisches Programm der Erneuerung und der Schaffung zusätzlicher Kirchen, Schulen und Gemeinden in die Wege, das den Niedergang bremste und eine Expansion eröffnete, die bis zum Ende des 19. Jh. mit dem Bevölkerungswachstum mehr als Schritt hielt. Gleichwohl offenbarte die kirchenstatistische Befragung von 1851, daß nur 47 Prozent der Bevölkerung, davon die Hälfte Nonkonformisten, den Gottesdienst besuchten und daß die Fernbleibenden weithin der Arbeiterklasse zugehörten. Die Armen standen den Kirchen weniger feindlich als gleichgültig gegenüber (—»Kirchenentfremdung), und wenngleich städtische Lebensbedingungen viel zu diesem Ergebnis beigetragen haben mögen, lassen die Zahlen eher auf ein langfristiges Versagen als auf einen plötzlichen Erdrutsch schließen. Ein Hauptaspekt der religiösen Situation des viktorianischen Zeitalters war die Rivalität der Denominationen, die durch Prozesse wie die Beseitigung der Diskriminierung von Katholiken und Dissentern, den Aufstieg der (zum Dissentertum neigenden) Mittelschichten, die irische Einwanderung und eine Konversionswelle in —»Oxford befördert wurde. Der Nonkonformismus verstärkte seine Stellung weiter und vertiefte die Kluft zur Staatskirche durch sein Bündnis mit der liberalen Partei. Die relative Wirkungslosigkeit der anglikanischen Volksmission unter den städtischen Armen dürfte nicht zuletzt durch die überwiegend konservative soziale Einstellung der Staatskirche bedingt gewesen sein. Die von Frederick Denison Maurice ( 1 8 0 5 - 1 8 7 2 ) gegründete christlich-sozialistische Bewegung (—»Sozialismus) propagierte ein Ideal der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Gruppen, war aber zu schlecht organisiert und zu naiv, um Bestand zu haben. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kam unter Anglikanern wie Dissentern ein „soziales Christentum" in unterschiedlichem Gewände in Mode, das freilich gegen die verbreitete Unkirchlichkeit nur wenig auszurichten vermochte. Der spektakulärste Versuch zur Gewinnung der Massen, die Evangelisationsbewegung des Revivalism, war weitgehend ein amerikanischer Import. Ihre erfolgreichsten Prediger, Dwight Lyman Moody und Ira David Sankey, zogen riesige Menschenmengen an und trugen in den 70er Jahren zu einer Wiederbelebung des minierweile erschlafften Evangelikaiismus bei; eine Wirkung auf die außerhalb der Kirche Stehenden blieb aber auch ihnen versagt.
Einen entschiedenen Bruch mit der steril gewordenen theologischen Tradition Paleys führte S.T. —»Coleridge herbei, der kantianische, platonische und pantheistische Elemente zu einer spezifisch romantischen Theologie verband (—»Romantik). Coleridge betonte die geistige Beschaffenheit aller Wirklichkeit und die Bedeutung des Gewissens, der Einbildungskraft und der poetischen Schau für die Wahrheitserkenntnis. In seiner doppelten Frontstellung gegen versteinerte Orthodoxie und Rationalismus beeinflußte er sowohl die Traktarianer als auch die Tradition der Broad Church. Die 1833 entstandene traktarianische oder Oxford-Bewegung (—»Hochkirchliche Bewegungen), der es um die göttliche Autorität der Kirche, die zentrale Rolle von Sakrament, Symbol und Bekenntnis sowie die universale Gemeinschaft der Christenheit ging, war eine romantische Reaktion gegen den liberalen Zeitgeist und gegen Regierungseingriffe in religiöse Angelegenheiten mit dem erklärten Ziel, anglikanische Exklusivität in einer Epoche des religiösen Pluralismus zu behaupten.
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Von akademischem, konservativem Ursprung übte sie bald einen beträchtlichen Einfluß auf die Gestaltung des Gemeindegottesdienstes, auf die religiöse bildende Kunst und auf das anglikanische Verständnis der Kirche und ihrer Geschichte aus. Von ihren drei Hauptgründern blieben E.B. —»Pusey und John Keble ( 1 7 9 2 - 1 8 6 6 ) in der Kirche von England, während J. H. —»Newman römisch-katholisch und schließlich Kardinal wurde. Als der schöpferischste Kopf der Gruppe formulierte er die klassische Theorie der anglikanischen via media zwischen Protestantismus und Katholizismus; sein wichtigster theologischer Beitrag aber waren sein Gedanke einer Entwicklung der Glaubenslehre und seine Vorstellung von der persönlichen und moralischen Natur religiöser Wahrheit, wie sie sich in seinem Kardinalatsmotto cor ad cor loquitur ausspricht. In der zweiten Hälfte des 19. Jh., vor allem unter Erzbischof Archibald Campbell Tait (1811 - 1 8 8 2 ) , erfuhr die von den Traktarianern gepflegte Liturgie scharfe Kritik und mancherlei Verfolgungen und half mit, den wechselseitigen Argwohn zwischen Dissentern und Anglikanern zu verschärfen.
Deutlicher von Coleridge leitet sich die Strömung der Broad Church her. Mit ihren Vertretern Thomas Arnold (1795-1842), F.D. Maurice und B. —»Jowett stand diese Tradition für theologischen —»Liberalismus, die Aufnahme modernen Denkens durch die Theologie und eine allumfassende Weite der Kirche von England. Jowett war einer der Hauptmitarbeiter an den umstrittenen Essays und Reviews (1860), in denen einige der Ergebnisse der zeitgenössischen Bibelkritik, in recht vergröberter Form, erstmals einem breiten englischen Publikum nahegebracht wurden. Unmittelbar nach —»Darwins Origin of Species (1859) und der dadurch ausgelösten Kontroverse um die Autorität der biblischen Schöpfungsgeschichte erschienen, trug das Buch seinen Teil zu der Glaubenskrise bei, unter der zahlreiche Viktorianer (darunter auch Darwin selbst) litten; viele dieser Zweifler, wie z.B. John Ruskin und Leslie Stephen, stammten im übrigen aus frommen evangelikalen Elternhäusern. Von ihrer positivsten Seite zeigte sich die Broad Church in Maurice. Im allgemeinen jedoch reduzierte sie das Christentum auf Ethik, wofür besonders das Werk von Matthew Arnold (1822-1888) typisch ist; im 20. Jh. wurden ihre Vertreter gewöhnlich „Modernisten" genannt. Bis 1889 hatte die Broad Church jede Richtung verloren, doch eine Mischung aus idealistischer Philosophie und traktarianischer Betonung der Inkarnation, modifiziert durch Maurice'schen Piatonismus, brachte immerhin den Sammelband Lux Mündt von Ch. —»Gore, Henry Scott Holland (1847—1918) u.a. hervor, in dem sich Offenheit gegenüber den Ergebnissen der —»Bibelwissenschaft und Treue gegenüber traditionellen Lehraussagen miteinander verbanden und der für die nächsten 50 Jahre englischer Theologie wegweisend bleiben sollte. Als die wichtigste theologische Leistung des Zeitraums wird freilich trotz Lux Mundi die exegetische Arbeit des „Triumvirats von Cambridge" B.F. —»Westcott, Joseph Barber Lightfoot (1828-1889) und F.J.A. - » H o r t zu gelten haben. 4. Kirche in einer säkularisierten
Gesellschaft
(1914-1980)
Die Geschichte des englischen Christentums im 20. Jh. ist eine Geschichte des Abstiegs. Trotz aller Bemühungen der viktorianischen Kirchen und trotz der fortschreitenden Professionalisierung der Geistlichkeit sämtlicher Denominationen setzte sich der stetige Rückgang von Gottesdienstbesuch und Mitgliederzahl weiter fort, der bereits in den letzten Jahren des 19. Jh. deutlich geworden war. Dieser Abwärtstrend kam nach dem 1. Weltkrieg vorübergehend zum Stillstand, begann dann aber von neuem in den 30er Jahren und beschleunigte sich rapide ab 1960. Auch im öffentlichen Leben wurde die Kirche zunehmend an den Rand gedrängt. Der Nonkonformismus hatte politisches Gewicht durch seine Assoziierung mit dem viktorianischen Liberalismus gewonnen und wurde in den Zusammenbruch der liberalen Partei im 20. Jh. hineingezogen. Was die Staatskirche betrifft, so wurde sie im selben Maße, in dem die Entscheidungsbefugnis in kirchlichen Angelegenheiten vom Parlament an die (1970 eingerichtete) Generalsynode überging, zu einer Denomination unter anderen. Ein Indiz für den verringerten Einfluß traditionell christlicher Werte in der englischen Gesellschaft sind die unlängst erlassenen Gesetze über Scheidung und Schwangerschaftsabbruch. Innerhalb der Kirchen selbst ist das Jahrhundert gekennzeichnet durch eine wachsende Beschäftigung mit dem Problem der sozialen Ordnung, durch theologischen Liberalismus,
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ökumenisches Engagement und durch liturgische und dogmatische Reform. In den ersten Jahrzehnten wirkten die christliche Studentenbewegung (Student Christian Movement) und der YMCA (—»Jugend, Vereinswesen) als Vermittler sowohl des ökumenischen als auch des sozialen Gedankens, doch die Schlüsselfigur in beiden Bereichen war Erzbischof W. —»Temple, der maßgeblich für die Einbindung der anglikanischen Soziallehre in einen „christlich-sozialistischen" Rahmen verantwortlich war und dessen Mitarbeit in der ökumenischen Bewegung (—»Ökumene) Tendenzen in der Kirche von England zusammenfaßte, die ihren Anfang 1920 mit dem Lambeth Appeal genommen hatten. Hauptergebnisse des ökumenischen Aufbruchs waren die Gründung der Methodistischen Union 1932 und die der Vereinigten Reformierten Kirche (Kongregationalisten und Presbyterianer) 1972 (—»Unionen, kirchliche). Das Projekt einer Union zwischen den Methodisten und der —»Anglikanischen (Kirchen-)Gemeinschaft scheiterte 1968. Kritiker haben diese Vereinigungen als ein Symptom von Schwäche und Nervosität gewertet, als eine Folge der unaufhaltsamen Säkularisierung der Gesellschaft. Sie haben in keinem Fall den Schrumpfungsprozeß der beteiligten Kirchen aufzuhalten vermocht. Während sich die englische Theologie, wie in den Arbeiten von F. C. -»Burkitt und John Bunaby (1891—1978) dokumentiert, fortgesetzt als patristische Wissenschaft kennzeichnen läßt, sind auf anderen Gebieten bemerkenswerte Beiträge geliefert worden: in der Systematischen Theologie (—»Dogmat i l von Oliver Quick ( 1 8 9 5 - 1 9 4 4 ) und Lionel Thomton ( 1 8 8 4 - 1 9 6 0 ) , in der -»Religionsphilosophie von Charles Raven ( 1 8 8 5 - 1 9 6 4 ) , in der -»Moraltheologie von Kenneth Kirk ( 1 8 8 6 - 1 9 5 4 ) und in der -»Bibelwissenschaft von Robert Henry Lightfoot ( 1 8 8 3 - 1 9 5 3 ) und C.H. -»Dodd. Viele theologische Denkansätze sind in der Tradition von S. T. —»Coleridge und Matthew Arnold auch außerhalb der Grenzen der eigentlichen theologischen Arbeit von Vertretern verschiedener Literaturgattungen weiterentwickelt worden. Hier sind der Romancier David H. Lawrence ( 1 8 8 5 - 1 9 3 0 ) , der Dramatiker Thomas S. Eliot ( 1 8 8 8 - 1 9 6 5 ) sowie auf einer anderen Ebene auch Charles Williams ( 1 8 8 6 - 1 9 4 5 ) und Clive S. Lewis ( 1 8 9 8 - 1 9 6 3 ) zu nennen. Vielleicht die originellsten Theologen waren die römisch-katholischen Modernisten George Tyrell ( 1 8 6 1 - 1 9 0 9 ) und Friedrich von Hügel ( 1 8 5 2 - 1 9 2 5 ) (-»Modernismus) sowie der Kongregationalist Peter Taylor Forsyth ( 1 8 4 8 - 1 9 2 1 ) , dessen Werk in einigen Aspekten auf K. -»Barth vorausdeutet. In den 30er Jahren liebäugelten englische Theologen mit dem Barthianismus (z.B. Sir Edwyn Hoskyns [ 1 8 8 4 - 1 9 3 7 ] ) ; am bedeutsamsten aber war das Umsichgreifen des Liberalismus in allen Kirchen nach dem 2. Weltkrieg. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in der Veröffentlichung von J. A. T. Robinsons Honest to God (1963) (—»Dogmatik), einem Amalgam aus —»Bultmann, —»Tillich und —»Bonhoeffer, das den Gedanken eines „religionslosen Christentums" in weiten Kreisen bekannt machte und in seinem Bereich alle Auflagenrekorde brach.
Ein weiterer Faktor der Niederbrechung alter Grenzen und der Tendenz zu einer Vereinheitlichung christlichen Lebens in England war die liturgische Reform (—»Liturgie). Die verstärkte Betonung des —»Abendmahls als der Mitte des Gottesdienstes bei Anglikanern und Freikirchen, die Verwendung derselben Ubersetzungen liturgischer Texte und die gemeinsame Anlehnung liturgischer Revisionen an die von der liturgischen Bewegung (—»Liturgische Bewegungen) ausgearbeiteten Formen - eingeschlossen die römisch-katholische Missa Normativa — haben die Kirchen zugleich näher zueinandergeführt und von der traditionalistischen Volksreligion der unkirchlichen Mehrheit entfremdet. Vielleicht als Antwort darauf läßt sich ein gewisser Aufschwung sektiererischer und reaktionärer Ausprägungen des Christentums, etwa des konservativen Evangelikaiismus, beobachten, der sich gegen die Anpassung ethischer und sozialer Einstellungen an die der Gesamtgesellschaft zur Wehr setzt. So erlebten alle größeren Denominationen in den 70er Jahren ein Erstarken der —»Pfingstbewegung. Ein Wurzelboden dieser charismatischen Erweckung, die durch ihre zumeist vernunftfeindliche Haltung das Dilemma der Theologie vermeidet und sich durch die Berufung auf direkte und häufig spektakuläre Erfahrungen gegen die Kräfte der „Säkularisierung" immunisiert, sind vor allem die gebildeten Mittelschichten. Man wird abwarten müssen, ob der Erfolg derartiger Strömungen von Dauer ist und, wenn ja, ob sie im Rahmen ihrer oft widerstrebenden Mutterkirchen verbleiben werden. Literatur Zu 1.: Paul B. Anderson, Science in Defence of Liberal Religion. A study of Henry More's attempt to link Seventeenth Century Religion with Science, London/New York 1923. - John C. H. Aveling, The
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England VI
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Protestantische Dissenters
Katholiken
Kirchenprovinz Canterbury Kirchenprovinz York
2123362 333892
93151 15525
11878 1978
Summe
2457254
108 676
13856
Es ist durchaus möglich, daß die Zahlen die Größe der —»Kirche von England etwas übertreiben, sie wurden im allgemeinen jedoch für glaubwürdig gehalten. Trotzdem ist es
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England VI
merkwürdig, daß die Relation der drei Gruppen in den beiden Kirchenprovinzen nahezu identisch sein soll. Deutlich ist jedoch, daß die protestantischen Dissenters in den südöstlichen Grafschaften stärker vertreten waren, während das Schwergewicht der römisch-katholischen Kirche im Westen lag. Nach der Toleranzakte von 1689, die den protestantischen Dissenters Religionsfreiheit gewährte, hörten die Anglikaner damit auf, die Zugehörigkeit zu ihrer Kirche durch die kirchlichen Gerichtshöfe zu erzwingen. Seit dieser Zeit, so läßt sich sagen, ist darum die Kirchenzugehörigkeit in England freiwillig geworden, und die kirchliche Statistik erhielt ihre moderne Bedeutung. Trotzdem sank die Zahl der Dissenters Anfang des 18. Jh. und wurde 1750 auf 50000 geschätzt (im Vergleich zu 300000 im Jahr 1662). Seit den 40er Jahren des 18. Jh. führte die —» Erweckungsbewegung zu einer beträchtlichen Belebung des religiösen Lebens, in deren Mittelpunkt die Wesleyan Methodists standen. Im Jahre 1767, als sie zum ersten Mal gezählt wurden, gab es in England 2 2 4 1 0 Wesleyan Methodists. Bis 1800 hat sich diese Zahl auf 88334 nahezu vervierfacht, und in den folgenden zwanzig Jahren verdoppelte sie sich noch einmal und erreichte 179902. Die Erweckungsbewegung ergriff auch die älteren protestantischen Dissenters, so daß im Jahr 1810 die Zahl der Nonkonformisten auf insgesamt 312000 geschätzt wurde. Seitdem bestand etwa die Hälfte der englischen Nonkonformisten aus —• Methodisten; die andere umfaßte die im 17. Jh. entstandenen Gruppen: —»Presbyterianer, Indepententen (—» Kongregationalismus), —> Baptisten und—»Quäker. Die Zahl der Katholiken blieb im 18. Jh. unverändert: 1770 wurde sie auf 80000 geschätzt (vgl. Bossy). Ende des 18./Anfang des 19. Jh. wuchs die englische Bevölkerung ganz außerordentlich. Hierin mag ein Teil der Erklärung für die enorme nonkonformistische Expansion liegen. Die Kirche von England nahm jedoch an diesem Wachstum nicht teil und hat, abgesehen von einer Wiederbelebung nach 1840, den damals verlorenen Boden nie wiedergewinnen können. Es gibt Belege aus den Diözesen Oxford und York, wonach die Zahl der Abendmahlsteilnehmer am Osterfest im 18. Jh. auf ein Viertel gesunken ist und überhaupt niedriger als 5% der Gesamtbevölkerung war. In dieser Zeit wurde das Abendmahl vielerorts nur vierteljährlich gefeiert, ohne daß der wöchentliche Gottesdienstbesuch groß war. Die Geistlichen in Lincolnshire beklagten im Jahr 1800 das ständige Fernbleiben großer Teile der Bevölkerung dieser Gegend, während das umständliche rechtliche Verfahren zur Unterteilung der Pfarrbezirke die Errichtung neuer Gemeinden in den wachsenden Städten verzögerte. Am 31. März 1851 wurden zum ersten Mal in der Geschichte Englands von der Regierung die Gottesdienstbesucher gezählt, was für England und Wales folgende Zahlen ergab (vgl. Thompson): Kirche von England Methodisten Andere Nonkonformisten Katholiken Andere Juden
morgens 2541244 707921 1076678 252783 65 946 2910
nachmittags 1890764 645895 545008 53967 47299 1202
abends 860543 1063537 984366 76880 77205 1918
Summe
4647482
3184135
3064449
25,9
17,8
17,1
In % der Bevölkerung
Es ist nicht festzustellen, wieviele Personen mehr als einen Gottesdienst besuchten, so daß die Gesamtzahl nur geschätzt werden kann. Vermutlich blieben mehr als die Hälfte der potentiellen Kirchgänger fern, und der Gottesdienstbesuch war vor allem in den Städten sehr niedrig. Die Stärke des Nonkonformismus lag offen zutage, und die Zahl der Katholiken wuchs mit der irischen Einwanderung. Nach 1851 sank die Zuwachsrate der Nonkonformisten, während diejenige der anglikanischen Teilnehmer am österlichen Abendmahl anstieg, vor allem in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jh. Die Zahl der Nonkonformisten war etwa 1906 am höchsten, in dem Jahr
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des .liberalen Erdrutsches' bei den Wahlen und kurz nach der walisischen Erweckung 1904/05: Sie lag in diesem Jahr bei 1 4 4 0 0 6 8 (darunter 5 6 % Methodisten); die Zahl der anglikanischen Teilnehmer am österlichen Abendmahl betrug 1 9 8 8 0 0 0 . Die römisch-katholische Bevölkerung in England und Wales wurde 1908 auf 1 6 6 1 3 7 5 veranschlagt. Seitdem ist für die protestantischen Kirchen in England der Gesamttrend rückläufig, und dies gilt in verschärftem Maße für die Nonkonformisten. Ihre Zahl sank von 1910 bis 1925, stieg dann wieder an, um seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre erneut zurückzugehen, abgesehen von einem kurzen Aufschwung Ende der 50er Jahre. Der Kirche von England erging es etwas besser: Die Zahl der österlichen Abendmahlsteilnehmer sank während des 1. Weltkrieges, stieg dann aber an, bis sie Ende der 20er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Nachdem sie in den 30er Jahren nach unten geschwankt hatte, fiel sie im 2. Weltkrieg steil ab, stieg jedoch ebenso steil bis in die Mitte der 50er Jahre wieder an. Seitdem fällt sie mit zunehmender Beschleunigung ab. — Allein die römisch-katholische Bevölkerung ist ständig gewachsen, obwohl sich die betreffenden Zahlen von den genannten protestantischen Statistiken grundsätzlich unterscheiden und weil sie auch von einer höheren Geburtenrate beeinflußt ist. Um 1970 wurde die katholische Bevölkerung für größer geschätzt als die Zahl der Mitglieder der größeren protestantischen Kirchen. Die Zahlen sehen folgendermaßen aus:
1910 1927 1939 1956 1970
Anglik. Teilnehmer am österl. Abendmahl (England) 2212000 2399419 1997820 2167503 1631506
Größere Nonkonformistische Kirchen (England) 1432965 1422988 1318214 1 157725 955 9 1 8
Röm.-kath. Bevölkerung (England und Wales) 1 7 1 0 0 0 0 (1911) 2055 860 2375196 3169700 4010210
Seit 1945 haben die Sekten, wie z.B. die —»Mormonen und die —»Zeugen Jehovas, den aufsehenerregendsten Zuwachs erlebt. Beide sind um 1970 jeweils fast genau so groß wie die Presbyterian Church of England. Für Großbritannien gibt es folgende Zahlen: 1938 1956 1970
Mormonen 6393 9691 68217
Zeugen Jehovas 4601 30342 59705
Einige Soziologen haben in der Sektenfrömmigkeit die einzige lebensfähige religiöse Antwort auf den Prozeß der —»Säkularisierung sehen wollen. Da die Religion jedoch eher zu einem Randphänomen innerhalb der Gesellschaft geworden ist, gibt es möglicherweise auch ein ausgeprägteres Bewußtsein der Geschiedenheit von der allgemeinen Kultur, sogar in den großen Kirchen. Die hier abgedruckten Statistiken können dies selbstverständlich nicht belegen, und die sinkende Kirchenmitgliedschaft und Beteiligung am kirchlichen Leben wird vermutlich dessen grundlegend veränderten gesellschaftlichen Stellenwert in sich bergen. Schließlich sei noch darauf hinzuweisen, daß mit der Einwanderung aus Asien und den Westindischen Inseln seit 1948 auch der Islam, der Hinduismus, die Sikh-Religion, der Buddhismus und die .Schwarzen Kirchen' nach England gekommen sind, wodurch das religiöse Leben vor allem in den inneren Bezirken der Städte völlig umgestaltet wurde. Literatur John Bossy, The English Catholic Community, 1 5 7 0 - 1 8 5 0 , London 1975, 1 8 2 - 1 9 4 . - Andrew Browning, English Historical Documents, London, VIII 1954, 4 1 3 - 4 1 6 . - Robert Currie u . a . , Churches and Churchgoers, Oxford 1977. - David M . Thompson, The Religious Census of 1851: The Census and Social Structure, hg. v. R. Lawton, London 1978, 2 4 1 - 2 8 6 .
David M . Thompson Englische Fräulein —»Orden, Neuere Katholische
654
Ennodius von Pavia
Ennodius von Pavia 1. Leben
2. Werk
(473/74-S21) 3. Nachwirkung
(Anmerkungen/Quellen/Literatur S. 656)
1. Leben Magnus Felix Ennodius wurde 473 oder 474 in Gallien, ziemlich sicher in Arles, wo auch seine Schwester lebte, geboren (Ep. V1I,8[234,24 V; 178,3 H]). 1 Er selbst bezeichnete sich als Gallier (Ep. 1,2 [9,21 V; 4,14 H]). Sein Vater Firminus (Dictio 7 [78,26 V; 447,6 H]) gehörte zum senatorischen Adel und hatte verwandtschaftliche Beziehungen zur Hocharistokratie Italiens (Nachweise bei Stroheker 156 [mit Stammbaum: 234]; Martindale 393.1330). Früh verwaist, wird Ennodius von einer Schwester seines Vaters in Ticinum (Pavia) erzogen, so daß er von Italien als seiner heimatlichen Erde spricht (Carm. 1,6 [4,27 V; 520,1 H]). Nach dem Tode seiner Tante findet der mittellose 4 8 9 / 4 9 0 Aufnahme bei einer wohlhabenden Familie und verlobt sich mit der Tochter. Zur Heirat scheint es nicht gekommen zu sein (Vogel VI; Lumpe, Ennodiana 201 gegen Magani; Ferrai). Uber seine Ausbildung in den profanen Wissenschaften wissen wir nichts Genaues. In jungen Jahren fühlt er sich zur Poesie hingezogen (Opusc. 5 [301,15 V; 395,1 f H]). In Ep. V,14 (183 V; 137 H) erwähnt er Servilius als seinen geistlichen Lehrer. Die Gründe für seinen Eintritt in den Klerikerstand — wir finden ihn spätestens 494 in der Umgebung des Bischofs Epiphanius von Pavia - sind nicht ganz auszumachen, doch kaum auf Empfehlung des Faustus, mit dem er erst seit der Palmensynode von 502 in enger Beziehung stand (Lumpe, Ennodiana 201 gegen Vogel V). Silvester und Bonosus sind seine Vorbilder im Klerus von Pavia (Vita Epiphani [88,27 V; 339,18 H]). Nach 495 (Rede zum 30-jährigen Episkopat des Epiphanius: Dictio I), aber vor 499 (Bürgschaft für Papst Symmachus) wird er Mitglied der Kirche von Mailand unter Bischof Laurentius, dessen Verwandtschaft mit Ennodius nicht gesichert ist (Lumpe, Ennodiana 202 gegen Vogel IX). Zum Diakon ist er erst nach der Palmensynode im Oktober 502 und nicht schon Anfang 502 ernannt worden (Lumpe 202 f gegen Vogel X). Die Mailänder Zeit ist gekennzeichnet durch kirchenpolitische und literarische Aktivitäten. Schon 4 9 4 begleitete er Epiphanius zu Gundobad an den burgundischen Hof. Im laurentianischen Schisma (498—506) ergreift er zusammen mit dem oberitalienischen Episkopat gezielt für Symmachus Partei. In der Folge werden seine Dienste mehrfach von den Päpsten Symmachus und Hormisdas beansprucht (Townsend/Wyatt; Ertl). Es bleibt unklar, wieso er nicht Nachfolger des Laurentius (gest. 512) geworden ist. Nach seiner Wahl zum Bischof von Pavia 513 reist er zweimal im Auftrage von Papst Symmachus nach Konstantinopel. Sowohl die erste Mission im August 514 zusammen mit Fortunatus von Catania wie die zweite im April 517 mit Pergamus von Misenum verlaufen erfolglos. Nach dem erhaltenen Epitaph ist Ennodius am 17. Juli 521 in Pavia begraben worden. 2. Werk Das bunte Gemisch von Gedichten, Traktaten, Epigrammen und Briefen in der handschriftlichen Uberlieferung (übernommen in der Editio princeps und neuestens bei Vogel) ist nicht einfach ein wirres Durcheinander. Abgesehen von einigen Umstellungen entspricht die handschriftliche Unordnung der gegen 500 Einzelschriften den chronologischen Eintragungen in ein Kopialbuch, wie Tanzi, Hasenstab und Sundwall nachgewiesen haben. Einzelne Schriften sind sicher noch von Ennodius veröffentlicht worden, aber die vorliegende Gesamtedition stammt nicht von ihm selbst. Denn es sind u. a. eine Reihe von Anweisungen an die Abschreiber stehen geblieben, die sicher nicht für die Publikation bestimmt waren (Nachweise bei Schanz-Hosius 133; Vogel X X X ) . Seine literarische Tätigkeit übersteigt zwar nicht das Jahr 513, den vermuteten Beginn seines Episkopats, endet aber nicht schon nach seiner schweren Krankheit im Sommer 511, wie in der Confessio angedeutet ist (302,33 f V; 398,6 f H). Der Zugang zum vielfaltigen Werk wird wesentlich erleichtert durch die seit Sirmond traditionelle und auch von Härtel übernommene Einteilung der Schriften nach Sachgruppen. 2.1. Die 297 Briefe, von Sirmond in neun Bücher eingeteilt, machen über die Hälfte des Gesamtwerkes aus. Unter dem Kreis der Adressaten finden sich Männer wie Frauen, Angehörige des gehobenen Standes wie Boethius, Festus und Faustus, die Päpste Symmachus und Hormisdas und Verwandte wie seine Schwester Euprepia. In den zwar sorgfältig gearbeiteten, aber wenig originellen Dankes-, Trost-
Ennodius von Pavía
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und Empfehlungsschreiben in diesen Bittgesuchen, Glückwünschen und Freundschaftsbezeichnungen, macht sich der Einfluß des Quintus Aurelius Symmachus geltend (Nachweise bei Dubois 8 0 - 8 3 ) , doch erreichen die Briefe nicht mehr die Höhe der christlichen Briefliteratur des 4. und 5. Jh. Sie werden aber im Mittelalter ihren Einfluß als Stilmuster geltend machen (Peter 162). 2.2. Opuscula miscella. Unter diesen zehn Traktaten finden sich die wesentlichen Beiträge des Ennodius zur kirchlichen und politischen Zeitgeschichte: 1) Panegyricus dictus clementissimo regi Theodorico. - 2) Libellus adversus eos qui contra synodum scribere praesumpserunt. - 3) Vita beatissimi viri Epiphani episcopi Ticinensis ecclesiae. - 4) De vita beati Arttoni monachi. - 5) (Eucharisticum de vita sua) Confessio. — 6) Ennodius Ambrosio et Beato. - 7) Praeceptum quando iussi sunt omnes episcopi cellulanos habere. - 8) Petitorium quo absolutus est Gerontius puer Agapiti. — 9) Benedictio cerei I. - 10) Benedictio cerei II. In der Rede auf Theoderich zeigt sich die euphorische Stimmung in klerikalen Kreisen nach dem Sieg über die Gepiden (507). Die Eroberung Italiens wird als Befreiungswerk von welthistorischer Bedeutung gefeiert und der Rommythos vom goldenen Zeitalter reaktiviert. Die Vita Epiphani steht in der Verlängerung der christlichen Bischofsbiographie und der profanen Panegyrik. Es stehen nicht bloß die Einzeltugenden im Vordergrund, sondern der chronologische Ablauf des Lebens will vor allem die politischen Aktivitäten des Bischofs und seinen Umgang mit den Machthabern in den Vordergrund stellen. Die mirakulösen Züge sind auf ein Minimum beschränkt, ebenso in der Antonius-Vita, die Lotter als bedeutende literarische Quelle für die letzte Phase der Auflösung des weströmischen Reiches in der Donauprovinz Noricum Ripense ausgewertet hat. Das Eucharisticum, richtiger Confessio ( 3 0 2 , 3 3 V; 3 9 8 , 4 H), steht in Ton und Grundfärbung —»Augustins Confessiones nahe, doch ist dieser kurze Lebensbericht von 5 1 2 eher eine unbeholfene Nachahmung. (Ennodius kennt Augustins Confessiones: Ep. 1,4 [ 1 1 , 3 7 V; 8 . 2 4 H]). In der didaktischen Wegleitung an zwei junge Freunde, Ambrosius und Beatus (Opusc. 6), bald nach 5 1 1 , wird ein Erziehungsideal vorgestellt, das von der Gottes- und Nächstenliebe geprägt ist und in Anlehnung an die —»Goldene Regel mit der Herzensreinheit verbunden wird ( 3 1 1 , 4 f V ; 4 0 2 , 2 H). Das Werk ist Zeuge des spätantiken Schultypus mit dem ungebrochenen Glauben an die Macht des Wortes und die Notwendigkeit klassischer Bildung, die den Geist zu veredeln vermag (vgl. Ep. V , 1 0 [ 1 8 0 , 1 1 V; 134,8 HJ). Die Rhetorik wird als höchste Kunst gerühmt. Sie regiert die Welt ( 3 1 4 , 2 2 V; 4 0 8 , 1 0 H). Sie ist Muttergrund der Poetik, Jurisprudenz, Dialektik und Arithmetik ( 3 1 4 , 2 0 V; 4 0 7 , 2 4 H). Die körperliche Ertüchtigung darf nicht fehlen, doch sind Vorbehalte gegenüber körperlicher Bestrafung angemeldet. Innerhalb der christlichen Tugenden ( V e r e c u n d i a , Castitas, Fides), die mit den —»Artes liberales vermischt sind, gilt der—Glaube als Höhepunkt ( 3 1 2 , 2 7 V; 4 0 4 , 2 3 H). In Ep. 11,19 an Constantius ( 7 0 f V; 6 0 f H) wird auch deutlich, daß Ennodius nicht Anhänger der augustinischen Gnadenlehre ist; der menschlichen Freiheit im Glaubensakt ist mehr Raum gelassen und dem gefallenen Menschen die Möglichkeit zum Guten nicht abgesprochen (—»Gnade, —»Willensfreiheit). Die kirchenpolitische und konziliengeschichtliche Bedeutung des Ennodius drückt sich besonders in seinem Libellus pro synodo aus (Opusc. 2). Darin verteidigt er Symmachus und die Palmensynode vom 2 3 . Okt. 5 0 2 gegenüber der Schrift der Gegenpartei des Laurentius (Adversus synodum absolutionis incongruae; 4 9 , 2 9 V; 2 8 9 , 1 5 H), die in präzisen Darstellungen die Widersprüche im Verhalten des Papstes und der Konzilsverhandlungen bloßlegte. Mit einer an Gelasius geschulten Dialektik (Ertl 67) vertritt er die Nichtjudizierbarkeit des Papstes durch die Synode und gibt sich als unbedingter Verfechter der päpstlichen Suprematie, die sich auch in der ausschließlichen Verwendung des Titels „Papa" für den römischen Bischof niederschlägt (—»Papsttum). Dabei wird ganz massiv das seit—»Leo I. d. Gr. ausgewertete Erbdenken für die apostolische Sukzession nutzbar gemacht. Der Schatz der von —»Petrus vererbten Verdienste hebt den Mangel an eigenen Verdiensten auf (dazu: J . Fellermayr, Tradition u. Sukzession im Lichte des röm.-antiken Erbdenkens. Unters, zu den lat. Vätern bis auf Leo d. Gr., München 1979). Im Zellulanendekret (Opusc. 7), veranlaßt durch Anschuldigungen gegen Papst Symmachus, zeigt sich ein verstärkter Trend zur vita communis der Kleriker. Um Verleumdungen
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Ennodius von Pavia
zu entgehen, wird Bischöfen und Klerikern vorgeschrieben, Hausgenossen als Zeugen des Lebenswandels um sich zu haben. 2.3. Dictiones. Die 28 Reden, eingeteilt in Sacrae ( 1 - 6 , darunter zwei Modellpredigten) Scholasticae ( 7 - 1 3 ) , Controversiae ( 1 4 - 2 3 ) und Ethicae ( 2 4 - 2 8 ) , zeugen von der Vitalität der klassischen Bildung und verraten gleichzeitig eine christliche Überformung (Fontaine; Navarra). In der variantenreichen Thematik sind alle Stilrichtungen der damaligen Rhetorik vertreten. In den sogenannten Schulreden zur Einführung der Schüler beim Grammatiker wird neben Lob der natürlichen Anlagen auch an die Neuwerdung in der Taufe erinnert (Dictio 13 [310,28 V; 467,8 f H]). In Dictio 6 (in Christi nomine) erscheint seine Sorge um die kirchliche Einheit. 2.4. Carmina. Die neun Gedichte im ersten Buch zeichnen sich eher durch inhaltsleeren Formalismus als durch poetische Empfindsamkeit aus. Und keiner der zwölf Hymnen, die mit ihren jambischen Dimetem an Ambrosius erinnern, ist in die Liturgie eingegangen. Die 151 Epigramme im 2. Buch enthalten neben Beschreibungen und Inschriften einige Obszönitäten, die auf Catull hinweisen. 3.
Nachwirkung
Die Wirkungsgeschichte ist bei Vogel ( X X V I - X X V I I ) und Fontaine ( 4 2 0 ) festgehalten. Spuren der Vita Epiphani finden sich im 8. Jh. in der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus (Parallelen bei Vogel X X V I I ) , im 11. Jh. bei Landulf von Mailand, im 12. Jh. bei Gerold von Cambrai. Seine Gesandtschaft im Osten wird erwähnt von Nikolaus I., Ep. 8 6 (PL 1 1 9 , 9 4 2 ) und zuvor im Brief des Abtes Florian von R o m e n u m an Bischof Nicetius von Trier (abgedruckt bei Vogel L I X ) , w o auch auf die vornehme Abstammung und die Beredsamkeit hingewiesen ist. Ein Nachhall seiner Dichtkunst ist bei —» Venantius Fortunatus und in der karolingischen Renaissance belegt (Fontaine 4 2 0 ) . Papst —»Gregor VII. benützt im Dictatus papae das Libellus pro synodo ((Opusc. 2), während Arnulf von Lisieux am Ende des 12. Jh. den Stil seiner Briefe als anspruchsvoll und gesucht dunkel beurteilt (abgedruckt bei Vogel L X f ) .
1
Anmerkung Es wird bei den Zitaten die seit Sirmond traditionell gewordene Einteilung nach Gattungen beibehalten, jedoch Seite und Zeile der Ausgaben von Vogel (V) und Härtel (H) beigefügt. Quellen
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Entfremdung I
657
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I. Philosophisch 1. Ältere Begriffsgeschichte 2. Ältere Begriffsgeschichte und moderner Entfremdungsbegriff 3. Entfremdung als Thema melancholischer Kultur- und Gesellschaftskritik (Rousseau) 4. Geschichtsfortschritt und Entfremdung in der deutschen Geschichtsphilosophie (Herder, Kant, Schiller, Humboldt, Fichte) 5. Der Deutsche Idealismus als Ursprungsort der modernen Entfremdungslehre (Fichte, Schelling, Hegel) 6. Von der Kritik religiöser Selbstentfremdung zur Kritik politischer und ökonomischer Entfremdung (Feuerbach, Bruno Bauer, Heß) 7. Entfremdung bei Marx 8. Westliche Entfremdungsdiskussion 9. östliche Entfremdungsdiskussion 10. Ende der Entfremdungsdiskussion? (Quellen und Literatur S. 670) 1. Ältere
Begriffsgeschichte
Das deutsche Wort „Entfremdung" hat seine Vorläufer im griechischen (cui-) ÒXXOTQÌIDOV; (lat. [ab-] alienatici). Luther verdeutscht alienare als .entfremden' (Eph 4,18), bei Grimmelshausen findet sich „veralienieren" in der Bedeutung von „umtauschen" (Bloch 277). Der griechische und der lateinische Begriff dienten zur Bezeichnung ökonomischer, rechtlicher, medizinischer, politischer und theologischer Sachverhalte. In juristischer und ökonomischer Bedeutung meinten sie die Veräußerung von Besitz und die Übertragung von Rechten (Aristoteles, rhet. 1362a22; Cicero, top. 5,28; Seneca, benef. 5,10). In der Sprache der Medizin war alienatio ein Synonym für Geisteskrankheit (dementia, insania) (Celsus, med. 4,2,2; Origenes, princ. 3,3,4); als mentis alienatio wurde jedoch auch eine mystische, visionäre Erfahrung bezeichnet (Augustin, gen. ad litt., PL 34, 458a ff; Thomas von Aquin, S.th. I/II,
Entfremdung I
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28,3). Politisch umschrieb der Begriff diedisiunctio oder aversatio eines Einzelnen oder Standes von der Gemeinschaft (Aristoteles, pol. III, 1258a40). Analog wird von Paulus die atienatio der Heiden gekennzeichnet, welche vor der Erlösung durch Christus von der Gemeinschaft mit Israel ausgeschlossen waren (Eph 2, 1 2 - 1 3 ; 4, 18; F. Büchsei: ThWNT 1 [1934] 265 f). 2. Ältere Begriffsgeschichte
und moderner
Entfremdungsbegriff
Entfremdung steht seit der Antike für Prozesse und Resultate des Fremdwerdens und Fremdseins von Personen und Sachen, für das Sich-Fremdwerden und Außersichgeraten sowie für die Trennung von einer politischen oder religiösen Gemeinschaft, und nahezu alle modernen Entfremdungslehren spiegeln die eine oder andere der traditionellen Bedeutungen wider. Selbst in der sozialwissenschaftlichcn und psychologischen Forschung unserer Tage läßt sich eine Fortführung der disiunetio-aversatiound der dementia-insania-Tndition erkennen (Ludz 11). Andererseits ist es ausgesprochen fragwürdig, ob sich mit Hilfe der älteren Begriffsgeschichte Aufschluß über die moderne Entfremdungsproblematik gewinnen läßt. Ob Entfremdung ein Problem in anthropologischer Dimension darstellt, ob sie das Signum nur einer Epoche bildet, ob sie allein den Kapitalismus oder Kapitalismus und Sozialismus prägt, ob ihr Zentrum in ökonomischen, politischen, psychologischen, ethischen oder theologischen Problemen zu suchen i s t - all das sind Fragen, zu deren Klärung die ältere Begriffsgeschichte nur in begrenztem Umfang beitragen kann. Zwar liegt die Vermutung nahe, daß die alte Tradition des Begriffs Entfremdung als ein Problem des Menschen überhaupt aufscheinen läßt, der stets Erfahrungen des Fremdwerdens von Personen oder Sachen hat machen können. Aber mit der modernen Entfremdungsproblematik scheint mehr gemeint zu sein, als es die älteren Begriffe anklingen lassen. Selbst die beachtliche theologische Tradition des Entfremdungsbegriffs läßt sich nicht von vornherein als Schlüssel zum Problem der Entfremdung verwenden. Autoren, die einen religiösen Ursprung des Entfremdungsbegriffs annehmen und ihn mit dem Topos von Sündenfall und Erlösung (Topitsch; Hook 39 f), mit platonischer Ideenlehre oder Fetischglauben (Fromm) in Verbindung bringen, können sich nur auf sachliche, nicht aber begriffsgeschichtliche Bezugspunkte berufen. Der Entfremdungsbegriff hatte in der Theologie keine dogmarische Bedeutung. Seine Verwendung war bei Gnostikem und Kirchenlehrern nicht einheitlich. Entfremdung konnte sowohl Entfremdung des Menschen von Gott durch Sündenfall, Erbschuld und Leben in „dieser" Welt (Augustin, hom. 42,8) als auch Entfremdung des Menschen von der Welt bedeuten, wobei letztere dann zum Ausgangspunkt des Aufstiegs der Seele zur Erkenntnis Gottes wurde (Corp. Herrn. 13,1; Augustin, In Ps. 4,9; Hugo v. St. Victor, De arca Noe morali 1,4; Richard v. St. Viktor, Benjamin minor 1,5). Der moderne Begriff der Entfremdung ist nicht unmittelbar der christlichen Theologie entsprungen. Doch hat er sehr wohl - auch dort, wo jede Verbindung geleugnet wird - sachliche und thematische Beziehungen zur christlichen Theologie, die spätestens im Deutschen Idealismus sowie bei den Linkshegelianern unübersehbar werden. Aber der Ursprung des Entfremdungsbegriffs muß zunächst einmal im weiteren Rahmen der Geschichte des modernen Subjekts gesehen werden (Arendt). Denn es ist das Subjekt der Neuzeit, das sich als „maître et possesseur de la nature" (Descartes), als autonomes (Rousseau, Kant), als die Welt schaffendes Ich (Fichte) und „göttliche" Gattung (Feuerbach) versteht und sich doch einer Welt konfrontiert sieht, in der es gerade nicht zuhause sein kann. Das die Welt seiner Herrschaft unterwerfende, autonome Subjekt beginnt um die Mitte des 18. Jh. die Erfahrung zu machen, daß die aus seiner Hand hervorgehende Welt ihm gleichwohl fremd erscheint, ja sogar Macht über den Menschen zu gewinnen vermag. Auf diese Erfahrung konnte sowohl durch Steigerung als auch durch Reduzierung der Ansprüche der modernen Subjektivität geantwortet werden. 3. Entfremdung
als Thema melancholischer
Kultur- und Gesellschaftskritik
(Rousseau)
Am Beginn der modernen Entfremdungsdiskussion steht —»Rousseaus Kultur- und Gesellschaftskritik, die zwischen dem Festhalten an den Ansprüchen des modernen Subjekts und dem Abgesang auf den Fortschrittsoptimismus der —»Aufklärung, zwischen dem Rückzug in die private Existenz und der Sehnsucht nach der Polis schwankt. ,Bei sich selbst' war der „homme naturel" im Stande der Natur, als die freien und gleichen, isoliert voneinander lebenden und der Anerkennung durch die Anderen nicht bedürftigen Naturmenschen ein von dem Streben nach Selbsterhaltung (amour de soi) und Mitleid (pitié, commisération) gelenktes, glückliches Leben führten. .Außer sich', ja sogar .ständig außer sich' („toujours hors de lui", Discours 195) ist der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft, der all das verloren hat, was dem Naturmenschen zu einem glücklichen Leben verhalf. Abhängig von den Meinungen der Anderen, getrieben von egoistischer Selbstliebe (amour propre), in Knechtschaft und Ungleichheit lebend, hat sich das Dasein des „bourgeois" zum Gegenteil des ursprünglich guten Lebens verkehrt.
