Theologie elementar: Zentrale Themen für das Lehramtsstudium fachwissenschaftlich erschlossen 9783534407002, 9783534407019

Als elementare Themen werden in der Bildungstheorie grundlegende Unterrichtsinhalte eines Schulfachs bezeichnet, die übe

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Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Ein Wort zuvor
Elementare theologische Themen im Religionsunterricht
Elementare Themen
Abrahamischer Trialog
Buße
Christliche Ökumene
Eucharistie
Exodus
Gerechtes Zusammenleben
Glaubensbekenntnis
Gottesbilder
Heilige
Kirchengebäude/Kirchenraum
Kirchenjahr/christlicher Kalender
Leben und Umwelt Jesu
Letzte Dinge
Messfeier
Propheten
Psalmen
Reformation
Reich Gottes
Schöpfung
Symbole
Taufe
Theodizee
Verantwortung
Vielfalt
Anhang
Übersicht über den Aufbau der Bibel
Synopse elementarer Themen und der Gegenstandsbereiche der Kirchlichen Richtlinien
Abbildungsverzeichnis
Verzeichnis der Autor:innen
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Theologie elementar: Zentrale Themen für das Lehramtsstudium fachwissenschaftlich erschlossen
 9783534407002, 9783534407019

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Clauß Peter Sajak (Hg.)

Theologie elementar Zentrale Themen für das Lehramtsstudium fachwissenschaftlich erschlossen

Clauß Peter Sajak (Hg.)

Theologie elementar

Clauß Peter Sajak (Hg.)

Theologie elementar Zentrale Themen für das Lehramtsstudium fachwissenschaftlich erschlossen

Diese Publikation wurde gefördert von der Deutschen Bischofskonferenz.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40700-2 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40701-9

Inhalt Ein Wort zuvor.................................................................................................................................. 9 Elementare theologische Themen im Religionsunterricht Clauß Peter Sajak...................................................................................................................11 Elementare Themen Abrahamischer Trialog Clauß Peter Sajak...................................................................................................................19 Buße Dorothea Sattler.....................................................................................................................31 Christliche Ökumene Dorothea Sattler.....................................................................................................................39 Eucharistie Michael Seewald.................................................................................................................... 48 Exodus Johannes Schnocks................................................................................................................ 60 Gerechtes Zusammenleben Marianne Heimbach-Steins..................................................................................................71 Glaubensbekenntnis Thomas Bremer......................................................................................................................83 Gottesbilder Clauß Peter Sajak...................................................................................................................94 Heilige Norbert Köster......................................................................................................................106 5

Kirchengebäude/Kirchenraum Norbert Köster......................................................................................................................120 Kirchenjahr/christlicher Kalender Clemens Leonhard...............................................................................................................126 Leben und Umwelt Jesu Adrian Wypadlo...................................................................................................................138 Letzte Dinge Dorothea Sattler...................................................................................................................149 Messfeier Martin Lüstraeten................................................................................................................161 Propheten Oliver Dyma.........................................................................................................................176 Psalmen Johannes Schnocks...............................................................................................................188 Reformation Norbert Köster......................................................................................................................197 Reich Gottes Adrian Wypadlo.................................................................................................................. 202 Schöpfung Oliver Dyma.........................................................................................................................215 Symbole Clauß Peter Sajak.................................................................................................................227 Taufe Michael Seewald...................................................................................................................232

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Theodizee Bernhard Nitsche................................................................................................................. 244 Verantwortung Monika Bobbert...................................................................................................................259 Vielfalt Judith Könemann.................................................................................................................275 Anhang Übersicht über den Aufbau der Bibel........................................................................................ 289 Synopse elementarer Themen und der Gegenstandsbereiche der Kirchlichen Richtlinien........................................................................................................ 291 Abbildungsverzeichnis................................................................................................................ 296 Verzeichnis der Autor:innen....................................................................................................... 297

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Ein Wort zuvor Das vorliegende Lehrbuch ist aus der Ringvorlesung „Theologie elementar“ entstanden, die seit der Reform des Grundschulstudiengangs im Jahr 2018 einen wesentlichen Bestandteil des fachwissenschaftlichen Aufbaumoduls im Fach Katholische Religionslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster bildet. Mit dieser Vorlesung hat unsere Fakultät den Versuch unternommen, die von Reform zu Reform immer geringer werdende Zahl der Fachstunden im Grundschullehramt in sinnvoller Weise einzusetzen, um die Studierenden auf die inhaltlichen Themen- und Fragestellungen im Religionsunterricht in der schulischen Praxis vorzubereiten. Statt eines Wahlpflichtmoduls, das sich lediglich auf einen großen Themenbereich der Theologie bezieht, diesen dann aber sehr intensiv beleuchtet, werden in dieser Ringvorlesung alle Themenfelder, die im katholischen Religionsunterricht durch die normativen Vorgaben der deutschen Bischöfe für die Länderlehrpläne verpflichtend gemacht worden sind, konzise und kompakt vorgestellt und erschlossen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den elementaren theologischen Themen der Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe (Bonn 2006), aber auch die vorausgegangenen Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5–10/Sekundarstufe I (Bonn 2004) werden zum großen Teil abgedeckt, da die sogenannten Gegenstandsbereiche in beiden Dokumenten identisch sind. Die äußerst positiven Evaluationen dieser Lehrveranstaltungen – auf Seiten der Studierenden wie auch auf Seiten der Lehrenden – hat uns motiviert und ermutigt, eine ergänzte und erweiterte Dokumentation der Ringvorlesung Theologie elementar als Lehrbuch zu veröffentlichen. Damit kommen wir auch den Wünschen unserer Studierenden aus allen Lehramtsstudiengängen nach, ein Kompendium vorzulegen, in dem sich nicht nur für die Prüfung nachlesen und nacharbeiten lässt, sondern das auch später in Praxissemester, Referendariat und Berufseinstieg helfen kann, eine fachwissenschaftlich angemessene Unterrichtsvorbereitung zu gestalten. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Professorium der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster sage ich herzlich Dank für ihre Bereitschaft, die Beiträge zur Ringvorlesung für dieses Lehrbuch zur Verfügung zu stellen. Mein Dank gilt auch Dr. Jan-Pieter Forßmann, der uns auf Seiten der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt (WBG) zu diesem Projekt ermutigt und das Buch von Anfang an begleitet hat. Zu danken haben wir auch der Deutschen Bischofskonferenz, die großzügigerweise die Finanzierung von Druckfassung sowie E-Book dieser Publikation übernommen hat.

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An meiner Professur haben Jane Saalfeld, B. A., und Johanna Quante, B. A., als Studentinnen des Grundschullehramts die Ringvorlesung kritisch begleitet und die Entwicklung des Manuskripts engagiert unterstützt. Last but not least gilt ihnen mein Dank und meine Anerkennung. Münster, an Epiphanias 2022 Clauß Peter Sajak

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Elementare theologische Themen im Religionsunterricht Clauß Peter Sajak

Elementare Themen sind in der Begrifflichkeit der Bildungstheorie grundlegende Sachverhalte eines Fachs, die über sich hinausweisen und dem lernenden Subjekt als Lerngegenstand dienen können. Seit Wolfgang Klafki den Begriff des Elementaren in seine Theorie der Kategorialen Bildung integriert hat, wird er in der Regel in diesem Sinne verwendet (vgl. Klafki 1959). Dabei ist es Klafkis Anliegen, „die komplexe Wirklichkeit so zu vereinfachen, dass sie gelehrt werden kann, und das heißt, aus der Perspektive des Lernenden, dass sie verständlich wird“ (Meyer/ Meyer 2007, 26). Deshalb sollen Gegenstände von Bildungsprozessen exemplarisch sein, das heißt, sie müssen elementare und repräsentative Inhalte eines Wissensgebiets ebenso abbilden wie fundamentale und grundlegende Einsichten für Schülerinnen und Schüler in ihrer heutigen Lebenswelt ermöglichen (vgl. Klafki 1995). Im Kontext eines auf die Entwicklung religiöser Kompetenz ausgerichteten Religionsunterrichts sind elementare theologische Themen in der Sprache der Kirchlichen Richtlinien der deutschen Bischöfe „Kenntnisse, […] die Grundwissen über den christlichen Glauben und andere Religionen umfassen“ und die so ein „inhaltliches Kerncurriculum“ bilden (Die deutschen Bischöfe 2004, 9). Sie bilden zusammen mit den fachrelevanten Kompetenzen und den „Haltungen und Einstellungen, die im Religionsunterricht gefördert werden“ (ebd.), eine Trias von Zielen, auf die die Lern- und Bildungsprozesse im schulischen Religionsunterricht hin ausgerichtet sein sollen. Um ihrer kirchenrechtlichen Regelungspflicht für den katholischen Religionsunterricht auf dem Gebiet ihrer Diözesen nachzukommen, haben die deutschen Bischöfe Kirchliche Richtlinien für den Katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufen 5–10) und in der Primarstufe (Jahrgangsstufen 1–4) vorgelegt, die ein verbindliches Kompetenzmodell und damit verbunden das erwähnte inhaltliche Kerncurriculum theologischer Inhalte darstellen (Die deutschen Bischöfe 2004 u. 2006). Sie sollen „eine normative Orientierung für die zukünftige Entwicklung von länderübergreifenden oder länderbezogenen Bildungsstandards und Kerncurricula für den katholischen Religionsunterricht“ bilden (Die deutschen Bischöfe 2004, 5). Analog zu den Standards, die die deutsche Kultusministerkonferenz für alle anderen Schulfächer veröffentlicht hat (KMK 2005) findet sich auch in den Kirchlichen Richtlinien ein fachdidaktisches Modell, welches die grundlegenden Kompetenzen religiöser Bildung in Anlehnung an die einschlägigen Arbeiten von Ulrich Hemel formuliert (vgl. Hemel 2000). In diesem Rahmen sollen Schüler:innen

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religiöse Phänomene wahrnehmen religiöse Sprache verstehen und verwenden religiöse Zeugnisse verstehen und deuten in religiösen Fragen begründet urteilen sich über religiöse Fragen und Überzeugungen verständigen religiöses Wissen darstellen aus religiöser Motivation handeln können. (vgl. Die deutschen Bischöfe 2004, 13–15)

In der Anwendung dieser allgemeinen Kompetenzen auf die elementaren theologischen Inhalte des Unterrichts entwickeln sich sogenannten inhaltsbezogene Kompetenzen, die wiederum in sechs Gegenstandsbereichen angeordnet sind: • • • • • •

Mensch und Welt die Frage nach Gott Biblische Botschaft Jesus Christus Kirche und Gemeinschaft andere Religionen. (vgl. Die deutschen Bischöfe 2004, 16)

Aus beiden Elementen ergibt sich das verbindliche Kompetenzmodell für den katholischen Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland (Abb. 1). Im Folgenden führen die Kirchlichen Richtlinien in den sechs Gegenstandsbereichen inhaltsbezogene Kompetenzen auf, die in der Summe das Kerncurriculum des katholischen Religionsunterrichts bilden, indem sie theologische Themen mithilfe von Operatoren – also Verben, die bestimmte Fähigkeiten benennen – erschließen. Im Gegenstandsbereich von „Mensch und Welt“ lauten diese inhaltsbezogenen Kompetenzen für den Katholischen Religionsunterricht u. a.: „Die Schülerinnen und Schüler – beschreiben Situationen, in denen sie selbst und andere Menschen nach der Herkunft und Zukunft der Welt fragen; – stellen ihren Ort in der Menschheitsfamilie und in der Schöpfung dar; – bringen schmerzhafte Erlebnisse wie Leid und Tod zur Sprache und tauschen Erfahrungen im Umgang mit diesen Erlebnissen untereinander aus;

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bedenken biblische Hoffnungsworte und -bilder und bringen sie mit ihren Erfahrungen in Verbindung.“ (Die deutschen Bischöfe 2006, 27, Hervorhebungen durch den Verf.)

Abb. 1: Kompetenzmodell der Kirchlichen Richtlinien (vgl. Die deutschen Bischöfe 2006, 18) Mithilfe der Operatoren beschreiben, darstellen, zur Sprache bringen, austauschen, bedenken und in Verbindung bringen werden also in diesen vier Kompetenzen die drei theologischen Themen Schöpfung, Theodizee und die letzten Dinge in unterschiedlicher Weise erschlossen. Zur Gestaltung von Lernprozessen, in denen Schüler:innen die beschriebenen Kompetenzen erlernen und entwickeln sollen, benötigen Lehrende aber nicht nur religionsdidaktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch theologisches Fachwissen zu den jeweiligen Themen und Fragestellung, z. B. also zur Schöpfungstheologie, zur Eschatologie und zur Theodizee-Frage. Um die Planung und Gestaltung von Unterrichtsvorhaben im katholischen Religionsunterricht zu unterstützen, ist inzwischen eine ganze Reihe von religionspädagogischen Publikationen erschienen, die sich aus kompetenzorientierter Perspektive der Fachdidaktik religiösen 13

Lernens im Kontext des schulischen Religionsunterrichts widmet (Michalke-Leicht 2011, Gandlau 2017, Hofmann et al. 2020, Sajak 2020, Kropac/Riegel 2020). Alle diese Konzeptionierungen beschränken sich allerdings auf die religionsdidaktischen Kompetenzen, die zur Planung, Gestaltung und Reflexion von Unterrichtsvorhaben im Religionsunterricht notwendig sind. Eine Ausnahme bildet hier in gewisser Weise der konstruktivistische Ansatz von Büttner/Reis (2020), in dem zu Zwecken der Unterrichtsplanung elementare Themen des Religionsunterrichts in sogenannten Modellen von Verstehensweisen abgehandelt werden. Was bisher aber fehlt, ist eine Handreichung, in der die wichtigsten fachwissenschaftlichen Themen, also die Lerngegenstände aus dem Bereich der Theologie, aufbereitet und zur Klärung, Vergewisserung oder Vertiefung vorgehalten werden. Diese Lücke möchte die vorliegende Publikation schließen. Theologie elementar präsentiert deshalb 24 zentrale Themen aus den Bereichen der biblischen, historischen, systematischen und praktischen Theologie, die für den katholischen Religionsunterricht durch die Kirchlichen Richtlinien der deutschen Bischöfe für einen kompetenzorientierten Religionsunterricht in der eben beschriebenen Weise verbindlich gemacht worden sind. Diese werden aus katholisch-theologischer Perspektive von Expert:innen des jeweiligen Fachgebiets erschlossen. In vielen Artikeln wird es Übereinstimmungen und Kongruenzen mit den Perspektiven der evangelischen Theologie geben, in anderen Fällen – z. B. in den Artikeln zu den Sakramenten von Buße und Eucharistie – können die Beiträge gerade im Kontext eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts auch als Einführung für evangelische Lehrkräfte in die katholische Perspektive genutzt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt dieses Buches auf den Themen des katholischen Religionsunterrichts in der Grundschule. Da aber die Gegenstandsbereiche der beiden Kirchlichen Richtlinien analog strukturiert sind, lässt sich das Buch auch in den Lehramtsstudiengängen verwenden, die zu Lehrämtern in der Haupt-, Real-, Gemeinschafts- und Gesamtschulen sowie zur Fakultas in der Mittelstufe des Gymnasiums führen. Hier ist allerdings zu bedenken, dass die inhaltsbezogenen Kompetenzen in der Sekundarstufe I altersbezogen an Komplexität zunehmen. Entsprechend findet sich am Ende aller Beiträge weiterführende Literatur. Die Stichworte der 24 Artikel in diesem Lehrbuch sind alphabetisch angeordnet, sodass sie rasch aufgefunden und nachgeschlagen werden können. Eine Zuordnung der theologischen Themen zu den Gegenstandsbereichen ist auch möglich: Entsprechend liefert der Anhang dieses Handbuchs eine Übersicht der inhaltsbezogenen Kompetenzen aus den sechs Gegenstandsbereichen der Kirchlichen Richtlinien, in welche die dort zur Lektüre empfohlenen Artikel eingetragen sind. Diese Übersicht kann z. B. zur Unterrichtsplanung und entsprechender Dokumentation verwendet werden. Theologie elementar kann somit als theologisches Lexikon wie auch als Kompendium für einen bestimmten Gegenstandsbereich religiösen Lernens im Religionsunterricht verwendet werden.

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Zitierte Literatur Büttner, Gerhard/Reis, Oliver (2020), Modelle als Wege des Theologisierens. Religionsunterricht besser planen und durchführen, Göttingen. Die deutschen Bischöfe (2004), Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufe 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Die deutschen Bischöfe (2006), Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Gandlau, Harriet (2017), Wie Religion unterrichten. Grundlagen und Bausteine für einen qualifizierten Unterricht, München. Hoffmann, Marcus/Otten, Gabriele/Sajak, Clauß Peter (2020), Schritt für Schritt zum guten Religionsunterricht. Praxisbuch für Studium Referendariat und Berufseinstieg, Seelze. Klafki, Wolfgang (1959), Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim. Klafki, Wolfgang (81995), Die bildungstheoretische Didaktik im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, in: Gudjons, Herbert/Tseke, Rita/Winkel, Rainer (Hg.), Didaktische Theorien, Hamburg, 11–27. Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2005), Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung, München/Neuwied. Kropac, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.) (2020), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart. Meyer, Meinert A./Meyer, Hilpert (2007), Wolfgang Klafki. Eine Didaktik für das 21.  Jahrhundert?, Weinheim/Basel. Michalke-Leicht, Wolfgang (2011), Kompetenzorientiert unterrichten. Das Praxisbuch für den Religionsunterricht, München. Sajak, Clauß Peter (22020), Religion unterrichten. Voraussetzungen, Prinzipien, Kompetenzen, überarbeitete Neuaufl., Seelze.

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Elementare Themen

Abrahamischer Trialog Clauß Peter Sajak

Wer Jerusalem besucht hat, kennt den Blick vom Ölberg über das Kidron-Tal hinüber auf die goldene Kuppel des Felsendoms: im Vordergrund die unzähligen jüdischen Gräber, angelegt in der Hoffnung, dem Messias bei seiner Ankunft besonders nahe zu sein, im Hintergrund die Türme und Kuppeln der Kirchen in der Jerusalemer Altstadt, besonders prägend die Doppelkuppel der Grabeskirche. Im Zentrum des Panoramas liegt das Plateau des salomonischen Tempels, heute beherrscht von der Al-Aqsa-Moschee und dem muslimischen Felsendom. Wahrscheinlich gibt es keinen Flecken auf dieser Erde, an dem das gemeinsame Erbe und Anliegen der drei großen monotheistischen Religionen in der Nachfolge Abrahams deutlicher zusammengeführt ist als im Herzen Jerusalems: Jüdinnen und Juden verehren hier an der Ostmauer des alten Tempels die Relikte ihres Allerheiligsten, des Tempels Salomos, erbaut über dem Felsen, an dem Abraham seinen Glauben an den Einen durch die Bindung Isaaks bezeugte. Muslim:innen verehren diesen Felsen als Ort der Nachtfahrt Muhammads und sehen in diesem Heiligtum die Ergänzung zu jenem Felsen in der Kaaba in Mekka, auf dem Abraham Ismael zum Opfer angeboten haben soll. Christ:innen denken an diesem Ort an das Opfer Jesu Christi, das wenige hundert Meter weiter auf einem anderen Felsen, Golgatha, die Menschen mit Gott versöhnt hat; sie verehren rund um die Mauern des Tempelbezirks die Wirkungsstätten des Jesus von Nazareth in den letzten Tagen vor seiner Hinrichtung. Somit bündeln sich in Jerusalem gleichsam jene drei Traditionslinien, die in religionshistorischer Perspektive seit der Entstehung des Islam aus der Auseinandersetzung des Henotheismus arabischer Beduinenkulturen mit dem monotheistischen Anspruch von Diasporajuden und -jüdinnen und koptischen Christ:innen rund um die heilige Quelle von Zamzam in Mekka gewachsen sind (vgl. Bowersock 2019, 45–54). Jerusalem symbolisiert aber auch wie kein anderer Ort die blutigen Konflikte um die weltanschauliche Deutungshoheit zwischen Jüdinnen und Juden, Christ:innen sowie Muslim:innen, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ihren Anfang genommen und dann zu einem tausendjährigen Konkurrenzverhältnis von Judentum, Islam und Christentum geführt haben: Von den Kreuzzügen über die Eroberung Konstantinopels bis hin zum Siebentage-Krieg von 1967 und dem 11. September 2001 ist die Geschichte dieser historisch wie theologisch so eng verwandten Religionen von Hass und Gewalt geprägt statt von Gespräch und Diskurs. Dabei verbindet die drei großen monotheistischen Religionen nicht nur der Glaube an den einen Gott, der Schöpfer, Herrscher und Richter ist, sondern auch eine Vielzahl von Ideen und Werken der über zweitausendjährigen abendländischen Kulturtradition, die unter 19

der Prägekraft der drei Religionen gewachsen ist. Bis heute bleibt deshalb die Aufgabe, Vertreter:innen dieser drei verwandten Religionen in ein konstruktives Gespräch zu bringen, in dem die gemeinsame Verantwortung aller Gläubigen für Gottes Schöpfung und ihre Geschöpfe benannt, erörtert und gestaltet werden kann. Dieses trilaterale Religionsgespräch wird als ‚Abrahamischer Trialog‘ bezeichnet.

1 Trialog der abrahamischen Religionen – eine alte Tradition Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, ein solches konstruktives Drei-Gespräch der abrahamischen Religionen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu initiieren, wuchs zur Mitte der 1990er Jahre, als Europa von den Religionskonflikten auf dem Balkan und den damit verbundenen militärischen Auseinandersetzungen, gewalttätigen Verfolgungen und sogenannten ethnischen Säuberungen erschüttert wurde. Der Neustart des Trialogs von Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen, wie er vor allem von zivilreligiösen Akteuren wie der Herbert Quandt-Stiftung unter Einfluss des Publizisten und Diplomaten Lord George Weidenfeld unternommen wurde (vgl. Sajak 2019, 25–28), konnte auf eine jahrhundertealte Tradition in der abendländischen Kultur- und Religionsgeschichte zurückgreifen. Religionsgespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen gab es nämlich bereits seit dem frühen Mittelalter, genauer gesagt seit dem 12. Jahrhundert. Der jüdische Philosoph und Avicenna-Schüler Abraham Ibn Daud (1110–1180) gilt in der philosophiegeschichtlichen Forschung als der Begründer eines Trialogs von Juden, Christen und Muslimen. Er entwickelte im christlichen Toledo als jüdischer Philosoph und Aristoteliker auf der Suche nach theologischen Wahrheiten das irenische und konstruktive Gespräch mit den christlichen und muslimischen Theologen seiner Zeit. Dies war auch deshalb möglich, weil im Toledo des 12. Jahrhunderts unter der Herrschaft von König Alfons VI. ein friedliches Zusammenleben der drei Religionen möglich geworden war, welches sich auch in wissenschaftlichem Austausch und philosophischen Disputationen niederschlug (vgl. Fidorna 2004a). Auch in Zentren der Scholastik, in denen es weniger Berührungs- und Begegnungsmöglichkeiten mit jüdischen und muslimischen Denkern gab, kam in dieser Zeit die Idee eines Trialogs im Sinne des vernunftgelenkten Diskurses über die Ziele und Anliegen der abrahamischen Religionen auf. So entwickelte Petrus Abaerladus (1079–1142) in Paris die Idee eines Gesprächs zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen, das zwar keinen expliziten Trialog im Sinne einer Begegnung von authentischen Vertretern der drei abrahamischen Religionen darstellte, das aber nichtsdestotrotz auf der Basis der Vernunft eine Auseinandersetzung über das Schrift- und Offenbarungsverständnis der drei großen monotheistischen Religionen lieferte (vgl. Seit, 2004). Auch der wohl bedeutendste mittelalterliche 20

Theologe, der in Neapel, Paris und Rom lehrende Thomas von Aquin (1224–1274), hat sich in einem seiner Hauptwerke der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Juden, Christen und Muslimen gewidmet. In der „Summa contra gentiles“ richtete Thomas seine theologische Argumentation nicht nur an der Explikation und Begründung des christlichen Glaubens vor dem Forum heidnischer Vernunft aus, sondern griff auch durch die ständige Rezeption und Variation der arabischen Aristoteles-Interpreten Avicenna und Averroes muslimische Denkfiguren und Argumentationsmuster auf. Dabei explizierte Thomas bereits im Prolog „einige Grundsätze, die nicht nur für das Verhältnis von christlichem Glauben und philosophischer Vernunft, sondern auch für den wissenschaftlichen Dialog der christlichen Theologen mit den Juden und den Muslimen seiner Zeit zu beachten sind“ (Lutz-Bachmann 2004, 100). Ein weiterer wichtiger Ort des Trialogs findet sich auf der Baleareninsel Mallorca, genau an der Schnittstelle der mittelalterlichen Seewege von Spanien nach Nordafrika, aber auch in Richtung des Heiligen Landes. In das Kloster Santuari de Nostra Senyora de Cura auf dem Tafelberg Puig de Randa hatte sich 1263 der katalanische Philosoph, Logiker und Theologe Ramon Llull, besser bekannt als Raimundus Lullus (1232–1316), als Eremit zurückgezogen, um sich dort dem Gebet, der Meditation und der Philosophie zu widmen. Was in Toledo Abraham Ibn Daud für das Judentum geleistet hatte, wird in der Geschichte der christlichen Theologie Raimundus Lullus zugeschrieben: Er gilt als der Begründer des Trialogs der abrahamischen Religionen. Erst drei Jahre vor seiner Geburt war Mallorca im Zuge der Reconquista von einer christlichen Armee aus muslimischer Herrschaft rückerobert worden, sodass Lullus auf seiner Heimatinsel in jungen Jahren ausreichend Gelegenheit hatte, „sich von der dringenden politischen Notwendigkeit religiöser Eintracht […] zu überzeugen“ (Fidorna 2004b, 120). Von besonderer Bedeutung für den Trialog ist „Das Buch vom Heiden und den drei Weisen“ (Pindl 1998), in dem Lullus tatsächlich ein theologisches Dreigespräch inszeniert: Vor den Toren einer Stadt treffen sich ein jüdischer, ein christlicher und ein muslimischer Gelehrter, die in der Hitze des Mittags im Schatten zusammensitzen und zum Zeitvertreib über Glaubensfragen sprechen wollen. Ein Heide tritt hinzu und veranlasst die drei Gelehrten, argumentativ für ihre je eigene Religion zu werben. In diesem erzählerischen Rahmen entfaltet sich nun ein Trialog der Religionsvertreter. Da es aber keinem gelingt, die anderen zu überzeugen, vereinbaren die drei Weisen, dass sie das Religionsgespräch so lange fortsetzen wollen, bis sie zur Erkenntnis der Wahrheit in der Frage der Religion gelangt seien. Nicht nur der Schluss mit seinem eschatologischen Vorbehalt in Sachen Wahrheitsfrage erinnert an die Ringparabel, die in ihrer wohl bekanntesten Fassung von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) im dritten Akt seines Ideendramas „Nathan der Weise“ in die europäische Kunst- und Literaturgeschichte eingegangen ist. Hier können sich die drei Söhne des einen Vaters nicht über die Echtheit und damit die Wahrheit der ihnen überlassenen Ringe einigen 21

und sollen am Ende der Zeit das Urteil über die Wahrheit ihrer Überlieferung einem weiseren Richter überlassen. Zwar kommt der Begriff des Trialogs bei Lessing nicht explizit vor, doch kann das gesamte Theaterstück als narrativer Diskurs über das Verhältnis von Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen mit den ihnen eigenen Wahrheitsansprüchen verstanden werden (vgl. Kuschel 2004; Tück/Langthaler 2016). Anlass für diesen inszenierten Trialog auf der Bühne war ein Publikations- und Predigtverbot, das Lessing aufgrund seiner Theorie von einer allen Religionen zugrundeliegenden natürlichen, also positiven Religion auferlegt worden war. Deshalb nutzte er nach eigenen Worten die Bühne als Kanzel und entwarf im Nathan die Vision eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen der drei abrahamischen Religionen im Heiligen Land und dies vor dem Hintergrund einer Religionstheologie, in der sich der Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen an dem Maß der von ihnen gelebten Liebe messen lassen muss.

2 Wertschätzung der Religionen – das II. Vatikanische Konzil Leider geriet die Idee des Trialogs in den folgenden beiden Jahrhunderten durch die Ausgrenzung und Assimilation des europäischen Judentums und einer zunehmenden Frontstellung von Christentum und Islam im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus in Vergessenheit. Erst im Ausgang der Moderne, nämlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besannen sich die großen christlichen Kirchen wieder auf eine Annäherung an Judentum und Islam und auf eine Neubestimmung des Verhältnisses zu den nichtchristlichen Religionen. In der katholischen Kirche ist das Verhältnis zu den anderen Religionen dann maßgeblich durch die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils, das zwischen 1962 und 1965 in Rom stattfand und eine Öffnung der katholischen Kirche zur Moderne hin unternehmen wollte, religionstheologisch neu bestimmt worden. So markiert die Konzilserklärung über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die nach ihrem lateinischen Titel als „Nostra aetate“ (NA) zitiert wird, einen paradigmatischen Wechsel, den ein kundiger Beobachter wie folgt zusammengefasst hat: „Vor dem II. Vaticanum war die Haltung der Kirche gegenüber den nichtchristlichen Religionen negativ, heute ist sie grundsätzlich positiv“ (Mohammed 1992, 66). So ist in dieser Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen auch ein bis dahin kaum bekannter Ton der Anerkennung und Wertschätzung für die anderen Glaubensgemeinschaften spürbar: „Die katholische Kirche verwirft nichts von dem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtiger Hochachtung betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Gebote und Lehren, die, auch wenn sie von dem, was sie selber festhält und vorlegt,

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in vielem abweichen, nicht selten dennoch einen Strahl jener Wahrheit wiedergeben, die alle Menschen erleuchtet.“ (NA, Nr. 2)

Im Weiteren wandte sich das Dokument dem Islam als Offenbarungsreligion zu. Im Rückblick auf die über ein Jahrtausend währende Konkurrenzbeziehung zwischen dem Islam und dem Christentum sind die Aussagen dieses Abschnitts beeindruckend versöhnlich: „Da aber im Ablauf der Jahrhunderte zwischen Christen und Muslimen nicht wenige Meinungsverschiedenheiten und Feindschaften entstanden sind, ermahnt die Hochheilige Synode alle, dass sie sich, indem sie das Vergangene vergessen, aufrichtig um gegenseitiges Verständnis mühen und gemeinsam für alle Menschen soziale Gerechtigkeit, sittliche Güter sowie Frieden und Freiheit schützen und fördern.“ (NA, Nr. 3)

Die Wertschätzung für die Muslim:innen wurde in folgender zentraler Passage formuliert: „Mit Wertschätzung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den einzigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der die Menschen angesprochen hat, dessen auch verborgenen Ratschlüssen mit ganzem Herzen sich zu unterwerfen sie bemüht sind, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den sich der islamische Glaube gern bezieht. Jesus, den sie zwar nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria und rufen sie manchmal auch andächtig an. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, da Gott alle Menschen vergelten wird, nachdem sie auferweckt sind. Daher legen sie auf ein sittliches Leben Wert und verehren Gott besonders in Gebet, Almosen und Fasten.“ (NA, Nr. 3)

Es folgte die Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum. Diese Passage gehört wohl zu den rezeptionsgeschichtlich bedeutendsten Textstellen der Erklärung: „Indem sie das Mysterium der Kirche untersucht, gedenkt die Heilige Synode des Bandes, durch das das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamm Abrahams geistlich verbunden ist. Die Kirche Christi anerkennt nämlich, dass sich nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden. Sie bekennt, dass alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung ebendieses Patriarchen eingeschlossen sind und das Heil der Kirche im Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft geheimnisvoll vorgebildet ist. Deshalb kann die Kirche nicht vergessen, dass sie

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durch jenes Volk, mit dem den Alten Bund zu schließen Gott aufgrund seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit geruht hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfangen hat und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Zweige des wilden Ölbaums die Heiden eingepfropft sind. Die Kirche glaubt nämlich, dass Christus, unser Friede, durch das Kreuz Juden und Heiden versöhnt und beide in Sich selbst zu Einem gemacht hat.“ (NA, Nr. 4)

Zwanzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz würdigte die katholische Kirche das Leidenszeugnis des jüdischen Volkes und verurteilte scharf alle Formen der Diskriminierung und des Antisemitismus: „Außerdem beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen jegliche Menschen verwirft, im Bewusstsein des Erbes mit den Juden, nicht aus politischen Gründen, sondern angetrieben von der religiösen Liebe des Evangeliums, Hass, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die, zu welcher Zeit auch immer und von welchen auch immer, gegen Juden gerichtet wurden.“ (NA, Nr. 4)

Zu einem Schuldbekenntnis und einer Bitte um Vergebung für den katholischen Anteil an der Geschichte des Antisemitismus, der schließlich in der Shoah gipfelte, konnte sich das Konzil noch nicht durchringen. Diesen Schritt unternahm erst Johannes Paul II. (2000) 35 Jahre später im Rahmen seiner Israel-Reise im Heiligen Jahr. Das in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ausgesprochene Schuldbekenntnis und sein Gebet an der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt bilden den Höhepunkt eines jüdisch-christlichen Dialogs auf höchster lehramtlicher Ebene, den Johannes Paul II. von Beginn seines Pontifikats an als persönliches Anliegen gefördert und vollzogen hatte, zuerst im Jahre 1982 durch seinen Gang vom Vatikan zur Großen Synagoge von Rom.

3 Geschichte, Monotheismus und Offenbarungsschriften – die abrahamischen Religionen Die Aussagen über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die das II. Vatikanische Konzil in der Erklärung „Nostra aetate“, aber auch in der Dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“ (Kapitel 16) formuliert hat, zielen vor allem auf die Gemeinsamkeiten, die sich in der Glaubenslehre wie -praxis des Judentums, des Christentums und des Islams finden lassen. So werden Judentum, Christentum und Islam eben deshalb als ‚Abrahamische Religionen‘ bezeichnet, weil sie sich in ihren „Gründer-Erzählungen“ (Frankemöller 2016, 64) 24

auf Abraham als den einen Stammvater rückbeziehen. In dieser genealogischen Konstruktion beruft sich das Judentum auf Isaak, seine Söhne Jakob und Esau und die von den zwölf Söhnen Jakobs gegründeten zwölf Stämme Israels (Dtn 33,6–25). Jesus von Nazareth stammte aus dem Stamm Juda (Mt 1,1–16), sodass sich das Christentum als aus dem Judentum gewachsene neue Religion auch auf Abraham als Stammvater beziehen konnte. Der Islam wiederum versteht sich als eine Glaubensgemeinschaft, die mit Abraham über dessen ersten Sohn Ismael, den dieser mit der Magd Hagar gezeugt haben soll, verbunden ist. Denn Muhammad gilt als ein Nachfahre Ismaels, weil er aus dem Stamm der Quraisch stammt, die sich wiederum traditionell als Hüter der Quelle Zamzam sahen, jener Quelle, an der Ismael mit seiner Mutter Zuflucht gesucht haben soll, nachdem beide von Sara in die Wüste vertrieben worden waren (Gen 21,9–2). Laut Koran errichtete Abraham mit Ismael später an dieser Stelle die Kaaba, um die dann die Stadt Mekka entstand (Sure 2,127). Abraham kann entsprechend als eine literarische Ursprungsgestalt der drei großen monotheistischen Religionen verstanden werden, „historische (archäologische und literarische) Quellen zu seiner Existenz fehlen“ (Frankemölle 2016, 64) allerdings völlig. Damit ist das Stichwort Monotheismus gefallen: Alle drei Religionen verbindet der Glaube an den einen und einzigen Gott, „den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der die Menschen angesprochen hat“ (Nostra aetate 3). Auch wenn es in allen drei Religionen immer wieder Diskussionen gibt, ob der verehrte Gott tatsächlich auch der der anderen beiden sei (vgl. Langenhorst 2016, 300– 309), so ist doch offensichtlich, dass sich Judentum, Christentum und Islam auf den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Ex 3,16) berufen und sich in ihrer Verehrung dieses geschichtsmächtigen, aber unsichtbaren und ortsungebundenen Ultimaten deutlich von der religiösen Umwelt ihrer Entstehungszeit abgrenzten: das Judentum als Volk Israel vom Polytheismus der babylonischen, ägyptischen, assyrischen und persischen Kulturreligionen, das Christentum vom Polytheismus der griechischen und römischen Staatsreligionen und der Islam schließlich von den magischen, naturreligiösen Stammeskulten der arabischen Beduinen. Entsprechend wird der Begriff Monotheismus heute wie selbstverständlich „zur Umschreibung eines zentralen Aspektes der Gottesvorstellung in den drei großen Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam“ (Bauks 2011) verwendet. Der Begriff Schriftreligionen markiert ein weiteres gemeinsames Charakteristikum der drei monotheistischen Religionen. Für das Judentum, das Christentum und den Islam ist die Überlieferung und Verehrung einer Heiligen Schrift konstitutiv. Als „Heilige Schriften“ werden gemäß einer klassischen Definition die „zu einem Kanon zusammengefassten religiösen Schriften mit religiöser Autorität“ (Mensching 1937, 79) verstanden, die in Judentum, Christentum und Islam jeweils zu einem Heiligen Buch zusammengefasst worden sind: die hebräische Bibel, die christliche Bibel und der Koran. Im Islam, der als jüngste der drei abrahamischen 25

Religionen erst im Laufe des 7.  Jahrhunderts nach christlicher Zeitrechnung entstanden ist und der in der Heiligen Schrift des Koran auf die jüdische und christliche Bibel zurückgreift, werden Gläubige im Judentum und im Christentum deshalb als „Menschen der Schrift“ (Sure 5, 44–48) bezeichnet. Damit bringt der Koran zum Ausdruck, dass sich Jüdinnen und Juden, Christ:innen wie auch Muslim:innen auf die Offenbarungen des einen Gottes berufen, der sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedenen ausgewählten Menschen gezeigt und zu ihnen gesprochen hat. Entsprechend wird im Islam der Prophet Muhammad, dem Gott über zwei Jahrzehnte in verschiedenen Offenbarungen seine Weisungen in Visionen kundgetan haben soll, als Abschluss einer langen prophetischen Tradition verstanden. Dies ist der Grund, warum in den 114 Suren des Korans, auf den sich der Islam als Offenbarungsdokument bezieht, eine Vielzahl von Geschichten und Personen vorkommen, die sich so auch in der jüdischen wie christlichen Bibel finden lassen. Ein noch engerer Zusammenhang besteht zwischen der hebräischen und der christlichen Bibel. Als hebräische Bibel wird die Zusammenstellung der fünf Bücher Mose, der Prophetenbücher und der sogenannten Weisheitsschriften im Judentum verstanden. Jüdinnen und Juden selbst sprechen vom sogenannten TeNaK, ein Akronym, das für die Kombination von Thora (das Gesetz Mose), Nebiim (die Propheten) und Ketubim (die Weisheitsschriften) steht. Das Christentum wiederum, dessen Ursprung ja in der Verkündigung des Juden Jesus von Nazareth liegt, hat entsprechend diese jüdische Bibel als erstes Testament und damit als Referenzdokument für die jesuanische Lehre verstanden. So ist die sogenannte Königsherrschaft-Gottes-Botschaft, die im zweiten, Neuen Testament im Zentrum steht, nur zu verstehen, wenn die ständigen Bezugnahmen und Auslegungen Jesu zu den Texten des TeNaK in den Blick genommen werden (vgl. die Übersicht über den Aufbau der Bibel im Anhang). Aus der gemeinsamen Geschichte, der Verehrung des einen transzendenten Gottes und den Überlieferungen einer Heiligen Schrift mit gemeinsamen Elementen und Traditionen ergeben sich noch andere Parallelen und Kongruenzen in Glaubenslehre und Glaubenspraxis der drei abrahamischen Religionen, wie z. B. ein Jahreskreis von Fasten- und Feiertagen, Gebetsrituale und Gottesdienste an bestimmten Wochentagen (Freitag, Schabbat, Sonntag) und ein strukturell ähnlich eingerichtetes Gotteshaus (Synagoge, Kirche, Moschee). Die kirchlichen Vorgaben für den schulischen Religionsunterricht nehmen diese gemeinsamen Traditionen, Elemente und Strukturen auf, wenn sie die konkreten Themen und Kompetenzen im Bereich des Trialogischen Lernens (Sajak 2016) benennen. So heißt es in den Kirchlichen Richtlinien, welche die deutschen Bischöfe für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule, aber auch für die Sekundarstufe I (Die deutschen Bischöfe 2004 und 2006) herausgegeben haben: Schüler:innen kennen „die Bedeutung von Festen wie Shabbat, Pessach (Seda), Bar (Bad) Mizwah“ (Die deutschen Bischöfe 2004, 28), „die Bedeutung der Synagoge für das jüdische Gemeindeleben“ (ebd.) und „die Bedeutung der Thora für das jüdische Leben“ (ebd.). Analog 26

dazu wird in diesen Richtlinien der Islam anhand folgender Themen behandelt: Schüler:innen erläutern „die wichtigsten Stationen im Leben Muhammads und seine Bedeutung für den Islam; […] die Bedeutung des Korans für Muslime; […] die fünf Säulen des Islam und ihre Bedeutung für die islamische Gemeinschaft ‚Umma‘; […] die Bedeutung der Feste Ramazan Bayrami (‚Zuckerfest‘) und Kurban Bayrami (‚Opferfest‘) […] und die Bedeutung der Moschee für Muslime“ (ebd.).

4 Trinität, Christus und Koran – die bleibenden Unterschiede Zu einem aufrichtig und authentisch geführten Trialog gehört aber auch die konstruktive Auseinandersetzung mit den theologischen Fragen und Positionen, in denen zwischen jüdischer, christlicher und islamischer Theologie kein Konsens herrscht. Dazu gehören vor allem die Diskussion um das Wesen des einen Gottes in drei Personen, das Glaubensbekenntnis, dass dieser Gott in Jesus von Nazareth ganz Mensch geworden ist und die Frage nach dem Offenbarungscharakter des Korans. Entsprechend wird ein abrahamischer Trialog folgende Fragen theologisch erörtern müssen (vgl. auch Sajak 2018, 113–117).

4.1 Gott – als Trinität? Für Christ:innen ist Gott nicht transzendent geblieben, sondern in Jesus Christus in die Geschichte hinabgestiegen und nach dessen Tod und Auferstehung durch seinen wirkmächtigen Geist in Schöpfung und Kirche weiter gegenwärtig. Ein solches Konzept, in dem sich Gott in verschiedenen Seinsweisen in der Wirklichkeit von Raum und Zeit zeigt und als wirksam erweist, ist für streng monotheistische Religionen wie das Judentum und den Islam schwer nachvollziehbar, soll es hier nicht zu Missverständnissen und Kurzschlüssen bzgl. anthropomorpher Gottesvorstellungen und polytheistischer Modelle kommen. Entsprechend wird das Konzept der Trinität als christliches Gottesverständnis ein wichtiger Diskussionspunkt in einem trialogischen Gesprächsprozess sein.

4.2 Jesus – als Mensch gewordener Gott? Da sich das Christentum als Nachfolgegemeinschaft des Jesus von Nazareth versteht, in dem Gott in der menschlichen Geschichte an einem bestimmten Ort erfahrbar geworden ist, muss dieses Element der christlichen Gotteskonzeption in besonderer Weise vorgestellt und 27

bearbeitet werden. Auch Jüdinnen und Juden bzw. Muslim:innen kennen Jesus von Nazareth, weisen ihm aber unterschiedliche Funktionen und Positionen in ihrer Heilsgeschichte zu. Dass Jesus für Christ:innen nicht nur ein Wanderprediger (Rabbi) oder ein Gesandter Gottes (Rasul) ist, auf der anderen Seite aber kein Gott in Menschengestalt, wie er in polytheistischen Zusammenhängen vorzustellen wäre, ist entsprechend im Kontext trialogischer Lernprozesse zu diskutieren und zu begründen.

4.3 Offenbarung – als abgeschlossener Prozess? Während die Trinität und die Bedeutung des Jesus von Nazareth spezifische, aber eben auch essentielle christliche Propria sind, die in der theologischen Interpretation zu gemeinsamen Glaubenselementen von Judentum, Christentum und Islam hinzutreten, so verhält es sich bei der Offenbarung nun anders: Hier ist gerade unter den drei abrahamischen Religionen zu diskutieren, inwieweit das aufbauende Nacheinander von hebräischer Bibel, Neuem Testament und Koran zu verstehen ist. Während im Islam ein Schichtmodell vertreten wird, in dem der Koran die letzte und abschließende Stufe der Offenbarung darstellt, werden Christ:innen im Kontext einer Diskussion um die theologische Wahrheit betonen, dass mit der Schrift des Neuen Testaments ein Offenbarungsprozess abgeschlossen worden ist, in den sich der Koran als Offenbarungsschrift nur noch schwer einfügen lässt. Analog werden jüdische Teilnehmer:innen interreligiöser Lernprozesse die christlichen Teile der Bibel und den Koran beurteilen wollen.

5 Trialogisches Lernen – eine junge Disziplin In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich vor allem am Lernort Schule die Disziplin des sogenannten Trialogischen Lernens etabliert, die sich um religionspädagogische Formate und Prozesse interreligiösen Lernens bemüht, welche die Ziele des abrahamischen Trialogs einholen wollen. Zielt interreligiöses Lernen im Allgemeinen darauf, die bewusste Wahrnehmung, die angemessene Begegnung und die differenzierte Auseinandersetzung mit Zeugnissen und Zeugen anderer Religionen einzuüben, so gilt dies umso mehr für die „Menschen der Schrift“ (Sure 3, 199), also für Menschen aus dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, die so viele Gemeinsamkeiten in Glaube, Ethos, Kult und Kultur kennen. Der Religionsunterricht in der Grundschule kann ein wichtiger Ort für das Trialogische Lernen sein, wie zahlreiche bereits veröffentlichte Praxisbeispiele zeigen (Sajak 2019, 98–120). 28

Anmerkung Der Text der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen ‚Nostra aetate‘ wird zitiert nach Hünermann, Peter/Hilberath, Bernd Jochen (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2009, 355–362.

Zitierte Literatur Bauks, Michaela (2011), Art. Monotheimus (AT), in: WiBiLex 5 [https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/27997]. Bowersock, Glen W. (2019), Die Wiege des Islam. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen, München. Die deutschen Bischöfe (2004), Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufe 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Die deutschen Bischöfe (2006), Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Fidora, Alexander (2004a), Abraham Ibn Daud und Dominicus Gundissalinus: Philosophie und religiöse Toleranz im Toledo des 12. Jahrhunderts, in: Lutz-Bachmann, Matthias/Fidora, Alexander (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt, 10–26. Fidora, Alexander (2004b), Ramon Llull  – Universaler Heilswille und universale Vernunft, in: LutzBachmann, Matthias/Fidora, Alexander (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt, 119–133. Frankemölle, Hubert (2016), Vater im Glauben? Abraham/Ibrahim in Tora, Neuem Testament und Koran, Freiburg i. Br. Johannes Paul II. (2000), Schuldbekenntnis, in: Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 7, 106–109. Kuschel, Karl-Josef (2004), „Jud, Christ und Muselmann vereinigt“? Lessings „Nathan der Weise“, Düsseldorf. Langenhorst, Georg (2016), Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und dem Islam, Freiburg i. Br. Lutz-Bachmann, Matthias (2004), Rationalität und Religion. Der Beitrag des Thomas von Aquin zu einer rationalen Grundlegung des Religionsdialogs in der Summa contra gentiles, in: Lutz-Bachmann, Matthias/Fidora, Alexander (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt, 96–118. Mensching, Gustav (1937), Das heilige Wort. Eine religionsphänomenologische Untersuchung, Bonn. Mohammed, Ovey N. (1992), Multiculturalism and Religious Education, in: Religious Education 87, 62–73.

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Pindl, Theodor (Hg.) (1998), R. Lullus, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, Stuttgart. Sajak, Clauß Peter (2016), Art. Trialogisches Lernen, in: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon [https://doi.org/10.23768/wirelex.Trialogisches_Lernen_.100126]. Sajak, Clauß Peter (2018), Interreligiöses Lernen (= Theologie kompakt), Darmstadt. Sajak, Clauß Peter (2019), Trialogisches Lernen konkret. Zehn Jahre Schulenwettbewerb der HerbertQuandt-Stiftung – eine Bilanz, Freiburg. Seit, Stefan (2004), Dilectio consummatio legis. Abaelards Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen und die Grenzen einer rationalen Gotteslehre, in: Lutz-Bachmann, Matthias/Fidora, Alexander, Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter. Darmstadt, 40–95. Tück, Jan-Heiner/Langthaler, Rudolf (Hg.) (2016), „Es strebe von euch jeder um die Wette“: Lessings Ringparabel – ein Paradigma für die Verständigung der Religionen heute?, Freiburg i. Br. Tworuschka, Udo (2008), Vom Umgang mit heiligen Schriften, in: Tworuschka, Udo (Hg.), Heilige Schriften. Eine Einführung, Frankfurt a. M./Leipzig, 11–49.

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Buße Dorothea Sattler

1 Hinführung zur Thematik Theologische Reflexionen geschehen immer in zeitlicher Konkretion. Angesichts der erschütternden Erkenntnis, wie oft gerade das Sakrament der Versöhnung zu einem Ort des geistlichen Missbrauchs und der sexualisierten Gewalt wurde, ist es nicht leicht, an die befreiende Wirkung einer Lossprechung von den Sünden zu erinnern. Viele Verwundungen sind geschehen. Zugleich gibt es noch immer den Wunsch, einem geistlich erfahrenen Menschen von der eigenen Schuldgeschichte zu erzählen. Wie bei keinem anderen Sakrament ist bei der Buße Vertrauen in das Geschehen gefordert, das sich zwischen den handelnden Personen ereignet. Im religionspädagogischen sowie katechetischen Kontext stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, Kinder in Vorbereitung auf die Erstkommunion auch zur Erstbeichte hinzuführen. In einem Gedicht von Ingeborg Bachmann (1948/1978) kommt zur Sprache, dass es im Erleben eines Kindes Situationen gibt, in denen das rückblickende Erzählen am Abend auf den Tag trostreich ist: „Abends frag ich meine Mutter heimlich nach dem Glockenläuten, wie ich mir die Tage deuten und die Nacht bereiten soll. Tief im Grund verlang ich immer alles restlos zu erzählen, in Akkorden auszuwählen, was an Klängen mich umspielt. Leise lauschen wir zusammen: meine Mutter träumt mich wieder, und sie trifft, wie alte Lieder, meines Wesens Dur und Moll.“ (Bachmann 1948/1978, 10)

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Im lebensgeschichtlichen Erzählen bekommt die Lebensmelodie einen unverwechselbaren Lauf. Im Bild der lebenserfahrenen mitfühlenden Mutter, die im Geschehen der deutenden Selbsterkenntnis bei dem suchenden Kind ist, begegnet die Verheißung des Geschenks neuer Einsicht in die frohstimmenden und die belastenden Zusammenhänge des Lebens. Gott ist wie eine Mutter, die den unzerstörbaren Lebenstraum des ihr vertrauten Wesens deutend eröffnet. Die Lebenszeit lässt bereits ahnen, wie die Selbsterkenntnis uns in Gottes ewiger Gegenwart einstmals schmerzlich heilend verwandeln wird. Der hier gewählte anthropologische Zugang möchte für das Verständnis eines sakramentalen Geschehens werben, das vielfach aus der Übung gekommen ist. Das Sakrament der Versöhnung hat eine lange und komplexe Geschichte.

2 Biblische Grundlegung Die Mitte des christlichen Glaubens ist das Bekenntnis zu Gott, der sich im Leben und Sterben des Menschen Jesus von Nazareth in untrüglich verlässlicher Weise als ein Gott in Erfahrung gebracht hat, der auch dann noch gemeinschaftswillig und bundestreu bleibt, wenn seine Geschöpfe sich seiner Liebe in tiefster Tiefe widersagen. Die Feier dieser von Gott zugesagten Versöhnungsbereitschaft geschieht grundlegend in der Taufe. In der Taufe durchschreiten die zum Glauben an Christus Jesus Bekehrten in der Kraft des Geistes Gottes die Wasser des Todes und werden verwandelt, erneuert und neu geboren zu unverlierbarem Leben in der Gemeinschaft des lebendigen Gottes. Die frühen christlichen Gemeinden haben die in der Taufe geschenkte Verwandlung des gesamten Lebens mit tiefem Ernst bedacht. Paulus mahnt die Getauften ohne Unterlass, sich ihres neuen Lebens bewusst zu werden; er fragt: „Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf seinen Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben“ (Röm 6,3 f.).

Nach dem biblischen Zeugnis ist die Sünde ein Gemeinschaftsbruch: eine Schädigung des Daseins der Mitmenschen, eine Beeinträchtigung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten, eine Preisgabe ihres Lebens an den Tod, an die Verlassenheit, die Armut, die Rechtlosigkeit. Als der Schöpfer aller Menschen tritt Gott für die Schutzlosen ein: „Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer; ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen“ (Spr 14,31). Der Dekalog, das Zehngebot, fordert die Achtung der Lebensrechte der Mitgeschöpfe im Namen Gottes ein: Alle 32

Geschöpfe sollen auch im Alter durch die Sorge anderer Menschen leben können, unbedroht durch Treuebruch, Meineid und Diebstahl. In den alt- und neutestamentlichen Schriften begegnen uns unterschiedliche Formen der Buße, in denen einzelne Mitglieder der Glaubensgemeinschaft oder auch das gesamte Gottesvolk ein Bekenntnis der eigenen Schuld formuliert und um Gottes Erbarmen bittet. Das nüchterne Eingeständnis der eigenen Sünde erlöst von der bedrückenden Sprachlosigkeit (Ps 32,3–6). Individuelle und gemeinschaftliche Bußformen (Joel 1–2; Neh 9) sind in den alttestamentlichen Schriften überliefert. Durchgängig ist eine wachsame Bemühung zu erkennen, die äußeren Bußübungen in Entsprechung zur inneren Gesinnung zu gestalten (Amos 5,21–24; Hos 6,6; Jes 58,5–7). Aus christlicher Perspektive hat die Gemeinde dafür Sorge zu tragen, dass das Leben ihrer Glieder ein Zeugnis für die wirksame Gegenwart des Geistes Gottes ist (Mt 18,15–20). Der Epheserbrief ermahnt die christliche Gemeinde, ein Leben zu führen, das ihrer Berufung würdig ist: „Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe, und bemüht euch die Einheit des Geistes zu wahren, durch den Frieden, der euch zusammenhält“ (Eph 4,2). Am Ostertag kommt der auferweckte Christus in den Kreis seiner Jünger und schenkt ihnen die Kraft des Heiligen Geistes für ihren friedenwirkenden Dienst der Versöhnung (Joh 20,22 f). Die Berufung aller Apostel (Mt 18,18) – und in besonderer Weise des Petrus (Mt 16,19) –, auf Erden durch den Ausschluss Einzelner aus der Gemeinde einen Bann aussprechen und ihn durch die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft wieder lösen zu können, geschieht, damit alles Böse von der christlichen Gemeinschaft fern bleibt. Sie soll ein leuchtendes Zeichen der Liebe Gottes sein.

3 Einblicke in die Geschichte der Buße Es gab viele Veränderungen in der kirchlichen Bußpraxis in den zurückliegenden beiden Jahrtausenden (vgl. Vorgrimler 1978). Diese Erkenntnis ermutigt dazu, auch heute nach einer Gestalt der Buße Ausschau zu halten, die in unserer Zeit dem Grundanliegen der christlichen Verkündigung entspricht. In der Frühzeit der Kirche war es lange Zeit umstritten, ob es nach der Taufe – der ersten Umkehr und Buße – eine weitere Möglichkeit der Versöhnung mit Gott geben kann. Wie sehr im Bewusstsein war, dass das neue Leben der Getauften in Christus Jesus sich in ihrer Freiheit von der Macht der Sünde erweisen soll, lässt sich der Verkündigung des Paulus entnehmen: „Wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn.

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Denn durch sein Sterben ist er ein für alle Mal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus“ (Röm 6,7–11).

Die von Gott aus Gnade gewährte und im Glauben vertrauend angenommene Herauslösung aus den todbringenden Fängen der Sünde soll sich im versöhnten Miteinander der Getauften als wirksam erweisen. Das von Gottes Geist lebendig im Gedächtnis der Gemeinden bewahrte Zeugnis des Lebens Jesu galt als Leitbild des Gemeinschaftslebens. Jesu Weisungen waren im Sinn und im Bewusstsein. Die Christen lebten in der „Naherwartung“ der baldigen Wiederkunft des erhöhten Christus: Nur noch kurze Zeit schien zu bestehen zu sein bis zur eschatologischen Parusie des Herrn. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die ersten Christen sich zunächst nur sehr schwer vorstellen konnten, nach der Taufe eine weitere Gestalt der Buße für einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Weisung Gottes einzuräumen. Die Erinnerung jedoch an Jesu Weise, sich den Sünder:innen mit großer Barmherzigkeit zuzuwenden (überliefert vor allem in der Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin in Joh 7,53–8,11), motivierte schließlich dazu, das Verbot der Möglichkeit einer „zweiten Buße“ (Fachbegriff „Paenitentia secunda“) aufzugeben: Als die letzte „rettende Planke“ nach dem Schiffbruch wurde die Buße den getauften Sünder:innen als Zeichen der übergroßen Güte Gottes angeboten. Die Gemeinden vertrauten darauf, dass die mit dem Bild des Schiffes gemeinte Christusgemeinschaft, die vor dem Tod auf dem Meer bewahrt, auch in der Situation des schwerwiegenden Widerspruchs gegen das Taufversprechen nicht völlig verloren gehen kann. Ein Kennzeichen des sogenannten „Kanonischen Bußwesens“ im Altertum war sein Öffentlichkeits-Charakter: Der Ausschluss aus der Gemeinde trat als Folge der schweren Sünde ein. Die im Rahmen einer gottesdienstlichen Feier geschehende, an das Schuldbekenntnis sich anschließende Aufnahme des Sünders/der Sünderin in den Büßerstand galt als erste Stufe in dem langen Prozess der Wiederaufnahme in die Gemeinde. In auch äußerlich erkennbarer, zeichenhaft gelebter Weise bekundeten die Umkehrwilligen durch zum Teil langwierige, das Leben spürbar verändernde Bußübungen ihre erneuerte Gesinnung. Den Abschluss des Bußverfahrens bildete die mit dem Zeichen der Handauflegung bekundete Wiederversöhnung mit der Gemeinde und die dadurch wieder möglich gewordene Mitfeier der Eucharistie. Bereits im Altertum zeichneten sich Entwicklungen ab, die das einmalige, öffentliche Bußwesen in seinem ursprünglichen Sinn entstellten. Dieser bestand darin, den Ernst der mit der Taufe übernommenen Verpflichtung zu einem Leben im Geist Jesu Christi durch eine öffenliche Distanzierung von den Sünder:innen zu erweisen, um die Glaubwürdigkeit der christlichen Gemeinde zu erhalten. Die Sorge, vor dem Tod möglicherweise noch ein weiteres Mal auf ein Bußverfahren angewiesen zu sein, förderte die Neigung, sich ihm erst im hohen Alter, 34

kurz vor dem Sterben, auszusetzen. Diese Tendenz wurde zudem durch die Tatsache verstärkt, dass die zum Teil sehr einschneidend wirksamen, meist in strengen asketischen Übungen bestehenden Bußauflagen dann nur noch kurze Zeit erduldet werden mussten. Die bereitwillige Übernahme und die rasche Verbreitung einer neuen Bußgestalt im frühen Mittelalter war vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen im öffentlichen Geschehen der Buße gut verständlich: Es handelte sich dabei um eine mehrfach zu vollziehende, auch im Falle kleinerer Verfehlungen sinnvoll erscheinende Buße. Diese Bußgestalt war ein Erbe des klösterlichen Gemeinschaftslebens und gewann im Zuge der Mission iro-schottischer Mönche auf dem europäischen Festland ab dem 7./8. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Die neue Bußgestalt unterschied sich von der bis dahin geübten in der Häufigkeit (unbeschränkte Wiederholbarkeit), im Zeitpunkt (kein Aufschub in die Sterbestunde aus Angst vor der sonst möglicherweise zu frühzeitig ergriffenen einmaligen Bußmöglichkeit und den harten, dauerhaft belastenden Bußauflagen), im existentiellen Bezug (auch leichtere Sünden) und im Verfahren (ohne Öffentlichkeit der Gemeinde). Diese Form der nicht-öffentlichen Beichte war bald so vertraut, dass die Bischöfe auf dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert die Überzeugung äußerten, immer schon sei ein solches Bekenntnis von der Kirche gefordert worden. Die Konzilsväter setzten sich dabei mit der Forderung Martin Luthers auseinander, die Beichtpflicht aller Einzelsünden aufzugeben, damit die Buße ihre befreiende Wirksamkeit wiedergewinnen könne. Martin Luther zeigte bis an sein Lebensende eine sehr hohe Wertschätzung der Einzelbeichte. Angesichts seiner existentiellen Suche nach einer Möglichkeit, aus dem von ihm tief empfundenen Sündenverhängnis herauszufinden, betrachtete er die Absolution als die Grundgestalt des Evangeliums, als Zuspruch der Sündenvergebung durch Gott rein aus Gnade. Luther wandte sich entschieden gegen den Missbrauch einer rein äußerlich bleibenden Bußpraxis und sprach sich für eine Verbindung zwischen wirklicher Umkehr und kirchlicher Buße aus: Die beste Buße sei ein neues Leben. Im 20.  Jahrhundert kam es zu einer intensiven wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte des kirchlichen Bußwesens, insbesondere der patristischen Bußtheologie und Bußpraxis. In der Sache ergab sich hieraus eine Wiederentdeckung der ekklesialen, gemeinschaftlich-sozialen Dimension der Buße. Im Vorfeld des 2.  Vatikanischen Konzils bewirkte die Liturgische Bewegung ein neues Bewusstsein für den Feiercharakter gemeinschaftlicher gottesdienstlicher Vollzüge. Dies stärkte Bemühungen um die Ausgestaltung gemeindlicher Bußgottesdienste, die seit den 1950er Jahren zunächst im französischsprachigen Raum aufkamen. Die neue Wertschätzung der sozial-ekklesialen Dimension aller Sakramente – und daher auch der Buße – fand Eingang in die Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils, das zu einer Reform des Bußsakraments aufforderte, die das Ziel habe, „Natur und Wirkung des Sakramentes deutlicher auszudrücken“ (Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“, Nr.  72). 35

Der nachkonziliare Bußordo von 1973 greift dieses Anliegen auf und betont zudem in einer pastoral ausgerichteten Redeweise die berechtigte Vielgestalt in den Wegen kirchlicher Buße. Das Bußsakrament kann demnach in dreifacher Gestalt gefeiert werden: (1) als Feier der Versöhnung für einzelne; (2) als gemeinschaftliche Feier der Versöhnung mit Bekenntnis und Lossprechung der einzelnen oder (3) in bestimmten Notsituationen mit allgemeinem Bekenntnis und Generalabsolution. Bußgottesdienste gelten nicht als Form des Bußsakraments, weil bei ihnen nur das allgemeine Sündenbekenntnis gesprochen wird und das priesterliche Handeln sich auf eine Bitte um Vergebung beschränkt. Gleichwohl wird die Feier der Bußgottesdienste den Gemeinden insbesondere in der Advents- und Fastenzeit empfohlen. Im Blick auf die zurückgehende Beichtpraxis, die im westeuropäischen katholischen Raum der 1970er Jahre zur Rede von der „Krise des Bußsakraments“ führte, ist neben dem Faktum zunehmender Kirchendistanz vor allem die Entkoppelung des Bußsakraments von der Teilnahme an der eucharistischen Kommunion zu berücksichtigen. In der Theologie wurden in der Zeit nach dem 2.  Vatikanischen Konzil zahlreiche Versuche unternommen, die sich von der Bußgeschichte her ergebende Vielgestalt der Bußformen zu sichten und im Leben der Gemeinden und der einzelnen Menschen zu situieren. Neue Herausforderungen ergaben sich durch den intensivierten wissenschaftlichen Dialog mit der Psychotherapie, der zu einer verstärkten Besprechung der heilenden Dimension des Bußsakraments anregte. Zudem lässt sich eine wachsende Offenheit im ökumenischen Gespräch über die Buße erkennen (vgl. Kappes u. a. 2001).

4 Perspektiven Das gemeinsame Anliegen vieler neuerer Beiträge zum Thema Umkehr und Buße ist es, „das Geschenk der Versöhnung, das uns in Jesus Christus und seiner Kirche gegeben ist, im Zusammenhang heutiger Lebens- und Glaubenserfahrungen wieder vertieft bewusst machen und zum Leben daraus anregen“ zu wollen (Die deutschen Bischöfe 1997, 9 f.). Eine Überwindung der Krise der Bußpraxis erscheint nur dann möglich, wenn Christ:innen in ihren belastenden Lebenssituationen die Feiern der Versöhnung als heilend, tröstlich und aufrichtend erfahren können (vgl. Schlemmer 1998; Sattler 2006). Neuere theologische Beiträge werben für die reiche Vielfalt der Bußgestalten, die in den unterschiedlichen Unheilsituationen der Menschen in eigener Weise wirksam werden. Mit großer Aufmerksamkeit wird wahrgenommen, dass viele Menschen heute auch in der Öffentlichkeit von den Verletzungen sprechen, die sie anderen zugefügt haben. Viele Menschen erfahren Lebenssituationen, in denen es ihnen wichtig ist, mit einem Priester in ein Gespräch zu kommen, der die Gabe hat, in geduldiger und kundiger Weise Einsicht in die unheilstiftenden 36

Lebenszusammenhänge zu vermitteln und Wege der Aussöhnung mit dem gewordenen Dasein aufzuzeigen. Das Charisma der Heilung von Lebenswunden ist nicht jedem gegeben. Persönliche Reife ist erforderlich für eine fruchtbare Wirksamkeit in der Begegnung mit Menschen, die unter ihrer Schuld leiden. Bestehende Begabungen für diesen Dienst können durch eine entsprechende fachliche Qualifizierung gefördert werden. In vielen großen Städten und an Wallfahrtsorten gibt es „Beichtzentren“, an denen Priester anzutreffen sind, die sich in jahrelanger Weiterbildung auf ihren Dienst vorbereitet haben. In dem Maße, wie Menschen das Gespräch über ihr mit Schuld beladenes Leben als erlösend und befreiend erleben, werden sie die Orte aufsuchen, an denen ihnen dieses widerfährt. In diesem Geschehen wird von Menschen als besonders hilfreich erfahren, ob sie ihr personales Gegenüber als authentisch, zugewandt und wohlwollend erleben. Von großer Bedeutung ist daher die Gestaltung der Gesprächssituation, deren Wirksamkeit in Worten und Gesten der Versöhnung zeichenhaft zum Ausdruck kommt. Der äußere Ort der Begegnung sollte dabei der frohmachenden Botschaft nicht im Wege stehen. Der Mensch darf mit all seinen Dunkelheiten in das Licht des Erbarmens Gottes treten. Die Sorge um eine lebensnahe, für Menschen als tröstlich und ermutigend erkennbare Beichtpraxis ist dringlich in unserer Gegenwart, denn es gibt eine hohe Bereitschaft der Menschen zum Gespräch über die leidvollen Dimensionen des gewordenen Lebens. Eine große Chance besteht, Menschen heranzuführen an die beglückende Zusage Gottes, keine Gestalt der Sünde könne ihn dazu bewegen, den Geschöpfen seine Verbundenheit zu verweigern, die sich seiner barmherzigen Liebe öffnen. Die Vielgestalt der kirchlichen Feierformen im Geschehen der menschlichen Umkehr und der von Gott verheißenen Versöhnung sollte und könnte der Vielgestalt der menschlichen Lebenssituationen entsprechen. Es lassen sich meines Erachtens insbesondere drei eigenartige Gestalten der christlichen Buße unterscheiden, die jeweils eine spezifische menschliche Situation aufgreifen: (1) Die Feier der Wiederversöhnung mit Gott durch die Wiederaufnahme in die eucharistiefeiernde Gemeinschaft im Falle einer schwerwiegenden Infragestellung des in der Taufe gegebenen Versprechens, im Geist Jesu Christi ein Leben der Liebe gestalten zu wollen. (2) Die von kompetenten, entsprechend ausgebildeten Gesprächspartnern ermöglichte geistliche Begleitung als ein lebenslanger Prozess der Reflexion auf die dunklen Seiten der eigenen Existenz in der Hoffnung auf Lichtung der Lebenszusammenhänge. (3) Gemeinschaftliche Feiern der Buße, in denen Menschen, die auch im Alltag miteinander leben, die berechtigte Erwartungen aneinander hatten und die enttäuscht und verletzt sind durch die Mitlebenden, einander offen ihre Schuld eingestehen und nach neuen Wegen des versöhnten Miteinanders suchen. Bei diesen drei Formen behalten die theologischen Aspekte bei der sakramentalen Feier der Versöhnung ihre Bedeutung, hilfreich wäre es jedoch, sie entsprechend der jeweiligen Sozialgestalt, in der eine Schuldverstrickung sich jeweils konkret auswirkt, zu differenzieren. 37

Im Blick auf die Kinderbeichte haben sich Formen bewährt, deren Rahmen eine gemeinschaftliche Feier ist: Nach einem gemeinsamen Beginn mit der Besinnung auf belastende Situationen im Erleben der Kinder werden Einzelgespräche angeboten, in denen die Kinder davon erzählen können, was sie belastet. Der gemeinsame Abschluss des liturgischen Geschehens hat den Charakter eines Fests der Freude angesichts der erfahrenen Erleichterung des Gewissens durch Kommunikation. Wege zu bereiten, das Sakrament der Versöhnung für Kinder und Erwachsene heilsam wirksam werden zu lassen, bleibt eine große Herausforderung (vgl. Sattler 2009). Besonders wichtig ist dabei die Authentizität in der Reue, in der Bereitschaft zur Umkehr und zur tätigen Buße, die lebensnah und erfahrungsbezogen ist. Die Bitte um Gottes Barmherzigkeit geschieht im Raum der Kirche in einer Gemeinschaft, die der Zusage Gottes im Glauben gewiss ist.

Zitierte Literatur Bachmann, Ingeborg, (1978), Werke. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, München. Die deutschen Bischöfe (1997), Umkehr und Versöhnung im Leben der Kirche. Kappes, Michael u. a. (Hg.) (2011), Umkehr ökumenisch feiern. Theologische Grundlagen und Praxismodelle, Frankfurt/Paderborn. Sattler, Dorothea (2006), Lösung aus schuldverstricktem Leben. Ökumenische Besinnung auf die diakonische Dimension von Feiern der Versöhnung, in: Benedikt Kranemann/Thomas Sternberg/Walter Zahner (Hg.), Die diakonale Dimension der Liturgie. FS Klemens Richter, Freiburg/Basel/Wien, 58–70. Sattler, Dorothea (2009), Die Last des Lebens leichtern. Systematisch-theologische Perspektiven, in: Liturgisches Jahrbuch 39, 125–140. Schlemmer, Karl (Hg.) (1998), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung, Würzburg. Vorgrimler, Herbert (1978), Buße und Krankensalbung. Handbuch der Dogmengeschichte, Bd.  IV/3, Freiburg/Basel/Wien.

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Christliche Ökumene Dorothea Sattler

1 Hinführung zur Thematik Die in heutiger Zeit weltweit vielfältigen ökumenischen Bemühungen sind Anlass zur Dankbarkeit: Nach Jahrhunderten der Feindschaft unter Christ:innen hat seit Ende des 19. Jahrhunderts eine später auch institutionalisierte Ökumenische Bewegung das gläubige Bewusstsein auf die seit dem Ursprung immer schon bestehenden Gemeinsamkeiten aufmerksam werden lassen. Der Apostel Paulus erinnert an sie und ermahnt: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung in eurer Berufung: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4–6). Die Herausforderungen im schulischen Bildungswesen sind heute groß, in interreligiösen und/oder in die Konfessionen verbindenden Rahmenkontexten zu unterrichten (vgl. LinkWieczorek u.  a. 2020). Modelle der konfessionellen Kooperation werden an vielen Orten in Theorie und Praxis zu Formen eines gemeinsamen christlichen Religionsunterrichts weiterentwickelt. Basiswissen in Fragen der christlichen Ökumene ist für den Berufsalltag wichtig (vgl. Kappes 2017/2019). Keine Einzelpersönlichkeit kann heute überschauen, welche Annäherungen zwischen den Konfessionen in der weltweiten Ökumene inzwischen erreicht worden sind. Neue Gemeinschaften – unter ihnen vor allem die lokalen pentekostalen Bewegungen, die Pfingstkirchen – fordern die länger schon existierenden Kirchen heraus: Haben sie noch im Blick, dass Menschen hier und heute schon auf Heilung an Leib und Seele durch Gottes Geist hoffen? Die konkreten Situationen bei der Gestaltung des christlichen Lebens sind weltweit sehr unterschiedlich. An manchen Orten führen finanzielle Beschränkungen zu einem Erlahmen des ökumenischen Eifers. An anderen Orten werden Kirchenräume füreinander geöffnet. Die zunehmende Knappheit an personalen Ressourcen kann auch zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen. Was gemeinsam verantwortet werden kann, sollte nicht in konfessioneller Selbstbegrenzung geschehen. Ein bewährter ökumenischer Grundsatz ist: Begründungsbedürftig ist das, was vor Ort angesichts der einen christlichen Verantwortung nicht gemeinsam geschieht. In vielen Themenbereichen zeigen sich die Differenzen weniger zwischen den Konfessionen als innerhalb der Konfessionen. Zerreißproben sind miteinander zu bestehen. Die Vielfalt der Standpunkte innerhalb jeder Konfession ist sehr groß. Bündnisse werden über die Konfessionsgrenzen hinweg je nach dem theologischen Standort getroffen. Oft sind es Kontroversen in der Frage einer angemessenen Hermeneutik in der Schriftauslegung, die in allen 39

Konfessionen unterschiedliche Stellungnahmen zur Folge haben: Gilt allein der bloße Wortlaut der Bibel oder ist immer auch die geschichtliche Distanz zur Entstehungszeit der Texte bei der Interpretation zu beachten? Die vorrangig zu Kontroversen Anlass gebenden Themen sind vor allem einzelnen Fragen im Bereich der Sexualethik und der Geschlechteranthropologie zuzurechnen: Frauen und Männer im kirchlichen Amt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Zölibat. Auch bei der ethischen Beurteilung von Lebensformen zu Beginn und am Ende des menschlichen Daseins lassen sich nicht immer konfessionelle Grenzlinien ausmachen. Neben ethischen Themenbereichen finden sich im binnenkonfessionellen Raum nicht selten kontroverse Ansichten über das Verständnis der Kirchenverfassungen und der amtlichen Strukturen. Debatten innerhalb der einzelnen Kirchen binden viele Kräfte.

2 Rückblicke in die Geschichte der Ökumenischen Bewegung Die römisch-katholische Kirche hat in der Ökumenischen Bewegung erst spät sehr viel gelernt (vgl. Sattler 2002). Die weithin von den Kirchen der Reformation und einzelnen Orthodoxen Kirchen getragene Ökumenische Bewegung im 20.  Jahrhundert kann im Rückblick als ein segensreiches Geschehen betrachtet werden. Die Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh gilt als die Geburtsstunde der Ökumenischen Bewegung: Wer den einen, stets zur Versöhnung bereiten Jesus Christus glaubwürdig verkündigen möchte, darf nicht Menschen feindlich begegnen, die dies ebenfalls tun. Die Ökumenische Bewegung war ein wichtiger Anstoß bei der Begründung umfassender Reformen in der römisch-katholischen Kirche. Insbesondere die ökumenischen Erfahrungen in den Zeiten des 2.  Weltkriegs im Widerstand gegen den Nationalsozialismus haben die Bereitschaft befördert, intensiver an der gemeinsamen Suche nach sichtbarer Einheit der Kirchen mitzuwirken. Bereits im ausgehenden 19.  Jahrhundert, verstärkt dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Bischöfe von Rom durchaus ihr Amt als einen Dienst an der Einheit der Christen verstanden. Da aber diese Einheit nach ihrer Meinung in Gestalt der römisch-katholischen Kirche schon bestand, waren Initiativen zunächst mit der Absicht verbunden, Christ:innen anderer Konfession zur Rückkehr in die römisch-katholische Kirche zu ermutigen. In der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts reagierte die römisch-katholische Kirche vor allem abwehrend auf Ereignisse, die von den Trägerkreisen der Ökumenischen Bewegung geplant und durchgeführt wurden. Im August 1927 fand in Lausanne die erste „Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung“ statt. 1928 veröffentlichte Pius XI. die Enzyklika „Mortalium Animos“ deren Anliegen es war, katholische Christ:innen von einem Irrtum zu überzeugen, der vornehmlich in der Meinung liege, die von Jesus erflehte Einheit seiner Jüngergemeinde (vgl. Joh  17,21) bestehe noch gar nicht. Im Schlussabschnitt seiner 40

Enzyklika betonte Pius  XI., wie sehr auch ihm die Einheit der Christen am Herzen liege. Pius XI. unterstützte die nicht-katholischen Christen in ihrem geistlichen Tun in der Hoffnung, Gott werde ihnen die eine wahre Kirche Jesu Christi zeigen und sie ermutigen, zu dieser zurückzukehren. Die Enzyklika „Mortalium Animos“ führte die von ihr beklagte falsche Irenik im Miteinander der Christen auch auf das Zeitempfinden Ende der 1920er Jahre zurück (anhaltende Friedenszeiten und wirtschaftlicher Aufschwung). Als 1943 die Enzyklika „Mystici Corporis“ von Pius XII. erschien, waren andere Zeiten, die einen veränderten Tonfall und eine atmosphärische Verbesserung des Miteinanders der Christen mit sich brachten. Er rief dazu auf, in der Nachfolge Jesu Christi selbst zu Betenden zu werden, und er versicherte, dass ihm auch das Leben derer am Herzen liege, die nicht zur sichtbaren Gemeinschaft der katholischen Kirche gehörten. Er betonte die aufgrund der gemeinsamen Teilhabe an dem einen Leib Christi in begrenzter Weise bereits bestehende Einheit der Kirche. Die Enzyklika „Mystici Corporis“ gilt als ein bedeutender Text aus der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil, weil in ihr eine christologische Grundlegung des Wesens der Kirche geschah und auch der gemeinschaftliche, gesellschaftliche Charakter der Glaubensgemeinschaft hohe Beachtung fand. Die im Dezember 1949 erschienene Instruktion „De Motione ‚Oecumenica‘“ regelte anlässlich der Erfahrungen bei der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam die Genehmigungspraxis bei einer Teilnahme katholischer Christen an ökumenischen Konferenzen neu: Zukünftig sollte eine solche Teilnahme einzelner katholischer Christen nicht mehr gänzlich verboten sein; es genügte von da an die Zustimmung der Ortsbischöfe. In diesem Text wird zudem zum ersten Mal in einem kirchenoffiziellen römisch-katholischen Dokument zugestanden, dass Gottes Geist auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche wirksam ist. In den Dokumenten des 2.  Vatikanischen Konzils (insbesondere in „Unitatis Redintegratio“ [UR]) erklärte die römisch-katholische Kirche erstmals ausdrücklich ihre Bereitschaft, die andernorts ergriffenen ökumenischen Initiativen anzuerkennen und mitzutragen. Als die wesentlichen Kennzeichen des Ökumene-Verständnisses dieses Konzils gelten: (1) die Besinnung auf die bereits bestehende weitreichende Einheit der Kirche angesichts ihrer göttlichen Gründung; (2) die Erinnerung an die biblischen Schriften und die altkirchliche Lehrtradition sowie die Feier der Taufe als Erweis der bereits bestehenden sichtbaren Einheit; (3) das Eingeständnis der römisch-katholischen Mitschuld an der Spaltung der Christenheit; (4) die Einsicht in die beständige Notwendigkeit von Reformen in den Kirchen – orientiert am Leitbild des apostolischen Ursprungs der christlichen Glaubensgemeinschaft; (5) die Zustimmung zu den vielfältigen Wegen ökumenischer Verständigung (gemeinsame Feier des Wortes Gottes, Bildung in ökumenischen Fragen auf allen Ebenen, Dialoge über theologische Fragen); (6) die Selbstverpflichtung zu ökumenischer Sensibilität bei jeder Formulierung des eigenen konfessionellen Standortes. 41

Es ist offenkundig: Die weltweit vielfältigen ökumenischen Bemühungen bedürfen einer neuen Form der Koordination. Nach fruchtbaren Jahrzehnten der Annäherung insbesondere im 20.  Jahrhundert steht die Ökumenische Bewegung vor neuen Herausforderungen. Nicht zuletzt die schwindende Finanzkraft der christlichen Ökumene in Europa nötigt oder besser ermutigt zu weitreichenden Reformen. Bei der Sichtung der bestehenden ökumenischen Initiativen sind mehrere Kriterien der Differenzierung möglich: Nationale Gremien unterscheiden sich von internationalen, bilateralen Gesprächen von multilateralen, historisch-theologischen Erkenntniswegen von diakonisch motivierten Projekten. An jedem Lebensort hat die Ökumene eine andere Gestalt, die maßgeblich auch durch die leitend handelnden Personen mitbestimmt wird.

3 Theologische Grundlegung der christlichen Ökumene Die römisch-katholische Neubesinnung in der ökumenischen Hermeneutik durch das 2. Vatikanische Konzil (1962–65) hat eine (noch immer) segensreiche Wende von einer ekklesiologischen hin zu einer soteriologischen Orientierung genommen und dabei im schöpfungstheologischen Kontext (universal) gedacht: Die göttliche Errettung aus Schuldverstrickung und Tod ist das Evangelium; alle, die sich in den Dienst der Verkündigung dieses Evangeliums stellen, das in Jesus Christus in Menschengestalt Gottes Kunde ist und diese im Heiligen Geist bleibt, sind einander nahe – leben Ökumene. Ich verstehe die in jüngerer Zeit in reichem Maße zu erkennenden Bemühungen um eine (erneute) Wertschätzung der einen Taufe sowie die Rede vom (neuen) missionarischen Aufbruch der Ökumene in diesem Zusammenhang als eine Bestätigung des Konzepts einer paschatischen Ökumene: Ökumene lebt dort, wo der von Gott als Gabe geschenkte Übergang vom Tod in das Leben erfahren wird. Wahre geistliche Erfahrungen in ökumenischen Begegnungen lassen viel zu wünschen übrig – in einem guten Sinne: In ihnen wird die Trauer über die fortbestehende Trennung spürbar, und sie vermitteln eine frohstimmende Ahnung von dem großen Reichtum des konfessionell geprägten Glaubenslebens. Übrig bleibt viel: der Wunsch nach einer währenden, nicht von Trennung bedrohten, lebendigen christlichen Gemeinschaft im Hören auf Gottes Wort, im sakramentalen Gedächtnis des Todes und der Auferweckung Jesu Christi und in der Bereitschaft zum Zeugnisdienst mit Tat und Wort. Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht. Dieser geistliche Weg kann 42

eine unterschiedliche äußere Gestalt haben: stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten. Als ein bedeutsames Anliegen der römisch-katholischen Kirche gilt seit den Zeiten des 2. Vatikanischen Konzils die geistliche Dimension der Ökumene: „Die Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden“ (UR 8). Die Versammlung zum gemeinsamen Gebet um die Einheit wird ausdrücklich gutgeheißen und in ihrer zweifachen Sinngebung bestimmt: Sie ist ein Weg zu größerer Gemeinschaft und es bringt die bereits bestehende Verbundenheit sinnenfällig und zeichenhaft zum Ausdruck. Stand in der vorkonziliaren Zeit das Gebet um die Einheit der Christen nahezu ausschließlich im Zusammenhang der durch es geförderten Bereitschaft zu Reue und Umkehr der nicht-katholischen Gemeinschaften, so wurde ihm nun (auch) zugesprochen, die schon existierende, in Gottes Wesen und Handeln gründende Einheit erfahren zu lassen. Das 2.  Vatikanische Konzil hat damit einen Weg zur Einheit gewiesen, der sich von dem zuvor leitenden Gedanken der Rückkehr der anderen Christ:innen deutlich unterscheidet, nämlich den Weg der eigenen Bekehrung, der inneren Erneuerung aller Kirchen in Gestalt einer gemeinsamen Umkehr zur Mitte des christlichen Bekenntnisses. Je näher die Christ:innen dem gekreuzigten Christus kommen, desto näher kommen sie auch einander: „Alle Christgläubigen sollen sich bewusst sein, dass sie die Einheit der Christen umso besser fördern, ja sogar einüben, je mehr sie nach einem reinen Leben gemäß dem Evangelium streben“ (UR 7). Die gemeinsame christliche Spiritualität wird im Erleben vieler Menschen insbesondere in der Feier von Abendmahl und Eucharistie spürbar. In jüngerer Zeit sind wichtige ökumenische Annäherungen in diesem Themenbereich formuliert worden (vgl. Leppin/Sattler 2019).

4 Methoden und Ziele der christlichen Ökumene In der römisch-katholischen Theologie wird der (weithin nur) in der evangelischen Theologie vollzogene Paradigmenwechsel in der Regel als Abkehr von der Konvergenz- (oder gar Konsens-)Ökumene und einer damit einhergehenden Hinkehr zu einer Sozial-Ökumene 43

verstanden. Wenig im Bewusstsein ist dabei aus meiner Sicht zuweilen, dass es dabei um zwei profilierte Handlungsbereiche geht, die im Blick auf die Gesamtheit der an der ökumenischen Bewegung beteiligten Menschen keineswegs alternativ sind, sich lediglich in einem einzigen Menschenleben mit guten Gründen nicht gleichzeitig als Optionen verwirklichen lassen. Viele Faktoren – intendierte und/oder situativ vorgegebene – wirken sich bei der persönlichen Wahl des jeweiligen ökumenischen Engagements aus. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Handlungsformen in der gemeinsamen Ausrichtung auf das eine Evangelium ist eine Stärke der Ökumene. Lehre und Dienst dienen der Einheit. Eigene Aufmerksamkeit muss aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang der Aspekt der Dringlichkeit erfahren: Es gibt Orte und Zeiten, da gilt es, sofort zu handeln. Einen besonderen Akzent setzen die Bischöfe beim 2.  Vatikanischen Konzil mit ihrem Aufruf zum gemeinsamen sozialen Dienst in den Krisenregionen der Erde im Kampf gegen den Hunger, die Armut, die Wohnungsnot, den Analphabetismus und die ungerechte Verteilung der Güter (UR 12). Ethische Themen und Fragen der Glaubenslehre gelten als die beiden Bereiche, auf die bezogen ökumenische Gespräche geschehen. Eine wichtige Motivation ökumenischen Handelns ist die Einsicht, wie wichtig es ist, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen. Alle Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden unter den Völkern zu erreichen? Warum gelingt es nicht, die Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt den Hunger und Durst der Bedürftigen? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Die gemeinsame Grundlage in der Suche nach Antworten auf diese Fragen sind die biblischen Schriften. In ihnen begegnet Gott mit der Verheißung des Lebens in Fülle in Gemeinschaft mit ihm. Gottes Weisungen zielen die Achtung der Lebensgrundlagen aller Geschöpfe an. In seinem Gewissen erfährt der Mensch sich gefordert, diesen Weisungen zu folgen. In vielen ethischen Fragen konnten die Kirchen inzwischen einen hohen Grad an Einmütigkeit erreichen. Auf internationaler und auf nationaler Ebene sind zahlreiche Dokumente erschienen, in denen die Kirchen gemeinsam in der Öffentlichkeit Position beziehen. In Deutschland gibt es eine inzwischen gefestigte Tradition, gemeinsame Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zu ethischen Fragen zu veröffentlichen. Dabei werden zum einen Einzelthemen des Lebensschutzes an den Grenzen des individuellen Daseins zu Beginn und am Ende des eigenen Lebens (z.  B. Embryonenschutz, vorgeburtliche Diagnostik, Organtransplantationen, Sterbehilfe), zum anderen sozialethische Fragen (z. B. Arbeitslosigkeit, neue Armut, Mediengesellschaft, Fremdenfeindschaft) vorrangig in den Blick genommen. In wichtigen Gremien (z. B. dem nationalen 44

deutschen Ethikrat) sprechen christliche Delegierte nicht selten mit einer Stimme. Zugleich gibt es offene oder kontrovers besprochene Fragen, die vor allem im Bereich der Familien- und Sexualethik (z. B. Wiederheirat Geschiedener, Methoden der Geburtenregelung, Homosexualität, Präimplantationsdiagnostik) angesiedelt sind. Mehr denn je ist sich die Ökumenische Bewegung bewusst, dass sie keine Einmütigkeit in ihrer Zielbestimmung hat. Ökumene ist immer auch Teil der weltweiten Kirchenpolitik und daher allein auf der Grundlage sachlicher Argumentationen nicht hinreichend zu verstehen. Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten und divergierenden Standorten prägen die ökumenische Theologie mehr als andere Bereiche. Wer wüsste, welche kirchenleitenden Persönlichkeiten zukünftig die Ökumenische Bewegung gestalten? Unter dem Wort Gottes, das um die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus zur Einheit in seiner Nachfolge mahnt (vgl. Joh  17,21), stehen alle, die sich Christ:innen nennen. Gottes Geist wird daran immer wirksam erinnern. Die Kirchen sind alternativlos auf einem nicht selbst gewählten Weg zur Einheit. Das Ziel ist die Gemeinschaft mit Gott. Gott wartet tätig – uns entgegenkommend immerzu.

5 Eine Herausforderung: Christliche Ökumene in Bildungskontexten leben Für ein wirksames, die Perspektiven veränderndes Geschehen ökumenischer Bildung sind zwei Faktoren wichtig: zum einen die Bereitschaft, sich als Person für ein Gespräch mit offenem Ausgang bereit zu halten, zum anderen die in Gestalt eines Zeugnisses bekundete Orientierung an einer bereits vorhandenen gemeinsamen Mitte, die alle am Lerngeschehen beteiligten Menschen verbindet. In der christlichen Ökumene lässt das Bekenntnis zu Jesus Christus die Menschen immerzu wieder zurückfinden zu den zentralen Fragen ihrer gläubigen Existenz. Oft wiederholt und daher vertraut ist die Einsicht, dass nur diejenigen etwas lernen, die dazu motiviert sind – innerlich durch das eigene Interesse (intrinsisch) oder äußerlich durch vorgegebene Bewertungsmaßstäbe in Qualifikationssituationen (extrinsisch). Diese beiden Blicke auf das zielorientiert zu planende Geschehen erscheinen mir im Hinblick auf das Erlernen der Ökumene von hoher Bedeutung: Es gibt eine nicht unbedeutende Zahl von Menschen, die aus eigenem inneren Antrieb  – oft ist dies biographisch begründet  – Freude an ökumenischen Lernerträgen haben. Zugleich gibt es zunehmend Personen, bei denen es zu ihrem fachlich geforderten Profil gehört – gewollt oder auch nicht gewollt –, Kompetenzen in der Ökumene im Hinblick auf eine berufliche Tätigkeit erwerben zu müssen. Eine Alltagsweisheit ist: Niemand lernt je aus. Das Geschehen der ökumenischen Bildung lässt sich nicht auf die Jahre des theologischen Studiums reduzieren. 45

Im Fachgebiet der Ökumene ist – anders als in manchen anderen Disziplinen der theologischen Reflexion  – die Gegenwartsorientierung beständig erforderlich. Kurze oder längere ‚Berichte aus den Kirchen‘, wie sie beispielsweise bei Versammlungen der multilateral tätigen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene üblich sind, legen offen, dass es in jeder Konfessionsfamilie immer wieder ganz konkrete aktuelle Herausforderungen gibt, die personelle und geistige Kräfte binden. Ökumenisches Lernen hat eine wache Aufmerksamkeit auf andere christliche Traditionen zur Bedingung. Orte, Personen und Ereignisse, die anderen Christ:innen sehr wichtig sind, erscheinen angesichts der eigenen religiösen Sozialisation möglicherweise zunächst sehr fremd. Nicht selten wird im Erzählen und Zuhören die Erkenntnis gefestigt, dass jede Konfessionsgemeinschaft auch in internationalen Kontexten lebt, die anderen Kirchen oft nicht bekannt sind. Wir wissen noch immer zu wenig voneinander. Vor Ort wird die Ökumene sehr verschieden gelebt. Jeweils verantwortliche Persönlichkeiten sind dabei ebenso einflussreich wie alte Traditionen und gefestigte Institutionen, die sich nur mühsam verändern lassen. Auch wenn viele Unterschiede in der gelebten Ökumene bestehen, meine ich doch sagen zu können, dass folgende Gedanken bei verantwortlich tätigen Menschen im Hinblick auf die ökumenische Bildung heute prinzipiell befürwortet werden: (1) Jeder Mensch wird in eine vorgegebene Familiensituation hinein geboren, in der – selbst im Widerspruch zum Gottesglauben – eine religiöse Prägung geschieht; niemand wählt die eigene konfessionelle Grundorientierung ganz frei. Biographische Kontexte sind im ökumenischen Lerngeschehen zu berücksichtigen. (2) Es gibt Ereignisse in der Geschichte der Identitätsbildung der Konfessionen, die nicht primär unter dem Vorzeichen eines zu fällenden theologischen Urteils zu betrachten sind, sondern bei der Reflexion in einem hohen Maße die Bereitschaft zur Empathie einfordern. (3) Jede Person in einer ökumenischen Lerngruppe ist mit gleicher Wertschätzung anzuerkennen. Interesse an anderen konfessionellen Lebenswegen und Neugier im Hinblick auf unbekannte Details christlicher Existenz in anderer Tradition werden artikuliert. Auf Augenhöhe geschieht dann ein Austausch der Gedanken.

Zitierte Literatur Kappes, Michael u. a. (Hg.) (2017), Basiswissen Ökumene. Bd. 1: Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Leipzig/Paderborn. Kappes, Michael u. a. (Hg.) (2019), Basiswissen Ökumene. Bd. 2: Arbeitsbuch mit Materialien, Leipzig/ Paderborn. Leppin, Volker/Sattler, Dorothea (Hg.) (2020), Gemeinsam am Tisch des Herrn. Ein Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, Freiburg/Göttingen.

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Link-Wieczorek u. a. (Hg.) (2020), Die Zukunft der theologischen Ausbildung ist ökumenisch. Interkulturelle und interkonfessionelle Herausforderungen in Universität und Schule, Kirche und Diakonie, Leipzig. Sattler, Dorothea (2002), Von der als bestehend behaupteten zu der von Gott erflehten Einheit. Römischkatholische Besinnung auf Joh 17,21, in: Wolfgang A. Bienert (Hg.), Einheit als Gabe und Verpflichtung. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses zu Johannes 17 Vers 21, Frankfurt/Paderborn, 113–130.

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Eucharistie Michael Seewald

Der Begriff „Eucharistie“ leitet sich von dem griechischen Wort eucharistein, danksagen, ab. Wenn in der gottesdienstlichen Versammlung Ausschnitte aus der Bibel gelesen und gedeutet werden (Wortgottesdienst), Geld für die Bedürftigen gesammelt wird (Kollekte) sowie Brot und Wein rituell derart gereicht werden, dass sie die Gegenwart Christi zeichenhaft vermitteln, formuliert die Kirche ihren Dank für alles, was Gott an Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes getan hat. Die Kirche dankt für Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu und bittet zugleich um seinen belebenden Geist für die Welt. Gelegentlich wird die Eucharistiefeier auch als „Messe“ bezeichnet, was sich vom lateinischen missio, Aussendung, ableitet, und meist für die in der katholischen Kirche gebräuchliche liturgische Form der Eucharistiefeier steht. In neutestamentlichen Kontexten ist, so etwa bei Paulus, auch vom „Mahl des Herrn“ oder dem „Herrenmahl“ (1 Kor 11,20) die Rede.

1 Biblische Bezugspunkte Religionen, in deren Mittelpunkt ein rituales Mahl steht, gab es bereits vor dem Christentum. Welche Motive die Praxis des Herrenmahls oder der Eucharistiefeier genau geprägt haben, ist umstritten. Mahltraditionen kannte man sowohl im Judentum als auch in anderen Kontexten des Alten Orients und der hellenistischen Welt, der griechischsprachigen Kultur zur Zeit Jesu.

1.1 „[…] ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“: Paulus und der älteste Abendmahlsbericht Der älteste Bericht vom Letzten Abendmahl, das Jesus in der Nacht vor seiner Verhaftung mit seinen Jüngern gehalten haben soll, findet sich bei Paulus. Die Paulusbriefe sind die ältesten Schriften des Neuen Testaments. Anders als die erst später entstandenen Evangelien, die theologisch durchkomponierte Deutungen des Lebens Jesu bieten, hat Paulus Briefe an Gemeinden verfasst, in denen er zu aktuellen Fragen Stellung bezog, sich in gemeindliche Probleme einbrachte oder katechetische Inhalte vermittelte. Der früheste Abendmahlsbericht zeugt bereits von Schwierigkeiten, die innerhalb der Gemeinde von Korinth um die Feier des Herrenmahls entbrannt sind: 48

„Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1 Kor 11,23–26)

Die Formel „ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“, deutet darauf hin, dass Paulus etwas wiedergibt, das bereits Gegenstand seiner eigenen Unterweisung war, das also zum Überlieferungsgut der ersten Christen gehörte und damit älter ist als der Erste Korintherbrief selbst. Der von Paulus referierten Überlieferung gemäß nahm Jesus bei einem Mahl, das am Vorabend seiner Verhaftung stattfand, Brot, und sprach dazu ein Deutewort: „Das ist mein Leib für euch.“ Der Leib Jesu, der am darauffolgenden Tag starb und, so der Glaube der zum Mahl versammelten Gemeinde, die auf das Geschehene zurückblickt, vom Tod auferweckt wurde, wird mit dem zum Verzehr bestimmtem Brot identifiziert. Diese Handlung stellt eine Memorialgeste – etwas, das, wenn Jesus selbst nicht mehr leiblich gegenwärtig ist, an ihn erinnern soll – dar: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Nicht unmittelbar darauffolgend, sondern erst nach dem Mahl nahm Jesus den vermutlich mit Wein gefüllten Kelch und sprach ebenfalls ein Deutewort: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.“ Es ist bei Paulus nicht davon die Rede, dass Wein sich in Blut Christi wandle, sondern davon, dass das Trinken aus dem Becher ein Zeichen des Bundes darstelle, der im Tod Jesu (in seinem „Blut“) besiegelt werde. Paulus spricht von einem „neuen“ Bund. Was genau er damit meint, ist unklar. Es wäre theologisch falsch, einen Alten Bund, der für Israel gelte, einem Neuen Bund, in dem das Christentum sich befinde, gegenüberzustellen. In der Tradition Israels findet sich vielmehr, je nach theologischem Kontext und Entstehungszeit variierend, eine Vielzahl von Bundesvorstellungen und nicht bloß „ein“ Bund, weshalb die Rede vom „alten“ Bund zu pauschal ist. Paulus ordnet den Tod Jesu in die Reihe der Bundesschlüsse, die die hebräische Bibel kennt, ein. Die Verbindung zwischen dem von Paulus beschriebenen Bund und dem Blut Jesu könnte Bezug nehmen auf das „Blut des Bundes“ (Ex 24,8), das von einem geopferten Stier stammte und mit dem Mose, der Konzeption des Buches Exodus gemäß, die Israeliten besprengte. Dass Paulus der Vergleich zwischen dem Tod Jesu und der Schlachtung eines Opfertieres nicht fremd ist, zeigt die sich ebenfalls im Ersten Korintherbrief findende Wendung, „als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden“ (1 Kor 5,7). Auch der Kelchritus wird mit Wiederholungsauftrag versehen: „Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!“ Paulus fügt an: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er 49

kommt.“ Dem Herrenmahl werden im Ersten Korintherbrief also drei Funktionen zugeordnet. Es hat erstens eine memorative Funktion; es dient dem Gedenken an Jesus. Zweitens besitzt das Herrenmahl eine proklamative Funktion; es verkündet Tod (und Auferweckung) Jesu. Drittens wohnt dem Herrenmahl eine proleptische Funktion inne; es vermittelt die Gegenwart des Auferstandenen in der Mitte der Gemeinde, bis Christus wiederkehrt – ein Ereignis, mit dem die frühe Gemeinde als unmittelbar bevorstehend gerechnet hatte. In der Gemeindesituation, die der Erste Korintherbrief beschreibt, waren die rituelle Dimension des Herrenmahls und das Sättigungsmahl der versammelten Gemeinde noch nicht voneinander getrennt. Brot- und Kelchritus blieben vielmehr in einem Sättigungsmahl integriert. Der Brotritus wurde vermutlich zu Beginn oder während des Mahls begangen, während der Kelchritus nach dem Mahl angesiedelt war. Dieser Umstand hat zu Konflikten geführt, da die wohlhabenderen Gemeindemitglieder es sich leisten konnten, opulent zu essen und zu trinken, sich unter Umständen auch zu betrinken, während die ärmeren Gemeindemitglieder, die am Brot- und Kelchritus teilnehmen wollten, sich zwischen beiden Riten kein derart umfassendes Mahl leisten konnten. Paulus mahnt die Wohlhabenden: „Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben?“ (1 Kor 11,22) Er schärft der Gemeinde ein, wer „unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn“ (1 Kor 11,27), und empfiehlt: „Wer Hunger hat, soll zu Hause essen; sonst wird euch die Zusammenkunft zum Gericht“ (1 Kor 11,23).

1.2 Drei Thesen über die bleibende Bedeutung der Geschehnisse rund um das Herrenmahl in Korinth Die Ausführungen des Paulus sind im Vorgriff auf spätere eucharistietheologische Entwicklungen aus mindestens drei Gründen interessant. Erstens ist das Herrenmahl nur im Spiegel seiner gemeindlichen Verortung historisch zugänglich. Es gibt keine Überlieferungen eines vermeintlich objektiven, jesuanischen Einsetzungsberichts, dem die Kirche einfach folgen könnte. Die Evangelien, die das Abendmahl narrativ in Leben und Sterben Jesu einbinden (vgl. Mk 14,12–16. Mt 26,17–29. Lk 22,14–20), sind allesamt jünger als die Paulusbriefe. Die Paulusbriefe ihrerseits berichten bereits von einer bestehenden Mahlpraxis. Es ist nicht möglich, gesichert „hinter“ diese Praxen zu dem, was Jesus vermeintlich selbst eingesetzt, gewollt oder aufgetragen hat, zurückzustoßen. Zweitens ist aufschlussreich, dass bereits die älteste Erwähnung einer Eucharistiefeier von Konflikten handelt, die um diese Feier entbrannt sind. Die Geschichte des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie ist also von Beginn an eine Konfliktgeschichte, 50

in der verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinde um die Frage rangen, was genau zu glauben oder zu tun sei. Diese Konflikte  – gerade auch um Eucharistie und Abendmahl  – sind keine neueren Verfallserscheinungen, sondern prägen das Christentum seit seinen Anfängen. Drittens ist die erste Erwähnung des Herrenmahls bereits ein Bericht über die Veränderung der Form, in der dieses Mahl gefeiert wird. Paulus trennt das Sättigungsmahl von Brot- und Kelchritus. Er greift damit stark verändernd in den Ablauf des Mahles ein. Die liturgische Gestalt der Eucharistie war also von Anfang an Veränderungen ausgesetzt. Eine vermeintlich reine, richtige und ursprüngliche Form der Liturgie gab und gibt es nicht. Dies impliziert wiederum nicht, dass Liturgie etwas Beliebiges wäre. Die paulinische Intervention in Korinth zeigt, wie wichtig es ist, sich auf eine angemessene Form gottesdienstlichen Handelns zu verständigen. Diese Form ist jedoch nicht statisch, sondern war geschichtlich immer wieder Veränderungen ausgesetzt und ist es auch heute noch.

2 Theologiegeschichtliche Entwicklungen der Eucharistielehre 2.1 Der Eucharistievorsitz Das frühe Christentum war zunächst keine auf Dauer angelegte Bewegung. Paulus ging fest davon aus, dass er die Wiederkunft Jesu noch vor seinem eigenen physischen Tod erleben werde (vgl. 1 Thess 4,15). Eine Gemeinschaft, die in einer derartigen Naherwartung lebt, braucht keine auf zeitliche Dauer angelegten Versuche der Institutionalisierung zu unternehmen und muss auch nicht bis ins Kleinste festlegen, wer genau für welche Dinge zuständig ist. Dementsprechend wird die Frage nach dem legitimen Eucharistievorsitz im Neuen Testament nicht geklärt. Zwar finden sich verschiedene Amtsbezeichnungen: Es gab z. B. Älteste (sogenannte „Presbyter“, aus denen später dem Wortsinn nach die „Priester“ hervorgegangen sind), Aufseher, die „Episkopen“ hießen, woraus sich später das Wort „Bischof“ ableitete, es gab von den Aposteln eingesetzte Diakone sowie zahlreiche andere Ämter. Wie sich diese Dienste und Ämter genau zueinander verhielten, blieb zunächst unklar. Erst in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Tod der letzten Apostel verfestigte sich die amtliche Struktur des frühen Christentums. Wichtige Zeugnisse für diese Verfestigung finden sich z.  B. bei Ignatius von Antiochien, der vermutlich zu Beginn des 2.  Jahrhunderts Episkop in Antiochia war. Auf dem Weg zu seiner Hinrichtung in Rom schrieb Ignatius Briefe an mehrere Gemeinden, die Aufschluss über die amtliche Struktur geben, die er von seiner Ortskirche her kannte und die er in anderen Gemeinden vorauszusetzen schien. Ignatius ging dabei vom sogenannten monepiskopalen 51

Gemeindemodell aus. Monepiskopal ist eine Kirchenverfassung, die zwei Bedingungen erfüllt: An der Spitze der Verfassung steht erstens ein Episkop bzw. Bischof (nicht: mehrere Episkopen) und dieser Bischof steht zweitens über allen anderen Ämtern innerhalb einer Gemeinde. Monepiskopale Gemeindemodelle haben Folgen für die Frage, wer in der Eucharistiefeier den Vorsitz führen solle. Ignatius schrieb an die Gemeinde in Smyrna: „Folgt alle dem Bischof, wie Jesus Christus dem Vater, und dem Presbyterium wie den Aposteln; die Diakone aber achtet wie Gottes Gebot. Keiner soll etwas von kirchlichen Dingen ohne den Bischof tun. Jene Eucharistie soll als zuverlässig gelten, die unter dem Bischof, oder wem er es anvertraut, stattfindet.“ (Smyrn 8,1)

Der Episkop fordert somit die Zuständigkeit ein, den Eucharistievorsitz zu regulieren. Er steht ihr entweder selbst vor oder er beauftragt andere Menschen, die Eucharistiefeier zu leiten. Im Verlauf des antiken Christentums konnte sich dieser Anspruch durchsetzen. Er führte dazu, dass der Bischof, gemeinsam mit den Presbytern, die, falls nötig, auch in Vertretung des Bischofs der Eucharistie vorzustehen vermochten, als der erste und alles Weitere normierende Zelebrant der Eucharistiefeier seiner Gemeinde galt. Obwohl das Verhältnis zwischen Episkopen und Presbytern bzw. Bischöfen und Priestern im Mittelalter sakramententheologisch äußerst komplex war, hat sich die genannte Praxis in der katholischen Kirche bis heute erhalten. Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert in seiner Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ (= LG): „Jede rechtmäßige Eucharistiefeier steht unter der Leitung des Bischofs, dem die Pflicht übertragen ist, den christlichen Gottesdienst der göttlichen Majestät darzubringen und zu betreuen gemäß den Geboten des Herrn und den Gesetzen der Kirche, die durch seine besondere Verfügung für die Diözese näher bestimmt werden.“ (LG, Nr. 26) Priester sind ebenfalls befugt, der Eucharistie vorzustehen. Sie tun dies jedoch laut Aussage des Konzils nur „als Mitarbeiter, als Hilfe und Organ der Ordnung der Bischöfe“ (LG, Nr. 28). Wer nicht Bischof oder Priester ist, ist in der katholischen Kirche nicht befugt oder befähigt, der Eucharistiefeier vorzustehen. Frauen sind damit vom Eucharistievorsitz ausgeschlossen, was theologisch, aber auch unter Gesichtspunkten der Beteiligungsgerechtigkeit ein großes Problem darstellt.

2.2 Die Gegenwart Jesu Christi in der Feier der Eucharistie Für den Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) sind drei Aspekte an der Eucharistiefeier von zentraler Bedeutung. Die Eucharistie wird betrachtet „als Danksagung und Lobpreis an den Vater; als Opfergedächtnis Christi und seines Leibes; als Gegenwart Christi durch die 52

Macht seines Wortes und seines Geistes.“ (KKK, Nr. 1358) Zunächst zum letztgenannten Gesichtspunkt: der Gegenwart Jesu in der Feier der Eucharistie. Während die frühen Christen die Gegenwart Jesu im Rahmen des Herrenmahles wohl nicht an der Materie von Brot und Wein festmachten, sondern den vergegenwärtigenden Gedächtnischarakter des gesamten Mahlgeschehens betonten, trat ab der Spätantike und in der Westkirche des frühen Mittelalters eine Fixierung der theologischen Aufmerksamkeit auf die eucharistischen Gaben ein. Die Gegenwart Jesu wurde weniger transitiv in der Feier der Eucharistie verortet, sondern in den geweihten Gegenständen von Brot und Wein objektiviert. Bedeutendster Ausdruck dieser Tendenz ist die sogenannte Transsubstantiationslehre, die bis heute den in der katholischen Kirche lehramtlich bevorzugten Deuterahmen zum Verständnis der Gegenwart Christi in der Eucharistiefeier bildet. Die Transsubstantiationslehre fußt auf der aristotelischen Unterscheidung zwischen Materie und Form sowie zwischen Substanz und Akzidenz. Die Materie gibt an, woraus ein Gegenstand besteht, die Form zeigt an, was ein Gegenstand ontologisch, seinem Sein nach betrachtet, ist. Die Substanz eines Gegenstandes bezeichnet die wesentlichen Eigenschaften, bei deren Verlust ein Gegenstand nicht mehr er selbst wäre, wohingegen man unter Akzidentien Eigenschaften zusammenfasst, die für das Sein eines Gegenstandes nicht wesentlich sind. Ein konkretes Beispiel: Wenn Papierseiten zwischen zwei Deckeln so aneinandergebunden werden, dass man sie durchblättern kann (Materie), handelt es sich um ein Buch (Form). Ein Buch kann groß oder klein, dick oder dünn, gelb oder grün sein (akzidentielle Formbestimmungen) – stets handelt es sich um ein Buch (Substanz). Wird die Bindung jedoch auseinandergerissen und sind die Blätter nicht mehr verbunden, handelt es sich um kein Buch mehr (ein Wesens- oder Substanzverlust des Gegenstandes tritt ein). Die Transsubstantiationslehre besagt, dass durch die von einem Bischof oder Priester gesprochenen Einsetzungsworte, wie die synoptischen Evangelien sie kennen, die Substanz – also das Sein oder der ontologische Status – von Brot und Wein dahingehend gewandelt wird, dass es sich bei diesen Gegenständen fortan um die Substanz des Leibes und Blutes Christi handle. „Durch die Konsekration des Brotes und Weines geschieht eine Verwandlung der ganzen Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi, unseres Herrn, und der ganzen Substanz des Weines in die Substanz seines Blutes. Diese Wandlung wurde von der heiligen katholischen Kirche treffend und im eigentlichen Sinne Wesensverwandlung [Transsubstantiation] genannt“ (DH, Nr. 1642), so das Konzil von Trient. Die materiellen, akzidentellen Eigenschaften der gewandelten Gaben bleiben demnach die Eigenschaften von Brot und Wein; das Brot behält seinen Brennwert und der Wein seinen Alkoholgehalt. Dem Wesen – der Substanz – nach handle es sich jedoch bei dem, was lediglich wie Brot und Wein aussehe, aber eigentlich nicht mehr Brot und Wein sei, um Leib und Blut Christi, so die Transsubstantiationslehre. Diese die Gegenwart Jesu unter den Gestalten von Brot und Wein metaphysisch stabilisierende Theorie hat es möglich gemacht, die konsekrierten Gaben nicht nur für Kranke, die sie 53

außerhalb der Eucharistiefeier empfangen möchten, zu verwahren (was bereits in der Alten Kirche gängige Praxis war), sondern die konsekrierten Gaben dauerhaft aufzuheben, sie im Tabernakel zu bevorraten und ihre Verehrung, etwa in Form der sogenannten Eucharistischen Anbetung, auch außerhalb der Eucharistiefeier zu ermöglichen. Diese Praxis weicht weit von dem ab, was das Neue Testament über das Herrenmahl zu sagen weiß und stellt auch ökumenisch eine Herausforderung dar. An neueren Versuchen, die Gegenwart Jesu in der Feier der Eucharistie jenseits der Transsubstantiationslehre zu denken, z. B. durch eine stärker pneumatologische, auf den Heiligen Geist rekurrierende Deutung der Sakramente, oder durch die Aufnahme phänomenologischer Vorstellungen des Gabentausches, fehlt es innerhalb der Theologie nicht. Die Transsubstantiationslehre ist und bleibt lehramtlicherseits jedoch das bevorzugte Modell (vgl. KKK, Nr. 1376).

2.3 Die Eucharistie: eine Opferfeier Die Schriften des Neuen Testaments versuchen, die Heilsbedeutung Jesu durch verschiedene Metaphern, die unterschiedlichen Feldern entnommen sind, zu erläutern. Manche Metaphern stammen aus dem wirtschaftlichen Bereich (z. B. Freikauf, Erlösung), andere aus einem landwirtschaftlichen Kontext (z. B. der gute Hirte, der Weinstock und die Reben), wieder andere aus einem forensischen Zusammenhang (z. B. die Rede von der Rechtfertigung des Sünders). Einige Metaphern kommen auch aus dem kultischen Bereich, wo von Opfern die Rede ist. Im Römerbrief heißt es, Gott habe Christus zum hilasterion (Röm 3,25), was häufig mit dem deutschen Wort „Sühnopfer“ übersetzt wird, gemacht. Der Hebräerbrief tituliert Christus als Hohenpriester, der Reinigung durch sein Blut erwirke und dabei Opfernder und Opfergabe zugleich sei (vgl. Hebr 9,13 f.). Solchen Stellen, die nur einen Ausschnitt in der Vielfalt neutestamentlicher Soteriologien (Vorstellungen von der Erlösung) darstellen, wurden eucharistietheologisch zulasten anderer soteriologischer Modelle bereits ab dem 2. Jahrhundert äußerst einflussreich. Im späten Mittelalter hat sich schließlich eine systematische Messopferlehre entwickelt, die in den Dokumenten des Konzils von Trient festgehalten wurde und bis heute zur lehramtlichen Dogmatik der katholischen Kirche gehört. Demnach habe Jesus am Kreuz sich selbst zum Opfer dargebracht, um die in Sünde und Schuld verstrickte Menschheit vor Gott zu entsühnen. Dieses Kreuzesopfer werde im Messopfer vergegenwärtigt. Der Katechismus der Katholischen Kirche schreibt: „Die Eucharistie ist also ein Opfer, denn sie stellt das Opfer des Kreuzes dar (und macht es dadurch gegenwärtig), ist dessen Gedächtnis und wendet dessen Frucht zu: Christus hat zwar sich selbst ein für allemal auf dem Altar des Kreuzes durch den eintretenden

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Tod Gott, dem Vater opfern wollen, um für jene [die Menschen] ewige Erlösung zu wirken; weil jedoch sein Priestertum durch den Tod nicht ausgelöscht werden sollte, hat er beim Letzten Abendmahle, ‚in der Nacht, da er verraten wurde‘ (1 Kor 11,23), seiner geliebten Braut, der Kirche, ein sichtbares (wie es die Natur des Menschen erfordert) Opfer hinterlassen, durch das jenes blutige, das einmal am Kreuz dargebracht werden sollte, vergegenwärtigt werden, sein Gedächtnis bis zum Ende der Zeit fortdauern und dessen heilbringende Kraft für die Vergebung der Sünden, die von uns täglich begangen werden, zugewandt werden sollte. Das Opfer Christi und das Opfer der Eucharistie sind ein einziges Opfer.“ (KKK, Nr. 1366 f. unter Verweis auf das Konzil von Trient: DH, Nr. 1740)

Eng mit der Messopfervorstellung verbunden ist die Lehre von den Messfrüchten. Jede Eucharistiefeier bringe eine gewisse Gnadenfrucht hervor, die man bedürftigen Sündern zueignen könne, seien es Lebende oder Verstorbene, deren Zeit im Fegefeuer durch die gottwohlgefällige Frucht des Messopfers verkürzt werden könne. Solche Aussagen mögen für heutige Ohren befremdlich erscheinen. Wer jedoch die liturgischen Texte des Messbuchs der römisch-katholischen Kirche liest oder hört, wird feststellen, dass die lehramtlich vorgesehene Form der Eucharistiefeier voller Opfermetaphorik ist. Umso wichtiger erscheint es, sich in ein reflektiertes Verhältnis zu solchen Vorstellungen zu setzen.

3 Herausforderungen der Eucharistietheologie 3.1 Die Eucharistie: eine Opferfeier? Die Auffassung, dass mit der Feier der Eucharistie ein Opfer dargebracht werde, ist gegenwärtig im deutschen Sprachraum aus mindestens zwei Gründen fragwürdig geworden. Erstens ist die deutsche Sprache nicht in der Lage, zwischen dem zu unterscheiden, was im Lateinischen als „victima“ und dem, was als „sacrificium“ bezeichnet wird. „Victima“ bezieht sich in erster Linie auf Opfer im Sinne von Leidtragenden, seien es Opfer eines Verbrechens oder Opfer einer Naturkatastrophe. „Sacrificium“ hingegen bezeichnet ein Opfer im Sinne einer Gabe, die Gott dargereicht, oder auch einer Spende, die getätigt wird. Indem im Deutschen zwischen beiden nicht präzise unterschieden wird, werden zwei Dinge, die nicht miteinander in Beziehung stehen müssen, aneinandergekoppelt, sodass der Eindruck entsteht, dass ein religiös konnotiertes Opferverständnis (Opfer als Gabe, die Gemeinschaft mit Gott stiftet) stets jemanden „viktimisiere“ und zum Opfer (im Sinne eines Leidtragenden von Gewalteinwirkung) mache. Dies führt zu einem zweiten Aspekt. Von vielen Menschen wird ein Gottesbild, dem zufolge Gott menschlicher Opfer bedürfe, diese Opfer einfordere oder sie auch nur annehme, als 55

problematisch empfunden. Gott, so eine weit verbreitete Auffassung, stehe über dem Opferkult und brauche kein Opfer, um den Menschen gegenüber gnädig gestimmt zu sein. Die genannte Kritik ist berechtigt, sofern sie ein auf die Opferthematik fokussiertes Gottesbild, das sich im Neuen Testament nicht findet, zurückweist. Die wenigen Stellen, an denen der Tod Jesu in kultischer Metaphorik als Opfer interpretiert wird, sind in ihrer genauen exegetischen Bedeutung umstritten und rechtfertigen es nicht, die Christologie, die Soteriologie und damit auch die Eucharistielehre auf Opferbegrifflichkeiten engzuführen. Der christliche Glaube lebt vielmehr von der Vorstellung, dass der Mensch nicht erst etwas aufbieten muss, um mit Gott in Berührung zu kommen, sondern dass umgekehrt Gott die Gemeinschaft des Menschen sucht und ihm seine Gegenwart schenkt. Dabei sollte man jedoch nicht außer Acht lassen  – darin besteht das Bedenkens- und Bewahrenswerte der Opferidee –, dass eine Gottesbeziehung, die den Menschen auch als sinnliches Wesen erfassen soll, medial vermittelt werden muss. In dieser medialen Vermittlung können Menschen sich als Gebende und Beschenkte zugleich erfahren. Indem sie Bedürftigen helfen, also etwas geben oder „opfern“, empfangen sie die Gegenwart Jesu, der sich mit jedem bedürftigen Menschen identifiziert: „das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Und indem die Kirche Brot und Wein zum Altar bringt, wird sie danksagend für das, was Gott an Jesus getan hat, mit Christi Gegenwart beschenkt. Gerade der Opferbegriff ist, wenn er von Pathologien gereinigt wird, in der Lage, die Zusammengehörigkeit von liturgischem Feiern und karitativem Handeln im Bewusstsein zu halten. Wer gibt, wird im Geben beschenkt – das ist eine Grunderfahrung christlichen Glaubens, die für den Umgang mit Schwächeren wie für die Feier der Eucharistie gleichermaßen gilt.

3.2 Die Eucharistie im Kontext anderer gottesdienstlicher Vollzüge Das Gesagte deutet bereits an, dass es wichtig ist, die Eucharistie nicht von anderen Vollzügen kirchlichen Lebens zu trennen, was auch bedeutet, sie in ein angemessenes Verhältnis zu anderen gottesdienstlichen Handlungen zu setzen. Während es in vielen Gemeinden noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an Gottesdienstformen gab (z. B. Andachten, Vespern, Predigtgottesdienste, Rosenkranzkreise usw.), trat im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils eine Zentrierung der Pastoral auf die Eucharistie ein. In dem Bewusstsein, die Eucharistie bilde „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG, Nr. 11), versuchten Priester, Diakone und in der Pastoral tätige Laien so vielen Menschen wie möglich die „tätige Teilnahme“ – ein Begriff der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ (SC, Nr. 21) – an der Eucharistiefeier zu ermöglichen. So sinnvoll diese Zielsetzung auch war und weiterhin bleibt, so problematisch sind einige Nebenwirkungen, die sie mit sich brachte: 56

Die Eucharistiefeier hat fast alle anderen Formen gottesdienstlichen Lebens verdrängt und wurde als Goldstandard liturgischen Handelns mit Erwartungen überhäuft, die oft nicht zu erfüllen sind. Aufgrund zurückgehender Priesterzahlen ist die katholische Kirche in vielen Gegenden nicht mehr in der Lage, jener Eucharistiefixiertheit, die sie in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil selbst geschürt hat, noch durch ein ausreichend hohes Angebot an Messfeiern zu entsprechen. Auch wenn die Zahlen jener Menschen, die einen Gottesdienst besuchen, rückläufig sind, ist bei denen, die regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen, die Erwartung hoch, dass dieser Gottesdienst eine Eucharistiefeier sein müsse. Gerade an der pastoralen Idealisierung der Eucharistie als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ zeigt sich, wie sehr in der katholischen Kirche Ideal und Wirklichkeit auseinanderklaffen.

3.3 Wer darf die Eucharistie empfangen? Die beschriebene Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit zeigt sich auch bei der Frage, wer die Eucharistie empfangen darf und wem dies, zumindest dogmatisch oder kirchenrechtlich betrachtet, nicht gestattet ist. Bei dieser Frage treffen gegenwärtig zwei Logiken aufeinander: eine inkludierende Logik der Mahlgemeinschaft und eine zumindest potenziell exkludierende Logik der „rechten Disposition“ (vgl. KKK, Nr. 1385–1390). Die Logik der Mahlgemeinschaft geht davon aus, dass im Gedenken an Jesus Christus ein Mahl gefeiert werde, von dem man – gerade im Sinne Jesu – niemanden ausschließen dürfe: Gläubige und Zweifler, Katholiken und Nichtkatholiken, möglicherweise auch Nichtchristen sowie Menschen in allen Lebenssituationen werden in einem solchen Eucharistieverständnis zum Empfang der Kommunion eingeladen oder zumindest zugelassen. Eine solche Praxis beruft sich auf das Beispiel Jesu, der zu den gesellschaftlich und religiös am Rand stehenden Menschen seiner Zeit ging, keinerlei Berührungsängste mit ihnen hatte (vgl. Lk 7,36–50) und dafür verschrien war, mit Sündern zu essen (vgl. Lk 7,34). Demgegenüber gibt es den Ansatz, Eucharistiegemeinschaft stärker vom Aspekt der Kirchengemeinschaft her zu denken. Zur Eucharistie in der katholischen Kirche ist in einem solchen Rahmen nur zugelassen, wer in „voller Gemeinschaft“ mit der katholischen Kirche steht, das heißt wer erstens getauft ist (das sakramentale Band mit der Kirche teilt), zweitens gläubig das bekennt, was die katholische Kirche zu bekennen vorlegt (also das Band des Glaubens mit ihr teilt), sowie drittens den Papst und die Bischöfe als mit Autorität ausgestattete Leitungsfiguren anerkennt (und folglich durch das Band der Hierarchie mit der Kirche verbunden ist). Hinzukommen ethische Gesichtspunkte: Wer dauerhaft in „schwerer Sünde“ lebt, also z. B. nach einer staatlich zwar geschiedenen, aber gültig geschlossenen und deshalb aus 57

kanonischer Sicht fortbestehenden, katholischen Ehe noch einmal standesamtlich heiratet, ist kirchenrechtlich gesehen vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen. Anders gesagt: Nur wer in voller Kirchengemeinschaft mit der katholischen Kirche steht, nicht dauerhaft in „schwerer Sünde“ lebt und idealerweise das Bußsakrament vor dem Kommuniongang empfangen hat, ist recht disponiert, um zur Eucharistie hinzuzutreten. Es dürfte kaum überraschen, dass auch bei diesen Festlegungen Ideal und Realität weit auseinanderliegen. Gerade in religiös pluralen Gesellschaften oder in Familien, in denen mehrere Konfessionen miteinander verbunden sind, lässt sich der Kommunionempfang nicht so regulieren, wie die lehramtlichen Vorstellungen dies vorsehen  – ganz abgesehen davon, ob diese Vorstellungen theologisch überhaupt angemessen sind. Würden tatsächlich nur jene das Sakrament der Eucharistie empfangen, die die genannten Bedingungen einer Logik der „rechten Disposition“ erfüllen, könnte man auf den Akt der Kommunionspendung in den meisten Messfeiern vermutlich ganz verzichten. Auf der anderen Seite sollte jedoch auch die Logik der Mahlgemeinschaft nicht in naiver Weise zum alleinigen Maßstab sakramentenpastoralen Handelns gemacht werden. Die Feier der Eucharistie ist etwas Heiliges, das die Christenheit seit ihren Anfängen pflegt und das die katholische Kirche als jenes Geschehen in Ehren hält, an dem der auferstandene Christus sich in der Mitte der Gemeinde vergegenwärtigt. Aus diesem Grund bedürfen die aktive Teilnahme und der Empfang der Eucharistie einer sorgsamen katechetischen Vorbereitung.

Zitierte Literatur Lehramtliche Texte Heinrich Denzinger (= DH), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017. Katechismus der Katholischen Kirche (= KKK), München 32020. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution über die göttliche Liturgie, Sacrosanctum Concilium (= SC) in: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einführung  – 16  spezielle Einführungen  – ausführliches Sachregister, Freiburg i. Br. 352008, 51–90. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium (= LG), in: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einführung  – 16  spezielle Einführungen  – ausführliches Sachregister, Freiburg i. Br. 352008, 123–200.

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Weitere Literatur Hoffmann, Veronika (2016), Christus – die Gabe. Zugänge zur Eucharistie, Freiburg i. Br. Schreiber, Stefan (2015), Die Anfänge der Christologie. Deutungen Jesu im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn. Seewald, Michael (2021), Die Feier der Eucharistie als Opferhandlung der Kirche. Dogmatische Versuche über ein sperriges Thema, in: Bärsch, Jürgen/Kopp, Stefan/Rentsch, Christian (Hg.), Ecclesia de Liturgia. Zur Bedeutung des Gottesdienstes für Kirche und Gesellschaft (Festschrift für Winfried Haunerland), Regensburg, 139–154.

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Exodus Johannes Schnocks

1 Der Exodus als Mythos Die Erzählung von Mose, dem Exodus und der Landnahme, wie wir sie in den Büchern Exodus bis Deuteronomium finden, ist die Gründungserzählung Israels und – damit verwoben – in einem religiösen Sinn auch die Gründungserzählung von Judentum und Christentum. Als solche ist sie aber eine höchst merkwürdige Geschichte. Viele Kulturen erzählen mit mythischen Texten über ihre Anfänge in einer Urzeit. Das können Geschichten von der Menschenschöpfung oder auch von Held:innen oder ersten König:innen sein. Oft sagen sie etwas über das Land, in dem man lebt, über Wirtschaftsformen oder über Besonderheiten, die das eigene Volk prägen. Sie erklären also etwas zur eigenen Identität, zum eigenen Selbstverständnis. Insofern ist es bemerkenswert, wenn hier gewissermaßen ein Volk im Blick auf das Heimatland über sich selbst sagt: Wir haben alle einen Migrationshintergrund als entlaufene Sklav:innen und wir haben uns das Land, in dem wir leben, durch einen Völkermord angeeignet. Hinzu kommt, dass die Story – auch schon für antike Menschen – reichlich unglaubwürdig wirkt, wenn uns erzählt wird, dass hier ein riesengroßes Volk von Sklav:innen mit ‚Kind und Kegel‘ und Weidevieh erfolgreich zu Fuß vor einem der größten Streitwagen-Heere der ausgehenden Bronzezeit flieht, dann 40 Jahre lang durch die Wüste irrt und schließlich ein Land erobert. Bereits diese beiden Überlegungen sind ein deutliches Warnsignal. Diese Gründungserzählung ist etwas Besonderes und will als etwas Besonderes gelesen werden. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man sie ‚einfach so‘ oder historisierend als Geschichte liest. Jan Assmann (2015) schreibt dazu: „Wir sind, was wir erinnern: Die Erinnerung ist gerahmt, gepflegt und begrenzt durch die Identität, die in diesen Erinnerungen lebt und von ihnen getragen wird. Erzählungen, die ein ‚Wir‘ tragen und von einem ‚Wir‘ gerahmt, gepflegt und begrenzt werden, nennen wir Mythen. Mythen sind kollektive Erinnerungsfiguren […]. Für Mythen ist es nicht entscheidend, ob sie sich auf wirkliche oder fiktive Ereignisse beziehen, sondern nur, ob sie ihren Ort haben in der Ordnung des Gedächtnisses, im Rahmen eines Erinnerns, das sie immer wieder neu erzählt, und eines Selbstbildes, das sich in diesem Erzählen seiner Wurzeln und Ziele, seiner Wahrheiten und Träume immer neu vergewissert“ (Assmann 2015, 101 f.).

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Das bedeutet aber, dass es Folgen hat, wenn die Exodus-Erzählung ein Gründungsmythos und eben kein historischer Bericht ist. Daher ist es sinnlos, nach historischen ‚Beweisen‘ für die Richtigkeit von Elementen der Erzählung zu suchen. Fast wichtiger ist aber, dass die Erzählung eine klare Perspektive auf eine Gruppe von Menschen hat, in der sie tradiert wird. Die Gruppe ist in unserem Fall Israel als ethnische Gruppe, aber auch als religiöse Gemeinschaft. Für ein dem Text angemessenes Verstehen ist diese Perspektive unverzichtbar, wenn wir etwa in der Meerwundererzählung lesen: „Und JHWH rettete an diesem Tag Israel aus der Hand Ägyptens, und Israel sah Ägypten tot am Ufer des Meeres“ (Ex 14,30).

Es geht an dieser Stelle nicht um die Frage, was aus dem einzelnen ägyptischen Soldaten geworden ist, ob es Überlebende gab, ob man mit erster Hilfe noch jemanden hätte retten können. Das wird einerseits durch die kollektive Formulierung angedeutet, andererseits und viel entscheidender nimmt der Text aber ausschließlich die Perspektive Israels ein. So erzählt der folgende Vers vom Volk, das auf diese Erfahrung der Rettung mit Gottesfurcht und Glauben reagiert. Schon das Beispiel zeigt, dass solche Texte darauf befragt werden müssen, was sie den Gemeinschaften, die sie tradieren, sagen wollen. Weitere Beispiele können sein: Wenn das Narrativ von Exodus und Landnahme keine historische Gültigkeit beansprucht, so legen doch viele Formulierungen im Text nahe, dass es vielmehr erklären kann, welches Verhältnis Israel zu seinem Land hat, was das Land also für Israel bedeutet. Diese Bedeutung besteht dann darin, dass es das Land von Gott bekommen hat, dass es also weder der Privatbesitz einzelner Landbesitzer ist, noch dass es Spekulationsmasse sein kann, sondern dass damit die Zusage verbunden ist, als Volk einen Ort zu haben, gesegnet zu sein und reichlich versorgt zu werden – mit Milch und Honig, aber auch mit den landwirtschaftlichen Erträgen. Ein anderes Beispiel ist die Gesamtkonzeption des Narrativs von Exodus, dem Aufenthalt am Gottesberg mit der Gabe des Gesetzes und der Wüstenwanderung. Nach dem Deuteronomium und anderen alttestamentlichen Texten muss dieser Gesamtzusammenhang als eine in gewisser Hinsicht ideale Zeit der Gemeinschaft mit Gott erinnert werden, um eben aus dieser Erinnerung im Land – also aus der Perspektive des antiken Israel: im Alltag hier und jetzt – ein gutes und sozial gerechtes Leben führen zu können.

2 Historische Fragen zu Mose und zum Exodus Mose ist im Alten Testament nach dem König David die Gestalt, von der wir am meisten erfahren. Bei ihm gibt es sogar eine Geburtsgeschichte, die sich literarisch eng an die Geburtslegende 61

des Königs Sargon von Akkad (3. Jt. v. Chr.) anlehnt. In beiden Fällen wird ein Kind ausgesetzt, aus dem Wasser gerettet und großgezogen. Diese Sage der wunderbaren Rettung parallelisiert Mose mit einem der großen, legendären Könige. Dass man Exemplare der Sargonlegende im Palast des Assyrerkönigs Assurbanipal gefunden hat, könnte ein Hinweis sein, dass diese Geschichte zu den Entstehungszeiten der biblischen Texte bekannt war. Mose bekommt in den verschiedenen Texttraditionen der Bibel unterschiedliche Rollen zugeschrieben: Er ist der Gesetzesmittler überhaupt, er ist aber auch ein Prophet, der in Ex 3,6 berufen wird, gerade in Dtn 18 zum Modell des Torapropheten wird und dessen ungewöhnliche Gottesbeziehung bis zu seinem Tod am Ende des Deuteronomiums immer wieder betont wird. Daneben ist er immer auch Mittler und Fürsprecher für das Volk in Konfliktsituationen. Historisch muss man festhalten, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass Mose überhaupt existiert hat. Am ehesten könnte noch sein ägyptischer Name immerhin auf eine ältere Tradition verweisen: „‚Mose‘ ist die Kurzform eines typischen Namens der Ramessidenzeit. Wie ‚Ramses‘ geht er auf eine Namensbildung zurück, die aus einem Gottesnamen und dem Verb msj (‚gebären‘) besteht: ‚der Gott (Re) ist es, der ihn geboren hat‘. Anhand eines philologischen Details […] besteht kein Zweifel daran, dass der Name ‚Mose‘ im ausgehenden 2. Jahrtausend in die semitische Sprache übernommen wurde“ (Schipper 2018, 23).

Die historischen Indizien zur Entstehung Israels widersprechen der Vorstellung von Exodus und Landnahme. Die älteste Erwähnung des Namens ‚Israel‘ findet sich auf der Siegstele des Pharaoh Merenptah von 1208 v. Chr. In biblizistischen Entwürfen wurde Merenptah als einer der Kandidaten für den Pharaoh des Exodus genannt. Aber die Stele spricht nicht von der Verfolgung der Israeliten in Ägypten, sondern gegen Ende eines langen Kriegszugs begegnet der Pharaoh einer Ethnie namens ‚Israel‘ im nördlichen westjordanischen Bergland! Nimmt man nun die Ergebnisse der Siedlungsarchäologie Palästinas für die Eisenzeit I (ca. 1200–980 v. Chr.) hinzu, so sind hier zwei Phänomene zu beobachten: Die großen bronzezeitlichen Stadtstaaten in den Ebenen verfallen (Deurbanisierung), während gleichzeitig viele kleine Siedlungen im Bergland entstehen, und offenbar ist Merenptah auf einige frühe Beispiele dieser Siedlungen getroffen. Kulturell gibt es keinen Gegensatz zwischen den Menschen im Bergland, die vermutlich tribal organisiert waren, zu denen in den ‚kanaanäischen‘ Städten, außer, dass sie wohl sehr einfach gelebt haben und Luxusgüter kaum vorkamen. Diese Leute kamen also nicht von außen, sondern ‚Israel‘ ist in ‚Kanaan‘ entstanden. Vielleicht spiegelt das Richterbuch noch Erinnerungen an die tribale Organisationsstruktur dieser Zeit. Umgekehrt können inzwischen immer mehr Details der biblischen Darstellung als ahistorisch gelten. So war Jericho trotz seiner extrem langen Siedlungsgeschichte ausgerechnet 62

in der Zeit, in der die ‚Landnahme‘ hätte stattfinden sollen, nicht besiedelt. Die relativ umfangreichen ägyptischen Quellen dieser Zeit wissen nichts von einer größeren Flucht von Sklaven. Eine Wüstenwanderung größerer Menschenansammlungen wäre auch in kleinerem als dem biblischen Maßstab vor der Domestizierung des Kamels undenkbar gewesen. Und schließlich gibt es Berichte über ein Naturphänomen am Toten Meer, dass nämlich dort starker Windeinfluss die Wassermassen so verschieben kann, dass eine flache Stelle vorübergehend trockenfällt und zu Fuß passierbar wird. Allerdings sind solche Phänomene für das Rote Meer bzw. für das Schilfmeer nicht denkbar. Fragt man nach alledem nach einem historischen Kern der Exoduserzählung, so wäre es „denkbar, dass eine kleine Gruppe (von Kriegsgefangenen) zur Zeit der ramessidischen Pharaonen (19.–20. Dynastie) nach Ägypten gelangte und von dort unter nicht mehr rekonstruierbaren Umständen in die südliche Levante kam, um dort mit jenen ‚Israeliten‘ zu verschmelzen, die im Bergland des alten Stadtstaates Sichem siedelten. Ihre Erzählung von einer wunderbaren Flucht aus Ägypten und der Bewahrung durch den Gott Jahwe ist dann identitätsstiftend für ganz Israel geworden“ (Schipper 2018, 23).

3 Der Gott des Exodus Warum aber ist es für heutige Christ:innen überhaupt wichtig, die Exodusgeschichte immer wieder zu erzählen und auszulegen? Die einfachste Antwort darauf ist: weil hier das Fundament unseres biblischen Gottesglaubens zu finden ist. Dabei gilt zunächst etwas allgemeiner, was Erich Zenger (2016) über die Suche nach einer Mitte der Bibel geschrieben hat: „Fragt man, ob hinter den vielen Stimmen des Alten Testaments eine gemeinsame Melodie hörbar ist und ob den biblischen Texten der beiden Testamente eine gemeinsame Suchbewegung zugrunde liegt, so ist dies nicht die Christologie, sondern die Theo-Logie als Rede von und zu Gott in seiner erfahrenen oder gesuchten Zuwendung zu seinem Volk Israel und zur Welt als seiner Schöpfung. […] Das gilt sowohl für die Jüdische Bibel, wie für die Christliche Bibel“ (Zenger 2016, 20).

Wie sehr dieser Satz zutrifft, wird deutlich, wenn man wahrnimmt, wie sehr die Evangelien den Tod Jesu mit der Exodusmemoria des Pessach-Festes in Verbindung bringen. Bei den Synoptikern ist das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern ein Pessach-Mahl. Im Johannesevangelium wird diese Bezugnahme ein wenig verschoben: Jesus stirbt am Kreuz am Rüsttag des Pessach-Festes, also zur selben Zeit, zu der einige 100 Meter entfernt im Tempel die Pessachlämmer geschlachtet werden. In beiden Fällen wird mit unterschiedlicher Akzentsetzung der 63

Kreuzestod Jesu als erlösende und befreiende Zuwendung des Exodus-Gottes zu seinem Volk Israel und zur Welt stilisiert. Der Gott Jesu ist der Gott des Exodus. Wenn sich das Neue Testament in dieser Weise auf den Exodus bezieht, so tut es etwas, was schon in der Hebräischen Bibel an vielen Stellen geschieht. Mindestens seit der Exilszeit wird der Traditionsstrang des Exodus vielfältig aufgenommen und neu interpretiert. So wird etwa im Ezechielbuch die Rückkehr aus dem Exil bereits durch die verwendeten Vokabeln als ein zweiter Exodus stilisiert oder in den Psalmen ist das Exodusgeschehen angefangen bei den ägyptischen Plagen das Geschehen schlechthin, in dem sich Gott als der mächtige, rettende und Wunder vollbringende Gott seines Volkes erweist. Das Exodusgeschehen wird so zu einer Art Reservoir, aus dem jederzeit abgeleitet werden kann, was Gott für Israel bedeutet. Umgekehrt werden die Texte der Exoduserzählung auch angereichert durch andere theologische Konzepte. Wenn etwa das Schilfmeerlied mit dem Thema des Königtums Gottes endet (Ex 15,18), so wird hier als Zielpunkt eine Tradition aufgegriffen, die eigentlich in die Schöpfungs- und die Tempeltheologie gehört. Im Exodusgeschehen kommen somit das gesamte heilvolle Handeln Gottes für die Welt und seine religiöse Erfahrbarkeit zusammen. In der Priesterschrift bekommt das Exodusnarrativ mit der Gründung des Zeltheiligtums ein zusätzliches Element. Mit der Kultgründung wird die Zuwendung Gottes zur Welt in der Schöpfung vollendet. Im Ergebnis erzählt in diesen Texten der Exodus von einem Gott, der im Kult gegenwärtig und als solcher mit seinem wandernden Volk unterwegs ist. Entsprechend wirken Vorstellungen von der Führung Gottes bei der Wüstenwanderung bis in die persönliche Frömmigkeit hinein: Gott ist mit uns Menschen auf dem Lebensweg unterwegs, befreit uns immer wieder und führt uns in sein Land.

4 Das Volk des Exodus Das Volk Israel wird in der Bibel als Sippenverband gezeichnet, der eine gemeinsame Genealogie hat. Das ist nicht ungewöhnlich. Allerdings erschöpfen sich die Aussagen nicht in der Annahme oder Behauptung der gemeinsamen Genealogie. So gibt es auch theologische Bestimmungen dessen, was Israel ist, und dabei werden auch Aspekte deutlich, die weniger den rein genealogischen Verbund, sondern eher eine Religionsgemeinschaft kennzeichnen. Die entscheidenden Stichworte sind wieder mit Exodustexten verbunden. Das heutige Judentum sieht sich in direkter Kontinuität mit dem biblischen Israel. Für das heutige Christentum ist es eine wichtige – und leider erst spät gewonnene – Einsicht, dass wir diese Kontinuität für das Judentum ohne jeden Vorbehalt bejahen und respektieren. Gleichzeitig hat das Christentum von Anfang an über den Juden Jesus und seine ersten Jünger eine bleibende Verbindung zum Judentum. So hat schon Paulus in Röm 11,17–24 festgehalten, dass Christ:innen vermittelt durch das Judentum Anteil an der Würde Israels haben. Auch wenn sich Judentum und 64

Christentum heute als zwei getrennte Religionen gegenseitig anerkennen und einander geschwisterlich begegnen, so ist für das Christentum seine Verwurzelung im Judentum theologisch geradezu lebensnotwendig. So muss man also auch christlich fragen: Was macht Israel theologisch aus? Liest man Ex 19,3–6 so fallen hier wichtige Stichworte: Israel wurde von Gott aus Ägypten geholt, zu ihm gebracht und als Eigentumsvolk erwählt. Israel soll den Bund halten und ein heiliges Volk sein. Das bedeutet, dass Israel anders ist als andere Völker und in einer einzigartigen Gottesbeziehung steht. Andere Aspekte werden in Dtn 4 angesprochen und mit dem Tag der Verkündigung der 10 Gebote verbunden: „[Am] Tag, an dem du standst vor JHWH deinem Gott am Horeb, als JHWH zu mir sprach: Versammle mir das Volk und ich will sie hören lassen mein Wort, das sie lernen sollen, um mich zu fürchten alle Tage, die sie lebendig sind auf dem Erdboden, und ihre Kinder sollen sie lehren“ (Dtn 4,10).

Das Volk konstituiert sich hier nicht mehr rein genealogisch, sondern auch dadurch, dass es versammelt, zusammengerufen wird. Die Szene hat fast einen gottesdienstlichen Charakter, denn das Ziel ist, dass das Volk gemeinsam das Gotteswort hört und erlernt und – dadurch – Gott verehrt. Damit aber bildet das Gottesvolk eine Religionsgemeinschaft, die zudem noch auf Zukunft angelegt ist, wenn auch die Kinder unterrichtet werden sollen. Blickt man dann weiter auf das deuteronomische Gesetz, so wird noch deutlicher, dass hier ein Gesellschaftsentwurf für das Gottesvolk vorliegt: „Das Gottesvolk des Dtn verwirklicht sich vor allem (1) beim gemeinsamen Lernen des Glaubens, (2) in der Freude des Festes ‚vor JHWH‘ und (3) durch die Ethik der Geschwisterlichkeit“ (Braulik 2016, 176). Dabei finden sich immer wieder Begründungen, die auf den Exodus verweisen. So heißt es etwa im Zusammenhang der Entlassung eines Schuldsklaven, bei der dieser mit einer Art Startkapital ausgestattet werden soll: „Und du sollst dich erinnern, dass du Sklave warst im Land Ägypten, aber befreit hat dich JHWH, dein Gott. Darum gebiete ich dir heute diese Sache“ (Dtn 15,15). Das Deuteronomium bietet eine alttestamentliche Ekklesiologie, die auch für das Christentum von großer Bedeutung ist und die aus dem Exodusnarrativ begründet wird und in diesem textlich verankert ist. Wenn man im Christentum vom ‚Gottesvolk‘ spricht, so ist damit zunächst das Volk des Exodus gemeint.

5 Der Dekalog Mit dem Dekalog enthält das Exodusnarrativ einen der zentralsten Texte des Christentums (und des Judentums) mit großer rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung. In Ex  20 und Dtn  5 65

wird er mit leichten Abweichungen gleich doppelt überliefert. Unter den Gesetzeskorpora des Pentateuch gehört der Dekalog zu den jüngeren Texten und wird heute meist in exilische Zeit, ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Die Form der Gebote entspricht nicht sogenannten kasuistischen Rechtssätzen, die aus einem Tatbestand und der Rechtsfolge bestehen, sondern ist apodiktisch formuliert. So wird etwa aus dem kasuistischen Satz: „Wer gering macht/verflucht seinen Vater und seine Mutter, muss getötet werden“ (Ex 21,17) im Dekalog das Gebot: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit lang sein werden deine Tage auf dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt“ (Ex  20,12). Die Umformulierung  – das kann man in dem Beispiel gut nachvollziehen – bringt auch eine Veränderung des Charakters mit sich: Aus der rechtlichen Regelung wird eine ethische Maxime. Die Zählung der Gebote weicht im Judentum und den verschiedenen christlichen Traditionen leicht ab, wobei man immer versucht, auf 10 Gebote zu kommen. Zwischen den beiden Dekalogfassungen gibt es in der Gebotsanordnung den Unterschied, dass in Ex  20 das Fremdgötter- und das Bilderverbot als zwei Gebote gelesen werden, während sie in Dtn als ein Zusammenhang erscheinen, sodass das Bilderverbot zum Ausdruck des Fremdgötterverbots wird. Umgekehrt trennt Dtn 5,21 das Verbot, die Frau des Nächsten zu begehren, vom Verbot, nach Haus, Feld und Besitztümern des Nächsten zu verlangen. Ex 20,17 dagegen führt diese Gebote zu einem zusammen. Die größten textlichen Unterschiede finden sich in den beiden Versionen des Sabbatgebots, die unten noch kurz behandelt werden sollen. Der erste Satz des Dekalogs lautet: „Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus“ (Ex 20,2; Dtn 5,6).

In altorientalischen Texten findet er Parallelen in Königsinschriften, die mit einer Selbstvorstellung wie z. B.: „Ich bin Assurbanipal, der König der Welt […]“ beginnen, durch die der König vergegenwärtigt wird. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem Satz also um ein Mittel, um die Autorität des Folgenden zu unterstreichen. Syntaktisch denkbar ist aber auch eine andere Übersetzung: „Ich, JHWH, bin dein Gott, als welcher ich dich aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, aus dem Hause von Knechten“ (Jacob 1997, 552).

Damit geht es hier weniger um Vergegenwärtigung, sondern um eine Bundesaussage: JHWH ist der Gott Israels! Der Rabbiner Benno Jacob hat den Satz daher folgendermaßen paraphrasiert: 66

„ER ist der Schöpfer und Herr der Welt, und dein, d.h. Israels Gott ist er, insofern er sich dir als rettende Gottesmacht (Elohim) erwiesen hat. Geschehen ist das durch die Herausführung aus Ägypten“ (Jacob 1997, 553). In diesem Sinne wird in der rabbinischen Tradition die Präambel des Dekalogs für christliche Lektüren etwas überraschend als erstes Gebot gezählt, „das sich auf den Glauben an den Gott Israels bezieht“ (Dohmen 2004, 99). Die Rabbinerin Dr. Antje Yael Deusel (2021) sieht darin die Selbstvorstellung des Bundespartners: „Du hast mich doch konkret erfahren, ja du, der Einzelne, der hier steht. Jede und jeder soll sich – bis heute – betrachten, als hätte er oder sie selber am Sinai gestanden. Es ist kein ‚ihr‘ oder ‚euch‘ angesprochen, sondern ein ‚du‘, ein ‚dir‘ – es ist ich und du. […] Das ist der Sinn der Präambel“ (Deusel 2021, 37).

Damit wird die Einbindung des Dekalogs in den Exoduszusammenhang auf das besondere Verhältnis zwischen Gott und Israel bezogen. Die Anerkennung dieses Verhältnisses hat Gebotscharakter. Nach dem traditionellen Verständnis im Christentum liegt der Akzent ein wenig anders auf der Selbstvorstellung Gottes und der Befreiung als der logischen Voraussetzung für die ethischen Forderungen. Man könnte sagen: weil Gott befreit hat, wird ein Befolgen der Gebote ermöglicht und kann daher auch gefordert werden. Der Dekalog wird daher gerne auch als ‚Gesetz der Freiheit‘ charakterisiert, weil mit den hier aufgestellten grundlegenden Normen ein Zusammenleben in Freiheit gestaltet wird.

6 Die Versionen des Sabbatgebots Um die Unterschiede zwischen den Dekalogfassungen zu erläutern, sollen die beiden Editionen des Sabbatgebotes kurz gegenübergestellt werden (Unterschiede kursiv):

Ex 5,8–11

Dtn 5,12–15

8 Gedenke des Tages des Sabbats, um ihn zu heiligen.

12 Achte auf den Tag des Sabbats, um ihn zu heiligen, wie dir geboten hat JHWH, dein Gott.

9 Sechs Tage sollst/darfst du arbeiten und machen all deine Arbeit.

13 Sechs Tage sollst/darfst du arbeiten und machen all deine Arbeit.

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Ex 5,8–11

Dtn 5,12–15

10 Aber der siebte Tag [ist] ein Sabbat für JHWH, deinen Gott. Nicht sollst du machen irgendeine Arbeit, du und dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd und dein Vieh und dein Fremder, der in deinen Toren [ist].

14 Aber der siebte Tag [ist] ein Sabbat für JHWH, deinen Gott. Nicht sollst du machen irgendeine Arbeit, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und dein Rind und dein Esel und all dein Vieh und dein Fremder, der in deinen Toren [ist], damit ruhen kann dein Knecht und deine Magd wie du.

11 Denn an sechs Tagen hat gemacht JHWH den Himmel und die Erde, das Meer und alles was in ihnen [ist], aber er ruhte am siebten Tag. Darum segnete JHWH den Tag des Sabbats und er heiligte ihn.

15 Und du sollst gedenken, dass du Knecht gewesen bist im Land Ägypten. Und es hat dich herausgeführt JHWH, dein Gott von dort mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm. Darum gebot dir JHWH, dein Gott, zu machen den Tag des Sabbats.

Bereits die ersten Worte in beiden Versionen setzen unterschiedliche Akzente, wobei das „gedenke“ aus Ex  20,8 in der Dtn-Fassung am Ende in V.  15 aufgegriffen wird. Der Zusatz in Dtn 5,12 „wie dir geboten hat […]“ verbindet im Deuteronomium das Sabbat- mit dem anschließenden Elterngebot und schafft zusammen mit V. 15b einen Rahmen um das deuteronomische Sabbatgebot. Dabei wird der Gebotscharakter unmissverständlich hervorgehoben. In Dtn 5,14 werden zunächst die Tiere, die ebenfalls die Sabbatruhe einhalten sollen, differenzierter aufgeführt. Ein wirklich gravierender Unterschied besteht allerdings darin, dass nun im letzten Versteil ein Ziel des Gebotes angegeben wird. Es besteht darin, dass Knecht und Magd ebenfalls ruhen „wie du“. Diese Zielangabe verschiebt die Akzente, weil so betont wird, dass es bei Arbeit und Ruhe nicht um eine soziale Aufteilung geht, in dem Sinne, dass die „Herrschaften“ ruhen und die „Knechte“ schuften, sondern Arbeit und Ruhe werden zeitlich verteilt. Dabei geht es nicht darum, wer wieviel arbeitet, aber es wird sehr deutlich festgehalten, dass Knechte und Mägde am Sabbat „ruhen wie du“. Die Sabbatruhe ist damit eine Zeit der Gleichheit in Bezug auf Arbeit und Ruhe – freilich vorübergehend und begrenzt, aber sie ist eben doch eine gemeinsame Basis. Der folgende Vers steht parallel zur Begründung des Sabbatgebots in der Exodus-Fassung. Dtn 5,15 ist zwar nicht als Begründung formuliert, motiviert aber doch das, was der vorangegangene Vers als Ziel des Sabbats formuliert hat. Die Motivation liegt in einem Blick auf die eigene Identität: Wer es als Teil der eigenen Identität feiert, von Gott befreit zu sein, der muss sich auch dazu bekennen, dass die Sklavenexistenz als Erinnerung zu 68

seiner Identität dazugehört. Diese Erinnerung kann – wie auch im Sklavengesetz (s. o.) – vor Arroganz schützen und ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Geschwisterlichkeit in der Gesellschaft, die ein Ideal des deuteronomischen Gesetzes ist. Am Ende des Verses wandelt sich diese Überlegung dann durch den „darum“-Satz von einer Motivation der Menschen, Knecht und Magd an der Ruhe zu beteiligen, zum Grund, warum Gott, der aus der Knechtschaft herausführt, Israel zu diesem Gebot verpflichtet. Die Verpflichtung auf die Sabbatruhe wird so der Erinnerung an die Befreiung parallelisiert. Gott bewirkt mit dem Sabbatgebot: Wer – zusammen mit Knecht und Magd – die Sabbatruhe begeht, ist aus der Knechtschaft befreit! Die Exodusfassung ist diesem Entwurf gegenüber kürzer. Nach dem ersten Wort „gedenke“ beschränken sich die eigenen Formulierungen auf den letzten Vers, die Begründung. Auch hier ergibt sich eine Rahmung des Gebotes: Während der erste Vers – ohne die deuteronomische Erweiterung – mit der Vorschrift endet, den Sabbat zu heiligen, steht ganz am Ende der Verweis, dass Gott bei der Schöpfung den Sabbat geheiligt habe. Die Sabbatheiligung, also die Aussonderung dieses Tages aus dem Alltag, wird so besonders hervorgehoben und mit ihr folgt der Mensch dem Vorbild Gottes. Die Begründung in Ex 20,11 ist ein geschickt durchkomponierter Text, der sich eng an Gen 2,2 f. orientiert, allerdings mit einem kleinen Unterschied: Dort wird der siebte Tag nicht benannt, sondern für „ruhen“ wird als Wortspiel das Verb schabat verwendet. In beiden Sabbatgeboten dagegen heißt der Tag „Schabbat“, und das gebräuchlichere Verb nuach kommt zum Einsatz. Der Wochenrhythmus wird in Ex  20,11 deutlich aus der Struktur des Schöpfungsgeschehens in Gen  1 abgeleitet. Wie in Dtn  5,15 endet der Vers auch hier in einem „darum“-Satz mit göttlichem Subjekt, der festhält: der Sabbat wurde bei der Schöpfung von JHWH wie ein Schöpfungswerk gesegnet und geheiligt. Die Aufgabe des Menschen besteht also gar nicht wie in Dtn 5 darin, den Sabbat in Gebotsgehorsam durch Arbeitsruhe „zu machen“. Nach Ex 20 kann der Mensch nur seiner „gedenken“ (Ex 20,8) und ihn dann so wie bereits Gott bei der Schöpfung heiligen. Der Dekalog wird auf diese Weise nicht nur durch die Präambel im Exodusgeschehen verankert und damit zu einem spezifisch auf Israel bezogenen Text (partikulare Perspektive). Durch die Begründung in der Schöpfung beansprucht ausgerechnet das Sabbatgebot – durch das sich Israel ja von seiner Umwelt deutlich absetzt – eine Gültigkeit für die ganze Welt (universale Perspektive). Blickt man nun auf die beiden Fassungen des Sabbatgebotes, die ja beide gleichermaßen Teil der Bibel sind, so wird damit ein komplexer Raum dessen aufgespannt, was es bedeutet, den Ruhetag zu halten. Hier kommen viele Aspekte zum Ausdruck, die auch in heutigen Debatten um den Sonntag eine Rolle spielen: die gesellschaftliche Dimension, die ein gemeinsamer Ruhetag hat, weil er über soziale Schichten hinweg gemeinsame Freizeit ermöglicht, oder die Vorstellung, zumindest einmal in der Woche von belastenden Arbeitsroutinen befreit zu sein. 69

Andererseits sind es für viele Menschen gerade die Pausen, das Innehalten, ein Ausflug in die Natur oder Sport, die ihnen die eigene Geschöpflichkeit und die Vorstellung, Teil einer wunderbaren und schützenswerten Schöpfung zu sein, wieder erfahrbar machen. Im Judentum werden auch menschliche Kreativität und Fruchtbarkeit als Erfahrungen des Sabbats hervorgehoben.

7 Fazit Das Buch Exodus und das Exodusnarrativ der Bibel insgesamt muss als Mythos verstanden und ausgelegt werden. Es handelt sich um Traditionsliteratur, die von der Gruppe, die sie als heilige Schrift bewahrt, als bedeutsam gelesen wird. Vielleicht ist die Aufgabe, hier keine ‚historischen Informationen‘, sondern Geschichten, die etwas über unsere Identität aussagen, zu suchen und zu finden, für Kinder im Grundschulalter manchmal unkomplizierter als für Erwachsene. Umgekehrt spielen hier aber wichtige theologische Elemente hinein, die mitbedacht werden müssen: die Perspektive der Texte, das Verhältnis von Christentum und Judentum und der hermeneutische Rahmen des Dekalogs, der sich – auch mit seinen Vorschriften! – als Ausdruck einer befreienden Gottesbeziehung versteht.

Zitierte Literatur Assmann, Jan (2015), Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München. Braulik, Georg (2016), Das Buch Deuteronomium, in: Zenger, Erich u. a., Einleitung in das Alte Testament, 9. aktualisierte Aufl. herausgegeben von Christian Frevel (KStTh 1,1), Stuttgart, 152–182. Deusel, Antje Yael (2021), Die Zehn Gebote beschreiben einen Kreis – in diesem Kreis bewegt sich das menschliche Leben, in: Welt und Umwelt der Bibel 102, 36–39. Dohmen, Christoph (2004), Exodus 19–40 (HThK.AT), Freiburg i. Br. u. a. Jacob, Benno (1997), Das Buch Exodus. Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo Mayer, Stuttgart. Schipper, Bernd U. (2018), Geschichte Israels in der Antike, München. Zenger, Erich (2016), Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: Zenger, Erich. u. a., Einleitung in das Alte Testament, 9. aktualisierte Aufl. herausgegeben von Christian Frevel (KStTh 1,1), Stuttgart, 11–36.

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Gerechtes Zusammenleben Marianne Heimbach-Steins

Auf der Suche nach einem Kompass für gerechtes Zusammenleben liegt es auf den ersten Blick nahe, die Bibel als eine zentrale Quelle der Erkenntnis für eine theologische Ethik heranzuziehen. Auf den zweiten Blick ist das aber aus verschiedenen Gründen eine ziemlich herausfordernde Aufgabe. Fragen nach Gerechtigkeit und Freiheit, nach Verantwortung, dem Umgang mit Schuld und Scheitern, nach den Zielen eines für alle Menschen guten Zusammenlebens betreffen die ganze Menschheit, nicht nur diejenigen, für die die Bibel als Urkunde ihres Glaubens Bedeutung hat. Und es geht um komplexe und schwierige Fragen der modernen Gesellschaft, von Technik, Wirtschaft und Politik: Sie sind meilenweit entfernt von der Welt der Bibel. Ist also für eine moderne christliche Ethik, zumal für eine Sozialethik, die Beschäftigung mit der Bibel überhaupt sinnvoll und kann sie ertragreich sein? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach. In einer kurzen Einführung werden zunächst gewichtige Einwände genannt und Warnschilder gegenüber einem allzu unbekümmerten Zugriff auf die Bibel aufgestellt  (1.). Der Versuch einer ethischen Lektüre wird dann anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) unternommen (2.). Schließlich wird das Experiment ausgewertet und reflektiert, wie die Frage nach dem möglichen Ertrag eines Gesprächs mit der Bibel für die theologische Ethik ausgehend von der exemplarischen Sondierung beantwortet werden kann (3.).

1 (K)eine Gebrauchsanleitung: die Bibel als Kompass? Taugt die Bibel als Quelle für eine moderne theologische Ethik? Können wir aus dem Alten und dem Neuen Testament Orientierung gewinnen, wenn es um Fragen der Gerechtigkeit heute geht? Vieles spricht auf den ersten Blick dagegen: • Die Bibel ist mutmaßlich das älteste Buch bzw. die älteste Büchersammlung, mit dem bzw. der Theologiestudierende in ihrem Studium zu tun haben – Literatur aus dem Alten Orient. Was und wie die Bibel über das Zusammenleben von Menschen erzählt, setzt eine Gesellschaft voraus, die in fast jeder Hinsicht ganz anders ist als die Gesellschaft(en) der Gegenwart – ob im Nahkontext oder in der Weltgesellschaft. • Die Bibel hat auf viele ethische Fragen, die wir heute stellen, keine Antworten. Große Fragen der Verteilungsgerechtigkeit (z. B. die weltweite Verteilung von Impfstoff), die Eindämmung 71

von Gewalt und Krieg im Zeitalter atomarer Waffen oder das Problem unserer Zeit, die Bewältigung der Klimakrise und ihrer Folgen, kommen in der Bibel gar nicht erst vor. • Die Bibel spricht eine Sprache, die nicht leicht zu verstehen ist. Das liegt nicht nur daran, dass die biblischen Schriften auf Hebräisch oder auf Griechisch verfasst wurden, sondern weil die Bibel Sprachspiele und Begriffe verwendet, die sich von den modernen Begriffssystemen der Ethik grundlegend unterscheiden. Begriffe wie Verantwortung, Güterabwägung und Kompromiss kommen ebenso wenig vor wie Menschenwürde, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Die Liste der Einwände ließe sich noch verlängern. Aber auch in dieser Knappheit zeigt sie uns schon: Bei der Bibel haben wir es mit einem schwierigen Fall zu tun. Einfache Antworten sind nicht zu erwarten. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir mindestens drei Warnschilder beherzigen: • Historische Differenz! – Zwischen der (Welt der) Bibel und unserer Welt müssen Brücken gebaut werden, sonst droht ‚Absturz‘. • Keine Lösungen für die komplizierten ethischen Fragen unserer Gegenwart! – Die Bibel funktioniert nicht als Rezeptbuch oder als moralisches Nachschlagewerk. • Verständigungsschwierigkeiten! – Die Bibel spricht über menschliche Erfahrungen und Herausforderungen anders als wir; es braucht „Dolmetscher“ und „Übersetzungsprogramme“. Warnschilder bedeuten aber nicht, dass der Weg in eine Sackgasse führt und daher der Abbruch der Reise angesagt ist! Wir sollten also nicht gleich aufgeben. Vielmehr sind sie ein Hinweis auf die Herausforderungen des Weges: Wir sollten zu klären versuchen, wie es eventuell trotzdem gelingen kann, der Bibel etwas abzugewinnen – nämlich Orientierungswissen für eine moderne theologische Ethik, und noch grundlegender, weshalb sich diese Mühe lohnt und wozu dieser Versuch überhaupt gut sein könnte (vgl. hierzu ausführlicher: Heimbach-Steins 2022).

2 Exemplarische Erkundung: Nächstenliebe ‚ohne Grenzen‘? Der Weg entsteht im Gehen. Deshalb soll zunächst an einem Thema, das die Bibel selbst anbietet, erprobt werden, was das Gespräch mit dem biblischen Text für eine moderne theologische Ethik austrägt. Als Beispieltext bietet sich eine sehr bekannte Erzählung aus dem Neuen Testament an, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. In Kinderbibeln und im Religionsunterricht unterschiedlicher Schulstufen spielt es eine prominente Rolle. Auch in aktuellen 72

kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen wird es herangezogen, z. B. in der Enzyklika Fratelli tutti (FT, 03.10.2020) von Papst Franziskus oder in dem Gemeinsamen Wort der Kirchen in Deutschland Migration menschenwürdig gestalten (21.10.2021). Lk 10,25–37: Der barmherzige Samariter (EÜ 2017) 25 Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? 26 Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. 28 Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! 29 Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? 30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. 31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. 32 Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, 34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. 35 Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? 37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!

2.1 Wahrnehmen – eine Erzählung über ethisches Lernen Der Text aus dem Lukas-Evangelium ist für eine ethische Lektüre besonders interessant, weil er als Gespräch über die Gewinnung ethischer Einsicht gestaltet ist. Während der Gesetzeslehrer Jesus eigentlich auf theologisches Glatteis führen möchte, leitet Jesus ihn an, aus seiner profunden Kenntnis der Heiligen Schrift eine ebenso schlichte wie grundlegende Einsicht für das Tun des Richtigen zu gewinnen. In dieses Gespräch ist das berühmte Gleichnis eingebettet, mit dem Jesus dem Gesetzeslehrer, dem gebildeten Theologen, die praktische Bedeutung des ersten und wichtigsten Gebotes erschließt. Die Geschichte lässt vermuten, dass die schlichte und grundlegende Einsicht, um die es geht, und ihre Umsetzung im Handeln alles andere als selbstverständlich sind. Das gilt für den biblischen Kontext – und es gilt auch heute. 73

In seiner Enzyklika Fratelli tutti greift Papst Franziskus diesen biblischen Text auf, liest ihn im Kontext der biblischen Traditionen (vgl. FT 57–62) und schlägt einen Weg vor, seine Bedeutung für heute zu erschließen (vgl. zum Folgenden Heimbach-Steins u. a. 2021, 8 f.). Er ruft in Erinnerung, wie in den biblischen Bezugnahmen und Auslegungen dieses zentralen Stücks biblischer Weisung die Reichweite des Liebesgebotes zunehmend entgrenzt wird: Die Liebe zum Nächsten wird zunächst auf die Angehörigen des eigenen Volkes bezogen (Lev  19,18); dann wird sie ausgeweitet auf Fremde, indem die Adressat:innen dazu angehalten werden, an der göttlichen Haltung gegenüber den Fremden auch selbst Maß zu nehmen (vgl. Sir 18,13). Im Hintergrund dieser bemerkenswerten Entwicklung stehen die identitätsstiftenden Erfahrungen des Volkes Israel: auf der einen Seite Fremdheit und Versklavung in Ägypten, auf der anderen Seite die Befreiung durch das Handeln Gottes. Diese Erfahrung wird in der Tora immer wieder herangezogen, um das Gebot der Fremdenliebe zu begründen (vgl. Lev 19,33–34; Ex 22,20; Ex 23,9; Dtn 24,12 f.). Im Neuen Testament sind die Spuren dieser Ausweitung und Entgrenzung des Liebesgebotes weiter zu verfolgen (vgl. FT 61 f.): Paulus ruft „zur brüderlichen bzw. geschwisterlichen Liebe“ (Gal 5,14) auf und mahnt die frühen Christ:innen, die Liebe zueinander ‚und zu allen‘ (1 Thess 3,12) zu üben. Im dritten Johannesbrief wird gemahnt, „die Brüder gut aufzunehmen, ‚sogar [die] fremden‘ (3 Joh 5)“ (FT 62). Papst Franziskus ruft diese Zusammenhänge in Erinnerung, weil sie dazu beitragen, den Bedeutungskern des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter zu verstehen: Liebe diskriminiert nicht, sie grenzt nicht aus, sondern verbindet vielmehr untereinander. Von der biblischen Intention her gilt das für alle Menschen (vgl. FT 62).

2.2 Aneignen – in die Geschichte „einsteigen“ Unter diesem Vorzeichen unternimmt Papst Franziskus eine ausführliche Betrachtung des Gleichnisses. Darin bezieht er alle Perspektiven ein, die die Geschichte anbietet: die der Räuber, der Vorübergehenden, des am Boden Liegenden und des Samariters (vgl. FT 72– 79). Die Leser:innen werden aufgefordert, sich zu fragen, mit wem sie sich identifizieren (vgl. FT 64), und sich so durch die Geschichte ansprechen, ja in sie hineinziehen zu lassen (vgl. FT 56). „Diese Geschichte […] enthält […] die ganze Dynamik des inneren Kampfes, die mit der Entfaltung unserer Identität einhergeht, in jeder Existenz auf dem Weg zur Verwirklichung menschlicher Geschwisterlichkeit. Einmal auf dem Weg, treffen wir unvermeidlich auf verletzte Menschen. […] Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherzige Samariter zu sein oder gleichgültige Passanten, die distanziert vorbeigehen. Und wenn wir

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den Blick auf die Gesamtheit unserer Geschichte und auf die ganze Welt ausweiten, sind wir oder waren wir wie diese Gestalten: wir alle haben etwas vom verletzten Menschen, etwas von den Räubern, etwas von denen, die vorbeigehen, und etwas vom barmherzigen Samariter.“ (FT 69)

Im Spiegel der Geschichte sollen die Lesenden oder Hörenden – wie der Gesetzeslehrer – eigene Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster bedenken und prüfen. Die ‚Übung‘ zielt auf die Frage, welche Art zu handeln dem Anspruch des Liebesgebotes gerecht wird. Antwort auf diese Frage gibt die Figur des Samariters. Die Geschichte wird zunächst als Spiegel innerer Dispositionen zum Handeln gelesen; dabei wird angenommen, jede der auftretenden Gestalten stehe für ein Moment einer sich entwickelnden, vielleicht auch schwankenden moralischen Identität der Lesenden. Schwarz-weiß-Malerei wird so vermieden – Idealisierung ebenso wie Verteufelung. In der Erzählung ist es die Situation, die herausfordert: Ein verletzter Mensch liegt auf dem Weg. Wer auf ihn trifft, muss handeln. Es ist keine abstrakt theoretische, sondern eine sehr konkrete, praktische Entscheidung gefordert: Eine „grundlegende Option“ ist zu treffen. Auch die Vorübergehenden entscheiden sich und handeln. Es ist eine Tatsache, „wählen zu müssen, um diese Welt, an der wir leiden, zu erneuern“ (FT 67). Um das Leiden an der Welt in einen Impuls zur Verbesserung der Wirklichkeit zu transformieren, geht kein Weg daran vorbei, sich mit dem Samariter zu identifizieren. Als ‚Typus‘ des Menschen, der im Sinne des Liebesgebotes handelt, steht er – so liest es Papst Franziskus – vor allem für die Einsicht, dass Menschen Verantwortung übernehmen können in den üblen Zuständen der Welt und für eine Besserung genau da, wo ihnen Unglück und Leid der Anderen buchstäblich im Weg liegt. Dieses Können ist zugleich eine Herausforderung, das Mögliche auch zu tun.

2.3 Nachdenken – die Reichweite der biblischen Botschaft erfassen Ethische Fragen stellen sich nicht nur da, wo wir über die konkrete Herausforderung zum Handeln buchstäblich ‚stolpern‘. Nicht nur, wenn uns eine hilfsbedürftige Person – bildlich gesprochen – direkt „im Weg liegt“, wird der Ruf nach Verantwortung und Einsatz für (mehr) Gerechtigkeit laut. Die möglichen Dimensionen der (Mit-)Verantwortung erschließen sich sowohl in der unmittelbaren persönlichen Nähe, als auch in – scheinbar von unseren persönlichen Gegebenheiten und Handlungsfeldern weit entfernten – politischen Zusammenhängen (vgl. FT 78 u. ö.). Die Enzyklika Fratelli tutti lenkt anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter die Aufmerksamkeit auf die universale Dimension der ‚geschwisterlichen Liebe‘ und unterstreicht, dass das keineswegs eine abstrakte Angelegenheit ist: Die biblische Erzählung richtet den Anspruch der Liebe einerseits auf eine:n bestimmte:n Andere:n – eben 75

auf den verletzten Menschen am Wegesrand. Nach der biblischen Erzählung ist irrelevant, ob die hilfebedürftige Person zur gleichen (Volks-)Gruppe gehört und/oder den gleichen Glauben hat wie die Passanten. Bedeutung hat allein, ob eine:r, der/die vorbeikommt, sich das Leid des/der Anderen, der/die ihm/ihr „im Weg liegt“, zu eigen macht (vgl. FT 62; 79). Andererseits sprengt die Geschichte gerade damit die gewohnten Grenzen von Zugehörigkeit und wechselseitiger Verpflichtung: Hier ist es wichtig, noch einmal genau auf die beteiligten Personen zu schauen. Der Samariter ist in den Augen des Gesetzeslehrers, dem Jesus die Geschichte erzählt, ein ‚Anderer‘, einer, der nicht im vollen Sinne zum Volk Israel gehört (auch wenn sich die Samaritaner selbst als Teil Israels verstehen). Der Clou der Erzählung liegt also darin, dass ausgerechnet der Mann aus Samarien diese unbedingte Liebe zum Nächsten vorbildlich praktiziert: Während die religiösen Experten vorbeigehen, bleibt der Samariter stehen, versorgt den Verletzten und sorgt für weitere Hilfe durch Dritte. Derjenige, der im Verständnis der Hörer:innen Jesu ein Fremder ist, „handelt im Sinne des radikal entgrenzten Liebesgebotes und macht sich zum Nächsten des Notleidenden. Präziser und radikaler kann das klassische Freund-Feind-Schema nicht überwunden werden.“ (DBK/EKD 2021, 102; vgl. auch FT 80–83) Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zielt damit nicht allein auf die Ebene individueller Moral oder Tugend, die sich im helfenden Handeln artikuliert. Auf einer zweiten Ebene wird der Anspruch des alttestamentlichen Gebotes der Nächsten- und Fremdenliebe, herkömmliche Grenzen der Zugehörigkeit zu sprengen, veranschaulicht und reflektiert. Es geht um die Reichweite der ethischen Herausforderung und damit ausdrücklich um ein politisches Ethos des Zusammenlebens; das arbeitet auch die Lektüre des Gleichnisses in Fratelli tutti deutlich heraus. Dieses Ethos basiert  – modern gesprochen  – auf wechselseitiger Anerkennung und Solidarität bzw. auf dem Fundament der Menschenrechte. In der Begriffssprache der Ethik geht es um einen konkreten Universalismus, der nicht nur allgemein und abstrakt ‚alle Menschen‘, sondern die/den jeweils konkrete:n Andere:n als Träger:in gleicher Würde und gleicher Menschenrechte adressiert und danach auch in gesellschaftlich herausfordernden Situationen – etwa im Umgang mit Schutz bzw. Asyl Suchenden an den Grenzen der Europäischen Union – handelt (vgl. FT 106 u. ö.; dazu: Heimbach-Steins u. a. 2021, 29 f.). Es geht darum, in der Verschiedenheit (Diversität) und Verletzlichkeit der (potentiellen) Nächsten die Würde jedes/jeder Einzelnen anzuerkennen. Das bedeutet nicht, Verunsicherungen, Ängste und Konfliktpotentiale zu ignorieren oder durch eine rosarote Brille aus der Wirklichkeitswahrnehmung herauszufiltern. Es setzt aber ein Vorzeichen, unter dem mit solchen Herausforderungen umzugehen ist. Es fordert dazu auf, eine Wahrnehmung und eine Haltung zu überwinden, die die/den Andere:n oder Fremde:n von vornherein ausschließlich als Bedrohung zu sehen vermag und aus dieser Defensive heraus geneigt ist, jeglichen Anspruch auf Hilfe zu negieren. 76

3 Auswertung: Wie das ethische Gespräch mit der Bibel gelingen kann und was es austrägt Anhand der Perikope Lk 10, 25–37 und deren Lektüre durch Papst Franziskus in der Enzyklika Fratelli tutti wurden Ansätze für ein ethisches Gespräch mit der Bibel beispielhaft skizziert. Nun sind die Schritte zu reflektieren, über die eine Verständigung zwischen biblischem Text und modernem Aneignungskontext erarbeitet wurde.

3.1 Den Text sprechen lassen Den Text selbst ‚sprechen‘ zu lassen, ist die keineswegs banale Herausforderung, die am Anfang des biblisch-ethischen Gesprächsversuchs steht. Denn der Text begegnet den modernen Lesenden zunächst – wie ein Mensch, den wir nicht oder nur flüchtig kennen – als fremde Stimme: Seine Denk- und Ausdrucksweisen sind den Lesenden nicht vertraut. Diese Fremdheit gilt es zuerst einmal wahrzunehmen. Das ist besonders herausfordernd bei einem Text wie dem hier ausgewählten, der christlich sozialisierten Leser:innen vermutlich gerade nicht unbekannt ist. Umso wichtiger ist es, die Versuchung zu überwinden, dem Text in der Erwartung ‚Ich kenne Dich doch, ich weiß schon, was Du mir sagen willst!‘ zu begegnen. Alles kommt darauf an, in den Modus des Hörens und des Fragens umzuschalten und  – wie in jedem echten Gespräch – damit zu rechnen, dass es im Gespräch etwas Neues zu erfahren, etwas zu lernen und die eigene Perspektive Weitendes zu entdecken gibt: Was für eine Figur ist der Gesetzeslehrer, warum fragt er Jesus so? Was hat es mit dem Samariter auf sich? Warum wählt Jesus gerade diese Identitäten für seine Beispielgeschichte aus? Worin liegt die Pointe der Erzählung? Theolog:innen sind darauf vorbereitet, bibelwissenschaftliches Knowhow einzusetzen – nicht erst, um Antworten zu finden, sondern schon, um die richtigen Fragen zu stellen und den Text selbst zum Sprechen zu bringen. In diesem Prozess kommen über das Einspielen historischer Informationen und über die Erschließung der biblischen Sprach- und Bildwelt Differenzen des Textes aus einer alten und entfernten Welt zum Vorschein. Über die Entdeckung von tatsächlich Unvertrautem, das irritieren mag, werden Brücken des Verstehens gebaut. Für das Verstehen ist es dabei bedeutsam, den einzelnen Text in seine biblischen Kontexte einzubetten und Bezüge im Alten wie im Neuen Testament zu erschließen, um die ganze Bedeutungsfülle im innerbiblischen Resonanzraum zugänglich zu machen (vgl. oben 2.1).

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3.2 Brücken zwischen Text und Lesenden bauen Die ethische Lektüre bleibt aber nicht dabei stehen, den biblischen Text als historisches Dokument erschließen und in seinem Ursprungskontext verstehen zu wollen. Vielmehr bildet dieser erste Schritt die Voraussetzung, um in einen Prozess der Aneignung in der Gegenwart und der Bedeutungserschließung für heutige gesellschaftliche Situationen und Erfahrungszusammenhänge einzutreten. Jetzt werden zusätzlich zu den Überlegungen, die das Verstehen des Textes angeleitet haben, Fragen wichtig, die die modernen Leser:innen in ihrer Gegenwart umtreiben – sei es im Hinblick auf persönliches Ethos und Lebensgestaltung, sei es im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Herausforderungen. Häufig wird beides zusammenkommen, so wie es auch in der Lektüre des Samaritergleichnisses durch Papst Franziskus der Fall ist. Die persönlich-existentielle und die personalethische Ebene werden in der Erschließung durch die Enzyklika mittels einer Identifikationsübung mit den einzelnen, in der Erzählung – sowohl im Gleichnis als auch in der Rahmenerzählung – auftretenden Figuren eingeleitet. Das ist ein fruchtbarer Weg der Annäherung an den ethischen Gehalt des Textes, aber nicht der einzig mögliche. In der wissenschaftlichen Arbeit wird die Befassung mit den Personen des Textes ,distanzierter‘ ausfallen, aber darauf ausgerichtet sein, Modi des Handelns zu klären, Typisches zu erschließen und mit moralisch bedeutungsvollen Erfahrungen in der Gegenwart zu verknüpfen. Die Suche nach Handlungsorientierung beginnt bei der konkreten erzählten Situation und fragt danach, ob und inwiefern darin ein orientierendes Angebot, ein Potential für gegenwärtige ethische Fragen liegt. Und auch hier ist es wichtig, das Gespräch mit dem Text nicht engzuführen, sondern den im vorigen Schritt erschlossenen biblischen Resonanzraum einzubeziehen, um die Bedeutungsfülle des Textes nicht zu verkürzen. Ein solcher Aneignungsprozess wird in der Regel nicht zu direkten Handlungsanweisungen, zu ‚rezeptartigen‘ Schlussfolgerungen, was konkret zu tun ist, führen. Sollte das wider Erwarten der Fall sein, wird man sich vielmehr fragen müssen, ob es dazu den aufwändigen Prozess des Gesprächs mit der Bibel überhaupt gebraucht hätte. Bezogen auf unseren Beispieltext: Um zu dem Schluss zu kommen, dass es sittlich geboten ist, einem am Wegesrand liegenden Verletzten zu helfen, braucht es das Samaritergleichnis nicht, auch wenn diese Botschaft zweifellos darin enthalten ist. Dazu genügen allgemein menschliche Erfahrung und die auf der Grundlage solcher menschheitsgeschichtlich verfestigter Erfahrungen gewonnenen Regeln (Normen, Gesetze, Rechtsordnungen).1 1



Ein anderes Beispiel bietet die ethische Lektüre von Gen 4: Es braucht keine Bezugnahme auf die Erzählung von Kain und Abel, um zu entdecken, dass es falsch ist, einen Menschen umzubringen. Der Text lässt sich ethisch wesentlich subtiler lesen: nämlich als Reflexion auf die Ambivalenz der Freiheit und die Erfahrung der Verantwortlichkeit für das eigene Tun – das Gewissen (vgl. M. Heimbach-Steins 2013, 131-139).

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Auch zur Begründung von Handlungsregeln ist die biblische Bezugnahme nicht notwendig, ja nicht einmal besonders hilfreich: Etwas ist nicht deshalb richtig und für menschliches Handeln verbindlich, weil es in der Bibel steht. Mit diesem Verweis eine Handlungsnorm begründen zu wollen, wäre ein reines Autoritätsargument. Es ist schwach, weil es keine vernunftfähige Begründung bietet, sondern allenfalls ,blinden‘ Gehorsam fordert. Umgekehrt gilt im Hinblick auf ethische Argumentation: Was in der Bibel steht, kann nur dann Anspruch auf Verbindlichkeit (normative Geltung) erheben, wenn es sich mithilfe der sittlichen Vernunft als richtig erweisen lässt; das gilt längst nicht für alle Handlungsweisen und -anweisungen, die in der Bibel zu finden sind.2

3.3 Den Ertrag sichern Von einer einzigen biblischen Geschichte ausgehend, lässt sich keine umfassende Ethik entwerfen. Anhand der exemplarisch betrachteten biblischen Erzählung gewinnen wir aber eine Vorstellung davon, worum es einer theologisch-ethischen Erforschung und Lektüre der Bibel geht: Sie entwirft einen Zusammenhang von Gott, Welt und Mensch(en), in dem Erfahrungen von Not, Verletzlichkeit und Heilungsbedürftigkeit auf der einen Seite sowie Erfahrungen von Verantwortung und Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität auf der anderen Seite widerhallen. Sie werden als Krisen und als Provokationen gedeutet, den Quellen von Hoffnung und Gelingen auf die Spur zu kommen und Wege zu einem gerechten Umgang miteinander zu bahnen. Menschen, die sich als Glaubende auf den Gott einlassen, von dem die Bibel erzählt, versuchen damit ihrer Identität – auch ihrer ethischen Identität – auf die Spur zu kommen. In diesem Sinn und Kontext kann die Bibel als Buch derer Geltung beanspruchen, die sich auf die darin erzählte Gottesgeschichte einlassen (können) (vgl. Heimbach-Steins 2013; 2022). Dies vorausgesetzt, darf eine ethisch interessierte Lektüre den Text nicht ,überfordern‘, indem sie ethische Fragen der Gegenwart unvermittelt an ihn heranträgt. Die Bibel als Buch der Antike und als Urkunde einer bestimmten Glaubensgemeinschaft kann unsere ethischen

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So können z. B. Aussagen zum Thema Homosexualität in der Bibel nicht ohne Weiteres herangezogen werden, um daraus für die Gegenwart ethische Orientierungen zu gewinnen. Die Differenz im anthropologischen Wissen zwischen der Bibel (und generell der antiken Welt) und unserem heutigen Erkenntnisstand ist immens. Wo eine ungefilterte Übertragung geschieht, führt das zu menschenrechtlich und ethisch hochproblematischen Fehlurteilen. So bezieht sich der Katechismus der Katholischen Kirche (Nr.  2357) u.  a. auf Gen  19, um die kategorische Ablehnung homosexueller Beziehungen durch das Lehramt der katholischen Kirche zu untermauern. In dem angezielten biblischen Kontext geht es aber weder um homosexuelle Lebensgemeinschaften noch um einvernehmliche Beziehungen, sondern um eine Gruppenvergewaltigung unter (heterosexuellen) Männern (vgl. Hieke 2015).

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Probleme ebenso wenig lösen, wie aus den ethischen Schriften antiker Philosophen, etwa Aristoteles und Platon, unmittelbar eine Ethik der Energiewende oder eine Ethik kultureller Diversität hergeleitet werden kann. Aber das ethische Gespräch mit der Bibel kann – und dafür lohnt es sich  – Deutungsperspektiven und Sinnlinien menschlichen Handelns und Zusammenlebens entdecken. Sie sind zur Orientierung in der Bearbeitung gegenwärtiger ethischer Fragestellungen aus einer christlichen Perspektive wertvoll und weiterführend: „Der Nächste ohne Grenzen“ (FT, Überschrift über die Abschnitte 80–83)3 ist eine solche, politisch-ethisch ebenso bedeutsame wie  – etwa im migrationsethischen Zusammenhang  – provozierende Orientierung. Dass der Ertrag eines Gesprächs mit der Bibel zur Gewinnung ethischer Einsicht in der Regel subtil ist, hat die Erkundung des Samaritergleichnisses gezeigt: Hier geht es nicht einfach um das Gebot des Helfens, sondern um die Frage, wie und in welchem Handlungsrahmen das Liebesgebot mit dem Anspruch, dem/der bedürftigen Anderen zum/zur Nächsten zu werden, zu verstehen und einzulösen ist. Es geht also darum, wie sich der Anspruch, moralisch zu handeln, unter dem Vorzeichen des Liebesgebotes konkretisiert. Oder noch einmal anders formuliert: Es geht darum, inwiefern das Liebesgebot den Anspruch und die Reichweite moralischen Handelns zu erschließen und zu bestimmen hilft. Die Arbeit am Text hat gezeigt, dass die Erzählung in zweierlei Hinsicht eine Auslegungshilfe bietet: Zum einen verweist sie darauf, dass die Person, die einem/einer Hilfebedürftigen begegnet, unvertretbar herausgefordert ist, sich von der Situation ansprechen zu lassen und sich zum/zur Nächsten zu machen – darin liegt die individual- oder personalethische Pointe. Zum anderen zielt die gewählte Personenkonstellation darauf, die Reichweite dieser Herausforderung und damit den Anspruch moralischen Handelns zu entgrenzen. Darin liegt die politisch-ethische Pointe des Gleichnisses.

3.4 In theologisch-ethischer Begriffssprache weiterdenken Mit den gewonnenen Einsichten kann im Rahmen der theologischen Ethik weitergearbeitet werden. Die theologisch-ethische Reflexion wird in der Regel versuchen, die in induktiver Annäherung entdeckten Sinnlinien der biblischen Ethik begrifflich zu bündeln. In diesem letzten Schritt werden einige Wegweiser aufgestellt, die die Richtung anzeigen, wie das Gespräch mit dem biblischen Text in Sprachangebote übersetzt bzw. mit diesen verknüpft werden kann, die in den Traditionen theologischer Ethik entwickelt worden sind. Durch die ,Brille‘ der Traditionen und mithilfe der darin erarbeiteten begrifflichen Instrumente können die Spuren

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Überschrift über die Abschnitte 80–83 der Enzyklika Fratelli tutti.

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ethischer Einsicht in den biblischen Schriften wie in den nachbiblischen christlichen Traditionen lesbar und anschlussfähig für moderne Debatten gemacht werden.

Abb. 2: Dimensionen des Liebesgebotes (eigene Darstellung) Das Samariter-Gleichnis erschließt das Liebesgebot in seinen drei bzw. vier Dimensionen als zentrale biblische Orientierung für das Handeln der Menschen: Die Gottesliebe – als Antwort auf die tragende Bindung des Menschen als Geschöpf Gottes – wird konkret in der Liebe zu den Nächsten, die in gleicher Weise wie ich selbst geliebtes Geschöpf Gottes sind. Die Frage, wer mein:e Nächste:r ist, wird in ihrer Blickrichtung gewendet und in den offenen Raum der Begegnung hineingesprochen: Wer begegnet mir – und für wen werde ich Nächste:r? Mit der Richtungsumkehr wird gleichzeitig die Dimension geweitet auf die Liebe zu dem/der Fremden. Der Gegenpol schließlich zu dem/der adressierten Nächsten ist die Person, die sich selbst zum/ zur Nächsten macht – und die damit als Maßstab der geschenkten Liebe (wie dich selbst) notwendigerweise im Spiel ist. Gottesbezug (Transzendenzbezug) und Selbstbezug bilden so in gewisser Weise die Türangeln, die identitätsstiftenden Anker des Handelns, der Öff nung auf den/die Nächste:n im Sinne des Liebesgebotes. Sie tragen die Hinwendung zu jedem/jeder denkbaren Nächsten, der/die nicht nur in der eigenen Gemeinschaft/Gesellschaft, sondern auch im Fremden, im Anderen gefunden werden kann und soll. Den/Die Fremde:n als Nächste:n zu identifizieren, braucht die feste Verankerung, eine Gewissheit der eigenen Identität, um nicht den/die fremde:n Andere:n als Bedrohung des Eigenen zu fürchten. 81

Die zwischenmenschliche Ebene zielt auf die Verwirklichung der geschöpflich-geschwisterlichen Beziehung, auf die grundlegende Gleichheit vor Gott – säkular gesprochen – auf die Achtung und den Schutz der Würde eines jeden Menschen, und zwar nicht abstrakt, sondern in der jeweils erfahrenen Bedürftigkeit: Es geht um gerechte Beziehungen, um Schutz vor Verletzlichkeit und um Heilung geschehener Verletzungen. Das ist ein prinzipiell universaler, für alle Menschen und Konstellationen geltender Anspruch. Zugleich geht es aber darum, die besonders Verletzlichen, die Marginalisierten, die  – in der biblisch inspirierten Terminologie der Theologie und der Verkündigung – Armen als vorrangig zu adressierende Nächste zu entdecken und im Handeln zu berücksichtigen. Mit dieser Option für die Armen kommt eine Parteilichkeit ins Spiel, die den universalen Anspruch nicht aufhebt, aber einen Vorrang definiert, der Maß nimmt an der Gefährdung der Würde und der Integrität des/der verletzlichen und verletzten Nächsten. Ein biblisch grundiertes Ethos der Gerechtigkeit misst sich an diesem Ansatz. Es ist heute, in einer globalisierten Welt, in der menschliches Handeln und seine politische Ermöglichung zwangsläufig Grenzen überschreitende Wirkungen zeigt, wichtiger denn je.

Zitierte Literatur DBK/EKD (2021), Migration menschenwürdig gestalten. Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (Gemeinsame Texte 27), Bonn/Hannover (21.10.2021). Franziskus [Papst], Enzyklika Fratelli tutti über die Geschisterlichkeit und die soziale Freundschaft (3. Oktober 2020), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 227), Bonn. Heimbach-Steins, Marianne (2013), Biblische Hermeneutik und christliche Sozialethik, in: Vogt, Markus u. a. (Hg.), Theologie der Sozialethik (QD 255), Freiburg i. Br., 129–145. Heimbach-Steins, Marianne (2016), Grenzverläufe gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Migration – Zugehörigkeit – Beteiligung (GER 5), Paderborn. Heimbach-Steins, Marianne (2022), Sozialethik und Theologie, in: Heimbach-Steins, Marianne et al. (Hg.) (2022), Christliche Sozialethik. Grundlagen – Kontexte – Themen. Ein Lehr- und Studienbuch, Regensburg, 62–80. Heimbach-Steins, Marianne u. a. (2021), Die Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus (3. Oktober 2020). Sozialethische Beobachtungen und Analysen (ICS-AP Nr. 14), Münster 2021. https://www.unimuenster.de/imperia/md/content/fb2/c-systematischetheologie/christlichesozialwissenschaften/veroeffentlichung/arbeitspapier_ft_gesamt_final.pdf (2021-11-01). Hieke, Thomas (2015), Kennt und verurteilt das Alte Testament Homosexualität?, in: Goertz, S. (Hg.), „Wer bin ich, ihn zu verurteilen?“ Homosexualität und katholische Kirche, Freiburg i. Br., 19–52. Katechismus der Katholischen Kirche (= KKK), München 32020.