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Auch wenn Rousseau den Menschen durch Zufälle der N a t u r und durch die Vorteile der Vergemeinschaftung zur Vergesellschaftung gezwungen sieht, so betont er doch auch, daß Privateigentum sowie wachsendes Verlangen nach Anerkennung und materiellen Gütern des Menschen „eigenes W e r k " sind (Politische Frgm. 212). Gleichwohl führt bei Rousseau kein Weg in die Idylle des Naturzustandes zurück, wie dies seit Voltaire behauptet worden ist. Zwar ist da manchmal der Rousseau, der eine Art von großer Weigerung vorwegnimmt und den Rückzug in die private Idylle und das sich selbst feiernde Ich zu predigen scheint (Strauß 264ff); aber dieser Rousseau ist kein Verherrlicher der Primitivität, der zum Verbrennen von Büchern und zum Verzicht auf Wissenschaft und Kunst aufrufen würde (Spaemann 55). Schon beim Naturmenschen entspricht Rousseaus Ideal nicht der „sauvage", sondern der halbzivilisierte Hirte (barbar) einer schäferromantisch verklärten Vergangenheit; und selbst hier sind „Sehnsucht und Verklärung nur deshalb so glühend, weil er [Rousseau] nicht nur ahnt, sondern weiß, daß es kein Zurück mehr gibt" (Barth 16). Und schließlich steht Rousseaus Naturbegriff so antithetisch zu Gesellschaft und Geschichte, d a ß Entfremdung als ein prinzipiell gar nicht auflösbares Phänomen menschlicher Existenz erscheinen muß. Der Mensch Rousseaus, der von N a t u r kein „animal sociale", ja nicht einmal ein Vernunft- oder Sprachwesen ist, kann Geschichte und Vergesellschaftung nicht als Erfüllung, sondern nur als Entfremdung erfahren. Rousseaus Subjekt wird exemplarisch für die melancholische Variante moderner Subjektivität, die narzistisch um sich selber kreist oder in ihren Anforderungen an Ethik, Politik und Gemeinschaft die Ansprüche so hoch schraubt, daß an eine Realisierbarkeit ernsthaft nicht zu denken ist. Statt einer Rückkehr zur N a t u r wird eine radikale Denaturierung, Vergeistigung und Versittlichung aller egoistischen und partikularen Strebungen des Menschen gefordert, damit aus den Einzelnen — wie es in der Polis der Fall gewesen sein soll — wieder ein Glied im „être moral et collectif" werden kann. Eine Annäherung an die verlorene Freiheit und Gleichheit des Naturzustandes vollzieht sich in der Politik autonomer Subjekte, die ihre Rechte in einer vollständigen Entäußerung („aliénation totale", Contrat social I, 6) an das Gemeinwesen abtreten. Aber der ideale Staat Rousseaus, der vom immer rechthabenden, unteilbaren, unzerstörbaren, nicht repräsentierbaren Allgemeinwillen (volonté générale) wie von einer mythischen Klammer zusammengehalten wird, setzt eine an die „Transsubstantiation" erinnernde Verwandlung der Individuen voraus (Fetscher 107). Wenn überhaupt, dann hat Rousseau auf die Realisierbarkeit seines Ideals in kleinen, autarken Gemeinschaften gehofft, die weder große Unterschiede des Vermögens und Ansehens noch allzu verfeinerte Sitten oder gar Parteiungen kennen. Keine völlige Aufhebung der Entfremdung, sondern eine Verlangsamung der Dekadenz ist alles, was Rousseau erhofft. 4. Geschichtsfortschritt und Entfremdung (Herder, Kant, Schiller, Humboldt, Fichte)
in der deutschen
Geschichtsphilosophie
Während Rousseaus Subjekt bereits melancholisch wird und auf Vernunft, Wissenschaft und Geschichtsfortschritt nicht mehr setzen will, steht die deutsche —»Geschichtsphilosophie des ausgehenden 18. Jh. noch ganz im Bann des Vernunft- und Fortschrittsglaubens der Aufklärung. Z w a r wird von Herder, Kant, Schiller, H u m b o l d t und Fichte (Popin 20 ff) die eigene Epoche ähnlich wie bei Rousseau als Zeitalter eines aus den Fugen geratenen Lebens kritisiert. Zugleich aber ist man sich des Fortschritts der Geschichte oder der T a t k r a f t des Subjekts noch zu sehr bewußt, als d a ß man der Menschheit nicht den nahe bevorstehenden Herausgang aus der Entfremdung prophezeien möchte. Wie Rousseau im Banne der idealisierten Polis, zugleich aber fasziniert vom „Geschichtszeichen" (Kant) der —»Französischen Revolution hofft man auf eine Perfektibilität des Menschengeschlechts, die zu einer neuen Epoche der Humanität, der Freiheit und Vernunft führen wird. Es ist z u n ä c h s t ] . G. -*Herder, der den Rousseauschen Gegensatz von N a t u r und Geschichte überwindet und die menschliche Geschichte entweder als ein Zwischenreich zwischen dem Leben der Tiere und der „gottähnlichen H u m a n i t ä t " der Z u k u n f t (Ideen) oder als Dreischritt von harmonischer Antike, zerrissener Gegenwart und idealer Z u k u n f t deutet (Briefe). Kein Abfall vom Stande
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der Natur wie bei Rousseau und auch keine unmittelbare Entfaltung der Natur zur Humanität wie bei Herder, sondern eine Art dialektischer Geschichtsphilosophie erklärt bei I. —>Kant, wie sich die „Absicht" der Natur zur Freiheit geschichtlich durchsetzt. Ausgehend von der Prämisse, daß die Natur die Anlagen eines jeden Individuums zur Perfektion bestimmt hat, jedoch nur die Gattung als ganze diese Perfektion erreichen kann, läßt Kant gerade die Entfremdungsphänomene der Gesellschaft jene Anspannung aller Kräfte bewirken, welche die Menschheit zum Frieden und zu einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" (A 394) treibt. Hegels „List der Vernunft" vorwegnehmend, erkennt Kant in der „ungeselligen Geselligkeit" des Menschen (A 392), in „Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht" (A 393) und sogar in Not und Krieg (A 399 f) die Triebkräfte des Fortschritts, welche den Plan der Natur zur Freiheit verwirklichen werden. Anders als Kant hofft der Kantianer F. —»Schiller, daß die ästhetische Erziehung der Menschheit die Entfremdung beseitigen wird, welche die Epoche prägt. Sehnsüchtig zurückblickend auf das griechische Ideal einer allseitigen, harmonischen Existenz wird die eigene Epoche als Zeitalter einer verkrüppelnden Spezialisierung und das Leben zerreißenden Entfremdung verworfen: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus . . . und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Ausdruck seines Geschäftes, seiner Wissenschaft" (6. Brief). Ähnlich lokalisiert W. v. —»Humboldt das Gebrechen der Zeit in der Einseitigkeit, dem Begriff der Menschheit nur einen teilweisen Inhalt verschaffen zu können; es besteht die Gefahr, daß das Subjekt sich in die Innerlichkeit zurückzieht und sich in dieser „Entfremdung" selbst verliert (237)./. G. —>Fichte schließlich ordnet die Geschichte nach dem Maßstab einer Menschheit, die aufgefordert ist, „alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft (einzurichten)" (IV, 401). Nach dem Stande der Unschuld (Vernunft herrscht als Instinkt) und der Epoche einer äußerlich gebietenden Autorität (anhebende Sünde) befindet sich die Menschheit in der Gegenwart im Zeitalter „vollendeter Sündhaftigkeit", in dem weder Vernunft noch Autorität gelten; angebrochen ist aber bereits das Zeitalter der Vernunftwissenschaft (der Wissenschaftslehre Fichtes), das durch die Hilfe eines alle individuellen Kräfte auf den Kulturzweck der Gattung richtenden „absoluten Staates" zum Zustand vollendeter Rechtfertigung und Heiligung übergehen wird. 5. Der Deutsche —'Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel)
als Ursprungsort
der modernen
Entfremdungslehre
Die vor Marx bedeutendste begriffliche Erfassung der Entfremdung ist in den Systemphilosophien Fichtes, Schellings und Hegels zu sehen. In diesen Philosophien wird die „Geburt der Freiheit aus der Entfremdung" (Gehlen) zu einem das ganze Denken bestimmenden Gegensatz. Hier wird eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Entfremdung geleistet, die zwischen unerhörten Steigerungen des Subjektivismus (etwa beim jüngeren Fichte) und sich bereits abzeichnenden Verabschiedungen der Ansprüche des modernen Subjekts (der ältere Schelling, Hegel) einen Ausweg aus der Krise der Subjektivität und der modernen Welt sucht. Weder als bloße Vorstufe zur Entfremdungstheorie von Feuerbach und Marx noch als bloß idealistische Verkehrung der materiellen Verhältnisse verstehbar, fordert der Idealismus, daß seine Entfremdungsphilosophie als eigenständige Antwort auf die Probleme der modernen Welt gewürdigt wird. Die Philosophie des jungen ]. G. —»Fichte kann als extremster Ausdruck des neuzeitlichen Subjektivismus gelten. Aus Kants der Natur ihre Gesetze vorschreibendem Ich wird bei Fichte das die Natur schaffende Schöpfer-Ich, dem gleichwohl seine eigenen Produkte als ein dem Subjekt fremder Widerstand erscheinen. Das Ich setzt sich selbst absolut, und es setzt sich auch die Welt als das Nicht-Ich selbst entgegen (1,275 - 5 2 0 ) . Aber es gelingt der theoretischen Vernunft nur, die Setzung des Nicht-Ich überhaupt, nicht aber die des einzelnen Nicht-Ich aus sich zu deduzieren. In der Sinneswelt findet sich das Subjekt in theoretischer
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Hinsicht doch wieder als ein bestimmtes Wesen vor. Und es ist Aufgabe der praktischen Vernunft, also des moralischen, der Pflicht gehorchenden Subjekts, den „Widerstand" des Nicht-Ich in einem unendlichen Progreß des Strebens zu vernichten. Fichtes Wissenschaftslehre hat die Welt zum lästigen Widerstand der Pflicht des Subjekts reduziert, und doch kommt die Geburt der Freiheit durch die Vernichtung des Nicht-Ich nie an ein Ende. Das mit der selbst geschaffenen Entfremdung ungewollt ringende Subjekt setzte sogar seine moralische Weltordnung an die Stelle Gottes (III, 130), so daß Fichte wohl nicht ohne Grund in den Atheismusstreit verwickelt wurde (Lindau). Allerdings wandelt sich Fichtes Lehre nach 1800, da zwischen endlichem Ich und aus sich und in sich seiendem Absoluten streng unterschieden wird (IV, 1 6 5 - 3 9 2 ) . Wenn Fichtes frühe Wissenschaftslehre die ungewollte Verstrickung eines prometheischen Schöpfer-Ichs in die Entfremdung zeigte, so war F. W.J. —'Schellings frühe Lehre zunächst eine an Spinoza erinnernde pantheistische Identitätsphilosophie, in welcher der Gedanke einer Entfremdung keinen Platz haben konnte. Schelling, der wie die Romantiker gegen Fichtes Degradierung der Natur zum Material der Pflicht protestierte, suchte nach einer Vereinigung von Transzendental- und Naturphilosophie, die zwischen dem in der Natur schlafenden „Riesengeist" und dem Geist selbst nur quantitative, aber keine qualitativen Unterschiede zulassen wollte (Sehr. 1 7 9 9 - 1 8 0 1 , 3 2 7 - 6 3 5 ) . Erst durch eine sich ab 1802 ankündigende Wendung zum —>Neuplatonismus findet der Entfremdungsgedanke Eingang in Schellings Philosophie. Die Welt kann nun als „Abfall" der Idee von Gott und die Geschichte als Rückkehr zu Gott als der wahren Realität gedeutet werden. Unter dem Einfluß —»Baaders, —»Boehmes und der —»Kabbala projiziert Schelling die Entfremdung in das innergöttliche Leben. Gott als zunächst dunkler Drang und Trieb offenbart sich in Natur und Geschichte, um im menschlichen Bewußtsein allmählich das Wissen seiner selbst zu gewinnen. Diese Mythopoese eines werdenden Gottes, die Schellings Freiheitslehre (Sehr. 1 8 0 6 - 1 8 1 3 , 2 7 5 - 3 6 1 ) systematisch entwickelte, führt zu einer Verdoppelung des Entfremdungsbegriffes, der sowohl als Entfremdung Gottes von sich wie als Selbstentfremdung des menschlichen Bewußtseins gedeutet werden kann. Im Ineinander von Theogonie und Bewußtwerdung des Menschen kann Schelling von „Selbst-Entfremdung" des Bewußtseins (Sehr. 1 8 1 3 - 1 8 3 0 , 367) wie von „Gott-Entfremdung" (Phil, der Offenbarung I, 370) sprechen. An die Stelle der prometheischen Subjektphilosophie Fichtes ist bei Schelling eine zweideutige theologische Entfremdungslehre getreten, in der sowohl die Ermächtigung des Subjekts wie seine Ohnmacht Ausdruck finden. Neben Versuchen, Schellings späte Lehre als Theismus (Fuhrmans) oder sich der christlichen Orthodoxie nähernde Philosophie (Hemmerle; Kasper) zu lesen, stehen Deutungen, welche bei Schelling gerade „die sich zu sich ermächtigen wollende Subjektivität... durch die Erfahrung ihrer Ohnmacht zum eigentlichen Verständnis ihrer selbst" kommen sehen (Schulz 6f); der Einbruch des dunklen Triebes in die Idee Gottes weist dann bereits auf Schopenhauers Pessimismus, den Nihilismus und den Existentialismus voraus (Tillich). Andererseits ist im Mythos des werdenden Gottes die Nähe zu den evolutionstheoretischen und lebensphilosophischen Identifizierungen von creatio und evolutio unübersehbar (Corti 99 f). Ja in materialistischer Umkehrung ist Schellings Theogonie sogar als kryptische Emanzipationsphilosophie einer die Resurrektion der Natur selbst vollbringenden Gattung verstanden worden (Habermas). In G. W. F. —•Hegels Philosophie begegnet der Gedanke der Entfremdung in mindestens fünffacher Form: als aufklärerische Kritik der Positivität, als Entzweiungsphilosophie, als eine Phase in der Geschichte des sich zu sich bildenden Geistes, als Kritik der Verdinglichung sowie als Grundmodell der sich von sich entäußernden und zu sich zurückkehrenden Idee. Die erste Form der Hegeischen Entfremdungsanalyse (1795) ist eine im 19. Jh. unbekannt gebliebene Kritik der Religion und Politik, welche Feuerbach und Marx im Grunde vorwegnimmt. Es ist der Hegel der Berner Zeit, der das Christentum als Religion der Unterdrückung kritisiert und zwischen der Despotie, der moralischen Verderbnis und der Passivität der Römer und Juden auf der einen und der Objektivität der jüdischen und christlichen Gottes-
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Vorstellung einen dialektischen Zusammenhang erkennt. »Die Objektivität der Gottheit ist mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen in gleichem Schritt gegangen" (Theol. Jugendschr. 227). Dabei sind für den jungen Hegel wie für Feuerbach die „Schätze" dem Menschen zu vindizieren, die an den „Himmel verschleudert worden sind" (ebd. 225). Hegel, der, damals angeregt durch Kant und Fichte, Lessing und Gibbon, ganz in den Bahnen der Aufklärung und einer Ethisierung der Religion denkt, kontrastiert Vernunft und Objektivität, Autonomie und Heteronomie, wobei der Begriff der „Positivität" jede vom „produktiven Leben der Subjektivität abgelöste Objektivität" (Rohrmoser 36.37) und jede Entäußerung der Kräfte des Subjekts an ein „totes" Sein bezeichnet (Lukäcs). Hegels theologisch-politische Kritik der Selbst-Entfremdung des Menschen wandelt sich 1800 durch die von Fichte und Hölderlin angeregte Vereinigungsphilosophie (Henrich) zur Aufhebung der starren Antithese von Subjektivität, —»Vernunft, —»Autonomie auf der einen und Objektivität, Faktizität und Heteronomie auf der anderen Seite. An die Stelle der Kritik des Christentums tritt eine Anerkennung der christlichen Religion, an die Stelle der Kritik der theologisch-politischen Selbstentfremdung eine Entzweiungsphilosophie, welche das erstarrte Sein, die Faktizität und den Gegensatz als Momente des Lebens und des Geistes („Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung", ebd. 340) erkennt. Die „notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist, in der höchsten Lebendigkeit, nur durch ihre Wiederherstellung aus der Trennung möglich" (Differenzschrift 13.14). Damit hat Hegel die Ansprüche des modernen Subjekts aus ihrem starren Gegensatz zur modernen Welt gelöst und ist von nun an in der Lage, Subjektivität und Objektivität als Pole der einen Entzweiung zu begreifen. Die sich in ihrer Endlichkeit verkapselnde oder in die Innerlichkeit zurückziehende Subjektivität (die Hegel an Kant und Fichte, Jacobi oder der „schönen Seele" der Romantik exemplifiziert) und die verdinglichte gottlose Welt der Moderne sind zusammengehörende Formen der Entzweiung, die sich durch die Einsicht in die Gegenwart des Absoluten in der Zeit versöhnen lassen. Die den spekulativen Karfreitag feiernde Philosophie erkennt beide als die Form, in der sich „unter den Bedingungen der modernen Welt ihre ursprüngliche Einheit geschichtlich erhält" (Ritter 214). Der Begriff „Entfremdung" wird danach in Hegels Phänomenologie des Geistes (1806) in technischer Bedeutung unter dem Titel „Der entfremdete Geist. Die Bildung" zur Beschreibung des sich vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution formierenden Geistes verwendet (eine vollständige Liste des Terminus „Entfremdung" in der Phänomenologie bei Gauvin oder Scheier 748). Hegel folgt hier der Geschichte des Geistes, der die natürliche Sittlichkeit der Antike verloren hat und sich über den Gegensatz von Aufklärung und Glauben zur „absoluten Freiheit" und zu jenem „allgemeinen Willen" entwickelt, den die Französische Revolution verkündet. Im Gegensatz zum Linkshegelianismus, der die aufklärerische Religionskritik zum Teil wiederholt, erkennt Hegel bereits die Zusammengehörigkeit der Flucht des Glaubens aus der Welt mit der aufklärerischen Kritik des der Welt entfremdeten Glaubens. „Diese, jener Entfremdung entgegengesetzt, ist eben darum nicht frei davon, sondern vielmehr nur die andere Form der Entfremdung" (Phänomenologie des Geistes 350). Was von Hegels Philosophie in den späteren Entfremdungslehren weiterwirkte, ist jedoch weder in der Kritik der Positivität noch in der Entzweiungsphilosophie, noch in der engeren Bedeutung des sich in der Bildung entfremdenden Geistes zu suchen. Ja selbst Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, die in Kenntnis der klassischen Nationalökonomie die Abstraktion der —»Arbeit, die Polarisierung in Arm und Reich und sogar schon den Begriff der „Verdinglichung" (Das „Sich-zum-Dinge-machen des Bewußtseins", Jenaer Realphil. 214; Rechtsphil. §§ 189—208) vorwegnahm, ist von Hegels linken Schülern nicht zum Anknüpfungspunkt ihrer Entfremdungslehren gewählt worden. Zwar hat Marx aus der Phänomenologie des Geistes vor allem den Begriff der „Arbeit" hervorgehoben. Aber es war nicht die Anknüpfung an Hegels Ökonomie oder Politik, sondern es ist bei allen Linkshegelianern zunächst der Streit um den theologischen Versöhnungsanspruch des Hegeischen Systems gewesen, an dem sich die weitere Diskussion der Entfremdung entzünden sollte. Denn
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wie immer zweideutig Hegels Aufhebung der christlichen Religion ins philosophische Begreifen war (so daß viele Interpreten in Hegels Philosophie sowohl eine Rechtfertigung als auch eine Kritik der christlichen Religion gegeben sahen [z.B. Löwith]), so sehr hatte Hegel selbst seine Philosophie als Rechtfertigung des Christentums in der modernen Welt verstanden. Die Phänomenologie sollte dem zeitgenössischen Bewußtsein die Gegenwart des Absoluten in der Zeit beweisen, indem sie den endlichen Bewußtseinsgestalten den Weg zum absoluten, die Religion begreifenden Wissen wies. Das System entwickelte in der Logik die reinen Gedanken oder Ideen Gottes vor der Schöpfung, in der Naturphilosophie den „Abfall" der Idee von sich und in der Philosophie des Geistes die Rückkehr des Geistes zu sich, die sich für Hegel vor allem in der Geschichte als dem „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" wie durch die Gegenwart des Absoluten in Kunst, Religion und Philosophie bewährte. Aber während Hegel seine Philosophie als Ursprungsphilosophie eines sich von sich entäußernden und zu sich zurückkehrenden Geistes begriff, der zwar für die moderne Subjektivität, nicht aber für die Idee einer „Selbsterlösung" oder Vergöttlichung der Menschengattung Platz haben sollte (Werke XVI, 278; XI, 417), verkehrten Hegels linke Schüler sein System zur reinen Emanzipationsphilosophie, einer Gattung, in der Gott erst zum Wissen seiner selbst kommen kann. Was bei Hegel ein ursprungsphilosophisches Insichkreisen des Geistes war, das die Emanzipation des modernen Subjekts mit der Tradition des Christentums noch einmal versöhnen sollte, das galt von nun an als Selbstentfremdung des Menschen, als Entmächtigung der Gattung durch einen transzendenten, dem Menschen nicht verfügbaren Gott. Und nachdem die Hegelschule sich zunächst wegen theologischer Streitfragen spaltete, weitete sich nach Feuerbachs Religionskritik der Emanzipationsanspruch allmählich auch auf Politik und Ökonomie aus. 6. Von der Kritik religiöser Selbstentfremdung Entfremdung (Feuerbach, Bruno Bauer, Heß)
zur Kritik politischer und
ökonomischer
Die theologischen Kontroversen um Hegels Philosophie kreisten um die Streitfragen der Transzendenz Gottes, des Lebens nach dem Tode und der Einzigkeit des Gottmenschen Jesus Christus. Sie wurden von D.F. —»Strauß 1837 auf die Formel der Hegeischen Rechten, Linken und des Zentrums gebracht, wobei sich Strauß selbst als Linker bezeichnete, dem Karl Friedrich Goeschel und J.Ph. —»Gabler als Rechte und Karl Rosenkranz als Vertreter der Mitte gegenüberstanden. Aber während sich bei Strauß wohl ein gewisser Pantheismus, zumindest in der Form der Leugnung der Exklusivität der Offenbarung in Jesus Christus (Sandberger 98 ff), findet, so war er doch von der begrifflichen Begründbarkeit der christlichen Geheimnisse noch überzeugt. Es blieb L. —>Feuerbach vorbehalten, die Vergöttlichung der Menschengattung zur radikalen Kritik religiöser Selbstentfremdung überhaupt auszuweiten. Sein Wesen des Christentums (1841) variierte eine und nur eine These, daß der Mensch aus seinem eigenen Wesen, aus Vernunft, Wille und Herz, „die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte - göttliche absolute Mächte" (Werke VI, 3.4) habe werden lassen. In Wahrheit aber sei „der Gegenstand des Menschen . . . nichts Anderes als sein gegenständliches Wesen" (ebd. 15), so daß die Wahrheit der Theologie in der Anthropologie zu suchen sei. Die von der Theologie an Gott oder von der Philosophie Hegels an die reinen Gedanken „entfremdeten" Prädikate der Menschengattung müssen durch das Umkehrprinzip der „reformatorischen" Kritik nur wieder dem Menschen zugesprochen werden. Dann wird für den naturalistischen, auf Sinnlichkeit und Intersubjektivität setzenden Positivismus Feuerbachs das wahre Wesen der Gattung sichtbar, die sich selbst Gott ist („homo homini deus", ebd. 326). Während Feuerbachs Vergöttlichung der Gattung zu einem statischen Naturalismus und Positivismus tendierte, dessen berühmteste Kritik in den Feuerbachthesen sowie in der Deutschen Ideologie von Marx enthalten ist, waren alle anderen Linkshegelianer von der Notwendigkeit überzeugt, die Gattung erst mit Hilfe einer weltverändernden Praxis zu ihrem Wesen bringen zu müssen. B. --»Bauer, der wie Feuerbach die jüdische und die christliche Religion als eine die Emanzipation behindernde Selbstentfremdung verwarf („Gott ist ja
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nur der den Menschen entfremdete Mensch", Bauer 156), entwickelte einen Begriff der Kritik, durch den die Menschheit sowohl von der Illusion der Religion erlöst als zur praktischen Befreiung geführt werden sollte (Saß). Vermittelt über die Tatphilosophie A. v. Cieszkowskis (1838) und die Praxisforderungen A. Ruges (1842), beeinflußt auch von Fichtes Tathandlung des Ichs, schrieb Moses Heß eine Kritik des Christentums, der Ökonomie und der Politik der Zeit, die in der Forderung nach einer sozialistischen Philosophie der Tat gipfelte. Christentum und Politik der Zeit haben ihre Basis in der „christlichen Krämerwelt" (Heß 69); dort herrscht das Geld, welches „das Produkt der gegenseitig entfremdeten Menschen, der entäußerte Mensch (ist) . . . Geld ist, was da geltet für menschliche Produktionskraft, für wirkliche Lebenstätigkeit des menschlichen Wesens" (ebd. 70/71). 7. Entfremdung
bei Marx
Es ist der durch Feuerbach und Heß auf der einen, durch Hegel und die klassische Nationalökonomie auf der anderen Seite bezeichnete Rahmen, innerhalb dessen der junge K. —»Marx seine folgenreiche Theorie der Entfremdung entwickelt. Beginnend mit einer Kritik politischer, religiöser und philosophischer Entfremdung schält sich 1844 die schwer zu klassifizierende eigentliche Entfremdungslehre heraus. Schon die Doktordissertation verwendet den Entfremdungsbegriff zur Bezeichnung der Atomistik Epikurs (MEW-ErgBd. 1. Teil, 296; Mende). Aber es sind erst die Jahre-zwischen 1842 und 1844, in denen sich der berühmte Entfremdungsbegriff, zunächst als Fortführung und Ausdehnung Feuerbachscher Kritik religiöser Selbstentfremdung vorbereitet. Nachdem „die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, sieht es Marx als seine Aufgabe an, „die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven" (MEW I, 379). Marx' Kritik politischer Selbstentfremdung soll den bei Hegel nur in der Idee versöhnten Gegensatz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, von bourgeois und citoyen in der Realität aufheben; sie bedient sich dabei des Feuerbachschen Umkehrprinzips, das die Realität an die Stelle der Idee und die Gesellschaft an die Stelle des über ihr thronenden Staates setzt. Die Aufhebung des Staates in die Gesellschaft und die Zurücknahme des „abstrakten Staatsbürgers" in den „wirklichen individuellen Menschen" (MEW I, 370) ist, wie die Diskussion der „Judenfrage" beweist, für Marx damals zugleich die Abschaffung der religiösen Selbstentfremdung. Gegen Bruno Bauer wird die These aufgestellt, daß auf dem Boden der vom Staat getrennten bürgerlichen Gesellschaft eine politische Befreiung von der Religion zum Scheitern verurteilt sei; die jüdische Religion sei nur die „ideale Anschauung" des die Gesellschaft prägenden Egoismus und Götzendienstes am Gelde. Das Geld sei „das dem Menschen entfremdete Wesen seiner A r b e i t . . . und dieses fremde Wesen beherrscht ihn und er betet es an" (MEW I, 375). Die Erlösung von der religiösen Selbstentfremdung setzt deshalb die Befreiung von der politischen Entfremdung und die Emanzipation des Menschen vom bürgerlichen —»Egoismus und Götzendienst des —»Geldes voraus. 1844 wendet Marx die Kritik der Selbstentfremdung noch einmal auf Hegels Philosophie an, der eine der Religion analoge „Entfremdung des menschlichen Wesens" (MEW-Ergänzungsband, 1. Teil 569) vorgeworfen wird. Die Kritik der philosophischen Entfremdung attackiert die Hegeische Logik als „Geld des Geistes" (ebd. 571) und die Phänomenologie als einen doppelten Mystizismus, welcher die Realität zunächst nur als Entfremdung des Gedankens von sich aufnehme, um sie dann auch wieder nur im spekulativen Denken zu versöhnen. Aber weniger diese Feuerbach noch einmal wiederholende Hegelkritik als vielmehr die Auseinandersetzung mit der für Marx zynisch die Entfremdung der bürgerlichen Gesellschaft konstatierenden und nicht kritisierenden Nationalökonomie wird zum Ansatz der folgenreichen Entfremdungslehre, deren Klassifikation bis heute in Ost und West kontrovers geblieben ist. Es handelt sich nämlich um eine Lehre, die zwischen ökonomischen und philosophischen, zwischen kapitalismusspezifischen und anthropologischen, zwischen empirischen und normativen Zügen oszilliert. Marx verwendet den Entfremdungsbegriff 1844 in mindestens vier Bedeutungen, die nicht immer historisch genau eingrenzbar, nicht immer auf nur eine Ursache zurückführbar
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und auch nicht streng systematisch miteinander verbunden sind (MEW-ErgBd. 1. Teil, 5 1 0 - 5 2 9 ) . Zwar hängen alle Bedeutungen sehr eng mit Arbeitsteilung und Privateigentum zusammen, aber letzteres wird sowohl als Folge als auch als Ursprung der Entfremdung angesetzt (ebd. 520), so daß die eigentliche Wurzel aller Entfremdung im Dunklen bleibt. Entfremdung ist zunächst Entfremdung des Arbeiters vom „Produkt" seiner Tätigkeit. Diese Entfremdung ist der religiösen Selbstentfremdung analog, da der Arbeiter um so ärmer wird, je mehr Reichtum er schafft und das vom Arbeiter selbst erzeugte Produkt zu einer selbständigen, den Menschen beherrschenden Macht wird. Als Ursache dieser Entfremdungsform bieten sich sowohl die arbeitsteilige Produktion in den auf dem Tausch basierenden Gesellschaften überhaupt als auch die spezifisch kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an, insofern sie die Polarisation in Arm und Reich sowie die später als Warenfetischismus begründete „Knechtschaft des Gegenstandes" (ebd. 512) hervorrufen. Wie vom Produkt so ist der Arbeiter entfremdet vom „Akt" der Produktion. Hierbei scheint Marx mindestens dreierlei zu meinen. Erstens fühlt der Arbeiter sich nicht in der Arbeit, sondern erst in der Freizeit zu Hause. Zweitens spiegelt diese Entfremdung die Eigentumsverhältnisse wider, insofern die Arbeit dem Kapitalisten und nicht dem Arbeiter gehört. Und drittens dient die Arbeit nicht der Selbstverwirklichung, sondern der bloßen physischen Selbsterhaltung. Bereits hier setzt Marx offenbar ein normatives Ideal der Arbeit als der eigentlichen Lebenstätigkeit und idealerweise „allseitigen" Selbstverwirklichung voraus; vielleicht äußert sich hier sogar eine romantische, auf die handwerkliche Produktion zurückblickende Opposition gegen die hochspezialisierte Arbeitsteilung. Mit der dritten und vierten Form der Entfremdung erreicht der Marxsche Entfremdungsbegriff anthropologische, philosophisch-metaphysische und normativ-humanistische Dimensionen. Der Mensch entfremdet sich von seinem Gattungswesen (dritte Entfremdungsform), und es entfremdet sich der Mensch vom Menschen (vierte Form der Entfremdung). Auch diese Analyse steht offensichtlich unter der Bedingung, daß Arbeit die eigentliche Lebenstätigkeit und Selbstverwirklichung des Menschen sein sollte. Nur so ist die Verkehrung der Arbeit zum Mittel egoistischer und nur physischer Selbsterhaltung eine Verfehlung des menschlichen Wesens selbst. Diese Voraussetzung nimmt dann sogar philosophisch-metaphysische Dimensionen an, da die Entfremdung vom Gattungswesen eine Entfremdung von der Natur impliziert. Der entfremdet arbeitende Mensch findet in der Natur nicht sein wahres, sondern sein verkehrtes Spiegelbild. Die Befreiung des Menschen ist deshalb untrennbar verbunden mit einer „Rcsurrektion" der Natur (ebd. 538). Die Zusammengehörigkeit von Emanzipation und Naturversöhnung erinnert an die Kabbala, an Boehme, Baader und Schelling. Sie greift über alle ökonomischen Fragen auf Metaphysik hinaus. Marx kann sich deshalb konsequenterweise auch nicht mit einer ökonomischen Lösung des Entfremdungsproblems bescheiden. Nicht die Negation des Privateigentums, sondern erst die positive Aneignung des Gattungswesens sowie die Versöhnung mit der Natur kann als Aufhebung der Entfremdung gelten. Sie ist das Versprechen eines kommunistischen Humanismus, der als „vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus" sein soll und als die „ w a h r h a f t e Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen" (ebd. 536) gefeiert wird. Für die weitere Diskussion des Marxschen Entfremdungsbegriffs ist die Frage von großer Bedeutung geworden, inwieweit man diese ökonomischen, aber auch anthropologischen und philosophischen Untersuchungen des jungen Marx von der politischen Ökonomie des älteren Marx abzugrenzen hat. Während die sowjetischen und ostdeutschen Autoren die politische Ökonomie des älteren Marx als die eigentliche Lehre betrachten, welche das Frühwerk abgelöst hat, neigen die meisten westlichen und viele der tschechoslowakischen, jugoslawischen oder polnischen „Revisionisten" dazu, entweder den jungen Marx zum wahren Marx zu erklären oder aber auf der Kontinuität seines Denkens zu beharren. Eindeutig ist, daß Marx auch nach 1844 den Entfremdungsbegriff, wenn auch nicht mehr so häufig, aber doch weiterhin verwendet (Belege bei Meszäros 222ff). Nicht zu bezweifeln ist ferner, daß sich bei Marx durch den in der Deutschen Ideologie angedeuteten Ansatz der
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materialistischen Geschichtsauffassung sowie durch die späteren politökonomischen, zum Positivismus tendierenden Untersuchungen eine Interessenverschiebung vollzog. Beim Marx der Grundrisse und des Kapitals läßt sich so etwas wie eine zweite Theorie der Entfremdung feststellen (Israel 325 ff), die nicht als Verabschiedung der anthropologischen und philosophischen frühen Lehre aufgefaßt werden muß, aber als sie ergänzende Präzisierung (und Akzentverschiebung) gedeutet werden kann. Die Lehre vom Warenfetischismus präzisiert den kapitalistischen Charakter der Herrschaft des Produktes über den Produzenten, da sie nur für den Kapitalismus den sich auf alle Produkte und Tätigkeiten ausdehnenden Tauschwert ins Zentrum stellt, während in früheren Gesellschaften nur der Uberschuß der Gebrauchswerte getauscht worden sein soll (Grundrisse 63 ff). Die im Tauschwert der Waren steckende abstrakte Beziehung der Waren zueinander wird als Verschleierung des gesellschaftlichen Charakters der Produktion aufgefaßt. „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht... einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen" (MEW XXIII, 86). Mit dieser Präzisierung geht eine gewisse Trennung von Arbeitsteilung und Privateigentum Hand in Hand, insofern nicht mehr eine völlige Aufhebung der Härten der spezialisierten Produktion, sondern eine durch Verkürzung des Arbeitstages bewirkte Milderung und Vermenschlichung der Arbeit versprochen wird. „Die Freiheit... kann nur darin bestehen, daß . . . die assoziierten Produzenten . . . diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit... aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung" (MEW X X V , 828). 8. Westliche
Entfremdungsdiskussion
8.1. Philosophisch. Die Diskussion der Marxschen Entfremdungslehre hat sich im Westen in der Konstellation eines sich seit den zwanziger Jahren erneuernden Hegelianismus, gewisser Einflüsse der Soziologie (vgl. u. Abschn. 8.2) sowie eines auf bürgerliche und neomarxistische Interpretationen ausstrahlenden Existentialismus (—»Existentialphilosophie) vollzogen. Bereits 1923, neun Jahre vor der Veröffentlichung der Pariser Manuskripte, hatte G. Lukäcs in Geschichte und Klassenbewußtsein die Marxsche Entfremdungslehre auf erstaunliche Weise rekonstruiert. Marx' Theorie des Warenfetischismus, M. —»Webers Analyse der kapitalistischen Rationalität, Simmeis Begriff der „Verdinglichung" und Hegels Subjekt-Objekt-Identität vereinend,erneuerte Lukäcs die These, daß die Universalität des Warenfetischismus zusammen mit der Rationalisierung und fortschreitenden Spezialisierung der Arbeitswelt beim Arbeiter eine Verselbständigung von Bewußtseinsakten hervorrufen, die wie Waren veräußerbar seien. Auf der Ebene des bürgerlichen Bewußtseins entsprächen dieser Verdinglichung der Positivismus und der Irrationalismus, die die zweite Hälfte des 19. und den Beginn des 20. Jh. prägten. Lukäcs' offensichtlich gegen den Leninismus gerichtete Schrift, die dem Proletariat selbst und nicht seiner Führung die Rolle des Subjekts-Objekts der Geschichte zusprach, hat die Entfremdungsdiskussionen der dreißiger Jahre allerdings wenig beeinflußt. Statt dieser als Hegelianismus (Bucharin) oder ultralinker Abweichung (Deborin) verworfenen Position sind es die mit der Veröffentlichung der Pariser Manuskripte (1932) einsetzenden heidegger-marxistischen Deutungen gewesen, die in der Folgezeit die Rezeption bestimmen sollten, auch hier freilich in kritischer Distanz zum Leninismus und Stalinismus. Dieser Verbindung von Marxismus und Existentialismus kam entgegen, daß sich die existentialistische Phänomenologie selbst einer Daseinsbeschreibung genähert hatte, die mit der Marxschen
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Entfremdungslehre gewisse Parallelen aufwies. M. —»Heidegger nannte das „Verfallensein" an das Man bereits 1927 eine Entfremdung (175 ff), und seine Existentialontologie gab mit Kategorien wie Angst, Sorge, Geworfenheit einer Art Entfremdungserfahrung Ausdruck. H. Marcuse, der erste Heidegger-Marxist (Schmidt), wandte bereits 1932 Existentialontologie und Lehre des jungen Marx gegen den „Historischen Materialismus" und seinen Ökonomismus, wobei er - auch darin typisch für die spätere Rezeption — eine Neubewertung des Verhältnisses von Hegelscher und Marxscher Dialektik forderte (die durch das stereotyp wiederholte Theorem von der materialistischen Umkehrung Hegels nur unzureichend erfaßt werde). Im selben Jahr versuchte der Heidegger nahestehende K. Löii'ith, die Philosophie des jungen Marx mit Webers Kapitalismuskritik zu vergleichen. Nach dem Kriege hat sich zunächst in Frankreich eine aus Hegelianismus und Existentialismus gespeiste, meist neomarxistische Rezeption der Entfremdungslehre etabliert. Sie wurde in nicht unerheblichem Maße durch die Vorlesungen angeregt, die A. Kojeve 1947 über Hegels Phänomenologie des Geistes hielt. Diese erschien in Kojeves Auslegung als eine in der Herr-Knecht-Dialektik zentrierte Philosophie, die marxistische (Klassenkampf) aber auch über alles ökonomische hinausgreifende, existentialistische Motive (Rolle des Todes, der Anerkennung) vorweggenommen hatte. Kojeves genial vereinfachende Deutung erhielt dann bei Hyppolite, Sartre und Fessard subtilere Formen. Vor allem J.-P. —•Sartre gab der Entfremdungsdiskussion eine originelle Wendung. Er stellte den Entfremdungsbegriff als eine rein phänomenologische Kategorie dar, als die unaufhebbare, sich mir, vor allem im „Blick" des Anderen zeigende Entfremdung meiner Welt und Möglichkeiten (Das Sein u. das Nichts 338 ff); er benutzte ihn aber auch im Sinne einer marxistischen, an Praxis interessierten Anthropologie, die auf eine begrenzte — angesichts der Unaufhebbarkeit des „Mangels" - allerdings nicht grundsätzliche Aufhebung der Entfremdung hoffte (Kritik der dialektischen Vernunft 69 ff. 163 ff. 234ff). Mit einer durch den —»Nationalsozialismus bedingten Verzögerung konnte sich nach dem Krieg auch in Deutschland eine vom Hegelianismus und Existentialismus geprägte Diskussion entwickeln, die vor allem in den Marxismus-Studien der Evangelischen Studiengemeinschaft ihren Niederschlag fand (Landgrebe, Thier, Rohrmoser u.a.). Sie nahm mit ihrer Betonung theologischer, anthropologischer und humanistischer Bezüge und Gehalte der Marxschen Lehre Elemente der Diskussion vorweg, die sich seit Beginn der sechziger Jahre in manchen sozialistischen Ländern vollzog (vgl. 9). Im Westen erhielt die Diskussion in den sechziger Jahren eine neue Dimension durch die Renaissance der —•Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und ihr verwandter Neomarxismen. Typisch für diese Rezeption war wiederum die Distanzierung vom etablierten Sozialismus und orthodoxen historischen und dialektischen Materialismus. J. Habermas nannte die parteioffizielle Sowjetphilosophie „philosophisch gesehen so unbeträchtlich, daß das Gewicht einer Auseinandersetzung gar nicht unterschätzt werden kann" (Literaturbericht 391), und H. Marcuse kritisierte das Auseinanderklaffen von marxistischem Anspruch und Realität des Sowjetsystems (Gesellschaftslehre). Typisch war ferner die Verabschiedung eines ökonomisch geprägten Entfremdungsbegriffs; an die Stelle der „ökonomisch sinnfälligen Gestalt des Elends" (Habermas, Zw. Phil. u. Wiss. 228) war für Marcuse, Adorno, Fromm und Habermas die psychische Deformation, die gesellschaftliche Manipulation und die zur Affirmation und falschen promesse de bonheur entartete Funktion der Kultur getreten. Die zur inneren Versklavung und gesellschaftlichen Manipulation gewandelte Entfremdung erschien nun als totaler „Zwangszusammenhang" einer auf dem Tauschprinzip basierenden Gesellschaft (Adorno, Negative Dialektik 147 f) oder als „Eindimensionalität" eines jede Opposition integrierenden Systems, das vom Zusammenspiel von Technik, Wissenschaft und technokratischer Vernunft beherrscht sein sollte (Marcuse, Mensch) und den Menschen eine, angesichts des ökonomischen Fortschritts, unnötige „zusätzliche" Repression der Triebe abverlangte (Marcuse, Triebstruktur). Jedenfalls wurde Entfremdung als eine so umfassende Macht angesehen, daß man sich entweder wie Th. W. Adorno auf den Praxisanspruch der Theorie, auf Kulturkritik und musikkritische Analysen des „Fetischcharakters in der Musik" zurückzog oder wie H. Marcuse nur noch einer „großen Weigerung"
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nicht integrierter Randgruppen eine Veränderung zutraute. Eine stärkere Hoffnung auf die Aufhebung von Entfremdung wurde noch am ehesten in den pseudo-religiösen Verheißungen von E. Bloch oder E. Fromm bewahrt. E. —»Bloch knüpfte in einer materialistischen Philosophie der Hoffnung an den Schelling mit dem jungen Marx verbindenden Mythos von der „Resurrektion" der Natur an, um eine „Eingemeindung" des Menschen in die Natur und „ein Aufschlagen des . . . Kosmos" zur Heimat (XIV, 352) zu verheißen; die Beseitigung des Hungers wird dabei streng unterschieden von jener Erlösung der Mühseligen und Beladenen, für die der ökonomische Fortschritt nur Voraussetzung, aber nicht Erfüllung eines menschenwürdigen Lebens sein kann. E. Fromm schließlich hat in einer Mischung aus Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie den Entfremdungsbegriff neu zu fassen versucht. Unter Revision Freudscher Grundannahmen sieht er den Menschen durch das Bedürfnis nach sozialer Beziehung, nach Kreativität, nach festen Wurzeln, nach Identität und Orientierung bestimmt (Mensch). Die Verwirklichung dieser Bedürfnisse wird gefährdet durch die Furcht des modernen Menschen vor der Freiheit, der er durch die Flucht in Autorität und Konformität zu entgehen sucht (Furcht). Die für den Kapitalismus typische Orientierung des Lebens am „ H a b e n " erzeugt entfremdete Formen des Charakters, den autoritär-zwanghaft-hortenden, zum Sado-Masochismus und zur Nekrophilie neigenden destruktiven und schließlich den das ganze Leben als Kapitalanlage betrachtenden „marketing"-Charakter (Anatomie; Haben oder Sein). Eine Abhilfe erhofft Fromm — ähnlich wie Bloch und Marcuse — von einer neuen Wissenschaft und humanen Technik (Revolution), aber auch von einer vernünftigen Regelung des Konsums, von Dezentralisierung, internationaler Wirtschaftsgerechtigkeit, ja sogar von einer neuen, nicht-theistischen, nicht-institutionalisierten, naturfreundlichen Religion. Diese soll die Lebensform des „Seins" tragen helfen, die als Aktivität, als Wille, zu teilen und zu geben, die Orientierung am „Haben" ablösen soll (Haben oder Sein). 8.2. Empirische Psychologie und Sozialwissenschaft. Westliche Psychologie und Sozialwissenschaft sind durch Simmeis spekulative Soziologie sowie mehr noch durch Dürkheims klassische Untersuchungen zur Erforschung von Entfremdungsphänomenen angeregt worden. Nach G. Simmel war in der Herrschaft des —»Geldes die höchste Form von Verdinglichung zu sehen, die einerseits als Befreiung von persönlicher Autorität und Herrschaft, andererseits als Universalisierung unpersönlicher, neutraler, nur noch durch anonyme Institutionen oder Dinge vermittelter Beziehungen zu deuten sein sollte (Phil, des Geldes). Isolation und Entwurzelung gehen dabei Hand in Hand mit einer Hypertrophie des Intellekts auf Kosten des Gefühls. Einem Anwachsen objektiver Kulturgehalte steht die wachsende Unfähigkeit der Subjekte gegenüber, die angebotenen Kulturwerte wahrnehmen zu können (Begriff). L Dürkheim faßte unter dem Begriff der „Anomie" Störungen des traditionellen Normengefüges, des Kollektivbewußtseins und der Integration des Einzelnen zusammen. Wie die berühmte Studie über den Selbstmord nachwies, kann sich Anomie als zu schwacher oder zu starker Integrationsdruck sowohl in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität als auch in Krisensituationen oder Phasen allzu raschen gesellschaftlichen Wandels als Verstärkung von Selbstmordtendenzen auswirken. Dürkheims Begriff der Anomie — in Kürze als Normenlosigkeit oder Sinnverlust definierbar - hat zahlreiche neuere Untersuchungen geprägt. Nach T. Parsons übernahm auch R. K. Merton den Begriff für seine Untersuchung, die für die neuere amerikanische Soziologie nahezu dogmatische Bedeutung gewann. In einer Theorie der Anpassung wurde Anomie definiert als „breakdown of the cultural structure", als Disjunktion zwischen kulturellen Normen und Zielen und der Kapazität der Subjekte, diese Ziele zu erreichen (162). In der am meisten verwendeten empirischen Skala von L. Srole wurde Entfremdung psychologisch gemessen, und zwar mit Hilfe von fünf Fragen, die sich auf die Entfremdung der politischen Führer vom „kleinen M a n n " , auf die Einschätzung der Gegenwart und Zukunft sowie auf das soziale Vertrauen bezogen (198ff).G. Nettler ließ eine Untersuchung von Außenseitern folgen, deren ablehnende Haltung gegenüber der Familie, dem Fernsehen oder dem Massen-
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geschmack als Kriterium ihres abweichenden Verhaltens dienen sollte (222ff). Den entscheidenden Schritt zur operationalen Definition von Entfremdung vollzog allerdings erst die sozialpsychologische Studie von M. Seeman, die zwischen „powerlessness", „meaninglessness", „normlessness" („anomy"), „isolation" und „selfestrangement" differenzierte und später noch um die Unterscheidung von „social isolation" und „value-isolation" erweitert wurde. Trotz fehlender Systematisierung der einzelnen Dimensionen schlössen sich nahezu alle folgenden Untersuchungen an Seeman an. P. Clark differenzierte zwischen faktischem und als legitim empfundenem Machtgefühl, R. Blauner arbeitet heraus, daß Machtund Sinnlosigkeit in verschiedenen Wirtschaftsunternehmungen unterschiedlich erfahren werden, und Politikwissenschaftler versuchten, Machtlosigkeit, Normenlosigkeit und Isolierung am Beispiel des Wählerverhaltens, der politischen Apathie, des Extremismus oder der Einstellung zur politischen Führung zu messen (Aberbach; Dean; Finifter; Thompson/Horton u.a.). Umstritten blieb bis heute der Grad, in welchem gerade die Unterprivilegierten unter der Anomie leiden. Während Bell, Merton und Srole gerade die Unterschicht unter der Anomie leiden sehen, wurde dieser Befund von Robert/Rokeach bestritten und von E.H. Mizruchi nach der Einstellung zu Einkommen und Ausbildung differenziert. Demnach ist das Gefühl der Anomie umso stärker, je niedriger Ausbildungsstand und Einkommen sind, jedoch entschädigt anscheinend ein hoher Ausbildungsstand nicht für ein als zu niedrig empfundenes Einkommen, wie umgekehrt materieller Erfolg das Gefühl mangelnden Bildungsprestiges nicht beseitigt. 9. östliche
Entfremdungsdiskussion
Dem enormen Interesse westlicher Neomarxisten, Phänomenologen und empirischer Sozialwissenschaftler an dem Problem der Entfremdung steht die Ignorierung des Problems in der Sowjetunion zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren gegenüber. Nach der Kritik an Lukäcs wurde das Thema erst in den fünfziger Jahren wieder aufgegriffen, dann aber auch nur, um die Bedeutung von Entfremdung herunterzuspielen oder auf die Ökonomie einzuengen (Rozenberg). Als dann nicht nur im Westen, sondern auch in manchen östlichen Staaten eine breite Entfremdungsdiskussion einsetzte, beschränkte man sich in der Sowjetunion und in der DDR zunächst auf die Kritik anthropologischer und existentialistischcr Deutungen (Buhr; Gedö; Höfer; Oiserman; Mende). Die Marxsche Entfremdungsanalyse sollte allein für den Kapitalismus, nicht für den Sozialismus gelten (Kurella). Wenn von Entfremdung im etablierten Sozialismus überhaupt die Rede sein könnte, dann müßte sie als religiöses oder bürokratisches Überbleibsel der alten Gesellschaft verstanden werden (Heise; Ogurcov). Auch bediente man sich der Strategie, die Lehre des jungen Marx gegenüber der politischen Ökonomie des „reifen" Marx als bloßes Vorstadium abzuwerten. Bereits 1960 hatte dagegen G. Petrovic die Aufhebung des jungen Marx in den älteren als Stalinismus kritisiert und für „einen" Marx plädiert. Petrovic und mit ihm zahlreiche der um die Zeitschrift Praxis gruppierten Autoren (Stojanovic, Markovic, Vranicki) betonten die Existenz von Entfremdung auch im Sozialismus; die bloße Abschaffung des Privateigentums beseitigt Entfremdung noch nicht, da die Frage der Verfügungsmacht über Eigentum, das Problem der Bürokratie, der Parteiorganisation, des Staatsaufbaus und des sozialistischen Humanismus damit noch nicht entschieden sind. In der Tschechoslowakei vertrat der unter Dubcek ins Zentralkomitee der KPC gewählte K. Kosik in einer existentialistischmarxistischen Praxisphilosophie ähnliche Thesen, die in einem Aufruf zur Destruktion aller „Pseudokonkretheit" gipfelten. In Polen hat vor allem A. Schaff das Fortbestehen der Entfremdung im Sozialismus anhand des Staates, des Warencharakters der Arbeit, der Arbeitsteilung und der Familie nachweisen wollen. 10. Ende der
Entfremdungsdiskussion?