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Glaubensbekenntnis Thomas Bremer

1 Hinführung In jeder sonntäglichen Messfeier bekennen die versammelten Gläubigen ihren Glauben, in der Regel indem sie ein Glaubensbekenntnis sprechen. Nach seinem lateinischen ersten Wort wird das gesamte Bekenntnis ‚Credo‘ (‚ich glaube‘) genannt. In der römisch-katholischen Kirche sind zwei Bekenntnisse in Gebrauch, das ‚Apostolische Glaubensbekenntnis‘ und das ‚Große Glaubensbekenntnis‘. Das Apostolische Glaubensbekenntnis (oder Apostolicum) stammt aus dem Bereich der westlichen, lateinischen Kirche. Es trägt seinen Namen nach einer frommen, aber historisch nicht zutreffenden Überlieferung, wonach die Apostel es gemeinsam formuliert hätten. In den meisten Gemeinden in Deutschland wird es üblicherweise verwendet. Das Große Glaubensbekenntnis, das zumeist nur zu Feiertagen oder besonderen Anlässen gesprochen wird, heißt auch ‚Nizäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis‘ oder ‚Nicäno-Konstantinopolitanum‘, weil es auf die Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381) zurückgeführt werden kann. Es wurde in griechischer Sprache verfasst. Jedes dieser Bekenntnisse beginnt mit dem Glauben an Gott, den Vater. Ein zweiter, längerer Abschnitt formuliert den Glauben an Jesus Christus, und der dritte spricht wieder kürzer über den Heiligen Geist sowie – im selben Abschnitt – über die Kirche, die Taufe und die Erwartung eines ewigen Lebens. Ein Bekenntnis dient dazu, wie der Name ja sagt, den eigenen Glauben zu bekennen. Es hat daher seinen ursprünglichen Ort entweder in der Taufe (man bekennt den Glauben der Kirche und wird dann auf diesen Glauben getauft) oder aber als Formulierung einer kirchlichen Entscheidung: Ein Konzil behandelt eine theologische Streitfrage und legt fest, was der Glaube der Kirche ist. Solche Entscheidungen werden ‚Definitionen‘ genannt; darin steckt das lateinische Wort finis (‚Grenze‘). Ein Bekenntnis soll also abgrenzen, wer zur Kirche gehört und wer nicht. In der Reformation haben die sich auseinanderentwickelnden Kirchen unterschiedliche Bekenntnisse (lat. confessio) formuliert. Diese haben so große Bedeutung für die Identität der Kirchen erlangt, dass der Begriff zu einem Synonym für die Zugehörigkeit geworden ist (jemand ist ‚lutherischen Bekenntnisses‘ oder ‚lutherischer Konfession‘, er gehört also einer lutherischen Kirche an). Aus der unterschiedlichen Herkunft der Glaubensbekenntnisse erklärt sich, dass manche mit „Ich glaube …“ beginnen, andere mit „Wir glauben …“. Die Formel im Singular deutet auf ein ursprüngliches Taufbekenntnis hin. Im Plural hingegen haben Konzilien den Glauben 83

formuliert. So beginnt das Nicäno-Konstantinopolitanum (NK) im griechischen Original mit „Wir glauben …“, auch wenn es für den heutigen liturgischen Gebrauch in den Singular gesetzt wurde und so, also mit „Ich glaube …“, etwa im ‚Gotteslob‘ steht. Die Glaubensbekenntnisse drücken die fundamentalen Inhalte des christlichen Glaubens aus: den Glauben an den einen Gott in drei Personen, die Erschaffung der Welt, die Erlösung durch Jesu Tod und Auferstehung, die Präsenz des Heiligen Geistes, die Kirche, Taufe und die damit verbundene Hoffnung auf die Sündenvergebung sowie der Glaube an ein Leben nach dem Tod. Obwohl die Formulierungen an manchen Stellen sehr detailliert sind, werden doch nur sehr grundsätzliche Aussagen getroffen. Diese Eigenschaft und das hohe Alter der Bekenntnisse machen es möglich, dass sie von allen christlichen Kirchen und Gemeinschaften anerkannt werden können. Neben den beiden genannten sind aus der Frühgeschichte des Christentums noch zahlreiche andere Bekenntnisse überliefert. Das Apostolische Glaubensbekenntnis und das NK unterscheiden sich inhaltlich nur in einigen wenigen Elementen. Da sich die Entwicklung des christlichen Glaubens in den ersten Jahrhunderten vor allem im Osten des Römischen Reichs, also im griechischen Sprachgebiet, vollzogen hat, soll hier der Entstehung und den Aussagen des NK nachgegangen werden.

2 Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel 2.1 Die christologischen Aussagen Die Kirche ist bekanntlich aus dem Judentum entstanden und hat von dort das Spezifikum des Monotheismus übernommen, des Glaubens an einen Gott (im Unterschied zum Vielgötterglauben der antiken Umwelt). Als die Christen sich aus dem Judentum lösten, weil sie Jesus als den Christus, als den auferstandenen Sohn Gottes bekannten und ihn selbst auch als „Herr“ und als „Gott“ apostrophierten, stellte sich die Frage, wie sich dieser Jesus Christus zu dem einen Gott, dem Schöpfer von Himmel und Erde, verhalte. Wie konnte man den Eingottglauben bewahren, der zentral war, und zugleich Jesus als Gott verkünden? Um dieses Problem zu lösen, wurden verschiedene Modelle entwickelt (hierzu Brox 1983, 171–173; Fürst 2012, 475). Sie alle basieren auf Vorstellungen der antiken Philosophie, vor allem des Platonismus. Auch bei vielen nichtchristlichen Philosophen fand sich der Gedanke an einen einzigen oder wenigstens an einen höchsten Gott, der für die Menschen nicht zugänglich war. Um eine Verbindung zwischen diesem Gott und der Welt herzustellen, wurden Vorstellungen von Zwischen- und Mittlerwesen entwickelt, die zwar in den Bereich der Geschöpfe gehörten (um die Einzigkeit Gottes zu bewahren), die aber von besonderer Art waren, 84

manchmal sogar auch „Gott“ genannt werden konnten und eine vermittelnde Rolle zwischen dem einzigen Gott und seiner Schöpfung einnehmen konnten. Ein christlicher Theologe, der aus Alexandria stammende Priester Arius, entwickelte in diesem Kontext ein Modell, um erklären zu können, wer Jesus Christus war (vgl. Perrone 1993, 29–31). Danach war der ‚Logos‘ für Arius ein Geschöpf. Er identifizierte den Sohn mit dem ‚Wort‘ (griech. lógos) aus den ersten Versen des Johannesevangeliums. Er war das erste und hervorragendste aller Geschöpfe, aber er gehörte dem Bereich des Geschaffenen an und konnte somit nicht Gott sein, der als einziger ungeschaffen ist. Einige erhaltene Zitate des Arius belegen diese Position, so etwa: „Es gab eine Zeit, da er nicht war.“ Demnach ist der Logos nicht ewig, sondern ist in der Geschichte, zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden, also geschaffen. In der Gegenüberstellung von Gott und Geschöpfen steht er auf der Seite der Schöpfung – zwar an einer ganz besonderen und einzigartigen Position, aber eben doch nicht auf der Seite Gottes. Das Anliegen des Arius war es, den Monotheismus zu wahren (vgl. Dünzl 2019, 51–59). Für ihn war klar, dass man zwei Götter hätte, wenn man Jesus Christus auch als Gott bekennen würde. Die Vorstellung, dass Gott gleichsam in der Gestalt von Jesus auf die Erde gekommen sei (ähnlich wie die antiken Götter der Mythologie zuweilen menschliche Gestalt angenommen haben), war bereits früher als ‚Modalismus‘ verurteilt worden und damit auch für Arius nicht akzeptabel. Die einzige Lösung für dieses Problem bestand in seinen Augen darin, Jesus Christus als Geschöpf zu betrachten. Arius berief sich dabei – wie auch seine Gegner – auf biblische Aussagen, von denen sich einige in seinem Sinne interpretieren lassen. „Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege“, heißt es etwa in der Weisheitsliteratur (Spr 8,22). Im zweiten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts entstand wegen dieser Frage ein Streit zwischen Arius und seinem Bischof Alexander. Die Auseinandersetzung eskalierte und sorgte für beträchtliche Unruhe in der östlichen Hälfte des römischen Reichs. Kaiser Konstantin war an einer raschen Regelung der Angelegenheit interessiert, vor allem, um den Religionsfrieden im Reich zu wahren. Daher berief er für das Jahr 325 ein Konzil ein, das in Nizäa (griech. Nikaia, heute İznik in der Türkei) zusammentrat (zum Ablauf Perrone 1993, 336–38). Es wurde später als das erste Ökumenische (im Sinne von allgemein anerkannt und verbindlich) Konzil betrachtet. Dieses Konzil stellt auch religionspolitisch insofern einen Wendepunkt dar, als die christliche Kirche nun nach der Epoche der Verfolgungen zum ersten Mal staatliche Unterstützung genoss. Der Kaiser hatte Interesse am Gelingen des Konzils, nahm selbst aktiv daran teil und unterstützte die Durchführung auch logistisch. Seine Beschlüsse wurden Reichsgesetz und von den staatlichen Behörden durchgesetzt. Das Konzil war jedoch keineswegs eine demokratische Veranstaltung mit freier Rede und Abwägung von Argumenten. Arius nahm mit einer kleinen Gruppe von Anhängern teil und konnte wohl seine Position darlegen, doch war offensichtlich, dass die große Mehrheit der mehr als 300 Teilnehmer seine Vorstellungen ablehnte. Er konnte sich nicht durchsetzen und wurde mit zwei verbliebenen Anhängern verbannt. 85

Das Konzil verwendete ein bereits vorhandenes Taufbekenntnis (es ist nicht sicher, woher es stammte) und erweiterte es um Aussagen, die in anti-arianischer Absicht formuliert wurden. Zuerst wird Gott als allmächtiger Vater und Schöpfer „von allem Sichtbaren und Unsichtbaren“ (DH 125; die Formulierung „des Himmels und der Erde“ wird erst in Konstantinopel eingefügt) bekannt, das heißt: von allem, was besteht. Der zweite Teil zu Jesus Christus ist der umfangreichste, weil er ja Anlass für die größten Streitigkeiten bot. Vor die heilsgeschichtlichen Aussagen über den Sohn (Menschwerdung, Leiden und Auferstehung, Auffahrt in den Himmel, Erwartung der Wiederkunft zu einem allgemeinen Gericht) werden Formulierungen eingefügt, die das Verhältnis des Sohnes zum Vater beschreiben und seine Gottheit bestätigen sollen. Eine wichtige Rolle spielt hier der Begriff ‚Wesen‘ (griech. ousía), der aus dem griechischen philosophischen Denken übernommen wurde. Das ‚Wesen‘ einer Person oder Sache ist ihr So-Sein, das, was sie ausmacht. Das Wesen Gottes ist Gottsein, Göttlichkeit. Wenn vom Sohn ausgesagt wird, er sei „als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt“, und erklärend hinzugefügt wird „das heißt: aus dem Wesen des Vaters“, dann wird damit gesagt, dass der Sohn ebenso Gott ist, wie Gott Gott ist: Wie bei einer biologischen Zeugung das ‚Wesen‘ weitergegeben wird, so hat der Sohn in seiner Zeugung aus dem Vater auch das Gott-Sein vermittelt bekommen. Ein antiker Autor hat das mit einem Beispiel illustriert: Ein Löwenpaar kann nur junge Löwen zeugen, das Löwe-Sein wird also durch Zeugung übertragen. Analog dazu wird die Göttlichkeit vom Vater auf den Sohn weitergegeben; daher wird die Terminologie von der „Zeugung“ verwendet. Die folgenden Ausdrücke „Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen“ haben alle dieselbe Zielrichtung. Zentrale Bedeutung hat der folgende Ausdruck „eines Wesens mit dem Vater“ erlangt. Er besagt, dass das Wesen des Sohnes kein anderes ist als das des Vaters, nämlich göttliches. Der griechische Ausdruck lautet homooúsios, von homos (‚gleich‘) und ousía und kann also mit „wesensgleich“ übersetzt werden. Er wurde geradezu zum Kennzeichen der Rechtgläubigkeit: Wer den Glauben von Nizäa, also den wahren Glauben der Kirche vertreten wollte, der musste bekennen, dass der Sohn dem Vater homooúsios ist. Damit war klar, dass er auch Gott ist. Mit dem Begriff homooúsios wird ein Ausdruck verwendet, der nicht dem biblischen Denken entspringt, sondern aus der philosophischen Tradition der Antike kommt. Die Entscheidung für diese Terminologie steht sinnbildhaft für die zunehmende Einwurzelung des frühen Christentums in der Gedankenwelt der Antike (vgl. Fürst 2012, 480). An das eigentliche Bekenntnis hat das Konzil noch eine Sanktionsandrohung angeschlossen (DH 126): Es werden Sätze angeführt, die der arianischen Position entsprechen (etwa „es gab einmal eine Zeit, als er nicht war“, „bevor er gezeugt wurde, war er nicht“, „er ist geschaffen oder wandelbar oder veränderlich“, u. a.), und es wird bestimmt: Alle, die das sagen, werden von der Kirche exkommuniziert.

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Zusätzlich zum Bekenntnis des anti-arianischen Glaubens hat das Konzil von Nizäa noch eine Reihe von anderen Bestimmungen und Vorschriften erlassen, die sich vor allem auf die kirchliche Disziplin bezogen (hierzu Perrone 1993, 46–56). Auch wenn das theologische Problem um die Göttlichkeit des Sohnes jetzt gelöst war, bedeutete das aber keinesfalls, dass die Auseinandersetzungen beendet gewesen wären. Der Arianismus und vieler seiner Spielarten erlangten nach dem Konzil große Bedeutung, waren in weiten Landstrichen dominant und verschwanden erst nach einigen Jahrhunderten endgültig.

2.2 Die Aussagen über den Heiligen Geist Auf dem Konzil von Nizäa war die Frage nach der Gottheit des Heiligen Geistes offengeblieben; über ihn wurde in Nizäa nicht diskutiert. Das Bekenntnis endet mit den lapidaren Worten „Und an den Heiligen Geist.“, ohne weitere Aussagen über ihn (vgl. Dünzl 2019, 131–136). In den folgenden Jahren jedoch gab es eine theologische Richtung, die zwar die Gottheit Jesu Christi entsprechend dem Konzil von Nizäa akzeptierte, nicht aber die des Heiligen Geistes. Diese Gruppe wurde ‚Pneumatomachen‘ (Kämpfer gegen den Geist) genannt. Der wichtigste Theologe, der sich für die Anerkennung der Gottheit des Heiligen Geistes einsetzte, war Basilius von Caesarea (‚der Große‘, ~330–379). Für ihn stand außer Frage, dass der Heilige Geist in gleicher Weise Gott war wie der Vater und der Sohn, auch wenn er den Begriff homoousios nicht auf ihn anwenden wollte. Zur Klärung der anhaltenden Streitigkeiten berief Kaiser Theodosios I. eine Synode ein, die 381 in der Hauptstadt Konstantinopel zusammentrat. Sie hatte nur lokalen Charakter; erst viel später wurde sie als ökumenisches Konzil anerkannt. Über Ablauf und Beschlüsse sind wir nicht genau informiert. Doch wurde bei dieser Synode ein Bekenntnis formuliert, das heute als das NK bekannt ist (DH 150). Ob es sich um eine Überarbeitung des nizänischen oder eines anderen Bekenntnisses handelt, ist umstritten. Wichtig sind die Ergänzungen zum Satz „Und an den Heiligen Geist“. Mit ihnen sollte die Gottheit des Geistes betont werden, auch ohne Verwendung des Worts homooúsios. Der Geist wird als derjenige bezeichnet, der „Herr“ (kýrion) und Lebensspender ist – kýrios wird in der griechischen Übersetzung des AT für den Gottesnamen und im NT für Gott und Christus verwendet. Somit impliziert der Gebrauch an dieser Stelle die Göttlichkeit des Heiligen Geistes. Auch der Hervorgang aus dem Vater1 unterstreicht,



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Im lateinischen Westen wurde später an dieser Stelle der Zusatz „und aus dem Sohn“, lat. „filioque“, eingefügt, der jedoch nicht im griechischen Originaltext steht. Daher lautet der heutige Text bei uns „… der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht“, während die Kirchen, die das griechische Original oder eine wörtliche Übersetzung davon verwenden, bekennen: „… der aus dem Vater hervorgeht.“

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dass der Geist von derselben ousía ist wie der Vater. Das gilt ebenfalls für die nachfolgenden Aussagen von der Anbetung und Verherrlichung, die ihm ebenso gebühren wie Vater und Sohn, und von seinem Sprechen durch die Propheten. Alle genannten Zuschreibungen unterstreichen also, dass der Heilige Geist auch Gott ist. Basilius von Caesarea hat die philosophische Terminologie und Denkweise für das Christentum entwickelt, die seither für die Trinität verwendet wurde (hierzu Fürst 2012, 482–483): Er spricht von einer ousía und drei hypostáseis. Ousía bezeichnet das Wesen im Sinne des oben Gesagten; die ousía Gottes ist sein göttliches Wesen, sein Gott-Sein. Wenn der Sohn und der Heilige Geist dieselbe ousía haben wie der Vater, dann sind sie ebenso Gott, wie es der Vater ist. Da es nur eine göttliche ousía geben kann, ist somit der Monotheismus gewahrt. Mit dem griechischen Word hypóstasis (Plural hypostáseis, eingedeutscht Hypostase) bezeichnet Basilius die drei göttlichen Personen. Der Begriff ‚Person‘ ist dabei äußerst problematisch; sicher darf man ihn nicht im Sinne des modernen Verständnisses von Person (als eigenständiges Subjekt) verwenden. Hypóstasis bezeichnet so etwas wie eine ‚Seinsweise‘ und hebt die Besonderheiten der göttlichen Personen hervor, im Unterschied zur ousía, die sie gemeinsam haben. Darum hat sich der Begriff ‚Hypostase‘ in der theologischen Fachsprache eingebürgert, der weniger problematisch ist als ‚Person‘. Das Konzil von Konstantinopel hat im Anschluss an die Aussagen zum Heiligen Geist noch einige weitere Glaubensartikel angefügt: Hier wird die Kirche mit den vier notae ecclesiae (Wesensmerkmale, nämlich Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität) genannt, sodann die eine Taufe zur Sündenvergebung (die Verwendung des Zahlworts ‚eine‘ impliziert, dass sie nicht wiederholt wird), und die Erwartung an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Mit der Klärung der Begriffe durch Basilius und anderen Theologen seiner Zeit und dem Beschluss von Konstantinopel 381 war die Trinitätslehre der Kirche festgelegt. Drei in ihrem Wesen völlig gleiche Hypostasen, die sich durch ihre Beziehungen zueinander unterscheiden: der Vater, der den Sohn ‚zeugt‘ und den Heiligen Geist hervorbringt; der Sohn, der vom Vater ‚gezeugt‘ wird, und der Heilige Geist, der aus dem Vater hervorgeht. Um das Verständnis dieser Beziehungen gab es zwar noch lange und weitreichende Auseinandersetzungen, doch im Prinzip war damit der trinitarische Glaube der Kirche formuliert.

3 Die christologischen Auseinandersetzungen 3.1 Die unterschiedlichen Ansätze in der Christologie Mit der Klärung der trinitarischen Frage ergab sich aber ein weiteres Problem: Wie verhält sich denn die zweite göttliche Hypostase, der Sohn, zu dem Menschen Jesus von Nazareth, von dem 88

die Evangelien berichten? Er war zweifellos Mensch, wurde geboren, wuchs auf und wurde erwachsen, litt menschliche Gefühle wie Angst und Hunger und starb, wie jeder Mensch einmal sterben wird. Werden beide miteinander identifiziert, dann ergibt sich die Frage, wie das sein kann, da doch der Sohn von göttlicher ousía ist und damit unveränderlich ist, nie geboren wurde und nicht sterben wird. Die Frage nach der Beziehung zwischen dem Menschen Jesus und der zweiten Hypostase der Trinität stand also im Raum. Bald begann man, die menschliche und die göttliche Seite mit dem Begriff ‚Natur‘ (griech. phýsis) zu bezeichnen. Es ging also darum, wie sich die menschliche und die göttliche Natur in Jesus Christus zueinander verhalten. Hier lassen sich zwei Denkmodelle unterscheiden, die oft mit den antiken Städten Alexandria und Antiochien in Verbindung gebracht werden, die beide über bedeutende Theologenschulen verfügten (vgl. Fürst 2012, 486). Auch wenn die Grenzen zwischen beiden Richtungen nicht genau gezogen werden können und es verschiedene Varianten gab, wie man dieses Verhältnis dachte, so lassen sich doch folgende Grundlinien unterscheiden: Die Richtung, die mit Antiochien in Verbindung gebracht wird, legte Wert darauf, die beiden Naturen möglichst unverändert zu bewahren. Durch die Vereinigung von menschlicher und göttlicher Natur in Jesus Christus sollte die menschliche nicht verändert werden. Das bedeutete, dass beide keine allzu enge Einigung eingehen durften. Man spricht von einer ‚Trennungschristologie‘. Als bildhafte Illustration hat man die Analogie von einem Kleidungsstück verwendet: Die göttliche Natur hat die menschliche angenommen, wie man ein Kleidungsstück anzieht. Beide, Träger und Kleidungsstück, sind dann miteinander verbunden, aber auf eine Art, dass ihre jeweiligen Eigenschaften unverändert bleiben. Die Idee dahinter war, die Vorstellung von der Erlösung durch die Menschwerdung nicht in Gefahr zu bringen: Nur wenn Gott in der Inkarnation tatsächlich die menschliche Natur als menschliche angenommen hat, kann sie erlöst werden. Die andere, in Alexandria vertretene Richtung ist davon ausgegangen, dass die göttliche Natur die menschliche in sich völlig aufgehen lässt, sodass am Ende nur noch eine einzige gottmenschliche Natur übrigbleibt, in der die menschliche Seite kaum noch eine Rolle spielt. Der Begriff zur Beschreibung dieser Vorstellung lautet ‚Einigungschristologie‘. Auch hier gibt es ein aussagekräftiges Bild: Wenn man einen Becher Honig ins Meer gießt, so wird er vom Meer völlig absorbiert. Der Honig verschwindet zwar nicht, aber er spielt keine Rolle mehr; die Meeresnatur ist dominant. Die menschliche Natur hat es zwar gegeben, aber im Moment der Einigung geht sie in der göttlichen Natur auf. Auch hinter dieser Vorstellung steht die Sorge, dass die Erlösung falsch gedacht werden könnte: Wenn die menschliche Natur zu wichtig ist, könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Mensch in der Lage sei, sich selbst zu erlösen und damit des göttlichen Eingreifens nicht mehr bedürfe. 89

Hinter beiden Konzeptionen, die auf den ersten Blick recht theoretisch und abstrakt erscheinen mögen, steht also ein eminent wichtiges Anliegen: Es geht um das rechte Verständnis der Erlösung durch Jesus Christus in der Menschwerdung. Gott ist Mensch geworden, er hat menschliche Natur angenommen, und dadurch können auch die Menschen „Anteil an der göttlichen Natur erlangen“ (2 Petr 1,4). Die Erlösung wurde also gedacht als Verbindung der göttlichen Natur mit der menschlichen, damit diese aus ihrem erlösungsbedürftigen Zustand gelangen kann. Die Unstimmigkeit lag darin, wie genau dieser Prozess zu denken sei. Da es aber um die Zentralaussage des Christentums ging – die Menschen sind durch Christus erlöst –, wurde so intensiv um das Verständnis der Vereinigung der beiden Naturen gestritten. Es war kein rhetorisches oder philosophisches Geplänkel, sondern es ging um den Kern des Glaubens, um das Sein oder Nichtsein des Christentums, nämlich die Erlösung.

3.2 Das Konzil von Ephesos 431 Das Problem wurde relevant, als ein Theologe aus Antiochien namens Nestorius Patriarch von Konstantinopel wurde. Der Streit entzündete sich konkret an der Frage, wie man Maria, die Mutter Jesu, nennen sollte: Gottesgebärerin oder Menschengebärerin (vgl. Perrone 1993, 86– 88). Hinter diesen Bezeichnungen stehen theologische Positionen: Hat Maria einen Menschen geboren, dann steht eben die menschliche Natur von Jesus Christus im Vordergrund, und die göttliche wird als eher davon getrennt verstanden – das wäre das antiochenische Verständnis. Der Begriff ‚Gottesgebärerin‘ (griech. theotókos; im deutschen Sprachgebrauch hat sich „Mutter Gottes“ eingebürgert) hingegen betont, dass menschliche und göttliche Natur von Anfang an so eng miteinander verbunden waren, dass sie, wie es hieß, „zu keinem Moment“ voneinander getrennt waren. Nestorius lehnte diesen Begriff ab und setzte sich für den vermittelnden Ausdruck ‚Christusgebärerin‘ ein, um sicherzustellen, dass die menschliche Natur Christi nicht bedeutungslos wird. Es kam zu einem Konflikt zwischen ihm und Patriarch Kyrill von Alexandria, der auf dem Begriff ‚Gottesgebärerin‘ beharrte. Nach seiner Auffassung gebe es in Jesus Christus nur eine, nämlich die gottmenschliche Natur. Kaiser Theodosius II. berief im Jahr 431 ein Konzil nach Ephesos ein, auf dem der Streit gelöst werden sollte (zum Verlauf Perrone 1993, 91–100). Das Konzil fand in einem kirchenpolitischen Kontext mit deutlichen Frontstellungen statt: Kyrill wurde vom römischen Bischof Coelestin I. unterstützt, der die Position des Nestorius für häretisch hielt. Nestorius selbst war davon überzeugt, nichts anderes als das zu vertreten, was er in seiner Zeit in Antiochia immer geglaubt und gelehrt hatte, und genoss die Unterstützung vieler Bischöfe aus dem Patriarchat von Antiochien. Das Konzil selbst war eigentlich eine Reihe von verschiedenen Versammlungen, die beide Seiten jeweils unter sich abhielten und bei denen sie 90

sich gegenseitig verurteilten und exkommunizierten. Im Nachhinein wurden die von Kyrill und seinen Anhängern dominierten Zusammenkünfte als das Konzil von Ephesos anerkannt. Der Kaiser, der selbst nicht anwesend war, hatte zunächst Nestorius, den Patriarchen seiner Residenzstadt, unterstützt und sogar Kyrill in Haft nehmen lassen. Schließlich aber setzte sich die alexandrinische Gruppe durch, die auch zahlenmäßig größer war als die antiochenische. Nestorius wurde abgesetzt und verbannt. Die Bezeichnung ‚Gottesgebärerin‘ für Maria wurde für rechtgläubig erklärt. Im Nachgang dieses Konzils entstand eine erste große und anhaltende Kirchenspaltung: Die Kirche im Sassanidenreich, das im Osten (in Persien) an das Römische Reich grenzte, hatte sich zu Anfang des 5. Jahrhunderts selbstständig organisiert, war aber in Kommuniongemeinschaft mit der Kirche innerhalb des Reiches. Da diese Kirche aus der antiochenischen Tradition stammte, lehnte sie die Beschlüsse von Ephesos ab. Der Kaiser hatte keine Möglichkeit, sie zu disziplinieren, da sie ja nicht innerhalb seines Herrschaftsgebiets war. Es kam zum Bruch der Kirchengemeinschaft. Als Nestorius etwa 450 im ägyptischen Exil starb, wurde er von der Kirche im Sassanidenreich bald als Heiliger verehrt. Diese ‚Assyrische Kirche‘ verbreitete sich weit über ganz Asien und wurde erst durch die mongolischen Eroberungen sowie später durch die Dominanz des Islam dezimiert. In der Neuzeit hat sie sich mehrfach gespalten, doch sie existiert bis heute, vor allem im Irak.

3.3 Die Lösung des Konzils von Chalkedon 451 Da die zahlreichen gegenseitigen Absetzungen, die Anerkennung des Konzils und auch die politischen Interventionen die Situation nicht beruhigt hatten, sah sich der Kaiser bemüßigt, in der dogmatischen Frage erneut einzuschreiten. Im Jahr 433 wurde eine Einigung erzielt, deren vermittelnde Position für beide Seiten akzeptabel schien, die allerdings auch nicht zu einer dauernden Lösung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus beitrug (vgl. Fürst 2012, 489). Nach wenigen Jahren entbrannte der Streit erneut. Zunächst gelang es den Vertretern einer extremen alexandrinischen Position, sich durchzusetzen: Der Mönch Eutyches sagte, dass es zwar eine menschliche und eine göttliche Natur bei Christus gebe, aber nach ihrer Vereinigung in der Menschwerdung existiere nur noch eine einzige, nämlich die göttliche Natur. Diese Position nannte man ‚Monophysitismus‘ (etwa: Lehre von nur einer Natur, im Gegensatz zum ‚Miaphysitismus‘, der Einnaturenlehre, wie sie etwa Kyrill vertreten hatte). Mithilfe des alexandrinischen Patriarchen Dioskur wurde diese Lehre 449 auf einem Konzil in Ephesos durchgesetzt, gegen den Widerstand zahlreicher Bischöfe aus der ganzen damals bekannten Welt, aber mit Unterstützung des Kaisers. Ein neuer Kaiser kam ins Amt und berief 451 ein weiteres Konzil nach Chalkedon ein, um eine Lösung herbeizuführen 91

(vgl. Perrone 1993, 107–117). Das Konzil von Ephesos 449 wurde als ‚Räuberkonzil‘ für ungültig erklärt, und unter Rückgriff auf ein Schreiben des römischen Bischofs Leo I. (‚der Große‘) wurde eine Einigung erzielt. Der Text des Konzils von Chalkedon versucht in mannigfaltigen Formulierungen einen Kompromiss zu finden (siehe Brox 1983, 194–197). Zunächst werden die menschliche und die göttliche Natur in einer Aneinanderreihung von Aussagen betont; dann lautet die Kernaussage der Konzilsentscheidung: „Ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereint; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe.“ (DH, Nr. 302) Mit diesen Worten versucht das Konzil, beiden Seiten entgegenzukommen. Deutlich ist die Betonung der Unteilbarkeit der Person Jesu Christi, der nicht in zwei Teile getrennt werden darf. Die Präposition „in“ („in zwei Naturen“) verweist darauf, dass beide Naturen auch nach der Menschwerdung erhalten bleiben und ist somit gegen den extremen Monotheismus des Eutyches gerichtet. Von den vier verneinenden Adverbien „unvermischt, unveränderlich, ungetrennt, unteilbar“ richten sich die ersten beiden gegen die alexandrinische Richtung – die Naturen sollen nicht vermischt werden und unverändert erhalten bleiben. Jesus Christus ist und bleibt „wahrer Gott und wahrer Mensch“. Die anderen beiden hingegen lehnen einen extremen Nestorianismus ab – es ist nicht zulässig, die beiden Naturen voneinander zu spalten. Der Begriff der ‚Person‘ bezeichnet dabei das, worin die beiden Naturen geeint sind, also gewissermaßen das Eine, sodass die Aussage „eine Person in zwei Naturen“ als Kurzformel für den Beschluss dienen kann. Auch die Entscheidung von Chalkedon hat zu einer Kirchenspaltung geführt. Die Kirchen in den Gebieten, die von der alexandrinischen Theologie geprägt waren, akzeptierten das Konzilsergebnis nicht. Solange sie unter der politischen Kontrolle des Reiches standen, konnten die Kaiser versuchen, das Ergebnis polizeilich durchzusetzen. Als diese Gebiete jedoch nach und nach von den Arabern erobert wurden, setzten sich die Kirchen durch, die Chalkedon ablehnten, zumal sie von den Eroberern auch noch unterstützt wurden. So lösten sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte die Kirchen der koptischen Tradition (Ägypten, Äthiopien und später auch Eritrea), die syrische Kirche (Syrien und Indien) sowie die armenische Kirche aus dem Verband der Gesamtkirche. Diese Kirchen bestehen bis heute und werden zumeist Orientalisch-Orthodoxe Kirchen genannt, im Unterschied zu den Byzantinisch-Orthodoxen Kirchen, die – wie die westlichen Kirchen – Chalkedon anerkennen. Theologisch war durch die Konzilsentscheidung die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus im Prinzip gelöst. Im Westen des Reiches 92

wurde Chalkedon tatsächlich auch kaum angezweifelt. Im Osten hingegen wurde diese Lösung in den kommenden Jahrhunderten immer wieder in Frage gestellt, sodass sich auch die nächsten Ökumenischen Konzilien mit den Themen der Christologie beschäftigten. Dabei wurde versucht, das Konzil von Chalkedon im Sinne von Kyrill zu interpretieren, also die göttliche Natur als die bestimmende zu verstehen (‚Neochalkedonismus‘), um die in dieser Frage zerstrittene Kirche im östlichen Teil des Reiches zu befrieden. Diese Betonung Jesu Christi als Gott und die gleichzeitige Vernachlässigung seiner menschlichen Natur ist für die Frömmigkeit im Christentum für viele Jahrhunderte maßgebend geblieben.

Anmerkung Die Konzilsentscheidungen sind zitiert nach Heinrich Denzinger (= DH), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017.

Zitierte Literatur Brox, Norbert (1983), Kirchengeschichte des Altertums (Leitfaden Theologie 8), Düsseldorf (vor allem 169–197). Dünzl, Franz (2019), Geschichte des christologischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg. Fürst, Alfons (2012), Die Ökumenischen Konzilien der Alten Kirche, in: Bischof, Franz Xaver, u. a., Einführung in die Geschichte des Christentums, Freiburg, 467–494. Perrone, Lorenzo (1993), Von Nicaea (325) nach Chalcedon (451), in: Alberigo, Giuseppe (Hg.), Geschichte der Konzilien. Vom Nicaenum bis zum Vaticanum II, Düsseldorf, 22–134.

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Gottesbilder Clauß Peter Sajak

Unsere Vorstellungen und Bilder von Gott entwickeln sich während unseres Lebens. Dies liegt zum einen daran, dass wir tagtäglich eine Fülle von Erfahrungen machen, die unser Verhalten und unsere Denkweisen verändern: Wir lernen. Zum anderen entwickeln sich über die Lebensjahre mit unserem Körper auch die kognitiven Strukturen, mit denen wir geistig operieren: Unser Denken wird komplexer. In der Wechselwirkung dieser beiden Phänomene entwickelt sich auch unser religiöses und moralisches Denken. So beschreibt der siebenjährige Christian sein selbstgemaltes Bild von Gott noch wie folgt: „Gott sitzt auf einer Wolke im Himmel. Und da sagt er, was er immer will. […] Und hier, das hat er ja alles erschaffen, die Blumen, die Tiere und die Menschen. Die beten Gott an, das sind auch Heilige und das sind so Strahlen, damit die Menschen besser werden, Liebesstrahlen. Das ist der Heiligenschein von Gott und das Herzen für seine Liebe.“ (Sajak 2020, 68)

Dagegen erläutert Roland, ein junger Erwachsener Mitte 20, seine Gottesvorstellungen wesentlich ausführlicher: „Gott hat mir noch keine einzige [meiner] Fragen beantwortet. Ehrlich gesagt bezweifle ich auch stark, dass er das jemals machen wird. Aber er hat mich mit diesen Fragen über das Leben nie alleine gelassen. Das ist die Gewissheit, die ich habe: Ich bin nicht allein. Er ist bei mir. Das klingt jetzt vielleicht seltsam und komisch, aber es ist so: Ich glaube daran, dass Gott alle Zeit da ist – und den Menschen Halt gibt. In Zeiten des Zweifels, da besonders, ist jedenfalls bei mir so, aber sonst auch. Ich kann das nicht beweisen, ich kann das nicht erklären, ich kann das nicht demonstrieren. Aber wenn ich bete, am liebsten frei, fühle ich es. Wenn ich in eine Kirche gehe, am besten eine leere, rührt es mich. Wenn ich in der Bibel lese, meistens die Psalmen, spüre ich es. Bin ich deswegen seltsam? Möglich. Aber wenn ja, dann nicht mehr als jeder andere.“ (Schulz 2004, 22).

Diese beiden Zitate beschreiben ganz unterschiedliche Gottesbilder, die aber für die jeweiligen Lebensphasen typisch sind. Während Kinder im Vorschulalter und in den ersten Jahren der Grundschule Gott häufig als menschenähnliches Wesen mit übernatürlichen Eigenschaften in einem als Himmel bezeichneten Herrschaftsbereich beschreiben, stellen Erwachsene Gott oft 94

als eine unfassbare, aber spürbare höhere Macht oder als eine innere Gewissheit, als ein Gefühl der Geborgenheit, dar. Dazwischen liegen die Jahre der späten Kindheit und des Jugendalters, in denen das kindliche Gottesbild durch Erzählungen und Geschichten aus der religiösen Tradition angereichert und erweitert wird. Lothar Kuld fasst deshalb die Entwicklung des Gottesbildes über die Lebensalter in dem Bild eines Dreischritts zusammen: vom Körper über die Sage zur Seele.1

1 Körper – Sage – Seele: Gottesbilder sind dynamisch Kuld überschreibt die erste Phase der Gottesbildentwicklung als Körper, weil die Vorstellung eines göttlichen Wesens sich in der frühen Kindheit vor allem anthropomorph gestaltet, Gott also mit Körper menschenförmig als allmächtiger und magisch wirkender „Bestimmer“ verstanden wird. Ein anderer Begriff für diese Phase ist Mystizismus, weil hier ein phantastisch geheimnisvolles Gottesbild entwickelt wird, das auch die Elemente des Artifizialismus und des Finalismus aufweist: „‚Der liebe Gott kocht, putzt den Boden und bringt den Müll runter.‘ […] Und er sorgt dafür, dass sich die Kinder freuen. Er schickt den Schnee, sagt die fünfjährige Noemi, damit sie sich freut. Ihr Kommentar zu [… einem] Schneebild lautet: ‚Gott ist im Himmel.‘ Dort wohnt Gott. Und von dort kommt der Schnee. Der Schnee, sagt sie, kommt von Gott!“ (Kuld 2011, 24). Bereits im Übergang von der Kindertageseinrichtung zur Grundschule entwickeln viele Kinder dann eine realistische Vorstellung vom Übernatürlichen, die sich an sogenannten literarischen Gottesbildern, in der Regel aus biblischen Geschichten gewonnen, festmacht. Lothar Kuld wählt für diese Phase den Begriff der Sage, weil hier religiöse Ereignisse, Personen und Wirkungen in den logischen Zusammenhang von Berichten und Erzählungen gefasst sind. So erklärt der zehnjährige Sascha, „dass die Geschichten von Gott gar nicht so gemeint sind, wie sie dastehen. Zuerst war Gott auch für Sascha wohl wie ein Mensch über den Wolken, dann kein Mensch, aber ‚fast wie ein Mensch‘, dann ‚ein Geist‘, jetzt ‚eine Sage‘. Eine Sage kann man sich wie einen Geist, wie einen Menschen über den Wolken, denken, aber man kann diese Wirklichkeit der Sage nicht sehen. Gott ist eine große Erzählung.“ (ebd., 45 f.) Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass ein Zusammenhang von religiöser Bildung und Erziehung an den Texten der Bibel bzw. durch religiöse Gespräche und Diskussionen die Fortentwicklung vom mystischen zum realistischen Gottesbild nachdrücklich unterstützt.



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Die folgenden Abschnitte des Beitrags sind eine überarbeitete Version meiner Ausführungen in: Sajak, Clauß Peter (2020), Kinder verstehen lernen, in: Möller, Rainer/Sajak, Claus Peter (Hg.), Religionspädagogik für Erzieherinnen – Ein ökumenisches Arbeitsbuch, Stuttgart, 44–79.

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Die dritte Phase überschreibt Kuld mit dem Begriff Seele: Sie bezeichnet ein Stadium, das von den meisten Menschen im Jugendalter erreicht werden kann, wenn es darum geht, kindliche Vorstellungen von Gott und seinem Wirken in der Welt in eine angemessene und vernünftige Form zu überführen. Kuld spricht hier von den sogenannten psychologischen Gottesbildern, in denen Gott jetzt nicht mehr als Gegenüber in einem anderen Wirklichkeitsbereich wie dem Himmel oder als Person, die in der Geschichte wirkt, verstanden wird, sondern als ein Gefühl, eine Ahnung oder eine unsichtbare Wirklichkeit, die uns trägt und die meist im Bereich der Seele oder des Inneren des Menschen verortet wird. So sagt die zwölfjährige Edith: „Später dann, als ich die Kinderbibel ziemlich durchhatte, da ist mit klar geworden, dass Gott eigentlich jemand ist, zu dem man alles sagen kann, also dass Gott einfach ist wie eine große Kraft, die alles wieder gutmachen kann.“ (ebd., 51 f.)

Abb. 3: Religiöse Entwicklung nach Lothar Kuld (vgl. Sajak 2020, 57) Für Kuld ist der Dreischritt Körper – Sage – Seele, also vom Mystizismus über den Realismus hin zum Psychologismus, das Ergebnis einer gelungenen Bearbeitung der sogenannten Unsichtbarkeitsproblematik, die Kinder über die ersten zehn Lebensjahre hin bewältigen müssen, denn schließlich ist der Gott der christlichen, aber auch der jüdischen und muslimischen Tradition ein Gott, der sich unseren sinnlichen Erfahrungen und handelnden Zugriffen entzieht und immer unverfügbar und unsichtbar bleibt. Von kindlichen Vorstellungen menschenähnlicher Götter hin zu einem erwachsenen Verständnis von Gott als einen unsichtbaren Urgrund unserer Wirklichkeit zu gelangen, ist nach Kuld entsprechend das Ziel einer angemessenen religiösen Bildung und Erziehung im Kindesalter.

2 Goldman – Fowler – Oser: Stufentheorien zur religiösen Entwicklung In der Religionspsychologie sind in den vergangenen fünfzig Jahren verschiedene Theorien konzeptioniert worden, mit denen die Entwicklung des religiösen Denkens und die damit 96

verbundene Veränderung des Gottesbildes modellhaft dargestellt und erklärt werden sollen. Alle diese Modelle gründen auf dem Werk Jean Piagets (1896–1980), der in seiner Theorie des kognitiven Strukturalismus die Entwicklung des menschlichen Denkens durch das Zusammenspiel von Umwelteinflüssen und Denkoperationen zu erklären versucht hatte. So verband der amerikanische Entwicklungspsychologe Ronald Goldman die Theorie der kognitiven Entwicklung Piagets mit einer Theorie zur Entwicklung des religiösen Denkens: Den drei Stadien bei Piaget ordnete er analoge Stufen religiöser Entwicklung zu, die er durch eine empirische Studie mit Menschen unterschiedlicher Altersgruppen gewann (Goldman 1964). Dafür hatte er den Probanden biblische Geschichten vorgelegt (Mose am brennenden Dornenbusch, Ex 3; Mose erhält die Zehn Gebote, Ex 20; die Versuchung Jesu in der Wüste, Mk 1), die diese im Rahmen von Interviews interpretieren sollten. Die Antworten kategorisierte er nach Komplexitätsstufen religiöser Weltdeutung, die er an Piagets Stadienbeschreibung anlehnte. Daraus entstand folgendes Schema: Stadien der kognitiven

Stadien der religiösen Kognition nach Goldman

Entwicklung nach Piaget Präoperatorisch

Intuitives religiöses Denken Religiöse Inhalte werden „fragmentarisch“, „unsystematisch“ und „simplifizierend“ verstanden. Die symbolische Struktur religiöser Sprache wird nicht durchschaut, Gott menschengestaltig (anthropomorph) aufgefasst. Häufig transduktive (das heißt eine Beziehung zu bekannten Sachverhalten herstellende) Schlüsse: „Warum wollte Jesus, als er in der Wüste hungerte, nicht Steine in Brot verwandeln?“ – „Weil er Brot nicht mag!“

Konkretoperatorisch

Konkretes religiöses Denken Magische, animistische und anthropomorphe Elemente verschwinden; die Repräsentation religiöser Inhalte erhält mehr Kohärenz und Objektivität. Symbolische Sprache wird aber nach wie vor konkret wortwörtlich verstanden: „Nur Mose konnte Gott reden hören; die Leute neben ihm konnten ihn nicht hören, denn Gott hat ganz leise gesprochen.“

Formaloperatorisch

Abstraktes religiöses Denken Die symbolisch-metaphorische Struktur religiöser Rede wird durchschaut; auch das religiöse Denken ist „hypothetisch“ und „zusammenhängend“: „Der brennende Dornbusch ist ein Symbol und bedeutet für Mose, dass er nicht auf diesen Platz gehen soll.“

Ronald Goldmans Modell religiöser Entwicklung (Oser/Bucher 1995, 1047) 97

Es ist deutlich erkennbar, wie dem vor-operatorischen Stadium das intuitiv religiöse Denken, dem konkret-operatorischen das konkrete religiöse Denken und dem formal-operatorischen Denken das abstrakt religiöse Denken zugeordnet ist. Weil die drei Stufen religiösen Denkens mit dem Alter regelmäßig abnehmend auftraten, konnte der Wissenschaftler zeigen, dass sich analog zur kognitiven Entwicklung auch das religiöse Denken über die Lebensalter von einem intuitiven hin zu einem abstrakten Denken entwickelt. Das Modell von Goldman gilt als erster Versuch, die Schemata des kognitiven Strukturalismus Piagets religionspsychologisch zu adaptieren. Zwanzig Jahre nach ihm hat James W. Fowler in den 1980er Jahren mit seinen Stufen der Glaubensentwicklung ein wesentlich stärker ausdifferenziertes und detaillierteres Modell zur Entwicklung von Glaubensvorstellungen vorgelegt. Stufen des Lebensglaubens nach James Fowler Stufe 0: Erster Glaube Glaube ist vorsprachlich und besteht im Urvertrauen, das dem Kleinkind geschenkt wird und das es ihm ermöglicht, seinerseits der Umwelt zu vertrauen. Stufe 1: Intuitiv-projektiver Glaube Die Glaubenswelt des Kindes wird von Intuitionen und Phantasievorstellungen dominiert; das Kind projiziert Wünsche und Projektionen vorzugsweise auf magische Symbolgestalten. Stufe 2: Mythisch-wörtlicher Glaube Der Realitätssinn des Kindes nimmt zu. Religiöse Sprache und Symbole versteht es wortwörtlich, auch neigt es zu Anthropomorphismen. Bedeutsam sind „stories“, die dem Kind Lebenssinn vergegenwärtigen können. Stufe 3: Synthetisch-konventioneller Glaube Der Jugendliche orientiert sich an Glaubensinhalten anderer, die er übernimmt und zusammenstellt (synthetisiert). Stufe 4: Individuierend-reflektierender Glaube Von seiner neu erreichten Individualität aus vermag der Heranwachsende den frühen Glauben kritisch zu durchdringen, mitunter als konventionell zurückzuweisen, um einen eigenen Standpunkt zu beziehen.

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Stufe 5: Verbindender Glaube Der Heranwachsende relativiert seine glaubensmäßige Position, erkennt und anerkennt andere mögliche Standpunkte und verbindet diese zu einem umfassenden Glaubenssystem, das durch Toleranz ebenso geprägt ist wie durch einen gewissen Relativismus. Stufe 6: Universalisierender Glaube Der Glaube umgreift das gesamte Sein und Dasein. Ein Symbol dafür ist das allumfassende „Reich Gottes“. Als Repräsentanten dieser Stufe nennt Fowler herausragende Gestalten wie Martin Luther King und Mutter Teresa. James W. Fowlers Modell der Glaubensentwicklung (vgl. Oser/Bucher 1995, 1048–1049)

Anders als Goldman geht es Fowler bei der Konzeption seiner Theorie nicht nur um die Beschreibung und Einordnung religiöser Entwicklung, sondern auch um eine Hilfestellung bzw. um ein Instrument für die seelsorgerische Begleitung von Menschen. Zu diesem Zweck hat er verschiedene Stufenmodelle aus Sozial- und Entwicklungspsychologie in sein Modell integriert, so die Theorie der sozialen Entwicklung von Erik H. Erikson (1973) und die Theorie der Selbst-Konstruktion von Ronald Kegan (1991). Berühmt geworden ist der offene Glaubensbegriff, den Fowler für seine Theorie verwendet hat: Er nutzt eine im Englischen verwendete Differenzierung des Glaubensbegriffs, um zwischen „faith“, der Grundhaltung des Vertrauens und Hoffens auf eine höhere Macht, und „belief“, dem Glauben an bestimmte Inhalte, zu unterscheiden. In seinem Modell will er „faith“, also die funktionale Seite des Glaubens, beschreiben, während „belief“ als substantiale Dimension eher auf bestimmte Stadien eines konkret-synthetischen Glaubens beschränkt wird (Fowler 1981). Ein ähnliches Stufenmodell entwickelten zu dieser Zeit auch die Religionspsychologen Fritz Oser und Paul Gmünder: Sie konzentrierten sich dabei auf die Frage, wie sich das religiöse Urteil bei Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Entwicklungs- und Altersstufen entwickelt. Zu diesem Zweck legten sie in Anlehnung an Lawrence Kohlbergs Stufentheorie zur Moralentwicklung ihren Versuchspersonen eine Dilemma-Geschichte vor: Im sogenannten „Paul-Dilemma“ verspricht ein Arzt in der Extremsituation eines Flugzeugabsturzes Gott, seine Karriere aufzugeben und als Entwicklungshelfer nach Afrika zu gehen, sollte er überleben. Paul überlebt tatsächlich den Absturz und muss nun entscheiden, wie verpflichtend sein Versprechen gegenüber Gott sein soll. Aus den Antworten der Probanden entwickelten die beiden Wissenschaftler dann ihr Stufenmodell (Oser/ Gmünder 1984).

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Stufen der religiösen Entwicklung nach Fritz Oser/Paul Gmünder Stufe 1 Orientierung an absoluter Heteronomie (Deus ex machina) Gott ist aktiv und greift unvermittelt in die Welt ein. Der Mensch kann nur reagieren: Er steht deshalb unter Erwartungsdruck. Auch hier herrscht Artifizialismus vor. Stufe 2 Orientierung an „Do ut des“ Gott wird noch immer als Gegenüber und als allmächtig gesehen: Er straft oder belohnt. Gott ist nun aber beeinflussbar. Der Mensch kann nun vorbeugend auf ihn einwirken. Der Mensch hat somit zumindest eine beschränkte Autonomie. Stufe 3 Orientierung an absoluter Autonomie (Deismus) Gott wird aus der Welt gedrängt, Transzendenz (Jenseits) und Immanenz (Diesseits) werden als voneinander getrennt gesehen. Der Mensch ist autonom und selbstverantwortlich für die Welt und sein Leben. Oftmals werden religiöse und kirchliche Autorität abgelehnt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Betonung der Ich-Identität, Ablösung von den Erziehungsmächten der Eltern und Lehrerinnen bzw. Lehrer. Stufe 4 Orientierung an vermittelter Autonomie und Heilsplan Gott wird mit dem Diesseits wieder vermittelt, sei es als Ermöglichungsgrund, sei es als Chiffre des „self“. Mannigfaltige Formen von Religiosität, wobei aber Ich-Autonomie vorausgesetzt und nicht mehr in Frage gestellt wird: Naturfrömmigkeit, Kontemplation, gesellschaftliches Engagement, in dem Gott Ereignis wird. Der Mensch gibt seinen Anspruch auf, alles aus sich selbst heraus leisten zu können, vertraut aber wieder Gott oder einem göttlichen Prinzip. „Gottesbilder“ existieren nun vor allem als Symbole oder universale Prinzipien. Stufe 5 Orientierung an religiöser Intersubjektivität Völlige Vermitteltheit von Gott, dem menschlichen Dasein und der Welt. Unbedingte Religiosität. Der Mensch nimmt einen ganz und gar religiösen Standpunkt ein und braucht sich nicht mehr an einen Heilsplan, eine religiöse Gemeinschaft etc. zurückzubinden, sondern erfährt sich als immer schon und unbedingt angenommen. Verschiedene Ausprägungen: unbedingte Intersubjektivität, unio mystica, Boddhi usw. Oser/Gmünder: Stufen der religiösen Urteilsentwicklung (Oser/Gmünder 1984, 80)

100

Für die Arbeit mit Kindern in der Primarstufe sind vor allem die ersten beiden Stufen in diesem Modell von Bedeutung, denn sie entsprechen der Altersspanne zwischen Kleinkind und älterem Kind, also ungefähr zwischen dem zweiten und zwölften Lebensjahr. Sie decken sich damit mit der vor-operationalen und der konkret-operationalen Phase bei Piaget und enthalten entsprechend gut erkennbar Merkmale des kindlichen Weltbildes. Die erste Stufe überschreiben Oser/Gmünder mit Orientierung an absoluter Heteronomie (Deus ex machina). Das Kind empfindet sich gegenüber Gott als ausgeliefert und von diesem fremdbestimmt (gr. hetero-nomos = von anderen das Gesetz bekommen), denn dieser ist aktiv und greift unvermittelt in die Welt ein. Der Mensch kann nur reagieren: Er steht deshalb unter dem Erwartungsdruck, Gott zu gehorchen und zu gefallen. Im Falle seines Versagens kann Gott jederzeit ‚auf der Bühne erscheinen‘ (so wie der Deus ex machina, der in der griechischen Tragödie aus der Kulisse auf die Bühne rollte  – deshalb „Maschinengott“) und sein Urteil sprechen. Entsprechend sind hier Artifizialismus und Anthropomorphismus erkennbar. Auf der zweiten Stufe, die mit Orientierung an ‚Do ut des‘ (lat. für „Ich gebe, damit Du gibst“) überschrieben ist, wird Gott zwar immer noch als allmächtig gesehen und als Gegenüber, das straft oder belohnt. Doch Gott ist nun beeinflussbar: Der Mensch kann nun vorbeugend auf ihn einwirken, dadurch, dass er mit ihm gemäß dem Tauschprinzip Do-ut-des handelt, indem er Gebete, Wohlverhalten oder Opfer als Preis für die göttliche Gunst anbietet. Der Mensch hat somit zumindest eine beschränkte Autonomie. Es ist charakteristisch für das durch Pubertät und Adoleszenz geprägte Jugendalter, dass Gott nun aus der Welt gedrängt wird, denn der junge Mensch will jetzt autonom und selbstverantwortlich für die Welt und sein Leben sein. Typischerweise werden religiöse und kirchliche Autoritäten abgelehnt, aber auch die Erziehungsmächte der Eltern und Lehrer:innen verlieren an Einfluss. Die Sphären von Transzendenz (Jenseits) und Immanenz (Diesseits) werden als voneinander getrennt gesehen. Oser/Gmünder haben für diese dritte Stufe die Überschrift Orientierung an absoluter Autonomie (Deismus) genannt: Mit Deismus wird eine Gottesvorstellung in der Philosophie der französischen Aufklärung bezeichnet, in der Gott die Welt zwar geschaffen hat, in diese seitdem aber nicht mehr eingreift. So verhält es sich auch mit Gott aus der Perspektive der Jugendlichen. Wird der Deismus des Jugendalters erfolgreich überwunden, kann der Mensch eine Form der mündigen und reflektierten Gottesbeziehung entwickeln, in der er um seine Autonomie, aber auch um deren Geschenkcharakter weiß: Er ist frei, aber diese Freiheit ist nicht selbstverständlich, sondern von Gott gegeben. Deshalb lautet der Schlüsselbegriff für die vierte Stufe vermittelte Autonomie und Heilsplan. Gott wird mit dem Diesseits wieder vermittelt, nämlich als Ermöglichungsgrund der eigenen Freiheit. Der Mensch gibt seinen Anspruch auf, alles aus sich selbst heraus leisten zu können, vertraut aber wieder Gott und seinem Heilsplan, den er für jeden einzelnen Menschen hat. 101

Nur wenige Menschen erreichen schließlich die fünfte Stufe der Orientierung an religiöser Intersubjektivität, auf der Gott, das menschliche Dasein und die Welt zusammenfallen. Ein Mensch, der diese Stufe erreicht hat, nimmt einen ganz und gar religiösen Standpunkt ein und braucht sich nicht mehr an einen Heilsplan, eine religiöse Gemeinschaft etc. zurückzubinden, sondern erfährt sich als immer schon und unbedingt angenommen. Oser/Gmünder selbst haben als Beispiel für eine Person auf dieser Stufe die Heilige Mutter Teresa (1910–1997) angeführt, weil in ihrer bedingungs- und selbstlosen Liebe der Armen in den Slums Kalkuttas die Gottesbegegnung im Zwischenmenschlichen konkret und erfahrbar geworden ist.

3 Gott – Glaube – Moral: Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung Wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt, verwenden Oser und Gmünder für ihre Theorie der religiösen Urteilsbildung ein Stufenschema und eine Dilemma-Methode, wie sie als Struktur und Methode von Lawrence Kohlberg im Rahmen seiner Theorie der Moralentwicklung entworfen worden waren. Das ist insofern schlüssig, als dass beide Modelle versuchen, die Entwicklung der Urteilsfähigkeit von Menschen zu beschreiben: Dabei ging Kohlberg der Frage nach, wie der Mensch sein Verhältnis zu anderen Menschen gestaltet und Oser/Gmünder untersuchten, wie der Mensch sein Verhältnis zu einem Ultimaten (Gott, Allah, Brahman etc.) wahrnimmt und reflektiert. Es geht also um Moral und Glaube und damit um zwei zentrale Dimensionen von Religiosität. Denn wie alle Religionen hat auch das Christentum aus seinem Gottesbild heraus ein komplexes Ethos entwickelt, das den Gläubigen Orientierung für ein rechtes Handeln in dieser Welt geben will. Dabei werden vor allem aus der Verkündigung Jesu Prinzipien, Werte und Normen abgeleitet: Aus der Orthodoxie (= Glaubenslehre) folgt eine Orthopraxie (= Handlungslehre), wie es der amerikanische Religionssoziologie Charles Glock in seinem Modell der Mehrdimensionalität von Religiosität formuliert hat (vgl. Glock 1969). Glock benennt hier fünf Dimensionen, deren erste als Glaubensdimension die Merkmale Orthodoxie und Ethikalismus, also eine konkrete Orthopraxie aufweist (ebd., 155–159). Nun ist die christliche (wie auch die jüdische) Ethik besonders umfangreich und komplex ausgebildet und erfordert entsprechend Wege und Verfahren, um ethisches Lernen und moralische Entwicklung anzuleiten und zu begleiten (Sajak 2015). Ein bedeutender und häufig praktizierter Ansatz in diesem Zusammenhang ist eben die Methode der sogenannten Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg. Anknüpfend an Jean Piaget hatte Kohlberg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine umfangreiche empirische Forschung ein Stufenmodell der moralischen Urteilsfähigkeit entwickelt. In diesem vertritt er die These, dass sich die Fähigkeit des Menschen, in Konfliktsituationen moralische Urteile zu fällen, über das Lebensalter und unter der Wirkung von Bildung und Erziehung stufenweise von einem kindlichen Niveau der Strafvermeidung hin zu 102

einer Moral der sogenannten postkonventionellen Ebene fortentwickelt. Während im Kindesalter individuelle Bedürfnisse und Interessen im Vordergrund stehen, werden später im Jugend- und Erwachsenenalter gesellschaftlich akzeptierte Normen im Sinne einer Konvention, das heißt einer gemeinschaftlichen Vereinbarung, als moralisches Prinzip akzeptiert. Über diese sogenannte konventionelle Ebene hinaus kann der Mensch auch zu einer postkonventionellen Moral finden, indem er gesellschaftlich vereinbarte Normen noch einmal auf einer Metaebene durch ein individuelles, dem Universalisierungsprinzip folgendes Moralprinzip (z. B. dem Kategorischen Imperativ) hinterfragt. Beweise für die weltweite Gültigkeit seines Modells meinte Kohlberg in über 45 empirischen Studien gefunden zu haben, die er in 27 Ländern durchführte. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten moralischen Niveau wurde in diesem Kontext durch die Stellungnahme zu einer Dilemma-Situation, also einem moralischen Konflikt bestimmt. Besonders bekannt geworden ist das sogenannte „Heinz-Dilemma“, in dem ein Mann namens Heinz vor der Entscheidung steht, ob er ein für seine Frau lebenswichtiges Medikament auf kriminellem Wege beschaffen soll. Je nachdem wie die Proband:innen in dieser Situation entschieden und ihre moralischen Urteile begründeten, wurden sie in die Niveaustufen des Modells eingeordnet. Präkonventionelle

1. Stufe

Ebene

urteilt nach Gesichtspunkten von Lohn und Strafe und unter dem Aspekt physischer Konsequenzen.

2. Stufe

urteilt nach dem Schema ‚Jedem das Seine‘, ‚Wie du mir, so ich dir‘. Es ist eine Austauschansicht, in der Verdienste eine Rolle für Gerechtigkeit spielen.

Konventionelle

3. Stufe

Ebene

urteilt nach dem Prinzip der Goldenen Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“; Rücksicht auf die Gruppe und die Gruppenmehrheit.

4. Stufe

urteilt nach für alle in gleicher Weise gültigen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten. Gesetze werden wichtig, weil sie garantieren, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist.

Postkonventionelle Ebene

5./6. Stufe

Stufe des Sozialvertrags, des sozialen Nutzens und der individuellen Rechte („Gerechtigkeit bedeutet, dass Menschen ihre fundamentalen Rechte wahrnehmen können“); Stufe der universalen ethischen Prinzipien; der Gesellschaft vorgeordneten Perspektive bzw. Perspektive des ‚moralischen Standpunkts‘, von dem sich gesellschaftliche Ordnungen herleiten.

Zusammenfassende Beschreibung der Stufen des moralischen Urteilens nach Kohlberg (Oser/Althoff, Moralische Selbstbestimmung 1997, 54) 103

Insgesamt kam Kohlberg zu dem Schluss, dass die meisten Kinder und Jugendlichen die erste, zweite und dritte Stufe durchlaufen und sich als Erwachsene später auf Stufe drei und vier wiederfinden. Nur wenige Menschen erreichen die Stufen einer sogenannten postkonventionellen Moral (vgl. Kohlberg 1981). Die entwicklungs- und moralpsychologische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat aufzeigen können, dass vor allem Kohlbergs rein instrumentalistische Vorstellungen vom kindlichen Moralverständnis falsch gewesen sind. Schon früh zeigt sich bei Kindern „ein Wissen um die intrinsische Gültigkeit moralischer Normen. Moralische Motivation wird in einem zweiten, zeitlich verzögerten und unterschiedlich erfolgreichen Lernprozess aufgebaut“ (Nunner-Winkler 2012, 535). Die Verdienste Kohlbergs schmälert dies aber nicht: „Gleichwohl bleibt Kohlbergs kognitive Wende für die Moralforschung zentral“ (ebd.). Wertentwicklung, die auf den Ansatz von Kohlberg aufbaut, versucht, Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit zu fördern und damit auf ein höheres moralisches Niveau zu bewegen. Entsprechend setzt dieses Modell auf die intensive Auseinandersetzung mit sogenannten Dilemma-Situationen, an denen die Lernenden verschiedene Werte gegeneinander abwägen und zu moralischen Urteilen kommen sollen. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit moralischen Fragestellungen im Sinne von Konflikten fördert nach Kohlberg eine entsprechende Entwicklung des moralischen Bewusstseins und der ethischen Urteilsfähigkeit.

Zitierte Literatur Erikson, Erik H. (1973), Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. Fowler, James W. (1981), Stages of Faith. The Psychology of the Human Development and the Quest for Meaning, San Francisco. Glock, Charles Y. (1969), Über die Dimension der Religiosität, in: Matthes, Joachim (Hg.), Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Reinbek, 150–168. Goldman, Ronald (1964), Religious Thinking from Childhood to Adolescence, New York. Kegan, Robert (21991), Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, München. Kohlberg, Lawrence (1981), Essays on Moral Development. Vol. 1, San Francisco 1981. Kuld, Lothar (2011), Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, Das Entscheidende ist unsichtbar, Augsburg. Nunner-Winkler, Gertrud (72012), Moral, in: Schneider, Wolfgang/Lindenberger, Ulman (Hg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel, 521–541. Oser, Fritz/Althoff, Wolfgang (Hg.) (31997), Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, Stuttgart.

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Oser, Fritz/Bucher, Anton (1995), Religion – Entwicklung – Jugend, in: Oerter, Rolf/Montada, Leo (Hg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim, 1045–1055. Oser, Fritz/Gmünder, Paul (1984), Der Mensch  – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh. Sajak, Clauß Peter (2015), Ethisches Lernen, in: Sajak, Clauß Peter (Hg.), Christliches Handeln in Verantwortung für die Welt. Theologie studieren – Modul 12, Paderborn, 275–296. Sajak, Clauß Peter (2020), Kinder verstehen lernen, in: Möller Rainer/Sajak, Clauß Peter (Hg.), Religionspädagogik für Erzieherinnen – Ein ökumenisches Arbeitsbuch, Stuttgart, 44–79. Schulz, Roland (2004), Reise ins Ich, in: Fluter 13, 23 f.

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Heilige Norbert Köster

Heilige spielen im Religionsunterricht der Grundschule eine große Rolle. Es sind vor allen Dingen die Heiligen in Herbst und Winter, die im Unterricht vorkommen: Franziskus (4. 10.), Martin (11. 11.), Elisabeth (19. 11.) und Nikolaus (6. 12.). Oft werden zu ihnen allerdings lediglich sehr bekannte Legenden erzählt und nachgespielt, wie z. B. die Mantelteilung des hl. Martin, ohne dass es zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Person des Martin von Tours kommt. Das Erzählen der Legenden nutzt sich nicht nur für Lehrer:innen schnell ab, sondern ist auch für die Kinder auf Dauer wenig spannend, da sie die Geschichten bereits aus dem Kindergarten kennen. Für eine vertiefte Auseinandersetzung sind zwei Aspekte notwendig. Zum einen müssen die Prinzipien biografischen Lernens beachtet werden und zum anderen sind zu den vier Heiligen historische Kenntnisse notwendig, an die biografisches Lernen anknüpfen kann. Daher wird im Folgenden zunächst der Aspekt des biografischen Lernens erläutert. In einem zweiten Schritt werden dann anhand der Biografie der vier genannten Heiligen Ansätze für biografisches Lernen in der Primastufe erläutert.

1 Heilige als Vorbilder Kinder orientieren sich an Vorbildern. In der Regel haben sie Vorbilder aus dem Nahbereich wie z. B. die Eltern, die verlässlich und beständig für sie da sind, und medial vermitteltete Vorbilder aus dem Fernbereich, die sich auf bestimmte „Leistungsbereiche“ beziehen wie Schönheit, Leistungsstärke oder Musikalität (von Eiff 2017, 447 f.). Dabei spielen biblische Gestalten und Heilige allerdings für Kinder in der Regel kaum eine Rolle, auch wenn sie bei Kindern positiv konnotiert sind. „Im Gegensatz zu Vorbildern, die oftmals dem Nahbereich zugeordnet werden und somit durch unmittelbaren Kontakt gekennzeichnet sind, wird zu Heiligen aufgrund ihrer Verortung in der Vergangenheit sowie der ausschließlichen Versteh- und Erklärbarkeit ihrer Handlungsweise unter Zuhilfenahme des Glaubens große Distanz empfunden“ (von Eiff 2017, 385). Andererseits sind Heilige als Vorbilder fester Bestandteil der Lehrpläne für die Primarstufe (vgl. von Eiff 2017, 179–221). Damit stellt sich die Frage, ob und wie Heilige für Kinder eine Bedeutung haben können.

106

1.1 Biografisches Lernen In der religionspädagogischen Forschung der letzten Jahrzehnte hat der Begriff Vorbild eine wechselhafte Geschichte durchlaufen. Heute hat sich ein Verständnis durchgesetzt, das Vorbildern eine positive Funktion zuschreibt, sofern sie ein biografisches Lernen ermöglichen (vgl. Sajak/von Eiff 2017). Damit ist gemeint, dass Schüler:innen durch die Begegnung mit fremden Biografien Handlungsspielräume entdecken, die ihnen vorher nicht bewusst waren. Indem sie lernen, vermeintliche Begrenzungen im eigenen Leben zu überwinden (transitorisches Lernen), erschließen sich ihnen neue „biografische Lebensräume“ und erweitern sie ihre Fähigkeiten im Umgang mit der eigenen Biografie (Ziebertz 2013, 379). Viele Unterrichtsmaterialien zu Heiligen basieren auf einem religionspädagogisch überwundenen Vorbildbegriff, indem sie von Heiligen und deren heroischem Verhalten erzählen und sie nicht selten hochstilisieren (Lindner 2007, 284), aber keine Brücke zum Leben der Schüler:innen bauen. Im Kern bleibt dabei eine „ethisch-funktionale Vereinnahmung“ (Lindner 2007, 283) der Heiligen übrig, die Kinder nicht in ihre Lebenswelt übersetzen können. Insofern ist die Feststellung, dass Kinder mit Heiligen wenig anfangen können, das Ergebnis einer religionspädagogisch zu wenig reflektierten Praxis. Damit in der Begegnung mit fremden Biografien tatsächlich biografisch gelernt werden kann, ist eine Elementarisierung notwendig (vgl. Dierk 2004, 159–219). In diesem Zusammenhang ist damit gemeint, dass fremde Biografien auf Schlüsselerfahrungen hin fokussiert werden. Dazu „gehören Erfahrungen von Trennung, Zuwachs an Selbstvertrauen und Freiheit durch Bewältigung schwieriger Situationen, Änderung der Lebenseinstellung angesichts schwerer Krankheiten und Tod, Erfahrung von Liebe als Geschenk, Schuldigwerden an anderen Menschen, Sorge für andere, gelingende Freundschaft, gelingende Kommunikation etc.“ (Dierk 2004, 222). Diese Schlüsselerfahrungen ermöglichen es Schüler:innen, in der Begegnung mit der fremden Biografie an eigene Erfahrungen anzuknüpfen und die existentiellen Erfahrungen der fremden Biografie als für sie relevant zu erfahren.

1.2 Biografien als Zugänge zur Kirchengeschichte Um im Leben von Heiligen deren Schlüsselerfahrungen zu eruieren, ist es notwendig, sich mit der historischen Persönlichkeit, soweit sie greifbar ist, auseinanderzusetzen und mit den Legenden adäquat umzugehen. Heilige müssen als historische Persönlichkeiten begriffen werden, deren Biografie von Lebensumständen sowie äußeren und inneren Ereignissen geprägt war. Lehrer:innen können nur dann Heilige für biografisches Lernen einsetzen, wenn sie mit der Biografie des oder der 107

Heiligen wenigstens im Grundsatz vertraut sind. In der Regel gibt es zu Heiligen gut zugängliche Literatur, die sich nicht auf die Erzählung von Legenden beschränkt, sondern die historische Persönlichkeit schildert. Erst dabei kommen relevante Ereignisse und Umstände in den Blick, die sich für biografisches Lernen eignen. Über die Biografien bzw. biografischen Versatzstücke der Heiligen kommen deren Lebensumstände, Denk- und Verhaltensweisen und eine historische Epoche in den Blick, ohne die die Biografien in der Regel nicht verständlich sind. Zwar sind die Schlüsselerfahrungen ähnlich und deshalb relevant, doch die biografischen Zusammenhänge, in denen sie entstehen und die Reaktionsmuster sind historisch und kulturell geprägt. Erst die „Betonung und Anerkennung der Fremdheit des Vergangenen“ ermöglicht eine „wirkliche Auseinandersetzung“ (Dierk 2004, 254). Lehrer:innen können hier an historisches Lernen im Sachunterricht anknüpfen (vgl. von Reeken 2017). Wesentlich komplexer ist der Umgang mit legendarischen Heiligenviten und einzelnen Legenden. Die meisten Legenden, die von mittelalterlichen Heiligen erzählt werden, stammen aus der Legenda aurea des Mönchs Jacobus de Voragine, der um 1255 in seinem Werk viele ältere Heiligenviten und  -legenden zusammengetragen und diese dem Kirchenjahr folgend geordnet hat. Der lateinische Titel Legenda aurea meint in etwa Das Glänzende, das (von den Heiligen) gelesen werden muss. Die Legenda aurea gehört zu den meistgelesenen Büchern des Mittelalters und diente als Vorlage für zahllose Predigten, die wiederum Volksbräuche nach sich zogen (vgl. Barone 1999, 1796–1797). Der Wert dieser Legenden liegt nicht in historischen Auskünften, sondern darin, dass sie „Auskunft über besondere Zeitumstände und daraus resultierende menschliche Grunderfahrungen sowie über darauf reagierendes menschliches Verhalten geben können. Dabei kann die Wirkungs- und Verehrungsgeschichte von Heiligen als Ausdruck einer sogenannten ‚Theologie des Volkes‘ gesehen werden, die sich oftmals abseits der ‚offiziellen Theologie‘ ausprägte“ (Lindner 2007, 284). Legenden müssen also zunächst daraufhin befragt werden, ob ihnen Schlüsselerfahrungen zugrunde liegen und welche Reaktion des oder der Heiligen sie erkennen lassen. In einem zweiten Schritt ist zu fragen, warum sich welche Bräuche aus den Legenden entwickelt und wie sie sich historisch verändert haben. Solche Veränderungen können sehr groß sein. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der heutige Knecht Ruprecht war ursprünglich einmal ein von Nikolaus auferweckter Toter …

2 Die vier Heiligen im Winterhalbjahr Im Folgenden sollen die oben ausgeführten didaktischen Grundlagen für die Beschäftigung mit Heiligen im Religionsunterricht der Grundschule auf die vier Heiligen des Winterhalbjahrs hin konkretisiert werden. 108

2.1 Franziskus von Assisi (4.10.) Auf den ersten Blick scheint Franziskus (1181–1226) ein für Kinder leicht erschließbarer Heiliger zu sein. Seine Verbundenheit mit der Schöpfung, die sich in seinem Sonnengesang und seiner Predigt vor den Vögeln zeigt, ist nahe an der Lebenswelt von Kindern. Auch seine Hinwendung zu den Armen kann in diesem Kontext als Liebe zur ganzen Schöpfung gesehen werden. Eine solche Fokussierung ist allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch. Sie wird dem historischen Franziskus nicht gerecht und ermöglicht kein biografisches Lernen. Wird Franziskus im Religionsunterricht zu einem romantischen Naturliebhaber stilisiert, werden daraus nicht selten moralisierende Impulse abgeleitet. Da Kinder die Naturliebe des Franziskus in der Regel teilen, wird er zu einem Vorbild der Bewahrung der Schöpfung umfunktioniert. Das didaktische Grundprinzip heißt dann: So wie Franziskus die ganze Schöpfung geliebt hat, müsst auch ihr die Schöpfung lieben und die Natur bewahren. Ein solcher Ansatz ermöglicht kein biografisches Lernen, da er gar nicht an Schlüsselerfahrungen anschließt und Kindern nicht hilft, Lebenssituationen zu bewältigen. Andererseits gibt es Ansätze biografischen Lernens an Franziskus, die Schüler:innen im Primarbereich überfordern. Sein Konflikt mit seinen Eltern und das demonstrative Ausziehen der vom Vater bekommenen Kleidung auf dem Marktplatz von Assisi sind wenig geeignet, Kindern zu helfen, ihren Eltern gegenüber selbständig zu werden. Dies kann in der Sekundarstufe gelingen, aber nicht in der Grundschule. Es stellt sich also die Frage, welche Aspekte der Biografie des Franziskus geeignet sind, um ein biografisches Lernen in der Primarstufe zu ermöglichen. Franziskus hat in seinem Leben einige Erfahrungen gemacht, die sein Leben veränderten. Diese Schlüsselerfahrungen im Leben des Franziskus lassen sich gut in Verbindung mit Erfahrungen von Kindern bringen.

Die Begegnung mit den Aussätzigen In seinem Testament schildert Franziskus gleich zu Beginn, was ihn dazu gebracht hat, sein Leben zu ändern. „So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen: Denn als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt.“ (Manselli 1984, 42)

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Dieser Text zeigt zunächst, dass Franziskus ganz von der Religiosität des Hochmittelalters geprägt war. Diese stellte sehr deutlich das Leben in Sünden dem Leben der Buße gegenüber. Beide Begriffe sind heute nicht mehr Teil der Lebenswelt von Kindern und müssen deshalb übertragen werden. In unserer heutigen Zeit würden wir eher von einem gedankenlosen Leben auf der einen und einem gewissenhaften Leben auf der anderen Seite sprechen. Das Thema ist sehr aktuell. Angesichts der Klimakrise stellen viele Menschen ihr Leben um und versuchen, nachhaltig zu leben. Für die meisten Menschen hat das nichts mit Gott zu tun. Das ist der Unterschied zum Hochmittelalter, in dem die Furcht vor Gott sehr bestimmend war. Der Weg von der Gedankenlosigkeit zur Gewissenhaftigkeit war für Franziskus die entscheidende Wende im Leben. Daran können wir gut anschließen, weil heute viele Menschen eine größere Gewissenhaftigkeit zu leben versuchen, z.  B. in Fragen der Nachhaltigkeit und des Tierschutzes. Im Blick auf Franziskus ist die Frage, was diese Wende in seinem Leben ausgelöst hat und was genau diese Wende ausmachte. Offensichtlich war es keine innere Entscheidung, sondern ein konkretes Erlebnis, das diese Wende ausgelöst hat. Franziskus ist vor den Toren Assisis Aussätzigen begegnet. Das war nicht ungewöhnlich. Viele Menschen waren an Aussatz erkrankt und durften die Stadt nicht mehr betreten. Sie mussten draußen vor der Stadt leben und Abstand halten. Auch wenn sie in einem Leprosenhaus untergekommen waren, mussten sie für ihren Lebensunterhalt betteln. Für die Gesellschaft waren sie gestorben. Für die Stadtbewohner:innen waren die Leprakranken lästig. In der Regel machte man einen großen Bogen um sie oder ging zumindest schnell weg, wenn man ihnen etwas gegeben hatte (vgl. Manselli 1984, 44). Das Testament des Franziskus lässt erkennen, dass Franziskus in eine Situation gekommen war, in der er den Aussätzigen nicht ausweichen konnte. Franziskus führte das auf Gottes Wirken zurück: „Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt […].“ Bei diesem Aufenthalt unter Leprosen geschieht jetzt eine tiefe Verwandlung: „[…] und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen.“ Damit ist eine aufrichtige und tief empfundene innere Zuwendung gemeint. Franziskus fühlte sich plötzlich ihnen zugehörig. Der große Franziskuskenner Raoul Manselli formuliert das so: „Entscheidender Punkt der Bekehrung des Franziskus von Assisi ist […] das Akzeptieren der eigenen Zugehörigkeit zu einer Randgruppe“ (ebd., 45). Es bleibt für Franziskus der entscheidende Punkt in seinem Leben, dass er sich ab diesem Zeitpunkt zu den Ausgeschlossenen zählt. Wenn er öffentlich seine Kleider ablegt, geht es ihm nicht vorrangig um die Trennung von der Familie, sondern darum, seine Zugehörigkeit zu den Ausgestoßenen zu demonstrieren (vgl. ebd., 67). Hier liegt eine erste Möglichkeit für biografisches Lernen. Kinder kennen und erleben vielfach, dass andere Kinder zu Außenseiter:innen gemacht werden und sind nicht selten selbst daran beteiligt. Gleichzeitig haben sie große Angst, selbst ausgeschlossen zu werden. Diese 110

Situationen sind für Kinder nicht einfach. In der Beschäftigung mit dem Thema Außenseiter:in können Kinder am Beispiel des Heiligen Franziskus den Mut entwickeln, die Begegnung mit Kindern zu suchen, die an den Rand gedrängt werden und Erfahrungen mit dieser Begegnung zu machen. Diese Erfahrung kann ihnen helfen, mit ihren eigenen Ängsten umzugehen und es kann sie verändern, was auch für eine Klassengemeinschaft wichtig sein kann. Nicht zuletzt kann diese Erfahrung für ihr Leben bedeutsam werden, so wie bei Franziskus.

Die Krippe Für Kinder spielen die Weihnachtskrippe und das Krippenspiel bis heute eine wichtige Rolle. Nur wenige wissen, dass das Krippenspiel auf Franziskus zurückgeht. Franziskus wollte den Menschen in der kleinen Stadt Greccio deutlich machen, dass Gott wirklich Mensch geworden ist und organisierte eine lebende Krippe. Thomas von Celano, ein Weggefährte des Franziskus, berichtet darüber: „Aus mehreren Niederlassungen wurden die Brüder gerufen. Männer und Frauen jener Gegend bereiteten, so gut sie konnten, freudigen Herzens Kerzen und Fackeln, um damit jene Nacht zu erleuchten, die mit funkelnden Sternen alle Tage und Jahre erhellt hat. Endlich kam Franziskus, fand alles vorbereitet, sah es und freute sich. Nun wird eine Krippe zurechtgemacht, Heu hereingebracht, Ochs und Esel herzugeführt. Zu Ehren kommt da die Einfalt, die Armut wird erhöht, die Demut gepriesen, und aus Greccio wird gleichsam ein neues Bethlehem […] Dann predigt er dem umstehenden Volk von der Geburt des armen Königs und bricht in lieblichen Lobpreis über die kleine Stadt Bethlehem aus. Oft wenn er Christus „Jesus“ nennen wollte, nannte er ihn, von übergroßer Liebe erglühend, nur ‚das Kind von Bethlehem […]“ (zit. nach Prinz 2003, 289).

Biografisch können Kinder hieran insofern lernen, dass es sich bei ihrem Krippenspiel letztlich nicht um ein nettes Spiel für Kinder handelt, sondern ein tiefer Sinn dahintersteckt. Die Erzählung von der Weihnachtskrippe von Greccio könnte also als Vorbereitung auf ein Krippenspiel einen wichtigen Impuls geben.

Der Sonnengesang Der Sonnengesang gehört zu den berühmtesten Texten des Franziskus. Für ein biografisches Lernen von Schüler:innen eignet er sich allerdings nur, wenn er biografisch im Leben des 111

Heiligen verortet wird. Es ist nicht ganz sicher, wann und wo Franziskus den Text verfasst hat. Möglicherweise entstand er auch in mehreren Abschnitten. Sicher aber stammt er aus den letzten Lebensmonaten des Heiligen im Sommer 1226. Franziskus war erst 45 Jahre alt, aber bereits sehr krank. Die Ärzte konnten für ihn nichts mehr tun und er bereitete sich mit großer Klarheit auf seinen Tod vor. Franziskus war in dieser Situation aber in keiner Weise verzweifelt oder traurig. Aus den Berichten der Brüder wissen wir, dass er tatsächlich den Tod als Teil von Gottes guter Schöpfung sehen konnte. In seinen letzten Lebensmonaten war er deshalb ganz erfüllt von einer großen Liebe zum Leben und zur Schöpfung (vgl. Manselli 1984, 364–368). Der Tod war für ihn der Übergang in die Liebe Gottes, die in der Schöpfung sichtbar ist. Der Sonnengesang lässt sich im Unterricht also vor allem dort einsetzen, wo Tod und Sterben thematisiert werden. Den Sonnengesang im Kontext der Themen Umweltschutz und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen, ist problematisch, da diese Themen zur Zeit des Franziskus nicht aktuell waren und insofern ein biografisches Lernen unter diesem Aspekt an Franziskus nicht möglich ist. Es gibt aber im Blick auf die Schöpfung durchaus einen weiteren Aspekt. Die positive Sicht der Schöpfung richtete sich bei Franziskus gegen die Sicht der Katharer, die glaubten, das Universum sei von bösen Mächten regiert. Für sie war Luzifer, der Teufel, der Schöpfer der Welt. Der Sonnengesang bringt gegen die Katharer die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Schöpfung von guten Mächten regiert wird (vgl. Prinz 2003, 288). Hier bietet sich eine zweite Möglichkeit zum biografischen Lernen, da Kinder bösen Mächten in Filmen und Büchern begegnen und sich fragen, ob es im Kosmos wirklich böse Mächte gibt und welche Macht sie haben. Der Sonnengesang ließe sich hier einsetzen, um an Franziskus zu lernen, dass er ganz auf das Wirken der guten Mächte in der Schöpfung vertraute.

Der Wolf von Gubbio Häufig werden im Unterricht Legenden wie die des Wolfs von Gubbio verwendet. Diese Erzählungen stammen aus einer Legendensammlung des 14.  Jahrhunderts, den sogenannten Fioretti (Rotzetter 2002). Da wir von keiner Legende wissen, ob sich die Erzählung so wirklich zugetragen hat, ist ein biografisches Lernen an Legenden nur möglich, wenn man nach einem historischen Sitz im Leben fragt, also nach dem wahren Kern einer Legende. Der historische Hintergrund der Legende vom Wolf von Gubbio ist darin zu sehen, dass in Gubbio eine Kirche aus dem 9. Jahrhundert steht, die zum Dank für einen militärischen Sieg über die Sarazenen, also die Muslime, errichtet wurde: Santa Maria della Vittoria (Heilige Maria des Sieges). Franziskus stand der Gewalt gegenüber Muslimen und damit auch den Kreuzzügen sehr kritisch gegenüber. Für ihn war Gewaltlosigkeit der richtige Weg. Er wollte 112

seine Brüder nach dem Beispiel Jesu wie Schafe unter die Wölfe senden (Mt 10,16). Das Bild des Wolfes übertrug sich dadurch auf die Muslime. Im Laufe der Zeit ging der eigentliche Hintergrund allerdings verloren und es entwickelte sich der Wolf zu einem realen Tier in Gubbio (vgl. Rotzetter 2002, 79–83). Die Legende lässt sich also deshalb für biografisches Lernen einsetzen, da sie vom Verzicht des Franziskus auf Gewalt erzählt. Er hat in seinem Leben die Erfahrung gemacht, dass nur die Gewaltlosigkeit Frieden schafft. In diesem thematischen Zusammenhang lässt sich die Legende gut einsetzen, da sie einen historischen Kern hat.

2.2 Martin von Tours (11.11.) Als Martin im Jahr 397 starb, musste sein Schüler Sulpicius Severus eine Biografie verfassen, um ihn zu verteidigen. Denn in seinem Leben war er nicht einfach ein sozial gesinnter Soldat, der seinen Mantel teilte oder ein beliebter Bischof, der es gar nicht hatte werden wollen. Martin provozierte die Mächtigen seiner Zeit und war dadurch auf verschiedene Weise mit kirchlichen und weltlichen Autoritäten in Konflikt geraten (vgl. Prinz 2003, 33–34). Nicht alle Aspekte seines Lebens eignen sich für ein biografisches Lernen in der Grundschule, aber doch einige.

Die Mantelteilung Martin stammte aus einer heidnischen Familie. Obwohl er offensichtlich schon als Jugendlicher Christ werden wollte, ließ er sich nicht taufen und machte wie sein Vater eine steile Karriere beim Militär. Dort brachte er es bis zu einer berittenen Eliteeinheit. Unter Christen war der Militärdienst sehr umstritten, da im Militär ein Eid auf den wie ein Gott verehrten Kaiser geschworen werden musste. Als Martin in das Militär eintrat, war mit Kaiser Constantius II. ein Christ an der Macht und insofern der Fahneneid eigentlich unproblematisch. Das änderte sich aber, als mit Kaiser Julian Apostata (der vom Glauben abgefallene) wieder ein Heide an der Regierung war. Die Mantelteilung leitete die Wende in seinem Leben ein, Martin ließ sich taufen und schied zwei Jahre später unter dramatischen Umständen aus dem Militär aus (vgl. Prinz 2003, 34–37). Es war nicht die Begegnung mit dem Bettler an sich, die für Martin bedeutsam war, sondern der Traum in der Nacht nach der Begegnung. In der Biografie des Sulpicius Severus heißt es: „In der folgenden Nacht nun erschien Christus mit jenem Mantelstück, womit der Heilige den Armen bekleidet hatte, dem Martinus im Schlafe. Er wurde aufgefordert, den

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Herrn genau zu betrachten und das Gewand, das er verschenkt hatte, wiederzuerkennen. Dann hörte er Jesus laut zu der Engelschar, die ihn umgab, sagen: ‚Martinus, obwohl erst Katechumene (Taufbewerber), hat mich mit diesem Mantel bekleidet.‘ Eingedenk der Worte, die er einst gesprochen: ‚Was immer ihr einem meiner Geringsten getan, habt ihr mir getan‘, erklärte der Herr, und dass er, Christus, im Armen das Gewand bekommen habe. Um das Zeugnis eines so guten Werkes zu bekräftigen, würdigte er sich, in dem Gewande, das der Arme empfangen hatte, zu erscheinen.“ (Prinz 2003, 36–37).

Für Menschen der Vormoderne hatten Träume eine große Bedeutung. Sie wurden als ein reales Erscheinen Gottes betrachtet. Insofern war Martin über den Traum, der das Ereignis der Mantelteilung deutete, tief erschüttert und er entschied sich, sich taufen zu lassen und das Militär zu verlassen. Für ein biografisches Lernen eignet sich die Mantelteilung nur, wenn Martins eigenes Lernen auf das Lernen von Kindern übertragen wird. Einen Sitz im Leben bekommt die Geschichte, wenn es um Situationen des Nach-Denkens über das eigene Verhalten geht. Welche Bedeutung hatte mein Tun? Was habe ich ausgelöst, in mir und im Anderen? Martin begreift erst im Nachhinein einen wesentlichen Aspekt des Christentums: In dem Menschen, der uns braucht, begegnet uns Gott selbst.

Martin als Bischof Bei der Bischofswahl des Martin ist noch die altkirchliche Praxis, nach der die Gemeinde ihren Bischof selbst wählte, lebendig. Diese Wahl geschah manchmal sogar als spontaner Akt, indem die Gemeinde den Auserwählten einfach auf den Thron schleppte, auch wenn er es nicht wollte. Die Legende, Martin habe sich versteckt und sei von Gänsen verraten worden, spielt auf diesen spontanen Akt an. Das aber ist nicht das eigentlich Bedeutsame an der Bischofswahl Martins. Das bestand darin, dass Martin von der Gemeinde gegen große Widerstände zum Bischof gewählt wurde. Die Gegner kamen aus vornehmen und adeligen Familien, die das Bischofsamt für einen aus ihren Reihen beanspruchten. Sulpicius Severus erzählt: „Sie sagten, Martin sei eine verächtliche Persönlichkeit, der bischöflichen Würden sei nicht wert ein Mann von so unansehnlichem Äußeren, mit so armseligen Kleidern und ungepflegtem Haar. Indes das Volk bekundete gesünderen Sinn und lachte über ihre Torheit; denn während jene einen Tadel gegen den ruhmwürdigen Mann aussprechen wollten [nämlich gegen das unansehnliche Äußere des Heiligen], verkündeten sie ja doch nur sein Lob.“ (Prinz 2003, 39)

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Martin wurde von der Gemeinde gewählt, weil er wagte, anders zu sein. Seine einfache Kleidung trug er aus Überzeugung. Unter den vornehm gekleideten Bischöfen, die Staatsbeamten gleichgestellt waren, blieb er ein skurriler Außenseiter. Schüler:innen der Grundschule können am Beispiel des hl. Martin darüber nachdenken, was ihnen Kleidung bedeutet und ob sie auch Menschen nach ihrer Kleidung beurteilen.

Martin und die Priscillianer Ein letzter Aspekt zum hl. Martin besteht in seinem mutigen Eintreten für Andersdenkende. Die Priscillianer waren eine Gruppe, die in großer Strenge sehr asketisch lebten. Ihr Anführer Priscillian hatte viele Anhänger, selbst unter Bischöfen. Die Mehrheit der Bischöfe betrachtete aber Priscillian und seine Anhänger mit großem Argwohn. Einer der Bischöfe schaltete Kaiser Magnus Maximus in Trier ein und es kam zu einem Prozess, bei dem Priscillian und sechs seiner Anhänger hingerichtet wurden. Martin versuchte mit großem Engagement, das Urteil und dessen Vollstreckung zu verhindern, leider ohne Erfolg (vgl. Prinz 2003, 41–49). Hier wird ein weiterer Zug in der Persönlichkeit Martins deutlich. Martin bewies großen Mut in der Verteidigung einer Gruppe, deren Ansichten er nicht vertrat. Für ihn war klar, dass zum Christsein der humane Umgang miteinander gehört und nicht die grausame Verfolgung. Martin eignet sich damit auch für ein biografisches Lernen in den thematischen Zusammenhängen, in denen es um Toleranz geht, auch und gerade innerhalb der Kirche. Kinder können am Beispiel des hl. Martin lernen, dass ein mutiger Einsatz gegen Ausgrenzungen auch zu dem gehört, was Martin durch den Traum nach der Mantelteilung gelernt hat: Im Nächsten Christus zu sehen.

2.3 Elisabeth von Thüringen (19. November) Elisabeth von Thüringen (1207–1231) gehört zu den beeindruckendsten Frauengestalten des Hochmittelalters. Ihr Weg vom ungarischen Königshaus über die Wartburg in Eisenach, wo sie mit 14  Jahren Landgraf Ludwig heiratete und drei Kinder bekam, bis zu ihrer Zeit im Hospital in Marburg, wo sie nach dem Tod ihres Mannes und der Vertreibung von der Wartburg als Krankenpflegerin arbeitete und früh verstarb, galt sehr schnell nach ihrem Tod als Inbegriff der Heiligkeit. Schnell entstanden zahlreiche Legenden, wobei das Rosenwunder allerdings in der Legenda aurea nicht verzeichnet ist und erst später zu den Legenden hinzukommt. 115

Problematisch ist die Deutung ihres Verhältnisses zu ihrem Beichtvater Konrad von Marburg, der nach dem Tod ihres Mannes die Vormundschaft für sie übernahm. In der Forschung wird sie zuweilen als von Konrad unterdrückte und gequälte Frau geschildert, deren Heiligkeit eher im Aushalten ihres Peinigers zu sehen ist (vgl. Prinz 2003, 245–254). Andere betonen eher das Einverständnis zwischen Elisabeth und Konrad im Blick auf das franziskanische Armutsideal (vgl. Werner 2007, 109–135). Für Kinder in der Grundschule können zwei Aspekte ihres Lebens Teil biografischen Lernens sein.

Elisabeths Trennung von ihren Eltern Kurz nach ihrer Geburt wurde Elisabeth Teil eines politischen Vertrages, der eine Heirat mit dem Landgrafen Ludwig von Thüringen vorsah. Im Alter von vier Jahren wurde Elisabeth als Pfand an den Hof des Landgrafen geschickt und die Verlobung bereits symbolisch vollzogen (vgl. Wiegand 2007, 35–46). Elisabeth scheint ihren Mann zwar sehr geliebt zu haben, muss aber dennoch unter der Trennung von ihren Eltern und ihrer Familie sehr gelitten haben. Ihre Lebensbeschreibungen stimmen darin überein, dass Elisabeth sehr früh begann, Geborgenheit auch bei Gott zu suchen. Kinder im Grundschulalter haben nicht selten bereits einschneidende Verlusterfahrungen gemacht. Die Trennung von Eltern, Umzüge, Tod von Großeltern oder auch von geliebten Tieren führen zur Angst, verlassen zu werden. Elisabeth entwickelte am Hof in Thüringen eine erstaunliche Kreativität, mit ihrer Situation umzugehen. Sie entwickelte in Thüringen neue Beziehungen, die sie trugen. Gleichzeitig war ihr der Glaube ein ständiger Bezugspunkt. Sie wusste sich angesichts der Trennung von ihrer Familie auch bei Gott geborgen. Die Lebensbeschreibungen berichten, dass Gott für sie eine große Rolle spielte. Elisabeth kann daher als Modell dienen, sich in eine neue Situation einzufinden und dabei den Glauben an die Geborgenheit in Gott als Ressource zu entdecken.

Krankenpflege Elisabeth von Thüringen war Zeitgenossin des hl. Franziskus. In ihrer Jugend erlebte sie in Eisenach bereits erste Franziskaner und war von den Idealen des hl. Franziskus sehr angetan. Im Hospital in Marburg fand sie schließlich den Ort, wo sie ihre Ideale verwirklichen konnte. Obwohl sie dem höchsten Adel angehörte, wollte sie nicht nur selbst in der Pflege tätig sein, sondern holte „die Elendsten und Verachtetsten“ an ihren eigenen Tisch und beherbergte Aussätzige (Prinz 2003, 253). Für sie kam es, wie für Franziskus, auf die unmittelbare Begegnung mit den Kranken und Leidenden an. 116

Für Kinder kann darin ein wichtiger Aspekt biografischen Lernens liegen. Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas spendet oder sich selbst den Notleidenden zuwendet. Elisabeth kann als Modell eines Menschen dienen, der die Nähe zu den Leidenden nicht gescheut hat und in der konkreten Begegnung Erfüllung fand. Die konkrete Hinwendung wird von nahestehenden Menschen oft nicht verstanden oder sogar abgelehnt. Auch Kinder kennen sehr gut den Umstand, dass ein soziales Engagement dem sozialen Prestige durchaus abträglich sein kann. Die Legende vom Rosenwunder – in der Elisabeth, vom Ehemann wegen ihres sozialen Engagements zur Rede gestellt, statt Lebensmittel für die Armen unter dem Tuch im Korb duftende Rosen vorzeigt  – greift diesen Umstand auf und hat hierin ihren historischen Kern. Elisabeth versteckt das Gute, das sie tun möchte, weil sie nicht verstanden wird.