Wer die Entfremdungsdiskussion heute überblickt, wird ein Abklingen der Diskussion, ja sogar ein gewisses Unbehagen angesichts des Themas nicht übersehen können. Der bis in die sechziger Jahre vieldiskutierte Begriff hat noch immer allzuwenig systematische Klärung
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Entfremdung I
und Präzisierung erfahren. Die Versuchung scheint verlockend zu sein, den Begriff überhaupt fallenzulassen und ihn durch präzise, einzelwissenschaftlich nachprüfbare Kategorien zu ersetzen. Zumindest kann heute davon ausgegangen werden, daß Entfremdung als Globalkategorie kein sinnvoller Begriff wissenschaftlicher Diskurse mehr ist. Vielmehr ist bei jeder Diskussion heute anzugeben: Entfremdung wovon, von wem, und wenn möglich, auch in welcher einzelwissenschaftlich nachprüfbaren oder präzisierbaren Bedeutung. Andererseits läßt auch die empirische Erforschung des Begriffs ein Unbehagen zurück. Denn hier wird meistens gemessen, was mit ganz unverfänglichen Begriffen als Unzufriedenheit oder bloße Abweichung von irgendeiner Norm, in der Tat unter Verzicht auf den globalen Entfremdungsbegriff, beschrieben werden kann. In manchen amerikanischen Untersuchungen wird sogar als Maßstab der Entfremdung das Empfinden der amerikanischen Mittelklasse vorausgesetzt, so daß dann z. B. jeder entfremdet wäre, der den Reader's Digest nicht lesen möchte. So sehr Präzisierung nottut, so wenig kann empirische Forschung den Entfremdungsbegriff ersetzen. Dieser hat offensichtlich eine kritische, normative, humanistische und manchmal sogar metaphysische Dimension, die von der empirischen Wissenschaft gar nicht erfaßt werden kann. Es dürfte sogar eines der wenigen feststehenden Ergebnisse der Entfremdungsdiskussion sein, daß der Begriff sich nicht einmal auf eine ökonomische Bedeutung verengen läßt. Wer die Eigentumsverhältnisse ändert, hat noch nicht viel geändert. Es bleibt dann noch immer das Problem hochspezialisierter Arbeitsteilung, es bleiben die Folgen raschen gesellschaftlichen Wandels, es bleibt das Problem politischer, bürokratischer, interpersoneller oder sogar die gesamte Natur betreffender Entfremdung zurück. Entfremdung ist heute nur noch als ein Kapitalismus und Sozialismus umfassender Begriff sinnvoll diskutierbar. Allerdings ist seine geschichtliche Reichweite nicht unbegrenzt. Die Versuche, den Entfremdungsbegriff zu anthropologisieren oder sogar zu ontologisieren, werden der Tatsache nicht gerecht, daß Entfremdung ein spezifisch neuzeitliches Phänomen ist: das wie immer ungewollte Resultat des Emanzipationsanspruchs des modernen Subjekts. Die Radikalität der Entfremdungserfahrung und die Maßlosigkeit der Freiheits- und Versöhnungsansprüche gehören zusammen, und zwar als Pole der Entzweiung, die schon Hegel nicht zu schließen, sondern auszuhalten empfahl. Dies ist dem Christen um so leichter gemacht, als er an die Totalität der Entfremdung wegen der schon geschehenen Erlösung genauso wenig glauben wird, wie er auf eine vom Menschen selbst und allein zu leistende Aufhebung der Entfremdung nicht hoffen muß. Für sich genommen, bilden moderne Subjektivität und Entfremdung einen Gegensatz, der zur Herstellung einer unvermittelten, falschen, alles Fremde und Andere vernichtenden Unmittelbarkeit geradezu drängt, sei dies Andere unsere innere und die äußere Natur oder der Andere selbst. Das sich zur Verfügung über Natur und Geschichte ermächtigende Subjekt der Neuzeit kann heute vielleicht in der an ihre Grenzen stoßenden Naturverfügung die Erfahrung seiner Endlichkeit neu gewinnen; vielleicht daß dann Entfremdung auch als ein Begriff diskutierbar wird, in dem zwischen den notwendig auszuhaltenden sowie den selbstverschuldeten und vom Menschen abschaffbaren Kontingenzen unserer Existenz besser unterschieden werden kann. Quellen und Literatur Zu 1. u. 2.: Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958, Kap. 6. - Ernst Bloch, Entfremdung, Verfremdung: ders., Werke, Frankfurt a.M., IX 1977, 2 7 7 - 2 8 4 . - Erich Fromm, Entfremdung. Vom AT bis zur Gegenwart: Entfremdung, hg. v. H.-H. Schrey, 1975 (WdF 437) 6 0 - 91. - Sidney Hook, Revolution, Reform, and Social Justice, Oxford 1975. - Peter Christian Ludz, Aliénation as a Concept in the Social Sciences: Current Sociology 21/1 ( 1 9 7 3 ) . - Ernst Topitsch, Entfremdung u. Ideologie: Zur Entmythologisierung des Marxismus. Sozialphil. zw. Ideologie u. Wiss., Neuwied/Berlin 1966, 2 9 7 - 3 2 7 . Zu 3.: Quellen: Jean Jacques Rousseau, Contract social: Political Writings of Jean Jacques Rousseau, hg. v. C.E. Vaughan, Oxford, II 1962, 2 1 - 1 3 6 . - Ders., Discours sur l'inégalité: ebd., I 1962, 1 2 5 - 2 2 0 . - Ders., Politische Frgm.: Politische Sehr., Übers, v. L. Schmidts, Paderborn 1 9 7 7 , 2 0 9 - 2 8 2 . -Literatur: Heinrich Barth, Über die Idee der Selbstentfremdung bei Rousseau: Entfremdung (s. o. zu 1.
Entfremdung I
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672
Entfremdung I
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Henning Ottmann
673
Entfremdung II II. Theologisch-ethisch
1. Umriß des Begriffsfeldes 2. Zur Motivgeschichte 3. Entfremdung als Grundbegriff der Sozialethik 4. Mensch und Natur 5. Entfremdung und Entzweiung: die sozialphilosophische und -psychologische Problemstellung in der Ethik 6. Entfremdung als ethisches Thema (Anmerkungen/ Literatur S. 677) 1. Umriß
des
Begriffsfeldes
Die gegenwärtige Rede von „ E n t f r e m d u n g " im theologischen und theologisch-ethischen Sprachgebrauch verdankt sich weitgehend der — im vorangegangenen Abschnitt dargestellten — geistesgeschichtlichen Entwicklung des Begriffs. Das erklärt auch, w a r u m Theologie und Ethik den Begriff eher nur beiläufig gebrauchen. In der —»Ethik k o m m t er v o r allem für die theologische und anthropologische Grundlegung „ E n t f r e m d u n g " als Thema,
in B e t r a c h t . In zweiter Linie erscheint
in dem die Ethik Probleme der gegenwärtigen Lebenswirklich-
keit reflektiert, die sie als Gründe und Folgen vor allem der technischen und industriellen Weltveränderung begreift. Die Bedeutung von „ E n t f r e m d u n g " für die Ethik ist nur im Z u s a m m e n h a n g mit Problemstellungen
theologischer
Reflexion
zu erfassen, aus denen sich un-
terschiedliche Auffassungen von Ethik und verschiedene ethische Konsequenzen ergeben. 2. Zur
Motivgeschichte
Die systematischen Ansatzpunkte einer theologischen und ethischen Verwendung des Begriffs weisen über die begriffsgeschichtlich begrenzte Rezeption des „ m o d e r n e n " Begriffs hinaus: Die Bedeutung der Rede von „ E n t f r e m d u n g " ist in ihrer bis in biblische und antike Ursprünge reichenden Motivgeschichte begründet. 1 Zu ihr gehört auch die nicht-metaphorische Rede vom „Fremden" im Alten Testament. In Hebr 11,9 wird Abraham darin ein Beispiel für den christlichen Glauben genannt, daß er den Stand in der —•Verheißung (status promissionis) „als Fremdling im fremden Land" zusammen mit „Isaak und Jakob, den Miterben der Verheißung", eingenommen hat. Dies kann als ein biblisches Kriterium für die Rede von der „Entfremdung" genannt werden, wenn diese auf den Menschen im Glauben, auf die theologische und christliche Existenz bezogen ist. Dementsprechend bezeichnet Eph 2,12.19 die Unbeschnittenen als Fremdlinge gegenüber der Gemeinde {xoXirtia) Israel und den „Bundesschlüssen seiner Verheißungsgeschichte".- Aber mit dem Thema „Christentum und Welt" haben sich Theologie und Ethik noch auf eine andere Problemstellung eingelassen: statt den Glauben für die Welt zur Mitteilung zu bringen, fordert sie eine Reflexion des Verhältnisses von Glaube, Kirche, Christentum und „Welt". Im Blick darauf ist die Unterscheidung zwischen der Fremdlingschaft als status promissionis und als Wanderschaft (status viatoris) zu beachten. 1 In der angezeigten Spannung bewegen sich auch die Aussagen der Theologen der Alten Kirche. 4 Das Fremdsein des Christen im Bild der Wanderschaft und in der asketischen Haltung (—»Askese) bleibt ein Leitmotiv theologischer Reflexion, in der die Darlegung des christlichen Glaubens auch die soziale und politische Stellung des Christentums einschließt, ohne freilich davon allein bestimmt zu sein. Von dieser Problemstellung unabhängig bewahrt aber die Rede von der „Entfremdung" einen differenzierten metaphorischen Sinn. Er interpretiert vor allem auch den Begriff der —»Sünde (vgl. —»Augustin5). Auch in der reformatorischen Theologie ist die Rede von Entfremdung in dieser Weise in Gebrauch (vgl. Calvin, Inst. 11,16,2.3); zugleich kommt hier ein weiterer wesentlicher Akzent hinzu: die Entfremdung von Gott läßt Gott in seinem Handeln am Menschen als den fremden, verborgenen Gott erscheinen (vgl. Calvin, Inst. 11,16,11). Die Rede vom „verborgenen" Gott kennzeichnet auch den eschatologischen Stand des Menschen, in dem der Mensch seine Grenze im Widerspruch Gottes findet, der ihm handelnd gegenübertritt und entgegenkommt.' Die reformatorische Aussage hat innerhalb der neueren Dogmatik C. H. Ratschow weitergeführt. Er weist der Rede von der „Entfremdung" einen systematischen Ort dort zu, wo es festzuhalten gilt, daß es für den Christen kein ungebrochenes Weltverhältnis und keine „Gottunmittelbarkeit" gibt (vgl. 3 0 4 f)-7 Auf der Linie der reformatorischen Theologie ist von der „Entfremdung" des Menschen nicht als von einer Metamorphose des Menschen zu reden, sondern im Blick auf die Geschichte des Handelns Gottes mit dem Menschen. Demgegenüber erinnert das Verständnis von Sünde als „Entfremdung vom Leben Gottes" und die Rede von der „entfremdeten Natur" bei dem von J. —»Böhme beeinflußten F. Chr. —»ötinger auch an die Motivgeschichte gnostischen Denkens. 8 Das Thema der Geschichte Gottes mit den Menschen nimmt entschieden K. —»Barth wieder auf, wenn er die Geschichte der Versöhnung Gottes mit dem Menschen als den „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde" darzulegen beginnt (KD IV/1, 1953 = 1960, 1 7 1 - 2 3 1 ) . Barth hat damit auch die Problemstellung des 19. Jh., wie sie vor allem von —»Hegel geprägt worden war, aufgegriffen und neu be-
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Entfremdung II
stimmt.'' Sie hat der Reflexion gegolten, die die Stellung des Christentums und des christlichen Glaubens in seiner Zeit und Welt zu begreifen suchte. 10 Im Begriff der „Wirklichkeit Gottes" überholt Barth diese Problemstellung und schließt die Frage nach dem Verhältnis von „Christentum und Welt" in ihrer systematischen Bedeutung für die Grundlegung der Ethik aus. 11 Demgegenüber haben andere Konzeptionen der Ethik an der Frage nach der Stellung des Christentums in der Welt in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Ethik festgehalten (vgl. etwa die Diskussion um die —•Zweireichelehre). 12 Durch seinen christentumstheorctischen Sinn ist das Thema „Entfremdung und Versöhnung" als der Grundtenor bezeichnet, der die systematische Bedeutung der Rede vom Menschen, von seiner Bestimmung und Stellung nicht in der gleichen Weise hervortreten läßt. Aber er ist doch auch als der Ursprung einer zunehmenden Konzentration auf die Erkenntnis des Menschen in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Ethik anzusehen. So hat etwa S. —»Kierkegaards „Neuinterpretation der Entfremdung" (Heinemann 37), die hinter die Dialektik von Mensch und Welt, Mensch und Mensch zurück will, ihren Ausgang bei der Kritik des Christentums und seiner Weltstellung genommen. Die entschiedene Frage nach der Bestimmung des Menschen will dennoch ein neues Problem der „Entfremdung" in den Blick fassen: die „Selbst-Entfremdung" des Menschen, die aber nicht (wie bei K. —»Marx) als „die Entfremdung des Menschen von dem Menschen" (ökonomisch-philosophische Manuskripte: MEW, Erg. Bd. I, 517) begriffen werden kann; denn das „Wesen" des Menschen bleibt in seiner Bestimmung offen. Das Problem der „Entfremdung" betrifft jetzt - in einer weiteren Radikalisierung der Religionskritik L. —»Feuerbachs - den Verlust des (Selbst-)bestimmtseins des Menschen. P. —»Tillich hat das Thema „Entfremdung und Versöhnung" auf dieser Linie theologisch interpretiert: „Der moderne Mensch hat ein tiefes Empfinden für die Entfremdung von seinem ursprünglichen und wahren Sein. Er ist sich seiner Feindschaft gegen sich selbst und gegen die Welt bewußt; er weiß um seine Trennung vom letzten Grund des Seins und Sinnes" (Entfremdung u. Versöhnung 183). In diesem Begriff der Selbst-Entfremdung komme zur Geltung, sagt Tillich, daß die Entfremdung des Menschen „religiös" verstanden werden muß, d. h. im Sinne des den Menschen bestimmenden Gottesverhältnisses. Von daher lasse sich auch der Begriff der „Sünde" neu verstehen." Demgegenüber ist die systematische Bedeutung des Themas „Entfremdung und Versöhnung" darin erblickt worden, daß es eine solche Deutung der „Menschwerdung des Menschen" enthält, auf die hin „Geschichte" theologisch wahrgenommen werden kann. J. S. Trojan sieht in seiner (im Blick auf die Situation der christlichen Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der CSSR geschriebenen) Abhandlung über „Entfremdung und Nachfolge" eine Alternative zwischen zwei Begriffen von „Entfremdung": „Der Entfremdung als Alienation geht das Normale, Ursprüngliche sowohl im begrifflichen als auch zeitlichen Sinn immer voraus, während Entfremdung als Estrangement das Ur-hafte zeitlich ebensogut am Anfang wie am Ende stehen k a n n " (26). In diesem letzteren Begriff findet Trojan sowohl Marx* Analyse der produktiven Arbeit und der Entfremdung in der Ökonomie als auch den theologischen Sinn von „Entfremdung" zur Geltung gebracht. Beides ist durch die Wahrnehmung des Menschen in seiner „Geschichtlichkeit" (27) verbunden. „Entfremdung" ist nach Trojan das Zurückbleiben auf dem Weg, auf dem Gott und mit ihm der Mensch in der Nachfolge gehen. Das Thema „Entfremdung und Nachfolge" zielt auf die Mobilisierung weltgestaltenden Handelns. Das Problem des „Verhältnisses" von Christentum und Welt, von dem das Thema „Entfremdung" bestimmt war, ist in dieser eschatologischen Ausrichtung überholt. W. Pannenberg hat mit Bezug auf die „individuelle Freiheit" als die christlich verstandene Bestimmung des Menschen die „ N a t u r " des Menschen als „die Geschichte der Verwirklichung der menschlichen Bestimmung" (18 f) bezeichnet. Das menschliche Wesen gehört in „die Dimension eines .Nochnicht'", „das allerdings dennoch in irgendeiner Weise auch die Gegenwart schon bestimmt, weil das gegenwärtige Leben des Menschen auch im Falle radikaler Entfremdung immer noch ein menschliches bleibt" (18). „Entfremdung" ist eine verkehrte Gestalt der Freiheit, in der der Mensch statt der Einstimmung in die „Wirklichkeit Gottes" eine individualistische Selbstbehauptung sucht. Die Deutung der Entfremdung als das Zurückbleiben des Menschen auf dem geschichtlich bedingten Weg seiner Bestimmung in ihrer eschatologischen Reichweite hat das Problem der Weltbeziehung des christlichen Glaubens dadurch überholt, daß es ihn in einen universalen Welthorizont einzeichnet. Auf ihn ausgerichtet, tritt der christliche Glaube der „Welt" handelnd gegenüber, wird aber von diesem Weltverhältnis nicht in seinem Wesen bestimmt. So kann „Entfremdung" dieses eschatologisch-geschichtliche Weltverhältnis des Menschen bezeichnen, das weltveränderndes Handeln begründet. In diesem Sinn hat J. Moltmann „Entfremdung" als „Entäußerung" theologisch interpretiert. 14
3. Entfremdung
als Grundbegriff
der
Sozialethik
Auch in der Grundlegung der —»Sozialethik ist die Frage erörtert worden, wo die ethische Erkenntnis im Verhältnis des Menschen zur „ W e l t " ihren Ort hat. Obgleich christliche Sozialethik eine kritische Distanz gegenüber allen den Menschen bestimmenden Lebensbedingungen bewahren muß, kann sie sich doch von keiner Weltangst leiten lassen. Dies ist vor al-
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lern unter dem Begriff der „Weltverantwortung" reflektiert worden. Darauf ist die Intention von A. Rieh ausgerichtet, wenn er die Aussage zu begründen sucht, daß auch die industrielle Welt von heute in die Verheißung „der alles neu machenden Herrschaft Gottes" (Selbstentfremdung 197) hineingenommen ist. Die aufzuweisenden Symptome der Selbstentfremdung des Menschen veranlassen dazu, die vom Menschen geschaffene Welt humaner zu gestalten. Das „Humanuni" wird zum „Leitbegriff der Sozialethik"; gefragt wird nach Kriterien der —•Humanität, durch die das ethische Urteil das dem Menschen im Blick auf die Verheißung Angemessene zu umreißen sucht. So meint „Entfremdung" zwar auch ein eschatologisch begründetes Urteil über die „Selbstverfallenheit" (198) der Welt, aber die ethische Reflexion verbleibt in den Grenzen der für die Ethik überschaubaren und in Kriterien bestimmbaren Humanität, in den Grenzen des „Menschengerechten". 1 5 Die Einbeziehung einer eschatologischen Perspektive führt hier zu der Konsequenz, daß zwar die Humanisierung der bestehenden Wirklichkeit ethisch bedacht wird, daß diese aber nicht mehr als die „Menschwerdung des Menschen" erklärt werden kann. Eben dies begründet ein ethisches Eintreten für eine bestimmte (christliche) Humanität, der gegenüber auch von „Entfremdung" zu reden ist. 16 In diesem Konzept einer ethisch-urteilenden Orientierung am „Humanuni" als Leitbegriff stimmen evangelische und katholische Sozialethik weitgehend überein; unterschiedliche Anschauungen bestehen darüber, wie und in welchen Aussagen die „Humanität" des Menschen theologisch bestimmt und begründet ist, inwiefern das theologische „Problem des Menschen" von der ethischen Wahrnehmung seiner „Entfremdung" unterschieden ist. 17 Wo die Sozialethik die „Humanisierung" der Lebensbedingungen in der industriellen Welt bedenkt, zielt sie nicht auf eine „revolutionäre Veränderung", die von einem universellen Punkt aus zu denken wäre. Auf die ausstehende Totalität des Menschen hin ist keine an bestimmter Stelle ansetzende Revolution zu begründen. Das Verständnis von Revolution ist auch in der Auseinandersetzung mit dem marxistischen Denken diskutiert worden. I S Wenn sich die Sozialethik nicht von einem revolutionären Konzept leiten läßt, dann auch deshalb, weil die ethische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse keine solche theoretische Konzentration gewonnen hat, wie — auch bedingt durch den wissenschaftlichen Anspruch — bei Marx. So dient in der Ethik der Begriff „Entfremdung" oft nur einer partiell wertenden Beurteilung von Phänomenen, die in ihrer fragwürdigen Bedeutung für die Erhaltung menschengerechter Lebensbedingungen wahrgenommen werden sollen. Eine theoretische Erklärungskraft des Begriffs läßt sich auch kaum bei den Einzelthemen beobachten, die im Zuge der Entwicklung der Sozialcthik zunehmend Beachtung gefunden haben: das Problem der —»Arbeit, des (Privat-) —»Eigentums, der Gesellschaftsordnung (—»Gesellschaft), der —•Wirtschaft. Dies gilt, obgleich in diesen Bereichen das fundamentale Verhältnis des Menschen zum Menschen und zu seiner Welt Gegenstand der Reflexion ist. Die Sozialethik geht aber zugleich davon aus, daß das „Problem des Menschen" in der Gesellschaftsordnung oder in der Ökonomie nicht in seiner ganzen Reichweite zum Austrag kommt. Die auch für die Sozialethik bedeutungsvolle Auseinandersetzung mit dem marxistischen Denken führt eher auf die Problemstellung der Religionskritik zurück. 19 „Wenn aber die .Gegenständlichkeit' im Verhältnis zur Natur und Mitmensch" - so argumentiert H. Gollwitzer im Blick auf Marx - „nicht mit Entfremdung identisch ist, so muß auch die Gegenständlichkeit im Verhältnis zu Gott, das Gegenüber von Gott und Mensch nicht mehr ausweglos ein Entfremdungsphänomen sein" (Religionskritik 75). „Entfremdung" meint eine in falscher Weise in Anspruch genommene Autonomie, die das den Menschen bestimmende Verhältnis zu Gott mißachtet. 20 Die anthropologische Grundlage des Marx'schen Entfremdungsbegriffs hat H.-H. Schrey mit dem Hinweis auf die „Ambivalenz" menschlicher Entfremdung kritisch beleuchtet: „einerseits gehört es zur menschlichen Existenz, daß sie sich in die Welt hinein entäußern muß, um diese sich anzueignen, zu ,ihrer' Welt zu machen, andererseits aber führt diese das Menschsein durchwaltende Negativität dazu, daß der Mensch sich in der Fremde verliert" (Einf. XI). Auch diese Unterscheidung sieht den Menschen nicht ausschließlich von seinem Weltverhältnis bestimmt und wirft daher die (religiöse) Frage nach
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der Grenze des Menschen und seiner Freiheit auf. Die theologische Ethik hat dies im Begriff der —»Arbeit, des „Werkes" des Menschen zu bedenken. Sie kann dabei an den reformatorischen Begriff des „äußeren" Werkes anknüpfen. 4. Mensch und
Natur
Die Aufmerksamkeit der Sozialethik hat sich in jüngster Zeit zum Teil von den Problemen der Humanisierung gesellschaftlicher Strukturen auf die Probleme des Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums, insbesondere aber der Umweltbedingungen des Menschen verlagert. Im Gesamtzusammenhang der ökologischen Problemstellung ist erneut von „Entfremdung" die Rede gewesen, die hier vor allem die Zerstörung des Verhältnisses von Mensch und Natur meint. Diese Kritik zielt auch darauf, daß bei allem Bemühen um eine Humanisierung der Lebensstrukturen kein neues Bündnis mit technischem Fortschritt eingegangen werden darf. 2 1 Weiter geht der Entwurf einer Ethik, der nicht mehr vom Menschen und seiner Beziehung zu der ihm äußeren Umwelt ausgeht, sondern von „Mensch und N a t u r " als „produktivem Lebenszusammenhang" (Rudolph 322 f). Die Symbiose von Mensch und Natur soll das (neuzeitlich gedachte) Subjekt der Naturbeherrschung und -aneignung ablösen. Nicht mehr nur die „Entfremdung" des Menschen, sondern die „Entfremdung der Natur" soll bedacht werden. Theologisch aufgenommen wird die Wahrnehmung einer dem Menschen und vom Menschen „entfremdeten Natur" in der Rede von der „Schöpfung" als der „bestimmt crfahrbare(n) Gestalt der Welt", auch in ihrem eschatologischen Sinn als „neue Schöpfung" (Link, Weltentwurf 387). Im Blick darauf soll von „Welt und Mensch" die Rede sein; „Welt" meint hier den oi'xo; [Wohnstätte] alles Geschaffenen. Auch der Begriff der „Ordnung" Gottes erscheint hier erneut. Diese Reflexion löst — auf dem Hintergrund der ökologischen Probleme — in gewisser Weise die These von H. Arendt ein: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meint, ist das Kennzeichen der Neuzeit" (Vita activa, 1960, 249). Wird die „Welt" als Wohnstätte oder als „Gleichnis des Reiches Gottes" gesehen, muß aber die Frage gestellt bleiben, inwiefern solche Erwartungen dem Stand des Christen in der Verheißung entsprechen. 5. Entfremdung und Entzweiung: blemstellung in der Ethik
die sozialphilosophische
und -psychologische
Pro-
Eine (auch die Theorie von Marx fortführende und zugleich kritisch erweiterende) Interpretation hat die Rede von der Entfremdung des Menschen durch sozialphilosophische und psychoanalytische Anschauungen erfahren, die auch in der theologischen Ethik ansatzweise aufgenommen worden sind. Auf dieser Linie ist es zu sehen, wenn mit dem Hinweis auf die „dreifache Entzweiung des modernen Ich mit äußerer Natur, Gesellschaft und innerer N a t u r " (J. Habermas) der Ethik programmatisch die Aufgabe einer (neuen) Integration des Menschen und seiner Lebenswirklichkeit zugewiesen wird. 22 Im gleichen Zusammenhang ist auch der sozialpsychologisch und psychoanalytisch geprägte Begriff der —•Identität des Menschen als Leitbegriff in die Ethik aufgenommen worden. 2 ' Mit ihm soll die Entfremdung auch des Individuums in den Blick gerückt werden, anders als dies — so lautet die Kritik — bei Marx der Fall gewesen ist. 24 Die Ethik sieht sich hier vor das Problem gestellt, inwiefern es möglich ist, von der (individuellen) —»Person des Menschen auszugehen, die ethisch verantwortlich handelt, und auf die hin gehandelt werden soll. In verschärfter Form gilt diese Fragestellung angesichts einer „Identitätskrise" des einzelnen Menschen, wie sie sozialkritisch gesehen wird. Der Zerfall der menschlichen Person, die „Entpersönlichung" wird zum Wechselbegriff für die „Selbstentfremdung". E. Biser kennzeichnet sie etwa als Einbruch von „Fremdstrukturen" „in das menschliche Existenzzentrum, das im selben M a ß der personalen Eigenregie entgleitet" (Menschsein 102f). .„Entfremdung' ist insofern der Hinweis darauf, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen der heutige Mensch existiert, seinem Streben nach personaler Integration abträglich sind" (125). Zu bedenken ist daher die „Aufhebung der entfremdenden Verhältnisse", etwa im Blick auf eine Veränderung der Produktionsverhältnisse (126); die Aufhebung der Entfremdung muß „mit
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emanzipatorischen Akten des einzelnen ihren Anfang n e h m e n " ( 1 2 9 ) . Zugleich aber hat die theologische Ethik daran festgehalten, daß - wie T r . R e n d t o r f f es formuliert hat — „der konkrete und empirische M e n s c h in einer kontra faktischen Weise als Person a n g e n o m m e n werd e n " muß, „weil sein Personsein . . aus der T e i l n a h m e an der Gemeinschaft mit G o t t den das Handeln tragenden und orientierenden Sinn e m p f ä n g t . Religiöse Ethik ist insofern auf die Integration der humanen ethischen Kriterien und Erfahrungen a n g e l e g t " (Problemfelder 2 1 3 ) . Das zeigt einmal mehr, d a ß die (evangelische und katholische) Sozialethik die ethische Person nicht im R a h m e n der (sozialen) Anpassung und Abgrenzung, im R a h m e n der sozialen Lernfähigkeit des M e n s c h e n bedenkt, sondern sich von der (neuzeitlichen) Frage nach dem Subjekt des Handelns und der Wirklichkeit des M e n s c h e n leiten läßt. D i e A u f n a h m e des - v o r allem in Amerika ausgearbeiteten — T h e m a s „ E n t f r e m d u n g " im Sinn der sozialen Integration bleibt, so ansatzweise sie bisher erfolgt ist, mit dieser Problemstellung vermittelt.
6. Entfremdung als ethisches
Thema
In dem Begriff „ E n t f r e m d u n g " reflektiert die theologische (Sozial-)ethik verschiedene fundamentale, den M e n s c h e n auch in seiner gegenwärtigen Lebenswirklichkeit bestimmende Verhältnisse. Sie unterscheidet davon die Aussage vom (eschatologischen) Fremdsein des Christen; diese begründet die ethische W a h r n e h m u n g . Das ethische T h e m a des Fremdseins u m f a ß t — auch in dieser Sicht — eine Reihe von Problemen, die freilich in der theologischen Ethik nicht die gleiche Beachtung gefunden haben wie jene, die aufgrund des „ m o d e r n e n " Entfremdungsbegriffs in den Blick g e k o m m e n sind. 2 5 Gerade in jüngster Z e i t haben sich als besonders dringlich erwiesen: das Problem der Heimatlosigkeit zahlloser Flüchtlinge, das Problem der sozialen Stellung und Integration von „ A u s l ä n d e r n " , das (in der Mission und Ö k u m e n e bedachte) Problem der Eigenständigkeit und kulturellen Identität der V ö l k e r und Volksgruppen. Im Z u s a m m e n h a n g dieser T h e m e n wird die Ethik zum einen Urteilskriterien noch entwickeln müssen (etwa in der Frage nach dem „ R e c h t a u f — » H e i m a t " ) , zum anderen wird sie gerade in diesen T h e m e n jene grundlegenden, die Bestimmung des M e n schen und den (eschatologischen) Stand des Christen betreffenden Aussagen zur Geltung bringen müssen.
Anmerkungen Vgl. Fascher, Art. Fremder. 2 Übersetzung nach Ulrich Wilkens, Das NT, Einsiedeln u.a. "1980. 1 S. dazu die Ausführungen von Gerhard Sauter, Dogma — ein cschatologischer Begriff: ders., Erwartung u. Erfahrung. Predigten, Vortr. u. Aufs. 1972 (TB 47) 1 6 - 4 6 , hier 35f. "Belege bei Fascher, Art. Fremder 3 4 3 - 3 4 5 und bei E. Ritz, Art. Entfremdung HWP 2 (1972) 5 0 9 - 5 2 5 , hier 5 1 0 - 5 1 2 . 5 Belege für den Sprachgebrauch bei Augustin finden sich in: Concordantiae Augustinianae sive Collectio omnium sententiarum quae sparsim reperiuntur in omnibus S. Augustini operibus, Labore Davidis Lenfant, I 1656, s.v. „alienare", „alienatio", „alienatus", „alienus". 6 Zu beachten ist die Beziehung zur Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium", zur Aussage vom „verborgenen Gott" und zum Begriff der „Anfechtung"; vgl. Rudolf Hermann, Ges. u. nachgel. Werke. I. Luthers Theologie, hg. v. Horst Beintker, Göttingen 1967, bes. 120 ff; Hans Joachim Iwand, Nachgel. Werke. V. Luthers Theologie, hg. v. Johann Haar, München 1964, 7 5 - 8 4 . 9 0 - 1 0 1 ; zur Verborgenheit Gottes vgl. bes. 1 1 1 - 1 1 6 , wo Iwand (unter Bezug auf Ps 22,2; Mt 27,46) auf Luthers Verständnis des Christus am Kreuz eingeht. 7 Vgl. dazu vor allem auch Friedrich Gogarten, Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theol. Problem, 1958 = München/Hamburg 1966. 8 S. seine Schrift: Inquisitio in sensum communem et rationem, 1753 = Stuttgart-Bad Cannstadt 1964, 4,11. ' Vgl. Steck/Schellong; Steck interpretiert in seinem Beitrag Versöhnung oder Entfremdung? (7-34) Barths Lehre von der Versöhnung auf dem Hintergrund des von der Religionskritik des 19. Jh. geprägten Begriffs der „Entfremdung" und im Blick auf die Frage, wie das Verhältnis von Gott und Mensch im Versöhnungsgeschehen so gedacht ist, daß die theologische Aussage der religionskritischen Bestreitung einer „Entfremdung als Versöhnung" standhalten kann. Eine umfassende Darstellung des Themas im 18. und 19. Jh. bietet Comehl. 10 S. die Charakterisierung bei K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 5 1964, 4 1 5 . 1
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S. dazu die Kritik von W. Pannenberg, Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch: ders., Ethik u. Ekklesiologie. GAufs., Göttingen 1977, 7 0 - 9 6 , hier 95. Vgl. dazu auch Tr. Rendtorff, Kirche u. Theol. Die syst. Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theol., Gütersloh 1966, 207—213. 12 Vgl. jetzt das Konzept, das dem Hb. der christl. Ethik, hg. v. Anselm Hertz u. a. 2 Bde., Freiburg/Gütersloh 1978 zugrundeliegt. 1 3 Vgl. auch P. Tillich, Wesen u. Bedeutung. 14 Vgl. J. Moltmann, Theol. der Hoffnung 311. 15 S. dazu bes. Rieh, Grundlagen; Vgl. auch: ders., Das ,Humanum' als Leitbegriff der Sozialethik: Humane Gesellschaft. Beitr. zu ihrer sozialen Gestaltung, hg. v. Trutz Rendtorff/Arthur Rieh, Zürich 1970, 1 3 - 4 5 . 16 S. dazu Wilfried Härle, Humanität. Überlegungen zum Verhältnis v. Anthropologie u. Ethik: Anthropologie als Thema der Theol., hg. v. Hermann Fischer, Göttingen 1978, 1 1 9 - 1 2 9 . 17 Zur katholischen Soziallehre vgl. Humanum. Moraltheol. im Dienst des Menschen, hg. v. Johannes Gründel/Fritz Rauh/Volker Eid, Düsseldorf 1972; zur ev. Sozialethik: Humane Gesellschaft (s.o. Anm. 15). 18 Dies hebt vor allem auch Ernst Bloch als die entscheidende Frage hervor: Marx u. Abtun der Entfremdung: ders., Karl Marx u. die Menschlichkeit, Reinbek 1969 = 1970, 1 4 3 - 1 4 8 ; vgl. Gollwitzer, Religionskritik 72. 19 Vgl. auf evangelischer Seite besonders: Marxismusstudien 1 . - 7 . Folge, Tübingen 1 9 5 4 - 1 9 7 2 ; auf katholischer Seite: Christentum u. Marxismus — heute; Schöpfertum u. Freiheit. 2,1 Zu dieser Fragestellung s. W. Pannenberg, Reden v. Gott angesichts atheistischer Kritik: ders., Gottesgedanke u. menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 2 9 - 4 7 ; vgl. Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 1977, 8 0 - 8 5 , vgl. 127f. 2 1 Das ist das Anliegen von Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979. 2 2 S. dazu Wolfgang Huber, Anspruch u. Beschaffenheit theol. Ethik als Integrationswiss.: Hb. der christl. Ethik, hg. v. Anselm Hertz u.a., Freiburg/Gütersloh, I 1978, 3 9 1 - 4 0 6 . 2 1 Einen Einblick in die Fragestellung bietet Gerfried W. Hunold, Identitätstheorie: Die sittliche Struktur des Individuellen im Sozialen: Hb. der christl. Ethik (Anm. 22) 1 7 7 - 1 9 5 . 2 4 Vgl. z. B. Hunold: ebd. 185 f. Entscheidend für die Weiterführung der Problemstellung war vor allem die Vermittlung der Theorien von Marx und Freud: s. dazu bes. Jürgen Habermas, Erkenntnis u. Interesse 4 1 9 7 7 , 3 3 2 - 3 5 2 . 2 5 S. etwa die Darlegung des Problems der „Heimatlosigkeit" bei Helmut Thielicke, Theol. Ethik. II/3. Ethik der Gesellschaft, des Rechtes, der Sexualität u. der Kunst, Tübingen 2 1968, 1 1 5 - 1 2 1 . 11
Literatur Eine umfassende Bibliographie auch der theologischen und ethischen Literatur ist enthalten in: Entfremdung (s.u.), 4 8 1 - 5 0 7 . Die wichtigste Literatur zu den sozialethischen Themen, auf die der Begriff „Entfremdung" verweist, ist gesammelt bei Heinz-Horst Schrey, Einf. (s.u.). Diese Bibliographien werden durch die folgenden Literaturangaben nur ergänzt. Die englischsprachige - vor allem soziologische — Literatur verzeichnet weitgehend auch Arthur Fischer, Die Entfremdung des Menschen in einer heilen Gesellschaft. Materialien zur Adaption u. Denunziation eines Begriffs, München 1970, 9 8 - 1 0 3 . Aliénation. Concept, Term and Meanings, hg. v. Frank Johnson, New York/London 1973. - Karl Barth, KD IV/1, 1953 = 2 1960, 1 7 1 - 2 3 0 . - P e t e r L. Berger, Religion u. Entfremdung: ders., Zur Dialektik v. Religion u. Entfremdung. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt 1973, 79—98. Walther Bienert, Der überholte Marx. Seine Religionskritik u. Weltanschauung krit. unters., Stuttgart 2 1974. - Ders., Über Marx hinaus zum wahren Menschsein, Frankfurt 1979. - L. Charles Birch, Purpose in the Universe. A Search for Wholeness: Zygon 6 (1971) 4 - 2 7 . - Eugen Biser, Menschsein in Anfechtung u. Widerspruch, Düsseldorf 1980. - Hans Bosse, Marx - Weber-Troeltsch. Religionssoziologie u. marxistische Ideologiekritik, 1970 (GT.SW 2). - Joan Brun, Technique et aliénation: RHPhR 44 ( 1964) 1 1 9 - 1 2 8 . - Friedrich Büchsei, Art. ¿U/loç usw.: T h W N T 1 (1933) 2 6 4 - 2 6 7 . - Matthieu Casalis, Contribution to the Critique of Religious Aliénation (Abstract): JAAR 46 ( 1978) 362. - Christentum u. Marxismus - heute. Gespräch der Paulusgesellschaft, hg. v. Erich Kellner, Wien 1966. - Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie u. Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel u. in der Hegeischen Schule, Göttingen 1971. - Ilham Dilman/Dewi Z. Phillips, Sense and Delusion, New York 1971. - André Dumas, Befreiung u. Verwurzelung: ZEE 22 ( 1978) 91 - 1 0 4 . - Louis Dupré, Aliénation and Redemption through Time and Memory. An Essay on Religious Time Consciousness: JAAR 43 ( 1975) 6 7 1 - 6 7 9 . — Werner Eichinger, Entfremdung u. Sünde. Das anthropologische Grundproblem in der Auseinandersetzung zw. der neueren Theol. u. dem Marxismus, Diss. Münster 1975. - Entfremdung, hg. v. Heinz-Horst Schrey, 1975 (WdF 437). - Erich Fascher, Zum Begriff des Fremden: ThLZ 96 (1971) 1 6 1 - 1 6 8 . - Ders., Art. Fremder: RAC 8 (1972) 3 0 6 - 3 4 7 . - Lewis Feuer, What is Aliénation? The Career of a Concept: Sociology on Trial, hg. v. Morris Stein/ Arthur Vidich, Englewood Cliffs, N. J.
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Hans Günter Ulrich 25 Enthusiasmus —»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben, —•Spiritualismus Entmythologisierung —»Bultmann, Rudolf, —»Hermeneutik, —»Mythos/Mythologie Entrückung I. Religionsgeschichtlich II. Biblische und frühjüdische Zeit 30
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I. Religionsgeschichtlich Entrückung umschreibt die Vorstellung, daß ein sterblicher Mensch aufgrund einer göttlichen Einwirkung in ein jenseitiges Reich versetzt wird, ohne durch den Tod gehen zu müssen. Sie kann das endgültige Geschick dieses Menschen sein und somit einen eschatologischen Vorgang darstellen. Die Religionsgeschichte kennt ferner die Vorstellung von der ExiStenz eines nicht Gestorbenen in der vorübergehenden Entrückung an einem verborgenen Ort. Entrückung kann schließlich die Möglichkeit bedeuten, daß jemand vorübergehend, z. B. wie in einer —»Ekstase oder wie auf einer vorübergehenden Reise zu den ewigen und jenseitigen Aufenthaltsorten der Gestorbenen jene Gefilde aufsucht und visionär Wissen über das ewige Geschick der Menschen erhält. Entrückung umfaßt demnach in der Religionsgeschichte einen Vorgang, der unter drei Aspekten bezeugt ist, unter dem eschatologischen, dem der verborgenen Existenz und unter dem ekstatisch-visionären Aspekt. Allen Aspekten gemeinsam ist die Vorstellung von der räumlichen Differenziertheit der Welt in ein Reich der Lebenden und ein Reich, in das jemand in aller Regel nur als Gestorbener eintritt. Sowohl die Versuche, dieses Rcich der entrückten Existenz zu lokalisieren als auch die Anschauung, der Weg dorthin sei als Reise zu beschreiben, wie auch schließlich die Idee von der räumlichen Gliederung dieses Reiches selbst, zeugen von dem Versuch, Weg und Aufenthalt des abwesenden und entfernten, nicht Gestorbenen, eben die Entrückung, als räumliches Geschehen zu interpretieren. Die bekanntesten Beispiele für eschatologische Entrückung (—»Eschatologie), für Entrückung als ewiges Geschick, finden sich in der griechischen Antike. Der Glaube an einen Aufenthaltsort der „Seligen" (ftaxágeav), Entrückten, fußt auf zwei klassischen Texten. In der Odyssee ( 4 , 5 6 1 - 5 6 9 ) tritt neben die Vorstellung von dem düsteren Geschick der Seele,
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ewig als Schatten im Hades zu existieren, unvermittelt die Weissagung an Menelaos, er werde nicht sterben, sondern „fernab zum Elysischen Felde ('Hkvaiov neöCov), zu den Grenzen der Erde, / senden die Götter dich einst, die Unsterblichen; wo Rhadamanthys / wohnt, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen beschert ist, / nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender Regen, / sondern es läßt aufsteigen des Wests leicht atmenden Anhauch / immer Okeanos dort, daß er Kühlung bringe den Menschen, / weil du Helena hast und Schwiegersohn des Zeus bist". Als Begründung für diese unerhörte Bevorzugung werden nicht ethische Motive genannt; Menelaos wird in dieses Reich entrückt werden und nicht sterben, weil er der Gatte der Helena ist und der Schwiegersohn des Zeus. Es scheint demnach eine besondere Verbindung zu den Göttern zu sein, die dieses Geschick befördert (vgl. auch Roloff 9 4 - 1 0 1 ) . Ausdrücklich spricht dieser Text aber auch von anderen Menschen, die dort am Rande der Welt ein paradiesisches Leben führen werden. Die Entrückung des Menelaos in das Elysion spiegelt zum anderen auch die in der griechischen Religion auch sonst bezeugte Anschauung wider, daß es möglich sei, von den Göttern unsterblich gemacht zu werden. So will Kalypso den Odysseus unsterblich machen, indem sie ihn Nektar und Ambrosia genießen läßt (Od. 5,135ff.209f). Auch den schönen Ganymed haben die Götter in den Olymp entrückt, damit er dort den Göttern als Mundschenk diene (II. 20,232ff). Es ist also göttlicher Wille, nicht etwa Verdienst des Menschen, in die unsterbliche Existenz entrückt zu werden; diese besondere Vergünstigung ist in jedem Fall Ausnahme und begründete offensichtlich nicht die Hoffnung auf ein weniger freudloses Dasein als das durch Tod und Schattenexistenz im Hades vorgezeichnete (s. auch Rohde 68 ff). Die Unvermitteltheit dieses Glaubens an eine eschatologische Entrückung kann nach M . P. Nilsson (Gesch. der griech. Religion, 1 2 1955 [HAW 5/2/1 ]) damit begründet werden, daß er aus kretisch-minoischen Einflüssen herzuleiten ist, wofür auch die Erwähnung des dem kretischen Mythos entstammenden Rhadamanthys als Herrscher jenes Reiches sprechen würde (vgl. auch Walter Burkert, Griech. Religion der archaischen u. klass. Epoche, Stuttgart u.a., 1977, 305). Nach Hesiod ist der Kreis derer, die nicht den Tod zu erleiden hatten, sondern auf die „Inseln der Seligen" lnaxägmv vijaoi) entrückt wurden, noch exklusiver. In dem Gedicht Werke und Tage werden ( 1 0 9 - 2 0 1 ) die aufeinanderfolgenden Menschengeschlechter und ihr jeweiliges Ende beschrieben. Das vierte Geschlecht, das der Heroen, stirbt nur zum Teil, einige Heroen wurden lebendig entrückt ( 1 6 7 - 1 7 2 ) , der Kreis der Entrückten ist damit freilich abgeschlossen, den späteren Menschengeschlechtern wird ein solches Los nicht mehr zuteil (s. auch Rohde 109). Sowohl nach den homerischen wie auch nach den hesiodischen Anschauungen ist die Entrückung auf die Insel der Seligen oder ins Elysion vollständig; es gibt keinerlei Verbindung zur Lebenswelt. Von dort her gibt es keine Beeinflussung der irdischen Welt, umgekehrt genießen die dorthin Entrückten nicht einmal die kultische Verehrung der Lebenden. Eine solche wechselseitige Beziehung begegnet uns in anderen sagenhaften Berichten, etwa in der von der Entrückung des Sehers und Helden Amphiaraos in eine Erdhöhle. Nach der Niederlage der Sieben gegen Theben wird der nur gegen seinen ursprünglichen Willen an dem unglücklichen Unternehmen beteiligte Amphiaraos von der Erde verschlungen, die Zeus vor ihm mit einem Blitzschlag gespalten hatte. Amphiaraos lebt fortan unsterblich in der Erde und genießt die kultische Verehrung der Lebenden, die ihm an der Stelle seiner Entrückung ein Heiligtum errichteten und ihm (wie anderen erdentrückten Helden) Opfer darbrachten, wie sie Erdgottheiten gegenüber angemessen waren und umgekehrt von dem Entrückten Orakel erbaten, die ihnen durch Tempelschlaf (Inkubation) in seinem Heiligtum zuteil wurden (Rohde 118 ff). In vergleichbaren Vorstellungen von der Erd- oder Bergentrücktheit bedeutender Gestalten wurde der Gedanke, daß sie nicht gestorben seien, mit der Hoffnung verbunden, sie würden eines Tages zum Heile der Menschen zurückkehren. G. Lanczkowski hat diesen Typus der entrückten, in der Verborgenheit lebenden und zum Wohle der Menschheit wiederkehrenden religiösen Autorität den des „verborgenen Heilbringers" genannt. Entscheidend ist bei diesen Gestalten neben ihrer religiösen wie säkularen Bedeutung zu Lebzeiten und der ihnen zugetrauten Fähigkeit, Heil zu wirken, die Ungewißheit ihres Todes bzw. die im Volke
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verwurzelte Gewißheit, d a ß sie nicht gestorben, sondern in die Verborgenheit entrückt seien. Den „verborgenen Heilbringern" zuzurechnen sind u . a . der keltische König Artus, M a r k o Kraljevic, der Held der südslawischen Volksepik (um 1 3 3 5 - 1 3 9 5 ) , —>Karl der Große,^—»Friedrich II., schließlich—»Friedrich I. Barbarossa, dessen verborgene Existenz im Kyffhäuser für diesen T y p von Entrückung auch als „ K y f f h ä u s e r m o t i v " begriffsbildend wurde (vgl. auch Franz Kampers, Die dt. Kaiseridee in Prophetie u. Sage, M ü n c h e n 1896). Der O r t , an den der verborgene Heilbringer entrückt ist, besteht z. B. aus Bergen, wie dem Kyffhäuser im Falle Friedrichs I. oder dem O d e n b e r g bei Salzburg bei Karl dem Großen. Z u m anderen aber wird die Verborgenheit als nicht lokalisierbar und als ungefähre Ferne gedacht wie beim T o d bzw. bei der Entrückung des Toltekenherrschers Quetzalcoatl. In der Folge von religionspolitischen Auseinandersetzungen (insbesondere wohl um die den Menschenopfern gegenüber negative Einstellung Quetzalcoatls) verläßt der Priesterfürst mit dem N a m e n „ G r ü n e Federschlange" (aztekisch Quetzalcoatl) die Metropole des Toltekenreiches Tollan (vgl. G ü n t e r Lanczkowski, Quetzalcoatl — M y t h o s u. Gesch.: N u m e n 9 [1962] 1 7 - 3 6 ) . Sein Aufenthaltsort ist ungewiß; gewiß aber ist seine Verborgenheit und die H o f f n u n g auf seine dereinstige Wiederkehr. Der Glaube an den n u r scheinbaren T o d und die H o f f n u n g auf die Rückkehr dieser verborgenen Heilbringer ist offenkundig so fest im Glauben ihrer Völker verankert gewesen, d a ß immer wieder falsche Heilbringer auftraten, die sich für jene ausgaben. Im Falle des Quetzalcoatl geschah dies unter den Vorzeichen des gebilligten Mißverständnisses, als der Conquistador H e r n á n Cortés zunächst von den Azteken als zurückgekehrter Quetzalcoatl begrüßt wurde, fügten sich doch Einzelheiten seiner Tracht, seine A n k u n f t aus dem Osten und vor allem das D a t u m seiner A n k u n f t in M e x i k o zu dem Bild, daß der aztekische Herrscher M o t e c u f o m a II. Cortés als den wahren Herrscher begrüßen konnte, für den er nur als Stellvertreter T h r o n und Herrschaft verwaltet habe (vgl. auch Günter Lanczkowski, Die Begegnung des Christentums mit der aztekischen Religion: N u m e n 5 [1958] 74ff). Unabhängig davon, d a ß die Azteken bald ihren Irrtum einsahen und ihre Haltung den Spaniern gegenüber korrigierten, scheint Cortés zunächst nichts getan zu haben, was dieses Mißverständnis aufgeklärt hätte. In anderen Fällen ist es jedoch bewußte Täuschung, mit der etwa Usurpatoren ihre politischen Interessen unter Ausnutzung jener fest verwurzelten H o f f n u n g auf die Rückkehr der verborgenen Heilbringer durchzusetzen versuchten. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Magier G a u m ä t a , der im 6. vorchristlichen J a h r h u n d e r t die Abwesenheit des Achämenidenherrschers Kambyses dazu benutzte, sich des persischen T h r o n s zu bemächtigen, indem er sich als der zurückgekehrte Bardiya, der wohl in aller Stille ermordete Bruder des Kambyses, ausgab (vgl. Lanczkowski 3 0 - 3 9 ) . Der Glaube an die Entrückung hat schließlich eine bedeutsame Ausprägung gefunden in den Berichten über die Himmelsreise von herausragenden religiösen Gestalten, wie sie vor allem in alttestamentlichen und jüdischen Quellen überliefert werden (s. Abschn. II). Außerhalb von Altem Testament und J u d e n t u m ist die Himmelsreise des Propheten M o h a m m e d ein bekannter religionsgeschichtlicher Beleg für diese Vorstellung. Der Glaube an die Himmelsreise des Propheten stützt sich zum einen auf die koranische E r w ä h n u n g einer Reise M o h a m m e d s von M e k k a nach Jerusalem in einer N a c h t (Sure 17,1), zum anderen auf die Koranstelle 5 3 , 1 - 1 8 , in der in einer Vision M o h a m m e d s die H e r a b k u n f t der O f f e n b a r u n g aus dem Himmel beschrieben wird. In der islamischen Tradition wird, offenkundig in Aufn a h m e jüdischer und iranischer Vorstellungen (vgl. Bousset), eine Entrückung M o h a m m e d s in den Himmel beschrieben und mit vielen Einzelzügen ausgestattet: Die Radikalität, mit der das Reich der sieben Himmel, die M o h a m m e d durchqueren wird, von der irdischen Welt geschieden ist, zeigt sich d a r a n , d a ß ihm vor Antritt der eigentlichen Himmelsreise das Herz aus dem Leibe gerissen, in einem mit Glauben gefüllten N a p f gewaschen und schließlich wieder eingesetzt wird. Begleiter M o h a m m e d s auf dieser Reise ist Gabriel, sein Reittier ist der Buräq, der von den Miniaturisten als Fabelwesen phantastisch ausgestattet wurde. In den sieben Himmeln begegnet M o h a m m e d nacheinander den auch im Islam verehrten Gestalten des Alten Testaments, die ausdrücklich M o h a m m e d als den endgültigen Verkünder
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der Offenbarung und als religiösen Vollender anerkennen. Höhepunkt der Himmelsreise ist nicht nur die unmittelbare Anschauung Gottes, die nur angedeutet wird, sondern die von Gott dem Reisenden mitgegebene und damit als authentisch legitimierte Anweisung über die Zahl der täglich zu verrichtenden Gebete. (Die Erzählung ist bequem zugänglich in RGL 16,6.) Die Bedeutung, die dieser Bericht in der islamischen Tradition gewann, zeigt sich zum einen daran, daß die Himmelsreise des Propheten als für wahr zu haltendes Glaubensgut in verschiedenen Glaubensbekenntnissen erwähnt wird (RGL 16,60.85), zum anderen, daß die Nacht der Himmelfahrt (lailat al-micräg) am 27. Ragab ( = 7. islamischer Monat) feierlich und unter Verlesung der Festlegende begangen wird. Wie auch schon in den die islamischen Anschauungen von der Himmelfahrt des Propheten entscheidend prägenden Vorstellungen von Himmelsreisen aus iranischen und jüdischen Quellen handelt es sich hierbei um ein Geschehen, das die nur unzureichend zu beschreibenden Zustände der Ekstase und der Vision anschaulich und damit wirksam als Prozeß, als Reise, abbilden und vermitteln. Literatur Wilhelm Bousset, Die Himmelsreise der Seele: A R W 4 ( 1 9 0 1 ) 1 3 6 - 1 6 9 . 2 2 9 - 2 7 3 = Darmstadt 1 9 6 0 . - Günter Lanczkowski, Verborgene Heilbringer, Darmstadt 1 9 7 7 . - Erwin R o h d e , Psyche. Seelencult u. Unsterblichkcitsglaube der Griechen, Tübingen ' " ' " 1 9 2 5 . - Dietrich R o l o f f , Gottähnlichkeit, Vergöttlichung u. Erhöhung zu seligem Leben, Berlin 1 9 7 0 .
Hans Wißmann II. Biblische und frühjüdische Zeit 1. Altes Testament
1. Altes
2 . Judentum
3 . Neues Testament
(Literatur S. 6 9 0 )
Testament
Im Alten Testament wird eine Entrückung durch Gott bezeugt, und zwar /. als ekstatisch erlebtes Versetzt-Werden an einen anderen irdischen O r t (—»Ekstase), 2. als leibliche Aufnahme von der Erde in den Himmel; sie bedeutet den Abschluß des Lebens ohne Erleiden des T o d e s .
1.1. Die Möglichkeit, der Geist Gottes könne einen Propheten hochtragen (nasa') und an einen anderen, schwer erreichbaren Ort, sei es Berg oder Tal, führen, ist nach I Reg 18,12; II Reg 2,16 volkstümlicher Glaube. In der Tat fühlt —> Jesaja, wie ihn die Hand Gottes packt und zurückhält (8,11), und —»Ezechiel weiß sich vom Geist = Wind Gottes emporgehoben und weggenommen (läqah: 3,12,14). Das Ergriffen- und in Ekstase Versetztwerden durch den —»Geist wird physisch erfahren: Der Prophet meint, eine Hand fasse ihn am Schopf und hebe ihn hoch, der Geist trage ihn mit der Macht eines Sturmes in den Tempel (8,3; 11,1.24; 43,5; vgl. Bei et Draco 36). Ziel dieser ekstatischen Entrückung ist eine Vision. 1.2. Das „Hinaufgehen" Gottes, der zur Erde gekommen war, wird Gen 17,22; 35,13 erwähnt (vgl. Jub 32,20), entsprechend vom Engel Gottes Jdc 6,21 f; 13,20f; (vgl. das Scheiden Raphaels von Tobit [ 1 2 , 2 0 - 2 2 ] und die Aufnahme Michaels nach TestAbr 4,4). 1.3. Von Entrückung spricht Gen 5,24: „Henoch wandelte mit Gott und war nicht mehr da, denn Gott hatte ihn weggenommen". Diese in der -»Priesterschrift enthaltene Notiz ist absichtlich kurz und geheimnisvoll; mit der Wegnahme soll das Nicht-mehr-Dasein theologisch gedeutet werden. —»Henochs Alter von genau 365 Jahren (Gen 5,23) und sein Wandel offenbaren eine solche Vertrautheit mit Gott, daß in der Tat die leibliche Aufnahme des lebenden Gerechten zu Gott gemeint sein muß, ähnlich wie sie im Gilgamesch-Epos dem Sintfluthelden Utnapischtim als Wohnen bei den Göttern und Vergöttlichung verheißen wird ( 1 1 , 1 9 0 - 1 9 6 [ANET 95]; vgl. Xisuthros in der Fluterzählung bei Berossos). Die Übersetzungen von Gen 5,24 verdeutlichen: Die L X X finden im frommen Wandel das Wohlgefallen Gottes, im Nicht-mehr-Dasein das Nicht-mehr-Gefundenwerden, in der Wegnahme die Versetzung durch Gott {fieTaxidevai, vgl. Sir 44,16; LibAnt 10,16; Hebr 11,5). In den Targumen Jeruschalmi und Neofiti wird der Wandel Henochs als Dienst in Wahrheit vor Gott und seine Wegnahme als ein Weggerafftwerden gedeutet, nach Targum Onkelos ließ Gott
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Entrückung II
Henoch sterben, weil das „Nicht-Mehr" ein Aufhören der Gottesfurcht anzeigt (s. u. Abschn. 2.5). 1.4. Die Wiedergabe des Nicht-mehr-Daseins in L X X ist von II Reg 2 beeinflußt, wo die Entrückung —»Elias als sichtbare Himmelfahrt erzählt und durch ein Nicht-Gefundenwerden bestätigt wird (V.l 1 f. 16—18). Dort erscheint das „Wegnehmen" von Gen 5,24 als der das Handeln Gottes zusammenfassende (Entrückungs-) Begriff (II Reg 2,3.5 läqah = lafißäveiv [LXX]; V.9.10 im Niph bzw. Pual = ävaXa^ßäveadai [LXX], dort auch in V . l l ) . Er wird nun als ein „Hinaufführen im Sturmwind" veranschaulicht (V. 1); der bestimmte Artikel vor „Sturmwind" (V.l. 11) spricht eine bekannte Vorstellung an (vgl. V.l6). Die Entrückung wird von »-»Elisa miterlebt: „Und es geschah, als sie im Gespräch immer weitergingen, siehe, da war ein feuriger Wagen mit Pferden von Feuer und trennte sie beide, und Elia fuhr im Sturmwind zum Himmel. Und Elisa sah dabei zu und schrie: ,Mein Vater, mein Vater! Wagen Israels und seine Reiter!' Dann sah er ihn nicht mehr"(II Reg 2,11 f)- Aber der Vorgang bleibt in ein Geheimnis gehüllt; seiner Erwähnung begegnet Elia mit einem Schweigegebot (V.3.5). Seine Realität wird negativ bestätigt durch den Schmerz des Abschieds (V. 12; vgl. V . 2 - 6 ) , das Nicht-mehr-Sehen (V.12) und die vergebliche Suche ( V . 1 6 - 1 8 ) , positiv durch die Himmelfahrt im Feuerwagen und Sturm ( V . l l ) , das Sehen des Vorgangs (V. 11 f) und vor allem durch die Gewährung eines doppelten Anteils am Geist Elias (vgl. Dtn 21,17), der vor der Himmelfahrt erbeten (V.9f) und danach als wirksame Kraft erfahren wird ( V . 1 3 - 1 5 , vgl. Sir 48,12). Dadurch ist Elisa als Nachfolger Elias eingesetzt; die Prophetenschüler vollziehen vor ihm die Proskynese (V.l5). 1.5. Der Entrückungsterminus läqah erscheint auch in Ps 49,16, wo der Hoffnung auf Entrückung die Erlösung des Lebens aus der Unterwelt parallel gesetzt wird (vgl. Jes 53,8), und in Ps 73,24: „Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich hernach weg in Herrlichkeit". Das Vertrauen in das Verbunden-Sein mit dem leitenden und schützenden Gott ist so groß, daß es auch durch den Tod nicht aufgehoben werden kann, ja am Ende des Lebens voll offenbar wird; über das Wie der Wegnahme wird nicht reflektiert. 2.
Judentum
Im nachbiblischen Judentum, vor allem in der —»Apokalyptik und auch im Neuen Testament, wird die Entrückungstradition sehr beachtet und spekulativ genützt, während sich bei den Rabbinen Widerspruch erhebt. Dabei spielt in der Apokalyptik vor allem —»Henoch, im Neuen Testament die Himmelfahrt —»Elias eine wichtige Rolle. Ferner wird die Entrükkung auf —»Mose, —»Esra und —»Baruch ausgedehnt; sie ermöglicht eine Rückkehr vor der messianischen Zeit (IV Esr 6,26; DevR 3 [201c]). - Weiteres —Esoterik II. 1 u. 4. 2.1. Die Himmelfahrt Elias wird Sir 48,9.12; I Makk 2,58; äthHen 93,8 erwähnt und hat auf die Erhöhung Henochs eingewirkt (äthHen 70,2; 71,1). Josephus, der Elia und Henoch zusammenstellt, gebraucht statt des sich als terminus technicus durchsetzenden ävaXafißäveaOai die hellenistischen Begriffe des Verschwindens (ätpavi&oOai, äqiavrjq yivEoOai, Ant IX,28). 2.2. Das Faktum der Entrückung Henochs wird kurz Sir 44,16; 49,14; Jub 4,23; Test Isaak 4,2; Josephus, Ant 1,85; IX,28; Lib Ant 1,16 erwähnt und in Weish 4 , 1 0 f auf den Gerechten schlechthin bezogen. Aber die Autoren der Apokalyptik haben noch mehr über das enge Verhältnis Henochs zu Gott nachgedacht und ihn zum Empfänger endzeitlicher Offenbarungen gemacht. In äthHen hat die Notiz von Henochs Gehen mit Gott und Hingang zu Gott zu ausführlichen Himmelsreisen und Visionen dieses Gerechten angeregt. In Kap. 70 und 71 wird seine Erhöhung zum Menschensohn berichtet, in 81,6 seine endgültige Entrükkung binnen Jahresfrist angekündigt; die verbleibende Zeit soll der Belehrung seiner Kinder dienen (vgl. slHen 36). Eine ausmalende Wiedergabe der Entrückung bietet slHen 67 (B). Diese findet am Schluß einer Rede vor dem Volk statt (67,1; vgl. II Reg 2,11); Henoch wird durch Engel in den obersten Himmel getragen und dort von Gott empfangen (67,2). Das
Entrückung II
685
Volk erkennt die Tatsache, nicht aber den Hergang des Wunders, das durch eine eigens dafür geschaffene Finsternis verhüllt wird (67,3). 2.3. Wie Henoch denkt man sich weitere älttestamentliche Gestalten als Empfänger apokalyptischer Offenbarung und läßt sie entrückt werden. Bei Esra wird die Ankündigung der Entrückung ( 1 4 , 9 - 1 2 ) ebenfalls mit der Weisung verbunden, zuvor das Volk zu lehren und die geoffenbarten 24 Bücher der Tora aufzuschreiben ( 1 4 , 1 3 - 2 7 ) . Baruch erhält vor dem Hingang, der ihn vor dem Tod bewahrt, eine Frist von vierzig Tagen, in der er eine Schau des Weltganzen haben und das Volk entsprechend lehren soll (syrBar 76,2—4; vgl. 13,3). 2.4. Die vierzigtätige Frist der Offenbarung stammt aus der Mosetradition (Ex 24,18), und auch für Mose wurde trotz seines Dtn 31,14; 34,5 deutlich angezeigten Todes gelegentlich eine Entrückung behauptet, vielleicht aufgrund der Notiz vom nicht auffindbaren Grab (Dtn 34,6 b). Josephus läßt Mose noch während des Gesprächs mit Josua und Eleazar plötzlich von einer Wolke erfaßt werden und in einer Schlucht verschwinden; von seinem Tode habe er geschrieben, um dem Glauben an seine Entrückung zu wehren (Ant IV,326, vgl. 111,96). 2.5. Außer SifDev 34,5 (149b Bar) herrscht bei den Rabbinen die Ansicht, Mose habe das gemein menschliche Schicksal des Sterben-Müssens erlitten, Gott selbst aber habe seine Seele aufgenommen (Bill. 1,754-757). Eine ausdrückliche Kritik an Henoch und damit am apokalyptischen und christlichen Entrückungsdenken findet sich BerR 25,1 zu 5,24. Dort wird die Wendung „er war nicht mehr" von den Rabbinen entweder auf einen Wechsel im Wandel Henochs bezogen ( = „aber er tat das nicht mehr", d. h. er war ein Heuchler, teils gerecht, teils gottlos) oder zusammen mit läqah als vorzeitiger Tod gedeutet, sei es als Strafe oder weil Gott ihn vor einem Fall in die Sünde bewahren wollte (vgl. Weish 4,10—14). Interessant ist die dort berichtete Diskussion von R . Abbahu (3. J h . n. Chr.) mit Häretikern, die läi]jl) mit Verweis auf II Reg 2 , 1 als Entrückung und Bewahrung vor dem T o d verstanden, während er selbst wie bei der plötzlichen „ W e g n a h m e " der Frau Ezechiels ( 2 4 , 1 6 ) damit den T o d Henochs bezeugt sah. R . A b b a h u , von dem noch weitere Kontroversen mit Christen berichtet werden, hat sich auch gegen eine Göttlichkeit und Menschensohn-Würde Jesu ausgesprochen und dabei erklärt: „ W e n n jemand sagt: ,Ich steige zum Himmel hinauf, so wird er es nicht vollbringen" (yTaan 2 , 1 [ 6 5 b ] ) .
2.6. Von einer Entriickuiig des Gerechten spricht Weish 4 , 1 0 f in deutlichem Anschluß an Hen 5,24 [LXX] und Jcs 52,14 f. Gemeint ist dabei der Tod des von Gott Geliebten und früh Vollendeten, der vor der Verführung in der bösen Welt bewahrt und den Engeln zugesellt werden soll ( 4 , 1 0 - 5 , 5 ; vgl. Test Benj 9,5). In AssMos 10,8f wird für die Offenbarung der Königsherrschaft Gottes verheißen, Israel werde dann zum Kampf mit dem Adler (Rom) in die Höhe steigen und zum Sternenhimmel, der Wohnung Gottes, erhoben; damit wird bildlich der von Gott geschenkte Triumph über den Feind beschrieben. 3. Neues
Testament
Die neutestamentlichen Aussagen über die wunderbare Ortsveränderung eines Frommen auf Erden oder seine leibliche Aufnahme in den Himmel sind begrifflich und inhaltlich von der alttestamentlichjüdischen Uberlieferung geprägt; schwächer ist der Einfluß hellenistischer Vorstellungen. Die Notiz von der Entrückung Henochs (s. o. Abschn. 1 . 2 . 2 ; 2 . 2 ) bot den Begriff der Wegnahme durch G o t t sowie deren theologische Rechtfertigung (Gen 5 , 2 4 ) ; die ausmalende Erzählung von der Himmelfahrt Elias (s. o . Abschn. 1 . 2 . 3 ; 2.1) enthielt die M o t i v e des Auffahrens im Wind, des Zusehens der Zeugen, der Trennung, des vergeblichen Suchens und des Geistempfangs (II Reg 2 , 9 - 1 7 ) ; die verhüllende W o l k e stammt aus Ex 2 4 , 1 5 . 1 8 .
3.1. Das wunderbare Hochgetragen- und an einen anderen irdischen Ort GebrachtWerden, das durch den Wind = Geist Gottes geschieht, hat meist eine visionäre Offenbarung zum Ziel und ist an Ez 3,12.14; 8,3; 11,1.24; 43,5 orientiert. Nach Apk 17,3 wurde Johannes von einem Engel „im Geist" in die Wüste „weggeführt" (d.JioWhiteheads und C. —»Hartshornes (alles Wirkliche ist Prozeß) sich berufende Prozeßtheologie. Nach Whitehead ist Gott schon in seiner „ursprünglichen" („primordial") Natur nicht „ v o r " , sondern bereits „mit" aller Schöpfung. Und in seiner „Folgenatur" („consequent nature") „rettet" und „vollendet" Gott die Welt, ebenso wie die Welt Gott vollendet: die Folgenatur Gottes „ist die fließende Welt". Schöpfer und Schöpfung werden im „schöpferischen Prozeß" vereint, sie stehen in gegenseitiger Interaktion. Gott ist Teilhaber des dynamischen Weltprozesses, er lockt die Wesenheiten („entities") hervor, hat teil an der Entwicklung der Welt, an der Selbstorganisation der Moleküle zu Lebewesen. Unabhängig von der Prozeßtheologie begründet Arthur R. Peacocke sein ganzheitliches Verständnis von Gott und Evolution nicht nur schöpfungstheologisch, sondern primär christologisch - von der Inkarnation her — und pneumatologisch. Nicht nur Gottes Schöpfung ereignet sich dynamisch durch den evolutiven Prozeß (Science 123 ff), der wie in der Prozeßtheologie aisfortgesetzte immanente schöpferische Aktivität Gottes (Creation 2 5 2 ) verstanden wird, sondern „Jesus als inkarnierter Gott ist die Vollendung eines Prozesses kosmischer Evolution, der als ein Ausdruck von Gottes schöpferischem Willen er-
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Entwicklung
s c h e i n t " . U n d als Heiliger Geist verwirklicht G o t t die Möglichkeiten der M a t e r i e auf jeder Ebene u n d Stufe des kosmischen Prozesses (Science 1 7 0 f f ) . „ D e r ganze Prozeß d e r Evolut i o n " w i r d als d a s W i r k e n des Heiligen Geistes v e r s t a n d e n (Bischof M o n t e f i o r e 2 0 9 ) . So w i r d d u r c h die christologische u n d p n e u m a t o l o g i s c h e B e g r ü n d u n g das pantheistisch-immanentistische M i ß v e r s t ä n d n i s der I m m a n e n z G o t t e s , das bei der Prozeßtheologie n o c h möglich erscheint, vermieden. In d e r deutschen T h e o l o g i e versucht auch W . P a n n e n b e r g , „ d i e Wirklichkeit im ganzen mit Einschluß d e r N a t u r als P r o z e ß einer Geschichte G o t t e s mit seinen G e s c h ö p f e n zu d e n k e n " (72), u n d J. M o l t m a n n begreift „ S c h ö p f u n g als d e n noch offenen, schöpferischen Prozeß der W i r k l i c h k e i t " (127). Diesen „ o p e n - e n d e d p r o c e s s " der Evolution sieht Peacocke in Jesus Christus auf d e n z u k ü n f t i g e n G o t t hin fortgesetzt (Creation 232), s o wie auch M o l t m a n n d a m i t S c h ö p f u n g u n d Eschaton verbindet. Sonst steht das Problem der Evolution in der deutschen evangelischen Theologie nur am Rande, wird - etwa in P. —»Tillichs Systematiseber Theologie oder in G. Ebelings Dogmatik des christlichen Glaubens - in der Anthropologie oder der Geschichtstheologie, bei der Diskussion der Teleologie oder des Fortschrittsglaubens nur kurz gestreift. Die Evolutionstheorie wird - mit Ausnahme des evangelikalen Creationismus etwa H. W. Becks - als selbstverständlich vorausgesetzt und daher nicht diskutiert, oft nicht einmal erwähnt. Aber in der Schöpfungslehre und erst recht in der Christologie und Soteriologie, Pneumatologie und Eschatologie spielt sie auch positiv keine Rolle. Der G r u n d d a f ü r ist nicht n u r die F e h l e n t w i c k l u n g im Verhältnis der Theologie z u r Evolutionstheorie seit Haeckel (s. o . A b s c h n . 3), s o n d e r n v o r allem die Entgegensetzung v o n N a tur u n d H u m a n i t ä t , von sinnlicher u n d intelligibler Welt im N e u k a n t i a n i s m u s a u f g r u n d des cartesianischen S u b j e k t - O b j e k t - D u a l i s m u s , die T r e n n u n g der N a t u r von G o t t u n d - M e n s c h , d . h . von Geist, Selbstbewußtsein, G l a u b e , Person, Existenz o d e r Gesellschaft. G o t t u n d N a t u r sind hier in getrennten Bereichen gegeneinander isoliert. G l a u b e u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t stehen „ a u f verschiedenen Ebenen. Sie m a c h e n ganz verschiedene Arten von A u s s a g e n . So w e r d e n sie gegeneinander neutralisiert. Sie k ö n n e n sich beide frei bewegen u n d k o m m e n e i n a n d e r nicht in die Q u e r e " , beschreibt H . O t t (37) das „indifferentistische V e r h ä l t n i s " v o n G l a u b e u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t , repräsentativ f ü r die M e h r h e i t der deutschen (und auch e t w a n o r d a m e r i k a n i s c h e n , z.B. L a n g d o n Gilkey) Theologie konfessioneller, n e o o r t h o d o xer, kerygmatischer u n d existentialer P r ä g u n g . G l a u b e wie N a t u r w i s s e n s c h a f t verzichten in strenger u n d kritischer „ S e l b s t b e s c h e i d u n g " ( G o g a r t e n 2 9 8 ff) d a r a u f , ihre jeweiligen G r e n zen zu überschreiten. Analog dazu versteht sich die N a t u r w i s s e n s c h a f t - so beschreibt sie v. Weizsäcker (168) kritisch - als „ w e r t n e u t r a l " u n d die Religion als „ P r i v a t s a c h e " . Die Folge dieser dualistischen G r u n d e n t s c h e i d u n g ist die Irrelevanz des E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n s f ü r die G l a u b e n s a u s s a g e n . D e m g e g e n ü b e r e r l a u b t das ganzheitliche Verständnis v o n G o t t u n d N a t u r eine trinitarisch begründete gegenseitige D e u t u n g von Evolution u n d Heilsgeschehen, die wieder eine Brücke z u m altkirchlichen, heilsgeschichtlichen Entwicklungsverständnis schlägt. Literatur Allgemein: Max Heinze, Art. Evolutionismus: RE 1 5 (1898) 6 7 2 - 6 8 1 . - G. Mühle/K. Weyand, Art. Entwicklung: HWP 2 (1972) 5 5 0 - 5 6 0 . - Wolfgang Wieland, Art. Entwicklung. II. In Gesch. u. Kultur: RGG 3 2 (1957) 5 1 0 - 5 1 6 . Zu 1. und 2.: Ernst Benz, Schöllings theol. Geistesahnen, 1955 (AAWLM.G). - Ders., Schöpfungsglaube u. Endzeiterwartung, München 1965. - Karl Beth, Der Entwicklungsgedanke u. das Christentum, Berlin 1909. - Hans v. Campenhausen, Griech. Kirchenväter, Stuttgart 1955. - Heino Falcke, Theol. u. Phil, der Evolution. Grundaspekte der Gesellschaftslehre Schleiermachers, Zürich 1977. Paulos Gregorios, The Human Presence. 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Enzyklopädie
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theologische
1. Herkunft des Begriffs 2. Grundzüge der allgemeinen Entwicklung als bedeutungsgeschichtlicher Aufriß 3. Zur Geschichte der theologischen Enzyklopädie 4. Gegenwärtige Tendenzen (Bibliographien/Literatur S. 742) 1. Herkunft des
Begriffs
Der Begriff „Enzyklopädie" ist eine Neuschöpfung humanistischer Gelehrsamkeit am Ausgang des 15. Jh. Als angebliches griechisches Vorbild (s. die bis ins 18. Jh. geltende Lesart von Quintilian, inst, orat. 1,10,1; ähnlich Plinius d.Ä.,hist. nat. praef. $14) für die lateinischen Wendungen orbis doctrinae oder orbis disciplinarutn taucht ein latinisiertes (encyclopaedia zuerst um 1490 in einem Brief des F. Puccius an A. Politianus auf (vgl. Henningsen § 22), der erste Wortbestandteil bei letzterem schon 1489 (Miscellanorum centuria una cap. 4). Fast gleichzeitig verwenden die Grammatiker R. Regius (Epistolae Plynii, 1490) und H. Barbarus (Castigationes Plinianae, 1492/93) den Begriff, etwas später G. Reisch (Margarita philosophica, Ausg. v. 1508 u. 1517) und G. -»Bude (De Asse et partibus eius libri
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quinqué, 1514). Bewußt knüpfen die Humanisten damit an die éyxvxÁioq Jiaióeía der Antike an, die aber vor der Mitte des 1. Jh. v.Chr. nicht, wie später die -zartes liberales (vgl. im einzelnen T R E 4, 156 ff) einen festen Kanon von Wissenschaften umfaßt, jedoch sachlich das gleiche besagt: die (höhere) propädeutische Bildung. Insofern deckt sich bis zum Beginn der Neuzeit die Geschichte der „Enzyklopädie" mit derjenigen der artes liberales, unabhängig von Zahl und Art ihrer Fächer. Erst im 17. Jh. veranden sich die Bedeutung des Enzyklopädie-Begriffs und kennzeichnet das Realienwissen überhaupt, wenig später auch den Uberblick über das Fachwissen einzelner Disziplinen. Parallel dazu gewinnt ein formales, wissenschaftstheoretisches Verständnis des Begriffs an Kontur und Einfluß.
2. Grundzüge der allgemeinen
Entwicklung
als bedeutungsgeschichtlicher
Aufriß
2.1. Die Antwort auf die Frage, wo die erste Enzyklopädie geschrieben wurde und wer sie verfaßt hat, hängt also vom Verständnis des Begriffs ab. Geht man von der allgemeinen gegenwärtigen Bedeutung als einer Sammlung und Darstellung gesicherten Wissens aus, so spricht manches dafür, hier schon das in Sumer oder Assur auf Tontafeln notierte Wissen anzuführen, so fragmentarisch es erhalten sein mag (zurückhaltender Henningsen §§ 62 ff; Lit.). Häufiger wird Speusippos (ca. 3 9 5 - 3 4 0 ) , der Schüler Piatons und Nachfolger in der Akademieleitung, als Ahnherr der Enzyklopädie genannt, obwohl auch von seinem Werk nur einige naturhistorische, mathematische und philosophische Bruchstücke auf uns gekommen sind. Als abgerundeter Lehrstoff für eine propädeutische Bildung zeigen sich die Libriad Marcum filium Catos ( 2 3 4 - 1 4 9 ) , welche junge Römer in der Landwirtschaft, Medizin, Rhetorik und im Kriegswesen unterweisen wollen. Der eigentliche Begründer des Systems der —>artes liberales ist aber Varro (116—27), dessen — verlorene - Discipltnarum libri IX (um 35) zu den Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie noch Medizin und Baukunst hinzufügen. Neben ihm muß vor allem Cicero ( 1 0 6 - 4 3 ) genannt werden; für die Geschichte der artes liberales sind insbesondere seine drei Bücher De oratore (um 57) wichtig, in denen er das siebenfächrige Propädeutikum für die Ausbildung des Rhetors verpflichtend macht. Weit weniger systematisch, wenngleich in enzyklopädischer Absicht verfaßt, ist die Historia naturalis des Plinius d.Ä. ( 2 3 - 7 9 ) , ein Kompendium des Wissens aus zahlreichen Gebieten von der Geographie und Meteorologie über Anthropologie, Zoologie oder Botanik bis hin zu Arzneimittelkunde, bildender Kunst und Magie. Deutlich an Varro und Cicero schließt dann wieder die lnstitutio oratoria Quintilians (ca. 3 5 - 9 8 ) an. In der Nachfolge Catos stehen hingegen die Artes des Celsus (gest. Mitte des 2. Jh.), die dessen Fachgebiete um Philosophie und Jurisprudenz erweitern (nur der medizinische Teil ist erhalten). Plinius seinerseits erfährt eine Fortsetzung in den Collectanea rerum memorabilium des Solinus (Anfang 3. Jh. n. Chr.). Dies alles belegt, daß das System der Septem artes liberales am Ausgang der Antike keineswegs den einzig möglichen propädeutischen Ausbildungskanon darstellt, wiewohl sich sein Vorrang abzeichnet. Den Brückenschlag von der Antike über die Wirren der Völkerwanderung hinweg leistet Martianus Capella (um 400) mit seinem teils in Versen, teils in Prosa verfaßten Werk De nuptiis Mercurii et Philologiae. Die einleitenden beiden Bücher schildern die Hochzeit des Merkur mit der Philologie als Allegorese der Begegnung der Wissenschaften und (auch technischen) Künste. Fast ohne Rücksicht auf diese Rahmenhandlung folgen die sieben Bücher über die artes. Neben Sonderquellen für verschiedene Einzelheiten fußt der Inhalt eindeutig auf Cicero und Quintilian. Martianus ist der am meisten gelesene Schriftsteller des Mittelalters.