2.4 Nikolaus von Myra (6.12.) Bei Nikolaus von Myra steht das historische Wissen über ihn im deutlichen Gegensatz zu dem Brauchtum, das sich um ihn entwickelt hat. Während vom historischen Nikolaus, der Bischof in der Hafenstadt Myra gewesen sein soll, nichts bekannt ist, wurde er im Laufe des Mittelalters zu einem nahezu allzuständigen Heiligen (vgl. Heiser 1978, 11–12). Den Ausgang nahm seine Verehrung aufgrund der sogenannten Feldherrenlegende, die bereits im 6. Jahrhundert existierte. Sie erzählt davon, wie die Feldherren Nepotianus, Ursus und Eupoleo durch Bischof Nikolaus auf wundersame Weise vor dem Tod gerettet werden. Die drei Männer sind im Auftrag von Kaiser Konstantin in die Gegend gereist, um Aufstände zu beenden. In Myra erleben sie mit, wie Nikolaus drei unschuldige Männer vor einer Hinrichtung rettet. Einige Zeit später, als die drei Feldherren ihre Mission erfolgreich ausgeführt haben, wird ihnen selbst Verrat vorgeworfen. Sie werden eingekerkert und sollen mit dem Tod bestraft werden. Da sie sich an das Erlebnis mit Nikolaus erinnern, beginnen sie zu beten und flehen ihn um seine Hilfe an. In der darauffolgenden Nacht erscheint Nikolaus dem Kaiser im Traum und droht mit einem Krieg, der entfacht würde, falls er die drei Feldherren nicht freilässt. Am Morgen darauf ordnet Kaiser Konstantin sofort ihre Freilassung an und die drei Männer fahren nach Myra, um sich bei Nikolaus zu bedanken (vgl. ebd., 46–55). Viele weitere Legenden, die ab dem 9. Jahrhundert entstehen, variieren das Thema „Nikolaus rettet aus Todesgefahr“ (Mezger 1993, 59–94). Seine Verehrung kam aus dem byzantinischen Bereich nach Süditalien und breitete sich von dort in ganz Europa aus. Vor allem Kaufleute und Seefahrer verehrten ihn, weshalb in allen größeren Hafen- und Handelsstätten Nikolauskirchen gebaut wurden. Die Legenden von der Rettung der Schiffsleute und von den Kornschiffen haben dazu beigetragen (vgl. ebd., 17–25). 117

Für das religiöse Brauchtum im Mittelalter spielte die Legende von den verarmten Mädchen und die von der Auferweckung getöteter Schüler eine große Rolle. Nikolaus wurde auch Patron der Kinder (vgl. ebd., 95–114). Aus der großen Verehrung des Nikolaus entwickelte sich das Bedürfnis, die Nikolaus-Legenden zu spielen. Deshalb stellten Kinder am Vorabend des Nikolausfestes Schuhe vor die Tür, um wie die drei jungen Mädchen von Nikolaus beschenkt zu werden. Es gab in den Städten Kinderumzüge, bei denen Nikolaus einen jungen Mann mit sich führte, den er einer Legende entsprechend wieder zum Leben erweckt hat (vgl. ebd., 115–128). Durch den Einfluss der Reformation wanderten einige Nikolausbräuche wie das Schenken auf das Weihnachtsfest. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Nikolausverehrung pädagogisiert und das Nikolausfest zu einer Belohnung bzw. Bestrafung von Kindern umfunktioniert (vgl. ebd., 129–150). Der aus dem Tod gerettete junge Mann wurde zu Knecht Ruprecht, der die Rute zur Züchtigung der Kinder bei sich hat (vgl. ebd., 151–174). Für ein biografisches Lernen eignen sich die Nikolaus-Legenden nicht, da sie nicht mit dem Leben des hl. Nikolaus in Verbindung gebracht werden können und von ihren Kernthemen her zu weit von der Lebenswirklichkeit von Kindern entfernt sind. Demgegenüber kann aber gut thematisiert werden, dass Nikolaus für die Menschen des Mittelalters ein Retter aus großer Not und Gefahr war. Die Menschen fühlten sich von Nikolaus beschützt und feierten deshalb seinen Gedenktag als ein großes Fest, und sie spielten am Nikolaustag, wie Nikolaus Menschen rettete. Das Nikolausfest kann heute daran erinnern, dass auch wir in Gefahr geraten können und viele Helfer:innen haben, die uns aus Gefahr retten. Manchmal scheinen auch Schutzengel im Spiel zu sein, wenn etwas gut ausgeht. Der Nikolaustag kann für Kinder eine Gelegenheit sein, den Menschen zu danken, die sie beschützen, wie Nikolaus in seiner Zeit Menschen beschützt haben soll. Vor diesem Hintergrund können die Legenden als Beispiele für Notlagen dienen. Damit wäre wieder an die mittelalterliche Verehrung angeknüpft und die Pädagogisierung des hl. Nikolaus umgangen.

Zitierte Literatur Barone, Giovanni, Art. Legenda aurea. A. Werk, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1999), 1796–1797. Dierk, Heidrun (2005), Kirchengeschichte elementar. Entwurf einer Theorie des Umgangs mit geschichtlichen Traditionen im Religionsunterricht (Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 10), Münster. Eiff, Miriam Sophia von (2018), Star – Heiliger – Vorbild. Eine empirische Untersuchung zum Vorbildverständnis von Kindern im Grundschulalter (Religionsdidaktik konkret 9), Münster. Heiser, Lothar (1978), Nikolaus von Myra. Heiliger der ungeteilten Christenheit (Sophia. Quellen östlicher Theologie 18), Trier.

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Lindner, Konstantin (2007), In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht (Arbeiten zur Religionspädagogik 31), Göttingen. Manselli, Raoul (1984), Franziskus. Der solidarische Bruder, Köln. Mezger, Werner (1993), Sankt Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk. Zur Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Brauchformen um einen populären Heiligen, Ostfildern. Prinz, Friedrich (2003), Das wahre Leben der Heiligen. Zwölf historische Porträts von Kaiserin Helena bis Franz von Assisi, München. Reeken, Dietmar von (62017), Historisches Lernen im Sachunterricht. Eine Einführung mit Tipps für den Unterricht (Dimensionen des Sachunterrichts – Kinder.Sachen.Welten 2), Baltmannsweiler. Sajak, Clauß Peter/Eiff, Miriam von (2017), Art. Biografisches Lernen, in: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon [https://doi.org/10.23768/wirelex.Biografisches_Lernen.100230]. Werner, Mathias (2007), Elisabeth von Thüringen, Franziskus von Assisi und Konrad von Marburg, in: Dieter Blume (Hg.), Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige. Aufsätze [3. Thüringer Landesausstellung „Elisabeth von Thüringen – Eine Europäische Heilige“, Wartburg – Eisenach, 7. Juli bis 19. November 2007], Eisenach, 109–135. Wiegand, Peter (2007), Eheversprechen und Fürstenkoalition. Die Verbindung Elisabeths von Ungarn mit Ludwig von Thüringen als Baustein einer europäischen Allianz (1207/08–1210/11), in: Dieter Blume (Hg.), Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige. Aufsätze [3. Thüringer Landesausstellung „Elisabeth von Thüringen – Eine Europäische Heilige“, Wartburg – Eisenach, 7. Juli bis 19. November 2007], Eisenach, 35–46. Ziebertz, Georg (2013), Biografisches Lernen, in: Hilger, Georg/Leimgruber Stephan/Ziebertz, Georg, Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München, 374–386.

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Kirchengebäude/Kirchenraum Norbert Köster

1 Erkundung statt Führung Außerschulische Lernorte sind in der Religionsdidaktik ein Randthema. Während es für den Bereich des Sachunterrichts eine ganze Reihe an Veröffentlichungen gibt, findet man zu außerschulischen Lernorten im Religionsunterricht deutlich weniger. Dabei gibt es ein großes Potential ganz unterschiedlicher Orte, an denen Kinder lernen können (vgl. Schulte 2013). An dieser Stelle soll der außerschulische Lernort im Mittelpunkt stehen, der im Religionsunterricht der Grundschule in der Regel aufgesucht wird: Die Pfarrkirche(n). Wird der Religionsunterricht im Klassenverband erteilt, eröffnen sich hier auch ökumenische Perspektiven, da Kirchenräume in protestantischen Konfessionen eine andere Bedeutung haben. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass für Katholiken das Kirchengebäude ein Sakralraum ist, also ein geweihter Raum, der dem Gottesdienst vorbehalten ist (vgl. Boehme 2008). Der Besuch einer Kirche mit einer Schulklasse muss gut überlegt und geplant sein. Wesentlich ist, dass der/die Lehrer:in sich vorher selbst mit dem Kirchenraum beschäftigt und diesen kennt, um eine Erkundung planen und auch Fragen beantworten zu können. Hilfreich kann es sein, eine:n Expert:in zu der Erkundung hinzuzuholen (vgl. Neumann/Rösener 2003, 60–63). Grundsätzlich gilt für Besuche außerschulischer Lernorte ein Dreischritt. Nach einer Vorbereitungsphase stehen in einer ersten Phase die Erkundung und Wahrnehmung im Mittelpunkt, in einer zweiten die nähere Auseinandersetzung und Deutung und in der dritten Phase ein performativer Abschluss. In der nächsten Unterrichtsstunde wird der Besuch des außerschulischen Lernortes ausgewertet (vgl. Hilger 2010, 380). Die Erkundung steht im Gegensatz zur Kirchenführung, in der Kindern die Kirche gezeigt wird, ohne dass sie selbst aktiv werden. Eine Erkundung arbeitet mit gelenkten Beobachtungen. Freie Erkundungen sind wenig sinnvoll und können sich sogar sehr kontraproduktiv auswirken. Für die gelenkte Beobachtung bekommen die Schüler:innen Beobachtungspunkte genannt, die in den Kontext des Unterrichtsziels gehören. Das können Teile der Architektur oder besondere Orte innerhalb der Kirche sein. Je nach Ziel kann es auch einfach um Empfindungen und allgemeine Eindrücke des Kirchenraumes gehen. In der zweiten Phase werden diese Beobachtungen und Eindrücke an einem geeigneten Ort innerhalb des Kirchenraums ausgetauscht. Dabei bekommen die Schüler:innen weitere Materialien an die Hand, um das Gesehene verstehen und einordnen zu können. 120

Abschließend ist es sinnvoll, dass die Kinder die Gelegenheit bekommen, das Gelernte anzuwenden und umzusetzen (vgl. Hilger 2010, 377–379). Für die einzelnen Schritte von Erkundungen gibt es zahlreiche Methoden, die Kindern helfen, das Wahrgenommene zum Ausdruck zu bringen (Boehme 2010, 236–243). Die Begegnung mit Kirchenräumen kann ganz unterschiedliche unterrichtliche Ziele verfolgen (vgl. Hilger 2010, 376–377; Neumann/Rösener 2003, 63–64). Sie kann eher historisch angelegt sein und die Baugeschichte in den Blick nehmen (1). Ein Kirchenbesuch kann im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung auf die Kirche als Ort der Liturgie fokussiert sein und die Orte der Sakramentenspendung wie Taufbrunnen und Altar näher in den Blick nehmen (2). Schließlich kann eine Begegnung mit dem Kirchenraum im Sinne der Kirchenraumpädagogik Kinder dazu einladen, sich in Glaube und Kirche zu verorten (3).

2 Baugeschichte und Architektur Im dritten und vierten Schuljahr können Kinder Stilunterschiede gut erkennen (vgl. Sauer/ Kretschmer 2011, 12–48). In Ansätzen können sie die Stile auch Epochen zuordnen, wenn die Epochen entsprechend eingeführt sind (vgl. Jeska 2006). Nicht alle Epochen können in der Grundschule erarbeitet werden. Grundideen der wesentlichen Epochen können Kinder über Stilmerkmale erschließen. In der Romanik sind dies zum einen starke Türme, dicke Mauern und kleine Fenster, die die Kirche zu einer schützenden Burg machen. Im Innern verweisen starke Säulen auf die Säulen der Kirche, die Apostel. Die Ornamente der Romanik enthalten viele Fabelwesen und zuweilen auch Schrecken einjagende Ungeheuer. Sie sind jedoch in das Mauerwerk eingebunden und müssen das Gebäude mittragen. Das war für die Romanik wesentlich: Gott hat die Macht, auch über das Böse und Angstmachende. In der Gotik sind es die großen, farbigen Fenster und die ausgemalten Gewölbe, an denen der Grundgedanke erkennbar ist: Das Kirchengebäude ist ein Abbild des Himmels. Wer in die Kirche eintritt, wird Teil des Himmels und ist umgeben von in den Fenstern leuchtenden Heiligen. Die Heiligen hören die Gebete der Gläubigen und tragen sie vor Gott. Im Barock wird die Kirche zum Festsaal, über dem sich der Himmel öffnet. Kinder können in Barockkirchen ausgehend von den Gewölbemalereien diese Bedeutung erschließen. Die vielen Heiligen an den Altären und Wänden laden ein, auch den Weg zum Himmel zu gehen, so wie sie das getan haben. In der Moderne herrscht die nüchterne und sachliche Architektur vor, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch an der Romanik orientiert. In dieser Zeit herrscht vor allem der Gedanke vor, dass Jesus Christus der Herr der Welt ist. 121

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil werden Kirchen als Räume der Gemeinde verstanden, oft unter dem Gedanken des Volkes Gottes auf dem Weg. Wenn diese Kirchen die Form eines Zeltes oder eines Schiffs haben, können Kinder das leicht erkennen (vgl. Neumann/ Rösener 2003, 118–177). Im Rahmen der Erkundung können Kinder Stilelemente suchen und durch Fotos oder Zeichnungen dokumentieren. Im Gespräch werden die Stilelemente zugeordnet und ihre Bedeutungen erschlossen. Anschließend können Kinder z. B. darüber nachdenken, wie sie eine Kirche bauen würden und welche Elemente sie verwenden würden. Ein weiterer Aspekt kann bei mittelalterlichen Kirchen auch die lange Baugeschichte sein. Sie zeigt, welche großen Belastungen Menschen auf sich genommen haben, um eine Kirche in ihrem Ort zu bauen. Es waren dies bei der armen Bevölkerung weniger Geldspenden, als vielmehr handwerkliche Dienstleistungen, die neben der eigenen Arbeit freiwillig verrichtet wurden. Kinder können darüber nachdenken, warum den Menschen der Bau der Kirche so wichtig war.

3 Die Kirche als Ort der Liturgie In diesem Kontext geht es darum, dass Kinder eine Gemeinde und ihre liturgischen Vollzüge kennenlernen. Im Rahmen der Erkundung können neben dem Kirchenraum hier auch angrenzende Räume wie die Sakristei, die Orgelbühne oder der Turm erkundet werden. In diesem Zusammenhang bieten sich drei thematische Erkundungen an, die sich auf die Sakramente beziehen, die für Kinder bedeutsam sind: Taufe, Eucharistie und Beichte. Die Thematisierung der Taufe gehört zum festen Bestandteil des Religionsunterrichts. Die Erschließung des Taufbrunnens und seiner Symbolik ermöglicht eine Vertiefung des Themas Taufe. Bei alten Taufbrunnen können Spekulationen darüber angestellt werden, wie viele Kinder hier schon getauft worden sind. Die Teilnahme an einer Tauffeier würde die Erkundung abschließen. Hier kann ein weiterer Aspekt angeschlossen werden. Kinder bekommen zwar in der Taufe keinen Namen, werden aber erstmalig mit ihrem Namen „offiziell“ angesprochen. Verweist der Name des Kindes auf einen Heiligen oder eine Heilige, wird diese:r Namenspatron:in des Kindes. Auch das Kirchengebäude hat einen Patron oder eine Patronin. Die Schüler:innen können daher am Taufbrunnen auch von ihren Heiligen oder von anderen Heiligen, die sie kennen, erzählen. Zudem kann in der Kirche nach weiteren Heiligen gesucht werden. Welche Symbole haben sie? Was haben sie in ihrem Leben Gutes getan? Die Feier der Erstkommunion, die in der Regel im dritten Schuljahr stattfindet, wird von vielen Religionslehrer:innen begleitet. Sofern im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung 122

keine Kirchenerkundung stattfindet, kann diese im Religionsunterricht durchgeführt werden. Hierbei wird neben dem Taufbrunnen vor allem der Altar im Mittelpunkt stehen. Je nach Altar brauchen Kinder etwas Zeit, um zu erkennen, dass es sich um einen Tisch handelt, der ein gemeinsames Mahl ermöglicht. Die Erkundung des Altars sollte zunächst seinen Ort innerhalb der Kirche in den Blick nehmen. Der Altar bildet das Zentrum der Kirche, weil Jesu Einladung „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (1 Kor 11,24) im Mittelpunkt des christlichen Gottesdienstes steht. Wenn es mit der/dem Küster:in abgesprochen ist, dürfen Kinder einen Blick unter die Altardecke werfen. Dort sehen sie zunächst fünf eingemeißelte Kreuze, die an die fünf Wunden Jesu erinnern. Die Kreuze erinnern daran, dass in der Eucharistie Tod und Auferstehung Jesu gefeiert werden. Wenn die Kinder weiter nach etwas Besonderem suchen, werden sie in der Altarplatte oder im Boden unter dem Altar eine vermauerte Platte entdecken, das Reliquiengrab. Darunter befinden sich die bei der Altarweihe dort hineingelegten Reliquien des Pfarrpatrons bzw. der Pfarrpatronin oder anderer Heiliger. Reliquien von Heiligen, die nach dem Glauben der Kirche bereits im Himmel sind, schaffen nach mittelalterlichem Verständnis eine Verbindung zwischen Himmel und Erde und heiligen den Altar und den Kirchenraum (vgl. Angenendt 1993, 691–694). Falls in der Kirche noch ein alter Hochaltar vorhanden ist, kann an ihm zum einen verdeutlich werden, dass der Priester die Messe bis zum II. Vatikanischen Konzil mit dem Rücken zum Volk feierte. Hier lag der Gedanke zugrunde, dass der Priester für das Volk das Opfer Christi darbringt. Für die Gläubigen war das Bildprogramm des Altars von großer Bedeutung. Während des Gottesdienstes schauten sie auf den Altar. Mittelalterliche Hochaltäre stellten oft die zwölf Apostel und zentrale Ereignisse aus dem Leben Jesu dar. In der Neuzeit hatte das Bildprogramm oft einen Bezug zum Pfarrpatron bzw. zur Pfarrpatronin (vgl. Rauchenberger 2020).

4 Verortung in der Kirche – Kirchenraumpädagogik Eine dritte Form der Erkundung einer Kirche zielt auf eine persönliche Auseinandersetzung der Kinder mit zentralen Inhalten des Glaubens und auf eine Verortung im Raum der Kirche, was auch im übertragenen Sinne gemeint ist. Dies ist das eigentliche Anliegen der Kirchen(raum)pädagogik (vgl. Köster 2016, 192–196). Die Kirchenpädagogik entstand in den 1980er Jahren in der evangelischen Kirche. Sie wollte angesichts der fortschreitenden Säkularisierung eine „Erfahrung“ christlicher Religion ermöglichen und versteht in diesem Sinne Kirchen als sichtbare Zeichen gelebten Glaubens. In den 1990er Jahren entwickelte sie sich zu einer „Disziplin“, die im Jahr 2000 zur Gründung des 123

Bundesverbandes Kirchenpädagogik führte. Im katholischen Bereich ist der Ansatz bald übernommen worden. Hier wurde allerdings eher von Kirchenraumpädagogik gesprochen und das Konzept im Blick auf das katholische Verständnis von einem sakralen Ort differenziert (vgl. Neumann/Rösener 2003, 41–47). Kirchenraumpädagogik will „Menschen in ihren jeweiligen Prozessen der ‚Selbsteinbettung‘ ermutigen und unterstützen. Sie inszeniert Gelegenheiten, wo man sich an Themen, Inhalten, fremden Positionen und Meinungen produktiv reiben kann, wo Entdeckungen möglich sind und Deutungen in einer Gruppe ausgehandelt werden können.“ (Neumann/Rösener 2003, 51). Die Kirchenraumpädagogik unterscheidet sich damit deutlich von herkömmlichen Kirchenführungen. Holger Dörnemann hat eine hilfreiche Typologie der Kirchenführungen entworfen, bei der er zwischen kulturorientierten, theologieorientierten, subjektorientierten und erlebnisorientierten Führungen unterscheidet (vgl. Dörnemann 2011,  95–112). In sehr vielen unterrichtlichen Zusammenhängen bieten Kirchenräume Möglichkeiten, Inhalte durch verschiedene Sinneseindrücke zu erweitern. Im Unterschied zu den ersten beiden Typen von Erkundungen geht es in der Kirchenraumpädagogik um religiöse Grundvollzüge. Deshalb sind Verlangsamung und Versinnlichung wesentliche methodische Grundelemente. Wichtig für die Verlangsamung ist ein Schwellenritual an der Kirchentür. Kindern muss bewusstwerden, dass sie jetzt einen ganz besonderen Raum betreten, dessen Eigentliches nur wahrgenommen werden kann, wenn man ganz still und aufmerksam ist (vgl. Neumann/Rösener 2003, 65). Verlangsamung meint u. a. Unterbrechung, Wiederholung und Zweckfreiheit. Die gemeinschaftliche Erkundung eines Objektes kann z. B. in zwei Phasen aufgeteilt werden. Zuerst nennen die Kinder nur ihre Beobachtungen und Wahrnehmungen, die unkommentiert stehen bleiben. Erst in einer zweiten Phase wird dann darüber gesprochen (vgl. Neumann/Rösener 2003, 67–69). Unter Versinnlichung wird der bewusste Einbezug aller Sinnesorgane verstanden. Das BeGreifen von Gegenständen, das Schließen der Augen und Ohren, das Wahrnehmen von Stille und das Nachahmen von Gesten und Haltungen sind nur einige wenige Beispiele für eine Versinnlichung (vgl. Neumann/Rösener 2003, 69–70). Kinder können sich im Kirchenraum auch selbst wahrnehmen, wenn sie vorlesen, singen oder tanzen (vgl. Hilger 2010, 379). Kirchenraumpädagogische Erkundungen schließen in der Regel mit einem religiösen Akt. Es können Kerzen angezündet werden und man schließt mit einem gemeinsamen Gebet oder Lied. Wichtig ist, dass die Verlangsamung und Versinnlichung mit einem gemeinsamen Tun abgeschlossen wird (vgl. Neumann/Rösener 2003, 66–67).

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Anlass für kirchenraumpädagogische Erkundungen können neben unterrichtlichen Inhalten wie Kirche und Gemeinde oder Heilige auch die geprägten Zeiten des Kirchenjahres sein, also die Fasten- und Adventszeit. Kinder können dann durch die besondere Gestaltung des Kirchenraumes die geprägten Zeiten vertieft wahrnehmen.

Zitierte Literatur Boehme, Katja (2008), Kirchenraumpädagogik als ökumenische Herausforderung, in: Katechetische Blätter, 136–144. Boehme, Katja (2010), Kirchenräume erschließen, in: Rendle, Ludwig (Hg.), Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht, München, 230–244. Dörnemann, Holger (2011), Kirchenpädagogik. Ein religionsdidaktisches Prinzip. Grundannahmen – Methoden – Zielsetzungen (Kirche in der Stadt 18), Berlin, 95–112. Hilger, Georg (2005), Lernortwechsel – Räume wahrnehmen und erkunden, in: Hilger, Georg/ Ritter, Werner H., Religionsdidaktik Grundschule, München, 375–381. Jeska, Simone (2006), Von der Burg zum Blob. Kinder entdecken Architektur, Berlin. Köster, Norbert (2016), Historische Orte als außerschulische Lernorte im Religionsunterricht. Perspektiven aus Geschichtsdidaktik, Kirchenraum-, Museums-, und Gedenkstättenpädagogik, in: Bork, Stefan/Gärtner, Claudia (Hg.), Kirchengeschichtsdidaktik. Verortungen zwischen Religionspädagogik, Kirchengeschichte und Geschichtsdidaktik, Stuttgart, 188–203. Neumann, Birgit/Rösener, Antje (2003), Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen. Ein Arbeitsbuch. Mit einer kunstgeschichtlichen Übersicht von Martina Sünder-Gaß, Gütersloh. Rauchenberger, Johannes (2020), Orte des Bildes im katholischen Kirchenraum, in: Hoeps, Reinhard (Hg.), Handbuch der Bildtheologie, Bd. 2, Funktionen des Bildes im Christentum, Paderborn, 146–185. Sauer, Inge/Kretschmer, Christine (2011), Kinder entdecken Architektur. Projekte für die Grundschule, Seelze. Schulte, Andrea (2013), Jeder Ort – überall! Didaktik außerschulischer religiöser Lernorte, Stuttgart.

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Kirchenjahr/christlicher Kalender Clemens Leonhard

1 Erzählen Sie! Kalender sind ausgezeichnete Anlässe, Gründungsgeschichten und Bedeutungszuschreibungen zu vermitteln. Wenn Ihre Schülerinnen und Schüler, wie es in Ex 13,8 angedeutet ist („An diesem Tag erzähl deinem Sohn: Das geschieht für das, was der HERR an mir getan hat, als ich aus Ägypten auszog.“), mit einem religiösen Fest in Berührung kommen, können Sie daran anknüpfen und die mit dem Fest verknüpften Geschichten erzählen. Wenn sie in ihrer Umgebung Unterschiede in der Praxis verschiedener Gruppen wahrnehmen, können sie über die Relativität der Kalenderorganisation in der eigenen Gruppe und außerhalb der eigenen Gruppe ins Gespräch kommen. Es wird anschaulich, wie über die Kalenderorganisation gesellschaftliche Ansprüche auf Macht verteidigt und angegriffen werden. Erzählen Sie!

2 Termine „Was machst du?“ „Ich schaue mir den Kalender des nächsten Jahres an.“ „Warum ärgerst du dich dabei?“ „Weihnachten fällt auf einen Sonntag – ein Feiertag weniger.“

Über dem gesamten jüdisch-christlichen und bürgerlichen Kalender liegt das Raster der Siebentagewoche. Es führt dazu, dass die Feier- und Gedenktage, die an bestimmten Kalendertagen des Sonnenjahres angesetzt sind, auf alle Wochentage fallen können. Die Feste des Weihnachtsfestkreises (Advent, Weihnachten, Weihnachtszeit), die Heiligengedenktage und die meisten Ideenfeste wandern daher durch die Wochentage. Dagegen hängt der Osterfestkreis (Quadragesima, Karwoche, Ostern, Osterzeit, Pfingsten und die darauffolgenden Feiertage) aufgrund von sehr komplizierten Berechnungen am Lauf von Mond und Sonne. Ostern fällt (zusammen mit Pfingsten) zwar immer auf dieselben Wochentage (Oster-Sonntag), aber auf verschiedene Kalendertage im Jahr (Harnoncourt 1994). Diese Verschiebungen erfordern im bürgerlichen und kirchlichen Kalender für jedes Jahr Entscheidungen, wie damit umzugehen ist, wenn geprägte Tage auf denselben Termin fallen. Die Regeln, nach denen diese Entscheidungen getroffen werden, müssen Sie nicht kennen. 126

Laden Sie das „Direktorium“ Ihrer Diözese herunter, um die normative kirchliche Organisation Ihrer lokalen Zeit zur Hand zu haben. Dort sind auch lokal begrenzte Feiertage, Hinweise auf die Kalenderorganisation und liturgische Details (z .B. Farben der liturgischen Gewänder) eingetragen. Die meisten kirchlichen Normen und Vorstellungen über die Organisation des Kalenders (dass der Sonntag z. B. als erster Tag der Woche und nicht als Ende der Woche gezählt wird, oder dass das Kirchenjahr mit dem ersten Adventsonntag und nicht mit dem 1. Januar beginnt) spielen für die jüngeren Schülerinnen und Schüler keine Rolle.

3 Die Weihnachtsgeschichte(n) „Warum ist Weihnachten am 24. Dezember?“ „Weil Jesus da geboren ist.“ „Echt? Woher wissen wir das?“ „Steht in der Bibel.“ „Wo?“ „Naja. Nicht so eindeutig. Aber schau […]“

3.1 Dezember Vor zweitausend Jahren brachten im Tempel in Jerusalem Priester auf einem kleinen Altar im Inneren des Tempels Weihrauch als Opfer dar. Zu den Priestern konnte man nur gehören, wenn man von einer der priesterlichen Familien abstammte. Über einen Zyklus von mehreren Jahren hinweg war genau festgelegt, wann (wenige) Mitglieder aus der jeweiligen Familie im Tempel Dienst tun konnten. Priester kamen ganz selten, vielleicht nur einmal im Leben dazu, eine Woche diesen Dienst zu tun. Wie es getan wird, lernten sie von ihren Vätern. Von einem Priester „Zacharias, der zur Priesterklasse Abija gehörte,“ ist bei Lukas (1,5) die Rede. Er hatte mit seiner Frau Elisabeth keine Kinder. Als er allein im Tempelgebäude den Weihrauch darbrachte, erschien ihm ein Engel und sagte ihm die Geburt eines Sohnes voraus, obwohl es wegen seines und des Alters seiner Frau sehr unwahrscheinlich war, dass sie noch Kinder bekommen sollten. Rückfragen fand der Engel unhöflich. Er machte Zacharias zur Strafe stumm bis zur Namensgebung von Johannes dem Täufer. Nach seiner Dienstwoche im Tempel ging Zacharias wieder nach Hause. Seine Frau wurde wider Erwarten schwanger (1,24). Elisabeth „lebte fünf Monate lang zurückgezogen“ (1,25). „Im sechsten Monat“ (1,26) traf der Engel Gabriel Maria und sagte ihr die Geburt Jesu voraus. Maria glaubte dem Engel zunächst kein Wort, obwohl sie höflich blieb (1,38). Als der Engel Maria verlassen hatte, kam 127

sie offenbar doch ins Grübeln. Es gab zwar noch keine Schwangerschaftstests, der Engel hatte Maria allerdings ein Stück Information gegeben, das ihr neu war. (Sie erinnern sich: Elisabeth „lebte zurückgezogen“!) Der Engel behauptete, dass Elisabeth, die schon zu alt war, um noch Kinder zu bekommen, einen Sohn empfangen hatte (1,36). Maria machte sich also sofort auf, um die Botschaft des Engels zu überprüfen. Sie traf Elisabeth, die deutlich sichtbar im sechsten Monat schwanger war. Nicht sofort nach der Begegnung mit dem Engel, sondern erst jetzt sang Maria das „Magnifikat“ (1,46–55). Was das mit Weihnachten zu tun hat? Nun, neun Monate nach dem Besuch des Engels fällt die Geburt Christi. Die Daten des Lukasevangeliums erlauben keine nähere Festlegung im Jahreskreis. Der spätantike Prediger und Bischof, Johannes Chrysostomos (gest. 407), flicht in die Erzählung des Evangeliums zwei Punkte ein, die zum Weihnachtsfest hinführen. Erstens erklärt er Zacharias zum Hohenpriester und den Feiertag (indirekt) zum Versöhnungstag – dem einzigen Tag, an dem ein Mensch – der Hohepriester – in den innersten Raum des Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel tritt. Damit kann er den Dienst des Zacharias und den Zeitpunkt der Empfängnis von Johannes dem Täufer auf die Herbstfeste im jüdischen Kalender festsetzen (Förster 2007, 161–166). Die Empfängnis Jesu fällt daher sechs Monate (1,26) nach dem Herbst, also in den Frühlingsmonat März. Somit folgt die Geburt Christi im Dezember. (Über noch etwas kompliziertere Präzisierungen der Termine erreicht man noch etwas genauer die Zeit um den 25. Dezember.) Historisch war diese Berechnung des Geburtstermins Christi nicht der Grund für die Einführung des Weihnachtsfestes. Außerdem hat man sich gut drei Jahrhunderte nicht um den Geburtstermin Jesu gekümmert und dann zuerst den Besuch der Sterndeuter – das Erscheinen Jesu vor der Welt – bei Jesus als bedeutenden Festinhalt gesehen. Der Autor des Lukasevangeliums konnte sich nicht im Traum vorstellen, dass man einmal in den Hauptstädten des römischen Reichs den Geburtstag Jesu feiern würde. Trotzdem schlägt die Erzählung eine Brücke zwischen den biblischen Kindheitsgeschichten und dem konkret gefeierten Fest. Sie macht die biblischen Geschichten zu einer Begründung des Festes und damit zu einer Antwort auf die Frage: Warum feierst Du die Geburt Jesu im Dezember?

3.2 Ein Prinzip: Biblische Zeit in liturgischer Zeit Die oben skizzierte Erzählung hat einen weiteren Vorteil. Sie macht ein Prinzip erfahrbar, auf dem der Rest des Weihnachtsfestkreises und der Osterfestkreis aufgebaut sind. Liturgische Zeit wird dadurch geprägt, dass biblische Geschichten mit ihr verknüpft werden. Neun Monate vor Weihnachten konnte man daher (am 25. März) ein Fest der „Verkündigung des Herrn“ (Lk 1,26–38) ansetzen. Drei Monate nach diesem (Lk 1,56) und damit sechs Monate vor der 128

Geburt Christi musste Johannes der Täufer geboren worden sein (24. Juni). (Das Fest „Mariä Heimsuchung“ – die Feier des Besuchs Marias bei Elisabeth passt nicht auf den 2. Juli, weil es anderen kalendarischen Bauprinzipien folgt.) Aufgrund der Gesetze in Lev 12 muss eine Frau 40 Tage nach der Geburt eines Sohnes ein Opfer im Tempel darbringen. Lukas (2,22–39) erzählt diesen Besuch im Tempel. Heute findet daher 40 Tage nach der Feier der Geburt Jesu das Fest „Darstellung des Herrn“ (2. Februar) statt. Nach acht Tagen wurde Jesus beschnitten und erhielt seinen Namen (Lk 2,21). Lange Zeit war daher der 1. Januar das Fest der Beschneidung Christi. Der 1. Januar war aber schon nach dem römischen Kalender der Beginn des bürgerlichen Jahres. 1969, im Zuge der Liturgiereform nach dem zweiten Vatikanischen Konzil, wurde das Fest der Beschneidung Christi durch ein Marienfest ersetzt. Gelegentlich fordern Theolog:innen, man solle das Fest der Beschneidung Christi wiedereinführen (das normative Interesse des Sammelbandes Tück 2020). Neben vielen theologischen Gründen spricht gegen die Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Christi, dass es im Jahreskreis wahrscheinlich keinen Tag gibt, an dem ein Festinhalt unsichtbarer wäre als am 1.  Januar. Nur sehr wenige Enthusiast:innen werden am Tag nach Silvester die Beschneidung Jesu als Festtag begehen. Schon frühmittelalterliche Prediger polemisierten allerdings gegen heidnische Neujahrsbräuche zum 1. Januar (Buchinger 2020, 151 f.). Da auch im Matthäusevangelium Geschichten um die Kindheit Jesu erzählt werden, lassen sich nach dem eben genannten Prinzip weitere Fest- und Gedenktage einrichten. Da die Erfindungen dieser Feste nicht einheitlich geplant wurden, sondern durch verwickelte historische Prozesse und an verschiedenen Orten entstanden, sind sie nicht perfekt aufeinander abgestimmt. Der Besuch der Sterndeuter aus dem Osten (Mt 2,1–12) gibt einem Fest am 6. Januar seinen Sinn. Herodes ließ daraufhin alle Kinder in Bethlehem töten (2,16). Freilich war Jesus zuvor mit seinen Eltern nach Ägypten geflohen (2,14 f.). Das Fest zu Ehren der „unschuldigen Kinder“ am 28.12. passt nicht zur Feier des Besuchs der Sterndeuter. Je nachdem, was Sie Ihren Schüler:innen an biblischen Parallelen zu heutigen Zeitungsmeldungen zumuten wollen, werden Sie den Kindermord von Bethlehem als Thema eher für spätere Lebensalter einplanen. Lesen Sie die biblischen Texte um die Kindheitsgeschichte Jesu genau. Sehen Sie sich Bibelkommentare dazu an. Prägen Sie sich neben den großen Erzähllinien Details ein, die sich zur freien erzählerischen Weiterentwicklung eignen, ohne die grundsätzlichen Aussagen der Texte zu gefährden. Laden Sie Schüler:innen ein, die von der Kirche angebotene und durch Liturgien erfahrbar gemachte Gestaltung der Zeit mit den biblischen Geschichten zu verbinden. Vielleicht gelingt es Ihnen, einen doppelten Aha-Effekt zu erzielen. Wer die Liturgie sieht (oder gar mitfeiert), erfährt die vielen Übereinstimmungen mit den Bibeltexten. Umgekehrt trifft er oder sie in den Bibeltexten nicht mehr bloß schräge Kurzgeschichten aus einer vergangenen Welt, sondern den Hintergrund eigener Praxis. 129

4 Marienfeste, Ideenfeste, Heiligengedenktage „Meine Freundinnen fahren alle weg am Mittwochabend. Warum bleiben wir zu Hause?“ „Ich habe leider den Brückentag nicht frei gekriegt.“

Das ist ein Dialog, der sich in manchen deutschen Bundesländern vor Fronleichnam (dem Fest des „Herren-Leibes“, also der Eucharistie) abspielen kann. Fronleichnam wurde im Hochmittelalter als besonderes Fest der Gegenwart Christi im Brot (und Wein) eingeführt. Es findet am Donnerstag nach dem Sonntag nach Pfingsten statt und spiegelt damit den Gründonnerstag als einen weiteren Donnerstag, der mit der Einsetzung der Eucharistie zusammenhängt. Immer seltener spielen Kinder und ihre Lehrer:innen wichtige Rollen als sichtbare Gruppe in der Formation von Fronleichnamsprozessionen. Sie können über Fronleichnam die Visionen der Heiligen Juliana von Lüttich erzählen oder sich, was ich eher empfehle, mit der (Gegenwart Christi in der) Eucharistie beschäftigen. Wenn Sie Ihre Lehre nach dem Kirchenjahr ausrichten, erklären Sie am Gründonnerstag die Fußwaschung und schieben eine ausführliche Beschäftigung mit der Einsetzung der Eucharistie auf die Einführung in die Thematik von Fronleichnam. Fronleichnam ist eines der Ideenfeste. Auch wenn solche Feste mit irgendwelchen Anlässen verknüpft werden, so zielen sie doch darauf ab, eine bestimmte Thematik in der Liturgie darzustellen oder zu bearbeiten – heute könnte man auch sagen: dafür Werbung zu machen. Auf einen möglichen Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr fällt z. B. das Fest der Heiligen Familie, das vor etwas über einem Jahrhundert eingeführt wurde. Ideenfeste haben oft zum Zeitpunkt ihrer Einführung eine kirchliche oder politische Botschaft getragen. Wenn sie niemand abschafft, bleiben sie Jahrhunderte erhalten, obwohl die Dringlichkeit der Botschaft nicht mehr sichtbar ist. Die Kirche übernimmt Trends aus der Gesellschaft und führt z. B. allgemeine Paarsegnungen am Valentinstag durch. Ideenfeste sind hochmodern. Geben Sie „Tag des/der“ in eine Suchmaschine ein! Es leuchtet unmittelbar ein, einen „Internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten“ zu halten. Der „Gratis Comic Tag“ drängt sich weniger direkt auf und wird verschwinden, wenn sich die Initiator:innen zurückziehen. Institutionen konkurrieren in der Verbreitung von Ideen um den begrenzten Bereich der Aufmerksamkeit im öffentlichen Kalender. In den Jahrhunderten nach der Märtyrerzeit füllte man den Kalender mit Heiligenfesten. Analog zu den modernen Thementagen kämpften, quer durch die Kirchengeschichte, Orden und andere Institutionen darum, ihre Mitglieder heiligsprechen zu lassen und zu ihrer eigenen Ehre möglichst viele von ihnen im allgemeinen Kalender der katholischen Kirchen unterzubringen (Auf der Maur 1994, vgl. 165). Abhängig von mehr oder weniger kindgerecht erzählbaren Lebensgeschichten sind Heiligenfeste eine dankbare Methode, um diesem Aspekt des Kalenders ein Profil zu geben. 130

Das Fest Mariä Empfängnis (8. Dezember) wurde schon im Frühmittelalter als Fest der Geburt Mariens von zwei an sich unfruchtbaren Eltern gefeiert. Sein Thema verschiebt sich hin zur Idee der ohne Erbsünde empfangenen (späteren) Mutter Gottes. Vielleicht können Sie bei Gelegenheit den Eltern Ihrer Grundschüler:innen gegenüber andeuten, dass es bei diesem Fest nicht um eine Bewertung des Geschlechtsakts oder um die Jungfräulichkeit Marias, sondern darum geht, dass Gott ausnahmsweise die Übertragung der Erbsünde auf Maria unterbindet, damit sie selbst diesen Makel nicht an Jesus weitergibt. Am 8. September folgt Mariä Geburt. Sehr früh wurde der 15. August als Aufnahme Mariens in den Himmel gefeiert. Sowohl die Empfängnis Mariens ohne Erbsünde als auch ihre leibliche Aufnahme in den Himmel wurden 1854 beziehungsweise 1950 zu den wenigen als solche verkündeten Dogmen der katholischen Kirche (allgemein: Auf der Maur 1994, 129 u. ö.).

5 Ostern und Pfingsten „Tante Adelgard hat gesagt, die Kirchenglocken sind am Donnerstag nach Rom geflogen. Echt?“ „Nein, aber sie läuten nicht bis Samstagnacht.“ „Ist mir noch nicht aufgefallen. Sie gehen mir nicht ab. Warum läuten sie Samstagnacht wieder?“ „Also …“ (Perkmann 1931, 873 f.)

5.1 Die Zeit von Leiden, Tod und Auferstehung (und Himmelfahrt und Geistsendung) Jesu Christi Ostern, die Osterzeit (Christi Himmelfahrt) und Pfingsten folgen dem oben vorgestellten Beispiel der inhaltlichen Gestaltung der Zeit entlang von biblischen Geschichten. Das führt besonders in diesem Fall dazu, dass man sich angesichts der unlösbaren Widersprüche zwischen den biblischen Erzählungen für bestimmte Varianten entscheiden muss(te). Die Geschichte von Ostern und Pfingsten lässt sich aus zwei Richtungen erzählen, die beide in die Gestaltung der heutigen Liturgie münden. Sie können erstens von den Passionsgeschichten der vier Evangelien ausgehen. Zweitens können Sie die Geschichte des antiken jüdischen Pesach erzählen. Der erste Zugang ist elementarer und dient dem Verstehen der Zeitorganisation heute besser. Der zweite Zugang wird unten nur kurz angedeutet, weil er voraussetzt, dass man die spontane Bewertung historischer Entwicklungen zugunsten von deren Wahrnehmung und Verstehen 131

kurzfristig aussetzen kann. Er hat allerdings den Vorteil, am Rand das jüdische Pesach einzubeziehen (Leonhard 2006; 2018; 2019). Die Osterzeit ist besonders reich an liturgischen Handlungen und an der Verwendung von Gegenständen. Dabei ist wichtig, dass Sie sich selbst einen guten Überblick darüber verschafft haben und wissen, was Kinder, die die lokale Liturgie erleben oder davon hören, mitbekommen können. Verschaffen Sie sich auch gute Kenntnisse über Bilder, Reliefs oder Statuen in Ihrer Kirche (oder an einem Kreuzweg), um sie in Ihre Erzählung, gegebenenfalls sogar bei einem Ortsbesuch einbeziehen zu können. Die Liturgie der Karwoche, der Ostertage und von Pfingsten – von Lukas 19,28 bis Apostelgeschichte  2,42  – bietet Laien und damit Schüler:innen zwei liturgische Funktionen an. Sie können sich einerseits als Mitglieder der Kirche, der lokalen Gemeinde, verstehen. Als solche hören sie Lesungen, antworten auf Fürbitten, singen Lieder usw. Andererseits können sie sich am Palmsonntag, Gründonnerstag und der Osternacht wie Schauspieler:innen in biblische Erzählungen einfügen. Mit dieser zweiten Funktion ist die Liturgie äußerst sparsam. Dramatische Aufführungen (bis zum Passionsspiel, wo die gesamte Ortschaft beteiligt sein kann) oder magische Handlungen wurden und werden außerhalb der Kirche und ohne Beteiligung der Kleriker durchgeführt. Die Feier der Osternacht war bis zur Reform von Pius XII (durch die sie in den fünfziger Jahren zu einer Abend- beziehungsweise Nachtfeier wurde; vgl. Auf der Maur 1983, 120–132) eine ziemlich einsame Veranstaltung Karsamstag Früh. An gelegentlich darauffolgenden Speisesegnungen („Fleischweihe“) nahmen Laien in größerer Zahl teil (allgemein Auf der Maur 1983). Ostereiersuchen und Osterfeuer sind von liturgischer Praxis unabhängig. Die aktive Teilnahme von Kindern an den Osterliturgien im engen Sinn hat eine kurze Geschichte und ist heute keineswegs ausgereift: Sie müssen die Arbeit von Pionier:innen leisten.

5.2 Karwoche, Ostern und Pfingsten Vom Ölberg in Jerusalem kam man durch ein kleines Tal an der Seite der Stadt an, wo der Tempel stand. Nach Lk 19 (Mk 11, Mt 21) lieh sich Jesus am Palmsonntag auf dem Ölberg einen Esel und ritt mit ihm in die Stadt Jerusalem. Die Menschen – wahrscheinlich auch die Kinder (Die Kehrverse der liturgischen Bücher erwähnen immer wieder die „Kinder“ Jerusalems.) – brachen Zweige von den Bäumen und schmückten damit den Weg. Der Einzug Jesu in Jerusalem wird als Ereignis erzählt, das die Stadtöffentlichkeit erschütterte. Jesus zog direkt in den Tempel, stieß die Tische der Händler um und hielt höchst kritische Reden (in den jeweils folgenden Kapiteln der Evangelien). Er machte sich neben Freunden vor allem Feinde. 132

Der Gründonnerstag mischt drei biblisch-erzählerische Themen zu einer Liturgie. Erstens die Feier des letzten Abendmahls als Pesachmahl am Vorabend des Feiertags. Matthäus, Markus und Lukas deuten dieses Pesachmahl als Einsetzung einer Liturgie, die ab jetzt von Christ:innen immer gefeiert werden sollte (der Eucharistiefeier) durch Jesus. Die Liturgie kann mit der ersten Lesung aus Ex 12,1–8.11–14 an das alttestamentliche Pesach und mit der zweiten an die Eucharistie (1 Kor 11,23–26) anknüpfen. Als Evangelium wird zweitens Johannes 13 vorgetragen, das leicht als szenische Anweisung missverstanden werden kann. Manche Kleriker nutzen diese Gelegenheit, um sich selbst als demütige Christusrepräsentanten in den Mittelpunkt zu stellen (Leonhard 2011). An den seltenen Orten, wo die ganze Gemeinde als Fußwäscher:innen in die biblische Handlung einbezogen wird, kann die Liturgie mit Kindern biblisch vorbereitet werden. Joh 13 will nicht, dass einmal im Jahr Herrscher ihren Untertanen die Füße waschen, sondern dass man Christ:innen im Alltag (nämlich immer) daran erkennt, wie sie miteinander umgehen. Bauen Sie daher besonders Joh 13,14.34 f. in Ihre Erzählung ein! Das „neue Gebot“ Jesu ist nicht, dass Fußwäscher ihr Privileg, Jesus spielen zu dürfen, ausüben, sondern, dass Jesus den Aposteln aufgetragen hat, sie sollten einander lieben. Drittens endet die Liturgie mit dem Abräumen des Altars, dem Leeren des Tabernakels, einer Prozession zu einem Aufbewahrungsort der konsekrierten Hostien und manchmal mit einer Anbetungsstunde im Sinn der Wache am Ölberg (Mt  26,30.36–33; Mk  14,26.32–40; Lk 22,39–46). Wenn Sie den Grund der Liturgie mit dem letzten Abendmahl, dem Gang zum Ölberg und dem Gebet im Garten erzählen, bieten sie einen Identifikationsbereich an, in dem sich Ihre Schüler:innen kurz den Jünger:innen Jesu annähern können. Die Liturgie des Karfreitags ist, abgesehen von einem möglichen Kreuzweg, in Wortgottesdienst (mit den großen Fürbitten), Kreuzverehrung und Kommunionfeier gegliedert und bietet keine Rollenidentifikation an. Dort, wo nach der Liturgie wie am Vortag stilles Verweilen am Grab Jesu (als eigener Ort in der Kirche oder am Altar) üblich ist, bieten sich biblische Inhalte zum Nachdenken, nicht aber zum Nachspielen an. Die Jünger:innen Jesu haben den schrecklichen Ort verlassen. Die Nacht gehört bereits zum Sabbat, an dem nach späteren rabbinischen Vorstellungen nicht getrauert wird (Mk 15,42–47; Mt 27,57–66 wo nur heidnische Soldaten [die Schüler:innen nicht zur nachahmenden Identifikation empfohlen werden mögen] Grabwache halten; Lk 23,51–56). Erst zur Osternacht ergibt sich wieder ein wenig Erzählstoff zu einer Gesamtfeier. (Je nachdem, welche Lesungen für die Nachtfeier ausgewählt werden, können mit Kindern Inhalte vorbereitet oder eine Beteiligung bei der Gestaltung inszeniert werden.) Die Passionserzählungen widersprechen einander nach der Zählung der Kalendertage, stimmen aber darin überein, dass sich Ostern als Erkenntnis der Auferstehung Jesu durch die Entdeckung des leeren Grabes durch die Frauen am Sonntagmorgen ereignete (Mt 28; Mk 16; Lk 24,1–12; Jo 20,1–18). Über 133

die gesamte Teilnahme an der Segnung des Feuers, der Lichtfeier mit dem Exsultet, der Serie der Lesungen der Nachtfeier, der Tauffeier und der Messe lässt sich die szenische Brücke des Zugs der Frauen zum Grab und der Erkenntnis der Auferstehung spannen. Daran können Sie das Thema des Ostermontags (Lk 24,13–35) anschließen. In der alten Kirche betrachtete man die 50 Tage nach Ostern als eine liturgische Einheit. Obwohl die alttestamentliche Zählung alles andere als klar ist (weswegen es sehr kompliziert ist, mit Kindern aus Lev 23, besonders Vers 15 f., oder Dtn 16,9–12 den Festkalender zu berechnen) können Sie darauf hinweisen, dass die Idee, nach dem Pesach 50 Tage bis zum nächsten Fest zu zählen, schon im Alten Testament vorkommt. Das alttestamentliche Zählen wurde im Christentum zu einer Festperiode. Der Hinweis darauf, dass Pfingsten auf ein alttestamentliches Fest (das Wochenfest) fällt, ist wichtig, weil es dem Pfingstfest als Fest ein Datum gibt. Auch Christi Himmelfahrt (Lk 24,36–52; Apg 1,4–11) und Pfingsten (Apg 2) haben nacherzählbare Festlegenden.

5.3 Das jüdische Pesach Zur Zeit Jesu war Pesach ein Wallfahrtsfest am Tempel in Jerusalem und begann am Vorabend des Vollmondtags des Frühlingsmonats. Gruppen von Pilger:innen zogen nach Jerusalem, schlachteten im Tempel ein Schaf oder eine Ziege, suchten sich einen Platz in der Nähe der Stadt, grillten dort das Tier und aßen es anschließend – im Freien oder in einem der Häuser Jerusalems. Das ist das Flair, das die Erzählung vom letzten Abendmahl Jesu andeutet. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. war die Pilgerschaft nicht mehr möglich. Die rabbinischen Gelehrten erfanden das Pesach neu als Festessen ohne Opfertier. Daraus ging das heutige jüdische Pesach hervor. Jüdische Familien oder Gruppen treffen sich zu dem Festessen am Vorabend des Festtags und lesen neben den normalen Tischgesprächen die Haggadah. Das christliche Osterfest (das Pascha [Pas-Cha gesprochen]) kam als erstes christliches und gleichzeitig scharf antijüdisches Fest auf. Es wurde sehr bald im Sinn der oben dargestellten Prinzipien, neutestamentliche Ereignisse in liturgischer Zeit abzubilden, umgestaltet. Mit der Umformulierung der Karfreitagsfürbitte für die Juden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist angezeigt, dass das christliche Osterfest trotz seiner problematischen Geschichte heute kein antijüdisches Fest mehr ist (Leonhard 2006; 2018; 2019). Es ist nicht empfehlenswert, in Schulklassen oder Kirchengemeinden an das jüdische Pesach angelehnte christliche Feiern zu veranstalten. Einerseits sind viele jüdische Menschen dagegen, dass Christ:innen ihr Fest feiern. Andererseits hat die heutige Gestalt des Festes fast nichts mit dem zu tun, was Anhänger:innen Jesu im ersten Jahrhundert gekannt haben. 134

6 Einen Anlauf nehmen: Quadragesima und Advent „Mama, gehen wir heute auf den Weihnachtsmarkt?“ „Nein, der ist schon zu Ende. Es ist Weihnachten.“

Das Feiern der Feste scheint einen Drang zu haben, vorverlegt zu werden – vielleicht weil es schwer ist, auf den Beginn des Festes zu warten. Die liturgische Festzeit von Weihnachten beginnt am Vorabend des 25. Dezembers und endet am Sonntag nach dem 6. Januar. Unsere Weihnachtsmärkte, die vor dem Weihnachtsfest enden, werden theologisch korrekt „Adventmärkte“ genannt. Dennoch sind sie als öffentliche Seite der Festveranstaltung von Weihnachten erfahrbar.

6.1 Advent Beim Advent können Sie Schüler:innen im Kalender Tage zählen lassen und empfehlen, eine 40-Tage-Periode als biblisches Vorbild einer Fastenzeit zu suchen. Mose (Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9) oder Jesus (Mt 4,2; Lk 4,2) haben 40 Tage gefastet. Kommt man im Advent auf 40 Tage? (Niemals!) Mit den folgenden Zusatzinformationen kann man für den Advent Fasten-Mathematik betreiben. In manchen (nicht in allen) Kirchen Europas war es im Frühmittelalter verboten, an Sonntagen und an Samstagen zu fasten. Außerdem war für diese Kirchen der 6. Januar das größere Fest. Vom 6. Januar zurückgerechnet ergeben sich 40 Fasttage in 8 Wochen (40+16=56). Damit gelangt man zum 11. November, dem Martinstag. Kennen Sie Bräuche für den 11. November, die mit Fasten und Essen zu tun haben? Später ist diese Vorbereitungszeit auf vier Wochen geschrumpft und zielt auf den 24. Dezember.

6.2 Quadragesima Die Quadragesima (oder die „vierzig“ Tage der österlichen Bußzeit) werden oft „Fastenzeit“ genannt. Fasten wurde in der katholischen Kirche praktisch abgeschafft. Der Aschermittwoch und der Karfreitag sind im engeren Sinn Fasttage (can. 1251, CIC 1983). Manche machen sich über mittelalterliche Speisevorschriften für diese Zeit lustig. Andere befleißigen sich kleiner Einschränkungen ihres Luxus, die am besten als gesundheitsfördernd gelten. Die sonntägliche Fastensuppe in der Gemeinde ist in jedem Fall unangemessen: Gerade an Sonntagen ist nicht zu fasten. Die vierzig Tage entstanden im Mittelalter dadurch, dass man in den sechs Wochen (ohne Sonntage, mit Samstagen [als Fasttagen] und einschließlich der Karwoche) auf 135

36  Fasttage kam, denen noch eine halbe Woche (vom Aschermittwoch an) hinzugerechnet wurde. Wenn Sie mit Ihren Schüler:innen ausgerechnet haben, wie man auf 40 Tage Fasten kommt, obwohl man die Sonntage ausspart (und wobei man die Samstage mitzählt), müssen Sie freilich noch den Aschermittwoch erklären. Haben Sie schon einmal den Ausdruck: „Asche auf mein Haupt!“ (wenn man gesteht, einen Fehler gemacht zu haben) gehört? Wenn ja, darum geht es: Vor vielen Jahrhunderten gab es die Beichte noch nicht. Menschen, die in der Antike und im Frühmittelalter etwas ganz besonders Böses getan hatten, konnten einmal im Leben Buße tun. Sie mussten sich dafür beim Bischof melden. Am Beginn der Quadragesima begann für sie eine besonders strenge Zeit aus Gebet, Fasten und Gottesdiensten. Sie kamen in unangenehmen Kleidern aus grobem Stoff in die Kirche und der Bischof streute ihnen zum Zeichen des Eintritts in diesen Abschnitt ihrer Buße etwas Asche auf den Kopf. Am Gründonnerstag legte ihnen der Bischof die Hände auf. In den folgenden Tagen konnten sie mit allen Mitgliedern der Kirche Ostern feiern. Im Lauf der Zeit wollten immer weniger Leute diese Form der Buße auf sich nehmen. Gleichzeitig wurde die Beichte erfunden, damit man seine Sünden bereuen und vom Priester die Verzeihung Gottes zugesprochen bekommen konnte. So kamen am Anfang der Quadragesima immer weniger Büßer:innen, um mit Asche bestreut zu werden. Nun konnte man sagen: perfekt sind wir alle nicht. Aus dieser Einsicht entwickelte sich der Brauch, der bis heute gilt, dass nämlich alle Christ:innen am Anfang der Quadragesima wenigstens ein bisschen zu Büßer:innen werden und sich auf Ostern vorbereiten (zum Thema Buße und Liturgie: Meßner 1992).

7 Kalender Auf die Kalender bezogen ist religiöse Sprachfähigkeit religiöse Erzählkunst. Es gibt keinen zwingenden Grund, bestimmte Feste einmal im Jahr (statt einmal im Monat oder einmal alle dreizehn Jahre) zu feiern, alle sieben statt fünf oder zehn Tage einen Ruhetag einzulegen oder den Umlauf der Erde um die Sonne statt des Umlaufs des Mondes um die Erde zur langfristigen Orientierung in der Zeit zu verwenden. Eine Gruppe entscheidet sich aus irgendwelchen Gründen für die eine oder andere Struktur. Diese Entscheidung wird aber erst dadurch wirksam, dass möglichst viele andere Gruppen sie übernehmen. Es dient der Verbreitung der eigenen Vorstellung über die Zeitorganisation, wenn man Gründe dafür anführen kann. Die Gründe stehen nicht in den Sternen. Die einzige Chance liegt darin, gute Geschichten gut erzählen zu können. Hier kann man nur überreden, nicht überzeugen. Aus der Sicht der Grundschullehrkraft sowie der Schüler:innen geht es außerdem nicht um die Handlungsfähigkeit als 136

Liturgiegestalter:in, sondern um eine bewusste Beteiligung als Laien, um verstehen, (Bedeutungen) assoziieren und mitmachen, nicht (um-)gestalten. Finden Sie heraus, wem Sie welche Geschichte am besten erzählen können und welches Erzählen Ihnen am besten liegt. „Erzählen“ wurde hier wortzentriert (Lesen, Sprechen, Hören) verstanden und praktiziert. Jetzt, wo Sie den Beitrag gelesen haben, sammeln Sie Dinge, Handlungen, Gerüche, Bilder, Geschmack, Töne usw., um die gesprochene Sprache zu ergänzen. Erzählen Sie!

Zitierte Literatur Auf der Maur, Hansjörg (1983), Herrenfeste in Woche und Jahr (Feiern im Rhythmus der Zeit 1, GDK 5), Regensburg. Auf der Maur, Hansjörg (1994), Der Kalender, in: Harnoncourt, Philipp/Auf der Maur, Hansjörg (Hg.), Der Kalender. Feste und Gedenktage der Heiligen (Feiern im Rhythmus der Zeit 2,1; GDK 6,1), Regensburg, 72–297. Buchinger, Harald (2020), Die Feier der Beschneidung des Herrn am Oktavtag von Weihnachten. Liturgische Entwicklung und Entfaltung im ersten Jahrtausend, in: Tück, Jan-Heiner (Hg.), Beschneidung Jesu. Was sie Juden und Christen heute bedeutet, Freiburg/Basel/Wien, 147–185. Förster, Hans (2007), Die Anfänge von Weihnachten und Epiphanias. Eine Anfrage an die Entstehungshypothesen (STAC 46), Tübingen. Harnoncourt, Philipp (1994), Der Kalender, in: Harnoncourt, Philipp/Auf der Maur, Hansjörg, Der Kalender, Feste und Gedenktage der Heiligen (Feiern im Rhythmus der Zeit 2,1; GDK 6,1). Regensburg, 13–64. Leonhard, Clemens (2006), Ostern – ein christliches Pesach? Ähnlichkeiten und Unterschiede, in: Welt und Umwelt der Bibel 40, 22–27. Leonhard, Clemens (2011), Die Fußwaschung am Gründonnerstag. Probleme und Zukunftschancen eines ästhetisch berührenden Rituals, in: Schlimbach, Guido/Wahle Stephan (Hg.), Zeit – Kunst – Liturgie – Der Gottesdienst als privilegierter Ort der Ästhetik, Aachen, 106–114. Leonhard, Clemens (2018), Exodus und Pesach: Transformation durch Interpretation im frühen Christentum und Judentum, in: Neuber, Carolin, Der immer neue Exodus. Aneignungen und Transformationen des Exodusmotivs (SBS 242), Stuttgart, 144–166. Leonhard Clemens (2019), Pesach – Pascha – Ostern. Polemik und Identität in jüdischen und christlichen Festtraditionen, in: Religionsunterricht heute 47, 46–47. Meßner, Reinhard (1992), Feiern der Umkehr und Versöhnung (Sakramentliche Feiern 1,2; GDK 7,2), Regensburg. Perkmann, Adelgard (1930), Art. Glocke, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 3, 868–876. Tück, Jan-Heiner (Hg.) (2020), Beschneidung Jesu. Was sie Juden und Christen heute bedeutet, Freiburg/ Basel/Wien.

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Leben und Umwelt Jesu Adrian Wypadlo

1 Einleitung und Vorhaben „Die Religion ist uns fremd geworden“ – diesen Satz habe ich vor kurzem als Einleitung in eine religiöse Sendung des Radiosenders „HR Info“ gehört. Damit wird das Lebensgefühl vieler, wenn nicht sogar der meisten Menschen der Gegenwart in der westlichen Hemisphäre zum Ausdruck gebracht. Alle wissen: Es gibt die (christliche) Religion und es gibt weltweit viele Religionen; sie spielen aber im Alltag keine oder nur eine untergeordnete Rolle, treten in der Regel nur als Objekt einer umfassend eingeforderten Toleranz oder in negativer Form als Beispiel ihres gewaltsamen Potentials an das Licht der Öffentlichkeit (Fragen des [Macht-]Missbrauchs/Gewaltbereitschaft z. B. des Islams). Dann wundert es aber doch, dass die Figur des Jesus von Nazaret, um die es in diesem Beitrag gehen soll, nach wie vor besonderes Interesse weckt, wie allein der kaum mehr zu überblickenden Publikationslandschaft entnommen werden kann. Wer könnte von sich behaupten, die meisten oder zumindest nur die wichtigsten Jesus-Publikationen der letzten Jahre rezipiert zu haben? Allein deren Fülle macht eine vollständige Rezeption selbst für Experten unmöglich. Eine weitere Lebenswelt tut sich mit dem Internet und den dort zu findenden, ausufernden Diskussionen über diese historische Gestalt des Jesus von Nazaret auf, deren Historizität hier jedoch gerne bestritten wird. Das Internet ist dabei ein zuverlässiger Indikator für eine Gesellschaft, die sich immer weniger als eine christliche versteht, in der dennoch die (oft kritische) Rückfrage nach Jesus von Nazaret plausibel erscheint. Was ist es also, dass die Faszination der wichtigsten Gestalt, die je auf Erden gelebt hat, ausmacht? Dieser Frage soll in diesem Beitrag dadurch nachgegangen werden, dass nach den Basisdaten seines Lebens und Wirkens gefragt wird. Nähern wir uns dem Phänomen „Jesus von Nazareth“ mittels folgender Beobachtungen an: Als zum Passafest des Jahres 30 n. Chr. der galiläische Jude Jesus von Nazaret auf Befehl – zumindest aber unter Duldung – des römischen Präfekten der Provinz Judäa – Pontius Pilatus – hingerichtet wurde, endet das irdische Leben eines Menschen, dessen Botschaft und dessen Taten Wirkkräfte hervorbrachten, die für die kulturellen, religiösen, ethischen und politischen Überzeugungen seiner Zeitgenossen zum Ansporn, zur Herausforderung und manchmal auch zur Provokation wurden. Der Verlauf der weiteren Geschichte sollte aber zeigen, dass die Wirkung und der Einfluss dieses Mannes aus Nazaret sich über Jahrhunderte erstrecken sollte und keinesfalls nur auf seine vergleichsweise kurze Lebenszeit von 30 –40 Jahren beschränkt war. Jesus hatte bereits zu Lebzeiten viele 138

Männer und Frauen in seine Nachfolge berufen und an seinen Wanderungen durch Palästina teilhaben lassen – wie die von ihm adressierte Region von der römischen Besatzungsmacht bevorzugt genannt wurde. Nach seinem gewaltsamen Tod entstanden rund um das Mittelmeer immer weiter neue Gemeinschaften. Bis heute berufen sich mehr als zwei Milliarden Christ:innen weltweit, verteilt über eine kaum mehr überschaubare Menge an Konfessionen, darauf, dass dieser Jesus in besonderer Weise den Willen Gottes für die Welt repräsentiert und bekennen ihn als Gottes Sohn und als ihren Herrn. Die Faszination, die bereits zu Lebzeiten von Jesus ausging, führte – wofür wir nur dankbar sein können – dazu, dass von Anfang an seine Worte festgehalten, memoriert und aufgezeichnet wurden, seine Taten Erstaunen und Reaktionen hervorriefen und sein Schicksal von Kreuz und Auferstehung zum Ausgangspunkt von Deutungen, Bekenntnissen, Hymnen und biographischen Erzählungen wurde. Diese frühliterarische Sammeltätigkeit führte dazu, dass in den gut 100  Jahren nach seinem Tod nach und nach frühchristliche Schriften entstanden sind, die mit einer so noch nicht dagewesenen Konzentration auf eine einzige Gestalt sein Leben, seine Botschaft und Bedeutung thematisieren. Durch einen langwierigen und widersprüchlichen Prozess der Auswahl und Verwerfung von Evangelienschriften, Briefen und weiterer auf Jesus Christus bezogener Literatur entstand der Kanon des Neuen Testamentes. Er umfasst heute 27 Schriften, die etwa in den Jahren von 50 bis 150 n. Chr. verfasst wurden. Der 1. Thessalonicherbrief ist dabei nachweislich dessen chronologisch erste Schrift und der 2. Petrusbrief (wahrscheinlich) dessen letzte Schrift. Unsere Aufgabe in diesem Beitrag wird es sein, diese Schriften danach zu befragen, was sie an glaubwürdigen Informationen über das Leben und den Wirkungsraum Jesu bereitstellen. Diese Informationen sind dann in Abgleich und in Korrespondenz mit den wenigen Informationen nicht-christlicher Couleur zu bringen. Hier ragt insbesondere das historiographische Schrifttum des Flavius Josephus heraus, ohne dass wir nur ein marginales Wissen über die zeitgeschichtlichen Umstände des jesuanischen Wirkens hätten. Begeben wir uns also auf Spurensuche.

2 Der Name „Jesus von Nazaret“ Bei dem Namen „Jesus“ handelt es sich um die gräzisierte Form des aramäischen Jeschu oder Jeschua. Diese wiederum ist eine Kurzform von Jehoschua bzw. Joschua (vgl. Strotmann 2019, 56 f.). Man kann diesen Namen mit „JHWH ist Rettung“ bzw. „JHWH rettet“ übersetzen (vgl. Foerster 1990,  284–287). In der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, wird der hebräische Name „Joschua“ stets mit Iesoús wiedergegeben. Dieser Name war in der Antike sehr beliebt. Bei Josephus kommen ca. 20 Träger dieses Namens vor. Um Jesus daher von anderen Trägern dieses populären männlichen Vornamens unterscheiden 139

zu können, wurde von Anfang an sein Herkunftsort hinzugefügt. Im NT begegnen verschiedene Varianten dieser Herkunftsbezeichnung: Jesus, der von Nazaret; Jesus, der Nazarener; Jesus, der Nazoräer. Die längste Zeit seines Lebens hat Jesus in dieser Stadt gelebt. Bekanntlich findet dieser Ort weder im AT noch im Schrifttum des Flavius Josephus eine Erwähnung. In den Evangelien wird Nazaret zwar eine Stadt genannt (vgl. Mk 6,1; Lk 1,26), doch können wir hieraus keine Ableitungen im Hinblick auf eine Mindestgröße unternehmen. Auch die LXX übersetzt das hebräische ir mit pólis. Die moderne Forschung geht von 200–400 Personen aus, die dort dauerhaft lebten. Damit passt zusammen, dass Nazaret laut Mk  6,2 eine Synagoge besaß, da zum Zustandekommen einer synagogalen Gemeinschaft lediglich eine Anzahl von 10 Männern erforderlich war (vgl. Gnilka 1993, 76). Mit der „Stadt“ Nazaret ist bereits die Frage nach dem Geburtsort Jesu aufgeworfen.

3 Geburtsort und Geburtszeit Die beiden in dieser Frage maßgeblichen Großevangelien nach Matthäus und Lukas sind sich darin einig, dass Jesus in Bethlehem geboren worden ist. Obgleich sich die Verfasser dieser beiden Schriften gemäß der sogenannten Zwei-Quellen-Theorie nicht gekannt haben und damit unabhängig voneinander Bethlehem als Geburtsort bezeugen, ist seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Rückfrage nach Jesus die Kritik an dieser Angabe nicht verstummt. Hintergrund dieser Kritik ist die davidische „Sättigung“ dieser Ortsangabe. Daher empfiehlt es sich, zunächst zu diesem Faktum Stellung zu beziehen: Eine Reihe von ntl. Texten schreibt Jesus eine davidische Herkunft zu (vgl. z. B. Mk 10,47 f.; Lk 1,32; Offb 22,16). Auffallend unverdächtig ist die Formulierung von Paulus in Röm 1,3: „[…] der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids“. Paulus ist bekanntlich völlig uninteressiert am irdischen Jesus, fügt diese Notiz jedoch mit einer großen Selbstverständlichkeit in das Präskript des Römerbriefes ein. Andere Traditionen wie etwa Joh  7,42 weisen in eine andere Richtung, wo gegen Jesus vorgebracht wird, er könne nicht der Messias sein, da er weder davidischer Herkunft noch in Bethlehem geboren sei. Joh 7,42 stellt aber eine Ausnahme dar. Für die Einschätzung Jesu als (davidischen) Messias scheint die Herkunftsbezeichnung also seit frühester Zeit von größter Wichtigkeit gewesen zu sein, nur ist zu fragen, ob theologische Interessen oder historische Reminiszenzen federführend wirkten. Die beiden Genealogien in Mt 1,1–17 und Lk 3,23–38 bedienen zwar atl.-jüdische Plausibilitäten, sind jedoch derart unterschiedlich, dass eine historische Auswertung aussichtslos erscheint. Historisch wahrscheinlicher ist es also – ohne eine letzte Sicherheit gewinnen zu können –, dass beide Stammbäume in eher loser Form aus gängigen Genealogien mit einem konkreten christologisch-heilsgeschichtlichen Impetus komponiert worden sind. 140

Auch wenn die meisten Bezeichnungen Jesu mit dem christologischen Hoheitstitel „Sohn Davids“ wohl redaktioneller Herkunft sind, muss nicht daran gezweifelt werden, dass Jesus während seiner öffentlichen Wirksamkeit von seinen Anhängern durchaus als „Sohn Davids“ angesehen wurde. Im Vordergrund steht aber das theologische Interesse dieser Bezeichnung im Zusammenhang der Abfassung der Evangelien, die besonders im Falle des MtEv zu greifen ist, der diesen Titel bevorzugt mit der Wundertätigkeit Jesu in Verbindung bringt. Dennoch ist diese Einschätzung Jesu keine rein matthäische Spezialität, wie das Streitgespräch über den Davidssohn in Mk 12,35–27 sowie Röm 1,3 offenbaren. Nach dieser Vorverständigung über Jesus als „Sohn Davids“ gilt es nun zur dornigen Frage nach dem Geburtsort Jesu Stellung zu beziehen. Es ist sicherlich alles andere als ein Geheimnis, dass die ntl. Wissenschaft mehrheitlich skeptisch ist im Hinblick auf eine Geburt Jesu in Bethlehem. Die theologisch-davidische Valenz des Geburtsortes Bethlehem im MtEv und LkEv zusammen mit der Unkenntnis dieses Geburtsortes bei MkEv und JohEv sprechen auch historisch für Nazaret als den Geburtsort Jesu. Am weitesten wird diese These im Lehrbuch von G. Theißen und A. Merz ausgeführt, wo mit einem fast polemischen Impetus zu lesen ist: „Jesus stammt aus Nazareth. Die Verlagerung des Geburtsortes nach Bethlehem ist ein Ergebnis religiöser Phantasie und Vorstellungskraft: Weil der Messias nach der Schrift in Bethlehem geboren werden musste, wurde Jesu Geburt dorthin verlegt.“ (Theißen/Merz 2011, 158). Tatsächlich lassen sich weitere starke Argumente gegen Bethlehem ins Feld führen: Die Uneinigkeit des MtEv (die Eltern Jesu leben bereits in Bethlehem) und LkEv (die Eltern Jesu begeben sich wegen der Steuerschätzung von Nazaret nach Bethlehem), die legendarisch anmutende Reisebewegung nach Bethlehem wegen einer Steuerschätzung (eine solche lässt sich durch römische Steuerakten nicht nachweisen) sowie die historischen Schwierigkeiten des Kindermordes durch Herodes in Bethlehem (der gut informierte Flavius Josephus schweigt über diese grausamen Begebenheiten) erschweren eine Annahme Bethlehems als Geburtsort, obwohl ein „Wegräumen“ eines etwaigen Konkurrenten zur „Grausamkeit und Genialität“ des Herodes des Gr. durchaus passt. Obgleich die Vorgänge von Mt 2,13–18 (Kindermord) durch kein weiteres antikes Zeugnis belegt werden, passt die hier zu greifende Skizze Herodes des Großen, der in seiner „Grausamkeit und Genialität“ sicherlich keine Scheu gehabt hätte, einen ihm gefährlich werden Konkurrenten im Vorfeld zu „neutralisieren“ (vgl. Vogel 2013, passim). Andererseits ist nicht zu verkennen, dass eine gleichsam dogmatisch ausformulierte Position, wie die von Theißen/ Merz, in dieser Schärfe nicht mehr fortgeschrieben werden kann. Seit der Jesus-Trilogie von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI., in der selbstverständlich Bethlehem favorisiert wird, ist auch innerexegetisch eine größere Flexibilität zu bemerken, die hervorragend dem Votum von S. Hultgren im „Jesus Handbuch“ entnommen werden kann: „Trotzdem kann eine Geburt in Bethlehem auch nicht ganz ausgeschlossen werden und eine Forschungsminderheit argumentiert nach wie vor für die Zuverlässigkeit dieser Tradition.“ (Hultgren 2017, 217) 141

Diesem Urteil Hultgrens möchte ich mich vollumfänglich anschließen und darauf verweisen, dass sowohl Lk als auch Mt unabhängig voneinander Bethlehem nennen. Es ist wenig redlich, die Unabhängigkeit zweier Zeugen in manchen Fällen als schlagenden Beweis, in anderen Fällen als historisch wertlos zu erachten. Mit anderen Worten: Nazaret als Geburtsort Jesu kann einige Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen, Bethlehem kann aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

4 Geburtsjahr Jesu Eine präzise Angabe wird leider auch beim Geburtsjahr Jesu nicht möglich sein. Möglich ist jedoch eine ungefähre Eingrenzung seines Geburtsdatums: Zugrunde zu legen sind hier erneut die Kindheitsgeschichten des MtEv und des LkEv, die jedoch in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Beide Kindheitsgeschichten nennen aber politisch interessante Persönlichkeiten, die bei einer Datierung hilfreich sein können. Beginnen wir mit der matthäischen Kindheitsgeschichte (Mt 1–2), nach der Jesus in der Regierungszeit Herodes des Großen geboren wurde. Der „Kindermord zu Bethlehem“ lässt sich historisch nicht auswerten und auch der Stern nicht, der die „Magier aus dem Morgenland“ zum Neugeborenen führte, da hier mit hoher Wahrscheinlichkeit das theologische Motiv des Messiassterns aus Num 24,17 verarbeitet wird. So bleibt aus der matthäischen Kindheitsgeschichte die Erkenntnis übrig: Jesus wurde in den letzten Jahren der Regierungszeit Herodes des Großen geboren, der 4 v. Chr. verstarb. In besagter Spannung zur matthäischen Kindheitsgeschichte steht die lukanische. Übereinstimmung besteht zunächst darin, dass Jesus auch bei Lukas in der Regierungszeit des Herodes des Großen (37–4  v.  Chr.) und der des Kaisers Augustus (27  v.–14.  n.  Chr) geboren wurde. Historisch schwierig ist die Behauptung des auctor ad Theophilum, dass zur Geburtszeit Jesu der Statthalter Quirinius im Auftrag des Kaisers Augustus einen Zensus in Judäa abgehalten habe. Davon ist uns nichts bekannt. Lediglich nach der Katastrophe des Jüdischen Krieges ist eine reichsweite Steuererhebung historisch belegt (74/75  n.  Chr.). Es könnte also durchaus sein, dass der auctor ad Theophilum einen Steuerzensus, den er zur Abfassungszeit seines Evangeliums „am eigenen Körper spürte“ in die Zeit Jesu zurückprojizierte. Damit kommt der Name Quirinius ins Spiel, der erst nach der Entmachtung des Tetrarchen Archelaos im Jahre 6 n. Chr. das Amt des Statthalters der Provinz Syrien antrat, in die Judäa eingegliedert wurde. Zwischen der Behauptung, Jesus sei noch unter Herodes dem Großen geboren, und der, Jesu Geburt erfolge im Zusammenhang mit dem Steuerzensus unter Quirinius, klafft eine zeitliche Lücke von mindestens 10 Jahren. Auch die Reisebewegung Nazaret – Bethlehem wirkt einigermaßen phantasiereich. Trotz allen historischen Scharfsinns lässt sich das Geburtsjahr Jesu nicht ermitteln. Es muss uns reichen anzunehmen, dass Jesus irgendwann um die Zeitenwende 142

geboren wurde. Vielleicht tatsächlich zum Ende der Regierungszeit des Herodes des Großen, wie es uns Lukas und Matthäus wissen lassen. Damit stimmt die sehr allgemeine Aussage in Lk 3,23 überein, dass Jesus zu Beginn seines öffentlichen Auftretens ungefähr 30 Jahre alt gewesen sei. Lk 3,23 lässt sich aber nicht weiter historisch auswerten, da einerseits 2 Sam 5,3 f. eingewirkt haben könnte, andererseits das Alter „30 Jahre“ ein in jüdischer Hinsicht idealtypisches Alter ist, um seine Lehrtätigkeit zu beginnen.

5 Die Familie Jesu Aus dem NT sind uns folgende Personen als Mitglieder der Familie Jesu bekannt: Seine Eltern Maria und Josef, vier Brüder, die namentlich erwähnt werden: Jakobus, Joses, Judas und Simon (vgl. Mk 6,3), sodann einige zahlenmäßig nicht näher benannte Schwestern. Die Namensgebung lässt auf eine fromme, tief in den Traditionen Israels verwurzelte Familie schließen. Die Tatsache, dass Josef nur in den Kindheitsgeschichten der Großevangelien erwähnt wird, lässt sich überzeugend damit erklären, dass er zur Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu nicht mehr am Leben war, was hervorragend zu Mk 6,3 passt, wo Jesus als „Sohn der Maria“, und nicht – wie es in den patriarchalen Gesellschaften des Nahen Osten üblich war – als „Sohn des Josefs“ identifiziert wird. Das Zeugnis des NT gibt weiter zu erkennen, dass das Verhältnis Jesu zu seiner biologischen Familie zumindest in der Phase seines öffentlichen Wirkens konflikthaft angespannt war (vgl. Mk 3,20 f. 31–35; Joh 7,5). Seine Familie wird die Lebensgefahr betont haben, in die Jesus sich selbst durch seine öffentliche Predigttätigkeit hineinmanövrierte, Jesus hingegen wird die Verkündigung des Gottesreiches als die maßgebliche Größe definiert haben, hinter der alles andere – auch die Familie – zurückzustehen hat. Für die Katholische Kirche ergibt sich somit ein Paradoxon: Sie ist die einzige gesellschaftliche Institution, die den Wert der traditionellen Familie gegenüber jeder Form ihrer Nivellierung und Verwässerung nachdrücklich betont, sie beruft sich dabei aber auf einen Religionsgründer, der im Bruch mit seiner eigenen Familie lebte. Eine denkwürdige Konstellation. Das Osterereignis brachte hier aber die entscheidende Wende, sodass auch die Brüder Jesu eine wichtige Rolle in der urchristlichen Mission gespielt haben. Vom „Herrenbruder Jakobus“ wissen wir, dass er zu den stýloi (Säulen) und damit zu den Leitern der Jerusalemer Urgemeinde gehörte (vgl. Apg 15,13; Gal 2,9), während Paulus die „Brüder des Herrn“ erwähnt (vgl. 1 Kor 9,5), die sich als umherziehende Missionare verdient gemacht haben. Die Ausstrahlungskraft der Brüder Jesu in nachösterlicher Zeit lässt sich auch daran erkennen, dass zwei ntl. Briefe – der Jakobus- und Judasbrief – pseudepigraphisch mit diesen Jesus-Brüdern verbunden werden. Diese pseudepigraphischen Briefe werden so zu Zeugen der Autorität, die die Jesus-Brüder Jakobus und Judas im Urchristentum besaßen. 143

6 Jesu Formation, Bildung und Beruf Dieses Kapitel kann in aller Kürze abgehandelt werden: Über die langen Jahre bis zum öffentlichen Auftreten Jesu wissen wir nichts Näheres. Das weitgehende Schweigen der Evangelien wird wohl auf eine eher unauffällige Kindheit und Jugendzeit Jesu hinweisen. Jesus wird von Maria erzogen und von Josef in die jüdische Religion und die Tora eingeführt worden sein. In den Synagogengottesdiensten wird er mit der Schriftlesung und der auslegenden Predigt vertraut gemacht worden sein, wie es den üblichen jüdischen Gepflogenheiten entsprach. Etwas präziser äußern sich die Evangelien zum Beruf des Josef, der mit höchster Wahrscheinlichkeit auch der Beruf Jesu wurde. Mt 13,55 behauptet für Josef, dass er ein tektōn war. Mk 6,3 bezieht diesen Beruf sogar ausdrücklich auf Jesus. Es ist damit zu rechnen, dass im Zusammenhang christologischer Denkprozesse der weltliche Beruf von Jesus weg und hin zum Vater gelenkt wurde. Historisch eindeutig ist daher Mk 6,3. Es ist der Vorschlag zu machen, diesen Begriff im weitesten Sinne mit „Bauhandwerker“ zu übersetzen, da zu diesem im holzarmen Palästina weniger die Herstellung von Holzkonstruktionen für den Bau als vielmehr die Bearbeitung von Steinen und Lehmkonstruktionen kennzeichnend war, sodass Berufselemente etwa des Maurers und Steinmetzes einflossen. Die Vorstellung von Jesus als „dem Zimmermann“ hat sich erst in europäischen Breiten durchgesetzt und dürfte die damaligen Verhältnisse nicht richtig wiedergeben. Da das „Dorf“ Nazaret kaum genügend Arbeit für das „Bauhandwerkerteam“ Josef und Jesus zur Verfügung stellte, ist mit beruflichen Aufenthalten Jesu auf den Großbaustellen des Herodes Antipas in Sepphoris und Tiberias zu rechnen. Dazu passt, dass Jesu Bildsprache, die in den Evangelien begegnet, neben der ländlichen Welt (Sämann; Winzer; Schafe; Vögel des Himmels; Senfkörner) auch von Banken, Plätzen, Gerichten und Theatern zu berichten weiß. Den Beruf hat Jesus sicher – wie es üblich war – von seinem Vater erlernt und ihn wohl spätestens ab dem 14. Lebensjahr ausgeübt, da ab diesem Lebensalter junge Männer kopfsteuerpflichtig wurden.

7 Wirkungsraum und -orte Jesu Der bevorzugte Wirkungsraum des Jesus von Nazaret war das ländliche Galiläa (vgl. zum Folgenden Strotmann 2019, 65). Dieser Sachverhalt lässt sich leicht dadurch erklären, dass die Gefahr, als Aufrührer festgesetzt zu werden, in den Städten sehr viel höher war als in ländlichen Gebieten. Die beiden „Metropolen“ Galiläas – Sepphoris und Tiberias – werden nicht als Wirkungsorte Jesu genannt. Sepphoris findet überhaupt keine Erwähnung, Tiberias nur zur Bestimmung des Sees Genesaret. Die einzige größere Stadt, die von Jesus betreten wurde, war – neben Jerusalem natürlich, in dem er den Tod fand – Jericho (Mk 10,46; Lk 19,1). Von 144

hier aus kann der Raum seines Wirkens noch näher eingegrenzt werden. Es ist das nordwestliche Ufer des Sees Genesaret mit seinen drei Hauptorten Kafarnaum, Chorazin und Betsaida. Hinzuzunehmen ist noch das etwas weiter südlich gelegene Magdala. In diesen Orten lag der Schwerpunkt der Verkündigungstätigkeit Jesu. Das bestätigen sowohl das MkEv als auch die Logienquelle Q als die beiden ältesten Zeugen der Jesusüberlieferung. Von besonderem Interesse ist hier die an Ortsnamen sonst sehr kärgliche Logienquelle, die zwei dieser Orte beim Namen nennt. Gemeint ist zunächst die Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum (Lk 7,1–10) und dann das Drohwort gegen die galiläischen Städte (Lk 10,13–15 par.). Sie werden bei Mt und Lk völlig gleich überliefert. Mt 11,21–23 Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Das sage ich euch: Tyrus und Sidon wird es am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als euch. Und du, Kafarnaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben werden? Bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen. Wenn in Sodom die Machttaten geschehen wären, die bei dir geschehen sind, dann stünde es noch heute.

Lk 10,13–15 Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es beim Gericht erträglicher ergehen als euch. Und du, Kafarnaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben werden? Bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen!

Andere Ortschaften Galiläas begegnen eher nur am Rande in der Überlieferung der Evangelien. Zu nennen ist der Heimatort Jesu, Nazaret, in dem Jesus keinen Erfolg hatte, sodann Kana (Joh 2,1–10) und Naïn (Lk 7,11). Orte in Obergaliläa fehlen dagegen in der Jesusüberlieferung. Wir erfahren aber von gelegentlichen Aufenthalten Jesu auf dem Gebiet des Städte- bzw. Dörferbundes der Dekapolis, der sich in nordöstlicher Richtung an den See Genesaret anschloss. Den nördlichsten Punkt der Wanderungen markiert das Caesarea des Philippus unweit des Hermon-Massivs, wo die synoptischen Evangelien das Petrusbekenntnis (Mk 8,27–30) lokalisieren. In den Synoptischen Evangelien fungiert dieser Ort als eine Art „Wasserscheide“ der Jesusbewegung: Von da an geht es südwärts hin zum Leiden in Jerusalem. Der literarische Befund legt also nahe, dass Kafarnaum eine Art „Zentrale“ der Jesusbewegung war, von der aus Jesus mit seinen Jüngern Wanderungen in missionarischer Absicht in das Umland startete. Dazu passt, dass das Brüderpaar Simon Petrus und Andreas in diesem Ort nach Mk 1,29–31 ein Haus besaßen. Landesgrenzen scheinen dabei für die Jesusbewegung keine Rolle gespielt 145

zu haben, insofern Teile der genannten Gebiete zum Territorium des Herodes Antipas, andere jedoch zu dem des Philippus gehörten.

8 Jesu Todesdatum Der Beginn der Jesus-Überlieferung ist nicht die Zeugung und die Geburt Jesu, sondern sein Tod am Kreuz. Die Evangelien erzählen die „Vita Jesu“ also nicht chronologisch, sondern die Begebenheiten rund um Tod und Auferstehung Jesu sind die gedankliche Achse der Jesusüberlieferung. Der vielzitierte Satz von Martin Kähler, die Synoptischen Evangelien seien „Passionserzählungen mit einer ausführlichen Einleitung“ (Kähler 1969, 60 Anm. 1), behält hier seine Richtigkeit. Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus im Zusammenhang eines Pessachfestes und an einem Freitag zu Tode gekommen ist. Hier beginnen leider die wesentlichen Differenzen: Nach Joh 18,28; 19,14.31.42 wurde Jesus am Rüsttag eines Pessachfestes hingerichtet, also am  14. Nisan nach dem jüdischen Kalender, an dem die Pessachlämmer geschlachtet werden. Gemäß dem Zeugnis der Synoptischen Evangelien starb Jesus aber am 15. Nisan, also am Pessachfest, sodass er am Vorabend dieses Festes mit seinen Jüngern das Pessachmahl – terminologisch genauer das Sedermahl des Pessachfestes – eingenommen habe. Im Falle der johanneischen Datierung (Rüsttag des Pessachfestes) kämen die Jahre 30 und 33 in Frage. Im Fall der synoptischen Datierung die Jahre 27 und 34. Die überwältigende Mehrheit der Exeget:innen weltweit gibt der johanneischen Datierung den Vorzug. Zwar ist das johanneische, christologische Bestreben, Jesus als wahres Opferlamm darzustellen, gleichsam mit Händen zu greifen, die synoptische Version stellt uns jedoch vor noch größere Probleme: Danach sollen die höchsten Vertreter des Judentums die Nacht zum Pessachfest damit zugebracht haben, einen Unruhestifter aus Galiläa verhört zu haben, anstatt mit ihren Familien das Pessachmahl einzunehmen. Diese Vorstellung muss als extrem unwahrscheinlich bezeichnet werden. Diese Bedeutung werden die führenden Repräsentanten der jüdischen Autonomie der damaligen Zeit Jesus einfach nicht zugesprochen haben. Damit hängt die Frage zusammen: Wie wahrscheinlich ist die Hinrichtung eines Aufrührers am hochheiligen Pessachfest? Selbst das MkEv gibt die Schwierigkeiten zu erkennen, wenn es in Mk 14,1 f. heißt: „Es war zwei Tage vor dem Pascha und dem Fest der Ungesäuerten Brote. Die Hohepriester und die Schriftgelehrten suchten nach einer Möglichkeit, Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen, um ihn zu töten. Sie sagten aber: Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt!“. Die Schwierigkeiten einer Hinrichtung am Pessachfest selbst klingen also mehr als deutlich an. Aber auch der Ablauf des Mahles bei den Synoptikern lässt keinen echten Pessach-Bezug erkennen, sondern ist allenfalls im narrativen Rahmen der Passion Jesu zu greifen. Wenn daher der johanneischen Chronologie der Vorzug zu geben ist, empfiehlt sich 146

als Todestag Jesu der 14. Nisan (7. April) des Jahres 30. n. Chr. Andere Daten können aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

9 Schlussüberlegung „Die Religion ist uns fremd geworden“ – mit diesem Satz haben wir die Überlegungen zu Jesus von Nazaret eröffnet. Dieser kurze Überblick zeigt uns einen Menschen der Zeitenwende, einer politisch und religiös hochaufgeladenen Zeit am Vorabend des Jüdischen Krieges (66–70 n. Chr.), der die Verkündigung des Reiches Gottes an die erste Stelle setzte und dabei tief verwurzelt war in den religiösen Traditionen seiner Religion. Manche Regeln und Gebräuche dieser Religion verschärft er, andere lockert er, insoweit es seinem Liebesideal entspricht. Dabei lässt er sich keiner der bekannten jüdischen Religions-„parteien“ (Sadduzäer; Pharisäer; Zeloten; Essener) eindeutig zuordnen, wobei eine gewisse geistige Verwandtschaft zu den Pharisäern zu verzeichnen ist. Auch die Tatsache, dass er oft im Streit mit der Personengruppe der Pharisäer dargestellt wird, spricht nicht gegen, sondern eher für eine geistige Verwandtschaft. Das kontinuierliche Interesse an seiner Persönlichkeit ist vollauf berechtig und entspricht der Zeitlosigkeit seiner Botschaft. Dieser Jesus verbietet es, ihn für eine Sache zu vereinnahmen, er dient im guten Sinne als „Stachel im Fleisch“ sowohl einer sattsam institutionalisierten Kirche als auch einer materialistisch-hedonistisch gottvergessenen Welt, die genau deswegen die Kette ihrer Krisen (ethisch, wirtschaftlich, ökologisch, klimatisch) prolongiert. Die Versuche, diesen Jesus von Nazaret für eine bestimmte Position zu vereinnahmen, sind ebenso Legion wie zum Scheitern verurteilt. In sprachlich äußerst geschickter Form bringt dies Dieter Schellong auf den Punkt, indem er fast spöttisch anführt: „Die Färbung (scil. der Jesusdarstellung) wechselt: In den fünfziger Jahren merkte man dem historischen Jesus das Studium der Existenzphilosophie an, die hat er wieder verlernt, dafür hat sein Engagement für Sozialarbeit zugenommen, einige Zeit lang konnte er auch kulturpolitisch aufrührerisch sein, und inzwischen besteht kein Zweifel mehr an seinem Feminismus, der auch verschiedener Facetten fähig ist. Wenn man Lust dazu hätte, könnte man die Schwankungen im öffentlichen Bewusstsein seit den fünfziger Jahren an dem nachzeichnen, was aus den wenigen echten Aussprüchen Jesu herausgedeutet wird. Der ‚historische‘ Jesus kommt mir vor wie ein Chamäleon: Auf welche Farbe man ihn setzt, die nimmt er an.“ (Schellong 1990, 28 f.)

Allzu leicht sollte man es sich mit diesem Jesus von Nazareth also nicht machen, sondern ihn dadurch ernst nehmen, dass man sich immer wieder auf die Suche macht nach seinem 147

Lebenswerk und seiner Botschaft im Wissen darum, dass es uns niemals gelingen wird, den „historischen Jesus“ in die Jetzt-Zeit hineinzuholen. Was uns aber gelingen kann, ist es, theologisch und historisch plausible Jesus-Modellbilder zu zeichnen, die auf der Höhe der aktuellen Forschung sind. Wenn dieser kleine Beitrag die Weichen in diese Richtung gestellt haben sollte, dann hätte er seinen Zweck voll erfüllt.

Zitierte Literatur Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (2016), Stuttgart. Foerster, Werner (1990), Art. Ἰησοῦς, in: ThWNT III (Studienausgabe), 284–294. Gnilka, Joachim (31993), Jesus von Nazareth, Botschaft und Geschichte, Freiburg i. Br. Hultgren, Stephen (2017), Jesus: Herkunft, Geburt, Kindheit, Familie, in: Schröter, Jens (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen, 214–219. Kähler, Martin (41969), Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, hg. v. Ernst Wolf, München. Schellong, Dieter (1990), „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ – Rückfragen zur Suche nach dem „historischen Jesus“, in: Einwürfe 6, 2–47. Strotmann, Angelika (32019), Der historische Jesus. Eine Einführung (= utb 3553), Paderborn. Theißen, Gerd/Merz, Annette (42011), Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen. Vogel, Manuel (22013), Herodes. König der Juden, Freund der Römer (= Biblische Gestalten 5), Leipzig.

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Letzte Dinge Dorothea Sattler

1 Hinführung zum Thema Was geschieht, wenn in das Leben eines sehr jungen Menschen die Erkenntnis einbricht, dass es den Tod gibt und niemand ihm jemals entkommen wird? Die Literatin Mascha Kaléko schildert dieses Ereignis und die sich aus ihm ergebende pädagogische Herausforderung so: „Wie sag ich’s meinem Kinde? Jüngst sah mein kleiner Sohn Den ersten Totenwagen. – Er gab nicht einen Ton Und stellte keine Fragen. Doch dann, nach ein paar Tagen, Begann er zögernd-leis. – Was konnte ich schon sagen, Wo man doch selbst nichts weiß? Das Schulrezept Botanik, ‚Vom Werden und Verderben‘. Erzielte nichts als Panik: ‚Mama, auch Du kannst sterben?!‘ Es war nicht pädagogisch, Vom Fortbestand der Seelen, Und viel zu theologisch, Vom Himmel zu erzählen. Doch mangels akkuraten Berichts aus jenen Sphären Erschien es mir geraten, zu trösten, statt zu lehren.