Auf ihm baut auch das „Grundbuch mittelalterlicher Bildung" (E.R. Curtius) auf, —»Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Sie suchen römische und gotische, christliche und antike Kultur miteinander zu versöhnen. Demgemäß enthält das erste Buch dieses Unterrichtswerks eine Einführung in die Theologie, das zweite eine solche in die artes liberales, beide mit vielen Querverweisungen. Durch seine Förderung und nicht zuletzt durch Cassiodors eigenen Eintritt in das von ihm gestiftete Kloster Vivarium in Kalabrien werden die benediktinischen Klöster (—»Benediktiner) zu Stätten der Tradition und Entfaltung antiker Bildung. Aus dieser Schule erwächst auch das meist als Origines oder Etymologiae bezeichnete Werk Etymologiarum sive originum libri XX des Isidor von Sevil-
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la, welches in fast tausend Handschriften auf uns gekommen ist. Kompilatorisch ergänzt es das Wissen der artes liberales um neue Fächer wie Medizin und Geschichte, Recht, Geographie, Zoologie oder Theologie. Als Bestandsaufnahme des allgemeinen Schulwissens im frühen Mittelalter beeinflußt es nachdrücklich sowohl die Klosterbildung (—»Beda Venerabiiis) als auch die karolingische Schulreform (—* Alkuin). In seinem Gefolge steht des —»Hrabanus Maurus De rerum natura seu de universo, ferner der bebilderte Liber floridus des Lambert von St. Omer ( 1 0 6 0 - 1 1 2 5 ) , der in Abweichung von der üblichen Anordnung — ähnlich wie Cassiodor - die philosophisch-theologischen Gebiete vor den praktischen behandelt, weiter der Hortus deliciarum der —»Herrad von Landsberg, die erste bekannte von einer Frau verfaßte Enzyklopädie, und schließlich der Liber de proprietatibus rerum des Bartholomaeus Anglicus (um 1200), ein popularisierendes Kompendium der Naturgeschichte, das schon im Mittelalter Ubersetzungen ins Englische, Französische, Spanische und Italienische erfuhr. Jedoch haben sich nationalsprachliche Enzyklopädien gegenüber den lateinischen Werken nur selten in dieser Zeit durchsetzen können. Ausnahmen bilden die Mappemonde des Peter von Beauvais (um 1200) oder das Buch der Natur von Konrad von Megenberg (um 1350). Zeigen die vorgenannten Werke bereits an, daß sich die facultas artium - wenngleich nach Möglichkeit noch unter Beibehaltung des traditionellen Disziplinenschemas — hinsichtlich ihrer Wissensbereiche ständig erweitert, so tritt diesem Prozeß auf der Höhe des Mittelalters mancherorts eine wissenschaftssystematische Veränderung zur Seite, welche in die Zukunft der Enzyklopädiegeschichte weist. Es handelt sich dabei um die Anwendung eines neuen bzw. wiederentdeckten klassifikatorischen Prinzips. Dieses verdankt sich dem Bekanntwerden der triadischen Einteilung der Philosophie bei —»Aristoteles (in theoretische, praktische und poietische Philosophie), zu der sich die Logik (aus der stoisch-neuplatonischen Wissenschaftsgliederung in Logik, Ethik und Physik) gesellt. Die theoretische Philosophie umfaßt dabei Metaphysik, Physik und Mathematik (letztere für das Quadrivium); in die praktische Philosophie gehören Ethik, Ökonomik und Politik; zur poietischen Philosophie zählen die mechanischen Künste. Die Logik schließlich bildet den Oberbegriff für das Trivium. Entscheidend ist, daß damit die gesamte philosophische Wissenschaft als Propädeutik begriffen wird, was deren Distanz zu den sogenannten höheren Wissenschaften, insbesondere zur Theologie verringert. Ihren ersten bedeutenden Niederschlag erfährt dieses Denken bei —»Hugo von St. Viktor. In seiner Programmschrift Didascalicon studio legendi ersetzt er das Gliederungsschema der artes liberales durch die Einteilung der Wissenschaften nach theoretica, practica, mechanica und lógica. Gemäß dieser Einteilung verfaßt er eine Fülle von Einzelschriften (Epitome in philosophiam, De Grammatica, Practica Geometrica, De Scripturis, Chronica u.a.m., vieles verloren). Das darin enthaltene enzyklopädische Fachwissen als Studium derphilosophia weist insgesamt hinüber zum Studium der divinitas, das heißt der Theologie als Offenbarungslehre, welche für Hugo nicht zufällig in der Inkarnation ihre hermeneutische Mitte besitzt (vgl. De sacramentis christianae fidei) und letztlich auf die mystische Kontemplation zielt. Hugos zu seiner Zeit konkurrenzlos dastehendes Opus wird freilich ein Jahrhundert später überboten von dem Speculum maius des —»Vinzenz von Beauvais, der umfassendsten, aus etwa zweitausend Quellen zusammengetragenen Enzyklopädie des Mittelalters. Beginnend mit dem Speculum naturale, folgt das Speculum historíale, danach das Speculum doctrínale; der vierte Teil, das Speculum morale, wird erst im 14. Jh. ausgeführt. Deutlich bleibt das aristotelische Gliederungsschema transparent. Ebenso klar zeigt sich die durch den Aristotelismus in das scholastische Denken eindringende Verschmelzung der philosophia mit der Kirchenlehre (z. B. werden Gott, Schöpfung etc. im speculum naturale abgehandelt) .Hier liegen bereits die Keime von Humanismus und Renaissance. Bekanntlich sind es vor allem arabische Gelehrte (Avicenna [Ibn Sina, 980—1037]; —»Averroes), die über Spanien das aristotelische Denken ins mittelalterliche Abendland vermitteln. Hand in Hand mit dieser Vermittlung geht das Bekanntwerden der arabischen Gelehrsamkeit auf medizinischem, mathematischem und naturwissenschaftlichem Ge-
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biet (Schule von —»Chartres; —»Gilbert Porreta). Zudem öffnet die Kreuzzugsbewegung (—»Kreuzzüge) auch wieder den durch die Kirchenstreitigkeiten verschlossenen Zugang zur wissenschaftlichen Welt von —»Byzanz. Dort übt die Bibliotheke des Patriarchen —»Photius, eine vor allem an Form und Stil, weniger am Inhalt interessierte Exzerptensammlung historischer und poetischer Werke des Altertums, beträchtlichen Einfluß aus. Unter dem Namen des Photius ist auch eines der berühmten byzantinischen Wörterbücher erhalten; es eröffnet eine Entwicklung, welche im 10. Jh. mit der Suda ein umfassendes Lexikon grammatischen, geschichtlichen und literarischen Grundwissens hervorbringt. Hauptförderer der Wissenschaft in dieser Zeit ist der an der politischen Machtausübung gehinderte Kaiser Konstantin VII. Porphyrogenetos ( 9 1 3 - 9 5 9 ) . Sein Name steht über den großen byzantinischen Enzyklopädien: thematisch programmierten Tcxtsammlungen aus Literatur und Medizin, Landwirtschaft und Geschichte, Politik und Recht. Neben diesen ist ein Jh. später vor allem die Didaskalia Pantodape des Michael Psellos (1018—ca. 1078) zu nennen, ein das naturwissenschaftliche Erbe der Antike mit der arabischen Gelehrsamkeit verschmelzendes Kompendium, das über Italien auch auf das Abendland einwirkt (vgl. Haussig 422ff). 2.2. Am Ende des 15. Jh. taucht der Name Enzyklopädie für derartige Wissenskompendien auf (s.o. Abschn. 1). Das erste Werk, das ihn im Titel verwendet, ist die Ettcyclopaedia seu Orbis disciplinarum, tarn sacrarum quam profanarum, Epistemon (Basel 1559) des Paul Scalichius de Lika. Ältere Werke ziehen den Begriff xvxXoitaibtialcyclopaedia noch vor, so Joachimus Fortius Ringelbergs (geb. ca. 1500) Lucubrationes, vel potins absolutissima xvxXojiaiöct'a (Basel 1541), oder die Margarita philosophica (Freiburg 1503) des Gregorius Reisch (gest. 1525), die das griechische xvxkonaideia aber erst in der Basler Ausgabe von 1583 in den Titel aufnimmt; dagegen enthält das Werk in den früheren Auflagen von 1508 und 1517 ein lateinisches Widmungsgedicht (von J. Locher?), in dem es als encyclopaedia bezeichnet wird. Der kürzere Name hält sich auch noch später, wie die Cyclopaedia Paracetsica Christiana eines Salzburger Anonymus (hg. v. S. Eisenmenger, 1585) beweist. Inhaltlich ist festzustellen, daß diese humanistischen Enzyklopädien den „Kreis der Wissenschaften" sowohl im Sinne einer möglichst vollständigen Aufzählung und Beschreibung der jeweils für relevant erachteten Fächer verstanden wissen wollen, als auch hinsichtlich einer bestimmten systematischen Ordnung. Was diese angeht, so bringt der Rückgriff auf die Antike in der —»Renaissance zunächst zwar wieder einen Vorrang für die Septem artes liberales; doch werden diese — manchmal etwas künstlich — zugleich in das aristotelische oder das aristotelisch-stoische Schema eingepaßt. Was jene angeht, so finden neue Wissenschaften wie Kosmographie, Optik oder Grundlagen der Natur- und Menschenkunde Aufnahme (vgl. z. B. Ringelberg); daneben wird die Praxis fortgeführt, die höheren Universitätswissenschaften (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) anteilig, das heißt hinsichtlich ihrer Wissensaspekte in die Propädeutik einzugliedern (vgl. z.B. Reisch); überdies werden Teilwissenschaften aus den traditionellen Disziplinen ausgegliedert, wenn sie zu umfangreich geworden sind. So gleicht keines dieser Werke dem anderen; ihr Vergleich aber ist eine Fundgrube der Wissenschaftsgeschichte. Diese verwirrende Situation mündet im 17. Jh. in ein neues Enzyklopädiekonzept ein. Aus dem Geist von Humanismus und Renaissance gespeist, fällt der Unterschied zwischen den propädeutischen und den höheren Wissenschaften vollends dahin und fügt Schritt für Schritt alles Wißbare - gewiß secundum ordinem - in die Kompendien ein. Damit ist die Idee der Universalenzyklopädie geboren. Das erste Beispiel ihrer Verwirklichung sind die ldea methodica et brevis encyclopaediae, seu adumbratio universitatis (Herborn 1606) des Matthias Martini (1572-1630). Darin stehen Philosophie und Theologie als disciplinae principales oder realia gemeinsam an erster Stelle, wobei jene ausdrücklich die theoretische und praktische Philosophie, diese die Offenbarungstheologie mit einschließt. Daneben tritt die Gruppe der instrumentalia oder philologica, d.h. Grammatik, Rhetorik, Logik, Poetik, Geschichte u. a. Beide Gruppen werden unter dem Oberbegriff der artes liberales zusammengefaßt. Von ihnen unterschieden sind dann die artes illiberales, d.h. die technischen und bildnerischen Künste.
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Wie nirgendwo anders in diesem Jahrhundert zeigt sich jedoch bei J . H . —>Alsted diese W e n d e zum neuen Enzyklopädieverständnis. In seiner ersten Arbeit: Cursus philosophici encyclopaedia (Herborn 1620) teilt er die Fülle der Fächer noch in die vier Gruppen: Praecognita philosophica (mit Archäologie, Technologie, Didaktik u.a.),Scientiae philosophiae theoreticae (mit Metaphysik, Physik, Arithmetik, Geometrie, Kosmographie, Geographie, Optik, Musik u.a.), Prudentiae philosophiae practicae (mit Ethik, Ökonomik, Politik, Scholastik, Geschichte), und Artes philosophiaepoeticae (mit Grammatik, Rhetorik, Logik, Poetik u. a.). Unverkennbar waltet hier das aristotelische Schema. Wichtiger ist, daß alle Wissenschaften - wie schon der Titel erwarten läßt - Gliederungen der —»Philosophie sind und diese eins ist mit der Enzyklopädie im Sinne der Propädeutik: Ita philosophiae synonymum est encyclopaedia, sive cyclopaedia (1,1,2). Zehn Jahre später freilich verändert Aisted dieses Verständnis in seinem Hauptwerk: Encyclopaedia Septem tomis distincta (Herborn 1630). Hier nimmt er die drei höheren Wissenschaften, Theologie, Jurisprudenz und Medizin mit in das System auf, dazu die mechanischen Künste als dritte Gruppe und schließlich eine vierte Gruppe von farragines disciplinarum, in der so „Vermischtes" wie Geschichte, Architektur und quodlibetica enthalten ist. Konsequent unterscheidet er nun den Begriff dieser tota Encyclopaedia von der traditionellen Enzyklopädie stricto sensu ( = Trivium und Quadrivium) und jener Enzyklopädie lato sensu ( = die „Philosophie"), wie er sie in der Frühschrift verstanden hatte. Die neue, umfassende Bedeutung erfordert zugleich eine neue Definition: Encyclopaedia est methodica comprehensio rerutn omnium in hac vita homini discendarum (1,1,49). Damit ist implizit die Frage nach der sachgerechten Anlage einer solchen tota Encyclopaedia gestellt. Alsteds Werk markiert eine Wegscheide der Enzyklopädieentwicklung. Wie in einem Brennpunkt laufen in ihm die Stränge aus der Vergangenheit zusammen, zeigen sich die Linien, die in die Zukunft führen. Da ist auf der einen Seite das ständig wachsende Reich des realen Wissens aus allen Gebieten, welches gemäß dem Anspruch einer universalen Enzyklopädie umfassend und gleichberechtigt dargeboten werden soll. Das Problem, wie eine solche Real-Enzyklopädie methodisch und sachlich anzulegen sei, wird im großen und ganzen künftig auf zweifache Weise gelöst: entweder mittels einer alphabetisch-lexikalischen Stichwörtersystematik oder unter wissenschaftssystematischen Gesichtspunkten. Mischformen sind hierbei eingeschlossen. Es erweist sich freilich auf die Dauer, daß nur noch wenige Unternehmungen einem solchen Anspruch voll genügen können. Nicht nur deshalb, sondern auch aus praktischen und vornehmlich didaktischen Überlegungen entwickeln sich so von der Mitte des 18. Jh. an spezielle Fach-Enzyklopädien. Allerdings gehen diese insofern oft über den Charakter bloßer Realiendarstellung hinaus, als sie sich eigens auch um die Methodik und das Verständnis der betreffenden Wissenschaft als solcher bemühen. Damit bilden sie die Brücke zu jenem anderen Zweig neuzeitlicher enzyklopädischer Arbeit, der in Alsteds Opus - wenngleich eher verhüllt als offen, dies insbesondere in der Frühschrift enthalten ist: der Frage nach dem Begriff der Wissenschaft in den Wissenschaften. Aus ihm gehen die in der Regel Formal-Enzyklopädie oder Philosophische Enzyklopädie genannten, wissenschaftstheoretischen Werke hervor (s.u. Abschn. 2 . 4 . ) . 2.3. Der Begriff einer Real-Enzyklopädie verbindet sich seit dem 18. Jh. bis heute vor allem mit jenem enzyklopädischen Riesenwerk, dessen ausführlicher Titel: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Paris/Neuchâtel/Amsterdam 1 7 5 1 - 1 7 7 2 ) lautet, das (bis 1 7 5 8 ) von Jean le Rond d'Alembert ( 1 7 1 7 - 1 7 8 3 ) und (bis 1 7 7 2 ) Denis Diderot ( 1 7 1 3 — 1 7 8 4 ) herausgegeben wurde. Methodisch handelt es sich bei dieser Enzyklopädie (zur Genesis vgl. Schalk, Einl.) um ein alphabetisch geordnetes Sachwörterbuch. Doch diese Gliederung ist, wie d'Alembert in seinem programmatischen „Discours préliminaire" ausführt, einzig wegen der bequemeren und einfacheren Handhabung für den Leser gewählt worden. Die Idee einer zugleich systematischen Enzyklopädie aller Wissenschaften bleibt ständig transparent und wird konkret dadurch gewährleistet, daß nach jedem Stichwon, also noch vor dem Text, die Disziplin genannt wird, in die der Artikel gehört; daß alle Wissenschaften nach Maßgabe ihrer gegenseitigen Verwandtschaft in einer großen Übersichtstabelle am Ende des Vorworts aufgeführt und geordnet werden; daß schließlich in jedem Artikel durch Verweise und Anmerkungen die Beziehungen zu anderen Artikeln der gleichen Wissenschaft oder zu verwandten Wissenschaften aufgezeigt sind. So kann d'Alembert zurecht sagen, daß hier das Wissen der Menschheit nicht aufgesplittert, sondern im Zusammenhang vorgestellt wird, das heißt, daß es in seiner Gliederung und Verkettung, nach seinen allgemeinen Prinzipien und wichtigen Einzelheiten, in seinem Ursprung und in sei-
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ner Genealogie durchsichtig wird. Daß dies nicht ohne einen bestimmten hermeneutischen Standpunkt geschehen kann, ist selbstverständlich. D'Alemberts „point de vue" besteht darin, gemäß den drei menschlichen Geisteskräften: Gedächtnis, Einbildungskraft und Verstand, die Wissenschaften in historische, künstlerische und philosophische zu gliedern. Dieses aufklärerische Prinzip stammt von Francis Bacon (s. u. Absch. 2.4). Bei der Durchführung fällt freilich dem Verstand und damit der Philosophie als dem überlegenen Standpunkt die fuhrende Rolle zu. Denn sie allein ist in der Lage, die Harmonie des Wissens zu bewahren und dieses allen gesellschaftlichen Schichten sachgerecht zu vermitteln. Hier wird die pädagogische Absicht des Unternehmens sichtbar. Es geht ihm — wie auch Diderot im Artikel Encyclopédie (5[1755]) darlegt- um das Programm einer Aufklärung durch Wissenschaft, welche nicht nur die Interessierten oder Gebildeten erreicht, sondern als Bildungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt geschehen soll. Diderot und d'Alembert haben ihr Werk nicht ohne Vorgänger oder Anstöße von außen geschaffen. Die Tradition alphabetischer Real-Enzyklopädien hebt im Grunde bereits mit der um die Zeitenwende von Flaccus verfaßten Schrift De significatu verborum an. Enzyklopädische Wörterbücher entwickeln sich danach jedoch vor allem in Byzanz (s.o. Abschn. 2.1). Im Westen entsteht lediglich im 8. J h . der Liber glossarum des Bischofs Ansileubus. Uber siebenhundert Jahre scheint dieser Strang enzyklopädischer Arbeit hier keine weiteren bedeutsamen Ergebnisse gezeitigt zu haben. Erst nach dem Untergang von Byzanz erscheint die Polyanthea nova des Domenico Mirabelli (erstmals 1503; noch im 17. Jh. wieder aufgelegt). Ihr folgt eine Reihe historisch-literarischer Stoffsammlungen, die mit ausführlichen Registern versehen sind. Genannt seien das Theatrum humanae vitae (1565) von Theodor Zwinger, das Magnum Theatrum (1656) von Laurentius Beyerlinck und das Lexicon universale ( 2 1 6 9 8 ) von Johann J a c o b Hoffmann; später dann ein Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexikon (1704) von Johann Hübner, ein Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften ( 1721 ff) von Johann Theodor Jablonski sowie schließlich und vornehmlich ein Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (hg. v. J . H. Zedier, 6 4 Bde., 4 Suppl. Bde., Halle/Leipzig 1 7 3 1 - 1 7 5 4 ) . Daneben ist gerade für diese Tradition auch auf bedeutende Arbeiten des 17. Jh. im außerdeutschen Raum zu verweisen: In Frankreich entsteht das Grand dictionnaire historique ou le mélange curieux de l'histoire sainte et profane von Ludwig Moréris, das 1 6 7 4 erstmals herauskommt und zwanzig Neuauflagen erlebt, in die ständig neue Daten und Erkenntnisse eingearbeitet werden; ferner das Dictionnaire universel des arts et sciences von Antonius Furetières (3 Bde., 1 6 9 0 1 2 1820— 1824). Ein Werk von zukunftsweisender Gestaltung ist aber vor allem das Dictionnaire historique et critique ( 1 6 9 6 / 9 7 ) von P.—»Bayle. Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß eine entscheidende Anregung zur Abfassung der Encyclopédie Diderots und d'Alemberts von der Tatsache ausgeht, daß der Cyclopaedia: or, An Universal Dictionary of Arts and Sciences (2 Bde., London 1728) des Ephraim Chambers in England ein überwältigender Verkaufserfolg beschert war. Dies alles freilich kann und soll die einzigartige Leistung der beiden großen französischen Enzyklopädisten nicht schmälern. An diesem Markstein in der Geschichte der Enzyklopädie konnte man in der Folge nicht vorbeigehen. Entsprechend dem janushaften Charakter des Werks bestimmen zwei unterschiedliche Tendenzen die Arbeit der Epigonen. Auf der einen Seite wird dessen wissenschaftssystematisches Programm in den Vordergrund gestellt und für die Anlage einer in Angriff genommenen Real-Enzyklopädie verbindlich. Dies gilt zum Beispiel für die von Charles-Joseph Panckoucke und (seit 1792) H. Agasse verlegte Encyclopédie méthodique ou par ordre des matières ( 1 9 6 Bde., Paris/Lüttich 1 7 8 2 - 1 8 3 2 ) , welche den Stoff des großen Vorbilds nach Wissenschaften umordnet, diese selbst und innerhalb derselben die Artikel jedoch in alphabetischer Abfolge beläßt, wodurch je Wissenschaft unterschiedliche Bändezahlen entstehen. Ähnlich geht auch die monumental geplante, jedoch beim Stande von 167 Bänden abgebrochene Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge (hg. v. J . S . E r s c h / J . G . Gruber, Leipzig 1 8 1 8 - 1 8 8 9 ) vor. Anderen erscheint diese Technik nur als halber Schritt zu der für sie entscheidenden Absicht, den Zusammenhang der einzelnen Wissenschaften ins Licht zu rücken. Sie verwerfen darum deren Aufsplitterung in alphabetische Artikel und kehren zurück zur geschlossenen Darstellung. Für die Abfolge der Wissen-
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Schäften werden freilich höchst unterschiedliche Prinzipien verbindlich. So will z. B. Christian Heinrich Schmid in seinem Aufsatz Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften (Gotha 1779) diese „ihrer Natur nach" (232) einteilen und anordnen. Als Natur einer Wissenschaft aber gilt ihm ihre „Gemeinnützigkeit und Brauchbarkeit" (234) für alle Menschen. Noch eindeutiger utilitaristisch stellt sich die Anordnung in Georg Simon Klügeis Encyclopädie, oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigsten, insbesondere aus der Betrachtung der Natur und des Menschen gesammelten Kenntnisse (3 Bde., Berlin 1 7 8 2 - 1 7 8 4 ; 7 Bde., Berlin/Stettin 3 1 8 0 6 - 1 8 1 7 ) dar. Zuvor schon hatte Augustin Roux in seiner Nouvelle encyclopédie portative (2 Bde., Paris 1766) die Wissenschaften nach solchen, die aus unserer Sinneserfahrung entstehen und solchen, die sich der Reflexion verdanken, eingeteilt. Noch einmal anders erscheint S.T. —»Coleridges Systematik, die für die Encyclopaedia metropolitana (28 Bde., hg. v. E. Smedley u.a., London 1 8 1 7 - 1 8 4 5 ) zur Grundlage wurde. Er teilt die Wissenschaften in reine, gemischte und angewandte, biographische und historische Fächer ein; dazu kommen „Sonstiges" und „Lexikographie". - Auf der anderen Seite tritt in immer stärkerem Maße das Konzept einer Veröffentlichung des lexikalisch angesammelten und alphabetisch geordneten bloßen Faktenwissens zutage, unabhängig von jeglicher „mappemonde" (d'Alembert) der Wissenschaften. Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Encyclopaedia Britannica (London 1 7 6 8 - 1 7 7 1 ) , die in erster Auflage drei Bände umfaßt, bis zur 14. Auflage im Jahre 1929 auf 24 Bände anwächst, und seither immer wieder (zuletzt 1970 ff) revidiert und überdies durch das Britannica book oftheyear (seit 1937; vorher Britannica year book) auf dem neuesten Stand gehalten wird. Die Organisation der Darstellung ist freilich von den frühen, rein alphabetisch gehaltenen Auflagen in neuerer Zeit zu einer quasi-systematischen Sachartikelkonzeption übergewechselt (vgl. dazu Kogan). Hingegen kann die nach über acht Jahrzehnten Arbeit abgeschlossene Oekonomische (ab Bd. 9: Oekonomisch-technologische) Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft (und der Kunstgeschichte), in alphabetischer Ordnung (242 Bde., hg. v. J. G. Krünitz u. a., Berlin 1 7 7 3 - 1 8 5 8 ) , die sich als echte Nachfolgerin des französischen Vorbilds anpreist, den Trend zur Entsystematisierung insgesamt nicht verleugnen. Ganz deutlich wird dies dann in der Deutsche(n) Encyclopädie oder Allgemeines Real- Wörterbuch aller Künste und Wissenschaft, von einer Gesellschaft Gelehrten (23 Bde. u. 1 Bildbd., Frankfurt/M. 1 7 7 8 - 1 8 0 7 ) , welche sich ausdrücklich als „Aggregat" des Wissens einführt (vgl. Vorr.) und rühmt, im Gegensatz zur großen französischen Encyclopédie kein „System" und keine „Genealogie der Wissenschaften . . . erdichtet" zu haben (vgl. Art. Encyklopädie: 8 [1783] 373ff, bes. 380). Parallel zu diesen großen Buchpublikationen erscheinen in zahlreichen Ländern wissenschaftliche Zeitschriften, die sich der enzyklopädischen Thematik im Sinne der bloßen Kumulation des zeitgenössischen Wissens verschreiben: So der Journal encyclopédique ( 1 7 5 6 - 1 7 9 6 ) in England (unter Mitwirkung Bacons), das Magazin encyclopédique ( 1 7 9 2 - 1 8 3 3 ) in Frankreich oder das von Christian Wilhelm von Dohm herausgegebeneEncyclopädische Journal (Cleve/Düsseldorf seit 1774). In dieselbe Richtung gehen auch spezielle Wörter- oder Handbücher einzelner Gebiete, deren Zahl vom Ende des 18. Jh. an fast unübersehbar wird. Wir finden neben einer Biblisch-exegetischen Enzyklopädie (4 Bde., Gotha 1 7 9 3 - 1 7 9 8 ) oder der Encyclopädie der lateinischen Classiker (15 T., Braunschweig 1 7 9 0 - 1 8 0 1 ) auch Kuriositäten wie eine Komische Encyklopädie (Nürnberg 1805), die Encyklopädie der Strickkunst (Pirna o.J.) oder die Encyclopädie der Gesellschaftsspiele (Ilmenau 1827). Der Weg dieser Aggregate des zeitgenössischen Wissens mündet im 19. Jh. ein in die Tradition der sogenannten „Konversationslexika" (s.o., J . Hübner, 1704), die im Unterschied zur aufklärerischen Fiktion einer Bildungs- und Interessengleichheit von Fachgelehrten und Laien sich bewußt an die letzte Gruppe wenden, um jene Kenntnisse zu vermitteln, die ein „gebildeter Mensch wissen muß, wenn er an einer guten Conversation theilnehmen und ein Buch lesen will" (Renatus Gotthelf Löbel). Von weitreichender Bedeutung auf diesem Gebiet sollte es werden, daß Friedrich Arnold Brockhaus im Jahre 1808 das von R.G. Löbel und Chr. W. Franke begonnene, jedoch bankrott gegangene Unternehmen eines Conversationslexikon mit vorzüglicher
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Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten (begonnen 1796) aufkaufte. Nach der Fertigstellung (6 Bde., 2 Nachtr., 1 8 0 9 - 1 8 1 1 ) erfährt es unter dem Titel: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände - Conversations-Lexikon schnell weite Verbreitung und fuhrt in seiner 5. Auflage (schon 1819/20) den Begriff der Enzyklopädie allein im Titel; diese Auflage ist auch erstmalig von mehreren Fachgelehrten verfaßt und wendet eine thematisch ausgerichtete Gliederung des Wissens an. An Umfang weit übertroffen wird der Brockhaus allerdings von dem wenig später erscheinenden Großen Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, das Joseph Meyer herausgibt (46 Bde., 6 Suppl. Bde., 1840-1855). Um an noch breitere Volksschichten heranzukommen, erscheint 1 8 5 7 - 1 8 6 0 eine Kurzfassung des Meyer unter dem Titel: Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, das innerhalb eines Menschenalters 6 Auflagen erfahrt. Diese Intention wird oft übernommen: in Deutschland etwa von Herders Conversations-Lexikon (5 Bde., 1854—1857; zum Großlexikon erweitert ab der 4. Auflage, 12 Bde., 1 9 3 1 - 1 9 3 5 unter dem Titel: Der Große Herder, Nachschlagwerk für Wissen und Leben), aber auch in zahlreichen anderen Ländern Europas und Übersee (vgl. die ausführlichen Literaturverzeichnisse im Anhang der Enzyklopädieartikel z.B. in der Encyclopaedia Britannica, im Meyer und Brockhaus). Die Darstellung der neuzeitlichen Geschichte der Realenzyklopädien wäre nicht vollständig ohne die Erwähnung der sogenannten Fach-Enzyklopädien. Ihre Entstehung hängt maßgeblich mit der Einrichtung einer entsprechenden Lehrveranstaltung an den Fakultäten zusammen. Deren Inhalt ist die Einführung und Methodik für eine einzelne Wissenschaftsdisziplin. Die Anfänge hierfür liegen an der Universität —»Göttingen, deren Gründer Gerlach Adolf von Münchhausen schon 1737 den Juristen Johann Jacob Schmauss mit einem derartigen Kolleg beauftragt (Entwurff eines Collegii Juris praeparatorii, 1737) und es 1756 für alle Fakultäten vorschlägt. Im Wintersemester 1756/57 folgen der Mediziner G.G. Richter, der Theologe J. W. Feuerlin, der Jurist J. St. Püttner, der Mathematiker und Physiker A. G. Kästner, sowie J. M. Gesner für die Fächer Philosophie, Geschichte und Philologie dem Aufruf. Der Erfolg läßt das Kolleg zur ständigen Einrichtung werden und verschafft Göttingen als didaktisch vorbildlicher Universität einen hervorragenden Ruf in Deutschland. Kästner und Gesner veröffentlichen ihre Vorlesungen schon im gleichen Jahr (Matheseos et physices idea generalis in usum lectionum encyclopaedicarum, Göttingen 1756; Primae lineae isagoges in eruditionem universalem nominatim philologiam, historiam et philosophiam in usum praelectionum ductae, Göttingen/Leipzig 1756); Püttner folgt damit wenig später (Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767). Ihre Arbeiten werden zur Grundlage einer schnell anwachsenden Flut derartiger Bücher für andere Fachgebiete. Etwa gleichzeitig liest Alexander Gottlieb Baumgarten in Halle seine Sciagraphia Encyclopaedia Philosophicae, die J.Chr. Foerster nach dem Tod des Verfassers (1762) im Jahre 1769 herausgibt und mit einem Vorwort: De vero valore encyclopaediae versieht, in welchem beiläufig der Gedanke geäußert wird, daß die Einführung in eine bestimmte Wissenschaft immer auch den Zusammenhang aller Wissenschaften mit aufzuhellen habe. Hierin deckt er sich mit der Idea Encyclopaidiae Programma (Mainz 1784) des Chr. Appel, der einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Enzyklopädie an der im gleichen Jahr wieder eröffneten Universität Mainz innehat. Auch anderwärts kommt gelegentlich dieser wissenschaftstheoretische Aspekt in den Fachenzyklopädien zur Geltung. Beispiele hierfür sind G. Wardenburg, Einige allgemeine Bemerkungen über den Werth und die Behandlung der medicinischen Encyklopädie (Göttingen 1798), oder Chr. C. Konopak, Über den Begriff und Zweck einer Encyklopädie im Allgemeinen und der Encyklopädie der Rechtswissenschaft insbesondere (Halle 1800). Doch die szientistische Auffassung der Wissenschaft (vgl. C.v. Rotteck, Lb. des Vernunftrechts u. der Staatswiss., Stuttgart, II 2 1840,7) und damit die rein fachspezifischen Einführungen überwiegen bei weitem. Den breitesten Raum nehmen dabei diejenigen für die Rechtswissenschaft und für die aus dieser separierten Staatswissenschaft ein. Nach der Theologie (s. u. Abschn. 3.2) folgen historische und philologische Enzyklopädien, während solche für Medizin und Naturwissenschaften von der Mitte des 19. Jh. an wegen deren rapider Spezialisierung zurücktreten.
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2.4. Es stand zu erwarten, daß die Philosophie diese neuzeitlich-aufklärerische Entwicklung zu einer Kultur des (Realien-) Wissens und damit den Verlust des „Kreises" der Wissenschaften nicht einfach hinnehmen konnte. Die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft als solcher blieb trotz der Faszination der Fakten lebendig. Aus diesem Quell entspringen vom ersten Drittel des 17. Jh. an die Formal-Enzyklopädien oder Philosophischen Enzyklopädien als Entwürfe oder Systeme einer allgemeinen Wissenschaftslehre. Es ist Francis Bacon (1561—1626), der neben seinen bahnbrechenden Werken für die Begründung des modernen englischen Empirismus und damit eines naturwissenschaftlichen Denkens in der Schrift: Magna instauratio imperii humani in naturam (2 T., 1620—1623) eine solche Wissenschaftslehre entwirft. Sie beruht auf der Unterscheidung der drei fundamentalen Seelenkräfte (Gedächtnis, Einbildungskraft und Verstand) und ordnet demgemäß die Wissenschaften in Geschichte, Dichtung und Philosophie. Die Philosophie ist dabei zukünftig —»Wissenschaftstheorie nach logischen Grundsätzen (philosophia prima). Ein halbes Jahrhundert später greift G.W. —»Leibniz dies auf. Freilich wirken bei ihm neben diesem naturwissenschaftlichen Ansatz noch vielfältige andere Wurzeln mit. Er hat die griechischen Anstöße zu einer Wissenschaftstheorie ebenso studiert wie die Schriften Alsteds, und er ist insbesondere mit dem pansophischen Programm (s. u. Abschn. 3.2) des J. A. —»Comenius vertraut. Auch hatte schon sein Jenaer Lehrer E. Weigel das Programm einer Enzyklopädie aller Wissenschaften auf der Grundlage mathematisch-logischer Richtlinien veröffentlicht (ldea totius Encyclopaediae mathematico-philosophicae, Jena 1617). Dies alles führt ihn zu einem ersten formal-enzyklopädischen Vorschlag (Cogitata quaedam de Ratione perficiendi et emendandi Encyclopaediam Alstedii, 1669—1671, publ. 1718): Die Wissenschaften sind nach theoretisch-philosophischen einerseits, empirisch-historischen andererseits einzuteilen; jene erbringen die theoremata, d. h. vernunftbegründete allgemeine Lehren; diese erbringen die observationes, d.h. Aussagen über einzelne Dinge, die in der Erfahrung gründen; zwischen diesen liegen die Mischformen der hypotheses und der problemata, d.h. theoretisch-praktische Sätze. Auf dieser Basis werden folgerichtig die traditionellen Wissenschaftsgrenzen aufgehoben, denn jedes der bekannten Fächer gehört teils in jene, teils in diese Gruppe. Entscheidend ist die Einsicht, daß der Plan einer Wissenschaftstheorie hier nicht aufgrund von Wissenschaftsgegenständen entworfen wird, sondern aufgrund der Klassifikation von Sätzen über solche. Die formale Enzyklopädie ist theoretische, praktische und diskursive —»Sprachphilosophie. Sie wird in den folgenden Entwürfen Leibniz' zur scientia generalis dadurch, daß ihre Sätze auf ein formales System von Grundbegriffen des Realen und Idealen reduziert werden, für die schließlich sogar eine Reihe einfacher Grundzeichen, z. B. Zahlen genügen, um einzelne, zusammengesetzte und höchste Erkenntnisse auszudrücken, oder auch um ganz neue zu wecken durch die freie oder gezielte Kombination. Richtiges Denken wird zum richtigen Kalkül; Irrtümer sind vermeidbar; eine mathematische Universalsprache vereint alle Gelehrten und alle Menschen; der Fortschritt der Wissenschaft ist planbar und nicht mehr dem Zufall überlassen.
Leibniz' Vorstellungen werden außer in der vereinfachend-eklektischen, aber gerade deshalb weithin wirksamen Schrift von Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theilen der Gelehrsamkeit (Frankfurt/Leipzig 1745 6 1785) aufgenommen und weitergeführt von I. —»Kant, wenn auch eher beiläufig. Kants Philosophie erwächst zwar ebenfalls aus dem Geist der Aufklärung und begreift so die mathematische Naturwissenschaft als Wissenschaft schlechthin, deren Methode als wissenschaftliche Methode überhaupt. Doch zugleich zeigt Kant durch seine Erkenntniskritik die Grenzen derselben auf und dringt zu einer neuen universalen Wissenschaftsauffassung als Erkenntnislehre weiter. Eine wichtige Stelle hierzu enthalten die Vorlesungen über Logik (vgl. Randbemerkungen zu G. F. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752 2 1760; Akad. Ausg. XVI), in denen Kant dem Wissenschaftler die Aufgabe zuweist, einerseits das ganze Feld menschlicher Erkenntnis abzustecken, andererseits darin seiner eigenen Wissenschaft den sachgemäßen Ort anzuweisen. Bei dieser ,JLncyclopaedia universalis" (189) geht es um eine „Architectonik der Wissenschaften, die ihre Verwandtschaft und systematische Verbindung derselben in einem Ganzen der die Menschheit interessierenden Erkenntnis betrachtet. Ist philosophisch und also nicht Polyhistorie. Ein System nach Ideen" (199). In die gleiche Richtung geht die Vorbemerkung zur Vorlesung über Physische Geographie, in der Kant sagt, daß wir „die Gegenstände unserer Erfahrung!»! Ganzen kennen lernen, so daß unsere Erkenntnisse kein Aggre-
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gat, sondern ein System ausmachen" (Akad. Ausg. IX, 158). Er fordert damit eine allgemeine Wissenschaftstheorie, die als System der Transzendentalphilosophie den einzelnen Wissenschaften vorausgeht. Genauer heißt es im Opus postumum von ihr, sie sei „eine Architectonische Enzyclopädie welcher a priori ihr Formale zum Grunde liegt" (Akad. Ausg. X X I , 1 0 9 ) . Kern dieser Aussage ist die auch in der Kritik der reinen Vernunft (Riga 1781/87) geäußerte Ansicht, daß „die menschliche Vernunft. . . ihrer Natur nach architectonisch (ist), d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisseals gehörig zu einem möglichen System" (B 502). Wissenschafts- und Erkenntnisganzes entsprechen sich also in der Tiefe; dies muß aufgedeckt werden. Was das konkret bedeutet, läßt sich nur schließen, denn Kant hat es nirgends ausgeführt. Daß sich bei ihm daneben auch Äußerungen finden, welche die Enzyklopädie als Fach-Enzyklopädie verstehen (z.B. in den Vorlesungen über Enzyklopädie, auch im Opus postumum, Akad. Ausg. X X I , 96 f. 106), verwundert nicht. — Konsequent arbeiten deshalb zahlreiche seiner Schüler (vgl. G. A. Mellin, J . G . Buhle, J. J . Eschenburg, S.S. Witte, K.H. Heydenreich, W . T . Krug, G.B. Jäsche u.a.) am Vorhaben einer formalen oder transzendentalphilosophischen Enzyklopädie als Wissenschaftstheorie weiter; andere dagegen (vgl. J . H . Abicht, C.F. Callisen, C. A. Schaller u.a.) beschränken sich auf eine Methodologie der Philosophie (vgl. Dierse 1 0 3 - 1 2 4 ) . Durchschlagender Erfolg ist weder diesen noch jenen beschieden. E t w a gleichzeitig greift auch die romantische Bewegung (—»Romantik) den Gedanken der Formal-Enzyklopädie auf. Für sie stellt die Zersplitterung der Wissenschaft einen Ausdruck der Heillosigkeit der Zeit dar. Die Idee des lebendigen Organismus alles Wissens im Lichte eines gemeinsamen, absoluten Bezugspunktes soll hier Abhilfe schaffen. Doch die ständig wachsende Flut der Detailerkenntnisse und die damit verbundene Separation der Wissenschaften bildet ein fast unüberwindbares Hindernis. „ N u r im Id[ealismus] ist eine Encyklfopädie] m ö g l i c h " , ruft Friedrich Schlegel aus (Krit. Ausg. XVIII, 1 9 6 8 , 3 5 9 ) . Doch über Hinweise und Fragmente (vgl. Philosophie der Philologie, 1 7 9 7 ; Vom kombinatorischen Geist, 1 8 0 4 ) k o m m t er so wenig hinaus wie sein Freund Novalis (vgl. Das Allgemeine Brouillon, 1 7 9 8 / 9 9 ) . Eher schon die Berliner Vorlesungen über Encyklopädie ( 1 8 0 3 , noch unveröffentl.) des Bruders August Wilhelm Schlegel, oder die einflußreichen Würzburger Vorlesungen über Allgemeine Methodologie und Encyklopädie der Wissenschaften überhaupt ( 1 8 0 3 / 0 4 ) von F . W . —»Schelling. Immer deutlicher zeigt sich aber, daß die Philosophie eine allgemeine Theorie aller Wissenschaften aus ihren Prinzipien nicht mehr erarbeiten kann. Das gilt auch für die bedeutendste Leistung auf diesem Gebiet im 19. Jh., die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Heidelberg 1 8 1 7 2 1 8 2 7 , b e s . 3 1 8 3 0 ) von G . W . F . —»Hegel. Ihr Titel ist bereits das Eingeständnis dieser Tatsache. Hervorgegangen aus einer Einführung in die Philosophie (bestehend aus Logik, Philosophie der Natur, Philosophie des Geistes) „für die Oberklasse" des Gymnasiums in Nürnberg, wandelt sich Hegels Konzept von der Darstellung der Methode und der wichtigsten Lehrinhalte zum Aufweis der Philosophie als einer logisch-systematischen Wissenschaft. „Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis, aber die philosophische Idee ist darin in einer besonderen Bestimmtheit oder Elemente. Der einzelne Kreis durchbricht darum, weil er in sich Totalität ist, auch die Schranke seines Elements und begründet eine weitere Sphäre; das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar, deren jeder ein notwendiges Moment ist, so daß das System ihrer eigentümlichen Elemente die ganze Idee ausmacht, die ebenso in jedem einzelnen erscheint" (Werkausg., Frankfurt, VIII 1970, 60). Nur ein solches System ist nach Hegel aber wirklich Wissenschaft, alles andere die bloße Sammlung von Fakten oder Kenntnissen und eventuell deren Ordnung. „Die philosophische Enzyklopädie unterscheidet sich von einer andern, gewöhnlichen Enzyklopädie dadurch, daß diese etwa ein Aggregat der Wissenschaften sein soll, welche zufälliger- und empirischerweise aufgenommen und worunter auch solche sind, die nur den Namen von Wissenschaften tragen" (61). Damit ist letztlich das Vorhaben einer universalen Enzyklopädie aller Wissenschaften aufgegeben. Hegel scheidet die empirischen Wissenschaften aus dem philosophischen Wissenschaftsbegriff aus. Das Ergebnis ist die Trennung der Begriffe System und Enzyklopädie. Jenes wird allein noch für die Wissenschaftstheorie reklamiert, diese wird (wieder) zur Propädeutik. Hegels Verständnis treibt damit die Enzyklopädie in die Richtung der Real-Lexika und Handbücher. Dies gilt bis weit in das 19. Jh. hinein nicht nur dort, wo in Hegels Nachfolge (vgl. I.H. Fichte, Chr. H. Weiße, H. M. Chalybäus, F. Th. Vischer u. a.) über Enzyklopädie nachgedacht, sondern auch, wo in Opposition zu ihm eine Verbindung der beiden Seiten gesucht wird (vgl. J . F r . Herbart, H. Ritter, K.Mager u.a.). Gegen die idealistische Konzeption tritt schon zur gleichen Zeit das positivistische Bemühen um eine Einheitswissenschaft als Enzyklopädie an. C. H . de Saint-Simon über-
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nimmt —im erklärten Anschluß an die französischen Enzyklopädisten des 18. Jh. — aus der experimentell-analytischen Methodik der Naturwissenschaften (auch für die Philosophie) das Prinzip der Beobachtung („l'observation") als Grundlage des Wissens und der Wissenschaft (vgl. Projet d'Encyclopédie, 1809; Nouvelle Encyclopédie, 1810; Mémoire sur l'Encyclopédie, 1826). Nur auf diese Weise könne das nachrevolutionäre Zeitalter, die fünfte, allein auf dem physischen und mathematischen Denken basierende Epoche der Geistesgeschichte, ihrem Auftrag gerecht werden. Denn einzig empirische Erkenntnisse sind wissenschaftlich und gehören in eine Enzyklopädie; die übrigen Wissenschaften sind Phantasie und überholt. Das Element des Exakten soll die neue Einheit stiften. Was hier noch eher programmatisch behauptet ist, wird von Auguste Comte (1798-1857) systematisch weiterentwickelt (vgl. bes. Co«rs de philosophie positive, 1830 5 1892). Die bisherigen Versuche einer Enzyklopädie seien vor allem an den unterschiedlichen Prämissen der verschiedenen Wissenschaften gescheitert. Nur gleichartige, und das heißt positive Wissenschaften können berücksichtigt werden im jetzigen, dritten Stadium der Geistesentwicklung. Daraus folgt: Es gibt nur noch sechs Wissenschaften, die von der einfachsten, abstraktesten zur kompliziertesten, konkretesten aufsteigen und auch so gelehrt werden müssen: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie. In diese Hierarchie werden alle übrigen Wissenschaften eingefügt. Spätere Variationen haben diese erste Anlage von Comtes Enzyklopädie nicht ernsthaft verändert. Ihre Struktur als erzieherisches Curriculum überwiegt freilich die wissenschaftstheoretische Bedeutung bei weitem. Durchgesetzt hat sich dieser positivistische Versuch einer Enzyklopädie als systematische Einheitswissenschaft ebensowenig wie sein logizistischer Epigone in der Wiener Schule, mit dem die Geschichte der Enzyklopädie ins 20. Jh. einmündet und noch einmal einen Gipfel erklimmt. Rudolf Carnap ( 1 8 9 1 - 1 9 7 0 ) vertritt in Der logische Aufbau der Welt (Berlin 1928) den Standpunkt, daß es „nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft" (4) geben könne. Grundlage dieser These ist die sprachanalytische Behauptung, daß alle Sachverhalte allein als Sätze verifizierbar sind und daher in einerlei —»Sprache ausdrückbar sein müssen. 3. '¿ur Geschichte der theologischen
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3.1. Die christliche Religion ist von Anfang an und wesentlich mit der Ausbildung einer Theologie als ihrer wissenschaftlichen Vergewisserung befaßt; hierin zeichnet sie sich bis heute in einzigartiger Weise unter den Weltreligionen aus. Ursächlich dafür ist die Tatsache, daß unbedingte Erfahrung und verständliches Reden über die Symbole solcher Erfahrung in Wort, Bild oder Handlung eine unlösbare, wenngleich stets spannungsvolle und veränderbare Einheit bilden. Historisch gesehen, offenbart sich darin die Vielfalt der Wurzeln des Christentums sowohl im orientalisch-jüdischen wie im griechisch-hellenistischen Geistesleben. Zurecht spricht C.Schneider vom „Wunder der Synthese" (Geistesgesch., München, II 1954, 333). Systematisch gesehen, zeigt sich, daß die schon von einigen neutestamentlichen Zeugen (vgl. bes. paulinische und johanneische Schriften), aber dann besonders von den sog. Apostolischen Vätern und Apologeten des 2. Jh. (vgl. etwa Justin, Dial. 2 u.ö.; —»Apologetik) praktizierte Methode der Austauschbarkeit von Glauben und Wissen als den Einsatzpunkten für eine Vermittlung christlicher Wahrheit kein Zufall ist. Auf diesem Fundament kommt es nicht unerwartet zur Übernahme des im hellenistischen Judentum verbreiteten Gedankens (vgl. Philo, Congr. passim; Ebr. 33—35.47—53 u.a.), daß die èyxvxfooç Jiaiôeia eine vorbereitende Stufe für die nach tieferer Weisheit strebenden Gläubigen darstellt. So jedenfalls sieht es —•Clemens von Alexandrien (vgl. str. 1,29,9-33,3; 43,3f; 93,4f; V I , 8 0 - 9 5 ; VII, 19,4 u.a.), desgleichen Origenes, von dessen Hochschätzung der èyxvxfooç ftadtj/taza —» Eusebius von Caesarea berichtet (h.e. 6,2,7.15). Daß es sich hierbei inhaltlich um den orbis disciplinarum der -zartes liberales handelt, bezeugt nicht nur die nachweisbare Beherrschung all dieser Fächer etwa durch Anatolius aus Alexandrien (gest. um 282; Eusebius, h.e. 7,32,6) oder—»Basilius von Caesarea, sondern auch die Tatsache, daß die wissenschaftliche Terminologie und Methodik dieses
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III
Bildungsprogramms ganz selbstverständlich in den christlichen Hochschulen zur Anwendung kommt. Belege hierfür liefern die Instituía regularía diviniae legis des Junilius Africanus (gest. 565) für die antiochenische Schule, oder die Sacra parallela (vermutlich) des —»Johannes Damascenus. Daß es daneben auch manche christliche Stimme gibt, die eine Ablehnung der antiken Bildung propagiert, ist begreiflich (Belege bei Fuchs; RAC 5). Die Geltung derselben wird dadurch jedoch kaum ernsthaft beeinträchtigt. Das Zeugnis —»Gregors von Nyssa, daß die Kenntnis der ¿yxvxXiog naideia den silbernen und goldenen Gefäßen gleicht, welche die Kinder Israel beim Auszug den Ägyptern abverlangt haben (vgl. v. Mos. ad Ex 12,35), erscheint symptomatisch für die allgemeine christliche Auffassung um 400. —»Johannes Chrysostomos hat darüber hinaus in seiner Schrift Flegi kgajavvrjg, einem fingierten Dialog zum Ruhm des Priesterlebens der antiken Bildung ein ausdrückliches Denkmal gesetzt. Ähnliches gilt für die in Anlehnung an Cicero verfaßte Schrift De officiis ministrorum des —»Ambrosius von Mailand. Eine zwiespältige Haltung nimmt dagegen —»Augustin ein. Daß der frühere Rhetoriklehrer aus Karthago eine umfassende Kenntnis der antiken Bildung besaß, wird durch seine Cortfessiones (ca. 397—400 verfaßt) bezeugt, in denen Augustin bekennt, daß ihm die sieben freien Künste „nicht zum Nutzen, mehr zum Verderben" gereicht hätten (4,16,30). Wichtig aus der Zeit vor der Taufe (387) sind zunächst vier Werke (386/87 in Cassiciacum verfaßt), in denen er versucht, das antike Bildungsgut mit dem neuentdeckten christlichen Glauben zu verbinden. Von ihnen enthält De ordine den aus platonischem Geist gespeisten Gedanken, daß der Umgang mit den kanonischen Wissenschaften den Menschen stufenweise der höchsten Wahrheit annähert (vgl. v.a. 2 , 3 5 - 4 4 . 4 7 , auch 1,2.24 u.ö.); ähnlich steht es in den zwei Büchern der Soliloquia. Noch bedeutsamer sind die im gleichen Jahr von Augustin in Angriff genommenen Disciplinae, ein Lehrbuch der artes im Geiste Varros. Doch dann trägt nach 390 die Wende zum Christentum ihre Früchte und läßt ihn mehr und mehr die Zeit vor der Bekehrung als Irrtum und Wahn beurteilen. De doctrina Christiana (ca. 397) gesteht gerade noch zu, daß die antike Wissenschaft dem Christen helfen könne, das philologische Verständnis der Bibel zu fördern (Ende des 2. Buches); De civitate Dei ( 4 1 3 - 4 2 6 ) ersetzt dagegen programmatisch den Begriff der artes liberales durch den der artes saeculares: Wirkliches Wissen ist nur im Glauben. Konsequent verurteilt Augustin in seinen Retractationes (ab 426) seine früheren Bemühungen um die antike Bildung mit harten Worten (vgl. 1,3,4).
Die Ansichten des späten Augustin haben den fortschreitenden Einzug der Septem artes liberales in das christliche Abendland und damit ihre Begegnung mit der Theologie nicht aufzuhalten vermocht. Die „Hochzeit" des Martianus Capella obsiegte über das Abgrenzungsdenken des Bischofs von Hippo Regius. Eineinhalb Jahrhunderte nach ihm vollendet —»Cassiodor in seinen Institutiones, was jener mit seiner mythologischen Einleitung prophetisch andeutet: die Verbindung des biblisch-kirchengeschichtlichen Wissens mit den artistischen Disziplinen und die theologische Rechtfertigung dieses Vorgangs im Geiste der neutestamentlichen und frühchristlichen Tradition. Schon —»Isidors von Sevilla Etymologiae führen die Realia beider Bereiche und, wie erwähnt, vieler anderer Lehrgebiete (vgl. o.Abschn.2.1) gleichberechtigt auf und öffnen damit die Grenze zwischen der artistischen Propädeutik und den höheren Wissenschaften. Das Gleiche gilt für die Enzyklopädie des —»Hrabanus Maurus, De rerum natura seu universo. Dieser schreibt (um 850) auch ein Ausbildungsprogramm für die Priesterschaft, De institutione clericorum, in dem er außer den theologischen Inhalten die Bildungsgehalte der nichtchristlichen Antike für das Studium pflichtig macht. Ähnlich gehen die Capitula ad presbyteros parrochiae suae des —»Hinkmar von Reims vor. Der Weg zur Universalenzyklopädie führt über —»Hugo von St. Viktor zu —»Vinzenz von Beauvais. Kaum zufällig sind es Theologen, die diesen Weg markieren. 3.2. Der zukünftige Ertrag dieser Entwicklung speziell für die theologische Enzyklopädie sollte freilich auf einem anderen Gebiet liegen: In dem Maße, wie das theologische Realienwissen in die Scheuern der allgemeinen Enzyklopädie eingefahren wird, schlägt die universalistische Tendenz auf die Theologie selbst zurück und provoziert die Erarbeitung nicht nur vollständiger, sondern geordnet konzipierter Summen. Diese Ursache des Aufkommens der mittelalterlichen —»Scholastik bleibt häufig unbeachtet. Mit —»Petrus Lombardus besitzt die neue Schultheologie bereits im 12. Jh. einen bemerkenswerten Vertreter. Seine Libri IV
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Sententiarum ( 1 1 5 4 - 1 1 5 7 ) stellen zwar noch keine Summe, aber doch eine Kompilation der wesentlichen theologischen Erkenntnisse der Zeit dar, beruhend (zu fast neunzig Prozent) auf augustinischer Theologie, daneben auf griechischen Kirchenlehrern. Sie werden das zukunftweisende Lehrbuch durch die Kunst ihrer Darstellung. Ihre Höhe erklimmt die Summenarbeit dann bereits ein Jahrhundert später mit —»Thomas von Aquin, der aristotelische Philosophie und christliche Theologie auf einzigartige Weise zu verschmelzen vermag. Die 1264 abgeschlossene, vor allem gegen den Islam gerichtete, apologetische Summa contra gentiles in vier Büchern, ferner das unvollendete - nach den drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe gegliederte - Compendium theologiac (1272-1274), vor allem aber die gleichfalls nicht abgeschlossene, auf drei Teile geplante Summa theologica (erster Teil um 1266, zweiter Teil 1 2 6 9 - 1 2 7 2 , dritter unvollendeter Teil 1272-1274) stellen Meisterwerke mittelalterlich-theologischer Lehrbücher dar. Gerade die große „Summe" des Thomas macht nun den erwähnten Ertrag für die Entwicklung der theologischen Enzyklopädie einsichtig. Er liegt in der Tatsache, daß die über das bloße Sammeln hinausgehende, ordnend- ganzheitliche Arbeit der Scholastik mit Notwendigkeit dazu führt, die Frage nach dem Wesen der Theologie als solcher zu stellen, ihren Gegenstand und ihre Methode zu rechtfertigen, kurz: eine Prinzipienlehre in Angriff zu nehmen. Die zehn Artikel der ersten Frage in der Summa theologica des Thomas sind ein eindrückliches Beispiel für diesen Vorgang. Gewiß entscheidet das hier aufgedeckte Verständnis der Theologie nicht über Anlage und Darstellung der verhandelten Sache, ist dem vielmehr eindeutig erst nachträglich vorangestellt. Insofern handelt es sich bei den Summen auch nicht um Systeme im eigentlichen Wortsinn. Aber der Keim zu solchen ist gelegt. Von nun an ringt die Theologie bewußt mit dem Problem ihrer hermeneutischen Mitte und deren Folgerungen für ein enzyklopädisches Ganzes. Von daher erscheint es sachgemäß, im Zusammenhang auf Johannes —»Gerson zu verweisen. Nicht so sehr seine der nominalistischen Tradition zuzurechnenden Vorlesungen und Traktate sind jedoch von Interesse, sondern die einzigartigen Epistolae: Quid et qualiter studere debeat novus theologiae auditor et contra curiositatem studentium (Paris, um 1410?, publ. 1706 in Antwerpen), die er für seine Studenten am Collegium Navarense geschrieben hat. In ihnen erläutert Gerson ein neues Prinzip theologischen Verstehens: die eigene religiöse —»Erfahrung und deren Bewährung in der kirchlichen Praxis. Daß beides gleichberechtigt genannt wird, korrigiert sicher bewußt die herrschende Lehre des Aquinaten, die Theologie sei mehr eine theoretische als eine praktische Wissenschaft (S.th. 1,4). Wichtiger noch ist die Abkehr vom bloßen Gegenstandsdenken in der Theologie, die sich hier anzeigt. So schlägt Gerson die Brücke ins Zeitalter von —»Humanismus und —»Reformation. Da ist dann als erster —»Erasmus von Rotterdam zu nennen, der in der Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam (1518/1519) den von Gerson niedergelegten Faden wieder aufgreift; nur daß er nicht Religion und Kirche, sondern die aus der antiken Anthropologie erhobenen Begriffe libertas und virtus zu Prinzipien seiner humanistischen Theologie erhebt. Damit ist gewiß nicht einfach die Theologie in die Anthropologie verkehrt, vielmehr — und dies konsequenter als ein Jahrhundert vorher — ein hermeneutisches Prinzip für die Darstellung theologischer Lehrgegenstände in Anschlag gebracht. Nur für Einzelprobleme freilich (De libero arbitrio Diatribe, 1524; De sarcienda ecclesiae concordia, 1533 u.a.), nicht in einem System, hat Erasmus dies selbst durchgeführt. Diesen Tatbestand teilt er mit M . —»Luther und dessen Theologie aus dem hermeneutischen - nicht szientistischen! - Prinzip des sola gratia seu solus Christus. Insofern besitzt auch der große Reformator in der Geschichte der theologischen Enzyklopädie keinen markanten Platz. Erst Ph. —»Melanchthon setzt mit seinen Loci communes rerum theologicarum ('1521) einen neuen Anfang für ein mögliches Lehrsystem in der Kirche der Reformation. Ihm dienen die Begriffe lex und gratia als Prinzipien für Auswahl, Anordnung und Auslegung der theologischen Stoffe. Ein vergleichbares Werk auf reformierter Seite erscheint 1536 mit der Christianae religionis Institutio des J. —»Calvin. Sie stellt fraglos das bedeutendste theologische Lehrbuch der Zeit dar (vgl. TRE 7,579 f). Zwanzig Jahre später führt
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A. —»Hyperius, die theologisch-hermeneutischen Ansätze von Luthertum und Calvinismus miteinander verbindend, die Entwicklung der theologischen Wissenschaft zu einem enzyklopädischen Ganzen einen wichtigen Schritt weiter. In De recte fortnando Theologiae studio (Basel 1556, 2 1562 unter dem Titel: De Theologo, seu de ratione studii Theologici) entwirft er deren Gliederung und Ordnung erstmals als Abfolge von den exegetischen und dogmatischen zu den historischen und praktischen Sachverhalten. Die weitere Entwicklung der evangelischen Theologie hat sich freilich diesen Entwürfen vorerst nicht angeschlossen. Die Rückkehr zu einer Scholastik im Zeitalter der Orthodoxie führt vielmehr zu zahlreichen Lehrbüchern, die vor allem das Sammeln autoritativen dogmatischen Stoffs betreiben und nach dem heilsgeschichtlichen Schema anordnen. Beispiele auf lutherischer Seite sind die Loci theologici (postum 1591) von M . —»Chemnitz, das Compendium locorum theologicorum ex Scriptura sacra et libro Concordiae collectum (1610) des Leonhard Hutter (gest. 1616) und die monumentalen, neunbändigen Loci theologici (1610—1622) von J. —»Gerhard. Eine Ausnahme stellt das zwölfbändige Systema locorum theologicorum (1655—1677) des A. —»Calov dar, das zum ersten Mal, wenngleich noch kaum konsequent, die analytische Methode anwendet. Auf reformierter Seite entsprechen dem die Collegia theologica ('1641) und die Loci communes (1650) von Johannes Maccovius (Makowsky; gest. 1644); ferner das zweibändige Praecognitorium theologicorum und die Distinctiones per universam theologiam (beide um 1630) von J . H . —»Aisted, der theologisch also im Umkreis bloßer Realiensammlung verbleibt; schließlich die Exercitia et bibliotheca studiosi theologiae (1644) des G. —»Voetius, mit denen die aristotelisch-scholastische Theologie erneuert werden soll, um den zeitgenössischen Modernismen entgegenzusteuern. Noch stärker hindert die pietistische Konzentration (—»Pietismus) auf eine praxisbezogene —»Schriftauslegung die Entwicklung der Theologie zur systematisch-enzyklopädischen Wissenschaft. Nach Ph. J. —»Spener hat das Studium der „Aufferbauung" des Reiches Gottes zu dienen; so fordern es nachdrücklich die Pia desideria (1675), die gleichzeitig feststellen, daß auch Dogmatik und Ethik ihren Stoff nur aus der Schrift schöpfen, Kirchengeschichte eine nebensächliche Angelegenheit sei und die Praktische Theologie (Homiletik und Katechetik) an den Universitäten viel zu abstrakt gelehrt werde. Im selben Geist, jedoch mit einer stärker asketisch-spiritualistischen Betonung, schreibt auch A. H. —»Francke seinen Timotheus, zum Fürbilde allen Theologiae studiosis dargestellt (um 1693), sowie die ldea studiosi theologiae (1712) und den Methodus studii theologici (1723). Ähnlich sind die zeitgenössischen Arbeiten des Joachim Justus Breithaupt (Exercitationes de studio theologiae, 1702; Institutiones studii theologici litterariae, 1723) oder Johann Jacob Rambach ( Wohlunterrichteter Studiosus theologiae, 1723) gehalten. Der von Humanismus und Reformation verursachte geistige Aufbruch geht zunächst auch an der katholischen Theologie nicht spurlos vorüber. Das —»Tridentinum (Sess. XXIII,18) schreibt die Errichtung von Seminaren vor (ältestes 1552 in Rom das Collegium Germanicum). Für sie leistet der spanische Dominikaner Melchior Cano (gest. 1560) eine Erneuerung der Theologie in seiner Schrift De locis theologicis (Salamanca 1563). Vor allem die —»Jesuiten machten sich sein Konzept zu eigen. Ihre Lehr- und Studienordnungen (gesammelt bei J. M. Pachtler, Ratio studiorum et institutiones scholasticae societas Jesu, 4 Bde., 1 8 8 7 - 1 8 9 4 ) zielen auf Ketzerbekämpfung und Beichtdisziplin unter Einsatz der geistigen Waffen der Reformation. Der hierzu dienliche Stoff findet seinen Niederschlag in dem jesuitischen Reallexikon: Apparatus sacer ad scripturas V. et N. T., eorum interprétés ... theologos scholasticos (3 Bde., Venedig 1 6 0 3 - 1 6 0 6 ) , herausgegeben von Anton Possevin (gest. 1611). Weit weniger streitbar ist dagegen der Traité des études monastiques (Paris 1691, lat. Venedig 1729 u.ö.) des Jean Mabillon (gest. 1707) gehalten, der den Mönchen das Studium von Schrift und Kirchenvätern als Begründung einer positiven Theologie als erstes vorschreibt, ehe sie sich der Scholastik, Moraltheologie, Kirchengeschichte und den philosophisch-historischen Werken zuwenden sollen. Eine Annäherung gar an protestantische Arbeiten — vor allem an Hyperius — vollzieht L. E. du Pin (gest. 1719) in seiner Méthode pour étudier la théologie (Paris 1716).
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Insgesamt aber werden die Chancen für eine systematische Enzyklopädie, die der wissenschaftlichen Theologie aus dem humanistisch-reformatorischen Aufbruch zugewachsen sind, weitgehend vertan. Eine Ausnahme findet sich im ausgehenden 16. und 17. Jh. allein im Umkreis der pansophischen Bewegung. Ihr erster Hauptvertreter, J. V. —»Andreae, veröffentlicht zwischen 1616 und 1619 zahlreiche satirisch-moralische und utopische Schriften (s. bes. den Christlichen Hercules 1616, Menippus 1618, Reipublicae christianopolitartae descriptio 1619 u.a.), in denen er einerseits für eine ganzheitliche, geistleibliche Erkenntnismethode wirbt, durch die sowohl die Theologie als auch alle anderen Wissenschaften zu einem enzyklopädischen Ganzen vereinigt werden sollen, andererseits eine christlich-humanistische neue Gesellschafts- (und Kirchen-)Ordnung entwirft, in der dieses neue Erkennen Gestalt gewinnen soll (s. Christianae Societatis Imago 1619). Andreae und vor allem J. H. —»Aisted wirken besonders auf J. A. —»Comenius ein, dessen mächtiges, erst allmählich bekannt werdendes pädagogisches und theologisch-prophetisches Lebenswerk der pansophischen Idee des „Ut Omnes, Omnia, Omnio doceantur" dient (s. bes. De rerum humanarum emendatione Consultatio Catholica, postum; vgl. T R E 8, 164ff), welche aus christologischer Mitte entfaltet wird, alle Wissenschaften auf ihr Wesentliches begrenzt und systematisch ordnet, um auf dieser Erkenntnisgrundlage - ähnlich wie bei Andreae, nur kosmopolitischer ausblickend - in der Zerrissenheit der Zeit eine Weltfriedensgesellschaft zu verwirklichen. Trotz der anbrechenden Aufklärung findet diese letzte barocke Wissenschaftsenzyklopädie noch im 18. Jh. ihre Nachfolger, unter ihnen v. a. F. C. —•Oetinger, dessen Philosophia sacra sämtliche Wissenschaften, von der Theologie über die Linguistik bis zu Medizin und Chemie aus der Idee des (göttlichen) Lebens neu interpretiert und systematisch ordnet (s. bes. Theologia ex idea vitae deducta, 1765). Aufs Ganze gesehen verbleiben diese ihrer Zeit weit vorauseilenden Anstöße jedoch noch lange in (esoterischer) Verborgenheit. Inzwischen dringen zu Beginn des 18. Jh. frühaufklärerische Gedanken auch in die Theologie ein und verstärken das Realiendenken unter neuen Vorzeichen. In der Übergangstheologie finden wir bei jener Richtung, die einen literar-historischen Ansatz verfolgt, enzyklopädisch relevante Arbeiten. Hierher gehört J . F . —»Buddeus. Seine lange Zeit maßgebende Isagoge historico-theologica ad theologiam universam singulasqtte eins partes (2 Bde., Leipzig 1727—1731) teilt die theologische Wissenschaft in acht Disziplinen auf: Dogmatik, Symbolik, Patristik, Moral, kirchliche Jurisprudenz, Kirchengeschichte, Polemik, Exegese. Er versucht keine sinnhafte Abfolge diesef.Gebiete; die verarbeitete Stoffülle grenzt ans Unübersichtliche, die Zuordnung ist häufig unklar. Noch deutlicher nur an Fakten orientiert, zeigt sich Johann Georg Walchs (1693—1775) Einleitung in die theologischen Wissenschaften (Jena 1737). Seine Disziplinenfolge lautet: Dogmatik, Symbolik, Katechetik, Polemik, Sittenlehre, göttliche Rechtsgelehrsamkeit, Pastoraltheologie und Kirchengeschichte. Daß er die Exegese nicht berücksichtigt, ist erstaunlich. Inhaltlich handelt es sich um eine monströse Stoffsammlung, zugegebenermaßen in strenger Gliederung. Das Urteil W. Grimms, „den älteren Theologen (sc. Buddeus u. Walch) ging jede Einsicht in die Verbindung der einzelnen theologischen Wissenschaften zu einem einheitlichen und organischen Ganzen ab. Ihre Eintheilungen waren principlos und confus" (1), verkennt die durch die Bibel geschaffene Einheit. Die von Christoph Matthäus Pfaff ( 1 6 8 6 - 1 7 6 0 ) verfaßte Introductio in historiam theologiae litterariam (3 Bde., Tübingen 1 7 2 4 - 1 7 2 6 ) folgt wieder recht genau der Disziplinenfolge von Hyperius und versucht mittels des historischen Prinzips einen systematischen Zusammenhang derselben zu entwickeln. Solches gilt vollends für J. L. von —»Mosheims Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erkennen (1756). Damit berühren sich die beiden letztgenannten Theologen mit der zweiten großen Strömung der deutschen Aufklärungstheologie, der Neologie, in welcher neben dem historischen Interesse vor allem die Ablehnung der „natürlichen Religion" zugunsten eines rationalen, in der Regel sittlichen Religionsbegriffs zum Tragen kommt. J. S. —»Semler erweitert die historische Interpretation des Stoffes konsequent auf die biblischen Schriften (vgl. Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 1 7 7 1 - 1 7 7 5 ) ; zugleich gilt ihm als göttlichen Ursprungs und somit als theolo-
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gisch relevant allein das, was „zur moralischen Ausbesserung" des Menschen dient (vgl. Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit, für angehende Studiosos theologiae, 1 7 5 7 ; Institutio brevior ad liberalem eruditionem theologicam, 2 Bde., 1 7 6 2 ; Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam 1774). Das in alledem bemerkbare Element eines kritischen und damit erneuerten methodischen Interesses macht es verständlich, daß die Theologie sich sehr schnell der seit Mitte des 1 8 . Jh. von —»Göttingen ausgehenden W e n d e zur Fach-Enzyklopädie auf- und anschließt. Unverkennbar meldet sich hier der —»Rationalismus als dritte aufklärerische Strömung zu W o r t . In seinem Gefolge hat die Theologie als Wissenschaft ihr Selbstverständnis und ihre Prinzipien vor dem F o r u m der allgemeinen Erkenntnislage zu rechtfertigen, ehe sie über ihre Inhalte, Gliederungen oder Hilfsmittel handelt. Kaum zufällig treten im Zusammenhang damit die konfessionellen Unterschiede in den nun entstehenden Arbeiten zurück. N a c h gegenwärtigem Wissen ist es der reformierte Theologe S. Mursinna ( 1 7 1 7 - 1 7 7 5 ) , der als erster eine theologische Fach-Enzyklopädie verfaßt. Ihr Titel: Primae lineae encyclopaediae theologicae (Halle 1764) erweist das Buch selbst als einen Entwurf im Neuland. So bedarf auch der Begriff Enzyklopädie einer Legitimation. Diese leistet der Autor im Rückblick auf und in Abgrenzung vom antik-mittelalterlichen Propädeutik-Verständnis und vom zeitgenössischen Universalrealismus der französischen Enzyklopädie-Bewegung. Seine These, daß es neben dem allgemeinen auch das spezielle Wissen geben müsse, welches in besonderem Maße der Forderung strukturaler Einsichtigkeit zu entsprechen hat, vollends wenn ein Studium von Erfolg gekrönt sein will, wird unterstützt durch den Hinweis, daß andere Wissenschaften, vor allem die Jurisprudenz, mit dem Vorhaben einer solchen Einführung gute Erfahrungen machen. Die Anlage der Schrift erhellt sodann, daß Mursinna den Begriff der Fach-Enzyklopädie streng methodisch versteht. Das Hauptgewicht liegt auf dem Erweis der Theologie als einer positiven, weil historischen und praktischen Wissenschaft. Dem folgen Ratschläge zur fruchtbaren Anordnung der theologischen Stoffe in den einzelnen Disziplinen. Beides wird von einer Liste einschlägiger Bücher für das Studium abgeschlossen. Mursinnas Einführung findet jahrzehntelang ungezählte Nachfolger, die sich lediglich darin unterscheiden, welchem der drei bei Mursinna grundgelegten Teile sie das größere Gewicht einräumen. Zu nennen sind — quer durch die Konfessionen: K. W. Robert, Encyclopaediae et methodi theologicae brevis delineatio (Marburg 1769); J.Chr. Heckel, Versuch einer theologischen Encyclopädie und Methodologie (Leipzig 1778); X . Gmeiner,Schema encyclopaediae theologicae (Graz 1786); J . F . W . Thym, Theologische Encyklopädie und Methodologie (Halle 1797); I. Thanner, Encyklopädisch-methodologische Einleitung zum akademisch-wissenschaftlichen Studium der positiven Theologie (München 1809); J. E. Chr. Schmidt, Theologische Encyclopädie (Gießen 1811); F. Oberthür, Theologische Encyclopädie oder der Theologischen Wissenschaften Umfang und Zusammenhang (Augsburg 1828); J. T. L. Danz, Enzyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften (Weimar 1832). Freilich stehen die letztgenannten Arbeiten — auch diejenige von Oberthür - schon nicht mehr auf der Höhe der inzwischen von Schleiermacher eingeleiteten Wende. Ehe d a r a u f eingegangen wird, soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch in der Theologie des ausgehenden 1 8 . und des 19. J h . die Faszination des real-enzyklopädischen Konzepts einer (möglichst umfassenden) Wissenssammlung - gleichsam die rationalistische Variante der Dogmatiken und Kompendien aus dem Zeitalter des Konfessionalismus - nicht erlischt. Ein Beispiel hierfür ist J . A. Nösselts Anweisung zur Kenntnis der besseren Bücher in der Theologie (3 Bde., Halle 1 7 8 6 - 1 7 8 9 4 1 8 0 0 ; fortges. von Simon unter dem Titel Anweisung 1 1 8 1 8 / 1 8 1 9 ) , das weit mehr darstellt als einen Lizur Bildung angehender Theologen,1813 teraturbericht. Ähnlich konzipiert ist J o h a n n J o a c h i m Bellermanns Der Theologe, oder encyklopädische Zusammenstellung des Wissenswürdigsten und Neuesten im Gebiete der theologischen Wissenschaften (Erfurt 1 8 0 3 ) . Beide Bücher können sich aber nicht messen mit dem bedeutendsten theologischen Fachlexikon des 1 9 . Jh., der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche ( 2 2 Bde., Leipzig 1 8 5 4 - 1 8 6 6 ) . Der Plan zu diesem Werk, schon vor der Märzrevolution gefaßt, wurde ihretwegen zunächst aufgeschoben, und dann, nachdem der ursprünglich vorgesehene Herausgeber inzwischen verstorben war, dem für diese Tätigkeit vorzüglich begabten Johann Jakob Herzog (1805—1882) übertragen. Dessen (durch zahlreiche Rufe geknüpfte) vielfältige Beziehungen zu Fachkollegen auch außerhalb von —»Halle und —»Erlangen, wo er selbst während der Entstehungszeit lehrt, kommen dem Werk ebenso zustatten wie seine eigene universale Bildung (Herzog schrieb allein 529 Artikel der ersten Auflage). Als bereits
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1877 eine zweite Auflage in Angriff genommen wird, gewinnt er seinen Erlanger Kollegen Gustav Leopold Plitt ( 1 8 3 6 - 1 8 8 0 ) zur Mitarbeit, der die Vollendung des nun nur noch 18 Bände umfassenden Lexikons aber nicht erlebt, so daß (von Band 11 an) A. —»Hauck für ihn eintritt. Im Vorwort bekennt sich das Werk zu einem gesamtprotestantischen Auftrag und zur Offenheit gegenüber allen wissenschaftlichen Schulrichtungen. Dieses Programm übernimmt Hauck als Alleinherausgeber der dritten Auflage (22 Bde. und 2 Suppl. Bde., 1 8 9 6 - 1 9 1 3 ) ausdrücklich (vgl. I, S. III). Zugleich werden viele Lücken der zweiten Auflage geschlossen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß die zweite Auflage der Realenzyklopädie „eine ziemlich bescheiden ausgefallene Dublette" (4 Bde., 1 8 8 2 - 1 8 8 7 ; Christlieb 648) in Amerika hervorbringt, der (ab 1908) jedoch die unvergleichlich wertvollere Adaption der dritten Auflage unter dem Titel The Schaff-Herzog Encyclopedia ofReligious Knowledge (12 Bde.; The New Schaff-Herzog Encyclopaedia of Religious Knowledge. 13 Bde., Grand Rapids 1 9 4 9 / 1 9 5 0 = 1 9 6 6 - 1 9 6 9 , zur Vorgeschichte der Ubersetzung vgl. I, IX ff) folgt. Solch umgreifender Gelehrtheit vermag das von O t t o Zöckler herausgegebene Handbuch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Darstellung mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Disziplinen (Nördlingen, I 1 8 8 1 ; 4 Bde., M 8 8 9 / 1 8 9 0 ) nicht gleichzukommen. Die qualitativen Unterschiede der von verschiedenen Verfassern geschriebenen Teile dieses Lexikons sind erheblich; zudem übt der Herausgeber „Gesinnungscensur" (Heinrici: R E 5 , 3 5 7 ) und unterbindet derart die wissenschaftliche Diskussion. Hingegen vermag das katholische Pendant zur protestantischen Realenzyklopädie, das Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften (hg. v. H . G . Wetzer/B. Welte, 1 2 Bde., 1 Reg.bd., Freiburg i. Br. 1 8 4 7 - 1 8 6 0 2 1 8 8 2 - 1 9 0 3 ) sich durchaus mit dieser zu messen und gilt als „die beste und ausführlichste Orientierung" (Christlieb 6 5 0 ) ihrer Zeit im deutschsprachigen R a u m . In Frankreich entsteht parallel das gewaltige, von Jacques Paul Migne hg. Werk Encyclopédie théologique . . . (1. Reihe 5 0 Bde. 1 8 4 4 - 1 8 5 9 , 2. Reihe 5 3 Bde. 1 8 5 1 - 1 8 6 5 , 3. Reihe 6 6 Bde. 1 8 5 5 - 1 8 7 3 ) , welches nach verschiedenen Abteilungen gegliedert ist und sogar die theologische Bedeutung naturwissenschaftlicher Fächer diskutiert. 3.3. Wie auf so vielen Gebieten der Theologie setzt auch für die Geschichte der theologischen Enzyklopädie mit F. D. E. —»Schleiermacher eine neue Epoche ein. Sie bringt die (seit der Reformation anstehende) Wende zum System im strengen Sinne, das heißt zur umfassenden Entfaltung der Theologie aus einem einzigen Begriff. Zurecht hat R. H e r m a n n (vgl. R G G 1 5 , 1 4 2 7 f) daraufhingewiesen, daß dieser bei Schleiermacher schon in den Reden über die Religion ( 1 7 9 9 2 1 8 0 6 ' 1 8 2 1 ) im Verstehen der —»Religion als Mittlerschaft wahren Lebens enthalten ist. Hier ist angelegt, was der seit 1 8 0 7 in —»Berlin an der Universitätsgründung mitwirkende, von 1 8 1 0 an dort sämtliche theologische Disziplinen (mit Ausnahme des Alten Testaments) Lehrende in seine Kurze Darstellung des theologischen Studiums ( 1 8 1 1 2 1 8 3 0 ; zit. nach der Ausg. v. H . Scholz 1 9 1 0 ) faßt. Schleiermacher nennt seine Einführung eine „formale Enzyklopädie", aber nur, weil als „materielle" damals gilt, welche „von dem Hauptinhalt der einzelnen Disziplinen einen kurzen Abriß geben, mit der Darstellung ihrer Organisation aber es weniger genau nehmen" (§ 20). Auf diese „Organisation", d.h. auf das System des aus einer Mitte gewonnenen, lebendigen Ganzen kommt ihm alles an. Es steht und fällt damit, daß die Theologie „eine positive Wissenschaft" ist, „deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d.h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins" (§ 1). Diese Gestaltung aber ist keine spekulativ-theoretische und damit szientistische, sondern eine praktische: nämlich die Teilhabe „an der Kirchenleitung" (§ 3). Daraus folgt: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch . . . ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist" (§ 5). Nur diese Hermeneutik ermöglicht „eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Teile der Theologie unter sich, und dem eigentümlichen Wert eines jeden für den gemeinsamen Zweck" (§ 18). Damit ist der Grund gelegt für die sachdienliche Auswahl, Anlage und Interpretation der theologischen Inhalte. Schleiermacher nennt dabei „philosophische Theologie", was deren Grundlagen und Wesen erhellt (vgl. § 24), „praktische Theologie", was für deren Ziel ausbildet (vgl. § 25), „historische Theologie", was deren „Körper" in seiner veränderbaren geschichtlichen Gestalt nicht zuletzt in kritischer Beziehung zur „Idee des Christentums" aufdeckt (vgl. $ 26 ff). „In dieser T r i l o g i e . . . ist das ganze theologische Studium beschlossen; und die natürlichste
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Ordnung für diese Darstellung ist unstreitig die, mit der philosophischen Theologie zu beginnen und mit der praktischen zu schließen" (§ 31).
Unverkennbar kommen in Schleiermachers Theologiekonzept die verschiedenen enzyklopädischen Bemühungen der Vergangenheit und Gegenwart zusammen und werden zugleich in eine neue, einheitliche Gestalt umgeschaffen: das methodische Erbe der Einführungen, das materiale Erbe der realenzyklopädischen Wissenstradition und nicht zuletzt die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Bacons, Leibniz' oder Hegels. Nicht zufällig hat dieses theologische Konzept deshalb den Namen einer —»„Vermittlungstheologie" (K.R. Hagenbach) zuerkannt bekommen. Ebenso wenig zufällig ist, daß für jede aus ihrem Begriff begründete theologische Theorie und Systematik „Schleiermachers Buch bis heute ihr klassisches Werk geblieben (ist)" (Pannenberg, Wissenschaftstheorie 19). Am nächsten stehen Schleiermachers Position die eigentlich vermittlungstheologischen Enzyklopädien des 19. Jh. Hier ist zuerst auf den Grundriß der theologischen Encyklopädie (Göttingen 1813) von Gottlieb Jakob Planck ( 1 7 5 1 - 1 8 3 3 ) zu verweisen. Auch für ihn ist die Theologie wesentlich kirchliche Wissenschaft. Im Unterschied zu Schleiermachers Disziplinendreifalt vertritt Planck deren Vierteilung, weil sie seiner Auffassung nach die Eigenständigkeit des biblischen Fundaments der Theologie stärker betont und die praktische Zielsetzung noch besser herausstellt: Auf die Exegese, welche Philologie, Apologetik und Hermeneutik umfaßt, folgt die Systematik, zu der dogmatische, moralische, biblische, didaktische, populäre, polemische und symbolische Theologie gehören; dem schließen sich die historische und endlich die praktische Theologie an, welche Liturgik, Homiletik, Katechetik, Seelsorge und Pastoraltheologie enthält. Etwa zur gleichen Zeit entsteht auf katholischer Seite die wirkungsvolle, von Johann Sebastian Drey ( 1 7 7 7 - 1 8 5 3 ) verfaßte Kurze Einleitung in das Studium der Theologie mit Rücksicht auf den wissenschaftlichen Standpunct und das katholische System (Tübingen 1819). Sein Programm einer „Zergliederung" der Theologie in deren Teile, worin jeweils „das Wesen der Wissenschaft" als solches aufgedeckt werden soll, um dann „die gemeinschaftliche Wiederverbindung zu einem Ganzen" (49) zu leisten, variiert zwar die Methode Schleiermachers oder Plancks, nicht aber deren sachliches Enzyklopädie-Verständnis. Besondere Erwähnung verdient das Buch des Basier Kirchenhistorikers Karl Rudolf Hagenbach ( 1 8 0 1 - 1 8 7 4 ) mit dem Titel: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften (Leipzig 1833), welches über zwei Generationen hinweg neu aufgelegt ( 1 2 1889, hg. v. M. Reischle), so etwas wie ein enzyklopädisches Standardwerk des 19. Jh. wird. Wenn Hagenbach selbst seine Arbeit ausdrücklich „nicht ein ,Gelehrtenbuch', sondern . . . ein ,Studentenbuch'" ( " 1 8 8 4 , III) nennt, welches nicht vom „idealistischen Weisheitsdünkel aufgebläht" (6) sei, dann zielt diese Polemik gegen die rein formalen, wissenschaftstheoretischen theologischen Enzyklopädien im Gefolge der Hegelschen Philosophie. Zwei weitere Parteigänger des vermittlungstheologischen Standpunktes sind die Theologische Encyklopädie als System (Hamburg/Gotha 1843) von A. F. L. Pelt (gest. 1861), vor allem aber R. —»Rothes postum herausgegebene (Wittenberg 1880, von H. Ruppelius) Theologische Encyklopädie. Hagenbachs Kritik am „idealistischen Weisheitsdünkel" richtet sich speziell gegen die Encyklopädie der theologischen Wissenschaften (Halle 1832) des Hegelianers Karl Rosenkranz ( 1 8 0 5 - 1 8 7 9 ) . Mit ihm hebt die Linie der theologischen —»Wissenschaftstheorie des 19. Jh. und damit der Formal-Enzyklopädie im strengen Wortsinne an. Für Rosenkranz ist die „theologische Encyklopädie bisher zu sehr . . . Aggregat verschiedener Wissenschaften" (XV). Ihr Charakter als System kommt ihm auch bei Schleiermacher zu kurz, weil dieser den Ort der Theologie im allgemeinen System der Wissenschaften nicht diskutiert. „Wissenschaft in ihrer reinsten Form und in der Totalität aller ihrer Glieder" (XI) ist allein die —»Philosophie. Die Theologie als Wissenschaft muß deshalb ihren Begriff aus der Philosophie schöpfen, und zwar nach Hegels Muster-Enzyklopädie aus „der Philosophie des Geistes", genauer, deren dritter Abteilung: „der Philosophie des absoluten Geistes" (XIVf). Sie muß es deshalb, weil ihr Gegenstand, die göttlich-geoffenbarte Religion, nach Hegel in Betreff der wahrhaften Religion, d.h. der christlichen, eins ist mit der Selbstmanifestation des absoluten Geistes (vgl. Enzyklopädie § 5 6 4 ) .
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Ein katholisches Gegenstück zu diesem Buch stellt die Encyklopädie der theologischen Wissenschaften als System der gesamten Theologie (Mainz/Wien 1834) von Franz Anton Staudenmaier (1800— 1856) dar. Auch für ihn sind Schleiermachers und Dreys Abhandlungen noch bloße Einleitungen. Eine Enzyklopädie hat die „Idee" einer bestimmten Wissenschaft vorzustellen; diese aber stammt aus der Philosophie. „Die Wahrheit ist das Ganze, und dieses ist als Wissenschaft, in der sich die Idee vollzieht, System" (10). Deshalb kann es eigentlich nur eine einzige Universalenzyklopädie aller Wissenschaften als „allgemeine Wissenschaftslehre" geben (vgl. 7f). Eine solche muß freilich erarbeitet werden. Als Vorarbeit dafür können noch spezielle Enzyklopädien geschrieben werden, sofern sie den Charakter wirklicher Wissenschaftslehre haben (vgl. 16). In diesem Sinne macht sich der Verfasser an seine Aufgabe, wobei er die Auflösung der Theologie in die Religionsphilosophie vollzieht. Ganz ähnlich geschieht dies auch in dem Entwurf von L. Noack (gest. 1885): Die Idee der speculativen Religionswissenschaft. Plan und Entwurf einer neuen Grundlegung der theologischen Encyclopädie als System (Darmstadt 1846 [Jb. für speculative Phil. 3]). Er definiert die Religion als „für sich ideell berechtigten Theil und besonderen Kreis in der allgemeinen Sphäre der Wissenschaft des praktischen Geistes" und verlangt, daß deren wissenschaftliche Bearbeitung durch „die Theologie oder Religionswissenschaft als encyclopädisches System aus ihrem eigenen Prinzip . . . heraus . . . sich frei und organisch entfalten muß" (38). Doch gelingt dies auch bei ihm letztlich nur, indem die Religion - getreu Hegel — „im Elemente der reinen Idee" (64) begriffen wird.
Aufs Ganze gesehen gilt für diesen theologischen Zweig der Wissenschaftstheorie fraglos noch mehr als für die allgemeine enzyklopädische Entwicklung, daß ihm eine merkbare Wirkung versagt bleibt. Auch als es sich ein Menschenalter später Julius Ferdinand Räbiger ( 1 8 1 1 - 1 8 9 1 ) zur Aufgabe macht, die Ergebnisse der von Hegel bestimmten —»Tübinger Schule (F.C. —»Baur u.a.) in seiner Theologik oder Encyklopädie der Theologie (Leipzig 1880) wissenschaftstheoretisch zu reflektieren, zeigt sich trotz der dort ins Zentrum gerückten geschichtlichen Problematik das Ungenügen eines solchen Unternehmens. Räbiger betont: „Ihrem Gegenstande gemäß hat die theologische Encyklopädie keine andere Aufgabe, als die Theologie als Wissenschaft darzustellen. Sie hat daher die praktischen Rücksichten, durch die sich die frühern Encyklopädien zumeist leiten ließen, durchaus von sich fern zu halten" (95). Gemeint sind alle dogmatisch-kirchlichen Prämissen. Statt dessen müsse das wissenschaftliche Prinzip der Theologie, die dialektisch-geschichtliche „Idee" des Christentums, zum Ausgangspunkt und Ziel des Systems gemacht werden. Doch die Schwierigkeiten eines solchen „rein" geschichtlichen Standpunktes sind erheblich, weil gerade der Entwicklungsbegriff notwendig immer auch den positiven Charakter des theologischen Gegenstandes, das heißt die geschichtlichen Manifestationen des Glaubens zu berücksichtigen fordert.
Dies Problem findet in einem dritten Strang theologischer Enzyklopädien des 19. Jh. eine Reihe unterschiedlicher, wenngleich strukturell zusammengehörender Lösungen. Wir können sie als glaubens-geschichtliche Systeme bezeichnen. In gewissem Sinne verdanken sich auch diese dem Quell Schleiermachers, insofern die hier zentrale Frage nach der Gewißheit religiöser —»Erfahrung durch ihn gestellt worden ist. Nur daß sie sich nicht mehr mittels der aktuell-praktischen religiösen Vergemeinschaftung, also der Kirche beantwortet, sondern entweder aufgrund der subjektiven Glaubensgewißheit, die sich an den geschichtlichen Zeugnissen des Glaubens bewährt, oder aufgrund der geschichtlichen Glaubenszeugnisse, die zum Grund und Erweis des subjektiven Glaubens werden. Von daher gibt es konsequenterweise nur zwei mögliche Disziplinen, in denen das Ganze der Theologie entfaltet wird: die historische und die systematische. Jene hat in der zuletzt genannten Richtung den Primat, diese in der zuerst genannten. Vorherrschend für diese wird die Erlanger Schule (—»Erlangen). In ihr verfaßt G. Chr. A. v. —»Harleß eine Theologische Encyklopädie und Methodologie vom Standpunkte der protestantischen Kirche (Nürnberg 1837). Der Titel ist insofern bemerkenswert, als er deutlich macht, wie der Begriff der Enzyklopädie hier in den der theologischen Methode zurückgenommen und in diese der Realienaspekt klar eingeordnet wird.