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Im Kreis der ‚Aufgeklärten‘ Bin ich darob verfemt. – Verzeiht ihr Herrn Gelehrten, Wenn mich das nicht sehr grämt. Die Bücherweisheit ist bankrott, Der Blinde führt den Blinden. – Und wahrlich, gäb es keinen Gott, Man müsste ihn erfinden.“ (Kaléko 1977/2018, 49–50)

Dieses literarische Zeugnis lässt nachdenklich zurück: Die zögerlich geäußerten Fragen des Kindes angesichts der Wahrnehmung des Todes mitten im Leben legen die Ratlosigkeit und die Not bei der Antwortgabe der Erwachsenen offen. Mit der Erkenntnis der Bedrohung durch den Tod, vor dem auch die Mutter nicht geschützt ist, wird die Dramatik der Endlichkeit jedes Lebens offenkundig. Die naheliegende Bezugnahme auf die (biologische) Regel von Werden und Vergehen ist keine Antwort auf die existenzielle Frage, warum geliebte Menschen sterben. Gelehrte theologische Auskünfte sind in manchen Situationen weniger wichtig als der Trost von Person zu Person. Von hoher Bedeutung ist das Zeugnis, dass es den lebendigen Gott gibt. Auf ein ewiges Leben zu hoffen ist ein Wagnis, das einzugehen aus christlicher Sicht im Vertrauen auf Gottes Handeln in und an Jesus begründet erscheint und in Gemeinschaft gelebt wird. Kinder begegnen in jungen Jahren dem Tod auf vielfältige Weise: Der Tod von Haustieren wird emotional durchlitten; in medialen Berichterstattungen werden die tagtäglichen Bedrohungen des Lebens an vielen Orten der Erde beschrieben; nahe Verwandte  – nicht selten die Großeltern, heute oft die Urgroßeltern von Kindern  – leben irgendwann nicht mehr; erhoffte Geschwisterkinder werden nicht lebend geboren oder sterben früh; eigene Krankheiten sind zu bestehen. Es lassen sich somit viele Bezüge zum Leben von Kindern im Themenkreis Tod, Trauer und Hoffnung auf ewiges Leben erkennen. Die Nähe zur Thematik „Theodizee“ ist offenkundig: Nicht nur Kinder fragen, warum – oder auch wozu – Menschen leiden und sterben, da es doch einen Gott gibt, der allen Geschöpfen Lebensfreude bereiten möchte.

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2 Grundanliegen der gegenwärtigen christlichen Eschatologie 2.1 Zum Begriff „Eschatologie“ Der Begriff „Eschatologie“ legt zunächst nahe, bei dieser Thematik gehe es um die zeitlich letzten Ereignisse im Tod und nach dem Tod (etymologisch entschlüsselt: griechisch ta eschata sind die letzten Geschehnisse, von denen zu sprechen – griechisch logein – ist). Das, was „zuletzt“ geschieht, lässt sich jedoch auch anders deuten: Das Letzte ist das, was bleibt, was gilt, was Bestand hat, auf was Verlass ist, dem es zu vertrauen gilt, was zählt, was sich bewährt. Wird die Thematik in diesem Sinne verstanden, wird sie zu einer Anfrage in jeder Gegenwart: Auf wen oder was richtet sich immerzu die letzte Hoffnung? Was ist besonders wichtig im Leben? Was soll bleiben angesichts der wahrnehmbaren Vergänglichkeit aller materiellen Güter? Wozu lohnt es sich, Tag für Tag aufzustehen und das Leben immer wieder neu anzunehmen und zu gestalten?

2.2 Der universal gegebene Tod als Zäsur im Leben Eine alte Lebensweisheit lehrt: „Das Totenhemd hat keine Taschen“ – einfacher gesagt: „Niemand nimmt etwas mit“. Mit dem Wissen um die Universalität des Todes ist kulturgeschichtlich ein sozialkritischer Aspekt verbunden: Das spätmittelalterliche Bildmotiv vom „Totentanz“ ziert Kirchengebäude und veranschaulicht bis heute die Erkenntnis, dass der Tod niemanden verschont, er – bildhaft betrachtet – alle an der Hand hält: Alle gesellschaftlichen Stände, jedes Geschlecht, alle Lebensalter kommen früher oder später mit dem Tod in Berührung. Bei aller Erschütterung über das sichere Ende des eigenen Lebens enthält diese Erkenntnis auch eine tröstliche Botschaft: Letztlich sind alle Geschöpfe im Tod gleich. Gleichwohl unterscheiden sich die Lebenswege und behalten Bedeutung auch für das Erleben des Daseins in der eschatologischen Vollendung. Leibliche Auferstehung meint: Die jeweils ureigene, unverwechselbar persönliche Lebensgeschichte mit ihren sozialen Bezügen wird bewahrt und kann in Gottes Gegenwart in eine versöhnte Gestalt verwandelt werden. Karl Rahner hat sich intensiv mit der Theologie des Todes befasst und am Ende seiner Lebenszeit davor gewarnt, die radikale Zäsur zwischen dem irdischen Leben und dem ewigen Leben zu verharmlosen (vgl. Rahner 1984/2008). Die Erwartung einer Begegnung mit Gott sollte nicht als ein erfreuliches Geschehen neben vielen weiteren Ereignissen missverstanden werden. Für das, was im Tod geschieht, fehlen die angemessenen Vorstellungen. Viele Details der eigenen Lebensgestaltung werden vergehen. Nach Rahner bleibt jedoch „die wahre Essenz der getanen Freiheit“ (Rahner 1984/2008, 57): jene Motivationen im Leben, die eine 151

menschliche Identität prägen und im Handeln konkret werden. Angesichts der Tatsache, dass keine menschliche Persönlichkeit ausschließlich durch die Liebe motiviert ist, sind Gericht und Läuterung notwendige Wege zur Selbstfindung.

2.3 Zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen Die Eschatologie denkt seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv über sich selbst nach. Viele der früheren Selbstverständlichkeiten in der Rede von der Erwartung des Ewigen Lebens werden seitdem neu bedacht. Folgende Erkenntnisse sind dabei gewonnen worden und kommen in Gesamtdarstellungen der Eschatologie (vgl. Vorgrimler 2008; Rahner 2010; Kessler 2021) sowie in Sammelbänden (vgl. Kessler 2004; Herkert/Remenyi 2009; Arens 2010; Swarat/Söding 2013) zur Sprache: (1) Die Eschatologie ist Theologie. Geht es in ihr eigentlich um Räume und Zeiten, in denen sich Menschen nach dem Tod befinden? Ist es nicht eher so, dass spezifische Formen der Beziehung zu Gott und den Mitgeschöpfen den Unterschied in der eschatologischen Existenz ausmachen? Hans Urs von Balthasar formulierte in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Erneuerung der eschatologischen Hermeneutik wegweisend: „Gott ist das ‚Letzte Ding‘ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegfeuer. Er ist Der, woran das Endliche stirbt und wodurch es zu Ihm, in Ihm aufersteht“ (von Balthasar 1958, 407). Die Eschatologie ist immer Rede von Gott: Theo-logie im eigentlichen Sinn des Wortes. Die eschatologischen Orte sind Räume in Beziehungen. (2) Die Eschatologie blickt zurück in die Geschichte des Handelns Gottes an Israel und in den frühen christlichen Gemeinden. Als Rede von Gottes Sein und Handeln ist die christliche Eschatologie keine bloß visionäre, spekulative Zukunftsschau, sie transformiert vielmehr die in der biblisch bezeugten, geschichtlichen Gotteserfahrung vorausgesetzte Sicht auf die von Gott geschaffene Welt in den Modus der Vollendung. Der Blick der Christ:innen orientiert sich dabei insbesondere an den Erzählungen über die Osterereignisse, an dem Bekenntnis: Jesus Christus ist wahrhaft auferstanden und seinen irdischen Weggefährt:innen als ein lebendiges Wesen erschienen, das sie ermutigt und beauftragt zum Zeugnis für ihn. (3) Das Nachdenken über die Schöpfung und die Vollendung sind engstens miteinander verbunden. Jener Gott, der alles ins Dasein setzt, weiß um die (von den Geschöpfen in Freiheit gewirkte) Sünde mit ihren Konsequenzen in der Schuldverstrickung. Gottes Erlösungswilligkeit ist seinem schöpferischen Wirken gleich-ursprünglich: Gott setzt die Welt ins Dasein, weil er sie auch vollenden kann. Sowohl die Schöpfungslehre wie die Eschatologie betrachten den (einzelnen) Menschen als ein Beziehungswesen: in Sorge sowie in Freude bezogen auf den

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Kosmos und zugleich in einer ganz eigenartigen Beziehung zu den (menschlichen) Mitgeschöpfen stehend. (4) Die Verheißung des Himmels und die Furcht vor der Hölle unterscheiden sich: Die Erwartung der Vollendung ist im Glauben gewiss. Die Möglichkeit ewiger Gottesferne ist aus eigenem Entschluss zu wählen. Niemand ist jedoch ermächtigt zu beurteilen, ob es Gott nicht doch noch gelingen könnte, alle Geschöpfe – auch die zunächst widerständigen – von der Freude an der ewigen Gemeinschaft mit ihm zu überzeugen. Bei der Hoffnung auf Allversöhnung ist die Bereitschaft zur Umkehr der Sünder:innen im Geschehen der Läuterung des Lebens vorausgesetzt. Im Gericht erfahren die Leidenden Gottes Gerechtigkeit. (5) Als Rede von Gott hat auch die Eschatologie die metaphorische Bildhaftigkeit ihrer Rede zu bedenken. Die bei aller Ähnlichkeit immer größere Unähnlichkeit zwischen dem göttlichen und dem geschöpflichen Wesen ist in der gläubigen Annahme gegründet, dass Gott das ursprungslose, in sich selbst gründende Sein ist, während das Leben der Geschöpfe durch Gottes Bereitschaft zur Gabe von Sein und Leben ermöglicht ist. In Bildern vom ewigen Leben zu sprechen, ist unvermeidbar, da in der menschlichen Vorstellung die Wirklichkeit nur in Raum und Zeit gedacht werden kann. Die Bibel bringt viele Bilder für die erhoffte Vollendung ein: ein unbedrohtes, fröhliches und versöhntes Leben wird sein; eine friedliche Mahlgemeinschaft aller Völker und Kulturen kann sich ereignen; das Leben in einer von Mauern geschützten Stadt mit Möglichkeiten zur Begegnung ist möglich; das Leben in einem wunderschönen blühenden Garten mit Obstbäumen, die immerzu Früchte tragen, ist in Aussicht.

3 Vertiefung einzelner Themenkreise Die christliche Eschatologie tritt mit einer gemeinsamen, alle Konfessionen (katholisch, evangelisch und orthodox) ökumenisch verbindenden Glaubensüberzeugung in das Gespräch der Religionen ein: Es gibt ein einmaliges, von Gott geschenktes irdisches Leben, das Gott allen Geschöpfen über den Tod hinaus bewahren kann und in ein versöhntes Miteinander verwandeln möchte. Anders als manche Vorstellungen von einer Reinkarnation (Wiedergeburt und Rückkehr der Toten in die Zeit) im Hinduismus oder Buddhismus lebt aus christlicher Sicht jedes Geschöpf ein einziges Mal. Entsprechend wertvoll ist die verantwortlich zu gestaltende Lebenszeit. Der christlichen Eschatologie ist im Gespräch mit anderen monotheistischen Religionen (Judentum und Islam), die aufgrund der gemeinsamen Annahme eines schöpferischen Handelns Gottes die kosmologischen und anthropologischen Prämissen des Christentums teilen, eigen, auch angesichts des göttlichen Gerichts über die Sünder:innen die Hoffnung auf die Versöhnung zwischen allen Geschöpfen zu verkündigen. Paulus hat in seinen Briefen diese

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christliche Botschaft theologisch begründet: Alle Menschen sind Sünder:innen. Gottes Barmherzigkeit gilt allen Menschen. Die folgenden Überlegungen zur Vertiefung einzelner eschatologischer Aspekte möchten als eine Vergewisserung über das christliche eschatologische Bekenntnis und auch als eine Argumentationshilfe im interreligiösen Gespräch verstanden werden.

3.1 Christologisch-soteriologische Grundlegung des österlichen Glaubens Das Nachdenken über das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi ist in der christlichen Eschatologie von sehr hoher Bedeutung. Jesus war Jude und teilte die Überzeugung jener religiösen Gruppierungen in seiner Lebenszeit, die auf die Gemeinschaft der gottesfürchtigen Gerechten mit dem lebendigen Gott über den Tod hinaus hofften. In den späten Schriften des Alten Testaments – insbesondere in der Weisheitsliteratur (vgl. Weish 1–3) – festigte sich der Gedanke, dass die in irdischer Zeit nicht erfahrbare Gerechtigkeit nach dem Tod hergestellt wird. Die Erwartung von einem göttlichen Gericht ist daher eine freudige Verheißung: Es kommt öffentlich zur Erscheinung, wer den Weisungen Gottes gefolgt ist. Neben diesen individuellen Erwartungen einer ewigen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott gibt es in Israel auch eine Hoffnung auf die Vollendung der Gemeinschaft der Glaubenden im himmlischen Jerusalem in Gestalt einer Mahlgemeinschaft aller Völker im beständigen Frieden miteinander (vgl. Jes 60). Vorausgesetzt ist dabei die Bereitschaft zur Versöhnung in gemeinsamer Anerkenntnis des einen Gottes, des Schöpfers aller Welt. Jesus hat mit seiner Verkündigung des bereits in der Gegenwart bestehenden Reiches Gottes einen Ruf zur Umkehr verbunden. Jesus hat insbesondere in der Zeichenhandlung des Mahles auch mit Sünder:innen eine Vorahnung eines Lebens in unbedrohter versöhnter Gemeinschaft erleben lassen. In dem kurz vor seinem Leiden und Sterben gefeierten Letzten Abendmahl bringt Jesus seine Hoffnung auf eine ewige Mahlgemeinschaft zum Ausdruck. Jesus teilt das eine Brot mit allen und reicht ihnen den einen Becher als Zeichen für die von Gott geschenkte Gemeinschaft mit den Sünder:innen. Von allem Anfang an war es schwer, mit dem Tod Jesu einen Sinn zu verbinden. Die Begegnungen mit dem auferweckten Christus haben eine Umkehr bewirkt und die Augen geöffnet. Es ist nicht einfach zufällig so, dass es aus Sicht der neutestamentlichen Autoren angemessen erscheint, die Überlieferung von der Auferweckung Jesu Christi in Bildszenen zu versammeln, die Suche nach Verstehen, Weggemeinschaft, Zweifel, Entdeckung der Identität des Gekreuzigten und dem Auferweckten sowie die Sendung zum Zeugnis bzw. zur Mission zum Ausdruck zu bringen. Die neutestamentlichen Erzählungen sind von den frühen christlichen Gemeinden für die späteren Gemeinden geschrieben. Die Herausforderung bleibt dieselbe: trotz 154

aller Widerstände zum Glauben an den auferweckten Jesus Christus zu finden. Das christliche Bekenntnis zu Gottes Willigkeit, die Schöpfung zu vollenden, hat seinen Grund in den biblisch bezeugten Erfahrungen der Glaubensgemeinschaft mit diesem Gott: JHWH, der (in seinem Namen) sein für-sorgendes Dasein in die offene Zukunft hinein zugesagt hat, ist jener Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Apg 3,15 u. ö.). Die Glaubensgemeinschaft ist der Ort, an dem Menschen in ihrer unvertretbar eigenen Entscheidung, ob sie dieser Verheißung trauen können, ermutigt und bestärkt werden. Die älteste Überlieferung des Glaubens an Gottes Tat der Auferweckung Jesu Christi ist in den paulinischen Schriften zu finden. In Bekenntnisgestalt kommt zur Sprache, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (1 Thess 1,10; Gal 1,1; 1 Kor 6,14 u. ö.). Dabei kommt (durch die griechische Verbform) sprachlich zum Ausdruck, dass es sich (nach der Überzeugung des Paulus) um ein geschichtlich-momentanes, sich in der Zeit ereignendes Geschehen handelte. Die synoptischen und johanneischen Erzählungen von den Erscheinungen des Auferweckten stimmen mit der frühen Texttradition darin überein, dass ein Begegnungsgeschehen (eine Erscheinung) zum Osterglauben führte. Gemeinsam ist in den Erzählungen überliefert, dass die Erkenntnis des auferweckten Christus nicht zwingend war, vielmehr vertrauenden Glauben und die Bereitschaft zur erinnernden Vergegenwärtigung des vorösterlichen Jesus voraussetzte. Die Adressaten der Evangelien sollten auf diese Weise ermutigt werden, ihre eigenen Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen, auch nach der begrenzten geschichtlichen Zeit der Erscheinungen zum Osterglauben zu finden (vgl. Emmaus-Jünger: bei der Wortverkündigung und beim Brotbrechen; Thomas: durch die Vergegenwärtigung der Leidensgeschichte Jesu). Neben dieser Wiedererkennungsthematik ist als zweites das Sendungs- und Beauftragungsmotiv in vielen Erzählungen zu finden: Es ist der Auftrag an die Osterzeug:innen, das Erlebte anderen zu verkündigen. Bis heute umstritten ist, ob die nur in den Evangelien (nicht bei Paulus) zu findenden Erzählungen vom leeren Grab ein historisches Fundament haben. Die meisten Ausleger dieser Überlieferung lassen diese Frage offen, weil auch die Tatsache eines leeren Grabes unterschiedliche Ursachen haben könnte (der Leichnam könnte beispielsweise geraubt worden sein). Eine eindeutige, schlüssige Erklärung für die Erzähltradition vom leeren Grabe lässt sich somit kaum angeben. Aus systematisch-theologischer Perspektive betrachtet, ist jedoch vor allem wichtig, dass der Leib des auferstandenen Christus (wie auch der menschlich-geschöpfliche Auferstehungsleib) nicht identisch war mit einem wiederbelebten, dann erneut sterblichen Körper. Nach den Erzählungen der Evangelien vermag der Auferstandene durch verschlossene Türen und Fenster zu gehen; er kann an mehreren Orten gleichzeitig erscheinen. All dies setzt voraus, dass der auferweckte Leib Jesu ein verwandelter war – nicht einfach sein wiederbelebter Körper. „Leibliche“ Auferstehung meint: lebendiges Gedächtnis der gesamten Lebensgeschichte eines geschöpflichen Daseins. 155

3.2 Auferstehung mit Seele und Leib Die gegenwärtige Eschatologie ist darum bemüht, die Anliegen, die sich mit der philosophischen Rede von der „unsterblichen Seele“ eines Geschöpfes verbinden, nicht in Konkurrenz zu sehen zu der Erwartung der „leibhaftigen“ Auferstehung: Beide Begriffe meinen nicht etwas Materielles, im irdischen Sinn Körperliches, das den Tod überdauerte, vielmehr erfassen sie Aspekte der irdischen menschlichen Existenz, die in Gottes ewiger Gegenwart auf immer Wirklichkeit bleiben: Mit „Seele“ ist die geistige, intellektuelle Fähigkeit gemeint, die eigene Identität zu erkennen; in der Vollendung geht die Selbstwahrnehmung nicht verloren; es bleibt für jeden und jede wichtig zu erkennen, dass er und sie es ist, der und die ihr Leben von Gott bewahrt bekommt. Unter „Leib“ ist die leibhafte, Gestalt gewordene Lebensgeschichte zu verstehen, die jede Einzelpersönlichkeit unverwechselbar sein lässt. Insbesondere im Blick auf die Rede von der Seele sind – nicht zuletzt in ökumenischen Kontexten – Missverständnisse zu vermeiden. Immer ist es Gott allein, der, in seinem Willen, die Geschöpfe zu vollenden, im Tod das Leben bewahrt. Anders formuliert: Die Seele des Geschöpfes ist nicht in sich selbst oder aus sich selbst heraus unsterblich, vielmehr ist es einzig der göttlichen Beziehungswilligkeit zu verdanken, wenn der vom Geschöpf selbst nicht zu überwindende Graben des Todes überbrückt wird. In den biblischen Schriften geschieht ein Lobpreis Gottes, der „den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht“ hat (Weish 2,23). Im folgenden Vers ist zu lesen: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und ihn erfahren alle, die ihm angehören“ (Weish 2,24). Nicht der sündige Mensch ist unsterblich, sondern Gottes Gnade, seine barmherzige Beziehungswilligkeit, rettet aus dem Tod. Die in der reformatorischen Tradition bestehenden Vorbehalte gegen den in den biblischen Schriften nicht belegten, stärker der antiken philosophischen Lehre nahen Begriff der „unsterblichen Seele“ lassen sich in dem Maße aufheben, in dem das Missverständnis zurückgewiesen wird, es gebe im sündigen Menschen die Möglichkeit, in eigener Wirksamkeit die Zäsur des Todes zu überwinden. Seit früher Zeit wurde in der christlichen Tradition der Versuch unternommen, die antike philosophische Idee von der Unsterblichkeit der Seele in Verbindung zu bringen mit dem biblisch überlieferten Gedanken einer leibhaftigen Auferstehung der Toten, dem Verlassen der Gräber und der Rückkehr in eine geschichtliche Existenz (vgl. Ez 37,1–13). Im Rückbezug auf die Erzählungen von den Erscheinungen des auferstandenen Jesus Christus, der in seiner leibhaftigen Gestalt wiedererkannt werden konnte, formte sich die Idee der eschatologischen Vollendung, bei der der körperlichen Gestalt des Menschen hohe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass sich die Römisch-katholische Kirche lange Zeit sehr schwergetan hat, eine Kremation mit Urnenbegräbnis als angemessen zu betrachten. Heute gilt die Wahrnehmung, dass der äußere Verfall des Körpers auch bei einem 156

Sargbegräbnis unaufhaltsam ist, als Argument dafür, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Bestattung des Körpers nach der Kremation in einer Urne oder in einem Sarg gibt. Die Emotionen der Angehörigen sind jeweils zu achten. Aus theologischer Perspektive betrachtet, ist es wichtig, auf den Zusammenhang zwischen den aufgrund der körperlichen Existenz eines Menschen gelebten Sozialformen und der eschatologischen Vollendung aufmerksam zu machen: Nur in körperlich vermittelter Leibhaftigkeit sind Beziehungen möglich. Vollendet wird der Leib im Sinne der Beziehungsgeschichte, deren Voraussetzung das körperliche Dasein war. In der Geschichte der christlichen Eschatologie wurden Konzepte entwickelt, die eine Kombination zwischen der Idee einer unsterblichen Seele und der leiblichen Auferstehung vorsehen: Der Mensch stirbt; die vom Körper befreite Seele lebt weiter und kommt in das Einzelgericht – in eine Begegnung mit Gott in Wahrnehmung der persönlichen Lebensgeschichte. Menschen, die sich für eine Beziehung zu Gott entscheiden, durchleben eine Läuterung und erwarten dann nach einem zeitlich gedachten Zwischenzustand das Universalgericht am Ende der Tage. Viele Details in dieser traditionellen Vorstellung sind angefragt worden – vor allem die Annahme einer zeitlichen Dauer von Vorgängen in der eschatologischen Vollendung. In der neueren Eschatologie hat das Konzept einer „Auferstehung im Tod“ (vgl. Busch 2001) vielfach Zustimmung erfahren: Demnach gibt es in der Vollendung kein früher und später; alles geschieht in der Wahrnehmung der Verstorbenen (gleichzeitig): Das gesamte Leben tritt im Moment des Todes ein für alle Mal endgültig vor Gottes Augen. Bei aller Zustimmung zur Problematik der Zeitvorstellungen bei der Rede von der Ewigkeit bedürfen die in früheren Bildwelten erfassten differenzierten Aspekte im Geschehen der Vollendung aus meiner Sicht weiterhin der Aufmerksamkeit: Persönliche Lebensgeschichten (zu bedenken im Einzelgericht) sind nicht identisch mit der Weltgeschichte (zu bedenken im Universalgericht). Es gibt in der Schöpfung im Schönen wie im Leidvollen mehr als uns im eigenen Lebensbereich je zugänglich sein kann. Auch im Blick auf die Läuterung sind Zeitmomente bei der Bewusstseinsbildung wichtig: Die irdische Erfahrung lehrt, dass die Bereitschaft zur Umkehr oft nur mit Geduld und Ausdauer erreicht werden kann. Zeitvorstellungen sind somit auf der eschatologischen Bildebene einzubringen. Menschen können sich ohne Bezüge zu Zeit und Raum keine Vorstellungen von der eschatologischen Wirklichkeit bilden. Zugleich ist im Lobpreis zu erahnen, wie alle Zeitmomente in der Gegenwart des ewigen Gottes versammelt sind.

3.3 Gericht, Läuterung und Allversöhnung Die Erwartung von Gottes Gericht ist aus biblischer Sicht ein Tag des Schreckens für die Gottlosen und ein Tag der Freude für die Gottesfürchtigen, da ihnen Gerechtigkeit widerfahren 157

wird. Sollte es kein Gericht nach dem Tod geben, droht alles Unrecht in Vergessenheit zu geraten. Die Erwartung des göttlichen Gerichts ist ein Ruf zur Umkehr bereits im irdischen Leben. Die biblischen Bildszenen schauen nicht voraus, wie im Detail sich alles ereignen wird, sie malen vielmehr aus, was geschehen könnte, wenn keine Umkehr geschieht und die Läuterung des Lebens verweigert wird. Angesichts der christlichen Botschaft von der barmherzigen Liebe Gottes selbst zu den Sünder:innen ist die Hoffnung begründet, dass alle Menschen sich für die Gemeinschaft mit Gott öffnen. Die Versöhnung aller mit allen ist von Gott aus betrachtet möglich. Ohne Einsicht, Reue, Umkehr, Erleiden der Folgen des Getanen, Erneuerung in Gottes Geist wird dieses Geschehen sich nicht ereignen können. Christ:innen hoffen auf Gott: Es möge ihm in seinem Geist gelingen, alle Geschöpfe miteinander zu versöhnen. Dabei darf das einander zugefügte Leid nicht vergessen sein. Dem Anliegen, angesichts der Verheißung der Versöhnung für die Sünder:innen das Leiden der Opfer nicht zu vergessen, kann durch die Erwartung einer Vermittlung zwischen Selbstgericht und Fremdgericht in eschatologischer Vollendung begegnet werden: Der Rückgriff auf Erfahrungen der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung ist hilfreich bei dem theologischen Bemühen, anschaulich zu machen, wie das besondere Gericht und das universale Gericht miteinander verbunden sind. Erst die von Gott ermöglichte, dem eigenen Blick eröffnete Teilhabe an der Selbstwahrnehmung der Anderen ermöglicht es dem Menschen, sein eigenes Leben in der gewordenen Gestalt zu verstehen. „Im Tod“ – so die Vorstellung – erlebt jeder und jede bei sich selbst und bei all denen, die im Leben bereits Vertraute waren, jenen Prozess mit, in dem Gott die Wahrnehmungen reinigt und miteinander versöhnt. Das gesamte Menschenleben wird gegenwärtig. Die Täter begegnen der Wahrnehmung ihres Lebens aus der Sicht der Opfer. Die Opfer erfahren von der schmerzlichen Selbstbesinnung der Täter. Die Täter können sich selbst leichter annehmen, wenn sie gewahr werden, dass Gott den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt. Das skizzierte Geschehen der Perichorese der Wahrnehmungen ist theologisch als ein pneumatisches Ereignis zu begreifen: Gottes Geist verbindet das Unverbundene. Er führt die Täter vor die Opfer. Die Thematik der eschatologischen Läuterung ist geeignet, beispielhaft auf den Zusammenhang zwischen erlösungstheologischen (soteriologischen), schöpfungstheologischen (protologischen) und eschatologischen Aspekten des Daseins aus christlicher Sicht aufmerksam zu machen: Christ:innen erhoffen eine Gestalt der eschatologischen Vollendung, bei der die Individualität der einzelnen Persönlichkeit bewahrt bleibt (schöpfungstheologischer Aspekt der Gottebenbildlichkeit des Menschen); jedes geschaffene Wesen kann sich angemessen nur unter Einbezug seiner Sozialgestalt (seiner Beziehungsgeschichte) beschreiben und verstehen (schöpfungstheologischer Aspekt der Hinordnung auf Mitlebende); da alle Geschöpfe sündigen und dadurch die gute Schöpfungsordnung mit leidvollen Auswirkungen auf sich und andere stören, kommt es im Vollendungsgeschehen zu einer Einsicht in diese Wirklichkeit; 158

das Ziel der schmerzlichen Selbsterkenntnis in der eschatologischen Vollendung ist die bereitwillige Annahme der von Gott gewirkten Versöhnung trotz aller Sünden mit ihren leidvollen Folgen (soteriologischer Aspekt). Durch Anleihen bei der Biographieforschung kann es gelingen, die Prozesse zu beschreiben, die sich im menschlichen Bewusstsein ereignen, wenn Rückblicke auf die eigene Lebensgeschichte geschehen: Menschen suchen nach einem Verständnis des Gewordenen, um Gegenwart und Zukunft zu gestalten; sie rekonstruieren die Motive des eigenen Handelns, erinnern nicht jede Situation, wählen vielmehr aus und entwerfen sich somit selbst neu; Selbstverteidigung und Selbstanklage sind Menschen möglich. Selbst in Alltagssituationen und insbesondere in Krisenzeiten wird deutlich, dass Menschen dem lebensgeschichtlichen Erzählen mit vertrauten Personen hohe Wertschätzung beimessen. An diese Lebenserfahrungen kann die Vorstellung von der eschatologischen Läuterung anknüpfen.

4 Ein Ausblick Alle Menschen leben im Angesicht des Todes. Daher verbinden die Fragen, die sich diesbezüglich existenziell stellen, Menschen in allen Kulturen und Religionen weltweit miteinander. Es bleibt im interreligiösen Dialog noch viel zu tun, um Anteil nehmen zu können an der Hoffnung, die Menschen im Angesicht des Todes bewegt. Aus christlicher Sicht sehe ich sehr viele Herausforderungen. Ich nenne wenige: (1) Es gilt, die christliche Botschaft von der barmherzigen Liebe Gottes selbst zu den Sünder:innen nicht in Widerspruch geraten zu lassen mit seinem Ruf nach Gerechtigkeit in irdischer Zeit. Das Leiden der vielfach Geplagten darf nicht in Vergessenheit geraten. In Gottes Gegenwart geschieht eine schmerzliche Selbsterkenntnis und eine Wahrnehmung der Schuldverstrickung im Weltgeschehen. (2) Über die eschatologischen Bildwelten ist immer wieder neu nachzudenken. Sie sind im Letzten Erzählungen von der Begegnung mit dem ewigen Gott. Es fällt schwer, Vorstellungen, die in Raum und Zeit verhaftet sind, mit diesem Geschehen angemessen in Verbindung zu bringen. Hilfreich kann es sein, auf die bereits in irdischer Zeit vielfältigen Erfahrungen mit der Zeit aufmerksam zu sein und diese in Verbindung zu bringen mit der eschatologischen Zeit: Zeit wird nicht nur als Wechsel des Augenblicks und als Dauer erlebt. Es gibt auch die Sammlung aller Zeitmomente im Gedächtnis und in der Erwartung. Besondere Zeiten unterscheiden sich von alltäglichen. Das Nachdenken über die Zeit ist in der Eschatologie sehr wichtig. (3) Die Zäsur des Lebens, die mit dem Tod verbunden ist, darf nicht in Vergessenheit geraten, Niemand weiß mit Sicherheit, was im Tod geschieht. Der christliche Glaube ist ein begründetes 159

Wagnis mit ethischen Konsequenzen für das irdische Leben. Hier und heute schon soll Gerechtigkeit in der Schöpfung gelebt werden. Am Ende gehen die irdischen Momente in eine Wirklichkeit ein, die zum Guten hin verwandelt sein wird – unbedroht durch je ein Ende.

Zitierte Literatur Arens, Edmund (Hg.) (2010), Zeit denken. Eschatologie im interdisziplinären Diskurs, Freiburg/Basel/ Wien. Busch, Volker (2001), In Gottes Gemeinschaft vollendet. Die Konzeption einer „Auferstehung im Tod“ in der Theologie Gisbert Greshakes, Mainz. Herkert, Thomas/Remenyi, Matthias (Hg.) (2009), Zu den letzten Dingen. Neue Perspektiven der Eschatologie, Darmstadt. Kaléko, Mascha (1977/2018), In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigraphe aus dem Nachlass. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gisela Zoch-Westphal, München 1977/Sonderdruck 2018. Kessler, Hans (Hg.) (2004), Auferstehung der Toten. Ein Hoffnungsentwurf im Blick heutiger Wissenschaften, Darmstadt. Kessler, Hans (2021), Auferstehung? Der Weg Jesu, das Kreuz und der Osterglaube, Ostfildern. Rahner, Johanna (2010), Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg/Basel/Wien. Rahner, Karl (1984/2008), Erfahrungen eines katholischen Theologen (1984), in: Rahner, Karl, Sämtliche Werke, Bd. 25: Erneuerung des Ordenslebens. Zeugnis für Kirche und Welt. Bearbeitet von Andreas R. Batlogg, Freiburg/Basel/Wien 2008, 47–57. Swarat, Uwe/Söding, Thomas (Hg.) (2013), Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch, Freiburg/Basel/Wien. Von Balthasar, Hans Urs (1958), Eschatologie, in: Johannes Feiner u. a. (Hg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln/Zürich/Köln, 403–421. Vorgrimler, Herbert (2008), Geschichte des Paradieses und des Himmels. Mit einem Exkurs über Utopie, München.

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Messfeier Martin Lüstraeten

Im Zuge der Erstkommunionkatechese und im Rahmen des Religionsunterrichts reflektieren Schulkinder oft erstmals das rituelle Handeln und dabei insbesondere die Messe. Das ist schon deswegen nicht einfach, weil manche Schüler:innen vielleicht schon eine breite gottesdienstliche Vorerfahrung mitbringen, während anderen wiederum die Liturgie fremd bis eigenartig erscheint. Und oft fehlt auch den Eltern, Erzieher:innen und Lehrer:innen diese liturgische Vorerfahrung, zugleich aber auch das nötige Vorwissen, um eine gelingende Hinführung und Vermittlung des Themas leisten zu können. Dieser Beitrag wird zeigen, dass dieses Thema schon allein aus historischen Gründen auch keineswegs einfach ist und dass es zahlreiche Stolpersteine gibt, die eine Wesensbestimmung der Eucharistiefeier und damit auch eine religionspädagogische Vermittlung massiv erschweren.

1 Der Aufbau der Eucharistiefeier Der Begriff ‚Messe‘ bezeichnet den Vollzug, der sich aus Wortgottesdienst und Eucharistiefeier zusammensetzt. In der Literatur wird der Begriff ‚Eucharistiefeier‘ manchmal auch pars pro toto für die gesamte Messe verwendet – dabei handelt es sich bei Wortgottesdienst und Eucharistiefeier um zwei logisch getrennte Vollzüge, die in der Antike offenbar auch nicht notwendig miteinander verbunden waren: Neben der Kombination aus Eucharistiefeier und Wortgottesdienst im Rahmen einer Messe oder eines Symposions gab es auch Eucharistiefeiern im Anschluss an Taufen, als Abschluss einer österlichen Vigilfeier und im Rahmen eines Totengedächtnisses (vgl. Buchinger 2018, 159–160). Gregory Dix (1901–1952) äußerte in seiner liturgiehistorischen Studie ‚The Shape of the Liturgy‘ von 1945 die Vermutung, dass Wortgottesdienst und Eucharistiefeier als zwei auch inhaltlich unabhängige Einheiten erst ab dem 5. Jahrhundert fest miteinander verbunden wurden (vgl. Dix 1945, 36–37). Die ‚Grundordnung des Römischen Messbuchs‘ (GORM) erweitert diese zweiteilige Struktur zu einer vierteiligen: „Die heilige Messe besteht gewissermaßen aus zwei Teilen, der Liturgie des Wortes und der Eucharistischen Liturgie, die jedoch so eng miteinander verbunden sind, dass sie eine gottesdienstliche Einheit bilden. Denn in der Messe wird der Tisch sowohl des

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Gotteswortes als auch des Herrenleibes bereitet. Von dort sollen die Gläubigen Belehrung und Nahrung empfangen. Einige weitere Riten aber eröffnen und beschließen die Feier.“ (GORM 28)

Die Messe besteht also aus: (1) Eröffnungsriten, (2) Wortgottesdienst, (3) Eucharistiefeier und (4) Schlussriten. Da sich im kindlichen Erleben mit der Ersteucharistie vor allem die Wahrnehmung der ‚Eucharistiefeier‘ verändert, steht auch eben diese im Zentrum der meisten Handbücher zur Erstkommunionkatechese.

2 Annäherungen an eine Wesensbestimmung der Eucharistie Entsprechend soll auch in diesem Beitrag im Folgenden der Frage nach dem Wesen der Eucharistiefeier nachgegangen werden. Hier sind verschiedene Annäherungen möglich, die zum Teil vielleicht schon aus der eigenen Erstkommunionvorbereitung bekannt sind. Diese Annäherungen bringen immer ein gewisses Potenzial mit  – aber immer auch Folgeprobleme bzw. Spannungen, da die Entscheidung für die eine Option die jeweils andere meist ausschließt.

2.1 Mahl oder Opfer? Eine erste Spannung betrifft die zwischen ‚Mahl‘ und ‚Opfer‘. Eine Identifikation der Eucharistiefeier als Mahl ist insofern naheliegend, als dass als Kultätiologie für die Messe das Letzte Abendmahl bemüht wird. Jedoch ist der Zusammenhang zwischen einem wie auch immer gearteten Letzten Abendmahl Jesu und der liturgischen Mahlpraxis der ersten Christ:innen keineswegs zwingend (vgl. McGowan 2004, 111). Die ersten Christ:innen werden vielmehr die vorgefundenen Mahlpraktiken aus dem Umfeld übernommen haben, das heißt: „Die ersten Christen feierten die Eucharistie nicht, weil Jesus dies seinen Jüngern befohlen hatte. Sondern Christen feierten zunächst einmal Gemeinschaftsmähler, weil dies zur damaligen Zeit allgemein üblich war.“ (Körtner 2017, 16) Im Religionsunterricht oder in der Erstkommunionkatechese kann man das aufgreifen und beispielsweise ein gemeinsames Mahl organisieren, zu dem jede:r etwas mitbringt  – gleichwohl auch dieser Zugang vermutlich langsam schwindet, weil im häuslichen Kontext immer seltener gemeinsam Mahl gehalten wird. Außerdem wird somit ignoriert, dass Mähler in der Antike komplexe Ereignisse waren, in deren Hintergrund soziale und ökonomische Kräfte wirkten (vgl. McGowan 2010, 178). Der Ansatz stockt aber ohnehin: Es besteht eine massive 162

Spannung zwischen der Größe und Bedeutung der eucharistischen Mahlfeier einerseits und dem Minimalismus bei der Umsetzung andererseits – die Eucharistiefeier sieht nicht wie ein Mahl aus. So findet die Eucharistiefeier am Morgen statt, man beschränkt sich auf einen Bissen Brot, das eigentlich nur eine ausgestanzte Waffel ist, und Wein gibt es gar nicht. Das heißt: In ihren Anfängen war die Eucharistie ein Mahl und doch fanden schon früh Verschiebungen statt, die bereits Tertullian (ca. 160–220) bezeugt: „Das Sakrament der Eucharistie, was sowohl zur Essenszeit als auch allen vom Herrn geboten wurde, nehmen wir auch in den frühmorgendlichen Versammlungen aus keines anderen Hand als der der Vorsteher.“ (Tert. cor. 3 [Übersetzung: M.L.])

Möglicherweise gab es schon zu Tertullians Zeiten Gemeindemitglieder, die nicht an der Eucharistiefeier als einem abendlichen Mahl teilnehmen konnten und stattdessen erst am Morgen des Folgetags zum Haus des Gastgebers kamen und dort dann die Reste von der Mahlfeier ausgehändigt bekamen. In dem Fall ist es dann aber schon kein Mahl mehr, sondern bereits eine Austeilung (vgl. Leonhard 2016, 244–245), die dann auch noch mit einem vorausgehenden Wortgottesdienst verbunden wurde (vgl. Leonhard 2014, 423–424). Und doch fällt auf: Obwohl die Eucharistiefeier damit kaum noch Ähnlichkeiten zum Letzten Abendmahl aufwies, wurde dennoch die Kontinuität zu genau diesem Ereignis postuliert (vgl. ebd., 420). Ab der Spätantike kam noch die Praxis hinzu, nicht einmal mehr die Hostie zu essen. In den Gebeten jedoch war der Referenzpunkt immer noch das gemeinsame Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern gehalten hatte. Zu einer Wiedereinführung des Kommuniongangs zu jeder Eucharistiefeier kam es erst wieder im Jahr 1905 mit dem von Papst Pius X. erlassenen Dekret ‚Sacra Tridentina Synodus‘. Es kommt noch ein weiteres Problem hinzu, dass sich aus der historischen Praxis ergibt: die Vorenthaltung der Kommunion. Hierbei geht es nicht um die Fälle der sogenannten ‚Exkommunikation‘, bei der Christ:innen aufgrund von Vergehen aus der Gemeinschaft und somit auch von der Kommunion ausgeschlossen wurden, sondern um viel Alltäglicheres. Das eine ist naheliegend: Kommunionkinder. Ursprünglich wurde die Erstkommunion im direkten Anschluss an die Taufe gereicht, bei einer Säuglingstaufe erhielten die Säuglinge also direkt nach der Taufe die Erstkommunion. In einem Verwirrspiel um falsch zugeordnete und zunehmend verfremdete Väterzitate wurde dann festgelegt, dass für Kinder der Empfang der Ersteucharistie nicht heilsnotwendig sei (vgl. Gy 1972) und im 9./10. Jahrhundert kam dann der Gedanke auf, den Kommunionempfang an einem gewissen religiösen Vorwissen festzumachen (vgl. Browe 1930, 21), für das die Vierte Lateransynode im Jahr 1215 dann ausdrücklich das Erreichen des Unterscheidungsalters festlegte. Die letzte Entscheidung fällte Papst Pius X., der 1910 in seinem Dekret ‚Quam Singulari‘ eben dieses 163

Unterscheidungsalter (ca. 7 Jahre) für den Kommunionempfang festlegte. Liborius Lumma schließt daraus, „dass die römisch-katholische Kirche Säuglinge zunächst durch die Taufe aufnimmt, sie dann aber de facto sofort exkommuniziert, weil der Kommunionempfang an zusätzliche (und zwar nicht zuletzt kognitive, siehe c. 913 § 1 CIC/1983) Bedingungen geknüpft ist.“ (Lumma 2020, 746) Das andere ist vielleicht weniger alltäglich und doch ungleich schockierender: Menschen mit Behinderung. Insbesondere geht es hierbei um Menschen mit geistiger Behinderung, denen in der Praxis Beichte und Kommunion verweigert werden mit Verweis auf die fehlende Unterscheidungskraft und den universalen Heilswillen Gottes. Hier wird in Anspruch genommen, dass sie die Eucharistie nicht empfangen dürften, weil sie sie nicht gläubig annehmen können, sie sie aber auch nicht zu empfangen bräuchten, da sie zu Sünden nicht fähig seien und darum auch so zur Erlösung gelangen (vgl. Maliszewska 2019, 199–200). Das ist abgesehen von der Person auch liturgietheologisch problematisch, weil damit Menschen aus einer Gemeinschaft vom gemeinsamen Mahl dieser Gemeinschaft ausgeschlossen würden. Gegen das Mahlverständnis wird – in jüngerer Vergangenheit wieder stärker – ein Opferverständnis betont1. Dabei ist dieser Begriff heute sehr sperrig, weil sich unser Verständnis gewandelt hat: ‚Opfer‘ sind heute Opfer von Verkehrsunfällen oder Verbrechen und keine Kultopfer (vgl. Seewald 2021, 140–141). Grundlage für die Identifikation der Eucharistiefeier als Opfer ist die Deutung des Todes Jesu in Heb 9, wo die Opfertheologie des jüdischen Tempels zur Deutung des Todes Jesu herangezogen wird. Der Kreuzestod Jesu wird als Erfüllung des jüdischen Versöhnungsopfers, aber auch als dessen Überhöhung gedeutet: In der Theologie des Hebräerbriefes ist Jesus der letztgültige Opferpriester und zugleich das letztgültige Opfer, und die Christ:innen haben Teil an diesem Selbstopfer Christi und erwirken für sich die immerwährende endgültige Sühne, indem sie dieses Opfers Christi gedenken. Eine Übertragung der Rede vom ‚Opfer‘ in Bezug auf die Passion Christi nun auf die Eucharistiefeier als Gedächtnis dieser Passion lässt sich dann bei Johannes Chrysostomos (ca. 345–407) in einer Predigt zu eben dieser Passage des Hebräerbriefs nachweisen. Demnach wäre die Eucharistiefeier insofern Opfer, als dass sie eine Vergegenwärtigung bzw. ein abbildhaftes Geschehen dieses Selbstopfers Christi sei. In dieser Vergegenwärtigung im Rahmen der Eucharistiefeier bündeln sich demnach also drei Zeitebenen: (1)  Wir in der Gegenwart vergegenwärtigen uns das Ereignis, indem wir Eucharistie feiern, (2)  das Ereignis selbst fand aber in der Vergangenheit im Kreuzestod 1

In der schroffen Gegenüberstellung begegnet der Gedanke beispielsweise in §  38 der Instruktion „Redemptionis Sacramentum“ über einige Dinge bezüglich der heiligsten Eucharistie, die einzuhalten und zu vermeiden sind, wo ein Zitat aus der Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die Eucharistie in ihrer Beziehung zur Kirche aufgegriffen wird.

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Christi ein für allemal statt und (3) war zugleich aber Erfüllung bzw. Verwirklichung eines überzeitlichen himmlischen Geschehens, also eines für uns zukünftigen Geschehens. Die Eucharistiefeier erscheint also als ein Hineingenommenwerden in das Opfer Christi und Brot und Wein sind in ihrer Nachahmung des Letzten Abendmahls entsprechend symbolisch aufgeladen. Doch erwies sich auch der Ansatz über den Opferbegriff in der Theologie- und Liturgiegeschichte als problematisch. Zunächst droht durch die starke Parallelisierung von Eucharistiefeier und (Selbst-)Opfer Christi eine Vereinnahmung des Handelns Christi. Und je mehr die Eucharistiefeier selbst als Opferhandlung verstanden wurde, umso wichtiger wurde die Rolle des Vorstehers als (Kult-)Priester, der dieses Opfer darbringt, während die Gemeinde zunehmend bedeutungslos erscheint. Ohne dass sich das Phänomen zeitlich oder räumlich genau abgrenzen ließe, entwickelte sich aus dieser Vorstellung die Praxis der sogenannten ‚Privatmessen‘, die ein Priester ohne Gemeindebeteiligung feierte. Diese Messen wurden als Bittopfer verstanden, sodass bei einer mit einer besonderen Intention gefeierten Messe Gott der jeweiligen Bitte entsprechen würde. Immer mehr Priester verdienten ihr Einkommen folglich damit, dass sie gegen Geld Messen feierten und das durchaus auch mehrfach am Tag (vgl. Angenendt 2014) – das Messopfer machte Gnade käuflich. Paul Bradshaw bezeichnete diese Praxis mit der doppeldeutigen Vokabel „mass production“ (Bradshaw und Johnson 2012, 220–221). Und diese Vorstellungen wirken bis heute nach: Ein Priester kann eine Eucharistiefeier auch gänzlich ohne Gemeinde feiern (vgl. GORM 254). Der Opferbegriff wird auch heute noch wie selbstverständlich in amtskirchlichen Schreiben verwendet, obwohl er eigentlich unterbestimmt ist (vgl. Seewald 2021, 140–141). Seit seinem Aufkommen wurde er relativ unhinterfragt verwendet, bis er von den Reformatoren zurückgewiesen wurde. Das Konzil von Trient (1545–1563) musste darum den Opferbegriff näher definieren und erklären, dass das Opfer Christi seine Selbstdarbringung an Gott durch das Kreuz sei – und ebenso auch die Eucharistie eine Selbstdarbringung Christi an Gott sei, nun aber unblutig durch die Liturgie. Doch damit hatte das Konzil nicht erklärt, warum man ein solches Opfer überhaupt braucht, warum ein solches Opfer wiederholt werden muss, bzw. komplizierter: inwiefern die Wiederholung des Kreuzesopfers keine Wiederholung und dennoch theologisch notwendig ist (vgl. ebd., 153–154). Beide Konzepte – die Eucharistiefeier als ‚Mahl‘ und die Eucharistiefeier als ‚Opfer‘ – ziehen Folgeprobleme nach sich und scheinen einander auszuschließen. Wesentliche Reformmaßnahmen in der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden immer wieder mit dem wiederentdeckten Mahlcharakter der Eucharistie begründet und ebenso werden Gegenmaßnahmen mit ihrem Opfercharakter begründet. Zugleich würde die jeweilige Option aber weitere Maßnahmen nach sich ziehen – eine stärkere Betonung des Mahlcharakters etwa müsste zur Folge haben, dass der Altar stärker als Tisch erscheint und weiter in die 165

Mitte der Gemeinde gerückt wird, dass die Portionen beim Mahl auch dem Umfang eines Mahls entsprechen oder dass statt der ausgestanzten Waffeln ‚normales‘ gesäuertes Brot verwendet wird 2.

2.2 Symbolisches Handeln oder magischer Vollzug? Eine zweite Spannung betrifft die zwischen ‚Symbol‘ und ‚Magie‘ – auch wenn in der Literatur möglicherweise andere Begriffe dafür verwendet werden. Ein Symbol (gr. symballein = zusammenfallen, zusammenfügen) meint ursprünglich die beiden Hälften eines zerbrochenen Gegenstandes (beispielsweise Ring, Tafel, u. a.), die man durch Zusammenfügen an den Bruchrändern als Erkennungszeichen benutzte. Symbole offenbaren also etwas, ohne dieses etwas selbst zu sein, denn tatsächlich gibt es – und hier kann an Umberto Eco angeknüpft werden – streng genommen keine Symbole, sondern nur Symbolfunktionen: Ein Symbol wird zum Symbol dadurch, dass es in einen Prozess der Präsentation, der Wahrnehmung und Deutung tritt. Zur Verdeutlichung kann – bei gebotener Vorsicht – das semiotische Dreieck 3 herangezogen werden (Abb. 4).

Abb. 4: Semiotisches Dreieck Unterschieden werden Signifikant (Bezeichnendes) und Referent (Bezeichnetes). Der Signifikant nimmt Bezug auf den Referenten mithilfe eines Signifikats bzw. Interpretanten, der eine gemeinsame Wirklichkeit herstellt. Sprachlich ist es das, was wir ‚Bedeutung‘ nennen. Angewendet heißt das: Die Zeichen sind nicht, sondern werden verwendet und interpretiert. Die 2



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Der einseitige Wechsel der römisch-katholischen Kirche auf ungesäuertes Brot ist ein massives Problem im ökumenischen Gespräch mit den orthodoxen Kirchen, die an der Tradition des gesäuerten Brotes festhalten (vgl. Erickson 1970). Grundgelegt wurde das semiotische Dreieck in dem Werk „The Meaning of Meaning“ von 1923. Mir lag die 3. Aufl. vor: Ogden und Richards 1930, 11.

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Bedeutung haftet einem Symbol nicht ontologisch an, sondern sie entsteht im Subjekt – etwas hat auch nicht aus sich heraus Bedeutung oder kann diese enthalten. Und genau an diesem Punkt ist vor der Verwendung des semiotischen Dreiecks als Schema zu warnen, weil es suggerieren könnte, dass Symbolprozesse eindeutig oder gar wahrhaftig sind (vgl. Eco 2002, 69–70). Das ist nicht der Fall: Symbole sind immer polyvalent und bedeutungsoffen und können entsprechend auch misslingen. Für eine als Symbolprozess verstandene Liturgie folgt daraus zunächst, dass sie offen sein muss für je unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen. Dies gilt umso mehr, da eine Fülle der Symbole in der christlichen Liturgie nicht universal verständlich, sondern erlernt ist. Außenstehende können diese Symbole nicht alle entschlüsseln, sie lassen sich auch nicht alle erklären. Und gerade gegenwärtig sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass viele Symbole der Liturgie durch die Missbrauchskrise an Glaubwürdigkeit verloren haben. Und doch ist es naheliegend, dieses Konzept auf liturgische Vollzüge anzuwenden, beispielsweise indem man den Kommuniongang als Symbol der Gemeinschaft der Gläubigen untereinander und damit die Brotbrechung als Symbol für die Tischgemeinschaft deutet. Die Gemeinde würde sich demnach bereits als Gemeinschaft verstehen und erfahren und der liturgische Vollzug als Symbol schafft in diesem Zusammenhang keine neue Realität, sondern bildet vielmehr diese Realität im Symbol ab und macht sie damit eben symbolisch erfahrbar. Doch ist auch die Anwendung des Symbolbegriffs auf die Eucharistiefeier (bzw. die Liturgie allgemein) problematisch: Zum einen besteht das bereits genannte Problem der Polyvalenz von Symbolen: Wenn Liturgie als Symbol verstanden wird, geht das nur um den Preis, dass die Bedeutung der Vollzüge völlig subjektiv ist. Ein zweites Problem betrifft die symbolische Reduktion: Indem die Eucharistiefeier als Symbol des Letzten Abendmahls dargestellt wird, können die teilweise deutlichen Abweichungen von dem Stiftungsereignis selbst relativiert werden. Es gibt dann aber auch keine Regel dafür, wann ein Symbol zu stark reduziert wurde, um noch als Symbol erfahrbar zu sein. Daraus wiederum lässt sich ein drittes Problem entwickeln: Wenn Liturgie symbolischer Ausdruck für etwas sein soll und dieses bewusstmachen soll, wäre dies auch mit deutlich weniger Aufwand möglich und die Liturgie gemessen an diesem Zweck völlig ineffizient. Alternativ zur symbolischen Handlung könnte Liturgie im Allgemeinen und die Eucharistie im Speziellen auch als magischer Vollzug beschrieben werden. Im Religionsunterricht oder der Erstkommunionkatechese kann man an diese Deutung vielleicht sogar noch besser anschließen als beim Symbolbegriff, weil Magie durch ‚Harry Potter‘, ‚Der Herr der Ringe‘ und weitere Publikationen und Produktionen in diesem Themenfeld wieder einen Alltags- und Erfahrungsbezug hat. Zugleich zeigt aber genau das bereits, dass es keine eindeutige und anerkannte allgemeine Definition von Magie gibt (vgl. Otto 2011, 1–2) und gerade das macht es schwierig, Magie und Religion voneinander abzugrenzen. Reinhard Meßner benennt als typische Merkmale von Magie, dass (1) sie in leiblich vollzogenen ritualisierten Handlungen, in die zumeist 167

Objekte, also materielle Gegenstände, eingebunden sind, besteht, dass (2) diesen Handlungen eine Wirkung zugesprochen wird, die sich unmittelbar auf die Wirklichkeit bezieht, sodass es im Gegensatz zum Symbol somit nicht um Ausdruck oder um Bewusstmachung von etwas geht, sondern um eben diese reale Wirkung und (3) nicht zuletzt werden für magische Handlungen Wesen oder Kräfte in Anspruch genommen, die empirisch nicht nachweisbar sind (vgl. Meßner, 262–263). All diese Merkmale treffen auch auf liturgische Vollzüge zu, insbesondere auf die sakramentalen Feiern (vgl. ebd., 256). Dass diese Deutung ihre Berechtigung hat, zeigt sich beispielsweise beim Konzept der eucharistischen Realpräsenz, wie es sich in der Geschichte des Christentums entfaltet hat. Bereits bei Paulus findet sich der Gedanke, dass durch die gemeinsame Teilhabe am eucharistischen Brot die Gemeinschaft entsteht, die Paulus unter Anknüpfung an verbreitete Organismusmodelle als ‚Leib Christi‘ bezeichnete. Das beim Mahl gebrochene Brot war also insofern Leib Christi, als dass man durch das Essen desselben zum Teil des Leibes Christi wird. Damit war der Gedanke grundgelegt, dass durch das Brot Christus selbst gegenwärtig wird, das Brot selbst wurde jedoch nicht mit dem Leib Christi assoziiert, als Opfer verstanden oder auf Sühne bezogen. Vielmehr hat Jan Heilmann gezeigt, dass Formulierungen wie ‚Leib essen‘ und ‚Blut trinken‘ Metaphern für die Annahme der Lehre Jesu und der damit verbundenen Zugehörigkeit zur Gemeinde der Christen waren (vgl. Heilmann 2014, 296). Erst sukzessive wurde die Bezeichnung von Brot und Wein als ‚Leib‘ und ‚Blut Christi‘ von der Passion her verstanden und somit immer mehr auf die Deutung dieser Passion als Opfer bezogen. Bis in das 9. Jahrhundert hatte man im Allgemeinen akzeptiert, dass Christus irgendwie in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein präsent ist und dass diese darum als ‚Leib und Blut Christi‘ bezeichnet werden, nie thematisiert wurde jedoch die Art und Weise dieser Präsenz (vgl. Bradshaw und Johnson 2012, 222). Ausgelöst wurde diese Debatte im 9. Jahrhundert in Frankreich im Rahmen eines Gelehrtenstreits zwischen Paschasius Radbertus, Mönch am Kloster Corbie, und Ratramnus von Corbie, einem Mitbruder des Paschasius, der aber weitgehend folgenlos blieb. Im 11. Jahrhundert setzte sich dann aber Berengar, Kanoniker an der Kathedrale von Tours, mit dem Werk des Paschasius Radbertus auseinander. Ihm erschien der Gedanke absurd, dass man in der Kommunion wirklich Teile von Christi Leib isst, vielmehr blieben Brot und Wein Brot und Wein, seien jedoch sakramentale Zeichen der geistlichen Gegenwart Christi. Er wurde für diese Aussage scharf kritisiert und musste 1059 auf der Synode von Rom einen Eid unterschreiben, in dem er die physische Gegenwart Christi in den eucharistischen Gaben bekräftigt: „Ich, Berengar, […] erkenne den wahren und apostolischen Glauben und belege jede Häresie mit dem Anathema, insbesondere jene, deretwegen ich bisher beschuldigt wurde: sie wagt zu behaupten, das Brot und der Wein, die auf den Altar gelegt werden, seien

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nach der Konsekration lediglich ein Sakrament und nicht der wahre Leib und das wahre Blut unseres Herrn Jesus Christus; auch könnten sie nicht sinnenhaft – es sei denn allein im Sakrament – mit den Händen der Priester berührt oder gebrochen oder mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben werden. Ich stimme aber der heiligen Römischen Kirche und dem Apostolischen Stuhl zu und bekenne mit Mund und Herz, dass ich in Bezug auf das Sakrament des Herrenmahles jenen Glauben festhalte, den der Herr und ehrwürdige Papst Nikolaus und diese heilige Synode kraft evangelischer und apostolischer Autorität festzuhalten überliefert und mir bestätigt hat: dass nämlich das Brot und der Wein, die auf den Altar gelegt werden, nach der Konsekration nicht nur ein Sakrament, sondern auch der wahre Leib und das wahre Blut unseres Herrn Jesus Christus sind und sinnenhaft – nicht nur im Sakrament, sondern in Wahrheit – mit den Händen der Priester berührt und gebrochen und mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben werden; (dies) beschwöre ich bei der heiligen und wesensgleichen Dreifaltigkeit und bei diesen hochheiligen Evangelien Christi. Diejenigen aber, die gegen diesen Glauben auftreten, sind, so verkünde ich, mitsamt ihren Lehren und Anhängern des ewigen Anathemas würdig.“ (DH. Nr. 690)

Theologisch gesprochen ist dieser Eid desaströs (vgl. Macy 1999, 22). Bis heute ist es für Theolog:innen sehr herausfordernd, mit diesem Text umzugehen, weil er eine Fülle an hyperrealistischen Formulierungen enthält. So lassen Formulierungen wie „mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben“ nicht viel Spielraum für Auslegungen. Der Eid belastet auch Diskussionen über die Lokalisierung Gottes: Kann der Auferstandene, wenn er gerade „mit den Zähnen der Gläubigen zerrieben“ wird auch noch anderswo sein? Es verwundert nicht, dass die Hostie, die nun nach der Konsekration mit dem Gekreuzigten identifiziert wurde, den gleichen Status wie eine Reliquie genoss und für magische Praktiken zweckentfremded wurde: Sie wurde in Amuletten getragen, in Betttücher eingenäht oder in die Wand eingemauert, um vor bösen Mächten zu schützen (vgl. Snoek 1995, 77), oder gar im Acker vergraben, um den Ernteertrag zu erhöhen (vgl. ebd., 49–50). Und noch im 19. Jahrhundert pries der heilige Pfarrer von Ars (1786–1859) die Macht des Priesters: „Oh, was ist der Priester doch was Großes! Wenn er es verstünde, würde er sterben … Gott gehorcht ihm: Er sagt zwei Worte und unser Herr steigt vom Himmel herab und auf sein Wort hin schließt er sich in einer kleinen Hostie ein.“ (vgl. Monnin 1868, 124) Für den gegenwärtigen ökumenischen Diskurs und für die Erstkommunionkatechese ist das ein schweres Erbe: Wie erklärt man Kindern die Realpräsenz Christi in den konsekrierten Gaben von Brot und Wein? An diese Vorstellungen anschließend und doch über sie hinausgehend ist oft zu lesen, dass Liturgie – in Anlehnung an die Theorie der Sprechakte und die performative Rede – Gegenwart konstituiert (vgl. Ladrière 1973). Die Theorie der Sprechakte geht zurück auf John L. 169

Austins (1911–1960) Werk ‚How to do things with words‘ (vgl. Austin 1962) und besagt, dass man mit Sprache handeln kann. Es werden verschiedene Sprechakte unterschieden, darunter die performativen Sprechakte, bei denen durch das Aussprechen bereits eine Handlung vollzogen wird. So schafft beispielsweise der Satz ‚Ich verzeihe dir‘ eine neue Situation, die vor dem Aussprechen dieser Worte noch nicht bestanden hat. Dies wird  – oft parallelisiert mit dem schöpferischen Wort Gottes und mit der Rede von Christus als dem Wort (gr. logos) – auf die Sakramententheologie angewandt. Demnach schaffen bloße Sprechakte neue Realitäten: ‚Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird‘ etc. schafft bereits die Realität der Verwandlung. Das mutet auch fast schon magisch an. In der Ritualtheorie begegnet uns diese Spannung zwischen Symbol und Magie als Spannung zwischen Bedeutung und Wirkung eines Rituals. Eine bedeutende Rolle hierbei spielt das Werk Frits Staals (1930–2012), der 1987 von einem sehr aufwändigen Feueropfer-Ritual in Indien berichtete, dem er beigewohnt hatte. Er stellte fest, dass Menschen nicht wissen, warum sie Rituale durchführen oder aber eine Vielzahl an Antworten geben und hat daraus gefolgert, dass Rituale an sich bedeutungslos seien, die Bedeutung vielmehr erst nachträglich an das Ritual herangetragen werde (vgl. Staal 1987, 134). Und je nach Sozialisation verstehen verschiedene Menschen das gleiche Ritual anders – und ‚anders‘ heißt nicht ‚falsch‘. Lawrence Hoffmann unterscheidet vier verschiedene Bedeutungen bei religiösen Ritualen: (1) eine private Bedeutung, die bei den einzelnen Teilnehmer:innen entsteht und die in der wissenschaftlichen Betrachtung in der Regel ignoriert wird, (2)  eine offizielle Bedeutung, die von den Expert:innen vorgegeben wird, (3) eine öffentliche Bedeutung, die mehrere Individuen einem Ritual beimessen, auch wenn sie von den Expert:innen nicht vorgegeben wird und (4) eine normative Bedeutung, die im Alltag bei den Menschen entsteht, die zuvor an einem Ritual teilgenommen haben (vgl. Hoffman 1993, 79–82). Die offizielle Bedeutung kann nach Paul Bradshaw zusätzlich differenziert werden in (2a) die Bedeutung, die die/der Verfasser:in ursprünglich intendiert hatte und (2b) die Bedeutung, die einem Ritual später durch kirchliche Autoritäten zugesprochen wurde (vgl. Bradshaw und Harmon 2013, 29). Die Bedeutung einer rituellen Handlung kann also vielfältig sein und unterliegt selbst wiederum Veränderungen. Diese fortlaufende Umdeutung von Ritualen wird als ‚Ritualdynamik‘ bezeichnet. Eine Strategie, dem somit mutmaßlich ergebnislosen Bedeutungsdiskurs zu entgehen, ist die Verlagerung auf einen Wirkungsdiskurs. Doch setzt das eine irgendwie objektive Überprüfbarkeit der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit voraus und die gibt es nicht (vgl. Töbelmann 2013, 226). So gibt es auch keine überprüfbare Wirkung der Eucharistie. Eine weitere mögliche Ebene ist der Funktionsdiskurs; hier wird dann auf die Funktionen eines Rituals, beispielsweise eine psychologische, soziologische oder theologische, verwiesen (vgl. Michaels 2013, 39–40).

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2.3 Spirituell oder materiell? Eine weitere Annäherung betrifft die Annäherung über den Begriff des ‚Gedächtnisses‘: Die Eucharistiefeier ist demnach Gedächtnis des Letzten Abendmahls und darum auch Nachahmung desselben. Durch die Feier der Eucharistie wird also des zentralen Mysteriums von Leiden, Tod und Auferstehung Christi gedacht und damit dem Gedächtnisauftrag Jesu entsprochen. In der Praxis des Religionsunterrichts bzw. der Erstkommunionkatechese wird auch dieses Konzept gerne aufgegriffen, häufig wird auf ein Fotoalbum Bezug genommen und auf den Begriff der ‚Erinnerung‘, der aber das eigentliche Geschehen stark verkürzt. Das ‚Gedächtnis‘ ist vielmehr ein Akt der erinnernden Vergegenwärtigung, ‚Anamnese‘ (gr. anamnēsis = Erinnerung) genannt: Ein historisches Ereignis wird in seiner Heilsbedeutung vergegenwärtigt und auf diese Weise dessen Bedeutung für die Gegenwart gestärkt. Bezogen auf die Eucharistiefeier heißt das: Das Letzte Abendmahl wird verstanden als Abbild der himmlischen Liturgie. Durch die Feier der Eucharistie heute nehmen wir das himmlische Mahl im Reich Gottes symbolisch vorweg, haben also ebenfalls Anteil an der himmlischen Liturgie, indem wir uns auf das in der Geschichte ergangene Letzte Abendmahl berufen, das gleichfalls Vorwegnahme des Reiches Gottes war. Dieser Ansatz ist dabei nicht nur ein theoretisches Konstrukt, das zur Deutung der Liturgie angelegt werden kann, sondern wurde in der Geschichte auch als spezifische Frömmigkeitsform entfaltet: Amalar von Metz (ca. 775–850) hatte bereits im 9. Jahrhundert im ‚Liber Officialis‘ die ‚allegorische Messauslegung‘ entwickelt. Der Ansatz war, dass man als Teilnehmer:in am Gottesdienst in der Eucharistiefeier ohnehin keine Aufgabe hatte und auch den Worten des Priesters nicht mehr folgen konnte, sodass man stattdessen die einzelnen Elemente der Eucharistiefeier jeweils zum Ausgang nimmt, ein Ereignis aus der Passion Jesu zu erinnern. Diese Gattung erfuhr ihre Blüte im 12.–14. Jahrhundert und hielt über die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit auch Einzug in die Messandachten und Andachtsbücher der Neuzeit. Neben den berechtigten theologischen Einwänden, die damals schon zur Lehrverurteilung Amalars führten, ist gegen diesen Ansatz ein grundsätzlicher Einwand zu erheben: Wenn die Liturgie nur Abbild bzw. Memorierhilfe sein soll, wäre dies auch mit weniger Aufwand möglich. Warum brauche ich dann einen Altar? Warum Gewänder? Warum Brot und Wein? Letztlich bleibt offen, wie hier eine Grenzziehung vorgenommen werden kann, welche Elemente reduzierbar sind. Die Eucharistiefeier ist also offensichtlich nicht ein exaktes Abbild des Letzten Abendmahls oder der Passion. Und das fällt auch Kindern auf, sodass der Vergleich mit dem Fotoalbum hinkt. Ein weiterer Mangel ist offensichtlich: Die Eucharistiefeier wird hier spiritualisiert, das Wesentliche spielt sich im Kopf der Menschen und nicht in der Gestalt der gefeierten Liturgie ab. Das wird aber den historischen Zusammenhängen von Spiritualität und Materialität der 171

Eucharistiefeier nicht gerecht. Zur Erläuterung kann auf die Praxis der sogenannten ‚Augenkommunion‘ verwiesen werden: Aus der wachsenden Ehrfurcht vor den gewandelten Gaben von Brot und Wein heraus, gingen die Gläubigen dazu über, die Kommunion nicht mehr ‚sakramental‘, also wahrhaftig und leiblich, zu empfangen, sondern beschränkten sich darauf, die konsekrierte Hostie anzuschauen. Da man davon ausging, dass das zu erwartende Heil nach allem irdischen Leben in der Gottesschau bestünde, erschien es auch plausibel, die Betrachtung des real gegenwärtigen Leibes des Herrn als Vorbereitung hierzu aufzufassen (vgl. Dumoutet 1926, 19). Das ging so weit, dass die Menschen an den Altar drängten, um eine möglichst gute Sicht auf die konsekrierte Hostie zu haben (vgl. Franz 1902, 32), manche Gläubige kamen auch nur noch dafür in den Gottesdienst, stießen also erst deutlich nach Beginn der Messe hinzu und verließen diese augenblicklich nach der Erhebung der Hostie (vgl. Browe 1933, 68). Es war dabei aber keineswegs so, dass mit dem Schauen die Erwartung eines Heilsautomatismus verbunden wurde, Schauen war vielmehr immer eingebunden in ein umfangreiches Handeln. Die Erhebung der konsekrierten Hostie war beispielsweise immer eingebunden in das Ritual der Messe, sie erforderte immer, dass man zugleich kniete, dass man Gebete sprach und andächtig wurde (vgl. Lentes 2003, 242–243). Spiritualität und Materialität sind hier eng verbunden.

3 Fazit Bis hierhin konnte nur gezeigt werden, welche Deutungsansätze welche Mängel aufweisen, wo also die angekündigten Stolpersteine bei den je unterschiedlichen Zugängen liegen. Das zeigt vor allem eins: die massiven Schwierigkeiten des historischen Erbes der Liturgieentwicklung und der Dogmenentwicklung und die Schwierigkeiten mit historischen Argumenten, wenn diese normativ verstanden werden. Häufig begegnet man der Argumentationsfigur, die Liturgie einer historischen Epoche für normativ zu erklären und daraus Reformvorschläge für die Liturgie oder theologische Aussagen über das Wesen der Liturgie abzuleiten. An drei möglichen Zugängen zu einer Wesensbestimmung der Eucharistiefeier sollte gezeigt werden, dass historisch mal das eine, mal das andere dominiert hat, jedoch nie ein wirklich befriedigender Ansatz gefunden wurde, der alle historischen Formen berücksichtigt. Bei der Liturgiereform im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil wurde mit der Normativität der Alten Kirche argumentiert und auf der Basis wurden theologische Aussagen über die Liturgie gewonnen und Reformvorschläge formuliert. Heute, nach mehr als 50 Jahren, zeigt sich, dass viele historische Rekonstruktionen dieser Zeit über die Liturgie der Alten Kirche fehlerhaft waren und entsprechend die mit diesen Rekonstruktionen begründeten Reformmaßnahmen nun ein Legitimitätsproblem haben (vgl. Bradshaw 2020). Letztlich sind alle 172

Aussagen über die Liturgie der Alten Kirche notwendig hypothetische Rekonstruktionen und die Leistung der Liturgiewissenschaft besteht vor allem darin, die in diesem Rahmen formulierten normativen Aussagen zu falsifizieren. Verschärft wird dieses grundsätzliche Problem durch die in der katholischen Tradition gewachsene Fixierung auf die Eucharistiefeier, die auch in den lehramtlichen Dokumenten immer wieder als das zentrale liturgische Ereignis benannt wird. Umso mehr verwundert, dass die Aufgabe, den theologischen Gehalt dieser Feier an die heranwachsenden Gläubigen zu vermitteln, zumeist Nichttheolog:innen anvertraut wird. Für die religionspädagogische Praxis kann dieser Beitrag nun keine Lösung anbieten, aber doch zumindest dafür sensibilisieren, sich einerseits nicht zu essentialistischen Definitionen („Die Eucharistiefeier ist ein Mahl.“) hinreißen zu lassen und stets auf alternative oder widersprechende Konzepte hinzuweisen und andererseits anzuerkennen, dass die Eucharistiefeier viele Transformationen erfahren hat und auch heute noch erfährt, solange Menschen sie begeistert mitgestalten.

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Propheten Oliver Dyma

Das Alte Testament beinhaltet Worte und Erzählungen von Propheten und, in kleinerer Zahl, auch von Prophetinnen (vgl. Fischer 2008). Prophetinnen und Propheten erhalten göttliche Offenbarungen durch Visionen, Auditionen oder andere kognitive Erfahrungen; sie verstehen sich als Gesandte Gottes, die die Botschaft wörtlich oder durch Zeichenhandlung an die eigentlichen Adressaten übermitteln. Sie wirken Wunder, legitimieren politische Macht, ergreifen aber auch im Namen Gottes bei Fehlverhalten des Königs oder des ganzen Volkes das Wort, legen Fürbitte ein. Zukunftsvorhersage ist nur ein Teil der prophetischen Verkündigung. Die beeindruckenden Gestalten prägen den JHWH-Glauben nachhaltig. Dabei ist uns nur ein Ausschnitt prophetischer Tätigkeit überliefert.

1 Das Phänomen der Prophetie Unter dem Terminus „Prophet“ (bzw. Prophetie) fassen wir verschiedene Personen und Phänomene zusammen. Im Griechischen war der prophḗtēs dafür zuständig, am Orakel die Offenbarung des Mantikers oder der Mantikerin den Anfragenden zu übermitteln und dabei auszudeuten. Der Begriff der Prophetie, der auch auf vergleichbare Phänomene der Umwelt angewendet wird, ist demgegenüber umfassender: „Die konstitutiven Elemente der Prophetie sind […] 1) die Gottheit als Sender der Botschaft, 2) das Orakel (oder die metasprachliche Handlung) als Substanz der Botschaft, 3) die übermittelnde Person (der Prophet oder die Prophetin) und 4) die empfangende Person oder Personengruppe. Prophetie ist demnach nicht auf spezifische Charakteristika – wie z. B. Spontaneität, Ekstase, gewisse literarische Formen oder bestimmte gesellschaftliche Stellungen der Propheten – einzuschränken, sondern im Wesentlichen als ein Kommunikationsprozess zu verstehen“ (Nissinen 2007).

Im Hebräischen werden verschiedene Termini verwendet: nabīʾ lässt sich aus dem Akkadischen abgeleitet in etwa als „Berufener“ wiedergeben, es bezieht sich auf die Legitimation; rōʾæh, Seher, bzw. ḥōzæh, Visionär, beziehen sich auf die Art des Offenbarungsempfang; Gottesmann drückt die enge Verbindung zu Gott aus (überwiegend für Elija und Elischa; auch Mose wird als Gottesmann bezeichnet: Dtn 33,1; Jos 14,6). 176

Recht unterschiedliche Gruppen werden unter dem Begriff Propheten zusammengefasst: Personen, die als Wundertäter und Heiler wirken, in ekstatischen Gemeinschaften leben; Hofund Kultpropheten, die am Königshof bzw. Tempel bedienstet sind; oppositionelle Einzelgestalten wie Amos, der sich selbst gar nicht als Prophet bezeichnet (Am 7,14); Personen aus gehobenen Kreisen, die Zugang zum Königshof hatten. Manche treten allein auf, andere haben einen Schülerkreis um sich geschart. Meist wird mit Prophetie die Vorhersage der Zukunft verbunden. Sie wird geleistet bei individuellen Fragen wie Krankheit oder im politischen Kontext etwa bei der Frage, ob der König in den Krieg ziehen soll. Propheten treten aber auch auf als Heiler, ergreifen bei kultischen wie sozialen Missständen oder Fehlverhalten des Königs das Wort, beziehen zu innen- oder außenpolitischen Fragen Stellung. Sie legitimieren Herrschaft und Gewaltausübung. Sie mahnen das Volk zur Umkehr und legen Fürbitte für es ein. Die Offenbarung ergeht als Gotteswort oder als Vision, wobei die Grenzen fließend sind. So spricht Am 1,1 von den Worten, die Amos geschaut hat (ḥzh). Auf welche Art und Weise der Prophet Gottesworte empfängt, wird nicht näher ausgeführt. Die übliche Formulierung lautet: „da erging das Wort JHWHs an N.N.“ Ob Riten zur Evokation dienten, schildern die Texte nicht. In einigen Situationen geschieht die Wortoffenbarung anscheinend spontan und kann vom Propheten nicht unbedingt jedes Mal evoziert werden (vgl. z. B. 2Sam 7,4; Jer 28,12). Nicht auszuschließen ist, dass veränderte Bewusstseinszustände (Altered States of Consciousness) induziert wurden, um vertiefte Kenntnis von den Vorgängen der Welt zu erlangen. Auf einfache Weise geht dies im Traum, in dem Gott sich nicht nur Propheten offenbart; die Ausbildung Samuels (1Sam 3) legt nahe, dass Tempelschlaf (Inkubationsschlaf) praktiziert und eingeübt wurde. Offenbar spielte auch Ekstase eine Rolle: Darauf deutet das Verb „sabbern“ in Am 7,16 sowie die in 1Sam 10,6 erwähnte musikalisch initiierte Ekstase. Hier wird zudem der Geist Gottes erwähnt, der über den Propheten kommt, was auch unanschaulich bleibt. Möglicherweise spielen Praktiken der Deprivation (z. B. Fasten, Wüstenaufenthalt) eine Rolle. Die Unanschaulichkeit grenzt prophetische Offenbarungen ab von priesterlichen Orakeln (z. B. durch Lose), von der Totenbeschwörung, die abgelehnt, aber wohl praktiziert wird (1Sam 28), sowie von der Omendeutung (z. B. Leberschau), die in der Umwelt verbreitet war. Die geschilderten Visionen reichen von metaphorischen Bildern für das Kommende, oft das Gericht, über Wortassoziationen, die nur im Hebräischen funktionieren (beides z.  B. in Jer 1,11–12.13–19) bis hin zu komplexen Handlungsabläufen. Hierzu gehört die Teilnahme an der himmlischen Thronratsversammlung: Der Prophet wird Zeuge der Beratungen (1Kön 22,19– 22) oder übernimmt Handlungsaufträge wie Jesaja den Auftrag, die Unheilsbotschaft zu überbringen (Jes 6). Oft enthalten Visionen Gottesrede, die die Vision ausdeutet oder die zu übermittelnde Botschaft beinhaltet. In späteren Visionsschilderungen interagiert ein Deuteengel (angelus interpres) mit dem Visionär (z. B. Sach 1–6; Dan 7–12). Dieser befindet sich sozusagen 177

in der himmlischen Dimension, wo ihm mittels Vision, Audition und Interaktion mit den Mitgliedern der himmlischen Sphäre Einblick in Geheimnisse der Welt gegeben wird. Dieser Übertritt in die himmlische Sphäre kann durch den kultischen Ort, den Tempel induziert sein (Jes 6,1), durch eine kultisch relevante Zeit (Dan 9,21: Zeit des Abendopfers), kann aber prinzipiell überall und jederzeit erfolgen. So erhält Ezechiel einen Blick auf den himmlischen Thron im Exil (Ez 1). Auch in nächtlichen Visionen (Traumvisionen, Nachtgesichte) kann ein Eintreten in die himmlische Sphäre erfolgen (Dan 7,1; Sach 1,8). Die Bewohner der himmlischen Sphäre werden unterschiedlich benannt: Göttliche (ʾælōhīm), Boten bzw. Engel (malʾākh; vom griechischen Äquivalent angelos leitet sich das Wort Engel ab), Heilige. Der Visionär bleibt weiter Mensch und wird als solcher angesprochen. Durchgängig wird Ezechiel bæn ʾādām, Menschensohn, genannt, was einen einzelnen Menschen bezeichnet. Die Verkündigung der Botschaft ist öfters mit Zeichenhandlungen (Analogiehandlungen) verbunden, die die Botschaft anschaulich machen oder mit einem gewissen Nachdruck versehen (vgl. Krispenz 2014). Dazu gehören Anfertigung oder Verwendung von Gegenständen (1Kön 22,11; Jer 27,1; 28,10); symbolische Benennung der eigenen Kinder (Jes 8,1–3; Hos 1) oder bestimmtes Verhalten (Jer 20,2; Ez 5,1–4). Manche Handlungen werden nicht in der Öffentlichkeit durchgeführt (Ez 4,4–8). Einige stehen sympathetischer Magie nahe. Traten Propheten mit divergenten Botschaften auf, stellte sich die Frage der wahren und falschen Prophetie. Sie ließ sich nicht konsistent lösen, da praktikable Kriterien nicht zu finden sind. Das naheliegende Erfüllungskriterium ist im Moment der Entscheidung nutzlos und bezieht sich ohnehin nur auf Zukunftsvorhersagen. Zudem wurden auch Texte überliefert, die sich nicht erfüllt hatten. Weitere Kriterien sind von außen nicht beurteilbar: der wahre Prophet ist von Gott gesandt (Jer 14,13–16); hat am himmlischen Thronrat teilgenommen, ist vom Geist Gottes ergriffen; er hat wahre JHWH-Worte, während die Gegner solche erfinden bzw. stehlen und sich zu Unrecht auf Träume berufen (Jer 23,9–32). Andere Kriterien betreffen das Verhalten der Propheten: Trunkenheit (Jes 28,7–13), sonstige sittliche bzw. kultische Verfehlungen (Jer 23), Bestechlichkeit (Mi 3,5–8; 1Kön 22,13). Die Lösung von 1Kön 22 ist theologisch radikal: JHWH selbst sendet einen Lügengeist die Falschpropheten; sie wissen also nicht einmal selbst, dass sie Falschpropheten sind, geschweige denn ihre Adressaten. Für Jeremia verkünden Lügenpropheten Heil (Jer 14,14), während der echte Prophet Unheil weissagt und zur Umkehr aufruft (Jer 23,22). In der Folge gibt es zwei entscheidende Veränderungen des Prophetenbildes. Da man sich der göttlichen Offenbarung aus dem Munde der Propheten nicht sicher sein konnte, auf der anderen Seite die Tora zunehmend als autoritativ auffasste, wurden ideale Propheten zu Verkündern und Auslegern der Tora. Das Prophetenamt wird in die Gründungszeit verlegt und Mose als Erzprophet ausgewiesen (Dtn  18,9–22), mantische Praktiken verboten (vgl. Sach 13,2–6). Die Chronikbücher verstehen unter Propheten schließlich levitische Schreiber. Sie 178

sind für Sammlung und Redaktion der prophetischen Schriften zuständig. In Jer 36,32 wird eine solche anonyme Schriftprophetie bereits legitimiert. Das Phänomen der Prophetie ist im Alten Orient verbreitet (vgl. Nissinen 2007; 2019). Die wichtigsten Parallelen sind 50  Prophetenbriefe an König Zimri-Lim von Mari aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. sowie Zusammenstellungen von Prophetenworten aus den assyrischen Staatsarchiven von Ninive aus dem 7. Jahrhundert. Die Propheten stammen aus unterschiedlichen Schichten und üben verschiedene Tätigkeiten aus; auch tritt eine größere Anzahl von Frauen auf. Die Texte sind schon aufgrund der Fundsituation stärker auf den König und sein Agieren ausgerichtet. Propheten erscheinen als wichtig für die Kommunikation des Königs mit der jeweiligen Gottheit. Die Briefe bzw. mündlichen Eingaben wurden von der Palastverwaltung gesammelt, aber nicht geordnet oder redigiert, schon gar nicht literarisch tradiert, wie dies im Alten Testament geschehen ist. Zwei Inschriften auf Wandputz aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. aus Deir ʿAllā (biblisch: Sukkot) beziehen sich auf den Seher Bileam, Sohn Beors, der aus dem Alten Testament bekannt ist (vgl. Blum 2012). In Num 22–24 soll Bileam Israel auf Wunsch des Moabiterkönigs Balak verfluchen, segnet es jedoch auf die Weisung Gottes hin. „Im Gegensatz zur biblischen Tradition erscheint Bileam in der Bileam-Inschrift nie als JHWH-Verehrer. Stattdessen treten andere Götter auf: El-Gottheiten, Šaddaj-Gottheiten und eine weitere, enigmatische Gottheit, die das in der Inschrift von Bileam angekündigte Unheil auslösen soll“ (Gaß 2007).

2 Prophetische Redeformen Prophetenerzählungen und -verkündigungen weisen formelhafte Sprache auf. Typische literarische Elemente eines Prophetenauftritts sind (hier aus 1 Kön 21): die Wortereignisformel („Da erging das Wort JHWHs an Elija aus Tischbe“), Gehbefehl und Redegebot („Mach dich auf und geh Ahab, dem König von Israel, entgegen  … und sag zu ihm  …“) und die Botenspruchformel („So spricht JHWH“). Mit der Botenspruchformel wird der Sprecher als Gesandter Gottes ausgewiesen, das Folgende als wörtliche Gottesrede. Diese bildet die eigentliche Botschaft. Oft beinhaltet sie ein begründetes Gerichtswort, das aus zwei Teilen besteht: einem Schuldaufweis und einer Strafansage, oft nach dem Talionsprinzip. Das Wort „darum (lākēn)“ fungiert typischerweise (nicht immer) als Scharnier zwischen den beiden Teilen. Innerhalb von Gottesrede wird häufig die Formel „Spruch JHWHs“ eingefügt. Grundsätzlich kann zwischen Unheils- und Heilsankündigungen sowie Fremdvölkersprüchen unterschieden werden: „Generell ist die Verkündigung der Propheten des Alten Testaments zum großen Teil Ankündigung bevorstehenden Unheils, nur zum geringeren Teil besteht sie in heilvollen Ankündigungen (Heilsworte). Innerhalb der Unheilsverkündigungen 179

bilden die Gerichtsworte die wichtigste Gruppe. Außerdem richten sich die Propheten zumeist an ihr eigenes Volk, daneben gibt es aber auch Ankündigungen an fremde Völker (Völkersprüche), und zwar sowohl heilvolle als auch unheilvolle. Der Aufbau der Prophetenbücher folgt oft dem sog. ‚eschatologischen Schema‘: 1) Unheilsankündigungen für Israel/Juda, 2) Fremdvölkersprüche und 3) Heilsankündigungen für Israel/Juda“ (Krispenz 2006).

3 Geschichtsbücher/Vordere Propheten Der jüdische Kanon ist dreigeteilt in Tora, Propheten und Schriften (tōrā, nebīʾīm, ketūbīm) und wird mit Kunstwort Tanakh (Tanach, Tenakh) aus den Anfangsbuchstaben dieser drei Teile bezeichnet. Die nebīʾīm werden unterteilt in die vorderen und hinteren Propheten. Die vorderen Propheten umfassen Bücher, die Christen als geschichtliche Bücher bezeichnen: Jos, Ri, 1–2 Sam, 1–2 Kön. Man war der Auffassung, dass sie von Propheten verfasst worden waren (vgl. oben zu levitischen Schreibern); außerdem treten in ihnen wichtige Propheten auf. Mithilfe von Propheten wird die Geschichte gedeutet und gelenkt. Die hinteren Propheten umfassen die im engeren Sinne prophetischen Bücher (s. u.). In den Königebüchern erwecken zunächst zwei größere, miteinander verbundene Komplexe das Interesse: die Erzählungen von Elija (vgl. Otto 2009) und Elischa (vgl. Lehnart 2013). Sie zeigen zwei prägende Figuren, zum einen als wunderwirkende Männer, mit denen Umgang zu haben auch gefährlich war, zum anderen als solche, die Zugang zu den Mächtigen hatten, diese legitimierten und kritisierten. Elija und Elischa stehen am Beginn einer Bewegung, die die alleinige Verehrung JHWHs forderte. Deutlich wird dies in der Erzählung des Gottesurteils am Karmel (1 Kön 18) sowie den verschiedenen Wundererzählungen; unter ihnen sticht die der Erweckung eines Jungen hervor, was beiden Propheten zugeschrieben wird (1 Kön 17//2 Kön 4). Elija greift außerdem bei dem Justizmord an Nabot ein und kündigt dem König Ahab den Tod an (1 Kön 21,19). Auf der Flucht vor dessen Frau Isebel begibt sich Elija an den Gottesberg Horeb (1 Kön 19), wo Gott zu ihm in der Stimme eines feinen Schweigens (V. 12) spricht, nicht in den klassischen Elementen der Theophanie (Sturm, Erdbeben, Feuer) – eine späte Reflexion auf prophetische Offenbarung. Elija soll Hasaël zum König über Aram und Jehu zum König über Israel salben, die blutig das Unheil über Israel bringen. Elischa soll er zu seinem Nachfolger salben; er wird durch Überwerfen des Prophetenmantels berufen (1 Kön 19,19). Elija hinterlässt ihm den Mantel, als er mit einem feurigen Wagen im Sturmwind entrückt wird (2 Kön 2). Die Entrückung ist die Grundlage der Hoffnung auf die Wiederkunft des Elija. Elischa wirkt an verschiedenen Orten und erscheint als Haupt einer Gruppe von Jüngern. Er legitimiert den Putsch Jehus religiös (2 Kön 9,1–13). Sowohl von Elija als auch Elischa wird ein 180

Wirken außerhalb Israels berichtet: So soll Elija einer Witwe in Sarepta geholfen haben (1 Kön 17,8–24); Elischa soll in Damaskus auch Hasaël zum Putsch animiert haben (2 Kön 8,7–15). Der Prophet Natan wirkt am königlichen Hof. Er kritisiert David im Namen Gottes für seinen Ehebruch mit Batseba und den Mord an deren Ehemann Urija (2 Sam 11–12). David spricht sich selbst das Urteil, indem er auf die Parabel Natans antwortet. Während das Kind, das David mit Batseba gezeugt hat, sterben muss, erhält das nächste, Salomo, durch Natan den Beinamen Jedidja: Liebling JHWHs (2 Sam 12,25). Wichtig für die Entwicklung der Theologie, besonders für die Ausbildung einer messianischen Hoffnung, ist die Natansweissagung in 2 Sam 7 (vgl. Pietsch 2007). David wird der ewige Fortbestand seiner Dynastie angekündigt; sein Sohn Salomo werde den Tempel errichten. Als sich die Hoffnung auf eine Weiterführung dieser Dynastie nach dem Exil zerschlug, transponierte man sie in die fernere Zukunft. Wenige Verse werden der Prophetin Hulda gewidmet (2  Kön 22,14–20//2  Chr 34,22–28). „An beiden Stellen trägt sie den Titel ‚Prophetin‘ (nabîʾāh), wie ansonsten Mirjam (Ex 15,20), Debora (Ri 4,4), die Frau des Jesaja (Jes 8,3) und Noadja (Neh 6,14). Die Angaben zu ihrer Person sind minimal … Eine zentrale Rolle spielt sie in der Erzählung von der Auffindung einer Schriftrolle im Rahmen der Restaurierung des Tempels unter König Josia und den Konsequenzen, die sich aus dieser Schrift ergeben“ (Müller 2008). Die Episode ist für die Komposition des deuteronomistischen Geschichtswerkes wichtig, da sie bereits vorwegnimmt, dass die Reform Joschijas nicht zur Verschonung Jerusalems führt.