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Dem entsprechend ist das Buch angelegt. In seinem ersten Teil entfaltet es die Norm der theologischen Methode, den „Gemeinglauben, wie er in den symbolischen Büchern der protestantischen Kirche niedergelegt ist" (26). Darunter versteht Harleß eine aktuelle Erfahrung, Schleiermachers „schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl" verwandt, wenngleich streng christologisch gefaßt und begründet. Theologie als Wissenschaft geht von dieser empirischen Größe aus, erhellt die Struktur und Gestalt derselben in den einzelnen Disziplinen und kehrt zu ihr zurück. Der zweite Teil des Buches ist geschichtlicher Art und gibt eine reich belegte Übersicht über „Die Prinzipien der Theologie in der historischen Entwicklung derselben" (55). Er steht deutlich im Schatten jenes grundlegenden Aufrisses.
Noch wirkungsvoller als das Buch von Harleß wird die postum erschienene Enzyklopädie der Theologie— nach Vorlesungen und Manuskripten herausgegeben von H. J. Bestmann (Nördlingen 1879) von J.Chr. K. v. —»Hofmann. Auch er fordert im Geiste Schleiermachers eine „Wissenschaftslehre" (1) der Theologie. Dabei ist für ihn deren „Gegenstand" das Christentum, einerseits verstanden als historische Größe, andererseits aber und vor allem als Gestalt des individuellen Glaubens. Die Theologie hat Wissenschaft vom christlichen Glauben zu sein, genauer von der Erfahrungsgewißheit des menschlichen Gottesverhältnisses, was für Hofmann eins ist mit der Erfahrung der Wiedergeburt. Ist derart das methodische Prinzip der Theologie gewonnen, so setzt ihre Darstellung stets beim Zeugnis des Glaubenden ein, erhellt dann in den verschiedenen Disziplinen - von der biblisch-historischen zur systematisch-praktischen vordringend die Wahrheit und Wirklichkeit dieses Zeugnisses und zielt auf die Gemeinschaft der Glaubenden, die wahre Kirche. Kaum irgendwo anders hat der Empiriecharakter der theologischen Wissenschaft eine solche Stringenz.
Vierzehn Jahre später erscheint die Theologische Encyklopädie (Freiburg/Leipzig 1893) von Georg Heinrici ( 1 8 4 4 - 1 9 1 5 ) . Zwar stellt auch Heinrici der Enzyklopädie die Aufgabe, „die Theologie als Wissenschaft darzustellen, um über ihren Inhalt, über ihre einzelnen Teile und deren Zusammenhang, über ihr Werden und über ihr Verhältniss zu den Wissenschaften überhaupt zu orientiren" (1). Aber er fügt sogleich betont hinzu: „Die Methode der Orientirung ist durch die Beschaffenheit der Stoffe bedingt" (ebd.). Bei der Beschreibung dieser Beschaffenheit wird der Unterschied zu den Erlangern augenfällig: „Die Theologie ist eine positive Wissenschaft; denn ihre Stoffe sind in der Geschichte gegeben und ihr Zweck ist ein praktischer. Ihr Inhalt ist die christliche Religion nach ihrem Wesen und Ursprünge, ihrer Entwickelung und ihrem gegenwärtigen Bestände. Sie bearbeitet daher die Thatsachen und den Prozess, in welchem die religiös-sittliche Weltanschauung des Christentums sich durchgesetzt und bewährt hat" (4). Soll unter solchen Voraussetzungen die Enzyklopädie den Zusammenhang der theologischen Gliederungen herstellen, muß sie teils die „Ermittelung des geschichtlichen Thatbestandes", teils die „Bewährung und Erhaltung des christlichen Glaubens" (14) leisten. Dementsprechend umfaßt der erste Teil der Enzyklopädie „Die historische Theologie" (SS 7 - 5 5 ) und enthält die biblisch-exegetische und die kirchenhistorische Wissenschaft samt den Hilfswissenschaften. Er mündet in einen Abschnitt über „Hermeneutik und Kritik" (vgl. 1 9 4 - 2 1 1 ) , der das Wesen des wirklichen geschichtlichen Verstehens noch einmal zusammenfaßt. Der zweite Teil bringt dann „Die normative Theologie" (S $ 5 6 - 71) mit Dogmatik, Ethik, Apologetik, Polemik und den praktischen Teildisziplinen, deren historische Dimension jeweils mitberücksichtigt wird. So verweisen die beiden Teile aufeinander und bestätigen das Ganze der Theologie.
Mit dem Grundriss der Encyklopädie der Theologie (Berlin 1901) von A.J. —»Dorner findet Heinricis Standpunkt wenig später eine pointierte Fortsetzung. Dorner stellt im Vorwort seiner Arbeit klar: „Gewöhnlich will man in der Theologie die praktisch-kirchlichen und die wissenschaftlichen Rücksichten combiniren. Diese Combination halte ich für ausgeschlossen" (III). Nur diejenige Wissenschaft, deren Erkennen „Selbstzweck" ist, verdient ihren Namen. Von diesem Ansatz aus will Domer gegen seine am „Practizismus" der Theologie (vgl. V) krankende Zeit „den Begriff der Theologie" (1) erarbeiten. Er ist auch für ihn ein rein geschichtlicher. Denn die Sache der Theologie, die christliche Religion, ist eine geschichtliche Größe (vgl. $ 2). Insofern gibt es im streng wissenschaftlichen Sinne nur eine „Historische Theologie" ($S 6 - 1 2 ) , welche die biblische Exegese und die Kirchengeschichte umfaßt. Schärfer als Heinrici hebt Domer davon die übrigen Disziplinen ab. Er faßt Dogmatik, Apologetik und Ethik zusammen als „Speculative Theologie" (SS 1 3 - 1 6 ) und weist ihnen die Aufgabe bloßer Systematisierung zu. Lediglich anhangsweise ist auch noch von der praktischen Theologie die Rede (S 17), die als „technische Disziplin" (122) bezeichnet wird.
Die bisherige Konzentration der Darstellung auf den deutschsprachigen Raum soll nicht vergessen machen, daß in anderen Ländern im 19. Jh. analoge Entwicklungen zu beobach-
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ten sind. Eine streng wissenschaftstheoretische Absicht im Geiste Hegels verfolgen z.B. H.-G. Kienlen, Ettcyclopédie des sciences de la théologie chrétienne (Straßburg 1842) oder Frédéric Godet, L'organisme de la science théologique (BuTh 1863, 1 — 16) u.a. in Frankreich. Ferner findet sich die vermittlungstheologische Position und das damit verbundene Verständnis der Enzyklopädie als Methodologie des theologischen Systems bei J. M'Clintock, Lectures on Theological Encyclopaedia and Methodology (New York/Cincinnati 1873), E. Vaucher, Essai de méthodologie des sciences théologiques (Paris 1878), C.E. Johansson, Kompendium i teologisk encyclopedi (Uppsala 1886) oder F. D. Weidner, Theological Encyclopaedia and Methodology (3 Bde. Rock Island 1 8 8 5 - 1 8 9 1 ) . Je stärker freilich am Jahrhundertende gerade im englisch- und französischsprachigen Raum der Enzyklopädiebegriff für die Reallexika verwendet wird, desto häufiger tauchen in den Titeln methodisch-systematischer Werke die Worte „Einleitung" oder gar „Propädeutik" auf, um den Unterschied klarzumachen (Beispiele bei Dierse 205 Anm. 120). Gleichzeitig findet in den Niederlanden jedoch eine Diskussion um das Enzyklopädieverständnis statt, in der die formalenzyklopädische Position ausdrücklich bekräftigt wird; die wichtigsten Arbeiten sind: J.I. Doedes, Encyclopedie der Christelijke Theologie (Utrecht 1876), A. Kuijper, Encyclopedie der heilige Godgeleerdheid (3 Bde., Amsterdam 1894) und J . M . S . Baijon, Encyclopedie der Christelijke Theologie (Utrecht 1900; mit einer ausführlichen Geschichte der Enzyklopädie!). Diese Diskussion verfolgt implizit auch die Absicht, den häufig in Frage gestellten Wissenschaftscharakter der Theologie mit Hilfe enzyklopädischer Reflexionen zu rechtfertigen. 3.4. Ziemlich genau mit der Jahrhundertwende beginnt die systematische Besinnung auf das Wesen der Theologie auch in den Real-Enzyklopädien und Lexika ihre Früchte zu zeitigen. An die Stelle von möglichst vollständigen Wissenssammlungen treten Werke, die unter ausdrücklicher Begrenzung des Stoffs nach bestimmten methodischen Gesichtspunkten auswählen und darstellen. Das maßgeblich (i.e. Bde. II—V) von Leopold Zscharnack (1877—1955) herausgegebene Lexikon: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Tübingen 1 1909—1913) behandelt zum Beispiel die religiös-kirchlichen, außerchristlichen und theologisch relevanten allgemein geistesgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Phänomene vom Ansatz der Religionsgeschichtlichen Schule aus, nicht zuletzt mit Blick auf den interessierten Laien. Einen Artikel „Enzyklopädie" enthält das Werk bezeichnenderweise nicht. Auch die zweite, vollständig von Zscharnack edierte Auflage (5 Bde., Tübingen 1927— 1932) behält diese Struktur bei. Erst die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgekommen? dritte Auflage (6 Bde., Tübingen 1 9 5 7 - 1 9 6 5 ) , für die Kurt Galling (geb. 1900) verantwortlich zeichnet, bringt eine Änderung. Das V o r w o r t erhellt die neue „Zielsetzung" des Werks: „ D e r christliche Glaube im evangelischen Verständnis . . . ist die ordnende Mitte, von der aus kritisch zu allen Erscheinungsformen des Religiösen Stellung genommen wird. Dabei werden die Spannungen und Gegensätzlichkeiten wissenschaftlicher Meinungen und Standpunkte weder zugunsten einzelner theologischer Richtungen noch einer sachwidrigen Uniformität zuliebe unterdrückt. Es handelt sich also um eine wissenschaftlich und kirchlich verantwortliche Bestandsaufnahme evangelischer theologischer Arbeit im allgemein-geschichtlichen und geistesgeschichtlichen R a h m e n " (I,S.Vf). Die Spuren des Kirchenkampfes aber auch der Entmythologisierungsdebatte spiegeln sich in diesen Zeilen.
In der etwa gleichzeitig mit der ersten Auflage der RGG erscheinenden Encyclopaedia of religión and ethics (hg. v. J . Hastings, 13 Bde., Edinburgh 1 9 0 8 - 1 9 2 6 ) ersteht für den angelsächsischen Bereich ein methodisch vergleichbares, was die Materialfülle angeht sogar weit anspruchsvolleres Werk. Auf katholischer Seite kommt Anfang des 20. Jh. ein Kirchliches Handlexikon (hg. v. M. Buchberger, 2 Bde., Freiburg 1 9 0 7 - 1 9 1 2 ) auf den Markt. Wissenschaftlich ist das Werk betont traditionalistisch. Doch bringt schon die Neubearbeitung durch denselben Herausgeber eine Wende; als Lexikon für Theologie und Kirche (10 Bde., gezählt als 1. Aufl., Freiburg 1930— 1938) öffnet es sich deutlich den kritisch-wissenschaftlichen Erfordernissen der Zeit. Dies setzt die zweite Auflage (10 Bde. u. 1 RegBd., Freiburg 1 9 5 7 - 1 9 6 8 , zusätzl. 3 Teile mit
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den Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen des II. —»Vatikanum, 1966-1968) fort, für die Josef Höfer (geb. 1886) und K. —»Rahner (geb. 1904) die Herausgeberschaft übernommen haben. In Amerika steht seit Beginn dieses Jahrhunderts The Catholic encyclopedia (hg. v. C. G. Herbermann u.a., 15 Bde., New York 1 9 0 7 - 1 9 1 2 , Index 1914, Suppl. bd. 1922; Neuauflage 1967 unter dem Titel New catholic encyclopedia) zur Verfügung, das überwiegend lehramtliche und historische Sachinformation liefert. Die Öffnung der katholischen Theologie zur kritischen Wissenschaft spiegelt sich dagegen wider in den großen französischen Lexika, nicht zuletzt wegen der langen Entstehungszeiten: Dictionnaire de théologie catholique (hg. v. A. Vacant u.a., 15 Bde., Paris 1 9 0 3 - 1 9 4 6 , 3 RegBde. 1960-1972); Dictionnaire d'histoire et de géographie ecclésiastique (hg. v. A. Baudrillard u.a., Paris 1912 ff, unvollendet, Bd. 19 [1979] = Buchstabe G); Dictionnaire d'archéologie chrétienne et liturgie (hg. v. F. Cabrolu.a., 15 Bde., Paris 1 9 0 3 - 1 9 5 3 ) ; Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique (hg. v. M. Viller, Paris 1932 ff, unvollendet, Bd. 10 [ 1980] = Buchstabe M). In Italien erscheint die Enciclopedia cattolica (hg. v. P. Paschini, 12 Bde., Città del Vaticano 1949-1954). Neben diesen umfassenden Lexika gibt es eine Fülle von Spezialhandbüchern und Nachschlagewerken für die einzelnen theologischen Disziplinen (vgl. Christlieb 651 ff). Sie unterstreichen den Trend zum methodisch aufbereiteten Fachwissen. Auf dem Gebiet der enzyklopädischen Systeme erscheint im ersten Drittel des 20. Jh. ein einziges Werk von Rang: Es ist die Einführung in das theologische Studium (Tübingen 1908 3 1921) von Paul Wernle (1872-1939). Der Titel kann nicht darüber täuschen, daß es sich hier um die letzte, im Geiste Schleiermachers konzipierte, die Linie von Heinrici und Dorner fortsetzende Fachenzyklopädie eines einzelnen Gelehrten handelt. Der Verfasser formuliert als Ziel der Theologie ein Doppeltes: „die Religion kennen lernen und prüfen auf ihr Recht" (6; zit.n. 2 1911) in unerbittlicher Wahrheitssuche; und: die „Lebenskraft der Religion" im eigenen Leben, in der eigenen „Frömmigkeit" (11) erfahren und verwirklichen. Beides ford e n beständige Überprüfung mittels gediegener wissenschaftlicher Instrumente, von der Sprach- und Geschichtswissenschaft über Literatur- und Naturwissenschaft bis hin zu Psychologie und Erkenntnistheorie (vgl. 2 1 - 3 8 ) . Nicht zufällig beginnt dann der materiale Teil mit der historischen Theologie (vgl. 39—260), in welche die allgemeine Religionsgeschichte, die Geschichte Israels, das Urchristentum und die Kirchen- und Dogmengeschichte bis zur Neuzeit einbezogen sind. Der zweite Abschnitt enthält die systematische Theologie (vgl. 2 6 1 - 4 4 0 ) , gegliedert in drei Doppelschritte: Religionsphilosophie und Glaubenslehre, Dogmatik und Apologetik, philosophische und christliche Ethik. Der dritte Abschnitt, die praktische Theologie (vgl. 4 4 1 - 5 1 3 ) , handelt schließlich von der Kirche.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Einführungen ins Theologiestudium publiziert werden, sind es nicht mehr einzelne Theologen, sondern Fakultäten, die sie verantworten. Auch wenn der Kreis der Mitwirkenden dabei ein einvernehmliches Verständnis von Theologie voraussetzt, kommt es bei der Darstellung der Disziplinen zwangsläufig zu Unterschieden, ja Gegensätzlichkeiten. Als Beispiel kann neben der von Heinrich Frick herausgegebenen Einführung in das Studium der Evangelischen Theologie (Gießen 1947), hinter der die Marburger Fakultät steht, vor allem der von Martin Doerne initiierte Grundriß des Theologiestudiums (3 T., Gütersloh 1 9 4 8 - 1 9 5 2 ) gelten, den Kollegen der Leipziger Fakultät schreiben. Neben dem Mangel an Fachenzyklopädien ist auch auf dem Gebiet der theologischen —»Wissenschaftstheorie kaum eine monographische Veröffentlichung im Umkreis der beiden Weltkriege zu verzeichnen. Eine Ausnahme bildet P. —•Tillichs Schrift Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (Göttingen 1923). Dieser „Entwurf" ist eine noch längst nicht erschöpfend gewürdigte Leistung. Im Vorwort schreibt Tillich entgegen dem allgemeinen positivistischen Trend der Zeit (—»Posirivismus/Neopositivismus), d a ß ohne ein Bewußtsein um den „sachlichen und methodischen Platz in der Gesamtheit des Erkennens" keine Wissenschaft zu arbeiten und „der einen Wahrheit" zu dienen vermag, was bedeutet, daß seiner Wissenschaftstheorie „eine systematische Überzeugung von Wesen und Methode der Geisteswissenschaft und damit der Wissenschaft überhaupt" (zit. n. GW 1,111) zugrunde liegt. Entsprechend er-
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läutert die „Allgemeine Grundlegung" ( 1 1 3 - 1 2 3 ) , daß alle Wissenschaft sich Wissensakten verdankt, jeder Wissensakt aber ein Doppeltes enthält: das Denken, welches als Vorgang „auf das Sein gerichtet ist", und das Sein „als das vom Denken Gemeinte, das, worauf der Denkakt gerichtet ist" (118). So gesehen ist die „Selbstanschauung des Wissens" (120) strukturell dreifach zu gliedern: als reines Denken, dessen Bestimmung das Sein ist; als reines Sein, welches der Widerspruch des Denkens ist; als Geist, der die Identität von Denken und Sein bezeichnet (vgl. 118 ff). Entsprechend unterscheidet Tillich Denkwissenschaften, Seinswissenschaften und —»Geisteswissenschaften (vgl. 120f). Zur ersten Gruppe rechnet er Logik, Mathematik und Phänomenologie (vgl. 1 2 4 - 1 3 4 ) ; zur zweiten zählen die Gesetzes Wissenschaften (Physik, Mechanik und Dynamik, Chemie und Mineralogie, Geologie und Geographie), die Gestaltwissenschaften (Biologie, Psychologie und Soziologie) und die Folgewissenschaften (Geschichte, Anthropologie, Ethnographie, Philologie; vgl. 1 4 9 - 2 0 9 ) ; die dritte Gruppe läßt sich erwartungsgemäß nicht mehr einfach nach ihren Gegenständen vorstellen. Vielmehr bilden hier die „Elemente der Geisteswissenschaft: Philosophie, Geistesgeschichte, Systematik", und eine zweifache „Geisteshaltung: Autonomie und Theonomie" (228) das Maßwerk der Wissensakte und ihrer Gehalte. Elemente und Haltungen zielen gemeinsam auf den Sinnzusammenhang, die wesentliche systematische Mitte der Geisteswissenschaften (vgl. 2 2 2 f). Dabei hat es die Philosophie mit der Prinzipienlehre des Sinns zu tun, die Geistesgeschichte mit dem Sinnmaterial, die Systematik mit der Sinnorm. Alle drei wirken zusammen bei der Erkenntnis der geisteswissenschaftlichen Gegenstände (vgl. 2 4 6 - 2 7 1 ) . Wichtig ist dabei, daß diese Erkenntnis nicht in der Spannung zwischen autonomer und theonomer Haltung zerbricht. Denn —»Autonomie „ist Richtung auf das Denken als Träger der Formen und ihrer Gültigkeit", Theonomie dagegen ist „Richtung auf das Sein als reiner Gehalt, als Abgrund jeder Denkform" (272). Jenes allein bedeutet leere Form, dieses allein formlosen Gehalt. An dieser Stelle bekommt die —»Theologie als theonome Systematik im System der Wissenschaften ihren Platz angewiesen. Sie ist keine Wissenschaft mit eigenem Gegenstand, sondern die Wächterin über die Wahrheit aller Geisteswissenschaft: Ihre Wissenschaftlichkeit ist darum „abhängig von dem Maß, in dem sie sich als selbständige Wissenschaft aufhebt" (276). Von diesem Gipfel aus erfahren auch die Denk- und Seinswissenschaften ihren eigentlichen Stellenwert im Ganzen des Systems (vgl. 285 ff). 4. Gegenwärtige
Tendenzen
Im Jahre 1 9 7 0 stellt G. Ebeling fest, daß der Begriff „Theologische Enzyklopädie" heute „weithin nur aus ferner Erinnerung" ( 4 8 4 ) noch vertraut ist. E r verweist darauf, daß die letzten Arbeiten, die das W o r t im Titel führen, vor etwa sechs Jahrzehnten geschrieben wurden. Für Ebeling selbst fällt der Enzyklopädiebegriff zusammen mit der „Lehre von der Theologie" ( 4 8 9 ) , die seiner Meinung nach seit Schleiermacher nicht wirklich weitergekommen ist. Hier müsse aber etwas geschehen, denn das „Bedürfnis nach einer Erfassung der Einheit und Ganzheit von Theologie" ( 4 8 8 ) sei in ein akutes Stadium getreten. Die verbreiteten Einführungen ins Theologiestudium könnten diese Aufgabe nicht erfüllen. Diese Darlegungen werden in ihrem Charakter als Forderung nach einer formalenzyklopädischen Begründung der Theologie als Wissenschaft um so eindringlicher, als Ebeling selbst bereits früher zu diesem Problem pointiert Stellung bezogen, die Theologie methodisch als -»Hermeneutik, diese sachlich als „Lehre vom —»Wort G o t t e s " im Sinne des „Wortgeschehens" definiert hat (vgl. Z T h K 5 6 [ 1 9 5 9 ] 2 2 4 - 2 5 1 , bes. 2 4 2 ff). Sichtlich wird damit also sogar für deren eigene Vertreter der wissenschaftstheoretische Anspruch der Theologie nicht zureichend erhellt. Wie schnell sich die Situation demgegenüber verändert hat, zeigt die Entwicklung der siebziger Jahre. Die allenthalben mit Vehemenz aufbrechende wissenschaftstheoretische Diskussion zeitigt auch in der Theologie ihre Früchte. Dabei kann festgehalten werden, daß sie in der allgemeinen Auseinandersetzung zwischen einer logischempirischen oder kritisch-rationalen, kurz: analytischen Wissenschaftstheorie einerseits, der hermeneutischen Position andererseits in aller Regel zur letzteren neigt. Doch bedeutet dies weder den Verzicht auf einen analytischen Denkstil, noch das Fehlen von Unterschieden. So zeigen sich bisher im wesentlichen zwei Richtungen an: eine mehr sozial- oder kommunikationstheoretisch und eine mehr geschichtstheoretisch begründete Theorie der Theologie des Wortgeschehens. Für die erste Richtung kann auf den von Gerhard Sauter (geb. 1 9 3 5 ) herausgegebenen Sammelband Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie (München 1 9 7 3 ) verwiesen werden, zu dem der Herausgeber Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie ( 2 1 1 - 3 3 2 ) beisteuert.
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Darin heißt es an entscheidender Stelle: „Auszugehen ist von den Sachverhalten, über die der Theologe Aussagen machen kann. Davon werden wir den Gegenstand... theologischen Redens unterscheiden müssen. Dieses Reden ist selber Gegenstand einer Theorie der Theologie, mit deren Hilfe es beschreibbar wird" (225). Von daher ist der Blick auf bestimmte strukturelle Probleme theologischen Redens gelenkt. Dessen „rationale Begrenzung" (230) wird ebenso untersucht wie sein spezifischer Charakter als „Sprachhandlung" (237) oder die „pragmatische Dimension", durch die das Geschehen dieses Redens als „kommunikatives Verstehen" in „kommunikative Verbindlichkeit" eingebracht werden kann (vgl. 251). Mit alledem ist der Gegenstand der Theologie sachgemäß „in die Frage nach der Angemessenheit des Redens von Gott" (265) überführt. Das Wesen der theologischen Theorie wird von Sauter deshalb als „kommunikative Konstitution" (303) bezeichnet. Der Begriff will vor allem sagen, daß die Wahrheit theologischer Aussagen nicht auf einer „Letztberufungsinstanz", sondern in einem „Entdeckungszusammenhang" beruht (vgl. 312f). Er fällt zusammen mit dem „Orientierungshorizont" (226) theologischen Redens: der —»Kirche. Sie ist es, welche als Antizipation der endgültigen Kommunikationsgemeinschaft die Wahrheit dieses Redens dialektisch bewährt und so die „Einheit der Theologie" sichert (vgl. 323).
Was bei Sauter durch den Dialog mit der allgemeinen Wissenschaftstheorie breit gefächert und oft recht abstrakt entworfen ist, wird in der „Skizze" von Oswald Bayer (geb. 1939): Was ist das: Theologie? Eine Skizze (Stuttgart 1973) entkompliziert. Gegen die nach Meinung des Verfassers drohende religionspsychologische Säkularisierung des Theologieverständnisses in der Gegenwart gilt es, im Anschluß an die pragmatische Hermeneutik von Habermas (vgl. 22) und „im Kontakt mit der Sprachanalyse", genauer: mithilfe von „Austins Theorie der Sprachhandlung" (25; vgl. John L. Austin, Performative u. konstative Äußerung: Sprache u. Analys t . Texte zur engl. Phil, der Gegenwart, hg. v. R. Bubner, 1968 [KVR 275] 1 4 0 - 1 5 3 ) klarzumachen, daß die Theologie „Sätze der Verkündigung" in ihrem „Sitz im Leben" aufzuhellen hat (vgl. 24). Verkündigungssätze sind formal gesehen das, was Austin im Unterschied zu einer konstatierenden Äußerung eine performative Sprachhandlung nennt: —»Sprache, durch welche etwas geschieht oder getan wird. Verkündigungssätze sind material gesehen jene besonderen Sprachhandlungen, durch welche die Befreiung und das Gewißwerden von Menschen als herrschaftsfreies kommunikatives Sinnverstehen geschieht (vgl. 27 ff). Somit hat die Theologie analytisch exakt das „Sprachspiel" (Ludwig Wittgenstein) ihrer speziellen Sprachhandlungen zur Geltung zu bringen. In diese generelle Methodik sind die klassischen Methoden der theologischen Wissenschaft überzuleiten (vgl. 62ff). Im Kontrast dazu wird von philosophischer Seite auf sprachanalytischer Grundlage wissenschaftstheoretisch über die Theologie nachgedacht. Zu nennen ist die zweibändige Arbeit von Matthias Gatzemeier (geb. 1937): Theologie als Wissenschaft ? (Stuttgart-Bad Cannstatt 1974) und das Buch von Anton Grabner-Haider (geb. 1940): Theorie der Theologie als Wissenschaft (München 1974). Dieses bekennt sich streng zur formallogisch-analytischen Theorie und lehnt die hermeneutische Position als bestenfalls vorwissenschaftlich ab (vgl. 9 8 - 1 1 1 , bes. 110); jene argumentiert von menschlichen Handlungssituationen aus, anerkennt zwar deren letztendliches Angewiesensein auf Unverfügbares und so den Grund der „Gottesfrage", bindet deren Sinn aber dann ebenfalls streng an die Bedingungen menschlicher „Rede" (vgl. 1,172).
Die geschichtstheoretische Richtung der theologischen Hermeneutik wird durch Wolfhart Pannenbergs (geb. 1928) Wissenschaftstheorie und Theologie (Frankfurt 1973) repräsentiert. Der Verfasser geht in einem ersten Teil kritisch den Anstößen nach, welche die gegenwärtige wissenschaftstheoretische Diskussion einerseits der analytischen Philosophie und ihrem Bemühen um eine vornehmlich an den Naturwissenschaften ausgerichtete einheitswissenschaftliche Theorie (vgl. 2 7 - 7 3 ) , andererseits dem traditionellen Hermeneutikverständnis in den Geisteswissenschaften (vgl. 7 4 - 1 5 6 ) verdankt. Dabei zeigt sich, daß der überkommene Gegensatz von ganzheitlichem Sinnverstehen und exaktem Erklären nicht länger aufrechterhalten werden kann (vgl. 157). Hermeneutik ist auf objektivierbare Reflexion verwiesen. Deshalb muß eine Erweiterung der „subjektiv sinnverstehenden" theologischen Theorie (wie sie in der existenzialontologischen Hermeneutik geübt wird) auf eine „objektiv sinnverstehende Theorie" (wie sie die sozial- oder handlungstheoretische Hermeneutik vertritt) geleistet werden (vgl. 189). Doch nun zeigt Pannenberg, daß die hermeneutische Reflexion des kommunikationsgemeinschaftlichen Apriori den Begriff des Sinnganzen nicht zureichend kritisch rechtfertigt, vielmehr der umfassende „Zugang zum Begriff der Totalität aus der Struktur der Bedeutungserfahrung selbst" gewonnen werden muß, indem die in jeder geschichtlichen „Erfahrung von Sinn und Bedeutung (implizit)" vollzogene Antizipation des Ganzen der Geschichte thematisiert wird (vgl. 196). Gerade in der Theologie hat diese die „Reflexionsbewegung schon leitende Sinntotalität" ihr wissenschaftstheoretisches Recht, weil die Rede von Gott mit der eschatologischen „Sinntotalität der Erfährung zu tun hat"
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(223 f). Das aber heißt nicht nur, daß „die Thematik der Geschichte als Gegenstand der theologischen Theoriebildung nicht umgangen werden kann" (296), sondern vor allem, daß die Bedeutung des Wortes Gott zusammenfallt mit der „allen . . . Gegenständen der Erfahrung" mitgegebenen, „die Totalität des Wirklichen . . . im ganzen wie im einzelnen letztlich bestimmenden Wirklichkeit" (305). Diese Bestimmung ist keine Gegebenheit, sondern Auf-gegebenes: „antizipierte Sinntotalität" (vgl. 316). Pannenberg nennt deren Gestaltweisen „die religiöse Erfahrung des einzelnen . . . im Zusammenhang der geschichtlichen Religionen" und folgert: „Theologie als Wissenschaft von Gott ist also nur möglich als Religionswissenschaft... Christliche Theologie wäre dann . . . Wissenschaft vom Christentum" (317). Es erscheint verständlich, d a ß a u c h d o r t , w o der E n z y k l o p ä d i e b e g r i f f in der gegenwärtigen T h e o l o g i e n i c h t in gleicher W e i s e reflexiv-wissenschaftstheoretisch erörtert w i r d , ein gewisses f o r m a l e n z y k l o p ä d i s c h e s Interesse w a l t e t . Dies l ä ß t sich an einigen Einführungen
in
das T h e o l o g i e s t u d i u m aus der jüngeren V e r g a n g e n h e i t zeigen. Als erstes Beispiel nennen w i r die Grundfragen
des Studiums
der Theologie
(Berlin 1 9 5 7 ) v o n H e i n r i c h V o g e l (geb. 1 9 0 2 ) ,
ein B u c h , das sich der —»Dialektischen T h e o l o g i e B a r t h s und den E r f a h r u n g e n des —»Kirc h e n k a m p f e s verpflichtet weiß. Dementsprechend beginnt es mit der Feststellung, daß der Theologe seine Wissenschaft überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, ehe er nicht den geheimnisvollen „ R u f " des souveränen Wortes Gottes gehört, seine „Berufung" erfahren hat (vgl. 15.23). So gesehen ist alle Theologie letztlich Ant-Wort. Sie stellt in formaler Hinsicht ein Fragen nach der Wahrheit des Gottesworts dar, nach dessen Grund, Gegen-Ständlichkeit und Ziel (vgl. 46 f), in materialer Hinsicht die Frage nach Jesus Christus, der das Wort Gottes ist (vgl. 50). Diese Mitte läßt die traditionellen theologischen Disziplinen in ihrer gemeinsamen Wurzel und Abzweckung erkennen (vgl. 1 0 7 - 1 5 8 ) , womit die „Versiegelung der gesamten Theologie . . . unter ihrem praktischen Charakter" (153) und insofern auch ihr verkündigendes „Gespräch" mit der Welt (vgl. 153 ff) deutlich wird. G a n z ähnlich hat K . —»Barth selbst seine Einführung in die evangelische Theologie (Zürich 1 9 6 2 ; zit. n a c h dem Siebenstern T B 1 1 0 , M ü n c h e n / H a m b u r g 1 9 6 8 ) konzipiert. T h e o logie hat n a c h i h m „den G o t t des E v a n g e l i u m s , d . h . den im E v a n g e l i u m sich k u n d g e b e n d e n , für sich selbst zu den M e n s c h e n redenden . . . G o t t a u f d e m durch ihn selbst gewiesenen W e g w a h r z u n e h m e n , zu verstehen, zur S p r a c h e zu b r i n g e n " ( 1 1 ) . So gehört es zu ihren Merkmalen, die Selbstkundgebung Gottes anzuerkennen mit ihrer Vernunft, im Wahrnehmen, Urteilen und Reden, und damit Gott Gott sein zu lassen „in der Geschichte seiner Taten" (13). Sie ist kritische Wissenschaft stets nur als ihr widerfahrende Krisis; sie nimmt das Wort stets nur als Antwort (vgl. 14 f). Ihre Ortschaft ist darum das vorauslaufende Wort Gottes in der Schrift und in der Gemeinde der Zeugen (vgl. 44); ihre existentiellen Bedingungen sind Verwunderung, Betroffenheit, Verpflichtung zur Treue gegenüber Gottes Tatwort und der Glaube (vgl. 5 3 - 8 4 ) ; ihr Antrieb ist die Hoffnung als Sieg über „Einsamkeit, Zweifel und Anfechtung" (114). Von dieser Bestimmung her kommt auch - das Gebet vorausgesetzt (vgl. 126) - das rechte Verständnis der theologischen Disziplinen in den Blick (vgl. 1 3 7 - 1 4 2 ) . So erweist sich die ganze theologische Arbeit als „Dienst" am Wort aus dem Prinzip der „Liebe" (vgl. 144.153). V o n diesen beiden eher h o m o l o g i s c h e n S e l b s t e x p l i k a t i o n e n der T h e o l o g i e ist Friedrich M i l d e n b e r g e r s (geb. 1 9 2 9 ) Theorie der Theologie. Enzyklopädie als Methodenlehre (Stuttgart 1 9 7 2 ) deutlich unterschieden. D i e W i e d e r k e h r des E n z y k l o p ä d i e b e g r i f f s im Untertitel ist b e m e r k e n s w e r t . Sein reiner Methodencharakter wird vom Verfasser im Vorwort klar unterstrichen durch die Abgrenzung von jedem Versuch, einen materialen, womöglich spekulativen Theologiebegriff vorwegzuschicken und daraus die „faktische theologische Arbeit in ihrer Gliederung" zu deduzieren (vgl. 12). Was er selbst meint, ist dies: Das kirchestiftende Handeln Gottes in seinem Wort ist der „Gegenstand" der Theologie (vgl. 19); diesen vermittelt sie durch das Medium des menschlichen Worts (vgl. 21); ihre kirchengestaltende wie kirchenkritische Funktion ist dabei gleichermaßen wichtig (vgl. 25 ff). Von diesem praktischen Zweck her muß die Methode der Theologie gewonnen werden; sie läßt sich daher an keinem allgemeinen Wissenschaftsbegriff festmachen, aber sie ist deshalb nicht esoterisch oder unwissenschaftlich (vgl. 4 1 f). Mildenberger beschreibt sie in ihrer Dreifalt als dogmatisch-normative, historisch-kritische und empirisch-kritische Reflexion von Sachverhalten der werdenden (und seienden) Kirche (vgl. 4 4 - 7 5 ) . So erweist sich die „Theologie als kirchliche Wissenschaft" (141).
Enzyklopädie
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D a ß schließlich G e r h a r d Ebeling (geb. 1 9 1 2 ) in Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung (Tübingen 1 9 7 5 ) den formalen Aspekt einer solchen Einführung n o c h weiter vorantreibt und reflektiert, verwundert nicht. Im ersten Kapitel definiert er „präludierend" (162) die Theologie als „denkende Rechenschaft über den christlichen Glauben" und stellt fest, daß die Frage ihrer Wissenschaftlichkeit immer nur „im Vollzug theologischer Arbeit" (4) selbst geschehen kann. Das aber bedeutet, daß der Durchgang durch die Disziplinen nicht die Entfaltung einer vorweg bestimmten theologischen Mitte darstellt, sondern die Vorbereitung ist zu deren fundamentaltheologischer Gewinnung. Die „Frage nach der Wahrheit der Theologie" (164) steht und fallt dann damit, daß in aller Vielfalt theologischen Arbeitens ihre Einheit gewahrt bleibt (vgl. 166), daß Theologie notwendig bleibt zur „Wahrung der Freiheit des Glaubens" (168). Im Horizont dieser Grundlegung kann die Sache der Theologie von Ebeling dann als das „Ineinander von Gotteserfahrung, Welterfahrung und Selbsterfahrung" beschrieben werden, „wie es in der Erscheinung Jesu Christi sich ereignet hat und verkündbar geworden ist und im Glauben . . . lebensbestimmend wird" (171). Diese theologische Sache ist ein permanentes Geschehen und „erschließt sich nicht anders als durch die Sprache des Glaubens" (172), womit die hermeneutische Verantwortung der theologischen Arbeit aufgerufen ist; sie steht für Ebeling übrigens nicht in Konkurrenz zur Sprachanalyse (vgl. 173). Das ständig wachsende systematische Interesse in der Gegenwart m a c h t sich schließlich auch im Bereich der Real-Enzyklopädien b e m e r k b a r . A u f die Tendenz zu umfangreichen Sachartikeln in den L e x i k a und Wörterbüchern ist schon hingewiesen worden. D o c h taucht der Begriff der Enzyklopädie nun auch dort auf, w o thematisch gegliederte Reihen mit Stoffen aus den theologischen Disziplinen publiziert werden. D a ß er dabei m a n c h m a l auch n u r modisch verwendet wird, zeigt die von Helmut Thielicke (geb. 1 9 0 8 ) u. a. publizierte Evangelische Enzyklopädie (Gütersloh 1 9 6 4 f f ) . Sie stellt nach A r t und Abfolge eine bunte M i schung von Einzelschriften dar, die von der Kirchengeschichte bis zum T h e m a M a s s e n m e dien alles mögliche — in höchst unterschiedlicher Q u a l i t ä t — enthält, o h n e d a ß eine Konzeption sichtbar würde. Ähnliches gilt von der katholischen R e i h e : Der Christ in der Welt. Eine Enzyklopädie (hg. v. J . H i r s c h m a n n , Aschaffenburg 1 9 5 8 ff), die in 16 Abteilungen M o n o graphien enthält, die untereinander nahezu nichts verbindet. Dagegen verspricht das katholische Unternehmen: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Eine enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden (hg. v. F. B ö c k l e , Freiburg 1 9 8 0 f f ) weit mehr. U b e r hundert Fachgelehrte haben sich hier versammelt, um „ 1 0 0 zentrale L e i t t h e m e n " des gegenwärtigen Lebens - von „ A b w e i c h u n g und N o r m " bis „ Z e i t und E w i g k e i t " (vgl. den Almanach zur Bibliothek, Freiburg 1 9 8 0 , 9 2 f ) - zu bearbeiten. Ihr gemeinsames Programm artikuliert ein von den Schriftleitern (R. Scherer und R. Walter) verfaßter Beitrag: Was heißt hier .enzyklopädisch'} (ebd. 8 0 - 8 3 ) . Darin heißt es zur Sache: „Unsere Situation ist gekennzeichnet durch einen Bruch von wissenschaftlich-technischer Rationalität und Moralität, von der beinahe schizophrenen Auseinanderentwicklung verschiedener Denkstile und-traditionen . . .Welche gemeinsamen Anknüpfungspunkte haben . . . Humanwissenschaftler und Theologen, gemeinsam in die Verantwortung genommen für eine im vollen Sinn .menschliche' Zukunft? . . . Wie können, in der reflektierten Begegnung zwischen den wesentlichen Inhalten christlichen Glaubens und seiner theologischen Auslegung einerseits und der komplexen Erfahrung der modernen Welt und ihrer wissenschaftlich philosophischen Reflexion andererseits christlicher Glaube und christliches Erfahrungswissen in den Erfahrungszusammenhängen der Gegenwart sinnstiftend vermittelt werden?" Und weiter zur Methode: „.Enzyklopädisch* meint hier also: nicht quantitativ ausufernde Detailinformation, sondern umfassende Orientierung über zentrale Problemfelder", zielend auf „ein geschlossenes Ganzes, aus dem (wie das Verweissystem zeigt) ein Teil in den anderen übergreift, ein Ganzes, aus dem nichts herausgebrochen werden darf" (81 f). Der technischen Verwirklichung dieses Vorhabens dient die streng thematisch durchgehaltene Anordnung, ebenso das Sachregister in jedem Band und das geplante abschließende Gesamtregister. G e r a d e der Vergleich mit dieser ,Bibliothek* rückt die Theologische (Berlin 1 9 7 7 ff) ins rechte Licht.
Realenzyklopädie
Sie will, wie Carl Heinz Ratschow (geb. 1911) für den Herausgeberkreis im „Vorwort" ausführt, eine „Repräsentation der theologischen Forschung im Ganzen" (V) leisten. Voraussetzung hierfür ist einerseits die in jüngerer Zeit neu aufbrechende Frage „nach dem Gesamtzusammenhang von Theologie", andererseits die „Veränderung theologisch wissenschaftlichen Arbeitens" in den zurückliegenden
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Enzyklopädie
zwei Menschenaltern im Hinblick auf Methodik, Grundlagen und den internationalen und ökumenischen Kontext (vgl. ebd.). Beides macht deutlich, daß die Theologie heute in der Vielgestaltigkeit ihrer Äußerungen der einen christlichen Wahrheit dient (vgl. VI). Von dieser Warte aus bezeichnet Ratschow die beiden theologischen Prinzipien der neuen Realenzyklopädie als „Konvergenz der disziplinaren Einzelarbeit auf das Geschehen Kirche hin und als Bezug auf den Inhalt (sc.: des christlichen Glaubens), der der Grund der Kirche ist" (VII) und den es denkend, d.h. wissenschaftlich zu verantworten gilt. Angesichts dieses Theologieverständnisses besteht das Wesen des real-enzyklopädischen Arbeitens darin, das reale Einzelne des theologischen Stoffs aus Vergangenheit und Gegenwart in seiner Relevanz für das enzyklopädische Ganze der Theologie zu erfassen, zu durchdringen und darzustellen. Manches, was früher unabkömmlich erschien, fällt damit weg oder wird in andere Zusammenhänge eingearbeitet. Deshalb bedient sich auch die TRE der technischen Hilfen von Artikel- und Verweisstichwörtern, Bandregistem und einem Gesamtregister. Daß mit alledem kein Lexikon, sondern eine problemorientierte und insofern zukunftsoffene Darstellung des Forschungsstandes intendiert ist, ist deutlich. „Auch die Theologische Realenzyklopädie i s t . . . kein Endpunkt, sondern versteht sich als ein Anfang" (VIII). Bibliographien The Circle of Knowledge. Encyclopaedias Past and Present, hg. v. J . M . Wells, Chicago 1968. Wilhelm Ermann/Ewald Horn, Bibliogr. der dt. Univ. Systematisch geordnetes Verz. der bis Ende 1899 gedruckten Bücher u. Aufs, über das dt. Universitätswesen, Leipzig/Berlin, 1,1904 = Hildesheim 1965 (kath. Enzyklopädien vom Zeitalter der Reformation bis 1899: 3 8 3 - 3 9 1 ; ev. Enzyklopädien: 3 9 1 - 4 2 1 ) . - Carl Graf v. Klinckowstroem, Enzyklopädien. Bibliogr. der ersten deutschsprachigen enzyklopädischen Werke: Philobiblon 1 (1957) 3 2 3 - 3 2 7 . - Robert L. 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Gert Hummel
Epheserbrief
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Epheserbrief 1. Allgemeine Charakteristik 2. Traditions- und Abhängigkeitsverhältnisse 3. Lexematik, Semantik, Stil 4. Theologie 5. Der religionsgeschichtliche Hintergrund 6. Abfassungsprobleme 7. Die ökumenische Relevanz des Briefes (Anmerkungen/Literatur S. 750)
1. Allgemeine
Charakteristik
Der Epheserbrief ist kein Brief, sondern eine „Epistel", genauer: ein theologisches „Lehrschreiben". Seine Thematik kreist im besonderen um die Ekklesiologie, näherhin um die eine —»Kirche aus Juden und Heiden mit christologischer Fundierung und Anspruch auf Universalität. In der Kirche „haben alle den Z u g a n g zum V a t e r " ( 2 , 1 8 : der zentrale Satz des Briefes).