4 Hintere Propheten/Schriftpropheten Prophetenbücher werden auf historische oder fiktive Prophetenfiguren zurückgeführt. Die einzelnen Bücher sind in der Regel über einen längeren Zeitraum entstanden und weisen Texte und Bearbeitungen aus unterschiedlichen Zeiten auf. Die namengebenden Propheten werden in der Geschichte Israels verortet. Ein Kern der meisten Bücher dürfte auf historische Personen zurückgehen. Die Bücher Obadja und Maleachi verdanken sich vielleicht ganz literarischer Gestaltung; das Jonabuch zeigt deutliche Fiktionalitätssignale. Wie aus prophetischen Worten, die wohl für mündliche Verkündigung gedacht waren, Bücher geworden sind, lässt sich nicht endgültig klären. Manche Texte wurden vielleicht von den Propheten selbst verschriftlicht, sei es als Auftrittsskizzen oder als nachträgliche Reflexion. Nach Jer 36 diktierte Jeremia seinem Schreiber Baruch die Botschaft, damit dieser sie dem König vortragen konnte. Nachdem die ursprüngliche Schriftrolle vollständig verbrannt war, wird im Nachgang ein Duplikat angefertigt, welches um weitere Worte ergänzt wird. Die passive Formulierung legitimiert die Prophetie der Schreibstube. Andere Texte könnten auf einen 181

Schülerkreis zurückzuführen sein (vgl. Jes 8,16). Jedenfalls ist klar, dass es ohne Sammlung, Zusammenstellung und Redaktion der Texte am Königshof bzw. nachexilisch am Tempel keine literarische Überlieferung gäbe. Die für bedeutend erachteten Texte wurden immer wieder überarbeitet, das eigene Nachdenken über aktuelle Fragen der jeweiligen prophetischen Autorität unterstellt. Die Prophetentexte wurden kreativ aktualisiert, weil sie für die eigene Gegenwart als bedeutend verstanden wurden. Im jüdischen Kanon umfassen die hinteren Propheten vier prophetische Schriften: die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie die Sammlung von zwölf kürzeren Prophetenschriften, die nach der lateinischen Übersetzung auch kleine Propheten genannt werden. Die Zusammenstellung von drei plus zwölf entspricht der der drei Erzväter mit den zwölf Söhnen Jakobs, die für die Stämme Israels stehen. Durch die Datierungen sind die Prophetenbücher mit der Geschichte Israels verknüpft. Kanonisch bilden sie einen Kommentar zur Darstellung dieser Geschichte. Die ältere Exegese suchte überwiegend aus den Texten die historische Gestalt der gottunmittelbaren Männer sowie ihre urgewaltigen Worte herauszuarbeiten. Gegenwärtig liegt der Fokus eher auf den Büchern in ihrer kompositionellen Endgestalt sowie auf übergreifenden Textstrukturen und Redaktionen. Hinzukommen Fragen der Rezeption, das heißt der Aufnahme prophetischer Texte im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern oder im frühen Judentum. Die einzelnen Bücher können hier nicht adäquat beschrieben werden. Hierzu sei auf die Einleitungen (vgl. Zenger/Frevel 2015; Gertz 2019; Römer 2013) sowie die Einträge im Wissenschaftlichen Bibellexikon (https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/) verwiesen. Das Jesajabuch beinhaltet Theologiegeschichte aus einem halben Jahrtausend. Der erste Teil geht im Kern auf die Ereignisse des syrisch-ephraimitischen Krieges zurück, insbesondere die sog. Denkschrift in Jes 6–9. Neben der politischen Position, sich nur auf die Hilfe JHWHs zu verlassen, übt Jesaja auch deutlich Kritik an den sozialen Verhältnissen. Das Scheitern seiner eigenen Verkündigung reflektiert er ganz theozentrisch in der Beauftragungsvision, Jes 6: Wenn er doch Gotteswort verkündet, wovon er gewiss ist, dieses bei Israel aber keine Wirkung zeigt, dann nur, weil Gott bereits das Unheil beschlossen hat. Der hier formulierte Verstockungsauftrag wurde in der christlichen Rezeption antijüdisch instrumentalisiert (vgl. schon Apg 28,25–29). Theologische Schwerpunkte sind das Königtum Gottes sowie die Zionstheologie. Erst durch spätere Texte entsteht das sog. messianische Triptychon Jes 7,10–16; 8,23–9,6; 11,1–10. Kapitel 1–35 beinhalten Worte Jesajas, die überwiegend Gericht ankündigen. Erzählungen über Jesaja und Hiskija in den Kapiteln 36–39 gehen zurück auf die wundersame Rettung des Zion 701 v.Chr. Sie leiten über zu den überwiegend heilvollen Ankündigungen ab Kapitel 40. Im Exil wird der persische König Kyros als Hoffnungsträger gesehen, der auch den Titel 182

Messias, Gesalbter, erhält. Die Abschnitte 40–55 und 56–66 werden meist als Deutero- und Trito-Jesaja bezeichnet. Wurden Sie in der Exegese früher als eigenständige Bücher gesehen, so fasst man sie zunehmend als Fortschreibungen von Proto-Jesaja (1–39*) auf. Besteht zunächst die Hoffnung auf die unmittelbare Rückkehr nach Jerusalem, so reagieren die späteren Kapitel auf Verzögerungen und enttäuschte Hoffnungen. Die Schlusskapitel nehmen das zukünftige Heil für die Frommen in den Blick. Hier findet sich prominent die Vorstellung einer Völkerwallfahrt, die einen Rahmen mit Jes 2 bildet. Charakteristisch ist die Lichtmetaphorik für JHWH (vgl. nur 60,1). In Deuterojesaja wird der Monotheismus zum ersten Mal ausformuliert und schöpfungstheologisch durchdrungen. Die Traditionen Israels werden daraufhin untersucht, ob sie für den Neuanfang nach dem Exil eine tragfähige Grundlage bilden. Positiv wird an die Verheißungen aus der Erzelterntradition, speziell Abraham, angeknüpft, während der alte Exodus durch einen neuen ersetzt wird. Eine gewisse Eigenständigkeit weisen die vier Gottesknechtslieder auf; das vierte (Jes 53) führt den Gedanken der Stellvertretung ein. Als Lesung am Karfreitag dient es der Deutung des Todes Jesu (vgl. Apg 8,26–40). Das Buch Jeremia ist in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert: Die Septuaginta-Fassung dürfte den älteren Textbestand erhalten haben; der masoretische Text ist ihr gegenüber deutlich länger und weist einen anderen Aufbau auf. Das Buch geht zurück auf das Auftreten Jeremias im Vorfeld des Untergangs Jerusalem. Klage über das drohende Unheil wird schließlich zur Anklage von Volk und Königen. In der jetzigen Gestalt erscheint Jeremia als gescheiterter Umkehrprediger. Mit den Konfessionen (11–20) und der Passion (26–45) wird das Leiden des Propheten thematisiert. In den Heilsworten Jer 30–33 ist die kurze Ankündigung des neuen Bundes enthalten (Jer 31,31–34), die im Neuen Testament aufgegriffen wird (Lk 22,20; 1 Kor 11,25; Hebr 8.10). Zu den komplexen Überarbeitungen gibt es keinen Konsens (ein aktuelles Modell bei Stipp, 2020). Das Ezechielbuch geht auf den im babylonischen Exil wirkenden Ezechiel zurück. Die Gerichtsworte in Kapitel 1–24 sprechen vom Auszug des kābōd, der Herrlichkeit JHWHs, als Voraussetzung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Korrespondierend beschreibt der letzte Abschnitt, 40–48, eine Vision des neuen Tempels sowie Gesetze des Heiligtums und kündigt in Kapitel 43 die Rückkehr JHWHs auf seinen Thron im Tempel an. Dazwischen finden sich Fremdvölkerworte (25–32) und Verheißungen für das eigene Volk (33–39). Die Visionen haben eine reiche Wirkungsgeschichte. Die in der Thronwagen-Vision (1–3) genannten vier Gesichter (1,10) werden beispielsweise als Symbole der Evangelisten aufgegriffen; die jüdische Mystik entwickelt die Vorstellung des himmlischen Thronsaals und des Thronwagens weiter (Hechalot-Literatur). Die Totenbein-Vision Ez 37 thematisiert die Restitution Israels nach dem Exil bildhaft als Wiederbelebung ausgetrockneter Knochen; sie prägt die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung. 183

Das Zwölfprophetenbuch (Dodekapropheton) besteht aus zwölf kleineren Schriften, die durch die Überschriften sowie Stichworte und redaktionelle Bezüge verknüpft sind (vgl. Schart 2008). Die Anordnung der Schriften unterscheidet sich zwischen masoretischen und griechischen Text in der ersten Hälfte. Der hebräische Text ordnet die Bücher chronologisch. Für die Septuaginta wird die Orientierung am sog. eschatologischen Schema behauptet, was nicht vollständig überzeugt; sie hat vermutlich die ältere Anordnung erhalten. Die Reihenfolge ist auslegungsrelevant: Mi 4 beinhaltet die Friedensvision, nach der die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden; bildlich entgegengesetzt fordert Joël 4 auf, Schwerter aus Pflugscharen zu schmieden. In der griechischen Fassung folgt Joël unmittelbar auf Micha, in der hebräischen steht erst Joël und später Micha. Die Bücher Hosea bis Zefanja gehen auf das 8. und 7.  Jahrhundert zurück (mit späteren Ergänzungen), Haggai und Sacharja wirken zur Zeit des Wiederaufbaus des Tempels (6. Jahrhundert), wobei die letzten Teile später und wie Maleachi in hellenistische Zeit zu datieren sein dürften. So wirken die hier versammelten Propheten in verschiedenen geschichtlichen Situationen. Zwei wichtige durchgehende Themen sind die Kult- und Sozialkritik (vgl. Kessler, 2008a; 2008b). Bereits das älteste Buch, Hosea, übt Kritik an der Verehrung des Wettergottes Baʿal sowie an der kultischen Praxis, durch die keine Gotteserkenntnis vermittelt wird. Hosea verwendet außerdem das Bild der Ehe für die Verbindung von Gott zu seinem Volk (Hos 1–3). Das Buch endet mit der Zusage, dass Gott aufgrund seines Mitleids und eines Herzensumsturzes (11,8) Israel letztlich nicht preisgeben wird. Kritik an kultischen Missständen ist auch Grund für die Gerichtsansage bei Zefanja (Zef 1,4–6) sowie ausführlich bei Maleachi. Scharfe Sozialkritik übt Amos im 8.  Jahrhundert, der die Ausbeutung einer zunehmend verarmenden Unterschicht durch eine kleine reiche Oberschicht beklagt; ähnlich Micha (Mi 2,1–3). Das Verhalten des Königshofs und der Händler ist Gegenstand der Kritik bei Zefanja (Zef 1,8–11). Sach 7,8–14 sieht in der Sozialkritik die maßgebliche Botschaft der vorexilischen Propheten und den Grund für die Exilierung. Mit der Kritik sind Umkehrforderung (šūb) und Gerichtsankündigung verbunden. Diese wird in der Vorstellung des Tages JHWHs konkretisiert. Das Motiv entwickelt sich von Joël 2.4 über Am 5,18, Obd, Zef 3,14 zu Sach 12.14 und Mal 3 zu einer komplexen Vorstellung. Sie beinhaltet Gericht über Israel, Gericht an den Feinden und schließlich die Wallfahrt der Völker. Sach 12 und 14 tragen dabei protoapokalyptische Züge. Die Vorstellung der Völkerwallfahrt findet sich auch in Mi 4, einem Paralleltext von Jes 2. Verwoben mit den Gerichtsansagen sind Bezugnahmen auf die sog. Gnadenformel (vgl. Scoralick 2002). Spätere Einfügungen in die früheren Texte bringen die Hoffnung auf nachexilische Restauration zum Ausdruck. Das Jonabuch fällt als Prophetenerzählung aus dem Rahmen. In ihrer einfachen Erzählstruktur mit humoristischen Elementen eignet sie sich für die Auseinandersetzung auf 184

unterschiedlichen Niveaus. Ihr geht es nicht um die Frage der Falschprophetie. Auch wenn Jona Ninive ganz den Untergang ohne weitere Bedingung ansagen soll, ist doch impliziert, dass das Gericht prinzipiell durch Umkehr abgewendet werden kann. Gilt die Barmherzigkeit Gottes und damit die Umkehrmöglichkeit aber auch für die Feinde Israels? Jona will nicht, dass Ninive die Möglichkeit der Umkehr bekommt und daher die Vernichtung gar nicht erst androhen. Er begründet seine Flucht mit Rekurs auf die Gnadenformel: „Ich wusste ja, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen“ (Jon 4,2). Die schöpfungstheologisch begründete Antwort Gottes in Form einer offenen Frage richtet sich schließlich an uns Lesende. Der fiktionale Text spielt auf andere Propheten an, z. B. Elija. Später wird Jona als historische Person angesehen. Der dreitägige Aufenthalt im Fisch wird im Neuen Testament als Vorzeichen der Auferstehung gedeutet (Mt 12,40).

5 Christliche Rezeption Der christliche Kanon orientiert sich am umfangreicheren Septuaginta-Kanon. Die prophetischen Schriften werden vom Umfang erweitert und in der Regel an das Ende des Alten Testaments gestellt, das so insgesamt als Prophezeiung Christi gelesen wird. Zu Jeremia werden die Klagelieder und das deuterokanonische Buch Baruch gestellt. Außerdem wird das apokalyptische Danielbuch, das im 2. Jahrhundert v. Chr. fertiggestellt wurde, nun zu den Propheten gerechnet. Für die christliche Rezeption ist besonders die Vision des Menschengleichen (vereinfachend: des Menschsohns), Dan 7, wichtig. Sie wird im Neuen Testament an verschiedenen Stellen zitiert. Stehen die Prophetenbücher am Schluss, so endet das Alte Testament mit der Ankündigung der Wiederkunft des Elija in Mal 3,23 vor dem Eintreffen des Tages JHWHs. Subtil greift das Neue Testament darauf zurück, wenn Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu mit härenem Mantel und ledernem Gurt wie Elija präsentiert wird (Mk  1,6; vgl. 2  Kön 1,8). Durch prophetische Texte werden die Erfahrungen mit Jesus gedeutet, die Verheißungen in ihm als erfüllt gesehen (vgl. programmatisch Lk  24,25–27). Auch der Psalter wird als prophetische Schrift verstanden: David prophezeit seinen Nachfahren, den Messias, also Christus. Die Überzeugung, dass die Propheten bleibende Bedeutung für die eigene Gegenwart haben, teilt das Neue Testament mit anderen Texten der Zeit, etwa der Schrift Vitae prophetarum: In ihr sind legendenhafte Prophetenbiographien und kurze Zusammenfassungen ihrer Botschaft in Bezug auf das Ende der Welt zusammengestellt. Man empfand die eigene Gegenwart als Endzeit und wollte ein Kompendium der prophetischen Aussagen zum Endgericht. 185

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Psalmen Johannes Schnocks

Einerseits ist das Psalmenbuch ein biblisches Buch wie alle anderen auch, andererseits nimmt es eine Sonderstellung ein.1 Die Sonderstellung entsteht zunächst dadurch, dass die Psalmen nicht nur als Bibeltexte den Gläubigen gegenüberstehen, sondern auch zu ihren Gebeten werden. Sie sind nicht nur „Wort Gottes“ an uns, sondern auch „Antwort an Gott“. Die Vielfalt der in den 150 Psalmen anzutreffenden theologischen und anthropologischen Themen macht das Psalmenbuch dann auch zu so etwas wie einem bibeltheologischen Kompendium. Schon bei der Übersetzung ins Griechische, aber auch im rabbinischen Judentum und dem frühen Christentum spielt daher die Funktion des Psalters als Meditations- und Lesebuch der ‚privaten‘ Frömmigkeit eine große Rolle, aus der sich die starke Verwendung von Psalmen in der synagogalen Liturgie, der christlichen Tagzeitenliturgie und in der Messfeier entwickelt hat. Im Christentum hat schon früh eine Christologisierung des Psalmengebets stattgefunden, die neben die Wahrnehmung der anthropologischen und theologischen Aspekte tritt, sie aber nicht verdrängt.

1 Das Psalmenbuch als biblisches Buch Für die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament gilt genauso wie schon für die Hebräische Bibel, die Judentum und Christentum verbindet: Einerseits steht die Bibel der Religionsgemeinschaft, in der sie als Heilige Schrift überliefert wird, als eine Ganzheit, als ein Buch gegenüber, andererseits besteht dieses eine Buch aus vielen, sehr unterschiedlichen Schriften. „Die Bibel“ ist also gleichzeitig die Bezeichnung einer ganzen Bibliothek. Die Einzelschriften können einerseits als Bücher für sich gelesen werden und ihre Eigenheiten unterstreichen oft die Berechtigung dieser Leseweise. Andererseits entfalten sie ihre Eigenschaft, „biblische“ Bücher zu sein, in einem umfassenderen Sinn, wenn sie mit Bezug auf die anderen Bücher dieser Bibliothek gelesen werden und so theologische Linien, Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennbar werden, ja gewissermaßen ein Dialog der vielen Stimmen im Kanon der Heiligen Schrift entsteht. Ein solcher Dialog ist freilich nicht einfach da, sondern er

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Der Beitrag beruht auf einem Kapitel des Lehrbuchs: Johannes Schocks, Psalmen (Grundwissen Theologie, Bd. 3473), Paderborn 2014. Autor und Herausgeber danken Brill | Schöningh Paderborn für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks.

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entsteht durch den Lesevorgang, wenn Leser:innen solche theologischen Linien entdecken und entlang dieser Linien weiterdenken. Wenn in der wissenschaftlichen Literatur auf solche dialogischen Aspekte unter dem Stichwort Intertextualität hingewiesen wird, so handelt es sich nicht unbedingt um etwas, das ein Autor oder Redaktor in den Text hineingeschrieben hätte, sondern um Ergebnisse der Auslegung, der theologischen Arbeit der Exeget:innen. Dabei mag vielleicht die eine Stichwortverbindung „nichtssagend“ bleiben, während eine andere beim Lesen zu „sprechen“ beginnt, sodass es zu theologischen Brückenschlägen, zu einem „Zusammenlesen“ kommt. Dabei können auch Dialoge entstehen, die kontrovers oder zumindest „mehrstimmig“ sind. Es ist also bedeutsam, dass die einzelnen biblischen Bücher oft aus unterschiedlichen Stücken entstanden sind, dass mache Bücher wieder zu Buchgruppen und diese schließlich in den Religionsgemeinschaften jeweils anders zu ihrer heiligen Schrift zusammengestellt wurden. Auf allen Ebenen kommt es so zu einer Vielstimmigkeit, die auf Dialog angelegt ist. Das Psalmenbuch ist zunächst eines unter diesen biblischen Büchern. Es teilt seine poetischen Eigenschaften besonders mit den Büchern Ijob und Sprichwörter, aber auch mit vielen Passagen in anderen Büchern. Darüber hinaus gibt es theologische Verbindungen mancher Psalmen, etwa zu Jes 40–55 oder auch zum Pentateuch. Ps  18 wird in 2 Sam  22 zitiert, der Psalm in 1 Chr 16,7–36 setzt sich aus Ps 105,1–15; 96; 106,47 f. zusammen. Es nimmt also an dem vielstimmigen Dialog der Bibel teil. Im Neuen Testament wird aus dem Psalmenbuch unter Umständen in ähnlicher Weise zitiert wie etwa aus einem Prophetenbuch.

2 Das Psalmenbuch als Ausnahme Und doch ist auch innerhalb der vielgestaltigen biblischen Bibliothek das Psalmenbuch eine Ausnahmeerscheinung, der in der Auslegung immer eine besondere Rolle zugedacht worden ist. Das hängt einerseits mit dem Gebrauch zusammen. Einerseits sind die Einzelpsalmen Texte, die die Religionsgemeinschaft ihren Mitgliedern als kanonische Texte zu Lektüre und Meditation empfiehlt. Als solche stehen sie der Gemeinschaft gegenüber und dienen der religiösen Orientierung. Andererseits sind die Psalmen Gebete, die nachgesprochen und meditiert werden können, die man sich zu eigen machen kann und die so zur Stimme der einzelnen Glaubenden und damit zur Stimme der Religionsgemeinschaft selbst gegenüber ihrem Gott werden. Die Psalmen sind demnach Texte der persönlichen und der öffentlichen Liturgie wie andere Gebete oder Gesänge auch. Besonders über regelmäßig wiederkehrende Gebetsformulare im Judentum und die Tagzeitenliturgie im Christentum erreichen sie eine enorme Verbreitung. Gleichzeitig bleiben sie Texte der Heiligen Schrift. Sie sind gewissermaßen als kanonische Texte „Wort Gottes“ und gleichzeitig als Gebete „Antwort an Gott“. 189

Über diese funktionelle Eigenart hinaus hat die Einzigartigkeit des Psalmenbuchs aber auch eine thematische Seite. Sie besteht einerseits in der großen Bandbreite und Verschiedenartigkeit an theologischen Entwürfen und Vorstellungen, die man hier wegen der Vielfalt der Einzelpsalmen antrifft und andererseits in einem großen Reichtum an anthropologischen Überlegungen, besonders, aber nicht nur, in den Individualpsalmen. Es ist also zu wenig, wenn man – wie das auch der Lehrplan für die Grundschule empfiehlt – lediglich die Gebetsformen Loben, Danken, Klagen und Bitten als menschliche Grundhaltungen in den Psalmen wiederfindet. Es geht viel umfassender um alle Ausprägungen des Menschseins, um Freude, Konflikte, Schuld, Not, Angst und Hoffnung. Dabei wird alles mit Gott und vor Gott reflektiert und diskutiert, was aus sich heraus schon wieder Ausdruck einer sehr dynamischen Gottesbeziehung in allen Höhen und Tiefen des Lebens ist und viele theologische Dimensionen hat. In diesem Beitrag soll dementsprechend die Auslegungstradition zu Wort kommen, die im Psalmenbuch ein umfassendes theologisches Buch sieht und so seine Sonderstellung unter den biblischen Schriften betont.

3 Der Psalter als umfassendes theologisches Buch in der christlichen Rezeption Betrachtet man das Psalmenbuch insgesamt als zusammenhängenden Text, so fällt auf, dass die Psalmen 41; 72; 89 und 106 mit sehr ähnlichen Formulierungen des Gotteslobs, den sogenannten Doxologien, enden. An diesen Stellen finden sich oft auch andere Signale, wie etwa Namenswechsel in den Überschriften. Wenn man entsprechend, wie das in der jüdischen und christlichen Rezeption seit der Antike geschehen ist, diese Formulierungen als Signale für Texteinschnitte versteht, so entstehen fünf Teile: die fünf Psalmenbücher innerhalb des Psalters. Die Parallelisierung der fünf Bücher Davids im Psalter mit den fünf Büchern des Mose, der Tora, wie sie zu Beginn des Psalmen-Midrasch, einer spätantiken rabbinischen Kommentarsammlung, breit ausformuliert wird, ist bereits ein Hinweis auf das große theologische Gewicht, das dem Psalmenbuch in der jüdischen Tradition zuerkannt wird. Die Alte Kirche konnte hier anknüpfen. Ein einflussreicher Text, der dies besonders deutlich macht, ist der Brief des Athanasius von Alexandrien (295–373) an Marcellinus (vgl. Athan., ep. Marcell. 2 bzw. 30, zitiert nach Sieben 1998, 143–179). Zu Beginn des Briefs wird die Sonderstellung des Psalmenbuchs programmatisch umschrieben, indem zunächst der Inhalt des Pentateuchs, der geschichtlichen und der prophetischen Bücher kurz rekapituliert wird, um dann anzuschließen: „Anders der Psalter, wie ein Garten trägt er in sich die Früchte auch aller übrigen Bücher der Heiligen Schrift und macht sie zu Liedern, sein Gesang enthält zugleich Fremdes und Eigenes“ (ebd., 149). Diese 190

Eigenschaft, die ganze restliche Bibel zu reflektieren – die Bücher des Alten Testaments durch Rückverweise, die Hauptanliegen des Neuen Testaments durch prophetische Vorverweise –, wird dann mit vielen Beispielen belegt. Athanasius betont neben diesen theologischen Eigenheiten aber auch die besonderen anthropologischen Qualitäten des Psalmenbuchs: „Ich jedenfalls bin der Ansicht, daß in den Worten dieses Buches das ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen Grundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen und Gedanken, umfaßt und enthalten sind. Nichts kann darüber hinaus im Menschen gefunden werden“ (ebd., 175). Die hier zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung des Psalmenbuchs hat viele Nachfolger gefunden. Was hier angesprochen wird, bezieht sich immer wieder auf den existentiellen Vollzug der Psalmenmeditation, also auf das Angesprochen-Sein durch den selbst gelesenen oder gesungenen Text des Psalmenbuchs. Es gibt daher Ansätze, die das – aus Papier und Buchstaben bestehende – Psalmenbuch vom – leise gemurmelten oder laut gesungenen, also als Klangereignis existierenden – Psalter unterscheiden (vgl. Bader 1996). Martin Luther bringt seine Vorstellung einer Psalmentheologie entsprechend nicht nur auf den berühmten Satz, der Psalter sei eine kleine Bibel und Summe der ganzen2, was sich bereits an Athanasius anlehnen kann, sondern verdichtet sie zu der Formel „,psalterium affectuum palaestra‘: Psalter als Übschule, Ringschule der Affekte“3. Im Hintergrund steht hier die in der Frömmigkeit von Altertum und Mittelalter weit verbreitete Vorstellung vom Kampf der Seele, der Psychomachie. Vereinfacht und etwas salopp kann man sich das so vorstellen, dass der Mensch bzw. seine Seele sich immer wieder zu einem anständigen Leben „durchringt“ und so einen täglichen Kampf führen muss. Diese Vorstellung spielt z. B. auch bei der vormodernen Exegese kriegerischer Bibeltexte eine große Rolle, wenn etwa die Kriege Josuas oder der Makkabäer auf die Kämpfe der Seele hin allegorisch gedeutet werden. Der Psalter, also die (gesungene oder leise gemurmelte) Meditation des Psalmenbuchs, ist dann die Turnhalle, in der der Mensch geistig und geistlich für diese Kämpfe trainiert, indem er sich von den Psalmen berühren und sich so mit den Affekten, den Gemütserregungen, die ihn dabei überrollen, auf eine Art Ringkampf einlässt.



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Die Charakterisierung findet sich in der Vorrede auf den Psalter. In letzter Fassung (1545) lautet sie: „Das es wol moecht ein kleine Biblia heissen, darin alles auffs schoenest vnd kuertzest, so in der gantzen Biblia stehet, gefasset vnd zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht vnd bereitet ist. Das mich duenckt, Der heilige Geist habe selbs woellen die muehe auff sich nemen, vnd eine kurtze Bibel vnd Exempelbuch von der gantzen Christenheit oder allen Heiligen zusamen bringen. Auff das, wer die gantzen Biblia nicht lesen kuendte, hette hierin doch fast die gantze Summa verfasset in ein klein Buechlin.“ (WA.DB [= Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers, Abteilung Deutsche Bibel] 10/1, 99–101). Bader 1996, 31. Bader gewinnt diese Formel aus einem Satz aus einer Psalmenvorlesung Luthers, in der er an die Kommentierung von Ps 1 ein „Monitum“ anschließt. „Der Psalter – heißt es da – sei nichts als ‚affectuum qaedam palaestra et exercitium‘.“ (ebd.) Luther fährt fort: „sine fructu psallit, qui non spiritu psallit“ (WA 5,46,16).

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Was diese existentielle Funktion der Psalmen in den Worten heutiger Menschen bedeuten kann, mag ein Satz des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926) aus einem Brief an seinen Verleger beleuchten: „Ich habe die Nacht einsam hingebracht in mancher inneren Abrechnung und habe schließlich, beim Scheine meines noch einmal angezündeten Weihnachtsbaumes, die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein“ (Rilke 1949, 289).

Die genannten Äußerungen bezeugen über die Jahrhunderte hinweg eine Lektüre des Psalmenbuches als Text, der die Leser:innen unmittelbar selbst betrifft. Möglich ist das nur, weil die Psalmen als einzelne Gedichte und in ihrer jetzigen Komposition im Psalmenbuch in solch umfassender Weise menschliche Erfahrungen ins Wort setzen. Anders ausgedrückt: Hier bestätigt sich gerade auch mit Blick auf den Menschen an sich und seine Glaubenserfahrungen, dass die Psalmen als poetische Texte auf Wiederverwendung angelegt sind und dass sie eben in der vorliegenden Auswahl und Zusammenstellung im Psalmenbuch eine hohe literarische Qualität und eine umfassende Themenbreite erreichen. Über den formalen kanonischen Status hinaus kommen so dem Psalmenbuch auch Eigenschaften eines maßgeblichen Kompendiums religiöser Lyrik, also eines literarischen „Klassikers“ zu.

4 Die Psalmen als Gebete in Judentum und Christentum Die Rekonstruktion der Verwendung von Psalmen in der Liturgie des frühen Judentums und Christentums ist nicht ganz einfach, weil die zur Verfügung stehenden Quellen in diesen Fragen lückenhaft sind. Zunächst spricht Vieles dafür, dass die Psalmen in der persönlichen Frömmigkeit eine Rolle spielten und dass es Gruppierungen im Judentum gab, auf die das ganz besonders zutraf. Die weite Verbreitung von Psalmenmanuskripten unter den Textfunden in Qumran, wie auch die Menge der Psalmenzitate im Neuen Testament – sie machen gut ein Drittel aller Zitate aus dem Alten Testament aus – weisen immerhin in die Richtung, dass die Psalmen weit verbreitet und entsprechend bekannt waren. Für die Zeit um 100 v. Chr. kann man auf den Vater der sieben makkabäischen Märtyrerbrüder verweisen, der von seiner Witwe mit folgenden Worten als idealer Vater beschrieben wird:

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10 Als er noch unter euch war, lehrte er euch das Gesetz und die Propheten. 11 Er las euch vor: Abels Ermordung durch Kain und Isaaks Opferung … [es folgt eine Reihe von weiteren Bibelstellen zum Thema Leid und Rettung] 15 Er sang euch Lieder des Psalmendichters David, der da sagt: Zahlreich sind die Bedrängnisse der Gerechten. (4 Makk 18,10 f.15; Septuaginta deutsch)

Demnach gehörte immerhin in bestimmten frommen Kreisen der Gesang – nicht einfach nur die Lesung – der Psalmen zum religiösen Familienleben. Es ist immerhin bemerkenswert, dass im frühen Christentum zwar nach dem Vorbild der Hebräischen Bibel einige poetische Texte in neutestamentliche Schriften integriert wurden. Beispiele wären Magnificat, Benedictus und Nunc dimittis im Lukasevangelium oder die Christus-Hymnen im Corpus Paulinum. Aber es hat keine kanonisierte neue Sammlung von „Psalmen“ gegeben. So rät auch die syrische Didaskalie (christliche Gemeindeordnung, 3. Jahrhundert n. Chr.) im Blick auf die Literaturauswahl für den Frommen: „Und wenn du Hymnen begehrst, so hast du die Psalmen Davids“ (Didasc II.; zitiert nach Achelis/Flemming 1904, 5). Dieser ‚private‘ Aspekt der Psalmenfrömmigkeit ist gut vereinbar mit der in den letzten Jahren von der Psalterexegese herausgearbeiteten Funktion des Psalmenbuchs. Erich Zenger hat sie einmal etwas überspitzt so beschrieben: Nach Meinung der den ganzen Psalter redaktionell prägenden weisheitlichen Theologie ist der Psalter selbst das Heiligtum, in dem Gott gesucht und gelobt werden soll und von dem Gottes Segen und Rettung ausgehen können. […] Als Abschnitte des Psalters […] erhalten die Einzelpsalmen neue theologische Dignität, die sie aus den übrigen Elementen privater Frömmigkeit herausheben: Diese Gebete sind Einübung der Tora; wer sie rezitiert, hält die Welt- und Lebensordnung des Gottes Israels, der der Gott der ganzen Erde ist, lebendig. Psalmenrezitation ist Dienst am und im kommenden Gottesreich. Wer die Psalmen ‚privat‘ rezitiert, tut dies doch nicht ‚privat‘: Er reiht sich ein in die ‚liturgische‘ Gemeinschaft der Psalmenbeter mit ‚David‘ als ihrem Vorbeter – wo auch immer diese Psalmen aktuell gebetet werden mögen. Und zugleich gilt: Diesen Texten wohnt buchstäblich die rettende, schützende, tröstende und vergebende Gegenwart Gottes inne. Man kann dies gut mit den Worten von Ps 22,4 zusammenfassen: ‚Du bist heilig / der Heilige, du thronst auf den Psalmen Israels‘ (Zenger 1998, 47 f.).

Offenbar war es die Verankerung des Psalmengebets in der privaten Frömmigkeit und dann christlicherseits im frühen Mönchtum, die in parallelen Entwicklungen dazu geführt hat, 193

dass die Psalmen einerseits in der synagogalen Liturgie und andererseits im christlichen Gottesdienst langsam ihren festen Platz bekamen und bis heute Judentum und Christentum verbinden. Eine schwer zu klärende Frage ist, ob die Übersetzung des Psalmenbuchs ins Griechische, die Psalmen-Septuaginta, einen liturgischen Hintergrund hatte, wie dies lange vermutet wurde, oder nicht. Über die Psalmenverwendung zur Zeit der Übersetzung – vermutlich gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. – wissen wir kaum etwas. Man kann mit Hinweis auf die Chronikbücher vermuten, dass einzelne Psalmen auch bei den Opfern und Festen am Tempel eine Rolle spielten. Die Mischna bietet eine Zuordnung von sieben Psalmen zu den Wochentagen für die täglichen Opfer am Tempel (mTamid 7,4). In der Septuaginta findet sich ein Teil dieser Zuordnungen über den hebräischen Text hinausgehend ebenfalls. Hier ist kaum zu unterscheiden, wo eine Erinnerung an eine historische Praxis vorliegt und wo die spätere theologische Konstruktion sich in den Texten und ihrer Entwicklung niedergeschlagen hat (vgl. Stemberger 1998). Für die Septuaginta erscheint es jedenfalls gegenüber der kaum zu belegenden Liturgie-These die plausiblere Annahme zu sein, dass die Funktion der Übersetzung die eines ‚privaten‘ Meditations- oder Lesebuches war. Die Übersetzung ist in weiten Teilen sehr nah am hebräischen Text und setzt auch offensichtlich eine hebräische Vorlage voraus, die dem Konsonantenbestand des masoretischen Textes sehr ähnlich gewesen sein muss. Die Forschungen der vergangenen Jahre haben aber gezeigt, dass das Ergebnis des Übersetzungsvorgangs doch einen eigenen Text mit eigenen Systemen von Bezugnahmen und damit kleinen, aber bemerkenswerten Verschiebungen darstellt. Es lohnt sich, diesen Text für sich genommen zu untersuchen und ihn nicht nur – wie das zuvor lange passiert ist – im Rahmen der Textkritik am hebräischen Text punktuell hinzuzuziehen. Für die Alte Kirche war es eine wichtige Frage, wie man die Psalmen in einer spezifisch christlichen Weise beten, also den Psalter ‚christologisieren‘ konnte (vgl. auch Braulik 2012). Dabei war ein wichtiger, schon mit Apg 2,25–32 im Neuen Testament zu findender Anker, dass David als ‚gesalbter‘ König der Archetyp des Messias, des Christus, und Sprecher der Psalmen ist. In dieser Typologie sind die Psalmen von ihrem Sprecher her also vox Christi ad Patrem – die an den Vater gerichtete Stimme Christi. Das deckt sich wiederum mit den Evangelien, in denen es heißt, dass der irdische Jesus Psalmen gebetet hat – ein Beispiel wäre das Zitat von Ps 22,2 in der Golgota-Szene Mt 27,46; Mk 15,34. Wenn Christen daher Psalmen beten, tun sie es zusammen mit Christus selbst. Die Formel, in den Psalmen höre man vox Christi ad Patrem, könnte man also erweitern zu der Aussage, man höre vox ecclesiae cum Christo – die Stimme der Kirche mit Christus (zum Vater). Eine weitere Richtung in der kirchlichen Lektüre der Psalmen ist, in ihnen Aussagen über den Messias zu finden. Der Verweis in Apg 2,25–32 auf Ps 16 im Zusammenhang mit der Auferweckung Jesu ist hier ein Beispiel. Das Psalmengebet ist dann vox ecclesiae de 194

Christo – Stimme der Kirche über den Christus. Wenn man in diesem Sinne den Einsatz von Psalmen im Zusammenhang von christlichen Festen untersucht, wird deutlich, wie sehr die Neukontextualisierung die wechselseitige Interpretation bestimmt und verändert. Ein Beispiel wäre die traditionelle Verwendung von Ps 47 in der Messfeier und der Tagzeitenliturgie am Fest Christi Himmelfahrt. Der Schlüssel zum Verstehen ist hier V.  6: „Gott stieg auf unter Jauchzen, JHWH beim Klang des Schofarhorns“. Der Weg führt hier über die griechische und lateinische Übersetzung, wo der Gottesname JHWH als kyrios bzw. dominus („Herr“) wiedergegeben wird, sodass der Vers auf den „Herrn“ als Hoheitstitel Christi hin durchsichtig wird. Wird hier einerseits der Psalm massiv umgedeutet, so erhält auch das Festgeheimnis eine zusätzliche Dimension: Der aufsteigende „Herr“ wird nach dem Psalm durch diesen Vorgang als König eingesetzt. Das ist eine Dimension, die etwa in Lk 24,50–52; Apg 1,6–12 fehlt. Eine weitere – auch in der patristischen Exegese seltene – Perspektive ist mehrfach problematisch: Psalmengebet als vox ecclesiae ad Christum – als Stimme der Kirche zu Christus. Bereits Origenes (ca. 185–254) hat hier eingewandt, dass man nicht zu dem beten dürfe, der selbst betet (vgl. Origenes, De Oratione/ΠΕΡΙ ΕΥΧΗΣ, XV,2). Das Christentum hat an dieser Stelle die Aufgabe, auch in der Liturgie trinitätstheologisch sehr sorgfältig zu agieren und Fehlentwicklungen zu beseitigen, wenn etwa der christliche Monotheismus gefährdet ist. Ein Blick auf die alte römische Liturgie und auf die liturgische Erneuerung nach dem zweiten Vatikanischen Konzil könnte hier zu einer größeren Präzision führen. Christliches Gebet richtet sich demnach an den Vater durch den Sohn im Heiligen Geist (vgl. Richter 2012, 247 f.). Gegenüber dieser Christologisierung in der frühen Kirche betonte Augustinus (354–430) auch die anthropologische Dimension – gewissermaßen die Konstante des Gläubigen über die Zeiten hinweg – beim Psalmengebet: Jener eine, allerorten gegenwärtige Mensch, dessen Haupt droben ist, dessen Glieder hienieden sind: seine Stimme, die einmal jubelt und einmal klagt, die einmal sich schon freut in der Hoffnung auf das Kommende, das andere Mal noch stöhnt über das Gegenwärtige, diese Stimme muß uns altbekannt und wohlvertraut in allen Psalmen erklingen, und zwar als unsere eigene Stimme.4

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die heutige liturgische Verwendung der Psalmen in der katholischen Liturgie – das ist vor allem der Antwortpsalm in der Messfeier und die



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Übersetzung von Fischer 1982, 87 f. von: Aug. in ps. 42, 1: „et homo ille ubique diffusus, cuius caput sursum est, membra deorsum: eius vocem in omnibus Psalmis vel psallentem vel gementem, vel laetantem in spe, vel suspirantem in re, notissimam iam et familiarissimam habere debemus, tamquam nostram.“

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Tagzeitenliturgie  – und in der ‚privaten‘ Meditation über eine Tradition seit den Anfängen des Christentums verfügt. Der wichtigste Grund aber, warum die ‚alttestamentlichen‘ oder ‚jüdischen‘ Psalmen im vollen Sinn christliches Gebet sind, ist, dass sie sich an den Einen und selben Gott wenden, von dem das Alte Testament spricht, zu dem Jesus von Nazareth als seinem Vater gebetet hat und den das Christentum verehrt.

Zitierte Literatur Achelis, Hans/Flemming, Johannes P. G. (Hg.) (1904), Die syrische Didaskalia (TU 25.2), Leipzig. Bader, Günter (1996), Psalterium affectum palaestra. Prolegomena zu einer Theologie des Psalters (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 33), Tübingen. Braulik, Georg (1995), Christologisches Verständnis der Psalmen – schon im Alten Testament?, in: Richter, Klemens/Kranemann, Benedikt (Hg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche – Christusbekenntnis und Sinaibund (QD 159), Freiburg, 57–86. Fischer, Balthasar (1982), Christliches Psalmenverstä ndnis im 2. Jahrhundert, in: Fischer, Balthasar, Die Psalmen als Stimme der Kirche, Trier, 85–95. Richter, Klemens (2012), „Umdenken und Umkehr gerade in der Liturgie“. Zum Einfluss Erich Zengers auf Aspekte meiner Liturgiewissenschaft, in: Müllner, Ilse/Schwienhorst-Schönberger, Ludger/Scoralick, Ruth (Hg.), Gottes Namen(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (HBS 71), Freiburg i. Br. 238–254. Rilke, Rainer Maria (1949), Briefe an seinen Verleger/2, Wiesbaden. Sieben, Hermann Josef (Hg.) (1998), Ausgestreckt nach dem, was vor mir ist. Geistliche Texte von Origenes bis Johannes Climacus, übersetzt und eingeleitet von Hermann Josef Sieben (Sophia 30), Trier. Stemberger, Günter (1998), Psalmen in Liturgie und Predigt in der rabbinischen Zeit, in: Zenger, Erich (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg u. a., 199–213. Zenger, Erich (1998), Der Psalter als Buch. Beobachtungen zu seiner Entstehung, Komposition und Funktion, in: Zenger, Erich (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg u. a., 1–57.

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Reformation Norbert Köster

Auch wenn der Religionsunterricht in den meisten Bundesländern in konfessioneller Verantwortung stattfinden soll, findet er nicht selten im Klassenverband statt. Zudem sind zwar noch immer viele Kinder getauft, haben aber zunehmend weniger Bezug zu ihrer eigenen Konfession. Diese Ausgangslage führt zu der Frage, ob die Reformation im katholischen Religionsunterricht der Grundschule überhaupt thematisiert werden sollte. Wäre es nicht ausreichend, nur das Gemeinsame zu behandeln und kontroverse Themen auszuklammern? Nicht nur der konfessionell kooperative Unterricht, sondern auch der Unterricht im Klassenverband machen eine Behandlung des Themas Reformation notwendig. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Umständen. Zum einen erleben Kinder spätestens im Rahmen der Feier der Erstkommunion, dass sie zu unterschiedlichen Kirchen mit unterschiedlichen Traditionen gehören. Zum anderen haben die Kernlehrpläne für den Religionsunterricht in der Grundschule in der Regel einen Schwerpunkt wie „Leben und Glauben in Gemeinde und Kirche“, in dem das Kennenlernen von Gemeinden, Gottesdiensten und der Feier des Kirchenjahres verpflichtende Inhalte sind. Spätestens hier merken die Schüler:innen, dass es unterschiedliche Traditionen gibt. Findet der Unterricht im Klassenverband oder konfessionell kooperativ statt, müssen nicht nur die Lehrkräfte ein Wissen über die jeweils andere Konfession haben, sondern auch den Schüler:innen die Ursachen nahgebracht werden, warum es unterschiedliche Konfessionen gibt. Für die weiterführenden Schulen ist das selbstverständlich, für den Elementarbereich ist das im Bereich des katholischen Religionsunterrichts bislang noch kaum thematisiert. Die Schwierigkeit besteht darin, dass das historische Lernen im Primarbereich begrenzt ist, da ein historisches Bewusstsein bei Schüler:innen nur bedingt vorhanden ist. Dennoch ist ein historisches Lernen möglich und notwendig (vgl. Reeken 2017). Zunächst ist daher zu fragen, welche Ansätze geeignet sind, die Reformation im Religionsunterricht der Grundschule zu behandeln. Für den evangelischen Religionsunterricht gibt es Materialien zu Martin Luther (z. B. Wendt 2017). Diese Materialien haben aber aus katholischer Perspektive das Manko, dass sie die Reformation als historisches und kirchentrennendes Ereignis kaum thematisieren, sondern Luthers Botschaft für Kinder formulieren. Kindern wird damit nicht erklärt, warum es unterschiedliche Kirchen gibt. 197

1 Streit unter Christen Ein Zugang für Kinder zur Reformation kann unter dem Thema „Streit unter Christen“ gelingen. Dieser historische Streit lässt sich für Kinder elementarisieren. Hintergrund der Reformation war die Entwicklung der mittelalterlichen Kirche. Aus der Kirche der Antike hatte sich im Frühmittelalter eine völlig veränderte Kirche entwickelt. Man kann als wesentliche Neuentwicklungen nennen: Das Papsttum, die Messe und die Heiligenverehrung (vgl. Köster/Dierk 2021, 352–367). Diese Entwicklungen waren nach Auffassung der Reformatoren nicht legitim, da sie biblisch nicht gedeckt waren. Die Reformatoren wollten deshalb eine re-formatio der Kirche, also eine Rückformung zu ihrem antiken Zustand. Diese zentralen Aspekte der Reformationen in Deutschland und der Schweiz müssen für Kinder elementarisiert werden.

Streit um den Papst Jesus hatte die zwölf Apostel eingesetzt. Petrus hatte unter ihnen eine besondere Bedeutung (Mt 16,18). Die Kirche wurde immer größer und es gab immer mehr Bischöfe als Nachfolger der Apostel. Es entstand schon bald die Frage, ob alle Bischöfe gleichberechtigt sind, oder ob einer von ihnen als Nachfolger des Petrus eine besondere Rolle haben sollte. Die Bischöfe von Rom, wo Petrus beerdigt ist, bekamen diese besondere Rolle. Bis heute gibt es einen Papst, der die Kirche leitet. Protestanten sind demgegenüber der Überzeugung, dass ein Papst nicht notwendig ist. Diesen Streit gibt es bis heute.

Streit um die Messe Die ersten Christen trafen sich zu einem Mahl, bei dem das Brot gebrochen wurde (vgl. Fürst 2008, 24–37). Auch als die Kirche größer wurde, blieb es bei einem Mahl, bei dem der Bischof den Vorsitz führte (vgl. ebd., 37–46). Später, im Mittelalter, dachten die Menschen weniger an die Gemeinschaft, sondern vor allem an den Empfang der Kommunion. Sie versprachen sich viel von der Kommunion: Gesundheit, Gottes Schutz und ewiges Leben. Dabei reichte es ihnen oft aus, die Hostie nur zu sehen und gar nicht zur Kommunion zu gehen. Damit sie den Moment nicht verpassten, an dem der Priester die Hostie hochhob, wurde geklingelt. In vielen katholischen Kirchen ist das bis heute so (vgl. Angenendt 1997, 491–514). 198

Die Reformatoren sahen die Verehrung der Hostie kritisch. Sie wollten lieber betonen, dass Christen ein gemeinsames Mahl feiern und wollten nicht, dass die Menschen sich vom Empfang der Hostie so viel versprechen (vgl. Wendebourg 2010).

Streit um die Heiligen Die Germanen waren erst keine Christen. Sie glaubten an viele Götter, die alle für etwas Bestimmtes zuständig waren wie Erfolg im Krieg, gutes Wachsen der Pflanzen, Schutz vor Unwettern usw. Als die Germanen nach und nach Christen wurden, wollten sie nicht mit allen Anliegen zu Jesus gehen. Vor dem hatten sie etwas Angst. Aber sie hatten den Eindruck, dass Menschen, die besonders fromm waren, Wunder wirkten. Selbst, wenn diese Menschen gestorben waren, passierten an ihren Gräbern Wunder. Man war überzeugt, dass die Heiligen schon bei Gott im Himmel sind und so auch nach ihrem Tod noch Wunder vollbringen können. Oft war es so, dass Menschen am Grab eines Heiligen von einer Krankheit geheilt wurden. Das war in einer Zeit, als es noch keine Ärzte gab, sehr wichtig. Immer mehr Heilige kamen dazu und einige von ihnen wurden sehr berühmt wie z. B. der hl. Martin, der hl. Nikolaus, die hl. Elisabeth und der hl. Franziskus. Die Menschen feierten an den Gedenktagen der Heiligen große Feste. Für jedes Anliegen hatte man bestimmte Heilige. Wenn man etwas verloren hatte, betete man z. B. zum hl. Antonius, dass er hilft, den verlorenen Gegenstand wiederzufinden (vgl. Angenendt 1990, 186–190). Den Reformatoren wurde das zu viel. Sie wollten, dass man sich mit seinen Bitten nur an Jesus Christus wendet. Außerdem glaubten sie, dass man nach dem Tod noch nicht sofort in den Himmel kommt, sondern erst am Ende der Welt, wenn Jesus wiederkommt, um alle Menschen in den Himmel zu holen (vgl. Slenczka 2010).

2 Die Trennung der Kirchen In einem zweiten Schritt können mit Kindern einzelne Reformatoren behandelt werden. Für den deutschen Bereich empfiehlt sich Martin Luther, da es zu ihm einige Unterrichtsmaterialien gibt. Wichtig wäre hier, sich von einer Fixierung auf den Ablassstreit zu lösen. Luthers Kritik an der Ablasspraxis hatte nur am Rand damit zu tun, dass mit dem Ablass Geschäfte gemacht wurden. Der Kernpunkt der Kritik war ein anderer. Luther teilte mit den religiösen Bewegungen des Spätmittelalters das Anliegen, den Glauben zu verinnerlichen. Nicht mehr die vielen Gebete, Wallfahrten, Reliquien und Messen wurden als entscheidend erachtet, sondern die innere Hinwendung zu Jesus Christus. Leben und Leiden 199

Jesu sollten nachgeahmt werden (Imitatio Christi). Deshalb rückte schon im 15. Jahrhundert in religiösen Kreisen die Beschäftigung mit der Bibel in den Mittelpunkt der Frömmigkeit. In dieser Tradition fürchtete Luther, dass die Kirche die Menschen von der inneren Umkehr abbringt und der religiösen Lauheit Vorschub leistet, wenn sie durch den Nachlass der Bußen (nicht der Sünden!) den Eindruck erweckt, auf die innere Umkehr komme es gar nicht an. Den Menschen sollte kein Schlupfloch gewährt, sondern durch die Predigt der Weg zu einer echten inneren Umkehr gebahnt werden. Besonders ärgerlich war für Luther daher die Praxis der Kirche, Ablässe auch für Verstorbene zu gewähren. Das irdische Leben war für Luther der Ort der inneren Umkehr und Buße, nicht das Jenseits. Die Kirche hat für Luther nicht das Recht und nicht die Möglichkeit, in den Bereich Gottes einzugreifen. Dieser Aspekt deutet bereits auf den für Luther entscheidenden Wandel im Blick auf die Ekklesiologie hin. Insgesamt bedeutete der Ablassstreit aber noch keinen Bruch Luthers mit der römischen Kirche. Zu einem dezidierten Bruch mit der Kirche kam es bei Luther erst 1519, als sich Luther endgültig zu einem Verständnis der Kirche durchrang, das schon vor ihm John Wycliff (1330–1384) und Jan Hus (~1369–1415) vertreten hatten, und das auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418) verurteilt worden war. Nicht die Kirchenkritik, sondern die Frage, was die Kirche eigentlich ist, führt zum Kern der Reformation (vgl. Köster 2016). Im Religionsunterricht der Grundschule können diese komplexen Zusammenhänge nicht thematisiert werden. Es ist aber wohl möglich, die drei oben genannten Aspekte bei Luther biographisch zu verorten. Martin Luther wollte eine andere Kirche: Eine Kirche ohne Papst und Heilige, in der die Menschen gemeinsam das Abendmahl feiern.

3 Auf dem Weg zur Gemeinschaft Ein wichtiger Aspekt des Themas Reformation besteht darin, den Schüler:innen zu vermitteln, dass die Christen versuchen, ihre Streitigkeiten beizulegen. Einen guten Einblick in den Stand des ökumenischen Dialogs gibt der im Jahr 2013 von der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit herausgegebene Bericht „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“, der im Buchhandel erhältlich ist. Informationen gibt es auch auf der Seite www.2017gemeinsam.de. Für den Religionsunterricht der Grundschule eignet sich hier ein performativer Zugang, indem sich die Kinder als „Friedensstifter:innen“ betätigen, indem sie unterschiedliche Kirchen besuchen, Haupt- und Ehrenamtliche befragen und gemeinsam Formen entwickeln, ihren Glauben auszudrücken. Das bewusste Einbeziehen der Kinder in die Überwindung der Trennung ist hilfreicher, als die Unterschiede unter den Tisch zu kehren. 200

Zitierte Literatur Angenendt, Arnold (1990), Das Frühmittelalter, Stuttgart/Berlin/Köln. Angenendt, Arnold (1997), Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt. Köster, Norbert (2016), Die Reformation ist Geschichte, in: RelliS. Zeitschrift für den katholischen Religionsunterricht 2016, H. 3, 4–6. Köster, Norbert/Dierk, Heidrun (2021), Nach der Geschichte des Christentums fragen. Das unterschiedliche Verständnis von Tradition, in: Schröder, Bernd/Woppowa, Jan (Hg.), Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Tübingen, 343–371. Reeken, Dietmar von (2017), Historisches Lernen im Sachunterricht. Eine Einführung mit Tipps für den Unterricht, Baltmannsweiler (Dimensionen des Sachunterrichts – Kinder.Sachen.Welten 2). Slenczka, Notger (2010), Christliche Hoffnung, in: Beutel, Albrecht (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen, 435–443. Wendeburg, Dorothea (2010), Taufe und Abendmahl, in: Beutel, Albrecht (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen, 414–423. Wendt, Peter (2017), Martin Luther in der Grundschule, Braunschweig.

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Reich Gottes Adrian Wypadlo

Nach allem, was wir heute wissen, war der Hauptverkündigungsgegenstand des jüdischen Wandercharismatikers mit Namen Jesus von Nazareth die nahegekommene und von ihm autoritativ verkündigte Gottesherrschaft. Mit diesem ersten Punkt ist bereits eine Vorentscheidung getroffen: Ich zähle die Verkündigung des historischen Jesus zu den integralen Bestandteilen der Theologie des NT, nicht nur zu den Voraussetzungen einer neutestamentlichen Theologie. Dies hat der bekannte evangelische Neutestamentler Rudolf Bultmann ganz anders gesehen. Bultmann orientiert sich in seiner „Theologie des Neuen Testamentes“ (9. Aufl. 1984, hg. von Otto Merk) am Kerygma der Heilsbotschaft von Jesu Tod und Auferstehung, weswegen die Verkündigung Jesu für ihn kein eigentlicher Bestandteil der neutestamentlichen Theologie ist, sondern lediglich zu deren „Voraussetzungen“ gehört. Nun leben wir heute eindeutig in der Nach-Bultmann-Ära und die exegetische Diskussion ging in eine andere Richtung als in die von Bultmann gewiesene, sodass die Verkündigung der „Königsherrschaft Gottes“ (gr. basileia tou theou) des historischen Jesus nicht mehr zu den Voraussetzungen, sondern nun als integraler Bestandteil einer „Theologie des Neuen Testamentes“ gezählt werden kann. Unter dieser Voraussetzung sind die folgenden Zeilen zu lesen, die eine Einleitung in diese Thematik zu bieten beabsichtigen.

1 Semantische Schattierungen Zu diskutieren ist kurz die Frage, wie das griechische Syntagma basileia tou theou genau zu übersetzen ist (vgl. zum Folgenden die Basisinformationen bei Schreiber 2014, 27). Wie im Profangriechischen ist davon auszugehen, dass auch im Koine-Griechisch des NT mit einem geographisch-statischen Element (dann wäre es zu übersetzen mit: Königreich Gottes) als auch mit einem funktional-dynamischen Aspekt zu rechnen ist (dann wäre es zu übersetzen mit: Königsein; Königsherrschaft; Königtum). Bei den meisten Belegen der Basileia ist zunächst an den dynamischen Aspekt zu denken: Königsherrschaft bzw. „Handeln Gottes als König“. Das sollte auch der primäre Übersetzungsansatz sein. Aber es gibt durchaus Passagen – zu denken ist hier etwa an die sogenannten Einlasssprüche (eingelassen werden in die Basileia) oder die Versuchungsgeschichte, wo in Mt 4,8 der Teufel Jesus „alle Königreiche der Welt“ zeigt – wo sich eine territorial-geographische Übersetzung anbietet. Es wäre verkehrt, die sogenannten Einlasssprüche von vornherein dem historischen Jesus absprechen 202

zu wollen und exklusiv als Gemeindebildung verständlich machen zu wollen. F. W. Horn hat in einem überzeugenden Beitrag aufgezeigt (vgl. Horn 1996), dass von Fall zu Fall von der Exegese zu prüfen ist, welche Einlasssprüche für Jesus wahrscheinlich zu machen sind und welche besser als Gemeindebildung zu begreifen sind. Mit Pauschalurteilen ist keinem geholfen. Basileia hat daher auch eine territoriale Bedeutung, die jedoch in den meisten Fällen der dynamischen untergeordnet ist. In der Exegese wird man der angesprochenen semantischen Polyvalenz am besten dadurch gerecht, dass man das griechische Lexem basileia unübersetzt lässt.

2 Erste Beobachtungen zur „Königsherrschaft Gottes“ im NT Es kann als das Gewisseste des Gewissen bezeichnet werden, dass der historische Jesus mit dem Anspruch auftrat, Kunde von der nahegekommenen basileia tou theou [Das MtEv bevorzugt in der Regel den Ausdruck basileia tōn ouranōn („Königreich der Himmel“)] zu bringen. Die Kunde von der Basileia ist bei Jesus dezidiert als Heilsbotschaft formuliert und richtet sich auf die einerseits jetzt schon anfanghaft präsente, andererseits in Kürze anbrechende umfassende Herrschaft Gottes. So fasst Mk  1,15 mittels eines Textes der Textsorte „Summarium“ ganz zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu seine Verkündigung pointiert zusammen: „Erfüllt ist die Zeit, und nahegekommen ist die Königsherrschaft Gottes; kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Sowohl der futurische als auch der präsentische Aspekt der basileia tou theou ist gleichermaßen zu beachten. Die Gottesherrschaft liegt nicht vollendet vor (sie ist „nahegekommen“), insofern ist sie eine Größe der Zukunft, gleichwohl gilt aber, dass die Gottesherrschaft gegenwärtig ist im Modus ihrer Ansage durch die Verkündigung des Jesus von Nazaret. Der Mk-Evangelist drückt dies aus, indem er die Perfektform des Verbs „annähern“ benutzt. Der Prozess des „Annäherns“ der Gottesherrschaft ist demnächst (weitestgehend) abgeschlossen. Die Basileia-Predigt Jesu wird insbesondere in den Synoptischen Evangelien in aller wünschenswerten Klarheit bezeugt. Sie findet sich ebenfalls umfassend im koptischen ThomasEvangelium. Im JohEv und in der paulinischen und deuteropaulinischen Literatur finden sich jedoch nur noch Relikte dieser genuin jesuanischen Verkündigung. Zu erklären ist diese Verschiebung zunächst dadurch, dass sich diese Kategorie bei der christlichen Mission im Raume des Hellenismus (Kleinasien, Griechenland, Italien) weniger gut eignete, um die christliche Heilsbotschaft ins Wort zu bringen. Sodann verschob sich nachösterlich der Verkündigungsfokus vom Inhalt der Verkündigung Jesu hin zur Person und Heilsbedeutung dieses Jesus von Nazaret selbst (vgl. Schreiber 2014, 27). Die „Königsherrschaft Gottes“ ist gleichwohl auch hier (Corpus Iohanneum und Paulinum) nicht völlig unterdrückt. 203

Die auffallende Breite in der Bezeugung dieser Predigt in Verbindung mit der Beobachtung, dass diese Bezeugung quer durch alle Schichten der Synoptischen Evangelien verläuft, lässt nur einen einzigen Schluss zu: Der historische Jesus selbst, den die neutestamentlichen Schriften als den Messias/Christus bekennen, war Initiator der christlichen Rede von der Basileia Gottes. Er sprach mit großer Selbstverständlichkeit von der Königsherrschaft Gottes in der festen Überzeugung, diesen Begriff seiner jüdisch-biblisch sozialisierten Hörerschaft nicht eigens erklären zu müssen. Er konnte hier auf eine gemein-jüdische Plausibilität rekurrieren. Auch im jüdisch-hellenistischen Bereich, also bei den Juden außerhalb des Stammlandes Palästina, deren Sprache das Griechische war, ist die Basileia Gottes eine allgemein geteilte Plausibilität (vgl. Wypadlo 2017, 179–192). Auch das aramäisch-jüdische Kaddisch-Gebet verbalisiert die Hoffnung auf den Anbruch des göttlichen Reiches. Denn hinter dem Stichwort „Königsherrschaft Gottes“ steht eine umfassende theologische Konzeption, die im 1. Jahrhundert n. Chr. in Palästina geläufig war. Dazu später mehr.

3 Bezeugung und theologische Implikationen der Basileia im NT Es fällt sogleich auf, dass die Basileia-Verkündigung Jesu nicht auf eine oder wenige Schichten begrenzt ist, aus denen die Synoptischen Evangelien komponiert worden sind, sondern in allen Schichten begegnet, und zwar ausführlich begegnet. Ich lege den folgenden Überlegungen die Geltung der sogenannten Zwei-Quellen-Theorie zugrunde, die an dieser Stelle nicht erneut begründet werden muss (vgl. Ebner/Schreiber [2019], 92–117). Die jesuanische Rede von der basileia tou theou findet sich demnach in: 1. dem MkEv, dem nach einhelliger Meinung ältesten uns vorliegenden Evangelium, 2. der Logienquelle, einer frühchristlichen Sammlung von jesuanischen Wortüberlieferungen, die von ihrem Grundbestand her betrachtet noch älter sein dürfte als das MkEv. Die Logienquelle stellt einen sehr eigenständigen Strang frühchristlicher Verkündigung dar, deren Traditionen viel wertvolles Jesus-Gut aufbewahrt haben (vgl. die wertvollen Basisinformationen zu Q bei Heil 2017, 163–180). 3. Die Basileia-Predigt Jesu findet sich ebenso im Sondergut der Großevangelien (MtS, LkS). Bis heute ist es der Exegese nicht gelungen, überzeugende und einhellig geteilte Ergebnisse vorzulegen, wo der Ursprung des matthäischen und lukanischen Sondergutes zu suchen ist. Gleichwohl gilt auch hier: Auch dieses Sondergut bzw. die „Sondergüter“ (MtEv, LkEv) wissen ausführlich davon zu berichten, dass Jesus das nahegekommene und anbrechende Reich Gottes verkündet hat. 4. Selbst das JohEv und auch Paulus kennen die Rede von der basileia tou theou, legen aber auf diese dezidiert nicht ihren theologischen Schwerpunkt. Im JohEv und im Corpus Paulinum 204

ist ein deutliches Zurücktreten dieser Vorstellung zu beobachten. Sie findet sich im JohEv lediglich im Gespräch Jesu mit Nikodemus in Joh 3,3.5. „Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes hineingehen.“ In den beiden einzigen Belegen für basileia tou theou in der johanneischen Literatur ist von einer besonderen Geburt als Eingangsvoraussetzung in die Basileia die Rede. Dabei wird die Basileia mit der Taufe in Verbindung gebracht und zwar in der Art, dass die Wasser-Taufe als Bedingung für die Zugehörigkeit zur endzeitlichen Gottesherrschaft erscheint. Es ist dabei überdeutlich, dass der Begriff der basileia tou theou der dem Joh-Evangelisten vorliegenden Überlieferung angehört, während der Evangelist selbst keinen gesteigerten Wert auf diese Terminologie legt. Nochmals begegnet ein Anklang an die Basileia in der johanneischen Passionserzählung in Joh 18,36. Wenn dort im Gespräch mit Pilatus von der Basileia Jesu („meine Basileia ist nicht aus dieser Welt“) die Rede ist, dann ist damit die gegenwärtige paradoxe Herrschaft des auf das Kreuz zugehenden Jesus gemeint, der „als König“ keine irdische Macht besitzt. In der ntl. Briefliteratur wird die Königsherrschaft Gottes nur am Rande erwähnt und fungiert keinesfalls als eigenes Thema. Sie bleibt im Hintergrund. Die ersten Christen wussten um die Tatsache, dass der historische Jesus die Basileia verkündet hat. Sie kamen aber zu der Erkenntnis, dass mit dem Hinausdrängen des Evangeliums in die hellenistische Welt neue Kategorien zur Artikulation und zur Transformation der christlichen Heilsbotschaft gefunden werden mussten (z. B. to euangelion – „das Evangelium“). Die Konzeption der Gottesherrschaft tritt zurück, weil sich das christliche Denken zusehends auf die Gestalt des Christus zu konzentrieren beginnt. Es kommt somit zu einer Transformation: Aus dem die Basileia verkündigenden Jesus von Nazaret wird der verkündigte Jesus Christus des christlichen Credos. Auf der Basis des Ostergeheimnisses entstand die Überzeugung von der Erhöhung und endzeitlichen Herrscherfunktion des Christus Jesus. Die Herrschaft des Erhöhten stellt dabei eine theologische Weiterentwicklung und Transformation der Verkündigung Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft dar, die unmittelbar mit seiner Person verbunden war. Im Corpus Paulinum findet sich die Basileia ca. zehnmal. Dieser Begriff ist für die Theologie bzw. die Eschatologie des Apostels nicht konstitutiv. Ein kurzer Überblick kann hier genügen: In 1 Thess 2,12 sagt Paulus in einer Gottesprädikation, dass Gott die Christen zu seiner basileia und zur Herrlichkeit (gr. doxa) berufe. Der Begriff basileia ist hier in einen paränetischen Kontext eingebettet. Paulus ermahnt zu einer Lebensführung, die in Entsprechung steht zur christlichen Berufung. In Gal 5,21, 1 Kor 6,9 f. und 1 Kor 15,50 benutzt Paulus die traditionelle Wendung „das Reich Gottes erben“, was eine Analogiebildung zu den synoptischen Worten 205

über das „Eingehen in die Gottesherrschaft“ ist. An zwei Stellen geht es Paulus um das Wesen der Basileia: Nach 1  Kor 4,20 besteht die basileia tou theou nicht im Wort, sondern in der Macht (gr. dynamis). Das gegenwärtige Verhalten der Christ:innen soll in Entsprechung stehen zur zukünftigen Basileia. Darum geht es auch in Röm 14,17. Hier kommt es aber zugleich zu einer auffälligen Verknüpfung der Basileia-Terminologie mit der Pneumatologie. So heißt es in Röm 14,17: Denn die Herrschaft Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. In 1 Kor 15,50 wird die basileia tou theou mit der endzeitlichen Auferstehung der Toten verbunden, die nicht zu neuem, fleischlichem Leben erweckt werden, sondern vielmehr „verwandelt“ werden: „Dies aber sage ich, Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht erben können, auch die Vergänglichkeit nicht die Unvergänglichkeit erbt.“ Insgesamt wird man sicher sagen dürfen, dass diese Zentralmetapher der Verkündigung Jesu bei Paulus nicht nur zahlenmäßig, sondern auch sachlich eine Randstellung einnimmt. Nach diesen, der Übersicht dienenden Ausführungen ergibt sich die Beobachtung, dass das Theologoumenon basileia bzw. das Syntagma basileia tou theou bzw. basileia tōn ouranōn charakteristisch ist für alle Schichten der synoptischen Tradition (MkEv, Logienquelle, matthäisches und lukanisches Sondergut). Im JohEv und im Corpus Paulinum liegen nur noch Relikte des Gebrauchs vor. Es scheint so zu sein, dass sich außerhalb Palästinas der Gebrauch dieses Syntagmas als Zusammenfassung des durch Jesus gebrachten Heils nicht anbot. Bei den ersten Christen außerhalb der synoptischen Tradition scheint die Basileia-Verkündigung Jesu bald ihre zentrale Funktion verloren zu haben, weil der theologische Fokus stärker auf die Christologie („Wer ist dieser Jesus?“) rückte und Jesu theozentrische Verkündigung bei dieser Frage weniger interessant erschien. Der Hebräerbrief blickt in 12,26–28 voraus auf ein „unerschütterliches Reich“ am Ende aller Zeiten, nach der kosmischen Neuschöpfung, womit ebenso ein Anklang an die Verkündigung Jesu vorliegen dürfte. Fazit: Alle Schichten der synoptischen Evangelientradition kennen und bezeugen die Tatsache, dass der historische Jesus die nahegekommene Basileia Gottes verkündigt hat. Die Ausführlichkeit der Bezeugung quer durch alle Traditionsschichten lässt nur den Schluss zu, dass der historische Jesus selbst der Initiator der Verkündigung der Königsherrschaft Gottes gewesen sein muss. Darüber hinaus wird man sogar behaupten dürfen, dass die Basileia Gottes den zentralen Inhalt der Verkündigung Jesu bezeichnet.

4 Der Konnex der Basileia mit anderen theologischen Topoi im NT Dieser zentrale Verkündigungsinhalt der jesuanischen Rede steht in enger Verbindung mit seiner spezifischen Theologie, seiner Gotteslehre. Es fällt auf, dass Jesu Predigt vom Kommen 206

der Gottesherrschaft die für Jesus charakteristische Gestalt der Rede von Gott ist. Sie steht aber auch in enger Verbindung zu seiner Gebetslehre (die Bitte um das Kommen des göttlichen Reiches steht zusammen mit der Bitte um die Heiligung des Gottesnamens an der Spitze des Vater-unser-Gebetes, vgl. Mt 6,10, Lk 11,2), seiner Eschatologie (Lehre von den „Letzten Dingen“, vgl. Mk 14,25) sowie der jesuanischen Ethik, die als Ethik angesichts des nahegekommenen bzw. des angebrochenen Reiches Gottes begriffen werden kann. Mehr noch: Für praktisch alle Themen und Traditionsfelder der Jesusüberlieferung quer durch alle Schichten der Synoptischen Evangelien und sogar darüber hinaus (JohEv und Paulus) ist ihre Einbindung in die Proklamation der nahegekommenen bzw. hereinbrechenden Gottesherrschaft aufzeigbar. Exemplarisch genannt werden könnten hier: Seligpreisungen – Heilungen – Dämonenaustreibungen – Jesu Mahlpraxis mit Sündern – Gleichnisse – Auswahl der Zwölf – Exorzismen. Alle Themenfelder können vor dem Hintergrund der Basileia-Theologie Jesu beleuchtet werden. Selbst beim letzten Abendmahl Jesu fällt das entscheidende Stichwort und bringt so die Basileia in einen Konnex mit einem genuin eschatologischen Gedanken: „Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes.“ (Mk 14,25) Jesus drückt also bei seinem Abschiedsmahl mit seinen Schülern sein festes Vertrauen aus, beim endzeitlichen Festmahl der vollendeten Basileia dabei zu sein, im Bild: in der kommenden Basileia den Festwein zu trinken. Nach der Überlieferung der Logienquelle Q (Lk 10,9 par Mt 10,7) wie auch der vormarkinischen Tradition (Mk 1,15) ist die Aussage „Nahegekommen ist die Basileia Gottes“ der Mittelpunkt der Verkündigung Jesu. Lk 10,9 (Aussendung der 72 Jünger): „[…] heilt die Kranken (in den Städten) und sagt ihnen, nahegekommen ist zu euch/auf euch die Königsherrschaft Gottes.“ Mk 1,15 (markinisches Summarium): „[…] und sagend, dass sich erfüllt hat der Kairos und dass nahegekommen ist die Königsherrschaft Gottes, kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Es ist bezeichnend und auffallend zugleich, dass die beiden ältesten Schichten der Evangelientradition  – das MkEv sowie die Logienquelle Q, die einander gemäß der Zwei-QuellenTheorie nicht gekannt haben – in dieser gleichsam programmatischen Zusammenfassung der Predigt Jesu (Summarien!) darin übereinstimmen, dass die Verkündigung Jesu in der Predigt der Basileia Gottes ihren Mittelpunkt hat. Diese Beobachtung ist einigermaßen verblüffend. Im MkEv fungiert das Summarium der Tätigkeit Jesu in Mk 1,14 f. als eine Art Scharnier zwischen dem markinischen Prolog in 1,1–13 und dem mit 1,16 beginnenden 1. Hauptteil (Mk 1,16–8,26). Es ist als eine Art Programmwort Jesu im Sinne einer Tür zum Evangelium konzipiert. Der Rezipient wird durch die beiden zentralen Termini euangelion und basileia 207

gleich am Anfang in aller Deutlichkeit auf das hingewiesen, was ihm im Folgenden immer wieder begegnen wird. Im weiteren Verlauf des MkEv begegnet die Gottesherrschaft als Basiskonzeption, mit der Gottes Wille und Handeln zum Heil Israels in der Sendung und Vollmacht Jesu Gestalt angenommen hat und kontinuierlich annimmt (vgl. dazu die Ausführungen bei Rose 2007, 154–163). Im zitierten Text der Logienquelle Q ist das Summarium in die Aussendungsrede der Jünger integriert. Das Wort von der Nähe der Gottesherrschaft führt den Hörer vor die Entscheidung und unterwirft ihn, wenn er ablehnt, dem Gericht (V. 12). Gottesherrschaft ist an dieser QStelle darin nahegekommen, dass die Jünger Vollmacht und Fähigkeit besitzen, Krankheiten zu heilen, Dämonen auszutreiben und Tote aufzuerwecken. Wenn es nun in Q 10,9 heißt „die Herrschaft Gottes ist euch nahegekommen“, so wird dadurch deutlich, dass sich für Q der Gedanke der Gegenwart der Gottesherrschaft im Wirken des irdischen Jesus in gewisser Weise in das Wirken seiner Gemeinde hinein verlängert. Auch für den Fall, dass es sich in beiden Fällen nicht um ein authentisches Wort des historischen Jesus handeln sollte – wie bisweilen angenommen wird angesichts der Textsorte „Summarium“ –, so kann doch als nahezu sicher gelten, dass beide Formulierungen sachgerecht eine Zusammenfassung der Verkündigung Jesu bezeichnen. Dies ist heute allgemeiner Konsens. Wir können somit festhalten: „Das Gottesreich zieht sich durch das gesamten Wirken Jesu, von seiner öffentlichen Predigt bis zu seiner Lehre im kleinen Kreis, insbesondere am Vorabend des Passa-Festes und seiner Passion.“ (Evans/Johnston 2017, 375).

5 Die Konzeption der Basileia-Predigt als Heilspredigt Ebenso wird Einigkeit darüber zu erzielen sein, dass bei Jesus die Basileia-Predigt dezidiert als Heilspredigt konzipiert ist. Dies gilt es betonend festzuhalten, zumal die Basileia-Predigt auch als Gerichtspredigt mit der Betonung des Zornes Gottes hätte gehalten werden können. Bei Jesus liegt jedoch ein dezidiert anderer Schwerpunkt vor: Er kennt und befürwortet durchaus die Gerichtspredigt des Täufers Johannes und teilt dessen anthropologische Prämisse, wonach das vorfindliche Israel aufgrund seiner Sündenverstrickung akut vom Gericht Gottes bedroht ist. Er wagt es gleichwohl, mitten in die Sündenverstrickung des vorfindlichen Israel hinein die Rede vom endzeitlichen Heil zu platzieren, das mit der Gottesherrschaft greifbar nahe ist. Hierauf liegt der Schwerpunkt der Verkündigung des historischen Jesus, nicht aber auf der Gerichtsbotschaft, die zwar an anderer Stelle vorkommt (vgl. Lk 13,1–5), jedoch dort nicht mit der Basileia-Thematik korreliert wird (zur in der exegetischen Literatur oftmals unterschlagenen Gerichtspredigt Jesu vgl. nach wie vor das Standardwerk von Reiser 1990, 232–242)! In der synoptischen Tradition wird somit kein anderes Thema Jesu – weder die Umkehrpredigt oder 208

Nachfolgeforderung noch die sittliche Forderung, wie etwa die Feindesliebe und das Liebesgebot, noch die Eschatologie bzw. Apokalyptik (vgl. Mk  13 parr.)  – in einer solchen Dichte abgehandelt wie die Basileia-Predigt Jesu. Umgekehrt wird man sagen dürfen, dass alle von Jesus angesprochenen Verkündigungsthemen in Relation zu seinem Basisthema, der Königsherrschaft Gottes, stehen.

6 Der theologiegeschichtliche Hintergrund: Gott als König Israels Die Bezeichnung JHWHs, des Gottes Israels, als König ist im AT eine Selbstverständlichkeit. Diese Verwurzelung in den Schriften Israels führte zum selbstverständlichen Gebrauch dieser Kategorie in der Verkündigung Jesu. Die älteste Tradition in dieser Hinsicht dürfte das Trostwort JHWHs an Samuel, seinen Propheten, in 1 Sam 8,5–7 sein: „Hör auf die Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir sagen! Denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein.“ Der hiermit artikulierte Vertrauensbruch zwischen JHWH und seinem Volk wird durch den Aufstieg der davidischen Königsdynastie zum Teil überwunden und David wird als Sohn Gottes deklariert: „Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt.“ Wenn also David und seine königlichen Nachfolger in der Funktion des Königs als „Gottessöhne“ bezeichnet werden, dann wird auch dadurch das Bekenntnis zu JHWH als König Israels fortgeschrieben. Diese Tradition wird sodann im Jesaja-Buch aufgenommen und intensiviert. Bereits Protojesaja spricht betont von JHWH als König: „Im Todesjahr des Königs Usija sah ich den Herrn. Er saß auf einem hohen und erhabenen Thron. Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus […] Da sagte ich: Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen“ (Jes 6,1.5).

Fortgeführt wird diese Tradition bei Deuterojesaja, wo der Herr selbst sich als „König Jakobs“ (41,21) und „König Israels“ (44,6) bezeichnet. Aber auch der Prophet Jeremia ist ein „eifriger“ Zeuge für Gott als König Israels (Jer 10,10; 51,57), der in Zion residiert (Jer 8,19) und als „Herr der Heere“ (Jer 48,15) gepriesen werden kann (vgl. Evans/Johnston 2017, 370). Nochmals intensiviert wird die Rede von JHWH als „König Israels“ in den Psalmen. Mit S. Schreiber ist dazu auszuführen: „In der Tradition Israels war die Vorstellung von Gott als König bekannt und steuerte einen wesentlichen Aspekt zum Gottesbild Israels bei. In der hebräischen Sprache des TANACH […] wird Gottes Königsein meist verbal formuliert: malak 209

JHWH (Gott ist / herrscht als König), während die sprachgeschichtlich relativ junge Abstraktbildung malkut JHWH (Königsherrschaft JHWHs) eher selten vorkommt. Sprachlich basiert diese Vorstellung auf einer Metapher aus dem politischen Bereich: Gott erscheint als antiker (Groß-)könig in unermesslicher Machtfülle.“ (Schreiber 2014, 28) In Ps 93 heißt es: „Der Herr ist König, bekleidet mit Hoheit; der Herr hat sich bekleidet und mit Macht umgürtet. Ja, der Erdkreis ist fest gegründet, nie wird er wanken. Dein Thron steht fest von Anbeginn, du bist seit Ewigkeit. Fluten erhoben, Herr, Fluten erhoben ihr Tosen, Fluten erheben ihr Brausen. Mehr als das Tosen vieler Wasser, gewaltiger als die Brandung des Meeres ist gewaltig der Herr in der Höhe. Deine Gesetze sind fest und verlässlich; deinem Haus gebührt Heiligkeit, Herr, für alle Zeiten.“

Gott selbst garantiert somit die Ordnung der Schöpfung gegenüber den Chaoswassern mittels der von ihm erlassenen Gesetze. Mit dem Stichwort „Gesetz“ kommt selbstverständlich das Gottesvolk Israel in den Blick, dem das Prädikat zuteil wird, dem einen und wahren Gott anzugehören. Weitere Psalmen-Texte spinnen den Gedanken der „monokratischen Macht Gottes“ weiter und verbinden diesen Gedanken mit einem expliziten Heilswillen für Israel (vgl. Schreiber 2014, 28 f.). Ps 145 preist Hoheit und Macht Gottes, des Königs (145,1–6), richtet diesen Lobpreis dann aber gezielt auf Gottes Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte (145,7–9), seine Herrlichkeit und ewige Herrschaft (145,10–13). All dies kommt den Bedürftigen des Volkes Israel zugute: „Der Herr stützt alle, die fallen, er richtet alle auf, die gebeugt sind. Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen. Gerecht ist der Herr auf all seinen Wegen und getreu in all seinen Werken. Nahe ist der Herr allen, die ihn rufen, allen, die ihn aufrichtig rufen. Denen, die ihn fürchten, erweist er Wohlgefallen, ihr Schreien hört er und rettet sie. Der Herr behütet alle, die ihn lieben, doch alle Frevler vernichtet er.“ (Ps 145, 14–20)

Einen sozial-caritativen Aspekt der Königsherrschaft betont sodann Ps 146,5–10, in dem Gottes Sorgen für Arme, Schwache, Kranke und Bedürftige in Ps 146,5–10 gepriesen wird: „Selig, wer den Gott Jakobs als Hilfe hat, wer seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt. Er ist es, der Himmel und Erde erschafft, das Meer und alles, was in ihm ist. Er hält die Treue auf ewig. Recht schafft er den Unterdrückten, Brot gibt er den Hungernden, der Herr befreit die Gefangenen. Der Herr öffnet die Augen der Blinden, der Herr richtet auf die Gebeugten, der Herr liebt die Gerechten. Der Herr beschützt die Fremden, er hilft auf

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den Waisen und Witwen, doch den Weg der Frevler krümmt er. Der Herr ist König auf ewig, dein Gott, Zion, durch alle Geschlechter. Halleluja!“

Weitere Belegstellen, wie etwa die „Sabbatlieder“ aus Qumran, die JHWH als im Himmel thronenden König lobpreisen, der von Engelscharen umgeben ist, können aus Raumgründen nicht behandelt werden. Nur noch das auf Hebräisch und Griechisch verfasste Buch Daniel soll aufgrund seiner Ausnahmestellung (einziges apokalyptisches Buch im AT) erwähnt werden: Das Buch Daniel (Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) – es ist somit ein Zeugnis für die Periode, die bei aller Vorsicht als „zwischentestamentliche Zeit“ bezeichnet werden kann  – zeichnet die Königsherrschaft Gottes als Gegenmodell zu den politischen Reichen dieser Welt (vgl. Niehr 2016, 622). Das Buch Daniel berichtet von einer Abfolge von vier menschlichen Königreichen, die am Ende durch das Reich abgelöst werden, das der „Gott des Himmels“ errichten wird: „Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen.“ (Dan 2,44).

Das Reich Gottes ist damit das letzte Königreich, das in Ewigkeit nicht untergehen wird (vgl. auch Dan 4,31 und 6,27). Dies erkennt Daniel auch in einer nächtlichen Vision. Er erkennt, dass „die Herrschaft und Macht und Herrlichkeit aller Reiche unter dem ganzen Himmel dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen“ (Dan 7,27, vgl. auch 7,14). In dieser Vision kommt zudem die eher spät anzusetzende Tendenz hinzu, dass in manchen Texten Gott sich eines „Mittelsmannes“ bedient, um sein Reich aufzurichten. Im Buch Daniel heißt diese Mittlergestalt „Menschensohn“ (vgl. Dan 7,13 f.) und in den PsSal 17 heißt sie „der Gesalbte“ (hier sei lediglich verwiesen auf Abrecht 2020).

7 Der historische Jesus und seine Basileia-Verkündigung Die Evangelien, die im Wesentlichen als Quellen für die Suche nach dem „historischen Jesus“ zur Verfügung stehen, können durchaus als antike Biographien bezeichnet werden, verstehen sich aber nicht als exakte Polizeiprotokolle, sondern als literarisch und theologisch gestaltete Erzählungen über das Leben Jesu von Nazaret. In der heute vorliegenden Gestalt sind sie ein Mixtum Compositium aus erinnerten Fakten und aus Elementen, die eher der Deutung dieser 211

Fakten dienen vor dem Hintergrund antiker Enzyklopädie und atl.-jüdischer Schriftgelehrsamkeit. Aber nicht allein bei den literarischen Endprodukten (= Evangelien) ist mit dieser nicht voll aufzulösenden Komposition von Historie und Fiktion zu rechnen, sondern durchaus schon innerhalb der einzelnen Textgattungen, aus denen die Evangelien komponiert worden sind: Gleichnisse, Streitgespräche, Apophthegmata, Wunder, weisheitliche Worte, Streitgespräche usw. Der evangelische Neutestamentler Wiard Popkes hat zudem einmal auf die unterschiedlichen Jesusbilder hingewiesen, die wir allein ausgehend von den drei Synoptischen Evangelien Jesus zuschreiben können: Jesus als 1. Prediger der anbrechenden Gottesherrschaft – 2. Wundertäter  – 3.  kontroverser Schriftinterpret  – 4.  soziales Unruheelement  – 5.  Anführer eines umherziehenden Jüngerkreises – 6. Kontrahent des Jerusalemer Tempelbetriebs – 7. eschatologischer Prophet mit apokalyptischer Botschaft  – 8.  Weisheitslehrer  – 9.  von den Römern Verurteilter – 10. leidender Gerechte (vgl. Popkes 2004, 81). Weitere Jesusbilder ergäben sich bei der Hinzunahme des JohEv und des Corpus Paulinum. Treffend wird jedoch von Popkes die These an erster Stelle platziert, dass Jesus zuvörderst als „Prediger der anbrechenden Gottesherrschaft“ verstanden werden muss. Das gilt sowohl für den historischen Jesus, der in den Jahren 29 und 30 n. Chr. einige Monate (vielleicht auch nur Wochen) öffentlich gewirkt hat. Das gilt ebenso für den Jesus der Evangelien, in denen der historische Jesus in einem Konnex mit deutenden Elementen (Fiktionen) präsentiert wird. In diesem Bereich setzt die Arbeit des Exegeten/der Exegetin an. Dazu führt S. Schreiber sehr treffend aus: „Die Suche nach dem ‚historischen Jesus‘ bedeutet, mit den Methoden historischer Quellenkritik zwischen Fakten und Fiktionen in den Texten zu differenzieren. Dafür steht der Exegese ein ausgearbeitetes, methodisches Instrumentarium zur Verfügung (Kriterien der Jesus-Forschung), das jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die einzelne Exegetin und der einzelne Exeget die Instanz darstellt, die auf der Basis ihrer Einschätzung und ihres Vorverständnisses die Entscheidungen trifft. Historisches Arbeiten ist so – nicht anders als im profanen Bereich – subjektives Arbeiten und so ist das jeweilige Bild des historischen Jesus immer eine Konstruktion, die sich an ihrer geschichtlichen Plausibilität messen lassen muss.“ (Schreiber 2014, 36).

Für die Untersuchung der Vorstellung der Basileia Gottes in der Verkündigung Jesu steht uns – und dafür dürfen wir dankbar sein – ein vergleichsweise breites Textmaterial zu Verfügung, das zudem die Rede von der Basileia in verschiedenen Textgattungen Jesu offenbart. Einzugestehen ist, dass die These, wonach die Konzeption der Gottesherrschaft das theologische Fundament wie auch der Dreh- und Angelpunkt der Verkündigung Jesu darstellt, natürlich selbst eine historische Konstruktion ist, die jedoch ein hohes Maß an historischer 212

Plausibilität, ja Wahrscheinlichkeit aufweist. Anders wäre das uns vorliegende Evangelienmaterial kaum zu erklären. Jesus lässt sich so als ein tief im Judentum – besser: in den verschiedenen Judentümern der Zeitenwende  – verankerter, charismatischer Wanderprediger verständlich machen, der mit der recht selbstbewussten Botschaft auftrat, dass in seiner Verkündigung und seinen Handlungen die Basileia Gottes anfanghaft sichtbar geworden ist, die als solche zur Umkehr, Neuausrichtung und Nachfolge seiner selbst auffordert. Nach Ostern ist es zu einer Transformation der jesuanischen Basileia-Botschaft gekommen: Im Mittelpunkt der christlichen Verkündigung stand von nun an Jesus, von dem die christliche Gemeinde sagt: Er ist der Christus. Die Spitze der Entwicklung bilden die Tritopaulinen – also Pastoralbriefe – mit ihrer Rede von der Basileia Christi. Hier hat die christologische Transformation ihren Höhepunkt erreicht. Lassen wir zum Abschluss noch einmal S. Schreiber zu Wort kommen: „Abschließend ist wichtig, dass die ersten Christen die βασιλεία des Christus niemals mit der Kirche identifizierten. Eine reine Zukunftshoffnung blieb sie dennoch nicht. Die Überzeugung von der endzeitlichen Herrschaft des Christus ermöglichte es den ersten Christen, von der Gegenwart Christi im Leben der Gemeinde auszugehen und von ihm her Gottes Zuwendung, Rettung und Erlösung zu erwarten. Erst die himmlische Vollmacht Christi gibt ihm die Möglichkeit, zugunsten der Seinen in der Welt zu wirken und bei ihnen gegenwärtig zu sein.“ (ebd., 46).

Zitierte Literatur Abrecht, Felix (2020), Die Psalmen Salomos. Griechischer Text nebst deutscher Übersetzung und Gesamtregister, Göttingen. Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hg.) (32019), Einleitung in das Neue Testament (Kohlhammer Theologische Studienbücher 6), Stuttgart. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (2016), Stuttgart. Heil, Christoph (2017), Die Q-Gruppe in Galiläa und Syrien, in: Labahn, Michael (Hg.), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament (FS Udo Schnelle), Göttingen u. a., 163–180. Horn, Friedrich Wilhelm (1996), Die synoptischen Einlaßsprüche, in: ZNW 87, 187–203. Niehr, Herbert (92016), Das Buch Daniel, in: Zenger, Erich/Frevel, Christian u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart, 618–629. Popkes, Wiard (2004), 1 Kor 2,2 und die Anfänge der Christologie, in: ZNW 95, 64–83. Reiser, Marius (1990), Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund (= Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge 23), Münster.

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Rose, Christian (2007), Theologie als Erzählung im Markusevangelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Studie zu Mk 1,1–15 (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 236), Tübingen. Schreiber, Stefan (2014), Gottesherrschaft, in: Bormann, Lukas (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn, 27–48. Evans, Craig, A./Johnston, Jeremiah J. (2017), 3.2 Gottesherrschaft, in: Schröter, Jens/Jacobi, Christine (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen, 369–378. Wypadlo, Adrian (2017), Die Basileia Gottes im Opus Philonicum, in: Theologisch Revue 113, 179–192.

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Schöpfung Oliver Dyma

Die Welt verdankt sich nach alttestamentlicher Vorstellung dem Schöpferwillen Gottes samt Flora und Fauna, auch jeder einzelne Mensch ist Geschöpf Gottes. Gott wirkt zu Beginn der Schöpfung (creatio prima) und erhält sie (creatio continua). Das Alte Testament kennt eine Fülle an Vorstellungen über die Erschaffung der Welt. Die bekanntesten sind die beiden Erzählungen zu Beginn im Buch Genesis, jedoch finden sich auch in prophetischen und weisheitlichen Texten schöpfungstheologische Aussagen.

1 Zur Funktion der Schöpfungstexte Solche Texte scheinen miteinander im Widerspruch zu stehen und mit heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu konkurrieren. Zwar enthalten sie auch so etwas wie antike Naturwissenschaft, jedoch liegt darauf nicht der Schwerpunkt. Wir teilen Texte in fiktionale und faktuale ein, verfehlen damit jedoch eine wichtige Funktion der Schöpfungserzählungen. Es handelt sich um mythische Texte: Sie denken über unsere Welt nach, nicht im Modus abstrakter Begriffe, sondern in Erzählungen. Über die Verhältnisse von Gott, Welt und Menschen wird etwas ausgesagt, indem über die Anfänge der Welt und der Menschen erzählt wird. Grundlegende Strukturen und Wahrheiten sollen so verdeutlicht werden. Verschiedene Erzählungen über den Beginn der Welt bringen unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck. Diese Texte sind nicht fiktional, weil sie einen Geltungsanspruch haben. Sie sind nicht faktual, weil es nicht primäre Absicht war, nachprüfbare Fakten zu präsentieren. Eingeschlossen sind ätiologische Erklärungen einzelner Eigenschaften oder Verhaltensweisen (vgl. Scherer 2008). Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Von der Schöpfung wird erzählt, weil diese Schöpfung auf Israel und seine besondere Gottesbeziehung, die sich im Kult äußert, hinausläuft.

2 Das Sieben-Tage-Werk: die priesterliche Vorstellung der Schöpfung Die erste Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a gehört zur sogenannten Priesterschrift (Weimar 2010). Diese entsteht im Exil und entwirft eine theologische Grundlegung für die Zeit nach dem Exil und den zweiten Tempel. Sie lässt sich in drei Doppelabschnitte gliedern: Die 215

Urgeschichte umspannt Schöpfung und Flut, bei den Erzeltern fokussiert die Priesterschrift auf Abraham und Jakob. Im Exodus mit dem eigentlichen Auszug aus Ägypten und den Ereignissen am Sinai wird Israel zum Volk Gottes. Theologische Stichworte, speziell Segen und Bund, verbinden die Abschnitte. Die Priesterschrift verwendet verschiedene Bezeichnungen für Gott: in der Urgeschichte, wo es um die ganze Welt und alle Menschen geht, die allgemeine Bezeichnung ʾælohim „Gott“; bei den Erzeltern, wo die Geschichte Israels als Familiengeschichte beginnt, den alten Gottesnamen El Schadday; beim Exodus, wo sich Israel als Volk Gottes konstituiert, den eigentlichen Gottesnamen JHWH. Am Sinai erhält Israel den Kult. Gen 1 stellt dar, wie Gott aus einem chaotischen, lebensfeindlichen Urzustand (tohu wabohu) eine zeitlich und räumlich gegliederte Ordnung schafft, die dann mit Leben gefüllt wird. Wir leben nach Ansicht der priesterlichen Autoren jedoch nicht in dieser Ordnung, sondern in der nach der Sintflut modifizierten Ordnung. Schöpfung und Flut gehören eng zusammen. Der Text beschreibt keine Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo); durch die offene Formulierung des Anfangs konnte man ihn später aber in einem solchen Kontext lesen. Die Kunstprosa von Gen 1 ist durch sich wiederholende Formelemente geprägt: Wortbericht („da sagte Elohim“), Tatbericht, Vollzugsbestätigung („und es geschah so“), Billigungsformel („er sah, dass es gut war“), Namengebung, Segen, Tageszählung. Nicht alle Elemente kommen bei jedem Schöpfungswerk vor. Es lassen sich acht Werke unterscheiden, die auf sechs Tage verteilt sind. Der siebte Tag hebt sich formal wie inhaltlich von den anderen Tagen ab.

Abb. 5: Struktur des Sieben-Tage-Werkes Die Tage eins, vier und sieben beschreiben die zeitliche Struktur: An Tag eins wird die Grundeinheit der Zeitmessung eingeführt, der Tag an sich, durch die Erschaffung des Lichts und 216

die zeitliche Trennung von Licht und Finsternis. An Tag vier werden die Gestirne erschaffen. Sonne und Mond werden nicht mit Namen benannt, sondern als kleine und große Leuchte bezeichnet. Im Alten Orient wurden sie als Götter verehrt; solche Assoziationen sollten wohl vermieden werden. Gleichwohl üben die beiden Herrschaft über Tag und Nacht aus. Die Gestirne dienen der Messung größerer Zeiteinheiten und der Festlegung der Festtermine. Der Monat wird nicht als Zeiteinheit genannt; möglicherweise folgte die Priesterschrift einem besonderen Kalender (vgl. Dyma 2020). Tag sieben fügt die theologische Dimension hinzu: Er wird „geheiligt“, von den anderen, den Werktagen, für Gott abgesondert. Dies vollzieht der Text auch formal nach: Tag sieben ist ganz anders aufgebaut als die ersten sechs Tage. Der siebte Tag wird gesegnet: Segen ist am fünften und sechsten Tag mit Mehrung verbunden. Es soll also immer wieder siebte Tage geben, nicht nur diesen einen. Der Tag heißt hier noch nicht Sabbat, aber das Verb für das Ruhen Gottes lautet šabat. Wenn Israel später den Sabbat als Lebensordnung für sich entdeckt (Num 16), dann schwingt es sich in den Rhythmus der Schöpfung ein. Die Tage zwei und drei beschreiben die räumliche Struktur: In die urzeitlichen Wassermassen wird an Tag zwei der Himmel eingefügt und so die Wasser oberhalb und unterhalb geschieden. An Tag drei finden sich zwei verschiedene Schöpfungswerke: Zunächst ziehen sich die Wasser unterhalb des Himmels an einem Ort zusammen und lassen so das trockene Land hervortreten. Anschließend bringt die Erde eigenständig die Pflanzen hervor. An den Tagen fünf und sechs werden diese Lebensräume mit Leben gefüllt: An Tag fünf werden die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres geschaffen. An Tag sechs in zwei Akten zunächst die Landtiere, dann die Menschen. Formal liegt hier ein Schwerpunkt des Textes: Die Erschaffung des Menschen wird am ausführlichsten geschildert; die Darstellung beinhaltet eine lange Gottesrede; das Verb „erschaffen“ (baraʾ) wird dreimal wiederholt. Als Bild Gottes soll der Mensch die Herrschaft über die Tiere ausüben. Gottebenbildlichkeit beschreibt weniger die Beziehung zu Gott als vielmehr zu den anderen Lebewesen. Dabei ist auf die Funktion antiker Herrscherstatuen zu verweisen, die den Herrscher in seinem Reich präsent machen. Der Mensch fungiert als „lebendige Statue Gottes“ (Janowski 2008; Groß 2000). Die Verben beinhalten durchaus den Aspekt gewaltvoller Herrschaftsausübung (vgl. Wöhrle 2009; Eckstein 2019). Hierbei muss man sich bewusst machen: Damals war die Natur nicht durch den Menschen gefährdet, sondern immer der Mensch durch die Natur. Außerdem sollte der König nach altorientalischer Vorstellung in seinem Herrschaftsbereich Recht und Gerechtigkeit aufrichten und sich um die Benachteiligten, die personae miserae, kümmern. Warum Gott im Plural spricht („Wir wollen Menschen machen“), ist nicht befriedigend zu klären. Einen Pluralis maiestatis kennt das Hebräische nicht. Vielleicht handelt es sich um eine Anspielung auf altorientalische Parallelen, bei denen mehrere Götter an der Erschaffung des Menschen beteiligt waren. 217

Die Tiere am fünften und die Menschen am sechsten Tag erhalten den Fruchtbarkeitssegen. Dabei handelt es sich nicht um einen Vermehrungsbefehl, vielmehr wird ihnen die Möglichkeit der Fortpflanzung geschenkt. Die Landtiere bleiben vorerst ohne einen solchen Schöpfungssegen. Menschen und Tieren wird rein pflanzliche Nahrung zugeteilt. Die Schöpfungsordnung kommt also völlig ohne Blutvergießen aus. Am Ende des sechsten Tages schaut Gott auf die ganze Schöpfung und befindet sie als sehr gut.

Schöpfung und Flut Der Schöpfungstext weist über sich hinaus auf die priesterliche Fluterzählung in Gen 6–9*. In der Fluterzählung lassen sich zwei Erzählstränge unterscheiden; der priesterliche ist gekennzeichnet u. a. durch die Datumsangaben und eine starke Theozentrik. Die Flut stellt nach priesterlicher Konzeption den zweiten Akt der Schöpfung dar. Gemäß Gen 1 sollten Tieren und Menschen ohne Gewalt zusammenleben, aber bereits nach zehn Generationen ist die Welt in Gewalttat ausgebrochen. Gott sieht erneut auf die Erde und „da: sie war verdorben, denn alles Fleisch hatte seine Lebensweise verdorben“ (Gen 6,12). So stellt er nüchtern distanziert fest, dass das Ende der Welt vor ihn gekommen ist. Gott setzt die Schöpfung wieder auf den Ausgangszustand zurück: Die Trennungen des zweiten und dritten Schöpfungstages werden vorübergehend rückgängig gemacht: Die Wasser oben und unten fließen zusammen, wodurch dem Leben die Grundlage entzogen wird. Die Arche dient dazu, Leben zu erhalten. Sie ist als Lebenshaus vorgestellt und erinnert in ihrer kastenförmigen Gestalt wie ihren Ausmaßen an das Zeltheiligtum am Sinai und damit an den Tempel mit Vorhof und Allerheiligstem (vgl. Weimar 2008). Der Tempel dient wie die Arche der Rettung von Leben. Gottes Denken an Noach (Gen 8,1) setzt die Rettung in Gang. Die Wasser gehen zurück, die Grenzen werden wiederhergestellt: Am ersten Tag des ersten Monats des 601. Lebensjahres Noachs „waren die Wasser auf der Erde trocken geworden“ (Gen 8,13). Dies ist der Neujahrstag und zugleich der erste Tag des 7. Jahrhunderts. Am Neujahrstag wird in Babylon das Schöpfungsepos Enuma Elisch rezitiert, somit die Schöpfungsordnung kultisch evoziert und stabilisiert. Am Ende modifiziert Gott die Schöpfungsordnung: Der Schöpfungssegen wird erneuert, in ihn sind nun die Landtiere eingeschlossen (Gen 8,17; 9,1.7). Fortan soll es erlaubt sein, Tiere zum Verzehr zu töten – die Herrschaft des Menschen über die Tiere wird als Schreckensherrschaft qualifiziert (Gen 9,2.3). Verboten bleiben das Töten von Menschen, weil sie Bild Gottes sind, und der Verzehr von Blut. Blut spielt im Kult eine wichtige Rolle, insbesondere beim Versöhnungstag, dem Jom Kippur (Lev 16). Die Lebenskraft des Blutes bewirkt kultische Sühne 218

(Lev 17,11). Durch sie kann Israel die Folgen seiner Versündigungen beseitigen, damit Gott in seiner Mitte wohnen kann. Diese modifizierte Ordnung legitimiert Gewalt in bestimmten Grenzen. Die ursprüngliche zeitliche und räumliche Struktur ist wieder aufgerichtet und damit Leben ermöglicht. Die Dauerhaftigkeit dieses Zustands wird mit dem Bund garantiert. Das Bundeszeichen, der Regenbogen, dient Gott als Erinnerung seiner Zusage. Sie ist an keine Bedingungen geknüpft, der Bund also unkonditioniert. In der priesterlichen Urgeschichte finden sich Bezüge zum Kult, der Israel am Sinai gegeben wird: Sabbat-Ordnung, lebensrettende Funktion des Tempels, Blut für den Sühnekult; die Datierungen der Flutgeschichte verweisen eventuell auf das Sukkotfest (vgl. Dyma 2020). Der Skopus dieser Texte geht klar hinaus über das, was eine Frühgeschichte sein soll. Es handelt sich um eine theologisch reflektierte Darstellung zeitgenössischen Wissens. Die Schöpfung läuft auf Israel hinaus (vgl. Ex 1,7) und dessen Beziehung zu seinem Gott, die sich im Kult realisiert. Dieser Kult gründet in der Schöpfungsordnung. Zeitlich spiegelt er die kosmischen Abläufe. Räumlich steht der Tempel am mythischen Mittelpunkt der Schöpfung, am Weltenberg, „an dem Ort, wo das Chaos zum ersten Mal gebannt wurde und von dem aus der Schöpfergott die Setzung und Erhaltung von ordnenden Grenzen vornahm.“ (Janowski 1993, 221).

3 Der Garten Eden, Adam und Eva: die ältere Erzählung über die Schöpfung Die zweite, vermutlich ältere Schöpfungserzählung in Gen 2–3 unterscheidet sich sehr deutlich von der ersten. Gottes Handeln wird überaus anthropomorph geschildert. Von Beginn an geht es um die Sterblichkeit des Menschen sowie um Minderungen des Lebens: die Mühsal der Feldarbeit und die Beschwerlichkeit von Schwangerschaft und Geburt. Es geht auch um die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Er kann erkennen, dass er sterblich ist. Dadurch ist er nicht auf die unmittelbare Weise in der Welt, wie es Tiere oder kleine Kinder sind. Man kann den Text auch als Parabel auf das Älterwerden lesen: Gut und Böse unterscheiden können, also Entwicklung der Moralität; Entwicklung der Scham; Entdeckung der Sexualität (vgl. Schmid 2020). Ausgangspunkt dieser Schöpfungserzählung ist der Erdboden, auf dem noch nichts wächst, weil Gott es noch nicht hatte regnen lassen. Zudem wird die Aufgabe des Menschen schon festgehalten, bevor er erschaffen wird: „und es gab noch keinen Menschen, der den Erdboden bearbeitete“ (Gen 2,5). Der Mensch, ʾādām, wird als erstes Geschöpf aus dem feuchten Erdboden, der ʾadāmā, geformt. Gott formt den Menschen wie ein Töpfer. Die Formulierung „aus Staub vom Erdboden“ verweist bereits zu Beginn auf die Vergänglichkeit des Menschen (vgl. 219

Gen 3,19). Gott bläst ihm den Lebensatem nišmat ḥayyīm ein, wodurch er zu einem lebendigen Wesen næphæš ḥayyā wird. (Die Übersetzung „eine lebende Seele“ erweckt den Eindruck einer dichotomen Vorstellung von Leib und Seele, die dem Alten Testament jedoch fremd ist.) Wie ein Gärtner pflanzt Gott einen Garten in Eden. Eden bezeichnet in Gen 2,8 ein nicht näher identifiziertes Gebiet im Osten, später wird es als Name des Gartens aufgefasst. Im Garten entspringen vier Ströme, die die ganze Welt bewässern. Das Wasser der Welt verbindet uns also mit dem Paradies wie auch die Bäume, die Gott nicht nur im Garten pflanzt. In einer von Trockenheit geprägten Umgebung stellt man sich das Paradies wie einen wasser- und baumreichen Garten vor. Der von Gott angelegte Garten verweist auf den Tempelgarten, der wiederum die Weltordnung symbolisiert. Zudem nimmt er die Idee des altorientalischen Königsgartens auf, mit dem der König zeigt, dass er die chaotische, bedrohliche Natur bezwingen und ordnen kann. Dieser wird auch mit dem persischen Wort pardes bezeichnet, das zu unserem Wort Paradies führt. In der Mitte des Gartens stehen zwei besondere Bäume: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. In der metaphorischen Sprache bedeutet vom Baum des Lebens zu essen, Zugang zu (ewigem) Leben zu haben, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, diese Erkenntnisfähigkeit zu erlangen. Gott verbietet dem Menschen vom Baum der Erkenntnis zu essen, weil er sonst sterben müsse. Dies wird als Konsequenz, nicht als willkürliche Todesstrafe benannt. Die Formulierung lautet in Gen 2,17 mōt tāmūt „Du wirst in jedem Fall sterben“ (Grundstamm des Verbs). Im Todesrecht wird ein anderer Verbstamm verwendet (z. B. in Ex 21,12; Num 35,16). Es handelt sich also um ein Schutzverbot: Gott möchte nicht, dass der Mensch stirbt. Das Wort ʾādām kann sowohl Eigenname wie Kollektivbegriff für die Menschheit sein. In der Erzählung handelt es sich zunächst um ein Individuum, während Gen 1 vom Menschen als Gattung spricht. Anders als dort werden die übrigen Lebewesen erst nach dem Menschen geschaffen. Er soll nicht allein bleiben, sondern eine Hilfe erhalten, „die ihm ebenbürtig ist/ die ihm entspricht“, ein echtes Gegenüber (nægæd, Gen 2,18). Ein solches Gegenüber findet er nicht bei den Tieren, die er alle benennen darf, sondern erst in einem anderen Menschen. Erst hier wird von der geschlechtlichen Zuordnung von Mann ʾīš und Frau ʾiššā gesprochen – ein Wortspiel, das wir im Deutschen nicht nachmachen können. Die vollständige Adäquatheit wird mit der Formulierung „Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch“ zum Ausdruck gebracht. Gegenüber der vorherrschenden Vorstellung, die Frau sei aus einer Rippe des Mannes geformt worden, ist der Vorschlag von Hunziker-Rodewald (2020) vorzuziehen, der beim Bild des Töpfers bleibt: Während des von Gott gewirkten tiefen Schlafes habe Gott ein Model vom Menschen abgenommen und damit einen zweiten Menschen geformt. Das Wort

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für die Hilfe, die Gott für den Menschen sucht, lautet ʿēzær. Es meint hier keine untergeordnete Hilfe, sondern bezeichnet in Ps 121,2 die Hilfe, die von JHWH, dem Schöpfer, kommt. Dass Mann und Frau „ein Fleisch werden“ drückt nicht nur die sexuelle Vereinigung aus, sondern bezeichnet auch die persönliche Gemeinschaft. Darüber hinaus kann „Fleisch“ ein weiterer Verweis auf die Vergänglichkeit sein. Die Erwähnung von Vater und Mutter weist über die erzählte Situation hinaus, denn mit ihnen sind bereits Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft angesprochen. Das patriarchale Heiratssystem des alten Orients ist auf den Kopf gestellt: Der Mann verlässt hier sein Haus, ansonsten wird die Frau ins Haus ihres Mannes geholt. Die Umkehrung und Unterordnung der Frau finden sich als Minderung erst außerhalb des Paradieses. Dass beide nackt waren, sich aber nicht voreinander schämten, fasst die zwischenmenschliche Situation zusammen und leitet zugleich zur nächsten Szene in Gen 3 über. Als weiterer Akteur wird die Schlange eingeführt (sie ist im Hebräischen maskulin), die als schlauer als alle anderen Tiere beschrieben wird. Auch hier liegt ein Wortspiel vor (ʿārōm nackt – ʿārūm listig). Durch geschicktes Fragen bringt sie die Frau dazu, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Woher die Schlange weiß, dass die Menschen mit der Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott werden, interessiert den Text nicht. Schlangen stehen oft mit dem Geheimnis des Lebens in Verbindung, beispielsweise im Gilgamesch-Epos. Der Baum wird ganz positiv beschrieben, besonders Erkenntnis gilt als erstrebenswert. Die Rolle des Mannes ist passiv: er nimmt von seiner Frau und isst, was sie ihm gibt. Schon früh wird die Übertretung des Verbots als Sünde Adams bzw. Sündenfall bezeichnet (z. B. Röm 5,12–14). Das Wort Sünde kommt in Gen 3 aber nicht vor, erst in Gen 4 bei Kain und Abel. Die beiden Kapitel sind literarisch eng miteinander verbunden. Im Hebräischen ist lediglich von einer Frucht die Rede. In bildlicher Darstellung und sprichwörtlicher Rede wird sie oft als Apfel aufgefasst. Die Ähnlichkeit im Lateinischen von Apfel mālum und Bösem malum legte dies nahe, was aber eine negative Deutung voraussetzt. Sie essen also von der Frucht und erlangen Erkenntnis: sie erkennen, dass sie nackt sind – nackt voreinander, nackt vor Gott, nackt in der Welt. Ohne dass Gott eingreifen müsste, werden durch die Erkenntnis der Nacktheit die Beziehungen gestört: In die Beziehung der Menschen tritt Scham ein, in die Beziehung zu Gott Furcht. Die anschließende Befragung durch Gott zeigt ein typisch menschliches Handlungsmuster: Adam schiebt die Verantwortung auf die Frau, zugleich auch auf Gott zurück, die Frau auf die Schlange. Die Konsequenzen der Handlungen werden dann in umgekehrter Reihenfolge aufgeführt. Sie beinhalten Minderungen des Lebens und liefern damit ätiologische Erklärungen dafür, warum die Gabe der Fruchtbarkeit in dieser Welt dem Menschen nicht uneingeschränkt gegeben ist: Wenn doch die Fruchtbarkeit, das Gebären von Kindern von Gott geschenkt ist, warum ist es dann mit Beschwernissen und Schmerzen verbunden? Wenn doch die 221

Fruchtbarkeit des Ackerbodens von Gott kommt, warum ist es dann mit Mühen verbunden, den Ertrag zu erwirtschaften? Die Menschen bebauen überwiegend kargen, trockenen Boden; Hungersnöte sind nicht selten. Wenn doch das Leben des Menschen von Gott geschenkt wurde, ihm eingeblasen wurde, warum ist es dann endlich? Der Mensch kann über seine Lebensbedingungen, die conditio humana, die eigene Vergänglichkeit nachdenken. Auch dies ist eine Fähigkeit, die ihm erst im Laufe des Lebens zukommt. Das Bedenken der eigenen Sterblichkeit findet sich auch in weisheitlichen Texten wie dem Kohelet-Buch. Dem Adam werden als Konsequenz die Mühsal der Feldarbeit sowie die Sterblichkeit angekündigt mit Rückbezug auf seine Erschaffung aus dem Erdboden. „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ (Gen 3,19) Der Kreislauf des Lebens findet seinen Abschluss. Die Sterblichkeit gilt freilich nicht nur dem Mann, sondern der ganzen Menschheit – die ʾādām auch bezeichnet. Insofern sprengt hier die Sachlogik die metaphorische Erzähllogik. In der Vorstellungswelt des Textes bedeutet die Erkenntnisfähigkeit von Gut und Böse zu haben und ewig zu leben – in der Bildsprache vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben und Zugang zum Baum des Lebens zu haben – wie Gott zu sein. Insofern hatte die Schlange durchaus recht. Das kann Gott nicht zulassen und so vertreibt er die beiden aus dem Paradies, nicht ohne ihnen geeignetere Kleidung als Schutz anzufertigen. Der Eingang wird von Keruben bewacht. In der älteren Vorstellung sind diese nicht anthropomorph, sondern sphingenartige Mischwesen, die in altorientalischen Palästen auch als Torwächter fungierten. Auch außerhalb des Gartens ist die Aufgabe des Menschen, den Ackerboden zu bebauen und zu bewahren. Jeder einzelne Mensch muss sterben, aber sie können sich fortpflanzen: Bereits die Erwähnung von Vater und Mutter sowie die Mühsal von Schwangerschaft und Geburt weisen darauf hin, dann auch der Name der Frau, Eva, der als „Mutter aller Lebendigen“ gedeutet wird. Die beiden Schöpfungstexte unterscheiden sich hinsichtlich der Gesamtkonzeption, der Reihenfolge der Schöpfungswerke, aber auch gerade hinsichtlich der Vorstellung, welche Aufgabe der Mensch hat. Ist er in Gen 1 als Bild Gottes mit der Herrschaft beauftragt, so soll er in Gen 2–3 den Ackerboden bebauen und bewahren. Der Midrasch Kohelet Rabba versteht dies als Verantwortung des Menschen für die Welt: „Schau meine Werke, wie schön und vollkommen sie sind! Alles, was ich geschaffen habe, für dich habe ich es geschaffen. Achte darauf, dass du nicht meine Welt kaputtmachst und zerstörst; denn wenn du sie kaputtmachst, gibt es keinen nach dir, der sie in Ordnung bringt.“ (7,13)

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4 Aufnahme altorientalischer Vorstellungen Die alttestamentlichen Texte nehmen Vorstellungen aus ihrer Umwelt auf, besonders aus Ägypten oder Mesopotamien. Der Vergleich mit Texten und Bildern zeigt uns einerseits die vielen Parallelen, die Verwurzelung in der reichen altorientalischen Kultur (vgl. insgesamt Keel/Schroer 2002; Zgoll 2012). Andererseits werden auch die Differenzen und damit die besonderen Intentionen der biblischen Autoren deutlich. Das babylonische Schöpfungsepos Enuma elisch beschreibt, wie der Gott Marduk zum König der Götter aufsteigt. Nach der Entstehung der Götter (Theogonie) kommt es zu einem ausgedehnten Kampf der Götter (Theomachie), in welchem Marduk die Göttin Tiamat besiegt. Tiamat steht für die lebensfeindlichen, chaotischen Kräfte; der Name ist verwandt mit dem hebräischen Wort für Urflut (tehōm). Aus dem Leichnam der Tiamat erschafft er die Welt (Kosmogonie), im Zentrum Babylon, im Zentrum von Babylon der Tempel, der eine Verbindung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre schafft. Die Götter selbst errichten den Tempelturm. Wie in der Priesterschrift resultiert die Schöpfung in der Etablierung des Kultes. Das Epos Enuma elisch wurde auch selbst im Kult beim akitu-Fest rezitiert. Schließlich wird Marduk die Königswürde verliehen. Im Kontext der Kosmogonie wird der Mensch aus Lehm geschaffen, das mit dem Blut des geschlachteten aufrührerischen Gottes Kingu vermischt wird. Auch im Atramchasis-Epos wird der Mensch aus Lehm und Blut eines Gottes geschaffen, in diesem Fall des Gottes der Planungsfähigkeit. Die Menschen haben hier nicht die Aufgabe zu herrschen, sondern „den Tragkorb der Götter zu tragen“, ihnen also die Arbeit abzunehmen. Atramchasis- und Gilgamesch-Epos weisen außerdem interessante Parallelen zur Sintfluterzählung auf. Der ugaritische Baʿal-Zyklus (vgl. Niehr 2015) erzählt, wie der Wettergott Baʿal den Meeresgott Jammu besiegt und so Königsherrschaft erringt. Verschiedenen Elemente der mythischen Vorstellungen werden unter dem Begriff Chaoskampf zusammengefasst (vgl. Bauks 2006). In den beiden Schöpfungserzählungen der Genesis findet sich keinerlei Schilderung eines Kampfes. Andere Texte des Alten Testaments bedienen sich aber auch im Schöpfungskontext der Chaoskampfmotivik, z. B. Ps 29 oder Jes 51.

5 Weitere Schöpfungsvorstellungen Im Buch Ijob (Hiob) erscheint Gott ebenfalls als Bekämpfer des Chaos (vgl. Keel/Schroer 2002, 198–211). Die Weisheit, die auch in Ps  104 Grundlage der Schöpfung ist, und der göttliche Plan spielen bei der Weltschöpfung eine zentrale Rolle. Der leidende Ijob stellt die

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Gerechtigkeit Gottes und damit auch diesen Weltplan infrage. Gott erscheint zudem als Herr der Tiere (Ij 39): „Im Gegensatz zum Großteil der ikonischen Vorbilder erscheint JHWH aber nicht primär als Herr, der die genannten Tiere in die Schranken weist und bändigt, sondern als derjenige, der diese als gegenmenschlich empfundene Welt initiiert hat und schützt […] Gott verteidigt das Recht der Wildnis auf ihr eigenes Leben und stellt so den Anthropozentrismus Ijobs und seiner Freunde infrage.“ (ebd., 204)

Als Schöpfer kümmert sich Gott um Bereiche, die dem Menschen unzugänglich oder gar für ihn schädlich sind. Gott kann die chaotischen Mächte dominieren (Ij 40). Der göttliche Plan bleibt dem Menschen letztlich verborgen. Der hintere Teil des Jesajabuches, Deuterojesaja, entsteht im babylonischen Exil und will den Exilierten Hoffnung vermitteln. Der Monotheismus wird ausformuliert und schöpfungstheologisch durchbuchstabiert (vgl. Leuenberger 2010), besonders deutlich in Jes 45,7: „Der das Licht formt und das Dunkel erschafft, / der das Heil macht und das Unheil erschafft, / ich bin JHWH, der all dies macht.“ Die ganze Schöpfungswirklichkeit ist auf JHWH zurückzuführen, es gibt kein dualistisches Gegenüber. JHWH, der alles erschaffen hat, steht auf eurer Seite, wird den Exilierten zugesagt. Überhaupt versteht Deuterojesaja jegliches Eingreifen Gottes in die Geschichte als Schöpfungshandeln (z. B. Jes 40,22 f.; 45,11–13). Israel ist von JHWH erschaffen worden (Jes 43,1). Auch hier findet sich die Vorstellung des göttlichen Plans (Jes 40,12–14). Die Bilder für die Größe der Schöpfung zeigen: JHWH, der sie messen kann, ist unvorstellbar größer. Die junge Zukunftsvision in Jes 11 greift auf die beiden Schöpfungserzählungen der Genesis sowie die Sintfluterzählung zurück, um die Hoffnung auf eine künftige Friedensherrschaft zum Ausdruck zu bringen. Der damit verbundene Tierfrieden beinhaltet, dass sich auch Raubtiere wieder von Pflanzen ernähren werden (vgl. Gen 1) und die Feindschaft zwischen den Nachkommen der Frau und denen der Schlange (vgl. Gen 3) aufgehoben ist. Vielfältige Vorstellungen finden sich in den Psalmen: Ps  8 hält auf der einen Seite die Kleinheit des Menschen gegenüber der Schöpfung fest; gleichwohl ist er mit Herrlichkeit und Pracht gekrönt und über die restliche Schöpfung als Herrscher eingesetzt. Ps  19 verbindet das Lob der Schöpfung mit der göttlichen Weisung, der Tora, den Geboten und der Gottesfurcht. Ps 104 stellt die Erschaffung der Welt als Etablierung der göttlichen Wohnstatt dar; ab V. 10 wird der Erhalt der natürlichen Abläufe in die Schöpfungsvorstellung integriert zusammen mit den wechselnden menschlichen Tätigkeiten. V. 29 greift die Formulierung „zum Staub zurückkehren“ aus Gen 3 auf. Nach V. 24 hat Gott die Schöpfungswerke in Weisheit gemacht. In Ps 139,13–16 wird der einzelne Mensch als individuelles Schöpfungswerk 224

verstanden (V. 13: „Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter“); in Ps 51,12 wird Vergebung in Verbindung mit der Neuschöpfung eines reinen Herzens ebenfalls auf individueller Ebene gesehen. In Spr 8 erscheint die Weisheit personifiziert als Frau. Als erstes aller Geschöpfe war sie bei der Erschaffung des Kosmos zugegen. „Durch ihre Vitalität und ihr kultisches Scherzen hat die Weisheit JHWH bei der Erschaffung der Welt stimuliert und animiert. Die Schöpfung entspringt so, ganz anders als in Gen 1–2, nicht dem Willen und Handeln eines Einzigen, sondern sie entsteht schon aus der Beziehung und jedenfalls in der Beziehung zwischen Zweien.“ (Keel/Schroer 2002, 221)

Der Prolog des Johannes-Evangeliums greift auf diese Vorstellung zurück, ersetzt die Weisheit aber durch den göttlichen Logos. Die apokalyptische Vorstellung der Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde klingt lediglich an, sie wird erst später wichtig (vgl. Jes 65,17; 66;22; Offb 21,1). Das Alte Testament kennt noch keine Erschaffung aus dem Nichts, creatio ex nihilo, auch wenn später manche Texte so gelesen werden können (vgl. 2 Makk 7,28). In mythischen, weisheitlichen und poetischen Texten wird mit einem Reichtum an Vorstellungen das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch auf vielfältige Weise versucht zu bestimmen. Eine kreationistische Auslegung, die etwa Gen 1 gegenüber der Evolutionstheorie positioniert, wird den Texten selbst nicht gerecht.

Zitierte Literatur Bauks, Michaela (1997), Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur, WMANT 74, Neukirchen-Vluyn. Bauks, Michaela (2006), Art. Chaos/Chaoskampf (AT), in: WiBiLex. [https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/15897/] Dyma, Oliver (2020), Flut und Kalender. Die Datumsangaben im priesterlichen Flutbericht, in: Krause, Joachim u. a. (Hg.), Eigensinn und Entstehung der Hebräischen Bibel (FAT 136), Tübingen, 31–48. Eckstein, Juliane (2019), Menschen, die auf Tieren stehen. ‫ ׁשבכ‬und ‫( הדר‬Gen 1,26.28) vor dem Hintergrund der altorientalischen Ikonographie, in: Michel, Andreas/Rüttgers, Nicole K. (Hg.), Jeremia, Deuteronomismus und Priesterschrift (ATSAT 105), Sankt Ottilien, 19–34. Gertz, Christian (2018), Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11, ATD 1, Göttingen. Groß, Walter (1999), Creatio ex nihilo – Alttestamentliche Anmerkungen zu einem alten dogmatischen Lehrsatz, in: ders., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern (SBAB 30), Stuttgart, 55–63.

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Symbole Clauß Peter Sajak

Von Gott lässt sich nur in Bildern sprechen, denn er bleibt als Unbedingter dem Menschen mit seinen bedingten Möglichkeiten verborgen. Der Glaube an Gott ist deshalb für jeden Menschen mit der Aufgabe verbunden, die ‚Unsichtbarkeitsproblematik‘ (Kuld 2011) während seines Lebens biografisch-kontextuell zu bewältigen (vgl. den Beitrag „Gottesbilder“ in diesem Buch). Für diejenigen aber, die von Gott sprechen und die Kunde von ihm und seinem Wirken weitergeben wollen, entsteht die Frage, wie dies angesichts seiner Entzogenheit bewerkstelligt werden kann. Eine Antwort darauf ist die Kommunikationsform der bildhaften Rede (in der klassischen Rhetorik die sog. Tropen), mit welcher der Mensch durch Vergleiche, Metaphern und Symbole versucht, Aussagen über das Wesen Gottes zu treffen und weiterzugeben. Im Kontext des Religionsunterrichts ist es deshalb von großer Bedeutung, in die Bildsprache des christlichen Glaubens und seiner jüdischen Tradition einzuführen und elementare Metaphern und Symbole der Gottesrede zu entschlüsseln sowie zur Kommunikation mit diesen zu befähigen.

1 Grundidee: Von Gott sprechen heißt bildhaft sprechen Der Apostel Paulus beschreibt im 1. Korintherbrief die Aufgabe der Rede vom unsichtbaren Unbedingten mit den Mitteln der Bedingten wie folgt: „Vielmehr verkünden wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, […] wir verkünden, wie es in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,7–9). Wie das gehen soll, beschreibt er einige Kapitel weiter im sog. ‚Hohelied der Liebe‘: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12). Die rätselhaften Umrisse sind in dieser bildhaften Rede die Bilder, in denen sich das Wesen Gottes zeigt wie in einem Spiegel. Nicht nur im Corpus Paulinum, sondern in den meisten Büchern der Bibel findet sich deshalb ein umfangreiches Repertoire von Vergleichen, Metaphern und Symbolen, mit denen traditionell das Wesen und Wirken Gottes beschrieben wird. Viele dieser Bilder sind allerdings für heutige Schüler:innen kaum noch verständlich: Was soll ausgesagt werden, wenn Gott als „Vater unser im Himmel“ (Mt 6,9) oder „mein Hirte“ (Psl 227

23,1) bezeichnet wird? Und wie lassen sich kompakte Kombinationen wie etwa „Gott der Herr ist Sonne und Schild“ (Ps 84,12) heute verstehen? Und was bedeuten „Zungen wie aus Feuer“ (Apg 2,2) in der Pfingsterzählung? Muss man sich Christi Himmelfahrt wie auf dem Gemälde von Hans Süß von Kulmbach (16.  Jahrhundert) vorstellen: Jesus startet wie eine Rakete und die Jünger sehen von unten nur noch seine Füße in den Wolken verschwinden? Fragen, die nicht nur im Religionsunterricht der Grundschule gestellt und diskutiert werden müssen. In den Kirchlichen Richtlinien für den Katholischen Religionsunterricht in der Grundschule heißt es entsprechend: Schüler:innen können darstellen, „wie die Bibel von Gott als Schöpfer, Befreier und Vater spricht, der Gerechtigkeit fordert und Mut macht, und beziehen diese biblische Rede auf das eigene Leben“ (Die deutschen Bischöfe 2006, 28). An gleicher Stelle wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Kommunikation mit Bildern und Symbolen immer unter dem Vorbehalt des paulinischen Spiegels steht: Alle Bilder bleiben unzureichend, um das Geheimnis Gottes vollständig zu beschreiben, sie sind eben Bilder und nicht das Abbild in seiner Vollkommenheit selbst. So sagt das IV. Laterankonzil (1274) in einer berühmten Formel: „Zwischen Schöpfer und Geschöpf lässt sich keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen nicht noch eine größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“ (DH, Nr. 806) Deshalb sollen Schüler:innen wissen, „dass wir von Gott nur bildhaft sprechen können, dass Gott aber größer ist als unsere Vorstellungen“ (Die deutschen Bischöfe 2006, 28).

2 Begriffsklärung: Vergleich – Metapher – Symbole Die Gruppe der Tropen, also der rhetorischen Figuren, welche die uneigentliche und damit bildhafte Rede befördern, ist umfangreich (vgl. Baumgarten 1998). Für den religionspädagogischen Kontext ist es nur wichtig, zwischen Vergleich, Metapher und Symbol zu unterscheiden: 1. Vergleich = Beim Vergleich wird eine Sache oder Person mit einem Bild aus einem anderen Bereich durch eine Vergleichspartikel bzw. eine Konjunktion zur Veranschaulichung sprachlich verbunden: „Simon ist stark wie ein Löwe“ oder „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16)“. 2. Metapher = Der Begriff stammt vom griechischen Wort metaphora, das „Übertragung“ bedeutet. Hier wird das Bild nun in einen neuen Zusammenhang übertragen, ohne dass ein direkter Vergleich mithilfe von einer Vergleichspartikel bzw. einer Konjunktion gezogen wird: „Clemens-August von Galen ist der Löwe von Münster“ oder „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Die Metapher wird deshalb auch „verkürzter Vergleich“ genannt. 3. Symbol = Auch dieses Wort hat seine Wurzeln in der griechischen Antike: symbolon ist ein Erkennungszeichen, das Freunde verband und Beziehung stiftete. Auch das Symbol stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Bedeutungsfeldern her, allerdings ohne eine offensichtliche 228

Verknüpfung der beiden Bedeutungen in einem gemeinsamen Vergleichspunkt (lat. tertium comparationis): Verbindet Simon (1. Person) und den Löwen (2. Bild) die Eigenschaft der Stärke (3. Vergleichspunkt), so wird die Liebe (1. Sache) durch das Herz (2. Bild) symbolisiert, ohne dass es eine gemeinsame Eigenschaft als Vergleichspunkt gibt. Vielmehr verweisen Symbole auf eine Bedeutungsebene, die hinter dem Gegenstand liegt, und die Identität und Begegnung schafft: So steht das Herz (als zentrales Organ des menschlichen Organismus und Motor des Lebens) repräsentativ für die Liebe, ohne die kein Mensch leben kann; das Kreuz (eigentlich ein spätantikes Folterwerkzeug) verweist auf den Tod und die Auferstehung Christi und führt Christ:innen im Bekenntnis zusammen; die Taube (ein Vogel ohne Gallenblase) symbolisiert seit der Antike die Abwesenheit von Bitterkeit und das freundliche Miteinander in Frieden. Von Peter Biehl ist eine bekannte Geschichte überliefert, mit welcher der Begriff des Symbols historisch erklärt wird. Symbolon wurde in der Antike ein Erinnerungszeichen genannt, das zwei Freunde vor einer längeren Trennung durch das Zerbrechen einer Tonschale oder eines Tongefäßes schufen. Jeder der Freunde nahm eine der Scherben als Erinnerung an sich und konnte beim Wiedersehen der Freunde durch das Zusammenfügen der Scherben (griech. symballein = zusammenwerfen, zusammenfügen) die Trennung und Unterbrechung wieder aufheben (vgl. Biehl 1987, 481). Im lateinischen Kulturkreis wurde dann der Siegelring, der Vollmacht bestätigte, als Symbolum bezeichnet (vgl. Nocke 2005, 215). Nocke schreibt deshalb: „Die Offenheit des Begriffs ermöglichte viele unterschiedliche Verwendungsweisen im Laufe der Philosophiegeschichte: Erkennungszeichen, Passwort, Glaubensbekenntnis“ (ebd.). Beispiele sind hier das Kreuz, das ab dem 4.  Jahrhundert vorrangig nicht mehr als Folterwerkzeug erkannt wurde, sondern als Erkennungs- und Bekenntniszeichen von Christ:innen, oder der Fisch, der heute nicht mehr als Akrostichon (gr. IChThYS = Iesous Christos Theou hYios Soter, übersetzt: „Jesus Christus, Gottes Sohn, der Retter“) verstanden wird, sondern als Sinnbild für die Fülle des Lebens, die Jesus eröffnet, besonders prominent durch die wundersame Vermehrung der fünf Gerstenbrote und der zwei Fische zur Speisung der Fünftausend symbolisiert (Joh 6,1–15). Hubertus Halbfas, der wohl erste und wichtigste Protagonist einer Symboldidaktik im Horizont religionspädagogischer Theorieentwürfe, unterscheidet nun aufgrund der aufgeführten begrifflichen Abgrenzungen grundsätzlich zwischen einer metaphorischen und einer symbolischen Sprache. Erstere ermöglicht „die unmittelbare Bindung an die Gegenständlichkeit der Welt zu übersteigen. Weil das Thema Religion nicht das empirisch Zuhandene ist, muss religiöse Sprache ‚übertragen‘, also metaphorisch reden. Alle Religionen der Welt würden schweigen, gäbe es keine übertragende Rede.“ (Halbfas 2002, 458) Für die Arbeit in der religionspädagogischen Praxis bedeutet dies: „Was immer von Gott gesagt wird, muss sich seiner Metaphorik bewusst bleiben und auch darin verstanden werden. Deswegen ist der Umgang mit Metaphern ein fundamentaler Ansatz religiöser Alphabetisierung.“ (ebd.) Mit Kindern 229

ist entsprechend zu klären, warum wir von einem Vater im Himmel sprechen, aus welchen Gründen in der Bibel so oft von Hirten und Schafen die Rede ist oder dass Himmelfahrt eben keine Ballonfahrt und auch kein Rundflug über den Wolken ist. Aus diesem Grund sind die Einführung, die Erhellung und die Erklärung biblischer Metaphern grundlegende Aufgaben der Religionsdidaktik in allen Schulstufen. Dagegen gehört es zum Wesen der Symbole, dass sie mehr noch als Metaphern zu denken geben (ein Wort von Paul Ricouer): „Sie müssen befragt, analysiert, auf Herkunft und Wirkung hin kritisch untersucht werden können, damit sie als Symbole erkannt und verstanden und in ihren unbewussten, nicht selten auch manipulativen Wirkungen durchschaubar werden.“ (Halbfas 2002, 458) Diese Aufgabe wird in der Religionspädagogik der Symboldidaktik zugewiesen, die Wege und Verfahren aufzeigen will, um die hinter den Symbolen liegenden tieferen Bedeutungsebenen zu erschließen.

3 Symbolerschließung: empirisch – existentiell – religiös Die Religionsdidaktik kennt eine ganze Reihe von einschlägigen symboldidaktischen Ansätzen, zu nennen sind hier z. B. Hubertus Halbfas (1992), Peter Biehl (2002), Norbert Weidinger (2007) und zusammenfassend Mirjam Zimmermann (2015). Für die konkrete Unterrichtsgestaltung, in der in die elementaren Symbole des Christentums eingeführt werden soll (Wasser, Feuer, Wind, Licht, Regenbogen, Taube, Lamm, Fisch usw.), ist weiterhin das Modell des evangelischen Theologen Heinrich Ott maßgeblich, in dem die Mehrdimensionalität von Wirklichkeit anhand des konkreten Symbols in verschiedenen Schritten erschlossen wird. Nach Ott lassen sich nämlich drei Ebenen der Wirklichkeit unterscheiden (vgl. z. B. Biehl 2002): • die X-Ebene, auf der das Symbol als empirisch-naturwissenschaftlich erfass- und beschreibbares Phänomen zu deuten ist (z. B. Wasser als H2O); • die Y-Ebene, auf der das empirisch gegebene Phänomen nun in den Bereich der Sprichwörter, Bildworte, Weisheiten und Mythen (das Wasser als Bedrohung: „Mir steht das Wasser bis zum Hals!“) übertragen wird; • und schließlich die Z-Ebene, auf der nun in einem dritten Schritt die religiöse Dimension in ihren Sprachbildern und Ritualen erschlossen werden soll (das Wasser als „Wasser des Lebens“ im Rahmen des Taufsakraments). Eine für den Religionsunterricht angemessene Religionsdidaktik muss entsprechend immer darauf zielen, die X-Dimension der Empirie, aber auch die Y-Dimension der existentiellen Bedeutung und schließlich die Z-Dimension der transzendenten Bedeutung eines Symbols zu 230

erschließen und für die Schüler:innen damit zugänglich zu machen. Besonders in der Arbeit mit der Bibel und ihrer an Symbolen und Metaphern reichen Sprache kann die für religiöse Bildung notwendige Sensibilität für Symbolsprache eingeübt und reflektiert werden.

Zitierte Literatur Baumgarten, Hans (1998), Compendium Rhetoricum. Die wichtigsten Stilmittel. Eine Auswahl, Göttingen. Biehl, Peter (1987), Symbole, in: Böcker, Werner et al. (Hg.): Handbuch religiöser Erziehung, Düsseldorf, 481–494. Biehl, Peter (2002), Symbole geben zu lernen. Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Hand, Haus und Weg (Wege des Lernens Bd. 6), Neukirchen. Denzinger, Heinrich (= DH), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017. Die deutschen Bischöfe (2006), Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Halbfas, Hubertus (1992), Das dritte Auge, 5. Aufl., Düsseldorf. Halbfas, Hubertus (2002), Symboldidaktik, in: Bitter, Gottfried (Hg. u. a.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München, 456–459. Kuld, Lothar (2011), Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen. Das Entscheidende ist unsichtbar, Augsburg. Nocke, Franz-Joseph (2005), Art. Symbol, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4. hg. v. Peter Eicher, München 2005, 214–222. Weidinger, Norbert (2004), Symboldidaktik – Auslauf- oder Zukunftsmodell?, in: Noormann, Harry/ Becker, Ulrich/Trocholepczy, Bernd (Hg.): Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, 2. Aufl., Stuttgart, 145–160. Zimmermann, Mirjam (2015), Symboldidaktik, in: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon [https://doi.org/10.23768/wirelex.Symboldidaktik.100018].

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Taufe Michael Seewald

1 Was ist ein Sakrament? 1.1 Ein erster Vorschlag zur Definition Das Wort „Sakrament“ ist mehrdeutig. Der derzeit gültige Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) bietet folgende Definition an: „Die Sakramente sind durch die Sinne wahrnehmbare Zeichen (Worte und Handlungen), die unserer Menschennatur zugänglich sind. Kraft des Wirkens Christi und des Waltens des Heiligen Geistes bewirken sie die Gnade, die sie bezeichnen.“ (KKK, Nr. 1084) Damit werden drei Merkmale eines Sakraments benannt: Erstens sind Sakramente sinnlich wahrnehmbar. Diese Wahrnehmbarkeit kann durch sichtbare oder verzehrbare Gegenstände (etwa Brot und Wein), durch spürbare Handlungen (z.  B. Handauflegung oder Salbung) sowie durch hörbare Worte (das Sprechen einer Formel) gegeben sein. Zweitens stellt etwas als sakramental Qualifiziertes, sinnlich Wahrnehmbares ein Zeichen dar. Es besitzt also einen Sinnüberschuss und verweist auf eine Sache, die nicht mit ihm identisch ist, die jedoch drittens durch das Zeichen vermittelt wird. Ein Sakrament ist daher, wie das Zweite Vatikanische Konzil formuliert, das von 1962 bis 1965 stattfand und einen äußerst wichtigen Bezugspunkt gegenwärtiger Theologie darstellt, nicht nur ein „Zeichen“, sondern auch ein „Werkzeug“ (Lumen Gentium = LG, Nr. 1). Ein Sakrament stellt nicht bloß etwas dar, sondern bewirkt das von ihm Dargestellte. Zur Veranschaulichung: Ein Täufling wird mit Wasser übergossen und dazu die Formel „ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ gesprochen. Damit ist erstens etwas sinnlich Wahrnehmbares, das gesehen, gefühlt und gehört werden kann, geschehen. Dieses Geschehen dient zweitens als Zeichen dafür, dass der Täufling Christus gleichgeworden ist. Er oder sie ist zeichenhaft mit Christus gestorben und kann, da Christus dem Glauben der Kirche nach von den Toten auferweckt worden ist, auch hoffen, „in“ Christus aufzuerstehen. Diese Angleichung des Täuflings mit Christus wird aus Sicht des Glaubens durch die Taufe nicht nur szenisch dargestellt, sondern drittens durch die Kraft des Heiligen Geistes, der, von Christus über seine Jüngerschaft ausgegossen (vgl. Apg 2,33), das Werk Christi fortsetzt, auch tatsächlich vollzogen. Auf die einzelnen Aspekte dieses Gedankengangs wird zurückzukommen sein. Zunächst gilt es jedoch, die Bedeutung von Sakramenten etwas genauer zu fassen. 232

1.2 Definitorische Komplikationen Während der sakramentale Charakter der Taufe bereits seit dem Aufkommen des Sakramentsbegriffs, den der nordafrikanische Rechtsanwalt Tertullian – im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert der erste lateinisch schreibende Schriftsteller des frühen Christentums – in den theologischen Sprachgebrauch einführte, unumstritten war, gab es hinsichtlich der Frage, welche anderen Vollzüge der Kirche als Sakramente gelten können, dreierlei Unsicherheiten, die bis in die jüngste Vergangenheit andauerten. Erstens war bis zum Hochmittelalter unklar, ob potenziell jede kirchliche Zeichenhandlung ein Sakrament darstellt oder ob Sakramente nur ganz bestimmte Zeichenhandlungen sind. Die heute gebräuchliche Abgrenzung zwischen Sakramenten, Sakramentalien, Segnungen und Weihen blieb über weite Strecken der Dogmengeschichte vage. Hugo von Sankt Viktor z. B., ein Theologe des 12. Jahrhunderts, teilte die Welt- und Heilsgeschichte durch verschiedene Klassen von Sakramenten ein: Vom Sündenfall bis Mose habe es „natürliche Sakramente“ gegeben, von Mose bis Christus die „Sakramente des Gesetzes“ und nach Christus, in der Zeit der Kirche, die „christlichen Sakramente“. Auch wenn man, wie manche Autoren der Scholastik es taten und die katholische Kirche es zumindest vordergründig bis heute tut, das strenge Kriterium zugrunde legt, dass nur solche Zeichenhandlungen Sakramente genannt werden können, die Jesus Christus persönlich „zur Mitteilung seiner Gnade eingesetzt hat“ (KKK, Nr. 1084), bleiben Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen, weil unklar ist, was die Wendung „von Christus eingesetzt“ bedeutet. Wer nach einer Bibelstelle sucht, in der Christus die Letzte Ölung oder die Krankensalbung – heute eines der sieben Sakramente der katholischen Kirche – „eingesetzt“ hat, wird nicht fündig. Demgegenüber hat Jesus in der Konzeption des Johannesevangeliums nach der Fußwaschung, die er am Abend vor seiner Verhaftung an seinen Jüngern vorgenommen hat, dem Jüngerkreis aufgetragen: „Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,14 f.) Es ließen sich also für die These, die Letzte Ölung bzw. die Krankensalbung könne kein Sakrament sein, weil sich keine Belege für ihre Einsetzung durch Christus finden, ebenso gute Argumente aufbieten wie für die Position, die Fußwaschung sei ein Sakrament, da sie eine von Christus vollzogene und sogar mit Wiederholungsauftrag ausgestattete Zeichenhandlung darstelle. Diese definitorischen Probleme brachten es zweitens mit sich, dass die genaue Anzahl der Sakramente bis in das Hohe Mittelalter hinein umstritten blieb. Maßgeblich für die katholische Kirche wurde die Idee einer Siebenzahl der Sakramente, die sich bei Petrus Lombardus findet, einem Theologen des 12. Jahrhunderts, dessen Schriftensammlungen häufig kommentiert wurden. Das Zweite Konzil von Lyon, das aus Sicht der katholischen Kirche ein Ökumenisches, für 233

die gesamte Christenheit verbindliches Konzil darstellt, schrieb im Jahr 1274 die bis heute gültige Siebenzahl der Sakramente fest: Taufe, Firmung, Buße, Eucharistie, Ordo bzw. Weihe, Ehe und Letzte Ölung (vgl. Denzinger-Hünermann = DH, Nr. 860), wobei das Zweite Vatikanische Konzil die Letzte Ölung, die im Mittelalter nur für Sterbende oder in Todesgefahr schwebende Menschen gedacht war, zu einer Krankensalbung uminterpretierte, die alle in ihrer Gesundheit Beeinträchtigten, der Stärkung Bedürftigen erbitten können (vgl. Sacrosanctum Concilium = SC, Nr. 73). Martin Luther hingegen fasste das bereits erwähnte Kriterium, ein Sakrament müsse von Christus ausdrücklich eingesetzt worden sein, deutlich enger, und reduzierte daher die Siebenzahl auf drei Sakramente: Taufe, Abendmahl und Buße. Für das Bußsakrament fand Luther einerseits aus seiner Sicht eindeutige Einsetzungsbelege im Neuen Testament: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben, wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.“ (Joh 20,23) Andererseits ist das Bußsakrament aufgrund der mit ihm verbundenen Praxis der Ohrenbeichte, die in der katholischen Kirche fortbesteht, in der Reformation jedoch als problematisch empfunden wurde, in protestantischen Kontexten nahezu vollständig verschwunden, sodass lediglich zwei Sakramente das evangelische Gemeindeleben heute prägen. In einigen Strömungen der katholischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts wurde drittens die Frage wieder aufgegriffen, ob es unbeschadet der Siebenzahl der Einzelsakramente sinnvoll sei, von einem erweiterten Sakramentenverständnis auszugehen, das sich auch auf andere theologische Sachverhalte anwenden ließe. Dies führt zum Sakramentenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils.

1.3 Das Sakramentenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils Die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils kennt drei Ebenen des Sakramentenbegriffs. Erstens wird Jesus Christus als Sakrament bezeichnet. Das Konzil spricht vom „Mysterium des fleischgewordenen Wortes“ (LG, Nr.  8), wobei das lateinische Wort „sacramentum“ als Übersetzung des griechischen Begriffs „mysterion“ dient. Die sakramentale Qualität Jesu Christi besteht darin, dass „die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient“ (LG, Nr. 8). Das Zweite Vaticanum bezieht sich damit auf die Zwei-Naturen-Lehre des Konzils von Chalcedon, einer wichtigen Kirchenversammlung des 5. Jahrhunderts, der zufolge die in Jesus von Nazareth menschgewordene Person des Gottessohnes in zwei Naturen bestehe: der göttlichen, ihm von Ewigkeit her zukommenden Natur, und der menschlichen Natur Jesu. Sakramental – legt man die eingangs vorgestellte Definition zugrunde – am Zueinander dieser beiden Naturen ist, dass die menschliche Natur Jesu sinnlich wahrnehmbar ist, die Göttlichkeit Christi also in ihr zeichenhaft zum Ausdruck kommt, 234

dieses Zeichen, das Jesus darstellt, jedoch nicht nur auf Gott verweist, sondern Gott mitteilt, weshalb die Begegnung mit Christus letztlich Begegnung mit Gott ist. Im Sprachgebrauch der nachkonziliaren Theologie hat es sich eingebürgert, von Jesus Christus als dem „Ursakrament“ zu sprechen. Das Konzil bezeichnet zweitens auch die Kirche als Sakrament. Die Kirche sei „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG, Nr. 1). Die Kirche stelle vertikal betrachtet die Einheit der Menschen mit Gott und horizontal gesehen die Einheit aller Menschen untereinander dar („Zeichen“), und bewirke zugleich das, was sie darstelle („Werkzeug“), indem sie die Einheit der Menschen mit Gott und die Einheit der Menschen untereinander befördere. So, wie das göttliche Wort die menschliche Person Jesu in Dienst genommen habe, „dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes“ (LG, Nr. 8). Der Heilige Geist bediene sich, so das Konzil, der institutionellen, sichtbaren Gestalt der Kirche, um in der Welt ein Zeichen des Heiles aufzurichten und dieses Heil wirksam werden zu lassen. Dabei gilt es jedoch zwischen der Sakramentalität Jesu Christi und der Sakramentalität der Kirche streng zu unterscheiden: Die Kirche ist nicht Gott und hat theologisch keinen Grund, göttliche Allüren zu entfalten. Die Kirche steht unter dem Anspruch, Gott zu dienen, und gewinnt nur von diesem Dienst her ihre Bedeutung. Dabei bleibt sie von jener Sünde, die alles Geschaffene prägt, bis ins Mark beeinträchtigt. Um die Kirche als Sakrament von Christus, dem „Ursakrament“, zu unterscheiden, ist es daher üblich geworden, von der Kirche als „Grundsakrament“ oder als „Wurzelsakrament“ zu sprechen. Die Kirche ist Grund- oder Wurzelsakrament, da sie drittens alle Einzelsakramente vermittelt und verwaltet. Die sieben Einzelsakramente lassen sich nach unterschiedlichen Logiken gliedern und einander zuordnen. Der Katechismus der Katholischen Kirche unterscheidet die „Sakramente der christlichen Initiation“ (Taufe, Firmung, Eucharistie) von den „Sakramenten der Heilung“ (Buße, Krankensalbung) und den „Sakramenten des Dienstes für die Gemeinschaft“ (Ordo bzw. Weihe und Ehe). Christliche Initiation bedeutet wörtlich: Einführung in das Christentum. Der Taufe kommt dabei besondere Bedeutung zu. Wer getauft ist, ist ein Christ oder eine Christin.

2 Die Taufe: mit Christus sterben, um „in“ Christus aufzuerstehen 2.1 Eckpfeiler christlicher Tauftheologie Die Taufe (griechisch baptizein, eintauchen) gab es bereits in vorjesuanischer Zeit. Jesus schloss sich, bevor er selbst begann, in der Öffentlichkeit zu wirken, Johannes dem Täufer an 235

und wurde von ihm getauft (vgl. Mk 1,9–11; Mt 3,13–17; Lk 3,21 f.). Vermutlich stellte die von Johannes propagierte und gespendete Taufe ein Bußritual dar, da sie im Neuen Testament als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4) vorgestellt wird und ihr Empfang in Zusammenhang mit einem Sündenbekenntnis stand (vgl. Mt 3,6). Obwohl eine eigene Tauftätigkeit Jesu nicht überliefert ist, bildete die Taufe nach Tod und Auferstehung Jesu den zentralen Ritus der Bekehrung zum christlichen Glauben. Die Apostelgeschichte berichtet davon, dass die Taufe zum Gegenstand der Verkündigung der Urgemeinde geworden sei (vgl. Apg 2,38 f.), und erzählt von der Tauftätigkeit der Jüngerschaft. Die frühesten Zeugnisse christlicher Tauftheologie finden sich in den Paulusbriefen, den ältesten Schriften des Neuen Testaments. In seinem Brief an die Gemeinde von Rom führt Paulus aus: „Wisst ihr denn nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es auch mit der seiner Auferstehung sein.“ (Röm 6,3–5)

Die Taufe wurde im frühen Christentum als eine rituelle Form des Sterbens begriffen, durch die der Täufling Christus, dem Gekreuzigten, gleichgestaltet wird im Tod, um wie Christus zur Herrlichkeit des Vaters auferweckt zu werden. Diese von Paulus dargelegte Deutung der Taufe deckt sich mit dem Kerngehalt des Bekenntnisses der frühen Christenheit: dem Bekenntnis zu Jesu Tod und seiner Auferweckung (vgl. 1 Kor 15,3–5). Wer sich von den Jüngern Jesu taufen lässt, macht sich dieses Bekenntnis zu eigen und gewinnt heilsamen Anteil an Jesu Tod und Auferstehung. Bei den Täuflingen, von denen im Neuen Testament die Rede ist, handelt es sich allesamt um Erwachsene. Die Kindertaufe wird nicht erwähnt, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dort, wo ganze Häuser – z. B. das „Haus des Stephanas“ (1 Kor 1,16) – getauft wurden, alle Menschen, die zum sozialen Verband eines Haushaltes gehörten, also auch die Kinder, die Taufe empfangen haben. Erst in der Spätantike oder dem Frühen Mittelalter jedoch wurde aus Gründen, die noch zu erläutern sind, die Säuglingstaufe zum Regelfall. Die Taufe entfaltete, so Paulus, nicht nur eine vertikale Wirkung (was das Verhältnis der Einzelnen zu Gott angeht), sondern hatte auch horizontale Konsequenzen. Sie bewirkte – zumindest dem Ideal nach – eine fundamentale Gleichheit aller Getauften. „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,27 f.) Die Formel „in Christus“ ist zentral für die Tauftheologie des Paulus: Durch die Taufe wird der Mensch, bildlich gesprochen, „in“ Christus hineinversetzt. Wer getauft ist, 236

hat Christus angezogen wie ein Gewand und lebt fortan „in“ Christus, der ihn umgibt bei allem, was er tut und erleidet. Mit Blick auf dieses Leben „in“ Christus sind für Paulus alle Getauften gleich und alle Rangunterschiede der damaligen Gesellschaft  – die Unterschiede zwischen Juden und sogenannten Heiden, zwischen Sklaven und Freien sowie zwischen Frauen und Männern – aufgehoben. Man kann nicht oft genug betonen: Das Christentum war nach Überzeugung der frühen Gemeinde keine auf Dauer angelegte Bewegung. Paulus war z. B. der Überzeugung, dass die Wiederkunft Christi und damit die Vollendung der Welt unmittelbar bevorstünden. Der Apostel war sich sicher, dass diese Ereignisse noch zu seinen Lebzeiten eintreffen (vgl. 1 Thess 4,15). Die Entstehung eines Großteils jener Schriften, die später im Kanon des Neuen Testaments gesammelt wurden, die Entwicklung einer ausgefeilten Struktur der Ämter und Dienste sowie einer elaborierten Sakramentenlehre sind Verlegenheitslösungen, die gesucht wurden, weil die Wiederkunft Jesu sich verzögert hat und die christlichen Gemeinden vor der Herausforderung standen, sich auf Dauer in der Zeit einzurichten. Um die Kontinuität zu Christus trotz des beträchtlicher werdenden Abstands zur historischen Person Jesu von Nazareth zu wahren, wurden Zustände oder Schwierigkeiten, die sich in der frühen Gemeinde fanden, erzählerisch auf Jesus zurückdatiert. So erklärt sich vermutlich auch der Taufbefehl, den Matthäus bereits in trinitarischer Formel überliefert, indem er den Auferstandenen am Ende seines Evangeliums sagen lässt: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,18–20) In den meisten Kirchen und Gemeinschaften, so auch in der katholischen Kirche, wurde diese dem Matthäusevangelium entnommene, trinitarische Wendung zur Form des Taufsakraments (das heißt zum entscheidenden Deutewort, das aus einer Handlung ein Zeichen macht), wohingegen das Untertauchen in oder das Übergießen des Täuflings mit Wasser die Materie (das heißt den sinnlich konkreten Ausdruck) der Taufe bildete. In der bereits erwähnten Ordnung der Initiationssakramente folgt auf die Taufe die Firmung. Worin genau der Unterschied zwischen beiden Sakramenten besteht, ist mit Blick auf die Bibel schwer festzustellen. Einerseits wird im Neuen Testament die christliche Taufe eng mit dem Geistempfang in Verbindung gebracht. „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt“ (1 Kor 12,13), heißt es bei Paulus. Andererseits kennt die Apostelgeschichte jedoch auch die Möglichkeit einer christlichen Taufe ohne Geistempfang. „Als die Apostel in Jerusalem hörten, dass Samarien das Wort Gottes angenommen hatte, schickten sie Petrus und Johannes dorthin. Diese zogen hinab und beteten für sie,

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dass sie den Heiligen Geist empfingen. Denn er war noch auf keinen von ihnen herabgekommen; sie waren nur getauft auf den Namen Jesu, des Herrn. Dann legten sie ihnen die Hände auf und sie empfingen den Heiligen Geist.“ (Apg 8,14–17)

Die Firmung stellt eine rituelle Verselbstständigung dieses in anderen Zeugnissen des Neuen Testaments bereits mit der Taufe gegebenen Geistempfangs dar. In den Ostkirchen wird die Verbindung zur Taufe besonders deutlich, da die Firmung in derselben Feier, unmittelbar nach der Taufe (auch für Säuglinge und Kleinkinder), gespendet wird. In dem für Kinder vorgesehenen Initiationsweg der katholischen Kirche haben Firmung und Eucharistie die Reihenfolge getauscht: Nach der Taufe erfolgt die Erstkommunion im Kindesalter und die Firmung am Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter. Findet jedoch eine Erwachsenentaufe statt, bleibt die ältere, in der Orthodoxie noch lebendige Reihenfolge der Initiationssakramente gewahrt: Nach der Taufe wird die Firmung gespendet und erst danach Eucharistie gefeiert. In der katholischen Kirche bleibt die Spendung der Firmung, anders als die der Taufe, dem Bischof oder einem von ihm beauftragten Priester vorbehalten.

2.2 Herausforderungen gegenwärtiger Tauftheologie Die Theologie der Taufe, wie sie in der katholischen Kirche heute betrieben wird, steht aus dogmatischer Sicht vor mindestens drei Fragen, die der Vertiefung wert sind. Erstens gilt es zu überlegen, welche soteriologischen, auf Heil und Erlösung des Menschen angelegte Wirkungen der Taufe zukommen. Das Christentum kennt eine lange, nicht unproblematische Tradition, die von der Heilsnotwendigkeit der Taufe ausgeht, was bedeutet: Nur Getaufte können Heil – die erfüllende Gemeinschaft mit Gott nach dem eigenen Tod – erlangen. Bereits der Jesus des Johannesevangeliums spricht: „Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (Joh 3,5), wobei die Wiedergeburt aus Wasser und Geist metaphorisch für die Taufe steht. Die Erbsündenlehre, die, ausgehend von Augustinus, ab dem 5. Jahrhundert entwickelt wurde und vor allem die Theologie der Westkirche prägte, stellte die Idee einer Heilsnotwendigkeit der Taufe auf ein neues, schwieriges Fundament. Durch die Sünde Adams, so Augustins (354–430) Lesart des Römerbriefs (vgl. Röm 5,12–21), seien alle Menschen schuldig geworden, weshalb kein Mensch mehr vor Gott bestehen könne, auch keine Säuglinge, die nach menschlichem Ermessen noch gar nicht in der Lage sind, schuldhaft zu handeln. Nur die „Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus“ (Röm 5,15), an der der Einzelne durch die Taufe Anteil gewinne, könne die Schuld der Erbsünde vergeben, auch wenn die Folgen dieser Sünde – die Konkupiszenz (die Neigung zum Sündigen) und der physische Tod – erhalten bleiben. Eine 238

solche Konzeption von Sünde und Erlösung macht die Taufe zu einer Frage von Leben und Tod. Die bereits vor Augustinus vereinzelt bestehende Praxis der Kindertaufe wurde so, da man vermeiden wollte, dass ohne Taufe gestorbene Kinder der ewigen Verdammnis anheimfallen, geradezu notwendig. Die katholische Kirche verhält sich gegenwärtig uneindeutig zur Frage nach der Heilsnotwendigkeit der Taufe. Der Katechismus stellt einerseits lapidar fest: „Der Herr selbst sagt, daß die Taufe heilsnotwendig ist.“ (KKK, Nr. 1257) Andererseits formuliert der Katechismus zwei Sätze später eine Einschränkung dessen, was er zuvor noch als Wort des Herrn ausgegeben hatte: „Die Taufe ist für jene Menschen heilsnotwendig, denen das Evangelium verkündet worden ist und die Möglichkeit hatten, um dieses Sakrament zu bitten.“ (KKK, Nr. 1257) Der Katechismus geht also lediglich von einer bedingten Heilsnotwendigkeit der Taufe aus, die jene Menschen betrifft, denen das Evangelium verkündet und die Möglichkeit gegeben worden sei, um die Taufe zu bitten. Jene, die nicht zu Adressaten kirchlicher Verkündigung wurden oder, so könnte man hinzufügen, das Evangelium nicht als Frohe Botschaft aufzunehmen vermochten, werden also nicht von vorneherein verdammt. Das Zweite Vatikanische Konzil bietet demgegenüber sogar Ansätze, die Heilsmöglichkeiten außerhalb der Taufe noch weiter zu fassen. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (GS) stellt fest, dass Christinnen und Christen, „dem österlichen Geheimnis verbunden und dem Tod Christi gleichgestaltet“, also als Getaufte, „durch Hoffnung gestärkt, der Auferstehung entgegen[gehen]“ (GS, Nr. 22), fügt aber an: „Das gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.“ (GS, Nr. 22)

Neben der sakramentalen Verbindung mit Tod und Auferstehung Jesu ist also auch die Rede von einer geistvermittelten Form der Teilhabe am österlichen Geschehen, die jedem Menschen in einer Weise angeboten wird, von der nur Gott weiß. Die katholische Kirche kennt damit sowohl ein restriktives, an den Empfang der Taufe gebundenes Heilsverständnis, als auch einen Heilsuniversalismus, der Heil jenseits des Taufempfangs für möglich hält. Wie ist also die Heilsbedeutung der Taufe zu beschreiben? Die Vorstellung, dass Kinder, die ohne den Empfang der Taufe gestorben sind, in einer Art Niemandsland, dem sogenannten Limbus, dahinvegetieren, wird katholischerseits nicht mehr vertreten. Haben Getaufte dann zumindest bessere Karten auf das Heil als Ungetaufte? Wenn ja: Welches Gottesbild steht hinter einer solchen Vorstellung? Wenn nein: Worin liegt dann überhaupt die soteriologische Bedeutung der Taufe? 239

Dass diese Fragen den meisten Menschen, die ihre Kinder taufen lassen möchten, fernliegen, wirft ein zweites Problem auf. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der kirchlichen Taufdogmatik und den Vorstellungen, die viele in unseren Breitengraden mit der Taufe verbinden. Diese Diskrepanz zeigt sich in verschiedenen Zusammenhängen. Bei der Säuglings- oder Kleinkindtaufe kann der Täufling sich noch nicht qualifiziert zu dem äußern, was mit ihm geschieht. Er wird durch die Eltern und Paten vertreten, die stellvertretend den christlichen Glauben für das zu taufende Kind bekennen. Dieser Glaube kann jedoch signifikant von dem abweichen, was die katholische Kirche mit der Taufe verbindet. Der Katechismus nennt als erste und wichtigste Wirkung der Taufe die „Reinigung von den Sünden.“ (KKK, Nr. 1262) „Durch die Taufe werden sämtliche Sünden nachgelassen, die Erbsünde und alle persönlichen Sünden sowie die Sündenstrafen.“ (KKK, Nr. 1263) Die wenigsten Eltern bringen ihr Kind zur Taufe mit der Absicht, es von der Erbsünde und den Sündenstrafen reinzuwaschen. Wie aber verhält sich der Glaube von Eltern und Paten zu dem, was die Kirche mit der Taufe verbindet? Was ist das Minimum an Übereinstimmung, das zwischen Taufdogmatik und Taufintention – sei es nun die Intention der Eltern und Paten oder die Absicht eines erwachsenen Täuflings – liegen muss? Es erscheint wichtig, diese Frage nicht in den Kontext einer Verfallstheorie zu stellen, wie sie sich in kirchlichen Kreisen oft findet. Es ist nicht so, dass die Menschen „heute“ nicht mehr glauben, was die Kirche lehrt, während sie es „früher“ angeblich getan haben. Dogmatische Idealvorstellungen auf der einen und religiöse Haltungen und Praxen auf der anderen Seite sind über weite Strecken der Theologie- und Kirchengeschichte (vielleicht sogar über die gesamte Theologieund Kirchengeschichte) nicht identisch gewesen. Das, was Menschen tun und sich erhoffen, die Gründe, aus denen sie handeln, und das, woran sie glauben, war, soweit uns dies durch Zeugnisse überliefert ist, auch in den vergangenen Jahrhunderten meist nicht mit dem identisch, was die Kirche als Idealform des Glaubens, der Hoffnung oder des guten Handelns verkündet hat. Daraus folgt nicht, dass die Dogmatik sich schlicht der „Realität“, wie es oft unbestimmt heißt, anzupassen habe, aber auch nicht, dass die Lebens- und Glaubenswirklichkeiten jener Menschen, die sich mit der Kirche identifizieren, dogmatisch eingehegt werden müssten. Dogmatik und christliches Leben sind zwei Funktionsbereiche kirchlichen Daseins, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, die aber gelegentlich – etwa bei einer Taufe – aufeinandertreffen und deshalb von der Theologie zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Drittens zieht die Taufe Folgen nach sich, die es kritisch zu reflektieren gilt. In der katholischen Theologie hat sich die Vorstellung entwickelt, dass einige Sakramente (Taufe, Firmung und Weihe) ein unauslöschliches „Prägemal“ (LG, Nr. 11) hinterlassen. Wer also einmal gültig getauft ist, kann diese Taufe nicht mehr rückgängig machen und sie auch nicht wiederholen. Jeder Getaufte findet sich unweigerlich selbst dann, wenn er als Säugling getauft wurde, in einer Gemeinschaft wieder, in der er Rechte und Pflichten hat. Der Katechismus macht keinen Hehl aus den Pflichten: „Zu einem Glied der Kirche geworden, gehört der Getaufte nicht mehr 240

sich selbst, sondern dem, der für uns gestorben und auferstanden ist. Darum soll er sich in der Gemeinschaft der Kirche den anderen unterordnen, ihnen dienen, und den Vorstehern der Kirche gehorchen, sich ihnen unterordnen, sie anerkennen und hochachten.“ (KKK, Nr. 1269) Die Rechte eines Getauften sind demgegenüber begrenzt: Er oder sie hat „das Recht, die Sakramente zu empfangen, durch das Wort Gottes gestärkt und durch die weiteren geistlichen Hilfeleistungen der Kirche unterstützt zu werden.“ (KKK, Nr. 1269) Dabei könnte man die Rechtsstellung der Getauften und ihr Verhältnis zu den „Vorstehern“, also Bischöfen und Priestern, durchaus weiter fassen. Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, dass die Taufe Anteil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi gewährt (vgl. LG, Nr. 31). Nicht nur die geweihten Vorsteher, sondern jeder, der die Taufe empfangen hat, ist sakramental qualifiziert, den Dienst der Heiligung (etwa im Kontext der Liturgie oder durch das Gebet) wahrzunehmen, im Namen der Kirche zu lehren (sei es als Religionslehrkraft, Pastoralreferentin oder Katechet) und Leitungsaufgaben innerhalb der Kirche zu übernehmen (z. B. als Richterin an einem kirchlichen Gerichtshof). Dass Getaufte sakramental dazu qualifiziert sind, heißt jedoch nicht, dass jeder Getaufte auch persönlich  – was das eigene Können oder die eigenen Interessen angeht  – in der Lage oder willens wäre, Heiligung, Leitung und Lehre tatsächlich auszuüben. So etwas zu behaupten, wäre naiv. Diejenigen Getauften, die aber in der Lage und bereit sind, dies zu tun, müssten Gelegenheit bekommen, ihre Gaben im Dienst der Gemeinschaft auszuleben. Für die Zukunft der Kirche wichtig ist die Frage, wie sich Fähigkeiten und Rechte der Getauften zu den Fähigkeiten und Rechten der geweihten Amtsträger, deren Zahlen drastisch zurückgehen, verhalten. Diese Frage wird noch komplizierter, wenn man die ökumenische Dimension des Problems hinzudenkt: Es gibt keine katholische, evangelische oder orthodoxe Taufe, sondern nur die eine Taufe, die in verschiedenen Konfessionen gespendet wird. Nicht nur katholische Amtsträger, sondern alle Christen und in Notsituationen sogar alle Menschen (auch Nichtchristen) sind in der Lage, gültig zu taufen. Durch die Taufe sind alle Christgläubigen miteinander verbunden, auch wenn sie nicht in voller Kirchengemeinschaft miteinander stehen. In einer religiös vielschichtiger werdenden Gesellschaft Wege zu finden, durch die Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen ihren Glauben gemeinsam leben können – sei es in Form kooperativen Religionsunterrichts, auf Ebene der Gemeinden oder in anderen Formen des Engagements und der Seelsorge –, ohne das je eigene katholische, evangelische oder orthodoxe Profil aufzugeben, ist eine Zukunftsfrage aller christlichen Bekenntnisse.

3 Zusammenfassung Die Taufe stellt ein Sakrament dar. Ein Sakrament ist, aus katholischer Sicht betrachtet, ein sinnlich wahrnehmbares Geschehen, das als Zeichen für eine über es selbst hinausragende 241

Wirklichkeit dient und diese Wirklichkeit dergestalt vermittelt, dass sie – wenn auch „nur“ im Zeichen – Anschaulichkeit gewinnt. Die Taufe ist ein Initiationssakrament. Das heißt: Durch den Empfang der Taufe wird ein Mensch zum Christen oder zur Christin. Auch wenn die Taufe älter ist als das Christentum und Jesus selbst vermutlich niemanden getauft hat, wurde die Taufe für die Urgemeinde zum zentralen Ritus, der dem Glauben an Jesu Tod und Auferweckung Ausdruck verlieh. Durch die Taufe vermag ein Mensch, um es in der Bildsprache des Paulus zu sagen, Christus gleich eines Gewandes anzuziehen, um „in“ Christus zu leben. Der Täufling wird Christus zeichenhaft gleich im Tod, um einst auch „in“ Christus zum ewigen Leben aufzuerstehen. Gegenwärtig steht die Tauftheologie vor mindestens drei Herausforderungen. Sie hat erstens im Kontext eines Bildes von Gott, der das Heil aller Menschen will (vgl. 1 Tim 2,4) und nicht nur den Getauften sein Heil schenkt, zu klären, wie die soteriologische Bedeutung der Taufe noch gedacht werden kann. Die Theologie hat zweitens darüber nachzudenken, wie mit dem teils beträchtlichen Unterschied zwischen der kirchlich-dogmatischen Sicht auf die Taufe und den Erwartungen, die z.  B. Eltern hegen, die ihr Kind taufen lassen möchten, umgegangen werden soll. Drittens ist es bedeutsam, die Rechtswirkungen, die die Taufe entfaltet  – etwa was das Verhältnis der Getauften zu den geweihten Amtsträgern angeht  –, zu klären und zugleich darüber nachzudenken, welche ökumenischen Impulse die Vorstellung, dass es in allen Konfessionen nur eine einzige Taufe gibt, mit sich bringt.

Zitierte Literatur Lehramtliche Texte Heinrich Denzinger (= DH), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017. Katechismus der Katholischen Kirche, München 32020. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution über die göttliche Liturgie, Sacrosanctum Concilium (= SC), in: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einführung  – 16 spezielle Einführungen  – ausführliches Sachregister, Freiburg i. Br. 352008, 51–90. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium (= LG), in: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einführung  – 16 spezielle Einführungen  – ausführliches Sachregister, Freiburg i. Br. 352008, 123–200.

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Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et Spes (= GS), in: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einführung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister, Freiburg i. Br. 352008, 449–552.

Weitere Literatur Öhler, Markus (Hg.) (2012), Taufe (Themen der Theologie 5), Tübingen. Seewald, Michael (2021), Allen und jedem. Versuche über die Kirche als Sakrament, in: Augustin, George (Hg.), Eucharistie und Erneuerung. Aufbruch aus der Mitte des Glaubens, Freiburg i. Br., 36–54. Weidemann, Hans-Ulrich (2014), Taufe und Mahlgemeinschaft. Studien zur Vorgeschichte der altkirchlichen Taufeucharistie (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 338), Tübingen.

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Theodizee Bernhard Nitsche

1 Die Theodizeefrage stellen „Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von unsäglichen Leiden, von Hungersnöten, Erdbeben und Weltkriegen, von Kindersterben und Flüchtlingselend, von Gewalt, Epidemien und Krankheit. Sie ist geprägt von Leiden, die unversöhnt und unabgegolten sind, von Leiden, die Menschen Menschen auf vielerlei Weise angetan haben, in den Lagern von Auschwitz und des Gulag“ (Böhnke 2007, 69).

Nicht zu vergessen das stille und versteckte Leiden der Armen, sozial Ausgeschlossenen und Einsamen, der Menschen, deren Biografien durch erlittene (sexuelle) Gewalt (psychisch) zerstört sind oder die aus dem Kreislauf des Selbstzweifels nicht herauskommen und von Verlust- und Versagensängsten geplagt sind oder deren Beziehungen in destruktiven Täter-OpferKonstellationen zerstört wurden und unversöhnt als Wunde klaffen. Zudem das Leiden derer, deren Schmerz und Elend niemand kennt, weil es nicht den Weg in die Öffentlichkeit oder gar in die Schlagzeilen der Gazetten findet. Schließlich die Opfer von medizinischer Unterversorgung, von Tsunamis, Vulkanausbrüchen und Folgen des Klimawandels. Ist im Angesicht solchen Elends und solcher Betroffenheit der Glaube an einen Gott, der als unbedingt gütig, all- und geschichtsmächtig, allwissend bekannt wird und der von den Menschen als vernünftigen und freien Wesen erkannt und angenommen werden will, rational noch verantwortbar und moralisch vertretbar? Warum lässt ein Gott, dem nach christlicher Überzeugung nichts wichtiger ist als das Leben der Menschen und das Gute für sie, Leid und Ungerechtigkeit zu? Und wie kann überhaupt das Üble und Böse existieren, wenn derselbe Gott der Schöpfer und Herr des Universums ist? Das sind Fragen, mit denen sich das beschäftigt, was ‚Theodizee‘  – also die Rechtfertigung Gottes angesichts des (extremen, unerträglichen) Leids – genannt wird.

1.1 Der Ernst der Theodizeefrage Zu oft wurde der Ernst der Frage nicht ganz zugelassen und als ein Thema betrachtet, das dringend aus dem Weg geräumt werden muss oder das wie ein anspruchsvolles, kniffliges Sudoku durch Scharfsinn zu lösen sei. Philosophisch wurde das Thema im Sinne einer Verhandlung 244

am Gerichtshof begriffen, bei dem intelligente und strategisch versierte Staatsanwälte und Verteidiger miteinander verhandeln. Doch bleibt das Leiden eine Frage, die ins Herz menschlicher Erfahrung und des Gottesglaubens trifft und den Protestatheismus begründet: „Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren […]. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke es dir, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege er sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten“ – so Georg Büchner in Dantons Tod (nach Böhnke 2007, 87). Gerade wer an den Gott Israels und Jesu Christi, an den Gott unbedingter Leidenschaft für das Leben der Menschen glaubt, wird die Theodizeefrage aufs Schärfste stellen müssen und von ihr nicht ablassen können. Der Protest gegen das erfahrene Leid und die erlebte Ungerechtigkeit, gegen einen Zustand der Welt, in der der oder die Gerechte verurteilt wird, aber auch einfach Freude, die sein könnte, ausbleibt, steht an der Quelle des biblischen Glaubens. Weil Gott ein „Liebhaber des Lebens“ (Weish  11,27) ist, ist der diesem Gott gemäße Glaube die Sehnsucht, das Leben vollständig bejahen zu können, und darum verbietet sich die Befürwortung oder Legitimierung von Unheil. Deshalb ist „die biblische Sehnsucht  […] erdverbunden, will sich nicht abwenden von einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit und der unerträglichen Gewissheit, sterben zu müssen. Nicht die Welt akzeptieren zu wollen, wie sie ist, macht den Glutkern biblischer Spiritualität aus“ (Striet 2015, 56). Doch gesetzt, Gott wolle den Menschen als freien und vernünftigen Dialogpartner ansprechen, so würde die Befürwortung unerträglichen Leidens, das keine Impulse für eine vertiefte Menschwerdung in sich trägt, zu einem Widerspruch, zu einer Annahme des Glaubens, die gegen das verstößt, was Freiheit und Vernunft, Lernen und Wachsen durch Leiden, was menschliche Reifung in den Herausforderungen des Lebens noch einzusehen vermag. Wir können uns „nur dann als vernünftige und moralische Personen verstehen […], wenn wir die Augen nicht davor verschließen vor den Übeln und Leiden und auch nicht davor, dass jeder von uns auf die eine oder andere Weise in [ihnen] als Täter und Opfer vorkommt“ (Tetens 2015, 57). Zugleich gehört zur Unbedingtheit menschlicher Freiheit die Forderung der praktischen Vernunft nach einer glücklichen Vollendung menschlicher Freiheit, in der vernünftiges Handeln und reale Glückseligkeit zusammenkommen. So findet menschliche Freiheit ihr Ziel im Glücken des Lebens und in der Fähigkeit zur solidarischen Praxis geteilten Lebens und universaler Anerkennung. Deshalb widersetzt sich der Protest gegen die Versuchung, zu verzweifeln oder nihilistisch die Forderung nach unbedingtem Sinn in zynischer Abgeklärtheit aufzugeben (Adorno 1966, 367). Deshalb ist der Einspruch gegen das ‚Nicht-Sein-Sollende‘ eine Forderung nach Sinn für die konkreten Subjekte der Geschichte und dafür, dass das menschenverachtende Unrecht und das unschuldige Leiden nicht das letzte Wort über den Menschen bleiben soll 245

(Horkheimer 1970, 61). Im umfassenden Sinne geht es um die Möglichkeit, zu diesem Leben Ja sagen zu können, ohne das eigene Mensch-Sein zu verraten und die Brüche des Lebens zu verleugnen. Lässt sich das Sterben des/der Geliebten und das eigene Sterben aushalten, ohne den Vorschein endgültigen Sinns, die Hoffnung auf ein gerettetes Leben und die Möglichkeit, dass das menschliche Schreien und Klagen in Gott einen Adressaten findet?

1.2 Die Dimensionen des Leidens als das Nicht-Sein-Sollende Dass Leid nicht sein soll, dass Leid das schlechthin Sinnwidrige ist, gilt bereits auf der Ebene des physischen Impulses, wie Adorno treffend festhält: „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, dass Leiden nicht sein, dass es anders werden solle. ‚Weh spricht: vergeh‘.“ (Adorno 1966, 201). Die physische Leiderfahrung bleibt von Relevanz auch in moralischer und sozialer Perspektive: „Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, ‚quälbaren Körpern‘ ist dem moralischen Verhalten immanent“ (Adorno 1966, 279). Jede Erfahrung des Leids beinhaltet den Drang zu seiner Ablehnung und verweist auf einen Zustand seiner Überwindung. Levinas sagt dazu: „Der Exzess des Übels  […] bedeutet zugleich unsere Unmöglichkeit, das Übel gutzuheißen“; das Übel trifft wiederum mich als Menschen „in meinem Abscheu vor dem Übel“ und offenbart darin „meine Verbindung mit dem Guten“ (Levinas 1992, 189). Leid ist als unmittelbare Erscheinungsform und Konsequenz des malum (Übel, Bösen) aufzufassen. Die unterschiedlichen Gestalten des malum gilt es an dieser Stelle zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Mit Hans Kessler (Kessler 2000, 9–11) lassen sich 5 Dimensionen unterscheiden: • Als malum physicum bezeichnet man alle Gestalten des natürlichen Übels, die nicht durch Handeln des Menschen verursacht werden, wie Naturkatastrophen oder Krankheiten. • Als malum morale wird das durch menschliche Freiheit erzeugte Übel, das Böse, gekennzeichnet. Das malum morale ist nicht nur in seinen Folgen (das erzeugte Leid) verwerflich, sondern auch, weil es eine Selbstverfehlung des Menschen gegenüber dem guten Gebrauch der Freiheit darstellt und damit die Frage aufwirft, warum der Mensch des Bösen überhaupt fähig sein muss und ob Freiheit so viel wert ist, dass sie den Preis des Bösen überwiegen kann. • Malum metaphysicum bezeichnet schließlich das Übel, das mit der menschlichen Endlichkeit und Bedingtheit einhergeht. Unter das malum metaphysicum fallen die Aspekte, die den Menschen als eigenständiges und individuiertes Wesen ausmachen, wie Körperlichkeit und Zeitlichkeit, wie Begrenztheit an Wohlwollen oder die Ambivalenz von Gefühlen. Es

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bestimmt die Differenz zwischen der kontingenten Welt, dem endlichen Menschen und dem unendlichen und absoluten Gott. • Das strukturelle Übel, das von Institutionen oder gesellschaftlichen Strukturen, Prozessen und Verhältnissen und von ihrem Niederschlag auf das Handeln der Einzelnen verursacht wird. Diese ‚Strukturen‘ sind zwar menschengemacht, aber haben sich meist verselbstständigt und wirken wie ein anonymes Verhängnis (z. B. die wirtschaftlichen Folgen von Hedgefonds; primär profitorientierte Heilmittelforschung nur für ‚lohnende‘ Krankheiten und gewinnträchtige Therapien; menschengemachter Klimawandel usw.). • Als theologisches Übel kann man schließlich das Leiden an der Unterbrechung der Gemeinschaft mit Gott, den Gottesverlust im Gottvermissen bezeichnen. Zwar ließe sich zeigen, dass die Grundgestalten des malum in einem Zusammenhang mit der Existenz eines sich von Gott unterscheidenden, freien Menschen stehen: So ist das malum metaphysicum verbunden mit der Gott-Mensch/Welt-Differenz, das malum morale mit der Willensfreiheit und das malum physicum mit einer geregelten Gestalt der Welt. Jedoch tritt das malum stets als etwas hervor, das zu überwinden ist.

2 Problematische Antwortversuche Betrachtet man die Theodizeefrage als einen logischen Widerspruch, den es zu lösen gilt, wird eine Antwort durch die Arbeit an den Gliedern des Widerspruches gesucht: entweder werden Leiden und Tod depotenziert oder es werden die Gottesprädikate der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit Gottes relativiert.

2.1 Versuche, Leiden und Böses zu relativieren (1) Strategie der Mystifizierung: Sie betont, dass Leid und Böses ein undurchdringliches Mysterium darstellen und die Theodizeefrage deshalb prinzipiell nicht gelöst werden könne. Denn grundsätzlich lässt sich der Gedanke Gottes als Liebe nicht mit dem Leid und dem Tod zusammendenken. So komme es nicht darauf an, die Theodizeefrage zu lösen, sondern daran zu arbeiten, das Leiden abzuschaffen und auf den Einbruch Gottes in unsere befristete Zeit zu hoffen, wodurch Leiden und Tod ein Ende gesetzt wird. Soll dieser Gedanke nicht als intellektuelle Kapitulation verstanden werden, bleibt zu klären, warum Gott erst am Ende vollendend eingreift und nicht von allem Anfang an.

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(2) Strategie der Pädagogisierung: Leid als Strafe oder Weg der sittlichen Reifung. Hier wird das Leiden und der Tod als Folge der (Erb-)Sünde verstanden (Röm 6,23) oder schärfer noch als Strafe Gottes für begangene Sünden. Natürlich ist dieser Gedanke mit der barmherzigen Allgüte Gottes nicht zu vereinbaren und vermittelt unter dem Aspekt der Strafe ein negativ sanktionierendes, wenn nicht sadistisches Gottesbild. Als eine Spielart dieser Strategie kann man es verstehen, wenn Leid als Teil eines größeren Zusammenhangs und darin als Mittel zu einem gutzuheißenden Zweck betrachtet wird, z. B., wenn wie bei Leibniz darauf hingewiesen wird, dass aus (scheinbar) Negativem auch schon Gutes erwachsen sei, oder gemäß der Devise: ‚Was nicht tötet, härtet ab‘. Eine solche Devise bleibt jedoch zynisch, wenn sie nicht als Selbsteinsicht, sondern als Fremdzuschreibung formuliert ist. Anders ist der Fall gelagert, wenn John Hick nach der Bedeutung von Herausforderungen und Leiden für die Entwicklung eines humanen Menschseins fragt und damit persönliche Reifungsschritte verbindet: „Die einzige Annahme, die meiner Meinung nach der ganzen Tiefe der Herausforderung gerecht werden kann, betrachtet unser menschliches Dasein auf dieser Erde als Teil eines weitaus längeren Prozesses, durch den das personale spirituelle Leben nach und nach kraft seiner eigenen Freiheit zu einer Vollkommenheit geführt wird, die in der Rückschau alles Übel rechtfertigt, das sein langsames Werden begleitete. […]  Die Welt als Umgebung, in der solche unvollkommenen Geschöpfe die Gelegenheit haben, ihrer Vollendung zuzustreben, ist ein rauer und herausfordernder Ort, Schauplatz von Problemen, die gelöst, und Herausforderungen, die bestanden werden wollen. Sie ist ein Ort, der Scheitern und Erfolg, Untergang und Triumph, Tragödie und Erfüllung für uns bereithält. In einem Paradies im Sinn einer Welt, in der es kein Leid und keinen Schmerz gibt und damit keine Schwierigkeiten und Herausforderungen, könnte der Mensch nicht zum Menschen reifen“ (Hick 1996, 134).

Bei allem Verständnis für diesen an Reifung interessierten Gedanken wird man dennoch fragen dürfen, ob nicht eine Spur von ‚schwarzer Pädagogik‘ und ‚Zynismus‘ an ihm haften bleibt. (3) Strategie der Depotenzierung: Das Böse als Mangel des Guten. Eine besonders radikale Lösung bietet die augustinische Lehre der privatio boni an. Die Privationslehre leugnet nicht die menschliche Erfahrung des Übels (was die Theodizeefrage obsolet machen würde), aber erklärt die Wirklichkeit des Übels als Mangel an Gutem und an Sein. Das Übel habe keine eigene Seinswirklichkeit, sondern ergebe sich immer aus der Abschwächung des Guten. Das Böse entsteht, weil der Mensch ein weniger Gutes attraktiv findet und ergreift, anstelle des gesollten höheren Guten (z. B.: Gewinn durch Betrug, Macht durch Hass oder Hohn zu erlangen). Dafür sind zwei Annahmen der antiken Ontologie bestimmend: Erstens sind das Sein und das Gute/Schöne letztlich eins; zweitens ist Gott die Fülle des Seins, an dem alles endliche 248

Sein in abgestufter Weise Anteil hat. Daraus resultiert eine Umkehrung der Problemstellung ‚von oben‘: Weil es Gott, den unbedingt Guten, gibt und alles von Gott stammt, kann das Übel oder das menschlich Böse nur als Mangel an Gutem aufgefasst werden. Indem dem Sein des Bösen und der Übel in der Welt im Vergleich mit Gott und dem Guten weniger Realität zugesprochen wird, scheint die Erfahrung der Menschen von faktischem Leid ontologisch nichtig. Da das Böse und das Leid weltlich und menschlich allzu wirklich sind und lebenzerbrechendes Leid ohne Hohn für die Opfer nicht für nichtig erklärt werden kann, muss die Privationslogik verworfen werden. Sie ist zynisch, weil sie weder die Theodizeefrage löst noch die Abgründigkeit des Bösen oder die Leiderfahrung ernst nimmt. (4)  Strategie der Funktionalisierung: „beste aller möglichen Welten“. Gottfried Wilhelm Leibniz hat diesen Gedanken als Kern seines Werkes Die Theodizee formuliert, insofern Gott in seiner Vollkommenheit eine Welt mit größtmöglicher Vielfalt und Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit eingerichtet hat. Die logische Ordnung dieser Welt war ohne Leid nicht zu verwirklichen. Allerdings, so ist zu hoffen, wird Gott sie in seiner Allmacht und Allgüte zu einem guten Ende führen. Dabei geht es nicht einfach um die beste Welt, die man sich gerne ohne Leid und Tod vorstellen will, sondern um die beste mögliche Welt, wobei zu klären ist, was eine mögliche Welt sein kann. Kern des Gedankens ist es, dass Gott, wenn er eine Welt setzt, diese notwendig in einer bestimmten Ordnung setzen muss und diese Ordnung nicht zugleich außer Kraft setzen kann. Solche Ordnungen aber implizieren Begrenzungen. Deshalb hat David Griffin die These vertreten, dass Gott Leid nur unter Verzicht auf eine Schöpfung hätte verhindern können. Doch ist es besser, dass etwas von den Positivitäten, die unser Leben und die Welt auch kennt, existiert, anstelle von nichts (Griffin 2004, 229 f.). Dies ist eine einsehbare These, die aber den Skandal des Leidens nicht überwindet. Doch bleibt zu fragen, ob diejenigen, welche diese These kritisieren (Wendel 2016, 65–68), in ihrer eigenen Argumentation tatsächlich über sie hinauskommen.

2.2 Versuche, die Gottesprädikate der Allmacht, Allgüte, Allwissenheit zu relativieren Eine weitere Gruppe von Lösungsstrategien der Theodizeefrage, die auf die Aufhebung des logischen Widerspruches abzielt, operiert mit der Veränderung der Gottesprädikate. (1) Nicht ein Gott: Der Dualismus vom guten und schlechten Prinzip. Eine Antwort besteht in einer dualistischen Auffassung des Göttlichen, wie sie auch in christlichen Zusammenhängen, wie etwa im Manichäismus, als Kampf des guten und des bösen Prinzips üblich ist. Die Verantwortung für das Übel wird einem zweiten Prinzip oder einer zweiten Macht (z. B. dem Teufel) übertragen. Dabei wird nicht nur die Einzigkeit Gottes faktisch aufgehoben, sondern 249

auch seine Allmacht so weit beschränkt, dass die zweite Macht im irdischen Zusammenhang unbegrenzt wirksam werden kann. Auf signifikante Weise machen solche Ansätze das böse Prinzip für die Schöpfung der Welt und die materielle Dimension verantwortlich. Die Welt verliert dadurch den Charakter der guten Schöpfung Gottes (Jonas 1999, 384). Das Übel und das Böse werden abgespalten und dem Fremden der materiellen Wirklichkeit zugeschrieben. Im Gegenzug kippt der gnostische Dualismus in einen Monismus um: Konsistenz hat nur das gute göttliche Prinzip, mit dem das wahre Menschsein schon immer verbunden ist. So geht es darum, vom Schein der letztlich nichtigen Materie zu befreien und das Materielle als Gefängnis der Seele zu überwinden. (2) Nicht ganz so mächtig. Der christliche Glaube behauptet die Allmacht Gottes als Alleinschöpfer der Welt und als ihr geschichtsmächtiger Retter. Diese Prädikation bedeutet zwar nicht, dass Gott jeden Vorgang im Universum unmittelbar und direkt verursacht, aber sie bestimmt Gott dazu, dass er alles vermag, was Liebe vermag. Historisch war demgegenüber die Vorstellung von absoluter Macht des ‚jederzeit alles Könnens‘ (potentia Dei absoluta) leitend. Dominiert nicht bei vielen eine Vorstellung göttlicher Allmacht, der zufolge Gott ein übermächtiger Marionettenspieler ist, der alle Fäden in der Hand hält, oder wie ein omnipotenter Supercomputer, der alle Vorgänge bis ins Einzelne hinein reguliert und steuert? Gleichwohl bleibt Gott als Alleinschöpfer des endlichen Seins direkt oder indirekt für Leid und Übel verantwortlich. Die Brutalität bestimmter Leiderfahrungen und die Monstrosität des Bösen, etwa in Exzessen des Sadismus und der Erniedrigung, der Quälerei in Folter-, Gefangenen- und Vernichtungslagern, verbindet sich mit der Frage, warum ein Gott, der als Allmächtiger auch eingreifen könnte, es nicht tut. Auch wenn Gott unterstellt wird, dass er um der Freiheit der Menschen willen nicht eingreift, um menschliche Freiheit nicht außer Kraft zu setzen, werden viele für die Unversehrtheit ihrer Lieben doch wünschen, dass Gott in die von ihm selbst geschaffenen Abläufe und in die Freiheitsgeschichte der Menschen eingreifen möge. Dass dies im Falle von Auschwitz oder dem Gulag nicht der Fall war, lässt einige Autor:innen folgern, dass Gott, obwohl in sich allmächtig, tatsächlich seine Allmacht abgesetzt haben muss, sodass er nicht mehr in das Weltgeschehen eingreifen kann: „Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein“, schlussfolgert der Philosoph Hans Jonas. Demnach hat Gott der Welt Platz geschaffen, um „für die Zeit des Weltprozesses“ auf die „Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Welt“ zu verzichten (Jonas 1987, 41 f.). Dieses Modell kann erklären, warum das Übel physisch und geschichtlich nicht verhindert wird, aber es enthebt Gott nicht von seiner Verantwortung für das Übel. Um die Theodizeefrage aufzulösen, müsste Gott konsequent die Allmacht abgesprochen werden und die Hervorbringung einer Welt, in der Übel vorkommt, gleichzeitig als notwendiges Geschehen betrachtet werden. Damit ist eine Welt, in der Übel vorkommt und vorkommen muss, einfach gegeben. Eine solche Position vertritt zum Teil die Prozesstheologie, die behauptet, Gott unterliege ihm 250

vorausgehender Kreativität, in der Gott selbst nur die unendliche „chief exemplification“ (Whitehead 1978, 343) aller aktualen endlichen Entitäten ist. So gehe das Übel auf vorausgehende metaphysische Prämissen zurück und Gott könne in die Welt nur im Modus des ‚Anregens‘ und ‚Überredens‘ hineinwirken. Seine Liebe verbietet Intervention (Zwang). Gleichwohl bleibt Gott prozesstheologisch dafür verantwortlich, Prozesse, die mit Leid einhergehen, zu initiieren und aus der formlosen, potentiellen Materie bewusstes Leben hervorgebracht zu haben, welches auch leidensfähig ist (Griffin 1976; Enxing 2018, 33–54). (3) Gott wusste es nicht. Abgesehen von der Frage nach der Kompatibilität von Gottes Allwissenheit mit einer Freiheitsgeschichte, in der in einer menschlichen Innenperspektive per Definition Neues und Unvorhergesehenes vorkommt, bleibt die Frage nach der Verantwortung Gottes für eine Geschichte. Die Antwort, dass Gott es nicht gewusst habe, kann nicht befriedigen, weil Gott in seiner Allwissenheit und Allzeitigkeit allen Prozessen der Welt zugleich vorgeordnet und innerlich gleichzeitig ist (Nitsche 2018, 159–165). (4)  Nicht ganz oder nicht immer gut. Eine weitere Modifikation der Gottesprädikate würde die Allgüte Gottes betreffen. Die Theodizeefrage verschwindet, sobald man Gott nicht als unbedingt gut auffasst. Allerdings ist eine direkte Behauptung einer Bosheit Gottes äußerst selten. Was vorkommt, ist die Behauptung, dass Gottes Güte radikal anders ist, als sie vom Menschen verstanden wird. Es ist Gott selbst, der in seiner unbedingten Souveränität das als Gutes bestimmt, was seinem unergründlichen Ratschluss entspricht. Ein solches Verständnis des deus absconditus findet man in einigen Spielarten des Nominalismus oder bei Luther wieder (vgl. Müller 2017). De facto handelt es sich jedoch um eine Relativierung der Behauptung der Güte Gottes, die selbst die Grundstruktur der menschlichen Gottesfrage betrifft. Zwar kann davon die Rede sein, dass die Güte Gottes die Maßstäbe menschlicher Vernunft und Moralität überschreite, jedoch dürfen beide nicht in Widerspruch zueinander stehen. Alle Versuche, die Theodizeefrage im Sinne einer „Verteidigung Gottes“ durch eine Modifikation der Gottesprädikate zu lösen, werfen entweder die Frage in neuer Weise auf oder dienen dazu, die Frage zu entschärfen bzw. stillzulegen. Wie aber sind Allmacht, Güte, Allwissen des einen Gottes zu verstehen, sodass er selbst gerade aufgrund dieser Prädikate Antwort auf die Fragen gibt, die die Leiderfahrung der Menschen eröffnet?

3 Der allmächtige und liebende Gott, der den Menschen als freies Gegenüber will und die Verkehrung menschlicher Freiheit in Kauf nimmt (malum morale) Wenn man die Theodizee-Frage nicht auszuschalten versucht, muss man auf der einen Seite festhalten, dass unerträgliches Leid als Folge von Übel und Bösem das Nicht-Sein-Sollende ist 251

und nicht gerechtfertigt werden kann. Auf der anderen Seite bleibt Gott nur wahrhaft Gott, wenn er der schlechthin freie, unbedingt gute, allmächtige und allwissende, der liebende und rettende Schöpfer der Welt ist, einer Welt, in der gesetzmäßige Strukturen auch Übel (malum physicum) erzeugen, Vollkommenheit um der Endlichkeit willen ausbleibt (malum metaphysicum) und die Menschen in ihrer Freiheit nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen fähig sind (malum morale). Es gehört zur Wesensbestimmung Gottes, in sich selbst schöpferische Liebe zu sein, die alles vermag, was Liebe vermag. In dieser Weise ist Gott nicht der omnipotente Alleskönner, der das Gute und zugleich sein Gegenteil wollen kann oder wie ein übergroßer Marionettenspieler alle Einzelgeschicke wie ein Supercomputer nach Masterplan steuert. Vielmehr ist Gott vollkommene Freiheit und Liebe, der an sich selbst, mithin an Freiheit und Liebe Anteil geben will. Aus seiner Allmacht heraus beschließt Gott, eine andere Freiheit und den Raum für ihren Vollzug hervorzubringen. Dies geschieht nicht nur in Gott selbst, indem er das Andere seiner selbst innergöttlich freisetzt, sondern dies geschieht in Bezug auf die Welt und den Menschen, weil Gott noch das Andere als real Anderes und von ihm Unterschiedenes will. Das Andere als real Anderes zu Gott aber ist notwendig ein nichtgöttliches Anderes. So setzt Gott den Anfang für etwas Neues, die Welt und den Menschen. Die Lehre der creatio ex nihilo bedeutet, dass die Welt aus nichts anderem als aus Gottes freier Entscheidung in Liebe hervorgeht: Sie ist creatio ex amore. In aller Freiheit entschließt sich Gott von Ewigkeit her dazu, geschaffene Mitgeliebte zu haben, die zu freier und eigenständiger Antwort und autonomem Selbstvollzugs fähig sind. Darin gerade besteht die Allmacht, dass sie sich selbst zurücknehmen und das „Allerimposanteste“ (das Weltganze) und das „Allergebrechlichste“ (den endlichen Menschen) in Eigenstand hinein freisetzen kann (Kierkegaard 1954, 124 f.). Wenn Gott den Menschen als Partner seiner Liebe will, dann duldet Freiheit und Liebe keinen Zwang, weder bezüglich der Annahme durch den Menschen noch hinsichtlich seiner positiven oder negativen Antwort. So kann der schöpferische Raum der Kommunikation und der Liebe Gottes nur ein durch Freiheit bestimmter Raum sein, in dem Gott menschliche Freiheit fundamental bejaht und in jeder Hinsicht achtet. Menschliche Freiheit aber kann sich zum Guten oder zum Schlechten bestimmen (Keil 2019). Deshalb hat menschliche Freiheit auch das Hervorkommen von Leiden in bestimmten Lebenssituationen zu verantworten. Zwar ist die Freiheit in ihrem Gehalt durch Freiheit bestimmt, sodass die menschliche Freiheit ihre Erfüllung im Wollen der eigenen wie der anderen Freiheit findet (Krings 1980, 171–177), doch gehört es zu den Realitäten des menschlichen Daseins, dass Menschen andere Menschen nicht immer als ebenbürtige Freiheit und als Zweck an sich selbst in höchster Würde achten (Kant 1788, A 155). Für Kant liegt es auf der Hand, dass der Mensch sein Handeln nach Regeln bestimmen soll, die potenziell von allen Menschen als menschendienlich und vernünftig anzusehen 252

sind. Doch kann sich menschliche Freiheit durch Begehren und Maßlosigkeit, durch Triebe und Affekte, durch Missachtung und Verschweigen, durch Neid, Wut und sadistische Quälerei, ungebremste Machtgelüste und kalte Herrschaftsausübung usw. in alle möglichen Abgründe des menschlichen Daseins hinein pervertieren. Deshalb hat Schelling die Abgründe des Freiheitsvollzugs bedacht und darauf hingewiesen, dass die Tendenz zur Kontraktion, Egoität und Selbstbezogenheit so stark werden kann, dass Menschen ihren Egoismus in despotischer Herrschaft verallgemeinern oder ihre nicht vernünftig erhellten und gelenkten Antriebe zum „Herrschenden und zum Allwillen […] erheben“ (Schelling 2011, 61). Damit stellt sich die Frage, ob die Gabe der Freiheit und damit die Erschaffung eigenständiger wie vernunftbegabter Wesen groß genug ist, um die Schaffung einer Welt, in der Freiheit auch missbraucht und pervertiert und in Böses und Bosheit verkehrt werden kann, zu rechtfertigen. Darf man dem fundamentalen Ja Gottes zum Leben und zu jedem einzelnen Menschen, das in der Schöpfung selbst angelegt und ausgesagt ist, vertrauen? Die Argumentation, die als free will defense (Kreiner/Loichinger 2010, 67–83; Swinburne, 1987, 256–301) bekannt geworden ist, führt die Möglichkeit des Bösen auf die menschliche Freiheit zurück und behauptet, dass die Existenz vernunftbegabter Freiheit, auch wenn sie endlich und fehlbar ist, ein höheres Gut darstelle als eine Welt ohne Freiheit und Freiheitswesen oder als eine Welt mit dem inneren Zwang zum Guten. Zumindest der Sinnanspruch menschlicher Freiheit zielt auf eine unbedingte Bejahung der Freiheit und ist ein Plädoyer für die Existenz von Freiheit, gerade auch dann, wenn sie zum Protest gegen alles Inhumane wird.