2. Traditions- und
Abhängigkeitsverhältnisse
2.1. —»Paulus. Die begründete Annahme des pseudepigraphischen Charakters des Briefes vorausgesetzt (s. dazu u. Abschn. 6.1), begegnet im Brief ein bestimmtes „Paulusbild". Wenn der Vf. häufig „Paulus" in der Ich-Form sprechen läßt, so hat das einen doppelten Zweck: Den Adressaten soll die große Autorität ins Bewußtsein kommen, die der Apostel darstellt; zum anderen soll dem Brief die Autorität des Paulus verliehen werden. „Paulus" befindet sich in Gefangenschaft (3,1; 4,1). Das ist eine typische „Grenzsituation", und da der Vf. vermutlich dabei an die Todesgefangenschaft des Apostels denkt, hat der Brief den Rang eines Vermächtnisses, fast eines „Testaments". Die spezifische Amtsgnade des „Paulus", an die in 3,2.7.8 erinnert wird, läßt ihn im besonderen als Heidenmissionar erkennen. „Paulus" ist darüber hinaus „Geheimnisträger": Er weiß um ein „Mysterium", das ihm „durch eine Offenbarung mitgeteilt wurde" (3,3.5) und das sich auf den Einbezug der Heiden in das Christusheil bezieht. Es wird also im Brief ein Teilaspekt des paulinischen „Selbstportraits" der genuinen Briefe herausgestellt. Vom Kampf um die „Wahrheit des Evangeliums" (—»Galaterbrief) und von den heftigen Auseinandersetzungen mit Gegnern ist keine Rede mehr. Die Lehre von der—»Rechtfertigungioii fide und sob gratia und die Größe —»„Gesetz" tauchen zwar im Brief auf (s. u. Abschn. 4.3), aber gerade diese Thematik wird nicht mehr in einen Zusammenhang mit der Person des Paulus gebracht. Hinter dem teilaspektierten Paulusbild des Briefes steht echtes Traditionswissen (Gal 1,16: Berufung zum Heidenapostel; vgl. auch Act 9,20), aber die Heiden sind eigentlich schon bekehrt; sie werden jetzt nur noch näher in das Mysterium der Kirche eingeweiht, in das Paulus selbst mithereingehört. Paulinisches Traditionswissen zeigt sich auch in der Rechtfertigungslehre („Rettung" allein aus Gnade „durch den Glauben", „nicht aus Werken") und in der Ekklesiologie (die Kirche: „der Leib Christi"). Der Vf. setzt bei den Adressaten deutlich die Kenntnis paulinischer Theologoumena voraus, führt manche breiter aus und „paulinisiert" manches Traditionsgut (vgl. Merklein, Theol. 37ff). 2.2. —»Kolosserbrief.Die auffälligen Berührungen zwischen Kol und Eph lassen sich am besten durch literarische Abhängigkeit erklären, und zwar des Eph vom Kol (vgl. bes. Ochel; Mitton, Epistle 5 5 - 9 7 ; Benoit, Rapports; Coutts: NTS 4 nimmt Abhängigkeit des Kol vom Eph an; einen Überblick über die verschiedenen Hypothesen bietet Polhill). Es gibt Berührungen im Schematischen, in der Begrifflichkeit bei gleichen Gedanken und ähnlichem Zusammenhang, und in der Begrifflichkeit trotz Verschiedenheit der Gedanken (H. M . Schenke/K. M . Fischer, Einl. in die Sehr, des NT, Gütersloh, I 1978, 185), doch sind viele Gemeinsamkeiten und Berührungen durch die gesamturkirchliche Tradition bedingt, in der beide Briefe stehen. 2.3. I. Petrusbrief. Auch hier gibt es Berührungen: Eph 1,3: I Petr 1,3; Eph 1,7: I Petr 1,18; Eph 2,2f: I Petr 1,14; Eph 5 , 2 2 - 6 , 9 : 1 Petr 2 , 1 8 - 3 , 7 (Haustafel!); Eph 1,18 f: I Petr 1 , 3 - 5 ; Eph 2,20ff: IPetr 2,4 ff (Metapher vom geistlichen Tempelgebäude mit Christus als Eckstein); Eph 1,20 ff: I Petr 3,22. Auch hier liegt nicht literarische Abhängigkeit vor (so Mitton: JThS NS 1), sondern es geht um gemeinsame Topoi urkirchlicher liturgischer bzw. paränetischer Tradition. 2.4. Liturgische Traditionen. Besonders liturgisches Traditionsgut scheint im Brief verarbeitet zu sein (Schille, Liturg. Gut; ders., Hymnen 2 4 - 3 1 . 5 3 - 6 0 . 9 4 ; Sanders; Deichgräber 6 5 - 7 6 ; Krämer; Fischer 1 1 1 - 1 4 7 ; Burger 1 1 7 - 1 5 7 ) . In Frage kommen evtl. Eph 1 , 3 - 1 2 (Lyonnet; Cambier: Z N W 5 4 ; Lang; Schnackenburg: B Z NF 21); 1 , 2 0 - 2 3 ; 2 , 4 - 7 („ein Prosagebet aus der Taufliturgie": Fischer); 2 , 1 4 - 1 8 (Gnilka: FS H. Schlier; dagegen Merklein: B Z NF 17; vgl. auch Stuhlmacher: FS Schnackenburg); 4,5 f; 4 , 8 ; 5,2; 5,14. Doch ist nicht so eindeutig auszumachen, ob es sich in den genannten Stükken wirklich um überliefertes liturgisches Gut handelt, am ehesten noch in der Eulogie von 1 , 3 - 1 4 und im „Weckruf* von 5,14. In den genannten Stücken kommt jedenfalls die Konstanz der Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, aber das überlieferte „Lexikon" wird vom Verfasser weithin selbständig verarbeitet und das überlieferte Kerygma in den Dienst seiner Argumentation gestellt.
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Epheserbrief
2.5. Parärtetische Traditionen. Das Material findet sich naturgemäß im ethischen Teil des Briefes ( 4 - 6 ) (dazu Fischer 1 4 7 - 1 7 2 ; Gnilka: FS Rigaux; Stuhlmacher: EvTh 28). In Frage kommen besonders folgende Stücke: 4 , 1 7 - 1 9 (Absage an die vorchristliche, heidnische Vergangenheit), 5 , 3 - 6 (deskriptiver Lasterkatalog mit Fluchformel); 4 , 2 2 - 2 4 (Forderung, den alten Menschen abzulegen und den neuen anzuziehen); 5 , 2 2 - 6 , 9 („Haustafel"); 6 , 1 1 - 1 7 (geistliche Waffenrüstung). Als „Quellen" für diese Traditionen kommen das Judentum, der heidnische Hellenismus und das Leben der Urkirche, besonders ihre Taufparänese, in Frage. 2.6. Grundsätzlich. Dieses vielfältige und bewußte Stehen des Vf. in der kirchlichen, speziell auch von Paulus inaugurierten Tradition wird im Brief besonders dadurch sprachlich artikuliert, daß „die Apostel und (urkirchlichen) Propheten" in 2,20 als das bleibende, unaufgebbare „Fundament" des Kirchenbaus und nach 3,5 „die heiligen Apostel und Propheten im Geist" als die Träger eines „Mysteriums" deklariert werden, das in der Zeit der Kirche („jetzt") verkündigt wird. „Die an Apostel und Propheten ergangene Offenbarung des Mysteriums macht diese zur normativen Größe der Tradition" (Merklein, Theol. 33). Auch die Hervorhebung bestimmter —»Charismen in Eph 4,11 steht „im Dienste der apostolischen, d. h. paulinischen Tradition" (ebd. 35). Dabei wird aber nicht einfach die paulinische Theologie weiterentfaltet, vielmehr wird die als Basis dienende überlieferte, außerpaulinische „Gemeindetheologie" mit Hilfe paulinischer Theologumena „paulinisiert" (vgl. ebd. 37ff).
3. Lexematik,
Semantik,
Stil
Nicht bloß das reich verwendete Traditionsmaterial des Briefes, sondern auch sein christlicher Charakter sind die Ursache dafür, daß der Brief weithin im überlieferten christlichen „Soziolekt" geschrieben ist, besonders was die Lexematik angeht, wenn auch die Lexeme durch ihren neuen „Kontext", in dem sie auftauchen, eine spezifische semantische Valeur erhalten. Dieser „Kontext" selber hat mit Absicht und Tendenz des Briefes zu tun, aber auch mit den religionsgeschichtlichen Hintergründen, aus denen manche Denkmodelle gewonnen sind. Diese sind nicht „sprachlos", sondern liefern eine Menge von Lexemen mit, die sich mit Lexemen des überlieferten Kerygmas verbinden, die Semantik reziprok beeinflussen und an der „Sprachwelt" des Briefes mitbauen. 4. Theologie 4.1. Weltbild. Wie in jeder bedeutenden Äußerung des semiotischen Universums auch „Weltbild" zur Sprache kommt, so auch im Eph (vgl. dazu Mußner, Christus 9 - 3 9 ; Gnilka, HThK 10/2, 6 3 - 6 6 ) . Besonders die Christologie und Ekklesiologie des Briefes haben einen „weltbildlichen" Rahmen. Auszugehen ist bei der Reflexion über das Weltbild des Briefes vom Syntagma rd Jt&vxa [das All] (vgl. 1,11; 3,9; 4,10.15). „Am Begriff zä Jtävza dokumentiert sich die prinzipiell einheitlich konzipierte Vorstellung des Eph von der Welt. Diese Einheit ist ermöglicht im altbiblischen Schöpfungsglauben. Gott hat das All erschaffen (3,9)" (Gnilka, ebd. 65). Das All baut sich in der Sicht des Briefes so auf (vgl. Mußner, Christus 28; jetzt sind allerdings die „untersten Teile der Erde" auf die Totenwelt = Unterwelt bezogen): ,Über allen Himmeln"
Gottes- und Christusthron
,1m himmlischen Bereich" ,Luftreich"
Reich der dämonischen Mächte
,Erde" ,die untersten Teile der Erde'
Menschen die Totenwelt
Die fünf Bereiche liegen untereinander und konstituieren das „All" (rd n&vra). Damit scheint das Weltbild des Briefes dualistisch zu sein, insofern die kosmisch-dämonischen Mächte das Zwischenreich (zwischen Himmel und Erde) beherrschen, doch nicht für immer. Christus stellt die All-Einheit wieder her und baut einen einheitlichen Herrschaftsbereich auf (1,10.20-23; 4,9f). Dadurch kommt in das Weltbild des Briefes eine betont dynamische Note. 4.2. Christologie. Die Christologie des Briefes (—»Jesus Christus) differenziert sich in Erhöhungs-, Haupt- und Herrschaftschristologie, die im Rahmen des Weltbildes zu sehen ist;
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ferner in Hingabe- und Kreuzeschristologie und in „Braut"-Christologie. Der auferweckte Christus sitzt zur Rechten Gottes in der himmlischen Transzendenz (1,20; vgl. 4,8.10a); Gott hat ihm alles unter die Füße geworfen (1,22a); er erfüllt das All mit seiner Lebensmacht (l,23;4,10b);eristdasalles überragende Haupt der Kirche (1,22b; 5,23). Der Ursprungsort der Kirche ist das Kreuzesopfer Jesu (2,13.14.16); er hat sich „für sie hingegeben" (5,25b; vgl. 1,7). Im Vorgang der schon beginnenden eschatologischen ävaxecpalaimaiq faßt Gott das All zu einem einzigen Herrschaftsbereich „in Christus" zusammen (1,10). Die Kirche ist Braut Christi, wie der Vf. in einer kühnen Applikation von Gen 2,24 auf Christus und die Kirche verkündet (5,31 f) (vgl. dazu Mußner, Christus 4 0 - 6 8 . 1 4 7 - 1 5 3 ) . 4.3. Ekklesiologie. Die —»Kirche ist nach dem Eph vor allem „der Leib" Christi, dieser ihr „Haupt" ( l , 2 2 f ; 4,12.15f; 5,22.30; vgl. auch noch 2,16, dazu in 3,6 das Adjektiv ovoowfxog; 4,4.16.25; 5,23.30). Schon daraus geht hervor, daß die Ekklesiologie nicht von der Christologie zu trennen ist. „Aus" Christus, dem Haupt heraus, vollzieht sich das Wachstum des ganzen Leibes der Kirche (4,16). Der Leib der Kirche kann also ohne das Haupt und seine pneumatischen Wachstumskräfte nicht existieren. Christus „erfüllt", „ernährt" und „pflegt" die Kirche (in —»Taufe und —»Abendmahl); vgl. 5,29. In dem für die Ekklesiologie des Briefes entscheidenden Abschnitt 2 , 1 1 - 2 2 wird die heillose Situation der Heiden, ihr „ E i n s t " , ganz vor dem Hintergrund der „Privilegien" Israels gesehen ( 2 , 1 1 0 „ J e t z t " a b e r sind aus den einst „ F e r n e n " in Christus Jesus „ N a h e " geworden. Christus zerstörte „die trennende W a n d " zwischen Juden und Heiden, indem er das eine Feindschaft zwischen Juden und Heiden aufrichtende Gesetz „ z u n i c h t e m a c h t e " . Er schuf die beiden (Juden und Heiden) „in sich zu einem einzigen neuen M e n s c h e n " und versöhnte sie „in einem einzigen Leib mit G o t t " , so daß nun beide durch Christus den gleichen „ Z u g a n g zum V a t e r " haben ( 2 , 1 4 — 1 8 ) . Wichtig ist, d a ß der Ursprungsort des einen Leibes der Kirche ganz und gar im Kreuzesgeschehen gesehen wird („in seinem B l u t " : 2 , 1 3 ; „in seinem F l e i s c h " : 2 , 1 4 ; „durch das K r e u z " : 2 , 1 6 ) , so daß von einer „triumphalistischen Ekklesiologie" des Briefes keine Rede sein kann. Das Subjekt des Heilshandelns an Juden und Heiden ist Christus: sechsmal ist in dem Abschnitt auf Christus hingewiesen. Er wird als „der E c k s t e i n " in dem geistlichen T e m pelbau der Kirche deklariert'. Es scheint, daß der ekklesiologische Entwurf in dem Abschnitt 2 , 1 1 - 2 2 stark „tempel-theologisch" orientiert ist: schon die aus Jes 5 7 , 1 9 stammenden Begriffe „ n a h e " und „ f e r n " beziehen sich im Prophetenbuch auf den Tempel; „die trennende Scheidewand" könnte einen Hinweis auf die Tempelschranken enthalten, die den Heiden den Zugang zu den inneren Vorhöfen der Juden in Jerusalem verwehrten; im geistlichen Tempelbau der Kirche haben alle „den Zugang zum Vat e r " , nicht b l o ß der Hohepriester (am Versöhnungstag), im geistlichen T c m p e l b a u der Kirche sind die Glieder des Leibes mit den himmlischen Wesen (ovßjioXixai xwv &yiu>v) vereinigt; sie sind „Hausgenossen G o t t e s " . In den Schlußausführungen des Abschnitts ist dann ausdrücklich vom „heiligen T e m pel im H e r r n " die Rede.
„Paulus" weiht die Leser ein in das Heilsgeheimnis Christi (zum Begrifffivortjßiov im Eph s. Merklein, Amt 2 1 0 - 2 1 5 ; Caragounis), das „jetzt den heiligen Aposteln und Propheten im Geist geoffenbart wurde": daß nämlich auch die Heiden „Miterben und Miteingeleibte und Mitteilhaber an der Verheißung in Christus Jesus sind" ( 3 , 4 - 6 ) . So ist die Ekklesiologie des Briefes ganz getragen vom Gedanken an die eine Kirche aus Juden und Heiden, wobei über das Endheil des verstockt bleibenden Israels nichts gesagt wird. Die Begriffe awfia und ¿xxArjaia visieren nicht die Lokalgemeinde, sondern die Gesamtkirche an, in der die schon Geretteten versammelt und mit Gott versöhnt sind. Der „Leib" Christi ist „die Fülle" (ro 7ikrjQU)fia) dessen, „der alles in allem erfüllt" (1,23), nämlich mit seiner himmlischpneumatischen Lebensmacht. Die Einheit von Juden und Heiden initiiert und repräsentiert schon die in Christus sich vollziehende avaxeqiaXaimaig des Alls (s. dazu auch Meyer). Auch die Paränese des Verfassers hat es entscheidend mit der Einheit der Kirche zu tun (vgl. 4,3), wobei interessanterweise die Ämterfrage hereingezogen wird ( 4 , 7 - 1 6 ; —»Amt). Entweder gab es Streit zwischen den Inhabern verschiedener Ämter in den Adressatengemeinden oder sie übten ihr Amt nicht im Dienst des „Aufbaus" der einen Kirche aus, sondern im Dienst ihrer Selbstverherrlichung. Ihnen wird ins Bewußtsein gerufen, daß jede Amtsgnade Gabe des erhöhten Christus ist (4,7), und ihnen werden die Ziele jeder Amtsausübung in der Kirche aufgezeigt (mit Hilfe der Präpositionen nQÖg und eig und der Konjunktion tva). Alle kirchlichen Ämter sind Dienstämter (4,12a) und haben dem geistlichen Aufbau und dem
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geistlichen Wachstum des Leibes Christi zu dienen (4,12b.l6). Als letztes Ziel aller kirchlichen Arbeit wird das „gänzliche Hinein in ihn, der das Haupt ist, Christus" genannt (4,15). Näherhin werden fünf Ämter angeführt: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer (4,11), wobei „Apostel" und „Propheten" als die normierenden Größen der Vergangenheit zu verstehen sind, den „Evangelisten" die missionarische Verkündigung, den „Hirten" die Gemeindeleitung, den „Lehrern" die diöaoxaMa zuzuordnen ist (Näheres s. Merklein, Amt). 4.4. Pneumatologie. In der Forschung ist die Pneumatologie des Briefes bisher sträflich vernachlässigt worden. Vierzehnmal begegnet jivevfia, dreimal xvev^auxog. Vom „heiligen —•Geist" ist ausdrücklich die Rede in 1,13 (Besiegelung mit dem heiligen Geist, —»Taufe) und in 4,30 („betrübt nicht den heiligen Geist Gottes"); vom gittert Pneuma" in 2,18 und 4.4 (dazu in 4,3 die Mahnung, „die Einheit des Pneumas zu bewahren"). Gerade hierin zeigt sich paulinisches Erbe (vgl. besonders I Kor 12,13). Wichtig ist vor allem die Pneumaaussage in 2,18 (durch Christus haben wir, die beiden, „in einem einzigen Pneuma den Zugang zum Vater"): Christus eröffnete für alle, ob Juden oder Heiden, in der Kirche den Zugang zum Vater; dieser vollzieht sich „in einem einzigen Pneuma". Damit ist nicht die menschliche Einmütigkeit zu verstehen (so Scott); es ist vielmehr jener „Geist" gemeint, der den einen Leib der Kirche durchwaltet (Gnilka). Aber es will noch mehr gesagt sein: Der Zugang zum Vater geschieht nicht mehr an einem bestimmten Ort der Welt (im Tempel zu Jerusalem), sondern überall, wo Christen sich versammeln. Das Pneuma schafft den Zugang zur Vorbehaltenheit Gottes. Im Pneuma öffnet sich der „ R a u m " Gottes. Damit zeigt sich aber, daß der Vf. des Briefes nicht im „weltbildlichen" Denken steckenbleibt, und das bedeutet auch: nicht in den „Raumkategorien", die im Brief zweifellos eine Rolle spielen. Das Pneuma „überwindet" den Raum und die Zeit, und nur vom Pneuma her sind Aussagen des Briefes wie diese, daß die Getauften schon „mitsitzen im himmlischen Bereich" (2,6), möglich. Die Diskussion um Raum und Zeit im Epheserbrief findet erst die richtige Antwort, wenn sie die Pneumatologie des Briefes berücksichtigt (dazu weiteres u. Abschn. 4.6). 4.5. Tauf- und Rechtfertigungslehre. Die —»'Taufe wird im Eph als ein Rettungsvorgang verstanden, und zwar als Rettung aus dem Tod, verursacht „durch Übertretungen und Sünden" (2,1). Der Rettende ist Gott selbst (Subjekt o Oeög in 2,4). Die Rettung wird verstanden als Mitlebendiggemacht- und Mitauferwecktwerden mit Christus, ja als ein Mitsitzenlassen in Christus Jesus in den himmlischen Bereichen (2,5). Dabei schiebt der Verfasser zwischen 2.5 und 2,6 die Parenthese ein: „gnadenhaft seid ihr gerettet"; er nimmt zu Beginn von 2,8 diese wieder auf und verbindet sie, angeregt durch das Stichwort^ap«?, mit typischen Formeln aus der paulinischen Rechtfertigungslehre: „durch Glauben", „nicht aus Werken". Unpaulinisch mutet dabei das Lexemaw^eadai (statt dixatovadat) und die in der perfektischen Aussage „ihr seid gerettet" zutagetretende „realisierte Eschatologie" an, die auch sonst typisch für den Brief ist (s.u. Abschn. 4.6). Daß der Vf. dabei den nachfolgenden Abschnitt 2 , 1 1 - 2 2 (s.o. Absch. 4.3) mit dem Tauf-und Rettungsgeschehen in Zusammenhang sieht, beweist die Partikel öiö zu Beginn von 2,11. Also sind die Geretteten aus Juden und Heiden versammelt in dem einen Leib Christi, in dem sie durch Christus in dem einen Pneuma den Zugang zum Vater besitzen, und wachsen darin heran zu dem „heiligen Tempel im Herrn" (2,22), nachdem das trennende Gesetz vernichtet ist (2,15). 2 Es ist zu vermuten, daß der Vf. zu seiner Tauflehre vor allem durch die -»Liturgie und die kultische Erfahrung inspiriert wurde, die ihn die versöhnte Versammlung der Geretteten in der einen Kirche aus Juden und Heiden erleben ließ. Die Spannung zwischen „schon jetzt" und „noch nicht", in der Paulus seine Rechtfertigungslehre hält, scheint verlorenzugehen, kommt aber doch in der Eschatologie des Briefes zur Geltung, wenn auch in der transponierten Form eines „schon jetzt" (aber noch im Verborgenen) - „ d a n n " (in Offenheit), ¿ixaioavvr], dieser für die paulinische Rechtfertigungslehre so grundlegende Begriff, wird Bezeichnung einer christlichen Tugend (vgl. 4,24; 5,9; 6,14); und xaroMayv bezieht sich auf die —»Versöhnung von Juden und Heiden in dem einen Leib der Kirche (vgl. 2,16).
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4.6. —'Eschatologie (vgl. dazu Steinmetz, Heils-Zuversicht; Schille, Hymnen 1 0 4 - 1 0 7 ; Lindemann, Aufhebung; Merklein, Theol. 4 0 - 4 5 ) . Zunächst zwei Feststellungen: Im Eph tritt das Heilspräsens stark in den Vordergrund und die „Raumkategorien" haben den Vorrang vor den „Zeitkategorien". Sucht man nach den Ursachen dieses Befundes, so findet j man sie vor allem in der starken hymnischen Tradition, die im Eph nachwirkt (vgl. Schille, Liturg. Gut 104). Diepraesentia salutis wurde vor allem erfahren im Erlebnis der Taufe und des eucharistischen Kults; hier wußte man den Herrn anwesend. Aber auch das Kerygma, das der Brief übernimmt, redet vom schon erfolgten triumphalen Sieg Christi (1,20-23). Deshalb weiß die Gemeinde sich schon im Besitz des Heils: sie ist schon „mitlebendigge10 macht" (2,5); sie ist bereits „gerettet", wenn auch allein „aus Gnade" (2,6.8). Gott hat sie schon „mitauferweckt" (2,6) und läßt sie „mitsitzen im himmlischen Bereich in Christus Jesus" (2,6); die Gläubigen sind bereits „Mitbürger der Heiligen (= der himmlischen Wesen) und Hausgenossen Gottes" (2,19). Die Gemeinde „hat" schon die Erlösung durch sein Blut (1,7); sie „ h a t " schon den Zugang zum Vater (2,18; vgl. auch 3,12). Gerade dieses mystische 15 „haben" weist, ähnlich wie in den johanneischen Schriften, auf hymnische Tradition hin, die den Heilsbesitz preist. Natürlich kann solches rühmende Wissen um diesen zum Enthusiasmus verführen, aber wie G. Schille zeigt, baut der Vf. des Briefes selbst Barrieren ein, indem er den Glauben hervorhebt (1,19; 2,8; 3,12.17; 4,13) und auf die Anfechtungen hinweist, denen auch der Getaufte noch ausgesetzt ist, weil ihn die Mächte (vgl. 1,21) bedrängen, de20 nen er „am bösen Tag" entschieden entgegentreten muß (6,13). Es wird vom Vf. zu Vertrauen aufgerufen (3,12) und an die Hoffnung erinnert (1,18; 4,4). Das kommende Gericht wird nicht vergessen (6,8). Huren und dergleichen erben das Reich Gottes nicht (5,5). So hat man den Eindruck, daß der Verfasser bemüht ist, eine enthusiastische Gegenwartseschatologie zurückzudrängen, wie sie sich aus der hymnischen Tradition ergeben könnte. Doch 25 vergesse man nicht, daß schon bei Paulus sich beobachten läßt, wie die „Parusiefrömmigkeit" zugunsten der „Osterfrömmigkeit" zurücktritt, da für den Apostel der gekreuzigte, auferweckte und erhöhte Herr das eigentliche övTwg öv des Heils ist (s. dazu F. J. Schierse, Oster- u. Parusiefrömmigkeit im NT: FS Friedrich Wulf, Würzburg 1 9 6 8 , 3 7 - 5 7 ) . Das Wissen um den erhöhten Herrn nährte das eschatologische Bewußtsein ganz entscheidend und 30 rückte das „oben" zu ungunsten des „vorne", der Zukunft, in den Vordergrund (vgl. schon Phil 3,20; Kol 3,1 f)- Es scheint, daß besonders das kleinasiatische Christentum eine Vorliebe für das Heilspräsens besaß, vor allem in Hinblick auf die Christologie, näherhin auf den Christus-Pantokrator, vermutlich auch in bewußter Frontstellung gegen den Kaiserkult, der besonders in —»Kleinasien blühte. Aber dieser Christus ist keine leblose Figur, vergleichbar 35 einer Kaiserstatue, sondern er treibt die Geschichte voran bis zur endgültigen ävaxEna XQIOXOV aufbauende Lehre von der Einheit der Kirche an, in der es keinerlei ,Gruppen' gibt oder geben kann" (ZNW 67,251). Literatur
Neuere Kommentare: Markus Barth, Ephesians. Intr., Transi., and Commentary, 1974 (AncB 34/34A).-Francis Wright Beare, The Epistle to the Ephesians, 1953 (IntB 10) 5 9 7 - 7 4 9 . - P i e r r e Benoit, Les ¿pitres de s. Paul aux Philippiens, à Philémon, aux Colossiens, aux Éphésiens, Paris 3 1959. - Gisbert Bouwman, De brief aan de Efeziers, Bussum 1974 (Het Nieuwe Testament). - Hans Conzelmann, Der Brief an die Epheser, 1 0 1965 (NTD 8) 5 6 - 9 1 . - Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philémon, an die Kolosser, an die Epheser, 1974 (RNT) 2 4 5 - 4 0 5 . - Ernst Gaugier, Der Epheserbrief, Zürich 1966 (Auslegung ntl. Sehr. 6). - Joachim Gnilka, Der Epheserbrief, 2 1 9 7 7 (HThK 10/2). - Joseph Huby, Les Épîtres de la captivité, , v 1 9 4 7 (VSal 8). - Norbert Hugedé, L'épître aux Ephésiens, Genf 1974. - Charles Masson, L'épître de s. Paul aux Ephésiens, 1953 (CNT[N]9) 1 3 3 - 2 2 8 . - Franz Mußner, Der Epheserbrief, 1982 (ÖTK). - Heinrich Rendtorff, Der Brief an die Epheser, 7 1955 (NTD 8) 5 6 - 8 5 . - Aart van Roon, De brief van Paulus aan de Epheziers. De Prediking van het NT, Nijkerk 1976. - Adolf Schlatter, Der Brief an die Epheser, Stuttgart 1963 (Erl. zum N T 7) 152 - 249. - Heinrich Schlier, Der Brief an die Epheser, Düsseldorf ' 1 9 6 8 . - Maximilian Zerwick, Der Brief an die Epheser,
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D ü s s e l d o r f 2 1 9 6 2 (Geistliche Schriftlesung 10). - Im übrigen vgl. die Liste der K o m m e n t a r e bei J. Gnilka, Epheserbrief X I I - X V I . M a r c o Adinolfi, Le m e t a f o r e G r e c o - R o m a n e della testa e del c o r p o et il c o r p o mistico di Christo, 1963 (AnBib 17/18) 1 1 , 3 3 3 - 3 4 2 . - J. Albani, Die M e t a p h e r n des Epheserbriefes: Z W T h 4 5 (1902) 4 2 0 - 4 4 0 . - J. A. Allan, The „In C h r i s t " F o r m u l a in Ephesians: N T S 5 ( 1 9 5 8 / 5 9 ) 5 4 - 6 2 . - M a r k u s Barth, Die Parusie im Epheserbrief, Eph 4 , 1 3 : N T u. Gesch. FS O s c a r C u l l m a n n , Z ü r i c h / T ü b i n g e n 1 9 7 2 , 2 3 9 - 2 5 0 . - S. 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Epheserbrief
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Ephesus
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Synode
(431)
Als dritte ökumenische Synode markiert das Konzil von Ephesus ( 4 3 1 ) die erste Phase einer langen christologischcn Kontroverse, die 4 2 8 durch Gegensätze zwischen der T h e o l o gie des Patriarchen —»Nestorius von Konstantinopel und derjenigen des Patriarchen —»Cyrill von Alexandrien entbrannt w a r . Das Konzil wurde a m 1 9 . N o v e m b e r 4 3 0 von Kaiser T h e o d o s i u s II. auf Pfingsten (7. Juni) 4 3 1 einberufen. Sein Hauptziel war die Beilegung des Konflikts zwischen Konstantinopel und —»Alexandrien, der sowohl einen kirchenrechtlichen (die Auseinandersetzung um den Abt V i k t o r und die ägyptischen M ö n c h e ) als auch einen dogmatischen Aspekt hatte (die Christologie des Nestorius, a b e r auch die des Cyrill waren seit dessen Brief mit den Anathematismen umstritten; —»Jesus Christus). D i e für das Konzil ergangene kaiserliche Sacra schrieb vor, daß die dogmatische Frage vorrangig zu behandeln sei. Das Konzil k o n n t e wegen Verspätung des J o h a n n e s von Antiochien und eines Teils der „ O r i e n t a l e n " (Bischöfe der Reichsdiözesen des „ O r i e n t s " , d. h. Syriens und Palästinas) nicht wie geplant a m 7 . Juni eröffnet werden. T r o t z einer a m 2 1 . Juni eingegangenen B o t schaft von J o h a n n e s , in der er sein baldiges Eintreffen ankündigte, beschloß Cyrill, unterstützt von M e m n o n von Ephesus und Juvenal von Jerusalem, die Eröffnung des Konzils a m 2 2 . durchzusetzen. Er stieß damit sogleich beim kaierlichen K o m m i s s a r Candidian sowie 6 8 Bischöfen a u f Widerspruch. D e n n o c h traten a m 2 2 . J u n i auf Aufforderung der cyrillischen Gruppe hin 1 5 4 Bischöfe und der D i a k o n Bessula von K a r t h a g o z u s a m m e n . Gleich zu Beginn der Sitzung versuchte Candidian vergeblich, die Bischöfe von ihrem V o r h a b e n abzubringen, und verließ die V e r s a m m l u n g . Diese lud nun Nestorius vor, der sich aber weigerte zu erscheinen. M a n beschloß daraufhin, die strittigen Lehrfragen nach ihrer Ubereinstimmung mit dem Symbol von —»Nicäa zu beurteilen. Es wurden der 2 . Brief Cyrills an N e s t o rius (KaxaqtkvaQovai, A n f a n g 4 3 0 ) sowie das Antwortschreiben des Nestorius (2. Brief an Cyrill, J u n i 4 3 0 ) verlesen. Wahrscheinlich einstimmig wurde ersterer für mit dem N i c a e n u m übereinstimmend erklärt, letzterer hingegen als von diesem abweichend befunden. Sofern diese Beschlüsse später auch die Z u s t i m m u n g des gesamten orientalischen Episkopats fanden, bilden sie zugleich das, w a s m a n auch als das dogmatische Ergebnis des K o n zils ansprechen darf, nämlich die Billigung eines abgesehen von der neu geprägten F o r m e l .Einheit xad' vjiöoiaoiv' inhaltlich durchaus h e r k ö m m l i c h e n Briefes Cyrills und die Verurteilung eines Briefes von Nestorius, in dem dieser noch die später von ihm (s. S e r m o 18 vom 6 . Dez. 4 3 0 ) akzeptierte Ö f o r o x o g - P r ä d i k a t i o n für —»Maria ablehnte und sich recht ungeschickt dagegen wandte, dem L o g o s auch die Eigenschaften seiner M e n s c h l i c h k e i t zuzu-
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rechnen. Die spätere Tradition sah in diesem Ergebnis eine Bestätigung gleichermaßen der Einheit des fleischgewordenen Logos als auch der Berechtigung der öforöxoj-Prädikation für die Mutter Jesu, obwohl das Konzil weder eine Glaubensdefinition noch eine Näherbestimmung der verurteilten Irrlehre getroffen hatte. Deren Fehlen sollte zwanzig Jahre später i ein weiteres Konzil notwendig machen (—»Chalkedon). Nach Auskunft der Akten wurde die Sitzung mit der Vorlage von Zeugenaussagen und Dokumenten fortgesetzt, darunter auch des berühmten - und umstrittenen - Briefes Cyrills mit den Anathematismen. Wesentlich ist dabei, daß über keines dieser Dokumente erneut abgestimmt wurde und sie somit nicht die ausdrückliche Zustimmung des Konzils fanden. 10 Die Sitzung endete mit der Absetzung des Nestorius. Gleich nach seiner Ankunft am 26. Juni hielt Johannes von Antiochien mit einem Teil der Bischöfe, die am 21. gegen Cyrill opponiert hatten, sowie mit Candidian ebenfalls eine Sitzung ab. Die etwa fünfzig Bischöfe zählende Versammlung beschloß förmlich die Absetzung Cyrills und Memnons sowie den Bruch der Gemeinschaft mit den Teilnehmern der Sitzung 15 vom 22., sofern sie die Anathematismen nicht verurteilten. Das Konzil war nunmehr gespalten: Die Mehrheit unterstützte Cyrill ohne jeden Vorbehalt; eine durchaus beachtliche Minderheit hingegen hielt die Sitzung vom 22. für nichtig und forderte eine Überprüfung der cyrillischen Lehre. Der Kaiser befahl Ende Juni, das Konzil in Gegenwart aller Bischöfe neu zu eröffnen; 20 Cyrills Gruppe riskierte es indessen, sich jeder nachträglichen Neuerörterung zu widersetzen. Durch die Ankunft der römischen Legaten am 9. Juli erhielt sie beträchtliche Verstärkung. Entsprechend den Anweisungen Papst Coelestins traten diese sogleich mit Cyrill in Verbindung, nahmen Einsicht in die Akten vom 22. Juni, überzeugten sich davon, daß der bereits im August 4 3 0 in Rom verurteilte Nestorius den damals geforderten Widerruf nicht 25 geleistet hatte, und hießen schließlich die am 22. gefällten Entscheidungen gut. Die Monate Juli und August waren durch eine zwischen den beiden Parteien schwankende Haltung des Hofes gekennzeichnet; der neu entsandte Kommissar Johannes versuchte vergeblich, die Absetzung Cyrills, Memnons und Nestorius sowie die Auflösung des Konzils zu erzwingen. Im September fanden in Chalkedon Verhandlungen zwischen Dele30 gierten der beiden Parteien im Beisein des Kaisers statt; es kam jedoch keine Einigung zustande. Der Kaiser ließ einen Nachfolger für Nestorius in Konstantinopel einsetzen und erklärte das Konzil für aufgelöst. Cyrill und Memnon konnten an ihren Bischofssitz zurückkehren. Theodosius weigerte sich jedoch, überhaupt Sanktionen gegen die Orientalen zu billigen. 35 Das Konzil endete mit einem Schisma und ohne ein einhelliges dogmatisches Ergebnis; die Orientalen erkannten nicht einmal die Verurteilung von Nestorius an. Die im März 4 3 2 noch einmal von Coelestin bestätigte Haltung Roms blieb ausschließlich dem Standpunkt der Mehrheit verpflichtet. Etwas später versuchte allerdings Papst Sixtus III. ( 4 3 2 - 4 4 0 ) , erneut freundschaftliche Beziehungen zu den Orientalen aufzunehmen (Brief an Acacius von 40 Beröa). Ende 4 3 2 betraute Theodosius den Tribun Aristolaus mit der Aufgabe, Verhandlungen zwischen Antiochien und Alexandrien in die Wege zu leiten. Mühsam wurde schließlich ein Kompromiß ausgehandelt: Cyrill erklärte sich bereit, eine von den Orientalen vorgeschlagene Lehrformel zu unterzeichnen, in der insbesondere festgestellt wurde, daß in Christus „eine Einung zweier Naturen erfolgt" sei (Briefe 38 und 39 in Cyrills Korrespondenz 45 vom Frühjahr 433). Will man das wirkliche dogmatische Ergebnis des Konzils definieren, so muß man diesen Text den Beschlüssen vom 22. Juni 431 hinzufügen, wie das die Konzilsväter von Chalkedon taten: Sie nahmen den 2. Brief Cyrills an Nestorius sowie die Unionsformel von 433 zusammen mit den Bekenntnissen von Nicäa und Konstantinopel sowie dem Tomus Leonis ad Flavianum (—»Leo I.) in die Reihe der den Glauben definierenden Doku50 mente auf. Als Gegenleistung stimmte Johannes von Antiochien der Verurteilung des Nestorius zu. Dennoch wurde diese Verurteilung nur im Laufe der folgenden Jahre und unter kaiserlichem Druck von der Gesamtheit der syrischen Bischöfe mitunterzeichnet. Gleichzeitig wurde Cyrill von einigen seiner unnachgiebigsten Anhänger kritisiert, bei denen bereits ein
Ephraem Syrus
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Monophysitismus (—»Monophysiten) zu Tage trat, der dann ein Wiederaufflammen der Kontroverse um 450 und eine mehrere Jahrhunderte währende Auseinandersetzung zur Folge haben sollte. Quellen Quellenkundliches: CPG IV, 1 9 8 0 , 3 0 - 6 9 . -Unsere Hauptquelle bilden die alten auf das Konzil bezogenen griechischen und lateinischen Sammlungen. Sie sind im Verlauf der christologischen Streitigkeiten auf der Grundlage der verlorenen, ursprünglich alexandrinischen Sammlung entstanden, enthalten aber auch Stücke aus der ebenfalls untergegangenen ursprünglichen antiochenischen Sammlung und sind kritisch ediert von Eduard Schwanz, Concilium universale Ephesenum, 1 9 2 2 - 1 9 2 9 (ACO 1/1—5). - Zur orientalischen Uberlieferung s. Ignaz Rucker, Ephesinische Konzilsakten in armenischgeorgischer Uberlieferung, 1930 (ABAW.PH 1930/3). - Ders., Ephesinische Konzilsakten in syr. Überlieferung, Oxenbronn 1931. - Weitere Quellen aus dem 5. ]h. : Sokrates, h. e. 7,34. - Nestorius, Liber Heraclidis, ed. Paul Bedjan, Nestorius, te'gurtä' d'heraqlidos demen darmsoq/Le livre d'Héraclide de Damas, Paris/Leipzig 1910; franz. Ubers.: François Nau, Le Livre d'Héraclide de Damas, Paris 1910. Literatur Adhémar d'Alès, Le dogme d'Ephèse, Paris 1931. - Karl Baus/Aloys Grillmeier, Art. Ephesos: LThK 2 3 (1959) 9 2 2 - 9 2 4 . - Pierre-Thomas Camelot, Ephèse et Chalcédoine, Paris 1962; dt.: Ephesus u. Chalkedon, 1963 (GÖK 2). - Ders., Art. Ephesus, council of: NCE 5 (1967) 4 5 8 - 4 6 1 . - Roberto Garcia, El primado romano y la colegialidad episcopal en la controversia nestoriana: Studium 11 (1971) 2 1 - 6 4 . — Aloys Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Freiburg u. a., I 1979, 6 4 2 - 6 9 1 . - D a s Konzil v. Chalkedon, hg. v. A. Grillmeier/H. Bacht, Würzburg, II 1953 = 5 1 9 7 9 , 9 4 6 f (Chronologie); III 1954 = 5 1 9 7 9 , 8 4 3 - 8 4 6 (Lit.). - Joseph Lebon, Autour de la définition de la foi au concile d'Ephèse: EThL 8 (1931) 3 9 3 - 4 1 2 . - Jacques Liébaert, Art. Ephèse (concile d'): DHGE 15 (1963) 5 6 1 - 5 7 4 (Lit.). — Hubert du Manoir, Dogme et spiritualité chez s. Cyrille d'Alexandrie, Paris 1944, 265 ff. - Gustave Neyron, S. Cyrille et le concile d'Ephèse: Kyrilliana, Kairo 1947, 3 7 - 5 7 . Ignacio Ortiz de Urbina, Il dogma di Efeso: REByz 11 (1963) 2 3 3 - 2 4 0 . - Ignaz Rucker, Studien zum Concilium Ephesinum 431, Oxenbronn 1 9 3 0 - 1 9 3 5 . - Eduard Schwartz, Cyrill u. der Mönch Viktor, 1928 (SAWW.PH 208/4).
Jacques Liébaert Ephraem Syrus (ca. 760)
1. Leben
2. Werke
306-373) 3. Theologie
4. Nachwirkung
(Anmerkungen/Quellen/Literatur S.
1. Leben Ephraem wurde um 306 als Kind christlicher Eltern (HcHaer 26,10) 1 in oder bei —»Nisibis (Sozomenos, h. e. 3,16) geboren. Bei seiner Taufe (wahrscheinlich erst nach dem Katechumenat: HcHaer 3,13) schloß er sich den „Bundessöhnen" an, den urtümlichen, noch nicht monastischen Asketen (s. TRE 4,218 f), wie wir sie durch —»Afrahat kennen (nicht aber der eremitischen Bewegung, wie Vööbus [Studies 53] nach Palladius [Hist. Laus. 40] angibt). Ephraem wird traditionellerweise als Diakon bezeichnet (Sozomenos, h. e. 3,16; Hieronymus, vir. ili. 115; vgl. HcHaer 56,10). Entsprechend lobt er die Bischöfe von Nisibis nicht nur als Asketen, sondern auch als Seelsorger (CNis; vgl. Fiey) und teilte die Leiden des Volkes während der Belagerungen durch Shapur ( 3 3 8 , 3 4 6 , 3 5 0 ; vgl. Theodoret, h. e. 2,31) und Julians unglückseligem Feldzug von 363, den er als Augenzeuge beschreibt (s. Beck: RAC 5). In Nisibis wirkte er hauptsächlich als Lehrer an der von Jakob gegründeten Schule (Barhadhbsabbä von Halwän: PO 4,377); aus dieser Zeit stammen möglicherweise einige exegetische Werke, ein Großteil von CNis 1—34, die Hymni de Paradiso und die Hymtti contra Haereses (wo die Arianer noch nicht unter den Gegnern auftauchen). Die metrischen Hymni de fide spiegeln deutlich eine in Nisibis bestehende Spannung zwischen Christen (wahrscheinlich überwiegend Abkömmlinge der starken jüdischen Gemeinde von Adiabene) und Juden wider, die sich erfolgreich um die Rückgewinnung von Christen bemühten. Als 358 ein Erdbeben Nikomedien verheerte, nahm Ephraem das Ereignis zum Anlaß einer Reihe weiterer metrischer Reden (vgl. Gennadius, Vir. ili. 3,67). Auf Julians (361—363) Re-
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Ephraem Syrus
gierung und Feldzüge beziehen sich die Hymni contra Julianum und der vorangestellte Hymnus de Ecclesia. Julians Nachfolger Jovian enttäuschte Ephraems enthusiastische Erwartungen, indem er Nisibis den Persern überließ; daraufhin zog dieser nach —»Edessa. Seine verbleibenden 10 Jahre müssen von lebhafter Tätigkeit erfüllt gewesen sein, sowohl in der Exegetenschule (Barhadhbsabbä, PO 4,381) als auch im öffentlichen Kampf gegen den —»Arianismus, der mittlerweile die Christen in der Osrhoene in Aufruhr versetzt hatte 2 . Damals entstanden sein Kommentar zum Diatessaron und wahrscheinlich der zu den Paulusbriefen; sicher auch die gegen die Arianer gerichteten Hymni de fide und wahrscheinlich die Prosarefutationen gegen —»Markion, —»Bardesanes und Mani (—»Manichäismus), in denen zwar die Gegner dieselben sind wie in den HcHaer, die aber, trotz aller Bedenken gegen das „Gift der Griechen" (HFid 2,24; vgl. Theodoret, h. e. 4,29,1), von einer wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit der Austragung mancher theologischer Kontroversen auf philosophischem Boden zeugen. Ephraems Verwendung der didaktischen Hymne (s. u.) scheint sich in Edessa gegen den Arianismus bewährt zu haben. Die syrische Vita (31) berichtet, wie er, um seine Zuhörer zum Mitsingen zu bewegen, die „Bundestöchter" die Refrains seiner Lieder lehrte, während er selbst die Strophen zur Kithara vortrug. — Nach der Edessenischen Chronik (CSCO III/4/5) starb Ephraem am 9. Juni 374. Sein Ruhm war bereits so groß, daß er wenige Jahre darauf von Epiphanius (haer. 51,22,7) als