4 Der allmächtige und liebende Gott, der die Grenzen der kontingenten Welt in Kauf nimmt (malum physicum und malum metaphysicum) Wenn Gott, der Unendliche, die Welt und den Menschen als das real Andere zu sich schafft, so ist diese Welt notwendig durch Nicht-Notwendigkeit und Endlichkeit ausgezeichnet. Zur Endlichkeit der Welt aber gehören notwendigerweise Gesetzmäßigkeiten, die ihrerseits durch Endlichkeit bestimmt sind und Endlichkeit generieren. Was als natural law defense bekannt geworden ist (Kreiner/Loichinger 2010, 105–119; Reichenbach, 1976, 179–196), versucht darüber hinaus und spezieller die Legitimität einer Welt durch den Bezug auf die Ermöglichung von Freiheit zu begründen, in der durch physische und biologische Endlichkeiten und Begrenzungen Leid entsteht. Dies geschieht unter der Annahme, dass Gott diese Welt mit ihren Naturgesetzen – einschließlich des evolvierenden und prozesshaften Charakters der Kosmogenese  – in einer komplexen kosmischen Feinabstimmung als insofern bestmögliche Welt eingerichtet hat, dass in ihr organisches Leben in seiner Fülle hervorkommen und dadurch 253

bewusstes Leben und menschlich freie Vernunft in unbedingter Selbstbestimmung möglich werden kann. Eine Welt, in der moralische Freiheit möglich sein soll und die dem Menschen zur Gestaltung überantwortet werden kann, muss in minimalem Maße verstehbar sein. Sich eine Welt vorzustellen, in der es weder regulierende Gesetzmäßigkeiten, limitierende Begrenzungen noch gewaltige Naturvorgänge gibt und die deshalb völlig leidfrei bliebe, ist kaum vorstellbar. So bleibt die Frage, warum Naturgesetze so sind, wie sie sind und ob sie nicht in einem geringeren Maße das malum physicum implizieren könnten. Die Gegenfrage wäre allerdings, ob in einem Universum mit anderen Gesetzmäßigkeiten überhaupt moralische Freiheit vorkommen würde: „Es scheint mir also vernünftig zu sein, das malum physicum im Allgemeinen ebenso wie alle Grund- und Nebenbedingungen der Freiheit als unumgängliche, ungewollte Nebenfolgen der Evolution zu verstehen. Ihre Existenz wäre demzufolge zu vermeiden gewesen, wenn die Realisierung von mit Willensfreiheit ausgestatteten Wesen aufgehoben würde“ (Stosch, 2013, 68). Wenn die Welt das real Andere zu Gott, also das Nichtgöttliche ist, muss dies auch für den Tod und alle Endlichkeiten und das malum metaphysicum gesagt werden. Hätte Gott also besser gar keine Welt erschaffen sollen? Dies ist die Frage, die am Ende bleibt und die nur Jede/r für sich beantworten kann.

5 Der allmächtige und liebende Gott als Erlöser von Leid und Retter der Geschichte Allerdings bewährt sich die Allmacht eines unbedingt liebenden Gottes erst darin, dass er es vermag, die eröffnete Freiheitsgeschichte ohne Zwang zur freien Erwiderung der göttlichen Liebe und schließlich auch ohne Zwang zur Fülle des Lebens (Joh  10,10) durch die Aufhebung allen Leids (Offb 21,4) zu führen. Deshalb kann die Rettung von Welt und Geschichte und die Erlösung von Leid nur als befreiende und reale Transformation des Weltganzen und der konkreten Lebensgeschichten angesehen werden. Dies ist möglich, wenn Gott in jedem Moment der Geschichte innerlich gleichzeitig ist und in jedem Moment der Geschichte das Unabgegoltene wahrnimmt und als absolutes Bewusstsein bewahrt, um es zur Vollendung zu führen. Was für Gott in der Überfülle seiner lebendigen Gegenwart eingeholt ist, liegt für uns Menschen in der unabsehbaren Zukunft, die noch die Schranken des Todes zu überwinden hat, und darum nur im Modus der Hoffnung ersehnt werden kann. Weil die Bedingungen dieser Welt zeitbestimmt sind, kann Rettung und Erlösung nur endzeitlich, eschatologisch gefasst werden (Nitsche 2020, 163–197). Viele verbinden mit dieser rettenden und vollendenden Transformation einen neuen Himmel und eine neue Erde als die neue Welt Gottes (Offb 21,1–22,5) und damit die verwandelte 254

und erlöste Wiederbringung aller Dinge (Moltmann 2003, 165–188). Andere verstehen darin die Vollendung in der Wirklichkeit Gottes und in der Begegnung mit Gott (Küng 2017). So wird die Frage der Theodizee zur Frage nach dem eschatologischen Selbsterweis Gottes gegenüber seinen Geschöpfen: „Nur dann, wenn es eine bleibende Errettung, Befreiung aus dem Leid gibt, definitives Heil für die ganze Schöpfung, dauerhafte Versöhnung von Gott und Kreatur, nur dann lässt sich Gottes Schöpfungstat angesichts des Leids wirklich verantworten. Ein Gott, der auf Freiheit setzt, muss in seiner Gerechtigkeit diese Freiheit vollenden und nicht ins Leere, ins Nichts laufen lassen. Sagt Gott Ja zur Freiheit im Schöpfungsakt, so sagt er darin zugleich schon Ja zur Realisierung und Vollendung dieser Freiheit. Die Eschatologie also ist Antwort auf die Theodizee: die Hoffnung auf ein umfassendes Leben in Fülle, zugesagt den Lebenden und den Toten, die Hoffnung auf Versöhnung aller, sodass Gott alles in allem sein kann“ (Wendel 2016, 75).

Mit dieser endzeitlichen Versöhnung ist die Hoffnung verbunden, dass auch die Opfer der Geschichte in der Begegnung mit der einladenden und mitfühlenden Liebe Gottes aufgerichtet und zur Lebensfülle gebracht sind und die Täter der Geschichte im Angesicht der Liebe Gottes zu Recht gebracht werden und das eigene Zurückbleiben und Verfehlen im Selbstgericht eingedenk ist und gegenüber den Opfern zutiefst bereut wird. Darin wird die Freiheitsgeschichte nicht vergessen gemacht und der Mensch als Subjekt des (Un)Heils und Mitarbeiter am Heil ernst genommen: „Gott gibt dem Menschen Anteil an der Zeit, für die er selbst als der ursprungslos sich Vollziehende aufkommt, sodass es auch keine Zukunft für ihn gibt, die nicht als diese, bereits Gegenwart für ihn wäre“ (Striet 2013, 121; Stosch 2013, 50–54).

6 Für jetzt aber bleiben Hoffnung, Klage und praktische Theodizee Die „leidenschaftliche Rückfrage aus dem Leid“ (Metz 1990, 114) bewahrt vor der Verharmlosung des Leidens, der billigen Vertröstung oder der Aufhebung des Gottesnamens, wonach Gott der mit den Menschen und für die Menschen Da-seiende (Ex 3,14) ist. So versteht JHWH den Schrei Hiobs und seine Anklage gegen Gott (Hiob 29–31), die die Gerechtigkeit Gottes infrage stellt (Hiob 31, 35–36) und eben darin an Gott als Erlöser gerichtet bleibt (Hiob 19,25), als höchsten Akt des Glaubens. Die Klage des armen Beters findet noch im Schrei auf Golgotha als verzweifelter Schrei nach Sinngebung aus Nicht-Verstehen und zutiefst angefochtenem Vertrauen seinen Ausdruck: „Mein Gott, mein Gott, wozu (!) hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Oder mit Romano Guardini: „Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, 255

das Leid der Unschuldigen, die Schuld?“ (nach Böhnke 2007, 94). Wird die Rede von der Unbegreiflichkeit Gottes nicht als Stilllegung der Rückfrage aus dem Leid begriffen, sondern als Ausdruck des Nichtverstehens bei allem Bemühen und mit Jesus als Schrei nach Sinnstiftung gefasst, so kann die Unbegreiflichkeit des Leidens auch als Erfahrung der Unbegreiflichkeit Gottes empfunden werden (vgl. Rahner 1980, 463). Für die Situation unverständlichen, unschuldigen und unerträglichen Leidens ist eine Praxis des Protests und der Klage angemessen, die sich in der Tradition Hiobs und Jesu versteht. In der Klage richtet sich der Beter an Gott als Herrn der Welt und findet sich nicht damit ab, dass die bestehende Welt Gottes letztes Wort sein könnte. Wie Jesus in der Rezitation von Ps  22 Verlassenheitsgefühl, Unbegreiflichkeit und Auferweckungshoffnung verbindet, steht der Protest und die an Gott gerichtete Klage noch im Horizont des geretteten und aufgerichteten Lebens zur Fülle (Joh 10,10). Dies bleibt gläubige Hoffnung und macht den Kontrast zu erlebtem und als sinnlos erfahrenem Leiden umso schärfer. Bleiben nach Paulus Hoffnung auf Gott, Vertrauen in Gott und Liebe zu Gott und den Menschen, so ist die Liebe die Größte unter ihnen (1 Kor 13,13). Sie wird zum empathischen und solidarischen Aufstand des Lebens gegen alle Todesmächte und zu einem Aufstand gegen die Leiden erzeugenden Umstände des Lebens. In dieser Weise wird die Herausforderung der Theodizee christlich auch zur Aufforderung für eine Leid überwindende Praxis oder praktischen Theodizee (vgl. Stosch 2013, 112–126).

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Verantwortung Monika Bobbert

Eine meiner Nichten wollte für ihr mündliches Abitur das Thema „Verantwortung“ einreichen. Ich riet ihr ab mit dem Hinweis, dass sie dann möglicherweise zur Ethik im Gesamten geprüft werde. Der Hintergrund dieses Hinweises wird im Folgenden ausgeführt: Was traditionell im Kern unter Verantwortung verstanden wurde, inwiefern sich der Begriff der Verantwortung stark ausgeweitet hat und welche Anschlussfragen sich daraus ergeben, wird im ersten Kapitel hinführend, im zweiten Kapitel induktiv anhand von Beispielen aus unserem nahen und weiteren Umfeld und im dritten Kapitel systematisch zusammenfassend entfaltet. Abschließend setzt das vierte Kapitel Verantwortung ins Verhältnis zu Schuld und Sünde.

1 Zum Begriff und seiner Entwicklung Im Kern verweist der Begriff Verantwortung auf die Praxis des „Für-etwas-Rede-und-Antwort-Stehens“. Es gilt, sich für X gegenüber Y unter Berufung auf Z zu rechtfertigen.1 Vorausgesetzt wird bei der Zuschreibung von Verantwortung ein frei handelndes Subjekt. Auf welche Maßstäbe bzw. Normen wir uns beim Verantworten berufen, ist von zentraler Bedeutung. Daher tauchen rasch auch Begründungsfragen der normativen Ethik auf. Als Begriff kommt ‚Verantwortung‘ im Mittelhochdeutschen seit dem 15. Jahrhundert vor, und zwar vor allem im Rechtsbereich. Verantworten hieß damals, im Rahmen einer Anklage vor Gericht zu antworten, das heißt für sein Handeln einzustehen. Gleichzeitig hieß Verantwortung in der christlichen Vorstellung, sich vor Gott als höchstem Richter rechtfertigen zu müssen. Systematisch bedeutsam ist, dass Verantwortung seit Aristoteles bis heute eng mit dem Begriff der Zurechnung (imputatio) zusammenhängt: Schon im dritten Buch seiner Nikomachischen Ethik findet sich eine Imputationslehre (1109b30–1119b21), die aufzeigt, unter welchen Umständen Personen rückblickend Verantwortung zugeschrieben werden kann: Eine Handlung ist einem Menschen prinzipiell zurechenbar, sofern ‚Tatherrschaft‘ besteht, das heißt die Handlung gesteuert wird und insoweit freiwillig ist, als der/die Betreffende anders hätte handeln können. Affekthandlungen sind nur eingeschränkt zurechenbar. Beruht eine Handlung Vgl. für das Folgende die Übersichtsbeiträge von Holderegger 2006, Schwartländer 1974, Werner 2011.

1

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auf Unkenntnis oder einem Irrtum, ist entscheidend, ob der Verstoß eine gültige moralische Norm betrifft, die man hätte kennen können und sollen. Beziehen sich Unkenntnis oder Irrtum auf empirische Sachverhalte, ist entscheidend, ob dies unverschuldet und unvermeidbar war. Grundlegend ist zudem die Frage der Kausalität: Ohne einen gewissen kausalen Zusammenhang zu unterstellen, lässt sich Verantwortung nicht zuschreiben. Eine Ablösung des Begriffs der moralischen Pflicht durch den Begriff der moralischen Verantwortung diagnostizierte in den 1970er Jahren der Philosoph Schwartländer (1974): „Der Begriff der Pflicht wird heute vielfach abgelehnt, sofern mit ihm die Vorstellung von obrigkeitlichem Befehl, allseitiger Reglementierung, Unterdrückung des eigenen Willens und der spontanen Verhaltensweisen, kurz die Vorstellung von einem äußeren oder inneren Zwang verbunden wird, der der Freiheit des eigenen Wollens und der Spontaneität des Miteinanderlebens entgegengesetzt ist.“ (Schwartländer 1974, 1577 f.)

Obwohl der Begriff der moralischen Pflicht damit missverstanden wurde, wird heute häufig der Begriff Verantwortung als ‚moderner‘ Begriff für den gesamten Bereich des Moralischen herangezogen. Als philosophischer Grundbegriff in diesem Sinne bezieht sich ‚Verantwortung‘ dann nicht nur auf einzelne Entscheidungen und Handlungen. Vielmehr verleiht Verantwortung dem offenen Verhältnis von Mensch und Welt Ausdruck (Schwartländer 1974, 1580 f.). Der Mensch kann nur deshalb für die Welt verantwortlich sein, weil er im Sinne Kants durch Freiheit als Freiheit von der Natur und als Selbststand in der Natur gekennzeichnet und zur vernünftigen Selbstbestimmung fähig ist. Der moralischen Verpflichtung, sein Handeln an qua Vernunft akzeptierbaren allgemeinen moralischen ‚Gesetzen‘ zu orientieren, kann heute also auch mit dem Begriff der moralischen Verantwortung Ausdruck verliehen werden. Die Attraktivität des Verantwortungsbegriffs soll jedoch nicht über seine mögliche ethische Vagheit oder gar Leere hinwegtäuschen, da in erster Näherung recht unbestimmt ist, wofür jemand verantwortlich ist (vgl. Düwell 2008, 167 f.). Dies beginnt schon mit der Frage nach der ‚Reichweite‘ der Verantwortung: Gilt es, einzig den konkreten zwischenmenschlichen Umgang zu betrachten oder auch Fragen der Gestaltung der Gesellschaft und der Natur? Hans Jonas hat 1979 in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ mit seiner Technik- und Umweltkritik den Begriff der Verantwortung so weit gefasst, dass sich nicht mehr genau angeben lässt, wer was zu tun hat. Des Weiteren darf bei der Rede von moralischer Verantwortung nicht unerläutert bleiben, vor welcher Instanz jemand verantwortlich ist und welche Maßstäbe es einzuhalten gilt. Hinzu kommt die Problematik des Zeitraums: Klassisch lässt sich retrospektiv Verantwortung zuschreiben und auf dieser Grundlage auch Schuld feststellen. Mittlerweile wird verstärkt über prospektive Verantwortungsformen debattiert. Zukunftsfragen sind zeitlich offen: 260

Wie weitreichend muss ich, wie weit muss unsere heutige Gesellschaft für den Erhalt lebensnotwendiger Ressourcen künftiger Generationen Verantwortung übernehmen? Auch räumlich gesehen stellt sich die Frage der Eingrenzung: Verantwortung lokal oder global? Fehlt eine Klärung dieser Fragen, droht Verantwortung zur leeren Moralformel zu werden. Schließlich betrachten aktuelle Debatten über Natur- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit nicht nur individuelle moralische Subjekte und deren zu verantwortende Entscheidungen und Handlungen, sondern auch Aktivitäten von Institutionen (vgl. u. a. Ekardt 2010). Welchen ‚Entitäten‘ kann und soll angesichts weltweiter Probleme moralische Verantwortung zugeschrieben werden? Neben einer ‚Mitverantwortung‘ von Individuen für kollektive Aktivitäten (vgl. Apel 2001) muss also unter Umständen auch die Verantwortung von Organisationen und Staaten präzisiert werden (vgl. z. B. Beck 2016; Neuhäuser 2011). Als Zwischenfazit einer gewissen ‚Karriere‘ des Begriffs lässt sich festhalten, dass die Verwendung des Begriffs Verantwortung seit den 1970er Jahren insbesondere in der angewandten Ethik stark zugenommen hat. Der Begriff Verantwortung hat sich nach einem zunächst fast synonymen Bedeutungsgehalt mit ‚moralischer Pflicht/Verpflichtung‘ eigenständig weiterentwickelt. Der Verantwortungsbegriff wurde im Unterschied zu einem auf konkrete Individuen bezogenen Begriff moralischer Rechte und Pflichten ausgeweitet, was Raum und Zeit sowie ‚kollektive‘ moralische Akteure anbelangt. Hinzu kommt, dass das Problem der Zurechnung von Verpflichtungen stärker in den Blick rückt, was ethischen Problemstellungen in einer komplex organisierten Gesellschaft besser zu entsprechen scheint (vgl. Jonas 1984, 15). Außerdem hat der Theorienpluralismus in der Ethik mit den zugehörigen Begründungsfragen dazu beigetragen, dass sich die Debatte über die Art der moralischen Kriterien und deren Begründung über die kantische Tradition hinaus erstreckt, also auch für andere Theorietraditionen, etwa eine utilitaristische oder kohärentistische, offen ist. Somit wird stärker deutlich, dass der Begriff der Verantwortung sich ohne Zuordnung zu einer ethischen Theorie inhaltlich nicht füllen lässt. Zwar wird in Bezug auf Verantwortung – ähnlich wie in Bezug auf Moral – darüber diskutiert, ob der Begriff nur formal oder immer auch material bestimmt werden kann (vgl. Düwell 2008, 168  f.; Bayertz 1995). Letztlich wird aber eine inhaltliche Füllung des normativen Maßstabs unverzichtbar sein, denn nur so lässt sich ausmachen, über welche Verantwortung wir reden.

2 Facetten und Unterscheidungen im Begriff Verantwortung 2.1 Moralische Verantwortung und andere Formen der Verantwortung Der Begriff Verantwortung meint im Kern, sich für etwas gegenüber jemandem oder einer Instanz zu rechtfertigen. Diese Instanz kann die Moral im Sinne von Sittlichkeit, das individuelle 261

Gewissen, das juridische Recht oder eine Religion sein. Vor Gericht etwa werden rechtliche Fragen von Verantwortung und Schuld mit Blick auf Rechtsnormen geklärt. Lehrer:innen, die verantwortlich für die Pausenaufsicht sind, haben schul- und situationsbezogen bestimmte Aufgaben, die sich aus Absprachen, tradierten Üblichkeiten und Rechtsvorgaben ergeben. Einen Teil dieser Verantwortung können sie an Schüler:innen delegieren, etwa an Ordner:innen, die auf das Abstandhalten in der COVID-19-Pandemie achten, wenn alle Schüler:innen wieder ins Schulgebäude möchten. Gleichzeitig haben Lehrer:innen bei ihrer Pausenaufsicht die rechtliche und moralische Verantwortung dafür, dass Schüler:innen keinen Schaden erleiden. Diese Verantwortung können und dürfen sie nicht delegieren. In einer arbeitsteiligen Organisation, etwa bei der Versorgung von Patient:innen im Krankenhaus, lässt sich moralische bzw. rechtliche Verantwortung unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen regelhaft aufteilen, sodass von Sachverantwortung in Form von Delegations-, Übernahme-, Ausführungs- und Organisationsverantwortung die Rede ist.2 Verantwortung kann sich auch auf spezifische Aufgabenbereiche beziehen, die nicht per se schon dem Bereich der Moral oder dem Recht zugeordnet sind, sondern die sich zunächst aus einer Funktion oder Rolle ergeben. So ist ein:e minderjährige:r Babysitter:in für bestimmte Aufgaben verantwortlich und ein:e Schiedsrichter:in im Verein für die Einhaltung von Regeln auf dem Spielfeld. Die vielfältigen Verantwortlichkeiten im Sinne von Zuständigkeiten und Vereinbarungen können miteinander in Konkurrenz stehen; sie sind einander regelhaft über- oder untergeordnet. Da die moralische Ebene jedoch die oberste (der Vernunft verantwortliche) ‚Prüfebene‘ für unser Handeln darstellt und sich durch ethische Reflexion klären lässt, wer wozu grundsätzlich verpflichtet ist, ist das moralische Verständnis von Verantwortung allen anderen Verantwortungsformen vorgeordnet.

2.2 Verantwortung theologisch: christlich motiviert, vernünftig begründet Nähert man sich dem Verantwortungsbegriff theologisch, so steht im Mittelpunkt, dass sich der Mensch letztendlich vor Gott als dem Grund und Ziel alles Geschaffenen zu verantworten hat3. Insofern umfasst der theologische Verantwortungsbegriff alle Dimensionen von Verantwortung. Die theologische Deutung löst den moralischen Verantwortungsbegriff aus der Einengung auf die Frage der Zurechenbarkeit, indem sie die christliche Struktur der 2 3



Vgl. für die Frage arbeitsteiliger Verantwortung im Gesundheitswesen ausführlicher Bobbert, 2017. Vgl. weiterführend u. a. Holotik 1990, Kreß 2016, Mieth 1982, Reuter 2015.

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Verantwortung aufzeigt: Jede:r ist als unvertretbar Einzelne:r von Gott beim Namen gerufen. Durch Tod und Auferstehung Jesu Christi ist erschlossen, dass Verantwortung vor Gott bedeutet, auf seine vorgängige Anrede zu antworten. Eine christliche Anthropologie deutet den Menschen als verantwortliches Selbst, das mit Gott als dessen Ebenbild eine einzigartige Beziehung verbindet. Die damit verbundene Wertschätzung ist das starke Motiv, sich selbst und alle Mitmenschen zu achten. Zudem ist der Mensch von Gott zur Sorge für eine gute und gerechte Ordnung der irdischen Güter und zur kreativen Mitgestaltung aufgerufen. Gottesliebe und Menschenliebe  – oder anders gesagt: Gotteserfahrung und Weltverantwortung  – sind also untrennbar miteinander verbunden4. Die von der Dynamik des Schon und Noch-Nicht geprägte Reich-Gottes-Botschaft ermutigt dazu, in der Nachfolge Jesu Verantwortung für die Gestaltung einer gerechten Welt zu übernehmen und dabei die Würde und Freiheit der Anderen zu achten. Christ:innen sind in besonderer Weise aufgefordert, moralisch verantwortlich zu handeln, weil ihr Handeln und damit die theologische Ethik als Reflexionsdisziplin in der christlichen Botschaft gründen. Die Nachfolge Jesu Christi – u. a. mit der Option für Arme und Ausgegrenzte – beinhaltet gesellschaftskritisches Potential und kann zur Aufdeckung bzw. Hervorhebung ethischer Probleme führen. Weil Gott uns als vernunftbegabte, freie und zur Verantwortung fähige Menschen geschaffen hat und weil sich Fragen moralischer Verantwortung für alle Menschen gleichermaßen stellen, muss die Begründung ethischer Urteile mit philosophischen Mitteln erfolgen. Sobald sich also konkrete Fragen der Verantwortung und damit nach richtigen und falschen moralischen Urteilen stellen, sind die geltend gemachten ethischen Kriterien auszuweisen und einschlägige Erkenntnisse aus den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften einzubeziehen (vgl. Auer 2016; Bobbert 2016; Mieth 2002).

2.3 Verantwortung zwischen Deskription und Evaluation Die Rede von Verantwortung kann moralisch stark oder schwach eingefärbt sein. Denn der Begriff bewegt sich in der Alltagssprache, aber teils auch in der ethischen Reflexion auf einem Kontinuum zwischen den Endpunkten Deskription und Evaluation. So sprechen wir umgangssprachlich z. B. davon, dass im Jahr 2021 das Tiefdruckgebiet „Bernd“ für die starken Regenfälle und Wassermassen im Ahrtal verantwortlich war. In unserer – zumindest hier moralisch unreflektierten – Umgangssprache klingt lediglich ein Aspekt von Verantwortung an: der der Kausalität. Ein zentraler Aspekt hingegen fehlt: ein moralisches Subjekt, das wissentlich und

4

Vgl. dazu ausführlicher Mieth 1982.

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willentlich entscheiden und handeln kann. Insofern wird in diesem speziellen Fall Verantwortung rein deskriptiv verwendet. Deskriptiv, aber rasch auch moralisch evaluativ sind Sätze zur Aufgabenverantwortung im Sinne einer Absprache bzw. Berufsaufgabe, so z. B.: Herr Bauer und Frau Kaiser sind verantwortlich für die Aufsicht in der großen Pause. Diese beiden Personen sind also heute auf dem Pausenhof und beobachten das Geschehen. Zugleich klingen damit – alle Beamt:innen und Lehrer:innen im öffentlichen Dienst wissen, wovon die Rede ist – bereits auch normative Ebenen an. Wie sieht es mit der moralischen, wie mit der rechtlichen Verantwortung aus, wenn während der Pausenaufsicht Schneebälle geworfen oder Mädchen belästigt werden? Eine zunächst deskriptive Aufgabenverantwortung kann also rasch in eine moralische oder rechtliche Verantwortung übergehen.

2.4 Verantwortung für Tun und Unterlassen Mit dem angeführten Pausenhofbeispiel lässt sich außerdem verdeutlichen, dass moralische Verantwortung sich unter bestimmten Bedingungen nicht nur auf ein Tun, sondern auch auf ein Unterlassen beziehen kann: Nicht hinzuschauen oder nicht einzuschreiten kann eine Verantwortungsverletzung darstellen – vorausgesetzt, es wird eine (als berechtigt ausgewiesene) moralische oder rechtliche Norm verletzt, die ein Eingreifen gebietet, die beteiligten Personen nehmen die Situation wahr und es wäre ihnen möglich einzuschreiten. Eine gewisse Mitverantwortung für ein Unterlassen lässt sich im Übrigen in abgeschwächter Form auch den Mitschüler:innen auf dem Pausenhof zuschreiben, wenn sie andere gefährden oder wenn sie Verletzten keine Hilfe leisten.

2.5 Verantwortung klassisch: Voraussetzungen und geteilte Verantwortung ‚Klassisch‘ wird Verantwortung Individuen retrospektiv zugeschrieben. Wer wofür Verantwortung hat, muss geklärt werden. Aber auch die Fragen, ob die beteiligten Personen fähig waren, für einen bestimmten Bereich Verantwortung zu tragen und ob sie eine Schädigung hätten vorhersehen können, waren Gegenstand der klassischen Imputationslehre. Folgendes Beispiel wirft typische Fragen der ‚Individualverantwortung‘ auf: Die Eltern von Johannes, 7 Jahre alt, und Tim, 5 Jahre alt, möchte gern wieder einmal gemeinsam am Abend ausgehen. Sie finden, dass die Kinder nun groß genug sind. Der ältere Sohn Johannes, kann sie anrufen, wenn etwas sein sollte. Tim schläft bereits, als die Eltern 264

gehen. Johannes darf noch aufbleiben und im Wohnzimmer spielen. Statt zu spielen, schaltet er den Fernseher ein, zappt durch die Kanäle und bleibt bei einem Action-Film mit lautstarken Verfolgungs- und Gewaltszenen hängen. Im Kinderzimmer wird Tim wach. Er läuft zu Johannes, doch der schickt ihn zurück ins Bett. Tim ist übellaunig, will nicht weiterschlafen und fängt an, wild auf dem Trampolin herumzuspringen. Plötzlich ist ein dumpfer Schlag zu hören. Danach schreit Tim ununterbrochen. Johannes sieht, dass Tim auf dem Boden liegt, sich vor Schmerzen krümmt und seine rechte Hand verdreht ist. Als ob das nicht genug wäre, erbricht er noch. Johannes gerät in Panik, schafft es aber, seine Eltern anzurufen. Tim muss in die Klinik, da das Handgelenk gebrochen ist und eine schwere Gehirnerschütterung vermutet wird. Wer trägt die Verantwortung für Tims Sturz? Die Eltern, der ältere Bruder, Tim selbst oder die Firma, die das Trampolin, bei dem das Sicherheitsnetz nach kurzer Zeit defekt war und deshalb weggeworfen wurde, produziert hat? Wie lässt sich die Zuschreibung von Verantwortung aufteilen? Unstrittig sind in diesem Fallbeispiel die impliziten ethischen Normen des Nicht-Schadens, die Pflicht der Prävention gravierender Gesundheitsschäden und die Pflicht zu helfen. Mittels Lebenserfahrung und Entwicklungspsychologie wird die Frage der Verantwortungsfähigkeit (für welche Handlungen oder Bereiche?) des größeren Bruders zu klären sein. Zu diskutieren ist außerdem die Frage, ob und wenn ja, welche Verantwortung die Eltern an den größeren Bruder delegieren durften. Recht strittig dürfte die Frage sein, welches Risiko die Eltern und der Hersteller des Trampolins eingehen durften.

2.6 Verantwortung für „historisches Unrecht“ Angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Nationalsozialismus sehen wir Deutschen uns als Nachfahren in der Verantwortung. Abgesehen davon, dass bis heute komplexe Fragen retrospektiver Verantwortungszuschreibung und damit Schuld der zur Zeit des Nationalsozialismus Lebenden durch Mittäterschaft, Mitwirkung auf die eine oder andere Weise sowie durch Unterlassen und Geschehenlassen weiterhin zu bearbeiten sind, ist bei ‚historischem‘ Unrecht neben individueller Verantwortung und Schuld auch von kollektiver Verantwortung die Rede (vgl. Schefczyk 2012). Abgesehen von der moralischen und rechtlichen Verpflichtung zur Aufarbeitung schwerer systematischer Menschenrechtsverletzungen stellen sich Fragen nach einem verantwortlichen Umgang mit der Vergangenheit: Die Opfer als Opfer anzuerkennen, Wege der Wiedergutmachung und Versöhnung anzustreben, an das geschehene Unrecht zu erinnern und der Opfer zu gedenken, wirkmächtige Faktoren und Mechanismen der Verursachung zu analysieren, um 265

künftig schon den Anfängen neuen Unrechts zu wehren, sind sowohl individuelle als auch gesellschaftliche und staatliche Aufgaben, mit denen wir versuchen, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Nach wie vor wird öffentlich darüber diskutiert, worin unsere prospektive Verantwortung konkret besteht, das heißt welche Mittel und Wege erforderlich, angemessen und wirksam sind. Im Vorfeld der Einweihung des Mahnmals für die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten im Holocaust ermordeten Jüd:innen 2005 in Berlin wurde u. a. über die Verbindung von Kunst und Bildung debattiert: Das Holocaust-Mahnmal des Architekten Peter Eisenman beim Berliner Reichstag besteht aus einem wellenförmigen Feld aus 2711 Betonstelen, das sich von allen Seiten begehen lässt. Durch die unterschiedlich hohen Säulen und labyrinthartigen Gänge wird es denkbar, dass sich bei dem/der Besucher:in ein Verständnis des Unvorstellbaren einstellt. Unter dem Mahnmal liegt der Ort der Information, der in Themenräumen die im Nationalsozialismus begangenen und geduldeten Menschheitsverbrechen dokumentiert. Wolfgang Thierse hielt 1999 im Deutschen Bundestag vor der Entscheidung, „die wir aus eigener Verantwortung mit Blick auf unsere eigenen Nationalgeschichte und die Bedingungen ihres Erinnerns zu treffen haben“, eine vielbeachtete Rede für diese Form des Mahnmals: „Der Satz ‚Du sollst nicht morden‘ ist […] einer über die deutsche Vergangenheit. Heutzutage fürchtet keiner, daß die Deutschen wieder ein Volk ermorden werden. Die Mahnung ist also überflüssig. Wenn ich einen Satz für das geplante Denkmal formulieren müßte, so lautete er: Du sollst nicht zuschauen. […] Historische Aufklärung kann politisches Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung bringen. Aber Trauer um die Toten, Empathie mit den Opfern stellen sich dadurch noch nicht ein. Orte des Gedenkens hingegen zielen auf Empathie, sie entwickeln – so sie gelungen sind – eine begriffslose Ausdruckskraft, eine geradezu sinnliche Wucht. Auch auf diese Weise stellt sich Erkenntnis ein – aber nicht durch Lernerfahrung, sondern durch Evokation. […]  Feinfühligkeit und Empfindsamkeit sind nicht dauerhaft verfügbare Ressourcen. Tut das Hinsehen weh, wendet sich der Blick ab. Ein Denkmal, das im positiven Sinne ‚anstößig‘ ist, weh tut, braucht die kommunikative Hinführung und Auseinandersetzungsmöglichkeit. Wer die Menschen mit ihren Empfindungen alleine läßt, überläßt sie dem allzu verständlichen Rückzug ins Vertraute, Gewohnte, in  – und sei es nur vermeintlich – angstfreie Räume. Raul Hilbergs Mahnung, ‚Du sollst nicht zuschauen‘, setzt zunächst Hinschauen voraus, bevor an Widerstehen überhaupt zu denken ist. Wer mit dem Leid des Hinschauens alleingelassen wird, dem bleibt nur der Rückzug“ (Thierse 1999).

266

Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, aber auch mit Blick auf internationale Aufgaben der Zukunft, etwa den sich abzeichnenden Kalten Krieg und die kommunistischen Regime des Ostens, verabschiedete 1948 der neu gegründete ökumenische Rat der Kirchen in Amsterdam das Leitbild einer „verantwortlichen Gesellschaft“, die sich an Freiheit und Gerechtigkeit orientieren solle (vgl. World Council of Churches 1948; Honecker 2016). Eine primäre Verantwortung des Rats bestehe darin, dass die Kirchen bei internationalen Problemen als Medium der gemeinsamen Beratung und Aktion dienen, die christliche Position formulieren und diese wirksam einbringen (vgl. World Council of Churches 1948, 56 f.). Welche moralischen Maßstäbe die internationalen Problemanzeigen leiten sollten und wann welche Aktionen erforderlich sein würden, um verantwortungsvoll zu agieren, blieb offen – zumal es sich um die erste Vollversammlung mit einer großen Agenda handelte. Vorrangig war damals, dass sich alle beteiligten Kirchen auf ihre Verantwortung für die Welt verständigen konnten.

2.7 Verantwortung von Institutionen Nachdem Staaten oder einer Gesellschaft kollektiv Verantwortung zugewiesen werden konnte, diese aber letztlich unbestimmt blieb oder auf individuelles Handeln zurückgeführt wurde (vgl. die Nürnberger Prozesse 1948 gegen Einzeltäter:innen5 und die Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten), erfolgt heute zunehmend eine Ausweitung des Verantwortungsbegriffs in Bezug auf Institutionen. Bereits der Skandal um das Medikament Contergan des Pharmaunternehmens Grünenthal in den 1960er Jahren und die internationale NGO-Kampagne gegen aggressives Marketing und den Verkauf von Babynahrung durch den Konzern Nestlé in Entwicklungsländern in den 1970er Jahren machten deutlich, dass es nicht ausreicht, Einzeltäter:innen moralische und rechtliche Verantwortung zuzuschreiben und lediglich auf diese Weise Schuld zu attestieren. In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte insbesondere die Rechtswissenschaft den Verantwortungsbegriff weiter. Nicht zuletzt zeigte der sogenannte (Diesel-)Abgasskandal Defizite der ‚klassischen‘ Verantwortungszuschreibung auf. Eine Reihe von überwiegend illegalen Manipulationen verschiedener Autohersteller zur Umgehung gesetzlich vorgegebener Grenzwerte für Autoabgase führte zu diesem Skandal, der mit der öffentlichen Bekanntmachung, dass die Volkswagen AG eine illegale Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung

5

Einzig das Unternehmen IG-Farben wurde in Nürnberg auch vor Gericht angeklagt. Es kam aber nicht zu einer Verurteilung.

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ihrer Diesel-Fahrzeuge verwendete, im Jahr 2015 begann. Im Zuge der Strafverfolgung von Einzelpersonen zeigte sich, dass die Ingenieure angesichts unrealistischer Zielvorgaben der Leitungskräfte und aus Loyalität zu ihrem Unternehmen versteckte Abschaltmechanismen programmiert hatten. Die Leitungsgruppe hatte viele Jahre vor Bekanntwerden des Skandals die Maßnahmen angeordnet oder von diesen gewusst oder aber den von ihnen beförderten und schließlich manifest gewordenen Tendenzen der Belegschaft nicht entgegengewirkt. Moralisch wie rechtlich zeigt sich hier, dass – über Einzelpersonen hinaus – Organisationen wie Unternehmen und Verbänden Verantwortung zugeschrieben werden sollte, da sich die betrügerischen Machenschaften nicht erschöpfend in den Handlungsketten konkreter Individuen erfassen lassen. Entsprechend behauptet sich in der Ethik und im Recht zunehmend die Tendenz, dass Institutionen als solche neben Individuen Verantwortung tragen und zur Rechenschaft gezogen werden sollten.6

2.8 Verantwortung für Nachhaltigkeit und zukünftige Generationen Seit den 1970er Jahren fordern Protestbewegungen Natur-, Umwelt- und Klimaschutz. Seit 2018 setzen sich weltweit Schüler:innen und Studierende in der Bewegung „Fridays for Future“ für schnelle und effiziente Klimaschutz-Maßnahmen ein. Klimapolitik solle sich nicht nur auf Staaten und Konzerne beziehen, sondern insbesondere auf die Menschen, die unter den Folgen zu leiden und keine sichere Zukunft vor sich hätten. Nach dem Vorbild der Initiatorin Greta Thunberg gehen Schüler:innen freitags während der Unterrichtszeit auf die Straßen und protestieren oder führen Online-Aktionen durch. „Wir streiken, bis Ihr handelt!“ Regierende und andere Entscheidungsträger sowie die Elterngeneration hätten ihre Verantwortung für die Umwelt und zukünftige Generationen wider besseres Wissen lange nicht wahrgenommen, so der Vorwurf, und sollten ihrer Verantwortung endlich gerecht werden. Zum einen wird den älteren Generationen retrospektiv Schuld durch Ressourcenverbrauch und Untätigkeit angesichts des Klimawandels zugewiesen. Zum anderen ist jedoch für die „Fridays for Future“-Bewegung, ähnlich wie für frühere kritische Bürger:innenbewegungen, die Frage der zutreffenden Analysen und wirksamen Lösungen neuralgisch: Wie können wir prospektiv Verantwortung übernehmen, wenn individuelle und lokale oder gar nationale Strategien nicht viel ausrichten? Zudem sind Lösungswege mit Unsicherheit bzw. Risiken behaftet. Welche Art von Risiken in Kauf genommen werden dürfen, bedarf einer eigenen ethischen Bewertung (vgl. z. B. Ropohl 1994). Wie stark sich die Rede von Zukunftsverantwortung im Sinne einer moralischen Verantwortung für die Weiterexistenz der menschlichen Gemeinschaft aus 6



Vgl. für die Ethik u. a. Beck 2016; Neuhäuser 2011.

268

ethischer und interdisziplinärer Sicht präzisieren und argumentativ ausstatten muss, zeigt die Vielzahl komplexer umweltethischer Reflexionen (vgl. z. B. Ott 2011; Vogt 2021). Die Notwendigkeit globalen Umsteuerns und die hohe Zukunftsverantwortung tendieren dazu, entweder die sachbezogene und ethische Komplexität durch schnelles Handeln zu übergehen oder aber durch ‚Verantwortungsdiffusion‘ und die Frage, inwieweit Handlungen und Entscheidungen überhaupt positive Effekte zeitigen können, in Lethargie zu verfallen.7 Dass die christliche Perspektive nochmals in besonderer Weise zum Umdenken auffordert, um die Schöpfung zu bewahren und weltweit soziale Gerechtigkeit zu fördern, macht die Umweltenzyklika „Laudato si“ deutlich8. Mit ihr widmete sich 2015 erstmals ein päpstliches Rundschreiben in Gänze dem Thema Ökologie. Papst Franziskus bietet theologisch-ethische Orientierung in Bezug auf die ökologische Verantwortung an. Seine ‚ganzheitliche‘ Herangehensweise bezieht neben der klassischen Trias nachhaltiger Entwicklung in Bezug auf Umwelt, Wirtschaft und Soziales zusätzlich kulturelle Aspekte wie die jeweiligen lokalen Lebenswirklichkeiten und Traditionen unter Beteiligung der lokalen Akteur:innen ein. Insgesamt gebühre dem globalen Gemeinwohl und dem Ziel einer generationenübergreifenden Gerechtigkeit gegenüber partikularen ökonomischen oder politischen Interessen Vorrang. Der Papst macht auch deutlich, dass sich die Ziele nur in Zusammenarbeit mit vielfältigen Akteur:innen und Entscheidungsebenen unter Heranziehung wissenschaftlicher Forschung umsetzen lassen. Einen speziellen Beitrag zur Frage der ökologischen Verantwortung leistet Papst Franziskus, indem er auf die christliche Tradition mit Haltungen wie Genügsamkeit und Fürsorge verweist – statt Wegwerfkultur und Ausbeutung. Das individuelle und gesellschaftliche Umdenken und Einüben solcher Haltungen trage zur Verantwortung für eine Erde, die Gott gehöre, bei. Aus der Sicht einer Ethik des guten Lebens bzw. Strebensethik kann in Bezug auf Umweltprobleme das Einüben von Tugenden, die eine nachhaltige Lebensweise unterstützen, Ausdruck von Verantwortung sein. Die beiden Perspektiven ergänzen sich also gegenseitig. Eine moralisch-normative bzw. Sollensethik muss sich zur Präzisierung von Verantwortung jedoch auf ethische Kriterien stützen, die vernunftgemäß und allgemein nachvollziehbar sind. Doch ist dies leichter gesagt als getan. Strittig in Bezug auf die Verantwortung für Ökosysteme und zukünftige Generationen sowie einen nachhaltigen Umgang mit begrenzten Ressourcen ist neben der Zeitspanne der Betrachtung die Frage, welche moralischen Ansprüche im Einzelnen bestehen. Offen ist zudem in vielen Fällen, inwieweit individuelle oder kollektive Akteure, darunter auch Staaten, Einfluss nehmen können. Außerdem ist strittig, welche Maßnahmen ausreichend wirksam sein werden und welche Risiken eingegangen werden dürfen. Vgl. ausführlich zum Motivationsproblem in der Umweltethik Baumgartner 2022. Vgl. Papst Franziskus 2015; vgl. für diesbezügliche Interpretationen Heimbach-Steins/Schlacke (Hg.) 2019.

7 8

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In einer modernen Gesellschaft bzw. Weltgemeinschaft sind die Zurechnungsprobleme in Bezug auf die Folgen von arbeitsteilig organisierten, durch Technik und soziale Systeme vermittelten Handlungszusammenhängen äußerst schwer zu bearbeiten. Denn zwischen den Handlungsfolgen verschiedener Akteur:innen entstehen komplexe Wechselwirkungen. Damit sind die Abschätzungen der Folgen von Handlungen mit noch größerer Unsicherheit behaftet als sonst schon. Außerdem fehlen auf internationaler Ebene Institutionen, die moralische Verantwortlichkeiten und damit einhergehende Entscheidungen und Handlungen erfolgreich durchsetzen könnten. Es fragt sich also, wie weit moralische Verantwortung für das Ausmaß der Problematik ausreicht bzw. wie der Begriff in der ethischen Reflexion angemessen eingesetzt werden kann.

3 Verantwortung formal und material 3.1 Verantwortung als mehrstelliger Relationsbegriff Verantwortung ist ein mehrstelliger Relationsbegriff: In der Regel wird der Begriff mindestens als dreistellige Relation konzipiert: Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsgegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Verantwortungsinstanz) verantwortlich. Um den normativen Bezugspunkt der Verantwortung hervorzuheben, ist eine vierstellige Relation sinnvoller (vgl. Werner 2011,  543): Jemand ist für etwas vor oder gegenüber jemandem (Verantwortungsinstanz) unter Berufung auf einen bestimmten normativen Maßstab (ethische oder andere Kriterien) verantwortlich9. Damit lässt sich nicht nur zwischen Verantwortungsinstanzen wie der Moral, dem Recht oder der Religion unterscheiden, sondern auch zwischen den normativen Maßstäben, die herangezogen werden: ethische Normen (in Abhängigkeit von ethischen Theorien), rechtliche Normen oder religiöse Vorgaben. Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen retrospektiver und prospektiver Verantwortung. Im Beispiel gesprochen retrospektiv: Der/Die Bademeister:in ist verantwortlich für den Tod des Schwimmers/der Schwimmerin. Oder prospektiv: Der/Die Bademeister:in ist verantwortlich für die Sicherheit der Badegäste im Schwimmbecken. In Bezug auf das Verantwortungssubjekt müssen Freiheit und Handlungsfähigkeit geklärt werden. War die Person sich über die Situation im Klaren und hätte sie anders handeln können? Wenn etwas Wichtiges nicht gewusst wurde: Hätte man es wissen können? Lag Nachlässigkeit vor? Gab es Mitverantwortliche, deren Aufgabe es gewesen wäre, Wissen oder Informationen

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Nicht eingegangen werden kann in diesem Rahmen auf Konzeptionen, die den Verantwortungsbegriff als fünf- oder sechsstellige Relation konstruieren.

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weiterzugeben? Oder waren die Geschehnisse so ungewöhnlich, dass man sie nicht voraussehen konnte? In Bezug auf den Verantwortungsgegenstand bzw. -bereich muss zum einen ein mehr oder weniger enger Kausalzusammenhang zwischen der Handlung oder Unterlassung und der eintretenden Schädigung angenommen werden. Schwierig wird die Verantwortungszuschreibung, wenn es sich um Handlungsketten handelt, an denen mehrere Akteur:innen beteiligt sind. Eine retrospektive Verantwortungszuschreibung wird zudem durch die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Handlungsfolgen moduliert. So macht ein Handeln unter Unsicherheit die Zuschreibung von Verantwortung sehr viel schwieriger. Außerdem hat das Verantwortungssubjekt eine Risikoeinschätzung und -bewertung vorgenommen, die für die retrospektive Verantwortungszuschreibung bedeutsam ist: Hätte ein:e Autofahrer:in damit rechnen müssen, dass er/sie bei einer Geschwindigkeit von 70 km/h innerorts um Mitternacht nicht mehr rechtzeitig für eine:n Fußgänger:in bremsen konnte?

3.2 Verantwortung bedarf der Einbettung in einen ethischen Ansatz Verantwortung tendiert dann zu inhaltlicher Leere, wenn zwar ein Subjekt sich gegenüber jemandem verantworten muss, also in einer dialogischen Beziehung steht und den Anspruch des Sich-Rechtfertigens vor der Verantwortungsinstanz anerkennt, wenn jedoch nicht klar ist, welche normativen Maßstäbe zu berücksichtigen waren oder in Zukunft zu berücksichtigen sein werden. Aus ethischer Sicht kann es keine Rede von Verantwortung und erst recht keine Zuschreibung von Verantwortung ohne impliziten oder expliziten Bezug auf ethische Normen geben. Da ethische Normen und darauf bezogene Urteile nicht lediglich behauptet, sondern mit guten Gründen ausgewiesen werden müssen, hängt die Zuschreibung von Verantwortung von demjenigen ethischen Ansatz ab, der im Hintergrund steht: Ein ethischer Ansatz in kantischer Tradition wird von Verantwortung sprechen, wenn grundlegende individuelle Rechte und Pflichten zu achten sind bzw. verletzt werden. Ein ethischer Ansatz in utilitaristischer Tradition wird umfangreicher von Verantwortung reden, da permanent danach getrachtet werden muss, die Nutzensumme aller von einer Handlung Betroffenen zu maximieren. Ein ethischer Ansatz, der mit prima-facie-Prinzipien arbeitet, wird Verantwortung in Bezug auf die Einhaltung der aufgestellten Prinzipien einfordern10. Wer in der (theologischen) Ethik also von Ver-

Für den Begriff Verantwortung gilt methodisch wie für den Begriff Autonomie oder den Begriff Gerechtigkeit, dass er zu einem ethischen Ansatz bezogen werden muss, um inhaltlich näher bestimmbar zu sein. Vgl. Bobbert 2005 sowie Bobbert 2009.

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antwortung redet, muss sich mit unterschiedlichen ethischen Ansätzen befassen11 oder bei der Rede von moralischer Verantwortung zumindest darlegen, vor welchem Theoriehintergrund die Zuschreibungen erfolgen.

4 Verantwortung, Schuld und Kontingenz Moralische Schuld angesichts des Verfehlens einer ethischen Norm oder eines ethischen Urteils stellt die Kehrseite der Übernahme von Verantwortung bzw. Zuschreibung von Verantwortung dar12. Vorausgesetzt wird dabei, dass die betreffende Person zur freien Entscheidung zwischen Gut und Böse fähig ist, eine Handlung bewusst und selbstbestimmt vollzogen hat und aus der Perspektive dieser Person Alternativen hätten ergriffen werden können. Ein strafrechtliches Schuldurteil wird extern, über ein Gerichtsverfahren, vom/von der Richter:in gefällt. Recht und Rechtsnormen stellen relativ klare normative Maßstäbe dar. Im Recht werden ‚von außen‘ unter Berücksichtigung der persönlichen Bedingungen und der Situation retrospektiv Verantwortung und Schuld in Form eines Gerichtsurteils zugeschrieben13. Ein moralisches Schuldurteil hingegen kann die betreffende Person nur selbst fällen. Nur sie kann letztlich vor ihrem Gewissen beantworten, ob dem Sollen ein Können entsprach und ob die entsprechende Handlung bewusst, freiwillig und in Antizipation möglicher Folgen und Alternativen vollzogen wurde. Von moralischer Schuld kann zudem nur die Rede sein, wenn die moralisch-normative Forderung, gegen die verstoßen wurde, unbedingt gilt. Der unbedingte Geltungsanspruch muss zudem vom Gewissen des Betreffenden anerkannt werden. Religiöse Schuld, das heißt die Erfahrung des Unheil-Seins, der Sünde, weil sich der Mensch von Gott entfernt hat (etwa, weil er sich oder einem Mitmenschen Schaden zugefügt hat), kann ebenso wenig wie die moralische Schuld von Außenstehenden beurteilt werden14.

Vgl. für eine Übersicht über ethische Theorien z. B. Düwell (Hg.) 2011, 25–242; Ott 2001. Vgl. für das Folgende auch Bobbert 2017, 122 ff. 13 Im Recht sind Fragen von Verantwortung und Schuld durch jahrhundertelange Rechtspraxis und Rechtswissenschaft sehr ausdifferenziert. So wird u.  a. unterschieden zwischen Verantwortung  – Schuld und Haftung – Ahndung: Im Strafrecht wird mit der Bestrafung Verantwortung und Schuld zugeschrieben, das heißt das Handeln einer Person wird mit einem staatlichen Tadel belegt. Anders als bei dieser persönlichen Verantwortlichkeit geht es bei der zivilrechtlichen Haftung nur um die Frage des Schadensausgleichs, ohne dass damit zwingend eine Verantwortungs- oder Schulzuweisung verbunden wäre: Der/Die Halter:in eines Tieres muss z. B. für Schäden aufkommen, die das Tier verursacht hat, selbst wenn er sich verantwortlich verhalten hat, also kein Verschulden festgestellt wird. 14 Vgl. weiterführend zu Schuld und Sünde Hoever 1992. 11

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Theologische wie auch philosophische Anthropologien sprechen vom Wesenszug der Endlichkeit und Kontingenz des Menschen. Als Akteur:innen von Handlungen, aber auch als Akteur:innen, die bestimmte Hilfshandlungen unterlassen, die wir anderen schulden, machen wir in unserem Leben unausweichlich moralische Fehler. Unser Verantwortungsbewusstsein hat Grenzen, wir fallen selbst bei einem ausdifferenzierten moralischen Reflexionsvermögen in zerstörerische Affekte und Handlungen zurück. Aber auch die Moralfrage als solche verweist auf die Heilsbedürftigkeit des Menschen. Moralische Vernunft kann die Frage der Sinnorientierung nicht ersetzen15. Heilsbedürftigkeit ist also nicht nur eine Voraussetzung des christlichen Glaubens, sondern sie ergibt sich daraus, dass Moral nicht an die Stelle von Religion gesetzt werden kann.

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273

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Vielfalt Judith Könemann

Besucht man heute eine Grundschule, vor allem in städtischen Ballungsräumen, dann fällt unmittelbar die Vielfalt innerhalb der Schüler:innenschaft mit Blick auf Hautfarbe, Sprache, religiöse und kulturelle Hintergründe u. v. m. unmittelbar ins Auge. Schulen sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich „bunter“ geworden, und insofern Schulen immer auch Spiegel der Gesellschaften sind, repräsentieren sie auch gesellschaftliche Verhältnisse. Sichtbar wird daran auch, dass Deutschland viel mehr Einwanderungsland ist, als es sich selbst über lange Zeit zugestanden hat. Das bedeutet auch: Deutsch-sein und Leben in Deutschland ist in vielerlei Hinsicht vielfältiger, pluraler geworden. Spätestens mit den Anwerbeabkommen ausländischer Arbeitnehmer:innen Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre erweiterte sich das sprachliche und kulturelle Spektrum in Deutschland enorm. Blieb diese Erweiterung noch vornehmlich auf den europäischen Raum beschränkt, tragen Migration und die vielen Menschen, die aus ihren Herkunftsländern aufgrund von Krieg oder Hungersnot zur Flucht gezwungen werden, zur Pluralität in Deutschland in kultureller, religiöser, sprachlicher Hinsicht über den europäischen Kontext hinaus bei. Von daher wundert es nicht, dass „Vielfalt“ und auch sein lateinisches Pendant „Pluralität“ mit der Wende zum 21. Jahrhundert zu einem der pädagogisch relevantesten Begriffe avancierte und gegenwärtig im Kontext und auch im Konzert mit anderen Begriffen wie Diversität, Differenz oder Heterogenität verwendet wird, dies gilt nicht zuletzt auch für die Religionspädagogik und Religionsdidaktik. Will man aber besser verstehen, was Vielfalt genau meint, gilt es zunächst, sich mit dem Begriff selbst zu beschäftigen. Dabei fällt als erstes ins Auge, dass wir es begriffsgeschichtlich mit dem lateinischen Pendent, der Pluralität oder dem Pluralismus, zu tun haben.1

1 Zur Begrifflichkeit und seiner Bedeutung Das Substantiv Pluralität geht auf die lateinischen Worte plures (mehrere) und pluralitas (Mehrzahl) zurück, und beschreibt Phänomene der Vielfalt, Vielgestaltigkeit und das Nebeneinander-Stehen dieses Vielfältigen. Dementsprechend meint Pluralität sowohl die Vielfältigkeit von Phänomenen an sich, z. B. die Existenz verschiedener religiöser Traditionen und

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine vor allem im dritten Teil vollkommen überarbeitete Fassung des Beitrages Pluralität in: Knauth/Möller/Pithan 2020, 98–106.

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Religionen, als auch die vielfältige Ausprägung eines Phänomens, z. B. die Vielfalt innerhalb einer Religion. Beschreibt die Pluralität den Zustand der Mehrzahl oder auch der Vielfalt, betont dagegen der Begriff der Pluriformität als Variante des Begriffs Pluralität in besonderer Weise die Vielgestaltigkeit. Mit Pluralisierung wiederum wird der Prozess dieser ‚Herstellung‘ von Vielheit, also der Prozess auf Pluralität hin selbst beschrieben, während Pluralismus schließlich den theoretischen Bezug auf die Pluralität und damit auch eine (präskriptive) Position beinhaltet (vgl. Schaub 2014). Pluralität bzw. Pluralismus gelten in der Regel als mit der Entwicklung der Moderne eng verbundene Phänomene. Pluralismus erlangte insbesondere in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts den Status einer der zentralen und umfassenden Deutungskategorien der Gegenwart und wurde dabei auf ganz unterschiedliche Bereiche (Gesellschaft, Religion, Wissenschaft) bezogen (vgl. Schwöbel 1993, 724). Wesentliches Charakteristikum des Pluralismus in philosophischer Hinsicht ist erstens, dass die Vielgestaltigkeit der Phänomene in ihrem Verhältnis zueinander zunächst einmal nebeneinander stehen, nicht voneinander ableitbar und nicht unmittelbar hierarchisiert sind, und zweitens, dass sie nicht durch ein übergeordnetes Einheitsprinzip bestimmt und begrenzt sind, welches entsprechende Hierarchisierungen und Zuordnungen zueinander vorgeben würde: „Der Pluralismus ist die sich selbst zum Programm gewordene Pluralität“ (ebd.), so Christoph Schwöbel in seinem Artikel zum Pluralismus. Dabei ist die Relation der vielfältigen Phänomene oder die Vielgestaltigkeit eines Phänomens auch jeweils nur vom einzelnen pluralen Standpunkt her zu entwickeln, gleichzeitig müssen aber die zu entwickelnden Kriterien durch Bestimmung des Zueinanders Geltung für das ganze Bezugsfeld beanspruchen können, wenn sie denn etwas über das Ganze aussagen wollen. Für Eilert Herms unterscheidet dieses Fehlen eines alles übergreifenden und einigenden Moments einen ‚Schein-Pluralismus‘ von einem ‚Pluralismus aus Prinzip‘, bei dem dieses Prinzip wiederum jedoch nicht anders als in sich bereits wieder plural sein kann und in intersubjektiver Verständigung ausgehandelt werden muss (vgl. Herms 1995). Dieser Pluralismus steht in enger Verbindung zu dem, was – zurückgehend auf Immanuel Kants logischen Pluralismus und dessen Rezeption durch John Rawls – unter dem Signum des „vernünftigen Pluralismus“ (vgl. Rawls 1998) diskutiert wird. Kant formulierte: „Wenn man seine Einsichten mit denjenigen anderer vergleicht und aus dem Verhältnis der Übereinstimmung mit anderer Vernunft die Wahrheit entscheidet, ist das der logische Pluralismus.“ (Kant, Ges. Schriften Bd. 24, 428). „Vernünftiger Pluralismus“ geht dementsprechend vom Faktum der endlichen Vernunft und der Einsicht aus, dass trotz angemessenen Einsatzes des jeweiligen Vernunftvermögens eine gewisse Pluralität unterschiedlicher Meinungen, Weltbilder, Weltanschauungen oder Auffassungen des guten Lebens nicht aufzuheben sein wird. Die Vernünftigkeit des Pluralismus impliziert dann auch, dass es keine Gründe gibt, die Haltungen Anderer für irrational oder unvernünftig zu halten. Mit der 276

Frage nach dem Verhältnis und der Gestaltung des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt, inwieweit Einheit behauptet werden, und wenn ja, wie sie gefasst sein kann, ist die Grundfrage des Pluralismus bis heute beschrieben. In der Verwendung des Begriffs Pluralismus respektive der Vielfalt fließen somit deskriptive und normative Elemente zusammen. Empirisch bezeichnet Pluralismus eine Vielfalt von gesellschaftlichen Gruppen, Kulturen und kulturellen Ausprägungen, Bekenntnissen und Religionen, Weltanschauungen oder Werten, was seinen Niederschlag in der Rede von einem religiösen, weltanschaulichen, sozialen, politischen Pluralismus oder auch in der Rede von einem Wertepluralismus findet. In normativer Hinsicht wird eine bestimmte Form der Interpretation und Gestaltung des Pluralismus als angemessen und sich positiv auf Zukunft auswirkend angenommen bzw. empfohlen. In dieser Hinsicht meint Pluralismus, dass es Vielfalt nicht nur gibt, sondern dass die in der Vielfalt liegende Unterschiedlichkeit anerkannt und gutgeheißen wird, ihr also in sich ein positives Moment zukommt.

2 Begriffsgeschichte und historische Durchsetzung Das Phänomen Pluralismus eint mit vielen anderen Phänomenen die Tatsache, dass der Gegenstand wesentlich älter ist als sein Begriff. So durchzieht etwa die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt das philosophische Denken seit der Antike (vgl. Sandkühler 1999), erste Spuren der philosophischen Begriffsbildung „Pluralismus“ finden sich jedoch erst bei Christian Wolff im 18. Jahrhundert, der bei der Einteilung verschiedener Typen von Philosophen eine Gruppe als Pluralisten bezeichnet und diese den Egoisten entgegensetzt. Kennzeichen der Pluralisten sei, dass sie nicht mehr von einer einzigen Substanz ausgehen, sondern von der Vielfalt einzelner Substanzen der Dinge (vgl. Sandkühler 1999, 2059). Für Immanuel Kant ist der Egoist ein „‚Cyclob‘, ein Egoist der Wissenschaft und es ist ihm noch ein Auge nöthig, welches macht, dass er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen ansieht.“ (Kant, Ges. Schriften Bd. 15, 395). Als logischen Pluralismus bezeichnet Kant, wie oben bereits gesehen, die Tatsache, die eigenen Einsichten mit denen anderer zu vergleichen und aus dem Verhältnis der Übereinstimmung mit der Vernunft der Anderen die Wahrheit abzuleiten (vgl. Kerber 1989, 988). Nachdem der Begriff über längere Zeit in Vergessenheit geraten war, erhält er im Pragmatismus von William James eine zentrale Bedeutung, die grundlegend für das heutige Verständnis ist. In seinem Werk „A Pluralistic Universe“ aus dem Jahr 1909 (dt. 1914) macht James deutlich, dass sich das Ganze letztlich aus den Teilen erklärt: „Wir können keine neuen Begriffsformen erfinden, die nur auf das Ganze der Welt Anwendung hätten, und die uns nicht ursprünglich von den Teilen suggeriert werden. […] [D]as einzige Material, über das wir bei der Herstellung eines Weltbildes verfügen, wird uns von 277

jenen verschiedenen Teilen geliefert, von denen wir bereits eine Erfahrung gewonnen haben“ (James 1914, 5). Das Universum ist durch eine Vielfalt gleichzeitig begrenzter und dauernder Veränderung unterworfener Tatsachen, Relationen und Systemen charakterisiert. Diese gehen immer neue Konstellationen ein und sind nicht durch statische Kategorien erfassbar, sondern können nur in perspektivischer Annäherung beschrieben werden (vgl. Schwöbel 1993, 724). Der eigentliche Unterschied zwischen einer pluralistischen und einer monistischen Weltsicht besteht für James darin, „dass es letzten Endes eine Gesamtheit der Erfahrungen in sich vereinigende All-Form gar nicht zu geben braucht, dass die Substanz der Wirklichkeit niemals zur völligen Einheit zusammengebracht werden kann, […] und dass eine mehr distributive Form der Wirklichkeit […] ebenso logisch annehmbar und empirisch wahrscheinlich ist wie die AllForm.“ (James 1914, 12 ff.). James steht dann auch Pate für die Rezeption des Pluralismus in der politischen Philosophie, befördert durch seine Rezeption durch Harold Laski (1917/1999) und dessen Prägung des Begriffs des politischen Pluralismus in den Politikwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Daraus entwickelte sich dann letztlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die besondere Bedeutung des Pluralismusbegriffs in der Demokratietheorie (s. u.). Historisch ist ein wesentlicher Motor der Pluralisierung in der Reformation und der Auseinandersetzung um das religiöse Bekenntnis zu sehen. Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 fand Pluralisierung ihren Niederschlag auch im politischen System, was jedoch nicht die nachfolgenden Konfessionskriege verhindern konnte. Diese konfessionellen Auseinandersetzungen stellen eine nicht unerhebliche Ursache für die Pluralisierungsprozesse durch die Aufklärung und das nachfolgende Auseinandertreten von Staat und Religion als Folge der bereits früher einsetzenden Modernisierung der Gesellschaft dar. Führte ersteres zusammen mit der Bildung religiöser Gemeinschaften als Freikirchen, die einen Teil ihrer Identität über die Abgrenzung zur etablierten Kirche formieren, zu einer religiös pluralen Situation, wenn auch (noch) innerhalb einer Religion, so war die Auseinandersetzungen um die Geltungsansprüche der Religion im Zuge der Aufklärung und der französischen Revolution sowie die Entwicklung der Religionsfreiheit Ursache nicht nur religiöser, sondern auch weltanschaulicher Pluralisierung. Befördert wurden die hier in Gang gesetzten religiösen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse im 19. Jahrhundert zudem durch die in sich bereits pluri-forme Religionskritik und durch die Entdeckung des Individuums und seiner Individualität in der Romantik, die in ihrer individuellen Vielgestaltigkeit universale Geltungsansprüche deutlich infrage stellte (Schwöbel 1993, 726). Auf das Engste mit der Entstehung und Entwicklung der Moderne sind die funktionalen Differenzierungsprozesse der Gesellschaft verbunden, die Émile Durkheim als zunehmende Arbeitsteilung beschrieben hat. Diese funktionale Differenzierung führt, wenn auch immer wieder mit Schleifen, letztlich doch zu gesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen. Die mit 278

der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts erfolgende Beschleunigung dieser Prozesse, vor allem der Zerfall der sozialistischen Systeme Ende der 1980er Jahre, führte zusammen mit den parallel, wenn auch zeitlich etwas versetzt einsetzenden Globalisierungsprozessen auf gesellschaftlicher Ebene zu einer Pluralisierung der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen und auf individueller Ebene zu umfassenden Enttraditionalisierungs- und Freisetzungsprozessen mit erheblichen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge und die individuelle Lebensführung. Eine besondere Bedeutung hat der politische Pluralismus, wie er von Harold Laski (1917) im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in die Diskussion eingebracht wurde. Im Kontext der Demokratietheorie entfaltet, steht er für ein Staatsverständnis, das dieses in der Abhängigkeit von der Zustimmung des Individuums sieht und den verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen und Institutionen ein viel größeres Gewicht und größere Unabhängigkeit vom Staat zuspricht (vgl. Schaub 2014, 244). In der bundesrepublikanischen Demokratietheorie wird dieser Gedanke bei Ernst Fraenkel (vgl. Fraenkel 1991,  92–114) weitergeführt, der im Pluralismus ein Strukturelement demokratischer Rechtsstaaten sah. Damit sind für die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts bedeutsame Veränderungen von Staatlichkeit und veränderte Politikprozesse angesprochen, die im Ergebnis eine deutlich erhöhte Mitwirkung gesellschaftlicher (Interessen-)Gruppen an politischen Entscheidungen mit sich bringen. Politische Entscheidungen werden nicht mehr vornehmlich etatistisch gesetzt, sondern gehen aus Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozessen verschiedener, nicht selten konkurrierender Interessengruppen hervor, die sich wechselseitig kontrollieren und zu Kompromissen finden müssen. Damit rückt der Dritte Sektor bzw. die Zivilgesellschaft, bestehend aus nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Organisationen und Bewegungen, die zwischen der Privatsphäre des Einzelnen und der Öffentlichkeit des demokratischen politischen Systems vermitteln, in den Vordergrund und wird als organisierter Raum der politischen Auseinandersetzung verstanden. Aufgabe des Staates ist es, den fairen und rechtlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem sich diese Prozesse vollziehen können (vgl. Könemann et al. 2015). Zwei Aspekte setzt der politische Pluralismus voraus: erstens die grundsätzliche Gleichberechtigung der im öffentlichen Diskurs vertretenen Interessen und Gruppierungen und zweitens die Herstellung des Allgemeinwohls durch die die Aushandlung verschiedener Interessen prinzipiell gleichberechtigter Gruppen (Höffe 1985, 366). Beide Prinzipien sind, wie Höffe als Autor dieses Beitrags zu Recht anmerkt, auch in entwickelten Demokratien höchstens annähernd erfüllt. Zum einen haben die Bürger:innen nur vermittelt über Interessengruppen (Vereine, Verbände, Parteien etc.) Zugang zur Politik, zum anderen spiegeln die organisierten Interessenverbünde aus vielerlei Gründen  – z.  B. organisatorische wie finanzielle Ressourcen, Einfluss auf Massenmedien o.  ä., oder weil sich manche Interessen, z. B. bei Wirtschaftsverbünden schlicht besser organisieren lassen – nicht zwingend die reale 279

Verteilung der vorhandenen Interessen wider (vgl. Könemannet al. 2015, v. a. 47–59). Mit der formalen Gleichstellung aller Bürger:innen im demokratischen Rechtsstaat ist nicht zugleich eine faktische Gleichstellung gegeben. Dementsprechend beschreibt der Pluralismus auch nicht einfach nur die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit, ganz abgesehen davon, dass auch eine faire Auseinandersetzung nicht per se zum konkreten Allgemeinwohl führt, weil kurzfristige und allgemeine Interessen gegenüber langfristigen und partikularen in der Regel bevorteilt sind (vgl. Höffe 1985, 366). Geht es der freiheitlichen Demokratie auf der Ebene der Gestaltung des politischen Prozesses um den gleichberechtigten Zugang verschiedener Interessen(-gruppen) zu diesem Prozess, so vertritt sie auf der individuellen Ebene das Recht des Einzelnen auf die Entwicklung eigener Überzeugungen und Handlungsmuster und die Selbstbestimmung des Einzelnen hinsichtlich der Ziele und Wege des je eigenen Lebens. Grundlegend für die Demokratie ist in diesem Sinne die Anerkennung des Individuums als selbstverantwortliche Person und mündige:r Bürger:in. Keine Institution oder Instanz hat das Recht, den Menschen zu bestimmten (Lebens-)Formen zu zwingen. Die Gestaltung des politischen Prozesses als auch das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung rücken die Toleranzidee als Grundprinzip der pluralen Welt in den Vordergrund (vgl. Forst 2003), mindestens in ihrer ‚schwachen‘ Form der Duldung des je Anderen, da ohne dieselbe eine pluralistische Demokratie nicht fortbestehen kann und Zusammenleben so erst möglich wird. In ihrer ‚starken‘ Form ist Toleranz eng mit der Anerkennung des Anderen (vgl. Forst 2003), gründend in der Würde und Freiheit des Menschen, verbunden, und stellt, da gleichberechtigtes Zusammenleben selbstverantworteter Personen sonst nicht möglich ist, eine Grundbedingung der Gerechtigkeit menschlichen Zusammenlebens in Freiheit dar. Aber auch der pluralistischen Gesellschaft stellt sich die Frage, inwiefern es angesichts widerstreitender pluraler Interessen und zur Wahrung individueller Freiheit und Selbstbestimmung sowie der Verwirklichung wechselseitiger Anerkennung und Gerechtigkeit übergreifender Prinzipien oder normativer Verbindlichkeiten bedarf – Prinzipien oder Verbindlichkeiten, die partikularen Interessen enthoben und damit in der Lage sind, genau diese Rechte gewährleisten zu können. Der politische Pluralismus setzt, wie gesehen, keinen Konsens über die inhaltlichen Ziele voraus, er setzt aber zum einen konstitutiv die Anerkennung der politischen Ordnung und der sie konstituierenden Verfahrensregeln, eingeschlossen derer zur Entscheidungsfindung, voraus. Zum anderen setzt er die Anerkennung der die formalen Verfahrensregeln begründenden fundamentalen Ideen wie die der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Anerkennung und Toleranz und des Rechts voraus (vgl. Rawls 1979). Auch die Menschenrechte werden als jedem Pluralismus entzogen und als Ausdruck der wechselseitigen Anerkennung von grundsätzlich gleichberechtigten Personen angesehen, die darüber hinaus von persönlichen, 280

gesellschaftlichen, geschichtlichen und kulturellen Bedingungen oder politischen Konstellationen (Autor 1985, 369) unabhängig sind.

3 Vielfalt/Pluralität innerhalb der Theologie und Religionspädagogik Pluralismus/Vielfalt in Bezug auf Religion taucht in einer doppelten Hinsicht auf: als Pluralität der Religionen und religiösen Traditionen und als Pluralität/Vielfalt innerhalb einer Religion. Beide Aspekte führen letztlich erneut zur Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt zurück. Seit den Anfängen der Religionswissenschaften als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert wird die Frage diskutiert, inwieweit es sich bei den einzelnen Religionen um die Ausfaltung eines einzelnen Phänomens handelt, die einer vergleichenden Betrachtung zugänglich sind, oder aber ob die Verschiedenheit so groß ist, dass keine Rückführung auf ein übergeordnetes Phänomen möglich ist (vgl. Schwöbel 1993, 727). Innerhalb der christlichen Theologie wird die Frage des religiösen Pluralismus seit vielen Jahren als „Theologie der Religionen“ diskutiert, die zum einen um die Frage nach dem Zueinander der Religionen kreist und zum anderen auf die Frage nach der Universalität der Geltungsansprüche der einzelnen Religionen fokussiert ist. Die unterschiedlichen Positionen finden sich in den klassischen Positionen des Exklusivismus, des Inklusivismus und des Religionspluralismus wieder (vgl. Schmidt-Leukel 1997; Bernhardt/Schmidt-Leukel 2005). Als jüngere Form der Religionstheologie versucht die komparative Theologie die eigenen Geltungsansprüche im Gespräch mit den anderen religiösen Traditionen fortzuschreiben (von Stosch 2012). Der wissenschaftlichen Reflexion wird so nicht nur die eigene Tradition, sondern die Religionen insgesamt unterzogen. Im Unterschied zur Religionswissenschaft wird dabei jedoch keine Neutralität angezielt, sondern gerade ausgehend von einem positionellen Standpunkt das Gespräch über die Geltungsund Wahrheitsansprüche gesucht (von Stosch 2012; Cornille 2019). Unter der Pluralität innerhalb der eigenen Tradition werden die vielfältigen ‚Christentümer‘ in ihren kulturellen und regionalen Ausprägungen verstanden, aber auch unterschiedliche Positionierungen und Haltungen zu bestimmten Themen, die nicht selten zu einzelnen Gruppierungen unter dem Dach der einen Religion, respektive Konfession, führen. Innerhalb der Religionspädagogik blieben Vielfalt und Pluralität über lange Zeit wenig beachtete Phänomene, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass das Konfessionalitätsprinzip und die sogenannte „Trias“ von Inhalt, Schüler:in und Lehrer:in mehr Homogenität suggerierte als je existierte. Erst zu Beginn der 2000er Jahre erfolgte mit dem konzeptionellen Entwurf einer ‚pluralitätsfähigen Religionspädagogik‘ (vgl. Schweitzer et al. 2002) eine Reflexion auf den Begriff und das Phänomen der Pluralität und wurde als konstitutiv notwendig pluralitätsfähig ausgewiesen. Religionspädagogisch ist mit Blick auf religiöse Pluralität und 281

die Diskussion um die Theologie der Religionen in den vergangenen zwanzig Jahren das gesamte Feld des interreligiösen Lernens neu vermessen worden und die Situation religiöser Pluralität als auch die Reflexion über diese zu einem zentralen Bezugspunkt der Religionsdidaktik geworden (vgl. Leimgruber 2007; Sajak 2018; Schambeck 2013). Fokussierte sich eine pluralitätsfähige Religionspädagogik zunächst sehr auf das Phänomen der religiösen Pluralität, fanden andere Dimensionen von Vielfalt jenseits von religiöser Zugehörigkeit erst im Zuge der auch in der Religionspädagogik aufgegriffenen Debatte um Vielfalt, Differenz und Heterogenität Eingang in die Diskussion (vgl. Grümme 2017; Knauth/Jochimsen 2017). Explizit aufgegriffen werden Begriff und Phänomen der Vielfalt in Anlehnung an Prengels Entwurf einer Pädagogik der Vielfalt in der „Inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt“, wie sie in den letzten Jahren von Thorsten Knauth, Rainer Möller und Annebelle Pithan (2020) entwickelt worden ist. In der gegenwärtigen (religions-)pädagogischen Debatte stehen Begriff und Phänomen der Vielfalt/Pluralität in engem Konnex zu den weiteren Begriffen wie Differenz, Diversität und vor allem Heterogenität. Alle Begrifflichkeiten können sich auf Inhalte erstrecken wie z. B. auf die Pluralität von religiösen Traditionen und die inhaltlichen Unterschiede zwischen diesen Traditionen, sie dienen aber auch zur Beschreibung und Erfassung als soziale Kategorien. Dies ist dann der Fall, wenn die religiöse Tradition nicht als inhaltlicher Gegenstand des Unterrichts betrachtet wird, sondern als soziale Kategorie, die einer Person zukommt. Das bedeutet, das eine Person durch ihre religiöse Zugehörigkeit, ihre Herkunft, ihre Ethnie, ihre Sprache oder ihr Geschlecht bestimmt und damit sozial kategorisiert wird. Der Verwendung aller Begrifflichkeiten in der (Religions-)Pädagogik und -didaktik, so unterschiedlich sie auch sind hinsichtlich dessen, was sie jeweils fokussieren und welche normativen Implikationen sie haben, ist gemeinsam, dass sie versuchen, dem Phänomen der existierenden Vielfalt und der Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit innerhalb dieser Vielfalt sowohl als Gegenstand als auch als soziale Kategorie mit all ihren einhergehenden Konsequenzen in pädagogischen Kontexten gerecht zu werden und auf diese konzeptionell und didaktisch zu reagieren. Dabei betonen die verschiedenen Begrifflichkeiten jeweils unterschiedliche Facetten. Einerseits machen die Begriffe Pluralität und Vielfalt auf der deskriptiven Ebene überhaupt erst einmal auf die Vielfalt, das Verschiedene und das Nebeneinander dieses Verschiedenen und Vielfältigen aufmerksam, welches es überhaupt erst einmal (unvoreingenommen) wahrzunehmen gilt (vgl. auch Schweitzer 2021). Andererseits wird in der normativen Aufladung Vielfalt gutgeheißen und als Bereicherung erlebt. Die Begriffe Differenz und Diversität betonen demgegenüber stärker das Unterschiedliche, das Differente dieses Vielfältigen. Heterogenität schließlich fokussiert auch auf das Unterschiedliche, verstärkt aber über das Bisherige noch zwei Momente: zum einen das Moment des Differenten, insofern sie noch stärker auf das Moment der Spannung, einem Entgegenstehen 282

bis hin zu einer möglichen Inkommensurabilität der Kategorien verweist (vgl. Koller 2019; Könemann 2021). Zum anderen macht der Heterogenitätsbegriff darauf aufmerksam, dass dieses Spannungsmoment, das einander Entgegenstehende schnell zu Hierarchisierungen führen kann, nicht zuletzt, weil Kategorien immer soziale Konstrukte sind und in diesem Sinne immer wieder ‚gemacht‘, also ‚hergestellt‘ werden. Damit tragen sie auch das Problem der Reifizierung in sich, das heißt indem die Kategorien einerseits als hilfreiche Analysekategorien im pädagogischen Prozess genutzt werden können, werden sie andererseits gerade dadurch bereits wieder ‚hergestellt‘ und verfestigt. Dieser sogenannten ‚Reifizierungsproblematik‘ gilt es, sich als Lehrkraft im pädagogischen Prozess immer bewusst zu sein. Die Wahrnehmung von Vielfalt/Pluralität auf der Ebene des Gegenstandes ist, wie oben deutlich geworden ist, eng verbunden mit Prozessen des interreligiösen Lernens, in denen die Vielfalt innerhalb der christlichen Tradition und die Vielfalt oder Pluralität der verschiedenen religiösen Traditionen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Auf der Ebene der Schüler:innen geht es darum, die vielfältigen Unterschiede und Verschiedenheiten derselben in den Blick zu bekommen, zu analysieren, sich ihrer im LehrLernprozess gewahr zu sein und auf etwaige Diskriminierungen oder Hierarchisierungen im Zusammenhang mit sozialen Kategorien zu reagieren bzw. an diesen im pädagogischen Prozess zu arbeiten. Allerdings geht es nicht nur darum, die Vielfalt und Verschiedenheit der Schüler:innen zu reflektieren, sondern mindestens so entscheidend ist auch die Frage nach der Vielfalt innerhalb eines Lehrer:innenkollegiums. Auch auf diese gilt es die Aufmerksamkeit zu richten. Allerdings ist bei aller positiven Aufladung von Vielfalt als Bereicherung zu beachten, dass nicht jede Form von Vielfalt und innerhalb von Vielfalt nicht jede Praxis gutzuheißen ist. Anerkennung und Gerechtigkeit stellen hier – auch als theologische Kategorien – zwei formale Prinzipien bereit, die zum einen in ihrer Bezogenheit aufeinander in der Lage sind, zu verhindern, dass die Vielfalt des Pluralismus nicht zum Relativismus wird, und die zum anderen aufgrund ihrer formalen Struktur den größtmöglichen Raum für eine plurale materiale Ausgestaltung zur Verfügung stellen (vgl. Könemann 2017). Das Prinzip der Anerkennung leistet in diesem Zusammenhang die Anerkennung der Pluralität und trägt damit dem Pluralismus moderner Lebenswelt Rechnung, ohne diesen einzuengen. Das Prinzip Gerechtigkeit trägt als normierendes Moment, so es sich nicht nur auf den Menschen als Person, sondern auch auf soziale Strukturen und Verhältnisse richtet, ein auch auf Anerkennungsprozesse hin kritisches Korrektiv ein, indem es darauf aufmerksam macht, wenn ungerechte Strukturen und Verhältnisse vorschnell anerkannt werden, während eigentlich strukturelle Veränderungen vonnöten wären. Die Kategorie Gerechtigkeit erinnert zudem daran, dass die Rechte aller und nicht nur des Einzelnen auf unparteiliche Weise Berücksichtigung finden und die „Güter der Anerkennung“ gerecht und allgemein verteilt werden müssen (Knauth 2016, 62). 283

Anerkennung und Gerechtigkeit stellen nun für die Religionspädagogik der Vielfalt sowohl Reflexionshorizont als auch Gegenstand dar. Als Reflexionshorizont hat sie auf Gerechtigkeit und Anerkennung konzeptionell zu reagieren, als Gegenstand werden Gerechtigkeit und Anerkennung als Prinzipien in religiösen Lern- und Bildungsprozessen zum einen reflektiert, zum anderen werden aber auch Prozesse des Gerechtigkeits- und Anerkennungslernens in ihnen initiiert (vgl. Könemann/Sajak 2018).

Zitierte Literatur Cornille, Catherine (2019), Meaning and Method in Comparative Theology, Hoboken. Forst, Rainer (2003), Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalte und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt. Fraenkel, Ernst (1964), Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, in: Fraenkel, Ernst (Hg.), Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a. M., 92–114. Fraser, Nancy (2001), Die halbierte Gerechtigkeit, Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt a. M. Grümme, Bernhard (2017), Art. Heterogenität, in: WiReLex – Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon [https://doi.org/10.23768/wirelex.Heterogenitt.100317]. Herms, Eilert (1995), Pluralismus aus Prinzip, in: Herms, Eilert, Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen, 467–485. Höffe, Otfried (1985), Art. Pluralismus/Toleranz, in: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe Bd. 3, München, 363–378. James, William (1909), A Pluralistic Universe, New York; Deutsch: James, William (1914), Das pluralistische Universum, Leipzig. Kant, Immanuel (1900), Gesammelte Schriften, Hrsg.: Bd. 1–22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin, 1900 ff. Knauth, Thorsten (2016), Gerechtigkeit und Anerkennung als Schlüsselbegriffe einer Religionspädagogik der Vielfalt, in: Heinrich-Schaffrick, Pia/Schaffrick, Matthias (Hg.), Theologie der Teilhabe: Gemeinschaft, Beziehung, Begegnung, Münster, 49–72. Knauth, Thorsten/Joachimsen, Maren (2017), Einschließungen und Ausgrenzungen. Zur Intersektionalität von Religion, Geschlecht und sozialem Status für religiöse Bildung, Münster. Könemann, Judith (2021), Vielfalt und Heterogenität. Zwei neue Leitdiskurse der Religionspädagogik – auf dem Weg zur Inklusion? Ein Literaturbericht, in: Theologische Revue 116, 81–94. Könemann, Judith/Sajak, Clauß Peter (2018), „So anders bist Du gar nicht!“ – Interreligiöse und interkulturelle Bildung als Beitrag zum gelingenden Miteinander, in: Könemann, Judith/Wacker, MarieTheres (Hg.), Flucht und Religion. Hintergründe – Analysen – Perspektiven, Münster, 229–241. Könemann, Judith (2017), Religiöse Bildung und Integration, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft Bd. 58, 167–187.

284

Könemann, Judith/Frantz, Christiane/Meuth, Anna/Schulte, Max (2015), Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik, Paderborn. Laski, Herold (1999), Studies in the Problem of Sovereignty, Oxford [1917]. Leimgruber, Stephan (2007), Interreligiöses Lernen, München. Schwöbel, Christoph (1993), Art. Pluralismus II, in: TRE, Bd. 10, 724–742. Pollack, Detlef/Gergely, Rosta (2015), Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt. Rawls, John (1979), Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt. Rawls, John (1998), Politischer Liberalismus, Frankfurt. Kerber, Walter (1989), Art. Pluralismus, in: HWPH Bd. 7, Basel, 988. Sajak, Clauß Peter (2018), Interreligiöses Lernen, Darmstadt. Sandkühler, Hans Jörg (1999), Art. Pluralismus, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Enzyklopädie Philosophie Bd. 2, Hamburg, 2057–2066. Schambeck, Mirjam (2013), Interreligiöse Kompetenz, Göttingen. Schaub, Jörg (2014), Pluralismus, in: Schmidt, Thomas/Pitschmann, Annette (Hg.), Religion und Säkularisierung, Stuttgart, 244–250. Schmidt-Leukel, Perry (1997), Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argumente, München. Schmidt-Leukel, Perry (2005), Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh. Schmidt-Leukel, Perry/Bernhardt, Reinhold (2005), Kriterien interreligiöser Urteilsbildung, Zürich. Schweitzer, Friedrich/Englert, Rudolf/Schwab, Ulrich/Ziebertz, Hans-Georg (2002), Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Gütersloh. Schweitzer, Friedrich (2020): Religiöser Pluralismus und Heterogenität: konkurrierende, komplementäre oder inkommensurable Grundbegriffe der Religionspädagogik?, in: Grümme, Bernhard/Schlag, Thomas/Ricken, Norbert, Heterogenität. Eine Herausforderung für Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft, Stuttgart, 29–39. Stosch, Klaus von (2012), Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn. Walgenbach, Katharina (2014), Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen, 54–88.

285

Anhang

Übersicht über den Aufbau der Bibel Als Bibel (griech. biblion = Papyrusrolle) wird im Christentum die kanonisierte Sammlung heiliger Schriften bezeichnet, die von der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth und der Gründung der Kirche als Nachfolgegemeinschaft Jesu erzählen. Die Schriften, in denen von der Geschichte des Volkes Israel mit Gott erzählt wird, tragen in der christlichen Überlieferung den Titel „Altes Testament“ und sind zum großen Teil auch ein wichtiger Bestandteil der Hebräischen Bibel, der heiligen Schrift des Judentums. Inzwischen wird in der christlichen Theologie deshalb auch der Begriff „Erstes Testament“ verwendet: So soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Schriften der Hebräischen Bibel nicht durch das „Neue Testament“ außer Kraft gesetzt oder überholt worden sind. Das „Neue Testament“ überliefert dagegen die Erfahrungen von Menschen mit Jesus Christus, seinem Wirken in dieser Welt, seiner Verkündigung der sog. Reich-Gottes-Botschaft, seinem Tod und seiner Auferstehung. Das Alte/Erste Testament umfasst 46 Schriften in hebräischer Sprache, die nach jüdischer Tradition in die Torah (= das Gesetz, also die fünf Bücher Mose), die Ketubim (= Weisheitsschriften) und Nebiim (= Prophetenbücher) unterteilt werden. Gemäß den Anfangsbuchstaben heißt die Hebräische Bibel im Judentum deshalb auch TeNaK. Die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige, in denen die Geschichte Israels von der Landnahme Kanaans bis zum Babylonischen Exil im Jahre 597 v. Chr. erzählt wird, gehören in der Hebräischen Bibel zu den Prophetenbüchern, während sie im Alten/Ersten Testament der christlichen Bibel eine eigene Gattung bilden, nämlich die Bücher der Geschichte des Volkes Israel. Auch die 27 Schriften des sog. „Neuen Testaments“, die zwischen 50 n. Chr. und 100 n. Chr. in griechischer Sprache verfasst worden sind, werden in vier Gruppen eingeteilt: Neben den vier Evangelien und der lukanischen Apostelgeschichte, die von Jesu Verkündigung, Tod und Auferstehung sowie dem Leben der ersten christlichen Gemeinden erzählen, ist das sog. Corpus Paulinum besonders umfangreich: Zu ihm zählen die 14 Briefe, deren Autorenschaft dem Apostel Paulus oder seinen Schülern zugeschrieben wird („Paulinische Briefe“). Daneben gibt es noch die Gruppe der sog. „Katholischen Briefe“, die sich an die frühen Christengemeinden richteten, aber nicht auf den Apostel Paulus zurückgehen. Den Abschluss des „Neuen Testaments“ bildet schließlich das Buch der Offenbarung des Johannes, das wohl während der Christenverfolgung unter Kaiser Domitian (81–96 n. Chr.) verfasst worden ist.

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Abb. 6: Die Bibel als Buch der vielen Bücher

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Synopse elementarer Themen und der Gegenstandsbereiche der Kirchlichen Richtlinien Im Folgenden werden die im Buch abgehandelten elementaren Themen der Theologie den Gegenstandsbereichen der Kirchlichen Richtlinien für den Religionsunterricht in der Grundschule/Sekundarstufe I zugeordnet. So können zur Vorbereitung eines Unterrichtsvorhabens die entsprechenden Themen nachgeschlagen und vertieft werden.

1 Gegenstandsbereich „Mensch und Welt“ Die Schülerinnen und Schüler können die Einmaligkeit der Person zum Ausdruck bringen und von der christlichen Botschaft her deuten. • Gerechtes Zusammenleben • Vielfalt • Symbole Die Schülerinnen und Schüler können Grundregeln eines gelingenden Miteinanderlebens nennen und auf ihr eigenes Leben anwenden. • • • •

Gerechtes Zusammenleben Verantwortung Vielfalt Buße

Die Schülerinnen und Schüler können Fragen nach der Herkunft und Zukunft des eigenen Lebens und der Welt stellen und bedenken. • Psalmen • Schöpfung • Letzte Dinge

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2 Gegenstandsbereich „Die Frage nach Gott“ Die Schülerinnen und Schüler können ihre Gottesvorstellungen und ihre Gottesbeziehung wahrnehmen und einander mitteilen. • Gottesbilder • Symbole • Glaubensbekenntnis Die Schülerinnen und Schüler können wesentliche Elemente der biblischen Rede von Gott nennen und angemessen verwenden. • Schöpfung • Exodus • Psalmen Die Schülerinnen und Schüler können zu Anfragen an den christlichen Gottesglauben Stellung nehmen. • Gottesbilder • Theodizee • Schöpfung Die Schülerinnen und Schüler können den christlichen Glauben an den dreieinigen Gott kindgemäß deuten. • Glaubensbekenntnis • Symbole

3 Gegenstandsbereich „Biblische Botschaft“ Die Schülerinnen und Schüler können den Grundaufbau der Bibel beschreiben und die Bedeutung der Bibel für den christlichen Glauben darstellen. • Schöpfung • Exodus 292

• • • •

Psalmen Propheten Leben und Umwelt Jesu Reich Gottes

Die Schülerinnen und Schüler können das biblische Schöpfungslob als Ausdruck von Staunen und Freude über das Leben deuten. • Schöpfung • Kirchenjahr/Christlicher Kalender • Verantwortung Die Schülerinnen und Schüler können den Weg des Volkes Israel mit Gott in zentralen Erzählzusammenhängen beschreiben und in Bezug zu menschlichen Grunderfahrungen setzen. • Abrahamischer Trialog • Exodus • Gerechtes Zusammenleben Die Schülerinnen und Schüler können ausgewählte Psalmen- und Prophetenworte als Ausdruck eines Lebens mit Gott deuten. • Psalmen • Propheten • Symbole

4 Gegenstandsbereich „Jesus Christus“ Die Schülerinnen und Schüler können die Weihnachtsevangelien und ihre zentrale Botschaft wiedergeben. • Leben und Umwelt Jesu • Reich Gottes • Kirchenjahr/Christlicher Kalender

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Die Schülerinnen und Schüler können beschreiben, wie Jesus Menschen begegnet ist. • Leben und Umwelt Jesu • Reich Gottes • Gerechtes Zusammenleben Die Schülerinnen und Schüler können wichtige Elemente der Botschaft Jesu vom Reich Gottes deuten und auf ihr eigenes Leben beziehen. • • • •

Reich Gottes Gerechtes Zusammenleben Verantwortung Buße

Die Schülerinnen und Schüler können die Geschichte von Jesu Leiden, Tod und Auferstehung in Grundzügen wiedergeben. • • • •

Leben Jesu Glaubensbekenntnis Kirchenjahr/Christlicher Kalender Letzte Dinge

Die Schülerinnen und Schüler können an Beispielen darstellen, was Nachfolge Christi bedeutet. • Gerechtes Zusammenleben • Verantwortung • Heilige

5 Gegenstandsbereich „Kirche und Gemeinde“ Die Schülerinnen und Schüler können die Gemeinde als Kirche am Ort beschreiben. • • • •

Kirchengebäude/Kirchenraum Taufe Eucharistie Messfeier 294

Die Schülerinnen und Schüler können auf altersgemäße Weise an Gottesdiensten verstehend teilnehmen. • • • • •

Messfeier Taufe Buße Eucharistie Kirchengebäude/Kirchenraum

Die Schülerinnen und Schüler können das Kirchenjahr und seine zentralen Feste beschreiben und deuten. • Leben Jesu • Kirchenjahr/Christlicher Kalender • Heilige Die Schülerinnen und Schüler können das evangelische Gemeindeleben in ihrer Nachbarschaft beschreiben und mit dem katholischen Gemeindeleben vergleichen. • Reformation • Christliche Ökumene

6 Gegenstandsbereich „andere Religionen“ Die Schülerinnen und Schüler können wichtige Elemente des jüdischen Glaubens benennen. • Exodus • Kirchenjahr/Christlicher Kalender • Abrahamischer Trialog Die Schülerinnen und Schüler können wichtige Elemente des muslimischen Glaubens benennen. • Abrahamischer Trialog • Kirchenjahr/Christlicher Kalender

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kompetenzmodell der Kirchlichen Richtlinien (vgl. Die deutschen Bischöfe 2006, 18)................................................................................. 13 Abb. 2: Dimensionen des Liebesgebotes (eigene Darstellung)........................................................81 Abb. 3: Religiöse Entwicklung nach Lothar Kuld (vgl. Sajak 2020, 57)....................................... 96 Abb. 4: Semiotisches Dreieck (eigene Darstellung)....................................................................... 166 Abb. 5: Struktur des Sieben-Tage-Werkes (eigene Darstellung)...................................................216 Abb. 6: Die Bibel als Buch der vielen Bücher (eigene Darstellung)............................................. 290

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Verzeichnis der Autor:innen Bremer, Thomas (*1957), Dr. theol., Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Bobbert, Monika (*1963), Dr. theol., Professorin für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Dyma, Oliver (*1972), Dr. theol., Professor für die Exegese des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Heimbach-Steins, Marianne (*1959), Dr. theol., Professorin für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Könemann, Judith (*1962), Dr. theol., Professorin für Religionspädagogik, Bildungs- und Genderforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Köster, Norbert (*1967), Dr. theol., Professor für Historische Theologie und ihre Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Leonhard, Clemens (*1967), Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Münster. Lüstraeten, Martin (*1985), Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Liturgiewissenschaft und Homiletik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, im Sommersemester 2021 Lehrstuhlvertreter für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Nitsche, Bernhard (*1963), Dr. theol., Dr. phil., Professor für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Sajak, Clauß Peter (*1967), Dr. theol., Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Sattler, Dorothea (*1961), Dr. theol., Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. 297

Schnocks, Johannes (*1967), Dr. theol., Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Seewald, Michael (*1987), Dr. theol., Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Wypadlo, Adrian (*1970), Dr. theol., Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

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Prof. Dr. Clauß Peter Sajak lehrt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

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www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40700-2

Clauß Peter Sajak (Hg.) Theologie elementar

Theologie elementar ist ein innovatives Studienbuch, in dem 24 zentrale theologische Themen von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen erschlossen werden (u. a. Schöpfung, Exodus, Reich Gottes, Gottesbilder, Eucharistie). Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Katholischen Religionsunterricht der Grundschule und der Sekundarstufe I. So haben Lehramtsstudierende, aber auch Lehrerinnen und Lehrer in der Berufseingangsphase die Möglichkeit, die elementaren theologischen Fragen, Diskussionen und Wissensbestände nachzuschlagen und zu vertiefen.

Clauß Peter Sajak (Hg.)

Theologie elementar Zentrale Themen für das Lehramtsstudium fachwissenschaftlich erschlossen